id
stringlengths
2
8
url
stringlengths
33
123
title
stringlengths
1
69
text
stringlengths
328
347k
2872945
https://de.wikipedia.org/wiki/Idiopathische%20interstitielle%20Pneumonie
Idiopathische interstitielle Pneumonie
Die idiopathischen interstitiellen Pneumonien (IIP) bilden eine Gruppe von seltenen Krankheitsformen, die durch ein unterschiedliches Ausmaß von Lungenentzündung (Pneumonie) und -vernarbung (Lungenfibrose), hauptsächlich des Bindegewebes der Lunge (Interstitium), gekennzeichnet sind. Sie unterscheiden sich hinsichtlich der Krankheitszeichen (der Symptome), der Befunde vor allem aus bildgebenden Untersuchungsverfahren, der Pathologie, des Krankheitsverlaufs und der Behandlungsmöglichkeiten. Die Ursache für die Entstehung dieser Krankheitsbilder ist nicht bekannt – sie werden daher als „idiopathisch“ bezeichnet. Die IIP gehören zur großen Gruppe der interstitiellen Lungenerkrankungen (englisch: Interstitial Lung Disease oder ILD), in der mehr als 200 eigenständige Krankheitsbilder klassifiziert werden. Das Leitsymptom der interstitiellen Lungenerkrankungen ist Atemnot (Dyspnoe). Bei allen IIP-Formen kommt es zu einer Lungenentzündung unterschiedlichen Schweregrads, die in erster Linie das Bindegewebe (Interstitium) der Lunge betrifft. Darüber hinaus kann es zu einer Vernarbung der Lunge kommen, die als Lungenfibrose bezeichnet wird. Bei einigen Formen steht die Lungenfibrose im Vordergrund und die Entzündung ist nur eine Begleitreaktion. Die Prognose oder der Krankheitsverlauf und die Behandlungsmöglichkeiten sind unter anderem davon abhängig, welchen Stellenwert die Entzündung oder die Fibrose bei der entsprechenden Krankheitsform einnimmt. Klassifikation Die hier dargestellte (nicht mehr aktuelle) Klassifikation der idiopathischen interstitiellen Pneumonien (IIP) basiert auf einer Richtlinie, die gemeinsam von der American Thoracic Society (ATS) und der European Respiratory Society (ERS) im Jahre 2002 veröffentlicht wurde. Nach dieser Klassifikation werden sieben Krankheitsformen unterschieden, die jeweils durch unterschiedliche klinische, radiologische und pathologische Kriterien definiert sind. Darüber hinaus wurde eine Kategorie für nicht klassifizierbare IIP eingeführt, der alle Fälle zugeordnet werden, bei denen keine klare Abgrenzung möglich ist: idiopathische pulmonale Fibrose (IPF, idiopathische Lungenfibrose), nicht spezifische interstitielle Pneumonie (NSIP), kryptogene organisierende Pneumonie (COP), akute interstitielle Pneumonie (AIP), respiratorische Bronchiolitis mit interstitieller Lungenerkrankung (RB-ILD), desquamative interstitielle Pneumonie (DIP) und lymphoide interstitielle Pneumonie (LIP). Die Bedeutung der Klassifikation liegt vor allem in der fachgebietsübergreifenden (interdisziplinären) Definition der verschiedenen Formen, die in zurückliegenden Veröffentlichungen von Pathologen, Radiologen und Internisten überwiegend unabhängig voneinander vorgenommen wurde. Es wurde klargestellt, dass das histopathologische Muster von der klinischen Diagnose abgegrenzt werden muss. Eine sichere klinische Diagnose beruht sowohl auf klinischen, radiologischen als auch auf histopathologischen Befunden. Zwar ist der Evidenzgrad der Klassifikation gering, da sie auf Erkenntnissen von Experten beruht, sie bildet aber die Grundlage für zukünftige Studien, da es jetzt einheitliche Kriterien auf diesem Gebiet gibt. Aktuell ist die gemeinsam von der American Thoracic Society (ATS) und der European Respiratory Society (ERS) im Jahre 2013 veröffentlichte Klassifikation. Epidemiologie Die epidemiologischen Daten zu den idiopathischen interstitiellen Pneumonien sind nicht sehr zuverlässig. Amerikanische Arbeiten zu der übergeordneten Gruppe aller interstitiellen Lungenerkrankungen (ILD) wurden unter anderem in New Mexico durchgeführt. Nach dieser Studie beträgt die Prävalenz der ILD 80 Fälle pro 100.000 Einwohner bei Männern und 67 Fälle pro 100.000 Einwohner bei Frauen. Die Diagnose Lungenfibrose und idiopathische Lungenfibrose (IPF) macht etwa 45 Prozent aller Fälle von ILD aus. Die Prävalenz der IPF beträgt nach dieser Studie 20 Fälle pro 100.000 Einwohner bei Männern und 13 Fälle pro 100.000 Einwohner bei Frauen. Da diese Studie vor Veröffentlichung der neuen Klassifikation durchgeführt wurde, ist die Aussagekraft dieser Angaben fragwürdig. Eine neuere Studie geht von einer höheren Prävalenz aus. Es gibt Hinweise dafür, dass die IPF in westlichen Ländern zunimmt. Die Epidemiologie der anderen IIP-Formen ist noch weniger gut erforscht. Anatomische Grundlagen Das Interstitium (Zwischengewebe) der Lunge befindet sich in Form der so genannten Interalveolarsepten zwischen den Wänden der Lungenbläschen (Alveolen). Letztere stellen, da in ihnen der Gasaustausch zwischen Blut und Luft erfolgt, das eigentliche funktionelle Lungengewebe (Parenchym) dar. Interstitium und Parenchym arbeiten jedoch bei der Lungenmechanik eng zusammen und bilden eine funktionelle Einheit. Das Interstitium ist das Grundgerüst der Lunge und hält die Architektur der Lungenbläschen und damit der Blut-Luft-Schranke während des Atmungszyklus aufrecht. Der Bindegewebsanteil der Interalveolarsepten besteht aus Zellen, vor allem den Bindegewebsbildnern (Fibroblasten), den von ihnen gebildeten Strukturproteinen und Substanzen wie Kollagen, elastische Fasern, Proteoglykane sowie anderen Glycoproteinen. Den Hauptteil des Interstitiums bilden Kollagenfasern, die bis zu 20 Prozent der Lungentrockenmasse ausmachen. Im Interstitium der Lunge herrscht der Kollagentyp I vor, dem vermutlich die Hauptrolle bei der Aufrechterhaltung der Form und Dehnbarkeit der Lungenbläschen zukommt. Typ IV ist nur in den Basalmembranen der Lungenbläschen und Blutgefäße vorhanden. Kollagen vom Typ III und V ist nur in geringem Umfang (5 bis 10 Prozent) im Lungengewebe ausgebildet. Die elastischen Fasern bilden ein verzweigtes Netzwerk im Interstitium der Lunge. Sie sind die treibende Kraft der Ausatmung (Exspiration). Proteoglykane bilden die Grundsubstanz des Interstitiums, sie sorgen für die Aufrechterhaltung des räumlichen Aufbaus des Lungengewebes. Ihre genaue Bedeutung bei der Lungenfunktion ist nicht im Einzelnen bekannt. In der Lunge finden sich Hyaluronsäure, Chondroitinsulfat A und C, Dermatansulfat, Heparin und Heparinsulfat. Zu den weiteren Glycoproteinen gehören Fibronectin und Laminin, die vor allem in den Basalmembranen vorkommen. Pathogenese Als Pathogenese werden die Mechanismen bezeichnet, die zur Entstehung einer Erkrankung beitragen. Bei den idiopathischen interstitiellen Pneumonien (IIP) spielen vor allem die Entzündung und die Fibrose des Lungengewebes die entscheidende Rolle. Sie haben bei den verschiedenen Formen einen unterschiedlichen Stellenwert. Die Pathogenese ist aber nur unvollständig geklärt. Entzündung Bei den meisten interstitiellen Lungenerkrankungen und den meisten Formen der idiopathischen interstitiellen Pneumonien scheint die Entzündungsreaktion die entscheidende Rolle in der Pathogenese zu spielen. Bei einer mikroskopischen Untersuchung werden bei diesen Erkrankungen, vor allem im Anfangsstadium, große Ansammlungen von Entzündungszellen (Makrophagen, Granulozyten und Lymphozyten) im Lungengewebe gefunden. Fibroseareale treten nur in geringem Umfang auf und nur selten entwickelt sich eine Lungenfibrose im Endstadium. Die Lungenfibrose ist dann eine Folge der Entzündungsreaktion. Diese Theorie wird dadurch bestärkt, dass die Erkrankungen auf entzündungshemmende und immunsuppressive Therapien gut ansprechen. Durch Beseitigung der Entzündung als Ursache für die Lungenfibrose kann ein weiteres Fortschreiten verhindert werden. Eine Sonderstellung nehmen vor allem die idiopathische pulmonale Fibrose und wahrscheinlich auch die akute interstitielle Pneumonie ein. Die Hypothese, dass eine Entzündungsreaktion die Bedingung für die Entstehung einer Lungenfibrose ist, scheint hier nicht aufrecht zu halten zu sein. Die Entzündungsreaktion spielt hier offensichtlich eine untergeordnete Rolle oder ist nur eine Begleitreaktion der Lungenfibrose. Lungenfibrose Die Lungenfibrose ist eine Reaktion, bei der es zur Vernarbung des Lungengewebes kommt. Für die Entstehung der Lungenfibrose spielen verschiedene Zelltypen eine wichtige Rolle. Die wichtigsten sind nach heutigem Kenntnisstand Fibroblasten, Endothelzellen und Alveolarepithelzellen. Nach einer Schädigung des Lungengewebes, deren Ursache bei den idiopathischen interstitiellen Pneumonien unbekannt ist, kommt es entweder zunächst zu einer Entzündung und anschließend zu einer Aktivierung der Fibroblasten, oder sie werden direkt, das heißt ohne vorausgehende Entzündung aktiviert. Dies ist davon abhängig, welches Modell zugrunde gelegt wird. Die Aktivierung der Fibroblasten wird durch verschiedene Botenstoffe initiiert, zum Beispiel Wachstumsfaktoren wie Transforming growth factor beta 1 (TGF-β1) und verschiedene Interleukine, die aus anderen Zellen und den Fibroblasten selbst freigesetzt werden. Dies führt zu einer Zellvermehrung (Proliferation) der Fibroblasten sowie zu einer Neubildung von Grundsubstanz und Bindegewebsfasern. Normalerweise wird diese Reaktion streng reguliert, das heißt, dass nach Beseitigung der Schädigung oder der Wundheilung die Aktivität der Fibroblasten gehemmt wird: einerseits durch die geringere Ausschüttung von Botenstoffen, andererseits durch den programmierten Zelltod (Apoptose) der Fibroblasten. Bei der Lungenfibrose funktionieren diese Regulationsmechanismen nicht adäquat. Dies führt dazu, dass zu viel Bindegewebe gebildet wird. Die Alveolarsepten werden breiter, so dass es zu einer Gasaustausch- oder Diffusionsstörung (respiratorische Insuffizienz) kommt. Darüber hinaus verliert die Lunge ihre Dehnbarkeit (Compliance) und kann sich im Rahmen der Einatmung nur durch erhöhte Atemarbeit im ausreichenden Maße ausdehnen. Es entsteht eine sogenannte restriktive Ventilationsstörung. Beide Faktoren – die Gasaustauschstörung und die restriktive Ventilationsstörung – führen zum Leitsymptom der Lungenfibrose, der Atemnot. In fortgeschrittenen Stadien der Lungenfibrose wandern die Fibroblasten darüber hinaus in das Lumen der Alveolen ein und bilden auch dort neues Bindegewebe. Es bilden sich fibrotische Areale in den Alveolen, die als fibrotische Foci bezeichnet werden. Dadurch wird die Struktur der Lunge in diesen Bereichen zerstört, was mit einem vollständigen Funktionsverlust einhergeht. Symptome Das Leitsymptom der idiopathischen interstitiellen Pneumonien, wie auch der meisten anderen interstitiellen Lungenerkrankungen ist eine Atemnot, die im Anfangsstadium nur bei körperlicher Belastung auftritt. Da es sich bei den IIP typischerweise um eine restriktive Ventilationsstörung handelt, haben die Betroffenen vor allem Schwierigkeiten bei der Einatmung. Bei fortgeschrittenem Schweregrad (Progredienz) der Erkrankung kann die Atemnot, je nach Krankheitsform, auch in Ruhe auftreten und im Endstadium können die Erkrankungen in eine respiratorische Insuffizienz übergehen. Charakteristisch für Lungenfibrosen ist auch ein trockener Husten ohne Auswurf. Aufgrund der eingeschränkten Funktionsfähigkeit der Lunge, hinsichtlich des Gasaustausches und der Compliance, kann es zu einem Sauerstoffmangel im Blut, einer so genannten Hypoxämie kommen. Diese kann sich in Form einer Zyanose, das heißt einer violetten bis bläulichen Verfärbung der Haut, der Schleimhäute und der Fingernägel bemerkbar machen. Auch Trommelschlägelfinger und Uhrglasnägel können sich als Zeichen der Hypoxämie ausbilden. Bei starkem Sauerstoffmangel können auch Bewusstseinsstörungen auftreten. Diagnose Basisdiagnostik Anamnese und körperliche Untersuchung Am Beginn der Untersuchung steht die Erhebung einer ausführlichen Krankheitsvorgeschichte (Anamnese). Dabei werden die Patienten unter anderem nach den aktuellen Beschwerden, bereits bekannten Erkrankungen, eingenommenen Medikamenten und Erkrankungen in der Verwandtschaft befragt. Die Anamnese hat einen hohen Stellenwert, da sie dabei hilft, andere Erkrankungen auszuschließen und eine Verdachtsdiagnose zu stellen. Bei vielen Erkrankungen werden vom Patienten charakteristische Symptome geschildert, so dass sich die Verdachtsdiagnose häufig, nach weiteren Untersuchungen, als die Richtige herausstellt. Bei Lungenerkrankungen kann der im deutschsprachigen Raum verbreitete Frankfurter Bogen hilfreich sein. Dieser Bogen wird vom Patienten ausgefüllt und berücksichtigt nahezu alle wichtigen Gesichtspunkte, die bei Lungenerkrankungen von Bedeutung sind. Die Symptome der idiopathischen interstitiellen Pneumonien sind unspezifisch. Die Atemnot, die bei allen IIP-Formen vorkommt, weist darauf hin, dass eine Lungenerkrankung vorliegen könnte, sie kann aber auch durch zahlreiche andere Erkrankungen hervorgerufen werden, wie zum Beispiel durch Herzerkrankungen. Dies gilt in ähnlicher Weise auch für die anderen geschilderten Symptome. Die Diagnose oder die Verdachtsdiagnose einer IIP kann daher nicht allein aufgrund der Anamnese gestellt werden. Auf die Anamnese folgt üblicherweise eine ausführliche körperliche Untersuchung. Der Schwerpunkt liegt bei Lungenerkrankungen auf dem Betrachten (Inspektion) der gesamten Körperoberfläche, dem Abklopfen (Perkussion) des Brustkorbs sowie dem Abhören (Auskultation) der Lunge mit einem Stethoskop. Es sind vor allem die Fibrose-typischen Veränderungen, die bei einer IIP mit einer körperlichen Untersuchung aufgedeckt werden können. Häufig kann man auskultatorisch ein deutliches Knisterrasseln hören, das auch als Sklerophonie bezeichnet wird und durch feinblasige Nebengeräusche gekennzeichnet ist, die gegen Ende der Ein- und Ausatmung auftreten. Mit Hilfe der Perkussion können die ebenfalls für Lungenfibrose typischen hochstehenden Lungengrenzen aufgedeckt werden. Die bereits genannten Symptome Zyanose, Trommelschlägelfinger und Uhrglasnägel fallen bei der Inspektion auf. Die körperliche Untersuchung lässt bei IIP ebenfalls keine sichere Diagnose zu, kann das Feld der möglichen Erkrankungen aber weiter einschränken. Technische Untersuchungsverfahren Zur Basisdiagnostik bei einem Verdacht auf eine ILD oder eine IIP gehören technische Untersuchungsverfahren, insbesondere die Untersuchung der Lungenfunktion sowie eine Röntgenaufnahme des Brustkorbs. Bei der Bewertung der Lungenfunktion spielt vor allem die Bodyplethysmografie eine wichtige Rolle. Bei einer Lungenfibrose kommt es zu einer restriktiven Ventilationsstörung, die mit dieser Methode aufgedeckt werden kann. In Frühstadien der Erkrankung kann der Nachweis einer solchen Störung allerdings fehlen. Eine Blutgasanalyse vor und nach körperlicher Belastung sowie die Bestimmung des CO-Transferfaktors können bereits in Frühstadien Hinweise auf das Vorliegen einer IIP liefern. Beide Untersuchungsverfahren gehören ebenfalls zum Repertoire der Basisdiagnostik. Fibrotische Veränderungen können des Weiteren auf Röntgenbildern der Lunge sichtbar gemacht werden. Auch hier gilt, dass Veränderungen in Frühstadien so gering sein können, dass sie sich der konventionellen Röntgendiagnostik entziehen. Typische Zeichen einer Lungenfibrose im Röntgenbild sind Konsolidierungen, Traktionsbronchiektasien und Milchglasverschattungen. Konsolidierungen entstehen durch fibrotisches Gewebe in den Alveolen und stellen sich im Röntgenbild als helle Areale dar, da sie elektronendichter sind als luftgefüllte Alveolen. Traktionsbronchiektasien sind Ausweitungen der Bronchien und werden durch den Zug verursacht, der auf sie ausgeübt wird und bei einer Lungenfibrose durch die Schrumpfung des Lungengewebes entsteht. Bei den Milchglasverschattungen handelt es sich ebenfalls um helle Areale, die durch die Zerstörung der Lungenarchitektur verursacht werden. Weiterführende Diagnostik Besteht nach der Basisdiagnostik der dringende Verdacht auf eine IIP, wird in der Regel eine spezielle Computertomografie (CT), die als High Resolution CT bezeichnet wird, durchgeführt. Im Vergleich zur normalen CT wird hiermit eine höhere Auflösung (engl. high resolution) erreicht. Mit der HRCT können die meisten Fälle von IIP mit hoher Wahrscheinlichkeit identifiziert werden und die verschiedenen Krankheitsformen differenziert werden. Typische Merkmale der Lungenfibrose im CT sind neben Milchglasverschattungen und Traktionsbronchiektasien eine so genannte Honigwabenlunge oder kurz Honigwaben (engl. honeycombing). Die Honigwabenlunge wird so aufgrund ihrer ähnlichen Struktur zu den Bienenwaben bezeichnet. Die Honigwaben entstehen infolge der Degeneration des Lungengewebes. Wenn eine Diagnose oder eine Differenzierung mit dieser Methode nicht möglich ist, muss auf invasive Untersuchungsverfahren zurückgegriffen werden. An erster Stelle der invasiven Untersuchungen steht die Bronchoskopie mit bronchoalveolärer Lavage (BAL) und transbronchialer Biopsie. Ist auch hiermit kein Ausschluss oder eine Sicherung der Diagnose möglich, muss eine Thorakotomie (offene Lungenbiopsie) oder eine videoassistierte Thorakoskopie (VATS) durchgeführt werden, die den Goldstandard in der Diagnostik der IIP darstellt. Nach den Empfehlungen der Konsensus-Konferenz sollten mindestens drei Proben aus verschiedenen Lungenlappen mit einer Mindestgröße von jeweils 2 cm entnommen werden. Therapie Pharmakologische Therapie Die Therapie der idiopathischen interstitiellen Pneumonien (IIP) wird im Wesentlichen mit zwei Gruppen von Medikamenten durchgeführt. Zum einen mit einem Glukokortikoid, etwa Prednisolon, und zum anderen mit so genannten Immunsuppressiva, vor allem Azathioprin und Cyclophosphamid. Die Wirksamkeit der Medikamente ist abhängig von der Form der IIP, an welcher der Patient erkrankt ist. Während die pharmakologische Therapie bei der idiopathischen Lungenfibrose (IPF) und der akuten interstitiellen Pneumonie (AIP) keinen oder nur einen vorübergehenden Effekt auf den Verlauf der Erkrankung hat, sprechen die anderen Formen gut auf eine entzündungshemmende Therapie an, so dass eine Heilung erfolgen oder zumindest die mittlere Überlebenszeit erheblich verlängert werden kann. Das unterschiedliche Ansprechen auf die entzündungshemmende Therapie ist wahrscheinlich auf eine unterschiedliche Pathogenese der verschiedenen Formen zurückzuführen. Bei der IPF und AIP steht nach aktuellem Forschungsstand die Fibrose im Vordergrund und die Entzündungsreaktion ist nur eine Begleitreaktion oder eine Folge davon. Bei den anderen Formen ist es dagegen die Entzündung des Lungeninterstitiums, die das Krankheitsgeschehen bestimmt und die erst im Endstadium der Erkrankung durch Fibrosevorgänge überlagert wird. Für Therapie der IPF und AIP werden daher große Hoffnungen in Substanzen gelegt, die das Fortschreiten der Fibrose, das heißt die Zellvermehrung der Fibroblasten und die Kollagensynthese, hemmen können. Eine Vielzahl solcher Substanzen befindet sich zu Zeit (2008) in klinischen Studien. Sie sind aber für die Standardtherapie der IIP bisher nicht zugelassen. Lungentransplantation Eine Lungentransplantation kann in Erwägung gezogen werden, wenn sich die IIP oder die Lungenfibrose im Endstadium befindet und nicht auf eine medikamentöse Therapie anspricht. Die Lungentransplantation erhöht bei fortgeschrittenen Lungenfibrosen die Überlebensrate. Die Transplantation eines Lungenflügels ist der Transplantation von zwei Lungenflügeln ebenbürtig. Die Indikation für eine Lungentransplantation wird häufig nicht rechtzeitig gestellt. Nach einer Studie, in die 1376 Patienten einbezogen wurden, starben mehr als 30 Prozent aufgrund langer Wartezeiten, noch bevor die Lungentransplantation durchgeführt werden konnte. Klinische Unterschiede der idiopathischen interstitiellen Pneumonien Idiopathische pulmonale Fibrose (IPF) Die idiopathische pulmonale Fibrose oder idiopathische Lungenfibrose ist die häufigste IIP und hat die schlechteste Prognose. Die durchschnittliche Überlebenszeit beträgt nach Diagnosestellung durchschnittlich drei Jahre und die Fünf-Jahres-Überlebensrate liegt zwischen 20 und 40 Prozent. Die Patienten sind zum Zeitpunkt der Diagnosestellung meist älter als 60 Jahre und Männer sind etwas häufiger betroffen als Frauen. Die Inzidenz beträgt etwa 6/100.000. Die morphologischen Veränderungen sind überwiegend in Bereich der Lungenbasis, das heißt im unteren Bereich der Lunge, lokalisiert. Das typische histologische Muster der IPF wird als Usual Interstitial Pneumonia (UIP, gewöhnliche interstitielle Pneumonie) bezeichnet und ist charakterisiert durch eine fleckenförmige Fibrose sowie eine honigwabenartige Struktur der Lunge. Das Muster der UIP ist charakteristisch, aber nicht spezifisch für die IPF und kommt auch bei anderen interstitiellen Lungenerkrankungen vor. Im Röntgenbild zeigt sich in fortgeschrittenen Stadien der Erkrankung eine basale retikuläre (netzförmige) Gefäßzeichnung. In der HRCT (High Resolution Computertomographie) sind Traktionsbronchiektasien sowie Honigwaben mit basaler und subpleuraler Verteilung typisch. Der Krankheitsbeginn der IPF ist schleichend und durch eine zunehmende Atemnot, trockenen Reizhusten und basal betontes Knistern bei der Lungenauskultation gekennzeichnet. Die IPF kann auch im Verlauf schon bestehender Lungenerkrankungen, beispielsweise kombiniert mit einem Emphysem bei einer COPD auftreten; Rauchen ist auch ein Risikofaktor für die IPF. Die IPF spricht auf eine Therapie mit Glukokortikoiden, auch in Kombination mit immunsuppressiven Medikamenten, in der Regel nicht an. Als eine wirksame therapeutische Maßnahme wird in besonderen Fällen die Lungentransplantation angesehen. Als Medikament ist in der EU seit 2011 und in den USA seit 2014 Pirfenidon (Handelsname Esbriet®) für noch nicht weit fortgeschrittene Fälle zugelassen. Nach ersten Daten verlangsamt dieser Wirkstoff den Krankheitsverlauf; häufige Nebenwirkungen sind Schwindel, Übelkeit, Hautausschlag, gesteigerte Lichtempfindlichkeit der Haut. Im Jahr 2015 wurde Nintedanib (Handelsname Ofev®) für alle Krankheitsstadien der IPF in den USA und Europa zugelassen. Nicht spezifische interstitielle Pneumonie (NSIP) Die nicht spezifische interstitielle Pneumonie (NSIP) ist unter den idiopathischen interstitiellen Pneumonien (IIP) die zweithäufigste und variantenreichste Form. Die Betroffenen sind meist zwischen 50 und 60 Jahre alt und damit im Durchschnitt etwas jünger als an der IPF erkrankte Patienten. Frauen und Männer sind gleichhäufig betroffen. Die NSIP zeigt bezüglich der morphologischen Veränderungen keine typische Lokalisation. Die Veränderungen sind vielmehr über die gesamte Lunge homogen und meist symmetrisch verteilt. Das histologische Muster wird ebenfalls als NSIP bezeichnet. Es existieren zwei Untergruppen (Subtypen) der NSIP, ein zellulärer und ein fibrotischer Subtyp. Beim zellulären Subtyp wird das histologische Erscheinungsbild von Entzündungszellen dominiert, beim fibrotischen Subtyp sind zusätzlich ausgeprägte Fibroseareale vorhanden. Wie das histologische Bild ist auch das radiologische Bild variantenreich. Neben diffus verteilten Milchglastrübungen findet man Mikronoduli und Honigwaben. In fortgeschrittenen Stadien ist die normale Lungenstruktur im Röntgen- und im CT-Bild nur noch schwer zu erkennen, da sie durch Bronchiektasien, Zysten und Konsolidierungen zerstört ist. Die Symptomatik der NSIP unterscheidet sich nur unwesentlich von der bei IPF. Sie zeigt allerdings einen milderen Verlauf, ist langsamer fortschreitend und hat eine bessere Prognose. Die Prognose ist außerdem abhängig vom histologischen Subtyp und ist beim zellulären Subtyp besser als beim fibrotischen Subtyp, da dieser besser auf eine antientzündliche Therapie anspricht. Insgesamt ist die medikamentöse Therapie wesentlich erfolgversprechender, als dies bei der IPF der Fall ist. Da die morphologischen Veränderungen der NSIP so vielseitig sind, bereitet die Diagnose den Ärzten, im Vergleich mit anderen IIP, die größten Schwierigkeiten. Dies gilt insbesondere für den fibrotischen Subtyp. Kryptogene organisierende Pneumonie (COP) Als kryptogene organisierende Pneumonie (Cryptogenic Organizing Pneumonia) wird ein Krankheitsbild bezeichnet, dessen klinische, radiologische und pathologische Eigenschaften relativ charakteristisch sind. Wie bei der NSIP gibt es bei der COP keine Bevorzugung eines Geschlechts und das durchschnittliche Alter der Patienten liegt zwischen 50 und 60 Jahren. Nichtraucher sind in etwa doppelt so häufig betroffen wie Zigarettenraucher. Die Ursache für diese statistische Auffälligkeit ist nicht bekannt. Das histologische Muster wird als organisierende Pneumonie (OP) bezeichnet. Es ist gekennzeichnet durch das Auftreten von Granulationsgewebe, das die Bronchiolen und Alveolen ausfüllt. Das Parenchym der Lunge wird durch diese Veränderungen nicht zerstört. Dieses Muster tritt nur selten in der idiopathischen Form auf. Häufig können andere Erkrankungen als sekundäre Ursache für diese Veränderungen verantwortlich gemacht werden, zum Beispiel Kollagenosen sowie infektiös- oder medikamentös-induzierte Erkrankungen. Eine ähnliche Histologie tritt auch bei der Bronchiolitis obliterans auf. Daher wurde die COP früher auch als Bronchiolitis-obliterans-organisierende Pneumonie (BOOP) bezeichnet. Um Verwechslungen mit dem eigenständigen Krankheitsbild der Bronchiolitis obliterans zu vermeiden, ist diese Bezeichnung inzwischen nicht mehr gebräuchlich. Auf Röntgen- und CT-Bildern stellt sich das Granulationsgewebe in Form von so genannten Konsolidierungsarealen dar, die vor allem im Bereich um die Bronchien herum (peribronchial) sowie direkt unter der Pleura (subpleural) lokalisiert sind. Um die Konsolidierungen können Milchglasverschattungen auftreten. Das Krankheitsbild beginnt meist mit allgemeinen Symptomen, wie Unwohlsein, Fieber, Gewichtsverlust und trockenem Husten. Die Symptome nehmen innerhalb von ein bis drei Monaten zu. Die COP lässt sich gut mit Glukokortikoiden behandeln und besitzt eine gute Prognose. Häufig flammt die Erkrankung nach Absetzen der Therapie wieder auf. Dies wird als Rezidiv bezeichnet. Beim Auftreten von Rezidiven kann die Erkrankung erneut mit Glukokortikoiden behandelt werden. Akute interstitielle Pneumonie (AIP) Die akute interstitielle Pneumonie (AIP) hat, im Gegensatz zu den anderen idiopathischen interstitiellen Pneumonien (IIP), einen akuten Verlauf. Sie ist durch das plötzliche Auftreten von Symptomen gekennzeichnet und mündet häufig in eine fortschreitende Störung der Atmung (Ateminsuffizienz). Die Erkrankung hat die schlechteste Prognose der IIP. In über der Hälfte der Fälle ist der Verlauf tödlich. Die meisten Todesfälle treten ein bis zwei Monate nach Krankheitsbeginn auf. Dem Ausbruch der AIP geht häufig eine Infektion der oberen Atemwege voraus, die durch allgemeines Krankheitsgefühl, Gliederschmerzen, Fieber und Schüttelfrost gekennzeichnet sein kann. Bei den Patienten kommt es dann innerhalb weniger Tage zu Atemnot (Dyspnoe), die zunächst nur bei Belastung auftritt. Bereits im Anfangsstadium lässt sich ein Sauerstoffmangel im Blut (Hypoxämie) nachweisen. Charakteristisch ist außerdem ein deutliches Knisterrasseln, das als Zeichen der Konsolidierung im Rahmen einer restriktiven Ventilationsstörung zu werten ist. Aus dem Sauerstoffmangel im Blut (Hypoxämie) entwickelt sich in wenigen Wochen eine Atemnot in Ruhe (Ruhedyspnoe), die in eine Ateminsuffizienz übergehen kann. Der Patient muss in diesem Stadium mit Sauerstoff versorgt und unter Umständen maschinell beatmet werden. Das histologische Muster wird als diffuse alveoläre Schädigung (engl. diffuse alveolar damage, kurz DAD) bezeichnet und lässt sich nicht von pathologischen Veränderungen unterscheiden, die beim akuten Atemnotsyndrom des Erwachsenen (engl. acute respiratory distress syndrome, kurz ARDS) auftreten. AIP und ARDS unterscheiden sich lediglich in der Ursache. Während das ARDS vor allem im Rahmen einer Sepsis oder eines Schocks auftritt, ist die Ursache der AIP unbekannt. Louis Virgil Hamman und Arnold Rice Rich beschrieben bereits in den 1940er Jahren ähnliche Fälle, die später als Hamman-Rich-Syndrom zusammengefasst wurden. Wahrscheinlich handelt es sich bei diesen Fällen um die Beschreibung der heute als AIP bezeichneten Erkrankung. Respiratorische Bronchiolitis mit interstitieller Lungenerkrankung (RB-ILD) und desquamative interstitielle Pneumonie (DIP) Bei der respiratorischen Bronchiolitis mit interstitieller Lungenerkrankung und der desquamativen interstitiellen Pneumonie handelt es sich um Erkrankungen mit ähnlichem, aber unterscheidbarem Erscheinungsbild. Beide Erkrankungen kommen vor allem, die RB-ILD ausschließlich und die DIP in der Regel, bei Rauchern vor. Das mittlere Erkrankungsalter liegt bei jeweils etwa 40–50 Jahren und Männer sind etwa doppelt so häufig betroffen wie Frauen. Die RB-ILD ist die symptomatische Variante der respiratorischen Bronchiolitis, einer Entzündung der Bronchiolen, die bei Rauchern regelmäßig durch Zufall gefunden werden kann. Das histologische Muster der asymptomatischen und der symptomatischen Variante wird gleichfalls als respiratorische Bronchiolitis (RB) bezeichnet. Die DIP wird von einigen Experten als die fortgeschrittene Variante der RB-ILD angesehen. Dies ist allerdings zweifelhaft, da die DIP im Gegensatz zur RB-ILD gelegentlich auch bei Nichtrauchern vorkommt und aufgrund der doch erheblichen morphologischen Unterschiede (siehe unten). Die Konsensus-Klassifikation sieht aufgrund dieser Unsicherheit eine Trennung beider Varianten vor. Der Begriff der DIP wurde 1969 von Liebow und Carrington unter der falschen Annahme eingeführt, es handele sich bei diesen Zellansammlungen um Abschilferungen des Alveolarepithels. Diese Abschuppung von Zellen wird als Desquamation (von lat. squama „Schuppe“) bezeichnet. Trotzdem wurde der Begriff der DIP in der aktuellen Klassifikation beibehalten, unter anderem, weil es sich bei der DIP um eine Rarität handelt, und nicht durch den besser passenden Begriff Alveolarmakrophagen-Pneumonie ersetzt. Das histologische Muster der DIP wird ebenfalls als DIP bezeichnet. Das histologische Bild beider Formen ist durch zahlreiche Ansammlungen (Akkumulation) von braun pigmentierten Makrophagen in der Lunge gekennzeichnet. Bei der RB-ILD sind die pigmentierten Makrophagen überwiegend in den Lumina der Bronchiolen (bronchiolozentrisch) lokalisiert, während sie bei der DIP vorwiegend in den Lumina der Alveolen (intraalveolär) zu finden sind. Bei der DIP ist außerdem eine geringgradige Fibrose charakteristisch. Auch bei der Verteilung der morphologischen Veränderungen unterscheiden sich beide Krankheitsbilder. Während die RB-ILD vor allem in den Oberlappen der Lunge zu finden ist, weist die DIP eine bevorzugte subpleurale Lokalisation mit Dominanz in den Unterlappen auf. Dieses Verteilungsmuster ist besonders gut in der HRCT nachweisbar. Bei der RB-ILD sind so genannte zentrilobuläre Knötchen, bei der DIP Milchglasverschattungen charakteristisch. Die klinische Symptomatik ist durch eine langsame Entwicklung von Atemnot und trockenem Reizhusten gekennzeichnet. Bei etwa der Hälfte der Patienten finden sich außerdem Trommelschlägelfinger. Beide Formen sprechen gut auf Glukokortikoide an und haben eine gute Prognose. Nur in seltenen Fällen entwickelt sich bei der DIP eine respiratorische Insuffizienz, die eine hohe Letalität aufweist. Lymphoide interstitielle Pneumonie (LIP) Die LIP tritt bevorzugt bei Frauen mit einem Altersgipfel um das 50. Lebensjahr auf. In der idiopathischen Form ist die LIP die seltenste IIP. Weit häufiger tritt sie sekundär im Rahmen von Autoimmunerkrankungen und bei Immunschwäche auf. Das histologische Muster wird wie die klinische Diagnose als LIP bezeichnet und ist gekennzeichnet durch Infiltration der Alveolarsepten mit Lymphozyten und Makrophagen sowie durch die peribronchiale Bildung von Lymphfollikeln. Die Veränderungen sind diffus über die ganze Lunge verteilt. In der HRCT sind Milchglasverschattungen charakteristisch. Die Patienten haben nur eine gering ausgeprägte Symptomatik und leiden vor allem unter leichter Atemnot und Husten. Bei den sekundären Formen stehen die Symptome der Grunderkrankung im Vordergrund. Die LIP kann in seltenen Fällen in eine Lungenfibrose oder in ein malignes Lymphom übergehen. Abgesehen von dieser Komplikation hat die LIP eine gute Prognose. Die Therapie erfolgt in der Regel mit Glukokortikoiden, deren Wirksamkeit bei dieser IIP-Form allerdings noch nicht durch randomisierte Studien bewiesen wurde. Idiopathische interstitielle Pneumonien bei Tieren Die Gruppe der idiopathischen interstitiellen Pneumonien bei Tieren ist bislang nur wenig untersucht. Daher gibt auch es kein geeignetes Modelltier für Grundlagenuntersuchungen – die Bleomycin-induzierte Lungenfibrose bei Nagetieren ist nur eine im Erscheinungsbild (phänomenologisch) ähnliche Erkrankung, erfüllt aber nicht die Anforderungen an ein adäquates Modell. Gehäuft findet man solche chronisch-idiopathischen Erkrankungen bei einigen Terrierrassen (West Highland White Terrier, Staffordshire Bullterrier, Scottish Terrier). Die canine idiopathische Lungenfibrose tritt vor allem bei älteren Tieren auf und entspricht der kryptogenen organisierenden Pneumonie des Menschen. Bei Katzen sind in der Literatur nur wenige Fälle einer IIP beschrieben, nach einer aktuellen Studie entspricht sie bei Katzen der idiopathischen pulmonalen Fibrose (IPF) des Menschen und wird vermutlich durch einen Defekt der Typ-II-Pneumozyten hervorgerufen. Bei Vögeln gibt es bislang nur einen einzigen Fallbericht bei einer Blaustirnamazone. Forschungsgeschichte Die erste Beschreibung einer interstitiellen Lungenerkrankung geht auf das Jahr 1892 zurück und stammt von dem kanadischen Mediziner William Osler. Er erkannte bereits das vielfältige Erscheinungsbild und wies auf die Notwendigkeit und die Schwierigkeit einer weiteren Klassifikation der Veränderungen hin. Der Internist Louis Virgil Hamman und der Pathologe Arnold Rice Rich berichteten 1944 über vier Patientenfälle, die von einer akuten diffusen interstitiellen Fibrose betroffen waren. Nach ihnen wurde das Hamman-Rich-Syndrom benannt. Dieser Begriff wurde daraufhin eine Zeit lang für alle Erkrankungen verwendet, bei denen es zu einer chronischen diffusen Fibrosierung der Lunge mit unbekannter Ursache kam, obwohl es sich bei den beschriebenen Fällen um akute Verläufe handelte. Wahrscheinlich beschrieben die Autoren seinerzeit die heute als akute interstitielle Pneumonie bezeichnete Form. Die erste histologische Klassifikation idiopathischer interstitieller Lungenerkrankungen stammt von den beiden Pathologen Averill Abraham Liebow und Charles B. Carrington (1969). Die damalige Klassifikation unterschied fünf histologische Muster, die erstmals unter dem Oberbegriff idiopathische Lungenfibrose geführt wurden. Das Hamman-Rich-Syndrom wurde als akute Variante der „Usual Interstitial Pneumonia“ (UIP, gewöhnliche interstitielle Pneumonie) eingeordnet. Die Liebow-Carrington-Klassifikation wurde 1997 von Anna-Luise A. Katzenstein und 1998 in Zusammenarbeit mit Jeffrey L. Myers weiterentwickelt und dem aktuellen Forschungsstand angepasst. Die Ursache der „Giant Interstial Pneumonia“ (GCP, Riesenzell-Pneumonie) wurde inzwischen aufgeklärt. Sie wird durch die Inhalation von Metallstäuben ausgelöst und als Hartmetallfibrose bezeichnet. Die lymphoide interstitielle Pneumonie wurde den „lymphoproliferativen Erkrankungen“ (LPD, lymphoproliferative diseases) zugeordnet. Einzelnachweise Anmerkung: Der Artikel baut, wenn keine anderen Quellen angegeben wurden, auf der Veröffentlichung der Konsensuskonferenz von 2002 auf: American Thoracic Society/European Respiratory Society International Multidisciplinary Consensus Classification of the Idiopathic Interstitial Pneumonias. In: Am J Respir Crit Care Med. 165(2), 15. Jan 2002, S. 277–304. PMID 11790668. . Literatur J. Müller-Quernheim: Interstitielle Lungenerkrankungen. Thieme, Stuttgart 2001, ISBN 3-13-132281-0. H. Schweisfurth u. a.: Wie werden interstitielle Lungenerkrankungen in Deutschland diagnostiziert? In: Pneumologie. 57, 2003, S. 373–382. doi:10.1055/s-2003-40557 Weblinks Mikroskopische Abbildungen der sieben verschiedenen Formen der idiopathischen interstitiellen Pneumonien (englisch) Erklärungen zur idiopathischen interstitiellen Pneumonie Krankheitsbild in der Pneumologie
3212868
https://de.wikipedia.org/wiki/Metallurgie
Metallurgie
Metallurgie (gleichbedeutend Hüttenwesen) bezeichnet die Gesamtheit der Verfahren zur Gewinnung und Verarbeitung von Metallen und anderen metallurgisch nützlichen Elementen. Das Wort Metallurgie setzt sich zusammen aus dem altgriechischen für eine Abbaustätte und dem Suffix (zu ‚Arbeit‘) für den eine Tätigkeit Ausübenden. Demgemäß arbeitet ein Metallurg in Abbaustätten und mit deren Inhalten. Das lateinische Wort ist begrifflich enger, es bedeutet lediglich Metall. Geschichte Erzvorkommen begründen metallurgisches Werken Kupfer-, Bronze- und Eisenwerkzeuge, nach denen Geschichtsepochen benannt wurden, verdanken ihren Ursprung Erkenntnissen, die man zufällig oder beabsichtigt, anfänglich sogar nur durch Ausbisse (frei zutage liegende Erzadern), gewann. Beispielgebend ist die Kupferzeit mit dem auffälligen Cuprit. Aus der Kupferzeit entwickelte sich nach Entdeckung zinnhaltiger Erze (Cassiterit) die Bronzezeit, gefolgt von der Eisenzeit. Alle Epochen sind Zeugnisse zielgerichteten metallurgischen Werkens. Hiervon ausgehend ist es dennoch ein langer Weg, bis mit dem Betrieb des ersten Hochofens das „abgestochene“ Roheisen in Mengen für Eisenguss und ab dem 18. Jahrhundert für die Stahlerzeugung verfügbar wurde. Die Stahlzeit und die im 20. Jahrhundert neben sie getretene Erdmetallzeit bestimmen heute viele Lebensumstände der Menschen. Die traditionsreichen deutschen Vorkommen galten seit dem späten 20. Jahrhundert nach Kalkulation der Grenzkosten als ausgebeutet – die Selbstkosten übersteigen den Gewinn am Markt. Dies betrifft den an Zinkerz reichen Goslarer Rammelsberg, das hessisch-siegerländische Eisenerz und den Uranabbau im sächsischen Erzgebirge, in dem bis 1990 Uranerz in wenig umweltverträglichem Umfang gefördert wurde. Als nicht mehr abbauwürdig galt bislang noch der jahrhundertelang betriebene Bergbau auf Silber im deutschen wie im slowakischen Erzgebirge. Gleiches gilt bisher noch für andere europäische Erzvorkommen, von denen das „Tauerngold“ im österreichischen Rauriser Tal auch deshalb erwähnenswert ist, weil sein Abbau durch nachweisliche, längerfristige Temperaturänderungen einmal begünstigt und dann wieder behindert wurde. Ab 2010 führte nicht nur der stark angestiegene, börsennotierte Silberpreis zu Überlegungen, im Erzgebirge auf der Grundlage neuer Erkenntnisse zu Abbauwürdigkeit und Abbautechnik von Silbererzen und anderen wertvollen Bodenschätzen zu prospektieren. Bergbauberechtigungen wurden nachgesucht, deren Erteilung 2011 bekannt wurde. Die stetig wachsende Erdbevölkerung und Industrialisierung, besonders des asiatischen Raums, bedingt seit Beginn des 21. Jahrhunderts einen stark wachsenden Bedarf an Rohstoffen für metallurgische Produkte, nicht zuletzt aufgrund neuer technischer Entwicklungen (Verkehrswesen, Kommunikationselektronik). Weltweit werden daher unter zunehmender chinesischer Beteiligung neue Lagerstätten erkundet. Hilfswissenschaft dieser auch als Exploration bezeichneten Tätigkeit ist die Geologie, präzisierend auch als Geometallurgie bezeichnet. Die von gestiegener Nachfrage getriebene Entwicklung der Rohstoffpreise führt dazu, dass einige der vorgenannten Abbaugebiete, soweit sie nicht völlig erschöpft sind, bei anhaltender oder sogar zunehmender Nachfrage eine Verschiebung der Grenzkosten bewirken und dadurch reaktiviert werden können. Sogar bisher unerkannte Vorkommen, etwa in der mitteldeutschen Lausitz, werden für künftige Ausbeutung in Betracht gezogen. Insbesondere die Suche nach Vorkommen von seltenen Erdmetallen, die für künftige technische Entwicklungen überaus wichtig sind, wird lebhaft betrieben. Im Erzgebirge werden nicht nur neue Bergwerke für Flussspat und Schwerspat geöffnet, es wird auch auf das Vorhandensein bisher noch nicht erschlossener polymetallischer Lagerstätten für Lithium, Germanium, Indium sowie Wolfram, Molybdän und Tantal verwiesen. Aus alten Erfahrungen und sich stetig erneuernden Erkenntnissen ist die Metallurgie zu einer Technologie gewachsen. Schon im 19. Jahrhundert wurde zwischen Eisenmetallurgie und Nichteisenmetallurgie unterschieden. Der Stand der Technik sichert diesen beiden Haupt- sowie den Nebendisziplinen nicht nur die eigene Forschung. unterstützt wird sie von anderen Disziplinen, die den Gesamtprozess vom Ausgangsstoff bis zu gebrauchsfertigen Gütern begleiten, darunter die Metallkunde, eng verbunden mit der Materialkunde, die Chemie sowie der Ofen-, Maschinen- und Anlagenbau. Zeittafel Die folgende Zeittafel versucht die Entwicklung der Metallurgie vom Neolithikum bis zum Beginn der Moderne wiederzugeben. Die Zeitangaben für Kulturveränderungen sind für Europa, Asien und Afrika nicht immer übereinstimmend. Ausgehendes Mesolithikum (ca. 5500 v. Chr.) und beginnendes Neolithikum (ab 8000, nach anderen Angaben ab 5500 bis 2000 v. Chr.) sind sich überschneidend angegeben. Die jüngere Datierung reicht mit den bereits anzutreffenden Keramikkulturen (Schnur- und Bandkeramik, Glockenbecher als mit metallischem Schmuck gefüllte Grabbeigaben) noch weit in den auf ca. 5000 v. Chr. datierten Beginn der auch als Kupferzeit und in der Frühphase als Kupfersteinzeit bezeichneten frühen Bronzezeit hinaus. Vom Kupferbeil bis zur Bronzezeit Die Entwicklungsgeschichte der Metallurgie hatte ihren Anfang vor etwas mehr als 8000 Jahren im zu Ende gehenden Mesolithikum und im Übergang in die Jungsteinzeit (siehe dazu voranstehende Zeittafel). Neuere Forschungen in Kleinasien entdeckten sogar in frühen, ca. 12.000 Jahre alten Siedlungen erste metallurgische Ansätze. Sie bestätigen die Ansicht, wonach die frühe Metallurgie entscheidend von der Umstellung der nomadisierenden Jäger und Sammler zu Ackerbauern und Siedlern mit „festem Herd“ anstelle wechselnder, offener Feuerstellen bestimmt wurde. Vielleicht steht am Anfang metallurgischer Erkenntnisse ein zufälliger Fund, sei es von gediegenem (reinem) Metall wie das glänzende Flussgold aus Gebirgswässern, oder ein metallreiches Erz (Rotkupfererz), das wegen seiner Farbe Interesse weckte. Es ist vorstellbar, dass in einer Feuergrube durch natürliche Abdeckung mit Asche bei niedergehender Verbrennung Holzkohle entstehen konnte, die aus 80 % Kohlenstoff besteht. Wird ein nach Verbrennung der flüchtigen Bestandteile flammenlos, also anscheinend matt gewordenes Feuer durch Luftzufuhr (blasen) aufgefrischt, werden beim Verbrennen der Holzkohle 1000 °C und mehr erreicht. Aus Rotkupfererz wird dann Kupfer, aus Zinnkies, einem Kupfer-Zinn-Eisen-Schwefel-Erz, eine natürliche Legierung aus Kupfer und Zinn ausgeschwitzt. Das konnte zu metallurgischen Überlegungen angeregt haben. Bildliche Darstellungen zeigen den Einsatz von Blasrohren zu dieser Technik. Der zugeführte Luftsauerstoff oxidiert Schwefelgehalte im Erz, ebenso den für die schmiedende Bearbeitung von Eisen hinderlichen Kohlenstoff, falls dieser Gehalte im Eisen von über zwei Prozent aufweist. Schwefel wird zu flüchtigem, weil gasförmig anfallendem Schwefeldioxid (SO2), Kohlenstoff zu Kohlenstoffdioxid (CO2), wobei zusätzlich Reaktionswärme entsteht. Erste zweckgerichtete Verhüttungsöfen sind bereits für die frühe Kupfersteinzeit (4500–3500 v. Chr.) nachgewiesen, nach Forschungen des 21. Jahrhunderts vermutet man sie (Kupferbeile) auf dem Gebiet des heutigen Serbien. Leitfunde metallurgischen Wirkens sind ab 3000 v. Chr. die (keramischen) Glockenbecher als bei Bestattungen einheitliches Merkmal unterschiedlicher Kulturkreise (Glockenbecherkultur). Die Gräber enthalten außer den namengebenden Glockenbechern vielfältige Grabbeigaben, darunter Schutzschilde und Dolche aus Kupfer, ferner Gold und Elfenbein. Auf die frühe folgte eine späte Kupferzeit, die jedoch ab 3000–2500 v. Chr. bereits in die frühe Bronzezeit überging. In sehr langen Zeiträumen und in sich teilweise überschneidenden Kulturkreisen, aber in deutlicher Anlehnung an lokale und regionale Erzvorkommen (böhmisches Erzgebirge) entstanden mit der Zeit Zentren metallurgischer Weiterentwicklung, die sich durch Handelsstraßen und Schifffahrtswege miteinander verbanden. Dies geschah in Mitteleuropa, in der Ägäis (Schiff von Uluburun), in Südspanien, in England, im Karpatenraum und auf dem Balkan. Diesem Kreis floss um 3000 v. Chr., zu Beginn der frühen Bronzezeit, Wissen aus dem Kaukasus und aus Anatolien zu, das ebenso nach Griechenland (Beginn des Frühhelladikums), Kreta und Ägypten gelangte und in den dort bereits ausgeprägten Hochkulturen für Kunstwerke wie in der Alltagswelt Eingang fand. Darstellungen zur altägyptischen Metallgewinnung aus der XVIII. Dynastie (Mitte des 15. Jahrhunderts v. Chr.) befanden sich etwa im Grab des Wesirs Rechmire. Die notwendige Temperatur wurde nach den Abbildungen mittels an den Füßen befestigter Blasbälge erzielt. Für den Mittelmeerraum bildete Kupfer, griechisch chalkos (Chalkidike), bei den Römern aes cyprium („Erz aus Zypern“) genannt, mit reichen Vorkommen die Grundlage für eine nun umfassende metallurgische Weiterentwicklung, die nicht nur Kleinteile und Waffen zu Handelsartikeln der Phönizier machte, sondern auch Großbronzen hervorbrachte. Der Koloss von Rhodos wurde schon damals zu den Weltwundern gezählt. Die Verarbeitung von Gold als Wertaufbewahrungsmittel erkannte bereits Pharao Menes aus der ersten Dynastie des alten Reichs, er ließ kleine Goldbarren mit einer Art Garantiestempel versehen. Kenntnisse, Gold zu schmelzen und zu bearbeiten, lassen sich auf 3000 v. Chr. zurückführen und liegen auch wegen der fast gleichen Schmelzpunkte von Gold (1063 °C) und Kupfer (1083 °C) nahe. Getriebene und gegossene Gebrauchsgegenstände und Schmuckstücke aus Gold und Silber (Schmelzpunkt 960,5 °C), ferner zahlreiche Teile aus reinem Kupfer wurden von Heinrich Schliemann 1873 bei seiner Suche nach dem homerischen Troja gefunden und im Irrtum als „Schatz des Priamos“ einer weit jüngeren Kultur zugeordnet. Die Skythen, ein Reitervolk ohne Schrift- und Münzwesen, insofern noch keine Hochkultur, stellten bereits sehr kunstfertig Goldschmuck her, wie erschlossene Fürstengräber (Kurgane) zeigen. Auch die Kelten verwendeten Gold für Schmuckgegenstände und Herrschaftsinsignien. Als Mittel zur kontrollierbaren Wertaufbewahrung für die Untertanen wurde Gold ungefähr 600 v. Chr. von König Krösus von Lydien zu Münzen geschlagen („Goldstater“). Damit wurde es zugleich Zahlungsmittel. Die ägyptischen Ptolemäer gewannen in vorchristlicher Zeit Gold bergmännisch in Golderz führenden Minen, die Römer beuteten die spanischen Silbererzvorkommen aus, um Münzen, Statuen, Gefäße und andere Beweise des Reichtums herzustellen. Vorderer Orient, Indien, China, Südostasien, Japan Im vorderen Orient finden sich Bronzen, beispielsweise die eines Königskopfs, aus der Zeit des akkadischen Reichs (Mesopotamien) um 2300 v. Chr. Obwohl die Kenntnisse vorhanden waren, bildeten die nachfolgenden Reiche ihre Herrscher bevorzugt wieder in Stein oder Alabaster ab. Im 2. und 3. Jahrtausend v. Chr. beschränkten sich die herstellbaren Metalle auf Gold, Silber, Kupfer, Zinn und Blei, wobei in den gefundenen Artefakten noch weitere Metalle gefunden wurden, die sich beim Verhütten aus Erzen mit den Hauptmetallen legiert hatten. Bei den Bronzen wurden zwei Legierungen hergestellt und verarbeitet, die Arsenbronze und die Zinnbronze. Eisen fiel zunächst als Nebenprodukt bei der Verhüttung von Kupfer an, wurde dann aber ab dem 1. Jahrtausend v. Chr. immer bedeutungsvoller. In Teilen des indischen Subkontinents wird gegen Ende des 4. Jahrtausends v. Chr. der Gebrauch von Kupfer und Bronze nachweisbar, zeitgleich mit der Herausbildung „städtischen Lebens“ (Indus-Kulturen). Südostasien kennt Kupfer und Bronze etwa seit 3000 v. Chr. Aus China wird dies erst um 1600 v. Chr. berichtet. Gut bearbeitbare Legierungen (mit erniedrigten Schmelzpunkten) wie goldfarbenes Messing werden erfunden. Dokumentiert ist auf diesem Gebiet der Einfluss der von 1700 bis 1100 v. Chr. herrschenden Shang-Dynastie. Auf sie werden die bronzenen Trommeln (Dong-Son-Kultur) zurückgeführt, die um 1000 v. Chr. zahlreich in den südlichen Provinzen anzutreffen sind. Aus dem 7. Jahrhundert v. Chr. stammt eine Bronzeglocke, die für die Fürsten (Könige) von Qin gegossen wurde. In der Folge wurde Bronze für recht unterschiedliche Zwecke eingesetzt. Aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. des relativ kurzlebigen Qin-Kaiserreichs wurden Balkenverkleidungen für den Hausbau, Münzen und natürlich Waffen gefunden. Im Reiche der Fürsten (Könige) von Qin wird Bronze jedenfalls nicht mehr nur für Kultgegenstände, sondern vielfältig verwendet. Japan steht kulturell zuerst unter dem Einfluss Chinas und der dort verbreiteten mongolisch-schamanistischen und schintoistischen Kulte. Um 500 n. Chr. fasst der Buddhismus Fuß. Die Figur des Daibutsu von Nara, aus einer zinnarmen Bronze gegossen, soll 380 t schwer sein. Belege für früheres metallurgisches Wirken sind Bronzespiegel aus der Periode zwischen 3000 und 710 v. Chr. aber auch die Yayoi-Zeit ab 350 v. Chr. wird ebenfalls aus Spiegeln, Glocken und Waffen sichtbar. In der Gesamtschau steht der asiatische Raum mit seinen metallurgischen Kenntnissen nicht hinter dem europäischen zurück, wenngleich erst seit 600 v. Chr. von einer beginnenden Eisenzeit gesprochen wird. Karawanenwege wie die Seidenstraße, vielleicht mehr noch der Handel auf dem Seewege, begünstigen zunehmend den Austausch von Erkenntnissen und aus solchen entstandenen Produkten. Dazu gehört eine 200 v. Chr. in Europa noch unbekannte, weißglänzende Kupferlegierung, die in China „Packfong“ genannt wird. Von der frühen Bronzezeit bis zum Beginn der frühen Eisenzeit Wegen des nicht zwischen Kupfer und Bronze differenzierenden griechischen Worts chalkos (χαλκὀς) wird die frühe Bronzezeit auch späte Kupferzeit genannt. Die aus Erfahrung gewonnene Kenntnis einer gezielten Verbesserung der Eigenschaften von Kupfergegenständen durch Zulegieren von Zinn und Zink setzte sich nach heutigen Maßstäben relativ schnell durch. Messing als Kupfer-Zink-Legierung ist entweder chinesischer oder persisch-indischer Herkunft. Figürliche Funde beweisen die fast gleichzeitige Entwicklung bei Blei. Der verbreitet vorkommende Bleiglanz wurde zuerst nur als Silberträger gesucht, bei dessen Gewinnung anfallendes Blei galt als Abfall. Sein niedriger Schmelzpunkt von nur 327 °C begünstigte, einmal erkannt, Überlegungen, die zu vielfältiger Nutzung führten. Man kennt sehr frühe figürliche Gegenstände (Hallstattfunde), gefolgt von Gebrauchsgegenständen – (römische Zeit mit Gefäßen, Röhren, Platten). Bleiguss erlangte noch eine späte Blüte in Denkmälern der Barockzeit, wobei die Giftigkeit der beim Schmelzen auftretenden Bleidämpfe sehr lange nicht beachtet wurde. Ein weiteres „historisches“ Metall ist Nickel. Als Bestandteil von Kupfer-Zink-Legierungen (Messing) fand es sich erstmals um 200 v. Chr. in China. Bis heute ist das nickelhaltige Neusilber Basistyp für Bestecklegierungen. Biblische Überlieferungen Biblische Überlieferungen sind zeitlich schwer einzuordnen, gehen aber auf sehr alte Schriften zurück. Schmelzen, Läuterung (Reinigen der Schmelze von Fremdstoffen) und Treibarbeit (zur Entbleiung) werden fachlich korrekt an verschiedenen Stellen der alttestamentlichen Bibel beschrieben. In Tubal-Kain und Maleachi werden frühe Metallurgen und ihre pyrometallurgischen Techniken beschrieben. Sie weichen von den heutigen in ihren Grundlagen nur wenig ab. Schmuck- und Gebrauchsgegenstände aus Gold, Silber und Bronze wurden verfertigt. Eisen war nicht unbekannt, wurde aber – nach den Funden zu schließen – noch recht selten verwendet, so dass ihm sogar Schmuckeigenschaft zukam. In Jeremia 6, Vers 27–30, wird ein Metallurg zum Richter über Abtrünnige, die er in einem Vergleich mit ungenügend getriebenem als „verworfenes Silber“ bezeichnet. Im 2. Buch Mose, 32:1–4, wird überliefert, dass das „Goldene Kalb“ aus eingeschmolzenem Schmuck der sich von Jahwe abwendenden Israeliten gegossen worden sein soll. Der lange Weg in die Eisenzeit Bereits in der mittleren Bronzezeit (in Mitteleuropa ab 1200 v. Chr.) begann die allmähliche Verdrängung der Bronze durch Eisen, dessen Gewinnung möglich wurde – wenngleich nach heutigen Maßstäben auf noch recht einfache Weise – nachdem man die erforderlichen Grundprinzipien erlernt hatte. Zur reduktiven Herstellung von Eisen aus Eisenerzen benötigte man deutlich höhere Temperaturen als für die Gewinnung von Kupfer bzw. Bronze. Mit dem zur Verfügung stehenden Brennstoff und Reduktionsmittel Holzkohle erforderte das eine besondere Konstruktion der Verhüttungsöfen in Bezug auf die Luftzufuhr, um die notwendigen Temperaturen zu erreichen. So fiel das Eisen nur in gesinterter (nicht in geschmolzener) Form an, als sogenannte Luppen, weil die Schmelztemperatur des Eisens von 1538 °C mit den zur Verfügung stehenden Öfen nicht erreicht werden konnte. Zudem gab es noch keine Verarbeitungstechniken für Roheisen, das sich schmiedetechnisch nicht formen lässt. Im Rennofenprozess entstehen neben kohlenstoffarmem Eisen auch Stahl und Gusseisen in unterschiedlichen Anteilen. Während die Kelten Stahl an seinen Eigenschaften erkannten und verarbeiteten, konnte Gusseisen nicht genutzt werden. Durch später erlernte Techniken wie Aufkohlen, Härten und Anlassen war man in der Lage, die Eigenschaften von Eisen-Kohlenstoff-Legierungen und damit Stahl zu verbessern, womit allmählich das Kupfer bzw. die Bronze verdrängt wurde. Sichtbar wurde dies in der um 700 v. Chr. voll ausgeprägten Hallstattkultur, die als frühe Eisenzeit bezeichnet wird. Kelten, Slawen und Italiker hatten daran gleichen Anteil. Etwa ab 450 v. Chr. folgte als zweite Stufe die Latène-Zeit, eine eisenzeitliche Epoche, die bis zur Zeitenwende und noch darüber hinaus reichte. Waffen, Werkzeuge und Gebrauchsgegenstände wurden aus Stahl und Eisen gefertigt. Der Übergang von der Bronze- zur Eisenzeit ist ein aus heutiger Sicht langsamer Fortschritt, denn abgesehen von in die Zeit um 5000 v. Chr. zurückdatierten Einzelfunden aus Ägypten trugen erst ab 1600 v. Chr. (Hyksos) sich wiederholende Einfälle von mit Eisenwaffen kämpfenden Reitervölkern zur Verbreitung des Eisens bei. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Verwendung des aus dem Indogermanischen stammenden Worts ehern, also von großer Dauerhaftigkeit (vergleiche Aera). Nördlich der Alpen verstand man darunter Eisernes, für Italiker und Iberer war es Bronzenes. Eisen für Waffen gelangte ab 660 v. Chr. auf Handelswegen aus Asien bis nach Nordafrika, fand sich jedoch, was erstaunlich ist, erst 700 Jahre später (100 n. Chr.) im Süden Afrikas. Die mittelamerikanischen Hochkulturen gaben Belege für die Verwendung von Eisen erst für die Zeit um 500 n. Chr. Die Bedeutung von Herrschaftseinflüssen für die metallurgische Entwicklung Die Darstellung metallurgischer Entwicklung in Kulturepochen, die keineswegs abrupt, sondern mit oft langen Übergangszeiten aufeinander folgten, wird von geschichtlichen Herrschaftsepochen überlagert. Am nachhaltigsten hat sich die Antike eingeprägt. Ihr Beginn wird etwa um 2500 v. Chr. gesehen und mit der frühen Bronzezeit gleichgesetzt. Deutlicher wurde der Einfluss mit dem Beginn der in Ursprung und Auswirkung umstrittenen dorischen Wanderung um 1100 v. Chr. In ihrem Verlauf setzten sich von Norden kommende berittene „Krieger mit Eisenwaffen“ gegen noch mit Bronzeschwertern und zweirädrigen Streitwagen kämpfende Gegner durch. Sie brachten aber nicht nur auf diesem Gebiet Fortschritte (Balkan- oder „Karpatentechnik“). Der bis dahin vorherrschende kretisch-minoische Einfluss, Plätze wie Mykene und Tiryns einschließend, wurde nach vielen lokalen und regionalen Kriegen schließlich von der sich über weite Teile des Mittelmeerraums ausdehnenden (Magna Graecia) hellenischen Antike abgelöst (Tempelbau mit Hilfe von Bronzeklammern und dorischen, ionischen und korinthischen Kapitellen). Gold und Silber wurden als gediegenes Metall gefunden, insbesondere leicht zugängliches Flussgold, oder als silberhaltige Ablagerung (Goldseifen) sowie aus sichtbar silberreichen Erzadern. Als wertvolles Gut waren Gold und Silber nicht nur Handelsgegenstand, sondern auch Beute auf Kriegszügen. Der so gewollte oder erzwungene regionale und überregionale Austausch trug zur Verfeinerung der aus Mykene und frühen Schichten Trojas überlieferten Kunstfertigkeit bei der Herstellung von ornamentalem Schmuck und Kultgegenständen bei. Von großer Bedeutung waren ab 700 v. Chr. die ersten Münzprägungen aus Gold oder Silber. Sparta als Ausnahme führte um 660 v. Chr. Eisen in Barrenform als „Inlandswährung“ ein. Die hellenisch bestimmte Antike erreichte einen Höhepunkt um 500 v. Chr., danach wurde sie vom bereits um 1000 v. Chr. beginnenden Aufstieg der Etrusker und ab 700 v. Chr. von dem Roms bestimmt. Dabei blieb es für fast ein Jahrtausend, in dem es immerhin für eine Oberschicht noch lange als vornehm galt, sich „griechisch“ zu geben. In der Römerzeit reichte die Bedeutung der Bronze nochmals über figürliche Darstellungen (Standbilder) und Kultgegenstände hinaus. Sie blieb im Bauwesen bei der Verbindung von Marmorteilen weiterhin unentbehrlich (gegossene oder geschmiedete Bronzeklammern), ferner bei Bedachungen und im Wagenbau. Eisen war wegen seines im Vergleich zu Kupfer, aber auch zu Gold und Silber sehr hohen Schmelzpunkts von 1535 °C immer noch schwer herzustellen. Seine Verwendung beschränkte sich bis in die Zeit der Merowinger auf Werkzeuge und vor allem Waffen. Berühmt war damals der Damaszenerstahl, dessen Herstellung aus dem Bemühen resultierte, aus inhomogenem Rennfeuereisen durch häufiges Falten und Feuerverschweißen einen homogenen Werkstoff mit vorhersagbaren Eigenschaften zu machen. Dieser Schmiedevorgang, der als Raffinieren bezeichnet wird, wenn er lediglich einen Grundwerkstoff verwendet, war bei den frühen Eisenprodukten stets notwendig zur Reinigung und Homogenisierung, sogenannter Schweißverbundstahl (Damaszenerstahl/Schweißdamast) entstand bei der Verwendung von verschiedenen Legierungen. Erst im frühen Mittelalter (Beginn der Wikingerzeit) konnten solche Legierungen (Zuschläge bzw. unterschiedliche Gehalte von Kohlenstoff, Phosphor, Arsen usw.) gezielt hergestellt und zu einem Muster-Damast verarbeitet werden (sogenannte wurmbunte Klingen). Dieser wurde sichtbar gemacht durch Ätzen der Metalloberfläche. Die Bezeichnung Damaszenerstahl stammt ursprünglich aus der Handelsmetropole Damaskus, damals ein Umschlagplatz auch für sogenannten Schmelz- oder Kristallisationsdamast (Wootz), der um 300 v. Chr. aus Indien und Persien kam. Alle sogenannten Damaszenerstähle haben die gleichen Eigenschaften wie ihre Ursprungsmetalle, werden also so gehärtet und angelassen und zeigen keine überragenden Leistungen gegenüber gut verarbeitetem Mono-Stahl, wie er später von den Franken auf den Waffenmarkt gebracht und weit verbreitet wurde. Daher bedeutete das Auftauchen dieser hochwertigen Stähle auch zunächst einen Rückgang und schließlich das Ende der frühen Damaszenerstahl-Fertigung. In die Spätantike fiel die Zeit der vorwiegend germanischen Völkerwanderung vom 4. bis 6. Jahrhundert n. Chr. Rom verwandelte sich ab der Zeit Kaiser Konstantins zu einem christlichen Reich. Noch nicht völlig von der Bronzekultur gelöst (Denkmale), ging das Weströmische Reich 476 unter, während sich das Oströmische Reich behaupten konnte. Die Kenntnisse des Bronzegießens erhielten sich im religiösen Bereich, dort (Glockenguss seit 750, Kirchentüren aus Rotguss 1015 in Hildesheim) und als Herrschaftszeichen (Braunschweiger Löwe von 1166). Die Erfindung des Schießpulvers brachte neue Aufgaben. „Stückgießer“ sollen 1372 die ersten Kanonen aus Erz – also aus Bronze – gegossen haben. Gießhütten entstanden und wieder waren es die Kirche und die Herrscher, die Grabmäler und Denkmale in Auftrag gaben. Neben die Bronze trat hierfür Messing mit dem Sebaldusgrab in Nürnberg (1519). Ab 1800 wurde Kunstguss aus Eisen „hoffähig“ (Grabplatten) und im 19. Jahrhundert entstanden wieder Herrscher und Staat bestätigende Großbronzen der Neuzeit (Bavaria in München 1850). Vom mittelalterlichen Hochofen zu Blas- und Elektrostahl Europa lag lange der „industriell“ betriebenen Gewinnung und Verarbeitung von Metallen, nicht allein von Eisen, hinter China und Ägypten zurück. Die bei Ausgrabungen in Ägypten gefundenen, vermutlich 5000 Jahre alten, noch gut konservierten Eisengegenstände lassen keine sicheren Schlüsse auf die damalige Art der Eisengewinnung zu. Immerhin ist alten wie neueren Nachschlagewerken (Meyer, Brockhaus) zu entnehmen, dass bereits um 1200 v. Chr. die Philister (Talbewohner im Unterschied zu den bergbewohnenden Israeliten) Kenntnisse in der Eisengewinnung hatten. Bronze konnte noch in einem aus Lehm gefertigten Niederschachtofen mit natürlichem Zug hergestellt werden, die Gewinnung und Verarbeitung von Eisen war jedoch mit Einsatz eines leistungsfähigen Blasebalgs leichter, wenn es auch selbst ziehende Öfen in diesem Bereich gab. Nur durch ausreichende Zufuhr von Luftsauerstoff ist eine Temperatursteigerung von für Bronzen ausreichenden 1100 °C auf die für die Eisengewinnung nötigen mehr als 1200 °C möglich. In der frühen Eisenzeit wurden in Rennöfen (Rennfeuer) aus einer Mischung von eisenreicheren Erzen wie Hämatit/Roteisenerz und Holzkohle und der Luftzufuhr mittels noch sehr einfacher Blasebälge (Rennfrischen) sogenannte Luppen – ungeformte Klumpen/Schwammeisen aus schmiedbarem (weil kohlenstoffarmem) Eisen – gewonnen und für Waffen, Rüstungen und Werkzeuge verwendet. Dieser erste Schritt in die Eisenzeit brachte bereits nennenswerte Eisenmengen hervor. Eine Verbesserung führte im Mittelalter zu den sogenannten Wolfs- oder auch Stücköfen, Vorläufern des heutigen Hochofens. Sie lieferten auf der Sohle (Boden des Ofens) flüssiges Roheisen, der darüber befindliche „Wolf“ gab beim Glühen und Frischen Kohlenstoff ab und wurde zu Stahl oder schmiedbarem Eisen. Obwohl in zeitgenössischen Aufzeichnungen von ersten Hochschachtöfen (Hochöfen im heutigen Sprachgebrauch) bereits im 14. Jahrhundert und von frühindustrieller Eisenerzeugung im 15. Jahrhundert berichtet wird, kann von einer im technischen Sinne zu Recht sogenannten Eisenzeit erst gesprochen werden, als es gegen Ende des 16. Jahrhunderts erstmals gelang, mit durch Wasserkraft angetriebenen Blasebälgen dauerhaft Temperaturen von mehr als 1400 °C zu erreichen. Damit ließ sich der erste konzeptionell echte, aber noch auf Holzkohle aus in den noch dichten Wäldern angelegten Kohlenmeilern angewiesene Hochofen in Gang setzen, der Roheisen in nennenswerten Mengen erzeugen konnte. Mittelalterliche Büchsenmeister – anstelle der früheren „Stückgießer“ – verarbeiteten es als „Formguss“ zu Geschützen und Kanonenkugeln, später zu verschiedenen „Gusswaren“ wie dem eine ganze Industrie begründenden Siegerländer Ofenplattenguss. Mit der Weiterentwicklung einfacher Schachtöfen zu kleinen Hochöfen, heute Kupolöfen genannt, konnten auch größere Mengen an Gusseisen erschmolzen werden. Damit wurde der Eisenbau möglich, der vom verzierten Gartenpavillon bis zu größeren Objekten (Brücke über den Severn, Gießhalle der Sayner Hütte) Gusssegmente lieferte, die dann zu Fertigbauten zusammengesetzt wurden. Die Zusammenfügung von gegossenen und gewalzten Teilen führte gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu Großbauten (Frankfurter Bahnhofshalle), bis diese Technik vom reinen Stahlbau abgelöst wurde. Parallel zu dieser Entwicklung vervollkommnete sich der Eisenguss seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts durch den Bedarf der Maschinenbauer und des Eisenbahnwesens an eisernen Gussteilen. Georgius Agricola (1494–1555), Mineraloge, Geologe und Verfasser des für Erzabbau und -verhüttung grundlegenden Werks De re metallica libri XII (Zwölf Bücher vom Berg- und Hüttenwesen), gab mit genauen Beschreibungen und Stichen technischer Einrichtungen und Verfahren, wie beispielsweise „Fahrkunst“, „Wasserkunst“, Stollenbau, Schmelzofenbau, oder Röst- und Treibarbeit, nicht nur für seine Zeit gültige Regeln für eine „moderne“ Metallurgie. Die erhalten gebliebenen Anlagen der für Bergbau und Verhüttung unerlässlichen „Wasserkunst“ wurden im Jahr 2010 als Oberharzer Wasserregal zum Weltkulturerbe erklärt. Ein nicht mehr mit Holzkohle, sondern mit Koks betriebener Hochofen ging 1781 in England in Betrieb, 1796 folgte das schlesische Gleiwitz. 1837 wurden erstmals die heißen Gichtgase nutzbar gemacht (Faber-du-Faur-Verfahren). Da das frühe Roheisen mit bis zu 10 % Kohlenstoffgehalt weder schmiedbar noch schweißbar war, wurden verschiedene Methoden des „Frischens“, also des Kohlenstoffentzugs, entwickelt. Das „Windfrischen“ hält Einzug Vom historischen Ansatz „Herdfrischen“ ausgehend über den arbeitsintensiven „Puddelofen“ gab es eine Lösung mit dem 1855 von Henry Bessemer erfundenen „Windfrischen“, bei dem Pressluft von unten durch ein mit saurer (silikatischer) Masse ausgekleidetes, großes birnenförmiges Gefäß (Bessemerbirne) geblasen wurde. Dabei wurden Kohlenstoff – und mit ihm noch andere unerwünschte, oxidierbare Beimengungen des Roheisens, wie das (Prozesswärme liefernde) Silicium – so weit oxidiert, faktisch verbrannt, dass das derart behandelte Eisen schmiedbar wurde. Auf der Weltausstellung 1867 fand der Siemens-Martin-Ofen („SM-Ofen“) große Aufmerksamkeit. 1878 wurde das Bessemerverfahren von Sidney Thomas und Percy Gilchrist durch eine basische Auskleidung der „Birne“ entscheidend verbessert, die auch den Phosphorgehalt reduziert. Mit diesem Verfahren wurden die Brauneisenerze mit niedrigem Eisengehalt (30–55 % Fe), zu denen auch die sehr feinkörnig geförderte lothringische Minette gehört (nur 20–40 % Fe), und deutsches Raseneisenerz (Salzgitter) zu Guss- und Schmiedestahl verarbeitbar. Die im Hochofenprozess im Verhältnis 2:1 überwiegende Schlacke wurde – gemahlen – als phosphorhaltiges „Thomasmehl“ zum ersten Kunstdünger für die Landwirtschaft, die damit aber von der Eisenverhüttung abhängig blieb, bis im 20. Jahrhundert die Ammoniaksynthese nach Haber und Bosch eine Alternative wurde. Die genannten Blasstahlverfahren wurden nochmals verbessert mit dem LD-Verfahren (patentiert Dezember 1950), das bei der Stahlerzeugung zum Frischen reinen Sauerstoff einführt und nach gut vierhundert Jahren Geschichte des Hochofens (der indessen bei entsprechenden Bedingungen nach wie vor seine technische Berechtigung behielt) zum Stand der Technik wurde. Der Hochofen verliert an Bedeutung Der klassische Hochofen verlor seine Alleinstellung als Roheisenlieferant für die Stahlerzeugung bereits mit der Einführung des Siemens-Martin-Ofens mit der Martinschen Regenerativfeuerung. In ihm wird bei einer Temperatur von 1700 °C im „Herdfrischverfahren“ Roheisen zusammen mit oxidhaltigem Schrott zu kohlenstoffarmem Stahl (Schrottverwertung als erstes Recyclingverfahren). Das Elektrostahl-Verfahren geht noch einen Schritt über das Siemens-Martin-Verfahren hinaus. Schrotte und durch Direktreduktion aus reichen Erzen erzeugter Eisenschwamm (Pellets) werden in einem Lichtbogenofen zu Stählen oder Gusseisensorten. Eine weitere Vereinfachung war der Einsatz von Gas (Schiefergas) zur Reduktion von Eisenoxiden zu Eisenschwamm, der sich unmittelbar zur Stahlerzeugung einsetzen lässt. Ein auf maximalen Durchsatz ausgelegtes, herkömmliches Hochofenwerk ist wegen seines großen Bedarfs an Einsatzstoffen auf einen vorteilhaften Standort angewiesen, um wirtschaftlich sein zu können. Für den Hochofenbetrieb sind dies lokale oder regionale Erz- oder Kohlevorkommen, ergänzt durch die Infrastruktur. Ein bedeutendes deutsches Werk in Duisburg, Europas größtem Binnenhafen, schätzt die Standortvorteile so hoch ein, dass nach Jahrzehnten 2008 ein neuer Hochofen in Betrieb ging. Ein österreichisches Werk wurde seinem Erzvorkommen nahe (Steirischer Erzberg) am Großschifffahrtsweg Rhein-Main-Donau errichtet. Binnen- und Seehäfen mit genügender Kapazität ermöglichen es heute, die Einsatzstoffe kostengünstig per Schiff zuzuführen und damit selbst an erz- und kohlearmen Standorten ein Hochofenwerk zu betreiben. Das Elektrostahlwerk (Mini-Stahlwerk), dem eine Verkehrsanbindung zu Land oder Wasser genügt, tritt dennoch zunehmend an dessen Stelle. Es kann sich elastisch an die jeweils verfügbaren Mengen seines Rohstoffs Schrott anpassen und anders als ein Hochofen diskontinuierlich und bei geringerer Umweltbelastung arbeiten. Eine Gegenbewegung versuchte man mit der Abwanderung der klassischen Roheisenerzeugung im Hochofen samt dem angeschlossenen Stahlwerk zu den Basisrohstoffen, vornehmlich Lagerstätten mit hochwertigem Eisenerz (Brasilien, Belo Horizonte). Der so erreichte Vorteil sollte den global orientierten Transport der Erzeugnisse begünstigen. Bisher wurden die Erwartungen aber nicht erfüllt. Die Wiederkehr des Kupfers In der Mitte des 19. Jahrhunderts und mit der einsetzenden Industrialisierung begann in Europa eine Art neuer Zeit für Kupfer und Kupferlegierungen: Nicht mehr die Bronzen standen im Vordergrund. Die Wiederkehr des Kupfers wurde nachdrücklich von einer neuen Legierung auf Kupferbasis bestimmt, sie heißt „Gun Metal“ oder „Kanonenbronze“ und ist eine den damaligen militärischen Anforderungen gerecht werdende Kupfer-Zinn-Zink-Blei-Legierung, hauptsächlich für Geschütze. Später und bis heute wird sie als Maschinenbronze oder Rotguss bezeichnet und besonders für Armaturen eingesetzt. In gleicher Weise von Bedeutung für den Verbrauch von Kupfer ist die Wiederentdeckung des historischen Messings als besonders vielseitige Guss- wie Knetlegierung (Patronenhülsen, Kartuschen, Bleche, Drähte und daraus hergestellte Drahtgeflechte). Aus feinen Messingdrähten gefertigte Siebe für Haus und Gewerbe tragen die Bezeichnung Leonische Waren. Heute sind es die in hochspezialisierten Werken hergestellten „Kabelbäume“, nach denen die moderne Elektronik nicht nur für Kraftfahrzeugen und Großflugzeuge verlangt. Der zivile Bereich benötigte mit der Einführung der Telegrafie, später des Telefons, größere Entfernungen überbrückende, hoch leitfähige Kupferdrähte. Gleiches gilt für die Ankerwicklung, seit Werner von Siemens 1866 das dynamo-elektrische Prinzip entdeckte. Durch die damit ermöglichte Anwendung des Elektromagneten waren gegen Ende des 19. Jahrhunderts kleine, schnelllaufende Elektroantriebe (Elektromotoren) für Arbeitsmaschinen verfügbar und ersetzten allmählich Dampfmaschine und Treibriemen. Es folgten die Generatoren zur Stromerzeugung in Kraftwerken und es entstand damit wieder ein Bedarf für die zur Übertragung der hochgespannten Ströme nötigen Freileitungen aus Kupfer. Für öffentliche und individuelle Heizungsanlagen und Wasserversorgung (Armaturen) entsteht Bedarf an Kupferrohren. Für wassergekühlte Verbrennungsmotoren in Automobilen wird ein Röhrenkühler aus Kupfer (Kühler) verwendet. Insgesamt waren gemäß Fachpresse im Jahr 2008 in einem Auto rund 25 kg Kupfer enthalten. Für Elektroautomobile rechnen gleiche Quellen mit einem Mehrbedarf von 40 kg Kupfer je Fahrzeug. Im Schiffbau findet das korrosionsfeste und Muschelbewuchs abwehrende Kupfer unterhalb der Wasserlinie Anwendung (Fouling), oberhalb dominiert dagegen Messing bei Ausrüstungsgegenständen, Beschlägen und Instrumenten. Die dabei bewiesene Resistenz gegen Witterungseinflüsse ließ zahlreiche Einsatzmöglichkeiten im Bauwesen wie im Verkehr entstehen. Die bakterizide Eigenschaft von Messingklinken und -griffen erweist sich bei öffentlichen Verkehrsmitteln als vorteilhaft. Die „Erdmetalle“ kommen Neben die sich den Erfordernissen der Moderne (Stahlkonstruktionen, Eiffelturm) anpassende „Eisenzeit“ tritt seit dem Ende des 19. Jahrhunderts etwas metallurgisch völlig Neues, die „Erdmetallzeit“. Die Bezeichnung Erdmetalle tragen die sie bestimmenden Elemente deshalb, weil sie als metallführendes Erz nicht vorkommen, sondern nur in Verbindungen, die – chemisch vereinfachend – als Erden bezeichnet werden. Meist ist dies die oxidische Form: bei Aluminium, dem bekanntesten aller Erdmetalle der Gruppe IIIa des periodischen Systems der Elemente, ist diese der Bauxit. Spodumen, ein Lithium-Aluminium-Silikat, erst mit der Entwicklung zum superleichten Metall ins Blickfeld gerückt, findet sich auch in Deutschland in ausgedehnten Lagerstätten, die ihrer eingehenden Aufsuchung entgegensehen. Seltenerdmetalle Das periodische System kennt 14 Metalle der Seltenen Erden, als Lanthanoide bezeichnet. Hinzugenommen werden Scandium, Yttrium und Lanthan, sodass oft von 17 Elementen gesprochen wird. Eine Unterteilung nach Atommasse unterscheidet leichtere von schwereren Elementen, wobei die für eine neue Technologie und ihre nachgeordneten Anwendungstechniken besonders gesuchten schwereren hinsichtlich Vorkommen und Ergiebigkeit den leichteren nachstehen. Dabei gewannen die Seltenen Erden zu einem noch um die Mitte des 20. Jahrhunderts nicht entfernt zu erwartenden Ausmaß an Bedeutung. Ein Wirtschaftsbeitrag titelte in diesem Zusammenhang: „Aus Salz wurde Gold“. Der hohe Bedarf in den letzten beiden Jahrzehnten an den Elementen für die Spitzentechnologien führte 2010/2012 zu problematischen Preis-Turbulenzen auf dem Weltmarkt. Hintergrund „Seltene Erdmetalle“ sind keineswegs im Wortsinne „selten“, aber lange galt, dass zwar nur 30 % der auf 100 Millionen Tonnen geschätzten Weltreserven aus erdgeschichtlichen Gründen (lithophile Anreicherungen) in China liegen, das jedoch 2010 mit 95 % der Förderung von 135.000 t, den Weltverbrauch bediente. Neuere Berichte relativieren frühere Aussagen und verweisen auf bei nachhaltiger Aufbereitung abbauwürdige Vorkommen in allen Erdteilen, vornehmlich in Australien, in Vietnam, in Kanada, den USAa und auch auf Grönland. In Sachsen-Anhalt befindet sich das Vorkommen Storkwitz. Durch die Knappheit angeregtes Prospektieren führt zu überraschenden Ergebnissen: „Japan entdeckt seltene Erden in seinen Gewässern“, hochkonzentriert, jedoch in einer schwierig auszubeutenden Tiefe von 5000 Metern. Durch diese expansiven Aktivitäten verlor China mittlerweile das Monopol in der Rohstoff-Produktion, doch behielt es die Dominanz in den Techniken zur Weiterbearbeitung, die seit 2019 zu latenten Konflikten mit den USA führten. Zu den Ergebnissen der neuen Elektrokommunikation zählt jedoch auch die Entwicklung allgegenwärtiger Informationsmöglichkeiten. Verarbeitung und Anwendung Enthalten sind die seltenen Erdmetalle in unterschiedlich häufig vorkommenden Mineralien mit vorwiegend oxidisch-silikatischem Charakter. Ein scandiumreiches Mineral ist der in Norwegen und auf Madagaskar zu findende Thortveitit. Die meisten Vorkommen sind von Yttrium bekannt, da es in zahlreichen Mineralien begleitend enthalten ist, die wenigsten von Lutetium. Lanthan findet sich in Monazitsand (sekundäre, angereicherte Ablagerungen von Cerphosphat) zusammen mit anderen „leichten“ seltenen Erdmetallen als Begleiter. Man bezeichnet diese Vorkommen auch als Ceriterden, da sie lange ausschließlich der Gewinnung von Cer dienten. Technisch komplex ist die Trennung von Trägermineralien oder -erzen wie zum Beispiel in Bauxit. Zur Gewinnung der reinen Elemente werden die Mineralien meist nasschemisch bearbeitet und dabei zu Chloriden umgewandelt, die getrocknet und danach einer Schmelzflussanalyse unterzogen werden. Cer, vielfältig eingesetztes Element dieser Gruppe, wurde bereits im 19. Jahrhundert industriell genutzt, sowohl für die Glühstrümpfe der noch verbreiteten Gasbeleuchtung, als auch als Basis für die von Carl Auer von Welsbach entwickelte Legierung zur Herstellung von Zündsteinen, u. a. für Taschenfeuerzeuge. Eine Legierung aus 48–52 % Cer, dem man außer Lanthan noch weitere Lanthanoide sowie 0,5 % Eisen zusetzt, wird seit dem 20. Jahrhundert bei Gusseisen mit Kugelgraphit, und bei Legierungen vieler Nichteisenmetalle als „Cermischmetall“ zur kornfeinenden Gefügebeeinflussung (siehe Schmelzebehandlung) verwendet. Im Bereich moderner Elektronik, für Flachbildschirme, Energiesparlampen, Akkus, Hybridmotoren und weitere neue Produkte sind die meisten Lanthanoide gesuchte Rohstoffe. Recycling Unverändert wird über eine zu geringe Recyclingquote berichtet. Nicht zu den Seltenerdmetallen gehörend, aber oft wegen ihres aus modernen Techniken resultierenden Anwendungsbereiches zusammen mit ihnen genannt, sind die unter anderen auch als „Sondermetalle“ gehandelten, niedrigschmelzenden Elemente Gallium, Indium (F 156,4) und Thallium (als Rattengift bekannt), die elektrolytisch aus ihren natürlichen Verbindungen gewonnen werden. Aluminium Bescheiden war bei Aluminium der Anfang. Friedrich Wöhler reduzierte es 1828 erstmals als ein graues Pulver, obschon Aluminium als Element schon 1825 von Hans Christian Ørsted entdeckt wurde. Die Herstellung geschmolzener Kügelchen aus Aluminium gelang erst 1845. 1854 wurde von Robert Wilhelm Bunsen zur Gewinnung nutzbarer Mengen die Schmelzflusselektrolyse vorgeschlagen. Henri Etienne Sainte-Claire Deville stellte es 1855 erstmals in einem Prozess dar und nannte es „Silber aus Lehm“, wegen der damaligen Kosten seiner Herstellung. 1886 wurde das Verfahren von Charles Martin Hall und Paul Héroult gleichzeitig zu einem Patent angemeldet, das bis heute Grundlage der Aluminiumerzeugung ist und ihm den Weg zu einem Gebrauchsmetall geöffnet hat. Es dauerte nochmals zehn Jahre, bis mit Hilfe starker, die Wasserkraft des Rheinfalls nutzender Turbinen die erste Aluminiumhütte der Welt im schweizerischen Neuhausen am Rheinfall den Betrieb aufnahm (errichtet von der Aluminium Industrie Aktiengesellschaft, kurz AIAG, der späteren Alusuisse). Weitere zehn Jahre später nahm ebenfalls die AIAG in Rheinfelden (Baden) am Hochrhein die erste deutsche Aluminiumhütte (Aluminium Rheinfelden) in Betrieb, die ihre Energie vom kurz zuvor erbauten Wasserkraftwerk Rheinfelden bezog. 2014 wurden (lt. Notiz in Economics aus Heft 1/2015, ERZMETALL) allein von den fünf arabisch dominierten Primärhütten der GCC knapp fünf Millionen t Rohaluminium erzeugt (das energiereiche Russland verfehlt mit RUSAL, das 2014 nur 3,6 Millionen t erzeugte die Marktführerschaft bei einer Gesamtnachfrage 2015 von 59 Millionen t). Deutschland nennt pro Einwohner 2011 einen Verbrauch von 28 kg Aluminium. Das chemisch ähnliche Scandium mit der Dichte von 2,985 g·cm−3 ist ein Leichtmetall, das erst im Zeitalter der Raumfahrttechnik Interesse findet. Bor ist ein weiteres Nichtmetall, das nur in Form oxidischer Verbindungen vorkommt. In der Metallurgie wird es bei der Härtung von Stählen, als Zusatz bei Aluminium-Legierungen und als Neutronenbremse in der Nukleartechnik verwendet. Als Erdmetalle lassen sich dem an erster Stelle stehenden Aluminium Elemente beiordnen, die zwar nicht in die gleiche Gruppe des periodischen Systems gehören, sich jedoch metallurgisch insofern vergleichbar darstellen, als sie in der freien Natur nie in Erzlagerstätten vorkommen, sondern nur als Mineralien, in Form chemischer Verbindungen, meist sind es Chloride, Silikate oder Carbonate. Magnesium, Titan Das wegen seines geringen Gewichts unverändert an industrieller Bedeutung weiter zunehmende Magnesium wird sowohl aus Chlorid gewonnen (Israel, Totes Meer, Carnallit als Abraumsalz im Kalibergbau), weitaus größere Mengen aber weltweit aus der Reduktion von Magnesit. Eine Ausnahmestellung nimmt Titan ein. Es kommt als Erz in Form von Rutil, Anatas, Brookit oder Ilmenit vor. Mehrheitlich wird es aus Ilmenit- und Rutilsanden gewonnen und lässt sich insoweit den Erdmetallen zur Seite stellen. Mit einer Dichte von nur 4,5 g·cm−3 zählt es noch zu den Leichtmetallen. Mit den Erdmetallen und ihnen erschließungstechnisch verwandten Elementen beginnt die „Leichtmetallzeit“. Als metallurgische Epoche muss sie in jedem Fall gesehen werden und tritt zunehmend neben die noch immer dominierende „Eisenzeit“. In einem überschaubaren Zeitraum werden die Leichtmetalle das Eisen nicht so verdrängen, wie dieses die Bronze verdrängte und diese zuvor das Kupfer und das wiederum das Steinbeil und den Faustkeil. Stand der Metallurgie zu Beginn des 21. Jahrhunderts Gewinnung der Ausgangsstoffe „Gediegenes“, also reines, Metall zu finden, stellte immer schon eine Ausnahme dar. Es wird das Metall im Erz gesucht. Die zu den Geowissenschaften gehörige Lagerstättenkunde behandelt die Entstehung der Vorkommen. Die angewandten Wissenschaften rund um den Bergbau (Prospektion und Exploration) beschäftigen sich mit der Aufsuchung, der Erkundung und dem Abbau möglichst „höffiger“ Vorkommen, das heißt solcher, die eine gute Erzausbeutung versprechen – wobei die Technik und Weiterverarbeitung stark vom Metallgehalt der Lagerstätte abhängig ist. Unterirdisch gelegen wird im Stollen abgebaut (historische Beispiele: Silberbergbau am Cerro Rico im bolivischen Potosí bis 1825, heute findet man dort nur noch Kupfer, Zinn und Blei). Bekannt ist auch der historische Goldabbau in Österreich („Rauriser Tauerngold“). Weitere für Tagebau typische europäische Beispiele finden sich im schwedischen Falun (Blei, Zink, Kupfer), im österreichischen Erzberg (Eisen) und davon nur unweit entfernt in Mittersill (Wolfram). Zu den wichtigen Lagerstätten gehören außer offenen Erzvorkommen („Ausbisse“ genannt), weltweit anzutreffende, nicht nur Erz, sondern „Gediegenes“ enthaltende, geologisch so bezeichnete „Sande“ und „Seifen“. Sie werden nach der Art ihrer Entstehung unterschieden. Metallurgisch am bedeutsamsten sind die residualen, nach Verwitterung von Umgebungsgestein übrig gebliebenen (beispielsweise Magnetit oder Magneteisenerz) und die alluvialen, von zu Tal gehendem Wasser angeschwemmten (z. B. 1848 in Kalifornien sehr goldreich am American River entdeckt) sowie, geologisch vergleichbar, die zinnhaltigen, marinen, küstennahen Seifen Malaysias und Indonesiens mit einem Anteil von 30 % an der Weltproduktion, ebenso der Cer enthaltende Monazitsand Westaustraliens sowie die titanhaltigen Ilmenitsande (black sands). Als „Rückstandsgesteine“, den „Sanden“ nahestehend, gelten die Nickel-Laterit-Erze, die sich geologisch bedingt nur in niederen, äquatornahen Breiten finden. Die als Coltan (Columbit-Tantalit) bekannten zentralafrikanischen Vorkommen tantal- und niobhaltiger Erze (auch in Schwemmseifen zu finden) werden besonders wegen der Korrosionsfestigkeit des gewonnenen Tantals für Instrumente und Apparaturen (Schaltkreise) ausgebeutet. Hohe Härte lässt Tantal, Niob und das verwandte Vanadin (Vanadingruppe des periodischen Systems) zu gesuchten Begleitmetallen von Edelstählen werden. Nachklassisch, da an erst in der Moderne entwickelte Verfahren gebunden, dieser Metallurgie noch zuzuordnen sind: die elektrolytische Gewinnung der Alkalimetalle aus dem bergwerksmäßigen Abbau ihrer Chloride und der ebenso betriebene Abbau von Uranpecherz als uranhaltigem Mineral; die Stand der Technik darstellende Gewinnung von Magnesium aus dem Abbau von Magnesit (Australien) über die Zwischenstufe Magnesiumchlorid, das zum geringeren Teil weiterhin aus seinem Anteil am Meerwasser zu gewinnen ist; der offene Abbau von Bauxit, einem rötlichen Sedimentgestein, das – zu reiner Tonerde umgewandelt – Grundstoff der Aluminiumerzeugung ist; als Zukunftsaufgabe mit großem metallurgischen Nutzen gilt der zwar schon seit Jahrzehnten prospektierte, technisch immer noch nicht befriedigend gelöste Tiefseebergbau von Manganknollen mit bis zu 27 % Mangan und weiteren Metallen, darunter bis zu 1 % Nickel. Mehr noch gilt dies für die seit 2007 unter dem Nordpol in 4000 m Tiefe vermuteten Lagerstätten von Mineralien, Erdöl und Erdgas. Die zunehmende Bedeutung der Recyclingmetallurgie, die es sich zur Aufgabe gemacht hat,vornehmlich Industriemetalle, aber auch knappe, metallurgisch wichtige Elemente nachhaltig zu nutzen. Einteilung der Metalle nach metallurgischer Bedeutung Eine gebräuchliche Einteilung geht vom prozentualen Anteil an den Elementen der Erdkruste aus, also ohne Berücksichtigung des Nickel-Eisen-Erdkerns. Diese Einteilung besagt indessen noch nichts über die metallurgische Bedeutung. Beryllium hat einen Anteil von nur 0,006 % und doch kann ohne seinen Zusatz als Oxidationshemmer das mit 1,95 % reichlich vorhandene Magnesium nicht geschmolzen und vergossen werden. Die Praxis hält sich eher an die Unterscheidung zwischen Hauptmetallen – das heißt Metallen, die verbreitet die Basis von Legierungen sind – und Nebenmetallen. Aluminium ist ein Hauptmetall geworden, erst im 20. Jahrhundert wurde es als solches erkannt, weil es gleich dem Silicium in der Natur nicht metallisch vorkommt. Das Tonmineral Bauxit (früher oft als „Aluminiumerz“ bezeichnet) wird zu Tonerde verarbeitet und aus dieser seit dem Ende des 19. Jahrhunderts elektrolytisch Aluminium gewonnen. Zu den Hauptmetallen gehören auch die metallurgisch wie chemisch wichtigen Alkali- und Erdalkalimetalle Natrium, Kalium, Calcium und Magnesium. Da sie niemals metallisch, sondern nur in Form nichtmetallischer Verbindungen, als Salze, Carbonate und Silikate vorkommen, wurden sie an früherer Stelle (Abschnitt Die „Erdmetalle“ kommen), auch wegen der annähernden Vergleichbarkeit des Gewinnungsprozesses, den Erdmetallen beigeordnet. Die seltenen Erdmetalle verlangen einen besonderen Abschnitt (siehe dort). Zu den „Erdmetallen“ gehört auch Silicium, das mehrere Funktionen hat. Primär ist es ein Halbmetall, das in der Natur nur als Quarzit oder Quarzsand (SiO2) vorkommt, aus dem es nur in einem elektrochemischen Reduktionsverfahren im Lichtbogenofen mit Kohleelektroden „carbothermisch“ gewonnen werden kann. Bei gleichzeitigem Zusatz von Eisenschrott entsteht „in situ“ (im Prozessablauf) das unter anderem für die Stahlberuhigung nach dem Frischen verwendete Ferrosilicium (FeSi). Wie Aluminium und Mangan wirkt Silicium desoxidierend (sauerstoffentziehend). Bei Aluminium-Silicium-Legierungen bestimmt Silicium die Legierungseigenschaften von Knetlegierungen wie auch Gusslegierungen. Eine zusätzliche Schmelzebehandlung (Feinung bzw. Veredelung) verhindert bei Letzteren die nachteilige primäre Grobausscheidung des Siliciums bei langsamer Erstarrung der Schmelzen, sei es im Sandguss, wie etwa bei Motorenteilen (z. B. Kurbelgehäuse, Zylinderköpfe), aber auch bei schwerem Kokillenguss. Bei sehr spezialisierten Kupferlegierungen (Siliciumbronze) ist es ein Legierungsbegleiter und in der Halbleitertechnik hat es eine eigene Position errungen. In einem aufwändigen Verfahren der „Reinstmetallurgie“ (das heißt erzielter Reinheitsgrad eines Metalls im Bereich 99,999 %, sogenanntes „Fünfneunermetall“) hergestellt, ist es Grundlage für Chips, die in der Computertechnik unverzichtbar sind. Der deutsche Anteil an der Weltproduktion ist beachtlich (beispielsweise Chipfertigung in Dresden). Auch bei der Herstellung von Solarzellen wird Silicium als Halbleiter eingesetzt. Eine weitere Möglichkeit der Einteilung trennt die Schwer- von den Leichtmetallen. Schwermetalle weisen eine Dichte größer 5 auf. Osmium mit der Dichte von 22,45 g·cm−3 steht hier an der Spitze, gefolgt vom weitaus bekannteren, da auch für Schmuckstücke verwendeten Platin mit einer Dichte von 21,45 g·cm−3. Kupfer (8,93 g·cm−3), Eisen (7,86 g·cm−3) und Zink (7,14 g·cm−3) folgen mit Abstand. Bei den Leichtmetallen führt als leichtestes Lithium mit 0,54 g·cm−3 gefolgt von Magnesium mit 1,74 g·cm−3 und Aluminium mit 2,70 g·cm−3 Titan mit einer Dichte von 4,5 g·cm−3 wird noch den Leichtmetallen zugeordnet. Verbreitet ist ferner eine Einteilung in „Basismetalle“ und „Legierungsbegleiter“, was zahlreiche Elemente einschließt, die oft nur in Spuren zugefügt werden und dennoch von Bedeutung sind. Kupfer, Eisen, Blei, Zinn, Zink, Nickel gelten – entwicklungsgeschichtlich bedingt – als Basismetalle. Aluminium, Magnesium und Titan werden jedoch inzwischen, von der wirtschaftlichen und metallurgischen Bedeutung her, den historischen Basismetallen gleichgestellt. Eine schon einleitend genannte Unterscheidung sieht an erster Stelle das mengenmäßig bedeutendere Eisen und seine Metallurgie. Erst mit Abstand folgen die Nichteisenmetalle. Aktuelle Klassifizierungen unterscheiden auch zwischen „Massenmetallen“, wie etwa Eisen, Kupfer, Zink usw. und Sonder-, Seltenerd- und als Untergruppe den Technologiemetallen. Zu den Sondermetallen werden sowohl Gold, Silber und die Platinmetalle gezählt, aber auch Seltenerdmetalle, Refraktärmetalle und als (sogenannte) „Technologiemetalle, Indium, Germanium, Gallium, Rhenium, Selen und Tellur“. Allen gemeinsam ist ihr Zusatz zu „Massenmetallen“ in stets nur geringen Mengen und ein zunehmend steigendes Recyclinginteresse. Hauptmetalle Kupfer wird als Hauptmetall entweder auf dem „trockenen Weg“ für die reicheren Erze, oder dem „nassen Weg“ für die ärmeren Erze gewonnen. Der zu Reinkupfer führende Verfahrensgang ist mehrstufig. Er beginnt mit dem Rösten des Erzes, dem die Rohschmelze mit weiteren Arbeitsgängen folgt, entweder im Schachtofen („deutscher Weg“), oder im Flammofen („englischer Weg“). Das Produkt ist nun Schwarzkupfer mit mehr als 85 % Kupfergehalt. Dessen weitere Raffination erfolgt heute nur noch selten im Flammofen. Üblich ist vielmehr Schwarzkupferplatten elektrolytisch zu raffinieren. Das dabei anfallende Reinkupfer ist ein wasserstoffhaltiges Kathodenkupfer, auch als Blistercopper (blasiges Kupfer) bezeichnet. Hochrein und sauerstofffrei ist es „Leitkupfer“ (Reinkupfer mit definierter elektrischer Leitfähigkeit) für die Elektroindustrie. Die Masse des verfügbaren Raffinadekupfers wird – zumeist legiert – zu Knet- oder Gießmaterial. Zu Blechen verwalzt, fällt Reinkupfer besonders im Bauwesen auf. Gegenüber Witterungseinfluss sehr stabil, werden zunehmend Kupferbleche für Dachbedeckung und Regenrinnen verwendet. Die mit der Zeit entstehende Patina (Grünfärbung) wurde schon früher geschätzt. Fälschlich als giftiger Grünspan bezeichnet, besteht sie tatsächlich aus ungiftigem Kupfersulfat und -carbonat. Zwar werden alle Legierungen mit dem Hauptbestandteil Kupfer als Kupferlegierungen bezeichnet, doch zwischen Bronzen und Sonderbronzen (vergleiche Berylliumbronze) sowie Messingen (Alpha- oder Beta-Messing mit 63–58 % Zink), gibt es deutliche Unterschiede im Aussehen und den mechanischen Eigenschaften. Ein Beispiel gibt das farblich völlig vom rötlichen Kupferton abweichende „Neusilber“, früher auch als Weißkupfer und noch in neuerer Zeit auch mit dem in seinem Ursprungsland China entstandenen Begriff „Packfong“ bezeichnet. Reinkupfer ist Träger zahlreicher als „Vorlegierung“ in nichteisenmetallurgischen Prozessen zugesetzter Elemente. Bei Gusseisen ist Kupfer ein positive Eigenschaften bedingendes Legierungselement. Zinn ist seit der Bronzezeit wichtigstes Begleitmetall des Kupfers. Als Reinzinn wird es wenig verarbeitet, da zu weich. Ausführlicheres siehe unter „Zinn.“ Blei (Bleisulfid) fällt wegen der Häufigkeit seines Vorkommens und wegen des niedrigen Schmelzpunktes vielleicht noch vor Kupfer, ungefähr um 6000 v. Chr., als metallurgisch nutzbar auf (s. auch unter Literatur: 5000 Jahre Gießen von Metallen) Geschichtlich tritt es zur (Römerzeit) als viel verwendetes, leicht zu bearbeitendes Hauptmetall in Erscheinung. Seit dem 20. Jahrhundert, insofern spät, wird es wegen seiner Giftigkeit für trinkwasserführende Systeme (Bleirohre) nicht mehr verwendet. Blei wird aus dem gleichen Grund als eine der Ursachen für den Untergang des Römerreichs angesehen. Ebenfalls giftig sind auf der Grundlage von Bleioxid hergestellte Farben („Bleiweiß“, Bleimennige) und Kinderspielzeuge, an oder in denen dieses enthalten ist. Blei-Antimon-Legierungen als Schriftmetalle sind als Folge moderner Drucktechnik weitgehend bedeutungslos geworden. Unverzichtbar ist Blei vorläufig noch für Akkumulatoren und als Bestandteil bleihaltiger Lagermetalle. Hier ist es besonders Bleibronze, eine Kupfer-Blei-Zinn-Legierung mit bis zu 26 % Bleianteil, die für hoch beanspruchte Gleitlager in Automobilmotoren verwendet wird. Bei Messing-Knetlegierungen ist Blei ein die Zerspanung begünstigender Zusatz (maximal 3 %). Mit bis zu 7 % ist es Legierungsbegleiter von Kupfer-Zinn-Zink-Gusslegierungen (Maschinenbronze). Eisen wird zu Gusseisen oder Stahl allein durch seine Begleitelemente (Eisenbegleiter), die obschon bei der Stahlherstellung unverzichtbar, mengenmäßig Nebenmetalle bleiben. Für Hartstahl wird Mangan zugesetzt, das im Spiegeleisen mit 50 % enthalten ist. Ferromangan ist ein Manganträger mit 75–85 % Mangan. Zum Einsatz bei der Stahlerzeugung, wie bei Gusseisen gelangen ferner Chrom, Nickel, Molybdän, Vanadium, Cobalt (siehe auch unter „Industriemetalle“), Titan, das Halbmetall Silicium (als Ferrosilicium/FeSi zugesetzt) und die Nichtmetalle Kohlenstoff, Phosphor und Schwefel. Zink wird als Reinzink mit 0,5 % Kupfer legiert beim Verzinken von Stahl als Korrosionsschutz in großen Mengen verbraucht. Zinkbleche und -bänder aus mit 0,1 % Kupfer oder Titan sehr „niedrig legiertem Rein- oder Titanzink“ werden im Bauwesen verwendet. Ferner ist Zink Basismetall für Feinzink-Gusslegierungen mit Kupfer- und Aluminiumanteilen. Als wichtiger Begleiter findet sich Zink bei Kupferlegierungen (siehe oben), besonders seit mehr als zwei Jahrtausenden bei Messing. Aluminium gibt es als genormtes Hüttenaluminium (Reinheit 99,5–99,9 %), als Reinaluminium mit einem Reinheitsgrad von 99,99 % („Vierneunermetall“) und sogar als Reinstmetall (> 99,9999 %). Seine eigentliche Bedeutung als Knet- und Gusswerkstoff wird aber von zahlreichen legierungsbildenden Begleitelementen bestimmt, zu denen das Basismetall Kupfer gehört. Alfred Wilm entwickelt 1909 das patentrechtlich geschützte Duraluminium (Markenname DURAL), die erste aushärtbare Legierung bestehend aus Aluminium, Kupfer und Magnesium (AlCu4Mg1) Diese Legierung wird vor allem im Flugzeugbau eingesetzt, zuerst bei Junkers/Dessau. Aladár Pácz gelingt 1920 die gefügebeeinflussende „Veredelung“ der eutektischen Aluminium-Silicium-Zweistofflegierung (rechtlich geschützt als „ALPAX“ und als „Silumin“) mittels Zugabe von weniger als 150 ppm Natrium. Daraus wird im Bereich von 7–13 % Silicium-Anteil die heute als Formguss meistverarbeitete Legierungsgruppe. Wenig später folgen Aluminium-Magnesium-Legierungen (rechtlich geschützt als seewasserfestes Hydronalium und in einer Variante mit Titanzusatz „besonders seewasserfest“). Vielseitig verwendbar als Walz- und Knetmaterial ist die Legierung AlMgSi mit je 0,5 % Silicium und Magnesium. Neben ihr gibt es Legierungen mit Kupfer, Titan, Zink, Mangan, Eisen, Nickel, Chrom und anderen Elementen, wobei die von den Legierungen verlangten, zunehmend stärker spezifizierten Eigenschaften die Begleitelemente nach Art und Menge bestimmen. Soweit nicht als Fertiglegierung vorliegend, können sie einer Basisschmelze aus Reinaluminium als „Legierungsmittel“ oder „Vorlegierung auf Aluminiumbasis“ zugefügt werden. Begleitmetalle Neben dem Begriff „Begleitmetalle“ (synonym: „Legierungsbegleiter“) gibt es den umfassenderen Begriff „Begleitelemente“. Diese werden regelmäßig zur Herstellung von Legierungen verwendet. Der Anteil dieser Begleitelemente beginnt bei Zehntelprozenten und weniger und geht bis zum zweistelligen Prozentbereich. Beispiele: AlCuTi mit 0,15–0,30 % Titan; AlSi 12 mit 10,5–13,5 % Silicium. Die Werkstoffentwicklung kennt inzwischen nur noch wenige Elemente, beispielsweise radioaktive, die sich nicht dazu eignen, Eigenschaften neu entwickelter Legierungen potentiell zu verbessern. Besonders im Bereich der „Seltenen Erden“ werden außer dem schon lang bekannten Cer (siehe bei Cer-Mischmetall) und dem ihm zugehörigen Lanthan (griechisch: „das Verborgene“) weitere verwandte Elemente, wie Neodym (für starke Dauermagnete) oder Praseodym (in seinen Verbindungen für Farbgläser mit UV-Absorption) nutzbar. Beispiele für weitere wichtige Begleitelemente sind das Nichtmetall Phosphor in übereutektischen AlSi-Kolbenlegierungen, oder Beryllium, ein Leichtmetall mit einer Dichte von 1,84 g·cm−3, das in Form seiner Dämpfe indessen giftig ist. Beryllium wird für aushärtbare Bronzen (Berylliumbronze), für funkenfreie Werkzeuge im Bergbau, als Desoxidationszusatz für Leitkupfer (hier über eine fünfprozentige Vorlegierung) und im ppm-Bereich (ebenfalls über Vorlegierung dosiert) bei Aluminiumlegierungen zur Güteverbesserung sowie zur Verringerung der Oxidation der Schmelze zugesetzt, eine Maßnahme, die beim Schmelzen und Vergießen von Magnesiumlegierungen unabdingbar ist. Die Jahresweltproduktion von Beryllium – von dessen seltener, durchsichtiger Kristallform Beryll übrigens unser Wort Brille abgeleitet ist – wird mit 364 t angegeben. Metallurgische Grundprozesse Die im Abschnitt „Gewinnung der Ausgangsstoffe“ hinsichtlich Vorkommen und Gewinnung beschriebenen Elemente durchlaufen nach dieser ersten Prozessstufe eine weitere, die der Aufbereitung, bevor sie durch Verhüttung zu rein oder legiert nutzbaren Metallen und Halbmetallen werden. Eine erste Scheidung oder Sichtung wird noch dem Bergbaubereich zugerechnet, der sowohl Stollenabbau, als auch ein Tagebau sein kann. Die darauf folgende Verarbeitungsstufe gilt bereits als „hüttenmännische“ Arbeit. Die erforderlichen Maßnahmen sind dabei so vielfältig, wie die Ausgangsstoffe selbst. Grundsätzlich unterschieden wird in trockene und nasse Verfahren, jeweils mit dem Ziel einer „Anreicherung“. Im Stollenabbau gefördertes „Haufwerk“ bedarf der Trennung des werthaltigen, erzreichen, vom wertlosen, erzarmen, „tauben“ Material, das als „Gangart“ bezeichnet wird. Für die Trennung wird das Gestein durch Mahlen weiter zerkleinert, es folgen Sieben, Sichten und gegebenenfalls Magnetscheidung. Bei Gewinnung im Tagebau ist zumeist vorher Abraum unterschiedlicher Mächtigkeit zu entfernen. Die weitere Verarbeitung der aufbereiteten Stoffe vollzieht sich mit den im Folgenden beschriebenen Grundtechniken. Pyrometallurgie Pyrometallurgie ist die thermische Weiterbearbeitung von Erzen oder bereits gewonnenem Metall, sei es oxidierend, also unter Sauerstoffzufuhr erhitzt (Abrösten), oder reduzierend in sauerstofffreier Ofenatmosphäre. Zuzuordnen ist hier die Feuerraffination (Oxidieren und Verschlacken unerwünschter Elemente), ferner die Seigerung, worunter die Entmischung einer Schmelze unter Ausnutzung von Dichteunterschieden im Schmelzgut zu verstehen ist (Beispiel: Oberhalb seiner Löslichkeitsgrenze in Kupfer seigert Blei aus einer Kupferlegierungsschmelze aus, sinkt auf den Boden des Schmelzgefäßes). Ähnlich verhält es sich bei der Destillation, die bei vorgegebener Temperatur unterschiedliche Dampfdrücke der Stoffe zur Trennung in Fraktionen nutzt (Beispiel Zinkgewinnung aus abgeröstetem Zinkerz in Muffelöfen). Letzter Stand der Technik ist ein Zweistufenverfahren, um aus Kupfer und Goldkonzentraten Verunreinigungen, wie etwa Arsen, Antimon und Kohlenstoff durch Abrösten zu entfernen. Hydrometallurgie Hydrometallurgie bedeutet ursprünglich Vorbereitung von Erzen zur Verhüttung durch kalte oder warme Trennverfahren (Kalt- oder Heißextraktion) mittels Wasser. Die historische Flotation, weiterentwickelt zur Sink-Schwimmtrennung, ermöglicht es, im Abbau gewonnenes Erz weiter anzureichern. Gleichen Zwecken dient das Auslaugen und Auskochen. Die Extraktion durch Säuren, Laugen, organische Lösungen und Bakterien gehört ebenfalls zur Hydrometallurgie. Sind Bakterien beteiligt, spricht man vom Bioleaching. Durch chemische Fällungsverfahren oder mittels Elektrolyse werden ferner aus armen Erzen, die in geringerer als einprozentiger Konzentration enthaltenen Elemente gewonnen, beispielsweise Edelmetalle. In diesen Fällen wird die Hydrometallurgie als „Elektrometallurgie auf nassem Wege“ bezeichnet. Elektrometallurgie Die Elektrometallurgie umfasst elektrothermische und carbothermische (siehe Siliciumherstellung) sowie elektrolytische Verfahrenstechniken. Die moderne Stahlerzeugung, die den Hochofen durch den mit oxydreichem Schrott beschickten Induktionsofen ersetzt, kann ebenfalls als elektrometallurgisches Verfahren bezeichnet werden (Elektrostahl) Mittels der Schmelzflusselektrolyse wird aus einem Tonerde-Kryolith-Gemisch Aluminium an der Kathode freigesetzt (Hall-Héroult-Verfahren). Zum Einsatz kommen dabei eine Kohlewanne für das Gemisch, die gleichzeitig als Kathode fungiert, und von oben zugeführte, stromführende Anoden. Das heute allgemein angewandte Bayer-Verfahren gewinnt das Aluminium in einem kontinuierlichen Prozess der Metallentnahme und Gemischzuführung von Tonerde, wie der in besonderen Tonerdefabriken aufbereitete und getrocknete Bauxit genannt wird. Zur Produktionskontinuität gehört bei der Elektrolyse des Tonerde-Kryolith-Gemischs der fortlaufende Ersatz verbrauchter Anoden. Die über einige Jahrzehnte den Standard bildende Söderberg-Anodentechnik wird durch das hinsichtlich Energieverbrauch, Anodenerhalt und Ausbeute deutlich verbesserte Pechiney-Verfahren zunehmend abgelöst; bestehende Altanlagen werden stillgelegt oder umgerüstet. Nach dem Prinzip der Schmelzflusselektrolyse eines Chloridgemischs (weil mit Gemischen stets die erforderliche Reaktionstemperatur erniedrigt wird) können alle Alkalimetalle aus ihren Salzlösungen gewonnen werden. Für das zunehmend Bedeutung gewinnende Erdalkalimetall Magnesium schlägt Bunsen bereits 1852 die Elektrolyse im Gemisch mit Flussspat vor. Heute wird es im Prinzip noch auf die gleiche Weise dargestellt, sei es direkt aus natürlichem Magnesiumchlorid (Bischofit), oder nach Abtrennung aus magnesiumchloridhaltigen Mischsalzen (Carnallit), oder aus dem Magnesiumchlorid-Anteil (bis zu 0,4 %) des Meerwassers. Technisch bedeutender ist die bereits genannte Umwandlung von Magnesit MgCO3 oder Bitterspat (große Vorkommen unter anderem in Australien) in einem chemischen Prozess zuerst zu Magnesiumchlorid. Eine nachfolgende Elektrolyse, die seit Bunsens Erkenntnissen praktisch dem Verfahren der Aluminiumgewinnung gleicht (Pionier auf diesem Gebiet: G. Pistor, 1920), führt zu reinem Magnesium. Die erste Mengenerzeugung erfolgte im Werk Elektron-Griesheim der IG Farbenindustrie (geschützte Marke „Elektronmetall“). Elektrolytisch gewonnenes Magnesium wurde durch ständig hinzukommende Anwendungsbereiche zu einem in seiner industriellen Bedeutung dem Aluminium nicht nachstehenden Erzeugnis der Elektrometallurgie. Man setzte es schon früh u. a. zur Gefügebeeinflussung von Gusseisen, im Luftfahrzeugleichtbau (Zeppelin), in der zivilen wie militärischen Pyrotechnik (Raketen, Leuchtkugeln, Stabbrandbomben) ein. Der Zweite Weltkrieg bedeutete für Magnesium und seine Legierungen einen Entwicklungsschub, denn es war ein von Einfuhren unabhängiger Werkstoff. Im 21. Jahrhundert kommt sein Einsatz der zunehmenden Tendenz zur Leichtbauweise entgegen, besonders bei Fahrzeugen, und es werden nicht nur die Verfahren seiner Gewinnung erweitert, sondern auch die der Verwendung. Vorwiegend sind es im Druckgießverfahren hergestellte Teile, zum Teil ist es „Hybridguss“. Pulvermetallurgie Der Begriff Pulvermetallurgie wird zwar verbreitet in Fachliteratur und Praxis verwendet, es handelt sich dennoch um keine eigenständige Metallurgie, sondern eine – latent explosionsgefährdete – Technik, geschmolzene Metalle und Legierungen entweder im Flüssigzustand zu Pulver zu verdüsen oder sie aus dem Festzustand heraus in Feinstgranulat umzuwandeln. In Pulvermühlen lässt sich die Mehrzahl der Nutzmetalle – von Aluminium bis Zink – zu Pulvern mit Korngrößen von 0,1 bis 500 µm zermahlen. Wegen der von allen Metallpulvern, mit unterschiedlichem Gefahrenpotential, ausgehenden Explosionsgefahr im Kontakt mit Luftsauerstoff wird eine Inertisierung oder Phlegmatisierung vorgenommen. Stabilisatoren, die von Wachs bis zu Phthalaten reichen, setzen die Explosionsempfindlichkeit herab. Magnesiumpulver ist wegen seines hochpyrophoren Verhaltens ein Sonderfall. Es kann nicht durch Mahlen, sondern nur durch „Abreiben“ vom Blockmetall gewonnen werden. Bedeutend sind Metallpulver, in diesem Fall korrekt „anorganische Pigmente“ genannt, als Bestandteil von Metallic-Lacken bei Automobilen. Ein völlig anderes Einsatzgebiet ist das Verpressen in Stahlformen unter sehr hohem Druck (2000 bar und mehr). Aus so verpressten reinen Metallpulvern, häufiger legierungsähnlichen Gemischen, können metallische Formteile hergestellt werden (MIM-Verfahren, SLM-Verfahren). Bei heißisostatischer Verpressung, der eine Erhitzung der Pulver bis zur Erweichungsgrenze vorangeht, werden die Eigenschaften gegossener Teile erreicht. Ein anderer Weg wird bei der Herstellung schwer zu gießender oder aufwändig aus dem Vollen zu fertigender Teile durch Nutzung des 3D-Druck-Verfahrens beschritten. Diese an sich schon seit Jahren bekannte Technik ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass auf 3D-Druckern metallische Serienteile für technisch anspruchsvollen Einsatz schichtweise, bis zur vom Rechner vorgegebenen Form, aufgebaut (gespritzt) werden. Im Formen- und Modellbau kommt Pulver-Flammspritzen zum Einsatz. Das Metallpulver wird dabei durch eine Flamme erweicht, oder auch durch Plasma (Plasmaspritzen). Der Vorteil liegt in der kurzfristig möglichen Herstellung von Werkzeugen – Formen – für Pilotprojekte im Maschinen- und Werkzeugbau (Automobilindustrie). Sekundärmetallurgie Der Begriff Sekundärmetallurgie wurde ursprünglich nur im Stahlwerk gebraucht, wird aber auch für den Entschwefelungsprozess von Gusseisen angewendet. Er bezeichnet jedoch keine eigenständige Metallurgie, sondern verschiedene, alternativ oder in Abfolge anwendbare, die Stahlschmelzen entschwefelnde, desoxidierende oder „beruhigende“ Maßnahmen, die insgesamt als „Pfannenmetallurgie“ zur Steigerung der Stahlqualität dienen. Gebräuchlich ist die Zugabe von Aluminiumgranulat, Calciumsilicid und einer Reihe anderer, elektrometallurgisch gewonnener Produkte. Neben diesen auf chemischen Reaktionen beruhenden Techniken gibt es auch solche, die rein physikalisch oder physikalisch-chemisch wirken. Dazu gehört das Anlegen eines Vakuums an die Schmelze (mit sich daraus ergebender Entgasungswirkung). Das CLU-Verfahren, allgemeiner als „Uddeholm-Verfahren“ bekannt, führt durch Düsen am Boden einer Pfanne inerte oder reaktive Gase in die Stahlschmelze ein. Es sind insgesamt Sonderformen der Schmelzebehandlung, wie sie in vergleichbarer Weise bei anderen Metallen (beispielsweise in der Primäraluminiumerzeugung) üblich sind. Hinzu kommt, dass der Begriff Sekundärmetallurgie zunehmend auch von NE-Metallhütten angewendet wird, die sich, nach Erschöpfung standortnaher Erzabbaugebiete, statt mit der Primärerzeugung von Metall, der Forderung zur Nachhaltigkeit des Umgangs mit Rohstoffen entsprechend, mit deren Wiedergewinnung aus Schrotten und Abfällen, wie Schlämmen und Stäuben befassen, also einen Sekundärkreislauf einrichten. Nuklearmetallurgie Die Nuklearmetallurgie befasst sich mit den radioaktiven Elementen, deren bekanntestes heute Uran ist. Es wird mittels hydrometallurgischer Verfahren aus dem uranhaltigen Mineral Pechblende gewonnen. Lange gegenüber dem Radium vernachlässigt, das schon im frühen 20. Jahrhundert für medizinische Zwecke verwendet wurde (Nuklearmedizin), erlangte es seine heutige Bedeutung erst im Laufe des Zweiten Weltkriegs. In den USA wurde in den allein für diesen Zweck errichteten „Hanford-Werken“ in großem Maßstab Nuklearmetallurgie betrieben, um genügend Plutonium für den Bau der Atombombe herzustellen. Heute ist die zivile Nuklearmetallurgie darauf ausgerichtet, nicht nur Brennelemente für Kernkraftwerke (Atomkraftwerke) zu gewinnen, sondern sich auch mit der Aufbereitung der verbleibenden Rückstände und der sogenannten „sicheren Endlagerung“ zu befassen (siehe auch bei „Uran“). Wichtiges Nebengebiet der Nuklearmetallurgie sind die weltweit nur in wenigen Kernreaktoren hergestellten Radionuklide für medizinischer Zwecke, wie Technetium-99m (Erzeugung in Technetium-99m-Generatoren) und Iod 131 (z. B. für Szintigraphie). Verhüttungs- und Weiterverarbeitungstechnik Metallurgie und Hüttenwesen gelten bis heute als synonyme Begriffe und die Gewinnung und Aufbereitung der Erze wird als ein der „Verhüttung“ vorausgehender Prozess gesehen. Eine durch die Fortschritte in Technik und Wissenschaft ermöglichte, anders ausgerichtete Gliederung sieht die Metallurgie als übergeordnete, als Hüttenkunde vermittelte Wissenschaft, die sich der Gewinnungs- und Aufbereitungstechnik und diese sich wiederum der Chemie bedient. Vom somit enger verstandenen Hüttenwesen – einem Begriff, der an erster Stelle auf thermischen Verfahren begründet ist – führt die Entwicklung in bereits geschilderter Abfolge von den vorbehandelten Einsatzstoffen zu nutzbaren Metallen und Legierungen, Halb- und Fertigprodukten. Der Arbeitsablauf in einer auf Verarbeitung von Erzen ausgerichteten Hütte, gleich ob Eisen oder Nichteisenmetalle zu gewinnen sind, besteht gewöhnlich aus folgenden Schritten: Gattieren (Zusammenstellung des zu verhüttenden Materials) des Einsatzes, auch unter dem Gesichtspunkt der gewünschten Eigenschaften der Ausbringung Einmaliges (diskontinuierliches, an die Ofenfassung gebundenes) oder fortlaufendes (kontinuierliches) Chargieren, also Beschicken eines Ofens, mit ebenso kontinuierlicher Metallentnahme (Beispiele: Hochofen mit bis zu 5000 t Roheisen Tagesausstoß oder die kontinuierlich Rohaluminium liefernde Schmelzflusselektrolyse) Reduzieren des Einsatzes, wiederum entweder chargenweise und mit Chargeneigenschaften (siehe unten) oder mittels kontinuierlichem Nachchargieren und Sammeln des gewonnenen Metalls in einem nur den Chargen-, nicht den Partiecharakter (siehe ebenda) ausgleichenden Mischer. Schmelzebehandlung durch eine oxidierend oder reduzierend vorgenommene Raffination (siehe Sekundärmetallurgie), einschließlich Legieren oder Legierungskorrekturen Vergießen: Einfacher Masselguss oder Weiterverarbeitung (Beispiel: Stahlwerk, das Roheisen entweder zu einfachem Gussstahl oder stranggegossenen Formaten für ein nachgeschaltetes Walz-, Zieh- und Presswerk verarbeitet). „Industriemetalle“ Von „Industriemetallen“ wird gesprochen, wenn ein Metall wegen seiner Bedeutung eine eigene Industrie begründet hat. Dies ist zumindest bei Eisen, Kupfer, Nickel, Blei, Zink und Aluminium gegeben. Weiter gefasst ist der Begriff „industriell genutzte Metalle“, der alle metallurgisch genutzten Elemente einschließt, gleich ob sie eigenständig, also unlegiert, oder als Legierungsbegleiter auftreten. Eisen Am Beispiel Eisen ist die Spannweite der „Verhüttung“ besonders sichtbar. Der Eisenerzverhüttung liegt das Eisen-Kohlenstoff-Diagramm zugrunde, auf dem die Eisentechnologie als Wissenschaft aufbaut und danach ihre Techniken entwickelt hat. Die klassische Eisenhütte erzeugt im Hochofen ausschließlich Roheisen. Der Hochofen wird dazu mit einem Gattierung genannten Gemenge beschickt, dessen Erzanteil zuvor aufbereitet wurde. Ein Röstprozess oxidiert die Sulfide. Die damit einhergehende Erhitzung entfernt weitere flüchtige Bestandteile, etwa einen zu hohen Wassergehalt, wie bei der lothringischen Minette (Minette bedeutet „kleines Erz“, weil der Gehalt an Eisen verhältnismäßig gering ist, etwa 20–40 %). Für den Hochofengang werden die oxidischen, oxidhydratischen oder carbonatischen Erze (Magnetit, Hämatit, Limonit (Salzgitter), Siderit (Österreich), ferner die Pyrit-(Schwefelkies)-Abbrände der Schwefelsäureherstellung) dadurch vorbereitet, dass ihnen Zuschläge (Möller) von fluss- und schlackenbildendem Kalkstein (Flussmittel) und Koks beigegeben werden. Bei historischen Hochöfen wurde anstelle von Koks noch im Umfeld erzeugte Holzkohle eingesetzt. Der Abstich (Ausbringung des erschmolzenen Roheisens) erfolgt im kontinuierlichen Betrieb, das heißt, der Ofen erkaltet nie; solange es seine Auskleidung zulässt, wird ständig über die „Gicht“, das obere Ende des Ofens, beschickt und unten an der Sohle abgestochen. Der Abstich weist sogenannte „Partieeigenschaften“ auf, wobei unter Partie beispielsweise eine Schiffsladung brasilianischen Eisenerzes mit vom Gewinnungsort bestimmten Eigenschaften verstanden wird. Von diesen wird die Zuordnung zu einer bestimmten Roheisenqualität bestimmt. Es könnte sowohl ein Hämatitroheisen mit mehr als 0,1 % Phosphor oder ein Gießereiroheisen mit bis zu 0,9 % Phosphor abgestochen werden. Außer von der Partiezugehörigkeit werden die Eigenschaften des Abstichs von der Erstarrungsart bestimmt. Bei langsamer Abkühlung (Masselguss) entsteht graues Gusseisen, unterschieden nach Art der Graphitausscheidung (lamellar, vermikular, sphäroidal). Bei rascher Erstarrung entsteht manganhaltiges, weißes Gusseisen; eine Übergangsform ist meliertes Gusseisen. Nicht zur Verwendung als Gusseisen bestimmtes Roheisen wird vom Hochofen in einen der Vergleichmäßigung dienenden Mischer entlassen und von dort an das Stahlwerk weitergeleitet. Erstmals erfolgte ein Flüssigmetalltransport über größere Entfernung gegen die Mitte des 20. Jahrhunderts in der normalspurigen 200 t und mehr fassenden und zugleich als Mischer fungierenden „Torpedopfanne“. Hier kann ebenfalls von Charge (englisch „batch“) gesprochen werden, nämlich der Beschickung eines Gefäßes, einer Pfanne oder eines Ofens mit einer durch das jeweilige Fassungsvermögen bestimmten Menge. Bei der Weiterverarbeitung, die in diesem Falle als diskontinuierlich bezeichnet wird, lassen sich jeder Charge sie kennzeichnende Chargeneigenschaften zuordnen. Die „Chargenarbeit“ hat besondere Bedeutung für das Recycling von zumeist sehr gemischten Schrotten. Auch im 21. Jahrhundert ist die Erzeugung von Roheisen immer noch Betriebszweck eines „Eisenhüttenwerks“. Die Primärerzeugung im Hochofen hat ihre Alleinstellung bei der Eisengewinnung jedoch seit der Erfindung des Siemens-Martin-Ofens mit Regenerativfeuerung und erst recht seit der Einführung des Elektroofens verloren. Im Direktreduktionsverfahren kann aus pelletiertem Eisenerz in einem klassischen Schachtofen oder einem letzten Stand der Technik nutzenden Wirbelschichtreaktor ein kohlenstoffarmer Eisenschwamm erzeugt werden. Dieser wird dann im Elektrolichtbogenofen erschmolzen. Das Verfahren führt zu verringerten Kohlendioxidemissionen. Dennoch bleibt die „verbundene Eisenhütte“ – auch als „Eisenhüttenwerk“, in Osteuropa (1936 Magnitogorsk) als Kombinat bezeichnet –, weiterhin führend bei der Erzeugung von Roheisen, Gusseisensorten und Stählen. Gusseisenwerkstoffe werden aus kohlenstoffreicherem Roheisen gewonnen. Es wird aus dem Hochofen in ein Masselbett geleitet und die erkalteten und transportfähigen Masseln werden im Kupolofen einer Eisengießerei oder auch in einem Elektroofen wieder eingeschmolzen und zu Gussteilen verarbeitet. Als Regel werden dort noch definierter Schrott, eigener Gießereirücklauf und Legierungszusätze beigegeben, um Gusseisensorten mit definierten Eigenschaften zu erhalten (siehe auch oben). Hohe Festigkeitswerte erbringt, nach E. Bain benannt, bainitisches Gusseisen mit Kugelgraphit. Es ermöglicht als Austempered Ductile Iron, kurz ADI, den „Leichtbau aus Eisen“; das ist seit Anfang des Jahrhunderts eine Antwort auf die starke Zunahme von Aluminiumguss bei Automobilmotoren. Ein neu entwickelter Gusseisenwerkstoff mit Aluminium als Legierungsbestandteil erlaubt sogar die Anwendung bei Automobilmotoren mit hohen Betriebstemperaturen, wie sie bei Turboaufladung vorkommen. Temperguss ist eine Sonderform des Eisengusses, die als „weißer“ kohlenstoffarmer oder schwarzer kohlenstoffreicherer Temperguss vorkommt. Seine im Vergleich zu Grauguss besseren mechanischen Eigenschaften erwirbt er durch Glühen der in Temperkohle eingepackten Gussteile in regulierbaren, gasbeheizten Temperöfen. Die Verweilzeit bei dort gegebenen, oxidierenden Bedingungen ist teileabhängig. Sie beginnt kontrolliert bei 900 °C und wird bis zum Temperzeitende auf 750 °C abgesenkt. Beispiele für Temperguss sind Fittings, Schlüssel oder Zahnräder. Eine dem Temperguss verwandte Sonderform ist der Hartguss (weißes Gusseisen, niedrig graphitiert), der als Walzenguss (unter anderem für Kalt- und Warmwalzwerke) wirtschaftlich bedeutend ist. Für die Stahlerzeugung ist „ersterschmolzenes“ Roheisen noch nicht nutzbar. Stahl muss schweiß- oder schmiedbar und daher kohlenstoffärmer sein. Er wird deshalb „gefrischt“, das heißt mittels Pressluft- oder Sauerstoffzufuhr so lange oxidierend behandelt, bis der unerwünschte Kohlenstoff verbrannt ist und sein Anteil kleiner als zwei Prozent ist. Es gab mehrere Verfahren für das Frischen: Zu Beginn der Industrialisierung das Puddelverfahren, bei dem das plastische Roheisen mit Stangen manuell gewalkt wurde, später die Erzeugung im Tiegelofen. Mitte des 19. Jahrhunderts führen das Frischen in der Bessemerbirne sowie das Thomas-Verfahren – die Blasstahlverfahren im Konverter – zu einer extremen Produktivitätssteigerung. Ende des 19. Jahrhunderts verbreitet sich das Siemens-Martin-Verfahren, Anfang des 20. Jahrhunderts schließlich wird das Elektroverfahren (Lichtbogen- oder Induktionsofen) industrialisiert, bevor sich Mitte des Jahrhunderts das LD-Verfahren (Sauerstofffrischen) verbreitet. An das den Kohlenstoff oxidierende (verbrennende) Frischen schließt sich die Entfernung überschüssigen, bereits an Eisen gebundenen Sauerstoffs (Desoxidation, „Beruhigung“) durch Zusatz leicht oxidierbarer Elemente an. Üblich sind Aluminium oder Silicium, dieses als Ferrosilicium (FeSi), das bei der carbothermischen Siliciumherstellung gewonnen wird (siehe oben). Oxidation und Desoxidation sind von Thermodynamik und Reaktionskinetik bestimmte Maßnahmen, bei denen Chemie und Metallurgie – nicht nur die des Eisens – zusammenwirken. Siemens-VAI hat einen speziellen 150-t-Lichtbogenofen zur schlackenfreien und energiesparenden Direktreduktion zur Betriebsreife gebracht. Sobald sich die behandelte Stahlschmelze beruhigt hat, lässt sie sich durch Zusatz von Legierungselementen auf die künftige Verwendung als Stahl einstellen. Die Sortenvielfalt ist beträchtlich, weil nach Herkunft (Thomasstahl, Siemens-Martin-Stahl, Elektrostahl) sowie Verwendung und Eigenschaften unterschieden wird, beispielsweise hoch und niedrig legierter Stahl, legierter Kalt- oder Warmarbeitsstahl, nicht rostender Stahl (NIROSTA mit mehr als 12 % Chrom), magnetischer, weich magnetischer und „nicht magnetischer“ Stahl und andere (vollständige Auflistung beispielsweise unter „Stahl“ in „Gießereilexikon“). Die Masse der Stähle, daher auch „Massenstahl“, wird dem Walzwerk zugeführt. Früheres Ausgangsmaterial des Verwalzens waren in Großkokillen hergestellte Walzbrammen, wobei Lunkerfreiheit (durch Erstarrungsschrumpfung bedingte Hohlräume) mittels einer exothermen (wärmeabgebenden) Auskleidung der Kokillen eine gerichtete und verlangsamte Erstarrung möglich machte. Heute hat das Stranggießverfahren diese Technik weitgehend ersetzt. Die Stranggießerei ist eine dem Stahlwerk angegliederte Weiterverarbeitungseinheit, in der die Umwandlung von flüssigem zu festem Stahl erfolgt. Dabei kann zwischen mehreren Arten der Umwandlung unterschieden werden, zwischen „kontinuierlich“ (Strangtrennung mit „fliegender Säge“) oder diskontinuierlich (durch die der Anlage vorgegebene maximale Stranglänge), weiterhin zwischen vertikalem, horizontalem oder Bogenstrangguss und schließlich zwischen „einsträngigen“ oder „mehrsträngigen“ Anlagen. Die verschiedenen Produkte werden als Vollguss – auch profiliert – oder als Hohlguss (Röhren) hergestellt. Die weitere Verarbeitung erfolgt entweder nach Vorwärmung (warme Verarbeitung) oder nach Abkühlung (abschreckend, kalte Verarbeitung). Weiterhin unterzieht man sie einer natürlichen oder künstlichen Alterung (Umwandlung des Mischkristallgefüges). Besonders hochwertige Walzprodukte erzielt man mit einer Erwärmung, gefolgt von abschreckender Härtung und nachfolgendem „Anlassen“, das heißt Wiedererwärmen für den Walzprozess. Zu den wirtschaftlich bedeutenden Stahlerzeugnissen gehören Baustähle (T-, Doppel-T, auch I-Träger, Bewehrungsstahl), ferner Schienen, Drähte, die im Walzprozess oder bei kleinen Durchmessern in der Drahtzieherei hergestellt werden. Stahlbleche, glatt oder profiliert (Wellblech), sind ein vielseitig genutztes Walzprodukt. Einseitig verzinnt wird heruntergewalztes Warmband als Weißblech bezeichnet. 2007 gingen hiervon 1,5 Millionen t in die Dosenfertigung ein. Zahlreich sind die Stähle mit besonderen Eigenschaften, unter anderem Edelstähle, nicht rostender Stahl, Hartstähle (Panzerplatten) für militärische und zivile Zwecke. Spezialstähle (unter anderem Ventilstahl, Formstahl) die – von Stranggussmasseln ausgehend – in einer Stahlgießerei zu Gussteilen werden, behandelt man nach deren Erstarrung – hierin gleich anderem Formguss – mittels Wärmezufuhr, um die Teile hierdurch zu entspannen und das Gefüge zu verbessern (Entspannungsglühen, Lösungsglühen). Zusätzliche Legierungselemente (Chrom, Nickel, Molybdän, Cobalt) können solchen Stahlschmelzen vor dem Vergießen als Vorlegierungen beigegeben werden. Friedrich Krupp erkannte bereits 1811 den Einfluss festigkeitssteigernder Zusätze (Kruppstahl) und führte auf dieser Grundlage die Gussstahlfertigung in Deutschland ein (Geschützrohre sind daher seit 1859 aus Stahlguss). Aluminium, Magnesium Metallurgisch gesehen unterscheidet sich die Weiterverarbeitungstechnik von Eisen und Aluminium nicht allzu sehr. Die Nachfrage ist es, die dem einen oder anderen den Vorzug gibt. Oft wird sie nur davon bestimmt, inwieweit es möglich ist, „schweres“ Eisen durch „leichtere“ Werkstoffe wie Aluminium, Magnesium oder Lithium zu ersetzen. (siehe auch Eisen). Ein Vorsprung für Aluminium verspricht die Weiterentwicklung von Aluminiumschaum, auch in Sandwich-Technik verarbeitet – für Leichtbau und Wärmedämmung. Im Unterschied zu einer verbundenen Eisenhütte bezieht eine Aluminiumhütte ihren Rohstoff Tonerde aus einer auf die Umarbeitung von Bauxit zu calcinierter Tonerde spezialisierten, räumlich und wirtschaftlich getrennten Vorfertigung, einer „Tonerdefabrik“. Die von dort bezogene Tonerde wird im Gemisch mit Kryolith in Hunderten von Zellen einer Schmelzflusselektrolyse eingesetzt und jede Zelle liefert kontinuierlich schmelzflüssiges Rohaluminium, das regelmäßig entnommen wird. Ein Teil der Erzeugung wird zu Rein- und Reinstaluminium raffiniert. Reines und hochreines Aluminium ist Ausgang der Folienerzeugung. Ein weiterer Anteil wird zu Gusslegierungen mit Zusätzen von Magnesium, Silicium, Kupfer und anderen Elementen. Mehrheitlich jedoch wird das aus der Elektrolyse kommende Metall in flüssigem Zustand einer Verwendung als Knetlegierung zugeführt. Die hierfür nötige Behandlung übernimmt meist eine der Primärhütte angeschlossene Hüttengießerei (engl. casthouse) der ein Walz- und Presswerk angegliedert ist. In der Hüttengießerei wird das rohe Flüssigaluminium in die Mischer chargiert und per Zugabe von Vorlegierungen oder Schrotten die zu vergießende Legierungszusammensetzung eingestellt sowie unerwünschte Verunreinigungen entfernt. Aus den Mischern wird die Schmelze in Gießöfen verbracht. Bevor der Gießprozess beginnt, durchläuft die Schmelze in der Regel noch eine SNIF-Box zur Ausspülung letzter meist oxidischer Verunreinigungen und eine Entgasung mittels leicht chlorhaltigem Formiergas, ferner wird in der zu den Stranggusskokillen führenden Gießrinne und dem Verteilersystem noch digital gesteuert Kornfeinungsdraht aus einer Aluminium-Titan- oder einer Aluminium-Titan-Bor-Legierung zugeführt. Die fertigen Knetlegierungen werden zu Walz- oder Rundbarren|Bolzen vergossen. Der Guss erfolgt entweder im kontinuierlichen Vertikal-Stranggießverfahren, wobei der aus der Kokille austretende und mit Wasser abgekühlte Strang von einer fliegenden Säge nach Maßvorgabe getrennt wird. Walzbarren werden zumeist im diskontinuierlichen Vertikalstrangguss als Einzelstücke erzeugt. Sie erreichen Gewichte bis 40 t. Bei vorgegebenen Maßen des Gießtischs und der in ihn eingebetteten Kragenkokillen nimmt die Stückzahl der gleichzeitig gegossenen Rundbarren mit deren abnehmendem Durchmesser zu (bis zu 16 und mehr Stränge, dann schon „Wäschepfähle“ genannt, sind möglich). Die allgemeine Benennung ist „Halbzeug“, wobei nach Walzmaterial, Strang- und Rohrpressen, sowie der kalten oder warmen Weiterbehandlung wie Schmieden und Ziehen unterschieden wird. Die Wärmebehandlung erfolgt in Spezialöfen, als Grundlage (dazu mehr im Abschnitt Ofentechnik) von so unterschiedlichen Erzeugnissen, wie Bleche, Folien, Profile und Drähte, für die sich ein stark wachsender Bedarf ergibt, weil nicht nur die „Energiewende“ nach Erweiterung der Übertragungsnetze verlangt. Auch der verstärkte Einsatz von Aluminiumblechen im Automobilbau veranlasst namhafte Zulieferer zu Kapazitätserweiterungen. Eine besonders für Bleche und Folien entwickelte, die Zahl der Walzdurchläufe (Stiche) verringernde Gießtechnik ist das Bandgießen, bei der das flüssige Metall in einen regulierbaren Spalt zwischen zwei gegenläufig rotierende, gekühlte Walzen gegossen wird. Dem Bandgießen technisch verwandt sind die modernen Verfahren der Drahtherstellung. Alles metallurgisch zu Aluminium Gesagte kann auf das noch leichtere und deshalb sowohl für Luft- und Raumfahrt als auch generell im Leichtbau genutzte Magnesium übertragen werden. Das lange überwiegend aus der Schmelzflusselektrolyse von wasserfreiem Carnallit oder Magnesiumchlorid, heute überwiegend nach dem thermischen Pidgeon-Prozess gewonnene Reinmagnesium lässt sich legieren und kann wie Aluminium als Guss- oder Knetwerkstoff weiterverarbeitet werden. Da schmelzflüssiges Magnesium an Luft sehr schnell oxidiert (Magnesiumbrand), wird es unter einem inerten Schutzgas und mit einem Berylliumzusatz von mehr als zehn ppm geschmolzen. Neben den schon genannten Anwendungsgebieten findet sich Magnesium in der Eisengießerei als Entschwefelungsmittel bei der Herstellung von Gusseisen mit Kugelgraphit. Als Legierungselement führt es zu selbst aushärtenden Aluminiumknetlegierungen (siehe Duraluminium). Eigenschaftsbestimmend ist es seit dem Zweiten Weltkrieg als Bestandteil seewasserresistenter Aluminium-Magnesium-Legierungen, denen noch Titan zugegeben wird. (Hydronalium, Typ SS-Sonderseewasser). Nach 1950 werden solche Legierungen zunehmend für eloxierbaren Gebrauchsguss verwendet (Maschinen für die Lebensmittelindustrie, Beschlagteile) und das sowohl im Sand- wie im Kokillengießverfahren. In der weitgehend automatisierten Druckgießtechnik werden vornehmlich Aluminium-Silizium-Legierungen mit einem Magnesiumanteil verarbeitet, aber auch Magnesiumlegierungen mit Aluminium und Zink als Begleitelementen (der seinerzeit berühmte VW Käfer enthielt in seiner ersten Konzeption Magnesiumgussteile im Gewicht von mehr als 20 kg, u. a. für das Getriebegehäuse). Die aus Gründen der Gewichtseinsparung seit Jahren zunehmende Verwendung von Magnesium wurde bereits erwähnt, nochmals ist hier auf das Hybridverfahren zur „geschichteten Formfüllung“ aus magnesiumfreien wie magnesiumreicheren Legierungen hinzuweisen, das sich an thermischer und mechanischer Beanspruchung bestimmter Zonen des Automobilmotors orientiert. Für die Leichtbautechnik werden besonders im Automobilbau zunehmend nicht nur flächige Teile (Motorhauben, Kofferraumdeckel), sondern auch gießtechnisch anspruchsvollere Teile (Automobiltüren, Fensterrahmen) im Druckgießverfahren gefertigt. Es sind Wandstärken von 4 mm bis herab zu sehr dünnen 1,8 mm herstellbar. Auch Verbindungen von Stahlblechen mit Aluminium und/oder Magnesium sind mittels Druckgusstechnik problemlos möglich. Unverändert ist Magnesium in der zivilen wie militärischen Pyrotechnik wichtiger Bestandteil aller Erzeugnisse. Kupfer Kupfer wird je nach zugrundeliegendem Erz pyro- oder hydrometallurgisch gewonnen. Aus sulfidischen Erzen wird in einem Schachtofenprozess der sogenannte Kupferstein gewonnen und anschließend in einem sogenannten Pierce-Smith-Konverter zu Schwarz- oder Blisterkupfer mit 80–96 % Kupfergehalt verblasen. Dabei setzen Kupfersulfid und Kupferoxid unter Abspaltung von Schwefeldioxid zu Kupfer um, Eisen als Hauptbegleitelement wird verschlackt. Die Schachtofentechnik bezeichnete man fachsprachlich lange als „deutschen Weg“. Der „englische Weg“ ist ähnlich, erfolgt aber im Flammofen. Im weiteren Prozessverlauf erfolgt das „Dichtpolen“; früher wurde dazu die Schmelze mit Baumstämmen umgerührt, heute wird Erdgas in die Schmelze eingeblasen. Hierbei entsteht sogenanntes „Anodenkupfer“, das zu Anodenplatten vergossen wird, die einer Raffinationselektrolyse unterzogen werden. Dabei sind die Anodenplatten in einer schwefelsauren Kupfersulfidlösung im Wechsel mit Edelstahlblechen (oder in älteren Elektrolysen Reinkupferblechen) als Kathoden in Reihe geschaltet. Die Spannung wird so gewählt, dass Kupfer in Lösung geht und sich an den Kathoden wieder abscheidet, während unedlere Metalle in Lösung bleiben und Edelmetalle (Silber, Gold, Platin, Palladium, Rhodium, …) sich als sogenannter Anodenschlamm am Grund der Elektrolysezelle absetzen. Aus dem Anodenschlamm werden die genannten Edelmetalle gewonnen. In der Raffinationselektrolyse entsteht Elektrolytkupfer, das wegen seiner elektrischen Leitfähigkeit seit dem 19. Jahrhundert für die Elektrotechnik unverzichtbar ist. Oxidische Erze und arme sulfidische Erze werden hingegen einer Gewinnungselektrolyse unterzogen. Dazu werden oxidische Erze mit Schwefelsäure gelaugt, für sulfidische Erze muss ein komplizierteres Drucklaugungsverfahren angewendet werden. Die kupferhaltige Lösung wird vor der Elektrolyse noch mittels Solventextraktion angereichert. Produkt ist ein mit 99,90 % Kupfergehalt sehr reines, aber wasserstoffhaltiges Kathodenkupfer (Elektrolyseprinzip: Wasserstoff und die Metalle schwimmen mit dem Strom). Die im Flammofen oder elektrolytisch feinraffinierten Kupferschmelzen werden zu Blöcken (Masseln) aus reinem Kupfer oder zu Formaten (Stranggießen) vergossen. Wird zuvor legiert, dann um bestimmte Eigenschaften, vor allem der Knetlegierungen herbeizuführen. Die Weiterverarbeitung des Raffinadekupfers passt sich gleich wie bei Eisen und Aluminium nach Qualität und Menge den Forderungen des Marktes an, für den Kupfer die Basis einer Vielzahl technisch wichtiger Legierungen ist. Einige sind schon seit der Antike bekannt (s. Abschnitt 1). Legiertes Kupfer ist nicht nur Ausgangsmaterial für horizontal oder vertikal verarbeiteten Formateguss. Sowohl niedrig legiert, wie Chromkupfer mit 0,4–1,2 % Chrom wird es ebenso zu technisch wichtigem Formguss (Chromkupfer für Stranggusskokillen und andere thermisch stark beanspruchte Gussteile), wie die nach DIN EN 1982 genormten Bronzen mit 12 % Zinn. Die Glockenbronze in der Zusammensetzung 80 % Kupfer, 20 % Zinn zählt zu den bekanntesten Kupferlegierungen. Seit dem Guss der ersten Kirchenglocken im 6. bis 8. Jahrhundert wird sie, kaum verändert, in überlieferter Technik vergossen (sehr wirklichkeitsnahe Beschreibung bei Friedrich Schiller „Das Lied von der Glocke“). Die Zusammensetzung dieser Bronze – damals empirisch gefunden – liegt nahe dem Optimum der Zerreißfestigkeit bei einem Zinnanteil von 18 %. Eine bei Kupfer, Messing und Aluminium schon seit dem 20. Jahrhundert, inzwischen auch bei Stahl angewendete Technik der Halbzeugverarbeitung ist die Herstellung von Drähten mittels des Properziverfahrens und des davon abgeleiteten Gießradverfahrens. Zu den im 19. Jahrhundert wirtschaftlich bedeutend gewordenen Kupferlegierungen gehören neben Rotguss, einer Kupfer-Zinn-Zink-Blei-Legierung, (die den Messingen bereits näher steht, als den Bronzen) noch eine Reihe von Sonderbronzen, wie die Aluminiumbronze. Mit 10 % Aluminium ist sie ein wertvolles, weil kavitationsbeständiges, wegen der Oxidationsneigung des Aluminiumanteils jedoch schwierig zu erschmelzendes und zu vergießendes Material für den Guss von großen Schiffspropellern (Stückgewicht 30 t und mehr). Metallurgisch ebenso bedeutsam wie die zahlreichen, zweckgerichteten Bronzelegierungen sind seit Beginn des Industriezeitalters die zusammenfassend als Messing bezeichneten Kupfer-Zink-Legierungen. Wegen der für die meisten Legierungen des Kupfers mit Zink charakteristischen Gelbfärbung, werden viele Messinge oft nicht als solche wahrgenommen. Beispiel ist hier Rotguss, oder Rotmessing (italienisch: „ottone rosso“). Mit seinem unter 1000 °C liegenden Schmelzpunkt ist Messing vielfältig einsetzbar. Mit 63 % Kupfer, Rest Zink, wird es besonders für Formguss (Armaturen, Beschlagteile) verwendet. Mit 58 % Kupfer, max. 3 % Blei, Rest Zink, wird es zu Halbzeug (Bleche, Profile). Eine Erniedrigung des Zinkanteils auf 36 bis 28 % begünstigt die ziehende Verarbeitung zu Patronen- oder Geschosshülsen aller Kaliber, weshalb diese Legierungen als Patronen- oder Kartuschenmessing bezeichnet werden. Der Bedarf an Messing wird nur in besonderen Fällen mit Primärlegierungen (siehe unter Recyclingmetallurgie) befriedigt, mehrheitlich sind es in einer Messinghütte (Messingwerk) aufgearbeitete Messingsammelschrotte (Altmetall), denen frische Fertigungsabfälle aus spanloser wie spanender Bearbeitung zugegeben werden. Geschmolzen wird überwiegend im Rinneninduktionsofen. Kupfer-Nickel-Gusslegierungen mit bis zu 30 % Nickel sind sehr seewasserbeständig (Schiffbau). Mit einem Zinkzusatz bis 25 % in Kupfer-Mehrstofflegierungen mit Nickel, Blei und Zinn werden Messinge zu Weißkupfer oder Neusilber (CuNiZn). Verbreitet kennt man sie als Bestecklegierungen, unter anderem als Alpaka und Argentan (siehe Packfong). Konstantan und Nickelin, eine Kupfer-Nickel-Legierung mit Manganzusatz, sind als Heizleiterlegierungen korrosionsfestes Ausgangsmaterial für Heizwiderstände. Zink Als „Industriemetall“ wird Zink in seiner Bedeutung oft unterschätzt. Die Weltproduktion im Jahre 2014 betrug immerhin 13,5 Mio. t. Werden dem die 2010 mit 4 Mio. t genannten Mengen an Sekundärzinkerzeugung, u. a. aus Recyclingprozessen, auch aus Eisenentzinkung und Filterstäuben, hinzugerechnet, ergibt sich eine Gesamtmenge von mehr als 17 Mio. t (Zahlen siehe Erzmetall, 3/2016). Zink wird bergmännisch als mit Blei vergesellschaftetes oxidisches (Zinkspat, Galmei) oder sulfidisches Erz (Zinkblende) abgebaut. Der carbonatische Galmei wird gebrannt, der Schwefelanteil der Zinkblende abgeröstet und für die Produktion von Schwefelsäure genutzt. Das auf beiden Wegen erhaltene Zinkoxid wird entweder auf trockenem Wege zusammen mit Kohle in feuerfesten Retorten (auch Muffeln genannt) reduziert und bei 1100–1300 °C im Destillationsverfahren Rohzink gewonnen. Bei Anwendung des nassen Verfahrens wird in einer ersten Stufe Zinkoxid unter Zusatz von Schwefelsäure zu Zinksulfat. Im folgenden Elektrolyseverfahren schlägt sich auf den Kathoden Elektrolytzink bereits als 99,99 % reines Feinzink nieder. Qualitätsmäßig wird demnach zwischen Rohzink, genormtem Hüttenzink und genormtem Feinzink unterschieden. Zink wird auf vielen Gebieten eingesetzt. Es bestimmt den Legierungscharakter bei Messing, ist Legierungsbegleiter bei Rotguss und vielen Aluminium- und Magnesiumlegierungen. Technisch sehr bedeutend ist die Verzinkung von Eisen- bzw. Stahlteilen, wie z. B. Bändern und Profilen. Bei Bändern zumeist im kontinuierlichen Verfahren nach Sendzimir. Die Verzinkung erfolgt durch Tauchen und Führung der zu verzinkenden Einzelteile – bei diesen mittels eines Gehänges – oder der Walzbänder durch ein wannenförmiges Zinkbad, wobei eine doppelte Schutzschicht ausgebildet wird. Auf eine primär entstehende Eisen-Zink-Verbindung legt sich ein Reinzinküberzug. Beide zusammen gewähren, sofern der Überzug keine offenen Schnittstellen aufweist, einen anhaltenden Schutz gegen durch Luftfeuchtigkeit bedingte Korrosion, also ein Verrosten oder Durchrosten. Feinzinklegierungen mit einem Aluminiumanteil von zumeist 4 % werden für verschiedenste Zwecke verarbeitet, besonders im Druckguss, wo „ressourceneffiziente Gießtechnik“ zunehmend bisher in Aluminium gegossene Teile ersetzt. Die Welterzeugung belief sich 2014 auf 2 Mio. t, davon entfielen 70.000 t oder 4 % auf Deutschland. Auch zu Halbzeug wird Feinzink verarbeitet. Zinkweiß, ursprünglich bei Herstellung und Verarbeitung von Messinglegierungen ein unerwünschtes Beiprodukt, wird heute nach verschiedenen Verfahren aus Rohzink, oder zu mehr als 70 % des auf > 250.000 t/a geschätzten Verbrauchs beim Recycling von zinkhaltigen Erzeugnissen gewonnen. Es wird nicht nur traditionell für Pigmente und keramische Erzeugnisse, sondern auch bei Gummi, Glas, Pharmazeutik und Elektronik verwendet, sofern es nicht in den Kreislauf der Feinzinkherstellung zurückgeführt wird. Die Korrosionsbeständigkeit von Zinküberzügen auf Eisen und damit dessen Schutz vor Rost bedingt einen ständigen, hohen Bedarf der Verzinkereien. Man unterscheidet elektrolytische Verzinkung (mit geringerer Haltbarkeit) von Feuerverzinkung, bei der die zu verzinkenden Teile durch ein Tauchbad aus geschmolzenem Feinzink geführt werden. Nickel Nickel hat eine eigene Industrie begründet (beispielsweise das russische Unternehmen Norilsk Nikel). Ungeachtet seiner historischen, für China schon vor der Zeitenwende nachgewiesenen Verwendung hat es erst im 19. Jahrhundert wieder Bedeutung gewonnen. Zur Nickelgewinnung dienen überwiegend Kiese, also sulfidische Erze, die in einer ersten Stufe abgeröstet und im Flammofen geschmolzen werden („Rohstein“). Von Kupfer und Eisen befreit wird es zum „Feinstein“ und dieser wird entweder elektrolytisch raffiniert (Reinnickel) oder nach dem Mond-Verfahren (Carbonylnickel) zu Reinstnickel. Verwendet wird Nickel für hochwertige Gusslegierungen auf Nickelbasis, überwiegend aber als eigenschaftsbestimmendes Legierungselement (z. B. für Chrom-Nickel-Stähle) und als Bestandteil von Bronzen (seine Stellung als Legierungsbegleiter teilt es sich hier mit Zinn). Nickel findet sich ferner in Messingen und hochfesten Aluminiumlegierungen. Als Überzug von Gussteilen gewährleistet es Korrosionsschutz (Vernickelung) und nicht zuletzt bestimmt es mit ca. 25 % Anteil die „Silberfarbe“ von Münzen, Besteck und Haushaltsgeräten. Nickel ist nicht giftig, aber seine Aerosole können gefährdend sein. Dauernder Hautkontakt, etwa bei Brillengestellen, oder Schmuck (beides im Druckgießverfahren gefertigt), kann zu einem Nickelekzem (Nickelkrätze) führen. Blei Blei ist mit einem Schmelzpunkt von nur 327 °C verarbeitungsgünstig und mittels Oxidation und folgender Reduktion metallisch aus Bleiglanz (PbS) leicht darstellbar. Es wird als Reinblei vorwiegend in Form weichen, flexiblen, zu Blechen gewalzten Materials verarbeitet (Bleiummantelung von Kabeln, Dachabdichtungen). Als Bleirohr ist es, mit einer Zulegierung von härtendem Antimon, nur für Abwasserleitungen erlaubt. Viel verwendet wird es als Akkublei für Starterbatterien, als Schrotblei, als Bleidruckgusslegierung und für Bleibronzelager. Außerordentliche Bedeutung hat Blei seit Jahrzehnten als Schutz gegen Gammastrahlung. Im Umgang mit radioaktivem Material ist eine Bleiabdeckung (Bleischürze des Radiologen) unverzichtbar. In Messing-Knetlegierungen gewährt Blei (bis zu 3 %) gute Zerspanungseigenschaften. Als Legierungsbegleiter in Kupferlegierungen ist Blei erwünscht, obwohl es wegen seiner Dichte zum Ausseigern neigt. Die Verarbeitung von Altblei (Akkumulatoren) wird in spezialisierten Hütten vorgenommen, unter anderem weil außer problematischen schwefelsauren Rückständen in den Batterien die oberhalb des Schmelzpunkts (Dampfdruck) einsetzenden Bleidämpfe sehr giftig sind (siehe Recyclingmetallurgie). Sonstige industriell genutzte Metalle Lithium Das Leichtmetall Lithium weist eine Dichte von nur 0,534 g·cm−3 auf. Es liegt an 27. Stelle der Häufigkeitsliste der Elemente. Der geschätzte Weltvorrat beträgt 2,2 Millionen t. Lithium kann mittels Schmelzflusselektrolyse aus Lithiumerzen gewonnen werden (u. a. aus Amblygonit mit einem Lithiumoxidgehalt bis zu 9 %, das als Erzkonzentrat verarbeitet wird). Spodumen wird besonders zur Herstellung von Lithiumcarbonat eingesetzt, weitere abbauwürdige Erze sind Petalit und Lepidolith. Lithium wird auch durch Eindampfung hoch salzhaltigen Wassers gewonnen (Totes Meer). Die Extraktion aus Meerwasser (Gehalt 0,17 ppm Li) gilt bisher als nicht wirtschaftlich. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist noch nicht entschieden, ob metallisches Lithium nach seiner Darstellung mittels eines über Lithiumcarbonat führenden Verfahrensganges, vorzugsweise als Bestandteil für die Herstellung besonders leichter und korrosionsfester Legierungen auf Aluminium- oder Magnesiumbasis, oder einer Legierung beider genutzt wird, auch selbst zum Basismetall von Superleichtlegierungen wird, oder aber in Hochleistungsakkumulatoren (Lithium-Ionen-Akkumulator) verwendet wird. Gemäß den Erfahrungen als Akku für die Mobiltelefonie wird in ihnen die nächstmögliche Lösung für elektrisch angetriebene Straßenfahrzeuge gesehen. Der damit stark steigende Bedarf kann nach dem, was über weltweit, auch in Europa (Norische Alpen) erschlossene und zu erschliessende Vorkommen bekannt ist, befriedigt werden. Ungünstiger ist dagegen, dass mit den Anstrengungen die Elektromobiliträt zu fördern, auch ein verstärkter Bedarf an Kobalt einhergeht, dessen regional begrenzte Gewinnung indessen für Versorgungsengpässe anfällig bleibt. In der Nukleartechnik gilt der Einsatz von Lithium seit seinem Beitrag zur Entwicklung der „Wasserstoffbombe“ als unverzichtbar für die Entwicklung eines Fusionsreaktors. Zu den zahlreichen weiteren Verwendungen von Lithium oder seinen Verbindungen zählt der Zusatz von bis zu 5 % Lithiumfluorid bei der Schmelzflusselektrolyse von Aluminium, der Einsatz von Lithiumkupfer als Desoxidationsmittel für Schwermetalle (Schmelzebehandlung), der Zusatz von Lithiumchlorid und Lithiumfluorid zu Hilfsmitteln beim Schweißen und Löten von Leichtmetallen, ferner in Form seiner Stearate bei Schmiermitteln und als Citrate, Karbonate und Sulfate in der Pharmakologie. Im Hinblick auf die Verwendungsbreite von Lithium und seinen Verbindungen einerseits, seiner nicht unbegrenzten Verfügbarkeit andererseits, kommt dem Recycling, insbesondere aus Batterien und Akkus, wachsende Bedeutung zu. Beryllium Beryllium (Dichte 1,85 g·cm−3), zählt zu den Leichtmetallen. Gewonnen wird es hauptsächlich aus Beryll, einem Aluminium-Berylliumsilikat. Obwohl als toxisch eingestuft (leberschädigend, Berylliose), wird es vielfältig verwendet. Bei Magnesiumguss verringert bereits ein Zusatz von 0,001 % zur Legierung oder zum Formsand die Oxidationsgefahr, als Berylliumkupfer mit 5 % Berylliumanteil wird es zur Desoxidation von hochleitfähigem Kupfer verwendet. Aus einer Kupfer-Beryllium-Gusslegierung mit max. 3 % Beryllium und 0,5 % Cobalt lassen sich funkenfreie Werkzeuge herstellen, eine im Kohlebergbau wichtige Eigenschaft. Großes Potenzial wird Beryllium nach aktuellen Forschungen bei der angestrebten Kernfusion in Fusionsreaktoren eingeräumt, da es sowohl den Brennstoff Tritium erzeugen kann als auch sich für die einer Temperatur von 100 Millionen Grad ausgesetzte Verkleidung des Plasmagefäßes eignet. Zinn Zinn (Dichte 7,29 g·cm−3), lateinisch „Stannum“, wird aus reduzierend verhütteten, oxidischen Erzen gewonnen (Zinnstein, Kassiterit). Auf Zinnbasis fertigte man bis zur Erfindung des Porzellans Ess- und Trinkgefäße („Geschirrzinn“). Eine neuzeitliche Entwicklung ist „Britanniametall“, eine Sn90Sb8Cu-Legierung, die zu Dekorationsgegenständen verarbeitet wird (Teller, Pokale). Ein besonderes Gebiet sind Zinnfiguren aus einer eutektisch erstarrenden Legierung Sn63Pb37, deren Herstellung über Jahrhunderte tradiert ist (Zinngießerei). Die Bezeichnung Stanniol für dünn ausgewalzte Zinnfolien geht unmittelbar auf das lateinische „stannum“ für Zinn zurück und wird umgangssprachlich auf Metallfolien schlechthin angewendet. Zu deren lange Zeit allgemein bekannten Anwendungsformen zählen Flaschenkapseln und das den Weihnachtsbaum schmückende Lametta. Zinn wird heute vornehmlich im Druckgießverfahren verarbeitet, die dafür verwendeten Legierungen sind ähnlich denen für Lagermetalle auf Zinnbasis. Nach DIN 1703 sind es genormte Legierungen mit ca. 80 % Zinn und Zusätzen von Antimon, Kupfer und Blei; eine veraltete Bezeichnung ist „Weißmetall“, heute sind „Zinnlagermetalle“ an ihre Stelle getreten. Zinn ist namengebendes Legierungselement aller Zinnbronzen, ferner ein für die erforderlichen Legierungseigenschaften erforderlicher Bestandteil von Rotguss. Legiert mit Blei und härtendem Antimon fand es sich als „Bleisatz“ in den inzwischen historisch gewordenen Schriftmetallen. Eisenblech, auf Millimeterbruchteile ausgewalzt und einseitig verzinnt, wird als Weißblech bezeichnet. Haupteinsatzgebiet sind Dosen für Dauerkonserven. Ein in der Weltspitze agierender deutscher Erzeuger gibt für 2007/2008 eine Jahresproduktion von 1,5 Millionen t an. Zinn ist auch Hauptbestandteil aller Weichlote mit einem Schmelzpunkt < 450 °C. Titan Titan wird wegen seiner relativ niedrigen Dichte von 4,5 g·cm−3 und damit nur halb so schwer wie Stahl, aber gleich guten Festigkeitswerten, zudem unmagnetisch, seewasserfest und korrosionsbeständig, schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts besonders auf dem militärischen Sektor zunehmend verwendet: als Legierungsbegleiter bei Spezialstählen, als gefügestabilisierender Zusatz bei Gusseisensorten, als wichtiger Zusatz zu hochfesten, seewasserbeständigen Aluminiumlegierungen im Schiffbau. Um 1940 beginnt die Entwicklung von Titanlegierungen, eine Voraussetzung zum Bau von Düsentriebwerken für Luft- und Raumfahrt. Insbesondere Titanaluminid-Werkstoffe mit Zusätzen von Niob, Bor und Molybdän sind gemäß Fachpresse für Betriebstemperaturen von Flugzeugturbinen geeignet. In der Medizintechnik wird Titan für künstliche Gelenke (Endoprothesen, Implantate) verwendet. Im Feingussverfahren (Wachsausschmelzverfahren) werden aus Titanlegierungen nicht nur kleine bis kleinste Präzisionsteile hergestellt. Ein patentiertes Verfahren erlaubt auch die Herstellung größerer Teile, wie sie der Motorsport verlangt. Modellherstellung mittels Rapid Prototyping in Laser-Sintertechnik erfolgt rasch und ermöglicht auch kurzfristige Abänderungen. AlTi-, AlTiC- und AlTiB-Vorlegierungen dienen bei Aluminiumknet- sowie Gusslegierungen zur Gefügebeeinflussung (Kornfeinung). Neue Titan-Vorkommen werden erschlossen, in Erwartung eines jährlich bis auf mehr als 100.000 t ansteigenden Bedarfs, wobei Titan mit Cobalt und Nickel vergesellschaftet anfällt. Kobalt Kobalt, ein silbriges Metall (Dichte 8,9 g·cm−3) ist seit dem 15. Jahrhundert bekannt. Die gezielte Förderung von Kobalterzen beginnt, als gegen Ende des 16. Jahrhunderts durch Zufall wiederentdeckt wurde, was bereits den alten Ägyptern bekannt war: dass Kobalt Glasflüsse blau färbt. Für die Eisenindustrie ist Kobalt ein Zusatz zu hochwertigen Stählen. Neue Bedeutung erfährt Kobalt durch seine Eignung als Elektrodenmaterial bei der Herstellung von Lithiumionenakkus (Akkus). Die Weltproduktion wird im Jahre 2007 auf 60.000 t geschätzt, wovon zwei Drittel aus dem Kongo (Katanga) und Sambia kommen. Eine sehr große Reserve bieten die Manganknollen der Tiefsee mit einem Gehalt von ca. 1 % Kobalt. Refraktärmetalle Zur Gruppe der Refraktärmetalle gehören Molybdän, Wolfram, Vanadin, Niob und Tantal. Die Bezeichnung weist auf den hohen Schmelzpunkt dieser Elemente hin. Aufgrund der hohen Schmelztemperaturen konnten sie erstmals gegen Mitte des 20. Jahrhunderts mittels moderner Schmelztechniken, wie dem Vakuum-Schmelzverfahren, in notwendiger Reinheit dargestellt werden. Reinheit ist Voraussetzung für verschiedene spezifische Verwendungszwecke. Wolfram, Vanadin, Niob und Tantal werden aus oxidischen Erzen wie Vanadinit, Wolframit, Tantalit, Niobit (auch als Mischerz mit Tantalit nach den Hauptfundorten als Columbit bezeichnet) für einen stetig zunehmenden Bedarf in der Mikroelektronik gewonnen. Der Weltbedarf an Niob kommt zu 90 % aus Brasilien. Molybdän Molybdän ist das bedeutendste Refraktärmetall. Mehr als 50 % der Weltproduktion von nahezu 200.000 t p. a. (2008) an Molybdän (Dichte 10,2 g·cm−3) werden mit zunehmenden Verbrauchsraten als Stahlveredler und für Gusseisen eingesetzt. Die Elektroindustrie benötigt es für Katalysatoren, auch Pigmenthersteller nutzen es. Gewonnen wird es weit verbreitet aus sulfidischem Molybdänglanz. Ein Beiprodukt der Molybdängewinnung ist das seltene Edelmetall Rhenium (Dichte 21,04 g·cm−3). Wolfram Das Refraktärmetall Wolfram (Dichte 19,3 g·cm−3) wird aus dem Abbau von Scheelit- und Wolframiterzen gewonnen. Es ist Legierungselement für Werkzeugstähle, etwa für Spiralbohrer. Als die – pulvermetallurgische – Verarbeitung des Wolframs mit seinem extrem hohen Schmelzpunkt von 3387 °C zu feinen Drähten gelang, konnte es Osmium oder Tantal als Material für Glühfäden ersetzen. Dadurch wurden klassische Glühbirnen relativ dauerhaft und in der Anschaffung billig. Auch Halogenlampen und die effizienteren und langlebigeren Leuchtmittel Leuchtstoffröhre und Kompaktleuchtstofflampe (Energiesparlampe) weisen noch Wolframwendel auf – wobei die letzteren die Wendel zum Vorheizen nur vor dem Start benötigen. Erst Leuchtdioden kommen ohne aus. In Röntgenröhren wird Wolfram zur Heizung der Kathode (Glühwendel), vor allem aber als Anodenmaterial benutzt. Die Verbindung Wolframcarbid, chemisch WC, gehört mit einer Mohs-Härte 9,5 zu den härtesten Stoffen und wird daher als Beschichtung von Schneidwerkzeugen oder direkt als Schneidstoff in Hartmetallen eingesetzt. Unter spezieller Belastung (in Kraftwerken) wird Wolfram spröde. Versprechende Untersuchungen einer Verstärkung durch eingelagerte Wolframfasern sind im Gange. Selen Selen nach dem griechischen Wort „Selene“ für den Mond benannt, dem Tellur („Erde“) nahe verwandt, gehört in die VI. Hauptgruppe des Periodensystems der Elemente. Die Weltgewinnung von 2000 t im Jahr 2007 – vorwiegend aus dem Anodenschlamm der Kupferelektrolyse – findet Verwendung unter anderem für die Herstellung farbiger Gläser, als Halbleiter in der Xerographie, als Bestandteil von Schmierstoffen und Pharmazeutika. Silber Silber wurde 2007 zu 30 % in Silberminen gewonnen, ein Drittel des Bedarfs fällt als Nebenprodukt bei der Blei- und Zinkgewinnung an, 27 % bei der Kupferraffination und weitere 10 % bei der Goldgewinnung. Nach der nahezu vollständigen Demonetisierung überwiegt seine industrielle Nutzung, die auf der alle anderen Metalle übertreffenden thermischen und elektrischen Leitfähigkeit beruht und für 2007 mit 55 % des Gesamtbedarfs angegeben wird. Mit einer Dichte von 10,5 g·cm−3 und einem Schmelzpunkt von 960 °C ist Silber vielseitig verwendbar. Nach Entdeckung im 19. Jahrhundert seiner gleich Messing „bakteriziden“ Wirkung wird Silber nicht nur zu Gebrauchsgegenständen verarbeitet; die Silberbeschichtung von Griffen, Klinken und anderen vielfach berührten Metallteilen im öffentlichen Raum wird zum Silberverbraucher. Aus demselben Grund wird es für chirurgische Instrumente verwendet, ferner für Apparaturen der Nahrungsmittelindustrie. Silberverbraucher sind auch in der Elektronik und Elektrotechnik (Silberdraht) zu finden. Silber-Zink-Akkus sind in der Entwicklung, die Energiedichte soll 40 % über der von Lithium-Ionen-Akkus liegen (siehe dazu auch unter „Recycling“). Schmuck und Bestecke beanspruchen nach Meldungen in Wirtschafts- und Fachpresse noch 25 % des Silberverbrauchs. Schmuck und Silbergeschirr werden traditionell teils handwerklich (Silberschmied), teils industriell (auf Silber spezialisierte Gießereien) hergestellt. Die Verwendung in der Fototechnik ist auf 15 % zurückgegangen. 5 % des Silberangebotes werden zu Gedenkmünzen und Medaillen geprägt. Silber ist mit bis zu 0,25 % ein Legierungsbestandteil als „Silberbronze“ bezeichneter Kupferknetlegierungen. Silberhartlote auf Kupfer- oder Manganbasis können bis zu 87 % Silber enthalten. Hochfeste Aluminiumlegierungen werden ebenfalls unter Silberzusatz hergestellt. In der Geschichte des Münzwesens hatte Silber lange eine bedeutende Rolle (siehe Silberwährung). Die Inhaber des Münzregals, heute ausschließlich die Staaten und ihre Nationalbanken, prägen Silbermünzen nur noch zu besonderen Anlässen und nehmen steigende Silberpreise gerne zum Anlass den Silbergehalt der Münzen zu verringern. Uran Uran ist ein giftiges, radioaktives (strahlendes) Schwermetall mit der sehr hohen Dichte von 19,1 g·cm−3, das zur Gruppe der Actinoide gehört. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts von Martin Klaproth entdeckt und als Pechblende bezeichnet, wird es seitdem bergmännisch gewonnen. Deutsche Vorkommen an Uranerz wurden bis 1990 in erheblichem Umfang ausgebeutet (Schlema-Alberoda). 1898 beobachtete A. H. Becquerel die Strahlung der Pechblende, allerdings ohne deren menschliches Gewebe schädigende Wirkung zu erkennen. Pierre und Marie Curie isolierten darauf die enthaltenen, stark strahlenden Elemente Polonium und Radium. Nicht die geringen Anteile dieser beiden Elemente im Uran machen es zum radioaktiven Alphastrahler, sondern der Gehalt an den Isotopen 234, 235 und 238. Alle radioaktiven Elemente, insbesondere die nach 1945 entdeckten Transurane, wie etwa Fermium, Berkelium, Einsteinium, mit Ordnungszahlen ab 93 sind mehr oder weniger instabil. Einige Actinoide zerfallen bereits nach Sekunden, andere erst nach Millionen von Jahren, der Maßstab ist die sogenannte Halbwertszeit. Für Uran-238 werden 4,5 Milliarden Jahre angegeben, für das Isotop 235 sind es 704 Millionen Jahre und für „waffenfähiges“ Plutonium „nur“ 24000 Jahre. Endstufe dieses atomaren Zerfalls, der auch die Altersbestimmung von Elementen erlaubt, ist stets Blei. Die jährliche Uranproduktion weltweit wird für 2007 mit 40.000 t angegeben, der Verbrauch mit 60.000 t. Die Lücke wird durch Auflösung aus militärischen Gründen gehorteter Bestände geschlossen. Die Ansichten über den globalen Vorrat an Uranerz sind strittig, 10 % der Vorräte sollen sich in Westaustralien befinden, müssen aber noch erschlossen werden. Durch die Technik des Brutreaktors könnten die Weltvorräte nachhaltigerer Nutzung zugeführt werden. Die Weiterverarbeitung des geförderten Uranerzes orientiert sich an chemisch-metallurgischen Prinzipien der Laugung, Fällung und Filtration mit dem Zwischenprodukt Yellowcake. Das gewonnene metallische Uran ist unverändert radioaktiv und ohne weitere Behandlung praktisch nur begrenzt nutzbar. Isoliertes Radium (auch die Isotopen) wurde früher in der Strahlenmedizin eingesetzt. Abgereichert (das heißt, in seiner nicht spaltbaren Form) wird Uran sehr unterschiedlich verwendet. In der Rüstungsindustrie dient es wegen seiner Härte gleichermaßen für Panzerplatten wie für panzerbrechende Munition. Es findet sich ferner als Strahlenschutzmaterial, als Stahlzusatz und in der Luftfahrtindustrie. Angereichert wird Uran dagegen genannt, wenn in einem aufwändigen Prozess (Zentrifugentechnik) der Anteil des Isotops 235 von natürlichen 0,711 % auf wenigstens 3,5 % gesteigert worden ist. Damit wird es zum Ausgangsstoff der nuklearen Energiegewinnung im Kernkraftwerk. Plutonium entsteht dort als Beiprodukt, es kann erneut zu Brennelementen verarbeitet werden oder der Herstellung von nuklearen Sprengkörpern dienen. Reinstmetalle Eine Reihe von Metallen, die in höchster Reinheit von > 99,9999 % und in extrem dünnen Schichten als Verbindungshalbleiter in der Elektronik und Energieerzeugung (u. a. für Solarzellen) eingesetzt werden. Sie bestehen aus Verbindungen von Aluminium, Gallium und Indium (3. Hauptgruppe) mit Stickstoff, Phosphor, Arsen und Antimon (5. Hauptgruppe des periodischen Systems). Germanium, bei dem China 75 % des Bedarfs deckt, ist für Fiberglaskabel nötig. Technologiemetalle Dieser Begriff wird zunehmend häufiger für Elemente verwendet, die im Bereich der sogenannten „Hochtechnologie“ (High-Tech) verwendet werden, insofern a priori die „Seltenerdmetalle“ umfassend. Man gebraucht ihn aber auch auf andere Einteilungen, wie „Edelmetalle“, „Sondermetalle“ ja selbst „Industriemetalle“ und „industriell genutzte Metalle“ übergreifend, sofern dort zuzuordnende Elemente im High-Tech-Bereich Anwendung finden. Edelmetalle Die Gewinnung von Gold, seit dem Jahr 600 v. Chr. erstmals als geprägtes Zahlungsmittel (Goldstater) verwendet, wird in der Geschichtsschreibung erstmals für die ertragreichen Minen der mythischen Königin von Saba erwähnt. In Deutschland begann sie mit dem Fund von Flussgold (Rheingold). Es wurde nach einem zeitgenössischen Bericht aus dem 12. Jahrhundert mittels der heute noch geläufigen Goldwäsche-Technik aus dem Fluss gewaschen. Silber zählt wie Kupfer zu den ältesten von Menschen genutzten Metallen. Ausgehend von ungeprägtem Silber kam es zur Monetarisierung, Silber wurde Zahlungsmittel. Silberstatere sind seit 600 v. Chr. aus Makedonien bekannt, China erhob den gegossenen Silbertael zum Maßstab. Wirtschaftlich bedeutend für Europa waren im 14. Jahrhundert der Abbau und die Verhüttung von Silbererzen in den Muldenhütten im sächsischen Erzgebirge sowie der industriell betriebene Silberabbau im österreichischen Tirol mit Zentrum in Schwaz, wo man im 15. und 16. Jahrhundert jährlich 30 t Silber gewann. Begünstigt wurden diese Standorte durch ein reichliches Holzangebot als Brennmaterial und Wasserkraft zum Betrieb der Blasebälge. Die europäische Silbergewinnung verlor erst an Bedeutung, als im 16. Jahrhundert nach Unterwerfung der mittelamerikanischen Kulturen zahllose Schiffsladungen Gold und Silber nach Europa gelangten. Von 1494 bis 1850 sollen allein an die 4700 t Gold aus den spanischen Besitzungen gekommen sein. Die eingeführten Silbermengen waren so groß, dass sie eine Monetarisierung erlaubten. Landesherrliche Münzstätten prägten Silbertaler (u. a. den Maria-Theresien-Taler) als Silberwährung. Die Ausgabe von Papiergeld zur Erleichterung des Umgangs mit größeren Geldmengen war nur deshalb möglich, weil jederzeit der Umtausch gegen Gold (Goldwährung) oder Silber möglich war. Vor allem die Golddeckung einer Währung garantierte die besondere Solidität eines Staatswesens. In dieser Zeit entstanden daher auch die nationalstaatlichen Münzen als industrielle Betriebe. Noch während des Ersten Weltkriegs und in den darauf folgenden Jahren mussten die großen, auf Grund der Kriegsführung überschuldeten Wirtschaftsnationen, eine nach der anderen, den Goldstandard ihrer Währung – also die Garantie, Papiergeld jederzeit in Gold umzutauschen – aufgeben. Lediglich die USA verpflichteten sich nach dem Zweiten Weltkrieg nochmals, Papierdollar jederzeit in Gold zu tauschen, mussten diese Garantie aber 1971 wieder aufgeben. Es kursierten – von Sonderprägungen wie dem Krügerrand abgesehen – keine Goldmünzen mehr. In einigen Ländern (unter anderem in der Schweiz) waren noch Silbermünzen im Umlauf; diese wurden aber lange vor dem Ende des 20. Jahrhunderts eingezogen. Papiergeld und Münzen aus Nickel oder Kupfer traten an die Stelle von Gold und Silber, gemäß dem volkswirtschaftlichen Axiom (Greshamsches Gesetz): „Schlechtes Geld verdrängt das gute Geld im Umlauf.“ Nicht nur geblieben, sondern gestiegen ist dagegen das Hortungsbedürfnis der Staaten und der privaten Anleger. Dazu kommt eine wachsende Nachfrage nach Edelmetallen für zum Teil ganz neue industrielle Produktionen. Beides sichert den Betrieb der Goldbergwerke und die hüttenmäßige Weiterverarbeitung. Für 2007 wird eine Weltgoldgewinnung von ca. 2500 t angenommen. Zwei Drittel davon werden zu Schmuck verarbeitet, der nach den Methoden klassischer Halbzeugfertigung (Blockguss und Verwalzen) hergestellt wird. Lediglich zehn Prozent gehen in Sonderprägungen von Münzmetallen ein, wozu die Rohlinge aus den auf entsprechende Stärke gewalzten Goldblechen erst ausgestanzt und anschließend mit Stempeln und Matrizen unter hohem Druck geprägt werden. Einige hundert Tonnen gehen in die Elektroindustrie, in die Glasbeschichtung und die Dentaltechnik. Vergleichend wird in Statistiken für 1999 eine Weltsilbergewinnung von 17.300 t genannt. Zunehmende Mengen verarbeitet die Elektronikindustrie. Zu den im 21. Jahrhundert in der elektronischen Kommunikation („Handy“, PC) metallurgisch zunehmend genutzten Edelmetallen gehören nicht allein das seit dem 19. Jahrhundert bekannte Platin, als Schmuckmetall höher als Gold bewertet, im Zuge der technischen Entwicklung wegen seiner Katalysatoreigenschaften geschätzt, sondern mit ihm die gesamte „Gruppe der Platinmetalle“, zu der auch das für Glühfäden Glühbirne bedeutend gewordene Osmium, ferner Rhodium, Ruthenium und Iridium gehören. Neueren Meldungen der Wirtschaftspresse zufolge (unter anderem Frankfurter Allgemeine Zeitung), gibt es für alle Platinmetalle ergiebige Vorkommen im sibirischen Jenissei-Gebiet, in dem aus tektonischen Gründen – so die Meldungen – fast alle zukunftsträchtigen Rohstoffe (zudem Erdgas und Erdöl) sozusagen „gebündelt“ zu finden sind. Im Jahre 2007 sagen die gleichen Quellen dies erstmals auch der Nordpolarregion nach. Bei 4000 m Meerestiefe ist die Problematik der Ausbeutung nicht geringer als die der längst bekannten unterseeischen Manganknollen. Dem steht indessen seit 2007 ein Produktionsdefizit bei Platin gegenüber, das auf weiter ansteigenden Bedarf in den Verwendungsfeldern Schmuck und Katalysatoren zurückgeführt wird. Das ebenfalls für Katalysatoren genutzte, zur Gruppe der Platinmetalle gehörende Rhodium wird daher zunehmend nachgefragt. Wachsendes Interesse als Ersatz für Platin findet das ihm verwandte Palladium, in russischen Nickelminen ein Beiprodukt, als Schmuck- und Münzmetall wenig geschätzt, aber für Katalysatoren bestens geeignet. Goldminen werden heute selbst bei Gehalten von nur wenigen Gramm Gold je Tonne abgebauten Materials als ausbeutungswürdig angesehen. Südafrika erzielt im Grubenabbau (Sohlentiefe 900 bis 4000 m) fallweise bis zu 20 g Gold/Tonne. Ein übliches, umweltschädliches Aufbereitungsverfahren ist immer noch die Cyanidlaugung des goldhaltigen Erzes. Im Jahr 2007 wird sie ungeachtet der davon ausgehenden Umweltgefährdung noch im Distrikt „Roter Berg“ (Roșia Montană) betrieben, der nördlich der rumänisch/siebenbürgischen Stadt Alba Iulia gelegen ist und bereits von den Römern genutzt wurde. Für die nächsten 20 Jahre sollen jährlich immerhin eine Million Unzen gewonnen werden (Stand 2007). Neu erschlossen werden soll ein ca. 550 t enthaltendes Vorkommen in den chilenischen Anden (Pascua Lama). Silbererze, sofern mit Silbergehalten von mehr als 50 %, werden nach Aufbereitung einem nasstechnischen, amalgamierenden Verfahren unterzogen, aber auch elektrolytisch behandelt – insofern dem in vieler Hinsicht verwandten Kupfer vergleichbar. Bei ärmeren Erzen, bei denen Silber oft ein Beiprodukt ist, wird mit den üblichen Methoden des Röstens, Laugens, Chlorierens und Abtrennens gearbeitet. Klassische Prozesse der Trennung des Silbers von seinem Begleiter Blei sind „Parkesieren“ und „Pattinsonieren“, dem dabei gewonnenen „Reichschaum“ folgt die Treibarbeit. Bei einer Welterzeugung von weniger als 20.000 t pro Jahr fallen Silber und Gold mit prozentual bedeutendem Anteil zudem bei der Raffination von Kupfer (siehe dort) an. Scheideanstalten sind vielseitig im Recycling von Edelmetallen. Den Marktbedürfnissen folgend, trennen sie edelmetallhaltige Stoffe, gleich ob fest oder flüssig, in ihre einzelnen Bestandteile. Galvanisch erzeugte Goldüberzüge aus Edelmetall, wie sie für die Aufwertung von dekorativen Gegenständen, aber weitaus häufiger für Kontakte elektronischer Geräte erforderlich sind, führen zu aufarbeitungswürdigen Edelmetallschlämmen. Wirtschaftlich bedeutend ist die Rückgewinnung von Platin und die Trennung des Goldes von begleitendem Silber. Die im Scheideprozess anfallenden reinen Metalle verarbeiten die Betriebe entweder selbst zu Zwischen- und Endprodukten, von Schmuckketten bis zu Goldloten, oder veräußern sie an spezielle Verbraucher. Banken kaufen Feingoldbarren (24 Karat) und bieten sie als Wertaufbewahrungsmittel an. Legierte Barren und Halbzeuge (Ketten, Drähte, Bänder, Bleche) werden von der Schmuckindustrie verlangt, verbreitet als 14-karätiges Gold mit 585 ‰ Goldgehalt. Ein auf dem Sektor Edelmetalle bekanntes deutsches Unternehmen nennt für 2010 einen stark gestiegenen „Produktumsatz“ von 4,1 Milliarden Euro und einen gesondert ermittelten Edelmetallumsatz von 9,3 Milliarden Euro. Der durch Recycling erzielte Wert der verschiedenen Edelmetalle trägt in allen Fällen die Kosten der stofflichen Wiedergewinnung. Alchemie, ein Exkurs Alchemie, auch Alchimie, oder (da aus dem Arabischen kommend) Alchymie, begann um 200 n. Chr. im griechischsprachigen Raum zum Beginn einer ernsthaften Beschäftigung mit der Natur chemischer Stoffe zu werden. Da wichtige metallurgische Techniken zu dieser Zeit bereits gut entwickelt waren, ist die Alchemie als ein Ableger, nicht als Begründer, der Metallurgie anzusehen. Die Vier-Elemente-Lehre des Empedokles (Feuer, Wasser, Erde, Luft), ebenso die aristotelische Theorie des Hylemorphismus, der möglichen Stoffumwandlung durch Entzug unedler Eigenschaften, mündeten in die Suche nach dem „Stein der Weisen“, dessen Besitz die Umwandlung unedler Metalle in Gold gewährleisten sollte. Gold war den Landesherren des ausgehenden Mittelalters und zu Beginn der neuen Zeit wichtig, denn es konnte Kriegskassen füllen, die der Machterweiterung dienten. Das historisch bekannteste Nebenprodukt alchemistischer Bemühungen war kein neues Metall, sondern 1708 die Wiedererfindung des, den Chinesen bereits seit 700 n. Chr. bekannten, weißen Hartporzellans durch J. F. Böttger, dem ursprünglich als Goldmacher verpflichteten Gehilfen des E. W. von Tschiernhaus. Bereits im 16. Jahrhundert leitete Paracelsus (1493–1541), im 17. Jahrhundert R. Boyle (1627–1692) und im 18. Jahrhundert A. L. de Lavoisier (1743–1794) die Alchemie in die wissenschaftliche Chemie über, die von da an in der Entwicklungsgeschichte der Metallurgie Bedeutung gewinnt. Recyclingmetallurgie Eine „Metallhütte“ und ein „(Um-)schmelzwerk“ unterschieden sich ursprünglich sehr klar voneinander, heute verwischt dies der Sprachgebrauch häufig und wird dabei durch die technische Entwicklung unterstützt. Begriffsklärung In einer Metallhütte werden Eisen, Kupfer, Zink oder andere Industriemetalle erstmals dargestellt, im Umschmelzwerk (Umschmelzhütte) wird aus bisheriger Nutzung entlassenes Metall auf- oder umgearbeitet. Aus diesem Unterschied wird – in terminologischer Anlehnung an Beispiele aus anderen Bereichen – einerseits aus der Metallhütte die „Primärhütte“, die eine „Primärerzeugung“ betreibt. Ihr Produkt sind „Primärmetall“ und entsprechend auch „Primärlegierungen“. Die Umschmelzhütte dagegen wird zur „Sekundärhütte“, die mittels Einsatz von Altmetallen und Schrotten eine „Sekundärerzeugung“ betreibt. Sie stellt „Sekundärmetall“ her und daraus auch „Sekundärlegierungen“. Damit wird von ihr der Anspruch an Ressourcenschonung erfüllt. Dies ist keine erst neuerdings entdeckte Verfahrensweise, denn Schrott wurde schon immer umgeschmolzen. Die Rückführung in den Metall-Kreislauf wird heute verbreitet als Recycling bezeichnet. Hat das wieder verwendete Metall bessere Eigenschaften als die die zu bearbeitenden Altstoffe, wird auch der Ausdruck „upcycling“ gebraucht, das Gegenteil davon wäre „downcycling“, also eine Minderung, wie sie beim Recycling von Kunststoffen nicht auszuschließen ist. Die Wiederverwendung von Alteisenmetallen ist nicht unproblematisch, weil es zur Auflegierung bzw. Verunreinigung mit einer Vielzahl von metallischen Elementen aus dem Schrott kommt, die nur mit hohem Aufwand wieder zu entfernen wären. Die Eigenschaften der so erzeugten Rohmetalle (hier Stahl) sind daher anders als bei Primärmetall. Das betrifft physikalische Kriterien (Duktilität, Formbarkeit, Zähigkeit usw.) ebenso wie chemische, was sich in der Korrosionsresistenz äußern kann. Aufgabenstellung und ihre wirtschaftlichen und technischen Grenzen „Nachhaltigkeit“ und „verlängerter Lebenszyklus“ sind andere zeitbedingte Ausdrücke für sparsamen Umgang mit wertvollen Rohstoffen. Hierfür ist ein optimiertes Produkt-Design, das Materialverbrauch und Lebenszyklus einbezieht, mit der stofflichen Wiedergewinnung gleichrangig. Am Beginn wirtschaftlicher Recyclingmetallurgie steht seit einem Jahrhundert das Sortieren so genannter Sammelschrotte, also metallurgisch gesehen nicht sortenreiner Materialien. Was mit angeeigneter Kenntnis beim Sortieren der Schrotte begonnen hat, wird heute durch die „sensorgestützte Sortierung“ perfektioniert. Nicht übersehen werden darf allerdings, dass alle metallischen Rohstoffe, die in Endprodukte eingehen, erst nach Ablauf von deren Lebensdauer, die sich zudem im Gefolge moderner Techniken zunehmend verlängert, wieder für ein Recycling frei werden. Nur am Beispiel Aluminium aufgezeigt, heißt dies, dass derzeit lediglich knapp ein Viertel des Bedarfs über Recycling abgedeckt werden kann und diese Relation sich in naher Zukunft verschlechtern wird. Kupfer Zwei Kriege und steigender technischer Fortschritt, dazu Bevölkerungswachstum in vielen Ländern und in deren Folge Knappheit an primärem Metall haben die sekundäre Erzeugung nicht nur mengenmäßig vorangetrieben, sie vielmehr der Primären qualitativ gleichwertig werden lassen. Besonders deutlich nicht nur bei Aluminium, sondern auch bei Kupfer, das unbegrenzt recycelbar ist, gleich welcher Art die Altstoffe sind und welchen Kupferanteil sie aufweisen. Die „Energiewende“ mit dem einhergehenden Bedarf an neuen Leitungsnetzen sowie die forcierte Elektromobilität werden den Bedarf an primärem wie recyceltem Kupfer weiter erhöhen. Die Recyclingquote für Europa lag im Jahr 2012 nahe 45 %, resp. realen 2,25 Millionen Tonnen Aus einer „norddeutschen Kupferhütte“ ist eine beide Sparten betreibende europäische Werksgruppe entstanden, deren Aufgabenbereiche verzahnt sind. Wo eine sortenreine Trennung der Kupferschrotte fehlt und sich ein einfaches Umschmelzen, also direktes Recycling verbot, für das 2011 nach Erweiterungen eine Jahreskapazität von 350.000 t genannt wird, greift man 2017 mit an der Erzverarbeitung orientierten Möglichkeiten und neuen technischen Methoden ein. Es ist nicht länger normal, dass man zur Wiedergewinnung von Reinkupfer die Begleitelemente der Schrotte mittels Sauerstoffzufuhr „verbläst“, sie also oxidiert. um die entstandenen Oxide, sofern als wirtschaftlich wertvoll erachtet, durch Reduktion wieder zu reinen Metallen werden zu lassen, die dann, dem Primärmetall gleich, verwendet werden können. Dieser Prozess soll nun wirtschaftlich verbessert werden, um auch die steigende Nachfrage nach Kupferbegleitern zu befriedigen (dazu:). Bei der elektrolytischen Kupferraffination fallen zusätzlich Anodenschlämme an, die noch Kupfer, Silber und Gold, auch Selen und Tellur enthalten, was mit „Edelmetallrückgewinnung“ bezeichnet wird. Da diese Schlämme ein Kuppelprodukt darstellen, kann man ihre Aufarbeitung entweder dem primären Prozess, oder aber dem Recycling zuordnen. Aluminium Die Bedeutung gezielter Forschung nach Optimierung des Recyclings bei Aluminium ergibt sich allein schon daraus, dass im Jahr 2008 laut Angaben des Gesamtverbandes der deutschen Aluminiumindustrie (GDA) von insgesamt in Deutschland hergestellten 1,3 Millionen Tonnen Aluminium nur noch 43 % auf Primäraluminium entfielen und 750.900 t auf Recyclingaluminium, wobei beide Zahlen keineswegs die Inlandsproduktion widerspiegeln, sondern von erheblichen Einfuhren gestützt werden. Angestoßen wurde diese Entwicklung durch die im Rahmen des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) steigenden Strompreise, die eine Primärerzeugung besonders in Deutschland zu einer auslaufenden Produktion werden lässt. Eine deutsche Firma, die sowohl Primärmetall erzeugt als auch recycelt und zudem in der Weiterverarbeitung tätig ist, nennt für das Geschäftsjahr 2011/12 eine Gesamtmenge von 500.000 t. Auch andere Aluminiumerzeuger, insbesondere internationale, in der Primärerzeugung tätige Konzerne, betreiben bereits seit Jahren die Primär- und Sekundärerzeugung parallel und suchen damit einen gewissen Kostenausgleich. Das heißt, sie gewinnen nicht nur Rohaluminium aus der Elektrolyse, sondern stellen auch „Sekundärlegierungen“ aus eigenem Rücklaufmaterial und sortierten Abfällen und Schrotten her und bauen dazu schrittweise ein eigenes Netz von Recycling-Hütten auf. Das Verhältnis der Verwendung von Primärmetall und recyceltem Metall wird sich vorerst noch weiter verschieben, da selbst mittelgroße Aluminiumgießereien ihren Produktionsabfall (vorwiegend Bearbeitungsspäne) nicht mehr in den Markt geben, sondern selbst umschmelzen. Späneschmelzöfen mit innovativem Rührwerk und Seitenkanalpumpe ermöglichen auch in dieser Größenordnung wirtschaftliches Recyceln im eigenen Haus. Die Sekundärlegierungen sind heute qualitativ mit den Primären vergleichbar. Der auf ein Zwanzigstel reduzierte Energiebedarf bei der Gewinnung ist ein Faktor, der nicht nur ökonomisch, sondern auch ökologisch weltweit Beachtung findet. Dies gilt für die Verwertung prozessbedingt anfallenden Rücklaufmaterials, aber ebenso lassen sich Sammelschrotte, Abfälle und metallhaltige Krätzen im Drehtrommelofen eingeschmolzen, mit einem Zusatz von 50 % eines Salzgemischs aus Alkalichloriden und Flussspat, das als Flussmittel dient, wieder zu Sekundärmetall regenerieren. Hinsichtlich der anfallenden metallarmen, oxidhaltigen Salzschlacken war deren Deponierung ökologisch umstritten und auch wirtschaftlich unbefriedigend. Stand der Technik ist ein fast rückstandsfreies Vollrecyclingverfahren, dessen Bedeutung sich daraus ergibt, dass jede Tonne Sekundäraluminium zugleich den Anfall von 500 kg Salzschlacke bedingt. Der mit 450.000 Tonnen pro Jahr weltgrößte Salzschlackeaufbereiter Agor AG gibt den weltweiten, jährlichen Anfall an Salzschlacken mit 4,5 Millionen t an. Einstige Umschmelzhütten können heute nicht nur Sekundärlegierungen in den Markt bringen, sondern auch aus sortenreinen Knetlegierungsabfällen Walzbarren in einer der primären Erzeugung gleichen Qualität gießen. Mit zugekauftem, primärem Reinaluminium stellen sie sogar Legierungen her, die als „Primärlegierungen“ bezeichnet werden dürfen. Deutsche und Österreichische Umschmelzbetriebe zeichnen sich besonders durch die Entwicklung einer duktilen AlMgSi-Gusslegierung aus. Eine Schlüsselfunktion beim Recycling von Aluminium nehmen weltweit die Getränkedosen ein. In den USA kamen im Jahr 2009 deutlich mehr als die Hälfte der ausgegebenen Dosen zurück, angegeben werden 57,4 % oder annähernd 750.000 t Aluminium. Jedes weitere zurückgeführte Prozent entspricht ca. 15.000 t zusätzlichen Umschmelzaluminiums zu nur 5 % des für Neumetall erforderlichen Energieverbrauchs. Der Dosenrücklauf beträgt inzwischen 98 %. Im Juni 2014 lief in einem eigens zu diesem Zweck in Mitteldeutschland errichteten Werk die Produktion ausschließlich aus Dosenschrott gefertigter Walzbarren an. Mit einer Kapazität von 400.000 t jährlich, die im bereits bestehenden Walzwerk weiterverarbeitet werden, will man zum weltgrößten Recyclingzentrum für Aluminium werden. Eine die Verarbeitung von Dosenschrotten einschließende Aufgabe stellt sich unter dem Thema der Verarbeitung von Verbund- und organisch kontaminierten Schrotten. Die Entwicklung hin zu exothermen, Wärme erzeugenden Prozessen anstelle endothermer, Wärme verbrauchender würde die Energiebilanz erheblich verbessern. Stahl In der Stahlerzeugung findet das Recycling von Schrotten heute überwiegend im Elektrolichtbogenofen statt. Der Anteil von Recyclingstahl an der Gesamtrohstahlerzeugung wird 2011 mit 45 % angegeben. Ein Siemens-Verfahren verspricht Senkung des Stromverbrauchs und Verringerung des Kohlendioxidausstoßes durch Bildung und Nutzung einer automatisch gesteuerten Schaumschlackenbildung. Die Wiederverwertung der anfallenden Elektroofenstäube stellt seit gut dreißig Jahren besondere Aufgaben. Der lange als erreichbares Optimum angesehene Wälz-Drehrohrprozess muss sich dem Vergleich mit dem Drehherdofen stellen. Die bei der Stahlerzeugung anfallenden Schlacken unterliegen allein schon wegen des Mengenanfalls von jeher wirtschaftlicher Betrachtung, wobei zwischen der Verwertung der entmetallisierten Schlacke und den Methoden der Entmetallisierung zu unterscheiden ist. Der trockenen Aufbereitung metallhaltiger Schlacken wird der Vorzug gegeben. Die nach Abtrennung aller metallischen Anteile verbleibenden Fraktionen finden verbreitet in der Baustoffindustrie Verwendung. Zink, Blei und weitere recycelbare Metalle Rohzink wird sowohl aus oxidischen Lichtbogenofenstäuben, Endschlämmen aus hydrometallurgischer Verarbeitung, als auch jeder Art zinkhaltiger Sekundärmaterialien, wie verzinktem Schrott, zurückgewonnen. Zinkschrotte mit dem Hauptbestandteil Zink können wieder zu einer Zinklegierung aufgearbeitet werden. Fällt verzinkter Eisenschrott an, wird dessen Zinküberzug durch Erhitzen bis jenseits der Verdampfungstemperatur des Zinks (907 °C) freigesetzt. Das verdampfte Zink wird wie beim trockenen Weg der Zinkgewinnung durch Abkühlung als Rohzink niedergeschlagen. Der Zinkdampf kann aber auch durch Einblasen von Sauerstoff zu Zinkoxid werden und dieses als „Zinkgrau“ und „Zinkweiß“ entweder zur Grundlage von Anstrichen (Malerfarben) dienen, oder im nassen Weg zu Zinksulfat gewandelt in die Elektrolyse gehen und diese als Feinzink verlassen. Die „Ausmelt-Technology“ erlaubt die Rückgewinnung nicht allein von Zink aus bisher kaum recycelbaren Rückständen und Abfällen, indem man diese verdampft und die Metalle dann aus dem Dampf kondensiert. Ein im Gleichlauf mit der weltweit zunehmenden Motorisierung wachsender Industriezweig ist die Wiederaufarbeitung von Bleiakkus, die in Automobilen als Starterbatterien Energielieferer und -speicher zugleich sind. „Altakkus“ fallen daher in großen Mengen an und müssen auf Grund internationaler Gesetzgebung im Lande und unter Beachtung zahlreicher Mensch und Umwelt schützender Auflagen dem Recyclingprozess unterzogen werden. Er beginnt mit einer Vorbehandlung, mittels derer die Altbatterien von schwefelhaltigen Resten und Ablagerungen, wie dem ebenfalls recycelbaren Bleischlamm befreit werden. Aus den eingeschmolzenen und raffinierten Altakkumulatoren wird Sekundärblei, das mengenmäßig bereits die Primärerzeugung übertrifft. Die Gehäuse aus hochwertigem Polypropylen werden geschreddert. Die anfallenden Chips – mit weiteren PP-Zusätzen – gehen vornehmlich an die Automobilindustrie, die wieder Kunststoffteile daraus fertigt. Hinderlich im Recyclingprozess erweist sich, bei steigendem Anfall schwefelhaltiger Altbatterien, das bei der Entschwefelung mittels Natriumsalzen anfallende und zunehmend schwerer zu vermarktende Natriumsulfat. Ein modernes Verfahren verwendet Ammoniumsalze und erhält als Endstufe der Raffination das als Düngemittel (Fertilizer) gesuchte Ammoniumsulfat. Gleichlaufend mit dem zunehmenden Anfall an Altakkus, wie auch an nicht wieder aufladbaren Batterien, gewinnt die Wiedergewinnung des Zinkanteils zunehmend Bedeutung. Der für die Aufarbeitung von Alt-Akkus bereits eingeführte DK-Hochofenprozess ermöglicht nun aus Altbatterien aller Art, über eine nachgeschaltete Behandlung seiner Abgase, die Separierung von Zink in Form von Zinkkonzentrat. Qualitativ wird aus dem Altblei der Batterien zuerst Sekundär- oder Werkblei, das durch Seigerungstechnik oder Elektrolyse weiter raffiniert und neu legiert wird. Über Bleiglätte (PbO) gelangt man zu den (giftigen) Farben basisches Bleicarbonat und Bleitetraoxid. Der Stand der Technik ermöglicht inzwischen die fast hundertprozentige Recyclierbarkeit aller Teile und Inhalte solcher Batterien. Blei sowie Zink finden sich auch als Oxide in den die Flugstäube aufnehmenden Walzschlacken von Stahlwerken. Die Möglichkeit einer chlorierenden Entfernung des Bleianteils aus den Oxiden wird untersucht. Sollte die Lithium-Ionen-Batterie als Antrieb von Straßenfahrzeugen ihren derzeitigen Nachteil zu geringer Leistung für die Weitstreckenfahrt überwinden, wird sich eine völlig andersgeartete Recyclingaufgabe stellen, nämlich die Wiedergewinnung des Lithiums aus lithiumhaltigen Batterieschlacken. Komplexer als die Aufarbeitung von üblichen Kfz-Batterien und Gegenstand ständiger Forschung ist die Aufarbeitung von sogenanntem „Elektroschrott“, der nicht nur Personalcomputer erfasst, sondern auch tragbare Telefone, elektrisch betriebene und steuerbare Haushaltgeräte, Rundfunk- und Röhrenfernsehempfänger, ferner Gerätebatterien wegen ihrer Gehalten an Lithium, Nickel, Cadmium, Edelmetallen, und seltenen Erdmetallen. Je nach System können diese Batterien einen Inhalt an metallischen Wertstoffen von 35 bis 85 % aufweisen. Einer in der Fach- wie Wirtschaftspresse veröffentlichten Information zufolge wird die Entwicklung von Silber-Zink-Akkus vorangetrieben, da sie im Gegensatz zu Lithium-Ionen-Batterien vollständig und zudem relativ leicht recycelbar seien. Gegenstand aktueller Forschung ist ebenso das bisher nur mit Einzelbezug erschlossene Gebiet der Aufarbeitung wertvoller Schrotte aus Refraktärmetallen mittels oxidierender Salzschmelzen, besonders von Wolfram aus dem Rücklauf von Wolframcarbid. Zur Gewinnung von Molybdänoxyd und einigen oxidischen Begleitelementen aus gebrauchten Katalysatoren, wie sie in petrochemischen Verfahren eingesetzt werden, hat 2012 eine erste hydrometallurgisch arbeitende Anlage mit einer Jahreskapazität von 500 t Molybdänoxid den Betrieb aufgenommen. Die progrediente Entwicklung bei dem Elektroschrott zuzuordnenden, die Bildröhren verdrängenden Flachbildschirmen initiiert einen besonderen Zweig der Forschung, der sich mit der Rückgewinnung von Indium in Form eines Indiumzinnoxids befasst. Dies gilt auch für seit 1990 laufende, ständig verfeinerte, praxisnahe Untersuchungen zum „NE-Metallpotenzial in Rostaschen von Müllverbrennungsanlagen“, es wird für 2009 auf wenigstens 85.000 Jato geschätzt. Bei Seltenerdmetallen bedingt eine das Angebot zunehmend überschreitende Nachfrage eine Steigerung der bisher nur geringen Recyclingquote. Ein Forschungsauftrag hat sich sogar die Rückgewinnung aus Prozesswässern der Metall- und Bergbauindustrie zum Ziel gesetzt. Ofentechnik Die Ofentechnik dient zunächst der Erfüllung aller metallurgischen Aufgaben, die sich im Zuge der Verhüttung metallischer Ausgangsstoffe im Rahmen thermischer Prozesse ergeben. Es beginnt mit der Metallgewinnung aus Erzen. Sulfidische Erze, wie Pyrit (Schwefelkies) werden oxidierend behandelt (Röstarbeit). Oxidische Erze wie Hämatit werden durch Reduzieren und Desoxidieren erschmolzen. Dies geschieht durch entsprechende Zuschläge sowie reduzierende (luftunterschüssige) Flammen- oder Ofenführung. Dem folgt die Weiterverarbeitung der gewonnenen Metalle. Sie beginnt mit der Vereinheitlichung diskontinuierlich erbrachter Chargen im Mischer. Es schließen sich das Raffinieren und Legieren, das Vergießen (Warmhalte- oder Gießofen) und die Wärmebehandlung an, die je nach Legierung und Gießart vorzunehmende Nachbehandlung des Gusses. Letztere erfolgt mit Hilfe von Stoßöfen, Anlassöfen (Blockvorwärmung), Glühöfen (Entspannungsglühen, Warmauslagerung, Austenitisierung von Stahlguss) und Temperöfen (entkohlende Gussteilhärtung in Glühkohle). Geschichtlich steht am Anfang dieser Entwicklung allein der offene Herd, der aus einem Gemenge von Erz und Brennstoff flüssiges Metall austreten lässt. Es folgt der geschlossene Herd mit natürlichem Zug oder mit höheren Temperaturen bringender Luftzufuhr mittels Blasebalg oder Blasrohr (dazu bildliche Darstellungen aus altägyptischer Zeit). Schon um 1500 v. Chr. wird aus dem ägyptischen Theben über große mit menschlicher Kraft bediente zweitaktige (Blasen – Saugen), lederne Blasebälge als Hilfe beim Schmelzen von Metall berichtet. Es geht weiter mit dem frühgeschichtlichen Niederschachtofen, der sich mit immer besserer Gebläsewindzuführung zum Hochschachtofen (Hochofen) mit immer größer werdendem Gestelldurchmesser (11 m misst er beim 60 m hohen Ofen B der Salzgitter Flachstahl GmbH) und sich daraus ergebenden Beschickungsmengen von bis zu zehntausend Tonnen weiterentwickelt. Die Grenze der Wirtschaftlichkeit gilt damit indessen als erreicht und die Technik wendet sich wieder verstärkt dem Siemens-Martin-Ofen und den Elektroöfen zu, zumal sie die Möglichkeit bieten, Stahl nicht nur aus Roheisen, sondern auch aus Schrotten zu erzeugen. Sie regenerieren diese damit zugleich (siehe auch Recyclingmetallurgie) und benutzen zum „Frischen“, also der Verbrennung des Kohlenstoffs, den Sauerstoff aus den Rostanteilen des Schrotts (Rost als Fe2O3 enthält Sauerstoff und ersetzt insofern die Gebläseluft). Der Elektro-Niederschachtofen, als Lichtbogenofen ausgelegt, liefert aus Erz-Pellets und Kohlenstoff als reduzierender Zugabe Elektro-Roheisen im Direktreduktionsverfahren. Auch beim Recycling von Stahlschrott zu Rohstahl unter einer Schaumschlacke bewährt sich der Lichtbogenofen. Vom Hochschachtofen abgeleitet ist der Kupolofen (abgeleitet von lateinisch cupola, Kuppel) als Gießereischachtofen für die Herstellung von Eisenguss (Grauguss). Eine Seitenlinie stellt der brennstoffbeheizte Heißwind-Kupolofen dar, weil er als „kleiner Hochschachtofen“ die Bedürfnisse der Eisengießereien nach schnellem Wechsel unter den gerade zu verarbeitenden Gusseisensorten befriedigen kann. Mittels angegliederter ORC-Anlage (Organic Rankine Cycle) können die energiereichen Abgase des Ofens, u. a. zur Erzeugung von Strom, genutzt werden. Allen genannten Systemen – ob Herd, Nieder- oder Hochschachtofen – ist gemeinsam, dass Schmelzgut, Schlackenbildner (Kalkstein) und Brennstoff in direktem Kontakt stehen. Eine Weiterentwicklung führt zu Öfen, bei denen eine heiße Flamme, die oxidierend oder reduzierend eingestellt werden kann (Flammofen), über das brennstofffreie Schmelzgut streicht oder überhaupt keine Flamme mehr, sondern nur noch heiße Verbrennungsgase auf dieses einwirken. Andere Systeme nutzen von der Ofendecke abgestrahlte Wärme (auch durch in dieser eingelassene Heizwiderstände) zum Erhitzen des Schmelzgutes („Deckenstrahlheizung“). Der Ofenraum ist in diesem Fall eine geschlossene, feststehende Wanne (Wannenofen) oder ein drehbarer Zylinder, der wegen seiner Form auch als Trommelofen bezeichnet wird, mit stirnseitiger Beschickungs- und Entnahmeöffnung. In einer verkürzten Form auch als Kurztrommelofen im Einsatz. Ein schon recht früh vollzogener Entwicklungsschritt war es, die heißen Verbrennungsgase, statt ins Freie, durch einen Rekuperator (Wärmeübertrager) zu leiten, der die Gebläseluft vorwärmt; beispielgebend sind die Cowper genannten Winderhitzer bei Hochöfen und der Siemens-Martin-Ofen mit Regenerativfeuerung System Martin. Die dort erstmals in technischem Maßstab eingeführte Vorwärmung der Verbrennungsluft durch die Abwärme gilt längst als Stand der Technik. Die Abgasverbrennung als zusätzliche Wärmequelle sowie die optimierte, wärmeerhaltende Isolierung der Schmelzwanne sind weitere Schritte zu verbesserter Effizienz der Öfen. Ein Ofenhersteller gibt bei gleich gebliebenem Energieeinsatz ein erzielbares Leistungsmehr von 20–30 % an. Die Darstellung der „Ofentechnik“ unterscheidet zwischen brennstoffbeheizten Öfen (Holz, Kohle/Koks, Öl, Gas) und elektrisch beheizten Öfen, wie den Widerstandsöfen mit Heizleiterelementen ausgerüstet, Induktionsöfen mit und ohne Rinne, mit Netz- (NF) oder Mittelfrequenz (MF) betrieben, oder Lichtbogenöfen (direkt oder indirekt erhitzend) mit Graphitelektrode. Das Fassungsvermögen der unterschiedlichen Systeme ist der Fertigungsaufgabe angepasst. Vorgaben des Umweltschutzes begünstigen die elektrisch beheizten Öfen. In modernen Elektroöfen wird die Schmelze entweder nur in einem bestimmten Ofenbereich – der „Rinne“ – induktiv erhitzt oder die Schmelze selbst wird zur Sekundärspule, die ebenfalls induktiv von einem außen liegenden, verbreitet niederfrequenten (NF) Primärstromkreis erhitzt wird. Induktionsöfen dieser Art sind als Schmelz-, Speicher- oder Warmhalteöfen einsetzbar. Bei der Stahlerzeugung gilt der mit Gleichstrom arbeitende Ofen inzwischen als letzter Stand der Technik. Die Entwicklung von Heizleiterlegierungen und Heizleitern aus Siliciumcarbid, auch Molybdändisulfid hat als dritte Variante elektrischer Beheizung die Entwicklung von den kleinen bis mittleren widerstandsbeheizten Tiegelöfen hin zu den Großraumöfen für Schmelzen und Warmhalten von Aluminium begünstigt, besonders auch beim Recycling einheitlichen und „sauberen“ Einsatzgutes. Bei den brennstoffbeheizten Öfen wurde aus gleichen Gründen, nämlich bessere Brennstoffausnutzung und Verringerung der Abgasmengen, die Brennertechnik weiterentwickelt. Statt der zu drei Vierteln aus im Prozess nutzlosem Stickstoff bestehenden Luft wird dem Brenner entweder ausschließlich Sauerstoff zugeführt oder dieser zur Verbesserung der Ofenleistung zusätzlich in den Brenner eingespeist. Für geringere Metallmengen (bis 750 kg) sind brennstoff- oder widerstandsbeheizte Tiegelöfen mit Deckel bei Herstellung von Formguss immer noch verbreitet im Einsatz. Heizelemente im Ofeninneren, durch keramische Umhüllung geschützte (Heiz-)Wendel, die in die Ofenwandungen eingesetzt den Schmelztiegel umgeben, liefern die zum Schmelzen und Warmhalten erforderliche Wärme. In solchen Tiegelöfen sind über sehr lange Zeit als Schmelzgefäß ausschließlich handgefertigte, „hessische“ Tiegel eingesetzt worden, die ursprünglich sogar als dreiseitiges Prisma mit drei Ausgießöffnungen geformt waren, bis sie von solchen in Form eines Kegelstumpfes abgelöst wurden. Das Tiegelmaterial bestand aus Großalmeroder Ton im Gemenge mit Quarzsand. Damit war Feuerfestigkeit gewährleistet, doch war das sehr raue Innere der Tiegel wegen der dadurch bedingten Metallanhaftungen nachteilig. Mit einem Zusatz aus hochwertigem Hauzenberger Graphit wurde die Feuerfestigkeit nochmals verbessert, das Tiegelinnere geglättet und die immer graphithaltigen, historischen „Passauer Tiegel“ dadurch abgelöst, dass nun nur noch Großalmeroder Ton im Gemisch mit Graphit verwendet wurde. Um die Mitte des 20. Jahrhunderts erwiesen sich isostatisch gepresste Siliciumcarbidmassen als noch haltbarer und ersparten zudem die bisherige, „Plätschen“ genannte Handarbeit auf dem Drehteller. Bei Magnesiumschmelzen gibt es eine Besonderheit: Wegen der oxidativen Reaktion mit Eisen sind nur geschlichtete, das heißt mit einem silikatischen Innenanstrich versehene Eisentiegel zugelassen. Eine Besonderheit sind die aus Tonmasse hergestellten Retorten, in denen Zink gewonnen wird. Den heutigen Stand der Technik geben die größeren Nichteisen-Metallgießereien vor. Die von ihnen benötigten Metallmengen in täglich zwei- bis dreistelliger Tonnenzahl werden von einer den Gieß- oder Schöpföfen vorgelagerten, eigenbetrieblichen Schmelz- oder Umschmelzeinheit als Flüssigmetall bereitgehalten und auf Abruf mittels Transportpfanne bei den von Hand oder automatisch bedienten Schöpf- und Warmhalteöfen angeliefert. So beschickt, müssen es nicht immer Tiegelöfen sein, auch tiegellose Systeme werden eingesetzt. Entscheidet sich ein Unternehmen im Hinblick auf anfallende Mengen für eine zentrale Schmelzanlage, kann es einen (Dreh-)Trommelofen wählen, einen Niederschachtofen mit Abschmelzbrücke und ausreichend großer Wanne oder einen Induktionsofen, der über eine bedarfsgerechte Stundenkapazität von Flüssigmetall verfügt (3 t sind beispielsweise für Aluminiumgießereien eine gängige Größe). Bei den Herstellern von Legierungen wird, was die Öfen betrifft, zwischen den Primärerzeugern als solchen, die selbst Rohaluminium elektrolytisch gewinnen, und den Sekundärerzeugern, die Umschmelzhütten oder -werke genannt werden, kaum unterschieden (siehe dazu auch oben). Beide setzen Chargenunterschiede ausgleichende Mischer ein (mit bis zu 30 t Fassung), die notwendiges Raffinieren und Legieren zulassen. Anschließend wird das Flüssigmetall entweder an eine angeschlossene Gießhütte (cast-house) weitergegeben oder in schmelzflüssigem Zustand und somit energiesparend und damit eine unnötige Emission an Luftschadstoffen vermeidend mit Spezialfahrzeugen an Formgießereien geliefert. Eine zusätzliche Vereinfachung ergibt sich daraus, die Transportpfanne in der belieferten Gießerei unmittelbar als Gieß- oder Schöpfofen einzusetzen und sie nach ihrer Leerung gegen eine volle Pfanne zu tauschen. Eine eigene Schmelzanlage, die stets Umweltschutzvorgaben beachten muss, entfällt für den Betrieb damit weitgehend, die Energieersparnis ist im Umweltsinne recht beträchtlich, da das nach einer Zwischenerstarrung nötige Wiederaufschmelzen entfällt. Weitere Kostenersparnisse ergeben sich daraus, dass ein ausschließlich Flüssigmetall verarbeitender Betrieb auch nicht mehr die für Schmelzbetriebe geltenden Auflagen beachten muss. Eine Besonderheit kennzeichnet die für das Recycling bestimmten Schmelzanlagen: Nach Sortierung und Aufbereitung, etwa durch Magnetscheider gilt es, den aus unterschiedlichen Quellen stammenden, entweder blanken, aber oft ölig verunreinigten, oder lackierten Schrott werterhaltend einzuschmelzen. Nach bisherigem Stand der Technik leitet man das Schmelzgut über eine dem Schmelzofen vorgeschaltete Abschmelzbrücke, auf der alles höher schmelzende, vornehmlich Eisenteile, liegen bleibt und vor einer Kontaminierung der Schmelze, etwa durch einen überhöhten Eisengehalt, entfernt werden kann. Neueste Verfahren sehen Mehrkammeröfen vor, die in einer Abschwelkammer alle organisch basierten, energiehaltigen Anhaftungen des Schrotts zu Schwelgasen werden lassen, deren Verbrennung zu der für das Einschmelzen nötigen Prozesswärme beiträgt. Die Schmelzen, auch solche aus Recycling-Material, unterliegen, die jeweils vorhandene Ofentechnik berücksichtigend, beim Umschmelzen einer Behandlung, vergleichbar der bei Primärerzeugung, wobei sich lediglich das Legieren in Anbetracht der bereits vorhandenen, erhaltungswürdigen Legierungselemente oft auf bloße Korrekturen beschränken kann (siehe auch „Recyclingmetallurgie“). Bedeutung der Metallurgie als Wirtschaftszweig Da Metalle stets zum Zweck der Weiterverarbeitung gewonnen werden, auch wenn sie zeitweilig, wie die Edelmetalle, aber auch Kupfer und Zinn, als Wertaufbewahrungsmittel galten und noch gelten, wächst die wirtschaftliche Bedeutung der Metallurgie stetig. Ursächlich sind sowohl neue Aufgaben, wie in der Elektronik, als auch eine Nachfrage nach metallurgischen Produkten, die an Bevölkerungswachstum und Bildungsstand gebunden ist. Einige auf ein Stichjahr bezogene, tabellarisch angeordnete Zahlen zeigen die Metallurgie als bedeutenden Wirtschaftskomplex. Ergänzend finden sich Zahlen zu einigen Bereichen, die den jeweils letzten bekannt gegebenen Stand betreffen. Dazu auch eine aktuelle Pressenotiz, wonach im Jahre 2014 die Nichteisenmetallindustrie Deutschlands 8 Mio. Tonnen produziert und verarbeitet hat. Wenn die Metallurgie als Wirtschaftsfaktor angesprochen wird, steht ihr Nutzen für die Rohstoffländer an erster Stelle, zumal die Tendenz zur Aufbereitung der Erze an Ort und Stelle und auch zumindest Primärstufen der Verarbeitung einzurichten (Stahlwerk) zunimmt und Arbeitsplätze im Lande schafft. Bei den der Endnutzung nahen Arbeitsgängen tendieren viele metallerzeugende und metallverarbeitende Prozesse zunehmend zur Automatisierung und zum Einsatz von Robotern. Das bedeutet, dass die Gesamtbeschäftigtenzahl nicht zugleich mit dem Wachstum der Produktion zunimmt, vielmehr stagnieren, tendenziell leicht zurückgehen kann. Die Arbeitsproduktivität wird hierdurch gesteigert, die Lohnstückkosten gehen zurück. Damit ermöglichte Lohnsteigerungen erhöhen nicht allein die Kaufkraft der Empfänger, auch der Staat erhält über ein erhöhtes Steueraufkommen seinen Anteil. Einige Zahlen versuchen einen Eindruck über die Produktionsleistungen im metallurgischen Bereich zu ermöglichen: Stahl Die Rohstahlerzeugung von damals noch 25 EU-Staaten wurde für 2006 mit 198 Millionen t angegeben, das waren 15,9 % der Weltproduktion von 1242 Millionen Tonnen. Der deutsche Anteil innerhalb der EU 25 betrug 23,6 %, damit wurde unter den stahlerzeugenden Ländern der Welt mit 46,7 Millionen t der 6. Rang erreicht. Größter deutscher Erzeuger war zum Zeitpunkt ThyssenKrupp mit 17 Millionen t, einschließlich des verlustträchtigen Standorts in Brasilien, wo Ende 2010 ein zweiter Hochofen für Rohstahlbrammen angefahren wurde, die in nach Verkauf nun US-amerikanischen Werken in Alabama (USA), aber auch in Duisburg weiterbearbeitet werden. Das europäische Wachstum auf längere Sicht wird bei nur einem Prozent pro Jahr gesehen. Stärkeres Wachstum hemmt nach Ansicht nicht nur der deutschen Stahlindustrie die Produktion Chinas, dem zwei Drittel der globalen Überproduktion von Walzstahl zugesprochen werden (FAZ-Bericht vom 8. November 2016). Die Stahlerzeugung Chinas wurde im Jahr 2012 mit 716,5 Millionen t angegeben, was 46,3 % der Weltproduktion ausmacht. Der EU-Anteil daran ist leicht rückläufig mit 169,4 Millionen t (10,9 %). Gleiches gilt auch für Deutschland mit einem Anteil von 3,7 %. Nach früheren Angaben wurden in Deutschland im Jahr 2007 31,07 Millionen t Roheisen produziert, unter Hinzunahme des Schrotteinsatzes ergaben sich 48,55 Millionen t Rohstahl. Davon wurden 45,5 Millionen t zu Strangguss für die Warmverwalzung zu Flach- und Langstählen, darin eingeschlossen 14,6 Millionen t Edelstahl. Die Wirtschaftskrise 2008/2009 brachte einen deutlichen Rückgang. Für 2011 meldete die deutsche Stahlindustrie nochmals einen Anstieg der Rohstahlerzeugung auf 44,3 Millionen Tonnen, was den 7. Rang in der Weltstahlerzeugung bedeutete (Japan nahm mit 107,6 Millionen t den zweiten Rang ein). Für 2015 wird eine Rohstahlproduktion von 42,5 Millionen Tonnen erwartet Der Rückgang gegenüber 2011 wird mit Kapazitätsverkleinerung begründet. Eine moderate Aufwärtsentwicklung im Laufe des Jahres 2016 lässt auf Stabilisierung hoffen (FAZ vom 14. September 2016/) Zwei Faktoren wirkend hierbei stützend. China will seine Überproduktion verringern und die Entwicklung hochfester Leichtbaustähle steigert den Verbrauch. (Pressebericht FAZ vom 21. September 2016, S.V6 „Stahl im Hochleistungsmodus“). Guss Die Weltgussproduktion (nur Formguss) wird für 2016 in allen ihren Sparten mit 104,379 Millionen t angegeben. Die deutschen Gießereien meldeten für 2016 aus den erfassten Betrieben eine Produktion von 5,168 Millionen t und besetzten damit auf Basis der Produktionsmengen abgerechnet die 4. Stelle der Weltrangliste. Spitzenreiter bleibt China mit 47,2 Millionen t, darin enthalten sind 7,95 Millionen t Metallguss, eine Menge, die deutlich über der deutschen Gesamtproduktion an Guss liegt. Aluminium Für Formguss aus Aluminium und Magnesium, der besonders für die Automobilindustrie weiterhin unverzichtbar ist, wird für 2016 eine Weltproduktion von 18.195 Millionen t angegeben. Deutschlands Anteil beträgt ca. 1.114 Millionen t. Die deutsche Eigenerzeugung von Aluminium im Jahr 2011 belief sich auf 1,067 Millionen t Rohaluminium. Der diese Mengen weit überschreitende Bedarf Deutschlands an Aluminium – es wurden 2011 allein 2,44 Millionen t Halbzeug hergestellt und für 2014 auch zusätzliche 993,9 Tausend t Aluminiumguss – wird durch Import und die hohe Recyclingquote gedeckt. Deutschland recycelt lt. Pressenotiz (HYDRO in FAZ vom 22. August 2016) inzwischen bereits 99 % aller Getränkedosen. Im Wirtschaftsjahr 2014 wird unverändert von weltweiter Überkapazität berichtet. Von einer Reihe Hüttenschließungen betroffen ist Südamerika (ALUMAR, ALBRAS). Ursächlich ist die Ausweitung der Aluminiumerzeugung, die im vergangenen Jahrzehnt von Staatskonzernen in Russland (RUSAL), China (CHALCO) und den arabischen Emiraten (DUBAL, ALBA) betrieben wurde. China allein werden 2014/15 60 % der Welterzeugung von Rohaluminium zugeschrieben. Vor diesem Hintergrund werden weltweit kleinere Werke, die zudem noch mit der veralteten Söderberg-Technik arbeiten, geschlossen. Moderne Anlagen verbrauchen deutlich weniger Strom. Auch für 2016 werden weitere Hüttenstilllegungen gemeldet (u. a. bei ALCOA, lt. FAZ-Beitrag vom 9. Januar 2016, S. 23). Fortbestehende Überkapazitäten und preisdrückende Exporte aus China werden als Gründe genannt. Besonders bei den Nichteisen-Metallen wird von den zuständigen Verbänden vor „den ökonomischen Folgen forcierter Klimapolitik und einem Bruch der Wertschöpfungskette der Metallindustrie aus Mangel an primären und sekundären Vorstoffen“ gewarnt. Die Weltproduktion zeigt weiter steigende Tendenz. Die London Metal Exchange (LME) erklärt dazu, dass die Bauxitvorräte der Welt bis weit in das 21. Jahrhundert reichen. Ein Report über die globalen Kapazitäten zur Herstellung von Tonerde, was nicht gleich der tatsächlichen Erzeugung ist, kommt für das Jahr 2007/2008 zu einem Total von 95 Millionen t. Verfügbarkeit an seltenen Erdmetallen Der progressiv zunehmende Bedarf an „seltenen Erden“, die korrekter als „seltene Erdmetalle“ bezeichnet werden, hat diese – deutlich zunehmend seit 2007 – zu einem Wirtschaftsfaktor in Schlüsselposition werden lassen. Im Periodensystem bilden sie die lange wenig beachtete Gruppe der Lanthanoide. Seit 2000 sind sie zunehmend für moderne Kommunikationstechniken, Beleuchtung und Elektromobilität unverzichtbar. Bei einigen Elementen, hervorzuheben sind hier Lanthan und Europium, hat die starke Nachfrage bereits zur Vervielfachung der Marktpreise geführt. Die Besorgnis der verbrauchenden Industrien gilt besonders der weiterhin als nahezu monopolartig eingeschätzten Stellung Chinas. Etwas entspannt wird die Lage durch Aussagen australischer Stellen, die auf große Vorkommen des Kontinents verweisen und zumindest Japan die Lieferung seines Bedarfs zusagen. Der Weltbedarf im Jahr 2014 wird von Australien auf 190.000 t geschätzt und mit 20.000 t unterdeckt sein, obwohl China 114.000 t und Australien nur mit der Erschließung der Mount-Weld-Mine 22.000 t in den Markt bringen werden. Auch Kanada will bis zu 5000 t jährlich gewinnen. Kupferwirtschaft Im Bereich Kupfer erzeugte Deutschlands größte Kupferhütte 2005/2006 mit 3200 Beschäftigten 551.000 t Kathodenkupfer, 423.000 t Kupferdraht, 450.000 t Halbzeug und weitere 67.000 t bei verbundenen Betrieben. Als Nebenprodukte der auf gesicherte Energiezufuhr (Raffination) angewiesenen Hütte wurden im Berichtsjahr noch 985 t Silber und 35 t Gold gewonnen. Dem ist gegenüberzustellen, dass in der Mongolei, mit 2,5 Millionen Einwohnern auf der vierfachen Fläche Deutschlands, eine einzige Mine unweit von Ulan Bator eine Jahreskapazität von 440.000 t Kupfer und 320.000 Unzen Gold haben könnte. Zusammenschau Ende 2006 meldete die deutsche Nicht-Eisen-Metallindustrie über 110.000 Beschäftigte in 632 Verbandsunternehmen, die einen Gesamtumsatz von 44 Milliarden Euro erzielten. Bei einem deutschen Bruttoinlandsprodukt von mehr als zwei Billionen Euro sind die genannten Zahlen ansehnlich, dennoch könnten sie zu einer Unterbewertung der ökonomischen Bedeutung der Metallurgie (Metallindustrie) führen. Einige Zahlen aus Österreich scheinen wirklichkeitsnahe: Bei Zusammenfassung der Produktionswerte von Metallgewinnung und -erzeugung, von Maschinenbau, Kraftfahrzeugbau und Fertigung von Metallerzeugnissen erreichte die österreichische Metallindustrie 2006 einen Anteil von 42 % an der Sachgütererzeugung des Landes. Ein ähnlicher Wert kann für Deutschland zutreffen. Dazu eine Angabe für das Jahr 2014, die für die deutsche Nichteisenmetallindustrie eine produzierte und verarbeitete Menge von 8 Millionen Tonnen nennt. Unterstützende Wissenschaften und Techniken Die neuzeitliche Metallurgie wäre ohne Chemie nicht denkbar, im Gegensatz zu den historischen Anfängen, bei denen oft nach der Methode „Versuch und Irrtum“ vorgegangen wurde. Nicht nur dem Einsatz von Chemikern wie de Lavoisier, Wöhler oder Berzelius ist es zu verdanken, dass sich die Metallurgie zur Wissenschaft entwickeln konnte. Zu Hilfe kam ihnen die analytische Chemie mit ihren seit Beginn des 19. Jahrhunderts immer präziseren Methoden. Lange noch arbeiteten die Laboratorien mit der arbeitsintensiven und zeitraubenden Nassanalyse (lösen, elektrolysieren oder ausfällen, filtrieren, trocknen, wiegen), bis diese um die Mitte des 20. Jahrhunderts durch Spektrometrie, Flammenphotometrie und Prozess-Gaschromatographie abgelöst wurde, moderne analytische Verfahren, die der praktizierten Metallurgie eine schnelle Bewertung des Einsatzgutes wie auch der Ausbringung ermöglichen. Die Ergebnisse der Analytik zusammen mit durch die Metallkunde physikalisch determinierten Eigenschaften der Metalle und ihrer Legierungen als Knet- und Gusswerkstoffe werden zum Ausgangspunkt weiterer Hilfswissenschaften, unter denen Materialkunde und Lagerstättenkunde hervorzuheben sind. Die Spektrometrie stützt besonders die Sekundärmetallurgie. Binnen weniger Sekunden wird die Zusammensetzung einer Flüssigmetallprobe angezeigt und dies für bis zu 25 Elemente. Damit werden sogenannte Störelemente, wie etwa Wismut in Messing, Phosphor in Eisen oder Antimon in Aluminium nachgewiesen, selbst im niederen ppm-Bereich. Nichteisen-Metallschrott kann mit handgeführten Geräten (Funkenemissionsspektrometer) abgetastet und vorsortiert werden. Was die Wichtigkeit metallurgischer Forschung betrifft, besonders die Umsetzung von Ergebnissen in die Praxis, ist die Eisenmetallurgie in vielem federführend, sowohl für die Primärerzeugung und das Recycling, als auch für das sehr innovationsfreudige Gießereiwesen. Die Gießereiforschung als eigenständige, wissenschaftliche Betätigung nützt allen Gießereien. Die Bereitstellung von Schmelze „“ und damit verbunden die Automatisierung von Schmelzprozessen, die „Roboterisierung“ von Gießvorgängen, sind sämtlich ohne steuernde Elektronik nicht denkbar, weshalb ihr der Rang einer Hilfswissenschaft der Metallurgie zukommt. Mit speziellem Bezug auf das Gießereiwesen verdienen Formherstellung, Schmelzebehandlung durch Wegnahme unerwünschter und Hinzufügung erwünschter Eigenschaften sowie die Beeinflussung der Erstarrung der Schmelzen in der Gießform, die Bezeichnung Hilfswissenschaft. Weiteres Beispiel die Modellbautechnik mittels erodierender, fräsender sowie als CNC-Technik bezeichneter Verfahren, die es möglich machen, von der Zeichnung direkt zu ausgefrästen oder schichtenweise pulvermetallurgisch aufgespritzten Modellen oder bereits abgießbaren Formen für Prototypen zu gelangen, die dann besonders für Kleinserien vorteilhaft sind. Die auf diese Weise mit geringem Zeitaufwand zu gewinnenden Erkenntnisse verkürzen die Spanne von der Zeichnung bis zur Herstellung der endgültigen Dauerform und dem Anlaufen der Großserie. Für im Druckgießverfahren in Dauerformen hergestellte Teile aus Nicht-Eisen-Legierungen hat sich eine weitere Hilfsindustrie entwickelt: Man benötigt in ihren Festigkeitseigenschaften optimierte Werkzeugstähle, die eine im fünfstelligen Bereich liegende Zahl von Abgüssen ermöglichen. Die Formen sind im Prozessablauf nicht nur dem unmittelbaren Angriff des zugeführten flüssigen Metalls ausgesetzt, sondern erfahren über die Erstarrungsphase hinweg bis zur Entnahme des Teils einen taktbestimmten Temperaturwechsel von bis zu 500 °C. Speziell entwickelte „Dauerformschlichten“ sind Erzeugnisse, die mit moderner, automatisierter Sprühtechnik als feiner Überzug aufgetragen werden und die Formen schützen. Je nach Zusammensetzung beeinflussen sie auch den Verlauf der Erstarrung. Grundprinzip jeder Dauerformschlichtung ist es, dass schwarze Schlichten Wärme abführen und damit eine schnelle Erstarrung und feinkristallines Gefüge bewirken. Eine weiße Schlichtung wirkt isolierend, verzögert die Erstarrung, begünstigt die Nachspeisung und führt zu höherer Dichtigkeit, aber auch zu gröberer Kristallisation. Eine besondere Technik verlangt die Formherstellung für Feinguss. Die Gussmodelle werden hierzu aus Wachs oder Kunststoff hergestellt, mit einer keramischen Schale ummantelt. Das Modell wird in einem zweiten Schritt ausgeschmolzen oder ausgebrannt und danach der verbliebene, modellgetreue Hohlraum abgegossen. Für Legierungen mit niedrigem Schmelzpunkt (Zinn) werden Dauerformen mit temperaturresistentem und formgebend aufgetragenem Chlorkautschuk hergestellt, eine Methode, mit der feinste Details der Vorlage wiedergegeben werden können. Sehr große Fortschritte gibt es bei der Herstellung von Formen für Sandguss, die heute für Serienfertigung, speziell im Motorenbau, nur noch in vollautomatisch arbeitenden Anlagen erfolgt. Bei den hier benötigten Formstoffbindemitteln war das Kunstharz verwendende Croning-Verfahren vor 50 Jahren ein Schrittmacher, heute setzen die Gießereien als Bindemittel für Formen und Kerne zwar immer noch spezielle Kunstharze ein, geben aber zunehmend umweltfreundlicheren Bindersystemen den Vorzug, beispielsweise solchen auf Wasserglasbasis. Auch dies ist dem gießereitechnischen Sektor der Metallurgie zuzuordnen. Zu den meistgenutzten Helfern auf dem breit gefächerten Feld der Metallurgie zählen noch – in Ergänzung der Analytik – die verschiedenen Prüfverfahren. Ursprünglich waren diese rein mechanischer Art. Eines der ältesten Verfahren ist hierbei die Dehnungsprüfung an genormten Probestäben, so genannten Zerreißstäben. Daneben wurden Kerbschlagwiderstand und Brinellhärte geprüft. Die thermische Analyse (TA) zeigt Gefügezustand und die Auswirkung gefügebeeinflussender Elemente. Bei Aluminium-Silicium-Legierungen sind dies Natrium, Strontium, Phosphor, Antimon. Hoch beanspruchte Gussteile werden heute zunehmend zerstörungsfrei mit Hilfe elektronischer Methoden – Techniken aus der Medizin übernehmend – vor der Auslieferung an die Abnehmer mittels Röntgen oder in dessen Erweiterung mittels Computertomographie (CT) zwei- wie auch dreidimensional überprüft. Hierunter fällt auch InlineCT (Scannen). Auch mittels Sonographie und MRT (Magnetresonanz) werden Gussteile kontrolliert. Lineare Ultraschall-Fehlerprüfgeräte mit „Phased-Array-Technik,“ stationär oder tragbar, können beispielsweise jährlich 100.000 t Rundbarren aus Aluminium mit Durchmessern von 130 mm bis 310 mm auf Homogenität prüfen, aber auch Gussstücke auf Fehler, wie Einschlüsse, Poren, Lunker, sogar nicht exakte Schweißnähte. Werkstoffprüfung und das Spezialgebiet der „Schadensanalyse an metallischen Bauteilen“ greifen hier ineinander. Alle genannten Gebiete umschließt die Tätigkeit der Deutschen Gesellschaft für Materialkunde e. V. (DGM), die mit universitären Fachbereichen – wie der für weiterführende Erkenntnisse unverzichtbaren Metallkunde – und Fachverbänden [Verband der Eisenhüttenleute, Verband der Gießereifachleute (VDG), Gesellschaft der Metallhütten- und Bergleute (GDMB) sowie dem Deutschen Kupfer-Institut (DKI)] Forschung, Fortbildung und Praxis zusammenführt. Metallurgie und Umweltschutz Obwohl ohne die moderne Analytik nicht denkbar, muss der Umweltschutz mit seinen Forderungen besonders hervorgehoben werden, denn im umweltbewussten 21. Jahrhundert sind beide die Stellung und Lösung des Problems zugleich. Lange fanden sich die Betriebe damit ab, dass metallurgische Tätigkeit in einem gewissen Ausmaß umweltbelastend sein kann und im wörtlichen wie übertragenen Sinne von der Mehrheit als „heiß und schmutzig“ angesehen wird. Die Analytik hat daher über das hinaus, was metallurgisch von ihr verlangt wird, wichtige zusätzliche Aufgaben zu erfüllen, denn nur sie erlaubt die qualitative und quantitative Bestimmung der an faktisch alle metallurgischen Prozesse gebundenen Emissionen bis in den Nano- und Piko-Bereich. Damit bietet sie die Möglichkeit, sei es primär durch verfahrenstechnische Verbesserungen oder diesen nachgeschaltet, mit Hilfe eines sich nur der Emissionsbegrenzung widmenden neuen Industriezweiges Lufttechnik den Forderungen nach Abgasverringerung und Luftreinhaltung zu entsprechen. Nicht nur die Luft, auch das Abwasser metallurgischer Anlagen muss sich einer Behandlung unterziehen, die alle schädlichen Stoffe eliminiert. Primärbleihütten müssen dies wegen der Schadstoffe Blei und prozessbedingter Sulfate besonders beachten. Solange keine der ökonomischen Bedeutung der Metallurgie – als wichtige, mitbestimmende Grundlage unserer Lebensumstände – angemessene, sichere Energieversorgung zur Verfügung steht, das Angebot an Energie sich entgegen dem Bedarf verringert und verteuert und die vielfältige metallurgische Leistung bei der Erstellung eines Kernkraftwerks (Atomkraftwerks) nicht mehr anerkannt wird, bleibt lediglich die Steigerung der Effizienz bei den herkömmlichen thermischen Energien als Zwischenlösung. Dies erfolgt im Zuge fortwährender Entwicklung durch Erhöhung des Nutzungsgrades der eingesetzten Brennstoffe, gleich ob in großen Heizkraftwerken, oder individuell betriebenen Anlagen und fallweise sogar unter Nutzung bei chemischen Reaktionen anfallender Prozesswärme (exothermer Prozessablauf). Für die Industrie bedeutet das eine prozessgerecht automatisierte Steuerung der Brenner, die maximale Nutzung zugeführter Heizenergie (Regenerativfeuerung) und nicht zuletzt die Reduzierung von Wärmeverlusten durch verbesserte Isolation, ferner die Nutzung der Abwärme von Großanlagen (Fernheizung). Vieles ist bereits verwirklicht oder geht der Verwirklichung entgegen. Rostrote Kaminabgase (NOX-Verbindungen), wie sie bei chemischen Prozessen entstehen können, sind Vergangenheit. Beim Recycling von Kunststoffen („Plastik“) oder kunststoffbeschichtetem Metall (Aluminiumdosen) können alle organischen Anteile in einem pyrolytischen Verfahren erfasst werden. In ihrer Gasphase dienen sie entweder als direkt zuführbarer Energieträger (Brennstoff) oder sie werden mittels fraktionierender Destillation zur Wiederverwendung getrennt und je nach Beschaffenheit als wertvolle Rohstoffe in Produktionskreisläufe zurückgeführt. Soweit solche Verfahren aus betrieblich (noch) gegebenen Umständen nicht in Frage kommen, werden jedenfalls zwei Bereiche heute durchgehend erfasst: Gasförmige und staubförmige Emissionen. Gasförmige durchlaufen zumindest eine abbindende, neutralisierende, zumeist alkalisierende Nasswäsche (Venturiwäscher, oder ein ihm verwandtes System, beispielsweise die „Ringspaltwaschanlage“ bei Chloride und Phosphide enthaltenden Abgasen in Aluminiumgießereien), die nicht durch bloße Abkühlung niedergeschlagen werden können (siehe Hüttenrauch). Die ausgefällten oder ausgefilterten Rückstände werden verwertet oder geordnet entsorgt. Metallurgische Stäube können in Gewebefiltern nur kalt gesammelt werden, was in der Praxis die Vorschaltung eines Kühlers bedingt. Heiße Stäube (Kupolofenentstaubung, Lichtbogenentstaubung) werden trocken durch Elektrofilter erfasst oder mittels vorgeschalteter Nassabscheidung in Abluftreinigungsanlagen behandelt, die mit Durchsatzmengen von 100.000 m³ pro Stunde heute keine Einzelfälle mehr sind. Das getrocknete Filtrat unterliegt einer gesetzlich bestimmten Verwertungspflicht, die aber häufig, die Vorkosten verringernd, an der Anfallstelle erfolgen kann. Ein Beispiel sind aus den Abgasen von Kupolöfen herausgefilterte metallische Stäube, die durch Injektion in die Schmelzen zurückgeführt werden können. Nicht weniger wichtig ist die Verwertung entsprechend aufbereiteter, durch besondere Behandlung weitgehend entmetallisierter, metallurgischer Krätzen. Es ist nicht zutreffend, sie als Abfallprodukte bei der Produktion von Metallschmelzen zu werten, ebenso wie Schlacken. Alle unterliegen der REACH-Verordnung. Je nach Zusammensetzung können sie indessen zu erneutem Einsatz als Oxidationsschutz (Abdeckung) in Schmelzöfen oder auch als „Füller“, sogar als Belag („Pflaster“) im Straßenbau geeignet sein. Präzise Analytik ist auch hier die Voraussetzung, solche „Abfälle“ richtig einzuordnen und über ihre Verwertbarkeit zu entscheiden. Noch auf einem weiteren Gebiet treffen sich Metallurgie und Umweltschutz. Bekannt ist die Sanierung der in der DDR durch den Uranabbau für die Sowjetunion entstandenen Umweltschäden (Halden, Schlammteiche). Unter Tage müssen die aufgelassenen Stollen gesichert werden, sei es durch Verfüllen oder Vermauern. Wenn es keine Umweltgefahren mit sich bringt, können Abraum- und Schlackenhalden auch begrünt werden und landschaftsgestaltend wirken. Im Braunkohletagebau ist Rekultivierung nach Auskohlung verbreiteter Standard, in Ostdeutschland wird es seit 1990 nachgeholt. Die Rekultivierung – und damit gleichzeitig ein Schutz vor Auslaugung mit der Folge einer Kaliüberfrachtung von Gewässern – wird auch bei den in Hessen und Thüringen besonders auffallenden Halden aus dem Abbau von kali- und magnesiumhaltigen Salzen mit erheblichem Aufwand versucht. An anderen Stellen ist die Natur in der Lage, selbst die „Wunden zu heilen“. Im Eisenerzabbau wurde bis ins 20. Jahrhundert manche ausgebeutete Grube sich selbst überlassen und nur die das inzwischen längst wieder bewaldete Gelände hügelig verformenden Pingen (Grubeneinbrüche) bezeugen die ehemalige Erzgewinnung. Namhafte Metallurgen Nach nur wenigen historischen Vorläufern wurde die Metallurgie vor allem in den letzten 200 Jahren von mehreren namhaften Wissenschaftlern entscheidend weitergebracht. Dazu gehören vor allem: Historisch Gaius Plinius Secundus (ca. 23–79 n. Chr.): Naturalis historia Georgius Agricola (1494–1555): de re metallica Eisenbezogen Adolf Ledebur (1837–1906): „Handbuch der Eisenhüttenkunde“ Wilhelm Borchers (1856–1925): „Elektrometallurgie“ Eugen Piwowarsky (1891–1953): „Der Eisen- und Stahlguß“; „hochwertiges Gußeisen“ Henry Bessemer (1813–1898): Erfinder des Blasstahlverfahrens (Bessemer-Birne, sauer) Sidney Thomas (1850–1885), Percy Gilchrist (1851–1935): Thomasbirne, basisch Pierre-Émile Martin (1824–1915): Regenerativheizung (Siemens-Martin-Stahl) Nichteisenmetalle Hans Christian Oersted (1777–1851), Friedrich Wöhler (1800–1882), Robert Bunsen (1811–1899), Henry Saint-Claire Deville (1818–1881): Aluminiumdarstellung Charles Martin Hall (1863–1914), Paul Héroult (1863–1914): Schmelzflusselektrolyse des Aluminiums Alfred Wilm (1869–1937), Aladár Pácz (1882–1938): Entwicklung von Aluminiumlegierungen Gustav Pistor: Direktor der Elektronwerk GmbH, Frankfurt-Griesheim, Förderer und Entwickler von Magnesiummetall und seinen Legierungen für industrielle Zwecke Wilhelm Borchers (1856–1925): Kupfer Lehrer und Forscher Adolf Ledebur (1837–1906): Eisenhütten- und Gießereikunde (Ledeburit) Bernhard Osann (1862–1940): Eisenhüttenkunde („Lehrbuch der Eisen- und Stahlgiesserei“) Alfred von Zeerleder (1890–1976): („Technologie der Leichtmetalle“) Eugen Piwowarsky (1891–1953): Eisenhüttenkunde („Hochwertiges Gusseisen“) Wilhelm Borchers (1856–1925): Elektrometallurgie Karl Karsten (1782–1853): Hüttenwesen Eduard Maurer (1886–1969): Eisenhüttenkunde, Erfinder des „V2A“ und „V4A“ Stahles Joachim Krüger (* 1933): Nichteisenmetallurgie Konferenzen European Metallurgical Conference (EMC) Die European Metallurgical Conference (EMC) ist die wichtigste metallurgische Konferenz im Bereich der NE-Metalle in Deutschland und Europa. Hier treffen sich – seit dem Start 2001 in Friedrichshafen – alle zwei Jahre die führenden Metallurgen der Welt. Neben dem Erfahrungsaustausch geht es auch um Umweltschutz, Ressourceneffizienz und politisch-rechtliche Angelegenheiten. Die Veranstaltung wird von der GDMB Gesellschaft der Metallurgen und Bergleute e. V ausgerichtet. Herangezogene Literatur Lexika Meyers Konversations-Lexikon. 5. Auflage. Bibliographisches Institut, Leipzig/ Wien 1897. Josef Bersch (Hrsg.): Lexikon der Metalltechnik. A. Hartlebens Verlag, Wien 1899 (Handbuch für alle Gewerbetreibende und Künstler auf metallurgischem Gebiete). Wissenschaftlicher Rat der Dudenredaktion (Hrsg.): Günther Drosdowski und andere (Bearb.): Der Große Duden in 10 Bänden. Bd. 7: Duden Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache. Nachdruck der Ausgabe von 1963, bearb. von: Paul Grebe, Bibliographisches Institut/Dudenredaktion, Mannheim 1974, ISBN 3-411-00907-1 (In Fortführung der „Etymologie der neuhochdeutschen Sprache“ von Konrad Duden). Der neue Brockhaus: Lexikon und Wörterbuch in 5 Bd. und einem Atlas. 5., völlig neubearb. Auflage. Brockhaus Verlag, Wiesbaden 1975, ISBN 3-7653-0025-X. Johannes Klein (Bearb.): Herder-Lexikon: Geologie und Mineralogie. 5. Auflage. Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 1980, ISBN 3-451-16452-3 (mehrteiliges Werk). Jürgen Falbe, Manfred Regitz (Hrsg.): Römpp-Chemie-Lexikon. 9., erw. und neubearb. Auflage. Georg Thieme Verlag, Stuttgart 1995–1995, ISBN 3-13-102759-2 (mehrteiliges Werk, insgesamt 6 Bände). Ernst Brunhuber, Stephan Hasse: Gießerei-Lexikon. 17., vollst. neu bearb. Auflage. Schiele & Schön Verlag, Berlin 1997, ISBN 3-7949-0606-3. Hermann Kinder, Werner Hilgemann: dtv-Atlas zur Weltgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Orig.-Ausg., dtv, München 2000, ISBN 3-423-03000-3 (Sonderausgabe des im dtv in zwei Bänden 1964 und 1966 erstmals erschienenen dtv-Atlas Weltgeschichte). Ekkehard Aner: Großer Atlas zur Weltgeschichte. 2. Auflage. Erw. Ausg. des Standardwerks von 1956. Westermann Verlag, Braunschweig 2001, ISBN 3-07-509520-6. Microsoft Encarta Enzyklopädie Professional 2003 auf DVD. Elektronische, multimediale Enzyklopädie. Fachliteratur Hermann Ost: Lehrbuch der chemischen Technologie. 21., von B. Rassow bearbeitete Auflage, Jänecke Verlag, Leipzig 1939 (Kapitel „Metallurgie“). Alfred von Zeerleder: Über Technologie der Leichtmetalle. 2. Auflage. Verlag des Akademischen Maschinen-Ingenieur-Vereins an der E. T. H. Zürich, 1951. Hans Schmidt: Das Gießereiwesen in gemeinfasslicher Darstellung. 3., umgearb. u. erw. Auflage. Gießerei-Verlag, Düsseldorf 1953. Hans Riedelbauch: Partie- und Chargenfertigung in betriebswirtschaftlicher Sicht. In: ZfhF – Zeitschrift für handelswissenschaftliche Forschung. Westdeutscher Verlag, Köln u. a., Heft 9, 1959, S. 532–553. Ernst Brunhuber: Schmelz- und Legierungstechnik von Kupferwerkstoffen. 2., neubearb. Auflage. Schiele & Schön Verlag, Berlin 1968. Gesamtverband Deutscher Metallgiessereien (Hrsg.): Guss aus Kupfer und Kupferlegierungen, Technische Richtlinien. Düsseldorf / Berlin 1982, . Mervin T. Rowley (Hrsg.): Guss aus Kupferlegierungen. Schiele & Schön, Berlin 1986, ISBN 3-7949-0444-3 (engl. Originaltitel: Casting copper base alloys). DKI-Workshop. Deutsches Kupfer-Institut, Berlin (Schriftenreihe; Tagungsbände – unter anderem 1993, 1995). Hans Joachim Müller: Handbuch der Schmelz- und Legierungspraxis für Leichtmetalle. Schiele & Schön, Berlin 1977, ISBN 3-7949-0247-5. Sonstige Quellen Verein Deutscher Gießereifachleute (Hrsg.): Gießerei-Kalender. Gießerei-Verlag, Düsseldorf 1971 u. Folgejahre, . (erscheint jährlich; ab 1999 unter dem Titel Giesserei-Jahrbuch). Fachzeitschriftenjahrgänge: Aluminium, Gießerei, Erzmetall/World of Metallurgy, Giesserei-Rundschau. Sol & Luna. Degussa-Eigenverlag, 1973. G. Ludwig, G. Wermusch: Silber: aus der Geschichte eines Edelmetalls. Verlag die Wirtschaft, Berlin 1988, ISBN 3-349-00387-7. Auf den Spuren der Antike. H. Schliemanns Berichte, Verlag der Nation, Berlin 1974, . Stahl-Informationszentrum, Düsseldorf (Hrsg.): Faszination Stahl. Heft 13, 2007. Google Web-Alerts für: „Weltproduktion an Metallen“. (unregelmäßig erscheinende Berichte) Hans-Gert Bachmann: Frühe Metallurgie im Nahen und Mittleren Osten. Chemie in unserer Zeit, 17. Jahrg. 1983, Nr. 4, , S. 120–128. Weiterführende Literatur Eugen Piwowarsky: Hochwertiges Gusseisen. Berlin 1951/1961, . Endbericht Nachhaltige Metallwirtschaft NMW. (Erörterungen, Zahlen, Tabellen am Beispiel Hamburg). F. Oeters: Metallurgie der Stahlherstellung. Springer u. a., Berlin 1989, ISBN 3-540-51040-0. Heinz Wübbenhorst: 5000 Jahre Gießen von Metallen. Gießerei-Verlag, Düsseldorf 1984, ISBN 3-87260-060-5. NE-Metall-Recycling-Grundlagen und Aktuelle Entwicklungen. Schriftenreihe der GDMB, Heft 115, 2008, ISBN 978-3-940276-11-7. Oettel, Heinrich, Schumann, Hermann: Metallographie. 15. Auflage. Weinheim, ISBN 978-3-527-32257-2 Recycling von Kupferwerkstoffen. Broschüre des DKI, www.kupferinstitut.de. Stahl – vom Eisenerz zum Hightech-Produkt. DVD über www.stahl-info.de. Stefan Luidold, Helmut Antrekowitsch: Lithium – Rohstoffgewinnung, Anwendung und Recycling. In: Erzmetall. 63, Nr. 2, 2010, S. 68 (Abdruck eines Vortrags, gehalten anlässlich des 44. Metallurgischen Seminars des Fachausschusses für metallurgische Aus- und Weiterbildung der GDMB.) Silber, aus der Geschichte eines Edelmetalls. siehe Abschnitt „Sonstige Quellen“. V. Tafel: Lehrbuch der Metallhüttenkunde. Bände I–III, S. Hirzel, Leipzig. „The world of die-casting“: Fünf Beiträge zur aktuellen Druckgußtechnik, Giesserei Rundschau, Fachzeitschrift der Österreichischen Giesserei-Vereinigungen, Jg. 60, Heft 7/8, 2013. Wilhelm Weinholz: Technisch-chemisches Handbuch der Erforschung, Ausscheidung und Darstellung des, in den Künsten und Gewerben gebräuchlichen, metallischen Gehalts der Mineral-Körper. Helwing, Hannover 1830, . Weblinks Institute IME Aachen / Metallurgische Prozesstechnik und Metallrecycling. Fachgruppe Metallurgie und Werkstofftechnik RWTH Aachen. IfG Institut für Gießereitechnik e. V. Montanuniversität Leoben. Department Metallurgie. Lehrstuhl für Nichteisenmetallurgie. Lehrstuhl für Giessereikunde. Montanuniversität Leoben. Universität Duisburg; Institut für angewandte Materialtechnik. Technische Universität Bergakademie Freiberg. Technische Universität Clausthal (Harz). Max-Planck-Institut für Eisenforschung. Weitere Links Montanuniversität Leoben. Verein deutscher Giessereifachleute VDG. GDMB Gesellschaft der Metallurgen und Bergleute e. V. Verein Deutscher Eisenhüttenleute VDEh. Informationen über Stahl für Metallografen. Wirtschaftsvereinigung Metalle. Gesamtverband der Aluminiumindustrie. Deutsches Kupferinstitut (DKI), Düsseldorf. Deutsche Gesellschaft für Materialkunde e. V. Rohstoffpreise für Industriemetalle. Einzelnachweise
3362087
https://de.wikipedia.org/wiki/There%20Will%20Be%20Blood
There Will Be Blood
There Will Be Blood ([]; dt. etwa „Es wird Blut fließen“) ist ein US-amerikanisches Filmdrama aus dem Jahr 2007. Regie führte Paul Thomas Anderson, der auch das Drehbuch schrieb. Angesiedelt in Südkalifornien um 1910, handelt der Film vom Leben eines Mannes, der sich durch Fleiß, Entschlossenheit und skrupellose Methoden vom kleinen Schürfer zum erfolgreichen Ölunternehmer und Multimillionär hocharbeitet. Gleichzeitig beschreibt der Film seine Auseinandersetzung und Feindschaft mit einem evangelikalen Prediger, der mit ihm um Macht und Einfluss ringt. Anderson bestritt, dass der Film als Metapher auf die Vereinigten Staaten und die Gegenwart zu verstehen sei. Dennoch begriff die Kritik als Themen des Werks vor allem die Kehrseite des Reichtums und die Verknüpfung von Öl, Kapitalismus und Religion in Amerika. Die Hauptrolle spielt Daniel Day-Lewis, dessen Leistung mit mehreren Preisen bedacht wurde. Viel Lob erhielt auch das avantgardistische Musikkonzept des Komponisten Jonny Greenwood. Geschichtliche Einbettung 1854 gelang es erstmals, aus Erdöl das damals so bezeichnete Petroleum zu raffinieren. Dieses löste Waltran als Hauptbrennstoff für Öllampen ab und führte zu einem enormen Boom in der Erdölförderung. In den Vereinigten Staaten galt das Prinzip, dass Bodenschätze durch den abgebaut werden dürfen, der das darüberliegende Land besitzt. Wenn irgendwo ruchbar wurde, dass man Öl gefunden hatte, strömten in der Regel Scharen von Ölsuchenden an den Ort und versuchten, oft auf Kleinstparzellen, ihr Glück. Die Vorräte waren auch wegen unfachmännischer Fördermethoden jeweils rasch aufgebraucht, und die Ölsucher zogen weiter. Bei neuen Funden des „Schwarzen Goldes“ wiederholte sich das Phänomen. Überproduktion und Knappheit wechselten sich ab und führten zu sehr starken Preisschwankungen für Rohöl. John D. Rockefeller konsolidierte mit seiner Standard Oil den Markt, indem er Raffinerien, Bahnen und Rohrleitungen teils heimlich unter seine Kontrolle brachte. Als Großkunde konnte Standard Oil bei unabhängigen Bahnen Nachlässe bei den Frachtkosten erwirken. Raffinierende Mitbewerber kaufte Standard Oil entweder auf oder unterbot sie in ihrer Region preislich, um sie in den Ruin zu treiben. Den unabhängigen Produzenten, die das Rohöl aus dem Boden zogen, konnte es die Preise diktieren. Wegen seiner Geschäftspraktiken war das in den Vereinigten Staaten marktbeherrschende Unternehmen sehr verhasst. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts begann elektrisches Licht die Kerosinlampen abzulösen, doch die Erfindung des Verbrennungsmotors und seine Verwendung in Fahrzeugen und Schiffen ließen die Nachfrage nach Öl stärker anschwellen als je zuvor. Neue, weit größere Vorräte entdeckte man um 1900 in Texas und Kalifornien. In diesen Staaten konnten sich von Standard Oil unabhängige Produzenten etablieren, die Förderung, Transport und Raffination integrierten, und Kalifornien schützte seine Ölwirtschaft mit Zöllen. Zum dort größten Akteur entwickelte sich die Union Oil, und Standard versuchte, in der kalifornischen Ölproduktion Fuß zu fassen. Handlung Im Jahr 1898 schürft der Silbersucher Daniel Plainview alleine in einer abgelegenen Mine. Auch ein Beinbruch nach einem Sturz in den Schacht hält ihn nicht davon ab, silberhaltige Brocken an sich zu nehmen und sich ins nächste Dorf zu schleppen. Fortan humpelt er. Vier Jahre später ist er ins Ölgeschäft umgestiegen. Mit einer Handvoll Angestellten unternimmt er als Prospektor in der Wüste eine erfolgreiche Probebohrung. Nachdem ein herabstürzender Holzbalken einen Mann erschlagen hat, nimmt Plainview dessen Säugling an sich und zieht ihn, durchaus liebevoll, als sein Kind auf. 1911 ist Daniel Plainview als Ölmann etabliert. Sein alltägliches Geschäft besteht darin, Land, unter welchem er Öl vermutet, den Kleingrundbesitzern billig abzuluchsen. Um deren Herzen leichter zu gewinnen, stellt er sich jeweils als vertrauenswürdiger Familienmensch und Witwer vor und gibt seinen mittlerweile zehnjährigen Zögling H. W. als seinen leiblichen Sohn aus. Eines Tages taucht bei ihm Paul Sunday auf und verkauft ihm sein Wissen über reiche Ölvorkommen auf einer Ranch im darbenden südkalifornischen Ort Little Boston, die seiner vermeintlich ahnungslosen Familie gehört. Plainview begutachtet heimlich das Land und unterbreitet dem alten Sunday ein minderes Angebot, doch Pauls Zwillingsbruder Eli hält im Wissen um das Öl seinen verkaufsbereiten Vater davon ab und treibt den Preis hoch. Um sich den exklusiven Zugriff auf das Vorkommen zu sichern, will Plainview die übrigen Grundstücke erwerben. Indem er vor der Gemeinde eine Vision von Bewässerung, Bildung und Wohlstand ausmalt, die mit der Ölförderung einhergehen sollen, erreicht er den Verkauf des Landes. Eli, als Prediger im Dorf einflussreich, richtet an ihn Forderungen nach finanziellen Zuwendungen an seine Kirche, die Plainview zwar verspricht, aber nicht einhält. Ebenso übergeht er, entgegen seiner ursprünglichen Zusage, Elis Bitte, die Förderanlage vor ihrer Inbetriebnahme segnen zu dürfen. Bei Elis Vater Sunday setzt er durch, dass dieser seine Tochter Mary nicht mehr verprügelt, wenn sie nicht betet. Mit Verachtung beobachtet er, wie Eli beim Gemeindegottesdienst mit furiosen Worten und Gesten eine scheinbar wunderheilende Geistesaustreibung inszeniert. Als eines Tages ein Arbeiter von einem Bohrgestänge erschlagen wird, nutzt Eli das aus, um Geld für den Bau einer Kirche zu fordern, doch auch diesmal erreicht er nur ein leeres Versprechen. Ein weiterer Unfall ereignet sich, als eine Gasexplosion den Bohrturm in Flammen aufgehen lässt und H.W. dabei sein Gehör verliert. Als Eli bei Plainview versprochenes Geld eintreiben will, schlägt ihn dieser zusammen und drückt ihn in eine Öllache mit dem Vorwurf, dass Eli und dessen Gott seinen Sohn nicht beschützen konnten. Wenig später taucht ein Mann auf, der angibt, Plainviews lange verschollener Halbbruder Henry zu sein. Bislang war er Landstreicher und häufig im Gefängnis, nun hat er von Plainviews Erfolg gehört und sucht Arbeit. Plainview bietet ihm welche an, schickt den tauben H.W., mit dem er nicht mehr zurechtkommt, gegen dessen Willen in ein Internat und nimmt an seiner Stelle nun „Henry“ zu seinen geschäftlichen Sitzungen mit. „Henry“ wird sein vertrauter Freund. Sie reisen zu einem Treffen mit Vertretern von Standard Oil, die Daniel viel Geld für sein erschlossenes Ölfeld anbieten, mit dem Hinweis, er hätte dann Zeit für seinen Sohn. Plainview verbittet sich zornig jede Einmischung in seine Familienangelegenheiten und geht. Kurz darauf schließt er einen Handel mit Union Oil ab, an die er sein Öl über eine Rohrleitung liefern und so die hohen Bahnfrachtkosten umgehen wird. Aufgrund eines Verdachts stellt er bei der Rückreise „Henry“ nachts mit vorgehaltener Waffe zur Rede. Er sei mit dem echten Halbbruder befreundet gewesen, gesteht der vermeintliche „Henry“, und habe nach dessen Tuberkulosetod dessen Identität angenommen. Er habe Plainview aber nie geschadet, sondern sei sein Freund. Wortlos erschießt und verscharrt Plainview den Mann. Ein Stück Land, das Plainview für den Bau der Rohrleitung zwingend benötigt, gehört Mr. Bandy, der zu Elis treuen Anhängern gehört. Bandy weiß offenbar um den Mord an „Henry“ und fordert für die Verpachtung seines Landes Plainviews Beitritt zu Elis Kirche. Der Ölmann unterzieht sich nur widerwillig dem Taufritual vor der Gemeinde, das Eli zur Demütigung Plainviews nutzt und mit Schlägen in dessen Gesicht grotesk inszeniert. Plainview muss vor allen eingestehen, dass er sein Kind im Stich gelassen hat, was ihn sichtbar aufwühlt. Dafür kann er die Leitung bauen. Obwohl er H.W. aus dem Internat zurückkommen lässt, bleibt dieser ihm fremd. Eli wiederum bricht nach dem Wachstum seiner hiesigen Gemeinde auf, um in weiteren Ölfördergebieten zu missionieren. Viele Jahre später, 1927, lebt Plainview alleine und als starker Trinker nur mit einem seiner Mitarbeiter in einem großen Anwesen an der Küste, mit eigener Bowlingbahn. Der erwachsen gewordene H.W. hat inzwischen Elis Schwester Mary geheiratet, bekundet seine Liebe zu Plainview und möchte sich als Ölunternehmer in Mexiko selbstständig machen. Plainview, der dies als Verrat empfindet, verhöhnt ihn und verrät, dass H.W. nicht sein leiblicher Sohn sei, sondern ein zweckdienliches Findelkind. Er sei weniger wert als ein Bastard. H.W. nimmt diese Verletzungen hin, stellt fest, er sei froh, nichts von Plainview an sich zu haben, und verlässt ihn. Plainview bleibt wütend und ohne H.W. zurück. Wenige Jahre später, nach Ausbruch der Großen Depression, erhält Plainview unerwartet Besuch von Eli Sunday. Der Prediger hat heimlich mit dem Vermögen seiner Kirche spekuliert und es beim Börsenkrach verloren; er sucht finanzielle Rettung und bietet Plainview ein Grundstück an, das er für noch unerschlossen hält. Plainview nutzt die Gelegenheit, Eli zu demütigen. Er verlangt von ihm, laut und wiederholend das Bekenntnis „Ich bin ein falscher Prophet und Gott ist nur ein Aberglaube“ auszurufen. Voll Hohn erklärt er danach dem Prediger, dass das fragliche Land wertlos sei, da er das darunterliegende Öl längst von den benachbarten Grundstücken aus gefördert habe. Er steigert sich, unter Alkohol und mit Hassgefühlen, in seinen Triumph und seine Wut hinein und erschlägt Eli schließlich mit einem Bowling-Pin. Als ihn sein Mitarbeiter neben der Leiche sitzend findet, sagt er nur: „Ich bin fertig.“ Herstellung und Veröffentlichung Drehbuch Anderson schrieb an einer Geschichte über die Fehde zweier Familien in der Wüste. Die Ausgangslage gefiel ihm sehr, doch was den Fortgang betraf, trat er auf der Stelle. Bei einer Europareise stieß er in einem kleinen Londoner Buchladen auf Upton Sinclairs Roman Oil! (1927). Der Roman ist teilweise vom Leben des Ölmagnaten Edward L. Doheny inspiriert. „[…] ich hatte genug gute Sachen aus meiner eigenen Geschichte. Und dann kamen aus dem Buch alle notwendigen Aspekte, um daraus ein rundes Ganzes zu machen. Mir war bis dahin eben einfach nicht klar gewesen, worüber genau ich in meiner Geschichte schrieb.“ Er ließ nur die ersten 150 bis 200 Seiten des Romans einfließen, für den Rest hatte er keine Verwendung. Dass der Roman weder besonders gut noch bekannt sei, fand er hilfreich, denn so bestanden keine großen Erwartungen. Später stellten die Rezensenten des Films fest, dass er sich sehr weit vom Roman entfernt habe und der Film mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten mit ihm aufweise; er habe von Sinclairs sozialkritischen Anliegen fast nichts übernommen, allenfalls noch die Atmosphäre des Romans. Projektierung Anderson stellte sich schon beim Verfassen des Drehbuchs Daniel Day-Lewis als ideale Besetzung vor. Er habe nicht gewagt, an den Schauspieler mit einem unfertigen Buch heranzutreten, weshalb er zwei Jahre für die Niederschrift verwendete. „Ich spürte in seinen Arbeiten einen ähnlichen Ansatz, wie meiner ist, die gleiche Besessenheit, die gleiche Leidenschaft.“ Tatsächlich wird beiden nachgesagt, dass sie sich rückhaltlos in ihre Projekte stürzen. Seinen letzten Film hatte Anderson 2002 abgeschlossen, und Day-Lewis hatte in den vorangegangenen zehn Jahren gerade mal vier Filmrollen. Der britische Schauspieler bezeichnete sich als faul und erklärte, in seinem Rhythmus bleiben zu wollen, um die Freude an der Arbeit nicht zu verlieren. Ein erster Versuch, die Mittel für das Projekt unabhängig von den großen Studios aufzutreiben, schlug fehl, und man verschob die für Sommer 2005 vorgesehenen Dreharbeiten. Day-Lewis, der bereits Nachforschungen zu seiner Figur und dem Ölgeschäft angestellt hatte, verzichtete auf andere Angebote und hielt sich weiterhin frei. Anfang 2006 wurde bekannt, dass Paramounts Studiofilm-Abteilung, Paramount Classics, den Film produzieren werde. Paramount und Miramax finanzierten den Film, wie mehrere andere Projekte, zu je 50 % und teilten sich den Vertrieb regional auf. Die US-Vertriebsrechte erhielt Paramount Vantage, für den Rest der Welt Miramax. Anderson war beim Schreiben klar, dass für einen solchen Stoff kein großes Budget zu erwarten war, so dass er sich Beschränkungen auferlegte. Im Kern ist der Film für ihn ein Bühnenstück, dessen Kamera in die Landschaft hinausgeht, so dass zu geringen Produktionskosten ein teuer und groß erscheinendes Abenteuerepos entsteht. Etwas aufwändiger war nur die Sequenz mit der brennenden Ölquelle, doch auch für sie benötigten sie nicht mehr als fünf Tage. Die Produktionskosten des Films beliefen sich Schätzungen zufolge auf 25 Millionen US-Dollar. Dreh Vor den Dreharbeiten sah sich Anderson mehrmals Der Schatz der Sierra Madre (1948) von John Huston an, ein Abenteuer um gierige Goldsucher, die Unglück und Tod finden. Anderson schwärmte von Hustons Film und bekannte sich zu dessen Einfluss auf There Will Be Blood. Hilfreich waren alte dokumentarische Filmaufnahmen von Bohrmannschaften bei der Arbeit. Mitte Mai 2006 begann der Dreh. Paul Dano war lediglich für die kleine Nebenrolle des Paul Sunday engagiert. Bald nach Drehbeginn trennte man sich vom Darsteller, der Eli Sunday spielen sollte, und vertraute die Rolle ebenfalls Dano an, der nun beide Brüder verkörperte. Wie bei allen anderen vier Filmen von Anderson war der um 20 Jahre ältere Robert Elswit lichtsetzender Kameramann. Anderson pflegte eine Arbeitsweise, bei der er den Schauspielern viel Freiraum ließ und ungewöhnliche Ansätze ausprobierte. Er ließ den Dingen ihren Lauf, und wenn etwas nicht überzeugte, brach er ab und begann von Neuem. Einige Mitwirkende, insbesondere Teile der Präzision und Organisation gewohnten Kameracrew, hatten Mühe, sich darauf einzulassen, und wurden ersetzt. Zudem gingen Proben und Aufnahmen fließend ineinander über, ein Storyboard gab es nicht. Die Gefährlichkeit der Grubenarbeit machte vor der Filmequipe nicht halt: In der alten Mine in Texas, in der sie die Eröffnung des Films drehten, führte Day-Lewis die Stürze selbst aus und brach sich eine Rippe. Bis auf eine digital erzeugte Explosion entstand die Szene mit dem abbrennenden Bohrturm pyrotechnisch. Dabei brannte der Turm, der während Monaten in der heißen Sonne gestanden hatte, rascher ab als geplant, und eine Reihe geplanter Aufnahmen fiel daraufhin aus. Dennoch war Anderson mit der Sequenz zufrieden. Die Landschaftsaufnahmen des in Südkalifornien angesiedelten Films entstanden hauptsächlich im texanischen Marfa. Es handelt sich um dieselbe Ranch, die als Schauplatz für das Öldrama Giganten (1956) diente. Den Ort zeichnet aus, dass man auf einem Hügel stehen und in allen Himmelsrichtungen überhaupt nichts sehen kann. Für die letzten Sequenzen des Films, die den alten Plainview in seinem Anwesen zeigen, diente die einst vom Ölunternehmer Edward Doheny gebaute Villa Greystone Mansion in Beverly Hills als Drehort. Anderson und Ausstatter Jack Fisk waren vom Genius loci des Anwesens angetan. Beim für die Aufnahmen verwendeten „Öl“ handelt es sich um mit Lebensmittelfarbstoff geschwärzte, für die Landschaft unbedenkliche Methylzellulose. Der Abspann gibt bekannt, dass die Filmherstellung dank Kompensationen unter dem Strich CO2-neutral gewesen sei. Veröffentlichung Die Fachpresse bezweifelte vor dem Kinostart die Marktgängigkeit der Produktion. Das Branchenblatt des US-Films, Variety, hob hervor, dass zweieinhalbstündige, unabhängig produzierte, männlich ausgerichtete Filme in der Zeit davor nicht erfolgreich waren. Die Weltpremiere fand am 27. September 2007 an den noch jungen Filmfestspielen Fantastic Fest im texanischen Austin statt. Am 26. Dezember 2007 kam der Film in den Vereinigten Staaten in die Kinos. Er nahm am Wettbewerb der Berlinale 2008 teil und lief am 14. Februar 2008 in Deutschland und Österreich an. Der Streifen erreichte 151.000 deutsche Kinobesucher und spielte weltweit 76 Millionen Dollar ein, davon 40 in Nordamerika. Stilmittel Musik Die für den Film neu geschriebenen Musikstücke komponierte der englische Musiker und Komponist Jonny Greenwood, Gitarrist der Band Radiohead. Die verwendeten, bereits existierenden Stücke sind Pärts Fratres für Cello und Klavier (1977), der dritte Satz aus Brahms’ Violinkonzert in D-Dur sowie Teile aus Greenwoods Popcorn superhet receiver (2004). Das musikalische Konzept erinnerte Rezensenten an György Ligeti, Krzysztof Penderecki, Philip Glass, Michael Nyman, Tōru Takemitsu, oder die sperrigeren Werke Aaron Coplands. Sie bezeichneten den Stil als avantgardistisch-sinfonisch, atonal und oft repetitiv. Anderson und Greenwood wollten sich auf Instrumente aus der Handlungszeit beschränken. Der Komponist machte sich über die damalige amerikanische Kirchenmusik kundig. In den abgelegenen, isolierten Gemeinschaften gab es oft nur kleine Kammergruppen, so dass er einen Teil der Tonspur mit Kammerstücken versah; den Rest bestritt er mit Orchesterwerken. Die beiden einigten sich darauf, das Publikum durch Unstimmigkeiten, Zögern und Unvollkommenheiten zu verstören, durch Musik, mit der etwas nicht ganz stimmt, die andeutet, dass etwas Dunkles vor sich geht. Sie wurde umschrieben als ein giftiges Motiv, dissonante, lange gehaltene Töne, die wie heulende Alarmsirenen Unheil verheißen, ein unheimliches Sirren, und als eindringliche, verzerrte Klänge, fast Schreie, welche die Plainview innewohnende Gefahr, Verquältheit und Selbstzerstörung betonen. Schon zu Beginn gingen Celli und Kontrabässe in die Magengrube und versetzten das Publikum in eine Demutshaltung. Die Musik trage dazu bei, der dargestellten Epoche des Aufbruchs den Optimismus auszutreiben, schaffe ein durchdringendes Unbehagen und teile dem Publikum mit, dass im Film untergründige Kräfte wirkten. In seiner Besprechung der Filmmusik-CD wertete der film-dienst die Musik als eine Ausnahmeerscheinung, „wütend, zum Widerspruch reizend, dabei aber gleichzeitig anrührend, eigentlich unhörbar“. Variety befand, sie vertiefe Stimmungen und Bedeutungen des Films und verleihe ihnen mehr Geheimnis, sei entdeckerisch und waghalsig und unterstreiche ihrerseits die Ernsthaftigkeit des Films. Cinema musica stellte fest, das Neue sei von hoher Qualität, und das Herkömmliche werde innovativ verwendet und harmonisch eingefügt. Die gefühlsergreifende Musik habe viel Tiefe, sei hervorragend, „eine der ungewöhnlichsten Kompositionen des Jahres“, und könne unabhängig vom Film bestehen. Bild Der Film wurde im Bildverhältnis 2,40:1 anamorph auf Filmmaterial gedreht. Bei ganz wenigen Einstellungen, zum Beispiel als Plainview mit H.W. Zug fährt, benutzte Elswit das Objektiv einer Pathé-Kamera von 1910, die Anderson vor Jahren gekauft hatte. Zahlreiche Einstellungen zeigen Figuren und Landschaft entweder in Untersicht oder in starken Aufsichten. Das dargestellte Land ist öde, kahl und trostlos, und macht die Menschen klein. Film Comment meinte, die historischen Hütten, Behelfsbauten und Anlagen beim Ölfeld seien perfekt nachgebaut, ungeziert und erhielten ihre mächtige Lebhaftigkeit durch Farbe, Struktur und eine genau dosierte Menge auf sich aufmerksam machender Details. Für die Cahiers du cinéma ist es offensichtlich, dass die Macher große Bilder gesucht haben: Das Breitformat vereine weite Räume und große Gesichter. Gemäß Positif führt dieses Gegenschneiden von Gesichtern mit der Weite der Landschaft wie ein Epos unablässig vom Kosmischen zum Intimen. Von zwielichtiger Düsterkeit ist oft die Ausleuchtung, die Schwarz, Grau und Dunkelbraun betont und den Eindruck erzeugt, dass die Hauptfigur die Gruben später als Geschäftsmann nie verlassen hat. Auch über der Erde vermittelt der rauchende, brennende Bohrturm eine höllische Atmosphäre. Bei der Bildkomposition der Schlussszene auf der Kegelbahn orientierte sich Anderson an der Symmetrie und Bedrohlichkeit mancher Einstellungen aus den Filmen Stanley Kubricks; das Bild erfasst den Raum vom Boden bis zur Decke. Sight & Sound wertete den Stilbruch durch diese Innenszenen als den größten Makel des Werks. Inszenierung und Dramaturgie There Will Be Blood unterscheidet sich deutlich von Andersons vorangegangenen Filmen, die Figurenensembles im Los Angeles der Gegenwart präsentierten. Viele sahen in diesem Werk eine Abkehr vom Postmodernismus und von einer sich ihrer selbst bewussten Auteurschaft zurück zu einer klassischen Erzählform, ein Ende der cinéphilen Obsession, einen Ausstieg aus der Begrenztheit des Zitats und damit eine Ausweitung des Feldes. Das Werk sei weder Western, Epos noch Tragödie, weise aber Elemente aller dieser Genres auf. Der Regisseur erzähle sehr direkt, ohne Ironie und stilistische Eigenheiten, hieß es, ohne Melodramatik, in einem lakonischen Tonfall, meistens bedächtig und meditativ, unterbrochen durch ruppige Ausbrüche von Wut, Wahn und Tiraden der Figuren. Anderson wollte so einfach und prosaisch wie möglich erzählen: „Ich hoffe, der einzige Stil in diesem Film ist der 'Stil' von Daniel Plainview. Der Filmemacher soll dem aus seiner Perspektive stilistisch nichts hinzufügen. Man muss versuchen, dem Antrieb und dem Ehrgeiz und der Disziplin dieses Mannes so gut es geht zu folgen.“ Ein paar Fragen, über die Plainview lieber schweigt, lässt die Erzählung offen, und das Publikum im Dunkeln über H.W.s Herkunft – es bleibt unklar, ob der 1902 verunfallte Mann sein Vater war, nichts ist über die Mutter bekannt und ebenso wenig darüber, was Plainview 1927 veranlasst, zu behaupten, H.W. sei ein Bastard. Und als Eli das erste Mal auftaucht, sind Plainview und H.W. so verwundert wie das Publikum: Ob Eli Sunday ein Zwilling von Paul Sunday ist oder Eli jemanden hinters Licht führt, beantwortet der Film nie zur Zufriedenheit. Der Titel entstammt dem Alten Testament, Exodus 7,19: „…dass im ganzen Land Ägypten Blut sei“. Er kündigt an, dass Plainview auf etwas anderes stoßen wird, als wonach er sucht. Die 1898 und 1902 spielenden Eröffnungssequenzen dauern zusammen fast eine Viertelstunde und kommen ohne Dialoge aus. Die verbale Stummheit, die dunklen Bilder, die keinen Blick in Plainviews Gesicht gewähren, und die nicht naturalistische Musik blenden seine soziale Identität aus. Im Mittelpunkt stehen die Arbeit, Werkzeuge, die gewonnenen Ressourcen. Wo Nahaufnahmen vorkommen, gelten sie Dingen und nicht Menschen und verdeutlichen, worauf Plainviews Denken ausgerichtet ist. Diese Einführung vermittelt unverzüglich den Charakter der Hauptfigur: Dass er kein normaler Sterblicher ist, dass er in einer abschreckenden Umgebung entschlossen und unaufhaltsam sein Vorhaben umsetzt. Manche sahen inszenatorische Ähnlichkeiten zwischen den Eröffnungen von There Will Be Blood und Kubricks Film 2001 (1968). Landschaft und Tonspur stellten ein „Darwinsches Kontinuum“ zwischen Kubricks mordenden Affen und Daniel Plainview her, und verliehen dem Erdöl die geheimnisvolle Kraft von Kubricks schwarzem Obelisken. Über die folgenden zwei Stunden lebt Plainview seine Entschlossenheit weiter aus, ungehindert durch Moral oder soziale Gewohnheiten. Anderson „packt seine Zuschauer, so schnell es geht, dann zieht er, Szene für Szene, die Schrauben fester an“. Hatten seine früheren Werke wie Magnolia und Boogie Nights noch Momente der Katharsis gehabt, nach deren Bewältigung Hoffnung keimte, fehle das hier völlig. Der Fortgang der Erzählung ist geprägt durch den Zweikampf zwischen Plainview und Eli, durch eine lange Reihe gegenseitiger Demütigungen. Wie ein Riss, meinte die New York Times, ziehe sich eine Spannung zwischen Realismus und theatralischem Spektakel durch den Film und verleihe ihm eine gewaltige Unruhe. Man werde vom charismatischen Plainview beständig angezogen und abgestoßen. Darstellung der Hauptfigur Der gemeinsame Nenner der von Daniel Day-Lewis übernommenen Rollen, so beobachtete Hedden (2008), sei das Außenseitertum, die Entfremdung, ob sozial, politisch, körperlich oder psychisch bedingt. Darin sei Plainview keine Ausnahme. Er ertrage es nicht, ein Individuum in einer Gesellschaft zu sein, und sehe in anderen Menschen Hindernisse, die es zu umschiffen gilt. Dass andere Menschen einen eigenen Willen haben, erzürne ihn. Er bewegt seinen Unterkiefer und scheint ständig etwas zu kauen – wahrscheinlich Tabak, vielleicht knirscht er mit den Zähnen aus Verärgerung über die Frechheit anderer Menschen, sich ihm in den Weg zu stellen. Er braucht niemandem offen zu drohen, weil seine Gegenwart an sich schon bedrohlich ist; von seinen Fäusten über den Blick und das Lächeln bis zu seiner Diktion ist alles eine Waffe. Seine langsame, fast hypnotische Aussprache verrät, dass er genau weiß, was er will, und keine abschweifenden Gefühle zulässt. „Jede Äußerung, die er von sich gibt, ist offensichtlich vorbereitet, jeder gesprochenen Antwort geht ein stiller Takt sorgfältiger Überlegung voraus, wie er das Gewollte am besten erreicht.“ Etliche angelsächsische Kritiker behaupteten eine starke Ähnlichkeit von Day-Lewis’ Sprechweise mit jener von John Huston in seiner Rolle in Chinatown (1974). Bei der sorgfältig artikulierenden, düsteren, gebieterischen Diktion sei es „gut möglich“ oder „offensichtlich“, dass Huston ein Modell abgegeben habe. Day-Lewis legte offen, sich bei seiner Suche nach alten amerikanischen Stimmen Huston angehört zu haben, und gestand ein, dass er womöglich zu vieles von ihm übernommen habe. Deutungen Anderson betonte nach der Premiere in zahlreichen Gesprächen, bei der Entwicklung der Geschichte habe er sich ganz aufs Elementarste konzentriert: Den instinktgeleiteten Kampf zwischen zwei Männern. Die Handlung sei nicht spezifisch amerikanisch, und es gehe weder um Öl, Kapitalismus noch Religion. Er lebe zwar im Jahr 2007 und sei nicht dumm, doch die politischen Aspekte von Sinclairs Roman habe er ausgespart, weil Bücher dafür besser geeignet seien als Filme. Die meisten politischen Filme seien langweilig, daher habe er einen politischen Film, der die Dinge frontal angeht, strikt vermieden. Er wollte konkret, bescheiden und auf dem Boden bleiben, und nicht predigen, nur das „Raufen zweier Bengel“ zeigen. Mehrere Kritiker stellten fest, dass der Film die Themen nicht offen ausspreche, nicht didaktisch sei und „ohne agitatorischen Zungenschlag“ auskomme. Weder spiele er mit der Aktualität, noch dränge er dem Zuschauer die potenziellen Bezüge zu ihr auf, der Stoff sei jedoch allegorienfreundlich. Fluch des Reichtums Ein böser Geist wird aus der Flasche gelassen: „Plainview ähnelt einem Monster, das bohrt und bohrt, bis der Teufel den Weg nach oben gefunden hat.“ Die Natur rächt sich für ihr angetane Gewalt, indem sie die Menschen feindseliger werden lässt. So wie in Märchen die Helden für erhaltenen Reichtum ihre Seele hergeben müssen, bezahlt Plainview mit Gefühlskälte, denn vorhandene Konkurrenten und Neider zwingen ihn zu einem Misstrauen, das ihn gegen die Zuneigung anderer Menschen abschottet. Als extremer Soziopath zerstört er entschlossen alle Bande mit anderen Menschen. Nach familiären Bindungen sehnt er sich ebenso, wie sie ihm widerstreben. Entsexualisiert, wie er ist, kann er nur dank einer „unbefleckten Empfängnis“, dank eines Findlings als Familienmensch auftreten. Plainview ist jedoch kein Monster. Während Eli ihn der Zwangstaufe unterzieht, ist er ein Mensch, der gegen eine Erniedrigung ankämpft. Als unabhängigen Ölproduzenten verdrießen ihn auch die mächtigen Konzerne, die es darauf abgesehen haben, ihn auszukaufen. Vaterschaft scheint die einzige seiner Beziehungen zu sein, die nicht durch Verträge geprägt ist. Trotz seiner harschen Worte an H.W. am Ende des Films hat er mit seinem Ziehsohn in dessen Kindesalter zu oft geredet, gelacht, getollt und ihm die Welt erklärt, als dass dieses Verhalten unaufrichtig gewesen sein könnte. Anderson sah keinen großen Unterschied zwischen Ölsuchern und Filmemachern: Beide bohrten und bohrten, ohne Gewissheit zu haben, worauf sie stoßen werden. Und wer einen Film herstellen wolle, müsse Leute bequatschen und zur Finanzierung überreden; manipulative Sprache sei ihm nicht fremd. Er verstand den Frust darüber, vom in harter Arbeit verdienten Umsatz die Hälfte für den Transport abgeben zu müssen. Wer für ein Studio einen Film drehe, habe die ganze Arbeit, und das Studio kassiere das ganze Geld. In der Hauptfigur sah er keinen Unmenschen und bekannte einige Sympathie für deren Ehrgeiz und Überlebenswillen. Die ersten Ölprospektoren hatten als Gold- und Silbersucher begonnen und waren nach dem Wechsel ins Ölgeschäft gezwungen, als Verkäufer viel mehr mit Menschen zu sprechen, als es ihrer Neigung, in Ruhe alleine zu arbeiten, entsprach. Hintergründig dachte Anderson das Werk als Horrorfilm und gestaltete Plainview teilweise nach dem Grafen Dracula. Man kann das Erdöl als das Blut der Erde ansehen, an dem sich der hagere Plainview labt, und ihn als eine Art Untoten, den ein Unfall in der Mine begraben hat, und von dem niemand weiß, wie er danach wieder unter die Lebenden gekommen ist. Viele der historischen Ölmänner konnten auch dann nicht mit der Ölsuche aufhören, wenn sie es zu viel Reichtum gebracht hatten. Anderson hatte ihre Geschichten studiert: Nur wenige wurden glücklich, ihre Geschichten mit Skandalen, Bestechungen, Unfällen, Toten und zerrütteten Familien ähneln sich. Sie waren alle sehr strebsam, erreichten ihre Ziele und Wohlstand, waren jedoch nicht in der Lage, diesen Antrieb in sich zu bändigen. Mehrere Kritiker sprachen von einem Unternehmertyp, der für großen Reichtum vorbestimmt, aber dazu verdammt sei, ihn nicht genießen zu können. Seine einzige Daseinsbestimmung liege in der Arbeit. Man fand in der Figur Plainviews aber auch den Archetyp des amerikanischen Unternehmers, „irgendwo zwischen Dagobert Ducks erstem verdientem Kreuzer und der Garagenfirma von Bill Gates“. Der Mythos und Ursprung des Landes sei ein „Geschäftsmann, der seine Karriere nur sich selbst verdankt, und der Arglosigkeit derer, die er betrügt“. Der Film handle vom Fortschritt und von jenem Menschentypus, der ihn vorantreibt – einem Übermenschen nach Nietzsches Vorstellung. Die Los Angeles Times wies darauf hin, dass im Verlauf der Erzählung Plainviews Kälte, Gleichgültigkeit und Verachtung fürs Menschliche zunehme. Sie schreibt dem Werk die Aussage zu, genau dies täten sich Führungskräfte in Wirtschaft und Religion an, wenn sie die Menschlichkeit in sich verleugnen, und Reichtum und Macht überbewerten. Die Time deutete: „Was Anderson mitteilt ist, dass wir, durch die Preisgabe des unschätzbaren natürlichen Reichtums dieser Nation an die Finanz, ein Paradies auf Erden zugunsten eines selbstsüchtigen Materialismus travestiert haben.“ Der Kritiker der Zeit bemühte den Film als Beleg für seine Ansicht, der Kapitalismus habe seinen Kredit verspielt. Allem Abstreiten Andersons zum Trotz sei es ein Film „über den Kapitalismus, der kriminell, über einen Wohlstand, der freudlos, und ein Wachstum, das zum Fetisch geworden ist“. Der Film stelle das geopferte Leben und den gewonnenen materiellen Gewinn gegenüber. Auch fragt Anderson nach dem Wert und Preis und der gegenseitigen Austauschbarkeit von Blut und Öl. Georg Seeßlen wies auf Plainviews moralische Ambivalenz hin: Er haut die Farmer übers Ohr, führt sie aber gleichzeitig aus dem Elend in die Moderne. Es fielen zahlreiche Vergleiche mit den Filmklassikern Citizen Kane (1940), Giganten (1956) und Chinatown (1974), in denen pionierhafte, skrupellose Unternehmer sich ihren Weg bahnen. Ob Plainview am Ende nur äußerst exzentrisch oder geradeaus verrückt ist, seine Entwicklung ähnele jener Kanes: Eingeschlossen in einem einsamen Palast, falle er Schuld, Wahn und Alkoholismus anheim. Religion gegen Kapitalismus Man hat bei Erscheinen von There Will Be Blood viele Parallelen zur Gegenwart gezogen: Zu den geostrategischen Ölinteressen der Vereinigten Staaten und den dabei gesehenen Großmachtallüren, zu seinen Großkonzernen und zum ausgeprägten evangelikalen Fundamentalismus. Gier und Glaube, Kirche und Kapitalismus, so Spiegel Online, seien bis heute unverändert die Antriebe der amerikanischen Gesellschaft. Sehr ähnlich formulierte die Süddeutsche Zeitung, Öl, Glauben, Kapitalismus und Kirche seien die „Grundformel für Amerika überhaupt“. Sie sieht die Geschichte eines Landes: „Zu Beginn gibt es nur Sand, Steine und schmieriges Zeug, das aus dem Boden quillt. Am Ende ist eine Industrie da, ein Land, mit Städten und Kirchen.“ Die New York Times las den Film als ein Kapitel aus der großen nationalen Geschichte von Entdeckung und Eroberung. Es sei ein epischer amerikanischer Albtraum, eine erschreckende Weissagung über das kommende amerikanische Jahrhundert. Einige Kritiker stellten Gemeinsamkeiten der beiden Kontrahenten fest. Plainview predige ein neues Evangelium, das bald von einem weiteren Verkäufer angefochten wird. Eli huldige dem gleichen Fetisch wie Plainview: „Gierig bohrt er in verwirrten Seelen nach der Milch der frommen Denkungsart und führt sich die himmlisch Erlösten als irdische Beute zu.“ Wir sähen zu, wie Unternehmergeist und Religiosität zu Raubgier und Scharlatanerie degenerierten. Die Cahiers du cinéma verstanden Plainviews Kapitalismus und Elis Religion als im Wesentlichen gleich beschaffen – zwei Obsessionen, von denen sich jene Plainviews als die stärkere erweist, weil sie die entschlossenere und in ihrer Gefühlsarmut radikalere sei. Am Ende, als er sich von allen väterlichen, brüderlichen und freundschaftlichen Bindungen abgeschnitten hat, sei er frei, in dem Sinne, wie man im Neoliberalismus frei sein könne. Andere Kritiker fanden, dass die Art, wie H.W.s mutmaßlicher Vater dem Kleinkind Ölspuren im Gesicht aufträgt, den Anschein einer sakralen Salbung mache oder einer Taufe. Es bestehe eine unheilige Dreifaltigkeit von Öl, Geld und Religion. Es sei aber weder ein Geheimnis noch neu, dass Öl manche Leute verrückt werden lasse oder dass Religion als politischer oder finanzieller Hebel benutzt werde. Sight & Sound meinte, Anderson möge fundamentalistische Religion und räuberisches Geschäftemachen als Last auf Amerikas Schultern darstellen, verstehe sie aber eher als Rivalen denn verbandelt. Ihr psychologischer und körperlicher Kampf, so die Los Angeles Times, sei reine Barbarei. Dem Tagesspiegel erschienen die Gefechte zwischen Plainview und Sunday wie ein biblisches Duell zwischen Böse und Böse, zwischen „menschlich bankrott und teuflisch bigott“. Der Spiegel nannte den Streifen „eine Art ‚Dallas‘ für Intellektuelle“. Es geht ums Entdecken und Erobern: Väter, Söhne, Brüder tragen in einer rauen, derben Welt männliche Machtkämpfe aus. Frauen sind fast ganz abwesend, und die Bohr- und Kirchtürme ragen als phallische Allegorie in den Himmel. Anderson beschrieb es als Wettstreit zwischen Bengeln, wer den Längeren habe. Es wäre für ihn eine Sünde gewesen, dem Film eine Liebesgeschichte aufzupfropfen. Bewertungen durch die Kritik Einige US-Kritiken Variety fand die Filmmusik außerordentlich originell und die dem 19. Jahrhundert entsprechenden Dialoge bemerkenswert, die etwas theatralisch und formaler, klarer und präziser seien, als man heute spreche. Day-Lewis gehe vollkommen in seiner Figur auf. Die übrigen Gesichter schienen einem zeitgenössischen Foto entstiegen, Paul Dano decke von höflichem Ehrerbieten bis schaumschlägerischer Entzückung alles ab, und H.W.-Darsteller Freasier sei wunderbar. Handwerklich und technisch biete der Film höchste Qualität. Allerdings stellt Variety fest, die Figur von Plainviews Assistenten Fletcher sei zu wenig in die Erzählung eingebunden, und das Ende könne verwirren. Der Hollywood Reporter lobte die kraftvolle Leistung Day-Lewis’ und meinte, der Film entwickle von Anfang bis Ende einen Sog, der uns allmählich und mit zunehmendem Schrecken in die verbitterte Weltanschauung der Hauptfigur hineinziehe. Die Los Angeles Times urteilte, Day-Lewis spiele auf so hohem Niveau, dass die Nebendarsteller schlicht verblassten; nur Dano und Freasier könnten gegen ihn bestehen. Das Moralstück sei wunderbar fotografiert, mit einer überzeugenden Szenerie. „Das ist kein hübscher Film“. Der Kampf zwischen dem Ölmann und dem Prediger entfalte sich mit genug Extremismus und grotesker Gewalt, um die meisten Zuschauer zu erschüttern. Hinsichtlich Subtilität und Figurenzeichnung sei der Film beschränkt, was die Los Angeles Times auf die sozialistisch motivierte Romanvorlage und auf die Neigung des Films zurückführte, alles, auch die Figuren, auf die Spitze zu treiben. Das sei die Kehrseite der fürwahr großen Stärken des Werks. Die New York Times fand, Anderson erzähle eine Geschichte biblischen Ausmaßes über Gier und Neid. Dies sei sein Durchbruch, denn endlich enthalte sein Film, was seinen bisherigen fehlte: Ein großes Thema. Die Erzählung sei kohärent, gewinne an Fahrt und erzeuge unerträgliche Spannung. Day-Lewis’ Leistung zähle zu den besten je gesehenen; er scheine jede Zelle der Gestalt Plainview besetzt zu haben und fülle sie mit so viel Wut, dass er fast platze. Das Wochenmagazin Time erklärte, das sei einer der amerikanischsten Filme, die je gedreht wurden, und schön fotografiert. Daniel Day-Lewis stelle Plainview auf emporragende Weise dar; das Geniale daran sei, dass er mit Gemach und Geduld zeige, wie bei Plainview der Wahnsinn den Platz der ursprünglichen Vernunft einnehme. Besonders am Ende biete er die explosivste und unvergesslichste Darstellung, die auf der Leinwand je zu sehen war. Auch Paul Dano sei exzellent. Deutschsprachige Kritik Die deutschsprachige Filmkritik fand lobende Worte für die musikalische Kombination, die zum „Eindrucksvollsten“ oder zum „Ungewöhnlichsten und Verstörendsten“ gehöre, was seit langem im Kino zu hören gewesen war, „sehr ambitioniert“ oder „toll“ sei. Für den film-dienst war in einer ansonsten begeisterten Besprechung der einzige Schwachpunkt, dass jede Einstellung nach epischer Größe giere, und den Spiegel-Rezensenten waren die langen Einstellungen ihres „angestrengten Kunstwillens“ wegen kaum erträglich. Die übrigen Kritiken sprachen von einem „ästhetischen Meisterstück“, einer „bildmächtigen Kulisse“, mit mächtigen, „geradezu wuchtigen Bildern“, roh, wuchtig, archaisch, donnernd und wuchtig. Von Wucht sprachen, bezogen auf den ganzen Film, noch weitere Kritiken, andere von einer „großen Geschichte“, die eine große Kraft entfalte. „Hier weht heftig der Mantel der Filmgeschichte,“ meinte Tobias Kniebe in der Süddeutschen Zeitung, das Werk sei „eines dieser großen und verstörenden Erlebnisse“. Einige Kritiken, etwa in epd Film und in der Welt, hielten Vergleiche mit Citizen Kane und anderen Klassikern für angemessen. Spiegel Online schätzte, die Herstellung dieses Brockens von Film müsse ein erschöpfender Kraftakt gewesen sein. Die überlebensgroßen Figuren und Situationen seien „imponierend, großartig, ermüdend und gleich wieder großartig,“ fand der Tagesspiegel, und die Berliner Zeitung bemerkte: „Manchmal ist das alles vielleicht ein wenig zu erhaben, zu gewaltig.“ Die Cinema bescheinigte dem Film Sperrigkeit und eine leichte Überlänge. Ähnlich befand die Welt, in der letzten halben Stunde sei er schwächer. Gemäß taz zeigt Anderson bei der Inszenierung ein gutes Gespür für den visuellen, physischen Einsatz von Landschaft und Schauspielern. Für Spiegel Online erzählt er auf grandiose Weise, zum Teil etwas zu elegisch. Während der Tagesspiegel die zwischen Plainview und Eli Sunday ausgetragenen Kämpfe faszinierend und abstoßend zugleich fand, vermisste die Cinema unter den Figuren ein emotionales Zentrum. Im Urteil des Tagesspiegels ist die Leistung Day-Lewis’ und Danos absolut lobenswert; sie gäben ihren Figuren sehr klare Zeichnungen. Die Welt beschrieb die Spielweise des Hauptdarstellers als sehr körperlich und dominant, Kniebe als groß und zugleich wahnsinnig, für die Zeit ist er „hinreißend“. Gemäß epd Film stattet er seine Figur mit einer „ungeheuren Kraft, im Guten wie im Bösen“ aus. Spiegel, Standard und Cinema jedoch fanden sie manieriert, exaltiert oder wie eine überstilisierte Karikatur. Auszeichnungen Daniel Day-Lewis erhielt den Golden Globe Award 2008 in der Kategorie Bester Hauptdarsteller – Drama; das Werk war als Bester Film – Drama nominiert. Insgesamt erhielt Day-Lewis 32 Nominierungen für Filmpreise und gewann davon 30. Das American Film Institute zählte There Will Be Blood zu den zehn besten Werken des Jahres 2007. Auf der Berlinale 2008 bekam There Will Be Blood zwei Silberne Bären: Neben der Regie wurde Greenwoods Musik als herausragender künstlerischer Beitrag geehrt. Des Weiteren erhielt der Film zwei Oscars, für den Besten Hauptdarsteller (Daniel Day-Lewis) und die Beste Kamera. Bei einer Nominierung blieb es in den Kategorien Bester Film, Beste Regie, Bestes adaptiertes Drehbuch, Bester Schnitt, Bester Tonschnitt wie auch Bestes Szenenbild. Zudem war der Streifen sowohl beim César wie beim David di Donatello für den Besten ausländischen Film vorgeschlagen. Als Film des Jahres 2008 wurde „There Will Be Blood“ mit dem Grand Prix de la FIPRESCI ausgezeichnet. Tabellarische Übersicht der Auszeichnungen 2016 belegte There Will Be Blood bei einer Umfrage der BBC zu den 100 bedeutendsten Filmen des 21. Jahrhunderts den dritten Platz. Die Deutsche Film- und Medienbewertung FBW in Wiesbaden verlieh dem Film das Prädikat besonders wertvoll. Literatur Anne Gielsvik: Black Blood: There Will Be Blood. In: Robert Burgoyne (Hrsg.): The Epic Film in World Culture. Routledge, New York 2011, S. 296–312. Gregory Allen Phips: Making the Milk into a Milkshake: Adapting Upton Sinclair's Oil! into P. T. Anderson's There Will Be Blood. In: Literature Film Quarterly 43:1, 2015, S. 34–45. Christopher Sharrett: American Sundown: No Country for Old Men, There Will Be Blood, and the Question of the Twilight Western. In: Christopher Sharett et al. (Hrsg.): Popping Culture. Pearson, New York 2010, S. 261–268. Upton Sinclair: Öl! Roman (Originaltitel: Oil!). Deutsch von Otto Wilck. In der Reihe Werke in Einzelausgaben. 16.–18. Tausend. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1992, 644 S., ISBN 3-499-15810-8. Jason Sperb: Blossoms and Blood: Postmodern Media Culture and the Films of Paul Thomas Anderson. University of Texas Press, Austin 2013. Daniel Sullivan: Death, Wealth, and Guilt: An Analysis of There Will Be Blood. In: Daniel Sullivan und Jeff Greenberg (Hrsg.): Death in Classic and Contemporary Film: Fade to Black. Palgrave Macmillan, New York 2013, S. 119–134. Gespräche Mit Paul Thomas Anderson im General-Anzeiger (Bonn), 14. Februar 2008, S. 27: „Wir hätten eigentlich elf Oscars verdient“ Mit Paul Thomas Anderson im Hamburger Abendblatt, 14. Februar 2008, S. 9: Hut auf, Hut ab. Pfeife: ja oder nein? Mit Paul Thomas Anderson in der Süddeutschen Zeitung, 8. Februar 2008: Katholizismus ist Händewaschen nach dem Sex Mit Daniel Day-Lewis in der Frankfurter Rundschau, 20. Februar 2008, S. 21: „Ich mag es, mich in den Wahn zu stürzen“ Kritikenspiegel Positiv epd Film Nr. 3/2008, S. 39, von Sabine Horst: There Will Be Blood Filmdienst Nr. 4/2008, S. 27–28, von Rüdiger Suchsland: There Will Be Blood Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Februar 2008, S. 33, von Verena Lueken: Ich bin ein Ölmann Neue Zürcher Zeitung, 14. Februar 2008, S. 45, Kurzkritik von Susanne Ostwald Spiegel Online, 8. Februar 2008, Berlinale-Tagebuch von Andreas Borcholte: Glaube, Gier und Gören Süddeutsche Zeitung, 7. Februar 2008, von Tobias Kniebe: Öl ist dicker als Wasser Der Tagesspiegel, 8. Februar 2008, S. 28, von Jan Schulz-Ojala: Dunkel das Leben, dunkel der Tod taz, 8. Februar 2008, S. 28, von Cristina Nord: Der große Boom von Little Boston Die Welt, 8. Februar 2008, S. 27, von Hanns-Georg Rodek: Ein Film wie „Citizen Kane“ Die Zeit, 7. Februar 2008, von Thomas Assheuer: Der Wahnsinn des Kapitalismus Eher positiv Berliner Zeitung, 9. Februar 2008, S. 27, von Anke Westphal: Gesalbte Gier Der Standard, 8. Februar 2008, S. 5, von Isabella Reicher: Blut, Schweiß – und Öl Gemischt Cinema Nr. 3/2008, S. 68, von Heiko Rosner: Eher negativ Der Spiegel, Nr. 6, 2. Februar 2008, S. 136, Berlinale-Bericht von Lars-Olav Beier und Martin Wolf: Blut und Blüten Weblinks Georg Seeßlen: There Will Be Blood bei Filmzentrale Einzelnachweise Filmtitel 2007 US-amerikanischer Film Filmdrama Literaturverfilmung Paul Thomas Anderson Erdölwirtschaft im Film
3804175
https://de.wikipedia.org/wiki/Agneta%20Matthes
Agneta Matthes
Agneta Matthes, mit vollem Namen: Agneta Wilhelmina Johanna van Marken-Matthes (* 4. Oktober 1847 in Amsterdam; † 5. Oktober 1909 in Delft), war eine niederländische Unternehmerin. Zusammen mit ihrem Mann Jacob van Marken (1845–1906) gehört sie als Anhängerin der Genossenschaftsbewegung zu den Personen in den Niederlanden, die frühzeitig die soziale Frage thematisierten und in der Arbeiterfürsorge eine Möglichkeit sahen, soziale Konflikte abzubauen. Nach ihr benannt ist der von den Eheleuten gestiftete Agnetapark, eine gartenstadtähnliche Wohnsiedlung in Delft, die als herausragendste ihrer Art und ihrer Zeit in den Niederlanden gilt. Leben Familie und Kindheit Agneta Matthes war die Tochter des selbständigen Seeversicherungsagenten Jan Willem Frederik Matthes und seiner aus wohlhabendem Elternhaus stammenden Ehefrau Sara Hendrina ter Meulen. Sie hatte eine Schwester, Elisabeth Sara (1849–1902). Die beiden Mädchen wuchsen in großbürgerlichen Verhältnissen in Amsterdam auf und genossen die Erziehung „höherer Töchter“, die sie auf ein Leben als Ehefrau und Mutter in der gehobenen niederländischen Gesellschaft vorbereitete. Agneta wurde von Privatlehrern unterrichtet und verbrachte die Jahre 1862 bis 1864 in einem Utrechter Mädchenpensionat. Zurück in Amsterdam erhielt sie Klavier-, Tanz- und Zeichenunterricht und nahm Religionsunterricht, um ihrem eigenen Wunsch gemäß Aufnahme in die Waalse kerk („Wallonische Kirche“) zu finden. Ihre Schwester, die Nora gerufen wurde, heiratete 1876 den Zionisten und Politiker Arnold Kerdijk (1846–1905), Mitbegründer der linksliberalen niederländischen Partei Vrijzinnig Democratische Bond und von 1887 bis 1901 Mitglied der Zweiten Kammer im niederländischen Parlament, der ähnlich progressiv-liberale Ideen vertrat wie Agneta und ihr späterer Ehemann. Elisabeth Sara und Arnold wohnten an der Spoorsingel in Delft und hatten vier Kinder. Agneta pflegte zeitlebens ein enges Verhältnis zu ihnen; Nora nannte ihre erstgeborene Tochter nach ihrer Schwester „Agnita“. Heirat und Ehe Bei einer Soirée lernte Agneta 1865 den zwei Jahre älteren Jacob Cornelis van Marken, genannt Jacques, kennen, der in Delft an der Polytechnischen Schule, der Vorläuferin der Technischen Universität Delft, Technologie und Soziologie studierte. Van Marken kam aus keinem elitären oder wohlhabenden, aber doch gut bürgerlichen Elternhaus; sein Vater war evangelischer Geistlicher in Dordrecht und später Amsterdam. Nachdem Agnetas Eltern ihr Einverständnis gegeben hatten, verlobte sich das Paar 1866. Nach Abschluss seines Studiums 1867 trat van Marken in die Dienste der Photogenischen Gasfabriek in Amsterdam, träumte indes von einem eigenen Unternehmen. Während seines Studiums hatte er eine Studienreise nach Österreich-Ungarn unternommen und eine neue Methode zur Herstellung von Backhefe kennengelernt, die ihn faszinierte. Als er in Delft Klagen eines Bäckers über die wechselnde Qualität und schlechte Verfügbarkeit der in den Niederlanden erhältlichen Hefe hörte, erinnerte er sich dieser Methode und beschloss, Backhefe industriell und in gleichbleibend hoher Qualität herzustellen. In jener Zeit stellte die Hefeproduktion in den Niederlanden eine Nebenaktivität Schiedamer Genever-Brennereien dar, die am Ende des Gärungsprozesses unregelmäßig und in unterschiedlicher Beschaffenheit anfiel, was die Bäcker in ihrer Backwaren-Produktion behinderte. Van Marken reiste erneut nach Wien, wo er sich über die später als „Wiener Verfahren“ bezeichnete neuartige Herstellungsweise kundig machte und im Verlauf seiner Untersuchungen feststellte, dass die Stämme der Saccharomyces cerevisiae für seine geplanten Zwecke am besten geeignet waren. In dieser Zeit seiner Abwesenheit führten die Verlobten einen intensiven Briefwechsel, der neben allgemeinem privatem Informationsaustausch und gegenseitigen Sympathiebekundungen auch unternehmerische und soziale Fragen beinhaltete, zum Beispiel, wie man sich in das Verhältnis Arbeitgeber zu Arbeiter hineindenken könne (wörtlich: „hoe zij zich de verhouding patroon werkman indenken“), was das Interesse des Paares an der damals neuen Wissenschaft der Soziologie und Agnetas Beteiligung an den unternehmerischen Aktivitäten ihres späteren Ehemannes von Anfang an zeigte. Agneta begann, Privatunterricht in Betriebs- und Volkswirtschaft, Unternehmensführung und Soziologie zu nehmen und beteiligte sich intensiv an den Vorbereitungen zur Betriebsgründung sowie der Festlegung des künftigen Arbeitsablaufs. Am 7. Oktober 1869 heiratete das Paar, kurz bevor die erste Hefefabrik der Niederlande, die Nederlandsche Gist- & Spiritusfabriek NV, die heute Teil des international tätigen chemischen Konzerns Koninklijke DSM ist, mit der finanziellen Unterstützung von van Markens Vater und einem Darlehen des Bankhauses Mees & Zoonen (heute zur Fortis-Gruppe gehörig) gegründet werden und ihre Produktion in Delft aufnehmen konnte. Mit dem Produktionskonzept dieser Fabrik wird Jacques von Marken heute zu den niederländischen Pionieren der Entwicklung industrieller Nahrungsmittelproduktion gezählt. Die Eheleute Jacques van Marken und Agneta van Marken-Matthes wurden am 10. November 1869 in das Delfter Bevölkerungsregister eingetragen. Ihre erste gemeinsame Wohnung war das bescheidene Grachtenhaus an der Oude Delft 106. In der Folge zogen sie in kurzen Abständen in jeweils bessere Wohnhäuser um, 1871 nach Noordeinde 30, kurz darauf (das Datum dieses Umzugs ist im Bevölkerungsregister nicht vermerkt) in die Phoenixstraat 52, am 21. Mai 1880 in das Nachbarhaus mit der Hausnummer 54. Alle Häuser stehen noch und unterliegen heute dem Denkmalschutz. Am 3. Juni 1885 zog das Paar ein letztes Mal um, in ihre eigene großzügige Villa im Agnetapark in der Gemeinde Hof van Delft. Nachdem die junge Ehefrau wenig später erfahren hatte, dass ihre Ehe kinderlos bleiben würde (die genauen medizinischen Umstände sind nicht überliefert), entschied sie, ihr Leben dem Geschäft und der Karriere ihres Mannes zu widmen, und beteiligte sich noch aktiver am Aufbau und der Leitung des Betriebes. Sie begleitete ihren Mann täglich in die Firma, wo sie ihr eigenes Büro hatte und mit dem Unterricht bei ihrem Privatlehrer fortfuhr. Neben der Erledigung von Verwaltungstätigkeiten lag ihr Hauptinteresse auf personalpolitischen Fragen. Sie pflegte einen intensiven Kontakt zu den Arbeitern und Angestellten der Fabrik und deren Familien. Dabei appellierte sie an deren Gemeinschaftsgefühl und versuchte, sie zu überzeugen, Teil „eines großen Ganzen“ zu sein. Agneta Matthes teilte die Fortschrittsgläubigkeit ihres Mannes, ebenso, wie beide von der persönlichen Entwicklungsfähigkeit ihrer Mitarbeiter überzeugt waren und diese zu fördern bestrebt waren. Mätresse und Kinder ihres Mannes Als Jacques van Marken 1886 in Frankreich zur Kur war und Agneta Matthes seine Geschäfts- und Privatpost öffnete, fand sie einen Brief einer Maria Eringaard, die die fälligen Alimente für ihre Kinder anmahnte. Agneta Matthes fand heraus, dass ihr Mann 1871 mit der damals 15-jährigen Maria Eringaard aus Rotterdam eine außereheliche Verbindung eingegangen war, die bis dato anhielt und aus der bislang vier Kinder hervorgegangen waren. Agneta Matthes sorgte diskret für eine Lösung der finanziellen Problematik und verschwieg ihrem Mann ihre Kenntnis, bis 1889 sowohl die 36-jährige Kindesmutter, die inzwischen ein fünftes Kind geboren hatte, als auch zwei ihrer Kinder an Tuberkulose erkrankten und bald darauf starben. Van Marken war nun mit dem Problem konfrontiert, was mit seinen drei überlebenden Kindern geschehen sollte. Sohn Cornelis und Tochter Clara waren bereits Jugendliche, die weitere Tochter Erry Anna aber noch ein Kleinkind. Agneta Matthes bot ihrem Mann an, die Kinder aufzunehmen und zu erziehen, was auch geschah. Offiziell handelte es sich um Pflegekinder, die das Paar zu sich genommen hatte. Die Vaterschaft van Markens war allerdings ein offenes Geheimnis in der holländischen Gesellschaft. Eine Adoption der Kinder, die van Marken mit dem Einverständnis seiner Frau anstrebte, scheiterte an dem Veto seines religiösen Vaters, der – trotz der engen Bindung, die er zu seinem Sohn unterhielt – dessen außereheliche Verbindung scharf verurteilte und seine damals erforderliche rechtliche Zustimmung verweigerte. Jacob Cornelis Eringaard, van Markens ältester unehelicher Sohn, der später die Gist- & Spiritusfabriek leitete, verfolgte auch die sozialen Interessen seines Vaters und dessen Frau weiter. Er verfasste eine Reihe einschlägiger Abhandlungen, zum Beispiel J.C. Eringaard: Holländische Musterstätten persönlicher Fürsorge von Arbeitgebern (Delft 1896). Im Utrechts Nieuwsblad vom 9. Januar 1899 war zu lesen, dass auf seine Initiative ein Bureau voor Sociale Adviezen gegründet worden sei. Die jüngste Tochter, Erry Anna Eringaard, heiratete 1932 den Diplomaten und Herausgeber Daniel Johannes von Balluseck (1895–1976). Arbeit und Leistungen Rechtliche Situation und Quellenlage Agneta Matthes war, wie alle Frauen ihrer Zeit, in ihren rechtlichen Handlungsmöglichkeiten als Geschäftsfrau und Gewerbetreibende stark eingeschränkt. In fast allen westlichen Ländern waren Frauen als selbständige Unternehmerinnen strikter, meist gesetzlich verankerter männlicher Kontrolle und deren Autoritätsrechten ausgesetzt; im Fall einer Heirat stand die Erwerbstätigkeit der Ehefrau unter dem Vorbehalt der Zustimmung durch ihren Ehemann. So verloren Frauen in den Niederlanden bis zu einer Gesetzesänderung von 1956 mit der Eheschließung gar ihre Geschäftsfähigkeit, was eine selbständige und eigenverantwortliche berufliche Tätigkeit praktisch ausschloss. Aus diesen Gründen trat Agneta Matthes – was in dieser Zeit ebenfalls nicht ungewöhnlich war – bei Rechtsgeschäften nicht im eigenen Namen auf, sondern handelte „namens und im Auftrag“ ihres Mannes. Das ist auch der Grund, warum es zwar umfangreiche Aufzeichnungen über die geschäftlichen Unternehmungen und die Karriere von Jacques van der Marken gibt, während nur wenige Quellen die unternehmerischen Verdienste speziell von Agneta Matthes erwähnen oder würdigen. Es lässt sich heutzutage nicht mehr vollständig klären, welche Ideen und Tätigkeiten in welcher Ausprägung auf Agneta zurückgingen und welche auf ihren Mann. Unzweifelhaft ist indes, dass ihr die alleinige Betriebsleitung der Parfumfabrik Maison Neuve oblag, sie eine umfangreiche empirische Untersuchung der Wohnbedürfnisse von 48 Arbeiterfamilien führte, Gestalt und Ausstattung des Agnetaparks maßgeblich beeinflusste und zumindest in den ersten Jahren aktiv in der Betriebsführung der anderen Unternehmen ihres Mannes tätig war, wo sie insbesondere für die Personalangelegenheiten verantwortlich war. Unternehmensgründungen Van Marken, von Zeitgenossen auch „Wohlfahrtsingenieur“ genannt, entwickelte zusammen mit Agneta Matthes für die Fabrikarbeiter seiner 1869 gegründeten Nederlandsche Gist- & Spiritusfabriek NV ein Prämienlohnsystem, nach dem alle Mitarbeiter neben einem Grundlohn Zuschläge „für gute Arbeit und wegen Diensteifers“ von zwei bis 20 Prozent ihres Lohnes erhalten konnten. Weiterhin zahlte das Unternehmen bis zu zehn Prozent des Geschäftsgewinnes als Gewinnanteil an seine Mitarbeiter aus. Die „Neuesten Mittheilungen“ der Amtspresse Preußens informierten in ihrer Ausgabe von April 1894 über dieses „Sozialpolitisches Prämienlohnsystem mit Gewinnbetheiligung“, „das die Beachtung weiterer Kreise“ verdiene. Nachdem Agneta Matthes in der Gründungszeit des Unternehmens die Personalfragen erledigt hatte, wurde 1880 eine Abteilung Personalangelegenheiten (Belangen van het Personeel) aufgebaut – damals eine Neuheit –, die von dem Ingenieur Gerhard Knuttel, einem Großneffen van Markens, geleitet wurde. Knuttel gilt als der erste Personalchef der Niederlande. 1885 wurde Martinus Willem Beijerinck (1851–1931) Direktor eines eigenen, neu eingerichteten Labors der Fabrik. Aufgrund der sich verschärfenden gesundheitlichen Probleme Jacques van Markens und der arbeitsmäßigen Überlastung der Eheleute wurde 1886 François Gerard Waller, ein Neffe von Jacques van Marken, mit der Geschäftsleitung betraut. Bereits 1873 hatte Agneta Matthes zusätzlich ihr eigenes Unternehmen, die Delfter Parfümfabrik Maison Neuve, gegründet, bei dem ihr Mann wegen der rechtlichen Problematik pro forma als Inhaber fungierte. Der Vorteil dieser Unternehmung war die Möglichkeit, das bei der Hefeproduktion der Gist- & Spiritusfabriek anfallende Ethanol (früher auch Spiritus genannt) zu verwenden. Agneta konzentrierte sich in den darauf folgenden Jahren weitgehend auf ihr Unternehmen. Sie arbeitete mit der renommierten Delfter Porzellanmanufaktur De Porceleyne Fles zusammen, die Fayence-Flacons für die Parfüm-Kreationen nach ihren Entwürfen herstellte. Sie nahm an internationalen Ausstellungen teil, wo sie mit ihrer Parfummarke PMN (Parfumerie Maison Neuve) mehrere Preise und Auszeichnungen gewann und ihr Unternehmen bekannt machte. So gewann sie 1878 auf der Pariser Weltausstellung die Bronzemedaille, in Australien holte sie im selben Jahr auf der internationalen Parfum-Messe den ersten Preis für Duftwässer. Sie verkaufte den Betrieb Ende 1886 mit hohem Gewinn und konzentrierte sich wieder auf ihre vielfältigen anderen Tätigkeiten und Verpflichtungen. Die Eheleute hatten nämlich 1883 begonnen, sich für die in den Niederlanden noch junge Margarine-Industrie zu interessieren. Mit eigenem Kapital und einer Beteiligung von Agnetas Mutter wurde im selben Jahr die Nederlandsche Oliefabriek NV gegründet, deren Fabrikgebäude neben der Hefefabrik Platz fand. Wenig später, 1885, übernahmen die Eheleute noch die Delftse Lijm- & Gelatinefabriek NV. Auch hier fungierte Jacques van Marken offiziell als alleiniger Geschäftsführer. Zum Betrieb einer Einkaufsgenossenschaft im Agnetapark gründeten sie 1873 die Delftsche Coöperatieve Winkelvereeniging. 1892 wurde noch eine Druckerei gegründet (die sich heute im Besitz der Koninklijke drukkerij G.J. Thieme befindet). Auch hinsichtlich dieser Unternehmen war Agneta bei Entscheidungen, Planungen und organisatorischen Vorarbeiten maßgeblich beteiligt. In allen Unternehmen führten die Eheleute dieselbe Personalpolitik ein, wie in der Gist- & Spiritusfabriek. 1878 richtete van Marken den ersten Betriebsrat der Niederlande ein, „de kern“ (Kern) genannt. Auf dem Höhepunkt ihres Erfolges, um 1885, als sie mehr als 1.250 Mitarbeiter beschäftigten, wurden ihre Unternehmen von der Öffentlichkeit zusammenfassend Delftsche Nijverheid (Delfter Industrie) genannt. Werkzeitschrift „Fabrieksbode“ Am 24. Juni 1882 erschien der „Fabrieksbode“ (Fabrikbote) zum ersten Mal, die erste Werkszeitschrift der Welt und eine Vorläuferin der Mitarbeiterzeitschrift – eine Idee, die Agneta Matthes federführend entwickelt hatte und deren Zweck in der ersten Ausgabe wie folgt beschrieben wurde: Vor allem in deutschen Wirtschaftskreisen wurde dieses „zeitgemäße Bindungsmittel“ begeistert aufgenommen, van Marken das „Erfindungspatent“ eingeräumt und die Idee vielfältig kopiert. Van Marken verwendete die Werkszeitung als Sprachrohr und zur Kommunikation seiner sozial-ökonomischen Ideen. Auch Agneta veröffentlichte regelmäßig kleinere Artikel, die sie mit A. oder AvM signierte. Der Fabrieksbode erschien zunächst wöchentlich, später vierzehntäglich und in den letzten Jahren monatlich. Erst 2001, als damals älteste Betriebszeitung der Welt, stellte der Fabrieksbode sein Erscheinen ein. Agneta war ihrem Mann auch bei dessen anderen Veröffentlichungen behilflich. 1881 erschien sein Buch La question ouvrière à la fabrique Neerlandaise de levure et d’alcool. Essai de solution pratique. (Die Arbeiterfrage in der niederländischen Hefe- und Alkoholfabrik. Versuch einer praktischen Lösung.) und 1894 L’Organisation sociale dans l’industrie (Die Gesellschaftsordnung in der Industrie), das in zwei Auflagen gedruckt und ins Deutsche und Englische übersetzt wurde. Das Ausmaß der inhaltlichen Mitarbeit Agnetas ist nicht mehr festzustellen; es gilt jedoch als sicher, dass sie mindestens die Übersetzungen federführend besorgte. Sozialfürsorge Agnetapark 1881 hatten die van Markens als Anhänger von Robert Owen und Charles Fourier nach einer Besichtigung der von Jean-Baptiste André Godin gegründeten genossenschaftlichen Gemeinschaftswohnanlage Familistère Godin damit begonnen, nämlich einen gartenstadtähnlichen Wohnpark für ihre Mitarbeiter zu planen und zu erbauen. Hiermit wollten sie einen Beitrag zur Verbesserung der in der Zeit der Industrialisierung sehr schwierigen Wohnverhältnisse leisten. Zusammen mit Marie Kruseman, einer Mitarbeiterin aus der Personalabteilung der Spiritusfabrik untersuchte Agneta Matthes die Wohnbedürfnisse von 48 Arbeiterfamilien, um den Bauplan des zukünftigen Wohnparks zu gestalten. 1881 erwarb das Ehepaar, erneut mit finanzieller Unterstützung von Agnetas Mutter, in Hof van Delft hinter dem Fabrikgelände ein 4 Hektar großes Grundstück zu einem Preis von 16.000 Gulden. Hof van Delft war damals eine eigene, ländlich-bäuerliche und nur dünn besiedelte Gemeinde, die weit außerhalb der Delfter Stadtgrenzen lag. Dort entstand zwischen 1882 und 1884 nach den Plänen des Landschaftsarchitekten Louis Paul Zocher (einem Sohn von Jan David Zocher) ein weitläufiger, von Wasserläufen durchzogener und im Stil eines Englischen Gartens angelegter Park, in dem von dem Architekten Eugen Gugel 48 Reihenhäuser, Doppelhäuser und Vierspänner nebst Gemeinschaftshäusern und der Villa der Stifter platziert wurden. Die Anlage wurde nach Agneta Matthes Agnetapark benannt. Neu war an diesem Wohnpark im Gegensatz zu anderen zeitgenössischen Arbeiterwohnungen, dass es sich um abgeschlossene, mehrstöckige Wohnungen mit eigenem Eingang, Sanitärbereich und Gartenanteil handelte. Diese Wohnform war von England ausgegangen, wo schon Anfang des 19. Jahrhunderts die ersten Arbeitersiedlungen in Form von Reihenhäusern entstanden waren. Die Architekten des Agnetaparks gingen noch einen bedeutenden Schritt weiter, indem diese Wohnungen, ganz im Stil der heutigen Doppelhäuser und Vierspänner, großzügig und abwechslungsreich in einem Erholung und Entspannung bietenden Park verteilt waren, der viel Freiraum bot und über zahlreiche Gemeinschaftseinrichtungen verfügte. Außerdem verfügte jede Wohnung über fließendes Wasser, einen Sanitärraum mit WC und Waschbecken – etwas ganz und gar Außergewöhnliches für Arbeitersiedlungen jener Zeit. Die Villa der Gründer lag inmitten der Siedlung und wurde von ihnen Rust Roest (wörtlich: „Die Ruhe rostet“, frei übersetzt: „Wer rastet, der rostet“) genannt. Einzigartig war die Kostenverteilung der Anlage. Die Stifter gründeten eine Kapitalgesellschaft zur Entwicklung der Siedlung und übergaben den Park 1870 ihren Mitarbeitern nach dem Genossenschaftsprinzip als gemeinschaftliches Eigentum, um Spekulationen zu verhindern. Zum großen Erstaunen der Stifter waren die Mitarbeiter von der Wohnsiedlung bei weitem nicht so begeistert, wie sie es für selbstverständlich vorausgesetzt hatten. Einerseits lag die Anlage fern jeglicher städtischer Infrastruktur und war sehr verkehrsungünstig gelegen. Diese Nachteile sollten durch eine Verbesserung der Gemeinschaftseinrichtungen ausgeglichen werden. Zur Verfügung standen drei Gebäude: De Gemeenschap (die Gemeinschaft), ein großes Haus, das einen Kindergarten und eine Grundschule beherbergte, als Versammlungsort diente sowie über einen Esssaal, einen Turnsaal und einen Billardclub verfügte; de Tent (das Zelt), ein Musik- und Veranstaltungspavillon und das Gebäude der Agnetapark-Einkaufsgenossenschaft, in dem ein Kolonialwarengeschäft und eine Bäckerei, später auch ein Bekleidungsgeschäft untergebracht waren. Schließlich wurden im Park ein Kinderspielplatz, eine Kegelbahn, eine Schießanlage und ein Bootsschuppen mit Ruderbootverleih angelegt. Auch das Vereinswesen wurde gefördert; es entstanden unter anderem eine Freiwillige Feuerwehr, ein Schützenverein, ein Kegelclub, ein Fahrradclub und eine Musikkapelle. Den Mitarbeitern gefiel es jedoch nicht, in der Nähe ihres Arbeitgebers zu leben. Sie fühlten sich seiner direkten Kontrolle ausgesetzt. Es erzeugte Unwillen, täglich, auch in der Freizeit, in Tuchfühlung mit dem obersten Chef und dessen Familie zu geraten und kaum andere Gesichter zu sehen, als Arbeitskollegen und Vorgesetzte. Auch klagten die Beschäftigten weiterhin über die Entfernung zur Stadt und darüber, dass es keinerlei Verkehrsverbindungen gab. Auch die Miethöhen und die zu leistenden Rücklagen, die die meisten Arbeiter überforderten, riefen Kritik hervor. Erst nach dem Tod der van Markens entwickelte sich der Park schrittweise zu einem begehrten Wohngebiet mit in den Niederlanden traditionell vergleichsweise selten zur Miete angebotenen Wohnhäusern. 1931 wurde die Villa Rust Roest, die lange leer gestanden hatte, in eine Haushaltsschule umgebaut, 1981 wurde das Gebäude abgerissen. Seit 1989 steht der Agnetapark unter Denkmalschutz. Gesellschaftliches Engagement Nachdem van Marken 1871 zum Sekretär der Vereeniging tot bevordering van het Volksonderwijs (Vereinigung zur Förderung der Volksbildung) berufen worden war, besuchte Agneta regelmäßig Delfter Armenschulen und engagierte sich in der Verbesserung der dortigen Verhältnisse. Der Winter 1879/80 war in den Niederlanden streng und besonders lang. Dauerfrost bei Temperaturen bis −16° führten zu Not unter den Delfter Bürgern. Kurz entschlossen gründete Agneta Matthes die Vereeniging voor Armenzorg, die Bedürftige ungeachtet ihrer religiösen oder politischen Überzeugungen unterstützte, und veranlasste ihren Mann, eine Wintersnood-Commissie ins Leben zu rufen, die von ihm, seinem Schwager Arnold Kerdijk und seinem späteren Geschäftsführer Gerhardus Knuttel geleitet wurde. 1880 gründete das Ehepaar van Marken eine Krankenversicherung für Bäckergesellen. Diese Versicherung war zugleich ein erster Schritt in Richtung einer geregelten Altersversorgung. Eine Unfallversicherung für das eigene Personal wurde schließlich 1884 eingerichtet. Kritik Van Marken galt als niederländischer „sozialer Unternehmer“ und Vorreiter seiner Zeit in der „sozialen Frage“. Im Ausland, insbesondere in Deutschland, überwiegend gefeiert, wurde er aber auch – zeitlebens insbesondere von seinen Landsleuten – als „radikal-liberaler Weltverbesserer“ kritisiert, der zwar „viel für seine Arbeiter getan“ habe, „sie selbst aber nur wenig tun und entscheiden lasse“. Diese Kritik betraf, wenn auch dem Zeitgeist entsprechend selten explizit erwähnt, ebenso Agneta Matthes und ihre Leistungen und Überzeugungen. Als Nachruf veröffentlichte der Journalist Frank van der Goes 1906 in Het Volk, dem Organ der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung des Landes, zwei kritische Artikel unter der Überschrift „Een levensleugen“ (eine Lebenslüge) und unterstellte van Marken Hintergedanken bei seinem zweifellos sozialen Engagement. Durch die Versorgung seiner Arbeiter habe er sich Loyalität erkaufen und soziale Kontrolle ausüben wollen, während die Mitarbeiter von ihm über Gebühr abhängig gewesen seien, beispielsweise kaum mehr den Arbeitsplatz wechseln konnten, wenn sie einmal ein Haus im Agnetapark bezogen hatten. In seinem Buch Der Arbeiterschutz hatte sich der Nationalökonom und Autor Kuno Frankenstein 1896 sachlich-positiv geäußert: Die tatsächliche Entwicklung verlief indes anders, als die Berechnungen versprachen und die Eheleute es erhofft hatten. Die monatlichen Zahlungen der Bewohner waren weitaus zu niedrig, um nach den geplanten dreißig Jahren zum kollektiven Eigentum des Parks führen zu können, und dennoch waren sie für viele interessierte Mitarbeiter noch zu hoch. Van Markens Motto Allen voor de fabriek, de fabriek voor allen („Alle für die Fabrik, die Fabrik für alle“), das er von dem zum Solidarprinzip gewordenen Wahlspruch der Drei Musketiere Einer für alle, alle für einen abgeleitet hatte, bedeutete für die meisten seiner Mitarbeiter sicherlich eine deutliche Verbesserung ihrer persönlichen Lebensumstände, doch sie fühlten sich zu stark unter Druck gesetzt. Trotz dieser Enttäuschungen und zeitweiliger Leerstände wurde der Agnetapark zu einem wichtigen Vorbild für die Entwicklung genossenschaftlicher Bauvorhaben und von Gartenstädten für Arbeiter und Angestellte. Der Park gilt als der erste soziale Wohnungsbau, bei dem insbesondere auf hygienische Lebensbedingungen in einer grünen, lebenswerten Umgebung geachtet wurde. Letzte Jahre Jacques van Marken litt ab den 1880er Jahren unter chronischen Nervenschmerzen, vermutlich einer Polyneuropathie, dessen Grunderkrankung nicht erkannt oder nicht überliefert ist und die ihn immer wieder zu beruflichen Pausen und zu regelmäßiger ärztlicher Behandlung und Kuren, meist in Frankreich, veranlasste. 1886 lag er mehrere Monate arbeitsunfähig in einer Kuranstalt in Frankreich, so dass Agneta ihren Mann vertreten musste und zur Entlastung François Gerard Waller als Geschäftsführer einstellte. Ab 1890 war es um die Gesundheit ihres Mannes besorgniserregend bestellt. Herkömmliche Therapien wirkten nicht mehr; ein französischer Arzt hatte ihm zu Morphium geraten, und bald verfiel er zusehends der Abhängigkeit. Nachdem Waller als Geschäftsführer eingearbeitet war, begleitete Agneta ihren Mann auf dessen oft mehrmonatigen Kuraufenthalten. 1905 legte van Marken auch offiziell fast alle Funktionen nieder, womit auch Agnetas berufliche Tätigkeiten ein weitgehendes Ende fanden. Als van Marken am 8. Januar 1906 mit 60 Jahren starb, schrieb Agneta eine Biografie über das Leben ihres Mannes, die 215 Seiten umfasste und 1907 unter dem Titel Levensidealen. Herinneringen uit het leven van J.C. van Marken (Lebensideale. Erinnerungen an das Leben von J.C. van Marken.) erschien. Weiterhin stellte sie alle unter seinem Namen im Fabrieksbode zwischen 1882 und 1905 erschienenen Artikel zusammen, die 1908 unter dem Titel Uit het fabrieksleven. Delft 1869–1905 (Aus einem Fabriksleben. Delft 1869–1905) in drei Teilen erschienen. Im April 1906 zog ihre Mutter zu ihr; auch eine Nichte, Elisabeth Kerdijk, wohnte rund zwei Jahre bei ihr in der Villa Rust Roest. Agneta van Marken-Matthes starb am 5. Oktober 1909, einen Monat nach ihrer Mutter. Sie ist auf dem Friedhof Jaffa in Delft neben ihrem Mann begraben. Ihr Vermögen hatte sie testamentarisch dem Personal ihrer gemeinschaftlichen Betriebe und einer Ferienkolonie für Delfter Kinder vermacht. Literatur H.M. Bonebakker-Westermann et al.: Delftse vrouwen van vroeger door Delftse vrouwen van nu. Delftse Vrouwenraad 1975 (niederländisch) P.J. Hofland: Van Marken en de Delftsche Nijverheid, Lespakket CD mit Textordner. Gemeente Musea Delft 2004 (niederländisch) G. Knuttel: Mevrouw Van Marken, in: De Fabrieksbode vom 9. Oktober 1909 (niederländisch) A. van Marken-Matthes: Levensidealen. Herinneringen uit het leven van J.C. van Marken. Delft 1907 (niederländisch) A. van Marken-Matthes: Uit het fabrieksleven. Delft 1869–1905. Hoofdartikelen uit De Fabrieksbode van J.C. van Marken (1882–1905). 3 Hefte, Delft 1908 (niederländisch) A. Michel: Von der Fabrikzeitung zum Führungsmittel: Werkzeitschriften industrieller Großunternehmen von 1890 bis 1945. Franz Steiner Verlag 1997. ISBN 3-515-07210-1 (deutsch) Einzelnachweise Weblinks Biografie von Agneta Matthes im Biografisch Woordenboek van Nederland (Biografisches Wörterbuch der Niederlande, niederländisch) Personenblatt über Agneta Matthes im Archiv des Instituts für niederländische Geschichte zum Dossier „Sociale Zekerheid 1890-1967“ (Soziale Sicherheit 1890–1967, niederländisch) Unternehmer (19. Jahrhundert) Niederländer Geboren 1847 Gestorben 1909 Frau
3987164
https://de.wikipedia.org/wiki/Paschtunische%20Schrift
Paschtunische Schrift
Die paschtunische Schrift ist eine Buchstabenschrift zum Schreiben des Paschtus, einer zum ostiranischen Zweig der indoeuropäischen Sprachfamilie gehörenden, hauptsächlich in Afghanistan und Pakistan gesprochenen Sprache. Sie umfasst je nach Zählweise 40 bis 44 Buchstaben und basiert auf dem persischen Alphabet, welches wiederum eine modifizierte Form des arabischen Alphabets darstellt. Wie Arabisch ist Paschtunisch eine reine Kursivschrift und wird von rechts nach links geschrieben. Obwohl die paschtunische Sprache keine Standardvarietät besitzt, hat sich im Schriftgebrauch eine im gesamten Sprachraum weitgehend einheitliche Orthographie herausgebildet. Die Entstehung der Schrift fällt vermutlich mit den Anfängen der paschtunischen Literatur im 16. Jahrhundert zusammen, ihre genauen Ursprünge sind jedoch ungeklärt. Die Entwicklung der Schrift Paschtu besitzt eine im Vergleich zu anderen kleineren südasiatischen Sprachen lange literarische Tradition. Das älteste bekannte Dokument in paschtunischer Sprache ist eine auf den 6. September 1651 datierte Kopie eines Werkes des islamischen Mystikers Bāyazid Ansāri. Die Chair al-Bayān ( – „Die beste Offenbarung“) betitelte Sammlung religiöser Verse ist in vier Sprachen geschrieben – neben Paschtu auch in Arabisch, Persisch und Pandschabi. Bāyazid verfasste das Chair al-Bayān etwa ein Jahrhundert zuvor und verwendete für die paschtunischen Abschnitte eine modifizierte arabische Schrift, die sich aber noch von der heutigen paschtunischen Schreibung unterschied. Ob sich Bāyazid beim Verfassen des Chair al-Bayān an bisher unentdeckten älteren Schriften orientierte oder ob er tatsächlich als erster die paschtunische Sprache verschriftlichte, ist nicht bekannt. Auf das vierzehnte Jahrhundert datierte Manuskripte in choresmischer Sprache weisen verwandte Schreibungen einiger ostiranischer Phoneme auf, was auf eine gemeinsame ältere Tradition beider Schriften hindeutet. Diese Hinweise konnten anhand der bekannten Manuskripte in paschtunischer Sprache jedoch nicht eindeutig bestätigt werden. Dokumente, die in der Literatur bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts gelegentlich als frühere Schriften genannt wurden und damit eine ältere Schrifttradition hätten belegen können, wurden nachträglich als Fälschungen oder Fehldatierungen eingestuft. Besondere negative Berühmtheit erlangte das Pata Chazāna ( – „Der versteckte Schatz“), das der afghanische Literaturwissenschaftler Abdul Hay Habibi 1944 in Kandahar behauptete entdeckt zu haben. Die Schrift enthält eine angeblich im Jahr 1729 verfasste Anthologie der paschtunischen Dichtung, in der Werke bisher unbekannter Dichter zusammengestellt sind, die bis in das achte Jahrhundert zurückgehen. Das gesamte Manuskript sowie die darin kolportierten älteren Schriften werden in der Iranistik meist als Fälschung klassifiziert. Die nicht in erster Linie religiöse paschtunische Literatur reicht zurück bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts und wurde vom Clan der Chattaks begründet, dessen bedeutendster Vertreter der Dichter Chuschhāl Chān Chattak war. Obwohl den Chattaks Bāyazids ältere Schriften vermutlich bekannt waren, adaptierten sie unabhängig von ihm das persische Alphabet und passten es an das paschtunische Phonemsystem an. Die Chattaks werden häufig als Begründer der modernen paschtunischen Schrift genannt, das von ihnen geschaffene Schreibsystem stand wie Bāyazids Alphabet aber nicht in Übereinstimmung mit der heute verwendeten Orthographie. Ihr Clan war im Nordosten des paschtunischen Sprachgebietes beheimatet, sie sprachen jedoch vermutlich eine dem heutigen südwestlichen Dialekt von Kandahar ähnliche eigene Färbung und bauten darauf ihr Schriftsystem auf. Dies wird als mögliche Erklärung dafür angeführt, dass die paschtunische Schrift bis heute besser an die südwestlichen Dialekte als an die nördlichen und östlichen Varietäten angepasst ist. Die weitgehend einheitliche moderne Orthographie lässt sich bis ins 18. Jahrhundert zurückverfolgen. Das früheste bekannte Dokument, das in dieser Orthographie verfasst wurde, ist eine aus Peschawar stammende Kopie eines Dīwān von Ahmad Schāh Abdāli aus dem Jahr 1750. Zu welcher Zeit und unter welchen Umständen sich dieses heute oft als Standardorthographie bezeichnete Schreibsystem herausgebildet hat, wird immer noch kontrovers diskutiert. Zu weiteren Modifikationen, die die Konsistenz der Schreibungen erhöhen sollten, kam es im Jahr 1936, als Paschtu den Status einer Amtssprache Afghanistans erlangte. Zu den wichtigsten Änderungen gehörte dabei die Einführung von zwei neuen Buchstaben, die sich in der Folge nicht nur in Afghanistan, sondern auch in Pakistan weitgehend durchsetzten. Als Schreibstil hat sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur im Druck, sondern auch in Handschriften die arabische Nasch-Schrift durchgesetzt, obgleich in den Anfängen der paschtunischen Schrift einige Autoren wie Bayāzid mit dem persischen Alphabet auch den persischen Nastaliq-Schreibstil übernahmen. Die Buchstaben des Alphabets Das paschtunische Alphabet baut auf dem persisch-arabischen Alphabet auf, das im paschtunischen Sprachgebiet durch die Stellung des Persischen als Verkehrssprache und vorherrschende Schriftsprache weit verbreitet war. Wie in vielen Schriftsystemen, die auf dem arabischen Alphabet basieren, wurden ausschließlich arabische Laute repräsentierende Buchstaben aus Respekt vor der heiligen Schrift des Korans nicht umgewidmet. Stattdessen wurde das persisch-arabische Alphabet weitgehend unverändert übernommen und zur Schreibung von spezifisch paschtunischen Phonemen wurden neue modifizierte Buchstaben der Schrift hinzugefügt. Insgesamt wurde das Alphabet gegenüber dem arabischen Grundalphabet um 16 Buchstaben erweitert, wovon vier bereits in der persischen Schrift enthalten sind. Acht der zusätzlichen Buchstaben werden ausschließlich in der paschtunischen Schrift verwendet, um die weder im Arabischen noch im Persischen existierenden Phoneme darzustellen. Vier der neu geschaffenen Buchstaben repräsentieren die für das Paschtunische typischen retroflexen Laute und wurden durch die Hinzufügung eines kleinen Kreises, des sogenannten Pandak, von bereits existierenden Buchstaben abgeleitet. Dem retroflexen Nasal wurde erst 1936 mit der afghanischen Schriftreform ein eigener Buchstabe zugeordnet. Zuvor wurde der Laut durch den Digraphen نړ repräsentiert, der sich aus den Buchstaben Nun und Rre zusammensetzte. Die übrigen retroflexen Buchstaben werden hingegen bereits seit der Vereinheitlichung der Schrift im 18. Jahrhundert verwendet. Die Buchstaben Dze und Tse wurden zur Schreibung der beiden alveolaren Affrikaten eingeführt. Ursprünglich wurden sowohl die stimmhafte als auch die stimmlose Affrikate durch das gleiche Schriftzeichen repräsentiert, das vom arabischen Dschim durch die Hinzufügung von drei Punkten abgeleitet wurde. Eine schriftliche Differenzierung der beiden Laute erfolgte erst mit der Reform 1936. Dabei wurden zur Darstellung der stimmhaften Affrikate die drei Punkte durch ein Hamza-Zeichen ersetzt. Die beiden übrigen neu geschaffenen paschtunischen Buchstaben Ssin und Zze werden durch jeweils einen Punkt oberhalb und unterhalb der arabischen Grundform geschrieben. Sie sind durch eine extrem dialektabhängige Aussprache gekennzeichnet und werden daher in einigen Regionen Xin und Ge genannt. Diese Dialektabhängigkeit betrifft in geringerem Maße auch die Aussprache der Buchstaben Dze und Tse. Außerdem gibt es zusätzliche modifizierte Formen des arabischen Je (), um die für die paschtunische Grammatik wichtigen Vokalauslaute zu differenzieren. Darüber hinaus wurde die Schreibweise einiger Buchstaben im Vergleich zum Arabischen leicht modifiziert. Es gibt keinen Konsens in der Literatur, inwieweit die insgesamt fünf Varianten des Je eigenständige Buchstaben darstellen, so dass die Anzahl der Buchstaben des paschtunischen Alphabets je nach Sichtweise mit 40 bis 44 angegeben wird. Wie alle arabisch-basierten Schriften ist Paschtunisch eine Kursivschrift, die Buchstaben werden sowohl im Druck als auch in der Handschrift mit dem nachfolgenden Zeichen verbunden. Die Buchstaben treten daher in vier Formen – Initial-, Medial-, Final- und isolierter Form – auf, abhängig davon, ob sie am Anfang, in der Mitte oder am Ende eines Wortes beziehungsweise einzeln stehen. Zehn Buchstaben können nicht nach links verbunden werden und besitzen deshalb keine Initial- und Medialform. Das Alphabet Die Einordnung der zusätzlichen Buchstaben in das persisch-arabische Alphabet ist in der Literatur weitgehend einheitlich, lediglich bei der Reihenfolge innerhalb der auf die Grundform des Dschim () aufbauenden Gruppe gibt es leichte Abweichungen. Die Reihenfolge des hier tabellarisch dargestellten Alphabets folgt dem Pashto to Pashto Descriptive Dictionary der Abteilung für Linguistik der Afghanischen Akademie der Wissenschaften, dem maßgeblichen Standardnachschlagewerk der paschtunischen Sprache. Die in der Tabelle angegebene Aussprache orientiert sich am südwestlichen Dialekt des Paschtunischen, des sogenannten Kandahari, das meist als der geschriebene Standardsprache zu Grunde liegend angenommen wird. Aussprache der Buchstaben Für manche Buchstaben ist die Aussprache von der Stellung und der Verbindung mit anderen Buchstaben abhängig, z. B. gilt dies für و (Wāw) oder ا (Alif). Andere Buchstaben, z. B. das ب (Be), werden unabhängig ihrer Stellung immer gleich ausgesprochen. Kurze Vokale (a, i, u, ə) werden innerhalb eines Wortes nicht ausgeschrieben bis auf ـه (a, ə) am Ende des Wortes (siehe Vokalisierung). Manche arabische Buchstaben, wie das ط (Ṭā), haben in der arabischen Sprache ihr eigenes Phonem, im Paschtunischen hingegen haben diese Buchstaben aus arabischen Lehnwörter einen identischen Laut mit anderen Buchstaben (z. B. wird ت wie ط ausgesprochen). Auch die Rechtschreibung (Orthographie) hat sich in einigen Fällen geändert, z. B. ist sowohl کندهار (Kandāhar) als auch قندهار (Qandāhar) „Kandahar“ zu finden oder وقت und وخت (waxt) „Zeit“. ا (Alif) ist in der Mitte und am Ende eines Wortes ein langes a. Wenn Alif am Anfang des Wortes ein langes a darstellen soll, wird ein Madda über Alif gesetzt آ. Um die Vokale und Diphthonge am Anfang eines Wortes darzustellen, wird Alif alleine (a, u, i) oder in Verbindung mit anderen Vokalzeichen (ay oder langes i, e, langes o bzw. u oder au) gebracht. Der Buchstabe ب (Be) ist wie das deutsche B im Baum oder Blatt, پ (Pe) wie das deutsche P in Platin und ف (Fe) wie das deutsche F, z. B. in Feder. Umgangssprachlich wird ف (Fe) gelegentlich auch wie ein پ (Pe) ausgesprochen. Die Buchstaben ت (Te) und ط (Tā) sind phonetisch identisch und werden wie das deutsche T, z. B. in Training oder glatt, ausgesprochen. Der Buchstabe د (Dāl) entspricht einem stimmhaften deutschen D, z. B. in Dach oder Dauer. Die Buchstaben ث (Se), س (Sin) und ص (Sād) sind phonetisch identisch und werden wie das deutsche stimmlose S, beispielsweise in Smog, ausgesprochen. Der Buchstabe ج (Dschim) wird wie Dsch in Dschungel, چ (Tsche) wie Tsch/Tch in Gärtchen, ځ (Dze) wie stimmhaftes dz/ds (siehe d͡z), څ (Ce) wie das deutsche Z in Zunge, ح (He) wie das deutsche H in Haus und خ (Xe) wie das deutsche Ch in lachen oder krachen ausgesprochen. Für ځ (Dze) findet man in älteren Literaturen auch څ oder ein ‌‌‌ج mit einem Punkt in der Mitte über die senkrechte Linie. Die Buchstaben ذ (Zāl), ز (Ze), ظ (Zā) und ض (Zād) sind phonetisch identisch und werden wie das stimmhafte deutsche S ausgesprochen, z. B. in Segen oder Rasen. Der Buchstabe ر (Re) ist das deutsche Zungen-R, wie es z. B. in der Schweiz oder in Bayern üblich ist, z. B. in mir oder Rasen, dagegen wird das غ (Ghayn) wie das hochdeutsche Gaumen-R ausgesprochen, z. B. in Rasen oder reich. Der Buchstabe ش (Schin) ist wie das deutsche stimmlose Sch, wie z. B. in schreiben oder Fisch. Der Buchstabe ژ (Že) wie das stimmhafte Sch, z. B. in Genie oder im englischen Wort pleasure. Der Buchstabe ع (Ayn) ist ein Knacklaut in der Kehle. Dieser Buchstabe wird auch in deutschen Aussprachen verwendet, es gibt jedoch keinen deutschen Buchstaben dafür. Wörter wie z. B. das be-achten haben zwischen be- und -achten oder auch acht am Anfang einen Knacklaut (siehe stimmlosen glottalen Plosiv). Wörter arabischen Ursprungs haben in der Mittelstellung häufig auch ein Hamza (همزه) ء und werden wie ع ausgesprochen, z. B. أ oder ؤ. Der Buchstabe ک bzw. ﻙ (Kāf) entspricht dem deutschen K in Köder oder Haken, ق (Qāf) entspricht dem Buchstaben Q, also ein K, das mit der Kehle ausgesprochen wird, z. B. das englische Wort cut oder quran und ګ bzw. گ (Gāf) entspricht dem deutschen G, z. B. in Galle oder legen. Der Buchstabe ل (Lām) entspricht dem deutschen L z. B. in Leben, م (Mim) dem deutschen M in morgen und ن (Nun) dem Deutschen N z. B. in Nebel. Der Buchstabe و (Wāw) hat je nach Stellungen und Kombinationen mit anderen Buchstaben verschiedene Aussprachen (w, o und u). In der Anfangsstellung ist es ein deutsches W, z. B. wie in Wolke, in der Mittel- und Endstellung ein deutsches O oder U z. B. wie Kolben oder Ruf. Steht اوـ am Satzanfang, dann ist es ein o, u oder au (siehe oben ا (Alif)). Ein W in Wortmitte oder -ende kann durch Verbindung mit anderen Vokalen gebildet werden und hängt auch von der Wortstruktur ab, z. B. وا (wā), وېـ (we), ويـ (wi) und وو (wu). Der Buchstabe ه (He) hat ebenfalls wie و (Wāw) verschiedene Funktionen. Es entspricht phonetisch dem ح (He) (im Arabischen wird ح von ه phonetisch unterschieden), also dem deutschen H, z. B. in Heinrich. Am Wortende, wenn ه (He) nicht verbunden ist, wird es ebenfalls wie ein deutsches H ausgesprochen, z. B. شاه (šāh). Die Endstellung ـه hingegen wird als kurzes a oder ә verwendet. Weibliche Wörter und arabische Lehnwörter haben häufig diese Endung. Gelegentlich findet man statt des üblichen Naschī-Stils den Nastaliq-Stil für das ه (He) z. B. die Endstellung ـہ. Die verschiedenen Ye's haben unterschiedlichen Funktionen. Der Buchstabe ي (harte Ye, sakhta Ye,سخته يې) wird in der Anfangsstellung يـ wie das deutsche J oder Y ausgesprochen, z. B. in Jahr oder Yacht. Zudem kann es in der Endstellung ein I darstellen. Das ی (Nārina Ye, männliches Ye, نارينه يې) stellt in der Endstellung als ـی den Diphthong -ay, ähnlich wie das englische AY ausgesprochen, z. B. wie in lay oder way, dar. Diese Endung stellt bei Substantiven und Adjektiven das männliche Genus dar und wird daher als männliches Ye bezeichnet. Der Buchstabe ې (das weiche Ye, pasta Ye, پسته يې) entspricht in der Mittel- und Endstellung dem deutschen langen E, z. B. in Regen. Mit Alif اېـ kann es in der ersten Silbe eines Wortes ein E darstellen. Diese Regeln sind aber nicht obligatorisch, so findet man z. B. für in... unterschiedliche Rechtschreibungen vor په ...کی, ‍ به ...کې und په ...کي, aber alle drei Formen haben die gleiche Bedeutung. Dies mag zum einen an einer fehlenden eindeutigen Übereinkunft der Rechtschreibung liegen zum anderen an der individuellen Schreibweise des Autors sowie des Dialekts. Ein weiteres Beispiel ist das Wort ḍer viel ډېر (mit weichem Ye) und ډير (mit hartem Ye). Für die weibliche Endung wird das weibliche Ye ۍ (-әy) (weibliches Ye, schadzina Ye,ښځينه یې) verwendet, die als Endung bei weiblichen Wörtern vorkommt. Anstatt des weiblichen Ye ۍ werden Verben mit der Personalendung in der zweiten Person Plural durch ein Ye mit Hamza, das ئ (-әy) (کړواله يې bzw. فعلیه یې, das verbale Ye), dargestellt. Es gibt sechs retroflexe Laute, die vor dem Aussprechen durch Zurückziehen der Zunge an den Gaumen gebildet werden. Die retroflexen Buchstaben ټ (Tte), ډ (Ddāl) und ړ (Rre) entsprechen den englischen Konsonanten und werden dementsprechend häufig für englische Fachbegriffe verwendet. Beispiele sind z. B. time, dine und red. Der retroflexe Buchstabe ڼ (Nur bzw. Nnun) ist leicht nasaliert und kommt nicht am Wortanfang vor. Im Ostdialekt wird man gelegentlich für den Buchstaben ڼ (Nur bzw. Nnun) auch den Ausdruck نړ (Nur) finden. Die Besonderheit der Südwestgruppe (Kandahari-Dialekt) ist, dass die retroflexen Buchstaben ږ (Zze) und ښ (Ssin) ihren Ursprung dort haben und dort auch retroflex ausgesprochen werden. Dies verleiht der Südwestgruppe einen weicheren und sanfteren Charakter, wohingegen die Nordostgruppe ښ als خ und ږ als ګ ausspricht und somit einen harschen sowie rauen Charakter erhält. Es gilt einige Besonderheiten zu beachten: Die Kombination نب (nb) wird als mb ausgesprochen, z. B. تنبل (tambal) faul; träge. Bei Wörtern mit arabischem Ursprung wird das ی in der Endstellung als ā ausgesprochen (siehe Alif maqsūra ی). Typographie Das persische Gaf zur Schreibung des g-Lautes wird üblicherweise in einer dem Paschtunischen eigenen Variante verwendet, gelegentlich wird aber die ursprüngliche persische Form beibehalten. Für das Kaf wird statt der persischen Schreibweise oft auch das arabische Zeichen verwendet. Die Buchstaben Lam und Alif werden üblicherweise zur auch im Persischen und Arabischen existierenden Ligatur verbunden. Ein auf ein Lam folgendes Mim wird außerdem durch eine speziell paschtunische Ligatur dargestellt. Die übrigen Ligaturen der arabischen oder persischen Schrift werden jedoch nicht verwendet. Dies verursacht oft Probleme bei der Verwendung von Computerschriften, da diese meist von Nicht-Paschtu-Sprechern auf der Basis von arabischen und persischen Schriften entwickelt werden und persisch-arabische Ligaturen automatisch einfügen. Vokalisation Zur Anzeige von kurzen Vokalen wurde das diakritische System, das im Arabischen im Koran sowie gelegentlich in anderen Zusammenhängen wie in Lehrbüchern und zur Schreibung von Lehnwörtern zur Anwendung kommt, übernommen und um ein viertes Vokalzeichen erweitert. Das sogenannte Zwarakay ist ein waagrechter Strich über dem Buchstaben und kennzeichnet ein kurzes e, das sogenannte Schwa . Die Vokalisierungszeichen werden allerdings im Paschtunischen noch seltener als im Arabischen verwendet. Außerdem werden die ursprünglich Konsonanten repräsentierenden Buchstaben Alif, Wāw und Je sowie das unbehauchte He auch zur Schreibung von Vokallauten verwendet. Afghanische Sprachwissenschaftler bezeichnen sie daher als Hilfsbuchstaben (, imdādi huruf). Angelehnt an die arabische Orthographie repräsentieren Alif, Wāw und Je lange Vokale und Diphthonge, während das He zur Schreibung von kurzen Vokalauslauten verwendet wird, die nicht durch diakritische Zeichen gekennzeichnet werden können. Diese unterschiedliche Schreibung von Kurz- und Langvokalen wird anders als im Arabischen nicht immer einheitlich angewendet. So werden auch kurz ausgesprochene Vokale zunehmend mit Hilfe der Buchstaben Wāw und Je geschrieben. Im Gegensatz zum Wāw und Je ist die Konsonantenfunktion des Alif nur im Schriftbild erkennbar: Ein einfaches Alif am Wortanfang dient als Trägerzeichen ohne eigenen Lautwert für drei der – praktisch nie ausgeschriebenen – Vokalisierungszeichen; das Zwarakay kommt am Wortanfang nicht vor. Außerdem steht es am Wortbeginn als Dummybuchstabe dem Wāw und Je voran, wenn diese lange Vokale repräsentieren. Dieses stumme Alif ist lediglich eine aus dem Arabischen übernommene orthographische Konvention, da der dem Alif im Arabischen und Persischen zugeordnete konsonantische Lautwert des Glottisschlags im Paschtunischen nicht existiert. Ist das Alif am Wortanfang nicht stumm, sondern repräsentiert den langen Vokal ā, so wird es durch ein aufgesetztes Madda gekennzeichnet. Das Alif Madda wird wie im Arabischen als Ligatur aus zwei aufeinanderfolgenden Alifs erklärt. Die Varianten des Je Das paschtunische Alphabet enthält insgesamt fünf Buchstaben, die auf der Form des arabischen Je aufbauen und mit Ausnahme des j-Lautes im Allgemeinen Vokale repräsentieren. Die Vokalintonation im Paschtunischen ist allerdings sehr dialektabhängig, so dass die angegebenen Lautwerte nur Annäherungen an die tatsächliche Aussprache darstellen. Mit dem persischen Alphabet wurde auch die persische Variante des Je ohne die beiden diakritischen Punkte in der Finalstellung übernommen. Die ursprüngliche arabische Form wird ebenfalls verwendet und oft als Sachta Je ( – „hartes Je“) bezeichnet. Dabei übernimmt das einfache persische Je meist eine Konsonantenfunktion mit dem Lautwert [j], während das arabische Je den langen Vokal [i] repräsentiert. Diese Abgrenzung ist jedoch keineswegs einheitlich, oft werden die beiden Formen austauschbar verwendet. In der Initial- und Medialform sind sie ohnehin ununterscheidbar. Drei eigene paschtunische Varianten wurden geschaffen, um die Schreibung der für die paschtunische Grammatik wichtigen Endungen -[e] und -[əy] zu ermöglichen. Das lange [e] wird durch ein Je mit zwei übereinander- statt nebeneinandergesetzten diakritischen Punkten repräsentiert. Dieser Buchstabe wird meist Madschhula Je ( – „unbekanntes Je“) genannt, da er in anderen arabisch-basierten Schriften nicht vorkommt. Daneben wird auch der Begriff Pasta Je ( – „weiches Je“) verwendet, um es von dem das lange i repräsentierenden Sachta Je zu unterscheiden. Die beiden übrigen Formen übernehmen sehr spezielle Funktionen: Ein Je mit einem zusätzlichen nach unten gerichteten Strich wird benutzt, um die Endung [-] bestimmter femininer Nomen zu schreiben. Dieser Buchstabe wird daher Ṣchadzina Je ( – „feminines Je“) genannt. Für die ähnlich ausgesprochene Endung von Verben in der 2. Person Plural wird dagegen für beide Genera ein Je mit aufgesetztem Hamza-Zeichen verwendet, das sogenannte Fe'li Je ( – „verbales Je“). Durch die Hinzufügung der verschiedenen Je-Varianten gibt es in der paschtunischen Schrift deutlich mehr Möglichkeiten zur Ausschreibung von Vokalen als im Arabischen oder Persischen. Dies wird verstärkt durch die Tendenz, das Wāw und das Sachta Je entgegen der traditionellen Orthographie auch zur Schreibung von kurzen Vokalen zu verwenden. Abweichende Schreibweisen der Vokalauslaute In Pakistan, besonders in der Region Peschawar, gibt es gelegentlich Abweichungen in der Schreibung einiger Finalvokale. Diese Schreibungen werden daher manchmal als Peschawar-Orthographie bezeichnet. Zur Schreibung des langen e wird dabei an Stelle des Pasta Je das dem Urdu-Alphabet entlehnte Bari Je () verwendet. Außerdem wird das unbehauchte He in Fällen, in denen es anstelle des Konsonanten h einen kurzen Vokalauslaut repräsentiert, durch ein aufgesetztes Hamza-Zeichen () gekennzeichnet. Seltener werden auch Ṣchadzina Je und Fe'li Je durch ein Bari Je mit aufgesetztem Hamza () ersetzt. Geliehene und elegante Phoneme Zehn der 44 Buchstaben repräsentieren dem Paschtunischen fremde Laute und erscheinen ausschließlich in arabischen oder persischen Lehnwörtern. Sie werden daher arabische Buchstaben (, arabi huruf) oder geliehene Laute genannt, die übrigen 34 Schriftzeichen dagegen als Basislaute (, asli āwāzuna) oder wahre Buchstaben (, sahih huruf) bezeichnet. Viele gebildete Paschtunen versuchen, drei der geliehenen Buchstaben – Ḥe , Fe und Qaf – entsprechend ihrem ursprünglichen Lautwert im Arabischen auszusprechen. Von den meisten Sprechern wird ihr Lautwert aber einfach durch vertraute paschtunische Phoneme substituiert. Diese drei Laute werden daher auch als elegante Phoneme bezeichnet. Die verbleibenden sieben geliehenen Schriftzeichen sind lediglich Allographen und repräsentieren im Paschtunischen keine zusätzlichen Phoneme. Ihre Aussprache erfolgt mit der nächsten paschtunischen Entsprechung des ursprünglichen arabischen Lautwertes. Dies führt zu einer Überrepräsentativität der paschtunischen Schrift. So gibt es je nach Dialekt vier bis sechs Buchstaben mit dem Lautwert [s] und drei oder vier Buchstaben mit dem Lautwert [z]. Der Sprachwissenschaftler Herbert Penzl bezeichnete die gehobene Aussprache der eleganten Phoneme als Hyperurbanismus, als buchstabengetreue Aussprache, die vor dem Hintergrund der niedrigen Alphabetisierung der paschtunischsprachigen Gebiete lediglich die eigene Beherrschung der Schriftsprache hervorheben soll. Häufigkeit der Buchstaben Im Jahr 2007 wurde unter Federführung des afghanischen Kommunikationsministeriums erstmals eine Häufigkeitsanalyse der Buchstaben des paschtunischen Alphabets durchgeführt. Die Genauigkeit der Ergebnisse wurde allerdings beschränkt durch die uneinheitlichen Schreibweisen einzelner Buchstaben sowie den begrenzten und unausgewogenen zur Verfügung stehenden Textkorpus. Der am meisten verwendete Buchstabe des paschtunischen Alphabets ist demnach mit einer relativen Häufigkeit von etwa 12 % das Wāw, gefolgt vom Alif mit etwa 10 %, dem unbehauchte He mit 8,5 % und der arabischen Form des Je mit knapp 8 % relativer Häufigkeit. Fasst man allerdings alle fünf Varianten des Je zusammen, so stellt dieses mit 16,5 % das am häufigsten benutzte Schriftzeichen dar. Mit gut 1 % relativer Häufigkeit ist der meistverwendete rein paschtunische Buchstabe das retroflexe Rre. Die Kontroverse um den Ursprung der modernen Orthographie Die Aussprache des Paschtu ist regional sowie stammesabhängig sehr differenziert, eine Standardvarietät existiert nicht. Doch trotz der Vielfalt sehr unterschiedlicher, bislang nicht vollständig erforschter Dialekte gibt es eine weitgehend einheitliche Orthographie, die das Phoneminventar in der Region Kandahar nachvollzieht: Eine solche Standardorthographie wird dadurch ermöglicht, dass sich die paschtunischen Dialekte kaum morphologisch, sondern lediglich phonetisch unterscheiden. Daher werden die verschiedenen Varietäten zumeist anhand der Aussprache der einzelnen Buchstaben klassifiziert. Umgekehrt wurde versucht, mittels Abgleich der Orthographie mit den verschiedenen Dialekten auf die Entstehungsgeschichte der paschtunischen Schrift zu schließen. Eine herausgehobene Rolle spielen dabei die vier Konsonanten Tse , Dze , Ssin und Zze , deren regionale Lautverschiebung besonders ausgeprägt ist. Die dargestellte Einteilung der Aussprachen in vier grundlegende Dialekte folgt dem Iranisten David Neil MacKenzie und wurde auch von Michael M. T. Henderson und Oktor Skjærvøund vertreten. Die unterschiedlichen Aussprachen des Ssin sind neben dem Fehlen eines standardisierten Transliterationssystems der Grund für die Vielfalt lateinischer Umschriften für das Wort Paschtu (): Die Kandaharis sprechen [], die Einwohner von Quetta unterhalten sich auf [], die im Nordwesten des Sprachgebietes lebenden Paschtunen auf [], während in Peschawar [] gesprochen wird. In nichtwissenschaftlicher Umschrift entsprechen diese Aussprachen so unterschiedlichen Schreibweisen wie Paschto, Pachto, Paxto oder – ans Englische angelehnt – Pukhto. Anhand der Ausspracheverschiebungen der vier Buchstaben lässt sich die Korrespondenz von Schrift und südwestlichem Dialekt nachvollziehen: Während im Kandahari-Dialekt alle vier Buchstaben Laute repräsentieren, die sowohl dem Arabischen als auch dem Persischen fremd sind, werden die den Zeichen in den nordöstlichen Varietäten zugeordneten Phoneme bereits vollständig durch das persisch-arabische Alphabet abgedeckt. Diese Korrespondenz gilt als wichtigster Hinweis auf einen Ursprung der paschtunischen Schrift in der Region Kandahar. Der norwegische Linguist Georg Morgenstierne wendete allerdings ein, dass im 16. Jahrhundert die Differenzierung der Laute auch in den nordöstlichen Dialekten vermutlich noch vorhanden gewesen sei. Neil MacKenzie verwies außerdem auf die abweichende Orthographie des ältesten Paschtu-Dokuments von Bāyazid Ansāri, die sich bis Ende des 17. Jahrhunderts auch in anderen paschtunischen Schriften nachweisen lasse, sowie auf eine Schreibung der Vokale in der modernen Orthographie, insbesondere der Finaldiphthonge, die eher mit der nordöstlichen als der südwestlichen Phonetik korrespondiere. MacKenzie postulierte daher eine bis zum 18. Jahrhundert gesprochene Standardvarietät des Paschtunischen, welche das südwestliche Konsonantensystem mit der Vokalphonetik der nordöstlichen Dialekte verbunden habe. Diese von ihm Standardpaschtu genannte Varietät, aus der sich später die heutigen Dialekte entwickelt haben sollen, vermutet er als Grundlage der paschtunischen Schrift im 17. Jahrhundert. Letztlich konnten Ursprung und Entwicklung der paschtunischen Orthographie jedoch nicht geklärt werden, da historische Quellen in paschtunischer Sprache weder alt genug sind noch in hinreichender Zahl zur Verfügung stehen. Weiterführende Literatur Herbert Penzl: Orthography and Phonemes in Pashto (Afghan). In: Journal of the American Oriental Society. Vol. 74, No. 2, 1954, , S. 74–81. David Neil MacKenzie: The Development of the Pashto Script. In: Shirin Akiner, Nicholas Sims-Williams (Hrsg.): Languages and Scripts of Central Asia. School of Oriental and African Studies, University of London, London 1997, ISBN 0-7286-0272-5, S. 137–143. Einzelnachweise Alphabet Paschtunische Sprache Arabische Schrift Paläografie
4274206
https://de.wikipedia.org/wiki/Weinhaus%20Rheingold
Weinhaus Rheingold
Das Weinhaus Rheingold in Berlin war ein Großrestaurant des Aschinger-Konzerns, in dem bis zu 4000 Gäste gleichzeitig bewirtet werden konnten. Das Gebäude in der Nähe des Potsdamer Platzes wurde im Zweiten Weltkrieg bei alliierten Luftangriffen schwer beschädigt und die Ruine zu Beginn der 1950er Jahre abgetragen. Der nach Plänen des Architekten Bruno Schmitz von 1905 bis 1907 errichtete Stahlskelettbau sollte als Konzerthaus mit angeschlossenen Versammlungsräumen und Weinrestaurant den Einstieg der Firma Aschinger in die gehobene Gastronomie markieren. Um zusätzlichen Verkehr am bereits überlasteten Potsdamer Platz zu vermeiden, wurde die Nutzung allerdings baupolizeilich auf den reinen Gastronomiebetrieb beschränkt. Bereits die schwierigen Bauarbeiten, verbunden mit Grundwasserabsenkungen und aufwendiger Sicherung der Nachbarhäuser, erregten das Interesse der Tagespresse. Über den fertiggestellten Neubau berichtete 1907 die zeitgenössische Architekturpresse beinahe enthusiastisch. Viel Beachtung fand dabei die monumentale Fassade an der Bellevuestraße mit Reliefs des Bildhauers Franz Metzner – vielfach als gleichbedeutend eingestuft mit Alfred Messels Fassade des nahe gelegenen Warenhauses Wertheim am Leipziger Platz. Die luxuriöse Innenausstattung der vierzehn Säle, teils eher exotisch, teils mittelalterlich inspiriert, erzeugte in jedem Raum eine andere Atmosphäre und sollte die Besucher in verschiedenste Welten eintauchen lassen. Wirtschaftlich war der Prestigebau für Aschinger ein Misserfolg. Nach Jahrzehnten mangelnder Rentabilität verkaufte der Konzern schließlich 1943 das schon vorher kriegsbedingt geschlossene Weinhaus an die Deutsche Reichspost. Im selben Jahr erlitt der Komplex schwere Schäden bei den Luftangriffen auf Berlin. Die als wiederaufbaufähig klassifizierte Ruine wurde bereits zu Beginn der 1950er Jahre abgetragen. Das Areal des ehemaligen Weinhauses Rheingold teilen sich heute nach der Wiederbebauung des Potsdamer Platzes im Wesentlichen der Bahntower, die umgelegte Potsdamer Straße und der Kollhoff-Tower. Die Aschingers – Bauherren mit Visionen Das 1892 von den Brüdern Carl und August Aschinger gegründete Unternehmen Aschinger’s Bierquelle firmierte seit 1900 unter Aschinger’s Bierquelle AG als Aktiengesellschaft in Familienbesitz mit einem Grundkapital von drei Millionen Mark. Groß geworden und erfolgreich mit ihren „Bierquellen“ – Stehbierhallen mit preisgünstigen Mahlzeiten –, suchten die Aschingers ab 1905 den Einstieg in die gehobenere Gastronomie. Auch die Umbenennung der Gesellschaft im Dezember 1906 zu Aschinger’s Aktien-Gesellschaft illustriert das Bemühen, das billige Bierquellen-Image loszuwerden und neue Geschäftsfelder zu erschließen. Mit dem Erwerb des alten Hotels Fürstenhof am Potsdamer Platz war ein erster Schritt zu dieser Expansion getan. Nach einem Architekturwettbewerb 1905 entstand anstelle des Vorgängerbaues unter Einbeziehung bereits früher erworbener Nachbargrundstücke von 1906 bis November 1907 ein markanter Neubau mit luxuriöser Ausstattung. Ein Konzerthaus mit angegliederten Versammlungssälen und Restaurant sollte die Expansion ergänzen. Das Unternehmen erwarb 1905 dazu ebenfalls in der Nähe des Potsdamer Platzes mehrere verbundene Grundstücke an der Bellevuestraße und in der Potsdamer Straße. Für die Planungen konnten die Firmeninhaber den Architekten Bruno Schmitz gewinnen, der vor allem für seine Denkmäler wie das Kyffhäuserdenkmal oder das Deutsche Eck bekannt war. Mit dem städtischen Festsaal Rosengarten in Mannheim hatte er bereits 1903 eine verwandte Bauaufgabe gelöst. Seinen Namen erhielt das für Berlin geplante Konzerthaus nach Richard Wagners Oper Das Rheingold, dem ersten Teil des Zyklus Der Ring des Nibelungen. Die ursprünglichen Absichten der Bauherren und des Architekten überlieferte der Architekturkritiker Hans Schliepmann in der Zeitschrift Berliner Architekturwelt: Geplant war „ein Saalbau für vornehmste Konzertaufführungen“, eine „Art ‚Loge‘ für die wahrhaft Höchststehenden der Berliner Gesellschaft“. Die großen Erwartungen der Bauherren schilderte Maximilian Rapsilber in der Zeitschrift Der Profanbau: „[…] in der Erwägung, daß in Berlin der große Erfolg nur durch ein wahrhaft großstilisiertes Unternehmen herbeigezaubert wird“, forderte er, „naiv ausgedrückt, das allerschönste Haus von Berlin als sein Eigen, koste es, was es wolle.“ Lage Die Gegend um den Potsdamer Platz wechselte in der Entwicklung Berlins von der Residenz- zur Großstadt innerhalb weniger Jahrzehnte mehrmals ihren Charakter. Eine vorstädtische Bebauung verdrängte ab den 1820er Jahren die bisherigen Landhäuser. Diese wich bereits zwischen 1850 und 1870 vornehmen Mietshäusern und Villen, als der Potsdamer Platz mit seinen Nebenstraßen zum bevorzugten Wohngebiet wohlhabender Berliner wurde. Die zentrumsnahe Lage in der Nähe des Regierungsviertels an der Wilhelmstraße und des Potsdamer Bahnhofs steigerte die Attraktivität des Viertels nach der Reichsgründung von 1871, führte aber auch zur Verdrängung von Wohnraum durch Büro- und Verwaltungsbauten sowie Hotels und Restaurants. Viele dieser Bauten entstanden zwischen den 1890er-Jahren und dem Ersten Weltkrieg. Für den Bau des Weinhauses Rheingold erwarb die Firma Aschinger 1905 die nur wenige Meter vom Potsdamer Platz entfernt gelegenen Grundstücke Bellevuestraße 19, 19a sowie Potsdamer Straße 3. Seit der Umnummerierung der Potsdamer Straße 1938 trägt die Parzelle die Nummer 8 und liegt heute, nach der Umlegung der Potsdamer Straße, an der Alten Potsdamer Straße. Auf den angrenzenden Grundstücken Bellevuestraße 17–18a entstand wenig später mit dem Grand Hôtel Esplanade ein weiteres Großhotel. Die drei Parzellen ergaben zusammen eine Fläche von 5044,67 Quadratmetern. Als Folge der kleinteiligen Parzellierung war das Grundstück schlecht geschnitten und verwinkelt, nur die 54 Meter breite Front an der Bellevuestraße erlaubte eine repräsentative Fassadengestaltung, die Straßenfront an der Potsdamer Straße war mit 21 Metern hierzu ungeeignet. Trotzdem zahlte Aschinger einen beträchtlichen Kaufpreis von insgesamt vier Millionen Mark. Das Grundstück an der Potsdamer Straße war mit einem fünfgeschossigen Mehrfamilienwohnhaus bebaut, während die Parzellen an der Bellevuestraße mit dem „Wohnhaus Anker“ des Architekten Christian August Hahnemann und mit dem durch den gleichen Architekten umgebauten Wohnhaus Bellevuestraße 19 noch die typische Bebauung der 1850er Jahre zeigte. Nutzungsänderung wegen baupolizeilicher Bedenken Das im hohen Kaufpreis des Grundstückes gebundene Kapital sollte schnell Rendite abwerfen und die Bauzeit für den Neubau demzufolge möglichst kurz sein. Um den Bau zu beschleunigen, reichte der Bauherr zwei Vorprojekte ein, die von der Baupolizei innerhalb von drei bis vier Wochen genehmigt wurden. Die Genehmigung des Projektes selber dauerte „trotz des größten und liebenswürdigsten Entgegenkommens von allen zuständigen Behörden“ neun Monate. Ein noch während der Prüfungszeit des Projektes eingereichter Nachtrag erforderte nochmals neun Monate – Zustände, die nach Meinung der Zeitschrift Der Profanbau die Reformbedürftigkeit der Berliner Baupolizei-Ordnung aufzeigten. Die Genehmigung war für die Firma Aschinger mit einer schweren Auflage verbunden. Die Baupolizei befürchtete durch das geplante Konzerthaus eine weitere Erhöhung des Verkehrs am sowieso bereits überlasteten Potsdamer Platz. Verschärfend kam hinzu, dass sich mit dem Künstlerhaus des Vereins Berliner Künstler in der Bellevuestraße 3 gleich gegenüber dem geplanten Konzerthaus bereits ein Veranstaltungslokal befand. So erlaubte die Baupolizei nur die Nutzung als Restaurant. Die Auflage betraf hauptsächlich den als Konzerthaus vorgesehenen Flügel an der Bellevuestraße. Für größere Änderungen waren die Planungen aber bereits zu weit fortgeschritten und die ursprüngliche Konzeption des Rheingold blieb weitgehend erhalten, auch wenn nun der Konzerthausteil ebenfalls gastronomisch genutzt werden musste. Zudem ließ die seinerzeit geplante Verlängerung der Voßstraße bis zum Tiergarten neben dem Bauherrn auch einige Architekturkritiker hoffen, dass durch die Entlastung des Potsdamer Platzes die Nutzungsbeschränkung hinfällig würde und dass das Haus doch noch ganz seiner ursprünglichen Bestimmung dienen könnte. Bauphase Die Bauarbeiten begannen Mitte November 1905 mit den Abbruch- und Aushubarbeiten an der Bellevuestraße, gefolgt von der Herstellung der Fundamente. Bereits im Februar 1906 konnten dort die Maurerarbeiten beginnen. Gleichzeitig erfolgten die Gründungsarbeiten auf dem Grundstück an der Potsdamer Straße 3, wo zusätzlich die Maschinenfundamente für die hauseigene Kraftanlage gelegt werden mussten. Diese Arbeiten waren im Mai 1906 abgeschlossen. Die Fundierung, wie die Erdarbeiten ausgeführt von der Bauunternehmung Wayss & Freytag, waren wegen der erforderlichen Absenkung des Grundwasserspiegels und der eingebauten Lage des Grundstückes schwierig und verschlangen nahezu 500.000 Mark. Zuerst erfolgte der Aushub der Baugrube bis auf die Höhe des Grundwasserspiegels in ungefähr 3,1 Metern Tiefe. 65 im Abstand von fünf Metern nach allen Seiten gebohrte vierzöllige (ca. 10 cm) Saugbrunnen, die 7,5 Meter tief von der Baugrubensohle ins Erdreich reichten, fassten das aufsteigende Grundwasser. Das auf der Ebene des Grundwasserspiegels gelegene Hauptsammelrohr mit 250 Millimetern Durchmesser war über horizontale Rohrstränge einerseits mit den Brunnen und andererseits mit der elektrisch betriebenen Zentrifugalpumpe verbunden. Diese saugte das Grundwasser aus den Brunnen in das Hauptsammelrohr und hob es auf Straßenniveau, wo es in die städtische Kanalisation abfloss. Die Senkung des Grundwasserspiegels erfolgte in zwei Stufen: zuerst um 3,20 Meter für das Anlegen der normalen Kellerfundamente und dann um 4,60 Meter für die Maschinenfundamente. Der abgesenkte Spiegel beinhaltete eine Sicherheitsreserve von etwa 90 Zentimetern, damit bei einem Pumpenausfall die Baustelle nicht sofort geflutet wurde. Trotzdem setzte das Versagen der Pumpe die Baustelle mehrmals unter Wasser, was insgesamt zu einem Ausfall von sieben Arbeitstagen führte. Die Anlage zur Senkung des Grundwasserspiegels blieb sieben Monate in Betrieb, bis die Betonplatte des Fundamentes mit den Umfassungswänden einen dem Grundwasserauftrieb entsprechenden Gegendruck ausübte. Das umbaute Grundstück erforderte Sicherungen an benachbarten Gebäuden in Form von Absteifungen der Giebel und der Unterfahrung von Fundamenten der Nachbarhäuser. Setzungen und Risse auch als Folge der Grundwasserabsenkung ließen sich aber trotzdem nicht ganz vermeiden. Die Tagespresse berichtete darüber in Sensationsartikeln als „Häusereinsturz am Potsdamer Platz“. Der schwerwiegendste Zwischenfall, bei dem im Seitenflügel des Hauses Potsdamer Straße 4 der Kellerfußboden riss, führte zur polizeilichen Sperrung des Hauses wegen Einsturzgefahr. Erst nach zusätzlichen Sicherungen konnten die Bauarbeiten fortgesetzt werden. Der Hausbesitzer erhielt eine Entschädigung von 30.000 Mark für die Schäden, ließ das Haus aber kurz danach abreißen, um das Grundstück, wie wohl seit längerem bereits geplant, neu zu bebauen. Spezielle Vorkehrungen auf dem Baugrundstück selber erforderte das Haus an der Potsdamer Straße 3. Die Mieter, darunter eine Filiale der Annoncen-Expedition des Berliner Lokal-Anzeigers, hatten noch lange laufende Mietverträge, wofür sie entsprechend hohe Abstandssummen verlangten. Schließlich gelang es der Firma Aschinger, sich mit den Mietern von Keller, Erdgeschoss und erstem Obergeschoss des Hauses zu einigen, was den Teilabbruch des alten Hauses ermöglichte. Der alte Seitenflügel und der westliche Teil des Hauses bis zum zweiten Obergeschoss wurden schrittweise abgebrochen, während gleichzeitig der Neubau in die Höhe wuchs. Über der komplizierten Baustelle schwebten die oberen Geschosse des alten Hauses, verstärkt durch Zuganker, Fenster- und Türversteifungen und getragen von zahlreichen Abstützungen. Der gedrängte Zeitplan erforderte oft die Arbeit in Nachtschichten. Auch mit Arbeitsniederlegungen hatte die Bauleitung zu kämpfen. Gleich zu Beginn legte ein Streik der Maurer alle Bauarbeiten still, und acht Wochen vor der geplanten Eröffnung legten die Marmorarbeiter die Arbeit nieder. Sie forderten 25 Prozent mehr Lohn und den Verzicht auf Nachtschichten – wohlwissend, dass die rechtzeitige Vollendung des Baus hauptsächlich von ihnen abhing. Die ausführende Firma ließ schließlich Arbeiter aus ihren belgischen Werken kommen, um die Arbeiten abzuschließen. Trotz aller Widrigkeiten war der Rohbau im Juli 1906 vollendet, und bereits Anfang Februar 1907 war der Bau abgeschlossen. Die Eröffnung sollte ursprünglich am 27. Januar, dem Geburtstag Kaiser Wilhelms II., stattfinden, erfolgte aber verspätet erst am 6. Februar 1907. Die zeitgenössische Architekturpresse würdigte die kurze Bauzeit von  Monaten als Rekord angesichts der schwierigen Gründungsarbeiten und der reichen Innenausstattung. Die aufgelaufenen Baukosten von etwa 4,5 Millionen Mark (kaufkraftbereinigt in heutiger Währung: rund  Millionen Euro) überstiegen die anfänglich kalkulierten von 3,5 Millionen Mark erheblich. Ursachen der Kostensteigerung waren Planungsänderungen und der Innenausbau mit „edelsten Baumaterialien“, der teurer war als geplant. Die für einen privaten Bauherrn beträchtlichen Baukosten illustriert der Vergleich mit den Baukosten von vier Millionen Mark für das 1897 fertiggestellte Kaiser-Wilhelm-Nationaldenkmal und von sieben Millionen Mark für das 1911 fertiggestellte Alte Stadthaus in Berlin. Die Deutsche Bauzeitung errechnete Kosten von 560 Mark pro Quadratmeter für Rohbau einschließlich Gründung und 940 Mark für den Innenausbau. Der Kubikmeter umbauten Raumes kostete total 55,60 Mark, wovon 20,80 Mark auf den Rohbau einschließlich Gründung und 34,80 Mark auf den Innenausbau entfielen. Baubeschreibung Bruno Schmitz gliederte die Baumassen in drei Flügel. Der Saalbau des geplanten Konzerthauses als größter der drei erstreckte sich entlang der Bellevuestraße und schloss lückenlos an die Bebauung der Nachbargrundstücke an. Der Gastronomietrakt an der Potsdamer Straße durchstieß in den unteren Etagen das bestehende Vorderhaus. Im rechten Winkel zur Potsdamer Straße folgte er zunächst der südwestlichen Grundstücksgrenze und reichte bis zur anstoßenden Parzelle des Grand Hôtels Esplanade. Der Verbindungstrakt, ebenfalls gastronomisch genutzt, verband die beiden anderen Flügel. Rechtwinklig von der Mittelachse des Saalbaues ausgehend traf er schiefwinklig auf den Flügel an der Potsdamer Straße, wobei eine Rotunde geschickt zwischen den verschiedenen Achsen vermittelte. Die Höfe auf den Restflächen des unregelmäßig geschnittenen Grundstückes dienten teils aufwendiger gestaltet im Sommer als Erweiterung der Restaurants, teils als reine Wirtschaftshöfe. Die Vorschrift der Baupolizei, gemäß der die Höfe über eine Zufahrt verfügen mussten, und der Wunsch des Bauherrn nach möglichst durchgängigen Geschossen von der Bellevuestraße zur Potsdamer Straße bestimmten die horizontale Gliederung des Gebäudekomplexes. Da die repräsentative Fassade an der Bellevuestraße nicht durch eine Durchfahrt gestört werden sollte, mussten alle Höfe von der Potsdamer Straße her erschlossen werden. Die dazu notwendigen Durchfahrten erforderten die zweimalige Querung des Verbindungsbaues und hätten ein durchgängiges Erdgeschoss verhindert. Schmitz fand die Lösung darin, dass er einerseits das Niveau der beiden zu erschließenden Höfe gegenüber dem Straßenniveau um ein halbes Geschoss absenkte und andererseits das Niveau des Erdgeschosses im Verbindungsflügel und im hinteren Teil des Flügels an der Potsdamer Straße ein halbes Geschoss anhob. So ließen sich nicht nur die Durchfahrten problemlos durchführen – unter den angehobenen Sälen des Erdgeschosses fanden zusätzliche Räume Platz. Treppenanlagen im Inneren vermittelten zwischen den verschiedenen Ebenen und ließen interessante Durchgangsräume wie den „Roten Saal“ entstehen. Zusammen mit den eigentlichen Treppenanlagen erlaubten sie den Besuchern, die abwechslungsreich gestalteten Raumfolgen im Erd-, Saal- und Emporengeschoss auf vielfältige Art zu durchlaufen. Der vier- bis fünfgeschossige Stahlskelettbau versprach mit seiner fortschrittlichen Fassade an der Bellevuestraße eine dementsprechend moderne Innengestaltung. Diese erfolgte jedoch nach eher konservativen, dekorationsbetonten Gesichtspunkten. Ihre Motive fand sie hauptsächlich in der namensgebenden Oper Rheingold und den weiteren Opern aus Wagners Tetralogie, integrierte aber auch mittelalterliche und exotische Dekorationen sowie weitere Sagen zu einer eigenartigen Verschmelzung mythischer und nationaler Symbolik mit Jugendstil-Elementen. Die teuren und edlen Baumaterialien, seltene Marmorsorten und Edelhölzer, erzeugten die dem „allerschönsten Haus Berlins“ angemessene luxuriöse Atmosphäre. Selbst für die Arbeiten legte die Firma Aschinger viel Wert auf Prestige – unter den ausführenden Firmen finden sich auffallend viele Hoflieferanten, vielfach beteiligt am Umbau des Berliner Stadtschlosses unter Wilhelm II. Der Saalbau an der Bellevuestraße Fassade an der Bellevuestraße Zwei risalitartige, gegen die Bauflucht um 3,5 Meter vortretende, 5,3 Meter breite Portalvorbauten fassten die fünfachsige Hauptfassade an der Bellevuestraße ein. Ihr im Wesentlichen halbkreisförmiger Grundriss war an der Schauseite durch konkave Einbuchtungen gebrochen. Im Erdgeschoss führten die mit Dreiecksgiebeln überdeckten Portale von der Terrasse in die Pfeilerhalle des Saalbaues. In den oberen zwei Geschossen erhellten mit steinernen Pfosten unterteilte Fenster die dahinterliegenden Treppenhäuser. Ein glockenförmiges Haubendach aus Kupfer schloss die Risalite unterhalb des Hauptgesims ab. Kräftige und glatte Wandpfeiler, wie die übrige Werksteinfassade aus fränkischem Muschelkalk, gliederten die 53,21 Meter lange Front vertikal. Die Horizontale betonten ein schmaleres, ein Meter breites Gurtgesims über dem Erdgeschoss und ein mit 1,2 Meter etwas breiteres Gurtgesims über dem Zwischengeschoss. Die in der Mitte des oberen Sims mit vergoldeten Metallbuchstaben angebrachte Inschrift „WEINHAUS RHEINGOLD“ warb dezent für das Lokal. An diesen Simsen ließ sich die innere Teilung des Saalbaus in Erdgeschoss, Garderobengeschoss und Saalgeschoss von außen ablesen. Die das Hauptgesims segmentförmig durchbrechenden Rundbogen über den durchgehenden, mit Pfosten unterteilten großen Fenstern des Saalgeschosses bezeichnete der Architekturkritiker Hans Schliepmann als „wirkungsvollstes Moment der Fassadengestaltung“. Anstoß zu dieser Lösung gab die baupolizeilich vorgeschriebene Höhe der Gebäudefront an der Bellevuestraße, die Bruno Schmitz zwang, die Deckenwölbung des geplanten Konzertsaales in das Dachgeschoss zu verlegen. So konnte er das Hauptgesims in Übereinstimmung mit den Vorschriften bringen und nur die Rundbogen der Fenster endeten darüber. Darüber folgte das ursprünglich mit Kupfer gedeckte Dach. Vermutlich verschwand das „eigenartig gestaltete und notwendig zum Gesamteindruck gehörige“ Kupferdach bereits wenige Jahre nach Vollendung des Baus als Metallspende während des Ersten Weltkriegs. Aufnahmen aus den 1920er Jahren zeigen das neu mit Ziegeln eingedeckte Dach mit dem aus weißen Ziegeln eingelegten großformatigen Schriftzug „WEINHAUS RHEINGOLD“. Das gleiche Motiv mit den das Hauptgesims durchbrechenden Rundbogenfenstern verwendete Schmitz 1910 ein zweites Mal bei seinem Wettbewerbsentwurf für das Reißmuseum in Mannheim. Die monumentale Wucht der tektonischen Urformen der Wandpfeiler und Gesimse erforderte passende Bauplastik. Die acht Hochrelieftafeln mit allegorischen Darstellungen wie Eitelkeit, Kunst, Musik oder Schönheit zwischen den 3,0 Meter breiten Fenstern des Saalgeschosses und links und rechts der Portalvorbauten schuf der Bildhauer Franz Metzner, mit dem Bruno Schmitz bereits beim Völkerschlachtdenkmal in Leipzig zusammenarbeitete. Die allegorische Bedeutung scheint aber eher vorgeschoben. Hans Schliepmann sieht in der Zeitschrift Deutsche Kunst und Dekoration in den „atlantenartigen Figuren in den genannten Relieffüllungen lediglich Ausdruck strotzender Kraft des Tragens, Gegenstemmens“, der Künstler wolle „den Konflikt zwischen Stütze und Last durch das Körperliche, durch Muskelspiel zum Ausdruck bringen“. Einige Jahre später, im Sonderheft der Berliner Architekturwelt zum 55. Geburtstag von Bruno Schmitz 1913, betonte er nochmals die Bedeutung der Rheingoldfassade, an der zum ersten Mal ein „neues Schmuckmotiv, die rein dekorative Verwendung menschlicher Formen“ vor das Publikum getreten sei und prägte dafür den Begriff „Muskelornament“. Als Konsequenz der Nutzungseinschränkung zum reinen Gastronomiebetrieb fiel die Terrasse gegenüber den ursprünglichen Entwürfen wesentlich größer aus. Insbesondere die nachträglich angebrachten Zeltdächer – bereits in der Zeichnung der Fassade eingezeichnet – beeinträchtigen die Ansicht der Front in der engen Bellevuestraße. Pfeilersaal Der Pfeilersaal umfasste mit gegen 700 m² Fläche den Großteil des Erdgeschosses. Der erste Raum im Erdgeschoss des Saalbaues nahm die Besuchergarderobe auf und stellte die Erschließung der weiteren Räume des Weinhauses Rheingold sicher. Bei den beiden Haupteingängen an der Bellevuestraße an den Kopfenden des Saales schlossen ihn zwei symmetrische dreiarmige Treppenanlagen ein, die zu den oberen Räumen des Weinhauses führten und den Raum auf ungefähr halber Höhe um zwei Galerien erweiterten. In der Mitte des Saales führten Treppenanlagen zu den Räumen des Verbindungsbaues. Vier Pfeilerreihen gliederten den mit 5,2 Metern im Vergleich zur Fläche nur mäßig hohen Raum in ein breiteres Mittelschiff und je zwei schmalere Seitenschiffe. Die Pfeiler waren Teil eines den ganzen Bau an der Bellevuestraße durchziehenden Pfeilersystems, das den Boden des Kaisersaales im Saalgeschoss stützte. Zwischen den äußeren Pfeilerreihen und den Außenwänden trennten 3,2 Meter hohe Holzpaneele kojenartige Bereiche ab. Pfeiler und Wände bekleidete tiefbraunes Palisanderholz, stellenweise mit schmückenden Einlagen anderer exotischer Hölzer. Diese Kunsttischlerarbeiten lieferte die Firma Kimbel & Friederichsen, Hoflieferant des Kaisers. Die „meisterlichen Schnitzereien“ in den Kojenwänden, die „bacchische Motive enthalten“, wie auch die Bronzereliefs an den Pfeilern schuf der Bildhauer Hermann Feuerhahn. Vom tiefen Braun des Holzes hob sich die hellgrau getupfte Putzdecke wirkungsvoll ab. Die großen Fenster gegen die Terrasse erhellten den Raum und ließen sich im Sommer im Boden versenken. Bei Dunkelheit erzeugten Wandleuchter in Kerzenform und Glühlampenreihen an der Decke „eine verschwenderische Lichtflut“. Garderobenvestibül Der darüber liegende Saal im Garderobengeschoss nahm mit Ausnahme der Treppen und der von den Treppenhäusern zugänglichen Toilettenanlagen wiederum das gesamte Stockwerk ein. In den ursprünglichen Planungen sollte der Raum als Foyer die Garderobe für die Konzertbesucher aufnehmen, konnte die gleiche Funktion aber auch für Bankette im auf dem gleichen Geschoss liegenden großen Bankettsaal wahrnehmen. Nach der Planungsänderung richtete Aschinger darin ein Café und eine Americain Bar ein. Der riesige Raum erhielt wegen seines in den ursprünglichen Planungen eher untergeordneten Zweckes lediglich eine Höhe von 2,80 Metern. Wie den Pfeilersaal strukturierten vier Reihen Pfeiler den Raum, die den Boden des Kaisersaales stützten. Griechischer Cipolline-Marmor mit Skyrosmarmor-Einlagen verkleidete die Pfeiler und Marmorfliesen bedeckten den Boden. An den Kopfenden des riesigen Raumes endeten die vom Pfeilersaal kommenden Marmortreppen. Sie fanden ihre Fortsetzung in vier einläufigen Treppen an den Längsseiten, die unter den Seitenemporen des Kaisersaales endeten. Kaisersaal Im Saalgeschoss – 9,45 Meter über dem Niveau der Bellevuestraße – lag der „Kaisersaal“, der „krönender Teil der gesamten Bauanlage“ war. Der mit 17,46 Metern Breite und 35,0 Metern Länge größte Raum des Hauses war ursprünglich für Konzerte und Veranstaltungen geplant. Nach der durch die Baupolizei aufgezwungenen Konzeptänderung diente er als Restaurant mit über 1000 Plätzen. Ein durch große, flache Kassetten und Gurtungen aus vergoldetem Stuck gegliedertes Tonnengewölbe überspannte in Längsrichtung den ungefähr 11,2 Meter hohen Saal und ragte weit in die Stahlkonstruktion des Dachstuhles. Im Hinblick auf die Nutzung als Konzertsaal hatte Bruno Schmitz eine doppelte Konstruktion gewählt. Hinter der sichtbaren inneren Schale aus Drahtputz verbarg sich eine äußere, feuerfeste gemauerte Schale. Zahlreiche Öffnungen in der inneren Decke ließen den Schall in den Hohlraum zwischen den Decken eintreten, der so als Resonanzkörper dienen sollte. Durch die gleichen Öffnungen trat auch die Abluft aus. Zwei Reihen mit je fünf großen Leuchtern aus Metall und farbigem Kristallglas in mittelalterlichen Formen hingen von der Decke. Die Gewölbe über den Rundbogenfenstern waren nicht wie üblich als Stichkappen in das Hauptgewölbe eingeschnitten. Nur die Gurtungen des Tonnengewölbes setzten sich fort zu den Pfeilern, während die Wandflächen über den eingeschnittenen Gewölben senkrecht hochgeführt und waagrecht eingedeckt wurden. Die Wandflächen gestaltete Schmitz mit ausdrucksvollen Schlusssteinen, flankiert von je zwei Zwickelmedaillons mit Ritterfiguren – beide entworfen von Franz Metzner. Im Saalgeschoss umgab ein Umgang den „Kaisersaal“ auf allen vier Seiten. An den Längsseiten mündeten darin die Treppen vom Garderobenvestibül sowie die Treppenhäuser an der Front- und Hofseite. Die tieferen Schmalseiten nahmen zusätzlich Nebenräume wie Toilettenanlagen oder die Buffets für das Restaurant auf. Im 3,65 Meter höher gelegenen Emporengeschoss erweiterte sich der Kaisersaal an den Längsseiten um diese Flächen, während die Empore etwa einen Meter in den Saal vorkragte. Die goldfarbene Brüstung der Empore gliederten als Baluster vorgesetzte bronzene Ritterfiguren. An den beiden Schmalseiten schlossen sich zwei von einem Tonnengewölbe überwölbte Nischen an, die auf der Höhe des Dachgeschosses eine Orchesterloge aufnahmen. Die Goldmosaiken in den Orchesternischen mit den vier riesigen Wappenadlern lieferte die Firma Puhl & Wagner aus Berlin-Neukölln. Gegen die Hofseite fanden zwei Nebenräume Platz. Ihre Entsprechungen im Dachgeschoss dienten passend zu den benachbarten Orchesterlogen zur Aufbewahrung der Instrumente. Vier Kaiserfiguren – Karl der Große und Otto der Große sowie Barbarossa und Wilhelm I. – rahmten auf Konsolen die östliche und westliche Nische. Die Figuren, weitere Werke Franz Metzners, ausgeführt von G. Knodt in Frankfurt, markierten für die Zeitschrift Der Profanbau wiederum „die äußerste Grenze eines künstlerischen Wagnisses, ohne sie indessen zu überschreiten“. Und weiter: „Es sieht so aus, als ob die Leichen Karls und Ottos des Großen, Friedrich Barbarossas und Kaiser Wilhelms aus den Sarkophagen hervorgeholt und da oben an die Wand genagelt wären.“ Als einer der wenigen Räume des Hauses erhielt der Raum einen Parkettboden. Die unteren Wandflächen bedeckten große Platten aus geflammtem, gelblich-bräunlichem Faune-de-Sienne-Marmor, unterbrochen durch die hochrechteckigen Gitter der Lufteinströmungsöffnungen aus getriebener Bronze. Die oberen Wandflächen bekleideten Platten aus gräulichem Napoleon-Marmor, der seinen Namen nach dem grauen Mantel Napoleons erhielt. Die prägenden Materialien Marmor, vergoldeter Stuck und Bronze führten zu einer „wahrhaft gigantische[n] oder majestätische[n] Raumwirkung“ mit einer „feierliche[n] und mystisch getönte[n] Erhabenheit“. Die Deutsche Bauzeitung sprach von „eine[r] der bedeutendsten Saalschöpfungen der neueren Zeit“ und schloss in den Vergleich ausdrücklich den zwischen 1892 und 1902 mit Unterbrechungen durch den Architekten Ernst von Ihne umgebauten „Weißen Saal“ des Berliner Stadtschlosses mit ein. Aschingers Prestigeobjekt konnte es demnach also durchaus mit der Pracht des Residenzschlosses des Kaisers aufnehmen. Gebäudeflügel an der Potsdamer Straße Fassade an der Potsdamer Straße Im Gegensatz zur Bellevuestraße hatte Bruno Schmitz für die Fassade an der Potsdamer Straße nur eingeschränkte Gestaltungsmöglichkeiten, da das alte Haus wegen der Mieter nur teilweise abgebrochen werden konnte. Die Neugestaltung beschränkte sich so auf den Neubaubereich, also den unteren linken Teil der Fassade bis zum zweiten Obergeschoss und den Bereich über der Durchfahrt zum Hof. Den Fassadenteil des Weinhauses setzte Schmitz durch aufwendige und farbige Materialien wie Bronze, Kupfer und Marmor ab von der eher neutralen bestehenden Fassade mit ihren aufgereihten Fenstern und schlichtem Verputz. Elf Meter hohe, mit grün geflammtem weißen Marmor verkleidete Pfeiler rahmten den Eingang zum Weinhaus Rheingold und die Durchfahrt. Den Marmor für die vom Erdgeschoss bis zum zweiten Obergeschoss durchgehenden Pfeiler lieferte die Aktiengesellschaft für Marmorindustrie Kiefer in Berlin. Darüber warb auf einem ungefähr 1,1 Meter breiten Gesims die über die gesamte Länge der Fassade von 22,5 Meter gehende kupferne Inschrift „RHEINGOLD“ für das Restaurant. Die Fläche zwischen den Pfeilern löste Bruno Schmitz in große Fenster mit Bronzerahmen und engen Sprossen auf, über dem Eingang erkerartig vortretend. Neuartig für Berlin war die Doppelfahrstuhlanlage, die links und rechts vor dem vertieften Eingang die Gäste direkt in das zweite Obergeschoss beförderte. Die Architekturkritiker und Journalisten betrachteten diese Fassade 1907 als provisorisch und aus der Not geboren. Hans Schliepmann verteidigt den Architekten sogar mit den Worten: „Auch ein Gott hätte aus einem solchen Haus, an dem die abscheulichsten Firmenschilder noch jahrelang zu kreischen ein leider nur zu wohlverbrieftes Recht haben, kein Kunstwerk gestalten können.“ Ein Umbau ist später aber nie erfolgt, sicher auch als Folge des ausbleibenden wirtschaftlichen Erfolgs. Äußerlich unterschied sich diese Fassade jedenfalls wenig von den zahlreichen Umbauten nach der Jahrhundertwende, wo alte Häuser für Geschäfte in den unteren Geschossen moderne Fassaden erhielten, auch wenn sich in diesem Fall hinter der Fassade tatsächlich ein Neubau verbarg. Der Architekturhistoriker Julius Posener sieht denn auch Parallelen zwischen dieser Fassade an der Potsdamer Straße und der 1906 vom österreichischen Architekten Josef Hoffmann und Koloman Moser gestalteten Fassade des Geschäftslokales der Bugholzfirma Jacob & Josef Kohn an der Leipziger Straße 40. Muschelsaal Der Muschelsaal lag 2,20 Meter unter dem Niveau der Potsdamer Straße. Der 7,65 Meter breite und 17,28 Meter lange Saal lag im hinteren Teil des Traktes. Die Besucher erreichten ihn über eine breite, mit Goldmosaiken eingefasste Treppe aus dem Galeriesaal oder über die Durchfahrt, die zum „Steinsaal“ im Verbindungstrakt überleitete. Der Lage in den Fundamenten des Gebäudes entsprechend wählte Bruno Schmitz schwere Bauformen. Ein großes, unmittelbar über dem von der Firma Johann Odorico gelieferten Marmormosaik-Fußboden ansetzendes Tonnengewölbe überspannte den Raum in Längsrichtung und erreichte im Scheitel eine Höhe von ungefähr 3,7 Metern. Die sich seitlich in das Gewölbe einschneidenden Zungenmauern und Fenster entlarvten das schwere Gewölbe aber als Drahtputzkonstruktion. Die Fenster ließen sich vollständig im Boden versenken und erweiterten den Saal bei warmem Wetter auf den künstlerisch gestalteten Hof. Ein schlichter kleiner Wandbrunnen aus poliertem Kalkstein an der abschließenden hinteren Querwand war der einzige bildhauerische Schmuck des Raumes. Dahinter befanden sich noch eine Damen-Toilette und ein Nebentreppenhaus. Seinen Namen erhielt der Saal nach den Muscheln, die zusammen mit grünlich und braunrot schimmernden Glasplättchen Gewölbe und Wände bekleideten. Diese Inkrustationen führte die in München ansässige Firma C. Ule aus, die Treppenstufen und die Marmorsockel der Wände lieferte die Aktiengesellschaft für Marmorindustrie Kiefer in Berlin. Das unmittelbar aus dem Boden aufsteigende Tonnengewölbe mit den Inkrustationen erinnerte die Kritiker an eine Grotte eines Lustschlosses aus dem 17. oder 18. Jahrhundert, aber die Schwere der Architektur auch an eine Krypta oder ein Verlies. Die „kühlgoldige Funkelpracht, herrührend von den farbigen Glasflüssen“ mit ihrem „Märchenzauber“ ließen sich auch mit „Gnomenkönigs Thronsaal“ aus Peer Gynt assoziieren. Vestibül an der Potsdamer Straße Das Vestibül erstreckte sich über alle drei durch das Weinhaus genutzte Geschosse im Vorderhaus an der Potsdamer Straße. Den Besuchern bot es mehrere Möglichkeiten in die Säle des Weinhauses zu gelangen. Neuartig in Berlin war die bereits bei der Beschreibung der Fassade erwähnte Doppel-Fahrstuhlanlage, geliefert von der Maschinenfabrik Carl Flohr in Berlin, die die Gäste direkt von der Straße in die beiden oberen Geschosse beförderte. Betraten die Besucher das Haus durch die Drehtür, erschloss eine elegant geschwungene Treppenanlage die oberen Geschosse. Ein Mosaikboden bedeckte den Fußboden im Erdgeschoss, Wände und Treppe waren mit Nussholz verkleidet und durch helleres Holz in Quadrate gegliedert. Galeriesaal Der erste Restaurationsraum, den die Besucher von der Potsdamer Straße her betraten, war der „Galeriesaal“ im Erdgeschoss. Seiner Bedeutung als Eingangsraum entsprechend reichte der 7,92 Meter breite und 19 Meter lange Saal mit einer Höhe von rund 7,4 Metern durch zwei Geschosse. Die in 4,5 Metern Höhe umlaufende Galerie, nur vom Vestibül und nicht vom Raum selbst erreichbar, gab dem Saal seinen Namen. Den Innenausbau des Saales gestaltete Schmitz mit Holz, ausgeführt von der Kunsttischlerei Otto Salzmann & Sohn in Berlin-Kreuzberg. Das polierte, dunkelbraunrote Palisanderholz der Wände mit eingelegten Intarsien aus vielfarbigen Hölzern und Perlmutt kontrastierte mit dem helleren, geflammten Birkenholz, das die Holzpfeiler und die glatten Brüstungen der Galerie sowie die Decke bekleidete. Eher diskreten bildhauerischen Schmuck erhielten die Pfeiler durch vergoldete Reliefs von Hermann Feuerhahn. Verglaste Wände trennten die Galerie vom Saal und schützten die oben sitzenden Gäste vor Rauch und Zugluft. Den hinteren Raumabschluss bildete eine Treppenanlage aus dunklem Marmor, der wirkungsvoll mit den von der Firma Johann Odorico ausgeführten Goldmosaiken an Wänden und Treppenwangen kontrastierte. Die mittlere Treppe führte hinunter in den „Muschelsaal“, die beiden äußeren Treppenläufe hinauf in den „Mahagonisaal“. Geätzte, mit Blumengirlanden geschmückte gelbe Fenster gaben „dem Saal eine Stimmung, wie sie sympathischer nicht gedacht werden kann“. Mahagonisaal Der anschließende, 1,84 Meter über dem Niveau der Potsdamer Straße liegende „Mahagonisaal“ ließ sich vom Galeriesaal über eine zweiläufige Treppe erreichen. Die Verbindung zur Rotunde des Verbindungsbaues lag auf gleicher Höhe. Seinen Namen erhielt der Saal von der dunklen, bordeauxfarbenen Wand- und Deckentäfelung aus Mahagoni, gefertigt von der Möbelfabrik W. Kümmel in Berlin. Wandpfeiler mit Volutenkapitellen strukturierten den 7,92 Meter breiten und ungefähr 27 Meter langen Raum, indem sie an den Längsseiten 4,8 Meter breite Nischen bei Fenstern abtrennten. Zentrales Schmuckelement war ein lebensgroßes Holzrelief Franz Metzners an der hinteren Schmalwand des Saales, zusätzlich betont durch eine davorliegende Estrade. Es zeigte das „Liebesleben der Geschlechter, derart gekennzeichnet, daß das wollüstige Weib auf Vogelkrallen, und der geile Mann auf Bocksfüßen einherstelzt, davor sitzt, ein Phantom der gemeinen Häßlichkeit, ein Kind der Sünde.“ Auch Hermann Feuerhahn war an der Ausschmückung des Raumes beteiligt mit den „poesivollen Symbolen“ an der Decke und den „exotischen Darstellungen“ an den Längswänden. Ebenholzsaal Der „Ebenholzsaal“ erstreckte sich im Garderobengeschoss beinahe über die ganze Länge des Traktes an der Potsdamer Straße. Die Überhöhe des Galeriesaales mit seiner Galerie im Erdgeschoss führte dazu, dass die darüberliegende Hälfte des Ebenholzsaales rund 1,8 Meter höher lag als seine Entsprechung über dem Mahagonisaal. Die beiden mit 3,6 und 3,9 Meter auch in der Höhe leicht unterschiedlichen Saalhälften verband eine breite Treppe. Der Hauptzugang zum Saal erfolgte über das Vestibül an der Potsdamer Straße sowie durch die untere Rotunde, er ließ sich aber auch von der Galerie des Galeriesaales über zwei Treppen erreichen. In den Raum vortretende Pfeiler, verkleidet mit indonesischem Ebenholz aus Makassar, trennten 4,8 Meter breite Kojen ab und gliederten den langgestreckten Raum. Im „Ebenholzsaal“ verzichtete Schmitz auf eine bildhauerische Gestaltung, die „unsagbare Noblesse“ des Saales prägten die Pfeiler- und Wandverkleidungen aus dem edlen Makassar-Ebenholz „von einer merkwürdig warmen und weichen Tönung“, die Decke in silberner Kammmalerei und die aufwändigen Leuchter der Kristallmanufaktur Baccarat. Die Firma Georg Kuhnert in Berlin führte die Kunsttischlerarbeiten aus. Der Verbindungsflügel Der Verbindungsflügel verband den Saalbau an der Bellevuestraße mit dem Flügel an der Potsdamer Straße. Er führte in der Mittelachse des Saalbaues zum Trakt an der Potsdamer Straße, wobei eine Rotunde zwischen den verschiedenen Achsen vermittelte. Das Erdgeschoss war gegenüber den Trakten an der Straße um ein halbes Geschoss angehoben, um die baupolizeilich erforderlichen Durchfahrten zweimal den Verbindungsflügel queren zu lassen und den Besuchern trotzdem ein durchgängiges Geschoss von der Potsdamer bis zur Bellevuestraße zu ermöglichen. Der Trakt diente ausschließlich gastronomischen Zwecken und verfügte im Dachgeschoss über eine eigene Küche zur Versorgung seiner Restaurants. Im Inneren des Grundstückes gelegen waren seine Fassaden gegen die drei anstoßenden Innenhöfe schlicht gestaltet und entsprachen den rückwärtigen Fassaden der Straßenflügel. Die Böden aller Höfe bedeckten rutschfeste geriffelte Fliesen und der Hof gegen das Grand Hôtel Esplanade erhielt eine Gestaltung durch Laternen mit aufwendig gestalteten Masten, da er bei warmer Witterung als Erweiterung der anstoßenden Säle ins Freie diente. Kübelpflanzen wie Dattelpalmen und Lorbeerbäume begrünten den Hof. Steinsaal Der Steinsaal, auch Wotansaal oder Odinsaal genannt, lag 2,20 Meter unter dem Niveau der Bellevuestraße. Über eine Treppe ließ er sich vom Pfeilersaal des Hauptbaues an der Bellevuestraße erreichen und besaß über die Durchfahrt der Rotunde eine Verbindung zum auf gleicher Höhe liegenden Muschelsaal des Flügels an der Potsdamer Straße. Die geringere Saalhöhe von ungefähr 3,7 Metern und die dickeren Mauern, die die Last der darüber liegenden Säle aufnehmen mussten, veranlassten Bruno Schmitz zu schweren Gewölbeformen. Das Gewölbe, das unmittelbar aus dem Boden zu wachsen schien, ruhte auf riesigen mythischen Köpfen vor den Gurtungen des Gewölbes. Ähnliche Köpfe schuf Metzner auch für die Krypta des Völkerschlachtdenkmals in Leipzig. Die schwere, massive Konstruktion war allerdings nur vorgetäuscht, dahinter verbarg sich eine Drahtputzkonstruktion. Die Gewölbe- und Wandflächen bedeckten von der Firma Johann Odorico ausgeführte Inkrustationen mit geometrischen Ornamenten aus grauen, in den Zement eingepressten Donaukieseln und dunkleren Schieferstücken. Diese Gestaltung knüpfte an die Grottenarchitekturen der Renaissance und des Barock an, erinnerte aber auch an maurische Flächendekorationen. Zahlreiche im Gewölbe zwischen den Mustern eingelassene Glühlampen bildeten eine Art Sternenhimmel. Den künstlerisch gestalteten Marmormosaik-Fußboden lieferte ebenfalls die Firma Johann Odorico. Die im Boden versenkbaren großen Bogenfenster ließen sich im Sommer zum künstlerisch gestalteten Hof öffnen. Roter Saal Der Rote Saal im Erdgeschoss, ein weiterer aufwendig gestalteter Übergangsraum, lag 1,85 Meter über dem Straßenniveau der Bellevuestraße. Der ungefähr vier Meter hohe Raum erhielt seinen Namen von den Wandbespannungen aus roter Seide oder rotem Samt zwischen den gliedernden Wandpfeilern aus rötlichem Padoukholz. Eine goldene oder silberne Decke mit Märchenmotiven überspannte den Raum. Gedämpftes Licht erhielt der Raum durch zwei vom Kunstmaler August Unger entworfene Glasfenster, ausgeführt durch das Atelier für Glasmalerei August Wichmann in Berlin. Passend zur ursprünglich geplanten Nutzung als Konzerthaus zeigten sie Allegorien der musikalischen Tempi Adagio und Andante sowie Allegro und Furioso. Eine zweiläufige Treppenanlage leitete zum tiefer gelegenen Pfeilersaal im Hauptbau über, in den sie prägend in die Mitte der Längsseite hineinragte. Auf dem Podest der Treppenanlage und von beiden Seiten gut sichtbar erhob sich als „Prunkstück der Anlage“, als „Hauptsinnbild des Hauses“, der Rheingoldbrunnen. Der Bildhauer Franz Metzner modellierte die drei auf dem Rand einer grünen Marmorschale stehenden Rheintöchter, die in den erhobenen Händen den Nibelungenhort tragen. Wie andere Arbeiten Metzners bewegten sich seine Nixen fern gängiger akademischer Schönheitsideale nach der Jahrhundertwende. Der Kritiker Maximilian Rapsilber attestierte den „kühlherzigen, herben, eckigen Nixen“ eine „wahrhaft abschreckende Hoheit, also dass kein Sterblicher ein Gelüsten nach ihnen hegen würde“. Der Guss der Bronzestatuen erfolgte durch die Gießerei G. Knodt in Frankfurt am Main. Der Schatz ließ sich von Innen elektrisch erleuchten und sorgte im Zusammenspiel mit dem aus der Marmorschale aufsteigenden Wasserstrahl für Effekte, „als ob flüssiges Gold ein Flammengaukelspiel betriebe“. Onyxsaal Der Onyxsaal erhielt seinen Namen nach den Wandplatten aus Onyxmarmor, die die Wände und Pfeiler bedeckten. Der 230 Quadratmeter große rechteckige Raum war vier Meter hoch, und die als Zungenmauern ausgebildeten Stützen für den darüber liegenden „Bankettsaal“ bildeten an den Längsseiten je fünf Nischen. Während auf der westlichen Seite alle Nischen große, engsprossige Fenster aufnahmen, schlossen sich an der östlichen Seite an drei Nischen Durchgänge zu einem Nebenraum an. In diesem erreichten in zwölf Speiseaufzügen und einem Lastenaufzug die Speisen aus der Küche im Dachgeschoss das Restaurant. Die Aufnahmen aus dem Eröffnungsjahr zeigen ungefähr 50 Tische, die jeweils für vier Personen eingedeckt waren. Die großen hell-grünlichgelben Onyxplatten aus den Pyrenäen kontrastierten wirkungsvoll mit ihren dunklen Bronzeeinfassungen. Ein Fries aus Bronze – abwechselnd ausgestanzte Quadrate, in denen der Stein sichtbar war, und mit einfachen Mustern gefüllte Bronze-Quadrate – trennte diesen Bereich von der oberen Wandzone. Die Längsseiten der Stützpfeiler bedeckten Stuckreliefs des Bildhauers Hermann Feuerhahn zu dem Thema „Poesie der Jahreszeiten“ mit Frühling, Sommer, Herbst und Winter sowie Darstellungen der vier Elemente Feuer, Wasser, Luft und Erde und dem Emblem des Weinhauses Rheingold. An der Stirnseite sorgten in Bronze gefertigte Beleuchtungskörper zusammen mit zwei von der Decke hängenden, quadratischen Silberleuchtern der lothringischen Kristallmanufaktur Baccarat für stimmungsvolle Beleuchtung. Der obere Teil der Wände und die Decke waren in einem hellgelblichen Steinton gehalten. Nach den eher dunklen, teils fensterlosen und deshalb nur künstlich beleuchteten Räumen, die die Besucher bis zum „Onyxsaal“ durchschritten hatten, wirkte der Raum wegen der hellen Materialien und der guten Beleuchtung durch die großen Fenster und die zahlreichen Lampen hell und heiter. Die Zeitschrift Der Profanbau sprach von „lichtgleißende[r] Glorie“ und „Champagnerstimmung“. Bankettsaal Der größte Saal im Zwischentrakt war der Bankettsaal im Garderobengeschoss, 6,25 Meter über dem Niveau der Bellevuestraße. Er stand mit dem Pfeilersaal des Hauptgebäudes über einen Vorraum in Verbindung, in dem je eine Treppe links und rechts des Durchganges zu den Emporen des „Bankettsaales“ führten. Am anderen Ende des Saales gelangten die Besucher in die Rotunde. In Längsrichtung überwölbte eine Decke in Form eines Tonnengewölbes den durch zwei Geschosse gehenden Raum. Seitlich schnitten sich die Stichkappen über den hohen Rundbogenfenstern in das Hauptgewölbe ein, dessen Scheitel 9,2 Meter über dem Boden lag. Eher flach gehaltene Stuckaturen in an Barock erinnernden Formen bedeckten die grauweiße Putzdecke. Bis zum Gewölbeansatz bedeckte beinahe schwarzes Wassereichenholz in schlichten, einfachen Formen die Wände. Auch für die Balkone der Emporen mit ihren schlichten, kompakten Brüstungen, die sich zwischen die Pfeiler spannten, wählte Bruno Schmitz das gleiche Holz. Die oberen Wandflächen waren in einem hellgelblichen Steinton gehalten. Die Eingangsbereiche an den Schmalwänden fassten portalartige Einbauten aus grauem, lebhaft geflammtem Schweizer Cipollino, „dessen Brüche erst vor zwei Jahren wiedereröffnet wurden“. Über dem Durchgang auf der Empore in Richtung Rotunde war Hermann Feuerhahns Bronzerelief Hagen mit den Rheintöchtern eingelassen. Den Durchgang in Richtung Hauptgebäude zierte der Feuerzauber Brünhildes. Beide Reliefs fertigte die Firma G. Knodt in Frankfurt. Sein Licht erhielt der Raum am Tag durch die zahlreichen Fenster, die aus verschiedenfarbigen rechteckigen Glasstücken zusammengesetzt waren, teils auch mit figürlichen Darstellungen. Bei Dunkelheit erhellten je zwei Leuchten pro Stichkappe und Wandleuchter an den Pfeilern den Saal. Rotunde Die Rotunde, ein mehrgeschossiger zylindrischer Baukörper mit Radius 6,15 Meter, verband als Gelenk den Zwischentrakt mit dem Trakt an der Potsdamer Straße und vermittelte durch ihren runden Grundriss zwischen den spitzwinklig aufeinandertreffenden Flügeln. Auf der Ebene des Küchengeschosses, bereits 1,75 Meter unter dem Niveau der Potsdamer Straße, querte eine Durchfahrt die Rotunde. Sie führte vom Wirtschaftshof an der Potsdamer Straße in den Hof im Inneren des Grundstücks, dessen Brandmauer gegen das Grand Hôtel Esplanade künstlerisch gestaltet war. Als Durchfahrt diente der 3,2 Meter hohe Raum jedoch nur in Ausnahmefällen. Hauptsächlich verband er den Muschelsaal im Trakt an der Potsdamer Straße mit dem Wotansaal im Zwischenbau. Den Niveauunterschied zu diesen angrenzenden Sälen glichen je drei Treppenstufen aus. Ein Ausgang führte auch zu einem Treppenhaus, das alle Geschosse des Zwischenbaues erschloss. Auch die untere Rotunde im Erdgeschoss war als Übergangsraum ausgebildet. Einerseits verband der 4,0 Meter hohe Raum den Onyxsaal im Zwischenbau mit dem Mahagonisaal im Flügel an der Potsdamer Straße. Andererseits führten zwei entlang der Außenmauern geführte, geschwungene Stiegen ins Garderobengeschoss. Die Treppen begannen im „Mahagonisaal“ und waren in der Rotunde nur hinter einem dekorativ behandelten Lattenwerk aus beinahe schwarzer Wassereiche sichtbar. Die Treppenläufe verdeckten auch die beiden Fenster, sodass die untere Rotunde nur durch die Treppen mit ihrem Gitterwerk gedämpftes Licht erhielt. Das Zentralblatt der Bauverwaltung berichtete von „eigenartige[r] geometrische[r] Bemalung der Putzflächen, welche an Stoffbespannung erinnert“ und auch die rot-schwarze Decke passte zum durch den starken Gegensatz der Farben geprägten Raum. Im Garderobengeschoss, wo die Treppenläufe endeten, nahm die Rotunde ein Restaurant auf. In Anlehnung an die Gestaltung des angrenzenden „Ebenholzsaales“ im Trakt an der Potsdamer Straße erhielt der 3,6 Meter hohe Raum Wände aus Ebenholz. Die silbergraue Decke überzog ein Muster aus leicht mit Farbe gehöhtem Kammputz. In Richtung Bellevuestraße schloss sich der „Bankettsaal“ an. Zwei Fenster beleuchteten den geradezu „ernst, monumental“ wirkenden Raum. Die Blaue Rotunde im Saalgeschoss erreichten die Besucher entweder von der Galerie des Bankettsaales oder über das an die Rotunde anschließende Treppenhaus. Da sich im Trakt an der Potsdamer Straße keine weiteren Säle, sondern nur noch eine Küche befand, hatte der Raum keine Durchgangsfunktion zu erfüllen. Bruno Schmitz gestaltete einen „zu besonderen kleinen Festlichkeiten bestimmten Raum“. Umlaufende Pfeilerstellungen gliederten den zweigeschossigen, 7,6 Meter hohen Raum, den eine blau ausgemalte Flachkuppel mit großer Goldrosette überdeckte. Die acht Pfeiler aus weißem Marmor endeten in riesigen Menschenköpfen, gekrönt von elektrischen Beleuchtungskörpern. Sie trugen in der Höhe von ungefähr drei Metern eine Galerie. Ihre Brüstung schmückte ein Spruch des Schriftstellers Emil Jacobsen: Gottgeschenk ist uns die Freude, Achte keiner sie gering! Uns zu Schutz und Trutz im Leide – Freude ist ein ernstes Ding! Von Jacobsen stammen auch die Sprüche und Verse, die in den anderen Räumen wie zum Beispiel dem „Pfeilersaal“ im Saalbau in dekorativen Schriften die Wände schmückten. Kuppel wie die Wandflächen und Brüstung gestaltete der Maler August Unger. Der Raum „in gedämpfter blaugrüner Beleuchtung“ erinnerte die Zeitschrift für Bauwesen an einen „vorgeschichtlichen Götzentempel“, während er für die Zeitschrift Der Profanbau eher „das geheimnisvolle Gebaren eines Isistempels“ hatte. Neben- und Wirtschaftsräume Das teure Grundstück erforderte eine größtmögliche Ausnutzung, soweit es die baupolizeilichen Vorschriften gestatteten. Die für die Restaurationsräume vorgesehene Fläche entsprach ungefähr der Fläche der Neben- und Wirtschaftsräume zusammen. Die Neben- und Wirtschaftsräume fanden sich mehrheitlich in den für Kundenräume wenig attraktiven Keller- und Dachgeschossen. Um diesen riesigen Flächenbedarf abzudecken, verfügte das Weinhaus Rheingold als einer der ersten Großbauten in der Berliner Innenstadt über zwei voll nutzbare Kellergeschosse. Die Sohle des unteren Kellergeschosses lag 5,50 Meter unter dem Straßenniveau, der Grundwasserpegel bei 3,15 Meter, womit der Keller 2,35 Meter im Grundwasser stand. Nach unten dichtete eine 90 Zentimeter starke, teils eisenarmierte Betonplatte mit einer 20 Millimeter starken Isolierschicht aus drei Lagen verklebter Bitumenpappe mit Überzug aus heiß aufgebrachter Goudronmasse. Die gleichartige, an den Seitenwänden bis 30 Zentimeter über den Grundwasserstand hochgezogene Bitumenpappe-Isolierung dichtete gegen das seitlich eindringende Grundwasser. Die Kellerräume erstreckten sich bis zu den Grundstücksgrenzen. Das untere Kellergeschoss nahm neben den Kühlräumen vor allem Nebenräume mit technischen Einrichtungen wie den Kesselraum der Heizung, den Pumpenraum oder den Ölraum für die Generatoren auf. Der Maschinenraum gegen die Potsdamer Straße, dessen 28 Meter langes und 4,50 Meter breites Maschinenfundament weitere 1,4 Meter tiefer lag als die Sohle des Kellerbodens, reichte bis in das zweite Kellergeschoss, in den Plänen als Küchengeschoss bezeichnet. In das Küchengeschoss schnitten sich die drei gegenüber dem Straßenniveau vertieft liegenden Höfe ein. Die Fläche unter dem Flügel an der Bellevuestraße teilten sich die Hauptküche des Weinhauses und der Weinkeller, der sieben Millionen Flaschen Wein fasste. Küchen Das Weinhaus Rheingold verfügte über drei Küchenanlagen, je eine für jeden Bauteil. Die Küche für den Bau an der Bellevuestraße befand sich im Küchengeschoss unter den zu versorgenden Restaurants. Die größte Küchenanlage des Hauses, gut ausgerüstet mit elf Kochmaschinen, sechs großen Dampfkochtöpfen, zahlreichen Grills und Wärmeschränken, erstreckte sich über rund zwei Drittel der Geschossfläche unter dem Saalbau. Zudem nahm sie spezielle Einrichtungen auf, wie die Konditorei und die Kupfer- und Silberabwaschräume. 25 Speiseaufzüge, teilweise mit elektrischen Heizspiralen beheizt, um das Auskühlen der Speisen zu verhindern, transportieren die Speisen in die verschiedenen Restaurants des Traktes an der Bellevuestraße wie etwa den „Kaisersaal“. Die Küchen des Weinhauses Rheingold beschäftigten im Eröffnungsjahr 137 Angestellte, 70 davon arbeiteten in der Hauptküche. Die Küchen zur Versorgung der Säle im Verbindungsbau und im Seitenflügel an der Potsdamer Straße befanden sich über den zugehörigen Restaurants im Dachgeschoss und im Saalgeschoss, mit denen sie ebenfalls über Speiseaufzüge verbunden waren. Den kleineren Sälen und der geringeren Anzahl der Gäste entsprechend kleiner dimensioniert, waren sie wie die Hauptküche hygienisch mit weiß gefliesten Wänden, Pfeilern und Decken versehen, während ein glatter, heller Fliesenbelag den Boden bedeckte. Kühlräume Die sieben Hauptkühlräume zur Aufbewahrung der verderblichen Lebensmittel wie Fleisch, Fisch, Geflügel, Butter, Käse und Gemüse bedeckten zusammen eine Fläche von ungefähr 160 m² im Kellergeschoss. Der jeweilige Tagesbedarf der drei Küchen lagerte in zehn weiteren Kühlräumen von je 15 bis 20 Quadratmeter Fläche in den Küchen selber. Imprägnierte Korkplatten isolierten die Kühlräume von der Umgebung. Ihre Wände, Decken und Böden waren mit weißen Fliesen ausgekleidet. Die Kälte produzierte eine von August Borsig in Berlin-Tegel gelieferte Kompressionskältemaschine mit Schwefeldioxid als Kältemittel. Ein Rohrsystem mit Korkummantelung verteilte die auf −12 °C gekühlte Salzsole vom Kellergeschoss in die verschiedenen Kühlräume, deren Temperatur je nach Art der Lebensmittel zwischen +2 und +6 °C eingestellt war. Die Kühlmaschine produzierte zusätzlich täglich zwei Tonnen Eis für den Bedarf in den verschiedenen Restaurants des Weinhauses. Dampfwäscherei In einer eigenen Dampfwäscherei wurde die gesamte im Haus anfallende Wäsche gewaschen und gebügelt. Die gebrauchte Tischwäsche erreichte über Wurfschächte in den Speisesälen die Wäschesammelstelle im Keller. Von dort gelangte sie in die Waschküche und das zugehörige Wäschelager im dritten Geschoss des Seitenflügels an der Potsdamer Straße auf der Höhe des Emporengeschosses. Die technische Einrichtung für die mit weißen Fliesen verkleideten Räume lieferte die Firma H. Timm in Berlin, darunter vier große Waschtrommeln, drei Wäschezentrifugen und zwei Zylindermangeln. Den zum Betrieb erforderlichen Dampf lieferten die Niederdruck-Dampfkessel im Kesselraum des Kellergeschosses. Technische Einrichtungen Schon die Größe des Weinhauses stellte besondere Anforderungen an die technischen Anlagen. Dazu kam der tief im Grundwasser gelegene Keller und der Wunsch des Bauherrn, das Haus möglichst unabhängig von äußeren Einflüssen zu betreiben. Aus wirtschaftlichen Überlegungen sollten die Betriebskosten möglichst gering gehalten werden – Überschlagsrechnungen veranschlagten beispielsweise allein die jährlichen Kosten für elektrische Beleuchtung auf ca. 55.000 Mark. Daher verfügte das Weinhaus Rheingold über eigene Brunnen und erzeugte die Elektrizität selber, wobei die Abwärme der Generatoren zugleich der Warmwasseraufbereitung diente. Elektrische Anlagen Den elektrischen Strom für die 5212 Tantallampen, 544 Kohlefaden-Kerzenlampen und die 51 Bogenlampen sowie für den Betrieb der zahlreichen Pumpen, Ventilatoren, Personen- und Warenaufzüge sowie der Eismaschinen produzierten drei Gleichstrom-Nebenschluss-Dynamomaschinen mit je 204 Kilowatt Leistung, die jeweils direkt mit einem Dieselmotor gekoppelt waren. Die Beleuchtungsanlage und die Generatoren wurden von der Firma Siemens-Schuckert-Werke GmbH in Berlin hergestellt. Die Maschinenfabrik Augsburg lieferte die drei vierzylindrigen Dieselmotoren von je 300 PS, die mit 175 Umdrehungen pro Minute liefen. Die Maschinen waren im Maschinenkeller unter dem Trakt an der Potsdamer Straße untergebracht. Der acht Meter breite, 35 Meter lange und fünf Meter hohe Raum lag 5,5 Meter unter dem Straßenniveau, erhielt aber direktes Tageslicht durch einen zwei Meter breiten Lichtschacht an der Längsseite. Der 13 Kubikmeter fassende Brennstofftank fand sich direkt neben dem Maschinenkeller unter der Hofeinfahrt. Zu den elektrischen Anlagen zählten auch die aus 125 Elementen bestehende Akkumulatorenbatterie, untergebracht in zwei übereinander liegenden Kellerräumen von je 60 Quadratmeter Fläche. Während des Betriebs parallel zu den Maschinen geschaltet, glichen sie Spannungsschwankungen der Generatoren und des Leitungsnetzes aus und waren in der Lage, das Haus nach Ausfall der Maschinen noch beinahe drei Stunden mit Strom zu versorgen. Diese Anlage lieferte die Akkumulatoren-Aktien-Gesellschaft in Hagen. Die elektrischen Leitungen, unter 220 Volt Spannung stehend, waren in Nebenräumen wie Küchen, Keller oder auf dem Dachboden sichtbar über dem Putz auf Rollen geführt. Kalt- und Warmwasseranlagen Zwei Tiefbrunnen auf dem Grundstück an der Potsdamer Straße förderten Grundwasser aus 48 Meter Tiefe. Eine elektrisch betriebene Hochdruckzentrifugalpumpe mit einer Förderleistung von 1200 Litern pro Minute pumpte das wie im gesamten Berliner Raum stark eisenhaltige Wasser durch eine Enteisenungsanlage im Dachgeschoss zu den beiden darüber stehenden Kaltwasserbehältern mit je acht Kubikmetern Fassungsvermögen. Von dort erfolgte die Weiterverteilung in das ganze Haus. Eine zweite Pumpe diente als Reserve und eine Schwimmkontaktvorrichtung unterbrach die Förderung der Pumpe, wenn beide Behälter voll waren. Deckte die selbst geförderte Menge die Nachfrage nicht, ergänzte Wasser aus dem städtischen Netz den Bedarf. Zur Erzeugung von Warmwasser wurde als frühes Beispiel von Kraft-Wärme-Kopplung das Kühlwasser der großen Dieselmotoranlage genutzt. Das Wasser erhitzte sich dabei auf circa 80 °C und floss in zwei verzinkte Warmwasser-Reservoirs von zusammen 60 Kubikmeter im Keller. Von dort pumpte eine Hockdruckzentrifugalpumpe das warme Wasser zu den Warmwasserbehältern im Dachgeschoss. Das Kühlwasser deckte nicht den ganzen Bedarf – den Rest des Warmwassers lieferte ein herkömmlicher Heizkessel im Kesselraum unter dem Hof an der Potsdamer Straße. Entwässerung Die tiefe Lage eines Teils des Kellers unter dem Niveau des städtischen Abwasserkanals erforderte spezielle Vorkehrungen. Einerseits war eine Ableitung über das natürliche Gefälle so nicht möglich, andererseits drohte der bei Regenwetter schnell überlastete Kanal an der Bellevuestraße die große Küche im unterirdischen Küchengeschoss durch Rückstau unter Wasser zu setzen. Schlossen sich bei Überlastung der städtischen Kanalisation in der Bellevuestraße die selbsttätigen Rückstauklappen, floss das im Haus anfallende Abwasser als Überlauf über Notleitungen, die höher lagen als die Hauptkanalisationsleitungen, in einen Gully. Dieser sammelte gleichzeitig das Wasser aus den tiefer als die Kanalisation liegenden Kellerbereichen, etwa das Überlaufwasser der Warmwasserbehälter oder das über die Kellertreppen eindringende Regenwasser. Eine Zentrifugalpumpe beförderte das Wasser aus dem Gully in den weniger überlasteten Kanal an der Potsdamer Straße. Die Anlagen lieferte die Allgemeine Städte-Reinigungsgesellschaft mbH in Berlin. Heizung und Lüftung Der Kesselraum der Niederdruckdampfheizung befand sich unter dem Wirtschaftshof an der Potsdamer Straße. Die mit Kohle beheizte Anlage aus sechs Dampfkesseln gliederte sich in zwei Gruppen, wovon die größere mit vier Kesseln ausschließlich der Erzeugung des Dampfes für die Heizung diente. Die kleinere Gruppe mit zwei Heizkesseln produzierte den Dampf für die Küchen und die Waschküche, ließ sich aber bei Bedarf der Heizung zuschalten. Die Heizungsanlage war so bemessen, dass sie nur rund 80 Prozent der Wärme erzeugte, die für eine Innentemperatur von 20 °C erforderlich war. Den Rest des Wärmebedarfes ergänzte die Lüftung. Durch diese Kopplung der Heizung mit der Lüftung musste auch die Lüftungsanlage permanent in Betrieb gehalten werden. Dies wiederum sicherte einen ausreichenden Luftaustausch in den Räumen des Weinhauses Rheingold. Die Restaurationsräume verfügten über eine Drucklüftung, wo frische und bei Bedarf vorgewärmte Luft in den Raum hineingedrückt wurde – 20 Kubikmeter pro Gast und Stunde. In den Küchen und Sanitäranlagen, wo die Luft fünffach pro Stunde erneuert wurde, verhinderte eine Sauglüftung die Ausbreitung übler Gerüche. Drei Ventilatoren im Keller unter dem Wirtschaftshof an der Potsdamer Straße saugten die frische Außenluft an. Ein 40 Quadratmeter großer, im Hoffußboden eingebauter Koksfilter befreite die Frischluft von Staub und Ungeziefer. In drei Heizungskammern, je eine pro Ventilator und mit unterschiedlicher Temperatur, ließ sich die Luft durch Rippenheizkörper erwärmen. Durch Mischung der Warmluft verschiedener Temperatur, bei Bedarf auch mit Kaltluft, konnte die Luft auf die gewünschte Temperatur eingestellt werden, bevor sie über die Lüftungskanäle in die Räume strömte. Schmitz integrierte die Öffnungen der Lüftungskanäle geschickt in die Architektur der einzelnen Räume. Die gesamte Heizungs- und Lüftungsanlage, geliefert von der Firma David Grove in Berlin, ließ sich zentral vom Bedienungszentralraum im Keller aus regeln. Kritik Die zeitgenössische deutsche Architekturpresse berichtete in den Hauptzügen positiv, teils beinahe enthusiastisch über den Neubau. Die Deutsche Bauzeitung etwa sah im Weinhaus Rheingold eine „der bedeutendsten baukünstlerischen Schöpfungen der Gegenwart, ein Werk von größtem Wurf und von sieghafter Gestaltungskraft“. Die Berliner Architekturwelt zählte den Bau mit Alfred Messels nahegelegenem Warenhaus Wertheim am Leipziger Platz zu den „besten Bauwerken unserer Zeit“. Auch die Zeitschrift Der Profanbau sah im Weinhaus Rheingold das „vollgewichtige Gegenstück“ zu Messels Warenhausbau, das gleiches für den Begriff „Aschinger“ leisten werde, wie der Messelbau für den „Begriff Wertheim und überhaupt für die Nobilitierung des Warenhauses“. War der Deutschen Bauzeitung „keine neuere Schöpfung des Auslandes bekannt, welche an das Rheingold heranreicht“, fand umgekehrt das Gebäude keine Würdigung in der zeitgenössischen Architekturpresse des Auslands. Die Vossische Zeitung würdigte den Neubau 1907 als „glanzvolles Neujahrsgeschenk, welches die Aschinger-Gesellschaft der Reichshauptstadt darbringt“, das Weinhaus Rheingold stehe „auf dem ganzen Erdenrund einzig und unvergleichlich da.“ Anerkennung fand auch das kulturelle Engagement der Aktiengesellschaft Aschinger – teils mit Seitenhieben auf die „Bierquellen“, denen „plötzlich märchenhafte Goldströme für höchste Kunst“ entfließen – und ihre Wahl von Bruno Schmitz als Architekten, der „die Geschmacklosigkeit eines goldmosaik-strotzenden, romanisierend-byzantinisierenden Kaisersaales zur Vertilgung von Münchner Bier- und Bockwürsten, wie wir solchen schon einmal in Berlin haben, […] nimmermehr mitgemacht“ haben würde. Auf Kritik dagegen stieß der Missklang zwischen der ambitiösen künstlerischen Gestaltung des Weinhauses Rheingold und der eher profanen Nutzung als Großrestaurant. Der französische Journalist Jules Huret besuchte auf seiner Deutschlandreise in Berlin das neu eröffnete Haus und fragte in seinem 1909 erschienenen Reisebericht: Er würdigte die Anstrengungen zur Gestaltung mit den Worten: Der Kunstkritiker Max Osborn erwähnte bereits 1909 im 43. Band der Reihe Berühmte Kunststätten mit der Gesamtdarstellung der Kunstgeschichte Berlins das Weinhaus Rheingold, „dessen feierliche Front (mit Reliefgestalten von Franz Metzner) und überprächtige, wenn auch durch vorzügliche Behandlung in echten Materialien ausgezeichnete Innenausstattung nur mit dem Beruf des Hauses nicht im Einklang steht“. Ein Teil der Zeitgenossen störte sich am nicht naturalistischen, ornamentalen Umgang Franz Metzners mit dem menschlichen Körper. Die Deutsche Bauzeitung etwa berichtete, dass „seine Kunstauffassung auf den stärksten Widerspruch des überlieferten Geschmacks gestoßen“ sei. Zeigte das Zentralblatt der Bauverwaltung Verständnis für „ein gewisses unbehagliches Gefühl“, das die „vergewaltigten Körper“ erzeugten, distanzierten sich die anderen Fachkritiker davon. So schrieb Theodor Heuss, der spätere erste Bundespräsident und seinerzeit Kritiker der Neudeutschen Bauzeitung: „Ich stoße mich nicht daran, daß die Männer, die da in Holz oder anderem Material an den Pfeilern und Wandverkleidungen gebildet wurden, enthauptet sind und dafür immerhin fragmentarischen und fragwürdigen Ersatz erhalten haben.“ Er lobte die Bemühungen Schmitz’ zur Wiederbelebung der „Plastik in der Baukunst“ in der äußeren Gestaltung des Bauwerks und in den großen Räumen des Weinhauses Rheingold, insbesondere dem „Kaisersaal“. Für die kleineren Kabinette und Säle dagegen wirke „die monumentale Plastik gewaltsam und als eine Last“ und das „zu große Maß der Plastik“ erdrücke den Raum. Auch der Architekturhistoriker Julius Posener verglich 1977 in seiner Publikation Berlin auf dem Weg zu einer neuen Architektur 1889–1918 das Weinhaus Rheingold mit Messels Warenhaus Wertheim. Er attestierte der Rheingold-Fassade eine überlegene Qualität und größere Modernität – „Nur lag Messels Leipziger Straßenfront auf dem Weg, der weiterführte. Die Rheingoldfront stellt die schönste Ausprägung eines errungenen Standes der Kunst dar, steht also eher am Ende eines Weges.“ Mangelnde Rentabilität von Aschingers Prestigeobjekt Die Euphorie des Konzerns nach der Eröffnung am 6. Februar 1907 wich schnell Sorgen wegen Problemen in den Betriebsabläufen und der mangelnden Kostendeckung des Weinhauses Rheingold. Bereits im Juli 1907 bat deshalb Carl Aschinger seinen Bruder August wieder in das operative Geschäft einzutreten, obwohl er als Aufsichtsrat der Aktiengesellschaft Aschinger eigentlich nur noch überwachende und repräsentative Funktionen wahrnehmen sollte. August Aschinger vermerkte in einer Notiz, dass die „finanzielle Seite des Rheingoldes […] wirtschaftlich einfach unmöglich“ war und „in der Tat die anderen Geschäfte aufgefressen“ hätte. „Dieses Haus betriebsfähig zu stellen, war die größte Aufgabe meines Lebens.“ Probleme verursachte zum Beispiel die überdimensionierte Ausdehnung des Weinhauses Rheingold. So erkalteten die Speisen auf ihrem Weg zu den Gästen trotz der elektrisch beheizten Speiseaufzüge. Besuchten mehr als 3000 Gäste das Lokal, kamen die Küchen an ihre Kapazitätsgrenzen. Lange Wartezeiten sowie lauwarme oder gar kalte Speisen waren keine gute Reklame für das Vorzeigeobjekt des Aschinger-Konzerns und keine gute Basis für den Aufbau eines Kundenstamms. Durch den Einbau zusätzlicher Küchen und Wirtschaftsräume noch im Jahr 1907, vermutlich gekoppelt mit Verbesserungen im Service, gelang es August Aschinger, die Probleme in den Betriebsabläufen zu lösen. Die Ertragslage blieb aber weiterhin schlecht, die Umsätze deckten kaum die laufenden Kosten. Bei dieser schlechten Ertragslage rentierten sich zudem die hohen Investitionskosten für das Grundstück und das Gebäude nicht. Die ursprüngliche Kalkulation des Gastronomiebetriebes war bereits bei der Eröffnung des Weinhauses Rheingold als Folge der baupolizeilich verordneten Nutzungsänderung und der Baukostenüberschreitung von einer Million Mark überholt. Dort hatte Aschinger „bei etwas erhöhten Weinpreisen“ mit „billige[n] und gute[n] Speiseportionen zu den Grundpreisen von M. 0,80 und M. 1,30“ und 3800 Sitzplätzen kalkuliert. Die schwache Umsatzrentabilität des Weinhauses Rheingold innerhalb des Aschinger-Konzerns illustrieren beispielhaft die Zahlen von Januar 1911. Die 30 „Bierquellen“ erzielten bei einem Umsatz von 1,1 Millionen Mark einen Gewinn von 160.000 Mark und damit eine Umsatzrentabilität von 14,6 Prozent. Das Weinhaus Rheingold dagegen erreichte bei einem Umsatz von 300.000 Mark einen Gewinn von 15.000 Mark und damit nur fünf Prozent Umsatzrendite, also rund ein Drittel. Besser investiert hatte der Konzern in das nahegelegene Hotel Fürstenhof am Potsdamer Platz, die Rentabilität erreichte dort 22,2 Prozent basierend auf einem Gewinn von 30.000 Mark bei einem Umsatz von 135.000 Mark. Der Nachruf auf Carl Aschinger in der Deutschen Gastwirthe-Zeitung vom 8. Mai 1909 gibt ein Bild des weiterhin ausbleibenden Erfolgs des Weinhauses Rheingold. Gleichmäßig hohe Gästezahlen blieben aus und die Auslastung war nur sonntags einigermaßen befriedigend, sodass unter der Woche die meisten Säle geschlossen blieben. Küche und Keller waren „nicht auf der Höhe“ und standen hinter der Konkurrenz zurück. Das mit so hohen Ansprüchen gebaute Lokal konnte weder die Berliner Mittel- noch Oberschicht dauerhaft als Stammgäste gewinnen und wurde zum Touristenlokal. Griebens Reiseführer Berlin und Umgebung empfahl 1909 das Weinhaus Rheingold als „hochelegantes Wein- und Bier-Restaurant“. Etwas kritischer reihte Baedekers Berlin und Umgebung das Lokal 1910 unter die „nicht so anspruchsvollen“ Weinrestaurants ein, erwähnte aber beim Stadtrundgang am Potsdamer Platz „das prunkvoll ausgestattete Weinhaus Rheingold, von Bruno Schmitz erbaut, mit Skulpturen von F. Metzner“. Als Touristenattraktion mit mangelnder Rentabilität blieb das Weinhaus Rheingold ein wirtschaftlicher Fehlgriff des sonst so erfolgreichen Aschinger-Konzerns. Zwischenkriegszeit In den wirtschaftlich schwierigen Zeiten nach dem Ersten Weltkrieg erwog der Konzern 1919 den Verkauf des Weinhauses Rheingold. Doch die bereits durch den Aufsichtsrat genehmigten Verkaufspläne, die 15 Millionen Mark einbringen sollten, zerschlugen sich. Die im Kaiserreich moderne Ausstattung des Weinhauses Rheingold mit ihren Jugendstilanklängen galt nach dem Ende des Ersten Weltkriegs als veraltet. Zu Beginn der 1920er Jahre vermerkte Griebens Reiseführer abendliche Konzertveranstaltungen, dazu sollten ab 1922 Tanz- und Kabarettveranstaltungen die Attraktivität des Lokals steigern. Der Erfolg ließ weiter auf sich warten und der Konzernvorstand stellte 1928 resigniert fest, dass das Weinhaus Rheingold „nicht annähernd seine Unkosten deckt, geschweige denn von einem Verdienst die Rede sein kann.“ Mit der Weltwirtschaftskrise verschärfte sich die Situation 1930, da wegen der eingebrochenen Erträge die Quersubvention des Weinhauses Rheingold durch andere Aschinger-Betriebe wegfiel und der Konzern 1931 in ernste finanzielle Schwierigkeiten geriet. Das Weinhaus Rheingold blieb in den Jahren 1931/1932 ganz geschlossen und fand auch in Baedekers Berlin und Umgebung 1933 keine Erwähnung mehr. Ab 1935 brachte die Verköstigung der zahlreichen Reisegruppen, die mit der Organisation „Kraft durch Freude“ nach Berlin reisten, und Veranstaltungen vaterländischer Vereinigungen etwas bessere Auslastung. Im Zweiten Weltkrieg diente das Weinhaus Rheingold als Truppenunterkunft, allerdings musste im Winter 1940 der Betrieb wegen Kohlemangel eingestellt werden. Verkauf und Zerstörung Im Januar 1943 weckte ein Bericht der Berliner Börsen-Zeitung über die Verkaufsabsichten der Firma Aschinger für das Weinhaus Rheingold das Interesse mehrerer Reichsministerien. Das Grundstück lag nahe der neuen, prestigeträchtigen Nord-Süd-Achse in den Planungen Albert Speers für die Welthauptstadt Germania. In den Akten des ehemaligen Aschinger-Konzerns, verwahrt im Landesarchiv Berlin, findet sich ein Vorvertrag mit dem Finanzministerium, der den Verkaufspreis auf sechs Millionen Mark festlegte. Den Zuschlag erhielt schließlich 1943 die Deutsche Reichspost. Bei einem Bombenangriff im gleichen Jahr erlitt der Bau schwere Schäden, und das beim Verkauf eingelagerte Inventar des Weinhauses im Wert von 250.000 Reichsmark verbrannte bei einem Angriff im Frühling 1944. Die Karte der Gebäudeschäden von 1945 wies das Gebäude als „beschädigt aber wiederaufbaufähig“ aus, trotzdem erfolgte eine schnelle Beseitigung der Ruinen des Weinhauses Rheingold in den ersten Nachkriegsjahren. Fotografien zeigen bereits zu Beginn der 1950er Jahre das enttrümmerte Grundstück. Nach dem Bau der Berliner Mauer 1961 lief die als Umgehung des nicht mehr zugänglichen Potsdamer Platzes zur Bellevuestraße verlängerte Linkstraße über die Baubrache. In diese Verlängerung mündete auch die 1966 für den Neubau der West-Berliner Staatsbibliothek umgelegte Potsdamer Straße, ebenfalls über das Gelände des ehemaligen Weinhauses Rheingold. Mit der Neubebauung des Potsdamer Platzes nach der deutschen Wiedervereinigung änderte sich die Situation erneut. Während die Verlängerung der Linkstraße wieder aufgehoben wurde, teilt die bis zum Potsdamer Platz durchgezogene Potsdamer Straße das Grundstück. Ungefähr an der Stelle des Saalbaus an der Bellevuestraße steht heute der BahnTower, während der gegenüberliegende Kollhoff-Tower unter anderem die Fläche des ehemaligen Vorderhauses an der Potsdamer Straße einnimmt. Literatur Alexander Koch: Professor Bruno Schmitz’ Haus Rheingold Berlin. (Kochs Monographien XIII), Verlagsanstalt Alexander Koch, Darmstadt, ohne Jahr (1907). Brüstlein: Das Weinhaus Rheingold in Berlin. In: Zentralblatt der Bauverwaltung, 27. Jahrgang 1907. Nr. 29, 6. April 1907, S. 198–202 (1. Teil); zlb.de Nr. 31, 13. April 1907, S. 210–213 (2. Teil); zlb.de Karl-Heinz Glaser: Aschingers „Bierquellen“ erobern Berlin. Aus dem Weinort Oberderdingen in die aufstrebende Hauptstadt. Verlag Regionalkultur, Heidelberg 2004, ISBN 3-89735-291-5, S. 83–99. Hermann Hinderer: Weinhaus Rheingold. In: Der Baumeister, 5. Jahrgang, 1907, Heft 7, S. 73–84, S. 87–91. Karl-Heinz Hüter: Architektur in Berlin. Kohlhammer, Stuttgart 1988, ISBN 3-17-009732-6, S. 46–48. Theodor Heuss: Rheingold von Bruno Schmitz. In: Neudeutsche Bauzeitung, 3. Jahrgang 1907, S. 145–148. Leo Nachtlicht: Weinhaus Rheingold in Berlin. In: Berliner Architekturwelt, 10. Jahrgang 1907/1908, Heft 1, April 1907, S. 5–40; zlb.de (13 kB). Julius Posener: Berlin auf dem Wege zu einer neuen Architektur: das Zeitalter Wilhelms II. Prestel, München 1979, ISBN 3-7913-0419-4, S. 85, S. 100–105. Maximilian Rapsilber: Das Weinhaus Rheingold. In: Der Profanbau, 3. Jahrgang 1907, S. 94–100, S. 105–108, S. 117–119, S. 138–143. Hans Schliepmann: Bruno Schmitz (= XIII. Sonderheft der Berliner Architekturwelt). Ernst Wasmuth, Berlin 1913, S. VIII. Hans Schliepmann: „Haus Rheingold“ in Berlin. Eine Meisterschöpfung von Bruno Schmitz. In: Deutsche Kunst und Dekoration. Illustrierte Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst und künstlerische Frauenarbeiten, Jahrgang 1907, S. 1–60. Der Neubau des Weinhauses „Rheingold“ der Aktien-Gesellschaft Aschinger in der Bellevue- und der Potsdamer Straße zu Berlin. In: Deutsche Bauzeitung, 41. Jahrgang, 1907, S. 85–89, S. 111–112, S. 121–125, S. 257–259, S. 261–265, S. 269–273. Die Metallarbeiten im Weinrestaurant Rheingold, Bellevue und Potsdamer Straße in Berlin. In: Bautechnische Zeitschrift, 23. Jg., 1908, S. 107, S. 196–200. Weblinks Entwurfszeichnungen. Architekturmuseum der TU Berlin Weinhaus Rheingold. potsdamer-platz.org Einzelnachweise Berlin-Tiergarten Gastronomiebetrieb (Berlin) Erbaut in den 1900er Jahren Zerstört in den 1940er Jahren Abgegangenes Bauwerk in Berlin Potsdamer Platz Zerstört im Zweiten Weltkrieg
4462634
https://de.wikipedia.org/wiki/Loschwitzer%20Kirche
Loschwitzer Kirche
Die Loschwitzer Kirche ist eine barocke Kirche im Dresdner Stadtteil Loschwitz. Sie war der erste Kirchenbau des Architekten der Dresdner Frauenkirche, George Bähr. Der bis 1907 als Begräbnisstätte genutzte Kirchhof ist eine der wenigen im 18. Jahrhundert neu angelegten Kirchhofanlagen Sachsens, die noch original erhalten sind, und mit rund 400 Quadratmetern der kleinste Friedhof der Stadt. Die Loschwitzer Kirche und der Kirchhof stehen unter Denkmalschutz. Geschichte Die Situation vor dem Bau der Loschwitzer Kirche Loschwitz fand erstmals 1315 als Loscuicz urkundliche Erwähnung. Mit der Erweiterung des ursprünglich slawischen Rundweilers unterstanden die Ländereien schon im 14. Jahrhundert dem Maternihospital in Dresden. Zusammen mit 25 weiteren Dörfern gehörte Loschwitz zum Kirchspiel der in unmittelbarer Nachbarschaft des Maternihospitals liegenden Kirche „Zu unserer Lieben Frauen“, der Urpfarrei der späteren Frauenkirche, die zwischen der heutigen Dresdner Frauenkirche und dem Coselpalais lag. Loschwitzer Einwohner mussten sich anlässlich des Gottesdienstes, der Beichte oder einer Trauung stets zu der mehrere Kilometer entfernten Pfarrei begeben, was vor allem im Winter beschwerlich war. Taufen fanden in der Kreuzkirche statt. Die Toten des Dorfes Loschwitz wurden auf dem Frauenkirchhof und ab 1571 auf dem alten Johanniskirchhof bestattet. Nach Ende des Dreißigjährigen Krieges im Kurfürstentum Sachsen durch den 1645 geschlossenen Waffenstillstand von Kötzschenbroda erlebte Sachsen einen wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung. Mit dem steten Anwachsen der Einwohnerzahlen in Dresden und den zum Kirchspiel der Dresdner Frauenkirchgemeinde gehörenden Dörfern wurden die Gottesdienste in der mittelalterlichen Frauenkirche wegen Überfüllung fast unmöglich. Es war nicht ungewöhnlich, dass die Gemeindeglieder aus Loschwitz „bei ungewöhnlich starkem Kirchenbesuche aus der Kirche zur lieben Frauen gedränget und auf den Kirchenboden der kleinen alten Frauenkirche gewiesen“ wurden. Gleichzeitig konnte der Seelsorger der Frauenkirchgemeinde umliegende Ortschaften nur zeitlich begrenzt besuchen, da Dresden als Festungsstadt seine Tore abends geschlossen hielt. „Es war öfter nicht möglich, in später oder früher Tages oder zur Nachtzeit den Seelsorger zu erlangen, um Kranken oder Sterbenden das heilige Abendmahl zu reichen, Nottaufen zu verrichten, schweren Kranken Trost zu bringen und dergleichen mehr.“ Im Dezember 1702 beim Rat zu Dresden und erneut 1703 beim Oberkonsistorium und dem Kurfürsten beantragten die Dörfer Loschwitz und Wachwitz die Abpfarrung von der Frauenkirche. Nachdem zuerst ein „Lesegottesdienst“ in einem Schulhaus in Loschwitz bewilligt worden war, den schon ab 1702 ein Schulmeister immer sonn- und feiertags im Schulgebäude in Loschwitz gehalten hatte, stimmte August der Starke 1704 der Auspfarrung und damit der Gründung einer Loschwitzer Kirchgemeinde zu. Neben Loschwitz gehörten auch das nahe liegende Dorf Wachwitz und der Gasthof und Anwesen „Zum Weißen Hirsch“ zur Gemeinde. Der Rat der Stadt Dresden erhielt das Patronatsrecht über die Kirchgemeinde und war daher auch für die Finanzierung und den Bau einer Kirche verantwortlich. Zudem setzte sie den Pfarrer ein. Am 4. April 1704 wurde Johann Arnold als erster Pfarrer der neuen Kirchgemeinde berufen und am 21. September 1704 bestätigt. Als Parochie konnte nun mit dem Bau einer Kirche begonnen werden. Der Bau der Loschwitzer Kirche Im Jahr 1704 wurde dem Zimmermann George Bähr der Entwurf der Kirche übertragen. Er führte ihn zusammen mit dem Ratsmaurermeister Johann Christian Fehre aus, wobei der Grundriss der zu bauenden Kirche mehrfache Veränderungen erfuhr. Bereits am 3. März 1704 ließ die Gemeinde erste Steine für die Kirche am „Bachhorn“ in Pirna ausschiffen und den Winter über am Schulhaus in Loschwitz einlagern. Das Schulhaus befand sich am Übergang vom Körnerplatz zur Pillnitzer Landstraße und damit mitten im Dorf, wo die Loschwitzer Gemeinde auch die Kirche errichten lassen wollte. Entgegen dem Willen der Gemeinde wählte der Rat der Stadt Dresden den rund 150 Meter entfernten und im Ratsbesitz befindlichen „Materni-Weinberg“ des Maternihospitals als Kirchenstandort. Der Platz am östlichen Rand des Dorfes an der Straße nach Wachwitz war im Gegensatz zum Dorfkern hochwassersicher gelegen und der Weinberg als christliches Motiv bewusst gewählt. „Die eigentlichen Bauarbeiten begannen erst am 27. April 1705, wo der Ratsmaurermeister Fehre aus Dresden zum Steinezuspitzen und -zurichten 6 Maurer herschickte“, unter ihnen sein Sohn Johann Gottfried. Am 14. Mai 1705 umgingen die ersten Kirchenväter der neuen Parochie und Männer der Ratsgemeinde, der Amtsgemeinde und aus Wachwitz feierlich den Platz der neuen Kirche und sangen dabei drei Kirchenlieder („Ich ruf zu dir, Herr Jesu Christ“, „In dich hab ich gehoffet, Herr“, „Es soll uns Gott gnädig sein“). Daraufhin wurden die Weinpfähle gezogen, die Weinstöcke ausgegraben und der Grund der Kirche gegraben. Am 29. Juni 1705 erfolgte in Gegenwart des fürstlichen Kommissars Graf Friedrich von Schönberg die Grundsteinlegung der Loschwitzer Kirche, dazu sang der Dresdner Kreuzchor. Den Grundstein ergänzte ein Kupferkästchen, in das man die Augsburger Konfession, Luthers Katechismus, einen Abriss des zu bauenden Gebäudes und die Geschichte des Ortes auf Pergament geschrieben beilegte. Den Bau selbst führte in den folgenden Jahren der Dresdner Ratsherr und Ratsbaumeister Johann Siegmund Küffner aus, der auch für die Einstellung von Arbeitern verantwortlich war. Im Jahr 1706 kam es an der Kirche, deren Grundmauern bereits standen, zu einer Bauunterbrechung, da während des Großen Nordischen Krieges das schwedische Heer auch in Sachsen eindrang. In der Folge flohen die Loschwitzer Einwohner und Bauleute. Der Rat der Stadt Dresden beauftragte den 1704 zum Pfarrer für Loschwitz berufenen Johann Arnold, dem König von Schweden eine Bittschrift um Schonung des Kirchenbaus zu überbringen. Mit den Kirchenvätern von Loschwitz und Wachwitz ging Arnold nach Radeberg, wo Karl XII. mit seinem Heer lagerte, und ließ ihm die Bittschrift der Gemeinde überbringen. Graf Carl Piper, der Berater des Königs, richtete der kleinen Abordnung schließlich aus: Nachdem den Handwerkern im September 1706 so vom schwedischen König Sicherheit versprochen worden war, konnten die Bauarbeiten fortgesetzt werden. Ab dem 1. Mai 1707 folgte eine erneute Pause, da infolge der Brandschatzungen der Schweden kein Geld für einen Weiterbau vorhanden war. Auch in diesem Fall konnte nach Intervention Arnolds noch im selben Monat mit dem Bau fortgefahren werden. Am 3. August 1708, dem Namenstag Augusts des Starken, erfolgte die feierliche Weihe der Loschwitzer Kirche. Entstanden war ein achteckiger, barocker Saalbau, der äußerlich in Altrosa verputzt auffällig, im Inneren jedoch eher schlicht gehalten war. Zwei Jahre später beendeten die Bauleute auch die Außenarbeiten auf dem Kirchhof. Die Renovierung 1898/99 In den folgenden Jahren fanden immer wieder kleinere Renovierungen der Kirche statt, vor allem die 1753 gebaute Leibner-Orgel musste wiederholt Wartungen unterzogen werden. Ende des 19. Jahrhunderts war die Einrichtung und der grundlegende Standard der Kirche, der in weiten Teilen dem Ursprungsbau aus dem Jahr 1708 entsprach, nicht mehr zeitgemäß. Sie hatte weder eine Wasserleitung innerhalb des Gebäudes noch eine Gasleitung, über die zum Beispiel Leuchter hätten entzündet werden können. Die Gemeinde entschloss „sich endlich nach vielen, vorsichtigen Erwägungen, alle die gestellten Forderungen in einer großen und gründlichen, für viele Jahrzehnte alle Reparatur-Arbeiten ausschließenden Gesammterneuerung zusammenzufassen und mit einem Male zu erledigen.“ Der Loschwitzer Architekt Karl Emil Scherz leitete die 1898 und 1899 erfolgte Renovierung der Kirche. Ihr eher schlichter Innenraum erfuhr dabei eine Neugestaltung mit Goldverzierungen und Ausschmückungen. Die langen Fenster erhielten Glasmalereien, hinzu kamen ein erneuertes Gestühl und Ergänzungen am Altar. Während der Innenraum olivgrün gestrichen wurde, bekam die Fassade statt des ursprünglichen Altrosa einen grauen Anstrich. Die Wiederweihe der Loschwitzer Kirche fand am 12. März 1899 statt. Bis auf kleinere Erneuerungen – so mussten zwei im Ersten Weltkrieg eingeschmolzene Glocken ersetzt werden – blieb die Loschwitzer Kirche bis 1945 unverändert. Zerstörung der Kirche 1945 und Wiederaufbau Während der Luftangriffe auf Dresden am 13. und 14. Februar 1945 trafen mehrere Bomben die Loschwitzer Kirche. In der Folge brannte sie bis auf die Umfassungsmauern nieder. Bis 1946 wurde die Ruine vom Schutt befreit, 1947 erfolgten Sicherungsmaßnahmen an den verbliebenen Umfassungsmauern. Bereits 1946 und erneut 1950 bildete sich ein „Ausschuss für den Wiederaufbau der Kirche“, der die dafür nötigen Vorbereitungen traf. Seine Mitglieder wählten als Architekten Oskar Menzel und Herbert Burkhardt, doch fehlten die finanziellen Mittel genauso wie Baumaterialien. „Das als Geschenk der Ev.-Luth. Kirche Finnlands 1963 dort bereitliegende Bauholz durfte nicht eingeführt werden, solange die Baugenehmigung nicht erteilt war. Diese aber wurde verweigert, weil das notwendige Baumaterial nicht zur Verfügung stand.“ Für die Stadt Dresden ging zu dieser Zeit der Wiederaufbau der Dreikönigskirche und der Matthäuskirche vor. Im Jahr 1967 wurde die erhaltene Sakristei instand gesetzt und als funktioneller Kirchenraum eingerichtet. In der Ruine fanden erste Gottesdienste statt. Die „Junge Gemeinde“ errichtete in ihr zudem einen provisorischen Glockenstuhl und ließ ihn 1969 mit drei neuen Glocken aus Apolda versehen. Am 31. Mai 1978 wurden die Kirchenruine und der Kirchfriedhof nach einem Bezirkstagsbeschluss unter Denkmalschutz gestellt. Da am Mauerwerk mit den Jahren Schäden infolge von Verwitterung auftraten, begannen in den 1980er-Jahren erneut Diskussionen um einen Wiederaufbau der Loschwitzer Kirche, deren Wortführer der 1984 gegründete „Wiederaufbau-Ausschuß“ war. Das Landeskirchenamt Sachsen bewilligte den Wiederaufbau 1989 unter Auflagen, so sollten die Bauausführung und Kosten durch die Kirchengemeinde übernommen werden; „Spenden in konvertierbarer Währung“ waren strikt untersagt. In München gründete Pfarrer Ullrich Wagner am 29. Juli 1989 den „Verein für den Wiederaufbau der evangelischen Kirche in Dresden-Loschwitz e. V.“, der Spendengelder sammelte. Im November 1989 wurde offiziell der Beginn des Wiederaufbaus bekannt gegeben. Am 29. Juni 1991 erfolgte die symbolische Grundsteinlegung. Die Finanzierung des Wiederaufbaus erfolgte in den folgenden Jahren hauptsächlich aus Spendengeldern: Neben den Geldern des Münchner Vereins unterstützten die Deutsche Stiftung Denkmalschutz, die Körber-Stiftung, die Dresdner Bank, das Regierungspräsidium und zahlreiche Privatleute den Wiederaufbau. Auch Dresdner Künstler wie Theo Adam, Peter Schreier und Udo Zimmermann leisteten unter anderem mit Benefizkonzerten ihren Beitrag. Am 3. Oktober 1992 wurde das Richtfest gefeiert. Bei der äußerlichen Gestaltung richteten sich die Architekten nach dem Originalbau von 1708, so zeigt sich zum Beispiel der Putz des Kirchenbaus wieder in Altrosa. Gleichzeitig berichtigten sie statische Fehler George Bährs im Dachtragwerk. Die äußere Erneuerung der Kirche kam am 2. Oktober 1994 mit der Wiederweihe der Loschwitzer Kirche zum Abschluss. Es folgte der Innenausbau. Bereits kurz vor der Kirchweihe 1994 hatte die Hannoveraner Gemeinde St. Johannis der Loschwitzer Kirche das alte Gestühl der renovierten Neustädter Kirche geschenkt. Neben einem provisorischen Altar wurden bis 1997 auch die beiden Emporen aufgebaut, sodass am 5. Oktober 1997 die neue Wegscheider-Orgel geweiht werden konnte. Der neue Taufstein und das Lesepult stammen vom Dresdner Künstler Peter Makolies. Der alte Kanzelaltar konnte nicht restauriert werden, da er zu stark beschädigt war. Im Jahr 2002 fand der Nosseni-Altar der 1945 zerstörten und 1963 abgetragenen Dresdner Sophienkirche in der Loschwitzer Kirche einen neuen Standort. Im Einklang mit den Farben des Altars erhielt der Kircheninnenraum 2004 einen Anstrich in gelben Farbtönen mit weißen Hervorhebungen. Von 2004 bis 2009 war die Loschwitzer Kirche, da sie der Kulturlandschaft Dresdner Elbtal zwischen den Schlössern Übigau und Pillnitz angehört, Teil des UNESCO-Weltkulturerbes. Baubeschreibung Äußeres Die Loschwitzer Kirche hebt sich in ihrer äußeren Gestalt deutlich von den zur damaligen Zeit schlichten Dorfkirchen ab. Im Anklang an den barocken Zentralbau wurde sie oktogonal, jedoch langgestreckt als Saalbau angelegt. Ein erhaltener Entwurf zeigt, dass die Loschwitzer Kirche ursprünglich verkürzt und breiter angelegt war und damit eher dem regelmäßigen Achteck eines typischen barocken Zentralbaus entsprochen hätte. Der einzige Zugang hätte sich auf der Westseite der Kirche befunden, alle anderen Seiten wären mit Betstübchen umbaut gewesen. Der Entwurf hätte am gleichen Ort wie der realisierte Bau gestanden, der sich rund 2,5 Meter über der schon damals angelegten Straße befand. Der Zugang zum Grundstück war daher als asymmetrische Freitreppe geplant. Es ist nicht bekannt, wie das Äußere dieser Kirche geplant war. „Der Grund, den Entwurf nicht auszuführen, wird der gewesen sein, dass bei dem abschüssigen Gelände die Fundamentarbeiten zu schwierig gewesen wären. Deswegen wurde wahrscheinlich das Achteck verschmälert.“ Die Loschwitzer Kirche ist mit der Sakristei 27,7 Meter lang und 16,3 Meter breit. Die Höhe ohne Wetterfahne beträgt 41,5 Meter. Der Zugang erfolgt beim ausgeführten Entwurf einerseits auf der ursprünglich geplanten Seite durch das Westportal, das auch heute noch der hauptsächlich genutzte Eingang der Kirche ist. Der Schlussstein der Toreinfassung trägt die Inschrift Proximo datum (Dem Nächsten übergeben). Ein zweiter Zugang zum Kirchenschiff ist über die der Elbe zugewandten südlichen „Schauseite“ der Kirche möglich, die mit dem Hauptportal reich geschmückt ist. Das Hauptportal aus unverputztem Sandstein wird von je drei ionischen Pilastern flankiert, die in eine Überdachung münden. Zwischen dem Schlussstein der Toreinfassung, der die Inschrift DEO REDDITUM (Gott übergeben) trägt, und der Überdachung befinden sich zwei typisch barocke, ungefüllte Kartuschen, die von einer schlichten Krone überragt werden. Zwischen dem Hauptportal und dem darüber liegenden Fenster ist eine Vertikalsonnenuhr in Form eines geschlungenen weißen Bandes aufgemalt, die die Zeit von etwa 10 bis 19 Uhr anzeigt. Während sich die in weißem Kalkmörtel gestaltete Sonnenuhr bereits am ursprünglichen Gebäude befand, war sie während der Restaurierung 1898/99 „mit Beibehaltung der alten Conture jetzt in Kalkmörtel und Cement freihändig ausgeführt und so zu plastischer Wirkung gebracht worden.“ Teile der Uhr, wie Ziffern und Markierungen, waren vermutlich vergoldet. Der Brand der Loschwitzer Kirche 1945 zerstörte die Sonnenuhr zu rund 50 Prozent. Die heutige Ausführung ist wie die erste Sonnenuhr aufgemalt, zeigt aber ein anderes Muster. Wie auf alten Dokumenten sichtbar ist, war die Zeichnung ursprünglich nicht symmetrisch, sondern ging auf der rechten Seite höher als auf der linken. Die angezeichnete Zahl „VIII“ fehlt daher aus Platzgründen auf der heutigen Sonnenuhr. An der Südseite der Kirche schließt sich die eingeschossige Sakristei an, die von außen zugänglich ist. An der Nordseite der Kirche befanden sich am Ursprungsbau zudem ebenerdige Betstübchen. Das Gebäude ist heute wie in der ursprünglichen Form altrosa geputzt, in der Zeit zwischen der Renovierung 1898/99 und der Zerstörung der Kirche 1945 war das Äußere der Kirche grau verputzt. Die hohen Stichbogenfenster, die mittig geteilt sind, werden durch weiß geputzte Faschen betont. Der obere Abschluss weist eine kleine Überdachung mit einem hervorgehobenen Schlussstein auf. Weiß verputzt sind ebenso die Ecken der Kirche, die mit Gestein verstärkt wurden (sogenannte Lisenen) und in ein stilisiertes Akanthus-Blatt übergehen, das wiederum mit dem ebenfalls weiß verputzten Hauptgesims verbunden ist. Das steile Mansarddach der Kirche, das neun Dachfenster mit weiß geputzter Umfassung hat, ist mit roten Dachziegeln gedeckt. Daran schließt sich der hoch aufragende, fast turmartige Dachreiter an, der mit Schiefer gedeckt ist und durch eine für George Bährs Bauten typische „Welsche Haube“ abgeschlossen wird. Inneres Der Innenraum der Kirche entsprach in seiner Schlichtheit einer Dorfkirche. Im Kirchenschiff standen zu beiden Seiten des Mittelgangs Kirchenbänke, die für die Frauen der Gemeinde reserviert waren. Unterhalb der hölzernen Emporen, die für die Männer bestimmt waren, lagen in zwei Reihen leicht erhöhte Bankreihen, auf denen die Weinbergsbesitzer mit ihren Familien saßen. Gegenüber der Kanzel über dem Westportal befanden sich auf der ersten Empore die Patronatsloge und in der darüberliegenden zweiten Empore die Orgel und der Platz für den Chor. An der Brüstung der zweiten Empore stand die Inschrift Sanctus Sanctus Sanctus Dominus Deus Zebaoth. Insgesamt bot die Loschwitzer Kirche Platz für 820 Gläubige. Die Ecken der Kirche waren mit Pilastern geschmückt, die in Volutenkapitelle mündeten, woran sich das Spiegelgewölbe anschloss. In dessen Mitte war ein Deckengemälde des Malers Johann Gottlob Schieritz († 1738) zu sehen, das den „Lobpreis Gottes zeigte“ und von einem Stuckrahmen umschlossen war. Nach fast 200 Jahren wurde der Innenraum der Loschwitzer Kirche durch Karl Emil Scherz in den Jahren 1898 und 1899 komplett renoviert. Dabei ersetzte man das Gestühl, die Emporen und die Bankreihen der Weinbergbesitzer durch eine zeitgemäßere Einrichtung, die jedoch das Prinzip der zwei Emporen beibehielt. Die Kirche präsentierte sich „im Inneren in einer dem damaligen Empfinden entsprechenden dunkleren, Farbe und Licht zurückdrängenden Gestalt.“ Neben einem dunklen Gestühl sorgte dafür auch der Innenanstrich in olivgrün. Fenster Der ursprüngliche Kirchenbau hatte Fenster mit Butzenscheiben, wie sie zum Beispiel noch heute bei der fast zeitgleich erbauten St.-Georgen-Kirche in Schwarzenberg vorzufinden sind. Ab 1807 wurden die Fenster durch preiswerte Flachglastafeln ersetzt, die schließlich einheitlich in Holzrahmenfenster eingesetzt wurden. Bis zur Renovierung 1898/99 existierten nur noch drei Fenster mit den ursprünglichen Butzenscheiben. Bei der Renovierung erhielten alle Fenster Bleiverglasungen der Firma Urban & Goller. Die beiden neuen Altarfenster stiftete der Loschwitzer Maler Eduard Leonhardi. Nach einer Idee Leonhardis entwarf der Loschwitzer Maler Georg Schwenk biblische Motive, mit denen beide Fenster versehen wurden: „Es sollten das Gottvertrauen durch den im Garten von Gethsemane betenden Christus und die Nächstenliebe durch den in der Ausübung seiner barmherzigen That begriffenen Samariter zur Darstellung gelangen und so wie diese Aufgabe gelöst ward, würdig und wirksam, gereichte sie nicht nur dem Herrn Auftraggeber, sondern auch der damit beglückten Kirchgemeinde zur Freude.“ Neben den Altarfenstern wurden auch die restlichen Fenster des Kirchenschiffs gestaltet. Urban & Goller schuf dafür in einfacher, matter Färbung im oberen Fensterteil kirchliche Embleme und darunter je einen Bibelspruch. Die Fenster des Kirchenschiffs erhielten zudem Vorrichtungen zum Öffnen. Bei der Bombardierung 1945 wurden alle Fenster der Kirche zerstört. Von den Glasmalereien konnten nur zwei kleine Fragmente aus den Trümmern gerettet werden. Beim Wiederaufbau verzichtete man auf Glasmalereien und entschied sich für einfache, kleinteilige Holzrahmenfenster, wie sie George Bähr zum Beispiel auch bei der Schmiedeberger Kirche Zur Heiligen Dreifaltigkeit verwendet hatte. Die Fenster der Sakristei sind im Gegensatz dazu mit Bleiverglasungen und kleinen Glasmalereien versehen. Altar Der Altar aus Sandstein, der erste Kanzelaltar in der Dresdner Umgebung, bildete das Herz der Kirche. Er war eine Schenkung des Ratsherrn Küffner an die Kirche. Die Kanzel wurde von mehreren Pilastern und einer korinthischen Säule zu jeder Seite umrahmt, die in einen Fries mit kleinen Engelsköpfen mündeten. Pilaster und Säulen waren aus Stuckmarmor gefertigt, während der Kanzelkorb, an dem sich ein Relief mit der Abbildung des Schweißtuchs der Veronika befand, aus Holz bestand. Zwischen Kanzel und Fries war die Figur einer die Schwingen öffnenden Taube angebracht. Auf dem Giebel oberhalb des Frieses befand sich ein flammendes Herz, das mit dem Tetragramm יְהֹוָה („Jehowáh“) beschriftet war und von Palmwedeln flankiert wurde. Zahlreiche Teile der Inneneinrichtung, wie der Taufstein, das Kruzifix und das Taufbecken, aber auch der Priesterrock und die Altarleuchter, wurden von Privatpersonen gespendet. Während der Renovierung Ende des 19. Jahrhunderts blieb der Altar weitgehend in seinem Originalzustand. Teile des Altars wurden vergoldet und der Altartisch nun von zwei Marmorsäulen getragen. Der Altarraum wurde mit Marmorplatten ausgelegt. Der bei der Renovierung genutzte Marmor stammte aus den Saalburger Marmorwerken. Auf dem flammenden Herz wurde das Tetragramm durch das Christusmonogramm getauscht und auf zwei seit 1708 ungenutzte Postamente am Altar die lebensgroßen Statuen des Johannes und Paulus von Tarsus gesetzt, die Robert Ockelmann geschaffen hatte. Durch den Brand der Kirche 1945 wurde auch der Altar schwer beschädigt und verwitterte in den folgenden Jahren, sodass er wegen Einsturzgefahr 1969 teilweise abgetragen wurde. Eine Rekonstruktion war aufgrund des starken Verfalls nicht möglich. Während des Wiederaufbaus der Kirche wurde der verbliebene Altarunterbau entfernt. Teile fanden als Stipes für einen provisorischen Altartisch Verwendung, den der Bildhauer Ole Göttsche 1994 schuf. Er steht noch heute vor dem Altar und hat seine Funktion als Mensa behalten. → Hauptartikel: Nosseni-Altar Am 1. April 1993 stellte die Loschwitzer Kirchgemeinde beim Landeskirchenamt den Antrag, den Nosseni-Altar der 1945 zerstörten und 1963 abgetragenen Dresdner Sophienkirche in die Loschwitzer Kirche zu übernehmen. Der 1606/07 entworfene Altar aus Alabaster, Marmor und Sandstein lagerte zu dieser Zeit in rund 350 Einzelteilen an verschiedenen Orten Dresdens. Da die räumlichen Voraussetzungen für eine Aufstellung des Altars gegeben waren, begann 1998 die Rekonstruktion und Restaurierung des Altars. Am 6. Oktober 2002 wurde der elf Meter hohe Nosseni-Altar in der Loschwitzer Kirche feierlich geweiht. Kirchenschmuck Der Kircheninnenraum ist schlicht gehalten und vom Altar abgesehen nahezu schmucklos. Bereits Cornelius Gurlitt erwähnte in seiner Inventarisierung der Kunst- und Baudenkmäler Sachsens 1904 zwei Sandsteintafeln, die sich noch heute hinter dem Altar befinden und in lateinischer Sprache auf die Geschehnisse rund um den Kirchenbau eingehen. An der südlichen Kirchenwand weist heute eine weitere Sandsteintafel auf die Gründung einer Stiftung im Jahr 2004 hin. Schon während der Erneuerung der Kirche 1898/99 verschwand das Deckengemälde von Johann Schieritz, das auch im Zuge des Neubaus der Kirche nicht ersetzt wurde. Im Jahr 1904 befanden sich im Kirchenraum mehrere Gemälde, so ein „Bildniss Melanchthons“ (73 cm × 145 cm), das ein von Gurlitt auf das 17. Jahrhundert datierte Werk „nach Lukas Cranach“ war. Ein zweites, jedoch stark übermaltes Gemälde stellte den Pastor Johann Arnold dar und maß 60 cm × 85 cm. Ein Brustbild Martin Luthers, das die Gemeinde 1846 vom Weinbergsbesitzer Gottlob Reintanz erhalten hatte und das sich seitdem an der nördlichen Kirchenwand befand, erwähnt Gurlitt nicht, sodass es möglicherweise während der Renovierung entfernt wurde. Das „Gemälde des Gekreuzigten“ (105 cm × 142 cm), das Cornelius Gurlitt auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts datierte und als Kopie des Anthonis van Dyck einschätzte, befand sich in der Sakristei und überstand die Bombardierung. Der erste Taufstein bestand aus Lindenholz und zeigte Engel, die einen Korb mit der Taufschüssel tragen. Der Deckel war kronenartig gestaltet und mit Blumengirlanden geschmückt. Auf der Spitze befand sich ein Kreuz. Der erste Taufstein wurde 1945 zerstört, während andere Kirchengeräte im Tresorraum der Kirche untergebracht waren und erhalten blieben, so ein Bronzeleuchterpaar aus dem Jahr 1709. Der Dresdner Künstler Peter Makolies schuf in den 1990er Jahren neben einem Lesepult auch den neuen Taufstein der Loschwitzer Kirche. Auf einem schlichten Sockel befindet sich die einfach gehaltene Schale, deren Deckel eine kleine Figur ziert, die Johannes den Täufer darstellt. Die Paramente für Mensa und Ambo in den Farben Violett, Grün, Rot und Weiß entsprechend den einzelnen Abschnitten im Kirchenjahr wurden in den 1980er Jahren für den Saal des Kirchgemeindehauses vom Maler Jürgen Seidel (1924–2014) und der Textilgestalterin Gertraude Seidel (1924–2011) geschaffen. Eine der Figurennischen an der Nordseite der Kirche ist heute von einer hölzernen Figur des gekreuzigten Jesus belegt. In einer weiteren Nische ist die Grabfigur Trauernder Genius mit verlöschender Fackel von Christian Gottlieb Kühn aufgestellt. Ursprünglich befand sie sich auf dem St.-Pauli-Friedhof, wurde später auf den Loschwitzer Kirchfriedhof überführt und schließlich aus Witterungsgründen in der Kirche untergebracht. Orgel Eine Orgel konnte sich die Loschwitzer Gemeinde in den Anfangsjahren nicht leisten, „zur Begleitung des Gesanges [wurde] nur ein Positiv benutzt“, das aus der Dreikönigskirche überbracht worden war. Als die Kirche „Zu unserer Lieben Frauen“ abgerissen wurde und ab 1726 der Neubau der barocken Frauenkirche begann, war die von Tobias Weller 1619 gebaute Orgel der alten Frauenkirche vakant geworden. Aus der alten Frauenkirchenorgel und einer zweiten baufälligen aus der Kirche des Dorfes Plauen entstanden bis 1753 zwei preiswerte Orgeln, von denen die Gemeinde Loschwitz eine erstand. Die am 21. Oktober 1753 geweihte Loschwitzer Orgel wurde von Johann Christoph Leibner geschaffen und enthielt elf Stimmen der alten Frauenkirchenorgel. Von Beginn an waren Reparaturen am Orgelwerk vonnöten. Neben den alten Werkteilen sorgte auch der Holzwurmbefall des Instruments für zahlreiche Reparaturen. Während der Renovierung der Kirche 1898/99 wurde daher der Kauf einer neuen Orgel beschlossen, die die Gebrüder Jehmlich schufen. „Am 9. März Nachmittags präsentirte sich dieselbe [Orgel] zum ersten Mal mit ihrem herrlichen stilvollen Prospekte und ihren Stimmen voll Kraft und Lieblichkeit und all der im Orgelbau neuesten Mechanik der erfreuten Kirchengemeinde.“ Da die neue Orgel größer als das ursprüngliche Instrument war, wurde die Orgelempore um einen Meter in den Kirchenraum erweitert. Im Ersten Weltkrieg wurden die Prospektpfeifen aus Zinn im Zuge der Reichsmetallspende eingeschmolzen. Als Ersatz erhielt die Orgel Prospektpfeifen aus Zink. Eine Erweiterung der Orgel fand 1927 statt, als ein drittes Manual für das Fernwerk hinzukam, dessen Pfeifenwerk auf dem Dachboden installiert wurde. Im folgenden Jahr wurde das Werk durch ein Celesta-Register erweitert; „die Loschwitzer Orgel soll um diese Zeit die einzige in Sachsen gewesen sein, die ein derartiges besaß.“ Die Orgel der Loschwitzer Kirche wurde 1945 zerstört. Nach der Weihe der wiederaufgebauten Kirche 1994 wurde zunächst ein Orgelpositiv (Op. 654) der Gebrüder Jehmlich aufgestellt, das die Gemeinde bereits 1951 erworben hatte. Am 5. Oktober 1997 erfolgte in der Loschwitzer Kirche die feierliche Weihe einer neuen Wegscheider-Orgel mit einem Manual (2. Manual mit Wechselschleifen), Pedal und 20 Registern. Disposition der Wegscheider-Orgel: Anmerkungen Später wurde die Wegscheider-Orgel noch durch einen Zimbelstern ergänzt. Glocken Die Loschwitzer Kirche hatte zu Beginn drei Glocken, wovon die größte sieben Zentner wog und eine zweite fünf Zentner. Sie wurden zwei Tage vor der Kirchenweihe am 1. August 1708 geweiht. Das Geläut der Loschwitzer Kirche wurde bereits 1710 mit einer Schlaguhr verbunden, die jedoch aus Kostengründen erst 1862 ein Zifferblatt auf der Westseite des Kirchturms und 1878 ein zweites Zifferblatt in Richtung Wachwitz erhielt. Nachdem sich bei der großen und der mittleren Kirchenglocke Risse gezeigt hatten, wurden für die Loschwitzer Kirche drei neue Glocken vom Königlich-Sächsischen Stückgießer Johann Gotthelf Große aus Dresden gegossen, die 1861 feierlich geweiht wurden: Bei der Renovierung der Kirche 1898/99 ersetzte man alle drei Glocken durch neue. Für Kriegszwecke wurden zwei dieser Glocken eingeschmolzen und 1923 durch zwei neue Glocken ersetzt. Während des Zweiten Weltkriegs mussten erneut die beiden größten Glocken zum Einschmelzen abgegeben werden. Die Luftangriffe auf Dresden 1945 hatten schließlich die Kirche „so gründlich zerstört, dass selbst von der Taufglocke, der einzigen, die nicht wiederum für den Krieg eingeschmolzen worden war, nichts gefunden wurde. Erst später entdeckte man bei Aufräumungsarbeiten in der Ruine einen kleinen Bronzerest von ihr.“ Die „Junge Gemeinde“ errichtete in der Kirchruine 1969 einen provisorischen Glockenstuhl, der mit drei neuen Bronzeglocken der Gießerei Schilling aus Apolda versehen wurde. Die insgesamt fünfte Glockenweihe in der Geschichte der Loschwitzer Kirche erfolgte am 2. November 1969. Kirchhof Vor dem Bau der Loschwitzer Kirche wurden die Toten des Dorfes Loschwitz seit 1571 auf dem Johanniskirchhof vor dem Pirnaischen Tor beerdigt. Mit dem Bau der Kirche legte man in spätmittelalterlicher Tradition auch zwei Grabfelder auf dem Kirchhof an, die der Gemeinde als Friedhof dienen sollten. In der nordwestlichen Ecke des Grundstücks befand sich ein Bahrenhaus. Bis um 1800 war der Loschwitzer Kirchhof der einzige Friedhof des Dorfes. Die ersten Beerdigungen fanden bereits vor der Fertigstellung der Anlage 1710 statt. Die kleine Fläche konnte in den folgenden Jahren nicht erweitert werden: Östlich, südlich und nördlich der Kirche befanden sich Weinberge, westlich der Kirche lag 2,5 Meter unterhalb von ihr die heutige Pillnitzer Landstraße, „bis 1885 ein kaum vier Meter breiter, unbefestigter Fahrweg“. Kirche und Kirchhof konnten schon zur Zeit des Baus nur über eine doppelläufige Rampe erreicht werden, waren so jedoch optimal vor Hochwasser geschützt. Im Jahr 1800 wurde zur Entlastung des Kirchhofs der Loschwitzer Friedhof angelegt, sodass bis 1907 nur noch vereinzelt Bestattungen, zumeist Erbbegräbnisse, auf dem Kirchhof vorgenommen wurden. Während die Loschwitzer Kirche 1945 zerstört wurde, waren am Kirchfriedhof nur kleinere Schäden zu verzeichnen. Die zumeist aus Sandstein bestehenden Grabmale verfielen jedoch in den folgenden Jahrzehnten oder wurden durch Vandalismus zerstört. Während des Wiederaufbaus der Loschwitzer Kirche wurden die Grabsteine zunächst vollständig entfernt. Im Jahr 1998 begann die Rekonstruktion und denkmalgerechte Restaurierung der Anlage, die 2003 abgeschlossen wurde. Der Loschwitzer Kirchfriedhof ist heute eine „der wenigen original erhaltenen neuangelegten Kirchhofsanlagen in der Dresdner Gegend […] Auf engstem Raum kann hier die Entwicklung der Grabdenkmal- und Grabanlagengestaltung vom Spätbarock bis zum Historismus betrachtet werden.“ Seit 1978 steht der Kirchhof unter Denkmalschutz. An der nordwestlichen Ecke des Grundstücks befindet sich heute ein Lapidarium, wo neben verfallenen Grabplastiken und einer Erinnerungsplatte an gefallene Soldaten des Deutsch-Französischen Kriegs 1870/71 auch eine restaurierte Reproduktion der Grabplatte des Komponisten Johann Gottlieb Naumann zu sehen ist, der als Kind in der Loschwitzer Kirche seine erste musikalische Ausbildung erhielt. Naumanns Grab befindet sich auf dem Eliasfriedhof in Dresden. Auf dem westlichen Feld des Kirchfriedhofs befinden sich unter anderem die Gräber des Autors Eduard Maria Oettinger und des ersten Loschwitzer Chronisten und Kantors der Loschwitzer Kirche Friedrich Wilhelm Pohle. Bedeutende Loschwitzer Persönlichkeiten auf dem westlichen Gräberfeld sind zum Beispiel Friedrich Wilhelm Seebe (1791–1867), Besitzer des Weinbergs Eckberg, Carl Gottfried Fischer (1783–1802), Besitzer des Gasthofes „Weißer Hirsch“, und zahlreiche Mitglieder der Fährmeisterfamilie Modes, die über mehr als 100 Jahre die Fährgerechtigkeit der Loschwitzer Fähre besaßen. Auf dem südöstlich gelegenen, kleineren Gräberfeld sind heute noch fünf Grabsteine erhalten, darunter die Begräbnisstätte von Lord Jacob Graf von Findlater und seines Geliebten Johann Georg Christian Fischer. Das Grab einer Tochter des Dresdner Goldschmidts Johann Melchior Dinglinger, der ein Weinbergsgrundstück mit Sommerhaus in Loschwitz besaß, ist nicht erhalten. Vor dem südlichen Kirchportal befindet sich seit 1920 ein Gedenkstein von Bildhauer Heinrich Wedemeyer (1867–1941) für den in Loschwitz ermordeten Maler Gerhard von Kügelgen und seinen Sohn Wilhelm von Kügelgen, der in seiner Autobiografie Jugenderinnerungen eines alten Mannes Loschwitz ein literarisches Denkmal setzte. Die Loschwitzer Kirche als Begräbnisstätte Die Loschwitzer Kirche diente im 18. Jahrhundert als Begräbnisstätte. Gräber befanden sich in extra dafür angelegten Grüften im Altar-, Seiten- und Mittelgangsbereich. Die genaue Anzahl an Grabstellen kann nicht rekonstruiert werden. Eine erste Aufzählung von fünf Grüften, die mit bronzenen Epitaphen gekennzeichnet waren, nahm der Loschwitzer Chronist und Kantor Friedrich Wilhelm Pohle 1883 vor. Hinter drei Kreuzen und Sternen auf einer Bodenplatte im Mittelgang vermutete Pohle „Begräbnisstätten von Pfarrerskindern in Loschwitz“. Erst eine Untersuchung der Grabstellen während des Wiederaufbaus der Loschwitzer Kirche Anfang der 1990er-Jahre ergab, dass auch diese Stelle die Gruft einer heute unbekannten Person kennzeichnete. Die Grüfte wurden unter anderem während der Renovierung der Kirche 1898/99 gestört und zum Teil geräumt. Nach Ende der Renovierung brachte man die einfachen bronzenen Inschriftstafeln an den Wänden an. Während der Inventarisierung der Kunst- und Baudenkmäler Sachsens beschrieb Cornelius Gurlitt 1904 detailliert die fünf Bronzeplatten der bekannten Gräber, die im Zweiten Weltkrieg der Reichsmetallspende zum Opfer fielen. Nur von einer Gruft im Mittelgang, die weder Pohle noch Gurlitt beschrieben, ist das Epitaph erhalten und befindet sich heute im Pfarrarchiv. Nutzung Die Loschwitzer Kirche wurde als Dorfkirche für die 1704 neugegründete Loschwitzer Gemeinde erbaut. Nach der Zerstörung der Kirche 1945 fand der Gottesdienst im Kirchgemeindehaus auf der Grundstraße 36 statt. Seit der Kirchweihe am 2. Oktober 1994 ist die Loschwitzer Kirche wieder das Zentrum der Gemeinde. Neben sonntäglichen Gottesdiensten finden im Gebäude auch Trauungen statt. Seit der Weihe der Wegscheider-Orgel am 5. Oktober 1997 hat sich die Kirche zu einem beliebten Konzertort in Dresden entwickelt. Die Wegscheider-Orgel „beeindruckt durch einen fantastischen Raumklang“ und wurde bereits für CD-Einspielungen genutzt. Auch Konzerte in der Loschwitzer Kirche sind auf CD erschienen. Literatur Annette Dubbers (Hrsg.): Loschwitz. Eigenverlag, Dresden 2003, S. 15–18. Ev.-Luth-Kirchgemeinde Dresden-Loschwitz (Hrsg.): 300 Jahre Kirchgemeinde Dresden-Loschwitz. Festschrift. Ev.-Luth. Kirchgemeinde Dresden-Loschwitz, Dresden 2004. Cornelius Gurlitt: Beschreibende Darstellung der älteren Bau- und Kunstdenkmäler des Königreichs Sachsen. Band 26. Meinhold, Dresden 1904, S. 84–89. Marianne Kunze (Red.): Festschrift zur Orgelweihe, 5. Oktober 1997 in der Kirche zu Dresden-Loschwitz. Ev.-Luth. Kirchgemeinde Dresden-Loschwitz, Dresden 1997. Heinrich Magirius: Der Nosseni-Altar aus der Sophienkirche in Dresden. Verlag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Leipzig 2004. Wilhelm Möllering: George Bähr, ein protestantischer Kirchenbaumeister des Barock. Frommhold & Wendler, Leipzig 1933, S. 32–36. Eberhard Münzner: Die Kirche zu Dresden Loschwitz. Schnell & Steiner, Regensburg 1994. Eberhard Münzner: Bericht über die den Wiederaufbau begleitenden denkmalpflegerischen Untersuchungen. Denkmalschutzamt, Landeshauptstadt Dresden 1995. M. J. Nestler: Gesammtüberblick über die Loschwitzer Kirchenerneuerung. In: Sachsens Elbgau-Presse, 2. Beilage. 14. Jahrgang, Nummer 87, 16. April 1899, S. 9–11. Friedrich Wilhelm Pohle: Chronik von Loschwitz. Verlag Christian Teich, Dresden 1883, S. 123–173. Marion Stein: Friedhöfe in Dresden. Verlag der Kunst, Dresden 2000, S. 166–168. Weblinks Website der Loschwitzer Kirchgemeinde EPMC-Dresden Einzelnachweise Kirchengebäude in Dresden Barockbauwerk in Dresden Kulturdenkmal in Dresden Rekonstruiertes Bauwerk in Dresden Erbaut im 18. Jahrhundert Dresden, Loschwitzer Kirche Dresden Loschwitz Pillnitzer Landstraße Denkmalgeschütztes Bauwerk in Dresden Barocke Kirche Zentralbau in Deutschland George Bähr Kirchengebäude in Europa
4620934
https://de.wikipedia.org/wiki/Hochwasserr%C3%BCckhaltebecken%20Jonenbach
Hochwasserrückhaltebecken Jonenbach
Das Hochwasserrückhaltebecken Jonenbach, auch Rückhaltebecken Jonental genannt, war zum Zeitpunkt der Inbetriebnahme eines der 21 existierenden und sechs geplanten Rückhaltebecken im Kanton Zürich in der Schweiz. Es wurde zum Schutz der Gemeinden Affoltern am Albis und Zwillikon vor Hochwasser des 17 Kilometer langen Jonenbaches gebaut. Durch den Bau konnten bereits zwei Hochwasser in den Jahren 2007 und 2008 abgewehrt werden. Das Rückhaltebecken oberhalb des Hochwasserrückhaltedamms stellt ein sogenanntes Trockenbecken oder grünes Becken dar und besteht zu einem grossen Teil aus Waldgebiet. Bei Normalwasser fliesst der Bach durch den Damm hindurch. Bei Hochwasser wird ein Teil des Wassers für kurze Zeit (meist nur Stunden) gestaut. Dieses Bauvorhaben war ein gemeinsames Projekt des Amts für Abfall, Wasser, Energie und Luft, des Tiefbauamts und weiterer kantonaler Ämter. Lage und Geologie Das Rückhaltebecken liegt südöstlich von Affoltern am Albis im Schweizer Kanton Zürich, nahe der Gemeindegrenze zu den Nachbargemeinden Mettmenstetten und Rifferswil. Das Jonental wird von Südosten her vom Jonenbach durchflossen. Kurz vor Affoltern verengt sich das Tal, so dass hier ein Damm mit verhältnismässig wenig Schüttvolumen errichtet werden konnte. Allerdings liegt der Damm damit sehr nahe am Dorf und das nächste Haus ist weniger als 50 Meter entfernt. Der Einzugsbereich für das Wasser im Jonenbach oberhalb von Affoltern beträgt ungefähr 21 km². In geologischer Hinsicht liegt Affoltern im Molassebecken des Schweizer Mittellandes, welches im Verlaufe des Tertiärs mit dem Abtragungsschutt der entstehenden Alpen aufgefüllt wurde, wobei sich die Sedimente in verschiedene Schichten der Meeresmolasse und Süsswassermolasse unterteilen lassen. Situation vor dem Bau des Hochwasserrückhaltebeckens Der Jonenbach hatte bei Hochwasser vor dem Bau des Hochwasserrückhaltebeckens wiederholt Überschwemmungen verursacht. Die Stützpunktfeuerwehr musste jedes Jahr die Gemeinde mit Sandsäcken vor den Wassermassen schützen und vollgelaufene Keller und Garagen auspumpen. Die Hochwasser entstehen durch Starkregen und dadurch, dass der Mensch immer mehr Raum für sich beansprucht und das Wasser in enge Grenzen verweist. Die vor 1994 vorgestellten Projekte zum Hochwasserschutz fanden jedoch bei der Gemeinde keine Zustimmung. Bei den beiden starken Hochwassern von 1994 und 1999 stellte die Gemeinde Schäden von mindestens 11,4 Millionen Franken (ungefähr 7,5 Millionen Euro) fest. Nicht enthalten waren darin die Schäden im Siedlungs- und Landwirtschaftsgebiet, die durch die Versicherungen nicht gedeckt sind. Erst nach diesen Hochwassern wurde ein Projekt, welches sich schon 1982 als gute Lösung entpuppt hatte, weiterverfolgt. In diesem Projekt wurde vorgeschlagen, das Hochwasser vor Affoltern mit einem Erdschüttdamm in einem grossen Rückhaltebecken aufzufangen. Beschreibung des Rückhaltebeckens Das Rückhaltebecken stellt ein sogenanntes Trockenbecken oder grünes Becken dar und besteht zu einem grossen Teil aus Waldgebiet. Dieses bedeutet, dass das Wasser des Flusses im Normalfall (Niedrig- und Mittelwasser) ungehindert durch einen Durchlass (1) im Damm geleitet wird (Querschnitt 3,80 m × 2,70 m mit Einlassdrosselung von 1,40 m × 0,95 m). Erst wenn die durch Starkregen anfallende Wassermenge grösser wird als die Menge, die durch den Grundablass (3) im Staudamm abfliessen kann, wird ein Teil des Wassers durch den Damm zurückgehalten und aufgestaut. Das maximale Stauvolumen des Dammes beträgt ungefähr 392.000 m³ Wasser. Dabei hat sich der Bach oberhalb des Dammes auf einer Länge von etwa einem Kilometer und einer Breite von etwa 150 Metern aufgestaut. Dieser Wasserstand von 513,35 m ü. M. entspricht einer Höhe, wie sie im Mittel alle 100 Jahre einmal erreicht wird. Bei diesem als HQ100 bezeichneten Hochwasser fliessen oberhalb des Dammes etwa 34 m³ Wasser pro Sekunde zu. Durch den Grundablass im Damm fliesst jedoch nur eine Wassermenge von etwa 16 m3/s ab, die vom Bachlauf unterhalb des Dammes sicher aufgenommen werden kann. Dadurch ergibt sich bei einem HQ100 durch den Dammbau eine Dämpfungswirkung von etwa 18 m3/s. Wird dieser kritische Wasserstand überschritten, so fliesst zusätzlich Wasser durch die Hochwasserentlastung (2) ab, um einen weiteren Anstieg des Wasserspiegels und damit eine Überschwemmung der Dammkrone (7) zu verhindern. Dieser zusätzliche Abfluss mündet im Inneren des Dammes in den eigentlichen Durchlass (1), der hier einen Querschnitt von 3,80 v 4,10 Meter besitzt. Auch bei einem HQ1000 (ein Hochwasser, das im Durchschnitt einmal in 1000 Jahren zu erwarten ist) mit 78 m3/s oder sogar einem HQ10000 mit 116 m3/s Zufluss sollte nach den Berechnungen die Hochwasserentlastung ausreichen. Dieses entspräche einem Stauspiegel von 1,35 Metern über dem Hochwassereinlaufbauwerk. Zwar würde es dann in der Gemeinde Affoltern auch zu Überschwemmungen kommen, aber im Vergleich zur vorherigen Situation wäre die Wassermenge deutlich reduziert. Erst bei noch weiterem Anstieg des Wasserspiegels würde im sogenannten Überlastfall ein Abfluss über die östlich des Dammes verlaufende Neue Jonentalstrasse erfolgen. Ein Überspülen des Dammes sollte auch dann nicht geschehen. Der eigentliche Damm wird durch einen rund 163 Meter langen Schüttdamm gebildet und besteht aus Moränenmaterial und tonigem Lehm. Ablauf der Baumassnahmen Der Spatenstich für die Bauarbeiten fand am 2. Juli 2004 statt. Für den Bau des Rückhaltebeckens musste zunächst ein rund 900 Meter langer Teil der Jonentalstrasse an der rechten Talflanke verlegt werden. Ausserdem musste ein Teil des Bachlaufes des Jonenbachs geändert werden. Vor der Aufschüttung des Dammes wurde zuerst im zentralen Bereich des Dammes der 141 Meter lange Durchlass (1) für den Jonenbach erstellt. Dieser Durchlass besteht aus Beton und wurde in Etappen von 7,5 Meter Länge gefertigt. Der Aussendurchmesser des Betondurchlassbauwerks beträgt etwa vier mal fünf Meter. Anschliessend folgte die ebenfalls aus Beton bestehende Hochwasserentlastung (2) mit dem knapp 17 Meter hohen, schachtförmigen Einlaufbauwerk, der in den Durchlass mündet. Der Zwischenraum unterhalb der Hochwasserentlastung wurde mit Beton unterfüttert. Zuletzt wurde der Erdwall mit einem Dammvolumen von 123.000 Kubikmetern aufgeschüttet. Das Schüttmaterial hierfür wurde zum Teil aus der nahen N4-Baustelle im Knonaueramt zugeführt. Im Zuge der Aushubarbeiten wurde im Bereich des linken Widerlagers unerwartet eine stark zerklüftete Sandsteinschicht entdeckt, die in Abweichung zum ursprünglichen Detailprojekt zusätzliche Injektionsmassnahmen erfordert hat. Die Bauarbeiten wurden von der STRABAG AG ausgeführt und im Mai 2007 beendet. Bauherr war die Baudirektion Kanton Zürich. Die Kosten für das Hochwasserrückhaltebecken beliefen sich einschliesslich der notwendigen Verlegung der Jonentalstrasse und Anpassungsarbeiten an der Aeugsterstrasse auf rund 13 Millionen Schweizer Franken (ungefähr 8,5 Millionen Euro). Am 24. Mai 2008 wurde das Bauwerk der Bevölkerung vorgestellt. Naturschutzbetrachtungen Das Becken oberhalb des Hochwasserrückhaltedamms wird nur sehr selten und dann nur für kurze Zeit eingestaut. Es füllt und leert sich innerhalb von Stunden bis maximal einem Tag. Die Vegetation wird deswegen nicht beeinträchtigt. Mit dem Bau eines Rückhaltebeckens wird allerdings auch die Dynamik des Gewässers und der Geschiebetrieb unterbrochen. Auf lange Sicht kann dies beim unterhalb liegenden Bachabschnitt eventuell zu Sohlenerosionen und dann zu Verbauungen sowie zu einer kleineren Strukturvielfalt führen. Untersuchungen des Geschiebehaushalts im Auftrag der Baudirektion des Kantons Zürich im Jahre 2014 bestätigen eine Durchlässigkeit des Rückhaltebeckens in Normaljahren, während es bei grossen Hochwassern zu einem Rückhalt von etwa 100 m³ pro Ereignis kommen kann. Der unterste Bereich des Beckens direkt vor der Staumauer wird bei kleineren Hochwassern regelmässig überschwemmt. Daher wurde er im vorliegenden Fall als reiner Naturbereich gestaltet. Der Mülweiher wird durch ein oberhalb des Weihers befindliches Wehr im Jonenbach gespeist. Da dieses Wehr für Fische und Kleinstlebewesen nicht passierbar ist, wurde hier ein zusätzliches Umgehungsgewässer für diese Tiere angelegt. Auch am Auslaufbauwerk des Staudamms wurde eine Fischtreppe eingerichtet, so dass die Durchgängigkeit des Jonenbachs für Fische und Kleinstlebewesen gegeben ist. Hochwasserschutz nach der Inbetriebnahme Am 8. und 9. August 2007 wurde die Region durch ein Hochwasser heimgesucht, wie es erwartungsgemäss nur alle 60 bis 70 Jahre vorkommt. Dabei wurde im Einzugsgebiet über zwei aufeinanderfolgende Tage eine Gesamtniederschlagsmenge von 80 bis 130 mm gemessen. Die Böden waren durch vorhergehende Regen bereits teilweise gesättigt, wodurch es schnell zu Oberflächenabfluss kam. Innerhalb weniger Stunden war das Becken knapp zur Hälfte gefüllt; der Wasserspiegel stieg bis 4,35 Meter unter die Überlaufkante der Hochwasserentlastung. Bei diesem Rückhalt wurde der Abfluss von 24 Kubikmeter auf 14 Kubikmeter pro Sekunde gedrosselt, so dass das Siedlungsgebiet unterhalb des Beckens vor Überschwemmung, aber auch vor Schlamm und Schwemmholz verschont blieb. Aus der Ereignisdokumentation des Amtes für Abfall, Wasser, Energie und Luft geht hervor: „Dieser Abfluss konnte im Siedlungsgebiet Affoltern schadlos abgeführt werden, lediglich bei der Fussgängerbrücke beim Optikergeschäft Büchi (Alte Dorfstrasse) konnte eine Ausuferung nur mit zusätzlichen Massnahmen der Feuerwehr in Form von Sandsäcken verhindert werden. Die Abflusskapazität des Gerinnes im Siedlungsgebiet ist bei einem Abfluss von 14 m3/s also praktisch ausgeschöpft. Bei vollem Einstau des HRB [HRB=Hochwasserrückhaltebecken] Affoltern am Albis wären allerdings rund 2 m3/s mehr abgeflossen, was beim jetzigen Gerinne zu Ausuferungen geführt hätte. Aus diesem Grund wurde die Drosselöffnung beim HRB nach dem Ereignis vorübergehend reduziert, so dass zukünftig auch bei vollem Einstau maximal 14 m3/s abfliessen.“ Weiter heisst es in dem gleichen Bericht: „In der Ereignisdokumentation wurde ausserdem die Gerinnekapazität im Siedlungsgebiet beurteilt. […] Selbst bei einem Abfluss von knapp 12 m3/s (zum Zeitpunkt der Begehung) wiesen 6 von 28 untersuchten Querprofilen ein ungenügendes und weitere 7 ein knappes Freibord auf. Lokale Baumassnahmen mit geringem Aufwand zur Steigerung der Abflusskapazität werden empfohlen. In Zwillikon kam es zu leichten Überschwemmungen, welche keine grossen Schäden anrichteten. Die bekannten Engpässe werden mittelfristig behoben. Erst danach soll die Drosselöffnung wieder wie beim Hochwasser 2007 eingestellt werden.“ Innerhalb des Bereiches des Rückhaltebeckens war ein neuer Bachlauf entstanden. Das Wasser suchte sich einen neuen Weg durch den Wald und riss viele Bäume mit. Die Schutzwirkung des Rückhaltebeckens bestätigte sich erneut beim Hochwasser im April 2008, das sich nur wenige Monate später ereignete. Die Stärke dieses Hochwassers war jedoch geringer als das von 2007. Auch im Februar 2021 konnte das Rückhaltebecken den unterhalb liegenden Ort erfolgreich vor dem Hochwasser schützen. Weblinks Fussnoten Jonenbach Steinschüttdamm Staudamm in der Schweiz SHochwasserruckhaltebecken Jonenbach Bauwerk in Affoltern am Albis Erbaut in den 2000er Jahren
4680132
https://de.wikipedia.org/wiki/DDR%20von%20unten
DDR von unten
DDR von unten (manchmal auch eNDe beziehungsweise DDR von unten/eNDe) war eine Split-LP der beiden DDR-Punkbands Zwitschermaschine und Schleim-Keim. Das Album gelangte auf konspirativem Wege aus der DDR nach West-Berlin. Das 1983 vom Independent-Label Aggressive Rockproduktionen verlegte Album gilt als das erste Punkalbum der DDR, erschien jedoch offiziell nur im Westen. Jahrelang war es die einzige Veröffentlichung dieser Art. Die Entstehung des Albums beschäftigte das Ministerium für Staatssicherheit über mehrere Jahre, wobei die Repressionen fast ausschließlich die Band Schleim-Keim betrafen. Zwei Inoffizielle Mitarbeiter (IM) waren an der Entstehung beteiligt, unter anderem der damals sehr geschätzte alternative Schriftsteller Sascha Anderson. Entstehungsgeschichte Dimitri Hegemann vom Westberliner Stadtmagazin tip hatte die Band Rosa Extra auf einer Party 1982 in Ost-Berlin kennengelernt. Überrascht davon, dass es eine Art Gegenkultur in der DDR gab, wuchs in ihm die Idee einer Plattenproduktion im Westen. So besuchte er Karl-Ulrich Walterbach von Aggressive Rockproduktionen und konnte ihn von der Idee überzeugen. Hegemann hatte eine Einreiseerlaubnis nach Ost-Berlin und konnte so den Entstehungsprozess des Albums verfolgen. Da Rosa Extra das Projekt aber nicht alleine bewerkstelligen konnten und auf Hilfe angewiesen waren, wandte sich die Gruppe an Sascha Anderson. Der freie Schriftsteller verfügte über zahlreiche Kontakte zu intellektuellen und künstlerischen Kreisen, die sich gegen das DDR-Regime auflehnten. Seine eigene Band Zwitschermaschine wurde schließlich die zweite Gruppe, die sich an dem Album, das nun als Split-Veröffentlichung geplant war, beteiligen sollte. Sascha Anderson verfasste außerdem ein Essay, das den Zeitgeist des DDR-Undergrounds widerspiegeln sollte und von seiner Gruppe handelte. Das Essay wurde später im Inlay veröffentlicht. Sören „Egon“ Naumann wurde in den Plan miteinbezogen, der Fahrer und Techniker kannte sich mit den Aufnahmetechniken aus und erklärte sich bereit, die Lieder zu produzieren. Man beschloss eine weitere Band zu verpflichten und baute daher Kontakte zu Dieter „Otze“ Ehrlich von Schleim-Keim auf. Die im Gegensatz zu Zwitschermaschine und Rosa Extra eher wütend-aggressive Band sollte als Ergänzung zum eher künstlerischen Stil der beiden Bands mit aufgenommen werden. Anfang 1983 fand Anderson ein Heimstudio in Hermsdorf bei Dresden, in dem die Lieder aufgenommen werden konnten. Andeck Baumgärtel, Bluesmusiker bei der Gruppe „Mustang“, hatte sich zu Hause im Erdgeschoss ein Privatstudio aufgebaut. Auch ein Schlagzeug der tschechischen Marke „Amati“ war vorhanden. Die Studiotechnik war nicht optimal und auch nicht auf dem neuesten Stand. Insbesondere das Mischpult von „Vermona“ funktionierte nicht richtig, und auch die Plastikmikrofone zur Schlagzeugabnahme fielen öfter aus. Lediglich das Gesangsmikro von RFT war auf dem neuesten Stand. Mitgeschnitten wurde auf Teslabandmaschinen mit Magnetbändern von ORWO. Die Aufnahmen fanden an einem Januarwochenende 1983 statt. Die erste Aufnahmesession bestritten Rosa Extra, die einen echten Casio-Synthesizer mitbrachten – damals eine Seltenheit in der DDR. Die komplette Probe wurde aufgezeichnet und zur späteren Verwendung archiviert. Schleim-Keim, die im Gegensatz zu den anderen beiden Bands in einer für den Punk üblichen Besetzung (Gitarre, Bass, Schlagzeug) waren, kamen am nächsten Tag. Sie spielten einen schnellen und auch simplen Punkstil, der vor allem auf Härte setzte. Schlagzeug und Gesang wurde von Dieter Ehrlich eingespielt, an der Gitarre war sein Bruder Klaus, und den Bass übernahm Andreas Deubach. Als letztes spielten Zwitschermaschine ihre Lieder ein. Die Besetzung war Sascha Anderson, Cornelia Schleime und Michael Rom am Mikrofon, Lothar Fiedler an der Gitarre, Matthias Zeidler am Bass und Wolfgang Grossmann am Schlagzeug. Volker Palma spielte Violine und Posaune. Kurz nach Beendigung der Aufnahmen wurde Günther Spalda von Rosa Extra vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) aufgesucht. Dies war kein Zufall, hatte das Ministerium doch durch die Inoffiziellen Mitarbeiter (IMs) Sascha Anderson und Sören Naumann von der Produktion der Platte erfahren. Das MfS bedrohte die Gruppe mit fünf bis zehn Jahren Haft, falls sie nicht das Band mit ihren Aufnahmen ablieferten. Die Gruppe, an der auch die freien Schriftsteller Bert Papenfuß-Gorek und Stefan Döring beteiligt waren, versuchte zu der Zeit, die staatliche Einstufung zu erlangen. Die einzige Möglichkeit in der DDR, als Berufsmusiker anerkannt zu werden, Tonträger einzuspielen und offizielle Auftritte zu absolvieren, war diese Einstufung durch ein Gremium aus Funktionären der SED, Musikjournalisten, Musikwissenschaftlern und prominenten Musikern. Nach längerer Beratung entschlossen sich die Mitglieder deshalb, das Masterband dem MfS zu übergeben. Die Einstufung erreichte die Band später unter dem Namen Hard Pop. Durch diese neuen Entwicklungen bekamen Schleim-Keim statt einer halben eine ganze LP-Seite zugesprochen. Schleim-Keim suchten sich einen Decknamen aus, damit die Aufnahmen ihnen nicht zugeordnet werden konnten. Zumindest das „SK“ als Abkürzung sollte stehenbleiben, so dass man sich nach „Salz-Kartoffel“ auf „Sau-Kerle“ einigte. Die beiden verbliebenen Masterbänder wurden zu Günther Fischer, einem bekannten Komponisten, für den Anderson einige Texte geschrieben hatte, gebracht. Dieser überspielte die Aufnahmen von den ORWO- auf hochwertigere Magnetbänder, da die Qualität in der Bundesrepublik als veraltet galt. Durch Andersons Kontakte zu Diplomaten aus West-Berlin gelangten die Aufnahmen schließlich auf die andere Seite der Mauer. In West-Berlin wurde das Band an Ralf Kerbach, ehemaliges Mitglied von Zwitschermaschine und mittlerweile Staatsbürger der Bundesrepublik Deutschland, übergeben. Bis heute ist ungeklärt, ob Kerbach eine zusätzliche Gitarrenspur über die Aufnahmen seiner ehemaligen Band legte oder nicht. Die Aufnahmen wurden anschließend Karl-Ulrich Walterbach übergeben, der sich dann um die Veröffentlichung kümmerte. Veröffentlichung Die Platte erschien 1983 unter der Seriennummer AG 0019 als LP. Die Erstauflage betrug je nach Quelle zwischen 1.500 und 4.000 Exemplaren. Der Titel der LP lautete DDR von unten, manchmal wird auch eNDe assoziiert, da sich diese Aufschrift sowohl auf dem Front- als auch auf dem Backcover befindet. Es gab auch Spekulationen, dass der Schriftzug eNDe Assoziationen zur Abkürzung ND für Neues Deutschland, die Parteizeitung der SED, knüpfen sollte. Dies wird allerdings von Teilen der Bandmitglieder bestritten. Vielmehr sollte diese Veröffentlichung den Schlusspunkt von Zwitschermaschine markieren. Sicher ist allerdings, dass Sascha Anderson das Akrostichon bereits seit 1982 in diversen Gedichten verwendet hatte. Er bestätigte außerdem in seiner Biografie die erstere Deutung. Die Schallplatte wurde nie in der DDR veröffentlicht. Nur wenige Exemplare gelangten in die DDR. Sascha Anderson konnte drei Exemplare in der Toilette eines Zuges verstecken und so einschmuggeln. Dieter Ehrlich hatte seine Schallplatte wohl aus dem Besitz von Anderson. Dieser soll ihm angeblich auch im Vorfeld Geld für die Produktion versprochen und vorenthalten haben, so dass Ehrlich bei ihm einbrach und neben der Platte 120 West-Mark stahl. Bei seiner Verhaftung versteckte seine Mutter die Schallplatte vor dem Zugriff des MfS. Die Schallplatte kursierte in der DDR als Kassette, wobei auch hier Zwitschermaschine die A-Seite und Schleim-Keim die B-Seite einnahmen. Wiederveröffentlichung Die Schallplatte wurde nie in ihrer Gesamtheit wiederveröffentlicht. Eine CD-Version existiert daher nicht. Teile der Aufnahmen verwendete Sascha Anderson für eine weitere Split-Veröffentlichung mit dessen Gruppe „Fabrik“ unter dem Titel Alles Geld der Welt kostet Geld (1998) im CD-Format. Die Schleime-Komposition geh übern fluß wurde außerdem der Kompilation zum Buch Spannung. Leistung. Widerstand. Magnetbanduntergrund DDR 1979–1990. beigefügt. Die Lieder der Schleim-Keim-Seite wurden in diversen unterschiedlichen Versionen auf den späteren Tonträgern der Gruppe veröffentlicht. Dabei wurde Frankreich unter dem Titel Faustrecht neu eingespielt und aus Haushaltsgeräte wurde Karnickel. Lediglich die beiden Titel Ende und Alles ist rot bleiben exklusiv der DDR von unten vorbehalten. Im Rahmen der Wiederveröffentlichung diverser Aufnahmen von Schleim-Keim auf Höhnie Records wurde deren Seite als limitierte EP der Vinyl-Version des Albums Nichts Gewonnen Nichts Verloren Vol. 1 – Die Stotterheim-Tapes 1984–87 (2000) beigefügt. Die Titel wurden in eine andere Reihenfolge gebracht, außerdem firmierten sie nun unter den späteren Liednamen. Covergestaltung Das Frontcover ist Teil von Kerbachs Totenreklame-Zyklus, einer Bilderreihe, die er für den Gedichtband totenreklame, eine Reise von Sascha Anderson benutzt hatte. Das Bild, das wie die anderen Illustrationen dieses Zyklus während einer 7.000 km langen Reise durch die DDR entstand, wurde jedoch in der Gedichtsammlung nicht veröffentlicht. Das Cover zeigt eine anthropomorphe Tierfigur, die mit einem schlüsselförmigen Gegenstand auf einen unförmigen, rechteckigen Gegenstand einschlägt. Als Hintergrund wurde eine Haushaltsbuchseite gewählt. Der Hintergrund ist grau, in einem diagonal angeordneten weißen Feld steht groß DDR von unten mit dem Untertitel Schallplatte mit 2 Gruppen und Textbeilage. Unter dem Bild steht eNDe. Die Rückseite wurde von Cornelia Schleime illustriert. Dort ist die Zeichnung eines weiblichen Oberkörpers und Kopfes zu sehen. Daneben befinden sich mehrere nicht genau erkennbare Gegenstände, in Regalform angeordnet. In Stil der Zeichnung orientierte sich Schleime an Kerbachs Stil. Der Hintergrund ist der gleiche, auch die Unterschrift eNDe befindet sich an gleicher Stelle. Im Beiheft auf Seite 2 findet sich ein Essay von Anderson unter der Überschrift Von einem Beteiligten, mit dem Anderson in Kleinschreibung seine Gedanken zur Bandgeschichte zu Papier brachte. Eine weitere Seite enthält eine Stellungnahme von Karl-Ulrich Walterbach zur Beschlagnahme der ersten Slime-LP wegen der Lieder Deutschland muß sterben und Bullenschweine. Die Seiten 1 und 4 enthalten einige Liedtexte der beiden Gruppen in Handschrift auf Fetzen herausgerissener Schreibblockseiten. Musikstil und Texte Zwitschermaschine war zur Zeit der Aufnahme bereits in Auflösung begriffen. Nach dem Weggang von Ralf Kerbach hatte Sascha Anderson die Führung in der Gruppe übernommen, und so muteten die Stücke wie ein Alleingang von ihm an. Vier der fünf Texte stammen von ihm, nur beim Arrangement wurden Teile aus der Ursprungsbesetzung Kerbach, Schleime und Rom übernommen. Das Lied Alles oder nichts stammt von einer Session der Band im Sommer 1982 im Theater der Jungen Generation Dresden mit Kerbach an der Gitarre. Jeder Satellit hat einen Killersatelliten war, genau wie Geh über die Grenze, bereits 1982 in Gedichtform in Sascha Andersons gleichnamiger Sammlung mit Illustrationen von Ralf Kerbach veröffentlicht worden. Musikalisch sind die Stücke stark disharmonisch ausgeprägt, mit einem schnellen Wechsel zwischen ruhigen und wütenden Passagen. Die Posaunen- und Violineneinsätze Volker Palmas sind spartanisch und – wie auch der Rest der Musik – größtenteils ohne festen Rhythmus. Anleihen aus dem Jazz wurden übernommen und gaben der Musik einen für den Art-Punk typischen Klang. Die Texte werden von den drei Sängern als Sprechgesang vorgetragen. Vom Stil her erinnert die Musik an Anfänge von Post-Industrial-Bands wie Einstürzende Neubauten sowie Punk- und No-Wave-Interpreten wie Patti Smith und Lydia Lunch. Inspiration war zudem die Musik der Stranglers, aber auch von Krautrock-Bands wie Can. Sascha Anderson bezeichnet dagegen die Zusammenarbeit in einem späteren Interview als „gleichberechtigt“. Die lyrischen Texte behandeln Themen wie Grenzen (Geh über die Grenze, Geh über’n Fluß) und Konsum (Alles oder nichts und noch viel mehr). Das Motiv des Satelliten taucht zweimal auf. Dem gegenüber steht die B-Seite des Albums. Schleim-Keim, beziehungsweise Sau-Kerle, spielen typischen Drei-Akkorde-Punk, der vor allem auf Geschwindigkeit und Härte setzt. Die Texte stammen größtenteils von Dieter Ehrlich, während die Musik gemeinschaftlich verfasst wurde. Dieter Ehrlichs Gesang ist dunkel und wütend, „mit thüringischem Einschlag“. Die Texte wurden größtenteils um den Refrain aufgebaut, einzelne Strophen mehrmals wiederholt. Im Gegensatz zu den später veröffentlichten Versionen auf CD und LP sind die Lieder durch die schlechte Produktion wesentlich härter. Die Texte sind stellenweise kaum zu verstehen. Lieder wie Untergrund ist Strategie, Scheiß Norm und Alles ist rot sind wenig subtil, sondern in hohem Maße subversiv und gesellschaftskritisch. Scheiß Norm handelt vom Zwang zur Konformität in der DDR, während Untergrund ist Strategie als Lösungsvorschlag den anarchistischen Untergrundkampf anbietet. Ende, das als einziges Lied beim Ministerium für Staatssicherheit durchfiel, greift die Scheinheiligkeit im Osten an. Haushaltsgeräte ist dagegen eher ein Spaßlied, bei dem sich das lyrische Ich vorstellt, ein Karnickel zu sein. Spione im Café handelt von der „Alltags-Paranoia“, die in der DDR weit verbreitet war. Frankreich (eigentlich: Faustrecht) beschreibt wenig verklausuliert die allgegenwärtige Polizeigewalt und die Willkürlichkeit von Festnahmen in der DDR („Die Bullen fangen dich von der Straße weg, denn denn denn du bist nur Dreck (…) Sie schlagen dir in die Schnauze rein, für die bist du nur ein mieses Schwein (…) Sie machen mit dir, was sie wollen (…) Mit dem Arsch aus der Koje holen“.) Nachspiel Bereits nach Abschluss der Aufnahmen wurden die Mitglieder von Schleim-Keim von der Staatssicherheit beobachtet und überwacht. Am 28. Januar 1983 wurden die Mitglieder für „abgängig“ erklärt. Nach einer etwa zweimonatigen Observation, Gesprächen mit den Eltern und den Vorgesetzten von Klaus Ehrlich und Deubach (Dieter Ehrlich war zu diesem Zeitpunkt arbeitslos) wurden am 29. März 1983 alle drei Mitglieder in Untersuchungshaft genommen. Während Deubach und Klaus Ehrlich nach wenigen Tagen freikamen, verblieb Dieter Ehrlich vier Wochen in Haft, davon zwei in Einzelhaft. Insbesondere der Text zu „Ende“ („Ich schäme mich schon lange nicht mehr für meine Heimat, die DDR (…) Bin damit durch / Karriereristen und Faschisten und nur falsche Kommunisten“) erregte die Aufmerksamkeit des Staatssicherheitsdienstes. Die restlichen Liedtexte wurden beschrieben als zum Teil Man nahm die Äußerungen der Gruppe nicht ernst genug, insbesondere da aus der Sicht des MfS, „primitive Persönlichkeiten“ am Werk waren. Ehrlich gab nach eigenen Aussagen während der Verhöre an, die Texte würden sich auf die gesellschaftlichen Verhältnisse in Südafrika beziehen. Die Vernehmungsbeamten hätten ihn daher „nicht festnageln können“. Dennoch blieb der Strafbestand des §219 Strafgesetzbuch (Ungesetzliche Verbindungsaufnahme) erhalten. Auf Ehrlich wurde durch Einzelhaft und Ankündigung einer hohen Strafe Druck ausgeübt. Man entließ ihn dennoch nach einem Monat straffrei und übergab ihn seiner Mutter. Alle beschlagnahmten Gegenstände wurden ihm wieder übergeben. Dies geschah jedoch nicht ohne Grund: Er wurde als „Inoffizieller Kriminalpolizeilicher Mitarbeiter für operative Aufgaben“ (IKMO) unter dem Decknamen „Richard“ geführt. Anderthalb Jahre währte diese Tätigkeit: Gegen geringe Geldbeträge und Zigaretten berichtete Ehrlich über die Punkbewegung, die gerade vom MfS beobachtet wurde. Bis zum Ende der DDR wurde Ehrlich immer wieder für kurze Zeiträume verhaftet. Dimitri Hegemann, der den Stein für die Platte ins Rollen brachte, erhielt ein Einreiseverbot in die DDR und durfte eine Zeitlang nicht einmal die Transitstrecke nach Westdeutschland befahren. Während die gesamten staatlichen Repressionen ausschließlich Schleim-Keim betrafen, blieb Zwitschermaschine komplett verschont, weil das MfS eine Enttarnung ihres IM Anderson befürchtete. Sascha Andersons Spitzeldienste wurden erst in den frühen 1990ern der breiten Öffentlichkeit bekannt. Von Wolf Biermann erhielt er in dessen Büchnerpreis-Rede 1991 den Spitznamen „Schwätzer Sascha Arschloch“, der danach auch in der Öffentlichkeit kursierte. Obwohl Cornelia Schleime nicht nur mit Zwitschermaschine, sondern auch durch ihre Filmproduktionen versuchte, das MfS zu reizen und eine Ausreisegenehmigung zu erzwingen, konnte sie erst 1984 nach der Androhung eines Hungerstreiks und einem Telefonat mit Ralf Kerbach, das vom MfS abgehört wurde, ausreisen. In diesem Sinne war auch ihre Mitgliedschaft bei Zwitschermaschine nur eine Teilstation zur Ausreise. Dass ein damaliger bester Freund sie jahrelang für das MfS bespitzelt hatte, erfuhr sie erst bei der Einsicht in ihre Akten 1991 in der „Gauck-Behörde“. Ihrer Aussage nach gab ihr dieses jahrelange ungewollte „Entkleiden“ wenigstens die Fähigkeit, ein „offenes Verhältnis“ zum Leben zu entwickeln. Ihre Geschichte mit Anderson verarbeitete sie 2008 in dem Roman Weit fort. Einfluss und Wirkung Bis zur Friedlichen Revolution 1989 war die Split-LP eines der vier Alben, die über den Eisernen Vorhang kamen, und eines der wenigen Beispiele für den musikalischen Underground und Widerstand in der DDR. Die drei anderen – wenn auch nicht ganz so einflussreichen – LPs waren das Album Made in the GDR von L’Attentat, die Kompilation Live in Paradise (1985) und die LP panem et circensis (1986) der Weimarer Punkband Der Rest (KG Rest). Erst Jahre später wurden „die anderen Bands“, wie Die Skeptiker, Müllstation und Feeling B bekannt. Dies lag vor allem daran, dass die meisten Bands über keine Einstufung als Musiker verfügten, somit keine Spielerlaubnis bekamen und auch keine Möglichkeit, ihre Lieder auf Tonträgern zu veröffentlichen. Für das Tonträgermonopol des Staates bedeutete die LP einen Affront. Die Veröffentlichung des Albums zeigte, dass trotz großer technischer Einschränkungen und eines rigiden Umgangs mit den Musikern im Osten eine Gegenbewegung möglich war. Abseits vom Plattenlabel Amiga etablierte sich eine Kassettenkultur mit einigen Aufnahmen, die weitergereicht und verkauft wurden. Das Tape-Trading war eine Möglichkeit, die staatlichen Repressionen zu umgehen und die Musik einer breiteren Masse zugänglich zu machen. Einzelne Titel der B-Seite wurden 1988 in der von DDR-Oppositionellen gestalteten Sendung Radio Glasnost des West-Berliner Alternativsenders Radio 100 ausgestrahlt. Obwohl DDR von unten nie offiziell in der DDR veröffentlicht wurde, verbreitete sich die Platte über den Kassettenmarkt. Dabei interessierte die Punks der DDR allerdings fast ausschließlich die Seite der Sau-Kerle. War es doch längst kein Geheimnis mehr, dass sich dahinter die Erfurter Band Schleim-Keim verbarg. Somit steigerte sich der Bekanntheitsgrad von Schleim-Keim in der ostdeutschen Punkszene immens. Etwa 1991 wurde Schleim-Keim auch im wiedervereinigten Deutschland ein Begriff. Dahingegen stieß Zwitschermaschine auf beiden Seiten auf wenig Gegenliebe. In einem Interview im Ox vom August/September 2007 bestätigte Cornelia Schleime den Eindruck, dass es sich bei Dieter „Otze“ Ehrlich um den „einzigen Punkrock-Star in der DDR“ handele: Literatur Michael Boehlke und Henryk Gericke (Herausgeber): Ostpunk! – Too Much Future. Punk in der DDR 1979–1989. Künstlerhaus Bethanien, Berlin 2005, ISBN 3-935843-91-7 Ronald Galenza und Heinz Havemeister (Herausgeber): Wir wollen immer artig sein – Punk, New Wave, HipHop, Independent-Szene in der DDR 1980–1990. Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 1999, ISBN 3-89602-306-3 Anne Hahn und Frank Willmann: Satan, kannst du mir noch mal verzeihen – Otze Ehrlich, Schleimkeim und der ganze Rest. Ventil Verlag, Mainz 2008, ISBN 978-3-931555-69-6 Cornelia Schleime: „Jeder Satellit hat einen Killersatelliten“, Hätten wir es nur wörtlich genommen. In: Michael Boehlke und Henryk Gericke (Herausgeber): Ostpunk! – Too Much Future. Punk in der DDR 1979–1989. Künstlerhaus Bethanien, Berlin 2005, ISBN 3-935843-91-7, S. 177–190 Torsten Preuß: Zonenpunk in Scheiben: Die erste Punkplatte aus dem Nahen Osten. In: Ronald Galenza und Heinz Havemeister (Herausgeber): Wir wollen immer artig sein – Punk, New Wave, HipHop, Independent-Szene in der DDR 1980–1990. Schwarzkopf & Schwarzkopf, Berlin 1999, ISBN 3-89602-306-3, S. 66–71 Weblinks Sampler - eNDe / DDR von unten, Eintrag im Parocktikum/Wiki Einzelnachweise Punk (DDR) Album (Punk) Album 1983 Split-Veröffentlichung
4760113
https://de.wikipedia.org/wiki/Ardi
Ardi
Ardi ist ein 4,4 Millionen Jahre altes, weitgehend erhaltenes Skelett eines Individuums der Art Ardipithecus ramidus. Die Überreste des vermutlich weiblichen Fossils wurden zwischen 1994 und 1996 im Nordosten Äthiopiens im Afar-Dreieck geborgen. Die Konservierung der Knochenfunde erwies sich wegen ihrer extremen Zerbrechlichkeit als äußerst schwierig und zeitraubend, sodass ihre umfassende interdisziplinäre Bearbeitung erst im Oktober 2009 in elf gleichzeitig publizierten Fachartikeln öffentlich gemacht wurde. Die besondere Bedeutung des Fossils besteht darin, dass jahrzehntealte Hypothesen zur Stammesgeschichte des Menschen, denen zufolge der Knöchelgang von Schimpansen und Gorillas ein ursprüngliches Merkmal sei, infrage gestellt wurden. Die Bezeichnung der Gattung Ardipithecus ist teils aus der Afar-Sprache abgeleitet (von „ardi“ = Erdboden), teils aus dem Griechischen (von „πίθηκος“, altgriechisch ausgesprochen „píthēkos“ = Affe); Ardipithecus bedeutet dem Sinne nach folglich „Bodenaffe“. Die wissenschaftliche Bezeichnung für den Fund, dessen Spitzname vom Gattungsnamen abgeleitet wurde, lautet ARA-VP-6/500. Fundgeschichte Die beiden ersten Fossilien von Ardi – zwei Bruchstücke von Mittelhandknochen – wurden am 5. November 1994 von Yohannes Haile-Selassie in Aramis, ca. 100 km südlich von Hadar und westlich des Awash, entdeckt. Sie waren an der Oberfläche eines Abhanges aus noch unverfestigtem, also schluffigem Lehm (engl. „silty clay“) zutage getreten. Diese Fundstelle lag nur 54 Meter nördlich jener Örtlichkeit, wo zehn Monate zuvor das Typusexemplar ARA-VP-6/1 von Ardipithecus ramidus entdeckt worden war. Durch vorsichtiges Sieben des oberflächlich liegenden Feinbodens wurden weitere Fragmente homininer Fingerknochen geborgen. In der entstehenden Aufschluss-Mulde wurden danach ein Zehenglied sowie das Fragment eines Oberschenkelknochen und ein fast vollständig erhaltenes Schienbein ausgegraben. Daraufhin wurde in den folgenden Monaten eine insgesamt drei Quadratmeter große Fläche Quadratmillimeter für Quadratmillimeter abgetragen; auf diese Weise wurden mehr als hundert weitere Knochenstücke gesichert, darunter mehrere Sesambeine und Fragmente aus dem Bereich des Gesichts. Die Altersbestimmung von Ardi gilt als äußerst zuverlässig, da sowohl unmittelbar über als auch unmittelbar unter der Fossilien führenden Schicht vulkanisches Material abgelagert wurde und beide vulkanischen Schichtungen jeweils 4,4 Millionen Jahre alt sind. Sowohl Ardi als auch die anderen Funde von Ardipithecus ramidus aus Aramis stammen aus einer drei bis sechs Meter starken, feinkörnigen Sedimentschicht, die in einer relativ kurzen Zeitspanne von nur 100 bis maximal 10.000 Jahren entstand. Sowohl die Feinkörnigkeit der Sedimentschicht als auch der Zustand der fossilen Knochen (das Fehlen von Abriebspuren) deuten darauf hin, dass sie nicht oder nur unwesentlich durch Wasser verdriftet wurden. Fundbeschreibung Die Knochen von Ardi sind schlecht fossilisiert. Sie werden von ihren Entdeckern als cremefarben beschrieben. Die kleineren Knochen der Hände und der Füße sind weitgehend unbeschädigt, die größeren Knochen der Beine und Arme sind hingegen in unterschiedlichem Maße zerbrochen. An den Knochen wurden keine Anzeichen von Verwitterung oder von Bissspuren gefunden. Dies ist eine Besonderheit, da nahezu alle anderen Knochenfunde aus dem gleichen Fundhorizont durch Hyänen und andere Fleischfresser benagt wurden. Gleichwohl waren die Knochen von Ardi über eine größere Fläche verstreut und wurden in keinem Fall mehr in ihrer natürlichen Anordnung gefunden – ein Zustand, der den äußeren Anzeichen zufolge bereits vor ihrer Einbettung in den Erdboden eingetreten sein muss; die Forscher vermuten, dass die Überreste von Ardi von anderen Tieren zertrampelt wurden. Präparation Viele Knochen erwiesen sich als derart weich, dass sie schon bei leichter Berührung zerbröckelt wären. Nach einem vorsichtigen Belastungstest durch Zahnstocher oder ähnliche Hilfsmittel wurden daher die Sedimente, die die Knochen umgaben, zunächst angefeuchtet, um Beschädigungen durch Austrocknung während der Bergung der Fundstücke zu vermeiden. Anschließend trug man mehrfach Härtungsmittel auf; danach erst wurden die Knochen aus dem Boden entnommen, verpackt und zur weiteren Bearbeitung nach Addis Abeba transportiert. In jahrelanger Feinarbeit wurden alle Funde schließlich gesäubert und mit Hilfe von digitalen Rekonstruktionen in ihre mutmaßliche natürliche Position versetzt. Die Überreste von Ardi sind trotz diverser Härtungen noch immer fragil, weswegen die meisten Forschungsarbeiten an Gipsabformungen oder computergestützt, mit Hilfe der Computertomographie, durchgeführt wurden. Der Schädel Der Schädel von Ardi ist zwar stark fragmentiert und verformt, jedoch blieben die linke Hälfte des Unterkiefers, fast alle Zähne sowie aussagekräftige Teile des Gesichts, des Schädeldachs und der Schädelbasis erhalten. Mit Hilfe computergestützter Verfahren und unter Einbeziehung eines weiteren Fossils – ARA-VP-1/500 aus dem Bereich der Schädelbasis – konnte der japanische Paläoanthropologe Gen Suwa (Universität Tokio) das Aussehen des Schädels aus 65 Fragmenten als eine „prä-Australopithecus-artige Morphologie“ rekonstruieren. Eine gesonderte Analyse des Baus der Schädelbasis ARA-VP-1/500 bestätigte Anfang 2013 die morphologische Nähe zu Australopithecus und Homo. Die Rekonstruktion der Schädelgröße ergab ein Gehirnvolumen von 280 bis 350 Kubikzentimeter, was in Relation zur Körpergröße einem recht kleinen Gehirn – vergleichbar dem der heutigen Schimpansen – entspricht; Australopithecus wird ein Gehirnvolumen von 400 bis 550 Kubikzentimetern zugeschrieben. Der Schädel von Ardi ähnelt dem des größeren und kräftigeren Sahelanthropus, für den ein vergleichbares Schädelinnenvolumen berechnet wurde. Zahlreiche Merkmale unterscheiden den Schädel von Ardi von den Schädeln rezenter Gorillas und Schimpansen, aber auch von den Australopithecus-Schädeln. Die genaue Position des großen Hinterhauptslochs konnte für Ardi mangels fossiler Belege nicht bestimmt werden, jedoch gelang dessen Rekonstruktion für das Schädelfragment ARA-VP-1/500. Die Rekonstruktion bestätigte die zuvor schon in der Erstbeschreibung der Art geäußerte Vermutung, dass das Hinterhauptsloch von Ardipithecus ramidus bereits in eine Position unter dem Kopf gerückt war, ähnlich jener späterer Hominini-Arten, und seine Position daher „voll und ganz“ (engl. „squarely“) von der Position bei den Schimpansen unterscheidbar ist. Der Oberkiefer von Ardi – ARA-VP-6/500-115 – weist, anders als bei den heute lebenden Schimpansen, nicht besonders weit nach vorn, hat also eine bloß schwach ausgeprägte Prognathie („a superoinferiorly short face and weak prognathism compared with the common chimpanzee“). Er ähnelt dem Oberkiefer von Sahelanthropus, ist jedoch insgesamt etwas kleiner als bei diesem. Die Schneidezähne sind relativ klein, aus ihrer Position sowie aus der Lage der Nasenöffnung kann abgeleitet werden, dass Ardi eine nur leicht vorspringende Schnauze hatte. Zusammen mit anderen Befunden wird dieser Bau des Gesichts von den Autoren als ein ursprüngliches Merkmal der frühen Hominini bewertet, also dem letzten gemeinsamen Vorfahren von Schimpansen und Hominini ähnelnd; die ausgeprägte, weit vorspringende Schnauze der Schimpansen interpretieren sie demnach als ein jüngeres, abgeleitetes Merkmal. Der Unterkiefer ähnelt ebenfalls jenem von Sahelanthropus sowie dem von Ardipithecus kadabba. Der Bau beider Kiefer und die erhaltenen Zähne lassen auf keine besondere Spezialisierung bei der Nahrungsaufnahme schließen. Hand und Fuß Von Ardis Händen und Füßen sind so viele Knochen überliefert, dass eine sehr verlässliche Rekonstruktion beider Extremitäten möglich ist. Deren Genauigkeit ist allenfalls vergleichbar mit dem wesentlich jüngeren Fossil Little Foot aus Südafrika, da selbst von Lucy nur zwei Handknochen bekannt sind. Der Bau von Ardis Händen zeigt deutliche Anklänge an einen der frühesten bekannten Vertreter der Menschenartigen (Hominoidea), den mehr als viermal so alten Proconsul. Ardis Hand war im Bereich der Mittelhandgelenke extrem beweglich, so dass sie beim horizontalen Fortbewegen auf Ästen diese mit ihren Händen sehr gut umklammern konnte. Auch die anderen Handgelenke waren wesentlich beweglicher als die der heute lebenden Schimpansen und Gorillas und unterschieden sich daher stark von deren Händen. Diese afrikanischen Menschenaffen haben relativ lange Handflächen und lange Finger, wodurch sie – anders als Ardipithecus – besonders gut in der Lage sind, ihren Körper kraftvoll in die höheren Regionen der Bäume emporzuziehen. Die damit verbundenen Kräfte-Einwirkungen hatten zur Folge, dass bei ihnen die Gelenke zwischen Fingern und Handfläche nur wenig beweglich sind. Dies wiederum hat am Erdboden den Knöchelgang zur Folge; für eine vergleichbare Fortbewegungsweise gibt es bei Ardi keine Anhaltspunkte. Auch der Fuß von Ardi ähnelt stärker dem Fuß der Makaken und der Gibbons als dem Fuß der großen afrikanischen Menschenaffen. So ist bei Ardi noch ein spezieller Knochen vorhanden (Os peroneum), der als ein ursprüngliches, also stammesgeschichtlich altes Merkmal gilt; auch der rekonstruierbare Sehnenansatz für den Wadenbein-Muskel Musculus peroneus longus verweist auf eine Homologie mit diesen entfernteren Verwandten der Hominini. Das hervorstechendste Merkmal des Fußes ist jedoch die weit abspreizbare große Zehe. Ardi konnte sich daher auch mit Hilfe seiner großen Zehen gut an jenen Ästen festhalten, über die sie vierfüßig kletterte. Dieses anatomische Merkmal ist von keinem lebenden Menschenaffen bekannt und fossil nur noch durch den im äthiopischen Grabungsgebiet Woranso-Mille geborgenen Burtele-Fuß belegt; es verlieh Ardipithecus eine unter allen bekannten Primaten einzigartige Gangart, denn die großen Zehen blieben vermutlich auch beim aufrechten Gehen abgespreizt. Becken und aufrechter Gang Obwohl die Anordnung der Knochen des Fußes und der Hände darauf schließen lässt, dass Ardi sich im Geäst der Bäume auf allen vieren fortbewegte und die großen Zehen als Greiforgane ausgebildet waren, ergibt die Rekonstruktion der Knochen des Beckens, dass sie auf dem Boden aufrecht gehen konnte. Beispielsweise ist der Ansatz der Gesäßmuskeln im Vergleich zu älteren fossilen Menschenartigen dank eines entwickelten Darmbeins für den aufrechten Gang so günstig stabilisierend positioniert, dass Ardi voranschreiten konnte, ohne bei jedem Schritt den Körper von einer Seite zur anderen zu schwenken. Im Unterschied zu Australopithecus afarensis, der bereits alle wesentlichen Anpassungen für einen ständigen aufrechten Gang aufwies, wird Ardis Beckengürtel allerdings von den Forschern noch als „Mosaik von Merkmalen“ beschrieben, die ihr sowohl das Klettern als auch das rasche Laufen ermöglichten. Auch die wenigen vom Fuß erhaltenen Knochenfragmente wurden als „eine Mischung aus beibehaltenen primitiven Eigenschaften sowie aus Merkmalen, die angepasst an eine gewohnheitsmäßige Zweifüßigkeit“ sind, beschrieben. Geschlechtsbestimmung, Körpergewicht und Körpergröße Unter den insgesamt 21 erhaltenen Eckzähnen von Ardipithecus ramidus zählen die Eckzähne von Ardi zu den kleinsten: Der Oberkiefer-Eckzahn ist der zweitkleinste von 13, der Unterkiefer-Eckzahn ist der zweitkleinste von acht erhaltenen Eckzähnen. Daraus leiten die Forscher ab, dass Ardi weiblich war. Gestützt wird diese Interpretation durch ein kleines Fragment des Überaugenwulsts (Torus supraorbitalis), dessen Dicke ebenfalls im untersten Bereich rangiert. Vergleichsmessungen bei heute lebenden Primaten haben ergeben, dass die Größe des Kopfbeins und des Sprungbeins sehr gut mit dem Körpergewicht des Primaten korreliert. Dank dieser Korrelation konnte für Ardi ein Körpergewicht von 51 kg hergeleitet werden. Weil Ardi zu den größeren Individuen ihrer Art gehörte, könne ein Gewicht von ungefähr 50 kg auch als typisch für die gesamte Art gelten. Die Rekonstruktion der Körpergröße von Ardi ergab unter Einbeziehung weiterer Fossilien einen Schätzwert von 117 bis 124 cm. Wissenschaftliche Bedeutung Aus der Epoche vor dem Auftreten von Australopithecus anamensis sind bisher nur wenige Funde fossiler Hominini bekannt geworden. Diese Funde sind zudem – wie Orrorin – so bruchstückhaft oder – wie der Schädel von Sahelanthropus – so verformt, dass ihre Stellung im Stammbaum der Menschenaffen umstritten und daher unklar ist. Das Fehlen von aussagekräftigen fossilen Belegen hatte u. a. zur Folge, dass die Hypothesen zur Evolution des Körperbaus der frühen Hominini vor allem vom Erscheinungsbild der nächsten Verwandten des Menschen, vom Körperbau der Schimpansen, abgeleitet wurden. Diese Modelle deuteten beispielsweise den aufrechten Gang der Hominini im Sinne einer Homologie als Weiterentwicklung eines vermeintlich ursprünglichen Knöchelgangs, das heißt, als bei Schimpansen und Gorillas erhalten gebliebene Zwischenstufe des Übergangs von einer primär baumbewohnenden Lebensweise zum dauerhaften Aufenthalt in der offenen Savanne. Ardis Handskelett erbrachte nun aber einen Beleg dafür, dass die frühen Hominini relativ ursprüngliche Greifhände besaßen und – weitergehend – dass die Hände des modernen Menschen „primitiver“ (weniger stark vom Ursprungszustand abweichend) sind als die der Schimpansen und Gorillas. Zudem belegen Fuß und Beckengürtel von Ardi, dass Ardipithecus ramidus bereits zum aufrechten Gang befähigt war, als die Individuen dieser Art bezüglich zahlreicher anderer anatomischer Merkmale noch regelmäßige Baumbewohner waren. Der Körperbau von Ardi falsifiziert daher auch die historische Savannen-Hypothese, der zufolge sich der aufrechte Gang bei vierfüßig lebenden Savannen-Bewohnern entwickelt habe. Die Redaktion des Fachmagazins Science erklärte die Beschreibung von Ardi und ihrer Umwelt zur wichtigsten wissenschaftlichen Veröffentlichung des Jahres 2009, da dieser Fund „eine Hauptfigur in der Geschichte der Evolution des Menschen“ sei, gleichrangig mit der Entdeckung des ersten Neandertalers, des „Kindes von Taung“ und des Skeletts von „Lucy“. Im Fachmagazin Nature hieß es, das Fossil „ermögliche erstmals einen umfassenden Blick auf die Biologie einer Art in zeitlicher Nähe zum letzten gemeinsamen Vorfahren der Menschen und der anderen Menschenaffen“; es trage dazu bei, dass die bisherige Darstellung der frühen Evolution der Hominini „umgeschrieben“ werden müsse. Weblinks Im Original erschienen als Titelbild der Fachzeitschrift Science (Band 326, Nr. 5949) vom 2. Oktober 2009. Im Original erschienen als Titelbild der Science-Ausgabe vom 18. Dezember 2009. Ardi, die neue Lucy. Unsere Vorfahren waren anders als gedacht. Auf: spektrum.de vom 2. Oktober 2009. Belege Hominines Fossil aus Afrika Archäologischer Fund (Äthiopien) Unteres Awash-Tal Archäologischer Fund (Afrika)
4913105
https://de.wikipedia.org/wiki/Fresh%20Fruit%20for%20Rotting%20Vegetables
Fresh Fruit for Rotting Vegetables
Fresh Fruit for Rotting Vegetables ist das Debütalbum der amerikanischen Punkband Dead Kennedys aus dem Jahr 1980. Es erschien über das britische Independent-Label Cherry Red Records und war im Heimatland der Band zunächst nur als Import erhältlich. Das Album gilt als Meilenstein der US-amerikanischen Punkgeschichte und als eines der frühen stilprägenden Hardcore-Punk-Alben. Es ist einerseits geprägt durch das für das Erscheinungsjahr sehr hohe Tempo der enthaltenen Musikstücke, andererseits durch die satirischen, gesellschaftskritischen Texte von Leadsänger Jello Biafra. In den durchweg polemischen Songtexten kritisieren und karikieren die Dead Kennedys soziale Ungleichheit. Entstehungsgeschichte Da sich der Haupt-Songwriter Jello Biafra und der Rest der Dead Kennedys zerstritten hatten, existieren zwei Versionen der Entstehungsgeschichte, eine von Biafra und eine vom Rest der Band. An einigen Stellen des folgenden Abschnitts werden daher unterschiedliche Sichtweisen den jeweiligen Personen zugeordnet. Vertragssuche 1978 gegründet, suchte die mit Liveauftritten sehr präsente Band Dead Kennedys eine geeignete Plattenfirma. Wegen ihres provokanten Bandnamens gestaltete sich die Suche besonders schwierig. Eine breite Independent-Szene war noch nicht entstanden und nach The Dickies und Ramones interessierten sich die Major-Labels nicht mehr für US-amerikanische Punkbands. DIY („Do it yourself“, zu Dt. „Mach’ es selbst“) wurde dadurch zu einer der Säulen der noch jungen US-amerikanischen Punkbewegung. Nach Veröffentlichung der Single California über alles durch das bandeigene Label Alternative Tentacles kam bald der Kontakt mit dem Musikagenten Bill Gilliam zustande. Einer festen Buchung der Band für Konzertveranstaltungen stand – auch nach Meinung des zwischenzeitlich ebenfalls kontaktierten Managers von Sham 69, Terry Gordon – jedoch eine nicht ausreichende Menge musikalischen Materials entgegen. Bislang waren lediglich einige Singles und die Kompilation Live at the Deaf Club erschienen. Bill Gilliam stellte die Band daraufhin Iain McNay von Cherry Red Records vor, Terry Gordon startete einen Vermittlungsversuch mit Safari Records. Diese hatten jedoch kein Interesse an einer Albumproduktion und so konzentrierte die Band ihre Hoffnungen ausschließlich auf Cherry Red Records. Kurze Zeit später schickte die Band eine frühe Fassung ihres Songs Holiday in Cambodia an McNay, um dessen Interesse zu wecken. Nach anfänglichen Vorbehalten seitens McNays, unter anderem wegen des provokativen Bandnames, konnte das von der Band eingereichte und als nächste Single geplante Lied überzeugen. Zur Produktion eines Albums verfügte Cherry Red Records allerdings zunächst nicht über die erforderlichen finanziellen Mittel. Nach Biafras Angaben lagen diese bei 8.000, den Auskünften der restlichen Bandmitglieder nach bei 10.000 US-Dollar. Richard Bishop, ein Geschäftspartner McNays von Caroline Records, bot daraufhin seine Unterstützung an. Voraussetzung für das Vorstrecken der benötigten Geldmittel war die vertragliche Einwilligung von McNay und der Band in spezielle Verkaufskonditionen und ein dreimonatiges Exklusivverkaufsrecht für Virgin Records, die Muttergesellschaft von Caroline Records. Bevor die Arbeiten am Debütalbum begannen, nahm die Gruppe die Single Holiday in Cambodia (B-Seite: Police Truck) im Tewksbury-Studio in Richmond auf. Als Toningenieur wurde Geza Gedeon, bekannt auch als Geza X, verpflichtet. Er hatte zuvor bereits mit Black Flag und Germs zusammengearbeitet und verfügte als Mitglied der Punkbands Deadbeats und The Bag auch über eigene musikalische Erfahrungen. In den Vereinigten Staaten erschienen die ersten 3.000 Exemplare über Optional Records, danach folgte eine zweite Veröffentlichung über Faulty Products, einen Ableger von Miles Copeland IIIs Independent-Label I.R.S. Records. Die ursprünglich vorgesehene Veröffentlichung durch A&M scheiterte am Namen der Band, denn Labelgründer Jerry Moss war Ted Kennedy freundschaftlich verbunden. Im Mai 1980 erschien die Single im Vereinigten Königreich, dort bereits über Cherry Red Records. Die Aufnahmen zum Album Nach der erfolgreichen Veröffentlichung der Single willigten McNay und Gilliam ein und gaben der Band die 10.000 Dollar für die Aufnahme des Albums. East Bay Ray gab später an, dass die Band für das Studio 6.000 Dollar einkalkuliert und das restliche Geld unter den vier Bandmitgliedern aufgeteilt habe. Die Band mietete das Studio Mobius Music von Oliver DiCicco in Noe Valley und entschied sich gegen die Verpflichtung von Geza X. Dabei überstimmte sie Jello Biafra, der diesen Produzenten bevorzugte. DiCicco, Musikproduzent und Besitzer des Studios, war lediglich der Toningenieur des Albums, da er wenig Erfahrung mit Punkmusik hatte. Seine vorherigen Produktionen entstammten dem New-Age-Bereich. Da Klaus Flouride berufliche Verpflichtungen hatte, fanden die Aufnahmen nur abends und nachts statt. Das Studio war gerade auf 16-Spur-Technik umgestellt worden und war räumlich sehr eingeschränkt. Die Aufnahme erfolgte auf einem Zwei-Zoll-16-Spur-Band. East Bay Ray verwendete für seine E-Gitarre des Typs Fender Super Reverb einen DOD-Overdrive-Vorverstärker und als Hallgerät eine Echoplex aus den 1960ern. Außerdem spielte er eine alte Telecaster mit Seymour- und Humbucker-Pickups, einem Hals im Stratocaster-Stil und einem Steg von Schecter. Jello Biafra verwendete ein Neumann-U47-Mikrofon, eine Empfehlung von Geza X. Für den Endmix wurde ein Ampex-351-Zweispurgerät verwendet. Die Band investierte viel Zeit auf die Vorproduktion. Die Lieder waren bereits fertig geschrieben und mussten nur noch eingespielt werden. Die meisten Songs waren nach dem ersten oder zweiten Take fertig. Auf dem Album sind daher nur wenig Overdubs zu hören. Während der Aufnahmen kam es jedoch vermehrt zu Konflikten innerhalb der Band, was sowohl die musikalische als auch die organisatorische Seite der Aufnahme betraf. Insbesondere Jello Biafra und East Bay Ray überwachten die Aufnahmen des Albums und streiten sich bis heute um den Hauptanteil. Insbesondere Ray fühlt sich hintergangen, da er nach seinem Verständnis zu wenig Kontrolle über die Produktion hatte. Als Produzent wurde schließlich im Booklet „Norm“ angegeben – der Name der Siamkatze des Produzenten. East Bay Ray wurde unter seinem bürgerlichen Namen „R. Pepperell“ als Produktionsassistent geführt. Spätere Pressungen enthielten andere Angaben. So wurden neben Norm auch East Bay Ray oder „Norm and the Dead Kennedys“ angegeben. Das Album erschien am 2. September 1980 im Vereinigten Königreich, wobei die Pressung fehlerhaft war. Das eingesetzte Masterband lief zu schnell und es fehlten zudem die tiefen Frequenzen. Im Heimatland der Band war das Album zunächst nur als Import erhältlich, erst 1981 erschien die US-Version über I.R.S. Records. Musikstil und Texte Wie bereits bei den beiden Vorgänger-Singles handelt es sich musikalisch um schnell gespielten Punkrock, der später als Hardcore Punk definiert wurde. Neben dem frühen Punkrock wurden auch Elemente des Garage Rock, insbesondere der Sonics, des Surf und des Rockabilly in die Musik aufgenommen. Dadurch entstand eine für damalige Verhältnisse ungewöhnliche Mischung aus traditionellen Rockelementen und Punkrock. Der Gesang von Jello Biafra war für die damalige Zeit ungewöhnlich schrill und erinnert an ein wütendes Fauchen. Die Texte sind bissig bis bösartig-sarkastisch und aus einer sehr linken Perspektive geschrieben. Dabei werden nicht nur einzelne Aspekte herausgegriffen, die für die Neue Linke in den Vereinigten Staaten charakteristisch waren, sondern die Kritik richtet sich gegen alle Aspekte des sogenannten American Way of Life und das komplette politische System Amerikas. In den Liedern nimmt Biafra oft die andere Position ein und verhöhnt so seine Gegner mit ihren eigenen Worten. Die Produktion war zwar recht dünn, doch die Schnelligkeit und die Verwendung der für Punk ungewöhnlichen Elemente wurden später zum Markenzeichen der Dead Kennedys. Gestaltung Auf dem Album befindet sich ein Schwarzweißfoto, das eine Reihe brennender Autos zeigt. Die Aufnahme stammt von Judith Carlson und wurde für den San Francisco Examiner erstellt. Sie wurde während der sogenannten „White Night Riots“ am 21. Mai 1979 aufgenommen. Die Unruhen brachen aus, nachdem der ehemalige Stadtrat Dan White den Homosexuellen-Aktivisten Harvey Milk sowie George Moscone, den damaligen Bürgermeister von San Francisco, erschossen hatte und zu einer aus Sicht vieler Kritiker zu geringen Haftstrafe von lediglich sieben Jahren verurteilt worden war. Aus den Reihen einer aufgebrachten Menge von annähernd 5.000 Personen, die zum Rathaus marschierten, lösten sich einzelne Randalierer heraus und steckten in dieser Nacht mehr als ein Dutzend Polizeiautos in Brand. Bei der Reproduktion des Bildes für die Erstveröffentlichung ging viel von der Qualität verloren. Ursprünglich sollten die Flammen deutlicher dargestellt werden, wozu sie von I.R.S. Records orange eingefärbt wurden. Dies wirkte sich aber auch auf den Rest des Bildes aus, so dass Biafra nicht mehr damit zufrieden war. Cherry Red Records übernahm dann den schwarz-weißen Druck, der auch auf allen späteren Veröffentlichungen Verbreitung fand. Die Wiederveröffentlichung zum 25. Jubiläum des Albums 2005 enthielt eine eingefärbte Version, bei der allerdings nur die Flammen hervorgehoben wurden, so wie es ursprünglich geplant war. Über die Jahre erschienen viele unterschiedliche Varianten des Coverartworks, die sich in der Helligkeit des Motives sowie in der Farbe des Bandlogos (weiß oder gelb) unterschieden. Auf der Originalversion befindet sich zudem der Name des Albums nicht auf dem Schallplattencover, sondern nur auf der Rückseite. Bei einigen Versionen wurde dies geändert. Auf dem Backcover war eine andere Band abgebildet, nämlich Sounds of Sunshine, die Anfang der 1970er einen kleinen Hit mit Love Means You Never Have to Say You’re Sorry hatte. Tatsächlich hatte Flouride das Foto irgendwann auf dem Flohmarkt gekauft, ohne dass damals jemand Band oder Fotograf hätte zuordnen können. Das Bild wurde mit Totenköpfen und dem Dead-Kennedys-Logo verziert. Als die Dead Kennedys im Fernsehen gezeigt wurden und dazu immer wieder das Bild vom Backcover abgebildet wurde, wurden ehemalige Sounds-of-Sunshine-Mitglieder, inzwischen konservative Christen, darauf aufmerksam und klagten gegen die Dead Kennedys. Der Vertrieb I.R.S. Records zahlte schließlich eine Entschädigung und auf späteren Pressungen wurden einfach die Köpfe der Bandmitglieder entfernt. Dem Album beigefügt war ein Poster mit einer Collage sowie den Texten des Albums. Die Collage wurde von Jello Biafra angefertigt mit etwas Unterstützung von Winston Smith, der auch für das Dead-Kennedys-Logo und später das Alternative-Tentacles-Logo verantwortlich zeichnete. Sie basierte auf den zahlreichen Ausschnitten aus Zeitungen und Zeitschriften, die Biafra in seinem Schlafzimmer hängen hatte. Im Wesentlichen beeinflusst wurde der Stil von der britischen Band Crass, allerdings war Biafras Ansatz ein eher politisch-humoristischer. Titelliste Varianten Bei frühen US-Versionen befindet sich zwischen Let’s Lynch the Landlord und Drug Me das Lied Police Truck und damit die B-Seite der Holiday-in-Cambodia-Single. Das Lied wurde erst wieder 1987 auf der Kompilation Give Me Convenience or Give Me Death auf einem Album-Format veröffentlicht. Vom Album existieren über 30 verschiedene Versionen, die sich nicht nur in der Gestaltung, sondern auch in der Songauswahl unterscheiden. Als Bonustracks wurden gelegentlich die verschiedenen Single-B-Seiten verwendet. Zum 25-jährigen Jubiläum erschien eine Special 25th Anniversary Edition mit einem 55-minütigen Dokumentarfilm, der Interviews mit verschiedenen Akteuren beinhaltete, darunter Klaus Flouride und East Bay Ray. Dazu werden einige ältere Liveaufnahmen gezeigt. Einige davon befanden sich auf der Video-Kompilation Dead Kennedys: The Early Years Live. Die Songs im Detail Kill the Poor ist die satirische Aufforderung, Arbeitslose und Menschen in Armut durch die Neutronenbombe zu beseitigen, da die Wirkung dieser Waffe, „nett, schnell, sauber und effektiv“ (It’s nice and quick and clean and gets things done) sei und die Gesellschaft so nicht länger durch „Wohlfahrtssteuer“ (Welfare Tax) belastet werde. Der Songtext wurde häufig mit A Modest Proposal von Jonathan Swift in Verbindung gebracht, das eine ähnliche Überzeichnung zum Inhalt hat. Die Idee stammte jedoch aus einem alten Devo-Interview im Fanzine Search & Destroy. Kill the Poor wurde die dritte Singleauskopplung des Albums. B-Seite war der Track In-Sight. Bei der Single-Version handelt es sich um eine andere Abmischung des Songs. Als Werbeanzeige wurde ein Bild des Parteitags der Conservative Party verwendet, über dem der Singletitel prangt. Durch geschickte Anzeigenschaltung und späte Abgabe erschien das Motiv in einigen Zeitungen und Zeitschriften. Dafür musste sich McNay vor dem Werberat rechtfertigen. Als Konsequenz durfte er die Anzeige nicht wieder verwenden, was aber auch gar nicht seine Absicht war. Forward to Death ist ein Text, der sich mit der Sehnsucht nach dem Tod auseinandersetzt. Das lyrische Ich sieht sich als Antagonist zum Rest der Welt. Das Lied stammt von Carlos Cadona (Pseudonym: „6025“), dem zeitweilig zweiten Gitarristen der Band, der zum Zeitpunkt der Aufnahme aber bereits wieder ausgestiegen war. Der Text war keine Fiktion von Cardona, sondern beschrieb sein damaliges Innenleben. So antwortete er auf die Frage, wie er zu dem Text gekommen sei, dass er oft so deprimiert sei, er würde sich auf den Tod freuen. Obwohl die ursprüngliche Idee von Cadona stammte, entstand die Musik des Liedes letztlich in einer Art Jam, bei dem jeder seine Ideen hinzufügte. When Ya Get Drafted kritisiert das Wettrüsten zwischen Ost und West während des Kalten Krieges. Der Text selbst entwirft das Schreckensszenario, dass durch eine Volkszählung alle wehrdienstfähigen US-Amerikaner erfasst werden, um effizienter Krieg gegen andere Staaten führen zu können. Ursprünglich unter dem Namen Rhodesia geschrieben, beinhaltete die erste Textversion noch Motive der Kubakrise, die allerdings von der Band Mercenary bereits aufgegriffen wurde. Geza X riet Biafra zur Überarbeitung und so wurde der Text allgemeiner gehalten. Der Songtext war geradezu prophetisch, denn im Februar 1980, kurz nach der Überarbeitung, als sie den Song schon live spielten, beschloss Präsident Jimmy Carter eine Erfassung aller wehrdienstfähigen US-Amerikaner, um im Bedarfsfall die Streitkräfte zu vergrößern. Let’s Lynch the Landlord fordert satirisch dazu auf, Grundeigentümer zu ermorden, die ihre Immobilien zu Lasten von deren Bewohnern verkommen lassen, um ihren eigenen Profit zu maximieren. Der Text basiert auf Flourides und Biafras Erfahrungen als Mieter. Für das Lied benötigte die Band am meisten Zeit. Zunächst war der Schlagzeugpart sehr schnell, so dass Bruce Slesinger („Ted“ in den Credits des Albums) nicht nachkam. Deshalb wurde das Schlagzeugspiel vereinfacht und der Song damit tanzbar. Der Text wurde im Wesentlichen von Biafras Vorliebe für das Duo Sparks geprägt. Biafra bezeichnete die „trockenen, wirklich bescheuerten Texte“ als großen Einfluss auf sein Songwriting. Drug Me handelt von einem aussichtslosen Leben, das nur durch Betäubung erträglich wird. Biafra kritisiert im Songtext, dass viele Mittel der Unterhaltung – der Text nennt unter anderem Fernsehen, Kreuzworträtsel, Zeitschriften, Pornographie – in erster Linie dem Zweck der Betäubung und Abstumpfung dienen. Der Riff wurde von (We Ain’t) Got Nothing Yet von den Blues Magoos adaptiert. Es handelt sich um eines der schnellsten Stücke aus dem Repertoire der Dead Kennedys und war live kaum zu spielen. Später veröffentlichte die Band Sepultura eine Coverversion. Your Emotions handelt von Emotionen, die Menschen zu Monstern machen. Der Text wurde von East Bay Ray geschrieben. Der Basspart von Klaus Flouride ist eine Reminiszenz an die Avengers. Chemical Warfare kritisiert das Wettrüsten sowie den Einsatz von chemischen Waffen. Der Text schildert, wie jemand, der illegal an Nervengas gelangt ist, Massenmord an den Gästen einer Cocktailparty begeht. In das Lied wurde ein Walzer eingebaut, der eine Tanzkapelle auf einer Cocktailparty in einem Country Club imitieren soll. Die Partygesellschaft wurde von Freunden der Band dargestellt, darunter Barbara Hellbent, Bobby Unrest, ChiChi (damalige Managerin der Dead Kennedys), Curt, Dirk Dirkson (Booker), Eric Boucher (bürgerlicher Name von Jello Biafra), Geoffrey Lyall (bürgerlicher Name von Klaus Flouride), HyJean, Michael Snyder (Journalist und Musikproduzent), Ninotchka (Therese Soder, Sängerin von Feederz und Biafras Ehefrau von 1981 bis 1986) sowie Will Shater und Bruce Calderwood (beide Flipper). California über alles überzeichnet in grotesker Form die Machtgelüste des kalifornischen Gouverneurs Jerry Brown und unterstellt diesem das Ziel der Installierung eines faschistisch geprägten Regierungssystems in den USA. Die Albumversion ist wesentlich schneller, fast in doppelter Geschwindigkeit zur Singleversion, die dafür etwas rauer klingt und mehr musikalische Abwechslung bietet. I Kill Children parodiert einen Psychopathen, der es kaum erwarten kann, die Kinder der Hörer des Albums zu ermorden. Der Text wurde sehr oft missinterpretiert, da die Hörer den Perspektivwechsel nicht mitmachten und Jello Biafra als lyrisches Ich sahen. Dies sorgte unter anderem dafür, das Tipper Gore und ihre Zensurbehörde PMRC auf die Band aufmerksam wurden. Tatsächlich nahm Biafra als Basis beziehungsweise als Eröffnungszeile ein Zitat aus einem religiösen Traktat des fundamentalen Christen Jack T. Chick: „God told me to skin you alive“ („Gott hat mir befohlen, dich lebendig zu häuten“). Stealing People’s Mail handelt von Leuten, deren Unterhaltung darin besteht, massenhaft Postsendungen zu stehlen, um sich über deren Inhalte zu amüsieren. Biafra wurde beim Songwriting vom Garage Rock der 1960er Jahre sowie von The Screamers beeinflusst. Funland at the Beach karikiert Sensationslüsternheit für Katastrophenfälle am Beispiel eines Psychopathen, der die Achterbahn in einem Vergnügungspark sabotiert, um sich anschließend an den verstümmelten Leichen zu erfreuen. Der Text zeigt die emotionale Kälte der Parkbetreiber, die sich mehr um einen Prozess sorgen, als sich ihrer Verantwortung bewusst zu sein. Wie bei I Kill Children wurde der Text häufig falsch verstanden. Ill in the Head beschreibt wie Forward to Death und Your Emotions ebenfalls einen düsteren Geisteszustand. Das lyrische Ich ist in einem zwiegespaltenen Eindruck und weiß nicht wohin mit sich Es ist der einzige Song, auf dem Carlos Cadona zu hören ist, der zum Einspielen wieder ins Studio kam, nachdem er die Band einige Monate vorher verlassen hatte. Das Lied hatten er und Biafra zusammen geschrieben. Biafras gab Cadona einen Text, mit dem er selbst unzufrieden war. Cardona überarbeitete ihn. Das Lied enthält mit einem Wechsel zwischen 13/8 und 11/8 eine für Punk ungewöhnliche Taktart. Cadona war von Neuer Musik beeinflusst und hatte während seines kurzen Beitritts versucht, die Band in diese Richtung zu führen. Holiday in Cambodia wurde ebenfalls in einer anderen Version als die damalige Singleversion eingespielt. Am Anfang ist eine Art Schreien zu hören, das durch einen Effekt über das Echoplex von Ray entstand. Viva Las Vegas ist eine parodistische Coverversion mit leicht geändertem Text und handelt von den Gefahren des Glücksspiels in Las Vegas. Dabei wird der im Original von Elvis Presley gesungene Text so karikiert, dass neben der Kritik am Glücksspiel auch Presley selbst kritisiert wird. So tauschte Biafra nur wenige Wörter aus und stellte einige Sätze so um, dass sie für Presley unvorteilhaft enden. Am Ende wird dem Protagonisten des Songs Kokainkonsum unterstellt. Hier fand eine Tradition der Dead Kennedys ihren Anfang: die überraschende Coverversion, die nicht zum Gestus und der Musik der Dead Kennedys passte. Fortgesetzt wurde sie unter anderem mit My Sharona, I Fought the Law und Boris the Spider. Jello Biafra imitierte hier den hohen Gesang von Feargal Sharkey. Ian McNay plante dies als dritte Single ein, da er sich davon hohe Aufmerksamkeit von den britischen Medien versprach. Doch die Band lehnte ab, da sie Befürchtungen hatte, damit als One-Hit-Wonder zu gelten. Rezeption Das Debütalbum erhielt gemischte Kritiken. Am besten schnitt das Album im Vereinigten Königreich ab. So kritisierte Andy Gill von Gang of Four im New Musical Express die Themen des Albums, die „abseitig und nicht mehr als Punk-Varieté“ seien. Dafür lobte er die Dynamik sowie die Originalität und den Abwechslungsreichtum der Kompositionen. Robert Christgau und Lester Bangs äußerten sich negativ. Christgau bezeichnete Biafras Gesang als „Tiny Tim Vibrato“ und verglich die Musik mit den Stooges. Eine gute Kritik kam dagegen von John Tobler vom ZigZag, der vor allem die „subtilen“ Lyrics lobte. In den USA waren die Kritiken verhaltener. So lobte New York Rocker zwar die dynamischen Tracks des Albums, bezeichnete aber die Lyrics zu I Kill Children und Funland at the Beach als sinnlos und nur für den Schockeffekt geschrieben. Trotz der eher verhaltenen Rezensionen verkaufte sich das Album sehr gut. Bis zum Ende des Jahres konnte Cherry Red Records alleine im Vereinigten Königreich 30.000 Einheiten absetzen. In Finnland, Spanien, Portugal und Australien erreichte es sogar Top-10-Platzierungen. In den britischen Charts erreichte das Album Platz 33. Die Single Kill the Poor platzierte sich auf 49. Zur damaligen Zeit ebnete das Album den Weg für die San-Francisco-Punkszene und machte diese sowohl in den USA als auch in Europa populär. Es war zudem einer der Meilensteine des frühen US-Hardcores, zusammen mit den ersten Veröffentlichungen von Black Flag, MDC und Bad Brains. Heute gilt das Album als eines der bedeutendsten Werke der Punkmusik sowie als „Blaupause für textlich wie musikalisch vielseitigen Punk“. Dementsprechend oft wird es zitiert. Insbesondere die beiden Hits California über alles sowie Holiday in Cambodia wurden recht häufig gecovert. Bei ersterem sind sicherlich die Versionen von der Death-Metal-Band Six Feet Under sowie von der Indie-Rock-Band The Delgados hervorzuheben. Von letzterem existieren unter anderem Versionen von Laaz Rockit und Boysetsfire. Serj Tankian und die Foo Fighters spielten auf den MTV Video Music Awards 2007 eine Neuauflage des Songs. Der Song I Kill Children, insbesondere der Eröffnungssatz, inspirierte den Künstler Winston Smith zu einem Gemälde mit dem Titel „God Told Me to Skin You Alive“, das später wiederum Verwendung als Artwork beim Green-Day-Album Insomniac fand. Das Album diente zudem als Inspiration für eine ganze Reihe von Künstlern, so bezeichneten unter anderem Dinosaur Jr., Hüsker Dü, The Pixies, Nirvana, The Offspring und Massive Attack das Album als großen Einfluss. Im Mai 2001 veröffentlichte das US-Musikmagazin Spin das Themenheft 25 Years of Punk mit einer Liste “The 50 Most Essential Punk Records”. Das Album Fresh Fruit for Rotting Vegetables steht dort auf Platz 46. Das britische Mojo nannte das Album das „musikalisch komplexeste Punkalbum aller Zeiten“. Robert Dimery nahm das Album in sein musikalisches Referenzbuch 1001 Albums You Must Hear Before You Die auf. 2004 erschien eine Liste des deutschen Rolling-Stone-Magazines, bei dem Fresh Fruit for Rotting Vegetables auf Platz 185 geführt wurde. Sowohl auf der Liste des US-amerikanischen Rolling Stone als auch bei der Neuauflage der Liste 2012 fehlte es dagegen. Der New Musical Express nahm das Album 2013 in seine Liste der 500 besten Alben aller Zeiten auf. Geführt wird es dort auf Platz 365. Rolle im Rechtsstreit zwischen Jello Biafra und den übrigen Mitgliedern in den 1990ern Fresh Fruit for Rotting Vegetables ist das einzige Album der Band, dessen Rechte nicht bei Alternative Tentacles lagen, bevor der Rechtsstreit zwischen Jello Biafra und den restlichen Mitgliedern der Dead Kennedys begann. Während des Rechtsstreits ging es insbesondere um falsch berechnete und nicht ausgezahlte Royaltys sowie fehlerhafte Urheberrechtsangaben. Ein Punkt war allerdings, dass Biafra den Backkatalog nicht genügend beworben hätte. Als Gegenbeispiel wurde daher Cherry Red Records ausgewählt, die das Album als Digipak mit verschiedenen Bonustracks erneut herausgebracht hatten und damit die Verkäufe von 5.000 auf 15.000 Stück anheben konnten. Als Folge sprach die Jury den restlichen Mitgliedern die Rechte zur Veröffentlichung aller Alben außer Fresh Fruit for Rotting Vegetables zu. Dokumentarfilm Fresh Fruit for Rotting Eyeball – 25th Anniversary Edition. Dokumentation über die frühen Jahre der Dead Kennedys, mit Live-Konzertmitschnitten. (Beigelegt in einer Ausgabe des Albums anlässlich des 25-jährigen Jubiläums) Produzent: Eric S. Goodfield. Literatur Michael Stewart Foley: 33 ⅓: Fresh Fruit for Rotting Vegetables. Bloomsbury Academic, New York 2015, ISBN 978-1-62356-730-9. Alex Ogg: California über alles: Dead Kennedys – Wie alles begann. Ventil Verlag, Mainz 2015, ISBN 978-3-95575-008-4. Weblinks Fresh Fruit for Rotting Vegetables auf der offiziellen Dead-Kennedys-Website. Enthält die vollständigen Songtexte des Albums (englisch). Einzelnachweise Album (Punk) Album 1980 Dead Kennedys
5094851
https://de.wikipedia.org/wiki/Besselsche%20Elemente
Besselsche Elemente
Die Besselschen Elemente sind geometrische Größen, die Friedrich Wilhelm Bessel einführte, um die lokalen Gegebenheiten bei einer Sonnenfinsternis an einem Beobachtungsort auf der Erde zu beschreiben. Neben Sonnenfinsternissen kann das damit verbundene Prinzip auch bei Stern- oder Planetenbedeckungen durch den Mond sowie den Transiten von Venus und Merkur vor der Sonne verwendet werden. Die bei Mondfinsternissen vorgenommenen Berechnungen ähneln der Berechnung der Besselschen Elemente, wobei in diesem Fall der Schatten nicht auf die Erde, sondern auf den Mond fällt. Bei Sonnenfinsternissen kann beispielsweise basierend auf den Besselschen Elementen die Bedeckungsdauer an einem bestimmten Ort ermittelt werden, oder es ist der Pfad bestimmbar, auf dem der Kernschatten des Mondes die Erdoberfläche überstreicht. Dieses Berechnungsverfahren wurde 1829 durch Bessel entwickelt und später von William Chauvenet verfeinert. Die grundlegende Idee des Verfahrens ist, dass die Besselschen Elemente die Bewegung des Schattens wiedergeben, den der bedeckenden Himmelskörper – bei Sonnenfinsternissen ist dies der Mond – auf einer gedachten Fundamentalebene verursacht. Bei dieser handelt es sich um die geozentrische Normalebene der Schattenachse, in der der Erdmittelpunkt liegt und die senkrecht auf der Achse des Schattenkegels steht. Letzteres ist die Gerade, die durch die Zentren des bedeckten und des bedeckenden Himmelskörpers geht. Zur Beschreibung der Bewegung des Schattens in dieser geeignet gewählten Ebene ist die Angabe vergleichsweise weniger Größen ausreichend – bei hinreichender Genauigkeit. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass der Schatten während des gesamten Finsternisverlaufs in dieser Ebene immer kreisförmig ist und keiner perspektivischen Verzerrung unterliegt. In einem zweiten Schritt werden die Werte für die Erdoberfläche errechnet, in dem die Schnittkurven der Schattenkegel mit der Erdoberfläche bestimmt werden, wobei erst dann die annähernde Kugelform der Erde, die Erddrehung sowie die Lage und Höhe des Beobachtungsorts berücksichtigt werden müssen. Geschichte Dieses Verfahren, Stern- und Planetenbedeckungen sowie Sonnenfinsternisse zu beschreiben, wurde vom deutschen Wissenschaftler Friedrich Wilhelm Bessel in den 1820er Jahren ausgearbeitet. Die erste Arbeit Bessels zum Thema Sternbedeckungen findet sich in den Astronomischen Nachrichten Nr. 50 aus dem Jahre 1824, in der er einige Berechnungen auf Basis zuvor beobachteter Sternbedeckungen anstellte. Im Jahr 1829 veröffentlichte er eine verallgemeinernde Arbeit Ueber die Vorausberechnung der Sternbedeckungen in den Astronomischen Nachrichten Nr. 145. Noch im selben Jahr entwickelte er die Idee weiter, indem er das Verfahren mit dem Ziel der Anwendung für Planetenbedeckungen und Sonnenfinsternisse verallgemeinerte. Bis zu diesem Zeitpunkt wurden zur Berechnung zwei unabhängige Verfahren mit unterschiedlichen Zielen verwendet. Das erste Verfahren diente der Bestimmung der Gegebenheiten, wie sie sich einem Beobachter an einem konkreten Ort darstellten. Die hierbei verwendete Methode ging bereits auf Johannes Kepler zurück und war später von Jérôme Lalande und Johann Gottlieb Friedrich von Bohnenberger weiterentwickelt worden. Das zweite Verfahren, das auf Joseph-Louis Lagrange zurückzuführen ist, diente der Berechnung des Zeitpunktes der Konjunktion. Da sich dieses Verfahren auf den Erdmittelpunkt bezog und keine Aussage über lokale Gegebenheiten auf der Erdoberfläche machen konnte, wurde es zur Berechnung von Finsternissen weniger häufig angewandt als das erste. Es vereinfachte jedoch viele andere astronomische Berechnungen. Bessels Ansatz bestand nun darin, Lagranges Verfahren so weiterzuentwickeln, dass damit auch die Berechnung der lokalen Gegebenheiten möglich wurde, womit er eine Kombination beider Verfahren erreichte. Im zweiten Band seiner Astronomischen Untersuchungen veröffentlichte Bessel 1842 eine vier Abschnitte umfassende Abhandlung mit dem Titel Analyse der Finsternisse. Darin fasste er seine bisher veröffentlichten Arbeiten zu diesem Thema zusammen und rundete sie durch einige Ergänzungen ab. Diese Veröffentlichung diente als Grundlage für viele Astronomen, die sich später mit diesem Thema auseinandersetzten. Peter Andreas Hansen verwendete in seinem 1858 veröffentlichten Werk Theorie der Sonnenfinsternisse und verwandter Erscheinungen abweichend von Bessel die Schnittgerade der Ekliptik mit der Fundamentalebene als -Achse. Bessels Variante, die Verwendung der Äquatorebene statt der Ekliptik, besaß jedoch einige Vorteile, wie 1863 der amerikanische Astronom William Chauvenet hervorhob. Er folgte in seinem Manual of Spherical and Practical Astronomy größtenteils dem Verfahren Bessels, entwickelte aber für einige Teilprobleme eigene Lösungsansätze. Chauvenets Darstellung war daraufhin die Basis für viele weitere Entwicklungen auf diesem Gebiet. Wenn auch die Berechnungen von Finsternissen nicht mehr manuell, sondern elektronisch erfolgen, haben die Besselschen Elemente ihre Bedeutung nicht verloren. Im Gegenteil, sie stellen das Bindeglied zwischen den Berechnungen des Zeitpunkts des Auftretens einer Finsternis sowie den Berechnungen der lokalen Gegebenheiten dar. Viele Computerprogramme sind auf eine der beiden Berechnungen spezialisiert, wobei die Besselschen Elemente sozusagen als Schnittstelle fungieren. Sonnenfinsternisse Die an einem Ort auf der Erdoberfläche beobachtbare gegenseitigen Bedeckung von Gestirnen hängt von den Bahndaten des bedeckten entfernteren sowie des bedeckenden näheren ab. Diese Daten (Ephemeriden) werden üblicherweise als Winkel Rektaszension und Deklination angegeben. Diese Winkel beziehen sich als geozentrische Koordinaten auf den Erdmittelpunkt, so dass aus ihnen nicht direkt die Gestirnsbedeckung zu entnehmen ist, die an einem bestimmten Punkt der Erdoberfläche zu beobachten ist. Um eine Bedeckung in einem Punkt auf der Erdoberfläche zu beschreiben, müssen die aus Tafeln entnommenen oder anderweitig bekannten Bahndaten der beiden Himmelskörper umgerechnet werden. Die Besselschen Elemente dienen der Beschreibung des Verlaufs sowie der Größe des Kern- und Halbschattens in der Fundamentalebene. Es ist einerseits nicht schwierig, den Verlauf des Schattens in dieser Ebene ausgehend von den Bahndaten der Himmelskörper zu beschreiben, zum anderen ist auch eine recht einfache Umrechnung auf einen Beobachtungspunkt möglich. Für letztere Umrechnung enthalten die Besselschen Elemente auch Angaben, wie die Fundamentalebene gegenüber dem Nullmeridian und der Äquatorebene verdreht ist. Die Bedeckung der Sonne durch den Mond stellt im Hinblick auf die Beschreibung der Gegebenheiten auf der Erde den kompliziertesten Okkultationstyp dar, da sowohl der bedeckte Körper – die Sonne – als auch der bedeckende Körper – der Mond – nicht zu vernachlässigende Sehwinkel haben. Zudem muss die scheinbare Bewegung der Sonne während der Bedeckung berücksichtigt werden. Definition der Besselschen Elemente Zunächst wird ein rechtwinkliges Koordinatensystem eingeführt, das als fundamentales oder Besselsches Koordinatensystem bezeichnet wird. Dabei wird von der Schattenachse ausgegangen, der Verbindungsgeraden des Zentrums von Sonne und Mond. Die Parallele der Schattenachse, die durch den Erdmittelpunkt geht, stellt die -Achse des Besselschen fundamentalen Koordinatensystems dar und folgt ständig dem Schatten, das Koordinatensystem dreht sich also mit der Richtung der Schattenachse. Die Fundamentalebene steht im Erdmittelpunkt senkrecht auf dieser Achse. In der Fundamentalebene wird die Position und Größe des Kern- und Halbschattens mittels der - und -Koordinate beschrieben. Die -Achse ist dabei die Schnittgerade der Fundamentalebene mit der Äquatorebene und weist nach Osten, die -Achse weist nach Norden. Die ersten beiden Größen der Besselschen Elemente sind die Koordinaten und des Schnittpunkts der Schattenachse mit der Fundamentalebene. Die Richtung der Schattenachse – die der Richtung der -Achse entspricht – wird durch die Deklination und den Ephemeridenstundenwinkel angegeben. Der Radius des Halbschattenkegels in der Fundamentalebene wird durch beschrieben, der des Kernschattenkegels durch . ist dabei für eine totale Finsternis negativ, für eine ringförmige positiv. Die Werte , , und werden in der Regel in Einheiten des Äquatorradius der Erde angegeben. Neben diesen sechs Größen, die sich im Verlauf der Finsternis ändern, gibt es noch zwei weitere Größen, die als konstant betrachtet werden können: Die Größen und definieren die halben Öffnungswinkel des Halb- bzw. Kernschattenkegels. Berechnung der Besselschen Elemente Die für Sonnenfinsternisse verwendeten Besselschen Elemente gehen aus vom zeitlichen Verlauf der geozentrischen Positionen von Sonne und Mond, die über deren Ephemeriden verfügbar sind. Eine Möglichkeit zur Berechnung des Auftretens von Sonnenfinsternissen ist, die Positionen von Sonne und Mond sofort in das fundamentale Koordinatensystem umzurechnen. Dann kann recht leicht ermittelt werden, ob und wann die Schattenachse die Fundamentalebene innerhalb des Erdglobus durchstößt – was bedeutet, dass sich eine zentrale, also totale oder ringförmige Finsternis ereignet. Es gibt andere Möglichkeiten, das Auftreten von Sonnenfinsternissen zu berechnen, beispielsweise über die Finsternis-Limite. Aber auch in diesem Fall müssen die Positionen von Sonne und Mond für den Finsternisverlauf in das fundamentale Koordinatensystem umgerechnet werden, um auf Basis der Besselschen Elemente lokale Gegebenheiten an jedem Ort der Erde berechnen zu können. Basierend auf den geozentrischen Koordinaten und den Entfernungen von Sonne und Mond können die Besselschen Elemente für einen bestimmten Zeitpunkt berechnet werden. Aus Deklination und Rektaszension sowie der Entfernung lassen sich zunächst die Ortsvektoren von Sonne und Mond wie folgt bestimmen: Als Einheit für die Entfernungen dient üblicherweise der Äquatorradius der Erde. In der Literatur wird die Entfernung häufig durch die Parallaxe ausgedrückt, die den Ephemeridentafeln entnommen werden kann. Da die Parallaxe sich auf den Erdradius als Basis bezieht, kann die Entfernung in Einheiten des Äquatorradius durch berechnet werden. Im Folgenden werden als erste der Besselschen Elemente die Deklination und der Ephemeridenstundenwinkel berechnet, also die Äquatorialkoordinaten der Richtung der Schattenachse. Statt des Stundenwinkels wird hierbei zunächst die Rektaszension berechnet, aus dieser kann der Stundenwinkel mittels der Formel ermittelt werden, wobei der auf Greenwich bezogenen Sternzeit entspricht. Zur Umrechnung in das fundamentale Koordinatensystem werden die Einheitsvektoren , und , die in Richtung der Koordinatenachsen dieses Koordinatensystems zeigen, mittels der beiden Größen und ausgedrückt: Da die Richtung der -Achse der Differenz der Ortsvektoren vom Erdmittelpunkt zu Sonne und Mond entspricht, lässt sich der Einheitsvektor in Richtung der -Achse auch wie folgt ausdrücken: Durch Gleichsetzen der beiden Darstellungen von lassen sich nun und und somit alle Einheitsvektoren des fundamentalen Koordinatensystems bestimmen. Unter Verwendung dieser Einheitsvektoren können nun die Koordinaten von Sonne und Mond in diesem Koordinatensystem bestimmt werden. Aufgrund der Definition der Fundamentalebene sind die - und -Koordinaten von Sonne und Mond identisch. Diese stellen gleichzeitig den Schnittpunkt der Schattenachse mit der Fundamentalebene dar und sind die nächsten ermittelten Besselschen Elemente. Weiterhin wird die -Koordinate des Mondes bestimmt, da diese für die Berechnung der Schattenradien benötigt wird. Die Winkel zwischen der Schattenachse und den Tangenten an Sonne und Mond, die die Kegelmäntel des Halb- und Kernschattens bilden, können mittels eines Hilfsdreiecks ermittelt werden. Dabei werden die Tangenten parallel verschoben, so dass sie durch den Mondmittelpunkt gehen (siehe Abbildung rechts). Hypotenuse beider Dreiecke ist die Verbindungslinie des Sonnen- und Mondmittelpunkts, die Gegenkatheten der gesuchten Winkel bilden die auf den parallel verschobenen Tangenten rechtwinklig stehenden Strecken durch den Sonnenmittelpunkt. In diesen rechtwinkligen Dreiecken ist jeweils die Länge zweier Seiten bekannt, zum einen die Entfernung zwischen Sonne und Mond, zum anderen die Länge der Gegenkathete, die beim Halbschatten der Summe aus Sonnen- und Mondradius entspricht, beim Kernschatten der Differenz dieser beiden Größen. Somit gilt: Um die letzten beiden noch fehlenden Besselschen Elemente und zu errechnen, die Radien von Halb- und Kernschatten in der Fundamentalebene, wird der Abstand der Schnittpunkte der Tangenten mit der Schattenachse von der Fundamentalebene benötigt. Für den Halbschatten liegt dieser mit bezeichnete Punkt auf der Schattenachse zwischen Sonne und Mond und stellt die Spitze des Halbschattenkegels dar. Der Schnittpunkt liegt ebenfalls auf der Schattenachse und ist die Spitze – also der Endpunkt – des Kernschattens. Dabei gilt: Mittels dieser Abstände der Punkte und von der Fundamentalebene lassen sich die Radien der Schattenkegel in dieser Ebene wie folgt ermitteln: Wenn die Kegelspitze des Kernschattens vom Mond aus gesehen hinter die Fundamentalebene fällt, also eine totale Sonnenfinsternis vorliegt, ist negativ, im anderen Fall positiv, was bei einer ringförmigen Sonnenfinsternis der Fall ist. Entsprechend der Konvention wird auch das Vorzeichen des Kernschattenradius so gewählt, dass dieser im Falle einer totalen Sichtbarkeit negativ angegeben wird, bei ringförmiger Sichtbarkeit hingegen positiv. Die Größen und sind immer positiv. Zur Berechnung wird ein Mondradius gewählt, der eine Mittelung der Unregelmäßigkeiten des Mondrandes darstellt (). Da aber die Totalität einer Finsternis nicht vorliegt, solange durch das tiefste Mondtal scheinende Sonnenstrahlen den Beobachtungsort noch erreichen, wird zur Berechnung der Totalitätszone und -dauer auch ein zweiter, kleinerer Wert () benutzt. Veröffentlichung der Besselschen Elemente Die Besselschen Elemente sind zeitabhängig. Um eine Bedeckung zu beschreiben, müssen sie daher für einen Zeitraum angegeben werden, der beispielsweise zur vollständigen Beschreibung einer Sonnenfinsternis mehrere Stunden umfasst. Es gibt verschiedene Varianten der Veröffentlichung der Besselschen Elemente einer Sonnenfinsternis. In manchen Fällen werden die Werte aller nicht als konstant anzusehenden Elemente (also , , , , und ) in stündlichen Intervallen für den gesamten Finsternisverlauf tabellarisch angegeben. Zwischenwerte können interpoliert werden. Eine andere Variante ist, die Besselschen Elemente für eine Referenzzeit () anzugeben, beispielsweise die dem Maximum nächstliegende volle Stunde in Terrestrischer Zeit (TT), und zusätzlich die stündlichen Änderungen für alle nicht als konstant anzusehenden Elemente. Dies ermöglicht die Berechnung der Werte für andere Zeitpunkte des Finsternisverlaufs als lineare Funktion der Zeit. Die Angabe in polynomialer Form ermöglicht eine etwas genauere Näherung gegenüber der linearen Interpolation. Dabei werden für die veränderlichen Größen zusätzlich zum Wert zum Zeitpunkt bis zu drei Polynomkoeffizienten angegeben. Die Berechnung des Werts zu einer bestimmten Zeit erfolgt dann in folgender Form: Dabei entspricht einer der veränderlichen Größen, ist die Differenz zur Zeit in Stunden. In der Praxis wird häufig auf die vom Goddard Space Flight Center der NASA in polynomialer Form veröffentlichten Besselschen Elemente zurückgegriffen. Bei den im Astronomical Almanac veröffentlichten Besselschen Elementen wird der Wert für aus praktischen Gründen bereits unter Anwendung der in Frage kommenden Winkelfunktionen (Sinus sowie Kosinus) angegeben, zudem die Größen , , die für den gesamten Finsternisverlauf näherungsweise als konstant anzusehenden stündlichen Änderungen der Größen und . Beispiel der Anwendung der Besselschen Elemente In folgendem Beispiel werden zunächst die Besselschen Elemente für einen vorgegebenen Zeitpunkt berechnet, womit Position und Größe des Kern- und Halbschattenkegels in der Fundamentalebene zu diesem Zeitpunkt bekannt sind. Für praktische Anwendungen muss anschließend untersucht werden, wie Punkte an der Erdoberfläche relativ zu diesen Schattenkegeln liegen. Alle hierzu erforderlichen Größen sind durch die Geometrie der Erde vorgegeben. Im Beispiel wird untersucht, ob ein gegebener Ort innerhalb des Kernschattenkegels liegt. Ermittlung der Besselschen Elemente für einen bestimmten Zeitpunkt Die nebenstehende Tabelle enthält die Besselschen Elemente der Sonnenfinsternis vom 11. August 1999 in polynomialer Form. Ziel sei es nun, für 12:34:03 MESZ (entspricht 10:34:03 UT) die Position des Kernschattens in der Fundamentalebene zu berechnen. Zunächst ist die Differenz zur Referenzzeit (11:00:00 TT) zu ermitteln. Hierbei ist noch die Differenz zwischen TT und Universal Time (UT) zu berücksichtigen, die zum Zeitpunkt der Finsternis 63,7 Sekunden betrug: Die Koordinaten des Schnittpunkts der Schattenachse mit der Fundamentalebene für die gewünschte Zeit errechnen sich wie folgt: Analog errechnen sich Deklination und Stundenwinkel (die in der Tabelle fehlenden Werte für oder sind mit 0 anzusetzen): Ebenso lässt sich nun der Radius des Kernschattens in der Fundamentalebene für diesen Zeitpunkt berechnen: Der Halbschattenradius kann auf die gleiche Weise berechnet werden, er wird allerdings für die folgende Berechnung nicht benötigt. Prüfung, ob ein gegebener Punkt zu dieser Zeit in der Totalitätszone liegt Im ersten Schritt wurden die Besselschen Elemente der Finsternis vom 11. August 1999 für 12:34:03 MESZ berechnet. Nun soll überprüft werden, ob der Stuttgarter Schloßplatz () zu diesem Zeitpunkt in der Totalitätszone lag. Hierzu werden die Koordinaten des Schloßplatzes in das fundamentale Koordinatensystem umgerechnet. Sind diese Koordinaten bestimmt, kann leicht ermittelt werden, ob dieser Punkt innerhalb des Schattenkegels liegt, da die Schattenachse ja per Definition senkrecht auf der Fundamentalebene steht. Zunächst sind hierzu die gegebenen geodätischen Koordinaten des Schloßplatzes ( = 48,77855° und = 9,17991°) einschließlich der ellipsoidischen Höhe ( = 295 m) in geozentrische Kugelkoordinaten ( und ) umzurechnen, wobei die Länge unverändert bleibt. Hierfür werden die numerische Exzentrizität des Rotationsellipsoids der Erde und zwei weitere, daraus abgeleitete, breitenabhängige Hilfsgrößen verwendet: Dabei ist der Äquatorradius und der Polradius. Mit dem Äquatorradius = 6.378.137 m lassen sich die geozentrischen Koordinaten wie folgt berechnen: Dabei drückt den Abstand des Schloßplatzes vom Erdmittelpunkt in Einheiten des Äquatorradius aus, ist der Winkel zwischen der Äquatorebene und dem vom Erdmittelpunkt zum Schloßplatz zeigenden Ortsvektor. Als Hilfsgröße wird nun der Stundenwinkel des Beobachtungsorts gegenüber der -Achse des fundamentalen Koordinatensystems ermittelt. Dabei ist zu beachten, dass bei den Besselschen Elementen der Stundenwinkel unter Annahme eines Ephemeridentags (entsprechend der Terrestrischer Zeit, früher: Ephemeridenzeit) berechnet wird. Da aber die tatsächliche Erdrotation nicht ganz regelmäßig ist, muss zunächst um den Zeitunterschied zwischen Terrestrischer Zeit und Universal Time korrigiert werden, der entspricht. Zur Berechnung der entsprechenden Winkelkorrektur ist die siderische Taglänge maßgeblich, der Unterschied zur synodischen Taglänge (Sonnentag) wird durch den Faktor 1,002738 berücksichtigt. Eigentlich muss die geographische Länge des Beobachters () von abgezogen werden, da beide Winkel aber in entgegengesetzter Richtung gemessen werden, ist es eine Addition. Damit lassen sich die kartesischen Koordinaten , und des Schloßplatzes im fundamentalen Koordinatensystem wie folgt ermitteln, wobei die Neigung der Fundamentalebene gegenüber dem geodätischen Koordinatensystem durch die Deklination berücksichtigt wird: Der Radius der Schnittfläche des Kernschattenkegels in der durch den Schloßplatz gehenden, zur Fundamentalebene parallelen Ebene liegt näher an Sonne und Mond und ist deshalb etwas größer als der Kernschattenradius in der Fundamentalebene. Er lässt sich auf Basis des in den Besselschen Elementen angegebenen Konuswinkels des Schattenkegels () und des Abstands des Schloßplatzes von der Fundamentalebene () berechnen. Dabei ist zu beachten, dass der Kernschattenradius bei einer totalen Finsternis per Definition negativ angegeben wird. Der Abstand des Schloßplatzes von der Schattenachse in derselben Ebene lässt sich wie folgt ermitteln: Da der Abstand des Schloßplatzes in dieser Ebene kleiner ist als der Radius des Schattenkegels, lag der Schloßplatz also zum gegebenen Zeitpunkt innerhalb des Kernschattens. Weil es zu dieser Zeit in Stuttgart regnete, war allerdings auf dem Schloßplatz keine Beobachtung der verfinsterten Sonne möglich. Durch iteratives Durchführen dieser Berechnungen für einen Zeitraum lassen sich prinzipiell die Kontaktzeiten an einem bestimmten Ort ermitteln. Es gibt aber auch direkte Verfahren, um die Kontaktzeiten zu berechnen. Weitere Gestirnsbedeckungen durch den Mond Sternbedeckungen durch den Mond Bei Sternbedeckungen kann die Berechnung der Besselschen Elemente gegenüber Sonnenfinsternissen stark vereinfacht werden, da es ausreichend genau ist, den bedeckten Himmelskörper als unendlich weit entfernt anzusehen. Diese Annahme ermöglicht es, die Lichtstrahlen des entfernten Objekts, die das Erde-Mond-System erreichen, als parallel zu betrachteten. Damit ergibt sich, dass die Richtung der Schattenachse, also die -Achse des Besselschen fundamentalen Koordinatensystems, während des gesamten Verlaufs der Bedeckung immer genau in Richtung des Sterns zeigt und damit durch die äquatorialen Koordinaten des Sterns von vornherein gegeben ist. Eine weitere Vereinfachung gegenüber einer Sonnenfinsternis besteht darin, dass kein Kern- und Halbschattenkegel beschrieben werden muss, sondern dass es ausreicht, den „Schatten“ als senkrecht auf der Fundamentalebene stehenden Zylinder aufzufassen. Der Radius dieses Zylinders entspricht dem Mondradius, der 0,2725 des Äquatorradius der Erde entspricht. Die Angabe von variablen Schattenradien sowie Öffnungswinkeln erübrigt sich damit. Die Fundamentalebene wird analog zu den Sonnenfinsternissen gewählt, also die durch den Erdmittelpunkt gehende Normalebene dieser Schattenachse. Die Schnittlinie der Fundamentalebene mit der Äquatorebene ist die -Achse und zeigt nach Osten, senkrecht auf dieser steht im Erdmittelpunkt die -Achse und zeigt nach Norden. Wie bei Sonnenfinsternissen erfolgen alle Angaben in diesem Koordinatensystem in Einheiten des Äquatorradius. Anders als bei der Sonnenfinsternis wird als Bezugszeitpunkt für die Besselschen Elemente häufig nicht eine volle Stunde, sondern der Zeitpunkt der Konjunktion in Rektaszension gewählt, also der Zeitpunkt, zu dem Stern und Mond dieselbe Rektaszension aufweisen. Zu diesem Zeitpunkt hat die -Koordinate der Zylinderachse den Wert 0, so dass in Tabellen nur noch die -Koordinate der Zylinderachse in der Fundamentalebene angegeben wird. Die Besselschen Elemente einer Sternbedeckung werden dann wie folgt festgelegt: Für Prognosenberechnungen ist es ausreichend, und während des gesamten Verlaufs der Bedeckung als konstant zu betrachten. Bedeckung der Planeten durch den Mond Das Verfahren der Besselschen Elemente lässt sich auf beliebige Gestirnsbedeckungen anwenden, wenn beide Gestirne hinreichend genau kugelförmig sind. Es sind lediglich die Position und Größe der Sonne durch die des betreffenden Planeten zu ersetzen. Als Ausnahmen gab Bessel 1842 lediglich die Planeten Jupiter und Saturn an, da deren Abweichung von der Kugelgestalt damals messbar war. Um das Sichtbarkeitsgebiet für Bedeckungen von Planeten durch den Mond vorherzusagen, kann dasselbe vereinfachte Verfahren wie bei Sternbedeckungen angewandt werden (siehe oben). Sollen jedoch die Kontaktzeiten genau bestimmt werden, ist eine gegebenenfalls vorhandene Abweichung des Planeten von der Kugelform zu berücksichtigen und auch, welcher Teil der Planetenscheibe zum Zeitpunkt der Bedeckung von der Sonne angestrahlt wird. Dieses Verfahren wurde 1865 von Chauvenet beschrieben, da Bessels Verfahren für die zwischenzeitlich präziser gewordenen Beobachtungsmethoden nicht mehr genau genug war. Dabei wird der von der Sonne beschienene und von der Erde sichtbare Teil des Planeten direkt betrachtet und nicht in eine Fundamentalebene abgebildet. Transit der unteren Planeten Beim Transit der unteren Planeten Venus und Merkur vor der Sonne ist der bedeckende Himmelskörper der Planet. Dieser kann die Sonne niemals vollständig bedecken, denn der Kernschatten ist viel zu kurz, um auf die Erde zu fallen. Auch für diese astronomischen Ereignisse werden Besselsche Elemente zur Berechnung der lokalen Gegebenheiten verwendet. Es kann dabei genau dasselbe Berechnungsverfahren wie bei Sonnenfinsternissen verwendet werden, der Planet übernimmt dabei die Rolle des Mondes. Da die Entfernung der unteren Planeten von der Erde wesentlich größer ist als die des Mondes, besteht bei Transiten die Möglichkeit einer vereinfachten Berechnung der Zeitpunkte des Ein- und Austritts der Planetenscheibe vor der Sonne. Dieses Verfahren kommt ohne die Umrechnung der Ephemeriden in das Besselsche fundamentale Koordinatensystem aus. Dabei macht man sich zu Nutze, dass die quadrierte oder zu höherer Potenz erhobene Parallaxe der Planeten so klein wird, dass sie vernachlässigt werden kann. Ausgehend von den auf den Erdmittelpunkt bezogenen Kontaktzeiten können auf diese Weise die entsprechenden Zeitpunkte an jedem Punkt der Erde berechnet werden. Das Prinzip dieser vereinfachten Berechnung geht auf Lagrange zurück und wurde von William Chauvenet verbessert, indem er die Erdabplattung berücksichtigte. Mondfinsternisse Bei einer Mondfinsternis befindet sich ein irdischer Beobachter auf dem Himmelskörper, der den Schatten wirft. Somit sieht man von allen Orten auf der Erde genau denselben Finsternisverlauf, vorausgesetzt, der Mond ist sichtbar. Bei der Berechnung von Mondfinsternissen werden entsprechende Sehwinkel (polare Koordinaten) bestimmt, was der Ermittlung der Besselschen Elemente (kartesische Koordinaten in der Besselschen Fundamentalebene) ähnelt. Deshalb werden die für Mondfinsternisse benutzten Sehwinkel gelegentlich auch Besselsche Elemente genannt. Eine Fundamentalebene wird aber weder für die Erde noch für den Mond benutzt, und es handelt sich bei der Beschreibung von Mondfinsternissen in der Regel ausschließlich um polare Koordinaten. Wie bei Sonnenfinsternissen bezieht sich das fundamentale Koordinatensystem auf die Schattenachse, die bei Mondfinsternissen aber immer durch den Erdmittelpunkt geht. Die Berechnung ähnelt der bei Sonnenfinsternissen. Rektaszension und Deklination der Schattenachse ergeben sich in diesem Fall direkt aus den entsprechenden Werten der Sonne, die -Achse zeigt dabei aber von der Sonne weg. Somit gilt: Auf die gleiche Weise wie bei Sonnenfinsternissen kann der geozentrische Ortsvektor des Mondes in das fundamentale System umgerechnet werden. Über dessen - und -Komponente kann die Lage des Mondmittelpunkts in Bezug zur Schattenachse ermittelt werden. Da alle benutzen Winkel ihren Scheitelpunkt im Erdmittelpunkt haben, werden im Gegensatz zu Sonnenfinsternissen für die Umrechnung keine Längenangaben benötigt. Die Koordinaten und beziehen sich auf die Einheitskugel. Die daraus abgeleiteten Winkel werden in Bogensekunden angegeben. Die dabei verwendeten Formeln entsprechen bis auf die fehlende Einheitenumrechnung den bei der Sonnenfinsternis verwendeten. Daraus lässt sich der Winkelabstand des Mondmittelpunkts von der Schattenachse berechnen: Die Größe der Radien von Halb- und Kernschatten werden ebenfalls als geozentrische Sehwinkel angegeben. Die Größen und beschreiben hierbei den Sehwinkel der Schattenradien in der Mondumlaufbahn. In nebenstehender Abbildung deutet die gestrichelte Linie die Mondumlaufbahn an. Der Winkel ist der Sehwinkel des Erdradius vom Mond aus gesehen und entspricht somit der Parallaxe des Mondes. Da dieser Winkel ein Außenwinkel des Dreiecks ist, gilt für den Sehwinkel des Kernschattens in der Mondumlaufbahn , wobei der halbe Öffnungswinkel des Kernschattenkegels ist. Analog kann über das Dreieck eine weitere Winkelbeziehung hergeleitet werden: Der Außenwinkel entspricht dem Sehwinkel des Sonnenradius von der Erde, der Winkel der geozentrischen Parallaxe der Sonne. Somit gilt: Aus beiden Winkelbeziehungen lässt sich nun durch Eliminierung des Konuswinkels der gesuchte Winkel ermitteln: In analoger Weise kann auch der geozentrische Sehwinkel des Halbschattenradius im Mondorbit ermittelt werden. Für diesen ergibt sich folgende Beziehung: Um die Ermittlung der Kontaktzeiten der Finsternis zu unterstützen, werden aus den Größen des Kern- und Halbschattens und dem Mondradius drei weitere Hilfsgrößen abgeleitet. Dies sind die Sehwinkel für den Abstand des Mondmittelpunkts von der Schattenachse während eines bestimmten Kontakts, die aus den Sehwinkeln der Schattenradien und dem Sehwinkel des Mondradius berechnet werden: Ein- und Austritt des Mondes für den Halbschatten Ein- und Austritt des Mondes für den Kernschatten Beginn und Ende der totalen Finsternis Die Größen , , , , , , und sowie , und – die stündliche Änderungsraten für die korrespondierenden Größen – gelten als Besselsche Elemente einer Mondfinsternis. Sie werden für eine Referenzzeit angegeben, beispielsweise den Zeitpunkt der Mondopposition. Es gibt allerdings im Gegensatz zu Sonnenfinsternissen keine allgemein anerkannte Art und Weise der Angabe der Kenngrößen. Die bisher dargestellten Berechnungen verwendeten nur Winkel zur Schattenachse und kamen ohne Definition der Fundamentalebene aus. Wenn berechnet werden soll, wann bestimmte Mondkrater – also markante Punkte der Mondoberfläche – in den Kernschatten ein- oder austreten, ist dies möglich, wenn man die Fundamentalebene so wählt, dass sie durch den Mondmittelpunkt geht – in ähnlicher Weise wie für Punkte der Erdoberfläche bei Sonnenfinsternissen. Bei Überprüfung der berechneten Kontaktzeiten und insbesondere Ein- und Austrittszeitpunkte bestimmter Mondkrater in den bzw. aus dem Kernschatten zeigen die auf diese Weise berechneten Daten keine brauchbare Übereinstimmung mit der Realität. Dies liegt zum einen daran, dass die Erde aufgrund ihrer Abplattung keinen ausreichend kreisförmigen Schatten wirft. Zum zweiten liegt es an der Erdatmosphäre, durch die sich die Schattenkegel vergrößern. Um diese Effekte zu kompensieren, ist es üblich, in die Formeln zur Berechnung der Größe des Halb- und Kernschattenkegels zwei Korrekturfaktoren einzuführen, wobei der Faktor 1,02 die Vergrößerung des Erdschattens durch die Wirkung der Erdatmosphäre um 1/50 und der Faktor 0,998340 die Abplattung der Erde im Mittelwert zwischen Äquator- und Poldurchmesser kompensieren soll: André Danjon wies 1951 darauf hin, dass zur Berücksichtigung der Wirkung der Erdatmosphäre die beiden Schattenkegel nicht um den gleichen relativen Betrag von 1/50 zu vergrößern sind, sondern vielmehr eine Vergrößerung um denselben absoluten Betrag den tatsächlichen geometrischen Verhältnissen entspricht. Danjon geht von einer 75 Kilometer hohen Schicht der Erdatmosphäre aus, die absorbierend wirkt, was einer Vergrößerung des Erdradius bzw. der Parallaxe des Mondes um 1/85 entspricht. Der Faktor 1,01 kombiniert diese Vergrößerung mit dem Faktor für die Erdabplattung: Finsternisgrößen für Kernschatten-Finsternisse, die nach der 1/50-Regel berechnet werden, sind im Vergleich zur Rechnung nach Danjon um etwa 0,005 zu groß, für Halbschatten-Finsternisse um rund 0,026. Aber auch auf diese Weise berechnete Daten zeigen noch keine besonders präzise Übereinstimmung mit der Realität. Dies wird vor allem darauf zurückgeführt, dass die Abplattung der Erdatmosphäre noch deutlich größer ist als die der Erdoberfläche. Es wird versucht, anhand der Beobachtungsdaten verschiedener Mondfinsternisse ein genaueres Korrekturverfahren zu entwickeln. Anmerkungen Literatur P. Kenneth Seidelmann (Hrsg.): Explanatory Supplement to the Astronomical Almanac. University Science Books, Sausalito 2006, ISBN 1-891389-45-9 Robin M. Green: Spherical Astronomy. Cambridge University Press, Cambridge 1985, ISBN 0-521-23988-5 William Chauvenet: A Manual of Spherical and Practical Astronomy. J. B. Lippincott & Co, Philadelphia 1863, books.google.de Jean Meeus: Elements of Solar Eclipses 1951-2200. Willmann-Bell, Richmond 1989, ISBN 0-943396-21-2 (Mit Rechenverfahren und den Besselschen Elementen aller Sonnenfinserisse im Zeitraum 1951 bis 2200.) Jean Meeus: Transits. Willmann-Bell, Richmond 1989, ISBN 0-943396-25-5 (Mit Rechenverfahren und den Besselschen Elementen aller Merkur-Transits im Zeitraum 1600 bis 2300 und aller Venus-Transits -2000 bis 4000.) Jean Meeus: Astronomical Tables of the Sun, Moon and Planets 3rd edition. Willmann-Bell, Richmond 2015, ISBN 978-1-942675-03-7 (Mit Rechenverfahren und den Besselschen Elementen für Bedeckungen heller Sterne im Zeitraum 2010 bis 2040.) Einzelnachweise Sonnenfinsternis Mondfinsternis Himmelsmechanik Friedrich Wilhelm Bessel als Namensgeber
5107131
https://de.wikipedia.org/wiki/Kreuzbandriss
Kreuzbandriss
Von einem Kreuzbandriss, auch Kreuzbandruptur genannt, spricht man bei einem unvollständigen (partiellen) oder vollständigen (kompletten) Riss (Ruptur) eines oder beider Kreuzbänder. In den meisten Fällen ist das vordere Kreuzband (Ligamentum cruciatum anterius) betroffen. Die Ursache für einen Kreuzbandriss ist das Überschreiten der Reißfestigkeit des Bandes. Kreuzbandrisse entstehen meist ohne Fremdeinwirkung durch plötzliche Richtungswechsel beim Laufen oder Springen. Sie sind die häufigsten klinisch relevanten Verletzungen im Bereich des Kniegelenks. Kreuzbandrisse können anhand ihrer Symptome, der Beschreibung des Verletzungsvorgangs und mit Hilfe einfacher tastender (palpatorischer) Untersuchungen relativ sicher diagnostiziert werden. Magnetresonanztomographie und Arthroskopie können die Diagnosestellung weiter absichern. Unbehandelte Kreuzbandrupturen können zu schweren degenerativen Schäden im Knie führen. Die Therapie kann sowohl konservativ als auch chirurgisch (minimalinvasiv mittels Arthroskopie) erfolgen. Welche Therapie wann und in welcher Variante ausgeführt wird, ist Gegenstand kontroverser Diskussionen. Unbestritten ist dagegen, dass derzeit keine Therapieform qualitativ den ursprünglichen Zustand eines unverletzten Kreuzbandes wiederherstellen kann. Eine Langzeitfolge eines Kreuzbandrisses ist die deutlich erhöhte Wahrscheinlichkeit der Ausbildung einer Kniegelenksarthrose – unabhängig von der Art der Behandlung. Eine Vielzahl von Studien kommt zu dem Ergebnis, dass durch spezielle präventive Übungen das Risiko für einen Kreuzbandriss deutlich gesenkt werden kann. In der anglo-amerikanischen Fachliteratur wird für Verletzungen des vorderen Kreuzbandes der Begriff anterior cruciate ligament injury verwendet. Kreuzbandriss wird korrekterweise mit cruciate ligament rupture übersetzt. Verletzungen des hinteren Kreuzbandes (Ligamentum cruciatum posterius) werden im Englischen als posterior cruciate ligament injury bezeichnet. Arten In den wenigsten Fällen sind Kreuzbandrisse isolierte Verletzungen. Die Rupturen werden meist von anderen Läsionen weiterer Bänder und der Menisken begleitet. Es können zwei Arten von Kreuzbandrissen unterschieden werden: Vorderer oder hinterer Kreuzbandriss mit sagittaler, das heißt von vorne nach hinten verlaufender, Instabilität und positivem Schubladenphänomen Kombinationsverletzung mit Schubladenphänomen in Drehstellung des Fußes nach innen oder außen: Anteromediale Rotationsinstabilität (AMRI, vorne-mittige Drehbewegungsinstabilität): vorderer Kreuzbandriss, Riss des Innenmeniskus und der mediodorsalen Kapsel, oft zusätzlich (meist zur Mitte zeigender) Riss des Innenbandes (sogenannte Unhappy Triad). Anterolaterale Rotationsinstabilität (ALRI, vorne-seitliche Drehbewegungsinstabilität): Riss des hinteren Kreuzbandes, des Außenbandes und der dorsolateralen Kapsel. Posterolaterale Rotationsinstabilität (PLRI, hintere-seitliche Drehbewegungsinstabilität): Riss des Außenbandes und des hinteren Kreuzbandes bei hinterer-mittiger, beziehungsweise hinterer-seitlicher Drehbewegungsinstabilität. Verletzungsmechanismen Vorderes Kreuzband Die Verletzung des vorderen Kreuzbands entsteht typischerweise durch einen Richtungswechsel. Häufig liegt eine Drehbewegungsstellung des Unterschenkels nach außen mit Valgusbeugungsstress oder eine Drehbewegungsstellung nach innen mit Varusbeugungsstress vor. Auch zu starke Streck- oder Beugebewegungen (Hyperextension beziehungsweise Hyperflexion) können ein Auslöser sein. In den überwiegenden Fällen handelt es sich um Sportverletzungen. Besonders häufig treten solche Verletzungen (Traumata) unter sogenannten „Stop-and-Go“-Sportarten (z. B. Tennis oder Squash) und bei Mannschaftssportarten (z. B. Fußball, Football, Handball, Hockey oder Basketball) – oft auch unter Fremdeinwirkung – auf. Auch beim Skifahren – vor allem wenn der Tal-Ski nach außen dreht, der Körper aber über dem Berg-Ski fixiert bleibt – sind Rupturen des vorderen Kreuzbandes eine häufige Art der Verletzung. Der über die Valgus- und Innenrotationsstellung laufende Verletzungsmechanismus beim Skifahren wird auch als „Phantomfuß-Mechanismus“ bezeichnet. Ein Riss kann auch durch eine Auskugelung der Kniescheibe (Patellaluxation) mit plötzlichem Stabilitätsverlust des Kniegelenks bedingt sein. Durch den Ausfall (Insuffizienz) des vorderen Kreuzbandes ist die Funktion eines der beiden zentralen passiven Führungselemente (primäre Stabilisatoren) des Kniegelenks gestört. Daraus resultiert eine pathologische Bewegungsfreiheit des Schienbeinkopfes nach vorne (ventral), der sogenannte „Tibiavorschub“. Gelenkkapsel, Seitenbänder, hinteres Kreuzband und Menisken werden vermehrt beansprucht, um den Schienbeinvorschub zu bremsen. Es kommt zu einer Überdehnung der Bandstrukturen. Bei Zunahme des Schienbeinvorschubs kommt es zu Knorpelschäden. Diese sind unter anderem dadurch bedingt, dass der Knorpel einer deutlich höheren Belastung ausgesetzt ist. Eine höhere Belastung bedeutet in so einem Fall eine frühzeitige Abnutzung mit Ausbildung einer Arthrose. Den vorderen Kreuzbandriss begleitende Verletzungen der Menisken und des Knorpels potenzieren das Risiko einer Arthrose. Hinteres Kreuzband Risse des hinteren Kreuzbands sind seltener. Sie entstehen aufgrund des Überschreitens der maximalen Dehnungsmöglichkeit des hinteren Kreuzbands, in der Regel durch äußere Gewalteinwirkung. Von einem hinteren Kreuzbandriss ist in den meisten Fällen nicht nur das hintere Kreuzband betroffen. Die Verletzungen sind daher meist weitaus komplexer und betreffen in der Regel das gesamte Kniegelenk. Hauptursache für einen Riss des hinteren Kreuzbandes sind Verkehrsunfälle oder allgemeiner sogenannte Rasanztraumata. Dies ist darauf zurückzuführen, dass durch das Sitzen im PKW das Knie gebeugt ist. Durch ein Aufprallen des Unterschenkels an das Armaturenbrett reißt das hintere Kreuzband. Dieser Mechanismus wird deshalb auch dashboard injury (wörtlich aus dem engl. übersetzt: Armaturenbrett-Verletzung) genannt. Diese Form der Verletzung ist allerdings relativ selten, und ihre Häufigkeit hat im Laufe der Jahre mehr und mehr abgenommen. So fanden sich in einer in Deutschland durchgeführten Studie mit über 20.000 Unfallopfern bei Pkw-Unfällen lediglich 5 Fälle von dashboard injury. Bei körperkontaktbetonten Sportarten, wie beispielsweise American Football, kann eine von vorne-mittig einwirkende Gewalt durch eine zu starke Streckung zu einer Verletzung des hinteren Kreuzbandes führen. Häufig kommt es hierbei zu Mitverletzungen des vorderen Kreuzbandes sowie der hinteren Gelenkkapsel. Häufigkeit Der Anteil an Verletzungen der Bänder im Knie an allen klinisch relevanten Knieverletzungen liegt bei etwa 40 %. Von diesen 40 % wiederum gehen etwa zwei Drittel der Verletzungen auf das Konto von Kreuzbandrissen – zu 46 % nur das vordere Kreuzband und zu 4 % nur das hintere. Mischverletzungen, beziehungsweise komplexere Verletzungen, mit Beteiligung der Kreuzbänder haben einen Anteil von 19 %. Das vordere Kreuzband reißt statistisch gesehen etwa zehnmal so häufig wie das hintere. Die Hauptursache für die deutlich geringere Inzidenz von Rupturen des hinteren Kreuzbandes sind zum einen dessen größerer Durchmesser und die dadurch bedingte vergleichsweise höhere Belastungsfähigkeit und zum anderen seine anders geartete Funktion. In den Vereinigten Staaten beträgt das Verhältnis von Rupturen des vorderen Kreuzbandes zum hinteren etwa 9 bis 10 : 1, in Deutschland etwa 14 : 1. Weltweit kommt es zu rund einer Million Kreuzbandrissen pro Jahr. Zumeist sind Freizeitsportler betroffen. Der Riss des vorderen Kreuzbandes ist nicht nur die häufigste Bandverletzung des Knies, sondern auch die häufigste klinisch relevante Verletzung des Knies überhaupt. Die Häufigkeit liegt bei etwa 0,5 bis 1 vorderen Kreuzbandrissen pro tausend Einwohner (USA, Mitteleuropa) und Jahr. In den Vereinigten Staaten kommt es pro Jahr zu etwa 80 000 bis 100 000 Rupturen des vorderen Kreuzbandes. Die Inzidenz ist im Altersintervall von 15 bis 25 Jahren am höchsten. Die dadurch entstehenden jährlichen Kosten liegen bei ungefähr 1 Milliarde Dollar. In Deutschland betrugen 2002 die Krankheitskosten in den Krankenhäusern für die Behandlung der „Binnenschädigung des Kniegelenks“ – bei der Kreuzbandrisse den Hauptanteil verursachen – 359,3 Millionen Euro. Statistisch gesehen reißt in Deutschland alle 6,5 Minuten ein Kreuzband. Bei etwa jedem Dritten ist zusätzlich ein Meniskus beschädigt. In der Schweiz liegen die Schätzungen für die jährlichen Kosten durch Kreuzbandrupturen bei 200 bis 250 Millionen Franken. Von dieser Summe entfallen 40 % auf Heilkosten, 47 % auf Tagegelder, 2 % auf Kapitalleistungen, wie beispielsweise Integritätsentschädigungen (ein sozialversicherungsrechtliches Schmerzensgeld) und 12 % auf Invalidenrenten (Kapitalwerte). Pro Kreuzbandriss sind dies fast 21.000 Franken, mit einem durchschnittlichen Heilkostenanteil von 8350 Franken. Die Schweizerische Unfallstatistik (UVG), von der etwa die Hälfte aller Schweizer Bürger erfasst wird, meldet pro Jahr 6350 Verletzungen des vorderen Kreuzbandes (Zeitraum 1997 bis 2001). Die Hochrechnung für die Schweiz geht von 10.000 bis 12.000 Fällen aus. Von den erfassten 6350 Verletzungen werden 73 % durch „Sport und Spiel“ verursacht, 10 % sind Berufsunfälle, und 17 % entfallen auf sonstige Tätigkeiten, wie beispielsweise Wegeunfälle, Aufenthalt in Häusern oder andere Freizeitaktivitäten. Frauen bzw. Mädchen haben eine zwei- bis achtmal höhere Verletzungsrate als Männer, die den gleichen Sport ausüben. Verschiedene Studien zeigen, dass diese Verletzungen vor allem kontaktlos hervorgerufen werden. Hier spielt eine funktionelle Valgusposition des Kniegelenks bei Landung nach einem Sprung eine wegweisende Rolle. Bei Basketballspielerinnen ist einer Studie zufolge die Wahrscheinlichkeit für eine Knieverletzung, eine Operation am Knie oder des vorderen Kreuzbandes viermal höher als bei männlichen Basketballspielern. Bei Fußballspielerinnen beträgt dieser Faktor 3,41. Die Ursache für die erhöhte Inzidenz bei Frauen ist noch weitgehend unklar. So werden anatomische Unterschiede, wie beispielsweise ein größeres Spiel im Kniegelenk, Hormone und Trainingstechniken diskutiert. Der Anteil einzelner Sportarten an der Häufigkeit eines Kreuzbandrisses hängt sehr stark von den lokalen Präferenzen für die jeweilige Sportart ab. In den USA beispielsweise haben Basketballspieler (20 %), gefolgt von Fußball- (17 %) und American-Football-Spielern (14 %), den höchsten Anteil an Kreuzbandrissen, während in Norwegen die Reihenfolge Fußballspieler (42 %), Handballspieler (26 %) und alpine Skifahrer (10 %) ist. In Deutschland treten die häufigsten Kreuzbandrisse bei den Sportarten Fußball, Handball und Skifahren (alpin) auf. Danach folgen Straßenverkehrs- und Arbeitsunfälle. Über 70 % der Risse des vorderen Kreuzbandes entstehen ohne Fremdeinwirkung bei der Landung nach einem Sprung, beim Abbremsen oder beim plötzlichen Richtungswechsel. Die Anzahl der jährlich diagnostizierten Kreuzbandrupturen nimmt seit Jahren beständig zu. Neben den verbesserten diagnostischen Möglichkeiten – mit der häufiger Kreuzbandrisse auch als solche erkannt werden – ist auch die Zunahme an sportlichen Aktivitäten in der Freizeitgesellschaft schuld an dieser Tendenz. Ohne einige bestimmte Sportarten wären Kreuzbandrupturen ein relativ seltenes Trauma. Risikofaktoren Außer den unter der Rubrik Häufigkeit bereits beschriebenen Faktoren Sportart und Geschlecht spielen noch andere Risikofaktoren beim Kreuzbandriss eine Rolle. Aufgrund der Häufigkeit der Verletzung liegen umfassende statistische Daten und eine Vielzahl daraus abgeleiteter Studien vor. Die Ätiologie des vorderen Kreuzbandrisses ohne Fremdeinwirkung ist sehr vielschichtig, und eine Reihe von teilweise sehr unterschiedlichen Faktoren beeinflussen das Risiko einer Ruptur. Es ist bis heute noch nicht vollständig zu erklären, warum einzelne Personen ein höheres Risiko für diese Verletzung haben als andere. Beispielsweise ist ungeklärt, warum nach der Verletzung des vorderen Kreuzbands eines Knies eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für dieselbe Verletzung des anderen Knies innerhalb der nächsten Jahre gegeben ist. So haben deutsche Fußballspielerinnen, die bereits einen Kreuzbandriss hatten, eine über fünfmal höhere Wahrscheinlichkeit für eine erneute Kreuzbandruptur als Spielerinnen, die bisher von dieser Verletzungsart verschont waren. Bei den Risikofaktoren wird zwischen intrinsischen (personenbezogenen) und extrinsischen (äußeren) Faktoren unterschieden. Zu den intrinsischen Faktoren gehören beispielsweise die genetische Prädisposition beziehungsweise Anatomie, Trainingszustand (Fitness), neuromuskuläre Effekte oder hormonelle Faktoren. Dagegen sind beispielsweise die Bodenbeschaffenheit, das Wetter oder die Sportschuhe extrinsische Risikofaktoren. Die Kenntnis der Risikofaktoren für Kreuzbandrisse ist ein wichtiger Ansatzpunkt für präventive Maßnahmen. Intrinsische Risikofaktoren Anatomische Faktoren gehören zu den schon länger vermuteten Risikofaktoren. Die Reißfestigkeit eines Kreuzbandes hängt unmittelbar mit dessen Breite zusammen, die wiederum von Mensch zu Mensch unterschiedlich sein kann. In einer anthropometrischen Studie wurden die vorderen Kreuzbänder des unverletzten kontralateralen Knies von Patienten mit einer Kreuzbandruptur mit denen einer Kontrollgruppe mit gleicher mittlerer Körpermasse verglichen. Die Volumina der Kreuzbänder wurden mittels Magnetresonanztomografie ermittelt. In der Gruppe mit Kreuzbandrissen betrug das Volumen des kontralateralen Kreuzbandes durchschnittlich 1921 mm³, während es bei der Kontrollgruppe bei 2151 mm³ lag. Die Autoren der Studie schließen daraus, dass anthropometrische Unterschiede im Volumen – und daraus abgeleitet der Breite – des Kreuzbandes einen direkten Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit eines Kreuzbandrisses ohne Fremdeinwirkung haben. Schon in früheren Studien wurde eine Korrelation von einer schmalen Kreuzbandhöhle (interkondyläres Notch), die wiederum im Zusammenhang mit einem schmaleren Kreuzband steht, mit einem erhöhten Risiko für einen Kreuzbandriss festgestellt. Allerdings herrscht darüber kein wissenschaftlicher Konsens, da andere Studien zu anderen Ergebnissen kommen. Frauen haben gegenüber Männern eine schmalere Kreuzbandhöhle, weshalb dieser anatomische Unterschied ein Erklärungsmodell für die höhere Inzidenz von Kreuzbandrupturen bei Frauen ist. Defizite in der Propriozeption, das heißt der Wahrnehmung der eigenen Körperbewegung und -lage im Raum, werden ebenso wie neuromuskuläre Ermüdungserscheinungen in den unteren Extremitäten und zentrale Ermüdungserscheinungen bei der Landung nach einem Sprung als Risikofaktoren für eine vordere Kreuzbandruptur gesehen. In einer Studie wurde festgestellt, dass die Patienten mit einem Kreuzbandriss signifikante Defizite bei neurokognitiven Fähigkeiten hatten. Weitere Risikofaktoren sind eine dynamische Valgusbelastung der Kniegelenke, eine fehlende Hüft- und Rumpfkontrolle und eine geringe Kniebeugung bei der Landung nach einem Sprung. Außerdem erhöht eine sogenannte Quadrizepsdominanz, d. h. ein Überwiegen der Kraft des M. quadriceps gegenüber der ischiocruralen Muskulatur, das Risiko für eine Verletzung des vorderen Kreuzbandes. Extrinsische Risikofaktoren Der Reibungskoeffizient zwischen der Sohle des Sportschuhs und dem Untergrund ist ein Faktor bei der Ursache eine Kreuzbandrisses. Ein hoher Reibungskoeffizient korreliert mit einem erhöhten Verletzungsrisiko. In einer Studie über zwei Spielzeiten in den oberen drei norwegischen Handball-Ligen spielte bei 55 % der Kreuzbandrisse der Reibungskoeffizient Sportschuh/Bodenbelag eine Rolle. In kälteren Monaten werden im American Football weniger Spieler durch Kreuzbandrisse verletzt als in wärmeren Monaten. Eine mögliche Ursache ist die in den kühleren Monaten reduzierte Bodenhaftung. In einer Studie über Kreuzbandrisse bei Australian Football wird ebenfalls ein Zusammenhang mit den Wetterbedingungen und der Verletzungsrate beschrieben. So war die Verletzungsrate auf trockenen Spielfeldern signifikant höher als auf feuchten. Als Ursache wird ein weicherer Untergrund nach Niederschlägen vermutet, der die Kraftübertragung zwischen Schuh und Oberfläche reduziert. Ebenfalls in Australien wurde ein Zusammenhang mit der Bodenbeschaffenheit festgestellt. So rissen in der Australian Football League auf Weidelgras weniger Kreuzbänder als auf Hundszahngras. Hier wird als Ursache eine reduzierte Haftung der Sportschuhe in Wechselwirkung mit dem Weidelgras vermutet, wodurch die für das Kreuzband destruktive Kraftübertragung geringer ist als auf dem Hundszahngras mit höherer Haftung. Symptomatik Wenn ein Kreuzband gerissen ist, führt dies meist zu einer deutlichen Schwellung des Kniegelenks und in Folge zu Schmerzhaftigkeit aufgrund der Kapseldehnung des Gelenkes. Ein blutiger Gelenkerguss (Hämarthros) ist der Normalfall bei einem Kreuzbandriss. Er tritt in 95 % der Fälle auf und schränkt sehr schnell die Beweglichkeit des Kniegelenks ein. Zusammen mit der Instabilität des Kniegelenks ist ein Hämarthros ein Leitsymptom für eine Kreuzbandruptur. Umgekehrt ist ein Kreuzbandriss für etwa 50 bis über 75 % aller Hämarthrosen verantwortlich. Diese Symptomatik wurde bereits im Jahre 1879 von dem Franzosen Paul Ferdinand Segond (1851–1912) beschrieben: Heftiger Schmerz im Knie-Inneren und rasches Einbluten mit entsprechender Schwellung des Gelenkes. Ursache für diese Symptome sind die im Kreuzband verlaufenden Nervenfasern und Blutgefäße. Erstere lösen beim Zerreißen den Schmerz aus, und letztere sorgen für die Einblutung in das Gelenk. Oft ist das Zerreißen mit einem hörbaren Knall („Plopp“) verbunden. Auf das Zerreißen folgt ein kurzer Schmerz. Die Instabilität im Knie bemerkt der Betroffene schon unmittelbar, wenn sich der erste Schmerz gelegt hat. Der Gelenkerguss stellt sich meist erst im Laufe des Tages ein. In der Regel muss der ausgeübte Sport abgebrochen werden. Eine Ausnahme sind Skifahrer, die oft noch die Abfahrt bewerkstelligen können – allerdings unter erheblichen Schmerzen. Treffen all diese Symptome zu, so handelt es sich mit 90-prozentiger Sicherheit um einen Riss des vorderen Kreuzbandes (oder beider). Das Knie lässt sich meist nicht mehr ganz strecken und wird in leichter Beugestellung gehalten (Schonhaltung). In dieser Beugestellung kann man den Unterschenkelknochen mit der Hand gegen den Oberschenkelknochen um etwa 5–10 mm nach vorne ziehen, ohne einen Anschlag zu spüren, während beim gesunden Knie nur wenige Millimeter (2–3 mm) möglich sind und man dann einen Anschlag verspürt (positiver Lachman-Test). Nach etwa einer Woche klingen die Symptome bei einem vorderen Kreuzbandriss wieder ab. Manche Patienten beginnen bereits nach zwei Wochen wieder mit Sport. Der Grad der Instabilität des Kniegelenkes ist stark abhängig von den sekundären Kniegelenks-Stabilisatoren beziehungsweise deren Trainingszustand. Sekundäre Kniegelenks-Stabilisatoren sind andere periphere Bänder und Muskelsehnen. Sie können teilweise die Funktion des vorderen Kreuzbandes zur Stabilisierung des Kniegelenkes übernehmen. Viele Patienten sind dann drei bis sechs Monate weitgehend beschwerdefrei. Danach können die sekundären Stabilisatoren die auf das Kniegelenk einwirkenden Kräfte aber meist nicht mehr abfangen. Schäden an den Menisken und Seitenbändern sowie ein vermehrtes Auftreten von giving way sind die Folge. Begleitverletzungen Isolierte vordere Kreuzbandrisse sind eher die Ausnahme. Bis zu 80 % aller Kreuzbandrisse werden von anderen Verletzungen begleitet. Verletzungen der Menisken sind dabei ausgesprochen häufig. In einer umfangreichen Studie wurde bei akuten Kreuzbandrissen in 42 % der Fälle ein Riss des Innenmeniskus und zu 62 % ein Riss des Außenmeniskus diagnostiziert. In einer anderen Studie wurde bei Kreuzbandrissen im chronischen Intervall (bei der Durchführung einer Bandplastik) bei 60 % der Patienten ein Riss des Innenmeniskus und bei 49 % einer des Außenmeniskus festgestellt. Wird der verletzte Meniskus entfernt, so steigt die Instabilität des betroffenen Knies weiter an. Die stark eingeschränkte Stoßdämpfung führt darüber hinaus zu einer verstärkten Häufigkeit sekundärer Arthrosen. Unversehrte Menisken wirken sich positiv auf das Ergebnis einer Kreuzbandplastik aus. Aus diesem Grund empfiehlt sich – wenn es der Riss des Meniskus zulässt – eine Refixation des selbigen durchzuführen. Idealerweise erfolgt dies zusammen mit der Rekonstruktion des Kreuzbandes. Eine weitere häufige Begleitverletzung ist der Riss des Innen- und/oder Außenbandes des Kniegelenks. Sind Innenband, Innenmeniskus und vorderes Kreuzband betroffen, so spricht man von einer Unhappy Triad. Eher selten ist der anterolaterale (vorn und seitlich) knöcherne Kapselausriss am Schienbeinplateau, die sogenannte Segond-Fraktur. Diese stellt nach neueren Erkenntnissen den knöchernen Ausriss des Anterolateralen Ligaments (ALL) dar. Dieses ist ein wichtiger Stabilisator gegen eine forcierte Innenrotation des Knies. Erst ein Riss auch dieses Bandes erlaubt einen positiven Pivot-Shift-Test. In einer retrospektiven Studie der belgischen Arbeitsgruppe, die das Band erstmals 2013 anatomisch beschrieb, konnte es bei 206 von 351 Kernspintomographien von Knien mit einem anschließend operierten vorderen Kreuzbandriss aufgefunden werden, was dadurch erschwert wird, dass das Band schräg zu den Standardschichten der Kernspintomographie läuft. Dabei fand sich ein ALL-Riss bei 162 (79 %) der Knie, ein knöcherner Ausriss (Segond-Fraktur) in drei Fällen (2 %). Verletzungen des Gelenkknorpels (traumatische Chondropathien) sind an 16 bis 46 % aller Rupturen des vorderen Kreuzbandes beteiligt. Seltener, und meist unerkannt, ist der Riss der hinteren, äußeren Kapselschale, vor allem der Sehne des Kniekehlmuskels (tiefer Wadenmuskel). Unbehandelt führt diese Verletzung zu einer erheblichen Kniegelenksinstabilität mit sichtbar gestörtem Gang. Diagnostik Die Diagnosestellung erfolgt in vielen Fällen mit einer erheblichen zeitlichen Verzögerung, auch wenn die Patienten unmittelbar nach der Verletzung einen Arzt aufgesucht haben. Einige Studien geben einen mittleren Zeitraum von 2 bis 21 Monaten an, der zwischen dem Zeitpunkt der Verletzung und der korrekten Diagnosestellung vergeht. In vielen Fällen ist zudem der Besuch mehrerer Ärzte notwendig, bis die richtige Diagnose gestellt ist. Typische Falschdiagnosen sind vor allem Meniskusriss und „Verstauchung“. Es wird deshalb davon ausgegangen, dass Kreuzbandrupturen unterdiagnostiziert werden. Das heißt, dass sie tatsächlich häufiger auftreten, als dass sie korrekt diagnostiziert werden. Klinische Befundung Bei einem Riss des vorderen Kreuzbands kommt es zum sogenannten vorderen Schubladenphänomen: Bei gebeugtem Knie kann der Unterschenkel von hinten nach vorne geschoben werden. Ist dagegen das hintere Kreuzband gerissen, so kommt es zum hinteren Schubladenphänomen: Bei gebeugtem Knie kann der Unterschenkel von vorne nach hinten geschoben werden. Die initiale Diagnose wird mittels Schubladen- und Lachman-Test (seltener Pivot-Shift-Test) durchgeführt. Aufgrund der Anatomie des vorderen Kreuzbandes (zwei Bandanteile = Faszikelbündel) ist eine klinische Diagnose oft erschwert, wenn nur ein Bündel gerissen ist. Hier ergibt sich dann beispielsweise ein negatives Schubladenphänomen in 90°-Beugung des Kniegelenkes, aber ein positiver Lachman-Test in 15°-Beugung. Ein Ausfall (Insuffizienz) des hinteren Kreuzbandes kann in einigen Fällen durch eine Beobachtung (Inspektion) des in 90° gebeugten Kniegelenks von der Seite beim liegenden Patienten beurteilt werden. Bei zurückgesunkenem Schienbeinkopf sollte eine Verletzung des Bandes in Erwägung gezogen werden. Durch zusätzliches Anspannen der sogenannten ischiocruralen Muskulatur (hintere Oberschenkelmuskulatur) kann dieses Phänomen verstärkt werden. Durch nachfolgende Quadrizepsmuskel-Anspannung (Kontraktion) wird die hintere Schublade aufgehoben. Der Stabilitätsverlust tritt mit zunehmender Beugung im Kniegelenk ein und ist bei Streckung nicht vorhanden. Dadurch erklären sich die erstaunlich geringen Beschwerden bei isolierten Rissen. Beschwerden werden vor allem beim Treppensteigen oder beim Heben von Gewichten hinter der Kniescheibe (retropatellar) angegeben (erhöhter Druck des Oberschenkelknochens auf die Kniescheibe). Die Instabilität, die durch einen Kreuzbandriss entsteht, sorgt für eine Überbelastung von Knorpel, Innen- und Außenmeniskus. Wird die Instabilität nicht durch die Muskulatur kompensiert oder durch eine Operation beseitigt, kommt es häufig zu einem Meniskusriss und/oder einer Knorpelschädigung mit Arthrose. Bildgebende Verfahren Die Diagnose kann mit bildgebenden Verfahren – namentlich der Magnetresonanztomographie (MRT, „Kernspin“) – bestätigt werden. Dabei ist allerdings zu beachten, dass die Interpretation der MRT in der Diagnostik eines Kreuzbandrisses zu 20 Prozent falsche Diagnosen liefert. Hier kommt es auf die sogenannten Schnittbilder und die geeignete Positionierung des Kniegelenkes bei der MRT-Untersuchung an. Der Radiologe sollte die genaue Vorgeschichte kennen, die zur Verletzung führte, und auch Erfahrung in der Untersuchung eines verletzten Gelenkes haben, um Fehlbeurteilungen zu vermeiden. Im Vergleich zur MRT liegt die Fehlerquote bei dem erheblich einfacher durchzuführenden Lachman-Test bei nur 10 Prozent. Die MRT ist daher in der Regel zur Diagnose eines vorderen Kreuzbandrisses weniger sensitiv und weniger spezifisch als die klinische Befundung durch einen qualifizierten Orthopäden. Das Ergebnis einer MRT hat nur relativ selten einen Einfluss auf die klinische Entscheidungsfindung und sollte keinen Ersatz für eine sorgfältige Anamnese und Palpation darstellen. Mehrere Studien kommen zu dem Schluss, dass eine MRT nur bei komplizierteren unklaren Knieverletzungen – und dabei eher zum Erstellen einer Ausschlussdiagnose  – sinnvoll ist. Röntgenaufnahmen leisten keinen unmittelbaren Beitrag zur Diagnosestellung einer Kreuzbandruptur. Beide Kreuzbänder sind – ob gerissen oder nicht – im Röntgenbild nicht sichtbar. Wird dennoch geröntgt, so kann dies der Diagnosestellung von möglichen knöchernen Begleitverletzungen dienen. Diagnostische Arthroskopie Die höchste diagnostische Sicherheit bietet die diagnostische Arthroskopie (Gelenkspiegelung). Dieses Verfahren stellt für die Diagnosestellung des Kreuzbandrisses den Goldstandard dar. Das Verfahren ist zwar minimalinvasiv, stellt aber in jedem Fall einen mit gewissen Risiken behafteten chirurgischen Eingriff in das Knie des Patienten dar. Da jedoch die operative Behandlung eines Kreuzbandrisses in der Regel arthroskopisch (therapeutische Arthroskopie) durchgeführt wird, ergibt sich die Möglichkeit die Therapie, beispielsweise in Form einer Kreuzbandteilresektion (bei Anriss) oder einer Refixation des ausgerissenen Bandes, unmittelbar nach der diagnostischen Arthroskopie durchzuführen. Mit der zunehmenden Verbreitung von Kernspintomographen hat die Anzahl der rein diagnostischen Arthroskopien in den letzten Jahren deutlich abgenommen. Die diagnostische Arthroskopie ist aber nach wie vor zur sicheren Abklärung der Diagnose einer Kreuzbandruptur – bei unklarer klinischer Befundung und unklarer MRT – das Mittel der Wahl. Späte Zeichen eines nichtdiagnostizierten vorderen Kreuzbandrisses Wird ein Kreuzbandriss nicht diagnostiziert und folglich auch nicht behandelt, so kann es zum sogenannten giving way kommen. Dies bedeutet, dass das Kniegelenk instabil ist. Der Patient hat den Eindruck, dass z. B. beim Treppabwärtsgehen der Unterschenkel nicht unter Kontrolle steht. Sportliche Belastungen mit Drehbewegungen des Kniegelenkes sind nicht möglich oder werden vermieden. Rezidivierende Schwellneigungen durch Gelenkergüsse können auftreten. Die über das Schicksal des verletzten Knies entscheidende Folge eines so instabilen Knies sind die fast unweigerlich auftretenden Meniskusläsionen. Diese ereignen sich durch die instabilitätsbedingte sagittalen Bewegung (giving way) über die Hinterkante der Schienbeingelenkfläche hinaus, mit Überwalzung des Meniskus. Therapiemöglichkeiten Klinische Studien belegen, dass bei akut verletzten Kreuzbändern ein naturgegebenes Selbstheilungspotential vorhanden ist, das heißt eine spontane Neigung, auf biologischem Wege von selbst wieder festzuwachsen. Ausschlaggebend für die spätere, adäquate Kniestabilität ist jedoch, dass diese Vernarbung an der anatomisch korrekten Ansatzstelle erfolgt. Verwächst ein frisch gerissenes vorderes Kreuzband von allein mit dem hinteren Kreuzband, handelt es sich um das Phänomen der sogenannten Lambda- bzw. Wittek-Heilung. Eine Kreuzbandruptur sollte in jedem Fall nach erstellter Diagnose behandelt werden. Eine nichttherapierte Ruptur kann zu einer Degeneration des hyalinen Gelenkknorpels und so zu Meniskusschäden führen. In einer Vielzahl von Studien konnte gezeigt werden, dass ein Ausbleiben therapeutischer Interventionen zu einer progressiven Zerstörung der Gelenkstrukturen führt und ein hohes Wiederverletzungsrisiko besteht. Die Behandlungsmöglichkeiten lassen sich in zwei Gruppen einteilen: in die chirurgische Therapie (Operation) und in die konservative Therapie. Welche Form der Behandlung zur Anwendung kommt, wird üblicherweise individuell mit dem Patienten auf dessen Bedürfnisse abgestimmt. Für beide Formen gibt es verschiedene Ansätze und Behandlungskonzepte, die zum Teil kontrovers diskutiert werden. Grundsätzlich ist der Verlauf eines chronischen Kreuzbandschadens individuell sehr unterschiedlich. Es ist allgemein akzeptiert, dass nicht jeder Patient eine operative Behandlung benötigt. Doch jüngere und vor allem sportlich aktive Patienten profitieren Studien zufolge von einer operativen Wiederherstellung der Kinematik und Stabilität des Kniegelenkes durch Erhalt oder Ersatz des gerissenen Kreuzbandes. Die Basis der konservativen Therapie ist ein physiotherapeutischer Muskelaufbau, der der externen Stabilisierung des Kniegelenkes dienen soll. Das Ziel der chirurgischen Therapien ist die anatomische und biomechanische Wiederherstellung des gerissenen Kreuzbandes in seiner ursprünglichen Funktion. Den ursprünglichen Zustand des Knies kann weder die konservative noch die operative Behandlung eines Kreuzbandrisses hundertprozentig wiederherstellen. Konservative Behandlung Nicht jedes gerissene Kreuzband muss operiert werden. Eine systematische Übersichtsarbeit mit Metaanalyse aus dem Jahr 2022 zeigte, anhand von Daten aus drei randomisierten kontrollierten Studien, dass die primäre Rehabilitation mit optionaler chirurgischer Rekonstruktion zu ähnlichen Ergebnissen wie die frühe chirurgische Rekonstruktion bei Kreuzbandruptur führt. In jedem Fall wird individuell, in Abhängigkeit von Lebensalter, Aktivität, Sportfähigkeit, Bereitschaft und Alltagsfähigkeit des Patienten entschieden. Daher bedarf die Therapieentscheidung eines eingehenden Gespräches mit dem Patienten. Die konservative Behandlung ist vor allem für Patienten mit einem vorderen Kreuzbandriss ohne Begleitverletzungen, einer eingeschränkten sportlichen Aktivität und einem höheren Lebensalter eine Alternative zur Operation. Bei sportlich aktiven, konservativ behandelten Patienten wurde eine erhöhte Häufigkeit von Arthrosen – im Vergleich zu operierten Patienten – festgestellt. Mehrere Studien belegen einen signifikanten Vorteil der chirurgischen Intervention, vor allem bei Sportlern, die Sportarten wie beispielsweise Fußball, Handball oder Basketball ausüben – also Sportarten mit hoher Rotations- und Hyperextensions-Belastung des Kniegelenkes. Es gibt einige ältere Studien, die zu dem Ergebnis kommen, dass die konservative Behandlung eines Kreuzbandrisses – auch bei Sportlern – keine negativen Auswirkungen hat. Auch eine neue Studie belegt, dass bei jungen Patienten mit unkompliziertem Kreuzbandriss eine zeitnahe Operation innerhalb von 10 Wochen im Gegensatz zu einer abwartenden konservativen Behandlung mit der Option auf eine spätere Operation bei Instabilität oder Patientenwunsch keine Vorteile bringt. In der konservativen Therapie wird über eine frühfunktionelle Bewegungsbehandlung versucht, die Kniegelenksinstabilität durch ein konsequentes Muskelaufbautraining zu kompensieren und so die fehlende Stabilität wiederherzustellen. Ein weiteres Ziel ist die Verbesserung der propriozeptiven Fähigkeiten der um das Kniegelenk herum gelegenen (periartikulären) Elemente. Häufig wird durch eine Schienung des Kniegelenks in einer Orthese (Knie-Brace) für sechs Wochen und begleitende Physiotherapie eine ausreichende Stabilität erreicht. Durch eine gezielte und sachgerechte orthopädische Behandlung kann prinzipiell ein Großteil von Patienten mit einer Ruptur des vorderen Kreuzbandes ihre sportliche und berufliche Tätigkeit uneingeschränkt wieder aufnehmen. Die so behandelten Patienten sind nach durchschnittlich sieben Wochen wieder arbeitsfähig und können nach etwa elf Wochen ein normales Leben führen. Diese Zeiten sind in der Regel kürzer als bei einem chirurgischen Eingriff. Etwa 80 % der Patienten kann nach vier Monaten wieder sportlich aktiv sein. Allerdings beschränkt sich dies im Wesentlichen auf Sportarten ohne direkten Körperkontakt und ohne das Knie belastende Schwenkbewegungen. Bei vielen Patienten mit konservativer Behandlung des Kreuzbandrisses stellt sich ein Angstgefühl beim Sport in den Situationen ein, die zur ursprünglichen Verletzung führten. Der für den Betroffenen spürbare Stabilitätsverlust des Knies ist dafür eine der Hauptursachen. Diese Unsicherheit verspüren 18 Monate nach der Verletzung etwa 30 % der Patienten und nach vier Jahren nahezu 80 %. Im täglichen Leben stört es dagegen nur etwa 10 %. Im Alltagsleben sind die meisten Patienten schmerzfrei. In bestimmten Situationen, beispielsweise nach längeren Phasen ohne Bewegung oder Änderungen der Luftfeuchtigkeit, klagt etwa die Hälfte nach vier Jahren über Schmerzen. Bei bis zu 30 % der Patienten ist nach vier Jahren ein Gelenkerguss, oft zusammen mit einer Meniskusläsion, diagnostizierbar. Letzteres ist meist eine Folge von Unfällen, die aus der Instabilität des Gelenkes resultieren. Zur frühzeitigen Erkennung von möglichen Komplikationen ist bei der konservativen Therapie eine regelmäßige Überwachung des betroffenen Kniegelenks notwendig. Eine chirurgische Behandlung ist dann jederzeit möglich. Bei komplexen Kniebandverletzungen (z. B. Unhappy Triad), knöchernen Ausrissen des vorderen Kreuzbands, zusätzlichen Läsionen im Meniskus, fehlender muskulärer Kompensation nach intensiver Physiotherapie, sowie bei jüngeren leistungsorientierten Sportlern wird normalerweise eine operative Behandlung durchgeführt. Operative Behandlung des vorderen Kreuzbandrisses In den 1970er bis 1980er Jahren lag die Altersgrenze für Operationen zur Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes bei etwa 35 Jahren. Dies lag an den noch eingeschränkten operativen Möglichkeiten mittels Arthroskopie und minimalinvasiven Instrumenten sowie den damals verfügbaren Implantaten. Heute gibt es keine Altersgrenze mehr. Der Zustand des betroffenen Knies, die Ansprüche des Patienten und seine Motivation sind die wesentlichen Einflussgrößen für die Entscheidung für oder gegen eine operative Behandlung. In den meisten Fällen besteht aus medizinischer Sicht bei einem Kreuzbandriss kein unmittelbarer Bedarf für eine sofortige chirurgische Intervention. Eine frische Ruptur wird beim Kreuzbandersatz nach einem Physiotherapiezyklus – das sind in der Regel etwa sechs bis acht Wochen nach der Verletzung – operiert. Das Knie ist dann normalerweise wieder vollständig abgeschwollen. Wird eine kreuzbanderhaltende Methode in Erwägung gezogen, muss die Operation innerhalb von drei Wochen nach dem Unfallereignis durchgeführt werden. In einigen Fällen erfolgt eine operative Behandlung erst mehrere Monate nach der Kreuzbandruptur. Beispielsweise dann, wenn eine zunächst nur geringe Instabilität des betroffenen Knies bei Patienten in der Folge zu Beschwerden führt. In den skandinavischen Ländern Norwegen, Dänemark und Schweden beträgt die Zeit zwischen Ruptur und Operation im Mittel sieben, neun und zehn Monate, in den Vereinigten Staaten dagegen 2,4 Monate. Der Interquartilsabstand geht in den USA von 1,2 bis 7,2 Monate und in Norwegen von 4,2 bis 17,8 Monate. Einige neuere Studien kommen zu dem Ergebnis, dass bereits sechs Monate nach einer Kreuzbandruptur ohne operative Intervention degenerative Erscheinungen an den Menisken der betroffenen Knie zu beobachten sind, so dass die Autoren zur Reduzierung der Risiken eine Rekonstruktion innerhalb eines Jahres empfehlen. Absolute Indikation für eine Operation ist die Instabilität des Kniegelenkes. Diese führt ohne Stabilisationsoperation zu Meniskusschäden und letztendlich zu einer sekundären Arthrose des Gelenkes. Es sind vorwiegend sportlich aktive Menschen in jüngeren Altersstufen betroffen, wobei auch in den letzten Jahren die Generation der über 50-jährigen einen Anstieg an Kreuzband-Sportverletzungen in Deutschland zu verzeichnen hatte. Besteht ferner für die Betroffenen eine berufliche Einschränkung (z. B. Handwerksberufe), so ist auch hier die Operation notwendig. Die klinischen Resultate der operativen Behandlung von Rauchern sind signifikant schlechter als diejenigen von Patienten, welche auf Tabakkonsum verzichten. Die nachfolgenden Techniken beziehen sich alle auf den Erhalt oder die Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes. Operationen des hinteren Kreuzbandes sind vergleichsweise selten. Sie werden am Ende dieses Absatzes aufgeführt. Standardverfahren ist weiterhin die Kreuzbandplastik mit Einsatz eines Sehnen- oder Allograft-Implantats, das das Kreuzband möglichst anatomisch exakt ersetzt. Kreuzbandplastik Am Häufigsten werden die Operationstechniken einer Rekonstruktion des gerissenen Kreuzbandes durchgeführt. Die Reste des durchtrennten Bandes werden dazu weitgehend entfernt und durch ein neues Band ersetzt. Das neue Band kann aus körpereigenem Gewebe (autolog) oder aus dem Gewebe von Verstorbenen (allogen) oder einer anderen Spezies (xenogen) sein. Während noch in den 1980er Jahren meist sofort oder zumindest kurzfristig nach der Verletzung eine Operation durchgeführt wurde, wird seit den 1990er Jahren das „zweizeitige“ Vorgehen bevorzugt. Nach klinischer Untersuchung, oft gestützt durch den Befund einer Magnetresonanztomographie (MRT), wird die Arthroskopie mit Resektion des gerissenen Kreuzbandes und Versorgung von allfälligen Meniskusverletzungen als Vorbereitung für die zweite Operation (Kreuzbandplastik) vorgenommen. Nach der Arthroskopie folgt eine physiotherapeutische Behandlung zur Abschwellung des Knies und Kräftigung der Muskulatur. Nach Abklingen der Symptomatik wird zirka sechs Wochen nach Erstarthroskopie die eigentliche Kreuzband-Operation durchgeführt. Diese zweizeitige Methode wird bis heute von vielen Operateuren bevorzugt, da man bei den „Sofortoperationen“ eine höhere Rate an Arthrofibrosen und damit massive Bewegungseinschränkungen nach der Operation beobachtete. In den letzten Jahren wird allerdings – dank besser standardisierter Methoden, aber auch zwecks möglicher Abkürzung des Behandlungsverfahrens – wieder vermehrt „einzeitig“ operiert. Dabei werden die Stümpfe des gerissenen Kreuzbandes meist nur noch partiell entfernt; oft gerade so viel, dass ein Einklemmen der Stümpfe im Gelenk verhindert wird. Klinisch gesicherte Kreuzbandverletzungen können – insbesondere bei Hochleistungs- und Profisportlern – unmittelbar nach der Verletzung auch sofort versorgt werden, soweit das Knie noch weitgehend entzündungsfrei ist. Bei allen Rekonstruktionstechniken wird versucht, die Eigenschaften des ursprünglichen Kreuzbandes so gut wie möglich wiederherzustellen. Das vordere Kreuzband hat eine multiaxiale Faserstruktur. Keines der derzeit verwendeten Transplantate erreicht diese Struktur. Allen Rekonstruktionen fehlt zudem die Propriozeption. Ein gesundes Kreuzband hat Mechanorezeptoren, die den Transplantaten fehlen. Über die Mechanorezeptoren können afferente Signale zum Rückenmark geleitet und Motoneuronen über die γ-Spindelschleife entladen werden. Dieser Regelkreis beeinflusst den Bewegungs-, Kraft- und Stellungssinn des Kniegelenkes und ist ein wichtiger Faktor für dessen Stabilität. Die gesamte Propriozeption des betroffenen Knies ist durch den Verlust der Sensorik deutlich verschlechtert. Deshalb erreicht keine derzeit bekannte Operationstechnik nach der Rekonstruktion des Kreuzbandes die Qualität des unverletzten Bandes. Darüber, welche Technik beziehungsweise welches Transplantat den Eigenschaften eines unverletzten Kreuzbandes am nächsten kommt, wird kontrovers diskutiert. Transplantatauswahl Bei den verwendeten Transplantatmaterialien, die das gerissene vordere Kreuzband ersetzen sollen, haben sich seit den 1980er Jahren im Wesentlichen körpereigene (autologe) Transplantate durchgesetzt. Zurzeit kommen hauptsächlich freie mehrsträngige Sehnentransplantate aus der Pes-anserinus-Gruppe (Semitendinosussehne oder Semitendinosus- und Gracilissehne, auch als Hamstring oder STG – für Semitendinosus-Gracilis-Graft – bezeichnet) zum Einsatz, alternativ das Kniescheibenband (auch als BTB – für Bone-Tendon-Bone – bezeichnet, da ein Anteil der Kniescheibensehne zusammen mit zwei Knochenblöcken entnommen wird) und die Quadrizepssehne. So empfiehlt es auch die Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie. Die Transplantatwahl ist in Fachkreisen das seit Jahren am meisten diskutierte Thema der Kniechirurgie. Kaum verwendet werden Streifen aus dem Tractus iliotibialis oder der Faszie des Musculus gastrocnemius. Aufgrund der Morbidität und Invasivität bei den körpereigenen Sehnentransplantaten könnten synthetische Bandersatzmaterialien oder Leichen-Transplantate eine naheliegende Alternative sein. In den Vereinigten Staaten wurden im Jahr 2006 einer Studie zufolge etwa 46 % aller vorderen Kreuzbandplastiken mittels BTB-Technik, 32 % mittels Hamstring und 22 % per Allograft realisiert. In Europa werden im Jahr 2014 dagegen Rekonstruktionen in 84–90 % mit Hamstring-Sehnen und nur in 10–14 % der Operationen mit der Kniescheibensehne durchgeführt; die Verwendung von Allografts oder künstlichen Bändern spielt mit ca. 1,4 % keine Rolle. Kniescheibensehne Bei der Kniescheibensehne (fachsprachlich: Patella(r)sehne, Ligamentum patellae) handelt es sich um eine sehr große und starke Sehne, die allerdings nur halb so elastisch ist wie das natürliche eigene Kreuzband. Bei der Rekonstruktion des Kreuzbandes mittels autologer Transplantation der Kniescheibensehne wird diese mit anhängenden Knochenteilen entnommen und durch verbreiterte Kanäle (8–10 mm Durchmesser) im Schienbein beziehungsweise Oberschenkelknochen gezogen. Die Länge des oberen und unteren Knochenblocks beträgt jeweils etwa 20 mm. Die stabilste Verankerung der Knochenenden des autologen Transplantats (engl.: graft = Transplantate ohne Blutversorgung, weshalb sowohl hier als auch bei der im folgenden Abschnitt näher erläuterten Semitendinosustechnik von autograft gesprochen wird, mit griechisch αὐτός = selbst) wird durch die Fixation mit sogenannten Interferenzschrauben erreicht. Diese ist besonders wichtig im Hinblick auf eine frühe funktionelle Mobilisierung. Die Unterstützung nach der Operation mittels einer orthopädietechnischen Schiene (Orthese) ist häufig nicht nötig, so dass die Gefahr der Muskelatrophie geringer ist als bei anderen Verfahren. Dieser Vorteil ist insbesondere für Sportler interessant, die eine frühzeitige Rückkehr zu alter Leistung wünschen. Da die Kniescheibensehne nur halb so dehnbar ist wie das eigentliche Kreuzband, kann es bis zu 18 Monate dauern, bis wieder an sogenannten „Stop-and-go“-Sportarten teilgenommen werden kann. Semitendinosussehne Der halbsehnige Muskel (Musculus semitendinosus) zieht an der zur Mitte zeigenden Seite vom Kniegelenk zum Oberschenkelknochen und ist Bestandteil des sogenannten „Gänsefußes“ Pes anserinus superficialis, der zusätzlich aus den Sehnen des Musculus gracilis und Musculus sartorius gebildet wird. Die Sehne (Transplantat) wird durch einen mittleren Schnitt auf dem Schienbein, knapp unterhalb des Knies, mittels eines sogenannten tendon stripper oder ring stripper (Sehnenschneider, engl. auch harvester von to harvest = ‚ernten‘) entnommen. Je nach Länge wird die Sehne drei- oder vierfach mit einer bestimmten Fadentechnik zusammengelegt, verdrillt, fixiert und durch eine Bohrung durch den Unterschenkel zum Oberschenkel geführt und dort ebenfalls befestigt. Seit Begin des 21. Jahrhunderts ist eine minimalinvasive Technik zur leichteren und schnelleren Entnahme der Sehne aus der Kniekehle, bei besseren kosmetischen Resultaten, vorhanden. Die Semitendinosussehne ist vierfach gelegt stärker als die Kniescheibensehne. Diese Technik war der Kniescheibensehnentechnik bis etwa zum Jahre 2003 ebenbürtig. Seitdem etabliert sich diese Technik als sogenannter „Goldstandard“, da vor allem die Entnahmestelle weniger schmerzhaft verheilt. Wenn die Semitendinosussehne zu kurz oder zu dünn ist, wird zusätzlich die Gracilissehne entnommen (STG-Technik: Semitendinosus- und Gracilissehne). Das Transplantat wird dadurch aber nicht belastbarer. Manche Operateure entnehmen immer beide Sehnen. Insbesondere für die Plastik des hinteren Kreuzbandes werden sowohl Semitendinosus- als auch Gracillissehne benötigt, was besonders im Fall einer zusätzlich zu versorgenden Außenbandinstabilität die Entnahme von der Gegenseite notwendig macht. Die modernste OP-Technik ist die Doppel-Bündel-Technik (double bundle technique). Dabei werden mittels vier Knochenkanälen zwei Bündel (anteromedial und posterolateral) in das Knie eingesetzt. Durch die bessere Nachahmung der Anatomie ergeben sich stabilere Ergebnisse. Dieses Verfahren ist allerdings technisch anspruchsvoll und wird derzeit (2010) nur in spezialisierten Zentren durchgeführt. Die Fixation der beiden Transplantate erfolgt ausschließlich extraartikulär durch Endobuttons. Quadrizepssehne Dem oben genannten Prinzip folgend wird oberhalb der Kniescheibe ein Teil der Sehne des vierbäuchigen Oberschenkelmuskels einschließlich eines Kniescheiben-Knochenzylinders entnommen und in oben gezeigter Weise als Kreuzband implantiert. Als sogenannte Press-fit-Methode wird sie ohne zusätzliche Verschraubung angewandt. Vorteil sind die im Vergleich zur Gracilissehne stärkeren Sehnen. Im Vergleich zur Patellasehne bestehen deutlich geringere Schmerzen beim Knien, da der Druck nicht auf der Narbe lastet. Nachteilig ist, dass nach der Operation häufig ein Muskelschwund des Musculus quadriceps femoris auftritt. Die Quadrizepssehne wird bisher nur von relativ wenigen Chirurgen zur Rekonstruktion des Kreuzbandes verwendet. Allograft Bei einem sogenannten Allograft handelt es sich um ein Leichen-Transplantat. Hierfür kommen neben den drei zuvor genannten Sehnen auch präparierte Achillessehnen und die Tibialis-anterior-Sehne in Frage. Ein positiver Effekt bei der Verwendung eines Allografts ist, dass es zu keiner Entnahmemorbidität kommen kann. Weitere Vorteile sind die kürzere Operationszeit, kleinere Operationsnarben und Reduzierung der postoperativen Schmerzen. Ursprünglich wurden Allografts nur bei Revisionseingriffen und für die Rekonstruktion des hinteren Kreuzbandes verwendet. Mittlerweile kommen Allografts vermehrt auch zur primären Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes zum Einsatz. Verwendet werden unbehandelte tiefgefrorene Transplantate. Die ursprünglich angewandten Verfahren zur Sterilisation (-Strahlung oder Ethylenoxid) schädigten das Transplantat in seinen biomechanischen Eigenschaften oder führten zu Abstoßungsreaktionen. Bei den unbehandelten Transplantaten ergibt sich jedoch die HIV-Problematik. Die in Deutschland transplantierten Allografts stammen vor allem aus klinikeigenen Beständen oder von Eurotransplant, da Handel und Vertrieb von Organteilen in Deutschland gesetzlich verboten sind. Die hirntoten Lebendspender werden unter anderem auf das HI-Virus hin untersucht. Das Risiko einer Infektion des Empfängers beschränkt sich somit auf den Zeitraum der „diagnostischen Lücke“ und wird als sehr gering eingestuft. Die tiefgefrorenen Allografts lösen keine Abstoßungsreaktion aus. Eine Reihe von Studien bescheinigt den Allografts ähnliche Werte wie den autologen Transplantaten, sowohl in der Kurz- als auch Langzeitbetrachtung. Qualitativ stehen Allografts autologen Transplantaten in nichts nach. Ob ein autologes oder ein allogenes Transplantat zur Rekonstruktion eines Kreuzbandes verwendet wird, ist letztlich eine Entscheidung von Arzt und Patient. Ein wesentliches Problem ist dabei, dass es viel zu wenige Spender für Allografts gibt, um den Bedarf auch nur annähernd decken zu können. Synthetische Rekonstruktionsmaterialien Synthetische Kreuzbandprothesen, das heißt Implantate beispielsweise aus Kohlenstofffasern, Polyester, Polypropylen, Gore-Tex oder Rinderkollagen, wurden vor allem in den 1980er Jahren verwendet. Sie werden wegen der unzureichenden biomechanischen Eigenschaften und einer erhöhten Anzahl von intraartikulären Komplikationen nicht mehr verwendet. Bei diesen Komplikationen handelte es sich meist um Gelenkergüsse und reaktive Synovitiden (Entzündungen der inneren Schicht der Gelenkkapsel). Die Komplikationen wurden vor allem durch Abriebpartikel hervorgerufen, die im Gelenk zu Fremdkörperreaktionen führen. Die Versagerquote lag bei diesen synthetischen Kreuzbandprothesen zwischen 40 und 78 Prozent. Befestigung des Transplantats In den frühen 1990er Jahren wurden die Kniescheibensehnen-Transplantate mit sogenannten Titan-Interferenzschrauben als Fixation an beiden Enden des Transplantates, teilweise auch nur einseitig verschraubt und am Oberschenkelknochen mit einem sogenannten Endobutton, der durch das Transplantat „gefädelt“ wird, befestigt. Der Endobutton besteht aus einer Schlaufe aus einem nichtresorbierbaren Fadenmaterial mit einem Titan-Kipp-Knopf (Vierlochplatte), der nach der Durchführung durch den Knochenkanal verkippt wird. Später wurden die Titanschrauben durch die heute verwendeten sogenannten Bio-Screws („Bio-Schrauben“, das sind autobioresorbierbare Interferenzschrauben) ersetzt, die einen erneuten Eingriff zur Materialentfernung unnötig machen. Diese Schrauben bestehen aus abbaubaren Polymeren, wie beispielsweise Poly-L-Lactid (PLLA) oder Poly-(L-co-D/L-Lactid) (PLDLLA). Ebenso kann eine Hybridtechnik aus Bio-Schraube (als intraartikuläre Fixation) und femorale/tibialen Endobuttons (als extraartikuläre Fixation) durchgeführt werden. Bei der sogenannten „Press-Fit-Technik-Fixation“, die um das Jahr 1995 aufkam, kann auf die Schraubenfixation bei der BTB-Technik (Knochen-Sehne-Knochen-Technik) völlig verzichtet werden. Hierbei werden die Knochenenden konisch zugerichtet, sodass ein festes Verkanten in den Bohrkanälen gewährleistet ist. Ab 1996 kamen Operationsroboter auf, die den Bohrkanal automatisch mit einem Diamantfräskopf erzeugten. Sie konnten sich nicht durchsetzen, weil sie keine eindeutig besseren operativen Ergebnisse hervorbrachten und hohe Kosten (personal- und apparateintensiv) verursachten. Bei Semitendinosus- und Gracilistransplantaten (STG) werden meist Bio-Screws für die Befestigung genommen. Seit Ende der 1990er Jahre ist auch hier eine implantatfreie Fixation möglich. Bei dieser Technik wird in das Semitendinosus- und Gracilissehnen-Transplantat am Ende geknotet und der femurale Kanal in Richtung Gelenk etwa 4 mm schmaler aufgebohrt, als an der gelenkfernen Stelle. Das Transplantat wird über die femorale Bohrung in das Gelenk eingesetzt. Dabei sitzt der Knoten des Transplantates vor dem schmaleren Teil des Kanals auf. Messungen ergaben, dass die Gelenksteifigkeit und die maximale Last ähnliche Werte wie bei anderen Techniken erreicht. Durch die Knotung der Sehnenenden sind Interferenzschrauben (Implantate) überflüssig. Die Protagonisten der implantatfreien Fixation sehen darin einen Kostenvorteil. Da keine Implantate verwendet werden, können auch keine Probleme mit diesen Materialien auftreten. Nachteilig ist jedoch der erheblich größere Kanal im Oberschenkelknochen. Bei der Fixierung der Transplantate mit Interferenzschrauben ist es zur Vermeidung des sogenannten „Bungee-Effektes“ und des „Scheibenwischer-Effektes“ wichtig, dass die Fixierung nahe an den Gelenkflächen erfolgt. Morbidität und Invasivität der Transplantatentnahme Die Qualität und Technik der rekonstruierten Kreuzbänder wurde seit der ersten Kreuzbandplastik 1917 stetig verbessert und weist heute sehr hohe Erfolgsraten auf. Die hohen Erfolgsraten im Bereich von etwa 90 % verändern die Anspruchshaltung der Patienten. Ein Nebenaspekt der autologen Transplantate gewinnt daher zunehmend an Bedeutung: die Morbidität und Invasivität der Transplantatentnahme. Sie hat mittlerweile einen erheblichen Einfluss auf die Zufriedenheit der Patienten, die vor allem durch Schmerzen und Beweglichkeit bestimmt wird. Die Entnahme der Kniescheibensehne ist häufig schmerzhafter als die der anderen autologen Sehnen. Bis zu 60 % der Patienten klagen über Schmerzen beim Knien. Für Patienten mit häufigen knienden Tätigkeiten wird deshalb meist vom Patellasehnen-Transplantat abgeraten. Den Schmerz im Knie verursachen das Patellaspitzensyndrom, Patellatendinitis, patellofemorale Krepitation und infrapatelläre Kontrakturen. Die Häufigkeit dieser Symptome variiert und liegt je nach Studie zwischen 4 und 40 % der Patienten. Eine wesentliche Ursache für die Komplikationen sind offenbar Verletzungen des Hoffa-Fettkörpers, die zu einer narbigen Kontraktur (Verkürzung der Patellasehne) und einer Fibrose führen können. Dies führt wiederum zu einer eingeschränkten Beweglichkeit der Patellasehne und ihrem Festsitzen an der Vorderkante des Schienbeinknochens. Dass sich die Patellasehne nach der Entnahme des Transplantates verkürzt, wird in einer Reihe von Studien beschrieben. Die Verkürzung kann im Bereich zwischen 2 und 7 mm liegen. Eine zu starke Verkürzung der Patellasehne kann zu einer patellofemoralen Arthrose führen. In Einzelfällen sind Fissuren der Kniescheibe beobachtet worden, die unter hoher Belastung zum Knochenbruch (Fraktur) derselben führen können. Das Risiko für eine Patellafraktur liegt im Bereich von 0,1 bis 3 %. Durch eine sorgfältige Entnahme des Transplantates lässt es sich weiter minimieren. Wird bei der Entnahme des patellären Knochenblocks beispielsweise eine Hohlfräse verwendet, so wird auch das Risiko der Bildung von Sollbruchstellen vermieden. Die Wahrscheinlichkeit einer Patellasehnenruptur ist durch die Entnahme der Kniescheibensehne erhöht. Auch die Entnahme einer Semitendinosussehne (Hamstring) zur Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes kann zu Komplikationen führen. So wird beispielsweise die Beugekraft der ischiokruralen Muskulatur in den ersten Monaten nach der Entnahme der Sehne reduziert. Auch das Auftreten von patellofemoralen Schmerzen wird von einigen Patienten bei dieser Transplantationsmethode beklagt. Die Ursachen für die Schmerzen sind offensichtlich ein gestörter patellofemoraler Bewegungsablauf im betroffenen Knie, sowie die Verkürzung der Quadrizepsmuskulatur durch die Entnahme des Hamstrings. Durch die Entnahme der Semitendinosussehne entstehende Schmerzen sind eher selten und dann auch nur von kurzer Dauer. Die gleichzeitige Entnahme von Semitendinosus- und Grazilissehne kann die Innenrotation des Kniegelenkes längerfristig stören. Die Hamstringsehnen können nach Befunden einzelner Untersucher nach der Entnahme des Transplantates weitgehend vollständig regenerieren. Sie verändern aber meist ihre Lage und sind dann etwas näher zum Körper gelegen (proximal). Der Anteil an Operationen, bei denen die Quadrizepssehne zur Rekonstruktion des Kreuzbandes verwendet wird, ist bisher noch recht gering. Entsprechend schlecht ist die Datenlage zur Morbidität der Entnahme dieser Sehne. In den vorhandenen Studien sind die Ergebnisse zum Teil sehr widersprüchlich. Einige Autoren berichten im Vergleich zur Entnahme der Patellasehne von einer deutlich geringeren Entnahmemorbidität, während andere von einer Funktionseinschränkung und deutlichen Schmerzen schreiben. Typischer Ablauf einer Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes In diesem Beispiel wird der Ablauf der Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes durch Transplantation einer autologen Semitendinosus- und Gracilissehne beschrieben. In den 1980er Jahren wurde die klassische offene Kreuzbandoperation über den Payr-Zugang zunächst durch die Miniarthrotomie abgelöst. Mittlerweile werden nahezu alle Kreuzbandrekonstruktionen minimalinvasiv mittels Arthroskopie durchgeführt. Nur in Ausnahmefällen, beispielsweise bei sehr komplexen Knieverletzungen, erfolgt eine offene Operation. Anästhesie Der Eingriff kann unter Allgemeinanästhesie (Vollnarkose) oder unter Regionalanästhesie erfolgen. Beide Verfahren haben für den Patienten Vor- und Nachteile. Als regionale Verfahren kommen die Spinalanästhesie, die Periduralanästhesie (PDA, Rückenmarksnarkose) und die kombinierte Spinal- und Epiduralanästhesie (CSE) in Frage. Eine andere, häufig zusätzlich zu den genannten Anästhesieformen angewandte Form der Regionalanästhesie ist der Femoraliskatheter. Damit können vor allem die Schmerzen im betroffenen Knie nach der Operation (postoperativ) unterdrückt werden (Nervus-femoralis-Blockade). Dazu wird ein Lokalanästhetikum mit Hilfe eines Katheters in die Nähe des schmerzleitenden Nervs, des Nervus femoralis, gebracht. Eine vollständige Blockade des Knies ist damit alleine jedoch nicht möglich. Die Fasern des N. femoralis verlaufen von der Lendenwirbelsäule aus kommend bis zum Kniegelenk. Ein haarfeiner Schlauch transportiert über eine kleine Dosiereinheit das Schmerzmittel in der Leistengegend an den N. femoralis. Durch die Blockade des N. femoralis wird nicht nur der Schmerz betäubt, sondern auch Gefühl, Kraft und Beweglichkeit des Beins eingeschränkt. Drei bis fünf Tage nach der Operation wird der Katheter entfernt. Durch die Kombination von Femoraliskatheter und Oberschenkelblutsperre bei der Kreuzbandrekonstruktion sind Störungen der Oberschenkel-Muskelfunktion beschrieben. Arthroskopie Der eigentliche Eingriff beginnt mit der Einführung des Arthroskops in das Knie des Patienten. Die Diagnose »Kreuzbandriss« kann so nochmals bestätigt werden. Andere Verletzungen, insbesondere des Meniskus, können vor der Rekonstruktion des Kreuzbandes versorgt werden. Entnahme und Präparation der Sehne Als erster operativer Eingriff erfolgt die Entnahme der Transplantatsehne. Ein etwa 4 cm langer Hautschnitt am inneren Schienbeinkopf, oberhalb des Pes anserinus, ermöglicht die Entnahme der körpereigenen (autologen) Semitendinosus- oder Gracilissehne oder von beiden Sehnen. Die Sehnen werden mit einem sogenannten „Sehnenstripper“ entnommen und haben eine Länge von etwa 28 cm. Die Sehnen werden auf einer Spezialvorrichtung vorgespannt und als Mehrfachstrang, beispielsweise „Quadruple“, 4-fach miteinander vernäht. Die Länge des Transplantates beträgt dann noch etwa 7 cm und hat einen Durchmesser von mindestens 7 mm. Das Transplantat wird mittels eines Spezialfadens an den vorgesehenen Fixationsvorrichtungen (z. B. Endobutton) fixiert. Der Spezialfaden ist nicht bioresorbierbar. Entfernung der Kreuzbandreste und Bohren der Knochenkanäle Arthroskopisch werden die Reste des gerissenen vorderen Kreuzbandes entfernt. Dazu wird ein motorgetriebenes Saug-Schneid-Werkzeug (Shaver) und/oder ein Hochfrequenz-(HF)-Ablationsgerät verwendet. Es empfiehlt sich, am Schienbeinkopf einen Rest vom Stumpf zu belassen, um einen Rest von Proprioception zu erhalten und das Eindringen von Gelenkflüssigkeit in den tibialen Kanal zu minimieren. Mit Hilfe eines Zielgerätes wird die Position zur Bohrung eines Kanals durch den Kopf des Schienbeins anvisiert und anschließend gebohrt. Der Durchmesser des Bohrkanals ist dem Durchmesser des Transplantates angepasst. Durch den Kanal des Schienbeins hindurch, oder präziser heute durch einen zusätzlichen anteromedialen Arthroskopiezugang, wird ein Zielgerät für die Bohrung am Oberschenkelknochen angebracht. Mit Unterstützung dieses Zielgeräts wird ein Kanal in den Oberschenkelknochen gebohrt. Dieser Kanal kann sich nach oben verjüngen (Sackloch) und hat eine Länge von etwa 35 mm. Der breitere Teil des Kanals ist für die Aufnahme des Transplantates, der schmalere für den Durchzug der Transplantataufhängung. Einziehen des Transplantates Mit zwei Zugfäden wird das Transplantat von unten nach oben in die Bohrkanäle eingezogen. Mit Hilfe einer Hohlschraube (Transfix-Schraube) wird das Transplantat am Oberschenkelknochen befestigt. Das aus dem Ende des Schienbeinkanals herausragende Ende wird vorgespannt und mit einer Interferenzschraube (Delta-Schraube) durch Verklemmung fixiert. Abschließend werden die Wunden vernäht. Die Operationsdauer liegt typischerweise im Bereich von 45 bis 90 Minuten. Nach der Operation Entscheidend für die definitive Funktion ist eine Lagerung direkt postoperativ in Streckposition. Diese sollte 24 Stunden eingehalten werden. Durch diese Lagerung wird ein postoperatives Streckdefizit verhindert, das sich sonst oft ausbildet und zu dessen Beseitigung wochenlange physiotherapeutische Bemühungen notwendig werden können. Am Tag nach der Operation werden üblicherweise die Drainagen aus den Wunden am Knie entfernt. Das operierte Bein darf bis zur fünften Woche nach der Operation nur teilbelastet werden, da das Transplantat in den Bohrkanälen in die Knochen einwachsen muss. Um das in dieser Zeit empfindliche Transplantat zu schützen, wird eine Knieorthese verwendet. Die Rehabilitation kann üblicherweise nach der fünften Woche beginnen. Mögliche Komplikationen nach Rekonstruktionen des vorderen Kreuzbandes Wie bei jedem chirurgische Eingriff kann es auch bei der Rekonstruktion der Kreuzbänder mit den beiden heute üblichen Transplantaten (Patellasehne und Hamstring) zu Komplikationen kommen. Zu den allgemeinen Risiken bei Operationen, wie beispielsweise Blutungen, Wundinfektionen, Störungen der Wundheilung, Thrombosen, Verletzungen von Gefäßen oder Nerven, addieren sich spezifische Komplikationen. Je nach Autor werden unterschiedliche Komplikationsraten von bis zu 26 Prozent angegeben. Die häufigsten Komplikationen sind das Versagen des Transplantates, beispielsweise durch Ausriss, Re-Ruptur oder Lockerung, und vor allem Bewegungseinschränkungen des Kniegelenks. Zu den Komplikationen kann auch die zuvor gezeigte Morbidität der Transplantatentnahme gerechnet werden. Bewegungseinbuße Bewegungseinbuße ist eine schwerwiegende Komplikation nach der Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes. Sie liegt definitionsgemäß dann vor, wenn bei der Streckung des Beines ein Winkel von 10° nicht unterschritten und bei der Beugung ein Winkel von 125° nicht überschritten werden kann. Der Verlust der Streckfähigkeit des Gelenkes ist häufiger als der der Beugefähigkeit und zudem für den Patienten auch schwerwiegender. Die Ursache für Bewegungseinbußen ist meist eine entzündungsbedingte Vermehrung von Bindegewebe – eine Fibrose, genauer gesagt einer Arthrofibrose. Transplantatversagen Die Inzidenz für Transplantatversagen liegt bei etwa 4,3 %. Die Ursachen für ein Versagen eines Transplantates lassen sich in drei Gruppen einteilen: chirurgische Fehler, biologisches Versagen, bedingt durch mangelhaftes Einheilen des Transplantates und erneute Kreuzbandruptur. In einer Studie waren 52 Prozent der Fälle von Transplantatversagen iatrogen, das heißt durch den Arzt verursachte chirurgische Fehler. Bei 25 Prozent der Fälle führten ein erneuter Riss des Kreuzbandes, bei 8 Prozent eine mangelhafte Inkorporation des Transplantates, bei 3 Prozent eine Bewegungseinschränkung und bei ebenfalls 3 Prozent die verwendeten synthetischen Implantate zum Ausfall. Bei 9 Prozent der Fälle von Transplantatversagen konnte die Ursache nicht genau zugeordnet werden. Generell ist das chirurgische Können des Operateurs für den Erfolg einer Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes von großer Wichtigkeit. Typische chirurgische Fehler sind beispielsweise eine falsche Platzierung des Bohrkanals, eine unzureichende Fixierung des Transplantates, eine ungenügende Spannung des Transplantates und eine unzureichende Notch-Plastik mit konsekutivem Impingement. Die erneute Ruptur des Kreuzbandes kann unter anderem durch eine zu aggressive Rehabilitation, mangelnde Komplianz des Patienten oder zu frühe Wiederaufnahme einer sportlichen Tätigkeit mit zu hoher Belastung für das Implantat verursacht werden. Septische Arthrithis Eine septische Arthritis (bakterielle Arthritis) ist eine relativ seltene, allerdings sehr schwerwiegende Komplikation einer Kreuzbandrekonstruktion. Die Inzidenzraten liegen im Bereich von 0,3 bis 1,7 Prozent. Die septische Arthritis ist mit einer hohen Morbidität, einem meist langwierigen Krankenhausaufenthalt und häufig mit einem schlechten klinischen Ergebnis verbunden. In einer Studie in den Vereinigten Staaten lag die Rate an schwerwiegenden Infektionen nach einer Kreuzbandrekonstruktion bei 0,75 Prozent. Die Rate lag bei Autografts bei 1,2 und bei Allografts bei 0,6 Prozent. Die Gabe von Antibiotika ist nach postoperativen Infektionen obligat. In Deutschland werden bei 62 Prozent aller Arthroskopien den Patienten prophylaktisch Antibiotika verordnet, um Infektionen – wie beispielsweise eine septische Arthritis – zu vermeiden. Andere Komplikationen Postoperative Thrombosen haben eine Inzidenz von 1,2 Prozent. Äußerst selten sind maligne Neoplasien (bösartige Tumoren), die sich nach einer Kreuzbandplastik bilden. In der Literatur sind bisher (Stand Juni 2010) lediglich drei Fälle beschrieben. Kreuzbandnaht →siehe auch Absatz Medizingeschichtliches Bis in die 1980er Jahre wurde das Verfahren der Primärnaht, beispielsweise bei intraligamentären Rissen, bevorzugt. Bei der Primärnaht wurden die durchtrennten Enden des Kreuzbandes im Sinn einer Reparatur wieder zusammengenäht. Dieser Therapieansatz wurde erstmals 1895 durchgeführt. Die damaligen Studienergebnisse über die Primärnaht von Kreuzbandrissen waren nicht zufriedenstellend. Die Versagerquoten in den ersten fünf Jahren nach der Operation lagen studienabhängig bei über 20 Prozent. In der Folgezeit wurde die primäre Naht des Kreuzbandes ohne Augmentation als Therapie mehr und mehr zugunsten der Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes aufgegeben. Andere nachfolgende Langzeitstudien belegten eine Verschlechterung der Resultate über längere Zeiträume, weshalb die alleinige primäre Naht in der damals durchgeführten Operationstechnik heutzutage keine Therapieoption mehr darstellt. Ursache für die mangelhaften Resultate war eine zu schwache biomechanische Stabilität des Kniegelenkes während des Heilungsprozesses. Infolgedessen konnte sich in vielen Fällen kein funktionell angemessenes Narbengewebe ausbilden um die erforderliche Kniestabilität zu gewährleisten. Eine weiterführende Variante der Kreuzbandnaht war die Verstärkung des heilenden Kreuzbandes durch eine sogenannte Augmentation. Für die Augmentation wurden verschiedene synthetische Bandmaterialien oder auch körpereigenes Gewebe verwendet. Die Verstärkung kann intraartikulär (innerhalb des Gelenkes) oder auch extraartikulär (außerhalb des Gelenkes) erfolgen. Auch diese damaligen Verfahren werden allgemein als überholt angesehen. Sonderfall knöcherner Ausriss Der knöcherne Ab- oder Ausriss des vorderen Kreuzbands vom Knochen (Schienbein oder Femur) ist wesentlich seltener als seine intraligamentäre Ruptur und ist definitionsgemäß kein Kreuzbandriss. Dieser Sonderfall tritt häufiger bei Kindern, vor allem im Bereich des Kreuzbandansatzes am Schienbein Eminentia intercondylica auf und hat durch Refixierung des Ausrisses – beispielsweise mit Schrauben oder Drahtnaht – allgemein gute Chancen, wieder vollständig knöchern einzuheilen. Bei der arthroskopischen Refixation der das Kreuzband tragenden Knorpel-Knochen-Schuppe ist eine gute Übersicht von entscheidender Bedeutung, um die Einklemmung des Ligamentum transversum genus (zwischen den Menisken) unter dem Fragment zu vermeiden. Ansonsten ist die mini-open Technik vorzuziehen. Generell ist darauf zu achten, mit den Implantaten (Schrauben oder Drahtnähten) die Wachstumsfuge nicht zu blockieren. Kreuzbanderhaltende Operationen →siehe auch Artikel Kreuzbanderhalt Kreuzbanderhaltende Operationsmethoden sind noch junge Verfahren, die ohne ersetzendes Sehnen-Transplantat auskommen. Sie können nur innerhalb der ersten drei Wochen nach einem Kreuzbandriss angewendet werden. Diese zeitliche Begrenzung hat ihre Ursache darin, dass vor allem die vorhandene Heilungskapazität eines Kreuzbandes genutzt werden soll, welches ziemlich schnell nachlässt. Der angestrebte natürliche Vernarbungsprozess des Kreuzbandes wird durch eine biomechanische Stabilisation des Kniegelenkes, einer anatomischen Reposition der verletzten Bandstruktur sowie einer Mikrofrakturierung (Healing Response) erreicht. Aktuell werden zwei Verfahren angewendet: ein erster Behandlungsansatz ist dynamisch (Federmechanismus) basiert, der zweite setzt auf eine starre, unflexible Stabilisation des Kniegelenks. Bei der dynamischen Methode wird das Kreuzband mit bioresorbierbaren Nähten reponiert und das Knie mit einem dünnen, sehr reißfesten Implantat-Faden stabilisiert. Die flexible Dynamik des Federelementes im Schienbein sorgt dafür, dass bei allen Beuge- und Streckbewegungen das heilende Band entlastet wird. Bei der unelastischen Methode werden ein starr fixiertes Polyethylen-Band zur Kniestabilisierung sowie nicht-resorbierbare Nähte sowie kleine Anker verwendet, um das abgerissene Kreuzband an die originäre Abrissstelle zurückzuführen, bis es wieder angewachsen ist. Bisher veröffentlichte Daten zeigen, dass sich – bei sehr ausgewählter Indikationsstellung – gute Ergebnisse erzielen lassen. Therapieperspektiven Die beiden Kreuzbänder sind im Gegensatz zum Innen- und Außenband nicht in der Lage, nach einem Riss durch Ruhigstellung wieder von alleine zusammenzuwachsen. Bei einem Innenbandriss genügt beispielsweise ein Stützapparat (Schiene), die etwa sechs Wochen getragen werden muss, damit die beiden Enden vernarben können und der Riss so verheilt. Bei den beiden im Inneren des Knies gelegenen Kreuzbändern ist dies nicht der Fall. Die Ursache hierfür ist nicht genau bekannt. Mehrere Faktoren werden diskutiert. So ist die Synovialflüssigkeit, die die Kreuzbänder umgibt, möglicherweise ein Medium, das einen solchen Heilungsprozess verhindert. Ebenso werden Veränderungen des Zellstoffwechsels nach der Verletzung und intrinsische Defizite, wie beispielsweise in der Genexpression der die Kreuzbänder formenden Zellen, für diesen Effekt verantwortlich gemacht. In der Forschung sind Therapiekonzepte, die daran ansetzen, in den Zellen der gerissenen Kreuzbänder die gleichen Fähigkeiten, wie beispielsweise bei den Zellen des Außen- und Innenbandes, zu aktivieren. Prinzipiell sind die Zellen der Kreuzbänder, wie beispielsweise die Zellen des Innenbandes, in der Lage nach einer Ruptur zu proliferieren und zu revaskularisieren. Dies wurde histologisch und immunhistochemisch nachgewiesen. Auch ein Jahr nach der Ruptur sind die Zellen in der Lage, innerhalb der Bandfragmente Kollagen zu produzieren. Auch die Fähigkeit zur Zellmigration in den Wundbereich ist nachgewiesen. Dennoch bildet sich im Knie keine Stützstruktur (Scaffold) für den Gewebeaufbau, die die gerissenen Kollagenfaserbündel des Kreuzbandes wieder miteinander verbindet. Die Enden des gerissenen Kreuzbandes wogen ziellos in der Synovialflüssigkeit hin und her. Eine Hypothese geht davon aus, dass das Fehlen von für den Aufbau der Stützstruktur essentiellen extrazellulären Matrixproteinen und Zytokinen im Bereich der Wunde die Selbstheilung verhindert. Ein Indiz hierfür ist, dass beim Heilungsprozess des Innenbandes erhebliche Mengen an Fibrinogen, Fibronektin, Platelet-Derived Growth Factor A (PDGF-A), TGF-β1, Fibroblasten-Wachstumsfaktor (FGF) und Von-Willebrand-Faktor (vWF) nachweisbar sind, die beim Kreuzbandriss fehlen. Trotz der Einblutung bei einem Kreuzbandriss sind keine Fibrin-Plättchen in der Nähe der Verletzung nachweisbar. Eine mögliche Ursache ist die Anwesenheit höherer Konzentrationen des Enzyms Plasmin. Plasmin ist in der Lage, die Spaltung von Fibrin (Fibrinolyse) zu katalysieren. Es entsteht durch die verstärkte Expression des Enzyms Urokinase, das wiederum die Umwandlung von Plasminogen in Plasmin katalysiert. Die biologische Stimulation des Aufbaus einer Stützstruktur, die einen Heilungsprozess des gerissenen Kreuzbandes im Knie ermöglicht, ist ein potenzielles zukünftiges Therapiekonzept. Die Gabe von Wachstumsfaktoren wie PDGF, TGF-β und FGF konnte in vitro die Proliferation und Migration, wie auch die Produktion von Kollagen hochregulieren. Im Modellorganismus Kaninchen konnte durch die Injektion von Hyaluronsäure eine erhöhte Gefäßneubildung und eine verstärkte Produktion von Kollagen Typ III beobachtet werden. Im Tiermodell Hausschwein bewirkt die Injektion eines kollagenreichen Hydrogels bei einem genähten Kreuzband einen verbesserten Heilungsprozess, mit einer signifikant erhöhten Bandfestigkeit. Alle diesbezüglichen Konzepte des Tissue Engineerings befinden sich noch im Anfangsstadium. Erste und kurzfristige Resultate zeigen, dass mit biologisch stimulierenden Faktoren eine verbesserte Bandheilung erreicht werden kann. Healing-Response-Technik Die Healing-Response-Technik entwickelte der US-amerikanische Chirurg Richard Steadman zu Beginn der 1990er-Jahre. Dieses Therapieverfahren ist nur bei frischen vorderen Kreuzbandrissen, mit Abriss am Oberschenkelknochen oder bei einem Riss im Synovialüberzug, möglich. Bei 80 % aller Rupturen des vorderen Kreuzbandes erfolgt der Abriss am Oberschenkelknochen. Das Verfahren ist umstritten, da die bisher veröffentlichten Ergebnisse uneinheitlich sind. Eine Vergleichsstudie zeigte, dass sich die Ergebnisse von denen der konservativen Therapie nicht wesentlich unterschieden, während andere Studien die Vorteilhaftigkeit dieser Behandlungsmethode dokumentierten. Der Healing-Response-Technik liegt die Annahme zugrunde, dass sich undifferenzierte Stammzellen bei entsprechender mechanischer Beanspruchung – gemäß dem Wolffschen Gesetz – zu Tendinozyten (Flügelzellen) ausdifferenzieren können. Mittels Arthroskopie werden zunächst eventuelle Begleitverletzungen behandelt. Anschließend wird mit einer Ahle das Knochenmark im Bereich des Kreuzbandes an bis zu zehn Stellen geöffnet (Mikrofraktur), damit Stammzellen aus dem Mark austreten können. Ein ausreichend hoher Austritt von Blut aus dem Knochenmark ist wichtig. Danach wird das Kreuzband an seine Ansatzstelle in das Koagulum reponiert und das Kniegelenk gestreckt. Die Behandlung erfolgt stationär, typischerweise für zwei Tage. Ohne Drainage wird das Kniegelenk mit einer Schiene für etwa vier bis sechs Wochen in einer 10°-Beugung fixiert. Danach erfolgt intensives Training. Nach durchschnittlich drei Monaten ist der so behandelte Patient wieder fähig, Leistungssport auszuüben. Der Eingriff muss innerhalb von wenigen Tagen nach der Verletzung erfolgen. Die Erfolgsrate liegt bei über 80 %. Misserfolge können mittels Kreuzbandplastik behandelt werden. Das Verfahren ist möglicherweise auch zur Behandlung von Rissen des hinteren Kreuzbandes geeignet. Operative Behandlung des hinteren Kreuzbandrisses Die Operation des hinteren Kreuzbandes gestaltet sich erheblich schwieriger als die des vorderen und ist eher die Ausnahme. Die Heilungstendenz ist zudem bei einer konservativen Therapie recht hoch. Ein operativer Eingriff ist meist nur bei komplexen Bandverletzungen des Knies indiziert. Gegenwärtig sind drei konkurrierende operative Verfahren beim hinteren Kreuzbandriss etabliert. Dies sind: Die anatomische Rekonstruktion des anterolateralen Hauptbündels in Single-incision-Technik unter Verwendung von Hamstring-Sehnen, wie beispielsweise Musculus semitendinosus Die anatomische Rekonstruktion beider Bündel Die Tibial-Inlay-Technik Physiotherapie zur Rehabilitation nach einer Kreuzbandplastik Ziel der Therapie sollte nicht die alleinige Wiederherstellung der Stabilität sein, sondern vielmehr die Erhaltung der gesamten Gelenkfunktion. Das heißt Stabilität, inklusive des Gefühls eines stabilen Kniegelenks, freie Gelenkbewegung und Beschwerdefreiheit. Nach der Operation wird frühfunktionell beübt (teilweise passiv mittels Motorbewegungsschiene) und die Mobilität des Patienten mit Unterarmgehstützen und unter Umständen mit einer Kniegelenksorthese hergestellt. Im Anschluss erfolgt eine physiotherapeutische Behandlung, die je nach Operationstyp und Schule nach etwa zwei Wochen zur Vollbelastung des operierten Knies führen soll. Es wird empfohlen Anspannungsübungen durchzuführen. Dies soll die Muskelgruppen aktivieren. Etwa ab der dritten Woche kann man mit leichtem Fahrrad fahren beginnen. Nach etwa sechs Wochen können Übungen auf dem Sportkreisel oder Minitrampolin unter Anleitung durchgeführt werden. Sportfähigkeit für leichtes Lauftraining besteht ab zirka dem dritten Monat nach der Operation. Nach etwa sechs Monaten können Belastungen wie beispielsweise Springen hinzukommen. Insgesamt dauert die Rehabilitationsphase im Durchschnitt sechs bis neun Monate, bevor die volle Sportfähigkeit erreicht ist. Die vollständige Einheilung (Remodellisierungsphase) des vorderen Kreuzbands ist erst nach einem Jahr abgeschlossen. Die Nachbehandlung nach der Operation unterscheidet sich im Wesentlichen nur marginal. Es existieren feste Standards in der physiotherapeutischen Behandlung, die nur unwesentlich differenzieren. Hier sollten auch klare Nachbehandlungsschemata je nach Operationsmethode ihren Niederschlag in der Behandlung finden. Die Erfahrung und Arbeit des Physiotherapeuten ist somit in der Folge für den Heilungsprozess von entscheidender Bedeutung. Prognose Auch nach einer optimalen Therapie kann im betroffenen Kniegelenk eine funktionelle Instabilität verbleiben. Diese Instabilität kann zu einer Fehlbelastung des Gelenkkörpers führen und so Folgeschäden verursachen. Typische Folgeschäden sind sekundäre Knorpelschäden, eine Degeneration des Hinterhorns des Innenmeniskus und ein signifikant erhöhtes Risiko einer Kniegelenksarthrose (Gonarthrose). Mehrere Studien zeigen, dass nach einem Riss des vorderen Kreuzbandes die Wahrscheinlichkeit zur Ausbildung einer Kniegelenksarthrose deutlich erhöht ist. Etwa 50 bis 70 % der Patienten mit einem Kreuzbandriss zeigen nach 15 bis 20 Jahren radiographische Veränderungen im Knie. Kommen zu dem Kreuzbandriss noch Begleitverletzungen im Knie – wie beispielsweise ein Meniskusriss – hinzu, so steigt die Wahrscheinlichkeit für eine Gonarthrose weiter an. In diesem Zeitraum hat die Gonarthrose einen Ahlbäck-Grad von I bis II erreicht und ist üblicherweise noch ohne klinische Symptome. Die Progression ist meist relativ langsam. Ältere Studien gehen davon aus, dass in den meisten Fällen vermutlich erst 30 und mehr Jahre nach dem Riss des vorderen Kreuzbandes die Gonarthrose klinisch relevant wird. Andere Studien berichten davon, dass es bereits im Zeitraum 10 bis 20 Jahre nach dem Riss des Kreuzbandes zu funktionellen Einschränkungen des Kniegelenkes, verbunden mit Schmerzen, bedingt durch arthrotische Prozesse im Knie kommen kann. Die Prognose ist aber generell stark abhängig von Alter, Geschlecht, Genetik, Körpergewicht, Muskelstärke, körperlicher Aktivität und möglichen erneuten Verletzungen im Knie. Bei amerikanischen Sportlerinnen sind Risse des vorderen Kreuzbandes fünfmal so häufig aufgetreten wie bei Sportlern, obwohl bei amerikanischen Sportlern mit American Football eine für die Knie nicht ganz ungefährliche Sportart dabei ist. Ford KR, Myer GD & Hewett TE (2003) untersuchten daher das Landeverhalten nach beidbeinigem Absprung bei Volleyballerinnen und Basketballspielern. Sie stellten fest, dass die Kraftunterschiede zwischen starkem und schwachem Bein bei den Frauen deutlich größer waren als bei den Männern, dass im Kniegelenk der Frauen bedeutend häufiger eine Valgusstellung vorhanden ist und dass ein Zusammenhang zwischen Valgusstellung und Kraftdifferenz der Beine besteht. Da es bei operativ behandelten Kreuzbandrissen zu einem erheblichen Wiederverletzungsrisiko kommt, wenn der Sport fortgesetzt wird, haben die Amerikaner M. V. Paterno, L. C. Schmitt, K. R. Ford u. a. (2010) 56 Sportlern (35 Frauen, 21 Männer) aus Sportarten mit plötzlichen Richtungsveränderungen (u. a. Fußball und American Football), die eine erfolgreiche Operation des vorderen Kreuzbandes hinter sich hatten, ein Jahr systematisch verfolgt, um zu ermitteln, ob es Besonderheiten gibt, durch die sich ein erneuter Kreuzbandriss vorhersagen lässt. Innerhalb dieses Zeitraumes kam es bei 13 zu erneuten Kreuzbandverletzungen. Bei allen 56 wurde hierzu eine 3-dimensionale Bewegungsanalyse bei Tiefsprüngen gemacht und hierbei die Stabilität der Körperhaltung mit 4 Videokameras und einer Kissler Kraftmessplatte gemessen. Die Kinematik, Kinetik und Haltungsstabilität wurden bestimmt um herauszufinden, ob übereinstimmende Bewegungs-/Haltungsanomalien statistisch signifikant bei den Wiederverletzten zu finden sind. Mit diesem Verfahren ließ sich die Wiederverletzungswahrscheinlichkeit sehr gut vorhersagen. Die spezifischen Parameter beinhalteten eine Zunahme in Bewegung des Valgus, größerer Asymmetrie bei der Bewegung der internen Knie Extensoren bei Beginn des Bodenkontaktes sowie ein Defizit in der Haltungsstabilität im einbeinigen Stand auf dem betroffenen Bein. Unabhängig von diesen Messungen ermöglichte auch eine kontralaterale Hüftrotation während der ersten 10 % der Landephase eine (wenn auch weniger) gute Vorhersage der Wiederverletzung des vorderen Kreuzbandes. Die Katalanen Ferrer-Roca V., Balius Matas X., Domínguez-Castrillo O., u. a. (2014) haben 35 Fußballspieler (Profis und Halbprofis) aus Barcelona der 1. Spanischen Liga an 2 Tagen zu Beginn der Vorbereitungszeit nach der Sommerpause mit Videoanalyse und 2 Kraftmessplatten in ihren Bewegungen im Hinblick auf mögliche intrinsische Risikofaktoren untersucht. Hierbei verwendeten die Autoren die Tests von Paterno u. a. (2010), da sie davon ausgingen, dass die Sportler, für die die Amerikaner ein Wiederverletzungsrisiko voraussagten, auch ein Erstverletzungsrisiko haben könnten. Sie identifizierten dieselben Probleme und versuchten Richtwerte aufzustellen, von wann an Gegenmaßnahmen im Training zu ergreifen sind: 14,3 % der Spieler hatten eine Valgusabweichung von ≥ 20 Grad im Knie bei der Landung im Tiefsprung. In der Literatur wird schon ≥ 16 Grad als problematisch angesehen. 31,4 % der Spieler hatten funktionale (Kraft)Abweichungen in den Beinen von mehr als 15 %. Da diese 15 % als Maximum gelten, wann ein Spieler nach Verletzungen wieder ins Mannschaftstraining integriert werden darf, ist auch dies ein sinnvoller Richtwert, zumal kein statistischer Zusammenhang bestand zwischen dem Schussbein und dem kräftigeren Bein. Bei den Spielern, die beide Abweichungen vorwiesen, wurden Gegenmaßnahmen ergriffen. Bei nichtoperativ behandelten Kreuzbandrupturen liegt das Risiko für eine Kniegelenksarthrose nach 20 Jahren, über mehrere Studien betrachtet, bei 60 bis 100 %. Im Vergleich dazu haben Patienten mit einer Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes ein 14- bis 16-prozentiges Risiko und bei zusätzlicher Meniskektomie eines von 37 % für eine Gonarthrose. Bei der Langzeitbetrachtung einer kleinen Kohorte von 19 Spitzensportlern mit unbehandeltem Kreuzbandriss hatten nach 35 Jahren 8 der Athleten (= 42 %) eine Knieprothese. Laut Unfallversicherung VBG lag die durchschnittliche Ausfallzeit in den höchsten deutschen Ligen des Basketballs, Eishockeys, Fußballs und Handballs in Deutschland bei rund achteinhalb Monaten. Risse des vorderen Kreuzbandes machten 0,5 Prozent aller Verletzungen aus, sorgen jedoch für bis zu 20 Prozent der Ausfallzeiten. Je nach Sportart kehren etwa 60 bis 80 Prozent der Athleten nach einem Kreuzbandriss zu ihrem vorherigen Niveau zurück. Prävention Ein Kreuzbandriss hat für den Betroffenen erhebliche Konsequenzen. Diese Art der Verletzung ist daher eine der von Sportlern am meisten gefürchteten. Für Berufs- und Leistungssportler bedeutet ein Kreuzbandriss – trotz immer weiter verbesserter Behandlungsmöglichkeiten – eine langwierige Trainings- und Wettkampfpause. Bis in die 1990er Jahre führte ein Kreuzbandriss meist zum Karriereende. Für Berufssportler, sowie ihre Vereine und Sponsoren, sind nach wie vor beträchtliche Einnahmeeinbußen die Folge. In der Regel dauert es nach Wiederherstellung der Bänder und Wiederbeginn der Wettkampftätigkeit weitere Monate, bis das ursprüngliche Leistungsniveau des Sportlers wieder erreicht wird. Im Amateur- und Hobbybereich des Sports entstehen für die Gesellschaft durch Arbeitsausfallzeiten, Behandlung und Rehabilitationsmaßnahmen erhebliche Kosten, zu denen sich noch die langfristig entstehenden Kosten durch vorzeitige Kniegelenksarthrosen addieren. Im Sport wird bei entsprechender Physiotherapie durchschnittlich mit Regenerationszeiten von neun Monaten gerechnet. Der Prävention, also der Vermeidung eines Kreuzbandrisses, kommt daher eine immer bedeutendere Rolle zu. Grundsätzlich erscheint es als möglich, dass durch bestimmte Trainingsmethoden die Wahrscheinlichkeit eines Kreuzbandrisses gesenkt werden kann. Da eine Reihe von Pathomechanismen, die einen Kreuzbandriss begünstigen, lange Zeit nicht ausreichend verstanden wurden, ist es noch weitgehend unklar, welche Übungen einen präventiven Charakter haben oder gar warum sie das Verletzungsrisiko senken. Es werden daher mittlerweile in vielen Ländern große Forschungsanstrengungen unternommen, um zum einen die Risikofaktoren und Pathomechanismen eines Kreuzbandrisses aufzuklären und zum anderen daraus abgeleitet mit geeigneten Maßnahmen dieser Verletzungsart begegnen zu können. Am erfolgreichsten waren bisher Paterno MV, Schmitt LC, Ford KR u. a. (2010), die mit 94%iger Wahrscheinlichkeit aus dem Bewegungsverhalten bei Tiefsprüngen die Wahrscheinlichkeit von Kreuzbandrissen vorhersagen konnten. Sie zeigten, dass große Unterschiede zwischen der Kraft der beiden Beine sowie eine Valgus-Stellung im Kniegelenk bei der Landung die größten Risikofaktoren darstellten, dass aber auch Instabilität des Rückens zur Gefahr beitragen kann. Da eine Valgus-Abweichung von mehr als 16 % und Kraftdifferenzen von mehr als 15 % als problematisch angesehen werden (und eine Reha in diesem Falle als noch nicht abgeschlossen gilt), scheint neben CORE-Training für den Rücken eine entsprechende Beinkraftschulung angebracht. Spezielle Übungen Bisher gibt es keine standardisierten Übungen, um Kreuzbandrissen ohne Fremdeinwirkung vorzubeugen. In einigen Studien zeigte es sich, dass vielseitigere Übungsprogramme einen größeren positiven Effekt zeigen als einzelne Übungen. Plyometrische Übungen für die unteren Extremitäten, Dehngymnastik (Stretching), zur gezielten Beherrschung des Rumpfes, zur gestärken Wahrnehmung der Körperbewegung (Propriozeption) und zur verbesserten Entscheidungsfindung, scheinen positive Effekte in der Prävention zu haben. Dadurch werden die Kräfte bei der Landung des Sportlers nach einem Sprung ebenso reduziert wie die Momente, die bei Varus/Valgus einwirken. Zudem werden Muskeln aktiviert, die Kraftmomente, die auf das Knie einwirken, teilweise mit abfangen können. In einer Studie mit über 1400 Fußballspielerinnen konnte ein positiver Effekt durch spezielles Aufwärmen (warm-up) erreicht werden. Gegenüber der Kontrollgruppe nahm die Anzahl an vorderen Kreuzbandrissen insgesamt um den Faktor 1,7 ab. Betrachtet man nur die Kreuzbandrisse ohne Fremdeinwirkung, so lag in der Gruppe mit dem speziellen Aufwärmprogramm die Häufigkeit sogar um den Faktor 3,3 niedriger. Der Schwerpunkt der Aufwärmübung liegt auf der neuromuskulären Kontrolle des Kniegelenkes. In anderen Studien konnte elektromyografisch nachgewiesen werden, dass neuromuskuläre Übungen positive Effekte auf den Musculus semitendinosus vor Absprung und Landung eines Sportlers haben. Zu ähnlich positiven Ergebnissen kommt eine Studie aus Italien. Mitte der 1990er Jahre nahmen insgesamt 600 Fußballspieler aus 40 Mannschaften des Halbprofi- beziehungsweise Amateurbereichs teil. Die Hälfte der Mannschaften trainierte jeden Tag zusätzlich 20 Minuten nach einem speziellen sensomotorischen Trainingsprogramm, das propriozeptive Elemente enthielt. Die Übungen wurden beispielsweise mit einem Balance Board durchgeführt. Über drei Spielsaisons wurde die Häufigkeit von Verletzungen der vorderen Kreuzbänder beobachtet. Bei den Teilnehmern an dem speziellen Trainingsprogramm war die Inzidenz einer Kreuzbandverletzung signifikant niedriger als in der Kontrollgruppe. Einige Autoren sehen in dieser Studie den Beweis für einen prophylaktischen Effekt des koordinativen Trainings. Übliche propriorezeptive Trainingsmittel sind beispielsweise „Wackelbretter“ und „Sportkreisel“. Diese geben dem Trainierenden einen instabilen Untergrund, wodurch dieser ständig gezwungen ist, seinen Körper im Gleichgewicht zu halten. Eine andere evidenzbasierte Studie aus Norwegen mit über 1800 Handballspielern im Alter von 15 bis 17 Jahren zeigt ebenfalls, dass durch ein strukturiertes Aufwärmprogramm mit neuromuskulären Übungselementen die Inzidenz von Kreuzbandrissen um über 50 % gesenkt werden kann. Zum Einsatz kamen hierbei unter anderem Balancematten. Eine 2005 von der Universität Münster veröffentlichte Studie mit über 250 deutschen Handballspielerinnen kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, dass propriozeptive und neuromuskuläre Übungen die Häufigkeit von Kreuzbandrupturen erheblich reduzieren können. Eine Reihe von Sportwissenschaftlern plädiert dafür, dass solche präventiven Übungselemente integraler Bestandteil von Trainingseinheiten in Sportarten mit erhöhter Inzidenz für Kreuzbandrupturen werden. Andere Präventionsmaßnahmen Eine Regeländerung zu Beginn der Saison 2005 bewirkte in der Australian Football League, dass die Häufigkeit für einen hinteren Kreuzbandriss um mehr als den Faktor zwei gesenkt werden konnte. Die Regeländerung bestand darin, den Anlauf des Ruckman auf das Anstoßquadrat zu begrenzen. Tiermedizin Von den Haustieren ist insbesondere der Haushund häufig von Rupturen des vorderen Kreuzbandes betroffen. Allerdings spielen hier andere, nicht traumatische, Pathomechanismen eine große Rolle. Seltener sind Kreuzbandrisse bei Hauskatzen. Medizingeschichtliches Hippokrates von Kos beschrieb eine Subluxation des Knies, die er auf eine Bandverletzung im Knie zurückführte. Galenos beschrieb detailliert die Wichtigkeit der Bänder zur Stabilisierung des Knies und für einen normalen Bewegungsablauf beim Gehen. Zuvor meinte man noch, dass es sich bei den Kreuzbändern um „Nervenstrukturen“ handelt. Auf Galenos geht auch der heute noch gültige Name genu cruciata, mit dem er die das Knie stabilisierenden Strukturen bezeichnete, zurück. Bis in das 19. Jahrhundert hinein wurden zwar ausführlich die Luxationen des Knies und ihre Behandlung beschrieben, die Funktion der Bänder im Knie wurde aber in dem Sammelbegriff Dérangement intern völlig unterbewertet. Die Wittenberger Brüder Wilhelm Eduard und Eduard Friedrich Weber beschrieben 1835 in ihrem Werk Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge ausführlich die biomechanischen Zusammenhänge der Komponenten innerhalb des Knies und in seiner Peripherie. Bei ihren Forschungsarbeiten untersuchten sie die abnorme Bewegung des Schienbeins in einem Knie ohne Kreuzbänder. Sie beschrieben so als Erste den durch einen Kreuzbandriss entstehenden abnormalen Bewegungsablauf beim Gehen. Der Franzose Amédée Bonnet beschrieb 1845 in seiner 1300 Seiten umfassenden Monographie Traité des maladies des articulations (deutscher Titel von 1851: Zur Behandlung von Gelenkerkrankungen) seine an Leichen vorgenommenen Studien. Er stellte unter anderem fest, dass das vordere Kreuzband in den meisten Fällen an seiner femoralen (am Oberschenkel) Insertion reißt und die Ruptur von einem krachenden Geräusch begleitet wird. Das mediale Seitenband würde durch Valgusbeugungsstress auch an seinem femoralen Ansatz reißen. Bonnet erkannte auch, dass ein blutiger Gelenkerguss (Hämarthros) und der Schmerz wichtige Symptome des vorderen Kreuzbandrisses sind. Die Ursache der Schmerzen sah er in der Dehnung der Ligamentnerven. Über die Inzidenz schrieb er, dass „Rupturen der Ligamente viel häufiger sind als allgemein angenommen.“. Bonnet erwähnte auch als Erster das Phänomen der Subluxation („… des déplacements qui font croire à une luxation incomplète“), das erst wieder zu Beginn der 1970er Jahre von R. D. Galway und D. L. MacIntosh als Pivot Shift aufgegriffen wurde. In seinem 1853 veröffentlichten Buch Traité de thérapeutique des maladies articulaires schrieb Bonnet, dass eine zu lange Ruhigstellung des betroffenen Knies sich negativ auf den Heilungsprozess auswirke. Gegen die knorpelschädigende Wirkung einer Immobilisierung entwickelte er erste Geräte zur aktiven Bewegung. In seinen Ausführungen zur Behandlung akuter Verletzungen war er der damaligen Zeit weit voraus. So schlug Bonnet beispielsweise kalte Packungen zur Erstversorgung der Verletzung und eine baldige, leichte Bewegung vor. Im gleichen Buch beschreibt Bonnet eine Orthese mit zwei Scharnieren für Patienten mit Riss des vorderen Kreuzbandes. Die Verletzung des vorderen Kreuzbandes wurde erstmals 1850 von dem Briten J. Stark auf konservative Weise mittels eines Gipsverbandes behandelt. Der knöcherne Ausriss des vorderen Kreuzbandes, bei dem die ligamentären Strukturen unverletzt sind, wurde 1875 von französischen Chirurgen Poncet beschrieben. Poncet obduzierte die Leiche eines durch einen Fenstersturz aus dem dritten Stock Verunglückten. Der Engländer Arthur Mayo Robson (1853–1933) führte 1895 an einem 41-jährigen Minenarbeiter aus Featherstone – Mayo Robson nennt ihn in seiner Veröffentlichung acht Jahre später „J. B.“ – erstmals eine Kreuzbandnaht durch. Der Patient hatte sich 36 Wochen zuvor bei einem Unfall in einer Kohlengrube am Knie verletzt. Am 21. November 1895 öffnete Mayo Robson das Knie von J. B. Dabei stellte er fest, dass beide Bänder vollständig abgerissen waren, und fixierte sie mit Catgut. Das vordere Kreuzband nähte er an die Gelenkinnenhaut und an Gewebe der inneren Seite des äußeren Kondylus. Das hintere Kreuzband befand er als zu kurz, weshalb er es aufteilte, um eine ausreichende Länge zu erhalten. Dann fixierte er es an der Gelenkinnenhaut und am Knorpelgewebe der äußeren Seite des inneren Kondylus. Anschließend schloss er die Wunde mit Catgut und die Oberfläche mit Seidendarm. Knapp sechs Jahre später, am 24. Oktober 1901, besuchte ein Mitarbeiter von Mayo Robson den Patienten, der sein operiertes Bein als perfectly strong beschrieb und seinen alten Beruf wieder voll ausüben konnte. Schmerzen hatte er nur, wenn er das Knie bei der Arbeit zu sehr belastete. Der Umfang beider Knie war identisch. Auch andere Veröffentlichungen empfahlen im Fall einer akuten Ruptur die primäre Kreuzbandnaht. Der Berliner Arzt H. Goetjes veröffentlichte 1913 die erste Sammelstatistik über 30 Fälle mit primärer Kreuzbandnaht, die zu einem positiven Ergebnis kam. Eine erste Kritik am Nähen der Bänder kam bereits 1916 durch Robert Jones, einen britischen Militärorthopäden. Jones hielt das Nähen der Bänder für völlig nutzlos und sah in der natürlichen Vernarbung die einzige verlässliche Reparatur. Ungeachtet dieser Kritik sollte sich die primäre Kreuzbandnaht noch über 60 weitere Jahre halten, wurde sie doch von zahlreichen Autoren bestätigt und empfohlen. 1976 veröffentlichten John A. Feagin und Walton W. Curl das Ergebnis einer fünfjährigen Langzeitstudie, die sie über Soldaten an der Militärakademie West Point anfertigten. 64 Kadetten hatten sich während ihrer Collegezeit einer Naht des vorderen Kreuzbandes unterzogen. Die Langzeitergebnisse waren ausgesprochen negativ, so dass in der Folgezeit die primäre Naht des Kreuzbandes ohne Augmentation als Therapie mehr und mehr zugunsten der Rekonstruktion des vorderen Kreuzbandes aufgegeben wurde. Spätere Studien bestätigten die Ergebnisse dieser Studie. Der aus Australien stammende Chirurg James Hogarth Pringle beschrieb 1907 an der Glasgow Royal Infirmary erstmals eine Reposition an einem Lebenden, die er 1903 durchgeführt hatte: „The joint was then opened into, the blood and fluid in it washed out, and it was at once seen that the anterior crucial ligament still attached to its bone insertion had been torn off the tibia and taken the spine with it; with a little trouble this was sutured, and the wound closed.“ Ebenfalls 1903 verwendet der Münchener Fritz Lange Seidenfäden zur Verstärkung beziehungsweise als Ersatz des vorderen Kreuzbandes. Der Schweizer Eugen Bircher führte 1921 im Kantonsspital Aarau die erste Arthroskopie durch. Die erste Rekonstruktion eines vorderen Kreuzbandes beim Menschen wurde vermutlich 1914 von dem russischen Chirurgen Grekow vorgenommen. Nach der Beschreibung von Erich Hesse verwendete Grekow freie Streifen von Fascia lata, einer Bindegewebshülle des Oberschenkels. Drei Jahre später verwendete der britische Chirurg Ernest William Hey Groves (1872–1944) einen gestielten Streifen des Tractus iliotibialis zur Kreuzbandrekonstruktion. Den Streifen führte er durch zwei Bohrkanäle, die vom Epicondylus zur Fossa intercondylica, sowie vom Schienbein zur Eminentia intercondylica reichten. Damit legte er den Grundstein für die moderne Bandchirurgie. Der erste Ersatz eines Kreuzbandes durch ein Patellasehnen-Transplantat erfolgte 1935 durch den Deutschen A. Wittek, nachdem drei Jahre zuvor der Marinechirurg zur Verth dies auf dem Kongress der Deutschen Orthopädischen Gesellschaft in Mannheim vorgeschlagen hatte. 1926 beschrieb Edwards, dass eine Rekonstruktion mit den Sehnen des M. semitendinosus und des M. gracilis möglich sei. Lindemann führte 1950 dann erstmals eine Kreuzbandrekonstruktion mit diesen Sehnen durch. Kenneth Jones verwendete 1963 als Erster ein distal gestieltes Transplantat des mittleren Drittels der Patellasehne. Dieses präparierte er zusammen mit dem Knochenblock in ganzer Länge aus der Patella. Das Transplantat zog er distal ohne Bohrkanal unter dem Hoffa-Fettkörper hindurch. Auf der proximalen Seite zog er es durch einen Bohrkanal im Bereich der Kreuzbandhöhle hindurch. Die erste Beschreibung eines BTB-Transplantates stammt vermutlich von dem deutschen Arzt Helmut Brückner aus dem Jahr 1966. Die Arbeiten von Jones und Brückner bilden die Grundlagen der heutigen Kreuzbandchirurgie. Im deutschen Sprachraum spricht man daher oft auch von einer Brückner- oder Brückner-Jones-Plastik. Weiterführende Literatur Fachbücher W. Petersen, T. Zantop: Das vordere Kreuzband: Grundlagen und aktuelle Praxis der operativen Therapie. Deutscher Ärzteverlag, 2009, ISBN 978-3-7691-0562-9 M. J. Strobel, A. Weiler: Hinteres Kreuzband. Anatomie, Diagnostik und Operationstechnik. 1. Auflage. Endo Press, 2008, ISBN 978-3-89756-719-1. N. P. Südkamp, A. Weiler: Ligamentäre Kniegelenksverletzungen und Meniskusverletzungen. In: W. Mutschler, N. P. Haas (Hrsg.): Praxis der Unfallchirurgie. 2. Auflage. Thieme, 2007, ISBN 978-3-13-101151-0, S. 466–467. A. Hüter-Becker: Lehrbuch zum neuen Denkmodell der Physiotherapie – Band 1 Bewegungssystem. 2. Auflage. Thieme Verlag, 2006, ISBN 3-13-130142-2 A. Wilcke: Vordere Kreuzbandläsion. Verlag Birkhäuser, 2004, ISBN 3-7985-1404-6 J. Jerosch, J. Heisel: Das Kniegelenk – Rehabilitation nach Verletzungen und operativen Eingriffen. Pflaum Verlag, 2004, ISBN 3-7905-0911-6. M. J. Strobel: Arthroskopische Chirurgie. 1. Auflage. Springer, 1998, ISBN 3-540-63571-8 Übersichtsartikel (Reviews) O. Gorschewsky: Das Vordere Kreuzband. (PDF) H. J. Eichhorn, W. Birkner: (PDF; 1,3 MB) P. Renström, J. Kelm: Vorderes Kreuzband – Operation und Rehabilitation. (PDF). In: Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin. 58, 2007, S. 392–394. M. M. Murray: Current status and potential of primary ACL repair. In: Clinics in sports medicine. Band 28, Nummer 1, Januar 2009, S. 51–61, doi:10.1016/j.csm.2008.08.005. PMID 19064165, (Review). Y. Shimokochi, S. J. Shultz: Mechanisms of noncontact anterior cruciate ligament injury. In: Journal of athletic training. Band 43, Nummer 4, Jul–Aug 2008, S. 396–408, doi:10.4085/1062-6050-43.4.396. PMID 18668173, (Review). T. E. Hewett u. a.: Dynamic neuromuscular analysis training for preventing anterior cruciate ligament injury in female athletes. In: Instr Course Lect. 56, 2007, S. 397–406. PMID 17472323 C. D. Harner u. a.: Anterior and posterior cruciate ligament reconstruction in the new millennium: a global perspective. In: Knee Surg Sports Traumatol Arthrosc. 9, 2001, S. 330–336. PMID 11734868 Weblinks Übersicht: Die vordere Kreuzbandruptur. Ärztemagazin Einzelnachweise Krankheitsbild in Orthopädie und Unfallchirurgie Therapeutisches Verfahren in Orthopädie und Unfallchirurgie Knie Wikipedia:Artikel mit Video
5697341
https://de.wikipedia.org/wiki/E.%20V.%20Ramasami
E. V. Ramasami
E. V. Ramasami (Erode Venkata Ramasami Naicker; auch Ramasamy, Ramaswamy; Tamil Ī. Ve. Rāmacāmi []; * 17. September 1879 in Erode; † 24. Dezember 1973 in Vellore), genannt Periyar ( Periyār [] ‚der Große‘) war ein Politiker und Aktivist aus dem indischen Bundesstaat Tamil Nadu. Er war einer der Vordenker der Dravidischen Bewegung, die Anfang des 20. Jahrhunderts in Tamil Nadu entstand und eine eigenständige Identität der Tamilen als „Draviden“ im Gegensatz zu den „Ariern“ Nordindiens postulierte. Ramasami vertrat eine radikale sozialreformerische und nationalistische Ideologie: Er widersetzte sich dem Einfluss der Brahmanen und forderte eine generelle Abschaffung des Kastensystems. Ebenso forderte er die Abschaffung des Hinduismus und lehnte darüber hinaus die Religion als solche ab. Ausgehend vom Gegensatz einer „dravidischen“ und „arischen“ Kultur lehnte er alle „arischen“ Einflüsse ab und forderte für die „Draviden“ Südindiens einen unabhängigen Staat Dravida Nadu. Nach ersten politischen Aktivitäten in der Kongresspartei führte Ramasami ab 1927 die Selbstachtungsbewegung (Self-Respect Movement) an, aus der 1944 die Organisation Dravidar Kazhagam (DK) hervorging. Ramasami nahm mit seinen Organisationen nicht an Wahlen teil, sondern konzentrierte sich auf politische Agitation und propagandistische Aktivitäten. Aus der DK ging aber 1949 die Partei Dravida Munnetra Kazhagam (DMK) hervor, welche die Dravidische Bewegung später in Tamil Nadu an die Macht brachte und heute zusammen mit der DMK-Abspaltung AIADMK die Politik Tamil Nadus prägt. Leben Herkunft und frühe Jahre (1879–1920) Ramasami wurde am 17. September 1879 in Erode, einer Stadt im Norden des heutigen indischen Bundesstaates Tamil Nadu, als Sohn von Venkata Naicker und Chinna Thayammal alias Muthammal geboren. Sein Vater war ein reicher Händler und orthodoxer vishnuitischer Hindu. Die Familie war kanaresischer Abstammung und gehörte zu den Balija Naidu, einer gesellschaftlich bessergestellten Shudra-Kaste. Den Namenszusatz Naicker, der auf die Zugehörigkeit zu dieser Kaste hinwies, legte Ramasami später als Zeichen seiner Ablehnung des Kastenwesens ab. Allgemein ist Ramasami unter dem Namen Periyar („der Große“) bekannt, ein Ehrenname, den er 1938 verliehen bekam. Der junge Ramasami genoss nur eine einfache Schulbildung. Schon im Alter von zehn Jahren nahm ihn sein Vater von der Schule, weil er dort mit Jungen aus niederen Kasten Umgang pflegte. Fortan beteiligte sich Ramasami an den Geschäften seines Vaters. Gemäß dem traditionellen hinduistischen Brauch heiratete Ramasami jung: 1898 ehelichte er die damals 13-jährige Nagammal. Im Jahr 1900 wurde dem Ehepaar eine Tochter geboren, die aber im Alter von fünf Monaten starb. Es sollte Ramasamis einziges Kind bleiben. Im Alter von 25 Jahren wurde Ramasami, der als Händler mittlerweile ein beträchtliches Vermögen angehäuft hatte, zum Sadhu (wandernden Asketen). Während seiner Pilgerreisen besuchte er unter anderem die heilige Stadt Varanasi (Benares). Dort machte er negative Erfahrungen mit der brahmanischen Priesterschaft, die in seinen Augen die Massen ausbeutete, und so kehrte er von der Hindureligion entfremdet nach Erode zurück. Bald zeigten sich erste Zeichen einer Ablehnung hinduistischer Traditionen, etwa als er seine jung verwitwete Nichte zur Wiederheirat ermutigte. Gleichwohl arrangierte sich Ramasami mit dem Hindu-Establishment und war unter anderem Vorsitzender eines örtlichen Tempelverwaltungskomitees. Erste politische Aktivitäten in der Kongresspartei (1920–1927) Nach ersten lokalpolitischen Aktivitäten in seiner Heimatstadt Erode schloss sich Ramasami unter dem Einfluss C. Rajagopalacharis 1920 dem Indischen Nationalkongress an, der zu jener Zeit unter der Leitung Mahatma Gandhis für die Unabhängigkeit Indiens eintrat. Als linientreuer Kongressanhänger trug er demonstrativ Khadi-Kleidung, propagierte die Prohibition und trat gegen die Zusammenarbeit mit den Briten ein. Er stieg bald zu einem der wichtigsten nichtbrahmanischen Kongress-Politiker in Tamil Nadu auf. In der Kongresspartei trat Ramasami vehement für die Rechte von Niedrigkastigen ein: 1924 wurde er bekannt, als er sich bei einer von Gandhi initiierten Satyagraha-Aktion (ziviler Ungehorsam) zugunsten von Unberührbaren in Vaikom, einer Kleinstadt im heutigen Bundesstaat Kerala, beteiligte und für mehrere Monate inhaftiert wurde. Sein Eintreten brachte ihm den Beinamen „Held von Vaikom“ ein. Schon bald zeigten sich Differenzen zwischen der von Brahmanen dominierten Kongresspartei und Ramasami. 1925 protestierte Ramasami in der sogenannten Gurukulam-Kontroverse gegen die separate Speisung von brahmanischen und nichtbrahmanischen Schülern in einer vom Kongress unterhaltenen traditionellen Schule (gurukulam) in der Stadt Kallidaikurichi. Im selben Jahr forderte er auf einem Parteitag in Kanchipuram Quoten für Nichtbrahmanen in der Legislative und im öffentlichen Dienst. Dabei zeigte sich für ihn, wie schwierig es sein würde, die Rechte von Nichtbrahmanen in der Kongresspartei voranzutreiben. 1927 kam es schließlich zum Streit zwischen Ramasami und Mahatma Gandhi, als dieser bei einer Südindien-Reise öffentlich für das orthodoxe Kastensystem als Grundlage der Gesellschaft eintrat. Die Differenzen schienen für Ramasami so unüberwindbar, dass er sich entschloss, aus der Kongresspartei auszutreten. Selbstachtungsbewegung und Justice Party (1927–1944) Nach seinem Austritt aus der Kongresspartei 1927 konzentrierte sich Ramasami auf die Selbstachtungsbewegung (Self-Respect Movement / Suyamariathai Iyakkam), deren Vorsitz er bereits ein Jahr zuvor übernommen hatte. Die Selbstachtungsbewegung war eine sozialreformerische Bewegung mit dem erklärten Ziel, Nichtbrahmanen ein Gefühl von „Selbstachtung“ auf Grundlage ihrer dravidischen Identität zu verschaffen und gegen die postulierte gesellschaftliche Übermacht der Brahmanen anzukämpfen. Die Selbstachtungsbewegung war nicht in das parteipolitische Geschäft eingebunden, sondern agierte mit öffentlichen Kampagnen und propagandistischen Aktivitäten. Während seiner Zeit in der Selbstachtungsbewegung vertrat Ramasami eine zunehmend radikale Ideologie und begann den Gegensatz zwischen Ariern und Draviden sowie seine Ablehnung des orthodoxen Hinduismus zu formulieren. Als Sprachrohr dienten Ramasami dabei die Zeitschrift Kudi Arasu („Volksherrschaft“), die er bereits 1924 gegründet hatte, sowie ab 1935 die Zeitschrift Viduthalai („Befreiung“). 1931 brach Ramasami zu einer elfmonatigen Reise auf, in deren Verlauf er mehrere europäische Länder besuchte. In der Sowjetunion kam er in Kontakt mit sozialistischem Gedankengut, das er in der Folgezeit in seine Schriften einfließen ließ. 1937 beteiligte sich Ramasami an den Anti-Hindi-Protesten, die auf die Entscheidung der neu gewählten Kongress-Regierung der Provinz Madras folgten, die nordindische Sprache Hindi zu einem Pflichtfach an den Schulen zu machen. Während die Kongresspartei das Hindi als gesamtindische Lingua franca propagierte, betrachtete Ramasami das Hindi als arische Sprache und seine Einführung als brahmanisch-nordindische Verschwörung gegen das Tamil. Als treibende Kraft der Anti-Hindi-Proteste wurde Ramasami zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Im Zusammenhang mit den Anti-Hindi-Protesten erhob er 1938 erstmals die Forderung nach einem unabhängigen Dravidenstaat: Analog zu der zu jener Zeit von der Muslimliga geforderten Gründung Pakistans sollten die Draviden einen eigenen Staat Dravida Nadu („dravidisches Land“) bekommen. Bereits ab 1935 hatte sich Ramasami der Justice Party zugewandt. Die 1917 gegründete Justice Party wurde von Nichtbrahmanen getragen, die größtenteils aus bessergestellten landbesitzenden und Händler-Kasten stammten. Die Justice Party stellte von 1920 bis 1926 sowie erneut von 1930 bis 1937 die Regierung der Provinz Madras. Wie die Selbstachtungsbewegung, vertrat die Justice Party ein dezidiert anti-brahmanisches Programm und propagierte die dravidische Identität der Nichtbrahmanen, doch war sie in ihrer Ideologie deutlich weniger radikal. Während die Selbstachtungsbewegung auch unter den unteren Schichten Unterstützung genoss, gelang er der Justice Party, die vor allem für die Interessen der Elite-Nichtbrahmanen eintrat, nicht, eine Massenbasis aufzubauen. Nachdem sie 1937 bei den Wahlen zum Provinzparlament eine vernichtende Niederlage gegen die Kongresspartei erlitten hatte, hoffte die Justice Party von der Popularität Ramasamis zu profitieren und trug diesem den Parteivorsitz an. 1938 wurde Ramasami, der zu diesem Zeitpunkt noch wegen seiner Beteiligung an den Anti-Hindi-Protesten in Haft saß, zum Vorsitzenden der Justice Party gewählt. Gründung der DK und Abspaltung der DMK (1944–1949) Gegen parteiinterne Widerstände gelang es Ramasami, die Justice Party unter seine Kontrolle zu bringen und nach seinen Vorstellungen umzuformen. 1944 setzte er durch, dass sich die Selbstachtungsbewegung und die Justice Party unter zur Organisation Dravidar Kazhagam (DK) vereinigten. Die DK beschloss, nicht an Wahlen teilzunehmen, schrieb sich die Forderung nach einem unabhängigen Dravida Nadu auf die Fahnen. Sie nahm als ihr Symbol eine schwarze Flagge mit einem roten Kreis an, die den traurigen Zustand der unterdrückten Draviden und die Hoffnung auf ein unabhängiges Dravida Nadu symbolisieren sollte. Ihre Mitglieder sollten als Erkennungszeichen schwarze Hemden tragen. Mit der Gründung der DK war es Ramasami gelungen, die alte Honoratiorenpartei Justice Party in eine schlagkräftige Massenorganisation umzuwandeln. Zum zweiten Mann in der DK wurde der aufstrebende C. N. Annadurai, der bereits in der Justice Party unter Ramasamis Führung zum Generalsekretär aufgestiegen war. Schon bald aber zeigten sich Konflikte zwischen Ramasami und Annadurai, der sich im Gegensatz zu Ramasami für die Teilnahme an Wahlen aussprach. Als E. V. Ramasami 1947 den indischen Unabhängigkeitstag zu einem Trauertag erklärte, weil er im unabhängigen Indien die Dominanz von Brahmanen und Nordindern befürchtete, stellte sich Annadurai öffentlich gegen ihn, weil er erkannte, dass die unpopuläre Ablehnung der Unabhängigkeit die DK um die Mehrheitsfähigkeit bringen würde. Letztlich kam es wegen Ramasamis zunehmend autoritären Führungsstils zum Bruch. Nachdem seine erste Frau Nagammal bereits 1933 verstorben war, heiratete Ramasami 1949 seine Sekretärin Maniammai und erklärte sie zu seiner Nachfolgerin. Daraufhin verließ Annadurai die DK und gründete eine eigene Partei, die Dravida Munnetra Kazhagam (DMK). Annadurai begründete seinen Schritt damit, Ramasami habe durch seine Hochzeit mit der über 40 Jahre jüngeren Maniammai das von ihm selbst stets befürwortete Prinzip der Gleichheit in der Ehe verletzt. Politische Aktivitäten in den späten Lebensjahren (1949–1973) Nach der Abspaltung der DMK hielt Ramasami an seinem Prinzip der Nichtteilnahme an Wahlen fest und setzte seine propagandistischen Tätigkeiten fort. Obwohl die DK nicht an Wahlen teilnahm, mischte sich Ramasami in das parteipolitische Geschäft ein, indem er Wahlkampf für Kandidaten politischer Parteien machte. Bei den ersten Parlamentswahl in Madras nach der Unabhängigkeit unterstützte er 1952 die Communist Party of India, um sich einerseits der Kongresspartei entgegenzustellen und andererseits den Aufstieg der DMK zu behindern. Nachdem 1954 aber der niedrigkastige und aus einfachen Verhältnissen stammende K. Kamaraj den konservativen Brahmanen C. Rajagopalachari an der Spitze der Kongresspartei in Madras abgelöst hatte, änderte Ramasami seine Einstellung zur Kongresspartei und wandte sich Kamaraj zu. Bei den Bundesstaatswahlen 1957 und 1962 unterstützte Ramasami die Kongresspartei, die aus beiden Wahlen als Siegerin hervorging, und machte Wahlkampf gegen die DMK, die aber gleichwohl zur stärksten Oppositionskraft aufstieg. Selbst nachdem 1963 Kamaraj, der als Vorsitzender der gesamtindischen Kongresspartei nach Neu-Delhi wechselte, in Madras von dem glücklosen M. Bhaktavatsalam abgelöst worden war und 1965 massive Proteste gegen die Pläne der Kongress-geführten Zentralregierung, Hindi zur alleinigen Amtssprache Indiens zu machen, ausbrachen, hielt Ramasami zur Kongresspartei. Als aber 1967 die DMK die Bundesstaatswahlen in Madras gewann und Annadurai zum Regierungschef wurde, versöhnte sich Ramasami mit Annadurai und sagte der DMK seine Unterstützung zu. Nach Annadurais Tod übertrug er seine Unterstützung auf dessen Nachfolger M. Karunanidhi, dem er auch nach der Abspaltung der Anna Dravida Munnetra Kazhagam (ADMK) unter M. G. Ramachandran im Jahr 1972 treu blieb. Ramasami verstarb am 24. Dezember 1973 im Alter von 94 Jahren im christlichen Krankenhaus von Vellore. Am nächsten Tag wurde er in Madras (Chennai) beigesetzt. Nach Ramasamis Tod übernahm seine Frau Maniammai die Führung der DK. Ideologie Ramasamis Ideologie beruht auf drei Säulen: Ablehnung des Kastenwesens, Kritik am Hinduismus und dravidischer respektive tamilischer Nationalismus. Das Kernstück von Ramasamis Ideologie ist die Ablehnung der Kaste der Brahmanen, also der Anti-Brahmanismus. Praktisch alle Standpunkte, die Ramasami vertrat, lassen sich auf seinen Anti-Brahmanismus zurückführen und bleiben stets eng mit diesem verknüpft. Anti-Brahmanismus und Ablehnung des Kastenwesens Für Ramasami bilden die Brahmanen, die nach dem normativen Varna-Modell die höchste Stellung im Kastensystem haben, eine gesellschaftlich dominierende Gruppe, die das von ihnen geschaffene Kastenwesen benutzt, um die große Masse der Nichtbrahmanen auszubeuten. Diese Dominanz sei zu brechen, das Kastenwesen als Werkzeug der brahmanischen Unterdrückung zu zerschlagen. Ramasamis anti-brahmanische Einstellung kulminiert in dem überlieferten Ausspruch „Wenn du die Wahl hast, einen Brahmanen oder eine Schlange zu töten, verschone die Schlange“. Ramasami mag in seinen Einstellungen, mindestens aber seiner Rhetorik besonders radikal gewesen sein, die Ablehnung der postulierten Vormachtstellung der Brahmanen war aber nicht nur für ihn, sondern für die gesamte Frühzeit der Dravidischen Bewegung von zentraler Bedeutung: Der Konflikt zwischen Nichtbrahmanen und Brahmanen war in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der dominierende Faktor in der Politik des Bundesstaates Madras. Hintergrund war der gesellschaftliche Wandel während der britischen Kolonialzeit: Die Brahmanen, die nur drei Prozent der Bevölkerung des damaligen Bundesstaates ausmachten, nutzten die Möglichkeiten, die ihnen das britische Bildungswesen bot, und konnten so eine dominierende Stellung in Verwaltung und Politik erreichen. Gleichzeitig untergrub die Urbanisierung die Stellung der bis dahin gesellschaftlich einflussreichen landbesitzenden Kasten, die nach dem Varna-Modell zum niedrigsten Stand der Shudras gehören. Unter diesen entwickelten sich durch die Unzufriedenheit mit der Vormachtstellung der Brahmanen der Anti-Brahmanismus und das Konzept einer „nichtbrahmanischen“ Identität. Für Ramasami führte der Anti-Brahmanisms zur radikalen Forderung nach einer generellen Abschaffung des Kastenwesens und der Unberührbarkeit. In seiner Agitation gegen das Kastenwesen kristallisieren sich dabei drei Forderungen heraus: Die Einführung von Quoten für Nichtbrahmanen, das Recht für Unberührbare zum Tempelbesuch und die Zulassung von Unberührbaren als Tempelpriester. Dravidischer Nationalismus und Separatismus Ramasami vertrat einen dravidischen Nationalismus, der von dem Gegensatz zwischen einer „dravidischen“ oder tamilischen und „arischen“ Kultur ausgeht. Die Begriffe „arisch“ und „dravidisch“ waren geprägt worden, nachdem im späten 18. bzw. frühen 19. Jahrhundert die Existenz der indogermanischen und der dravidischen Sprachfamilie entdeckt worden war (zu ersterer gehören die meisten Sprachen Europas ebenso wie die Nordindiens, zur letzteren Tamil und die übrigen Sprachen Südindiens). Aus diesen Erkenntnissen der vergleichenden Sprachwissenschaft wurde geschlossen, indogermanische Stämme, die sich als „Arier“ bezeichneten, seien von außen nach Indien eingewandert und hätten die einheimischen „Draviden“ unterjocht. Rassisch umgedeutet führten diese Theoriebildungen in Europa letztlich zur Arier-Ideologie der Nationalsozialisten. Aber auch in Indien wurden die Konstrukte „Arier“ und „Draviden“ in identitätsstiftende Diskurse übernommen. So übernahmen die Vertreter der Dravidischen Bewegung wie Ramasami eine „dravidische“ Identität. Die „dravidische“ Kultur wurde gegenüber der „arischen“ als eigenständig, die „Draviden“ mit Verweis auf die arische Einwanderungstheorie als Urbevölkerung Indiens und die „Arier“ als von außen gekommene Fremdlinge angesehen. Der dravidische Nationalismus Ramasamis äußerte sich in einer Ablehnung von allem, was er als „arische“ Einflüsse betrachtete: Den Hinduismus betrachtete er als eine „arische“ Religion, der Einfluss der indischen Zentralregierung war für ihn „arische“ Politik. Das Sanskrit als Kultsprache in den Tempeln lehnte er ebenso ab wie das Hindi als indische Nationalsprache. Vor allem aber identifizierte Ramasami die Brahmanen als Träger der „arischen“ Kultur, folglich konnten für ihn nur Nichtbrahmanen echte „Draviden“ bzw. Tamilen sein. Dabei unterschied er kaum zwischen den Begriffen „Tamile“ und „Dravide“ – letzterer schließt auch Sprecher des Telugu, Kannada und Malayalam mit ein, die sich in der Regel aber nicht mit dem im Wesentlichen auf die tamilischsprachigen Gebiete beschränkten dravidischen Nationalismus identifizierten. Als Konsequenz seines dravidischen Nationalismus entwickelte Ramasami eine separatistische Position. 1938 formulierte er erstmals die Forderung nach einem unabhängigen Dravidenstaat Dravida Nadu. Analog zu der zu jener Zeit von den indischen Muslimen geforderten Gründung Pakistans sollten die „Draviden“ einen eigenen Staat bekommen. Die indische Unabhängigkeit lehnte Ramasami vor 1947 dagegen ab, da ein unabhängiges Indien seiner Meinung nach wahlweise von Brahmanen oder von Nordindern dominiert sein würde. Den indischen Unabhängigkeitstag und den Tag der Republik erklärte Ramasami zu Trauertagen. Verhältnis zur tamilischen Sprache Im Gegensatz zu den späteren Akteuren der Dravidischen Bewegung, die die Sprache zum wichtigsten Identifikationsmerkmal erhoben, die Größe der alten tamilischen Literatur und Kultur glorifizierten und das Tamil geradezu vergöttlichten, maß Ramasami der Sprache keinen besonderen Wert bei. Teilweise äußerte er sich sogar geradezu negativ über das Tamil, das für ihn eine „unzivilisierte“ Sprache darstellte, die dem Fortschritt entgegenstehe und daher am besten durch das Englische ersetzt werden sollte. Auch die alte Tamilliteratur lehnte er, mit Ausnahme des ethisch-moralischen Lehrgedichts Tirukkural, als Ausdruck einer primitiven Gesellschaftsordnung ab. Dennoch wird Ramasami heute im Kontext des tamilischen Sprachnationalismus vor allem wegen seiner Anti-Hindi-Aktivitäten unter weitgehender Ausblendung seiner kritischen Positionen als Kämpfer für die „Sache des Tamil“ verehrt. Bereits 1935 schlug Ramasami eine Reform der tamilischen Schrift vor, bei der eine Reihe von Silbenzeichen durch regelmäßigere Formen ersetzt werden sollten. Die Reform wurde 1978 von der Regierung des Bundesstaates Tamil Nadu offiziell angenommen und hat sich heute allgemein durchgesetzt. Religionskritik und Atheismus Ramasamis Anti-Brahmanismus und dravidischer Nationalismus führten dazu, dass er den Hinduismus als eine von den Brahmanen eingeführte bzw. aus dem „arischen“ Kulturkreis stammende Religion ansah. Mehr noch, für ihn war der Hinduismus der Grund für die Existenz des Kastensystems und ein Werkzeug zur Aufrechterhaltung der brahmanischen Dominanz. In einem Interview formulierte Ramasami seine Sicht des Hinduismus folgendermaßen: „Der Hinduismus ist keine Religion. Er ist von einer kleinen Gruppe für ihre eigenen Machtinteressen gegründet worden und beruht auf dem Unwissen, dem Analphabetismus und der Ausbeutung des Volkes.“ Moderatere Kräfte in der Dravidischen Bewegung teilten zwar Ramasamis Ablehnung des brahmanischen Hinduismus, traten aber für eine Reform des Hinduismus ein und wandten sich etwa dem tamilischen Neo-Shivaismus zu, der sich auf einen angeblich vorarischen monotheistischen Shivaismus als ursprüngliche „Religion der Tamilen“ rückbesann. Für Ramasami führte der Anti-Brahmanismus dagegen zu einer generellen Ablehnung des Hinduismus und der Religion als solcher. Diese Einstellung formulierte er unmissverständlich in seinem bekannten Ausspruch „Es gibt keinen Gott, es gibt keinen Gott, es gibt absolut keinen Gott“. Ramasami bezeichnete sich aber selbst nicht als Atheist, sondern als Rationalist. Er kritisierte vor allem die hinduistische Gottesvorstellung und den Ritualismus als irrational. Als Alternative zu hinduistischen Riten versuchte Ramasami areligiöse Zeremonien wie die sogenannten „Selbstachtungsheiraten“ (self-respect marriages) einzuführen. In seiner Kritik des Hinduismus setzte sich Ramasami stark mit den Epen Mahabharata und Ramayana sowie den Puranas auseinander, aber kaum mit religiös-philosophischen Texten wie den Upanishaden oder der Bhagavadgita. Vielmehr versuchte er, die Götter lächerlich zu machen und die hinduistische Mythologie negativ darzustellen. Vor allem das Ramayana, die Geschichte von dem als Gott verehrten Rama, griff Ramasami immer wieder scharf an und deutete es unter den Vorzeichen der dravidischen Ideologie als Beschreibung eines Kampfes zwischen den „Ariern“, geführt von Rama, und den „Draviden“, repräsentiert durch die Dämonen unter Ravana. Diese Umdeutung ging so weit, dass Ravana als der eigentliche Held des Ramayana glorifiziert und Rama zum Schurken degradiert wurde. Ramasamis Religionskritik zielte vor allem auf den Hinduismus ab. Seine Einstellung zu anderen Religionen war dagegen widersprüchlich. Während er sich anfangs durchaus positiv über den Islam und das Christentum äußerte und sie als rational und egalitär darstellte, übte er später scharfe Kritik etwa an der christlichen Vorstellung vom Menschensohn und der jungfräulichen Geburt. Dem Buddhismus gegenüber war Ramasami wohlwollend eingestellt, weil dieser für ihn keine Religion, sondern eine rationalistische und egalitäre Philosophie darstellte. Ramasami hatte große Sympathien für den von B. R. Ambedkar begründeten Dalit-Buddhismus, der die Emanzipation der Kastenlosen durch Übertritt zum Buddhismus propagierte. Er lehnte es aber ab, selbst zu konvertieren. Nachleben Politisches Erbe Ramasami war einer der geistigen Väter der Dravidischen Bewegung und bereitete den sogenannten dravidischen Parteien den Weg an die Macht im Bundesstaat Tamil Nadu. Die von Ramasami gegründete DK besteht bis heute fort und wird seit dem Tod von Ramasamis Ehefrau Maniammai von K. Veeramani geleitet. Die DMK-Partei, die unter C. N. Annadurai aus der DK entstand, scharte bald eine große Anhängerschaft um sich und konnte erstmals 1967 die Parlamentswahlen in Tamil Nadu gewinnen. 1972 spaltete sich unter M. G. Ramachandran die Partei ADMK (später umbenannt in AIADMK) von der DMK ab und löste diese 1977 als Regierungspartei ab. Bis heute wechseln sich DMK und AIADMK in Tamil Nadu an der Macht ab. Kleinere dravidische Parteien, die gewisse Wahlerfolge erreichen konnten, sind die MDMK, die sich 1994 von der DMK abspaltete, und die 2005 gegründete DMDK. Die DMK und AIADMK sind um der Mehrheitsfähigkeit willen von vielen radikalen Positionen Ramasamis abgewichen: Die Sezessionsforderung gab die DMK-Partei bereits 1962 auf. Von der kompromisslosen Ablehnung der Religion bewegten sich C. N. Annadurai und die DMK in den 1960er Jahren zu einem allgemeinen Rationalismus und Säkularismus. Heute bezeichnet sich M. Karunanidhi, seit 1969 Vorsitzender der DMK, noch als Atheist, doch haben M. G. Ramachandran ebenso wie seine Nachfolgerin als AIADMK-Führerin, J. Jayalalithaa, der Religionskritik abgeschworen und des Öfteren öffentlichkeitswirksam Tempelbesuche inszeniert. Auch die Kastenfrage ist in den Hintergrund getreten. Statt einer generellen Abschaffung des Kastenwesens wird seit den 1960er Jahren Chancengleichheit für alle Kasten und die Förderung der unteren Kasten gefordert. Annadurai sprach sich in der Tradition Ramasamis weiterhin gegen den „Brahmanismus“ als Haltung, nicht aber gegen individuelle Brahmanen aus und öffnete den Brahmanen den Zugang zur DMK. Die AIADMK-Führerin Jayalalithaa war sogar selbst Brahmanin. Trotz aller inhaltlichen Positionsänderungen sehen sich die dravidischen Parteien nach wie vor in der Tradition Ramasamis. So äußerte Karunanidhi im Jahr 2010, die DMK sei die „Erbin der Ideale Periyars [Ramasamis] und Anna[durai]s“. Als die AIADMK-Führerin Jayalalithaa im Mai 2015 nach einer vorübergehenden Amtsenthebung wegen Korruptionsvorwürfen in das Amt des Chief Ministers zurückkehrte, machte sie als erste Amtshandlung den Statuen M. G. Ramachandrans, C. N. Annadurais und E. V. Ramasamis ihre Aufwartung. Auch die MDMK und DMDK berufen sich auf das Erbe Ramasamis: Sein Konterfei ist auf den Webseiten beider Parteien an prominenter Stelle platziert. Außerhalb Tamil Nadus ist Ramasamis Engagement gegen Unberührbarkeit und Kastensystem von der Dalit-Bewegung gewürdigt worden. So ließ die Dalit-Politikerin Mayawati, Chefministerin des nordindischen Bundesstaates Uttar Pradesh und Führerin der Bahujan Samaj Party (BSP), 1995 ein Periyar-Festival veranstalten. 2002 musste die BSP Pläne, eine Statue Ramasamis in Lucknow aufzustellen, nach Protesten ihres hindunationalistischen Koalitionspartners Bharatiya Janata Party (BJP) zurückziehen. Würdigungen und Kontroversen Ramasami wird in Tamil Nadu bis heute als Ikone der Dravidischen Bewegung verehrt. In praktisch allen Städten Tamil Nadus stehen Statuen von ihm, die anlässlich des Jahrestages seines Geburtstages regelmäßig mit Blumen bekränzt werden. Verschiedene Institutionen sind nach Ramasami benannt worden, darunter die Periyar University in der Stadt Salem, auch wurde die Poonamallee High Road, eine der Hauptstraßen Chennais, offiziell in E. V. R. Periyar Salai umbenannt. Ramasamis Geburtshaus in Erode wurde zu einer Gedenkstätte umgewandelt. Auch die gesamtindische Regierung würdigte Ramasami 1979 durch eine Briefmarke mit seinem Porträt. 2007 wurde das Leben Ramasamis unter dem Titel Periyar verfilmt. Der Film des Regisseurs Gnana Rajasekaran gewann den National Film Award in der Kategorie „Bester Film in Tamil“. Gleichwohl ist Ramasami immer noch eine kontroverse Figur. Beispielhaft sind die Vorgänge, die sich 2006 in der Tempelstadt Srirangam abspielten: Dort wurde eine Statue Ramasamis, die an prominenter Stelle vor dem Haupteingang des Sri-Ranganathaswamy-Tempels aufgestellt werden sollte, noch vor ihrer Enthüllung durch Vandalismus mutmaßlicher Aktivisten der hindunationalistischen Organisation Hindu Makkal Katchi beschädigt. Es folgten Ausschreitungen von Sympathisanten Ramasamis gegen Hindu-Stätten an verschiedenen Orten Tamil Nadus. Literatur Anita Diehl: E. V. Ramaswami Naicker-Periyar. A Study of the Influence of a Personality in Contemporary South India. Scandinavian University Books, Lund 1977. Bala Jeyaraman: Periyar. A Political Biography of E. V. Ramasamy. New Delhi: Rupa Publications 2013. Ulrike Niklas: Periyar und die Dravidische Bewegung. In: M. D. Muthukumaraswamy u. a. (Hrsg.): Von Liebe und Krieg, tamilische Geschichte(n) aus Indien und der Welt. Sandstein, Dresden 2022, ISBN 978-3-95498-669-9, S. 58–65. Paula Richman: E. V. Ramasami’s Reading of the Rāmāyaṇa. In: Paula Richman (Hrsg.): Many Rāmāyaṇas. The Diversity of a Narrative Tradition in South Asia. Oxford University Press, Delhi 1992, S. 175–201. E. Sa. Visswanathan: The Political Career of E. V. Ramasami Naicker. A Study in the Politics of Tamilnadu, 1920–1949. Madras: Ravi & Vasanth, 1983. Weblinks Einzelnachweise Politik (Tamil Nadu) Vertreter des Atheismus Parteivorsitzender Inder Tamile Geboren 1879 Gestorben 1973 Mann
6043085
https://de.wikipedia.org/wiki/Richard%20Foerster%20%28Altphilologe%29
Richard Foerster (Altphilologe)
Richard Foerster (* 2. März 1843 in Görlitz; † 7. August 1922 in Breslau) war ein deutscher Klassischer Philologe, Archäologe und Kunsthistoriker. Er war unter anderem ordentlicher Professor für Klassische Philologie an den Universitäten zu Rostock (1875–1881), Kiel (1881–1890) und Breslau (1890–1922). In der Philologie ist er besonders als Herausgeber der Werke des spätantiken Rhetors Libanios bekannt. Weitere grundlegende Editionen lieferte er zu den Physiognomikern und dem spätantiken Rhetor Chorikios von Gaza. In der Archäologie trat er vor allem durch seine Arbeiten zur Laokoon-Gruppe und topographische Studien zu Antiochia am Orontes, Libanios’ Heimatstadt, hervor. Die Kunstgeschichte bereicherte er um Studien zur Rezeption antiker Mythen im Bild und zu schlesischen Malern. Foerster war einer der letzten Altertumsforscher, die als Vertreter einer umfassenden Altertumswissenschaft im Sinne August Boeckhs und Otfried Müllers philologische und archäologische Forschung verbanden. Die Gegenstände seiner Forschung brachte er durch rege Vortragstätigkeit einem breiten Publikum nahe. Im kulturellen Leben Breslaus seiner Zeit spielte er eine bedeutende Rolle, besonders als Vorsitzender der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur. Leben Kindheit, Jugend und Studium Richard Foerster stammte aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Sein Vater Carl Förster († 1877, verheiratet mit Auguste geb. Weider) betrieb als Wagenbauer ein mittelständisches Unternehmen in Görlitz. Er ermöglichte seinem Sohn Richard den Besuch der Bürgerschule und des Gymnasiums Augustum (ab 1852). Nach der Reifeprüfung im Februar 1861 studierte Richard Foerster ab dem Sommersemester 1861 an der Universität Jena. Zu Anfang schwankte er zwischen den Fächern Theologie und Philologie. Er besuchte Vorlesungen und Übungen der Philologen Karl Wilhelm Göttling, Carl Nipperdey und Moritz Schmidt, daneben auch theologische, historische, philosophische, archäologische und sprachwissenschaftliche Veranstaltungen. Foerster war Mitglied der Burschenschaft Arminia auf dem Burgkeller. Zum Wintersemester 1861/1862 wechselte Foerster an die Schlesische Friedrich-Wilhelms-Universität Breslau, wo er sich ganz auf die Altertumswissenschaft konzentrierte. Deren Vertreter in Breslau hatten sehr unterschiedliche Profile: Friedrich Haase war auf Textkritik und Grammatik ausgerichtet, Martin Hertz behandelte weite Bereiche der lateinischen Literatur, Rudolf Westphal war Spezialist für antike Musik, August Rossbach verband Philologie und Archäologie. Von diesen akademischen Lehrern erfuhr Foerster vielfältige Anregung und Prägung. Die Anfänge seiner wissenschaftlichen Arbeit standen unter Haases Einfluss, der Foersters Aufmerksamkeit auf die griechische Satzlehre (Syntax) lenkte. Vier Jahre lang verfolgte Foerster das Phänomen der Kasusattraktion bei verschiedenen griechischen Autoren. Seine Beobachtungen insbesondere an den Tragödien des Aischylos legte er 1866 in seiner Dissertation nieder, mit der er am 28. Juni 1866 zum Dr. phil. promoviert wurde. Als Gymnasiallehrer: Beruf und Weiterqualifikation (1866–1868) Nach der Staatsprüfung im November 1866 schlug Foerster die Lehrerlaufbahn ein, die sicheren Lebensunterhalt bot. Bereits seit Ostern hatte er eine Hilfslehrerstelle am Magdalenengymnasium zu Breslau vertreten. Ab November arbeitete er als Lehramtskandidat und unterrichtete Griechisch, Latein, Deutsch und Religion. Nach Ablauf des Probejahres wurde Foerster im September 1867 als Collaborator angestellt, womit er eine Übergangsstellung zwischen Kandidat und Oberlehrer innehatte. Seine wissenschaftlichen Studien setzte Foerster neben seiner Unterrichtstätigkeit fort. Er veröffentlichte kleinere Abhandlungen über die Ikonografie der Göttin Hera und habilitierte sich am 23. Oktober 1868 an der Universität Breslau mit einer Fortsetzung seiner Dissertation für die Fächer Philologie und Archäologie. Wanderjahre in Italien (1868–1870) Kurz nach seiner Habilitation trat Foerster eine zweijährige Reise nach Italien an, für die er bis Ostern 1871 Urlaub nahm. Ermöglicht wurde diese Reise durch das Reisestipendium des Deutschen Archäologischen Instituts, das Foerster für die Jahre 1868/1869 und 1869/1870 erhielt. In Italien knüpfte Foerster vielfältige Kontakte, aus denen teilweise mehrjährige Freundschaften entstanden. Zu denen, die er in Rom kennenlernte, gehörten der Maler Arthur Blaschnik (1823–1918), der Historiker Ferdinand Gregorovius, die Archäologen Heinrich Brunn, Karl Dilthey, Wilhelm Henzen und Wolfgang Helbig sowie der Berliner Philologe Rudolf Hercher. Foerster nutzte die Jahre in Italien vornehmlich zur Kollation verschiedener lateinischer und griechischer Handschriften. Seine Schwerpunkte setzte er auf Anregung von Hercher auf die Handschriften des spätantiken Rhetors Libanios. Außerdem sammelte er auf Rat seines Breslauer Lehrers Rossbach physiognomische Schriften und beschäftigte sich mit den antiken Kunst- und Baudenkmälern. Akademische Laufbahn Breslau: Vom Privatdozenten zum Extraordinarius (1870–1875) Nach Aufenthalten in Florenz, Mailand, Venedig, Modena, Neapel, Pompeji und Griechenland kehrte Foerster im Frühjahr 1870 nach Breslau zurück. Hier heiratete er Angelika Lübbert (1846–1936), die Tochter des Gutsbesitzers Friedrich August Lübbert, mit der er drei Kinder bekam: Angelika (1871–1951), Otfrid (1873–1941) und Wolfgang (1875–1963). Seinen Lebensunterhalt verdiente Foerster weiterhin als Gymnasiallehrer. Daneben hielt er als Privatdozent philologische und archäologische Vorlesungen und Übungen ab. Sein erstes Kolleg las er im Wintersemester 1870/1871 „Über die Altertümer von Pompeji“. Zur Auswertung seiner Forschungsergebnisse gewährte ihm die Schulbehörde im Winter 1872/1873 einen halbjährigen Urlaub. Foersters Vorlesungen und Übungen behandelten eine große Bandbreite von Themen: Griechische und lateinische Literatur, Sprachwissenschaft, Gerichtswesen, Wandmalerei, Topografie und Architektur. Da er als Privatdozent kein festes Einkommen hatte, war er auf seine Stelle am Gymnasium angewiesen, so dass er Forschung, akademische Lehre und Schulunterricht nebeneinander betrieb. Diese Situation änderte sich, als im Oktober 1873 ein neues Extraordinariat für Klassische Philologie an der Universität eingerichtet wurde. Diese Professur erhielt Foerster, da er der älteste habilitierte Dozent seines Faches war. Am 21. Oktober 1873 wurde er zum a.o. Professor ernannt. Zwei Jahre später wurde seine Stelle im Etat verankert und blieb damit für die Zukunft gesichert, auch nachdem Foerster ein auswärtiges Angebot angenommen und die Universität Breslau verlassen hatte. Professor in Rostock (1875–1881) Zum 1. Oktober 1875 ging Foerster als o. Professor an die Universität Rostock. Hier wirkte er als Kollege der hochbetagten Professoren Ludwig Bachmann und Franz Volkmar Fritzsche. Die schlechte Ausstattung der Seminarbibliothek, der geringe Etat des philologischen Seminars und die schwierige Zusammenarbeit mit Bachmann und Fritzsche erschwerten seine Tätigkeit. Foerster verkehrte vor allem mit den jüngeren Kollegen in der Fakultät, besonders mit dem Historiker Friedrich Wilhelm Schirrmacher und dem Nationalökonomen Hermann Roesler. In der Fakultät trat Foerster als Verfechter der Lehrqualität hervor. Besonders ein Ereignis des Jahres 1876 gab ihm Gelegenheit, sich zu profilieren: Im Zuge der Plagiatsaffäre um den Berliner Bibliothekar Wilhelm Dabis, der 1873 in Rostock in absentia promoviert worden war, hatte Theodor Mommsen in einer Streitschrift die Praxis der Absenzpromotion angeprangert, die nur an wenigen Universitäten noch möglich war und nach Mommsens Ansicht eine Gefahr für das Ansehen des Doktortitels darstellte. Foerster bemühte sich nun darum, die Promotionsstatuten der Universität Rostock zu reformieren, und gewann dabei die Unterstützung vieler Fakultätsmitglieder. Sein Ansehen stieg dadurch innerhalb und außerhalb der Universität. Im akademischen Jahr 1879/1880 fungierte er als Dekan der philosophischen Fakultät. Seine Forschungsarbeit setzte Foerster unverändert fort. Mit Unterstützung der Preußischen Akademie der Wissenschaften reiste er 1880 nach Spanien, Frankreich und England, wo er zahlreiche Handschriften des Libanios und des Geschichtsschreibers Chorikios von Gaza kollationierte. Auf diesen Reisen lernte er den französischen Handschriftenforscher Charles Graux kennen, der ihn kurzzeitig bei seinen Forschungsvorhaben unterstützte. Professor in Kiel (1881–1890) Im Januar 1881 erhielt Foerster den Ruf als o. Professor der Klassischen Philologie und der Eloquenz an die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, dem er zu Ostern 1881 als Nachfolger seines Schwagers Eduard Lübbert folgte. In Kiel waren die Studenten zahlreicher als in Rostock und die Universitätsbibliothek Kiel war besser ausgestattet, so dass Foerster eine fruchtbare Lehrtätigkeit entfalten konnte. Während seine Kieler Kollegen Peter Wilhelm Forchhammer und Friedrich Blass hauptsächlich gräzistische Lehrveranstaltungen anboten, konzentrierte sich Foerster auf die Latinistik. Im akademischen Jahr 1885/1886 war er Dekan der Philosophischen Fakultät. 1886/87 war er Rektor der CAU. In seiner Rektoratsrede Die klassische Philologie der Gegenwart nahm er eine Standortbestimmung und methodische Bestandsaufnahme seines Faches auf. Das Ideal des Altertumsforschers sah er in der Anbindung eigenständiger Forschungsarbeit an die Geschichte des Faches und in der Synthese von neuen und alten Erkenntnissen. Gleichzeitig warnte er vor einseitiger Spezialisierung, deren Folge sei, dass der Geist und Gehalt der antiken Welt nicht mehr empfunden, geschweige denn verstanden würde. Trotz der günstigen Arbeitsbedingungen in Kiel ergriff Foerster gern die Gelegenheit, an seine Alma Mater Breslau zurückzukehren. Dort war im August 1889 nach dem Tod Wilhelm Studemunds ein Lehrstuhl freigeworden. Der zuständige Ministerialdirektor Friedrich Althoff zog sofort Erkundigungen nach einem möglichen Nachfolger bei seinem Berater Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff ein. In einem Brief vom 22. August 1889 empfahl Wilamowitz Richard Foerster. Entscheidend war für ihn die Tatsache, „daß er schon in Breslau [als Privatdozent und Extraordinarius, 1870–1875] lehrerfolg gehabt hat, in Rostock sehr gut gewirkt (er hat die doctorschande dort vertilgt) und in Kiel allein wirkung hat. ich kenne ihn gar nicht, er hat viele gegner; aber die arbeiten, die er hervorruft, sind achtbar in jeder weise, und als director der prüfungscomission muß er doch auch die geschäftsgewandheit haben.“ Im November 1889 legte die Philosophische Fakultät der Universität Breslau eine Berufungsliste vor, auf der an erster Stelle der Marburger Professor Theodor Birt genannt war; Richard Foerster stand gemeinsam mit Otto Crusius und Johannes Schmidt an zweiter Stelle. Auf eine Anfrage von Althoff zu dieser Liste empfahl Wilamowitz in einem Brief vom 25. November erneut Foerster. Dieser erhielt schließlich am 19. Dezember 1889 den Ruf und nahm ihn mit Wirkung zum 1. April 1890 an. Professor in Breslau (1890–1922) In Breslau wirkte Foerster mehrere Jahrzehnte und brachte seine umfangreichen Forschungsvorhaben zu Ende. Er lehrte noch einige Jahre lang neben seinen ehemaligen Lehrern Martin Hertz und August Rossbach. Mit Rossbach und dessen Nachfolger Friedrich Marx verwaltete er gemeinsam die Professur der Eloquenz, bis er sie 1896 allein übernahm. 1897/98 war er wiederum Rektor der Universität. Während seines Rektorats setzte er die langersehnte Restauration des Universitätsgebäudes durch, die in den folgenden zehn Jahren durchgeführt wurde. Am 14. Januar 1893 wurde er zum Geh. Regierungsrat ernannt. Nach August Rossbachs Tod (1898) trat Foerster dessen Nachfolge an: Er nahm den Lehrstuhl für Klassische Archäologie und Griechische Philologie ein und wurde 1899 Direktor des Archäologischen Museums. Die nächsten Jahre bemühte er sich um einen Neubau für die Antikensammlung, der jedoch aufgrund von Sparmaßnahmen vom Ministerium nicht genehmigt wurde. Die Unterstützung der Preußischen Akademie ermöglichte Foerster weitere Forschungsreisen nach England und in den Orient, wo er 1896 Antiochia am Orontes, die Heimatstadt des Libanios, erforschte. Von 1900 bis zu seinem Tod war er außerdem Vorsitzender der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur, der er seit 1867 angehörte. Während seiner Zeit als Vorsitzender engagierte sich Foerster für die Vereinsarbeit. Nachdem im Jahr 1900 mehrere seiner nächsten Kollegen und Fachgenossen in die Gesellschaft eingetreten waren (unter anderem Conrad Cichorius, Carl Friedrich Wilhelm Müller, Otto Hoffmann, Eduard Norden, Theodor Thalheim und Gustav Türk), begründete Foerster am 15. Februar 1901 eine philologisch-archäologische Sektion der Gesellschaft, die ein Zusammenschluss aus den früheren, inzwischen eingeschlafenen philologischen und archäologischen Sektionen bildete. Den Vorsitz der neuen Sektion übernahm Foerster zusammen mit Norden. Zwei Jahre später (1903) leitete Foerster die Hundertjahrfeier der Gesellschaft, bei der er für ein neues, größeres Domizil warb, das mit staatlicher Unterstützung errichtet und am 27. Oktober 1907 eingeweiht wurde. Für seine Verdienste um die Stadt Breslau erhielt er 1904 den Roten Adlerorden dritter Klasse mit Schleife. An der Universität engagierte sich Foerster auch nach seinen Rektorat in der akademischen Selbstverwaltung. Noch 1917, im Alter von 74 Jahren, wurde er zum Dekan der Philosophischen Fakultät gewählt. Neben den Verpflichtungen dieses Amtes musste er mit seinem Kollegen Wilhelm Kroll während des Ersten Weltkriegs doppelt so viele Lehrveranstaltungen wie vorher anbieten, weil die Professoren Alfred Gercke und Konrat Ziegler Kriegsdienst leisteten. Am 1. April 1920 ließ sich Foerster aus gesundheitlichen Gründen emeritieren. Auch im Ruhestand hielt er noch einzelne Vorlesungen, die letzte im Sommersemester 1922 über Amor und Psyche, ein Thema, das ihm besonders am Herzen lag. Er starb am 7. August 1922 im Alter von 79 Jahren nach längerer Krankheit. Leistungen Richard Foerster war einer der letzten Altertumswissenschaftler, die Archäologie und Philologie zugleich betrieben. Er realisierte diese Verbindung, indem er philologische und kunsthistorische Methoden auf archäologische Denkmäler anwandte und die Ergebnisse archäologischer Forschung in seine philologische Arbeit einbezog. Dabei verfolgte er die Rezeption antiker Kunst, Kunsttheorie und Literatur bis in die Renaissance und die Neuzeit. Als Altertumsforscher war Foerster über die Grenzen Schlesiens hinaus bekannt. Er war Ehrenmitglied der Gesellschaft für Anthropologie und Urgeschichte in der Oberlausitz, Ehrenmitglied der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften, ordentliches Mitglied des Deutschen Archäologischen Instituts und wirkliches Mitglied der Archäologischen Gesellschaft in Odessa. Philologie: Editionsprojekte Foersters Lebensaufgabe bestand in der Auswertung seiner handschriftlichen Studien. Er setzte dabei den Schwerpunkt auf Autoren, von denen kritische Editionen bis dahin fehlten: Die spätantiken Rhetoren Libanios und Chorikios von Gaza sowie die antiken Physiognomiker. Obwohl diese Arbeiten mehrere Jahrzehnte in Anspruch nahmen, konnte Foerster sie vollständig abschließen. Nach seinem Tod bereitete Eberhard Richtsteig einen Teil von Foersters Lebenswerk zum Druck vor. Libanios-Edition Die Schriften des Rhetors Libanios (4. Jahrhundert n. Chr.) stellen eine wichtige Quelle zur Entwicklung der Rhetorik in der Spätantike dar. Noch wichtiger aber wurden zu dieser Zeit die Briefe angesehen, die von Libanios in großer Zahl überliefert waren. Von allen Teilen seines Werkes (Reden, rhetorische Schriften, Briefe) lagen seit dem 16. Jahrhundert mehrere Editionen vor, die jedoch alle nicht wissenschaftlichen Ansprüchen genügten. Die letzte Ausgabe der Briefe stammte von Johann Christoph Wolf (Amsterdam 1738), die letzte Ausgabe der Reden und rhetorischen Schriften von Johann Jacob Reiske (Altenburg 1784–1797). Die große Herausforderung bei einer Libanios-Edition bestand darin, dass die handschriftliche Überlieferung uneinheitlich und sehr umfangreich war. Es gab keine Handschrift, die den gesamten Text des Libanios enthielt. Die Humanisten des 15. bis 18. Jahrhunderts hatten stets nur einzelne Handschriften herangezogen, die ihnen gerade zugänglich waren. Foerster nahm es als Erster auf sich, möglichst alle bekannten Textzeugen zu konsultieren und aus ihnen die Entwicklung des Libanios-Textes zu seinen Ursprüngen zu verfolgen. Foerster sichtete insgesamt 660 Handschriften. Als Nebenprodukte dieser Tätigkeit entstanden zahlreiche Aufsätze zu textkritischen und überlieferungsgeschichtlichen Einzelfragen. Das umfangreichste dieser Parerga („Nebenprodukte“) war Foersters Untersuchung zur lateinischen Übersetzung der Libanios-Briefe des Humanisten Francesco Zambeccari (Stuttgart 1878). Schon seit ihrem Erscheinen (1504) wurde die Echtheit dieser Sammlung angezweifelt: Sie war angeblich eine Übersetzung ausgewählter Libanios-Briefe, deren Originale größtenteils verloren seien. Foerster fand heraus, dass tatsächlich einige Originalbriefe des Libanios darunter waren, nämlich diejenigen, zu denen das griechische Original bekannt und erhalten war. Die übrigen Briefe wurden von ihm als Fälschung erwiesen, mit der Zambeccari seine Ausgabe zu einer Mustersammlung von Briefen jeder Spielart frisiert hatte. Nach mehr als 30 Jahren Arbeit begann Foerster 1899 mit dem Druck seiner Libanios-Ausgabe, die ab 1903 beim Teubner-Verlag erschien. Die Bände 1–4 (1903–1908) enthielten die Orationes, die Bände 5–7 (1909–1913) die Declamationes, Band 8 (1915) die Progymnasmata (rhetorische Fingerübungen) und Inhaltsangaben zu den Reden des Demosthenes. Die Briefe erschienen in Band 10 und 11 (1921–1922). Den Abschluss des Unternehmens erlebte Foerster nicht mehr. Sein Schüler Eberhard Richtsteig veröffentlichte 1923 den Indexband und 1927 den Band 9, der die untergeschobene Schrift Charakteres und die Prolegomena zu den Libanios-Briefen enthält. Foersters Libanios-Ausgabe ist seit ihrem Erscheinen maßgeblich geblieben und wurde mehrfach nachgedruckt. Trotz mehrerer Einwände im Einzelnen (Textgestaltung, Echtheit und Chronologie) bildet sie die Grundlage für die historische und philologische Beschäftigung mit Libanios und seiner Zeit. Ein wichtiges Pargergon seiner Libanios-Ausgabe war auch die Darstellung von Libanios’ Leben und Werk, die Foerster zusammen mit Karl Münscher für die Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft verfasste. Sie erschien erst nach Foersters Tod (1925) und ist in ihrem monografischen Umfang (65 Spalten) die umfassendste Darstellung ihrer Art. Sie ist bis heute der Ausgangspunkt zur Beschäftigung mit Libanios. Von der Libanios-Edition gelangte Foerster auch zu einem wissenschaftsgeschichtlichen Forschungsgebiet: zu dem Philologenpaar Johann Jacob Reiske (1716–1774) und Ernestine Christine Reiske (1735–1798). Foerster sammelte mehrere Jahre lang die nachgelassenen Briefe Reiskes und schrieb einen biografischen Artikel in der Allgemeinen Deutschen Biographie (Band 28, 1889). Die positive Aufnahme dieser Biografie ermutigte Foerster, den erhaltenen Briefwechsel der Reiskes mit berühmten Zeitgenossen (darunter Lessing, C. G. Heyne und Ruhnken) in Buchform zu veröffentlichen (1897). 1917 und 1921 gab Foerster noch Nachträge zu diesem Briefwechsel heraus. Sammlung der physiognomischen Schriften Zu einer Sammlung der Scriptores physiognomonici Graeci et Latini wurde Foerster von seinem Breslauer Lehrer Rossbach angeregt. Er begann bereits während seines Italienaufenthalts, verschiedene Handschriften zu kollationieren. Die komplexe Überlieferungsgeschichte der verstreuten Schriften stellte eine große Herausforderung dar. Foerster wurde ihr gerecht, indem er auch lateinische und arabische Übersetzungen der griechischen Fachschriften edierte. Beim Arabischen erhielt er Hilfe vom Orientalisten Franz August Schmölders. Insgesamt sichtete Foerster über 70 Handschriften für sein Unternehmen. Weitere Hilfe erhielt er von seinem Freund Karl Dziatzko, der 1884 für ihn eine Handschrift in London einsah. 1893 erschien die Sammlung Scriptores physiognomonici Graeci et Latini in zwei umfangreichen Bänden im Teubner-Verlag. Das Vorwort unterzeichnete Foerster am 26. August, dem 70. Geburtstag Rossbachs, dem die Sammlung gewidmet ist. Mit den Scriptores physiognomonici lag die erste Sammlung der antiken Physiognomiker vor, die nach den Grundsätzen moderner Textkritik entstanden war. Damit war die Grundlage zur Beschäftigung mit der antiken Physiognomik geschaffen. Die Edition wurde in der fachwissenschaftlichen Presse begrüßt und wird bis heute als grundlegend angesehen, auch wenn die Textkonstitution seither im Einzelnen angefochten und korrigiert wurde. Chorikios von Gaza Bei seiner Beschäftigung mit Textkritik und Stil des Libanios geriet Foerster an den spätantiken Rhetor Chorikios von Gaza. Die Rhetorenschule in Gaza orientierte sich am attizistischen Stil des Libanios und wurde ihrerseits zu einem Stilvorbild der byzantinischen Zeit. Foerster beschäftigte sich mit Chorikios seit seiner Forschungsreise nach Spanien (1880), wo er mehrere Handschriften mit bisher unbekannten Reden entdeckte. Die Reden und Fragmente des Chorikios gab er nach und nach in Zeitschriften und Vorlesungsverzeichnissen heraus und regte mehrere seiner Studenten an, in ihrer Doktorarbeit Chorikios zu behandeln. Auch eine kritische Gesamtausgabe des Rhetors stellte er fertig, veröffentlichte sie aber nicht, weil die abschließenden Arbeiten an der Libanios-Edition Vorrang hatten. Die Chorikios-Ausgabe erschien schließlich postum (Choricii Gazaei opera, Leipzig 1929), herausgegeben von Eberhard Richtsteig. Sie ersetzte die unvollständige Ausgabe von Jean-François Boissonade (1846) und ist bis heute maßgeblich. Studien zur Rezeption der Zweiten Sophistik und der Spätantike Zur Beschäftigung mit der Antikenrezeption kam Foerster einerseits von seinem Interesse an der Kunstgeschichte, andererseits von seinen Editionsprojekten. Besonderes Interesse widmete er dem Kaiser Julian, dem Zeitgenossen des Libanios, der sich als letzter Kaiser vom Christentum abgewandt hatte und eine Restauration der paganen Religion geplant hatte. Foerster untersuchte die Bedeutung des Kaisers Julian in seiner Zeit und verfolgte seine Rezeption in der europäischen Literatur von der Spätantike bis zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Als erster Philologe beschäftigte sich Foerster mit der Rezeption der Vertreter der Zweiten Sophistik in der Renaissance, namentlich mit Apuleius von Madaura und Lukian von Samosata, deren rhetorische, narrative und satirische Schriften die Literatur und Kunst des 15. bis 16. Jahrhunderts stark beeinflusst hatten. Foerster untersuchte diesen Einfluss bei Poggio Bracciolini, Erasmus von Rotterdam, Willibald Pirckheimer, Ulrich von Hutten und François Rabelais. Archäologie Seine archäologischen Forschungen verband Foerster mit philologischen Methoden. Er behandelte besonders ästhetische und motivgeschichtliche Fragen zu verschiedenen antiken Bau- und Bilddenkmälern, die er stets aus eigener Anschauung (Autopsie) beschrieb. Seine Einzeluntersuchungen beschäftigten sich beispielsweise mit der Villa Farnese, mit dem Raub der Persephone, Amor und Psyche, der Laokoon-Gruppe und mit dem Zeustempel in Olympia. Als Leiter des Archäologischen Museums in Breslau sorgte er für die Anschaffung von Abgüssen wichtiger Bildwerke, deren wissenschaftliche Beschreibung er selbst vornahm. Topografie von Antiochia am Orontes Im Zusammenhang mit seiner Lebensarbeit steht Foersters umfangreiche topografische Studie zur Stadt Antiochia am Orontes, der Heimatstadt des Libanios, die er 1896 besuchte und erforschte. Zur Deutung des archäologischen Befunds zog er zahlreiche inschriftliche und literarische Quellen heran. Dabei rekonstruierte er auch technische Einzelheiten wie die örtliche Regulierung des Orontes. Sein Vorbild bei dieser Methode war der Altertumswissenschaftler Karl Otfried Müller (1797–1840), zu dessen 100. Geburtstag die Untersuchung erschien. Müller, einer der führenden Archäologen seiner Zeit, stammte wie Foerster aus Schlesien und entsprach ihm auch in der Verbindung von philologischer und archäologischer Arbeit. Mythenforschung Besonders in den 1870er und 1880er Jahren beschäftigte sich Foerster mit der griechischen Mythologie. Wie viele andere Forscher seiner Zeit sah er im Mythos eine Spiegelung der griechischen Frühgeschichte. Gleichzeitig bezog er die vergleichende Mythenforschung ein, die den Mythos auf Naturerscheinungen zurückführt. Als Programmschrift verfasste er 1876 den Aufsatz Über Mythenforschung, in dem er für eine Synthese der historischen und der vergleichenden Mythenforschung eintrat und gegen eine Überbewertung der vergleichenden Mythenforschung polemisierte. Das Ziel der Mythenforschung sah er darin, Ursprung, Herkunft, Entwicklung und Bedeutung eines Mythos festzustellen. Seiner eigenen Forderung nach der Heranziehung aller möglichen Quellen zur Mythenforschung kam Foerster nur bedingt nach. Er konzentrierte sich auf bildliche und textliche Darstellungen eines Mythos und berücksichtigte weder die Methoden der Volkskunde (Wilhelm Mannhardt) noch die der Religionswissenschaft (Hermann Usener). Stattdessen verfolgte Foerster die Rezeption eines Mythos von den antiken Schriften über das Mittelalter bis in die Neuzeit und leistete so wichtige Studien zur Rezeptionsgeschichte antiker Mythen. Beispiele sind seine Arbeiten zum Raub der Persephone und zum Laokoon-Stoff, die der Kunsthistoriker Matthias Winner als „bahnbrechend“ bezeichnete. Kunstgeschichte Foersters Interesse an kunsthistorischen Fragen speiste sich aus seinen Reisen, besonders aus seinem ersten Italienaufenthalt. Auch hier konzentrierte er sich auf mythische Stoffe und Motive. Einen Schwerpunkt bildete die Laokoon-Gruppe im Vatikanischen Museum, über die Foerster von 1889 bis 1914 mehrere Aufsätze schrieb. Anders als die meisten Forscher seiner Zeit, nach denen die Laokoon-Gruppe ein Erzeugnis des 1. Jahrhunderts n. Chr. war, datierte sie Foerster in das 2. Jahrhundert v. Chr. Später wich er davon ab und rückte die Gruppe in das 1. Jahrhundert v. Chr. Während die Frage der Datierung unentschieden blieb, setzte Foerster in motivischer Hinsicht ein Zeichen, indem er nach dem Fund des rechten Arms des Laokoon für dessen Echtheit und damit gegen die bis dahin übliche Ergänzung der Skulptur eintrat. Weitere Arbeiten Foersters betrafen die Rezeption des Märchens „Amor und Psyche“ und der Philostratischen Bildbeschreibungen (Imagines). Deren Rezeption untersuchte er bei den Malern Raffael, Tizian und Francisco de Goya sowie bei den Schriftstellern Karl Philipp Moritz und Johann Wolfgang von Goethe. Seit den 1890er Jahren beschäftigte sich Foerster intensiv mit der Geschichte der Bildenden Künste in Schlesien. Er untersuchte und beschrieb das Lebenswerk verschiedener Künstler, darunter seines Zeitgenossen Arthur Blaschnik (1823–1918). Das damals vergessene Werk des Kunstmalers Franz Gareis (1775–1803) erforschte er intensiv. Er erstellte ein Werkverzeichnis und eine detaillierte Biografie, die er im Neuen Lausitzischen Magazin veröffentlichte. Foersters Wirken als Kunsthistoriker und der Einfluss seiner Schriften auf die Entwicklung der Kunstgeschichte sind nicht eingehend untersucht worden. Seine Bedeutung für die Kunstgeschichte ist daher nicht exakt zu bestimmen. Anerkennung in Fachkreisen erfuhr er auch nach seinem Tod. So schrieb der Kunsthistoriker Erwin Panofsky am 23. November 1955 an seinen Kollegen William S. Heckscher: „As you know just as well as I, our real ‘founders’ are such men as Förster, Giehlow and Warburg […]“ („Sie wissen so gut wie ich, dass unsere wahren ‚Gründer‘ Männer wie Förster, Giehlow und Warburg sind …“) Bedeutung Richard Foerster war zu seiner Zeit für das kulturelle Leben in Schlesien von großer Bedeutung. Seit seinem Studium gehörte er dem Verein für Geschichte der bildenden Künste an, der 1867 als Sektion an die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Kultur angeschlossen wurde. Foerster beteiligte sich an den Vereinen als Leiter der archäologischen Sektion (ab dem 8. Dezember 1866) und schließlich als Präsident (ab 1900). Er vermittelte einem breiten Publikum antike und neuzeitliche Kunst, Literatur und Mythologie in zahlreichen Vorträgen und Aufsätzen. Darüber hinaus war Foerster einer der letzten Hochschullehrer in Deutschland, welche die traditionelle Professur der Eloquenz im ursprünglichen Sinne ausübten. Eine Auswahl seiner Festreden an der Universität Breslau erschien in zwei Sammlungen 1911 und 1919. Überregionale Bekanntheit erlangte Foerster nur in Fachkreisen durch seine Forschungsarbeit. Sein Sohn Otfrid Foerster vollbrachte als Neurologe und Neurochirurg bedeutende Forschungsleistungen und wurde darüber hinaus als Arzt Lenins vor dessen Tod (1924) weltweit bekannt. Wenn Richard Foerster auch keine solche Prominenz erlangte, hat er dennoch durch seine editorischen Verdienste einen festen Platz in der Geschichte der Klassischen Philologie. Foerster hatte keine wissenschaftliche Schule, wohl aber Schüler. Die meisten waren nach dem Studium an schlesischen Gymnasien tätig. Während seiner jahrzehntelangen Lehrtätigkeit betreute Foerster Dutzende Dissertationen (die erste von August Schultz bereits 1874 in Breslau). Seine Wissenschaftsauffassung legte Foerster in seiner Kieler Rektoratsrede vom 5. Mai 1886 öffentlich dar, in der er als entschiedener Humanist und Positivist auftrat. Das Ideal des Altertumswissenschaftlers sah er in der Verbindung von eigener Forschung und Wissenschaftsorganisation: „[…] jeder besonnene Forscher kann und der akademische Lehrer soll den Blick wenigstens auf das Ganze gerichtet halten, soll ausserdem dass er Mehrer des Reichs der Wissenschaft ist, auch ein getreuer Haushalter des von seinen Vorfahren und Genossen erworbenen Besitztumes derselben sein – nicht blos im Interesse seiner eigenen Arbeiten, welchen die Weite des Blicks gewiss nur zugute kommen wird, sondern auch im Interesse seiner Schüler, um sie vor einseitigem Studiengang zu bewahren und ihnen das für sie geeignete Arbeitsfeld anzuweisen.“ Mit diesem Ideal fand Foerster Nachfolger in den Philologen Wilhelm Kroll (1869–1939) und Konrat Ziegler (1884–1974), die beide bei ihm studiert hatten und später als Professoren neben ihm wirkten. Sie verwirklichten Foersters Vorstellungen als Herausgeber der monumentalen Realenzyklopädie der klassischen Altertumswissenschaft (1893–1978), die Kroll ab 1906 und Ziegler ab 1946 betreute. Schriften Quaestiones de attractione enuntiationum relativarum qualis quum in aliis tum in graeca lingua potissimumque apud graecos poetas fuerit. Berlin 1868. Der Raub und die Rückkehr der Persephone in ihrer Bedeutung für die Mythologie, Litteratur- und Kunstgeschichte. Stuttgart 1874. Francesco Zambeccari und die Briefe des Libanios: Ein Beitrag zur Kritik des Libanios und zur Geschichte der Philologie. Stuttgart 1878. Farnesina-Studien. Ein Beitrag zur Frage nach dem Verhältnis der Renaissance zur Antike. Rostock 1880. Die Physiognomik der Griechen. [Philosophische Dissertation] Kiel 1884. als Hrsg.: Scriptores physiognomonici Graeci et Latini. 2i Bände. Leipzig 1893; Neudruck Stuttgart 1994. Johann Jacob Reiske’s Briefe. Leipzig 1897. Libanii Opera. Zwölf Bände, Leipzig 1903–1927. (Nachdrucke: Hildesheim 1963, 1985, 1998) Das Erbe der Antike. Festreden, gehalten an der Universität Breslau. Breslau 1911. Franz Gareis. In: Neues Lausitzisches Magazin. Band 89 (1913), S. 1–116. Die Universität Breslau einst und jetzt. Vier akademische Reden. Breslau 1919. Choricii Gazaei opera. Leipzig 1929. (Nachdrucke: Stuttgart 1972, Ann Arbor 1998) Literatur Würdigungen und Nachrufe Berliner Tageblatt. Ausgabe vom 9. August 1922. Kunstchronik. Nr. 57, S. 809. Literarisches Echo. 1, 1922. Neues Lausitzisches Magazin. Band 98, 1922, S. 106. Alfred Gercke: Goldenes Doktorjubiläum. In: Schlesische Zeitung. Nr. 448, 29. Juni 1916. Wilhelm Kroll: Richard Foerster. In: Jahresbericht der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur. Band 97 (1919–1924), S. 1–8. (mit Bild) Wilhelm Kroll: Richard Foerster als Gelehrter. In: Schlesische Zeitung. Nr. 533, 12. November 1922. Paul Maas: Richard Foerster †. In: Byzantinisch-Neugriechische Jahrbücher. Band 3, 1922, S. 447. Eberhard Richtsteig: Richard Foerster. In: Biographisches Jahrbuch für Altertumskunde. 43. Jahrgang, 1923, S. 34–57. Biografische Darstellungen Wolfhart Unte: Richard Foerster (1843–1922). Sein wissenschaftliches Werk in der klassischen Altertumswissenschaft, Kunstgeschichte und Kulturgeschichte Schlesiens. In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau. Band 25, 1984, S. 249–272. Jonathan Groß: Richard Foerster (1843–1922). In: Schlesische Lebensbilder. Band XI, Insingen 2012, S. 399–415. (mit Bild und Auswahlbibliografie) Weblinks Einzelnachweise Altphilologe (19. Jahrhundert) Altphilologe (20. Jahrhundert) Klassischer Archäologe Kunsthistoriker Hochschullehrer (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel) Hochschullehrer (Universität Rostock) Rektor der Universität Breslau Burschenschafter (19. Jahrhundert) Geheimer Regierungsrat Mitglied des Deutschen Archäologischen Instituts Träger des Roten Adlerordens 3. Klasse Person (Görlitz) Deutscher Geboren 1843 Gestorben 1922 Mann Rektor (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel) Mitglied der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur
6326327
https://de.wikipedia.org/wiki/Limesfall
Limesfall
Unter dem Limesfall versteht man die um die Mitte des 3. Jahrhunderts durch die Römer erfolgte Aufgabe des von ihnen seit dem 1. Jahrhundert n. Chr. erbauten Obergermanisch-Raetischen Limes sowie den Rückzug der kaiserlichen Truppen aus dem Provinzialgebiet jenseits von Rhein und Donau an die Flussgrenzen. Durch eine Reihe aussagekräftiger archäologischer Funde und die Neubewertung der literarischen Quellen erscheint der Limesfall heute nicht mehr als einfacher historischer Vorgang, sondern als ein vielschichtiges, komplexes Phänomen, dessen ereignisgeschichtliche Zusammenhänge bisher noch nicht vollständig verstanden werden. Weil schriftliche Quellen weitgehend fehlen oder von zweifelhafter Zuverlässigkeit sind, ist die Forschung vielfach auf archäologische Befunde angewiesen, die ihrerseits unterschiedlich interpretiert werden können. In der Vergangenheit nahm man zumeist monokausal an, dass die Römer durch kriegerische Ereignisse und äußere Angreifer im Kontext des sogenannten Alamannensturms gezwungen worden seien, das Gebiet östlich des Rheins und nördlich der Donau zu räumen. Bodenfunde legen aber nahe, dass dieser Vorgang Folge einer jahrelangen Entwicklung während der sogenannten Reichskrise des 3. Jahrhunderts mit einem Niedergang des Grenzlandes war; auch Bürgerkriege im Imperium scheinen eine Rolle gespielt zu haben. All dies führte schließlich in den Jahren ab 259/260 zur faktischen Aufgabe des sogenannten Dekumatlandes und zur Rücknahme der römischen Militärgrenze an den Rhein und an die Donau. Forschungsgeschichte Die Überlegungen, welche historischen Ereignisse zur Aufgabe des obergermanisch-raetischen Limes führten und wann genau sie stattfand, sind so alt wie die Limesforschung selbst. Der große Althistoriker Theodor Mommsen beschrieb die lange Zeit vorherrschende Sicht auf den Vorgang 1885 wie folgt: Die von Mommsen mitinitiierte Reichs-Limeskommission kam zu ähnlichen Ergebnissen. Georg Wolff stellte 1916 fest: Die Forschung war zu dieser Zeit noch erkennbar von militärischen Fragen dominiert, weshalb man wie selbstverständlich von einer Erstürmung des Grenzwalles durch äußere Feinde ausging. Der Mangel an Funden, die ein solches Ereignis belegen würden, war jedoch schon damals ein Problem. Einwände kamen aus den Nachbardisziplinen der Provinzialrömischen Archäologie. Numismatiker identifizierten viele Münzfunde im ehemaligen Limesgebiet als Prägungen aus der Zeit nach 260. Frühmittelalterarchäologen zweifelten an den Datierungsgrundlagen und machten auf die räumliche Nähe vieler frühalamannischer Siedlungen aufmerksam. In jüngerer Zeit ergaben paläobotanische Untersuchungen, dass die Spätzeit des Limes mit einer Reihe signifikanter Umweltveränderungen zusammenzufallen scheint. Erste Zweifel an einem einzigen, dramatisch-kriegerischen Ereignis als Ursache eines „Limesfalles“ wurden bereits in der Spätzeit der Reichs-Limeskommission durch Funde teilweise fortlaufender Münzreihen deutlich. Ernst Fabricius legte 1927 mit seiner Datierung des Limesfalls größeren Wert auf die spätesten Fundstücke, besonders aus den Kastellen Saalburg, Kapersburg, Jagsthausen und Niederbieber. Er kam nach Auswertung der Münzen und Inschriften dennoch zu dem Ergebnis, dass sämtliche Limeskastelle im Jahr 260 aufgegeben oder, seltener, zerstört wurden. Fabricius musste aber zugleich einräumen, dass „Teile des rechtsrheinischen Besitzes von den Römern auch nach dem Verlust des Limes noch länger, bis zur Mitte des 4. Jahrhunderts, festgehalten oder zeitweilig wieder besetzt worden“ seien. Während nach dem Zweiten Weltkrieg die Geschichtsforschung in der DDR im Limesfall eine schlagartige Überwindung der bereits geschwächten römischen Sklavenhalterordnung sehen wollte, knüpften die westdeutschen Archäologen an Fabricius’ Arbeit an und versuchten, die Frage der teilweise fortlaufenden Münzreihen (Wilhelm Schleiermacher) und der genauen Datierung des Limesfalls (Helmut Schoppa) zu klären. Schoppa glaubte anhand von Befunden aus den Kastellen Großkrotzenburg und Alteburg an einen Verbleib römischer Bevölkerungsgruppen. Auch das Gebiet um Wiesbaden (Aquae Mattiacorum) sei erst mit der Aufgabe der Rheingrenze in der Spätantike von den Römern geräumt worden. Zur exakten Datierung äußerten sich die Fachleute in den 1980er und 1990er Jahren vorsichtiger. Zunehmend entfernte man sich von der Annahme, 260 habe einen massiven Einschnitt markiert. Dieter Planck etwa wollte 1988 auch eine etwas spätere Aufgabe der Reichsgrenze nicht ausschließen. Hans Ulrich Nuber stellte 1990 fest, dass die Aufgabe des Limes weiterhin Gegenstand der Forschung sein müsse, und wies auf innerrömische Auseinandersetzungen zum gleichen Zeitpunkt hin. Nur zwei Jahre später veränderte der Fund des Augsburger Siegesaltars das Bild vom Untergang des Limes nachhaltig und bestätigte Nuber. Bis zu diesem Zeitpunkt war völlig unbekannt gewesen, dass sich die Provinz Raetia zur Zeit des Limesfalls dem Gallischen Sonderreich unter Postumus angeschlossen hatte. Noch im selben Jahr veranstaltete das Württembergische Landesmuseum eine Sonderausstellung über den Limesfall. Der Neufund belebte die wissenschaftliche Debatte um den Untergang des Limes erheblich. 1995 fanden im Saalburgmuseum ein wissenschaftliches Kolloquium und eine Sonderausstellung über den Augsburger Siegesaltar statt. Die Zeit des Limesfalls wird heute mehr in ihren einzelnen Aspekten mit interdisziplinären Ansätzen zur Numismatik und den Naturwissenschaften beleuchtet. Aktuelle Publikationen vermeiden Formulierungen wie „der Limes wurde auf breiter Front überrannt“, weil die Ereignisse der Jahre 259/60 nun zumeist nur noch als wichtige Etappe einer langjährigen Entwicklung mit vielen Einzelproblemen betrachtet werden. Grenzland im dritten Jahrhundert Das stark militärisch geprägte Grenzland zwischen Rhein und Obergermanisch-Raetischem Limes (bei Tacitus auch als Agri decumates bezeichnet) hatte seit den Germanenkriegen Kaiser Domitians eine Friedenszeit von weit über 100 Jahren erlebt, abgesehen von kleineren regionalen Konflikten. Die Pax Romana basierte auf einem funktionierenden Limessystem, in dessen Schutz sich prosperierende Kleinstädte mit ziviler Verwaltung (civitates) und ein flächendeckendes System von villae rusticae etablierten. Die in den Limeskastellen stationierten Truppen mit ihren Reit- und Zugtieren garantierten eine ständige hohe Nachfrage nach landwirtschaftlichen Produkten und waren gleichzeitig der Garant für ein funktionierendes Wirtschafts-, Verwaltungs- und Siedlungssystem. Besonders im 2. Jahrhundert funktionierte dieses System gut. Von kleineren Übergriffen, möglicherweise während der Markomannenkriege, die durch Münzschatzfunde und gelegentliche Zerstörungshorizonte in Villen zwischen 160 und 180 belegt sind, scheint sich das Grenzland schnell erholt zu haben. Im Taunus wurde der Limes durch die Numeruskastelle Holzhausen, Kleiner Feldberg und Kapersburg verstärkt. Viele römische Villen und Civitas-Hauptorte wurden erst seit dem Beginn des 3. Jahrhunderts weitgehend in Stein ausgebaut. Markante Einschnitte in das Leben des Grenzlandes sind erst ab dem zweiten Drittel des 3. Jahrhunderts greifbar, als das Militär wegen innerrömischer Auseinandersetzungen nicht mehr die nötige Sicherheit garantieren konnte. Erwogen wird auch, ob die römischen Streitkräfte am Ende des 2. Jahrhunderts durch Ereignisse wie die Maternusrevolte geschwächt waren. Der Dienst in den Auxiliartruppen, die den Wachdienst am Limes versahen, wurde als Folge der Constitutio Antoniniana unattraktiv, denn an dessen Ende stand gewöhnlich die Verleihung des römischen Bürgerrechts. In der Germania magna außerhalb des Reichsgebietes hatten sich aus zahlreichen kleineren germanischen Stämmen die Großverbände der Franken und Alamannen als neue, gefährliche Gegner gebildet. Ein Feldzug Caracallas im Jahr 213 konnte die Lage für einige Jahre stabilisieren. Möglicherweise wurde aus diesem Anlass das Limestor Dalkingen zu einem Triumphmonument ausgebaut. Doch schon der Alamanneneinfall von 233 bis 235 hatte für das Grenzland verheerende Folgen. Da das obergermanische Heer seine leistungsfähigsten Verbände, darunter die Reiterverbände (Alae), für den Perserfeldzug des Severus Alexander zur Verfügung gestellt hatte, scheint es zu keiner wirkungsvollen Gegenwehr gekommen zu sein. Hierbei gilt es zu bedenken, dass der Limes keine rein militärische Befestigung war, sondern vorrangig der Kontrolle des Waren- und Personenverkehrs diente. Unklar ist, in welchem Ausmaß der äußere Druck zunahm, denn fraglos spielte auch die wachsende Instabilität des Imperiums im Inneren eine wichtige Rolle: Angesichts einer großen Zahl an Bürgerkriegen schwand die Fähigkeit der Römer, sich um den Schutz der Grenzen zu kümmern. Dort verschlechterte sich die Sicherheitslage seit etwa 230 rapide. Neben verschiedenen Zerstörungshorizonten in mehreren Kastellen und Siedlungen wird die Notsituation der Bevölkerung durch zahlreiche vergrabene Münzschätze fassbar, die von ihren Eigentümern später nicht mehr gehoben werden konnten. Solche Funde gab es unter anderem in Nida-Heddernheim und dem Kastell Ober-Florstadt. Nach dem letzten großen römischen Gegenschlag unter Maximinus Thrax im Jahr 235 ist ein deutlicher Einschnitt erkennbar, denn 238 wurde dieser im Sechskaiserjahr getötet, und die unruhige Zeit der Soldatenkaiser nahm ihren Anfang. Viele Siedlungen am Limes wurden angesichts der instabilen Lage nicht oder nur noch in stark verringertem Umfang wieder aufgebaut. Inschriften auf Steindenkmälern und die Ummauerung von vici und Civitas-Hauptorten zeugen aber von einem Behauptungswillen der verbliebenen Bevölkerung. Unübersehbar ist jedoch auch ein Bevölkerungsrückgang durch Flucht oder als Folge kriegerischer Auseinandersetzungen. Opfer der Zivilbevölkerung durch plündernde Soldaten und Räuber sind durch Inschriften dokumentiert. Latronibus interfectus („von Räubern erschlagen“) findet sich nun häufiger in Grabinschriften. Ökologische Probleme Schon 1932 stellte Oscar Paret fest, dass die Römer Raubbau am Wald betrieben hatten. Da die Verwendung von Stein- und Braunkohle nur wenig bekannt und verbreitet war, waren wie in der gesamten vorindustriellen Zeit nicht nur die Kastelle, vici und Villen mit ihren Bädern, Küchen und Hypokaustheizungen auf die Nutzung des Rohstoffes Holz angewiesen, sondern auch die handwerkliche Produktion. Ein Fehlen des sonst leicht verfügbaren Energieträgers auf dem Provinzboden ist durch verschiedene Indizien seit dem 3. Jahrhundert erkennbar. Verkleinerungen von Kastellbädern wie in Rainau-Buch, Schirenhof, Osterburken und Walldürn stützen die These Parets, ebenso Inschriften von Holzfällerkommandos aus der Zeit um 214, die an zahlreichen Kastellorten am Mainlimes entdeckt wurden. Ziele der Abkommandierungen waren wahrscheinlich die in dieser Zeit noch waldreichen Mittelgebirge des Spessarts oder des Odenwalds. Dendrochronologische Untersuchungen an Hölzern der Limespalisade konnten belegen, dass diese im 3. Jahrhundert nicht mehr erneuert wurde und vermutlich aus Holzmangel durch Erdwall und Graben in Obergermanien bzw. die Mauer in Raetien ersetzt wurde. Seit der Zeit Parets sind durch naturwissenschaftliche Methoden wie Archäobotanik, Dendrochronologie und Quartärgeologie neue Erkenntnisse über die Umweltprobleme des 3. Jahrhunderts hinzugekommen. Pollendiagramme römerzeitlicher Sedimente (hier insbesondere die Brunnen im Ostkastell Welzheim) belegen die zunehmende Rodung durch einen Rückgang der Baumpollen gegenüber denen von Gräsern und Kräutern. Durch starken Holzeinschlag in bestehenden Waldgebieten konnten sich schnellwüchsige Weichholzarten gegen langsam wachsende Tannen und Eichen durchsetzen. Besonders Flusstäler wurden aufgrund der günstigen Transportbedingungen bevorzugt gerodet. Durch dendrochronologische Datierung von Auwaldeichen und geologische Untersuchungen der Ablagerungen in Flusstälern konnte nachgewiesen werden, dass zwischen dem 1. und 3. Jahrhundert die Hochwasserereignisse der Flüsse stark zunahmen. Hochwasser- und Starkregenereignisse lösten Bodenerosion auf den gerodeten Hanglagen aus, welche die bevorzugten Wirtschaftsflächen der Villae rusticae darstellten, und lagerten in den Tälern Geröll und Auelehm teilweise meterhoch an. In römischer Zeit waren diese Böden nicht nutzbar. Erst im 4. und 5. Jahrhundert ging das Hochwasseraufkommen der Flüsse zurück, was nach der Trockenlegung der Auen im Mittelalter deren Nutzung ermöglichte. Annahmen, dass diese Problematik in der gesamten römischen Provinz bestand und dass sie eine nennenswerte Mitursache für die Aufgabe des Dekumatlandes war, sind in jüngerer Zeit wieder bestritten worden. Wirtschaftskrise Die vorherrschende ländliche Siedlungsform der Villa rustica war aus verschiedenen Gründen äußerst krisenanfällig. Römische Landgüter im Limesgebiet produzierten wegen begrenzter Transportmöglichkeiten üblicherweise für den lokalen Markt. Ein Wegfall der regelmäßigen Absatzmärkte (zum Beispiel durch Truppenabzug), Personalmangel in der Erntezeit, steigende Transportkosten oder ein Rückgang des Bodenertrags konnten zur Aufgabe von größeren Gütern führen. Im Grenzland ist in einigen Regionen schon gegen Ende des 2. Jahrhunderts eine Stagnation im Ausbau der Güter erkennbar. Im Verlauf des 3. Jahrhunderts scheinen die meisten von ihren Bewohnern verlassen worden zu sein. Zerstörungshorizonte sind nur vergleichsweise selten nachgewiesen. Im Gegensatz zu den Großgütern links des Rheins, die noch im 4. Jahrhundert teilweise prachtvoll ausgebaut wurden, ist an vielen rechtsrheinischen Villenplätzen im fortgeschrittenen 3. Jahrhundert ein Trend zur Verkleinerung ablesbar, der vor allem die aufwändigeren Heizanlagen der Wohnhäuser und Bäder betraf. Die veränderte Sicherheitslage könnte viele Bewohner zum Wegzug in sichere Provinzen bewogen haben. Dies verschärfte den Personalmangel, der nicht nur das Militär, sondern in viel stärkerem Maße die private Wirtschaft betraf. Wirtschaftliche Schwierigkeiten gab es auch im Alltag der verbliebenen Bewohner des Dekumatlandes. Kaiserliche Stiftungen und Repräsentationsbauten blieben aus. Der Staat versuchte, der Inflation durch geringeren Silbergehalt der Antoniniane entgegenzuwirken, die auf dem Höhepunkt der Krise nur noch einen dünnen Silberüberzug bei gleichbleibendem Nominalwert aufwiesen. Im Gegenzug mussten Produzenten und Händler ihre Preise erhöhen, womit ein Teufelskreis in Gang gesetzt wurde. Die Einrichtung zahlreicher Benefiziarier-Stationen im Limesgebiet ab dem späten 2. Jahrhundert belegt die Versuche des Staates, zusätzliche Einnahmen durch Zölle zu erschließen. Der Verlust an Kaufkraft der Bewohner wurde begleitet von einem Rückgang der Importe, der im Fundmaterial dieser Zeit nachweisbar ist. Terra Sigillata aus linksrheinischen Werkstätten (wie zum Beispiel Tabernae, dem heutigen Rheinzabern) gelangte wesentlich seltener in die Regionen am Limes und war im fortgeschrittenen 3. Jahrhundert von stark nachlassender Qualität. Gleiches gilt für Importprodukte wie Olivenöl und garum, deren typische Amphorenformen seltener auftraten. Wein könnte durch eigenen Anbau in den germanischen Provinzen ersetzt worden sein, wobei unklar ist, in welchem Umfang dies geschah. Generell muss davon ausgegangen werden, dass die Bewohner versuchten, fehlende Importe auf diese Weise auszugleichen. Als Hinweis auf die Krise dürfen auch Funde von gefälschten Münzen und deren Gussformen gewertet werden, wie sie in Rißtissen, Rottenburg und Rottweil entdeckt wurden. Befunde Die Auswirkungen dieser Krise waren den Bewohnern des Grenzlandes bewusst. Gegenmaßnahmen zeugen von einem letztlich erfolglosen Behauptungswillen der Bevölkerung. Sie sind vereinzelt archäologisch fassbar und zielten in der Regel auf die Sicherheit der Bewohner ab. Umwehrung von Vici Zu Beginn des 3. Jahrhunderts erhielten zahlreiche rechtsrheinische Civitas-Hauptorte Stadtmauern: Nida-Heddernheim, Dieburg, Lopodunum (Ladenburg), Bad Wimpfen, Sumelocenna (Rottenburg am Neckar), und Arae Flaviae (Rottweil). Ausnahmen bildeten Aquae Mattiacorum (Wiesbaden) und Aquae (Baden-Baden), wo man möglicherweise auf die Nähe zum Rhein und auf die dort stationierten Legionen vertraute. Diese Stadtmauern wurden nicht in einer akuten Notsituation, sondern planvoll errichtet, worauf ihre sorgfältige Bauweise hindeutet. Meist verkleinerten sie das mittelkaiserzeitliche Stadtareal, nur in Heddernheim war die Mauer überdimensioniert. Verkleinerung von Kastellen Mit dem Niedergang des Grenzlandes ging auch ein Verfall des Limessystems einher. Als Reaktion auf Personalmangel gelten Befunde zugemauerter Kastelltore (Osterburken, Jagsthausen, Öhringen) und verkleinerter Kastellbäder. Neuere Untersuchungen an den Kastellen Kapersburg und Miltenberg-Ost konnten belegen, dass in der Spätzeit des Limes bereits Kastelle bis zu einem Viertel der ursprünglichen Größe reduziert wurden. In beiden Fällen wurde zu diesem Zweck ein Teil des Kastellinneren durch eine weitere starke Quermauer abgeteilt. Auf der Kapersburg schloss dieser Bereich das horreum sowie verschiedene Steingebäude mit ein, darunter wohl die Wohnung des Kommandanten. Das übrige Kastellareal nahm vermutlich die verbliebene Zivilsiedlung auf, da die Mauern erkennbar bis in die Neuzeit intakt blieben. Denkbar ist, dass dort an weniger gefährdeten Strecken eine Reduktion in Kauf genommen wurde, die spätere Entwicklungen wie im Kastell Eining oder Kastell Dormagen vorwegnahm. Germanen in römischen Siedlungen Seit dem dritten Jahrhundert gab es im Grenzland germanische Bewohner, die vermutlich aus nördlichen Gebieten eingewandert waren. In Kastelldörfern des Taunuslimes (Saalburg und Zugmantel) sind sie durch Funde germanischer Keramik belegt. Eine Abgrenzung der Wohnbereiche ist ebenso wenig erkennbar wie gesicherte Gebäude in germanischer Bauweise. Es liegt somit nahe, dass die Neusiedler, möglicherweise als staatliche Maßnahme, inmitten der bisherigen Bewohner angesiedelt wurden, vielleicht in leerstehenden Vicusgebäuden. Germanische Funde gibt es auch in den Kastelldörfern von Rainau-Buch, Jagsthausen und Obernburg am Main. Zwar sind Germanen auch schon in der frühen Kaiserzeit im Limeshinterland fassbar, ihre Spuren verlieren sich allerdings durch die Romanisierung im 2. Jahrhundert. Ab dem 3. Jahrhundert sind Germanen als Neusiedler wieder verstärkt nachgewiesen. Auch in Nida-Heddernheim sind im 3. Jahrhundert Germanen durch Funde handgemachter Keramik und Fibeln nachweisbar. Nach dem Fundgut zu urteilen, stammen sie aus dem Rhein-Weser-germanischen Umfeld nahe der römischen Reichsgrenze. Das Grab eines germanischen Offiziers in römischen Diensten lässt bei den Germanenfunden des 3. Jahrhunderts an eine Söldnertruppe denken. Im römischen Badegebäude von Wurmlingen gelang der seltene Nachweis der Umnutzung einer Villa rustica durch alamannische Siedler. Das Wohnhaus der zugehörigen Anlage brannte im ersten Drittel des 3. Jahrhunderts ab. Die Siedlungstätigkeit vor Ort ging aber übergangslos unter veränderten Vorzeichen weiter. Im Badegebäude besitzt ein Einbau eine typische germanische Pfostenbauweise. Rückbauten sind auch an den Bädern der Villen von Lauffen und Bondorf sowie der Villa urbana von Heitersheim nachzuweisen. Die Umstände erlaubten immer weniger die Spezialisierung oder die Produktion von Überschüssen, die Betriebe kehrten zur Subsistenzwirtschaft zurück. Die spätesten Inschriften Militärische Inschriften sind für die Jahre nach den Alamanneneinfällen von 233 bis 235 wesentlich seltener bezeugt, weisen aber nach, dass ein Großteil der Kastelle auch nach dieser Zeit noch mit Truppen belegt war. In Aalen enden die Inschriften bereits 222. In Murrhardt, am Feldberg und auf der Saalburg stammen die spätesten Inschriften aus der Regierungszeit des Severus Alexander (222–235). Das späteste Zeugnis vom Taunuslimes ist eine Weihung zu Ehren von Kaiser Maximinus Thrax (235–238) im Kastell Zugmantel. Im Jahr 241 stellten Männer der Cohors I Septimia Belgarum in Öhringen eine Wasserleitung wieder her, die lange unterbrochen gewesen war. Eine wohl aus den Jahren 244–247 stammende, 249/250 teilweise eradierte Inschrift für die Wiederherstellung des Kastellbades Jagsthausen ist die jüngste, die eine militärische Tätigkeit belegt. Aus dem Jahr 249 liegen auch Inschriften aus den Kastellorten Stockstadt und Osterburken vor. Hinzu kommen weitere Zeugnisse. Eine Inschrift aus Altenstadt belegt möglicherweise Versuche der Bevölkerung zur Selbsthilfe. Die Inschrift nennt ein collegium iuventutis (vielleicht eine Art Jungmannschaft oder Bürgermiliz). Ähnliche Inschriftenfunde sind aus Pannonien und Öhringen bekannt. In Friedberg in der Wetterau ließ der Rat der Civitas Taunensium im Jahr 249 noch einen Leugenstein aufstellen. Die Civitas Ulpia Sueborum Nicretum setzte die letzten derartigen Steine im Jahr 253 in Ladenburg und Heidelberg. Deren Fund lässt auf eine damals noch einigermaßen funktionierende Verwaltung der Gebiete schließen. Zu beachten ist, dass die Zahl der neu gesetzten lateinischen Inschriften um die Mitte des 3. Jahrhunderts im ganzen Römischen Reich dramatisch zurückging. Die jüngste, nur fragmentarisch erhaltene Inschrift im raetischen Limesgebiet stammt aus Hausen ob Lontal und wird aufgrund der Kaisertitulatur auf den Beginn der gemeinsamen Regierung Valerians und des Gallienus (Ende 254/Anfang 255) datiert. Inschriften als Belege für eine römische Truppenpräsenz nach 250 sind bisher nicht bekannt. Die spätesten Münzfunde aus Kastellen und Wachtürmen Münzfunde aus Siedlungen ermöglichen exakte Datierungen in Form eines terminus post quem nach der Prägung der Münze. Die Zahl der Fundmünzen ist jedoch in den meisten Kastellen in nachseverischer Zeit stark rückläufig. Sichere Schlüsse auf eine Reduzierung der Truppen lassen sich daraus aber nicht ziehen. Es gilt zu bedenken, dass der römische Staat ab dem 3. Jahrhundert mit einer Form von Zwangswirtschaft auf die Krise reagierte. Dazu gehörten erzwungene Dienstleistungen, Preisbindungen und vor allem Sonderabgaben für das Heer. In vielen Kastellen wie auf der Saalburg brach die regelmäßige Münzzufuhr um die Mitte des 3. Jahrhunderts ab. Einzelne Fundmünzen liegen allerdings über das Jahr 260 hinaus vor, doch kann meist nicht gesagt werden, ob diese von Soldaten verloren wurden. Eine bei Ausgrabungen 2014 in dem der späten Limeszeit zugeordneten Wachturm 3/43a entdeckte Tetradrachme, die 268/269 in Alexandria geprägt wurde, wies nur geringe Umlaufspuren auf, daher ging der Ausgräber von einem Verlust durch einen Soldaten aus. Es blieb offen, ob der Limes in diesem Bereich des Taunus durchgehend besetzt blieb oder möglicherweise temporär (wieder)besetzt wurde. Generell ist festzustellen, dass die Kastelle früher verlassen wurden als die Kastelldörfer vor ihren Toren. Einige Kastellvici können durchaus noch bis in das vierte Jahrhundert bewohnt gewesen sein. Die Hilfstruppeneinheiten, die in den Jahrhunderten zuvor den Dienst an der Grenze versehen hatten, verschwinden in diesen Jahren aus der Überlieferung. Es ist unbekannt, ob sie aufgelöst, in andere Gebiete verlegt wurden oder durch Kämpfe untergingen. Ein Ausbleiben der regelmäßigen Soldzahlungen hätte den Berufssoldaten ihre Lebensgrundlage entzogen. So stellt sich die Frage, ob und in welchem Umfang nach 233 überhaupt noch Truppen in den Limeskastellen stationiert waren. An einzelnen Abschnitten könnte der Staat den Grenzschutz germanischen Foederaten übertragen haben, wie das in spätantiker Zeit häufiger vorkam. Eine Reaktion des Staates auf eine akute Bedrohung der Grenze ist nicht festzustellen, das Grenzland sank zu einer Art Niemandsland herab, wozu neben lokalen Schwierigkeiten die allgemeine Reichskrise beitrug. Mangel an Schriftquellen Im Gegensatz zur frühen Kaiserzeit liegen für das fortgeschrittene 3. Jahrhundert nur wenige verlässliche Schriftquellen vor. Als annähernd zeitgenössisch gilt eine Stelle bei Eusebius von Caesarea, die später vom Kirchenvater Hieronymus ins Lateinische übersetzt und ergänzt wurde. Eusebius berichtet in seiner Chronik über die Germaneneinfälle unter Kaiser Gallienus 262/263: Aus der Schilderung des Eusebius erfahren wir zwar nichts über die Vorgänge am Limes, wohl aber über die Ereignisse in den Rhein- und Donauprovinzen im Krisenjahr 260. In diesem Jahr geriet im Osten Gallienus’ Vater Valerian in Kriegsgefangenschaft, im Westen erhob sich Postumus gegen Gallienus, was zur Entstehung des Gallischen Sonderreichs führte. Germanische Stämme überschritten die Grenzen und drangen tief in römisches Gebiet ein. Etwas erhellender ist der fragmentarisch überlieferte Laterculus Veronensis (Ende 3./Anfang 4. Jahrhundert), der berichtet, dass alle civitates jenseits des Rheins zur Zeit des Kaisers Gallienus von Barbaren besetzt worden seien. Allerdings wird Gallienus in der römischen Geschichtsschreibung meist einseitig negativ dargestellt, und in der modernen Literatur wird oft darauf hingewiesen, dass zu seiner Regierungszeit die Reichskrise ihren Höhepunkt erreichte. Die Rettung des Imperiums wurde den Kaisern des gallischen Sonderreichs sowie im Osten dem Teilreich von Palmyra zugeschrieben. Weniger negative Darstellungen heben hervor, dass Gallienus unter den schwierigen Umständen des Jahres 260 seinen Machtbereich bewahrte, dass er in Verwaltung und Militärwesen Reformen durchführte und dass die faktische Abspaltung von Teilen des Reichsgebiets durch die Gegenkaiser nicht dauerhaft war. Für die Räumung der letzten Kastelle am Obergermanisch-Raetischen Limes dürfte nach dem epigraphischen Hinweis auf die kurzzeitige Herrschaft des Postumus über Raetien, die sich aus dem Augsburger Siegesaltar ergibt, der Konflikt zwischen Gallienus und Postumus die Ursache gewesen sein. Wahrscheinlich erfolgte diese nicht in allen Grenzabschnitten gleichzeitig. Der raetische Limes scheint bereits nach einer Zerstörung im Jahr 254 nicht wieder aufgebaut worden zu sein, während im nördlichen Limesbogen der Wetterau viele Fundreihen bis in das Jahr 260 reichen. Somit war Postumus für die Räumung der letzten Kastelle rechts des Rheins verantwortlich, doch gelang es ihm, die Rheingrenze zu stabilisieren. Die Gebiete mussten aus römischer Sicht nicht zwangsläufig als „verloren“ gelten und am Anspruch auf sie wurde wohl festgehalten. Archäologische Quellen aus der Zeit des Limesfalls Befunde Aus den archäologischen Quellen ist kein singuläres Ereignis als Limesfall fassbar. Es gibt keinen Zerstörungshorizont, der zeitgleich an einer nennenswerten Anzahl von Fundorten nachgewiesen wurde. Besonders auffällig ist die Abweichung in Raetien, wo die meisten Kastellplätze nördlich der Donau bereits seit dem Jahr 254 durch Brandhorizonte zu enden scheinen. Die in der älteren Forschung oft herangezogenen Befunde aus Niederbieber und Pfünz sind nicht eindeutig auf Germaneneinfälle zurückzuführen. Für beide Fundorte wurden in jüngerer Zeit innerrömische Auseinandersetzungen vermutet, zudem werden die Ergebnisse der älteren Grabungen heute vorsichtiger eingeschätzt. Neuere Grabungen haben deutlichere Hinweise auf das Schicksal der Zivilbevölkerung geliefert. Kastell Niederbieber Ein gutes Beispiel dafür, wie schwierig die Interpretation auch von scheinbar eindeutigen archäologischen Befunden sein kann, ist Niederbieber. Das Kastell Niederbieber bei Neuwied galt lange Zeit als Paradebeispiel für eine beim Limesfall gegen anstürmende Germanen kämpfend untergegangene Kastellbesatzung. Grund für diese Annahme war der Altfund (1826) eines nahezu vollständigen menschlichen Skeletts in den Principia, das aufgrund der Beifunde (Reste eines Signums, ein eiserner, mit Bronzeblech eingefasster Helm und eine Silberplatte mit einem Inschriftenfragment) als Signifer der Cohors VII Raetorum aus dem benachbarten Kastell Niederberg identifiziert wurde. Das Skelett lehnte in sitzender Position an der Wand des später eingestürzten Gebäudes. Im Kastellbereich fand man weitere menschliche Skelette und zahlreiche Tierknochen. Unklar bleibt aber, warum die Einheit zur Verteidigung des Nachbarkastells eingesetzt wurde. Der Befund, dass der südliche Torturm der Porta Principalis dextra (rechtes Seitentor) bei dem Angriff untergraben wurde, deutet nach Ansicht heutiger Archäologen zudem auf römische Truppen als Angreifer hin. Die erhaltene silberne Signumscheibe könnte Saloninus, den von Postumus ermordeten Sohn des Gallienus, zeigen, was darauf hindeuten könnte, dass die Kastellbesatzung angegriffen wurde, weil sie im Bürgerkrieg auf Seiten des Gallienus verblieben war; aber dies ist hypothetisch. Gegen Germanen als Angreifer spricht jedenfalls auch die Tatsache, dass die wertvollen Funde aus dem Stabsgebäude nicht geplündert wurden. Trifft diese Neuinterpretation zu, so gehört die Zerstörung des Kastells in den Zusammenhang eines innerrömischen Bürgerkrieges und wurde nicht durch Germanen verursacht. Niederbieber war einer der größten Truppenstandorte am Obergermanischen Limes, in dem neben zwei Numeri auch Reiter stationiert waren. Aus dem Kastell und dem zugehörigen Vicus sind fünf Münzschätze bekannt, die Schlussmünze von einem datiert in das Jahr 258, von dreien in das Jahr 259 und von einem bereits in das Jahr 236. Kastell Pfünz Ähnliche Funde wie in Niederbieber gibt es auch aus dem Kastell Pfünz im Altmühltal. Die Ausgrabung der Reichs-Limeskommission erbrachte dort ebenfalls menschliche Knochen in den principia, in einer Zisterne südlich davon, sowie drei Unterkiefer aus dem südöstlichen Eckturm unter einer Brandschicht. Ein Unterschenkelknochen eines Gefangenen soll noch in einer eisernen Kette an der Außenmauer des Stabsgebäudes gesteckt haben. Vor dem Turm wurden Reste von Schildfesseln gefunden. Dies wurde vom ursprünglichen Ausgräber als Zeichen für einen plötzlichen, unerwarteten Überfall gedeutet. Nach neueren Überlegungen wäre eine unbemerkte Annäherung an das Kastell aber unwahrscheinlich, weshalb auch hier ebenfalls an innerrömische Kämpfe gedacht werden kann. Aus unbekannten Gründen war zuvor eine Tordurchfahrt der Porta principalis sinistra (linkes Seitentor) vermauert worden. Das zugehörige Kastelldorf wurde geplündert und ging zusammen mit dem Kastell in Flammen auf. Ein Hort im Dolichenus-Heiligtum wurde dabei übersehen. Die Zerstörung des vicus wurde nach den spätesten Münzen auf das Jahr 233 datiert, was aber nicht vollends gesichert ist. Ein Wiederaufbau des Kastells lässt sich nicht nachweisen. Versenkung von Steindenkmälern in Brunnen, Gewalt gegen Bildwerke Eine große Zahl gut erhaltener Steindenkmäler im Hinterland des Limes wurde aus römischen Brunnen geborgen. Besonders Götterweihungen wurden teilweise sorgsam in den Brunnen niedergelegt, was dafür spricht, dass dies von den letzten römischen Bewohnern durchgeführt wurde und nicht von plündernden Alamannen. Man wollte wahrscheinlich die Steindenkmäler schützen. Das zeigt, dass die Bevölkerung offenbar mit einer Rückkehr rechnete. Die Frage nach den Verursachern stellt sich auch bei zahlreichen mutwillig beschädigten oder zertrümmerten Götterbildern. Ein bekanntes Beispiel ist die zerlegt in einer Grube aufgefundene Jupitergigantensäule von Hausen an der Zaber. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die heidnischen Götterbilder außer von plündernden Germanen in späterer Zeit teilweise sehr sorgfältig von frühen Christen beseitigt wurden. In einer Benefiziarierstation, die zwischen 2000 und 2007 am Kastell Obernburg freigelegt wurde, scheint es im 3. Jahrhundert nach Aufgabe der Station zu einem regelrechten Bildersturm gekommen zu sein, bei dem viele Weihealtäre der Benefiziarier gewaltsam umgestürzt wurden. Leugensteine wurden ebenfalls häufig sehr sorgfältig in ehemaligen Kellern, Gruben und Brunnen niedergelegt. Der bemerkenswerteste Fund dieser Art sind sieben römische Meilensteine in einem Keller und einer aufrecht in einem nahe gelegenen Brunnen in Heidelberg-Bergheim. Die Kaiserinschriften auf den Steinen reichen von Elagabal bis Valerian und Gallienus. Ein ähnlicher Fund von fünf Steinen stammt ebenfalls aus einem Keller im nahe gelegenen Ladenburg. Die sorgfältige Niederlegung der Steine könnte in diesen Fällen mit den Zwangsdiensten (munera) zusammenhängen, zu denen die Anwohner der Straße verpflichtet werden konnten. Einzel- und Hortfunde Die Bodenfunde beleuchten schlaglichtartig die Not der Zivilbevölkerung. Hortfunde sind meist nur durch ihre Zusammensetzung, den Ort ihrer Verwahrung und ihre Datierung in einen historischen Kontext einzuordnen. Skelettfunde Wie aus den Kastellen Niederbieber und Pfünz liegen auch aus zivilen Siedlungen Skelettfunde vor, die kriegerische Ereignisse belegen, in diesem Fall gewaltsame Plünderungen. Meistenteils handelt es sich um Brunnenfunde. Der in dieser Hinsicht bekannteste Fund stammt aus der Villa rustica von Regensburg-Harting. Zwei Brunnen enthielten Knochenfragmente von insgesamt 13 Individuen. Besonders die Schädel wiesen schwere Verletzungen auf, die Frauen hatte man zusätzlich skalpiert. Viele Opfer wurden durch wuchtige Schläge gegen den Stirn- und Augenbereich getötet, die Leichen schließlich in die Brunnenschächte geworfen. Die Anatomie legt eine Verwandtschaft der Opfer nahe, mutmaßlich handelte es sich um die Bewohner des Gutshofs. Die Knochen befinden sich heute im Museum der Stadt Regensburg und in der Anthropologischen Staatssammlung München. Auch in Nida-Heddernheim wurden die Opfer eines Überfalls in einen Brunnen geworfen, in diesem Fall handelte es sich um eine junge Frau, ein männliches Individuum und ein etwa 2,5 bis 3 Jahre altes Kind. Eine molekularbiologische Untersuchung ergab, dass die Frau Mutter des Kindes war, der Mann jedoch nicht der Vater, beide waren zwischen 25 und 30 Jahre alt. Die Opfer erhielten mehrere Schläge mit einem stumpfen Gegenstand, teils schon am Boden liegend, zunächst ins Gesicht, später an das rechte Ohr. Wegen des Knochenzustandes konnte beim Kind die Art der Verletzungen nicht ermittelt werden. Bei den Opfern im Brunnen befanden sich Skelette von drei Hunden und einer Katze, wobei nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, ob diese gemeinsam mit den menschlichen Opfern dort versenkt wurden. Die drei Personen waren vermutlich germanischer Herkunft, so dass gemutmaßt wird, dass es sich um Hauspersonal handelte, das trotz der Krise in dem Stadthaus verblieben war und Opfer eines Gewaltexzesses alamannischer (?) Plünderer wurde. Im nahe bei Heddernheim gelegenen Brunnen einer Villa rustica bei Frankfurt-Schwanheim wurde 1975 das Skelett eines etwa 20-jährigen grazilen Mannes in Rücklage entdeckt. Der Schädel wies Spuren eines Schwerthiebes auf; dem Skelett fehlten alle Fuß- und die meisten Handknochen. In dem Brunnenschacht, der aufgrund eines Münzfundes auf die Zeit nach 228/229 datiert wird, befanden sich auch ein Kultbild eines Stiers sowie ungewöhnlich viele Pferdezähne, so dass der Befund als rituelle Sonderbestattung angesprochen wird. Nicht ganz eindeutig zivilen Opfern oder Soldaten sind Skelettteile aus dem Vicus von Nidderau-Heldenbergen zuzuordnen, es liegt aber nahe, dass es sich um die Gefallenen eines Kampfes kurz nach der Aufgabe des Dorfes im Jahr 233 handelt. Ungefähr 60 Skelettteile waren über den gesamten Vicus verstreut, sie gehörten zu zehn bis zwölf männlichen Individuen im Alter zwischen 20 und 50 Jahren. Waffenfunde legen nahe, dass es sich um Soldaten handelte. Die Tatsache, dass die Leichen in dem verlassenen Vicus an einer römischen Straße zum Kastell Marköbel unbestattet liegen blieben, so dass sie von Tieren zerstreut wurden, weist möglicherweise darauf hin, dass es sich um Germanen handelte, die Opfer des römischen Gegenschlags unter Maximinus Thrax im Jahr 235 wurden. Weitere Knochenfunde, die in einem direkten Zusammenhang mit dem Limesfall gesehen werden, gab es in Augusta Raurica (Augst), in einem Tempel nahe Regensburg, in Ladenburg bei Heidelberg und in Villen bei Mundelsheim, Pforzheim und Waiblingen. Steindenkmäler Augsburger Siegesaltar Das bedeutendste Steindenkmal, das die Geschehnisse im Grenzland beleuchtet, ist zweifellos der Augsburger Siegesaltar. Der Stein wurde im August 1992 etwa 350 Meter südlich des Stadtgebietes der raetischen Provinzhauptstadt Augusta Vindelicum (Augsburg) in einer Baugrube entdeckt. In römischer Zeit befand sich dort ein Altarm des Lechs. Der altarförmige, 1,56 Meter hohe Stein weist neben zwei Seitenreliefs eine große Inschriftenfront auf und trug vermutlich ein Standbild der Göttin Victoria. Der Stein wurde im Jahr 260 n. Chr. wiederverwendet, wie der Überrest einer älteren Inschrift des Severus Alexander in abweichender Schrift belegt. Die jüngere Inschrift wurde später ebenfalls teilweise eradiert; entfernt wurden die Zeilen 11, 12 und 15 mit den Namen der Konsuln Postumus (dem Kaiser des gallischen Sonderreichs) und Honoratianus. Die Inschrift berichtet von einer zweitägigen Schlacht am 24./25. April 260 gegen Semnonen und Juthungen und der Befreiung von gefangenen Italikern. Den Umständen lässt sich entnehmen, dass es sich um germanische Plünderer handelte, die im Winter 259 die Alpen überschritten hatten und sich nun beutebeladen und mit Gefangenen auf dem Rückweg befanden. Die römischen Truppen wurden angeführt von dem Ritter Marcus Simplicinius Genialis anstelle des Statthalters, genannt wird eine wohl in Eile zusammengestellte Streitmacht aus regulären Soldaten der Provinz Raetien, „germanischen“ Verbänden (Germanicianis, möglicherweise Überreste der Auxiliartruppen am Limes) und Einheimischen. Völlig neu an der Inschrift ist die noch erkennbare Nennung des Postumus als Konsul, die belegt, dass die Provinz im Jahr 260 zum gallischen Sonderreich gehörte und Postumus anerkannte. Dies kann aber nur recht kurze Zeit der Fall gewesen sein, denn die entsprechenden Zeilen der Inschrift wurden bald darauf eradiert. Vermutlich kam Raetia 265 wieder unter die Kontrolle des Kaisers Gallienus. Dativius-Victor-Bogen 43 Blöcke des Dativius-Victor-Bogens wurden zwischen 1898 und 1911 als Spolien in der mittelalterlichen Mainzer Stadtmauer gefunden. Der 6,50 Meter hohe und 4,55 Meter breite Bogen gilt als Ehrenbogen, auch wenn er ursprünglich nicht frei stand, sondern Teil einer Portikus war, die in der Inschrift auf der Frontseite der Attika genannt wird. Daraus geht hervor, dass der Ratsherr Dativius Victor aus der Civitas Taunensium den Mainzer Bürgern den Bogen mit Portikus versprochen hatte. Die Frontseite der Archivolte ist mit einem teilweise erhaltenen Zodiakus (Tierkreis) dekoriert, der Schlussstein zeigt Jupiter und Juno. In der Fläche über der Archivolte sind Opferszenen mit zwei Jahreszeitengenii dargestellt. Das nicht weiter geteilte Bildfeld wird von einem in eine Toga gehüllten Priester dominiert, möglicherweise dem Stifter selbst bei der Ausübung seines Priesteramtes. Es erscheint ungewöhnlich, dass ein Decurio einer auswärtigen Civitas ein solches Gebäude in Mainz (Mogontiacum) stiftete. Die Weihung an Iuppiter Conservator (den „bewahrenden“ Jupiter) lässt an ein glücklich überstandenes Ereignis denken, möglicherweise eine Flucht aus den rechtsrheinischen Gebieten. Neben dem Dativius-Victor-Bogen gibt es ein weiteres Steindenkmal, das den Rückzug eines Ratsherren der civitas Taunensium nach Mainz belegen könnte. Der Nidenser duumvir Licinius Tugnatius Publius ließ im Jahr 242 auf seinem Grundstück in Mainz-Kastel eine Jupitersäule wieder aufrichten (in suo ut haberet restituit). Auch diese Inschrift ist dem Iuppiter Conservator geweiht. Es sind aber auch Inschriften von Amtsträgern der civitas bekannt, die zunächst in Heddernheim blieben und in die gleiche Zeit zu datieren sind. Schatzfunde Schatzfunde wurden lange Zeit als Hauptnachweis für die Germaneneinfälle des 3. Jahrhunderts angesehen, teilweise wurde sogar anhand ihrer Kartierung versucht, Einfallsrouten zu rekonstruieren. Die Vielzahl neuerer Funde im 20. Jahrhundert, die oft unvollständige Einlieferung der Schätze und der Umstand, dass eine jahrgenaue Datierung selten möglich ist, haben zu einer skeptischen Einschätzung der Beweiskraft geführt. Bei Hortfunden wird unterschieden zwischen reinen Münzhorten, Edelmetallhorten, Werkzeughorten und Altmetallhorten. Einige Typen müssen nicht zwangsläufig auf plündernde Germanen zurückzuführen sein. Hauptkriterien für die Zuschreibung sind die Zusammensetzung und die Auffindungssituation der Schätze. Münzschätze Das Vergraben von Münzschätzen war in der vorindustriellen Zeit alltäglich und wird in einigen Schriftquellen, sogar im Matthäusevangelium erwähnt. In Ermangelung eines Bankensystems war der Boden der natürliche Ort zum Verstecken größerer Werte. Kartierungen der Münzschätze durch die Fundnumismatik wurden lange als Möglichkeit zur Feststellung germanischer Einfallsrouten gesehen. Tatsächlich gibt es aber eine ganze Reihe von Gründen, warum Münzhorte vergraben und (eigentlich noch viel wichtiger) warum sie nicht wieder gehoben wurden. Auch ist die Datierung anhand der Schlussmünze oft problematisch. So ergibt sich für die Zeit des Limesfalls weder zeitlich noch geographisch ein einheitliches Bild. Gerade in den gallischen und germanischen Provinzen sind Münzhorte zwischen 220 und 300 besonders häufig, nach 235 sind sie in den Grenzgebieten mit der Ausnahme Niederbieber eher selten; Schwerpunkte sind in Nord- und Mittelgallien zu erkennen. Auffällig ist, dass Münzschätze im 3. Jahrhundert in den Jahren 242–244 und 253–254 häufig vergraben wurden, als unter Gordian III. bzw. Valerian und Gallienus Truppen für auswärtige Feldzüge abgezogen wurden. In diese Zeiten fallen auch häufigere Kampfspuren aus dem Limesgebiet. In einer 2001 erschienenen Arbeit konnten aus Gallien und den germanischen Provinzen 1724 Horte mit Schlussmünzen nach Mark Aurel und vor Diokletian aufgenommen werden. Folgen Grenzverteidigung der Spätantike Als Folge der innerrömischen Auseinandersetzungen mit dem gallischen Sonderreich und den in das Reichsgebiet eingedrungenen Völkern gelang es dem Römischen Reich lange Zeit nicht, die Reichsgrenzen an Rhein und Donau zu sichern. Erst Kaiser Probus ging wieder energischer gegen die Germanen vor. Er vertrieb sie aus Gallien, unternahm einen Vorstoß an den Neckar und die Schwäbische Alb und konnte nach Aussage des Zosimos die Burgunder, Vandalen und Goten am Lech schlagen. Eine fragmentarisch erhaltene Ehreninschrift vom Augsburger Fronhof bezeichnet den Kaiser als restitutor provinciarum et operum publicorum. Aufgrund dieser Inschrift wurden erste Maßnahmen zur spätrömischen Grenzsicherung wie die erste Bauphase des Kastells Vemania bei Isny mitunter dem Probus zugeschrieben. Die Münzreihen der wichtigsten Festungsbauten setzten aber erst in diokletianischer Zeit (ab 285) ein. Die Einrichtung des Donau-Iller-Rhein-Limes, der nun vorwiegend entlang größerer Flüsse die Reichsgrenze sicherte, ist somit keinem der beiden Kaiser mit Sicherheit zuzuschreiben. Inschriftenfunde aus Festungen wie Tasgetium (Stein am Rhein) deuten allerdings darauf hin, dass das neue Grenzsystem erst unter den Tetrarchen systematisch ausgebaut wurde. Die kaiserlichen Maßnahmen stabilisierten die römische Grenzverteidigung nachhaltig und hatten bis zum Beginn des 5. Jahrhunderts Bestand. Wesentlich kleinere Kastelle mit verminderter Besatzung, dazwischen zahlreiche Burgi und Schiffsländen für Flottenabteilungen, überwachten nun die Grenze und schreckten Plünderer ab. Gegenüber den mittelkaiserzeitlichen Lagern waren die spätrömischen Kastelle oft an die geographische Lage angepasst und benutzten ähnlich wie mittelalterliche Burgen steile Bergkuppen und Flussinseln, die dem Gegner die Annäherung erschwerten. Die Grenztruppen in diesen Kastellen wurden nicht mehr von Auxiliartruppen gestellt, sondern von sogenannten Limitanei. Ergänzt wurde diese Strategie durch Abschreckungs- und Rachefeldzüge des mobilen Feldheeres sowie durch Verträge (foedera) mit insbesondere alamannischen „Warlords“. Erst als innere Wirren und Bürgerkriege seit etwa 395 dazu führten, dass römische Offensivaktionen im rechtsrheinischen Gebiet unterblieben, während zugleich Truppen aus den Grenzkastellen abgezogen bzw. nicht weiter besoldet wurden, brach auch der Donau-Iller-Rhein-Limes schrittweise zusammen. Münzumlauf Der Münzumlauf brach im Limesgebiet nicht plötzlich mit den Jahren 259/60 ab. Während bereits seit dem Jahr 233 und der Regierungszeit des Severus Alexander die Zahl der verlorenen Münzen stark zurückging, fiel diese konvexe Kurve an den meisten Kastell- und Siedlungsplätzen mit dem Limesfall nicht auf Null. Vereinzelt wurden noch später geprägte Münzen verloren, wobei nicht gesagt werden kann, ob sie von zurückbleibenden Provinzbewohnern oder Germanen stammten. In dieses spätere „Grundrauschen“ verlorener Einzelmünzen tauchen die meisten Münzreihen in den 250er Jahren früher oder später ein. Auffällig ist, dass dies in den offenen Siedlungen zu Beginn der 250er Jahre geschah, an den meisten Kastellplätzen aber um 255 und in der Nähe zum Rhein gegen Ende der 250er Jahre. In den ummauerten Civitas-Hauptorten und Vici fiel die Kurve weniger steil ab und besaß auch nach 260 noch ein nennenswertes Niveau. Ein rudimentärer Umlauf römischen Geldes setzte sich auch nach 260 in den geräumten Gebieten fort. Schwerpunkte sind geographisch zu fixieren bei Bad Ems, Wiesbaden, Friedberg, Groß-Gerau, Stockstadt, Heidelberg, Pforzheim und Riegel. Auch hier kann nicht gesagt werden, ob diese Verwendung römischen Geldes auf neuangesiedelte Alamannen, die an vielen dieser Orte durch Funde greifbar sind, oder auf verbliebene Romanen zurückzuführen ist. Siedlungsstruktur Der Limesfall veränderte die Siedlungsstruktur der betroffenen Gebiete grundlegend. Nicht korrekt ist aber die ältere Annahme, die Alamannen hätten die ehemaligen römischen Siedlungen gemieden. Relativ selten sind germanische Einbauten in römische Gebäude oder überhaupt germanische Funde nachweisbar, etwa in oder nahe bei den Villen von Bondorf, Bietigheim-Weilerlen und Lauffen a. N. Bemerkenswert sind in diesem Zusammenhang auch die alamannischen Funde aus vielen Kastellorten am Mainlimes. Eine Weiterverwendung römischer Gebäude konnte außer am ruinösen Zustand auch an den technischen Möglichkeiten scheitern, etwa bei den Dachkonstruktionen und den Einrichtungen zur Wasserversorgung. Alamannische Siedlungen, wie sie im neubesetzten Gebiet der Wetterau ab den 280er Jahren nachweisbar sind, bestanden aus Holzgebäuden, konnten auch in der Nähe römischer Siedlungen liegen, waren aber auf die Nähe eines Fließgewässers angewiesen. Gegenüber den weitgehend offenen und ungeschützten Siedlungen der mittleren Kaiserzeit nutzten die spätrömischen Siedlungen wieder verstärkt die fortifikatorisch günstigen Höhenlagen. In Raetien liegen anschauliche Beispiele im Lorenzberg bei Epfach, im Moosberg bei Murnau und in Kempten (Cambodunum) vor, wo die mittelkaiserzeitliche Siedlung auf dem Lindenberg aufgegeben wurde und eine römische Befestigung auf dem Burghalde-Hügel entstand (→Cambidanum). Auf alamannischer Seite wurden einige Höhensiedlungen wie der Glauberg in der Wetterau oder der Runde Berg bei Urach zu bedeutenden Adelssitzen. Im ehemaligen Limesgebiet leitete der Limesfall damit den Übergang von antiken zu mittelalterlichen Verhältnissen ein. Literatur Gerhard Fingerlin: Von den Römern zu den Alamannen. Neue Herren im Land. In: Archäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg (Hrsg.): Imperium Romanum. Roms Provinzen an Neckar, Rhein und Donau. Theiss u. a., Stuttgart u. a. 2005, ISBN 3-8062-1945-1, S. 452–462. Stijn Heeren: The theory of 'Limesfall' and the material culture of the late 3rd century. In: Germania. Band 94, 2016, S. 185–209. Klaus-Peter Johne, Thomas Gerhardt, Udo Hartmann (Hrsg.): Deleto paene imperio Romano. Transformationsprozesse des Römischen Reiches im 3. Jahrhundert und ihre Rezeption in der Neuzeit. Steiner, Stuttgart 2006, ISBN 3-515-08941-1. Martin Kemkes, Jörg Scheuerbrandt, Nina Willburger: Am Rande des Imperiums. Der Limes – Grenze Roms zu den Barbaren (= Württembergisches Landesmuseum. Archäologische Sammlungen: Führer und Bestandskataloge. Bd. 7). Herausgegeben vom Württembergischen Landesmuseum Stuttgart. Thorbecke, Stuttgart 2002, ISBN 3-7995-3400-8, S. 237–260, bes. S. 249–253. Hans-Peter Kuhnen (Hrsg.): Gestürmt – Geräumt – Vergessen? Der Limesfall und das Ende der Römerherrschaft in Südwestdeutschland. (= Württembergisches Landesmuseum. Archäologische Sammlungen: Führer und Bestandskataloge. Bd. 2). Begleitband zur Sonderausstellung vom 28. Mai bis 1. November 1992 im Limesmuseum Aalen, Zweigmuseum des Württembergischen Landesmuseums Stuttgart. Theiss, Stuttgart 1992, ISBN 3-8062-1056-X. Hans Ulrich Nuber: Staatskrise im 3. Jahrhundert. Die Aufgabe der rechtsrheinischen Gebiete. In: Archäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg (Hrsg.): Imperium Romanum. Roms Provinzen an Neckar, Rhein und Donau. Theiss u. a., Stuttgart u. a. 2005, ISBN 3-8062-1945-1, S. 442–451. Hans Ulrich Nuber: Zeitenwende rechts des Rheins. Rom und die Alamannen. In: Karlheinz Fuchs, Martin Kempa, Rainer Redies (Red.): Die Alamannen. 4. Auflage. Theiss, Stuttgart 2001, ISBN 3-8062-1535-9, S. 59–68 (Ausstellungskatalog). Hans Ulrich Nuber: Das Ende des Obergermanisch-Raetischen Limes – eine Forschungsaufgabe. In: Archäologie und Geschichte des ersten Jahrtausends in Südwestdeutschland (Archäologie und Geschichte. Bd. 1). Thorbecke, Sigmaringen 1990, ISBN 3-7995-7352-6, S. 51–68. Marcus Reuter: Das Ende des raetischen Limes im Jahr 254 n. Chr. In: Bayerische Vorgeschichtsblätter. Bd. 72, 2007, S. 77–149 (ebenda S. 78–86: Der „Limesfall“ – ein Überblick über die Forschungsgeschichte.). Marcus Reuter: Das Ende des obergermanischen Limes. Forschungsperspektiven und offene Fragen. In: Thomas Fischer (Hrsg.): Die Krise des 3. Jahrhunderts n. Chr. und das Gallische Sonderreich. Akten des Interdisziplinären Kolloquiums Xanten 26. bis 28. Februar 2009. Reichert, Wiesbaden 2012, ISBN 978-3-89500-889-4 (Schriften des Lehr- und Forschungszentrums für die antiken Kulturen des Mittelmeerraumes – Centre for Mediterranean Cultures [ZAKMIRA] 8), S. 307–323. Egon Schallmayer (Hrsg.): Der Augsburger Siegesaltar. Zeugnis einer unruhigen Zeit (Saalburg-Schriften. Bd. 2). Bad Saalburgmuseum, Homburg v. d. H. 1995, ISBN 3-931267-01-6. Egon Schallmayer (Hrsg.): Niederbieber, Postumus und der Limesfall. Stationen eines politischen Prozesses (Saalburg-Schriften. Bd. 3). Bericht des ersten Saalburgkolloquiums. Saalburgmuseum, Bad Homburg v. d. H. 1996, ISBN 3-931267-02-4. Bernd Steidl: Der Verlust der obergermanisch-raetischen Limesgebiete. In: Ludwig Wamser, Christof Flügel und Bernward Ziegaus (Hrsg.): Die Römer zwischen Alpen und Nordmeer. Zivilisatorisches Erbe einer europäischen Militärmacht. Katalog-Handbuch zur Landesausstellung des Freistaates Bayern, Rosenheim 2000. von Zabern, Mainz 2000, ISBN 3-8053-2615-7, S. 75–80. Christian Witschel: Krise – Rezession – Stagnation? Der Westen des römischen Reiches im 3. Jahrhundert n. Chr. (= Frankfurter althistorische Beiträge. Bd. 4). Clauss, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-934040-01-2, bes. S. 210–233 (Zugleich: Frankfurt am Main, Universität, Dissertation, 1998). Einzelnachweise Römische Befestigungsanlage (Germania superior) 3. Jahrhundert Römische Befestigungsanlage (Raetia) Römische Kaiserzeit
6731523
https://de.wikipedia.org/wiki/Berliner%20Elektrische%20Stra%C3%9Fenbahnen
Berliner Elektrische Straßenbahnen
Die Berliner Elektrische Straßenbahnen Aktien-Gesellschaft (kurz: BESTAG) war ein zwischen 1899 und 1920 bestehender Betreiber von elektrischen Straßenbahnen, der aus den von Siemens & Halske betriebenen Elektrischen Straßenbahnen in Berlin hervorging. Im Volksmund wurde sie daher als Siemensbahn bezeichnet. Die 1895 von Siemens & Halske eröffnete Straßenbahnstrecke zwischen Gesundbrunnen und Pankow war die erste elektrische Straßenbahn auf dem damaligen Gebiet Berlins. 1896 wurde eine zweite Strecke von der Friedrichstadt zum Gelände der Berliner Gewerbeausstellung im Treptower Park eröffnet. Bis 1916 kamen weitere Strecken nach Französisch-Buchholz und Rosenthal sowie die Verbindung von Pankower und Treptower Teilnetz durch den Lindentunnel hinzu. 1919 wandelte die Stadt Berlin, in deren mehrheitlichem Besitz sich die Aktien der Gesellschaft befanden, das Unternehmen in einen Kommunalbetrieb um; im Dezember 1920 folgte die Fusion mit der Großen Berliner Straßenbahn (GBS) und den Städtischen Straßenbahnen (SSB) zur Berliner Straßenbahn (BSt). Die von Pankow ausgehenden Strecken nach Buchholz und Rosenthal sind nach wie vor Bestandteil des Berliner Straßenbahnnetzes, die übrigen von der BESTAG erbauten und betriebenen Strecken hingegen stillgelegt. Geschichte Anfänge Anfang der 1890er Jahre bekundete die Landgemeinde Pankow, die seit 1874 über eine Pferdebahn der Großen Berliner Pferde-Eisenbahn (ab 1898: Große Berliner Straßenbahn [GBS]) mit Berlin verbunden war, ihr Interesse an einer Pferdebahnverbindung nach Gesundbrunnen. Ein Angebot des Unternehmens Siemens & Halske sah eine elektrische Bahn vor. Es kam daraufhin im April 1893 zum Vertragsabschluss zwischen beiden Seiten. Die Stadt Berlin stimmte dem Bau nach erstem Zögern im Mai 1894 zu. Während zu dieser Zeit bereits der Bau auf Pankower Seite begann, bestanden auf Berliner Seite immer noch Widerstände gegen die Errichtung der Oberleitungen; die erforderliche Zustimmung des Polizeipräsidenten wurde hierfür erst am 19. März 1895 erteilt und galt für 50 Jahre. Die Eröffnung dieser ersten elektrischen Berliner Straßenbahnlinie von der Kreuzung Prinzenallee Ecke Badstraße nach Pankow war am 10. September 1895. Die 3,35 Kilometer lange Strecke, von der 900 Meter in Berlin lagen, war weitgehend zweigleisig und führte von Gesundbrunnen aus über die Prinzenallee, Wollankstraße, Breite Straße und Damerowstraße zur Ecke Mendelstraße. Die Rückfahrt erfolgte wegen der engen Straßen von der Breiten Straße aus über die Spandauer Straße (heute Wilhelm-Kuhr-Straße) und Kreuzstraße zur Wollankstraße. Die Wagenfolge lag bei zehn Minuten. Zum Einsatz kamen an Werktagen Zahlkästen, sonntags wurde das Fahrgeld von Schaffnern erhoben. Den Fahrstrom bezogen die Fahrzeuge über einen Bügelstromabnehmer aus der Oberleitung – eine Technik, die der Siemens-Ingenieur Walter Reichel 1887 entwickelt hatte. Die GBS verwendete bei der Elektrifizierung ihres Streckennetzes hingegen Rollenstromabnehmer. Die zweite Strecke entstand unabhängig zur Pankower Linie anlässlich der Gewerbeausstellung im Treptower Park, die Konzession wurde hierfür am 23. April 1896 erteilt. Bereits eine Woche zuvor ging der erste Abschnitt vom Görlitzer Bahnhof über Wiener Straße, Wiener Brücke, Lohmühlenstraße, Am Schlesischen Busch, Köpenicker Landstraße (heute Am Treptower Park) und Bulgarische Straße bis zur Ecke Neue Krugallee in Treptow in Betrieb. Die ursprünglich anvisierte Streckenführung über die Ritterstraße und Reichenberger Straße konnte nicht verwirklicht werden, da die GBS dort ebenfalls die Anlage einer elektrischen Bahn verwirklichte. Einen Monat später folgte die Verlängerung über Grünauer Straße (heute Ohlauer Straße), Kottbusser Ufer (heute Paul-Lincke-Ufer), Britzer Straße (heute Kohlfurter Straße), Wassertorplatz, Wassertorstraße, Alexandrinenstraße zur Hollmannstraße (heute nicht mehr vorhanden). Der darauf folgende Abschnitt bis zur geplanten Endstelle in der Behrenstraße musste aus ästhetischen Gründen mit einer Unterleitung versehen werden. Er wurde in zwei Etappen eröffnet. Zunächst ging es ab dem 13. Juli 1896 von der Hollmannstraße über die Lindenstraße, Markgrafenstraße, Schützenstraße zur Mauerstraße Ecke Leipziger Straße. Die weitere Strecke entlang der Mauerstraße und Behrenstraße vor bis zur Ecke Wilhelmstraße folgte mit Einführung des Winterfahrplans am 3. Oktober 1896. Die Wagen fuhren zunächst im Abstand von sechs Minuten, sonntags alle drei Minuten. Im Oktober 1896 wurde der Abstand von der Behrenstraße zum Görlitzer Bahnhof auf fünf Minuten geändert, zwischen Görlitzer Bahnhof und Treptow auf 15 Minuten. Zur Erhöhung der Wirtschaftlichkeit der Pankower Linie bemühte sich Siemens & Halske um eine Verlängerung in die Berliner Innenstadt. Die Konzession für die Verlängerung der Strecke bis zur Kreuzung Mittelstraße Ecke Friedrichstraße wurde am 12. April 1898 erteilt. Da die größeren Ausfallstraßen bereits von den Linien der Großen Berliner Straßenbahn bedient wurden, schlängelte sich die neue Strecke durch mehrere Nebenstraßen bis zum Endpunkt in der Dorotheenstadt. Von der Prinzenallee ging es über die Bellermannstraße, Grüntaler Straße, Badstraße, Hochstraße, Wiesenstraße, Hussitenstraße, Feldstraße, Gartenstraße, Elsässer Straße (heute Torstraße), Artilleriestraße (heute Tucholskystraße), Ebertbrücke, Prinz-Friedrich-Karl-Straße (heute Geschwister-Scholl-Straße), Georgenstraße, Prinz-Louis-Ferdinand-Straße (heute Planckstraße) und Charlottenstraße zur Mittelstraße. Die Inbetriebnahme erfolgte in drei Etappen. Am 20. Mai 1899 ging es bis zur Gartenstraße Ecke Elsässer Straße, am 21. Oktober 1899 bis zur Georgenstraße Ecke Prinz-Louis-Ferdinand-Straße und am 16. Dezember 1899 schließlich bis zur Mittelstraße Ecke Friedrichstraße. Der kurze Abschnitt zur Prinzenallee wurde bis zum 22. März 1902 von einer zweiten Linie und danach durch einen Pendelwagen bedient. Gründung der BESTAG und Netzausbau Die Berliner Elektrische Straßenbahnen AG wurde am 1. Juli 1899 gegründet, die beiden Linien gingen am 31. Juli 1899 in ihren Besitz über. Die Konzessionsübertragung erfolgte zum 20. Juni 1900. Die Übernahme der bereits betriebenen Strecken wurde rückwirkend zum 1. Juli 1899 festgelegt; die noch zu eröffnenden Strecken sollten zum Zeitpunkt der Betriebseröffnung in das Eigentum der BESTAG übergehen. Siemens & Halske selbst blieb noch bis 1911 Betriebsführer der beiden Linien. Im April 1900 wurde die Wagenfolge zwischen Behrenstraße und Wiener Brücke sowie zwischen Mittelstraße und Pankow, Kirche auf fünf Minuten verdichtet. Die darüber hinaus nach Treptow, Rathaus beziehungsweise Damerowstraße fahrenden Wagen verkehrten im Abstand von zehn Minuten. Zwischen 1902 und 1905 wurde die Wagenfolge zwischen Görlitzer Bahnhof und Treptow zeitweise auf 20 Minuten ausgedehnt. 1901 erwarb die Stadt Berlin den größten Teil des Aktienkapitals von sechs Millionen Mark und war ab 1903 schließlich alleiniger Eigentümer der Gesellschaft. Die BESTAG war damit de facto zu einem kommunalen Straßenbahnbetrieb geworden. Mit dem Ankauf wollte die Stadt einer Übernahme durch die GBS zuvorkommen, die dadurch ihre Vorrangstellung hätte weiter ausbauen können. Im gleichen Jahr stellte sie den Streckenabschnitt zwischen Behrenstraße und Hollmannstraße auf Oberleitungsbetrieb um. Ab 1905 ging der Ausbau in beiden Teilnetzen weiter. Den Anfang bildet die Inbetriebnahme einer Strecke von Pankow aus über die Schönholzer Straße und Lindenstraße (heute Grabbeallee) zum Bismarckplatz (heute Pastor-Niemöller-Platz) in Niederschönhausen am 8. Mai 1905. Die bisher an der Pankower Kirche endenden Wagen fuhren nun über die Neubaustrecke. Zwei Tage später ging eine Anschlussstrecke vom Bismarckplatz zur Kreuzung Kaiserweg (heute Friedrich-Engels-Straße) Ecke Platanenweg in Betrieb, die von jedem zweiten Wagen der Linie, also im 20-Minuten-Takt angefahren wurde. Die Endstelle in der Behrenstraße wurde am 15. März 1906 aufgegeben und in die Mauerstraße zurückversetzt. Die Wagen wendeten nun über eine Blockumfahrung, die von der Mauerstraße durch die Kanonierstraße (heute Glinkastraße) und Behrenstraße zurück zur Mauerstraße führte. Am 22. Juli 1907 schloss die Gesellschaft einen Vertrag mit der Gemeinde Französisch-Buchholz zur Übernahme der gemeindeeigenen Pferdebahn ab. Der Vertrag beinhaltet neben der Übernahme der Strecke und der Betriebsrechte die Zusage zur Elektrifizierung der 3,3 Kilometer langen Bahn sowie zum Bau einer Verbindungsstrecke entlang der Damerowstraße zum Streckenanfang am Bahnhof Pankow-Heinersdorf. Die Fertigstellung erfolgte am 19. Dezember 1907. Die neu eingerichtete Linie verkehrte im Abstand von 35 Minuten zwischen Badstraße Ecke Prinzenallee nach Französisch-Buchholz, Kirche bei einer Fahrzeit von 29 Minuten. Der Pendelwagen in der Prinzenallee wurde dafür eingestellt. Am 15. Februar 1911 wurde sie wie die anderen Pankower Linien zur Mittelstraße verlängert und der Wagenabstand auf 20 Minuten verdichtet. Der Abschnitt in der Bellermannstraße wurde gleichzeitig stillgelegt. Die Treptower Strecke wurde ab dem 1. September 1911 zwischen Wiener Brücke und Köpenicker Landstraße verlegt. Die Neubaustrecke führte entlang der Graetzstraße (heute Karl-Kunger-Straße) und Bouchéstraße, der Abschnitt in der Lohmühlenstraße sowie Am Schlesischen Busch wurde dafür aufgegeben. Für die bisher am Görlitzer Bahnhof endenden Wagen richtete die BESTAG in der Graetzstraße eine Kehranlage ein. Der Niederschönhauser Zweig wurde am 23. Juni 1914 abermals verlängert. Die eingleisige Strecke führte ab der Endhaltestelle Platanenweg über die Wittenauer Straße (heute Friedrich-Engels-Straße) und dem Lübarser Weg (heute Quickborner Straße) zum Bahnhof Rosenthal an der Heidekrautbahn. Die bisher am Platanenweg endenden Wagen fuhren im Abstand von 20 Minuten nach Rosenthal, die Linie zum Bismarckplatz behielt ihre Linienführung bei und verkehrte lediglich zur Hauptverkehrszeit bis zum Platanenweg. 1915 entstand an der Endhaltestelle ein Gleisanschluss zum Gutshof Rosenthal, der bis 1917 existierte und dem Transport von Kartoffeln nach Berlin diente. Bereits im ersten, nur fünfeinhalb Monate umfassenden Betriebsjahr betrug der Gewinn 97.001 Mark (entspricht heute etwa  EUR.). Sogar im Kriegsjahr 1918 konnte ein Überschuss in Höhe von 474.384 Mark erzielt werden (heute ca.  EUR). Verbindung der Teilnetze und Auflösung Obwohl die innerstädtischen Endhaltestellen beider Teilnetze nur wenige hundert Meter voneinander entfernt lagen, war eine Verbindung nicht ohne weiteres möglich. Der Boulevard Unter den Linden, der dem Deutschen Kaiser und preußischen König unterstand, musste an einer geeigneten Stelle gequert werden. 1894 ging bereits eine Querung an der Oberfläche beim Städtischen Opernhaus in Betrieb, bei der kurz darauf anstehenden Elektrifizierung untersagte der Kaiser die Errichtung einer Oberleitung. Da sich die Querung mit Akkumulator- und später mit Unterleitungsfahrzeugen als unzureichend herausstellte, durfte die GBS den Abschnitt 1907 mit einer Einfachfahrleitung versehen. Weitere Querungen der Straße Unter den Linden sowohl an der Oberfläche als auch durch Tunnel-Projekte wiesen sowohl der Kaiser als auch der Berliner Polizeipräsident zurück. Stattdessen war nun die Unterquerung des Boulevards in Höhe der bestehenden Gleisanlagen vorgesehen. Die Stadt Berlin, die gleichermaßen eine Verbindung ihrer Straßenbahnlinien wünschte, übernahm daraufhin die Planungen für den neuen viergleisigen Tunnel. Dieser sollte gleichermaßen von den Linien der SSB und BESTAG sowie der GBS und ihren Nebenbahnen genutzt werden. Der Bau des Lindentunnels dauerte von Mitte 1914 bis Dezember 1916 und wurde kurzzeitig durch die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges unterbrochen. Am 17. Dezember 1916 erfolgte die Eröffnung des westlichen Tunnelteils, der die Verbindung beider Teilnetze der BESTAG bedeutete. Die aus Buchholz bzw. von der Damerowstraße kommenden Linien wurden ab Prinz-Friedrich-Karl-Straße über die Universitätsstraße und Dorotheenstraße durch den westlichen Tunnelteil zur Behrenstraße geführt, wo es weiter über die Markgrafenstraße in Richtung Graetzstraße ging. Die Linie Behrenstraße–Graetzstraße wurde daraufhin eingestellt. Weitere Planungen sahen Neubaustrecken von Treptow und Neukölln nach Johannisthal vor. In der Plesser Straße sowie auf der Neuköllnischen Brücke hatte die BESTAG bereits die Gleise verlegen lassen, eine Umsetzung kam infolge des Ersten Weltkrieges nicht zustande. Am 20. September 1919 erfolgte die Löschung der Aktiengesellschaft im Handelsregister und die Umwandlung in einen kommunalen Betrieb. Die Große Berliner Straßenbahn erfuhr an diesem Tag den gleichen Vorgang. Damit war die Voraussetzung für eine Verschmelzung von BESTAG, GBS und SSB zur Berliner Straßenbahn (BSt) geschaffen. Dieser Schritt wurde am 13. Dezember 1920 vollzogen. Weitere Entwicklung nach 1920 Im Frühjahr 1921 erhielten die Linien der vormaligen BESTAG Nummern, wobei die in Buchholz und an der Damerowstraße endenden Linien zu einer zusammengefasst wurden: Linie 16: Behrenstraße – Treptow, Rathaus Linie 116: Buchholz, Kirche – Pankow, Damerowstraße – Treptow, Graetzstraße Linie 30: Mittelstraße – Niederschönhausen, Bismarckplatz Linie 130: Mittelstraße – Rosenthal Im gleichen sowie im darauf folgenden Jahr wurden die Strecken und Fahrzeuge für den Betrieb mit Rollenstromabnehmern umgerüstet. Die steigende Inflation erschwerte jedoch zunehmend den Betrieb der BSt, so dass diese im Laufe des Jahres 1923 mehrere Linien verkürzte oder einstellte. Spätestens mit dem 9. September 1923, dem „straßenbahnlosen Tag“, entfiel ein Großteil der ehemaligen BESTAG-Strecken für den regulären Verkehr. Betroffen waren hiervon vor allem die aus Konzessionsgründen in Nebenstraßen angelegten Strecken. Im Einzelnen betraf dies den Abschnitt von der Bellermannstraße bis zur Prinz-Louis-Ferdinand-Straße mit Ausnahme der Hussitenstraße, den westlichen Tunnelteil des Lindentunnels einschließlich der Anschlussstrecke in der Behrenstraße und Markgrafenstraße, die Schleife Mauerstraße, den Abschnitt von der Hollmannstraße zur Kottbusser Brücke, einen kurzen Abschnitt in der Grünauer Straße sowie den übrigen Abschnitt von der Wiener Brücke bis Treptow. Ein Abschnitt in der Wassertorstraße, die Schleife Mauerstraße und die Verbindung von der Gartenstraße bis zur Prinz-Louis-Ferdinand-Straße gingen bald darauf wieder in Betrieb, die übrigen Streckenteile blieben ohne Verkehr und wurden spätestens zu Beginn der 1930er Jahre abgebaut. In Treptow wurde die Strecke in der Bouchéstraße aufgegeben und ein Rest als Kehranlage genutzt, die Bahnen nahmen stattdessen den Weg über die bereits gelegten Gleise in der Plesser Straße sowie eine von der ehemaligen Südlichen Berliner Vorortbahn gebaute Strecke in der Elsenstraße zur Köpenicker Landstraße. Die übrigen von der BESTAG errichteten Innenstadtstrecken gab die BVG nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf; der Verkehr über den Landwehrkanal war infolge der Zerstörung der Wiener Brücke ebenso nicht mehr möglich. Der Kanal bildete hier nun ferner die Grenze zwischen dem Amerikanischen und Sowjetischen Sektor. Am S-Bahnhof Wollankstraße grenzten der Sowjetische und der Französische Sektor aneinander. Der grenzüberschreitende Verkehr wurde an dieser Stelle am 15. Januar 1953 eingestellt und der Straßenbahnverkehr in der östlichen Wollankstraße aufgegeben, ein kurzes Stück diente seitdem noch für längere Zeit als Wendedreieck. Die Anbindung von Rosenthal und Buchholz an das Stadtzentrum erfolgt seitdem über die Berliner Straße und Schönhauser Allee. Die Straßenbahnstrecke in der westlichen Wollankstraße und der Prinzenallee wurde am 2. Mai 1960 stillgelegt, die Anbindung der Wiener Brücke über die Wiener Straße folgte am 1. März 1961, der kurze Abschnitt in der Grünauer Straße am 29. September 1963. Auf der östlichen Seite verkehrten bis zum 13. Dezember 1959 noch Straßenbahnwagen in der Bulgarischen Straße. Die verbliebenen Streckenabschnitte in Treptow gaben die Berliner Verkehrs-Betriebe schließlich am 14. Juli 1973 auf. Betrieb Signaltafeln In den Anfangsjahren bis etwa 1904/05 verwendeten die Linien farbige Signaltafeln zur Kennzeichnung. Die Linie Behrenstraße–Treptow hatte grüne Signaltafeln, die Linien Behrenstraße–Görlitzer Bahnhof und Mittelstraße–Pankow hatten weiße Tafeln. Danach wurden lediglich die einzelnen Endhaltestellen mit jeweils unterschiedlichen Zielschildern gekennzeichnet, nicht jedoch die Linien. Es gab ein- und zweifarbige Schilder, wobei letztere in der Regel diagonal von links unten nach rechts oben unterteilt waren. Liniennummern wurden teilweise in den Fahrplanheften angegeben, jedoch war ihre Verwendung häufigen Änderungen unterworfen. Die Berliner Straßenbahn führte im Frühjahr 1921 Liniennummern auf den vormaligen Linien der BESTAG ein. Tarife Die BESTAG erhob für die beiden Betriebsteile zunächst unterschiedliche Tarife, die bei der Verbindung 1916 zusammengeführt wurden. Auf den Pankower Linien galt ab Eröffnung der 10-Pfennig-Einheitstarif. Dieser wurde auch nach der Übernahme der Buchholzer Straßenbahn beibehalten. Mit der Verlängerung der Buchholzer Linie zur Mittelstraße wurde für die gesamte Strecke dieser Linie ein Fahrtpreis von 15 Pfennig erhoben, die Teilstrecken von der Mittelstraße zur Damerowstraße sowie von der Badstraße nach Buchholz kosteten 10 Pfennig. Das gleiche Schema kam bei der Verlängerung nach Rosenthal zur Anwendung: Die Gesamtstrecke kostete 15 Pfennig, die Teilstrecken Mittelstraße-Platanenstraße und Badstraße-Rosenthal 10 Pfennig. Auf den Treptower Linien galt, bedingt durch die Länge, ein gestaffelter Tarif, der zur Eröffnung zunächst einen Fahrtpreis von 30 Pfennig für die gesamte Strecke vorsah. Der Winterfahrplan desselben Jahres, der mit der Verlängerung zur Behrenstraße herauskam, sah dann einen Gesamtpreis von 25 Pfennig vor mit Teilstrecken zu 20, 15 und 10 Pfennig. Dieser Tarif wurde im Mai 1898 ebenfalls durch einen 10-Pfennig-Einheitstarif abgelöst. Über das Tarifsystem ab Dezember 1916 bis 1919 liegen keine Angaben vor. Nach Einführung der Beförderungssteuer schloss der Zweckverband Groß-Berlin Mitte 1919 mit den meisten Straßenbahnbetrieben neue Tarifverträge ab, die in der Regel einen Einheitstarif von 12,5 Pfennig vorsahen, so auch mit der BESTAG. Der Einzelfahrschein kostete nunmehr 15 Pfennig, Doppelfahrscheinen hingegen 25 Pfennig, Sammelkarten zu acht Fahrten kosteten 1,00 Mark. Inflationsbedingt wurde der Einheitstarif noch im selben Jahr auf 20 Pfennig erhöht (Doppelfahrscheine zu 35 Pfennig, Sammelkarten zu 1,40 Mark). Nach 1920 galt dieser bereits vereinheitlichte Tarif auf den meisten Linien der Berliner Straßenbahn. Strecken Die Strecken der BESTAG waren mit Ausnahme der Abschnitte Bismarckplatz–Rosenthal und Bahnhof Pankow-Heinersdorf–Buchholz sowie dem beschriebenen Abschnitt in der Wollankstraße durchgehend zweigleisig ausgebaut. Im Jahr 1916 betrug die Länge der eingleisigen Strecken 7,22 Kilometer, die der zweigleisigen Strecken 19,60 Kilometer, zusammen also 26,82 Kilometer. Die Gleislänge wird für diesen Zeitpunkt mit 48,98 Kilometern angegeben. Die Stromabnahme von der Oberleitung erfolgte mittels Bügelstromabnehmer, wie sie auch die Städtischen Straßenbahnen verwendeten. Im Gegensatz dazu verwendeten die GBS und ihre Tochtergesellschaften Rollenstromabnehmer. Die Betriebsspannung lag bei 500 bis 550 Volt. An mehreren Stellen des Netzes kam es zu Berührungspunkten zwischen den Strecken der BESTAG und der GBS sowie der SSB, vereinzelt auch zur Mitnutzung der Strecken des jeweils anderen Betreibers. Während die betroffenen Stellen mit der SSB betrieblich keine Probleme mit sich brachten, sah dies beim Aufeinandertreffen von BESTAG und GBS anders aus. Auf kürzeren Abschnitten wurden die Gleise gemeinsam genutzt, in der Lindenstraße und der Markgrafenstraße bestanden hingegen bis etwa 1905 viergleisige Anlagen zur getrennten Betriebsführung. Die Oberleitung auf diesen Abschnitten war überwiegend so eingerichtet, dass ein Mischbetrieb zwischen beiden Stromabnehmertypen erfolgen konnte. Vereinzelt, wie etwa in der Charlottenstraße, wurden aber auch zwei Fahrleitungen gespannt, eine etwas höher gespannte für Rollenstromabnehmer sowie eine tiefer verlaufende für Bügelstromabnehmer. Die Stromversorgung oblag an den Kreuzungen jeweils einem der beiden Betreiber, wobei die Fahrleitungen vor und hinter der jeweiligen Kreuzungen mit Streckentrennern unterbrochen wurden. Die Wagen der Gesellschaft, die nicht den Strom der betroffenen Kreuzung lieferte, befuhren diese mit ausgeschaltetem Fahrschalter. Die nachfolgenden Tabellen geben eine Übersicht über die von der BESTAG befahrenen Strecken anderer Gesellschaften (links) sowie die Strecken der BESTAG, auf denen zeitweise Linien fremder Betreiber verkehrten. Vor allem die GBS musste ab 1914 mehrere Linien umleiten, um den Bau der Nordsüd-Bahn (heutige U6) nicht zu behindern. Fahrzeuge Entwicklung des Wagenparks Bis zur Vereinigung im Dezember 1916 kamen auf beiden Betriebsteilen unterschiedliche Fahrzeugtypen zum Einsatz, die auch nicht untereinander getauscht wurden. Die Wagennummern 1 bis 9 wurden zudem vorübergehend bei beiden Teilnetzen vergeben. Die acht Triebwagen, mit denen 1895 der elektrische Straßenbahnverkehr aufgenommen wurde, hatten eine Leistung von 15 Kilowatt. Der Wagenkasten ruhte auf einem relativ kleinen Fahrgestell und hatte je Seite vier annähernd quadratische Fenster. Abgeschlossen wurde der Kasten von einem Laternendach. Wagen 1 oder Wagen 8 wurde 1897/98 ausgemustert, die übrigen erhielten zwischen 1911 und 1916 die neuen Wagennummern zwischen 141 und 148. Bis 1920 wurden alle Fahrzeuge mit Ausnahme der Wagen 142 und 143 ausgemustert, letztere waren ab 1921 als Arbeitswagen A22 und A23 bis 1923 im Einsatz. Der Pankower Triebwagen 9 war ein Einzelgänger. Der Wagen ähnelte im Aufbau den Triebwagen der Treptower Serie 1–30, war aber für den gemischten Einsatz mit Akkumulatoren und Oberleitung vorgesehen. Bedingt durch die Masse der Akkumulatoren war er mit zwei sehr kurzen, zweiachsigen Drehgestellen ausgerüstet. Das Fahrzeug war zu Versuchszwecken auf dem Pankower Zweig im Einsatz und wurde 1899 nach Budapest abgegeben. Anderen Angaben zufolge umfasste der Pankower Zweig ab Beginn neun baugleiche Triebwagen. Hiernach sollte der Pankower Triebwagen 9 bis 1916 die Nummer 149 erhalten haben und von 1920 bis 1923 als Arbeitswagen A35 eingesetzt worden sein. Es gibt Berichte, wonach dieser Arbeitswagen vierachsig war, so dass die Annahme besteht, dass das Fahrzeug nach einiger Zeit aus Budapest zurückkehrte oder nie dort verkehrte. 1899 vergrößerte sich der Pankower Wagenpark um 32 Triebwagen sowie jeweils 20 baugleiche Beiwagen und Sommerbeiwagen mit Mittelgang. Die Fahrzeuge verfügten wiederum über offene Plattformen. Die Triebwagen wurden 1924 zu Beiwagen umgebaut und waren zusammen mit den baugleichen Beiwagen noch bis 1929 im Einsatz. Die Sommerwagen wurden bereits 1925 ausgemustert. Der Treptower Betriebsteil verfügte anfangs über einen größeren und vielfältigeren Wagenpark. Um den Besucherandrang zur Gewerbeausstellung zu bewältigen wurden von Beginn an Beiwagen eingesetzt. Neben 30 geschlossenen Triebwagen waren zehn baugleiche Beiwagen, sieben Sommertriebwagen, 19 Sommerbeiwagen und 16 gebrauchte Pferdebahnwagen anzutreffen. Die Plattformen dieser Fahrzeuge waren offen. Die Triebwagen waren anfangs für den gemischten Betrieb mit Ober- und Unterleitung ausgelegt. Zwei Sommertriebwagen wurden 1899 in die Vereinigten Staaten verkauft. Die übrigen Sommertriebwagen erhielten zwischen 1901 und 1903 geschlossene Seitenwände. Die Sommerbeiwagen wurden zeitgleich mit einem Mittelgang ausgestattet. Die Pferdebahnwagen waren bis 1908 im Einsatz und wurden anschließend ausgemustert. Die umgebauten Triebwagen waren ab 1916 als Arbeitswagen unterwegs, ihr weiterer Verbleib ist unklar. Die übrigen Wagen wurden von der Berliner Straßenbahn übernommen und zwischen 1925 und 1927 ausgemustert. 1907 übernahm die BESTAG drei bei der Pferdebahn der Gemeinde Französisch-Buchholz eingesetzte Pferdebahnwagen als elektrische Beiwagen. Die Fahrzeuge kamen gebraucht aus Hamburg und wurden 1911 ausgemustert. Der Betrieb beschaffte 1911 für den Pankower Betriebsteil bei den Fahrzeugwerkstätten Falkenried acht Maximum-Triebwagen und für den Treptower Betriebsteil zehn passende Beiwagen. Die Straßenbahnen der Stadt Berlin setzten baugleiche Fahrzeuge seit 1908 ein. Die auffälligsten Unterschiede bestanden im Aufbau der Drehgestelle der Triebwagen. Die Maximum-Triebwagen erhielten 1924 die Berliner Einheitsplattformen und wurden ab 1934 als TDS 08/24 geführt. Die letzten Fahrzeuge der Serie wurden 1969 ausgemustert und teilweise in das Reko-Programm mit einbezogen. Die Beiwagen wurden 1924 zu Triebwagen umgebaut und erhielten 1934 die Typenbezeichnung T 08/24. Die nach 1949 in West-Berlin verbliebenen Fahrzeuge wurden 1951 aus dem Linienverkehr abgezogen, drei Triebwagen dienten bis 1962 als Arbeitswagen. Die BVG-Ost gab ihre beiden Triebwagen 1959 nach Cottbus und Dessau ab. Mit der Eröffnung des Lindentunnels und der Verbindung beider Betriebsteile beschaffte die BESTAG im Jahr 1916 zehn siebenfenstrige Triebwagen. Die Wagen verfügten über vollständig geschlossene Plattformen. Eine Lieferung von weiteren zehn Triebwagen kam infolge des Krieges erst 1921 unter der Regie der Berliner Straßenbahn zustande. Sie erhielten 1934 die Typenbezeichnung TF 21 S. Die BVG-West baute ihre neun Triebwagen in den Jahren 1955/56 zu Arbeitswagen um, die letzten wurden 1967 ausgemustert. Die BVG-Ost gab von ihren elf Triebwagen sieben Fahrzeuge nach Plauen, Strausberg, Karl-Marx-Stadt und Magdeburg ab, die übrigen vier wurden bis 1959 ausgemustert. Triebwagen 4304 war gleichzeitig das erste normalspurige Fahrzeug in Karl-Marx-Stadt, er fuhr dort als Arbeitstriebwagen mit der Nummer 1076. Ein Triebwagen befindet sich Deutschen Technikmuseum Berlin. Ein weiteres Fahrzeug steht in der Wagenhalle Schmöckwitz, es wurde bei einem Brand 2008 stark beschädigt. Tabellarische Übersicht Die nachfolgende Tabelle gibt eine Übersicht über die bei der BESTAG eingesetzten Trieb- und Beiwagen. Die Fahrzeuge sind nach ihrer ersten Wagennummer und nicht nach Baujahr sortiert. Zusätzlich werden der Hersteller und Informationen zum Werdegang nach 1920 angegeben. In der Spalte Betriebsteil wird nach den Betriebsteilen Pankow und Treptow unterschieden. Bei den 1916 ausgelieferten Triebwagen wird auf diesen Eintrag verzichtet, da sie von Beginn an durchgehend verkehrten. Betriebshöfe Die Straßenbahnen wurden auf insgesamt fünf Betriebshöfen unterhalten, drei befanden sich im Pankower, zwei im Treptower Betriebsteil. Mit Ausnahme des Betriebshofes in der Brehmestraße bestanden alle Anlagen bei der Übernahme durch die BSt 1920. Betriebshof Brehmestraße Der älteste Betriebshof der Siemensbahn befand sich an der Brehmestraße und war über eine Stichstrecke von der Wollankstraße aus zu erreichen. Er verfügte über eine viergleisige Wagenhalle, wobei die Gleise 2 und 4 direkt angeschlossen waren, die anderen beiden Gleise jedoch nur über eine Schiebebühne. Der Wagenboden der Halle lag anderthalb Meter unter den Gleisen, die auf eisernen Stützen ruhten. Hinter der Halle lagen einerseits eine Werkstatt und andererseits eine zweigleisige Freiluft-Abstellanlage. Seitlich angeschlossen an die Halle waren die Betriebsräume. Auf dem Gelände befand sich ferner ein Kraftwerk zur Stromversorgung der Bahn. Dampf- und Dynamomaschinen waren als Reserve in zweifacher Ausführung vorhanden. Die Verbunddampfmaschinen gaben die erbrachte Leistung direkt an die Dynamomaschinen weiter, welche dann den benötigten Fahrstrom erzeugten. Die Speisung der Kessel erfolgte über eine auf dem Hof befindliche Brunnenanlage. Der Betriebshof wurde von 1895 bis 1901 genutzt und 1903 verkauft. Betriebshof Damerowstraße Der Betriebshof Damerowstraße wurde 1901 errichtet, da nach der Beschaffung weiterer Fahrzeuge kein Platz mehr an der Brehmestraße bestand. Der Hof hatte Platz für insgesamt 93 Wagen. Er wurde 1920 von der Berliner Straßenbahn als Hof XVIII übernommen und kurz darauf geschlossen. 1936 wurde an der Straßenfront ein Wohnblock errichtet. Wagenhalle Französisch-Buchholz Für die Buchholzer Linie entstand nach der Übernahme durch die BESTAG ein kleines Depot in der Gravensteinstraße, das auf einer Fläche von 620 Quadratmetern Platz für drei Wagen bot. Es wurde nach dem Übergang zur Berliner Straßenbahn geschlossen und wird heute von der Freiwilligen Feuerwehr Buchholz genutzt. Betriebshof Köpenicker Landstraße Der Betriebshof Köpenicker Landstraße in Treptow wurde mit Inbetriebnahme der Treptower Linie am 15. April 1896 eröffnet. Er verfügte über zwei Hallenbauten mit Platz für 75 Wagen, von denen die vordere als Wagenhalle und die hintere als Werkstatt diente; zwischen beiden Halle war eine Schiebebühne installiert, wodurch die Wagen die Gleise wechseln konnten. Seitlich der Hallen befanden sich auf der Südseite zwei Gleise auf der nördlichen Seite ein Gleis. Die Hallen selbst hatten je acht Gleise mit Platz für je fünf bis sechs Wagen. Das Gelände wurden von Kleingartenanlagen eingefasst. Nach 1920 wurde er zunächst als Hof XXI weitergeführt und diente als Abstellplatz für nicht mehr benötigte Wagen. Ab 1925 diente das Gelände zur Überholung und Überarbeitung diverser Straßenbahntypen. Neben Umbauten durch die Nationale Automobil-Gesellschaft wurden hier unter anderem die HAWA-Wagen und die Triebwagen der Flachbahn überholt. 1931 fiel die Werkstatthalle einem Großbrand zum Opfer. Zwei Jahre später wurden die Gleisanschlüsse zur Wagenhalle beim Ausbau der Köpenicker Landstraße entfernt, lediglich die südlichen Außengleise blieben zur Entleerung von Saugwagen bestehen. Die Halle selbst diente danach vermutlich der Aufarbeitung von Omnibussen. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Halle von Bombentreffern zerstört und anschließend abgetragen. Das Gelände wurde seitdem ebenfalls für kleingärtnerische Zwecke genutzt. Wagenhalle Kottbusser Ufer Am Kottbusser Ufer 20–22 nutzte die BESTAG ab Mai 1903 eine Wagenhalle mit Bahnmeisterei zum Abstellen von Beiwagen und Loren. Die Halle befand sich unweit der Grünauer Straße und war in hölzerner Bauweise errichtet. Sie maß etwa 28 × 18,5 Meter und hatte Platz für zwölf Wagen auf vier Gleisen. Die Beiwagen wurden in der verkehrsschwachen Zeit an der Kreuzung Kottbusser Ufer, Ecke Grünauer Straße abgehängt und in die Halle geschleppt. Als Schlepper diente ein Triebwagen der Pankower Serie 1–8. Die BESTAG nutzte das Gelände bis etwa 1920, danach diente das Grundstück 19–20 den Berliner Entwässerungswerken für eine Pumpstation sowie das Grundstück 21–22 der BEWAG für den Neubau eines Abspannwerkes. Literatur Berliner Verkehrsblätter, verschiedene Jahrgänge Verkehrsgeschichtliche Blätter, verschiedene Jahrgänge Weblinks Streckennetz der BESTAG 1916 Jens Dudczak, Uwe Dudczak: Bahnen im Berliner Raum: Siemensbahn Pankow, Siemensbahn Treptow, Berliner Elektrische Straßenbahnen Einzelnachweise Straßenbahnbetrieb (Deutschland) Straßenbahn Berlin Siemens-Unternehmen Gegründet 1899 Aufgelöst 1920 Ehemaliges Verkehrsunternehmen (Berlin)
7097293
https://de.wikipedia.org/wiki/Keramik%20im%20Alten%20%C3%84gypten
Keramik im Alten Ägypten
Unter Keramik im Alten Ägypten fasst man alle Gegenstände aus gebranntem Ton aus dem Alten Ägypten zusammen (nach Dorothea Arnold mit Ausnahme figürlicher Gegenstände). Hauptsächlich dienten die Keramikgefäße als Haushaltsware und standen im Zusammenhang mit Lagerung, Zubereitung, Transport und Verzehr von Lebensmitteln und Rohstoffen. Dazu zählen Bier- und Weinkrüge, Wasserbehälter, aber auch die vielfach im Haushalt benutzten Brotbackformen, Feuerbecken, Lampen und Ständer, auf die man rundbodige Gefäße abstellen konnte. Andere Typen dienten rituellen Zwecken. Vielfach wurde Keramik als Grabbeigaben gefunden. Grundsätzlich wird in der ägyptischen Archäologie zwischen zwei Gruppen von Tonarten nach chemischer und mineralogischer Zusammensetzung und Keramikeigenschaften unterschieden: Niltone und Mergeltone. Der Nilton ist ein Verwitterungsprodukt, das der Nil aus den äthiopischen Bergen nach Ägypten transportierte. Der Ton lagerte sich zwischen dem Jungpleistozän und der heutigen Zeit bei der Nilüberschwemmung an den Ufern ab. Beim Mergelton handelt sich um ein gelblich-weißes Gestein, das in Kalksteinablagerungen eingelagert ist. Die Ablagerungsschichten sind im Pleistozän entstanden, als urzeitliche Wassermassen vom Nil und seinen Nebenflüssen diesen Ton an den jetzigen Wüstenrand herunterschwemmten. Die ägyptischen Darstellungen auf Grabwänden, Töpferei-Modelle und archäologische Reste von Töpfereiwerkstätten liefern Informationen über Produktion und Organisation der Keramikherstellung. Charakteristisch für die Entwicklungsgeschichte der Keramik ist, dass im Laufe der Zeit neu erfundene Methoden nie ganz die alten ersetzten, sondern das Repertoire erweiterten, so dass schließlich auf den Höhepunkten der Geschichte der Keramik jeder Objektgruppe die ihr gemäße Aufbautechnik zugeordnet ist. Die ägyptischen Töpfer gebrauchten eine große Bandbreite an Dekorationstechniken und -motiven, von denen manche für bestimmte Perioden charakteristisch waren, dazu gehören die Gestaltung ausgefallener Formen, Ritzverzierungen und verschiedene Brandmethoden und Maltechniken. Ein wichtiges Klassifizierungssystem zur Einteilung der ägyptischen Keramik ist in der Ägyptologie das sogenannte Wiener System, das die Archäologen und Ägyptologen Dorothea Arnold, Manfred Bietak, Janine Bourriau, Helen und Jean Jacquet und Hans-Åke Nordström bei einem Treffen 1980 in Wien entwickelten. In der archäologisch-relativen Chronologie hat sich die Methode der Keramik-Seriation als nützlich erwiesen. Diese Methode wurde 1899 von W. M. Flinders Petrie eingeführt. Sie basiert auf Veränderungen der Gefäße und dem Auftreten und Verschwinden verschiedener Typen im Laufe der Zeit. Werkstoffe Für das Verständnis von Entwicklung, Art und Herkunft der Keramik ist das Verständnis des Werkstoffs Ton notwendig. Grundsätzlich wird in der ägyptischen Archäologie zwischen zwei Gruppen von Tonarten nach chemischer und mineralogischer Zusammensetzung und Keramikeigenschaften unterschieden: Niltone und Mergeltone. Als weitere Gruppe lässt sich eine Mischung der beiden Gruppen hinzufügen. Nilton Der Nilton ist ein Verwitterungsprodukt, das der Nil aus den äthiopischen Bergen nach Ägypten transportierte. Der Ton lagerte sich zwischen dem Jungpleistozän und der heutigen Zeit bei der Nilüberschwemmung an den Ufern ab. Folglich können Ablagerungen sowohl weit entfernt vom heutigen Flussverlauf als auch innerhalb der heutigen Flussebenen vorkommen. Der Ton zeichnet sich chemisch durch einen hohen Siliciumgehalt und hohe Anteile an Eisenoxiden aus. Mineralogisch gesehen handelt es sich um Glimmer- und Illit-reiche Sediment-Tone, denen Sand und verschiedene Gesteinspartikel aus dem weiträumigen Einzugsgebiet des Nils bereits beigemischt sind (und nicht von Menschenhand hinzugefügt werden müssen). Der Ton wird rot bis braun, wenn er in einer oxidierenden Ofenatmosphäre gefeuert wird. Im Rohzustand variiert er von Grau bis fast Schwarz. Mergelton Der Mergelton (auch Wüstenton) taucht entlang des Niltals zwischen Esna und Kairo, in den Oasen und an den Deltarändern auf. Es handelt sich um ein gelblich-weißes Gestein, das in Kalksteinablagerungen eingelagert ist. Die Ablagerungsschichten sind im Pleistozän entstanden, als urzeitliche Wassermassen vom Nil und seinen Nebenflüssen diesen Ton an den jetzigen Wüstenrand herunterschwemmten. Mergelton bezeichnet eine Reihe von schon der Grundsubstanz nach ganz verschiedenen Tonarten. Als Gemeinsamkeit weisen sie einen geringeren Anteil an Silicium und einen bedeutend höheren Gehalt an Calcium auf (daher der Name Mergel = Ton und Kalk). Die wichtigsten Mergelton-Arten sind: Qena-Tone: sekundäre Ablagerungen wie solche aus dem Wadi Qena. Solche Tone stammen von Sedimenten, die vom Wadi heruntergespült wurden und sich mit lokalem Schiefer und Kalkstein vermischten. Mergeltone, die von Schiefer und Kalkstein stammen, der entlang des Nils zwischen Esna und Kairo gefunden wurde. Mergeltone werden normalerweise cremeweiß oder weiß, wenn sie in einer oxidierenden Atmosphäre gebrannt werden. Zudem kann der Schnitt rosa oder orange Zonen aufweisen. Diese Tone sind reich an Mineralsalzen, so dass die Oberfläche häufig mit einer dünnen Schicht von verwitterten Salzen bedeckt ist, die gebrannt eine weiße Oberfläche formt, die durch Unachtsamkeit fälschlicherweise für einen „Überzug“ gehalten werden kann. Bei ausreichender Brenntemperatur (ca. 1000 °C) wird diese Beschichtung olivgrün und ähnelt einer grünen Glasur. Herstellung Materialwahl Die Materialwahl wurde bestimmt durch örtliche Gegebenheiten und die Funktion des herzustellenden Gegenstandes. Der Nilton wurde hauptsächlich für Haushaltsgeschirr und Formen und Behälter des Handwerks wie der Keramik für den rituellen Gebrauch verwendet. Mergeltone waren vorherrschend im Vorratswesen und dort, wo verfeinerte Produkte (Figurengefäße und Ähnliches) hergestellt wurden. Abbau des Tons Es gibt wenige präzise Informationen darüber, wie und wo die altägyptischen Töpfer das Rohmaterial abbauten, wie beispielsweise Besitzverhältnisse der Gruben, Organisation des Transports und Zuteilung an die Töpfer. Generell kann man sagen, dass der Ton aus drei verschiedenen Geländen stammen konnte: vom Ufer des Nils oder eines Bewässerungskanals, von der Wüstenebene neben den Kultivierungsflächen oder von den Hügeln der höher gelegenen Wüste. Eine Darstellung im Grab des Rechmire (TT100) zeigt Arbeiter beim Abbau eines Haufens von Nilschlamm mit Hacken für die Lehmziegelherstellung. Ton für die Keramikherstellung könnte auf die gleiche Weise abgebaut worden sein. Die Szene zeigt auch, dass Nilton nicht unbedingt von einem Feld gewonnen werden musste. Nilton-Haufen wurden, wie heute noch, beim Ausheben eines Kanals angesammelt. Präparieren des Tons Mit der Aufbereitung des Tones setzten üblicherweise die ägyptischen Darstellungen auf Grabwänden ein. Hinzu kommen Modelle, die Einzelheiten teilweise etwas anders wiedergeben. Eindeutige archäologische Reste von Töpfereiwerkstätten sind dagegen eher selten. Vermutlich handelte es sich um äußerst vergängliche Anlagen. Ton, der Luft ausgesetzt ist, trocknet sehr schnell. Deshalb erhielten die Töpfer den Ton (insbesondere den Mergelton aus der Wüste) oft als trockene, steinige Klumpen, die zuerst zerkleinert und mit Wasser gemischt werden mussten, um sie formbar zu machen. Der Rohton wurde auch getrocknet und pulverisiert, um gröbere Verunreinigungen wie Steinchen durch Sieben zu entfernen. Eine weitere Möglichkeit war die Schlämmung des Tons durch mehrfaches Sich-Setzen-Lassen der schweren Tonbestandteile im Wasser und Abschöpfen der feinen Teile oben. Es gibt keine Belege für einen solchen Prozess in der Töpfereiwerkstatt und der Keramik in Ayn Asil (Dachla), aber mögliche Hinweise dafür in Hierakonpolis. Die Schlämmung musste in einer oder mehreren Gruben beziehungsweise Wasserbecken durchgeführt werden. Die Töpfereidarstellung im Grab des Kenamun (TT93) wurde schon dahingehend interpretiert, dass sie auch ein Becken zur Schlämmung zeigt. Zumindest für den Ton der Meidumschalen im Alten Reich und den auffallend homogenen Nilton seit dem Beginn der 18. Dynastie ist eine verfeinerte Reinigungstechnik anzunehmen. Das Bildschema zeigt für die Aufbereitung des Tons einen oder zwei Männer, die die aufgeweichte, mit Wasser vermischte Tonmasse mit Füßen treten, um ihn in eine plastische, formbare Masse zu verwandeln. Bei diesem Bearbeitungsschritt konnte der Ton mit Magerung versetzt werden, wenn er nicht bereits über feinere Verunreinigungen wie Sand und andere Materialien verfügte. Wichtig war, dass diese nicht zu grob oder zu scharfkantig waren: . Nach dem Vermischen mit Wasser ist die Tonmasse voll von Luftblasen. Um eine Rissbildung während des Brennprozesses zu verhindern, mussten diese beim sogenannten Walken entfernt werden. Dabei wurden zwei Hälften einer Tonmasse mit relativ großem Kraftaufwand gegeneinander geschlagen. Im Bildschema knetete anschließend ein Arbeiter in gebückter Körperhaltung den Ton mit den Händen, ehe er die gewalkten Ballen direkt dem Töpfer weiterreichte. Methoden der Formgebung Für die Keramikherstellung des Alten Ägypten lassen sich fünf verschiedene Aufbautechniken unterscheiden: von Hand unter Verwendung eines drehbaren Untersatzes mit einer von der Hand des Töpfers betriebenen Töpferscheibe („langsam drehende Scheibe“) unter Zuhilfenahme von Modeln auf der schnell drehenden, durch einen Gehilfen oder den Fuß des Töpfers angetriebenen Töpferscheibe Charakteristisch für die Entwicklungsgeschichte der Keramik ist, dass im Laufe der Zeit neu erfundene Methoden nie ganz die alten ersetzten, sondern das Repertoire erweiterten, . Aufbau von Hand Für den Aufbau von Hand lassen sich wiederum verschiedene Techniken unterscheiden: Aufwülsten von mehreren Tonwürsten auf einer Bodenplatte, Lappen und freies Modellieren. Diese drei Fertigungsweisen wurden von der Vorgeschichte bis ins Alte Reich oder noch länger verwendet. Das freie Modellieren durch Kneten und Ziehen mit der Hand ist die älteste und zugleich langlebigste Technik des Formens. Sie kam in der Fayum-A-Kultur und der Merimde-Kultur für alle Gefäße zum Einsatz und wohl auch noch in der Badari-Kultur, im Alten Reich noch für bestimmte Typen und zu allen Zeiten für rundplastische Figuren und Modelle. Die Waren sind dickwandig. Erkennbar ist die Technik an Druck- und Pressspuren, die durch das Aneinanderfügen der Tonklumpen entstanden sind. Beim Lappen werden rechteckige Tonplatten aneinandergefügt (Plattentechnik). Die Technik ist unter anderem daran zu erkennen, dass die Gefäße meist in rechteckige Scherben zerfallen. Sie dürfte in großem Umfang im frühen Ägypten zur Anwendung gekommen sein, spätestens seit größere Tongefäße geformt wurden. Durch die ganze pharaonische Zeit bis zu den Römern wurden große Bottiche in dieser Technik hergestellt. Beim Aufbauen mit Tonwürsten wurde auf einen angetrockneten Wulst der nächste aufgesetzt. Diese Technik konnte bei der spätvorgeschichtlichen Keramik von Heliopolis beobachtet werden. Aufbau auf einem drehbaren Untersatz Seit dem Chalkolithikum kam ein drehbarer Untersatz für die Technik des Gefäßaufbaus zur Anwendung. Dieser entstand vielleicht aus dem Bedürfnis, . Die Technik ist deutlich an horizontalen Drehspuren in der Öffnung zu erkennen. Im Unterschied zur Töpferscheibe sind die Drehbewegungen wegen des Fehlens einer fixen Achse nicht zentriert. Für den drehbaren Untersatz kommen Schalen, Platten, Körbe und Matten, Textilien und sogar Keramikscherben in Frage, die sich zusammen mit dem Gefäß im Aufbau drehen. Entscheidenden Gebrauch vom Vorteil der Drehbewegung machte der Töpfer erst bei der Fertigung des Gefäßoberteils. Die bereits bekannten Techniken fanden nun in Kombination Verwendung. So weisen vor allem geschlossene Gefäße im unteren Bereich Druckspuren des freien Handaufbaus auf, der Rand wurde jedoch nach Vollendung des ganzen Gefäßes nachgedreht. Aufbau auf einer von Hand betriebenen, langsamen Drehscheibe Eine wichtige Erfindung war die achsenzentrierte Töpferscheibe. Diese ermöglichte es dem Töpfer, mit der einen Hand die Unterlage mitsamt dem Gefäß zu drehen und mit der anderen Hand das Gefäß zu formen. Nach Dorothea Arnold wurde die langsame Drehscheibe im Lauf der 4. Dynastie erfunden. E. Christiana Köhler zufolge dürfte der Datierungsansatz jedoch auf einen deutlich früheren Zeitpunkt zu korrigieren sein: Diese Entwicklung lässt sich recht deutlich anhand der in Massenproduktion hergestellten konischen Schalen der mesopotamischen Uruk-Kultur in Habuba Kabira verfolgen. Zur Herstellung wurde zunächst ein großer Tonkegel auf der Scheibe angehäuft. Die Spitze des Kegels war der eigentliche Drehpunkt, von dem die Schalen hochgezogen wurden. Danach schnitt man sie mit einem Draht oder einer Schnur vom Kegel ab. Dabei entstanden Schalen mit relativ starker Wandung in Bodennähe und Abdreh- oder Abziehspuren auf der Bodenunterseite. Christiana Köhler konnte solche Abziehspuren auf Gefäßen der Frühzeit ausmachen, was eine Produktion auf der langsamen Drehscheibe schon in dieser Zeit wahrscheinlich macht. Aufbau mit Hilfe von Modeln Es ist anzunehmen, dass insbesondere die Backformen für Kegelbrote unter Zuhilfenahme eines Modelkerns geformt wurden. Vermutlich wurden sie um einen kegelförmigen (Holz-)Kern geformt, der die Form der zu backenden Kegelbrote hatte. Aufbau auf der schnell drehenden Töpferscheibe Der Aufbau auf der schnell drehenden, durch einen Gehilfen oder den Fuß des Töpfers angetriebenen Töpferscheibe wurde erst relativ spät, frühestens im Neuen Reich, entwickelt. Erstmals zeigt eine Darstellung im Grab des Kenamun aus der Mitte der 18. Dynastie eine tiefe Drehscheibe, bei der ein Assistent an der Drehscheibe greift und so dem Töpfer dabei hilft, die Drehscheibe zu betätigen, während der Töpfer selbst seinen Fuß zu Hilfe nimmt, um die Scheibe zu stabilisieren. Oberflächenbearbeitung Das geformte Gefäß musste zunächst antrocknen, um der Wandung für die weitere Bearbeitung eine ausreichende Stabilität zu verleihen. In einem sogenannten lederharten Zustand war dann noch ausreichend Feuchtigkeit im Ton vorhanden, um plastische Veränderungen anzubringen. In diesem Stadium erfolgte (wenn gewünscht) die Bemalung und das Anbringen von Überzug und Schlicker. Nach weiterem Eintrocknen wurden die Gefäße eventuell überpoliert. Für die Politur der Gefäßoberfläche gibt es zwei verschiedene Techniken: Die Politur durch Reiben ohne nennenswerte Druckanwendung erzeugt einen gleichmäßigen, leicht matten Glanz. Beispiele dafür sind die Krüge des Alten Reiches, Krüge und Schüsseln der Ersten Zwischenzeit und vielleicht auch des Mittleren Reiches. Bei der Politur mit einem Kiesel (engl. burnish) oder sonst einem harten Gegenstand wird dagegen beträchtlicher Druck auf die Gefäßoberfläche ausgeübt. Es entsteht eine hochglänzende Fläche, bei der aber nur in seltenen Fällen besonders sorgfältiger Arbeit nicht Politurstreifen sichtbar bleiben (zum Beispiel bei den Meidumschalen des Alten Reiches). In der Thinitenzeit und der 17. und 18. Dynastie haben sich die Töpfer den Umstand der Sichtbarkeit der Politurstreifen zu einer eigenen Form von Dekor zunutze gemacht. In diesem Stadium konnten auch Impresso- und Einritzverzierungen angebracht werden, . Diese wurden je nach Muster mit verschiedenen Instrumenten wie Knochen- oder Holznadeln, Kämmen aus Knochen oder Muscheln oder Silex-Messern angebracht. Nach einer ersten Trocknungsphase erfolgte auch die Zurichtung des runden Bodens. Diese wurde vor der 17. Dynastie in Handarbeit durchgeführt, indem er mit einem flachen Instrument zugeschnitten und verstrichen wurde. Ebenfalls wurden Standringfüße handgeschnitten oder aus hinzugefügter Tonmasse frei modelliert und angesetzt. Nach dem Beginn der 17. Dynastie wurden dagegen Standringfüße auf der Töpferscheibe aus der bereits am Gefäßboden vorhandenen Tonmasse gedreht. Auch runde Böden und Standflächen zeigen nun zunehmend Drehspuren an der Außenseite. Trocknung Bei der Trocknung mussten die Gefäße unter gut kontrollierten Bedingungen aufgestellt werden, damit alle Teile gleichmäßig trocknen und schrumpfen und sich somit nicht verformen. Bei diesem Prozess musste möglichst viel Wasser verdunsten, da das verbleibende, chemisch gebundene Wasser zu Beginn des Brennvorgangs und bei Erreichen des Siedepunktes anfängt zu kochen und zu verdampfen: Je nach Wetter und Sonneneinstrahlung wurden die Gefäße zur Trocknung an der Sonne (bei geringer Sonneneinstrahlung) oder im Schatten (bei hoher Sonneneinstrahlung) oder in geschlossenen Räumen (bei Regen und Kälte) aufgestellt. Der Trocknungsvorgang konnte mehrere Tage andauern und hing unter anderem von den Wetterbedingungen, aber auch der Größe, Wandstärke und Porosität der Gefäße ab. Auch nach scheinbar völliger Austrocknung waren immer noch etwa drei bis fünf Prozent Restfeuchtigkeit vorhanden, die erst während des Brandes verlorengingen. Brand Durch den Brandvorgang ändert sich der Zustand von einem plastischen zu einem aplastischen Material. Bis zu diesem Punkt ist es möglich, einem Gefäß Wasser hinzuzufügen und es wieder in den plastischen Ton zu verwandeln und so wiederzuverwerten. Nach dem Brand sind stark beschädigte Gefäße wie Fehlbrände nahezu unbrauchbar. Damit die sogenannte keramische Wandlung stattfinden kann (das heißt die Verwandlung des Tons in eine endgültige und flüssigkeitsbeständige Form), muss eine Temperatur von 550–600 °C erreicht werden. Davor wird bei etwa 100 °C die beim Trocknen verbleibende Restfeuchtigkeit an die Luft abgegeben und bei einer weiteren Erhitzung auf 300 °C entweicht das chemisch gebundene Wasser (Kristallwasser). Wichtig während des Brandes ist die Zuführung von Sauerstoff, der beim Verbrennen des Brennstoffes verbraucht (reduziert) wird: Dies ist ein reduzierender Brand. Beim oxidierenden Brennvorgang (Oxidation) dagegen wird während des Brandes Sauerstoff zugeführt. Die Eisenminerale im Ton nehmen Sauerstoff auf und färben sich rot. Es entsteht dabei rotes bis rotbraunes Eisen-III-Oxid. Diese Keramik ist von rotbrauner Farbe. Das einfachste und früheste Brennverfahren ist das offene Feuer. Die zu brennenden Gefäße wurden mit Brennmaterial überhäuft und gefüllt. Sie wurden auf dem flachen Boden niedergelegt, von einer kleinen Mauer umgeben oder in eine Grube niedergelegt. Während des Brennvorganges hatte man relativ wenig Kontrolle über den Brennprozess. Das Brenngut hatte direkten Kontakt mit den Flammen und dem Brennstoff, der schnell erhitzt und wieder schnell abkühlt. Eine Optimierung des Brennergebnisses wurde erreicht, indem Düsen angebracht, der Brennraum mit hitzespeichernden Wänden ummauert und Brenngut und Brennstoff getrennt wurden. Dieses technologische Stadium wurde spätestens im früheren Alten Reich, wenn nicht schon in der Frühzeit oder der späten Vorgeschichte erreicht. Die einfachste Konstruktion eines Töpferofens war ein Schachtofen ohne Trennung von Feuerraum und Brennkammer. Durch die Schachtöffnung konnte dieser von oben beladen und eine Öffnung am Boden befeuert werden. Diese Öffnung ermöglichte bei Bedarf die Zufuhr von Sauerstoff, die zu einer oxidierenden Brennatmosphäre führen konnte. Der Ofen musste nun zunächst eine gewisse Brenntemperatur erreichen, um das Brenngut in der Brennkammer zu erhitzen. Dadurch wurde der Brand länger und gleichmäßiger. Der nächste technologische Fortschritt war das Einführen einer Lochtenne, die den Feuerraum von der Brennkammer trennt. Dadurch wird verhindert, dass rauchige Flammen und carbonisiertes Brennmaterial mit der Keramik in Kontakt kommen und Flecken und Schmauchung verursachen. Die zu brennenden Gefäße wurden im oberen Teil aufgestapelt, mit der Öffnung nach unten. Die heißen Gase stiegen an den Gefäßen vorbei auf und zirkulierten in ihnen, und dadurch wurde der Ton gebrannt. Solche Schachtöfen mit Lochtenne sind seit dem Alten Reich durch bildliche Darstellungen und archäologische Funde belegt. Dekoration Die ägyptischen Töpfer verwendeten eine große Bandbreite an Dekorationstechniken und -motiven, von denen manche für bestimmte Perioden charakteristisch waren. Während des Bearbeitungsprozesses gab es drei Möglichkeiten, um solche anzubringen: vor, während oder nach dem Brennen. Die Töpfer spielten seit der prädynastischen Zeit mit der Formgebung, indem sie die Töpferei kreativ gestalteten oder andere Materialien wie Korbflechterei, Metall, Holz oder Stein nachahmten. Die meisten der ausgefallenen Formen (fancy features) wurden während des Aufbaus und der Oberflächenbearbeitung angebracht, lange vor dem Brennen. Die Elemente wurden entweder aus einem Stück Ton von Hand geformt oder in Formen eingepresst und im lederharten Zustand gegen das Gefäß gedrückt, wovon in vielen Fällen Fingerabdrücke auf den Gefäßinnenseiten zeugen. Bei figürlichen Gefäßen waren dies oftmals Teile des menschlichen oder eines tierischen Körpers oder das Gesicht des Gottes Bes oder der Göttin Hathor. Weit verbreitet war auch das Ausschneiden von Teilen des Gefäßes im lederharten Zustand, um nicht-keramische Materialien zu imitieren. Bereits bei der frühesten ägyptischen Keramik, einer frühen Phase der Merimde-Kultur, fanden sich Ritzverzierungen wie Fischgrätmuster. Bei dieser Technik wurden mit einem scharfkantigen Instrument wie Hölzchen, Messer, Nadeln oder Fingernägel größere Tonmengen von der lederharten Oberfläche herausgetrennt. Da die Töpfer im 5. Jh. v. Chr. nur einfache Brandmethoden in einer Brenngrube kannten, enthielten diese Gefäße oft einen schwarzen oberen Rand. Diese schwarzen Ränder wurden zunehmend ein dekoratives Element, welche gewisse technische Kenntnisse erforderte. In Kombination mit einer dunkelroten Farbe und mit einer Pollitur wurde die black-topped-Ware zu einer der versiertesten und beliebtesten Ware. Die schwarze Farbe wurde durch Karbonisation (Verkohlung) erreicht, zum Beispiel durch Einsickern von Rauchpartikeln in die Tonmasse. Einige Fragen zu dieser Herstellungstechnik sind jedoch noch nicht geklärt. Gemalte Dekorationen wurden mit einem Pinsel vor oder nach dem Brennen aufgetragen. Für spezielle Muster wurde Farbe auch auf die Oberfläche gespritzt oder die Gefäße wurden in die Farbe gedippt. Es gab im alten Ägypten acht Haupt-Stile von gemalter Dekoration: Petries white-cross-lined-Stil: Diese Keramik fand sich nur in Oberägypten für die Naqada-Kultur der Stufe I (ca. 4000–3500 v. Chr.). Sie besteht meist aus Nilton (Nilton A). Die Oberfläche reicht von dunkelrot bis rötlich braun und weist eine Politur auf. Charakteristisches Merkmal ist die weiße bis cremefarbene Bemalung (vorwiegend geometrische Muster, daneben auch Tiere, Pflanzen, Menschen und Boote). Petries decorated-Stil: Diese Keramik ist typisch für die Naqada-Kultur der Stufen II und III (ca. 3500–3000 v. Chr.). Sie besteht meist aus Mergelton (Mergelton A1). Die Oberfläche ist gut geglättet, jedoch nicht poliert. Die Farbe reicht von hellrot bis gelblich grau. Auf der Oberfläche wurde mit rot-brauner Farbe eine Bemalung aufgetragen. Hauptmotive sind Schiffe, Wüstenwild, Flamingos, Menschen, Spiralen, Wellenlinien und Z-Linien. Der white-background-Stil: Dieser Stil kam in der Ersten Zwischenzeit, im frühen Mittleren Reich, im Neuen Reich und in der Spätzeit vor. Die Waren dieses Stils wurden nach dem Brennen auf einem weißen Hintergrund verschiedenfarbig dekoriert. Die Dekoration enthält normalerweise sorgfältig ausgearbeitete Opfer-Szenen. Der scenic-Stil: Dieser Stil kam sporadisch zu allen Zeiten vor. Er ist eng verwandt mit dem white-background-Stil, außer dass die Szenen direkt (ohne weißen Hintergrund) auf die Gefäßoberfläche gemalt wurden. Der blue-painted-Stil: Dieser Stil kam von der Mitte der 18. Dynastie bis zum Ende der 20. Dynastie vor. Es kamen vor allem blaue Farbpigmente zum Einsatz, zusätzlich auch schwarze, rote und seltener gelbe. Es handelte sich hauptsächlich um florale Dekorationselemente: Lotus-Blumen und -Knospen sowie einzelne Blütenblätter von verschiedenen Blumen wurden so aufgemalt, dass der Eindruck entsteht, als wären sie an Fäden um Hals und Schulter der Gefäße geschnürt. Auch Darstellungen von jungen Tieren und Embleme der Götter Hathor und Bes kamen vor. Die Keramik wurde hauptsächlich aus Nilton gefertigt. Der brown-and-red painted-Stil: Dieser Stil entstand zu Beginn der 18. Dynastie aus dem Dekorationsbrauch von einfachen Linien im späten Mittleren Reich und der 2. Zwischenzeit. Im Gegensatz zum blue-painted-Stil bestand diese Keramik vorwiegend aus Mergelton. Der Stil bestand aus sehr spezifischen Dekorationsmustern: Diese enthielten eine Gruppe von zwei bis vier parallelen Linien, zwischen die verschiedene Elemente wie Punkte, Zickzack-Linien, Wellenlinien und andere gemalt wurden. Die Elemente wurden durch verschiedene Farben zusätzlich unterschieden: entweder braune Elemente und rote Linien oder umgekehrt. Der lotus-flower-and-crosslined-band-Stil: Objekte und Funktion Unter dem Begriff Keramik fasst man in der Ägyptologie alle nicht-figürlichen Gegenstände aus gebranntem Ton zusammen. Die Mehrheit der Keramikgefäße diente sicherlich als Haushaltsware und stand im Zusammenhang mit Lagerung, Zubereitung, Transport und Verzehr von Lebensmitteln und anderen Rohstoffen. Dazu zählen auch noch die vielfach im Haushalt benutzten Brotbackformen, Feuerbecken, Lampen und Ständer, auf die man rundbodige Gefäße abstellen konnte. Andere Typen wiederum dienten rituellen Zwecken. Teilweise wurden auch Wasserrohre aus ineinandergesteckten Amphoren konstruiert, eigentliche Keramik-Rohre gab es erst seit der römischen Zeit. Musikinstrumente wie Rasseln stellte man ebenfalls aus Tongefäßen her, indem man Flaschen mit Kieseln füllte und die Öffnungen vor dem Brand verschloss. Hinweise auf die Funktion eines Gefäßes geben Darstellungen in Gräbern, Aufschriften, die Form, die Machart, Inhaltsreste und der archäologische Fundkontext. In den Gräbern sind die Gefäße oft nur schematisch gezeichnet. Trotzdem konnte in wenigen Fällen die Funktion der Gefäße anhand der Grabdarstellungen identifiziert werden. Dazu gehören Brotformen, Spinnschalen und Bierkrüge. Die Formen der Bierkrüge lassen sich anhand der Reliefdarstellungen (zum Beispiel in der Mastaba des Ti) mit Szenen der Bierherstellung festlegen: ovoide, rundbodige Flaschen mit häufig schwach ausgeprägter Randlippe, die meist grob geformt und aus einem stark mit organischen Bestandteilen gemagerten Ton hergestellt sind. Aufschriften, die den Inhalt der Gefäße angeben, sind im Neuen Reich nichts Ungewöhnliches. Dadurch können Weinkrüge und Fleischgefäße identifiziert werden, wenn auch Weinkrüge für andere Rohstoffe wie Öl und Honig verwendet wurden. Einer der größten Funde von beschrifteten Weingefäßen stammt aus dem Grab des Tutanchamun (KV62). Die Inschriften auf den 26 beschrifteten Weinkrügen liefern bessere Informationen über den darin enthaltenen Wein als die meisten modernen Flaschenetiketten. Das Jahr der Lese wurde mit dem Regierungsjahr des Königs angegeben. Weiter wurden die Qualität, die Herkunft der Weintrauben, die Eigentümer des Weingartens sowie der Oberwinzer, der für das Produkt verantwortlich war, vermerkt. (Siehe auch Wein im Alten Ägypten.) Die Gefäße selbst geben ebenfalls Hinweise zu ihrer Verwendung, beispielsweise die Art des Tons, die Oberflächenbehandlung und die Form. Unter gewissen Umständen ist Porosität (Durchlässigkeit) wünschenswert oder nicht. So lassen moderne Vorratsgefäße für Wasser wie Zirs und Gullas das Wasser durch die Wände sickern, um so den Inhalt durch Verdunstung zu kühlen („Verdunstungskälte“). Dieser Effekt kann mit der Fertigung aus einem hellen Ton oder mit einem hellen Überzug optimiert werden. Deshalb interpretierte Christiana Köhler bei der Bearbeitung der frühzeitlichen Keramik aus Buto bauchige Flaschen oder Krüge, die aus der Standard-Grundmasse mit weißem Überzug oder aus einem hellen, grobkörnigen Mergelton hergestellt wurden, teilweise als Wasserbehälter. Ein gegenteiliger Effekt kann durch einen dichten Überzug erzielt werden. Dadurch werden die Poren der Oberfläche verfüllt und die Gefäßwandung wird für Flüssigkeiten undurchlässig. Diesen Zweck erfüllt auch eine polierte Oberfläche. Dies macht ein Gefäß auch pflegeleichter und hygienischer, da keine (Speise-)Rückstände haften bleiben. Dies kann bei Trink- und Speiseschalen und Tellern sinnvoll sein. Sozialer Kontext der Produktion Die Bestimmung der Keramik-Industrie im weiteren sozialen und ökonomischen Kontext der altägyptischen Gesellschaft wurde bisher in der Keramik-Forschung nur oberflächlich behandelt. Grabdekorationen und Töpfereimodelle geben nur wenige Anhaltspunkte zum Kontext, in dem die Herstellung erfolgte. Die Darstellungen aus dem Alten Reich stehen in enger Verbindung mit Brauerei- und Bäckereiszenen, die aber auch unabhängig von der Keramikherstellung dargestellt wurden. Dies deutet darauf hin, dass die Keramikproduktion ein selbstverständlicher Teil der Nahrungsmittel-Herstellung war. Außerdem benötigten die Grabbesitzer Essen und Trinken im Jenseits und nicht die leeren Gefäße. Modelle von Töpfereiwerkstätten aus der ersten Zwischenzeit und dem Mittleren Reich geben zumindest ein wenig Aufschluss darüber, wo die Produktion stattfand. In allen Fällen fand sie im Freien statt, manchmal in einem geschlossenen Hof. Des Weiteren finden sich aus dem Mittleren Reich Szenen in den Gräbern von Beni Hasan. Hier steht die Keramik-Produktion eher in Verbindung mit anderen Handwerken wie Tischlerei, Metallurgie, Textil-Verarbeitung und der Herstellung von Steinvasen – und weniger mit der Nahrungsmittel-Industrie. Dafür steht sie mit dieser wieder in der einzigen Darstellung aus dem Neuen Reich aus dem Grab des Kenamun in Theben in Verbindung. Die Modelle zeigen jeweils nur einen oder zwei Männer beim Arbeiten, was auf kleine Betriebe schließen lässt. Bei fast allen Darstellungen handelt es sich um Männer. Aus dem Alten Reich gibt es selten Belege dafür, dass auch Frauen an der Produktion beteiligt waren, zum Beispiel beim Bedienen der Öfen. Wenig bekannt ist über die einzelnen Arbeiter. Sie hatten aber sicherlich einen niedrigen sozialen Status. Dass sie nicht Teil einer „anerkannten“ Gesellschaft waren, wird auch aus dem Fehlen von inschriftlichen Quellen dieser Berufsgattung klar. Dies veranschaulicht auch die Satire der Berufe aus der Lehre des Cheti: Andererseits hängt diese Wahrnehmung auch mit der Rolle der Keramik im ägyptischen Kulturganzen zusammen. Als Dinge des täglichen Gebrauchs gehörten sie einer Ebene an, in der es auf Perfektion nicht ankam. So gesehen geht es weniger um eine soziale Schichtung, sondern vielmehr um eine Schichtung der Werte, die der Mensch den Dingen beimisst. Es wäre also falsch, den ägyptischen Töpfer als verachtet darzustellen. Es herrschte durchaus die Empfindung dafür, dass etwas Schöpferisches geleistet wird. So ist das Wört für „töpfern“ (qd - qed) dasselbe, das auch für „bauen“ von Mauern und Bauwerken benutzt wird. Sogar die Tätigkeit des Schöpfergottes wird mit dem Bild des Töpfers dargestellt: Der widderköpfige Schöpfergott Chnum formte auf der Töpferscheibe sowohl Götter und Menschen als auch Tiere und Pflanzen. Dies spricht sogar für eine sehr hohe Wertung der Töpferarbeit. Stephan Seidlmayer untersuchte die sozialen und organisatorischen Rahmenbedingungen der Keramikproduktion im historischen Kontext des Übergangs vom Alten zum Mittleren Reich. Er stellte damit die Frage, inwiefern das analysierte archäologische Material etwas zum Bild der historischen Situation beitragen kann, das aus anderen Quellen erschlossen wurde. Die staatswirtschaftlich geprägte Situation im Alten Reich begünstigte eine zentralisierte, standardisierte und spezialisierte Produktion in großen Mengen, unter Einsatz differenzierter und komplexer Verfahren. Die Organisationskompetenz des Staates ermöglichte eine zielgerichtete handwerkliche Produktion mit qualitätvoller Gebrauchskeramik, die durch Verpackung und Transport im Rahmen der ausgedehnten Güterzuteilung durch das zentrale System geeignet war. Im späten Alten Reich und der Ersten Zwischenzeit ging die staatswirtschaftlich geprägte Organisationsform in eine ausgeprägte Breitenkultur über. Es entstand eine dezentralisierte Produktion in kleinen Einheiten und für einen begrenzten Zirkulationsradius der Güter. Um einen hohen Ausstoß zu erreichen, mussten Kompromisse in der Qualität eingegangen werden. Die tiefgreifende Verwandlung des archäologischen Materials beweist den Tiefgang des sozialen Wandlungsprozesses, den das ganze kulturelle System erlebte. Damit tragen das archäologische Material und seine Analyse entscheidende Informationen zur Qualität der historischen Prozesse bei. Ökonomischer Kontext der Produktion E. Christiana Köhler hat gezeigt, dass sich im spät vorgeschichtlichen Buto hauptsächlich aufgrund der ungünstigen klimatischen Bedingungen des Nildeltas eine nicht-industrielle Keramikproduktion entwickelt hatte, die der einer primären Haushaltsproduktion entspricht. Gleichzeitig ließ sich in Oberägypten im ausgehenden Naqada I und frühen Naqada II bereits eine Spezialisierung in der Produktion ausmachen: Die typische Siedlungskeramik ist eine einfache, stark gemagerte und schwach gebrannte Niltonware (Rough-Ware). Die für die Friedhöfe typische Rote Ware, die Tongrundmasse der Red-Polished- und Black-Topped-Ware, wurde jedoch unter ganz anderen Bedingungen hergestellt: Außerdem hat die Rote Ware ein feines, dichtes Gefüge, ist nur selten gemagert und erforderte einen kontrollierten Brennvorgang. Diese Situation lässt vermuten, dass bereits zwei verschiedene Produktionen existierten, nämlich eine professionelle, spezialisierte Herstellung von Friedhofskeramik und die Haushaltsproduktion von groben Waren. Die günstigen ökologischen Bedingungen scheinen in Oberägypten förderlicher für die spezialisierte Töpfereiproduktion gewesen zu sein. In dicht besiedelten Bereichen wie Hierakonpolis und Naqada bestand zudem ein großer Bedarf an Keramik. Gerade die Bestattungs-Keramik scheint das Bedürfnis nach einer Spezialisierung ausgelöst zu haben, da die feinen Waren vorzugsweise auf Friedhöfen, und weniger im Siedlungskontext, zu finden sind. Die besten archäologischen Hinweise für eine Töpfereiproduktion liefern Töpferöfen: Bereits in prädynastischer Zeit nahm die Keramik-Produktion in Hierakonpolis erstaunliche Verhältnisse an. Es konnten 15 Ofenkomplexe nachgewiesen werden. Die ausgegrabenen Öfen sind zwar technisch noch nicht sehr ausgefeilt, produzierten aber mindestens drei verschiedene Waren-Typen in vielen verschiedenen Formen und belieferten Haushalte und Friedhöfe. In der späten 5. oder frühen 6. Dynastie wurde im Totentempel der Chentkaus-II.-Pyramide in Abusir Keramik hergestellt. Es wurde eine kleine Werkstatt errichtet, die etwas später datiert als die eigentliche Gründung. Innerhalb des Tempels befanden sich Produktionsstätte, Lagerbereich und Ofen. Vermutlich wurden Gefäße für die Kulthandlungen hergestellt. In Gizeh wurde in der Nähe des Totentempels des Mykerinos ein Industriegebiet ausgegraben, das auch Öfen beinhaltete. Mark Lehner identifizierte auch mögliche Anlagen zur Schlemmung von Lehm. Die ganze Nahrungsmittel- und Keramik-Produktion erfolgte für die Kulthandlungen. In Elephantine wurden Öfen außerhalb der Umfassungsmauer der Stadt aus dem Alten Reich gefunden. Sie datieren in die Mitte der 4. bis in die 5. Dynastie und waren möglicherweise Teil eines größeren Industriegebiets. Das beste Beispiel einer Werkstatt aus dem Siedlungskontext kommt aus Ayn Asil in der Dachla-Oase. Diese produzierte vom Ende des Alten Reiches bis in die Erste Zwischenzeit Keramik und lag wie jene von Elephantine außerhalb der Umfassungsmauer. Es wird geschätzt, dass darin Arbeiter-Teams von fünf bis zehn Leuten arbeiteten. Es wurde eine große Bandbreite an Tonen verarbeitet und an Formen produziert. Die Herstellung von Brotbackformen ließ die Ausgräber schon vermuten, dass es keine Haushaltsproduktion gab, da diese am wahrscheinlichsten von den einzelnen Haushalten produziert worden seien. Allerdings wurden mit dieser Produktion nicht alle Bedürfnisse der Stadt abgedeckt und nur wenige dieser Keramik-Typen wurden in den Friedhöfen der Stadt gefunden. In Nag el-Baba in Nubien wurde eine Töpfereiwerkstatt entdeckt, die in die 12. Dynastie und die Zweite Zwischenzeit datiert. Es war eine Anlage mit mehreren Räumen, unter anderem zur Präparation des Tons und mit „einfacheren“ Öfen. Es konnten auch Werkzeuge identifiziert werden, darunter möglicherweise Teile von Töpferscheiben. In der Stadt Amarna aus der Zeit Echnatons (Neues Reich) konnten mehrere Öfen identifiziert werden, sowohl als Teil einer industriellen Produktion als auch einer Haushaltsproduktion. Etwa aus der gleichen Zeit wie die Amarna-Werkstätten wurde eine in Harube im Nord-Sinai gefunden. Sie lag außerhalb der Siedlung in einem Gebiet mit Getreidespeichern und enthielt Gebiete zur Ton-Präparation und Öfen. Sie diente der Versorgung von umliegenden Festungen und offiziellen Konvois, die das Gebiet durchquerten. Klassifikation und Analyse In der Archäologie wurden verschiedene Methoden als Hilfskonstruktion zur Erfassung und Einteilung von Waren entwickelt. Die Wichtigste ist das sogenannte Wiener System. Dabei werden unter anderem folgende Termini verwendet: Grundmasse: Diese bezeichnet das Tongemisch, das aus einer Kombination von bestimmten Tonarten und Magerungsstoffen/Einschlüssen besteht. Machart: Diese umfasst auch die vom Töpfer bewusst beeinflussten Veränderungen am Gemisch wie Magerungszusätze oder Oberflächenbehandlung. Ware: Diese kann der Oberbegriff mehrerer Macharten sein, wenn sie über das gleiche Tongemisch verfügen. Warengruppe: Mehrere Macharten können bei gleicher Grundmasse und vergleichbaren Eigenschaften in eine Warengruppe zusammengefasst werden. Bruch/Bruchbild: Dies bezeichnet den Eindruck des zur Beurteilung erzielten frischen Bruches eines Scherbens an einer repräsentativen Stelle. Das Wiener System Das „Wiener System“ bezeichnet ein Klassifizierungssystem für die ägyptische Keramik, das die Archäologen und Ägyptologen Dorothea Arnold, Manfred Bietak, Janine Bourriau, Helen und Jean Jacquet und Hans-Åke Nordström bei einem Treffen 1980 in Wien entwickelten. Alle brachten Scherben aus ihren Ausgrabungen mit, die bis auf wenige Ausnahmen den Ausgangspunkt für die Klassifizierung bildeten. Dadurch basiert das Wiener System hauptsächlich auf Keramiksorten der „klassischen“ Perioden und Regionen Ägyptens. Nach den Initiatoren sollte es lediglich ein Ausgangspunkt sein, eine Anleitung zur Beschreibung von Waren. Die Unterscheidung verschiedener Waren basiert auf einer Messung der Größe von organischen und anorganischen Einschlüssen. Die Einschlüsse werden nach der Größe in jeweils drei Gruppen eingeteilt. Mineralische Partikel wie Sand und Kalkstein werden in fein (60–250 Mikrometer), mittel (250–500 Mikrometer) und grob (größer als 500 Mikrometer), und Stroh in fein (kleiner als zwei Millimeter), mittel (zwei bis fünf Millimeter) und grob (größer als fünf Millimeter). Die Aussagekraft des Systems wird durch die Willkür des Töpfers und eine gewisse Zufälligkeit eingeschränkt. Außerdem werden für die Einteilung der Nil- und Mergeltone unterschiedliche Kriterien angewandt: Zudem berücksichtigt das System keine Oberflächenbehandlung. Das System ist nur bedingt anwendbar für prädynastische Keramik und Keramik nach dem Neuen Reich. Dies zeigt den unsicheren Zustand der (veröffentlichten) Forschungsarbeiten und die großen Unterschiede in Technik, Verteilung und Rohstoffe, die in diesen beiden Perioden auftreten. Nilton A Die Grundmasse besteht aus einem homogenen, feinen Ton und einem bedeutsamen Anteil Lehm. Sie enthält als Einschlüsse feinen Sand und eine auffallende Menge mittelgroßen Sand und gelegentlich Grobsand-Körner. Glimmer ist ebenfalls vorhanden. Geringe Mengen winziger Strohpartikel können auftreten, sind aber sehr untypisch für diese Machart. Das Ton-Lehm-Verhältnis und die feinen Einschlüsse lassen vermuten, dass der Sand ein natürlicher Bestandteil ist und nicht als Magerung hinzugefügt wurde. Nilton B Nilton B wird unterteilt in B1 und B2: B1: Die Grundmasse ist relativ schlammig und nicht so fein wie bei Nilton A. Es gibt reichlich Einschlüsse von feinem Sand, mit vereinzelten Partikeln von Mittelgrob- bis Grobsand. Glimmer-Partikel sind üblich. Auch vereinzelte feine Stroh-Partikel (kleiner als zwei Millimeter) tauchen auf. Oftmals sind Oberfläche und Schnittfläche in einheitlichem Rot-Braun, aber schwarze/graue oder schwarze/rote Zonen können vorkommen. Diese Herstellungsart ist vom Alten Reich bis zum Beginn der 18. Dynastie üblich. Es ist der Rohstoff der halbkugelförmigen Näpfe und der „Tassen“ aus dem Mittleren Reich und besonders charakteristisch für die feinen Waren des Deltas und der Region Memphis-Fayum aus dieser Zeit. B2: Die Grundmasse ist ähnlich wie bei B1, aber mineralische und organische Einschlüsse kommen in größerer Größe und Quantität vor. Es gibt reichlich Einschlüsse von feinem Sand und Sandkörner mittlerer Größe sind häufig. Abgerundete Sandsteinkörner können vorkommen, zusammen mit Kalkstein-Einschlüssen, von welchen einige Anzeichen von Verwitterung zeigen. Die Unterscheidungsgrenze zwischen den B- und C-Grundmassen ist nicht immer einfach zu ziehen, insbesondere zwischen B2 und C. Eine Orientierungshilfe ist, dass Sand und nicht Stroh der dominierende Einschluss bei den B-Grundmassen ist. Im Gegensatz zu B1 ist B2 in allen Perioden und Regionen üblich. Beispielsweise identifizierte Dorothea Arnold in Lischt-Süd vier Varianten davon. Manfred Bietak bestimmte eine grobkörnige Variante für die Zweite Zwischenzeit in Tell el-Dab'a. Weitere Vorkommen sind zum Beispiel in der späten 12. und 13. Dynastie in Dahschur und in der späten 18. Dynastie in Karnak. Nilton C Dieses Material setzt sich aus schlammigem Ton zusammen, der unregelmäßig geformte bis rundliche Sandkörner enthält, die von fein bis grob und in der Häufigkeit von selten bis häufig variieren können. Einschlüsse von Kalkstein und anderen Mineralien wie Glimmer, zerkleinerten Scherben und mittelgroßen Steinpartikeln können vorkommen. Stroh-Einschlüsse dominieren und sind im Schnitt und an der Oberfläche sichtbar. Sie reichen von fein bis grob, mit einem Übermaß an groben Partikeln (größer als fünf Millimeter). Das Stroh bleibt als verkohlte Partikel erhalten, als weiße oder graue Silica-Skelette und als Eindrücke in der Paste. Nilton C taucht in allen Perioden und Regionen auf und schließt somit eine große Bandbreite an Varianten ein. Nilton D Das Hauptmerkmal des Niltons D ist der auffällige Anteil an Kalkstein-Einschlüssen, die entweder als natürliche Beisätze oder als Magerungen auftauchen. Ohne diesen sichtbaren Kalkstein-Anteil würde dieser Ton verschiedenartig eingeteilt werden, als Nilton A (aus Tell el-Dab’a), als niedrig-gebrannter Nilton B1 (aus Dahschur) oder als Nilton B2 – Nil C (aus Memphis). Nilton E Dieser Ton besteht aus einer großen Anzahl feiner bis grober rundlicher Sandkörner, die auf der Oberfläche und Brüchen deutlich sichtbar sind. Abgesehen von diesen diagnostischen Einschlüssen kann das Gefügen Eigenschaften von Nilton B oder Nilton C aufweisen. Nilton E konnte bisher nur geographisch begrenzt festgestellt werden, im östlichen Delta (Tell el-Dab’a und Qantir) und in der Region um Memphis bis zum südlichen Fayum. Mergelton A Diese Gruppe wurde in vier Varianten eingeteilt. Das vereinigende Charakteristikum von Mergelton A ist seine kompakte und homogene Grundmasse, die feine mineralische Einschlüsse und sehr wenige organische Substanzen enthält. Mergelton A1: Die Grundmasse setzt sich aus einem relativ feinen und homogenen Ton zusammen, der mit sichtbaren Partikeln von feinem bis mittlerem Kalkstein gemagert wurde. Dieser ist dominierend im Bruchbild und auch auf der Oberfläche sichtbar. Die Partikel sind spitz und variieren in der Größe von 60 bis 400 Mikrometer, mit gelegentlich größeren Partikeln. Feiner Sand und dunkle Glimmer-Partikel sind üblich, daneben findet man wenige organische Einschlüsse (Stroh). Dieser Ton war von Naqada II bis zum Alten Reich geläufig und ist eine der Macharten der Meidum-Ware. Mergelton A2: In dieser Variante sind die mineralischen Einschlüsse viel feiner und gleichmäßig durch die Paste verteilt. Feine Sand- und Kalkstein-Partikel sind vorhanden, aber keines dominierend. Dunkle Glimmer-Einschlüsse sind in kleinen Mengen anwesend. Mergelton A2 taucht ab dem Mittleren Reich auf, ist aber in der späten 2. Zwischenzeit und in der 18. Dynastie am häufigsten und häufiger in Ober- als in Unterägypten zu finden. Mergelton A3: Dieser Ton erscheint dem Auge dem modernen Qena-Ton am ähnlichsten, obwohl wir nicht davon ausgehen können, dass er in dieser Region abgebaut wurde. Wenige mineralische Einschlüsse sind unter geringer Vergrößerung im Bruchbild sichtbar und es gibt keine Anzeichen dafür, dass welche als Magerung dem Material hinzugefügt wurden. Die Paste ist außergewöhnlich fein und homogen, was an einer sorgfältigen Präparation des Tons, vielleicht durch zusätzliches Zerreiben, liegen könnte. Gelegentlich können Strohpartikel vorkommen, als zufällige Einschlüsse. Diese Machart taucht vom frühen Mittleren Reich bis ins Neue Reich auf und scheint aus Oberägypten zu stammen. Dagegen taucht sie nur selten im östlichen Delta (Tell el-Dab’a und Qantir) und der Region Memphis Faiyum auf. Mergelton A4: Von allen Varianten von Mergelton A besitzt diese die gröbste Mischung und die größte Quantität von feinen bis groben Sand-Einschlüssen. Vereinzelte Glimmer-Einschlüsse und manchmal auch Stroh-Partikel können ebenfalls vorhanden sein. Dieser Ton taucht bereits im Mittleren Reich auf, ist aber am häufigsten im Neuen Reich (Amarna, Malqata, Memphis, Saqqara usw.). Mergelton B Die Grundmasse ist homogen und sehr dicht. Die diagnostische Eigenschaft der Machart ist, dass sie viel Sand enthält, der etwa 40 Prozent der Paste ausmacht und als Magerung hinzugefügt wurde. Die Partikel reichen von eckig bis schlecht gerundet und fein bis grob. Wie beim Mergelton A4 sind bei geringer Vergrößerung Kalkstein-Einschlüsse sichtbar, die aber bei einer 45-fachen Vergrößerung als kalkhaltiges Material in der Tonmatrix erscheinen. Mergelton B wurde ausschließlich für große und mittelgroße Gefäße verwendet und scheint zeitlich und räumlich sehr begrenzt vorgekommen zu sein: in der 2. Zwischenzeit und im Neuen Reich in Oberägypten. Mergelton C Diese Gruppe wird in drei weitere Varianten unterteilt. Die übereinstimmende und diagnostische Eigenschaft sind zahlreiche Kalkstein-Partikel, die mehr oder weniger zersetzt sind und von mittel bis grob in der Größe reichen. Dies gibt der Machart ein gesprenkeltes Erscheinungsbild. Die Grundmasse selber ist fein und dicht. Feine und mittlere Sand-Partikel, als Magerung hinzugefügt, sind ebenfalls vorhanden, sowie auch helle und dunkle Glimmeranteile. Mergelton C1: Diese Variante ist durch die Masse an feinen bis mittleren zerstoßenen Kalkstein-Partikeln definiert. Der Bruch ist fast immer aus verschiedenen Zonen bestehend, jeweils rot mit einem grauen oder schwarzen Kern und zeigt manchmal Anzeichen von einleitender Verglasung. Mergelton C2: Viele der Kalkstein-Partikel verbleiben intakt und das Bruchbild ist nicht gezont, sondern eine einheitliche Farbe, die von rot (Munsell 10R 4/6) bis braun (Munsell 5YR 6/6) reicht. Ein weiterer Unterschied von C1 und C2 liegt in der Sand-Magerung: Bei C2 ist der Sandanteil größer als der Kalkanteil. Mergelton C compact: Dieser Ton enthält viel weniger Sand als C1 und C2 und ist viel dichter. Diese Variante wurde bisher nur mit einer Ware in Verbindung gebracht, nämlich mit großen, eierförmigen Flaschen mit gerilltem Hals. Mergelton D Die Grundmasse ist fein und homogen. Das Charakteristikum sind die Kalkstein-Partikel, die vermutlich als Magerung hinzugefügt wurden. Sie sind in der Größe kleiner als jene im Mergelton C. Sie variieren von fein bis grob und umfassen etwa 25 Prozent der Grundmasse (und somit weniger als die Kalkstein-Magerung von Mergelton C). Weitere Magerungsanteile sind Sand (fein bis grob), schwarzer Glimmer und dunkler Stein. Organische Einschlüsse sind sehr selten. Die Oberfläche fühlt sich merklich sandig an. Diese Machart war von der 18. bis zur 19. Dynastie sehr verbreitet im Delta und in der Region Memphis-Fayum und scheint im Norden nur als Importe aus dem Süden vorzukommen. Mergelton E Die Zusammensetzung ist ähnlich wie beim Mergelton B, mit Ausnahme von sichtbaren mittleren bis groben Stroh-Partikeln, die als Magerung hinzugefügt wurden. Daneben sind auch Sand-Einschlüsse (mittel bis grob, 20–40 Prozent der Tonmasse), Glimmer-Partikel und Partikel von unvermischtem Grundmassen-Material vorhanden. Diese Machart ist relativ selten, wurde aber in Memphis und Oberägypten (Koptos und Deir el-Ballas) nachgewiesen, während der kurzen Zeit von der 2. Zwischenzeit bis zur frühen 18. Dynastie. Verwendet wurde sie vorwiegend für dickwandige Gefäße, oftmals hand-geformte Brot-Tabletts. Dies lässt vermuten, dass die beabsichtigte Hinzufügung von Stroh mit dieser speziellen Funktion in Zusammenhang steht. Macharten-Code Für die frühzeitliche Keramik aus Buto und Helwan, die sich nur bedingt mit dem Wiener System in Einklang bringen lässt, entwickelte E. Christiana Köheler einen Macharten-Code. Dieser fünfstellige Zahlencode setzt sich aus unterschiedlichen Kriterien zusammen, wobei die Stellung einer Ziffer innerhalb des Zahlencodes jeweils ein Kriterium signalisiert: Erscheinungsform (grob/schwer, mittel und fein mit den Ziffern 1–3), Tonart (Nilton = 1, Mergelton = 2, anderer Ton = 3), Oberflächengestaltung (Besenstrichaufrauhung = 1, rauhgeglättet = 2, Gutgeglättet = 3 und Poliert = 4), Überzug (kein Überzug = 0, weißer Überzug = 2, Rot = 3, andere Farbe = 4) und das Vorhandensein von Einschlüssen bzw. Magerung (normal = 1, überwiegend Häcksel = 2, überwiegend Sand = 3, viel Kalk = 4, sehr wenig oder keine = 5, Fasern = 6). Petrografische Analysen Als komplementäres System zur Klassifikation und Analyse anhand von mit dem Auge oder Mikroskop sichtbaren Merkmalen hat sich die petrografische Analyse als nützlich erwiesen. Diese Technik untersucht dünne Abschnitte der Keramik oder extrahierter mineralischer Einschlüsse, wodurch weitere Erkenntnisse gewonnen werden können: Es können viele mineralische und organische Einschlüsse identifiziert werden. Die Struktur und Porosität kann präziser bestimmt werden. Die ursprüngliche Brenntemperatur kann ermittelt werden. Die Herkunft des Tons lässt sich bestimmen. Es lässt sich entscheiden, ob Einschlüsse natürlich vorkommen oder zusätzlich als Magerung versetzt wurden. Chemische und mineralogische Analysen Als Weiteres kommen wie auch in der restlichen Archäologie chemische und mineralogische Methoden zur Bestimmung der Zusammensetzung des Tons zur Anwendung. Dazu gehören: Neutronenaktivierungsanalyse (NAA) Instrumentelle Neutronenaktivierungsanalyse (INAA) Röntgenfluoreszenzanalyse (RFA) (englisch X-ray fluorescence spectroscopy, XRF spectroscopy) Atomemissionsspektrometrie (AES), oft auch optische Emissionsspektrometrie (OES) genannt Atomabsorptionsspektrometrie (AAS) Massenspektrometrie mit induktiv gekoppeltem Plasma (ICP-MS) Röntgenbeugung (international X-Ray Diffraction, XRD) Keramikdatierung (am Beispiel der Naqada-Kultur) In der archäologisch-relativen Chronologie hat sich die Methode der Keramik-Seriation als nützlich erwiesen. Diese Methode wurde 1899 von W. M. Flinders Petrie erfunden. Im späten 20. Jahrhundert gab es eine enorme Zunahme an Studien zur ägyptischen Keramik, sowohl in Bezug auf die Menge der Scherben, die analysiert werden (aus einer Vielzahl verschiedener Ausgrabungsstätten) als auch in der Auswahl an wissenschaftlichen Techniken, die seither zum Einsatz kommen, um mehr Informationen aus der Keramik zu gewinnen. So begann man die Veränderungen der Gefäßtypen im Laufe der Zeit immer genauer einzuordnen. Beispielsweise unterlag die Form der Brotbackformen am Ende des Alten Reiches einem starken Wandel. Es ist aber noch nicht ganz klar, ob diese Prozesse soziale, wirtschaftliche und technologische Ursachen haben, oder ob sie bloß eine „Modeerscheinung“ sind. So gesehen gab es viele Gründe für die Veränderungen in der materiellen Kultur und nur einige können mit den politischen Veränderungen, die die konventionellen Ansichten der ägyptischen Geschichte dominieren, verknüpft werden. Trotzdem lassen sich beispielsweise Verbindungen zwischen dem politischen und kulturellen Wandel und einer zentralisierten Produktion von Keramik im Alten Reich und dem Wiederaufleben von lokalen Töpfereiarten während der politisch dezentralisierten Ersten Zwischenzeit ausmachen und eine erneute Vereinheitlichung während der wiedervereinigten 12. Dynastie. Durch das Studium der Keramik, anderen Artefakte, Umweltfaktoren und landwirtschaftlichen Veränderungen kann die Basis für eine ganzheitliche Betrachtung der ägyptischen Geschichte geschaffen werden, in denen politische Entwicklungen im Kontext eines langen Prozesses des kulturellen Wandels gesehen werden. Petries Sequence Dating W. M. Flinders Petrie war der erste, der den Versuch einer Keramik-Seriation (sein sogenanntes Sequence Dating) anhand der Keramik der Naqada-Kultur vornahm. Die erste Studie zur relativen Chronologie der Naqada-Kultur publizierte er im Jahr 1899. Sein erster „predynastic“ Korpus basiert auf den Grabbeigaben der Friedhöfe von Naqada, Ballas und Diospolis Parva. Ursprünglich unterschied er neun Klassen und über 700 Keramik-Typen. Für die Einteilung wählte er 900 intakte Gräber mit fünf oder mehr Typen aus den über 4000 ausgegrabenen Gräbern aus. Dazu legte er Karteikarten an und versuchte diese zu ordnen. Er machte zwei wesentliche Beobachtungen: White-Cross-lined-Keramik einerseits und Decorated- und Wavy-Handled-Keramik andererseits kamen praktisch nie zusammen vor. Die Entwicklung der Form der Wavy-Handled-Typen reicht von kugelförmig bis zylindrisch und von funktionalen Henkeln zu dekorativen Linien. Nachdem Petrie alle Karteikarten geordnet hatte, unterteilte er sie in 50 Gruppen, von denen jede 18 Gräber enthielt. Als Startpunkt definierte er SD 30, um so Platz für mögliche frühere Kulturen zu lassen, die noch nicht entdeckt waren. Die 50 Sequence Dates unterteilte er weiter in drei Gruppen, die er als archäologisch, kulturell und chronologisch unterschiedlich einstufte, und benannte sie nach wichtigen Fundorten: Amratian (SD 30–37), Gerzean (SD 38–60) und Semainean (SD 60–75). Einen zweiten Korpus für die protodynastic-Keramik legte Petrie vor allem anhand der Funde im Friedhof von Tarchan an. Hier unterschied er 885 Typen, aber keine Klassen, was ihn schwierig zum Gebrauchen macht. Dieser überlappt teilweise mit dem predynastic-Korpus. Er startet mit SD 76 und geht bis SD 86, wobei SD 83–86 auf Grund des Mangels an Material aus der 2. Dynastie ziemlich theoretisch bleiben. Dieses Mal basierte der Übergang zu neuen Sequence Dates hauptsächlich auf typologischen Brüchen, die Petrie auf Grund der Entwicklung der Wavy-Handled-Typen definierte. Er verband die Sequence Dates auch mit den historisch datierten Keramik-Typen und anderen Objekten in den Königsgräbern der frühen Dynastien in Abydos. Bei Petries Einteilung ergaben sich einige methodische Probleme: Es gibt keine Unterscheidung zwischen Typologie und Chronologie. Die Klassen sind sehr heterogen definiert. Die Definitionen sind nicht an strikte Regeln gebunden. Es wurden nur Gräber mit fünf oder mehr Objekten herangezogen, wodurch gerade die frühen Perioden unterrepräsentiert sind. Regionale Unterschiede wurden nicht beachtet. Die horizontale Verteilung der Keramik innerhalb eines Friedhofes wurde als weiteres Kriterium nicht beachtet. Ein systematisches Problem der Sequence Dates ist, dass – wenn neue Gräber hinzugefügt werden – neue Typen definiert werden müssen. Kaisers Stufen-Chronologie Der Erste, der die relative Chronologie der prädynastischen Periode neu untersuchte, war Werner Kaiser. Er akzeptierte weitestgehend Petries Typologie. Als Ausgangspunkt diente Kaiser der Friedhof 1400–1500 in Armant. Zusätzlich zog Kaiser auch die horizontale Verteilung der Keramik heran, und wenn eine Periode in Armant nicht belegt war, auch die Keramik von anderen Friedhöfen. Er unterschied innerhalb des Friedhofs drei räumliche Zonen nach relativer Häufigkeit, von der jede von einer bestimmten Gruppe dominiert wurde: Black-Topped, Rough Wares und Late, sowie Wavy Handled Wares. Innerhalb dieser Perioden nahm er Unterteilungen vor, die er Stufen nannte. Insgesamt identifizierte er elf Stufen. Diese stimmen nicht ganz, aber größtenteils mit Petries Einteilung überein. So ergeben sich nach Kaiser die folgenden Haupt-Stufen: Stufe I: In dieser Stufe liegen alle Fundorte in Oberägypten, von den badarischen Regionen bis südlich von Assuan. Die Friedhöfe werden von der Black-Topped-Keramik dominiert, die mehr als 50 Prozent der Keramik ausmacht. Die zweitwichtigsten Typen sind Red-Polished und White-Cross-Linded-Keramik. Stufe II: Nach der Definition von Werner Kaiser sollte diese Stufe von der Rough-Keramik dominiert sein. Allerdings dominierte in der Stufe IIa immer noch die Black-Topped- über die Rough-Keramik. Mit dem Übergang von der Stufe IIb zur IIc kam es zur Einführung der Wavy-Handled-Keramik. Zudem kamen einige neue Decorated-Typen hinzu. Stufe III: In dieser Stufe ist die Late-Keramik über die Rough numerisch vorherrschend. Es gilt aber zu berücksichtigen, dass eine große Zahl der Late-Typen in der Art der Rough-Waren hergestellt wurden. Diese Stufe ist besonders wichtig für die relative Chronologie der Prädynastischen Zeit und der Frühzeit, da sie die letzte Phase der Staatsbildung beinhaltet und teilweise mit der historischen Chronologie der 1. und 2. Dynastie verbunden werden kann. Auch bei dieser Chronologie ergaben sich einige Probleme: Es wurde fast nur ein Friedhof verwendet, was eine regionale Differenzierung verunmöglicht. Die Stufen Ia, Ib und IIIb sind eher hypothetisch, speziell die Entwicklung der Wavy-Handled-Klasse. Kaiser publizierte nur eine gekürzte Fassung als Artikel, bei der nur die charakteristischen Typen für jede Stufe abgebildet sind. Stan Hendrickx Seit Mitte der 1980er-Jahre führte Stan Hendrickx Werner Kaisers Modell fort und verbesserte dieses. Er geht nach dem gleichen Prinzip vor, indem er zusammengehörige Gruppen von Gräbern unterscheidet (also die räumliche Verteilung innerhalb eines Friedhofes beachtet) und die Gräber nicht nur anhand ihres Inhaltes unterscheidet. Daraus ergibt sich ein Interessenkonflikt zwischen der Suche nach einer engeren chronologischen Anordnung für alle Keramik-Typen einerseits und der Definition nach räumlich gut definierten Gruppen andererseits. Keines dieser beiden Kriterien kann als über das andere vorherrschend akzeptiert werden. Computer-Seriation B. J. Kemp nahm eine mehrdimensionale Skalierung der Gräber im Friedhof B in el-Amrah und im Friedhof von el-Mahasna vor. Diese Seriation diente jedoch nicht der Evaluierung von Kaisers Stufen-Chronologie, sondern nur Petries Sequence Dating. T. A. H. Wilkinson führte eine Seriation von acht prä- und frühdynastischen Friedhöfen anhand von 1420 (von insgesamt 1542) Typen aus Petries Korpus durch, die in 141 Gruppen zusammengefasst wurden. Dabei ergaben sich große Probleme mit den neu definierten Gruppen, da sie stark heterogen definiert sind. Beispielsweise wurden die zylindrischen Gefäße mit eingeschnittenen Dekorationen und ohne in die gleiche Gruppe getan, was nach Kaiser ein wichtiger chronologischer Indikator war. Literatur R. O. Allen, H. Hamroush, M. A. Hoffman: Archaeological implications of differences in the composition of Nile sediments. In: Ralph O Allen: Archaeological Chemistry IV: developed from a symposium sponsored by the Division of History of Chemistry at the 193rd meeting of the American Chemical Society, Denver, Colorado, April 5-10, 1987. American Chemical Society, Washington 1989, ISBN 978-0-8412-1449-1, S. 33–56. Dorothea Arnold: Artikel Keramik. In: Wolfgang Helck, Wolfhart Westendorf: Lexikon der Ägyptologie. (LÄ) Band III: Horhekenu - Megeb. Harrassowitz, Wiesbaden 1980, ISBN 3-447-02100-4, Spalte 392–409. Dorothea Arnold, Janine Bourriau (Hrsg.): An Introduction to Ancient Egyptian Pottery (= Deutsches Archäologisches Institut, Abteilung Kairo. [DAIKS] Sonderschrift 17). von Zabern, Mainz 1993. Dorothea Arnold: Studien zur Altägyptischen Keramik (= DAIKS. Sonderschriften 9). von Zabern, Mainz 1981. Dorothea Arnold: Wandbild und Scherbenbefund. Zur Töpfereitechnik der alten Ägypter vom Beginn der pharaonischen Zeit bis zu den Hyksos. In: Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Abteilung Kairo. (MDAIK) Band 32, 1976, S. 1–34. Dean E. Arnold: Ceramic Theory and Cultural Process (= New studies in archaeology.). Cambridge University Press, New York 1985, ISBN 978-0-521-25262-1. Janine D. Bourriau, Paul T. Nicholson, Pamela J. Rose: Pottery. In: Paul T. Nicholson, Ian Shaw (Hrsg.): Ancient Egyptian Materials and Technology. Cambridge University Press, Cambridge/ New York 2000, ISBN 978-0-521-45257-1, S. 121–147. Colin A. Hope: Egyptian Pottery (= Shire Egyptology. Band 5). Shire, Aylesbury 1987, ISBN 0-85263-852-3. E. Christiana Köhler: Buto III. Die Keramik von der späten Vorgeschichte bis zum frühen Alten Reich (Schicht III bis VI) (= Archäologische Veröffentlichungen des Deutschen Archäologischen Instituts Kairo. Band 94). von Zabern, Mainz 1998. Christina Regner: Keramik (= Bonner Sammlung von Aegyptiaca. Band 3). Harrassowitz, Wiesbaden 1998, ISBN 3-447-04114-5 (Online). Robert Schiestl, Anne Seiler: Handbook of Pottery of the Egyptian Middle Kingdom. Band I: The Corpus Volume. Band II: The Regional Volume. Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 2012. Anna Wodzińska: A Manual of Egyptian Pottery (= AERA field manual series.). Ancient Egypt Research Associates (AERA), Boston, 2009/ 2010: Band 1: Fayum A – Lower Egyptian Culture (= AERA field manual series. Band 1). 2009, ISBN 978-0-9779370-2-8. Band 2: Naqada III – Middle Kingdom (= AERA field manual series. Band 1). 2009, ISBN 978-0-9825544-5-6. Band 3: Second Intermediate Period – Late Period (= AERA field manual series. Band 1). 2010, ISBN 978-0-9825544-0-1. Band 4: Ptolemaic Period – Modern (= AERA field manual series. Band 1). 2010, ISBN 978-0-9825544-2-5. Weblinks reshafim.org: Pottery. Digital Egypt for Universities: Einzelnachweise Anmerkungen Altägyptische Technik Kulturgeschichte (Altes Ägypten) Altägyptische Kunst Geschichte der Keramik
7283872
https://de.wikipedia.org/wiki/Boletopsis%20nothofagi
Boletopsis nothofagi
Boletopsis nothofagi ist eine Ständerpilzart aus der Familie der Weißsporstachelingsverwandten (Bankeraceae). Der Pilz bildet graue, gestielte Fruchtkörper aus, die in Büscheln wachsen. Wie alle Arten der Rußporlinge (Boletopsis) hat er eine porige Fruchtschicht. Er unterscheidet sich von seinen Gattungsgenossen unter anderem durch taillierte, längliche Sporen und eine Grünverfärbung als KOH-Reaktion. Boletopsis nothofagi ist ein neuseeländischer Endemit und bildet Mykorrhiza mit der Scheinbuche Nothofagus fusca. Wann genau der Pilz Fruchtkörper ausbildet, ist unbekannt, sie wurden bislang stets im Herbst gefunden. Die Erstbeschreibung der Art von Jerry Cooper und Patrick Leonard stammt aus dem Jahr 2012. Boletopsis nothofagi ist DNA-Untersuchungen zufolge ein eher basaler Vertreter der Gattung Boletopsis. Wahrscheinlich ist der Pilz eine autochthone Art Neuseelands und war auf dem Archipel bereits vor der Ankunft der Europäer heimisch. Er gilt als sehr selten und möglicherweise bedroht, wurde aber bislang noch nicht auf eine Rote Liste aufgenommen. Merkmale Makroskopische Merkmale Die Fruchtkörper von Boletopsis nothofagi wachsen in der Regel büschelig, seltener einzeln. Sie weisen einen mittig gestielten Hut auf, an dessen Unterseite sich das porige Hymenium befindet. Der Hut ist konvex, 10–80 mm breit und 5–22 mm hoch. Bei jungen Exemplaren ist der Rand leicht eingebogen, während sich der Hut älterer Fruchtkörper oft wellt. Die Hutoberfläche ist glatt bis leicht faserig und grau gefärbt. Druck- oder Schürfstellen färben sich dunkler und werden schließlich schwarz. Der Stiel der Art ist innen fest und von keuliger bis zylindrischer Form. Er wird etwa 20–60 mm hoch und 10–25 mm dick. Zum Hut und zur Basis hin verjüngt er sich jeweils leicht. Die Stieloberfläche ist glatt und trocken, sie hat eine ähnliche Farbe wie der Hut und zeigt auch die gleichen Reaktionen auf Beschädigungen. Die weiße, porige Fruchtschicht hat eine Dicke von 1 bis 2 mm und verfärbt sich an Druckstellen bräunlich. Ihre Poren sind eckig, auf einen Millimeter kommen zwei bis drei von ihnen. Durch Trocknung nehmen sie eine rosa-bräunliche Farbe an. Die Fruchtschicht läuft leicht den Stiel hinab und ist scharf umgrenzt. Das getrocknete Fleisch riecht entfernt wie Bockshornklee. Die Morphologie der Mykorrhiza wurde bislang nicht beschrieben, wie bei allen anderen Rußporlingen dürfte es sich aber um Ektomykorrhiza handeln. Mikroskopische Merkmale Boletopsis nothofagi hat eine monomitische Hyphenstruktur, das heißt, alle Hyphen sind generative Hyphen, die dem Wachstum des Pilzes dienen. Der Hut zeigt unter dem Mikroskop eine deutlich ausdifferenzierte Huthaut. Sie besteht aus einer Cutis, also einer Schicht aus liegenden, radial orientierten Hyphen. Sie sind bis zu 2 µm dick, braun pigmentiert und mit kleinen, unförmigen Körnchen besetzt. Letztere färben sich in KOH grün, ein diagnostisches Merkmal innerhalb der Gattung. Die Subcutis besteht auf angeschwollenen, bis zu 6 µm dicken Hyphen. Sie sind dünnwandig, mit Öltröpfchen gefüllt und besitzen Schnallen an allen Septen. Die Hymenialschicht zeigt an den Poren zystidenähnliche Strukturen von 80 × 4 µm. Die Basidien von B. nothofagi sind Pleurobasidien, entstehen also an den Seiten der Hyphen. Sie sind zylindrisch bis keulig geformt, 5–10 × 20–30 µm groß und an der Basis beschnallt. Die Basidien tragen stets vier Sterigmata, auf denen hellbraune, dünnwandige Sporen sitzen. Letztere sind höckerig, endseitig abgeflacht und länglich-tailliert. Im Mittel werden sie 5,3 × 4,1 µm groß, sie reagieren auf keinen der gängigen chemischen Tests. Verbreitung Die Fundstellen von Boletopsis nothofagi beschränken sich auf zwei eng umgrenzte Gebiete auf der neuseeländischen Nord- und Südinsel. Die eine, die auch die Typlokalität der Art bildet, liegt im Rimutaka Forest Park nahe Wellington, die andere bei Saint Arnaud im Norden der Südinsel. Beide Orte liegen vergleichsweise weit voneinander entfernt und abgelegen, was es – zusammen mit der Abwesenheit von B. nothofagi im Rest Neuseelands – unwahrscheinlich macht, dass der Pilz erst in jüngerer Zeit nach Neuseeland eingeführt wurde. Wahrscheinlicher ist, dass es sich um eine autochthone, äußerst spärlich verbreitete Art handelt, die bei früheren Kartierungen stets übersehen wurde. Bei B. nothofagi handelt es sich um die südlichste Art der Gattung Boletopsis, die nächsten Verwandten kommen in Asien und Costa Rica vor. Ökologie Die Vorkommen von Boletopsis nothofagi sind offenbar stark an die Scheinbuche Nothofagus fusca, eine auf Neuseeland endemische Baumart der Buchenartigen (Fagales), gebunden. Bislang wurde der Pilz ausschließlich in N.-fusca-Wäldern gefunden, die in ganz Neuseeland südlich von 37° S verbreitet sind. Mit den Bäumen bildet er Ektomykorrhiza, bei der die Myzelfäden des Pilzsymbionten die Wurzeln des Pflanzensymbionten umhüllen und in die Rinde, nicht aber in seine Zellen eindringen. In der Folge übernimmt der Pilz die Funktion der Wurzelhaare und leitet Wasser und Bodennährstoffe an den Baum weiter. Umgekehrt kann er über den Kontakt zum Wurzelgewebe des Baumes auf Photosyntheseprodukte seines Mykorrhizapartners zugreifen. Die Fruchtkörper der Art wurden bislang immer im Mai (Ende Herbst) gefunden. Über die Standortansprüche von B. nothofagi – etwa Luftfeuchtigkeit, Temperatur, Bodenzusammensetzung oder Wassergehalt – ist bislang kaum etwas bekannt. Da die Art aber nur mit N. fusca vorzukommen scheint, dürfte er weitgehend mit ihren Ansprüchen konform gehen. Die Baumart bevorzugt Tief- und Hügelland entlang von Flusstälern und wächst meist auf nährstoffreichem, gut entwässertem Boden. Die Art ist eher im Inland als in den Küstenregionen zu finden. Systematik 2009 wurde im Orongorongotal nahe Wellington eine unbekannte Rußporlingsart gefunden. 2010 wurde der Pilz an der gleichen Stelle wiedergefunden und zudem auch auf der Südinsel entdeckt. Nachdem morphologische Vergleiche und eine DNA-Analyse weiterer Arten der Gattung zu dem Schluss kamen, dass sich der Pilz keinem bekannten Vertreter zurechnen ließ, beschrieben ihn die neuseeländischen Mykologen Jerry A. Cooper und Patrick Leonard als neue Art. Die Erstbeschreibung als Boletopsis nothofagi erschien im Fachjournal . Die beiden Autoren wählten das Artepitheton nothofagi in Anlehnung an die Eigenschaft des Pilzes als Mykorrhiza-Symbiont von Nothofagus fusca. Geschwollene Hyphen und glatte Sporen weisen B. nothofagi als einen Angehörigen der Untergattung Boletopsis subgen. Boletopsis aus. B. nothofagi ist ein genetisch klar differenzierter Vertreter der Untergattung Boletopsis, der sich nach den Untersuchungen Coopers und Leonards relativ früh vom Vorläufer der meisten anderen bekannten Arten trennte. Lediglich eine nordamerikanische, B. leucomelanea zugeordnete Probe zweigt in ihrem phylogenetischen Baum noch früher ab. Allerdings werden die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen vielen Arten in der Studie nicht voll aufgelöst, zudem dürften in der Zukunft wohl auch noch neue Arten beschrieben werden. Die Entwicklungsgeschichte von B. nothofagi bleibt deshalb weitgehend unklar. Status Der Umstand, dass Boletopsis nothofagi erst 200 Jahre nach der europäischen Besiedlung Neuseelands gefunden wurde, illustriert nach Cooper und Leonard die Seltenheit dieser Art, könnte aber auch dadurch bedingt sein, dass die Art möglicherweise selten fruktifiziert. Beide Autoren gehen davon aus, dass die Art äußerst spärlich vorkommt und dies nicht auf menschliche Einwirkung zurückzuführen ist. Zwar liegen keine Daten zur Bestandsentwicklung oder historischen Verbreitung der Art vor, Cooper und Leonard betrachten die Art aber dem neuseeländischen Naturschutzprogramm entsprechend als „von Natur aus selten“ (). Mit Blick auf den prekären Status einiger verwandter Taxa in Europa mahnen sie für die Zukunft genauere Untersuchungen an. Quellen Literatur Weblinks Nelson/Marlborough Conservancy: (PDF; 282 kB) Department of Conservation, Christchurch 2006. www.doc.govt.nz. Einzelnachweise Warzenpilzartige Thelephorales
7321047
https://de.wikipedia.org/wiki/Allodus%20podophylli
Allodus podophylli
Allodus podophylli (Syn. Puccinia podophylli) ist eine Ständerpilzart aus der Ordnung der Rostpilze (Pucciniales). Der Pilz bildet gelbliche und bräunliche Sporenlager auf dem Schildförmigen Fußblatt (Podophyllum peltatum) aus, das er als Endoparasit befällt. Seine Verbreitung deckt sich mit der des Wirtes und umfasst das gemäßigte östliche Nordamerika. Allodus podophylli durchläuft keinen Wirtswechsel und bildet von Frühjahr bis Sommer Spermogonien, Aecien und Telien auf der gleichen Wirtsart aus. Erstbeschrieben wurde die Art 1822 von Lewis David von Schweinitz. Nachdem sie lange Zeit als Vertreter der Gattung Puccinia geführt wurde, gilt sie mittlerweile als einzige Art der Gattung Allodus. Sie zweigt relativ früh im Stammbaum der Unterordnung Urediniae ab und ist mit Puccinia nicht näher verwandt. Merkmale Makroskopische Merkmale Die Sporenlager von Allodus podophylli sind relativ unscheinbar, heben sich aber durch eine Verfärbung der umgebenden Epidermis hervor. Die Aecien und Spermogonien wachsen auf runden bis ellipsoiden, gelben Blattflecken von 3–10 mm Durchmesser. Diese Flecken können spärlich bis gesellig auf den Blättern verteilt sein. Die orangegelben Aecien brechen meist auf ihrer Unterseite als runde und becherförmige, orangegelbe Hügelchen hervor. Relativ bald nehmen sie eine brüchige, pulverige Konsistenz an. Die Spermogonien der Art wachsen den Aecien gegenüber auf der Blattoberseite und sind entfernt als goldgelbe, kugelige bis flachkugelige Warzen zu erkennen. Uredien besitzt Allodus podophylli nicht. Die dunkelbraunen Telien der Art wachsen einzeln oder gesellig auf gelben Blattflecken, verfärbten Stellen der Stängel oder der Kelchblätter, teilweise auch gemeinsam mit Aecien und Spermogonien. Zunächst wachsen sie unter der Epidermis, später stoßen sie aus dieser hervor. Im Laufe der Zeit werden sie pulverig und verwachsen oft miteinander. Mikroskopische Merkmale Wie alle Rostpilze wächst Allodus podophylli interzellulär, also zwischen den Gewebezellen seines Wirtes. Der Pilz bildet Saugfäden, sogenannte Haustorien aus, die in die Mesophyllzellen der Pflanze eindringen. Zwar können Aecien und Telien parallel aus dem gleichen Myzel entstehen, sie besitzen aber jeweils eigene Saugfäden, die sich morphologisch auch deutlich unterscheiden. Die bis zu 300 µm großen Aecien der Art lassen unter dem Mikroskop 29,0–35,0 × 24,0–30,0 µm große, typischerweise rhombische Peridienzellen erkennen. Ihre Außenwände sind runzelig, die Innenwände punktiert. Die Aeciosporen sind 25,5–32,0 × 22,5–29,0 µm groß und werden in Ketten gebildet. Ihre Form schwankt zwischen kugelig, ellipsoid und unregelmäßig polyedrisch. Sowohl ihr Inneres als auch ihre rund 1 µm dicken Wände sind hyalin (farblos durchscheinend). Junge Aeciosporen besitzen eine glatte Oberfläche, bei älteren Exemplaren zeigen sich in der Regel feine Warzen. Jede von ihnen verfügt für gewöhnlich über fünf auffällige Keimporen. Die Spermogonien offenbaren in mikroskopischer Ansicht feinporiges Fasergewebe. Ihr Durchmesser lässt sich auf etwa 130–160 µm abschätzen. Die hyalinen Spermatien des Pilzes erreichen eine Größe von 8,0–10,5 × 3,0–5,0 µm und sind ellipsoid über ei- bis nierenförmig. Ihre Wand ist glatt. Allodus podophylli besitzt 37,0–59,0 × 16,0–27,0 µm große Teliosporen mit stets zwei Zellen. Sie haben eine ellipsoide oder keulenähnliche Form und sind an der Spitze abgestumpft, während sie an der Basis auch leicht zugespitzt sein können. Auf Höhe des Septums können sie leicht eingeschnürt bis untailliert sein. Die Teliosporen sind von dunkelbrauner Farbe und besitzen 1–2 µm dicke Wände. Ihre Oberfläche ist spärlich mit bis zu 7,5 µm langen, teilweise hakenförmigen Stacheln besetzt. Die Stiele der Teliosporen sind länglich, rund und bis zu 9,5 µm lang. Sie sind fragil, dünn und hängen oft noch in Resten an den abgelösten Sporen. Verbreitung Das Verbreitungsgebiet von Allodus podophylli deckt sich vollständig mit dem des einzigen bekannten Wirtes, dem Schildförmigen Fußblatt (Podophyllum peltatum). Es umfasst den Osten der Vereinigten Staaten jenseits der , allerdings ohne die Halbinsel Florida. Es zieht sich die Atlantikküste entlang nach Norden, wo es bis ins südwestliche Maine reicht. Von dort aus verläuft die nördliche Verbreitungsgrenze durch den Süden Ontarios bis ans Westufer des Lake Huron. Die bilden den nordwestlichsten Punkt des Artareals, von hier aus verläuft die Verbreitungsgrenze von Schildförmigem Fußblatt und Allodus podophylli fast stetig südwärts bis nach Osttexas, wo es auf die Golfküste trifft. Im Norden wird das Artareal durch die 20 °C-Januarisotherme begrenzt; die Pflanze hält sich nur in Regionen mit mindestens 150 frostfreien Tagen, beginnend mit dem frühen Mai. Die westliche Verbreitungsgrenze ist durch das niederschlagsärmere Klima der Plains verursacht, während die warmen Winter Floridas als limitierender Faktor im Südosten gelten. Ein als Puccinia podophylli bestimmter Pilzfund an dem chinesischen Berberitzengewächs Diphylleia sinensis wirft die Frage nach einer weiteren Verbreitung als der bisher bekannten auf. Da das entsprechende Material aber bislang nicht näher untersucht wurde und zwischen beiden Wirtsarten eine große geographische wie verwandtschaftliche Entfernung besteht, bleibt fraglich, ob es sich hier tatsächlich um Allodus podophylli handelt. Ökologie Allodus podophylli weist gegenüber den für Rostpilze möglichen Entwicklungsstufen einen vereinfachten sogenannten mikrozyklischen Lebenszyklus auf. Die Art verfügt nicht über ein asexuelles Zwischenstadium mit Uredien, sondern geht von Aecien und Spermogonien direkt zur Telienbildung über. Obendrein nimmt die Art keinen Wirtswechsel vor, sondern verbringt ihren gesamten Entwicklungszyklus auf dem Schildblättrigen Fußblatt. Die ersten Sporenlager, die Spermogonien, werden gegen Ende des Frühjahrs ausgebildet, die Aecien folgen bald darauf. Der Pilz infiziert seinen Wirt über die Teliosporen, die aus dem letzten Jahr überwintert haben und auf dem Erdboden lagern, aus dem die jungen Pflanzen sprießen. Die Infektion der Pflanze ist nicht systemisch, auch kann das Myzel des Pilzes nicht in ihr überwintern. Betroffen sind zunächst vor allem die Blattknospen des Schildblättrigen Fußblattes, die als erstes erscheinen. Die Teliosporen bilden relativ schnell und innerhalb eines kurzen Zeitraums Basidien aus. Deren sexuelle Sporen fallen auf die freigelegten Pflanzenteile und bilden dort ein Myzel aus, aus dem Aecien und Spermogonien entstehen. Die Spermogonien erscheinen zuerst, kurze Zeit darauf die Aecien. Die erste Teliengeneration bildet sich oft zur gleichen Zeit aus und entstammt dann dem Sporenflug aus bereits entwickelten Aecien auf anderen Pflanzen. Aus den von den Aecien produzierten Aeciosporen entwickelt sich schließlich auch die Sommergeneration des Pilzes, die wiederum aus Telien besteht. Pro Jahr gibt es dagegen nur eine Generation von Aecien und Pyknien. Die Telien der Sommergeneration produzieren in der Regel jene Teliosporen, aus denen im nächsten Jahr die Frühjahrsgeneration keimt. Ihre dicken Wände schützen sie vor den Frösten des Winters, während ihre langen Stacheln verhindern, dass sie bei Regen in die Erde gewaschen werden. Eine nicht näher bestimmte Fliegenart der Gattung Mycodiplosis ist ein häufiger Fressfeind des Pilzes und ernährt sich von seinen Sporenlagern. Systematik Die Erstbeschreibung der Art stammt aus dem Jahr 1822. Sie erschien in Lewis David von Schweinitz’ Opus magnum über die Pilzflora North Carolinas. Von Schweinitz beschrieb den Pilz anhand seiner Aecien als Aecium podiophyllum, also in der Anamorphengattung von Puccinia. Dabei verwechselte er versehentlich Teliosporen mit den Aeciosporen, was Johann Heinrich Friedrich Link drei Jahre später dazu veranlasste, die gleiche Art unter dem gleichen Namen noch einmal zu beschreiben. Links Beschreibung hat jedoch nach der botanischen Nomenklatur keine Berechtigung. In die Gattung Allodus stellte den Pilz erstmals Joseph Charles Arthur 1906. Er hatte sie in einer Revision der Rostpilze als Formgattung für jene Puccinia-Arten eingeführt, die keine Uredien und keinen Wirtswechsel aufweisen, pigmentierte, zweizellige Teliosporen besitzen und deren Sporenlager gemeinsam und unter der Epidermis wachsen. Einige Jahrzehnte kam er allerdings zu dem Schluss, dass der Entwicklungszyklus kein ausreichendes Kennzeichen natürlicher Verwandtschaftsgruppen sei und verwarf die Gattung Allodus wieder. Dementsprechend wurde der Pilz für den Rest des 20. Jahrhunderts als Puccinia podophylli geführt. Erst molekulargenetische Untersuchungen der Rostpilze deckten gegen Beginn des 21. Jahrhunderts die Polyphylie der Gattung Puccinia auf, allerdings weitgehend ohne daraus Konsequenzen für die Nomenklatur zu ziehen. Andrew Minnis, Alistair McTaggart, Amy Rossman und Catherine Aime überführten die Art schließlich auf Basis einer phylogenetischen Studie zurück in die Gattung Allodus, deren einziger sicherer Vertreter sie bislang ist. Zudem legten sie einen Neotypus für die Art fest. Den DNA-Analysen zufolge steht die Gattung außerhalb der Pucciniaceae und nimmt eine basale Position in deren weiterem Verwandtschaftskreis, der Unterordnung Urediniae, ein. Quellen Literatur Weblinks Einzelnachweise Rostpilze Pucciniales Pflanzenkrankheit
7871862
https://de.wikipedia.org/wiki/She%E2%80%99s%20Got%20It
She’s Got It
She’s Got It ist ein Rock-’n’-Roll-Song von Little Richard aus dem Jahr 1956. Das Stück basiert auf Little Richards zuvor unveröffentlichter Komposition I Got It, zu der John Marascalco für die Verwendung im Film The Girl Can’t Help It einen neuen Text schrieb. Die Songstruktur mit dem Wechsel von Strophe und Refrain über einem zwölftaktigen Blues macht den Song zu einem Prototyp des Genres. Little Richard erreichte mit der Single auf Specialty Records die R&B-Charts des Billboard Magazins und 1957 auf London Records die britischen Top 30. Im Verlauf seiner Karriere spielte Little Richard She’s Got It erneut für Vee-Jay Records und K-tel ein. Der Song wurde national und international auf unterschiedlichen Tonträger-Formaten wiederveröffentlicht, ebenso ab 1960 die ursprüngliche Version I Got It. She’s Got It wurde von den Briten Johnny Guitar und Paul Murphy sowie vom San-Marinesen Little Tony, in Deutschland von Jimmy and the Rackets, von den Australiern Col Joye und Johnny Cooper, von der dänischen Band The Beefeaters sowie von den Finnen Rock-Jerry und Seppo Hovi gecovert. 1976 spielte Brian Protheroe den Song und 1978 die amerikanischen Band The Poppees. Eine französische Version Elle est mordue der Band Les Forbans liegt seit 1981 vor, 1986 folgte eine italienische Adaption durch Adriano Celentano. Ab 1980 spielten die Coverinterpreten Sleepy LaBeef, Mike Smith, The Brandos und The Tremors auch die frühe Version I Got It nach. Frank Lee Sprague folgte 2004 und Cliff Richard 2016 der von Marascalco überarbeiteten Fassung. Entstehung Nach den großen Charterfolgen seiner ersten beiden Singles Tutti Frutti Ende 1955 und Long Tall Sally Anfang 1956 für das kalifornische Independent-Label Specialty Records ging Little Richard am 9. Mai 1956 für eine weitere Session mit der Studio Band in Cosimo Matassas J&M Studio nach New Orleans. Bereits am 13. April des Jahres hatte der Label-Chef Art Rupe für Little Richards Eigenkomposition I Got It das Copyright bei der Library of Congress für den Specialty-Verlag Venice Music eintragen lassen. Unter der Leitung seines Produzenten Bumps Blackwell spielte Little Richard neben I Got It in Begleitung von Edgar Blanchard und Ernest McLean an den Gitarren, Frank Fields am Bass, Lee Allen am Tenorsaxophon, Alvin Tyler am Baritonsaxophon und Earl Palmer am Schlagzeug mit den späteren Hits Rip It Up, Ready Teddy und Heeby-Jeebies drei Kompositionen des Songwriters John Marascalco ein. Von den mindestens neun Takes von I Got It sind zumindest drei erhalten, die allerdings im Gegensatz zu den anderen Aufnahmen der Session nicht zeitnah zur Veröffentlichung kamen. Im Sommer des Jahres tourte Little Richard mit seiner Live-Band The Upsetters, als ein Angebot von 20th Century Fox für einen Cameo-Auftritt in Frank Tashlins Film The Girl Can’t Help It einging. Das Drehbuch sah vor, dass Little Richard mit Band in einem Klub auftritt, während der Künstleragent Tom Miller, gespielt von Tom Ewell, die Sängerin Jerri Jordan, gespielt von Jayne Mansfield, dazu auffordert, sich beim Gang zur Damentoilette dem Klubbesitzer Lucas, gespielt von George Givot, zu zeigen. Die Auswahl der Songs fiel auf Ready Teddy und I Got It, welches aber als Soundtrack zu Mansfields Weg durch den Klub inhaltlich anzupassen war. Art Rupe beauftragte daher John Marascalco mit einem neuen Text für das nun She’s Got It betitelte Stück und beorderte Little Richard für eine Neuaufnahme nach New Orleans. Mit Rip It Up und Ready Teddy auf Specialty 579 war gerade die dritte Hit-Single für Little Richard in Folge in den Charts, was das Selbstbewusstsein des extrovertierten Sängers gegenüber seinem Label steigerte. So weigerte er sich, erneut in New Orleans mit Matassas Studioband aufzunehmen, da er seine Upsetters musikalisch für ebenbürtig hielt. Zwar versuchten Art Rupe und Bumps Blackwell, ihn vom Gegenteil zu überzeugen, er drohte aber mit Vertragsbruch, sollte seinen Wünschen nicht entsprochen werden. Die Produzenten willigten schließlich ein. Die Session wurde für den 6. September 1956 im Studio Master Recorders in Los Angeles angesetzt. Die Upsetters bestanden aus Nathaniel Douglas an der Gitarre, Olsie Robinson am Bass, Clifford Burks, Wilbert Smith und Grady Gaines an den Tenorsaxophonen, Jewell Grant am Baritonsaxophon und Charles Connor am Schlagzeug. Marascalco kam zur Session hinzu und erinnerte sich: „Ich hatte Richard nie bei der Arbeit im Studio erlebt, obwohl er schon mehrere meiner Lieder aufgenommen hatte. Ich fragte Bumps, ob ich vorbeikommen könne und er sagte okay. Sie spielten She’s Got It und ein paar andere Songs. Bumps hatte die Studioband für gewöhnlich komplett unter Kontrolle, aber in dieser speziellen Session übernahm Richard das Ruder völlig. (…) Mr. Rupe und Bumps waren anwesend, aber ich erinnere mich nicht, dass Bumps Anweisungen oder Anmerkungen gegeben hätte, außer: ‚Du hast wieder I Got It gesagt, Richard. Stopp!‘ Art Rupe lehnte sich nur zurück und sagte ‚Yeah, das ist gut!‘ oder ‚Nimm etwas mehr von diesem oder jenem dazu.‘ Richard hatte sie gefordert und es war seine Session.“ Neben zwei Takes der ursprünglichen Version von I Got It wurden mindestens zwei Takes des überarbeiteten She’s Got It aufgenommen. Das Copyright für die neue Version wurde erst elf Tage später am 17. September auf Richards Geburtsnamen Penniman und Marascalco registriert. Der Film feierte am 1. Dezember 1956 seine Kinopremiere. Musikalischer Aufbau She’s Got It basiert wie viele Rock-’n’-Roll-Stücke auf dem zwölftaktigen Blues: Auf vier Takte Tonika folgen zwei Takte Subdominante und wieder zwei Takte Tonika. Über je einen Takt Dominante und Subdominante kommt das Schema mit zwei weiteren Takten auf der Tonika zum Abschluss. Der Song wiederholt das Schema zehnmal, wobei die Strophen jeweils auf die ersten vier Takte Tonika fallen und der Refrain die Takte fünf bis zwölf einnimmt. Die Strophen werden als Stop Times dargeboten, das heißt, das Schlagzeug akzentuiert lediglich den jeweils ersten Schlag der Takte, während die anderen Instrumente schweigen und die perkussive Funktion der Stimme beim Herausbrüllen des Textes voll zum Tragen kommt: Pro Strophe bringt der Sänger auf diese Weise 13 bis 23 Silben in vier Takten unter. Auf dem dritten und vierten Takt imitiert er dabei in der Melodieführung einen aus dem Boogie-Woogie bekannten Basslauf. Zum Refrain hält der Sänger zwar die Dynamik, lässt aber den Saxophonen Raum für nach dem Prinzip des Call and Response antwortende, mehrstimmige Riffs. Little Richards stimmliches Markenzeichen, das von der Gospel-Sängerin Marion Williams inspirierte hohe, falsetthafte „Whoooo!“ tritt im Übergang vom siebten zum achten Takt markant hervor. (Musikzitat nach Little Richards She’s Got It auf Specialty 584; Musik: Richard Penniman; Text: John Marascalco) Der Ablauf des Songs über die zehn Schemata hinweg sieht einen unvermittelten Start ohne instrumentales Intro vor. Die erste Strophe wird um vier Takte Tonika verlängert, sie ist besonders wortreich und lässt die Boogie-Woogie-Melodie noch aus. Es folgen die Strophen zwei bis vier, jeweils mit Refrain. Auf dem fünften und sechsten Schema soliert das Tenorsaxophon und wird dabei von einem triolisch hämmernden Klavier unterstützt. Nach der fünften und sechsten Strophe auf dem siebten und achten Zwölftakter folgt auf dem neunten Schema eine textlich an Titel und Refrain angelehnte Improvisation des Sängers. Das letzte Schema wird wieder von Klavier und Saxophon-Solo dominiert, fadet aber zum Ende hin aus. Inhalt Der erste Text von I Got It stammte aus der Feder von Little Richard, der darin Kindheitserinnerungen aus seiner Heimatstadt Macon, Georgia verarbeitete. Es handelt sich um eine Art „Straßenverkäufer-Song“, dessen Protagonist einen kleinen Mann besingt, der auf der Straße die Namen verschiedener Speisen ruft. Dabei zitiert er als Moral mehrfach das Sprichwort „It ain’t what you do, it’s the way that you do it. It ain’t what you eat, it’s the way that you chew it“ (deutsch: Es geht nicht darum, was du tust, sondern wie du es tust. Es geht nicht darum, was du isst, sondern wie du es kaust.). John Marascalco musste in seiner Überarbeitung statt des „kleinen Mannes mit dem Ziegenwagen“ die Film-Sängerin Jerri Jordan in Szene setzen, was ihm nach Einschätzung von Stuart Colman in „stark provozierender“ und „zungenschnalzender“ Weise mit den Worten „you can see her every day, strolling up and down the way, looking so pretty and this is what I say: She’s got it“ (deutsch in etwa: du kannst sie jeden Tag die Straße auf und ab schlendern sehen. Sie sieht dabei so gut aus, dass ich nur sagen kann: Sie hat das gewisse Etwas!) auch gelang. Die Beschreibung „big blue eyes, long black hair“ (deutsch: große blaue Augen, langes schwarzes Haar) der blonden Schauspielerin Jayne Mansfield blieb in Marascalcos Text aber fehlerhaft. Gert Raeithel hört in She’s Got It lediglich Little Richards Schwärmerei für die „wohlgeformten Hüften“ seiner Freundin. Veröffentlichungen She’s Got It erschien am 1. Oktober 1956 zusammen mit Heeby-Jeebies auf der Single Specialty 584 im 78er- und 45er-Format. Die Single wurde mehrmals neu aufgelegt. Länderspezifische Ausgaben erschienen in Kanada auf Regency 538, in Belgien auf Ronnex 1188, in den Niederlanden auf Artone 24034 sowie 24149 und in Südafrika auf London Records. Für die britische Ausgabe auf London Records 8382 wurde im März 1957 She’s Got It mit dem ebenfalls von Little Richard interpretierten Titelsong des Films The Girl Can’t Help It gekoppelt. Auch diese Ausgabe erschien für 78 und 45 Umdrehungen. Diese Songkombination nutzte London Records auch für deutsche, italienische, französische und schwedische Ausgaben. In Brasilien wurde She’s Got It mit dem im Film zuvor gezeigten Ready Teddy auf London LA-155 für 78 Umdrehungen kombiniert. In Norwegen übernahm Decca Records den Verkauf der Platte. Der Song war im März 1957 auch auf der ersten EP Little Richards mit dem Titel Here’s Little Richard Vol. 1 unter der Nummer Specialty SEP-400 zu finden, die in Belgien bei Moonglow Records herauskam. Eine britische EP namens Little Richard and His Band erschien bereits im Februar 1957 und war damit die erste britische Ausgabe des Titels überhaupt. Die schwedische EP Golden Hits – Vol. 3 erschien als Sonet SXP-6074. Auch Little Richards erstes Album Here’s Little Richard, in das der Song Eingang fand, erschien im März 1957 unter der Nummer 100 und im Juni unter der Nummer 2100. Von diesem Album liegen britische, australische, französische, italienische, japanische, niederländische und südafrikanische Ausgaben vor, deren Veröffentlichung sich bis in die 1970er-Jahre hinzog. Das Album gilt heute als Meilenstein der Rockgeschichte und wird immer wieder in verschiedenen Formaten neu aufgelegt. 1968 erschien erstmals eine durch Hinauszögern des Fadeouts um 12 Sekunden längere Version des Stücks auf dem Specialty-Album Little Richard’s 17 Grooviest Hits. Im Herbst 1957 beendete Little Richard vorübergehend seine Laufbahn als Rock-’n’-Roll-Musiker und studierte Theologie. Specialty Records veröffentlichte nach und nach bisher zurückgehaltene Aufnahmen, darunter im Januar 1960 auch I Got It zusammen mit Baby auf Specialty 681. Auch diese Single wurde international vermarktet, vor allem als London HL-U 9065 in Großbritannien, Deutschland, Dänemark, Italien und in den Niederlanden. Ein ungewöhnliches Format hat die EP Richard Rules des britisch-schwedischen Ablegers von Specialty Records, die I Got It auf der A-Seite für 45 Umdrehungen und drei weitere Songs auf der B-Seite für 33 Umdrehungen pro Minute koppelt. 1972 kam eine Kompilation der gleichen Firma in Großbritannien unter dem Titel Rock Hard Rock Heavy auf den Markt, zu dem es jeweils ein spanisches Pendant auf Discophon Records und ein italienisches auf Sonet gibt. Ein weiteres Album der deutschen Zweigstelle von Metronome Records namens King of Rock Vol. 2 aus dem Jahr 1975 enthielt ebenfalls I Got It. Das niederländische Bootleg The Rare beziehungsweise Rare Recordings auf Redita RLP-101 brachte 1972 erstmals alternative Takes aus den Archiven von Specialty Records zu Gehör. Ausgewählt wurde hierzu eines jener beiden Takes von I Got It, welche während der Vorbereitung der Neueinspielung zusammen mit den Upsetters am 9. September 1956 in Los Angeles aufgenommen worden waren. Alle erhaltenen Versionen erschienen offiziell erst 1989 auf der 6-CD-Box The Specialty Sessions aus dem Hause Ace Records. Nach einem nicht zufriedenstellenden Comeback bei Specialty Records im Jahr 1964 wechselte Little Richard in den folgenden Jahren häufig die Plattenfirma. Im Dezember 1964 war er bei Vee-Jay Records unter Vertrag und spielte unter der Leitung von R. Parker in Los Angeles mit einer unbekannten Begleitband seine größten Hits ein, darunter auch She’s Got It. Unter dem Titel Little Richard’s Greatest Hits erschienen die Aufnahmen auf der LP Vee-Jay 1124 und auf Exodus 319. Für Großbritannien und die Niederlande zeigte sich Fontana Records verantwortlich, weitere britische Ausgaben und eine deutsche Veröffentlichung erschienen bei Joy Records. Auch in Australien erschien das Album auf Philips und RCA Camden. Alle Titel des Albums wurden in drei Single-Reihen bei der Vee-Jay-Tochter Oldies Records und bei Buddah Records veröffentlicht. Für She’s Got It wurde die B-Seite hinter The Girl Can’t Help It und die Plattennummer 196 gewählt. Der Vee-Jay-Katalog erfuhr zudem eine weltweite Verbreitung durch zahlreiche Neu-Veröffentlichungen auf Budget-Labels. 1976 schloss Litte Richard einen Vertrag mit S. J. Productions und ging unter der Leitung von Stan Shulman und David Thompson ins Audio Media Studio nach Nashville, Tennessee, wo die Toningenieure Jack Jackson und Paul Whitehead mit Unterstützung von Studiomusikern einmal mehr seine größten Specialty-Hits aufnahmen. Dabei übernahm Jackson persönlich den Bass, Eddie Bayres das Schlagzeug, Paul Worley die Gitarre, Dennis Burnside die Keyboards und Don Jackson das Saxophon. Die 20 Songs der ergiebigen Session erschienen beim Label K-tel als Album Little Richard Live! / 20 Super Hits. Laut Angaben auf der Plattenhülle spielte Little Richard vor Publikum, wovon in der Aufnahme aber nichts zu hören ist. Das Album erschien ab 1977 unter verschiedenen Titeln in Australien, Kanada, den Niederlanden, Frankreich, Brasilien, Amerika, Großbritannien, Deutschland und Japan. Coverversionen Die erste Coverversion des Stücks war eine nur eineinhalbminütige britische Produktion: Die Liverpooler Johnny Guitar und Paul Murphy spielten She’s Got It Anfang 1957 nach, gerade als das Stück auf den englischen Markt gekommen war. Die Demoaufnahme, die nur mit akustischen Gitarren begleitet wird, übernimmt Rhythmik, Melodie und Harmonik des Originals, zeigt aber kreativen Umgang mit dem nachgehörten Text. Die Aufnahme erschien erst 2002 auf dem Sampler Unearthed Merseybeat. Vol. 1 des Viper-Labels. 1959 veröffentlichte der san-marinesische Musiker Little Tony die beiden Little-Richard-Stücke She’s Got It und Lucille auf Durium 6526. Unter dem Interpretennamen „Little Tony and His Brothers“ erschienen die Aufnahmen auch auf EP und LP in Italien, Frankreich und Deutschland. Der Brite Jim Duncombe war Anfang der 1960er-Jahre mit seiner Rock-’n’-Roll-Band Jimmy and the Rackets vor allem in Deutschland aktiv und erfolgreich. Für die Eigenproduktion eines selbstbetitelten Albums spielten die Rackets am 25. Februar 1964 – in der Besetzung Duncombe an Gitarre und Mikrophon, Lawrence Spector am Bass, Barry Jeffers am Piano und Reginald Washington am Schlagzeug – im Ludwigsburger Tonstudio Bauer mit Unterstützung des Toningenieurs Kurt Rapp in dreieinhalb Stunden 13 Titel ein. Darunter befand sich eine Version von She’s Got It, die zusammen mit My Soul als A-Seite auf Single ausgekoppelt wurde. My Soul erreichte Platz sieben der deutschen Media-Control-Charts. Das Album Jimmy and the Rackets erschien bei der Deutschen Austrophon auf deren Label Elite Special unter der Nummer SOLP 30 039. 1964 fand der Titel Eingang in das Repertoire australischer Rock-’n’-Roll-Interpreten. Im Juli des Jahres veröffentlichte Festival Records She’s Got It hinter Just a Little Too Much als B-Seite der Single FK-683 des Sängers Col Joye. Drei Jahre später folgte auf dem australischen Label In Records die Single-Veröffentlichung IN-S-2507 von Johnny Cooper, welche erneut auf der Split-EP The “In” Crowd herauskam und dabei mit Titeln von The Pink Finks und Little Gulliver gekoppelt wurde. Mitte der 1960er gab es in Skandinavien zahlreiche Beat-Gruppen, die sich des Repertoires ihrer amerikanischen Vorbilder annahmen. Die She’s-Got-It-Version der dänischen Gruppe The Beefeaters in der Besetzung Søren „Bøf“ Seirup am Bass und Mikrofon, Lars Kofoed und Carl Parling an der Rhythmusgitarre, Jimmy „Biller“ Sardorf an der Sologitarre und Niels Kjær Mortensen am Schlagzeug wurde zusammen mit Aufnahmen von unbekannten Bands auf einer EP der Reihe Beat Records Club unter der Nummer BRC 1003 veröffentlicht. Der finnische Interpret Rock-Jerry spielte She’s Got It 1974 für sein Album I’m in Love Again ein, das auf Finnlevy SFLP 9552 erschienen ist. Der Titel wurde zudem mit einer zusätzlichen Autornennung des Arrangeurs und Pianisten Kaj Westerlund auf Single der finnischen Decca unter der Nummer SD 5804 ausgekoppelt. Neben Rock Jerry und Westerlund musizierten Antero Jakoila und Nono Söderberg an den Gitarren, Pentti Mutikainen am Bass, Aimo Hakala am Schlagzeug sowie Sakari Kukko und Tapio Tuominen an den Saxophonen. Im gleichen Jahr legte der ebenfalls aus Finnland stammende Seppo Hovi als sein Debütalbum eine Musikkassette mit Rock-’n’-Roll-Stücken vor, die er für Hammondorgel arrangierte. Auf seinem Album Leave Him to Heaven zum gleichnamigen Musical von 1976 vereinte der britische Sänger und Schauspieler Brian Protheroe viele Rock-’n’-Roll-Klassiker, darunter auch als Medley neben Rock Around the Clock und Rockin’ Robin die Little-Richard-Stücke Tutti Frutti, The Girl Can’t Help It sowie She’s Got It und die weitere Komposition Marascalcos Ready Teddy. Die Platte erschien bei Chrysalis Records unter der Nummer CHR-1118. 1978 coverte die amerikanische Band The Poppees den Song für die B-Seite ihrer zweiten und letzten Single hinter Jealousy. Die Aufnahme dazu fand in den New Yorker Sundragon-Studios unter der Leitung der Produzenten Cyril Jordan und Greg Shaw statt. Arthur Alexander und Bobby Dee spielten die Gitarren, Jet Harris saß am Schlagzeug und Pat Lorenzo übernahm den Bass. Die Single erschien bei Bomp Records unter der Nummer 106 im Vertrieb der Visa Records. Eine deutsche Ausgabe kam als Line 6.14383 auf den Markt. Die französische Rockabilly-Band Les Forbans legte 1981 auf Polydor 2393 289 ihr Debütalbum Le rock des copains vor, das She’s Got It mit einem französischen Text von Jacques Barsamian unter dem Titel Elle est mordue enthält. Es musizierten Albert Kassabi als Sänger, Patrick Papain an den Tasten, Christophe Camilotte und Jean-Louis Bergerin an den Gitarren, Dominique Lupo am Bass und Michel Papain am Schlagzeug. 1986 folgte eine Instrumentalversion mit dem italienischen Titel Mi scade („[Die Zeit] ist um!“) auf Adriano Celentanos Album I miei americani 2 beim eigenen Label Clan Celentano. Das Arrangement steuerten Celentano und Miki Del Prete bei. Neben She’s Got It wurde auch die Erstversion des Stücks, I Got It, von diversen Interpreten gecovert. 1980 spielte Sleepy LaBeef ein Rockabilly-Album ein und setzte I Got It als erstes Stück. Das Album, welches nach dem Sprichwort aus dem Text von Little Richard It Ain’t What You Eat (It’s the Way How You Chew It) betitelt wurde, erschien bei Rounder Records. Mike Smith folgte 1990 mit seinem Album It’s Only Rock ’n’ Roll auf Mooncrest Records, auf dem auch Little Richards zweiter Filmsong The Girl Can’t Help It enthalten ist. Die amerikanische Band The Brandos spielte 1999 ein Konzert auf der Freilichtbühne Loreley in der Reihe WDR Rockpalast und veröffentlichte es unter dem Titel Live at Loreley. Das Live-Album erschien beim bandeigenen Label Haunted Field Music unter der Nummer HF120299 und enthielt als Schlusstrack Little Richards I Got It. Die Neo-Rockabilly-Band The Tremors setzte I Got It ebenfalls ans Ende ihres 2009 bei Brain Drain erschienenen Albums Demon Boogie Fever, welches in der Besetzung Jimmy Tremor an Mikrophon und Gitarre, Slim Perkins am Kontrabass und Stretch Armstrong am Schlagzeug eingespielt worden war. Nach der Jahrtausendwende fanden sich wieder Coverinterpreten für die überarbeitete Version She’s Got It. 2004 nahm der amerikanische Singer-Songwriter Frank Lee Sprague die Nummer als „Bonus Track“ auf seine CD Merseybeat, die an den Sound der britischen Mersey-Szene in Liverpool Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre angelehnt ist. Der britische Rock-’n’-Roll-Veteran Cliff Richard nahm 2016 sein Album Just... Fabulous Rock ’n’ Roll für Sony Music auf. Bei seiner Interpretation von She’s Got It begleiteten ihn Steve Mandile und Robb Houston an den Gitarren, John Howard am Bass, Chuck Tilley am Schlagzeug und Max Abrams am Saxophon. Bedeutung, Kritik und Erfolg Obwohl She’s Got It nicht zu den erfolgreichsten Hits von Little Richard gehört, übernahm er das Stück in sein Live-Repertoire und spielte es über die Jahre immer wieder bei Konzerten. Die Songstruktur mit der Aufteilung von Vers und Strophe auf vier beziehungsweise acht Takte des zwölftaktigen Bluesschemas lässt sich bis zu Tampa Red und Georgia Toms It’s Tight Like That von 1928 und noch weiter zu Papa Charlie Jacksons Shake That Thing von 1925 zurückverfolgen. She’s Got It sei „eines der klarsten Beispiele für die zwölftaktige Strophe-Refrain-Struktur in Little Richards Repertoire“, was den Song laut der Analyse von Larry Birnbaum zu einem „prototypischen Rocksong“ macht. Beim Vergleich der beiden Versionen des Songs stellt Birnbaum weiter fest, dass die Aufnahme der Studioband in New Orleans wesentlich „härter“ rocke als jene der Upsetters aus Los Angeles. Für den amerikanischen Literaturprofessor David Kirby ist besonders die Filmversion von Bedeutung, die auf das verhalten inszenierte Ready Teddy folgt: „Mit Little Richards nächster Nummer verliert der Rock ’n’ Roll seine Irrelevanz und trifft direkt ins Herz der spießbürgerlichen Kultur.“ Kirby führt dazu aus: „Sobald [Mansfield] schlenkert und Little Richard brüllt und hämmert, geraten die Kategorien durcheinander: Sex wird sowohl visuell als auch musikalisch verkauft und das gleiche gilt für Freiheit ebenso wie für die einfache, rohe Power. Sowohl der Song als auch das Mädchen vermitteln, dass es im Leben mehr als Baumwollkleider, romantische Balladen und ein Vorstadthaus gibt. Jerri Jordan hat’s drauf, genauso wie Little Richard es drauf hat, und du kannst das auch haben.“ Auch für Billy Vera war dies eine Schlüsselszene der Popgeschichte, als Little Richard „sein rechtes Bein im phallischen Gruß auf die Klaviertasten hob, während sein Saxophonist eine Einlage zeigte, die für die nächsten sechzig Jahre und darüber hinaus das Pflichtprogramm für jede Rock-’n’-Roll-Saxophon-Einheit bleiben sollte.“ Stuart Colman bescheinigt dem Textschreiber Marascalco, unter dem gegebenen Zeitdruck einen guten Job gemacht zu haben: „Es gibt nicht viele Songwriter mit den Fähigkeiten, der Komposition eines anderen einen neuen Text zu verpassen, aber genau das passierte, als John [Marascalco] Little Richards bislang unveröffentlichtes I Got It zu She’s Got It umschrieb.“ Wegen des geplanten Einsatzes im Film hätte allerdings der „Anreiz dazu nicht größer sein können.“ Am 6. Oktober 1956 rezensierte das Billboard-Magazin die Single und stellte fest: „Richard schmettert in seinem Shouting-Stil zwei starke Nummern mit fettem Beat und aufregender Begleitung und nutzt somit die gleiche Formel, die ihn mit früheren Veröffentlichungen an die Spitze der Charts katapultierte. Heeby-Jeebies ist eine treibende Nummer mit rasant-feurigem Text, der sich bis zur Ekstase steigert. Die Rückseite mit pfiffigen Lyrics hat einen ähnlich kraftvollen Effekt.“ Eine Woche darauf bewarb das Magazin die Platte als „Best Buy“ (deutsch: Bester Kauf), was seine Wirkung nicht verfehlte: Kam She’s Got It noch am 20. Oktober über eine Platzierung in den regionalen Charts von St. Louis nicht hinaus, erreichte der Song in den Folgewochen zwei der drei 1956 parallel geführten nationalen R&B-Charts. Die Bestplatzierungen waren eine Nummer neun bei den DJs und eine Nummer 15 bei den Verkäufen. Insgesamt verblieb She’s Got It fünf Wochen in den R&B-Charts, ohne dass der Crossover in den Popmarkt gelang. In den R&B-Jukebox-Charts war mit Heeby-Jeebies lediglich die andere Seite der Platte vertreten, welche auch in den konkurrierenden Pop-Hitlisten des Cashbox-Magazins mit einem 50. Platz für Aufmerksamkeit sorgte. Darauf bezog Paul MacPhail seine Kritik, als er schrieb: „Beide Songs waren wilde, hämmernde […] Rock ’n’ Roller. Es war klug von Specialty, die Vorderseite von einer früheren Session aus New Orleans zu nehmen, da die bei seiner letzten Session in Los Angeles mit seiner Live-Band aufgenommene B-Seite es nicht schaffte, durchzustarten.“ Daraufhin akzeptierte Little Richard, dass Studio-Aufnahmen mit den Upsetters nicht erwartungsgemäß funktionierten, sodass die nächsten Sessions wieder in New Orleans stattfinden konnten. In Großbritannien kam She’s Got It am 9. März 1957 erstmals in die UK Top 30 und verblieb dort (mit einer Unterbrechung) bis 1. Juni insgesamt neun Wochen. Die Höchstplatzierung war ein 15. Platz. Alle Coverversionen von She’s Got It und I Got It verfehlten die Charts. James E. Perone machte in der Demo-Version von Johnny Guitar und Paul Murphy immerhin die möglicherweise erste Rock-’n’-Roll-Aufnahme aus Liverpool aus, deren stilistische Bandbreite er wie folgt beschreibt: „Der akustische Sound führt zusammen mit den geschrammelten Pattern, die auch im Country oder Rockabilly nicht fehl am Platz wären, zu einer faszinierenden Mischung: Die Darbietung enthält Elemente des weißen amerikanischen Country/Rockabilly und des schwarzen amerikanischen Rhythm and Blues, aber mit den originären Eigenheiten des Skiffles.“ Die Hookline „She’s got it, oh baby, she’s got it“ fand 1969 wörtlichen Einzug in den Song Venus der niederländischen Band Shocking Blue. Einzelnachweise Lied 1956 Rock-’n’-Roll-Song Little-Richard-Lied Lied von John Marascalco
7893877
https://de.wikipedia.org/wiki/Fossillagerst%C3%A4tte%20Geiseltal
Fossillagerstätte Geiseltal
Die Fossillagerstätte Geiseltal befindet sich im ehemaligen Braunkohlerevier des Geiseltales südlich der Stadt Halle in Sachsen-Anhalt. Sie ist eine bedeutende Fundstelle heute ausgestorbener Pflanzen und Tiere aus der Zeit des Mittleren Eozäns vor 48 bis 41 Millionen Jahren. Im Geiseltal wurde nachweislich seit 1698 erstmals Kohle gefördert, die ersten Fossilien kamen aber erst Anfang des 20. Jahrhunderts eher zufällig zu Tage. Planmäßige wissenschaftliche Ausgrabungen begannen 1925 seitens der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Unterbrochen durch den Zweiten Weltkrieg, können die Untersuchungen in zwei Forschungsphasen untergliedert werden. Aufgrund der zunehmenden Auskohlung der Rohstofflager kamen die Ausgrabungen Mitte der 1980er Jahre allmählich zum Erliegen und endeten endgültig zu Beginn des dritten Jahrtausends. Die Braunkohle des Geiseltales wird in vier Hauptflöze untergliedert, fossilführend waren hauptsächlich die drei unteren. Der Schwerpunkt der Fossilverteilung liegt im südlichen und zentralen Geiseltal. Die Funde umfassen Reste von Pflanzen und Tieren. Eine Besonderheit stellen dabei nahezu vollständige Funde dar mit Blättern, Früchten und Stämmen, aber auch Skeletten von Wirbeltieren und Resten von Insekten. Zu den bekanntesten Funden gehört der eines vollständigen Skelettes des Urpferdchens Propalaeotherium aus dem Jahr 1933. Hinzu kommen Wirbeltiere wie Paarhufer, Kleinsäugetiere wie Insektenfresser und Fledermäuse sowie Vögel, Krokodile, Schildkröten, Schlangen, Amphibien und Fische. Bei zahlreichen Wirbeltieren wurden auch Reste des Weichteilgewebes gefunden. Insgesamt sind mehr als 80 Einzelfundstellen mit mehr als 50.000 Fundobjekten bekannt, darunter 36 mit einer nennenswerten Anzahl von Wirbeltieren. Aufgrund der guten und umfangreichen Fossilerhaltung gilt das Geiseltal als Konservat- und Konzentratlagerstätte. Die Besonderheit der Geiseltalfossilien, vor allem der Wirbeltiere und speziell der Säugetiere, liegt in der einmaligen Erhaltung in Braunkohle, was in Mitteleuropa sonst nicht vorkommt. Für die Entwicklung der Säugetiere stellt das Geiseltal eine wichtige Fundstelle dar, da dort über einen Zeitraum von mehreren Millionen Jahren die Entwicklung einzelner Gruppen beobachtet werden kann. Dadurch gilt die Säugetierfauna als Referenz für das Geiseltalium, einen Abschnitt aus der Stratigraphie der europäischen Landsäugetiere von 47 bis 43 Millionen Jahren. Die umfangreichen Funde aus der Tier- und Pflanzenwelt, aber auch die zahlreichen geologischen Daten ermöglichen eine recht genaue Landschaftsrekonstruktion. Demzufolge bestand zur Zeit der Braunkohlebildung ein mehrstöckiger Niederungswald in Küstennähe, der mit Bächen, Teichen und Mooren durchsetzt war. Der Wald unterlag dem Einfluss von subtropischem Klima und war Heimat einer artenreichen Tierwelt. Der gesamte Fossilbestand des Geiseltales steht unter nationalem Schutz. Geographische Lage Das Geiseltal, ein Randbereich des Mitteldeutschen Braunkohlereviers, liegt etwa 20 km südlich von Halle (Saale) und rund 10 km südwestlich von Merseburg in Sachsen-Anhalt. Es erstreckt sich auf einer Länge von 15 km von Westnordwest nach Ostsüdost und auf einer Breite von 0,5 bis 5 km. Im Norden grenzt es an die flache Merseburger Buntsandsteinplatte, im Süden an das Müchelner Muschelkalkplateau der Querfurt-Freyburger Mulde. Durchflossen wird das Geiseltal vom namengebenden Fluss Geisel, der in St. Micheln bei Mücheln aus einer der größten Spring- oder Überfallquellen Mitteldeutschlands entspringt und nach 19 km in Merseburg über die Gotthardtsteiche in die Saale entwässert. Sein Einzugsgebiet beträgt etwa 35 km². Ursprünglich war das Gebiet des Geiseltales relativ eben, was durch die sich westlich der Saale ausbreitenden Buntsandsteine zu erklären ist. Allgemein lagen die Höhen im östlichen Geiseltal bei rund 100 Meter über dem Meeresspiegel, nach Westen hin stiegen sie auf 150 Meter und mehr an. Durch die intensive Tätigkeit der Braunkohletagebaue wurde die Landschaft vor allem in den letzten 150 Jahren aber gravierend verändert und führte neben der Zerstörung mehrerer Ortschaften auch zur Überprägung eines rund 90 km² großen Gebietes mit mehrfacher Verlegung des Flusslaufes der Geisel nach Süden. Infolge der Renaturierung der später aufgelassenen Tagebaue entstanden größere Seen, die gegenwärtig das gesamte Geiseltal bestimmen. Bereits in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden im östlichen und südöstlichen Geiseltal der Südfeldsee und der Runstedter See geschaffen, während im westlichen Teil der Geiseltalsee, einer der größten künstlichen Seen Mitteleuropas, erst 2011 fertig geflutet werden konnte. Das westliche und östliche Geiseltal werden heute durch einen bis zu 140 m hohen Kippendamm getrennt, der neben dem heutigen Flusslauf der Geisel auch wichtige Verkehrswege wie Straßen und Schienen trägt. Geologie Geologischer Untergrund Die Geologie des Geiseltales wurde seit Beginn des 20. Jahrhunderts bei Vorfelduntersuchungen zur Ergründung der Lagerungsverhältnisse der Braunkohle mit Tiefbohrungen gut untersucht. Diese hatten in einzelnen Abschnitten Abstände von nur 100 Metern. Der geologische Untergrund besteht weitgehend aus Ablagerungen des Rotliegenden und des Zechsteins aus der geologischen Periode des Perm vor rund 300 bis 240 Millionen Jahren. Diesen sind die Sedimente des Buntsandsteins (vor 251 bis 243 Millionen Jahren) aufgelagert, wobei überwiegend der Untere und Mittlere Buntsandstein vorkommen. Im südlichen Teil des Geiseltales zum Müchelner Muschelkalkplateau hin sind aber auch Reste des Oberen Buntsandsteins vorhanden, dem in den Rändern des Tales die Ablagerungen des Muschelkalkes aufliegen. Der folgende Hiatus umfasst den Keuper und die Kreide aus einem Zeitraum von etwa 140 Millionen Jahren. Das heutige Geiseltal ist mehrfach in sich gegliedert. Die Neumark-Hauptschwelle, eine Erhebung des Buntsandsteins, teilt es in etwa zwei gleich große Bereiche, das westliche und das östliche Geiseltal. Neben- und untergeordnete Becken sind der Elise-Kessel, der Elisabeth-Kessel, der Wernsdorfer Kessel und andere, prätertiäre Schwellen sind die Kayna-Schwelle und die Ostschwelle. Geologisch stellt das Geiseltal eine Senkungsstruktur dar, deren Entstehung noch nicht vollständig geklärt ist, die aber durch mehrere Prozesse gesteuert wurde. Möglicherweise führte im Paläogen die Auslaugung des Zechsteinsalzes verbunden mit der chemischen Verwitterung des Muschelkalkes (Subrosion) zu Masseverlusten im Untergrund, was eine Absenkung der auflagernden Schichten und die Beckenbildung zur Folge hatte. Vor allem die Salzbewegung (Halokinese) stand dabei im Zusammenhang mit tektonischen Kräften im Untergrund, resultierend aus der Plattentektonik, die auch die Auffaltung der Alpen während der Kreide/Tertiär-Wende vor etwa 65 Millionen Jahren hervorriefen. Dadurch kam es zu einer Erhöhung des Druckes auf das ursprünglich flach gelagerte Zechsteinsalinar, das daraufhin seitlich abfloss. Im nördlichen Bereich des Geiseltals wurden mit seismischen Messungen tektonische Störungen ermittelt, die sogenannte Geiseltal-Nordrand-Störung, die teilweise eine Sprunghöhe von bis zu 200 m in den oberen Schichtlagen (Buntsandstein) erreicht. Paläogene Ablagerungen Die gesamten Ablagerungen des Paläogens erreichen im Geiseltal eine Mächtigkeit von bis zu rund 200 m, beschränken sich aber weitgehend auf das Eozän (vor 56 bis 34 Millionen Jahren). Eingeleitet werden diese tertiären Sedimente durch Tone und Schluffe sowie teils gröberklastisches Material. Die Mächtigkeit der überwiegend fein geschichteten bis blättrigen Braunkohle liegt bei etwa 30 bis 80 m, erreicht stellenweise jedoch auch über 120 m. Generell wird die Geiseltal-Braunkohle in vier Hauptflöze unterteilt, die Unterkohle, Mittelkohle (differenziert in Untere und Obere Mittelkohle) und Oberkohle, weist aber im nördlichen Geiseltal noch lokal eine Basiskohle auf. Bis auf die Basiskohle werden alle Flöze in weitere Flözabschnitte untergliedert. Die einzelnen Flöze erreichen eine Mächtigkeit von 10 bis teilweise 60 m. Unterbrochen werden sie von sandig-schluffigen Sedimentabschnitten (die sogenannten Hauptmittel), die Leithorizonte darstellen und zur Unterscheidung der Flöze dienen. Im südlichen Geiseltal im Tagebau Cecilie bestand allerdings ein teilweise lückenloser Übergang von der Mittelkohle zur Oberkohle. Die Ausdehnung der einzelnen Kohleflöze von Nord nach Süd ist unterschiedlich ausgeprägt und an die halokinetischen und subrosiven Absenkungen des Untergrundes gebunden, sie setzt sich aber generell mit der zunehmenden stratigraphischen Höhenlage der Flöze weiter nach Süden fort. Nur die Oberkohle ist im Geiseltal flächendeckend ausgebildet. Die sehr reiche eozäne Fossilgemeinschaft stammt vor allem aus der Unterkohle und der Mittelkohle. Auflagernde Schichten Das Deckgebirge besteht im Geiseltal aus bis zu 50 m mächtigen Ablagerungen des Mittelpleistozäns und Jungpleistozäns (vor 0,78 bis 0,012 Millionen Jahren). Die ältesten, von der Erosion verschonten Schichten wurden als Grundmoräne durch das Inlandeis der Elster-Kaltzeit (vor 400.000 bis 335.000 Jahren) abgelagert. In der Holstein-Warmzeit (vor 335.000 bis 320.000 Jahren) verlagerte die Unstrut ihren Lauf bis in das Geiseltal und schüttete die sogenannte Körbisdorfer Terrasse auf. Das Inlandeis der Saale-Kaltzeit (vor 320.000 bis vor 128.000 Jahren) hat das Geiseltal nur beim ersten Vorstoß, in Mitteldeutschland als „Zeitz-Phase“ und in Norddeutschland als „Drenthe-I-Phase“ oder „Haupt-Drenthe“ bezeichnet, überfahren. Der Rückzug des Inlandgletschers der Saale-Kaltzeit führte insbesondere im Nordostteil des Geiseltales, im ehemaligen Tagebaurandfeld Neumark-Nord, durch Mollisoldiapirismus zur Bildung von abflusslosen und meist wassererfüllten Senken, in denen überwiegend limnische Sedimente abgelagert wurden. Die einzelnen Seebecken standen zwischen 1986 und 2008 im Fokus interdisziplinärer wissenschaftlicher Untersuchungen, deren Ergebnisse in einer Vielzahl von Publikationen veröffentlicht wurden. Das größte, rund 600 m lange und 400 m breite Becken Neumark-Nord 1 barg Reste einer reichen Großsäugerfauna mit teils vollständigen Skeletten unter anderem vom Europäischen Waldelefanten, Auerochsen, Wisent, Damhirsch und von verschiedenen Nashörnern (Waldnashorn, Steppennashorn), aber auch vom Höhlenlöwen und der Tüpfelhyäne. Die Großsäugerfauna des kleineren Beckens Neumark-Nord 2 ähnelte prinzipiell der des größeren, war aber bis auf wenige Ausnahmen kleinstückig und disartikuliert. In den Uferbereichen beider Becken wurde eine Großzahl an Feuersteinartefakten des mittelpaläolithischen Menschen entdeckt. Über die Altersstellung besteht noch kein Einvernehmen. Nach verschiedenen Pollenanalysen zeigen die warmzeitlichen Sedimente der beiden Becken eine für die Eem-Warmzeit (vor 128.000 bis 115.000 Jahren) typische Sukzession. Für das Becken Neumark-Nord 2 wird eine eemzeitliche Einstufung durch weitere Analysen, etwa Paläomagnetik und radiometrische Altersdatierungen, gestützt. Dagegen könnten die warmzeitlichen Sedimente des Beckens Neumark-Nord 1 auch in einer „intrasaalezeitlichen“ Warmzeit abgelagert worden sein. Hinweise dafür liefern die botanischen Reste, so die Makroflora mit den extrem reichhaltigen Relikten eines durch den Tataren-Ahorn geprägten Steppen-Eichen-Mischwaldes, oder einzelnen Leitfossilien der Kleinsäuger, unter anderem der Zwergwaldmaus Apodemus maastrichtensis. Ebenso sprechen sowohl die Ostrakodenfauna als auch weitere Befunde nicht für ein eemwarmzeitliches Alter. Das gesamte Schichtpaket wird diskordant von Bachschotter der Geisel und vom mehrere Meter mächtigen Löss der letzten Kaltzeit (Weichsel-Kaltzeit; vor 115.000 bis vor 11.600 Jahren) überlagert, der den Schwarzerdeboden trägt. In den Löss sind verschiedene Eiskeilhorizonte eingebettet, die auf die besonders kalten Phasen der letzten Kaltzeit verweisen. Der späte Abschnitt der Weichsel-Kaltzeit ist am südlichen Rand des Geiseltales umfassender aufgeschlossen (ehemaliger Tagebau Mücheln). Hier ließen sich in einer kleinen Senke vier Warm-Kaltphasen-Zyklen nachweisen, von denen die beiden oberen mit dem Bölling-Interstadial (im klassischen Sinn) und der Älteren Dryaszeit sowie dem Alleröd-Interstadial und der Jüngeren Dryaszeit korrelierbar sind. In der jüngsten wärmeren Folge (Alleröd-Interstadial) dicht unterhalb des rezenten Bodenhorizontes hat sich noch eine dünne Lage des Laacher-See-Tuffs als Relikt einer Vulkaneruption vor rund 13.000 Jahren erhalten. Fossilfundstellen Funderhaltung und Fundverteilung Während Pflanzen und teils auch Wirbellose in allen Bereichen der Kohleflöze gefunden wurden, waren Wirbeltiere an bestimmte, enger begrenzte Fundstellen gebunden. Insgesamt sind mehr als 80 Fundstellen bekannt, wobei 36 einen nennenswerten Bestand an Wirbeltierresten aufweisen. Diese befinden sich überwiegend in der Unter- und der Mittelkohle, mit rund doppelt so vielen Fundstellen in der Mittelkohle wie in der Unterkohle. Die Oberkohle enthielt nur eine relevante Fundstelle und war sonst weitgehend fossilfrei, was teilweise auf die diagenetischen Veränderungen während des Pleistozäns unter Einwirkung periglazialer Bedingungen zurückzuführen ist. In der Basiskohle konnte keine Fossilisation nachgewiesen werden. Die räumliche Verteilung der Fossilfundstellen von Wirbeltieren spiegelt die Voraussetzung für die Funderhaltung wider, die im gesamten Geiseltal nicht im gleichen Maße gegeben war. Dadurch konzentriert sich der größere Teil der Wirbeltierfundstellen, vor allem derjenigen mit teils vollständigen Skeletten oder Weichteilen, im zentralen und südlichen Geiseltal, hauptsächlich nahe der Neumark-Hauptschwelle und im östlich anschließenden Wernsdorfer Kessel. Die überwiegende Anzahl der Fundstellen liegt deswegen in den Tagebauen Cecilie, Leo, Geiselröhlitz und Pfännerhall und verteilt sich auf eine Fläche von rund 20 km². Nach Norden und Westen und teilweise nach Osten nimmt die Güte der Fossilerhaltung stark ab. Wirbeltierfunde aus Braunkohlen sind weltweit sehr selten und wurden außerhalb des Geiseltals in Mitteleuropa bisher nicht beobachtet. Die gute Fossilerhaltung im Geiseltal hat mehrere Gründe. Hauptsächlich verantwortlich sind kalkhaltige Wässer aus den angrenzenden triassischen Gesteinen, hier überwiegend Muschelkalk, die aus südlicher oder südwestlicher Richtung aus dem Bereich der Querfurt-Freyburger Mulde während der Bildung der Braunkohle als zirkulierende Grundwässer eindrangen. Diese neutralisierten weitgehend die zersetzenden Eigenschaften der Huminsäure der Niedermoore im damaligen Geiseltal, waren aber, anhand des Fundbildes erkennbar, nur lokal wirksam. In untergeordnetem Ausmaß sorgte auch Kieselsäure für einen guten Erhalt der Fossilien. Einen weiteren Einfluss auf die Erhaltung der Tierkadaver hatten die meist in der Mittelkohle recht häufig nachgewiesenen Überschwemmungen der ehemaligen Landoberfläche, die zu einer raschen Bedeckung der Kadaver mit Sedimenten führten. Sowohl die Fossilreste als auch die Braunkohle sind im frischen Zustand zu 50 % mit Wasser gesättigt und lösen sich während des Austrocknens sehr schnell auf, indem sie zerblättern und anschließend zu Staub zerfallen. Aus diesem Grunde wurde bereits zu Beginn der 1930er-Jahre für die gezielte Bergung der Fossilien speziell im Geiseltal die Lackfilmmethode entwickelt. Fundstellentypen Neben Einzel- und Streufunden sowie gelegentlichen Funden aus Bohrkernen können insgesamt drei verschiedene Fundstellentypen der Wirbeltiere unterschieden werden, die zum Teil aber auch in verschiedenen Kombinationen vorkommen: Einsturztrichter Hierbei handelt es sich um kreisförmige, teils dolinenartige Vertiefungen mit symmetrischem Aufbau. Entstanden sind sie syngenetisch durch Auslaugung von Gips im unterlagernden Buntsandstein (Subrosion). In der Regel sind die Einsturztrichter an ihren randlichen Schichtstörungen und den daraus resultierenden tektonischen Verschiebungen erkennbar. Es lassen sich zwei Trichtertypen unterscheiden: der eigentliche Einsturztrichter mit Durchmessern von 12 bis 18 m und der Setzungstrichter, der kleiner und flacher ist und Durchmesser von 3 bis 8 m erreicht. Die Eintiefungen waren bei ihrer Entstehung weitgehend mit Wasser gefüllt und bildeten kleine Teiche und Tümpel. Dabei bildeten die oft steilen Randsäume natürliche Fallen für Wirbeltiere, wodurch eine natürliche Grabgemeinschaft entstand. Durch die mittels schneller Sedimentauflage am Teichboden entstandenen Faulschlämme und die dort vorherrschenden anaeroben Bedingungen bildeten sich die Fossilien. Leichenfelder Diese sind ausgedehntere Bereiche mit Fossilfunden, die sich über Flächen von bis zu 80 × 100 m erstrecken. Meist befinden sich die Fossilien in großflächigen Vertiefungen und sind in der Regel von einer 20 bis 30 cm dünnen Kohleschicht überdeckt. Sie sind Reste der ehemaligen, durch Überschwemmungen überfluteten Landoberfläche und Moorgebiete und vor allem im zentralen Geiseltal konzentriert. Bachläufe Den Leichenfeldern ähnelten die Bachläufe, die zum Teil vom westlichen Muschelkalkgebiet kommend das Geiseltal durchzogen und in einem der lokalen Becken mündeten. Es sind rinnenartige Eintiefungen in die Kohle, in denen sich meist kreuzgeschichtete Quarzsande abgelagert hatten. Nur in den tieferen Beckenbereichen wurden auch tonige Sedimente gefunden, was auf eine Verringerung der Fließkraft der Bäche schließen lässt. Die Fossilfunde sind auf die ehemaligen Uferbereiche konzentriert. Die meisten Tiere kamen dort wie bei den Einsturztrichtern an den teils steilen Hängen zu Tode, wurden aber auch Opfer zahlreicher dort lebender Beutegreifer. Einsturztrichter und Leichenfelder kommen am häufigsten vor, die Bachläufe sind eher selten und wurden erst Mitte der 1950er-Jahre entdeckt. Der Erhaltungszustand der Wirbeltierfossilien in den Leichenfeldern und in den Bachläufen ist ähnlich und lässt gewisse Umlagerungen durch Wasserbewegung verbunden mit Skelettzerfall erkennen. In den Einsturztrichtern kamen vollständige Skelettreste nur in den zentralen und tiefsten Stellen vor, wo die Kadaver vollständig mit Wasser bedeckt waren. Zu den Rändern der Trichter hin sind auch deutliche Disartikulationen der Skelette zu beobachten. Die bedeutenden Funde des fossilisierten Weichteilgewebes stammen nur aus den Einsturztrichtern und den Leichenfeldern. Funde Das Fossilmaterial aus der Braunkohle des Geiseltales ist sehr reichhaltig und umfasst Reste von Pflanzen und Tieren. Das floristische Material liegt in Form von Mikro- und Makroresten vor. Die Fauna ist durch Wirbellose und Wirbeltiere vertreten, von Letzteren gibt es auch eine größere Anzahl von vollständigen Skeletten. Hervorzuheben ist die gute Konservierung von Weichteilgewebe, das fossil nur sehr schlecht erhalten bleibt. Trotz der guten Erhaltungsbedingungen ist ein größerer Teil der Fossilien nicht autochthon abgelagert, sondern wurde während der Fossilisation transportiert, verursacht durch das Fließen von Wasser. Dies trifft überwiegend für die Funde aus den Leichenfeldern und den Bachläufen zu. Die Lagerungsverhältnisse der Fossilien sind allgemein als parautochthon bis teilweise allochthon anzusehen. Die genaue Anzahl der Funde ist unklar, der Bestand des ehemaligen Geiseltalmuseums der Universität Halle umfasst rund 50.000 Fundobjekte, davon zum größten Teil Wirbeltiere. Während der intensiven Grabungsphase der 1960er-Jahre wuchs der Bestand um jährlich mehr als 5830 Objekte. Eine Analyse von mehr als 10.000 Wirbeltierresten ergab mit 5000 Stücken fast zur Hälfte Säugetiere, während Reptilien mit 2000 Funden am zweithäufigsten vertreten sind. Die wissenschaftliche Auswertung des Gesamtbestandes an Fossilien hält nach wie vor an, zahlreiche fossile Lebewesen erhielten anhand des Fundmaterials des Geiseltales ihre Erstbeschreibung. Allein die Wirbeltiere umfassen mehr als 120 Taxa. Flora Unter den recht häufigen Pflanzenresten sind neben Pollen und Sporen als Mikroflora, die allein mehr als 100 stratigraphisch relevante Taxa einnehmen, vor allem die Makroreste von Bedeutung. Diese umfassen Blätter, Zweige, Äste, Rinde und Stämme sowie Früchte, Samen und Blütenstände. Allein anhand der Früchte und Samen lassen sich wenigstens 18 Familien nachweisen. Insgesamt sind mehr als zwei Dutzend Familien mit rund 40 Gattungen bekannt. Neben Algen, Moosen, Urfarnen und Farnen – diese teilweise in konzentrierten Anreicherungen von unter anderem Rippen- und Kletterfarnen – kommen überwiegend Reste der höher entwickelten Samenpflanzen vor. Die Nacktsamer sind mit Palmfarnen, teilweise mit ganzen Wedeln, und Koniferen mit Zapfen und Zweigen vertreten. Letztere umfassen unter anderem Kiefern und Mammutbäume, die teilweise gehäuft auftreten. Letztere werden in die Zypressengewächse eingeordnet, von denen des Weiteren auch die ausgestorbene Gattung Doliostrobus überliefert ist. Wesentlich umfangreicher sind die Reste der Bedecktsamer. Hier sind die Zweikeimblättrigen mit rund 20 Familien die größte Gruppe. Dazu gehören Lorbeergewächse und Buchengewächse. Letztere bilden teilweise auch dichte Blattlagen, wie etwa bei der Gattung Dryophyllum. Gagelstrauchgewächse, überwiegend Farnmyrte, sind sehr häufig. In hoher Anzahl belegte Pflanzenreste stammen von Lindengewächsen, Icacinaceen und Myrtengewächsen, von denen Rhodomyrtophyllum dominant ist. Charakteristisch sind auch die langschmalen Blätter von Apocynophyllum aus der Gruppe der Hundsgiftgewächse. Dieser Pflanzenfamilie werden auch mehrere bis zu 44 cm lange Rindenreste mit dem daran anhaftenden, sogenannten „Affenhaar“, fossilisierte Milchsaftröhren, zugewiesen. Einkeimblättrige haben eine geringere Vielfalt. Unter diesen kommen hauptsächlich die Palmengewächse in einer hohen Anzahl vor und sind unter anderem mit Sabal und Phoenicites vertreten. Die häufig überlieferten Palmenstämme können aber taxonomisch nicht genau zugeordnet werden. Auch weitere Vertreter der Einkeimblättrigen wurden beschrieben, beispielsweise aus der Gruppe der Liliengewächse und der Schraubenbaumgewächse. Fauna Wirbellose Wirbellose wurden erstmals 1913 erwähnt und sind sehr zahlreich. Mollusken, zu denen Muscheln und Schnecken gehören und die teilweise in Massen auftraten, sind mit rund 20 Gattungen vertreten und eignen sich hervorragend für die Rekonstruktion von Kleinbiotopen. Gleiches gilt auch für die Ostracoden, die Muschelkrebse mit 10 Gattungen. Weitere Funde von Gliederfüßern werden den Zehnfußkrebsen zugewiesen. Diese sind aber mit nur 15 Exemplaren äußerst selten und meist nur mit Resten der Panzerung erhalten. Die häufigsten Funde von Wirbellosen sind Insekten. Hier dominieren die Käfer und darunter mit 28 % die Prachtkäfer. Die Gattung Psiloptera ist mit acht Arten nachgewiesen, aber auch Buprestis und Anthaxia sind mit mehreren Arten vertreten. Zu den Bockkäfern, erkennbar an den außerordentlich langen Fühlern, wird Xyleoconites gerechnet, während Eocallidium innerhalb der Gruppe der Schwarzkäfer steht. Daneben kommen einige weitere Käferfamilien vor, darunter die Blatthornkäfer, die Hakenkäfer und die Blattkäfer. Da die Insekten fast ausschließlich mit dem Rücken erhalten sind, ist zwar die teils prächtige Farbgebung der Tiere überliefert, die genaue Artzuweisung kann dadurch aber nicht in allen Fällen mit Sicherheit erfolgen. Auch Fluginsekten wie Eintagsfliegen und Libellen konnten nachgewiesen werden, Kleinlibellen allerdings nur über winzige, lediglich wenige Millimeter große Eigelege. Diese sind in Doppelreihen auf dem Blatt eines Bedecktsamers deponiert und ähneln denen, die heute von Teichjungfern hinterlassen werden („Lestiden“-Typ). In die Gruppe der Fluginsekten gehören auch Fächerflügler, wobei eine nur 140 μm lange und 90 μm breite Larve von Pseudococcites aus den Ausscheidungen eines Käfers einen der weltweit wenigen Belege dieses Entwicklungsstadiums der Insektengruppe bildet. In sehr geringer Anzahl treten Spinnen und Tausendfüßer auf. Der Fund eines Saitenwurms der Gattung Gordius, der an Insekten parasitiert, stellt eine Besonderheit dar, da derartige Parasiten fossil nur äußerst selten vorkommen. Fische und Amphibien Die Fischfauna ist mit rund 2000 Fundobjekten, darunter vielen vollständigen Skelettindividuen sehr umfangreich, umfasst aber insgesamt nur 5 Familien mit ebenso vielen Gattungen. Am häufigsten sind die Knochenfische, vertreten durch Thaumaturus und Palaeoesox. Ersterer gehört in die Familie der Lachsartigen, letzterer zu den Hechtartigen. Ebenfalls ein Knochenfisch ist Anthracoperca, ein Verwandter der Barsche. Mit Cyclurus kommt auch ein Vertreter der Knochenganoiden vor. Unter den Amphibien sind überwiegend die Frösche und Molche von Bedeutung, die jeweils mit 200 bis 300 Exemplaren vorkommen, zuzüglich zahlreicher Einzelknochen. Die artikulierten Skelette der Frösche sind alle sehr fragil überliefert, körpernahe und größere Skelettelemente überwiegen gegenüber körperfernen und kleineren. Unter den Resten befindet sich auch eine größere Anzahl an Kaulquappen. Recht häufig ist Eopelobates aus der Familie der Europäischen Schaufelfußkröten, zu der auch die heutige Knoblauchkröte gehört. Wie diese lebte Eopelobates weitgehend terrestrisch. Dagegen war der ebenfalls häufige Palaeobatinopsis ein wasserbewohnendes Tier aus der Familie der Palaeobatrachidae, einer heute ausgestorbenen Froschgruppe. Weiteres Fossilmaterial kann wohl zu einem nahe verwandten Vertreter gehören. Von den Molchen ist Palaeoproteus besonders zahlreich. Es handelt sich um einen amphibisch lebenden Olm, der bis zu 25 cm lang wurde und sehr kurze Gliedmaßen besaß. Seltener tritt Tylototriton auf. Diese als Krokodilmolche bezeichnete Gattung kommt noch in Ost- und Südostasien vor und ihre Vertreter gehören zu den Echten Salamandern. Reptilien und Vögel Reptilien gehören zu den häufigsten Fossilfunden und können fast einem Dutzend Familien mit rund 20 Gattungen zugewiesen werden. Bedingt durch das feuchte Milieu sind zahlreiche Schildkröten überliefert, vor allem deren Panzerreste, die durch die Sedimentlast meist flachgedrückt sind. Alle aus dem Geiseltal bekannten Schildkröten können zu den Halsberger-Schildkröten gerechnet werden und umfassen rund 500 Exemplare. Dazu gehört unter anderem die Gattung Geiselemys aus der Gruppe der Altwelt-Sumpfschildkröten mit einem rund 18 cm langen gut verknöcherten Panzer. Ähnliche Ausmaße erreichte Borkenia, welche früher zur Gattung Chrysemys und damit in eine verwandtschaftliche Nähe mit den Zierschildkröten gestellt wurde. Am anderen Ende der Größenordnung steht Geochelone (auch als Barnesia bezeichnet), eine Landschildkröte, die einen durchschnittlich 50 bis 60 cm, möglicherweise auch bis zu 120 cm langen Panzer besaß. Eine weitere, eher kleinere Form ist Hummelemys, ihre genaue systematische Position ist aber umstritten. Zu den Weichschildkröten zählt Palaeoamyda, deren Panzer rund 30 cm Länge erreichte. Das Tier war gut an ein Leben im Süßwasser angepasst. Schuppenkriechtiere sind mit fast 300 vollständigen Exemplaren zuzüglich zahlreicher Einzelfunde nachgewiesen. Dabei war Eolacerta ein recht großes Tier, das 60 cm lang wurde und mit mehreren vollständigen Skeletten und zusätzlich Häutungsresten überliefert ist. Es wurde ursprünglich zu den Echten Eidechsen gerechnet, einige besondere anatomische Merkmale führten jedoch zur Aufstellung der eigenständigen Familie der Eolacertidae, welche wiederum die Schwestergruppe der Echten Eidechsen bildet. Ein weitgehend vollständiger, aber stark fragmentierter Schädel ist der bisher einzige Beleg der Geckos. Er gehört der Gattung Geiseleptes an, für die wiederum eine engere Beziehung zum heutigen Europäischen Blattfingergecko in Betracht kommt. Zu den Leguanen ist Geiseltaliellus zu stellen, eine leicht gebaute Echse mit extrem langem Schwanz und feiner Hautbeschuppung, die wahrscheinlich ein Baumbewohner war. Aufgrund der kurzen Vordergliedmaßen wird vermutet, dass sich Geiseltaliellus wie die heutigen Basilisken gelegentlich nur auf den Hinterbeinen fortbewegen konnte. Ophisauriscus kann wiederum den Schleichen zugeordnet werden und ist mit den Glasschleichen verwandt. Die schlangenähnlichen Tiere wiesen noch rudimentäre Vorder- und Hintergliedmaßen auf. Mehr als 20 Funde wurden dokumentiert, deren Erhaltungszustand von nahezu vollständigen Skeletten bis zu disartikulierten Einzelfunden sowie Resten der Hautpanzerung reichen. Die einzelnen Knochenplättchen des einstigen Schuppenkleids unterscheiden sich in Gestalt und Ornamentierung markant von den heutigen Formen. Nur selten treten Verwandte der heutigen Warane auf. Ein schlecht erhaltenes Teilskelett von Eosaniwa besitzt einen 19 cm langen Schädel, damit war diese Echse eine der größten im Geiseltal. Gut 60 vollständige Exemplare sind zu den Schlangen zu zählen, die unter anderem mit zwei Gattungen der Riesenschlangen aus der Familie der Boas überliefert sind. Dabei wurde Paleryx bis zu 2,3 m lang, bei einem weitgehend vollständigen Exemplar konnten insgesamt 243 Wirbel erkannt werden. Des Weiteren kommt Palaeopython vor, ebenso wie einige Rollschlangen. Ebenfalls in großer Anzahl sind Krokodile mit rund 120 vollständigen Skeletten belegt, hinzu kommen noch unzählige isolierte Knochen und Zähne. Die Alligatoren vertritt dabei Allognathosuchus, das nur etwa 0,8 m lang wurde und eine recht schmale Schnauze besaß. Diplocynodon zählt zu den häufigsten Krokodilformen im Geiseltal und wird in die ausgestorbene Gruppe der Diplocynodontidae eingeordnet. Es lebte in kleineren Gewässern und erreichte gut 1,3 m Länge. Ein besonderer Fund umfasst ein nahezu vollständiges Skelett mit Knochenpanzer und fünf Eiern in unmittelbarer Nähe; es handelt sich um einen der weltweit seltenen Belege für Brutpflege bei fossilen Krokodilen. Mit gut 1,7 m Länge etwas größer und ebenfalls zahlreich ist Boverisuchus, ein zu den Echten Krokodilen gehörender Vertreter. Aufgrund verhältnismäßig langer Gliedmaßen und hufartig verbreiteter Endglieder der Zehen wird für dieses Krokodil eine eher terrestrische Lebensweise angenommen. Den größten Beutegreifer im Geiseltal stellte Asiatosuchus mit rund 3 m Körperlänge dar. Dieser ähnelte ökologisch dem heutigen Nilkrokodil und bevorzugte offene Gewässer. Er ist mit mehreren vollständigen Skeletten nachgewiesen. Extrem selten mit nur einigen Unterkieferfragmenten trat dagegen Bergisuchus in Erscheinung, ein möglicherweise ebenfalls eher landbewohnendes Tier, das mit 1,5 m Länge von kleinwüchsiger Gestalt war. Im Gegensatz zu den anderen Formen repräsentiert Bergisuchus einen urtümlichen und entfernteren Krokodilsverwandten aus der Gruppe der Sebecosuchia. Detaillierte Untersuchungen ergaben, dass alle Krokodile im Geiseltal unterschiedliche ökologische Nischen besetzten. Daneben liegen Fragmente von Krokodileiern und zahlreiche Gastrolithen (Magensteine) vor, die auch ohne Fossilerhaltung die Anwesenheit von Krokodilen belegen. Eher selten sind die Überreste von Vögeln, die mit mehr als einem halben Dutzend Familien und gut doppelt so vielen identifizierbaren Gattungen nachgewiesen wurden. Vollständige Skelette ließen sich selten beobachten, häufiger liegen disartikulierte Partien und Extremitätenreste vor. Bei letzteren fehlen mitunter die Gelenkenden. Ein Teil der Vogelfauna wird daher als Nahrungsreste der Krokodile und großen Schlangen gedeutet. Zudem ist der Anteil weiblicher Tiere recht hoch, was an der Ausbildung medullärer Knochen erkennbar ist, einer calciumreichen Knochensubstanz an den Markröhren der Langknochen, die bei der Herausbildung der Eier entsteht. Einen relativ kleinen Vertreter der Urkiefervögel repräsentiert der über die hinteren Extremitäten und zusätzlich über ein Teilskelett nachgewiesene Palaeotis. Er wurde ursprünglich als verwandt mit den Trappen angesehen, später aber als in der Ahnenreihe der heutigen Strauße stehend aufgefasst. Neben den eindeutigen Merkmalen, die Palaeotis mit den Urkiefervögeln vereint, erinnern einige Charakteristika der Hinterbeine eher an heutige Kraniche. Mit bis zu 1,8 m Gesamthöhe deutlich größer war Gastornis (auch Diatryma genannt). Von diesem großen bodenlaufenden Vogel liegen über drei Dutzend Fundobjekte vor, so mehrere Beinknochen, aber auch Schädelreste und Teile der Flügel, die die größte Kollektion aller Fundstellen innerhalb Europas darstellen. Lange Zeit galt Gastornis als Fleischfresser, Isotopenuntersuchungen an einigen Knochen aus dem Geiseltal zeigten allerdings, dass der Vogel sich hauptsächlich vegetarisch ernährte. Zu den echten fleischfressenden Vögeln wurde ursprünglich Eocathartes gezählt. Dieser sollte die Neuweltgeier im Geiseltal repräsentieren und ist anhand von Teilen des Körperskelettes als auch durch Federn beschrieben worden. Weiterhin hatte Geiseloceros als Angehöriger der Nashornvögel einen Status als Exot inne. Belegt war er über Beinknochen und zusammenhängende Flügelreste, an denen zusätzlich die blau schimmernden Schwungfedern erkennbar sind. Beide Taxa werden heute zu Strigogyps aus der Familie der Ameghinornithidae gestellt, einer Gruppe größerer Laufvögel mit näheren Beziehungen zu den Seriemas. In ein ähnliches Verwandtschaftsverhältnis gehört auch ein großer Fußknochen, der wohl Dynamopterus zugesprochen werden kann. Über einen Oberarmknochen ist weiterhin Aegialornis, ein fossiler Segler, nachgewiesen. Kleinere Vertreter der Vögel finden sich mit den Mausvögeln, von denen mehrere Teilskelette vorliegen, so von Eoglaucidium und Selmes. Mit Plesiocathartes, identifiziert über mehrere Gliedmaßenknochen, ist ein fossiler Vorläufer des heutigen, auf Madagaskar lebenden Kurols dokumentiert. Ebenfalls einzelne Knochenelemente verweisen auf Messelirrisor, der die Hornvögel und Hopfe repräsentiert. Darüber hinaus waren Falkenartige anwesend, die sich jedoch weniger sicher bestimmen lassen, möglicherweise aber zu Masillaraptor gehören. Säugetiere Die sehr umfangreiche Säugetierfauna umfasst Reste aus rund zwei Dutzend Familien mit mehr als 50 Gattungen. Zu den urtümlichsten Vertretern gehören die Beuteltiere, die mit Peratherium und Amphiperatherium vertreten sind. Vor allem von Peratherium liegen mehrere Schädel und Unterkieferreste vor. Beide Gattungen sind Ahnen des südamerikanischen Opossums. Taxonomisch schwer einzuordnen ist dagegen Microtarsioides, da zwar ein relativ vollständiges Skelett überliefert ist, das aber von einem juvenilen Tier stammt. Wesentlich umfangreicher und vielgestaltiger sind die Höheren Säugetiere. Einige wenige charakteristisch kräftig geformte Langknochen werden Eurotamandua zugewiesen. Ursprünglich als Angehöriger der heutigen Ameisenbären angesehen, stellt er aber nach weiteren Untersuchungen eine Basalform der Schuppentiere mit ähnlicher Lebensweise dar. Zu den Kleinsäugetieren gehört Heterohyus, ein Apatemyide, der durch zwei verlängerte Finger und kreisbogenförmige Schneidezähne charakterisiert ist. Die vergrößerten Vorderzähne dienten zum Benagen von Baumrinde, mit den langen Fingern bohrte er in Spalten und Rissen nach Insekten. In seiner Lebensweise ähnelte Heterohyus so dem heutigen Fingertier von Madagaskar. Mit einem Teilskelett und einem Unterkiefer ist Leptictidium nachgewiesen. Dieses räuberische Tier bewegte sich auf den Hinterbeinen springend fort, was die basale Stellung der Leptictida anzeigt, da dies bei heutigen Insektenfressern nicht mehr vorkommt. Das nur selten auftretende Buxolestes war dagegen ein gedrungenes, semiaquatisch lebendes Tier aus der Gruppe der Pantolestidae, dessen Äußeres und Lebensweise etwa den heutigen Fischottern entsprach. In das unmittelbare Verwandtschaftsumfeld gehören die Paroxyclaenidae, von denen aber nur ein 12 cm langer Schädel von Vulpavoides und ein 5 cm langes Unterkieferfragment von Pugiodens dokumentiert sind. Die kurzschnauzigen Tiere waren vermutlich baumbewohnend. Ihre Reste wurden ursprünglich den „Creodonta“, später den „Condylarthra“ beigeordnet. Ebenfalls sehr selten, aber mit mehreren, teils vollständig bezahnten Unterkiefern ist der Insektenfresser Saturninia aus der Gruppe der Nyctitheriidae vertreten. Nagetiere sind selten und kamen mit nur wenigen Formen vor. Ailuravus war sehr groß, rund einen Meter lang, und erinnerte an heutige Hörnchen. Wenige Gebissreste stammen vom wiederum deutlich kleineren Masillamys, die nach der Grube Messel benannte Messelmaus mit einem sehr langen Schwanz und einer Gesamtlänge von 40 cm. Bedeutend sind auch die Reste der Fledermäuse, von denen 25 vollständige Skelette mit Teilen der Flügelhaut vorliegen. Sie können weitgehend den Gattungen Matthesia und Cecilionycteris zugeordnet werden. Sie gehören zur Familie der Palaeochiropterygidae, deren Vertreter aufgrund des Baus der Ohrknöchelchen bereits mit Echoortung von 30 bis 70 kHz jagten. Bemerkenswerte Reste stammen auch von den Primaten. Hier sind vor allem die Adapidae wichtig, von denen mehrere Gattungen im Geiseltal auftraten und die möglicherweise Vorläufer der heutigen Lemuren waren. Mit mehreren Schädeln und Unterkiefern ist Europolemur überliefert. Eines der wenigen fast vollständigen Skelette weltweit eines adapiden Primaten liegt mit Godinotia vor. Dieser frühe Primat, der zur näheren Verwandtschaft des aus der Grube Messel bekannten Darwinius gehörte, besaß einen deutlich kurzen Gesichtsschädel und große Augenhöhlen, die auf eine nachtaktive Lebensweise hinweisen. Sehr variantenreich mit mehreren Arten tritt Nannopithex auf, der aber zu einer moderneren Familie der Primaten gehört. Eher räuberisch lebende Tiere waren die heute ausgestorbenen „Creodonta“. Hierzu zählen vor allem die Hyaenodonta mit rund 50 Funden, darunter befinden sich überwiegend Unterkiefer, aber auch einige Schädel, Oberkieferfragmente und vereinzelte Reste des Bewegungsapparates. Dazu werden unter anderem Eurotherium, Matthodon, Prodissopsalis und Leonhardtina gestellt, die letzteren beiden waren am häufigsten und umfassen jeweils rund ein Dutzend Fossilien. Insgesamt waren alle im Geiseltal nachgewiesenen Creodontier relativ klein, so erreichte ein vollständiger Schädel von Eurotherium etwa 12 cm Länge. Ein zerquetschter Schädel und ein einzelner hinterer oberer Prämolar vertreten die echten Raubtiere und wurden ursprünglich zu Miacis, heute aber zu Quercygale gezählt. Vergleichsweise umfangreich ist das Fossilmaterial der Paarhufer mit rund 170 Fundobjekten von etwa 60 Individuen. Die Paarhufer des Geiseltales zeichneten sich alle durch einen sehr altertümlichen Körperbau mit einem nach oben gewölbten Rückenverlauf, sehr langen Schwänzen und kurzen Vorder- sowie langen Hinterbeinen aus. Sie waren durchweg kleiner als die heutigen Verwandten und erreichten maximal Ferkelgröße. Einer der urtümlichsten Paarhufer war Diacodexis aus der Gruppe der Diacodexeidae, das allerdings nur mit wenigen Knochenresten überliefert ist. Etwas weiter entwickelt ist das durch einen zerdrückten Schädel nachgewiesene Eurodexis aus der nahe verwandten Gruppe der Dichobunidae. Zu seiner näheren Verwandtschaft gehören Messelobunodon und Aumelasia, beide sind ebenfalls mit wenigen Funden belegt. Am häufigsten konnten bisher die Vertreter der etwas weiter entwickelten Choeropotamidae beobachtet werden, die in die nähere Verwandtschaft der Flusspferde zu stellen sind und endemisch im heutigen Europa verbreitet waren. Ein nahezu vollständiges Skelett liegt von Masillabune vor, während Hallebune nur mit wenigen Gebissfragmenten vertreten ist. Mehrere Skelettreste, darunter sieben fast vollständige, sind Amphirhagatherium zuzuweisen. Dieses rund 70 cm lange und etwa 4 kg schwere Tier war nicht nur der häufigste, sondern auch der größte Paarhufer des Geiseltales und ist weit über die Unter- und Mittelkohle verteilt. Darüber hinaus sind noch wenige Reste anderer Paarhufer wie Haplobunodon oder Rhagatherium bekannt. Von den Unpaarhufern liegt das umfangreichste Fundmaterial vor. Auch diese besaßen einen altertümlichen Körperbau mit einem aufgewölbten Rücken und vier Zehen an den Vorder- und drei an den Hinterfüßen, was heute nur noch bei den Tapiren vorkommt. Über 310 Unter- und 120 Oberkieferreste einschließlich zweier vollständiger Skelette stammen von den Pferdeverwandten aus der Gruppe der Palaeotheriidae. Hervorzuheben ist das bekannte Urpferdchen Propalaeotherium, das mit mehreren Arten vertreten ist. Ein vollständiges Skelett mit einem 56 cm langen Rumpf, einem 20 cm langen Schädel und einer Schulterhöhe von 40 cm wurde 1933 entdeckt. Andere vorkommende Gattungen sind Lophiotherium, Hallensia und Eurohippus. Von dem sehr seltenen Plagiolophus liegen nur wenige Zähne vor. Mit fast 180 Individuen ebenfalls sehr häufig ist Lophiodon, ein Tapirverwandter, der mit einer Körperlänge von 2,5 m und einer Schulterhöhe von 1 m den größten Vertreter der Säugetiere aus dem Geiseltal repräsentiert. Allein auf einer Fläche von 131 m² wurden 110 Individuen entdeckt, wohl Reste eines Krokodilfraßplatzes. Fossilfunde von Lophiodon sind aus allen fossilführenden Flözen bekannt, wobei die Gattung dabei von unten nach oben eine bedeutende Körpergrößenzunahme durchlief. Daneben erschien sein Verwandter Hyrachyus seltener und konnte mit etwa 75 Gebissresten und einigen Teilen des Körperskeletts nachgewiesen werden. Hyrachyus war moderner gebaut als Lophiodon und steht an der Basis der Entwicklung der Nashörner und Tapire. Weichteile, Chemofossilien und Nahrungsreste In der Braunkohle des Geiseltals haben sich auch Überreste der Weichteile erhalten, was äußerst selten vorkommt. Erstmals nachgewiesen wurden fossile Weichteile im Geiseltal 1934; sie gehören damit zu den ersten derartigen Funden aus dem Eozän überhaupt. Die Entdeckungen gelangen erst mit der Entwicklung der Lackfilmmethode. So konnte bei einzelnen Fischen unter anderem die feine Schuppenreliefierung erkannt werden, etwa bei Thaumaturus, ebenso bei Schuppenkriechtieren und seltener bei Krokodilen. Bei zahlreichen Fröschen ließ sich die Haut untersuchen, deren einzelne Schichten, die Epidermis und Dermis, bis zu den einzelnen Zellen erkennbar sind. An einigen Resten von Vögeln konnten Federn festgestellt werden, die zum Teil gefärbt waren; von Fledermäusen ist die Flughaut überliefert. Bei Säugetieren, wie Amphirhagatherium und seltener Propalaeotherium, sind Teile des Haarkleids nachgewiesen. Es gelang auch, Muskulatur, Knorpel und Ähnliches bis hin zu Blutzellen zu dokumentieren. Darüber hinaus ließ sich die ursprüngliche Färbung bestimmter Weichteile, vor allem der Haut, erkennen. So war der Fisch Palaeoesox am Körper zebragemustert und hatte einen dunkel gefärbten Rücken, während bei Fröschen eine grünliche Hauttönung beobachtet werden konnte. Bei Insekten sind die Farbschattierungen der Tiere erhalten, bei den Pflanzen hat das Chlorophyll überdauert. Zu solchen Chemofossilien gehört auch das oft in großen Mengen vorkommende „Affenhaar“. Hierbei handelt es sich um faserige, durch die Lagerung in der Braunkohle flachgedrückte Gebilde von hellbrauner Farbe, die durch natürliche Schwefelvulkanisiation überliefert blieben. Sie stellen fossilisierte Milchsaftröhren gummiproduzierender Gehölze aus der Familie der Hundsgiftgewächse dar, von denen Blätter der Gattung Apocynophyllum aus dem Geiseltal vorliegen. Nach der rezenten Gattung Couma wird das „Affenhaar“ als Formtaxon aber zu Coumoxylon verwiesen. Weitere Funde sind vor allem die Nahrungsreste zahlreicher Tiere, die ebenfalls bereits früh entdeckt wurden, so 1935 beim Tapirverwandten Lophiodon als grünliche Pflanzenmasse. Sie sind auch von anderen Säugetieren wie dem Urpferdchen Propalaeotherium und dem Paarhufer Amphirhagatherium nachgewiesen, darüber hinaus auch von dem straußenartigen Vogel Palaeotis. Wenigstens 100 Exemplare von Koprolithen und zusätzliche Fragmente wurden ebenfalls dokumentiert. Sie liegen zumeist in ei- oder wurstartiger Form vor mit Längen von wenigen Millimetern bis hin zu einem Dezimeter und enthalten teils Reste von Knochen, Krallen oder Pflanzen. Als Verursacher können verschiedene Reptilien und Säugetiere angenommen werden. Einzelne der versteinerten Kotreste enthalten auch Gastrolithen, die eventuell von Krokodilen stammen. Krokodile hinterließen verschiedentlich auch Bissmarken an Säugetierknochen und Schildkrötenpanzern. Datierung Bedeutend für die genaue Alterseinstufung der Braunkohle des Geiseltales sind die faunistischen Überreste, insbesondere der Säugetiere, was darüber hinaus einen Vergleich mit anderen Fundstellen und Aufschlüssen ermöglicht. Diese biostratigraphische Altersbestimmung erfolgt weitgehend über die Veränderungen der Zahnmorphologie bestimmter Säugetiergruppen, womit das zeitliche Auftreten ausgestorbener Arten und Gattungen ermittelt werden kann. Bereits die ersten, Anfang des 20. Jahrhunderts entdeckten Wirbeltierfunde, Zahnreste des Tapirverwandten Lophiodon, veranlassten die Einstufung der Braunkohle in die geologische Epoche des Mittleren Eozäns. Damit war auch das genauere Relativalter der Braunkohlen ermittelt, das vorher nur vermutet wurde. Das Mittlere Eozän wird auf ein Alter von 47,8 bis 41,3 Millionen Jahren datiert und besteht aus der unteren Stufe Lutetium und der oberen Stufe Bartonium. Über das Vorkommen bestimmter Säugetierformen kann das genauere Alter der Geiseltaler Braunkohlen relativ genau ermittelt werden. Dadurch werden die reichhaltigen Funde der Unterkohle bis zur Oberen Mittelkohle in die Zone des Geiseltaliums gestellt, eine Stufe innerhalb der Stratigraphie der europäischen Landsäugetiere (European Land Mammal Ages, ELMA). Dem Geiseltalium dient die Geiseltalfauna als Referenz, zudem bildet es einen mittleren Abschnitt des Lutetium. Die nur wenigen Funde der Oberkohle werden in eine jüngere Zone, das Robiacium verwiesen. Der Beginn des Geiseltaliums geht dabei mit dem Auftreten früher Formen des Urpferdchens Propalaeotherium, aber auch seines Verwandten Lophiotherium oder des Primaten Europolemur einher, während das Ende durch das erste Auftreten von Primaten wie Adapis angezeigt wird. Absolute Datierungen mittels radiometrischer Messverfahren liegen aus dem Geiseltal nicht vor. Allerdings wurden solche in etwa gleich alten Fundstellen vorgenommen. So stammen Daten, ermittelt mit der Kalium-Argon-Datierung, aus der bedeutenden Grube Messel in Hessen, die aus biostratigraphischer Sicht dem Abschnitt der Unterkohle des Geiseltales entspricht, und ergaben ein Alter von 47,8 Millionen Jahren. Da der untersuchte Basalt aus einem Bereich unter den fossilführenden Seesedimenten der Grube Messel stammt, ist der Alterswert als Maximalalter anzusehen, die Funde dort sind also etwas jünger (terminus post quem). Das Eckfelder Maar in Rheinland-Pfalz stellt ein biostratigraphisches Äquivalent zur oberen Mittelkohle dar. Dort mit Hilfe der gleichen Messmethodik gewonnene Daten aus Pyroklasten, ebenfalls unterhalb der Fundschicht, ergaben einen Wert von 44,3 Millionen Jahren. Dies ist ebenfalls als unterstes Alter anzusehen. Dadurch ist die Alterseinstufung des Geiseltaliums, dem heute ein Alter von 47,4 bis 43,4 Millionen Jahren zugesprochen wird, und damit der Funde aus dem Geiseltal als recht sicher anzusehen. Landschaftsrekonstruktion Die zahlreichen Pflanzen- und Tierreste, aber auch die hohe Anzahl an geologischen Daten ermöglichen eine recht genaue Rekonstruktion der ehemaligen Landschaftsverhältnisse. Demnach war das Geiseltal im Mittleren Eozän eine wasserreiche Moorlandschaft, die sich in Nord-Süd-Richtung auf einer Länge von vier bis fünf Kilometern erstreckte und die in Küstennähe an einer weit ins Landesinnere eindringenden Bucht lag. Dieser als Mitteldeutscher Ästuar bezeichnete Landeinschnitt, der anhand von Pollenfunden der Palmengattung Nypa aus der Mittelkohle zumindest zeitweilig den Gezeiten ausgesetzt war, bildete vor allem im mittleren Abschnitt des Eozäns (genauer im Lutetium) zahlreiche Buchten sowie lokale Senkungen und Becken, die die Entstehung von Braunkohle förderten, so das Helmstedter Braunkohlerevier im Nordwesten oder die Braunkohlelager von Egeln und Edderitz weiter südlich. Dieses verzweigte System führte auch im Geiseltal zur Bildung mariner, brackiger bis hin zu fluviatilen und limnischen Ablagerungen (die Hauptmittel) als Hinterlassenschaften des Ästuars. Das damals subtropische Klima trug zur Entstehung von zahlreichen Mooren, Teichen und Tümpeln mit einem reichen Vegetationsbestand am Rande des Ästuars bei. Durch das Einsetzen von Inkohlung des abgestorbenen Pflanzenmaterials kam es in einem Zeitraum von sechs bis möglicherweise acht Millionen Jahren zur Ausbildung mächtiger Braunkohleflöze. Begrenzt wurde das Gebiet im Süden von einer Muschelkalkhochfläche mit steilen, nach Norden abfallenden Hängen. Die Hochfläche selbst war zum Teil verkarstet. Durch die chemische Verwitterung entstanden Kalkwässer, die in die Moorniederung eindrangen und für die vorzügliche Erhaltung der Fossilien sorgten. Durchsetzt war das Moorgebiet von zahlreichen kleinen, im Durchmesser rund acht bis zehn Meter großen Tümpeln und Teichen, die durch Einsturztrichter angezeigt werden und der fossilen Tierwelt als Trinkstellen dienten. Im angrenzenden Uferbereich wuchsen Acrostichum-, Myricaceen- und Restionaceen-Pflanzengemeinschaften. In der weiteren Umgebung gab es Strauch- und Waldlandschaften aus Palmen-Kiefernwäldern, durchsetzt mit Mammutbäumen und anderen Nadel- und Laubhölzern, die kraut- und lichtreich waren und mehrere Wuchsebenen aufwiesen. Diese Wälder waren durchzogen von einem Netz mäandrierender Fließgewässer, die periodisch über die Ufer stiegen. Nach Süden in Richtung des Muschelkalkzuges gingen diese Wälder in einen dichten Urwald aus Lorbeergewächsen über. Die Höhenlage dürfte aufgrund der relativen Küstennähe damals nicht über 50 m über dem Meeresspiegel betragen haben. Das Klima war insgesamt subtropisch mit frostfreien und trockenen Wintern mit minimal 5 °C Durchschnittstemperatur und feuchten Sommern mit einer bis zu neun Monate langen Vegetationsperiode und durchschnittlich 25 °C im wärmsten Monat, was anhand der zahlreichen Früchte und Samen ermittelt wurde. Der jährliche Niederschlag dürfte bei rund 2070 mm gelegen haben. Durch die deutlichen Temperaturunterschiede während der Sommer- und Wintermonate unterlag die Landschaft einer jährlichen Periodik aus Regen- und Trockenzeit, was sich unter anderem auch durch Baumringe sowie durch eine feine Warvung der Braunkohle nachweisen lässt. Dadurch ist der Laubfall als wahrscheinlich anzusehen, so dass die Blätter eine lockere Streuschicht am Boden bildeten. Von der Unter- zur Mittelkohle konnte allerdings eine zunehmende Trockenheit des Klimas ermittelt werden. Diese vielgestaltige Landschaft war von zahlreichen Tieren bewohnt. Vor allem in den Wäldern lebten blatt- und fruchtfressende Säugetiere wie Lophiodon, Propalaeotherium und Amphirhagatherium. Die reichhaltige Insektenfauna war wiederum Ernährungsgrundlage zahlreicher weiterer Tiere, wie Frösche, Molche und Schuppenkriechtiere, aber auch Leptictiden, Fledermäuse und einige Primaten. Die Teiche und Tümpel beherbergten wasserbewohnende oder amphibisch lebende Tiere. Hervorzuheben sind die zahlreichen Krokodilformen, die wie heute ein deutlich wärmeres Klima bevorzugten und dadurch auch einen wichtigen Klimaanzeiger darstellen. Die Reichhaltigkeit der Ökosystems und der lange Ablagerungszeitraum von rund 3 Millionen Jahren lässt darüber hinaus auch bestimmte Beziehungsgeflechte erkennen, die über reine Nahrungsketten hinausgehen. Dies lässt sich unter anderem an Lophiodon und Propalaeotherium erkennen, die die beiden häufigsten Säugetierformen repräsentieren und aufgrund der Nutzung der gleichen Nahrungsressourcen wohl eine besondere ökologische Beziehung zueinande hatten. Während aber Lophiodon im Laufe der Zeit an Körpergröße zunahm (durchschnittlich 124 kg in der Unterkohle und 223 kg in der Oberkohle), büßte Propalaeotherium hingegen an Gewicht ein (durchschnittlich 39 kg in der Unterkohle und 26 kg in der Oberen Mittelkohle). Möglicherweise ist dies ein Beispiel für die allmähliche Anpassung an unterschiedliche ökologische Nischen zur Vermeidung zu starker Konkurrenz untereinander. Vergleich mit regional und überregional bedeutenden Fundstellen Aus der regionalen Nachbarschaft des Geiseltales sind vor allem die gleich alten Braunkohleaufschlüsse etwa aus der Leipziger Umgebung (das Weißelsterbecken) oder dem Helmstedter Raum von Bedeutung. Obwohl hier keine Vertebratenreste vorliegen, sind unzählige floristische Funde bekannt. So kommen in den Tagebauen bei Helmstedt Makroreste in Form von Zapfen von Koniferen und Palmenblättern vor, aus dem Tagebau Profen stammen wiederum zahlreiche Blattfunde von Zweikeimblättrigen. Die allgemeine, anhand der Mikroflora ermittelte Vegetationsgeschichte entspricht weitgehend der des Geiseltales. Gleich alte Wirbeltierfundstellen sind aus der näheren Region nicht bekannt. Mit den Funden von Walbeck im Nordwesten von Sachsen-Anhalt ist aber eine der umfangreichsten Säugetiergemeinschaften weltweit aus dem Mittleren Paläozän vor knapp 60 Millionen Jahren bekannt. Die mehrere Tausend Knochen- und Zahnreste umfassende Fauna unterscheidet sich von jener des Geiseltals durch die Dominanz urtümlicher Säugetiere aus den Gruppen der Procreodi, „Condylarthra“ oder Leptictida, während Vertreter modernerer, heute noch bestehender Linien wie den Primaten eher selten auftreten oder wie bei den Paarhufern und Unpaarhufern vollständig fehlen. Walbeck stellt somit ein bedeutendes Zeugnis aus der Frühphase der Radiation der Säugetiere kurz nach dem Aussterben der Dinosaurier dar. Im überregionalen Vergleich eine herausragende Bedeutung haben die Grube Messel in Hessen und das Eckfelder Maar in Rheinland-Pfalz. Beide stellen Fundstellen in ehemaligen Maaren dar, wobei Messel etwa zeitgleich zur Unterkohle des Geiseltales, Eckfeld aber zur Oberen Mittelkohle ist. Von beiden Fundstellen ist neben Pflanzen- und Invertebratenfunde eine hohe Anzahl von Wirbeltierresten bekannt, die in Messel gegenwärtig rund 130 Taxa umfasst, die Menge der Funde aus Eckefeld ist dagegen vergleichsweise geringer. Während die Zusammensetzung der Säugetierfauna generell Übereinstimmungen zeigt, gibt es aber im Einzelnen deutliche Unterschiede. So sind im Geiseltal und in Eckfeld etwa die Nagetiere und Fledermäuse untervertreten, kommen in Messel aber häufiger und formenreicher vor. Dagegen zeichnet sich Messel durch eine geringere Anzahl an Primaten- und Paarhuferformen aus, die im Geiseltal und in Eckfeld wiederum gut und vielfältig belegt sind, wobei sich markante Abweichungen im Auftreten verschiedener Gattungen widerspiegeln. Ähnliche Differenzen können auch für einzelne Säugetiergattungen herausgearbeitet werden, etwa Lophiodon aus der Gruppe der Unpaarhufer, das im Geiseltal zu den dominierenden Formen gehört, in Messel aber nur mit einem Jungtier und einzelnen Zahnfunden, in Eckfeld mit einem Unterkiefer und ebenfalls wenigen Zahnresten nachgewiesen werden konnte. Bemerkenswert in Eckfeld ist das bisherige Fehlen altertümlicher Säugetiergruppen wie den „Creodonta“ und „Condylarthra“, die zumindest in Messel und im Geiseltal in geringem Umfang auftreten. Darüber hinaus lassen sich auch in anderen Fundgruppen Unterschiede aufzeigen. So sind die Prachtkäfer mit mehr als einem Viertel aller Käferfunde verhältnismäßig häufig im Geiseltal überliefert, in Messel dagegen mit weniger als einem Zehntel eher rar, allerdings zeigt sich hier eine allgemein höherer Formenreichtum an Käfern insgesamt. Dass dabei unter anderem nur wenige Formen der Prachtkäfer an beiden Fundstellen gleichzeitig vorkommen, weist auf bedeutende ökologische Unterschiede hin, die sich auch in der teils abweichenden Vielfalt der verschiedensten Pflanzen- und Tiergruppen niederschlägt und aufzeigt, dass die einzelnen Fossillagerstätten nur jeweils einen Ausschnitt aus der damaligen reichhaltigen Landschaft repräsentieren. Forschungsgeschichte Wissenschaftliche Ausgrabungen Obwohl der Abbau von Braunkohle im Geiseltal nachweislich bis in das Jahr 1698 zurückreicht, wurden die ersten Fossilien relativ spät entdeckt. Der früheste Fossilfund datiert in das Jahr 1908 und umfasst Reste des Tapirverwandten Lophiodon, die eher zufällig von einem Steiger im Tagebau Cecilie aufgesammelt wurden. Weitere Funde wurden im Jahr 1912 geborgen, die mehrere Gebissreste dreier Individuen einschließen und zur selben Gattung gehören. Im darauffolgenden Jahr konnten erstmals Reste von Schildkröten in einer pflanzenführenden Kohleschicht beobachtet werden, wobei aber ein Teil der Funde nach der Freilegung zerfiel. Einige verbliebene Fossilien wurden der Geologischen Landesanstalt in Berlin übergeben. Weitere Schildkrötenfunde im Jahr 1925 führten dann zu systematischen wissenschaftlichen Ausgrabungen, die der Geologe Johannes Walther (1860–1937) initiierte und welche die Universität Halle koordinierte. Die Leitung vor Ort übernahm der gebürtige Engländer Ben Barnes. Er untersuchte vor allem verschiedene Bereiche im Tagebau Cecilie. Ziel war es dabei, nicht nur qualitativ vollständige Stücke zu erfassen, sondern auch quantitativ einen Überblick über den Fossilgehalt der Braunkohlen zu gewinnen, wodurch auch kleinere oder schlecht erhaltene Fundobjekte dokumentiert wurden. Barnes Ausgrabungen deckten unter anderem Reste von Schlangen und Schildkröten sowie Zähne und Knochen verschiedener Huftiere auf. Die Arbeiten resultierten in einer ersten umfassenderen wissenschaftlichen Publikation im Jahr 1927. Nach dem Ausscheiden Walthers aus dem Lehrbetrieb führte diese Johannes Weigelt (1890–1948) weiter. Ein Forschungsschwerpunkt Weigelts bildeten Fossilisierungsprozesse, zu deren besseren Verständnis er zahlreiche rezente verwesende Tierkadaver untersuchte. Er benannte dies mit „Biostratinomie“, womit er die Taphonomie als Forschungsfeld vorwegnahm. Zum Zweck der besseren Haltbarmachung der Fossilien entwickelte Ehrhard Voigt (1905–2004) Anfang der 1930er-Jahre die Lackfilmmethode. Ein erster Höhepunkt war 1933 mit der Entdeckung eines vollständigen, 74 cm langen Skelettes des Urpferdchens Propalaeotherium im Tagebau Cecilie erreicht, das im Zentrum eines Einsturztrichters lag und aus dem weiterhin zahlreiche Krokodilreste und teils vollständige Eidechsenskelette stammen. Im gleichen Tagebau wurde nur ein Jahr später die einzige bedeutende Fundstelle der Oberkohle mit über 20 Individuen von Lophiodon untersucht, darunter auch ein nahezu vollständiges Skelett. Im Tagebau Cecilie kamen die wissenschaftlichen Forschungen im Jahr 1935 aufgrund des Erschöpfens der Kohlevorräte zum Erliegen. Weitere Grabungen erfolgten daraufhin unter anderem im Tagebau Leonhardt, kamen aber 1938 zum Stillstand. Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges 1939 beendete diese erste wichtige Forschungsperiode endgültig. Im Jahr 1949 wurden die Grabungstätigkeiten wieder aufgenommen und im Folgenden von der Regierung der DDR im größeren Rahmen gefördert. Zudem konnten zahlreiche Wissenschaftler aus anderen Nationen in die Auswertung der Funde eingebunden werden. Durch die Ausweitung des Tagebaubetriebes, der in der Mitte des 20. Jahrhunderts seinen Höhepunkt fand, wurden zahlreiche weitere Fundstellen unter anderem in den Abbaufeldern Pfännerhall und Mücheln (welches die ehemaligen Bereiche Pauline, Elisabeth, Emma und Elise II des westlichen Geiseltales umfasste) erschlossen. Dabei entdeckten die Wissenschaftler mit der Fundstelle XIV eine der fossilreichsten und konnten dort mit den Bachläufen neben den bereits von Weigelt definierten Fundstellentypen einen neuen belegen. Die erhöhte Kohleförderung führte dazu, dass abbaubegleitend verstärkt Grabungsmaßnahmen erfolgten, sodass vor allem die 1960er- und 1970er-Jahre einen Höhepunkt der Erforschung des Geiseltales darstellten. Erst mit dem sich abzeichnenden Ausklingen der Kohlevorräte (das östliche und südöstliche Geiseltal war bereits Anfang der 1970er-Jahre erschöpft und die aufgelassenen Tagebaue teilweise geflutet worden) und der Verlagerung des Abbaus in den nördlicheren und westlicheren Teil des Geiseltales, wo die Fossilerhaltung weniger gut war, gingen auch die wissenschaftlichen Vorortuntersuchungen zurück und endeten vorläufig 1985. Während dieser Forschungsphase waren mehr als 55 neue Fundstellen entdeckt worden, darunter 23 mit Wirbeltierresten. Nach der politischen Wende in der DDR im Jahr 1989 änderte sich die Situation grundlegend. Nachdem ursprünglich die Förderung der Braunkohle im westlichen Geiseltal noch bis 1998 weitergeführt werden sollte, wurde diese jedoch aufgrund veränderter Marktbedingungen Mitte 1993 eingestellt und mit der Renaturierung des gesamten Tagebaugebietes begonnen. Dadurch kam es von Frühjahr bis Herbst 1992 zu den letzten Untersuchungen einer Fundstelle im südlichen Geiseltal, wobei hier auch Mitarbeiter des Forschungsinstitutes Senckenberg beteiligt waren. Im darauf folgenden Jahr wurde diese letzte Wirbeltierfundstelle von aufsteigendem Grundwasser überspült. Zwischen den Jahren 2000 und 2003 fanden die letzten Geländeaktivitäten wiederum gemeinsam mit dem Forschungsinstitut Senckenberg im westlichen Geiseltal statt, die vorwiegend einen über 20 m mächtigen Kohleflöz betrafen, der unzähliges Pflanzenmaterial bis hin zu 25 m langen Baumstämmen enthielt. Aufgrund der chemischen Eigenschaften der Braunkohle in diesem Bereich des Geiseltales konnten allerdings keine Wirbeltierreste beobachtet werden. Im Juni 2003 begann die planmäßige Flutung des westlichen Geiseltales zum Geiseltalsee, der im Frühjahr 2011 seine Endwasserhöhe erreicht hatte, wodurch einer der größten künstlichen Seen Mitteleuropas geschaffen wurde. Damit waren die wissenschaftlichen Tätigkeiten vor Ort endgültig beendet. Fundpräsentation Bereits 1934 wurde nur neun Jahre nach Beginn der Grabungstätigkeiten aufgrund des immens angestiegenen Fundmaterials das Geiseltalmuseum in der im Auftrag Kardinal Albrechts II. in den Jahren 1531 bis 1537 errichteten Neuen Residenz nahe dem Halleschen Dom in der Saalestadt Halle eröffnet. Das Museum diente gleichzeitig als Sammlungsdepot und Ausstellung, wobei diese in der Allerheiligenkapelle auf einer Fläche von 267 m² eingerichtet wurde. Die anderen Räumlichkeiten der Neuen Residenz nutzte dagegen das Geologisch-Paläontologische Institut der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Als Wappentier des Museums diente das Propalaeotherium zugewiesene Urpferdchenskelett aus dem Jahr 1933. Eine Unterbrechung der Ausstellung erfolgte kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges im Jahr 1945, als die Funde aus Sicherheitsgründen ausgelagert werden mussten. Im Jahr 1950 eröffnete die Ausstellung wieder unter dem Motto „Gang durch Mitteldeutschlands Erdgeschichte“ – erweitert um acht Räume und 1954 fachlich überarbeitet. Infolge einer Hochschulreform Ende der 1960er Jahre sollten Museum und Sammlung ausgelagert werden, was vom damaligen Direktor Horst Werner Matthes abgewendet werden konnte. Allerdings musste die 1950 eröffnete neue Ausstellung geschlossen und reduziert werden. Technische und finanzielle Engpässe führten in den folgenden Jahren dazu, dass weder in eine modernere Ausstellung noch in eine Reparatur der Gebäude der Neuen Residenz investiert werden konnte, wodurch unter anderem durch Regeneinbrüche oder Tauwetter die Notwendigkeit bestand, einzelne Fundobjekte vor Beschädigung zu bewahren. Erst nach 1989 mit der politischen Wende in der DDR änderte sich dies zum Positiven. Allerdings blieb die Bausubstanz der Neuen Residenz weiter in schlechtem Zustand. Als das jetzige Institut für Geowissenschaften im Jahr 2004 in neue und modernere Räumlichkeiten am neuen Campus am Von-Seckendorf-Platz zog, verblieb nur das Geiseltalmuseum samt Sammlung zurück und feierte dort sein 70-jähriges Bestehen. Von Ende 2011 bis Mai 2018 war das Museum geschlossen und die Sammlung nicht öffentlich zugänglich. Die Wiedereröffnung erfolgte im Rahmen der Langen Nacht der Museen am 5. Mai 2018. Im Frühjahr 2015 informierte eine Sonderausstellung mit dem Titel „Aus der Morgendämmerung: Pferdejagende Krokodile und Riesenvögel“ im Tschernyschewski-Haus der Leopoldina in Halle über die neuesten Ergebnisse aus der Erforschung der Fossillagerstätte Geiseltal. Zwischen November 2017 und Mai 2018 waren einige bedeutende Fossilien des Geiseltals Bestandteil der Sonderausstellung „Klimagewalten – Treibende Kraft der Evolution“ am Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle. Im Jahr 2012 erhielt die gesamte Sammlung den Status als „national wertvolles Kulturgut“ und steht daher unter Schutz der Regierung. Literatur Alexander K. Hastings, Meinolf Hellmund: Aus der Morgendämmerung: Pferdejagende Krokodile und Riesenvögel. Neueste Forschungsergebnisse zur eozänen Welt Deutschlands vor ca. 45 Millionen Jahren. Halle (Saale), 2015, S. 1–120. Meinolf Hellmund: Exkursion: Ehemaliges Geiseltalrevier, südwestlich von Halle (Saale). Aus der Vita des eozänen Geiseltales. In: Jörg Erfurt, Lutz Christian Maul (Hrsg.): 34. Tagung des Arbeitskreises für Wirbeltierpaläontologie der Paläontologischen Gesellschaft 16. bis 18. März 2007 in Freyburg/Unstrut. In: Hallesches Jahrbuch für Geowissenschaften. Beiheft 23, 2007, S. 1–16. Günter Krumbiegel, Ludwig Rüffle, Hartmut Haubold: Das eozäne Geiseltal: ein mitteleuropäisches Braunkohlenvorkommen und seine Pflanzen- und Tierwelt. Ziemsen, Wittenberg 1983, S. 1–227, . Einzelnachweise Weblinks Geiseltalsammlung an der Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg Sonderausstellung: Aus der Morgendämmerung: Pferdejagende Krokodile und Riesenvögel Geiseltal Geographie (Sachsen-Anhalt) Mitteldeutsches Braunkohlerevier
9202057
https://de.wikipedia.org/wiki/Chilenisches%20Mausohr
Chilenisches Mausohr
Das Chilenische Mausohr (Myotis chiloensis) ist eine zur Gattung der Mausohren (Myotis) gehörende Art der Fledermäuse (Chiroptera). Sie lebt in den südlichen Teilen von Argentinien und Chile und ist gemeinsam mit der ebenfalls in Chile vorkommenden Südlichen Braunen Großohrfledermaus (Histiotus magellanicus) die weltweit am südlichsten vorkommende Fledermaus. Wie andere Fledermäuse ist sie nachtaktiv und ernährt sich von Insekten in Waldgebieten, die sie im Flug fängt. Charles Darwin hatte Exemplare dieser Tiere auf dem Chiloé-Archipel gefangen und sie anschließend (1837) zusammen mit allen anderen während seiner Reise mit der HMS Beagle gesammelten Säugetieren und Vögeln der Zoological Society of London übereignet. Dort wurde die Chilenische Mausohr vom britischen Zoologen George Robert Waterhouse erstmals wissenschaftlich beschrieben. Merkmale Allgemeine Merkmale Das Chilenische Mausohr ist eine kleine Art der Mausohren und erreicht eine Gesamtlänge von etwa 7,0 bis 9,0 Zentimeter, davon entfallen auf die Kopf-Rumpf-Länge 4,3 bis 5,0 Zentimeter und auf die Schwanzlänge 2,8 bis 3,8 Zentimeter; das Gewicht beträgt etwa 6,0 bis 7,5 Gramm. Die mittlere Hinterfußlänge beträgt 6,5 bis 8,5 Millimeter, die Ohrlänge 9,5 bis 14,5 Millimeter mit einem Tragus von etwa 4,5 Millimetern Länge. Kennzeichnend ist vor allem das sehr dunkle Fell, durch das sie sich von anderen Arten der Gattung unterscheidet. Die konkrete Fellfärbung variiert regional abhängig vom Grad der Sonneneinstrahlung und der Niederschläge. Im Norden sind die Tiere blass ockerfarben, in Zentralchile blassbraun und im Süden kaffeebraun. Die Haare sind zweifarbig mit dunkler graubrauner bis blassbrauner Basis und heller Spitze, die Haare sind etwa vier Millimeter lang. Auf der Schwanzflughaut (Uropatagium) befinden sich sehr kurze und weiche Haare, die Behaarung reicht nicht bis an die Knie und den Rand der Flughaut. Der Schwanz ist in die v-förmige Schwanzflughaut vollständig integriert. Die Flügel sind gut steuerbar und für einen langsamen Flug bei einer vergleichsweise hindernisreichen Strecke für die Jagd der Tiere im Wald ausgelegt. Die Unterarme erreichen eine Länge von etwa 37 bis 40 Millimetern, der fünfte Finger wird jeweils etwa 47 Millimeter lang. Bei Messungen der Flügel wurde zudem eine mittlere Flügelspannweite von 23,7 Zentimetern und eine mittlere Gesamtflügelfläche von 98 Quadratzentimetern ermittelt. Im Vergleich zu schnellfliegenden Fledermausarten wie der Mexikanischen Bulldoggfledermaus (Tadarida brasiliensis) stellt dabei die Schwanzflughaut einen relativ großen Anteil der Gesamtflügelfläche, während der Anteil der Armflughaut entsprechend kleiner ist. Die Streckung der Flügel beträgt durchschnittlich 5,8 und die Flächenbelastung durchschnittlich 6,8 N/m². Durch diese verhältnismäßig geringen Werte für die Flügelstreckung und -belastung ist der Flug selbst energieaufwendig und vergleichsweise langsam. In seinem Verbreitungsgebiet kommt das Chilenische Mausohr sympatrisch mit drei anderen Arten der Gattung vor, dem Atacama-Mausohr (Myotis atacamensis) im Norden von Chile sowie dem Argentinischen Mausohr (Myotis aelleni) und dem Dinnell-Mausohr (Myotis dinellii) in Argentinien. Vom Atacama-Mausohr unterscheidet sich die Art durch das dunklere Fell und die durchschnittlich etwas längeren Unterarme. Das Argentinische Mausohr hat dreifarbiges Rückenhaar und etwas längere Unterarme als das Chilenische Mausohr und das Dinnell-Mausohr besitzt eine sehr blasse und auch am Rand behaarte Schwanzflughaut, die beim Chilenischen Mausohr einfarbig dunkel und am Rand unbehaart ist. Merkmale des Schädels und Genom Der Schädel der Art ist flach und hat eine Gesamtlänge von etwa 14,4 Millimeter sowie eine Breite im Bereich der Jochbögen von etwa 9,1 Millimeter. Das Verhältnis von Hirnschädellänge zum Gesamtschädel beträgt ziemlich genau 2:1 und das Rostrum ist etwa genauso lang wie der Hirnschädelbereich. Die Tiere besitzen im Oberkiefer pro Hälfte zwei gut ausgebildete Schneidezähne (Incisivi), dem je ein Eckzahn (Caninus) sowie hinter einem schmalen Diastema jeweils drei Prämolare und drei Molare folgen. Im Unterkiefer besitzen die Tiere pro Hälfte einen zusätzlichen Schneidezahn, ansonsten entsprechen die Zähne denen im Oberkiefer. Insgesamt verfügen die Tiere damit über ein Gebiss aus 38 Zähnen, was innerhalb der Fledermäuse die höchste Anzahl an Zähnen ist. Das Genom der Art besteht aus einem diploiden Chromosomensatz von 2n = 44 Chromosomen (FN=50). Das X-Chromosom ist submetazentrisch. Rufe Wie andere Fledermäuse stößt auch das Chilenische Mausohr Rufe zur Echolokation aus. Der Ruf besteht aus zwei Sequenzen, von denen die erste mit hoher Frequenz beginnt und danach abnimmt, gefolgt von einer Sequenz mit sehr gleichmäßiger (quasi-konstanter) Frequenz im unteren Bereich. Die Suchrufe bestehen aus einem sehr kurzen, weniger als vier Millisekunden andauernden Signal. Sie beginnen bei etwa 89 kHz und nehmen bis auf 39 kHz ab, die höchste Intensität von etwa 39 Dezibel haben sie bei 47 kHz. Die Rufe werden in Intervallen von etwa 95 Millisekunden ausgestoßen. Im Verbreitungsgebiet ähnelt der Ruf im Aufbau dem anderer Glattnasen. Verglichen wurde das Chilenische Mausohr vor allem mit Histiotus montanus und Lasiurus varius; die Rufe der Arten unterscheiden sich untereinander vor allem durch die Frequenzen und die Dauer der Rufe. Verbreitung Das Chilenische Mausohr ist im südlichen Teil von Südamerika in Chile und Argentinien verbreitet. In Chile reicht das Verbreitungsgebiet von Coquimbo bei etwa 30° südlicher Breite bis zum nördlichen Teil der Insel Navarino im chilenischen Feuerland bei etwa 55° südlicher Breite. Gemeinsam mit der ebenfalls in Chile und Argentinien lebenden Südlichen Braunen Großohrfledermaus (Histiotus magellanicus) ist sie die am südlichsten verbreitete Fledermaus weltweit, im Süden von Chile ist sie zudem die häufigste Art der Fledermäuse. In Argentinien ist sie in den Provinzen Neuquén, Río Negro, Chubut und Tierra del Fuego nachgewiesen. Lebensweise Das Chilenische Mausohr lebt in bewaldeten Regionen der Hartlaubvegetation Zentralchiles bis zu den Wäldern des gemäßigten Klimas im südlichen Teil des Verbreitungsgebietes. Nach Norden wird das Gebiet wahrscheinlich durch die zunehmende Trockenheit der Steppen- und Wüstengebiete begrenzt, wo die Art durch das Atacama-Mausohr abgelöst wird. Sie gehört den am weitesten verbreiteten und zugleich häufigsten Arten der Region an und kommt in sehr diversen Lebensräumen vor. In Teilen Chiles nutzt die Fledermaus auch künstliche Forste mit für Südamerika untypischen Pflanzen wie Kiefern (Pinus) oder Eucalyptus, und sie lebt an und in Häusern und anderen Strukturen wie beispielsweise Brücken. Anders als andere Fledermäuse nutzt das Chilenische Mausohr dabei nicht nur den Waldrand von kommerziellen Kiefernpflanzungen, sondern jagt auch in den Wäldern nach Beute. Die Tiere sind wie die meisten Fledermäuse nachtaktiv und ernähren sich von Insekten, überwiegend von Mücken und Schnaken, die sie im Flug fangen. Sie jagen vor allem in dichten Scheinbuchenwäldern (Nothofagus) und anderen Waldhabitaten. Die Tiere fliegen zur Abenddämmerung aus und jagen danach für etwa drei Stunden, bevor sie sich wieder zurückziehen. Anders als andere insektenfressende Fledermäuse fliegen sie kein zweites Mal in der Morgendämmerung aus. Die Tiere bilden Kolonien und leben in Höhlen, Felsspalten, Baumhöhlen und auch in von Menschen errichteten Gebäuden. Dabei sind sie auch gemeinsam mit anderen Arten am gleichen Schlafplatz anzutreffen, häufig mit der Mexikanischen Bulldoggfledermaus, der Braunen Großohrfledermaus (Histiotus macrotus) und der Südlichen Braunen Großohrfledermaus (Histiotus magellanicus). Über das Fortpflanzungsverhalten und die Entwicklung liegen kaum Daten vor. Wie andere Glattnasen haben sie nur einen Fortpflanzungszyklus pro Jahr, sind also monöstrisch. Die Geschlechtsreife und erste Tragzeit haben die Weibchen am Ende ihres ersten Lebensjahres mit etwa zehn Monaten. Die Weibchen tragen einen einzelnen Embryo aus, der sich wie bei anderen Fledermäusen im rechten Gebärmutterhorn entwickelt. Das Jungtier wird zu Beginn des Sommers geboren. Bei einer gefangenen Fledermaus wurde ein Fötus mit einer Kopf-Rumpf-Länge von 15 Millimetern gefunden. Auch über Fressfeinde und Parasiten liegen nur sehr begrenzte Daten vor. In einer Analyse von Tollwut-Stämmen und der Verbreitung des Rabiesvirus in Chile wurden Fledermäuse als Hauptreservoir identifiziert, wobei dies neben dem Chilenischen Mausohr vor allem für die Mexikanische Bulldoggfledermaus zutrifft. Systematik Das Chilenische Mausohr wird als eigenständige Art den Mausohren (Gattung Myotis) zugeordnet. Die wissenschaftliche Erstbeschreibung erfolgte durch George Robert Waterhouse im Jahr 1838, der die Art als Vespertilio Chiloensis anhand von Individuen vom Chiloé-Archipel beschrieb. Die Tiere stammten aus der Sammlung von Charles Darwin von dessen Reise auf der HMS Beagle und wurden in dem unter seiner Aufsicht herausgegebenen mehrteiligen Werk The Zoology of the Voyage of H.M.S. Beagle im von Waterhouse bearbeiteten zweiten Band über die Säugetiere beschrieben. Die Zuordnung zu den Mausohren erfolgte durch Édouard Louis Trouessart im Jahr 1904. Innerhalb der Art werden aktuell keine Unterarten unterschieden, in der Vergangenheit wurden jedoch mehrere Unterarten in Chile und Argentinien betrachtet. Ehemals als Unterarten galten auch das Atacama-Mausohr (Myotis atacamensis) und das Gebirgsmausohr (Myotis oxyotus), die heute als eigene Arten angesehen werden, dagegen könnte das Argentinische Mausohr (Myotis aelleni) der Art zugeschlagen werden. Für die weitere Klärung der Systematik bedarf es entsprechend noch weiterer Forschung, vor allem auf genetischer und molekularbiologischer Basis, da die bisherige Unterscheidung primär auf morphologischer Basis geschieht und aufgrund der teilweise nur sehr geringen Unterschiede zwischen den Arten beschränkt ist. Fossil ist das Chilenische Mausohr in mehreren Lagerstätten aus dem Holozän in der Provinz Chubut am Río Chubut in Patagonien, Argentinien, nachgewiesen. Gefährdung und Schutz Die Art wird von der International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN) als nicht gefährdet („least concern“) eingestuft. Genauere Angaben zur Bestandsgröße liegen nicht vor, die Art gilt jedoch als häufig und Bedrohungen für den Artbestand sind nicht bekannt. Belege Literatur Weblinks Mausohren
9581767
https://de.wikipedia.org/wiki/Bienertm%C3%BChle
Bienertmühle
Die Bienertmühle (oft auch als ehemalige Hofmühle bezeichnet) ist ein früherer Mühlenstandort im Dresdner Stadtteil Plauen an der Weißeritz. Die umgangssprachliche Bezeichnung der dort 1568 anstelle einer früheren Mühle errichteten Hofmühle erinnert an die Familie Bienert, deren Angehöriger Gottlieb Traugott Bienert die Anlage 1852 pachtete und 1872 erwarb. Drei Generationen lang blieb die Mühle im Besitz der Familie und wurde von ihr zum modernsten Mühlenstandort in Sachsen ausgebaut. Nach der Enteignung der Besitzer und Verstaatlichung des Betriebes im Jahr 1972 endete nach einem Brand 1990 der Mühlenbetrieb endgültig. 1991 wurde auch die sich dort befindende Brotfabrik geschlossen. In einem Teil des Komplexes wurden 2006 das Museum Hofmühle Dresden und ein kleiner Mühlenladen mit einem Café eröffnet. Weitere Gebäude werden von verschiedenen Firmen genutzt. Große Teile der früheren Bienertmühle werden seit 2014 zu Loftwohnungen ausgebaut, eine (endgültige) Fertigstellung war für 2021 vorgesehen. Von 2015 bis 2018 wurde die zwischenzeitlich zu einer Ruine verfallene Villa der Familie Bienert saniert und in ihr wurden Eigentumswohnungen geschaffen. Vorgeschichte Dass es im Dorf Plauen bei Dresden eine Mahlmühle für Getreide gab, ist seit 1366 belegt. Am 17. Mai dieses Jahres wurde im Zinsregister der Kreuzkapelle Dresden erstmals eine „mól … so zum Dorfe Plawen gehört und oberhalb Dorfs an der Wistericz gestanden“, also eine Mühle am heutigen Standort, verzeichnet. Etwa bis 1480 scheint diese Mühle mit einem, später zwei und vier Mahlgängen mit einer Brettschneide verbunden gewesen zu sein. Sie wurde etwa in dieser Zeit vom Dresdner Tuchmacherhandwerk gekauft und zur Walkmühle umgebaut. Hartnäckig geführte Grenzstreitigkeiten zwischen der Dresdner Tuchmacherinnung und der Gemeinde Plauen beschäftigten zwischen 1487 und 1528 mehrfach die herzoglichen Regierungen, so dass die Mühle historisch durchgängig belegbar ist. Im Jahr 1541 erscheint sie in einer Quelle als „Raths-Walkmühle, so am Mühlgraben ober dem Dorfe Plawen gelegen“. Kurfürstliche Hofmühle 1568–1643 Der sächsische Kurfürst August kaufte 1568 die Walkmühle, um sie zu einer Getreidemühle umbauen zu lassen. Eine (neue) Walkmühle der Innung entstand mit dem seit etwa diesem Zeitpunkt nachweisbaren und in den 1970er Jahren endgültig beseitigten Walkmühlenwehr an der heutigen Hofmühlenstraße, südlich der Einmündung der heutigen Biedermannstraße. Im Folgejahr ließ der Kurfürst die gekaufte Mühle abreißen, verschiedene Parzellen zukaufen und mit einem Aufwand von 8336 Gulden bis 1571 eine Hofmühle „in fürstlicher Pracht“, das heißt mit 16 Mahlgängen, errichten. Es handelte sich dabei nicht um die einzige Hofmühle des Landes. 1521 war unter Herzog Georg dem Bärtigen am Weißeritzmühlgraben eine erste Hofmühle entstanden, unweit der Annenkirche gelegen und bis zu ihrer Schließung 1927 auch so bezeichnet. Der erste Mühlmeister, Zacharias Zimmermann, ist für 1570 belegt. Um die Rentabilität der Mühle sicherzustellen, wurde mit Reskript am 6. April 1569 für 33 Dresdner Amtsdörfer (und 210 Mahlgäste) der Mahlzwang an dieser Mühle eingeführt, der 1661 auf 66 Gemeinden ausgedehnt wurde. Die beiden Mühlen der Brüder Matthes und Andreas Moyses, die nahe der nunmehrigen Hofmühle lagen, heute etwa längs der Agnes-Smedley-Straße, wurden abgerissen und die Brüder 1573 mit den beiden Amtsmühlen in Tharandt entschädigt. Der noch teilweise existierende Mühlgraben brachte für die Mühle ein nutzbares Gefälle von 7,6 Metern bei einer Wasserführung von im Mittel 2,5 Kubikmetern Wasser pro Sekunde. An diese alte Hofmühle erinnert noch das kurfürstliche Wappen im Hof. Der Reliefstein, der zu den ältesten Einzeldenkmalen Dresdens gehört, zeigt links die Kurschwerter mit der sächsischen Raute, rechts drei Löwen unter einer Krone. Letztere entstammen dem dänischen Reichswappen und verweisen auf Kurfürstin Anna, die Ehefrau Augusts, die als Förderin der Landwirtschaft maßgeblich an der wirtschaftlichen Entwicklung Sachsens beteiligt war. Zwischen den Wappen sind zwei verschlungene Monogramme mit dem Buchstaben A dargestellt, die an beide an den Schirmherren der Mühle erinnern. Seit der Sanierung der Bienertmühle nach 2011 sind sie allerdings fast nicht mehr zu erkennen. Für die Bauern hatte der Mahlzwang durchaus auch Vorteile, denn einerseits führte der Mühlgraben der Hofmühle fast immer genügend Wasser, andererseits war der Müller verpflichtet, angefahrenes Getreide zu vermahlen und er erhielt dafür einen festgesetzten Preis (Lohnmüllerei): Dieser war zunächst eine Metze von jedem Scheffel Mehl (16 Metzen ergaben einen Scheffel) und wurde 1640 für die Hofmühle auf den vierten Teil erhöht. Aus etwa anhaltender Notlage in den Dörfern konnte er keinen zusätzlichen Gewinn herausschlagen. Da die Bauern weite Anfahrwege in Kauf nehmen mussten, erhielt der Hofmühlen-Pächter zusätzlich das Ausschank-Privileg, musste dafür jedoch jährlich eine Anzahl von Schweinen an den Hof liefern. Im Jahr 1578 wurde eine Schmiede direkt neben der Mühle errichtet (1878 abgebrochen). Der mangelhafte Zustand der Zufahrtswege, insbesondere für die „Gebürgischen Bauern“, führte zu regelmäßigen Klagen und Beschwerden. Häufige Besitzerwechsel und Hochwasserschäden ab 1593 sind ebenfalls verzeichnet. Zahlreiche Hofmühlenpächter sind allerdings auch als Förderer des Dorfes Plauen aufgeführt; so stiftete etwa der „hofmuller“ Peter Junghans 1617 den noch heute in der Auferstehungskirche befindlichen Taufstein, um 1700 der Hofmühlen-Pächter Gottlob Gäbler den Altar (mit Ausnahme des Altarbildes, das von 1859 ist). Auch der Pächter Johann Friedrich Wahl (gestorben 1769) ist als Förderer der Gemeinde bekannt geworden. 1643–1852 Von kriegerischen Einwirkungen blieb die Hofmühle nicht verschont. Im Dreißigjährigen Krieg hatte General Piccolomini 1643 die Stadt Freiberg entsetzt, sammelte seine 16.000 Mann starke Truppen um Dresden und wählte als Hauptquartier das Dorf Plauen und seine Umgebung. Er selbst wohnte von Ende Februar bis 10. März 1643 in der Hofmühle. Während des Großen Nordischen Krieges zogen die Schweden Mitte September 1706 vor Dresden und setzten sich in Plauen fest, wobei die Hofmühle ihr Hauptquartier wurde. Sie beschlagnahmten das dort lagernde und für die Dresdner Bürger bestimmte Mehl, requirierten das dort lagernde Korn und ließen es für sich ausmahlen. Die dafür nicht benötigten Räder der Mühle wurden zerstört. Nur durch den Ende September in Kraft getretenen Waffenstillstand, der zum Frieden von Altranstädt führte, wurde noch größerer Schaden abgewendet.1809 sowie 1813 (Schlacht um Dresden) litt der damalige Pächter unter den napoleonischen Kämpfen um Dresden. Die Hofmühle war besonders durch die 1747 errichtete Königsmühle sowie durch die 1726 bis 1728 erbaute Neumühle oberhalb der Hofmühle (beides ebenfalls kurfürstliche Mühlen, die Neumühle wie die Hofmühle mit 16 Mahlgängen) trotz des Mahlzwanges verstärkter Konkurrenz ausgesetzt. Sie wurde 1776 umgebaut, erhielt zur Weißeritz zu eine Frontlänge von 92 Ellen (rund 50 Meter) und durchgängig zwei „Gestocke“ (Geschosse). Die Gebäude links und rechts des Mühlgrabens wurden durch Brandgiebel feuersicher gemacht. Anstelle der Brettschneide folgte 1818 eine Ölmühle mit 16 Paar Stampfen als Anbau an die Bienertmühle, um die Rentabilität sicherzustellen. Der Antrieb der Ölmühle zweigte innerhalb der Hofmühle ab und reduzierte die verfügbaren Wasserräder von 16 auf 14. Die Aufhebung bzw. Ablösung des Mahlzwangs zwischen 1840 und 1850 (in diesem Jahr für die letzten Grundstücksbesitzer in Plauen selbst) bildete eine tiefgreifende Zäsur. Der damalige Pächter Raetzsch war dadurch und durch feinere Mehle, mit denen österreichische Mühlen den sächsischen Markt zu erobern suchten, so wenig leistungsfähig geworden, dass er Mühe hatte, statt der geforderten 7000 Taler Jahrespacht wenigstens 3000 Taler aufzubringen. Deshalb stand 1851 eine neue Pachtvergabe an, die Gottlieb Traugott Bienert nach Trennung von anderen, zum Teil selbst aufgebauten, Unternehmungen (darunter der Brettmühle in Radeberg, der Pacht der Obermühle (Grundmühle Jessen) im Liebethaler Grund sowie einer Bäckerei in der Radeberger Vorstadt) für sich entschied. Ab dem 1. Mai 1852 übernahm er pachtweise die inzwischen verwahrloste, teils verfallene Mühle, die nurmehr acht Leute beschäftigte und von deren ursprünglich 16 Mühlrädern nur noch vier in Betrieb waren. Bienertmühle 1852–1900 Bienerts Tatendrang verwandelte die Hofmühle von Grund auf. Dies erweiterte sich noch einmal ab 1872, als er nach 20 Jahren „in verbissener Arbeit“ (Zitat von Bienert) die Hofmühle dem sächsischen Fiskus abkaufte und sie nunmehr endgültig von einem veralteten Handwerksbetrieb in einen modernen (für seine Zeit mustergültigen) Industriebetrieb umwandelte. Dazu unternahm Bienert mehrere Fortbildungsreisen nach Frankreich, Belgien, Österreich und Ungarn sowie in die Schweiz, um die für die damalige Zeit fortschrittlichsten Technologien und die damit gemachten Erfahrungen kennenzulernen. Neben Bienerts Mut zu gesundem Risiko ist als Schlüssel zum Erfolg sein betriebswirtschaftlicher Grundsatz zu nennen: „Die Höhe der Produktion wird nur durch die Nachfrage, nicht durch die Leistungsfähigkeit der Maschinenanlage bestimmt; Herstellung tadelloser Qualitäten, nicht billige Massenerzeugung wird erstrebt“. Bienert errichtete 1853 die erste Bäckerei mit zunächst drei Öfen mit Steinkohlenfeuerung und rotierenden Herden in der Bienertmühle. Dies war ein erster und erheblicher Schritt weg von der bisherigen hier betriebenen Lohnmüllerei (die dem Müller lediglich Mehlanteile beließ) hin zum Brottausch, den Bienert bereits 1847 in seiner Mühle und Bäckerei in Eschdorf eingeführt hatte: Die Bauern, die ihr Korn abgaben, erhielten sofort eine der Abgabe entsprechende Menge Brot. Das hatte für die Bauern den Vorteil, von der eigenen Arbeit des Backens entlastet zu werden, sie konnten überdies zeitnah die Mühle wieder verlassen (mussten also nicht warten, bis ihr Getreide vermahlen war) und Bienert wiederum ersparte sich die Verpflichtung zur Beköstigung der Wartenden. Für diese Innovation hatte er 1849 die „Silberne Verdienstmedaille für Landwirtschaft“ erhalten und setzte dies auch an der Hofmühle sofort um. Die Bäckerei allerdings befand sich jedoch zunächst, anders als nach 1866, nördlich der Straße Altplauen (diese Häuser wurden 1938 beim Bau des Getreidesilos abgerissen). Bereits 1853 ersetzte er die Wasserräder durch einen Wasserturbinenantrieb mit Hilfe zunächst einer Girard-Turbine, die zu einem späteren Zeitpunkt durch eine weitere ergänzt wurde. Beider Leistung gaben die Bienerts 1897 mit 70 und 110 e. P. S., das heißt „an der Welle“ an. Gleichfalls führte er in diesem Jahr die österreichische Hochmüllerei mit ihrem permanenten Sichten (das heißt Absieben) ein und sammelte ebenfalls neue Erfahrungen. Im Jahr 1854 wurde die erste Bolandsche Knetmaschine für die Bäckerei eingeführt. Ebenfalls baute Bienert im östlichen Teil des Grundstücks Silos, die nach dem Bau der Albertsbahn nach 1855 mit einem Gleisanschluss versehen wurden. Auf diese Weise konnte angekauftes Getreide neben dem der Anfuhr der Bauern kontinuierlich vermahlen und anschließend verbacken werden: Aus der Bienertmühle wurde auf diese Weise eine Handelsmühle. Um von der jahres- und zum Teil tageszeitlich schwankenden Wasserführung der Weißeritz unabhängig zu werden, baute Bienert 1858 das erste Dampfmaschinenhaus nördlich der Ölmühle und führte damit den Dampfbetrieb für die Mühle ein, der allerdings zunächst nur als Ergänzung für den Wasserkraftantrieb gedacht war. Im Jahr 1861 folgte die Einführung des hydraulischen Ölpressenbetriebes für die Ölmühle. Die Leistungsfähigkeit der Ölmühle, die vor allem Raps- (Rüb-) und Leinöl erzeugte, wurde auch dadurch von täglich 1,25 Tonnen Saat 1852 auf 15 Tonnen gesteigert. Allerdings brauchte Bienert als Pächter dafür immer wieder die Genehmigung des Fiskus. Traugott Bienert errichtete 1863 auf dem benachbarten Grundstück eine Villa für sich und seine Familie, deren markantester Punkt eine große Uhr im zur Hofmühle zeigenden Giebel war. Der weitere Teil des Grundstücks, das sich längs des Mühlgrabens bis zum Hegereiterhaus nahe der Hegereiterbrücke ausdehnte, wurde als Garten angelegt. Im Jahr 1866 kaufte Bienert das östlich angrenzende Hegersche Gut. Während die Gutsgebäude zunächst (bis 1912) noch erhalten blieben und nunmehr als Bäckerei genutzt wurden, wurde im Hof ein Mehlspeicher angelegt, der als Boden- und Silospeicher weiter ausgebaut wurde und mit einer Transportbrücke mit der Bäckerei auf dem Hofmühlengrundstück verbunden war. Nach Hochlegung der Bahnstrecke Dresden–Werdau in diesem Bereich (1923–1927) wurde an seiner Stelle ein Tunnel als Verbindung zwischen beiden Grundstücken angelegt. Nach 20-jähriger Arbeit sah sich Bienert am 1. Mai 1872 im Stande, die Hofmühle für 150.000 Taler zu kaufen. Für ihn war damit der Weg zu weiteren Investitionen frei. Im Jahr darauf baute er südlich neben der Ölmühle ein zweites Dampfkraftwerk (dessen Schornstein steht unter Denkmalschutz und ist noch erhalten), in einem der Hofmühle gehörenden Gebäude richtete die Reichspost ebenfalls 1873 eine Ortspostanstalt ein, im Folgejahr eine Telegraphenstation. Im Jahr 1874 errichtete Bienert die erste Gasanstalt für die bessere Beleuchtung der Mühle in den Nachtstunden (Paschky-/Ecke Tharandter Straße, heute Standort einer Tankstelle), die ebenfalls Gas für die Straßenbeleuchtung der Dorfgemeinde Plauen lieferte (erstmals angeschaltet am 19. Oktober 1874). Im Jahr 1875 folgte eine Telegraphenstation, die auch öffentlich zugänglich war, 1875/1876 baute er ein eigenes Wasserwerk und ließ Trinkwasserleitungen für die Mühle und die Gemeinde Plauen legen. Der dafür erforderliche Hochbehälter ist heute oberhalb einer Kleingartenanlage an der Schleiermacherstraße in Richtung des Hohen Steins, wenngleich ruinös, noch vorhanden. Im Jahr 1877 gelang der Gemeinde Plauen, die Beschleusung neu zu regeln und mit der Stadt Dresden die Einleitung sämtlicher Abwässer (also auch die der Bienertmühle) über die Hauptschleuse Falkenstraße (im Folgejahr in Zwickauer Straße umbenannt) vertraglich zu vereinbaren. Bienert beteiligte sich an den Verhandlungen und übernahm auch finanzielle Verpflichtungen der Gemeinde, damit diese ihren vertraglichen Pflichten gegenüber der Stadt Dresden nachkommen konnte (sogenannter „Falkenstraßen-Unterstützungsfonds“). Bienert führte 1878 die Walzenmüllerei ein. Im gleichen Jahr ließ er einen nördlichen Kopfbau an der Hofmühle als „Verkaufs-, Wohn- und Betriebsgebäude“ errichten, der nur einmal, im Jahre 1901, nennenswerte Veränderungen erfuhr. Hier befand sich auch die Küche für die Arbeiter der Mühle, die täglich 160 Essensportionen bereitstellte. Seitdem wurde das Gebäude bis 1991 nahezu unverändert betrieben und auch in den Jahren danach sind Zerstörungen weitgehend ausgeblieben. In ihm hat das Museum Hofmühle Dresden heute seinen Sitz. Im Jahr 1880 folgten der Abriss der alten Ölmühle und der Bau eines vierstöckigen Gebäudes vom erwähnten Kopfbau an westlich des Mühlgrabens als Weizenmühle. Der Mühlgraben seinerseits wurde überwölbt und nahm die neue Ölmühle und die Getreidewäscherei auf, der alte Bauwerksteil wurde zur Roggenmühle. Traugott Bienert machte 1881 schließlich seine beiden Söhne Theodor (1857–1935) und Erwin Bienert (1859–1930) zu Teilhabern, übergab ihnen 1885 endgültig die Geschäftsführung und zog in seine Villa in der Radeberger Vorstadt. Im Jahr 1895 folgte als technische Neuerung die Einführung des rotierenden Backherdes mit Steinkohlenfeuerung. Zum 25-jährigen Erwerb der Mühle und drei Jahre nach dem Tod des Gründers gaben Theodor und Erwin Bienert 1897 eine Festschrift heraus, die u. a. die Leistungsfähigkeit der Mühle und der Bäckerei belegte. Zur Mühle gehörten nunmehr eine Weizen- und eine Roggenmühle, eine Ölfabrik mit Ölraffinerie und eine Bäckerei mit zehn Backöfen, weiterhin ein Magazin für 1000 Tonnen und ein Silospeicher für 500 Tonnen Getreide. Die Bienerts bezifferten die Jahresmahlleistung der Mühle für 1896 auf rund 24.850 Tonnen Weizen, 9.150 Tonnen Roggen, 375 Tonnen Mais, 1.885 Tonnen Raps und 1.440 Tonnen Lein, die in ihr verarbeitet wurden. Im Jahr 1897 gehörten 269 Arbeiter und Angestellte zur Mühle. „Bienerts soziales und kommunales Engagement war für die damalige Zeit geradezu avantgardistisch.“ (C. Müller) So gab er seinen Arbeitern und Angestellten die Chance, einen gewissen Wohlstand aufzubauen. Er richtete für sie bereits 1855 eine Sparkasse mit günstigen Zinssätzen ein, später folgten eine Witwenkasse, eine Krankenkasse (mehr als zehn Jahre vor der Bismarckschen Sozialgesetzgebung), 1883 eine noch heute existierende und damals so genannte „Kinderbewahranstalt“ (Kindergarten, Nöthnitzer Str. 4) und 1887 eine Pensions- und Unterstützungskasse, die auch nach der Einführung der gesetzlichen Rentenversicherung (1891) als Betriebliche Altersversorgung weiter bestehen blieb. Eine unternehmenseigene Küche bereitete täglich 160 Essensportionen zu, im genannten Kopfbau waren einfache Backwaren (hauptsächlich den Qualitäts-Standards nicht genügende Produkte der Bienert-Brotfabrik) zu ermäßigten Preisen und Getränke für die Arbeiter erhältlich, etwaige Defizite aus deren Betrieb wiederum übernahm das Bienertsche Unternehmen. Selbst um die Geselligkeit im Unternehmen kümmerte er sich – so gab es einen Bienertschen Männergesangsverein und jährlich ein kulturell umrahmtes Betriebsfest zusammen mit der Leitung. Dennoch betrug die tägliche Arbeitszeit für die Müller wie in anderen Mühlen der damaligen Zeit (mindestens) 12 Stunden. Sein kommunales Engagement – u. a. Trinkwasserversorgung, öffentliche Gasbeleuchtung, Regelung der Abwasserprobleme, erster Kindergarten – wurde ergänzt durch mehrere Stiftungen z. B. für Schulbücher und Lehrmittel, die kostenfreie Bereitstellung von Bauplätzen für neue Schulen und den Neubau des Rathauses, die Finanzierung von Glocken und teilweise oder gänzliche Übernahme der Kosten von Orgelreparaturen oder Orgelneubauten in der Auferstehungskirche. Waisenkinder aus Plauen und seinem Geburtsort Eschdorf erhielten zur Konfirmation jeweils ein Sparbuch mit fünfhundert Mark geschenkt, das wurde bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges beibehalten. 1900–1945 Auf dem Abschnitt Dresden–Freital der Bahnstrecke Dresden–Werdau verursachten um 1900 durch den anwachsenden Straßen- und Schienenverkehr die zahlreichen niveaugleichen Kreuzungen immer mehr Probleme. Daher wurde ab 1901 geplant, die Bahnstrecke höher zu legen und viergleisig auszubauen, um die Bahnübergänge zu beseitigen und die Leistungsfähigkeit zu steigern. Um 1910 wurde der Abschnitt Dresden Hbf–Dresden-Plauen viergleisig ausgebaut. Für den Standort der Bienertmühle bedeuteten diese Planungen aber, dass die Erweiterungsmöglichkeiten nunmehr eingeschränkt waren. Die Bienert-Brüder planten ab diesem Zeitpunkt einen Mühlenneubau im Bereich des Hafens, da sehr viel Getreide (insbesondere Hartweizen) auf dem Wasserweg angeliefert wurde. Im Jahr 1902 wurde der Straßenbahnbetrieb auf der Plauenschen Grundbahn aufgenommen, die zwischen Altplauen und dem damaligen Bahnhof Plauen auf der Potschappler Straße (später als „Alte Dresdner Straße“ bezeichnet) rechts der Weißeritz, entlang der Bienertmühle und nach einem scharfen Bogen über die Hegereiterbrücke verlief (bis 1921, danach Verlegung links der Weißeritz). Das war Anlass für Theodor Bienert, der die Bienertsche Villa bewohnte – Erwin Bienert wohnte in der Bienertvilla südwestlich der Kreuzung Würzburger-/ Kaitzer Straße (heute zur Technischen Universität Dresden gehörend) –, den Bienertgarten grundlegend umzugestalten. Dafür gewann er den Gartenbauarchitekten Max Bertram, der diesen mit Grotten, Brunnen und einer Laube, die an das Hochplauensche Wasserhaus angebaut wurde, ausstattete und umgestaltete. Die Höherlegung der Potschappler Straße im Bereich des Mühlgrabeneinlaufs nutzten die Bienerts, um das noch heute vorhandene Hofmühlenwehr von 1569 unterhalb der Hegereiterbrücke zu erneuern und den Wassereinlauf in den Mühlgraben neu zu gestalten (der Schlussstein T. B. 1902 ist am ursprünglichen Ort zu sehen). Der Garten erhielt eine schmiedeeiserne Einfriedung, nach Verlegung der Straße auf das linke Weißeritzufer wurde sie teilweise bis zum Fluss verlängert (teilweise noch vorhanden) und die Durchgänge wurden für die Öffentlichkeit geschlossen. Am 1. Januar 1903 wurde Plauen nach Dresden eingemeindet. In diesem Zusammenhang verkauften die Bienerts das Gaswerk für 900.000 Reichsmark und das Wasserwerk für 450.000 Reichsmark an die Stadt Dresden. Nach der Eingemeindung von Plauen nach Dresden war für das Löschwesen nunmehr die Feuerwehr Dresden zuständig. Im Zuge der Verbesserung des Brandschutzes und auf Grund der Tatsache, dass der nunmehrige Stadtteil keine eigene Feuerwache mehr hatte, musste in die Mühle eine Sprinkleranlage eingebaut werden. Um die nötige Wassermenge und den benötigten Druck vorzuhalten, wurde am Hohen Stein ein Löschwasserteich angelegt. Um diesen und das umliegende Areal jedoch entsprechend auszugestalten, auch als Ersatz für den für die Öffentlichkeit nicht mehr zugänglichen Bienertgarten, stiftete Erwin Bienert 80.000 Quadratmeter Land sowie 30.000 Reichsmark zur Anlage eines Parks („Oberer Bienertpark“) mit einer Bastion („Forsthausbastion“) als Aussichtspunkt. Im Jahr 1906 wurde dieser für die Öffentlichkeit freigegeben. Nach Schließung der Mühle wurde in den 2000er Jahren der Löschwasserteich, der sich zu einer Gefahr entwickelt hatte, entfernt und das Areal renaturiert. Nach der Schließung des Ratssteinbruches in diesem Bereich und nach Abbau der Gasanstalt wurde wiederum auf diesem Areal ab 1905 ein weiterer Bienertpark angelegt („Dölzschener Bienertpark“), für den ebenfalls der Gartenarchitekt Max Bertram die Planungen verantwortete. Für diese Anlage stiftete Theodor Bienert 40.000 Reichsmark. Beide Bienertparks wurden 2006 aus EFRE-Mitteln saniert und der Dölzschner Bienertpark nach den ursprünglichen Plänen von Bertram erweitert. Ein Gebäudeteil längs der Weißeritz wurde 1907 erneut erweitert und um vier Geschosse aufgestockt. Er nahm nunmehr das Maschinenhaus der Bienertmühle auf. Im Jahr 1913 wurde mit der Hafenmühle in der Dresdner Friedrichstadt der zweite Betriebsteil eröffnet. Danach errichteten die Bienerts in Plauen eine moderne Großbäckerei auf dem Gelände des ehemaligen „Hegerschen Gutes“ östlich der Eisenbahnstrecke. Für deren Bau mussten ein Teil der alten Mühlengebäude sowie die Wohnhäuser Altplauen Nr. 11–15, die ebenfalls zum ehemaligen Hegerschen Gut gehörten, abgerissen werden. Das markante Gebäude mit dem in der Achse der Zwickauer Straße stehenden Uhrturm entstand von 1913 bis 1918 am Aufgang zur Schleiermacherstraße in Stahlbetonbauweise. Es erhielt mehrere Backofenräume, Brotsäle sowie Lager und Remisen für den Fuhrpark des Betriebes. Architekt war Carl Schümichen, die Bauausführung übernahmen die im Stadtteil Plauen ansässige Firma Gebrüder Fichtner und das Betonbauunternehmen Dyckerhoff & Widmann. Der Erste Weltkrieg stoppte zunächst den Erfolgskurs der Mühle. Der Import von Getreide war fast zum Erliegen gekommen, viele Arbeiter wurden eingezogen. Sie „mussten durch betriebsfremde, zum Teil wenig geeignete Personen ersetzt werden“, wie es in den Aufzeichnungen des späteren Chefingenieurs der Bienert-Mühlen, W. Arndt, heißt. 1915 wurde das Nachtbackverbot eingeführt, durch das zwischen sieben Uhr abends und sieben Uhr morgens nicht gebacken werden durfte. Für den nunmehrigen Zwei-Schicht-Betrieb der Brotfabrik wurde das bis dahin geltende Zwölf-Stunden-Schicht-System ersetzt durch eines mit jeweils acht Stunden Arbeitszeit. Nach dem Ersten Weltkrieg gingen die politischen Veränderungen auch an den Bienert-Mühlen nicht spurlos vorüber, obwohl der Name Bienert von Anfang an auch für soziales Engagement stand. Die Bienerts hätten, wie es in einem Bericht heißt, „von jeher das wärmste Mitgefühl für ihre Arbeitnehmer gehabt und sind immer bestrebt gewesen, ihnen in allen Notlagen beizustehen.“ Trotzdem legten auch die Arbeiter der Bienertschen Mühlen in der Novemberrevolution 1918 die Arbeit nieder, als überall gestreikt wurde. In den Mühlen hatte man dabei ein Feindbild: Hofrat Johannes Alfred Pleißner (1854–1945), Prokurist und Oberingenieur, der einerseits einen groben Umgangston pflegte, anderseits auf größte Genauigkeit Wert legte. Allerdings war Pleißner auch der Mann, der als Bahnbrecher in Sachen moderne Technik gelobt wurde. Dennoch war generell die Streiklust in den Bienertschen Mühlen nie so ausgeprägt wie es beispielsweise in der Dresdner Metallbranche der Fall war. Im Jahr 1923 begannen die Arbeiten zur Höherlegung der Bahntrasse im Bereich des Dorfes Plauen, die 1927 abgeschlossen waren. Dies führte die Bienerts dazu, die Transporte zwischen den beiden Mühlen, die bis dahin den Transport mit Pferdefuhrwerken und zeitraubende Überführungsfahrten mit der Eisenbahn bedeuteten, neu zu organisieren. Im gleichen Jahr wurden daher Straßenbahngleise in die Höfe sowohl der Bienertmühle als auch der Brotfabrik eingelegt (wie auch ein Anschluss von der Magdeburger Straße in die Hafenmühle) und die Transporte wurden ab diesem Zeitpunkt auch mit Straßenbahngüterbeiwagen abgewickelt. Die Dresdner Straßenbahn nahm 1926 einen umgebauten Gütertrieb- und drei umgebaute Güterbeiwagen in Dienst, die ausschließlich den Getreide- und Mehltransporten zwischen den beiden Mühlen bzw. auch der Brotfabrik dienten und jeweils für 15 Tonnen Ladung zugelassen waren. Diese Transporte mit Straßenbahnfahrzeugen mit ihrer markanten weißen Lackierung und dem Bienertschen Schriftzug wurden bis Anfang der 1960er Jahre beibehalten. Von der Straße Altplauen aus befand sich unmittelbar hinter der Brücke über die Weißeritz die Einfahrt in den Hof der Bienertmühle, die noch heute mit Gleisresten sichtbar ist, unmittelbar nach der Eisenbahnbrücke zweigte jenes in die Brotfabrik ab. Hier wurden die Gleisreste im Wesentlichen in den 1990er Jahren entfernt, sind jedoch im Hof noch mit kurzen Gleisstücken vorhanden. Der Wagenkasten eines der drei Beiwagen, der des 1921 gebauten und für diese Transporte 1926 umgebauten Bienert-Beiwagens 3301 (Nummer nach dem Nummernplan von 1947), blieb ab 1965 im Gelände des Betriebshofes Coswig als Fahrradschuppen erhalten. Mitglieder des Straßenbahnmuseums Dresden bargen ihn 1996 bei der Auflösung des Betriebshofes und arbeiteten ihn bis 2007 auf. Er ist rollfähig und gehört zum Bestand der Museumsfahrzeuge des Straßenbahnmuseums Dresden. Nach Abschluss der Höherlegung der Eisenbahntrasse wurde 1928 ein Bahnsilo an den nun hochliegenden Anschlussgleisen angebaut. Die Weizenmühle wurde 1936 erweitert („Neue Weizenmühle“). Im Zeitraum 1938/1939 entstand der Silobau mit einer Lagerkapazität von 5000 Tonnen nördlich der Straße Altplauen (2012 abgerissen). Das waren, mit Ausnahme des Abrisses des Bahnsilos nach 1945, die letzten äußeren Veränderungen bis 1990. Im Jahr 1925 wurde in der Brotfabrik eine „Versuchsbacklinie“ eingerichtet, die bis zum Ende der Brotfabrik existierte und die der Qualitätssicherung bzw. -verbesserung diente. Im Dezember 1927 übernahm die nächste Familiengeneration das Unternehmen: Die Brüder Erwin und Theodor Bienert übergaben die Geschäftsführung an Friedrich Bienert (1891–1969), einen Enkel des Gründers und Sohn von Erwin Bienert und dessen Frau Ida, sowie an Dr. Franz Herschel, einen Schwiegersohn von Theodor Bienert. Beide waren schon vorher im Unternehmen tätig gewesen. Während allerdings Friedrich Bienert, der zu diesem Zeitpunkt noch (bis 1930) mit Gret Palucca verheiratet war, der Deutschen Demokratischen Partei angehörte und sowohl die der KPD nahestehende Rote Hilfe Deutschlands als auch die „Gesellschaft der Freunde des neuen Russland“ unterstützte, war sein Cousin Franz Herschel bereits zu diesem Zeitpunkt ein aktives Mitglied der NSDAP und wurde auf Grund seines Auftretens hinter vorgehaltener Hand von den Arbeitern als „Herrenreiter“ tituliert. 1934 wurden beide Betriebsführer des Bienertschen Unternehmens. In den Luftangriffen auf Dresden hielten sich die Zerstörungen an der Mühle und der Brotfabrik in Grenzen. Dokumentiert sind von den Angriffen des 13. – 15. Februar 1945 der Treffer einer Luftmine im sogenannten „Hochhaus“ (so wurde das Bahnsilo von 1928 bezeichnet), der die zwei obersten Geschosse erheblich beschädigte, ein Bombentreffer in der Brotfabrik, der den achten Backofen und Deckenfelder zerstörte, sowie Luftdruckschäden im Bereich von Kesselanlagen, Generatoren und Mahlwerken. Der Bericht von W. Arndt kommt zum Schluss: „Die wichtigsten Betriebsteile … blieben im wesentlichen unverletzt.“ Ein Arbeiter kam ums Leben. Nach den Angaben von W. Arndt arbeitete zumindest die Brotfabrik bis annähernd zum Ende des Krieges weiter. 1945–1990 Am 8. Mai 1945 zog die Rote Armee in Dresden ein und übernahm den Schutz der Hofmühle, der erwähnte Ingenieur W. Arndt wurde als Betriebsleiter eingesetzt und organisierte die Wiederaufnahme des Betriebes. Allerdings dienten Mühle und Bäckerei ab diesem Zeitpunkt zunächst vornehmlich der Versorgung der sowjetischen Besatzungsmacht. Hierfür wurde Getreide aus der Sowjetunion angeliefert. Für die normale Bevölkerung wurde – auch mit provisorischen Einrichtungen – zunächst vor allem Schälmüllerei betrieben, das heißt die Verarbeitung von Gerste zu Graupen und Grütze sowie die von Gerste und Hafer zu Flocken. Dies änderte sich ab 1948, als erstmals Weizen aus der Sowjetunion zur Verarbeitung für die Bevölkerung angeliefert wurde. Trotz seiner bekannten antinazistischen Haltung war Friedrich Bienert im April 1945 mit seiner Frau über die Tschechoslowakei nach Regensburg hinter die amerikanischen Linien geflohen. Anders Franz Herschel: Er blieb in Dresden und wurde am 15. Juli 1945 als NS-Wirtschaftsführer verhaftet. Er starb auf einem Häftlingstransport nach Moskau an einem unbekannten Ort. Im Jahr 1946 wurde Friedrich Bienert wegen „nachweislich antifaschistischer Grundhaltung … sowie fördernder Mitgliedschaft in der ‚Roten Hilfe‘“ als Opponent des NS-Regimes eingestuft und kehrte auf mehrere Bitten hin im November 1946 nach Dresden zurück. Er wohnte in einem Teil der Bienertvilla in der Hofmühle, in der auch ein Proben- und Konzertraum für seine zweite Frau, die Konzertpianistin Branka Musulin, eingerichtet wurde. Die Zwangsverwaltung der Mühlen wurde allerdings erst im November 1948 aufgehoben und die beiden Mühlen sowie die Brotfabrik wurden an ihn bzw. die Familie zurückgegeben. Allerdings dürfte ihm relativ bald nach Gründung der DDR klar geworden sein, dass unter deren wirtschaftspolitischem Kurs auf Dauer eine private Führung der Mühlen unmöglich sein würde. Im Jahr 1952 floh Friedrich Bienert endgültig nach Westberlin, wo er bis zu seinem Tod 1969 in bescheidenen Verhältnissen lebte. Nach Bienerts Flucht wurden die Mühlen zunächst treuhänderisch übernommen, aber am 1. Mai 1958 der Bienert-Betrieb in einen Betrieb mit staatlicher Beteiligung, die „BSB T. Bienert Mühlen und Brotfabrik“ umgewandelt. Die Vermögensverteilung stellte sich 1963 wie folgt dar: Staatlicher Gesellschafter: 13,4 %, privat und treuhänderisch: 86,6 %, davon: Ve-Anteil, früher Theodor Bienert: 1/6 („Ve“ ist hier „volkseigener“), Ida Bienert: 1/4, Ve-Anteil, früher Friedrich Bienert: 1/12, M. L. Seidler: 1/12, Dr. W. Ruppé: 1/24, Margret Ruppé: 1/24, Dr. G. Schreiner: 1/6, Esther Herschel: 1/6. Bis zur Verstaatlichung erhöhte sich durch Investitionen der staatliche Anteil an den Bienertschen Mühlen über 58,3 % (1967) auf 72,3 % (Schlussbilanz zum 23. April 1972). Die Gewinne der privaten Eigentümer, die in der Bundesrepublik lebten, wurden auf Sperrkonten eingezahlt, blieben also in der DDR. Auf den Tag genau 100 Jahre nach dem Kauf der Hofmühle durch Traugott Bienert enteignete die DDR zum 1. Mai 1972 die Familie Bienert und überführte den gesamten Betrieb in Volkseigentum. Dieser firmierte nunmehr als „VEB Dresdner Mühlen- und Brotwerke“. Im Jahr 1975 strukturierte der Staat die Betriebsorganisationen neu. Der „VEB Dresdner Mühlen- und Brotwerke“ (also der gesamte Bienertsche Betrieb einschließlich der Hafenmühle) wurde aufgespalten: Die Bienertsche Brotfabrik in Plauen kam zum „VE Backwarenkombinat Dresden“, die Bienertmühle wurde nunmehr als „VEB Dresdner Mühlenwerke, Betriebsteil I“ geführt, die Bienertsche Hafenmühle als „VEB Dresdner Mühlenwerke, Betriebsteil II“. Der bisherige „VEB Dresdner Mühlenwerke“, der 1951 durch Verstaatlichung der „König-Friedrich-August-Mühlenwerke AG“ (1946 umbenannt in „Dölzschner Mühlenwerke AG“) entstanden war, firmierte neu unter Angliederung von Mühlen in Freital, Heidenau, Niesky und Meißen als „VEB Dresdner Mühlenwerke, Betriebsteil III“. Nach Übernahme in Volkseigentum wurde die erste der vier Brotbacklinien in der Brotfabrik ausgebaut und ersetzt, später kam eine fünfte hinzu, wie im Verlauf der Jahre die gesamten Produktionseinrichtungen erneuert wurden. Bei einem Drei-Schicht-Betrieb wurde 24 Stunden täglich gebacken, also wie vor Einführung des Nachtbackverbotes 1915. Im Jahr 1989 betrug die Produktion etwa 80 bis 85 Tonnen pro Tag (gegenüber etwa 45 Tonnen pro Tag 1918). Anhand von Fotos ist dokumentiert, dass das Bahnsilo der Bienertmühle von 1928 nach 1945 ersatzlos abgerissen wurde. 1988 kam es zu einer Staubverpuffung in der Mühle, die zu einem relativ schnell gelöschten Brand an der aus den 1930er Jahren stammenden Mühlentechnik führte. Die Mühle wurde anschließend außer Betrieb genommen. Ob sie bis 1990, dem Eigentumsübergang an die Treuhand, überhaupt wieder in Betrieb ging, oder ob auf diese Weise der Jahrhunderte alte Mühlenbetrieb bereits zu DDR-Zeiten beendet wurde, kann derzeit nicht belegt werden. Abwicklung und Neuentwicklung seit 1990 1990–2002 Nach der Wende erfolgte 1990 die Umwandlung der beiden Bienertschen Mühlen, gemeinsam mit der Freitaler Egermühle, durch die Treuhand in die „Dresdener Mühlen GmbH“. Bei den letztlich erfolgreichen Verhandlungen mit den Plange-Mühlen und der Wilh. Werhahn KG als deren Besitzer stellte sich heraus, dass lediglich die Bienertsche Hafenmühle als Mühlenstandort erhalten werden kann. Die 1988 durch einen Brand geschädigte, und inzwischen marode Bienertmühle schloss die Treuhand 1990 endgültig und beendete damit die Mühlengeschichte an diesem Standort nach über 600 Jahren. Das „Backwarenkombinat“ wurde 1990 ebenfalls in Einzelbetriebe zerlegt: Die Betriebe des Kombinates in Dresden, die Bienertsche Brotfabrik und den Betrieb in Pirna wandelte die Treuhand in die „Dresdner Brot- und Konditoreiwaren GmbH“ um. Im Jahr 1992 firmierte sie das Unternehmen in „Dresdner Brot- und Konditoreiwaren GmbH & Co. Betriebs KG“ um, welches Lieken Urkorn aus Achim als „frisch Back Dresden GmbH“ mit Sitz in Altplauen kaufte. Jedoch wurden kurz nach dieser Übernahme durch die Firma Lieken alle Betriebsteile geschlossen, so auch die Bienertsche Brotfabrik (und damit auch den Firmensitz von „frisch back“), zum Teil abgerissen und die Beschäftigten entlassen. Dem markanten Mühlenkomplex drohte in den 1990er-Jahren ein umfassender Abriss. Ein Münchner Investor hatte das Ensemble erworben und plante großzügige Neubauten. Die heute denkmalgeschützte Mühle sowie die Bienert-Villa sollten beräumt werden. Auch wegen der Restitutionsforderungen der Bienert-Erben kam es dazu aber nicht. Gegenwart Über verschiedene Zwischenwege gelang es, eine Stiftung als Eigentümer einzutragen. Nach der Weißeritzflut 2002 begann dann die Rettung für das heute denkmalgeschützte Gesamtensemble, dessen Ende der Sanierung für 2018 mit den letzten Arbeiten avisiert wurde, Restarbeiten zogen sich dann noch bis 2020 hin. Im 1878 errichteten Kopfbau des Mühlenkomplexes an der Straße Altplauen eröffnete 2006 das Museum Hofmühle eine Schau zur Geschichte der Bienertmühle und des Ortes Plauen sowie einen kleinen Mühlenladen im ehemaligen Werksverkauf mit einem Café. Außerdem ist seitdem hier eine Ausstellung historischer Schokoladenformen der Plauener Firma Anton Reiche sowie zum Leben der Tanzpädagogin Gret Palucca, von 1924 bis 1930 Ehefrau Friedrich Bienerts, zu sehen. Ebenfalls befindet sich hier noch die erhaltene Mühlentechnik aus den 1930er Jahren. In den weiteren Räumen finden regelmäßig Wechselausstellungen und Veranstaltungen statt. Von Ende 2010 bis Frühjahr 2012 erfolgte der Abriss des 1938/1939 erbauten früheren Getreidespeichers nördlich der Straße Altplauen, eine Nutzung als Trainingsobjekt für eine Kletterschule konnte nach Vorarbeiten nicht umgesetzt werden. Auch andere Nutzungsideen scheiterten, letztlich auch am hohen Sanierungsbedarf des Gebäudes. Im genannten Kopfbau von 1878, dem alten Hofspeicher (dessen Obergeschosse teilweise abgerissen und durch einen neuen Aufbau ersetzt wurden), der ehemaligen Roggenmühle und dem ehemaligen Mühlenmagazin wurden ab 2006 bis 2018 etwa 30 Unternehmen ansässig, darunter ein Bioladen, Dienstleister, Ingenieurbüros, Architekten, Kreativgewerbe, aber auch eine Modellwerkstatt, eine Tanzschule und ein Yogastudio. Ursprünglich war geplant, nur die Gebäudeteile der Mühle mit Fenstern zur Weißeritz als Wohnungen auszubauen, auf Grund der Nachfrage wurde dieses Vorhaben aber geändert: Knapp 60 Wohnungen in unterschiedlichen Lagen sind seit 2012 am Standort entstanden: Die ersten neuen Bewohner zogen in das alte Maschinenhaus ein. Anschließend wurden die angrenzende Neue Weizenmühle und das Heizhaus ausgebaut. Zudem sollen im Werkstatthaus zum Hof hin (ehemalige „Sackreinigung“) zwei Etagen zu Wohnungen werden, die 2020 bezugsfertig waren. Die Bienertvilla wurde seit 2015 ebenfalls aufwendig saniert und Ende 2017 als Gebäude fertiggestellt. In dem denkmalgeschützten Haus entstanden durch eine Dresdner Immobilienfirma zehn Wohnungen, anstelle der Uhr im Giebel befindet sich allerdings jetzt ein Rundfenster. Während allerdings die historische Bienert-Villa trotz ihrer repräsentativen Ausgestaltung sich architektonisch seit ihrer Errichtung als Teil des Industriestandortes begriff, ist die Neuentwicklung ab 2015 als schlossähnlich überhöht zu bezeichnen. Der Mühlgraben wurde nach der Weißeritzflut von 2002 endgültig stillgelegt und dessen Mundloch unterhalb der Brücke Altplauen, die inzwischen neu errichtet wurde, verschlossen, gleiches gilt für den Einlauf am Bienertmühlenwehr unterhalb der Hegereiterbrücke. Im Bereich des Bienertgartens ist er trocken gefallen erhalten geblieben. Der Bienertgarten wiederum ging an den Naturschutzbund Deutschland und ist im Rahmen eines Bienertweges wieder teilweise öffentlich zugänglich. Verschiedene Fledermausarten besiedeln die sogenannte „Lusthöhle“ (eine künstliche Grotte), unter anderem die auf der Roten Liste gefährdeter Arten stehende Mopsfledermaus. Auch Wasseramsel und Eisvogel haben in diesem Bereich inzwischen Reviere. In einem Zeitungsartikel vom 17./18. Februar 2018 bilanziert die Autorin Annechristin Bonß in ihrem Artikel Das dritte Leben der Bienertmühle beginnt zum Stand der Sanierung und zur Bekanntheit des Standortes: Weblinks Website der Bienertmühle. Abgerufen am 7. Februar 2018. Die Bienertmühle auf dresdner-stadtteile.de. Abgerufen am 7. Februar 2018. Die Bienertmühle im Stadtwiki Dresden. Abgerufen am 7. Februar 2018. Literatur Adolf Jädicke: Die Hofmühle zu Plauen-Dr. Zum 1. Mai 1897. Selbstverlag, Plauen-Dresden 1897. (Digitalisat). T. Bienert Dampfmühle u. Oelfabrik, Hofmühle Dresden-Plauen. Gründung des Geschäfts: 1. Mai 1852. Dresden 1897 (Digitalisat). Die handschriftlichen Anmerkungen in dem Werk stammen von Adolf Jädicke (gest. 1909), dem Privatsekretär der Bienerts. Paul Dittrich: Zwischen Hofmühle und Heidenschanze. Geschichte der Dresdner Vororte Plauen und Coschütz. 2., durchgesehene Auflage. Adolf Urban, Dresden 1941. Annette Dubbers: Plauen – Aus der Geschichte eines Dresdner Stadtteils. Verlag Annette Dubbers, Dresden 2006, ISBN 3-937199-34-9. Jürgen Riess: Der Bienertweg im Plauenschen Grund – Ein Wander- und Naturführer durch eine einmalige Natur- und Industrielandschaft. Verein für Wissenschaftler und ingenieurtechnische Mitarbeiter Dresden e. V. (WIMAD) (Hrsg.) (= Dresdner Impressionen, Bd. 2). 2., überarbeitete Auflage. Dresden 2013, ohne ISBN. Dresdner Geschichtsverein e. V. (Hrsg.): Die Geschichte der Familie Bienert (= 00Dresdner Hefte – Beiträge zur Kulturgeschichte,00 Nr. 116, 4/2013). Dresden 2013, ISBN 978-3-944019-05-5. Hieraus insbesondere: Dirk Schaal: Gottlieb Traugott Bienert – Ein Gründerzeitunternehmer in Dresden. S. 11–19. Jürgen Riess: Vom alten Handwerk zur modernen Brotfabrik. S. 29–36. Hans-Peter Lühr: Friedrich Bienert und der Geist von Weimar – Eine biographische Studie. S. 55–64. Jürgen Riess: Was aus dem Brotimperium wurde – Die Firmengeschichte nach 1900. S. 65–75. Carsten Hoffmann: Die Stiftung Hofmühle Dresden. S. 76–81. Annechristin Bonß: Neue Heimat in Bienerts Mühle. In: 00Sächsische Zeitung,00 Ausgabe 20./21. August 2016, S. 18. Auch online (zuletzt aufgerufen am 9. Oktober 2020). Annechristin Bonß: Das dritte Leben der Bienertmühle beginnt. In: Sächsische Zeitung, Ausgabe 17./18. Februar 2018, S. 18. Auch online (zuletzt aufgerufen am 9. Oktober 2020). Einzelnachweise Plauen (Dresden) Wassermühle in Sachsen Mühle in Dresden Technisches Denkmal in Dresden Denkmalgeschütztes Bauwerk in Dresden Erbaut in den 1560er Jahren Mühle in Europa
10262677
https://de.wikipedia.org/wiki/Niederdeutsch%20%28Schulfach%29
Niederdeutsch (Schulfach)
Niederdeutsch ist ein Schulfach in den norddeutschen Ländern Hamburg, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Bremen. In diesen Ländern gehört es zum Wahlpflichtbereich, in Bremen jedoch nur im Rahmen eines Pilotprojekts. In Niedersachsen wird Niederdeutsch teilweise in den Unterricht anderer Fächer integriert, ein eigenes Schulfach gibt es nicht. In Nordrhein-Westfalen, Brandenburg und Sachsen-Anhalt, deren jeweils nördliche Landesteile zum niederdeutschen Sprachraum gehören, gibt es freiwillige Plattdeutschangebote überwiegend in Form von Arbeitsgemeinschaften. In keinem Bundesland wird Niederdeutsch flächendeckend unterrichtet; es wird nur an einzelnen Schulen der norddeutschen Bundesländer angeboten. Niederdeutsch wird erst seit wenigen Jahren als Schulfach unterrichtet, nachdem die Sprache rapide an Bedeutung verloren hatte und vom Aussterben bedroht ist. Da die Weitergabe des Plattdeutschen als Muttersprache in den Elternhäusern inzwischen fast völlig abgerissen ist, wird heute die Schule als der Ort angesehen, an dem die Sprache erhalten werden kann. Ein entscheidender Auslöser für die Etablierung des Schulfachs Niederdeutsch war die 1998 von der Bundesrepublik Deutschland ratifizierte und 1999 in Kraft getretene Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen. Neben den Sprachen der nationalen Minderheiten (Dänisch, Sorbisch, Friesisch und Romanes) wurde auch Niederdeutsch als Regionalsprache in den Kreis der Chartasprachen aufgenommen. Die Sprachencharta bildet den völkerrechtlichen Rahmen der Sprachpolitik in Deutschland. Die unterzeichnenden Staaten verpflichten sich selbst dazu, die Regional- und Minderheitensprachen zu schützen und zu fördern. Zu den konkret vereinbarten Maßnahmen gehören beispielsweise, Unterricht und ein Hochschulstudium der jeweiligen Sprache zu ermöglichen. In Mecklenburg-Vorpommern und in Schleswig-Holstein haben der Schutz und die Förderung des Niederdeutschen seit 1993 bzw. 1998 zudem Verfassungsrang. In der Verfassung des Landes Schleswig-Holstein ist ausdrücklich auch der Niederdeutschunterricht in öffentlichen Schulen verankert. Hamburg führte 2010 als erstes Bundesland Niederdeutsch als reguläres Schulfach an einzelnen Grundschulen ein, 2014 folgten Schleswig-Holstein und Bremen, 2016 Mecklenburg-Vorpommern. Seit 2017 ist Niederdeutsch ein von der Kultusministerkonferenz anerkanntes mündliches und schriftliches Prüfungsfach im Abitur. Das bisher einzige Land, das auch entsprechenden Unterricht in der Sekundarstufe II eingerichtet hat, ist Mecklenburg-Vorpommern. Rahmenbedingungen Verbreitung und Status des Niederdeutschen Ausgehend von den Städten verdrängte ab dem 16. Jahrhundert das Frühneuhochdeutsche das Niederdeutsche allmählich als Schul- und Bildungs-, Kirchen-, Kanzlei- und Schriftsprache in Norddeutschland. Dieser Prozess war im 17. Jahrhundert weitgehend abgeschlossen. Das Hochdeutsche erfasste zunehmend auch die öffentliche und offizielle mündliche Kommunikation, Plattdeutsch blieb aber die gesprochene Volks- und Alltagssprache. Daraus resultierte eine Zweisprachigkeit, bei der die Sprecher situationsabhängig zwischen Platt- und Hochdeutsch wechselten. Ein fließender Übergang zur Standardsprache, wie er für viele Dialekte typisch ist, war dagegen kaum ausgeprägt. Außerdem kam es zu einer sozialen Differenzierung zwischen Plattdeutsch und dem mit höherem Sozialprestige versehenen Hochdeutschen. Der Verdrängungsprozess verstärkte sich im 19. und 20. Jahrhundert. In den 1970er und 1980er Jahren verschwand die Mehrsprachigkeit in Norddeutschland aus allen sozialen Bereichen fast völlig. Der Sprachwechsel ist für die jüngeren Generationen weitgehend abgeschlossen, in den älteren Generationen besteht die Zweisprachigkeit teilweise weiter. Plattdeutsch ist heute in den norddeutschen Bundesländern Schleswig-Holstein, Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern, Bremen und Niedersachsen sowie in den jeweils nördlichen Teilen der Länder Nordrhein-Westfalen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg verbreitet. An den Küsten und in kleineren Orten wird dabei noch häufiger Platt gesprochen als in den Städten und im Süden des Verbreitungsgebietes. Heute versteht nach eigenen Angaben knapp die Hälfte der im Verbreitungsgebiet lebenden Menschen Plattdeutsch gut oder sehr gut; nur noch etwa 15 % geben an, es auch gut oder sehr gut sprechen zu können. 1984 lagen diese Werte in den nordwestdeutschen Bundesländern noch bei 66 % bzw. 35 %. In Schleswig-Holstein sprechen heute noch 24,5 % der Befragten gut oder sehr gut Plattdeutsch, in Mecklenburg-Vorpommern 20,7 %, in Bremen 17,6 %, in Niedersachsen 17,4 % und in Hamburg 9,5 %. Während der Anteil derjenigen, die Plattdeutsch gut oder sehr gut sprechen, bei den über 80-Jährigen noch bei mehr als der Hälfte liegt, beträgt er bei den unter 20-Jährigen unter einem Prozent. 44 % der aktiven Sprecher gaben an, Plattdeutsch bei den Eltern gelernt zu haben, 41 % bei den Großeltern. Die heutige Elterngeneration kann die Sprache jedoch nicht mehr weitergeben, da auch in der Altersgruppe der 30–39-Jährigen nur noch 4 % gut oder sehr gut Plattdeutsch sprechen. Nur 5,5 % der Niederdeutschsprecher nannten die Schule als den oder einen Ort, an dem sie Platt gelernt hätten. Obwohl die absolute Zahl aktiver Sprecher noch bei über zwei Millionen liegt, gilt Niederdeutsch angesichts dieser Altersstruktur, der abgerissenen Vermittlung in den Elternhäusern und der lange Zeit fehlenden Verankerung in den Schulen als die meistgefährdete unter den anerkannten und geschützten Minderheiten- und Regionalsprachen in Deutschland. Die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen Ein entscheidender Auslöser für eine neue Dynamik, Niederdeutsch im Schulunterricht zu verankern, war die 1992 vom Europarat gezeichnete, 1998 von der Bundesrepublik Deutschland ratifizierte und dort 1999 in Kraft getretene Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen. Neben den Sprachen der nationalen Minderheiten in Deutschland – Dänisch, Sorbisch, Friesisch und Romanes – wurde auch Niederdeutsch als Regionalsprache in den Kreis der zu schützenden und zu fördernden Sprachen aufgenommen. Von den Minderheitensprachen unterscheidet es sich dadurch, dass seine Sprecher keine nationale Minderheit bilden. Die Sprachencharta bildet den völkerrechtlichen Rahmen der Sprachpolitik in Deutschland. Sie hat den Rang eines Bundesgesetzes. Die Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen enthält jedoch keine Möglichkeit, Sprachrechte beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte oder dem Gerichtshof der Europäischen Union einzuklagen. Sie ist vielmehr von der Übernahme in das Gesetzeswerk der Staaten abhängig. In Deutschland fällt die Gesetzgebung auf dem Gebiet der Bildungs- und Sprachpolitik in die Zuständigkeit der Bundesländer. In der Charta ist festgelegt, auf welche Weise und mit welchen Maßnahmen die Chartasprachen zu fördern sind. Die Bundesländer schützen Niederdeutsch unter Berücksichtigung des Verbreitungsgrades der Sprache entweder nach Teil II oder III der Charta. Bremen, Hamburg, Schleswig-Holstein, Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen bieten einen Schutz nach Teil III und damit wesentlich umfänglicher als Brandenburg, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt, die jeweils Teil II der Charta gezeichnet haben. Das Ministerkomitee des Europarats empfahl, das Niederdeutsche zu einem regulären Schulfach zu erheben, Lehrpläne zu entwickeln, die Kontinuität des Unterrichts auf allen Bildungsstufen vom vorschulischen Bereich bis zum Schulabschluss zu gewährleisten und eine ausreichende Anzahl von Lehrkräften auszubilden. Der Rechtswissenschaftler Stefan Oeter, Vorsitzender des Sachverständigenausschusses des Europarats zur Europäischen Sprachencharta, betont, dass mit der Charta eine Verpflichtung einhergeht, die jeweils geschützte Regional oder Minderheitensprache in einem gesonderten Fach zu unterrichten. Diese Verpflichtung ist in Teil III, Art 8 Abs. 1 b festgelegt. Durch die Aktivitäten des Europarats und der Europäischen Union zum Erhalt kultureller und sprachlicher Vielfalt bekamen die Regional- und Minderheitensprachen eine europäische Dimension. Die Charta wurde bisher von 26 Staaten des Europarates ratifiziert. 21 Länder des Europarates, darunter mehrere EU-Länder wie Frankreich, Belgien, Italien, Portugal und Griechenland haben diesen Schritt noch nicht getan. In den Niederlanden gehört Nedersaksisch zu den Chartasprachen, das in der Regel dem Nordniedersächsischen zugeordnet wird und Teil des niederdeutschen Dialektkontinuums ist. Allerdings wurde Nedersaksisch nur nach Teil II der Sprachencharta geschützt. In anderen Ländern sind beispielsweise Asturisch, Katalanisch, Baskisch, Galicisch, Schottisch und Schottisch-Gälisch oder Walisisch als Regionalsprachen geschützt. Der Status und die Verwendung dieser Sprachen in der Schule ist sehr unterschiedlich. Während beispielsweise Katalanisch die normale Unterrichtssprache in den Schulen und Universitäten im spanischen Teil Kataloniens und Westfriesisch fest in den Schulen der Provinz Friesland verankert ist, so ist Nedersaksisch kein eigenes Schulfach. Niederdeutsch in Landesverfassungen Der Schutz und die Förderung des Niederdeutschen haben in zwei Bundesländern Verfassungsrang. Bereits seit 1993 heißt es in Artikel 16 (2) der Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern: Das Land schützt und fördert die Pflege der niederdeutschen Sprache. 1998 übernahm die Verfassung des Landes Schleswig-Holstein diesen Passus gleichlautend in Artikel 13 (2). Darüber hinaus legt die Verfassung Schleswig-Holsteins in Artikel 12 (6) fest: Das Land schützt und fördert die Erteilung von Friesischunterricht und Niederdeutschunterricht in öffentlichen Schulen. Aufsichtsorgane und Interessenvertretungen Zur Überprüfung der Umsetzung der Verpflichtungen, die sich aus der Sprachencharta ergeben, ist nach Auffassung des Europarats ein Aufsichtsorgan notwendig. Diese Funktion nehmen auf Bundesebene der Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten sowie ein Beratender Ausschuss für Fragen der niederdeutschen Sprachgruppe beim Innenministerium wahr. Auf Länderebene gibt es beispielsweise in Schleswig-Holstein einen Beirat für Niederdeutsch beim Landtag sowie den Minderheitenbeauftragten des Ministerpräsidenten, der zugleich auch Niederdeutschbeauftragter ist. Mecklenburg-Vorpommern hat einen Landesbeauftragten für Niederdeutsch bestellt, beim Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur gibt es zudem einen Beirat für Heimatpflege und Niederdeutsch. Die sprachpolitischen Interessen der Niederdeutsch Sprechenden werden seit 2002 durch den «Bundesraat för Nedderdüütsch» vertreten. Die Ländervertreter werden in der Regel über die Landesverbände des Bundes für Heimat und Umwelt delegiert. Das Niederdeutschsekretariat in Hamburg unterstützt den Bundesraat för Nedderdüütsch konzeptionell und organisatorisch. Niederdeutsch als reguläres Schulfach Einführung des Schulfachs Niederdeutsch und Anerkennung als Abiturfach Sprachpflegerische Absichtserklärungen, Plattdeutsch fördern zu wollen, blieben lange unverbindlich und folgenlos. Über die Einführung eines Unterrichtsfaches Niederdeutsch wurde nicht ernsthaft nachgedacht. Die Lehrpläne erlaubten allenfalls Sprachbegegnungen, während ein systematischer Spracherwerb unterblieb. Über Jahrzehnte blieb Plattdeutsch in der Schule weitgehend auf freiwillige Arbeitsgemeinschaften außerhalb des regulären Unterrichts beschränkt und wurde von Ehrenamtlern geprägt. Die Sprachencharta stellte einen Wendepunkt dar, da sie völkerrechtlich verbindlich die Förderung der Regional- und Minderheitensprachen forderte. 2007 gab der Bundesraat för Nedderdüütsch als sprachenpolitische Vertretung der Plattsprecher die „Schweriner Thesen“ mit der zentrale Forderung heraus, Niederdeutsch als reguläres Unterrichtsfach in den Bildungsplänen der Bundesländer zu verankern und somit den aus der Sprachencharta folgenden Verpflichtungen nachzukommen. Im Jahr 2010 führte Hamburg als erstes Bundesland Niederdeutsch als Grundschulfach im Wahlpflichtbereich ein. 2014 folgte Schleswig-Holstein und Bremen startete ein Modellprojekt. Seit 2016 ist Niederdeutsch in Mecklenburg-Vorpommern ein reguläres Fach der Sekundarstufe I. 2017 erkannte die Kultusministerkonferenz (KMK) Niederdeutsch als mündliches und schriftliches Prüfungsfach im Abitur an. Die offizielle Aufnahme des Faches Niederdeutsch in die Liste der gegenseitig anerkannten, unbefristet angebotenen länderspezifischen Prüfungsfächer in der Abiturprüfung wurde im März 2017 mit 15 Ja-Stimmen und einer Enthaltung beschlossen. Für die Anerkennung durch den Schulausschuss der KMK hatte sich das Land Mecklenburg-Vorpommern, vertreten durch den damaligen Bildungsminister Mathias Brodkorb, stark gemacht. In allen Bundesländern, in denen es Niederdeutschunterricht gibt, wird das Fach nur an einzelnen Schulen unterrichtet. Auch plant kein Land, Niederdeutsch als Pflicht- oder Wahlpflichtfach flächendeckend einzuführen. Bildungskonzepte Die Bildungskonzepte für einen modernen Niederdeutschunterricht werden gerade erst (Stand: 2018) entwickelt. Die Frage, ob er sich in seiner methodisch-didaktischen Ausrichtung eher am muttersprachlichen Deutschunterricht oder am Fremdsprachenunterricht ausrichten sollte, ist noch nicht ausdiskutiert. Dem dramatischen Rückgang des Plattdeutschen als Muttersprache tragen die bestehenden Rahmenpläne aber Rechnung, indem sie auf den Spracherwerb zielen. Sie gehen nicht mehr von einer familiären Vorprägung aus, das Sprachangebot ist grundsätzlich für alle Schüler offen. Die Anforderungen orientieren sich am Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen für Sprachen. Vom herkömmlichen (Fremd-)Sprachenunterricht unterscheidet sich die Immersionsmethode, bei der andere Fächer auf Niederdeutsch unterrichtet werden und die Sprache dadurch „nebenbei“ erlernt wird. Die Wörter werden in der Regel nicht übersetzt, sondern aus dem Kontext heraus verstanden. Immersion funktioniert somit wie der Erstspracherwerb und gilt als besonders effektive Sprachlernmethode. Immersiver Niederdeutschunterricht wird vor allem in Niedersachsen erteilt. Als optimale Phase für den Spracherwerb wird die frühe Kindheit und die Zeit der Alphabetisierung angesehen. Deshalb bemühen sich die meisten Länder, Sprachbegegnungen im Kindergarten und den systematischen Niederdeutschunterricht in der Grundschule beginnen zu lassen. Mecklenburg-Vorpommern wich in den letzten Jahren von dieser Linie ab und konzentrierte seine Bemühungen auf die Sekundarstufe I und die gymnasiale Oberstufe. Aufgrund der Kulturhoheit der Länder können diese die Schul- und Sprachpolitik selbständig gestalten. Deshalb unterscheiden sich die Lehrpläne von Bundesland zu Bundesland teilweise erheblich. Dies gilt in besonderem Maße für das Fach Niederdeutsch, das nicht zu den Kernfächern des Schulunterrichts gehört. In Hamburg, Schleswig-Holstein und Mecklenburg gibt es landesweite Lehrpläne oder diese werden derzeit erarbeitet. In Bremen gibt es keinen Rahmenplan. Dort erarbeiten die einzelnen Schulen des Modellversuchs eigene Konzepte. Lehrmittel Eines der größten Defizite des Niederdeutschunterrichts stellten lange die Lehrmaterialien dar. Erschwert wird deren Entwicklung dadurch, dass es keine standardisierte Form des Niederdeutschen gibt, sondern dass die Sprache von einer ausgeprägten dialektalen Vielfalt geprägt ist. Hinzu kommt, dass Niederdeutsch vorrangig als gesprochene Sprache praktiziert wird. Es gibt keine einheitliche oder verbindliche Rechtschreibung. Für den Schulunterricht sind behutsame Standardisierungen in der Schreibung sowie hinsichtlich grammatischer Formen jedoch unumgänglich. Eine gebräuchliche Rechtschreibung für niederdeutsche Texte in Deutschland ist das 1956 erstmals von Johannes Saß vorgelegte und seitdem in etlichen Auflagen überarbeitete „Plattdeutsche Wörterbuch“. Es gilt primär für die nordniedersächsischen Dialekte, macht Abweichungen kenntlich und lehnt sich an die hochdeutsche Rechtschreibung an. In Hamburg liegen seit dem Schuljahr 2013/2014 ein plattdeutsches Arbeitsbuch (Fietje Arbeitsbook) für die Grundschule und die dazugehörende Handreichung für Lehrkräfte vor. In Schleswig-Holstein gibt es seit dem Schuljahr 2015/2016 mit Paul un Emma snackt Plattdüütsch das erste Schulbuch für die Klassen 1 und 2. Das Lehrwerk ist für den systematischen Spracherwerb ausgelegt und lehnt sich in seinem Niveau an den modernen Fremdsprachenunterricht an. Es ist so aufgebaut, dass es auch in den anderen norddeutschen Ländern genutzt werden kann. Der zweite Band Paul un Emma un ehr Frünnen für die Klassen 3 und 4 erschien zum Schuljahr 2018/2019. Der Band wurde unter Federführung der Abteilung für Niederdeutsche Sprache und Literatur und ihre Didaktik an der Europa-Universität Flensburg entwickelt. Mecklenburg-Vorpommern hat mit dem Schuljahr 2016/2017 begonnen, umfangreiche Unterrichtsmaterialien zu entwickeln. Seit November 2018 liegt Paul un Emma snackt Plattdüütsch auch in mecklenburgisch-vorpommerschem Niederdeutsch vor. Für die Jahrgangsstufen sieben bis zwölf, aber auch für Studierende und für die Weiterbildung von Fachkräften in Kindertageseinrichtungen ist das 2019 erschienene Lehrbuch Platt mit Plietschmanns konzipiert. Die Konzepte werden vor allem am Kompetenzzentrum für Niederdeutschdidaktik an der Universität Greifswald mit Unterstützung des Instituts für Qualitätsentwicklung (IQ M-V) des Bildungsministeriums erarbeitet und vom Land gefördert. Lehrerausbildung Ein Problem des Niederdeutschunterrichts ist der Mangel an Fachlehrern. Bei der Einführung des Schulfachs Niederdeutsch in Hamburg im Schuljahr 2010/2011 wurde der Unterricht von Lehrern mit einer Lehrbefähigung für Deutsch oder eine moderne Fremdsprache erteilt, die zugleich aktive Sprecher des Niederdeutschen waren. Auf Wunsch konnten die Lehrer eine Jahresbegleitung am Landesinstitut für Lehrerbildung und Schulentwicklung in Anspruch nehmen. Aufgrund der Altersstruktur der aktiven Plattdeutschsprecher schieden zudem viele Niederdeutsch-Lehrende aus Altersgründen aus dem Schuldienst aus, während nur wenige neue hinzukamen. So sank in Mecklenburg-Vorpommern die Zahl der Lehrer mit einer Lehrbefähigung für das Fach Niederdeutsch in nur zwei Jahren zwischen 2014 und 2016 von 153 auf 62. Lehramtsstudierende können Niederdeutsch als Beifach, Ergänzungsfach, Erweiterungsfach oder als Wahl- oder Schwerpunktbereich im Fach Deutsch belegen. Im Dezember 2019 gab der niedersächsische Wissenschaftsminister Björn Thümler an, dass Niederdeutsch künftig als grundständiges Lehramtsstudienfach an der Universität Oldenburg angeboten werden soll. Das Ministerium habe dafür 350. 000 Euro jährlich zur Verfügung gestellt. An der Universität Oldenburg sei ein erstes Grobkonzept dafür erstellt und eine Professur ausgeschrieben worden. Niederdeutsch auf Lehramt kann an folgenden Universitäten studiert werden: Universität Greifswald: Beifach Niederdeutsch sowie Lehrerweiterbildung Christian-Albrechts-Universität zu Kiel: Erweiterungs- oder Ergänzungsfach, Profil Niederdeutsch für Lehramt an Gymnasien und Gemeinschaftsschulen sowie Handelslehrer Europa-Universität Flensburg: Niederdeutschvertiefung im Lernbereich Niederdeutsch im Lehramtsstudium Carl von Ossietzky Universität Oldenburg: Schwerpunkt Niederdeutsch im Germanistikstudium sowie Lehrerweiterbildung, künftig als grundständiges Unterrichtsfach Universität Rostock: einzelne Module im Germanistikstudium; die Einrichtung eines Beifachs Niederdeutsch im Lehramtsstudium wird geprüft Universität Hamburg: einzelne Module im Germanistikstudium Westfälische Wilhelms-Universität Münster: einzelne, eher forschungsorientierte Module im Germanistikstudium An den Universitäten finden auch Weiterbildungen für aktive Niederdeutschlehrer statt. Das Land Mecklenburg-Vorpommern hat zur Stärkung der bestehenden Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern sowie Fachkräften in Kindertageseinrichtungen 2017 ein Kompetenzzentrum für Niederdeutschdidaktik an der Universität Greifswald eingerichtet, das bis 2020 mit insgesamt 447.580 Euro unterstützt wird. Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern stellen bei ansonsten gleicher Qualifikation bevorzugt Lehrer ein, die Niederdeutsch unterrichten können. Neben der universitären Ausbildung gibt es Fortbildungen an Landesinstituten, z. B. am Institut für Qualitätsentwicklung Schwerin oder am Studienseminar für das Lehramt an Grund-, Haupt- und Realschulen in Cuxhaven. Seit Juni 2017 bietet der Hamburger Plattolio e.V. Niederdeutschlehrern ein eigenes Internetportal. Es ist die erste länderübergreifende Fachlehrervereinigung für Niederdeutsch. Finanziell gefördert wird das Netzwerk durch die in Hamburg ansässige Carl-Toepfer-Stiftung. Situation in den einzelnen Bundesländern Länder mit Niederdeutsch als Wahlpflichtfach Hamburg Hamburg hat als erstes Bundesland zum Schuljahr 2010/2011 Niederdeutsch als reguläres Grundschulfach im Wahlpflichtbereich mit eigenem Rahmenplan eingeführt und in der Stundentafel verankert. Zum ersten Mal gab es damit verbindliche Bildungspläne für das Unterrichtsfach Niederdeutsch. Elf Hamburger Grundschulen in den ländlichen Regionen Finkenwerder, Neuenfelde, Cranz, Vier- und Marschlande bieten Niederdeutsch als eigenständiges Schulfach an. In den ersten beiden Klassen haben die Schüler eine, in der dritten und vierten Klasse zwei Wochenstunden Niederdeutsch. Seit 2014/2015 wird Niederdeutsch als ordentliches Fach mit eigenen Rahmenplänen für die Jahrgangsstufen 5 bis 11 der Stadtteilschule und für die Sekundarstufe I des Gymnasiums weitergeführt. Schleswig-Holstein In Schleswig-Holstein startete mit dem Schuljahr 2014/2015 ein Modellprojekt, bei dem an 27 Grundschulen ein freiwilliges Niederdeutschangebot im Wahlpflichtbereich installiert wurde. Dieses umfasst von der ersten bis zur vierten Klasse zwei Unterrichtsstunden pro Woche systematischen Niederdeutschunterricht. Der zur Verfügung stehende Finanzrahmen sah 27 teilnehmende Schulen vor, es bewarben sich jedoch 44 Schulen, so dass ein qualitatives Auswahlverfahren erforderlich wurde. Aufgrund der großen Nachfrage wurden zum Schuljahr 2015/2016 zwei neue Schulen aufgenommen. Im zweiten Jahr des Modellprojekts hatten etwa 1600 Schülerinnen und Schüler Niederdeutsch gewählt. Zum Schuljahr 2017/2018 wurde der systematische Unterricht in Niederdeutsch an sieben weiterführenden Schulen (sechs Gemeinschaftsschulen und einem Gymnasium) fortgeführt, die Zahl der Schüler ist auf 2170 gestiegen. 2019/2020 nahmen mehr als 3.000 Schüler an 32 Grundschulen und 9 Sekundarschulen am freiwilligen Niederdeutschunterricht teil. Über die Modellschulen hinaus werden an vielen Schulen Unterrichtsangebote für Niederdeutsch im Bereich von Arbeitsgemeinschaften und Ganztagesangeboten gemacht. Mecklenburg-Vorpommern Noch 2014 urteilte Reinhard Goltz, Geschäftsführer des Instituts für niederdeutsche Sprache und Sprecher des Bundsraats för Nedderdüütsch, dass Mecklenburg-Vorpommern zwar einen guten gesetzlichen Rahmen für die Berücksichtigung des Niederdeutschen im Schulunterricht geschaffen habe, ihn aber in der Praxis nicht umsetze. Mit der Verabschiedung des Landesprogramms „Meine Heimat – Mein modernes Mecklenburg-Vorpommern“ 2016 durch die Landesregierung hat das Land jedoch eine neue Qualität zur Förderung der niederdeutschen Sprache erreicht. In diesem Landesprogramm ist der niederdeutsche Schulunterricht ein Schwerpunkt. Die eingesetzten Ressourcen kommen der Stärkung der Niederdeutschvermittlung in den Bereichen frühkindliche Bildung, Grund- und Sekundarschulbildung, berufliche und der Hochschulbildung, Erzieher- und Lehrerbildung sowie der kulturellen Bildung und Projektförderung zugute. Seit 2016 wird Niederdeutsch in Mecklenburg-Vorpommern als reguläres Fach angeboten. Die Anerkennung als Abiturfach durch die Kultusministerkonferenz kam auf Initiative Mecklenburg-Vorpommerns zustande. Bei der Einführung als Abiturfach hatte das Bildungsministerium unter Mathias Brodkorb noch davon gesprochen, dass Niederdeutsch eine Fremdsprache und somit den anderen in Mecklenburg-Vorpommern unterrichteten Sprachen Englisch, Französisch, Russisch, Latein, Altgriechisch, Polnisch, Spanisch und Schwedisch gleichgestellt sei. Im März 2017 revidierte das Bildungsministerium unter Brodkorbs Nachfolgerin Birgit Hesse diese Aussage in einer Antwort auf eine kleine Anfrage. Niederdeutsch solle in der Schule weder den Erwerb der ersten, noch einer zweiten Fremdsprache ersetzen. Hesse betonte jedoch, dass Niederdeutsch grundsätzlich anderen Fächern gleichberechtigt und kein Zusatzangebot mehr sei. Zum Schuljahr 2017/2018 hat das Bundesland Profilschulen mit den drei Schwerpunkten Humanistische Bildung/Alte Sprachen, Mathematik/Naturwissenschaften (MINT) oder Niederdeutsch eingerichtet, mit dem Ziel, die Begabtenförderung an den Gymnasien und Gesamtschulen auszubauen. Zur Ausgestaltung des jeweiligen Schwerpunktes haben die Profilschulen jeweils eine zusätzliche Lehrerstelle erhalten und können über ein Budget für Sach- und Reisekosten verfügen. Sechs Schulen wurden als Profilschulen mit dem Schwerpunkt Niederdeutsch anerkannt. An diesen Schulen kann Niederdeutsch als mündliches und schriftliches Prüfungsfach im Abitur belegt werden. Auf der Grundlage eines landesweiten Konzepts, das durch ein Netzwerk aus Lehrerinnen und Lehrern erstellt wurde, hat das Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur mit jeder Schule eine Zielvereinbarung über die Ausgestaltung des jeweiligen Profilschwerpunktes unterzeichnet. Grundlage des Faches Niederdeutsch ab Klasse 7 bis in die Qualifikationsphase sind entsprechende Rahmenpläne, dem die Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz zugrunde liegen. An den sechs Profilschulen besuchen im ersten Jahr nach ihrer Einführung 615 Schüler den niederdeutschen Unterricht. Das entsprach einem Drittel aller Siebtklässler dieser Schulen. Darüber hinaus müssen Grundschulen, die ein Ganztagsschulkonzept verfolgen, Niederdeutsch-Angebote in ihr Profil aufnehmen. Insgesamt lernten in Mecklenburg-Vorpommern im Schuljahr 2019/20 rund 2100 Schüler Plattdeutsch in der Schule. Die ersten Abiturprüfungen im Fach Niederdeutsch werden 2023 abgelegt. 2017 gab es landesweit 62 Lehrkräfte, die über eine Lehrbefähigung für das Fach Niederdeutsch verfügten. Um diese Zahl zu erhöhen, wurde ein Kompetenzzentrum für Niederdeutschdidaktik an der Universität Greifswald eingerichtet. Das Kompetenzzentrum ergänzt die Angebote des Instituts für Qualitätsentwicklung in Schwerin. Außerdem soll es den Plattdeutsch-Wettbewerb des Landes begleiten. Bremen In Bremen ist Niederdeutsch in den Bildungsplänen der Grundschulen und der weiterführenden Schulen in den Fächern Deutsch, Sachunterricht und Musik verankert. Die Sprachbegegnung erfolgt integriert in den Regelunterricht. Zum Schuljahr 2014/15 startete ein Pilotprojekt, das es den Grundschulen der Freien Hansestadt Bremen ermöglicht, ein zusätzliches verbindliches Unterrichtsangebot für alle Schülerinnen und Schüler oder einen Teil der Schülerschaft einzurichten. Vier Grundschulen in Bremen und eine in Bremerhaven setzen dies um und entwickelten jeweils ein systematisches Konzept. Ein einheitlicher Lehrplan liegt nicht vor. Nach Ablauf der Pilotphase der Profilschulen Niederdeutsch im Primarbereich zum Ende des Schuljahres 2017/2018 wird an mindestens zwei weiterführenden Schulen das Sprachangebot systematisch weitergeführt. Immersiver Niederdeutschunterricht Niedersachsen Konkrete Charta-Verpflichtungen im Bereich Bildung hat Niedersachsen nicht übernommen, obwohl es Teil III der Sprachencharta unterzeichnet hat. Verbindlich ist lediglich seit 2006 eine Sprachbegegnung mit Niederdeutsch für alle Schulen und Schulformen des Primar- und Sekundarbereichs I. Stefan Oeter, Vorsitzender des Sachverständigenausschusses des Europarats zur Europäischen Sprachencharta, urteilte 2009, dass sich Niedersachsen bis dahin „gezielt den Kernoptionen zu Primar- und Sekundarschulwesen entzog, was europaweit eine einmalige Absonderlichkeit darstellt“. Die Vermittlung des Plattdeutschen war lange auf schulischen Arbeitsgemeinschaften und außerschulische Angebote beschränkt. Eine wichtige Rolle spielt dabei der seit 1979 alle zwei Jahre von der Niedersächsischen Sparkassenstiftung ausgerichtete plattdeutsche Lesewettbewerb, an dem jeweils mehrere Tausend Schüler teilnehmen. 2011 eröffnete ein Erlass die Möglichkeit, im Primarbereich und in der Sekundarstufe I Unterricht auf Plattdeutsch oder Saterfriesisch in den Fächern der Pflichtstundentafel oder in Wahlpflichtfächern, mit Ausnahme der Fächer Deutsch, Mathematik und der Fremdsprachen, zu erteilen. Überwiegend wird also die Immersionsmethode angewandt, d. h., dass Niederdeutsch „nebenbei“ im Unterricht anderer Fächer erlernt wird. Bis zum Jahr 2016 wurden 21 Grundschulen, eine Oberschule und eine Realschule als so genannte „Plattdeutsche Schule“ ausgezeichnet, weil bei ihnen ein regelmäßiger Spracherwerb Teil des Schulprogramms ist. Eine entsprechende Auszeichnung gibt es für „Saterfriesische Schulen“. 2017 erhielten 71 Schulen Entlastungsstunden, um den Spracherwerb des Niederdeutschen im regulären Unterricht anzubahnen. Zwei Jahre später gab es bereits 90 Projektschulen. Die Schulen sind in der Ausgestaltung des Erlasses weitgehend frei. So wird in einigen zweisprachigen Klassen an der Grundschule Simonswolde in Ostfriesland außer im Deutsch- und Englischunterricht ausschließlich Plattdeutsch gesprochen. Eine Tendenz hin zu einer stärkeren Verankerung von Niederdeutsch im Bildungssystem zeichnete sich durch einen im Juni 2017 eingebrachten gemeinsamen Entschließungsantrag von CDU, SPD, Grünen und FDP im niedersächsischen Landtag ab. Daraufhin beschloss die Landesregierung, Niederdeutsch im Bildungssystem fester zu verankern und ein eigenes Unterrichtsfach als Fremdsprache im Wahlpflichtbereich der Sekundarstufen I und II einzurichten. Länder mit Niederdeutschförderung außerhalb des Unterrichts Nordrhein-Westfalen Im Regierungsbezirk Münster wird seit dem Schuljahr 2014/2015 ein zunächst auf fünf Jahre festgesetztes Schulprojekt durchgeführt, das vom Centrum für Niederdeutsch an der Universität Münster begleitet wird. Im Rahmen dieses Schulprojekts werden an sechs Grundschulen in Münster und im Münsterland Niederdeutschangebote versuchsweise in freiwilligen Arbeitsgemeinschaften angeboten. Die Einrichtung von Niederdeutsch als regulärem Schulfach ist in Nordrhein-Westfalen nicht vorgesehen. Sachsen-Anhalt An Grundschulen und Sekundarschulen in Sachsen-Anhalt erfolgt die Sprachbegegnung mit Plattdeutsch vor allem in Arbeitsgemeinschaften. Die Einführung eines regulären Schulfaches Niederdeutsch plant die Landesregierung von Sachsen-Anhalt nicht. Die Arbeitsstelle Niederdeutsch an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg bietet für Lehrkräfte und Erziehungspersonal regelmäßig Fortbildungsveranstaltungen zum Niederdeutschen an. Brandenburg Auch das Land Brandenburg strebt nicht an, ein eigenes Unterrichtsfach Niederdeutsch einzurichten. Die Ländervertreter Brandenburgs im Bundesraat för Nedderdüütsch kritisieren, dass die Brandenburgische Landesregierung die von ihr unterzeichnete Europäische Charta der Regional- oder Minderheitensprachen offenbar als unverbindlich und rein symbolisch bewertet. Sie habe keinerlei Schritte unternommen, die niederdeutsche Sprache durch die Schaffung konkreter politischer Rahmenbedingungen und Maßnahmen zu stärken und die Mehrsprachigkeit im Norden Brandenburgs als Merkmal regionaler Identität anzuerkennen. Inzwischen sieht die Landesregierung jedoch „besonderen Handlungsbedarf“ und will Plattdeutsch gemäß der Sprachencharta verstärkt fördern. In vier uckermärkischen Grundschulen in Prenzlau und Templin gibt es Unterrichtsangebote in niederdeutscher Sprache. In Prenzlau erschien 2017 das erste in Brandenburg zugelassene Grundschul-Arbeitsheft zum Erlernen der niederdeutschen Sprache, „Plattdütsch foer ju“. Debatte um die Notwendigkeit eines Schulfachs Niederdeutsch Einbettung in allgemeine Bildungsdiskurse Die Etablierung des Unterrichtsfachs Niederdeutsch findet in einer Zeit statt, in der sich das Schulsystem in Deutschland rasant wandelt. Forderungen nach einer europäischen Angleichung der Schulbildung, homogenisierten Standards und Kerncurricula engen die Spielräume für die Berücksichtigung kleiner Fächer und regionaler Belange ein. Neu eingeführte Fächer wie Englisch als Grundschulfach ab der dritten Klasse (1998/1999 in Hamburg, seit 2004/2005 flächendeckend in allen Bundesländern) erschweren die Möglichkeiten, Niederdeutsch in die Stundentafel zu integrieren. Deshalb steht die Einführung eines regulären Schulfachs Niederdeutsch unter Legitimationsdruck. Diskussion um Wert und Nutzen des Niederdeutschen Die Motivation für die Einführung eines Schulfachs Niederdeutsch ist der kulturelle und soziale Wert, der Regional- und Minderheitensprachen zugeschrieben wird, sowie die Wahrnehmung ihrer prekären Lage. Während der dramatische Rückgang der Sprache für die Befürworter der Hauptgrund ist, allgemein ein Spracherhaltungsprogramm und konkret die Einführung des Schulfachs Niederdeutsch zu fordern, ist er für viele Kritiker gerade der Grund, sich dagegen auszusprechen. Da Plattdeutsch heute kaum noch eine Rolle als Mutter-, Alltags- und Verkehrssprache spiele und es sich nahezu um eine tote Sprache handele, sei ein konkreter Nutzen des Schulfachs Niederdeutsch nicht zu erkennen. In einer repräsentativen Umfrage im Verbreitungsgebiet des Niederdeutschen sprachen sich 2016 gut 2/3 der Befragten dafür aus, dass die Sprache stärker gefördert werden solle. In Mecklenburg-Vorpommern (84,5 %), Bremen (83,9 %) und Schleswig-Holstein (76,2 %) lag der Wert deutlich höher, in Hamburg lag er bei 70,5 % und in Niedersachsen bei 65 %. Die Reputation des Plattdeutschen hat sich in den letzten Jahrzehnten stark gewandelt. Auch und gerade im städtischen Umfeld, besonders in Hamburg, genießt es heute als Identitätssymbol ein hohes Sozialprestige. Die Schule als der Ort des Spracherwerbs Da die Weitergabe als Muttersprache in den Familien heutzutage abgebrochen ist, hat sich seit den 1990er Jahren zunehmend die Überzeugung durchgesetzt, dass die bedrohte Sprache nur durch systematischen Spracherwerb in der Schule gerettet werden kann. 2016 nannten rund 2/3 der Befragten einer Umfrage die Schule als den für den Spracherwerb geeigneten Ort. Damit hat sich die der Schule zugeschriebene Rolle für das Niederdeutsche völlig umgekehrt, hatte sich der Sprachwechsel vom Plattdeutschen zum Hochdeutschen doch vor allem über den Schulunterricht vollzogen. Bis in die 1970er Jahre war die Schule der Ort, an dem viele plattdeutsche Muttersprachler zum ersten Mal mit dem Hochdeutschen in Kontakt kamen, das sie dort wie eine Fremdsprache lernten. So berichtet die 1965 geborene Sängerin Ina Müller von der traumatischen Erfahrung, das in der Schule gesprochene Hochdeutsch zunächst kaum verstanden und selbst nur Plattdeutsch beherrscht zu haben. Spannungsverhältnis zwischen Hochdeutsch und Niederdeutsch Kritiker befürchten, dass Niederdeutschunterricht auf Kosten des Hochdeutschen gehe. So lehnte Simone Oldenburg, bildungspolitische Sprecherin der Fraktion Die Linke im Schweriner Landtag, das Fach Niederdeutsch mit der Begründung ab, dass der Erwerb des Standarddeutschen im Vordergrund stehen müsse. Dem halten Befürworter entgegen, die Vorstellung, dass Plattdeutschsprecher schlechteres Hochdeutsch sprächen, gehe von längst überholten Rahmenbedingungen aus, als plattdeutsche Muttersprachler Hochdeutsch noch wie eine Fremdsprache gelernt hätten. Das Bewusstsein für Sprachwandel und Sprachvarietäten sei für den Deutschunterricht vielmehr wertvoll. Sprachliche Integration Der Kritik, dass Plattdeutsch Kindern mit Migrationshintergrund die sprachliche Integration erschwere, wird mit dem Hinweis begegnet, dass Migranten durch ein Wahlpflichtfach Niederdeutsch nicht betroffen seien, sondern parallel Förderunterricht in Deutsch oder muttersprachlichen Unterricht erhalten könnten. In manchen Fällen könne der Niederdeutschunterricht die Integration sogar fördern, da zweisprachig aufgewachsene Kinder bereits gewohnt sind, mit Mehrsprachigkeit umzugehen, und die deutschstämmigen Schüler Plattdeutsch genauso erlernen müssen wie sie selbst. Ein Beispiel für diese Art der Integration ist der als Kind aus Äthiopien eingewanderte Moderator Yared Dibaba, der später mit plattdeutschen Fernseh- und Radiosendungen sowie Büchern bekannt wurde. Auch bei plattdeutschen Vorlesewettbewerben der vergangenen Jahre schnitten oft Kinder aus indisch-, russisch- oder chinesischstämmigen Familien besonders gut ab. Auswirkungen auf den Fremdsprachenunterricht Eine andere Befürchtung lautet, dass durch regulären Niederdeutschunterricht Ressourcen für das Erlernen anderer Fremdsprachen verloren gingen. Dagegen halten Befürworter Mehrsprachigkeit grundsätzlich für eine gute Voraussetzung für das Lernen anderer Sprachen und der Sprachenflexibilität, für die kognitive Entwicklung und für abstraktes Denken. Bei früher Mehrsprachigkeit werde ein gemeinsamer Pool für alle erlernten Sprachen angelegt, von dem alle Sprachen profitieren. Das gleichzeitige Erlernen mehrerer Sprachen im frühen Kindesalter erleichtert somit den Erwerb weiterer Sprachen. Plattdeutschkenntnisse seien speziell für den Englischunterricht wegen der großen sprachlichen Nähe ausgesprochen förderlich. Niederdeutsch gilt neben dem Friesischen als die am nächsten verwandte lebende Sprache auf dem Festland. Bildungswissenschaftler weisen darauf hin, dass für Kinder besonders eine Nahsprache zu demselben intensiven Spracherwerb führen kann, wie er später durch Auslandsaufenthalte ermöglicht wird. Der alltägliche Kontakt mit einer entfernteren Weltsprache sei im frühen Kindesalter dagegen meistens so gering, dass lediglich eine Sprachbegegnung stattfindet. Siehe auch Dänischunterricht Friesischunterricht in Deutschland Sorbisches Schulwesen Literatur Auf dem Stundenplan: Plattdeutsch, Schriften des Instituts für niederdeutsche Sprache 45, herausgegeben vom Bundesraat för Nedderdüütsch, Redaktion: Christiane Ehlers, Reinhard Goltz und Walter Henschen, Verlag Schuster Leer, Bremen 2013, ISBN 978-3-7963-0395-1.(pdf; 1.4 MB). Ulf-Thomas Lesle: Identitätsprojekt Niederdeutsch. Die Definition von Sprache als Politikum. In: Robert Langhanke (Hrsg.): Sprache, Literatur, Raum. Festschrift für Willy Diercks. Verlag für Regionalgeschichte, Bielefeld 2015, ISBN 978-3-89534-867-9, S. 693–741. Dieter Möhn: Niederdeutsch in der Schule, in: Handbuch zur niederdeutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, herausgegeben von Gerhard Cordes und Dieter Möhn, Erich-Schmidt-Verlag, Berlin 1983, ISBN 3-503-01645-7. Plattdeutsch in der Schule. Symposion an der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg am 3. September 2004. Herausgegeben von Spieker, Heimatbund für Niederdeutsche Kultur, Isensee Verlag, Oldenburg 2005, ISBN 3-89995-182-4. Sechster Bericht der Bundesrepublik Deutschland gemäß Artikel 15 Absatz 1 der Europäischen Charta der Regional- oder Minderheitensprachen, herausgegeben vom Bundesministerium des Innern, ohne Ortsangabe, 2017 (pdf; 2.4 MB). Weblinks Rechtliche Grundlagen für Plattdeutsch in der Schule, Übersicht der Bildungspläne auf der Homepage des Instituts für Niederdeutsche Sprache Die Reportage: Plattdütsch bet taun „Plattinum“!, ndr.de, 9. September 2018 plattolio.de, Website des Plattolio e.V., der Fachvereinigung für Niederdeutschlehrkräfte schoolmester.de, Materialsammlung für die Implementierung von Plattdeutsch und Saterfriesisch in die schulische Arbeit: Konzepte, Unterrichtsmaterial u. ä. Einzelnachweise Niederdeutsche Sprache Sprachunterricht Bildungspolitik (Deutschland) Bildung in Mecklenburg-Vorpommern Bildung in Schleswig-Holstein Schulwesen in Hamburg Sprachpolitik (Deutschland) Bildung in der Freien Hansestadt Bremen
10733359
https://de.wikipedia.org/wiki/Fensterspinne
Fensterspinne
Die Fensterspinne (Amaurobius fenestralis) oder Waldfinsterspinne ist eine Spinne innerhalb der Familie der Finsterspinnen (Amaurobiidae). Die paläarktisch verbreitete Art zählt zusammen mit der gattungsverwandten Kellerspinne (Amaurobius ferox) sowie der Ähnlichen Fensterspinne (Amaurobius similis) zu den häufigsten der Familie in Europa. Der Trivialname „Fensterspinne“ rührt von der irrtümlichen Annahme her, dass die Art gerne im Bereich von Fenstern lebt. Dies ist mittlerweile widerlegt und ist mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Verwechslungen mit der verwandten Ähnlichen Fensterspinne zurückzuführen, bei der dieses Verhalten vorkommt und die überdies früher nicht als eigene Art von der Fensterspinne unterschieden wurde. Die Fensterspinne selbst bewohnt hingegen bevorzugt Wälder und seltener Keller oder Höhlen. Im englischen Sprachraum wird die Fensterspinne als Window spider oder wie die Ähnliche Fensterspinne als Lace-webbed spider (übersetzt etwa „Spitzenweberspinne“) bezeichnet. Beide englischen Bezeichnungen nehmen Bezug auf das Trichternetz, das wie bei allen Echten Finsterspinnen (Amaurobius) mit cribellater Fangwolle versehen ist. Mit dessen Hilfe erbeutet die nachtaktive Fensterspinne eine Vielzahl von Gliederfüßern und kann auch wehrhafte Vertreter dieses Stammes überwältigen. Das Trichternetz mündet weiter hinten in einer als Aufenthaltsort der Spinne dienenden Wohnröhre, in der ein verpaartes Weibchen später auch seinen Eikokon deponiert. Die geschlüpften Jungtiere verhalten sich wie bei allen Echten Finsterspinnen matriphag bzw. saugen sie ihre kurz nach dem Schlupf verendende Mutter aus und überwintern gemeinsam in ihrem Netz, ehe sie sich im folgenden Frühjahr trennen und selbstständig heranwachsen. Merkmale Die Fensterspinne erreicht eine Körperlänge von vier bis sieben Millimetern als Männchen und eine von sieben bis 9,6 Millimetern als Weibchen. Der Körperbau der Art entspricht dem anderer Echter Finsterspinnen (Amaurobius). Das Prosoma (Vorderkörper) erscheint glänzend. Der Carapax (Rückenschild des Prosomas) hat eine gelblich-braune bis rotbraune Farbgebung. Beim Weibchen ist der gesamte Kopfbereich außerdem leicht verdunkelt, beim Männchen nur der Augenbereich. Die Cheliceren (Kieferklauen) sind braun und das Sternum (Brustplatte) gelblich gefärbt. Die Beine besitzen eine hell- bis rotbraune Grundfärbung mit einer dunklen und undeutlichen Ringelung. Das Opisthosoma (Hinterleib) verfügt über eine gelblich-graue oder rötliche Grundfärbung. Auf der Dorsalseite (Oberseite) ist dieser Körperabschnitt sehr kontrastreich gezeichnet, obgleich sich die Zeichnungselemente bei beiden Geschlechtern unterscheiden. Beim Weibchen ist der dunkle Bereich im vorderen Teil des Opisthosomas einheitlich gefärbt, beim Männchen befindet sich dort ein für gewöhnlich deutlich aufgehelltes Herzmal. Das Weibchen trägt an dieser Stelle einen schwarzbraunen, nach hinten zu etwas breiter werdenden Fleck, der gelblichweiß umrandet ist. An den Flanken befinden sich gegenüber der Grundfärbung deutliche und scharf abgegrenzte Bänder, die plötzlich enden und mit der deutlich schmaleren Reihe von Winkelflecken einen fast rechten Winkel bilden. Letztere sind oftmals sehr deutlich voneinander durch dunklere, oft rötlich gefärbte Zwischenräume voneinander getrennt. Frontal gehen die Winkelflecken beim Weibchen direkt in die gelblichweiße Umrandung des Herzmals über. Wie alle Finsterspinnen (Amaurobiidae) verfügt auch die Fensterspinne über ein zweigeteiltes Cribellum (Organ zum Herstellen von Fangwolle ohne Leimtröpfchen). Genitalmorphologische Merkmale Die Bulbi (männliche Geschlechtsorgane) der Fensterspinne werden innerhalb der Gattung der Echten Finsterspinnen (Amaurobius) jeweils durch den verjüngten retrolateralen (seitlich vom Körper wegzeigenden) Fortsatz der Tibiaapophyse (ein chitinisierter Fortsatz) charakterisiert. Im Gegensatz zu den ähnlich aufgebauten Bulbi der zur gleichen Gattung zählenden Ähnlichen Fensterspinne (A. similis) sind diese bei der Fensterspinne nicht hakenartig verlängert, was ein Hauptunterscheidungsmerkmal zur Bestimmung der beiden Arten bei den Männchen darstellt. Die Epigyne (weibliches Geschlechtsorgan) der Fensterspinne verfügt über eine verglichen mit anderen Vertretern der Echten Finsterspinnen eher breit eingefasste Mittelplatte. Der Mittelteil der Epigyne verfügt außerdem auf beiden Seiten über feine Spitzen. Ähnliche Arten Die Fensterspinne ähnelt insbesondere der zur gleichen Gattung zählenden Ähnlichen Fensterspinne (A. similis). Die Ähnlichkeit lässt sich schon aus dem Trivialnamen der Art herleiten, zumal die Ähnliche Fensterspinne erst seit ihrer Erstbeschreibung als eigene Art im Jahr 1861 von der Fensterspinne unterschieden wird. Bei der Ähnlichen Fensterspinne ist das Herzmal etwas stärker aufgehellt. Außerdem erreicht die Art eine geringfügig höher ausfallende Körperlänge. Eine sichere Differenzierung beider Arten ist allerdings nur anhand der genitalmorphologischen Merkmale möglich. Ein einzelner Bulbus des Männchens der Ähnlichen Fensterspinne verfügt über eine dorsale (obere) Tibialapophyse mit gerade abgestutztem seitlichen Fortsatz und die Epigyne des Weibchens über eine große trapezförmige Grube. Die Ähnliche Fensterspinne weist eine verglichen mit der der Fensterspinne größere Synanthropie (Bevorzugung menschlicher Siedlungsbereiche) auf und ist vor allem im Umfeld von Gebäuden, jedoch genau wie die Fensterspinne auch in Wäldern auffindbar. Auch die ebenfalls zu den Echten Finsterspinnen (Amaurobius) zählende Kellerspinne (A. ferox) erinnert entfernt an die Fensterspinne, ist jedoch mit einer maximalen Körperlänge von 16 Millimetern zumeist deutlich größer und überdies die größte in Europa vorkommende Art der Finsterspinnen (Amaurobiidae). Im Gegensatz zu den beiden anderen Arten ist die Kellerspinne außerdem deutlich dunkler und wenig kontrastreich gefärbt. Ihr Opisthosoma ist meist nur undeutlich gezeichnet und besteht dann aus einfachen hellen Flecken auf dunklem Grund. Die Kellerspinne ist ebenfalls synanthrop und kommt besonders in und an Gebäuden einschließlich der Keller vor, was zu ihrem Trivialnamen geführt hat. in der natürlichen Umgebung bewohnt die Art Felsen und Höhlen. Im Allgemeinen bevorzugt die Kellerspinne oft schattige bis feuchte Areale. Die Fensterspinne wird außerdem wie die Ähnliche Fensterspinne gelegentlich mit der in Europa eingeführten Edlen Kugelspinne (Steatoda nobilis) aus der Familie der Kugelspinnen (Theridiidae) verwechselt, die wie andere Arten der Fettspinnen (Steatoda) nicht selten als „Falsche Witwe“ bezeichnet wird. Diese Verwechslungen sind auf die sich ähnelnden Körperdimensionen und -proportionen sowie Färbungen der Spinnen zurückzuführen. So erscheint der Carapax ähnlich wie bei den beiden anderen Spinnenarten dunkelbräunlich und glänzend, geht dafür aber mehr in einen stärker rötlichen Farbton über. Außerdem sind die Beine der Edlen Kugelspinne im Verhältnis zum Körper länger als es bei der Fensterspinne und der Ähnlichen Fensterspinne der Fall ist. Ferner ist das Opisthosoma der Kugelspinne rundlicher geformt, während es bei den beiden anderen Spinnenarten eher länglich gebaut ist. Zu guter Letzt ist auf der Dorsalseite des Opisthosomas bei der Edlen Kugelspinne eine charakteristische Zeichnung vorhanden, die von den Zeichnungselementen der beiden Finsterspinnen an derselben Stelle stark abweicht. Vorkommen Die Fensterspinne ist von Europa bis nach Zentralasien verbreitet. Südöstlich reicht das Verbreitungsgebiet über den Südosten des europäischen Teils von Russland bis nach Kaukasien. Die Art fehlt gänzlich in den restlichen Gebieten Russlands (einschließlich der Oblast Kaliningrad und der Doppelinsel Nowaja Semlja) sowie in Armenien. Im restlichen Europa fehlt die Art in Island, auf der Iberischen Halbinsel, der Mittelmeerinsel Korsika sowie in den südosteuropäischen Ländern Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Kosovo, Albanien und Griechenland. Gleiches trifft auch auf den europäischen Teil der Türkei (sowie den Rest des Landes) zu. Lebensräume Die Fensterspinne nimmt gerne Wälder aller Art als Habitat an, darunter jedoch gehäuft Laub- und Nadelwälder. In den höheren Lagen der Alpen ist die Art auch in den dortigen Zirbelkieferwäldern nachgewiesen worden. Innerhalb dieser Habitate ist die Spinne unter der Rinde stehender und umgefallener Bäume sowie in Laubstreu und unter Steinen zu finden, gelegentlich auch in Moospolstern. Daneben ist die Fensterspinne auch in Pflanzen mit dichten Blattwerk vorzufinden. Dazu zählen auch Koniferenhecken. Mauerwerke werden von der Fensterspinne ebenfalls als Mikrohabitat angenommen, gebietsweise ebenso das Innere von Gebäuden, einschließlich Kellern. Selbiges gilt auch für Höhlen. Im Gegensatz zur Ähnlichen Fensterspinne (Amaurobius similis), die vorzugsweise in und an Bauwerken zu finden ist, zeigt die Fensterspinne eine deutlich geringer ausgeprägte Bevorzugung menschlicher Siedlungsbereiche und bewohnt im Gegensatz zu dieser auch keine Fenster. Dafür kann man letztere Art mitunter an Zäunen antreffen. Im Vereinigten Königreich ist die Fensterspinne bis zu Höhen von 900 Metern über dem Meeresspiegel nachgewiesen worden. Bedrohung und Schutz Die Fensterspinne ist in Europa eine der häufigsten Arten der Finsterspinnen und in ihrem Verbreitungsgebiet nicht gefährdet. Der globale Gefährdungsgrad der Art wird von der IUCN nicht gewertet. In der Roten Liste gefährdeter Arten Tiere, Pflanzen und Pilze Deutschlands bzw. der Roten Liste und Gesamtartenliste der Spinnen Deutschlands (2016) wird die Fensterspinne als „ungefährdet“ eingestuft, da ihre Bestände in Deutschland als stabil und sehr häufig gelten. Die Bestände der Art in Tschechien werden von der IUCN als „ES“ (Ecologically Sustainable, ökologisch nachhaltig) gewertet. Diese Kategorie bedeutet, dass die Bestände stabil sind oder sogar anwachsen. In Norwegen werden sie in der Kategorie „LC“ (Least Concern, nicht gefährdet) erfasst. Gleiches gilt für die Bestandssituation der Fensterspinne im Vereinigten Königreich. Lebensweise Wie alle Finsterspinnen (Amaurobiidae) ist auch die Fensterspinne vornehmlich nachtaktiv. Sie legt wie alle Arten der Familie ein typisches Spinnennetz in Form eines Trichternetzes zum Beutefang an. Jagdverhalten Die Fensterspinne ernährt sich wie für Spinnen üblich räuberisch. Da die Art mithilfe eines Spinnennetzes Beutetiere erlegt und somit auf diese wartet, ist sie wie andere netzbauende Spinnen als Lauerjäger zu charakterisieren. Netzbau Das Trichternetz der Fensterspinne ist ein grobmaschiges Konstrukt, das wie bei allen Finsterspinnen (Amaurobiidae) aus cribellaten (wollartigen) Fangfäden besteht. Aufgrund dessen erscheinen die Fangfäden im frischen Zustand bläulich schimmernd. Ferner weisen sie insbesondere in diesem Zustand ein schnurartiges Erscheinungsbild auf und sind sehr klebrig. Das Netz selbst ist ein Gewirr aus Fäden, das für gewöhnlich auf einer vertikalen Fläche angelegt wird. Insgesamt ist es vergleichsweise klein. Weiter hinten führt das Netz zu einer dem Netztypus entsprechend vorhandenen und kreisförmigen Wohnröhre, die wie bei allen Echten Finsterspinnen (Amaurobius) gut ausgesponnen ist und der Spinne als Aufenthaltsort dient. Diese befindet sich unter Steinen, liegendem Totholz oder unter Borke. Entsprechend ihrer Aktivitätszeit arbeitet die Fensterspinne nur nachts an ihrem Fangnetz. Beutefang und -spektrum Der eigentliche Beutefang läuft wie bei anderen Spinnen, die diese Netzbauweise praktizieren, einschließlich anderer Arten der Finsterspinnen, aber auch der nicht näher verwandten Trichterspinnen (Agelenidae) ab. Gerät ein Beutetier in das Fangnetz, schnellt die Spinne aus der Wohnröhre hervor und eilt zu dem Beutetier, das es anhand der Vibrationen im Netz lokalisieren kann. Beim Beutetier angekommen, versetzt die Spinne diesem mithilfe der Cheliceren einen Giftbiss, der dieses flucht- und wehrunfähig macht. Das Beutespektrum der Finsterspinne setzt sich aus anderen Gliederfüßern zusammen, die die gleichen Habitate bewohnen. Ebenso schließt es durch die effektive Jagdweise wie bei anderen Finsterspinnen wehrhaftere oder stärker gepanzerte Vertreter dieses Stammes, wie Wanzen, Käfer und Asseln mit ein. Auch andere Spinnen zählen zum Beutespektrum der Fensterspinne. Lebenszyklus und Phänologie Wie bei den in gemäßigten Klimazonen verbreiteten Spinnenarten üblich, ist der Lebenszyklus der Fensterspinne in mehrere Phasen aufgeteilt, die von den Jahreszeiten mitbestimmt werden. Die Phänologie (Aktivitätszeit) ausgewachsener Individuen beider Geschlechter beläuft sich theoretisch auf das ganze Jahr. Der Höhepunkt der Aktivitätsphase befindet sich jedoch im Zeitraum zwischen Frühling und Herbst. Dabei sind die Männchen bevorzugt im Zeitraum zwischen Herbst und Frühjahr und die Weibchen von Herbst bis zu den Monaten Juli oder August vorfindbar. Balz und Paarung Obwohl die ausgewachsenen Tiere der Fensterspinne bereits im Herbst geschlechtsreif werden, verpaaren sie sich erst im folgenden Frühjahr. Zu dieser Zeit verlässt das Männchen sein Fangnetz und beginnt aktiv das eines Weibchens aufzusuchen. Hat es ein solches gefunden, beginnt es mit einem Balzverhalten, bei dem es auf das Netz des Weibchens trommelt. Die Paarung selber dauert nur wenige Sekunden. Eiablage und Heranwachsen der Jungtiere Im folgenden Frühsommer verschließt ein begattetes Weibchen dann seine Wohnröhre und baut diese zu einem ovalen und etwa drei Zentimeter großen Brutnest aus. Dort wird auch ab Juni oder Juli der weiße Eikokon deponiert. Er enthält bis zu 100 Eier. Die Jungtiere selber schlüpfen ab Juli und versammeln sich anfangs um ihre Mutter, die auf den Resten des Kokons verweilt. Sie stirbt dann nach etwa einer Woche nach dem Schlupf ihrer Nachkommen und dient ihnen als erste Nahrung. Man spricht dabei von Matriphagie. Es wird vermutet, dass das Muttertier sich zuvor selbst durch in großen Mengen produzierte Verdauungssäfte innerlich auflöst. Anschließend verlassen sie das Verlies der einstigen Mutter und wachsen eigenständig heran. Die Entwicklung der Jungtiere bis zum Erlangen des Adultstadiums beträgt vermutlich zwei Jahre. Diese Vermutung rührt daher, dass man im Winter neben ausgewachsenen auch juvenile Exemplare der Fensterspinne finden kann. Wieder andere Quellen sprechen von einer gesamten Lebenserwartung des Weibchens für insgesamt zwei Jahre und der des Männchens für wenige Monate. Bissunfälle und Symptome Bisse der Fensterspinne sind überliefert, wobei die Art wie fast alle Spinnen nicht aggressiv ist und nur in größter Not beißt. Als Symptom kann nach dem Biss eine Schwellung im Bereich der Bisswunde auftreten, die für etwa 12 Stunden anhält. Diese Schwellung kann auch im Gegensatz zum Biss selber schmerzhaft sein. Systematik Die Systematik befasst sich im Bereich der Biologie sowohl mit der taxonomischen (systematischen) Einteilung als auch mit der Bestimmung und mit der Nomenklatur (Disziplin der wissenschaftlichen Benennung) von Lebewesen. Der Artname fenestralis ist eine Abwandlung des lateinischen Nomes fenestra, das übersetzt „Fenster“ bedeutet und auch hier auf die fälschliche Annahme, dass die Art an Fenstern zu finden sei, zurückzuführen ist. Genauso sind hier Verwechslungen mit der Ähnlichen Fensterspinne (Amaurobius similis) der Auslöser für diese Fehlangabe. Beschreibungsgeschichte Die Fensterspinne wurde bei ihrer Erstbeschreibung 1768 vom Autor Hans Strøm wie damals alle Spinnen in die Gattung Aranea eingeordnet und erhielt die Bezeichnung A. fenestralis. Bereits unter Carl Ludwig Koch wurde die Art 1843 unter der Bezeichnung Amaurobius atrox der Gattung der Echten Finsterspinnen (Amaurobius) zugerechnet. Die heutige Bezeichnung Amaurobius fenestralis erfuhr erstmals 1871 unter Anton Menge und seitdem nahezu durchgehend Anwendung. Heute ist die Fensterspinne außerdem die Typusart der Gattung der Echten Finsterspinnen. Innere Systematik 2017 wurden von Francesco Ballarin und Paolo Pantini die innersystematischen Relationen der 11 im Apennin in Italien vorkommenden Arten der Echten Finsterspinnen (Amaurobius) einschließlich der Fensterspinne sowie der von den Autoren damals erstbeschriebenen Art Amaurobius pesarinii untersucht, wobei zwei Artengruppen festgestellt wurden. Eine davon ist nach der Kellerspinne (Amaurobius ferox) benannt und enthält sechs der Arten. Zu diesen zählen neben der Kellerspinne die Dickpalpen-Finsterspinne (A. crassipalpis), die Östliche Finsterspinne (A. jurorum) und die Arten Amaurobius pesarinii sowie Amaurobius scopolii und Amaurobius pavesii. Bei den Arten dieser Gruppe hat jeder Bulbus nur eine dorsale Tibiaapophyse. Diese ist breit und mehr oder weniger trapezförmig gebaut und mit einem gezackten, distalen (von der Körpermitte entfernt liegenden) Rand versehen. Einige der Arten besitzen zusätzlich einen länglichen, dorsalen und hakenartigen Vorsprung an der tegulären (rückseitigen) Apophyse, die wiederum kammförmig und einfach aufgebaut ist. Die Mittelplatte der Epigyne der Vertreter der Artengruppe der Kellerspinne ist ungefähr so lang wie breit und besitzt einen spitzen oder deutlich gerundeten, hinteren Rand. Die anderen fünf in dieser Region vorkommenden Arten sind der Artengruppe der Fensterspinne zugehörig. Die am nächsten verwandte Art der Fensterspinne und somit ihre Schwesterart ist Amaurobius ruffoi. Die anderen drei Arten dieser Gruppe sind Ameurobius erberi, die Blasse Finsterspinne (A. pallidus), Amaurobius ruffoi und die Ähnliche Fensterspinne (A. similis). Bei den Vertretern dieser Artengruppe ist ein Bulbus mit zwei dorsalen Tibiaapophysen versehen. Davon ist die zentral-dorsale kürzer und stumpf oder spitz geformt. Die latero-dorsale Apophyse ist länger und immer spitz endend. Die teguläre Apophyse ist hier ebenfalls breit gebaut, jedoch anders als bei den Arten der Artengruppe der Kellerspinne nicht kammförmig gebaut und außerdem zweigeteilt. Die Medianplatte der Epigyne ist bei den Arten der Gruppe der Fensterspinne breiter als lang sowie mit einem flachen oder leicht gerundeten hinteren Rand gekennzeichnet. Die Stellung aller fünf Arten der Artengruppe der Fensterspinne wird in folgendem Kladogramm verdeutlicht: Einzelnachweise Literatur Weblinks Amaurobius fenestralis (Strøm, 1768) bei Global Biodiversity Information Facility Amaurobius fenestralis (Strøm, 1768) bei Fauna Europaea Amaurobius fenestralis (Strøm, 1768) beim Rote-Liste-Zentrum Amaurobius fenestralis (Strøm, 1768) bei araneae – Spiders of Europe Amaurobius fenestralis (Strøm, 1768) im Wiki der Arachnologischen Gesellschaft e. V. Amaurobius fenestralis (Strøm, 1768) bei der British Arachnological Society Amaurobius (C. L. Koch, 1837) beim Natural History Museum Amaurobius (C. L. Koch, 1837) bei Biting Spiders Finsterspinnen
10816645
https://de.wikipedia.org/wiki/Gr%C3%BCne%20Luchsspinne
Grüne Luchsspinne
Die Grüne Luchsspinne (Peucetia viridans) ist eine Spinne aus der Familie der Luchsspinnen (Oxyopidae). Die Art kommt in Amerika vor, wobei der Verbreitungsschwerpunkt der Süden Nordamerikas und Mittelamerika darstellen, während das Vorkommen der Spinne nach Süden hin in Venezuela endet. Dort bewohnt sie ihrer Xerothermophilie entsprechend überwiegend trockenwarme Habitate (Lebensräume). Der Trivialname der Grünen Luchsspinne beruht auf der auffälligen Grünfärbung, die sie allerdings mit anderen Vertretern der Gattung Peucetia teilt. Mit einer maximalen Körperlänge von 21,6 Millimetern im Normalzustand als Weibchen ist die Art die größte in Nordamerika vorkommende Luchsspinne. Die wie alle Luchsspinnen tagaktive Grüne Luchsspinne legt ebenfalls nach Eigenart der Familie kein Spinnennetz für den Beutefang an, sondern erlegt Beutetiere entweder als aktiver Hetz- oder als Lauerjäger. Das Beutespektrum setzt sich aus anderen Gliederfüßern zusammen, wobei die Größe der Beutetiere die des Jägers deutlich übertreffen können. Die Art ist außerdem für eine als besonders geltende Methode der Abwehr gegenüber Prädatoren (Fressfeinden) bekannt. Sie ist zwecks der Verteidigung neben einem Abwehrbiss auch dazu in der Lage, Gift aus ihren Cheliceren (Kieferklauen) über mehrere Zentimeter zu versprühen. Bisher wurde dieses Verhalten jedoch nur von Weibchen beobachtet, die einen Eikokon oder Jungtiere bewachen. Der Paarung der Grünen Luchsspinne geht, wie es bei Wolfspinnenartigen (Lycosoidea) die Regel ist, ein ausgeprägtes Balzverhalten voraus. Das Weibchen betreibt eine für Spinnen ausgeprägte Brutpflege, verteidigt seine Eikokons und betreut für kurze Zeit auch seine daraus geschlüpften Nachkommen. Letztere verbleiben noch für wenige Tage beim Muttertier, ehe sie sich mittels des sogenannten Spinnenflugs ausbreiten. Die Jungtiere wachsen dann – wie für Spinnen üblich – über mehrere Fresshäute (Häutungsstadien) heran. Bisse der Grünen Luchsspinne beim Menschen sind belegt. Der Biss gilt zwar als schmerzhaft, ruft in der Regel jedoch keine medizinischen Komplikationen hervor. Die Art verhält sich für gewöhnlich gegenüber dem Menschen nicht aggressiv, wobei begattete Weibchen oder solche, die einen Eikokon oder Nachkommen bewachen, eine Ausnahme bilden. Auch das Verteidigen mittels des Verspritzens von Gift gegen Menschen ist belegt, ist jedoch auch nicht weiter gefährlich, ausgenommen, es gelangt in das Auge, wo es reizend wirkt und die Sehfähigkeit für wenige Tage einschränken kann. In der Grünen Luchsspinne wird teilweise ein Nützling im Rahmen der biologischen Schädlingsbekämpfung gesehen, da das Beutespektrum der Art auch landwirtschaftliche Schädlinge umfasst. Dieser Nutzen ist jedoch umstritten, da sich die Spinne als opportunistischer Jäger nicht auf Schädlinge spezialisiert, sondern auch andere Nützlinge erlegt. Merkmale Die Körperlänge des Weibchens der Grünen Luchsspinne kann unbefruchtet zwischen 11,8 und 21,6 Millimeter betragen, während sie beim Männchen zwischen 8,3 und 14,5 Millimetern liegt. Im Durchschnitt ist das Weibchen mit 16,2 Millimetern somit größer als das Männchen mit 11,9 Millimetern. Nach einer Befruchtung kann die Körperlänge des Weibchens auf gut 26 Millimeter infolge der im Opisthosoma (Hinterleib) heranreifenden Eier ansteigen. Die Beinspannweite beläuft sich beim Weibchen maximal auf 70 und beim Männchen auf 65 Millimeter. Damit handelt es sich bei der Art um den größten in Nordamerika vorkommenden Vertreter der Luchsspinnen (Oxyopidae). Der grundsätzliche Körperbau der Grünen Luchsspinne gleicht dem anderer Arten der Gattung Peucetia. Namensgebend für die Spinne ist ihre hellgrüne Grundfärbung. Prosoma (Vorderkörper) und Opisthosoma weisen eine Farbmusterung in Form von zwei dorsal (am Rücken) verlaufenden Längsreihen roter Punkte auf. Wie bei anderen Arten der Gattung kann auch bei dieser der gesamte Körper mit roten Punkten bedeckt sein. Jungtiere sind anfangs hellorange gefärbt. Der Carapax (Rückenschild des Prosomas) der Grünen Luchsspinne weist ein hell durchscheinend grünes Erscheinungsbild auf. Die höchste Erhebung dieses Körperteils sind – wie bei Luchsspinnen üblich – die acht hexagonal angelegten Augen. Dort ist er nach oben spitz zulaufend und breitet sich nach hinten weiter aus. Die Augenregion hat schwarze Bänderungen, die sich median (mittig) im Bereich des für Luchsspinnen typischen Augenhexagons hin erstrecken. Die Augenpartie ist mit weißen und dicht anliegenden Setae (chitinisierten Haaren) bedeckt. Die Augen selber erscheinen vermutlich bei vielen Exemplaren der Art rot. Mit anderen Luchsspinnen teilt die Grüne Luchsspinne die gute Sehfähigkeit, die in etwa mit der von Wolf- (Lycosidae) oder Raubspinnen (Pisauridae) vergleichbar ist. Die Gesichtsregion und das gesamte Prosoma der Spinne sind in einem hellen, durchscheinenden Grün gehalten. Mit Ausnahme der Augenregion sind dort außerdem keinerlei Setae vorhanden. Oft verlaufen von den anterior (vorne) medianen Augen bis zum unteren und ebenfalls häufig cremefarbenen Rand des Clypeus (Abschnitt zwischen den anterioren Augen und dem Carapax) dann blassere genauso cremefarbene Streifen. Die Cheliceren (Kieferklauen) sind marginal (randseitig) für gewöhnlich etwas heller gefärbt, während bei ihnen jeweils die Condyle (Ausstülpung an der Basis einer Chelicere) schwarz gefärbt ist. Innerhalb der Populationen im Osten der Vereinigten Staaten verfügen die Individuen über jeweils ein Borstenpaar, das ein Drittel des Abstands vom unteren Rand des Clypeus zu den anterior medianen Augen beträgt. Diese haben jeweils einen deutlichen schwarzen Fleck an der Basis. Ein ähnliches Borstenpaar mit schwarzen Flecken tritt innerhalb dieser Bestände in einem Drittel der Entfernung von der Basis zu den distalen (von der Körpermitte entfernt liegenden) Enden der Cheliceren auf. Bei den Populationen im Westen des Landes sind die Borsten ebenfalls vorhanden, jedoch nicht die schwarzen Flecken an der Basis der Cheliceren. Das Labium (sklerotisierte, bzw. verhärtete Platte zwischen den Maxillae und vor dem Sternum), die Maxillae (umgewandelte Coxen, bzw. Hüftglieder der Pedipalpen) und das Sternum (Brustschild des Prosomas) besitzen eine grüne Färbung. Die Beinformel lautet bei der Grünen Luchsspinne 1-2-4-3. Die langen und dünnen Beine der Grünen Luchspinne sind von gelber bis blassgrüner Grundfärbung und mit mehreren langen sowie schwarzen Borsten und ebenso schwarzen Punkten besonders im Bereich der Femora (Schenkel) versehen. Dort sind die großen Flecken auch zahlreicher vorhanden. Die Femora sind blassgrün gefärbt, wobei die distaleren Segmente heller grünlich-gelb erscheinen. Bei den Populationen der Art aus dem Osten der Vereinigten Staaten sowie aus Kalifornien befinden sich schwarze Flecken im Basisbereich der Stacheln an den Tibien (Schienen). Bei den Beständen der Spinne in den übrigen Teilen im Südwesten des Landes fehlen normalerweise diese schwarzen Flecken. Die Beine sind bei Arten der Gattung Peucetia mitsamt der Grünen Luchsspinne nicht selten hellrot gebändert. Das posterior (hinten) spitz zulaufende Opisthosoma der Grünen Luchsspinne erscheint im Vergleich zum Rest des Körpers etwas heller. Dorsal ist es bei der Spinne hellgrün gefärbt, die Flecken erscheinen dann kontrastierend und kreideweiß. Meistens ist auf dem Opisthosoma dorsal eine durchscheinende, grüne, kreuzförmige und manchmal weiß umrandete Zeichnung über der Herzregion vorhanden. Auch befindet sich hier oft eine doppelte Reihung von jeweils vier weißen Winkelflecken, die bei der Herzregion ansetzt und sich in posteriorer Lage fortsetzt. Diese Winkelflecken können als weiße Flecken in Erscheinung treten oder auch balkenförmig ausgebildet sein und sind gelegentlich auf nur zwei Paare in der Nähe der Herzregion reduziert. Vor allem bei Exemplaren aus dem Südwesten der Vereinigten Staaten ist der mediane Grünanteil auf der Dorsalfläche des Opisthosomas nicht selten mit einer weißen Umrandung versehen. Dieser Bereich kann aber auch, unabhängig von der geographischen Lage, blassgrün umrandet sein. Lateral (seitlich) weist das Opisthosoma eine blassgrüne Grundfärbung sowie ebenfalls insbesondere bei den Beständen im Südwesten der Vereinigten Staaten einen weißen Längsstreifen entlang des ventralen (am Bauch liegenden) Eckpunkts des Opisthosomas auf. Auf der Ventralseite dieses Körperabschnitts verläuft median ein grüner Längsstreifen, der zusätzlich mit vielen weißen Pigmenten versehen ist und von ebenso weißen Streifen umrahmt sein kann. Genauso können die weißen Pigmente auch selber zu dann kreideweißen Streifen verwachsen sein, die dann jeweils auf beiden Seiten den grünen Längsstreifen flankieren. In seitliche Richtung geht die Farbgebung der Ventralfläche von dem Opisthosoma entlang des ventralen weißen Längsstreifens in ein Blassgrün über. Sexualdimorphismus Die Grüne Luchsspinne weist wie viele Spinnen einen ausgeprägten Sexualdimorphismus auf, der hier im Vergleich zu anderen Spinnen jedoch deutlich schwächer ausgebildet ist. Dieser Dimorphismus macht sich neben der jeweiligen Farbgebung besonders in Dimension und der Form von Männchen und Weibchen bemerkbar. So ist der Körper beim Männchen deutlich schmaler. Sowohl Prosoma als auch Opisthosoma des Männchens der Grünen Luchsspinne erscheinen ähnlich wie beim Weibchen in einem transparenten Grün, das hier jedoch deutlicher erscheint. Wie beim Weibchen sind ebenfalls beim Männchen schwarze Bänder im Bereich der Augen vorhanden, die sich bis zur Mitte des Augenhexagons erstrecken. Auch ist beim männlichen Tier die Augenpartie mit dicht anliegenden weißen Setae bedeckt. Die Beine, das Labium, die Maxillae und Sternum hingegen erscheinen bei beiden Geschlechtern gleich. Die Beine sind allerdings je nach Geschlecht unterschiedlich lang. So erreicht das erste Beinpaar beim Weibchen eine gesamte Länge von 22,9 bis 38,7 und durchschnittlich 30,96 ± 65 Millimetern. Beim Männchen kann dieses Beinpaar eine Länge von 27,1 bis 42,9 und im Durchschnitt 33,67 ± 67 Millimetern erreichen. Genitalmorphologische Merkmale Bei den Pedipalpen (umgewandelte Extremitäten im Kopfbereich) vom Männchen der Grünen Luchsspinne befindet sich je eine ventral angelegte und lappenartige Apophyse (chitinisierter Fortsatz) an dessen Tibia. Ein einzelner Bulbus (männliches Geschlechtsorgan) kann innerhalb der Gattung Peucetia durch sein zweigeteiltes Paracymbium (ein weiteres an das Cymbium, bzw. das erste und vorderste Sklerit, bzw. Hartteil des Bulbus anheftendes Sklerit). Ferner befindet sich am Paracymbium dieser Art und als einzige der in der Neotropis vorkommenden Gattung an den Paracymbii je ein Stiel. Die Epigyne (weibliches Geschlechtsorgan) kann von denen anderer Arten der Gattung leicht anhand der triangulären (dreieckigen) oder subtriangulären Costae (Rippengebilde) unterschieden werden. Farbwechsel beim Weibchen Das Weibchen der Grünen Luchsspinne ist in der Lage seine optische Farbgebung der Umgebung anzupassen, was dazu dient, vor Prädatoren (Fressfeinden) geschützt zu sein. Dabei kann der Farbton, je nach der Erscheinung des Untergrunds auf dem sich die Spinne befindet, neben grün zu rosa, braun oder gelb wechseln. Befindet sich die Spinne auf einem violetten, gelben oder weißen Untergrund ändert sich mindestens eine der drei Farbkomponenten, um mit dem Untergrund optisch zu verschmelzen. Da sich die Grüne Luchsspinne jedoch zumeist in grünem Blattwerk aufhält, fällt ihr der geläufigere Farbwechsel in verschiedene Grüntöne wahrscheinlich im Regelfall leichter als im Falle andersfarbiger Pflanzen. Durch diese Methode kann die Spinne sich sowohl vor Fressfeinden verbergen, die farbblind sind genauso wie vor welchen, bei denen dies nicht der Fall ist oder die auch bei schlechten Lichtverhältnissen gut sehen können. Demnach dürfte die Spinne sowohl vor anderen Wirbellosen als auch vor Wirbeltieren weitestgehend sicher sein. Die Grüne Luchsspinne kann sich mit dieser Methode insgesamt an grüne, violette, gelbe und weiße Hintergründe anpassen und ist aufgrund dessen scheinbar in der Lage, ihre Körperfärbung besser als jede andere Spinnenart mit der Fähigkeit zum Farbwechsel, etwa die Veränderliche Krabbenspinne (Misumena vatia), anzupassen. Dem Weibchen der Art gewährt dies aufgrund des häufigen Aufsuchens in den oberen Bereichen von Pflanzen – insbesondere vor Vögeln – Schutz während der Fortpflanzung, der Suche nach Beutetieren und dem Bewachen von Eikokons. Die Ventralseite des Opisthosomas nimmt nach der Eiablage beim Weibchen einen braunen Farbton an, was dazu dient, mit dem gleich gefärbten Eikokon und umliegender Vegetation zu verschmelzen. Bislang ist noch unklar, ob die Fähigkeit zum Farbwechsel bei der Grünen Luchsspinne reversibel ist und ob neben dem Weibchen auch das Männchen sowie Jungtiere der Art dazu fähig sind. In Ethanol eingetaucht In Ethanol eingelagerte Individuen der Grünen Luchsspinne nehmen schnell ein anderes Erscheinungsbild an, da die grünen Farbpigmente dann schnell verblassen. Der Carapax erscheint in dem Fall gelb-orange mit Grünstichen oder blass gelb-grün mit abwechselnd dunklen und hellen Bändern, die bei der Fovea (An die Muskeln des Saugmagens ansetzende Einkerbung) entspringen. Die Färbung anderer Bereiche des Prosomas wechselt bei in Ethanol konservierten Exemplaren zunächst zu einem blassen Grün, das zusätzlich oft einen Gelbstich aufweist, und nimmt dann eine blasse gelb-orange oder gelegentlich eine dunkler gehaltene gelb-orange Farbgebung an. Viele Teile des Prosomas werden unter diesen Umständen später fast cremefarben. Die Farbe des Labiums wechselt in dem Zustand zu einem blass gelb-orangen Farbton mit einem Hauch von grün über. Die Maxillae sind in diesem normalerweise cremefarben oder blass gelb-orange und ohne Grünstich gefärbt, während die Färbung des Sternums zu hellgrün übergeht. Die Beine erscheinen dann dunkel bis blass gelb-orange und haben gelegentlich Grünstiche. Die Farbgebung des Opisthosomas verblasst, sofern in Ethanol gelagert, für gewöhnlich langsamer als das Prosoma. Dann ist das Opisthosoma nach einiger Zeit im Regelfall verblasst gelbgrün oder blassgrün gefärbt. Die Farbvariationen des Prosomas und des Opisthosomas bei Männchen und Weibchen ähneln sich bei in Ethanol eingelagerten Exemplaren einander sehr. Allerdings sind die weißen Winkelflecken oder andere Zeichenelemente auf dem Opisthosoma beim Männchen meistens unauffälliger ausgeprägt. Differenzierung von Peucetia longipalpis Die Grüne Luchsspinne kann leicht mit der ebenfalls zur Gattung Peucetia zählenden Art P. longipalpis verwechselt werden. Zudem kommen beide Spinnen sympatrisch (gemeinsam) in den US-Staaten Texas und Arizona vor, wobei jedoch P. longipalpis im Gegensatz zur Grünen Luchsspinne keine offenen Feldlandschaften zu bewohnen scheint. Da sich einige anfangs als Individuen der Grünen Luchsspinne fehlbestimmte Exemplare von P. longipalpis gemeinsam in Arealen mit der Grünen Luchsspinne fanden, wird vermutet, dass beide Arten in hoher Dichte gemeinsam vorkommen. Die sicherste Methode zur Unterscheidung beider Arten sind ihre jeweiligen Geschlechtsorgane. Das Männchen von P. longipalpis hat je einen vergleichsweise kurzen Konduktor an einem einzelnen Bulbus und eine ähnlich gebaute mediane Apophyse an je einem Pedipalpus. Allerdings sind beide Paracymbii bei P. longipalpis jeweils bifid (zweigeteilt), was bei der Grünen Luchsspinne nicht der Fall ist. Die Epigyne von P. longipalpis verfügt über halbelliptische Rippengebilde. Verbreitung und Lebensräume Das Verbreitungsgebiet der Grünen Luchsspinne umfasst den Süden der Vereinigten Staaten, Mexiko und andere Teile Mittelamerikas sowie die Westindischen Inseln, womit sie das größte Verbreitungsgebiet aller in Mittel- und Nordamerika vertretenen Luchsspinnen (Oxyopidae) besitzt. Darüber hinaus wurde die Art aber auch in Venezuela nachgewiesen. Ferner ist die Spinne die einzige der Gattung Peucetia, die auch im Osten und Südosten der Vereinigten Staaten vorkommt. Die Grüne Luchsspinne ist xerothermophil und bewohnt deshalb trockenwarme Gebiete. Allgemein bevorzugt die Art offene Areale. Zu den Habitaten (Lebensräumen) der Spinne zählen Felder, Prärien, trockenes Gestrüpp, Höfe und Gärten. Lebensweise Unter allen Luchsspinnen (Oxyopidae) ist die Biologie der Grünen Luchsspinne am ausgiebigsten erforscht. Die Art ist wie alle der Familie tagaktiv und hält sich in ihrem Habitat bevorzugt in niedriger Vegetation wie Sträuchern und Kräutern auf. Dort ist die Spinne dank ihrer grünen Färbung sehr gut getarnt und kann bei ausbleibender Bewegung optisch mit dem Umfeld verschmelzen. Bewegt sie sich fort, kann sie jedoch auch in Vegetation gut erkannt werden. Dank ihrer langen Beine läuft die Grüne Luchsspinne in beachtlicher Geschwindigkeit und kann auch durch Sprünge neue Standorte erlangen. Dabei nutzt sie ihre gute Sehfähigkeit zum Anzielen und spannt währenddessen einen Sicherungsfaden. Jagdverhalten Die Grüne Luchsspinne lebt wie alle Spinnen räuberisch und jagt außerdem wie für Luchsspinnen typisch nicht mit Spinnennetz, sondern freilaufend. Sie kann dabei sowohl als Lauer- als auch als aktiver Laufjäger Beutetiere erlegen. Die Spinne besitzt als opportunistischer Jäger ein vergleichsweise großes Beutespektrum. Beutefang Bei der Laufjagd sucht die Grüne Luchsspinne aktiv in der Vegetation nach Beutetieren und greift dabei auf ihre Agilität zurück. Gelegentlich wechselt die Grüne Luchsspinne zur Lauerjagd über bei der sie an einer Stelle reglos verweilt und eine charakteristische Lauerhaltung einnimmt. Insbesondere das Weibchen bevorzugt diese Jagdmethode und führt diese gerne auf der Oberfläche von Blättern aus. Dafür spreizt es sich an einem geeigneten Ort zum Lauern nach Eigenart der Luchsspinnen (Oxyopidae) aus und hebt die vorderen Beine an. In dieser Position verweilt die Spinne, bis ein Beutetier in Reichweite gelangt. Der Zugriff erfolgt dann im Sprung. Das Beutetier wird mittels eines durch die Cheliceren verabreichten Giftbisses außer Gefecht gesetzt. Beim Beutezugriff schreckt die Spinne auch nicht vor Beutetieren zurück, die ihre eigenen Dimensionen übertreffen. Die nicht verwertbaren Reste eines Beutetiers, etwa sein Exoskelett (Außenpanzer), werden von der Spinne nach der Nahrungsaufnahme fallengelassen. Durch ihre grüne Farbgebung und behaarten Beine ist die Grüne Luchsspinne bei der Suche nach Beutetieren an der Basis von Rispen oder zwischen den Blütenstielen, die ein sehr ähnliches Erscheinungsbild aufweisen, vor Beutetieren gut verborgen. Allerdings ließ sich die Art auch schon jagend auf roten Blättern von Baumwolle nachweisen, auf denen sie optisch sehr hervorsticht. Eine erfolgreiche Jagd der Spinne erwies sich aber auch dort als möglich. Beutespektrum und Auswirkung des Verzehrs Die Grüne Luchsspinne ist ein opportunistischer Jäger und demzufolge nicht euryphag (nicht auf bestimmte Nahrung angewiesen). Sie erbeutet alle möglichen anderen Gliederfüßer, die sie zu überwältigen vermag. Ihr Beutespektrum umfasst dabei vorzugsweise Schmetterlinge, Hautflügler und andere Spinnen. Unter den Schmetterlingen bilden insbesondere Spanner (Geometridae), Eulenfalter (Noctuidae) und Zünsler (Pyralidae) geläufige Beutetiere. Daneben ließen sich als Beutetiere auch der Baumwollkapselbohrer (Helicoverpa zea), die Art Alabama argillacea aus der Familie der Erebidae und der Aschgrauen Höckereule (Trichoplusia ni) belegen. Unter den Hautflüglern werden neben der Westlichen Honigbiene (Apis mellifera) häufig Faltenwespen (Vespidae) und Grabwespen (Spheciformes) aus der Familie der Sphecidae erbeutet. Innerhalb dieser Ordnung bevorzugt die Grüne Luchsspinne vor allem Feldwespen (Polistinae) der Gattung Polistes. Verschiedene Zweiflügler, darunter auch große Raupenfliegen (Tachinidae) erweitern ihr Beutespektrum. Da die Grüne Luchsspinne mitunter in hoher Individuendichte vorkommen kann, wird sie innerhalb ihres Habitats zu den bedeutendsten Prädatoren dort ebenfalls vorkommender Insekten gesehen. Ferner zählen zu den häufigsten Beutetieren der Art auch Bestäuber, so können Bienen nach bisherigen Kenntnissen etwa 22 % der gesamten Beutetiere ausmachen. Mit einer durchschnittlichen Anzahl von drei Beutetieren pro Tag ist die Beuterate der Grünen Luchsspinne verglichen mit anderen Spinnen hoch, bei denen sich diese Rate auf etwa eine bis anderthalb Beuteobjekte je Tag beläuft. Allerdings scheint die Populationsdichte der Grünen Luchsspinnen von der Anzahl an Blütenbesuchern abhängig zu sein, sodass die Art wie andere Spinnen ihre Menge an Beutetieren anpassen kann. Anhand von Versuchen ließ sich belegen, dass als Beutetiere der Grünen Luchsspinne in Frage kommende Blütenbesucher zwar Blüten umgehen, auf der sich Testobjekte in Form falscher roter Spinnen befanden, jedoch tatsächliche Individuen der Grünen Luchsspinne nicht wahrnehmen konnten. Die von der Präsenz der Grünen Luchsspinne ausgehende Auswirkung auf die Vegetation wird vor allem anhand der Pflanzenart Cnidoscolus multilobus aus der Familie der Wolfsmilchgewächse (Euphorbiaceae) deutlich. Am Anfang der Phänologie (Aktivitätszeit) sind wenig Individuen dieser Spinnenart vorhanden, dafür fällt die Zahl blütenbesuchender Insekten höher aus. Schließlich steigt die Anzahl von Exemplaren der Grünen Luchsspinne, ehe diese wieder zum Schluss der Phänologie wieder fällt. Zum Anfang und dem Ende der Phänologie der Spinne, wo diese dann in geringerer Zahl vorkommt, ist im Umkehrschluss die Rate befruchteter Samen von C. multilobus aufgrund der höheren Anzahl von Bestäubern ebenso erhöht. Da Bienen und Schmetterlinge vermutlich nicht in der Lage sind, Rot- und Grüntöne zu erkennen, gilt dies auch für die Grüne Luchsspinne, womit ihre Färbung demnach dazu dient, vor diesen Beutetieren verborgen zu bleiben. Eine andere Theorie besagt, dass rote Zeichenelemente bei Spinnen bestimmte Wellenlängen absorbieren, wodurch diese dann dadurch für Insekten unsichtbar werden, während diese Zeichenelemente als Warnsignale gegenüber Prädatoren wie Vögeln und anderen Wirbeltieren fungieren. Neben der Phänologie der Grünen Luchsspinne hängt die Zahl verstreuter Samen von C. multilobus auch von deren allgemeiner Häufigkeit auf der Pflanze ab. Die Bestäubungsrate von Pflanzen mit Spinnen fällt für gewöhnlich geringer aus. Die einzige Ausnahme ist im August, wenn die Höchstzahl von Blütenbesuchern bei C. multilobus zu vermerken ist. Dies lässt sich eventuell mit dem zu dieser Zeit hochausfallenden Nahrungsangebot für die Grüne Luchsspinne erklären, das dazu führt, dass der Bedarf an Beutetieren für die Spinne früher gedeckt ist. Das gleiche Phänomen tritt auch bei der Pflanzenart Haplopappus venetus aus der Familie der Korbblütler (Asteraceae) auf. Dennoch kann sich die Lebensfähigkeit der Samen von Pflanzen um nach bisherigen Kenntnissen 17 % erhöhen, sollten diese von der Grünen Luchsspinne bewohnt werden. Dies konnte anhand der Pflanzenart Cnidoscolus aconitifolius aus der Familie der Wolfsmilchgewächse ermittelt werden. Dies deutet darauf hin, dass das Erlegen von Beutetieren, die die Pflanze schädigen oder deren Samen vertilgen, sich positiv auf die Bestände der Pflanze auswirkt. Da Exemplare der Grünen Luchsspinne nachgewiesen wurden deren Körper mit Pollen bedeckt waren, besteht die Theorie, dass die Spinne selber auf bislang ungeklärte Art die von ihr durch das Erbeuten bestäubender Insekten ausgehenden Verluste ausgleicht. Natürliche Feinde und Verteidigung Als Prädatoren der Grünen Luchsspinne kommen wahrscheinlich vor allem Wirbeltiere wie Vögel, Eidechsen oder kleinere Säuger in Frage. Unter den Gliederfüßern treten mitunter verschiedene Ameisen und Wespen als Antagonisten der Art auf. Allerdings können ihr auch andere Spinnen wie Echte Dornfinger (Cheiracanthium) oder weitere Arten der Gattung Peucetia gefährlich werden. Ein gewisser Schutz vor Fressfeinden dürfte der Grünen Luchsspinne bereits durch ihre Tarnung gegeben sein. Daneben verfügt sie wie die gattungsverwandte Art P. longipalis über eine für Spinnen ungewöhnliche Methode zur Feindabwehr – die Art ist in der Lage, Gift in Richtung eines Angreifers zu spritzen. Allerdings ließ sich dies nur bei Weibchen nachweisen, die einen Eikokon bewachen, sodass ausbleibt, ob das Männchen oder die Jungtiere der Spinne ebenfalls in der Lage sind, diese Verteidigungsmethode anzuwenden. Dem bisherigen Kenntnisstand nach zu urteilen, dient die Fähigkeit zum Giftspritzen dem Weibchen der Grünen Luchsspinne zur Verteidigung ihrer Nachkommen, zumal dieses Verhalten erst gegen Ende des Sommers auftritt und dann innerhalb von sechs bis acht Wochen vorkommen kann. Das Verspritzen von Gift wird vermutlich gegen größere Angreifer eingesetzt, da es nie bei kleineren, etwa anderen Spinnen, beobachtet werden konnte. Ein Weibchen der Grünen Luchsspinne sprüht zumeist nur einmalig und selten mehrfach hintereinander mit abnehmender Giftmenge, was damit zusammenhängen mag, dass eine leere Giftdrüse erst wieder innerhalb von zwei Wochen gefüllt wäre und der Spinne andernfalls kein Gift zur Verfügung stünde. Allerdings ist überliefert, dass im Falle einer Bewachung des Muttertiers die Überlebenschancen von Jungtieren der Art mit 70 % weitaus höher ausfallen als bei welchen, wo keine Brutpflege stattgefunden hat. In letztem Fall beträgt die Überlebenschance nur 10 %. Dennoch bleibt unklar, ob dies mit der Fähigkeit des Giftspritzens zusammenhängt. Bemerkenswert ist, dass der Strahl aus dem verspritzten Gift nach vorne ausgeht, obwohl sich die Austrittsöffnung für das Gift an den Cheliceren jeweils auf der Rückseite befindet. Ein Verspritzen von Gift in Richtung eines Angreifers gelingt der Spinne, indem diese die Cheliceren spreizt und die Klauenglieder aufklappt. Dadurch wird erreicht, dass das Gift ventral austreten kann, wobei es in waagerechte Richtung verschossen wird, sollte die Spinne sich in einer schräg hängenden Position befinden. Durch diese Eigenschaften ist es der Spinne möglich, ihr Gift zielgenau nach vorne zu verspritzen. Im Gegensatz etwa zu den Echten Speispinnen (Scytodes ) aus der Familie der Speispinnen (Stycodidae), die ebenfalls in der Lage sind, Gift zu verspritzen, sind die Cheliceren der Grünen Luchsspinne nicht für den Zweck des Giftspritzens modifiziert. Bei den Echten Speispinnen hingegen sind die Austrittsöffnungen verbreitert und um 90° nach außen gedreht, sodass diese ihr Gift ähnlich wie Speikobras direkt nach vorne verspritzen. Allerdings verspritzen die Echten Speispinnen anders als die Grüne Luchsspinne ein Gemisch aus Gift und einer leimartigen Substanz, das primär der Immobilisierung von Beutetieren und nicht der Feindabwehr dient. Insofern ist die Fähigkeit des Giftspritzens bei der Grünen Luchsspinne und weiteren Arten der Gattung Peucetia einzigartig. Lebenszyklus und Phänologie Der Lebenszyklus der Grünen Luchsspinne ist in die für Spinnen üblichen Phasen der Fortpflanzung, der Eiablage und des Heranwachsens gegliedert. Er wurde bei dieser Art 1966 ausführlich von Willard H. Whitcomb, Julia M. Hite und Harriet Exline anhand von Individuen der Spinne im US-Bundesstaat Arkansas untersucht. Die Phänologie (Aktivitätszeit) ausgewachsener Individuen der Grünen Luchsspinne ist je nach geographischer Lage variierend, jedoch nicht im Gänze erforscht. Im Großteil des Verbreitungsgebiets der Spinne beläuft sich diese im Zeitraum zwischen den Monaten Mai und November. So sind in Arkansas etwa ausgewachsene Spinnen vor dem Juli kaum zu finden und fast alle juvenilen Individuen dort bis September ausgewachsen. In südlicheren Teilen des Verbreitungsgebiets, etwa den US-Staaten Kalifornien oder Florida können ausgewachsene Individuen der Spinne auch ganzjährig angetroffen werden. Das Männchen der Art tendiert dazu, geringfügig früher als das Weibchen die Geschlechtsreife zu erlangen. Fortpflanzung Die Fortpflanzung der Grünen Luchsspinne beginnt mit der Spermienaufnahme des Männchens. Diesem Prozess folgt das Zusammentreffen der Geschlechtspartner und dann eine Balz, ehe die eigentliche Paarung stattfindet. Das Fortpflanzungsverhalten der Art wurde 1965 ebenfalls von Whitcomb analysiert. Zumindest in Arkansas findet die Fortpflanzung der Spinne im Zeitraum zwischen Anfang Juli bis September statt. Spermienaufnahme des Männchens Das Männchen der Grünen Luchsspinne beginnt einen oder zwei Tage nach seiner letzten Häutung mit der Spermienaufnahme, wobei dieser Prozess bei der Art nicht im Gänze erforscht ist. Das Männchen legt ein trianguläres Spermanetz an, das aus feinen Spinnfäden besteht, die das Netz fast unsichtbar werden lassen. Nur unter gewissen Lichtbedingungen ist das Gespinst sichtbar. Es ist überliefert, dass das Männchen zur Spermaaufnahme auf das Netz mit seinen Pedipalpen trommelt. Balz Das Balzverhalten der Grünen Luchsspinne dauert gut 11 Minuten und ist wie bei anderen der Überfamilie der Wolfspinnenartigen (Lycosoidea) angehörigen sehr ausgeprägt. Das Balzverhalten der Grünen Luchsspinne ähnelt insgesamt sehr dem von Wolfspinnen (Lycosidae). Im Gegensatz zu diesen spielen bei der Balz der Grünen Luchsspinnen visuelle Reize eine größere Rolle gegenüber taktilen. Das Weibchen der Art ist zur Fortpflanzung bereit, sobald seine Cuticula (Außenhaut des Exoskeletts) nach dessen letzter Häutung vollständig ausgehärtet ist. Ein Männchen nimmt eine potentielle Geschlechtspartnerin optisch und zumeist aus einer Entfernung von 12 bis 14 Zentimetern wahr. Zur Balz vibriert das Männchen mit seinem Opisthosoma in einzelnen Perioden, die je acht bis zehn Sekunden andauern und je zwei bis drei Vibrationseinheiten je Sekunde beinhalten. Während es weiterhin mit dem Opisthosoma vibriert, hebt das Männchen abwechselnd sein erstes und zweites Beinpaar nach oben und trommelt gleichzeitig mit seinen Pedipalpen auf den Untergrund. Zeitgleich mit dem Vollführen dieser Bewegungen nähert sich das Männchen schrittweise dem Weibchen an, bis es dessen vordere Beine mit seinen beiden vorderen Beinpaaren berührt. Dabei kommen die Tarsen (Fußglieder) vom beanspruchten Beinpaar des Männchens entweder mit den jeweiligen Femora, den Patellae oder den Tibien des Weibchens in Berührung. Die Balz setzt sich fort, sofern das Weibchen die Paarungswilligkeit des sich annähernden Männchens erwidert. Ist dies nicht der Fall, stürmt das Weibchen auf das Männchen zu, wobei letzteres sich dann hastig zurückzieht. Ist das Weibchen paarungswillig, hebt es seine vorderen Beine in einer geneigten Position an und hält diese Beine so lange oben, bis sich die Beine beider Geschlechtspartner einander berühren, wobei die jeweiligen Tarsen des Männchens mit den Patellae des Weibchens in Berührung geraten. Dies geschieht wechselhaft, so berührt etwa das Männchen zuerst mit dem linken beanspruchten Tarsus die rechte Patella des Weibchens und daraufhin mit dem rechten Tarsus die linke Patella seiner Partnerin oder umgekehrt. Diese gegenseitigen Berührungen werden rapide und sich wiederholend ausgeführt. Nach etwa 30 Sekunden trennen sich beide Geschlechtspartner kurzzeitig. Dann dreht sich das Weibchen in die entgegengesetzte Blickrichtung um und das Männchen nähert sich ihm von hinten an. Anschließend streicht das Männchen die dorsale und posteriore Fläche des kaudalen (zur Schweifregion) gelegenen Teils vom Opisthosoma des Weibchen sowie dessen oberen Teil dessen beider hinteren Beinpaare mit den Tarsen seiner beiden vorderen Beinpaare. Das Weibchen bewegt sich dann rasch über eine kurze Distanz und springt kopfüber mit einem gespannten Sicherungsfaden etwa vom Ende eines Blattes. Es kann auch vorkommen, dass das Weibchen über längere Zeit umherrennt, während das Männchen ihm folgt, ehe das Weibchen abspringt. Sobald das Weibchen abgesprungen ist, hängt es kopfüber in einer vertikalen Position an dem gespannten Faden nach heutigem Kenntnisstand zumindest etwa 2,5 Zentimeter unter der jeweiligen Absprungfläche. Das Männchen betastet unmittelbar nach dem Absprung des Weibchens den von ihm gespannten Faden und dreht es mit seinen beiden vorderen Beinpaaren bis die Ventralseite des Weibchens dem Männchen zugewandt ist. Dabei kann es auch vorkommen, dass das Männchen das Weibchen zwei- bis dreimal dreht. Im Regelfall vollführt das Männchen die Drehung des Weibchens, indem es dessen Faden berührt. Seltener berührt es neben dem Faden auch die Beine und den Körper seiner Geschlechtspartnerin. Zur Vollendung dieser Aktivität muss das Männchen sich nicht selten vom Untergrund weg zum Weibchen strecken. Sollte die Ventralseite des Weibchens dem Männchen bei einem Drehversuch nicht zugewandt sein, dreht dieses das Weibchen von neuem. Sobald sich das Weibchen in einer passenden Position befindet, lässt sich das Männchen ebenfalls kopfüber an einem gespannten Faden so fallen, dass die Ventralseiten beider Geschlechtspartner nun einander zugewandt sind, wobei sich das Männchen nach dem Absprung allerdings leicht über dem Weibchen befindet. Das Männchen trommelt dann auf das Ende des Opisthosoma des Weibchens mit seinen Pedipalpen und den Tarsen seiner vorderen Beine, wobei sein Körper gleichzeitig zittert. Das Weibchen biegt seinen Körper daraufhin in eine leicht U-förmige Lage mit der Epigyne an der Basis der geformten Kurve. Daraufhin findet die eigentliche Begattung statt. Paarung Die nach der Balz stattfindende Paarung dauert im Falle der Grünen Luchsspinne 10 Minuten an. Befindet sich das Weibchen in der vom Balzverhalten ausgehenden U-förmigen Position, stürzt das Männchen sich selbst vorwärts und beginnt mit der Insertion (Einführung) seiner Bulbi in die Epigyne des Weibchens, wobei jeweils ein Bulbus abwechselnd nach dem anderen eingeführt wird. Der linke Bulbus wird dabei in das rechte Atrium (Vorhof) der Epigyne eingeführt und umgekehrt. Da die Insertion und der Wechsel jedoch ziemlich schnell vonstattengehen, wird vermutet, dass die bisherigen Kenntnisse über die Einfuhr der Bulbi falsch sind und möglicherweise der rechte Bulbus in das rechte Atrium eingeführt wird, was dann auch umgekehrt geschehen würde. Nach Abschluss der Kopulation zieht sich das Männchen gelegentlich zurück, dreht sich um und kehrt vom Faden auf den Untergrund zurück. In dem Fall tut das Weibchen selbiges. Das Männchen wartet, bis das Weibchen ebenfalls auf dem Untergrund angekommen ist und streicht dabei gelegentlich seine Pedipalpen durch seine Cheliceren. Wieder vereinigt, tappt das Männchen mit den Tarsen seiner beiden vorderen Beinpaare erneut auf die kaudale Region des Weibchens, das sich daraufhin unmittelbar wieder an einem Faden gespannt fallen lässt. Das Männchen dreht das Weibchen erneut in eine passende Lage und lässt sich genauso wie das Weibchen fallen, ehe eine weitere Begattung stattfindet. Insgesamt finden vier bis fünf Kopulationen statt, bevor beide Geschlechtspartner zur Ausgangsfläche zurückkehren. Außerdem lassen sich das Weibchen und das Männchen insgesamt fünf bis sechs Mal fallen, bis der Paarungsakt vollendet ist. Ein Männchen der Grünen Luchsspinne kann sich auch in aufeinanderfolgenden Tagen mit verschiedenen Weibchen paaren. Allerdings muss das Männchen seinen Bulbi erneut mit Sperma füllen, sodass das Männchen im Regelfall 14 bis 16 Stunden braucht, bis es erneut zu einer Begattung fähig ist. Das Weibchen der Art ist im Gegensatz zum Männchen nach erfolgter Kopulation jedoch nicht mehr zu weiteren fähig und ändert in dem Fall sein Verhalten gegenüber balzenden Männchen schlagartig. Es verscheucht diese, indem es auf diese aggressiv zu rennt. Auffällig ist außerdem, dass das Männchen der Grünen Luchsspinne nach der Begattung die Epigyne seiner Geschlechtspartnerin anscheinend mit einem schwarzen Sekret verschließt, das sich unmittelbar nach dem Auftragen zu verfestigen scheint. Dieses Sekret kann auch die gesamte Epigyne einnehmen. Dies soll vermutlich dazu dienen, eine Begattung des Weibchens durch andere Männchen zu verhindern. Eiablage und Kokonbau Ein begattetes Weibchen der Grünen Luchsspinne fertigt 21 bis 28 Tage nach der Begattung einen Eikokon an, der anfangs blassgrün erscheint, mit der Zeit jedoch eine strohartige Farbgebung annimmt. Der rundliche Eikokon hat einen Durchmesser von gut 1,5 bis 2,5 Zentimetern und ist auf einer Seite abgeflacht. Die dicke Außenschicht des Kokons besitzt mehrere kleine Vorsprünge und ist mithilfe eines vom Kokon selber ausgehenden Fadenwerks mit der umliegenden Vegetation verbunden. Der Eikokon wird im Regelfall in den oberen Zweigen von hölzernem Gestrüpp angelegt. In Arkansas sind Eikokons der Art von der ersten Septemberwoche bis Mitte Oktober vorfindbar. Das Weibchen beginnt für gewöhnlich zwischen 11:00 und 16:00 Uhr mit der Fertigung des Eikokons und benötigt etwa fünf Stunden für den gesamten Aufbau. Das anfangs angelegte Fundament des Kokons setzt sich aus einer polsterartigen Spinnfläche zusammen, an die ein schalenartiges und zum Boden geöffnetes Gebilde befestigt wird. In diese Mulde werden dann die Eier gelegt, ehe diese gänzlich mit Seide umschlossen und somit auch der Kokon vollendet wird. Letztere Schritte nehmen fast die Hälfte der Konstruktionszeit vom Eikokon in Anspruch. Zumindest unter Laborbedingungen legt das Weibchen der Grünen Luchsspinne nach bisherigen Kenntnissen immer mehr als einen Eikokon an, wobei der zweite dann einen bis zwei Monate nach dem ersten angefertigt wird. Dabei können von einem Weibchen maximal sechs Kokons geschaffen werden, wobei neuere oftmals an die verbliebenen Reste des jeweils vorhergegangenen angeknüpft werden. Der erste Eikokon enthält unter diesen Bedingungen allerdings für gewöhnlich eine deutlich höhere Anzahl an befruchteten Eiern, während bei den darauf folgenden sowohl die Anzahl an Eiern als auch deren Größe abnimmt, bis der letzte Kokon dann schließlich sehr wenig Eier enthält. Zumindest in Arkansas ist es dem Weibchen aber ohnehin vor Wintereinbruch wahrscheinlich nicht möglich, mehr als einen Eikokon zu produzieren. Sobald ein Eikokon vollendet wurde, wird dieser vom Weibchen in Form einer ausgeprägten Brutpflege aufopferungsvoll bewacht, während seine Aggressivität zu diesem Zeitpunkt ansteigt. So positioniert sich das Weibchen mit dem Körper nach unten direkt beim Eikokon und stürmt unverzüglich in Richtung eines Angreifers, sollte ein solcher wahrgenommen werden. Ein Eikokon der Grünen Luchsspinne enthält 25 bis 300 Eier, wobei sich der Durchschnittswert nach bisherigen Kenntnissen zumindest im Hempstead County auf 194 beläuft. Die hellorange gefärbten Eier erscheinen mehr ellipsenförmig als rund und weisen durchschnittlich eine Länge von 1,71 und eine Breite von 1,52 Millimetern auf. Je nach Temperatur verlaufen 11 bis 16 Tage zwischen der Eiablage und dem Schlupf. In Arkansas beispielsweise beträgt dieser Zeitraum etwa 12 Tage. Schlupf und anfänglicher Verbleib der Jungtiere Die frisch geschlüpften Prälarven der Grünen Luchsspinne weisen wie die anderer Luchsspinnen die noch funktionslosen Augen sowie das Fehlen der Tarsalklauen und Mundwerkzeuge auf. Gleiches gilt für die Setae. Die Prälarven verbleiben noch für 10 bis 16 Tage im Eikokon, ehe sie sich häuten und anschließend funktionierende Augen, einen Verdauungstrakt und Stacheln erhalten. Die Jungtiere sind nun bereit, den Eikokon zu verlassen, was zwischen 10 und 13 sowie durchschnittlich 12 Tagen nach dem Schlupf geschieht. Kurz nachdem die ersten Prälarven bereits geschlüpft sind, hilft das Muttertier seinen Nachkommen dabei, den Eikokon zu verlassen, indem es diesen aufbeißt. Zuvor betastet es den Kokon mit seinen Pedipalpen und den vorderen Beinen, ehe es seine Cheliceren in den Teil des Kokons versenkt, bei dem der schüsselartige Teil in den mattenartigen übergeht. Dabei wird der schüsselartige Teil diagonal vom mattenartigen getrennt, sodass ein Riss zwischen beiden Bereichen entsteht. Anschließend bewegt sich das Muttertier für eine kurze Distanz, ehe es den gleichen Prozess wiederholt. Dabei führt es diese Aktivität in einer Fläche von einem Drittel bis zur Hälfte des Umfangs des Mattenteils aus. Nun verlassen bereits die ersten Jungtiere den Kokon und kehren möglicherweise anfangs noch einmal in diesen zurück. Innerhalb von 24 bis 28 Stunden haben jedoch alle Jungtiere den Eikokon permanent verlassen. In Arkansas verlassen die in der zweiten Fresshaut (Häutungsstadium) befindlichen Jungtiere den Eikokon im Zeitraum zwischen dem späten September und dem frühen November. Im gleichen Gebiet findet die erste Häutung der Jungtiere nach dem Verlassen des Eikokons und somit das Erreichen der zweiten Fresshaut im November oder im Dezember statt, kann jedoch nicht selten auch durch die Überwinterung bis März oder April verschoben werden. Die erste Häutung mitsamt dem Erreichen der ersten Fresshaut findet auch im Freiland noch im Kokon statt. Im Falle von Wolfspinnen (Lycosidae), bei denen eine ähnlich ausgeprägte Brutpflege wie bei der Grünen Luchsspinne betrieben wird, ist es den Jungtieren nicht möglich zu überleben, sollte das Muttertier ihnen nicht helfen können, den Eikokon zu verlassen. Bei der Grünen Luchsspinne ist dies nicht der Fall und die Jungtiere können im Notfall ihre eigenen Löcher in den Eikokon beißen, um diesen zu verlassen. Diese haben einen Durchmesser von gut 1,6 Millimetern und werden zwischen den Schalen- und den Scheibenteil des Kokons gebissen. Die Jungtiere verlassen jeweils einzeln hintereinander durch ein solches Loch den Kokon. Heranwachsen und Lebenserwartung sowie Erscheinung der Jungtiere Die Jungtiere der Grünen Luchsspinne sind nach dem Hervorkommen hellorange gefärbt, nehmen nach sieben Tagen aber eine hellgrüne Färbung an, die der der ausgewachsenen Individuen ähnelt. Nach bisherigen Kenntnissen hat der Carapax der Jungtiere in diesem Zustand eine Breite von 0,85 bis zu 0,95 und durchschnittlich 0,9 Millimetern. Sie verbleiben meistens noch acht Tage an Fäden nahe den Resten des Eikokons und werden auch dabei noch von ihrem Muttertier bewacht. Außerdem versorgt letzteres seine Nachkommen mit eigens erlegten Beutetieren. Kannibalismus kann hier unter den Jungtieren in geringerer Ausprägung auftreten. Sobald sie die Fäden beim Eikokon verlassen, tendieren die Jungtiere dazu, obere Bereiche der Vegetation zu bewegen. Dabei bleiben sie in Gruppen und werden vom Muttertier begleitet. Nach weiteren drei bis vier Tagen breiten sich die Jungtiere über den sogenannten Spinnenflug aus. Um den Spinnenflug auszuführen, bevorzugen die Jungtiere scheinbar Brisen von einer Dauer zwischen fünf bis 25 Sekunden und einer Windgeschwindigkeit von vier bis sechs Meilen pro Stunde. Die Jungtiere positionieren sich gegen die Windrichtung, erheben die Spitze des Opisthosomas und spannen bereits einen Spinnfaden während des Kletterns nach oben, der auswärts nach oben in einer Länge von zwei bis drei Fuß ausgerichtet wird. Dann lösen die Jungtiere unvermittelt ihren Halt von der Vegetation und lassen sich vom Wind in die Richtung des gespannten Fadens tragen. Die Jungtiere in der dritten Fresshaut haben eine durchschnittliche Carapaxbreite von 1,09 Millimetern. Zumindest unter Laborbedingungen verbleiben sie entweder vergleichsweise kurz oder lang in diesem Stadium. So kann es unter diesen Bedingungen auch vorkommen, dass etwa ein Drittel der Jungtiere sich nach dem Erreichen dieser Fresshaut nach 45 Tagen bereits wieder häutet und die übrigen eine Häutung für 103 Tage aussetzen. Diese Faktoren werden zumindest nicht durch Faktoren, wie Nahrungsangebot und Temperatur beeinflusst. Allerdings ist nicht bekannt, ob die zu dem Zeitpunkt eintretende Winterzeit darauf Einfluss ausübt. Jungtiere in der dritten Fresshaut sind in Arkansas bislang im April nachgewiesen worden. Die Häutung in die vierte Fresshaut findet in Arkansas findet meistens zwischen April und dem frühen Mai statt. Ab diesem Stadium beträgt die durchschnittliche Breite des Carapax von den Jungtieren 1,33 Millimeter. Unter Laborbedingungen dauert diese Fresshaut im Durchschnitt 65 Tage an. In Arkansas erreichen die Jungtiere die fünfte Fresshaut im Regelfall zwischen dem späten April und dem fünften Juni. In dieser Fresshaut beträgt die durchschnittliche Breite des Carapax 1,65 Millimeter. Dieses Stadium ist deutlich kürzer als das vorherige, sodass in Gefangenschaft einige jüngere Individuen der Grünen Luchsspinne unter diesen Bedingungen sich bereits nach 37 Tagen wieder häuten können. In der darauf folgenden sechsten Fresshaut, die im Labor etwa 31 Tage andauert, verfügt der Carapax der Jungtiere eine Breite von meistens 2,03 Millimetern. In diesem Stadium beginnt sich der Sexualdimorphismus der Jungtiere zu bilden, indem die jungen Männchen in dieser Fresshaut bereits verdickte Pedipalpen aufweisen. Die Häutung in dieses Stadium findet in Arkansas im Mai oder im frühen Juni statt. In der siebten Fresshaut, die die Jungtiere in selbigem Bundesstaat Juni erreichen, nimmt der Carapax eine Breite von gut 2,44 Millimetern an. Diese Fresshaut dauert durchschnittlich 21 Tage an. Zumindest in Gefangenschaft ist es Männchen möglich, in der siebten Fresshaut bereits die Geschlechtsreife zu erlangen. Die meisten Individuen beider Geschlechter benötigen jedoch unter Laborbedingungen acht Fresshäute bis zur Geschlechtsreife. Zumindest in Gefangenschaft ließ sich nachweisen, dass Weibchen auch noch eine neunte Fresshaut durchlaufen, ehe sie ausgewachsen sind. Die Dauer für das Erreichen des Adultstadiums beträgt dann nach bisherigen Kenntnissen 18 Tage. Die gesamte Lebensdauer des Männchens der Grünen Luchsspinne beträgt in Gefangenschaft meistens 288,6 Tage. Beim Weibchen beläuft sich dieser Wert unter gleichen Bedingungen auf gut 301 Tage. Ausgewachsene Spinnen sind in Arkansas vor Juni kaum anzutreffen. In Gefangenschaft bleiben die Jungtiere in der jeweiligen Fresshaut geringfügig kleiner als in freier Wildbahn in selbigem Stadium. Während die Weibchen unter beiden Bedingungen die gleiche Anzahl an Fresshäuten durchlaufen, so benötigen Männchen unter natürlichen Bedingungen neun Fresshäute bis zum Erlangen der Geschlechtsreife und somit mehr als in Gefangenschaft. Dies mag daran liegen, dass diese bei größerem Nahrungsangebot eine geringere Anzahl an Fresshäuten durchlaufen müssen, um zum Adultstadium zu gelangen. Systematik Die Systematik der Grünen Luchsspinne wurde mehrfach geändert. Der Artname viridans stammt aus der lateinischen Sprache und kann auf deutsch in „grün sein“ oder „grün machen“ übersetzt werden. Er deutet somit auf die grünliche Färbung der Art hin. Innerhalb der Gattung Peucetia gibt es mit P. virescens, P. viridana und P. viridis drei weitere Arten mit ähnlich klingenden Bezeichnungen. Allerdings kommt P. virescens in der Türkei und dem Mittleren Osten, P. viridana von Indien bis Myanmar und P. viridis in Spanien, Griechenland, Afrika und dem Mittleren Osten vor, wobei letztere Art in der Karibik eingeführt wurde. Entsprechend unwahrscheinlich sind Überschneidungen dieser Arten mit der Grünen Luchsspinne. Beschreibungsgeschichte Die Grüne Luchsspinne wurde bei der Erstbeschreibung von 1832 durch den Franko-Amerikaner Nicholas Marcellus Hentz im Rahmen seines Werkes On North American Spiders („Über nordamerikanische Spinnen“) der heute nicht mehr bestehenden Gattung Sphasus unter der Bezeichnung S. viridans zugeordnet. Anschließend erfuhr sie von verschiedenen Autoren mehrere Umordnungen sowie Umbenennungen. Die noch heute gängige Bezeichnung P. viridans der Art wurde für diese erstmals 1902 von James Henry Emerton angewandt. Diese Bezeichnung etablierte sich nach einer weiteren 1965 geschehenen Anwendung seitens Harriet Exline und W. H. Whitcomb und ist seitdem die durchgehend genutzte für die Spinne. Synonymisierte Arten Drei zuletzt zur Gattung Peucetia zählende Arten wurden mit der Grüne Luchsspinne synonymisiert und verloren somit ihren Artstatus. Bei diesen drei ehemaligen Arten handelt es sich um P. bibranchiata, P. poeyi und P. rubricapilla, die allesamt unter Antonio D. Bescovit und Adalberto J. Santos mit der Grünen Luchsspinne synonymisiert wurden. P. bibranchiata wurde 1902 von Octavius Pickard-Cambridge und P. rubricapilla 1925 von Alexander Iwanowitsch Petrunkewitsch erstbeschrieben. Für die Synonymisierung beider Arten wandten Bescovit und Santos 1964 von Allen R. Brady entworfenen Illustrationen der Grünen Luchsspinne an, mit Hilfe derer die Typusexemplare (für die Erstbeschreibung angewandte Individuen) beider Arten als Exemplare der Grünen Luchsspinne identifiziert werden konnten. Pickard-Cambridge wandte zur Beschreibung von P. bibranchiata einen männlichen Holotypus (namensgebendes Typusexemplar) und einen weiblichen Paratypus (zusätzlich zum Holotypus aufgeführtes Exemplar), die er beide im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca vorfand, an. Petrunkewitsch nutzte lediglich einen weiblichen Holotypus für die Erstbeschreibung von P. rubricapilla, den er im Bezirk Soná in der panamaischen Provinz Veraguas vorfand. P. poeyi wurde 1857 von Pierre Hippolyte Lucas als Sphasus poeyi erstbeschrieben und 1931 unter Pelegrin Franganillo-Balboa zur Gattung Peucetia transferiert. Lucas verwendete für die Erstbeschreibung der Art drei Weibchen und vier juvenile Syntypen (mehrere einen Typus darstellende Exemplare) aus Jamaika. Alle Exemplare wurden von Bescovit und Santos im Nachhinein als Individuen der Grünen Luchsspinne identifiziert. Grüne Luchsspinne und Mensch Die Grüne Luchsspinne steht mit dem Menschen in vielfältiger Relation zueinander. So gilt die Art etwa als umstrittener Nützling im Rahmen der biologischen Schädlingsbekämpfung. Vereinzelt sind auch Bissunfälle der Spinne auf den Menschen gemeldet. Gleiches gilt für die aktive Abwehr mittels des Giftspritzens. Die Folgen beider Abwehrmethoden der Grünen Luchsspinne gelten für den Menschen grundsätzlich jedoch nicht als gefährlich. Umstrittener Nutzen in der Landwirtschaft Der Grünen Luchsspinne wird ein großer Nutzen in der Landwirtschaft zugesprochen, da die Art entsprechend ihres Habitats als bedeutender Prädator verschiedener Insekten auf Sträuchern und krautiger Vegetation gilt und das Beutespektrum der Spinne auch Schädlinge von Nutzpflanzen – insbesondere Baumwolle – miteinschließt. Beispiele sind die zum Beutespektrum der Spinne zählenden Nachtfalter, zumal die Spinne neben den Imagines (Adultformen) auch deren Raupen erbeutet. Da die Grüne Luchsspinne jedoch auch andere landwirtschaftliche Nützlinge, etwa Hautflügler in großer Zahl erbeutet, ist ihr Status als Nützling umstritten. Dies wird dadurch verstärkt, dass in das Beutespektrum der Spinne auch Zweiflügler fallen, die selber etwa als Parasiten von Schädlingen oder Bestäuber in Erscheinung treten können. Die Verwendung der Art als Bekämpfer von Schädlingen hängt demnach neben der jeweiligen Zeit und dem Ort zu einem großen Teil davon ab, auf welchen Kulturpflanzen und zur Bekämpfung welcher Schädlinge sie eingesetzt werden sollte. Eine vorgesehene Verwendung der Spinne zur Bekämpfung von Schädlingen in Florida der dort angebauten Sojabohne (Glycine max) oder der Erdnuss (Arachis hypogaea) könnte durchführbar sein. Bissunfälle und Wirkung des Giftspritzens beim Menschen Bisse der Grünen Luchsspinne auf den Menschen sind überliefert, ereignen sich aber aufgrund des für gewöhnlich nicht aggressiven Verhaltens der Spinne selten und sind normalerweise nicht von medizinischer Relevanz. Unter gegebenen Umständen, etwa dem Bewachen eines Eikokons oder Nachkommen, kann es dennoch gelegentlich zu einem aggressiveren Verhalten seitens der Grünen Luchsspinne gegenüber dem Menschen kommen. Bekannte Symptome eines Bisses der Art sind lokale Schmerzen, Juckreiz, Erythem (Rötung) und Induration (Gewebe- und Organverhärtung). Eine Behandlung des Bisses kann eine Tetanusimpfung, eine Wundbehandlung und eine Symptomatische Therapie beinhalten. Auch ist die Verteidigung der Grünen Luchsspinne mittels des Verspritzens von Gift auf den Menschen dokumentiert. Dem Gift wird ein bitterer Geschmack nachgesagt und seine Wirkung auf menschlicher Haut als kühlend beschrieben. Sollte das verspritzte Gift in das Auge gelangen, wirkt es dort reizend. Ein derartiger Fall wurde 1948 bei einem Soldaten der United States Army gemeldet, der behauptet, von einer Spinne in ein Auge gespritzt worden zu sein. Die Spinne wurde später als Individuum der Grünen Luchsspinne identifiziert. Die Sehfähigkeit des Soldaten war für zwei Tage beeinträchtigt. Einzelnachweise Literatur Weblinks bei Global Biodiversity Information Facility Peucetia viridans bei UF Entomology Peucetia viridans bei BugGuide Luchsspinnen
12087096
https://de.wikipedia.org/wiki/Werkverzeichnis%20des%20Meisters%20von%20Me%C3%9Fkirch
Werkverzeichnis des Meisters von Meßkirch
Das Werkverzeichnis des Meisters von Meßkirch ist eine Bestandsübersicht des Œuvres eines namentlich unbekannten, mit dem Notnamen Meister von Meßkirch bezeichneten Renaissancekünstlers aus Süddeutschland. Die Liste orientiert sich an dem 1933 von dem Kunsthistoriker Heinrich Feurstein erstellten Werkverzeichnis und dem Katalog zur Großen Landesausstellung „Der Meister von Meßkirch – Katholische Pracht in der Reformationszeit“ vom 8. Dezember 2017 bis 2. April 2018 in Stuttgart. Geschichte des Œuvres Der Meister von Meßkirch war ein hauptsächlich in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts an der Oberen Donau tätiger Künstler, dessen Hauptwerk im Auftrag der in Meßkirch residierenden Grafen von Zimmern entstand. Durch Erbfolge und die besondere Beziehung Joseph von Laßbergs zum Haus Fürstenberg kamen bedeutende Teile des Werkes in die Fürstlich Fürstenbergischen Sammlungen. Von einem ihrer späteren Leiter, Heinrich Feurstein, stammt deshalb auch das erste systematische Werkverzeichnis. Neben den zunächst im Familienbesitz gebliebenen Hausaltären wie den Sigmaringer Marientafeln, dem Falkensteiner Altar, dem Sigmaringer Hausaltärchen und dem Wildensteiner Altar und einigen ihm zugeordneten Porträts und Epitaphen sowie den Seccomalereien im Kloster Heiligkreuztal besteht das erhaltene Hauptwerk des Meisters aus der Altarausstattung für die Kirche Sankt Martin in Meßkirch. Diese Altarausstattung wurde in den Jahren 1535–1540 von ihm und, wie die unterschiedlichen qualitativen Ausfertigungen belegen, von seinen Werkstattmitarbeitern gefertigt. Auf der Basis der erhaltenen Mitteltafeln, Zuordnung einzelner Heiliger zu spezifischen Altarstiftungen und den baulichen Gegebenheiten, waren es bis zu zwölf Altäre mit jeweils einer Mitteltafel, zwei beidseitig bemalten Flügeln und je zwei Standflügeln, also 12 Mittelstücke und 72 Flügelbilder. Heute bekannt sind 9 Mittelteile und eine Kopie eines Mittelteils sowie 58 Flügelbilder. Nur vier der Altäre, der Hauptaltar (Hochaltarretabel), zwei heute in Sankt Gallen befindliche Altäre (Abendmahlretabel, Versuchungsretabel) und ein weiterer Nebenaltar, lassen sich im ungefähren Werkszusammenhang rekonstruieren, auch wenn die Einzelteile über mehrere Museen und Standorte verteilt sind. Die Kirche wurde im Jahr 1772 unter der Mitarbeit von Meinrad von Au im Stil des Rokoko grundlegend umgestaltet und die Altäre zunächst eingelagert, möglicherweise auch in benachbarten Kirchen weiterverwendet. Der Weg des Œuvres in Sammlungen und Museen Bis auf einige wenige Ausnahmen – die Fresken in Heiligkreuztal, die aber nicht mehr sehr gut erhalten sind, das Bildnis des Eitelfriedrich III. von Zollern (1561), das Sigmaringer Hausaltärchen sowie die Mitteltafel des Dreikönigaltars – befinden sich die Werke heute nicht mehr in ihrem ursprünglichen Kontext, sondern verstreut in Museen und Sammlungen auf zwei Kontinenten. Frühromantische Autoren wie Friedrich Schlegel, Wilhelm Heinrich Wackenroder und Ludwig Tieck hatten in ihren Schriften zu einer Wiederentdeckung der mittelalterlichen Tafelmalerei aufgerufen. Durch die Säkularisation, aber auch durch die Mediatisierung und die dadurch bedingte Neuorganisation der Kirchenverwaltung (im hier betrachteten Gebiet: Auflösung des Bistums Konstanz, Neugründung der Bistümer Freiburg und Rottenburg), war Kirchengut nicht nur in den Klöstern und Stiften, sondern auch in Stadt- und Dorfkirchen in neue und unsichere Eigentumsverhältnisse gekommen. Privatsammler bekamen die Möglichkeit, sich solches Kulturgut anzueignen. Obwohl heute oft die Klage über den Verlust von Kulturgut in jener Zeit in den Vordergrund gestellt wird, bewirkte dies, dass Kunstwerke der im Zeitalter von Barock und frühem Klassizismus verpönten spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kunst, die sich bedingt durch diesen Stilwandel schon nicht mehr am originalen Aufstellungsort befand, sondern oft eingelagert war oder ganz zweckentfremdet genutzt wurde, sowohl materiell gerettet als auch ästhetisch rehabilitiert werden konnten. Bei den Werken des Meisters von Meßkirch waren dies hauptsächlich zwei Sammler: Joseph von Laßberg und Johann Baptist von Hirscher. Laßbergs wissenschaftliches Interesse entsprang nicht nur der beginnenden Germanistik, sondern auch der ebenfalls gerade beginnenden Kunstgeschichte als Wissenschaft, geprägt von der oben erwähnten romantischen Ästhetik. Er betrieb langjährige Studien, in denen er eine oberschwäbische Abstammung der Holbein-Familie beweisen wollte, inklusive eines angeblichen Aufenthalts Holbeins bei den Grafen von Zimmern. Er schrieb die von ihm gefundenen Werke des Meisters von Meßkirch zeitlebens Hans Holbein zu. Neben dieser Holbein-Forschung waren die Tafelbilder für Laßberg Tauschobjekte, um damit Handschriften zu erwerben, so zum Beispiel die Sankt Galler Versuchungs- und Abendmahlsretabeln im Tausch mit Bischof Carl Johann Greith aus dessen Bibliothek noch in den 1850er Jahren. Oder sie waren Geschenke und Tausche unter Freunden und Verwandten wie Der Heilige Werner für Werner von Haxthausen. Johann Baptist von Hirscher war Theologe; in seinen Schriften finden sich keine Gedanken zu kunstgeschichtlichen Themen. Und dennoch stellen die 250 Gemälde und Schnitzwerke, die sich aus den Unterlagen über die Verkäufe aus seiner Sammlung rekonstruieren lassen, eines der geschlossensten Ensembles spätmittelalterlicher Kunst dar, die ein Privatsammler in Süddeutschland jemals zusammengetragen hat. Sammlung Hirscher Mit dem Sammeln von Kunstwerken kam Hirscher erstmals beim Besuch der Galerie des Fürsten Ludwig zu Oettingen-Wallerstein im Jahr 1816 in Berührung. Er begann unmittelbar mit dem Sammeln mittelalterlicher Kunst und unterbreitete Wallerstein bereits 1821 ein Angebot, das dieser nicht annahm. Aus dem Angebot lässt sich aber rekonstruieren, welche Werke des Meisters von Meßkirch damals schon in Hirschers Besitz waren. „Von Hans Holbein - eine Grablegung 2 × 2 1/2 Schuhe“ „Von demselben - eine Auferstehung Christi 2 1/4 × 2 Schuhe“ „Von demselben - 15 Stücke, z.T. doppelt bemalt, und einzelne Heilige vorstellend. Es befindet sich auf je einer Seite ein Heiliger. Einige haben Goldgrund 2 × 3/8-4/8 Schuhe“ „Außer der inneren Glaubwürdigkeit haben diese Bilder sämtlich das Zeugnis des Freiherrn von Laßberg (Herausgeber der Sammlung altdeutscher Gedichte) für sich, welcher von einer anderen Seite her einen Teil dieser ehemals zusammengehörigen Bilder erworben und versichert hat, daß er es urkundlich habe, daß dieselben von dem Basler Holbein seien […]“ Die Tafeln scheinen zu diesem Zeitpunkt noch nicht gespalten worden zu sein. Nimmt man die heute der Sammlung Hirscher zugeschriebenen Werke, so fehlen zwei Tafeln. Vier Rückseiten scheinen ebenfalls verschollen zu sein. Wie seine späteren Verkäufe zeigen, besaß er über dieses Angebot hinaus noch weitere Werke des Meisters von Meßkirch, die er erst später zum Verkauf anbot. Hirscher gab niemals Auskunft über den Ort, von dem seine Kunstwerke stammten oder von wem er sie erworben hatte. Dass es ihm dennoch nicht um den reinen Gelderwerb ging, wird dadurch deutlich, dass er seine Sammlung in der Regel en bloc an ausgewiesene Kunstsammler oder Institutionen verkaufte. Der erste dieser Verkäufe erfolgte an den Stuttgarter Kunstsammler Carl Gustav Abel im Jahr 1834. Dieser erwarb am 26. Juli insgesamt 61 Gemälde zum Preis von 2.100 Gulden. In einer Aufstellung zur Sammlung Abel bei Franz Kugler sind 1837 folgende Werke, welche dem Meister von Meßkirch zugeordnet werden können, vermerkt: Hans Holbein, der Ältere Aus einer Kirche in Messkirch Maria Magdalena Johannes Baptist St. Martin St. Wernher Beham (?) Aus einer Kirche zu Meßkirch Vier Bilder mit Märtyrern Zusätzlich noch aus Konstanz Votivtafel der Familie von Bubenhofen (Sic dilexit Deus mundum) Die Werke des Meisters von Meßkirch waren 1859 nicht im Verkauf der Sammlung Abel an Württemberg enthalten. Die an Abel verkauften Werke gingen alle in den privaten Kunsthandel. Aus der Sammlung Hirscher waren das die beiden Mitteltafeln M1, M2, die zwischenzeitlich von ihren Vorderseiten getrennten Rückseiten (Außenseiten) 4, 8, 9, eine Schauseite ohne bekannte Rückseite (10) und die nur einseitig bemalten Standtafeln 6, 7, 11, 12 und 13. Im Jahr 1850 kam ein von Gustav Friedrich Waagen in die Wege geleiteter Verkauf weiterer Teile der Sammlung Hirscher an die Gemäldegalerie des königlich preußischen Museums in Berlin zustande. Vom Meister von Meßkirch waren dies fünf Schauseiten, die nun in einer neuen Montierung präsentiert wurden. Ein weiterer größerer Verkauf von insgesamt 109 Bildern zum Gesamtpreis von 16.000 Gulden aus der Sammlung Hirscher erfolgte im Jahr 1858 an das Großherzogtum Baden. Vom Meister von Meßkirch waren dies die Festagsseiten Der Heilige Veit und Der Erzengel Michael als Seelenwäger (Innenseiten 8 und 9) sowie Die Heilige Lucia (Außenseite 5) und die Mitteltafel M3 (Geißelung Christi und Christus vor Pilatus). Ein Jahr vor seinem Tod wandte sich Hirscher an die württembergische Regierung. Er bot 47 Gemälde und 12 Skulpturen an, die er gerne als Teil der Staatsgalerie Stuttgart sehen wollte. Der Kaufvertrag kam, nur fünf Tage vor seinem Tod, am 29. August 1865 zu Stande. Von den Werken des Meisters von Meßkirch fand der Der Heilige Benedikt im Gebet (S1) Eingang in die Sammlung. Ein weiteres Bild, das zu einem größeren Ensemble zusammenhängender Tafeln gehört, welches sich in Hirschers Sammlung befand, ist heute Bestandteil des Diözesanmuseums Rottenburg. Die Heilige Dreifaltigkeit (D1) kam mit der Sammlung Dursch des Georg Martin Dursch mit dem Ankauf von dessen Sammlung an das Museum. Dursch war ein Schüler Hirschers und wurde von diesem selbst zum Sammeln spätgotischer Holzbildwerke und Tafelmalereien inspiriert. Feurstein vermutet, dass es ebenfalls ursprünglich aus der Sammlung Hirschers stammt. Joseph von Laßberg als Sammler Laßberg ist uns heute vornehmlich als Handschriften- und Büchersammler in Erinnerung. Aber seine Liebe zum Mittelalter inszenierte er auch im eigenen Leben hemmungslos, so in seiner Blauen Stube im Schloss Eppishausen. „Die gemalten Glasscheiben mit den alten Wappen und Bildern; die Tafelrunde in der Mitte des Zimmers mit dem antiken Tintengefäß und alten Büchern und Werkzeugen überdeckt; deutsche Holzgemälde an den Wänden aufgehängt; alte Gewehre und Waffen in den Ecken hingestellt; Schränke mit schönen Bildern von eingelegter Arbeit verziert; ein großer Kopf mit türkischem Tabak gefüllt und eine Anzahl verschiedenartig geformter Tabakspfeifen; selbst die Krüge, Flaschen und Gläser und der Teller auf der Tafel - Alles machte auf den Betrachter einen überraschenden Eindruck.“ Er reagierte auf das Trauma der Französischen Revolution, die darauf folgenden territorialen Umwälzungen und die Zerschlagung der altständischen Ordnung des Reiches mit einem Aufruf zum Sammeln. Er war bemüht, die durch den Wandel seiner Zeit und die Zerstörung der alten Ordnung dem Verlust und der Zerstreuung ausgesetzten Kulturgüter zu bewahren. Einem Kettenbruder, Friedrich Carl von und zu Brenken, schrieb er 1820: „Lassen Sie uns, jeder an seinem Orte, sammeln und bewaren, was wir aus der Flut der Zeiten zu retten vermögen.“ Und seinem Freund Johann Adam Pupikofer schrieb er „Ich habe gesammelt, so viel mir möglich war. Nun legen auch Sie, junger Freund, zum nämlichen Zwecke kräftig die Hand ans Werk! Richten Sie Ihr Augenmerk am schärfsten auf dasjenige, was dem Untergange nahe steht und, einem ungewissen Schicksal preisgegeben, der Rettung bedarf, damit es nicht spurlos verschwinde!“ Nach einem Brief aus dem Jahr 1850 an seinen Freund Carl Johann Greith, dem späteren Bischof von Sankt Gallen, erwarb Laßberg 1817 oder 1818 die Altarflügel von den Meßkircher Kirchenpflegern. Einen Beleg für einen Kauf gibt es aber erst für die Jahre 1821/22. Christian Altgraf zu Salm unterstellte Laßberg deshalb in seiner 1950 erstellten Dissertation zum Meister von Meßkirch einen altersbedingten Gedächtnisfehler. Da Hirscher wie Laßberg bereits vor 1821 Werke des Meisters von Meßkirch besaß, ist davon auszugehen, dass Laßberg mehrfach Werke aus Meßkirch bezog. Da nicht bekannt ist, welche Werke er wann bezog, werden in Publikationen meist beide Daten „1817/18“ und „1821/22“ angegeben. Laßberg hatte Elisabeth zu Fürstenberg in der Zeit der Mediatisierung des Fürstentums und in der Vormundschaft ihres Sohnes Karl Egon unterstützt und wurde auch von ihr in seiner Sammlertätigkeit unterstützt. Laßberg scheint auch eine ziemlich freie Hand im Umgang mit den im fürstenbergischen Familienbesitz befindlichen Bildern gehabt zu haben. So sind die Umstände unklar, wie im Rahmen der Restaurierung des Falkensteiner Altars unter der Federführung der Gebrüder Boisserée in München im Jahr 1838 die Bilder des linken Drehflügels (Der Heilige Georg und Der Heilige Johannes der Täufer) an Werner von Haxthausen gelangen konnten, seinen Freund, Kettenbruder und Onkel seiner zweiten Frau Jenny von Droste zu Hülshoff. Ab 1842 verhandelte er mit dem Haus Fürstenberg über den Verkauf seiner Sammlungen (Bücher und Gemälde), der Verkauf erfolgte aber erst 1852 zum Preis von 27.000 Gulden. Einige seiner Bilder kamen auch über den Familienbesitz seiner Töchter in den Kunsthandel. Der Verbleib der Werke Viele der Werke des Meisters von Meßkirch fanden gemeinsam Eingang in größere Museen. Die Werke aus der Sammlung Laßberg fanden zunächst ihren Weg in die Fürstlich Fürstenbergischen Sammlungen, die Werke aus der Sammlung Hirscher in das Berliner Kaiser Friedrich Museum und in die Großherzögliche Gemäldegalerie Karlsruhe. Obwohl die Staatsgalerie Stuttgart auch Werke aus der Sammlung Hirscher übernahm, war darunter kein Werk des Meisters von Meßkirch. Der Grund liegt in der damaligen Ankaufpolitik dieser Sammlungen. In Karlsruhe beauftragte der Großherzog Friedrich I. von Baden den Historien- und Porträtmaler sowie Professor und Lehrer der Antiken- und Malklasse an der Karlsruher Kunstschule Ludwig des Coudres und als Zweitgutachter den Direktor der Großherzoglichen Gemäldegalerie Carl Ludwig Frommel mit der Begutachtung der Kunstwerke. Für die beiden hatte die Sammlung keine Galeriewürdigkeit. Aus dem Angebot Hirschers, das nach heutigem Verständnis illustre Namen beinhaltete, wurden nur fünf Bilder für vorzüglich befunden, 27 für gut, 34 als „respektabler Mittelschlag“ und 11 als „fast werthlos“. Es ist also wenig verwunderlich, dass die Werke des Meisters von Meßkirch, den diese akademischen Maler noch nicht einzuordnen wussten, über die Erben Hirschers und Abels im privaten Kunsthandel landeten, wie zum Beispiel die abgespaltenen Außenseiten der Drehflügel des nur noch rekonstruierbaren Nebenaltarretabels. Sie wurden 1863 über Lempertz an George Gillis Haanen in Köln verkauft, am 9. November 1909 mit der Sammlung von Édouard Louis François Fétis bei Le Roy Frères in Brüssel versteigert und kamen über Frederik Muller, Amsterdam an John G. Johnson, der sie 1917 mit seiner Sammlung dem Philadelphia Museum of Art vermachte. Werke, die Laßberg nicht an die Fürstenbergsammlung verkaufte, wie die beiden Standflügel „Der Heilige Kosmas“ und „Ein Heiliger Diakon“, kamen an die Freiin Carla Droste zu Hülshoff als Erbin und sind zuletzt 1934 in der Galarie Caspari in München nachgewiesen. Sie gelten seither als verschollen. Die abgespaltene Außenseite des linken Drehflügels des ehemaligen Hochaltarretabels „Der Heilige Werner“, den Laßberg um 1836 mit Werner von Haxthausen gegen eine Heilige Familie von Jan van Hemessen tauschte, kam über dessen Erben an Hermann von und zu Brenken, von diesem an Richard von Kaufmann und über eine Auktion an Walter von Pannwitz. Nach dessen Ableben wurde die Tafel von seiner Witwe nach Schloss Hartekamp in den Niederlanden gebracht. Im Januar 1941 wurde das Werk über den Kunsthändler Walter Andreas Hofer an Hermann Göring verkauft. Über den Munich Central Collecting Point wurde es an die Staatliche Sammlung des Rijksdienst voor het Cultureel Erfgoed restituiert und ist heute im Bonnefantenmuseum in Maastricht ausgestellt. Nachdem sich das Haus Fürstenberg in den 1990ern bereits von seinem alten Bibliotheksbestand getrennt hatte, begann es Anfang der 2000er, seine Gemäldesammlung Alter Meister aufzulösen. Der Industrielle Reinhold Würth erwarb für einen zweistelligen Millionenbetrag den Großteil der Sammlung, bis auf die Werke, die sich bereits als Dauerleihgaben in der Staatlichen Kunsthalle in Karlsruhe und in der Staatsgalerie Stuttgart befanden. So kamen die in der Fürstenbergsammlung verblieben Tafeln der Drehflügel des Hauptaltarretabels nach Karlsruhe; die vierte Tafel befindet sich wie oben erwähnt als geschütztes nationales Kulturgut in den Niederlanden. Die beiden Standflügel waren schon früh als Werke Albrecht Dürers in den Pariser Kunsthandel gelangt und 1869 von Franz von Rinecker erworben worden. Sie sind heute Teil der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen und befinden sich in der Staatsgalerie Altdeutsche Meister in Augsburg. Nur die Mitteltafel „Die Anbetung der Heiligen Drei Könige“ befindet sich – nun als Seitenaltar – am ursprünglichen Ort, der Stadtpfarrkirche Sankt Martin in Meßkirch. Der Wildensteiner Altar, der sich seit 2002 als Leihgabe in der Staatsgalerie Stuttgart befand, konnte im Jahr 2012 mit Unterstützung der Kulturstiftung der Länder und der Ernst von Siemens Kunststiftung endgültig erworben werden. Nach dem „Ausverkauf kultureller Bedeutung durch das Adelshaus Fürstenberg“ wurde er als „Die Trophäe unter den Neuerwerbungen“ bezeichnet. Liste der Werke des Meisters von Meßkirch Heinrich Feurstein hatte 1933 seine Liste nach der alphabetischen Sortierung der damaligen Standorte nummeriert. Dies stimmt mit den heutigen Standorten nicht mehr überein. Die Große Landesausstellung vom 8. Dezember 2017 bis 2. April 2018 in Stuttgart stellte die bisher vollständigste Schau der Werke des Meisters von Meßkirch dar. In der Ausstellung und im Katalog wurde versucht, die einstigen Werkzusammenhänge wieder darzustellen. Da einige wenige Werke nicht ausgestellt werden konnten (mit n.a. markiert), ist die Ausgangssortierung dieser Liste chronologisch nach dem Entstehungsjahr der Werke, bei den Altären aus St. Martin noch nach den dem Stuttgarter Katalog folgenden, rekonstruierten Werkzusammenhängen eingeordnet. Die Liste ist sortierbar: Nach Werkzusammenhang, Sammlung, Inventarnummer, Standort, nach der Katalognummer der Landesausstellung Stuttgart (Tabellenspalte LaSt) und nach Feursteinnummer (Tabellenspalte Fst). Literatur Heinrich Feurstein: Der Meister von Meßkirch im Lichte der neuesten Funde und Forschungen. Urban, Freiburg i.Br. 1933. Enno Krüger: Frühe Sammler altdeutscher Tafelgemälde nach der Säkularisation von 1803, Dissertation, Philosophische Fakultät der Rupprechts-Karls-Universität Heidelberg, ZEGK - Institut für Europäische Kunstgeschichte, 21.01.2009 Staatsgalerie Stuttgart, Elsbeth Wiemann (Hrsg.): Der Meister von Meßkirch. Katholische Pracht in der Reformationszeit. Hirmer, München 2017, ISBN 978-3-7774-2918-2. Weblinks Der Meister von Meßkirch. Katholische Pracht in der Reformationszeit. Große Landesausstellung Staatsgalerie Stuttgart, 8. Dezember 2017 – 2. April 2018 Einzelnachweise Meister Kultur (Meßkirch) Renaissance (Malerei) Liste (Bildende Kunst)
12593625
https://de.wikipedia.org/wiki/Susanna%20im%20Bade%20%28Lovis%20Corinth%29
Susanna im Bade (Lovis Corinth)
Susanna im Bade (BC 74) ist ein frühes Gemälde des deutschen Malers Lovis Corinth, das 1890 in seiner Heimatstadt Königsberg entstand. Corinth malte es in zwei geringfügig voneinander verschiedenen Versionen, von denen er die erste im Jahr 1891 im Salon de Paris ausstellte. Diese verschollen geglaubte Fassung wurde erst 2006 bei einer Auktion aus Privatbesitz wiederentdeckt. Die bekanntere zweite Version befindet sich dagegen seit 1966 in der Sammlung des Museums Folkwang in Essen. Das in Öl auf Leinwand ausgeführte hochformatige Bild misst 159 × 111 Zentimeter. Corinth greift darin die in der bildenden Kunst beliebte und häufig verarbeitete Bibelgeschichte der Susanna im Bade auf und setzt sie als Aktdarstellung um. Das Gemälde zeigt die unbekleidete Susanna nach dem Baden, die heimlich von zwei Männern beobachtet wird. Als Vorlage für die beiden Beobachter diente der Künstler selbst, der sich damit als Voyeur darstellte. Bemerkenswert ist die sehr realistische und naturalistische Darstellung der Susanna, die nicht den gängigen Malweisen der damaligen Meister entsprach. Die Kombination aus einer Aktdarstellung und einem Historienbild traf jedoch den zu dieser Zeit vorherrschenden Geschmack des Publikums. Bildbeschreibung Das Gemälde zeigt eine nackte junge Frau, die sich nach dem Bad abtrocknet und ankleidet. Der Maler befindet sich in leichter Unterposition und schaut seitlich auf den etwas erhöht sitzenden Körper der Dargestellten. Susanna ist großfigurig im Vordergrund des Bildes auf einer Bank sitzend und in vorgebeugter Haltung von der rechten Seite dargestellt. Sie greift mit ihrer rechten Hand in ein auf dem Boden liegendes weißes Handtuch, der rechte Arm bedeckt dabei den oberen Teil ihrer Brust, wobei die Brustwarze sichtbar bleibt, und einen Abschnitt des Oberschenkels. Die linke Hand hält bereits ein Ende des Handtuchs und ist angewinkelt auf das linke Knie gelegt. Der Rücken ist gebogen und die Schultern weisen nach vorn, während sie sich das Bein abtrocknet. Der Kopf ist nur leicht erhoben, das Gesicht liegt im Schatten und die Augen sind auf die Kleidung gerichtet. Der Rücken ist durch einen Lichteinfall von der linken Seite hell beleuchtet und befindet sich im Zentrum des Bildes, der Vorderkörper und die Beine liegen im Schatten der rechten Hälfte. Den Hintergrund bildet eine glatte Wand aus großen und hellen Steinplatten mit einzelnen Fugen. Sie nimmt etwa drei Viertel der vorderen Breite des Bildes ein und stellt somit vollständig den Hintergrund für die sich ankleidende Frau dar. Das letzte Viertel zeigt einen zur linken Seite im oberen Bereich zurückgezogenen grauen Vorhang. In der Lücke ist vor einem blauen Himmel das Gesicht eines bärtigen Mannes zu sehen, der direkt auf die unbekleidete Frau blickt, ein weiterer Mann mit undeutlicherem Gesicht steht hinter ihm und blickt ebenfalls auf die Frau. Auf der Bank, auf der die Frau sitzt, und auf dem Boden liegt ihre Kleidung, bestehend aus einem weißen Unterkleid und einem bunten Gewand aus rotem und goldenem Stoff. Auf der Kleidung liegt ein goldener Armreif, am Boden liegen zudem eine Rosenblüte und ein weiterer Armreif. Das Bild ist an der rechten Seite etwa in der Mitte auf der Wand signiert und datiert mit . Hintergrund und Entstehung Susanna im Bade nimmt Bezug auf die häufig aufgegriffene biblische Geschichte der Susanna im Bad aus den Apokryphen zum Buch Daniel. Darin wird die gottesfürchtige Susanna beim Baden im Garten ihres Mannes von zwei Ältesten oder Richtern des Volkes beobachtet und nachfolgend bedrängt. Sie verweigert sich den Männern, die sich daraufhin rächen, indem sie Susanna des Ehebruchs bezichtigen. In der nachfolgenden Gerichtsverhandlung werden sie von Daniel entlarvt und zum Tode verurteilt. Susanna im Bade wurde 1890 von Corinth in zwei Fassungen gemalt, die sich nur in sehr wenigen Details unterscheiden. Entsprechend der Signatur entstanden sie in seiner Heimat in Königsberg, heute Kaliningrad. Laut Charlotte Berend-Corinth sind beide Fassungen fast identisch: „Die Unterschiede bestehen in der Behandlung des Armreifs auf der Bank, der Rose auf dem Boden und des Faltenwurfs.“ Sie notierte zudem bei der Beschreibung des ebenfalls in Königsberg gemalten Porträts Polanger Jüdin (BC 76), dass es sich dabei um eine Vorarbeit für das Gemälde Susanna im Bade handelte. Es ist entsprechend anzunehmen, dass diese junge Frau als Modell für die Susanna wirkte. Zeitliche Einordnung Lovis Corinth ging 1880 für sein Kunststudium an die Kunstakademie nach München, die zu der Zeit als bedeutendstes Zentrum für Malerei neben Paris galt. Er besuchte die Kurse von bekannten Malern wie Franz Defregger, Wilhelm Trübner und Ludwig von Löfftz und schloss sich der Strömung des Naturalismus an. Daneben spielte allerdings auch die Aktmalerei eine große Rolle in seiner Ausbildung. Nach einer kurzen Unterbrechung durch seinen Militärdienst von 1882 bis 1883 ging Corinth 1884 für drei Monate nach Antwerpen zu Paul Eugène Gorge und im Oktober 1884 für drei Jahre nach Paris, wo er in die Privatakademie Académie Julian eintrat. Die Académie Julian bot zur damaligen Zeit vor allem eine Möglichkeit für ausländische Maler und auch Frauen, die an der renommierten École des Beaux-Arts in der Regel abgewiesen wurden. Seine Lehrer waren Tony Robert-Fleury und William Adolphe Bouguereau, bei denen er sich vor allem mit der Aktmalerei von Frauen (peinture de la femme) befasste. Vor allem Bouguereau hatte einigen Erfolg mit mythologischen und allegorischen Szenen, die von meist weiblichen Akten bevölkert waren; Corinth besuchte und beobachtete beide in ihrem Atelier in der Galérie Montmartre. Sein bei Gorge gemaltes Bild Das Komplott wurde 1885 als erstes Bild von ihm im Pariser Salon gezeigt. 1887 zog Lovis Corinth nach Berlin und verbrachte dort den Winter, in dem er unter anderem Max Klinger, Walter Leistikow und Karl Stauffer-Bern kennenlernte. In Berlin entstand wahrscheinlich auch sein erstes Selbstbildnis, dem im Laufe seines Lebens noch etliche folgten. Im darauffolgenden Jahr kehrte er jedoch erst einmal zurück zu seinem mittlerweile schwerkranken Vater nach Königsberg und porträtierte ihn dort noch mehrmals, bevor dieser am 10. Januar 1889 starb. Die Susanna im Bade malte Corinth entsprechend im Jahr nach dem Tod seines Vaters, noch in der ostpreußischen Stadt Königsberg. Sein Künstlerkollege Carl Bublitz porträtierte Corinth in dem Jahr vor dem noch unfertigen Gemälde der Susanna im Bade, während dieser sich in einem Handspiegel betrachtete, um die zwei Alten im Hintergrund zu malen. Corinth selbst malte im Gegenzug ein Porträt des Malers Bublitz, bei dem er wie auch in dem ebenfalls in Königsberg gemalten Porträt des Schauspielers Ragall seine Erfahrungen aus Antwerpen und Paris umsetzte und diese mit deutlichen Anleihen an die Malerei von Frans Hals gestaltete. Bublitz porträtierte er in seinem eigenen Atelier vor dem noch unfertigen Bildnis Schwimmanstalt bei Grothe, Königsberg. Ebenfalls 1890 bekam das Gemälde Pietà, das er beim Pariser Salon eingereicht hatte, eine Auszeichnung. Corinth entschloss sich, wieder nach München zurückzukehren, um dort weiter zu arbeiten. Auch Susanna im Bade reichte er beim Pariser Salon ein und sie wurde 1891 dort präsentiert. Die Kombination aus einer Aktdarstellung und einem Historienbild entsprach dem zu der Zeit vorherrschenden Geschmack des Publikums und der Jury des Salons, weshalb das Bild angenommen wurde. In seiner Selbstbiografie erwähnte Corinth das Bild nicht, jedoch schildert er seine Freude über die Auszeichnung der Pietà: 1891 kehrte er entsprechend nach München zurück und konzentrierte sich auf seine weitere Karriere als Maler, wobei er die verschiedenen aktuellen Strömungen in Anlehnung an Klinger, Hans Thoma und Arnold Böcklin aufnahm, die mehr und mehr Farbe in die vorher von tonigen Brauntönen beherrschten Bilder brachten. Einordnung in das künstlerische Werk Susanna im Bade gehörte zu den frühen Werken Corinths und es war eines der ersten Werke, bei denen er ein Motiv mit religiösem Hintergrund wählte. 1889 hatte er mit dem Leichnam Christi und vor allem dem davon abgeleiteten Werk Pietà internationalen Erfolg, und mit Susanna im Bade griff er ein weiteres biblisches Motiv auf. Hier verband er es mit seiner Leidenschaft für Frauenaktdarstellungen, die sein Werk bereits von Beginn an begleiteten und vor allem in den Lehrjahren einen Schwerpunkt darstellten. Laut Maria Makela nutzte Corinth die Darstellung von mythologischen, literarischen und damit auch biblischen Themen regelmäßig dazu, soziale und politische Bedenken zu artikulieren. Corinth greift das Motiv der Susanna hier zum ersten Mal auf. Er beschäftigte sich im Laufe seines Lebens regelmäßig damit, sodass es ihn während seiner gesamten Schaffenszeit begleitete. Er kehrte immer wieder zum Thema zurück, unter anderem in Gemälden aus den Jahren 1897, 1909 und 1923 sowie in einzelnen Zeichnungen und Grafiken, was seine wechselnde Sichtweise auf die Geschichte und seine Entwicklung als Künstler verdeutlicht. Sevcik schließt daraus, dass das Motiv der Susanna für Corinth mehr als nur einen beliebigen „Vorwand der Nobilitierung der für ihn wichtigen Aktmalerei“ bot und er „das Motiv nicht nur zur Lösung künstlerischer Formfragen heranzog.“ Während er in dieser Susanna im Bade allerdings den voyeuristischen Aspekt der Geschichte in den Vordergrund stellt, widmet er sich in späteren Bildern der Bedrängung der Susanna durch die beiden Männer. In dem Gemälde Susanna und die beiden Alten von 1897 bedrängen die beiden Männer die auf der Bank sitzende Frau von hinten, sie wird entsprechend im Frontalakt dargestellt. Bei Susanna im Bade von 1909 wählt Corinth eine ähnliche Szene, allerdings wird hier aus der Bedrängung bereits ein handfester Übergriff, indem die Alten die junge Frau bereits an der Schulter herabdrücken und ihr sehr nah kommen. Zu diesem Bild existiert zudem eine Radierung von Corinth aus dem Jahr 1914. 1923 malte Corinth die Szene nochmals, jetzt in Form eines Rückenakts der Susanna, die unbekleidet vor den beiden Männern steht; er entspricht im Motiv einer Zeichnung, die Corinth bereits 1890 anfertigte und 1923 kolorierte. Für die Darstellung der Alten steht Corinth selbst Modell, was durch das Gemälde von Bublitz belegt ist. Obwohl seine Züge fratzenhaft überzeichnet werden, lässt sich daraus auch eine Parallele zu den zahlreichen Selbstbildnissen Corinths ziehen. Deutung und Rezeption Das Motiv der Susanna steht in einer langen Bildtradition, die während der Renaissance- und Barockzeit beginnt und bis in die Moderne reicht. Bekannte Werke und potenzielle Vorbilder stammen dabei, neben zahlreichen anderen, unter anderem von Jacopo Tintoretto oder Rembrandt. Corinth widmete sich allerdings nicht, wie viele andere, „dem häufig mit drastischem Begrapschen dargestellten Überfall der Alten, sondern dem seltener gewählten, verhaltenen ‚Belauschungsmoment‘.“ Das Bild von Corinth wird dabei gelegentlich mit dem Bild Die keusche Susanna des französischen Salonmalers Jean-Jacques Henner verglichen, das dieser um 1863 malte und das einen vergleichbaren Aspekt aus der Geschichte darstellt. Corinth kannte dieses zeitgenössische Bild wahrscheinlich aus einer Ausstellung im Palais Luxembourg. Dabei stellt etwa Andrea Bärnreuther heraus, wie sich die Darstellung und Malerei Corinths von der der französischen Maler der Zeit unterscheidet: „Corinths Intention zielte darauf, die Aktdarstellung zu entformeln und der phrasenhaften, jeden sinnlichen Gedanken fernhaltenden Darstellung das entwichene Leben zurückzugeben.“ Nach Sevcik 2022 unterscheiden sich die Bilder vor allem durch den „lockeren Pinselstrich“ Corinths: „Corinths Inkarnat flirrt, die Draperien fließen, der Boden funkelt einer Wasserfläche gleich“. Naturalistische Historienmalerei Nach Bärnreuthers Interpretation „erübrigt sich eine tiefergreifende ikonografische Analyse“, da die hinzugefügten Accessoires einschließlich der Köpfe der Alten und des Vorhangs nebensächlich und anekdotenhaft seien und damit eine Allusion auf das Thema schaffen. Corinth bediene damit „die konventionelle Rhetorik des Blicks, der das sieht, was er zu sehen gewohnt ist.“ Obwohl die frühen Werke Corinths mit religiösen Motiven formal und kompositorisch auf verschiedene Schulen zurückgriffen, bei denen Corinth in Ausbildung war, und auch die Alten Meister einbezogen, waren sie jedoch auch vom Naturalismus geprägt. Diese Form der Malerei, die Abkehr von der „Gelehrtenmalerei“, entwickelte sich sowohl in Deutschland und Frankreich bereits mit Jean-Auguste-Dominique Ingres und Anselm Feuerbach, vor allem aber in naturalistischen und realistischen Historiendarstellungen und Bildern nach literarischen Vorlagen von Gustave Courbet, Max Klinger, Lawrence Alma-Tadema und Franz von Stuck. Auch Makela stellt heraus, dass die Darstellung der Susanna, obwohl idealisiert dargestellt, identifizierbar realistisch sei und Corinth nur wenige ihrer traditionellen ikonografischen Attribute aufnimmt. Da zudem nur einer der zwei lüsternen Alten hinter dem Vorhang deutlich zu sehen ist, „operiere Corinths Darstellung ebenso auf einer säkulären wie auf einer religiösen Ebene.“ Sie stellt hier eine Parallele zur Pietà her, bei der der Körper des verstorbenen Christus ebenfalls sehr realistisch und wenig idealisiert dargestellt ist, und bei dem ebenfalls auf typische Ikonografien wie den Heiligenschein verzichtet wurde; nach ihrer Darstellung wurde von einem Rezensenten gar vorgeschlagen, den Titel von Beweinung Christi in Beweinung eines Todten umzubenennen. Aktdarstellung Die naturalistische Gestaltung der Bilder zeigt sich bei Corinth ganz besonders in den Aktdarstellungen, sowohl im Bereich der Historienmalerei wie auch in seinen Aktporträts. Laut Friedrich Gross verdankte er seinen „Ruf als besonders sinnlicher, Rubens verwandter Maler […] seinen Akten, sowohl den Darstellungen von Modellen als auch den Figuren mythologischer und symbolischer Kombination.“ Dabei stelle er „wie Manet oder Klinger dem akademischen Schönheitsideal des 19. Jahrhunderts eine lebenswahre, prosaische Gestaltung des nackten Menschen entgegen.“ Zugleich spiegele die Frauendarstellung in Corinths Figurenkompositionen fast kritiklos die patriarchalischen Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft und stelle die Frauen in der Regel als Verführerin, als Sich-Hingebende oder wie im Fall der Susanna im Bade als Bedrängte dar. Gert von der Osten schrieb 1955, dass sich Corinth während seiner Ausbildung an der Académie Julian zum ersten Mal intensiver mit der Aktmalerei auseinandersetzte. Aus dieser Zeit seien viele Skizzen und Studien vorhanden, ein großes Aktbild, an dem er arbeitete, sei jedoch verloren gegangen. Bei Corinth wurde hier nach van der Osten zum ersten Mal der Frauenleib zu einem „lebenden atmenden Wesen“, was auch auf seine späteren Werke immer zuträfe. Van der Osten schrieb, dass auch die in Königsberg gemalte Susanna im Bade der „Pariser Ernte“ zuzuordnen sei; er beschrieb es als Grenzthema zwischen „Historie und Sittenbild“, das besonders dazu geeignet war, „die Selbstbefreiung Corinths zu fördern“. Während frühere Werke wie Das Komplott und andere noch sehr der Münchner Schule verhaftet seien, sei hier „zum ersten Mal das anekdotenhafte Genrestück“ derselben überwunden. Die Susanna habe „kaum mehr etwas von novellistischer Zuspitzung, von gestellten Modellen, nichts habe [sie] auch von der übermäßigen Gespanntheit, mit welcher Leibl in tragischem Scheitern seine Wildschützen erfüllt“ habe. Der Maler Wilhelm Leibl hatte dieses Bild zerstört, Corinth lernte es jedoch noch vorher in Paris kennen, was ihm „Mahnung und Warnung zugleich“ wurde. Voyeurismus Wie dargestellt wählte Corinth eine Szene der Geschichte aus, in der die beiden Ältesten die Frau in dem intimen Moment des Bades beobachten und belauschen, indem sie sich hinter einem Vorhang verstecken und für die Dargestellte unsichtbar bleiben. Durch die Nutzung seines eigenen Gesichts stellt sich Corinth selbst in die Position des Voyeurs. Mehrere klassische und auch zeitgenössische Vorbilder nutzten die gleiche Szene für ihre Susanna-Darstellungen. Eine besondere Rolle für die Voyeursszenerie stellt dabei der durch die Beleuchtung in den Vordergrund gestellte Rücken der Beobachteten dar, wie es unter anderem auch in Rembrandts Susanna oder in der Sitzenden Badenden beim Ofen von Paulus Bor umgesetzt wurde. Die Rückenposition signalisiert nach Sevcik 2022 die „Fiktion des Unbeobachtetseins“ der Frau und schafft damit eine „reizvolle Stimmung“ für den Betrachter. Es entsteht eine „für den ‚Männerblick‘ geschaffene Perspektive, die ‚das besitzergreifende Begehren des Voyeurs‘ anfeuern soll.“ Provenienz und Ausstellungen Provenienz Die Provenienz der beiden Bilder wurde bislang nicht oder nur teilweise systematisch erforscht. Dem Werkverzeichnis von Berend-Corinth folgend befand sich die erste Fassung des Bildes zuerst in Privatbesitz bei Alice Schurz in Wiesbaden und später in der Kunstsammlung der Stadt Königsberg. Danach war der Verbleib des Bildes unbekannt (Stand 1992), bis es 2006 im Auktionshaus von Koller Auktionen in der Schweiz verkauft wurde. Am 3. November 2015 fand bei Sotheby’s in New York eine weitere Auktion für das Bild statt, wobei der Verkaufspreis des Bildes auf 100.000 bis 150.000 US-Dollar geschätzt wurde; verkauft wurde es für 137.500 US-Dollar. Für die zweite Fassung listet das Werkverzeichnis die Besitzer ohne Angabe von genaueren Daten. Sie war demnach anfänglich im Besitz der Berliner Kunsthandlung Ernst Zaeslein und ging von dort an einen privaten Besitzer in Breslau. Über die Ende 1913 von Georg Caspari gegründete Münchener Galerie Caspari ging das Bild später an den Kunstsammler Karl Wilhelm Zitzmann in Erlangen und von dort in die Sammlung des Kunsthändlers Julius Stern in Düsseldorf über. Der letzte Privatbesitzer des Bildes war die Familie des Druckereibesitzers und Verlegers Girardet, und seit 1966 befindet es sich durch eine Schenkung von Wilhelm Girardet, Sohn von Wilhelm Girardet junior, in der Sammlung des Museums Folkwang in Essen, wo es unter der Inventarnummer G 349 verzeichnet ist. Ausstellungen Corinths Susanna im Bade wurde in seiner ersten Fassung 1891 im Salon de Paris eingereicht und ausgestellt, erreichte aber nicht den Erfolg des im Vorjahr ausgestellten Gemäldes Pietà und die „mention honorables“. Im Jahr 1893 wurde das Bild zum einen bei der Großen Berliner Kunstausstellung, zum anderen bei der „Freien Berliner Kunstausstellung 1893“ der späteren Berliner Secession gezeigt. 1903 war es in der Galerie von Paul Cassirer in Berlin und 1913 in der Galerie Wimmer in München ausgestellt. 1926, ein Jahr nach dem Tod von Lovis Corinth, war es Teil einer Ausstellung des Kunstvereins Kassel sowie einer weiteren in der Berliner Nationalgalerie; der Kunstverein Dresden zeigte das Bild 1927 zum letzten Mal vor der Zeit des Nationalsozialismus und dem Zweiten Weltkrieg. Nach dem Zweiten Weltkrieg war Susanna im Bade 1950 im Landesmuseum Hannover zu sehen und 1958 in Wolfsburg. Die Kunsthalle Köln stellte das Bild im Jahr 1976 aus und 1985 war es zusammen mit zahlreichen anderen Werken Teil der Ausstellung Lovis Corinth 1858–1925 im Museum Folkwang in Essen sowie bei der Hypo-Kulturstiftung in München. 1992 wurde es im Kunstforum Wien und danach bis Anfang 1993 im Niedersächsischen Landesmuseum Hannover gezeigt. 1996 war es Bestandteil einer umfangreichen Retrospektive zum Werk von Lovis Corinth in der Nationalgalerie in Berlin, dem Haus der Kunst in München sowie der Tate Gallery in London und dem Saint Louis Art Museum. Von Oktober 2022 bis Februar 2023 war es neben zahlreichen weiteren Kunstwerken mit Motiven der Susanna-Geschichte Bestandteil der Ausstellung Susanna – Bilder einer Frau vom Mittelalter bis MeToo im Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud in Köln. Belege Literatur Susanna im Bade. In: Charlotte Berend-Corinth: Lovis Corinth. Werkverzeichnis. Neu bearbeitet von Béatrice Hernad. Bruckmann Verlag, München 1992, ISBN 3-7654-2566-4, S. 65–66. Anja K. Sevcik: Susanna zwischen Akt und Historie. In: Roland Krischel, Anja K. Sevcik (Hrsg.): Susanna – Bilder einer Frau vom Mittelalter bis MeToo. Katalog anlässlich der gleichnamigen Ausstellung der Wallraf-Richartz-Museum & Fondation Corboud, 28. Oktober 2022 bis 26. Februar 2023. Michael Imhof Verlag, Petersberg 2022, ISBN 978-3-7319-1230-9, S. 198–200. Andrea Bärnreuther: Susanna im Bade, II. Fassung, 1890. In: Peter-Klaus Schuster, Christoph Vitali, Barbara Butts (Hrsg.): Lovis Corinth. Prestel, München 1996, ISBN 3-7913-1645-1, S. 106. Weblinks Susanna im Bade in der Sammlung des Folkwang-Museums Essen. Lovis Corinth: Susanna im Bade bei Koller Auktionen, 23. Juni 2006; Auktion für Lovis Corinth: Susanna im Bade. 19th Century European Art / Lot 74 auf Sotheby’s, 3. November 2015; Auktion für Lovis Corinth: Susanna im Bade. Werk der Porträtmalerei Gemälde von Lovis Corinth Gemälde (19. Jahrhundert) Frauenporträt Museum Folkwang Gemälde (Altes Testament) Weiblicher Akt
923
https://de.wikipedia.org/wiki/Cosimo%20de%E2%80%99%20Medici
Cosimo de’ Medici
Cosimo de’ Medici (genannt il Vecchio ‚der Alte‘; * 10. April 1389 in Florenz; † 1. August 1464 in Careggi bei Florenz) war ein Staatsmann, Bankier und Mäzen, der jahrzehntelang die Politik seiner Heimatstadt Florenz lenkte und einen wesentlichen Beitrag zu ihrem kulturellen Aufschwung leistete. Wegen seiner Zugehörigkeit zur Familie der Medici (deutsch auch „Mediceer“) wird er „de’ Medici“ genannt; es handelt sich nicht um ein Adelsprädikat, die Familie war bürgerlich. Als Erbe der von seinem Vater Giovanni di Bicci de’ Medici gegründeten, stark expandierenden Medici-Bank gehörte Cosimo von Haus aus zur städtischen Führungsschicht. Der geschäftliche Erfolg machte ihn zum reichsten Bürger von Florenz. Den Rahmen für seine politische Betätigung bot die republikanische Verfassung der Stadt, die er im Prinzip respektierte, aber mit Hilfe seiner großen Anhängerschaft umgestaltete. Dabei setzte er sich gegen heftige Opposition einiger bisher tonangebender Familien durch. Sein maßgeblicher Einfluss auf die Politik beruhte nicht auf den Ämtern, in die er gewählt wurde, sondern auf dem geschickten Einsatz seiner finanziellen Ressourcen und einem ausgedehnten Netzwerk persönlicher Beziehungen im In- und Ausland. Es gelang ihm, ein dauerhaftes Bündnis mit Mailand, einer zuvor feindlichen Stadt, zuwege zu bringen und damit außenpolitische Stabilität zu schaffen, die nach seinem Tode anhielt. Cosimos politische Erfolge, seine umfangreiche Förderung von Kunst und Bildungswesen und seine imposante Bautätigkeit verschafften ihm eine einzigartige Autorität. Dennoch konnte er Entscheidungen in heiklen Fragen nicht eigenmächtig treffen, sondern blieb stets auf Konsensbildung in der Führungsschicht angewiesen. Er achtete darauf, nicht wie ein Herrscher aufzutreten, sondern wie ein Bürger unter Bürgern. Das außerordentliche Ansehen, das Cosimo genoss, spiegelte sich in der posthumen Verleihung des Titels Pater patriae („Vater des Vaterlandes“) wider. Mit seinem Vermögen ging die informelle Machtstellung, die er errungen hatte, auf seine Nachkommen über, die seine mäzenatische Tätigkeit in großem Stil fortsetzten. Bis 1494 spielten die Medici in der florentinischen Politik und im kulturellen Leben eine dominierende Rolle. In der modernen Forschung werden Cosimos Leistungen überwiegend positiv beurteilt. Seine staatsmännische Mäßigung und Weitsicht, seine unternehmerische Kompetenz und sein kulturelles Engagement finden viel Anerkennung. Andererseits wird auch auf das große Konfliktpotenzial hingewiesen, das sich aus der massiven, andauernden Dominanz einer übermächtigen Familie in einem republikanischen, traditionell antiautokratischen Staat ergab. Längerfristig erwies sich Cosimos Konzept der indirekten Staatslenkung mittels eines Privatvermögens als nicht tragfähig; im letzten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts brach das von ihm etablierte System zusammen. Die politischen Verhältnisse Nach dem Zusammenbruch des staufischen Kaisertums im 13. Jahrhundert war in Nord- und Mittelitalien, dem sogenannten Reichsitalien, ein Machtvakuum entstanden, das niemand auszufüllen vermochte. Wenngleich die römisch-deutschen Könige im 14. und 15. Jahrhundert weiterhin Italienzüge unternahmen (wie Heinrich VII., Ludwig IV. und Friedrich III.), gelang es ihnen nicht, die Reichsgewalt in Reichsitalien dauerhaft durchzusetzen. Die traditionelle Tendenz zur Zersplitterung der politischen Landschaft setzte sich im Spätmittelalter allgemein durch. Es bildete sich eine Vielzahl von lokalen und regionalen Machtzentren heraus, die einander fortwährend in wechselnden Konstellationen bekämpften. Die wichtigsten unter ihnen waren die großen Städte, die keine übergeordnete Gewalt akzeptierten und nach der Bildung größerer von ihnen kontrollierter Territorien strebten. Nördlich des Kirchenstaats waren die Hauptakteure das autokratisch regierte Mailand, die bürgerliche Republik Florenz und die Adelsrepublik Venedig, die nicht zu Reichsitalien gehörte. Die Politik war in erster Linie von den scharfen Gegensätzen zwischen benachbarten Städten geprägt. Oft bestand zwischen ihnen eine Erbfeindschaft; die größeren versuchten, die kleineren niederzuhalten oder völlig zu unterwerfen, und stießen dabei auf erbitterten Widerstand. Die Kosten der immer wieder aufflackernden militärischen Konflikte führten häufig zu einer gravierenden wirtschaftlichen Schwächung der beteiligten Kommunen, was jedoch die Kriegslust kaum dämpfte. Überdies wurden in den Städten heftige Machtkämpfe zwischen einzelnen Sippen und politischen Gruppierungen ausgetragen, die gewöhnlich zur Hinrichtung oder Verbannung der Anführer und namhaften Parteigänger der unterlegenen Seite führten. Ein Hauptziel der meisten politischen Akteure war die Wahrung und Vermehrung der Macht und des Ansehens der eigenen Familie. Manche Kommunen wurden von Alleinherrschern regiert, die eine Gewaltherrschaft errichtet oder geerbt hatten. Diese von Republikanern als Tyrannis gebrandmarkte Regierungsform wird in der Fachliteratur als Signorie bezeichnet (nicht zu verwechseln mit signoria als Bezeichnung für einen Stadtrat). Sie war gewöhnlich mit Dynastiebildung verbunden. Andere Stadtstaaten hatten eine republikanische Verfassung, die einer relativ breiten Führungsschicht direkte Machtbeteiligung ermöglichte. In Florenz, der Heimat der Medici, bestand traditionell eine republikanische Staatsordnung, die fest verankert war und von einem breiten Konsens getragen wurde. Es herrschte das in Gilden und Zünften organisierte, überwiegend kommerziell oder gewerblich tätige Bürgertum. Man hatte ein ausgeklügeltes System der Gewaltenteilung ersonnen, das gefährlicher Machtzusammenballung vorbeugen sollte. Das wichtigste Regierungsorgan war die neunköpfige Signoria, eine Ratsversammlung, deren Mitglieder sechsmal im Jahr neu bestimmt wurden. Die Kürze der zweimonatigen Amtszeit sollte tyrannischen Bestrebungen den Boden entziehen. Die Stadt, die 1427 etwa 40.000 Einwohner hatte, war in vier Bezirke geteilt, von denen jeder zwei priori (Mitglieder der Signoria) stellte. Zu den acht priori kam als neuntes Mitglied der gonfaloniere di giustizia (Bannerträger der Gerechtigkeit) hinzu. Er war der Vorsitzende des Gremiums und genoss daher unter allen städtischen Amtsträgern das höchste Ansehen, hatte aber nicht mehr Macht als seine Kollegen. Zur Regierung gehörten noch zwei weitere Organe: der Rat der dodici buonomini, der „zwölf guten Männer“, und die sechzehn gonfalonieri (Bannerträger), vier für jeden Bezirk. Diese beiden Gremien, in denen die Mittelschicht stark vertreten war, nahmen zu politischen Fragen Stellung und konnten Gesetzesentwürfe blockieren. Zusammen mit der Signoria bildeten sie die Gruppe der tre maggiori, der drei führenden Institutionen, die den Staat lenkten. Die tre maggiori schlugen neue Gesetze vor, doch konnten diese erst in Kraft treten, wenn sie von zwei größeren Gremien, dem dreihundertköpfigen Volksrat (consiglio del popolo) und dem zweihundert Mitglieder zählenden Gemeinderat (consiglio del comune), mit Zweidrittelmehrheit gebilligt worden waren. In diesen beiden Räten betrug die Amtszeit vier Monate. Ferner gab es Kommissionen, die für besondere Aufgaben zuständig waren und der Signoria unterstanden. Die bedeutendsten von ihnen waren der achtköpfige Sicherheitsausschuss (otto di guardia), der für die innere Staatssicherheit zu sorgen hatte und die Geheimdienstaktivitäten lenkte, und die dieci di balìa („zehn Bevollmächtigte“), ein Gremium mit sechsmonatiger Amtszeit, das sich mit Außen- und Sicherheitspolitik befasste und im Kriegsfall die militärischen Aktionen plante und überwachte. Die dieci di balìa hatten die Fäden der Diplomatie weitgehend in den Händen. Daher wurden sie für die Medici, als diese die Staatslenkung übernahmen, ein zentrales Instrument bei der Steuerung der Außenpolitik. Das in Florenz herrschende tiefe Misstrauen gegen übermächtige Personen und Gruppen war der Grund dafür, dass die meisten Amtsträger, vor allem die Mitglieder der tre maggiori, weder durch Mehrheitsbeschluss gewählt noch aufgrund einer Qualifikation ernannt wurden. Sie wurden vielmehr aus der Menge aller als amtstauglich anerkannten Bürger – etwa zweitausend Personen – durch das Los ermittelt. Man legte die Zettel mit den Namen in Losbeutel (borse), aus denen dann die Zettel der künftigen Amtsträger blind gezogen wurden. Für die Signoria galt ein Verbot aufeinanderfolgender Amtszeiten. Man durfte nur einmal in drei Jahren amtieren, und es durfte niemand aus derselben Familie im vorigen Jahr dem Gremium angehört haben. Die Berechtigung zur Teilnahme an den Auslosungen musste in bestimmten Zeitabständen – theoretisch alle fünf Jahre, faktisch etwas unregelmäßiger – überprüft werden. Diesem Zweck diente das squittinio, ein Verfahren, mit dem festgestellt wurde, wer die Anforderungen der Amtstauglichkeit erfüllte. Zu diesen zählten Freiheit von Steuerschulden und Zugehörigkeit zu mindestens einer der Zünfte. Es gab „größere“ (das heißt angesehenere und mächtigere) und „kleinere“ Zünfte, und sechs der acht Priorensitze in der Signoria waren den größeren vorbehalten. Das Ergebnis des squittinio war jeweils eine neue Liste der politisch vollberechtigten Bürger. Wer einer der größeren Zünfte (arti maggiori) angehörte und im squittinio für tauglich befunden worden war, konnte sich zum Patriziat der Stadt zählen. Da das squittinio Manipulationsmöglichkeiten bot und über den sozialen Rang der am politischen Leben beteiligten Bürger entschied, war seine Durchführung politisch heikel. Das System der Ämterbesetzung durch Losentscheid hatte den Vorteil, dass zahlreiche Angehörige der städtischen Führungsschicht Gelegenheit erhielten, ehrenvolle Ämter zu bekleiden und so ihren Ehrgeiz zu befriedigen. Jedes Jahr wurden die Hauptorgane der Stadtverwaltung mit 1650 neuen Leuten besetzt. Ein Nachteil des häufigen Führungswechsels war die Unberechenbarkeit; eine neue Signoria konnte einen ganz anderen Kurs steuern als ihre Vorgängerin, wenn sich die Mehrheitsverhältnisse durch den Zufall des Losentscheids geändert hatten. Für besondere Krisensituationen war der Zusammentritt eines parlamento vorgesehen. Das war eine Versammlung aller männlichen Bürger, die über 14 Jahre alt waren, mit Ausnahme der Kleriker. Das parlamento konnte eine Kommission für Notfälle, eine balìa, wählen und mit Sondervollmachten zur Bewältigung der Krise ausstatten. Leben Herkunft, Jugend und Bewährung im Bankgeschäft (1389–1429) Cosimo wurde am 10. April 1389 in Florenz geboren. Sein Vater war Giovanni di Bicci de’ Medici (1360–1429), seine Mutter Piccarda de’ Bueri. Es war damals üblich, zwecks Unterscheidung von gleichnamigen Personen den Namen des Vaters anzugeben; daher nannte man Giovanni „di Bicci“ (Sohn des Bicci) und seinen Sohn Cosimo „di Giovanni“. Cosimo hatte einen Zwillingsbruder namens Damiano, der bald nach der Geburt starb. Die Brüder erhielten ihre Namen nach Cosmas und Damian, zwei antiken Märtyrern, die ebenfalls Zwillinge waren und als Heilige verehrt wurden. Daher feierte Cosimo später seinen Geburtstag nicht am 10. April, sondern am 27. September, der damals der Festtag des heiligen Brüderpaares war. Cosimos Vater war bürgerlicher Herkunft. Er gehörte der weitverzweigten Sippe der Medici an. Schon im späten 13. Jahrhundert waren in Florenz Medici im Bankgewerbe tätig, doch in den 1360er und 1370er Jahren war die Sippe größtenteils noch nicht reich; die meisten ihrer Haushalte waren sogar relativ minderbemittelt. Dennoch spielten die Medici in der Politik bereits eine wichtige Rolle; im 14. Jahrhundert waren sie in der Signoria häufig vertreten. In ihrem Kampf um Ansehen und Einfluss erlitten sie jedoch einen schweren Rückschlag, als ihr Wortführer Salvestro de’ Medici 1378 beim Ciompi-Aufstand ungeschickt taktierte: Er ergriff zunächst für die Aufständischen Partei, änderte aber später seine Haltung. Dies brachte ihm den Ruf der Wankelmütigkeit ein. Er wurde des Strebens nach Tyrannenherrschaft verdächtigt, schließlich musste er 1382 ins Exil gehen. In der Folgezeit galten die Medici als unzuverlässig. Um 1400 waren sie so diskreditiert, dass ihnen die Bekleidung öffentlicher Ämter untersagt war. Allerdings waren zwei Zweige der Sippe von dem Verbot ausgenommen; einem der beiden gehörten Cosimos Vater und Großvater an. Die Erfahrung der Jahre 1378–1382 war für die Medici ein einschneidendes Erlebnis, das zur Vorsicht mahnte. Um 1380 betätigte sich Giovanni als kleiner Geldverleiher. Dieses Gewerbe wurde damals verachtet; im Gegensatz zum großen Bankgeschäft war es der Öffentlichkeit suspekt, da die Geldverleiher auf offensichtliche Weise das kirchliche Zinsverbot missachteten, während die Bankiers besser in der Lage waren, die Verzinsung ihrer Darlehen zu vertuschen. Später trat Giovanni in den Dienst des Bankiers Vieri di Cambio, des damals reichsten Angehörigen der Medici-Sippe. Ab 1385 leitete er die römische Filiale von Vieris Bank. Nach der Auflösung von Vieris Bank 1391/1392 machte sich Giovanni selbständig und übernahm die römische Filiale. Mit diesem Schritt gründete er die Medici-Bank. Obwohl Rom der weitaus attraktivste Standort in ganz Italien war, verlegte Giovanni 1397 den Hauptsitz seines Unternehmens nach Florenz. Ausschlaggebend war dabei sein Wunsch, in seine Heimatstadt zurückzukehren. Dort schuf er in der Folgezeit zielstrebig ein Netzwerk von Verbindungen, von denen manche vor allem geschäftlich vorteilhaft waren, andere in erster Linie dazu dienten, sein Ansehen und seinen politischen Einfluss zu vergrößern. Seine beiden Söhne, Cosimo und der sechs Jahre jüngere Lorenzo, erhielten ihre Ausbildung in der väterlichen Bank und wurden dann an der Gestaltung der Geschäftspolitik beteiligt. Zu den Allianzen, die Giovanni di Bicci einging, gehörte seine Verbindung mit dem traditionsreichen adligen Geschlecht der Bardi. Die Bardi hatten in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts zu den bedeutendsten Bankiers Europas gezählt. Ihre Bank war zwar 1345 spektakulär zusammengebrochen, doch betätigten sie sich später wieder mit Erfolg im Finanzbereich. Um 1413/1415 wurde das Bündnis der beiden Familien durch eine Heirat bekräftigt: Cosimo schloss die Ehe mit Contessina de’ Bardi di Vernio. Solche Heiraten waren ein wesentlicher Bestandteil der politischen und geschäftlichen Netzwerkbildung. Sie hatten gewichtige Auswirkungen auf den sozialen Status und den Einfluss einer Familie und wurden daher reiflich überlegt. Verschwägerung schuf Loyalitäten. Allerdings war nur ein Teil der Bardi-Sippe an dem Bündnis beteiligt, manche ihrer Zweige zählten zu den Gegnern der Medici. Die ersten Jahrzehnte des 15. Jahrhunderts waren für die Medici-Bank eine Phase zielstrebig vorangetriebener Expansion. Sie hatte Zweigstellen in Rom, Venedig und Genf, zeitweilig auch in Neapel. Im Zeitraum von 1397 bis 1420 wurde ein Reingewinn von 151.820 Florin (fiorini) erwirtschaftet. Davon blieben nach Abzug des Anteils, der einem Partner zustand, für die Medici 113.865 Florin übrig. Mehr als die Hälfte des Gewinns stammte aus Rom, wo die wichtigsten Geschäfte getätigt wurden, nur ein Sechstel aus Florenz. Seinen größten Erfolg errang Giovanni 1413, als ihn der in Rom residierende Gegenpapst Johannes XXIII., mit dem er befreundet war, zu seinem Hauptbankier machte. Zugleich wurde sein Zweigstellenleiter in Rom päpstlicher Generaldepositar (depositario generale), das heißt, er übernahm die Verwaltung des größten Teils der Kircheneinkünfte gegen eine Provision. Als sich Johannes XXIII. im Herbst 1414 nach Konstanz begab, um an dem dorthin einberufenen Konzil teilzunehmen, gehörte Cosimo angeblich zu seinem Gefolge. Doch im folgenden Jahr erlitten die Medici einen herben Rückschlag, als das Konzil Johannes XXIII. absetzte. Damit verlor die Medici-Bank ihre fast monopolartige Stellung im Geschäft mit der Kurie; in den folgenden Jahren musste sie mit anderen Banken konkurrieren. Den Vorrang konnte sie sich erst wieder sichern, nachdem 1420 ein Hauptkonkurrent, die Spini-Bank, in die Insolvenz gegangen war. Als sich Giovanni di Bicci 1420 aus der Leitung der Bank zurückzog, übernahmen seine Söhne Cosimo und Lorenzo gemeinsam die Führung des Unternehmens. Im Jahr 1429 starb Giovanni. Nach seinem Tod wurde das Familienvermögen nicht aufgeteilt; Cosimo und Lorenzo traten zusammen das Erbe an, wobei Cosimo als dem älteren die Entscheidungsgewalt zufiel. Das Vermögen bestand aus etwa 186.000 Florin, von denen zwei Drittel in Rom, jedoch nur ein Zehntel in Florenz erwirtschaftet worden waren – selbst die Zweigstelle in Venedig erwirtschaftete mehr. Neben der Bank gehörte der Familie umfangreicher Grundbesitz im Umland von Florenz, vor allem im Mugello, der Gegend, aus der die Familie ursprünglich stammte. Fortan erhielten die beiden Brüder zwei Drittel des Profits der Bank, der Rest ging an ihre Partner. Angeblich hat Giovanni auf dem Totenbett seinen Söhnen geraten, diskret zu agieren. Sie sollten in der Öffentlichkeit zurückhaltend auftreten, um möglichst wenig Neid und Missgunst zu erregen. Beteiligung am politischen Prozess war für einen Bankier existenznotwendig, da er sonst damit rechnen musste, von Feinden und Rivalen ausmanövriert zu werden. Wegen der Heftigkeit und Unberechenbarkeit der politischen Auseinandersetzungen in der Stadt war aber eine zu starke Profilierung sehr gefährlich, wie der Ciompi-Aufstand gezeigt hatte. Konflikte waren daher möglichst zu vermeiden. Machtkampf und Verbannung (1429–1433) Mit dem wirtschaftlichen Erfolg und sozialen Aufstieg der Medici wuchs ihr Anspruch auf politischen Einfluss. Damit stießen sie trotz ihres zurückhaltenden Auftretens bei einigen traditionell tonangebenden Sippen, die sich zurückgedrängt sahen, auf Widerstand. So kam es zur Bildung zweier großer Gruppierungen, die einander lauernd gegenüberstanden. Auf der einen Seite standen die Medici mit ihren Verbündeten und der breiten Klientel derer, die von ihren Geschäften, ihren Aufträgen und ihrem Einfluss direkt oder indirekt profitierten. Im gegnerischen Lager versammelten sich die Sippen, die ihre herkömmliche Machtstellung behalten und die Aufsteiger in die Schranken weisen wollten. Unter ihnen war die Familie Albizzi die bedeutendste; deren Oberhaupt Rinaldo degli Albizzi wurde zum Wortführer der Medici-Gegner. In dieser Spaltung der Bürgerschaft spiegelten sich nicht nur persönliche Gegensätze zwischen führenden Politikern, sondern auch unterschiedliche Mentalitäten und Grundeinstellungen. Bei der Albizzi-Gruppe handelte es sich um die konservativen Kreise, deren Dominanz 1378 durch den Ciompi-Aufstand, eine von benachteiligten Arbeitern getragene Erhebung der unteren Volksschichten (popolo minuto), bedroht worden war. Seit dieser schockierenden Erfahrung bemühten sie sich, ihren Status abzusichern, indem sie das Eindringen von suspekten Cliquen in die maßgeblichen Gremien zu hemmen trachteten. Aufruhr, Umsturz und diktatorische Gelüste sollten im Keim erstickt werden. Die zeitweilige Unterstützung der Medici für die aufständischen Arbeiter war nicht vergessen. Die Albizzi-Gruppe war aber keine Partei mit einer einheitlichen Führung und einem gemeinsamen Kurs, sondern ein lockerer, informeller Zusammenschluss einiger etwa gleichrangiger Clans. Außer der Gegnerschaft zu potentiell gefährlichen Außenseitern verband die Mitglieder dieser Allianz wenig. Ihre Grundhaltung war defensiv. Die Medici-Gruppe hingegen war vertikal strukturiert. Cosimo war ihr unangefochtener Anführer, der die wesentlichen Entscheidungen traf und die finanziellen Ressourcen, die den gegnerischen weit überlegen waren, zielbewusst einsetzte. Aufsteigerfamilien (gente nuova) zählten zu den natürlichen Verbündeten der Medici, doch beschränkte sich deren Anhängerschaft nicht auf Kräfte, die von erhöhter sozialer Mobilität profitieren konnten. Die Medici-Gruppe umfasste auch angesehene Patriziergeschlechter, die sich in ihr Netzwerk hatten eingliedern lassen, unter anderem durch Verschwägerung. Offenbar hatten die Albizzi in der Oberschicht stärkeren Rückhalt, während die Medici beim Mittelstand – den Handwerkern und Ladenbesitzern – größere Sympathien genossen. Die Zugehörigkeit eines großen Teils von Cosimos Parteigängerschaft zur traditionellen Elite zeigt aber, dass die früher gelegentlich vertretene Deutung des Konflikts als Kampf zwischen Klassen oder Ständen verfehlt ist. Die Verhärtung des Gegensatzes ließ einen offenen Machtkampf als unvermeidlich erscheinen, doch musste dieser in Anbetracht der vorherrschenden Loyalität zur verfassungsmäßigen Ordnung im Rahmen der Legalität ausgetragen werden. Ab 1426 spitzte sich der Konflikt zu. Die Propaganda beider Seiten zielte auf die Verfestigung von Feindbildern ab. Für die Medici-Anhänger war Rinaldo degli Albizzi der arrogante Wortführer volksferner, oligarchischer Kräfte, der vom Ruhm seines Vaters zehrte und infolge seiner Unbesonnenheit Führungsqualitäten vermissen ließ. Die Albizzi-Gruppe stellte Cosimo als potentiellen Tyrannen dar, der seinen Reichtum nutze, um die Verfassung auszuhebeln und sich durch Bestechung und Korruption den Weg zur Alleinherrschaft zu bahnen. Indizien deuten darauf, dass die Vorwürfe beider Seiten einen beträchtlichen wahren Kern enthielten: Rinaldo stieß durch seine Schroffheit einflussreiche Sympathisanten wie die Familie Strozzi vor den Kopf und zerstritt sich sogar mit seinem Bruder Luca so sehr, dass dieser die Familienloyalität aufkündigte und zur Gegenseite überlief, was für damalige Verhältnisse ein ungewöhnlicher Schritt war. Auch die Polemik gegen die Medici fußte, wenngleich sie wohl überzogen war, auf Tatsachen: Die Medici-Gruppe infiltrierte die Verwaltung, verschaffte sich dadurch geheime Informationen, schreckte vor Dokumentenfälschung nicht zurück und manipulierte das squittinio in ihrem Sinn. Anlass zu Polemik bot die Einführung des catasto, eines umfassenden Verzeichnisses aller steuerpflichtigen Güter und Einkommen, im Mai 1427. Das Verzeichnis bildete die Grundlage der Erhebung einer neu eingeführten Vermögenssteuer, die zur Reduzierung der dramatisch gestiegenen Staatsschulden benötigt wurde. Dieser Schritt bewirkte eine gewisse Verlagerung der Steuerlast von der indirekt besteuerten Mittelschicht zu den wohlhabenden Patriziern. Die besonders zahlungskräftigen Medici konnten die neue Last besser verkraften als manche ihrer weniger vermögenden Gegner, für die der catasto einen harten Schlag bedeutete. Zwar hatte Giovanni di Bicci die Einführung der Vermögenssteuer anfangs abgelehnt und später nur zögerlich unterstützt, doch gelang es den Medici, sich als Befürworter der in der Bevölkerung populären Maßnahme darzustellen. Sie konnten sich damit als Patrioten profilieren, die zu ihrem eigenen Nachteil für die Sanierung des Staatshaushalts eintraten und selbst einen gewichtigen Beitrag dazu leisteten. Weiter angeheizt wurde der Konflikt durch den Krieg gegen Lucca, den Florenz Ende 1429 begann. Die militärischen Auseinandersetzungen endeten im April 1433 mit einem Friedensschluss, ohne dass die Angreifer ihr Kriegsziel erreicht hatten. Die beiden verfeindeten Cliquen in Florenz hatten den Krieg einhellig befürwortet, nutzten dann aber seinen ungünstigen Verlauf als Waffe in ihrem Machtkampf. Rinaldo hatte als Kriegskommissar am Feldzug teilgenommen, daher konnte er für dessen Misserfolg mitverantwortlich gemacht werden. Er seinerseits gab die Schuld dem für die Koordinierung der Kriegführung zuständigen Zehnerausschuss, in dem Anhänger der Medici stark vertreten waren; der Ausschuss habe seine Bemühungen sabotiert. Cosimo konnte sich bei dieser Gelegenheit in ein günstiges Licht rücken: Er hatte dem Staat 155 887 Florin geliehen, einen Betrag, der mehr als ein Viertel des kriegsbedingten Sonder-Finanzbedarfs ausmachte. Damit konnte der Mediceer seinen Patriotismus und seine einzigartige Bedeutung für das Schicksal der Republik propagandawirksam demonstrieren. Insgesamt stärkte der Kriegsverlauf somit die Stellung der Medici-Gruppe in der öffentlichen Meinung. Die Strategie der Albizzi-Gruppe zielte darauf ab, die Gegner – vor allem Cosimo persönlich – verfassungsfeindlicher Umtriebe anzuklagen und sie so mit strafrechtlichen Mitteln außer Gefecht zu setzen. Eine Handhabe bot den Feinden der Medici ein von ihnen im Dezember 1429 durchgebrachtes Gesetz, das staatsschädliche Protektion unterbinden und den inneren Frieden sichern sollte. Es richtete sich gegen Aufsteiger, die sich durch ihre Beziehungen zu Mitgliedern der Signoria unerlaubte Vorteile verschafften, und gegen Große, die Unruhe stifteten. Diese Gesetzgebung zielte somit auf Cosimo und seine sozial und politisch mobile Klientel. Ab 1431 wurde den führenden Köpfen der Medici-Gruppe zunehmend mit Aberkennung der Bürgerrechte und Verbannung gedroht. Zu diesem Zweck sollte eine Sonderkommission gebildet und zu entsprechenden Maßnahmen bevollmächtigt werden. Nach dem Ende des Krieges gegen Lucca wurde die Gefahr für Cosimo akut, da er nun nicht mehr als Kreditgeber des Staats benötigt wurde. Daraufhin leitete er im Frühjahr 1433 den Transfer seines Kapitals ins Ausland ein. Einen großen Teil ließ er nach Venedig und Rom schaffen, einiges Geld versteckte er in Florenz in Klöstern. Damit sicherte er das Bankvermögen gegen das Risiko einer Enteignung, die im Fall einer Verurteilung wegen Hochverrats zu befürchten war. Die Auslosung der Posten in der Signoria für die Amtszeit September und Oktober 1433 ergab eine Zweidrittelmehrheit der Medici-Gegner. Diese Gelegenheit ließen sie sich nicht entgehen. Cosimo, der sich außerhalb der Stadt aufhielt, wurde von der Signoria zu einer Beratung eingeladen. Bei seinem Eintreffen im Stadtpalast am 5. September wurde er sofort festgenommen. Mit der Mehrheit von sechs zu drei beschloss die Signoria seine Verbannung und eine Sonderkommission bestätigte das Urteil, da er ein Zerstörer des Staats und Verursacher von Skandalen sei. Fast alle Angehörigen der Medici-Sippe wurden für zehn Jahre von den Ämtern der Republik ausgeschlossen. Cosimo wurde nach Padua, sein Bruder Lorenzo nach Venedig verbannt; dort sollten sie zehn Jahre bleiben. Falls sie die ihnen zugewiesenen Aufenthaltsorte vorzeitig verließen, drohte ihnen ein weiteres Urteil, das die Heimkehr für immer ausschloss. Die lange Dauer der angeordneten Abwesenheit sollte das Netzwerk der Medici dauerhaft lahmlegen und zerreißen. Cosimo musste als Garantie für sein künftiges Wohlverhalten eine Kaution von 20.000 Florin hinterlegen. Er akzeptierte das Urteil, wobei er seine Loyalität zur Republik hervorhob, und ging Anfang Oktober 1433 ins Exil. Umschwung und Heimkehr (1433–1434) Bald zeigte sich, dass das Netzwerk der Medici nicht nur in Florenz intakt blieb, sondern sogar im fernen Ausland effizient funktionierte. Cosimos Abschied und seine Reise nach Padua wurden zu einer triumphalen Demonstration seines Einflusses im In- und Ausland. Schon unterwegs erhielt er eine Vielzahl von Sympathiekundgebungen, Treuebezeugungen und Hilfsangeboten prominenter Persönlichkeiten und ganzer Städte. In Venedig, zu dessen Territorium der Verbannungsort Padua damals gehörte, war die Unterstützung besonders stark, was mit dem Umstand zusammenhing, dass die Medici-Bank dort seit Jahrzehnten eine Filiale unterhielt. Als Cosimos Bruder Lorenzo in Venedig eintraf, wurde er vom Dogen Francesco Foscari persönlich sowie vielen Adligen empfangen. Die Republik Venedig ergriff klar für die Verfolgten Partei und schickte einen Gesandten nach Florenz, der sich um die Aufhebung des Urteils bemühen sollte. Dieser erreichte immerhin, dass Cosimo gestattet wurde, sich in Venedig anzusiedeln. Kaiser Sigismund, den die Venezianer informiert hatten, äußerte seine Missbilligung der Verbannung, die er für eine Dummheit der Florentiner hielt. Sigismund hatte auf seinem Italienzug, von dem er im Oktober 1433 heimkehrte, unter anderem eine Regelung seines Verhältnisses zur Republik Florenz angestrebt, aber keinen Verhandlungserfolg erzielen können. Den Umschwung brachte schließlich ein neuer Geldbedarf der Republik Florenz. Da die Lage der Staatsfinanzen prekär war und die Medici-Bank als Kreditgeber nicht mehr zur Verfügung stand, zeichnete sich eine Steuererhöhung ab. Dies führte zu solcher Unzufriedenheit, dass im Lauf des Frühlings und Sommers 1434 die Stimmung in der Führungsschicht kippte. Anhänger der Medici und Befürworter einer Versöhnung bekamen zunehmend Oberwasser. Die neue Stimmungslage spiegelte sich in der für die Amtszeit September und Oktober 1434 ausgelosten Signoria, die teils dezidiert medicifreundlich, teils versöhnungsbereit war. Der neue gonfaloniere di giustizia war ein entschlossener Gefolgsmann Cosimos. Er setzte am 20. September die Aufhebung des Verbannungsurteils durch. Nun drohte den Anführern der Albizzi-Gruppe das Schicksal, das sie im Vorjahr ihren Feinden bereitet hatten. Um dem zuvorzukommen, planten sie für den 26. September einen Staatsstreich und zogen Bewaffnete zusammen. Da aber die Gegenseite rechtzeitig ihre Kräfte mobilisiert hatte, wagten sie den Angriff nicht, denn ohne das Überraschungsmoment hätte er einen Bürgerkrieg mit geringen Erfolgschancen bedeutet. Schließlich griff Papst Eugen IV. als Vermittler ein. Der Papst war von einem Volksaufstand aus Rom vertrieben worden und lebte seit einigen Monaten in Florenz im Exil. Als Venezianer war Eugen tendenziell medicifreundlich gesinnt, und vor allem konnte er auf künftige Darlehen der Medici-Bank hoffen. Es gelang ihm, Rinaldo zur Aufgabe zu bewegen. Am 29. September brach Cosimo zur Heimkehr auf, die sich ebenso wie seine Abreise triumphal gestaltete. Am 2. Oktober wurde die Verbannung Rinaldos und einiger seiner Weggefährten verfügt. Damit hatte die Medici-Gruppe den Machtkampf endgültig zu ihren Gunsten entschieden. Als Sieger gab sich Cosimo versöhnlich und agierte wie gewohnt vorsichtig. Allerdings hielt er es zur Sicherung seiner Stellung für erforderlich, 73 feindliche Bürger ins Exil zu schicken. Viele von ihnen durften später zurückkehren und sich sogar wieder für die Signoria qualifizieren. Die Ursachen für den Ausgang des Machtkampfs wurden im frühen 16. Jahrhundert von Niccolò Machiavelli analysiert. Er zog daraus allgemeine Lehren, darunter seine berühmte Forderung, dass ein Eroberer der Macht unmittelbar nach der Inbesitznahme des Staates alle unvermeidlichen Grausamkeiten auf einen Schlag begehen müsse. Machiavellis Einschätzung, wonach der Albizzi-Gruppe ihre Unentschlossenheit und Halbherzigkeit zum Verhängnis wurde, wird von der modernen Forschung geteilt. Weitere Faktoren, die den Medici-Gegnern schadeten, waren das Fehlen innerer Geschlossenheit und einer über Autorität verfügenden Führung. Hinzu kam ihr Mangel an Rückhalt im Ausland, wo Cosimo mächtige Verbündete hatte. Tätigkeit als Staatsmann (1434–1464) Nach seiner triumphalen Heimkehr wurde Cosimo faktisch der Lenker des florentinischen Staates und blieb bis zu seinem Tod in dieser informellen Stellung. Dabei respektierte er äußerlich die Institutionen der republikanischen Verfassung, ein Amt mit Sondervollmachten strebte er für sich nicht an. Er agierte aus dem Hintergrund mittels seines weitgespannten in- und ausländischen Netzwerks. Das Bankgeschäft als materielle Basis Cosimo und seinen Zeitgenossen stand stets die Tatsache vor Augen, dass die Grundlage seiner politischen Machtentfaltung sein kommerzieller Erfolg war. Der Zusammenhalt seines Netzwerks hing in erster Linie von den Geldflüssen ab, die nicht versiegen durften. In Nord- und Mittelitalien florierte das Bankgeschäft, und niemand war darin erfolgreicher als er. Auch in der Kunst des Einsatzes finanzieller Ressourcen für politische Ziele war er zu seiner Zeit unübertroffen. Unter seiner Leitung expandierte die Medici-Bank weiter; neue Zweigstellen wurden in Pisa, Mailand, Brügge, London und Avignon eröffnet, die Genfer Filiale wurde nach Lyon verlegt. Eine Haupteinnahmequelle der großen, überregional operierenden Banken, insbesondere der Medici-Bank, war die Kreditvergabe an Machthaber und geistliche Würdenträger. Besonders groß war der Kreditbedarf der Päpste, die zwar über gewaltige Einkünfte aus der gesamten katholischen Welt verfügten, aber wegen kostspieliger militärischer Unternehmungen immer wieder in Engpässe gerieten. Darlehen an Machthaber waren lukrativ, aber mit beträchtlichen Risiken verbunden. Es musste mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass solche Schuldner die Rückzahlung verweigerten oder nach einem verlustreichen Krieg, den sie mit Fremdkapital finanziert hatten, zumindest zeitweilig nicht mehr zahlungsfähig waren. Ein weiteres Risiko bestand im gewaltsamen Tod des Schuldners durch einen Mordanschlag oder auf einem Feldzug. Durch solche Ereignisse bedingte Zahlungsausfälle konnten auch bei großen Banken zur Insolvenz führen. Die Einschätzung der Chancen und Risiken derartiger Geschäfte gehörte zu den wichtigsten Aufgaben Cosimos. Ein Bankier des 15. Jahrhunderts benötigte politische Begabung und großes diplomatisches Geschick, denn Geschäft und Politik waren verschmolzen und mit vielfältigen familiären Interessen verknüpft. Darlehensgewährung war häufig auch faktische Parteinahme in den erbitterten Konflikten zwischen Machthabern, Städten oder auch Parteien innerhalb einer Bürgerschaft. Entscheidungen über die Vergabe, Begrenzung oder Verweigerung von Krediten oder Unterstützungsgeldern hatten weitreichende politische Konsequenzen; sie schufen und bewahrten Bündnisse und Netzwerke oder erzeugten gefährliche Feindschaften. Auch militärisch wirkten sie sich aus, denn die zahlreichen Kriege unter den nord- und mittelitalienischen Städten wurden mit dem kostspieligen Einsatz von Söldnerführern (Condottieri) ausgetragen. Diese standen mit ihren Truppen nur zur Verfügung, solange der Auftraggeber zahlungskräftig war; wenn dies nicht mehr der Fall war, ließen sie sich vom Feind abwerben oder plünderten auf eigene Rechnung. Die Entscheidungen, die Cosimo als Bankier traf, waren zum Teil nur politisch, nicht kommerziell sinnvoll. Manche seiner Zahlungen waren politisch unumgänglich, aber ökonomisch reine Verlustgeschäfte. Sie dienten der Pflege seines Ansehens oder der Sicherung der Loyalität von Verbündeten. Dazu zählten die Belohnungen für geleistete politische Dienste und die Erfüllung von Aufgaben, die als patriotische Pflichten galten. In Florenz waren die Haupteinnahmequellen der Medici-Bank der Geldwechsel und die Kreditvergabe an Angehörige der Oberschicht, die in finanzielle Bedrängnis geraten waren. Insbesondere zur Bezahlung von Steuerschulden wurden Darlehen benötigt, denn säumige Steuerschuldner durften keine Ämter ausüben. Weitaus bedeutender war jedoch das Kreditgeschäft mit auswärtigen Machthabern. Der wichtigste Geschäftspartner der Bank war der Papst, als dessen Hauptbankier Cosimo fungierte. Vor allem dank der Verbindung mit der Kurie waren die römischen Geschäfte der Bank die lukrativsten. Die dortigen Zinseinnahmen und die Provisionen auf die getätigten Transaktionen boten eine hohe Gewinnspanne und die Geschäfte waren wegen des ständigen Geldbedarfs der Kurie sehr umfangreich. Daher erwirtschaftete die Filiale in Rom den größten Teil der Gewinne. Außerdem wirkte sich die enge Beziehung zur Kurie auch politisch vorteilhaft aus. Wenn der Papst Rom verließ, folgte ihm die römische Filiale; sie war stets dort zu finden, wo sein Hof sich aufhielt. Neben der politischen und ökonomischen Kompetenz war der wichtigste Faktor, von dem der Erfolg eines Bankiers abhing, seine Menschenkenntnis. Er musste in der Lage sein, die Kreditwürdigkeit seiner Kunden und die Zuverlässigkeit seiner auswärtigen Zweigstellenleiter, die viele Gelegenheiten zum Betrug hatten, richtig einzuschätzen. Cosimo verfügte ebenso wie sein Vater in hohem Maße über diese Fähigkeiten. Seine Verschwiegenheit, Nüchternheit und Voraussicht und sein geschickter Umgang mit Geschäftspartnern verschafften ihm Respekt. Auch die moderne Forschung würdigt diese Qualitäten des Mediceers, die maßgeblich zu seinem kommerziellen und politischen Erfolg beitrugen. Aus Cosimos Korrespondenz mit dem Leiter der Filiale der Medici-Bank in Venedig geht hervor, dass die Bank systematisch Steuern hinterzog und dass Cosimo persönlich Anweisungen zur Bilanzfälschung erteilte. Der Zweigstellenleiter, Alessandro Martelli, versicherte ihm, dass auf die Verschwiegenheit des Personals Verlass sei. Innenpolitische Konsolidierung (1434–1455) Der entscheidende Schritt, der nach dem Sieg von 1434 die Stellung Cosimos dauerhaft absicherte, war eine Änderung des Auslosungsverfahrens zur Bestimmung der Mitglieder der Signoria. Die Gesamtmenge der Namen auf den Loszetteln, die in die Beutel gelegt wurden, wurde von rund zweitausend auf eine Mindestzahl von 74 reduziert, für den Beutel des gonfaloniere di giustizia wurde eine Mindestzahl von vier festgelegt. Damit wurde die Anzahl der Kandidaten überschaubar und die Rolle des Zufalls im Auslosungsprozess stark vermindert. Mit der Füllung der Losbeutel waren traditionell von der Signoria ernannte Männer betraut, die accoppiatori genannt wurden. Sie sorgten fortan dafür, dass nur noch Namen von Bewerbern, die Cosimo genehm waren, in die Beutel kamen. So blieb es zwar beim Prinzip des Losentscheids, doch war nun ein wirksamer Filter eingebaut, der überraschende Änderungen der Machtverhältnisse verhinderte. Dieses Verfahren wurde imborsazione a mano („Handverlesung“) genannt. Es konnte zwar von Cosimo durchgesetzt werden, war aber in der Bürgerschaft tendenziell unbeliebt, da es offensichtlich manipulativ war und für viele den Zugang zu den prestigereichen Ämtern erschwerte oder verunmöglichte. Immer wieder wurde die Forderung nach Rückkehr zum offenen Losverfahren erhoben. Mit diesem Anliegen konnte man auf harmlose Art Unzufriedenheit mit der Machtfülle des Mediceers ausdrücken. Das Ausmaß des Widerstands gegen die Handverlesung wurde zum Gradmesser für die Unbeliebtheit des Herrschaftssystems. Dies hatte für Cosimo auch Vorteile: Er erhielt dadurch die Möglichkeit, flexibel zu reagieren, wenn sich in der Bürgerschaft Ärger aufstaute oder wenn er den Eindruck hatte, dass eine relativ entspannte Lage ihm Konzessionen gestattete. Je nach der Entwicklung der innen- und außenpolitischen Verhältnisse setzte er reine Handverlesung durch oder ließ freie Auslosung zu. Zeitweilig wurde ein Mischverfahren praktiziert, bei dem die Namen des gonfaloniere di giustizia und dreier weiterer Ratsmitglieder aus handverlesenen Beuteln gezogen und die übrigen fünf Mitglieder der Signoria frei ausgelost wurden. Den vielen Bürgern, die keine Gelegenheit erhielten, Mitglied der Signoria zu werden, bot Cosimos System Gelegenheit, ihren Ehrgeiz dennoch teilweise zu befriedigen. Ansehen verschaffte nicht nur die Ausübung eines Regierungsamts, sondern schon die Anerkennung der Tatsache, dass man als ehrbarer Bürger die persönlichen Voraussetzungen dafür erfüllte. In die Beutel legte man daher auch Loszettel von Personen, gegen die keine persönlichen Einwände bestanden, die aber aus einem äußerlichen Grund nicht in Betracht kamen, etwa weil sie mit einem Amtsinhaber zu nahe verwandt waren oder infolge des Quotensystems ausscheiden mussten, da sie zur falschen Zunft gehörten oder im falschen Bezirk wohnten. Wenn dann ein solcher Zettel gezogen wurde, wurde festgestellt, dass der Betreffende als Ausgeloster „gesehen“ wurde (veduto), aber wegen eines formalen gesetzlichen Hindernisses seinen Sitz im Stadtrat nicht einnehmen konnte. Ein veduto konnte aus dem Umstand, dass ihm die theoretische Amtsfähigkeit bescheinigt wurde, Prestige ziehen. Im Lauf der Zeit wurden immer wieder temporäre Gremien mit legislativen und finanzpolitischen Sondervollmachten geschaffen. Die Einrichtung von Kommissionen zur Erledigung besonderer Aufgaben, auch in Notstandslagen, war an sich keine Neuerung und stand mit der republikanischen Verfassung in Einklang. Ein Unterschied zu den früheren Verhältnissen bestand aber darin, dass solche Gremien früher nach einigen Tagen oder wenigen Wochen wieder aufgelöst wurden, während nun ihre Vollmachten für längere Zeiträume erteilt wurden. Damit nahm ihr politisches Gewicht zu, was Cosimos Absicht entsprach; für ihn waren die Kommissionen wichtige Machtinstrumente. Durch diese Entwicklung kam es jedoch zu Reibungen mit den fortbestehenden alten Institutionen, dem Volksrat und dem Gemeinderat. Diese verteidigten ihre herkömmlichen Rechte, waren aber im Machtkampf dadurch benachteiligt, dass ihre Amtsperiode nur vier Monate betrug. Die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen den ständigen und den temporären Gremien war kompliziert und umkämpft, es ergaben sich Überschneidungen und Kompetenzstreitigkeiten. Dabei war die Steuergesetzgebung ein besonders heikles Feld. Hier war Cosimo darauf angewiesen, den Konsens mit der Führungsschicht der Bürgerschaft zu suchen. Da er keine diktatorische Macht besaß, waren die Gremien keineswegs gleichgeschaltet. Sowohl der Volks- und der Gemeinderat als auch die Kommissionen fassten Beschlüsse gemäß den Interessen und Überzeugungen ihrer Mitglieder, die nicht immer mit Cosimos Wünschen übereinstimmten. Die Räte waren in der Lage, seinen Absichten hinhaltenden Widerstand zu leisten. Die Abstimmungen in den Gremien waren frei, wie die manchmal knappen Mehrheiten zeigen. Krisenjahre (1455–1458) Nur einmal geriet Cosimos Regierungssystem in eine ernste Krise. Dies geschah erst im letzten der drei Jahrzehnte, in denen er die Herrschaft ausübte. Als die italienischen Mächte im Februar 1455 einen allgemeinen Frieden schlossen, kam es zu einer außenpolitischen Entspannung, die so weitgehend war, dass das unpopuläre System der Handverlesung nicht mehr mit einem äußeren Notstand begründet werden konnte. In der Öffentlichkeit wurde die Forderung nach Wiedereinführung des offenen Losverfahrens lauter denn je. Cosimo gab nach: Die alte Ordnung trat wieder in Kraft, die Handverlesung wurde verboten, der Volksrat und der Gemeinderat erhielten den früheren Umfang ihrer legislativen und finanzpolitischen Entscheidungsgewalt zurück. Damit wurde die Medici-Herrschaft wieder von Zufällen und von der Gunst der öffentlichen Meinung abhängig. In dieser labilen Lage verschärfte sich ein Problem, das für das Regierungssystem eine ernste Bedrohung darstellte: Die öffentlichen Finanzen waren wegen langjähriger hoher Rüstungsaufwendungen und wiederholter Epidemien so zerrüttet, dass die Erhöhung der direkten Steuer, die von der wohlhabenden Oberschicht zu entrichten war, unumgänglich schien. Dieses Vorhaben stieß aber auf anhaltenden Widerstand, neue Steuergesetze wurden in den Räten blockiert. Im September 1457 entlud sich der Unmut in einer Verschwörung, die auf einen Umsturz abzielte. Das Komplott wurde entdeckt und sein Anführer Piero de’ Ricci hingerichtet. Die Spannungen nahmen weiter zu, als die Räte schließlich im Januar 1458 ein neues, von Cosimo befürwortetes Steuergesetz billigten, das sich auf die gesamte wohlhabende Schicht auswirkte. Das Gesetz entlastete die Minderbemittelten und erhöhte den Steuerdruck auf die Reichen. Der seit Jahrzehnten unverändert gültige catasto, das Verzeichnis der steuerpflichtigen Vermögen und Einkommen, sollte auf den aktuellen Stand gebracht werden. Das wurde von denjenigen, deren Besitz seit der letzten Veranlagung stark zugenommen hatte, als harter Schlag empfunden. Infolgedessen schwand im Patriziat die Zustimmung zum herrschenden System. Im April 1458 wurde ein Gesetz eingeführt, das die Schaffung bevollmächtigter Kommissionen stark erschwerte und ihnen die Durchführung eines squittinio verbot. Da Kommissionen für Cosimo ein wichtiges Instrument waren, mit dem er seinen Einfluss auf den squittinio und damit auf die Kandidaturen ausübte, richtete sich diese Maßnahme gegen ein Hauptelement seines Herrschaftssystems. Das neue Gesetz wurde im Volksrat und im Gemeinderat mit überwältigenden Mehrheiten gebilligt. Cosimos Schwächung war unübersehbar. Die Lockerung der Medici-Herrschaft seit der Verfassungsreform von 1455 und die allgemeine Verunsicherung angesichts der sozialen Spannungen und fiskalischen Probleme führten zu einer grundsätzlichen Debatte über die Verfassungsordnung. Über das Ausmaß und die Ursachen der Übelstände sowie mögliche Abhilfen wurde offen und kontrovers diskutiert. Eine zentrale Frage war, wie der Personenkreis, der für wichtige Ämter in Betracht kam, festgelegt werden sollte. Cosimo wünschte einen kleinen Kreis potentieller Amtsträger, er erstrebte die Rückkehr zur Handverlesung. Auf der Gegenseite standen Geschlechter, die für Auslosung aus einem großen Kandidatenkreis eintraten, weil sie der Dominanz Cosimos überdrüssig waren und sein Regierungssystem beseitigen wollten. Die Signoria neigte einige Zeit zu einer Kompromisslösung, doch gewannen die Befürworter der Handverlesung zunehmend an Boden. Außerdem plädierten Anhänger der Medici-Herrschaft für die Einführung eines neuen ständigen Gremiums mit sechsmonatiger Amtszeit, das weitreichende Vollmachten erhalten sollte. Begründet wurde dies mit der Notwendigkeit der Effizienzverbesserung. Dieser Vorschlag war jedoch, wie seine Befürworter einräumten, im Volksrat und im Gemeinderat chancenlos. Daher wurde nicht einmal versucht, ihn dort durchzubringen. Im Sommer 1458 kam es zu einer Verfassungskrise. In der Signoria, die im Juli und August amtierte, dominierte Cosimos Gefolgschaft, die entschlossen war, diese Gelegenheit zur Rückeroberung der Macht zu nutzen. Der Volksrat, in dem Gegner der Medici die Oberhand hatten, wies jedoch die Vorschläge der Signoria hartnäckig zurück. Die Medici-Gruppe versuchte, eine offene Abstimmung im Volksrat durchzusetzen, um Druck auf einzelne Ratsmitglieder ausüben zu können. Damit stieß sie aber auf den energischen Widerstand des Erzbischofs von Florenz, Antonino Pierozzi, der die geheime Abstimmung als Gebot der „natürlichen Vernunft“ bezeichnete und eine andere Verfahrensweise mit Androhung der Exkommunikation verbot. Da unklar war, welche Seite ab September in der Signoria die Mehrheit haben würde, geriet die Medici-Gruppe unter Zeitdruck. Schließlich berief die Signoria, wie es die Verfassung für schwere Krisen vorsah, eine Volksversammlung (parlamento) ein. Eine solche Versammlung konnte verbindliche Beschlüsse fassen und eine Kommission mit Sondervollmachten zur Lösung der Krise einsetzen. Zuletzt war dies 1434 bei Cosimos Rückkehr geschehen, zuvor bei seiner Verbannung. Das parlamento von Florenz war in der Theorie als demokratisches Verfassungselement konzipiert; es sollte das Organ sein, das den Volkswillen zum Ausdruck brachte und in Notstandslagen eine Entscheidung herbeiführte, wenn der reguläre Gesetzgebungsprozess blockiert war. In der Praxis pflegte aber die Patriziergruppe, die das parlamento einberufen ließ, durch Einschüchterung dafür zu sorgen, dass die Beschlussfassung im gewünschten Sinn erfolgte. So war es auch diesmal. Cosimo, der sich nach außen hin zurückhielt, hatte am 1. August erstmals mit dem mailändischen Gesandten über militärische Unterstützung von außen verhandelt. Er war sich seiner Sache sicher; spätestens am 5. August fiel die Entscheidung, die Volksversammlung für den 11. August einzuberufen, obwohl noch keine Hilfszusage aus Mailand vorlag. Am 10. August ordnete die Signoria das parlamento für den folgenden Tag an. Als die Bürger zum Versammlungsort strömten, fanden sie ihn von einheimischen Bewaffneten und mailändischen Söldnern bewacht. Nach einem Augenzeugenbericht verlas ein Notar den Text, der zu genehmigen war, so leise, dass nur wenige in der Menge ihn verstanden und ihre Zustimmung äußerten. Dies wurde aber als ausreichend betrachtet. Die Versammlung billigte alle Vorschläge der Signoria und löste sich dann auf. Damit war die Krise beendet. Der Weg zur Verwirklichung einer Verfassungsreform, die Cosimos Herrschaft zementierte, war frei. Neue Festigung der Macht (1458–1464) Die Sieger ergriffen die Maßnahmen, die ihnen zur Sicherung der Macht erforderlich schienen. Mehr als 1500 politisch unzuverlässigen Bürgern wurde die Qualifikation zur Kandidatur für Führungsämter aberkannt. Viele von ihnen verließen die Stadt, in der sie keine Zukunft mehr für sich sahen. Eine Reihe von Verbannungsurteilen sollte der erneuten Entstehung einer organisierten Opposition vorbeugen. Die Befugnisse des Geheimdienstes, der otto di guardia, wurden vergrößert. Die Beschlüsse zum Umbau der Verfassung wurden teils schon von der Volksversammlung gefasst, teils von der neuen Sonderkommission, die zu diesem Zweck eingesetzt wurde. Der wichtigste Schritt neben der Rückkehr zur Handverlesung war die Schaffung eines ständigen Gremiums, das der Medici-Gruppe als dauerhaftes Herrschaftsinstrument dienen und die temporären Kommissionen der Zeit vor 1455 ablösen sollte. Dies war der „Rat der Hundert“, dessen Amtszeit auf sechs Monate festgelegt wurde. Ihm wurde die Aufgabe übertragen, als erster Rat über die Gesetze, welche die Ämterbesetzung, das Steuerrecht und die Einstellung von Söldnern betrafen, zu beraten und sie dann an den Volksrat und den Gemeinderat weiterzuleiten. Außerdem erhielt er ein Vetorecht bei allen nicht von ihm selbst ausgehenden Gesetzesinitiativen. Somit wurde für jedes neue legislative Vorhaben die Zustimmung aller drei Räte erforderlich, denn die alten Räte behielten das Recht, jede Gesetzgebung zu blockieren. Die Schonung der beiden alten Räte, die Hochburgen der Opposition gewesen waren, lässt erkennen, dass Cosimo beim Ausbau seiner Machtstellung vorsichtig vorging. Damit nahm er auf die Bedürfnisse des republikanisch gesinnten Patriziats Rücksicht. Für die Bestimmung der Mitglieder des Rats der Hundert wurde ein gemischtes Wahl- und Losverfahren mit komplizierten Regeln festgelegt. Qualifiziert sollten nur Bürger sein, deren Namen schon früher bei der Auslosung für die herkömmlichen Führungsämter (tre maggiori) gezogen worden waren. Diese Bestimmung sollte gewährleisten, dass nur bewährte Patrizier, deren Haltung bereits hinreichend bekannt war, in das neue Gremium gelangten. Die Handverlesung für die Signoria wurde 1458 nur als Provisorium für fünf Jahre eingeführt. 1460 wurde das Provisorium nach der Aufdeckung einer Verschwörung um weitere fünf Jahre verlängert. Das lässt erkennen, dass dieses Verfahren weiterhin unbeliebt war und dem Patriziat nur aus besonderem Anlass und mit Befristung akzeptabel schien. Unzufriedenheit machte sich in Florenz auch in den letzten Lebensjahren Cosimos noch bemerkbar, ernsthaft gefährdet wurde seine Stellung nach 1458 jedoch nicht mehr. In seinen letzten Jahren hielt er sich seltener im Palast der Signoria auf, er lenkte die Politik nun meist von seinem eigenen Palast in der Via Larga aus. Dorthin verlagerte sich das Machtzentrum. Außenpolitik Die Außenpolitik der Republik Florenz war zu Cosimos Zeit von einer Konstellation geprägt, in der neben Florenz die bedeutenden Regionalmächte Mailand, Venedig, Neapel und der Kirchenstaat die Hauptrollen spielten. Von diesen fünf Vormächten der italienischen Staatenwelt, die in der Forschung auch als Pentarchie bezeichnet werden, war Florenz die politisch und militärisch schwächste, aber durch das Bankwesen und den Fernhandel wirtschaftlich bedeutend. Zwischen Mailand und Florenz bestand eine traditionelle Feindschaft, die zu den bestimmenden Faktoren des Staatensystems im späten 14. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts gehörte. Die Florentiner sahen sich vom Expansionsdrang der Mailänder Herzöge aus dem Geschlecht der Visconti bedroht. Die Auseinandersetzung mit den Visconti betrachteten sie nicht als bloßen Konflikt zwischen zwei Staaten, sondern auch als Kampf zwischen ihrer republikanischen Freiheit und tyrannischer Gewaltherrschaft. Im Zeitraum 1390–1402 führte Florenz drei Abwehrkriege gegen Herzog Giangaleazzo Visconti, der Mailand zur Hegemonialmacht Italiens machen wollte und seinen Machtbereich nach Mittelitalien ausdehnte. Mailand war nicht nur militärisch überlegen, sondern hatte auch die Unterstützung der kleineren Städte der Toskana, die sich gegen die Unterwerfung unter florentinische Herrschaft wehrten. Florenz war auf sehr kostspielige Söldnertruppen angewiesen und litt daher unter den hohen Kriegskosten. Der dritte Krieg gegen Giangaleazzo verlief für die Florentiner ungünstig; am Ende standen sie 1402 ohne Verbündete da und mussten mit einer Belagerung rechnen. Nur der plötzliche Tod des Herzogs im Sommer 1402 rettete sie vor der existenziellen Gefahr. Im Jahr 1424 führte die Expansionspolitik des Herzogs Filippo Maria Visconti zu einem neuen Krieg zwischen den beiden Städten, der bis 1428 dauerte. In diesem Kampf gegen Mailand war Florenz mit Venedig verbündet. Danach versuchten die Florentiner von Dezember 1429 bis April 1433 vergeblich, die toskanische Stadt Lucca militärisch zu unterwerfen. Lucca war theoretisch mit Florenz verbündet, stand aber faktisch auf der Seite Mailands. Cosimo, der die Aussichten auf einen Sieg über Lucca schon 1430 skeptisch beurteilt hatte, war im April 1433 maßgeblich an den Friedensverhandlungen beteiligt, die zur Beendigung der Feindseligkeiten führten. Der Krieg gegen Lucca war für die Republik Florenz ein finanzielles Desaster, während die Medici-Bank als Kreditgeber des Staates davon profitierte. Daher gehörte zu den Anschuldigungen, die nach Cosimos Verhaftung 1433 gegen ihn erhoben wurden, auch die Behauptung, er habe den Krieg angezettelt und dann durch politische Intrigen unnötig verlängert, um daraus den größtmöglichen Profit zu schlagen. Die Glaubwürdigkeit der detaillierten Vorwürfe ist aus heutiger Sicht schwer zu beurteilen; auf jeden Fall ist mit polemischer Verzerrung zu rechnen. Unzweifelhaft ist, dass Cosimos Rivale Rinaldo degli Albizzi zu den profiliertesten Befürwortern des Krieges zählte. Nach dem Fehlschlag spielte die Schuldfrage in den innenpolitischen Machtkämpfen der Florentiner Patriziergeschlechter offenbar eine wichtige Rolle. Das politische Gewicht der Medici zeigte sich in den Verhandlungen, die 1438 über die Verlagerung des in Ferrara tagenden Konzils nach Florenz geführt wurden. Cosimo hielt sich damals als Gesandter der Republik Florenz monatelang in Ferrara auf und verhandelte mit Papst Eugen IV. und dessen Mitarbeitern. Auch sein Bruder Lorenzo gehörte zu den maßgeblichen Akteuren. Die Florentiner erhofften sich von den guten Beziehungen der Medici zur Kurie eine wirksame Unterstützung ihres Anliegens. Tatsächlich kam eine Vereinbarung über den Umzug nach Florenz zustande, die einen bedeutenden Erfolg der florentinischen Diplomatie darstellte. Auch nachdem Cosimo den innenpolitischen Machtkampf 1434 gewonnen hatte, blieb die Auseinandersetzung mit Filippo Maria Visconti eine zentrale Herausforderung für die auswärtige Politik der Republik Florenz. Der Konflikt wurde wiederum militärisch ausgetragen. Verbannte Florentiner Gegner der Medici, darunter Rinaldo degli Albizzi, hatten sich nach Mailand begeben; sie hofften, Filippo Maria werde ihnen die Heimkehr mit Waffengewalt ermöglichen. Florenz war mit Papst Eugen IV. und Venedig verbündet. In der Schlacht von Anghiari besiegten im Jahr 1440 Truppen dieser Koalition das mailändische Heer. Damit war der Versuch der exilierten Feinde Cosimos, ihn mit ausländischer Hilfe zu stürzen, endgültig gescheitert. Im folgenden Jahr wurde ein für Florenz vorteilhafter Friedensvertrag geschlossen, der zur Festigung von Cosimos Herrschaft beitrug. Die Feindschaft zwischen Mailand und Florenz dauerte aber an, bis Filippo Maria 1447 ohne männlichen Erben starb und damit die Dynastie der Visconti erlosch. Cosimo betrachtete das Bündnis mit Venedig und den Kampf gegen Mailand nicht als naturgegebene, zwangsläufige Konstellation, sondern nur als Folge der unvermeidlichen Konfrontation mit dem Geschlecht der Visconti. Sein langfristiges Ziel war eine Allianz mit Mailand, die der bedrohlichen Ausweitung des venezianischen Machtbereichs auf dem Festland entgegentreten sollte. Dies setzte einen Dynastiewechsel in Mailand voraus. Nach dem Tod Filippo Marias drohte dort ein Machtvakuum. Als Folge war aus Cosimos Sicht die Auflösung des Herrschaftsbereichs der erloschenen Familie Visconti und damit eine Hegemonie Venedigs in Norditalien zu befürchten. Daher war es ein zentrales Anliegen des Florentiner Staatsmanns, dass in Mailand ein neues, ihm freundlich gesinntes Geschlecht von Herzögen an die Macht kam. Sein Kandidat war der Condottiere Francesco Sforza, der mit Filippo Marias unehelicher Tochter und Erbin Bianca Maria verheiratet war. Sforzas Ehrgeiz, die Nachfolge des letzten Visconti anzutreten, war seit langem bekannt. Diese Konstellation hatte eine bewegte Vorgeschichte. Ab 1425 stand Sforza im Dienst Filippo Marias, der ihn zu seinem Schwiegersohn machen wollte, um ihn an sich zu binden. Im Jahr 1430 trug er zur Rettung Luccas vor einem Angriff der Florentiner bei. Im März 1434 ließ er sich aber von Eugen IV. für die Gegenseite, die Allianz der Visconti-Gegner, anwerben. Darauf belagerte er 1437 Lucca, das die Florentiner weiterhin unterwerfen wollten. Dies hinderte ihn aber nicht daran, erneut mit Filippo Maria über die geplante Ehe mit dessen Erbin zu verhandeln. Schließlich kam im März 1438 eine Einigung zustande: Die Heirat wurde beschlossen und die Mitgift festgelegt. Sforza durfte im Dienst der Florentiner bleiben, verpflichtete sich aber, nicht gegen Mailand zu kämpfen. Florenz und Mailand schlossen einen Waffenstillstand. Doch schon im Februar 1439 vollzog Sforza einen neuen Wechsel: Er nahm den Vorschlag der Florentiner und Venezianer an, das Kommando der Truppen der antimailändischen Liga zu übernehmen. Als Filippo Maria nach verlustreichen Kämpfen in eine schwierige Lage geraten war, sah er sich 1441 gezwungen, der Heirat endgültig zuzustimmen. Sforza musste dieses Zugeständnis des Herzogs, das ihn zu dessen präsumptivem Nachfolger machte, nicht mit einem neuen Allianzwechsel erkaufen; er blieb auch nach der Hochzeit Befehlshaber der Streitkräfte der Liga. Sein Verhältnis zu seinem Schwiegervater schwankte in der Folgezeit weiterhin zwischen Bündnis und militärischer Konfrontation. In dieser Zeit schnell wechselnder Verbindungen entstand zwischen Francesco Sforza und Cosimo de’ Medici eine dauerhafte Freundschaft. Die beiden Männer schlossen ein persönliches Bündnis als Grundlage für eine künftige florentinisch-mailändische Allianz nach dem geplanten Machtwechsel in Mailand. Die Medici-Bank half dem Condottiere mit umfangreicher Kreditgewährung; als er 1466 starb, schuldete er ihr mehr als 115.000 Dukaten. Überdies stellte ihm die Republik Florenz auf Veranlassung Cosimos beträchtliche finanzielle Mittel zur Verfügung. Dieser Kurs war allerdings bei den Florentiner Patriziern – auch in Cosimos Anhängerschaft – umstritten. Es gab beträchtliche Vorbehalte gegen Sforza, die von der republikanischen Abneigung gegen Alleinherrscher genährt wurden. Außerdem entfremdete Cosimos Strategie ihm den Papst, der mit Sforza in einem Territorialstreit lag und sich daher gegen den Condottiere mit Filippo Maria verbündete. Eugen IV. wurde zu einem Gegner Cosimos, mit dem er zuvor erfolgreich zusammengearbeitet hatte. Ab 1443 residierte er nicht mehr in Florenz, wohin er 1434 geflohen war, sondern wieder in Rom. Seine neue Haltung zeigte sich sogleich darin, dass er dem Leiter der römischen Filiale der Medici-Bank das einträgliche Amt des päpstlichen Generaldepositars entzog. Als der Erzbischof von Florenz starb, ernannte Eugen den Dominikaner Antonino Pierozzi, der Cosimo sehr distanziert gegenüberstand, zum Nachfolger. Der Mediceer seinerseits unterstützte offen einen erfolglosen Versuch Sforzas, sich Roms zu bemächtigen. Nach dem Tod Eugens, der 1447 starb, gelang es Cosimo jedoch, zum Nachfolger Nikolaus V. ein gutes Verhältnis aufzubauen. Sein Vertrauensmann in Rom, Roberto Martelli, wurde wieder Generaldepositar. In Mailand setzten sich nach Filippo Marias Tod zunächst republikanische Kräfte durch, doch gelang es Sforza im Jahr 1450, dort die Macht zu übernehmen. Nun konnte das von Cosimo gewünschte mailändisch-florentinische Bündnis verwirklicht werden, das eine tiefgreifende Änderung der politischen Verhältnisse bewirkte. Es wurde zu einer „Hauptachse der italienischen Politik“ und erwies sich damit als bedeutender außenpolitischer Erfolg des Florentiner Staatsmanns. Allerdings führte es zum Bruch der traditionellen Allianz der Republiken Florenz und Venedig. Die Venezianer, die gehofft hatten, vom Untergang der Visconti zu profitieren, waren die Verlierer der neuen Konstellation. Im Juni 1451 verbannte Venedig die florentinischen Kaufleute aus seinem Territorium. Im folgenden Jahr begann der Krieg zwischen Venedig und Mailand, Florenz blieb diesmal verschont. Die Feindseligkeiten endeten im April 1454 mit dem Frieden von Lodi, in dem Venedig Sforza als Herzog von Mailand anerkannte. Es folgte die Gründung der Lega italica, eines Pakts, dem alle fünf Regionalmächte beitraten. Diese Vereinbarung garantierte den Besitzstand der Staaten und schuf ein stabiles Gleichgewicht der Mächte. Außerdem richtete sie sich implizit gegen Frankreich; die Vertragsmächte wollten einem militärischen Eingreifen der Franzosen auf italienischem Boden vorbeugen. Dieses insbesondere von Sforza angestrebte Ziel akzeptierte Cosimo nur zögernd. Er wollte zwar auch französische Truppen von Italien fernhalten, glaubte aber, dass Venedig für Florenz die größere Gefahr sei und daher die Option eines Bündnisses mit Frankreich erhalten bleiben solle. Schließlich schloss er sich aber Sforzas Auffassung an. Dank der Stabilität, die von der Lega italica ausging, wurde Cosimos letztes Lebensjahrzehnt zu einer Friedenszeit. Als sein Sohn Piero 1461 das Amt des gonfaloniere di giustizia antrat, konnte er erklären, der Staat befinde sich in einem Zustand des Friedens und des Glücks, „dessen weder die Bürger von heute noch ihre Vorfahren Zeugen waren oder sich erinnern konnten“. Kulturelle Aktivität Als Staatsmann und Bürger begnügte sich Cosimo bewusst mit einem niedrigen Profil und kultivierte seine Bescheidenheit, um möglichst wenig Neid und Verdacht zu erregen. Er vermied ein prunkvolles, herrscherähnliches Auftreten und achtete darauf, mit seinem Lebensstil die anderen angesehenen Bürger nicht zu übertreffen. Als Mäzen hingegen stellte er sich gezielt in den Vordergrund. Er nutzte seine Bautätigkeit und seine Stellung als Auftraggeber von Künstlern, um sich in Szene zu setzen und sein Ansehen und den Ruhm seiner Familie zu mehren. Religiöse Motivation Seine Spenden für den Bau und die Ausstattung sakraler Gebäude betrachtete Cosimo als Investitionen, die ihm Gottes Gnade verschaffen sollten. Er fasste sein Verhältnis zu Gott als Abhängigkeitsbeziehung im Sinne des Klientelismus auf: Ein Klient empfängt von seinem Patron Wohltaten und zeigt sich dafür durch Loyalität und tätige Dankbarkeit erkenntlich. Gegenüber seiner Anhängerschaft trat Cosimo als gütiger Patron auf, gegenüber Gott sah er sich als Klient. Wie sein Biograph Vespasiano da Bisticci berichtet, antwortete er auf die Frage nach dem Grund seiner großen Freigebigkeit und Fürsorge gegenüber Mönchen, er habe von Gott so viel Gnade empfangen, dass er nun sein Schuldner sei. Niemals habe er Gott einen Grosso (eine Silbermünze) gegeben, ohne von ihm dafür bei diesem „Tauschhandel“ (iscambio) einen Florin (eine Goldmünze) zu bekommen. Außerdem war Cosimo der Meinung, er habe mit seinem Geschäftsgebaren gegen ein göttliches Gebot verstoßen. Er befürchtete, Gott werde ihm zur Strafe seine Besitztümer wegnehmen. Um dieser Gefahr vorzubeugen und sich weiterhin das göttliche Wohlwollen zu sichern, bat er Papst Eugen IV. um Rat. Der Papst befand, eine Spende von 10.000 Florin für einen Klosterbau sei zur Bereinigung der Angelegenheit ausreichend. So wurde dann verfahren. Als der Bau vollendet war, bestätigte der Papst mit einer Bulle den Ablass, der dem Bankier für die Spende gewährt wurde. Humanismus Cosimo lebte in der Blütezeit des Renaissance-Humanismus, dessen bedeutendstes Zentrum seine Heimatstadt Florenz war. Das Ziel des humanistischen Bildungsprogramms, die Befähigung des Menschen zu einer optimalen Lebensführung und staatsbürgerlichen Pflichterfüllung durch Verbindung von Wissen und Tugend, fand damals im Florentiner Patriziat viel Anklang. Den Weg zur Verwirklichung des humanistischen Tüchtigkeitsideals sah man in der Aneignung antiker Bildungsgüter, die zur Nachahmung klassischer Vorbilder anspornen sollte. Cosimos Vater hatte sich dieser Auffassung angeschlossen; er ließ seinem Sohn eine humanistische Erziehung zukommen. Wie viele seiner gebildeten Mitbürger öffnete sich Cosimo der Gedankenwelt und den Wertvorstellungen der Humanisten. Er schätzte den Umgang mit ihnen, erwies ihnen Wohltaten und erhielt dafür seinerseits viel Anerkennung. Sein Leben lang zeigte er großes Interesse an Philosophie – insbesondere Ethik – und literarischen Werken. Dank seiner guten Schulbildung konnte er lateinische Texte lesen; seine eigenhändigen Vermerke in seinen Codices bezeugen, dass er Bücher nicht nur sammelte, sondern auch las. Wahrscheinlich war er aber nicht imstande, sich in gutem Latein auszudrücken. Cosimos Wertschätzung für die Humanisten hing auch mit dem Umstand zusammen, dass sein gesellschaftlicher Status als erfolgreicher Bankier, Mäzen und republikanischer Staatsmann mit ihren moralischen Werten sehr gut vereinbar war. Bei seinen humanistischen Freunden konnte er mit vorbehaltloser Anerkennung rechnen, denn sie hatten ein unbefangenes Verhältnis zum Reichtum und verherrlichten seine Freigebigkeit. Großzügigkeit galt im humanistischen Milieu als eine der wertvollsten Tugenden. Dabei konnte man sich auf Aristoteles berufen, der in seiner Nikomachischen Ethik die Großzügigkeit oder Hochherzigkeit gepriesen und Reichtum als deren Voraussetzung bezeichnet hatte. Diese humanistische Haltung stand im Gegensatz zur Gesinnung konservativer Kreise, die das Bankwesen verdammten und Reichtum für moralisch suspekt hielten, wobei sie sich auf traditionelle christliche Wertvorstellungen beriefen. Außerdem widersprach die egalitäre Tendenz des Renaissance-Humanismus der mittelalterlichen Neigung, politische Führungspositionen denen vorzubehalten, die sich durch vornehme Abstammung auszeichneten. An die Stelle der herkömmlichen starren sozialen Ordnung, die Cosimos politische Gegner in der Albizzi-Gruppe bevorzugten, trat bei den Humanisten ein Konzept, das soziale Mobilität förderte; humanistische Bildung und persönliche Tüchtigkeit sollten als Qualifikationskriterien für die Staatslenkung ausreichen. Diese Einstellung kam Cosimo, dessen Familie zu den Aufsteigern (gente nuova) zählte und manchen alteingesessenen Geschlechtern suspekt war, zugute. Besonders großzügig förderte Cosimo den humanistischen Philosophen Marsilio Ficino, dessen Vater Diotifeci d’Agnolo di Giusto sein Leibarzt war. Als väterlicher Freund verschaffte er Ficino die materielle Basis für ein ganz der Wissenschaft gewidmetes Leben. Er schenkte ihm ein Haus in Florenz und ein Landhaus in Careggi, wo er selbst eine prächtige Villa besaß. Ficino war ein begeisterter Platoniker und Bewunderer seines Gönners. Er schrieb in einem Brief an dessen Enkel Lorenzo, Platon habe ihm die platonische Idee der Tugenden einmal vor Augen gestellt, Cosimo habe sie jeden Tag in die Tat umgesetzt; daher habe er seinem Wohltäter nicht weniger zu verdanken als dem antiken Denker. Mehr als zwölf Jahre habe er glücklich mit ihm philosophiert. Im Auftrag Cosimos fertigte Ficino die erste lateinische Gesamtübersetzung der Werke Platons an, womit er maßgeblich zur Verbreitung platonischen Gedankenguts beitrug. Daraus lässt sich allerdings nicht folgern, dass Cosimo ebenso wie Ficino den Platonismus anderen philosophischen Schulrichtungen vorzog. Das Ausmaß seiner Hinwendung zum Platonismus wurde früher überschätzt; er scheint eher zum Aristotelismus geneigt zu haben. Bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts glaubte man, Cosimo habe eine Platonische Akademie gegründet und deren Leitung Ficino übertragen. Diese Annahme ist jedoch von der neueren Forschung als falsch erwiesen worden. Es handelte sich nicht um eine Institution, sondern nur um einen informellen Kreis von Schülern Ficinos. Auch zwei weitere namhafte Humanisten, Poggio Bracciolini und Johannes Argyropulos, beschenkte Cosimo mit Häusern. Hilfreich waren für seine humanistischen Freunde nicht nur seine Zuwendungen aus eigenen Mitteln; sie profitierten auch von seinem großen Einfluss im In- und Ausland, den er nutzte, um ihnen Gehör und Anstellungen zu verschaffen. Er sorgte dafür, dass zwei Humanisten, die er schätzte, Carlo Marsuppini und Poggio Bracciolini, das prestigereiche Amt des Kanzlers der Republik Florenz erhielten. Eng befreundet war Cosimo mit dem Geschichtsschreiber und späteren Kanzler Bartolomeo Scala und mit dem humanistisch gesinnten Mönch Ambrogio Traversari, einem angesehenen Altertumswissenschaftler. Ihn bewog er dazu, das Werk des antiken Philosophiehistorikers Diogenes Laertios über Leben und Lehren der Philosophen aus dem Griechischen ins Lateinische zu übersetzen und damit einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Traversaris Kloster Santa Maria degli Angeli war der Treffpunkt einer Gruppe von Gelehrten, in deren Kreis Cosimo verkehrte. Unter ihnen war Niccolò Niccoli, ein eifriger Sammler von Handschriften antiker Werke, dem Cosimo Bücher und Geld schenkte. Poggio Bracciolini und Niccolò Niccoli betätigten sich im Konflikt mit der Albizzi-Gruppe als eifrige Anhänger des Mediceers. Zeitweilig problematisch war Cosimos Verhältnis zu Leonardo Bruni, einem einflussreichen humanistischen Politiker und Staatstheoretiker, der sich als maßgeblicher Wortführer des florentinischen Republikanismus profilierte. Cosimo verschaffte Bruni, der aus Arezzo stammte und in Florenz eine neue Heimat gefunden hatte, 1416 das florentinische Bürgerrecht, und 1427 wurde der Humanist mit Billigung der Medici-Gruppe Staatskanzler. Dennoch pflegte Bruni auch Beziehungen zur Albizzi-Gruppe und vermied es, im Machtkampf von 1433–1434 für Cosimo Partei zu ergreifen. Trotz dieses Mangels an Loyalität zu den Medici durfte er nach 1434 das Amt des Kanzlers bis zu seinem Tod behalten und wichtigen Gremien angehören. Offenbar hielt es Cosimo für unzweckmäßig, diesen namhaften Theoretiker des republikanischen Staatskonzepts zu verärgern. Die hohen Erwartungen, die Cosimos Wohlwollen bei den Humanisten weckte, zeigen sich darin, dass sie ihm mehr als vierzig Schriften widmeten. Dabei handelte es sich teils um Werke, die sie selbst verfasst hatten, teils um Übersetzungen. Die weite Verbreitung humanistischer Schriften, deren Widmungstexte Cosimo lobten, trug seinen Ruhm in alle Bildungsstätten West- und Mitteleuropas. Seine Bewunderer idealisierten und verherrlichten ihn auch in zahlreichen Gedichten, Briefen und Reden; sie verglichen ihn mit berühmten Staatsmännern der Antike. Erkennbar ist dabei – verstärkt in seinen letzten Lebensjahren – die Bemühung dieser Autoren, der Familie Medici dynastische Züge zu verleihen. Schon nach Cosimos Rückkehr aus dem Exil im Jahr 1434 feierten ihn seine Anhänger als Pater patriae („Vater des Vaterlandes“). Einhellig war das Lob, das Cosimo zu seinen Lebzeiten bei den Humanisten fand, allerdings nicht. Einen erbitterten Gegner hatte er in dem namhaften humanistischen Gelehrten Francesco Filelfo. Dieser war 1429 mit Billigung Cosimos als Universitätslehrer nach Florenz geholt worden, überwarf sich dann aber mit dem Mediceer und nahm dezidiert für die Albizzi-Gruppe Partei. Die Medici-Gruppe versuchte seine Entlassung zu erwirken, konnte ihn aber nur vorübergehend aus der Universität vertreiben. Als 1433 ein Anschlag auf ihn verübt wurde, bei dem er eine Verletzung erlitt, verdächtigte er Cosimo, hinter dem Attentat zu stecken. Während Cosimos Exil 1433–1434 schrieb Filelfo eine heftige Satire gegen die Medici. Nach dem Umsturz von 1434, der zu Cosimos Rückkehr führte, verließ er Florenz, um der drohenden Rache der Sieger zu entgehen. In der Folgezeit bekämpfte er die Medici aus der Ferne. Im Herbst 1436 schloss er sich einer Gruppe an, die vergeblich versuchte, Cosimo von einem gedungenen Mörder umbringen zu lassen. Auf Filelfos literarische Angriffe reagierten Cosimos humanistische Verteidiger mit Entgegnungen. Ein wichtiges Betätigungsfeld für Cosimos Mäzenatentum auf dem Gebiet der Bildungsförderung war das Bibliothekswesen. Er gründete mehrere klösterliche Bibliotheken. Die bedeutendste von ihnen befand sich im Florentiner Dominikanerkonvent San Marco. Sie war – anders als früher üblich – der Öffentlichkeit zugänglich. Bildende Kunst Noch stärker als im literarischen Bereich engagierte sich Cosimo auf dem Gebiet der bildenden Kunst. Er ließ auf eigene Kosten Kirchen und Klöster erbauen und künstlerisch ausstatten. Damit betätigte er sich, obwohl er formal nur ein einfacher Bürger war, auf einem Gebiet, das traditionell weltlichen und geistlichen Machthabern vorbehalten war. Im 14. und frühen 15. Jahrhundert wäre eine ganz aus privater Initiative entfaltete Bautätigkeit solchen Umfangs in Florenz noch undenkbar gewesen. Erst der gesellschaftliche Wandel, der mit der fortschreitenden Entfaltung des Humanismus zusammenhing, machte derartige Vorhaben möglich. Eine humanistisch geprägte Mentalität zeigte sich auch im Willen zur Selbstdarstellung. Cosimo legte Wert darauf, dass seine Funktion als Auftraggeber sichtbaren Ausdruck fand. So ließ er an einer Kirche in Jerusalem, die mit seinen Mitteln restauriert wurde, sein Wappen anbringen, das fortan den Pilgern, die ins Heilige Land zogen und die Kirche aufsuchten, ins Auge fiel. Auch in Florenz weisen die von ihm gestifteten Bauten überall das Familienwappen der Medici auf. Nicht nur an Fassaden und Portalen, sondern auch an Kapitellen, Konsolen, Schluss-Steinen und Friesen ließ er es anbringen. Zwar waren Familienwappen in Kirchen damals in Florenz üblich, doch die Häufigkeit, mit der Cosimo das seinige überall ins Blickfeld der Öffentlichkeit rückte, war einzigartig und fiel auf. Auch Wandgemälde mit biblischen Szenen, die im Auftrag der Medici gemalt wurden, dienten Cosimos Selbstdarstellung. Auf einem Fresko im Kloster San Marco erhielt einer der Heiligen Drei Könige die idealisierten Gesichtszüge des Mediceers. Er trägt Instrumente zur Erforschung der Gestirne. Auch auf einem um 1459 entstandenen Fresko der Heiligen Drei Könige an der Ostwand der Kapelle des Medici-Palastes befindet sich ein Porträt Cosimos. Dort ist er mit seinen Söhnen Piero und Giovanni und den Enkeln Lorenzo – später als Lorenzo il Magnifico bekannt – und Giuliano abgebildet. Im Grünen Kreuzgang von Santa Maria Novella ist Cosimo auf einer Lünette mit einer Szene aus der Sintfluterzählung zu sehen; anscheinend erscheint er dort als Personifikation der Weisheit. Für dieses Werk von Paolo Uccello war er wohl nicht selbst der Auftraggeber. Ab 1437 entstand der Neubau des Klosters San Marco, das der Papst 1436 den Dominikaner-Observanten, einem Zweig des Dominikanerordens, übertragen hatte. Die bisherigen Klostergebäude wurden durch Neubauten ersetzt, von der Kirche wurde nur der Chor erneuert. Die Weihe der Kirche fand 1443 in Anwesenheit des Papstes statt, die Konventsgebäude wurden erst 1452 komplett fertiggestellt. Ursprünglich hatte Cosimo dafür mit Kosten von 10.000 Florin gerechnet, schließlich musste er insgesamt über 40.000 ausgeben. Für den Neubau der Basilica di San Lorenzo, einer bedeutenden Kirche, stellte er über 40.000 Florin bereit. An der Finanzierung dieses Großprojekts hatte sich schon sein Vater beteiligt. Im Mugello nördlich von Florenz, der Gegend, aus der die Medici ursprünglich stammten, förderte er den Bau des Franziskanerklosters San Francesco al Bosco (Bosco ai Frati). Bei der Franziskanerkirche Santa Croce ließ er einen Trakt für die Novizen bauen. Unter den weiteren kirchlichen Bauvorhaben, die er finanzierte, war das bedeutendste die Badia di Fiesole, das Kloster der Augustiner-Eremiten unterhalb von Fiesole. Dort ließ Cosimo ab 1456 das gesamte Klostergebäude einschließlich der Kirche neu errichten und mit einer Bibliothek ausstatten. Die Bauarbeiten waren bei seinem Tod noch nicht abgeschlossen. Außer den Sakralbauten ließ Cosimo auch ein imposantes privates Gebäude errichten, den neuen Medici-Palast. Zuvor wohnte er in einem vergleichsweise bescheidenen älteren Palast, der Casa Vecchia. Erst 1445/1446, nachdem er bereits mit Kirchen- und Klosterbauten seine Großzügigkeit im Dienst des Gemeinwesens unter Beweis gestellt hatte, begann er mit dem aufwendigen Neubau des Familienpalastes an der damaligen Via Larga, der heutigen Via Cavour. In erster Linie ging es ihm dabei nicht um seinen eigenen Wohnkomfort, sondern um das Ansehen der Familie. Damit folgte er einer damals herrschenden sozialen Norm; die Wahrung und Mehrung des Ruhms der Familie war generell für Angehörige der Oberschicht eine zentrale Aufgabe. Der neue palazzo der Medici übertraf alle älteren Familienpaläste in Florenz an Größe und Ausstattung. Seine außergewöhnliche architektonische Qualität setzte einen neuen Maßstab für den Palastbau der Renaissance. Die Kapelle wurde von Benozzo Gozzoli mit Fresken geschmückt. An der Ausstattung des Palastes mit kostbaren Bildern waren auch die damals sehr geschätzten Maler Fra Angelico, Domenico Veneziano und Filippo Lippi beteiligt. Es wurde eine Umgebung geschaffen, in der prominente auswärtige Gäste repräsentativ empfangen werden konnten. Papst Pius II. meinte, dieses Bauwerk sei eines Königs würdig. Nach seinem Eindruck verfügte Cosimo über einen Reichtum, der vielleicht den des sprichwörtlichen Königs Krösus übertraf. Die Schätzungen der Baukosten schwanken zwischen 60.000 und 100.000 Florin. Das Staunen der Zeitgenossen spiegelt sich in den Worten des Architekten und Architekturtheoretikers Filarete, der sich in seinem 1464 vollendeten Trattato di architettura äußerte. Filarete hob besonders die Würde (dignitade) der neuen Gebäude hervor. Er verglich Cosimo mit bedeutenden antiken Bauherren wie Marcus Vipsanius Agrippa und Lucius Licinius Lucullus. Diese seien allerdings keine bloßen Privatleute gewesen, sondern hätten große Provinzen regiert und seien dadurch zu ihrem Reichtum gekommen. Cosimo hingegen sei ein einfacher Bürger, der sein Vermögen durch seine unternehmerische Tatkraft erworben habe. Daher sei seine Leistung als Bauherr einzigartig. Cosimos Neubauten veränderten das zuvor ganz vom Mittelalter geprägte Stadtbild. Sie trugen maßgeblich zur Einführung eines neuen Architekturtyps bei, mit dem Florenz zu einem Muster für ganz Italien wurde. Der neue Stil verband Zweckmäßigkeit mit antiker Proportionalität und antikisierendem Schmuck. Diese Stilrichtung hatte schon Filippo Brunelleschi, ein führender Architekt der Frührenaissance, eingeführt. Er hatte 1420 den Neubau von San Lorenzo begonnen und wurde dann 1442 von Cosimo beauftragt, das Werk zu vollenden. Ansonsten zog der Mediceer aber einen anderen Architekten, Michelozzo, vor, dessen Entwürfe weniger grandios waren als die Brunelleschis. Ob der Medici-Palast von Brunelleschi oder von Michelozzo entworfen wurde, ist in der Forschung umstritten; vermutlich waren beide beteiligt. In den lobenden Beschreibungen von Zeitgenossen wurden an Cosimos Bauten vor allem die Ordnung, die Würde, die Weite, die Schönheit der Proportionen und des architektonischen Schmucks und die Helligkeit hervorgehoben. Anerkennung fand ferner die leichte Begehbarkeit der Treppen. Sie stellte eine Neuerung dar, denn mittelalterliche Treppen waren gewöhnlich eng und steil. Die breiten Treppen mit niedrigen Stufen wurden sehr geschätzt, da sie ein bequemes und zugleich würdevolles Treppensteigen ermöglichten. Die aufwendige Bautätigkeit des Mediceers, die an Umfang diejenige jedes anderen Privatmanns im 15. Jahrhundert übertraf, wurde von den Bürgern nicht nur wohlwollend und dankbar aufgenommen. Es wurde auch Kritik an der damit verbundenen Selbstdarstellung des reichsten Bürgers der Stadt laut. Die unterschiedlichen Ansichten und Bewertungen der Zeitgenossen sind aus einer Verteidigungsschrift ersichtlich, die der Theologe und Humanist Timoteo Maffei kurz vor 1456 zur Rechtfertigung des angegriffenen Mäzens verfasste. Maffei wählte für seine Darstellung die Form eines Dialogs, in dem er als Fürsprecher Cosimos einen Kritiker (detractor) widerlegt und schließlich überzeugt. Auf den Vorwurf, der Medici-Palast sei zu luxuriös, erwidert er, Cosimo habe sich dabei nicht nach dem gerichtet, was für ihn persönlich angemessen sei, sondern nach dem, was für eine so bedeutende Stadt wie Florenz passend sei. Da er von der Stadt weit größere Wohltaten empfangen habe als die anderen Bürger, habe er sich genötigt gesehen, sie entsprechend üppiger zu schmücken als jeder andere, um sich nicht als undankbar zu erweisen. Zur Entkräftung der Kritik an dem überall angebrachten Medici-Wappen bringt Maffei vor, der Zweck des Wappenzeichens bestehe darin, auf ein Vorbild aufmerksam zu machen, das zur Nachahmung anspornen solle. Auch der Bildhauer Donatello arbeitete für Cosimo oder vielleicht für dessen Sohn Piero. Im Auftrag der Medici schuf er zwei berühmte Bronzeskulpturen, den David und die Judith. Beide Werke hatten einen politischen Hintergrund; die dargestellten biblischen Gestalten versinnbildlichten den Sieg über einen scheinbar übermächtigen Feind. Es ging um Ermutigung zur Verteidigung der Freiheit des Vaterlandes und der republikanischen Verfassung gegen Gefährdungen von außen. Privatleben Als Privatmann war Cosimo für seine Bescheidenheit und seinen Grundsatz des Maßhaltens bekannt. Seinen Palast und seine Villen gestaltete er zwar repräsentativ, doch achtete er darauf, in seiner Lebensführung unnötigen Aufwand, der Anstoß erregen konnte, zu vermeiden. So begnügte er sich mit einfachen Speisen und trug keine prächtige Kleidung. Dazu passte seine Betätigung in der Landwirtschaft, in der er sich gut auskannte. Auf seinen Besitzungen außerhalb der Stadt leistete er Landarbeit, er pfropfte Bäume und beschnitt Weinstöcke. Im Umgang mit den Bauern demonstrierte er Volksnähe; er fragte sie gern, wenn sie nach Florenz auf den Markt kamen, nach ihren Früchten und deren Herkunft. Der Buchhändler Vespasiano da Bisticci verfasste eine verherrlichende Biographie Cosimos, mit dem er befreundet war. Darin trug er unter anderem Anekdoten aus dem Privatleben zusammen, für deren Authentizität er sich verbürgte. Er schilderte seinen Freund als Menschen von ernsthafter Wesensart, der sich mit gelehrten, würdevollen Männern umgeben habe. Er habe über ein vorzügliches Gedächtnis verfügt, sei ein geduldiger Zuhörer gewesen und habe niemals schlecht über jemanden geredet. Dank seiner umfassenden Kenntnis unterschiedlicher Wissensgebiete habe er mit jedem ein Thema gefunden. Er sei überaus freundlich und bescheiden gewesen, habe darauf geachtet, niemanden zu beleidigen, und nur wenige hätten ihn je erregt gesehen. Alle seine Antworten seien „mit Salz gewürzt“ gewesen. Cosimo war für seine humorvollen und geistreichen, teils rätselhaften Bemerkungen bekannt, die im 15. und 16. Jahrhundert in einer Reihe von Anekdoten verbreitet wurden. Krankheit, Tod und Nachfolge Cosimo litt an der Gicht. Die Anfälligkeit für diese Krankheit war in seiner Familie erblich. Ab 1455 scheint das Leiden ihn erheblich behindert zu haben. Er starb am 1. August 1464 in seiner Villa in Careggi und wurde am folgenden Tag in San Lorenzo beigesetzt. Pompöse Begräbnisfeierlichkeiten hatte er untersagt. Ein Testament hinterließ er nicht. Für die Gestaltung des Grabmals setzte die Signoria eigens eine zehnköpfige Kommission ein. Andrea del Verrocchio gestaltete die Grabplatte, für die ein zentraler Ort innerhalb der Kirche gewählt wurde, wie es bei Stiftergräbern üblich war. Dort wurde auf Beschluss der Stadt die Inschrift Pater patriae („Vater des Vaterlandes“) eingemeißelt, die an eine antike Ehrung außergewöhnlich verdienter Bürger anknüpfte. Nach der Fertigstellung des Grabmals wurden die Gebeine am 22. Oktober 1467 an ihre endgültige Stätte in der Krypta gebracht. Mit seiner Gattin hatte Cosimo zwei Söhne, Piero (1416–1469) und Giovanni (1421–1463). Hinzu kam ein unehelicher Sohn namens Carlo, dessen Mutter eine tscherkessische Sklavin war. Carlo wurde zusammen mit seinen Halbbrüdern erzogen und schlug später eine kirchliche Karriere ein. Giovanni starb schon am 1. November 1463, neun Monate vor Cosimo, und hinterließ keine Kinder. Piero fiel das ganze väterliche Erbe zu, sowohl das Vermögen und die Führung der Bank als auch die Stellung des leitenden Staatsmanns von Florenz. Dank der Autorität seines verstorbenen Vaters konnte Piero dessen Rolle im Staat problemlos übernehmen. Er litt aber schwer an der Gicht, die seine Aktivitäten stark behinderte, und starb schon fünf Jahre nach Cosimo. Pieros Nachfolge als informeller Machthaber trat im Dezember 1469 sein Sohn Lorenzo il Magnifico an. Wiederum verlief der Übergang ohne Komplikationen. Das neue Oberhaupt der Familie setzte die Tradition der großzügigen Kulturförderung fort und mehrte damit den Ruhm der Medici. Die von seiner Führung geprägten 22 Jahre der Geschichte von Florenz waren eine kulturell außerordentlich glanzvolle Epoche. Lorenzo verfügte aber nicht über das geschäftliche Talent seines Großvaters Cosimo. Es gelang ihm nicht, die finanzielle Basis der politischen Macht und des Mäzenatentums der Medici zu bewahren. Die Bank erlebte einen dramatischen Niedergang, der sie an den Rand des Zusammenbruchs brachte. Rezeption Mittelalter Ein scharfer Kritiker Cosimos war der zeitgenössische Geschichtsschreiber Giovanni Cavalcanti. Er gehörte einem alteingesessenen Patriziergeschlecht an und missbilligte den Aufstieg einer Schicht von Emporkömmlingen, für den er Cosimo verantwortlich machte. Vor allem verübelte er dem Mediceer das rigorose Vorgehen gegen die Steuerschuldner, zu denen er selbst zählte. Allerdings äußerte er sich stellenweise positiv über die Medici und hielt die Aufhebung von Cosimos Verbannung für gerecht. Zeitgenössische medicifreundliche Autoren priesen Cosimo rückblickend als Retter der Unabhängigkeit der Republik Florenz. So befand der Humanist Benedetto Accolti der Ältere in seinem Dialogus de praestantia virorum sui aevi, einem in Cosimos letzten Lebensjahren verfassten und ihm gewidmeten Werk, die Machtverhältnisse seien nach dem Tod von Filippo Maria Visconti für Venedig so günstig gewesen, dass die Venezianer ganz Italien hätten unterwerfen können, wenn Cosimo dies nicht durch das Bündnis mit Mailand verhindert hätte. Er allein sei der Urheber des Allianzwechsels, den er gegen starken Widerstand in Florenz durchgesetzt habe. In diesem Sinn äußerte sich auch der Geschichtsschreiber Benedetto Dei. Er verfasste in den 1470er Jahren ein gegen Venedig gerichtetes Pamphlet, in dem er Cosimos Außenpolitik rückblickend als weitsichtig und erfolgreich darstellte. Nach seiner Einschätzung hätte Venedig in Italien eine beherrschende Stellung errungen, wenn Cosimo nicht die Allianz mit Francesco Sforza zuwege gebracht hätte. Im Zeitraum 1469–1475 schuf Sandro Botticelli im Auftrag des Bankiers G(u)aspar(r)e di Zanobi del Lama ein Gemälde, das die Anbetung der Heiligen Drei Könige zeigt. Der älteste der Könige trägt die Gesichtszüge Cosimos, auch weitere Angehörige der Familie Medici sind abgebildet. Somit soll das Werk der Familie huldigen, Cosimo erscheint als „Heiliger“. Der Humanist Bartolomeo Platina schrieb den Dialog De optimo cive (Über den besten Bürger), den er 1474 Cosimos Enkel Lorenzo il Magnifico widmete. Mit dem „besten Bürger“ ist der leitende republikanische Staatsmann gemeint. Der Ort der Handlung ist die Villa der Medici in Careggi, den Inhalt bildet ein fiktives Gespräch zwischen dem bereits alten und gebrechlichen Cosimo als Hauptperson, Platina und dem Knaben Lorenzo. Der Vorrede zufolge wollte der Autor mit seiner Darstellung von Cosimos politischen Maximen den patriotischen Eifer der Leser anfeuern. Platina präsentierte ein Regierungsprogramm, das er dem alten Staatsmann in den Mund legte. Seine Dialogfigur Cosimo tritt für „Freiheit“ – die traditionelle republikanische Lebensform – ein, warnt vor Hochmut, Anmaßung und Luxus, kritisiert Übelstände und fordert Einschreiten gegen Männer, die nach der Tyrannis streben. Sie sollen verbannt werden; hinzurichten sind sie nur, wenn sie der Beteiligung an einer Verschwörung überführt worden sind. Neben der humanistischen Verherrlichung Cosimos in lateinischer Sprache, die sich an Gebildete richtete, gab es auch eine volkstümliche in italienischen Gedichten. In dieser für eine breitere Öffentlichkeit bestimmten Dichtung erscheint er als gütige Vaterfigur, Förderer des religiösen Lebens und des Wohlstands und heldenhafter Verteidiger der Freiheit gegen Angriffe von außen. Frühe Neuzeit Im letzten Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts zerbrach der Konsens, der die informelle Herrschaft der Medici in der Republik Florenz ermöglicht hatte. Die Familie wurde im November 1494 aus der Stadt verjagt. Dies führte zu einer Neubewertung von Cosimos Rolle. Der Mönch Girolamo Savonarola, der für die Florentiner damals die maßgebliche Autorität war, verdammte die Medici-Herrschaft als monströs und äußerte zu der Cosimo zugeschriebenen Bemerkung, der Staat werde nicht mit Vaterunser-Beten regiert, dies sei ein Tyrannenwort. Am 22. November 1495 beschloss die Signoria, die Inschrift „Vater des Vaterlandes“ am Grabmal zu tilgen. Doch 1512 brachte ein spanisches Heer die Medici zurück nach Florenz und wieder an die Macht. Daraufhin wurde die Inschrift wiederhergestellt. Im Jahr 1527 mussten die Medici aber ein weiteres Mal dem Volkszorn weichen. Nach der erneuten Vertreibung der Familie beschlossen die nunmehr regierenden Republikaner 1528 wiederum die Beseitigung der Inschrift. Diesen Schritt begründeten sie damit, dass Cosimo nicht Vater des Vaterlandes gewesen sei, sondern Tyrann des Vaterlandes. Die medicilose Republik erwies sich jedoch als kurzlebig; im August 1530 wurde die Stadt von Truppen Kaiser Karls V. gestürmt, worauf die Medici wieder an die Macht kamen. Aus der Republik wurde eine Monarchie, deren Herrscher ihre Legitimation aus der Rolle ihrer Ahnen im 15. Jahrhundert bezogen. Der Historiker Francesco Guicciardini behandelte die Zeit bis 1464 im ersten Kapitel seiner 1508/1509 verfassten Storie fiorentine. Er befand, Cosimo und sein berühmter Enkel Lorenzo il Magnifico seien vielleicht die beiden angesehensten Privatleute seit dem Untergang des Römischen Reichs gewesen. Der Großvater sei dem Enkel an Beharrlichkeit und Urteilskraft sowie im Umgang mit Geld überlegen gewesen. Wenn man alle Aspekte bedenke, komme man zum Ergebnis, dass Cosimo der tüchtigere der beiden großen Mediceer gewesen sei. Insbesondere lobte Guicciardini das Bündnis mit Mailand, in dem er eine bedeutende historische Leistung Cosimos sah. Die Mehrheit der Florentiner sei für die Fortsetzung der alten Allianz mit Venedig gewesen, doch habe Cosimo seine Mitbürger überzeugen können, sich mit Francesco Sforza zu verbünden. Damit habe er die Freiheit nicht nur der Republik Florenz, sondern ganz Italiens gerettet. Nach Guicciardinis Meinung hätten die Venezianer erst Mailand und dann alle übrigen italienischen Staaten unterworfen, wenn Cosimo dies nicht verhindert hätte. Niccolò Machiavelli urteilte in seinen 1520–1525 verfassten Istorie fiorentine, Cosimo habe alle seine Zeitgenossen nicht nur an Autorität und Reichtum, sondern auch an Freigebigkeit und Klugheit übertroffen. Niemand sei ihm zu seiner Zeit in der Staatskunst ebenbürtig gewesen. Er habe in Florenz eine fürstliche Stellung eingenommen und sei dennoch so klug gewesen, die Grenzen bürgerlicher Mäßigung nie zu überschreiten. Alle seine Werke und Taten seien königlich gewesen. Entstehende Übel habe er frühzeitig erkannt; daher habe er genug Zeit gehabt, sie nicht wachsen zu lassen oder sich gegen sie zu wappnen. Er habe nicht nur den Ehrgeiz seiner bürgerlichen Rivalen zu Hause bezwungen, sondern auch den vieler Fürsten. Das Regierungssystem Cosimos missbilligte Machiavelli allerdings. Er hielt die Verbindung einer zentralisierten, quasi monarchischen Entscheidungsstruktur mit der Notwendigkeit, dennoch weiterhin wie in der vormediceischen Republik einen breiten Konsens zu finden, für verfehlt. In der Instabilität eines solchen Konstrukts sah er eine fundamentale Schwäche. Im Jahr 1537 erlangte der Mediceer Cosimo I. die Würde eines Herzogs der Toskana. Der Herzog, der bis 1574 regierte (ab 1569 als Großherzog), war ein Nachkomme Lorenzos, des jüngeren Bruders von Cosimo il Vecchio. Er ließ im Palazzo della Signoria (Palazzo Vecchio) einen „Saal von Cosimo il Vecchio“ zu Ehren des Begründers von Ruhm und Macht der Medici einrichten. Die Sala di Cosimo il Vecchio wurde von Giorgio Vasari und seinen Gehilfen ausgemalt. Dabei wurde das Kirchenbauprogramm des berühmten Mäzens besonders hervorgehoben. Eines der Gemälde stellt seine Rückkehr aus dem venezianischen Exil als Triumph dar. Im Zeitalter der Aufklärung wurde Cosimo wegen seiner Förderung des Humanismus geschätzt. Voltaire äußerte sich in seinem 1756 veröffentlichten Essai sur les mœurs et l’esprit des nations mit Begeisterung. Er urteilte, die frühen Medici hätten ihre Macht durch Wohltaten und Tugenden erlangt, daher sei sie legitimer als die jedes Herrschergeschlechts. Cosimo habe seinen Reichtum dazu genutzt, den Armen zu helfen, sein Vaterland mit Bauten zu schmücken und die aus Konstantinopel vertriebenen griechischen Gelehrten nach Florenz zu holen. Mit seinen Wohltaten habe er sich die Autorität verschafft, die bewirkt habe, dass seine Empfehlungen drei Jahrzehnte lang wie Gesetze befolgt worden seien. Edward Gibbon rühmte Cosimo im 1788 erschienenen sechsten Band seiner History of the Decline and Fall of the Roman Empire mit den Worten, er habe seine Reichtümer in den Dienst der Menschheit gestellt; der Name Medici sei fast gleichbedeutend mit der Wiederherstellung der Bildung. Johann Wolfgang von Goethe würdigte Cosimo im Anhang zu seiner 1803 veröffentlichten Übersetzung der Autobiographie des Benvenuto Cellini. Dort beschrieb er die Patronage des Mediceers als „allgemeine Spende, die an Bestechung gränzt“. Als „großer Handelsmann“, der „das Zaubermittel zu allen Zwecken in Händen trägt“, sei er „an und für sich ein Staatsmann“ gewesen. Zu Cosimos kulturellen Aktivitäten bemerkte Goethe: „Selbst vieles, was er für Literatur und Kunst gethan, scheint in dem großen Sinne des Handelsmanns geschehen zu sein, der köstliche Waaren in Umlauf zu bringen und das Beste davon selbst zu besitzen sich zur Ehre rechnet.“ Moderne Kulturgeschichtliche Aspekte Georg Voigt veröffentlichte 1859 seine für die Erforschung des Frühhumanismus wegweisende Schrift Die Wiederbelebung des classischen Alterthums. In diesem Werk, das 1893 in dritter Auflage erschien, konstatierte Voigt, die Literatur- und Kunstgeschichte habe Cosimo „mit einer Art von Heiligenschein umkleidet“. Er sei „der leibhaftigste Typus des florentinischen Edelmanns als großartiger Kaufherr, als kluger und überschauender Staatsmann, als Repräsentant der feinen Modebildung, als mäcenatischer Geist im fürstlichen Sinne“ gewesen. Seinen Blick habe er „auf das Weite und Allgemeine gerichtet“, seine Macht habe er in einer „kalt berechneten und geräuschlosen Weise“ gefestigt. Jedes wissenschaftliche Verdienst habe er nach Gebühr anerkannt, die Talente herangezogen, ihnen Stellung und Besoldung angewiesen. Jacob Burckhardt zeichnete in der 1869 erschienenen zweiten Auflage seiner einflussreichen Schrift Die Kultur der Renaissance in Italien ein heute teilweise überholtes Bild von Cosimo. Er betonte die „Führerschaft auf dem Gebiete der damaligen Bildung“, die dem Mediceer zugekommen sei. Dieser besitze den „speziellen Ruhm, in der platonischen Philosophie die schönste Blüte der antiken Gedankenwelt erkannt“ und seine Umgebung mit dieser Erkenntnis erfüllt zu haben. So habe er „innerhalb des Humanismus eine zweite und höhere Neugeburt des Altertums ans Licht gefördert“. In kulturgeschichtlichen Darstellungen dominierte bis gegen Ende des 20. Jahrhunderts Burckhardts Sichtweise: Cosimo wurde vielfach als Gründer einer platonischen Akademie gewürdigt. So schrieb beispielsweise Agnes Heller 1982, die Gründung der Akademie in Florenz sei epochemachend gewesen. Es handle sich um die erste philosophische Schule, die „von den alten kirchlichen und universitären Rahmenbedingungen unabhängig und insofern vollkommen weltlich und ‚offen‘“ gewesen sei. Patron dieser Akademie sei „der im traditionellen Sinn (aus dem Blickwinkel der offiziellen Bildung der Zeit) unstudierte Cosimo“ gewesen. Ähnlich schilderte noch 1995 Manfred Lentzen die Rolle des Mediceers. Erst die Forschungen von James Hankins entzogen in den 1990er Jahren dem Bild von Cosimo als Akademiegründer die Grundlage. Politische Aspekte Im verfassungsgeschichtlichen Diskurs wird die Frage erörtert, inwiefern Cosimos dominante Rolle den Rahmen der republikanischen Verfassung sprengte und seine Bezeichnung als Herrscher von Florenz daher berechtigt ist. Zur Unterscheidung von einer offenen Alleinherrschaft wird Cosimos System als „Kryptosignorie“ (versteckte Herrschaft) bezeichnet. Damit ist eine Regierungsform gemeint, die sich erst später allmählich zu einer unverhüllten Signorie, der Staatslenkung durch einen einzelnen Machthaber mit erblicher Stellung, entwickelt hat. Anthony Molho bringt die Zwiespältigkeit des Systems auf die griffige Formel „Cosimo de’ Medici – Pater patriae (Vater des Vaterlandes) oder Padrino (Pate)?“ Damit wird angedeutet, dass der Patron des Klientelsystems eine „politische Maschine“ geschaffen habe und vielleicht sogar in die Nähe von Mafia-Paten zu rücken sei. Letzteres entspricht der Auffassung von Lauro Martines und Jacques Heers. Martines sieht in der „Palette unverblümter und umfassender Kontrollmaßnahmen der mediceischen Republik“ das Instrumentarium, mit dem Cosimo die Verfassung unterminiert und die Herrschaft der „Medici-Oligarchie“, der „an der Regierung befindlichen Clique“, gesichert habe. Allerdings habe sich die republikanische Verfassung nicht so stark beugen lassen, dass sie den Medici totale Macht garantiert hätte. Die Oligarchie sei ein Team gewesen, „keine Ein-Mann-Show“, und habe ihre wichtigen Entscheidungen kollektiv gefällt. Jacques Heers zeichnet das Bild einer finsteren, brutalen Tyrannei, die Cosimo errichtet habe. Werner Goez urteilt, Florenz habe sich unter Cosimo zweifellos auf dem Weg zu fürstlicher Alleinherrschaft befunden, auch wenn alles getan worden sei, diesen Tatbestand zu verschleiern. Volker Reinhardt befindet, ab 1434 sei es zu einer „eigentümlichen Vermischung“ von Signorie und Republik gekommen; rein republikanisch sei nur noch die Fassade gewesen. Michele Luzzati hält die Entwicklung für unausweichlich; es sei Cosimos wahre und große Einsicht gewesen, dass politische Stabilität in Florenz nur noch mit einem System erreichbar gewesen sei, das unter Wahrung der freiheitlichen Tradition auf dem Vorrang eines Mannes und einer Familie beruhte. Dieser Ansicht ist auch Ferdinand Schevill. Nach seiner Einschätzung führten die Verfassungsbestimmungen, die sehr kurze Amtszeiten und Auswahl der höchsten Amtsträger durch das Los aus einer großen Menge von Kandidaten vorschrieben, zu unhaltbaren Zuständen, denn sie bewirkten, dass ein hoher Prozentsatz von offenkundig Inkompetenten in Führungsstellungen gelangte und eine durchdachte, beständige Politik unmöglich war. Schevill meint, dieses System habe die elementarsten Forderungen der Vernunft missachtet; daher sei seine Umgehung und Umgestaltung unumgänglich gewesen. Das verbreitete Bild von Cosimo als faktisch unumschränktem Herrscher wird allerdings von manchen Historikern für irreführend gehalten. Spezialuntersuchungen haben gezeigt, dass er seinen Willen keineswegs mühelos durchsetzen konnte und auch nach der Jahrhundertmitte weiterhin auf beträchtlichen, offenen Widerstand stieß. Nicolai Rubinsteins Analyse der Krise von 1455–1458 lässt das Ausmaß der zeitweiligen innenpolitischen Schwächung des Mediceers erkennen. Rubinstein kommt zum Ergebnis, dass Cosimo keineswegs Gehorsam als selbstverständlich voraussetzen konnte, auch nicht in seiner eigenen Anhängerschaft und nicht einmal bei der machtpolitisch zentralen Regelung der Ämterbesetzung. Es blieb ihm nicht erspart, Überzeugungsarbeit zu leisten. Rubinstein meint, auswärtige Zeitgenossen hätten Cosimos Macht wahrscheinlich überschätzt, sie werde wohl in Quellen wie den mailändischen Gesandtschaftsberichten teils übertrieben dargestellt. Dies führt er unter anderem darauf zurück, dass in despotisch regierten Staaten das nötige Verständnis der republikanischen Mentalität gefehlt habe; daher habe man dort die Bedeutung von Beratung und Konsens in einer Republik wie Florenz nicht angemessen berücksichtigt. Dale Kent schließt sich aufgrund eigener Forschungsergebnisse Rubinsteins Auffassung an. Auch Paolo Margaroli weist auf die Grenzen von Cosimos Macht hin. Als Beispiel nennt er die Friedensverhandlungen in Rom, bei denen 1453 die florentinischen Unterhändler so agierten, dass sie es nach Cosimos Ansicht, wie er dem Herzog von Mailand schrieb, nicht schlechter hätten machen können. Diese Gesandtschaft war in Florenz von oppositionellen Kräften vorbereitet worden. Michele Luzzati betont das Gewicht der seit Generationen kritischen öffentlichen Meinung, die Cosimo nicht habe missachten können. Nach der Darstellung von Daniel Höchli waren die meisten Patrizier nicht bereit, sich den Medici zu unterwerfen. Sie konnten dank eigener Patronage-Netzwerke ihre politische Unabhängigkeit bis zu einem gewissen Grad bewahren. Die Führungsrolle der Medici akzeptierten sie nur, solange sie ihre eigenen Interessen gewahrt sahen. Mit der Debatte über die Natur der Kryptosignorie hängt die Frage zusammen, inwieweit das dezidiert republikanische, antiautokratische Gedankengut des Florentiner „Bürgerhumanismus“ – ein von Hans Baron geprägter Begriff – mit Cosimos Stellung im Staat vereinbar war. Die ältere Forschung – vor allem Hans Baron und Eugenio Garin – ging von einem fundamentalen Spannungsverhältnis aus. Man nahm an, der manipulative Charakter der Medici-Herrschaft habe das Grundprinzip des Bürgerhumanismus, die Ermutigung der Bürger zu einer aktiven und verantwortungsvollen Beteiligung am politischen Leben, unterminiert. Die Verbreitung eines unpolitischen Neuplatonismus nach der Jahrhundertmitte sei als Ausdruck der Abkehr der Humanisten von einer echt republikanischen Gesinnung zu deuten. Diese Sichtweise ist von der neueren Forschung, insbesondere unter dem Eindruck der Ergebnisse von James Hankins, aufgegeben worden. Es wird u. a. darauf hingewiesen, dass Leonardo Bruni als profilierter Theoretiker und Wortführer des Bürgerhumanismus keinen Gegensatz zwischen seiner Überzeugung und seiner Zusammenarbeit mit Cosimo sah. Nach der neueren Interpretation ist das Verhältnis zwischen Bürgerhumanismus und Medici-Herrschaft eher als Symbiose auf der Basis bedeutender Gemeinsamkeiten zu verstehen. Als Ursache für Cosimos Erfolge wird in der Forschung insbesondere seine geschickte Finanzpolitik hervorgehoben, die ihm in den innenpolitischen Kämpfen bedeutende Vorteile verschafft habe. So konstatieren Werner Goez, Lauro Martines und Jacques Heers, Cosimo habe seine politische Macht vor allem dazu eingesetzt, die mit den Medici rivalisierenden Clans und Banken niederzuhalten. Mittels der Steuergesetzgebung habe er die Vermögen seiner Rivalen und missliebiger Personen belastet, um sich ihrer zu entledigen. Es gibt aber keinen Beleg dafür, dass er versuchte, politische Gegner durch direkte kommerzielle Angriffe auf ihre Unternehmen zu schädigen. Jacques Heers bestreitet, dass Cosimo durch seinen Reichtum an die Macht gelangte. Vielmehr sei es umgekehrt der Machtbesitz gewesen, den er zur Anhäufung der Reichtümer genutzt habe. Als zentraler Faktor, der die Macht des Mediceers in Florenz befestigte, gilt in der Forschung sein Ansehen im Ausland und insbesondere sein Einfluss an der Kurie. Große Bedeutung wird auch seinem propagandistischen Geschick beigemessen. Dale Kent charakterisiert Cosimo als Meister der Selbstdarstellung, der sein Image sorgfältig kultiviert habe. Nach Kents Einschätzung ist sein einzigartiger Erfolg darauf zurückzuführen, dass er das war oder zumindest zu sein schien, was den Wünschen seiner Mitbürger entsprach: ein Wortführer, der ihre Wertvorstellungen artikulierte, und zugleich ein scharfsichtiger, abwägender Staatsmann, der nach außen als Stimme der Republik auftreten konnte und durch seine Führungsrolle den in der Verfassung angelegten Mangel an politischer Konsistenz kompensierte. Als bedeutende außenpolitische Leistung Cosimos wird das Bündnis mit Mailand gegen Venedig beurteilt. Für Hans Baron handelt es sich um einen meisterhaften Schachzug. Nicolai Rubinstein meint, dieser Erfolg habe wohl mehr als jedes andere Ereignis nach 1434 das Ansehen des Mediceers im In- und Ausland gefestigt. Volker Reinhardt befindet, Cosimo habe „vorausschauend wie immer“ in die Karriere Sforzas viel Geld investiert, das sich dann als politische Rendite amortisiert habe. Die von ihm herbeigeführte Allianz zwischen Florenz und Mailand habe sich „als tragfähige Achse der italienischen Politik insgesamt“ erwiesen. Vincent Ilardi teilt diese Einschätzung der Allianz, merkt aber kritisch an, Cosimo habe die von Frankreich ausgehende Gefahr unterschätzt. Seine Neigung zu einem Bündnis mit Frankreich gegen Venedig sei ein Fehler gewesen. Sforza habe diesbezüglich mehr staatsmännische Voraussicht gezeigt. Quellen Die Quellen zu Cosimos Leben, seiner Rolle als Staatsmann und Mäzen und zur Rezeptionsgeschichte sind sehr reichhaltig. Aus seiner Zeit sind etwa dreißigtausend von den Medici verfasste oder an sie gerichtete Briefe erhalten. Eine Fülle von einschlägigen Briefen und Dokumenten befindet sich im Staatsarchiv von Florenz in der Sammlung „Medici avanti il Principato“ (MAP), deren Grundstock Cosimos Privatarchiv bildet, sowie im Mailänder Staatsarchiv und anderen Archiven und Bibliotheken. Diese Archivalien geben sowohl über politische und geschäftliche Angelegenheiten als auch über Privates Aufschluss. Informativ sind auch die ausführlichen Steuerunterlagen, die im Staatsarchiv von Florenz aufbewahrt werden, sowie Unterlagen der Medici-Bank in verschiedenen Archiven. Hinzu kommen Aufzeichnungen über Sitzungen und Debatten, an denen die Medici und ihre Freunde teilnahmen und das Wort ergriffen. Gut dokumentiert sind die diplomatischen Aktivitäten; Gesandtschaftsberichte und Instruktionen, die den Gesandten erteilt wurden, erhellen Cosimos Rolle in der italienischen Politik. Hohen Quellenwert hat sein Briefwechsel mit Francesco Sforza. Zahlreiche erzählende Quellen in lateinischer und italienischer Sprache beleuchten das Bild Cosimos bei seinen Zeitgenossen und in den Jahrzehnten nach seinem Tod. Zu den wichtigsten edierten Quellen zählen: Antonio Benivieni: Antonii Benivienii ἐγκώμιον Cosmi ad Laurentium Medicem, hrsg. von Renato Piattoli. Gonnelli, Firenze 1949 Vespasiano da Bisticci: Le Vite, hrsg. von Aulo Greco, Bd. 2. Istituto Nazionale di Studi sul Rinascimento, Firenze 1976, S. 167–211 (kritische Ausgabe) Giovanni Cavalcanti: Istorie fiorentine, hrsg. von Guido di Pino. Martello, Milano 1944 Giovanni Cavalcanti: Nuova opera (Chronique florentine inédite du XVe siècle), hrsg. von Antoine Monti. Université de la Sorbonne Nouvelle, Paris 1989, ISBN 2-900478-16-2 (kritische Edition) Francesco Guicciardini: Storie fiorentine dal 1378 al 1509, hrsg. von Roberto Palmarocchi. Laterza, Bari 1968 (Nachdruck der Ausgabe Bari 1931) Niccolò Machiavelli: Istorie fiorentine. In: Niccolò Machiavelli: Opere, Bd. 2: Istorie fiorentine e altre opere storiche e politiche, hrsg. von Alessandro Montevecchi. UTET, Torino 1986, ISBN 978-88-02-07680-5, S. 275–847 Cosimo de’ Medici: Ricordi. In: Angelo Fabroni: Magni Cosmi Medicei vita, Bd. 2: Adnotationes et monumenta ad Magni Cosmi Medicei vitam pertinentia. Pisa 1788, S. 96–104 Matteo Palmieri: Annales, hrsg. von Gino Scaramella. In: Rerum Italicarum Scriptores, Bd. 26/1. Lapi, Città di Castello 1906–1915, S. 131–194 Pagolo di Matteo Petriboni, Matteo di Borgo Rinaldi: Priorista (1407–1459), hrsg. von Jacqueline A. Gutwirth. Edizioni di Storia e Letteratura, Rom 2001, ISBN 88-87114-95-1 Janet Ross (Übersetzerin): Lives of the Early Medici as told in their correspondence. Chatto & Windus, London 1910, S. 7–81 (englische Übersetzung von Briefen) Literatur Übersichtsdarstellungen und Einführungen Dale Kent: Medici, Cosimo de’. In: Dizionario Biografico degli Italiani. Bd. 73, Istituto della Enciclopedia Italiana, Rom 2009, S. 36–43 Volker Reinhardt: Die Medici. Florenz im Zeitalter der Renaissance. 4., durchgesehene Auflage, Beck, München 2007, ISBN 978-3-406-44028-1, S. 20–70 Aufsatzsammlung Francis Ames-Lewis (Hrsg.): Cosimo ‘il Vecchio’ de’ Medici, 1389–1464. Essays in Commemoration of the 600th Anniversary of Cosimo de’ Medici’s Birth. Clarendon Press, Oxford 1992, ISBN 0-19-817394-6 Innenpolitik Dale Kent: The Rise of the Medici. Faction in Florence 1426–1434. Oxford University Press, Oxford 1978, ISBN 0-19-822520-2 John M. Najemy: A History of Florence 1200–1575. Blackwell, Malden 2006, ISBN 978-1-4051-1954-2, S. 250–300 John F. Padgett, Christopher K. Ansell: Robust Action and the Rise of the Medici, 1400–1434. In: American Journal of Sociology 98, 1992/1993, S. 1259–1319 Volker Reinhardt: Geld und Freunde. Wie die Medici die Macht in Florenz eroberten. Primus, Darmstadt 2009, ISBN 978-3-89678-396-7 Nicolai Rubinstein: The Government of Florence under the Medici (1434 to 1494). 2., überarbeitete Auflage, Clarendon Press, Oxford 1997, ISBN 0-19-817418-7 (wichtiges Standardwerk, aber nicht als Einführung geeignet) Bankwesen Richard A. Goldthwaite: The Medici Bank and the World of Florentine Capitalism. In: Past & Present 114, 1987, S. 3–31 Raymond de Roover: The Rise and Decline of the Medici Bank 1397–1494. Harvard University Press, Cambridge (Massachusetts)/London 1963, ISBN 0-674-77145-1 Kurt Weissen: Machtkämpfe und Geschäftsbeziehungen in Florenz im 15. Jahrhundert. Wie Cosimo de’ Medici seine Bank im Kampf gegen seine inneren Gegner einsetzte. In: Mark Häberlein, Christof Jeggle (Hrsg.): Praktiken des Handels. Geschäfte und soziale Beziehungen europäischer Kaufleute in Mittelalter und früher Neuzeit. UVK, Konstanz 2010, ISBN 978-3-86764-203-3, S. 175–189 Außenpolitik Vincent Ilardi: The Banker-Statesman and the Condottiere-Prince: Cosimo de’ Medici and Francesco Sforza (1450–1464). In: Craig Hugh Smyth, Gian Carlo Garfagnini (Hrsg.): Florence and Milan: Comparisons and Relations. Bd. 2, La Nuova Italia, Florenz 1989, ISBN 88-221-0718-7, S. 217–239 Heinrich Lang: Cosimo de’ Medici, die Gesandten und die Condottieri. Diplomatie und Kriege der Republik Florenz im 15. Jahrhundert. Schöningh, Paderborn 2009, ISBN 978-3-506-76597-0 Kulturelle Bedeutung und Privatleben Alison Brown: The Medici in Florence. The exercise and language of power. Olschki, Florenz 1992, ISBN 88-222-3959-8, S. 3–72 Dale Kent: Cosimo de’ Medici and the Florentine Renaissance. The Patron’s Oeuvre. Yale University Press, New Haven/London 2000, ISBN 0-300-08128-6 Tobias Leuker: Bausteine eines Mythos. Die Medici in Dichtung und Kunst des 15. Jahrhunderts. Böhlau, Köln/Weimar/Wien 2007, ISBN 978-3-412-33505-2 Joachim Poeschke: Virtù fiorentina: Cosimo de’ Medici als erster Bürger von Florenz. In: Gerd Althoff (Hrsg.): Zeichen – Rituale – Werte. Rhema, Münster 2004, ISBN 3-930454-45-9, S. 409–434 Rezeption Heinrich Lang: Das Gelächter der Macht in der Republik. Cosimo de’ Medici il vecchio (1389–1464) als verhüllter Herrscher in Fazetien und Viten Florentiner Autoren. In: Christian Kuhn, Stefan Bießenecker (Hrsg.): Valenzen des Lachens in der Vormoderne (1250–1750). University of Bamberg Press, Bamberg 2012, ISBN 978-3-86309-098-2, S. 385–408 Weblinks Mediceo avanti il Principato (MAP), Sammlung von Dokumenten zur Geschichte der Medici vor 1537 Anmerkungen Cosimo Cosimo #Medici Bankier Mäzen Unternehmer (Italien) Unternehmer (15. Jahrhundert) Geboren 1389 Gestorben 1464 Mann
3984
https://de.wikipedia.org/wiki/Pest
Pest
Die Pest ( „Seuche, Epidemie, Beulenpest, Pestplage“; ; ), veraltet auch Pestilenz genannt (mittelhochdeutsch pestilencie entlehnt von lateinisch ), ist eine hochgradig ansteckende Infektionskrankheit, die insbesondere durch das Bakterium Yersinia pestis hervorgerufen wird. Diese Erkrankung kann in verschiedenen Formen auftreten, unter anderem als Beulenpest (Bubonenpest) und als Lungenpest. Während im Lateinischen und im Altgriechischen die genannten Wörter für jede als Seuche auftretende ansteckende Krankheit verwendet wurden, bezeichnet Pest im engen Sinn heute eine bestimmte Infektionskrankheit, deren Erreger erst 1894 entdeckt wurde und seit 1944 Yersinia pestis heißt. Ursprünglich ist diese Erkrankung eine Zoonose, also eine von Tieren auf Menschen und umgekehrt übertragbare Krankheit, und geht von Nagetieren wie Murmeltieren, Ratten, Eichhörnchen aus, in deren Populationen sie enzootisch sein kann. Der Übertragungsweg zum Menschen ist indirekt, klassischerweise über den Biss eines infizierten Flohs, der als Vektor dient; es ist aber auch eine direkte Mensch-zu-Mensch-Ansteckung über Tröpfcheninfektion möglich. Eine Impfung gegen den Erreger mit dem derzeitigen Pestimpfstoff wird von der WHO nur für Risikogruppen empfohlen. Für die Behandlung einer Infektion stehen verschiedene Antibiotika zur Verfügung, doch werden zunehmend Resistenzen beobachtet. In Deutschland, Österreich und der Schweiz ist die Pest eine meldepflichtige Erkrankung. Die Pest führte als sogenannter Schwarzer Tod im 14. Jahrhundert zu einer der verheerendsten Pandemien der Menschheitsgeschichte und bereits im 6. Jahrhundert als Justinianische Pest zu großen Epidemien im Mittelmeerraum. Ein historischer Überblick über die Krankheit und weitere, ebenfalls als Pest bezeichnete Seuchen, die viele Menschenleben forderten, ist unter Geschichte der Pest nachzulesen. Erreger Die Pest wird bei Mensch und Tier durch das Bakterium Yersinia pestis (früher unterteilt in Yersinia pestis orientalis, Yersinia pestis antiqua und Yersinia pestis medievalis) ausgelöst. Dieses Bakterium, eine Mutation des für den Menschen relativ ungefährlichen Bakteriums Yersinia pseudotuberculosis, ist sehr anpassungsfähig, und es werden sehr viele verschiedene Varianten beschrieben. Die krankmachenden Eigenschaften von Yersinia pestis entstehen durch Ektotoxin-, Endotoxin- und Bakterienkapselbildung. Übertragungsweg Infektionskette Die Pest kann auf verschiedene Weise übertragen werden: zum einen durch den Biss von mit Krankheitserregern verseuchten Insekten, vorwiegend Flöhen, zum anderen durch Tröpfcheninfektion. Letztere Übertragungsart führt zur primären Lungenpest. Verkürzt dargestellt verläuft der typische Infektionsweg bei der Beulenpest „von Ratte – Rattenfloh – Mensch, Mensch – Menschenfloh – Mensch […] und weiter bei der Lungenpest durch Tröpfcheninfektion von Mensch zu Mensch“. Flöhe Das Zwischenglied bei der Übertragung von der Ratte auf den Menschen ist der Floh. Als erster entdeckte diesen Zusammenhang 1898 Paul-Louis Simond. An erster Stelle steht die tropische Flohart Xenopsylla cheopis (Rattenfloh). Über die Bedingungen und Mechanismen der Verbreitung der Pest durch diesen Floh siehe dort. Diese Flohart kommt in Europa wegen der für diese Art zu kühlen Witterungsbedingungen nicht vor. A. W. Bacot vermutete, dass der Menschenfloh (Pulex irritans), der in Europa verbreitet ist und sich durch eine große Variationsbreite in Bezug auf Wirtstiere auszeichnet, für die Übertragung verantwortlich sei. Die Forscher Hariette Chick und C. J. Martin schlugen Nosopsyllus fasciatus (= Ceratopsyllus fasciatus) als Überträger vor. Diese Flohart macht die Hälfte der Flöhe in England aus. Diese beiden Arten kommen mit tieferen Temperaturen weit besser zurecht als Xenopsylla cheopis. Hinzu kommt, dass dessen Eier bei 13 °C absterben, so dass Bacot meinte, dass mindestens 15,5 °C vorliegen müssten, um dessen Flohpopulation am Leben zu erhalten. Demgegenüber überlebte ein Teil der Eier von Pulex irritans noch bei 8 °C, und die Hälfte der Eier von Nosopsyllus fasciatus überstand sogar Temperaturen von 5 °C. Heute geht man von einem Temperaturfenster von 0 bis 40 °C für diesen Floh aus. Nosopsyllus fasciatus und Pulex irritans finden sich weit verbreitet in England, Wales, Schottland, den Shetlands, den Orkneys sowie in Irland. Diese Floharten unterscheiden sich in ihrer Vektor-Effektivität. Damit bezeichnet man die Effektivität, mit der eine Flohart zur Krankheitsübertragung in der Lage ist. C. M. Wheeler und J. R. Douglas betrachteten die Vektoreffektivität als von drei Potentialen abhängig, deren jedes ein Maß für die jeweils nachgenannte Frage ist: Das Infektionspotential: Wie viele Individuen einer Flohpopulation saugen Blut mit Pestbakterien? Das infektiöse Potential: Wie viele dieser Flöhe können selbst eine Pest hervorrufen, weil ihr Verdauungstrakt blockiert ist? Das Übertragungspotential: Wie oft kann ein einzelner Floh die Infektion übertragen, bevor er selbst stirbt oder die Blockade aufgelöst wird? Man führte dann den Vektor-Index ein, um die verschiedenen Floharten miteinander in diesem Punkte vergleichen zu können. Die Xenopsylla-Arten wurden zum Maßstab genommen. Nosopsyllus fasciatus kommt diesen am nächsten. Dagegen zeigt Pulex irritans geringe Vektoreffektivität, ähnlich wie Katzen- und Hundeflöhe, weil bei ihnen die erforderliche Blockade durch Bakterienklumpen selten vorkommt. Bei Laborversuchen kam Nosopsyllus fasciatus auf den 2. Platz hinter Xenopsylla cheopis. Bei Pulex irritans kam es nur bei einem von 57 Exemplaren zur Blockade, und dieses Exemplar starb, bevor es seine Infektion weitergeben konnte. Georges Blanc und Marcel Baltazard gingen einen anderen Weg: In der Pest von 1940 in Marokko fingen sie Pulex irritans in Häusern Pestverstorbener in Marrakesch, zerdrückten sie und spritzten ihre Lösung in Meerschweinchen, die alsbald an Pest verstarben. Damit lenkten sie den Blick auf die Möglichkeit, dass die Pest ohne Ratte vom Menschenfloh unmittelbar übertragen werden konnte, worauf sie in einer weiteren Veröffentlichung hinwiesen. Die marokkanischen Häuser waren voll von Menschenflöhen. Von gut 3500 eingesammelten Flöhen waren 3000 Pulex irritans, während nur knapp 600 Exemplare Xenopsylla cheopis gefunden wurden. Dagegen wandte Georges Girard ein, dass die Pestepidemien in Indien, Senegal und Madagaskar starke Unterschiede zu der marokkanischen aufwiesen, obgleich auch dort Pulex irritans in Mengen aufgetreten waren. Er bestritt im Übrigen aus seiner Erfahrung die Effektivität als Übertragungsvektor von Pulex irritans. Aber er hielt es für möglich, dass die Menge der Flöhe in Marokko den Mangel an Effektivität ausgeglichen habe. Andere Untersuchungen von Pest in Nordafrika, besonders in Ägypten, zeigten, dass der Menschenfloh an der Verbreitung der Pest nicht beteiligt war, obgleich er in hohem Grad von der Pest infiziert war. Atilio Macchiavello stellte andererseits das vollständige Fehlen von Xenopsylla cheopis bei einem Pestausbruch in Peru 1946 in 600–700 m Höhe fest. Robert Pollitzer und Karl F. Meyer bestimmten dann die Pestübertragung durch Flöhe näher als massenhaften Befall von Flöhen, deren Saugwerkzeuge von vorherigem Befall von Nagern infiziert waren (mechanische Übertragung), oder als Bisse von im Verdauungssystem blockierten Flöhen (biologische Übertragung). In Nordamerika ist der Hauptüberträger der Pest von Tier auf Mensch der Floh Oropsylla montana, obwohl bei diesem keine Blockade eintritt. Ein wesentlicher Faktor bei der Übertragung der Pest durch den Floh ist die Zahl der Bakterien, die er bei einem Biss injiziert. Ole Jørgen Benedictow ging von 25.000 Bakterien pro Biss eines blockierten Flohs aus. Allerdings waren die Zahlen vor Einführung der PCR-Technik sehr ungenau. Mit dieser Methode hat man um die 100.000 Bakterien von Yersinia pestis in den infizierten Exemplaren gefunden. Auch wurde bei Untersuchungen von Flöhen in New Mexico und Colorado ein Zusammenhang zwischen Bakterienkonzentration und Mikromilieu der Flöhe festgestellt: Flöhe, die sich vom Wirtstier gelöst und in die Erde vergraben hatten, hatten höhere Konzentrationen als solche im Pelz des Wirtstieres. Die vom Boden aufgesammelten Flöhe waren nicht alle infiziert, aber die, die es waren, hatten eine ausreichende Konzentration für die Blockierung, während bei den Flöhen im Pelz eines Wirtstieres dies nur bei einem von 50 Flöhen der Fall war. Dafür war die Infektionsrate bei den Letzteren höher. Der Aufenthalt der Flöhe außerhalb von Wirtstieren in Nestern und im Boden ist jedoch keine besondere Verhaltensweise bestimmter Floharten, so dass die Unterscheidung zwischen Pelzfloh und Nestfloh nicht weiterführt. Pollitzer und Meyer stellten fest, dass es zwischen Nestflöhen und Pelzflöhen keine Trennungslinie gibt. Das unterschiedliche Verhalten in diesem Zusammenhang zwischen Xenopsylla cheopis und Nosopsyllus fasciatus beruht auf ihren Fressgewohnheiten: cheopis beißt oft und verlässt daher selten und nur kurz das Wirtstier, während fasciatus seltener beißt und daher längere Zeit auch ohne Wirtstier lebt. Nach Pollitzer und Meyer hängt dies aber nicht mit der Art, sondern mit dem Klima zusammen, in welchem die Flöhe leben: cheopis in tropischen Breiten, fasciatus in kühleren Gegenden. Von diesen Erkenntnissen ausgehend ist fasciatus nicht unbedingt ein schlechterer Pestvektor als cheopis. Warmblütige Wirtstiere Es hat sich gezeigt, dass die Pest über 200 Säugetierarten befallen kann, also nicht auf Ratten beschränkt ist. Sie wurde auch bei Hunden und Katzen festgestellt. Neben der braunen bis schwarzen Hausratte (Rattus rattus) und der grau-braunen Wanderratte (Rattus norvegicus) wurde auch der Hausmaus (Mus musculus) die Auslösung von Epidemien zugeschrieben, so die in Südost-Russland in den 20er Jahren, in Brasilien 1936–1945 und in Saigon 1943. Gleichwohl spielt die Hausmaus in diesem Zusammenhang nur eine untergeordnete Rolle, da sie nicht die hohe Bakterienkonzentration im Blut entwickelt, die erforderlich ist (Pollitzer 1954 S. 299–300). Außerdem ist deren Floh Leptopsylla segnis ein schlechter Überträger. Er nimmt nur wenig Pestbakterien auf. Auch ist der Floh in hohem Grade auf die Maus fixiert. Die Ratten standen daher immer im Vordergrund. Das beruhte auf der Beobachtung bei der Pest 1905 in Bombay, dass es zu dieser Zeit dort eine Überfülle von Ratten beider Arten gab. Die Kommission beobachtete, dass die Seuche zuerst die Wanderratte ergriff, etwa 10 Tage danach die Hausratte, und der Höhepunkt der Sterblichkeitsrate bei den Menschen knapp 1 Monat später auftrat. 1910 starben einige Kilometer entfernt von Ipswich einige Personen an einer bakteriologisch identifizierten Pest. Daraufhin machte man Jagd auf Ratten, und von den 568 gefangenen Exemplaren wiesen 17 Pestbakterien auf. Alle in dieser ländlichen Gegend waren Wanderratten. Aber man geht davon aus, dass die Schwarze Ratte der wichtigste Vermittler der Pestepidemie von Indien 1898 bis Madagaskar 1998 gewesen ist. Der Floh bleibt nur bei lebenden Tieren. Sobald das befallene Lebewesen erkaltet, verlässt der Floh den Wirt. Da in Südamerika häufig Meerschweinchen gegessen werden, kommt es auch in neuerer Zeit immer wieder zu Ansteckungen. Krankheitsentstehung Wenn bei der Infektion ausreichend viele Bakterien in die Blutbahn gelangt sind, sodass die körpereigene Abwehr ihrer nicht mehr Herr wird, kommt es nach kurzer Zeit zu einer hohen Bakterienkonzentration im Blut, die dann zu einer Sepsis führt. Die blutvergiftende Wirkung wird ausgelöst, wenn die Bakterien ihren normalen Lebenszyklus vollenden und absterben. Dabei werden große Mengen toxischen Sekrets direkt in den Blutkreislauf abgegeben; Nieren und Leber können nekrotisch werden, wenn sie versuchen, den Organismus von Toxinen zu reinigen. Am Ende erliegt das Opfer einem toxischen Schock. Klinische Erscheinungen Man unterscheidet vier Erscheinungsformen der Pest: Beulenpest, auch Bubonenpest genannt (von griechisch βουβών „Drüse in der Schamgegend, Geschwulst“), Pestsepsis, Lungenpest sowie die abortive Pest. Bei Pandemien treten alle Formen der Erkrankung auf, am häufigsten jedoch die Beulenpest und die Lungenpest. Aus einer Beulenpest entwickelt sich ohne Behandlung oftmals eine Pestsepsis, die zu einer Lungenpest führt. Selten tritt auch die Pestmeningitis auf, wenn die hämatogene Streuung der Pesterreger (Yersinia pestis) nach Beulenpesterkrankung die Hirnhäute befällt. Als Hautpest bezeichnet man die (sekundär) in Folge der Beulenpest auftretenden Hauterscheinungen. Seltener ist die primäre Hautpest mit Roseolen, Karbunkeln und oft ausgedehnten Haut- und Schleimhautblutungen, die zur Bezeichnung der Pest als Schwarzer Tod beigetragen haben. Beulenpest Bei der Beulenpest oder Bubonenpest erfolgt die Ansteckung gewöhnlich durch den Biss eines Rattenflohs, der den Erreger als Zwischenwirt in sich trägt. Durch den Wirtswechsel wird das Bakterium von einem infizierten auf ein bislang gesundes Nahrungsopfer übertragen, nachdem es sich im Floh vermehrt hat. Neben der Übertragung von Ratte über Rattenfloh zum Mensch besteht auch ein Übertragungsweg über den Menschenfloh von Mensch zu Mensch. Die Inkubationszeit liegt bei wenigen Stunden bis sieben Tagen. Die Symptome sind Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen, starkes Krankheitsgefühl und Benommenheit. Später kommt es zu Bewusstseinsstörungen. Der Name Beulenpest stammt von den stark geschwollenen, sehr schmerzhaften Beulen (Bubonen oder Pestbeulen, die ein Paket geschwollener Lymphknoten des Sekundärkomplexes bilden können) am Hals, in den Achselhöhlen und in den Leisten (axilläre und inguinale Bubonen), die durch die Infektion der Lymphknoten und Lymphgefäße im Bereich des Flohbisses entstehen. Diese Beulen bzw. „Drüsenschwellungen“ können einen Durchmesser von bis zu zehn Zentimetern erreichen und sind aufgrund innerer Blutungen in den Lymphknoten blau-schwarz gefärbt. Die Geschwülste zerfallen, nachdem sie eitrig eingeschmolzen sind. Pestsepsis Die (primäre) Pestsepsis entsteht durch Eintritt der Bakterien von ihrem Vermehrungsort in die Blutbahn. Dies kann durch Infektion von außen, zum Beispiel über offene Wunden, geschehen, aber auch als Komplikation aus den beiden anderen schweren Verlaufsformen, zum Beispiel durch Platzen der Pestbeulen nach innen. Die Erreger im Blut verteilen sich mit dem Blutstrom im gesamten Körper. Die Infektion bewirkt hohes Fieber, Schüttelfrost, Kopfschmerzen, Schwindelerscheinungen und ein allgemeines Unwohlsein, später Schock, großflächige Haut- und Organblutungen (daher der Name „Schwarzer Tod“). Pestsepsis ist unbehandelt praktisch immer tödlich, in der Regel spätestens nach 36 Stunden. Heute kann durch die Behandlung mit Antibiotika die Sterblichkeit deutlich gesenkt werden. Lungenpest Die durch Tröpfcheninfektion übertragene und höchstinfektiöse Lungenpest kommt heute relativ selten vor. Sie ist die einzige Pestform mit spezifischem Ansteckungsweg und Ausbreitungsmuster. Sie dürfte der Influenza ähneln, wenn auch die Ausbreitungskraft wesentlich schwächer ist. Die Ausbreitung ist so spezifisch, dass sie nur unter besonders begünstigenden Umständen zur Epidemie werden kann. Zunächst sind die Ansteckungsquellen selten. Nur ein kleiner Teil der pestinfizierten Bevölkerung bekommt Lungenpest, etwa bei bestehender Beulenpest und Resistenzschwäche. Man kann zwar durch Säugetiere angesteckt werden, aber dabei handelt es sich in aller Regel um Schoßtiere. So hatten sich im 21. Jahrhundert die meisten Patienten mit Lungenpest in Amerika bei infizierten Katzen angesteckt. Die physische Nähe zur Pestquelle ist eine weitere Voraussetzung. Der kritische Abstand zum Gesicht eines Lungenpestkranken für eine Ansteckung liegt bei 30 cm und darunter. Im Gegensatz zu den Influenza-Viren sterben die Pestbakterien in der Luft rasch ab. Ein weiteres Moment, das die Ausbreitung vermindert, ist, dass die Infizierten sehr schnell sterben und damit nur eine geringe Zeitspanne verbleibt, in der die Lungenpest weitergegeben werden kann. Die Inkubationszeit wird mit 1 bis 3 Tagen angegeben, die Sterblichkeitsrate liegt bei 95 %, und der ansteckungsgefährliche Bluthusten tritt erst im fortgeschrittenen Stadium der Krankheit auf. Gleichwohl sind im 20. Jahrhundert Lungenpestepidemien dokumentiert, die von pestinfizierten Reisenden ausgelöst wurden. Die beiden größten Lungenpestepidemien traten Anfang des 20. Jahrhunderts in der chinesischen Grenzregion Mandschurei auf. Das Auftreten war vor allem an ein kaltes Klima geknüpft. Die Epidemie in der Mandschurei 1910–1911 fand im Winter (September bis April) statt und war an die Hauptverkehrswege geknüpft. Die Pest wurde über 2.700 km innerhalb von 7 Monaten transportiert. Es starben mindestens 60.000 Menschen an der Pest. Wu Lien-Teh beobachtete, dass die Lungenpest in der Mandschurei an die Jagd auf die Tabarganer oder auch Sibirischen Murmeltiere (Marmota sibirica) gekoppelt und auf den wertvollen Pelz zurückzuführen war. Der Preis für die Felle war vor 1910 um das Vierfache gestiegen. Heutige Erfahrungen haben gezeigt, dass die Lungenpest regelmäßig mit der Erkrankung von Nagetierpopulationen auftritt. Der Zusammenhang zwischen der Lungenpest und einer vorangegangenen Nagererkrankung mit epidemischer Beulenpest ist gut dokumentiert. Wenn die Erreger bei einer Beulenpest über die Blutbahn im Verlaufe einer Pestsepsis in die Lunge geraten, spricht man von sekundärer Lungenpest. Wird sie aber durch eine Tröpfcheninfektion von Mensch zu Mensch übertragen, spricht man von primärer Lungenpest. Die Lungenpest verläuft heftiger als die Beulenpest, weil die Abwehrbarrieren der Lymphknoten durch direkte Infektion der Lunge umgangen werden. Sie beginnt mit Atemnot, Husten, Blaufärbung der Lippen und schwarz-blutigem Auswurf, der extrem schmerzhaft abgehustet wird. Daraus entwickelt sich ein Lungenödem mit Kreislaufversagen, welches unbehandelt nach zwei bis fünf Tagen zum Tod führt. Abortive Pest Die abortive Pest ist die harmlose Variante der Pest. Sie äußert sich meist nur in leichtem Fieber und leichter Schwellung der Lymphknoten. Nach überstandener Infektion werden Antikörper gebildet, die eine langanhaltende Immunität gegen alle Formen der Krankheit gewährleisten. Untersuchungsmethoden Die Diagnose erfolgt über den Nachweis der Erreger im Blut, im Sekret der Beulen oder bei der Lungenpest im Auswurf. Das französisch-madagassische Forschungsteam um Suzanne Chanteau vom Institut Pasteur de Madagascar (IPM) hat sowohl für die Lungen- als auch die Beulenpest 2003 einen Schnelltest entwickelt, mit dem sich Antikörper schon innerhalb von 15 Minuten nachweisen lassen. Davor ließen beide Erkrankungen sich erst nach einer 14-tägigen Auswertungsdauer nachweisen. Bei den immerhin noch jährlich 4000 weltweit auftretenden Pestfällen ist eine rasche Diagnose innerhalb von 24 Stunden entscheidender Bestandteil einer erfolgreichen Behandlung. In 20 Ländern, vor allem in Afrika, tritt die Pest nach wie vor auf. Die zunächst vieldeutigen und oft nur schwachen Symptome erforderten bislang in der Regel bakteriologische Untersuchungen, manchmal sogar über die DNA für eine eindeutige Zuordnung. Dabei sind Verwechslungen mit Blinddarmentzündung, Hirnhautentzündung und Streptokokkeninfektionen in den USA dokumentiert. Der mikrobielle Nachweis wird aus Sputum, Blut oder Bubonenaspirat (Eiter) erhoben. Differenzialdiagnose Im Frühstadium muss, wenn kein Labor zur Verfügung steht, differenzialdiagnostisch an eine „Tularämie [(‚Hasenpest‘)], Lymphknotentuberkulose, Yersiniose, Brucellose, Toxoplasmose, Katzenkratzkrankheit, Listeriose, HIV-Infektion und Lymphogranulomatose“ gedacht werden. „Wegen des hohen Fiebers kommen auch Typhus, Denguefieber, Malaria und Sepsis in Betracht. Eine Lungenpest ist gegen andere Pneumonien abzugrenzen.“ „Eine pustulöse Pest [aufgrund einer Septikämie] erfordert den Ausschluss von Variola bzw. Varizellen.“ Epidemiologie Die Verbreitung der Pest hängt von der Verbreitung der Zwischenwirte ab. Wo sie festgestellt werden, sind immer auch Pestfälle möglich. Ob diese zu Epidemien auswachsen können, hängt von mehreren Faktoren ab, wie beispielsweise Resistenz der Bakterien gegen Medikamente, den vorherrschenden hygienischen Verhältnissen und der Bekämpfung der lokalen Zwischenwirte. Die Pestausbreitung in den Epidemien von 1910 und 1921 ist auch auf die Entwicklung der Transportmittel zurückzuführen. 1921 traten die Pestfälle vor allem an den Eisenbahnstationen von Harbin bis Wladiwostok auf. Harbin war der Knotenpunkt zwischen der Transsibirischen und der Ostchinesischen Eisenbahn und besonders betroffen. Aber auch die Reise zu Pferd verbreitete die Pest über weite Strecken, wie die Pestausbrüche in den Jahren 1878–1925 in Astrachan und dem südlichen Ural beweisen, wo es keine Eisenbahnverbindungen gab. Es starben über 5000 Menschen, davon 70 % an Lungenpest. Schuld am Ausbruch waren dort die unhygienischen Wohnverhältnisse: dunkel, schmutzig und überbelegt. 10–15 Menschen wohnten auf ca. 10 m². Die Menschen wuschen sich selten oder nie und wechselten auch die Kleider nicht. Die Pestkranken wurden von vielen Menschen besucht, und die Gäste wischten den Auswurf mit Händen oder Kleidern ab. Dies galt auch für die Pestepidemie von 1910, wo sich als erste die Tarbagan-Jäger bei der Jagd nach Murmeltieren zur Gewinnung der Murmelfelle an den verseuchten Tieren ansteckten. Sie schliefen in besonders kleinen Hütten, bis zu 40 Mann in Kojen, was die Weiterverbreitung begünstigte. Ein weiteres Indiz waren die Verhältnisse an den Bitumen-Gruben am See Dalai Nur. Während der Pestepidemie von 1921 arbeiteten dort 4.000 Chinesen und 2.000 Russen. Von den insgesamt 1.027 Toten waren nur 4 Russen. Die Chinesen lebten zusammengepfercht in kleinen Hütten, halb in die Erde eingegraben, die Russen lebten in oberirdischen Häusern. Die Übertragung der Lungenpest per Tröpfcheninfektion kam also am Anfang des 20. Jahrhunderts durchaus vor. Verlauf einer Epidemie Der endemische Verlauf der Pest folgt einem für diese Seuche typischen Muster, das so bei keiner anderen Seuche festzustellen ist: Der Tod setzt bei Ratten nach Befall einer Kolonie mit der Zeit immer schneller ein. Während anfangs mit ca. 7 Flöhen pro Ratte diese einen normalen Krankheitsverlauf zeigen, wird der Befall mit der Dezimierung der Kolonie bei den verbleibenden Ratten immer stärker, so dass 50 bis 100 Flöhe pro Ratte vorkommen, was zu einer wesentlich höheren Verseuchung führt. Nach 10 bis 14 Tagen ist die Rattenkolonie so stark reduziert, dass die Flöhe kaum noch Wirte finden. Diese Dauer von 10 bis 14 Tagen ist die erste wichtige Phase der Verbreitung. Danach nehmen die Flöhe ungefähr 3 Tage lang kein Blut auf, bis ihr Drang so groß ist, dass sie, da sie keine Ratten finden, nunmehr den Menschen anfallen. Es folgt die Inkubationsperiode von 3 bis 5 Tagen. Ihr folgt die Krankheitsperiode von 3 bis 5 Tagen, die bei der Mehrzahl der Befallenen zum Tode führt. Von der Ansteckung bis zum Tode vergehen durchschnittlich 8 Tage. Von der Erstinfizierung einer Rattenkolonie bis zum ersten Todesfall vergehen also 20 bis 28 Tage, gewöhnlich sind es 24 Tage. Der Kontakt zwischen verseuchten und frischen Rattenkolonien führt zu einer langsamen Ausbreitung. Wichtiger ist der Ausbreitungsprozess über die Besuchspersonen. Sie nehmen die verseuchten Flöhe nach Hause mit und stecken so die eigene Rattenkolonie an. Das bedeutet, dass diese Form der Ausbreitung sich erst auswirkt, wenn die Pest bei einem Menschen sichtbar ausgebrochen ist, so dass im Spätmittelalter diese Form der Ausbreitung mit Krankenwache, Totenwache, Begräbnisfeier und Erbteilung einsetzte. Dieser Zeitpunkt ist etwa 3 bis 4 Wochen nach dem Einschleppen der Pest an einen Ort erreicht. Eine Woche später hat sich die Pest auf die Heimathöfe der Besucher verteilt, und die epidemische Phase beginnt. Bis dahin sind also ungefähr 40 Tage oder 5½ Wochen vergangen. Ein weiteres typisches Kennzeichen der Pestepidemie ist der Zusammenbruch im Winter. Es ist keine Epidemie der Beulenpest in einem Winter bekannt. Das hängt damit zusammen, dass bei Kälte die septische Bakteriendichte in den Ratten geringer ist, so dass die Flöhe weniger Bakterien aufnehmen, und damit, dass sich die Flöhe bei Kälte nicht vermehren. Das Ende von Pestepidemien, die durch Flöhe verbreitet werden, fällt regelmäßig auf die Wintermonate. Wurde die Pest erst im Spätherbst eingeschleppt, brach sie erst im nächsten Frühjahr aus. Wilde Nagetierpopulationen als Rückzugsgebiet des Pestbakteriums Die Pestbakterien kommen auch heute noch in wild lebenden Nagetierpopulationen vor – wie beispielsweise bei den Präriehunden, Erdhörnchen und Murmeltieren. Diese Populationen sind die natürlichen Reservoire des Pestbakteriums, von denen aus gelegentlich häusliche Nager wie beispielsweise Ratten infiziert werden. Während in Europa und Australien keine infizierten Tierpopulationen bekannt sind, kommen solche im Kaukasus, in Russland, in Südostasien, der Volksrepublik China, der Mongolei, Süd- und Ostafrika, Mittel- und Südamerika sowie im Südwesten der USA vor. Nach Nordamerika gelangte der Erreger dabei über ein Handelsschiff während einer Pestepidemie, die ab 1894 in Südostasien grassierte. Obwohl nur sehr wenige Menschen in Nordamerika an der Pest erkrankten, infizierte der Erreger die amerikanische Eichhörnchenpopulation. Gelegentlich kommt es daher auch heute noch in Nordamerika zu Übertragungen von Tier zu Mensch. Meist sind es Jäger, die sich bei einem Nagetier anstecken. Norman F. Cantor verweist jedoch auch auf einen nordamerikanischen Fall aus den 1980er Jahren, bei dem eine Frau ein Grauhörnchen mit einem Rasenmäher überfuhr und sich dabei mit der Pest infizierte. Weltweit registriert die Weltgesundheitsorganisation (WHO) etwa eintausend bis dreitausend Pestfälle pro Jahr, meistens in Form kleinerer, örtlich begrenzter Epidemien. In Europa gab es den letzten dokumentierten Pestausbruch im Zweiten Weltkrieg. Man nimmt an, dass die Pest in Europa nicht mehr existiert. Behandlung Behandelt wird die Pest heutzutage mit Antibiotika über 10 Tage. Bei frühzeitiger Diagnose bestehen gute Chancen auf Heilung. Eingesetzte Wirkstoffe sind beispielsweise Streptomycin oder Gentamicin und Chloramphenicol sowie Kombinationen aus Tetracyclinen und Sulfonamiden. Chloramphenicol ist zwar hochwirksam, gilt aber wegen seiner Nebenwirkungen nur als Reservemedikament. Prophylaktisch und über sieben Tage verabreicht kommen gegebenenfalls die auch zur Behandlung eingesetzten Antibiotika Doxycyclin und Ciprofloxacin in Betracht. Die Letalität steigt exponentiell zum Fortschreiten der Erkrankung. Vorbeugung und Meldepflicht Es stehen Schutzimpfungen zur Verfügung, die aber eine Immunität lediglich für drei bis sechs Monate gewähren, und dies auch nur bei der Beulenpest, nicht aber bei der Lungenpest. Die Autoren Eberhard-Metzger und Ries weisen jedoch auf die schlechte Verträglichkeit dieser Schutzimpfungen hin. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt die Impfung daher nur Risikogruppen, zu denen beispielsweise Bauern, Landarbeiter und Jäger in Regionen zählen, in denen infizierte Nagetierpopulationen verbreitet sind. Weitere Maßnahmen, um eine Pestepidemie einzudämmen, sind verbesserte Hygiene, Bekämpfung der Ratten und die Verhinderung des Transports von Ratten auf Schiffen. Da nach dem Tod der Ratten die Flöhe ihren Wirt wechseln, müssen die Menschen mit Insektiziden vor den Flöhen geschützt werden. Länderübergreifende Quarantäneregelungen für Schiff-, Luft-, Zug- oder Kraftfahrzeugverkehr sind in den Internationalen Gesundheitsvorschriften von 1971 festgehalten. In Deutschland gehört die Pest bzw. das Pestfieber neben den hämorrhagischen Fiebern (Ebola, Lassa und anderen) zu den zwei Quarantäne-Krankheiten nach Infektionsschutzgesetz. Derart erkrankte Patienten müssen in speziellen Infektionsabteilungen abgeschirmt werden. Ein Hinweis auf die Pest, die Erkrankung an oder der Tod durch Pest müssen in Deutschland nach dem Infektionsschutzgesetz auch bei Verdacht namentlich gemeldet werden ( des Infektionsschutzgesetzes). Die Meldungen werden von den Gesundheitsämtern an die Landesgesundheitsbehörde und das Robert Koch-Institut weitergeleitet. Das Robert Koch-Institut meldet sie gemäß internationalen Vereinbarungen an die Weltgesundheitsorganisation. In Österreich ist die Pest eine anzeigepflichtige Krankheit gemäß Abs. 1 Epidemiegesetz 1950. Anzeigepflichtig sind Verdachts-, Erkrankungs- und Todesfälle. In der Schweiz ist Pest ebenfalls eine meldepflichtige Krankheit und zwar nach dem Epidemiengesetz (EpG) in Verbindung mit der Epidemienverordnung und der Verordnung des EDI über die Meldung von Beobachtungen übertragbarer Krankheiten des Menschen. Es bestehen die Pflichten zur Meldung eines klinischen Verdachts, zur Rücksprache mit Fachärztin oder Facharzt für Infektiologie und zur Veranlassung einer erregerspezifischen Labordiagnostik. Geschichte Erstes Auftreten Genetische Untersuchungen eines 3800 Jahre alten Grabes in der russischen Region Samara im Jahr 2018 konnten zwei Yersinia-pestis-Genome rekonstruieren, die gleichzeitig zirkulierten. Eines davon weist die Gene auf, die für die Beulenpest als charakteristisch gelten, und ist Vorfahre der heutigen Stämme. Das Alter dieser Abstammungslinie wurde auf 4000 Jahre berechnet. Sehr lange war umstritten, ob bereits die spätantike Justinianische Pest, die ab 541 n. Chr. Europa und Vorderasien schwer traf und um 770 n. Chr. wieder verschwand, durch einen Erreger vom Stamm Yersinia pestis verursacht wurde. Schließlich zeigte Anfang 2013 eine an verschiedenen Laboratorien parallel durchgeführte internationale Studie unter der Leitung von Michaela Harbeck und Holger C. Scholz anhand von DNA-Material aus Gräbern aus Aschheim, die eindeutig in das spätere 6. Jahrhundert datiert werden können, dass für diese erste historisch belegbare Pestpandemie im engeren Sinne tatsächlich ein heute ausgestorbener Strang des Erregers Yersinia pestis verantwortlich war. Zudem gelang eine phylogenetische Einordnung des betreffenden Erregers zwischen den frühen Stammbaum-Abzweigungen N03 und N05. Mithin kann es nach aktuellem Forschungsstand als nahezu gesichert gelten, dass ein Erreger vom Stamm Yersinia pestis an der Justinianischen Pest zumindest prominent beteiligt war und es sich bei der Seuche somit tatsächlich um die Pest gehandelt hat. Als erster Ausbruch der Krankheit hatte bis 2013 vielen Forschern der Schwarze Tod von 1347 bis 1351 gegolten. Wieso die Pest um 770 n. Chr. für mehrere Jahrhunderte wieder aus Europa verschwunden zu sein scheint, ist bislang ungeklärt. Forschungsgeschichte ab dem 19. Jahrhundert Mit der Pestpandemie von 1890 in Indochina begann die moderne Beschreibung der Krankheit. Alexandre Yersin, der zur gleichen Zeit wie der Japaner Kitasato (Erforscher der Pest in Hongkong) forschte, hatte den später nach ihm benannten, bis 1944 Pasteurella pestis genannten Bazillus Yersinia pestis am 20. Juni 1894 entdeckt, isoliert und der Pest zugeordnet. Gleichzeitig wurde in Indien von dem Franzosen Paul-Louis Simond die Übertragung von der Schwarzen Ratte (Rattus rattus) über den orientalischen Rattenfloh auf den Menschen entdeckt. Das führte zu einer Beschreibung der Pest als eine einheitliche Krankheit. Die Entdeckung der Ausbreitung der Pest in Indien hatte eine beherrschende Bedeutung in der Anschauung der Pest in ihrer heutigen Bedeutung als moderne Krankheit. Sie führte zunächst zu der Auffassung, dass es nur diese eine Art der Ausbreitung der Krankheit gebe. Inzwischen haben sich die Forschungen auf eine große Zahl von Nagern und eine große Zahl von Floharten ausgeweitet. Die hohe Sterblichkeit in den Kolonien führte zu erhöhten Forschungsanstrengungen mit einer Kartografie der epidemischen Züge. Dass es sich immer um die Pest handele, war nicht hinterfragter Ausgangspunkt. So wurde die Krankheit mit dem historischen Begriff Pest belegt und auch die Bakterien danach benannt. Die Identität der mittelalterlichen Pest mit der in Indien erforschten Seuche wurde vorausgesetzt. Bei der Erforschung der Pest und ihrer Ausbreitung waren die Vorgaben der englischen Pestforschungskommission maßgeblich, die 1905 nach Indien entsandt worden war. Viele Forschergruppen reisten nach Indien, darunter auch eine deutsche mit Wissenschaftlern aus der Umgebung Robert Kochs. Diese stellten 1897 fest: „Aus vielen Orten ist berichtet, dass dem Ausbruch der Pest eine seuchenartige Krankheit und massenhaftes Sterben der Ratten voranging.“ Eine vom indischen Vizekönig eingesetzte englische Kommission verkündete 1910 definitiv, dass die Pestepidemie in Indien direkt von der Pest in der Rattenpopulation abhängig sei. Für andere Tiere als Wirtstier wurden keine Belege gefunden. Dabei unterschied die Kommission zwischen Beulenpest und anderen klinischen Formen. Alle Beobachtungen deuteten darauf hin, dass die Pestepidemien ausschließlich in Form der Beulenpest auftraten. Die Ansteckung der Ratten untereinander geschah nachweislich durch die Flöhe. (Zum Nachweis wurden gesunde und kranke Ratten getrennt gehalten, wobei die Trennung für die Flöhe durchlässig war). Hinsichtlich der Pest bei den Menschen zog die Kommission eine Reihe von Schlüssen: 1. Die Pest wird nicht von Mensch zu Mensch übertragen, denn die Pfleger in den Krankenhäusern steckten sich nicht an. 2. Die Epidemie war nach ihrer Meinung fest mit der Epidemie unter den Ratten verknüpft. 3. Die in Indien vorherrschende Flohart Pulex cheopis, heute Xenopsylla cheopis, hatte sich erwiesen als eine, die auch Menschen anfällt, insbesondere, wenn ihre natürlichen Wirtstiere fehlten. Wiederholte Versuche mit Meerschweinchen und Affen in pestverseuchten Häusern zeigten, dass sie erkrankten, wenn sie nicht gegen Flöhe geschützt wurden. Weder pestverseuchter Boden noch die Kleider oder das Bettzeug von Pestkranken waren im Stande, ohne Flöhe mit Pest anzustecken. Da die Kommission experimentell feststellte, dass die Pestbakterien nur wenige Tage außerhalb eines Wirtstiers überleben konnten, kam sie zu dem Schluss, dass die Pest in den Landstädten von außerhalb hereingetragen worden sein musste. Da in den Großstädten die Pest auch außerhalb der pestgefährlichen Monate auftrat, meinte sie, dass die Pest dort in kleinen Rattenpopulationen oder einzelnen Menschen als Reservoir zwischen den Pestsaisonen erhalten blieb. Bei einem Untersuchungsgebiet in der Größe Indiens stellte sich die Frage nach den Ausbreitungswegen. Da die Ratten kaum große Distanzen zurücklegen konnten, meinte die Kommission, dass die Verbreitung in bislang pestfreie Zonen über den Warenverkehr stattgefunden haben müsse. Diese Untersuchungen und Schlussfolgerungen bezogen sich ausschließlich auf die in Indien damals aufgetretene Beulenpest. Genomentschlüsselung 2011 wurde das Genom des Yersinia-pestis-Stammes beschrieben, der von 1348 bis 1350 während der Zeit des „Schwarzen Todes“ Menschen in England infiziert hatte. Mit den Ergebnissen kann die Evolution von Krankheitserregern besser nachvollzogen werden. Laut Studie veränderten sich die Pesterreger seit der Epidemie zwischen 1348 und 1353 kaum. Vermutungen, der Erreger sei in Ostasien im 13. oder 14. Jahrhundert entstanden, was bedeutete, dass frühere Pestepidemien wie die Justinianische Pest, die im 6. Jahrhundert weltweit zum Tod von mehr als 100 Millionen Menschen führte, von einem anderen, bisher nicht identifizierten Erreger verursacht worden wären, stellten sich Anfang 2013 als falsch heraus: Auch die Infektionen aus dem 6. Jahrhundert sind auf den Erreger Yersinia pestis zurückzuführen. Das Erbmaterial der jahrhundertealten Pesterreger gewannen die Forscher aus den Skeletten von Pestopfern, die im Mittelalter auf dem East-Smithfield-Friedhof in London begraben worden waren. Dieser Friedhof gilt als der am besten dokumentierte Pestfriedhof in ganz Europa; er wurde nur drei Jahre lang – von 1348 bis 1350 – benutzt. 2022 wurden die Untersuchungen zu den Yersinia-pestis-Genomen von Friedhöfen in der Nähe des Yssykköl-Sees im heutigen Kirgisistan veröffentlicht. Grabinschriften geben „Pest“ als Todesursache an und werden auf die Jahre 1338–1339 datiert. Die Synthese der Daten zeigt eine eindeutige Beteiligung des Pestbakteriums Yersinia pestis und wird als jüngster gemeinsamer Vorfahre der späteren großen Genom-Diversifizierung identifiziert, d. h. die Lokalisierung des Ausbruchs der zweiten bekannten Pestpandemie wird auf Zentralasien und auf die Zeit dieser Gräber eingegrenzt. Die Pest heute Die Pest gehört heute zu den „vergessenen“ Krankheiten, die gut behandelbar sind, aber bei zu später Entdeckung noch immer tödlich verlaufen. Neben den traditionellen Wirts- und Zwischenwirtsträgern wie Flöhen und Ratten, die sich u. a. mit Hygienemaßnahmen gut bekämpfen lassen, sind die Ausbrüche heute oft an Murmeltiere, Präriehunde, Erdhörnchen, aber auch an wild lebende Katzen, Hasen und Kaninchen gebunden. Ausbrüche kommen deshalb fast weltweit vor, sind aber selten und konnten mit Ausnahme von Madagaskar meist schnell eingegrenzt werden und erreichen nur niedrige Fallzahlen. Eine große Gefahr ist im Frühstadium der Erkrankung aufgrund erster Symptome die Verwechslung mit einer Erkältung, die am besten durch eine ärztliche Differenzialdiagnostik (Krankheitssymptome und Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe) ausgeschlossen werden kann. Von 1978 bis 1992 meldete die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1451 Todesfälle in 21 Ländern. In den USA gab es beispielsweise 1992 dreizehn Infektionen und zwei Todesfälle. Für den Zeitraum 2010 bis 2015 verzeichnete die WHO 3248 Fälle weltweit, darunter 584 an der Pest Verstorbene. Regionale Pestereignisse in verschiedenen Ländern Eine größere Pestepidemie ereignete sich von August bis Oktober 1994 im indischen Surat. Die WHO zählte 6344 vermutete und 234 erwiesene Pestfälle mit 56 Toten. Der dort festgestellte Pesterreger wies dabei bislang noch nicht beobachtete Eigenschaften auf. Er zeichnete sich durch eine schwache Virulenz aus und gilt aufgrund einiger molekularbiologischer Besonderheiten als neuartiger Erregerstamm. Im Jahr 2003 kam es in Algerien nach 50 Jahren wieder zu einem Pestausbruch. Im Februar 2005 breitete sich die Lungenpest in Bas-Uele im Norden der Demokratischen Republik Kongo aus. Nach Berichten der WHO gab es 64 Tote. Durch das Eingreifen der Organisation Ärzte ohne Grenzen konnte eine weitere Verbreitung verhindert werden. Am 14. Juni 2006 wurden im Kongo 100 Pesttote gemeldet, wobei die am stärksten betroffene Region der Distrikt Ituri im Nordosten war mit bis zu 1000 Fällen pro Jahr, sowohl Lungenpest als auch Beulenpest. Im November 2008 wurde ein erneuter Ausbruch der Erkrankung in Uganda von den lokalen Zeitungen gemeldet. Betroffen waren insgesamt zwölf Menschen, von denen drei starben. In den südwestlichen US-amerikanischen Bundesstaaten treten immer wieder Pestfälle auf. Das silvatische (von lateinisch silva „Wald“) Erregerreservoir bilden hier Präriehunde. Werden erkrankte Präriehunde von Hauskatzen erbeutet, so erkranken diese in 10 % der Fälle an Lungenpest und scheiden große Mengen des Erregers aus. Sie sind dann eine Infektionsquelle für den Tierbesitzer und andere Kontaktpersonen. Insgesamt erkranken in den USA jährlich zehn bis zwanzig Menschen an der Pest, wobei die Zahlen rückläufig sind. Dies wird vom Osloer Biologen Nils Christian Stenseth auf den Klimawandel zurückgeführt. Anfang August 2009 wurde in Ziketan in der tibetisch geprägten Provinz Qinghai im Nordwesten Chinas bei elf Menschen die Infektion mit Lungenpest festgestellt. Ein Mensch starb. 2014 wurde eine chinesische Kleinstadt unter Quarantäne gestellt, nachdem ein Mann an der Pest gestorben war. Anfang Juni 2018 wurde laut dem Nachrichtenmagazin Stern im US-Bundesstaat Idaho bei einem Menschen die Beulenpest festgestellt. Der letzte Fall der Beulenpest in Idaho lag bis dahin 26 Jahre zurück. 2019 starb in der Mongolei ein Ehepaar nach Verzehr eines vermutlich infizierten Murmeltieres. Pestvorkommen in Madagaskar seit 2008 Anfang 2008 brach auch in Madagaskar die Pest aus, 18 Menschen fanden dabei den Tod. 2010 starben 18 Menschen. Von Jahresbeginn bis März 2011 waren 60 Menschen gestorben und 200 weitere erkrankt. Betroffen sind vor allem abgeschiedene Regionen wie der Bereich um das Städtchen Ambilobe im Nordwesten, weitere Fälle gab es im Osten und im Hochland. Ende 2013 starben im abgelegenen Norden der Tropeninsel Madagaskar im Distrikt Mandritsara 20 Menschen an der Lungenpest. Seit September 2013 sind in vier verschiedenen Distrikten auf Madagaskar 36 Menschen der Infektionskrankheit zum Opfer gefallen. Im Jahr 2014 starben in Madagaskar, in einem Mitte November noch grassierenden Pestausbruch, erneut mindestens 40 Menschen. Ende Oktober 2017 wurde gemeldet, dass die Zahl der Toten durch den jüngsten Pestausbruch auf Madagaskar auf 107 gestiegen ist. Mehr als 1100 Menschen haben sich mit der Krankheit infiziert, knapp 700 davon konnten bislang geheilt werden. Seit 2010 sind auf Madagaskar rund 600 Menschen an Pest gestorben. Die Pest in Kunst und Kultur Seit der Pestepidemie von 1348 entstanden Pestbilder, die den göttlichen Zorn, meist in Form von Pfeilen oder Lanzen malerisch dargestellt, als Erklärung für die Erkrankungen versinnbildlichen sollten. Oft ist auf diesen Bildern eine vor diesem Gotteszorn schützende Schutzmantelmadonna abgebildet oder es werden die Schutzheiligen Sebastian oder auch Rochus gezeigt. Zum Dank für das Erlöschen von Pestepidemien wurden vielerorts prachtvolle Pestsäulen aufgestellt. Die Oberammergauer Passionsspiele finden als Einlösung eines Versprechens nach der überstandenen Pest 1634 statt. Seit 1680 finden sie im zehnjährigen Rhythmus statt und zählen zu den weltweit bekanntesten Passionsspielen. In ähnlicher Weise wird in der Stadt Flörsheim am Main seit 1666 bis in die Gegenwart am letzten Montag im August der sogenannte „Verlobte Tag“ zum Dank für die Verschonung der Bevölkerung von der Pest als örtlicher Feiertag begangen. Am 5. März 1838 wurde die Oper Guido et Ginevra, ou La Peste de Florence von Fromental Halévy nach einem Libretto Eugène Scribes an der Pariser Oper uraufgeführt. Die Handlung spielt in der Toscana im Jahre 1552. 1881 veröffentlichte der dänische Schriftsteller Jens Peter Jacobsen die Novelle Pesten i Bergamo („Die Pest in Bergamo“). Arnold Böcklin schuf zu diesem Thema 1898 in Italien das Bild Die Pest oder auch Der Schwarze Tod, das heute im Kunstmuseum Basel ausgestellt ist. Böcklin personifiziert die Pest in seinem Bild als einen auf einem fliegenden Ungeheuer reitenden Sensenmann, vor dem es kein Entrinnen gibt. Die Sense und die skelettartige Gestalt greifen auf die mittelalterliche Todesallegorie zurück. Nach einem Drehbuch von Fritz Lang entstand 1919 als erster Film der Monumentalfilmreihe Decla-Weltklasse der Stummfilm Die Pest in Florenz, in dem die Pest das Florenz der Renaissance heimsucht. In der letzten Sequenz des Filmes zieht eine Personifikation der Pest tanzend und Geige spielend als eine Form des Totentanzes durch die Stadt. Die Darstellung der Pest dabei zeigt sehr deutliche Bezüge zu Arnold Böcklins Gemälde. 1921/1922 drehte Friedrich Wilhelm Murnau den Stummfilm Nosferatu – Eine Symphonie des Grauens, in dem ein Vampir symbolisch mit der Pest gleichgesetzt wird und deren bildhaft-körperliche Personifizierung darstellt. Noch deutlicher wird diese Metaphorik in Werner Herzogs Tonfilm-Adaption Nosferatu – Phantom der Nacht (1979) mit Klaus Kinski in der Titelrolle herausgearbeitet. Veit Harlan schildert in seinem 1938 gedrehten Seuchendrama Verwehte Spuren, einer Adaption des gleichnamigen Hörspiels von Hans Rothe, einen angeblich authentischen Pestfall während der ersten Pariser Weltausstellung im Jahr 1867. Ingmar Bergman drehte 1957 Das siebente Siegel (Det sjunde inseglet) mit Max von Sydow; der Film behandelt eine Pestepidemie im Schweden des 14. Jahrhunderts. Albert Camus schrieb den Roman Die Pest (französisch La Peste) über einen neuzeitlichen Pestausbruch in der algerischen Stadt Oran (publiziert 1947). Darin trifft ein Arzt trotz der Aussichtslosigkeit und Absurdität des Kampfes gegen die Pest auf Menschlichkeit und Solidarität. Die Pest wird hierbei oft als Symbol für den Nationalsozialismus interpretiert. Vier Jahre zuvor veröffentlichte Raoul Maria de Àngelis den Roman La peste a Urana („Die Pest in Urana“). Auch Marcel Pagnol schrieb eine Erzählung über die Pest. Sie hat die Verwüstung von Marseille 1720 zum Thema. Les Pestiférés erschien postum 1977 in Band IV der Souvenirs d’Enfance, Le Temps des Amours. 1973 entstand das 1975 in Spoleto aufgeführte Theaterstück Il sonno dei carnefici („Der Traum der Totengräber“) des Biologen und Schriftstellers Giorgio Celli, das sich mit der Pest in Sevilla befasst. Der Pesterreger als biologische Waffe Der Pesterreger wird von der Weltgesundheitsorganisation zu den zwölf gefährlichsten biologischen Kampfstoffen gezählt. Zu diesen sogenannten dreckigen Dutzend gehören auch die des Milzbrands und der Tularämie sowie Pocken-, Ebola- und Marburg-Viren. Es gibt die populäre Hypothese, dass die Pest als biologische Waffe bereits im 14. Jahrhundert zum Einsatz kam – als 1346 in der genuesischen Hafenstadt Kaffa auf der Krim der Tatarenführer Dschanibek Pestleichen über die Mauern der Stadt werfen ließ und die Belagerten vor der Pest nach Italien flüchteten. Nach einem Bericht von Gabriel des Mussis aus Piacenza sollen bei der Belagerung Kaffas beteiligt gewesene Genuesen und Venezianer die Seuche mit Galeeren nach Messina, Pisa, Genua und Venedig eingeschleppt haben, von wo aus sie sich dann über ganz Italien verbreitete. Dies wird jedoch kontrovers beurteilt und ist nicht eindeutig belegt. Während des zweiten Chinesisch-Japanischen Krieges stellte die Japanische Armee im Einheit 731 genannten Gefangenenlager bei Harbin in der Mandschurei biologische Waffen her, die aus mit dem Pesterreger infizierten Flöhen bestanden und deren Einsatz in der Republik China in den Jahren 1940 bis 1942 lokale Pestausbrüche verursachte. Bei der Zerstörung der Produktionsstätten durch die japanische Armee 1945 bei Kriegsende kamen mit Pest infizierte Ratten frei und lösten in den chinesischen Provinzen Heilongjiang und Jilin eine Epidemie mit über 20.000 Todesopfern aus. Während des Kalten Krieges beschäftigten sich sowjetische Wissenschaftler des Direktorium-15 im militärischen Forschungskomplex Biopreparat unter Leitung von Ken Alibek mit dem Einsatz von Pesterregern als biologische Waffe. In Deutschland beschäftigt sich das Robert Koch-Institut mit den Gefahren durch biologische Kampfführung. Dort wurde auch die Informationsstelle des Bundes für biologische Sicherheit (IBBS) eingerichtet. Wie groß die Gefahr eines Angriffs mit biologischen Kampfstoffen tatsächlich ist, ist umstritten. Die IBBS rät nicht zu einer Impfung gegen die Pest in Deutschland. Diese Empfehlung gilt sowohl für die Bevölkerung insgesamt als auch für Risikogruppen. Am 28. August 2014 berichtete die Zeitschrift Foreign Policy von einem in einem Versteck der Organisation „Islamischer Staat“ gefundenen Computer, der unter anderem Anleitungen zur Erstellung von Beulenpest-Waffen enthalten haben soll. Siehe auch Pestbrief Pestepidemien in Norwegen Pestkreuz und Pestsäule Schwarzer Tod Literatur Alan M. Barnes, Thomas J. Quan, Jack D. Poland: Plague in the United States. In: Morbidity and Mortality Weekly Report 1985, S. 9–14. Ole Jørgen Benedictow: Svarte Dauen og senere Pestepidemier i Norge, Oslo 2002. ISBN 82-7477-108-7 Ole Jørgen Benedictow: The Black Death: 1346–1353. The Complete History. Boydell Press: Woodbridge [u. a.] 2004; Reprint 2006. Klaus Bergdolt: Der Schwarze Tod in Europa. C.H. Beck, München 1994; 4. Auflage, mit dem Untertitel Die Große Pest und das Ende des Mittelalters, ebenda 2017, ISBN 978-3-406-70594-6. Klaus Bergdolt: Die Pest 1348 in Italien. Fünfzig zeitgenössische Quellen. Heidelberg 1989. Klaus Bergdolt: Pest. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin / New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 1122–1127. Friedrich Hoffmann: Gründliche Untersuchung Von der Pest, Uhrsprung und Wesen: Nebst angehängten Bedencken, Wie man sich vor selbiger præserviren, und sie sicher curiren könne? Rüdiger, Berlin 1710 (Digitalisat). Stefan Leenen, Alexander Berner u. a.: Pest! Eine Spurensuche. (= Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung im LWL-Museum für Archäologie, 20. September 2019 – 10. Mai 2020). wbg Theiss, Stuttgart 2019, ISBN 978-3-8062-3996-6. J. D. Marshall, R. J. T. Joy, N. V. Ai et al.: Plague in Vietnam 1965–1966. In: American Journal of Epidemiology 86 (1967), S. 603–616. William Hardy McNeill: Plagues and Peoples. Penguin 1979. Claudia Eberhard Metzger, Renate Ries: Verkannt und heimtückisch – Die ungebrochene Macht der Seuchen. Birkhäuser, Basel 1996, ISBN 3-7643-5399-6. Volker Reinhardt: Die Macht der Seuche. Wie die Große Pest die Welt veränderte. C. H. Beck, München 2021, ISBN 978-3-406-76729-6. Michael Schaper: Die Pest. Leben und Sterben im Mittelalter. (= GEO Epoche. Heft 75). Gruner + Jahr, Hamburg 2015, ISBN 978-3-652-00444-2. Franz Schnyder: Pest und Pestverordnungen im alten Luzern. Stans 1932 (zugleich Dissertation Basel). Klaus Schwarz: Die Pest in Bremen. Epidemien und freier Handel in einer Deutschen Hansestadt 1350–1710. Staatsarchiv, Bremen 1996, ISBN 3-925729-19-4. Manfred Vasold: Die Pest. Theiss, Stuttgart 2003, ISBN 3-8062-1779-3. Volker Zimmermann: Krankheit und Gesellschaft: Die Pest. In: Sudhoffs Archiv. Band 72. 1988, S. 1–13. Karl Georg Zinn: Kanonen und Pest. Westdeutscher Verlag, Opladen 1989, ISBN 3-531-12107-3. Weblinks CDC Plague Home Page V. J. Schuenemann, K. Bos u. a.: Targeted enrichment of ancient pathogens yielding the pPCP1 plasmid of Yersinia pestis from victims of the Black Death. In: PNAS. Band 108, Nummer 38, September 2011, S. E746–E752, . doi:10.1073/pnas.1105107108. PMID 21876176. . Johannes Krause, Verena Schünemann: Bakterium „Yersinia pestis“ zweifelsfrei als Erreger des Schwarzen Todes belegt (PDF; 167 kB) Information der Universität Tübingen, 30. August 2011 Grafik über die Ausbreitung der Pest in Europa. aerzteblatt.de, August 2008 Nina Weber: Schwarzer Tod in Europa: 650 Jahre altes Erbgut enttarnt Pest-Erreger. Spiegel Online, 30. August 2008 Molekularbiologie: Auf den DNA-Spuren der Pest. deutschlandfunk.de, Forschung aktuell, 31. August 2016, Michaela Harbeck im Gespräch mit Lennart Pyritz A. Rakin: Yersinia pestis. Eine Bedrohung für die Menschheit. (PDF; 328 kB) In: Bundesgesundheitsblatt, Band 46, Nr. 11, 2003, S. 949–955. Pest plagte Menschen schon vor 5000 Jahren Einzelnachweise Bakterielle Infektionskrankheit des Menschen Zoonose Meldepflichtige Krankheit Biologische Waffe
5138
https://de.wikipedia.org/wiki/Trajan
Trajan
Trajan (* 18. September 53, vielleicht Italica, in Hispania Baetica oder in Rom; † 8. August 117 in Selinus, Kilikien) war von Januar 98 bis 117 römischer Kaiser. Sein Geburtsname war Marcus Ulpius Traianus, als Kaiser führte er den Namen Imperator Caesar Nerva Traianus Augustus. Trajan, der erste römische Kaiser, der aus einer Provinz stammte, gilt in der traditionell von Senatoren verfassten Geschichtsschreibung als bester römischer Princeps (optimus princeps). Nach den von Verfolgungen und Hinrichtungen römischer Senatoren geprägten letzten Regierungsjahren Domitians und dem Ende der flavischen Dynastie wurde mit der kurzen Regierungszeit seines Vorgängers Nerva und besonders durch Trajan das Adoptivkaisertum begründet. Mit der Eroberung Armeniens, Mesopotamiens und vor allem des Dakerreiches erlebte das Römische Reich unter seiner Herrschaft seine größte Ausdehnung. Innenpolitisch zielte Trajan durch umfangreiche Bau- und Sozialmaßnahmen auf eine Stärkung Italiens und Förderung der Romanisierung in den Provinzen des Reiches. Leben bis zum Herrschaftsantritt Herkunft und Jugend Trajan gehörte zu den Nachfahren einer Gruppe von Kolonisten, die 206 v. Chr. von Scipio Africanus in Italica in der Provinz Hispania (später Baetica) im Süden der Iberischen Halbinsel angesiedelt worden waren. Seine Vorfahren stammten ursprünglich aus Tuder in Umbrien. Trajan selbst dürfte jedoch eher ein Stadtrömer als ein Südspanier gewesen sein, denn sein gleichnamiger Vater stand im Geburtsjahr seines Sohnes am Anfang seiner senatorischen Laufbahn, was einen Aufenthalt in Italica fast ausschließt. Der Vater hatte wohl unter Claudius als einer der ersten Nicht-Italer den Aufstieg in den römischen Senat geschafft. Im Jahr 70 wurde der ältere Traianus Suffektkonsul und 73/74 in den Stand der Patrizier erhoben. Von etwa 73 bis 78 vertraute ihm Kaiser Vespasian die Statthalterschaft in Syrien an, der wichtigsten Militärprovinz im Osten. Dort kämpfte der ältere Traianus zwischen Herbst 73 und Mitte 74 erfolgreich gegen die Parther. Er erhielt die ornamenta triumphalia, die Auszeichnung eines Triumphators. Durch Konsulat, Zugehörigkeit zum Patriziat und den Rang eines triumphalis vir hatte er seinem Sohn einen leichten Weg in eine senatorische Laufbahn geebnet. Über die Mutter ist wenig bekannt. Vielleicht war sie eine Marcia und kam dann wohl aus einer senatorischen Familie Italiens, die schon seit tiberischer Zeit konsularen Rang hatte. Aus der Ehe mit Marcia ging neben dem späteren Kaiser Trajan die vor 50 geborene Ulpia Marciana hervor. Über Kindheit und Jugend Trajans ist nichts bekannt. Er wird eine standesgemäße Erziehung erhalten haben, die neben Lesen und Schreiben auch den späteren höheren Unterricht in Grammatik und Rhetorik einschloss. Auch von Trajans senatorischer Laufbahn gibt es nur wenige Informationen; er diente wohl Mitte 73 bis Mitte 75 als Militärtribun unter seinem Vater in Syrien. Die Behauptung des Plinius, Trajan habe zehn Jahre lang dieses Amt bekleidet, wird als unglaubwürdig angesehen, da ein Legionstribunat unter gewöhnlichen Umständen zwei bis drei Jahre dauerte. Noch unter Vespasian übernahm Trajan wohl 78 als Quästor sein erstes senatorisches Amt. Danach könnte er seinen Vater als Legat in die senatorische Provinz Asia begleitet haben, die der ältere Traianus im Jahr 79/80 oder 80/81 als Prokonsul leitete. Gewaltsames Ende der flavischen Dynastie Unter Kaiser Domitian bekleidete Trajan wohl 84 die Prätur. Möglicherweise verhinderten Differenzen zwischen Domitian und Trajan, dass Letzterer, wie für einen Patrizier üblich, zwei bis drei Jahre später das Konsulat erhielt. Stattdessen wurde er 88 Legat bei der in Nordspanien stationierten Legio VII Gemina. Als Kommandeur dieser Legion beorderte ihn Domitian im Winter 88/89 nach Obergermanien zur Niederschlagung des Aufstandes des Lucius Antonius Saturninus in Mainz. Bevor Trajan eintraf, war der Saturninusaufstand allerdings schon durch Aulus Bucius Lappius Maximus niedergeschlagen worden. Für sein loyales Verhalten bekleidete er im Jahr 91 gemeinsam mit Manius Acilius Glabrio zum ersten Mal das Konsulat – relativ spät für einen Patrizier. Der Verlust einer römischen Legion im Krieg gegen die Jazygen löste eine innenpolitische Krise aus. Domitian machte daraufhin als Princeps seine faktisch autokratische Stellung gegenüber der römischen Oberschicht in aller Klarheit deutlich. In der ersten Hälfte der 90er Jahre wurden zahlreiche Prozesse wegen Ehebruchs, Majestätsbeleidigung und Hochverrats durchgeführt. Nach dem August 93 traf eine Verfolgungswelle Personen, bei denen man Zeichen der Ablehnung des Regimes zu erkennen meinte. Doch ist die Anzahl der hingerichteten Senatoren mit 14 bekannten Namen sehr viel geringer als unter Claudius. Auf die zahlreichen Verschwörungen gegen ihn reagierte der Kaiser ebenfalls mit Hinrichtungen. Wie unberechenbar Domitian wurde, zeigte sich, als er im Jahre 95 seinen Cousin Titus Flavius Clemens hinrichten ließ. Selbst seine Familienangehörigen wussten nun, dass sie nicht mehr sicher waren. Die Angst so vieler Personen war die Ursache für eine weitere Verschwörung gegen Domitian und führte am 18. September 96 zu seiner Ermordung. An ihr waren allerdings keine Senatoren beteiligt, vielmehr handelten Personen aus Domitians engster Umgebung, wie seine Gemahlin Domitia Longina, die beiden Prätorianerpräfekten und einige seiner Freigelassenen. Mit Domitians Tod endete die Herrschaft der flavischen Dynastie. Beginn des Adoptivkaisertums Mit dem 66-jährigen Nerva kam im September 96 ein Senator auf den Thron, der trotz seiner politischen Verdienste zahlreiche Schwächen als Herrscher offenbarte und ein typischer Übergangskandidat war. Die eigentliche Lösung der Nachfolgefrage konnte dadurch offengehalten und ein erneuter Bürgerkrieg nach dem Ende der flavischen Dynastie – anders als beim Ende Neros – verhindert werden. Nerva war kinderlos und angesichts seines Alters schien es sicher, dass er keine Dynastie mehr gründen würde. Er verdankte seine Herrschaft den Verschwörern gegen Domitian, obgleich er selbst nicht zu ihrem engsten Kreis gehörte. Nerva war im Gegensatz zu Domitian bei den Soldaten nicht beliebt. Er hatte zu keinem Zeitpunkt seiner Laufbahn Legionen kommandiert. Um die Gunst der Truppen bemühte sich der neue Kaiser kaum. Auch im Senat war Nervas Herrschaft umstritten. Die Unzufriedenheit im Heer und in der Prätorianergarde und die nur schwache Akzeptanz Nervas im Senat bildeten den Nährboden für die Krisen seiner Regierungszeit. Gleich zu Beginn seiner Herrschaft setzte die Prätorianergarde unter ihrem Präfekten Casperius Aelianus aus Wut über die Ermordung Domitians den neuen Kaiser in dessen Palast gefangen und zwang ihn, Domitians Mörder hinrichten zu lassen. Damit wurden jene Männer beseitigt, die Nerva erst den Weg zur Herrschaft bereitet hatten, und Nerva verlor als Kaiser viel von seiner Autorität. Noch im Jahre 96 wurde eine Verschwörung gegen ihn aufgedeckt. Erst jetzt begann der eigentliche Kampf um die Macht. In dieser Zeit bemühten sich zwei Fraktionen innerhalb des Senats darum, dass Nerva ihren Kandidaten als Nachfolger designierte. Einer der möglichen Kandidaten war Cornelius Nigrinus, ein hochdekorierter General Domitians und spätestens seit 95 Statthalter in der Provinz Syrien, wo die stärkste Armee des Ostens stand. Die andere Fraktion bildeten Senatoren, die eher Trajan zuneigten. Zu diesen Senatoren zählten wohl Sextus Iulius Frontinus, Lucius Iulius Ursus, Gnaeus Domitius Tullus, Lucius Licinius Sura und Titus Vestricius Spuriana. Was diese Senatoren dazu veranlasst hatte, Trajan auszuwählen und sich damit gegen Cornelius Nigrinus auszusprechen, ist nicht bekannt. Unter Nerva erhielt Trajan Anfang 97 die Statthalterschaft in Germania superior. Dies war vielleicht schon Teil eines Plans, der die drohende Usurpation durch Nigrinus verhindern sollte, da in Obergermanien drei Legionen und zahlreiche Auxiliareinheiten stationiert waren, insgesamt im Jahr 96/97 etwa 35.000 Mann. Der dortige Statthalter kommandierte somit das Italien am nächsten gelegene große Heer. Dieses konnte er gegen den Kaiser oder auch zu dessen Schutz einsetzen. Während der Wirren des Jahres 97, als offenbar zwei Gruppen um die Macht kämpften, blieb Trajan in seiner Provinz. Im Oktober 97 erhielt er die Nachricht, er sei von Nerva adoptiert worden. Plinius berichtet hierüber stilisiert in seinem Panegyricus. Demnach verdankte Trajan seine Herrschaft einer plötzlichen göttlichen Eingebung, die Nerva angeblich gezeigt hatte, Trajan sei derjenige, den er adoptieren solle. Durch seine Adoption wurde Trajan zum Teilhaber der Herrschaft, wodurch jeder Widerstand gegen Nerva zusammenbrach. Trajan wurde als Nachfolger herausgestellt, indem er die zentralen kaiserlichen Kompetenzen (imperium proconsulare und tribunicia potestas), den Vornamen oder Titel Caesar und den Beinamen Germanicus erhielt. Das Jahr 98 begann Trajan gemeinsam mit Nerva als ordentlicher Konsul. Die Nachricht von Nervas Tod am 28. Januar 98 erhielt Trajan in Köln. Angeblich war es sein Großneffe und späterer Kaiser Hadrian, der Trajan die Nachricht überbrachte. Als neuer Princeps ging Trajan gegen alle Konkurrenten und Widersacher aus der Zeit Nervas vor. Den Prätorianerpräfekten Casperius Aelianus sowie Teile der Prätorianer beorderte er zu sich und ließ sie hinrichten. Anders als der Präfekt behielt der mutmaßliche Rivale Nigrinus zwar sein Leben, doch wurde ihm die syrische Statthalterschaft entzogen, wodurch er seinen militärischen Rückhalt verlor. Er zog sich womöglich in seine hispanische Heimat zurück. Der Prinzipat Trajans Regierungsantritt Trajan sorgte dafür, dass Nerva auf Senatsbeschluss divinisiert und seine sterblichen Überreste im Augustusmausoleum beigesetzt wurden. Trotz des Todes seines Vorgängers blieb Trajan weiterhin am Rhein und kehrte erst zwei Jahre später nach Rom zurück. Die lange Abwesenheit des Princeps von Rom war ungewöhnlich und scheint in der Hauptstadt die Erwartung eines Germanenkrieges geweckt zu haben. Zu seinem Nachfolger für die Statthalterschaft der Germania superior ernannte Trajan seinen comes Iulius Ursus Servianus, mit der Verwaltung Niedergermaniens betraute er Lucius Licinius Sura, zwei Kommandeure, die auch später zu den wichtigsten Stützen seiner Herrschaft gehören sollten. Das Jahr 98 verbrachte Trajan mit Inspektionsreisen an Rhein und Donau. Größere militärische Ereignisse fanden während seines Aufenthalts am Rhein nicht statt. Das zweijährige Unternehmen diente vor allem der Sicherung des Friedens an den Nordgrenzen des Reichs. In dieser Zeit wurde der Bau von Straßen in den rechtsrheinischen Gebieten vorangetrieben, die Infrastruktur des Hinterlandes gestärkt und Verteidigungsanlagen wurden ausgebaut. Eine von Mainz über Baden-Baden und Offenburg zur Donau führende Straße wurde unter ihm fertiggestellt, ebenso die Verbindung Mainz–Köln–Vetera–Nimwegen. Im Winter 98/99 erreichte Trajan die Donau und betrieb Maßnahmen zum Ausbau und zur Festigung der Reichsgrenze. Dabei setzte er die Grenzpolitik Domitians fort, der den Schwerpunkt schon vom Rhein zur Donau verlegt hatte. In dieser Zeit begann Trajan auch mit der Errichtung des Neckar-Odenwald-Limes. Die zweijährige Inspektionsreise sollte auch die Gefolgschaft der Grenztruppen und der Provinzbewohner sichern. Oft wurde angenommen, der eigentliche Zweck der Truppeninspektionen seien Vorbereitungen für einen Krieg gegen die Daker gewesen. Doch berichten die Quellen nichts darüber, was die eigentliche Zielsetzung der Rhein- und Donaureise zwingend mit dem ersten Dakerkrieg verbindet. Im Herbst 99 kehrte Trajan nach Rom zurück. Obwohl es nicht zu einem Germanenkrieg gekommen war, wurde das zweijährige Unternehmen zur Sicherung des Friedens an den Nordgrenzen des Reichs in Rom als Sieg verkündet und gefeiert. Verhältnis zum Senat Trajan gestaltete seine Herrschaft bewusst als Gegenbild zu Domitian. Gegenüber den Senatoren war seine Herrschaft von Wohlwollen und Kooperation geprägt. Schon in seinen ersten Briefen vom Rhein aus schwor er, dass er keinen Senator ohne Verfahren vor dem Senat werde hinrichten lassen, woran er sich offensichtlich auch hielt. Dies war zwar bereits seit mehreren Regierungswechseln übliche Praxis gewesen, doch hatte Domitian mit dieser Tradition gebrochen und keinen Eid abgelegt. Trajans Rückkehr aus den Donauprovinzen im Jahr 99 vollzog sich ohne Prunk. Er zog demonstrativ bescheiden zu Fuß in Rom ein. Die ihn erwartenden Senatoren wurden mit einem Kuss begrüßt. Bereits in den ersten Wochen seiner Herrschaft ließ Trajan auf Münzen verkünden, dass er seine Herrschaft vom Senat erhalten habe. Anders als Domitian und mehreren seiner Vorgänger wurde Trajan nicht vorgeworfen, sich am Vermögen der Bürger, speziell der Senatoren, zu bereichern. Zwar schaffte Trajan die sogenannten Majestätsprozesse nicht ab, ließ sie gegen Senatoren jedoch nicht zu. Um Verstimmungen zu vermeiden, wurden hohe Positionen auch mit unter Domitian geförderten Rittern und Senatoren besetzt. Trajan demonstrierte seine moderatio (Mäßigung), als er den vom Senat angetragenen Titel Pater patriae zunächst ablehnte. Erst im Herbst 98 nahm er den Titel an. Die Praxis der Flavier, ständig ein ordentliches Konsulat zu bekleiden, führte er nicht fort. Während seiner Herrschaft war Trajan nur vier weitere Male Konsul (100, 101, 103, 112). Die beiden Senatoren Sextus Iulius Frontinus und Lucius Iulius Ursus durften gar im Jahr 100 mit dem dritten Konsulat genauso viele Konsulate bekleiden wie der Princeps. Dies war eine außergewöhnliche Ehrung, denn der Vorrang des Princeps drückte sich gewöhnlich in der höheren Zahl der Konsulate gegenüber allen anderen Senatoren aus. Als Grund dieser außergewöhnlichen Ehrung wird die Rolle der beiden Senatoren bei der Regelung der Nachfolge angesehen. Dennoch war Trajans Dominanz gegenüber dem Senat und seine faktische Macht nicht gemindert. Allein der Kaiser sicherte die Herrschaft über das Reich. Auch Plinius erkennt: Sunt quidem cuncta sub unius arbitrio („es hängt doch alles vom Willen eines Einzelnen ab“). Da Trajan nicht der leibliche Sohn Nervas war, konnte die Idee des Besten (optimus), der aus allen Guten (boni, d. h. den Senatoren) durch Adoption im Konsens mit dem Senat zur Herrschaft gelangt war, propagiert werden, obwohl der Senat daran in Wirklichkeit keinen Anteil gehabt hatte. Im Oktober 99 schwor Trajan bei seiner dritten Designation zum Konsul auf dem Marsfeld stehend vor den sitzenden Konsuln den Eid auf die Republik, dass die Götter ihn strafen mögen, sollte er wissentlich gegen die Republik handeln. Durch diese Zeichen und Gesten der scheinbaren Gleichrangigkeit betonte er die ideologische Stellung des Senates als Mitte des Staates und seine kaiserliche Position als primus inter pares, so dass Plinius den Kaiser begeistert als „einen von uns“ (unum ille […] ex nobis) bezeichnen konnte, der nicht über den Gesetzen stehe, sondern vielmehr sich ihnen unterordne (non est princeps supra leges, sed leges supra principem). Trajan setzte nicht nur im Umgang mit dem Senat neue Akzente. Auch die Ideologisierung des Prinzipats geschah in bewusster Distanzierung von der als Tyrannei empfundenen Herrschaft Domitians. Gefeierte neue Schlagworte neben den alten Kardinaltugenden wie clementia (Milde), iustitia (Gerechtigkeit), pietas (Frömmigkeit), virtus (militärische Tüchtigkeit) waren Leitbegriffe wie moderatio (Mäßigung), comitas (Freundlichkeit), temperantia (Selbstbeherrschung), mansuetudo (Sanftmut), humanitas (Menschlichkeit), vor allem aber die civilitas als Qualität der Bürgerlichkeit schlechthin. Bereits vor dem 1. September 100 hatten Senat und Volk von Rom Trajan den bis dahin noch nie und auch später nicht wieder vergebenen Ehrentitel Optimus Princeps, bester und edelster Princeps, verliehen. Seit dem Jahr 103 wurde der Name Optimus Princeps auf Münzen propagiert. Dakerkriege Erster Dakerkrieg Nach römischem Selbstverständnis durfte ein Kaiser nur „gerechte Kriege“ (bella iusta) führen. Offiziell gab daher das Verhalten des Dakerkönigs Decebalus den Anlass zum Krieg gegen das Dakerreich. Ihm wurde vorgeworfen, gegen die Bestimmungen des Friedensvertrages von 89 verstoßen zu haben. Die tieferen Gründe sind wohl in der Bedrohung der Stabilität der Donaugrenze und der Sicherheit der römischen Balkanhalbinsel gegenüber dem Machtgebilde des Dakerreiches zu sehen. Aber auch Kriegsruhm zur Legitimation seiner Herrschaft spielte für Trajan eine wesentliche Rolle. Im Frühjahr 101 eröffnete er den Krieg gegen die Daker. Am 25. März 101 brach Trajan mit Einheiten der hauptstädtischen Garde auf. In der Schlacht von Tapae entbrannte die einzige große Auseinandersetzung des Ersten Dakerkrieges; sie brachte Trajan seinen ersten bedeutenden Sieg ein. Doch hatte der Dakerkönig keine vernichtende Niederlage hinnehmen müssen und befahl einem bedeutenden Teil seiner Reitertruppen, in die römische Provinz Moesia inferior (Niedermösien) einzufallen. Mit diesem Entlastungsangriff hoffte er wohl, die Unterstützung der dortigen stammesverwandten Bevölkerung für sich zu gewinnen. Dies zwang Trajan und seine Truppen, sich zurückzuziehen und sich nach Niedermösien zu begeben. Auch die folgende Schlacht konnte Trajan für sich entscheiden. Daraufhin wandte er sich wieder Dacia (Dakien) zu und verstärkte die dortigen Truppen um eine weitere Legion. Es gelang ihm bei der Erstürmung der dakischen Festung Costești, das Feldzeichen zurückzugewinnen, das die Daker bei ihrem Sieg über Cornelius Fuscus im Jahre 86 erbeutet hatten. Mittlerweile war auch Decebalus’ Schwester von Manius Laberius Maximus in Tilișca gefangen genommen worden. Diese Ereignisse veranlassten Decebalus, Trajan um Frieden zu ersuchen. Trajan ließ sich darauf ein und brach den Krieg spätestens im September 102 nur wenige Kilometer vor dem Zentrum des Dakerreiches ab. Die Bedingungen des Friedensvertrages umfassten die Ablieferung der Waffen und Kriegsmaschinen der Daker sowie die Zurücksendung der römischen Militäringenieure, die ihm Domitian im Rahmen des Friedens von 89 zur Verfügung gestellt hatte. Decebalus musste seine Festungen schleifen lassen, sich aus allen besetzten Gebieten zurückziehen und sich außenpolitisch Rom vollständig unterordnen. Decebalus konnte aber seine Königswürde absichern und verblieb als ein von römischer Seite anerkannter König unter der Oberheit Roms. Karl Strobel geht angesichts des Abbruchs der Kämpfe und der ehrenvollen Bedingungen für Decebalus von einer zunehmenden Erschöpfung auch auf Seiten des römischen Heeres aus. Noch 102 nahm Trajan bei seiner Rückkehr nach Rom den Siegerbeinamen Dacicus an und feierte einen Triumph. Zwar hatte nun Rom größere Teile der späteren Provinz Dacia bereits unter Kontrolle, doch war die offizielle Vorverlegung der Reichsgrenzen und die Errichtung einer Provinz wahrscheinlich noch nicht verkündet. Zweiter Dakerkrieg Nach dem Friedensschluss mit Trajan bemühte sich der Dakerkönig um den Aufbau eines gegen Rom gerichteten Bündnisses mit seinen Nachbarn. Er beschaffte sich ferner Waffen und nahm erneut Überläufer auf, erneuerte seine Verteidigungsanlagen und ging vermutlich im Jahr 104 mit Gewalt gegen die mit Rom verbündeten Jazygen vor. Die Erkenntnis, dass sich Decebalus weder durch harte Friedensverträge noch durch militärische Überwachung dazu bringen ließ, sich Rom unterzuordnen, konnte nur die Zerschlagung des Dakerreiches und die Einrichtung einer römischen Provinz zur Folge haben. Der Zweite Dakerkrieg wurde wiederum durch eine Kriegserklärung des Senats ausgelöst. Zu Beginn des Krieges standen insgesamt 15 Legionen bereit, fast die Hälfte der zu dieser Zeit im Römischen Reich aufgestellten Legionen. Decebalus’ Versuche, den Frieden auf diplomatischem Wege zu erneuern sowie die benachbarten Völker zum Kriegseintritt zu bewegen, scheiterten. Zahlreiche hochrangige dakische Gefolgsleute verließen ihn. Noch bevor der Kaiser auf dem Kriegsschauplatz eintraf, musste Decebalus einsehen, dass er den Krieg nicht gewinnen konnte. In seiner verzweifelten Lage schickte er einen Überläufer zu Trajan, der sich noch in Moesien aufhielt, um ihn ermorden zu lassen. Doch auch dieses Vorhaben scheiterte. Daraufhin traf er sich mit dem General Pompeius Longinus zu Kapitulationsverhandlungen, nahm ihn jedoch mit einigen seiner Begleiter gefangen. Er forderte für Longinus’ Freilassung die Räumung aller römisch besetzten Gebiete bis zur Donau und Entschädigung für sämtliche Kriegskosten. Die hohen Forderungen schlug Trajan zunächst weder ab noch akzeptierte er sie. Longinus selbst versuchte durch Selbstmord die Verzögerung des römischen Vormarsches zu beenden. Dennoch konnte die römische Kampagne erst im Frühjahr 106 fortgeführt werden. Die römische Armee rückte ins dakische Reichszentrum vor und besiegte die gegnerischen Verbände. Decebalus gelang zwar zunächst die Flucht, doch wurde er von einem Verfolgertrupp unter der Führung des Tiberius Claudius Maximus eingeholt und konnte sich nur durch Selbstmord der Gefangennahme entziehen. Das abgeschlagene Haupt wurde Trajan überbracht. Er ließ das Haupt als Zeichen für den vollständigen Sieg Roms und zur Demütigung des Feindes auf der Gemonischen Treppe zur Schau stellen. Das Gebiet wurde 106 als Provinz Dacia einem Statthalter mit zwei Legionen unterstellt. 106/107 wurde die römische Kolonie Colonia Ulpia Traiana Augusta Dacia Sarmizegetusa als Ersatz für die alte Königsstadt gegründet. Die erhebliche Dezimierung der dakischen Bevölkerung glichen Siedler aus allen Teilen des Reichs aus, aber auch Veteranen wurden angesiedelt. Da alle Siedler Latein sprachen, wurde Dacia sprachlich so schnell romanisiert wie keine andere Provinz. In Adamclisi ließ der Kaiser mit dem Tropaeum Traiani ein monumentales Siegesdenkmal errichten, das als eines der bedeutendsten Staatsmonumente in den Provinzen gilt. Im Sommer 107 feierte Trajan einen zweiten Triumph über die Daker. Die gewaltige römische Kriegsbeute soll sich auf 50.000 Kriegsgefangene, 500.000 Pfund (165.000 kg) Gold und 1.000.000 Pfund (331.000 kg) Silber belaufen. Mit Hilfe des dakischen Goldes veranstaltete Trajan verschwenderische Spiele im Circus und im Amphitheater. Allein in den Jahren 108 und 109 kämpften während der Veranstaltungen aus Anlass des Zweiten Dakerkrieges 4.941 Gladiatorenpaare. Lucius Licinius Sura, der in beiden Dakerkriegen eine hervorragende Rolle gespielt hatte, wurde die außerordentliche Ehre eines dritten Konsulats zuteil. Italienpolitik Die sechs Jahre von 107 bis 113 zwischen den Dakerkriegen und dem Partherkrieg waren die längste Zeit, die Trajan nicht in den Provinzen, sondern in Rom verbrachte. Seine Politik war dabei durch Paternalismus und die besondere Förderung Italiens geprägt. Bereits Nerva hatte Italien einen besonderen Rang eingeräumt und dies auch öffentlich durch Münzen kundgetan. Trajan führte diese Politik fort. Durch ein Edikt wurden Kandidaten für senatorische Ämter verpflichtet, mindestens ein Drittel ihres Besitzes in Land innerhalb Italiens anzulegen. In Italien entfaltete Trajan eine rege Bautätigkeit. Ähnlich wie seine Vorgänger verbesserte auch er das Straßennetz. 112 stellte er die Via Traiana von Benevent nach Brundisium fertig. Damit sollte die Via Appia entlastet werden, die mit Brundisium denselben Zielpunkt hatte. Außerdem wurden die Reisemöglichkeiten in weiten Teilen Italiens durch eine bessere Erschließung des Ostens von Apulien und Calabria verbessert. Den Anfang der Via Traiana in Benevent markiert ein Ehrenbogen, dessen Bildprogramm die Fürsorge des Kaisers für die Bevölkerung Italiens hervorhebt. Nördlich von Ostia ließ er einen neuen Hafen bauen, den Portus Traiani, um die Lebensmittelversorgung Roms zu sichern und die Anlandung von Massengütern wie Weizen, Baumaterial und Marmor vom Einfluss des Wetters weniger abhängig zu machen. Neubauten oder Erweiterungen von Häfen gab es zudem in Ancona, Centumcellae und Terracina. Der herausragende Stellenwert Italiens im politischen Denken und Handeln Trajans schlug sich auch in den Münzen nieder. Auf ihnen war die Devise Italia rest(ituta) („Wiederherstellung Italiens“) eingeprägt. Besondere Münzen mit der Aufschrift von Provinzen gab es unter Trajan nur, wenn diese in seiner Regierungszeit für das Reich neu erworben worden waren. Andere Provinzen, die schon lange zum Imperium gehörten, wurden auf Münzen nicht aufgeführt. Kurz nach Beginn seiner Herrschaft begann Trajan eindrucksvolle Bauten zur Verschönerung Roms, zum Nutzen der Bevölkerung und zu seinem eigenen Ruhm errichten zu lassen. Hohe Aufmerksamkeit widmete er dabei der Sanierung der Infrastruktur in den italienischen Städten. Das Wasserleitungssystem ließ er ausbauen und renovieren. Die im Jahr 109 fertiggestellte und fast 60 Kilometer lange Wasserleitung Aqua Traiana führte aus der Gegend des Lago di Bracciano im Norden Roms Wasser in den Stadtteil rechts des Tiber. Mit der Aqua Traiana band Trajan die sozial eher schlecht gestellten Wohnviertel der Regio Transtiberium an die Wasserversorgung an. Bis zum Jahr 109 entstanden Thermen von bisher unbekannten Ausmaßen. Die in der Nähe der Vergnügungsbauten des Kolosseums, des Ludus Magnus und der Titusthermen errichteten Trajansthermen übertrafen die Größe der Titusthermen um das Vierfache. Dabei wurde auch der Großteil von Neros Goldenem Haus überbaut. Die Rückführung des Geländes in den öffentlichen Nutzen war beabsichtigt und verstärkte, im Gegensatz zum „schlechten“ Kaiser Nero, das Bild des optimus princeps. Zur Einweihung der Trajansthermen im Jahr 112 wurden 117 Tage lang Spiele veranstaltet, bei denen 8.000 Gladiatoren und 10.000 Tiere kämpften. Ähnlich wie Augustus ließ Trajan auch Naumachien, nachgestellte Seeschlachten, aufführen. Der monumentalste Baukomplex war allerdings das Forum Traiani, das Trajan zwischen 107 und 113 durch den Architekten Apollodor von Damaskus konstruieren ließ. Mit einer Länge von 300 und einer Breite von 185 Metern übertraf es alle bisherigen Kaiserforen in Rom beträchtlich. Anders als die Kaiserforen seiner Vorgänger konnte keine die familiäre Herkunft erklärende Gottheit und auch kein Rächergott oder eine persönliche kaiserliche Schutzgottheit auf dem Forum Traiani den zentralen Platz beanspruchen. Vielmehr wurden Militär und Senat als Stützen der kaiserlichen Macht bedacht, und auch die Sorge für das Volk erhielt ihren Ausdruck. Das eigentliche Siegeszeichen war die auf dem Trajansforum errichtete Trajanssäule. Das fast 200 Meter lange Reliefband dokumentierte in zwei großen Abschnitten mit zahllosen Details und Einzelszenen die beiden Dakerkriege. Das Trajansforum war mit den sogenannten Trajansmärkten verknüpft, ein an das Forum angrenzendes, in sich geschlossenes Geschäftsviertel, das seit seiner Freilegung in den 1930er-Jahren zu den bedeutendsten erhaltenen römischen Profanbauten gezählt wird. In Rom gewährte Trajan 5.000 Kindern Anteil an kostenloser Getreideverteilung. Das umfassendste Unternehmen zur Stärkung Italiens war jedoch die Alimentarinstitution. Bereits unter Nerva hatte es erste Ansätze dazu gegeben, aber erst Trajan führte sie in größerem Ausmaß fort. Diese Alimentarstiftung sicherte durch Zinsen und Darlehen, die Trajan Grundbesitzern gewährte, vermutlich hunderttausenden Jungen und Mädchen monatliche Unterstützung. Ziel war offensichtlich eine Erhöhung der Geburtenrate in Italien und eine Stärkung der römischen Wehrkraft. Zur Stärkung Italiens wurden mit der legio II Traiana und der legio XXX Ulpia auch zwei neue Legionen aufgestellt. Auf einer Bronzetafel für die Stadt Veleia, etwa 30 km vom heutigen Piacenza entfernt, sind entsprechende Regelungen der sogenannten alimenta überliefert. Insgesamt erhielten dort aus der traianischen alimenta 300 Kinder eine Zahlung, 264 Jungen je 16 Sesterzen pro Monat und 36 Mädchen je 12. Bisher sind über 50 Orte in weiten Teilen Italiens für diese kaiserliche Maßnahme bezeugt. Die Alimentarinstitution war weder Teil einer umfassenden Wirtschaftspolitik noch aktuelles Krisenmanagement. Vor allem handelte es sich nicht um ein Programm zur Unterstützung der Armen Italiens, vielmehr sollte die von Trajan betriebene Unterstützung das Bild eines fürsorgenden Princeps projizieren. Die Alimentarstiftung hatte bis weit in das 3. Jahrhundert Bestand. Städtegründungen Trajan war bemüht, den inneren Ausbau des Reichs voranzutreiben. Der römische Staat stützte sich auf Städte als unterste Verwaltungseinheiten, die ihm die Herrschaftsausübung erleichterten. Man überließ ihnen hinsichtlich der lokalen Selbstverwaltung besonders auf den Gebieten der Steuereinziehung, der niederen Gerichtsbarkeit und der Rekrutierung Kompetenzen. Die trajanischen Städtegründungen bzw. die Erhebungen zu höheren Stadtrechtsformen haben ihre geographischen Schwerpunkte in den germanischen Provinzen (Germania inferior und im Norden der Germania superior), in den Provinzen der mittleren und unteren Donau von Pannonia (Pannonien) bis Niedermösien und Thracia (Thrakien) und schließlich in der Provinz Africa Proconsularis. In Niedergermanien gründete Trajan in der Nähe des heutigen Xanten die Kolonie Ulpia Traiana. Ebenfalls wurde die Hauptstadt der Bataver, Ulpia Noviomagus Batavorum (Nijmegen), neu gegründet und organisiert. Damit konnte Trajan sich die Gefolgschaft niedergermanischer Stämme sichern, die ihm fortan wieder als kaiserliche Kavallerieeinheit dienten. In der Germania superior erfolgte nach der Verlegung von Truppen an den Limes eine zivile Strukturierung der Provinz. Es entstanden im Rhein-Main-Neckar-Gebiet die Civitas Mattiacorum mit dem Hauptort Aquae Mattiacorum (Wiesbaden), die Civitas Ulpia Sueborum Nicrensium (Hauptort Lopodunum/Ladenburg) und die Civitas Taunensium mit dem Hauptort Nida (Frankfurt-Heddernheim). In Pannonien wurde nach der Verlegung der Legio XIII Gemina, die an einem der beiden Dakerkriege teilgenommen hatte und in der neugeschaffenen Provinz verblieb, die Colonia Ulpia Traiana Poetovio gegründet. In Thrakien beabsichtigte Trajan die Verwaltung des Landes weitgehend den neugeschaffenen Städten zu übertragen. Sechs Städte haben ihren Ursprung bzw. erfuhren eine Veränderung ihrer Rechtsform in trajanischer Zeit. Traianopolis (östlich des heutigen Alexandroupoli), Augusta Traiana (Stara Zagora), Plotinopolis (bei Didymoticho) und Marcianopolis (Dewnja). Den Städten Pautalia (Kjustendil), Serdica (Sofia) und Topeiros (bei Xanthi) und evtl. Bizye (Viza) wurde von Trajan das Stadtrecht verliehen. In Nordafrika wurden Lepcis Magna, Hadrumetum und eventuell Leptis Minus als wirtschaftlich blühende und weitgehend romanisierte Städte zu Titularkolonien erhoben. In Numidien wurde der Statthalter Lucius Munatius Gallus angewiesen, die Stadt Thamugadi als Colonia Marciana Traiana durch die Ansiedlung von Veteranen der Legio III Augusta zu gründen. Die Stadt entwickelte sich zu einer der bedeutendsten Städte Nordafrikas. Trajan und Plinius Am 1. September 100 hielt Plinius der Jüngere bei seinem Antritt als Suffektkonsul Panegyricus, eine Lobrede auf die nach der Schreckensherrschaft Domitians durch Nerva und Trajan eingeleitete Ära. Plinius schrieb Trajan zahlreiche Taten und Tugenden zu und grenzte ihn von den schlechten Principes, insbesondere von Domitian, ab. Zwischen den Jahren 109 und 113 verwaltete Plinius für eineinhalb Jahre die Provinz Pontus et Bithynia in Nordwestkleinasien. Wahrscheinlich aus militärischen Gesichtspunkten wurde Plinius direkt im Auftrag des Kaisers als legatus Augusti pro praetore dort tätig, denn Trajan bereitete den Partherkrieg vor, und Nordwestkleinasien war Durchmarschgebiet von der nördlichen bis zur östlichen Reichsgrenze. Während dieser Zeit entwickelte er eine rege Korrespondenz mit Trajan. Dieses Corpus umfasst 107 Briefe und ist als zehntes und letztes Buch einer Sammlung von Kunstbriefen des Plinius überliefert worden. Die Korrespondenz ist somit eine einzigartige Quelle über die römische Provinzialverwaltung und das Leben in einer griechischsprachigen Provinz im Römischen Reich. Der Briefwechsel zwischen Plinius und Trajan über den amtlichen Umgang mit Christen stellt das wichtigste, weil einzig erhaltene Zeugnis über den Verfahrensablauf von Christenprozessen dar, das nicht von christlichen Autoren vermittelt ist und dazu amtlichen Charakter besitzt. Plinius beginnt seine Anfrage, indem er seine Unsicherheit und sein Nichtwissen besonders hervorhebt. Er stellt fest, dass er vor seiner Statthalterschaft niemals an Christenprozessen mitgewirkt habe, und begründet damit, dass er nicht wisse, was und wie weit üblicherweise bestraft werde. Trajan solle ihn nun in seiner Unwissenheit lenken. So bittet Plinius den Princeps, ihn darüber zu belehren, was der eigentliche Strafgrund sei (quid puniri soleat) – das Christsein als solches (nomen Christianum) oder die Verbrechen, die damit verbunden seien (flagitia cohaerentia nomini). Plinius’ Brief gilt auch der Frage, wie weit Verbrechen vor Gericht untersucht und nachgewiesen werden müssten (quatenus quaeri soleat). In seiner Antwort billigte Trajan eine differenzierte Vorgehensweise. Trajan bestätigte das bisherige Verfahren, Christen hinzurichten, wenn sie angezeigt und überführt wurden. Die Verweigerung eines Opfers für die römischen Götter galt als Überführung. Wer aber aussagte, kein Christ zu sein, und das durch ein Opfer für die Götter bezeugte, sollte Verzeihung erhalten. Doch sollte nicht nach Christen gefahndet werden (conquirendi non sunt). Ausdrücklich tadelte der Princeps seinen Statthalter dafür, anonyme Anzeigen entgegengenommen zu haben, denn das sei ein schlechtes Beispiel und „unserem Zeitalter nicht angemessen“ (nec nostri saeculi est). Dynastische Politik Trajan war bereits vor seiner Adoption seit etwa 75/76 mit Pompeia Plotina verheiratet. Sie erhielt spätestens um das Jahr 105 den Titel Augusta. Die Ehe der beiden war jedoch ohne Nachkommen geblieben, die für eine reibungslose Fortsetzung der Herrschaft hätten sorgen können. Doch dachte Trajan nicht daran, sich wegen der Kinderlosigkeit von Plotina scheiden zu lassen, denn Plotina war reich, gebildet und hatte nicht nur in ihrer Heimatprovinz Gallia Narbonensis weitverzweigte Familien- und Freundschaftsverbindungen. Die Kinderlosigkeit war jedoch kein entschiedener Nachteil, denn nach der Ideologie vom Besten, der im Idealfall aus allen zum Wohl aller auszuwählen war, hätte ein leiblicher Sohn der Wahl des Besten im Wege gestanden. Trajan ließ seine Schwester Ulpia Marciana nach ihrem Tod am 29. August 112 noch vor ihrer Bestattung durch Senatsbeschluss zur Diva erheben. Zur selben Zeit wurde Marcianas Tochter Matidia zur Augusta. Wohl zwischen Mai 113 und August 114 wurde auch Trajans gleichnamiger Vater zum Gott erklärt. Die trajanische Familie hatte sich somit eine breite Legitimierung auch durch göttliche Abkunft geschaffen. Trajan wurde so zum Sohn von zwei vergöttlichten Vätern. Er war der erste Kaiser, der eine göttliche Erhöhung eines Vaters, der selbst nicht Kaiser gewesen war, vornahm – ein Vorgang, der auch nach ihm eine seltene Ausnahme blieb. Marcianas Tochter Matidia und deren Töchter Sabina und Matidia die Jüngere spielten eine bedeutende Rolle in Trajans dynastischer Politik. Sabina heiratete im Jahr 100 Trajans späteren Nachfolger Hadrian. Hadrian wurde damit der nächste männliche Verwandte und somit Anwärter auf die künftige Nachfolge. Bereits seit seinem zehnten Lebensjahr wurde Hadrian unter die Vormundschaft seiner Landsleute Trajan und Acilius Attianus gestellt. Doch wurde er erst kurz vor Trajans Tod adoptiert. Partherkrieg Ein Streit um die Einsetzung des armenischen Königs führte zu schweren Spannungen zwischen Rom und Parthien. Großarmenien galt zwar als Klientelreich Roms, doch beanspruchten auch die Parther hierüber die Vorherrschaft. Bereits in die Regierungszeit des Augustus fielen bewaffnete Auseinandersetzungen zwischen Römern und Parthern über die Vorherrschaft in Armenien. Das Ergebnis des letzten Krieges im Jahre 66 war gewesen, dass der armenische König die Krone weiterhin vom römischen Kaiser zu empfangen habe, aber aus dem parthischen Königsgeschlecht der Arsakiden stammen und von den Parthern designiert werden musste. Der Partherkönig Chosroes versuchte nun, größeren Einfluss über Armenien zu gewinnen. Er vertrieb den bisherigen, von Rom anerkannten armenischen König und ersetzte ihn ohne Trajans Einwilligung durch Parthamsiris. Damit bot er der römischen Seite einen Anlass oder – wie der Geschichtsschreiber Cassius Dio meint – einen Vorwand zum Krieg. Cassius Dio behauptet, das wahre Motiv sei Trajans Ruhmsucht gewesen. Er betont die Absicht des Kaisers, den Eroberungszug Alexanders des Großen nachzuahmen (sogenannte Alexander-Imitatio), und den Fehlschlag dieses Vorhabens. Diese kritische Einschätzung der Kriegspolitik Trajans spiegelt möglicherweise eine am Hof von dessen Nachfolger Hadrian propagierte Position wider, die der Rechtfertigung von Hadrians umstrittener Abkehr von Trajans Orientpolitik dienen sollte. Ob Trajan schon vor dem Ausbruch der armenischen Krise einen Angriff plante und systematisch vorbereitete, ist umstritten. Einzelne Anzeichen sprechen dafür; so zeigen Münzen, die 111 im Umlauf kamen, dass die Eroberung Dakiens nicht das Ende der römischen Expansionsbestrebungen war. Bereits im Jahr 106 hatte der Statthalter der Provinz Syria, Aulus Cornelius Palma Frontonianus, das Nabatäerreich erobert. Dieses Gebiet wurde anschließend als neue Provinz Arabia Petraea eingerichtet und stärkte die strategische Position Roms im Osten. Obwohl ein schlagender Beweis für die Annahme eines von Trajan langfristig geplanten Angriffskriegs fehlt, wird diese Hypothese daher von zahlreichen Historikern für plausibel gehalten; Experten wie Werner Eck sind überzeugt, dass Trajan den Krieg, der vermeidbar gewesen wäre, gezielt herbeiführte. Als Kriegsgründe kommen auch wirtschaftliche Motive (Kontrolle der Handelswege durch Mesopotamien) und militärische Überlegungen (Erreichung einer besseren Grenzsicherung im Osten) in Betracht. Trajan brach im Herbst 113 in Richtung Osten auf und erreichte Anfang 114 Antiochia in Syrien. Für den nun einsetzenden Krieg sind die wenigen Fragmente aus der Parthergeschichte Arrians sowie die Zusammenfassungen und Ausführungen aus dem Geschichtswerk des Cassius Dio die einzigen heute noch verfügbaren Quellen. Die einzelnen Ereignisse sind deshalb oft ungewiss; Münzen und Inschriften werden ergänzend zur Rekonstruktion des Ablaufs herangezogen. In Elegia kam es zum Treffen zwischen Parthamsiris und Trajan. Parthamsiris forderte Trajan auf, ihn zum König Armeniens zu krönen. Doch Trajan war weiterhin nicht bereit, einen ihm nicht genehmen König auf dem armenischen Thron zu belassen. Bei dieser Gelegenheit soll Trajan verkündet haben, dass er Armenien stattdessen zur Provinz machen und einen römischen Statthalter einsetzen werde. Kurz nach seiner Abreise wurde Parthamsiris unter ungeklärten Umständen umgebracht, ein schwerer Rechtsbruch durch die Römer. Die folgenden Monate verbrachte Trajan damit, die neue Provinz militärisch zu sichern. Gegen Ende des Jahres 114 scheint ganz Armenien unter römischer Kontrolle gewesen zu sein. Für die Eingliederung Armeniens wurden Trajan auf Beschluss des Senats zahlreiche Ehrungen zuteil, vor allem wurde ihm offiziell der Titel Optimus verliehen. Trajan zog indessen weiter nach Süden, verließ Armenien und eroberte die wichtigen Städte Nisibis und Batnae. Gegen Ende des Jahres wurde Mesopotamien zur römischen Provinz erklärt. Trajan scheint in dieser Zeit zahlreiche Schlachten geschlagen zu haben, denn er wurde viermal zum Imperator ausgerufen. Den Winter 115/116 verbrachte er in Antiochia, wo ein schweres Erdbeben ihn fast das Leben kostete. Innere Wirren in Parthien hinderten Chosroes wohl an jedem konzentrierten Widerstand. Im Januar 116 nahmen die römischen Truppen ohne Gegenwehr die Hauptstadt der Parther, Ktesiphon am Tigris, ein. Zwar war Chosroes geflohen, doch konnte Trajan eine Tochter von ihm und den parthischen Thron in seine Gewalt bekommen und diesen nach Rom schicken. Am 20. Februar 116 kam der Siegername Parthicus zu Germanicus und Dacicus hinzu. Trajan sollte außerdem Triumphe in beliebiger Zahl feiern dürfen. Die Münzprägung begann die Niederwerfung Parthiens (Parthia capta) und die Unterwerfung Armeniens und Mesopotamiens unter die römische Herrschaft zu verkünden. Doch Trajan drängte weiter. Er fuhr flussabwärts bis zum Persischen Golf. Auf seiner Rückreise erreichte er Babylon, wo er das Sterbehaus Alexanders des Großen besuchte. Grenzen der antiken Weltmacht Im Jahr 116 stand Trajan am Persischen Golf. Kein römischer Kaiser war je so weit nach Osten vorgedrungen und keiner seit Augustus hatte dem Reich so viel neues Gebiet hinzugefügt. Nach Armenien (114) wurde nun auch Mesopotamien (116) als Provinz des römischen Reiches eingerichtet. Eine weitere neue Provinz, Assyria, die Trajan ebenfalls geschaffen haben soll, ist erst in spätantiken Quellen bezeugt; daher ist ihre Lokalisierung und mutmaßliche Ausdehnung in der Forschung stark umstritten, oder es wird ihre Existenz überhaupt bezweifelt. Mit seiner Expansionspolitik missachtete Trajan den angeblichen Rat des Augustus, das Reich in seinen gegenwärtigen Grenzen zu belassen (consilium coercendi intra terminos imperii). Der Grund für diesen Rat war offenbar die Vorhersage finanzieller Verluste für das Reich im Falle weiterer Eroberungen. Als Trajan sich noch im Euphratgebiet befand, brach ein ausgedehnter Aufstand der Juden in Mesopotamien, Syrien, Zypern, Iudaea, Ägypten und in der Cyrenaica aus. Die Zusammenhänge und die Ziele der Erhebungen sind weitgehend unklar. Inzwischen hatte auch die parthische Gegenoffensive begonnen, und ein römisches Heer unter Führung des Konsulars Appius Maximus Santra war geschlagen worden, was anschließend zur Vernichtung zahlreicher römischer Besatzungen führte. Südmesopotamien musste daraufhin geräumt werden. Die arsakidischen Truppen konnten in kurzer Zeit weite Gebiete zurückerobern, doch gelang es den zurückweichenden Römern, den parthischen Heerführer Parthamaspates, einen Sohn des Partherkönigs, zum Frontwechsel zu bewegen. Zur Belohnung krönte Trajan Parthamaspates im Herbst 116 in Ktesiphon zum Partherkönig, womit er zugleich seinen Plan einer Eingliederung Mesopotamiens in das römische Provinzialsystem zumindest vorerst aufgab. Den von den Römern eingesetzten Herrscher akzeptierten die Parther jedoch nicht; er konnte sich militärisch nie durchsetzen. Seine Ernennung diente wohl vor allem dazu, von der militärischen Niederlage des Kaisers abzulenken. Der Partherfeldzug hatte für Rom in einer Katastrophe geendet. Bis zum Tod Trajans im August 117 kam es zu keiner größeren römischen Gegenoffensive mehr. Alle verfügbaren Truppen mussten stattdessen zur Bekämpfung der jüdischen Aufstände eingesetzt werden. Es trafen zudem Nachrichten über Revolten in allen neu eroberten Gebieten ein. In Armenien musste Trajan Gebiete abtreten, um sich vorübergehend Ruhe zu verschaffen. Aus Dakien wurden ebenfalls größere Kämpfe gemeldet. Daraufhin entsandte Trajan auch dorthin Truppen. In Nordmesopotamien wurde Lusius Quietus mit der Niederschlagung des Aufstandes betraut, wobei er sehr brutal vorging und beträchtliche Erfolge erzielte. Da die römischen Truppen auf allen Schauplätzen ihre Aufgaben zu meistern schienen, konnte Trajan versuchen, wieder die Initiative zu gewinnen, um den Schaden zu begrenzen. Er zog nordwärts und belagerte die stark befestigte Stadt Hatra, deren Bevölkerung den Partherkönigen besonders ergeben war und deren Eroberung strategisch unabdingbar war, wenn die Römer Nordmesopotamien dauerhaft unter ihre Kontrolle bringen wollten. Trotz großer Anstrengungen scheiterte die Belagerung jedoch wegen der widrigen Bedingungen in der Wüste. Hinzu kamen die fast unlösbaren Probleme der Versorgung und des römischen Nachschubs. Trajan musste geschlagen abziehen. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich, so dass er sich entschloss, nach Rom zurückzukehren. Daher kam ein weiterer Feldzug nach Mesopotamien nicht mehr zustande. In dieser Situation übergab Trajan das Kommando im Osten an Hadrian, indem er ihn zu seinem Statthalter in Syrien machte, wo die Truppen für den Partherkrieg stationiert waren. Tod und Nachfolge Nach schwerer Krankheit starb Kaiser Trajan am 8. August 117 auf der Rückreise nach Rom in Selinus. Noch auf dem Totenbett soll er seinen Neffen Hadrian adoptiert haben. Die undurchsichtigen Umstände dieser behaupteten Designation des Nachfolgers führten zu zahlreichen Spekulationen, in denen sich auch eine starke Opposition gegen diese Nachfolgeregelung äußerte. Cassius Dio behauptete, Hadrian sei nicht adoptiert worden, vielmehr habe Trajans Frau Plotina, die Hadrian seit langem förderte, zusammen mit dem Gardepräfekten Attianus die Adoption vorgetäuscht. In der modernen Forschung ist umstritten, ob die Adoption tatsächlich stattgefunden hat. Hadrian erhielt die Todesnachricht am 9. August in Syrien. Zwei Tage später wurde er von den Truppen in Syrien als Kaiser akklamiert; daher feierte er fortan den 11. August (und nicht den Tag der späteren Bestätigung seiner Stellung durch den Senat) als seinen dies imperii (Tag des Regierungsantritts). Trajans Leichnam wurde auf Hadrians Weisung nach Pierien gebracht und dort verbrannt. Anschließend wurde seine Asche in Rom im Sockel der Trajanssäule beigesetzt. Die Bestattung des Kaisers innerhalb der geheiligten Stadtgrenze (Pomerium) war ungewöhnlich. Trajan war bis in die Spätantike der einzige Kaiser, der innerhalb der Stadtgrenze beigesetzt wurde. In republikanischer Zeit war diese Ehrung neben den Vestalinnen nur herausragenden Triumphatoren zugestanden worden. Die Quellen trajanischer Zeit überliefern keinen Hinweis auf den Plan einer Beisetzung, spätere Quellen heben die Besonderheit dieses Aktes hervor. Zudem ließ Hadrian für seinen Vorgänger einen Triumphzug durchführen. Der Senat beschloss Trajans Konsekration; er wurde zum Staatsgott erhoben. Sein offizieller Name lautete nun: divus Traianus Parthicus. Beim Tod Trajans war Großarmenien, bis auf jenen Teil, den der Kaiser noch im Jahre 116 abgeben musste, wieder in römischer Hand. Lusius Quietus hatte in Mesopotamien die wichtigsten Stellungen bereits zurückerobert, so dass nur noch an einigen Orten Widerstand zu beseitigen gewesen wäre. Hingegen konnte sich in den südlichen Teilen des parthischen Mesopotamien der von Trajan eingesetzte König Parthamaspates ohne römische Unterstützung nicht halten. Die letzten Erhebungen der Juden im Osten, in Ägypten und in Mesopotamien wurden von Hadrian niedergeschlagen. In Dakien und an der mittleren Donau, in Britannien und in Mauretanien brachen Aufstände aus. Zu Beginn seiner Regierung verzichtete Hadrian auf die Fortsetzung von Trajans Eroberungspolitik und gab alle Gebiete auf, die sein Vorgänger jenseits des Euphrat und Tigris erobert hatte. Stattdessen bemühte er sich um die Sicherung des Erreichten und propagierte die Pax Romana in einem Gebiet zwischen Britannien und Syrien, dem Balkanraum und Nordafrika. Mit den Parthern schloss er Frieden, und die Ostgrenze des Reiches wurde wieder auf den Stand des Jahres 113 zurückverlegt. In der Forschung umstritten ist die Frage, ob dies ein radikaler Kurswechsel war oder ob schon Trajan in seinem letzten Lebensjahr einen Kompromissfrieden mit den Parthern angestrebt hatte, bei dem er nur einen Teil seiner Eroberungen behalten hätte. Die endgültige Aufgabe der neuen östlichen Provinzen stieß auf die Kritik vieler Zeitgenossen, und aus dem Kreis der führenden Militärs drohte dem neuen Kaiser sogar ein Umsturzversuch. Angeblich verschworen sich die vier ehemaligen Konsuln Avidius Nigrinus, Cornelius Palma, Publilius Celsus und Lusius Quietus. Alle vier wurden hingerichtet, was das Verhältnis Hadrians zum Senat zeitlebens belastete. Die von Trajan eingerichtete Provinz Dacia musste schließlich von Kaiser Aurelian im Jahr 271 aufgegeben, das Militär zurückgezogen sowie die römische Bevölkerung evakuiert und am südlichen Donauufer angesiedelt werden. Unter Hadrian setzte eine Abkehr von Trajans Politik der Stärkung Italiens ein. Anders als sein Vorgänger rückte er die Provinzen in den Vordergrund und stärkte deren Selbstbewusstsein. Durch eine ausgedehnte Reisetätigkeit verschaffte er sich breiteste Kenntnis über die lokalen und überregionalen Probleme des Reiches. Die Provinzen erscheinen nun auf den Münzen als selbstständige Einheiten und werden gegenüber Italien aufgewertet. Wirkung Der „beste Kaiser“ Stehen als historische Darstellungen für die mehr als 100 Jahre zwischen Augustus und den Flaviern Suetons Kaiserbiographien sowie Tacitus’ Annalen und Historien zur Verfügung, die noch durch Werke anderer Genera ergänzt werden, wie die Erdbeschreibung Strabons und die Naturgeschichte des älteren Plinius, so berichtet über die Regierungszeit Trajans fast ausschließlich das Geschichtswerk des Senators Cassius Dio aus dem 3. Jahrhundert. Aber auch dessen Darstellung über diesen Zeitraum ist nur in Auszügen aus byzantinischer Zeit erhalten. Knappe Informationen finden sich auch in den Breviarien des 4. Jahrhunderts, während etwa die Kaiserbiographien des Marius Maximus, in denen Trajan behandelt wurde, verloren gegangen sind. Die dürftige literarische Überlieferung wird jedoch durch zahlreiche archäologische, epigraphische und numismatische Zeugnisse ergänzt. Die antiken Historiker übernahmen bei Konflikten zwischen dem Senat und dem Princeps oftmals die Position des Senats, da viele Autoren, die sich historiographisch äußerten, dem Senatorenstand angehörten oder zumindest von Mitgliedern des Senats bei ihrer Schriftstellerei beeinflusst wurden. Das gute Verhältnis, das Trajan zum Senat pflegte, prägte daher auch das Urteil der antiken (und dabei besonders der senatorischen) Geschichtsschreibung. Das Bild Trajans als Herrscher und Persönlichkeit wurde bis in die Gegenwart entscheidend durch die gratiarum actio geprägt, die Dankesrede des jüngeren Plinius, die dieser anlässlich des Antrittes zu seinem Suffektkonsulat am 1. September 100 vor dem vollständig versammelten Senat und dem ebenfalls anwesenden Trajan gehalten hat. Sie stellt Trajan als exemplum des idealen Herrschers dar. Das extrem günstige Urteil erwuchs dabei vor allem aus der scharfen Abgrenzung zu Domitian. Sueton prophezeite nach Domitians Tod ein glücklicheres Zeitalter. Nach Tacitus begann mit dem Herrschaftsantritt Trajans ein beatissimum saeculum („äußerst glückliches Zeitalter“). Die Herrschaftsideologie Trajans als des besten, gerechten und zugleich erfolgreichen und kriegerischen Herrschers war so eindringlich, dass sein Bild auch nicht durch das letztlich erfolglose Ende des Partherkrieges verdüstert wurde. Die nachfolgenden Kaiser sollten noch jahrzehntelang keine eigenen Söhne haben und waren damit gezwungen, den im Staate vermeintlich Besten als Thronfolger zu adoptieren. Zu diesem Zweck mussten sie sich auf eine ungebrochene Reihe von als gut angesehenen Vorgängern berufen, die mit Trajan und seinem Adoptivvater Nerva begonnen hatte. Dies führte dazu, dass jeder Herrscher bei all seiner Unzulänglichkeit in positiver Erinnerung gehalten werden musste. Seit 114 galt Trajan als optimus („der Beste“) schlechthin. Kein Herrscher seit Augustus entsprach dem Idealbild, das nach republikanischen Vorstellungen von römischen Senatoren, aber auch von griechischen Intellektuellen entworfen wurde, so sehr wie Trajan. Dieses Idealbild setzte sich wesentlich aus den Tugenden (virtutes) Milde (clementia), Gerechtigkeit (iustitia) und pflichtgemäßem Verhalten gegenüber Göttern und Menschen (pietas) zusammen. Das Urteil über Trajans Grenz- und Außenpolitik war dadurch bestimmt, dass kein römischer Kaiser vor ihm so weit in den Osten vorgedrungen war und keiner seit Augustus dem Reich so viel neues Gebiet hinzuerobert hatte. Wie die großen Feldherren der Römischen Republik habe er nach althergebrachtem römischen Ideal seine militärische Tüchtigkeit (virtus) bewusst zur militärischen Expansion eingesetzt. Nur vereinzelt ist Kritik an Trajan überliefert. Fronto, der Lucius Verus in seinem Werk Principia historiae als Eroberer im Osten inszenierte, setzte zugleich Trajan herab. Er warf ihm vor, Soldaten für seine persönlichen Ziele geopfert, mit einem problematischen Klientelkönig verhandelt zu haben, den er später, statt Milde walten zu lassen, getötet habe, und zwei Kommandeure im Partherkrieg nicht gerettet zu haben. Zudem stellte er Trajans Trunksucht heraus. Allerdings wurden die erhaltenen Reste der Schriften Frontos erst im 19. Jahrhundert entdeckt und hatten keinen Einfluss auf das positive Trajan-Bild. In der Spätantike galt Trajans Herrschaft als die beste der römischen Kaiserzeit. Der Zuruf von Senatoren an einen neuen Princeps „Mögest du glücklicher sein als Augustus und besser als Trajan“ (felicior Augusto, melior Traiano) wurde zum geflügelten Wort. Konstantin der Große suchte Trajan vor allem in Äußerlichkeiten nachzuahmen, wie durch die bartlose Darstellung seines Porträts, durch die Münzlegende optimo principi oder durch den an Trajan orientierten Einzug in die Ewige Stadt. Obwohl sein Sohn Constantius II. bei seinem Besuch in Rom wegen christlicher Vorbehalte das übrige heidnische Stadtbild demonstrativ keines Blickes würdigte, lobte er das Trajansforum als „einzigartiges Bauwerk unter dem Himmel“ und entschied sich, die Stadt unversehrt zu lassen. Theodosius I. täuschte über seine spanische Herkunft für sich und sein Haus eine verwandtschaftliche Verbindung zu Trajan vor. Trajan galt in der Spätantike als ein Herrscher, der zu seiner Zeit die Rolle des Kaisers vorbildlich ausgefüllt hatte. Er hatte als propagator finium („Erweiterer der Grenzen“) das Reich gemehrt, als princeps die Freiheit von Senat und römischem Volk gewährleistet und auf diese Weise nach der Schreckensherrschaft Domitians innenpolitische securitas herbeigeführt. Keiner der römischen Kaiser vor Konstantin dem Großen wird in der christlichen Tradition so geschätzt wie Trajan, obwohl er Prozesse gegen Christen wegen ihres Glaubens befürwortet hatte. Orosius nahm den Kaiser sogar vor dem Vorwurf, ein Christenverfolger zu sein, in Schutz und stellte ihn als Opfer falscher Berichte dar. Im Frühmittelalter entstand die Trajanlegende vom gerechten Herrscher. Obgleich er auf einem Feldzug war, habe er einer Witwe beigestanden, die ihn angesichts der Ermordung ihres Sohnes um Hilfe bat. Auf solche Berichte hin soll Papst Gregor I. von dem Kaiser so beeindruckt gewesen sein, dass er für das Seelenheil des Heiden gebetet habe, bis dieser aus der Hölle befreit wurde. Im Laufe der Jahrhunderte erfuhr die Legende einige Variationen. So habe der erfundene Sohn des Trajan selbst den Tod des Sohnes der Witwe verschuldet. Als Sühne für den Verlust sei dieser hierauf vom Kaiser der Witwe als Entschädigung übergeben worden. Auch schwankt die Überlieferung darüber, was den Papst zur Fürbitte veranlasst habe. So sei der Schädel Trajans mit unversehrter Zunge aufgefunden worden, die den Wunsch des Kaisers, erlöst zu werden, dem herbeieilenden Papst mitteilte. Einer anderen Tradition zufolge sei der Papst durch die Gerechtigkeit des Kaisers zur Fürbitte auf dem Trajansforum veranlasst worden. Die Trajanlegende erfuhr ihre weiteste Verbreitung im Spätmittelalter. Die Aufnahme eines Heiden, der angeblich Christen verfolgt habe, in den Himmel hatte zahlreiche kritische und skeptische Stimmen hervorgerufen. Am Ende aller Disputationen stand die Erkenntnis, dass es sich bei der Aufnahme Trajans nur um eine äußerst seltene Ausnahme von der Regel gehandelt haben konnte. Auf die Trajanlegende weist auch Dante in der Divina Comedia hin. Für ihn zeigte die Trajanlegende, dass die Errettung vor der Verdammnis auch für Menschen möglich war, die nicht explizit mit der Kirche verbunden waren. Auf die Gerechtigkeit Trajans nahmen auch die Künstler Rogier van der Weyden (1439), Hans Sebald Beham (1537), Noël-Nicolas Coypel (1699), Noël Hallé (1765) und Eugène Delacroix (1840) Bezug. Noch bei der Ausgestaltung der Eingangshalle des Supreme Courts in Washington in den 1930er-Jahren soll die Darstellung Trajans als Verkörperung der Gerechtigkeit gewählt worden sein. Trajan in der Forschung Bedeutende Arbeiten übernahmen die Beurteilung Trajans als idealen Herrscher. Edward Gibbon ließ sich vom Anblick der Ruinen des antiken Rom dazu inspirieren, in seinem Hauptwerk The History of the Decline and Fall of the Roman Empire (1776) die Geschichte des Untergangs des römischen Reiches zu schreiben, für den er das Christentum als Hauptursache ausmachte. Noch unter dem Eindruck der Aufklärung stehend, galten ihm die Regierungszeiten der Adoptivkaiser, jener Five Good Emperors, unter denen Trajan eine herausragende Stellung einnahm, als die vorbildlichsten der Menschheitsgeschichte bis zu seinem Tag: Das positive Bild Trajans war für Gibbon bestimmend für die günstige Einschätzung des zweiten Jahrhunderts als einer glücklichen Zeit. Gibbons Werk übte auf das moderne Geschichtsbild der römischen Kaiserzeit erheblichen Einfluss aus. Ein scharfes Urteil fällte hingegen 1883 Theodor Mommsen. Demnach hat Trajan bewusst den Krieg mit den Parthern gesucht und beabsichtigt, „in maßloser, grenzenloser Eroberungslust nicht nur das Euphrat-, sondern auch das Tigrisgebiet in seine Gewalt zu bringen“. Doch blieb bis in die 1950er Jahre das Urteil über Trajan durchweg positiv, was der Kaiser insbesondere dem Vergleich mit Domitian verdankt. In dem umfassenden Werk Roberto Paribenis von 1927 wird Trajan zur einzigartigen Figur unter den römischen Principes, seine Regierung zum Höhepunkt des Reichs auf allen Gebieten, das saeculum Traiani zum glücklichsten Roms. Paribenis Arbeit, die das Bild des optimus princeps übernommen und verfestigt hatte, prägte die weitere Forschung für Jahrzehnte. So pries Alfred Heuß in seiner Römischen Geschichte Trajan als „eine der großen Herrschergestalten“ und als „die ideale Verkörperung des humanen Kaiserbegriffs“. Noch in dem rund 50 Jahre später erschienenen Werk von Eugen Cizek ist Paribenis Einfluss spürbar. Cizek stellt Trajan unter den römischen Principes als einzigartig dar, die Zeit Trajans sei die glücklichste Roms gewesen. In den 1960er Jahren setzte, ausgehend von einer Revision des Domitianbildes, durch Beiträge von K. H. Waters über die Kaiser Domitian und Trajan eine Gegenströmung ein. In der modernen Forschung wurden seit Paribenis zweibändiger Monografie vergleichsweise wenige monographische Untersuchungen zu Trajan geschrieben. Doch fanden in diversen Monografien besondere Schwerpunkte oder Thematiken dieses Kaiserlebens Berücksichtigung, wie die nicht-literarischen Dokumente von Mary Smallwood (1966), die Frauen an Trajans Hof von Hildegard Temporini-Gräfin Vitzthum (1978) oder die Dakerkriege von Karl Strobel (1984). In jüngerer Zeit versuchte Martin Fell anhand des panegyrischen Materials und der wenigen Angaben aus historischen Werken nachzuweisen, dass sich für Trajan ein wirkliches Regierungsprogramm herausarbeiten lässt. Die Studie stellte das von Plinius propagierte Ideal eines Princeps heraus, um danach die Übereinstimmung dieses Anspruchs mit der Wirklichkeit zu prüfen. Fell stellte fest, dass Trajan in der Tat der optimus princeps gewesen sei. Auch Julian Bennett (1997) gelangte zu einem insgesamt sehr positiven Urteil über die Herrschaft Trajans sowohl nach innen – Senat, Volk von Rom und Italien – wie auch nach außen – Provinzen und Grenzsicherung. Gunnar Seelentag (2004) untersuchte in seiner Studie die Herrschaftsdarstellung Trajans und zwar ausgehend von der herrscherlichen Imago, die sich in der Kommunikation mit Heer, Senat und plebs urbana konstituiere. In Anlehnung an Egon Flaig (Den Kaiser herausfordern) deutet Seelentag den Prinzipat als „Akzeptanzsystem“, innerhalb dessen der Konsens aller an der Kommunikation beteiligten politisch relevanten Gruppen – Senat, Heer und plebs urbana – die Anerkennung und Durchsetzung der Herrschaftsordnung vollzog. In der ersten Gesamtdarstellung Trajans in deutscher Sprache ist für Karl Strobel (2010) Trajan nicht der optimus princeps, als der er in der antiken Überlieferung im Gegensatz zum pessimus princeps Domitian erscheint. Strobel entwirft von Trajan das kritische Bild eines autokratischen, nach sakraler Überhöhung strebenden Herrschers. Trajan habe so den von Domitian begonnenen Weg einer auf sakraler Erhöhung des Princeps basierenden Herrschaftskonzeption fortgesetzt. Quellen Cassius Dio: Römische Geschichte. Buch 68 (nur in Auszügen erhalten; englische Übersetzung).Deutsche Übersetzung: Römische Geschichte. Bd. 5. Epitome der Bücher 61–80. Übersetzt von Otto Veh. Artemis und Winkler, Düsseldorf 2007, ISBN 978-3-538-03109-8. Juvenal: Satiren (lateinischer Text).Deutsche Übersetzung: Satiren. Lateinisch-deutsch. Herausgegeben, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Joachim Adamietz. Artemis und Winkler, Düsseldorf 1993, ISBN 3-7608-1671-1. Plinius der Jüngere: Panegyricus (lateinischer Text).Deutsche Übersetzung: Panegyrikus: Lobrede auf den Kaiser Trajan. Herausgegeben, eingeleitet und übersetzt von Werner Kühn. 2. Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2008, ISBN 978-3-534-20997-2. Plinius der Jüngere: Epistulae (lateinischer Text).Deutsche Übersetzung: Briefe. Lateinisch-deutsch. Herausgegeben von Helmut Kasten. 7. Auflage. Artemis und Winkler, Zürich 1995, ISBN 3-7608-1577-4. Literatur Julian Bennett: Trajan. Optimus Princeps. A Life And Times. 2. Auflage. Routledge, London 2001, ISBN 0-415-16524-5. (Studie, die anhand von Trajans Leben auch in die politischen Strukturen der Zeit einführt und die zeitgenössischen Quellen behandelt, allerdings wegen ihrer zahlreichen sachlichen Fehler nur bedingt verlässlich ist.) Werner Eck: Trajan. 98–117. In: Manfred Clauss (Hrsg.): Die römischen Kaiser. 4., aktualisierte Auflage, C. H. Beck, München 2010, ISBN 978-3-406-60911-4, S. 110–124. Werner Eck: An Emperor is Made. Senatorial Politics and Trajan’s Adoption by Nerva in 97. In: Gillian Clark, Tessa Rajak (Hrsg.): Philosophy and Power in the Graeco-Roman World. Oxford University Press, Oxford 2002, S. 211–226. Miriam Griffin: Trajan. In: Alan K. Bowman, Peter Garnsey und Dominic Rathbone (Hrsg.): The Cambridge Ancient History 11. The High Empire, A. D. 70–192. Cambridge University Press, Cambridge 2000, ISBN 0-521-26335-2, S. 96–131. (Rezension) Martin Fell: Optimus princeps? Anspruch und Wirklichkeit der imperialen Programmatik Kaiser Traians. 2. Auflage. Tuduv, München 2001, ISBN 3-88073-586-7. Nicholas Jackson: Trajan. Rome's last conquerer. Greenhill, Barnsley 2022, ISBN 978-178438707-5. Frank A. Lepper: Trajan’s Parthian war. Oxford University Press, Oxford 1948, Nachdruck Ares, Chicago 1993, ISBN 0-89005-530-0. Annette Nünnerich-Asmus (Hrsg.): Traian. Ein Kaiser der Superlative am Beginn einer Umbruchzeit?. Philipp von Zabern, Mainz 2002, ISBN 3-8053-2780-3 (Rezension). Christian Ronning: Herrscherpanegyrik unter Trajan und Konstantin. Studien zur symbolischen Kommunikation in der römischen Kaiserzeit (= Studien und Texte zu Antike und Christentum. Band 42). Mohr Siebeck, Tübingen 2007, ISBN 3-16-149212-9. (Rezension) Egon Schallmayer (Hrsg.): Traian in Germanien, Traian im Reich. Bericht des Dritten Saalburgkolloquiums (Saalburg-Schriften. Band 5). Saalburgmuseum, Bad Homburg v. H. 1999, ISBN 3-931267-04-0. Gunnar Seelentag: Taten und Tugenden Traians. Herrschaftsdarstellung im Principat. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2004, ISBN 3-515-08539-4 (ausgezeichnet mit dem Bruno-Snell-Preis) (Rezension (engl.)). Karl Strobel: Untersuchungen zu den Dakerkriegen Trajans. Studien zur Geschichte des mittleren und unteren Donauraumes in der Hohen Kaiserzeit (Antiquitas. Reihe 1, Band 33). Habelt, Bonn 1984, ISBN 3-7749-2021-4. Karl Strobel: Kaiser Traian. Eine Epoche der Weltgeschichte. 2., überarbeitete, aktualisierte und erweiterte Auflage. Pustet, Regensburg 2019, ISBN 3-7917-2907-1 ( Rezension der Ausgabe von 2010 von Jan Gering in Frankfurter elektronische Rundschau zur Altertumskunde 15, 2011; PDF; 141 kB). Bernhard Woytek: Die Reichsprägung des Kaisers Traianus (98–117) (= Veröffentlichungen der Numismatischen Kommission. Band 48 = Denkschriften der philosophisch-Historische Klasse. Band 387). 2 Bände, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 2010, ISBN 978-3-7001-6565-1 (Standardwerk zur Münzprägung Traians aus der Münzstätte Rom). Weblinks Anmerkungen Kaiser (Rom) Augur Geboren 53 Gestorben 117 Mann Herrscher (1. Jahrhundert) Herrscher (2. Jahrhundert) Statthalter (Obergermanien) Pontifex
8193
https://de.wikipedia.org/wiki/Bundespr%C3%A4sident%20%28Deutschland%29
Bundespräsident (Deutschland)
Der Bundespräsident (Abkürzung BPr, auch BPräs) ist das Staatsoberhaupt der Bundesrepublik Deutschland. Seine Rolle im politischen System des Staates liegt meist jenseits der Tagespolitik. Auch wenn es keine verfassungsrechtliche Vorschrift gibt, die dem Bundespräsidenten tagespolitische Stellungnahmen verbietet, hält sich das Staatsoberhaupt mit solchen traditionell zurück. Die Regierungsarbeit wird in Deutschland vom Bundeskanzler und dem Bundeskabinett geleistet. Gleichwohl beinhaltet das Amt des Bundespräsidenten das Recht und die Pflicht zum politischen Handeln und ist nicht auf rein repräsentative Aufgaben beschränkt. Die Funktionen des Amtes sind durch das Grundgesetz (Art. 54–61) definiert. Wie der Bundespräsident diese Aufgaben wahrnimmt, entscheidet er grundsätzlich autonom; ihm kommt diesbezüglich ein weiter Gestaltungsspielraum zu, auch bezüglich seiner Meinungsäußerungen. Neben der völkerrechtlichen Vertretung des Bundes und zahlreichen formal und protokollarisch bedeutenden Aufgaben besitzt der Bundespräsident wichtige Reservevollmachten, die ihm besonders in Krisenzeiten staatspolitische Aufgaben von großer Tragweite zuweisen, etwa im Rahmen des Gesetzgebungsnotstands, bei der Wahl des Bundeskanzlers, bei der Entscheidung über eine Auflösung des Deutschen Bundestages im Falle einer vom Bundeskanzler verlorenen Vertrauensfrage und bei der Wahl einer Minderheitsregierung. Außerdem erlangt ein Bundesgesetz erst dadurch Rechtskraft, dass der Bundespräsident es unterzeichnet. Innerhalb des politischen Systems kann der Bundespräsident keiner der drei klassischen Gewalten zugeordnet werden, er verkörpert als Staatsoberhaupt die „Einheit des Staates“. Er wird deswegen auch als eine „Gewalt sui generis“ angesehen. Nach Art. 55 des Grundgesetzes darf er weder der Regierung noch gesetzgebenden Körperschaften des Bundes oder eines Landes angehören. Er darf ferner kein weiteres besoldetes Amt, kein Gewerbe und keinen Beruf ausüben. Auch ein gewerbliches Unternehmen darf er nicht führen. Deshalb kann er als „neutrale Kraft“ (pouvoir neutre) bezeichnet werden. Der Bundespräsident wirkt im Alltag neben der Wahrnehmung der ihm durch die Verfassung zugewiesenen politischen Befugnisse kraft seines Amtes auch repräsentativ, sinnstiftend und integrativ. Um der Überparteilichkeit des Amtes zu entsprechen, haben traditionell alle Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland eine bestehende Parteimitgliedschaft ruhen zu lassen. Der Bundespräsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren von der Bundesversammlung gewählt. Eine anschließende Wiederwahl ist nur einmal zulässig. Eine spätere Wiederwahl ist, auch nach zwei absolvierten Amtszeiten, theoretisch nicht ausgeschlossen, sofern zwischenzeitlich ein anderer Bundespräsident im Amt war, gilt in der politischen Praxis jedoch als . Die Amtssitze des Bundespräsidenten sind das Schloss Bellevue in der Bundeshauptstadt Berlin und die Villa Hammerschmidt in der Bundesstadt Bonn. In der Ausübung seiner Aufgaben unterstützt ihn das Bundespräsidialamt. Zwölfter Amtsinhaber ist seit dem 19. März 2017 Frank-Walter Steinmeier. Er wurde am 12. Februar 2017 für eine erste Amtszeit bis einschließlich 18. März 2022 und am 13. Februar 2022 für eine weitere bis einschließlich 18. März 2027 gewählt. Geschichtliche Hintergründe Vom Deutschen Bund zum modernen Bundesstaat Das erste moderne Staatsoberhaupt für ganz Deutschland war Reichsverweser Erzherzog Johann von Österreich. Die Frankfurter Nationalversammlung wählte ihn am 29. Juni 1848. Am 12. Juli übertrug der Bundestag des Deutschen Bundes ihm seine Befugnisse. Trotz der Niederschlagung der Revolution 1849 haben die Staaten die Legalität und Legitimität seines Amtes nie angezweifelt. Zum 20. Dezember 1849 übertrug er die Geschäfte einer Bundeszentralkommission, die bis zur Wiederherstellung des alten Bundestags amtierte. Der Deutsche Bund selbst, vor und nach der Revolutionszeit, hatte hingegen kein Oberhaupt, sondern nur den Bundestag als oberstes Organ. Im Norddeutschen Bund von 1867 (seit 1871 unter dem Namen „Deutsches Reich“) war der König von Preußen das Staatsoberhaupt, mit der Bezeichnung Bundespräsidium. Den republikanisch klingenden Ausdruck „Bundespräsident“ hatte man absichtlich vermieden. Mit der neuen Verfassung vom 1. Januar 1871 erhielt der König zusätzlich den Titel „Deutscher Kaiser“. Das Amt auf Bundesebene war verfassungsmäßig stets an das des preußischen Königs gebunden, so dass die preußische Erbfolge automatisch auch für die Nachfolge im Kaiseramt galt. Die übrigen Staaten in Deutschland wie Bayern oder Baden behielten ihre Fürsten. Der monarchische Bundesstaat endete mit der Novemberrevolution 1918, auf welche die Weimarer Nationalversammlung folgte. Sie wählte schon am 11. Februar 1919 Friedrich Ebert zum Reichspräsidenten, der im Sommer 1919 mit der Weimarer Verfassung bestätigt wurde. Nach Ebert war Paul von Hindenburg 1925–1934 Reichspräsident, er verstarb im Amt. Hindenburg hatte im Januar 1933 den „Führer“ der NSDAP zum Reichskanzler ernannt, Adolf Hitler. Mit Hindenburgs Unterstützung machten die Nationalsozialisten aus Deutschland eine totalitäre Diktatur. Nach Hindenburgs Tod ließ sich Hitler, per fingierter Volksabstimmung, die Befugnisse des Reichspräsidenten übertragen. In seinem politischen Testament 1945 bestimmte Hitler Karl Dönitz zum Reichspräsidenten. Dönitz und seine Regierungsmitglieder wurden am 23. Mai 1945 im Sonderbereich Mürwik verhaftet und am 9. Juni 1945 von den vier Siegermächten für abgesetzt erklärt. Vom Reichspräsidenten zum Bundespräsidenten Im August 1948 trafen sich Juristen in Bayern. Die westdeutschen Ministerpräsidenten hatten diesem „Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee“ die Aufgabe erteilt, einen Entwurf für einen provisorischen westdeutschen Staat zu erarbeiten. Nicht offiziell, aber de facto wurde dieser Entwurf die Beratungsgrundlage für den Parlamentarischen Rat (1948/1949). Die Experten waren sich nicht einig geworden, ob der neue Staat wieder eine Einzelperson als Staatsoberhaupt haben sollte. Eine Minderheit im Unterausschuss III wollte stattdessen ein „Bundespräsidium“ sehen, das aus dem Bundeskanzler sowie den Präsidenten von Bundestag und Bundesrat bestehen sollte. Man begründete dies mit dem nur provisorischen Charakter des neuen Staates. Der Parlamentarische Rat, der das Grundgesetz ausarbeitete, folgte dem Vorschlag der Mehrheit, zwar einen Bundespräsidenten vorzusehen, diesem aber relativ wenig Macht mitzugeben. Dies gilt allgemein als eine Reaktion auf die Erfahrungen mit dem Amt des Reichspräsidenten. Geschaut wurde auf das Notverordnungsrecht, das Recht des Reichspräsidenten, im Notfall mit präsidentiellen Erlassen am gewählten Parlament vorbei zu regieren, und das Recht des Reichspräsidenten, die Regierungsmitglieder in eigener politischer Entscheidung zu ernennen. Man hielt dies für mitursächlich für die politische Krise der Weimarer Republik ab 1930 mit den Präsidialkabinetten unter den Reichskanzlern Heinrich Brüning, Franz von Papen und Kurt von Schleicher und schließlich das Abgleiten in die Diktatur unter Hitler. Die SPD-Fraktion sprach sich deshalb und auch angesichts der damals fehlenden Souveränität des deutschen Staates dafür aus, auf die Einrichtung des Amtes eines Bundespräsidenten bis zur Wiederherstellung der deutschen Souveränität zu verzichten und dessen Funktionen vom Präsidenten des Bundestags wahrnehmen zu lassen. Allerdings ermöglichte das Notverordnungsrecht der Weimarer Reichsverfassung nicht zwangsläufig den Weg in die Präsidialdiktatur: In Art. 48 WRV war die Einrichtung eines noch zu beschließenden Ausführungsgesetzes vorgesehen, das die präsidialen Vollmachten erheblich konkretisieren und einschränken sowie einem möglichen Missbrauch Einhalt hätte gebieten können. Im Weiteren wurde auch die heute weggefallene allgemeine Befugnis des Präsidenten, das Parlament aufzulösen, in der Endphase der Weimarer Republik missbraucht. Noch während der Amtszeit Friedrich Eberts waren die umfangreichen Rechte in einer überwiegend als positiv bezeichneten Weise ausgeübt worden – das Scheitern der jungen Republik war also auch auf eine ungenügende Kontrolle der Verfassungseinhaltung zurückzuführen. Die Wegnahme der beiden wichtigen Rechte war schließlich eine deutliche Entmachtung des Präsidentenamts. Die Wahl und Absetzung des Bundeskanzlers liegt heute fast ausschließlich in der Hand des Bundestages. Stellung des Bundespräsidenten im Grundgesetz Die geringe machtpolitische Ausstattung des Amtes des Bundespräsidenten im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland gilt allgemein als eine Reaktion auf die Erfahrungen mit dem Amt des Reichspräsidenten in der Weimarer Republik. Während der Beratungen des Parlamentarischen Rates herrschte weitgehender Konsens aller Beteiligten, dass dem Präsidenten nicht wieder eine solch überragende Stellung im politischen System zukommen sollte wie seinerzeit dem Reichspräsidenten (insbesondere Paul von Hindenburg). Parallel zu dieser Schmälerung seiner Befugnisse wurde auch der Wahlmodus für den Präsidenten verändert: Wurde der Reichspräsident noch vom Volk direkt gewählt (1925 und 1932), so wird der Bundespräsident von der nur für diesen Zweck zusammentretenden Bundesversammlung gewählt. Hierdurch wurde die demokratische Legitimation des Bundespräsidenten indirekter: Er ist nicht mehr unmittelbar vom Souverän gewähltes Organ der politischen Staatsführung. Die Ablehnung einer Direktwahl des Bundespräsidenten wird auch damit begründet, dass sonst ein Missverhältnis zwischen starker demokratischer Legitimation (er wäre dann neben dem Bundestag das einzige direkt gewählte Verfassungsorgan des Bundes, zudem das einzige, das aus einer Person besteht) und geringer politischer Macht einträte. Aufgaben und Befugnisse Reichspräsident Friedrich Ebert hat sich selbst als „Hüter der Verfassung“ bezeichnet. Unter diesem Ausdruck wurden verschiedentlich Erwartungen an das Amt herangetragen, unter anderem von Carl Schmitt, demzufolge der Reichspräsident aktiv die Rechtsordnung verteidigen solle. In der Bundesrepublik wurde die Bezeichnung für den Bundespräsidenten weitgehend abgelehnt. Allenfalls dem Bundesverfassungsgericht gesteht man eine derartige Rolle zu. Weiterhin gibt es Stimmen, die im Bundespräsidenten eine „pouvoir neutre“ sehen wollen, die über den Parteien steht. Ebenso wie „Hüter der Verfassung“ verkennt diese Bezeichnung, dass der Bundespräsident zwar parteipolitisch, aber nicht staatspolitisch neutral ist. Die häufige Auffassung, der Bundespräsident sei der oberste Notar oder Staatsnotar der Bundesrepublik, wertet das Amt eher ab und verkennt seine Funktionen. Vielmehr hat der Bundespräsident rechts- und verfassungswahrende Kontrollfunktionen sowie, (großteils) nicht im Grundgesetz ausdrücklich erwähnt, Repräsentations- und Integrationsfunktionen. Durch seine Handlungen und sein öffentliches Auftreten mache der Bundespräsident „den Staat selbst sichtbar“, er „repräsentiert die Existenz, Legitimität, Legalität und Einheit des Staates“. Der Bundespräsident hat in seiner Funktion als Staatsoberhaupt unter anderem folgende Aufgaben und Kompetenzen: Er vertritt den Bund völkerrechtlich. Er beglaubigt diplomatische Vertreter. Er hat auf Bundesebene das Begnadigungsrecht, welches er allerdings teilweise an andere Bundeseinrichtungen delegiert hat; er kann aber keine Amnestie aussprechen. Er fertigt Bundesgesetze durch seine Unterschrift aus und lässt sie durch Bekanntmachung im Bundesgesetzblatt verkünden. Er schlägt dem Deutschen Bundestag einen Kandidaten als Bundeskanzler zur Wahl vor, ernennt und entlässt ihn. Auf Vorschlag des Bundeskanzlers ernennt und entlässt er Bundesminister. Er ernennt und entlässt Bundesrichter, Bundesbeamte, Offiziere und Unteroffiziere, sofern nichts anderes durch Anordnungen und Verfügungen bestimmt ist. Nach dreimalig gescheiterter Kanzlerwahl oder nach einer gescheiterten Vertrauensfrage hat er die Entscheidung zur Auflösung des Deutschen Bundestages. Er verkündet, dass der Verteidigungsfall festgestellt worden und eingetreten ist, und er gibt völkerrechtliche Erklärungen ab, wenn ein Angriff erfolgt; der Bundespräsident hat insofern allein die Funktion der Kriegserklärung. Er beruft den Bundestag (abweichend von den Parlamentsbeschlüssen) und die Parteienfinanzierungskommission nach dem Parteiengesetz ein. Er veranlasst Staatsakte aus wichtigem Anlass und ordnet die Staatssymbole an. Er genehmigt die Geschäftsordnung der Bundesregierung. Viele Tätigkeiten werden der Funktion des Bundespräsidenten als Staatsnotar zugeordnet. Im Normalfall bedürfen in der deutschen Verfassungswirklichkeit Anordnungen und Verfügungen des Bundespräsidenten nach des Grundgesetzes der Gegenzeichnung durch ein Mitglied der Bundesregierung, womit nach herrschender Meinung grundsätzlich alle amtlichen und politisch bedeutsamen Handlungen und Erklärungen gemeint sind. Dies bedeutet, der Bundespräsident kann keine Dekrete oder Erlasse gegen den Willen der Regierung erlassen und somit nicht an der Bundesregierung vorbei eigene politische Inhalte durchsetzen. In bestimmten krisenhaften, im Grundgesetz klar definierten Situationen jedoch, in denen die Handlungsfähigkeit der Bundesregierung beeinträchtigt ist, wachsen dem Bundespräsidenten besondere Befugnisse zu, deren Ausübung teilweise nicht gegenzeichnungsbedürftig ist. Man spricht in dieser Hinsicht auch von machtpolitischen „Reservefunktionen“ des Bundespräsidenten. Völkerrechtliche Vertretung und außenpolitisches Engagement Der Bundespräsident vertritt völkerrechtlich die Bundesrepublik Deutschland. Er beglaubigt deutsche Vertreter (in der Regel durch Akkreditierungsbrief) und empfängt und bestätigt Vertreter Internationaler Organisationen und ausländischer Staaten in Deutschland durch Entgegennahme ihrer Akkreditierung. Voraussetzung dafür ist die Zustimmung der Bundesregierung. Für den Abschluss völkerrechtlicher Verträge stellt der Bundespräsident deutschen Vertretern die erforderliche Vollmacht aus, und wenn diese unterzeichnet sind, verkündet er das Zustimmungs- und Transformationsgesetz und fertigt die Ratifikationsurkunde aus. Damit erklärt die Bundesrepublik im Außenverhältnis, den Vertrag für verbindlich und wirksam anzusehen. Die politische und materielle Entscheidung hierzu treffen allerdings die Bundesregierung und der Bundestag. Der Bundespräsident unternimmt Staatsbesuche. Aus der zeitlichen Abfolge der besuchten Staaten lesen einige Beobachter einen Hinweis darauf ab, welche außenpolitischen Akzente der jeweilige Präsident voraussichtlich setzen möchte. Waren es anfangs häufig Frankreich und andere westliche Nachbarländer, so ist etwa Bundespräsident Köhler von dieser Regel abgewichen, indem er den ersten offiziellen Staatsbesuch seinem Geburtsland Polen, Deutschlands östlichem Nachbarn, abstattete. Bundeswehr und Verteidigungsfall Im Gegensatz zum Reichspräsidenten und der Reichswehr stehen die Streitkräfte des Bundes (Bundeswehr) nicht in einer Jurisdiktion des Bundespräsidenten; die Gefahr eines Staats im Staate war deswegen nie gegeben. Die Befehls- und Kommandogewalt über die Bundeswehr liegt in Friedenszeiten beim Bundesverteidigungsminister. Weder der Bundespräsident noch der Bundeskanzler sind demnach in Friedenszeiten der Oberbefehlshaber der Bundeswehr. Allerdings geht die Befehls- und Kommandogewalt im Verteidigungsfall auf den Bundeskanzler über. Die Feststellung des Verteidigungsfalls, die auf Antrag der Bundesregierung durch den Bundestag bei Zustimmung des Bundesrates erfolgt, bedarf der Verkündung durch den Bundespräsidenten im Bundesgesetzblatt ( Abs. 3 S. 1 GG). Sobald der Verteidigungsfall verkündet ist, kann der Bundespräsident mit Zustimmung des Bundestages völkerrechtliche Erklärungen über das Bestehen des Verteidigungsfalls abgeben. Ernennung und Entlassung der Mitglieder der Bundesregierung Bundeskanzler Der Bundespräsident schlägt nach GG dem Bundestag einen Kandidaten für die Wahl zum Bundeskanzler vor. Rechtlich ist der Bundespräsident in seiner Entscheidung frei. Üblicherweise wird jedoch der Kandidat vorgeschlagen, der aufgrund der Stärke seiner Fraktion bzw. einer bestehenden oder sich bildenden Koalition mit der im ersten Wahlgang erforderlichen Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages rechnen kann. Sollte der Vorschlag im Bundestag keine absolute Mehrheit finden (was bisher noch nie geschehen ist, siehe Abstimmungen über den deutschen Bundeskanzler), so kann der Bundestag mit absoluter Mehrheit binnen vierzehn Tagen einen Bundeskanzler wählen, ohne dass dafür ein Vorschlag des Bundespräsidenten erforderlich ist. Gelingt dies nicht, so findet unverzüglich ein neuer Wahlgang statt, in dem gewählt ist, wer die meisten Stimmen erhält. Erreicht der Gewählte die absolute Mehrheit, so muss der Bundespräsident ihn ernennen. Erreicht der Gewählte nur die einfache Mehrheit, so hat der Bundespräsident binnen sieben Tagen entweder ihn zu ernennen oder den Bundestag aufzulösen. Stellvertreter des Bundeskanzlers (Vizekanzler) Ausschließlich Sache des Bundeskanzlers ist nach Abs. 1 GG die Auswahl und Ernennung eines Bundesministers zu seinem Stellvertreter, der in der Umgangssprache auch als Vizekanzler bezeichnet wird. Der Bundespräsident wirkt hieran nicht mit. Mitglieder der Bundesregierung Der Bundespräsident ernennt die vom Bundeskanzler Vorgeschlagenen zu Bundesministern. Inwieweit der Bundespräsident dabei personelle Auswahlkompetenzen besitzt, ist im Grundgesetz nicht geregelt. In der traditionell gelebten Verfassungsrealität hat der Bundespräsident ein formales Prüfungsrecht, also bspw. bezüglich der Frage, ob der Vorgeschlagene den formalen Anforderungen des Amtes entspricht (bspw. ob er Deutscher ist, das Mindestalter erfüllt etc.). Ein weitergehendes materielles oder personelles Prüfungsrecht ist zwar im Grundgesetz keineswegs ausgeschlossen, hat sich aber in der Verfassungswirklichkeit nicht entwickelt. Die heutige Tradition, dass sich der Bundespräsident in die Personalpolitik des Bundeskanzlers nicht einmischt, geht zurück auf ein diesbezügliches Ansinnen von Theodor Heuss, der sich vor der Ernennung der Minister des ersten Kabinetts Adenauer eine Ministerliste vorlegen lassen wollte. Adenauer wies diese Forderung jedoch zurück, Heuss gab nach und etablierte so die seither geübte Vorgehensweise, die auch bei der Entlassung eines Ministers oder Kabinetts angewendet wird. Rücktritte und geschäftsführende Amtsführung Der Bundespräsident kann einen Rücktritt des Bundeskanzlers nicht ablehnen; er muss den Kanzler in diesem Fall entlassen. Er muss auch im Falle des erfolgreichen Misstrauensvotums den bisherigen Amtsinhaber entlassen und den neu Gewählten ernennen. Der Bundespräsident kann nach Abs. 3 des Grundgesetzes einen entlassenen Bundeskanzler oder Bundesminister ersuchen, die Amtsgeschäfte bis zur Wahl eines Nachfolgers weiterzuführen. Er hat dies in aller Regel so gehandhabt. Einzige bedeutende Ausnahme bei einem Bundeskanzler war die Entlassung von Willy Brandt nach dessen Rücktritt 1974. Hier hatte Brandt darum gebeten, nicht mit der Weiterführung der Amtsgeschäfte betraut zu werden. Bundespräsident Gustav Heinemann entsprach diesem Wunsch; somit amtierte der soeben entlassene Vizekanzler Walter Scheel für einige Tage als Bundeskanzler. Arbeitsbeziehungen zur Bundesregierung Der Bundespräsident selber nimmt nicht an den Kabinettssitzungen der Bundesregierung teil. Am Kabinettstisch sowie im Bundessicherheitsrat ist der Bundespräsident und sein Amt in der Person der Leiterin des Bundespräsidialamtes repräsentiert. Jedoch empfängt der Bundespräsident in regelmäßigen Abständen den Bundeskanzler, einzelne Minister oder das gesamte Kabinett zu vertraulichen Konsultationen und Empfängen. Der Bundeskanzler informiert den Bundespräsidenten ferner über die laufenden Regierungsgeschäfte durch Übersendung der wesentlichen Unterlagen sowie durch schriftliche und persönliche Berichte über Angelegenheiten von Bedeutung. Auf Auslandsreisen wird der Bundespräsident oft von Fachministern und Staatssekretären der Bundesregierung begleitet. Auch pflegt das Bundespräsidialamt Arbeitsbeziehungen mit dem Bundeskanzleramt und den einzelnen Ministerien. Unterzeichnung und Prüfung von Gesetzen Jedes Parlamentsgesetz bedarf zu seinem Inkrafttreten der Ausfertigung durch den Bundespräsidenten nach Abs. 1 Satz 1 GG. Die Bundespräsidenten haben bisher neun Mal, jedes Mal unter großer öffentlicher Beachtung, Bundesgesetze nicht „ausgefertigt“, das heißt nicht unterzeichnet. In einigen Fällen monierte der Bundespräsident Fehler im Gesetzgebungsverfahren, in anderen materielle Verstöße gegen das Grundgesetz. Heuss unterschrieb 1951 das Gesetz über die Verwaltung der Einkommen- und Körperschaftsteuer aus rein formalen Gründen nicht, weil keine Zustimmung des Bundesrats vorlag. Im Oktober 1961 verweigerte sein Nachfolger Heinrich Lübke dem Gesetz gegen den Betriebs- und Belegschaftshandel seine Unterschrift. Er sah darin einen unzulässigen Eingriff in die Berufsfreiheit ( Abs. 1 GG). Zweimal zeigte Heinemann dem Gesetzgeber seine Grenzen auf: Sowohl für das Ingenieurgesetz (1969) als auch für das Architektengesetz (1970) sah er keine Gesetzgebungskompetenz des Bundes gegeben. Das „Gesetz zur Erleichterung der Wehrdienstverweigerung“ wurde 1976 von Scheel gestoppt, der die Zustimmung des Bundesrats vermisste. Bundespräsident von Weizsäcker hielt 1991 das „10. Gesetz zur Änderung des Luftverkehrsgesetzes“, welches die formale Privatisierung der Luftverkehrsverwaltung vorsah, für materiell verfassungswidrig und unterzeichnete es nicht. Dies führte zur Einfügung des Abs. 1 Satz 2 in das Grundgesetz, der es dem Gesetzgeber freistellte, ob er die Luftverkehrsverwaltung in öffentlich-rechtlicher oder in privatrechtlicher Weise gestaltet. Daraufhin wurde das Gesetz erneut beschlossen und schließlich durch von Weizsäcker unterzeichnet. Horst Köhler unterschrieb im Oktober 2006 das Gesetz zur Neuregelung der Flugsicherung wegen Unvereinbarkeit mit Art. 87d Abs. 1 GG nicht. Im Dezember 2006 wies er das Verbraucherinformationsgesetz zurück, da es aus seiner Sicht im Widerspruch zu Abs. 1 Satz 7 GG stand, der es dem Bund verbietet, per Gesetz den Gemeinden Aufgaben zu übertragen. Nach mehrwöchiger Prüfung entschied Frank-Walter Steinmeier im Herbst 2020, dass er das Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität nicht unterzeichnen werde. In neun Fällen unterzeichneten Bundespräsidenten zwar Gesetze, verbanden dies jedoch mit einer öffentlichen Erklärung über verfassungsmäßige Bedenken. So verhielten sich u. a. Carstens beim Staatshaftungsgesetz 1981, von Weizsäcker bei der Neuregelung der Parteienfinanzierung 1994, Herzog beim Atomgesetz 1994, Rau beim Zuwanderungsgesetz 2002, Köhler beim Luftsicherheitsgesetz 2006 und Steinmeier beim Gesetz zur Herstellung materieller Gerechtigkeit 2021. Formelle Prüfungskompetenz Der Bundespräsident hat bei der Unterzeichnung von Gesetzen ein formelles Prüfungsrecht, ob diese verfassungsgemäß zustande gekommen sind. Teile der Rechtswissenschaft sehen dies sogar als Prüfungspflicht. Zwar gab es früher in der Politikwissenschaft unterschiedliche Auffassungen, wie weit das formelle Prüfungsrecht des Bundespräsidenten reicht. In der aktuellen Praxis und im öffentlichen Selbstverständnis des Bundespräsidialamtes umfasst die formelle Prüfungskompetenz jedoch das ganze Gesetzgebungsverfahren. Die Vertreter der weitestgehenden formellen Prüfungskompetenz wollen auch die Überprüfung der Verwaltungszuständigkeiten vom formellen Prüfungsrecht des Bundespräsidenten erfasst sehen, dies führt beispielsweise dazu, dass der Bundespräsident im Rahmen seiner formellen Prüfungskompetenz auch das Verbot der Aufgabenübertragung des Bundes an Gemeinden und Gemeindeverbände ( Abs. 1 Satz 2 GG) überprüfen darf. Materielle Prüfungskompetenz Bei der materiellen Prüfungskompetenz handelt es sich um die Möglichkeit des Bundespräsidenten, ein ihm zur Unterzeichnung vorgelegtes Gesetz auf seine inhaltliche Übereinstimmung mit dem Grundgesetz zu überprüfen und seine Unterzeichnung von seinem Prüfungsergebnis abhängig zu machen. Unterzeichnet der Bundespräsident nicht, tritt das Gesetz nicht in Kraft (→ Gesetzgebungsverfahren (Deutschland)). Die materielle Prüfungskompetenz des Bundespräsidenten gehört zur Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland. Das Instrument der Blockade eines Gesetzes über den Weg der materiellen Prüfungskompetenz wurde jedoch bislang von den amtierenden Bundespräsidenten stets nur zurückhaltend in seiner de facto Veto-Funktion eingesetzt (→ Liste nicht ausgefertigter Gesetze). In den Politik- und Rechtswissenschaften gibt es bezüglich des Umfangs der Prüfungskompetenz hinsichtlich des materiellen Rechts verschiedene Sichtweisen, in der offiziellen Darstellung des Amtes selbst ist dies jedoch unstrittig. Konsequenzen Wird ein Gesetz vom Bundespräsidenten nicht unterschrieben, so kommt es nicht zustande. Der Politik verbleiben als Möglichkeiten die (verfassungskonforme) Änderung des Gesetzes selbst, die Änderung des als verletzt beanstandeten Artikels des Grundgesetzes (mit Zweidrittelmehrheiten in Bundestag und Bundesrat, vgl. Abs. 2 GG), Organstreit vor dem Bundesverfassungsgericht mit dem Ziel, die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes und damit die Unrechtmäßigkeit der Verweigerung festzustellen und den Bundespräsidenten, was bisher noch nie erfolgt ist, vor dem Bundesverfassungsgericht anzuklagen, was zu dessen Amtsenthebung führen kann. Der Antrag auf Erhebung der Anklage muss dabei von mindestens einem Viertel der Mitglieder des Bundestages oder einem Viertel der Stimmen des Bundesrates gestellt werden, während die Anklage selbst von zwei Dritteln der Bundestags- oder Bundesratsmitglieder erhoben werden muss ( Abs. 1 GG). Einberufung des Parlaments und Zusammenwirken Gemäß Artikel 39 des Grundgesetzes kann der Bundespräsident jederzeit die Einberufung des Bundestags verlangen. Es ist zudem üblich, dass der Bundespräsident Bundestagsabgeordnete zu Gesprächen einlädt und das Präsidium des Bundestages sowie Parlamentsausschüsse zu Gesprächen empfängt. Durch derartige Begegnungen bekommt der Bundespräsident Informationen aus erster Hand und kann seinerseits Einfluss auf das politische Geschehen nehmen. Bisweilen nimmt der Bundespräsident selber an den Sitzungen des Bundestages teil, beteiligt sich jedoch üblicherweise nicht an den Debatten. Auflösung des Parlaments Dem Bundespräsidenten steht in klar definierten Situationen das verfassungsmäßige Recht zu, den Bundestag aufzulösen: Sollte bei der Wahl des Bundeskanzlers der vorgeschlagene Kandidat für dieses Amt im dritten Wahlgang nur eine relative Mehrheit erhalten, muss der Bundespräsident innerhalb einer Woche entweder diesen ernennen (Minderheitsregierung) oder den Bundestag auflösen ( Abs. 4 GG). Ebenso kann der Bundespräsident den Bundestag nach einer gescheiterten Vertrauensfrage auf Vorschlag des Bundeskanzlers auflösen ( GG). Dies geschah bisher dreimal: 1972 durch Gustav Heinemann 1983 durch Karl Carstens 2005 durch Horst Köhler Alle diese Auflösungen wurden von den jeweiligen Kanzlern bzw. Regierungsfraktionen bewusst herbeigeführt, um gewünschte Neuwahlen zu ermöglichen. Das Bundesverfassungsgericht kam in Entscheidungen zu diesen Fällen zu der Ansicht, dass der Bundespräsident zu prüfen hat, ob der Bundeskanzler tatsächlich nicht mehr das Vertrauen des Bundestages besitzt oder ob dieser die Auflösung missbräuchlich betreiben will. Gesetzgebungsnotstand Im Falle einer negativ ausgegangenen Vertrauensfrage des Bundeskanzlers im Bundestag ist der Bundespräsident auf Antrag der Bundesregierung und mit Zustimmung des Bundesrates befugt, aber nicht verpflichtet, den Gesetzgebungsnotstand nach GG zu erklären. Dieser Fall ist in der Geschichte der Bundesrepublik bisher noch nicht eingetreten. Staatssymbole und Staatsakte Der Bundespräsident ist berechtigt, die Nationalhymne, Flagge, Wappen, Uniformen, Dienstkleidung, die Amtstracht der Richter des Bundes (mit Ausnahme der Richter am Bundesverfassungsgericht) und deren Verwendung sowie Staatsakte und Staatsbegräbnisse anzuordnen, sofern jeweils nicht der Gesetzgeber wie etwa bei der Bundesflagge ( GG) tätig geworden ist. Diese Anordnungen müssen jeweils von einem Mitglied der Bundesregierung gegengezeichnet werden. Als Hoheitszeichen führt der Bundespräsident – in Fortsetzung der Tradition der Reichspräsidenten der Weimarer Republik – eine Standarte mit einer Abbildung des früheren Reichsadlers, heute Bundesadler genannt. Bei Trauerfeierlichkeiten für einen verstorbenen Bundespräsidenten wird als Sargdecke nach der Staatspraxis der Bundesrepublik die Bundesdienstflagge verwendet, und nicht etwa die Standarte wie für Reichspräsidenten in Weimarer Zeit. Die deutsche Nationalhymne wurde in Briefwechseln zwischen Bundespräsident Heuss und Bundeskanzler Adenauer 1952 beziehungsweise zwischen Bundespräsident von Weizsäcker und Bundeskanzler Kohl 1991 festgelegt. Die jeweilige Antwort der Bundeskanzler wird im Allgemeinen als Gegenzeichnung zur Verfügung des Bundespräsidenten interpretiert. Diese Deutung wird durch die Tatsache unterstützt, dass die Briefwechsel im Bundesgesetzblatt veröffentlicht wurden und dadurch einen quasi-offiziellen Charakter erhielten. Problematisch ist diese legere Praxis jedoch bei strafbewehrten Staatssymbolen unter dem Aspekt des Vorbehalts des Gesetzes. Diese Befugnisse haben keine Grundlage im Grundgesetz oder einem Bundesgesetz. Die Mehrheit der Staatsrechtslehrer begründet sie daher mit der traditionellen Definitionshoheit von Staatsoberhäuptern über Staatssymbole („Ehrenhoheit“). Karitatives Engagement Der Bundespräsident übernimmt eine Reihe von Schirmherrschaften über von ihm persönlich für sinnvoll erachtete Projekte, falls diese eine positive Wirkung für Deutschland entfalten. Auch wenn der Bundespräsident nicht an die Übernahme von Schirmherrschaften seiner Vorgänger gebunden ist, führt er etliche hiervon weiter, so die Schirmherrschaft über die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) und das Deutsche Rote Kreuz (DRK). Ebenso verleiht der Bundespräsident Preise, darunter den Deutschen Zukunftspreis, und gratuliert zu Jubiläen wie dem 65. Hochzeitstag oder dem 100. Geburtstag. Ebenfalls übernimmt er die Ehrenpatenschaft für das siebte Kind in einer Familie, wenn die Eltern dies wünschen. Reden Der Bundespräsident erzielt einen wesentlichen Teil seiner politischen Wirkung durch Reden, die gesellschaftliche Debatten aufgreifen oder anstoßen. Als Beispiele hierfür gelten die Weizsäcker-Rede anlässlich des 40. Jahrestages der Beendigung des Zweiten Weltkrieges 1985 und die so genannte „Ruck-Rede“ Roman Herzogs von 1997. Wie kein anderer Politiker ist der Präsident von der Tagespolitik unabhängig und kann so wesentlich freier Themen und Zeitpunkt seiner Äußerungen bestimmen. Parteipolitische Neutralität Im Grundgesetz ist eine etwaige parteipolitische Neutralität des Bundespräsidenten nicht festgeschrieben, jedoch ist eine eher überparteiliche Amtsführung Tradition. Daraus folgen laut Urteil des Bundesverfassungsgerichtes jedoch keine justiziablen Vorgaben für die Amtsausübung, so dass ein Amtsträger das Amt diesbezüglich auch anders führen könnte. Wahl des Bundespräsidenten Kandidatenauswahl Zum Bundespräsidenten kann gemäß Abs. 1 GG gewählt werden, wer deutscher Staatsangehöriger ist, das Wahlrecht zum Bundestag besitzt und mindestens 40 Jahre alt ist. Der bisher jüngste Bundespräsident, Christian Wulff, war bei seiner Wahl 51 Jahre alt. Vorschlagsberechtigt ist jedes Mitglied der Bundesversammlung, dem Vorschlag ist eine schriftliche Zustimmungserklärung des Vorgeschlagenen beizufügen. Der Vorschlag ist beim Präsidenten des Bundestages schriftlich einzureichen ( Abs. 1 BPräsWahlG). Die Kandidatenauswahl im Vorfeld der Wahl ist stark von der absehbaren parteipolitischen Stimmverteilung in der Bundesversammlung und parteitaktischen Überlegungen geprägt. Je nach Ausgangslage versuchen die Parteien, in einem innerparteilichen Prozess einen Kandidaten zu finden, für den sie sich in der Bundesversammlung entsprechende Zustimmungen erhoffen. Die Dominanz solcher Überlegungen und Absprachen bei der Kandidatenauswahl führt regelmäßig zu Diskussionen, die Verfassung zu ändern und eine Direktwahl des Bundespräsidenten durch das Volk zu ermöglichen. Befürworter argumentieren, eine Direktwahl durch das Volk würde das gesamte Wahlverfahren transparenter machen und Entscheidungen wieder aus politischen Hinterzimmern in das Licht der Öffentlichkeit bringen. Gegner einer Direktwahl meinen, dass ein plebiszitär gewählter Präsident den Prinzipien einer repräsentativen Demokratie zuwiderlaufen würde und außerdem sein Amt zu wenig Machtbefugnisse habe, um für eine Direktwahl infrage zu kommen. Unvereinbarkeiten (Inkompatibilität) Nach GG darf der Bundespräsident weder der Regierung noch einer gesetzgebenden Körperschaft des Bundes oder eines Landes angehören. Er darf ferner kein anderes besoldetes Amt, kein Gewerbe und keinen Beruf ausüben und weder der Leitung noch dem Aufsichtsrat eines auf Erwerb gerichteten Unternehmens angehören. Die Regelung soll die Unabhängigkeit und Integrität des Bundespräsidenten steigern und ist damit Ausdruck der Gewaltenteilung in GG. Verletzt der Bundespräsident diese Pflicht, kann eine Sanktion gemäß GG erfolgen. Die Verletzung führt aber nach herrschender Meinung nicht automatisch zu einem Verlust des Amtes. Die Pflichten des Art. 55 GG beginnen mit dem Amtsantritt und enden mit dem Ausscheiden aus dem Amt des Bundespräsidenten. Nach Europawahlgesetz verliert ein Abgeordneter die Mitgliedschaft im Europäischen Parlament bei Annahme der Wahl zum Bundespräsidenten. Bundesversammlung und Ablauf der Wahl Die Bundesversammlung spiegelt das föderative System der Bundesrepublik Deutschland wider: sie besteht aus den Mitgliedern des Bundestages und einer gleichen Anzahl von Mitgliedern, die von den Volksvertretungen der Länder nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt werden, Abs. 3 des Grundgesetzes. Üblicherweise handelt es sich dabei um Mitglieder der Landesparlamente und Landesregierungen, um Mitglieder der Bundesregierung, sofern sie kein eigenes Bundestagsmandat haben, und um Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens wie Schauspieler, Sportler, Künstler oder Vertreter von Spitzenverbänden. Die Mitglieder sind an Aufträge und Weisungen nicht gebunden, Satz 3 BPräsWahlG. Der Bundespräsident wird von der Bundesversammlung ohne Aussprache und geheim gewählt. Bei der Wahl muss ein Kandidat die absolute Mehrheit der Mitglieder auf sich vereinen. Erst wenn dies in zwei Wahlgängen keinem Kandidaten gelingt, reicht in einem dritten die relative Mehrheit aus. Zu einem dritten Wahlgang kam es 1969, als Gustav Heinemann mit einfacher Mehrheit gewählt wurde, sowie 1994 und 2010, als Roman Herzog bzw. Christian Wulff dann doch noch die absolute Stimmenmehrheit erreichten. Die Wahl erfolgt auf fünf Jahre; eine einmalige Wiederwahl ist ohne Weiteres möglich. Staatsrechtler sind überwiegend der Meinung, dass die Formulierung „Anschließende Wiederwahl ist nur einmal zulässig“ in Abs. 2 des Grundgesetzes mehr als zwei Amtszeiten einer Person gestattet, sofern nicht mehr als zwei Amtszeiten unmittelbar aneinander anschließen. „Zulässig ist eine dritte Wahlperiode aber, wenn dazwischen die Amtszeit eines anderen Bundespräsidenten gelegen ist. Dabei ist es sogar gleichgültig, ob dieser eine volle fünfjährige Amtsperiode durchgehalten hat und aus welchen Gründen sich das Amt des Bundespräsidenten ggf. vorzeitig erledigt hat.“ Von den (abgesehen vom derzeitigen Amtsinhaber Steinmeier) bisher vier wiedergewählten Bundespräsidenten stand allerdings keiner je für die Wahl in eine dritte Amtszeit zur Verfügung. Nur zwei von diesen (Heuss und Weizsäcker) absolvierten zwei volle Amtszeiten, die anderen beiden (Lübke und Köhler) traten vor Ablauf ihrer zweiten Amtszeit zurück. Vereidigung In einer gemeinsamen Sitzung von Bundestag und Bundesrat wird der neue Bundespräsident „bei seinem Amtsantritt“ vom Bundestagspräsidenten ( BPräsWahlG) wie folgt vereidigt ( GG): „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. (So wahr mir Gott helfe.)“ Die religiöse Beteuerung kann weggelassen werden. Der Amtseid muss aber als solcher geleistet werden; eine „eidesgleiche Bekräftigung“ nach Bundesbeamtengesetz und ZPO ist nicht zulässig. Diese Eidespflicht wird als verfassungsmäßig angesehen, da die Übernahme des Amtes des Bundespräsidenten freiwillig und der Eid in der Verfassung selbst vorgesehen sei. Die vorgeschriebene Eidesleistung des Bundespräsidenten „bei seinem Amtsantritt“ bedeutet nicht, dass der Beginn seiner Amtszeit oder Amtsbefugnisse von der Eidesleistung abhingen (siehe Amtseid#Rechtliche Stellung in Deutschland). „Das Amt des Bundespräsidenten beginnt“ vielmehr „mit dem Ablauf der Amtszeit seines Vorgängers, jedoch nicht vor Eingang der Annahmeerklärung beim Präsidenten des Bundestages“, BPräsWahlG. 1949, als es noch keinen Amtsvorgänger gab, wie auch 2010 und 2012, als Horst Köhler und Christian Wulff ihr Präsidentenamt mit sofortiger Wirkung zur Verfügung gestellt hatten, begann die Amtszeit der Neugewählten mithin bereits mit der Annahme der Wahl, die alle noch in der Bundesversammlung erklärten. Leistet der Bundespräsident den Amtseid vorsätzlich nicht, können der Bundestag oder der Bundesrat den Bundespräsidenten wegen Verletzung des Grundgesetzes vor dem Bundesverfassungsgericht anklagen ( GG). Wird ein Bundespräsident für eine zweite Amtszeit gewählt, erfolgt für diese üblicherweise keine neuerliche Vereidigung. So wurde es bisher in allen diesen Fällen (1954, 1964, 1989, 2009 und 2022) gehandhabt. Stellvertretung des Bundespräsidenten Ein gesondertes Amt des Vizepräsidenten sieht das Grundgesetz nicht vor. GG bestimmt lediglich: „Die Befugnisse des Bundespräsidenten werden im Falle seiner Verhinderung oder bei vorzeitiger Erledigung des Amtes durch den Präsidenten des Bundesrates wahrgenommen.“ Dies gilt unabhängig davon, ob der Bundespräsident nur zeitweilig abwesend oder aber amtsunfähig ist. Häufig kommt es auch zu einer teilweisen Vertretung, etwa wenn der Bundespräsident auf Staatsbesuch ist und dabei seinen (außenpolitischen) Verpflichtungen nachkommt, andererseits aber ein Gesetz unterschrieben werden muss. Das Gesetz wird dann regelmäßig „für den Bundespräsidenten“ vom (nicht weisungsabhängigen) Bundesratspräsidenten unterzeichnet. Bis zur Wahl des ersten Bundespräsidenten Theodor Heuss am 12. September 1949 fungierte der am 7. September 1949 gewählte erste Bundesratspräsident Karl Arnold als kommissarisches Staatsoberhaupt. Zuvor war das Amt nicht besetzt. Durch den Rücktritt Horst Köhlers vom Amt des Bundespräsidenten am 31. Mai 2010 erhielt das Vertretungsrecht abermals größere Bedeutung. Bis zur Wahl des Nachfolgers Christian Wulff am 30. Juni 2010 führte Bundesratspräsident Jens Böhrnsen die Amtsgeschäfte des Bundespräsidenten weiter. Am 17. Februar 2012, als Christian Wulff zurücktrat, übernahm Bundesratspräsident Horst Seehofer die Geschäfte des Bundespräsidenten, bis das Amt durch die Wahl Joachim Gaucks am 18. März 2012 neu besetzt wurde. Ende der Amtszeit Der Bundespräsident wird traditionell mit einem Großen Zapfenstreich aus seinem Amt verabschiedet. Bisher lehnte dies nur Heinemann ab. Die Amtszeit endet vorzeitig, wenn der Bundespräsident stirbt, zurücktritt (Demissionserklärung Heinrich Lübkes vom 14. Oktober 1968 zum Ablauf des 30. Juni 1969, Rücktritt Horst Köhlers am 31. Mai 2010 und Christian Wulffs am 17. Februar 2012), seine Wählbarkeit verliert, indem er die deutsche Staatsangehörigkeit aufgibt oder das (aktive bzw. passive) Wahlrecht durch Richterspruch verliert, oder nach GG seines Amtes enthoben wird (Abschnitt Juristischer Sonderstatus und Möglichkeit der Amtsenthebung). In diesem Fall tritt die Bundesversammlung nach Abs. 4 Satz 1 GG spätestens 30 Tage nach der Erledigung des Amtes zusammen und wählt einen Bundespräsidenten, dessen Amtszeit unmittelbar nach der Annahme der Wahl beginnt. Bis zur Neuwahl übt der Präsident des Bundesrates die Befugnisse des Bundespräsidenten aus. Im Verteidigungsfall kann sich die Amtszeit des Bundespräsidenten nach GG verlängern. Die Amtszeit des Bundespräsidenten oder die Wahrnehmung der Befugnisse durch den Präsidenten des Bundesrates im Vertretungsfall enden in diesem Falle neun Monate nach Beendigung des Verteidigungsfalles. Amtssitz und Hoheitszeichen Amtssitz Erster Amtssitz des Bundespräsidenten ist das Schloss Bellevue in Berlin-Tiergarten, zweiter Amtssitz die Villa Hammerschmidt in Bonn-Gronau. Das 1998 eingeweihte Bundespräsidialamt – wegen seiner Form auch „Präsidentenei“ genannt – befindet sich in unmittelbarer Nähe zum Schloss Bellevue. Nach der Gründung der Bundesrepublik gab es zunächst nur den Amtssitz in Bonn; 1956 wurde das Schloss Bellevue zum zweiten Amtssitz erklärt. Bevor der erste Bundespräsident Theodor Heuss Ende 1950 die Villa Hammerschmidt bezog, war 1949/1950 die spätere sowjetische Botschaft auf der Bad Godesberger Viktorshöhe der Amtssitz. Amtswohnung Nach dem letzten größeren Umbau von Schloss Bellevue steht dort keine Privatwohnung mehr für den Bundespräsidenten zur Verfügung. Stattdessen kann er als Amtswohnung die Villa Wurmbach in der Pücklerstraße (Berlin-Dahlem) nutzen. Die Villa Wurmbach ist umschlossen von jenem Areal, auf dem die gemeinsame Zentrale von Ahnenerbe und Institut für Wehrwissenschaftliche Zweckforschung ihre Arbeit und ihre Verbrechen steuerten. Die Villa selbst, bis Februar 1933 im Besitz von Hugo Heymann, wurde unter dubiosen Umständen arisiert und in einem bemerkenswerten Verfahren nach Kriegsende nicht restituiert. Standarte und Amtsinsignie Die Standarte des Bundespräsidenten ist ein rotgerändertes, goldfarbenes Quadrat, in dem sich der Bundesadler, schwebend, nach der Stange gewendet, befindet. Das Verhältnis der Breite des roten Randes zur Höhe der Standarte ist wie 1:12. Wenn der Bundespräsident in Berlin verweilt oder abwesend ist, ohne am Aufenthaltsort eine offizielle Residenz (etwa bei einem Staatsbesuch) einzurichten, ist der Stander am Schloss Bellevue gesetzt, andernfalls nicht. Die Standarte des Bundespräsidenten wurde schon für den Reichspräsidenten bis 1933 verwendet. Der Bundespräsident trägt als Amtsinsignie die höchste Klasse des Bundesverdienstkreuzes, die Sonderstufe des Großkreuzes. Reisemittel und Kennzeichen Dem Bundespräsidenten stehen für die Wahrnehmung seiner Amtsgeschäfte verschiedene Reisemittel zur Verfügung. Der Dienstwagen des Bundespräsidenten ist eine gepanzerte Limousine aus der Oberklasse eines in der Regel deutschen Herstellers. Er hat das amtliche Sonderkennzeichen „0 – 1“. Im offiziellen Einsatz wird die Standarte des Bundespräsidenten am rechten Kotflügel gesetzt. Der Wagen wird stets von einem Beamten des Bundeskriminalamts (Personenschützer) mit Sonderqualifizierung im Führen von besonders schweren und gepanzerten Fahrzeugen unter besonderen Bedingungen gesteuert. Für weitere Reisen nutzt der Bundespräsident die Flugzeuge und Hubschrauber der Flugbereitschaft des Bundesministeriums der Verteidigung oder Hubschrauber der Bundespolizei. Juristischer Sonderstatus und Möglichkeit der Amtsenthebung Privilegien im Straf- und Zivilrecht Wenn der Bundespräsident als Zeuge in einem Verfahren aussagen soll, muss er in seiner Wohnung vernommen werden. Zur Hauptverhandlung wird er nicht geladen. Das Protokoll über seine gerichtliche Vernehmung ist in der Hauptverhandlung zu verlesen. Dies ergibt sich für den Zivilprozess aus Abs. 2 ZPO und für den Strafprozess aus StPO. Wer sich wegen Verunglimpfung des Bundespräsidenten ( StGB) strafbar macht, wird strafrechtlich verfolgt, wenn der Bundespräsident die Strafverfolgungsbehörden dazu ermächtigt. Eine Nötigung des Bundespräsidenten ( StGB) wird auch ohne dessen Einverständnis verfolgt. Während seiner Amtszeit genießt der Bundespräsident strafrechtliche Immunität, die auf staatsanwaltschaftlichen Antrag hin vom Bundestag mit Mehrheitsbeschluss aufgehoben werden kann. Der Bundespräsident kann nicht abgewählt werden. Die einzige Möglichkeit, ihn seines Amtes zu entheben, ist die Präsidentenanklage vor dem Bundesverfassungsgericht nach Art. 61 GG. Präsidentenanklage Die Präsidentenanklage kann gemäß dem Grundgesetz auf Antrag durch Beschluss mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit von Bundestag oder Bundesrat beim Bundesverfassungsgericht eingereicht werden. Nach Erhebung der Anklage kann das Bundesverfassungsgericht per einstweiliger Anordnung erklären, dass der Präsident an der Ausübung seines Amtes verhindert ist. Kommt es im Verfahren dann zu dem Schluss, der Bundespräsident habe vorsätzlich gegen das Grundgesetz oder gegen ein Bundesgesetz verstoßen, kann es ihn des Amtes entheben. Das Instrument der Präsidentenanklage wurde in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland bisher noch nie angewandt. Bezüge Amtsbezüge Der Anspruch auf Besoldung ergibt sich dem Grunde nach aus Art. 55 Abs. 2 des Grundgesetzes. Danach darf der Bundespräsident „kein anderes besoldetes Amt“ ausüben, woraus im Umkehrschluss folgt, dass auch sein Amt ein besoldetes ist. Die Höhe der Besoldung ist nicht gesetzlich geregelt, sondern ergibt sich aus einer bloßen Erläuterung zu Titel 421 01-011 im Einzelplan 0101 des jährlichen Bundeshaushaltsgesetzes. Damit wird gemäß § 3 der Bundeshaushaltsordnung aber kein Anspruch des Bundespräsidenten begründet, sondern nur das Bundespräsidialamt ermächtigt, die veranschlagten Ausgaben zu leisten. Auf dieser Grundlage erhält der Bundespräsident Amtsbezüge in Höhe von zehn Neunteln der Bezüge des Bundeskanzlers. Diese sind in § 11 Abs. 1 des Bundesministergesetzes in Verbindung mit dem Gesetz über die Nichtanpassung von Amtsgehalt und Ortszuschlag der Mitglieder der Bundesregierung und der Parlamentarischen Staatssekretäre geregelt. Hinzu tritt freie Amtswohnung mit Ausstattung und Aufwandsgeld (Aufwandsentschädigung), aus dem auch die Löhne des Hauspersonals zu zahlen sind. Die Amtsbezüge betragen im April 2021 laut Bundesinnenministerium 21.243 Euro im Monat. Ruhebezüge Die Bezüge nach dem Ausscheiden aus dem Amt regelt das Gesetz über die Ruhebezüge des Bundespräsidenten (BPräsRuhebezG) vom 17. Juni 1953. Seit 1959 werden die Amtsbezüge mit Ausnahme der Aufwandsgelder gewöhnlich als Ehrensold auf Lebenszeit weitergezahlt. Das gilt auch bei einem Ausscheiden aus politischen oder gesundheitlichen Gründen vor Ablauf der Amtszeit. Fortdauernde Amtsausstattung zur Wahrnehmung nachwirkender Aufgaben Nicht um eine Versorgungsregelung handelt es sich bei der fortdauernden Amtsausstattung zur Wahrnehmung nachwirkender Aufgaben, die in der Staatspraxis in unterschiedlichem Umfang auch anderen Amtsinhabern gewährt wird, z. B. ehemaligen Bundeskanzlern und Bundestagspräsidenten. Mangels gesetzlicher Regelung besteht darauf kein Anspruch, sondern es handelt sich um eine Ermessensentscheidung. Werden Leistungen gewährt, können sie nach sachlichen Gesichtspunkten unterschiedlich bemessen werden, z. B. abhängig von der Zeit, die seit dem Ausscheiden verstrichen ist. Dementsprechend sieht der Beschluss des Haushaltsausschusses vom 20. März 2019 vor, dass die Personalausstattung der Büros zukünftiger ehemaliger Bundespräsidenten nach Ablauf von zehn Jahren um eine Referentenstelle verringert wird. Die fortdauernde Amtsausstattung ehemaliger Bundespräsidenten umfasst lebenslang ein Büro im Bundespräsidialamt – jedoch nicht in dessen Gebäude – mit Personal, Reisen, Dienstfahrzeugen und Fahrer. Der Bundesrechnungshof hat dies 2018 als „Automatismus der ‚lebenslangen Vollausstattung‘“ bezeichnet und außerdem beanstandet, dass in der Verwaltungspraxis auch rein private Aufwendungen, Aufgaben der Ehefrauen und Unterstützung bei Nebentätigkeiten vom Bund finanziert wurden. Die bislang längste Gewährung einer Amtsausstattung für nachwirkende Aufgaben erstreckte sich über 37 Jahre nach einer fünfjährigen Amtszeit. Vom Bundespräsidenten verliehene und anerkannte Ehrenzeichen Als „Repräsentant der Ehrenhoheit des Bundes“ verleiht der Bundespräsident neben dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland folgende Ehrenzeichen: das Silberne Lorbeerblatt für herausragende sportliche Leistungen (von 1978 bis 1993 auch die Silbermedaille für den Behindertensport), das Grubenwehr-Ehrenzeichen für besondere Verdienste um das Grubenrettungswesen, die Zelter-Plakette aus Anlass des 100-jährigen Bestehens einer Chorvereinigung, die Pro-Musica-Plakette aus Anlass des 100-jährigen Bestehens einer Musikvereinigung, die Eichendorff-Plakette aus Anlass des mindestens 100-jährigen Bestehens von Wander- und Gebirgsvereinen, die Sportplakette aus Anlass des 100-jährigen Bestehens von Sportvereinen. Außerdem gibt es eine Reihe von Ehrenzeichen staatlicher Stellen und nichtstaatlicher Organisationen, die vom Bundespräsidenten offiziell anerkannt sind, nämlich der Orden Pour le Mérite für Wissenschaft und Künste, das Ehrenzeichen des Deutschen Roten Kreuzes, das Deutsche Feuerwehr-Ehrenkreuz, die Medaille für Rettung aus Seenot der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger, das Ehrenzeichen der Deutschen Verkehrswacht, das Ehrenzeichen des Johanniterordens, die Goethe-Medaille, das Ehrenzeichen des Technischen Hilfswerks, das Ehrenzeichen der Bundeswehr, die Einsatzmedaille der Bundeswehr, die Einsatzmedaille Fluthilfe 2002, das Deutsche Sportabzeichen, das Deutsche Rettungsschwimmabzeichen der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft und das Rettungsschwimmabzeichen des Deutschen Roten Kreuzes. Weitere Zuwendungen des Bundespräsidenten Im Rahmen der von Theodor Heuss gegründeten Deutschen Künstlerhilfe gewährt der Bundespräsident verdienten oder in Bedrängnis geratenen Künstlern als laufende Zuwendung einen „Ehrensold“ oder lässt ihnen eine einmalige Zuwendung zukommen. Die besondere Verpflichtung des deutschen Staates für kinderreiche Familien bringt der Bundespräsident durch die Übernahme einer Ehrenpatenschaft für das siebte Kind einer Familie zum Ausdruck. Bei besonderen Jubiläen spricht er seine Glückwünsche aus. Die bisherigen Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland Theodor Heuss und Richard von Weizsäcker sind die bisher einzigen Bundespräsidenten, die zwei vollständige Amtszeiten absolviert haben. Heinrich Lübke, Horst Köhler und Christian Wulff beendeten durch ihren Rücktritt vom Amt des Bundespräsidenten ihre Amtszeit vorzeitig. Obwohl bereits mehrere Frauen für das Amt der Bundespräsidentin vorgeschlagen wurden (Bundesversammlungen in Deutschland), wurde das Amt bisher nur von männlichen Personen bekleidet. Die offizielle Anrede für eine weibliche Amtsinhaberin lautet Frau Bundespräsidentin. Anmerkungen: Theodor Heuss (1949–1959) Theodor Heuss wurde am 12. September 1949 durch die erste Bundesversammlung zum ersten bundesdeutschen Staatsoberhaupt gewählt. Als erster Bundespräsident prägte er das Amt in besonderer Weise. Eine dritte Amtszeit, zu der eine Grundgesetzänderung nötig gewesen wäre, lehnte er ab, da er die Schaffung einer „lex Heuss“ vermeiden wollte. Der Liberale war bereits in der Weimarer Republik von 1924 bis 1928 als Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) und dann, von 1930 bis 1933, in deren Nachfolgepartei, der Deutschen Staatspartei (DStP), Volksvertreter im Reichstag. 1933 stimmte Heuss im Deutschen Reichstag – wegen der informellen Fraktionsdisziplin – dem Ermächtigungsgesetz zu. Heinrich Lübke (1959–1969) Nachdem der damalige Bundeskanzler Adenauer von seiner am 8. April 1959 propagierten Absicht, selbst zu kandidieren, wieder abgerückt war, einigten sich CDU und CSU auf Heinrich Lübke. Dieser versuchte als Bundespräsident, aktiv die Politik mitzugestalten. Wie sein Amtsvorgänger Heuss wollte er sich eine Ministerliste vorlegen lassen, was Adenauer jedoch auch ihm verweigerte. Beim Gesetz gegen den Betriebs- und Belegschaftshandel machte er von seiner Prüfungskompetenz Gebrauch und unterzeichnete es nicht, da es seiner Meinung nach gegen das Grundgesetz verstieß. Von seiner Präsidentschaft blieben manche rhetorische Fehlgriffe in Erinnerung, die auch auf Auslandsreisen zu fragwürdigen Situationen führten, aber einer fortgeschrittenen Zerebralsklerose zugeschrieben werden konnten. Viele Zitate, die für Irritationen sorgten, waren jedoch, wie der damalige Spiegel-Mitarbeiter Hermann L. Gremliza 40 Jahre später offenbarte, bloße Erfindungen der Redaktion des Nachrichtenmagazins. Ab 1966 wurde Lübke aus der DDR sowie von bundesdeutschen Medien beschuldigt, als Ingenieur im Dritten Reich an der Planung von KZ-Baracken mitgewirkt zu haben. Als der Ruf nach seinem Rücktritt Anfang 1968 immer lauter wurde, erklärte er am 14. Oktober 1968, seinem 74. Geburtstag, seine regulär erst mit dem 12. September 1969 ablaufende zweite Amtszeit schon mit dem 30. Juni 1969 zu beenden, um das Amt aus dem anstehenden Bundestagswahlkampf 1969 herauszuhalten. Im Nachhinein stellte sich heraus, dass die Unterlagen zu Lübkes Beteiligung am KZ-Bau, die im Jahr 1967 von der DDR der Weltöffentlichkeit präsentiert wurden und die die Illustrierte Stern zusammen mit einem angezweifelten Gutachten des US-amerikanischen Schriftsachverständigen J. Howard Haring am 28. Januar 1968 veröffentlicht hatte (die meisten Schriftstücke waren authentisch), vom DDR-Staatssicherheitsdienst manipuliert worden waren. Gustav Heinemann (1969–1974) Gustav Heinemann wurde im dritten Wahlgang und ohne absolute Mehrheit der Bundesversammlung ins Amt gewählt und verschiedentlich als unbequemer Mahner und ein im Christentum fest verwurzelter Politiker gewürdigt. Seine moralischen Überzeugungen, die ihn 1950 aus Protest gegen die Wiederbewaffnung zum Rücktritt als Bundesinnenminister und zum Austritt aus der CDU geführt hatten, prägten auch seine Amtszeit als oberster Vertreter der Bundesrepublik Deutschland. Er selbst sah sich als „Bürgerpräsident“ und betonte die demokratischen, liberalen Traditionen Deutschlands. In einem Interview sagte er, er wolle lieber ein „Bürgerpräsident“ sein als ein „Staatspräsident“. In diesem Sinne führte er die Tradition ein, zu Neujahrsempfängen auch einfache Bürger einzuladen. Außenpolitisch lagen ihm die Aussöhnung mit den europäischen Nachbarländern und die Förderung des Friedens in Europa am Herzen. Obwohl ihm die Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung 1974 eine Wiederwahl ermöglicht hätten, verzichtete er auf die Kandidatur für eine zweite Amtszeit. Er starb zwei Jahre später. Walter Scheel (1974–1979) Der ehemalige stellvertretende Bundeskanzler im Amt des Bundespräsidenten versuchte auch in seinem neuen Amt, politisch mitzuwirken. Dieses Ansinnen scheiterte jedoch auch am entschiedenen Widerstand von Bundeskanzler Helmut Schmidt. Insbesondere zu Beginn seiner Amtszeit wurde er häufig als überambitioniert eingeschätzt, später allerdings wurde er in der Bevölkerung unerwartet populär und erwarb sich als Redner Respekt. Scheels bekannte Interpretation des Volksliedes Hoch auf dem gelben Wagen entstand noch vor seiner Präsidentenzeit. Er sang es u. a. als Bundesaußenminister am 6. Dezember 1973 für eine Spendenveranstaltung in der ZDF-Show Drei mal Neun. Angesichts der Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung stellte sich Scheel nicht erneut der Wahl und schied nach einer Amtszeit am 30. Juni 1979 aus dem Amt des Bundespräsidenten. Karl Carstens (1979–1984) Karl Carstens war der fünfte Bundespräsident der Bundesrepublik. Carstens’ Kandidatur war zuvor wegen seiner früheren NSDAP-Mitgliedschaft kritisiert worden. Seine staatsrechtlich bedeutsamste Entscheidung war die Auflösung des Bundestages nach der absichtlich verlorenen Vertrauensfrage Helmut Kohls 1982/1983. Gegen diese Anordnung des Bundespräsidenten hatten einige Abgeordnete geklagt, das Bundesverfassungsgericht bestätigte in einem umstrittenen Urteil allerdings Carstens’ Entscheidung. Carstens ist auch durch seine Vorliebe für Wanderungen bekannt geworden, auf denen er die Bundesrepublik erwandert hat. Aus Altersgründen verzichtete er auf die Kandidatur für eine zweite Amtszeit und schied damit am 30. Juni 1984 aus dem Amt. Richard von Weizsäcker (1984–1994) Richard von Weizsäcker ging als einer der bedeutendsten Bundespräsidenten in die Geschichte ein. Seine Rede zum 40. Jahrestag des Kriegsendes am 8. Mai 1985 brachte ihm großen internationalen Respekt ein, wurde aber aus konservativen Kreisen auch kritisiert, da er die Interpretation des 8. Mai vom „Tag der Niederlage“ hin zum „Tag der Befreiung“ verschob. Sein Wirken wurde als überparteilich rezipiert, seine teils scharfe Kritik am Parteienstaat kann mit einer persönlichen Distanz zu Helmut Kohl (Bundeskanzler von 1982 bis 1998) erklärt werden. Bei seiner Wiederwahl (23. Mai 1989) gab es zum einzigen Mal in der bundesdeutschen Geschichte keinen Gegenkandidaten. 1990–1994 war von Weizsäcker der erste Bundespräsident des vereinten Deutschlands. Roman Herzog (1994–1999) 1993 war zunächst Steffen Heitmann der Wunschkandidat Helmut Kohls und der CDU für das Amt des Bundespräsidenten. Nach kontroversen Äußerungen verzichtete Heitmann auf eine Kandidatur. Roman Herzog wurde stattdessen Kandidat. Im Reichstagsgebäude wählte die 10. Bundesversammlung am 23. Mai 1994 Roman Herzog (CDU) zum siebten Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland. Der bis zu seiner Wahl als Präsident des Bundesverfassungsgerichts amtierende Herzog wird besonders als Präsident der Ruck-Rede in Berlin 1997 wahrgenommen. Diese Rede war ein Beispiel seiner Kritik an der politischen Situation in Deutschland. Er begründete damit die Idee der Berliner Rede, die von Bundespräsident Rau fortgeführt wurde. Herzogs Amtszeit war geprägt durch seine Anprangerung von Versäumnissen der Politik in Anbetracht der wirtschaftlichen Situation. Ein anderes wichtiges Werk von Herzog begann 1997, als er den Deutschen Zukunftspreis ins Leben rief. Herzog hatte bereits zu Amtsantritt deutlich gemacht, nur für eine Amtszeit amtieren zu wollen. Auch hätten die im Lauf seiner Amtszeit veränderten Mehrheitsverhältnisse in der Bundesversammlung eine Kandidatur für eine zweite Amtszeit erschwert. Johannes Rau (1999–2004) Johannes Rau führte die Berliner Reden fort und hielt sie jedes Jahr erneut. Er sprach in ihr Themen wie die Integration von Ausländern und die Auswirkungen von Gentechnologie, Ökonomismus und Globalisierung an. Er vermied jedoch im Wesentlichen Angriffe auf handelnde Politiker. Seinen – durchaus nicht nur abwertend gemeinten – Spitznamen „Bruder Johannes“ hatte er jedoch schon wesentlich früher wegen seiner öffentlich gelebten Religiosität respektive seines oft als pastoral empfundenen Habitus erhalten. Andere fanden sein Lebensmotto „Versöhnen statt spalten“, an das er sich auch während seiner Amtszeit zu halten versuchte, für den Inhaber des Bundespräsidentenamtes ideal. Johannes Rau hielt als erster Bundespräsident eine Rede auf Deutsch vor dem israelischen Parlament, der Knesset. Horst Köhler (2004–2010) Horst Köhler war der erste Bundespräsident, der vor seiner Wahl zum Staatsoberhaupt keine exponierte Rolle in der deutschen Politik gespielt hatte und der erste, der vorzeitig von dem Amt zurücktrat. Da er nicht als Parteipolitiker in Erscheinung getreten war, trauten ihm manche Beobachter größere Unabhängigkeit und Distanz zu. Allerdings war er von 1990 bis 1993 Staatssekretär im Bundesfinanzministerium, Mitglied der Trilateralen Kommission und Präsident des Deutschen Sparkassen- und Giroverbands, der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) und bis zu seiner Wahl zum Bundespräsidenten war er Geschäftsführender Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF). Auch mischte er sich öffentlich in die Tagespolitik ein. Er bezeichnete die Agenda 2010 als „noch zu wenig weit reichend“ und sprach sich 2004 gegen die von Bundeskanzler Schröder vorgeschlagene Verlegung des Tages der Deutschen Einheit aus. Während der Finanzkrise bezeichnete er in einem Interview im Mai 2008 die internationalen Finanzmärkte als „Monster“. In seiner Antrittsrede am 1. Juli 2004 sagte Köhler, „dass Deutschland als Land der Ideen vor allem ein Land für Kinder“ werden müsse. Lob, aber noch mehr Kritik zog er sich im September 2004 durch die Aufforderung in einem Interview des Focus zu, unterschiedliche Lebensverhältnisse in den neuen und alten Bundesländern zu akzeptieren und Flexibilität zu zeigen. Köhlers staatsrechtlich bedeutsamste Entscheidung war die Auflösung des Deutschen Bundestages im Jahr 2005, nachdem Bundeskanzler Gerhard Schröder mit dem Ziel von Neuwahlen im Bundestag die Vertrauensfrage gestellt hatte. Dagegen klagten, wie im Jahre 1983, Abgeordnete beim Bundesverfassungsgericht, allerdings auch dieses Mal erfolglos. Kritik an seinem Amtsverständnis trug es Köhler ein, dass er zwei im Oktober und Dezember 2006 verabschiedeten Gesetzen, die er für verfassungswidrig hielt, die Ausfertigung verweigerte. Am 23. Mai 2009 wurde Köhler von der 13. Bundesversammlung für eine zweite Amtszeit im ersten Wahlgang wiedergewählt. Nach Kritik an einer Äußerung Köhlers in einem Interview, dass „im Notfall auch militärischer Einsatz notwendig ist, um unsere Interessen zu wahren, zum Beispiel freie Handelswege“, erklärte Köhler am 31. Mai 2010 in einer Pressekonferenz, die erst zwei Stunden vorher einberufen worden war, seinen Rücktritt mit sofortiger Wirkung. Die Neuwahl des Bundespräsidenten wurde für den 30. Juni 2010 angesetzt. Christian Wulff (2010–2012) Christian Wulff wurde am 30. Juni 2010 im dritten Wahlgang gewählt. Seine Amtszeit begann, da das Amt seit dem Rücktritt Horst Köhlers vakant war, sofort mit der Annahme der Wahl. Mit 51 Jahren war Wulff der jüngste Bundespräsident seit Bestehen der Bundesrepublik. Kurz vor seiner Wahl regte Wulff an, finanzielle Abstriche beim lebenslangen Ehrensold des Bundespräsidenten vorzunehmen. Wulff setzte Akzente in der Integrationspolitik. Schon bei seiner Vereidigung am 2. Juli 2010 sprach er von der Notwendigkeit, auf andere Kulturen zuzugehen , und am 3. Oktober 2010 davon, wie Christentum und Judentum gehöre (vgl. Politisches Wirken). Ab Herbst 2011 geriet Wulff mit einer Kredit- und Medienaffäre zunehmend in die Kritik. Nachdem die Staatsanwaltschaft Hannover die Aufhebung seiner Immunität beantragt hatte – das erste Mal, dass dies bei einem Bundespräsidenten geschah –, trat er am 17. Februar 2012 mit sofortiger Wirkung zurück: Es habe sich gezeigt, dass das für die Amtsführung erforderliche und damit seine seien. Joachim Gauck (2012–2017) Joachim Gauck war der erste Parteilose und der erste ehemalige DDR-Bürger, der zum Bundespräsidenten gewählt wurde. Nach dem Rücktritt seines Vorgängers Christian Wulff hatten SPD und Bündnis 90/Die Grünen ihn für das höchste Staatsamt vorgeschlagen. Am 18. März 2012 wurde er im ersten Wahlgang mit 991 von 1228 gültigen Stimmen gewählt und am 23. März 2012 als Bundespräsident vereidigt. Am 6. Juni 2016 gab er bekannt, dass er für eine zweite Amtsperiode aufgrund seines Alters nicht zur Verfügung stehe. Seine Amtszeit endete mit dem 18. März 2017. Frank-Walter Steinmeier (seit 2017) Frank-Walter Steinmeier wurde am 12. Februar 2017 im ersten Wahlgang mit 931 von 1239 gültigen Stimmen gewählt. Er hat sein neues Amt am 19. März 2017 angetreten und wurde am 22. März 2017 vereidigt. Am 28. Mai 2021 gab er bekannt, dass er sich für eine zweite Amtsperiode zur Wahl stellt. Am 22. Dezember 2021 teilte Christian Lindner, Bundesvorsitzender der FDP, mit, dass seine Partei Steinmeier bei der im Februar anstehenden Wahl in der Bundesversammlung, in welcher die Ampel-Parteien eine Mehrheit haben, unterstützen wird. Er begründete dies mit dem Engagement des Bundespräsidenten für den Zusammenhalt „in Zeiten gesellschaftlicher Polarisierung“. Im Januar kündigten auch die Grünen und die Unionsparteien an, Steinmeiers Kandidatur zu unterstützen. Bei der Wahl am 13. Februar 2022 wurde Steinmeier im ersten Wahlgang mit 1045 von 1425 gültigen Stimmen wiedergewählt. Ehepartnerinnen bzw. Lebensgefährtinnen der Bundespräsidenten Anmerkung: Die Ehefrauen der Bundespräsidenten genießen auch ohne formelles Amt ein besonderes gesellschaftliches Ansehen. Sie engagieren sich karitativ und übernehmen traditionell die Schirmherrschaft über das von Elly Heuss-Knapp begründete Müttergenesungswerk. Hilda Heinemann setzte sich für geistig Behinderte ein, Mildred Scheel für die von ihr gegründete Deutsche Krebshilfe, Veronica Carstens für Naturheilkunde und Homöopathie, Marianne von Weizsäcker für Suchtkranke, Christiane Herzog für die Mukoviszidose-Stiftung, Christina Rau für die Kindernothilfe und Eva Luise Köhler u. a. für die Allianz Chronischer Seltener Erkrankungen. Oft sieht das Staatszeremoniell vor, dass der Präsident zu besonderen Anlässen mit seiner Gattin auftritt. Von dieser wird politische Neutralität und Zurückhaltung erwartet. Mehrheitlich gingen die Ehefrauen der Bundespräsidenten zum Zeitpunkt ihrer Wahl und danach keinem Beruf nach; Veronica Carstens jedoch führte ihre Arztpraxis über 1979 hinaus fort. Bettina Wulff gab 2010 nach der Wahl Christian Wulffs zum Bundespräsidenten ihre Tätigkeit in der gewerblichen Wirtschaft auf. Auch Daniela Schadt beendete zur Wahl ihres Lebensgefährten Gauck 2012 ihre Tätigkeit als Politikjournalistin bei der Nürnberger Zeitung und zog nach Berlin. Elke Büdenbender ließ sich 2017 nach der Wahl ihres Mannes zum Bundespräsidenten von ihrem Richteramt beurlauben, kehrt jedoch in der zweiten Amtszeit Steinmeiers 2022 in ihren Beruf zurück. Siehe auch Bundespräsident (Österreich) Bundespräsident (Schweiz) Literatur Christoph Degenhart: Staatsrecht I. Staatsorganisationsrecht. Mit Bezügen zum Europarecht. 27. Auflage, Müller, Heidelberg 2011, ISBN 978-3-8114-9805-1, S. 301–309. Eberhard Jäckel, Horst Möller, Hermann Rudolph (Hrsg.): Von Heuss bis Herzog – die Bundespräsidenten im politischen System der Bundesrepublik. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart 1999. ISBN 3-421-05221-2 Daniel Lenski: Von Heuss bis Carstens. Das Amtsverständnis der ersten fünf Bundespräsidenten unter besonderer Berücksichtigung ihrer verfassungsrechtlichen Kompetenzen. Edition Kirchhof & Franke, Berlin 2009, ISBN 978-3-933816-41-2 (Rezension). Lutz Mehlhorn: Der Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich. Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2010, ISBN 978-3-8329-5887-9, Dissertation Georg-August-Universität Göttingen Robert Chr. van Ooyen: Der Bundespräsident als „Integrationsfigur“? In: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart. Band 57, Mohr Siebeck, Tübingen 2009, S. 235–254. Walther Maximilian Pohl: Die Prüfungskompetenz des Bundespräsidenten bei der Ausfertigung von Gesetzen, in: Verfassungsrecht in Forschung und Praxis, Band 2, Hamburg : Kovač, 2001, Dissertation TU Dresden. ISBN 978-3-421-05841-6. Günther Scholz, Martin E. Süskind: Die Bundespräsidenten: von Theodor Heuss bis Johannes Rau, 5. neu durchgesehene, überarbeitete und ergänzende Auflage, DVA (Deutsche Verlags-Anstalt), Stuttgart; München 1997 (Inhaltsverzeichnis), ISBN 978-3-421-05439-5. Klaus Stern: Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd II. Staatsorgane, Staatsfunktionen, Finanz- und Haushaltsverfassung, Notstandsverfassung. C.H. Beck, München 1980, ISBN 3-406-07018-3. Weblinks Offizielle Website des deutschen Bundespräsidenten und des Bundespräsidialamtes mit Seite zu den Amtsinhabern (Die Bundespräsidenten) Horst Pötzsch: Bundespräsident. In: Bundeszentrale für politische Bildung (bpb), Dossier Deutsche Demokratie, 15. Dezember 2009 Staat-Klar! Der Bundespräsident, Beitrag des Westdeutschen Rundfunks zu den Funktionen des Bundespräsidenten (Video, 2012, 15:11 min) Fußnoten Bundespräsidentschaft (Deutschland) Deutschland Staatsorganisationsrecht (Deutschland) Politik (Deutschland) Titel (Deutschland)
9681
https://de.wikipedia.org/wiki/Schloss%20Sanssouci
Schloss Sanssouci
Schloss Sanssouci (von ) ist ein Baudenkmal in der ehemaligen Residenzstadt Potsdam. Es wurde 1745 bis 1747 im Auftrag Friedrichs des Großen nach Plänen Georg Wenzeslaus von Knobelsdorffs im Stil des Friderizianischen Rokoko erbaut. Wegen seiner kunsthistorischen Bedeutung wird Schloss Sanssouci auch preußisches Versailles genannt. Vorgeschichte Die berühmte Gartenansicht von Sanssouci entstand nach der Entscheidung Friedrichs des Großen, am Südhang des Bornstedter Höhenzugs einen terrassierten Weinberg anzulegen. Vormals standen auf der Anhöhe Eichen. Zu Zeiten des „Soldatenkönigs“ Friedrich Wilhelm I. wurden die Bäume gefällt und beim Ausbau der Stadt Potsdam für die Befestigung des sumpfigen Bodens verwendet. Nachdem Friedrich Wilhelm I. 1714 den bisherigen Lustgarten am Potsdamer Stadtschloss zu einem Exerzierplatz hatte umbauen lassen, ließ er als Ersatz 1715 nordwestlich des Brandenburger Tors, auf einem Gelände, das bisher von Potsdamer Bürgern als Gartenfläche genutzt worden war, den Marlygarten als Lust- und Küchengarten anlegen und mit einem Lusthaus aus Fachwerk versehen. In diesem Zusammenhang wurden am Abhang des ansonsten kahlen Bornstedter Mühlenbergs bereits erste Weinpflanzungen gesetzt. In diesem Zustand kannte Friedrich II. aus seiner Kronprinzenzeit das Areal. Am 10. August 1744 gab Friedrich II. Order, den „Wüsten Berg“ durch die Anlage von Weinterrassen zu kultivieren. Unter Leitung des Architekten Friedrich Wilhelm Diterichs wurde der Südhang in sechs breite Terrassen gegliedert mit zur Mitte hin bogenförmig nach innen schwingenden Mauern, um eine größtmögliche Ausnutzung der Sonnenstrahlung zu erreichen. An den Wänden der Stützmauern wechseln gerade Flächen, an denen Spaliere mit heimischen Obst- und Weinsorten empor rankten, mit 168 verglasten Nischen, in denen ausländische Sorten wuchsen. Die einzelnen Terrassenpartien waren oberhalb der Mauern durch Rasenstreifen begrenzt und mit Spalierobst bepflanzt. Zwischen 96 Taxus­pyramiden standen im Sommerhalbjahr 84 Orangenbäume in Kübeln. Mit den gärtnerischen Arbeiten war Philipp Friedrich Krutisch betraut. In der Mittelachse führten 120 (heute 132) Stufen den Hang hinauf, entsprechend den Terrassen sechsmal unterteilt und zu beiden Seiten des Hanges je eine Auffahrtrampe. Die Arbeiten an den Weinbergterrassen waren 1746 weitgehend fertiggestellt. Unterhalb der Terrassen, im Parterre, entstand ab 1745 ein Ziergarten im barocken Stil mit Rasenflächen, Blumenbroderien und flankierenden Bosketten. Die Mitte des Parterres zierte 1748 ein vierpassförmiges Brunnenbecken, die „Große Fontäne“. Die Mitte des Vierpassbeckens schmückten vergoldete Bleiplastiken mit Darstellungen aus der griechischen Mythologie, die nicht erhalten sind. Seit 1750 umsäumen zwölf marmorne Statuen, acht Götterfiguren und allegorische Darstellungen der vier Elemente das Wasserbassin: Merkur, das Wasser La pêche dans la mer, Apollon mit dem getöteten Python, Diana beim Bade, das Feuer Venus betrachtet den von Vulkan für Aeneas geschmiedeten Schild, Juno mit dem Pfau, Jupiter mit Jo, die Erde Ceres lehrt Triptolemos das Pflügen, Mars, Minerva, die Luft Le retour de la chasse sowie Venus. Venus und Merkur, Arbeiten des Bildhauers Jean-Baptiste Pigalle, und zwei Jagdgruppen, Allegorien der Elemente Luft und Wasser von Lambert-Sigisbert Adam, waren Geschenke des französischen Königs Ludwig XV. Die übrigen Figuren stammen aus der Werkstatt von François Gaspard Adam, dem Leiter des von Friedrich II. in Berlin gegründeten französischen Bildhauerateliers. Die Vervollständigung des sogenannten Französischen Rondells dauerte bis 1764. Das Parterre begrenzte im Süden ein Wassergraben. Ein südöstlich liegender Nutzgarten, der Marlygarten, blieb bestehen. Den 1715 unter Friedrich Wilhelm I. angelegten Küchengarten nannte der Soldatenkönig spöttisch „mein Marly“, in Anlehnung an die aufwendige Gartenanlage Marly-le-Roi des französischen Königs Ludwig XIV. Auf die Verbindung von Zier- und Nutzgarten, Kunst und Natur, legte Friedrich II. auch bei der späteren Parkerweiterung großen Wert. Geschichte Das Schloss Sanssouci liegt im östlichen Teil des Parks Sanssouci und ist eines der bekanntesten Hohenzollern­schlösser der brandenburgischen Landeshauptstadt Potsdam. Nach eigenen Skizzen ließ der preußische König Friedrich II. in den Jahren 1745 bis 1747 ein kleines Sommerschloss im Stil des Friderizianischen Rokoko errichten. Mit der Planung beauftragte er den Architekten Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff. Unter Friedrich Wilhelm IV. wurde das Schloss 1841/42 durch Umbau und Verlängerung der zwei Seitenflügel erweitert. Nach Skizzen des Königs erstellte Ludwig Persius die Entwurfszeichnungen. Die Harmonie zwischen Kunst und Natur spiegelt sich ebenfalls in der Lage und Gestaltung des Schlosses Sanssouci auf der Höhe des Weinbergs wider. Der seit dem 13. Jahrhundert in der Mark Brandenburg durchaus übliche Weinanbau nahm in dieser Gegend nie eine zentrale Stellung in der künstlerischen Gestaltung der fürstlichen Lustgärten ein. In Sanssouci sollte er durch die Anlage der Weinbergterrassen mit dem bekrönenden Schloss und dem Parterre zum Mittelpunkt des Parks werden. Mit einem weiten Blick in die Landschaft, inmitten der Natur, wollte der preußische König in den Sommermonaten leben und seinen persönlichen Neigungen und künstlerischen Interessen, aber auch den Staatsgeschäften nachgehen. Eine Bockwindmühle, die bereits seit 1739 auf der Anhöhe stand, unterstrich die ländliche Idylle des Ortes. Friedrich II. war der Meinung, dass „die Mühle dem Schloss eine Zierde sey“. Residenz Friedrichs II. In der Kabinettsorder vom 13. Januar 1745 verfügte Friedrich II. den Bau eines „Lust-Hauses zu Potsdam“. Nach Skizzen des Königs hatte Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff Entwurfszeichnungen angefertigt. Den Vorschlägen Knobelsdorffs, das Gebäude durch ein Sockelgeschoss zu erhöhen, zu unterkellern und bis nahe an den Rand der obersten Terrasse zu stellen, um dem Gebäude vom Parterre aus gesehen eine bessere Wirkung zu verleihen, widersprach Friedrich. Er wünschte kein repräsentatives Gebäude, sondern ein intimes Wohnschloss im Stil des Rokoko, das nur seinen privaten Bedürfnissen entsprach. Einen ebenerdigen Bau, dessen Sockel der Berg war, ein „maison de plaisance“, ohne eine Vielzahl von Stufen, um vom Innenraum direkt auf eine breite Terrasse und von dort in den Garten zu gelangen. Eine enge Verbindung zwischen Wohnkultur und freier Natur. Bei allen im Auftrag Friedrichs II. geschaffenen Bauwerken in Potsdam und Berlin griff dieser administrativ und künstlerisch in das Baugeschehen ein. Nach seinen Vorgaben wurden Entwürfe angefertigt und vor jedem Baubeginn Kostenvoranschläge gemacht. Erst nach der Genehmigung durch den König durften die Arbeiten beginnen. Er mischte sich in alles ein und wollte in allen Einzelheiten unterrichtet werden, was oft zu Missstimmigkeiten zwischen den Architekten und dem König führte und auch Rückbauten auslöste. Die autokratische Wesensart Friedrichs II. schränkte somit auch die baukünstlerischen Vorstellungen Knobelsdorffs ein, der die eigenwilligen Wünsche seines Auftraggebers architektonisch umzusetzen hatte. Diterichs übertrug die Risse Knobelsdorffs ins Detail, wählte die Materialien aus, schloss die Verträge mit Bildhauern und Steinmetzen und beauftragte Johann Gottfried Büring und Carl Ludwig Hildebrandt, mit denen er bereits den Weinberg terrassiert hatte, als „Conducteure“ mit der Ausführung. Am 14. April 1745 wurde der Grundstein gelegt. Am 2. Mai wurde Diterichs durch Kabinettsbefehl als Bauleiter durch Jan Bouman ersetzt und kehrte mit Büring nach Berlin zurück. Nach nur zwei Jahren Bauzeit fand am 1. Mai 1747 die Einweihung des Weinbergschlosses statt, obwohl noch nicht alle Räume fertiggestellt waren. Außer in Kriegszeiten lebte Friedrich II. dort von Ende April bis Anfang Oktober. Das Gebäude war nur für den König und von ihm ausgewählte Gäste konzipiert. Von seiner Gemahlin Elisabeth Christine von Braunschweig-Bevern, mit der er seit 1733 verheiratet war, trennte er sich räumlich nach seiner Thronbesteigung 1740. Sie nahm im Berliner Schloss stellvertretend für ihn Repräsentationsaufgaben wahr; als Sommersitz wies er ihr das Schloss Schönhausen unweit nördlich von Berlin zu; in Sanssouci hatte sie keinen Zutritt, sie sah die Anlage nur ein einziges Mal, auf der Flucht von Berlin nach Magdeburg während des Siebenjährigen Krieges im Oktober 1757. Im Rokoko kam es zu einer Trennung von privatem und öffentlichem Bereich. Für die repräsentativen Verpflichtungen war das Potsdamer Stadtschloss vorgesehen, dessen Umbau zur selben Zeit stattfand und das von Friedrich II. in den Wintermonaten bewohnt wurde. Potsdam entwickelte sich zur eigentlichen Residenz, während das Berliner Schloss, in dem die Königin Repräsentationsaufgaben wahrnahm und Schloss Charlottenburg, wo Friedrich II. zu Beginn seiner Regierungszeit den „Neuen Flügel“ an der östlichen Seite anbauen ließ, an die zweite Stelle traten und das Königsberger Schloss sowie das Breslauer Stadtschloss nur gelegentlich besucht wurden. In Sanssouci komponierte, musizierte und philosophierte der preußische Monarch. Er regierte diszipliniert sein Land und lebte bescheiden ohne Prunk. Seine Bescheidenheit steigerte sich im Alter bis zum Geiz. Zu seinen Lebzeiten ließ Friedrich II. an der Außenfassade keine und in den Innenräumen nur mit Widerwillen Reparaturen vornehmen, da es, wie er bei anderer Gelegenheit sagte, „nur bey meinem Leben dauern“ soll. Die Gleichgültigkeit des an Rheuma und Gicht leidenden Königs gegenüber nötigen Renovierungen kritisierte Oberhofbaurat Heinrich Ludwig Manger später in seiner Baugeschichte von Potsdam: „Leider hat der große Mann an vielen seiner Baue Schadhaftigkeiten erlebt, deren Reparaturkosten ihm außerordentlich empfindlich waren.“ So stellte sich auch die fehlende Unterkellerung, auf die der König gegen Knobelsdorffs Rat bestanden hatte, als Baufehler heraus, da sie zur Beschädigung der Parketts durch aufsteigende Feuchtigkeit und zu ständiger Fußkälte führte. Zwischenzeit Nach dem Tod Friedrichs II. begann in Preußen eine neue Epoche, die auch durch den Formenwandel in der Architektur sichtbar wurde. Mit dem Regierungsantritt des Nachfolgers Friedrich Wilhelm II. im August 1786 hielt der in Europa schon länger favorisierte klassizistische Baustil auch in Potsdam und Berlin Einzug. Der neue König ließ nach seinem Regierungsantritt den Neuen Garten und das Marmorpalais errichten. Noch im Todesjahr seines Vorgängers ließ er in Sanssouci Friedrichs Sterbezimmer, das verwohnte Arbeits- und Schlafzimmer, von dem Architekten Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff abgesehen vom Kamin verändern. Der Dessauer Architekt hatte, während Friedrich II. von 1763 bis 1769 das Neue Palais in den Formen des Barock errichten ließ, mit Schloss Wörlitz im Wörlitzer Park den frühesten klassizistischen Bau in Deutschland geschaffen. Nach seinen Plänen entstand nun in Sanssouci der erste konsequent im Stil des Klassizismus gestaltete Innenraum der Potsdamer und Berliner Schlösser. Friedrich Wilhelm bewohnte ihn in den Sommern der Jahre 1787–1790, als er das Marmorpalais bezog. Der ab 1797 regierende Friedrich Wilhelm III. nutzte Sanssouci lediglich für gelegentliche Aufenthalte, ohne etwas am Inventar zu verändern. Nur seine Gemahlin Luise wohnte 1794 mit ihrer Schwester Friederike für einige Monate im Schloss, während Friedrich Wilhelm in Polen war. Die Familie verbrachte die Sommermonate vorzugsweise im Schloss Paretz oder auf der Pfaueninsel. Schloss und Inventar überstanden auch die französische Besetzung Potsdams 1806 unbeschadet, da es Napoléon unter seinen persönlichen Schutz stellte und so vor Plünderungen bewahrte. Residenz Friedrich Wilhelms IV. Fast einhundert Jahre nach dem Bau des Schlosses Sanssouci kam ein König auf den preußischen Thron, der ein Bewunderer Friedrichs des Großen und seiner Welt war. Friedrich Wilhelm IV., der „Romantiker auf dem Thron“, empfand eine Gemeinsamkeit der vielschichtigen Interessen, besonders auf dem Gebiet der Architektur und der künstlerischen Mitgestaltung. Schon in der Kronprinzenzeit bezog er im Jahr 1815 die ehemaligen Räume Friedrichs II. im Berliner Stadtschloss. 1835 erhielt er die Erlaubnis, auch im Schloss Sanssouci wohnen zu dürfen, obwohl ihm und seiner Gemahlin Elisabeth Ludovika von Bayern das erst wenige Jahre zuvor erbaute, südwestlich gelegene Sommerschloss Charlottenhof zur Verfügung stand. Das Kronprinzenpaar bezog die ehemaligen Gästezimmer auf der Westseite. Die Räume Friedrichs II. auf der Ostseite dienten zunächst als Staats- und Gesellschaftsräume und wurden erst Jahre später in die private Nutzung einbezogen. Nach der Thronbesteigung 1840 machte die größere Hofhaltung einen Um- und Ausbau der Seitenflügel nötig. Nach Skizzen Friedrich Wilhelms IV. fertigte Ludwig Persius die Entwürfe. Die alten Seitenflügel wurden abgerissen und 1841/42 unter Leitung des Architekten Ferdinand von Arnim verlängert und aufgestockt. Das vorhandene Mobiliar blieb erhalten, fehlende Stücke wurden nach Möglichkeit durch Möbel aus friderizianischer Zeit ersetzt. Das unter Friedrich Wilhelm II. umgestaltete Sterbezimmer Friedrichs II. sollte wieder in seinen ursprünglichen Zustand versetzt werden. Eine Realisierung dieses Plans erfolgte jedoch nicht, weil Friedrich Wilhelm IV. die Unterlagen und Entwürfe nicht authentisch genug erschienen. Die in friderizianischer Zeit fast kahle, nur mit Laubengängen, Gitterpavillons und Bildwerken ausgestattete oberste Weinbergterrasse wurde 1845 mit Vasen und von Persius und Ludwig Ferdinand Hesse entworfenen Wasserspielen geschmückt, durch eine Marmorbalustrade begrenzt und es wurden auf den fünf unteren Ebenen Schöpfbrunnen angelegt. Hofgärtner Hermann Sello bepflanzte die Terrassen mit Gehölzen. Im Parterre erweiterte Persius 1840/1841 das Fontänenbecken zu einem Kreis, wodurch sich auch der Skulpturenkreis des „Französischen Rondells“ um rund drei Meter vergrößerte. 1848 kamen zehn (heute acht) halbrunde, von Hesse entworfene Marmorbänke zwischen die Figuren. Aus demselben Jahr stammen auch vier in den Außenkompartimenten westlich und östlich der „Großen Fontäne“ aufgestellte Marmorsäulen mit Figurenkopien nach antiken Vorbildern sowie je zwei marmorne Brunnenwände mit Bagnerolen (Marmorwannen) und Statuen der Musen Klio, Polyhymnia, Euterpe und Urania. Am südlichen Ende des Parterres, in der Mittelachse, wurde 1866 eine verkleinerte Nachbildung des Reiterstandbilds Friedrichs des Großen aufgestellt, das heute im „Neuen Stück“ unterhalb des Orangerieschlosses steht. Friedrich Wilhelm IV. starb am 2. Januar 1861 im Schloss Sanssouci und wurde in der Gruft der naheliegenden Friedenskirche beigesetzt. Die letzte Bewohnerin des Schlosses war seine Witwe Elisabeth Ludovika. Sie lebte noch dreizehn Jahre in Sanssouci, bis sie am 14. Dezember 1873 starb und neben Friedrich Wilhelm IV. in einer Zeremonie bestattet wurde. Seit Ende des 19. Jahrhunderts Nach 1873 stellte Wilhelm I. das Schloss mit Inventar musealen Zwecken zur Verfügung, wodurch es mit zu den ältesten Schlossmuseen in Deutschland gehört. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Ende der Monarchie verblieb es zunächst im Besitz der Hohenzollern und kam 1927 in die Obhut der am 1. April desselben Jahres gegründeten preußischen „Verwaltung der Staatlichen Schlösser und Gärten“. Unter Leitung des Direktors Ernst Gall versuchte die Schlösserverwaltung mit Unterstützung der Staatlichen Museen zu Berlin die Innenraumgestaltung zur Zeit Friedrichs II. wiederherzustellen. Unter anderem kam der Schreibtisch Friedrichs des Großen in das Arbeits- und Schlafzimmer zurück. Das denkmalpflegerische Konzept betraf auch den gesamten friderizianischen Parkteil, mit dessen Rekonstruktion Gartenoberinspektor Georg Potente, seit Juni 1927 Gartendirektor des Parkreviers Sanssouci, betraut wurde. Im Zuge dieser Wiederherstellungsarbeiten ließ er ab 1927 die stark bewachsenen Weinbergterrassen freilegen und neu bepflanzen, zwei Halbrundbänke im „Französischen Rondell“ aus der Mittelachse nehmen sowie die Wasserspiele und Bildwerke aus der Zeit Friedrich Wilhelms IV. von der obersten Terrasse entfernen. Als im Zweiten Weltkrieg die Luftangriffe der Alliierten auf Berlin begannen, wurden ab April 1941 die Fenster vermauert und zahlreiche Kunstgegenstände nach Rheinsberg und Bernterode ausgelagert. Aus Schloss Sanssouci kamen Gemälde französischer Maler des 18. Jahrhunderts, Konsolvasen aus Meißener Porzellan, fast alle Möbel aus der „Kleinen Galerie“ und die Bibliothek Friedrichs II. Die restlichen Möbel, fast alle Skulpturen und Bilderrahmen blieben im Schloss. Die Kämpfe um Potsdam im April 1945 überstand das Gebäude unbeschadet, obwohl auf der Nordseite, zwischen der Auffahrt zum Schloss und der Historischen Mühle, Kampfhandlungen stattfanden, in deren Verlauf die Galeriewindmühle abbrannte. Nach dem Einmarsch der Roten Armee in Potsdam am 27. April 1945 wurde der Park Sanssouci unter die Kontrolle des Oberstleutnants der Garde Jewgeni Fjodorowitsch Lutschuweit gestellt und bis zum 4. Juni 1946 für die Öffentlichkeit geschlossen. Die meisten der nach Rheinsberg ausgelagerten und der in Sanssouci gebliebenen Kunstgegenstände gelangten als Beutegut in die damalige Sowjetunion und kamen 1958 nur zu einem geringen Teil zurück. Die von amerikanischen Soldaten gefundenen Kunstgegenstände aus Bernterode wurden zunächst zum Central Art Collecting Point im Museum Wiesbaden gebracht und 1957 in das Schloss Charlottenburg in West-Berlin. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands kehrte die Büchersammlung Friedrichs II. 1992 von Charlottenburg nach Sanssouci zurück. Zwischen 1993 und 1995 folgten sechsunddreißig Ölgemälde und zwei Marmorbüsten der Amphitrite und des Neptun von Lambert-Sigisbert Adam. Mit Hilfe der Kulturstiftung der Länder und der Stiftung Deutsche Klassenlotterie konnten bereits 1990 die nach Rheinsberg ausgelagerten Gemälde „Sultan im Garten“ und „Wahrsagerin“ von Jean-Baptiste Pater aus dem Kunsthandel zurückerworben werden. 1966 begann eine umfassende Gebäuderestaurierung. Seit 1981 ist der westliche Seitenflügel, der sogenannte „Damenflügel“, und seit 1993 die Küche im östlichen Seitenflügel für die Öffentlichkeit zugänglich. Mit etwa 330.000 Besuchern war Schloss Sanssouci im Jahr 2018 die beliebteste Sehenswürdigkeit Potsdams. Gruft Friedrichs II. Der „Alte Fritz“, wie er im Volksmund genannt wurde, starb am 17. August 1786 im Sessel seines Arbeits- und Schlafzimmers im Schloss Sanssouci. Er wollte laut eigener Verfügung in einer Gruft neben seinen Lieblingshunden beigesetzt werden. Die unterirdische, gemauerte und mit Marmorplatten bedeckte Grabkammer hatte er bereits 1744, noch vor Beginn des eigentlichen Schlossbaues, seitlich auf der obersten Terrasse des gerade angelegten Weinbergs errichten lassen. In seiner 46-jährigen Regierungszeit beschäftigte sich Friedrich immer wieder mit dem Tod. Neben seinem Politischen Testament von 1752 verfasste er vor fast jeder Schlacht, vor jedem Krieg neue Verfügungen, in denen er bis ins kleinste Detail alles Familiäre und Finanzielle regelte. Ebenso oft wiederholte er die Anweisungen für sein Begräbnis: Sein Neffe und Nachfolger Friedrich Wilhelm II. befolgte diese Anweisungen nicht. Er ließ Friedrichs II. Sarg stattdessen in der Gruft der Potsdamer Garnisonkirche unmittelbar neben dem Sarg seines Vaters, des Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm I., bestatten. Besuchern zeigte er die Grabstelle auf der Terrasse mit den Worten: „Hier wollte mein Vorgänger begraben sein, er wollte lieber neben seinen Hunden als zwischen seinen Vorfahren liegen.“ Die Zeitgenossen hielten eine solche Grabstätte für eines Königs unwürdig und einen Ausdruck von Friedrichs Menschenverachtung, obwohl die Gruft vor den Hundegräbern entstanden war. Auch Friedrichs Vorbild Moritz von Nassau war 1680 aus seinem Waldgrab in eine Fürstengruft umgebettet worden. Der Brauch der Garten- und Parkbegräbnisse setzte erst mit der von der Romantik geprägten nachfolgenden Generation ein, so ließ sich Friedrichs Bruder Heinrich 1802 im Park von Schloss Rheinsberg in einem selbstentworfenen Mausoleum bestatten. Im Zweiten Weltkrieg brachten Soldaten der Wehrmacht die Särge aus der Garnisonkirche in Sicherheit. Im März 1943 kamen sie in das „Objekt Kurfürst“, einen unterirdischen Bunker auf dem Gelände des heutigen Einsatzführungskommandos der Bundeswehr im Ortsteil Geltow (Wildpark-West) der Gemeinde Schwielowsee und im März 1945 in das Salzbergwerk Bernterode im Eichsfeld. Die Garnisonkirche samt der Grabstätte Friedrichs und seines Vaters brannte im April 1945 beim verheerenden Luftangriff auf Potsdam aus. Nach Kriegsende verbrachten Soldaten der amerikanischen Armee die Särge im Mai 1945 in das Marburger Landgrafenschloss, im Februar 1946 in das Hessische Staatsarchiv Marburg und im August 1946 in die Elisabethkirche. Dort blieben sie bis zur Umbettung auf die Burg Hohenzollern bei Hechingen im August 1952. Nach der deutschen Wiedervereinigung wurde die testamentarische Verfügung Friedrichs II. erfüllt. Die Initiative ging von Louis Ferdinand Prinz von Preußen aus, dem Chef des Hauses Hohenzollern und Hausherrn der Burg Hohenzollern, der die Särge 1953 in die Christuskapelle der Burg hatte umbetten lassen. Die unterirdische Grabkammer erwies sich auch nach fast 250 Jahren als weitgehend intakt, das Mauerwerk wurde saniert und eine wasserdichte Bedachung eingesetzt. Am 17. August 1991, dem 205. Todestag Friedrichs II., wurde der Sarkophag mit den sterblichen Überresten des Königs im Ehrenhof des Schlosses Sanssouci aufgebahrt, eskortiert von einer Ehrenwache der Bundeswehr. Da der König angeordnet hatte: „Im übrigen will ich, was meine Person betrifft, in Sanssouci beigesetzt werden, ohne Prunk, ohne Pomp und bei Nacht“ fand die Beisetzung um Mitternacht statt, in Anwesenheit des Bundeskanzlers Helmut Kohl, von Mitgliedern des Hauses Preußen und übertragen vom Fernsehen. Laut Nicolai soll Friedrich II. bei einem Spaziergang über die Schlossbaustelle einst zum Marquis d’Argens gesagt haben: . Die Grabstelle zieren die 1749 von François Gaspard Adam geschaffene Marmorgruppe Flora mit Zephyr und sechs im Halbrund aufgestellte Porträtbüsten römischer Kaiser. Franz Theodor Kugler fasst die Bedeutung der Grabstätte im Zusammenhang mit der Gesamtanlage 1840 wie folgt zusammen: Besucher legen auf dem schlichten Grabstein mit der Aufschrift „Friedrich der Große“ Blumen und Kartoffeln nieder, in Erinnerung an den Kartoffelbefehl. Weil zu DDR-Zeiten 1968 die bereits im Wiederaufbau befindliche Garnisonkirche abgerissen worden war, wurde Friedrichs Vater, der Soldatenkönig, in das Kaiser-Friedrich-Mausoleum an der Friedenskirche im Park Sanssouci umgebettet. Architektur Das für einen Regenten in seinen Ausmaßen eher bescheidene Schloss mit zwölf Räumen, von denen Friedrich II. nur fünf selbst bewohnte, entsprach der Veränderung in der höfischen Baukunst um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Die barocken Residenzschlösser, die nach dem Vorbild von Versailles ab der Mitte des 17. Jahrhunderts errichtet wurden, dienten den fürstlichen Bauherren vor allem zur Repräsentation ihrer politischen und wirtschaftlichen Macht. Sie gingen in ihrer Größe oft weit über den eigentlichen Nutzen als Wohnsitz und die Notwendigkeit einer standesgemäßen Hofhaltung hinaus. Dieses Übermaß an Pracht und Größe erweckte die Sehnsucht nach Intimität und Bequemlichkeit. Der Wandel wurde jedoch nicht radikal vollzogen, sondern erfolgte allmählich. Friedrich II., der zeit seines Lebens die Formen des Barock und Rokoko bevorzugte, ließ noch zwei Jahrzehnte nach dem Bau des Schlosses Sanssouci das Neue Palais im westlichen Teil des Parks errichten. Nach dem Siebenjährigen Krieg wollte er mit dem Gästeschloss die Macht und Stärke Preußens demonstrieren. So bezeichnete er es auch als seine „Fanfaronnade“ (Prahlerei, Angeberei). Außenarchitektur Der eingeschossige Hauptbau nimmt mit seinen angrenzenden Seitenflügeln fast die gesamte Breite der obersten Terrasse ein. Die Länge des Hauptbaus „mit den beiden runden Kabinetten an den Seiten, beträgt 292 Fuß [91,6 m], und die Tiefe 49 Fuß [15,4 m]. […] die ganze Höhe von außen 39 Fuß 2 Zoll [rund 12,3 m]“. Die 15-achsige Südseite betont ein vorspringender, halbovaler Mittelbau mit einer bekrönenden Kuppel. Über dem mittleren Rundbogenfenster ist der Name des Schlosses in vergoldeten Bronzelettern angebracht. Zwischen den fast bodentiefen Rundbogenfenstern stützen sechsunddreißig paarweise angeordnete Atlanten das Gebälk. Die Sandsteinfiguren des Bildhauers Friedrich Christian Glume stellen Bacchanten und Bacchantinnen dar und wurden 1746 aus roh versetzten Steinblöcken vor Ort ausgearbeitet. An der Gestaltung des Skulpturenschmucks auf der umlaufenden Dachbalustrade und der Putten­gruppen auf den Kuppelfenstern war er ebenso beteiligt wie auch sein Vater Johann Georg Glume und die Werkstätten der Zierratenbildhauer Johann Melchior Kambly und Matthias Müller. Die in friderizianischer Zeit schmucklosen Seitenflügel, „jeder von 98 Fuß [31 m] Länge und 35 Fuß [11 m] Tiefe“, in denen die Küche, Stallungen und Räume für die kleine Dienerschaft untergebracht waren, verdeckte Knobelsdorff mit symmetrisch angeordneten Laubengängen, die in je einem freistehenden, mit vergoldeten Ornamenten verzierten Gitterpavillon ihren Abschluss fanden. Vor den Laubengängen stehen Porträtbüsten römischer Persönlichkeiten und Vasenkopien. Im östlichen Pavillon ließ Friedrich II. die Figur des „Betenden Knaben“ aufstellen, die er 1747 aus dem Besitz des Fürsten Wenzel von Liechtenstein erworben hatte. Seit 1900 steht dort ein Nachguss aus der Berliner Bronce-Waaren-Fabrik L. C. Busch. Die schlichter gehaltene Nordseite des Schlosses steht im auffälligen Gegensatz zur bildhauerisch verspielten Südseite. Anstelle der Atlanten gliedern hier korinthische Pilaster die Front. Das Pendant zum halbovalen Mittelbau auf der Gartenseite bildet ein rechteckiger Risalit mit Blendsäulen und flachem Pultdach. Die Front schließt an beiden Enden mit kurzen, im rechten Winkel angesetzten Flügelbauten. Weiterführende Kolonnaden umschließen im Halbrund den schmucklosen Ehrenhof und öffnen sich zu der nördlich gelegenen steilen Zufahrtsrampe. Die in zwei Reihen angeordneten vierundvierzig Säulenpaare lassen Platz für Wandelgänge. Wie auf der Südseite schmückt auch hier eine Balustrade mit Sandsteinvasen den Dachansatz des Schlossbaus und die Viertelbögen der Kolonnade. Wein- und Blumenranken aus Sandstein zieren die Rundbögen der fast bodentiefen Fenster und Fenstertüren. Nach dem Abriss der eingeschossigen Anbauten aus friderizianischer Zeit entstanden um zwei Achsen verlängerte Seitenflügel, mit je zehn Fensterachsen und dreibogigen Vorhallen an den Stirnseiten. Unter Einhaltung der Traufhöhe des Schlossbaus wurden die Anbauten um ein Geschoss aufgestockt und das flache Satteldach hinter einer Balusterattika verborgen. Die Fenster bekamen einen geraden Abschluss. Für die Fassaden übernahm Persius die Gestaltungselemente der Nordseite. Pilaster, Baluster und Verzierungen wurden aus Zink gegossen und gesandelt, sodass sie den Vorbildern aus Sandstein täuschend ähnlich sehen. Innenarchitektur Das Schloss entspricht den Grundsätzen eines „Maison de plaisance“, dessen Räume in Sanssouci auf einer Ebene liegen, um von ihnen mühelos in den Garten zu gelangen. Auch bei der Raumaufteilung wurde Wert auf Bequemlichkeit gelegt. Nach Ansicht der zeitgenössischen französischen Architekturtheorie entsprach das Appartement double dem höfischen Komfort. Bei dieser Aufteilung liegen zwei Reihen von Zimmern hintereinander: die Haupträume auf der dem Garten zugewandten Seite, in der Regel nach Süden, und die Dienerkammern dahinter auf der Nordseite des Gebäudes. Ein „Appartement double“ besteht somit aus einem Hauptraum und einer anschließenden Dienerkammer. Türen verbinden die Appartements miteinander. Sie sind in einer Achse angeordnet, einer Enfilade, so dass die Ausdehnung des Schlosses im Innern mit einem Blick erfasst werden kann. Ein repräsentativer Eingangsbereich beherrscht den Mittelbau, der den intimen Charakter des Gebäudes nicht sogleich erkennen lässt. Friedrich der Große fertigte nach diesen Regeln höfischer Baukunst Grundrissskizzen an, die aber unter Berücksichtigung seiner persönlichen Wünsche und Vorstellungen von Wohnkomfort in einigen Bereichen von der französischen Bautheorie abwichen. Auch bei der Ausstattung der Innenräume bestimmte er bis ins Detail, wie die Räume auszusehen hatten. Nach oft von ihm vorgefertigten Skizzen schufen Künstler wie Johann August Nahl, die Brüder Johann Michael und Johann Christian Hoppenhaupt, die Brüder Johann Friedrich und Heinrich Wilhelm Spindler und Johann Melchior Kambly Kunstwerke im Stil des Rokoko. Friedrich dem Großen war jede „Luxussucht“, was seine Person anbetraf, fremd. Er kümmerte sich wenig um Etikette und Mode, was ihn mit zunehmendem Alter mit verschmutzter und verschlissener Kleidung herumlaufen ließ, aber es war ihm ein inneres Bedürfnis, sich mit edlen Dingen zu umgeben. Er hatte ein feines Gespür für alles Schöne und gestaltete seine Privatgemächer nach eigenem Geschmack und eigenen Bedürfnissen, wobei er das Gängige oft ignorierte. Diese „Eigenkompositionen“ in der Rokokokunst führten zu dem Begriff friderizianisches Rokoko. Vestibül, Marmorsaal und Königswohnung Im Mittelteil des Schlosses liegen in der Nord-Süd-Achse das Vestibül und der dem Garten zugewandte Marmorsaal. Nach Osten schließt die Königswohnung an, mit Audienzzimmer, Konzertzimmer, Arbeits- und Schlafzimmer, Bibliothek und einer langgestreckten Galerie auf der Nordseite. Westlich der beiden Mittelsäle liegen fünf Gästezimmer. Im Vestibül, das vom Ehrenhof betreten wird, wiederholt sich die gekuppelte Säulenstellung der Kolonnade. Die Wände des rechteckigen Vorsaals sind durch zehn korinthische Säulenpaare aus weißem Stuckmarmor mit vergoldeten Basen und Kapitellen gegliedert. Sie stehen vor korinthischen Pilastern, die nur leicht aus der Wand heraustreten. Das Deckenbild über der gewölbten Voute zeigt die römische Göttin Flora mit Genien, die Blumen und Früchte vom Himmel streuen. Das Gemälde schuf 1746 der schwedische Maler Johann Harper. Den drei Fenstertüren an der Ehrenhofseite entsprechen auf der gegenüberliegenden Seite drei flache, rundbogige Blendnischen mit Türen. Über der mittleren Flügeltür, dem Eingang zum Marmorsaal, und über zwei Türen in der West- und Ostwand sind vergoldete Supraporten­reliefs von Georg Franz Ebenhech angebracht. Sie stellen mit Themen aus dem Bacchusmythos ebenso einen Bezug zum Weinberg her wie die Ornamente an den Türfüllungen mit vergoldeten Weinranken, Hermen und Musikemblemen von Johann Christian Hoppenhaupt. Die 1730 von Lambert-Sigisbert Adam geschaffene Marmorkopie des Ares Ludovisi kam als Geschenk Ludwigs XV. zusammen mit den Figuren aus dem Französischen Rondell 1752 nach Potsdam. Den Ares ließ Friedrich II. als Gegenstück einer Statue des Merkur aufstellen, die aus der Sammlung seiner Schwester Wilhelmine von Bayreuth stammte. Friedrich Wilhelm II. ließ den Merkur im Marmorpalais aufstellen und durch eine Trajan-Statue ersetzen. Beide Figuren gelangten 1830 in die Berliner Antikensammlung. Als Ersatz für den Trajan kam ein Merkur von Jean-Baptiste Pigalle in das Vestibül. An dessen Stelle trat 1846 die von Heinrich Berges geschaffene Sitzstatue der jüngeren Agrippina. Der auf der Gartenseite liegende Marmorsaal diente als Festsaal. Für den ovalen Grundriss und die durch eine Lichtöffnung im Scheitelpunkt geöffnete Kuppel nahm Knobelsdorff das Pantheon in Rom zum Vorbild. Der namengebende Marmor aus Carrara und Schlesien befindet sich an Säulen, Wänden, Fensterlaibungen sowie in den ornamentalen Einlegearbeiten des Fußbodens. Die vergoldeten Stuckarbeiten in der Kuppel führten Carl Joseph Sartori (1709–1770) und Johann Peter Benkert aus. Sie gestalteten die Wölbung mit kassettierten Feldern, militärischen Emblemen und in Medaillons dargestellten Attributen der Künste und Wissenschaften. Vier weibliche Figuren und Puttengruppen von Georg Franz Ebenhech auf dem Gesims symbolisieren die Zivil- und Militärarchitektur, die Astronomie und Geografie, die Malerei und Bildhauerkunst sowie die Musik und Poesie. Die Anordnung der acht korinthischen Säulenpaare wiederholt sich wie im Vestibül. In den dazwischen liegenden Nischen neben der Tür sind die 1748 von François Gaspard Adam geschaffenen Skulpturen der Venus Urania und des Apollon platziert. Der zur Venus gewandte Apollon hält ein geöffnetes Buch in der Hand, das als das Werk De rerum natura des epikureischen Dichters Lukrez zu deuten ist. Ihr gelten die in vergoldeten Lettern eingefügten Worte „Te sociam studeo scribendis versibus esse / Quos ego de rerum natura pangere conor“ (zu deutsch: „Nach dir [Venus] verlange ich als meiner Gefährtin beim Dichten der Verse, die ich mich über der Dinge Wesen zu schreiben erkühne“). Die Bronzebüste des schwedischen Königs Karl XII., von Jacques Philippe Bouchardon (1711–1753), ist seit 1775 im Marmorsaal nachweisbar. Friedrich II. erhielt die Büste 1755 von seiner Schwester, der schwedischen Königin Luise Ulrike, zum Geschenk. Das östlich anschließende Audienzzimmer wurde in friderizianischer Zeit auch als Speisezimmer genutzt. In diesem Raum, der an kühlen Sommertagen beheizt werden konnte, fanden vermutlich die geselligen „Tafelrunden“ Friedrichs II. statt und nicht, wie von Adolf Menzel auf dem Gemälde Tafelrunde von Sanssouci dargestellt, im Marmorsaal, der nur bei besonderen Anlässen als Esssalon diente. Zahlreiche Gemälde französischer Maler des 18. Jahrhunderts dominieren das Erscheinungsbild des Raums. Die mit violettrosafarbenem Seidendamast bespannten Wände schmücken in loser Hängung Werke von Jean-Baptiste Pater, Jean François de Troy, Pierre Jacques Cazes (1676–1754), Louis de Silvestre, Antoine Watteau und anderen. Die Supraportenreliefs mit Putten, die mit Blumen und Büchern spielen, sind Arbeiten von Friedrich Christian Glume. Das Deckengemälde über der mit Blattmotiven geschmückten Voute, Zephir bekränzt Flora von Antoine Pesne, zeigt den Windgott mit der Blumengöttin. Im Konzertzimmer wird die überschwängliche Ornamentform des Rokoko, die Rocaille, an den in Weiß und Gold gehaltenen Wänden und der Decke im Überfluss sichtbar. Die Wandgemälde von Antoine Pesne und Wandspiegel sind in die Dekoration eingepasst und werden durch die Rocaillen mit ihren typischen S-Kurven und C-Schwüngen umrahmt. Die Holzeinfassungen stammen aus der Werkstatt des Bildhauers Johann Michael Hoppenhaupt (d. Ä.). Zwei Supraportenbilder mit Landschaften, antiken Monumenten und Ruinen malte Charles Sylva Dubois, Antoine Pesne ein Landschaftsbild und die Ansicht des Schlosses Sanssouci. Das Hammerklavier von Gottfried Silbermann aus dem Jahr 1746 und das Notenpult Friedrichs II., eine Arbeit des Zierratenbildhauers Johann Melchior Kambly von 1767, weisen auf die Nutzung des Raumes hin. Adolf Menzels Gemälde Das Flötenkonzert von Sanssouci gibt die festliche Atmosphäre bei königlichen Konzerten eindrucksvoll wieder. Das Arbeits- und Schlafzimmer zeigte zur Zeit Friedrichs II. ebenso reiche, vergoldete Stuck- und Holzschnitzarbeiten wie das Konzertzimmer. Nach der Umgestaltung im klassizistischen Stil durch Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff blieb nur noch der Kamin an seinem Platz. Die seladongrüne Seidenbespannung der Wände mit aufliegenden vergoldeten Holzschnitzarbeiten wich einer hellgrünen Bespannung. Die ehemals stuckierte Decke bemalte der Dekorationsmaler Johann Fischer mit einer Art Velarium, um das sich Tierkreiszeichen, Opferszenen und Götterdarstellungen gruppieren und in die Zwickel Allegorien des Geschichtsruhms, des Friedens, der Kriegs- und Dichtkunst. Die ursprünglich reich ornamentierte Putten-Brüstung, die den Arbeits- vom Schlafbereich abgrenzte, wurde durch zwei, auf Postamenten ruhende ionische Säulen und zwei mit Blumen-Fruchtgehängen bemalte Pilaster ersetzt. Unter Friedrich Wilhelm IV. kam Mitte des 19. Jahrhunderts ein Teil der friderizianischen Möbel in den Raum zurück, unter anderem 1843 der Sterbesessel Friedrichs II. Zudem ließ er die Wände mit Gemälden schmücken, die vor allem Friedrich den Großen zeigen. Die Werke schufen Antoine Pesne, Johann Georg Ziesenis, Joachim Martin Falbe, Charles-Antoine Coypel, Edward Francis Cunningham, Christian Bernhard Rode, Johann Christoph Frisch und Anton Graff. Die Bibliothek weicht von der Raumordnung französischer Schlossbaukunst ab. Das kreisrunde Zimmer liegt fast versteckt außerhalb der Enfilade am Ende der Königswohnung und ist durch einen schmalen Gang vom Arbeits- und Schlafzimmer zu erreichen. Die Lage unterstreicht den privaten Charakter des Raums, in den sich der „Philosoph von Sanssouci“ ungestört zurückziehen konnte. Mit Zedernholz getäfelte Wände und in Wandnischen eingelassene Bücherschränke aus gleichem Holz, in die auch die Eingangstür eingebunden ist, zeigen ein geschlossenes Bild in der Wanddekoration. Die harmonische Farbgestaltung in Braun mit der goldfarbenen Ornamentik der Rocaille vermittelt eine ruhige Stimmung. Vier vergoldete Bronzereliefs über den Schränken, mit Allegorien der Künste, schuf Benjamin Giese. Nischen nehmen den Kamin und die Sitzgarnitur auf. Die Bücherschränke sind gefüllt mit circa 2100 Bänden der griechischen und römischen Dichtung und Geschichtsschreibung in französischer Übersetzung sowie französischer Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts, deren Mittelpunkt die Werke von Voltaire bilden. Die deutsche Literatur fand bei Friedrich II. kaum Beachtung. Die Bücher sind in braunes oder rotes Ziegenleder gebunden und reich vergoldet. Der König besaß in seinen Schlossbibliotheken die jeweils gleiche Ausstattung an Werken und ließ sie ab 1771 mit goldenen Buchstaben auf dem Buchdeckel kennzeichnen. Auch bei der im Norden liegenden Galerie wich Friedrich II. von der französischen Raumordnung des „Appartement double“ ab, nach der in diesem Bereich Kammern für die Dienerschaft vorgesehen waren. Die Wand des schmalen, langgestreckten Raums wird durch Nischen gegliedert, in denen Marmorskulpturen griechisch-römischer Gottheiten aus der Sammlung des französischen Kardinals Melchior de Polignac platziert sind. Über fünf Sofas hängen Gemälde von Nicolas Lancret, Jean-Baptiste Pater und Antoine Watteau. An der durch Fenster und Spiegel unterbrochenen Außenwand stehen zehn Marmorbüsten auf Postamenten und auf den Kaminen an den Enden der Galerie die zwei Büsten der Amphitrite und des Neptun von Lambert Sigisbert Adam. Das fünfteilige Deckengemälde über der mit Weinlaubranken dekorierten Voute stammt von Johann Gottlieb Glume und zeigt blumenstreuende Putten. Die Tempelruine auf dem ostseitigen Supraportenbild fertigte Charles Sylva Dubois und die Figurenstaffage auf der westseitigen Supraporte Antoin Pesne. Gästezimmer Die nach Westen an den Marmorsaal anschließenden fünf Gästezimmer haben die Fenster zur Gartenseite und die vier ersten Zimmer einen Alkoven an der gegenüberliegenden Wand. Neben dieser Bettnische führt eine Tür durch einen schmalen Gang in das im Norden angrenzende Dienerzimmer und eine weitere Tür in eine kleine Kammer, die zur Aufbewahrung der Kleidung vorgesehen war. Die Wände des ersten Gästezimmers sind mit weiß gestrichenem Holz getäfelt, in dessen schmale Felder Friedrich Wilhelm Hoeder zartrosafarbene Ornamente und figürliche Darstellungen im chinoisen Stil malte. Der Raum erfuhr bereits 1747 eine Veränderung, als über die Vertäfelung eine blaue Satinade (halbseidener Atlas) gespannt wurde. Vermutlich führte die Verwendung von zu feuchtem Holz zur Rissbildung, die auf diese Weise verdeckt werden sollte. Nach der Entfernung 1953 hätten die bis dahin 14 Gemälde die Bemalung von Hoeder verdeckt, sodass nur noch je zwei Werke von Antoine Pesne und Jean-Baptiste Pater an der Alkovenwand Platz fanden. Die Wände des zweiten und dritten Gästezimmers bekamen schon bei der Einrichtung eine textile Wandbespannung. Neben Supraportenbildern mit Stillleben von Augustin Dubuisson (1700–1771), einem Sohn von Jean Baptiste Gayot Dubuisson, hängen auf der blau-weiß gestreiften Bespannung des zweiten Zimmers Werke von Malern des 18. Jahrhunderts und auf der rot-weiß gestreiften Wandfläche des dritten Zimmers Landschaftsdarstellungen und Veduten von Giovanni Paolo Pannini, Luca Carlevaris, Michele Marieschi und anderen. Es ist nicht genau bekannt, wer im Lauf der Jahrzehnte das Privileg erhielt, in Sanssouci leben zu dürfen. Durch die Namensgebung des vierten Raums, des „Voltairezimmers“, und des fünften, des „Rothenburgzimmers“, werden jedoch zwei Gäste mit Sanssouci in Verbindung gebracht. Es ist nicht sicher, ob Voltaire während seines Aufenthalts in Potsdam von 1750 bis 1753 im Sommerschloss gelebt hat, da er Räume im Potsdamer Stadtschloss bewohnte; auf jeden Fall war er in den drei Jahren häufiger Gast des Königs. Das „Voltairezimmer“ wird in einer Inventarliste von 1782 als „Blumenkammer“ bezeichnet und war wie das erste Gästezimmer vermutlich durch feuchtes Holz so reparaturbedürftig, dass Johann Christian Hoppenhaupt 1752/1753 eine neue Holzvertäfelung fertigte. Die ursprüngliche Bemalung von Hoeder, mit graulila Ornamenten, ist heute nur noch in der Bettnische sichtbar. Hoppenhaupt schuf eine gelblackierte Eichenholzvertäfelung mit bunten, plastischen Holzschnitzereien, die Blumen, Früchte, Sträucher und Tiere darstellen. Die farbenfrohe Blumendekoration aus Stuck und Eisenblech setzt sich an der Decke fort. Eine Büste Voltaires ließ Wilhelm II. nach dem 1774 geschaffenen Modell des Porzellanmodelleurs Friedrich Elias Meyer d. Ä. 1889 kopieren und vor 1905 in den Raum stellen. Das Pendant zur Bibliothek bildet das ebenfalls außerhalb der Enfilade gelegene kreisrunde „Rothenburgzimmer“. Es erhielt seine heute noch gültige Bezeichnung nach einem engen Vertrauten des Königs, dem Grafen Friedrich Rudolf von Rothenburg, der den Raum regelmäßig bis zu seinem Tod 1751 bewohnte. Die zartgrün gestrichene Holzvertäfelung bemalte Hoeder mit chinesischen Motiven, die der Gestaltung im ersten Gästezimmer ähneln. Die Bilder eines unbekannten Künstlers in der Bettnische zeigen Grotesken, die auf Ornamentstiche nach Antoine Watteau zurückgehen. Alle Zimmer wurden mit Kaminen ausgestattet und sind heute, bis auf das „Rothenburgzimmer“, mit Möbeln und Kunstgegenständen aus dem 18. Jahrhundert museal eingerichtet. Seitenflügel In friderizianischer Zeit waren im eingeschossigen Seitenflügel auf der Ostseite die Zimmer für Bedienstete und auf der Westseite die Schlossküche sowie Stallboxen für die Pferde. Durch den Neubau unter Friedrich Wilhelm IV. kam die Küche in den östlichen Flügel und die Zimmer für Bedienstete in das aufgestockte Obergeschoss. Der Westflügel nahm die Wohnräume für Hofdamen auf. Im neu unterkellerten Küchenflügel wurden das Weinlager, ein Raum zur Eisbereitung, größere Vorratsräume, die Lampenkammer, Arbeitsräume für Kellerknechte und die Konditorei untergebracht. Die Arbeitsräume zur direkten Versorgung der Schlossbewohner lagen im Erdgeschoss. Neben der 115 m² großen Küche, die die gesamte Breite des Seitenflügels einnimmt, gab es eine Kaffeeküche für die Zubereitung des Frühstücks und kalter Speisen, eine Kaffetier-Stube, eine Backkammer, die Schreibstube des Küchenmeisters (Kaffetier), eine kleine Speisekammer und zwei Räume zur Reinigung des Tafelsilbers. Im aufgestockten Obergeschoss wohnten der Küchenmeister, der Haushofmeister und weitere Bedienstete. Da die Küche nur von 1842 bis 1873 benutzt wurde und danach keine baulichen Veränderungen stattfanden, ist das feststehende Inventar noch bis heute vorhanden. Dazu gehört eine gusseiserne „Kochmaschine“ mit Messingbeschlägen und einer umlaufenden Messingstange. Der zu seiner Zeit hochmoderne Herd ist neben Kochplatten in verschiedenen Größen mit Fächern zum Braten und Backen, einer Wasserblase und einem Wärmeschrank ausgerüstet. Der Westflügel, auch Damenflügel genannt, diente der Unterbringung von Hofdamen und Gästen. Neben kleineren Kaffeeküchen und einer Stube für die Ordonnanzen sind im Erdgeschoss drei Wohnungen für Hofdamen und im Obergeschoss zwei Kavalierswohnungen und eine Damenwohnung eingerichtet worden. Jedes Appartement hat zwei Zimmer. Die Raumfolge entspricht in etwa dem „Appartement double“. Neben der Bettnische führt eine Tür über einen kurzen Gang in das angrenzende Dienerzimmer oder ins Treppenhaus und eine weitere Tür in einen kleinen Toilettenraum. Die bevorzugten Räume im Parterre, mit ihrem direkten Zugang zum Garten, ließ Friedrich Wilhelm IV. mit holzvertäfelten Wänden aufwändiger gestalten als die in der Regel tapezierten Räume im Obergeschoss. Die Kamine stammen fast alle aus friderizianischer Zeit und waren vermutlich in der um 1800 umgestalteten Westwohnung Friedrichs II. im Potsdamer Stadtschloss eingebaut gewesen. Die Zimmer wurden mit Rokokomöbeln aus friderizianischer Zeit und neu angefertigten Stücken im Stil des „zweiten Rokoko“ eingerichtet. In späteren Jahren kamen aber auch zeitgenössische Möbel hinzu. Das „zweite Rokoko“ war ab Mitte der 1820er Jahre und besonders in den 1840er Jahren eine Stilrichtung der vielschichtigen Kunst des 19. Jahrhunderts. Für Friedrich Wilhelm IV. in Verbindung mit Sanssouci jedoch nicht nur eine Modeerscheinung, sondern auch eine Rückbesinnung auf die künstlerischen Werte Friedrichs II. und in dieser Konsequenz nur in Sanssouci zu finden. Bei den zahlreichen anderen Bauten, die während seiner Regierungszeit in Potsdam entstanden, bevorzugte er Stilformen der Antike, der Renaissance und des Klassizismus. Siehe auch Das Komma von SANS, SOUCI. Literatur alphabetisch geordnet Adrian von Buttlar: Sanssouci und der „Ewige Osten“. Freimaurerische Aspekte im Garten Friedrichs des Großen. In: Die Gartenkunst, 6 (2/1994), S. 219–226. Georg Dehio: Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler, Brandenburg. Deutscher Kunstverlag, München 2012. ISBN 978-3-422-03123-4, S. 864 f. Michael Eckert: Physik im Schlosspark. Der Lustgarten als Schauplatz neuer Technik. Schloss Nymphenburg, Versailles, Sanssouci, München 2020, ISBN 978-3-96233-114-6. Clara Frauendorf: Das Komma-Geheimnis um Sans, Souci. Tauchaer Verlag, Taucha 2011, ISBN 978-3-89772-212-5. Generaldirektion der Stiftung Schlösser und Gärten Potsdam-Sanssouci (Hrsg.): Potsdamer Schlösser und Gärten. Bau- und Gartenkunst vom 17. bis 20. Jahrhundert. Stiftung Schlösser und Gärten und Potsdamer Verlagsbuchhandlung Potsdam 1993, ISBN 3-910196-14-4. Hans-Joachim Giersberg, Hillert Ibbeken: Schloss Sanssouci. Die Sommerresidenz Friedrichs des Großen. Nicolai, Berlin 2005, ISBN 3-89479-140-3. Christa Hasselhorst und Hans Bach: Park Sanssouci. Edition Braus, Berlin 2012, ISBN 978-3862280261. Heinz D. Kittsteiner: Das Komma von SANS, SOUCI. Ein Forschungsbericht mit Fußnoten. 3. Auflage. Manutius, Heidelberg 2003. ISBN 3-934877-08-7. Iris Lange: Die Jubiläumsanlage in Sanssouci. Eine Reminiszenz an die letzte wilhelminische Anlage im Park. In: Die Gartenkunst 26 (1/2014), S. 23–48. Friedrich Mielke: Potsdamer Baukunst. Das klassische Potsdam. 2. Auflage. Propyläen, Frankfurt/Main 1991, ISBN 3-549-06648-1. Anne-Grit Reichelt: Die Gartendenkmalpflegerische Unterhaltung des Parterres von Schloss Sanssouci und der Wechselflor der Plates-Bandes des Fleurs. In: Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg. Jahrbuch 6, 2004, S. 117–130; abgerufen 28. Februar 2013. Schloss Sanssouci. 18. Auflage. Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg (Hrsg.), Rudolf Otto, Berlin 1996. Ed. Jobst Siedler: Die Gärten und Gartenarchitekturen Friedrichs des Großen. (PDF) In: Zeitschrift für Bauwesen. Jahrgang 61 (1911), Sp. 202–247, Tafeln 25–27. Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg (Hrsg.): Der Damenflügel im Schloss Sanssouci. Hentrich, Berlin 1994. Gert Streidt, Klaus Frahm: Potsdam. Könemann, Köln 1996. ISBN 3-89508-238-4, S. 20–45. Gert Streidt, Peter Feierabend (Hrsg.): Preußen. Kunst und Architektur. Könemann, Köln 1999, ISBN 3-89508-424-7, S. 186–194. Jörg Wacker: Die Entstehung und Entwicklung des Sizilianischen und des Nordischen Gartens in Potsdam-Sanssouci und ihre pflanzliche Ausstattung. In: Die Gartenkunst 16 (2/2004), S. 243–275. Jörg Wacker: Georg Potente (1876–1945). Die Entwicklung vom Gartengestalter zum Gartendenkmalpfleger zwischen 1902 und 1938 in Potsdam-Sanssouci. (PDF; 750 kB; abgerufen am 23. Januar 2012) Dissertation, Universität Potsdam, 2003. Clemens Alexander Wimmer: Ein neuer Blick auf die Gärten Friedrichs II. in Sanssouci zum 300. Geburtstag des Königs. In: Die Gartenkunst 26 (1/2014), S. 1–22. Weblinks Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg Website der Landeshauptstadt Potsdam zum Schloss Sanssouci Professionelle 360°-Panoramen mehrerer Räume bei deutschlandpanorama.de und arounder.com Im Original mit Schlösserdirektor Dr. Samuel Wittwer: Die Bibliothek im Schloss Sanssouci Sanssouci – Lustwandeln im Park - Führung und Lesung mit dem Kultur- und Gartenkanal bei YouTube Einzelnachweise Baudenkmal in Potsdam Schloss in Potsdam Rokokobauwerk in Deutschland Parkanlage in Potsdam Schlösser und Parks von Potsdam und Berlin Friedrich II. (Preußen) Museum in Potsdam Architektur (Preußen) Königreich Preußen Erbaut in den 1740er Jahren 1747 Grablege der Hohenzollern Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg Grabmal in Brandenburg Schloss in Europa Parkanlage in Europa Kunstschutz Barockbauwerk in Potsdam Sakralbau in Potsdam Grabbau in Europa Hohenzollern
11389
https://de.wikipedia.org/wiki/Paul%20Klee
Paul Klee
Paul Ernst Klee (* 18. Dezember 1879 in Münchenbuchsee, Kanton Bern; † 29. Juni 1940 in Muralto, Kanton Tessin) war ein deutscher Maler und Grafiker, dessen vielseitiges Werk dem Expressionismus, Konstruktivismus, Kubismus, Primitivismus und dem Surrealismus zugeordnet wird. Klee stand in engem Kontakt zur Redaktionsgemeinschaft Der Blaue Reiter und zeigte auf ihrer zweiten Ausstellung 1912 grafische Arbeiten. Dem bis zu dieser Zeit hauptsächlich als Grafiker tätigen Künstler verhalf eine 1914 gemeinsam mit August Macke und Louis Moilliet durchgeführte Reise nach Tunesien zu seinem Durchbruch als Maler. Sie wurde als kunstgeschichtlich bedeutende Tunisreise bekannt. Wie sein Freund, der russische Maler Wassily Kandinsky, lehrte Klee ab 1921 am Bauhaus in Weimar und später in Dessau. Ab 1931 war er Professor an der Kunstakademie Düsseldorf. Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten wurde er entlassen und ging zurück nach Bern, wo während der letzten Jahre ab dem Jahr 1934 trotz wachsender Belastung durch eine schwere Krankheit ein umfangreiches Spätwerk entstand. Neben seinem künstlerischen Werk verfasste er kunsttheoretische Schriften wie beispielsweise Schöpferische Konfession (1920) und Pädagogisches Skizzenbuch (1925). Paul Klee gehört zu den bedeutendsten bildenden Künstlern der Klassischen Moderne des 20. Jahrhunderts. Leben Kindheit und Schulzeit Paul Klee war das zweite Kind des deutschen Musiklehrers Hans Wilhelm Klee (1849–1940) und der schweizerischen Sängerin Ida Marie Klee, geb. Frick (1855–1921). Seine Schwester Mathilde († 6. Dezember 1953) kam am 28. Januar 1876 in Walzenhausen zur Welt. Der Vater stammte aus Tann (Rhön) und studierte am Stuttgarter Konservatorium Gesang, Klavier, Orgel und Violine. Dort lernte er seine spätere Frau Ida Frick kennen. Bis 1931 wirkte Hans Wilhelm Klee als Musiklehrer am Bernischen Staatsseminar in Hofwil bei Bern. Diesem Umstand war es zu verdanken, dass Klee durch das Elternhaus seine musikalischen Fähigkeiten entwickeln konnte; sie begleiteten und inspirierten ihn bis an sein Lebensende. Im Jahr 1880 zog die Familie nach Bern, wo sie 1897 nach mehreren Wohnungswechseln ein eigenes Haus im Kirchenfeldquartier bezog. Von 1886 bis 1890 besuchte Klee die Primarschule und erhielt mit sieben Jahren Geigenunterricht an der Städtischen Musikschule. Das Geigenspiel beherrschte er bald so meisterhaft, dass er bereits als Elfjähriger als außerordentliches Mitglied bei der Bernischen Musikgesellschaft spielen durfte. Klees weitere Interessen lagen im Zeichnen und Dichten. In seinen Schulbüchern und -heften finden sich zahllose Karikaturen. Mit dem Zeichenstift erfasste er schon früh die Silhouetten der umliegenden Städte wie Bern, Freiburg im Üechtland und die sie umgebende Landschaft. Sein zeichnerisches Talent wurde jedoch nicht gefördert, da seine Eltern ihn zum Musiker ausbilden lassen wollten. 1890 wechselte Klee an das Progymnasium in Bern. Im April 1898 begann er ein Tagebuch zu führen, das er bis zum Dezember 1918 ergänzte; er redigierte es im selben Jahr und ließ es mit der Überschrift „Erinnerungen an die Kindheit“ beginnen. Im September 1898 schloss er die Schulausbildung mit der Matura am Literargymnasium in Bern ab. Zur weiteren Ausbildung verließ er die Schweiz und zog nach München, um Kunst zu studieren. Mit diesem Entschluss lehnte er sich gegen den Wunsch seiner Eltern auf. Neben seinem Emanzipationswillen gab es für ihn einen weiteren Grund, sich nicht für die Musik zu entscheiden: Er sah den Höhepunkt des musikalischen Schaffens bereits überschritten und schätzte die modernen Kompositionen nicht. Studium und Heirat In München studierte Paul Klee zunächst Grafik an der privaten Malschule von Heinrich Knirr, da er an der Akademie der Bildenden Künste München abgewiesen worden war. Unter seinen Mitstudenten war Zina Wassiliew, die 1906 Alexander Eliasberg heiratete; das Paar gehörte zum Freundeskreis des Künstlers. Ab 1899 ließ Klee sich bei Walter Ziegler in der Technik des Radierens und Ätzens ausbilden. Er genoss das lockere studentische Leben und hatte zahlreiche Affären mit jungen Modellen, um „eine verfeinerte Sexualerfahrung“ zu erlangen. Im Februar 1900 bezog Klee ein eigenes Atelier und wechselte am 11. Oktober 1900 an der Kunstakademie in die Malklasse von Franz von Stuck, in der gleichzeitig Wassily Kandinsky studierte. Klee, der dem Unterricht wenig abgewinnen konnte, nahm nur sporadisch am Unterricht teil und lernte daher Kandinsky noch nicht kennen. Im März 1901 verließ er die Akademie wieder. Während einer sechsmonatigen Studienreise vom 22. Oktober 1901 bis 2. Mai 1902 mit dem Bildhauer Hermann Haller nach Italien, die über Mailand, Genua, Livorno, Pisa, Rom, Porto d’Anzio, Neapel, Pompei, Sorrento, Positano, Amalfi, Gargano und Florenz führte, wurden drei Erlebnisse für sein künstlerisches Ausdrucksvermögen entscheidend, „einmal die Renaissance-Architektur in Florenz, die Paläste der Kirchen, die die Stadt der Medici zu einem Gesamtkunstwerk machen, ihr konstruktives Element, die baulichen Zahlengeheimnisse, die Proportionsverhältnisse“, zweitens hatte Klee erstmals im Aquarium von Neapel „die Imagination und Phantastik der Naturformen, deren Farbenpracht, das Märchenhafte der Meeresfauna und -flora erlebt“ sowie drittens „die spielerische Sensibilität der gotischen Tafelmalereien von Siena“. Nach seiner Rückkehr aus Italien 1902 lebte Klee bis 1906 in seinem Elternhaus und verdiente seinen Lebensunterhalt als Geiger bei der Bernischen Musikgesellschaft, an deren Abonnementkonzerten er gleichfalls als Rezensent und Substitut wirkte, und setzte durch die Belegung anatomischer Vorlesungen und eines anatomischen Kurses seine künstlerische Ausbildung fort. 1903 entstanden die ersten der zehn bis 1905 geschaffenen Radierungen, die im Zyklus Inventionen zusammengefasst sind. Im Jahr 1904 studierte Klee im Kupferstichkabinett in München die Illustrationen von Aubrey Beardsley, William Blake und Francisco de Goya, die ihn, wie das grafische Werk von James Ensor, in dieser Zeit nachhaltig beeindruckten. Im Mai und Juni des Jahres 1905 unternahm Klee zusammen mit seinen Jugendfreunden, dem angehenden Künstler Louis Moilliet und dem Schriftsteller Hans Bloesch (1878–1945), eine Reise nach Paris, wo er sich dem Studium der älteren Kunst im Louvre und in der Galerie des Palais du Luxembourg widmete. In diesem Jahr nahm Klee zum ersten Mal den Impressionismus wahr und begann sich im Herbst mit der Hinterglasmalerei zu befassen. 1906 besuchte Klee in Berlin die Jahrhundertausstellung deutscher Kunst und zog im September desselben Jahres endgültig nach München, wo er am 15. September die Pianistin Lily Stumpf heiratete, die er 1899 bei einer Kammermusik-Soirée kennengelernt hatte. Ein Jahr später, am 30. November 1907, wurde der Sohn Felix geboren. Klee übernahm zum großen Teil die Kindererziehung und den Haushalt in ihrer Wohnung in Schwabing, Lily Klee kam für den Lebensunterhalt auf, indem sie nicht mehr als Pianistin auftrat, sondern Klavierstunden erteilte. Im Mai 1908 wurde Klee Mitglied der Vereinigung Schweizerischer Graphiker Die Walze und nahm im selben Jahr mit drei Werken an der Ausstellung der Münchener Secession, mit sechs Werken an der Berliner Secession sowie an der Ausstellung im Münchner Glaspalast teil. Über musikalische Darbietungen referierte Klee in der Schweizer Zeitschrift Die Alpen in den Jahren 1911 und 1912. Anschluss an den „Blauen Reiter“ 1911 Im Januar 1911 lernte Klee in München Alfred Kubin kennen, der ihn in dem Vorhaben bestärkte, Voltaires Candide zu illustrieren. Zu diesem Zeitpunkt nahm Klees grafisches Werk einen großen Raum ein, und seine Neigung zum Sarkastischen und Skurrilen sowie Ironischen lag Kubin sehr. Er freundete sich mit Klee nicht nur an, er wurde zudem sein erster namhafter Sammler. 1911 lernte Klee, durch Vermittlung Kubins, den Kunstkritiker Wilhelm Hausenstein kennen und war im Sommer desselben Jahres Gründungsmitglied der Münchner Künstlervereinigung Sema, deren Geschäftsführer er wurde. Im Herbst machte er die Bekanntschaft von August Macke und Wassily Kandinsky. Im Winter schloss er sich der von Kandinsky und Franz Marc gegründeten Redaktionsgemeinschaft des Almanachs Der Blaue Reiter an. Weitere Mitarbeiter waren unter anderem August Macke, Gabriele Münter und Marianne von Werefkin. Klee entwickelte sich in den wenigen Monaten seiner Mitarbeit zu einem wichtigen und eigenständigen Mitglied des Blauen Reiters, von einer vollkommenen Integration kann aber nicht gesprochen werden. Die Herausgabe des Almanachs wurde jedoch zugunsten einer Ausstellung aufgeschoben. Die erste der beiden Ausstellungen des Blauen Reiters fand vom 18. Dezember 1911 bis zum 1. Januar 1912 in der Modernen Galerie Heinrich Thannhauser im Arco-Palais in München statt. Klee war in dieser Ausstellung nicht vertreten; in der zweiten Ausstellung, die vom 12. Februar bis zum 18. März 1912 in der Galerie Goltz stattfand, wurden 17 grafische Arbeiten von ihm gezeigt. Diese zweite Ausstellung hieß programmatisch Schwarz-Weiß, da sie ausschließlich Druckgrafik berücksichtigte. Kandinsky und Marc gaben den bereits 1911 geplanten Almanach Der Blaue Reiter im Mai 1912 im Piper Verlag heraus, in dem die Tuschezeichnung Steinhauer Klees reproduziert worden war. Gleichzeitig publizierte Kandinsky seine kunsttheoretische Schrift Über das Geistige in der Kunst. Teilnahme an Ausstellungen 1912/1913 Während eines zweiten Parisaufenthaltes vom 2. bis 18. April 1912 besuchte Klee mit seiner Frau Lily die Galerie von Daniel-Henry Kahnweiler sowie die Sammlung von Wilhelm Uhde, sah Werke von Georges Braque, André Derain, Henri Matisse, Pablo Picasso, Henri Rousseau und Maurice de Vlaminck, traf Henri Le Fauconnier und Karl Hofer sowie am 11. April Robert Delaunay in dessen Pariser Atelier. In Köln wurden vom 25. Mai bis zum 30. September 1912 auf der Internationalen Kunstausstellung des Sonderbundes Westdeutscher Kunstfreunde und Künstler zu Cöln 1912 vier Zeichnungen von Klee gezeigt. Im Dezember 1912 erhielt Paul Klee Robert Delaunays Aufsatz Über das Licht (La Lumière) zur Übersetzung für Herwarth Waldens Kunstzeitschrift Der Sturm in Berlin, den Franz Marc für ihn aus Paris mitgebracht hatte und der im Januar des folgenden Jahres in der Kunstzeitschrift erschien. Klee hatte während seines Parisaufenthalts Delaunays Fensterbilder kennengelernt und bei ihm „den Typus eines selbständigen Bildes, das ohne Motive aus der Natur ein ganz abstraktes Formdasein führt …“ erkannt, wie er in einer Ausstellungskritik 1912 schrieb. Nach der Bekanntschaft mit Delaunay änderte sich Klees Verständnis von Licht und Farbe grundlegend, indem er versuchte, die gewonnenen Anregungen durch Delaunay in seinen Bildern und Blättern bildlich umzusetzen, ihnen mehr Farbe gab und die Effekte rein durch Kontraste und Tonunterschiede erzielte. Ab September 1913 nahm er an der von Walden ausgerichteten Ausstellung des Ersten Deutschen Herbstsalons in Berlin mit Aquarellen und Zeichnungen teil. Tunisreise 1914 Am 3. April brach Klee zusammen mit August Macke und Louis Moilliet zu einer dreiwöchigen Studienreise nach Tunesien auf. Die Reise, die ihn zur Malerei geleitete, führte von Bern über Lyon und Marseille, mit Abstechern nach Saint-Germain (später Ezzahra, ), Sidi Bou Saïd, Karthago, Hammamet, Kairouan und zurück über Palermo, Neapel, Rom, Mailand, Bern nach München. Moilliet malte im Gegensatz zu Macke und Klee auf der Reise kaum. Klee führte als einziger der drei Maler Tagebuch, er beschrieb darin die Einfahrt nach Tunis: Die Aquarelle von Klee neigten zu größerer Abstraktion, Macke bevorzugte kräftigere Farben, während Moilliet sehr viel großflächiger malte. Jedoch gab es gegen Ende der Reise eine gegenseitige Beeinflussung, wie ein Vergleich der etwa zeitgleich entstandenen Arbeiten der drei Künstler zeigt. Beispiele sind Kairouan III von Macke, Klees Ansicht v. Kairouan und Moilliets Kairouan. Klee malte, sensibilisiert durch das Farbverständnis Delaunays für das intensive Licht und die Farben des Südens, mehrere Aquarelle, denen er selbst für sein weiteres Kunstschaffen große Bedeutung zumaß. So schrieb er am 16. April in sein Tagebuch: Spätere Forschungen ergaben, dass Klee sein Tagebuch möglicherweise nachträglich ergänzt hat. Siehe dazu auch den Abschnitt weiter unten: Klees redigierte Tagebücher. Nach der Rückkehr wurde im Mai 1914 die erste Ausstellung der 1913 gegründeten Künstlervereinigung „Neue Münchner Secession“ eröffnet. Klee war Gründungsmitglied und Schriftführer der aus dem Zusammenschluss von Künstlern der Münchener Secession, der Neuen Künstlervereinigung sowie der „Sema“ und der „Scholle“ entstandenen Gruppe. Im folgenden Jahr begegnete er dem Dichter Rainer Maria Rilke, der über einige Monate hindurch etwa vierzig Blätter Klees „in seinem Zimmer haben durfte“. Wenig später begann der Erste Weltkrieg. Bereits am 26. September 1914 fiel August Macke an der Westfront in Frankreich. Als Soldat im Krieg Am 5. März 1916 erhielt Klee seinen Einberufungsbefehl als Landsturmsoldat zur bayerischen Armee. Als Sohn eines deutschen Vaters, der sich nie um eine Einbürgerung seines Sohnes in die Schweiz bemüht hatte, war Klee während des Ersten Weltkriegs wehrpflichtig. Am Tag seiner Einberufung erfuhr er, dass sein Freund Franz Marc bei Verdun gefallen war. Nach dem Abschluss der militärischen Grundausbildung, die er am 11. März 1916 begonnen hatte, wurde er als Soldat hinter der Front eingesetzt. Am 20. August kam Klee in Schleißheim zur Werftkompanie des Flugplatzes, wo er Flugzeugtransporte begleitete und handwerkliche Arbeiten, wie das Ausbessern der Tarnbemalung der Flugzeuge, verrichtete. Am 17. Januar 1917 wurde er an die Fliegerschule V nach Gersthofen versetzt, wo er bis zum Ende des Krieges als Schreiber des Kassenwarts tätig war. Daher blieb ihm ein Fronteinsatz erspart, und er konnte in einem außerhalb der Kaserne gelegenen Zimmer die Malerei fortführen. In Herwarth Waldens Galerie Der Sturm gab es im März 1916 eine erste Ausstellung seiner abstrakten Aquarelle, eine zweite folgte im Februar 1917. Der Verkaufserfolg war gut, und Walden forderte neue Werke an, da der Kunstmarkt positiv reagierte. Paradoxerweise hatte Klee, als er einberufen wurde, mit Bildern Erfolg, die gerade seine Abkehr vom Krieg dokumentieren sollten. 1918 erreichte Klee den künstlerischen und kommerziellen Durchbruch in Deutschland. So konnte er allein an Walden Bilder für 3460 Mark verkaufen. Im selben Jahr erschien das Sturm-Bilderbuch Paul Klee, herausgegeben von Herwarth Walden. Im Juni 1919 reichten die Stuttgarter Akademiestudenten Willi Baumeister und Oskar Schlemmer den Vorschlag beim zuständigen Ministerium ein, Paul Klee als Nachfolger Adolf Hölzels zum Professor an die Akademie der bildenden Künste in Stuttgart zu berufen. Paul Klee stand diesem Vorschlag positiv gegenüber; er scheiterte jedoch im Herbst des Jahres an der ablehnenden Haltung der Akademie unter Direktor Heinrich Altherr. Erste Einzelausstellung in München 1920 Durch die Vermittlung von Alexej von Jawlensky trafen sich 1919 Klee und die Galeristin Galka Scheyer, die ab 1924 die Künstlervereinigung „unter dem Gruppennamen Die Blaue Vier/The Blue Four in den Vereinigten Staaten vertritt und die Verbreitung deren künstlerischer Ideen durch Ausstellungen und Vorträge fördern will.“ Am 12. April 1919 schloss er sich in München der Räterepublik an, wo er als Mitglied des Rats bildender Künstler und des Aktionsausschusses Revolutionärer Künstler Münchens aktiv wurde. In Zürich, wohin er nach der Niederschlagung der Räterepublik am 11. Juni flüchten musste, traf sich Klee mit Künstlern der DADA-Gruppe, unter anderem mit Tristan Tzara, Hans Arp, Marcel Janco, Hans Richter sowie mit dem Komponisten Ferruccio Busoni, bei dem er sich für eine Klavierprofessur zugunsten von Gottfried Galston am Zürcher Konservatorium einsetzte. Am 1. Oktober 1919 schloss Klee mit dem Münchner Kunsthändler Hans Goltz einen Generalvertretungsvertrag ab, der nach mehreren Verlängerungen bis 1925 Bestand haben sollte. Die erste retrospektive Einzelausstellung Paul Klees wurde am 17. Mai 1920 in der Galerie Goltz in München eröffnet. Sie umfasste 371 Werke an Gemälden, Aquarellen, Plastiken, Zeichnungen und Grafik-Blättern. Der Ausstellungskatalog enthält eine „biographische Skizze nach eigenen Angaben des Künstlers.“ Arbeit am Bauhaus 1920–1931 Beginn in Weimar Am 29. Oktober 1920 wurde Klee von Walter Gropius als Werkstattmeister für Buchbinderei an das Staatliche Bauhaus in Weimar berufen. Er begann seine Lehrtätigkeit am 10. Januar 1921 und übte sie zunächst im Rhythmus von zwei Wochen aus. Seine Ernennung war eine konsequente kulturpolitische Entscheidung, da sich Klee nach der Novemberrevolution in München nach anfänglichem Zögern zur politischen Linken bekannt hatte. Die Maler des Bauhauses kannten Klees Werk, sie vertraten die Richtung der modernen Malerei, die in der Galerie Der Sturm in Berlin gezeigt wurde. Im September desselben Jahres übersiedelte er mit seiner Familie endgültig nach Weimar. Sein Sohn Felix wurde, kaum vierzehnjährig, der damals jüngste Bauhausschüler. Im März 1921 beteiligte sich Klee an der Gruppenausstellung 14th Exhibition, der von Katherine Sophie Dreier und Marcel Duchamp gegründeten Künstlerorganisation Société Anonyme Inc. in New York, bei der das Werk Paul Klees zum ersten Mal in den USA vorgestellt wurde. Dreier, die im September 1920 den ersten Kontakt mit Klee aufnahm, besaß etwa 21 seiner Werke, die sich seit 1953 als Nachlass in der Sammlung der Yale University in der Beinecke Rare Book and Manuscript Library befinden. Am Bauhaus übernahm Klee 1922 die Werkstätte für Gold-, Silber- und Kupferschmiede und zudem ab der zweiten Jahreshälfte die Werkstatt für Glasmalerei – Wassily Kandinsky folgte ihm am 1. Juli 1922 ans Bauhaus. Im Februar 1923 veranstaltete die Nationalgalerie in Berlin im Kronprinzenpalais die mit 270 Werken bisher zweitgrößte Einzelausstellung mit Werken des Künstlers. Nachdem sich das Bauhaus durch die Übernahme László Moholy-Nagys für den sogenannten „Vorkurs“ (Grundlagenausbildung) im Jahre 1923 umstrukturierte, wurde Paul Klees Unterricht in der „Formlehre“ fester Bestandteil dieser Grundausbildung, und er übernahm darüber hinaus die Werkstatt für Weberei. In Weimar wohnte Paul Klee zunächst in einer Pension Am Horn 39; noch im gleichen Jahr 1921 bezog er eine Mietwohnung Am Horn 53. „Die Blaue Vier“ 1924 Am 7. Januar 1924 wurde in New York die von der Société Anonyme Inc. organisierte erste Einzelausstellung Klees in den USA eröffnet. Die 16th Exhibition of Modern Art in den Galerieräumen der Société Anonyme umfasste 27 Werke des Künstlers, darunter Rosenbaum, 1920, Herbstblume, 1922, Blumen im Wind, 1922, Kleines Regattabild, 1922 und Der Hügel, 1922. Ende März 1924 gründete Klee – im Andenken an den Blauen Reiter – mit Lyonel Feininger, Wassily Kandinsky und Alexej von Jawlensky die bereits 1919 geplante Künstlergruppe Die Blaue Vier in Weimar. Galka Scheyer besuchte sie dort, um die Modalitäten der Gründung zu regeln sowie den Vertrag zwischen ihr und den vier Künstlern zu unterzeichnen. Der somit als „freie Gruppe der Blaue Vier“ formell bestätigte Zusammenschluss, der außer im Bauhaus-Umfeld vor allem in den USA ausstellte, musste erst durch Ausstellungen und Vorträge bekannt gemacht werden. Galka Scheyer setzte das Vorhaben bis zu ihrem Todesjahr 1945 um, zunächst in New York, dann in Kalifornien, unter schwierigeren Bedingungen als erwartet. 600 Universitäten und 400 Museen habe sie angeschrieben und um eine Ausstellung der „Blue Four“ geworben, mit zunächst geringem Erfolg, berichtete die Agentin in den 1920er Jahren. Surrealistenausstellung 1925 Klee reiste 1925 nach Paris und hatte vom 21. Oktober bis zum 14. November in der Galerie Vavin-Raspail, wo 39 Aquarelle gezeigt wurden, seine erste Einzelausstellung in Frankreich. Der die Ausstellung begleitende Katalog wurde mit einem Vorwort von Louis Aragon eingeleitet. Paul Éluard steuerte ein Gedicht mit dem Titel Paul Klee bei. Ebenfalls im November, vom 14. bis 25., wurden auf der ersten Ausstellung der Surrealisten in der Galerie Pierre, neben Arbeiten von Künstlern wie Hans Arp, Giorgio de Chirico, Max Ernst, André Masson, Joan Miró, Man Ray, Pierre Roy und Pablo Picasso, zwei Bilder von Klee gezeigt. In die Gruppe der Surrealisten wurde er jedoch nie als Mitglied aufgenommen. Umzug nach Dessau 1926 Nach dem Umzug des Bauhauses nach Dessau im Juli 1926 – das Bauhaus in Weimar war 1925 auf politischen Druck hin aufgelöst worden – bezog Paul Klee mit seiner Frau eines der drei von Walter Gropius erbauten Doppelhäuser für Bauhausmeister, dessen andere Hälfte das Ehepaar Kandinsky bewohnte. Vom 24. August bis 29. Oktober bereiste Paul Klee mit Ehefrau und Sohn Felix Italien. Am 4. Dezember wurde das Bauhaus Dessau eröffnet. Klee war unter anderem Leiter des Unterrichts in Freier plastischer und malerischer Gestaltung, der Freien Malklasse und der Gestaltungslehre in der Weberei. Die Lehre von den bildnerischen Elementarmitteln (Bildnerische Formlehre, Farbenlehre) bildet den Ausgangspunkt von Klees System. Sein zentrales Anliegen war die grundlegende Erfassung der Beziehungen zwischen Linie, Form (Fläche) und Farbe im Bildraum oder innerhalb eines vorgegebenen Musters. Trotz eines rationalistischen Ansatzes erkannte er auch die Rolle des Unbewussten an und verstand Kunst als Schöpfungsakt parallel zur Natur. Ägyptenreise 1928–1929 Seit der Tunisreise 1914 hatte Klee keine größere Reise mehr unternommen. Seine zweite Reise in den Orient führte ihn vom 17. Dezember 1928 bis zum 17. Januar 1929 durch Ägypten, wo er unter anderem Alexandria, Kairo, Luxor und Assuan besuchte. Das Land beeindruckte ihn durch sein Licht, seine Landschaft und durch seine epochalen Denkmäler und deren Proportions- und Konstruktionsgesetze; diese Eindrücke sollten sich in seinen Bildern niederschlagen. Ein Beispiel ist das Ölgemälde Necropolis aus dem Jahr 1929, das mehrere monumentale Pyramiden in starkfarbig gebänderten Schichten übereinander gesetzt abbildet. Im Anschluss an diese Reise entstanden ebenfalls geometrisch aufgebaute Bilder wie Feuer am Abend. Die im Jahr 1925 von dem Kunstsammler Otto Ralfs gegründete Klee-Gesellschaft hatte ihm die zweite Reise in den Orient ermöglicht, doch empfing er nicht so viele Impulse wie auf seiner ersten Orientreise. So schrieb er an seine Frau Lily: „Ich hatte von Tunis andere Eindrücke mitgebracht und bin überzeugt, daß Tunis viel reiner ist.“ Im August 1929 verbrachten Paul und Lily Klee die Sommerferien mit dem Ehepaar Kandinsky in Hendaye-Plage an der südfranzösischen Atlantikküste. Querelen am Bauhaus Am 1. April 1928 trat Gropius als Direktor des Bauhauses zurück, da es Konflikte mit den städtischen Behörden gab. Auf seinen Vorschlag wurde der Schweizer Architekt Hannes Meyer neuer Direktor, der für das Bauhaus nicht nur die Devise „Volksbedarf statt Luxusbedarf“ ausgab, sondern auch die Zusammenarbeit mit der Industrie intensivierte. Der daraus entstehende politische Druck durch den aufkommenden Nationalsozialismus und Streit zwischen den „angewandten“ und den „freien“ Künstlern wie Klee spitzte sich zu. Da Klees Familie noch in Weimar lebte, hielt er seinen Unterricht nur vierzehntäglich ab, was Unverständnis bei Kollegen und Studenten hervorrief. Seine persönlichen Lebens- und Arbeitsvorstellungen konnte er nicht mehr mit den Zielen des Bauhauses in Einklang bringen. In einem Brief vom 24. Juni 1930 an seine Frau Lily resümierte Klee: „Es wird einer kommen müssen, der seine Kräfte eleganter spannt als ich.“ Das Angebot vom Bauhaus, ihm erleichterte Arbeitsbedingungen zu gewähren, lehnte er ab, da dies nicht mit seinen Zielen vereinbar sei. Professur an der Kunstakademie Düsseldorf 1931–1933 Im Jahr 1931, erschöpft von den Querelen am Bauhaus, nahm Klee am 1. Juli den im Frühjahr des vorherigen Jahres erfolgten Ruf auf eine Professur an der Kunstakademie Düsseldorf an, die ihm Walter Kaesbach angeboten hatte. Im Wintersemester nahm Paul Klee die Arbeit in Düsseldorf mit einem Kurs über Maltechnik auf, wobei er seine Wohnung in Dessau beibehielt. In Düsseldorf mietete Klee ein möbliertes Zimmer in der Mozartstraße, später in der Goltsteinstraße, pendelte jedoch im Rhythmus von zwei Wochen zwischen beiden Städten, da er sowohl ein Atelier im Gebäude der Akademie besaß, als auch eines in seinem Wohnhaus in Dessau, das er weiterhin nutzte. Seine Düsseldorfer Professorenkollegen waren Ewald Mataré, Heinrich Campendonk und Werner Heuser. Im Oktober 1932 reiste Klee für neun Tage nach Venedig und Padua, nachdem er zuvor die Picasso-Ausstellung im Kunsthaus Zürich besucht hatte, die er in einem Brief aus Bern an seine Frau in Dessau als „eine neue Bestätigung“ beschrieb. Es seien „die letzten stark farbigen Bilder eine große Überraschung“ gewesen; auch Henri Matisse sei einbezogen worden, die „Formate meist größer als man denkt. Viele der [Bilder] gewinnen durch zarte Malerei. Alles in Allem: der Maler von heute. […].“ Anfang 1933 fand er in Düsseldorf eine geeignete Wohnung für die Familie, die am 1. Mai bezogen werden konnte. Aus der Düsseldorfer Zeit stammt eines der größten Bilder Klees, der sonst eher kleinformatig arbeitete, das Gemälde Ad Parnassum aus dem Jahr 1932. Klee, der nur mit vier Schülern arbeitete, hatte nun wieder, wie zu Zeiten des Bauhauses, ein gesichertes Einkommen, aber weniger Verpflichtungen, sodass er seinen künstlerischen Intentionen nachgehen konnte. Rückkehr in die Schweiz als Emigrant im Jahr 1933 Nach Hitlers Machtübernahme 1933 sollte Klee einen „Ariernachweis“ erbringen. Er war in dem nationalsozialistischen Blatt Die rote Erde als „galizischer Jude“ beschimpft worden, und sein Haus in Dessau wurde durchsucht. Er verzichtete jedoch auf ein Dementi, da er sich nicht um die Gunst der Machthaber bemühen wollte. An seine Schwester Mathilde schrieb er am 6. April 1933: Klee besorgte sich den Nachweis; er wurde aber von den Nationalsozialisten als „entarteter Künstler“ und „politisch unzuverlässig“ bezeichnet und am 21. April fristlos aus seinem Amt entlassen. Im Oktober schloss er einen Vertrag mit Daniel-Henry Kahnweilers Galerie Simon in Paris, die das Monopol für alle Verkäufe außerhalb der Schweiz erhielt. Klee hatte sich von seiner Arbeitsgruppe mit den Worten verabschiedet: „Meine Herren, es riecht in Europa bedenklich nach Leichen“. Die Düsseldorfer Wohnung wurde am 23. Dezember 1933 geräumt. Das Ehepaar Klee emigrierte noch am selben Tag in die Schweiz und zog Heiligabend 1933 in Klees Elternhaus in Bern ein. Im Juni 1934 bezogen sie eine Dreizimmer-Wohnung im Elfenauquartier, Kistlerweg 6, nachdem die zurückgelassenen Möbel und Bilder aus Düsseldorf in Bern eingetroffen waren. Schon im Frühling 1934 reichte er ein Einbürgerungsgesuch ein, das aufgrund des Berliner Abkommens vom 4. Mai 1933 abgelehnt wurde: Deutsche Staatsbürger durften sich erst um das Schweizer Bürgerrecht bewerben, wenn sie sich seit fünf Jahren ununterbrochen in der Schweiz aufgehalten hatten. Letzte Jahre Die Kunsthalle Bern eröffnete am 23. Februar 1935 eine Retrospektive Klees, in Kombination mit Werken von Hermann Haller, die später in reduzierter Form in der Kunsthalle Basel gezeigt wurde. Im August des Jahres 1935 erkrankte Klee an einer Bronchitis, die sich zu einer Lungenentzündung ausweitete, und im November an Sklerodermie, einer unheilbaren Krankheit. Diese Krankheitsbezeichnung erschien in der Fachliteratur erstmals 14 Jahre nach seinem Tod. Die Diagnose ist jedoch hypothetisch, da medizinische Unterlagen fehlen. Aufgrund der Erkrankung stagnierte seine Arbeit in den nächsten beiden Jahren. Trotz der Einschränkungen durch die zunehmende Verhärtung der Haut hatte er ab Frühjahr 1937 noch einmal eine sehr produktive Schaffensphase. Er improvisierte viel und bediente sich verschiedener Ausdrucksformen, darunter Bleistift-, Kreide- und Tuschezeichnungen. Dabei thematisierte er seinen sich verschlechternden Gesundheitszustand durch Darstellungen leidender Figuren und verwendete größere Pinsel, die ihm die Arbeit erleichterten. Am 19. Juli 1937 wurde in München die Ausstellung „Entartete Kunst“ eröffnet, die als Wanderausstellung im weiteren Verlauf in Berlin, Leipzig, Düsseldorf und Salzburg gezeigt wurde, und in der Paul Klee mit 17 Werken vertreten war, darunter Sumpflegende aus dem Jahr 1919. Ab August desselben Jahres wurden die ersten zeitgenössischen Kunstwerke beschlagnahmt, darunter die bereits in der Münchner Ausstellung als „entartet“ diffamierten Werke Klees. Im weiteren Verlauf wurden weitere 102 Werke von Paul Klee in deutschen Sammlungen als „entartete Kunst“ beschlagnahmt und ins Ausland verkauft. Eine Vielzahl der beschlagnahmten Kunstwerke gelangte über den Berliner Kunsthändler Karl Buchholz, Eigentümer der New Yorker Buchholz Gallery, auf den US-amerikanischen Markt. Buchholz war größter Abnehmer der „Kommission zur Verwertung der Produkte entarteter Kunst“, denn er konnte mit den entsprechenden Devisen bezahlen. Er schickte die Werke ausschließlich an seine von Curt Valentin geleitete Filiale in New York, da sie nur außerhalb des Deutschen Reiches verkauft werden sollten. Zwischen Januar und März 1939 organisierte der US-amerikanische Komponist und Künstler John Cage, der durch seine engen Kontakte zu Galka Scheyer intime Kenntnisse über die Gruppe Die Blaue Vier hatte und der bereits als 22-Jähriger ein Jawlensky-Blatt zur Serie Meditationen aus dem Jahre 1934 erworben hatte, eine kleine Ausstellung in der Cornish School in Seattle mit Werken von Paul Klee, Alexej von Jawlensky und Wassily Kandinsky. Im April desselben Jahres stellte Klee einen zweiten Antrag auf Einbürgerung. Sein Gesuch wurde von der Polizei kritisch überprüft, denn in der Öffentlichkeit wurde die moderne Kunst als eine Begleiterscheinung linker Politik angesehen. In geheimen Berichten eines Polizeibeamten wurde Klees Werk als „eine Beleidigung gegen die wirkliche Kunst und eine Verschlechterung des guten Geschmacks“ angesehen, und die Presse unterstellte ihm, seine Kunst werde von jüdischen Händlern aus rein finanziellen Gründen gefördert. Trotz des Polizeiberichts erhielt Klee am 19. Dezember 1939 die Bewilligung seines Einbürgerungsantrags. Am 16. Februar 1940 wurde im Kunsthaus Zürich die Jubiläumsausstellung „Paul Klee. Neue Werke“ eröffnet, die die einzige vom Künstler selbst konzipierte Präsentation seines Spätwerks sein sollte. Nach weiteren Anhörungen wollte der Gemeinderat der Stadt Bern am 5. Juli 1940 endgültig über die Einbürgerung entscheiden. Sein Gesuch wurde jedoch nicht mehr bearbeitet, da sich Anfang April 1940 sein Gesundheitszustand verschlechterte, weshalb er am 10. Mai einen Kuraufenthalt in einem Sanatorium in Locarno-Muralto begann. Er starb am 29. Juni 1940, eine Woche vor der Sitzung, in der Clinica Sant’Agnese in Muralto. Klees Biografin, Carola Giedion-Welcker, hatte den Künstler kurz vor seinem Tod in seiner Berner Wohnung besucht. Sie berichtet, dass Klee über die Angriffe der Presse, die im Zusammenhang mit einer großen Zürcher Ausstellung seines Spätwerks standen, erregt und verärgert war, drohten sie doch sein Ersuchen auf Einbürgerung empfindlich zu stören oder sogar zu vereiteln. Auf der Grabplatte seines Vaters auf dem Berner Schosshaldenfriedhof ließ Felix Klee im Jahr 1946 einen programmatischen Text seines Vaters aus dem Jahr 1920 einmeißeln: „Diesseitig bin ich gar nicht fassbarDenn ich wohne grad so gut bei den TotenWie bei den UngeborenenEtwas näher dem Herzen der Schöpfung als üblichUnd noch lange nicht nahe genug.“ Klees Nachlass Nach dem Tod Paul Klees blieb Lily Klee in Bern. Um den Ausverkauf des Klee-Nachlasses zu verhindern, erwarben die Berner Sammler Hans Meyer-Benteli und Hermann Rupf unter Vermittlung von Rolf Bürgi, dem persönlichen Berater und Privatsekretär Lily Klees, zwei Tage vor ihrem Tod am 20. September 1946 den gesamten künstlerischen und schriftlichen Nachlass des Künstlers. Am 24. September 1946 gründeten Meyer-Bentely, Rupf und Bürgi und der gleichfalls in Bern wohnhafte Werner Allenbach die Klee-Gesellschaft und überführten den um die 6000 Werke umfassenden Nachlass in ihren Besitz. Diese gründete ein Jahr später die Paul-Klee-Stiftung, die sie mit rund 1700 Werken und mehreren Schriftstücken aus dem künstlerischen Nachlass bestückte. Im Jahre 1950 wurden der Stiftung, mit Depositum im Kunstmuseum Bern, weitere 1500 Werke zugeführt. Durch diesen Verkauf konnte Lily Klee verhindern, dass der gesamte Nachlass ihres Mannes gemäß dem Washingtoner Abkommen, dem die Schweiz kurz zuvor beigetreten war, zugunsten der alliierten Mächte liquidiert werden konnte. Im Jahr 1946, nachdem Felix Klee aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt war, erlitt Lily Klee am 16. September „vor freudiger Erregung“ über die Nachricht der Heimkehr ihres Sohnes – wie Maria Marc berichtete – einen Schlaganfall, an dessen Folgen sie am 22. September starb. Zwei Jahre später übersiedelte Felix Klee mit seiner Familie ebenfalls nach Bern. Dort machte der Alleinerbe seine Rechte am gesamten Nachlass geltend. Ein vierjähriger Rechtsstreit zwischen ihm und der Klee-Gesellschaft wurde Ende 1952 durch eine außergerichtliche Vereinbarung beigelegt. Der Nachlass wurde aufgeteilt. Beide Sammlungen blieben in Bern und konnten aufgrund der Initiative der Erben von Felix Klee († 1990) – Livia Klee-Meyer († 2011), die zweite Frau Felix Klees, und Alexander Klee († 2021), der Sohn Felix Klees aus erster Ehe –, der Paul-Klee-Stiftung und der Berner Behörden mit der Eröffnung des Zentrums Paul Klee im Jahr 2005 wieder zusammengeführt werden. Werk Paul Klee ist ein Einzelgänger und Individualist gewesen, obwohl er wie andere Künstler seiner Zeit mit neuen künstlerischen Darstellungen verbunden war. Er unterschied sich daher von den Kubisten des Bateau-Lavoir in Paris, den Futuristen in Mailand oder der späteren surrealistischen Bewegung, die sich auf einer breiteren gemeinschaftlichen Basis entwickelten. Wie beispielsweise Miró und Picasso verwendete Klee Motive kindlichen Zeichnens und der Kunststile verschiedener „Naturvölker“ in seinem Werk. Der Primitivismus gehört zu den wichtigen Phänomenen der Kunst des 20. Jahrhunderts. Die Strichmännchen, vereinfachte Umrisse, Kritzeleien und die Perspektive des wie verwundert, neugierig auf die Menschen und ihre Welt Blickenden erklärt er mit seiner Disziplin, auf wenige Stufen reduzieren zu wollen. Der primitive Eindruck gehe also auf „letzte professionelle Erkenntnis“ zurück, was „das Gegenteil von wirklicher Primitivität“ sei, schrieb er bereits 1909 in seinem Tagebuch. Die Grafik spielt im Werk Paul Klees eine besondere Rolle, denn vom Gesamtwerk des Œuvrekatalogs sind mehr als die Hälfte grafische Werke. Damit kann Klee als einer der wichtigsten Grafiker des frühen 20. Jahrhunderts gelten. Seine Gemälde schuf Paul Klee häufig mit unterschiedlichen Maltechniken, so gebrauchte er Ölfarben, Wasserfarben, Tinte und anderes mehr. Oft kombinierte er verschiedene Techniken miteinander, wobei ihm die Struktur des Untergrundes ein wichtiger Bestandteil war. Seine Werke sind mehreren Kunstformen zugeordnet worden, so dem Expressionismus, Kubismus und dem Surrealismus, doch sind sie schwierig zu klassifizieren und spielen auf Träume, Dichtung und Musik an, und gelegentlich sind Wörter oder Musiknoten eingebettet. Die späteren Arbeiten sind zum Teil durch hieroglyphenartige Symbole gekennzeichnet, deren Linien Klee als „einen Spaziergang nehmen um seiner selbst willen, ohne Ziel“ umschrieb. Zu den wenigen von Klee geschaffenen plastischen Arbeiten gehören Handpuppen, die er für seinen Sohn Felix zwischen 1916 und 1925 gefertigt hat. Der Künstler betrachtete sie nicht als Bestandteil seines Gesamtwerks und führte sie nicht in seinem Werkverzeichnis auf. 30 dieser Puppen sind erhalten und werden im Zentrum Paul Klee, Bern, aufbewahrt. Klees ab Februar 1911 bis zu seinem Tod eigenhändig geführter Œuvrekatalog verzeichnet insgesamt 733 Tafelbilder (Gemälde auf Holz oder Leinwand), 3159 farbige Blätter auf Papier, 4877 Zeichnungen, 95 Druckgrafiken, 51 Hinterglasbilder und 15 Plastiken. Etwa 1000 Werke schuf er in den letzten fünf Lebensjahren. Seine Kompositionen haben in der Öffentlichkeit eine erstaunliche Popularität erlangt, obwohl sie sich einer einfachen Deutung entziehen. Das Frühwerk Klees frühe Kinderzeichnungen, zu denen seine Großmutter den jungen Paul ermuntert hatte, sind erhalten, einige von ihnen hat Klee in sein Werkverzeichnis aufgenommen. Aus den Berner Jahren stammen insgesamt 19 Radierungen; zehn davon sind im zwischen 1903 und 1905 entstandenen Zyklus der Inventionen enthalten, mit dem Klee im Juni 1906 bei der „Internationalen Kunstausstellung des Vereins bildender Künstler Münchens ‚Secession‘“ erstmals als Künstler an die Öffentlichkeit trat. Die Invention Nr. 11, die Pessimistische Allegorie des Gebirges, wurde von Klee bereits im Februar 1906 aus dem Zyklus herausgenommen. Die satirischen Radierungen des Zyklus, beispielsweise die Jungfrau im Baum/Jungfrau (träumend) von 1903 und Greiser Phoenix von 1905, wurden als „surrealistische Vorposten“ gewertet, wie Klee später in seinem Tagebuch schrieb. Jungfrau im Baum knüpft an das Motiv Le cattive madri (1894) von Giovanni Segantini an. Die Gestaltung zeigt eine Steigerung ins Bizarre, wie sie literarisch in den Werken Alfred Jarrys, Max Jacobs und – in Deutschland – Christian Morgensterns auftrat, dessen groteske Lyrik einen direkten Einfluss auf Klee hatte. Sie weist einen Kulturpessimismus auf, der an der Wende zum 20. Jahrhundert in den Werken der Symbolisten eine Entsprechung findet. Die Invention Nr. 6, die Radierung Zwei Männer, einander in höherer Stellung vermutend von 1903, zeigt zwei unbekleidete Männer, die nur durch ihre Frisuren und Bärte als die beiden Kaiser Wilhelm II. und Franz Joseph I. erkennbar sind. Da sie ihrer Kleider und Insignien beraubt sind, „haben beide keinen Anhaltspunkt mehr, ob ihre konventionellen Ehrbezeugungen […] angebracht sind oder nicht. Da sie davon ausgehen, daß ihr Gegenüber höher bewertet werden könnte“, antichambrieren sie voreinander. Eine neue Technik entwickelte Klee ab 1905, indem er Einkratzungen mit einer Nadel auf geschwärzten Glasscheiben begann; es entstanden auf diese Weise 57 Hinterglasbilder, darunter die 1905 entstandene Gartenszene und das Porträt des Vaters aus dem Jahr 1906, mit denen er Malerei und Radierung zu verbinden suchte. Klees einzelgängerisches Frühwerk kam zum Abschluss, als er im Jahr 1910 auf den Grafiker und Illustrator Alfred Kubin traf, der ihn künstlerisch inspirierte. Weitere wichtige Kontakte zur malerischen Avantgarde sollten folgen. Inspiration durch Delaunay und den „Blauen Reiter“ Im März 1912 schloss Paul Klee die Illustration des Romans Candide ab, der 1920 unter dem Titel Kandide oder die Beste Welt. Eine Erzählung von Voltaire mit 26 Illustrationen des Künstlers im Verlag Kurt Wolff erschien. Zur farbigen Gestaltung gelangte Paul Klee über die Beschäftigung mit der Farbtheorie von Robert Delaunay, den er im April 1912 in Paris in seinem Atelier besuchte. Die Auseinandersetzung mit den Werken und Theorien Delaunays, dessen Werk dem „orphischen“ Kubismus, auch Orphismus genannt, zugerechnet wird, bedeutet die Hinwendung zur Abstraktion und der Autonomie der Farbe. Ferner wurden die Künstler des Blauen Reiters – vor allem August Macke und Franz Marc – durch die Malerei Delaunays wesentlich beeinflusst, und Klee als assoziiertes Mitglied der Redaktionsgemeinschaft des Blauen Reiters wiederum ließ sich später durch ihre Gemälde inspirieren, da er seinen künstlerischen Schwerpunkt zu dieser Zeit noch nicht gefunden hatte. Er beteiligte sich zwar an den Ausstellungen und erhielt wichtige Impulse für sein späteres Werk, es gelang ihm zu dieser Zeit jedoch noch nicht, seine Vorstellungen vom Umgang mit der Farbe in seinen Bildern umzusetzen. Er sah selbst seine Versuche als konstruiert an. Während seiner Zeit beim „Blauen Reiter“ galt er als hervorragender Zeichner; den endgültigen Durchbruch zur farbigen Malerei brachte jedoch erst die Tunisreise im Jahr 1914 für den Künstler, die ihn zum eigenständigen malerischen Werk führte. Mystisch-abstrakte Periode 1914–1919 Auf der gemeinsam mit Macke und Moilliet geplanten zwölftägigen Studienreise nach Tunis im April 1914 entstanden Aquarelle, die die starken Licht- und Farbreize der nordafrikanischen Landschaft in der Art von Paul Cézanne und die kubistische Formauffassung Robert Delaunays umsetzen. Es ging nicht darum, die Natur nachzuahmen, sondern Gestaltungen analog den Formprinzipien der Natur hervorzubringen, beispielsweise in den Werken In den Häusern von Saint-Germain und Straßencafé. Dabei übertrug Klee die Landschaft in ein Rasterfeld, sodass sie in farbliche Harmonie aufgelöst wird. Gleichzeitig entstanden gegenstandslose Arbeiten wie Abstract und Farbige Kreise durch Farbbänder verbunden Eine endgültige Trennung vom Gegenstand ergab sich in seinem Werk jedoch nicht. Klees über zehn Jahre dauernde Versuche und Auseinandersetzungen mit der Farbe hatten ihn nun zum eigenständigen malerischen Werk geführt, wobei ihm die farbenprächtige orientalische Welt zur Grundlage seiner Gestaltungsideen wurde. Nach den Aquarellen, die auf der Tunisreise entstanden, folgte beispielsweise 1915 das Aquarell Föhn im Marc’schen Garten, es lässt deutlich seine neue Beziehung zur Farbe und die Anregungen durch Macke und Delaunay erkennen. Obwohl Elemente des Gartens eindeutig zu identifizieren sind, ist eine weitere Hinwendung zur Abstraktion wahrnehmbar. In seinem Tagebuch schreibt Klee zu dieser Zeit: „In der großen Formgrube liegen Trümmer, an denen man noch teilweise hängt. Sie liefern den Stoff zur Abstraktion. […] Je schreckensvoller diese Welt, desto abstrakter die Kunst, während eine glückliche Welt eine diesseitige Kunst hervorbringt.“ Unter dem Eindruck seines Militärdiensts entstand das Bild Trauerblumen aus dem Jahr 1917, das mit seinen grafischen Zeichen, pflanzlichen und fantastischen Formen seine späteren Werke vorausahnen lässt, die Grafik, Farbe und Gegenstand harmonisch vereinen. Da Klee in Gersthofen fliegende und vor allem abstürzende Flugzeuge sah und er in seiner Freizeit Fliegerabstürze fotografieren sollte, erschienen in seinen Bildern erstmals Vögel, die wie Papierflugzeuge abstürzten, so in Blumenmythos aus dem Jahr 1918. In dem Aquarell Einst dem Grau der Nacht enttaucht aus dem Jahr 1918, einem kompositorisch umgesetzten Gedicht, das er vermutlich selbst verfasst hatte, nahm Klee Buchstaben in kleinen, farblich voneinander getrennten Quadraten auf und trennte die erste von der zweiten Strophe durch Silberpapier ab. Oben auf dem Karton, der das Bild trägt, sind die Verse handschriftlich eingetragen. Somit bilden hier Worte sowohl das Thema als auch die Art der Ausführung. Klee lehnte sich hier nicht mehr in der Farbe an Delaunay an, sondern an Franz Marc, obwohl die Bildinhalte beider Maler nicht korrespondierten. Unter anderem sah Herwarth Walden, Klees Kunsthändler, darin eine „Wachablösung“ seiner Kunst. Ab dem Jahr 1919 verwandte er häufiger Ölfarben, die er mit Aquarellfarben und Buntstift kombinierte. Die Villa R (Kunstmuseum Basel) von 1919 vereint sowohl sichtbare Realitäten wie Sonne, Mond, Berge, Bäume und Architekturen, als auch surrealistische Versatzstücke und Stimmungswerte. Werke in der Bauhaus-Zeit und in Düsseldorf Zu seinen Werken dieser Zeit gehören beispielsweise das abstrakte, mit grafischen Elementen versehene Werk betroffener Ort (1922). Aus demselben Jahr stammt das bekannte Gemälde Die Zwitscher-Maschine, die zu den Werken gehörte, die aus der Nationalgalerie Berlin entfernt wurden. Nachdem es in der Ausstellung „Entartete Kunst“ in München diffamierend gezeigt wurde, kaufte es die Buchholz Gallery, New York, eine Zweigstelle des Berliner Kunsthändlers Karl Buchholz, von der es 1939 das Museum of Modern Art für US$ 75 erwarb. Das „Zwitschern“ im Titel bezieht sich auf die Vögel, deren Schnabel geöffnet ist, während die „Maschine“ durch die Kurbel dargestellt wird. Das Aquarell wirkt auf den ersten Blick kindlich, lässt aber mehrere Interpretationen zu. Unter anderem könnte es eine Kritik Klees sein, der durch die Denaturierung der Vögel zeigt, dass die Technisierung der Welt Geschöpfe ihrer Selbstbestimmung beraubt. Weitere Beispiele aus der Zeit sind der Goldfisch aus dem Jahr 1925, Katze und Vogel 1928 sowie aus der Gruppe seiner Lagen- und Streifenbilder Hauptweg und Nebenwege 1929. Durch Variationen des Leinwanduntergrunds und aufgrund seiner kombinierten Maltechniken erreichte Klee immer neue Farbeffekte und Bildwirkungen. In der Düsseldorfer Zeit entstand im Jahr 1932 Ad Parnassum, mit 100 × 126 cm eines der größten Bilder Klees, der sonst meistens in kleinen Formaten arbeitete. In diesem mosaikähnlichen Werk, das im Stil des Pointillismus gearbeitet ist, vereinte er wiederum verschiedenen Techniken und Kompositionsprinzipien. In Erinnerung an die Ägyptenreise 1928/29 baute Klee ein Farbfeld aus einzelnen gestempelten Punkten auf, dem er mit wenigen ebenfalls gestempelten Linien einen gegenständlichen Rahmen gab, der an eine Pyramide erinnert. Über dem Dach des „Parnass“ scheint die Sonne zu leuchten. Der Titel identifiziert das Bild als den Sitz Apollons und der Musen. Im letzten Jahr in Deutschland, 1933, entstanden zahlreiche Gemälde und Zeichnungen; das Werkverzeichnis umfasst 482 Nummern. Das Selbstporträt in diesem Jahr – mit dem programmatischen Titel von der Liste gestrichen – gibt Auskunft über sein Befinden: Klee hatte seine Professur verloren. Das in dunklen Farben gehaltene abstrakte Porträt weist geschlossene Augen und einen zusammengepressten Mund auf, durch den angedeuteten Hinterkopf läuft ein großes „X“ – seine Kunst galt nichts mehr in Deutschland. Das Spätwerk in der Schweiz Klees Gestaltung in dieser Zeit wandte sich großformatigen Bildern zu. Waren nach Ausbruch der Krankheit noch 25 Nummern im Werkverzeichnis für das Jahr 1936 aufgeführt, steigerte sich seine Produktivität 1937 erheblich auf 264 Arbeiten, 1938 auf 489, und 1939, seinem produktivsten Jahr, führte er 1254 Werke auf. Seine Werke befassen sich mit ambivalenten Themen, die sein persönliches Schicksal, die politische Situation und ebenso seinen Witz ausdrücken: Das Aquarell Musiker, ein Strichmännchengesicht mit teils ernstem, teils lächelndem Mund sowie die Revolution des Viadukts, das eines seiner bekanntesten Bilder ist und als Klees Beitrag zur antifaschistischen Kunst aufgefasst wird, seien als Beispiele genannt. In dem Viadukt aus dem Jahr 1937 treten die Brückenbögen aus der Reihe, sie weigern sich, nur ein Glied in der Kette zu sein und machen Revolution. Klees rund 80 Engelmotive entstanden hauptsächlich zwischen 1938 und 1940 als Ausdruck seiner damaligen Lebenssituation. Ausstellungen im Museum Folkwang in Essen und in der Hamburger Kunsthalle im Jahr 2013 kommentierten das Thema wie folgt: Ab 1938 arbeitete Klee noch intensiver mit hieroglyphenhaften Elementen. Das Gemälde Insula dulcamara aus diesem Jahr, das mit 88 × 176 cm zu seinen größten Bildern gehört, zeigt in der Mitte dieser Elemente ein weißes Gesicht, das mit seinen schwarz umrandeten Augenhöhlen den Tod symbolisiert. Bitterkeit und Trauer sind in vielen seiner Werke aus dieser Zeit erkennbar. Das 1940 fertiggestellte Bild, das sich von den vorhergehenden stark unterscheidet, hinterließ Klee vor seinem Tod unsigniert auf der Staffelei. Es ist ein vergleichsweise realistisches Stillleben Ohne Titel, später genannt Der Todesengel, auf dem unter anderem Blumen, eine grüne Kanne, eine Skulptur und ein Engel abgebildet sind. Von diesen Gruppen getrennt erscheint auf dunklem Grund der Mond. Klee hatte sich vor diesem Bild anlässlich seines 60. Geburtstags fotografieren lassen. Es wird vermutet, dass Klee dieses Werk als sein künstlerisches Vermächtnis angesehen hat. Kunsttheoretische Schriften, Tagebücher, Briefe und Gedichte Nach der Heirat 1906 und der Übersiedlung nach München war Paul Klee außer als Künstler auch journalistisch tätig. So schrieb er von November 1911 bis Dezember 1912 für die Berner Zeitschrift Die Alpen Beiträge über das Münchner Kunst- und Musikleben. Im Augustheft des Jahres 1912 veröffentlichte Klee einen Bericht über die vom 7. Juli bis 31. Juli stattfindende Ausstellung im Kunsthaus Zürich, bei der Werke des von Hans Arp, Walter Helbig und Oscar Lüthi gegründeten „Modernen Bundes“, einer Vereinigung von Schweizer Künstlern, zusammen mit Werken des Blauen Reiters gezeigt wurden. Klee verwendet in seinem Bericht den Begriff Expressionismus, jedoch anders, als es seine Zeitgenossen taten. Für Klee war mit dem Expressionismus nicht nur die künstlerische Entwicklung weiter vorangetrieben worden, sondern wirklich Neuland für künstlerische Möglichkeiten im Sinne eines „erweiterten Kunstgebiets“ erschlossen worden. Nach 1912 beschränkte Klee seine schriftlichen Veröffentlichungen auf kunsttheoretische Aufsätze, die hauptsächlich zwischen 1920 und 1925 entstanden, sowie auf Abhandlungen über Wassily Kandinsky (1926) und Emil Nolde (1927). 1957 wurden die Tagebücher (1898–1918) postum veröffentlicht, 1960 Gedichte und 1979 Briefe an die Familie. Die Kunsttheorien bedeuten neben den Tagebuchnotizen die wichtigsten Quellen und Wegweiser zu seinem Werk. Bereits während des Ersten Weltkriegs begann Klee 1918 seine erste kunsttheoretische Auseinandersetzung, die Schöpferische Konfession. Veröffentlicht wurde sie 1920 in Berlin zusammen mit den Bekenntnissen anderer Maler und Dichter in „Tribüne der Kunst und der Zeit. Eine Schriftensammlung“, herausgegeben von Kasimir Edschmid. Der bekannte erste Satz daraus – „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.“ – zeigt Klees Gestaltungstendenz auf, die Sichtbarmachung einer inneren Welt der Vorstellungen in sein Werk einzufügen. Ausgehend von Leonardo da Vinci, über Robert Delaunay und Wassily Kandinsky, löste sich Klee in dieser Schrift von der Auffassung der simultanen Bilderfassung. Der kleine Band wurde erstmals 1919 in Leipzig gedruckt und wird im Originalmanuskript von der Paul-Klee-Stiftung im Kunstmuseum Bern in einem Wachstuchheft zusammen mit autobiografischen Texten Klees verwahrt. Im Oktober 1920 erschien die Schrift Farbe als Wissenschaft. Dieser kurze Text, den Klee auf Anregung des Kunsthistorikers Hans Hildebrandt für das Farben-Sonderheft Das Werk. Mitteilungen des Deutschen Werkbundes verfasste, polemisiert nicht nur gegen die mathetische Farbenlehre des Chemikers und Physikers Wilhelm Ostwald, „sondern enthält zwei grundlegende Hinweise: Es bedürfe keiner Farbenlehre und die Farbwerte seien relative Größen. Die Farbe wird hier erstmals expressis verbis als Absolutum verstanden.“ Im ersten Band der Bauhausbücher erschien 1923 unter anderen Beiträgen Klees Wege des Naturstudiums, in der er die Natur als ein „sine qua non“ der künstlerischen Arbeit beschreibt, die trotz aller freien Umformung der Ausgangspunkt des Künstlers bleiben soll. Im Jahr 1925 erschien als Bauhausbuch Nr. 2 sein Pädagogisches Skizzenbuch, das auf die optische Erziehung des Schülers gerichtet ist und sich hauptsächlich mit den grafischen und farbigen Ausdrucksmitteln beschäftigt. Aus Anlass seiner am 19. Januar 1924 eröffneten Bilderausstellung im Jenaer Kunstverein im Prinzessinnenschlösschen hielt Klee am 26. Januar seinen bekannt gewordenen Jenaer Vortrag, den der Künstler in seiner Zeit am Bauhaus verfasste und der erstmals 1945 postum unter dem Titel Über die moderne Kunst im Verlag Benteli, Bern-Bümpliz, veröffentlicht wurde. Klee entwickelte darin das vergleichende Bild vom Baum, seinen Wurzeln und der Krone, der Künstler spielt darin den Stamm in der Rolle des Vermittlers, um „aus der Tiefe Kommendes zu sammeln und weiterzuleiten“. Nach Klee sollte die moderne Kunst im Verwandlungsprozess „das veränderte umgeformte Abbild der Natur“ entstehen lassen. Was die Kubisten „création et non imitation“ nannten, formulierte Klee als „Wiedergeburt der Natur im Bilde.“ Die „spezifischen Dimensionen der Malerei“, so Klee, seien vor allem die begrenzten formalen Elemente, wie „Linie, Helldunkel und Farbe“. Von besonderer Bedeutung seien die Farben, die weder mit einem Längenmaß (Linie) noch mit der Waage („Gewicht“ von Tonalität oder Helldunkel) erfassbar seien: So wie Salz und Zucker in ihren wesentlichen Eigenschaften vergleichbar sind, so Klee, können Farben Qualitäten genannt werden. Farbe ist also in erster Linie „Qualität“. Zweitens ist es auch Gewicht, denn es hat nicht nur einen Farbwert, sondern auch einen Helligkeitswert. Aber es ist auch Maß, denn neben den bisherigen Werten hat es seine Grenzen, seinen Umriss, seine Ausdehnung, seine Messbarkeit. Rezeption Zeitgenössische Sichtweisen von Paul Klee „Klees Tat ist ganz wunderbar. In einem Minimum von Strich kann er seine ganze Weisheit offenbaren. Er ist alles; innig, zart, und vieles andere Beste, und dies vor allem: er ist neu“, so beschreibt Oskar Schlemmer, der spätere Künstlerkollege vom Bauhaus, die Bilder von Paul Klee in seinem Tagebuch im September 1916. Der Schriftsteller Wilhelm Hausenstein, Klees Freund, betont in seinem Werk Über Expressionismus in der Malerei von 1919 dessen musische Begabung und resümiert: „Vielleicht ist Klees Einstellung überhaupt nur dem musikalischen Menschen begreiflich – wie Klee selbst einer der köstlichsten Geiger von Bach und Händel ist, die je über die Erde gingen. […] Bei Klee, dem deutschen Klassiker des Kubismus, ist das Musikalische der Welt als Begleiter, vielleicht sogar Gegenstand einer Kunst geworden, die einer in Noten geschriebenen Komposition nicht unähnlich scheint.“ Als Klee im Jahr 1925 die Surrealistenausstellung in Paris besuchte, war Max Ernst von seinem Werk begeistert. Seine zum Teil morbiden Motive sprachen die Surrealisten an. André Breton half dem Surrealen eigenhändig etwas nach und taufte Klees Zimmerperspektive mit Einwohnern aus dem Jahr 1921 in einem Katalog in chambre spirit um. Der Kritiker René Crevel bezeichnete den Künstler als „Träumer“, „der aus geheimnisvollen Abgründen einen Schwarm kleiner lyrischer Läuse befreit.“ Paul Klees Vertrauter Will Grohmann hielt in den Cahiers d’Art dagegen, dass Klee „durchaus gesund fest auf seinen Beinen steht. Er ist in gar keiner Weise ein Träumer; er ist ein moderner Mensch, der als Professor am Bauhaus lehrt.“ Worauf Breton, wie sich Joan Miró erinnert, Klee mit einem Bann belegt: „Masson und ich haben zusammen Paul Klee entdeckt. Auch Paul Éluard und Crevel interessieren sich für Klee, sie haben ihn sogar besucht. Doch Breton verachtet ihn.“ Die Kunst der Geisteskranken hat Klee neben Kandinsky und Max Ernst inspiriert, nachdem Hans Prinzhorns Publikation Bildnerei der Geisteskranken 1922 erschienen war. 1937 wurden einige Blätter aus Prinzhorns Sammlung in der nationalsozialistischen Propagandaausstellung „Entartete Kunst“ in München präsentiert, sie wurden den Werken von Kirchner, Klee, Nolde und anderen gegenübergestellt, um diese zu diffamieren. Im Jahr 1949 bemerkte Marcel Duchamp über Paul Klee: „Die erste Reaktion vor einem Gemälde von Paul Klee ist die sehr erfreuliche Feststellung, was jeder von uns hat oder hätte tun können, wenn wir versuchen, wie in unserer Kindheit zu zeichnen. Die meisten seiner Kompositionen zeigen auf den ersten Blick einen schlichten, naiven Ausdruck, wie wir ihn auch in Kinderzeichnungen finden. […] Bei einer zweiten Analyse entdeckt man eine Technik, der eine große Reife im Denken zugrunde liegt. Ein tiefes Verständnis im Umgang mit Aquarellfarben, eine persönliche Methode in Öl zu malen, angelegt in dekorativen Formen, lassen Klee in der zeitgenössischen Malerei hervorstechen und machen ihn unvergleichlich. Andererseits wurde sein Experiment in den vergangenen 30 Jahren von vielen anderen Künstlern als Grundlage neuerer Entwicklungen in den unterschiedlichsten Bereichen der Malerei übernommen. Seine extreme Fruchtbarkeit zeigt niemals Anzeichen von Wiederholung, wie es gewöhnlich der Fall ist. Er hatte soviel zu sagen, dass ein Klee nie wie ein anderer Klee ist.“ Walter Benjamin und der Angelus Novus Klees Werk Angelus Novus, 1920 in Weimar entstanden, war zunächst in Besitz des Philosophen Walter Benjamin. Durch dessen Aufsatz Über den Begriff der Geschichte erlangte er Berühmtheit und nahm in diesem als „Engel der Geschichte“ (These IX) eine zentrale Stelle ein. Musikalische Werke mit Bezug zu Arbeiten Paul Klees Seit seiner Kindheit spielte Musik für Paul Klee eine wichtige Rolle. Noch zur Zeit seines Kunststudiums in München war er unentschlossen, ob er der Musik oder der Malerei einen Vorzug geben sollte. Seine Musikalität spiegelt sich in vielfältiger Weise in seinen Bildern wider, zwar nicht offensichtlich illustrativ oder deskriptiv, sondern er sucht nach Analogien in den musikalischen und bildnerischen Gestaltungsverfahren. Im Gegensatz zu seiner Malerei, war er in der Musik der Tradition verpflichtet. So schätzte er weder Komponisten des späten 19. Jahrhunderts wie Wagner, Bruckner und Mahler, noch die Musik seiner Zeitgenossen. Bach und Mozart waren für ihn die größten Komponisten; Werke des letzteren hörte und spielte er am liebsten. Klees Werke animieren immer wieder Tonkünstler zu Kompositionen wie beispielsweise: den Argentinier Roberto García Morillo 1943 mit Tres pinturas de Paul Klee, Giselher Klebes mit seinem 1950 entstandenen Orchesterwerk Die Zwitschermaschine mit dem Untertitel Metamorphosen über das Bild von Paul Klee bei den Donaueschinger Musiktagen aufgeführt, Gunther Schuller mit Sieben Studien über Klee’sche Bilder in den Jahren 1959/60; enthalten sind Alter Klang (Antique Harmonies), Abstraktes Terzett (Abstract Trio), Little Blue Devil, Zwitscher-Maschine (Twittering Machine), Arab Village, Ein unheimlicher Moment (An Eerie Moment) und Pastorale, Peter Maxwell Davies 1962 mit Five Klee-Pictures für Orchester, Edison Denissow 1985 mit Drei Bilder von Paul Klee für sechs Spieler (Diana im Herbstwind – Senecio – Kind auf der Freitreppe), Tan Dun 1992 mit Death and fire, Dialogue with Paul Klee für Orchester, Jean-Luc Darbellay 1996 mit Ein Garten für Orpheus für sechs Instrumente, Jörg-Peter Mittmann 1997 mit Bilder des Südens für sieben Spieler (Garten im Orient – Lagunenstadt – Häuser am Meer), Michael Denhoff 1998 mit Haupt- und Nebenwege für Streicher und Klavier, die Groupe Lacroix (1992, 1997, 1999, 2001, 2002); unter anderem war das Aquarell Hat Kopf, Hand, Fuss und Herz aus dem Jahr 1930 Anlass zur Komposition Wie der Klee vierblättrig wurde sowie Angelus Novus und Hauptweg und Nebenwege, eingespielt bei Creative Works Records unter dem Titel 8 Pieces on Paul Klee von dem Ensemble Sortisatio im Februar und März 2002 in Leipzig und im August 2002 in Luzern, den isländische Sänger, Schauspieler und Komponisten Egill Ólafsson 2001 mit seinem Soloalbum Angelus Novus; sowohl das gesamte Album als auch das gleichnamige Titellied beziehen sich auf das Werk Paul Klees, Iris Szeghy 2005 mit Ad parnassum für Streicher, Ludger Stühlmeyer 2019 mit einer Fantasie in vier Teilen für Orgel „Super flumina Babylonis“ (Introduzione, Scontro, Elegie, Appassionato) über Klees Aquarell An den Wassern zu Babel. Klees redigierte Tagebücher Klees Biografin Susanna Partsch weist darauf hin, dass Klee, um ein in der Öffentlichkeit positives Bild zu erhalten, seine Tagebücher dementsprechend redigiert hatte. Der Spruch auf seinem Grabstein „Diesseitig bin ich gar nicht fassbar“, den er als sein Programm ansah, charakterisiere den Künstler Klee so, wie er gern gesehen werden wollte. Dieser Text erschien zuerst im Katalog seiner ersten großen Einzelausstellung bei dem Kunsthändler Goltz im Jahr 1920 und anschließend im selben Jahr in Klees erster Monografie von Leopold Zahn. Sein Freund und Biograf Will Grohmann, dessen Monografie 1954 erschien, habe Klee noch ohne kritische Distanz beschrieben und den Text mit dem Künstler abgesprochen. Erst Jürgen Glaesemer und Christian Geelhaar hätten um die Mitte der 1970er Jahre einen neuen Abschnitt in der Klee-Forschung eingeleitet und so eine objektive Sicht auf den Maler ermöglicht. Der in den USA lebende Kunsthistoriker Otto Karl Werckmeister hatte daraufhin unter Einbeziehung von Klees gesellschaftlichem und politischem Umfeld in mehreren Aufsätzen und einem Buch der neuen Forschung eine Grundlage gegeben. Eine kritische Edition der Tagebücher, von Wolfgang Kersten 1988 veröffentlicht, ergänzte die neue Sichtweise. Es entstanden weitere Studien, die Klees Spätwerk unter der Diagnose seiner Krankheit Sklerodermie analysierten. „Paul Klee trifft Joseph Beuys“ Schloss Moyland am Niederrhein zeigte im Jahr 2000 die Ausstellung „Paul Klee trifft Joseph Beuys. Ein Fetzen Gemeinschaft“. Sie wurde in leicht modifizierter Form im Frühjahr 2002 im Kurpfälzischen Museum in Heidelberg wiederholt. Die Kuratoren stellten ausgewählte Werke von Beuys und Klee gegenüber. Ein Fetzen Gemeinschaft – nach dem Titel eines Werkes von Paul Klee aus dem Jahre 1932 – verwies auf das Ausstellungskonzept, die künstlerische Nachbarschaft der beiden Künstler auch im Titel zu verdeutlichen. Zwar trafen sich Klee und Beuys (1921–1986) nie, jedoch sollte die Ausstellung den direkten Bezug ausgewählter Beuys’scher Zeichnungen zu Arbeiten von Klee aufzeigen. Beide Künstler setzten sich, jeder auf seine eigene Weise, mit Themen der Pflanze und des Spiralwachstums im Tier- und Pflanzenreich auseinander. Ebenso war die ganzheitliche Auffassung vom Wesen der Natur ähnlich, und Beuys stellte überrascht fest, dass Klee bereits 1904 ähnlich gearbeitet hatte wie er. Als Beuys im Jahre 1979 in der Städtischen Galerie im Lenbachhaus zeige deine Wunde aufbaute, fand gleichzeitig im Erdgeschoss eine große Ausstellung über das Frühwerk Paul Klees statt, die Werke aus dem Zeitraum von den frühen Kinderzeichnungen bis zum Jahr 1922 umfasste. Armin Zweite berichtet, dass Beuys über mehrere Stunden mit großer Geduld von Blatt zu Blatt gegangen sei und bei einigen Blättern seine Brille herausgeholt habe, um sie genau zu betrachten, obwohl im Obergeschoss alle auf ihn warteten. Als jedoch die Candide-Illustrationen in sein Blickfeld fielen, erlahmte sein Interesse, und er murmelte so etwas wie „A ja, nun weiß der Klee wie’s weitergeht, jetzt ist es nicht mehr interessant für mich.“ „Klee and America“ Unter dem Titel Klee and America fand von 2006 bis Anfang 2007 eine Wanderausstellung statt, die im März 2006 in der „Neuen Galerie“ in New York startete, ab Juni in der „Phillipps Collection“ in Washington, D.C. und von Oktober bis Mitte Januar 2007 in der „Menil Collection“ in Houston fortgesetzt wurde. Sie umfasste über 60 ausgestellte Werke mit Leihgaben von privaten und staatlichen Sammlern aus Amerika und dem Ausland. Die Ausstellung erinnerte an die begeisterte Aufnahme von Klees Werk in den Vereinigten Staaten der 1930er und 1940er Jahre – er selbst war nie in den USA gewesen –, als sein Werk in Deutschland als „Entartete Kunst“ verfemt war und zahlreiche Stücke aus deutschen Sammlungen in die USA verkauft wurden. Der Kurator der Ausstellung, Josef Helfenstein, wies darauf hin, dass der Einfluss Klees auf die amerikanische Kunst noch nicht vollständig untersucht worden sei und diese Ausstellung erreichen wolle, die Geschichte der modernen Kunst um ein einflussreiches, aber oft vergessenes Kapitel zu ergänzen. Klee habe die jungen amerikanischen Künstler beeinflusst, die sich vom geometrischen, abstrakten Stil und vom Surrealismus befreien wollten. Klees kryptische Zeichen, die Möglichkeiten, die er bezüglich jeder Art von Komposition und jeder erdenklichen formalen Frage aufzeigte, habe der jungen Generation der abstrakten Expressionisten in der Zeit der 1940er und 1950er Jahre einen befreienden Weg gewiesen. Die bisher selten oder nie ausgestellten Werke stammten hauptsächlich von amerikanischen Sammlern, darunter so bekannte Persönlichkeiten wie Katherine Dreier und Walter und Louise Arensberg, von Künstlern wie Alexander Calder, Mark Tobey oder Andy Warhol, dem Schriftsteller Ernest Hemingway und den Architekten Walter Gropius und Philip Johnson. Unter den ausgestellten Werken befand sich beispielsweise die Zwitscher-Maschine aus dem Jahr 1922. „Klee trifft Picasso“ Zum fünfjährigen Bestehen des Zentrums Paul Klee fand von Juni bis September des Jahres 2010 in Bern eine Sonderausstellung mit etwa 180 Exponaten statt: „Klee trifft Picasso“, die die Bezüge zwischen den beiden fast gleichaltrigen Antipoden herstellt. Beide Künstler haben ähnlich radikal mit künstlerischen Traditionen gebrochen. Sie waren sich in ihrem Leben nur zweimal begegnet: 1933 besuchte Klee Picasso in seinem Pariser Atelier, und 1937 erfolgte ein Gegenbesuch Picassos, der mit Verspätung im Berner Atelier eintraf und Klees Arbeiten lange, aber kommentarlos betrachtete. Die Auseinandersetzung mit Picasso war geprägt von Faszination einerseits und Abwehr andererseits, sie hat in Klees Werk Spuren hinterlassen und floss in seine Schriften zur Kunst ein. Sein Gemälde Hommage à Picasso aus dem Jahr 1914, gemalt im typisch kleinen Format, griff den Stil der neuen Kunstrichtung des Kubismus auf. Es entstand, nachdem Klee kurz zuvor seine ersten Picasso-Bilder bei dem Berner Sammler Hermann Rupf gesehen hatte. In Klees Œuvre ist es die einzige einem anderen Künstler gewidmete Arbeit. In einem Artikel in der Schweizer Zeitschrift Die Alpen lobte er den Kubismus als Kunstrichtung der Zukunft. Die Kuratorin der Ausstellung, Christine Hopfengart, geht davon aus, dass Picasso sich von den ironischen, karikaturhaften Motiven in Klees Werk beeinflussen ließ. Beide Maler arbeiteten in den 1930er Jahren mit deformierten Figuren. Klee schien sich stärker gegen das ungeliebte Vorbild wehren zu müssen. Einige Zeichnungen, die Klee nach Picassos Besuch in Bern schuf, sind – psychologisch interessant – als Parodien auf den Konkurrenten erkennbar. Malte der vitale Picasso Minotaurusmotive wie 1933 die Bacchantenszene mit Minotaurus, wurde bei Klee aus dem gewaltigen Stier ein „Urch“, ein eher friedliches, schwerfälliges Wesen. Das Wort ist zusammengesetzt aus „Ur“ und „Ochse“. Klee bezeichnete Picasso als den „Spanier“, während Picasso seinen Schweizer Kollegen mit dem Namen „Blaise Napoléon“ bedacht haben soll. „Napoléon“ zielt auf die straffe Haltung Klees, während „Blaise“ für Blaise Pascal steht; Picasso, als kraftgeladener Mann, spielte damit auf das Vergeistigte in Klee an. Klee und der Japonismus In einer Ausstellung im Zentrum Paul Klee wurde 2013 erstmals auf die Beschäftigung Paul Klees mit ostasiatischer Kunst verwiesen. Sie lief bis zum 12. Mai unter dem Titel Vom Japonismus zu Zen. Paul Klee und der Ferne Osten. Der Japonismus war in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Europa und besonders in Frankreich beliebt und erreichte 20 bis 30 Jahre später Deutschland. Klee schuf unter diesem Einfluss zwischen 1900 und 1908 einige Werke, in denen die Einflüsse japanischer Farbholzschnitte (Ukiyo-e) sichtbar sind, setzte diese später fort, beschäftigte sich ab 1933 mit dem Zen-Buddhismus und mit der Kalligrafie. Klees Werk galt vor dem Zweiten Weltkrieg in Japan als kultureller Vermittler zwischen japanischer Tradition und westlicher Moderne und gelangte in der Nachkriegszeit zu großer Bekanntheit. Archiv, Museen und Schulen mit Bezug zu Klee Das „Paul Klee-Archiv“ der Friedrich-Schiller-Universität in Jena beherbergt seit 1995 innerhalb des von Franz-Joachim Verspohl aufgebauten Kunsthistorischen Seminars der Universität eine umfangreiche Sammlung zu Paul Klee. Sie umfasst die in mehr als dreißig Jahren zusammengetragene Privatbibliothek des Buchsammlers Rolf Sauerwein mit annähernd 700 Titeln, bestehend aus Monographien über Klee, Ausstellungskatalogen, umfangreicher Sekundärliteratur sowie original illustrierten Ausgaben, einer Postkarte und einem signierten Fotoporträt Klees. Im Juni 2005 wurde das vom Architekten Renzo Piano geplante Kulturzentrum und Museum Zentrum Paul Klee in Bern eröffnet. Aus der weltweit größten Sammlung Klees von etwa 4000 Werken werden jeweils etwa 150 Arbeiten halbjährlich in Wechselausstellungen präsentiert. Der umfangreiche Sammlungsbestand macht es unmöglich, alle Werke auf einmal zu zeigen. Auch benötigen die Arbeiten Klees wegen ihrer Empfindlichkeit, die auf der technisch experimentierfreudigen Arbeitsweise des Künstlers beruhen, Ruhephasen. Er hatte beispielsweise äußerst lichtempfindliche Farben, Tinten und Papiere verwendet, die bei zu langer Verweildauer in den Ausstellungsräumen ausbleichen, sich verändern, beziehungsweise die Papiere verbräunen und brüchig würden. Im San Francisco Museum of Modern Art befindet sich die umfangreiche Klee-Sammlung von Carl Djerassi. Ebenfalls bekannt sind die Klee-Abteilungen der Sammlung Rosengart in Luzern, der Albertina in Wien und der Sammlung Berggruen in Berlin. In Gersthofen, Lübeck (Hochschulstadtteil), Klein-Winternheim, Bad Godesberg, Berlin-Tempelhof, Overath, seinem Geburtsort Münchenbuchsee und Düsseldorf wurden nach ihm Schulen benannt. Ausstellungen (Auswahl) Einzelausstellungen und Retrospektiven 1920: Paul Klee, Kunstverein Jena, Jena 1920: Paul Klee, 60. Ausstellung, Galerie Neue Kunst Hans Goltz, München (Retrospektive) 1923: Paul Klee, Nationalgalerie Berlin, Galerie der Lebenden, Kronprinzenpalais, Berlin 1924: Paul Klee, 16th Exhibition of Modern Art, Galleries of the Société Anonyme Inc., New York 1924: Prinzessinnenschlösschen, Kunstverein Jena, Jena 1925: 39 aquarelles de Paul Klee, Galerie Vavin-Raspail, Paris 1925: Paul Klee, Erfurter Kunstverein 1926: 100 Aquarelle von Paul Klee, Galerie Neue Kunst Fides, Dresden 1928: Paul Klee, Galerie Alfred Flechtheim, Berlin 1929: Paul Klee, Galerie Alfred Flechtheim, Berlin 1929: Paul Klee, Aquarelle, Erfurter Kunstverein 1930: Paul Klee, Museum of Modern Art, New York 1930: Paul Klee, Aquarelle, Zeichnungen und Graphik aus 25 Jahren, Galerie Alfred Flechtheim, Düsseldorf 1930: Paul Klee zum 50. Geburtstage. Aquarelle aus den Jahren 1920–1929, Galerie Neue Kunst Fides, Dresden 1931: Paul Klee, Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen, Veranstaltet in Verbindung mit der Galerie Alfred Flechtheim, Düsseldorf 1931: Paul Klee, Neue Bilder und Aquarelle, Galerie Alfred Flechtheim, Berlin 1935: Paul Klee, Kunsthalle Bern, Bern (Retrospektive) 1940: (ab 16. Februar) Retrospektive von Klees Spätwerk im Kunsthaus Zürich, noch geplant vom Künstler 1940: Gedächtnisausstellung Paul Klee. Neue Werke, Kunsthalle Bern, Bern; Paul Klee, Buchholz Gallery, Willard Gallery, New York; Gedächtnisausstellung Paul Klee 1979–1940, ETH Zürich, Graphische Sammlung 1941: Gedächtnisausstellung Paul Klee, Kunsthalle Basel, Basel; Paul Klee. Memorial Exhibition, Museum of Modern Art, New York 1974: Galerie Roswitha Haftmann Modern Art, Zürich 1979: Paul Klee. Das Werk der Jahre 1919–1933. Gemälde, Handzeichnungen, Druckgrafik, Kunsthalle Köln, Köln 1979/80: Paul Klee – Das Frühwerk 1883–1922, Städtische Galerie im Lenbachhaus und Kunstbau, München 1984/85: Paul Klee. Gemälde, farbige Blätter, Zeichnungen, Graphik aus dem Kunstmuseum Bern, Paul-Klee-Stiftung und Berner Privatbesitz, Albertinum, Dresden 1987/88: Paul Klee, Museum of Modern Art, New York, Cleveland Museum of Art, Cleveland, Kunsthalle Bern, Bern 1989: Paul Klee. Die Sammlung Berggruen, Metropolitan Museum of Art, New York 1990: Paul Klee. Spätwerk, Württembergischer Kunstverein, Stuttgart 1995: Paul Klee – im Zeichen der Teilung, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1996: Paul Klee. Bilder träumen, Kunsthalle Mannheim, Mannheim 1999: Paul Klee in Jena 1924. Die Ausstellung, Stadtmuseum Göhre, Jena 2000: Paul Klee – die Sammlung Bürgi, Kunstmuseum Bern, Bern; Hamburger Kunsthalle, Hamburg; Scottish National Gallery of Modern Art, Edinburgh 2003: Paul Klee im Rheinland, Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2003/04: Paul Klee 1933, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München; Kunstmuseum Bern, Bern; Schirn Kunsthalle Frankfurt, Frankfurt am Main; Hamburger Kunsthalle, Hamburg 2003/04: Paul Klee – Lehrer am Bauhaus, Kunsthalle Bremen, Bremen 2003/04: Paul Klee – Tod und Feuer – Die Erfüllung im Spätwerk, Sprengel Museum Hannover, Hannover 2006/07: Paul Klee – Kein Tag ohne Linie, Museum Ludwig, Köln 2008/09: Paul Klee – Bewegung im Atelier, Zentrum Paul Klee, Bern 2008/09: Das Universum Klee – der Kult des Künstlers, Neue Nationalgalerie, Berlin 2010/11: Paul Klee. Grafik, Graphikmuseum Pablo Picasso, Münster 2012: Klee en Cobra. Het begint als Kind, Cobra Museum, Amstelveen 2012/13: 100 × Paul Klee. Geschichte der Bilder, K 21 im Ständehaus, Düsseldorf 2013: Vom Japonismus zu Zen. Paul Klee und der Ferne Osten, Zentrum Paul Klee, Bern 2013/14: Paul Klee. Mythos Fliegen, H2 – Zentrum für Gegenwartskunst, Augsburg, 23. November 2013 bis 23. Februar 2014 2013/14: Paul Klee – Making Visible, Tate Modern, London, 16. Oktober 2013 bis 9. März 2014 2013/14: Sonderpräsentation: Les Klee du paradis. Paul Klee in den Sammlungen der Nationalgalerie, Sammlung Scharf-Gerstenberg, Berlin, 5. Dezember 2013 bis 31. August 2014 2015: Paul Klee – Sonderklasse unverkäuflich, Museum der bildenden Künste, Leipzig, 1. März 2015 bis 25. Mai 2015 2015/16: Klee in Bern, Zentrum Paul Klee, Bern, 14. Februar 2015 bis 12. Januar 2016. 2016: Paul Klee. L’ironie à l’oeuvre, thematische Retrospektive im Centre Pompidou, Paris, 6. April bis 1. August 2016 2017: Paul Klee. Dichter und Denker, Zentrum Paul Klee, Bern, 20. Januar bis 26. November 2017 2017/18: Klee, Fondation Beyeler, 1. Oktober 2017 bis 21. Januar 2018 2018: Paul Klee, Konstruktion des Geheimnisses, 1. März bis 10. Juni 2018, Pinakothek der Moderne, München 2018/19: Paul Klee. Tierisches, Zentrum Paul Klee, Bern, 19. Oktober 2018 bis 17. März 2019 2020/21: Paul Klee in Nordafrika. 1914 Tunesien | Ägypten 1928. Museum Berggruen, Berlin, 3. März 2020 bis 10. Januar 2021 2020/21: Mapping Klee. Zentrum Paul Klee. Bern, 5. September 2020 bis 24. Januar 2021 (Digicast) 2021/22: Paul Klee. Menschen unter sich. Zentrum Paul Klee, Bern, 28. August 2021 bis 22. Mai 2022 2022/23: Paul Klee. Vom Rausch der Technik, Zentrum Paul Klee, Bern, 3. September 2022 bis 21. Mai 2023 Gruppenausstellungen 1906: Internationale Kunstausstellung des Vereins bildender Künstler Münchens ‚Sezession‘, Königliches Kunstausstellungsgebäude, München 1908: Zeichnende Künste. 16. Ausstellung der Berliner Sezession, Ausstellungshaus am Kurfürstendamm, Berlin 1910: Erste Kollectivausstellung, Kunstmuseum Bern, Bern 1912: Zweite Ausstellung der Redaktion der Blaue Reiter. Schwarz-Weiß, Kunsthandlung Hans Goltz, München 1912: Internationale Kunstausstellung des Sonderbundes Westdeutscher Kunstfreunde und Künstler zu Cöln 1912, Am Aachener Tor, Köln 1913: Erster Deutscher Herbstsalon, Galerie Der Sturm, Berlin 1916: Paul Klee und Albert Bloch, 39. Ausstellung der Galerie Der Sturm, Berlin 1917: Paul Klee und Georg Muche, 49. Ausstellung der Galerie Der Sturm, Berlin 1917: Sturmgraphik, Kunstverein Jena, Jena 1917/1918: Albert Bloch, Paul Klee, Kunstverein Jena, Jena 1918: Sturmgraphik. Rudolf Bauer, Heinrich Campendonk, Marc Chagall, Jacoba van Heemskerck, Paul Klee, Oskar Kokoschka, Georg Schimpf, Fritz Stuckenberg, Maria Uhden, William Wauer, Kunstverein Jena, Jena 1920: Paul Klee, Johannes Molzahn, Fritz Stuckenberg, Kunstverein Jena, Jena 1920: In Memoriam Lehmbruck. Paul Klee, Walter Tanck, Galerie Alfred Flechtheim, Düsseldorf 1921: 14th Exhibition, Société Anonyme Inc., New York 1921: Große Berliner Kunstausstellung, Berlin 1924: Große Berliner Kunstausstellung, Berlin 1925: La peinture surrealiste, Galerie Pierre, Paris 1926: Große Berliner Kunstausstellung, Berlin 1931: Herbstausstellung der Prager Secession, Kunstverein für Böhmen, Prag 1936: Herbstausstellung der Prager Secession, Kunstverein für Böhmen, Prag 1936: International Surrealist Exhibition, New Burlington Galleries, London 1939: Cornish School, Seattle; organisiert von John Cage 1942: Art of This Century, New York 1955: documenta 1, Kassel 1959: documenta II, Kassel 1964: documenta III, Kassel 2002: Paul Klee trifft Joseph Beuys. Ein Fetzen Gemeinschaft, Schloss Moyland (2000) und Kurpfälzisches Museum, Heidelberg 2006/07: Klee and America, Neue Galerie, New York City; The Phillipps Collection, Washington, D.C.; The Menil Collection, Houston 2009: Paul Klee und Feininger, Gustav-Lübcke-Museum, Hamm 2010: Klee trifft Picasso. Zentrum Paul Klee, Bern 2010/11: Franz Marc – Paul Klee. Dialog in Bildern, Franz Marc Museum, Kochel am See, Stiftung Moritzburg, Halle, Zentrum Paul Klee, Bern 2012/13: Johannes Itten/Paul Klee. Kosmos Farbe, Kunstmuseum Bern; anschließend im Martin-Gropius-Bau, Berlin 2014: Die Tunisreise. Klee, Macke, Moilliet, Zentrum Paul Klee, Bern 2014/15: Nach Ägypten! Die Reisen von Max Slevogt und Paul Klee, Galerie Neue Meister im Albertinum, Dresden, 30. April bis 10. August 2014; K20 – Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, 6. September 2014 bis 4. Januar 2015 2015/16: Klee & Kandinsky, Zentrum Paul Klee, Bern, 19. Juni bis 27. September; vom 21. Oktober bis 24. Januar 2016 im Münchner Lenbachhaus 2016/17: Paul Klee und die Surrealisten, Zentrum Paul Klee, Bern, 18. November 2016 bis 12. März 2017 2019: Paul Klee and Anni Albers. San Francisco Museum of Modern Art (SFMOMA), 23. März bis 4. August 2019 Ausgewählte Werke 1903: Invention 3: Jungfrau im Baum/Jungfrau (träumend), Radierung auf Zink, 23,7 × 29,7 cm, Museum of Modern Art, New York 1907: Akt, exotisch tanzend mit 2 Pflanzen, Bleistift auf Papier auf Karton, 13,5 × 5,7 cm, Paul-Klee-Stiftung, Kunstmuseum Bern, Bern 1912: Begattung in der Luft, Feder, Tusche auf Ingrespapier auf Karton, 7,5 × 16,4 cm, Paul-Klee-Stiftung, Kunstmuseum Bern, Bern 1914 vor den Toren von Kairuan, Aquarell auf Papier auf Karton, 20,7 × 31,5 cm, Kunstmuseum Bern, Bern 1914 im Stil v. Kairouan, ins gemässigte übertragen, Aquarell und Bleistift auf Papier, unten Randstreifen mit Feder, auf Karton, 12,3 × 19,5 cm, Kunstmuseum Bern, Bern 1914: Erinnerung an einen Garten, Aquarell und Bleistift auf Papier auf Karton, 25,2 × 21,5 cm, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1914: Hommage à Picasso, Ölfarbe auf Karton, 38 × 30 cm, Zentrum Paul Klee, Bern 1914: Kleinwelt, Radierung auf Zink, 14,3 × 9,6 cm, Staatliche Graphische Sammlung, München 1915: Pflanzenliebe, Feder, Tusche auf Ingrespapier, 14,7 × 17,2 cm, Sprengel Museum, Hannover 1915: Föhn im Marc’schen Garten, Aquarell auf Papier auf Karton aufgeklebt, 20 × 15 cm, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München 1917: Himmelsblüten über dem gelben Haus, Aquarell auf Flugzeugleinen, 23 × 15 cm, Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie, Museum Berggruen 1918: Blumenmythos, Aquarell auf Kreidegrundierung auf Gaze auf Zeitungspapier auf Silberbronzepapier auf Karton, 29 × 15,8 cm, Sprengel Museum, Hannover 1918: Einst dem Grau der Nacht enttaucht …, Aquarell, Feder und Bleistift auf Papier, zerschnitten und mit Silberpapier neu kombiniert, mit Feder eingefasst, auf Karton, 22,6 × 15,8 cm, Kunstmuseum Bern, Bern 1919: Villa R, Öl auf Karton, 26,5 × 22,0 cm, Kunstmuseum Basel, Basel 1919: Sumpflegende, Öl auf Karton, 47 × 41 cm, Städtische Galerie im Lenbachhaus, München 1920: Angelus Novus. Ölpause und Aquarell auf Papier auf Karton, 31,8 × 24,2 cm, Israel-Museum, Jerusalem 1921: Hoffmanneske Szene. Farblithografie, 31,8 × 22,7 cm 1922: Senecio (Baldgreis), Öl auf Kreidegrundierung auf Gaze auf Karton, 40,3  × 37,4 cm, Kunstmuseum Basel, Basel 1922: Tanze Du Ungeheuer zu meinem sanften Lied, Aquarell und Öl auf Gaze, umrandet mit Aquarell auf Papier, 40 × 29,2 cm, Solomon R. Guggenheim Museum, New York 1922: Die Zwitscher-Maschine, Ölpause und Aquarell auf Papier, mit Aquarell und Feder eingefasst, auf Karton, 41,3 × 30,5 cm, Museum of Modern Art, New York 1924: altes Liebeslied, Gouache, Aquarell und Feder auf Papier auf Karton, 26,7 × 35,2 cm, Privatsammlung 1925: der Goldfisch. Ölfarbe und Aquarell auf Papier auf Karton, 49,6 × 69,2 cm, Hamburger Kunsthalle, Hamburg 1926: Höhlen Blüten, Aquarell und Leimfarbe auf Papier auf Karton, 36,4 × 53,7 cm, Kunstmuseum Stuttgart, Sammlung Etta und Otto Stangl 1928: Katze und Vogel, Öl auf Leinwand, 38,8 × 53,4 cm, Museum of Modern Art, New York 1929: Monument in Arbeit, Aquarell auf Papier, erworben von Ernest Hemingway 1929: Necropolis, Öl auf Sperrholz mit Nesselstoff beklebt, 38 × 25 cm, Museum Berggruen, Berlin 1929: Feuer am Abend, Öl auf Karton, 33,8 × 33,3 cm, Museum of Modern Art, New York 1929: Hauptweg und Nebenwege, Öl auf Leinwand, 83,7 × 67,5 cm, Museum Ludwig, Köln 1930: Hat Kopf, Hand, Fuss und Herz, Aquarell und Feder auf Baumwolle auf Karton, 40,8 × 28,2 cm, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf 1930: Bewachte Tiere, Kleisterfarbe auf Papier, auf Karton, 46 × 60 cm, WVZ 5176 1932: Ad Parnassum, Öl und Kasein auf Leinwand, 100 × 126 cm, Kunstmuseum Bern, Bern 1932: Ein Fetzen Gemeinschaft, 26,5 × 40,0 cm, Privatbesitz Abb. 1933: von der Liste gestrichen, Ölfarbe auf Papier, 31,5 × 24 cm, Paul Klee Zentrum, Bern Abb. 1934; The One Who Understands, Öl und Gips auf Leinwand, 54 × 40,6 cm, Metropolitan Museum of Art, New York 1936: Das Tor zur Tiefe, Feder und Aquarell, gefirnisst, auf Baumwolle auf Karton, 24 × 79 cm, Privatbesitz, Schweiz 1937: Revolution des Viadukts, Öl auf Baumwolle auf Keilrahmen, 60 × 50 cm, Kunsthalle Hamburg 1938 Insula dulcamara, Öl- und Kleisterfarbe auf Zeitungspapier auf Jute auf Keilrahmen, 88 × 176 cm, Zentrum Paul Klee, Bern 1939: O! die Gerüchte! Tempera und Öl auf Jute, 75,5 × 55 cm, Fondation Beyeler, Riehen bei Basel 1939: Engel, noch tastend, Aquarell auf Papier, 29,4 × 20,8 cm, Zentrum Paul Klee, Bern 1939/40 Ohne Titel (Letztes Stillleben), 100 × 80,5 cm, Zentrum Paul Klee, Bern Filmografie Die Legende vom Nil – Paul Klee in Ägypten. Film von Rüdiger Sünner (1991), DVD, Absolut Medien, 2009. Paul Klee – Die blaue Glut. Dokumentation, 45 Min. Film von Birgitta Ashoff, Produktion: BR-alpha, Erstsendung: 11. April 2004, mit Renzo Piano (Architekt des Paul-Klee-Zentrums in Bern), Pierre Boulez, Heinz Berggruen und Ernst Beyeler. Paul Klee. Die Stille des Engels. Dokumentarfilm, Frankreich 2005, 52 Min. Film von Michael Gaumnitz, Erstsendung: 17. Juni 2005. Die Tunisreise. Auf den Spuren von Paul Klee. Dokumentation, 76 Min. Film von Bruno Moll, Schweiz 2007. Paul Klee: Im Licht von Kairouan. Eine Zeitreise in Bildern 1900–1920. Filmessay von Bernt Engelmann und Gisela Wunderlich, 90 Min., München 2014. Schriften nach Erscheinungsjahr geordnet Schöpferische Konfession. In: Tribüne der Kunst und der Zeit. Eine Schriftensammlung. Hrsg. von Kasimir Edschmid. Reiß, Berlin 1920. WikiMedia Commons (PDF) Paul Klee: Die Farbe als Wissenschaft. In: Das Werk. Mitteilungen des Deutschen Werkbundes. Band 1, Berlin/München 1920, Farben-Sonderheft, S. 8. Wege des Naturstudiums. In: Staatliches Bauhaus 1919–1923. Bauhaus Verlag, Weimar 1923, S. 24–25. Exakte Versuche im Bereich der Kunst. In: Bauhaus Zeitschrift für Gestaltung 1. 1928 Über die moderne Kunst. Vortrag zur Ausstellung im Kunstverein Jena 1924, erstmals veröffentlicht im Verlag Benteli, Bern-Bümpliz 1945; Palm & Enke, Erlangen 1995, ISBN 3-7896-0550-6, zudem in Spiller I, S. 81 ff. Pädagogisches Skizzenbuch. Erstausgabe als Bauhausbuch 2 im Jahr 1925, Neuausgabe Gebr. Mann, Berlin 2003, ISBN 3-7861-1458-7. Das bildnerische Denken. Hrsg. u. bearb. von Jürg Spiller, Schwabe, Basel/Stuttgart 1971. Unendliche Naturgeschichte. Hrsg. u. bearb. von Jürg Spiller. Schwabe, Basel/Stuttgart 1971. Schriften, Rezensionen und Aufsätze. Hrsg. von Christian Geelhaar. Köln, 1976. Beiträge zur bildnerischen Formlehre. Faksimile-Ausgabe. Basel/Stuttgart, 1979. Gedichte. Hrsg. von Felix Klee. Arche, Zürich 2005 (2. Aufl.), ISBN 3-7160-1650-0. Tagebücher und Briefe nach Erscheinungsjahr geordnet Tagebücher von Paul Klee 1898–1918. Hrsg. von Felix Klee. DuMont, Köln 1957, 1979. Paul Klee Tagebücher 1898–1918. Textkritische Neuedition, hrsg. Paul-Klee-Stiftung, Bearb. Wolfgang Kersten. Stuttgart 1988. Paul Klee Tagebücher 1898–1918. Hrsg. von Felix Klee. Dumont Buchverlag, Köln 2006, ISBN 3-8321-7705-1. Tagebücher 1898–1918 und Texte. Neuausgabe, hrsg. von Felix Klee und Alexander Klee. Dumont Literatur und Kunst Verlag, 2007, ISBN 978-3-8321-7775-1. „In inniger Freundschaft“: Alexej Jawlensky, Paul und Lily Klee, Marianne Werefkin; der Briefwechsel. Hrsg. vom Zentrum Paul Klee, Bern, und von Stefan Frey. Zürich 2013, ISBN 978-3-909252-14-5. Literatur Zeitgenössische Publikationen nach Erscheinungsjahr geordnet Leopold Zahn: Paul Klee. Leben / Werk / Geist. Gustav Kiepenheuer Verlag, Potsdam, 1920. (online bei archive.org) Wilhelm Hausenstein: Kairuan. oder eine Geschichte vom Maler Klee und von der Kunst dieses Zeitalters. Mit 45 Abbildungen und Bildern im Text. Kurt Wolff Verlag, München, 1921. Will Grohmann: Paul Klee. 1923–1924. In: Der Cicerone 16. 1924. Will Grohmann: Paul Klee und die Tradition. In: Bauhaus. Zeitschrift für Gestaltung Dessau. 1931. Buchillustrationen nach Erscheinungsjahr geordnet Voltaire: Kandide oder die Beste Welt. Eine Erzählung. Kurt Wolff, München 1920 (26 Zeichnungen). Kurt Corinth: Potsdamer Platz oder die Nächte des neuen Messias. München 1920 (10 Lithografien). Novalis: Die Lehrlinge zu Sais. Benteli, Bern 1949 (51 Zeichnungen). Werkverzeichnis Paul-Klee-Stiftung, Kunstmuseum Bern (Hrsg.): Catalogue raisonné Paul Klee. Werkverzeichnis in 9 Bänden. Benteli, Bern. Band 1: Werke 1883–1912, erschienen 1998, ISBN 3-7165-1100-5 / Band 2: Werke 1913–1918, erschienen 2000, ISBN 3-7165-1101-3 / Band 3: Werke 1919–1922, erschienen 1999, ISBN 3-7165-1102-1 / Band 4: Werke 1923–1926, erschienen 2000, ISBN 3-7165-1103-X / Band 5: Werke 1927–1930, erschienen 2001, ISBN 3-7165-1104-8 / Band 6: Werke 1931–1933, erschienen 2002, ISBN 3-7165-1105-6 / Band 7: Werke 1934–1938, erschienen 2003, ISBN 3-7165-1106-4 / Band 8: Werke 1939, erschienen 2003, ISBN 3-7165-1107-2 / Band 9: Werke 1940, erschienen 2004, ISBN 3-7165-1127-7. Darstellungen und Kataloge nach Autoren / Herausgebern alphabetisch geordnet Michael Baumgartner, Simon Crameri, Christine Hopfengart: Paul Klee. Melodie und Rhythmus. Hatje Cantz, Ostfildern 2006, ISBN 3-7757-1808-7. Michael Baumgartner, Cathrin Klingsöhr-Leroy, Katja Schneider (Hrsg.): Franz Marc. Paul Klee. Dialog in Bildern, Ausstellungskatalog. Nimbus. Kunst und Bücher, Wädenswil 2010, ISBN 978-3-907142-50-9. Bayerische Staatsgemäldesammlungen / Fritz-Winter-Stiftung (Hrsg.): Triebkräfte der Erde. Winter, Klee, Marc, Beuys, Kirkeby. München 2005, ISBN 3-87909-878-6. Walter Benjamin: Angelus Novus. Ausgewählte Schriften 2. Suhrkamp, Frankfurt 1988, ISBN 3-518-38012-5. Olivier Berggruen, Dieter Scholz (Hrsg.): Das Universum Klee. Hatje Cantz, Ostfildern 2008, ISBN 978-3-7757-2272-8. Manfred Clemenz: Der Mythos Paul Klee. Eine biographische und kulturgeschichtliche Untersuchung. Böhlau, Köln 2016, ISBN 978-3-412-50186-0. Christiane Dessauer-Reiners: Das Rhythmische bei Paul Klee. Eine Studie zum genetischen Bildverfahren = Manuskripte für Kunstwissenschaft in der Wernerschen Verlagsgesellschaft 51. Wernersche Verlagsgesellschaft, Worms 1996. ISBN 978-3-88462-950-5 Anita Eckstaedt: Paul Klee und Bruno Goller. Zwei Maler der Moderne. Werkanalysen aus psychoanalytischer Sicht. Königshausen & Neumann, Würzburg, ISBN 3-8260-3857-6. Johann Konrad Eberlein: „Angelus Novus“. Paul Klees Bild und Walter Benjamins Deutung. Rombach, Freiburg i. Br. 2006, ISBN 3-7930-9280-1. Vivian Endicott Barnett, Michael Baumgartner und weitere Autoren: Klee & Kandinsky. Nachbarn, Freunde, Konkurrenten. Prestel, München 2015, ISBN 978-3-7913-5479-8. Boris Friedewald: Die Engel von Paul Klee. DuMont, Köln 2011, ISBN 978-3-8321-9395-9. Boris Friedewald: Paul Klee: Sein Leben – Seine Kunst. Prestel, München 2011, ISBN 978-3-7913-4525-3. Christian Geelhaar: Paul Klee und das Bauhaus. DuMont Reiseverlag, Ostfildern 1984, ISBN 3-7701-0670-9. Carola Giedion-Welcker: Klee, Rowohlt, Reinbek, 22. Auflage. 2004, ISBN 3-499-50052-3. Jürgen Glaesemer: Paul Klee. Handzeichnungen I, II und III. In drei Bänden: Kindheit bis 1920/ 1921–36/ 1937–40. Bern 1973. Jürgen Glaesemer, Wolfgang Kersten, Ursula Traffelet: Paul Klee. Leben und Werk. Hatje Cantz, Ostfildern 1996, ISBN 3-7757-0241-5. Norbert Göttler: Der Blaue Reiter. Rowohlt, Reinbek 2008, ISBN 978-3-499-50607-9. Josef Helfenstein, Elizabeth Hutton Turner (Hrsg.): Klee and America. Ausstellungskatalog, Hatje Cantz, Ostfildern 2006, ISBN 3-7757-1723-4. Thomas Kain, Mona Meister, Franz-Joachim Verspohl (Hrsg.): Paul Klee in Jena 1924. Der Vortrag. Minerva. Jenaer Schriften zur Kunstgeschichte, Band 10, Kunsthistorisches Seminar, Jenoptik AG, Druckhaus Gera, Jena 1999, ISBN 3-932081-34-X. Wolfgang Kermer (Hrsg.): Aus Willi Baumeisters Tagebüchern: Erinnerungen an Otto Meyer-Amden, Adolf Hölzel, Paul Klee, Karl Konrad Düssel und Oskar Schlemmer. Mit ergänzenden Schriften und Briefen von Willi Baumeister. Ostfildern-Ruit: Edition Cantz, 1996 (Beiträge zur Geschichte der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart / hrsg. von Wolfgang Kermer; 8) ISBN 3-89322-421-1. Felix Klee: Paul Klee. Leben und Werk in Dokumenten. Diogenes, Zürich 1960. Daniel Kupper: Paul Klee. Rowohlt, Reinbek 2011, ISBN 978-3-499-50690-1. Bernhard Marx: Balancieren im Zwischen: Zwischenreiche bei Paul Klee. Königshausen & Neumann, Würzburg 2007, ISBN 978-3-8260-3503-6. books.google.de Ralph Melcher (Hrsg.): Paul Klee. Tempel – Städte – Paläste. Hatje Cantz, Ostfildern 2006, ISBN 3-7757-1822-2. Osamu Okuda, Marie Kakinuma: Paul Klee und der Ferne Osten: Vom Japonismus zu Zen. Katalog zur Ausstellung im Zentrum Paul Klee, Bern. Scheidegger & Spiess, Zürich 2013, ISBN 978-3-85881-373-2. Susanna Partsch: Klee. Neuausgabe Benedikt Taschen, Köln 2007, ISBN 978-3-8228-6361-9. Christian Rümelin: Paul Klee. Leben und Werk. Beck, München 2004, ISBN 3-406-52190-8. Stefan W. Schmidt: ‚… eine kleine Reise in das Land der besseren Erkenntnis‘. Paul Klee und der Begriff des ‚bildnerischen Denkens‘. In: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft, 56/2 (2011), S. 275–296. doi:10.28937/ZAEK-56-2 Reto Sorg, Osamu Okuda: Die satirische Muse – Hans Bloesch, Paul Klee und das Editionsprojekt Der Musterbürger. ZIP, Zürich 2005 (Klee-Studien; 2), ISBN 3-909252-07-9. Hans Suter: Paul Klee und seine Krankheit. Vom Schicksal geschlagen, vom Leiden gezeichnet - und dennoch!. Stämpfli, Bern 2006, ISBN 3-7272-1106-7. Stiftung Museum Schloss Moyland/ Sammlung van der Grinten/Joseph Beuys Archiv des Landes Nordrhein-Westfalen (Hrsg.): Paul Klee trifft Joseph Beuys. Ein Fetzen Gemeinschaft. Ausstellungskatalog, Hatje Cantz, Ostfildern 2000, ISBN 3-7757-0975-4. Stefan Tolksdorf: Der Klang der Dinge. Paul Klee – ein Leben. 2. Auflage. Herder, Freiburg u. a. 2005, ISBN 3-451-05634-8. Christoph Vitali (Hrsg.): Ernste Spiele. Der Geist der Romantik in der Deutschen Kunst 1770–1990, Haus der Kunst München, 4. Februar bis 1. Mai 1995. Oktagon, Stuttgart 1995, ISBN 3-927789-74-7. Otto Karl Werckmeister: Versuche über Paul Klee. Athenaeum, Bodenheim 1987, ISBN 3-8108-0156-9. Zentrum Paul Klee (Hrsg.): Klee trifft Picasso. Ausstellungskatalog, Texte von Christine Hopfengart, Bernhard Geiser, Gregor Wedekind. Hatje Cantz, Ostfildern 2010, ISBN 978-3-7757-2560-6. Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf (Hrsg.): Paul Klee. Die Reise nach Ägypten 1928/29. Sandstein, Dresden 2014, ISBN 978-3-95498-081-9. Zentrum Paul Klee, Bern; Museum der Bildenden Künste Leipzig (Hrsg.): Paul Klee. Sonderklasse. Wienand Verlag, Köln 2015, ISBN 978-3-86832-229-3. Zentrum Paul Klee, Bern (Hrsg.): Paul Klee. Die Hinterglasbilder. Wienand Verlag, Köln 2015, ISBN 978-3-86832-253-8. Über Sklerodermie und Klees Werk nach Autoren / Herausgebern alphabetisch geordnet B. Ostendorf, B. Maiburg, M. Schneider: Sklerodermie und Paul Klee: Metamorphose von Leben und Kunst? In: Zeitschrift für Rheumatologie. Verlag Springer, Berlin / Heidelberg 2004, . Hans Suter: Paul Klee und seine Krankheit. Stämpfli, Bern 2006, ISBN 3-7272-1106-7. Comic Christophe Badoux: Klee. Edition Moderne, Zürich 2008, ISBN 978-3-03731-029-8 Der Comiczeichner Christophe Badoux hat im Auftrag und in Zusammenarbeit mit dem Zentrum Paul Klee einen Sach-Comic zu Leben und Werk Paul Klees realisiert. Hörspiel Nadja Schöning: Genesis – Bildnerische Polyphonie, Hörspiel zum Bauhauslehrer Paul Klee. Deutschlandfunk Kultur, 10. März 2019 Zeitschrift Zwitscher-Maschine. Journal on Paul Klee erscheint seit 2015 halbjährlich online in Bern und ist kostenlos zugänglich. Briefmarken Am 14. November 1979 zum 100. Geburtstag gab die Deutsche Bundespost ein Sonderpostwertzeichen zum Nennwert von 90 Pfennig heraus, das Klees Aquarell Vogelgarten (1924) zeigt. Der Entwurf stammt von H.P. Schall. Am 3. Dezember 2015 zum 75. Todesjahr gab die Deutsche Post AG ein Sonderpostwertzeichen zum Nennwert von 240 Eurocent heraus, das Klees Gemälde Himmelsblüten über dem gelben Haus (1917) zeigt. Der Entwurf stammt von Sibylle Haase und Fritz Haase. Weblinks Paul Klee bei Google Arts & Culture Zentrum Paul Klee, Bern mit Bilddatenbank und Datenbank zur Bildnerischen Form- und Gestaltungslehre Paul Klee – Ausstellungen, Sammlungen und weiterführende Links bei kunstaspekte.de Paul Klee at Tate Modern, Video (englisch) Zentralarchiv des internationalen Kunsthandels E.V., Galerie Hella Nebelung Paul Klee, Dokumente von 1945–1951 im Galeriebuch von Hella Nebelung (1912–1985) Paul Klee bei bauhauskooperation.de Paul Klee. Biografie und Bibliografie auf Viceversa Literatur Einzelnachweise Maler (Schweiz) Maler des Expressionismus Der Blaue Reiter Künstler in Ausstellungen „Entartete Kunst“ Künstler im Beschlagnahmeinventar „Entartete Kunst“ Künstler (documenta) Mitglied im Deutschen Künstlerbund Lehrer am Bauhaus Hochschullehrer (Kunstakademie Düsseldorf) Emigrant aus dem Deutschen Reich zur Zeit des Nationalsozialismus Person als Namensgeber für einen Asteroiden Maler (Weimar) Grafiker (Weimar) Maler (Düsseldorf) Tagebuch Lyrik Person (Muralto) Literatur (Deutsch) Teilnehmer einer Biennale di Venezia Deutscher Geboren 1879 Gestorben 1940 Mann
12582
https://de.wikipedia.org/wiki/V%C3%B6lkerwanderung
Völkerwanderung
In der historischen Forschung wird als sogenannte Völkerwanderung im engeren Sinne die Migration vor allem germanischer Gruppen in Mittel- und Südeuropa im Zeitraum vom Einbruch der Hunnen nach Europa circa 375/376 bis zum Einfall der Langobarden in Italien 568 bezeichnet. Die Völkerwanderungszeit fällt in die Spätantike und bildet für die Geschichte des nördlichen Mittelmeerraums sowie West- und Mitteleuropas ein Bindeglied zwischen der klassischen Antike und dem europäischen Frühmittelalter, da man sie beiden Epochen zurechnen kann. Die spätantike Völkerwanderung stellt allerdings keinen einheitlichen, in sich abgeschlossenen Vorgang dar. Vielmehr spielten bei den Migrationen der zumeist heterogen zusammengesetzten Gruppen aus dem außerrömischen Barbaricum unterschiedliche Faktoren eine Rolle, wobei in der neueren historischen und archäologischen Forschung viele Aspekte der Völkerwanderung äußerst unterschiedlich bewertet werden. Zentral für die Diskussion sind dabei die Fragen, ob der Zerfall des Weströmischen Reiches Folge oder vielmehr Ursache der „Völkerwanderungen“ war und ob damals tatsächlich „Völker“ umherzogen oder vielmehr Kriegerverbände auf der Suche nach Beute und Versorgung (annona) waren. In der modernen Forschung wird der Begriff „Völkerwanderung“ zunehmend kritisch gebraucht, da nach heutiger Einschätzung das Bild von „wandernden Völkern“ nicht haltbar ist und vielen Gelehrten mittlerweile als widerlegt gilt bzw. die Vorstellung einer Völkerwanderung grundsätzlich als „Forschungsmythos“ verworfen wird. Statt fester Völker, die von einer „Urheimat“ aus aufbrachen und sich nach einer „Wanderung“ woanders neu ansiedelten, handelte es sich dem aktuellen Forschungsstand zufolge vielmehr um heterogene Gruppen, deren Zusammensetzung fließend war (vgl. Ethnogenese) und deren Migration (aus jeweils unterschiedlichen Gründen) ein Prozess mit offenen Ausgang darstellte. Manche dieser Verbände versuchten am Reichtum des römischen Imperiums als Vertragspartner zu partizipieren (womit der römische Staat kampffähige Truppen erhielt), andere griffen zu diesem Zweck zu militärischen Mitteln und errichteten neue Herrschaftsräume auf dem Boden des Westreiches. Dies war allerdings kein von Beginn an geplanter Prozess, so entwickelten sich die meisten der neuen Herrschaftsgebiete erst im Verlauf der Auflösung des Westreichs (beschleunigt von internen römischen Machtkämpfen und begünstigt durch äußere Faktoren wie der Bedrohung durch das Hunnenreich unter Attila). Damit handelte es sich in erster Linie um eine Herrschaftsübernahme, wobei die neuen Herren oft bestrebt waren, die vorhandenen römischen Strukturen zu nutzen und die einheimische römische Elite nicht selten kooperierte (wie im Fall der Franken, Burgunden und der Ostgoten). Allerdings konnten die überlegenen römischen Verwaltungsstrukturen im weiteren Verlauf des Frühmittelalters letztlich nicht bewahrt werden. Hauptsächlich, aber nicht ausschließlich betroffen von den Vorgängen war die Westhälfte des seit 395 de facto geteilten Römischen Reiches. Seit 382 wurden immer öfter vertragliche Regelungen (foedera) zwischen der römischen Reichsregierung und Gruppen wie den Westgoten getroffen, die eine Ansiedlung dieser Krieger auf römischem Territorium zur Folge hatten. In den internen Konflikten, die Westrom seit 395 plagten, wurden solche Kampfverbände immer öfter eingesetzt. Auch die Franken wurden auf römischem Boden angesiedelt und übernahmen als Foederaten unter anderem Aufgaben des Grenzschutzes im Nordosten Galliens. Nach dem Rheinübergang von 406 und dem Eindringen der Vandalen und Sueben in das Westreich zeichnete sich in Gallien erstmals ein möglicher Zusammenbruch der römischen Verwaltungsordnung in Europa ab. Westrom versank in langen Bürgerkriegen, deren Verlauf die Bewegungen der Kriegerverbände zumindest teilweise bedingte, da sie an den Kämpfen prominent beteiligt waren. Gleichzeitig verfiel die Autorität der kaiserlichen weströmischen Regierung in Ravenna zusehends, und immer mehr politische Macht ging auf – römische und germanische – Militärs über, die die heutige Forschung oft als warlords bezeichnet. Im Westen traten nun die im Vergleich zur römischen Bevölkerung verschwindend geringen germanischen Gruppen an Stelle des römischen Staates. Auf dem Boden des zerfallenen westlichen Imperiums entstanden so im 5. und 6. Jahrhundert germanisch-romanische Nachfolgereiche, die die Kultur Europas im Mittelalter entscheidend prägen sollten. Im Zusammenhang mit diesem Prozess kam es 476/80 zum Ende des weströmischen Kaisertums, während das Oströmische Reich das 5. Jahrhundert weitgehend intakt überstand. Allgemeiner Überblick Der Begriff „Völkerwanderung“ Der Begriff „Völkerwanderung“ taucht im Deutschen zuerst am Ende des 18. Jahrhunderts auf. Das Deutsche Wörterbuch verzeichnet dazu die Abhandlung Geschichte der Deutschen von Michael Ignaz Schmidt aus dem Jahr 1778, in der von der „sogenannten Völkerwanderung“ die Rede ist. Als feste Epochenbezeichnung benutzt ihn 1790/1792 Friedrich Schiller in seinem Aufsatz „Ueber Völkerwanderung, Kreuzzüge und Mittelalter“, er fand dann im 19. Jahrhundert recht schnell allgemeine Verbreitung. Problematisch ist, dass der Terminus Völkerwanderung einerseits eine Epochenbezeichnung ist, andererseits aber ebenfalls bestimmte Entwicklungen kennzeichnet, die sich in dieser Zeit vollzogen haben sollen. Im Kern geht die Begriffsbildung auf den Humanisten Wolfgang Lazius zurück, der 1557 sein Werk De gentium aliquot migrationibus veröffentlichte. Außerhalb des deutschen Sprachraums wird bis heute hingegen eher der kriegerische Aspekt dieser Epoche, verbunden mit dem „Einfall der Barbaren“, hervorgehoben (barbarian invasions – nun verstärkt aber auch migration period –, invasion(s) barbare(s), ). Für die vom aufkommenden Nationalismus des 18. und 19. Jahrhunderts geprägte ältere Forschung schien es lange Zeit selbstverständlich zu sein, dass es sich bei den spätantiken Migrationsbewegungen um die Wanderungen von Völkern auf der Suche nach einer neuen Heimat gehandelt habe. Diese seien gewaltsam in das Römische Reich eingedrungen, um dort Siedlungsraum zu erobern. Diese Sichtweise hat sich als sehr resistent gegenüber anderen Lesarten erwiesen und ist daher abseits der Fachwissenschaft bis heute weit verbreitet. Nach heute vorherrschender Einschätzung der meisten Historiker und Archäologen ist die Theorie von „wandernden Völkern“ allerdings wissenschaftlich nicht haltbar. Entscheidend ist dabei auch, wie der Begriff „Volk“ definiert wird. Es kam zwar in dieser Zeit zu Zügen von verschiedenen mehr oder weniger großen Gruppen; diese waren aber in der Regel heterogen zusammengesetzt und werden von vielen Historikern inzwischen eher als ethnisch gemischte Söldnerheere mit Tross angesehen, die in der Regel von den Römern selbst ins Reich gerufen wurden, um gegen innere und äußere Feinde eingesetzt zu werden. Zudem kam es in der Spätantike, wie zu allen Zeiten, zur unorganisierten Migration von Individuen und Kleingruppen. Von einem einheitlichen Prozess der „Wanderung“ ganzer „Völker“ kann daher nicht die Rede sein; diese immer noch populäre Vorstellung gilt den meisten Experten inzwischen vielmehr als „Mythos“, der auf den Nationalismus des 19. Jahrhunderts zurückgeht. Insofern ist der Begriff „Völkerwanderung“ und das damit lange Zeit verbundene Geschichtsbild hochproblematisch. Ebenso besteht kein zwingender Grund, die Völkerwanderungszeit als radikalen Einschnitt zu verstehen, da das Ende der Antike ein wesentlich vielschichtigerer Prozess war. Dabei war die sogenannte Völkerwanderung nur ein Teilaspekt, zumal viele Elemente der antiken Kultur (bisweilen in anderer Form) noch nach dem 6. Jahrhundert fortbestanden. Identitätsbildung Die germanischen „Stämme“ (gentes, nationes) der Völkerwanderungszeit stellten nach heute dominierender Forschungsmeinung keine konstanten Einheiten oder Abstammungsgemeinschaften dar, auch wenn die römischen Quellen dies teils suggerieren. Vielmehr schlossen sich beispielsweise gotischen Verbänden auch Rugier oder Heruler an; einzelne Individuen und ganze Gruppen konnten ihre Zugehörigkeit wiederholt wechseln (allerdings nicht nach Belieben). Die moderne Forschung hat nachgewiesen, dass Gleichartigkeiten der Sprache, der Kleidung oder der Waffen allein für eine ethnische Zuordnung kaum aussagekräftig sind. Auch die in den letzten Jahren immer öfter angewandte Methode, die Migrationen durch DNA-Analysen nachvollziehbar zu machen, ist aus diesem Grund kritisiert worden, da sie weniger objektiv sei, als ihre Vertreter annähmen, und die Bedeutung der Gene für die ethnische Identität überschätze. DNA-Analysen etwa von Skeletten aus Gräberfeldern helfen bei der Erforschung, weisen ihrerseits aber ebenfalls Probleme auf, da Grabfunde nicht immer eindeutige Zuordnungen erlauben und genetische Befunde an sich wiederum nichts über die kulturelle Identität aussagen. Das zu untersuchende Material und die entsprechende Methodik können zudem zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Insofern ist die Kooperation zwischen Paläogenetikern, Archäologen und Historikern wichtig, um die verschiedenen Ergebnisse in einen gesamtheitlichen Kontext einbetten zu können. Wichtig in der Forschung ist in diesem Zusammenhang der komplexe Vorgang der Identitätsbildung (siehe auch Ethnogenese). Die Entstehung von ethnischen Identitäten (Ethnizität) in der Spätantike bzw. dem beginnenden Frühmittelalter wird heute nicht mehr als biologische Kategorie verstanden. Identitäten entstehen vielmehr in einem wechselhaften sozialen Prozess, bei dem mehrere Faktoren eine Rolle spielen. In der Völkerwanderungszeit konnten sich verschiedene Gruppen unter einem neuen Anführer (siehe Heerkönig) zusammenschließen, wobei es in der Regel ausreichte, dem Verband loyal zu dienen. Allerdings ist der einflussreiche Ansatz der „Wiener Schule“ um Herwig Wolfram und Walter Pohl mittlerweile teils in die Kritik geraten. Wolfram und Pohl verwenden den Ethnogenese-Begriff in ihren jüngeren Arbeiten allerdings selbst nur noch sporadisch, sondern betonen den Identitätsbegriff, der in der neueren Forschung verstärkt eine Rolle spielt. Dennoch hat die Forschungsdiskussion der letzten Jahrzehnte ergeben, dass die Bezeichnung „Völkerwanderung“ nach vorherrschender Ansicht der meisten Fachleute insofern irreführend ist, als in der Spätantike keine „Völker“, sondern oft nur von einem Tross begleitete Kriegerverbände migrierten, zu Beginn oft ohne genaues Ziel, die zudem ethnisch zumeist heterogen zusammengesetzt waren: Die alte, bereits auf die Antike zurückgehende Vorstellung, eine ethnisch einheitliche Gruppe sei aus ihrer „Urheimat“ aufgebrochen, auf der Wanderung ein homogener Verband geblieben und habe sich am Ende ihrer Wanderung anderswo neu angesiedelt, gilt als überholte und widerlegte Theorie. Die moderne Forschung hat vielmehr aufgezeigt, dass die Identität einer gens in der Regel am Ende dieses Prozesses eine andere war als am Anfang. In diesem Sinne ist im Folgenden unter den Bezeichnungen für diverse gentes immer ein eher locker aufgebauter Verband von Kriegern mit familiären Anhang zu verstehen, dessen Zusammensetzung fluktuieren konnte. Diese Gruppen weisen ein hohes Maß an Instabilität und Heterogenität auf, wobei Zuwanderungs- und Abspaltungsprozesse erkennbar sind. Eine spätantike gens war eher eine Rechtsgemeinschaft, die in Größe und ethnischer Zusammensetzung stark variierte. Ein verbindendes Element sah die Forschung der frühen Nachkriegszeit in einem Traditionskern (Reinhard Wenskus) begründet, der etwa durch die Führungsgruppe eines Verbandes repräsentiert wurde. Einen Zusammenhalt stifteten ansonsten wohl beispielsweise die Stammeslegenden (siehe Origo gentis), die die Herkunft der jeweiligen gens oft topisch auf mythische Gründer und eine angebliche skandinavische Heimat zurückführten. Allerdings werden diese Überlieferungen von der modernen Forschung – anders als früher – meistens mit großer Skepsis betrachtet. Spätantike und frühmittelalterliche Autoren bedienten sich wiederum ethnographischer Bilder, Muster und Stereotype, um die ursprünglich von außerhalb des römisch-griechischen Kulturraums stammenden gentes zu beschreiben und in einen ethnographischen Ordnungsrahmen einzuordnen. Andere Forscher betonen, dass es sich bei vielen gentes zumindest anfangs um Foederaten in römischen Diensten gehandelt habe, also um Söldnerheere, die erst im Laufe der Jahre eine gemeinsame Identität angenommen hätten und insbesondere in den schier endlosen Bürgerkriegen eingesetzt worden seien, die Westrom im 5. Jahrhundert plagten. Diese inneren Konflikte seien es auch gewesen, die durch die Vernachlässigung der limites Plünderungen der römischen Grenzprovinzen erst ermöglicht hätten. Der Untergang Westroms Transformationsprozess Welche Rolle die Entwicklungen der Völkerwanderungszeit bei der Auflösung des Weströmischen Reiches spielten, ein in der Forschung immer wieder diskutiertes Problem, ist nicht pauschal zu beantworten. Uneinigkeit besteht in der Forschung vor allem darüber, ob die Migrationen die Ursache oder vielmehr die Folge der Desintegration des Imperiums waren. Sicher ist, dass Rom im späten 4. und im 5. Jahrhundert nicht mehr in der Lage war, seine Grenzen so effizient wie früher zu verteidigen. Die Errichtung der germanischen Königreiche (regna) auf dem Boden des westlichen Imperiums im 5. und 6. Jahrhundert lässt sich allerdings nicht mehr so einfach erklären, wie es früher oft angenommen wurde, und war oft ein schleichender Prozess. Die populäre Vorstellung, germanische Stämme seien gewaltsam in das Imperium eingedrungen, um dort als Eroberer eigene Reiche zu errichten, wird heute von den meisten Experten entweder als unzulässige Vereinfachung oder als schlichtweg falsch betrachtet. Die Beurteilung des französischen Althistorikers André Piganiol, der nach dem Zweiten Weltkrieg in seinem Werk L’Empire chrétien (veröffentlicht 1947) noch pauschal erklärte, die römische Zivilisation sei von den Germanen regelrecht ermordet worden, ist angesichts der neueren Forschung nicht mehr haltbar. In der älteren Forschung, besonders in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zogen viele Historiker aus dem romanischen und angelsächsischen Raum derartige Formulierungen nicht zuletzt aufgrund der damaligen militärischen Auseinandersetzungen mit dem modernen deutschen Nationalstaat, in dem man den direkten Nachfolger der Germanen sah, heran. Umgekehrt beriefen sich viele deutsch-nationale Historiker, insbesondere in der Zeit des Nationalsozialismus, auf das angebliche „germanische Erbe“ der Völkerwanderungszeit und behaupteten, in der Spätantike sei das Römische Reich in Dekadenz verfallen und daher von vitalen, kraftvollen Menschen aus Nordeuropa überrannt und beerbt worden. Die Forschung hat seit den 1970er Jahren stärker den Aspekt betont, dass die Spätantike (und damit auch die Völkerwanderungszeit) einen Transformationsprozess durchmachte, an dem auch die „Barbaren“ ihren Anteil hatten. Zwar vertritt heute kaum noch ein Experte die (in der Öffentlichkeit indessen weiterhin sehr populäre) Ansicht, das Römische Reich sei von angreifenden Germanen erobert worden. Allerdings war der Transformationsprozess mit Gewalt und einem erheblichen materiellen Niedergang verbunden, was in jüngerer Zeit von einem Teil der Forschung wieder stärker hervorgehoben wird. In diesem Zusammenhang werden einige der nach Land, Wohlstand und Anerkennung suchenden migrierenden, in der Regel heterogen zusammengesetzten Kriegergruppen (zu denen oft auch der familiäre Anhang gehörte) teils auch als „Gewaltgemeinschaften“ bezeichnet, so beispielsweise die Goten in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts, deren Ziel aber weiterhin Teilhabe an dem Reichtum der römischen Welt war. Im Westen wäre überdies zu klären, wie viel Substanz der klassisch-antiken Kultur im 5. und 6. Jahrhundert noch vorhanden war, zumal sich auf dem europäischen Festland oft eine germanisch-romanische Symbiose vollzog. Die Hunnen als Auslöser? Der Untergang Westroms wurde nach Ansicht einiger Forscher vor allem durch die Hunnen in Gang gesetzt, deren Auftreten im 4. Jahrhundert viele Menschen gezwungen habe, ihre Heimat zu verlassen und in das Imperium Romanum einzuwandern, das diesem Druck letztlich nicht gewachsen gewesen sei. Das Oströmische Reich, das eigentlich das erste Ziel der hunnischen und gotischen Angriffe war, konnte die Völkerwanderungszeit im Gegensatz zum Westreich nach ihrer Ansicht insbesondere deshalb intakt überstehen, da es den Angreifern nicht gelang, von Europa aus zu den reichen kleinasiatischen und orientalischen Provinzen überzusetzen – dies war vor allem den quasi uneinnehmbaren Mauern von Konstantinopel zu verdanken. Bürgerkriege als Ursache? Diese stärker an traditionellen Vorstellungen orientierte Position wird allerdings von vielen Gelehrten, wie insbesondere Guy Halsall, vehement bezweifelt, die die Rolle der Hunnen anders bewerten und Attila eher mit anderen spätantiken warlords wie Geiserich vergleichen. Sie bestreiten nicht, dass es einschneidende kriegerische Ereignisse und Zerstörungen gab, sehen die Züge der meist germanischen Kriegergruppen jedoch nicht als Ursache, sondern als Folge der Schwäche des Westreiches. Dieses sei nicht äußeren Angreifern, sondern primär inneren Konflikten erlegen, in die die foederati verwickelt wurden. Dabei handelte es sich um reichsfremde („barbarische“, in der Regel germanische) Kriegergruppen, die Verträge mit der (west)römischen Regierung abgeschlossen hatten. Sie erhielten im Austausch für militärische Dienste Versorgungsleistungen (annona militaris; zunächst Nahrungsmittel, dann Geld und später eventuell Land). Der römische Staat erhielt so dringend benötigte militärische Kräfte, während die foederati mit ihrem Anhang über eine gesicherte Lebensgrundlage verfügten. Davon profitierten beide Seiten, wobei Rom grundsätzlich zur Integration fremder Gruppen durchaus in der Lage war. Erst infolge des schrittweisen Zusammenbruchs der weströmischen Regierung im Rahmen von Bürgerkriegen hätten die Anführer dieser Verbände dann das entstandene Machtvakuum gefüllt und ihre eigenen regna gegründet. Da die Bewegungen der Verbände vorwiegend im Kontext innerrömischer Konflikte erfolgt seien, sei es nur folgerichtig, dass es nach dem definitiven Ende Westroms um die Mitte des 6. Jahrhunderts zu keinen weiteren derartigen Wanderungen mehr gekommen sei. Militärische Aspekte Die römische Politik, in den Kämpfen im 5. Jahrhundert oftmals Kriegergruppen gegeneinander auszuspielen (wie die Westgoten in Hispanien gegen die Vandalen oder später die Ostgoten in Italien gegen Odoaker), hatte nur mäßigen Erfolg, denn der jeweilige Sieger befand sich anschließend wieder in einer besseren Verhandlungsposition gegenüber der römischen Regierung. Eine entscheidende Rolle bei der Auflösung Westroms spielten dabei weniger die Barbaren im regulären römischen Heer (die durchaus integriert waren) als vielmehr die germanischen foederati: Mit dem Verlust reicher Provinzen (vor allem Nordafrika) verlor Westrom die finanzielle Basis, um eigene Truppen zu unterhalten, was zu weiteren Niederlagen und zur vermehrten Anwerbung von (billigen) foederati führte, die dann nicht zuletzt in römischen Bürgerkriegen eingesetzt wurden. Diese Krieger ließen sich von der immer schwächer werdenden Reichsregierung zuletzt immer schlechter kontrollieren, ersetzten schließlich weitgehend die regulären weströmischen Truppen und errichteten nach dem Kollaps des Kaisertums dann faktisch unabhängige Reiche. Sie akzeptierten allerdings mindestens bis in das 6. Jahrhundert formal die Oberhoheit des (ost-)römischen Kaisers, um so ihrer Herrschaft zusätzlich Legitimation zu verschaffen. Die höchst verlustreichen Gotenkriege Kaiser Justinians verdeutlichten noch einmal, dass man um 550 tatsächlich noch mit kaiserlichen Interventionen im Westen zu rechnen hatte, machten aber zugleich auch die Grenzen der militärischen Ressourcen Ostroms deutlich. Die germanisch-romanischen Regna Die vielleicht wichtigste Leistung der römischen Staatlichkeit war das Entstehen post-römischer Nachfolgereiche an der Peripherie und auf dem Boden des Imperiums: Goten in Italien (wo später auch die Langobarden einfielen) und Hispanien, Vandalen in Nordafrika, Franken und Burgunden in Gallien; die Kleinreiche der Angelsachsen in Britannien nehmen dabei in gewisser Weise eine Sonderrolle ein. In der Regel scheinen diese Reiche entstanden zu sein, als der schrittweise Zusammenbruch der weströmischen Zentralregierung vielerorts ein Machtvakuum entstehen ließ, das die Anführer bzw. reges reichsfremder Kriegergruppen füllten. Diese trugen ganz wesentlich zum Werden Europas im Mittelalter bei. In diesem Sinne erfolgte nach den (sehr unterschiedlich verlaufenden) Migrationen der diversen heterogenen Kriegerverbände mit ihrem Anhang die Herrschaftsübernahme in ehemaligen Gebieten des Westreichs durch eben diese Bevölkerungsminorität. Ohne das Vorbild und den Einfluss des spätantiken Römerreiches wären diese Reiche, die in vielerlei Weise unmittelbar an das spätantike Imperium Romanum anknüpften, undenkbar gewesen. Ohnehin waren die Germanen der Völkerwanderungszeit in der Regel bestrebt, an der römischen Kultur teilzuhaben bzw. sich ihrer Errungenschaften zu bedienen und sie nicht zu zerstören, wie das Beispiel des westgotischen Spanien und des ostgotischen Italien zeigt (siehe unten). Nach Ansicht der jüngeren Forschung traten die Krieger dabei zunächst an die Stelle der kaiserlichen Truppen und versuchten, die überlegenen römischen Strukturen möglichst zu bewahren. Der Mediävist Patrick J. Geary erklärte dazu: Andererseits wurde die Integration der Germanen oft durch das unterschiedliche christliche Bekenntnis erschwert: Die in das Imperium eingedrungenen reichsfremden Krieger nahmen, sofern vorher Heiden, recht rasch den christlichen Glauben an, oft aber in Form des Arianismus: Dieser galt zunehmend als das wichtigste Merkmal, um einen „barbarischen“ Krieger von einem römischen Soldaten zu unterscheiden. Zahlenmäßig waren die zugewanderten germanischen Krieger den Römern weit unterlegen. Auch wenn meistens nur Schätzungen möglich sind, da die antiken und mittelalterlichen Autoren oft zu Übertreibungen neigten, waren wohl 20.000 bis 30.000 Krieger das Limit – dies entsprach wohl nicht zufällig ungefähr der Maximalgröße, die Armeen unter den logistischen Bedingungen des 5. Jahrhunderts erreichen konnten; hinzu kam oft noch ein Tross, der aus den Frauen und Kindern der Soldaten bestand. Oft waren die Verbände wesentlich kleiner. Dies spricht ebenfalls gegen die Annahme, alle Kriegergruppen seien als Eroberer in das Römische Reich eingedrungen. Die meisten dieser Verbände waren auf der Suche nach sicherem Siedlungsgebiet und wollten am Reichtum des Imperiums partizipieren: Manche strebten vertraglich gesicherte Versorgung an (wie die geflüchteten Terwingen/Westgoten oder die fränkischen Verbände nach zuvor militärischen Konflikten), andere versuchten mit rein militärischen Mitteln, dieses Siedlungsgebiet und damit gesicherte Lebensverhältnisse gewaltsam zu erzwingen (wie die Vandalen). Eine regelrecht geplante Eroberung war dies jedoch sicherlich nicht. Die germanischen Verbände bildeten vielmehr eine verschwindend geringe Minderheit gegenüber der römischen Provinzbevölkerung; sie füllten die Leerstelle, die das Verschwinden der weströmischen Armee hinterlassen hatte. Sie gingen in der Regel zu einer (wenigstens bedingten) Kooperationspolitik mit den zivilen Eliten über, da es ihr Ziel war, das überlegene spätrömische Staats- und Steuerwesen zu nutzen. Die wesentlichen Verwaltungsposten wurden deshalb auch unter germanischer Herrschaft von Römern bekleidet, wie das wichtige Amt des referendarius, der als Leiter der königlichen Kanzlei fungierte. Daher erscheint es angemessen, von germanisch-romanischen oder poströmischen Reichen zu sprechen. Von diesen regna hatten nur die Reiche der Franken, Langobarden, Angelsachsen und Westgoten längere Zeit Bestand. Zeitleiste 375: Tod Kaiser Valentinians I. Wohl um diese Zeit (eine genaue Datierung ist problematisch) unterwerfen die Hunnen die Alanen und die greutungischen Goten. 376: Flucht der Donaugoten vor den Hunnen und Aufnahme im römischen Reich. Bald darauf erheben sich die Goten gegen die Römer. 9. August 378: Schlacht von Adrianopel. Kaiser Valens und mit ihm ein Großteil der östlichen Hofarmee fallen. 380: Ansiedlung der Dreivölker-Konföderation in Pannonien durch Kaiser Gratian. 382: Gotenvertrag. Kaiser Theodosius I. siedelt größere Gotenverbände an der unteren Donau an. 395: Sogenannte Reichsteilung von 395; Hunneneinfälle ins Sassanidenreich und in die römischen Orientprovinzen. Gotische foederati unter Alarich I. meutern und durchziehen plündernd den Balkan. 402: Verlegung des weströmischen Hofes nach Ravenna. 405: Einfall des Radagaisus mit einem großen Heer in das Westreich. Der weströmische Heermeister Stilicho schlägt die Invasoren im August 406. 406/07: Rheinübergang von 406. Zeitweiliger Zusammenbruch der römischen Rheingrenze. Vandalen, Sueben und Alanen ziehen plündernd durch Gallien. In Britannien erhebt sich der Usurpator Konstantin III. Abzug der letzten Einheiten des römischen Feldheeres von der Insel: Beginn jahrzehntelanger Bürgerkriege im weströmischen Reich. 408: Stilicho wird gestürzt und getötet. 409: Weiterzug der Vandalen, Sueben und Alanen nach Hispanien. 410: Ende August Eroberung Roms durch die Westgoten unter Alarich. 418: Ansiedlung der Westgoten in Aquitanien. 429: Die Vandalen und Alanen setzen unter Geiserich nach Africa über, bis 439 fällt Karthago. 442 erkennt die weströmische Regierung den Verlust faktisch (aber nicht de iure) an. 436: Vernichtung des Burgundenreichs am Mittelrhein durch den weströmischen Heermeister Flavius Aëtius, der die Reste des Kriegerverbandes 443 in der Sapaudia ansiedelt. Um 440/41: Teile der Sachsen und andere germanische Gruppen, die als Foederaten nach Britannien übergesetzt waren, rebellieren und beginnen mit ihrer Landnahme. 451: Feldzug des Hunnen Attila gegen Aëtius. Schlacht auf den Katalaunischen Feldern und Rückzug Attilas aus Gallien. 452 fallen die Hunnen in Italien ein, müssen sich aber schließlich zurückziehen. Nach Attilas Tod 453 bricht das Hunnenreich auseinander. 455: Mit dem Mord an Valentinian III. endet die Herrschaft der Theodosianischen Dynastie. Es kommt zur Plünderung Roms durch Geiserich. 456: Westgotische Krieger besiegen in kaiserlichem Auftrag die Sueben. 468: Der Westgote Eurich bricht den Vertrag mit Rom und beginnt eine aggressive Expansionspolitik. Der Großteil Hispaniens sowie der Südwesten Galliens werden westgotisch. Im selben Jahr findet eine gescheiterte Invasion des Vandalenreichs durch west- und oströmische Truppen statt. 472: Im Zuge des Machtkampfes zwischen Ricimer und Anthemius wird Rom ein drittes Mal geplündert. 475: Julius Nepos schließt ein foedus mit den Westgoten, das diesen fast ganz Südgallien überlässt. 476: Absetzung von Romulus Augustulus, des letzten weströmischen Kaisers in Italien, durch den germanischen Heerführer Odoaker. Bis 480 hält sich der 475 aus Italien geflüchtete Julius Nepos in Dalmatien. In Gallien behauptet sich die von Aegidius errichtete gallorömische Enklave noch bis 486. 486/87: Vernichtung des Reichs des Syagrius durch die Franken unter Chlodwig I. Das Frankenreich nimmt Gestalt an. 489: Der Ostgote Theoderich fällt im Auftrag des Ostkaisers in Italien ein und etabliert dort ab 493 ein eigenes Reich. 507: Der Westgotenkönig Alarich II. unterliegt den Franken, die nun den Südwesten Galliens besetzen. 533/34: Eroberung des Vandalenreichs durch den oströmischen General Belisar. Das Burgundenreich fällt 534 an die Franken. 535–552: Gotenkrieg in Italien. Kaiser Justinian strebt die Rückeroberung weiter Teile des ehemaligen Westreichs an. 554: Justinian schafft den weströmischen Hof und den senatorischen cursus honorum ab. 568: Einfall der Langobarden in Oberitalien. Ende der Völkerwanderungszeit. Germanische Wanderungsbewegungen vor dem Einfall der Hunnen Schon vor dem Beginn der eigentlichen „Völkerwanderung“ hatte es im außerrömischen Barbaricum Wanderungsbewegungen von germanischen Gruppen gegeben. Die Bevölkerung östlich des Rheins und nördlich der Donau strebte nach einem Anteil am römischen Wohlstand, und germanische Krieger standen dabei vor der Wahl, entweder riskante Plünderungszüge zu unternehmen oder sich stattdessen in den Dienst Roms zu stellen. Neben militärischen Konflikten gab es daher auch friedliche Kontakte. An der unter Tiberius etablierten Rheingrenze wurde Handel getrieben und Germanen dienten häufig im kaiserlichen Heer, um so das römische Bürgerrecht zu erlangen. Über viele Wanderungsbewegungen jenseits des römischen Horizonts wissen wir dennoch oft nur aus zumeist mündlich tradierten Berichten, die später schriftlich festgehalten wurden und dabei oft mythisch verklärt sind. Die wohl bekannteste dieser Ursprungsgeschichten, eine sogenannte Origo gentis, ist die Gotengeschichte (oder Getica) des Jordanes aus dem 6. Jahrhundert. Entgegen seiner Darstellung, dass die Goten aus Skandinavien stammen würden, sind sie nach heutiger Erkenntnis entweder im 2. Jahrhundert n. Chr. von dem Gebiet an der Weichsel in Richtung Schwarzes Meer gezogen oder erst im 3. Jahrhundert im Zuge einer Ethnogenese an der Donau entstanden. Ein 2014 veröffentlichtes Fragment eines griechischen Geschichtswerkes aus dem 3. Jahrhundert (vermutlich Bestandteil der Skythika des Dexippos) erwähnt einen gotischen Anführer (archon) namens Ostrogotha bereits für die Jahre um 250. Was dies für die Rekonstruktion der Entstehung der Ostgoten bedeutet, ist noch unklar. Die Goten verursachten nach traditioneller Lesart die erste größere Wanderbewegung und verdrängten die Vandalen und Markomannen nach Süden und die Burgunden nach Westen. Diese Bevölkerungsverschiebungen waren einer der Auslöser für die Markomannenkriege, in denen Rom der Germanen nur mit Mühe Herr werden konnte. In den 50er und 60er Jahren des 3. Jahrhunderts, als Rom mit den Symptomen der Reichskrise zu kämpfen hatte und die Abwehr durch Bürgerkriege geschwächt war, stießen gotische und alamannische Gruppen immer wieder plündernd auf den Boden des Imperiums vor. In der heutigen Forschung ist allerdings umstritten, wie umfangreich und bedeutend diese Wanderbewegungen waren. Vieles deutet darauf hin, dass sich die neuen Stammesverbände der Franken, Alamannen, Sachsen etc. erst um 200 n. Chr. im Zuge einer Ethnogenese in unmittelbarer Nachbarschaft der römischen Provinzen formierten. Während diese Sicht bezüglich der genannten Verbänden dabei heute von den meisten Forschern geteilt wird, ist im Fall der Goten, wie gesagt, umstritten, ob sie in die Donauregion eingewandert waren oder sich erst vor Ort bildeten. Etwa um 290 teilten sich die Goten vermutlich in Terwingen/Visigoten und Greutungen/Ostrogoten auf. Die Greutungen/„Ostgoten“ siedelten sich im Schwarzmeerraum der heutigen Ukraine an. Die Terwingen/„Westgoten“ ließen sich vorerst auf der Balkanhalbinsel nieder, im Raum nördlich der Donau im heutigen Siebenbürgen. Die Terwingen gerieten dabei in direkten Kontakt mit Rom, es kam sogar zu militärischen Auseinandersetzungen, die aber nicht entscheidend waren. 332 erhielten die Donaugoten den Status von Foederaten, mussten also Rom vertraglich garantierte Waffenhilfe leisten. Der Gotenzug ist vor allem deshalb von Interesse, weil die nachfolgende Entwicklung gerade für die Goten nachhaltige Folgen hatte: Der Hunneneinbruch um 375 (siehe unten) vertrieb nicht nur viele Goten aus ihrer neuen Heimat, sondern setzte durch das darauffolgende Übersetzen der Goten ins Imperium einen Prozess in Gang, in dessen Folge Rom nach Sicht von Forschern wie Peter Heather ums Überleben zu kämpfen hatte (andere Forscher wie Guy Halsall, Michael Kulikowski oder Henning Börm messen den Vorgängen hingegen weitaus geringere Bedeutung bei). Etwa zur gleichen Zeit wie die Goten wanderten Langobarden von der Unterelbe nach Mähren und Pannonien. Kleinere Einfälle in römisches Herrschaftsgebiet wurden in dieser Zeit entweder zurückgeschlagen oder endeten mit kleineren Grenzkorrekturen. Weiter im Westen durchbrach die Stammeskonföderation der Alamannen im 3. Jahrhundert die römischen Grenzbefestigungen, den obergermanisch-raetischen Limes, und siedelte sich im sogenannten Dekumatland an, nachdem die Römer das Gebiet geräumt hatten (Limesfall). Viele gentes wurden auch als Bundesgenossen gezielt an den Grenzen des Reiches angesiedelt und bildeten Puffer zu feindlicher gesinnten Stämmen (siehe Foederaten). Rom hatte aus den Germaneneinfällen und den Bürgerkriegen des 3. Jahrhunderts gelernt und im frühen 4. Jahrhundert umfassende militärische Reformen in Angriff genommen. Wichtig war dabei, dass man seit der Gründung des persischen Sassanidenreichs beständig mit Bedrohungen an mehreren Grenzen zu rechnen hatte; die heftigen Kämpfe mit den Persern banden starke römische Kräfte und hatten so die germanischen Invasionen des 3. Jahrhunderts nach Ansicht mancher Forscher überhaupt erst ermöglicht. Um diesem strategischen Dilemma begegnen zu können, so die Annahme vieler Forscher, musste die militärische Leistungsfähigkeit des Imperiums verbessert werden. Die Kaiser Diokletian und Konstantin der Große, der das Christentum im Imperium privilegierte (Konstantinische Wende), bauten daher das Bewegungsheer (comitatenses) aus, nahmen die Grenzen im Norden an Rhein und Donau zurück, ließen zahlreiche Festungen errichten und sicherten so noch einmal die Grenzen in Nord und Ost. Der spätere Kaiser Julian konnte noch 357 in der Schlacht von Argentoratum ein zahlenmäßig wohl überlegenes alamannisches Aufgebot vernichten. Trotz der Schwierigkeiten, in die Rom im 3. Jahrhundert durch die Bildung gentiler Großverbände wie der Alamannen und Franken und die gleichzeitigen Kriege mit Persien geraten war, war es militärisch diesen Vorstößen immer noch gewachsen. Vor 378 lag die militärische Initiative in der Regel auf römischer Seite. Doch mit dem Einfall der Hunnen änderte sich die Bedrohungslage zumindest nach Ansicht von Forschern wie Peter Heather schlagartig; zugleich hatte Rom bereits das Äußerste an militärischer Leistungsfähigkeit erreicht und konnte daher nicht mehr flexibel reagieren. Dies und der Umstand, dass sich in der Folgezeit die Qualität und Größe der wandernden gentes veränderte, gelten traditionell als die beiden wichtigsten Merkmale der Völkerwanderung, durch die sich diese trotz des relativ unscharfen Begriffs von den vorherigen Wanderungsbewegungen unterscheide. Die Völkerwanderungszeit Der Hunneneinbruch und seine Folgen Der Bericht des römischen Geschichtsschreibers und ehemaligen Offiziers Ammianus Marcellinus, den dieser im 31. Buch seines Geschichtswerks darlegt, ist die einzige zusammenhängende Darstellung des Einfalls der Hunnen. Ammianus, ein ansonsten sehr zuverlässiger Berichterstatter, wusste aber nur aus zweiter Hand von den Ereignissen, die sich um 375 (die genaue Chronologie für diese Zeit ist unklar, so dass auch das Jahr 375 als festes Datum für den Beginn des Hunneneinbruchs nicht gesichert ist) außerhalb des römischen Blickfelds ereigneten. Ammianus beschreibt die Hunnen jedenfalls mehr als Bestien denn als richtige Menschen. Er schildert, wie die Hunnen zunächst die Alanen niederwarfen und dann das gotische Greutungenreich Ermanarichs in der heutigen Ukraine vernichteten, wobei die Alanen wohl mit den Hunnen kooperierten. Wer aber die Hunnen genau waren und woher sie stammten, ist bis heute nicht eindeutig geklärt. Die in der älteren Forschung teils vertretene Ansicht, sie seien mit den in chinesischen Quellen erwähnten Xiongnu verwandt, deren Steppenreich bereits rund 200 Jahre zuvor untergegangen war, wird inzwischen von der Mehrheit der modernen Forscher abgelehnt oder wenigstens skeptisch gesehen, da auch ein großer zeitlicher Abstand zwischen dem Erscheinen der beiden Gruppen liegt. Über die Ursachen der hunnischen Wanderungsbewegung kann ebenso nur spekuliert werden. In den antiken Quellen wird übereinstimmend ihre Grausamkeit und Kulturlosigkeit herausgestellt, wobei der Begriff „Hunnen“ später von westlichen Autoren allgemein benutzt wurde, um Völkergruppen zu bezeichnen, die aus der zentralasiatischen Steppe auftauchten (wie vorher die Bezeichnung „Skythen“). Einige Christen sahen das plötzliche Auftauchen der Hunnen, die mit großer Brutalität und Schnelligkeit agierten und mit den Kompositbögen eine neue Waffe einsetzten, sogar als eine Strafe Gottes an. Als sicher gilt, dass die Hunnen, die wohl nicht unter einheitlicher Führung operierten, auf ihrem weiteren Zug nach Westen eine Fluchtbewegung mehrerer germanischer und sarmatischer Gruppen nach Süd- und Westeuropa auslösten, auch wenn inzwischen sehr umstritten ist, wie folgenreich diese Ereignisse waren. Die Greutungen gerieten größtenteils unter ihre Herrschaft, wenn sich auch einzelne Gruppen dem Zugriff entziehen konnten (und andere dies später ebenfalls immer wieder versuchten). Der hunnische Druck hatte wohl die Flucht des Großteils der terwingischen Goten – Krieger mit ihren Familien – an der Donau zur Folge. Unter ihrem Anführer Fritigern baten sie den römischen Kaiser Valens, der den Osten des Imperiums regierte, um die Erlaubnis, sich auf römisches Gebiet begeben zu dürfen. Valens kam diesem Ersuchen schließlich nach, und so strömten im Jahr 376 mehrere Tausend Terwingen und andere Flüchtlinge über die Donau ins Römische Reich. Allerdings hatte man auf römischer Seite offenbar die Zahl der Flüchtlinge völlig unterschätzt und es noch dazu versäumt, diese auch zu entwaffnen. Infolge römischer Versäumnisse und Inkompetenz stockten die Nahrungslieferungen an die Goten, die zudem schlecht behandelt wurden. Wohl Anfang 377 erhoben sie sich daraufhin gegen die Römer. Die folgenden Ereignisse schienen zunächst nicht ernsthaft bedrohlich. Valens brach dennoch einen geplanten Feldzug gegen das Sassanidenreich, Roms Rivalen im Osten, ab und zog Truppen zusammen, um gegen die Goten in Thrakien vorzugehen. Während der Operationen im Sommer 377 mussten die Römer jedoch erkennen, dass der gotische Aufstand nicht so leicht zu unterdrücken war. Valens begab sich im Frühjahr 378 selbst nach Thrakien und tauschte mehrere Offiziere aus. Auch Valens’ Neffe und Kaiser im Westen, Gratian, hatte direkte Hilfe versprochen, doch wurde er durch einen Einfall der Alamannen gebunden; der damit zusammenhängende Vorstoß Gratians war der letzte eines römischen Kaisers über den Rhein. Am 9. August 378 kam es dann in Thrakien, im europäischen Teil der heutigen Türkei, zur Schlacht von Adrianopel zwischen den Goten und der römischen Armee. Ohne größere Not hatte Valens sich mit etwa 30.000 Mann, den besten Einheiten der östlichen Hofarmee, auf das offene Feld begeben, ohne auf den herannahenden Gratian zu warten. Die Terwingen hatten allerdings ebenfalls Unterstützung erhalten und zwar in Form der sogenannten Dreivölkerkonföderation, die aus Greutungen, Alanen und sogar aus geflüchteten Hunnen bestand, die sich dem Zugriff der Hauptmasse der Hunnen entzogen hatten. Zudem hatten die römischen Späher die Stärke des feindlichen Heeres unterschätzt, das wohl etwa 20.000 Mann betragen hat. Die Römer, erschöpft vom Marsch in der Sommerhitze und noch dazu ohne ausreichende Verpflegung, konnten gegen die wendig operierenden feindlichen Reiter wenig ausrichten, während das gotische Fußvolk den Römern ebenfalls schwer zu schaffen machte. Am Ende entkamen nur rund ein Drittel der römischen Soldaten und auch Kaiser Valens fiel. Weitaus schwerwiegender war wohl, dass mit ihm mehrere der besten oströmischen Einheiten vernichtet sowie eine Vielzahl hoher und erfahrener römischer Offiziere gefallen war, darunter zwei Heermeister; die Folgen wurden nach Ansicht mancher Forscher bald offenkundig. Andere Historiker bezweifeln hingegen, dass der Schlacht wirklich die Bedeutung zukommt, die ihr traditionell zugesprochen wird: Sie betonen, dass nicht die west-, sondern die oströmische Armee betroffen war. Der Umstand, dass die oströmische Armee aber bereits wenige Jahre später in Bürgerkriegen gegen den Westen siegreich blieb, sowie die Tatsache, dass Ostrom im Unterschied zu Westrom die Spätantike überdauerte, spricht nach Ansicht dieser Forscher gegen die verbreitete Annahme, bei Adrianopel habe Rom eine langfristig entscheidende Niederlage gegen die Germanen erlitten. Ammianus, der um 394 sein Werk niederschrieb, ließ dieses mit der Schlacht von Adrianopel enden, die er bezeichnenderweise mit der Schlacht von Cannae verglich, nach der sich Rom ebenfalls wieder erholt hatte. Von Adrianopel bis zur Plünderung Roms 410: Die Goten im Imperium Romanum Der Gotenvertrag von 382 Tatsächlich waren die unmittelbaren Folgen der Niederlage von Adrianopel zwar schwerwiegend, aber keineswegs der Anfang vom Ende des Imperiums. Thrakien stand den Goten zwar zunächst weitgehend offen, dennoch konnten sie den Sieg nicht ausnutzen. Überdies war, wie gesagt, nur die oströmische Feldarmee von den hohen Verlusten betroffen, nicht die westliche. Gratian eilte herbei, sah sich aber nach einigen Monaten gezwungen, einen neuen Kaiser im Osten des Reiches einzusetzen. Er entschied sich für den aus Spanien stammenden Römer Flavius Theodosius, dessen gleichnamiger Vater bereits ein sehr erfolgreicher General gewesen war. Theodosius, der das Christentum zur Staatsreligion erheben sollte, erwies sich als ein tatkräftiger Kaiser. 379 bezog er in Thessaloniki Quartier und ging in mehreren Operationen gegen die Goten vor. Allerdings litt die römische Offensive unter dem Mangel an erfahrenen Soldaten und qualifizierten Offizieren, so dass sich Theodosius schließlich gezwungen sah, auf „barbarische“ Söldner zurückzugreifen. Gratian, der im Jahr 380 Teile der Dreivölkerkonföderation in Illyrien ansiedeln konnte, sandte erfahrene Offiziere in den Osten, darunter Bauto und Arbogast den Älteren. Es war aber der Heermeister Flavius Saturninus, der im Oktober 382 mit den Goten in Thrakien einen Frieden aushandeln konnte. Der Gotenvertrag, dessen Inhalt und Bedeutung in der Forschung sehr umstritten sind, sah offenbar vor, dass die Goten sich auf Reichsboden an der unteren Donau ansiedeln durften. Ob sie sich unterwarfen und formal zu Reichsangehörigen wurden, oder ob es sich bei dem Vertrag um ein foedus mit formal reichsfremden Kriegern handelte, ist unklar. In jedem Fall wurde den Goten das conubium verweigert, sie durften also keine Ehen mit römischen Bürgern eingehen. Das von ihnen besiedelte Land blieb weiterhin römisches Staatsgebiet, wenn es auch einen autonomen Status erhielt. Als Gegenleistung mussten die Goten in Kriegszeiten dem Kaiser unter eigenen Anführern dienen, das Oberkommando kam dabei aber römischen Offizieren zu. Der Vertrag wurde früher oft als Anfang vom Ende des Imperiums angesehen, da Barbaren nie zuvor ein halbautonomes Siedlungsgebiet zugestanden worden war, noch dazu in relativer Nähe zur Reichszentrale. Allerdings betont ein Teil der neueren Forschung, dass der Vertrag in den Kernpunkten nicht wesentlich über frühere Föderatenabkommen hinausgegangen sei: Rom behauptete seinen Führungsanspruch und profitierte von den nun zur Verfügung stehenden Truppen, auf die es Theodosius vor allem ankam, da es schwierig war, kurzfristig genügend Römer für den Militärdienst einzuziehen. Später machten sich auch Nachteile dieser Regelung bemerkbar. Der Vertrag kann jedoch nicht als der Beginn der Bildung germanischer regna auf dem Boden des Imperiums interpretiert werden, wie dies in der älteren Forschung oft geschehen ist. Vielmehr belegt der Vertrag die grundsätzlich vorhandene Integrationskraft des römischen Staates, der sich zuvor und danach reichsfremder Krieger als zumindest kurzfristige militärische Verstärkung sicherte. Problematisch wurde die Lage erst im 5. Jahrhundert, als Westrom in einen Mahlstrom aus internen Machtkämpfen, verstärkter äußerer Bedrohungslage und den sich beschleunigenden internen Desintegrationsprozess geriet. Die Goten als Föderaten und als Gegner Roms Gotische foederati sollten eine wichtige Rolle in der Militärpolitik Kaiser Theodosius’ I. spielen, der nach dem Tod Gratians zwei blutige Bürgerkriege um die Macht im Imperium ausfocht, in denen er vielfach auf nichtrömische Krieger zurückgriff. Dass Theodosius ganz handfeste realpolitische und militärische Ziele verfolgte und nicht etwa ein „Freund des gotischen Volkes“ war, wie Jordanes berichtet, bezeugen die hohen Verlustraten gotischer Truppen auf diesen Feldzügen. Schließlich scheiterte die vom Kaiser betriebene Integrationspolitik hinsichtlich der Goten: Auch wenn etwa Fravitta und andere treu zu Rom standen, waren andere Goten unzufrieden mit der Vereinbarung. Bereits 391 hatten sich einige von ihnen erhoben und konnten nur mit Mühe vom römischen General Stilicho unterworfen werden; 392 erneuerten (?) sie den Vertrag von 382. In diesem Zusammenhang taucht in den späteren Quellen das erste Mal der Name Alarich auf, der angeblich aus der adligen Familie der Balthen stammte und Anführer der sich nun langsam formierenden Westgoten wurde. Im Bürgerkrieg zwischen Theodosius und Eugenius hatten die Goten 394 wieder sehr hohe Verluste zu beklagen, wobei nicht auszuschließen ist, dass Theodosius sie bewusst opferte, um so einen potentiellen Gegner zu schwächen. Als Theodosius Anfang 395 in Mailand überraschend starb, fühlte sich die römische Regierung jedenfalls offensichtlich nicht mehr an das foedus, das er mit den gotischen Kriegern geschlossen hatte, gebunden, und entließ sie. Daraufhin fühlten sich die Krieger betrogen und rebellierten. Verbittert zog Alarich mit diesem vorwiegend, aber keineswegs ausschließlich aus Goten bestehenden Heer gegen Konstantinopel, um einen neuen Vertrag zu erzwingen. Die beiden folgenden Jahre waren von einem ständigen 'Auf und ab' gekennzeichnet, in dem der Heermeister Stilicho oft als Gegenspieler der Westgoten auftrat und Alarich zwischen die Fronten des sich zuspitzenden Konflikts zwischen den Kaiserhöfen in West- und Ostrom geriet, die nach der sogenannten Reichsteilung von 395 immer mehr auf Konfrontationskurs gingen. Sein Ziel war es dabei, für seine Männer eine gesicherte Versorgung durch den römischen Staat und für sich selbst einen hohen Posten in der kaiserlichen Armee zu erlangen. Der östliche Kaiserhof versuchte zeitweilig offenbar, Stilicho und Alarich gegeneinander auszuspielen. 397 wurde Alarich vom östlichen Kaiser zum Heermeister ernannt, und seine Männer wurden vorerst in Epirus angesiedelt, zogen aber 401, vielleicht als indirekte Folge der Wirren um den Putschversuch des Gainas, wieder ab. Sie zogen plündernd durch den Balkanraum und Griechenland und fielen schließlich in Italien ein, wo sie aber 402 bei Verona eine schwere Niederlage erlitten. Wie schon einige Jahre zuvor versuchte Stilicho, der starke Mann im Westen, dem die Leitung der Reichsgeschäfte faktisch allein zufiel, die gotischen Krieger für seine Zwecke zu instrumentalisieren. Stilicho plante sogar ein gemeinsames Vorgehen gegen Ostrom, doch da brach 405/06 unerwartet der Gote Radagaisus mit einem gewaltigen Heer in Italien ein. Stilicho musste eiligst Truppen zusammenziehen. Es gelang ihm zwar mit hunnischer Unterstützung, Radagaisus und dessen polyethnisch zusammengesetzten Kriegerverband zu stellen und zu schlagen, doch verlor er das Interesse an Alarich. Dieser reagierte darauf, indem er seine eigenen Truppen an der Grenze Italiens zusammenzog und einen hohen Geldbetrag und ein neues foedus von der weströmischen Regierung in Ravenna einforderte. Stilicho lenkte nun ein, zumal sich in Britannien 407 der General Konstantin erhoben hatte und nach Gallien übergesetzt war, wo die Rheingrenze kollabiert war (siehe unten). Alarich wurde erneut das Heermeisteramt versprochen, worauf dieser wiederholt spekuliert hatte, um so seine Stellung im Imperium zu legitimieren. Im Gegenzug sollte er mit seinen Männern im Namen der weströmischen Regierung nun den Usurpator Konstantin bekämpfen. Vor allem sollten die materiellen Wünsche der Goten nach sicherer Versorgung durch den römischen Staat erfüllt werden. Da aber fiel Stilicho einer Hofintrige zum Opfer. Er wurde Ende August 408 hingerichtet, auch der Großteil seiner Familie und seiner Anhänger kam ums Leben. Die Plünderung Roms 410 Mit der Ermordung Stilichos, des ehrgeizigen, aber dem weströmischen Kaiser gegenüber wohl loyalen Generals, sollte man sich in Ravenna jedoch verkalkuliert haben: Ganze Verbände barbarischer Truppen, die unter Stilicho gedient hatten, gingen zu den Goten über, darunter wohl auch die 12.000 Krieger, die der General aus dem Radagaisusheer in das Reichsheer übernommen hatte. Der schwache weströmische Kaiser Honorius weigerte sich, das von Stilicho geschlossene foedus einzuhalten oder ein neues zu schließen, so dass Alarich handeln musste und insgesamt dreimal gegen Rom zog, um seine Forderungen durchzusetzen. Rom war zwar schon seit Jahren nicht mehr die Hauptstadt des Imperiums, doch hatte es seine Bedeutung als Symbol nicht verloren. Im Oktober 408 konnte man sich in Rom, wo Durst und Hunger herrschten, noch gegen eine gewaltige Summe freikaufen. Doch weder die römischen Senatoren noch der Bischof von Rom konnten den Kaiser im sicheren Ravenna dazu bewegen, mit den Goten zu verhandeln. So erschien Alarich 409 wieder vor Rom, wurde offenbar in die Stadt gelassen und setzte sogar mit dem Senator Priscus Attalus einen Gegenkaiser von seinen Gnaden ein, der aber die Hoffnungen Alarichs nicht erfüllen konnte und 410 wieder abgesetzt wurde, nachdem der comes Africae die Getreidelieferungen aus Karthago gestoppt und so eine Hungersnot in Italien ausgelöst hatte. Wenigstens gelang es den Goten, den römischen General Sarus, einen ehemaligen Konkurrenten Alarichs um die Führung der Goten, zu schlagen. Schließlich sah Alarich, aller Optionen beraubt, nur noch einen Ausweg. Am 24. August 410 öffnete ihm Rom die Tore, und diesmal plünderten seine hungernden Männer die Stadt drei Tage lang, wobei Alarich, wie die meisten Goten inzwischen Christ, darauf bestanden haben soll, dass die Kirchen verschont wurden und kein Blut vergossen wurde. Die Plünderung Roms, die erste seit dem Galliersturm 387 v. Chr., war vor allem auf die starre Haltung des Honorius zurückzuführen. Er hatte offenbar den Ernst der Lage nicht richtig erkannt, und diesmal war kein Stilicho zur Hand, um mit den meuternden Goten fertigzuwerden. Diesen ging es keineswegs um die Zerstörung Roms. Die sich hinziehenden Verhandlungen verdeutlichen vielmehr, dass Alarich für sich, seine Krieger und ihre Familien eine gesicherte Versorgung und wohl auch Siedlungsland erhalten sowie von Rom als magister militum anerkannt werden wollte. Es ging ihm und seinen Männern also letztlich darum, ihre Integration in das römische System zu erzwingen. Doch die kaiserliche Politik, die sich weniger gegen die Goten als vielmehr gegen den wachsenden Einfluss hoher Militärs bei Hofe richtete, versagte. Acht Jahre später hingegen sollte man in der Ansiedlung der gotischen Krieger sogar eine Möglichkeit sehen, das Imperium zu stabilisieren (siehe unten). Alarich führte 410 auch Honorius' Halbschwester Galla Placidia mit sich und versuchte, das strategisch und ökonomisch so wichtige Karthago zu erreichen, um sich eine eigene Machtbasis zu schaffen. Dieses Unternehmen scheiterte aber. Alarich, der nach wie vor vor einem Dilemma stand, aus dem er keinen Ausweg sah (insofern mutet die Plünderung Roms eher als eine Art Verzweiflungstat an), starb wenig später. Die Führung der Goten übernahm sein Schwager Athaulf, der nun Italien verließ, um zu versuchen, über Hispanien nach Nordafrika zu gelangen. Die Plünderung der Stadt Rom war ein Schock für die gesamte römische Welt, schädigte das Ansehen des weströmischen Kaisertums nachhaltig und rief unter den Christen Endzeitängste hervor, während manche Heiden dies als gerechte Strafe dafür ansahen, dass Rom den alten Kulten den Rücken gekehrt hatte. Der große Kirchenlehrer Augustinus von Hippo sah sich veranlasst, sein Werk De civitate Dei zu verfassen, um mögliche Erklärungsmuster aufzuzeigen. Orosius wiederum versuchte in seinem Werk Historiae adversum paganos nachzuweisen, dass das heidnische Rom viel schlimmere Schicksalsschläge erlitten habe. Der gelehrte Diskurs wirkte tiefgreifend und nachhaltig. Es bleibt daher festzustellen, dass die Plünderung Roms langfristig weniger realpolitische als ideengeschichtliche Konsequenzen hatte und bis heute prägend gewirkt hat. Der Rheinübergang von 406/07 und seine Folgen: Die Goten in Aquitanien und die Vandalen in Nordafrika Der Zusammenbruch der Rheingrenze: Invasionen und Usurpationen Bereits einige Jahre vor der Plünderung Roms, am 31. Dezember 406, überschritt eine große Anzahl barbarischer Krieger, vielleicht auf der Flucht vor den Hunnen oder aufgrund von Nahrungsmittelknappheit, vielleicht aber auch auf Aufforderung einer römischen Bürgerkriegspartei, den Rhein bei Mogontiacum (Mainz) (siehe Rheinübergang von 406). Die drei größten Gruppen stellten die Vandalen, Sueben und Alanen dar. Die Vandalen selbst waren unterteilt in zwei Untergruppen, die Hasdingen und die Silingen, und hatten um 400 ihren Sitz etwa im Süden des heutigen Polens sowie im heutigen Tschechien; große Teile waren aber bereits von Kaiser Konstantin dem Großen in Pannonien als Foederaten angesiedelt worden. Im Winter 401/02 überfielen sie die römische Provinz Raetia, Teile schlossen sich dem oben beschriebenen Zug des Radagaisus an. Die Identität der Sueben ist problematischer, da der Terminus zwar in älteren Quellen gebraucht wurde, dann aber um 150 n. Chr. verschwindet und erst später wieder benutzt wurde. Wie die Vandalen lebten sie aber westlich der Karpaten und sind weitgehend mit den früheren Quaden identisch. Die iranischen Alanen waren aus ihrer alten Heimat von den Hunnen vertrieben worden. Teile von ihnen waren ebenfalls 405/06 mit Radagaisus gezogen und hatten sich nach dessen Untergang mit vandalischen Gruppen zusammengeschlossen. Auch die Sueben stießen dazu und gemeinsam drangen sie in das Innere Galliens vor. Föderierte Franken, die hier schon seit der Mitte des 4. Jahrhunderts angesiedelt waren, stellten sich den Angreifern ohne Erfolg entgegen (siehe auch Respendial). Die Quellenlage erlaubt es zwar nicht, die Invasion in allen Einzelheiten nachzuvollziehen. Die Invasoren zogen aber anscheinend in den Westen und Norden Galliens, um sich dann nach Süden und Südwesten zu wenden. In den verstreuten Quellen wird auch die Verwüstung dieses Zuges überdeutlich, ohne dass die wenigen am Rhein stationierten weströmischen Streitkräfte ernsthaft etwas dagegen unternehmen konnten. Allerdings wurde die Rheinverteidigung einige Jahre später noch einmal wiederhergestellt. Der Mainzer Militärdistrikt (Dukat) ist womöglich auch erst nach den Ereignissen 406/07 neu eingerichtet worden. Der zumindest zeitweilige Zusammenbruch der Rheingrenze 406/407 war wohl schon vorher absehbar geworden; die Bedrohung durch Plünderer nahm stetig zu, denn bereits seit 378 waren die römischen Truppen zu beschäftigt, um die traditionellen Rache- und Abschreckungsfeldzüge jenseits des Rheins durchzuführen. So war bereits um 400 der Sitz der Gallischen Präfektur, der neben der Italischen Präfektur obersten Verwaltungsbehörde des Weströmischen Reichs, von Trier nach Arles verlegt worden. Der Erfolg der Invasoren war durch die oben beschriebenen Kämpfe Stilichos mit Radagaisus und den Goten begünstigt, so dass Gallien von Truppen weitgehend entblößt worden war. Aus diesem Umstand erklärt sich der Versuch Stilichos, Alarichs Goten zu gewinnen und mit ihrer Hilfe die Ordnung wiederherzustellen. Durch den Tod des Generals im August 408 hatten sich diese Pläne allerdings zerschlagen. Der Usurpator Konstantin III., der letzte einer ganzen Reihe britannischer Usurpatoren (siehe Marcus und Gratian), setzte bereits 407 mit den Resten des britannischen Feldheeres nach Gallien über und sicherte sich so vorläufig einen eigenen Machtbereich. Nicht ohne Grund bezeichnete der Kirchenvater und Zeitgenosse Hieronymus Britannien als „eine an Tyrannen (Usurpatoren) fruchtbare Provinz“. Gleichzeitig leistete der fast vollständige Abzug der römischen Truppen von der Insel (es ist davon auszugehen, dass kleinere Verbände von Konstantin III. zurückgelassen wurden) dem bald darauf folgenden Verlust Britanniens Vorschub. Pikten und irische Stämme suchten die römische Provinz heim, die bald in selbstständige Einheiten zerfiel. Daraufhin rief man Angeln und Sachsen zur Hilfe, was allerdings letztlich eine germanische Landnahme zur Folge hatte, da diese Krieger um 440 meuterten, wenngleich sich römisch-britische Kleinreiche im heutigen Wales und Südwestengland noch längere Zeit halten konnten. Die Usurpation Konstantins 407 stand wohl (als Ursache oder Folge) in einem Zusammenhang mit dem Kollaps der Rheingrenze, der auch in Britannien für Unruhe gesorgt hatte. Konstantin III. gelangen einige beachtliche Erfolge; so schloss er Verträge mit barbarischen Stämmen, was die Lage in Gallien wenigstens beruhigte und ihm Truppen verschaffte. Konstantin, der vor allem im südgallischen Arles residierte, wurde aber 411 vom neuen Heermeister (und späteren Mitkaiser) Constantius geschlagen und hingerichtet, nachdem Konstantins wichtigster General Edobich zuvor geschlagen worden war. 413 konnte die Rebellion endgültig niedergeschlagen werden. In Gallien nahm das Chaos noch weiter zu, nachdem sich der gallische Adlige Jovinus 411 mit Hilfe alanischer Truppen unter Goar und den ebenfalls an den Rhein vorgedrungenen Burgunden unter Gundahar, die bald darauf am Mittelrhein ein eigenes Reich errichteten, zum Kaiser ausrief. Kaiser Honorius schien die Kontrolle über Gallien vollkommen zu entgleiten. Schließlich erhob sich in Hispanien der Usurpator Maximus, der sich aber nicht lange halten konnte. Die Goten unter Athaulf, dem Nachfolger Alarichs, hatten sich nach der Plünderung Roms aus Italien zurückgezogen und waren dann von Jovinus umworben worden. Allerdings war dieses Bündnis, wie schon im Fall des Attalus, nur von kurzer Dauer; Athaulf ließ Jovinus bald schon wieder fallen. Athaulf heiratete 414 in Narbonne die Schwester des Honorius, Galla Placidia, die zuvor bei der Plünderung Roms 410 in die Hände der Goten geraten war, wurde aber schon 415 ermordet. Dennoch verdient diese Episode Beachtung, denn Athaulf, unter dem die „Verreiterung“ der Westgoten wohl ihren Abschluss fand, soll im Rahmen der Hochzeit sogar erklärt haben, dass er die Romania durch eine Gothia habe ersetzen wollen, nun aber eingesehen habe, dass die Barbarei der Goten dies unmöglich mache. Ob nun diese Worte authentisch sind oder nicht, offenbar sehnten sich die Goten nach einer sicheren Versorgung, die von Rom anerkannt war. Vor allem deshalb wollte Athaulf in die theodosianische Dynastie einheiraten; sein früh verstorbener Sohn bekam den programmatischen Namen Theodosius und hätte wohl Ansprüche auf den Kaiserthron erheben sollen. Doch Athaulfs Plan einer Annäherung an Honorius scheiterte am Widerstand anderer Militärs, unter denen inzwischen Flavius Constantius der mächtigste war. Die Ansiedlung der Westgoten in Aquitanien Honorius’ Feldherr Constantius, ein einstiger Gefolgsmann Stilichos, hatte sich im Krieg gegen den Usurpator Konstantin als ein talentierter General erwiesen. Er schaltete nacheinander seine Gegner aus und stieg so zum eigentlichen Machthaber in Ravenna auf. Bald wurde jedoch klar, dass man eine Befriedung des Westreiches nur mit zusätzlichen Truppen erreichen konnte. Darum wandte sich die weströmische Regierung wieder an die Westgoten. Deren Anführer war seit Ende 415 Wallia, der den Krieg gegen die Römer zwar zunächst fortsetzen und sogar nach Nordafrika übersetzen wollte, Anfang 416 aber vor Constantius kapitulieren musste. In diesem Zusammenhang kehrte Galla Placidia zurück, die Constantius dann am 1. Januar 417 gegen ihren Willen heiratete. Damit trat er in gewisser Weise das Erbe Stilichos an. Die Goten wurden (wieder) zu römischen foederati und Constantius setzte sie gleich dazu ein, die in Hispanien eingefallenen Vandalen und Alanen zu bekämpfen, was die Westgoten in den folgenden beiden Jahren mit einigem Erfolg taten. Im Jahr 418 wurden die Westgoten in Aquitanien, also im Südwesten Galliens angesiedelt. Einzelheiten sind sowohl über das foedus von 416 als auch über das von 418 nicht bekannt und müssen vielmehr aus verstreuten Quellenaussagen herausgefiltert werden. Zahlreiche Punkte sind daher in der modernen Forschung umstritten. Vermutlich einer Unterwerfung (deditio), die die Krieger aber nicht zu Römern machte, folgte ein offizieller Vertrag (foedus): Die Westgoten wurden im Garonnetal von Toulouse bis nach Bordeaux angesiedelt. Besonders kontrovers wird diskutiert, ob die Goten, wie sonst im spätrömischen Heerwesen üblich, durch das hospitalitas-System versorgt wurden, ob ihnen also Land zugeteilt wurde, oder ob sie lediglich einen Anteil an den Steuereinnahmen und der annona erhielten. Ebenso wie die genauen Modalitäten des Vertrags sind auch die Auswirkungen der Ansiedlung umstritten. Auch wenn die Westgoten später immer wieder, vor allem aufgrund der Schwäche der weströmischen Regierung, eine unabhängige Politik betreiben sollten, was schließlich um 470 zu einer faktischen Unabhängigkeit des westgotischen Machtbereiches führte (sogenanntes Tolosanisches Reich), so stabilisierten sie doch die Lage in Gallien im Sinne der ravennatischen Regierung. Die Ansiedlung geschah wohl in Kooperation mit der gallorömischen Oberschicht, zumal die Goten im Verhältnis zur römischen Zivilbevölkerung nur einen verschwindend geringen Anteil an der Bevölkerung ausmachten, was im Übrigen für alle germanischen gentes der Völkerwanderungszeit gilt. Die Vandalen in Hispanien und ihre Eroberung der weströmischen Provinz Africa In der Zwischenzeit hatten sich die Vandalen sowie ein Großteil der Sueben und Alanen 409 von Gallien nach Hispanien abgesetzt. Eine wichtige Quelle für die Ereignisse auf der Iberischen Halbinsel stellt die Chronik des Bischofs Hydatius von Aquae Flaviae dar. Darin äußerte sich dieser entsetzt über die Verwüstungen, die mit der Invasion einhergingen. 411 konnten die Eindringlinge der Regierung in Ravenna einen Vertrag abringen, dessen Inhalt Hydatius überliefert hat. Demnach sollten sich Teile der Vandalen und die Sueben im Nordwesten der spanischen Halbinsel ansiedeln, die Alanen in Lusitanien und der Carthagena, die silingischen Vandalen in der Baetica. Als dann 416 (wie bereits beschrieben) die Westgoten, jetzt als Föderaten Roms, darangingen, Hispanien von den Invasoren zu befreien, vernichteten sie den größten Teil der im Süden siedelnden Silingen und Alanen. Ihre Reste schlossen sich dem Vandalenkönig Gunderich an. Dieser erwies sich als ein talentierter Anführer, so dass die Vandalen und Alanen zu einer wesentlich homogeneren Gruppe zusammenwuchsen. Während die Sueben im Nordwesten zurückblieben (Königreich der Sueben), marschierten die Vandalen und Alanen nach Süden. 422 schlugen sie eine römische Armee und eroberten den wichtigen römischen Flottenstützpunkt Carthago Nova; bald darauf versuchten sie sich sehr erfolgreich als Seeräuber. Flavius Constantius war 421, kurz nachdem er seine Erhebung zum Mitkaiser durchgesetzt hatte, gestorben. Als 423 auch Honorius starb, kam es zunächst zu einem erneuten Bürgerkrieg im Reich, an dessen Ende 425 der kleine Valentinian III. den weströmischen Thron bestieg. Um seine Kontrolle rivalisierten die drei mächtigen römischen Generäle Flavius Felix, Bonifatius und Aëtius, was den reichsfremden Kriegergruppen weitere Spielräume eröffnete. Nach Gunderichs Tod übernahm 428 sein Halbbruder Geiserich, einer der fähigsten germanischen Anführer der Völkerwanderungszeit, die Führung der Vandalen. Jordanes hat in seiner Gotengeschichte eine knappe Skizze Geiserichs überliefert, wobei freilich fraglich ist, wie nah diese der Realität kommt, zumal sie einige Zeit nach dem Tod des Vandalenkönigs entstand. Vandalische Selbstzeugnisse liegen uns allerdings nicht vor, und Geiserich war sicherlich ein zielbewusster und dabei teils mit äußerster Brutalität agierender Machtmensch. Um seine Macht abzusichern, ließ er später die Familie Gunderichs ermorden. Ebenso war er ein fähiger Politiker und Militär, denn die folgenden Ereignisse beweisen auch einiges logistisches Können: 429 überquerten die Vandalen und Gruppen, die sich ihnen angeschlossen hatten, alles in allem etwa 80.000 Personen, die Straße von Gibraltar und setzten nach Nordafrika über. Ihr Ziel war die reiche Provinz Africa, die Kornkammer Westroms und eine der am stärksten urbanisierten Regionen des gesamten Imperiums. Dasselbe Ziel hatten, wie bereits berichtet, nach der Eroberung Roms auch die Westgoten gehabt und waren daran gescheitert. Ob Geiserich die logistisch sehr schwierige Operation gelang, weil er Unterstützung durch eine römische Bürgerkriegspartei erhielt, ist umstritten (siehe unten). Die Vandalen zogen von Ceuta aus fast 2000 km in Richtung Osten, wobei sie mehrere römische Städte einnahmen, Mitte 430 standen sie vor Hippo Regius. Der Bischof der Stadt, Augustinus, der berühmte Kirchenlehrer und Philosoph, verstarb noch während der Belagerung. Die Vandalen erreichten danach die Umgebung Karthagos, das zur damaligen Zeit eine der größten Städte des Imperiums und wichtiger Flottenstützpunkt war. Die Einnahme Karthagos gelang Geiserich allerdings noch nicht. Trotzdem stellt der Zug der Vandalen eine beachtliche Leistung dar, über die genauen Hintergründe kursieren in den Quellen aber unterschiedliche Versionen. So berichtet der im 6. Jahrhundert lebende Geschichtsschreiber Prokopios von Caesarea im Rahmen seiner Historien (oder Kriegsgeschichten) davon, dass die Vandalen vom römischen Befehlshaber in Africa, Bonifatius, als Foederaten eingeladen worden seien, da dieser sich im Streit mit Flavius Felix in Ravenna befunden habe. In der modernen Forschung wird diese Erklärung oft abgelehnt, da Bonifatius die Vandalen, sobald sie auf dem Vormarsch waren, mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfte und ähnliche Vorwürfe bereits Stilicho gemacht wurden. Außerdem hatte sich das Verhältnis zwischen Ravenna und Bonifatius 429 vielleicht beruhigt, und in den spärlichen zeitgenössischen Quellen ist keine Rede von einer Einladung der Vandalen. Andere Forscher hingegen halten es für grundsätzlich plausibel, dass ein Zusammenhang zwischen der logistisch sehr schwierigen Überfahrt Geiserichs und den innerrömischen Konflikten bestand. So oder so reichten die militärischen Mittel Westroms in Africa nicht mehr aus, um den Vandalen effektiv entgegentreten zu können. Da sich auch Karthago halten konnte, wurde 435 in Hippo Regius ein Vertrag zwischen Vandalen und Westrom geschlossen, dessen Details uns aber unbekannt sind. Den Vandalen wurde offenbar der bereits besetzte Teil Africas überlassen. 439 jedoch nutzte Geiserich die Gunst der Stunde und überfiel im Handstreich Karthago, womit er sich der dort stationierten Flotte bemächtigte und Rom vom Getreide aus Africa effektiv abschnitt. 442 erkannte die weströmische Regierung diesen faktischen Verlust in einem Vertrag an, wenngleich man de iure den Anspruch nicht aufgab. Die reichste Provinz Westroms war damit offiziell in der Hand von Germanen, die noch dazu eine ganz beträchtliche Seemacht aufbauten. In diesem Punkt stellen die Vandalen eine bedeutende Ausnahme im Rahmen der germanischen gentes dar, ebenso wie in der Behandlung der einheimischen Bevölkerung. Das Hunnenreich und das Ende des Imperiums im Westen Das Hunnenreich an der Donau und der Aufstieg des Aëtius Obwohl die Hunnen um 375 den Don überschritten und Alanen sowie die gotischen Greutungen besiegt hatten, ist die Quellenlage für die nächsten Jahrzehnte ausgesprochen dünn, wenngleich bekannt ist, dass sie wiederholt Raubzüge unternahmen. Allerdings scheinen die Hunnen lange Zeit nicht unter einheitlicher Führung operiert oder gar eine zielgerichtete Politik betrieben zu haben. Die hunnischen Gruppen unterstanden unterschiedlichen Häuptlingen. Freilich waren sie zu koordinierten Militäraktionen fähig, wie etwa der Einfall hunnischer Gruppen in das Sassanidenreich und die römischen Orientprovinzen im Sommer 395 beweist. Im Winter desselben Jahres verwüsteten größere hunnische Verbände die römischen Balkanprovinzen. Dennoch kann zu diesem Zeitpunkt noch nicht von einem Hunnenreich im eigentlichen Sinn gesprochen werden, denn eine geschlossene Organisationsform ist nicht zu erkennen. Der erste historisch und namentlich wirklich fassbare hunnische Anführer (denn die Historizität des Hunnenführers Balamir [Balamber] ist nicht gesichert) war Uldin; er herrschte um 400 über die meisten Hunnen im heutigen Rumänien. Zu dieser Zeit hatte der oströmische Heermeister Gainas in Konstantinopel gegenüber Kaiser Arcadius versucht, eine ähnliche Stellung wie Stilicho im Westen zu erreichen. Dies symbolisiert zum einen die starke Rolle der Heermeister (die im Osten im 5. Jahrhundert jedoch weitaus effektiver als im Westen unter Kontrolle gebracht werden konnten), zum anderen die Bedeutung der barbarischen foederati im Imperium. Kurz darauf kam es jedoch zu Ausschreitungen, loyale Truppen vertrieben Gainas, der über die Donau floh, wobei er laut der feindseligen Überlieferung alles Römische abwarf und angeblich sogar Menschenopfer anordnete. Er selbst wurde Ende des Jahres 400 von Uldin besiegt und getötet, sein Haupt wurde im Januar 401 nach Konstantinopel gebracht. Uldin, dessen Machtbereich im Westen wohl bis in das heutige Ungarn reichte, schloss 406 ein Bündnis mit Stilicho, um den Zug des Goten Radagaisus (siehe oben) aufzuhalten. Trotz der recht beachtlichen Größe von Uldins Machtbereich herrschte er zu keinem Zeitpunkt über alle Hunnen (ebenso wenig wie übrigens Attila, siehe unten). Bereits im Winter 404/405 griff Uldin oströmisches Gebiet an, 408 wiederholte er dies, wurde allerdings zurückgeschlagen und starb kurz darauf. Peter J. Heather nimmt an, dass der größte hunnische Verband sich um 405 nochmals nach Westen bewegt und damit den Rheinübergang von 405/06 ausgelöst habe; allerdings wird dies von anderen Forschern bezweifelt, die hierfür keine Belege in den Quellen finden. Jedenfalls scheint sich, nachdem die Hunnen teils auf entschiedenen Widerstand anderer barbarischer Gruppen stießen, langsam ein überregionales hunnisches Herrschaftszentrum im östlichen Karpatenraum entwickelt zu haben, wenngleich Einzelheiten darüber praktisch nicht bekannt sind. Dies war für das Römische Reich zunächst durchaus von Vorteil. Denn damit stabilisierten die Hunnen die römische Donaugrenze, indem es nun kaum noch zu unkontrollierten Plünderungen kam. Immer wieder werden in den Quellen zudem hunnische Krieger in römischen Diensten erwähnt. 425 griffen Tausende Hunnen in den Bürgerkrieg zwischen Valentinian III. und dem Usurpator Johannes ein. Angeblich traten die Römer 427 Pannonien an föderierte Hunnen ab, was aber sehr umstritten ist. Nach kaum fassbaren Herrschern wie Charaton herrschten um 430 die Brüder Oktar und Ru(g)a über die Hunnen entlang der Donau. Rua übernahm nach Oktars Tod 430 die Alleinherrschaft und scheint die hunnische Herrschaft deutlich straffer als zuvor organisiert zu haben. 433 schloss der zu den Hunnen geflohene weströmische General Flavius Aëtius ein Abkommen mit Rua und erhielt hunnische Truppen, mit deren Hilfe er sich in einem Bürgerkrieg gegen seinen Rivalen Sebastianus durchsetzte und damit als neuer Heermeister zum neuen starken Mann im Westen und der eigentlichen Macht hinter dem weströmischen Kaiserthron wurde. Auch in den folgenden Jahren nutzte Aëtius wiederholt hunnische Hilfstruppen: So vernichtete er mit ihrer Hilfe 436 das Burgundenreich am Mittelrhein, was den historischen Kern des Nibelungenlieds darstellt. Die zeitgenössischen Quellen verzeichnen, dass die Burgunden faktisch völlig ausgelöscht worden seien, was aber wohl übertrieben sein dürfte, denn Aëtius siedelte 443 die Reste ihres Kriegerverbandes in der Sapaudia an (deren Lokalisation unsicher ist; wohl das heutige Savoyen), ähnlich wie er Teile der in Gallien verbliebenen Alanen neu ansiedelte (etwa in Aremorica sowie im Raum von Orléans). Auch ansonsten versuchte der machtbewusste Aëtius Gallien für Westrom zu sichern. Gegen die am Rhein siedelnden Franken ging er ebenso vor wie gegen die aufständischen Bagauden, die in Gallien (unter Tibatto) und Hispanien (unter Basilius) agierten. In einem Gedicht wurde Aëtius vom Dichter Flavius Merobaudes verherrlicht, wobei er teils auf eher „barbarische Tugenden“ des Heermeisters anspielte, der sich damit als den Gegnern des Reiches ebenbürtig erwiesen habe. Rua starb 434. Er wurde vielleicht von seinen Neffen Bleda und Attila ermordet, die nun die Herrschaft über einen Großteil der europäischen Hunnen übernahmen. Die Herrschaft Attilas Obwohl der Person Attilas in der europäischen Geschichte ein wirkmächtiger (wenn auch negativ tradierter) Nachruhm vergönnt war und ist, liegen viele Details über ihn im Dunkeln. Speziell über die frühen Jahre Attilas ist kaum etwas bekannt. Nachdem er und sein Bruder Bleda die Herrschaft antraten (434), setzten sie den von ihrem Onkel Rua eingeschlagenen Kurs der Konsolidierung des „hunnischen Reiches“ fort. So forderten sie etwa vom oströmischen Kaiser die Auslieferung hunnischer Flüchtlinge und Tributzahlungen, auf die die Hunnen angewiesen waren. Mit Konstantinopel war im Vertrag von Margus (Datierung umstritten, aber wohl noch 434) eine Verständigung erreicht worden (welche zugunsten der Hunnen ausfiel), doch richteten sich 441 bzw. 442 Militäraktionen beider Brüder gegen das oströmische Reich, die unter anderem zur Einnahme der Städte Singidunum und Sirmium durch die Hunnen führten. Mit der Ermordung Bledas (444/45) gewann Attila die Führung über die Hunnen im Donauraum, wobei aber hervorzuheben ist, dass auch Attila zu keinem Zeitpunkt Herr aller Hunnen war. Um seine Herrschaft über das nur locker aufgebaute Hunnenreich zu stabilisieren und sich dringend benötigte finanzielle Mittel zu sichern, unternahm Attila in der Folgezeit immer wieder Feldzüge, die sich vor allem gegen Ostrom richteten. So stießen die Hunnen 447, nachdem der oströmische Kaiser Theodosius II. die Tribute verweigert hatte, tief in den Balkanraum und bis nach Griechenland vor. Zu den Völkern, die Attila Heerfolge leisten mussten, gehörten unter anderem die Gepiden sowie Goten, die unter hunnischer Herrschaft standen. Bald darauf sah sich der oströmische Kaiser gezwungen, Frieden mit Attila zu schließen, wobei den Hunnen gewaltige Zahlungen geleistet werden mussten. Auf diese römischen Zahlungen waren die Hunnen dringend angewiesen, da nur so die Führungsspitze der von den Hunnen unterworfenen Stämme an sie gebunden wurde. Blieben kriegerisch erzwungene Erfolge und Tribute aus, destabilisierte dies auch die Macht des jeweiligen Hunnenherrschers. Währenddessen konnte die weströmische Regierung durchaus zufrieden sein. Die Hegemonie der Hunnen über eine Vielzahl germanischer Stämme verringerte das Invasionsrisiko, jedenfalls solange Ravenna im guten Einvernehmen mit dem Hunnenherrscher stand. Dafür bürgte Flavius Aëtius, der mächtige weströmische Heermeister, der sich ausgezeichneter Kontakte zu Rua erfreut hatte und diese Politik auch gegenüber Attila fortsetzte. Der Preis hierfür war allerdings die Entmachtung des Kaisers Valentinian III., da sein Heermeister und patricius spätestens seit 435 der eigentliche Herr des Westreichs war und den Augustus an den Rand drängte. In Konstantinopel war man freilich nicht bereit, Attila auf Dauer zu finanzieren. 448/9 wurde eine oströmische Gesandtschaft zu Attila entsandt, welcher auch der aus Thrakien stammende Priskos angehörte. Dieser veröffentlichte später seine Aufzeichnungen, von denen uns nur Fragmente erhalten sind. Dennoch gewähren sie einzigartige Einblicke in das Leben am Hof Attilas, der in einem prunkvollen Holzpalast in der Theißebene residierte. Priskos berichtet auch von einem gescheiterten Versuch des oströmischen Hofes, Attila ermorden zu lassen. Nachdem sich der neue oströmische Kaiser Markian jedoch geweigert hatte, die unter Theodosius II. vereinbarten Zahlungen (die aber bereits Theodosius zeitweise ausgesetzt hatte) an den Hunnenkönig fortzusetzen, zog Attila in Richtung Westen. Im Weströmischen Reich war derweil die Schwester Kaiser Valentinians III., Justa Grata Honoria, aufgrund von Machtkämpfen am Hof sowie (vorgeblich) des Bruches eines Keuschheitsgelübdes bestraft und gegen ihren Willen verheiratet worden. Nun bat Honoria Attila über einen Mittelsmann um Hilfe gegen den übermächtigen Aëtius und ließ ihm überdies laut Jordanes, der ein Jahrhundert nach den Ereignissen lebte, auch ein Heiratsangebot zukommen. Auch der Zeitgenosse Priskos berichtet von einem Hilferuf Honorias an Attila, nicht aber von einem Heiratsangebot: Die moderne Forschung tendiert teilweise dazu, dieser Notiz wenig Glauben zu schenken. Allerdings ist es durchaus möglich, dass Attila in Kontakt mit oppositionellen Kreisen am weströmischen Kaiserhof stand, wenngleich der Wahrheitsgehalt nicht abschließend zu klären ist. Immerhin hatten die Hunnen bereits 425 und 433 militärisch in innerrömische Konflikte eingegriffen. Attila, der stets darum bemüht war, auf Augenhöhe mit West- und Ostrom zu verkehren, forderte Honoria nun angeblich zur Frau und mit ihr vielleicht auch einen Anteil am Imperium, um so seine Ranggleichheit, vielleicht sogar seine Oberhoheit zu demonstrieren. Fest steht, dass sich der Angriff Attilas weniger gegen das Römische Reich als vielmehr gegen Aëtius richtete, der dann auch den Widerstand organisierte. Im Frühjahr 451 fiel Attila mit einem starken Heer, das neben Hunnen unzählige Krieger aus unterworfenen oder den Hunnen tributpflichtigen Völkern umfasste, in Gallien ein. Allerdings hatten Attilas diplomatische Bemühungen, die Vandalen zum Kriegseintritt zu bewegen, keinen Erfolg, sondern führten lediglich dazu, dass sich die schwankenden Westgoten, Todfeinde der Vandalen, dem Aëtius anschlossen. Die Hunnen zogen bis nach Orléans, das Attila belagern ließ. Gleichzeitig zog ihm Aëtius mit den Resten des regulären weströmischen Heeres und mehreren verbündeten gentes entgegen, darunter neben den Westgoten vor allem Franken, Sarmaten und Alanen. Die bis heute nicht genau lokalisierte Schlacht auf den Katalaunischen Feldern bei Troyes im Juni 451 endete unentschieden, Attila musste sich aber zurückziehen. Aëtius hatte während der Schlacht womöglich sogar bewusst die Westgoten, die den rechten Flügel der Römer hielten und deren rex Theoderich I. im Kampf fiel, bluten lassen, um so einen potentiellen künftigen Gegner zu schwächen. Jedenfalls soll der General laut Jordanes befürchtet haben, dass die Goten die Römerherrschaft beseitigen würden, sollten die Hunnen erst einmal ausgeschaltet sein. Es ist aber auch möglich, dass Theoderichs Nachfolger Thorismund ein persönlicher Feind des Heermeisters war und deshalb abzog. Zwar hat schon der bedeutende Althistoriker John Bagnell Bury der Schlacht ihre oft zugeschriebene welthistorische Bedeutung abgesprochen. Dennoch: Aëtius und seine Verbündeten konnten die Hunnen zwar nicht vernichtend schlagen, wohl aber konnte man sie zum Abzug zwingen. Allerdings scheint auch der Blutzoll des weströmischen Heeres immens gewesen zu sein, und Attila war weiterhin stark genug, um im Folgejahr in Italien einzufallen. Dort gelangen ihm zwar einige Erfolge, so wurde etwa Aquileia erobert, entscheidend waren aber auch diese nicht. Geschwächt durch Hunger und Seuchen im Heer zog sich Attila wieder zurück. In diesem Zusammenhang wird gelegentlich das Bild vermittelt, Papst Leo der Große habe den Hunnenkönig durch sein Einwirken zum Rückzug bewogen. Entscheidend waren jedoch oströmische Hilfstruppen und Veränderungen im Osten. Dort hatte Kaiser Markian Angriffe auf hunnisches Territorium befohlen, als Gegenleistung für die endlich erfolgte Anerkennung seines Kaisertums durch Aëtius und Valentinian III. Die koordinierte Offensive, wenn sie vielleicht auch nicht abgesprochen war, verfehlte nicht ihre Wirkung und trug maßgeblich zur hunnischen Niederlage in Italien bei. Attila bereitete daraufhin angeblich einen Feldzug gegen das Ostreich vor, doch starb er 453 während seiner Hochzeit mit der Fürstentochter Ildico. Laut Johannes Malalas hatte ihn Aëtius vergiften lassen, der auch als Drahtzieher hinter der fast zeitgleichen Ermordung des Westgoten Thorismund vermutet wurde. Die römischen Zahlungen an Attila hatten dafür gesorgt, dass die Römer über einen Ansprechpartner verfügten, der zahlreiche potentiell feindliche Gruppen aus dem Barbaricum weitgehend kontrollierte. Der plötzliche Tod Attilas wirkte so wie ein Fanal. Die meisten unterworfenen Völker warfen das hunnische Joch ab, der Versuch der Söhne Attilas, das Reich ihres Vaters zu bewahren, endete mit ihrer Niederlage in der Schlacht am Nedao 454, wo die Ostgoten noch auf hunnischer Seite kämpften. Bald darauf wandten sie sich aber gegen die Hunnen, deren Reich noch rascher unterging als es errichtet worden war. Das Haupt des Attilasohnes Dengizich wurde 469 sogar in Konstantinopel zur Schau gestellt. Die Reste der Hunnen zerstreuten sich, einige dienten aber noch im 6. Jahrhundert im oströmischen Militär. Die zuvor von den Hunnen beherrschten Gruppen agierten nun wieder auf eigene Rechnung und teils durchaus auch gegen das Imperium. Aëtius hatte seine Machtstellung scheinbar gesichert und forderte nun die Verlobung seines Sohnes mit einer Kaisertochter, jedoch konnte er sich seines Sieges über die Hunnen nur kurze Zeit erfreuen: Im September 454 wurde er von Valentinian III. eigenhändig ermordet. Kurz darauf, im März 455, fiel auch der Kaiser einem Attentat zum Opfer. Eine Stabilisierung der inneren Verhältnisse im Weströmischen Reich sollte danach nicht mehr gelingen. Die letzten Jahre Westroms: Schattenkaiser und das Regime Ricimers Der Tod des Aëtius war für Westrom verhängnisvoll. Wenngleich auch er nicht in der Lage gewesen war, den Willen Ravennas im Westreich flächendeckend durchzusetzen, so hatte er wenigstens Italien und weite Teile Galliens dem Imperium gesichert und erfolgreich Krieg geführt. Der überaus ehrgeizige Aëtius war sicherlich wie viele einflussreiche Militärs ein Teil des Problems, denn die kaiserliche Autorität schwand immer mehr, und seine Machtstellung entbehrte der Legitimität. Doch sollte mit seinem Tod und dem Valentinians für mehrere Föderaten das Zeichen gekommen sein, ihren Machtbereich auf Kosten Westroms auszudehnen. Der staatliche Erosionsprozess im Westreich beschleunigte sich zusehends. In den letzten beiden Jahrzehnten seiner Existenz sollte Westrom von „Schattenkaisern“ regiert werden, die teils nur wenige Monate im Amt waren und das Westreich nicht mehr stabilisieren konnten. Im Kampf gegen Attila waren offenbar die meisten regulären weströmischen Truppen untergegangen, so dass die Regierung in Ravenna immer mehr in Abhängigkeit von foederati geriet. Erschwerend kam hinzu, dass Barbaren nun nicht nur den Kern der römischen Armee bildeten, sondern auch immer häufiger in die Spitzenpositionen der Armee vorrückten. Letzteres sagt jedoch wenig über ihre Loyalität aus, denn auch Männer nichtrömischer Herkunft konnten dem Kaiser durchaus treue Dienste leisten, wie zahlreiche Beispiele zeigen (etwa Flavius Victor, Bauto, Stilicho, Fravitta), und zudem strebten fast alle danach, sich römischer Lebensweise anzugleichen. Es gilt also, zwischen jenen Barbaren, die sich als Soldaten in den Dienst Roms stellten, und jenen, die plündernd die Grenzen überschritten, zu unterscheiden. Viel verheerender war, dass analog zum Niedergang kaiserlicher Macht im Westen die Macht der hohen Militärs fast zwangsläufig zunahm und das Ansehen des Kaisertums verfiel. Tatsächlich verfügten sowohl „Barbaren“ wie Stilicho als auch „Römer“ wie Constantius, Bonifatius, Aëtius und Belisar, über Privattruppen (bucellarii). Auch wenn kein germanischer Heermeister jemals selbst nach dem kaiserlichen Purpur griff (dies war den Germanen aufgrund ihres arianischen Bekenntnisses nicht möglich), so übten sie im Westen seit dem späten 4. Jahrhundert teilweise enormen Einfluss aus. Generell war die starke Machtstellung der Heermeister im Westreich problematisch. Demgegenüber gelang es dem zivilen Apparat im Osten wesentlich besser, die Heermeister zu kontrollieren. Kaiser Leon I. beendete dort den letzten ernsthaften Versuch eines barbarischen Heermeisters, in diesem Fall des Alanen Aspar, auf die kaiserliche Politik einzuwirken. Dem Kaiser in Konstantinopel kam zugute, dass während des 5. Jahrhunderts die Beziehungen zum neupersischen Sassanidenreich, dem großen Rivalen Roms im Osten, so friedlich waren wie nie zuvor. Auch wenn es nach dem Tod Attilas auf dem Balkan zu Kämpfen kam, etwa mit den sich nun formierenden Ostgoten, die bald Teile Pannoniens kontrollierten, tangierte dies kaum die Stabilität des Ostreichs, dessen reichste Provinzen unbehelligt blieben. Anders als Westrom konnte sich der Osten daher die Finanzierung der notwendigen Heere weiterhin leisten und sogar wiederholt, wenngleich vergebens, den Kaiser in Ravenna mit Geld und Truppen unterstützen. Währenddessen kam der Westen jedoch nicht mehr zur Ruhe. 455 wurde Rom zum zweiten Mal innerhalb von 45 Jahren erobert und geplündert, diesmal von den Vandalen. Deren rex Geiserich betrachtete offenbar seinen 442 mit Valentinian III. geschlossenen Vertrag mit dem Tod des Kaisers als erloschen; die bereits beschlossene Verlobung seines Sohnes Hunerich mit der Tochter Valentinians, Eudocia, war somit ebenfalls hinfällig, womit sich die Beziehungen zwischen Karthago und Westrom erheblich verschlechterten. In Rom regierte im Mai 455, als die vandalische Flotte, die Jahre zuvor schon Sizilien bedroht hatte, vor der Mündung des Tibers auftauchte, Petronius Maximus, der die Witwe Valentinians, Licinia Eudoxia, gegen ihren Willen geheiratet hatte. Diese soll Geiserich zur Hilfe gerufen haben. Petronius Maximus verfügte kaum über reale Macht und wurde am 31. Mai entweder von burgundischen Soldaten oder von der aufgebrachten Bevölkerung getötet. Drei Tage später drangen die Vandalen in die Stadt ein und plünderten sie systematisch, aber kaum in einer wilden Zerstörungswut, wie ihn der Begriff Vandalismus heute suggeriert, wenn auch die Eroberung von 455 ihre Wirkung auf die Zeitgenossen nicht verfehlte. Die Vandalen zogen nicht nur mit reicher Beute ab, sondern überführten zudem die Witwe Valentinians sowie zwei seiner Töchter und zahlreiche hochgestellte Persönlichkeiten nach Karthago. Auch die Insignien des Kaisertums, die ornamenta palatii, raubte Geiserich. Bald darauf beanspruchte er Sizilien für sich, wurde doch eine Tochter Valentinians, Eudocia, nun mit Geiserichs Sohn Hunerich verheiratet, und forderte zudem, dass Eudocias Schwager Olybrius neuer Westkaiser werden solle. Nun begann die Zeit der raschen Kaiserwechsel, an der mehrmals entweder germanische warlords oder Heermeister beteiligt waren. Den Anfang machte der aus vornehmer gallischer Familie stammende Heermeister Eparchius Avitus, ein Anhänger des Petronius Maximus, der nun mit westgotischer Unterstützung zum Kaiser erhoben wurde. Gegen die Sueben, die in Hispanien auf die Ausdehnung ihres Reiches spekulierten, gingen die Westgoten erfolgreich vor. Gegen die Vandalen auf Sizilien und Korsika behauptete sich 456 der General Flavius Ricimer, Sohn eines Suebenfürsten und einer gotischen Prinzessin. Von Avitus wurde Ricimer in den Rang eines Heermeisters erhoben. Als sich jedoch die Stimmung in Italien zu Ungunsten des Avitus verschob und der Kaiser in Konstantinopel ihm die Anerkennung verweigerte, wandte sich Ricimer gegen seinen Gönner und besiegte ihn im Oktober 456 bei Placentia. Avitus trat zurück und starb kurz darauf unter unklaren Umständen. Ricimer, nunmehr vom oströmischen Kaiser zum Patricius ernannt, ließ daraufhin den comes domesticorum Majorian zum Kaiser ausrufen. Dieser wurde auch vom Osten anerkannt und ging in Gallien tatkräftig gegen die Goten vor, die die Gunst der Stunde nutzten und von den Wirren im Westreich profitieren wollten. Der von Majorian eingesetzte Heermeister Aegidius operierte überdies sehr erfolgreich gegen die Franken am Rhein und eroberte das von den Burgunden besetzte Lyon zurück. Arles, Sitz der Zivilverwaltung Galliens und Hispaniens, konnte gegen die Westgoten gehalten werden, die sich kaum mehr an ihr Föderatenabkommen gebunden sahen und auch nach Hispanien expandierten. Doch gelang es Majorian schließlich, sich mit den Burgunden und Westgoten zu verständigen. 460 begab sich der Kaiser persönlich mit einem Heer nach Hispanien; es war das letzte Mal, dass ein Kaiser die Iberische Halbinsel betrat. Majorian erscheint in den Quellen, etwa bei Sidonius Apollinaris, als ein energisch und zielbewusst agierender Kaiser, der als letzter weströmischer Kaiser (mit Ausnahme von Anthemius) wirklich noch einmal die Initiative zurückgewinnen wollte. So plante er für das Jahr 461 eine Invasion Africas, da die Vandalen weiterhin die Getreidelieferungen nach Italien blockierten. Als jedoch 460 vandalische Schiffe in Hispanien die römische Invasionsflotte zerstörten (Schlacht bei Cartagena), musste der Kaiser den Plan aufgeben. Kurz darauf wurde Majorian auf Befehl Ricimers festgesetzt und ermordet, vielleicht nicht primär aufgrund der misslungenen Operation, die wohl nur einen Vorwand für den Putsch bot, sondern womöglich auch aufgrund des eigenständigen Handelns des Kaisers. Ricimer betätigte sich wieder als Kaisermacher und erhob den Senator Libius Severus zum neuen Augustus. Die Ermordung Majorians hatte jedoch zur Folge, dass Aegidius, der gallische Heermeister und Freund des Ermordeten, dem neuen Kaiser die Anerkennung verweigerte. Als Ricimer ihn 461 absetzen wollte, rebellierte Aegidius, wurde aber durch eine Offensive der Westgoten gezwungen, nach Nordgallien auszuweichen, wo er sich mit Teilen des Feldheeres und fränkischen Verbündeten halten und einen eigenen Machtbereich im Raum von Soissons errichten konnte. Im Kern handelte Aegidius nun als ein Warlord, der von den zeitgenössischen Umständen profitierte und aus dem zerfallenen weströmischen Reich einen Teil nun für sich beanspruchte. Die kleine gallorömische Enklave hielt sich sogar über das Ende des Westreichs hinaus: Nach dem Tod des Aegidius (464 oder 465), übernahm vielleicht zunächst ein nicht näher bekannter Offizier namens Paulus das Kommando (der eventuell aber auch auf eigene Rechnung operierte), danach der Sohn des Aegidius, Syagrius. 486/87 fiel die Enklave der fränkischen Expansion unter Chlodwig I. zum Opfer. In Trier wiederum konnte sich der comes Arbogast der Jüngere, offenbar ein romanisierter Franke, bis nach 475 gegen die Franken behaupten; die Stadt fiel wohl erst in den 480er Jahren an die rheinischen Franken. Auch Libius Severus hielt sich nicht lange auf dem Thron: Er wurde 465 ermordet. Während der folgenden anderthalb Jahre machte sich Ricimer nicht mehr die Mühe, einen Kaiser zu bestellen, sondern verhandelte mit dem Osten. Aus Konstantinopel traf dann 467 der General und Aristokrat Anthemius ein, der das Kaiseramt übernahm. Anthemius war vom Ostkaiser mit Truppen und sehr viel Geld ausgestattet worden; er verbündete sich mit Ricimer und ernannte mit Marcellinus einen zweiten Heermeister. Das Ziel war es, endlich Geiserich zu beseitigen, dessen Position in Karthago eine Stabilisierung Westroms unmöglich machte. Während in Gallien und Noricum (siehe auch Limes Noricus) die römische Verteidigung gegenüber den Germanen immer mehr bröckelte und schließlich faktisch kollabierte, wandte sich Anthemius also den Vandalen zu und plante 468 in Kooperation mit Ostrom eine großangelegte Invasion Africas, um diese wichtige Provinz wiederzugewinnen. Doch dieser Plan schlug fehl, die große römische Flotte wurde von den Vandalen vor Karthago in Brand gesteckt. Was dem Vandalenreich das Überleben sicherte, erschütterte die Machtbasis des weströmischen Kaisers nachhaltig und entscheidend. In Gallien breiteten sich Westgoten, Burgunden und Franken auf Kosten Westroms nun immer weiter aus, nur die Auvergne und die Provence waren noch zu halten. Vor allem der Westgote Eurich (II.) brach nun den Vertrag (foedus) mit Westrom und stieß nach Südgallien und Hispanien vor. Ein ansonsten nicht bekannter bretonischer (oder britischer?) Anführer namens Riothamus soll die Römer in ihrem Abwehrkampf unterstützt haben, wurde aber von den Westgoten geschlagen. Als sich Anthemius mit Ricimer überwarf, war das Ende abzusehen; es kam zum Bürgerkrieg: Ricimer belagerte den Kaiser in Rom, im Juli 472 wurde Anthemius von einem Neffen Ricimers, dem Burgunden Gundobad, ermordet. Seine Nachfolge trat Olybrius, der Kandidat Geiserichs, an. Offenbar setzte Ricimer nun auf ein Bündnis mit den Vandalen, doch bald darauf verstarb auch er. Er wird in der Forschung traditionell sehr negativ und weitaus weniger differenziert bewertet als beispielsweise Stilicho und Aëtius. Sicherlich hatte er vor allem die eigenen Interessen im Blick, gleichzeitig war er aber bemüht, die wenigen verbliebenen Ressourcen Westroms zu bündeln und zur Verteidigung Italiens zu nutzen. Am Ende reichte dies jedoch nicht aus, nur vier Jahre später wurde der letzte Kaiser in Italien abgesetzt. Der „Untergang Westroms“ Olybrius, der von Geiserich geförderte Kandidat und letzte Kaiser von Ricimers Gnaden, starb Anfang November 472, nur wenige Monate nach dem Tod des Heermeisters und patricius. Das Heermeisteramt blieb nicht lange unbesetzt. Ricimer folgte sein oben erwähnter Neffe Gundobad als patricius et magister militum nach, der im März 473 den Beamten Glycerius zum Kaiser erheben ließ. Allerdings verweigerte ihm der oströmische Kaiser Leon I. die Anerkennung und favorisierte stattdessen den Heermeister von Dalmatien, Julius Nepos. Dieser war ein Neffe des Marcellinus, jenes Generals, den Majorian einst als Gegengewicht zu Ricimer benutzt hatte. Nepos landete im Juni 474 im Hafen Portus und zog kurz darauf in Rom ein. Glycerius, der zuvor immerhin einen westgotischen Angriff auf Italien abwehren konnte, sah die Hoffnungslosigkeit der Lage ein und trat zurück, um sein Leben als Bischof von Salona zu beschließen, Gundobad ging nach Gallien und bestieg den burgundischen Königsthron. 474 schloss das neue oströmische Herrscherkollegium Leon II. und Zenon ein foedus mit Geiserich, womit die vandalischen Angriffe auf Italien vorerst aufhörten und seine Position auch von Ostrom anerkannt wurde; allerdings wird der Vertrag auch teils in das Jahr 476 datiert. Julius Nepos sah sich derweil mit einer schwierigen Situation konfrontiert. Das Imperium hatte Hispanien inzwischen vollkommen an die Sueben und Westgoten verloren. In Gallien hatten Letztere Clermont-Ferrand belagert, wo der bereits erwähnte Sidonius Apollinaris die Verteidigung mit organisierte, und 471 die letzte größere weströmische Heeresabteilung unter Führung des Anthemiolus vernichtet. 473 fielen Arles und Marseille, die Goten stießen aber sowohl in der Auvergne als auch im spanischen Ebrotal auf erbitterten Widerstand. Den bereits faktischen Verlust der Auvergne erkannte der Kaiser 475 in einem Vertrag mit dem Westgotenkönig Eurich auch de iure an und zog den Heermeister Ecdicius aus Gallien ab. Die Abtretung zerstörte allerdings das gerade erst aufkeimende Vertrauensverhältnis zwischen dem Kaiser und der gallorömischen Aristokratie. Kurz darauf erhob sich der Heermeister Flavius Orestes, ein ehemaliger Hofbeamter Attilas, gegen Nepos, verjagte ihn aus Ravenna und setzte dafür seinen eigenen kleinen Sohn Romulus auf den weströmischen Thron. Die Römer gaben dem kleinen Kaiser den Spottnamen „Augustulus“ (kleiner Augustus). Es wurde immer offensichtlicher, dass das westliche Kaisertum nur noch einen Schatten früherer Macht darstellte und die Regierung in Ravenna allenfalls Italien selbst unter Kontrolle hatte. 476 erhob sich das italische Heer, das nun fast vollkommen barbarisiert war und Siedlungsland in Italien beanspruchte, unter Führung des Odoaker, Sohn des Skirenfürsten Edekon, gegen Orestes. Dieser wurde im August 476 geschlagen und getötet; Anfang September nahm Odoaker Ravenna ein. Der Sieger verhielt sich gegenüber Romulus aber großzügig: Er erlaubte ihm am 4. September 476 abzudanken und gewährte ihm eine Geldzahlung; womöglich ist dieser Romulus mit einer Person gleichen Namens identisch, die noch unter der Gotenherrschaft lebte. Odoaker, der auch den Königstitel annahm, machte sich nicht mehr die Mühe, einen neuen Westkaiser zu erheben, sondern sandte die kaiserlichen Insignien nach Konstantinopel, womit das westliche Kaisertum abgeschafft war. Der weströmische Hof und der Senat blieben hingegen bestehen. Odoaker bat (erfolglos) darum, vom dortigen Augustus zum patricius erhoben zu werden und regierte in der Tradition von Männern wie Ricimer. Er ließ weiter nach Konsularjahren datieren und prägte bis 480 Münzen mit dem Bildnis des Julius Nepos, danach mit dem Zenons. Trotzdem erreichte er nie die dauerhafte Anerkennung des oströmischen Kaisers. Dieser mobilisierte vielmehr die Rugier (die bereits unter ihrem König Flaccitheus um 470 ein eigenes Reich nördlich der Donau gegründet hatten) gegen den Usurpator, doch Odoaker vernichtete deren Reich im Jahr 487/88. Er vernachlässigte auch nicht die Sicherung Italiens, sein Feldherr Pierius sorgte für die Umsiedlung der römischen Bevölkerung des bedrohten Noricum nach Italien. Das Jahr 476 gilt im kulturellen Gedächtnis oft als das „Ende Roms“. Diese Ansicht kann jedoch nur sehr bedingt Gültigkeit beanspruchen. Zum einen regierte der letzte anerkannte weströmische Kaiser, Julius Nepos, noch bis 480 im dalmatischen Exil. Zum anderen ist es fraglich, ob den Zeitgenossen die Bedeutung dieses „Epochendatums“ wirklich bewusst war. Denn die Idee des Gesamtreiches existierte weiter, nur war nun der Kaiser in Konstantinopel der einzig legitime Kaiser. In den folgenden zwei Jahrhunderten sollte es zudem nicht an Versuchen fehlen, das weströmische Kaisertum zu erneuern, und überdies blieb ja der westliche Hof mit seinen Ämtern ebenso wie die weströmische Regierung Italiens bestehen, nun eben ohne einen eigenen Augustus. Der ideelle Vorrang des oströmischen Kaisers wurde auch weiterhin jahrzehntelang von den germanischen Herrschern anerkannt und respektiert. Zwar scheint die Absetzung 476 nicht vollkommen spurlos an den Zeitgenossen vorbeigegangen zu sein, denn der Priester Johannes Rufus gibt eine Aussage des 477 verstorbenen Patriarchen Timotheos II. von Alexandria wieder, wonach Timotheos die Absetzung des Westkaisers als Strafe für das (aus Sicht des alexandrinischen Patriarchen) falsche christliche Bekenntnis des Papstes betrachtete; in einem Schreiben von Papst Felix an den Ostkaiser Zenon im Jahr 483 beklagt wiederum der Bischof von Rom, dass nur noch Zenon das kaiserliche Ornat trägt. Als Epochendatum genügt dies aber kaum. Erst Marcellinus Comes, ein oströmischer Chronist, stellte um 520 das Jahr 476 als Enddatum des weströmischen Reiches dar. Diese Vorstellung übernahm er vielleicht aus einer anderen Quelle, sie spiegelt aber vor allem den östlichen Standpunkt um diese Zeit wider, jedoch kaum den der westlichen Senatsaristokratie, die auch das Ende des westlichen Kaisertums überstand: Zumindest in Italien und Südgallien waren die alten Eliten nach Ausweis der Quellen um 500 der Ansicht, nach wie vor in einem Römischen Reich zu leben. Offenbar propagierten die Ostkaiser erst um 520 die Vorstellung vom Untergang des Westreichs und betonten vor allem das Fehlen eines Westkaisers, um ihren eigenen Anspruch auf diese Gebiete begründen zu können. In der Forschung ist dieser Themenkomplex nach wie vor umstritten. Die traditionelle und bis heute populäre Vorstellung, die in das Imperium eingedrungenen Germanen seien für den Untergang des Römischen Reiches verantwortlich, ist in jedem Fall äußerst vereinfachend und wird heute von der Mehrheit der Experten abgelehnt. Vielmehr spielten mehrere Problemkomplexe eine Rolle. Umgekehrt spricht der Umstand, dass Ostrom das 5. Jahrhundert überstand, gegen die Annahme, das spätrömische System sei an grundsätzlichen strukturellen Problemen gescheitert, vielmehr müssen die Ursachen konkret in Westrom gesucht werden. Die in der älteren Forschung häufig anzutreffende These, mit der Absetzung des Romulus Augustulus das Ende der Antike anzusetzen, gilt heute jedenfalls zumeist als nicht mehr haltbar. Sicher ist, dass der Zerfallsprozess des westlichen Imperiums, der spätestens mit dem Ende der theodosianischen Dynastie 455 einsetzte, seit dem Scheitern der Großoffensive gegen Geiserich 468 rapide an Tempo gewann. Die unterfinanzierte weströmische Armee, die durch die bereits im 4. Jahrhundert einsetzenden Bürgerkriege geschwächt war, war im 5. Jahrhundert nicht mehr in der Lage, die Verteidigung der Grenzen effektiv zu gewährleisten (wobei das Problem weniger in mangelnder Loyalität der Truppen als vielmehr in leeren Kassen und daher ausbleibenden Soldzahlungen bestand). Das gallische Feldheer etwa löste sich mit der Rebellion des Aegidius faktisch auf. Es gelang jahrzehntelang nicht, die eskalierenden Machtkämpfe und Bürgerkriege im Westreich unter Kontrolle zu bekommen, wodurch die Verteidigung der Grenzen vernachlässigt wurde, während der Spielraum für die foederati im Reich wuchs. Westrom wurde nicht von „Barbaren“ überrannt und vernichtet. Es fiel vielmehr einem politischen Desintegrationsprozess zum Opfer, der mehrere Gründe hatte. Spätestens seit dem frühen 5. Jahrhundert nahm der politische Einfluss der hohen Militärs im Westreich derart zu, dass die Heermeister nun die wahre Macht ausübten. Neben dem Militär entglitten aber auch zusehends wichtige Provinzen (vor allem Africa, bald darauf aber auch große Teile Hispaniens und Galliens) der kaiserlichen Kontrolle. Andere Militärführer oder auch Anführer diverser gentes agierten währenddessen als Warlords auf eigene Rechnung und profitierten so von der politischen Erosion im Westreich. Der Verlust der reichen Provinzen Africa und Gallien hatte enorme steuerliche Einbußen für die weströmische Zentralregierung zur Folge. Vor allem der Verlust der für die Versorgung Roms lebenswichtigen Provinzen in Nordafrika konnte nicht mehr kompensiert werden; Ravenna ging daher das Geld für den Unterhalt der Truppen aus, was weitere Gebietsverluste zur Folge hatte. Der Einflussbereich der weströmischen Regierung schmolz immer mehr dahin, bis nur noch das Kernland Italien (nebst dem Alpenraum) übrig blieb. Mit dem Verfall der kaiserlichen Macht stieg der Einfluss der weströmischen Heermeister; diesen mangelte es aber an Legitimität und Integrationskraft, so dass die Kette der Bürgerkriege nicht abriss. Am Ende waren die Ressourcen Westroms erschöpft, das Kaisertum selbst war vollends zu einem Spielball ehrgeiziger Generäle geworden, die sich auf ein eigenes Gefolge stützen konnten. Nachdem die Heermeister zunächst durch Schattenkaiser regiert hatten, zog Odoaker die im Grunde nur folgerichtige Konsequenz, ohne eigenen Kaiser zu regieren, da das westliche Kaisertum inzwischen eher destabilisierend wirkte. Als der oströmische Augustus Zenon schließlich im Jahr 488 ostgotische foederati unter dem Amaler Theoderich nach Italien sandte, um Odoaker zu entmachten, stützte sich der Gote Theoderich auf seine eigenen Krieger und bezog seine Autorität gleichermaßen aus seinem Amt als oströmischer patricius und magister militum wie aus seiner Position als gotischer rex. Vom Imperium zu Regna: Die germanischen Reichsbildungen im Westen Die Ostgoten in Pannonien und Italien Wie bereits erwähnt, waren die greutungischen Goten („Ostgoten“) von dem Hunneneinbruch um 375 mit am härtesten getroffen worden. Wenn sich auch einige Gruppen dem hunnischen Zugriff entziehen konnten, so geriet die Masse der Greutungen unter hunnische Herrschaft. Gotisch scheint sogar eine der Verkehrssprachen im Hunnenreich Attilas gewesen zu sein und mehrere gotische Namen (wenn wohl auch nicht originär benutzt) sind für Hunnen bezeugt. Als Anführer der unter hunnischer Herrschaft lebenden greutungischen Krieger erscheinen am Ende von Attilas Herrschaft drei Brüder: Valamir, Thiudimir und Vidimir aus dem Geschlecht der Amaler. Hatten die sich nun formierenden Ostgoten – die Bezeichnung geht auf Jordanes bzw. Cassiodor zurück, wobei der in den Quellen auftauchende Name Ostrogothae später als geografische Bezeichnung umgedeutet wurde, ähnlich wie im Fall der Terwingen (Vesegothae = Westgoten) – zunächst in der Schlacht am Nedao 454 noch auf Seiten der Attilasöhne gekämpft, so wandten sie sich bald gegen ihre alten Herren und errichteten schließlich in Pannonien einen eigenen Herrschaftsraum. Dabei kam es sowohl zu Kämpfen mit oströmischen Truppen wie mit anderen Barbarenstämmen. Der vorläufige Höhepunkt war mit dem Sieg der Ostgoten in der Schlacht an der Bolia 469 erreicht, in der eine Koalition aus Sueben, Gepiden, Skiren und wohl auch Rugiern geschlagen wurde. Der Sohn Thiudimirs, Theoderich (der später „der Große“ genannt und als Dietrich von Bern zur Sagengestalt wurde) hatte einige Zeit als Geisel in Konstantinopel verbracht. Wieder nach Pannonien zurückgekehrt, wurde er von seinem Vater als Teilherrscher eingesetzt. Versuche, eine gehobene Position im Ostreich zu erlangen, scheiterten, nicht zuletzt weil ein anderer Ostgote, Theoderich Strabo, der Anführer der in Thrakien siedelnden gotischen Föderaten, von Kaiser Leon zum Heermeister ernannt worden war. Wenngleich Leons Nachfolger Zenon den Amaler Theoderich als Gegengewicht aufbauen wollte, konnte sich Theoderich Strabo behaupten. Der Geschichtsschreiber Malchus von Philadelphia schildert in seinem (nur fragmentarisch erhaltenen) Geschichtswerk die Ereignisse recht ausführlich. 481 kam Theoderich Strabo jedoch bei einem Reitunfall ums Leben. Erst jetzt war der Weg für den Amaler Theoderich frei, der seine Gefolgschaft durch die Aufnahme von Kriegern aus den Reihen des Verstorbenen beträchtlich verstärken konnte. Er wurde nicht nur zum Heermeister ernannt, sondern durfte 484 sogar das prestigeträchtige Konsulat bekleiden. 487 kam es dennoch zur Konfrontation, die Zenon geschickt löste: Er beauftragte den Amaler, die Herrschaft Odoakers in Italien zu beenden; Theoderich wurde von ihm zum patricius ernannt und sollte demnach Odoaker als faktischen Regierungschef in Ravenna ablösen. Noch im Herbst 488 brachen die Ostgoten Theoderichs auf, wobei Teile jedoch zurückblieben und sich auch Rugier und andere wiederum dem Treck anschlossen. Im Spätsommer 489 erfolgte der Einbruch in Italien. Odoaker wurde mehrmals besiegt, zog sich aber in das schwer befestigte Ravenna zurück. 493 ergab sich Odoaker, nachdem ein Kompromiss ausgehandelt wurde, wonach er an der gotischen Herrschaft beteiligt werden sollte. Kurz darauf brach Theoderich jedoch sein Versprechen und tötete ihn unter einem fadenscheinigen Vorwand. Theoderich führte eine kurze, aber blutige Säuberung durch, die die gotische Herrschaft über Italien vorläufig sichern sollte. Theoderichs Rechtsstellung – herrschte er formal als patricius et magister militum in der Tradition eines Ricimer, oder hat man ihn eher als König eigenen Rechts zu betrachten? – ist seit langem in der Forschung umstritten. In Italien betrieb er jedenfalls eine recht geschickte Ausgleichspolitik zwischen gotischen foederati und Italikern. Dabei nutzte er den hocheffizienten spätrömischen Verwaltungsapparat und überließ es dem vornehmen Römer Liberius, die Ansiedlung der Goten in Italien vorzunehmen. Diese schwierige Aufgabe erfüllte Liberius mit viel Fingerspitzengefühl, ohne dabei die bestehenden Besitzverhältnisse allzu stark zu belasten. Überhaupt zog Theoderich zahlreiche Mitglieder der alten senatorischen Führungsschicht heran, so etwa den bereits erwähnten Cassiodor, nicht zuletzt, um sie so für sich zu gewinnen. Andererseits achtete Theoderich auf eine Trennung zwischen Goten und Römern, um so die Identität des exercitus Gothorum (des gotischen Heeresverbands, der selbst freilich nicht homogen war) so weit wie möglich zu wahren. Belastet wurde das Verhältnis durch die Tatsache, dass die Goten arianische, die Bevölkerung Italiens jedoch katholische Christen waren. Theoderich förderte die spätantike Kultur im Ostgotenreich, wenngleich in seiner Regierungszeit auch der Philosoph Boethius hingerichtet wurde. Angesichts des Fortbestandes der meisten römischen Hof- und Verwaltungsämter (wie der referendarius) und des Senates argumentieren einige Forscher, Theoderich und seine Nachfolger hätten weniger über ein eigenes ostgotisches Reich geherrscht als vielmehr über den Rumpf des Weströmischen Reiches. 497/98 wurde Theoderich von Konstantinopel (nochmals) offiziell als „Statthalter“ des Kaisers anerkannt, später verschlechterten sich die Beziehungen jedoch wieder. Theoderich betrieb eine weitgespannte Bündnispolitik, in die auch die benachbarten regna eingebunden werden sollten. Letztendlich hatte diese Strategie jedoch keinen großen Erfolg, denn die Franken sollten 507 die Westgoten empfindlich schlagen und die Kontrolle über den Großteil des westgotischen Galliens erlangen, vor allem im Norden. Ostgotische Truppen besetzten daraufhin Teile Südgalliens, und 511 wurde Theoderich sogar als König der Westgoten anerkannt, wenngleich diese Verbindung mit seinem Tod wieder erlosch. Nach dem Tod Theoderichs 526 begann eine Zeit der Thronkämpfe. Die amtierende Regentin Amalasuntha versuchte das belastete Verhältnis zu Konstantinopel zu entspannen. Die Opposition um ihren Vetter und Mitregenten Theodahad jedoch ließ sie 535 ermorden. Dies lieferte dem oströmischen Kaiser Justinian den willkommenen Vorwand, das Ostgotenreich anzugreifen. Sein General Belisar, der 533/34 bereits das Vandalenreich in Nordafrika zerschlagen hatte (siehe unten), eroberte Sizilien und Unteritalien. Der sich noch über Jahre hinziehende Gotenkrieg, für den Prokopios von Caesarea die wichtigste Quelle ist, führte zur Verwüstung weiter Landstriche Italiens und hatte den wirtschaftlichen Niedergang des vorher prosperierenden Landes zur Folge. Sogar die Franken mischten sich ein und fielen in Norditalien ein, wo sie schrecklich wüteten. Ein weiteres Zentrum der Kämpfe war die Stadt Rom, die mehrmals den Besitzer wechselte. Der hartnäckige Widerstand der Goten, die sich mehrmals neu sammelten (siehe etwa Totila), wurde erst 552 gebrochen, wenngleich sich einzelne gotische Widerstandsnester noch einige Zeit hielten. Doch auch anschließend kam das Land nicht zur Ruhe, denn bereits 568 fielen die Langobarden ein (siehe unten). Das Westgotenreich Das Fundament für das Westgotenreich mit der Hauptstadt Tolosa (Toulouse), nach der die erste Phase dieses Reichs (418–507) auch Tolosanisches Reich genannt wird, bestand aus dem Föderatenland, das den Westgoten 418 in Aquitanien vom weströmischen Staat zugestanden wurde (siehe oben). In der Folgezeit versuchten die Westgoten immer wieder, ihr Einflussgebiet zu erweitern; sie folgten aber dem Aufruf des Aëtius, gegen die Hunnen zu kämpfen. Einen Einschnitt stellte die Regierungszeit Eurichs dar, der 466 durch Brudermord den Thron bestieg. Er brach 468 das foedus mit Westrom und betrieb eine weitaus expansivere Politik. Im Norden stießen die Westgoten bis zur Loire vor, im Süden unterwarfen sie bald den Großteil Hispaniens (bis auf das Königreich der Sueben im Nordwesten, das sich noch bis ins 6. Jahrhundert halten konnte). Im Osten gewannen sie mit dem Vertrag von 475 die Auvergne, nachdem sie bereits vorher die wichtigen Städte Arles und Marseille eingenommen hatten und 471 das letzte intakte römische Heer in Gallien zerschlagen worden war. Bemerkenswert ist, wie sich die romanische Bevölkerung verhielt. In den Quellen wird erwähnt, dass in den gallischen Städten viele Männer sich die Haare lang wachsen ließen und Hosen trugen, also Kennzeichen der Barbaren übernahmen, was die weströmischen Kaiser in Krisenzeiten sogar Sklaven verboten hatten. Manche Römer traten in die Dienste der Westgoten und befehligten teils sogar westgotische Militärverbände. Da die Zahl der Westgoten (wie auch in den übrigen Reichen germanischer gentes) im Verhältnis zur romanischen Bevölkerung verschwindend gering war, verwundert diese Kooperationspolitik nicht. Der Arianer Eurich griff kaum in die bestehenden Besitzverhältnisse ein und führte auch keine religiösen Verfolgungen durch. Den Katholiken Südgalliens wurde lediglich die Einsetzung neuer Bischöfe untersagt, wohl um so eine Stütze des anti-gotischen Widerstands zu treffen. Eurich starb 484, sein Sohn Alarich II. fiel 507 im Kampf gegen die expandierenden Franken unter Chlodwig (siehe unten). Infolge dieser Niederlage ging fast das gesamte gotische Gallien verloren, nur die Region um Narbonne (Septimanien) konnte gehalten werden, auch durch das Eingreifen der Ostgoten unter Theoderich dem Großen (siehe oben). Dies hatte eine vollständige Umorientierung der Westgoten nach Hispanien zur Folge, wo sie im 6. Jahrhundert Toledo zu ihrer neuen Hauptstadt machten (daher Toledanisches Reich). Im Rahmen der Restaurationspolitik des Kaisers Justinian besetzten die Oströmer um 550 auch Gebiete im Süden der Iberischen Halbinsel (Spania), wo sie sich bis zum frühen 7. Jahrhundert halten konnten. Die inneren Verhältnisse des Westgotenreichs waren von häufigen Konflikten zwischen verschiedenen um das Königtum kämpfenden Adelsfamilien bestimmt, während das Konfessionsproblem weiter bestehen blieb. König Leovigild, ein bedeutender Herrscher, trieb die Rechtskodifizierung voran und unterwarf die Sueben. Er bemühte sich vergeblich um die Überwindung des religiösen Gegensatzes zwischen Arianern und Katholiken. Die Königsfamilie hielt am Arianismus fest, obwohl der größere Teil der Reichsbevölkerung katholisch war. Der Thronfolger Hermenegild trat zum Katholizismus über und rebellierte vergeblich gegen seinen Vater (allerdings möglicherweise nicht in erster Linie aus religiösem Grund). Erst Leovigilds jüngerer Sohn und Nachfolger Rekkared I. löste den Konflikt. Er konvertierte 587 zum katholischen Glauben und erreichte 589 auf dem 3. Konzil von Toledo den Übertritt der Westgoten. Die Herrschaft Leovigilds und Rekkareds war von maßgeblicher Bedeutung für das Westgotenreich. Zwar kam es nach Rekkareds Tod 601 weiterhin zu Rebellionen und Machtkämpfen zwischen rivalisierenden Adelsgeschlechtern, doch hatte sich das Westgotenreich in der Regierungszeit dieser beiden Herrscher konsolidiert. Kulturell erlebte das Reich ab dem späten 6. Jahrhundert eine Blütezeit, deren namhaftester Repräsentant Isidor von Sevilla war. In den Klosterschulen wurde weitaus mehr vom antiken Wissen bewahrt als etwa bei den Franken, wodurch das Westgotenreich eine beachtliche kulturelle Strahlkraft erlangte. Das Ende für die Westgoten kam überraschend: Die an der Küste Nordafrikas zu Beginn des 8. Jahrhunderts westwärts vorrückenden muslimischen Araber und Berber (siehe Islamische Expansion) überquerten die Meerenge von Gibraltar (eventuell unterstützt von einem gewissen Julian) und vernichteten das Gotenheer König Roderichs in der Schlacht am Río Guadalete im Juli 711; der König selbst fiel in der Schlacht. Damit war der Untergang des Westgotenreichs besiegelt. Im Nordosten der Halbinsel leisteten die Goten noch bis etwa 719 Widerstand, den Reichsteil nördlich der Pyrenäen eroberten die Muslime 719–725. Die unterworfenen Westgoten arrangierten sich mit den neuen Herren und traten teilweise zum Islam über. Erst später rebellierten westgotische Adlige in Asturien, von wo aus die Reconquista eingeleitet wurde. Die Könige des neuen christlichen Königreichs Asturien sahen sich als Nachfolger der Westgotenkönige und erhoben damit Anspruch auf deren ehemaliges Herrschaftsgebiet. Das Vandalenreich in Nordafrika Das Vandalenreich in der römischen Provinz Africa (weitgehend deckungsgleich mit dem heutigen Tunesien und Teilen Algeriens sowie Libyens; außerdem gehörten die Balearen, Korsika und Sardinien zu ihrem Herrschaftsbereich) stellt eine Ausnahme in den germanischen Reichsgründungen im Westen dar. Zum einen verfügten die Vandalen nach der Eroberung Karthagos 439 über eine beachtliche Flotte, mittels derer sie den westlichen Mittelmeerraum weitgehend kontrollierten und sogar bis nach Griechenland vorstießen, zum anderen kam es in ihrem Herrschaftsbereich teilweise zu Verfolgungen der katholischen Mehrheitsbevölkerung, wenngleich sich dies meistens auf die Bischofsposten bezog. Die Vandalenkönige hielten an ihrem arianischen Christentum fest und waren stets um dessen Förderung und Ausbreitung bemüht (dies unterschied sie von den ebenfalls arianischen Ostgoten). Als der Nachfolger Geiserichs, Hunerich, die Besetzung des Bischofsstuhls von Karthago nach 20 Jahren Vakanz genehmigte, hatte er sich im Gegenzug in Konstantinopel versichert, dass dort arianische Gottesdienste gehalten werden durften. Es kam aber auch immer wieder zu Deportationen katholischer Geistlicher, über die wir vor allem durch das Werk des Victor von Vita informiert sind, der freilich manche Maßnahmen vielleicht etwas übertrieben dargestellt hat. Die Vandalenkönige gaben die Hoffnung offenbar nicht auf, doch noch zu einer Verständigung mit den Katholiken in ihrem Reich zu gelangen, denn im Februar 484 fanden Religionsgespräche statt, die aber ergebnislos verliefen. König Thrasamund, der hochgebildet war und die römische Kultur im Reich förderte, verlegte seine Bemühungen auf die argumentative Ebene, ohne dass ihm ein Durchbruch gelang (siehe auch Fulgentius von Ruspe). Die Spannungen blieben bestehen, dennoch gelang es den Oströmern bei ihrer Eroberung nicht, daraus wesentlich Kapital zu schlagen. Außenpolitisch war das Vandalenreich nach der erfolgreichen Abwehr der gesamtrömischen Operation 468 gefestigt (siehe oben), vor allem nach der Anerkennung durch Ostrom drohte keine unmittelbare Invasionsgefahr. Fortan mussten sich die Vandalen vor allem um die Abwehr der „Mauren“ kümmern, also der einheimischen Berberstämme, die teils eigene kleinere Königreiche auf dem Boden der römischen Provinzen in Nordafrika gebildet hatten (u. a. Reich des Masties und Masuna um Altava), und zwar keineswegs immer im Gegensatz zu der romanisierten Bevölkerung. Anderseits zogen die Vandalenkönige, die den Titel rex Vandalorum et Alanorum („König der Vandalen und Alanen“) trugen und sich also bemerkenswerterweise nicht auch als Herrscher der nordafrikanischen Römer sahen, auch maurische Hilfstruppen heran, während sich die Schiffsbesatzungen vor allem aus Provinzialrömern rekrutierten. Wirtschaftlich und kulturell erfreuten sich die Vandalen, die viele der römisch-katholischen Großgrundbesitzer enteignet hatten (wenngleich keineswegs flächendeckend), der Annehmlichkeiten des reichen römischen Nordafrikas, welches unter der Herrschaft der Vandalen keineswegs verfiel, sondern weiterhin aufblühte. Der Handel florierte, die spätantike Bildung wurde in den Eliten weiter gepflegt. Die Vandalen genossen dabei offenbar den hohen römischen Lebensstandard und nutzten beispielsweise die Theater und den römischen Circus. Der von den Quellen teils erhobene und von der älteren Forschung oft übernommene Vorwurf, die Vandalen seien dadurch verweichlicht worden, entbehrt allerdings nach Ansicht der meisten heutigen Historiker jeder Grundlage. Das Ende des Vandalenreichs begann mit der Usurpation Gelimers, der den mit Ostrom sympathisierenden König Hilderich 530 gestürzt hatte. Wohl recht zögerlich ergriff der oströmische Kaiser Justinian I. im Jahr 533 die Gelegenheit, um zu intervenieren. Aus dem Bericht des Prokopios wissen wir, dass in Konstantinopel etwa der praefectus praetorio Johannes der Kappadokier mit der Entscheidung des Kaisers nicht einverstanden war, da er die Aktion als zu großes Risiko empfand. Schließlich wurde dennoch ein relativ kleines Invasionsaufgebot unter dem magister militum Belisar in Marsch gesetzt, das zunächst nur die Wiedereinsetzung Hilderichs erreichen sollte. Gelimer ließ diesen aber töten. Belisar landete mit knapp 15.000 Mann und errang in den Schlachten von Ad Decimum und Tricamarum (Ende 533) überraschend den Sieg über Gelimer, der vorher ein Aufgebot von 5000 Elitesoldaten zur Niederschlagung einer Revolte nach Sardinien in Marsch gesetzt hatte. Gelimer flüchtete zwar, wurde aber bald darauf gefangen genommen und nach Konstantinopel gebracht, wo er am Triumphzug teilnehmen musste, ansonsten aber ein angenehmes Leben auf einem Landgut führen durfte. Vandalische Truppen wurden in das kaiserliche Heer eingereiht und dienten in den Kämpfen Justinians gegen die Perser (siehe Römisch-Persische Kriege). Das Vandalenreich wurde wieder römisch und blieb dies bis zur Eroberung durch die Araber in der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts. Das Frankenreich Viele Franken, ein Zusammenschluss verschiedener germanischer Stämme, waren 358 in Toxandrien angesiedelt worden, das im heutigen Flandern liegt. Das römisch-fränkische Verhältnis war recht stark von militärischen Konfrontationen geprägt, wenngleich fränkische Gruppen auch teils als römische Verbündete bzw. foederati agierten. 388 verwüsteten Franken die Region um Köln, wurden aber von römischen Truppen zurückgeschlagen (siehe Gennobaudes, Marcomer, Sunno). Auch Stilicho ging gegen fränkische Krieger vor, die sich dann 407 gemäß ihrem Föderatenvertrag den eindringenden Vandalen, Alanen und Sueben entgegenstellten, aber geschlagen wurden. In den nächsten Jahren nutzten fränkische Gruppen die wirre Lage in Gallien aus und expandierten, allerdings nicht unter einheitlicher Führung, im Mosel- und Niederrheingebiet; sie wurden erst vom Heermeister Aëtius gestoppt, der mit mehreren fränkischen reges neue foedera schloss. Im Bündnis mit Aëtius vollzogen sich so wohl auch die Anfänge merowingischer Reichsbildung in Nordostgallien. Nach dem Tod des Aëtius gingen Franken unter Ausnutzung innerrömischer Konflikte in größerer Zahl über den Rhein, unter anderem wurde Mainz gebrandschatzt; später folgten Köln und (wohl erst in den 480er Jahren) Trier. Der Norden Galliens zersplitterte in der Folgezeit in eine Reihe kleinerer fränkischer Herrschaftsräume, während der Süden von Westgoten, Burgunden und schließlich Ostgoten (in der Provence) kontrolliert wurde. Der in Tournai residierende salfränkische Kleinkönig bzw. warlord Childerich I., dessen prachtvoll geschmücktes Grab 1653 entdeckt wurde, half vermutlich dem römischen Feldherrn Aegidius, der sich gegen den Heermeister Ricimer und dessen Marionettenkaiser Libius Severus erhoben hatte, die Westgoten abzuwehren. Allerdings wird in der Forschung ebenfalls vermutet, dass beide Rivalen im Hinblick auf die Kontrolle der Reste der letzten weströmischen Armee in Gallien (dem exercitus Gallicanus) gewesen sind. Childerich kämpfte, vielleicht mit dem römischen Befehlshaber Paulus, gegen sächsische Plünderer, die in Gallien eingefallen waren und von einem gewissen Adovacrius angeführt wurden. Allerdings sind die Details unklar; auch ein grundsätzliches Rivalitätsverhältnis zwischen Franken und Gallorömern ist durchaus möglich. Aegidius errichtete im Raum von Soissons einen eigenen Herrschaftsbereich, nach seinem Tod folgte ihm nach kurzer Zeit sein Sohn Syagrius (siehe oben). Mit Childerich wird auch das fränkische Geschlecht der Merowinger historisch wirklich fassbar, die in der Folgezeit die fränkische Expansion sehr erfolgreich vorantrieben. Childerichs Sohn Chlodwig vernichtete die fränkischen Kleinreiche Ragnachars und Chararichs und konnte so die meisten fränkischen Krieger unter seiner Herrschaft vereinen. 486/87 eroberte Chlodwig das Reich des Syagrius, woraufhin sich ihm die verbliebenen römischen Soldaten in Nordgallien angeschlossen zu haben scheinen. 507 wurden von ihm die Westgoten in der Schlacht von Vouillé besiegt und fast ganz aus Gallien verdrängt; nur die Mittelmeerküste blieb vorläufig gotisch. Gegen alamannische Gruppen, die nach dem Zusammenbruch der römischen Herrschaft in Gallien über den Rhein drängten und weiter östlich bis nach Noricum vorstießen, ging Chlodwig ebenfalls vor (vielleicht in zwei Alamannenkriegen). Mit den Burgunden ging er ein Bündnis ein und heiratete eine burgundische Prinzessin. Chlodwig war ursprünglich wohl Heide (eine Minderheit von Forschern nimmt aber mit Ian Wood an, er sei Arianer gewesen), trat jedoch zu einem nicht näher bestimmten Zeitpunkt (wahrscheinlich aber eher gegen Ende seiner Herrschaft) zum Christentum über. Entscheidend war, dass er sich dabei für das katholische Bekenntnis entschied und somit Probleme vermied, die sich bisweilen in den anderen regna zwischen den nichtrömischen Kriegern und der römischen Zivilbevölkerung ergaben. Das geschickte, aber auch skrupellose Vorgehen Chlodwigs sicherte den Franken eine beherrschende Stellung in Gallien und legte das Fundament für die erfolgreichste germanisch-romanische Reichsgründung, wobei Chlodwig noch heute oft (und völlig anachronistisch) als Gründer Frankreichs gefeiert wird. Nach Chlodwigs Tod im Jahre 511 wurde die Herrschaft im Reich nach römischem Vorbild unter seinen Söhnen aufgeteilt, was jedoch keine Auswirkung auf den Einheitsgedanken hatte. Die Franken setzten in der Folgezeit ihre aggressive Expansionspolitik fort: 531 vernichteten sie das Thüringerreich, 534 wurde das Burgundenreich erobert und in das Frankenreich integriert; die Ostgoten zwang man, als diese von Ostrom angegriffen wurden, wenig später zur Übergabe der gallischen Mittelmeerküste. Theudebert I. intervenierte sogar in Oberitalien und soll sogar daran gedacht haben, gegen Konstantinopel zu marschieren. Offenbar strebte er eine kaisergleiche Stellung an und dokumentierte sein Selbstverständnis unter anderem durch die Prägung von Goldmünzen mit seinem Namen, ansonsten ein Vorrecht des römischen Kaisers. Um 560 war das Reich noch einmal unter einem einzigen rex geeint, danach für viele Jahrzehnte nicht mehr. Im Inneren zogen die Franken die gallorömische Oberschicht und Bischöfe für Verwaltungsaufgaben heran und nutzten auch das System der vor allem (nicht nur) in Südgallien verbreiteten römischen civitates. Von vielen Galloromanen wurde die fränkische Herrschaft denn auch nicht als drückend empfunden. Der aus einem alten Senatorengeschlecht stammende Gregor von Tours, dessen Geschichtswerk eine wichtige Quelle für diese Zeit darstellt, bemühte sich sogar, die fränkische Geschichte in Einklang mit der römischen zu bringen, und verstand sich selbst als Untertan sowohl der Merowinger als auch der oströmischen Kaiser. Vieles spricht dafür, dass man in Chlodwig keinen germanischen Eroberer zu sehen hat, sondern einen Verteidiger der römischen bzw. romanischen Gallia, der nach dem Kollaps der weströmischen Regierung das Machtvakuum füllte. Einige Historiker plädieren daher aufgrund der vielfältigen Kontinuitäten dafür, die gesamte Merowingerzeit noch zur Spätantike zu zählen. Die Merowinger sollten ab der Mitte des 7. Jahrhunderts allerdings nur noch formal regieren, nachdem die reges in ähnlicher Weise entmachtet worden waren wie einst die weströmischen Kaiser. Die wirkliche Macht lag nun offenbar zumeist bei den Hausmeiern, was schließlich 751 zur Ablösung der Merowinger durch die Karolinger führte. Das Burgundenreich Nachdem das Reich der Burgunden am Mittelrhein 436 vom weströmischen Heermeister Aëtius zerschlagen und ihre Überreste 443 in der Sapaudia angesiedelt worden waren, errichteten sie als römische Föderaten in der Region am Genfersee ein neues Reich. Das Verhältnis der Burgunden zur weströmischen Regierung war ambivalent, wenngleich die Burgundenkönige stets auf ihre Legitimation bedacht waren. Anders als viele andere germanische Föderaten hielten sich die Burgunden jedoch im Grundsatz an ihre vertraglichen Verpflichtungen und stellten sich mehrfach Invasoren entgegen. Burgundische Truppen kämpften unter Aëtius gegen die Hunnen und beteiligten sich beispielsweise an der Offensive gegen die Sueben in Hispanien in den 50er Jahren des 5. Jahrhunderts. 457 nahmen die Burgunden, die wirren Verhältnisse in Gallien nach dem Tod des Aëtius ausnutzend, Lyon samt der umliegenden Region ein. Im Jahr darauf räumten sie die Stadt, die erst 469 endgültig in ihren Besitz überging und fortan als Hauptresidenz der Burgundenkönige diente. In der Auvergne kämpften sie, wieder im römischen Auftrag, gegen die Westgoten. In den 70er und 80er Jahren führten sie Krieg gegen die Alamannen. Unter König Gundobad, der in der Zeit vor seiner Thronbesteigung weströmischer Heermeister war und ein Bündnis mit den Franken einging, reichte das Burgundenreich im Süden fast bis ans Mittelmeer, im Nordosten wohl in die Region des Bodensees. Mit der Errichtung des Föderatenreichs in der Sapaudia nahm der Romanisierungsprozess der Burgunden zu, die Burgundenkönige erlaubten sogar das conubium, also die Heirat zwischen Burgunden und Provinzialrömern. Die überraschend große Anpassungsfähigkeit der Burgunden ist wohl ein Grund dafür, dass fast keine burgundischen Selbstzeugnisse überliefert sind und die Assimilierung der ohnehin nur sehr geringen burgundischen Bevölkerung sehr schnell verlief. Die gallorömische Führungsschicht, die sich mit den Burgunden arrangierte (siehe etwa Avitus von Vienne, wenn sich auch der Gallorömer Sidonius Apollinaris abfällig über die „stinkenden Barbaren“ äußerte), sah in ihnen offenbar einen Garanten der bestehenden Ordnung, wobei die burgundische Landnahme eher schleichend verlief. Erst nach der Absetzung des weströmischen Kindkaisers Romulus Augustulus 476 übernahm der Burgundenkönig in diesem Raum auch alle Herrschaftsrechte. Wahrscheinlich um sich gegenüber seinen römischen Untertanen legitimieren zu können, ließ er sich aber vom oströmischen Kaiser seinen Rang als magister militum bestätigen. Ein markantes Merkmal der burgundischen Königsherrschaft war im Erbfall die Ausstattung anderer Familienmitglieder mit eigenen Herrschaftsräumen, ohne dass die Herrschaft dabei geteilt wurde; neben Lyon fungierten Genf und Vienne als Residenzen. Als eine wichtige Quelle dient die Lex Gundobada, die wichtige Einblicke in die Binnenstruktur des Reiches erlaubt. Religionspolitisch gab es im Burgundenreich keine erkennbaren Streitigkeiten zwischen Arianern und Katholiken, obwohl die Burgunden das Christentum in arianischer Konfession angenommen hatten. Das Königshaus scheint aber recht bald zum Katholizismus tendiert zu haben. Ohnehin ist nicht für alle burgundischen Könige bezeugt, dass sie Arianer waren, wenngleich sie die Kirchenhoheit über die arianische Kirche in ihrem Reich beanspruchten. In den 20er Jahren des 6. Jahrhunderts begannen die merowingischen Franken mit der Eroberung Burgunds, das dann 534 im fränkischen regnum aufging. Dem Namen „Burgund“ hingegen blieb eine erstaunliche Wirkungsgeschichte durch die Jahrhunderte beschieden. Die Angeln, Sachsen und Jüten in Britannien Mit dem Abzug der letzten Einheiten des Feldheeres zu Beginn des 5. Jahrhunderts war die römische Provinz Britannien den Angriffen der Pikten und Skoten fast schutzlos ausgesetzt (siehe oben). Das Feldheer hatte die Insel unter Konstantin III. wohl vollständig geräumt, es ist aber schwer vorstellbar, dass nicht zumindest ein Minimum an Garnisonstruppen zurückgelassen worden ist, da die Insel als Ganzes 407/8 nicht aufgegeben wurde. Die wenigen Verbände dürften sich erst im Laufe der Zeit aufgelöst haben, als die Insel faktisch sich selbst überlassen wurde, weshalb es 409 in Britannien zum Aufstand kam. Die römische Verwaltungsordnung brach nach und nach zusammen, an ihrer Stelle übernahmen regionale Autoritäten die Verteidigungsaufgaben. Anschließend wurden die Verwaltungsaufgaben von den wenigen civitates (Britannien war wesentlich weniger stark urbanisiert als andere Provinzen) übernommen. Der heidnische Historiker Zosimos, der um 500 eine Neue Geschichte verfasste und einer Vorlage von Olympiodoros von Theben folgte, berichtet sogar, dass Kaiser Honorius den civitates Britanniens mitgeteilt habe, sie sollen sich zukünftig selbst verteidigen. Jedenfalls bestellte die weströmische Regierung in Ravenna keine neuen Magistraten für die Insel, Bischof Germanus von Auxerre besuchte Britannien jedoch noch 429 und 444. Ein letzter Hilferuf der britischen Römer um das Jahr 446 an den Heermeister Aëtius ist im Werk des Gildas über den „Niedergang Britanniens“ überliefert: Aufgrund der überaus schlechten Quellenlage sind die nachfolgenden Ereignisse in Britannien nur in Grundzügen bekannt: Um der Gefahr durch barbarische Stämme entgegentreten zu können, hatten die Römer in Britannien wohl irgendwann zwischen 410 und 440 sächsische Föderaten zur Hilfe gerufen (einige Forscher, etwa Guy Halsall, vermuten allerdings, dies sei schon früher erfolgt). Die Sachsen hatten bereits im 3. Jahrhundert als Seeräuber den Römern Schwierigkeiten bereitet, nun wurden sie als Verbündete aufgenommen. Bald jedoch erhoben sie sich (aus nicht genau bekannten Gründen) gegen die Römer – gallische Chroniken legen nahe, dass dies um 440 geschah. Auch Jüten und Angeln kamen nun auf die Insel und setzten sich dort fest (siehe Angelsachsen). Allerdings hat die archäologische Forschung nachweisen können, dass Germanen aus dem heutigen Norddeutschland und dem südlichen Dänemark bereits Ende des 4. Jahrhunderts in kleiner Zahl in das römische Britannien eingesickert waren und die Landnahme eher schleichend verlief, zumal die Germanen kaum in größerer Zahl nach Britannien übersetzten. Jüngste Untersuchungen legen nahe, dass sich viele romanisierte Kelten auf die Seite der siegreichen germanischen Neuankömmlinge schlugen und deren Sprache und Lebensweise übernahmen. Laut dem im 6. Jahrhundert schreibenden Chronisten Gildas war ein „hochmütiger Tyrann“ (superbus tyrannus) dafür verantwortlich gewesen, dass die Römerstädte Britanniens die Sachsen ins Land gerufen hatten. Laut dem im 8. Jahrhundert schreibenden Kirchenhistoriker Beda Venerabilis waren die Sachsen vom romano-britischen Herrscher Vortigern als Söldner angeheuert worden und mit drei Schiffen unter dem Brüderpaar Hengest und Horsa an der Küste Britanniens gelandet. Diese Art von Herkunftssagen (siehe Origo gentis) sind auch bei den Goten oder Langobarden verbreitet, historische Berichte über Britannien aus dieser Zeit sind hingegen kaum überliefert. Dennoch zeigen die wenigen Quellen, dass es keineswegs zu einem vollständigen Zusammenbruch der zivilen Ordnung gekommen war. Vielmehr entstanden vor und nach der sächsischen Invasion römisch-britische Kleinkönigreiche, die Forschung spricht von Sub-Roman Britain, die den Angelsachsen Widerstand leisteten. Den germanischen Heerführern standen also zunächst romano-keltische gegenüber. In diesen Zusammenhang ist auch die Schlacht von Mons Badonicus einzuordnen, die wohl um 500 stattfand und in der eine Koalition der römischen Briten unter einem historisch faktisch nicht fassbaren Ambrosius Aurelianus (siehe Artussage) siegte. Der Sieg hatte wohl einen vorläufigen angelsächsischen „Siedlungsstopp“ zur Folge. Dennoch wurden die Briten schließlich in die Randregionen der Insel abgedrängt, etwa in den Norden sowie nach Wales und Südwestengland; Teile der Bevölkerung flohen auf das Festland nach Aremorica, in die heutige Bretagne. Die Angelsachsen selbst operierten unter keiner einheitlichen Führung und führten auch untereinander Krieg. Erst im 7. Jahrhundert bildeten sie größere Königreiche (siehe Heptarchie), die bis zum Wikingereinfall im 9. Jahrhundert bestehen blieben. Britannien, dem aufgrund der geografischen Lage eine Sonderrolle im Rahmen der Völkerwanderung zukommt, erlebte eine gewisse „Barbarisierung“, die lateinische Sprache wurde immer weniger gepflegt. Die letzten lateinischen Inschriften wurden im 6. Jahrhundert in Wales gesetzt. Der Archäologe Bryan Ward-Perkins ist sogar der Ansicht, dass der Lebensstandard auf der Insel auf prähistorisches Niveau zurückfiel. Auch das Christentum auf der Insel erlebte wohl einen Rückschlag, wenngleich viele Details aufgrund der mangelhaften Quellenlage umstritten sind: Einerseits scheint die Mission Irlands noch im 5. Jahrhundert von Britannien ausgegangen zu sein, andererseits musste Papst Gregor der Große um 600 christliche Missionare ins heutige England (Canterbury) entsenden. Wichtige religiös-kulturelle Impulse sollten seither vor allem von Irland ausgehen. Der Christianisierung der Angelsachsen durch die iroschottischen Missionare sollte erst im 7. Jahrhundert der Durchbruch gelingen. Die Langobarden in Italien und das Ende der Völkerwanderung Der Ursprungsmythos der Langobarden (Origo gentis) ist in der sogenannten Origo Gentis Langobardorum überliefert. Demnach hatte der Gott Wodan den Langobarden einst zum Sieg über die Vandalen verholfen, während sie selbst angeblich aus Skandinavien stammten. Wie so oft bei derartigen Quellen sind kaum historische Bezüge zu rekonstruieren. Im 1. und 2. Jahrhundert sind Langobarden jedoch durch römische Quellen an der unteren Elbe bezeugt, ansonsten werden sie wenig erwähnt, und auch die archäologische Forschung erlaubt es nicht, ihre Wanderwege zu rekonstruieren. Wahrscheinlich zogen langobardische Gruppen bis zum 5. Jahrhundert die mittlere Elbe entlang nach Böhmen. Um 500 geraten sie in das Blickfeld der spätantiken Historiografie, nachdem sie um 488 das verlassene Rugiland in Besitz genommen hatten. Paulus Diaconus, der im 8. Jahrhundert mit sener Historia Langobardorum eine Geschichte der Langobarden auf Grundlage älterer Quellen verfasste (siehe Secundus von Trient), berichtet davon, dass die Langobarden damals den Herulern tributpflichtig wurden, sie dann aber besiegen konnten. Die Langobarden kamen nun in Kontakt mit Ostrom. Im Zusammenhang mit dem Gotenkrieg Justinians ging der langobardische rex Audoin, der mit seinem Kriegerverband zuvor ehemals ostgotische Besitzungen in Pannonien erobert hatte, ein Bündnis mit dem Kaiser in Konstantinopel ein. Dies war für beide Seiten von Vorteil, da die Römer Truppen benötigten, um den ostgotischen Widerstand in Italien zu brechen, während die Langobarden wiederum Rückendeckung gegen die expansiven Gepiden erhielten. 552 ging der oströmische General Narses nach Italien, wobei ihn einige Tausend langobardische foederati unter Alboin, dem Sohn Audoins, begleiteten. Narses sah sich allerdings gezwungen, die angeblich völlig undisziplinierten Langobarden zurückzuschicken, kurz darauf triumphierte Alboin über die Gepiden. Paulus Diaconus berichtet von einer eher legendär als historisch anmutenden Episode, wonach Alboin den Sohn des Gepidenkönigs getötet und anschließend, um den Frieden wiederherzustellen, sich allein zum Gepidenkönig Turisind begeben haben soll. Der um 560 an die Macht gelangte Alboin plante nun die Vernichtung des Gepidenreichs. Zu diesem Zweck schloss er ein Bündnis mit den Awaren, einem erst kurz zuvor in Ostmitteleuropa aufgetauchten Reitervolk aus Zentralasien, das bald darauf im Donauraum ein mächtiges Reich errichtete und sogar das Oströmische Reich bedrängte. 567 schlug Alboin die Gepiden, ohne dass die Awaren überhaupt eingreifen mussten. Den Gepidenkönig Kunimund tötete Alboin eigenhändig, wobei er aus dem Schädel des Toten angeblich einen Trinkbecher anfertigen ließ. Alboin heiratete Rosamunde, die Tochter des Gepidenkönigs, die später offenbar an Alboins Ermordung beteiligt war. Die alte Annahme, die Langobarden hätten nun vor den Awaren fliehen müssen, wird heute zumeist abgelehnt. 568 nutzte Alboin vielmehr seine gestärkte Position und zog mit den Langobarden und Teilen anderer gentes aus dem Karpatenraum (der von Herwig Wolfram treffend als gentiler Ballungsraum charakterisiert wurde) nach Norditalien. Trotz der Verheerungen durch den Gotenkrieg bot die alte Kernprovinz des Imperiums immer noch die verlockende Aussicht auf reiche Beute und war für Alboin, der seinen Männern Beute verschaffen musste, daher attraktiv. Die Erzählung, die Langobarden seien von Narses, der sich inzwischen mit dem Kaiser überworfen hatte, herbeigerufen worden, ist hingegen nach Ansicht vieler Forscher als unhistorisch anzusehen. Die oströmische Gegenwehr war schwach, zumal ohnehin nur noch relativ wenige Truppen in Italien standen. Mehrere Städte, darunter Mailand, ergaben sich. Pavia hingegen öffnete erst nach dreijähriger Belagerung die Tore und wurde zur Hauptresidenz der Langobarden. Selbstständig operierende Kriegergruppen stießen sogar nach Süditalien und auf fränkisches Gebiet vor. Ravenna, Rom und die Seestädte wie Genua konnten sich hingegen halten und blieben vorerst unter kaiserlicher Kontrolle. In den Quellen wird die angebliche Brutalität der teils heidnischen, teils arianischen Langobarden betont; mehrere Großgrundbesitzer flohen von ihren Gütern. In Cividale del Friuli hatte Alboin bereits kurz nach Beginn der Invasion ein Dukat unter Leitung seines Neffen, des dux Gisulf, eingerichtet. Das Dukat war offensichtlich an das spätrömische Militärsystem angelehnt, und tatsächlich verband Alboin das bestehende Verwaltungssystem mit der bisherigen langobardischen Militärordnung der farae. Diese Form der Herrschaftsorganisation sollte bald prägend für die Langobarden werden, zumal nach der Ermordung Alboins 572 die zentrale Königsmacht ohnehin bald verfiel. Die langobardische Reichsgründung von 568 war die letzte von überwiegend germanischen Kriegern getragene Herrschaftsbildung der Spätantike auf weströmischem Boden und markiert nach traditioneller Ansicht das Ende der großen Völkerwanderungszeit. Damit war die Genese der frühmittelalterlichen politische Konstellation West- und Mitteleuropas weitgehend abgeschlossen, denn etwa um diese Zeit lassen sich auch die Bajuwaren erstmals nachweisen. Wenig später drangen die Slawen in viele einstmals germanische Gebiete sowie auf den römischen Balkan vor, wo sie sich nach 580 dauerhaft niederließen (siehe Landnahme der Slawen auf dem Balkan). Der nur locker organisierte langobardische Herrschaftsraum in Oberitalien sowie in Benevent und Spoleto zersplitterte nach dem Tod Alboins in mehrere Dukate, die fortan ihre eigene Politik betrieben. In der Folgezeit kam es immer wieder zu Konflikten mit den Oströmern bzw. Byzantinern, die sich in Mittel- und Unteritalien längere Zeit halten konnten. Erst den Königen Authari und Agilulf gelang es, dem Königtum wieder zu neuer Autorität zu verhelfen. Im Laufe des 7. Jahrhunderts expandierte das Reich nochmals, und die Langobarden gaben schließlich auch ihr arianisches Bekenntnis auf. Liutprand, der 712 den Thron bestieg, war Katholik und konnte seine Macht sogar gegenüber den duces von Spoleto und Benevent zur Geltung bringen. Das Ende für das Langobardenreich kam mit der Eroberung durch die Franken 774 unter Karl dem Großen. Ideell wirkte ihr regnum jedoch auch im Heiligen Römischen Reich nach, wie die Krönung mehrerer römisch-deutscher Könige mit der „Krone der Langobarden“ zeigt. Der Name Lombardei erinnert bis heute an sie. Ausblick Der Langobardeneinfall in Italien bildet gemäß herkömmlicher Sichtweise den Schlusspunkt der großen „Völkerwanderung“. Damit war auf dem Boden des untergegangenen Westreichs eine politische Ordnung entstanden, die in weiten Teilen bis in das hohe und späte Mittelalter Bestand hatte und auch die neuzeitliche Staatenwelt prägen sollte. Aus dem Frankenreich bildeten sich nach dem Zerfall der Karolingerherrschaft das west- und ostfränkische Reich, die Keimzellen Frankreichs und Deutschlands. Das Westgotenreich sollte während der Reconquista für die Spanier identitätsstiftend wirken, die Angelsachsen prägten das Bild des späteren Königreichs England ganz entscheidend mit, ähnlich wie das Langobardenreich in abgeschwächter Form Bedeutung für Italien haben sollte. In den meisten der entstandenen regna, in denen sprachlich schließlich Latein bzw. das volkssprachige Vulgärlatein die Oberhand gewann (außer im Sonderfall Britannien), arrangierten sich die neuen Herren rasch und weitgehend, aber in sehr unterschiedlicher Form, mit der einheimischen Bevölkerung. Dabei ist zu bedenken, dass die germanischen Krieger und ihre Familien fast überall eine verschwindend kleine Minderheit gegenüber der römischen bzw. romanischen Zivilbevölkerung darstellten; eine Ausnahme war vermutlich Nordgallien. Trotzdem sollte dies nicht über die teils dramatischen Veränderungen am Ende der Spätantike hinwegtäuschen, die nicht selten mit Gewaltakten an der Bevölkerung verbunden waren. Obwohl es im Osten immer noch ein Römisches Reich mit einem Kaiser an der Spitze gab, dessen Führungsanspruch zunächst in der Regel respektiert wurde, griff Ostrom nach Justinians Tod (565) nicht mehr in vergleichbarem Ausmaß im Westen ein, wenngleich der letzte byzantinische Stützpunkt in Italien erst 1071 fiel. Die Zeit ab dem frühen 7. Jahrhundert war im Ostreich dann von einem permanenten Abwehrkampf gegen Perser und Araber, Awaren und Slawen geprägt, der fast alle Kräfte band. So sind auch die Exarchate als eine Defensivmaßnahme zu sehen. Das nun fast vollkommen gräzisierte Oströmische Reich verwandelte sich unter Herakleios in das mittelalterliche Byzantinische Reich. Im Westen waren die römische Armee und das römische Verwaltungssystem bereits im 5./6. Jahrhundert verschwunden. Hier kam es zu komplexen Veränderungen in der Herrschaftsordnung sowie im sozialen und wirtschaftlichen Gefüge (siehe auch die Ausführungen im Artikel Spätantike). Trotz des dramatischen Verlustes an antiken Kulturgütern (vor allem im Westen), was nicht zwingend im Zusammenhang mit den kriegerischen Auseinandersetzungen dieser Zeit steht, wurden in den regna durchaus auch viele kulturelle Elemente bewahrt, wenngleich das Bildungsniveau wie auch die literarische Produktion insgesamt deutlich sank. Vor allem war die Wirtschaft nun weitaus weniger komplex organisiert als in römischer Zeit, was zu deutlich geringeren Überschüssen und einer sinkenden Qualität der materiellen Kultur führte: Der Fernhandel nahm in der Völkerwanderungszeit spürbar ab, ebenso war die wirtschaftliche Produktion in den regna weniger arbeitsteilig als in römischer Zeit. Mittelfristig führte dies zu einem Verschwinden der alten zivilen Eliten, die die wichtigsten Träger antiker Bildung gewesen waren. Die Kirchenorganisation wandelte sich ebenfalls, da der Einfluss der Bischöfe im Vergleich zur spätrömischen Zeit vielerorts noch zunahm. Dabei fungierte die Kirche nun als ein wichtiger Träger antiker (christlich tradierter) Bildung, die zwar deutlich unter dem antiken Niveau lag, aber auch andere Einflüsse aufnahm. Im Rechtsbereich orientierten sich die Germanen am römischen Recht, wie sie überhaupt bemüht waren, sich der römischen Lebensweise anzupassen. Einige germanische Herrscher, die ihre Autorität vielleicht vor allem aus einem Heerkönigtum schöpften, nahmen den römischen Kaisernamen Flavius an (so etwa Theoderich der Große) und zogen oft die römischen Eliten für Verwaltungsaufgaben heran, wobei vor allem der Kirche eine wichtige Rolle als verbindende Kraft zukam. Oft stellte „germanisch“ keinen Gegensatz zu „römisch“ dar, zumal die Germanen nur einen Bruchteil der Bevölkerung in den regna ausmachten. In vielerlei Hinsicht knüpften die neuen Monarchien eher an das römische Kaisertum als an germanische Traditionen an – dies umso eher, als heute zunehmend bezweifelt wird, dass es ein vorrömisches germanisches Königtum überhaupt gegeben hatte. Auf der anderen Seite gab es gebildete Personen, die sich im Westen mit den neuen Herren arrangierten, wie unter anderem die Beispiele des Bischofs Avitus von Vienne, des Arztes Anthimus oder des Dichters Venantius Fortunatus zeigen. Für die moderne Forschung, die in den letzten Jahrzehnten der Zeit zwischen dem 4. und 8. Jahrhundert verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt hat, ergeben sich immer mehr neue Fragen, etwa hinsichtlich der Kontinuitätsproblematik (siehe auch die Ausführungen in Pirenne-These). Der Wechsel der Herrschaft war teilweise fließend: Im Frankenreich beispielsweise waren die Menschen nun nicht mehr Untergebene des Kaisers, sondern des Königs (auch wenn man dort den Augustus in Konstantinopel noch im späten 6. Jahrhundert oft als dominus noster ansprach). Die römische Beamtenschaft wurde teilweise übernommen, ebenso die Verwaltungsstrukturen. Eine Zeitlang funktionierten auch die spätrömischen Institutionen weiter, bis schließlich kein ausreichend ausgebildetes Personal mehr nachkam. Die Angehörigen der alten provinzialrömischen Elite wählten nun oft lieber eine kirchliche Laufbahn. Andererseits existierten aber auch weiterhin comites, die die civitates verwalteten, bis aus dem comes schließlich der „Graf“ wurde. In Gallien stellten sich die Franken auch alamannischen Plünderern entgegen und verteidigten die Städte: Aus der Gallia wurde schließlich eine Francia. An den germanischen Herrscherhöfen entstanden nach einer Weile neue Ämter, wie der maior domus (Hausmeier) im Merowingerreich. Immer deutlicher wurde die Tendenz zur bereits in spätrömischer Zeit vorangeschrittenen Verfestigung aristokratischer Strukturen, was sich beispielsweise in dem Gegensatz der Großgrundbesitzer und der an die Scholle gebundenen Bauern widerspiegelt. Die Gesellschaft teilte sich bald in Freie (wozu die germanischen Adligen und die römische Oberschicht gehörten), Halbfreie und Unfreie auf. Damit einhergehend stieg die Zahl der Sklaven an, doch sind mehrere Detailfragen umstritten. So verlief die Entwicklung in den einzelnen regna recht unterschiedlich. Vor allem sind viele Bewertungen der älteren Forschung, die die spätrömische Gesellschaft als eine allgemein im Niedergang befindliche Gesellschaft charakterisierte, von der modernen Forschung revidiert worden. Dennoch ging etwa die Bevölkerungszahl in den Städten des Westens insgesamt zurück. In manchen Regionen, beispielsweise in Britannien und in Teilen des Donauraums, verschwand die für die Antike typische urbane Kultur sogar fast vollkommen. Im künstlerischen Bereich dominierten hingegen neue Formen (siehe Fibel, Germanischer Tierstil). Daneben veränderte sich unter anderem die Bestattungskultur. So ließen sich auch Romanen nach germanischer, also „barbarischer“, Art begraben. Allgemein gibt es unterschiedliche Ansätze zur Erklärung und Beurteilung der Veränderungen der Mittelmeerwelt im Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter. Zu diesem Zweck wurde von der European Science Foundation mit Transformation of the Roman World sogar ein eigenes Forschungsprojekt ins Leben gerufen. Eines aber wird immer deutlicher: Die germanischen regna waren nicht weniger ein Teil der spätrömischen Welt als das Imperium selbst. Quellen Die folgenden Ausführungen beschränken sich nur auf die wichtigsten Quellen. Allgemein sei auf die Hinweise im Text sowie in den Artikeln Spätantike und Frühmittelalter hingewiesen. Eine neuere und relativ umfassende Quellensammlung mit deutscher Übersetzung liegt mit dem Werk von Goetz, Patzold, Welwei (2006/07) in zwei Bänden vor, wo sich auch weitere Angaben finden. Die wichtigste erzählende Quelle vom Hunneneinbruch bis 378 ist das Werk des Ammianus Marcellinus, das auch das letzte große lateinische Geschichtswerk der Antike darstellt. Von den bedeutenden Werken des Olympiodoros von Theben und des Priskos sind uns nur Fragmente erhalten geblieben, die aber wichtige Informationen enthalten. Ebenfalls nur fragmentarisch überliefert sind die Werke des Malchus von Philadelphia und des Johannes von Antiochia. Der Heide Zosimos verfasste um 500 eine Neue Geschichte, die, trotz des Rückgriffs auf einige gute Quellen, teils sehr fehlerhaft und parteiisch gefärbt ist. Prokopios von Caesarea schilderte im 6. Jahrhundert ausführlich die Kriege Justinians gegen das Vandalen- und Ostgotenreich. Auch Agathias und Theophylaktos Simokates berichten von den Vorgängen im ehemaligen Westreich, wenngleich sie qualitativ nicht mehr an Prokopios heranreichen. Jordanes, der eine heute verlorene Gotengeschichte Cassiodors benutzte, ist unsere wichtigste Quelle zur Geschichte der Goten (vor allem der Ostgoten), wenngleich viele Informationen problematisch sind. Nicht nur, aber vor allem für die Geschichte der Franken ist das Werk Zehn Bücher Geschichten des Gregor von Tours von großer Bedeutung (bis 591). Paulus Diaconus fertigte eine ähnlich gelagerte Geschichte der Langobarden an. Ansonsten bieten viele Chroniken (wie die des Marcellinus Comes, die sogenannte Gallische Chronik sowie vor allem die des Hydatius von Aquae Flaviae) wichtige, oft aber nur sehr knappe Informationen. Daneben enthalten verschiedene Kirchengeschichten, Reden und erhaltene Briefe (wie die des Sidonius Apollinaris) eine Fülle von Informationen, wenngleich von sehr unterschiedlicher Qualität und Glaubwürdigkeit. Ebenso sind Gesetzestexte sowie Inschriften, Münzen und vor allem archäologische Befunde von großer Bedeutung. Im Zusammenhang mit neuen archäologischen Forschungen werden DNA-Analysen ebenfalls genutzt, weisen ihrerseits aber eigene Probleme auf, da Grabfunde nicht immer eine eindeutige Zuordnungen erlauben (weshalb die archäologische Identifikation wichtig ist) und genetische Befunde an sich wiederum nichts über die kulturelle Identität aussagen. Das zu untersuchende genetische Material und die entsprechende Methodik können zudem bisweilen zu unterschiedlichen Ergebnissen führen. Insofern ist die Kooperation zwischen Paläogenetikern, Archäologen und Historikern wichtig, um die verschiedenen Ergebnisse dieser neuen Quellengattung in einen gesamtheitlichen Kontext einbetten zu können. Ammianus Marcellinus: Das römische Weltreich vor dem Untergang. Übersetzt von Otto Veh, eingeleitet und erläutert von Gerhard Wirth. Artemis-Verlag, München/Zürich 1974, ISBN 3-7608-3514-7 (nur dt. Übersetzung). Roger C. Blockley: The fragmentary classicising historians of the later Roman Empire. 2 Bde., Liverpool 1981, 1983.(Blockleys Zählung der Fragmente, die von der sonst gängigen Nummerierung oft abweicht, wurde im Artikel nicht übernommen.) Hans-Werner Goetz, Steffen Patzold, Karl-Wilhelm Welwei: Die Germanen in der Völkerwanderung. Auszüge aus den antiken Quellen über die Germanen von der Mitte des 3. Jahrhunderts bis zum Jahre 453 n. Chr. Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters, Freiherr-vom-Stein Gedächtnisausgabe. Teil I. Darmstadt 2006; Teil II. Darmstadt 2007 (lateinisch, griechisch, deutsch). Colin D. Gordon: The Age of Attila: Fifth-Century Byzantium and the Barbarians. University of Michigan Press, Ann Arbor 1960 (Quellenausschnitte in englischer Übersetzung; Onlineversion). Literatur Wichtige Überblicks-, Personen- und Sachartikel mit weiteren Literaturangaben und Hinweisen zur Forschung finden sich im Reallexikon der Germanischen Altertumskunde (RGA) in der 2. Auflage; zu berücksichtigen sind des Weiteren die Ergänzungsbände des Reallexikons. Daneben sei auf die Artikel in The Oxford Dictionary of Late Antiquity, im Lexikon des Mittelalters und in Prosopography of the Later Roman Empire hingewiesen. Wichtige Überblickswerke stellen daneben The Cambridge Ancient History (Band 13 und 14) und The New Cambridge Medieval History (Band 1) dar. Hier nicht genannt werden ältere Werke, die aber trotzdem teilweise immer noch von Wert sind; dies gilt speziell für die materialreichen Arbeiten Ludwig Schmidts. Spezielle Literatur ist zusätzlich in den Anmerkungen aufgeführt. Thomas S. Burns: Barbarians within the Gates of Rome. A Study of Roman Military Policy and the Barbarians (ca. 375–425). Indiana University Press, Bloomington/Ind. 1994.(Detaillierte und wichtige militärgeschichtliche Darstellung der Ereignisse von 375 bis ins frühe 5. Jahrhundert.) Henning Börm: Westrom. Von Honorius bis Justinian. Kohlhammer, Stuttgart 2013; 2. Auflage. Stuttgart 2018, ISBN 978-3170332164.(Aktuelle Darstellung, die nicht äußere Angriffe, sondern Bürgerkriege, an denen sich barbarische warlords beteiligten, für die Auflösung der römischen Herrschaft im Westen verantwortlich macht. Vgl. auch Rezension bei H-Soz-Kult.) Helmut Castritius: Die Vandalen. Kohlhammer, Stuttgart 2007, ISBN 978-3-17018870-9.(Wichtige Darstellung der Vandalen und ihrer Reichsgründung. Problematisch für Laien ist jedoch, dass zwar Quellen in den Anmerkungen verzeichnet sind, dort jedoch nicht auf die Auseinandersetzung mit der modernen Forschung aufmerksam gemacht wird. Vgl. auch Rezension bei H-Soz-Kult.) Alexander Demandt: Geschichte der Spätantike. Das Römische Reich von Diocletian bis Justinian 284 – 565 n. Chr. Beck, München 1998, ISBN 3-406-44107-6 (gekürzte Fassung von: Die Spätantike, 1989; 2., vollständig bearbeitete und erweiterte Auflage. ebenda 2008, ISBN 978-3-406-57241-8).(Gut lesbares, inhaltlich konservatives Überblickswerk zur Spätantike; mit Anmerkungsapparat als Die Spätantike [2. Aufl. 2007] erschienen.) Die Langobarden. Das Ende der Völkerwanderung. Hrsg. vom Landschaftsverband Rheinland/Rheinisches Landesmuseum Bonn. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2008. Eugen Ewig: Die Merowinger und das Frankenreich. 5. Auflage. Kohlhammer, Stuttgart 2006, ISBN 978-3170221604.(Standardwerk zum Frankenreich, allerdings in Einzelfragen überholt.) Patrick J. Geary: Europäische Völker im frühen Mittelalter. Zur Legende vom Werden der Nationen. Fischer, Frankfurt am Main 2002, ISBN 3-596-60111-8. (Kritische Sicht auf die lange gängige Betrachtung der spätantiken Volksgruppen als homogene Gebilde, stattdessen Darstellung der Vorgänge als komplexe Interaktion heterogener Gruppen und Faktoren.) Peter Geiss, Konrad Vössing (Hrsg.): Die Völkerwanderung. Mythos – Forschung – Vermittlung. V & R unipress/Bonn University Press, Göttingen 2021. Wolfgang Giese: Die Goten (= Kohlhammer-Urban-Taschenbücher. Band 597). Kohlhammer, Stuttgart 2004, ISBN 3-17-017670-6.(Gut lesbare Zusammenfassung auf dem neueren Forschungsstand.) Hans-Werner Goetz, Jörg Jarnut, Walter Pohl (Hrsg.): Regna and Gentes: The Relationship between Late Antique and Early Medieval Peoples and Kingdoms in the Transformation of the Roman World. Brill, Leiden u. a. 2003.(Sammelband mit wichtigen Beiträgen zu den einzelnen Reichsbildungen.) Walter A. Goffart: Barbarians and Romans AD 418–584. The Techniques of Accommodation. Princeton University Press, Princeton 1980, ISBN 0-691-10231-7.(Ein sehr einflussreiches Buch, das neue, umstrittene Erklärungsmuster für die Entstehung der Germanenreiche bietet.) Walter A. Goffart: Barbarian Tides: The Migration Age and the Later Roman Empire. University of Pennsylvania Press, Philadelphia 2006. Guy Halsall: Barbarian Migrations and the Roman West, 376–568. Cambridge University Press, Cambridge 2007, ISBN 978-0521435437.(Gut lesbare, aktuelle Darstellung der Völkerwanderungszeit unter Einbeziehung der neuesten Forschung, allerdings fast ohne Berücksichtigung der Vorgänge im östlichen Mittelmeerraum. Halsall grenzt sich vielfach kritisch von älteren Forschungspositionen ab und betont die Bedeutung innerrömischer Faktoren für die Ereignisse. Rezension bei Sehepunkte.) Peter J. Heather: The Fall of the Roman Empire: A New History. Macmillan, London 2005.(Gut lesbare, inhaltlich konservative Darstellung über das Ende des weströmischen Reichs. Heather betont den gewaltsamen und zerstörerischen Aspekt der Völkerwanderungszeit und die Rolle, die dabei die Hunnen und andere äußere Angreifer gespielt hätten.) Peter J. Heather: Goths and Romans, 332–489. Oxford University Press, Oxford 1991.(Wichtige Darstellung zu den Beziehungen zwischen Römern und Goten bis zum Ende des 5. Jahrhunderts.) Dirk Henning: Periclitans res Publica: Kaisertum und Eliten in der Krise des Weströmischen Reiches 454/5–493 n. Chr. Steiner, Stuttgart 1999.(Behandelt recht ausführlich die letzten Jahre Westroms und das Verhältnis des Kaisertums zur gesellschaftlichen Elite.) Reinhold Kaiser: Die Burgunder. Kohlhammer, Stuttgart u. a. 2004, ISBN 3-17-016205-5.(Gut lesbare Einführung zu den Burgunden.) Michael Kulikowski: Imperial Tragedy. From Constantine’s Empire to the Destruction of Roman Italy, AD 363–568. Profile Books, London 2019.(Zusammenfassende Darstellung, die sich insbesondere als Gegenentwurf zu den Arbeiten von Heather versteht und wie Halsall und Börm die innenpolitische Entwicklung im Imperium betont.) Otto Mänchen-Helfen: Die Welt der Hunnen. 1978, ND Wiesbaden 1997.(Standardwerk zur Geschichte und Kultur der Hunnen, wenngleich nicht mehr auf dem neuesten Forschungsstand und teils lückenhaft. Die dt. Bearbeitung ist dem amerikanischen Original vorzuziehen, da sie wichtige Ergänzungen enthält.) Jochen Martin: Spätantike und Völkerwanderung. 4. Auflage. Oldenbourg, München 2001, ISBN 3-486-49684-0. (4. Band in der Oldenbourg-Grundriss-der-Geschichte-Reihe mit sehr knapper Darstellung, Forschungstendenzen und umfangreicher Bibliografie, inzwischen jedoch überholt.) Mischa Meier: Geschichte der Völkerwanderung. Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahrhundert. C. H. Beck, München 2019, ISBN 978-3406739590.(Die derzeit aktuelle und umfassendste, sehr umfangreiche Gesamtdarstellung zur Völkerwanderungszeit; Besprechung bei Plekos; siehe auch die ausführliche Besprechung in Historische Zeitschrift 314, 2022, S. 113ff.) Mischa Meier: Der Völkerwanderung ins Auge blicken. Individuelle Handlungsspielräume im 5. Jahrhundert n. Ch. Verlag Antike, Heidelberg 2016, ISBN 978-3-938032-99-2. Mischa Meier (Hrsg.): Sie schufen Europa. C. H. Beck, München 2007.(Informative Darstellung der Zeit von Konstantin bis Karl dem Großen anhand biografischer Skizzen, verfasst von meist namhaften Forschern.) Andy Merrills, Richard Miles: The Vandals. Blackwell, Oxford-Malden/MA 2010. Walter Pohl: Die Völkerwanderung. 2. Auflage. Kohlhammer, Stuttgart u. a. 2005, ISBN 3-17-018940-9.(Wissenschaftlich fundierte, knappe Einführung. Derzeit eines der besten Überblickswerke.) Walter Pohl (Hrsg.): Kingdoms of the Empire. Brill, Leiden u. a. 1997. Verena Postel: Die Ursprünge Europas. Migration und Integration im frühen Mittelalter. Kohlhammer, Stuttgart 2004.(Einführung in die Völkerwanderungszeit mit Berücksichtigung der wichtigsten gentes.) Rom und die Barbaren. Europa zur Zeit der Völkerwanderung. Hirmer, München 2008.(Ausstellungskatalog mit zahlreichen Fachbeiträgen.) Klaus Rosen: Die Völkerwanderung. 2. Auflage. C. H. Beck, München 2003, ISBN 3-406-47980-4. (Beck Wissen. Knappe, aber gut lesbare Überblicksdarstellung.) Philipp von Rummel, Hubert Fehr: Die Völkerwanderung. Theiss, Stuttgart 2011.(aktuelle Einführung aus archäologischer Perspektive) Sebastian Scholz: Die Merowinger. Kohlhammer, Stuttgart 2015, ISBN 978-3-17-022507-7.(aktuelles Überblickswerk) Christopher A. Snyder: An Age of Tyrants: Britain and the Britons, AD 400–600. University Park/PA 1998.(Zusammenfassende Darstellung der Situation in Britannien zwischen 400 und 600.) Ernst Stein: Geschichte des spätrömischen Reiches. Band 1. Wien 1928.(Ältere, aber sehr detaillierte und quellennahe Darstellung.) Roland Steinacher: Rom und die Barbaren. Völker im Alpen- und Donauraum (300-600). Kohlhammer, Stuttgart 2017. Roland Steinacher: Die Vandalen. Aufstieg und Fall eines Barbarenreichs. Klett-Cotta, Stuttgart 2016, ISBN 978-3-608-94851-6.(Umfangreiche und aktuelle Überblicksdarstellung, die die Vandalen als römische Barbaren versteht, die kein Volk, sondern ein Kriegerverband gewesen seien.) Timo Stickler: Die Hunnen. München 2007, ISBN 3-406-53633-6.(Knappe, aber gut lesbare und informative Darstellung, die auch die neuesten Forschungsergebnisse einbezieht.) Edward A. Thompson: Romans and Barbarians. Madison/Wisconsin 1982.(Gut lesbare, einflussreiche Darstellung, die aber heute in vielen Punkten als überholt gilt.) Bryan Ward-Perkins: The Fall of Rome and the End of Civilization. Oxford University Press, Oxford 2005.(Sehr eindringlich verfasste, aber nicht unumstrittene Darstellung, in der Ward-Perkins essayartig die zerstörerische Wirkung der Germaneneinfälle betont und sich gegen die Vorstellung einer graduellen Transformation wendet.) Reinhard Wenskus: Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes. 2. Aufl. Köln 1977. (Sehr einflussreiches Werk zur Ethnogenese der germanischen gentes, wenngleich dieses Modell in der modernen Forschung teils kritisiert wird.) Chris Wickham: Framing the Early Middle Ages. Europe and the Mediterranean 400–800. Oxford University Press, Oxford 2005.(Die derzeit grundlegende sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Darstellung dieser Zeit.) Herwig Wolfram: Das Römerreich und seine Germanen: Eine Erzählung von Herkunft und Ankunft. Böhlau, Wien/Köln/Weimar 2018.(Stark überarbeitete und erweiterte Neuausgabe von Wolframs einflussreichem Buch Das Reich und die Germanen von 1990.) Herwig Wolfram: Geschichte der Goten. C. H. Beck, München 1979; 5. Auflage 2009 [veröffentlicht als Die Goten].(Die grundlegende Darstellung zu den Goten.) Weblinks Weblinks zur Völkerwanderungszeit Völkerwanderung: Die Germanen dringen ins römische Imperium von Gerhard Wirth, in: Die Weltgeschichte, Band 2: Antike Welten (bis 600 n. Chr.), hrsg. v. d. Brockhaus-Redaktion (1997) Die "Völkerwanderung" von Mischa Meier, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 26–27/2016, S. 3–10 Anmerkungen Historisches Zeitalter Migrationsgeschichte Geschichte (5. Jahrhundert) Geschichte (6. Jahrhundert) Frühmittelalter
12698
https://de.wikipedia.org/wiki/Papier
Papier
Papier (von , aus ‚Papyrusstaude‘) ist ein flächiger Werkstoff, der im Wesentlichen aus Fasern pflanzlicher Herkunft besteht und durch Entwässerung einer Fasersuspension auf einem Sieb gebildet wird. Das entstehende Faservlies wird verdichtet und getrocknet. Papier wird aus Faserstoffen hergestellt, die heute vor allem aus dem Rohstoff Holz gewonnen werden. Die wichtigsten Faserstoffe sind Zellstoff, Holzstoffe und Altpapierstoff. Das durch Papierrecycling wiederverwertete Altpapier ist mittlerweile die wichtigste Rohstoffquelle in Europa. Außer dem Faserstoff oder einer Faserstoffmischung enthält Papier auch Füllstoffe und weitere Zusatzstoffe. Es gibt rund 3000 Papiersorten, die nach ihrem Einsatzzweck in vier Hauptgruppen eingeteilt werden können: Grafisches Papier (Druck- und Schreibpapier), Verpackungspapier und -karton, Hygienepapier (z. B. Toilettenpapier, Papiertaschentücher) sowie die vielfältigen technischen Papiere und Spezialpapiere (z. B. Filterpapier, Zigarettenpapier, Banknotenpapier). Abgrenzung Papier, Karton, Pappe Papier, Karton und Pappe werden unter anderem anhand der flächenbezogenen Masse unterschieden. DIN 6730 vermeidet den Begriff Karton und unterscheidet allein Papier und Pappe, und zwar anhand des Grenzwerts 225 g/m² (Massenbelegung). Umgangssprachlich ist Karton jedoch eine übliche Bezeichnung für ein Material im Bereich 150 g/m² bis 600 g/m², das typischerweise dicker und steifer ist als Papier. Bei der Zuordnung zur flächenbezogenen Masse ergeben sich Überschneidungsbereiche zwischen Papier und Karton sowie zwischen Karton und Pappe: Teilweise werden im Fall der umgangssprachlichen Dreiteilung in Papier, Karton, Pappe bei den Überschneidungsbereichen andere Grenzwerte genannt, zum Beispiel: Das Mindest-Flächengewicht von Pappe wird je nach Quelle noch anders angegeben, zum Beispiel mit 220 g/m² oder auch 600 g/m². Die fließenden Gewichtsgrenzen beruhen auf Neuerungen in der Produktionstechnik. Das Flächengewicht ist somit als ein ungefährer Anhaltspunkt und als eines von mehreren Unterscheidungskriterien zu betrachten. Pseudopapiere Pseudopapiere (Papierähnliche) wie Papyrus, Tapa, Amatl und Huun – alle pflanzlichen Ursprungs – unterscheiden sich vom Papier vor allem durch die Technik der Herstellung: Pflanzliche Fasern werden durch Klopfen miteinander verbunden und zu einem Blatt geformt. Bei der Herstellung von richtigem Papier werden die Fasern in Wasser eingeweicht und voneinander getrennt. Dann müssen die Fasern als dünne Schicht auf ein Sieb gebracht, entwässert und getrocknet werden. Die ineinander verschlungenen, verfilzten Fasern bilden das Papier. Geschichte Frühe Schriftträger Höhlenzeichnungen sind die ältesten Dokumente, die der Mensch mit Pigment­farbe auf einen Untergrund gezeichnet hat. Die Sumerer, als Träger der ältesten bekannten Hochkultur, schrieben seit etwa 3200 v. Chr. mit Keilschrift auf weiche Tontafeln, die zum Teil durch Zufälle gebrannt, überliefert sind. Aus Ägypten sind Schriftträger aus anorganischen Materialien bekannt, beispielsweise die Narmer-Palette – eine Prunkpalette des Königs Narmer (3100 v. Chr.) aus Schiefer. Papierähnlichere sind aus Papyrus gefertigt. Dieses Papyrus(papier) besteht aus den flach geschlagenen, über Kreuz gelegten und gepressten Stängeln der am gesamten unteren Nil in ruhigen Uferzonen wachsenden Schilfpflanzen (echter Papyrus), die dünnen, gepressten Schichten werden dann zusammengeklebt (laminiert). Geschrieben wurde darauf mit schwarzer und roter Farbe. Die schwarze Tusche bestand aus Ruß und einer Lösung von Gummi arabicum, die rote Farbe wurde auf Ocker-Basis hergestellt. Das Schreibgerät war ein Pinsel aus Binsen. Papyrus wurde im Alten Ägypten seit dem dritten Jahrtausend v. Chr. als Schreibmaterial benutzt. Zwar gab es Papyrus im antiken Griechenland, jedoch war eine Verbreitung über Griechenland hinaus kaum bekannt. Im 3. Jahrhundert v. Chr. ersetzten die Griechen den Pinsel durch eine gespaltene Rohrfeder. Im Römischen Reich wurden sowohl Papyrus als auch Wachs­tafeln benutzt. In die Letzteren wurde der Text mittels angespitzter Griffel geritzt. Nach dem Auslesen wurde das Wachs mit einem Schaber geglättet und die Tafel konnte erneut beschrieben werden. Öffentliche Verlautbarungen wurden meist als dauerhafte Inschrift (Steintafeln oder Metallplatten) an Tempeln oder Verwaltungsgebäuden angebracht. Die Römer bezeichneten Papyrus-Rindenbast mit , aus dem sich später die Bezeichnung „Library“ (Bibliothek) entwickelte. In China wurden Tafeln aus Knochen, Muscheln, Elfenbein und Schildkrötenpanzer benutzt. Später bestanden Schrifttafeln aus Bronze, Eisen, Gold, Silber, Zinn, Jade, Steinplatten und Ton oder häufig aus organischem Material, wie Holz-, Bambusstreifen und Seide. Pflanzenblätter und Tierhäute wurden noch nicht als Schriftträger benutzt. Orakelknochen wurden mit Griffeln geritzt oder mit Tinte mit Lampenruß oder Zinnober als Pigment beschriftet. In Indien und Ceylon wurden die Blätter der Talipot-Palme etwa seit 500 v. Chr. benutzt (Palmblattmanuskripte), sowie Birkenrinde, Holzblöcke, -tafel und Baumwolllappen, außerdem Steintafeln, -blöcke. In den Hochkulturen des Alten Orients und des Mittelmeerraumes wurde von alters her Leder als Beschreibstoff verwendet. Wie Leder wird Pergament aus Tierhäuten hergestellt. Durch die Vorteile des Pergaments wurden im mittelalterlichen Europa andere Beschreibstoffe verdrängt. Die Tierhäute werden mit Pottasche oder Kalk gebeizt, gründlich gereinigt und aufgespannt getrocknet, es folgte das Schaben und die Oberflächenbearbeitung. In der neuen Welt wurde Huun, Amatl, ein papierähnlicher Beschreibstoff, bereits vor dem 5. Jahrhundert von den Maya hergestellt. Allerdings ist dieses Material, der Herstellungsart nach, eher dem Papyrus verwandt, denn es wird aus kreuzweise verpressten Baststrängen, nicht aber aus aufgeschlossenen Einzelfasern erzeugt. Der für die Papierdefinition essenziell wichtige Entwässerungsvorgang erfolgt weder auf einem Sieb noch durch mechanischen Wasserentzug. Insofern wäre es falsch, von einer Erfindung des Papieres in Amerika zu sprechen. Die tatsächliche und unabhängige Urherstellung von Papier lässt sich nur für Asien und Europa nachweisen. Erfindung des Papiers Obwohl es Funde aus China gibt, die auf etwa 140 v. Chr. datiert werden können und obwohl Xu Shen bereits um 100 n. Chr. die Herstellung von Papier aus Seidenabfällen beschrieb, wird die Erfindung des Papiers offiziell Ts'ai Lun zugeschrieben, der um 105 n. Chr. (Belegdatum der ersten Erwähnung der chinesischen Papierherstellungsmethode) ein Beamter der Behörde für Fertigung von Instrumenten und Waffen am chinesischen Kaiserhof war und erstmals das bekannte Verfahren, Papier herzustellen, beschrieb. Zu seiner Zeit gab es einen papierartigen Beschreibstoff, der aus Seidenabfällen hergestellt wurde (Chi). Diesen mischten die frühen Papiermacher vornehmlich mit Hanf, alten Lumpen und Fischernetzen und ergänzten das Material mit Baumrinde oder Bast des Maulbeerbaumes. Die chinesische Erfindung bestand vor allem in der neuartigen Zubereitung: Die gesäuberten Fasern und Fasernreste wurden zerstampft, gekocht und gewässert. Anschließend wurden einzelne Lagen mit einem Sieb abgeschöpft, getrocknet, gepresst und geglättet. Beim Schöpfen entstand an dem Papier eine „Schönseite“, die an der dem Sieb abgewandten Seite lag, und eine „Siebseite“, die an dem Sieb lag. Der entstehende Brei aus Pflanzenfasern lagerte sich als Vlies ab und war ein relativ homogenes Papierblatt. Diese Technik wurde vermutlich in Korea in einer eigenständigen Form seit dem 2. Jahrhundert n. Chr. angewandt. Ein Autor schrieb 2005, sie feiere seit vielen Jahren unter dem Namen Hanji () eine Renaissance. Da Bast ein Material ist, das im Vergleich zu dem verwendeten Holz längere Fasern und dadurch eine hohe zeitliche Haltbarkeit hat, war das Papier von Ts’ai Lun nicht nur zum Schreiben verwendbar, sondern auch für Raumdekorationen etwa in Form von Tapeten sowie Kleidungsstücken. Die Verwendung von Maulbeerbast lag nahe, da der Seidenspinner sich von den Blättern des Maulbeerbaums ernährte und somit dieses Material ein ohnehin vorhandenes Nebenprodukt aus der Seiden­produktion war. Wie alt die Verwendung von Bast ist, belegt die Gletschermumie Ötzi (ca. 3300 v. Chr.), der Kleidungsstücke aus Lindenbast trägt. Ostasien Bereits im 2. Jahrhundert gab es in China Papiertaschentücher, im 3. Jahrhundert wurden Leimstoffe (Stärke) hinzugefügt, daraus resultierte die Erfindung der Leimung (dünner Überzug, um Papier glatter und weniger saugfähig zu machen; die Tinte oder Tusche verläuft weniger stark), sowie die Färbung von Papier. Möglicherweise wurde schon die erste Zeitung (Dibao) herausgegeben. Im 6. Jahrhundert wurde Toilettenpapier aus billigstem Reisstrohpapier hergestellt. Alleine in Peking wurden jährlich zehn Millionen Päckchen mit 1000 bis 10.000 Blatt produziert. Die Abfälle an Stroh und Kalk bildeten bald große Hügel, „Elefanten-Gebirge“ genannt. Für Zwecke des chinesischen Kaiserhofes stellte die kaiserliche Werkstatt 720.000 Blatt Toilettenpapier her. Für die kaiserliche Familie waren es noch einmal 15.000 Blatt hellgelbes, weiches und parfümiertes Papier. Bekannt ist, dass um das Jahr 300 die Thais die Technik des schwimmenden Siebs zur Papierherstellung verwendeten. Das Bodengitter des Siebes war fest mit dem Rahmen verbunden. Jedes geschöpfte Blatt musste im Sieb trocknen und konnte erst dann herausgenommen werden. Entsprechend viele Siebe waren nötig. Um das Jahr 600 gelangte die weiter entwickelte Technik des Schöpfens mit dem Schöpfsieb nach Korea und wurde um 625 in Japan verwendet. Das frisch geschöpfte Blatt kann feucht entnommen und zum Trocknen ausgelegt werden. Diese Technik wird noch bei handgeschöpftem Papier verwendet. Daraus ergibt sich, dass das Schöpfsieb in der Zeit zwischen 300 und 600 erfunden wurde. In Japan wurde die Technik verbessert, indem der Faserbrei mit Pflanzenschleimen z. B. von Abelmoschus manihot aufgewertet wurde. Die Fasern waren gleichmäßiger verteilt, es traten keine Klümpchen auf. Dieses Papier wird als Japanpapier bezeichnet. Die Amtsrobe der japanischen Shintō-Priester, die auf die Adelstracht der Heian-Zeit zurückgeht, besteht aus weißem Papier (Washi), das vorwiegend aus Maulbeerbaum-Bast besteht. In der Tang-Dynastie wurde die Papierherstellung weiter stark verbessert, es wurde gewachst (Chinawachs, Bienenwachs), gestrichen, gefärbt und kalandriert. Um den steigenden Papierbedarf unter den Tang zu decken, wurden die Bambusfasern zur Papierproduktion eingeführt. Der chinesische Kaiser Gaozong (650 bis 683) ließ erstmals Papiergeld ausgeben. Auslöser war ein Mangel an Kupfer für die Münzprägung. Seit dem 10. Jahrhundert hatten sich Banknoten in der Song-Dynastie durchgesetzt. Ab etwa 1300 waren sie in Japan, Persien und Indien im Umlauf und ab 1396 in Vietnam unter Kaiser Tran Thuan Tong (1388–1398). Im Jahr 1298 berichtete Marco Polo in seiner Reisebeschreibung (Il Milione) über die starke Verbreitung des Papiergeldes in China, wo es zu dieser Zeit eine Inflation gab, die den Wert auf etwa ein Prozent des ursprünglichen Wertes fallen ließ. Im Jahr 1425 wurde das Papiergeld allerdings wieder abgeschafft, um die Inflation zu beenden. Um das Inumlaufbringen von Falschgeld zu erschweren, wurde Papiergeld zeitweise aus einem Spezialpapier gefertigt, das Zusätze an Seidenfasern, Insektiziden und Farbstoffen enthielt. Arabische Welt Wann genau das erste Papier in der arabischen Welt produziert wurde, ist umstritten. So wird als Datum 750 oder 751 genannt, als vermutlich bei einem Grenzstreit gefangengenommene Chinesen die Technik der Papierherstellung nach Samarkand gebracht haben sollen. Andererseits gibt es Erkenntnisse, die zu der Annahme führen, dass in Samarkand bereits 100 Jahre früher Papier bekannt war und auch hergestellt wurde. Als Papierrohstoff wurden Flachs und Hanf (Hanfpapier) sowie Bast des Maulberbaums benutzt. Im 9. Jahrhundert wurde dieser Zweig zu einem der wichtigsten Wirtschaftsfaktoren der Stadt Samarkand. Allmählich eroberte das besonders dünne und glatte samarkandische Papier die Märkte in der gesamten orientalischen Welt. Es war leichter zu beschreiben und für die arabische Schrift weit besser geeignet als ägyptisches Papyrus und durch die Massenproduktion mit Hilfe von bis zu 400 wassergetriebenen Papiermühlen am Fluss Siyob viel billiger als das in Europa verwendete Pergament. Bis ins 10. Jahrhundert wurde der größte Teil der arabischen Literatur auf Papier aus Samarkand geschrieben. In Bagdad wurde um 795 die Papierherstellung aufgenommen, 870 erschien dort der erste Papiercodex. Papiergeschäfte waren wissenschaftliche und literarische Zentren, die von Lehrern und Schriftstellern betrieben wurden. Das Haus der Weisheit entstand nicht zufällig zu dieser Zeit in Bagdad. In den Kanzleien des Kalifen Hārūn ar-Raschīd wurde auf Papier geschrieben. Es folgten Papierwerkstätten in Damaskus, Kairo, in nordafrikanischen Provinzen bis in den Westen. Die Araber entwickelten die Herstellungstechnik weiter, durch die Einführung der Oberflächenleimung. Man mischte Lumpen und Stricke, diese wurden zerfasert und gekämmt, dann in Kalkwasser eingeweicht, dann zerstampft und gebleicht. Diese Pulpe schmierte man an eine Wand zum Trocknen. Anschließend wurde sie mit einer Stärkemischung glattgerieben und in Reiswasser getaucht um die Poren zu schließen. Genormte Flächenmaße wurden eingeführt, 500 Bogen waren ein Bündel (rizma), worauf der noch in der Papierwirtschaft übliche Begriff Ries zurückgeht. Vom 8. bis zum 13. Jahrhundert dauerte die hohe Blütezeit des islamischen Reiches. Als Kulturzentrum zog Bagdad Künstler, Philosophen und Wissenschaftler, insbesondere Christen und Juden aus Syrien, an. Indien In Indien wurde das Papier ab dem 13. Jahrhundert unter islamischem Einfluss eingeführt und begann in Nordindien das bis dahin vorherrschende Palmblatt als Schreibmaterial abzulösen. Die indischen Papiermanuskripte sind aber durch das Vorbild der Palmblattmanuskripte beeinflusst. So wurde das Querformat (das bei Palmblattmanuskripten durch die natürlichen Dimensionen der Palmblätter vorgegeben ist) beibehalten. An die Stelle der Löcher für den Bindfaden, der bei Palmblattmanuskripten die einzelnen Blätter zusammenhält, traten bei den Papiermanuskripten rein ornamentale Kreise. Im westlichen Nordindien ersetzte Papier das Palmblatt bis zum 15. Jahrhundert komplett. In Ostindien blieb das Palmblatt bis ins 17. Jahrhundert in Gebrauch. In Südindien konnte sich Papier dagegen nicht durchsetzen. Hier blieb das Palmblatt bis zum Aufkommen des Buchdrucks im 19. Jahrhundert das bevorzugte Schreibmaterial. Europa Über den Kulturkontakt zwischen dem christlichen Abendland und dem arabischen Orient sowie dem islamischen Spanien gelangte das Schreibmaterial seit dem 11. Jahrhundert nach Europa. Ein bedeutender Teil der Ausgangsmaterialien für die frühe europäische Papiererzeugung bestand aus Hanffasern, Flachsfasern (Leinen) und Nesseltuch, die Papiermühlen kauften die erforderlichen Hadern von den für sie arbeitenden Lumpensammlern. In Xàtiva bei Valencia gab es nach einem Reisebericht von Al-Idrisi bereits in der Mitte des 12. Jahrhunderts eine blühende Papierwirtschaft, die auch in die Nachbarländer hochwertige Produkte exportierte. Nach der Vertreibung der Araber aus Spanien blieb das Gebiet um Valencia bedeutend für die Papierwirtschaft, weil dort viel Flachs (Leinen) angebaut wurde, der ein hervorragender Rohstoff für die Papierherstellung ist. Das sogenannte Missale von Silos ist das älteste erhaltene christliche Buch aus handgeschöpftem Papier. Es stammt aus dem Jahr 1151 und wird in der Bibliothek des Klosters Santo Domingo de Silos in der Provinz Burgos (Spanien) aufbewahrt. Die maschinelle Massenproduktion von Papier begann im mittelalterlichen Europa; europäischen Papiermachern gelang es in kurzer Zeit, den Arbeitsprozess durch die Einführung zahlreicher – den Chinesen und Arabern unbekannter – Innovationen zu optimieren: Der Betrieb wassergetriebener Papiermühlen mechanisierte den bis dahin nur in Handarbeit oder mit Tieren im Kollergang praktizierten Zerkleinerungsvorgang. Derartige Wassermühlen, eisenbewehrte Lumpen-Stampfwerke, sind erstmals ab 1282 bezeugt. Das Reißen der Lumpen mit einem Sensenblatt löste die umständliche Praxis des Reißens von Hand oder Schneidens mit Messer oder Schere ab. Papierpressen, konstruiert in Anlehnung an antike Kelter, trockneten das Papier durch Schraubpressdruck. Ebenfalls völlig neu war die Konstruktion des Schöpfsiebs, bei dem ein Metallgeflecht an die Stelle der älteren Bambus- oder Schilfsiebe trat. Das starre Schöpfsieb aus Metalldraht war die technische Voraussetzung für das Anbringen des zur Kennzeichnung dienenden Wasserzeichens, einer italienischen Erfindung. Die Verfeinerung der Papierqualität zu erschwinglichen Preisen trug kurze Zeit später wesentlich zum Erfolg des von Johannes Gutenberg erfundenen modernen Buchdrucks bei. Mit der Ausbreitung der Schriftlichkeit in immer weitere Bereiche der Kultur (Wirtschaft, Recht, Verwaltung und Weitere) trat das Papier gegenüber Pergament seit dem 14. Jahrhundert seinen Siegeszug an. Ab der Mitte des 15. Jahrhunderts begann mit dem Buchdruck auf dem billigeren Papier, das Pergament als Beschreibstoff in den Hintergrund zu treten. Allerdings dauerte es bis ins 17. Jahrhundert, bis es vom Papier weitgehend verdrängt wurde. In der Folge spielte Pergament nur noch als Luxusschreibmaterial eine Rolle. Verbreitung der Papierherstellung in Europa Die erste deutsche Papiermühle entstand 1389/1390 bei Nürnberg. Gegründet wurde die Gleismühl vom Ratsherrn und Exportkaufmann Ulman Stromer. Stromer unternahm Geschäftsreisen, unter anderem auch in die Lombardei, und kam dort mit der Papierherstellung in Berührung. Stromer ließ Mitarbeiter und Erben einen Eid ablegen, die Kunst der Papierherstellung geheim zu halten. Die Gleismühl bestand aus zwei mit Wasserkraft angetriebenen Werkseinheiten. Die kleinere Mühle wies zwei Wasserräder auf, die größere verfügte über drei. Insgesamt wurden 18 Stampfen angetrieben. 1389 bis 1394 leitete Stromer selbst die Papiermühle und verpachtete sie dann gegen eine Pacht von „30 Ries gross Papier“ an Jörg Tirman, seinen Mitarbeiter. Die Schedelsche Weltchronik von 1493 zeigt sie als früheste Darstellung einer Papiermühle auf der Darstellung der Stadt Nürnberg. Die Gleismühle brannte später ab. Ab 1393 ist die Papierherstellung in Ravensburg nachgewiesen. Im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit entwickelte sich die oberschwäbischen Reichsstadt zum größten Papierherstellungszentrum im Südwesten. Für das 15. und 16. Jahrhundert wird die Produktion in bis zu sieben Papiermühlen auf etwa 9000 Ries (etwa 4,5 Millionen Blatt) jährlich geschätzt. In Basel begann die Papierherstellung 1433 während des Konzils von Basel. Der Handelsmann und Bürger Heinrich Halbisen der Ältere (um 1390 bis 1451) errichtete in der Allenwinden-Mühle vor dem Riehentor eine Papiermühle, die mit Hilfe von italienischen Papiermachern bis 1451 betrieben worden ist. Unterdessen waren im linksrheinischen St. Albantal innerhalb der Stadtmauern, auf dem Gelände des Klosters St. Alban (Benediktiner des Cluniazenserordens) am Gewerbekanal (genannt St. Alban-Teich) weitere Papiermühlen in Betrieb genommen worden. Heinrich Halbisen der Jüngere (um 1420 bis um 1480) betrieb dort drei Mühlen bis um 1470. Seine Wasserzeichen sind das halbe Hufeisen, der Ochsenkopf und das gotische «p», sowie der Dreiberg mit Kreuz. Benachbart waren dort Anton Gallizian (um 1428–1497), ein Papiermacher, und seine zwei Brüder aus Casella im Piemont (bei Turin), welche die Klingental-Mühle kauften und 1453 zur Papiermühle umrüsteten. Ihr Wasserzeichen war das Antoniuskreuz über dem Ochsenkopf. Dank der im Fernhandel jener Zeit gut vernetzten Basler Handelsgesellschaften verbreitete sich Basler Papier rasch in ganz Nordeuropa. Nachgewiesen ist im 15. Jahrhundert die Verwendung von Basler Papier unter anderem 1447 in Moskau, 1457 in Frankfurt am Main und Heidelberg, 1460 in Lübeck und Mainz, 1464 in Braunschweig und Köln, 1471 in Xanten, 1475 in Kopenhagen, Zürich, Innsbruck und Rostock, 1479 in Nürnberg und Venedig, 1481 in London, 1485 in Schlesien, 1487 in Königsberg. Umgekehrt wurde im ganzen 15. Jahrhundert in Basel auch Papier aus Italien und Frankreich verwendet. Im 15. Jahrhundert bestanden in Basel 8 Papiermühlen, 2 vor dem Tor bei Riehen, sechs im St. Albantal. Unter den 18 Besitzern war eine Frau. Von den Papieren sind 38 mit Namen bekannt, darunter zwei Frauen. Den Papierabsatz förderte in der Folge die Gründung der Universität Basel im Jahr 1460, ebenso der Buchdruck, der 1468 von Berthold Ruppel, einem Gesellen Gutenbergs, in Basel eingeführt wurde. Nun wurde Basel zu einem der Zentren des Humanismus nördlich der Alpen. In den historischen Mühlengebäuden im St. Albantal ist heute ein Museum für Papier, Schrift und Druck eingerichtet unter dem Namen Basler Papiermühle. Östlich der Elbe entstanden die ersten Papiermühlen erst Mitte des 17. Jahrhunderts. Francois Feureton aus Grenoble gründete mit Unterstützung des Friedrich Wilhelm zunächst eine Papierfabrik in Burg und dann in Prenzlau. Technische Entwicklung bis zum 19. Jahrhundert in Europa Die benötigten Zellstofffasern wurden bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts aus Hadern gewonnen, also aus Lumpen und abgenutzten Leinentextilien. Lumpensammler und -händler versorgten die Papiermühlen mit dem Rohstoff. Lumpen waren zeitweise so begehrt und rar, dass für sie ein Exportverbot bestand, das auch mit Waffengewalt durchgesetzt wurde. In den Papiermühlen wurden die Hadern in Fetzen geschnitten, manchmal gewaschen, einem Faulungsprozess unterzogen und schließlich in einem Stampfwerk zerfasert. Das Stampfwerk wurde mit Wasserkraft angetrieben. Die Rohstoffaufbereitung erfolgte noch im 17. Jahrhundert in handwerklich organisierten Betrieben sowie teilweise in größeren Manufakturen mit einem höheren Grad der Arbeitsteilung. Im frühen 18. Jahrhundert wurden halbmechanische Lumpenschneider eingeführt, die zunächst nach dem „Fallbeilprinzip“ sowie später nach dem „Scherenprinzip“ arbeiteten. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgte der Übergang, statt des Faulens und Reinigens von Hadern, mit Chlor zu bleichen. Der Verlust an Fasern war so geringer, es konnten außerdem auch farbige Stoffe zu weißem Papier verarbeitet werden. Die typische Archivordnung in farbigen Aktendeckeln stammt beispielsweise noch aus der Zeit, als echt gefärbte blaue und rote Lumpen nur zu rosa oder hellblauem Papier verarbeitet werden konnten. Erst im 19. Jahrhundert kommen andersfarbige Aktendeckel (etwa gelb) hinzu. Aus dem dünnen Papierbrei (Stoff) in der Bütte (= Bottich, daher der Name des Büttenpapiers) schöpfte der Papiermacher das Blatt mit Hilfe eines sehr feinmaschigen, flachen, rechteckigen Schöpfsiebes aus Kupfer von Hand. Das Schöpfsieb zeichnet sich durch einen abnehmbaren Rand, den Deckel, aus. Die Größe des Papierbogens wurde von der Größe des Siebes bestimmt. Nun drückte der Gautscher den frischen Bogen vom Sieb auf ein Filz ab, während der Schöpfer den nächsten Bogen schöpfte. Nach dem Gautschen wurden die Bögen in großen trockenen Räumen, vornehmlich auf Speichern und Dachböden, zum Trocknen aufgehängt. Anschließend wurde das Papier nochmals gepresst, geglättet, sortiert und verpackt (eine Pauscht entspricht 181 Bogen Papier). Handelte es sich um Schreibpapier, wurde es geleimt. Dazu wurde es in Leim getaucht, gepresst und getrocknet. Der Leim hindert die Tinte am Verlaufen. Bei Handarbeit, die nur bei Fasern – und somit Papier – hoher Qualität angewendet wird, nehmen die Fasern keine bevorzugte Richtung ein (Isotropie). Der moderne technische Durchbruch begann sich mit der Erfindung des „Holländers“ um 1670 abzuzeichnen. Es handelt sich um eine Maschine, die den Faserbrei (Pulpe) nicht mehr durch reine Schlageinwirkung aufschließt, sondern durch eine kombinierte Schneid- und Schlageinwirkung. Der Holländer bot aufgrund der hohen Rotationsgeschwindigkeit einen schnelleren Faserdurchgang als das Stampfwerk. Somit stieg die Produktivität der Faseraufbereitung. Üblicherweise wurden Holländer anfangs dort eingesetzt, wo nur geringe Wasserkraft zur Verfügung stand (geringe Antriebsmomente, aber hohe Drehzahlen möglich) und/oder eine Feinzeugaufbereitung einem großen Stampfwerk nachgeschaltet werden sollte. Das Zeitverhältnis für 1 kg Ganzstoff liegt bei etwa 12:1 (Stampfzeit/Holländerzeit), wobei die schonende Stampfung eindeutig den besseren Halbstoff ergibt. Der Holländer wurde in deutschen Papiermühlen ab etwa 1710 umfassend eingesetzt. Durch den höheren möglichen Eintrag im Holländer (ca. 15 kg Stoff im Gegensatz zu 2–5 kg im Stampfwerk) und die geringere erforderliche Mannkapazität verbreitete sich das Gerät schnell. Der Holländer ist wartungsärmer als ein Stampfwerk, was sich bei den Reinvestitionskosten erheblich bemerkbar machte. Später wurden dann direkt aus dem Holländerprozess die ersten Stetigmahlerkonstruktionen (Jordan-Mühle Kegelstoffmühle, Scheibenrefiner) entwickelt. Papiermacher Ein Papiermacher ist ein Handwerker, der Papier herstellt. In der Gegenwart ist er in einer Papiermühle mit entsprechenden Produktionseinrichtungen (industrielle Papierfabrik) tätig. Seit dem Jahr 2005 heißt der Beruf nach der Klassifikation in Deutschland Papiertechnologe. In der größten Zahl der Fälle hat jeder leitende Papiermüller ein Wasserzeichen verwendet, das allein für seine Wirkungszeit typisch war. Da die Papiermacher ein Beruf mit einer ausgeprägten Berufstradition innerhalb bestimmter Familien waren, ergänzen sich genealogische und Wasserzeichenforschung gegenseitig. Aus diesem Grunde ist das Deutsche Buch- und Schriftmuseum in der Deutschen Bücherei in Leipzig zugleich Standort einer Papiermacherkartei (siehe Verkartung), in der die Daten von über 8000 Papiermachern, Papiermühlenbesitzern, Lumpensammlern und Papierhändlern samt ihren Familien erfasst worden sind, und einer Kartei der Papiermühlen mit den Papiermachern, die jemals auf ihnen erwähnt worden sind. Industrialisierung Der Mangel an Lumpen, Hadern, die für die Papierherstellung notwendig waren, wurde zum Engpass der Papierherstellung. Deshalb wurde bereits um 1700 nach Alternativen für die Hadern gesucht. Der französische Physiker René-Antoine Ferchault de Réaumur schrieb 1719 der französischen Akademie der Wissenschaften in Paris: Einen skurril anmutenden Beitrag lieferte der Arzt Franz Ernst Brückmann zu Wolfenbüttel, der sich vornehmlich mit „Erdgewächsen und Mineralien“ befasste. Entsprechend schlug er zur Lösung des Rohstoffproblems Asbestpapier vor und ließ 1727 zu Braunschweig einige Exemplare seines Werkes „Historiam naturalem curiosam lapidis …“ oder kurz „Historia naturalis de asbesto“ auf Asbestpapier abdrucken. Das Buch enthielt auf diesen unverbrennlichen Bogen auch sein eigenes Bildnis – um „unsterblich“ zu werden. Frühe und zukunftsweisende Versuche, und sogleich in gewerbsmäßiger Größenordnung, wurden durch den vielseitig genialen braunschweigischen Oberjägermeister Johann Georg von Langen unternommen, denn im Juni 1753 – unter Verweis auf ältere Berichte – gibt er Rechenschaft gegenüber seinem Landesherrn (Carl I.) ab über eine am „Holzminder Bach erbauete Reibe-Mühle, mit Vorstellung des Gebrauchs, so künftig von solcher Mühle zu machen“. Auf dieser Mühle „Porcellain-Masse“ zu mahlen hatte sich gerade zerschlagen, weshalb v. Langen vorschlug, es könne „diese Mühle mit wenig Kosten mit zu Verfertigung des Pack- und anderen Papiers, so aus Holtz gemacht wird, gebrauchet werden.“ Entsprechend hielt er um die herzogliche Konzessionierung an und vermerkte, dass sich „solche (‚Holtz-Papier-Mühle‘) durch Verfertigung einer so gemein nützigen Kauffmanns Waare nicht allein verinteressieren“ würde (wegen der Neuartigkeit dieser Technologie), sondern mit der Zeit völlig bezahlt machen würde. Denn er habe „eine neue Art Papier von Holtz Materie erfunden“, so dass um 1760/61 die Aussicht bestand, der Lumpenbedarf werde mit der Zeit spürbar vermindert werden können. Weiteres steht hier leider noch aus. Von Langen hatte sich durchaus auch mit anderen vegetabilischen Stoffen wie 1756 etwa der Verwendung von „Rohr zum Packpapier“ befasst. Doch umfassendere Experimente führte Jacob Christian Schäffer durch, um Papier aus Pflanzenfasern oder Holz zu gewinnen; dies beschrieb er in sechs Bänden „Versuche und Muster, ohne alle Lumpen oder doch mit einem geringen Zusätze derselben, Papier zu machen“ zwischen 1765 und 1771. Seine Verfahren zur Papierherstellung aus Pappelwolle, Moos, Flechten, Hopfen, Weinreben, Disteln, Feldmelde Atriplex campestris, Beifuß, Mais, Brennnesseln, Aloe, Stroh, Rohrkolben, Blaukohlstrunken, Graswolle, Maiglöckchen, Seidenpflanzen, Ginster, Hanfschäben, Kartoffelpflanzen, Torf, Waldreben, Tannenzapfen, Weiden- und Espenholz sowie Sägespänen und Dachschindeln ergaben aber kein qualitativ gutes Papier und wurden deshalb von den Papiermüllern nicht verwendet. Gleichwohl, inspiriert durch die Schäfferschen Versuche, fanden diese im braunschweigischen Räbke bei Helmstedt ihre Neuauflage. Hier wurden im Jahre 1767, unter Anleitung des braunschweigischen Professors Justus Friedrich Wilhelm Zachariae, Experimente mit anderen „vegetabilischen“ Stoffen als den bisher unentbehrlichen weißen Leinen-Lumpen vorgenommen. Dabei wurden von Fachleuten (Papierfabrikanten) Erprobungen mit durchaus aussichtsreichen Materialien wie der Wilden Karde (Weberdistel), Flachs, Hanf, Baumwolle und schließlich gar mit „Pappelweide“ bzw. dem „gemeinen Weidenbaum“ durchgeführt, also auch mit zukunftsweisenden Holzarten. 1756 In den zu Preußen gehörenden Ländern wird das Lumpenausfuhrverbot erlassen und die Mitführung eines Lumpenpasses durch die Lumpensammler vorgeschrieben. 1774 Die Verwendung von Altpapier als Rohstoff für neues wird durch die Publikation des Göttinger Professor Justus Claproth „Eine Erfindung, aus gedrucktem Papier wiederum neues zu machen und die Druckfarbe völlig auszuwaschen“ eingeleitet. (Deinking-Verfahren) 1784 Der französische Chemiker Claude Louis Graf Berthellet wendet bei der Papierherstellung die Chlorbleiche an. 1798 erhielt der Franzose Nicholas-Louis Robert ein Patent auf eine Längssiebmaschine, die eine maschinelle Fabrikation des Papiers ermöglichte. Bei dieser Papierschüttelmaschine wurde das Schöpfen des Papierbreis durch dessen Aufgießen auf ein rotierendes Metallsieb ersetzt. 1804 Der Engländer Bryan Donkin vervollkommnet die Langsieb-Papiermaschine. 1805 Die erste Rundsiebmaschine wird auf den englischen Mechaniker Joseph Bramah patentiert. 1806 Die Harzleimung des Papiers bereits im Papierbrei, also im Herstellungsprozess, wird vom Uhrmacher Moritz Friedrich Illig aus Erbach im Odenwald erfunden. 1820 Der Engländer Th. B. Crompton meldet Patent zur Trocknung der Papierbahn. Friedrich Gottlob Keller erfand Anfang Dezember 1843 das Verfahren zur Herstellung von Papier aus Holzschliff, wobei er auf einem Schleifstein Holz in Faserquerrichtung mit Wasser zu Holzschliff verarbeitete, der zur Herstellung von qualitativ gutem Papier geeignet war. Er verfeinerte das Verfahren bis zum Sommer 1846 durch die Konstruktion von drei Holzschleifermaschinen. Am 11. Oktober 1845 ließ er eine Reihe von Exemplaren der „Nummer 41“ des Intelligenz- und Wochenblattes für Frankenberg mit Sachsenburg und Umgebung auf seinem Holzschliffpapier drucken. Die industrielle Auswertung seiner Erfindung blieb Friedrich Gottlob Keller versagt, weil ihm die Geldmittel zur technischen Erprobung fehlten und die Patentierung des Verfahrens vom Sächsischen Ministerium des Inneren verweigert wurden. So übertrug er am 20. Juni 1846 die Rechte zur Nutzung des Verfahrens gegen ein geringes Entgelt an den vermögenden Papierfabrikanten Heinrich Voelter, der das Kellersche Holzschliffverfahren weiterentwickelte, in die Praxis einführte und durch die Entwicklung von Hilfsmaschinen zur großtechnischen Nutzung brachte. Ab 1848 arbeitete Voelter mit dem Heidenheimer Papierfabrikanten Johann Matthäus Voith zusammen mit dem Ziel, Papier zur Massenware zu machen. Voith entwickelte das Verfahren weiter und erfand im Jahr 1859 den Raffineur, eine Maschine, die das splitterreiche Grobmaterial des Holzschliffs verfeinert und dadurch eine deutliche Verbesserung der Papierqualität herbeiführt. Seit etwa 1850 wurde der Holzschleifer eingesetzt, mit dem die Papierherstellung aus dem preiswerten Rohstoff Holz im industriellen Maßstab möglich wurde; um 1879 arbeiteten allein in Deutschland rund 340 solcher Holzschleifereien. Die größte Rohstoffnot wurde durch den Einsatz von Holzschliff zwar gemildert, auf Hadern konnte jedoch nicht zur Gänze verzichtet werden. Die älteste erhaltene Holzschleiferei ist die Kartonfabrik von Verla in Finnland, die 1882 erbaut wurde. Die 1964 stillgelegte Fabrikanlage wurde 1996 in das Verzeichnis des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen. Die Holzschliffpapiere erwiesen sich wegen der in der Schliffmasse enthaltenen Restanteile verschiedener saurer Substanzen als problematisch. Diese Säureanteile stammen aus dem chemischen Aufschlussprozess, der für die Behandlung des zerfaserten Holzstoffes (Lignocellulose) im industriell verbreiteten Sulfitverfahren zwangsläufig benötigt wird. Aus der Schwefligen Säure und ihren Salzen entstehen durch Luftoxidation und Hydrolyse reaktionsrelevante Mengen an Schwefelsäure. Durch die anhaltende Luft- und Luftfeuchteeinwirkung bilden sich weiterhin organische, chemisch sehr aktive Substanzen im Papier. Andere Aufschlussverfahren arbeiten mit Chlorverbindungen und Essigsäure. Diese komplexen Wirkungsmechanismen führen zur Vergilbung sowie zu einer erheblichen Verringerung der Reißfestigkeit, Nassfestigkeit und Biegesteifigkeit im Endprodukt, was sich als „Brüchigkeit“ des Papieres bemerkbar macht. Die verringerte Stabilität im Papier ist eine Folge der durch Säure katalysierten Spaltung des Cellulose­moleküls, die in Form einer fortschreitenden Kettenverkürzung abläuft. Hauptursache für das Vergilben des Holzschliffpapiers sind das Lignin und seine hierbei entstehenden Zersetzungsprodukte (überwiegend aromatische Verbindungen). Häufig wird das Holzschliffpapier fälschlicherweise mit säurehaltigem Papier gleichgesetzt. Das säurehaltige Papier ist eine Folge des Herstellungsprozesses und einiger chemischer Zusätze seiner Leimung. Holzschliffpapier vergilbt besonders stark und verliert schnell seine Elastizität. Billiger Holzschliff und die 1806 erfundene Leimung mit verseiften Harzen wurden massenhaft eingesetzt, so dass insbesondere Papiererzeugnisse (Bücher, Graphiken, Zeitungen, Landkarten) seit der Erfindung der Holzschlifftechnologie durch Friedrich Gottlob Keller nach 1846 und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgrund beider Ursachen in besonderer Weise den inneren Schadwirkungen unterliegen. Die Restaurierung ist kompliziert und bei hohen Zerfallsraten der Zellulose nur noch durch Massenentsäuerung und nachträgliche Stabilisierungsverfahren wie durch das Papierspaltverfahren möglich. So hat das Holzschliffpapier nicht nur einen Nutzen für die kostengünstige Herstellung von Papier gebracht, sondern auch einen großen Schaden für die schriftliche Überlieferung des 19. und 20. Jahrhunderts. 1850 Erfindung der Kegelstoffmühle (Jordan-Mühle). 1854–1857 Die Engländer Watt, Burgess und Houghton stellen mittels Natronverfahren Holzzellstoff her. 1866–1878 Der Amerikaner Benjamin Chew Tilghman und der Deutsche Alexander Mitscherlich entwickeln auf der Grundlage des Ritter-Kellner-Verfahrens den Sulfitzellstoff durch den chemischen Aufschluss von Holz. um 1870 Stroh als Rohstoff für Papier kann gebleicht werden. 1872 Der Braunschliff von Papier, 1869 von Moritz Behrend (Varzin, Pommern), erfunden, wird vom Papiermacher Oswald Mayh in Zwickau eingeführt. Bereits zur Wiener Weltausstellung 1873 wurde das System erfolgreich präsentiert. 1872 Die preußischen Länder heben das Lumpenausfuhrverbot auf. 1884 Erfindung des Sulfat-Zellstoff-Verfahrens durch C. F. Dahl. 1909 William H. Millspaugh erfindet die Saugwalze. 1919 Die ersten Papiere aus halbsynthetischen Fasern (regenerierte Cellulose) werden durch F. H. Osborne gefertigt. 1921 Beginn der Chlordioxid-Bleiche. 1945 Kontinuierliche Stoffaufbereitung (Pulper und Refiner verdrängen Kollergang und Holländer). 1948 Erste Magnesiumbisulfit-Anlage mit Chemikalienrückgewinnung. 1955 Das erste Papier aus vollsynthetischen Fasern (Polyamid) wird durch J. K. Hubbard hergestellt. ab 1980 Entwicklung der chlorfreien Bleiche Seit den 1980er Jahren wird für den Druck hochwertiger Publikationen und Grafiken überwiegend ein „alterungsbeständiges Papier“ oder „säurefreies Papier“ verwendet. Dieses ist durch geeignete chemische Zusätze frei von freien Säuren und freien Chloriden und wird in der DIN EN ISO 9706 genormt. Technische Entwicklung im 21. Jahrhundert 2017 Erstmalige Herstellung von mit Nanopartikeln beschichtetem Papier, das in Kombination mit UV-Licht-Druck bis zu 80 mal neu bedruckt werden kann, sofern es vor jedem neuen UV-Druck auf 120 °C erhitzt wurde. Industrielle Herstellung Unabhängig von der Faserart kann Papier in Handarbeit oder maschinell hergestellt werden. Für die maschinelle Erzeugung hat sich die Papierindustrie (Wirtschaftszweig „Herstellung von Papier, Karton und Pappe“) etabliert. Papier besteht hauptsächlich aus Cellulosefasern, die wenige Millimeter bis zu einigen Zentimetern lang sind. Die Cellulose wird zunächst weitgehend freigelegt, also von Hemicellulosen, Harzen und anderen Pflanzenbestandteilen getrennt. Der so gewonnene Zellstoff wird mit viel Wasser versetzt und zerfasert. Diesen dünnen Brei nennt der Papiermacher „Stoff“ oder „Zeug“. Wenn dieser in einer dünnen Schicht auf ein feines Sieb gegeben wird, hat er einen Wassergehalt von über 99 % (Papiermaschinenauflauf) beziehungsweise etwa 97 % bei der Handschöpferei. Ein Großteil des Wassers tropft ab. Das Sieb muss bewegt werden, sodass sich die Fasern möglichst dicht über- und aneinander legen und ein Vlies, das Papierblatt, bilden. Wenn das Papier getrocknet ist, kann die Oberfläche mit Hilfe von Stärke, modifizierter Cellulose (beispielsweise Carboxymethylcellulose) oder Polyvinylalkohol geschlossen werden. Dieser Vorgang wird als Leimung bezeichnet, obwohl der Begriff Imprägnierung der richtige wäre. Leimung erfolgt mit Harzseifen oder Alkylketendimeren innerhalb des Stoffes (Masseleimung in der Papiermaschine oder Bütte). Wird auf dem Handschöpf- oder Rundsieb ein Muster aus Draht angebracht, lagern sich an dieser Stelle weniger Fasern ab, und das Muster ist beim fertigen Papier zumindest im Gegenlicht als Wasserzeichen zu erkennen. Wasserzeichen werden fast ausschließlich nur noch auf der Papiermaschine als Egoutteurwasserzeichen gefertigt. Rohstoffe Die wichtigsten Rohstoffe für die industrielle Papierherstellung sind Holz und Altpapier. Daneben werden bestimmte Einjahrespflanzen als Rohstoffquelle genutzt. Alle cellulosehaltigen Stoffe sind grundsätzlich zur Papierherstellung geeignet, zum Beispiel Apfelschalen. Aus den Papierrohstoffen werden die Faserstoffe (Halbstoffe) hergestellt. Zu den Primärfaserstoffen, die nur einmal oder erstmals zur Produktion eingesetzt werden, zählen Holzstoff, Halbzellstoff und Zellstoff. Der aus Altpapier hergestellte Altpapierstoff ist ein Sekundärfaserstoff (Recyclingstoff). Holz Zu nahezu 95 % wird Papier aus Holz (in Form von Holzstoff, Halbzellstoff, Zellstoff oder Altpapier) hergestellt. Faserbildung und Härte des Holzes spielen bei der Auswahl als Papierrohstoff eine Rolle, nicht jedes Holz ist für jede Papierart gleich gut geeignet. Häufig werden Nadelhölzer wie Fichte, Tanne, Kiefer und Lärche verwendet. Aufgrund der längeren Fasern gegenüber Laubhölzern verfilzen diese Fasern leichter und es ergibt sich eine höhere Festigkeit des Papiers. Aber auch Laubhölzer wie Buche, Pappel, Birke und Eukalyptus werden gemischt mit Nadelholz-Zellstoff eingesetzt. Sehr kurzfaserige Harthölzer werden nur für hoch ausgerüstete Spezialpapiere verwendet. Die Verfügbarkeit und die regionalen Gegebenheiten bestimmen hauptsächlich, welche Holzart als Primärrohstoff eingesetzt wird, wobei seit den 1960er Jahren große Mengen an Holz für die Papierherstellung mit sogenannten Holzspänetransportern weltweit über See verschifft werden. Allerdings muss beachtet werden, dass die Eigenschaften des gewinnbaren Zellstoffes mit der gewünschten Papierbeschaffenheit korrelieren. Schnellwüchsige Hölzer wie Pappeln kommen dem großen Bedarf entgegen, eignen sich jedoch nur für voluminöse, weiche und weniger reißfeste Papiere. Zellstoffe aus Laubhölzern haben kürzere und dünnere Fasern als jene aus Nadelhölzern. Entsprechend den späteren Anforderungen an das Papier werden unterschiedliche Mischungen von diesen Kurzfaser- und Langfaserzellstoffen beziehungsweise Hart- und Weichfaserstoffen eingesetzt. Die Steuerung der Eigenschaften kann geringfügig über den Aufschlussprozess und die spätere Mahlung variiert werden. So kann ein Fichtenzellstoff sowohl mit Natronlauge hart erkocht werden als auch langfaserig und weicher im Sulfatverfahren. Altpapier Zunehmend ist die Bedeutung von Altpapier als Sekundärrohstoff. Papierabfälle werden bis zu 100 % für weniger wertvolle Papiersorten eingesetzt. Bei Feinpapieren gewinnt moderner Deinkingstoff immer höhere Einsatzanteile. LWC-Papiere enthalten teilweise bis zu 70 % Altpapier-Stoff ohne nennenswerte Einbuße in der Gebrauchsfähigkeit. Altpapier hat in den 2010er Jahren einen Anteil von 61 % an den in Deutschland zur Produktion von Papier, Karton und Pappe eingesetzten Rohstoffen erreicht. Da Altpapier bereits einmal zu Papier verarbeitet wurde, enthält es viele Zusatzstoffe und wurde bereits gemahlen. Die Fasern werden durch die erneute Verarbeitung zu Papier weiter geschädigt, der Anteil der Zusatzstoffe im Verhältnis zu den Faserstoffen nimmt zu. In der Praxis werden Papierfasern im Schnitt nur fünf- bis sechsmal rezykliert. Einjährige Pflanzen In Europa und Amerika werden vereinzelt Weizen und Roggen zur Strohfasergewinnung genutzt. Grassorten aus Nordafrika wie Alfa- und Espartogras können verwendet werden. In Japan wird noch immer Reisstroh verwendet, in Indien ist es schnell wachsender Bambus. Mengenmäßig spielen diese Faserstoffe weltweit im Vergleich zu Zellstoff aus Holz keine große Rolle. Zellstoffe aus Einjahrespflanzen zeigen größtenteils Eigenschaften wie die typischen Nadelholzzellstoffe und werden deshalb als Surrogate für diese eingesetzt (etwa Espartogras statt Fichte). Hanf eignet sich zur Herstellung von Papier. Hadern Bis ins 19. Jahrhundert waren Hadern (Lumpen) in Europa der wichtigste Papierrohstoff. Hadernpapier wird noch für besondere und stark beanspruchte Papiere verwendet, insbesondere für Sicherheitspapiere (zum Beispiel Papiere für Banknoten, Wertpapiere, Briefmarken) oder als hochwertiges Schreibpapier und im künstlerischen Bereich für Aquarelle oder Kupferstiche. Cellulose Die Cellulose ist die eigentliche, qualitativ hochwertige Fasergrundlage eines jeden Papieres. Cellulose ist ein Polysaccharid mit der angenäherten chemischen Formel (C6H10O5)n, aus dem fast alle Zellwände von Pflanzen und Hölzern bestehen. Cellulose kann aus Holz, Altpapier, Einjahrespflanzen (beispielsweise Stroh) und Hadern gewonnen werden. Cellulosemoleküle bestehen aus hunderten bis zu zehntausenden, kettenförmig miteinander verknüpften Glukosemolekülteilen. Aus zwei Glukosemolekülen entsteht durch Abspaltung eines Moleküls Wasser (Kondensation) zunächst ein Cellobiose-Molekül. Die Kette wird durch ein weiteres Glukose- oder Cellobiosemolekül verlängert, wobei wiederum ein Molekül Wasser abgespaltet wird. Diese Reaktion führt Schritt für Schritt zu immer längeren Kettenmolekülen. Die Kettenmoleküle lagern sich an einander und bilden so Molekülbündel Mizellen. Zahlreiche dieser Bündel parallel nebeneinander ergeben eine Fibrille. Erst eine größere Anzahl Fibrillen bildet dann die sichtbare Cellulosefaser. Die Molekülbündel haben kristalline Bereiche mit regelmäßiger Molekül-Anordnung und amorphe Bereiche mit unregelmäßiger Molekülanordnung. Die kristallinen Bereiche sind für die Festigkeit und Steifheit, die amorphen Bereiche für die Flexibilität und Elastizität der Fibrillen und damit des Papiers verantwortlich. Die Länge der Ketten variiert je nach Papierrohstoff und ist für die Qualität und Alterungsbeständigkeit von großer Bedeutung. Aufbereitung von Halbstoff Mechanische Aufbereitung Weißer Holzschliff Weißschliff entsteht aus geschliffenen Holzstämmen. Dazu werden geschälte Holzabschnitte mit viel Wasser in Pressenschleifern oder Stetigschleifern zerrieben. (vergleiche auch Holzschleifer) Im gleichen Betrieb wird die stark verdünnte Fasermasse zu Papier verarbeitet oder zum Versand in Pappenform gebracht. Dies geschieht mit Entwässerungsmaschinen. Brauner Holzschliff Braunschliff entsteht, wenn Stammabschnitte erst in großen Kesseln gedämpft und dann geschliffen werden. Thermomechanischer Holzstoff Thermomechanischer Holzstoff (TMP) entsteht aus gehäckselten Holzabfällen und Hackschnitzeln aus Sägereien. Diese werden im TMP-Verfahren (Thermo-mechanical-Pulp-Verfahren) bei 130 °C gedämpft. Die Lignin-Verbindungen zwischen den Fasern lockern sich dadurch. Anschließend werden die Holzstücke in Refinern (Druckmahlmaschinen mit geriffelten Mahlscheiben) und Zusatz von Wasser gemahlen. Thermomechanischer Holzstoff hat im Vergleich zum Holzschliff eine gröbere Faserstruktur. Werden außerdem Chemikalien zugesetzt, handelt es sich um das chemo-thermomechanische Verfahren (CTMP). Durch rein mechanische Verfahren gewonnener Holzstoff (RMP) besteht nicht aus den eigentlichen Fasern, sondern aus zerriebenen und abgeschliffenen Faserverbindungen, diese werden verholzte Fasern genannt. Um die elementaren Fasern zu gewinnen, ist eine chemische Aufbereitung des Holzes notwendig. Chemische Aufbereitung Holzschnitzel werden in einem Kochprozess chemisch behandelt. Die Fasern werden durch zwölf- bis fünfzehnstündiges Kochen von den Inkrusten, den unerwünschten Holzbestandteilen, Begleitstoffen von Cellulose getrennt. Chemisch betrachtet besteht Holz aus: 40 % bis 50 % Cellulose 10 % bis 15 % Hemicellulose 20 % bis 30 % Lignin 6 % bis 12 % sonstigen organischen Stoffen 0,3 % bis 0,8 % anorganischen Stoffen Es gibt das Sulfatverfahren, das Sulfitverfahren und das Natronverfahren, die nach den eingesetzten Kochchemikalien unterschieden werden. Das Organocell-Verfahren ist eine neue Entwicklung. Vor allem enthaltenes Restlignin färbt den Zellstoff nach dem Kochen gelblich bis braun, er muss also gereinigt und gebleicht werden. Restlignin und andere unerwünschte Stoffe werden beim Bleichen herausgelöst, chemische Aufhellung beseitigt Verfärbungen. Der gebleichte Zellstoff wird entwässert. Er wird nun entweder direkt zu Papier verarbeitet oder zu Rollen aufgewickelt. Die Ausbeute ist bei der Zellstoffherstellung geringer als bei der Holzstoffherstellung. Zellstofffasern aber haben den Vorteil, dass sie länger, fester und geschmeidiger sind. Aus Nadelholz gewonnene Zellstofffasern sind ca. 2,5 mm bis 4 mm lang, aus Laubholz gewonnene sind etwa 1 mm lang. Der größte Teil, ca. 85 % des benötigten Zellstoffs, vor allem Sulfatzellstoff, wird aus den skandinavischen Ländern, USA und Kanada importiert. Sulfatzellstoff ist im Vergleich zu Sulfitzellstoff langfaseriger und reißfester, somit wird er hauptsächlich für die Herstellung hochweißer Schreib- und Druckpapiere verwendet. Sulfitzellstoff findet überwiegend Verwendung bei der Herstellung weicher Hygienepapiere. Zellstoffbleiche Der Faserstoff muss gebleicht werden, damit daraus weißes Papier entstehen kann. Traditionell wurde der Zellstoff mit Chlor gebleicht. Das führt jedoch zu einer hohen Belastung der Abwässer mit organischen Chlorverbindungen (AOX). Modernere Verfahren ersetzten Chlor durch Chlordioxid für ECF-Zellstoffe (elemental chlorine free, ohne elementares Chlor). Aufgrund der höheren Oxidationswirkung und der besseren Selektivität von Chlordioxid sinkt die AOX Belastung um 60 bis 80 %. Wird vollständig auf Chlorverbindungen verzichtet und Sauerstoff, Ozon, Peroxoessigsäure und Wasserstoffperoxid verwendet, wird der Zellstoff mit TCF (totally chlorine free) bezeichnet. Papier aus ECF-Zellstoffen wird als chlorarm bezeichnet, (es sind noch Chlorverbindungen vorhanden). Chlorarme Druckpapiere sind in hochweißer Qualität schon ab einer flächenbezogenen Masse von 51 g/m² herstellbar, chlorfreie erst ab 80 g/m². TCF-Zellstoff hat eine geringere Faserfestigkeit als chlorgebleichter oder ECF. Vorwiegend aus Holzstoff hergestelltes Papier heißt holzhaltig, im Handel mittelfein. Da Lignin, Harze, Fette und Gerbstoffe im Faserbrei verbleiben, sind sie von geringerer Qualität als holzfreie Papiere. Organocell-Verfahren Das Anfang der 1990er Jahre in Kelheim erprobte, aber wirtschaftlich gescheiterte Organocell-Verfahren dient der schwefelfreien und damit umweltfreundlicheren Zellstoffproduktion. In mehreren Kochstufen werden die Holzschnitzel in einem Ethanol-Wasser-Gemisch unter Zusatz von Natronlauge bei Temperaturen von bis zu 190 °C unter Druck aufgeschlossen. Dabei lösen sich Lignin und Hemicellulose. Es folgen verschiedene Waschstufen, in denen der Zellstoff von der Kochflüssigkeit befreit wird, sowie das Bleichen und Entwässern. Der Zellstoff wird in drei Stufen gebleicht: im alkalischen Milieu mit Sauerstoff unter Verwendung von Wasserstoffperoxid mit Wasserstoffperoxid oder Chlordioxid mit Wasserstoffperoxid Ethanol und Natronlauge, die Kochchemikalien, werden in einem Recyclingverfahren, welches parallel zur Zellstoffproduktion abläuft, zurückgewonnen. Es werden schwefelfreies Lignin und schwefelfreie Hemicellulose gewonnen, die von der chemischen Industrie verwendet werden können. Strohzellstoff Durch Zerkleinern und Kochen in Natronlauge wird aus Stroh der Halbstoff Strohzellstoff oder, bei anderer Aufbereitung, gelber Strohstoff. Kugelkocher und Pulper Im Kugelkocher werden Hadern gekocht. Dazu werden sie zunächst sortiert, im Haderndrescher gereinigt. Mit Kalklauge und Soda werden die Hadern unter Dampfdruck von 3 bar bis 5 bar im Kugelkocher gekocht. Dabei werden Farbstoffe zerstört, Fett verseift und Schmutz gelöst. Während des mehrstündigen Kochens lockert sich das Gewebe der Hadern und sie lassen sich anschließend leicht zu Halbstoff zerfasern. Der Pulper (Stoffauflöser) ist eine Bütte mit rotierendem Propeller. In ihm wird nach Güteklassen sortiertes, zu Ballen gepresstes Altpapier mit viel Wasser zerkleinert und mechanisch aufgelöst. So werden die Fasern des Altpapiers geschont. Dieser Arbeitsgang wurde früher häufig mit dem Kollergang durchgeführt. Der pumpfähige Faserbrei ist noch verunreinigt. Er gelangt im Pulper in einen Zylinder und wird von einem Rotor zerfasert. Dann wird der grob gelöste Stoff durch ein Sieb gedrückt. Infolge der Zentrifugalkraft werden grobe Verunreinigungen ausgeschieden. An der Zylinderachse sammelt sich der leichte Schmutz. Weitere Fremdstoffe wie Wachse und Druckfarben werden in Spezialanlagen herausgelöst. Entfärbung von Altpapier Beim Deinking werden die Druckfarben mit Hilfe von Chemikalien (Seifen und Natriumsilicat) von den Fasern des Altpapiers gelöst. Durch Einblasen von Luft bildet sich an der Oberfläche des Faserbreis Schaum, in welchem sich die Farbbestandteile sammeln und abgeschöpft werden können. Dieses Trennverfahren heißt Flotation. Faserstoffmahlung Bei der Faserstoffmahlung werden die Halbstoffe in Refinern (Kegelstoffmühle) weiter zerfasert. Als dicker Brei fließt das Halbfertigprodukt im Refiner zwischen einer Messerwalze und seitlich befestigten Grundmessern hindurch. Die Fasern werden dabei zerschnitten (rösche Mahlung) oder zerquetscht (schmierige Mahlung), je nach Einstellung der Messer. Die Enden der gequetschten Fasern sind fibrilliert (ausgefranst), was bei der Blattbildung zu einer besseren Verbindung der Fasern führt. Weiche, voluminöse, saugfähige und samtige Papiersorten entstehen aus rösch gemahlenen Fasern, etwa Löschpapier. Schmierig gemahlene Fasern führen zu festen harten Papieren mit geringer Saugfähigkeit und wolkiger oder gleichmäßiger Transparenz wie für transparentes Zeichenpapier, aber auch Urkunden-, Banknoten- und Schreibmaschinenpapier. Außerdem können die Fasern bei der Mahlung lang oder kurz gehalten werden, wobei die langen Fasern stärker verfilzen als die kurzen. Es ergeben sich daraus vier verschiedene Möglichkeiten der Mahlung. Faserlänge und Mahlart bestimmen Faser- und Papierqualität. Übliche Kombinationen sind „rösch und lang“ oder „schmierig und kurz“. Die Messer des Refiners liegen bei der Kurzfasermahlung sehr eng aneinander, sodass fast kein Zwischenraum vorhanden ist. Aufbereitung zum Ganzstoff Zur Herstellung des Ganzstoffes gehören das Mischen der verschiedenen Halbstoffe sowie die Zugabe von Füllstoffen, Farbstoffen und weiteren Hilfsstoffen. Füllstoffe Neben den Faserstoffen werden bis zu 30 % Füllstoffe dem Ganzstoff hinzugefügt. Diese können sein: Kaolin (Porzellanerde, engl. China clay): In der Vergangenheit war Kaolin das bei der Papierherstellung am meisten verwendete Pigment. Kaolin bleibt über ein weites pH-Spektrum chemisch inert und kann deshalb nicht nur in sauren', sondern auch in alkalischen Produktionsverfahren verwendet werden. Etwa seit 1990 ist der Anteil des Kaolins bei der Papierherstellung jedoch deutlich zurückgegangen, da es sowohl als Füllstoff als auch als Streichpigment nach und nach durch Calciumcarbonat ersetzt wurde. Kaolin ist das bevorzugte Material bei der sauren Papierherstellung. Bei der sauren Papierherstellung ist der Einsatz von Calciumcarbonat nicht sehr verbreitet, da dieses aufgrund chemischer Reaktionen mit der Säure zerstört wird und deshalb die ihm zugedachte Funktion nicht mehr erfüllt. Im letzten Jahrzehnt war in der Papierindustrie ein Trend von der Verwendung von Kaolin hin zu Calciumcarbonat zu beobachten. Dieser Trend ist durch mehrere Faktoren verursacht worden: Zum einen durch die steigende Nachfrage nach weißerem Papier und durch die Weiterentwicklung von gefälltem Calciumcarbonat (PCC), die seinen Einsatz in Streichanwendungen für Papier und in mechanischen Druckverfahren erst ermöglichte, zum anderen durch die zunehmende Verwendung von Recyclingpapier, die stärkere und weißere Pigmente, die Carbonate, erforderlich macht. Talkum: Talkum verringert die Porosität von Papier und wird daher zur Verbesserung der Bedruckbarkeit ungestrichener Papiere eingesetzt. Seine Eigenschaften unterscheiden sich jedoch erheblich von denen des Calciumcarbonats. Durch die Verwendung von hochpreisigem Talkum zur Beeinflussung der Holzfaserkörnung werden die Laufeigenschaften des Papiers verbessert. Der Glanz und die erreichte Lichtstreuung liegen jedoch unter denen von Calciumcarbonat. Titanweiß (Titandioxid): Mit Titandioxid können eine hohe Opazität, eine gute Lichtstreuung und ausgezeichneter Glanz erzielt werden, aber dieses Material ist um ein Vielfaches teurer als Calciumcarbonat und wird daher nicht in standardmäßigen Füll- oder Streichanwendungen eingesetzt. Es wird für die Herstellung von hochwertigem Papier mit kleinen Auftragsmengen, wie für Bibeln, verwendet. Stärke Bariumsulfat: Blanc fix Calciumcarbonat a) Gemahlenes Calciumcarbonat (GCC): Die chemische Formel CaCO3 bezeichnet einen Rohstoff, von dem es überall auf der Welt natürliche Vorkommen gibt. Trotz der Vielzahl der Lagerstätten sind nur einige von so hoher Qualität, dass der Rohstoff außer im Bausektor und im Straßenbau auch in der Industrie und in der Landwirtschaft verwendet werden kann. Die wichtigsten für die Herstellung von GCC verwendeten CaCO3-haltigen Materialien sind Sedimentgesteine (Kalkstein oder Kreide) und das metamorphe Gestein Marmor, die sowohl im Tagebau als auch unter Tage abgebaut werden. Anschließend werden in einem Siebeverfahren Schlamm und Verunreinigungen wie farbige Silikate, Graphit und Pyrit entfernt. Nach der Siebung wird der Rohstoff weiter zerkleinert und gemahlen, bis die für die betreffende Anwendung erforderliche Körnung erreicht ist. Marmorsplitt aus hochwertigen Lagerstätten kann ohne weitere Bearbeitung direkt an die GCC-Werke geliefert werden. GCC wird aus verschiedenen Quellen (Kalkstein, Kreide, Marmor) gewonnen und hat ein großes Helligkeitspektrum. Wenn ein hoher Helligkeitsgrad erforderlich ist, bevorzugt die Papierindustrie in der Regel Marmor. Kalkstein und Kreide können verwendet werden, haben jedoch einen niedrigeren Helligkeitsgrad. Als Füllstoff enthält GCC zu 40 bis 75 % Körner mit einer Größe von weniger als 2 µm. Mit der Umstellung von der sauren auf die alkalische/neutrale Papierherstellung hat GCC das Kaolin als führendes Füllstoffpigment abgelöst. GCC ist zwar ein wichtiger Papierfüllstoff, in Europa wird er jedoch in erster Linie als Papierstreichpigment verwendet. b) Gefälltes Calciumcarbonat (PCC): PCC ist ein synthetisches Industriemineral, das aus gebranntem Kalk oder dessen Rohstoff, Kalkstein, hergestellt wird. In der Papierindustrie, die der größte Abnehmer von PCC ist, dient das Material als Füllstoff und als Streichpigment. Im Gegensatz zu anderen Industriematerialien ist PCC ein synthetisches Produkt, das geformt und modifiziert werden kann, um dem herzustellenden Papier unterschiedliche Eigenschaften zu verleihen. Die physikalische Form des PCC kann sich im Reaktor erheblich verändern. Variable Faktoren sind unter anderem die Reaktionstemperatur, die Geschwindigkeit, mit der Kohlenstoffdioxidgas zugesetzt wird, und die Bewegungsgeschwindigkeit. Diese Variablen beeinflussen die Körnung und die Kornform des PCC, seine Oberflächengröße und Oberflächenchemie sowie die Korngrößenverteilung. Zwar ergeben sich daraus, dass mithilfe des PCC die Eigenschaften des Papiers gesteuert werden können (größere Helligkeit, Lichtundurchlässigkeit und Dicke als bei GCC), viele Vorteile, PCC kann jedoch nicht unbegrenzt als Füllstoff verwendet werden, da er die Faserfestigkeit reduziert. PCC wird auch als Papierstreichpigment verwendet, jedoch sind die verwendeten Mengen im Vergleich zu den Mengen des als Papierfüllstoff verwendeten PCC gering. Weitere Füllstoffe: In verschiedenen Anwendungen mit geringen Auftragsmengen kommen zahlreiche andere Minerale zum Einsatz. Dazu gehören Gips, Bentonit, Aluminiumhydroxid und Silicate. Diese Minerale werden jedoch nur in sehr geringem Umfang eingesetzt und erreichen lediglich einen Anteil von 3 % an den in der Papierindustrie eingesetzten Pigmenten. Durch das Ausfüllen der Zwischenräume zwischen den Fasern machen die Füllstoffe das Papier weicher und geschmeidiger und geben ihm eine glatte Oberfläche. Der Massenanteil der Füllstoffe drückt sich in der „Aschezahl“ aus. Bei Spezialpapieren, die, wie im Fall des „Theaterprogrammpapieres“, raschelfrei sein sollen, wird ein hoher Aschegehalt mit langen Fasern kombiniert. Zigarettenpapier wird stark gefüllt, damit es glimmt und nicht abbrennt. Die Zusammensetzung und Kristallstruktur der Füllstoffe bestimmen Transparenz und Opazität eines Papiers sowie die Farbannahme beim Druck mit wegschlagenden Farben. Für die Tintenfestigkeit hingegen ist Leim notwendig. Füllstoffe können teilweise die Eigenschaften der Farbstoffe übernehmen. Viele Pigmentfarbstoffe sind ein effektiver Füllstoff. Farbstoffe Auch weiße Papiere enthalten manchmal Farbstoffe, die in unterschiedlichen Mengen zugesetzt werden, denn optische Aufheller zählen zu den Farbstoffen. Es werden für Buntfarben vor allem synthetische Farbstoffe verwendet. Wichtig beim Papierfärben ist die Abstimmung des Farbsystems auf die Fasereigenschaften und das verwendete Leimungssystem. Grundsätzlich werden saure (substantielle, selbstaufziehende) Farbstoffe und alkalische oder saure Entwicklungs- also Verlackungsfarbstoffe eingesetzt. Erstere sind einfach in der Anwendung, reagieren aber empfindlich auf pH-Wert-Schwankungen mit mangelhafter Fixierung. Letztere neigen, der nötigen Fällungsreaktion wegen, zur Verlackung jenseits der Faser, sodass ein Großteil der Flotte unwirksamen Farbverlust aufweist. Farbstoffe reagieren vorzugsweise auf Cellulose oder Holzbestandteile, selten auf beides. Die Auswahl des richtigen Systems passend zum zu färbenden Zellstoff ist wichtig. Eine Sondergruppe stellen die natürlichen oder Pigmentfarbstoffe (Körperfarben) dar. Beide sind nur begrenzt wirksam, da sie meist durch Einlagerung im Lumen und durch Kapillarretention im Blatt gehalten werden. Intensivtönungen sind nur mit Küpenfärbung (Indigo) oder Rotpigmenten (Rotlack, Cochenille) möglich. Leimungsstoffe Leim macht das Papier beschreibbar, weil es weniger saugfähig und weniger hygroskopisch wird. Leimung ist in der Papiermacherei die Hydrophobierung der Fasern. Die Leimstoffe sind chemisch modifizierte (verseifte) Baumharze in Kombination mit sauren Salzen, wie Kalialaun oder Aluminiumsulfat. Auch Polymere auf Basis von Acrylaten oder Polyurethanen werden eingesetzt. Neben verschiedenen Harzen werden zunehmend ASA (Alkenyl Succinic Acids = Alkenylbernsteinsäureanhydride) und Alkylierte Ketendimere (AKD, Ketenleimung) zur Leimung von Papier eingesetzt. Die früher häufig verwendete, saure Leimung mit Harzsäuren und Alaun ist der Hauptgrund dafür, dass so geleimte Papiere bei der Archivierung zerstört werden. Das statt des Alauns benutzte Aluminiumsulfat kann durch überschüssige Restionen Schwefelsäure bilden, die wiederum die Cellulose zerstört. So wird die Leimung meist im neutralen oder schwach alkalischen pH-Bereich durchgeführt. Einige Papierfarbstoffe verlangen aber eine saure Leimung, wobei die Einstufung sauer oder alkalisch sich lediglich auf den prozessbedingten pH-Wert der Bütte bezieht, nicht auf das fertige Endprodukt. Die Wahl der Papierleimung wird ebenfalls durch nachfolgende Arbeitsschritte beeinflusst. Nach dem Bedrucken kann Bindemittel der Druckfarbe in das Papier wegschlagen, den Leimgrad senken und die Beschreibbarkeit des bedruckten Papiers deutlich verringern. Prinzipiell wird bei der Leimung zwischen Masseleimung und der Oberflächenleimung unterschieden. Bei der Masseleimung wird das Leimungsmittel der Flotte zugegeben, bei der Oberflächenleimung wird das schon fertige Papier beschichtet. Verseifte Harze, Alkylketendimere und ASA sind typische Masseleimungsmittel, polymere Leimungsmittel wie Gelatine oder Stärkederivate sind eher als Oberflächenleimungsmittel im Gebrauch. Über den möglichen Einsatz als effektives Masseleimungsmittel entscheiden vor allem die Eigenretention und der technisch mögliche Einsatz von Retentionschemikalien. Nassfestmittel Unbehandeltes Papier wird mechanisch unbeständig, wenn es feucht oder nass wird. Durch die Aufspaltung der Wasserstoffbrücken unter Wasserzutritt verliert das Faservlies seinen inneren Zusammenhalt. Papier wird deshalb als hydroplastisch bezeichnet. Um auch im nassen Zustand eine – wenn auch beschränkte – mechanische Festigkeit zu erhalten, werden dem Papier bei der Herstellung Nassfestmittel zugesetzt. Reißfestes Küchenkrepp dürfte das bekannteste Papier dieser Klasse sein, aber auch Kartons, Landkartenpapiere oder Sicherheitspapier für Geldnoten enthalten große Mengen Nassfestmittel. Nassfestmittel sind im Verarbeitungszustand wasserlösliche Polymere, die vorrangig aus Polyaminen und Epichlorhydrinderivaten hergestellt werden und mit den Papierfasern reagieren. Dabei bilden sich wasserunlösliche Quervernetzungen zwischen den Fasern, die den Papierfilz stabilisieren. Die kovalente Vernetzung verhindert jedoch ein erfolgreiches Recycling, so dass der zunehmende Einsatz von Nassfestmitteln im Hygienepapierbereich weitreichende Konsequenzen für die Altpapierverwertung hat. Der Anfall von unlösbaren Stippen im normalen Löseprozess ist beständig steigend. Werden Nassfestmittel (ähnlich wie Bitumenklebstoffe) chemisch aufgebrochen, so degradiert die Faser untypisch schnell. Die Altpapierqualität nimmt somit schneller ab als bei normalen Recyclingprozessen. Nassfestmittel dürfen nicht mit Leimungschemikalien (beispielsweise AKD) verwechselt werden, da der chemo-physikalische Wirkprozess verschieden ist. So ist etwa ein nassfestes, ungeleimtes Papier nach wie vor hoch kapillar, wohingegen ein überleimtes Papier sich trotzdem nach langem Wasserzutritt zerfasern lässt. Weitere Hilfsstoffe Zu den weiteren Hilfsstoffen zählen Entschäumer, Dispergiermittel, Retentionsmittel, Flockungsmittel und Netzmittel. Papiermaschine Auf der Papiermaschine wird die Papierbahn gebildet. Folgende Maschinenstationen sind hintereinander geschaltet: Stoffauflauf Siebpartie Nasspressenpartie Trockenpartie Aufrollung Blattbildung Die Blattbildung findet bei der industriellen Papierproduktion auf der Papiermaschine statt. Der gereinigte und entlüftete Papierbrei, welcher zu ca. 99 % aus Wasser besteht, wird im Stoffauflauf zu einem dünnen, möglichst gleichförmigen Strahl geformt. Dieser trifft bei Langsiebpapiermaschinen auf ein rotierendes, endloses Sieb (siehe dazu auch Metalltuch). Auf dem Sieb orientieren sich die Fasern vermehrt in dessen Bewegungsrichtung, was zu unterschiedlichen Eigenschaften des Papiers in Längs- und Querrichtung führt (siehe Laufrichtung). In der Siebpartie der Papiermaschine läuft innerhalb weniger Sekunden ein sehr großer Teil des Wassers ab und die Papierstruktur entsteht. Hierbei tragen unter dem Sieb angebrachte Sauger sowie Pulsationen erzeugende Foils zur Entwässerung des Faserstoffs bei. Oftmals wird versucht, die Temperatur der Suspension zu erhöhen (beispielsweise über Dampfblaskästen), was über eine niedrigere Viskosität ebenfalls die Entwässerung fördert. Soll das Papier ein Wasserzeichen enthalten, ist dieses in das Sieb eingearbeitet oder wird von oben mittels einer sogenannten Egoutteurwalze aufgebracht. Auf Langsiebpapiermaschinen gefertigtes Papier hat wegen der einseitigen Entwässerung in der Regel eine ausgeprägte Zweiseitigkeit: Die Oberseite ist glatter als die Unterseite, die Füllstoffe sind nicht gleichmäßig verteilt. Abhilfe verschafft hier teilweise die Entwässerung über ein zweites Sieb nach oben (sogenannte Hybrid-Former), die zudem die Gesamtentwässerungsleistung erhöht. Langsiebpapiermaschinen geraten jedoch spätestens ab Geschwindigkeiten von ca. 1200 m/min an physikalische Grenzen, da die erzeugten Luftverwirbelungen über dem Langsieb die Formation zerstören. Moderne Papiermaschinen, insbesondere für graphische Papiere und Tissue, produzieren jedoch mit Geschwindigkeiten von bis zu 2000 m/min bei Arbeitsbreiten von mehr als zehn Metern. Daher sind für diese Maschinen andere Stoffauflaufkonzepte entwickelt worden, sogenannte Gap-Former: Hierbei wird der Papierbrei direkt in einen Spalt zwischen zwei rotierende Siebe gespritzt. Neben der höheren Laufgeschwindigkeit bieten Gap-Former eine deutlich gleichmäßigere Entwässerung und damit verminderte Zweiseitigkeit. Pressen und Trocknen Am Ende des Siebes wird die weiche Papierbahn auf einen Filz übergeben und gelangt in die Pressenpartie. Traditionelle Pressenpartien bestehen aus drei bis vier aufeinanderfolgenden Pressen, in denen die Papierbahn mittels gegeneinandergepresster Walzen zwischen Filzen entwässert wird. Seit Anfang der 1990er Jahre hat sich jedoch zunehmend das Konzept der Schuhpresse durchgesetzt, bei der eine Walze den Filz und das Papier in einen polymerbespannten Schuh presst. Dies hat eine deutlich größere Niplänge zur Folge, womit sich eine schonendere und zugleich stärkere Entwässerung erzielen lässt. In der Trockenpartie findet schließlich die endgültige Entwässerung statt. Hier läuft die Papierbahn durch eine Anzahl dampfbeheizter Trockenzylinder und wird anschließend geglättet und aufgerollt. In einigen Fällen (hochglatte und scharf satinierte Papiere) wird vor dem endgültigen Aufrollen noch ein weiterer Glättungsschritt im Kalander vollzogen. Gestrichenes Papier Gestrichenes Papier (auch Kunst- oder Bilderdruckpapier) ist ein Papier, bei dem die Oberfläche mit einer aus Pigmenten, Bindemittel und Additiven bestehenden Streichfarbe („Strich“) veredelt ist. Das Papier bekommt eine geschlossene, glatte und stabile Oberfläche, wodurch eine bessere Qualität beim Druck erreicht wird. Normmaße für Papier Die bekanntesten international genormten Papierformate sind diejenigen der A-Reihe nach DIN 476 Papierformat, die seit 2002 teilweise durch EN ISO 216 ersetzt ist. In einigen Ländern wie den Vereinigten Staaten und Kanada werden andere Formate verwendet. Papierverarbeitung Zur Verarbeitung von Papier, insbesondere dem Zuschneiden auf bestimmte Formate, steht eine Reihe an Werkzeugen zu Verfügung. Von alters her Schere und Papiermesser, in neuerer Zeit Papierschneidemaschinen: Rollenschneider, überwiegend für den heimischen Gebrauch zur Zurichtung von einem oder wenigen Bögen an Papier (oder Photographien); meist bestehend aus einem Schnittbrett mit Linealfunktionen und einer Schnittleiste. Hebelschneider in verschiedenen Ausführungsgrößen vom Hausgebrauch bis zum kleingewerblichen Gebrauch etwa in Graphikstudios oder kleinen Copyshops, die mehrere Bögen gleichzeitig schneiden und auf einem eigenen Gestell montiert sein können, die über Sicherheitsmaßnahmen (Schutzhauben), Feinjustierungs- und/oder Feststellmechanismen verfügen können. Stapelschneider, die Papierstapel bis zu 80 mm (ca. 800 Bögen) schneiden, meist mechanisch im Handantrieb, oft 50 kg und mehr wiegen, über einen justierbaren Rückanschlag und Pressvorrichtungen zur Fixierung des Papiers verfügen. Die Schnittflächen variieren meist zwischen DIN A3 und größer. Der Antrieb ist mechanisch oder elektromechanisch. Schneidemaschinen und Planschneider für Druckereien oder industrielle Fertigung, heutigentags meist mit elektronischem Maßwerk, differenziertem Sicherheitssystemen (Zweihandbetrieb, Lichtschranken) und elektromechanischem Antrieb. Papiermarkt Weltweit werden jährlich 406 Millionen Tonnen (Stand: 2014) Papier, Karton und Pappe produziert. Die größten Produzenten (Stand: 2014) sind China (108 Millionen Tonnen), die USA (73 Millionen Tonnen), Japan (26 Millionen Tonnen) und Deutschland (22,5 Millionen Tonnen). Ein Drittel der Kapazitäten für die Papierproduktion weltweit entfällt auf die europäische Papierindustrie. Europa ist führend bei der Herstellung von Druck- und Schreibpapier, gefolgt von Asien und Nordamerika, und hat einen Anteil von knapp 26 % an der gesamten Papier- und Pappeproduktion. Durch die Konsolidierung der europäischen Papierindustrie im letzten Jahrzehnt ist die Zahl der Unternehmen, Papierfabriken und Papiermaschinen in Europa gesunken, die Produktionskapazität jedoch gleichzeitig erheblich gestiegen. Es wird geschätzt, dass die 20 größten Papierhersteller derzeit einen Anteil von fast 40 % an der weltweiten Papier- und Pappeproduktion haben. Der Umsatz der europäischen Papierindustrie betrug 2015 rund 79 Milliarden Euro. 180.000 Menschen arbeiten in der europäischen Zellstoff- und Papierindustrie. Neben großen Papierherstellern wie UPM-Kymmene, Stora Enso, International Paper, Svenska Cellulosa Aktiebolaget (SCA), Metsä Board, Sappi oder der Smurfit Kappa Group existiert eine große Zahl mittelgroßer und kleinerer Papierhersteller wie die Papierfabrik Palm oder die Kartonfabrik WEIG. Die deutsche Papierindustrie, deren Interessen durch den Verband Deutscher Papierfabriken (VDP) vertreten werden, ist mit einem Produktionsvolumen von 22,6 Millionen Tonnen (2015) an Papier, Karton und Pappe die Nummer eins in Europa und steht weltweit hinter China, den USA und Japan an vierter Stelle. Die rund 40.600 Mitarbeiter erwirtschaften in der deutschen Zellstoff- und Papierindustrie in 162 Werken einen Umsatz von 14,4 Milliarden Euro (2015), ein Plus von 0,9 % gegenüber dem Vorjahr. Sorten Etwa 3000 Papiersorten sind bekannt. Diese ergeben sich aus den vielfältigen Kombinationsmöglichkeiten bei den Rohstoffen, der Fertigung, der Verarbeitung und der Verwendung. Eigenschaften Quelle: Allgemeine Eigenschaften Hygroskopizität Anpassung an die Feuchtigkeit der Umgebungsluft durch Adsorption (Feuchtigkeitsaufnahme) und Desorption (Feuchtigkeitsabgabe). Inhomogenität Schwankungen bei der Faserorientierung, der Verteilung der Bestandteile, dem Füllstoffgehalt; unter Umständen auch ohne Mikroskop als „Wolkigkeit“ des Papiers erkennbar. Anisotropie Abhängigkeit der Eigenschaften von der Richtung in der Papierebene, siehe unten zur Laufrichtung. Zweiseitigkeit (Unterschiede in der Beschaffenheit beider Papierseiten) Die Oberseite ist eher glatt, dicht, mit höherem Feinstoffanteil, sie wird auch Schönseite oder Filzseite genannt. Die Unterseite, auch Siebseite genannt, ist eher rau, porös, mit höherem Grobstoffanteil. Ursache ist die einseitige Entwässerung durch die Unterseite bei der Blattbildung in der Papiermaschine. Die Zweiseitigkeit bewirkt eine unterschiedliche Bedruckbarkeit der Seiten und oftmals auch eine Rollneigung des Papiers („Curl“). Geometrische Eigenschaften Flächenbezogene Masse Die Masse (bzw. umgangssprachlich das Gewicht) von Papier wird meist flächenbezogen angegeben – konkret in Gramm pro Quadratmeter (g/m²). Die flächenbezogene Masse (umgangssprachlich Flächengewicht oder Grammatur genannt) beträgt bei normalem Schreibpapier 80 g/m². Ein A4-Blatt hat damit eine Masse von 5 g. Drei dieser Blätter plus Briefumschlag liegen somit gerade unter der für einen Standardbrief erlaubten Masse von 20 g. 1000 Blatt A4-Papier wiegen 5 kg, 200.000 Blatt A4-Papier wiegen rund eine Tonne. Papier, Karton und Pappe werden vor allem anhand der flächenbezogenen Masse unterschieden (siehe oben). Im internationalen Papierhandel wird die flächenbezogene Masse (in g/m²) als Basisgewicht bezeichnet. In den USA und in Ländern, die Papiere in US-Formaten verwenden, versteht man dagegen unter dem Basisgewicht (engl. basis weight) die Masse von 500 Bogen. Die Angabe des Basisgewichts ist in den USA von den Maßen des Papierbogens abhängig. Papiere für den Buchblock von literarischen oder wissenschaftlichen Büchern haben üblicherweise 80–100 g/m² bei 1,0–1,8-fachem Volumen. Dichte und Dicke Die Dichte von normalem Schreibpapier liegt in der Größenordnung von 800 kg/m³, die Dicke eines einzelnen Blattes also bei 0,1 Millimetern. Dicke eines Einzelbogens, auch Stärke genannt (englisch caliper, Angabe in den USA in 1/1000 inch = 25,4 μm). Normen: DIN EN 20534, ISO 534 (Papier/Pappe); FEFCO 3 (Wellpappe). Physikalische Eigenschaften Grundsätzlich ist bei allen Messungen zu beachten, dass Luftfeuchtigkeit und Temperatur einen sehr großen Einfluss auf die Messwerte haben. Deshalb findet die Messung immer in Klimaräumen bei einem nach ISO-Normen festgelegten Normklima (23 °C, 50 % Luftfeuchtigkeit) statt. Meist wird die Papierprobe vor der Messung 24 Stunden in dem Raum gelagert, um sie zu akklimatisieren. Da die Messungen von der flächenbezogenen Masse des Papiers (auch Flächengewicht oder Grammatur genannt) abhängen, werden sogenannte Laborblätter mit einer nach ISO-Norm festgelegten flächenbezogenen Masse verwendet. Porosität: Die Porosität gibt an, wie viel Luft ein Papier durchlässt. Die Maßeinheit der Porosität lautet Gurley. Dazu wird das Normblatt in den Prüfapparat eingespannt und der Prüfapparat drückt 100 ml Luft mit 1,23 kPa durch eine Prüffläche von 6,42 cm² und misst die dafür benötigte Zeit. Eine Zeitdauer von einer Sekunde entspricht dabei einem Gurley. Glätte/Rauhigkeit nach Bekk (in GL (Bekk)s, ISO 5627), Parker Print Surf (PPS Rautiefe in μm, DIN ISO 8791-4), Bendtsen (in mPa·s, ISO 5636-3, DIN 53108), Gurley (in ml/min, ISO 5636-5) oder Sheffield (in ml/min, ISO 8791-3); optische Laser-Messung z. B. mit UBM-Microfocus (DIN 4768). Wasserbeständigkeit DIN 53122-1: gravimetrisch, -2 Wasserdampfdurchlässigkeit nach Brugger. Cobb-Test für das Wasseraufnahmevermögen nach DIN EN 20535, ISO 535 Witterungsbeständigkeit Feuchtigkeitsgehalt/-grad DIN EN 20287, ISO 287. Gleichgewichtsfeuchte Ölaufnahme, Ölabsorption nach Cobb-Unger; Fettdurchlässigkeit DIN 53116, ISO/DIS 16532-1. Saugfähigkeit, Absorptionsvermögen, Leimungsgrad (DIN 53126, Zellcheming V/15/60), Saughöhe (DIN ISO 8787, DIN 53106). Kontaktwinkel eines Flüssigkeitstropfens auf der Oberfläche Leitfähigkeit: Papier gilt allgemein als guter Isolator, weil es im trockenen Zustand gewöhnlich Wärme nicht gut und Strom nahezu gar nicht leitet. Wärmeleiteigenschaften: siehe Temperaturleitfähigkeit Stromleitfähigkeit: siehe Elektrische Leitfähigkeit Beschreibbarkeit Bedruckbarkeit Luftdurchlässigkeit DIN 53120-1 Aschegehalt, Glührückstand DIN 53136, 54370, ISO 2144. Mechanische Eigenschaften Zugfestigkeit Prüfungen nach DIN EN ISO 1924: Quotient (in kN/m) aus Bruchlast und Breite eines Papierstreifen; abgeleitet: Zugindex/-steifigkeit (in N/m); Zugsteifigkeitsindex (in Nm/kg) als Quotient aus Zugfestigkeit und Grammatur. Die Zugfestigkeit ist einer der zentralen physikalischen Werte bei der Papierherstellung, bei Kraftpapier ist sie sogar der wichtigste Wert. Die Maßeinheit der auf die Breite der Papierprobe bezogenen Zugfestigkeit ist N/m. Da die Zugfestigkeit vorwiegend von der flächenbezogenen Masse abhängt, wird auch der Zugfestigkeitsindex (ZFI) mit der Maßeinheit Nm/g verwendet. Zur Bestimmung dieses Wertes wird eine Zerreißprobe gemacht. Dazu werden Papierstreifen einer genormten Länge und Breite mechanisch eingespannt, der so genannte „Reißapparat“ zieht die Probe auseinander und zeichnet die benötigte Kraft auf. Die im Moment des Zerreißens benötigte Kraft ist die Zugfestigkeit. Um einen Durchschnittswert zu erhalten, werden meist zehn Streifen zerrissen, wovon fünf längs der Laufrichtung und fünf quer zur Laufrichtung der Papiermaschine genommen werden. Als Nebenprodukt dieser Messung werden noch die Bruchdehnung und die Zugbrucharbeit ermittelt. Die Bruchdehnung wird in Prozent angegeben und gibt an, um wie viel Prozent der Papierstreifen sich im Moment des Bruchs verlängert. Die Zugbrucharbeit wird in J/m² angegeben und ist die aufgewendete Zugkraft pro Papierfläche. Spezifischer Weiterreißwiderstand Durch-/Weiter-/Fortreißfestigkeit, Normen: ISO 1974, DIN 53115 (Brecht-Imset), DIN EN 21974 (grammaturbezogener Elmensdorf-Durchreißindex in mNm³/g). Die Maßeinheit des spezifischen Weiterreißwiderstandes ist mN·m²/g. Diese Maßeinheit gibt an, wie leicht ein Papier, das bereits eingerissen ist, weiterreißt. Dazu wird das Papier mit einem Schnitt versehen und in das Reißfestigkeitsprüfgerät (nach Elmendorf) eingespannt. Durch einen Knopfdruck wird ein blockiertes Pendel ausgelöst, welches die Probe im Zuge der Pendelbewegung zerreißt und dabei die Kraft misst. Berstwiderstand Druck (in kPa), dem ein Substrat nicht mehr standhält; abgeleitet ist der Berstfaktor (Druck durch Grammatur); Berstfestigkeit nach Mullen (DIN ISO 2758: Papier; DIN 53141-1: Pappe), nach Schopper (DIN 53113), an Wellpappe (ISO 2759, DIN/ISO 3689: nass, FEFCO 4). Der Berstwiderstand gibt den benötigten Druck an, um ein Papier zum Bersten zu bringen. Die Maßeinheit des Berstwiderstandes lautet kPa. Dazu wird das Normblatt in den Prüfapparat eingespannt und eine Membran mit genormter Fläche drückt mit ansteigender Kraft gegen das Papier. Der Druck, der zum Durchstoßen des Papiers erforderlich ist, wird Berstwiderstand genannt. Spaltwiderstand/-festigkeit Widerstand, den Papier, Karton oder ein Verbund einer senkrecht einwirkenden Dehnung (TAPPI T 541) oder einer Schiebebewegung (Scott-Bond-Test: TAPPI T 833 pm-94 und T 569, Brecht-Knittweis-Spaltwiderstand: DIN 54516) entgegensetzt. Der Spaltwiderstand gibt die aufzubringende Kraft an, welche benötigt wird, die Papierbahn in der Masse zu spalten. Dies wird gewöhnlich bei mehrlagigen Papieren angewandt, bei denen mehrere Papierbahnen nass (25–35 %) vergautscht wurden, so beispielsweise bei Faltschachtelkarton (FSK) oder besonders voluminösen Papieren (Rohdichte <1,5) wie bei Bierdeckeln. Weitere mechanische Parameter Biegesteifigkeit: ISO 5628, DIN 53121 Bruchwiderstand/Bruchlast: DIN53112 Bruch-/Zerreißdehnung: DIN EN ISO 1924-2 Curling, Wölbung: ISO 14968: Bogen aus Stapel DIN 6723-1/-2: Wölbneigung, DIN 6023: Wölbhöhe nach Brecht. Durchstoßwiderstand, Punktionsfestigkeit': ISO 3036, DIN 53142 Einreißwiderstand Elastizitätsmodul: DIN 53457 (E-Modul) Dehnung Falzbrechen: DIN 55437 Falzzahl: ISO 5626 (Doppelfalzzahl nach Schopper) Falzwiderstand: ISO 526 Randschrumpf Rupffestigkeit: gute Korrelation zwischen IGT- (ISO 3783) und Prüfbau-Rupftests Schnittkantenqualität: ISO 22414 Ringstauchwiderstand: ISO 12192 Optische Eigenschaften Lichtundurchlässigkeit Prozent-Verhältnis aus den Reflexionsfaktoren eines Einzelbogens über einer schwarzen Unterlage und eines Stapels aus mindestens 20 Bogen (DIN 53146, ISO 2471), ferner die Strahlungsdurchlässigkeit im UV-vis-Bereich (DIN 10050-9). Der Grad der Lichtundurchlässigkeit des Papiers bezieht sich auf seine Fähigkeit, Licht nicht durchscheinen zu lassen. Papier ist lichtundurchlässig, wenn das einfallende Licht zurückgestreut oder im Papier absorbiert wird. Je höher die Streuung des Lichts, umso lichtundurchlässiger ist das Papier. Lichtundurchlässigkeit ist eine erwünschte Qualität, die das Durchscheinen des Druckes minimiert. Ein Blatt mit 100-prozentiger Lichtundurchlässigkeit lässt überhaupt kein Licht durchscheinen und damit auch nicht den Druck, sofern die Druckfarbe nicht eindringt. Im Allgemeinen ist die Lichtundurchlässigkeit des Papiers umso geringer, je niedriger seine flächenbezogene Masse ist. Der Weißegrad und die Helligkeit des Füllstoffs, seine Kornstruktur und -größe, sein Brechungsindex und der Füllstoffgehalt sind Faktoren, die die Lichtundurchlässigkeit des Papiers bestimmen. Helligkeit Die Helligkeit ist ein Maß für die Licht reflektierenden Eigenschaften des Papiers, die die Wiedergabe von Kontrasten und Halbtönen beeinflussen. Der Unterschied zwischen dem Helligkeitsgrad, der durch Kaolin erzielt wird (80 bis 90 auf der ISO-Helligkeitsskala), und dem Helligkeitsgrad, der durch Calciumcarbonate erzielt wird (GCC über 90 und PCC 90-95), ist erheblich. Weißgrad Der Weißgrad ist ein technischer Kennwert für die Reflexionsfähigkeit des Papieres für weißes Licht. Er wird idealerweise mit einem Spektralphotometer gemessen. Aus der spektralen Verteilung wird der Zahlenwert nach verschiedenen Formeln berechnet. Für Papier wird meist der Weißgrad nach Berger genutzt. Bei einem normalen Kopierpapier ohne UV-sensible Aufheller liegt der Weißgrad nach Berger etwa bei 160. Durch optische Aufheller und Farbstoffe werden die Messergebnisse beeinflusst. Darum wird der Weißgrad üblicherweise unter Normlicht bestimmt, das gegenüber Tageslicht einen geringeren Anteil an kurzwelliger UV-Strahlung hat. Handelsübliche weiße Papiere sind meist aufgehellt. Unter Normlicht gemessene neutralweiße Papiere sehen so unter Glühlampenlicht gelblicher, im sonnigen Tageslicht oder unter Leuchtstofflampen dagegen bläulich-weiß aus. Der Weißgrad gibt lediglich den Unbuntanteil einer gemessenen Fläche bezogen auf eine ideal weiße oder ideal schwarze Fläche an. Bei zwei Papieren, die messtechnisch den gleichen Weißgrad besitzen, kann ein sichtbarer Farbstich bestehen, der den subjektiven Weißeindruck verfälscht. Menschen empfinden leicht gelbliches oder rötliches Papier als weniger weiß, also grauer gegenüber einem leicht bläulichen oder grünlichen des gleichen Weißgrades. Der Weißgrad wird als Standardprüfung in der Papierproduktion verwendet. Um unerwünschte Farbstiche zu vermeiden, ist vom Anwender neben dem Weißgrad auch der Farbstich des Papieres zu beachten. Den Effekt der „Weißgraderhöhung“ durch optische Verschiebung wird unter anderem beim „Bläuen“ des Papieres ausgenutzt. Durch Zugabe blauer Pigmente wird ein Gelbstich verringert. Beim sogenannten „Drücken“ wird ein zu weißes Papier durch Zugabe roter oder brauner Pigmente gebrochen. In beiden Fällen nimmt der technische Weißgrad leicht ab, der subjektive Weißeindruck jedoch wird beim Bläuen erhöht und beim „Drücken“ verringert. Weitere optische Eigenschaften Glanzkennwerte 45°DIN-Glanz 75°DIN-Glanz 75°TAPPI-Glanz Farbkennwerte LAB-Wert CIE-Weiße R457-Reinheit Weißgehalt Kubelka-Munk-Werte: Bestimmung des Lichtstreuungs- und Absorptionskoeffizienten Absorptionsvermögen Streuvermögen Opazität Transparenz Farbstich: Abweichung vom Papierweiß (ISO 11958, DIN 55980: absoluter Farbstich DIN 55981: relativer Farbstich ISO 11475: Tonabweichungszahl vom CIE-Weißgrad) Farbton, Färbung: Farbmaßzahlen für getönte Substrate, z. B. CIE L*a*b* bzw. Farbunterschied Delta E* (ISO 7724, DIN 5033 oder 53140 oder mit Elrepho DIN 53145), diffuser Reflexionsfaktor (ISO 2469, für C/2° ISO 5631). Lichtechtheit: DIN EN ISO 105-B02, Xenotest Alpha Mottling-Test: Bildanalyse-Verfahren (Mottling Viewer von Only Solutions), mit dem die Wolkigkeit von Papieren bewertet wird Transparenz: DIN 53147 Vergilbung: DIN 6167 Laufrichtung Während bei der Papierherstellung von Hand die Fasern gleichmäßig in allen Richtungen liegen, tritt bei der maschinellen Papierherstellung auf einem Endlossieb eine (teilweise) Ausrichtung der Fasern längs des Bandes auf. Die Längsrichtung des Bandes in der Papiermaschine, auch Maschinenrichtung genannt, entspricht somit der bevorzugten Richtung der Fasern. Im Papier ist dies die Laufrichtung. Die Querrichtung liegt quer zur Laufrichtung. Die Querrichtung ist zugleich die Richtung der Faserdicke, so dass in Querrichtung eine etwa dreifache Quellung und Schwindung des Papieres gegenüber der Laufrichtung auftritt. In Querrichtung ist das Papier dehnbarer als in Laufrichtung. Im Papierhandel und in der Druckerei werden Lauf- und Querrichtung durch die Begriffe Schmalbahn und Breitbahn einem Format zugeordnet: Breitbahn (SG): Blatt, bei dem die kurze Kante parallel zur Maschinenlaufrichtung verläuft Schmalbahn (LG): Blatt, bei dem die lange Kante parallel zur Maschinenlaufrichtung verläuft Dieses Wissen ist wichtig für die anzuwendende Formatlage bei verschiedenen Maschinenbauarten und zu beachtenden Weiterverarbeitungsprozessen (Falzlagen, späteres Buchformat). So kann der Passer in Umfangsrichtung innerhalb der Druckmaschine verstellt werden, in Querrichtung hingegen nicht. Bei Offsetarbeiten mit hohem Feuchtmittelanfall muss also die erste Platte in der Maschine kürzer eingerichtet werden als die letzte und das Papier muss in Breitbahn laufen, so dass die Quellung von Werk zu Werk passgenau ausgeglichen werden kann. In Katalogen und auf Preisetiketten wird das Maß quer zur Laufrichtung unterstrichen oder fett ausgezeichnet oder zuerst genannt. Üblich sind auch die Abkürzungen SB (Schmalbahn) und BB (Breitbahn) oder ein Pfeil, der die Laufrichtung markiert. In Abhängigkeit von der vorherrschenden Faserrichtung beeinflussen Feuchtigkeit, Temperatur und Alterung das Papier. Bei einer ungleichmäßigen Ausrichtung ändert somit jede Karte im Laufe der Zeit und mit dem Wechsel der Witterung bzw. des Raumklimas ihren genauen Maßstab unterschiedlich in den beiden Richtungen. Nur durch spezielle beziehungsweise geschichtete Papiersorten kann dieser Effekt bei maschinell produzierten Papieren verringert werden. Bei der Herstellung von Büchern (und anderen aus Papier bestehenden Gegenständen) ist darauf zu achten, dass die Laufrichtung aller Seiten, des Buchdeckel- und Überzugmaterials parallel zum Buchrücken verläuft, da Papier sich immer quer zu seiner Laufrichtung ausdehnt bzw. schrumpft. Andernfalls bricht das Buch leicht an der Bindung auseinander bzw. lässt sich schlecht durchblättern. Wird beim Verkleben von Papier und Pappe die Laufrichtung der zu kombinierenden Materialien ignoriert, kommt es zu wellenartigen Verwerfungen, die irreversibel sind. Zur Prüfung der Laufrichtung gibt es mehrere praxisbezogene Methoden. Durch das Aufeinanderkleben mehrerer Papierschichten abwechselnder Laufrichtung entsteht starres Papier (vergleichbar zum Sperrholz), wie bei den mindestens dreilagigen Bristolkarton. Alterungsbeständigkeit Die Anforderungen bezüglich der Alterungsbeständigkeit von Büchern sind in den so genannten Frankfurter Forderungen der Deutschen Bibliothek und der Gesellschaft für das Buch, sowie in der US-Norm ANSI/NISO Z 39.48–1992 und ISO-Norm 9706, beschleunigte Alterung (Simulation: ISO 5630, DIN 6738) fixiert. Ein alterungsbeständiges Papier soll folgende Kriterien erfüllen: Das Naturpapier oder das Streichrohpapier muss aus 100 % gebleichtem Zellstoff (ohne verholzte Fasern) hergestellt sein, einen pH-Wert von pH 7,5 bis pH 9 aufweisen, einen Calciumcarbonatanteil von mindestens 3 % als zusätzlichen Schutz gegen schädigende Umwelteinflüsse beinhalten, Calciumcarbonat-Puffer (CaCO3-Puffer), einen definierten Durchreißwiderstand längs und quer von 350 mN haben bei Papieren mit einer flächenbezogenen Masse ab 70 g/m², eine hohe Oxidationsbeständigkeit aufweisen, ausgedrückt in der Kappa-Zahl. Als Orientierungshilfe für die Alterungsbeständigkeit von gestrichenen und ungestrichenen Papieren wurden Lebensdauerklassen (LDK) ausgearbeitet. LDK 24 bis 85: Diese Papiere dürfen „Alterungsbeständig“ genannt werden LDK 12 bis 80: Einige 100 Jahre Lebensdauer LDK 6 bis 70: Mindestens 100 Jahre Lebensdauer LDK 6 bis 40: Mindestens 50 Jahre Lebensdauer Entgegen der Normung werden auch alterungsbeständige Recyclingpapiere angeboten, da durch Forschungsergebnisse nachgewiesen wurde, dass sich Holzschliff und Alterungsbeständigkeit nicht ausschließen. So sind zum Beispiel Recycling-Kopierpapiere auf dem Markt, die die Vorgaben nach der Lebensdauerklasse LDK 24 bis 85 erfüllen und auch über eine Alkalireserve in Form von Carbonat verfügen. Verwendung Papier wird vorwiegend zum Beschreiben und Bedrucken sowie, meist als Pappe oder Karton, zum Verpacken verwendet. Der Anteil dieser beiden Papiergruppen an der Papierproduktion in Deutschland betrug im Jahr 2015 38 % bzw. 49 %. Mit großem Abstand folgen Hygienepapiere mit einem Anteil von 6 % sowie die technischen Papiere und Spezialpapiere mit einem Anteil von 6 %. Schreib- und Druckpapiere Beim Beschriften oder Bedrucken wird ein Farbstoff (beispielsweise Tinte, Toner und Druckfarbe) mit einem Gerät auf Papier aufgetragen. Dies kann von Hand mit einem Federkiel, einem Füllfederhalter, einem Bleistift, einem Buntstift, einem Filzstift oder einer Schreibmaschine geschehen. Seit der Erfindung des Buchdrucks gibt es Maschinen, die einen Text seitenweise auf Papier übertragen können. Mit der im 19. Jahrhundert erfundenen Druckmaschine ist dies millionenfach möglich. Es werden verschiedene Druckverfahren eingesetzt: Buchdruck, Tiefdruck oder Offsetdruck. In Büros werden Tintenstrahldrucker oder Laserdrucker für kleinere Seitenzahlen eingesetzt. Während anfänglich der zur Verfügung stehende Rohstoff nur wenige unterschiedliche Papiereigenschaften zuließ, kann mittlerweile Papier weitestgehend den verschiedenen Anforderungen angepasst werden: gestrichenes Bilderdruckpapier zum Kunstdruck, Zeitungsdruck als billiges, reißfestes Papier und holzfreies ungestrichenes Papier als Kopierpapier. Verpackungspapiere Karton wird vorwiegend als Kartonage verwendet. Mit einer Kunststoffbeschichtung und eventuell einer Aluminiumfolie als Zwischenlage kann sie als Getränkekarton sogar Flüssigkeiten verpacken. Die am meisten verbreitete Pappe ist die Wellpappe, die in den vielfältigsten Sorten vorkommt. Pappe und Kartons werden vorwiegend aus Recyclingpapier produziert. Das Papier mit der größten relativen Zugfestigkeit wird Kraftpapier genannt. Es besteht zu beinahe 100 % aus langfaserigen Zellstofffasern von Nadelhölzern. Es wird besonders für Papiersäcke verwendet. Hygienepapiere Hygienepapiere sind feinporige und saugfähige Papiere, die auf speziellen Papiermaschinen mit einem einzigen Trocken- oder Kreppzylinder mit 4-5 Meter Durchmesser hergestellt werden. Typische Produkte sind nur einmal verwendbare Toilettenpapiere, Papiertaschentücher, Küchenrollen und Papierservietten. Diese Papiere können aus Zellstoff oder aus Recyclingpapier hergestellt werden. Technische und Spezialpapiere Zu dieser vielfältigen Gruppe von Papieren zählen unter anderem Filterpapiere (z. B. Luftfilter für Fahrzeuge und Staubsauger), Kabelisolierpapiere, medizinische Papiere, Zigarettenpapier und Thermopapiere. Papiere finden sich ebenfalls in Metallpapierkondensatoren und Elektrolytkondensatoren, wo sie als Isolator oder Träger des flüssigen Elektrolyten dienen. Bildende Kunst Pappmaché ist ein Gemisch aus Papier, Bindemittel und Kreide oder Ton, das im 18. Jahrhundert als Ersatz für Stuck in der Innenausstattung verwendet wurde. So gab es eine Manufaktur, in der aus alten Akten für das Schloss Ludwigslust Deckenverzierungen, Büsten und sogar Statuen, die wenige Monate im Freien aufgestellt werden konnten, hergestellt wurden. Papier findet sich im Modellbau, in der japanischen Papierfaltkunst Origami und bei Collagen und Assemblagen. Aquarellpapier für Aquarelle hat eine flächenbezogene Masse von bis zu 850 g/m². Fotopapier muss speziell beschichtet werden, damit es als Träger für die Fotoemulsion oder zum Einsatz für Tintenstrahldrucker geeignet ist. Luxuspapiere Dies ist die Bezeichnung für veredelte, geschmückte und verzierte, oft aufwendig bearbeitete Papiererzeugnisse die von etwa 1820/1860 bis 1920/1930 hergestellt wurden, als es eine eigene Luxuspapierindustrie gab. Zur Veredlung wurden eine Reihe von Bearbeitungsverfahren eingesetzt, wie Kolorierung als Hand- und Schablonenkolorierung, Farbendruck als Chromolithografie, Gold- und Silberdruck, Prägen (Gaufrieren) und Stanzen, das Aufbringen von Fremdmaterialien, wie Glimmer, Seide sowie das Anbringen von Laschen, Klappen und Mechanismen bei Spielzeugen. Unter Luxuspapiere fallen Andachts- und Fleißbildchen, viele Ansichts- (Leporello), Gelegenheits- (Glückwunsch-, Weihnachts- und Neujahrskarten) und Bildpostkarten (Motivkarten), verzierte Briefbogen, Etiketten, allerlei Papierspielzeug (Papiertheater), Reklamemarken und Sammelbilder und vieles mehr. Solche Luxuspapiere sind Sammelobjekte. In Japan und China wird Papier in der Inneneinrichtung in vielfältiger Weise verwendet, beispielsweise die japanischen Shōji, mit durchscheinendem Washi-Papier bespannte Raumteiler. Fliegen mit Papier Es gibt Flugdrachen aus Papier in China, seitdem es dieses Material gibt. Die 1783 erbaute Montgolfière der Gebrüder Montgolfier war ein Heißluftballon aus Leinwand, der mit einer dünnen Papierschicht luftdicht verkleidet war. Im Zweiten Weltkrieg produzierte Japan ca. 10.000 Ballonbomben aus Papier, die mit Lack gasdicht gemacht wurden und Brand- und Sprengsätze (5 bis 15 Kilogramm) über den Pazifik nach Amerika transportierten. Im Flugzeugmodellbau wird Papier als Bespannung (Spannpapier) von Tragflächen in Holm-Rippen-Bauweise und für Flugzeugrümpfe verwendet. Dazu wird es aufgeklebt, mit Spannlack getränkt und überlackiert, sobald durch Trocknen die nötige Oberflächenspannung erreicht ist. Des Weiteren wird Papier zum Basteln von Papierfliegern benutzt. Dazu wird das Papier in eine einem Flugzeug ähnelnde Form gefaltet. Textilien Papier kann zu Textilien verarbeitet werden, einerseits direkt aus Papier, andrerseits kann es in Streifen geschnitten, versponnen und zu Textilen verwebt werden. Bei dem in den 1970er Jahren auf den Markt gekommenen „Papierkleid“ handelte es sich allerdings um speziell gefertigte Vliesstoffe, die billiger als Kleiderstoffe waren. Umweltaspekte und Recycling Wie jede industrielle Produktion verbraucht auch die Papierherstellung Ressourcen. In der Diskussion stehen dabei die Themen Holz, Wasser und Energie sowie der Papierverbrauch in der Gesellschaft insgesamt. Recycling Altpapier ist der wichtigste Rohstoff für die deutsche Papierindustrie. Die Altpapier-Einsatzquote betrug 78 Prozent im Jahr 2019, d. h., für die Produktion einer Tonne Papier wurden durchschnittlich 780 kg Altpapier eingesetzt. Das Altpapier stammt je zur Hälfte aus gewerblichen und haushaltsnahen Sammlungen. Deutschland ist Nettoimporteur von Altpapier. Die Entsorgungswirtschaft stellt der Papierindustrie Altpapier in 40 Handelsklassen zur Verfügung. Das Altpapier wird von der Papierindustrie in eigenen Anlagen gereinigt und wieder in der Papierproduktion eingesetzt. Holz Als Primärfaser wird für die Zellstoff- und Papierherstellung vor allem Holz genutzt. Rund 20 % des weltweit eingeschlagenen Holzes werden zu Papier verarbeitet. In Deutschland werden vereinzelt Grasfasern eingesetzt. Das hier eingesetzte Holz stammt aus Durchforstungen oder fällt als Nebenprodukt in Sägewerken an. In Europa dienen seit Jahrhunderten Wirtschaftswälder der Rohstoffversorgung. In Deutschland wird der Wald schon seit über 300 Jahren nachhaltig genutzt. Zellstoff wird hier aus heimischem und grenznahem Importholz hergestellt. Die deutsche Papierindustrie bezieht Zellstoff aus Plantagen in Spanien und Portugal und aus Südamerika. Für diese Pflanzungen wurden keine Naturwälder gerodet. Sie wurden auf früher landwirtschaftlich genutzten Flächen angelegt, die nicht mehr produktiv waren. Zur Dokumentation einer nachhaltigen Forstwirtschaft unterstützt die Papierindustrie deren Zertifizierung. Dies macht den Waldschutz für Kunden und Konsumenten nachprüfbar.  Die deutsche Papierindustrie ist deshalb Mitglied bei den beiden großen Zertifizierungssystemen, dem „Programme for the Endorsement of Forest Certification Schemes“ (PEFC) und dem „Forest Stewardship Council“ (FSC). Die europäische Papierindustrie hält sich zudem streng an die Regeln der Europäischen Holzhandelsverordnung, die die Einfuhr von Holz oder Zellstoff aus illegalem Einschlag verbietet. Energie Die Papierindustrie benötigt Energie für den Betrieb ihrer Anlagen, vorwiegend, um das bei der Herstellung benötigte Wasser wieder aus der Papierbahn zu entfernen. Rund die Hälfte der benötigten Energie stammt bereits aus erneuerbaren Energiequellen und die Branche arbeitet allein aus Kostengründen ständig daran, den Energieverbrauch immer weiter zu reduzieren. Lag der spezifische Energieverbrauch 1955 noch bei rund 8200 kWh/t, beträgt er heute nur noch rund 2645 kWh/t. Das entspricht einer Einsparung von 68 Prozent. Trotz aller Anstrengungen zählt die Papierindustrie zu den energieintensiven Industrien und wäre ohne Ausnahmeregelungen – z. B. durch die besondere Ausgleichsregelung für stromintensive Unternehmen beim Erneuerbaren Energiegesetz – international nicht wettbewerbsfähig. Wasser Wasser wird in der Papierherstellung z. B. als Dispergier- und vor allem als Transportmittel für die eingesetzten Fasern verwendet. Wasser wird in der Papierproduktion auch für die Reinigung der Bespannung oder das Kühlen von Zylindern genutzt. Rund 250 Mio. Kubikmeter Frischwasser setzt die deutsche Papierindustrie im Jahr ein. 72 Prozent davon stammen aus Oberflächengewässern, 27 Prozent aus Brunnen oder Quellen. Lediglich 1 Prozent wird der örtlichen Trinkwasserversorgung entnommen. Die Entnahme und Rückführung von Wasser unterliegen in Deutschland strengen Auflagen. Zuvor waren insbesondere durch die Chlorbleiche in die Umwelt eingetragene chlororganischen Verbindungen von großem öffentlichen Interesse. Nicht nur, dass das Wasser selbst aufbereitet werden muss, die meisten Bundesländer erheben zudem Entgelte für die Entnahme. Rechtsgrundlage ist die EU-Wasserrahmenrichtlinie, die die Maßstäbe für die Abwasserbehandlung nach dem aktuellen Stand der Technik vorgibt. Der Einsatz von Wasser ist also für die Papierindustrie nicht nur eine ökologische, sondern auch eine ökonomische Frage. Entsprechend werden auch die Prozesse optimiert und die Kreisläufe immer weiter geschlossen. Die spezifische Abwassermenge pro Kilogramm Papier, die gemeinhin als Messgröße für den Wasserverbrauch in der Papierindustrie genannt wird, lag noch in den 1970er Jahren des vergangenen Jahrhunderts bei knapp 50 Litern und sank in den 2010er Jahren aufetwa 7 Liter pro Kilogramm Papier. Der Verband Deutscher Papierfabriken erhebt diese Daten regelmäßig in eine Abwasser- und Rückstandsumfrage. Rund 30 Prozent der Abwässer aus der Papierproduktion werden – nach einer Vorreinigung – an kommunale Kläranlagen abgegeben. Die restlichen 70 Prozent werden in betriebseigenen Anlagen mechanisch und biologisch gereinigt. Immerhin 4 Prozent der Papierproduktion stammt aus Werken, die ihren Wasserkreislauf völlig geschlossen haben, was aber nur mit salz- und härtearmen Wasserqualitäten und für geeignete Anwendungen möglich ist. Papierverbrauch Der individuelle Pro-Kopf-Verbrauch an Papier liegt in Deutschland laut einer Studie von INTECUS bei etwa 100 kg, gesamtwirtschaftlich bei etwa 240 kg. Der im internationalen Vergleich relativ hohe Papierverbrauch hängt vor allem mit der wichtigen Rolle von Papier, Karton und Pappe in der Logistik der exportstarken deutschen Wirtschaft zusammen, die das Material für ihre Transport- und Produktverpackungen benötigt. Schädlinge und Konservierung Tierische Schädlinge Silberfischchen und Papierfischchen fressen Papier oberflächlich an und verursachen im weiteren Verlauf Löcher. Besonders viele Schäden verursachen auch Anobien, deren Larven durch ihre Fraßgänge das Papier schwächen, bzw. ab einer höheren Befallsdichte zerstören. Auch andere Käfer schädigen Bücher aus Papier direkt oder indirekt. Ein weiterer, allerdings nicht so bedeutender tierischer Schädling ist die Bücherlaus, die sich parthenogenetisch fortpflanzt und somit schnell massenhaft feucht gewordene Papiere befallen kann. Mindestens genauso zerstörend wirken Mikroorganismen. Unter den Pilzen sind Schimmelpilze von großer Bedeutung, die ebenfalls durch Feuchtigkeit begünstigt werden und beispielsweise infolge von Wasserschäden auftreten können. Schließlich zählen Nager zu den tierischen Schädlingen, die Papier zum Nestbau verwenden. Chemische Schadstoffe Aus bestimmten Inhaltsstoffen von Papieren (z. B. Aluminiumsulfat, das bei der sauren Masseleimung eingesetzt wurde) können Säuren gebildet werden, die das Papier zerstören. Konservierung Ein wichtiger Schritt bei der Konservierung nass gewordenen Papiers ist die umgehende Gefriertrocknung. Um dem sauren Abbauprozess entgegenzuwirken, wurden automatisierte Masseentsäuerungsanlagen gebaut, in denen das „saure“ Papier neutralisiert und eine alkalische Reserve eingebracht wird. Papierforschung Gründe zur Papierforschung ergeben sich aus sehr verschiedenen wissenschaftlichen Ansätzen. Neben technischen Fragestellungen der Papierindustrie sind das auch komplexe Themen in historischen Bibliotheks- und Archivbeständen. Dazu gehören beispielsweise die Herkunftsorte historischer Papiere einschließlich ihrer Wasserzeichen sowie das Alterungsverhalten aus konservatorischer und restauratorischer Sicht. Auf diesem Gebiet sind weltweit zahlreiche wissenschaftliche Bibliotheken und einige private Institutionen tätig. Die industrielle Papierforschung wird in Deutschland gebündelt in der Papiertechnischen Stiftung (PTS), die im Jahr 1951 gegründet wurde und von den Unternehmungen der Papierindustrie gefördert wird. Es werden Auftragsforschungen und Dienstleistungen für die Papierindustrie und deren Zulieferfirmen erbracht. Darüber hinaus betreiben verschiedene Zulieferer eigenständige Forschungsanlagen. Die Technischen Universitäten in Darmstadt und Dresden, die Fachhochschule München sowie die Duale Hochschule Baden-Württemberg in Karlsruhe bilden Papieringenieure aus. Forschungsschwerpunkte in Darmstadt sind Recyclingverfahren sowie Wasserkreisläufe; in Dresden wird vornehmlich zu Energieeffizienz sowie Oberflächeneigenschaften geforscht. Eine weitere Forschungsanlage betreibt der größte Hersteller für chemische Produkte zur Papierherstellung, die BASF in Ludwigshafen, teilweise in Partnerschaft mit der Omya. Literatur Bücher Josep Asunción: Das Papierhandwerk. Verlag Paul Haupt, Bern/Stuttgart/Wien 2003, ISBN 978-3-258-06495-6. Jürgen Blechschmidt (Hrsg.): Papierverarbeitungstechnik. 2. Auflage, Fachbuchverlag, 2013, ISBN 978-3-446-43802-6. Paul Ludger Göbel: Papier als Werkstoff in der Bildenden Kunst. Eine Bestandsaufnahme der Moderne und die gestalterischen Möglichkeiten für den Kunstunterricht. Dissertation, Universität Potsdam 2007 (Volltext). Wolfgang Walenski: Das PapierBuch. Verlag Beruf + Schule, Itzehoe 1999, ISBN 3-88013-584-3. Geschichte des Papiers Klaus B. Bartels: Papierherstellung in Deutschland. Von der Gründung der ersten Papierfabriken in Berlin und Brandenburg bis heute. be.bra wissenschaft verlag, Berlin 2011, ISBN 978-3-937233-82-6. Ernst Dossmann: Papier aus der alten Grafschaft Mark – Papierherstellung und Verarbeitung im Wirtschaftsraum zwischen Volme, Ruhr und Hönne. Eine wirtschaftsgeographische und familiengeschichtliche Studie zur Entwicklung eines bedeutsamen südwestfälischen Wirtschaftszweiges im Umkreis der Städte Hagen, Iserlohn, Hemer, Menden, Fröndenberg und Plettenberg. Mönnig Verlag, Iserlohn 1987, ISBN 3-922885-33-0. Jürgen Franzke (Herausgeber): Zauberstoff Papier – Sechs Jahrhunderte Papier in Deutschland, München 1990, ISBN 3-88034-478-7 Dard Hunter: Papermaking – The History and Technique of an Ancient Craft. New York 1978, ISBN 0-486-23619-6 Hans Kälin: Papier in Basel bis 1500. Selbstverlag, Basel 1974; XI, 455 S., ill. (Diss. phil. Univ. Basel 1972). Lothar Müller: Weiße Magie. Die Epoche des Papiers. Hanser, München 2012, ISBN 978-3-446-23911-1. J. Georg Oligmüller und Sabine Schachtner: Papier – Vom Handwerk zur Massenproduktion. DuMont, Köln 2001, ISBN 3-7701-5568-8 Érik Orsenna: Auf der Spur des Papiers: Eine Liebeserklärung. C. H. Beck, München, 2014. ISBN 3-406-66093-2. Alexander Monro: Papier – Wie eine chinesische Erfindung die Welt revolutionierte. C.Bertelsmann, München 2015 Armin Renker: Das Buch vom Papier. Berlin 1929, 4. Auflage 1951, . Wilhelm Sandermann: Papier, eine Kulturgeschichte. 3. Auflage, Springer, Berlin/Heidelberg 1997 (zuerst 1988), ISBN 3-540-55313-4. Frieder Schmidt: Von der Mühle zur Fabrik – Die Geschichte der Papierherstellung in der württembergischen und badischen Frühindustrialisierung, Ubstadt-Weiher, 1994, ISBN 3-929366-06-1 Lore Sporhan-Krempel: Ochsenkopf und Doppelturm – Die Geschichte der Papiermacherei in Ravensburg. Stuttgart 1952. Therese Weber: Die Sprache des Papiers. Eine 2000-jährige Geschichte. Verlag Haupt, Bern/Stuttgart/Wien 2004, ISBN 3-258-06793-7. Wisso Weiß: Zeittafel zur Papiergeschichte. Fachbuchverlag, Leipzig 1983, . Zeitschriften Papier-Adreßbuch von Deutschland, 1898–1931 TAPPI Journal Aufsätze Andreas Pingel Keuth: Papierherstellung: Von Zellstoff zu Filtertüte, Schreibpapier, … In: Chemie in unserer Zeit. 39, 6, Wiley-VCH, Weinheim 2005, S. 403–409. doi:10.1002/ciuz.200500234. Klaus Roth: Papierkonservierung – Chemie kontra Papierzerfall. In: Chemie in unserer Zeit. 40, 1, Wiley-VCH, Weinheim 2006, S. 54–62. doi:10.1002/ciuz.200600376. Geschichte des Papiers Günter Bayerl: Vorindustrielles Gewerbe und Umweltbelastung – das Beispiel der Handpapiermacherei. In: Technikgeschichte. 48, VDI-Verlag, Düsseldorf 1981, , S. 206–238. Robert I. Burns: Paper comes to the West, 800–1400. In: Uta Lindgren: Europäische Technik im Mittelalter: 800 bis 1400; Tradition und Innovation. Gebr. Mann, Berlin 1996, ISBN 3-7861-1748-9, S. 413–422. Michael Reiter: 600 Jahre Papier in Deutschland. In: Karl H. Pressler (Hrsg.): Aus dem Antiquariat. Band 8, 1990 (= Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel – Frankfurter Ausgabe. Nr. 70, 31. August 1990), S. A 340 – A 344. Alfred Schulte: Papierpresse, Druckerpresse und Kelter. In: Gutenberg-Jahrbuch. 1939, S. 52–56. Wolfgang von Stromer: Große Innovationen der Papierfabrikation in Spätmittelalter und Frühneuzeit. In: Technikgeschichte. Bd. 60, Nr. 1, 1993, S. 1–6. Susan Thompson: Paper Manufacturing and Early Books. In: Annals of the New York Academy of Sciences. Bd. 314, 1978, S. 67–176. Viktor Thiel: Papiererzeugung und Papierhandel vornehmlich in den deutschen Landen von den ältesten Zeiten bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Ein Entwurf, In: Archivalische Zeitschrift. Band 41 (= Archivalische Zeitung 8, 3. Folge), Böhlau, Köln 1932, S. 106–151. Peter F. Tschudin: Werkzeug und Handwerkstechnik in der mittelalterlichen Papierherstellung. In: Uta Lindgren: Europäische Technik im Mittelalter. 800 bis 1400. Tradition und Innovation. 4. Auflage, Gebr. Mann, Berlin 1996, ISBN 3-7861-1748-9, S. 423–428. Normen Deutsches Institut für Normung e. V. (Hrsg.): DIN 6730:2006-05: Papier und Pappe – Begriffe. Beuth Verlag, Berlin 2006. International Organization for Standardization (ISO) (Hrsg.): ISO 536:1995: Paper and board — Determination of grammage. Genf 1995. Weblinks Papierfakten Grundlegende Fakten zum Thema Papier vom Verband Deutscher Papierfabriken Papier kann mehr: Magazin für ein Leben mit Papier Papier macht Schule Informationsportal des österreichischen Verbandes der Papierindustrie Austropapier rund um Papier und Karton Papier-Lexikon der Igepa Materialien für Druck und Verpackung: Glossar, Begriffe, Normen kba.com Bauen mit Papier; Ein Forschungsprojekt zeigt, wie Papier als Baustoff eingesetzt werden kann. Papiergeschichte Martin Börnchen: Handgeschöpftes Papier und worauf man sonst noch schrieb (PDF; 38,4 MB), Freie Universität, Berlin 2002, ISBN 3-929619-29-6. Dieter Freyer: Kleine Papiergeschichte – vom Papyrus zum Papier des 20. Jahrhunderts International Association of Paper Historians (IPH) Industrieverbände Verband Deutscher Papierfabriken (VDP) Hauptverband Papier- und Kunststoffverarbeitung (hpv) Austropapier – Vereinigung der Österreichischen Papierindustrie Confederation of European Paper Industries Einzelnachweise Faserwerkstoff Beschreibstoff Bedruckstoff Packstoff Buchdruck Büromaterial Wikipedia:Artikel mit Video
13406
https://de.wikipedia.org/wiki/Meteorit
Meteorit
Ein Meteorit [] ist ein relativ kleiner Festkörper kosmischen Ursprungs, der die Erdatmosphäre durchquert und den Erdboden erreicht hat. Er besteht gewöhnlich überwiegend aus Silikatmineralen oder einer Eisen-Nickel-Legierung, wovon ein gewisser Teil beim Eintritt in die Erdatmosphäre verglüht ist. Da es sich fast immer um vielkörnige Mineral-Aggregate handelt, werden Meteoriten unabhängig von ihrer chemischen Zusammensetzung zu den Gesteinen gezählt. Allgemeines Der Bildungsort der Meteoriten ist das Sonnensystem. Sie ermöglichen wertvolle Einblicke in dessen Frühzeit. Als Meteoroiden bezeichnet man den Ursprungskörper, solange er sich noch im interplanetaren Raum befindet. Beim Eintritt in die Erdatmosphäre erzeugt er eine Leuchterscheinung, die als Meteor bezeichnet wird. Der Meteoroid verglüht entweder als Sternschnuppe in der Erdatmosphäre oder erreicht als Meteorit den Boden. Meteoroiden, die aus dem Sonnensystem stammen, haben im Bereich des Erdorbits eine maximale heliozentrische Geschwindigkeit von etwa 42 km/s (siehe Dritte kosmische Geschwindigkeit). Da die Bahngeschwindigkeit der Erde etwa 30 km/s beträgt, sind Relativgeschwindigkeiten von maximal 72 km/s oder 260.000 km/h möglich. Beim Eintritt in die Erdatmosphäre werden die Meteoroiden sehr stark abgebremst. Dabei werden sie erhitzt, wodurch sie an der Oberfläche teilweise schmelzen bzw. verdampfen. Da der Sturz durch die Erdatmosphäre nur einige Sekunden dauert, kann sich das Innere vor allem größerer Meteoriten nicht nennenswert erwärmen. Erst nach dem Aufschlag kann die an der Oberfläche entstandene Reibungswärme in das Innere des Meteoriten durch Wärmeleitung abgegeben werden. Da das Volumen der erhitzten Oberfläche im Verhältnis zum Gesamtvolumen jedoch meist klein ist, bleibt das Innere relativ kühl und unverändert. Etymologie Das Wort Meteorit leitet sich ab von mit der Bedeutung „emporgehoben“, „hoch in der Luft“ (vergleiche Meteorologie). Hauptsächlich bis Mitte des 20. Jahrhunderts wurden Meteoriten überwiegend Meteorsteine genannt, davor waren auch die Bezeichnungen Aerolith („Luftstein“) und Uranolith („Himmelsstein“) verbreitet. Bis Anfang der 1990er Jahre wurden die heute als Meteoroiden bezeichneten Objekte – ebenso wie die zur Erdoberfläche gelangten Überreste dieser Objekte – als Meteoriten geführt. Einteilung und Benennung Nach ihrem inneren Aufbau werden Meteoriten unterteilt in undifferenzierte und differenzierte Meteoriten: undifferenzierte Meteoriten enthalten die ersten und somit ältesten schweren chemischen Elemente, die im Sonnensystem durch Kernfusion entstanden. Sie sind die bei weitem am häufigsten gefundenen Meteoriten und werden Chondrite genannt; man zählt sie zu den Steinmeteoriten. dagegen stammen die differenzierten Meteoriten überwiegend von Asteroiden, einige auch vom Mars oder dem Erdmond, also solchen Himmelskörpern, die wie die Erde durch Schmelzprozesse einen schalenartigen Aufbau aufweisen; diese Materialtrennung wird Differentiation genannt. Differenzierte Meteoriten lassen sich weiter unterteilen in die nichtchondritischen Steinmeteoriten, die man auch Achondrite nennt; sie stammen aus dem Mantel der Asteroiden. die aus einer Eisen-Nickel-Legierung bestehenden Eisen-Meteoriten, sie stammen aus dem Kern der Asteroiden. die Stein-Eisen-Meteoriten, sie stammen aus dem Übergangsbereich zwischen Kern und Mantel. Je nachdem, ob der Fall eines Meteoriten beobachtet wurde oder ob der Meteorit bereits früher unbeobachtet gefallen ist und nur gefunden wurde, wird ein Meteorit als „Fall“ oder „Fund“ eingeteilt. Neben der chemischen und petrologischen Klassifizierung werden Meteoritenfunde auch nach dem Grad der Verwitterung seit ihrem Auftreffen auf der Erdoberfläche in Verwitterungsklassen eingeteilt. Die NASA benutzt die Klassen A, B und C, je nach der Stärke der auf Bruchflächen sichtbaren Braunfärbung durch Eisenoxide. Ein alternatives Klassifizierungssystem bestimmt an Anschliffen den Grad der Umwandlung von Troilit und Metall in Oxide (W0 bis W4) und der Umwandlung von Silikaten in Tonminerale (W5 und W6). Diese W-Klassen können sinnvoll nur auf Meteoriten mit Troilit- und Metallkörnern, d. h. Chondrite, angewendet werden. Meteoriten können eine Metamorphose durch ein Schockereignis, beispielsweise während des Losschlagens vom Mutterkörper, erlitten haben. Dies wird durch Einteilen in die Schockklassen S1–S6 beschrieben, wobei in S1 nicht oder nur sehr schwach geschockte Meteoriten und in S6 die am schwersten geschockten Meteoriten stehen. Im Einzelfall kann die Entscheidung, ob ein gefundenes Gesteinsstück tatsächlich ein Meteorit ist, nur vom Fachmann getroffen werden. Im Falle von metallischen Meteoriten bedient er sich dazu beispielsweise der Widmanstätten-Figuren. Sie werden sichtbar, wenn man einen Eisenmeteoriten auftrennt, die Schnittflächen poliert und mit einer Säure, zum Beispiel verdünnter Salpetersäure, anätzt. Es erscheinen dann die charakteristischen Kristallstrukturen des Metalls, eben die Widmanstätten-Figuren, die nur in Meteoriten auftreten. Sie entstehen bei sehr langsamer Abkühlung über Millionen Jahre im Mutterkörper der Eisenmeteoriten. Es gibt allerdings Eisenmeteoriten, die keine Widmanstätten-Figuren zeigen; ihr Nichtvorhandensein schließt einen Meteoriten also nicht aus. Eine weitere Möglichkeit, ein gefundenes Eisenstück als Meteoriten zu identifizieren, ist ein Nickeltest, da alle Eisenmeteoriten mindestens 4 Prozent Nickel enthalten. Ein Indiz für einen Steinmeteoriten kann das Vorhandensein einer schwarzen Schmelzkruste sowie kleiner Kügelchen (Chondren) sein. Mit einem Magneten kann man ein gefundenes Steinstück auf Magnetismus testen, da Chondrite wegen der in ihnen vorhandenen kleinen metallischen Eisenteilchen magnetisch sind. Als Pseudometeoriten werden solche Funde bezeichnet, die wegen mehr oder weniger großer Ähnlichkeiten zu meteoritischem Gestein zunächst für einen Meteoriten gehalten wurden, sich bei genauerer Analyse jedoch als irdisches Gestein entpuppten. Drei verschiedene Alter werden bei Meteoriten unterschieden: das Entstehungsalter, Bestrahlungsalter und das terrestrische Alter. Die genauen Regeln der Namensgebung wurden von der Meteoritical Society, einer internationalen Fachgesellschaft, aufgestellt. Das Publikationsorgan der Meteoritical Society ist die Zeitschrift Meteoritics & Planetary Science oder kurz MAPS. Hier erscheint das Meteoritical Bulletin mit Katalogen, Inventaren und der Routinebeschreibung neuer Meteoriten. Dieses Supplement mit den vom Nomenclature Committee geprüften und freigegebenen Listen aller eingereichten und klassifizierten neuen Funde und Fälle gilt als Standard-Referenzwerk für die Inventarisierung und die Nomenklatur aller Meteoriten. Demnach werden Meteoriten nach ihrem Fundort (Ort, Fluss etc.) benannt. Bei Orten, an denen sehr viele Meteoriten gefunden werden, wie beispielsweise einigen Gebieten in der Sahara, wird eine laufende Nummer angehängt (beispielsweise DaG 262 von Dar al-Gani). Bei Meteoriten, die in der Antarktis gefunden werden, werden an das Namenskürzel die Jahreszahl und eine laufende Nummer angehängt. Beispielsweise bezeichnet ALH 76008 den achten Meteoriten, der im Jahre 1976 im Allan-Hills-Gebiet in der Antarktis aufgesammelt wurde. Der Marsmeteorit ALH 84001, bekannt geworden durch die scheinbaren Spuren fossiler Bakterien, war demnach der erste im Jahre 1984 aufgelesene Meteorit in diesem Gebiet. Herkunft Die meisten Meteoriten sind Bruchstücke von Asteroiden und stammen aus dem Asteroidengürtel zwischen Mars und Jupiter. Durch Kollisionen wurden sie von ihrem Mutterkörper losgeschlagen. Die typischen Widmanstätten-Figuren in Eisen-Nickel-Meteoriten können zum Beispiel nur entstehen, wenn ein geschmolzener metallischer Körper sehr langsam, über Millionen von Jahren, abkühlt. Solche Abkühlzeiten werden nur im Kern von Himmelskörpern erreicht, etwa in Asteroiden. Die Zeitdauer zwischen dem Abtrennen vom Mutterkörper und dem Einschlag auf der Erde liegt typischerweise bei einigen Millionen Jahren, kann aber auch mehr als hundert Millionen Jahre betragen. Meteoriten enthalten das älteste Material unseres Sonnensystems, das zusammen mit diesem vor 4,56 Milliarden Jahren entstanden ist. Sie bieten den einzigen direkten irdischen Zugang zur Erforschung der Entstehung des Sonnensystems. Ähnlich altes Material findet sich außer in Asteroiden auch in Kometen und kann nur mit Hilfe von Raumsonden genauer untersucht werden. Dass einige Meteoriten vom Mond (Mondmeteoriten) und vom Mars (Marsmeteoriten) stammen, wurde inzwischen nachgewiesen. Auch sie müssen durch den Einschlag eines Kleinkörpers aus diesen Himmelskörpern herausgeschlagen und ins All geschleudert worden sein. Für den kohligen Chondriten Kaidun wurde der Marsmond Phobos und für den Enstatiten Abee und den Achondriten NWA 7325 gar der Merkur als Ursprungskörper vorgeschlagen, was allerdings umstritten ist. Die Diogenite, Eukrite und Howardite werden dem Planetoiden Vesta zugeordnet. Bisher wurden keine Meteoriten gefunden, die nachweislich von Kometen oder gar aus dem interstellaren Raum stammen, obwohl bei einem Teil der Mikrometeoriten eine kometare Herkunft diskutiert wird und die meisten Meteorströme mit Kometen in Verbindung stehen. Auch hier rührt die Mehrzahl aber vermutlich überwiegend von Asteroiden her. Häufigkeit von Meteoritenfällen Jedes Jahr werden mehrere Meteoritenfälle auf der Erde beobachtet. Alle Fälle, von denen Material gefunden und analysiert wurde, werden im Meteoritical Bulletin registriert und veröffentlicht. Eine Auswertung dieser Daten (Stand 17. Januar 2021) ergibt Fallraten von 1 bis 17 Fällen im Jahr. Die tatsächliche Fallrate ist aber viel höher: Ein großer Teil fällt ins Meer oder auf unbesiedelte Gebiete. Aber auch in dichter besiedelten Gegenden wie Mitteleuropa werden viele Fälle der Beobachtung entgehen. Beim Fall des Steinmeteoriten Ramsdorf am 26. Juli 1958 zum Beispiel wurde keine Lichterscheinung gesehen, nur ein knatterndes Geräusch in der Nähe des Aufschlagortes gehört. Wäre der Meteorit wenige Kilometer weiter außerhalb einer Ortschaft niedergegangen, hätte ihn wahrscheinlich niemand bemerkt. Wissenschaftler der NASA sprechen von einem auf die Erde niedergehenden „Fluss extraterrestrischen Materials“, der gerundet 100 Tonnen pro Tag beträgt. Eine Abschätzung der tatsächlichen Fallrate ist aus fotografisch aufgezeichneten Meteorbahnen möglich. Ein Kameranetzwerk in Kanada hat von 1974 bis 1983 über einem Gebiet von 1,26 Millionen Quadratkilometern Meteorbahnen ausgewertet, die Meteoriten geliefert haben müssen, und folgende Zahlen für Fälle über 0,1 kg pro Jahr erhalten: Gesamtfläche der Erde: 19.000 Fälle Landfläche der Erde: 5.800 Fälle auf 1 Million km²: 39 Fälle Daraus würde sich für die 0,36 Millionen km² Deutschlands eine Fallrate von etwa 14 Fällen pro Jahr ergeben. Auch auf dem Mond findet man durch den Vergleich aktueller Fotos mit früheren zahlreiche neue Mondkrater, die auf Meteoriteneinschläge hinweisen. Fundorte Meteoriten fallen zwar gleichmäßig überall auf die Erde, trotzdem gibt es Orte, an denen sie häufiger zu finden sind als an anderen. Während sie in den gemäßigten Klimazonen recht schnell verwittern, vor allem durch die Oxidation des auf der Erdoberfläche nicht stabilen metallischen Eisens, können sie in trockenen Gegenden wie den nordafrikanischen Wüsten Zehntausende von Jahren, in der Antarktis manchmal sogar über eine Million Jahre überdauern. Hilfreich ist auch, dass Meteoriten wegen ihrer typisch schwarzen Schmelzkruste leicht auffallen. In der Antarktis gibt es zudem Gebiete, in denen Meteoriten durch Gletscher an sogenannten Blaueisfeldern angesammelt werden („Meteoritenfallen“). Es werden deshalb häufig Expeditionen dorthin unternommen, um neue Meteoriten aufzuspüren. Das erste Objekt wurde 1912 in der Antarktis gefunden, der Adelie-Land-Meteorit. Der mit 60 Tonnen Gewicht weltweit größte Meteorit Hoba – ein Eisenmeteorit – wurde 1920 in Namibia gefunden, wo er heute noch liegt. Meteoritenfunde in heißen Wüsten Dass es nicht nur in den kalten Wüsten am Südpol, sondern auch in heißen Wüsten in bestimmten Gebieten über lange Zeiträume zu einer Konzentration von Meteoriten kommen kann, ist eine relativ neue Erkenntnis. Nachdem ein Team deutscher Seismologen bei Erdölprospektionsarbeiten 1986 in Libyen in der Gegend von Daradsch (Distrikt Nalut) zufällig auf einer vergleichsweise kleinen Fläche rund 65 Meteoriten gefunden hatte, begann in der Sahara eine systematische Suche. Seit 1990 wuchs die Zahl der im Rahmen von privaten und institutionellen Meteoritenexpeditionen zunächst in der Sahara und später auch in den Wüsten Omans gemachten Funde stetig an. Waren 1985 aus Libyen, Algerien, Marokko, der Republik Niger und Oman gerade einmal 30 Meteoritenfunde bekannt, so sind es heute mehr als 3000. Hinzu kommt eine unbekannte Anzahl von Funden durch Einheimische, die ohne Angaben zu den Fundumständen meist über die marokkanischen Märkte gehandelt wurde. Zu den bekanntesten Fundgebieten der Sahara zählen in Libyen die Hammada al-Hamra, das Dar al-Gani, in Algerien das Acfer-Gebiet, die Hammadah du Draa und die Tanezrouft-Wüste sowie Grein und die Ténéré Tafassasset in der Republik Niger. Die wichtigsten Konzentrationsflächen in Oman heißen Dhofar, Jiddat Al Harasis und Say Al Uhaymir. Der Höhepunkt der Suchtätigkeit wurde 2002 überschritten und die Anzahl der Funde ist heute stark rückläufig. Dies hängt zum einen mit verschärften Ausfuhrbedingungen in einigen Wüstenstaaten zusammen, ist aber auch ein Anzeichen dafür, dass die bekannten Fundgebiete im Wesentlichen ausgebeutet sind. Bei den Fundgebieten in heißen Wüsten handelt es sich um Aggregationsflächen, auf denen die Böden unter ganz bestimmten Bedingungen die Meteoritenfälle mehrerer zehntausend Jahre konserviert haben. Dies geschieht ähnlich wie beim Konzentrationsprozess in der Antarktis zunächst durch Einsedimentation der neu hinzukommenden Fälle. Durch neue Sedimentschichten auch in feuchteren Klimaphasen vor den Witterungseinflüssen geschützt, überdauerten die Meteoriten bis zu mehrere zehntausend Jahre in den Bodenschichten. In der Sahara legte die Winderosion in der jüngsten, seit rund 3000 Jahren immer trockener werdenden Klimaphase die so konservierten Meteoriten schließlich frei. Die überdeckenden Bodenschichten wurden in den betreffenden Gebieten mit dem fast ganzjährig über der Sahara wehenden Nordostwind abgetragen. Entscheidend für den Konzentrationsprozess von Meteoriten ist ferner das Fehlen von Quarzsand in den entsprechenden Gebieten. Die vergleichsweise harten Quarzsande führen zu einer schnelleren Zerstörung der Meteoriten durch Windschliff. Die dichten Meteoritenkonzentrationen in der Sahara liegen deshalb in der Regel auf Plateaus oberhalb des Sandflugs oder im Lee von Höhenzügen. Um die Meteoriten in ihren Aggregationsgebieten auffinden zu können, sind besondere topographische und geologische Gegebenheiten erforderlich. Helle Untergründe mit leicht basischem pH-Wert haben sich als für die Prospektion am günstigsten erwiesen. Durch dunkle Flussgerölle oder vulkanische Tiefen- oder Auswurfgesteine kontaminiertes Gelände ist dagegen für die Prospektion ungeeignet. Auf solchen Horizonten sind Meteoriten nicht vom Umgebungsgestein zu unterscheiden. Ebenso wichtig ist ein möglichst geringes hydraulisches Gefälle der Fläche, da auf Neigungsflächen ebenfalls die mechanische und chemische Verwitterung der Meteoriten beschleunigt wird. Unter idealen Bedingungen lässt sich in einem dichten Konzentrationsgebiet auf je 10 bis 12 Quadratkilometern ein Meteorit finden. Ungeklärt ist bis heute das fast gänzliche Fehlen von Eisenmeteoriten aus den Fundgebieten in den heißen Wüsten. Eisenmeteoriten stellen mit nur rund 0,2 % Anteil an den afrikanischen Wüstenfunden einen deutlich geringeren Teil, als man dies mit Blick auf ihren Prozentsatz an den beobachteten Fällen (ca. 4 %) vermuten würde. Ein möglicher Grund hierfür ist das gezielte Absammeln und Verarbeiten von Meteoreisen in den Fundgebieten durch die vor- und frühgeschichtlichen Bewohner der Sahara. Historisches Berichte über vom Himmel gefallene Steine gibt es seit frühester Zeit. So berichtet etwa der griechische Schriftsteller Plutarch über einen schwarzen Stein, der etwa 470 v. Chr. in Phrygien gefallen sein soll. Dieser Meteorit wurde im Namen der Göttin Kybele verehrt, bis er nach der Übernahme des Kybele-Kultes durch die Römer (die sie Mater Deum Magna Ideae nannten) im Jahr 204 v. Chr. in einer großen Prozession nach Rom gebracht wurde, wo er weitere Jahrhunderte verehrt wurde. Um 465 v. u. Z. deutete Diogenes von Apollonia den Fall eines Meteoriten auf der Halbinsel Gallipoli als „Fall eines erloschenen Sterns“. Bereits in prähistorischer Zeit waren Meteoriten Gegenstand von religiösen Kulten, wie Funde in Grabstätten der Sinagua-Kultur belegen. So wurde der Meteorit Winona 1928 in einem Steinbehälter in einem prähistorischen Pueblo in Arizona gefunden, wo er offenbar kultischen Zwecken diente. Auch bei dem in der Kaaba, dem zentralen Heiligtum des Islam, eingemauerten schwarzen Stein Hadschar al-Aswad handelt es sich möglicherweise um einen Meteoriten, was allerdings wissenschaftlich nicht gesichert ist. Der chinesische Historiker Ma Duanlin (1245–1325) berichtet über Meteoritenfälle in einem Zeitraum von 2000 Jahren. Eine Auswertung früher chinesischer Aufzeichnungen durch die Meteoritenforscher K. Yau, P. Weissman und D. Yeomans ergab 337 beobachtete Meteoritenfälle zwischen 700 v. Chr. und 1920. Der Meteorit Nogata, gefallen im Jahr 861 n. Chr., ist der früheste beobachtete Fall, von dem heute noch Material aufbewahrt wird. Der erste registrierte Meteorit in Europa, von dem noch Material vorhanden ist, fiel 1400 n. Chr. in Elbogen in Böhmen, das genaue Datum und die Umstände des Falls sind nicht überliefert. Großes Aufsehen erregte der Fall von Ensisheim im Elsass, bei dem im Jahre 1492 ein Steinmeteorit unter großem Getöse vom Himmel fiel. Über das Ereignis berichteten zahlreiche Chroniken und Flugblätter. Die ältesten auf der Erde gefundenen Überreste von Meteoriten sind „fossile Meteoriten“, die einen Stoffaustausch mit dem Gestein, in das sie eingebettet sind, erfahren haben und deren meteoritische Herkunft nur noch an ihrer Struktur zu erkennen ist. In Kalksteinschichten in Schweden sind zum Beispiel eingebettete Fragmente von fossilen chondritischen Meteoriten gefunden worden, die im Ordovizium vor etwa 450–480 Millionen Jahren auf die Erde gefallen sind. Als spektakuläres Ereignis der jüngeren Zeit gilt eine Beobachtung am 30. Juni 1908 (Tunguska-Ereignis). Zeugen beobachteten am Himmel über der sibirischen Tunguska-Region einen blassblauen Feuerball. Kurz darauf machte die Druckwelle einer Explosion rund 2.000 Quadratkilometer Wald dem Erdboden gleich, das entspricht etwa einer Kreisfläche von 50 Kilometern Durchmesser. Die durch die Explosion verursachten Luftdruckschwankungen konnten noch in London registriert werden. Neben anderen Theorien wird vermutet, dass es sich bei diesem Ereignis um die Explosion eines Meteoroiden, vermutlich eines Kometenkernfragments oder eines kleineren Asteroiden, von etwa 50 bis 100 Meter Durchmesser in einer Höhe von ca. 10.000 Metern handelte. Meteoriten oder ein Krater, die durch das Ereignis entstanden sein könnten, wurden in dem entsprechenden Gebiet bisher nicht gefunden, aber einige Stunden nach dem Ereignis fiel in der Nähe von Kiew der Meteorit Kagarlyk. Bisher ist ungeklärt, ob dies ein zufälliges Aufeinandertreffen der beiden Ereignisse ist oder ob ein Zusammenhang besteht. Zudem kam es im Laufe der Menschheitsgeschichte laut Studien zu einigen Vorfällen, in denen Meteoriteneinschläge ähnlich dem Tunguska-Ereignis, antike Städte zerstörten. In der mittleren Bronzezeit, vor ungefähr 3.600 Jahren, zerstörte ein in der Luft zerborstener Meteorit, der ähnlich groß war wie der des Tunguska-Ereignises, die antike Stadt Tall el-Hammam in Jordanien. Meteoritisches Eisen wurde schon vor der eigentlichen Eisenzeit zur Herstellung von Kultgegenständen, Werkzeugen und Waffen benutzt. So wurden etwa in einem kleinen Gräberfeld aus der Zeit von 3500 bis 3000 v. Chr. bei der ägyptischen Siedlung Gerzeh Eisenperlen mit einem Nickelgehalt von 7,5 Prozent gefunden, was den meteoritischen Ursprung nahelegt. Eine Dolchklinge wurde auch in der Grabkammer des Pharaos Tutanchamun gefunden, von der angenommen wird, dass sie möglicherweise aus meteoritischem Eisen gefertigt worden ist. Zwei 2016 publizierte Analysen der Dolchklinge geben der Annahme eines meteoritischen Ursprungs des Klingenmaterials starke Unterstützung. Auch heute wird das sogenannte Meteoriteneisen wegen seiner relativen Seltenheit als Schmuck oder als Teil von handgemachten Messern verwendet. Ätzt man Meteoriteneisen mit Säure, zeichnet sich ein Muster ab, da die verschiedenen Metalle unterschiedlich stark von der Säure angegriffen werden. Bei dieser Widmanstätten-Struktur spricht man auch von Meteoritendamast. Geschichte der Meteoritenforschung Die wissenschaftliche Erforschung von Meteoriten begann am Ende des 18. Jahrhunderts. Die erste Veröffentlichung über die chemische Analyse eines 1768 bei Lucé in Frankreich gefallenen Steines mit modernen chemischen Methoden wurde 1777 von den Chemikern Fourgeroux, Chadet und Lavoisier im Journal de Physique veröffentlicht. Allerdings kamen die Autoren zu dem falschen Schluss, dass der Stein irdischen Ursprungs und möglicherweise durch Blitzeinschlag in Sandstein entstanden sei. Als Meilenstein in der Akzeptanz von Meteoriten als außerirdische Objekte gilt die Veröffentlichung des Physikers Ernst F. F. Chladni Ueber den Ursprung der von Pallas gefundenen und anderer ihr ähnlicher Eisenmassen. In diesem 1794 veröffentlichten Aufsatz diskutiert Chladni historische Berichte über Meteore und Feuerkugeln und begründet, warum viele der zu dieser Zeit existierenden, sehr unterschiedlichen Erklärungen über den Ursprung dieser Phänomene nicht zutreffen können. Des Weiteren stellt er die Hypothese auf, dass diese Erscheinungen mit Berichten über vom Himmel gefallene Stein- und Eisenmassen verknüpft sind. Außerdem schlägt er vor, dass diese Körper aus dem Weltraum stammen. Auslöser für diese Arbeit waren Diskussionen mit dem Physiker und Philosophen Georg Christoph Lichtenberg, der 1791 selbst einen Feuerball beobachtet hatte. Berichte über vom Himmel gefallene Steine oder Eisenmassen wurden vor der Veröffentlichung Chladnis von Wissenschaftlern meist als Aberglaube abgetan. Wenn überhaupt, wurde höchstens ein atmosphärischer Ursprung von Meteoriten akzeptiert, der auch als Erklärung von Meteoren und Feuerkugeln üblich war. Besonders Behauptungen, dass Meteoriten außerirdischen Ursprungs seien, wurden oft auch von aufgeklärten und gebildeten Menschen mit Spott und Polemik beantwortet. Ein Grund hierfür war der auf Aristoteles zurückgehende und von Isaac Newton bekräftigte Glaube, dass das Sonnensystem abgesehen von den größeren Körpern wie Planeten, Monden und Kometen frei von Materie und höchstens von einer Äther genannten Substanz erfüllt sei. Bereits im 18. Jahrhundert, noch vor der Erkenntnis, dass Meteoriten extraterrestrischen Ursprungs sind, wurden die ersten Meteoritensammlungen gegründet. Die älteste Meteoritensammlung der Welt befindet sich im Naturhistorischen Museum in Wien, wo mit dem Hraschina-Meteoriten (gefallen 1751) der Grundstein gelegt wurde; heute befindet sich dort die mit ca. 1100 Objekten größte Schausammlung der Welt. Auch Chladnis Thesen erfuhren zunächst bei den meisten Wissenschaftlern Ablehnung, durch weitere beobachtete Fälle (beispielsweise Wold Cottage 1795, L’Aigle 1803) und Forschungsberichte erhielten sie aber zunehmend Unterstützung. William Thomson lieferte 1794 die erste mineralogische Beschreibung eines bei Siena in Italien gefallenen Steins, in der er zeigte, dass dieser von allen bekannten irdischen Gesteinen verschieden ist. Edward C. Howard und Jacques-Louis de Bournon analysierten 1802 vier Meteoriten auf ihre chemische Zusammensetzung. De Bournon erwähnte dabei erstmals in diesen gefundene Silikatkügelchen, die 1869 durch Gustav Rose als Chondren benannt wurden. Während noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die fälschlicherweise als Mondvulkane interpretierten Mondkrater oder Staubzusammenballungen in der Hochatmosphäre als Herkunft der meisten Meteoriten diskutiert wurden, nahm man später den Asteroidengürtel oder gar einen interstellaren Ursprung an. Dass fast alle Meteoriten Bruchstücke aus dem Asteroidengürtel sind, zeichnete sich letztendlich um 1940 durch photographische Aufnahmen einiger Meteore durch F. L. Whipple und C. C. Wylie ab, aus denen auf elliptische Bahnen geschlossen werden konnte. Bei einem interstellaren Ursprung wären hyperbolische Bahnen zu erwarten gewesen. Im Jahr 1959 konnte die Bahn des Meteoriten Přibram durch mehrere Kameras aufgezeichnet und der Orbit berechnet werden, dessen Aphel im Asteroidengürtel lag. Allerdings konnte dann Anfang der 1980er-Jahre mit Hilfe neuester kosmochemischer Daten auch nachgewiesen werden, dass etwa jeder tausendste Meteorit vom Mond und eine vergleichbare Anzahl sogar vom Mars stammt. Schätzungen gehen von etwa 45.000 Meteoriten aus, die weltweit in privaten und wissenschaftlichen-institutionellen Sammlungen aufbewahrt werden. Aktuelle Meteoritenforschung Meteoriten repräsentieren bisher neben den Proben von Mondgestein durch die Apollo- und Luna-Missionen sowie den eingefangenen Partikeln des Sonnenwindes (Mission Genesis), des Kometen Wild 2 und des interstellaren Staubes (Mission Stardust) das einzige außerirdische Material, das in irdischen Labors untersucht werden kann. Deswegen ist die Forschung an Meteoriten sehr wichtig für die Planetologie und kosmochemische Fragestellungen. So können anhand von Isotopenmessungen an präsolaren Mineralen Modelle der Nukleosynthese in Supernovae und der Umgebung von Roten Riesen überprüft werden. Auch für die Erforschung der Entstehung unseres Planetensystems sind Meteoriten sehr wichtig. So konnte für Calcium-Aluminium-reiche Einschlüsse in primitiven Chondriten mit verschiedenen Datierungsmethoden ein Alter zwischen 4,667 und 4,671 Milliarden Jahren nachgewiesen werden. Weil dies vermutlich die ältesten im Sonnensystem entstandenen Minerale sind, markieren sie den Beginn der Entstehung unseres Planetensystems. Die Datierung der verschiedenen Klassen von Meteoriten erlaubt so eine zunehmend genauere zeitliche Darstellung der einzelnen Prozesse im frühen Sonnensystem. Auch sind in Meteoriten zahlreiche Mineralien wie beispielsweise Niningerit entdeckt worden, die bisher auf der Erde nicht gefunden wurden. Meteoriteneinschläge haben zudem die Erdgeschichte stark beeinflusst, deshalb sind sie auch aus diesem Grund von Interesse. So war die Erde nach ihrer Entstehung und bis vor etwa 3,9 Milliarden Jahren einige hundert Millionen Jahre lang einem starken Bombardement durch außerirdische Objekte ausgesetzt. Weithin bekannt ist inzwischen der KT-Impakt genannte Meteoriteneinschlag vor 65 Millionen Jahren, der für das Aussterben der Dinosaurier verantwortlich gemacht wird. Auch das heute allgemein akzeptierte Alter der Erde von 4,55 Milliarden Jahren wurde zuerst 1953 von C. C. Patterson mittels Uran-Blei-Datierung am Meteoriten Canyon-Diablo bestimmt. Beginnend mit der Entdeckung von organischen Verbindungen im kohligen Chondriten Murchison spielen Meteoriten eine zunehmend größere Rolle in der Astrobiologie und der Erforschung des Ursprungs des Lebens. Neben Aminosäuren und polyzyklischen aromatischen Kohlenwasserstoffen, die inzwischen auch in anderen kohligen Chondriten nachgewiesen wurden, wurden in Murchison Fullerene und sogar Diaminosäuren nachgewiesen. Es wird vermutet, dass Diaminosäuren eine wichtige Rolle in den ersten präbiotischen Reaktionen, aus denen letztlich die RNA und die DNA hervorgingen, gespielt haben. Diese Entdeckung ist somit ein Indiz dafür, dass einige wichtige Bausteine des Lebens durch Meteoriten auf die Erde gelangt sein könnten. Ein noch aufsehenerregenderes Forschungsergebnis in diesem Bereich war die bis heute kontrovers diskutierte Entdeckung angeblich fossiler Spuren bakteriellen Lebens im Marsmeteoriten ALH 84001. 2012 wurde eine ca. 24 cm große, etwa 10 kg schwere Figur untersucht, die 1938/39 von einer deutschen Tibet-Expedition entdeckt worden sein soll und bis 2009 in einer Privatsammlung aufbewahrt wurde. Forscher gehen davon aus, dass die Figur aus einem Fragment des Chinga-Eisenmeteoriten gefertigt wurde, der etwa vor 15.000 Jahren im Bereich der heutigen Mongolei oder Sibirien niederging. Fall und Einschlag Man unterscheidet einzelne Fälle und multiple Fälle. Bei einem einzelnen Fall erreicht der Rest eines Meteoroiden die Erdoberfläche, ohne vorher durch die beim Atmosphärenflug wirkenden Kräfte in mehrere Teile auseinanderzubrechen. Häufig handelt es sich bei den einzelnen Fällen um Eisenmeteorite, seltener um Steineisenmeteorite oder Steinmeteorite. Dies lässt sich auf die höhere Dichte und die kompaktere Struktur der Eisenmeteoriten zurückführen. Sie setzt den Torsions-, Zug- und Druckkräften, die durch den Luftstau und die hohen Geschwindigkeiten beim Eintritt in die Erdatmosphäre wirken, höheren Widerstand entgegen. Zu multiplen Fällen kommt es während eines Kontaktes der Erdatmosphäre mit Meteoroiden eines Meteorstroms sowie auch durch das Auseinanderbrechen eines einzelnen Meteoroiden während des Atmosphärenfluges in mehrere Fragmente. Schockereignisse, bedingt durch Kollisionen der Mutterkörper der Meteoriten im Asteroidengürtel, führen insbesondere bei silikatischen Körpern zu Frakturen und Haarrissen der losgesprengten Bruchstücke. Beim Eintritt in die Erdatmosphäre brechen diese Asteroidentrümmer häufig entlang dieser Frakturen auseinander. Dieser Vorgang kann sukzessive in mehreren Stufen ablaufen, was dazu führt, dass der Meteoroid schließlich in Gestalt eines Trümmerschwarmes die unteren Schichten der Atmosphäre erreicht (z. B. Pultusk 1868, Hoolbrook 1912, Sikhote-Alin 1947, Gao-Guenie 1960, Thuathe 2002, Bassikounou 2006, Tamdakht 2008). Allerdings sind in einigen Fällen finale Detonationen am Endpunkt der Flugbahn, nur wenige Kilometer über der Erdoberfläche belegt (z. B. Tatahouine 1931). Die Meteoriten multipler Fälle treffen nicht gemeinsam auf einem Punkt der Erdoberfläche auf, sondern bilden aufgrund der unterschiedlichen Massenverteilung im Trümmerschwarm ein ausgedehntes Streufeld. Dabei legen die größeren Massen aufgrund der ihnen innewohnenden größeren kinetischen Energie eine gestrecktere, längere Flugbahn zurück, während kleinere Massen durch Luftwiderstand und Winddrift schneller in ihrem Flug abgebremst und leichter abgelenkt werden. Aus diesem Verhalten ergibt sich am Boden stets eine Ellipse, innerhalb derer die einzelnen Massen aufschlagen. Dieses elliptische Streufeld wird Distributionsellipse genannt. Die größten Massen befinden sich dabei stets am Endpunkt der Ellipse, die kleinsten Massen markieren den Anfangspunkt der Ellipse, sie erreichen auch als erste die Oberfläche. Berühmte Beispiele für klassische Distributionsellipsen sind die Meteoritenfälle von Pultusk 1868, Hessle 1869, L’Aigle 1803, Dar Al Ghani 749 1999 (Fund), Thuathe 2002 und Bassikounou 2006. Kleinere Meteorite werden bei ihrem Durchflug durch die Erdatmosphäre abgebremst und fallen während der sogenannten Dunkelflugphase schließlich im freien Fall herab. Beim Auftreffen auf die Erde richten sie, wenn überhaupt, nur geringen Schaden an. Dennoch sind etwa 100 Fälle bekannt, bei denen Meteoriteneinschläge zu (meist geringen) Sachschäden geführt haben, so etwa beim Peekskill-Meteoriten, einem 12 Kilogramm schweren Chondriten, der am 9. Oktober 1992 im US-amerikanischen Staat New York einen geparkten Chevrolet Malibu beschädigt hat. Am 15. Oktober 1972 soll der Steinmeteorit von Valera in Venezuela eine Kuh getroffen und getötet haben, wie von den Besitzern der Kuh notariell beglaubigt zu Protokoll gegeben wurde. Bis heute ist nur ein einziger Fall bekannt, bei dem ein Mensch nachweislich von einem Meteoriten direkt verletzt wurde: Am 30. November 1954 durchschlug der 5,56 kg schwere Meteorit von Sylacauga im US-Bundesstaat Alabama das Dach eines Hauses und traf, vom Aufprall auf ein Radiogerät bereits gebremst, die auf einer Couch liegende Hausfrau Ann Elizabeth Hodges am Arm und an der Hüfte, was großflächige Blutergüsse zur Folge hatte. Nach Alexander von Humboldt kam 1660 bei einem Aerolithenfall in Italien ein Franziskaner zu Tode. Allerdings kann es bei einem Meteoritenfall auch indirekt zu erheblichen Personen- und Sachschäden kommen, wie der 2013 herabgestürzte Meteorit von Tscheljabinsk zeigt: Durch die Detonation des Meteoroiden in der oberen Atmosphäre und die dadurch ausgelöste atmosphärische Druckwelle stürzte das Dach einer Zinkfabrik ein. Etwa 3000 weitere Gebäude wurden beschädigt, wobei hauptsächlich Fenster zersplitterten und Türen aufgedrückt wurden. Hunderte Menschen wurden wegen Schnittwunden (verursacht durch zersplittertes Glas) und Prellungen medizinisch behandelt. Sollte ein größerer Meteorit in besiedelten Regionen niedergehen, könnte das beträchtliche materielle Schäden sowie den Verlust von Menschenleben zur Folge haben. Meteoriten mit einer Masse von über 100 Tonnen werden durch die Atmosphäre nicht mehr nennenswert abgebremst, deshalb wird beim Auftreffen auf die Erdoberfläche ihre kinetische Energie explosionsartig freigesetzt, wodurch es zur Bildung von Einschlagkratern kommt. Derartige Einschläge können eine globale Naturkatastrophe verursachen und – wie im Falle des KT-Impakts – ein Massenaussterben zahlreicher Pflanzen- und Tierarten zur Folge haben. Berechnung des Fallorts von Meteoriten Die Flugbahn eines Meteors durch die Erdatmosphäre kann durch ein geometrisches Schnittverfahren bestimmt werden, wenn die Leuchtspur am Sternhimmel durch die Kameras mehrerer Meteorstationen erfasst wurde. Aus der Richtung und Krümmung der Flugbahn und der Luftdichte lässt sich der genäherte Fallort berechnen, was in den letzten Jahren in Mitteleuropa schon mehrmals zu Meteoritenfunden geführt hat. Siehe auch Liste von Meteoriten Liste der Meteoriten Deutschlands Liste der Meteoriten Österreichs Liste der Meteoriten der Schweiz Durchschlagskraft von Meteoriten, Geschossen und anderen Impaktoren nach Newton Meteorstaub Bätylien Tektit Panspermie Literatur Einführende Fachbücher und Artikel Ludolf Schultz: Planetologie, eine Einführung. Birkhäuser-Verlag, Basel 1993, ISBN 3-7643-2294-2. Ludolf Schultz, Jochen Schlüter: Meteorite. Primus Verlag, Darmstadt 2012, ISBN 978-3-86312-012-2. Fritz Heide, Frank Wlotzka: Kleine Meteoritenkunde. 3. Auflage. Springer-Verlag, Berlin 1988, ISBN 3-540-19140-2. Rolf W. Bühler: Meteorite. Urmaterie aus dem interplanetaren Raum. Birkhäuser-Verlag, Basel 1988, ISBN 3-7643-1876-7. Nives Widauer (Hrsg.): Meteoriten – was von außen auf uns einstürzt. Texte und Bilder im Schnittpunkt von Wissenschaft, Kunst und Literatur. Verlag Niggli, Sulgen/ Zürich 2005, ISBN 3-7212-0534-0. O. Richard Norton: The Cambridge Encyclopedia of Meteorites. Cambridge University Press, Cambridge 2002, ISBN 0-521-62143-7. Harry Y. McSween, Jr: Meteorites and Their Parent Planets. Cambridge University Press, Cambridge 1999, ISBN 0-521-58751-4. U. B. Marvin: Ernst Florenz Friedrich Chladni (1756–1827) and the origins of modern meteorite research. In: Meteoritics & Planetary Science. Allen Press, Lawrence Kan 31.1996, S. 545–588. Rüdiger Vaas: Der Tod kam aus dem All. Meteoriteneinschläge, Erdbahnkreuzer und der Untergang der Dinosaurier. Franckh-Kosmos, Stuttgart 1995, ISBN 3-440-07005-0. Alexander von Humboldt: Kosmos. S. 60, Fußnote 69. Detlef de Niem: Hochgeschwindigkeitseinschläge von Asteroiden, Kometen und Meteoriten. Dissertation. Technische Universität Braunschweig, 2005. Mario Trieloff, Birger Schmitz, Ekaterina Korochantseva: Kosmische Katastrophe im Erdaltertum. In: Sterne und Weltraum. Band 46, Nr. 6, 2007, S. 28–35, Isidore Adler: The analysis of extraterrestrial materials. Wiley, New York 1986, ISBN 0-471-87880-4. Iain Gilmour, Christian Köberl: Impacts and the early earth. Springer, Berlin 2000, ISBN 3-540-67092-0. O. Richard Norton, Lawrence A. Chitwood: Field guide to meteors and meteorites. Springer, London 2008, ISBN 978-1-84800-156-5. Virgiliu Pop: Property status of extraterrestrial samples and extracted resources. In: V. Pop: Who owns the moon? Extraterrestrial aspects of land and mineral resources ownership. Springer, Berlin 2008, ISBN 978-1-4020-9134-6, S. 135–151. Svend Buhl, Don McColl: Henbury Craters & Meteorites. Their Discovery, History and Study. Hrsg. von S. Buhl. Meteorite Recon, Hamburg 2012, ISBN 978-3-00-039026-5. Franz Brandstätter, Ludovic Ferrière, Christian Köberl: Meteoriten – Zeitzeugen der Entstehung des Sonnensystems / Meteorites – Witnesses of the origin of the solar system. Verlag des Naturhistorischen Museums & Edition Lammerhuber, Wien 2012, ISBN 978-3-902421-68-5. (deutsch/englisch) Christian Köberl, Georg Delisle, Alex Bevan: Meteorite aus der Wüste. In: Die Geowissenschaften. Band 10, Nr. 8, 1992, S. 220–225. doi:10.2312/geowissenschaften.1992.10.220 Georg Delisle: Antarktische Meteorite und Global Change. In: Die Geowissenschaften. Band 11, Nr. 2, 1993, S. 59–64. doi:10.2312/geowissenschaften.1993.11.59 Rolf Froböse: Die Antarktis – Ein Eldorado für Meteoritenforscher. In: Geowissenschaften in unserer Zeit. Band 2, Nr. 2, 1984, S. 45–51. doi:10.2312/geowissenschaften.1984.2.45 Ernst Probst: Meteoriten. Die wichtigsten Funde und Krater. Amazon Distribution GmbH, Leipzig 2022, ISBN 979-8-83802714-6. Meteoritenkataloge Monica M. Grady: Catalogue of Meteorites. 5. Auflage. Cambridge University Press, Cambridge 2000, ISBN 0-521-66303-2. (Buch, CD und online) Joern Koblitz: Metbase. Elektronischer Katalog. CD-ROM. Relevante wissenschaftliche Zeitschriften Meteoritics & Planetary Science. (MAPS). Journal of the Meteoritical Society. Allen Press, Lawrence Kan 31.1996 ff. Geochimica et Cosmochimica Acta. (GCA). Journal of the Geochemical Society and the Meteoritical Society. Elsevier Science. New York NY 1.1950 ff. Earth and Planetary Science Letters. (EPSL). Elsevier, Amsterdam 1.1966 ff. Journal of Geophysical Research. (JGR). Serie A–G. American Geophysical Union, Washington DC 54.1949 ff. Weblinks Meteoritical Bulletin Erkennungshilfen und Informationen zur Meteoritensuche (deutsch und englisch) Wissenswertes über Meteoriten Informative Webseite über Meteoriten und Mineralien NEORC - Forschung Erdnaher Objekte (deutsch) Meteoritical Society (englisch) Meteoriten-Bilder-Galerien mit Informationen – Sternwarte Singen e. V. Meteoriten-Rekorde etc. Bekannte Meteoriten in Bayern – mit Karte und Bildergalerie (Bayerischer Rundfunk) Datenbank der Meteoritenkrater (englisch) Einzelnachweise Gestein
14045
https://de.wikipedia.org/wiki/%C3%85land
Åland
Åland (; auch , auch , in deutscher Amtssprache Ålandinseln) ist eine mit weitgehender politischer Autonomie ausgestattete Region Finnlands. Sie besteht aus der gleichnamigen Inselgruppe in der nördlichen Ostsee am Eingang des Bottnischen Meerbusens zwischen Schweden und dem finnischen Festland. Schwedisch ist die einzige Amtssprache der Region, die infolge einer Entscheidung des Völkerbundes aus dem Jahr 1921 als entmilitarisierte Zone zu Finnland gehört, aber ihre inneren Angelegenheiten weitgehend autonom verwaltet. Bestimmte politische und wirtschaftliche Rechte stehen auch finnischen Staatsangehörigen nur begrenzt zu. Die Wirtschaft der Inseln wird heute vom Fremdenverkehr und dem Schiffsverkehr bestimmt. Letzterer wird durch steuerliche Sonderregelungen begünstigt, die beim Verkehr mit Åland steuerfreien Einkauf ermöglichen. Geographie Allgemeines Die Inselgruppe besteht aus über 6700 Inseln und Schären und bildet einen Archipel am südlichen Eingang des Bottnischen Meerbusens in der nördlichen Ostsee. Åland reicht bis circa 40 km an die schwedische Küste und bis 15 km an die finnische Küste heran. Die Hauptinsel Fasta Åland mit etwa 90 % der Einwohner liegt im Westen, 40 km von der schwedischen und 100 km von der finnischen Küste entfernt. Die Inseln haben eine Landfläche von insgesamt 1552,38 km². Unter Einrechnung der Wasserflächen der Ostsee erreicht die Region eine Größe von 13.517 km². Die Gesamtzahl der Inseln beträgt 6757, wenn man als Mindestgröße einer Insel 0,25 ha ansetzt. Die auf 60 Inseln verteilte Gesamteinwohnerzahl von 30.074 Menschen ergibt eine Bevölkerungsdichte von 18,4 Einwohnern/km². Åland ist eine relativ flache Inselgruppe. Der höchste Berg ist der Orrdalsklint im Norden von Fasta Åland (Gemeinde Saltvik) mit Höhe. Geologie Die Inseln Ålands bestehen zum größten Teil aus metamorphen und magmatischen Gesteinen, die oft als Fels zum Vorschein treten. Sie sind präkambrischen Alters (circa 1,6 Milliarden Jahre) und gehören zum Baltischen Schild. Vor allem im östlichen Teil der Inselgruppe steht Gneis an. Auf der Hauptinsel und in ihrer Umgebung findet man meist Granite. Bekannt bei Geologen ist die auf den Inseln vorkommende rötliche Granitvarietät Rapakiwi, die man auch sehr häufig in Norddeutschland als eiszeitliches Geschiebe findet. Die Landschaft wurde von den Vereisungen des Eiszeitalters geprägt. Typisch sind Rundhöckerlandschaften und Schären. In der letzten Eiszeit wurde das Land von den Eismassen vollständig unter den Wasserspiegel gedrückt, so dass nach dem Abschmelzen der Gletscher die Ålandinseln fast komplett von Wasser bedeckt waren. Seit etwa 13.000 Jahren hebt sich das Land allmählich aus dem Meer, beginnend mit dem höchsten Punkt Ålands, dem Orrdalsklint. Im Laufe der Zeit stieg das Land weiter an und immer mehr Inseln bildeten sich. Dieser Prozess setzt sich bis heute fort: Åland steigt mit einer Geschwindigkeit von etwa sieben Millimetern pro Jahr aus dem Meer empor. Dort, wo sich Meeresablagerungen (meistens Feinsande und Schluffe) in größerer Mächtigkeit (einige Meter) absetzen konnten, ist nach der postglazialen Landhebung Landwirtschaft möglich. Landwirtschaftlich nutzbar sind auch die Areale, auf denen die Gletscher beim Abschmelzen noch geringmächtige Sedimente auf den anstehenden Felsen ablagerten. Klima Das Klima auf Åland ist aufgrund der Insellage in der Ostsee im Vergleich zum schwedischen und finnischen Festland gemäßigt. Die Ostsee erwärmt im Winter die kalten Nordostwinde und kühlt im Sommer die heißen Südostwinde. Der jährliche Niederschlag liegt bei durchschnittlich 541 mm pro Jahr und ist damit geringer als auf dem schwedischen und dem finnischen Festland. Die Jahresdurchschnittstemperatur liegt bei 5,5 Grad Celsius. Die höchste jemals auf Åland gemessene Temperatur betrug 31,3 Grad Celsius, die niedrigste −32,4 Grad Celsius. Die Durchschnittswerte für die einzelnen Monate des Jahres aus den Jahren 1971 bis 2000 sind der untenstehenden Klimatabelle zu entnehmen. Flora und Fauna Åland gehört zur Vegetationszone des borealen Nadelwaldes. Neben den vorherrschenden Tannen- und Fichtenarten gibt es jedoch auch zahlreiche Laubbäume, insbesondere Eichen, Eschen, Ulmen, Ahorne und Linden. Auf den Inseln wachsen auch viele Orchideenarten, von denen die meisten zu den etwa fünfzig unter Naturschutz stehenden Pflanzen gehören. In Åland sind 25 Säugetierarten beheimatet, darunter viele Nagetiere, aber auch Rothirsche und Rehe. Durch die Meerlage und das relativ milde Klima gibt es eine reichhaltigere Vogelwelt als auf dem finnischen Festland. Auf den Inseln brüten über 130 Vogelarten, darunter bedrohte Wasservögel wie die Bergente. Der Seeadler, der Mitte der 1970er Jahre in ganz Finnland praktisch ausgerottet war, kann nach erfolgreichen Schutz- und Wiederansiedlungsbemühungen in Åland in großer Zahl angetroffen werden. Von dem Jagdwild abgesehen stehen fast alle Tiere Ålands unter Naturschutz. Bevölkerung Die Bevölkerungszahl von Åland ist seit 1970 langsam, aber stetig gestiegen. Lebten 1970 noch 20.666 Menschen auf den Inseln, waren es Ende 2014 insgesamt 28.916, was einem Wachstum von etwa einem Prozent pro Jahr in diesem Zeitraum entspricht. Das Bevölkerungswachstum kommt vorwiegend von im übrigen Finnland oder im Ausland geborenen Einwohnern. 1970 machten sie noch rund 20 % aus, heute sind es rund 35 %. Sprache Einzige offizielle Sprache Ålands ist gemäß § 36 Abs. 1 und 2 des Selbstverwaltungsgesetzes Schwedisch. Die große Mehrheit der Åländer Bevölkerung, derzeit 88,3 % (Stand Ende 2014), gibt Schwedisch als Muttersprache an. Allerdings sinkt dieser Anteil leicht: 1990 betrug er noch 94,5 %. Der auf Åland gesprochene schwedische Dialekt, das Åländische (), steht dem in Schweden gesprochenen Reichsschwedischen näher als dem von der schwedischsprachigen Minderheit in Finnland gesprochenen Finnlandschwedischen. Auch innerhalb des Åländischen gibt es noch einige unterschiedliche Dialekte. So sprechen die Einwohner im Westen der Inselgruppe (in den Gemeinden Eckerö und Hammarland) einen Dialekt, der dem Reichsschwedischen mehr ähnelt als andere åländische Dialekte. In den östlichen Schären wird ein Schwedisch mit leicht finnischem Akzent gesprochen (vor allem auf Brändö). Der åländische Dialekt verfügt über eine Reihe von eigenständigen Wörtern, die es weder auf dem schwedischen Festland noch im Finnlandschwedischen gibt. Als Beispiele seien genannt: inga statt (nicht) blystra statt (pfeifen) byka statt (waschen) Eine Minderheit von 4,8 % der Einwohner Ålands gibt als Muttersprache Finnisch an. Diese ist schon seit langem die mit Abstand größte Minderheitensprache; sie wies bis ungefähr 2010 mehr Muttersprachler auf als die sonstigen Sprachen zusammen. Mittlerweile machen die Muttersprachler anderer Sprachen zusammengenommen 6,9 % aus. Die derzeit (Stand Ende 2014) meistvertretenen Sprachen in dieser Gruppe sind Lettisch und Rumänisch mit je 1,0 %, gefolgt von Estnisch 0,7 %, Russisch 0,5 % und Thailändisch 0,5 %. Religion Soweit sich die Åländer zu einer Glaubensgemeinschaft bekennen, gehören sie praktisch ausschließlich der Evangelisch-Lutherischen Kirche Finnlands an. Die Åland-Inseln gehören seit 1923 zum Bistum Borgå (auch Bistum Porvoo), das die schwedischsprachigen Regionen Finnlands betreut. Die Propstei Åland des Bistums Borgå besteht aus zehn Gemeinden. Heute (Stand Ende 2014) gehören 78,3 % der Åländer dieser Kirche an. Nur eine Minderheit von 1,2 % gehört einer Freikirche oder einer anderen Glaubensgemeinschaft an (Zeugen Jehovas 0,2 %, Römisch-Katholisch 0,3 %, Griechisch-Orthodox 0,3 %, Sonstige 0,3 %). Die Zahl der Konfessionslosen ist in den vergangenen Jahren angestiegen, von 4,7 % im Jahr 1990 auf 20,5 % im Jahr 2015. Geschichte Vorgeschichte In der Steinzeit siedelten sich erste Fischer und Seehundjäger auf der entstehenden Inselgruppe an (Jettböle). Die ersten Bronzegegenstände, zunächst Schmuck, bald auch Waffen, erreichten Åland während des 1. Jahrhunderts v. Chr. und markierten den – in diesem Teil Europas späten – Beginn der Bronzezeit. Die Periode dauerte bis in das 4. Jahrhundert. Für die folgenden etwa 200 Jahre konnten keine Spuren menschlichen Lebens nachgewiesen werden, die Inseln waren anscheinend unbewohnt. Die Gründe für die Entvölkerung sind ungeklärt. Eine neue Welle von Siedlern erreichte die Inseln im 7. Jahrhundert aus dem Westen. Sie stellte die Vorfahren der heutigen Bevölkerung dar. Während der Eisenzeit und zur Zeit der Wikinger waren die Inseln relativ dicht besiedelt. An diese Zeit erinnern zahlreiche Gräberfelder und sechs Wallburgen, von denen die Wallburg Borge die größte ist. Schwedische Zeit Zum Zeitpunkt der schwedischen Reichsgründung im Hochmittelalter zwischen 1000 und 1300 war Åland unter der Herrschaft der Diözese Linköping. Åland wurde Teil des neuentstandenen schwedischen Reiches, lange bevor sich der Einflussbereich des Reiches auf das heutige Finnland ausdehnte. In diese Zeit fällt auch die Christianisierung der Inseln. Die Geschichte Ålands verlief in der Folgezeit synchron mit der Geschichte Schwedens. Aufgrund seiner Lage kam Åland dabei strategische Bedeutung zu. Dies führte bereits zur Errichtung der Burg Kastelholm durch Bo Jonsson Grip († 1386). Die Burg wurde 1388 erstmals urkundlich erwähnt. In den Wirren der Kalmarer Union wechselte die Burg mehrmals den Besitzer. Sie wurde 1440 von Karl Knutsson erobert, der sich vorübergehend die schwedische Königskrone sichern konnte. Svante Nilsson († 1512) übernahm Kastelholm 1480 für den dänischen König. Nachdem Svante allerdings die Seiten gewechselt hatte, übergab er die Burg 1497 an Sten Sture den Älteren, von dem die Burg wiederum an Gustaf Wasa überging. Nach heftigen Angriffen der Dänen wurde die Inhaberschaft zunächst 1502 durch ein Duell zwischen dem dänischen Feldherrn Lyder Frisman und Wasas Vertreter Henning von Brockenhus zugunsten der Dänen entschieden, welche die Burg jedoch nach zwei Jahren wieder aufgaben. In den folgenden Jahrhunderten rückte Åland aus dem Fokus des Geschehens. Der Burgbezirk verlor zunehmend an Bedeutung. Die Bewohner Ålands spürten dennoch die Auswirkungen der Kriegsunternehmungen des expandierenden Reiches. Sie hatten hohe Steuern zu leisten und Soldaten, hauptsächlich für die schwedische Flotte, abzustellen. Als Folge des Großen Nordischen Krieges geriet der größte Teil des heutigen Finnlands, insbesondere Åland, 1714 unter russische Besatzung. Die bis 1721 andauernde gewalttätige Herrschaft der russischen Marine führte dazu, dass in diesen Jahren ein Großteil der åländischen Bevölkerung nach Schweden floh. Ein weiterer Krieg führte zur erneuten Besetzung Ålands von 1741 bis 1743. Erneut flohen viele Einwohner, jedoch war diese Besatzungszeit von weniger Übergriffen geprägt. Russische Zeit Der Burgbezirk Åland ging 1809 im Zuge des Friedens von Fredrikshamn zusammen mit Festland-Finnland an das Zarenreich und wurde Teil des autonomen Großfürstentums Finnland. Russland baute auf den Inseln die Befestigungsanlage Bomarsund. Während des Krimkrieges landeten am 8. August 1854 französische Truppen auf Åland. Sie belagerten und bombardierten die Festung acht Tage lang, bevor sich die Besatzung ergab. Vor ihrem Abzug zerstörten die Franzosen die Festung. Nach dem Krieg wurden die Inseln auf Verlangen von England und Frankreich demilitarisiert. Russland verpflichtete sich im Pariser Friedensvertrag von 1856, Åland nicht zu befestigen. Während des Ersten Weltkrieges brachte Russland mit Einverständnis der Verbündeten England und Frankreich erneut Truppen nach Åland und begann wieder mit der Befestigung der Inseln. Rechtsgerichtete Kreise in Schweden nahmen dies zum Anlass, den Kriegsbeitritt auf deutscher Seite zu fordern und Åland dem schwedischen Königreich anzuschließen. Finnland oder Schweden? Die russische Februarrevolution im Jahr 1917 führte in Finnland zu turbulenten politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, die am 6. Dezember des Jahres in die Unabhängigkeitserklärung des finnischen Parlaments mündeten. Gleichzeitig schwand die Disziplin der in Finnland stationierten russischen Streitkräfte. In Åland kam es 1917 vermehrt zu gewaltsamen Übergriffen gegen die Bevölkerung. In der Folge wurde auch in Åland offen über einen Anschluss an Schweden nachgedacht. Im Winter 1917/18 sammelten Aktivisten in der rund 21.000 Einwohner zählenden Inselgruppe über 7000 Unterschriften unter eine Adresse, die den Anschluss an Schweden forderte. Der Ausbruch des finnischen Bürgerkrieges Ende Januar 1918 leitete für Åland eine Phase turbulenter Ereignisse ein. Das weiße Schutzkorps aus Uusikaupunki, das zu Anfang des Krieges im Hinterland des Roten Finnland operierte, zog sich am 7. Februar nach Åland zurück und übernahm, während sich die russischen Truppen neutral verhielten, die Kontrolle über die Inseln. Am 20. Februar trafen schwedische Kriegsschiffe ein und erklärten, von der schwedischen Regierung zum Schutz der Åländer Zivilbevölkerung gesandt worden zu sein. Die russischen Truppen verließen die Inseln ebenso wie das finnische Schutzkorps. Zur Entwaffnung des Letzteren hatte der finnische Botschafter in Stockholm scheinbar sein Einverständnis gegeben. Tatsächlich war ein entgegengesetztes Telegramm an den Botschafter vom Oberbefehlshaber der weißen Armee in Finnland, Carl Gustaf Emil Mannerheim, durch den schwedischen Seeminister Erik Palmstierna abgefangen worden. Die schwedische Präsenz in Åland blieb kurz. Das bürgerliche Finnland hatte sich inzwischen an das Deutsche Reich gewandt, um Hilfe im Bürgerkrieg zu erhalten. Mit Einverständnis von Edvard Hjelt als Vertreter der weißen Regierung in Berlin landeten deutsche Truppen am 5. März 1918 in Åland und besetzten die Inseln schnell (siehe: Finnland-Intervention), während sich die Schweden umgehend zurückzogen. Die deutschen Truppen verschwanden nach dem Zusammenbruch der deutschen Kriegsführung im November 1918. Åland blieb zunächst militärisch unbesetzt. Als Teil des alten finnischen Großfürstentums gehörte Åland formell zu Finnland. Der Anschluss an Schweden wurde jedoch weiterbetrieben. Führer der separatistischen Bewegung in Åland war der Zeitungsjournalist Julius Sundblom. In Schweden fand die Übernahme Ålands prominente Unterstützung in König Gustav V. und der Regierung unter Ministerpräsident Hjalmar Branting. Die schwedische Seite berief sich in erster Linie auf das Selbstbestimmungsrecht der Åländer, ein Prinzip, auf das sich immerhin die Finnen selbst bei ihren gleichzeitigen Ostkriegszügen nach Karelien beriefen. 1919 versuchte Schweden zweimal vergeblich, die Ålandfrage auf die Tagesordnung der Friedenskonferenz von Versailles zu bringen. Finnland verabschiedete seinerseits im Frühjahr 1920 ein Gesetz, das Åland eine weitgehende Selbstverwaltung zugestand, sandte aber auch Streitkräfte auf die Inseln. Nachdem Finnland im Dezember 1920 in den Völkerbund aufgenommen worden war, wurde diesem die Ålandfrage schließlich auf britische Initiative zur Entscheidung vorgelegt. Nach dessen am 24. Juni 1921 ergangener Entscheidung sollten die Inseln im Staatsverbund Finnlands verbleiben. Jedoch seien zur Sicherung der Nationalität, der Sprache und der Kultur der schwedischsprachigen Bevölkerung der Inseln verschiedene Garantien zu geben. Ferner sollte der demilitarisierte Status der Inseln wiederhergestellt werden. Finnland akzeptierte die Bedingungen und setzte sie als Ergänzungen zu der bereits 1920 gewährten Selbstverwaltung in Kraft. Am 20. Oktober 1921 wurde in Genf ein Abkommen über die Demilitarisierung und Neutralität Ålands geschlossen, das mit Ausnahme der Sowjetunion alle Anrainerstaaten der Ostsee unterzeichneten. Die Befestigungen auf der Insel waren schon 1919 abgebaut worden. Autonome Region Finnlands 1922 fanden in Åland die ersten Wahlen statt, und am 9. Juni 1922 trat das åländische Parlament, das damals noch Landsting (heute Lagting) hieß, zu seiner ersten Plenarsitzung zusammen. Der 9. Juni ist seither åländischer Nationalfeiertag. Vom 23. bis 26. September 1941 kreuzte die sogenannte Baltenflotte der Deutschen Kriegsmarine unter dem Befehl von Vizeadmiral Otto Ciliax auf dem Schlachtschiff Tirpitz in der Ålandssee, um einen Ausbruch der sowjetischen Rotbannerflotte aus dem belagerten Leningrad zu verhindern. Am Ende des Zweiten Weltkrieges (1944) plante die deutsche Kriegsmarine ein Landungsunternehmen zur Besetzung der Inseln im Kampf gegen die Sowjetunion (Unternehmen Tanne West). Es wurde jedoch nicht durchgeführt, nachdem die Landung auf der Ostseeinsel Hochland gescheitert war (Unternehmen Tanne Ost). Am 3. April 1954 erhielt Åland seine eigene Flagge, die auf die historischen Beziehungen zu Schweden Bezug nimmt: ein rotes Kreuz auf gelbem Kreuz mit blauem Hintergrund. Der blaue Hintergrund mit gelbem Kreuz stellt die schwedische Flagge dar, das rote Kreuz auf dem gelben Kreuz stellt die alten schwedischen Farben für Finnland dar (Farben des finnischen Wappenlöwen). Åland hat seit 1984 eigene Briefmarken und seit 1993 das eigene Postunternehmen Åland Post. Die Mehrzahl der Einwohner Ålands verhält sich gegenüber dem finnischen Hauptland weiterhin distanziert, jedoch ist man mit dem geltenden Autonomiestatus in der Regel zufrieden. Die Idee eines unabhängigen Ålands ist noch nie ein großes Thema gewesen, wenn auch dieser Gedanke langsam mehr Anhänger gewinnt (siehe Tabelle unten). Die Wiedervereinigung mit Schweden ist ebenfalls kein Thema mehr, obwohl sich Åland hauptsächlich an Schweden orientiert. Politik Selbstverwaltung Åland ist eine von 19 Landschaften (maakunta/landskap) Finnlands, nimmt aber durch seinen Autonomiestatus eine Sonderrolle ein. Das Selbstverwaltungsrecht Ålands ist in § 120 der Verfassung Finnlands verbürgt. Die Einzelheiten sind in einem eigenen Selbstverwaltungsgesetz geregelt, das heute in der Fassung vom 16. August 1991 in Kraft ist und im Rang der Verfassung gleichsteht. Åland verfügt für die Beschlussfassung in Selbstverwaltungsangelegenheiten über ein eigenes Parlament, das ‚Landtag‘, sowie eine eigene Landschaftsregierung. Der Landtag wird alle vier Jahre in allgemeinen Wahlen gewählt. Die Åländische Landschaftsregierung (Ålands landskapsregering) wird vom Landtag ernannt. Der Landtag besitzt Gesetzgebungskompetenz für die Angelegenheiten, die der Selbstverwaltung unterfallen. Zu diesen Angelegenheiten gehören praktisch alle Regelungen der inneren Verwaltung, des örtlichen Wirtschaftslebens, der Sozialfürsorge sowie der inneren Ordnung. Beim finnischen Staat verbleiben die Kompetenzen in der Außenpolitik, der größte Teil des Zivil- und Strafrechts, die Organisation der Gerichte sowie Zoll- und Steuerangelegenheiten. Die in Åland tätigen politischen Parteien sind organisatorisch völlig unabhängig von den im übrigen Finnland tätigen Gruppierungen. Wahlergebnisse der letzten fünf Wahlen: Åland ist Mitglied des Nordischen Rats. Am 5. September 2007 wurde dort das Ålandsdokument beschlossen, das den Autonomiegebieten Åland, den Färöern und Grönland die gleichwertige Mitgliedschaft im Nordischen Rat ermöglichen soll. Verhältnis zu Finnland Åland nimmt wie alle anderen Teile Finnlands an den in Finnland abgehaltenen allgemeinen Wahlen, insbesondere den Wahlen zum finnischen Parlament und zum Europäischen Parlament sowie der Direktwahl des Präsidenten teil. Bei den Wahlen zum finnischen Parlament bildet Åland einen eigenen Wahlkreis. Der autonomen Inselgruppe steht nach § 25 der finnischen Verfassung unabhängig von der Bevölkerungszahl einer der 200 Sitze im Parlament zu. Unabhängig von der Parteizugehörigkeit schließt sich der Vertreter Ålands im Parlament Finnlands regelmäßig der Fraktion der Schwedischen Volkspartei an. Seit der Wahl von 2015 wird der Sitz Ålands von Mats Löfström vom Åländischen Zentrum eingenommen. Die Bewohner Ålands sind Staatsangehörige Finnlands. Aufgrund des Selbstverwaltungsgesetzes gibt es aber parallel dazu ein sog. Heimatrecht (), das in seinen Funktionen einer åländischen Staatsangehörigkeit ähnelt. An den Wahlen zum Landtag dürfen aktiv wie passiv nur Personen mit åländischem Heimatrecht teilnehmen. Auch der Erwerb von Grundeigentum auf den Inseln sowie die Aufnahme einer unternehmerischen Tätigkeit setzen in der Regel das Heimatrecht voraus. Das åländische Heimatrecht kann nur von finnischen Staatsangehörigen erworben werden, die mindestens fünf Jahre ununterbrochen in Åland gewohnt haben und der schwedischen Sprache mächtig sind. Verbindungsorgan zwischen der nationalen Regierung und der autonomen Region ist die Ålandabordnung (). Dieser sitzt der Landeshauptmann () vor, der vom finnischen Präsidenten im Einvernehmen mit dem Landtag ernannt wird. Die finnische Regierung sowie der åländische Landtag entsenden jeweils zwei weitere Mitglieder. Verwaltungsgliederung Åland besteht aus 16 Gemeinden. Hauptort und einzige Stadt Ålands ist Mariehamn. Die Schärengemeinde Sottunga ist mit Einwohnern die kleinste Gemeinde Finnlands. Die Gemeinden Ålands gruppieren sich in drei Verwaltungsgemeinschaften (). Die Gemeinden auf der Hauptinsel außer Mariehamn gehören der Gemeinschaft Åländer Land (), die Gemeinden auf den Nebeninseln der Gemeinschaft Åländer Schären () an. Mariehamn bildet eine eigene Verwaltungsgemeinschaft. Wirtschaft Allgemeines Åland gehört mit Finnland zur Europäischen Union. Aufgrund des Protokolls Nr. 2 des Vertrages zum Beitritt Finnlands zur Europäischen Gemeinschaft ist Åland allerdings von der Anwendung der gemeinschaftlichen Vorschriften zur Angleichung der Umsatz- und Verbrauchsteuern ausgenommen. Als Konsequenz besteht zwischen Åland und dem Rest der Europäischen Union, auch zum finnischen Festland, eine Steuergrenze. Warentransporte von und nach Åland müssen daher eine Zollabfertigung durchlaufen. Wegen der Steuergrenze ist auf Reisen von Finnland oder Schweden nach Åland aber auch weiterhin steuerfreier Einkauf möglich. Die offizielle Währung ist wie im restlichen Finnland der Euro, jedoch kann auf Åland oft auch mit der Schwedischen Krone bezahlt werden. Die Wirtschaft Ålands ist durch eine hohe Quote von kleinen und mittleren Unternehmen geprägt. Es sind etwa 2600 Unternehmen tätig. Von diesen gehören etwa 700 zum traditionellen Landwirtschaftssektor. In etwa 90 Prozent der Unternehmen sind weniger als zehn Arbeitnehmer beschäftigt. Die Arbeitslosenquote ist seit Jahren sehr niedrig und in den Sommermonaten oft die niedrigste in Europa. Sie lag Ende September 2007 bei 2,0 Prozent. Wegen der großen Bedeutung des Tourismus wird der Arbeitsmarkt teilweise durch sommerliche Saisonarbeitsplätze geprägt, wodurch die Arbeitslosigkeit in dieser Zeit regelmäßig am niedrigsten liegt. Verkehr und Tourismus Neben dem traditionellen Hauptgewerbe der Landwirtschaft ist der Fremdenverkehr, insbesondere der Fährverkehr, in Åland zum bedeutendsten Wirtschaftszweig aufgestiegen. Begünstigt durch die Möglichkeit des steuerfreien Einkaufs produziert die Schifffahrt inzwischen 40 Prozent des åländischen Bruttosozialprodukts. In diesem Bereich werden mehr Arbeitnehmer benötigt, als auf dem åländischen Arbeitsmarkt verfügbar sind. Auf den åländischen Schiffen sind daher auch viele Arbeitnehmer aus Finnland und Schweden tätig. 2004 wurde Åland von 224.800 Gästen besucht. Die meisten Gäste kamen mit 111.400 aus Schweden, die zweitgrößte Gruppe stellte Finnland mit 92.500 Besuchern und an dritter Stelle steht Deutschland mit 6700 Gästen. Fährverkehr Von Helsinki, Turku, Stockholm oder Tallinn aus fahren die großen Fähren der Reedereien Viking Line, Rederiaktiebolaget Eckerö und Tallink mit der Silja Line. Fährverbindungen bestehen auch zu den schwedischen Orten Kapellskär und Grisslehamn. Von der finnischen Seite kommt man auch mit den Schärenfähren von Osnäs, Kustavi und Galtby, Korpo nach Åland, die von Ålandstrafiken betrieben werden. Ålandstrafiken verkehrt mit ihren Schiffen auch zwischen den Inseln Ålands. Luftverkehr Der Flughafen Mariehamn befindet sich drei Kilometer nordwestlich von Mariehamn. Der Flugplatz Kumlinge mit einem Hubschrauberlandeplatz befindet sich in der Verwaltungsgemeinschaft Åländer Schären. 2005 wurde unter Federführung der Landschaftsregierung Åland mit breiter Unterstützung der åländischen Wirtschaft eine eigene Fluggesellschaft, Air Åland, gegründet. 2012 wurde der Flugbetrieb wieder eingestellt und von der Fluggesellschaft Nextjet übernommen. Am 16. Mai 2018 erklärte NextJet die Insolvenz und stellte den Flugbetrieb ein. Aus Teilen von Nextjet wurde die schwedische Air Leap, die im Juni 2018 den Flugbetrieb am Flughafen Mariehamn wieder aufnahm. Es gibt vom Flughafen Mariehamn regelmäßige Verbindungen nach Helsinki-Vantaa, Stockholm und nach Turku. Straßenverkehr Die Inseln verfügen über ein dichtes Straßennetz mit einer Gesamtlänge von 912,7 km, wovon 646,8 km asphaltiert sind. 2016 lag der Motorisierungsgrad in Åland bei 799 (Personenkraftwagen pro 1000 Einwohner). Die Buslinien auf Åland werden von Ålandstrafiken betrieben. Land- und Forstwirtschaft Die traditionellen landwirtschaftlichen Gewerbe sind in neuerer Zeit in ihrer Bedeutung hinter den Dienstleistungssektor zurückgetreten, nehmen aber unverändert eine wichtige Rolle im åländischen Wirtschaftsleben ein. 2004 waren 5,3 % der Arbeitnehmer in der Land- oder Forstwirtschaft beschäftigt. Auch die Industrie Ålands, in der 9,8 % der Arbeitnehmer tätig sind, steht mehrheitlich mit der Veredelung von landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Fischereiprodukten in Verbindung. Von der Landfläche Ålands sind 9 % Ackerland, 4 % Weideland und 58 % Wald. Die Hauptprodukte der Landwirtschaft Ålands sind Zuckerrüben (44.514 Tonnen im Jahr 2004), Kartoffeln (15.969 Tonnen), Zwiebeln (5669 Tonnen), Gerste und Hafer (5597 Tonnen) sowie Weizen (4836 Tonnen). In der Viehwirtschaft überwiegt die Milchproduktion (14.433 Tonnen). Die åländischen Fischer fuhren 2004 einen Fang von insgesamt 3300 Tonnen ein, überwiegend Heringe (2541 Tonnen). Die 36 Fischzuchten in der Region erzeugten im gleichen Jahr einen Ertrag von 3210 Tonnen. Kultur Das Kulturleben Ålands wird in erster Linie von privaten Vereinen getragen. Fünfzig dieser Vereine werden aus den Erträgen der staatlichen (åländischen) Glücksspielgesellschaft unterstützt. Typisch für Åland ist der Midsommarstång – ein hoher Mast, der im Sommer in jedem Dorf aufgestellt wird, einem Maibaum ähnelt und mit Bändern in den Farben der åländischen Flagge geschmückt ist. Der Ursprung dieses Brauchs, der 1795 erstmals schriftlich erwähnt wurde, ist unbekannt. Typisch für Åland sind ebenfalls die zahlreichen kleinen Windmühlen, von denen noch rund 100 bis heute erhalten sind – ursprünglich verfügte jeder Bauernhof über eine eigene Windmühle. Weiteren Rückhalt erhält das kulturelle Leben in Åland durch die Tätigkeit des Nordischen Åland-Instituts (Nordens Institut på Åland), einer vom Nordischen Ministerrat getragenen Institution zur Förderung der åländischen Kultur. Das Institut hat unter anderem zahlreiche umfangreiche Theaterproduktionen ermöglicht, in denen sowohl Profischauspieler als auch Laien mitgewirkt haben. Die bäuerliche Kultur der Inseln wird im Freilichtmuseum Jan Karlsgarden dargestellt. Eine wichtige Rolle in der Kultur Ålands nimmt das Åländische Musikinstitut ein, das rund 300 Schüler beherbergt. Auch außerhalb des Instituts sind in Åland viele Chöre und Musikgruppen tätig. Architektur Die Architektur Ålands weist kaum nennenswerte Eigenheiten gegenüber der finnischen und schwedischen Architektur auf. Kulturgeschichtlich bedeutsam ist aber die für finnische Verhältnisse hohe Dichte alter Bausubstanz. Aus der Eisenzeit sind sechs Wallburgen erhalten, von denen die Wallburg Borge in Finström die größte ist. Da die Inselgruppe bereits früh unter dem Einfluss des Schwedischen Reiches stand, ist auf Åland eine größere Zahl mittelalterlicher Gebäude erhalten. Hierzu gehören neben der aus dem 14. Jahrhundert stammenden Burg Kastelholm, einer von nur sieben Burgen im Gebiet des heutigen Finnlands, die 13 Feldsteinkirchen des Archipels. Der mittelalterliche Kirchenbau setzte auf Åland früher ein als auf dem finnischen Festland. So ist die zwischen 1275 und 1285 errichtete Kirche von Jomala wahrscheinlich das älteste erhaltene Gebäude Finnlands. Ein ähnlich hohes Alter erreichen die Kirchen von Lemland, Sund, Hammarland, Saltvik und Eckerö. Während die restlichen mittelalterlichen Steinkirchen Finnlands der Gotik zuzurechnen sind, zeigen die ältesten åländischen Kirchen noch romanische Einflüsse. Anders als auf dem finnischen Festland verfügen die Kirchen auf Åland meist nach dem Vorbild der Landkirchen Gotlands über einen Kirchturm. Das Innere der Kirchen ist mit Seccomalereien von teils hohem künstlerischem Wert ausgeschmückt. Bildungswesen Åland hat ein gut ausgebautes Bildungsnetz. Jede der 16 Gemeinden verfügt über eine Grundschule, in der die Schüler die ersten neun Schuljahre und damit die gesamte Dauer der Schulpflicht verbringen. Alle weiterführenden Lehranstalten, insbesondere die gymnasiale Oberstufe, sind in der Hauptstadt Mariehamn konzentriert. In Mariehamn werden auch zahlreiche Berufsausbildungen angeboten. In der Hochschule Åland (Högskolan på Åland) können Studenten verschiedene Fachhochschulabschlüsse machen. Für weitergehende universitäre Ausbildung müssen Universitäten außerhalb Ålands aufgesucht werden, wobei die große Mehrheit der åländischen Studenten, rund zwei Drittel, sich für die schwedischen Hochschulen entscheidet. Medien Auf Åland erscheinen zwei lokale Tageszeitungen. Die mit einer Auflage von rund 10.000 Exemplaren knapp größere, 1891 gegründete Tidningen Åland erschien traditionell an den fünf Werktagen nachmittags, bis sie 2007 auf morgendliches Erscheinen und sechs wöchentliche Ausgaben umstellte. Das seit 1981 bestehende Konkurrenzblatt Nya Åland erschien schon immer morgens und stellte ebenfalls 2007 von fünf auf sechs Ausgaben pro Woche um. 1984 wurde auf Åland der erste åländische Rundfunk gegründet, Radio/TV Åland. Zuvor standen den Åländern nur die staatlichen finnischen Fernseh- und Radioprogramme, die auch schwedischsprachige Sendungen senden, sowie die Programme Schwedens zur Verfügung. Zunächst wurde 1984 der Radiobetrieb von Radio Åland aufgenommen. Seit Ende der 1990er Jahre haben sich daneben auch Steel FM, der sich vornehmlich an die jüngeren Leute richtet, und Soft FM etabliert. Daneben kann man auch die schwedischen Radiosender empfangen, die teilweise auch ein eigenes Lokalradio für Åland anbieten. Seit Oktober 2007 gibt es auf Åland zwei private Fernsehsender, TV Åland und Åland 24. Sport Ebenso wie die Kultur wird auch der Breitensport in Åland aus den Mitteln der staatlichen Glücksspielgesellschaft (PAF) gefördert. Auf den Inseln sind etwa sechzig Sportvereine tätig. Zudem nimmt Åland an den Island Games teil. Im Sommer 1991 und 2009 fanden die Island-Games jeweils auf Åland statt. Im Fußball hat zuletzt der IFK Mariehamn für Aufsehen gesorgt, als er 2016 finnischer Meister wurde, nachdem er 2004 in die oberste finnische Liga (die Veikkausliiga, schwedisch: Tipsligan) aufgestiegen war und seitdem die Klasse halten konnte. 2017 war er für die zweite Qualifikationsrunde der UEFA Champions League qualifiziert, in der er jedoch ausschied. In den Jahren 2013 und 2016 hatte sich der Verein für die Qualifikation zur UEFA Europa League qualifiziert, scheiterte jedoch jeweils in der ersten Runde. Die Frauenmannschaft von Åland United gewann 2009, 2013 und 2020 die finnische Meisterschaft und wurde 2013 und 2014 Vizemeister. 2020 gewannen sie auch den finnischen Pokal. Diese Erfolgsgeschichte hat in Åland eine große Fußballbegeisterung ausgelöst. Andere åländische Fußballvereine spielen teilweise in den unterklassigen finnischen und teilweise in schwedischen Ligen. Größtes Fußballstadion und Heimat sowohl von IFK Mariehamn als auch von Åland United ist der 2005 in Wiklöf Holding Arena umbenannte Idrottsparken. Die 2005/2006 erbaute neue Haupttribüne hat 1650 Sitzplätze, insgesamt stehen 5637 Plätze sowie ein Restaurantbereich mit 120 Plätzen zur Verfügung. Das Stadion entspricht den UEFA-Anforderungen für internationale Pflichtspiele und Länderspiele. Der Leichtathlet Janne Holmén wurde 2002 für die finnische Mannschaft Europameister im Marathon. Am 13. Dezember 2008 schafften zunächst die Herren vom Volleyballverein Jomala IK, einen Tag später auch die Damen den Aufstieg in die höchste schwedische Spielklasse „Allsvenskan“. Eine ebenfalls beliebte Sportart ist das aus Schweden stammende Unihockey (schwedisch Innebandy). Es gibt auf der Insel mehrere Innebandyvereine und Ligen. Literatur Eija Mäkinen: Åland und sein Sonderstatus. In: Jahrbuch des Föderalismus. Nomos-Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2005, , S. 350–362. Markku Suksi: Ålands konstitution separat bilaga med författningstexter. Åbo 2005, ISBN 952-12-1566-6. Markku Suksi: The Åland Islands in Finland. In: Local self-government, territorial integrity and protection of minorities. Hrsg. v. Council of Europe. Ed. du Conseil de l'Europe, Strasbourg 1996, ISBN 92-871-3173-2, S. 20–50. Birgitta Roeck Hansen: Township and territory. A study of rural land-use and settlement patterns in Aland c. A.D. 500–1550 (= Acta Universitatis Stockholmiensis. Stockholm studies in human geography. Band 6). Almquist and Wiksell, Stockholm 1991, ISBN 91-22-01445-4. James Barros: The Aland Islands Question. Its settlement by the League of Nations. New Haven 1968. Norbert Burger: Die Selbstverwaltung der Alands-Inseln. Eine Studie über die Lösung einer Minderheitenfrage durch eine wirkliche Autonomie. Mit Vergleichen zur Südtirolfrage. Mondsee 1964. J. O. Söderhjelm: Demilitarisation et neutralisation des îles d’Aland en 1856 et 1921. Helsingfors 1928. Robert Fillips: Briefmarkenkatalog Åland-Spezial 2019. Katalogisierung sämtlicher Briefmarken, Sonderstempel von Åland. Kornwestheim 2018, ISBN 978-3-928470-22-3 (408 Seiten). Franz Schausberger: Regionalwahlen in Åland 1979–2007 (= Institut der Regionen Europas. Kurzstudien 2/2007). Salzburg, ISBN 978-3-902557-03-2. Weblinks www.finlex.fi/ Gesetz über die Selbstverwaltung Ålands (englisch, PDF; 68 kB) http://www.visitaland.com/de Touristeninformation (deutsch) http://www.aland.ax/ Offizielle Homepage (schwedisch, englisch) http://www.alandinseln.info/ Touristeninformation (deutsch) Musterautonomie Åland. In: Öffentliche Sicherheit, 07–08/2006; abgerufen am 28. Februar 2020. Strategisch wichtig, militärisch ungeschützt. Was passiert, wenn Russland den Åland-Archipel angreift? Matts Dreijer, The History of the Åland Islands, 1963. Tore Modeen, Völkerrechtliche Probleme der Åland-Inseln (PDF; 1,3 MB), 1977. Regierung und Parlament Åland: Statistik- und Forschungsbüro Åland, Åland in Zahlen (PDF; 914 kB), 2010. Einzelnachweise Inselgruppe (Europa) Inselgruppe (Bottnischer Meerbusen) Maakunta in Finnland Ehemalige Provinz (Finnland) Historische Landschaft oder Region in Europa Autonome Verwaltungseinheit Sonderwirtschaftszone NUTS-1-Region NUTS-2-Region NUTS-3-Region
15069
https://de.wikipedia.org/wiki/Canberra
Canberra
Canberra ist die Hauptstadt, die achtgrößte und die größte im Landesinneren liegende Stadt Australiens. Sie befindet sich im Australian Capital Territory (ACT), 248 km südwestlich von Sydney und 654 km nordöstlich von Melbourne. 1908 wurde die Planhauptstadt Canberra als Kompromisslösung der Rivalität zwischen Melbourne und Sydney bestimmt. Nach einem internationalen Städtebauwettbewerb entschied die australische Bundesregierung sich für den Entwurf der amerikanischen Architekten Walter Burley Griffin und Marion Mahony Griffin. Die Bauarbeiten begannen wenige Wochen vor der offiziellen Stadtgründung am 13. März 1913, den Status als Hauptstadt erhielt Canberra am 9. Mai 1927. Die Struktur des Stadtzentrums beruht auf geometrischen Motiven wie Kreisen, Sechsecken und Dreiecken. Diese Planstadt ist auf Achsen ausgerichtet, welche sich an topographischen Landmarken im ACT orientieren, insbesondere dem Stausee Lake Burley Griffin. Das Design der Stadt ist von den Prinzipien der Gartenstadtbewegung beeinflusst und bezieht bedeutende Bereiche mit natürlicher Vegetation mit ein. Wurde die Entwicklung der Stadt durch den Ersten Weltkrieg und die Weltwirtschaftskrise noch erheblich gebremst, so setzte nach dem Zweiten Weltkrieg ein starkes Bevölkerungswachstum ein, das bis heute anhält. Als Hauptstadt ist Canberra Sitz der Verfassungsorgane des australischen Staatswesens mitsamt deren Ministerien, Verwaltungen und Gerichten. Diese generieren den Hauptteil des Bruttosozialprodukts und sind auch der größte Arbeitgeber. Außerdem haben zahlreiche soziale, wissenschaftliche und kulturelle Institutionen von nationaler Bedeutung ihren Sitz in Canberra. Canberra hat keinen Stadtrat und keine eigene Stadtverwaltung wie andere australische Städte. Die Australian Capital Territory Legislative Assembly nimmt sowohl die Rolle eines Stadtrates für Canberra als auch die einer Territorialregierung für das übrige Hauptstadtterritorium wahr. Die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung des Territoriums wohnt in Canberra selbst, weshalb die Stadt dennoch der Hauptschwerpunkt der territorialen Regierungstätigkeit ist. Die Bundesregierung behält die Autorität über das Territorium und kann lokale Gesetze aufheben. Über die National Capital Authority übt sie weiterhin großen Einfluss auf Planungsentscheidungen in der Stadt aus. Geographie Canberra bedeckt eine Fläche von 814,2 km² und liegt etwas östlich der Brindabella Range, einem Teil der Snowy Mountains, rund 150 km von der australischen Ostküste entfernt. Das Stadtgebiet, das etwa einen Viertel der Fläche des Australian Capital Territory (ACT) entspricht, befindet sich im nordöstlichen Teil des ACT auf einer Höhe von durchschnittlich 580 Metern über Meer. Der höchste Punkt ist der Gipfel des Hügels Mount Majura auf . Weitere bedeutende Hügel sind der Mount Taylor (856 m), der Mount Ainslie (843 m), der Black Mountain (812 m) und der Mount Stromlo (770 m). Der Molonglo River teilt die Stadt in zwei etwa gleich große Hälften. Dieser Fluss wird vom Scrivener-Damm zum Lake Burley Griffin gestaut, einer großen Wasserfläche im Stadtzentrum, die eine Länge von 11 km und eine Breite von bis zu 1,2 km erreicht. Bis zum Aufstauen des Sees verursachte der Molonglo River vereinzelt verheerende Überschwemmungen. Er mündet nordwestlich von Canberra in den Murrumbidgee River, einen Nebenfluss des Murray River. Mehrere kleinere Flüsse im Stadtgebiet oder unweit davon münden in den Molonglo oder den Murrumbidgee. Dazu gehören der Queanbeyan River, der Cotter River, der Jerrabomberra Creek und der Yarralumla Creek. Der Ginninderra Creek und der Tuggeranong Creek werden zum Lake Ginninderra bzw. Lake Tuggeranong gestaut. Das umliegende Buschland ist heute eine Mischung aus Savannen, Strauchgehölzen, Sümpfen und trockenen Wäldern, die zu einem bedeutenden Teil im Canberra-Naturpark zusammengeschlossen sind. Der einst fast vollständig aus Eukalypten bestehende heimische Wald in der Region diente als Brennstoff- und Bauholzressource. Die Forstwirtschaft begann 1915 mit Versuchen an einer Reihe von Arten, darunter Pinus radiata an den Hängen des Mount Stromlo. Anfang der 1960er Jahre hatte die Abholzung den Eukalyptus dezimiert, und die Sorge um die Wasserqualität führte zur Sperrung der Wälder. Seither sind die Plantagen ausgeweitet worden, mit dem Vorteil, dass die Erosion im Einzugsgebiet des Cotter River verringert wurde. Heute sind die Wälder beliebte Naherholungsgebiete. Die Bevölkerung des ACT lebt fast ausschließlich in Canberra. Im ländlichen Teil des ACT gibt es lediglich ein paar Gehöfte und Dörfer mit zusammen etwas mehr als 5000 Einwohnern. Die größten Siedlungen sind Williamsdale, Naas, Uriarra Village, Tharwa und Hall. Zehn Kilometer südöstlich des Stadtzentrums, unmittelbar an der Grenze des ACT, liegt im Bundesstaat New South Wales die Stadt Queanbeyan mit rund 36.000 Einwohnern. Klima Canberra hat ein gemäßigtes ozeanisches Klima (effektive Klimaklassifikation: Cfb). Aufgrund der Höhenlage und der Entfernung zur Küste gibt es vier unterschiedliche Jahreszeiten, das Klima ist aber trockener als in den Städten an der Küste. Ursache dafür ist die Lage der Stadt im Regenschatten der Brindabella Range. Das Klima zeichnet sich durch heiße bis warme, trockene Sommer und (für australische Verhältnisse) kühle bis kalte Winter mit dichtem Nebel und häufig auftretendem Frost aus. Die höchste je gemessene Temperatur war 44,0 °C am 4. Januar 2020. Drei Tage zuvor maß man in Canberra den schlechtesten Luftqualitätsindex aller Großstädte weltweit. Beides waren Folgen der verheerenden Buschbrände in Australien 2019/2020 und der damit verbundenen starken Rauchentwicklung. Die tiefste je gemessene Temperatur betrug −10,0 °C am 11. Juli 1971. Schnee fällt durchschnittlich ein- bis zweimal jährlich, die Menge ist jedoch gering und jeweils nach kurzer Zeit wieder geschmolzen. Zwischen Oktober und März können Gewitter auftreten, der meiste Regen fällt im Frühling und im Sommer. Allgemein bläst der Wind nicht besonders stark. Die nachfolgende Tabelle zeigt die durchschnittlichen Klimawerte der Jahre 1981 bis 2010: Geometrie des Stadtzentrums Canberra ist eine Planstadt, deren Innenstadtbereich ursprünglich vom amerikanischen Architekten Walter Burley Griffin entworfen wurde (assistiert von seiner Ehefrau Marion Mahony Griffin). Im Stadtzentrum beidseits des Lake Burley Griffin folgen die Hauptstraßen eher einem Rad-und-Speichen-Muster als einem Raster. Griffins Stadtentwurf weist eine Fülle geometrischer Formen auf, darunter konzentrische sechseckige und achteckige Straßenmuster, die von mehreren Radien ausstrahlen. Die später entstandenen Außenbezirke der Stadt sind hingegen nicht geometrisch gegliedert. Der Lake Burley Griffin ist bewusst so gestaltet worden, dass sich seine Ausrichtung auf verschiedene topographische Orientierungspunkte in Canberra bezieht. Eine senkrecht zum zentralen Becken (Central Basin) stehende „Landachse“ (land axis) erstreckt sich vom Capital Hill – dem Standort des neuen Parlamentsgebäudes – nordnordostwärts über das Nordufer hinweg und entlang der repräsentativen ANZAC Parade zum Australian War Memorial am Fuße des Mount Ainslie. Am südwestlichen Ende der Landachse erhebt sich der Bimberi Peak, der höchste Berg im Australian Capital Territory, etwa 52 km südwestlich von Canberra in der Brindabella Range. Die Sehne des Kreissegments, welches das zentrale Becken des Lake Burley Griffin bildet, verläuft rechtwinklig zur Landachse und bezeichnet die „Wasserachse“ (water axis). Sie erstreckt sich nach Nordwesten in Richtung Black Mountain. Eine parallel zur Wasserachse verlaufende Linie auf der Nordseite der Stadt bildet die „Stadtachse“ (municipal axis). Sie entspricht dem Verlauf der Constitution Avenue, die den City Hill im Geschäftszentrum Civic Centre mit dem Market Centre und dem Verteidigungsministerium auf dem Russell Hill verbindet. Die Commonwealth Avenue und die Kings Avenue verlaufen vom Capital Hill im Süden zum City Hill bzw. zum Market Centre im Norden und bilden den westlichen sowie den östlichen Rand des zentralen Beckens. Das von den drei Straßen umschlossene Gebiet heißt Parliamentary Triangle; dieses gleichseitige Dreieck bildet das Herzstück von Griffins Stadtentwurf. Das Ehepaar Griffin wies dem Mount Ainslie, dem Black Mountain und dem Red Hill spirituelle Werte zu und plante ursprünglich, jeden dieser Hügel mit Blumen zu bepflanzen. Auf diese Weise sollte jeder Hügel mit einer einzigen, primären Farbe bedeckt werden, die seinen spirituellen Wert darstellt. Dieser Teil ihres Plans konnte nie verwirklicht werden, da der Erste Weltkrieg den Bau der Hauptstadt verlangsamte und Planungsstreitigkeiten zu Griffins Entlassung durch Premierminister Billy Hughes nach Kriegsende führten. Stadtstruktur Die urbanen Gebiete von Canberra sind hierarchisch gegliedert. Es gibt sieben Stadtbezirke, von denen jeder in kleinere Stadtteile unterteilt ist, die unabhängig von ihrer Lage als „Vorort“ (suburb) bezeichnet werden. Praktisch alle dieser Vororte wiederum besitzen ein Stadtteilzentrum als Brennpunkt gewerblicher und sozialer Aktivitäten. Die Stadtbezirke wurden in dieser Reihenfolge besiedelt: Canberra Central (bestehend aus North Canberra und South Canberra), größtenteils in den 1920er und 1930er Jahren, Expansion bis in die 1960er Jahre, 25 Stadtteile Woden Valley, ab 1964, 12 Stadtteile Belconnen, ab 1966, 27 Stadtteile (davon zwei noch nicht entwickelt) Weston Creek, ab 1969, 8 Stadtteile Tuggeranong, ab 1974, 18 Stadtteile Gungahlin, ab 1993, 18 Stadtteile (davon drei noch nicht entwickelt) Molonglo Valley, ab 2010, 13 Stadtteile geplant Canberra Central folgt weitgehend Griffins Plänen. 1967 beschloss die National Capital Development Commission einen neuen Überbauungsplan, den „Y-Plan“. Die weitere Stadtentwicklung basiert seitdem auf einer Reihe von durch Schnellstraßen miteinander verbundenen Einkaufs- und Gewerbezonen, die als town centres (Stadtzentren) bezeichnet werden. Die Anordnung dieser Zentren ähnelt der Form des Buchstabens Y. Tuggeranong bildet das untere Ende, während Belconnen und Gungahlin an den Enden der Arme des Y liegen. Die Stadtentwicklung ist streng reguliert, einerseits durch stadtplanerische Maßnahmen, andererseits durch einschränkende Nutzungsbestimmungen für Parzellen. Die Bundesregierung verpachtete das gesamte Land im Australian Capital Territory für die Dauer von 99 Jahren, wenngleich die Regierung des Territoriums die meisten Pachtverträge mittlerweile selbst verwaltet. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts gibt es anhaltende Forderungen für eine Lockerung der Planungsrichtlinien. Die meisten Stadtteile verfügen über kleinere Läden und liegen in der Nähe eines größeren Einkaufszentrums, das mehrere Stadtteile versorgt. Öffentliche Einrichtungen und Schulen befinden sich häufig in der Nähe dieser Läden oder Einkaufszentren. Viele Stadtteile sind nach berühmten Australiern und frühen Siedlern oder nach Aborigines-Bezeichnungen benannt. Die Straßennamen folgen meist einem bestimmten Muster; beispielsweise sind die Straßen in Duffy nach australischen Staudämmen benannt, jene in Page nach Biologen und Naturforschern. In Fyshwick, Mitchell und Hume gibt es jeweils eine Zone für Leichtindustrie. Auslandsvertretungen konzentrieren sich auf die Stadtteile Yarralumla, Deakin und O’Malley. Geschichte Vorgeschichte Vor der europäischen Besiedlung lebten auf dem Gebiet des späteren Australian Capital Territory (ACT) seit Jahrtausenden verschiedene Stämme der Aborigines. Gemäß dem Anthropologen Norman Tindale waren die Ngunnawal die hier vorherrschende Gruppe. Die Ngarigo und die Walgalu lebten unmittelbar südlich davon, die Gandangara im Norden, die Wiradjuri im Nordwesten und die Yuin an der Küste. Mit archäologischen Grabungen am Birrigai-Abri im Tidbinbilla-Naturreservat konnte nachgewiesen werden, dass die Gegend seit mindestens 21.000 Jahren besiedelt ist. Es ist möglich, dass das Gebiet wesentlich länger bewohnt war, da Hinweise für eine Präsenz der Aborigines im Südwesten von New South Wales etwa 40.000 bis 62.000 Jahre zurückreichen. Eine weitere wichtige Fundstelle im Naturreservat ist das Bogong-Felsdach, die älteste bekannte Lagerstätte der Aborigines, die in der Nähe größerer Vorkommen von Bogong-Faltern (Agrotis infusa) liegt. Diese Nachtfalter waren eine wichtige Nahrungsquelle für die Bewohner der südlichen Australischen Alpen. Sie sammelten sie in Höhlen und Felsspalten jeweils zu Tausenden ein, rösteten sie in Sand oder Asche und verspeisten sie. Darüber hinaus gibt es im gesamten ACT weitere Fundstellen wie Unterstände, Felsmalereien, Ansammlungen von Steinwerkzeugen oder entrindete Bäume. Am Mount Tidbinbilla scheinen lange Zeit Initiationsrituale vollzogen worden zu sein. Die Ngunnawal besaßen mindestens zwei Begräbnisstätten, wo die Toten in einigen Fällen auch in sitzender Position beigesetzt wurden. Die Aborigines waren Jäger und Sammler mit einer mündlich überlieferten Geschichte, die ihre Verbundenheit mit dem Land, die kulturelle Bedeutung einzelner Landschaftsformen und ihre eigene Herkunft erklärte. Allerdings sind nur ein Bruchteil dieser Erzählungen dokumentiert. Abgesehen von dem, was aus den archäologischen Fundstellen rekonstruiert werden kann, gibt es kaum Hinweise auf die Geschichte der Urbevölkerung vor Beginn der europäischen Besiedlung. Europäische Erforschung und Besiedlung Das Wachstum der britischen Kolonie New South Wales führte zu einer steigenden Nachfrage nach Ackerland. Gouverneur Lachlan Macquarie unterstützte deshalb Expeditionen südlich von Sydney. Die erste führte 1818 entlang der Küste zur Jervis Bay. Es folgten weitere Forschungsreisen, die im Zusammenhang mit dem geplanten Bau einer Straße von Sydney zur Goulburn-Ebene standen. Charles Throsby, Joseph Wild und James Vaughan entdeckten 1820 den Lake George und den Yass River. Dabei dürften sie auch das Gebiet des ACT durchquert haben. Kurz darauf startete eine zweite Expedition: Charles Throsby Smith (Throsbys Neffe) erforschte zusammen mit Wild und Vaughan den Molonglo River und den Queanbeyan River. 1821 entdeckte er mit einer dritten Expedition auch den Murrumbidgee River. Auf dem Weg dorthin verfasste er die erste detaillierte Beschreibung jener Gegend, in der heute Canberra liegt. Die nächste bedeutende Expedition in die Region fand 1823 statt, als Wild von Major John Ovens und Captain Mark Currie den Auftrag erhielt, sie zum Murrumbidgee River zu führen. Sie reisten dem Fluss entlang nach Süden und gaben dem Gebiet, das heute als Tuggeranong bekannt ist, den Namen Isabella’s Plain – nach der zweijährigen Tochter des damaligen Gouverneurs Thomas Brisbane. 1824 berichtete der Botaniker Allan Cunningham, dass die Gegend für die Weidewirtschaft geeignet sei. Die Besiedlung durch Europäer setzte 1824 ein, als von Joshua John Moore angestellte Viehhüter ein Gehöft in jener Gegend errichteten, die heute die Acton-Halbinsel am Lake Burley Griffin bildet. Moore erwarb 1826 das Grundstück formell, suchte es aber nie persönlich auf. Es war etwa vier Quadratkilometer groß und umfasste einen großen Teil des heutigen North Canberra. Er nannte seinen Besitz Canberry, woraus sich später Canberra entwickelte. Der Name soll vom Wort Kambera in der Sprache der Ngunnawal abgeleitet sein und „Treffpunkt“ bedeuten, wobei es dafür keine eindeutigen Belege gibt. Eine in den 1860er Jahren vom Zeitungsverleger John Gale aus Queanbeyan aufgestellte These besagt, dass der Ortsname von nganbra oder nganbira abstamme. Dies bedeute „Hohlraum zwischen den Brüsten einer Frau“ und beziehe sich auf die Flussebene des Sullivans Creek zwischen dem Mount Ainslie und dem Black Mountain. Weitere Gehöfte entstanden, die zu Beginn nicht von den Besitzern selbst bewohnt wurden, sondern von angestellten Arbeitern. Doch wenig später ließen sich auch Familien nieder. Einzelne Familien erreichten in der Region einen gewissen sozialen Status. Besonders einflussreich waren die aus Schottland stammenden Campbells, deren Oberhaupt Robert Campbell einst der erste Händler in Sydney gewesen war. Zu ihrem umfangreichen Besitz gehörten unter anderem das Duntroon House (die heutige Offiziersmesse des Royal Military College) und der Landsitz Yarralumla (heute das Government House, die Residenz des Generalgouverneurs). Unweit von Duntroon entstanden 1845 die erste Schule und unmittelbar daneben die St John the Baptist Church, die älteste Kirche der späteren Stadt. Administrativ gehörten die verstreuten Siedlungen zum Parish Canberra im Murray County von New South Wales. Sträflingsarbeit war anfangs weit verbreitet und die ersten Bushranger waren entlaufene Sträflinge. Die allgemeine Gesetzlosigkeit führte im November 1837 zur Ernennung des ersten ortsansässigen Magistraten, der die rechtlichen Angelegenheiten überwachte und Lizenzen für den Alkoholausschank erteilte. Der Goldrausch im nahe gelegenen Kiandra Ende der 1850er Jahre führte zu einem bedeutenden Zustrom von Einwohnern und zu einer markanten Zunahme wirtschaftlicher Aktivität. Das Unternehmen Cobb & Co. richtete Postkutschenkurse nach Sydney ein, 1859 wurde das erste Postamt in der Gegend eröffnet. Im Jahr 1860 entstand das Blundells Cottage, das älteste noch erhaltene Wohnhaus der Stadt. Während der ersten zwanzig Jahre der Besiedlung gab es nur begrenzte Kontakte zwischen den Siedlern und den Aborigines. Der Ansturm der Goldsucher durch die Brindabella Range in das Kiandra-Gebiet führte zu Konflikten und zu einer Dezimierung der Urbevölkerung durch Krankheiten wie Pocken und Masern. Die Ngunnawal und andere Ureinwohner hörten in den 1860er Jahren praktisch auf, als zusammenhängende und unabhängige Gemeinschaften zu existieren, die an ihren traditionellen Lebensweisen festhielten. Die wenigen Überlebenden zogen entweder in die Siedlungen oder wurden in weiter entfernte Reservate umgesiedelt. Von den Kindern erwartete man, dass sie sich assimilierten. Das Volk der Ngunnawal wurde in der Folge oft als „ausgestorben“ betrachtet. In einer Situation, die jener der Tasmanier ähnelt, identifizieren sich Menschen mit Ansprüchen auf die Ngunnawal-Abstammung weiterhin als solche. Es herrscht jedoch in der Gemeinschaft selbst Uneinigkeit darüber, wer zu Recht als Angehöriger des Ngunnawal-Volkes angesehen werden kann. Suche nach einem Standort für die Bundeshauptstadt Zu Beginn der 1890er Jahre begannen ernsthafte Debatten über den Zusammenschluss der selbstverwalteten britischen Kolonien auf dem australischen Kontinent. Ein Knackpunkt war vor allem die Frage der zukünftigen Hauptstadt, da sowohl Melbourne als auch Sydney diesen Status für sich beanspruchten. Henry Parkes, ein prominenter Politiker aus New South Wales, befürwortete eine Hauptstadt auf „neutralem Boden“ und schlug als Kompromiss die an der Grenze zu Victoria gelegene Stadt Albury vor. 1898 fanden in vier der Kolonien – New South Wales, Victoria, South Australia und Tasmanien – Volksabstimmungen über den Verfassungsentwurf statt. Zwar stimmte in allen Kolonien eine Mehrheit dafür, doch New South Wales verfehlte die erforderliche Mindestanzahl an Ja-Stimmen knapp. Bei einer anschließenden Konferenz der Premierminister deutete George Reid an, dass die Ansiedlung der Hauptstadt auf dem Gebiet von New South Wales ausreichend sein würde, um die erforderliche Zustimmung bei der zweiten Volksabstimmung sicherzustellen. Daraufhin wurde Artikel 125 der zukünftigen Verfassung so geändert, dass die Hauptstadt nördlich des Murray River in New South Wales liegen müsse, aber mindestens 100 Meilen (160,9 km) von Sydney entfernt. Außerdem sollte Melbourne der vorläufige Regierungssitz sein (jedoch nicht als „Hauptstadt“ bezeichnet werden), bis ein Standort für die neue Hauptstadt festgelegt war. Allerdings blieb damit die Frage offen, wo die Hauptstadt angesiedelt werden sollte. Anfänglich war der Bezirk Bombala ganz im Süden von New South Wales ein aussichtsreicher Kandidat, bald darauf waren auch die Region Monaro (die Bombala mit einschloss), Orange und Yass im Gespräch. Der Premierminister von New South Wales, John See, bot an, die empfohlenen Standorte für ein künftiges Bundesterritorium zur Verfügung zu stellen. Edmund Barton, der erste Premierminister von ganz Australien, fügte dieser Liste vier weitere Standorte hinzu: Albury, Tamworth, Armidale und Tumut. Regierungsmitglieder besichtigten 1902 diese Orte. Da sie sich nicht einig waren, beschlossen sie, das Problem an eine königliche Kommission zu delegieren. Innenminister William Lyne drängte auf Tumut oder Albury, da er einen Ort in seinem Wahlkreis bevorzugte. In der Folge legte die Kommission 1903 dem Parlament ihren Bericht vor, in dem sie die Standorte Albury, Tumut und Orange in dieser Reihenfolge empfahl. Das Repräsentantenhaus sprach sich für Tumut aus, der Senat bevorzugte jedoch Bombala. Infolge dieser Uneinigkeit scheiterte der Gesetzesentwurf, weshalb sich das Parlament nach der Neuwahl erneut damit befassen musste. Das neue Parlament trat 1904 zusammen und erzielte einen Kompromiss, indem es sich für Dalgety entschied, das wie Bombala in der Region Monaro liegt. Mit der Verabschiedung des Seat of the Government Act 1904 schien die Angelegenheit geregelt zu sein. Doch die Regierung von New South Wales protestierte energisch gegen diesen Beschluss und war nicht gewillt, das von der Bundesregierung geforderte Territorium abzutreten. Sie war der Meinung, dass dieses kleine Dorf zu nahe bei Melbourne liege. Schließlich stimmte New South Wales 1906 der Abtretung von Land in der Region um Yass und Canberra zu, die näher bei Sydney liegt. Nach einem Rundgang mehrerer Abgeordneter durch die Region wurde 1908 eine neue Abstimmung im Bundesparlament einberufen, bei der elf Standorte nominiert waren. Zunächst blieb Dalgety in der Spitzenposition, aber im achten Wahlgang trat Yass/Canberra als neuer Spitzenreiter hervor und wurde im neunten Wahlgang bestätigt. Daraufhin verabschiedete das Parlament den neuen Seat of Government Act 1908, der das Gesetz von 1904 ersetzte. Der staatliche Landvermesser Charles Scrivener (der bereits Dalgety vorgeschlagen hatte) begab sich im selben Jahr ins Dreieck Canberra–Yass–Lake George, um eine geeignete Stelle zu kartografieren. Nach ausgiebiger Untersuchung entschied er sich für Canberra. 1909 erließ New South Wales die gesetzlichen Grundlagen für die Schaffung des Bundesterritoriums. Zwei Gesetze übertrugen Gebiete im Murray County und im Cowley County sowie acht Parzellen an der Jervis Bay an den Bund. Alle privaten Grundstücke in dem aufgegebenen Gebiet mussten vom Bund erworben werden, was die Spekulation unterband. Sie werden seither im Erbbaurecht (leasehold) verpachtet. Der Seat of Government (Administration) Act 1910 schuf den rechtlichen Rahmen für das Territorium. Er sah vor, dass die Gesetze im Territorium vom Bund und die Verordnungen vom Generalgouverneur erlassen werden konnten. Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes am 1. Januar 1911 entstand offiziell das Federal Capital Territory (seit 1938 als Australian Capital Territory bezeichnet). Das Gesetz bildete die verfassungsmäßige Grundlage für die Rechtsetzung im ACT bis zur Gewährung der Selbstverwaltung im Jahr 1989. Innenminister King O’Malley, der für die Gesetzgebung zur Schaffung des ACT verantwortlich gewesen war, brachte 1910 mit Erfolg einen Gesetzesentwurf durch das Parlament, der das Territorium zu einer alkoholfreien Zone erklärte. Das umstrittene Prohibitionsgesetz blieb bis 1928 in Kraft. Während dieser Zeit reisten viele Einwohner an Samstagen ins benachbarte Queanbeyan, um unmittelbar jenseits der Grenze einzukehren. Planung, Stadtgründung und Baubeginn Am 30. April 1911 schrieb das Innenministerium einen internationalen Wettbewerb für die neue Hauptstadt aus. Das Royal Institute of British Architects, die Institution of Civil Engineers und die ihnen angeschlossenen Einrichtungen im gesamten britischen Empire boykottierten den Wettbewerb, weil O’Malley darauf bestand, dass die endgültige Entscheidung von ihm und nicht von einem Experten für Stadtplanung getroffen werden sollte. Dennoch gingen 137 gültige Beiträge ein. O’Malley ernannte ein dreiköpfiges Beratungsgremium, das aber keine Einstimmigkeit erzielen konnte. Am 24. Mai 1912 folgte er der Mehrheit des Gremiums und erklärte den Entwurf des amerikanischen Architekten Walter Burley Griffin zum Sieger. Der zweite Preis ging an den Finnen Eliel Saarinen, der dritte an den Franzosen Alfred Agache. Zwei Punkte gaben den Ausschlag: Griffin passte die Stadtstruktur wann immer möglich der vorhandenen Topografie an, während alle anderen Stadtplaner versuchten, die natürliche Umgebung so zu verändern, dass sie vordefinierten ästhetischen Wunschvorstellungen genügte. Darüber hinaus malte seine Ehefrau Marion Mahony Griffin zahlreiche künstlerisch hochstehende Aquarelle, welche die künftige Stadt aus verschiedenen Blickwinkeln zeigten. Griffins Entwurf ragte so aus der Masse technischer Zeichnungen heraus. King O’Malley ernannte ein weiteres sechsköpfiges Gremium, das ihn bei der Umsetzung des Siegerentwurfs beraten sollte. Am 25. November 1912 teilte es mit, dass es Griffins Plan nicht vollumfänglich unterstützen könne und schlug einen Alternativplan vor, der die strenge Geometrie ein wenig auflockerte. Er beinhaltete die besten Merkmale der drei platzierten Entwürfe sowie eines vierten Entwurfs einer Architektengemeinschaft aus Sydney. Das Parlament billigte den modifizierten Plan und O’Malley genehmigte ihn am 10. Januar 1913 formell. Am 20. Februar 1913 rammte O’Malley den ersten Vermessungspfosten in den Boden, um den Baubeginn zu markieren. Zahlreiche Stadtnamen waren vorgeschlagen worden, darunter Olympus, Paradise, Captain Cook, Shakespeare, Kangaremu, Eucalypta und Myola. Am 12. März 1913 taufte Gertrude Denman, Baroness Denman, die Ehefrau von Generalgouverneur Thomas Denman, 3. Baron Denman, im Rahmen einer Zeremonie auf dem Kurrajong Hill (heute Capital Hill) die zu bauende Stadt auf den bereits etablierten Namen Canberra. In Gedenken an dieses Ereignis ist heute der zweite Montag im März, der „Canberra Day“, ein lokaler Feiertag. Die erste Bundeseinrichtung im Hauptstadtterritorium war das Royal Military College, das auf dem Gelände des Landsitzes Duntroon eingerichtet wurde. Der modifizierte Plan blieb umstritten und Griffin selbst lehnte die Änderungen ab. Er wurde deshalb nach Canberra eingeladen, damit die Angelegenheit vor Ort besprochen werden konnte. Als er im August 1913 eintraf, ernannte ihn die Regierung zum Direktor für Design und Bau der Bundeshauptstadt, worauf er die Detailplanung der Stadtbezirke North Canberra und South Canberra leitete. Wegen des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs standen für die Umsetzung weniger finanzielle Mittel zur Verfügung, ebenso behinderte bürokratisches Gerangel seine Arbeit. Eine königliche Kommission kam 1916 zum Schluss, dass Griffins Autorität von einigen hochrangigen Beamten untergraben worden war: Die Daten, auf die sich seine Detailarbeiten stützten, waren ungenau und teilweise falsch gewesen. Im Dezember 1920 legte Griffin seine Arbeit am Projekt nieder, nachdem er erfahren hatte, dass einige jener Bürokraten, die ihn behindert hatten, in das Federal Capital Advisory Committee (FCAC) berufen worden waren. Premierminister Billy Hughes hatte diese neue Behörde geschaffen, um den weiteren Verlauf der Arbeiten zu überwachen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Griffin seinen Plan überarbeitet, die Erdarbeiten an den Hauptstraßen beaufsichtigt und die Glenloch-Korkeichenplantage im heutigen National Arboretum angelegt. Nach Griffins Weggang hatte das FCAC nur begrenzten Erfolg bei der Erreichung seiner Ziele; der Vorsitzende John Sulman war jedoch maßgeblich dafür besorgt, die Grundsätze der Gartenstadtbewegung auf Griffins Plan anzuwenden. Das Komitee wurde 1925 durch die Federal Capital Commission (FCC) ersetzt. Deren Aufgabe bestand darin, die Stadt auf die Verlegung des Bundesparlaments von Melbourne nach Canberra vorzubereiten. Mit der offiziellen Eröffnung des provisorischen Parlamentsgebäudes am 9. Mai 1927 zog die Bundesregierung offiziell von Melbourne in das ACT um. Der öffentliche Dienst blieb zunächst in Melbourne ansässig und die verschiedenen Abteilungen verlegten ihren Sitz erst im Laufe der Jahre schrittweise nach Canberra. Zögerliches Wachstum der neuen Hauptstadt Die Eisenbahnstrecke zwischen Queanbeyan und Canberra wurde am 25. Mai 1914 eröffnet und diente zunächst zehn Jahre lang nur dem Güterverkehr. Von Juni 1921 bis Juli 1922 führte sie über den Molonglo River bis zum heutigen Stadtteil Civic. Nachdem eine Überschwemmung die temporäre Holzbrücke zerstört hatte, gab man diesen Abschnitt jedoch auf; seither endet die Strecke am Bahnhof Canberra im Stadtteil Kingston südlich des Flusses. Von 1923 bis Mai 1927 verband eine kapspurige Güterstraßenbahn die Ziegelhütte in Yarralumla mit der Baustelle des provisorischen Parlamentsgebäudes. Geplant, aber nie gebaut wurden Bahnstrecken nach Yass und zur Jervis Bay. Im Mai 1918 richtete die Regierung am östlichen Stadtrand ein Internierungslager für deutsche Kriegsgefangene ein. Tatsächlich beherbergte das Lager jedoch überwiegend zivile Internierte, die von Einrichtungen an anderen Orten dorthin verlegt worden waren. Ende 1919 entstand daraus eine Arbeitersiedlung und schließlich die Industriezone Fyshwick. Der spätere König Edward VIII. holte am 21. Juni 1920 die offizielle Grundsteinlegung Canberras nach. In den 1920er Jahren entstanden mehrere Regierungsgebäude, darunter The Lodge als Residenz des Premierministers. Die ersten Grundstücke für Wohn- und Geschäftszwecke wurden am 12. Dezember 1924 in einer öffentlichen Auktion versteigert. Zahlreiche soeben neu errichtete Gebäude waren von einer Überschwemmung betroffen, als im Februar 1925 die Dämme des Molonglo River brachen. Ebenfalls 1925 fuhr erstmals ein öffentlicher Bus. Zwei Jahre später erhielt Canberra das erste Kino sowie eine eigene Polizei. Die Weltwirtschaftskrise brachte das Wachstum Canberras zu einem jähen Stillstand. Hunderte Arbeiter des Bautrupps verloren ihre Stelle und das Staatspersonal wurde um ein Siebtel reduziert. Sogar die FCC, welche die bauliche Entwicklung Canberras überwachte, stellte 1930 ihre Tätigkeit ein und nahm sie erst acht Jahre später unter der Bezeichnung National Capital Planning and Development Committee (NCPDC) wieder auf. Großprojekte wie eine anglikanische und eine römisch-katholische Kathedrale konnten nicht verwirklicht werden, weil die dafür vorgesehenen Geldmittel in die Linderung der sozialen Folgen der Krise abflossen. Bis heute hat in Canberra keine bedeutende Glaubensrichtung ein Gotteshaus von nationalem Rang errichtet. Gleichwohl schritt die Entwicklung der Stadt voran, wenn auch eher qualitativ als quantitativ. So nahm beispielsweise 1931 die erste Radiostation ihren Sendebetrieb auf, zunächst von einem Ladenlokal im Stadtteil Kingston aus. Fünf Jahre später begannen die Bauarbeiten am Australian War Memorial, der Gedenkstätte für im Krieg gefallene Australier, die schließlich am 11. November 1941 offiziell eröffnet wurde. 1936 setzte der Zuzug diplomatischer Vertretungen nach Canberra ein. Den Anfang machte der Hochkommissar des Vereinigten Königreichs, gefolgt von einem Vertreter Kanadas 1937 und der Eröffnung einer Vertretung der USA 1940. Die USA waren 1943 das erste Land, die ein eigenes Botschaftsgebäude errichten ließen. 1946 war es auch der Vertreter der USA, der als Erster in den Rang eines Botschafters erhoben wurde; weitere Länder folgten bald darauf. Das bedeutendste Ereignis in Canberra bis zum Zweiten Weltkrieg war das 24. Treffen der wissenschaftlichen Vereinigung ANZAAS im Januar 1939. Die Canberra Times beschrieb es als „ein Ereignis von besonderer Tragweite … in der Geschichte dieser jüngsten Hauptstadt der Welt“. Die Unterkünfte reichten bei weitem nicht aus, um die 1250 Delegierten unterzubringen, und es musste eine Zeltstadt am Ufer des Molonglo River errichtet werden. Einer der prominenten Redner war der Schriftsteller H. G. Wells, der eine Woche lang Gast von Generalgouverneur Lord Gowrie war. Die Veranstaltung fiel mit einer Hitzewelle im Südosten Australiens zusammen, während der die Temperatur in Canberra am 22. Januar 42,5 °Celsius (108,5 °Fahrenheit) erreichte und die das verheerende Black-Friday-Buschfeuer auslöste. Canberra war damals noch immer eine kleinstädtisch geprägte Siedlung mit einer unorganisiert wirkenden Ansammlung von Gebäuden, die allgemein als hässlich empfunden wurde. Nur das Parlamentsgebäude und die Gedenkstätte deuteten darauf hin, dass es sich eigentlich um die Hauptstadt Australiens handelte. Kritiker bezeichneten sie oft spöttisch als „mehrere Vororte auf der Suche nach einer Stadt“. Rasante Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg Während des Zweiten Weltkriegs und in den ersten Nachkriegsjahren zog das ins Stocken geratene Wachstum spürbar an. Beim Flugzeugabsturz von Canberra am 13. August 1940 kamen zehn Menschen ums Leben, darunter drei Minister der Bundesregierung und der Generalstabschef, als ihr Flugzeug im dichten Nebel auf einen Hügel stürzte. Nach Kriegsende verlegten immer mehr nationale Institutionen ihren Sitz nach Canberra oder wurden dort gegründet (beispielsweise die Australian National University im April 1946), was zunehmend zu einem Mangel an Wohnungen und Büroräumen führte. Ein Senatsausschuss befasste sich 1954 mit dem Problem und empfahl die Schaffung eines Planungsgremiums mit weitreichenden Exekutivbefugnissen. Folglich wurde das als ineffizient empfundene NCPDC im Jahr 1958 durch die National Capital Development Commission (NCDC) ersetzt. Unterstützt durch Premierminister Robert Menzies, beendete die NCDC vier Jahrzehnte der Auseinandersetzungen um Form und Gestaltung des Lake Burley Griffin. Der Bau dieses künstlichen Sees im Stadtzentrum begann 1960 und war nach vier Jahren abgeschlossen. Aufgrund einer lang anhaltenden Trockenperiode dauerte es über ein halbes Jahr, bis der See vollständig gefüllt war. Mit dessen Fertigstellung entfaltete das Parliamentary Triangle endlich jene repräsentative Wirkung, die Walter Burley Griffin ursprünglich vorgesehen hatte. An oder nahe den Ufern des neuen Sees entstanden in der Folge mehrere Gebäude von nationaler Ausstrahlung, darunter die National Library of Australia (1968), der High Court of Australia (1980), die National Gallery of Australia (1982), das National Museum of Australia (2001) und die National Portrait Gallery (2008). Griffins ursprünglicher Bebauungsplan ging nicht über die zentralen Stadtbezirke North Canberra und South Canberra hinaus. Um die rasant ansteigende Bevölkerung aufnehmen zu können, die sich in den 1960er und 1970er Jahren vervierfachte, war der Bau neuer Stadtbezirke erforderlich. Den Anfang machte 1964 Woden Valley; es folgten Belconnen (ab 1967), Weston Creek (ab 1969) und Tuggeranong (ab 1973). Im Rahmen der Zweihundertjahrfeier Australiens im Jahr 1988 konnte nach einer zehnjährigen Planungs- und Bauphase das Parliament House, das neue Parlamentsgebäude, eröffnet werden. Es ersetzte das 61 Jahre alte „provisorische“ Old Parliament House. Seit ihrer Gründung waren die Stadt und das Territorium direkt von den Ministerien verwaltet worden. In einer Volksabstimmung am 25. November 1978 lehnten die Einwohner aber die Selbstverwaltung ab und entschieden sich mit 63,75 % der Stimmen für die Beibehaltung des bisherigen Zustands. NCDC-Direktor John Overall machte dafür mehrere Gründe verantwortlich. Einerseits bestand die Angst vor Steuererhöhungen oder Leistungskürzungen. Andererseits habe die Mehrheit des Gefühl gehabt, durch ihre Vertreter im Bundesparlament bereits ein Mitspracherecht zu besitzen. Zudem hatte Canberra einen hohen Anteil an Beamten, die es gewohnt waren, mit der Bundesregierung zusammenzuarbeiten. Zehn Jahre später beschloss das Kabinett von Premierminister Bob Hawke, die Selbstverwaltung entgegen dem Wunsch der Bevölkerung einzuführen, zumal das Northern Territory mittlerweile gute Erfahrungen damit gemacht hatte. Insbesondere sollte aber der Bund finanziell entlastet werden, da das Territorium in hohem Maße von Subventionen profitierte. Am 6. Dezember 1988 stimmte das Parlament dem Australian Capital Territory (Self-Government) Act 1988 zu und Königin Elisabeth II. unterzeichnete dieses Gesetz am 11. Mai 1989. An diesem Tag konstituierte sich der im März gewählte Legislativrat. Ebenfalls 1989 wurde die National Capital Authority als neue Planungsbehörde eingesetzt. 1993 begann die Entwicklung des neuen Stadtbezirks Gungahlin. Canberra war am 18. und 19. Januar 2003 von Buschfeuern bisher ungekannten Ausmaßes betroffen (siehe Buschfeuer in Canberra 2003). Diese hatten eine Woche zuvor westlich der Stadt begonnen, durchbrachen dann die Eindämmungslinien und umschlossen einige Stadtteile. Vier Personen kamen ums Leben und rund 500 Häuser brannten nieder, bevor nach einem Wetterumschwung das Feuer unter Kontrolle gebracht werden konnte. Auch das traditionsreiche Mount-Stromlo-Observatorium und mehrere Kleinsiedlungen im ländlichen Teil des ACT gingen in den Flammen unter. Ein Teil des abgebrannten Kiefernwaldes westlich des Lake Burley Griffin wurde entsprechend einer im Jahr 2004 erschienenen Planungsstudie nicht wieder aufgeforstet. Stattdessen entsteht dort seit 2010 der neue Stadtbezirk Molonglo Valley, der im Endausbau über 50.000 Einwohner zählen wird. Bevölkerung Im Jahr 2021 zählte Canberra 452.670 Einwohner, was einer Bevölkerungsdichte von 1152 Einwohnern/km² entspricht. Die Volkszählung 2016 ergab, dass 2,0 % der Bevölkerung Aborigines oder Torres-Strait-Insulaner sind und 32,5 % außerhalb Australiens geboren wurden. Die meisten der im Ausland Geborenen stammen aus englischsprachigen Ländern, angeführt von Indien mit 3,8 %, dem Vereinigten Königreich mit 2,9 % und gefolgt von der Volksrepublik China (ohne Sonderverwaltungszonen und Taiwan) mit 2,7 %. In Nepal geboren wurden 1,3 % der Bevölkerung, weitere 1,1 % in Neuseeland. Seit Beginn des 21. Jahrhunderts hat die Zahl der Immigranten aus Ost- und Südasien stark zugenommen. Die meisten Einwohner, nämlich 71,2 %, sprechen zuhause ausschließlich Englisch; die häufigsten Fremdsprachen sind Mandarin (3,2 %), Nepalesisch (1,3 %), Vietnamesisch (1,1 %), Panjabi (1,1 %) und Hindi (1,1 %). Im Vergleich zu anderen australischen Städten ist die Bevölkerung Canberras jünger, mobiler und besser ausgebildet. Das Durchschnittsalter beträgt 35 Jahre, nur 12,7 % sind älter als 65 Jahre. Zwischen 1996 und 2001 zogen 61,9 % der Einwohner entweder hierher oder wieder weg. 2021 hatten 43,0 % der über 15-Jährigen einen Bildungsabschluss, der mindestens einem Bachelor entspricht, was markant höher als der nationale Durchschnitt von 26,3 % ist. 43,5 % der Einwohner Canberras gaben bei der Volkszählung 2021 nicht religiös zu sein. Die am häufigsten vertretenen Konfessionen sind die Römisch-katholische Kirche (19,3 %) und die Anglican Church of Australia (8,2 %). Weit vertreten ist weiterhin der Hinduismus (4,5 %). Das katholische Erzbistum Canberra-Goulburn untersteht direkt dem Heiligen Stuhl, während die anglikanische Diözese Canberra & Goulburn zur Kirchenprovinz New South Wales gehört. Politik und Recht Territorialregierung Es gibt keinen Stadtrat und keine Stadtverwaltung für Canberra selbst. Die Australian Capital Territory Legislative Assembly (Legislativrat des australischen Hauptstadtterritoriums) übernimmt sowohl die Rolle eines Stadtrates für Canberra als auch die der Regierung des übergeordneten Australian Capital Territory (ACT). Jedoch ist die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung des Territoriums in Canberra ansässig, weshalb die Stadt eindeutig den Schwerpunkt der Territorialregierung bildet. Die Legislative besteht aus 25 Mitgliedern, die in fünf Wahlkreisen nach dem Hare-Clark-System bestimmt werden, einer Variante der übertragbaren Einzelstimmgebung. Die Wahlkreise sind Brindabella, Ginninderra, Kurrajong, Murrumbidgee und Yerrabi mit je fünf Sitzen. Die Abgeordneten des Legislativrates wählen aus ihren Reihen den Chief Minister, der weitere Ratsmitglieder zu Ministern der Exekutive ernennt (informell als Kabinett bezeichnet). Amtierender Chief Minister ist seit 2014 Andrew Barr von der Australian Labor Party (ALP). Die letzte Wahl fand am 17. Oktober 2020 statt. Dabei gewannen die ALP zehn und die Australian Greens sechs Sitze, womit diese beiden Parteien eine Koalitionsregierung bilden (diese besteht seit 2008). Einzige Oppositionspartei ist die Liberal Party of Australia mit neun Sitzen. Die australische Bundesregierung verfügt über mittelbaren Einfluss auf die Regierung des ACT. Auf Verwaltungsebene wird dieser am häufigsten durch die National Capital Authority ausgeübt. Sie ist verantwortlich für Planung und Entwicklung jener Stadtteile Canberras, die von nationaler Bedeutung oder ein zentraler Bestandteil von Griffins ursprünglichem Bebauungsplan sind. Dazu zählen das Parliamentary Triangle, bedeutende Straßen, Grundstücke im Besitz des Bundes oder der Canberra-Naturpark. Durch das im Jahr 1988 erlassene Selbstverwaltungsgesetz (Australian Capital Territory (Self-Government) Act 1988) übt die Bundesregierung ebenfalls Kontrolle über die Legislative des Territoriums aus. Das Gesetz ist die Verfassung des ACT und bestimmt die Zuständigkeitsbereiche, über die der Legislativrat selbst entscheiden kann. Justiz und Polizei Im Auftrag der Regierung des ACT übernimmt die Australian Federal Police alle Aufgaben einer bundesstaatlichen Polizeibehörde. Sie führt zu diesem Zweck eine eigene Abteilung namens ACT Policing, um die allgemeine Polizeiarbeit im Territorium von den gesamtstaatlichen Aufgaben zu trennen. Gerichtsfälle werden im Magistratsgerichtshof (Magistrates Court of the Australian Capital Territory) und – bei schwerwiegenderen Fällen – im Obersten Gerichtshof des ACT (Supreme Court of the Australian Capital Territory) behandelt. Daneben gibt es einen Gerichtshof für Zivil-, Verwaltungs- und Arbeitsrecht (ACT Civil and Administrative Tribunal). Bis 2009 gab es im ACT nur ein Untersuchungsgefängnis (das Belconnen Remand Centre), während Haftstrafen in New South Wales verbüßt werden mussten. Seit Ende 2008 besitzt das ACT im Stadtteil Hume über ein eigenes Gefängnis für den Strafvollzug, das Alexander Maconochie Centre; es ist nach dem Kommandanten der Norfolkinsel von 1840 bis 1844 benannt. Partnerstädte Canberra ist mehrere Städtepartnerschaften eingegangen, die enge Beziehungen in den Bereichen Verwaltung, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft umfasst: Peking in der Volksrepublik China, Nara in Japan und Wellington in Neuseeland. Weniger formelle freundschaftliche Beziehungen bestehen mit Dili in Osttimor und Hangzhou in der Volksrepublik China. Mit allen genannten Städten findet ein kultureller Austausch statt. Die bedeutendste Veranstaltung im Zusammenhang mit einer Partnerstadt ist das Canberra-Nara-Kerzenfestival, das seit 2003 jeweils im Oktober stattfindet. Wappen und Flagge Die Stadt Canberra führt die gleichen Hoheitszeichen wie das Australian Capital Territory, da Stadt und Hauptstadtterritorium weitgehend identisch sind. Das Wappen des Australian Capital Territory wurde 1927 entworfen, nachdem das Verteidigungsministerium den Wunsch geäußert hatte, das damals vom Stapel gelaufene Kriegsschiff HMAS Canberra zu schmücken. Die Flagge des Australian Capital Territory besteht seit 1993 und zeigt neben dem Kreuz des Südens das leicht modifizierte Stadtwappen. Kultur und Sehenswürdigkeiten Sehenswürdigkeiten Touristisch interessant sind, neben der Anlage Canberras als Gartenstadt selber, die zahlreichen Sehenswürdigkeiten, die hauptsächlich in den beiden ältesten Stadtbezirken South Canberra und North Canberra sowie am Lake Burley Griffin zu finden sind. Zentraler Punkt in South Canberra ist der von Ringstraßen umgebene Capital Hill, auf den alle Hauptstraßen zulaufen. Auf diesem Hügel befindet sich das Parliament House, das 1988 eröffnete neue Parlamentsgebäude. Beim Bau wurde die Kuppe des Hügels abgetragen und nach Fertigstellung des Rohbaus wieder aufgeschüttet, so dass sie nunmehr das mit Rasen bewachsene Dach des Gebäudes bildet. Darüber erhebt sich ein 81 Meter hoher Flaggenmast mit der australischen Flagge. Nördlich des Capital Hill liegt der repräsentative Stadtteil Parkes mit einigen der wichtigsten Gebäuden der Stadt, allen voran das Old Parliament House. Es diente von 1927 bis 1988 als provisorischer Sitz des australischen Parlaments und beherbergt heute ein Museum über die Geschichte der australischen Demokratie. Auf der Grünfläche vor dem alten Parlament richteten Aktivisten im Jahr 1972 die inoffizielle „Zelt-Botschaft“ der australischen Ureinwohner (Aboriginal Tent Embassy) ein. Unweit des alten Parlaments befinden sich die National Archives of Australia (Nationalarchive) und die National Portrait Gallery. Näher am Südufer des Lake Burley Griffin sind die National Library of Australia (Nationalbibliothek), das Questacon-Museum (Wissenschafts- und Technologiezentrum), das Gebäude des Obersten Gerichtshofes und die National Gallery of Australia (Nationalgalerie) zu finden. Am zentralen Seebecken befindet sich das Captain James Cook Memorial, das in Form einer Wasserfontäne gestaltet ist. Die kleine Insel Queen Elizabeth II Island ist Standort des National Carillon, eines 50 Meter hohen Turmglockenspiels. Mehrere Parkanlagen umgeben den See, darunter der Commonwealth Park und der Kings Park. Westlich des Capital Hill liegt der Stadtteil Yarralumla, Standort der meisten diplomatischen Vertretungen, des Government House (Amtssitz des Generalgouverneurs) und des National Zoo and Aquarium. Im Südwesten des Capital Hill erstreckt sich der Stadtteil Deakin mit weiteren Botschaftsgebäuden, der Royal Australian Mint (Münzprägestätte) und The Lodge, dem Amtssitz des Premierministers. Der Stadtteil City (umgangssprachlich Civic genannt) nördlich des Sees ist das zentrale Einkaufs- und Büroviertel der Stadt. Es ist eines der wenigen Stadtgebiete mit verdichteter Bebauung. Hier befinden sich unter anderem das Messezentrum sowie das Canberra Museum and Gallery, das sich mit Kunst und Geschichte Canberras befasst. Westlich der City liegt das Universitätsviertel Acton. Dort, am Fuße des Black Mountain, befinden sich das National Film and Sound Archive, die Australian National Botanic Gardens (botanische Gärten mit über 5500 einheimischen Pflanzenarten) und das National Arboretum. Die Südspitze der Acton-Halbinsel am See ist Standort des National Museum of Australia (Nationalmuseum), das mit seiner gewagten, futuristisch anmutenden Architektur auffällt. Östlich der City, am Fuße des Mount Ainslie, erstreckt sich der „zeremonielle“ Bereich der Stadt. Die ANZAC Parade ist eine breite, von mehreren Denkmälern gesäumte Prachtstraße. Hier finden jeweils die Paraden zum ANZAC Day, einem der wichtigsten Feiertage Australiens, statt. An dieser Straße stehen die St John the Baptist Church, die älteste Kirche der Stadt, sowie das Australian War Memorial, das nationale Kriegerdenkmal. Rund zwölf Kilometer vom Zentrum entfernt findet man am nördlichen Stadtrand das National Dinosaur Museum (Dinosauriermuseum) mit der größten prähistorischen Sammlung der südlichen Hemisphäre. Einige historische Wohnhäuser aus dem 19. Jahrhundert können besichtigt werden: Die Lanyon- und Tuggeranong-Gehöfte im Tuggeranong-Tal, das Mugga-Mugga-Haus im Stadtteil Symonston und Blundells Cottage in Parkes stellen Gegenstände aus dem Alltag der frühen europäischen Siedler aus. Das Culthorpes’ House auf dem Red Hill ist ein gut erhaltenes Beispiel der Architektur der 1920er Jahre. Das Duntroon House im Stadtteil Campbell war einer der ersten Gehöfte der Region und ist heute die Offiziersmesse des Royal Military College. Kultur und Nachtleben Neben den Museen hat die Stadt eine lebendige Livemusik- und Theaterszene vorzuweisen, die vor allem von den Studenten der Universitäten getragen wird. Die beiden größten Theater sind das Canberra Theatre mit 1244 und das Playhouse mit 618 Sitzplätzen, die auch für Konzerte verwendet werden. Das Street Theatre auf dem Gelände der Australian National University (ANU) ist auf Laienvorführungen spezialisiert. Ebenfalls auf dem Gelände der ANU befindet sich die Musikhochschule mit der Llewellyn Hall (1442 Sitzplätze), die als eine der renommiertesten australischen Konzerthallen für klassische Musik gilt. Zudem besitzen die meisten Gemeinschaftszentren in den Stadtteilen Einrichtungen für Theater- und Kinovorführungen sowie in allen Fällen eine Bibliothek. Canberra ist für zahlreiche mehrtägige Großveranstaltungen bekannt: Das erste des Jahres ist jeweils das Summernats-Automobilfestival im Frühsommer Anfang Januar. Im Februar folgen die Feuerwerksparade Enlighten Canberra und die Landwirtschaftsmesse Royal Canberra Show. Das Volksfest Celebrate Canberra vor dem Canberra Day, dem offiziellen Feiertag der Stadt, dauert zehn Tage. Jeweils in der Osterwoche findet das National Folk Festival statt. Die jedes Jahr von Mitte September bis Mitte Oktober stattfindende Floriade ist mit jeweils über 300.000 Besuchern die größte Gartenausstellung der südlichen Hemisphäre. Das Stonefest Ende Oktober auf dem Gelände der University of Canberra (UC) ist eines der größten Rock-Musikfestivals des Landes. Das Casino Canberra ist das einzige Spielkasino der Stadt. Es wurde 1992 eröffnet und besitzt die alleinige Konzession, Glücksspiele anzubieten. Das Casino gehört Casinos Austria International. Im Casino gibt es jedoch keine Spielautomaten, denn dieses Recht steht wiederum nur den Bars und Clubs zu. Prostitution wurde zwar 1992 entkriminalisiert, ist jedoch von Gesetzes wegen auf die industriell geprägten Stadtteile Fyshwick und Mitchell beschränkt. Die vergleichsweise geringe Bevölkerungszahl hat zur Folge, dass das Nachtleben kaum mit jenem der großen australischen Metropolen mithalten kann. Darüber hinaus ist die Bevölkerungsdichte gering, sodass die verschiedenen Vergnügungseinrichtungen wie Bars, Clubs und Restaurants auf wenige Stadtteile in unmittelbarer Nähe zum Zentrum konzentriert sind. Das Nachtleben in Canberra (bzw. dessen angebliches Nichtvorhandensein) ist oft Gegenstand von Witzen auswärtiger Besucher. Sport Neben zahlreichen lokalen Sportvereinen gibt es in Canberra mehrere Sportmannschaften, die nationalen und internationalen Ligen angehören. Die bekanntesten Teams sind die Canberra Raiders und die Brumbies, die Rugby League bzw. Rugby Union spielen und beide mehrmals Meistertitel gewonnen haben. Beide Teams tragen ihre Spiele im 1977 errichteten Canberra Stadium aus, mit 25.011 Sitzplätzen das größte Stadion der Stadt. Bis 1990 wurden hier auch Leichtathletik-Wettkämpfe ausgetragen. Während des Fußballturniers der Olympischen Sommerspiele 2000 und während der Rugby-Union-Weltmeisterschaft 2003 fanden hier einige Vorrundenspiele statt. Ein weiteres großes Stadion ist das Manuka Oval für 16.000 Zuschauer, in dem Cricket- und Australian-Football-Spiele stattfinden. Eine Besonderheit ist, dass in der Stadt zwar kein Profiteam dieser beiden Sportarten beheimatet ist, zahlreiche auswärtige Teams aus Melbourne oder Sydney hier jedoch regelmäßig Heimspiele austragen. Das Prime Minister's XI ist ein traditionsreiches Cricketspiel, bei dem jedes Jahr eine vom Premierminister persönlich zusammengestellte australische Mannschaft gegen eine Nationalmannschaft aus Übersee antritt. Während des Cricket World Cup 1992 des Cricket World Cup 2015 fanden hier einige Partien statt. Das Frauen-Basketball-Team Canberra Capitals gehört zu den erfolgreichsten Mannschaften Australiens und hat mehrere Male den australischen Meistertitel gewonnen. Weitere Mannschaften, die nationalen Ligen angehören, sind die AIS Canberra Darters (Netball), die Canberra Labor Club Lakers, die Canberra Labor Club Strikers (Herren- und Damen-Hockey), die Canberra Knights (Eishockey) und die Canberra Vikings (Rugby Union). Canberra ist Austragungsort des Barassi International Australian Football Youth Tournament, des bedeutendsten Juniorenturniers im Australian Football. Weitere nennenswerte jährlich stattfindende Sportanlässe sind der Canberra Marathon, der Canberra Ironman Triathlon und die Canberra Rally. Darüber hinaus gibt es eine Pferderennbahn, den Canberra Racecourse. Von 2001 bis 2006 wurde das Tennisturnier Canberra Women’s Tennis Classic ausgetragen, 2009 war der Mount Stromlo am Stadtrand von Canberra der Austragungsort der Mountainbike-WM. Das seit 1981 bestehende Australian Institute of Sport (AIS) im Stadtteil Bruce ist ein spezialisiertes Bildungs- und Trainingsinstitut für Spitzensportler in zahlreichen Sportarten. Den Einwohnern von Canberra stehen zahlreiche Sportanlagen zur Verfügung, darunter Cricket- und Rugbyplätze, Golfplätze, Skateparks, Tennisplätze und Schwimmbäder. Durch die ganze Stadt zieht sich auch ein ausgedehntes Netz von Radwegen. Die hügelige Gegend rund um Canberra ist bei Wanderern, Reitern und Mountainbikern sehr beliebt. Auf den Seen wiederum sind Wassersportarten wie Segeln, Rudern und Wasserski möglich. Wirtschaft und Infrastruktur Wirtschaft Mit Abstand wichtigster Wirtschaftszweig der Stadt sind staatliche Verwaltung und Sicherheit. Zusammen erzeugten sie 27,1 % des Bruttosozialprodukts und beschäftigten sie 32,5 % aller Erwerbstätigen (Stand: 2018/19). Zu den wichtigsten Arbeitgebern im öffentlichen Dienst gehören das Parlament, das Verteidigungsministerium, das Finanzministerium, das Schatzamt, das Außenhandelsministerium und das Außenministerium. Mehrere Einrichtungen der Australian Defence Force befinden sich direkt in der Stadt sowie der näheren Umgebung. Weitere wichtige Wirtschaftszweige gemessen an der Zahl der Beschäftigten sind Gesundheitswesen (10,5 %), Wissenschaft und Technologie (9,8 %), Bildungswesen (9,6 %), Handel (7,3 %), Tourismus (6,4 %) sowie Baugewerbe (5,8 %). Die Industrie in Canberra fokussiert sich auf Bereiche mit hoher Wertschöpfung wie beispielsweise Biotechnologie, Rüstung, Informationstechnologie, Umwelttechnologie und Raumfahrt. Eine wachsende Zahl von Software-Anbietern hat sich in Canberra niedergelassen, um von der Konzentration der staatlichen Kunden zu profitieren. Zudem wird Canberra zu einem Innovationszentrum für Informationssicherheit ausgebaut. Im Februar 2020 betrug die Arbeitslosenquote in Canberra 2,9 %, deutlich unter dem nationalen Durchschnitt von 5,1 %. Als Folge der niedrigen Arbeitslosenquote sowie des hohen Anteils des Dienstleistungssektors und des öffentlichen Dienstes ist das Pro-Kopf-Einkommen höher als in allen anderen Hauptstädten der australischen Bundesstaaten. Das durchschnittliche Wocheneinkommen eines Einwohners von Canberra beträgt 1827 AUD, der landesweite Durchschnitt im Vergleich dazu 1658 AUD (März 2020). Der Mittelwert der Liegenschaftspreise in Canberra betrug 745.000 AUD im Februar 2020, was niedriger als in Sydney ist, aber höher als in allen anderen Hauptstädten. Der Mittelwert der Mietpreise wiederum ist nirgends so hoch wie in Canberra. In einer Rangliste der Städte nach ihrer Lebensqualität belegte Canberra im Jahr 2018 den 30. Platz unter 231 untersuchten Städten weltweit. Verkehr Nahverkehr Das Automobil ist in Canberra das dominierende Verkehrsmittel. Planungsvorschriften führten zu einem weitläufigen Netz gut ausgebauter Straßen und zu einer niedrigen Bevölkerungsdichte, da die Bebauung über ein relativ großes Gebiet verteilt und nur an wenigen Orten konzentriert ist. Im Vergleich zu anderen australischen Städten sind die Fahrtzeiten über weite Distanzen relativ kurz. Staus gibt es nur selten und sie lösen sich während der Hauptverkehrszeit in der Regel nach kurzer Zeit auf. Die Stadtbezirke sind durch Parkways miteinander verbunden, richtungsgetrennte Schnellstraßen mit einer erlaubten Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h. Ansonsten gilt ein Tempolimit von 50 km/h. Daneben ist in allen Stadtteilen ein gut ausgebautes Netz von zusammenhängenden Radwegen vorhanden; Canberra bezeichnet sich selbst als „Fahrradhauptstadt Australiens“. Das städtische Busunternehmen Australian Capital Territory Internal Omnibus Network (ACTION) ist für den ÖPNV im gesamten Stadtgebiet zuständig. Das private Busunternehmen Qcity Transit verbindet Canberra mit benachbarten Städten in New South Wales. Obwohl die Pläne von Walter Burley Griffin dies vorsahen, gab es jahrzehntelang keine Straßen- oder Stadtbahn in Canberra. Die erste Etappe der Stadtbahn Canberra wurde am 20. April 2019 eröffnet. Sie ist zwölf km lang und verbindet das Stadtzentrum mit dem nördlichen Stadtteil Gungahlin. Der Auftrag war an ein Konsortium vergeben worden, an dem auch DB International beteiligt war. Eine zweite Phase ist in Planung. Die zwei in Canberra lizenzierten Taxiunternehmen heißen Canberra Elite und Cabexpress. Im Jahr 2016 wurden 7,1 % aller innerstädtischen Reisen mit öffentlichen Verkehrsmitteln unternommen, weitere 4,5 % zu Fuß. Fernverkehr Die Australian Capital Territory Railway – die Eisenbahninfrastruktur gehört dem Australischen Bund, wird aber von der Eisenbahn des Staates New South Wales betrieben – verbindet Canberra mit dem Eisenbahnnetz des Landes. Der Bahnhof Canberra befindet sich im Stadtteil Kingston. Von hier bietet die Eisenbahngesellschaft NSW TrainLink eine Linie nach Sydney an. Eine direkte Verbindung nach Melbourne gibt es nicht, so dass Reisende dorthin in Goulburn umsteigen müssen. Es gab verschiedentlich Pläne, zwischen Sydney, Canberra und Melbourne eine Neubaustrecke für den Hochgeschwindigkeitsverkehr zu bauen, diese erwiesen sich jedoch als wirtschaftlich unsicher. Die letzte Studie zu diesem Thema wurde 2013 veröffentlicht. Per Auto ist Sydney über den Federal Highway und den Hume Highway in drei Stunden erreichbar. Die Fahrt nach Melbourne auf dem Barton Highway, der bei Yass auf den Hume Highway trifft, dauert rund sieben Stunden. In zwei Stunden können auf dem Monaro Highway die Skigebiete in den Snowy Mountains und der Kosciuszko-Nationalpark erreicht werden. Ebenfalls zwei Stunden dauert die Fahrt auf dem Kings Highway nach Batemans Bay, einem beliebten Badeort an der Küste des Pazifiks. Die Unternehmen Greyhound Australia und Murray Coaches bieten mehrmals täglich Fernbusse nach Sydney und Melbourne an. Vom Canberra International Airport aus werden Flüge in die australischen Großstädte und zu einzelnen Regionalflughäfen in New South Wales angeboten. Es gibt keine Linienflüge in das Ausland, sondern nur Charterflüge – vor allem zur Urlaubssaison – mit einigen Überseezielen. Die frühere Royal Australian Air Force Base Fairbairn direkt neben dem Flughafen wurde 2003 aufgegeben. Bis dahin hatten sich zivile und militärische Luftfahrt die Start- und Landebahnen geteilt. Versorgung Die im Besitz der Regierung des ACT befindliche ACTEW Corporation ist für den Unterhalt der Wasserversorgungs- und Abwasserinfrastruktur von Canberra zuständig. ActewAGL, ein Joint-Venture der ACTEW Corporation und der Australian Gas Light Company, ist die Vertriebsgesellschaft für die Versorgung der Stadt mit Wasser, Erdgas und Elektrizität. TransACT, eine Tochtergesellschaft von ActewAGL, bietet auch Telekommunikationsdienstleistungen an. Das Trinkwasser wird in vier Reservoiren gesammelt; bei den Corin-, Bendora- und Cotter-Dämmen am Cotter River sowie beim Googong-Damm am Queanbeyan River. Letzterer liegt zwar in New South Wales, wird aber von der Regierung des ACT betrieben. Die ACTEW Corporation besitzt die zwei Kläranlagen von Canberra, diese befinden sich in Fyshwick und Lower Molonglo am Molonglo River. Die elektrische Energie für Canberra stammt aus dem landesweiten Stromnetz und wird über Umspannwerke in den Stadtteilen Holt und Fyshwick eingespeist. In der Umgebung von Canberra stehen vier Solarparks mit einer installierten Leistung von mehr als 100 Megawatt. Das erste Kraftwerk Canberras, das Kingston Powerhouse, war von 1913 bis 1957 in Betrieb. Wie in anderen Teilen Australiens werden terrestrische und mobile Telekommunikationsdienstleistungen von verschiedenen miteinander konkurrierenden Unternehmen angeboten. Der größte Teil der Infrastruktur ist im Besitz von Telstra, doch auch TransACT verfügt über einen bedeutenden Anteil. Auf dem Black Mountain steht der 195 Meter hohe Fernmeldeturm Black Mountain Tower (ehemals Telstra Tower und davor Telecom Tower). Gesundheitswesen Canberra verfügt über zwei große öffentliche Krankenhäuser, das Canberra Hospital in Garran mit 600 Betten und das Calvary Public Hospital in Bruce mit 174 Betten. Beide sind auch Lehrkrankenhäuser. Das größte private Krankenhaus Canberras ist das Calvary John James Hospital (ehemals John James Memorial Hospital) in Deakin. Weitere bedeutende Gesundheitsdienstleister sind das Calvary Private Hospital in Bruce und das National Capital Private Hospital in Garran. Zusätzlich zur Versorgung des Australian Capital Territory (ACT) übernehmen alle öffentlichen Krankenhäuser Notfälle und Überweisungen aus dem Einzugsgebiet im südlichen New South Wales und in der nördlichen Grenzregion Victorias. Bildung Die beiden wichtigsten Bildungsinstitutionen sind die Australian National University (ANU) und die University of Canberra (UC). Die ANU wurde 1946 gegründet und war zunächst auf die Forschung durch Postgraduierte ausgerichtet. Auch heute liegt der Schwerpunkt vor allem bei der Forschung. Die ANU, die rund 25.000 Studenten zählt, gehört laut den Hochschulrankings von Times Higher Education und der Universität Shanghai zu den besten Universitäten der Welt. Die UC mit ihren rund 16.000 Studenten ist stärker auf praktische Ausbildung ausgerichtet. Die Australian Catholic University und die Charles Sturt University sind mit je einer theologischen Fakultät vertreten, Erstere im Stadtteil Watson, letztere in der Nachbarschaft des neuen Parlamentsgebäudes. Daneben gibt es zwei Militärschulen, die Australian Defence Force Academy und das Royal Military College. Canberra ist der Hauptsitz der Commonwealth Scientific and Industrial Research Organisation (CSIRO), der staatlichen Behörde für wissenschaftliche Forschung. Zu den Errungenschaften der CSIRO gehören unter anderem die Atomspektroskopie und der Kunststoffgeldschein. Südwestlich der Stadt, am Rande des Tidbinbilla-Naturreservats, befindet sich der Canberra Deep Space Communication Complex, eine zum Deep Space Network gehörende Radarantennenstation. Im Jahr 2016 gab es in Canberra 132 Schulen, davon 87 staatliche und 45 private. Das Verhältnis der Schülerzahlen zwischen den staatlichen und privaten Schulen beträgt rund 60 zu 40 Prozent. Bei der Planung neuer Stadtteile achtete man darauf, dass in möglichst geringer Entfernung eine Vorschule und eine Grundschule vorhanden sind. Diese Schulen stehen in der Regel neben einer Grünfläche, um Sport und Spiel zu ermöglichen. Der Besuch der Vorschule ist zwar nicht obligatorisch, doch die meisten Kinder besuchen die von der Regierung finanzierten zwölf Wochenstunden. Die Grundschule umfasst sieben Klassen, den Kindergarten und die Jahre 1 bis 6. In den Schuljahren 7 bis 10 besuchen die Jugendlichen die High School, in den Jahren 11 bis 12 das College. Dies steht im Gegensatz zum Rest des Landes, wo die High School das 7. bis 12. Schuljahr umfasst. Medien Da Canberra als Hauptstadt auch das Zentrum des politischen Geschehens in Australien ist, sind in der Stadt alle wichtigen Medien mit Außenstellen vertreten. Dazu gehören die Australian Broadcasting Corporation, die kommerziellen Fernsehsender und die Zeitungen der übrigen Großstädte. Viele dieser Medien sind in der press gallery vertreten, einer Gruppe von Journalisten, die aus dem Parlament berichten. Der National Press Club of Australia in Barton überträgt häufig sein wöchentliches Mittagessen, bei dem ein prominenter Gast, üblicherweise ein Politiker, eine halbstündige Rede hält, gefolgt von einer Fragerunde. In Canberra erscheint eine Tageszeitung, die seit 1926 bestehende Canberra Times. Darüber hinaus erscheinen Gratiszeitungen für die einzelnen Stadtteile und einige Publikationen für besondere Interessengebiete. In der Stadt können mehrere analoge Fernsehstationen frei empfangen werden. Dazu gehören die Programme der öffentlich-rechtlichen Stationen ABC und SBS sowie die drei privaten Stationen Prime, WIN und Southern Cross. Ebenfalls frei empfangbar sind die digitalen Stationen ABC2 und SBS News. Foxtel bietet über Satellit zahlreiche Pay-TV-Programme an. Von TransACT sind Kabelfernsehen und Breitband-Internet erhältlich. In Canberra sind auch zahlreiche kommerzielle und nichtkommerzielle Radioprogramme empfangbar. Persönlichkeiten Literatur Weblinks Verwaltung des Australian Capital Territory (englisch) National Capital Authority (englisch) Einzelnachweise Hauptstadt in Australien und Ozeanien Planstadt Namensgeber (Marskrater) Hochschul- oder Universitätsstadt in Australien Hauptort einer Verwaltungseinheit
15746
https://de.wikipedia.org/wiki/Schweizerdeutsch
Schweizerdeutsch
Schweizerdeutsch (Eigenbezeichnung Schwizerdütsch, Schwizertütsch, Schwyzerdütsch, Schwyzertü(ü)tsch, Schwiizertüütsch und ähnlich, , , ) ist eine Sammelbezeichnung für die in der Deutschschweiz von allen Gesellschaftsschichten gesprochenen alemannischen Dialekte. Überdacht wird das Schweizerdeutsche von der schweizerischen Varietät des Standarddeutschen, dem Schweizer Hochdeutsch (in der Schweiz: Hochdeutsch, Schriftdeutsch oder Schriftsprache), von dem sich Schweizerdeutsch stark unterscheidet. Schweizer Hochdeutsch hat keine regionalen, mehr oder weniger standardnahen Umgangssprachen hervorgebracht, sondern beschränkt sich weitestgehend auf die Verwendung als Schriftsprache sowie als gesprochene Sprache in gewissen förmlichen Situationen und im mehrsprachigen Umfeld. Es liegt somit eine Diglossie vor, mit Schweizer Hochdeutsch als formellster Varietät und den schweizerdeutschen Dialekten, die funktional eine grössere Bandbreite als in Österreich oder gar Deutschland abdecken, als informellere Varietäten. Sprachwissenschaftliche Präzisierung des Begriffs Aus sprachwissenschaftlicher Sicht gibt es keine Sprachgrenzen zwischen den alemannischen Dialekten des Schweizerdeutschen und den übrigen alemannischen (Elsass, Baden-Württemberg, das bayerische Schwaben, Vorarlberg, Liechtenstein, Walsersiedlungen) beziehungsweise sonstigen deutschen Dialekten, es besteht vielmehr ein Dialektkontinuum. Zwischen den deutsch-alemannischen Dialekten in der Schweiz und den übrigen alemannischen Dialekten besteht der pragmatische Unterschied, dass die schweizerdeutschen Dialekte in fast allen Gesprächssituationen vorrangig benutzt werden, während im übrigen alemannischen Sprachraum, abgesehen von Vorarlberg und Liechtenstein, die deutsche Standardsprache (bzw. im Elsass das Französische) die Ortsdialekte inzwischen vielfach als vorrangige Sprache verdrängt hat. Das deutsch-alemannische Dialektkontinuum in der Schweiz besteht aus Hunderten von Deutschschweizer Mundarten. Die starke topografische Kammerung der Schweiz und die relativ geringe Mobilität bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts haben dazu geführt, dass sich die Ortsdialekte zum Teil sehr stark voneinander unterscheiden, so dass sogar die Deutschschweizer untereinander Verständigungsprobleme haben können. So haben Deutschschweizer aus dem «Unterland» oft Mühe, höchstalemannische Dialekte – etwa Urner- oder Walliserdeutsch – zu verstehen. Neben den unterschiedlichen Aussprachen sind insbesondere Flurnamen oder Benennungen von Pflanzen, Werkzeugen, landwirtschaftlichen Geräten und Ähnlichem stark regional geprägt. Gliederung der schweizerdeutschen Dialekte Die Gliederung der schweizerdeutschen Mundartkennzeichen erfolgt analog zu der der alemannischen (westoberdeutschen) Dialektmerkmale. Niederalemannisch Zur Dialektgruppe des Niederalemannischen gehört in der Schweiz der Dialekt von Basel-Stadt, das Baseldeutsch. Kennzeichen dieses Niederalemannischen ist ein anlautendes k [] statt des hochalemannischen ch oder , beispielsweise Kind statt Chind. Das Niederalemannische (im eigentlichen Sinne) hat seinen Schwerpunkt ausserhalb der Schweiz, nämlich in Südbaden und im Elsass. Mittelalemannisch Reine mittelalemannische (bodenseealemannische) Dialekte werden in der Deutschschweiz keine gesprochen, ihr Schwerpunkt liegt nördlich des Bodensees. Die strukturalistische Untersuchung der Lautsysteme zeigt aber, dass die in der Nordostschweiz und im Churer Rheintal gesprochenen Dialekte zu einer mittelalemannisch-hochalemannischen Übergangszone gehören. In der Tradition der schweizerischen Dialektologie werden diese gewöhnlich aber zum Hochalemannischen gerechnet. Hochalemannisch Die meisten hochalemannischen Dialekte werden in der Schweiz gesprochen. Zum Hochalemannischen gehören sodann die Dialekte des äussersten Südwestens Baden-Württembergs und des elsässischen Sundgaus. Ob die Dialekte des südlichen Vorarlbergs und des Fürstentums Liechtenstein zum Hochalemannischen oder zum Mittelalemannischen gehören, hängt von den jeweiligen Dialektgliederungskriterien ab. Höchstalemannisch Die Mundarten des Wallis und der Walsersiedlungen (im Piemont, im Tessin, in Graubünden, in Liechtenstein und im Vorarlberg), des Berner Oberlands und des Schwarzenburgerlandes, des freiburgischen Senselands und von Jaun, der südlichen Innerschweiz (Uri, Unterwalden und mehrheitlich Schwyz) und des Kantons Glarus gehören zum Höchstalemannischen, dessen Kennzeichen Formen wie schnyyä, nüü(w)/nyyw, buu(w)e/büü(w)ä statt hochalemannischem schneie/schnäie, neu, boue/baue sind. Die Dialekte des Wallis und der von den Wallisern (Walsern) gegründeten Tochtersiedlungen in Norditalien und im Tessin bilden eine besonders konservative Untergruppe. Die Mundart des erst im 19. Jahrhundert germanisierten Dorfes Samnaun im Unterengadin gehört nicht zum Alemannischen, sondern zum Tirolerischen, also zum Bairischen. Weitergehende Unterschiede Die schweizerdeutschen Dialekte unterscheiden sich zum Teil relativ stark voneinander. Die Regionen, teilweise sogar einzelne Dörfer, haben lokalspezifische Eigenheiten in ihrem Dialekt. Deutschschweizer kann man zum Teil alleine nach ihrem Dialekt recht genau einer Heimatgegend zuordnen. Trotz der Unterschiede ist die deutschsprachige Bevölkerung das Verstehen der unterschiedlichen Dialekte gewohnt. Volkstümlich werden die Dialekte nach den jeweiligen Kantonen gegliedert; man unterscheidet so unter anderem Baseldeutsch, Berndeutsch, Zürichdeutsch, Solothurnerdeutsch, Senslerdeutsch, Urnerdeutsch, Glarnerdeutsch, Walliserdeutsch, Bündnerdeutsch, Appenzellerdeutsch oder St. Galler Deutsch. Dialektologisch gesehen treffen diese Charakterisierungen nur in Einzelfällen wirklich zu; so bilden etwa Berndeutsch, St. Galler Deutsch oder Bündnerdeutsch keineswegs Einheiten, und umgekehrt sind die Unterschiede zwischen z. B. nördlichem St. Galler Deutsch, Thurgauerdeutsch und Schaffhauserdeutsch sehr gering. Ohnehin findet sich nur in wenigen Fällen ein Merkmal, das nur in einer bestimmten Region vorkommt und sie von allen anderen abgrenzen würde. Dialektologisch unterscheidet man traditionell zwischen östlichem Schweizerdeutsch (geschlossene Aussprache des Primärumlauts: fel[l]e 'fällen' sowie einförmiger Verbplural: mir/ir/si mached) und westlichem Schweizerdeutsch (sog. neutrale [also leicht geöffnete] Aussprache des Primärumlauts: fèlle/fèue 'fällen' sowie zwei- bis dreiförmiger Verbplural: mir mache, dir mached, si mache; ausgenommen Basel-Stadt: mir/ir/si mache) sowie nördlichem Schweizerdeutsch (durchgezogene Hiatdiphthongierung: Iis 'Eis', aber schneie 'schneien') und südlichem Schweizerdeutsch (fehlende Hiatdiphthongierung: Iis 'Eis', schniie 'schneien'). Derart erhält man somit die übergeordneten Dialekträume des Nordwestschweizerdeutschen (zusätzlich typisch etwa die Dehnung der Hinterzungenvokale in offener Silbe: saage/sääge 'sagen'), des Südwestschweizerdeutschen (zusätzlich typisch etwa fehlende Apokope auslautender Vokale: Wääge/Wäga 'Wege' [Pl.]), des Nordostschweizerdeutschen (zusätzlich typisch etwa die Monophthongierungen: Laatere/Läätere 'Leiter', Bomm 'Baum') und des Südostschweizerdeutschen (zusätzlich typisch etwa guu 'gehen'). Das Bündner Walserdeutsche gehört trotz seiner geographischen Lage nicht zum Südost-, sondern zum Südwestschweizerdeutschen, da diese Dialekte auf das südwestschweizerdeutsche Walliserdeutsch zurückgehen. Alles in allem sind aber auch diese vier Grossräume vielfach untergliedert, und umgekehrt lassen sich die Dialekte in den Kantonen Aargau, Luzern, Zürich sowie im Churer Rheintal, die zwischen den genannten Polen liegen, diesen nur bedingt zuordnen. So gehört z. B. Zürichdeutsch zwar in Hinsicht der Schnittmenge «Primärumlaut bzw. verbaler Einheitsplural» und «Hiatdiphthongierung» zum Nordostschweizerdeutschen, nicht aber in Hinsicht der Entwicklung der mittelhochdeutschen Diphthonge und des sog. germanischen ë, die wie in den weiter westlich gesprochenen Mundarten als [äi], [au], [æ] realisiert werden. Statt die Mittellanddialekte in eine westliche und eine östliche Gruppe zu gliedern, sieht man besser eine westlich-östliche Staffellandschaft vor, die – vereinfacht gesagt – durch eine bernische, eine aargauisch-luzernische, eine zürcherische und eine nordostschweizerische Hauptgruppe charakterisiert wird. Deutlicher wird die Binnengliederung des Schweizerdeutschen, wenn man mundartliche Merkmale bündelt. Die Clusterkarten der Dialektometrie machen die dialektale Raumbildung besonders augenscheinlich. Innerhalb der grösseren Mundarträume, ja sogar zwischen den grösseren Mundarträumen verwischen sich diese Unterschiede durch die wachsende Mobilität der Bevölkerung und die Verwendung des Dialektes in den Medien zusehends. Der durch dieses Zusammenwachsen der Bevölkerung entstehende Dialekt wird umgangssprachlich als «Bahnhofbuffet-Olten-Dialekt» bezeichnet, wobei die jeweilige regionale Verankerung weiterhin hörbar bleibt. Die stärkste Tendenz zu einem Ausgleich zeigen die Einzugsgebiete der Grossagglomerationen Zürich, Basel und Bern. Aber auch ländliche Mundarten stehen unter grossem Druck der neu entstehenden Grossraumdialekte. Hier zeigt es sich insbesondere, dass kleinräumige Mundartmerkmale (nicht nur Wörter, sondern auch Lautungen und Endungen) durch die grossräumig geltenden verdrängt werden. Merkmale Im Folgenden sind verschiedene Eigenheiten der schweizerdeutschen Dialekte genannt, die im Vergleich mit der Standardsprache auffallen. Die meisten dieser Eigenheiten treten nicht bei allen schweizerdeutschen Dialekten auf, sind dafür aber auch bei Dialekten ausserhalb der Schweiz zu finden. Vokalismus Die meisten Schweizer Dialekte weisen die Merkmale der neuhochdeutschen Monophthongierung und Diphthongierung nicht auf. Diesbezüglich gleichen sie dem Mittelhochdeutschen. Bewahrung der mittelhochdeutschen Monophthonge Wie im Mittelhochdeutschen gilt: Huus ist «Haus» (mhd. hûs), Züüg ist «Zeug» (mhd. ziuc, sprich züük), wiit ist «weit» (mhd. wît) etc. Ausnahmen gibt es im Bündner Schanfigg (Hous , wejt ), in Unterwalden (Huis , wejt ) und im Aostataler Issime (Hous , wejt ), wo die alten Längen alle diphthongiert sind. Eine weitere Ausnahme betrifft die Hiat-Diphthongierung der Langvokale vor Vokal, die in den nieder- und hochalemannischen Dialekten auftritt, nicht jedoch in den höchstalemannischen (Beispiele: höchstalem. frii «frei» (mhd. vrî) – hoch-/niederalem. frei ; höchstalem. Suu «Sau» (mhd. sû) – hoch-/niederalem. Sou ; höchstalem. nüü «neu» (mhd. niuwe) – hoch-/niederalem. nöi ). In weiten Teilen des Schweizerdeutschen werden die alten Diphthonge von den neuen lautlich unterschieden. So heisst es in Zürich: Bäi (Bai) mit altem Diphthong, aber frei (frej) mit sekundärem Diphthong, wo es standardsprachlich gleich lautend «Bein, frei» heisst, oder aber Baum mit altem Diphthong, aber boue mit sekundärem Diphthong für standardsprachlich gleich lautende «Baum, bauen». Bewahrung der mittelhochdeutschen Diphthonge Während den mittelhochdeutschen öffnenden Diphthongen ie, ue, üe in der Standardsprache Monophthonge entsprechen (vergleiche Liebe, wo ie noch in der Schrift erhalten ist, aber [] gesprochen wird), sind diese Diphthonge in den schweizerdeutschen Mundarten erhalten geblieben: lieb wird somit ausgesprochen. Desgleichen gilt: Ein geschriebenes ue wird nicht ü, sondern ú-e ausgesprochen (mit Betonung auf dem -ú-), der Schweizer «Rudolf» ist also Ru-edi , nicht Rüdi. Achtung: Muus ist «Maus», aber Mues (oder Muos) ist «Mus» – zum Frühstück gibt es also Müesli und nicht Müsli (Mäuslein). Weitere Merkmale der Vokale Das lange a ist in vielen Mundarten sehr dunkel und tendiert gegen o, mit dem es in gewissen Mundarten (besonders der Nordwestschweiz) auch zusammenfallen kann. Dem standarddeutschen kurzen e entspricht in vielen Wörtern das als ä geschriebene überoffene [æ] (z. B. ässe «essen»). Historisch gesehen ist dies dann der Fall, wenn Sekundärumlaut (z. B. «sagen») oder germanisch ë (z. B. «essen») vorliegt, wogegen Primärumlaut fast überall als geschlossenes [e] realisiert wird (z. B. «legen»). In Teilen der Ostschweiz (Schaffhausen, teilweise Graubünden, St. Gallen, Thurgau) fehlt überoffenes [æ], und es tritt wie in der Standardsprache [ɛ] ein (z. B. «essen»). Andere Teile der Ostschweiz (etwa das Toggenburg) haben eine vollständige Übereinstimmung mit dem mittelhochdeutschen dreistufigen System, indem sie für den Sekundärumlaut [æ] (z. B. «sagen»), für das germanische ë [ɛ] (z. B. «essen») und für den Primärumlaut [e] (z. B. «legen») kennen. Ein anderes dreistufiges System kennt das Zürichdeutsche: Grundsätzlich hat es wie die westlichen und innerschweizerischen Mundarten germanisches ë von [ɛ] zu [æ] gesenkt, nicht aber vor /r/, z. B. ässe «essen», aber stèèrbe «sterben», und Umlaut von ahd. /a:/ ist ebenfalls [ɛː], z. B. lèèr «leer». Konsonantismus Viele schweizerdeutsche Dialekte haben die hochdeutsche Lautverschiebung vollständig durchgeführt; einem germanischen /k/ im Silbenanlaut entspricht ein [x] (wie in Chind, chalt), einem /kk/ im Silbeninlaut die Affrikate [] (wie in Stock [], Sack []). Die Affrikate [] wird ebenfalls verwendet für ein /k/ in Lehnwörtern (wie in Karibik [], Kunst []). Dies sind allerdings keine Merkmale aller schweizerdeutschen Dialekte, sondern der hochalemannischen; sie gelten nicht bei schweizerdeutschen Dialekten, die nicht hochalemannisch sind, dafür aber auch bei hochalemannischen Dialekten ausserhalb der Schweiz. ch wird in der Mehrheit der Dialekte stets velar, in manchen stets uvular ausgesprochen, und zwar auch nach vorderen Vokalen («wichtig» []). Palates ch findet sich im Wallis und lokal weiterhin. Das r wird in den meisten Dialekten alveolar ausgesprochen (Zungenspitzen-R), im Baseldeutschen und in Teilen der Ostschweiz jedoch uvular (Zäpfchen-R). // werden nicht aspiriert; aspirierte [] kommen nur als Konsonantencluster // vor (ebenso [] ausser in Chur und Basel); // sind immer stimmlos. Es ist nicht geklärt, worin der Unterschied zwischen // und // liegt. Traditionell wird er als ein Unterschied zwischen Fortes und Lenes verstanden (daher auch die Schreibweisen [] – []). Daneben gibt es jedoch auch die Meinung, dass es sich um einen Unterschied in der Quantität handle (konsequent notiert als [pː tː kː] – [p t k]). In vielen Westschweizer Dialekten mit dem Emmental als Zentrum wird der Konsonant l am Silbenende oder in Gemination zu u (IPA: w) vokalisiert; dieses Phänomen ist relativ jung und breitet sich derzeit weiter aus: alle > , viel > . Siehe auch: Chuchichäschtli Betonung Die Betonung ist häufiger als im Standarddeutschen auf der ersten Silbe (oder sogar, wenn man so will, auf der nullten – Namen mit vorausgehendem «von» wie von Arx werden auf dem von betont). Bei Wörtern aus dem Französischen wie Fondue oder Bellevue und ebenso bei Akronymen wie WC oder USA liegt die Betonung auf der ersten Silbe, also Fóndü (phonetisch: []) und Béllvü ([]), Wéé-zee und Ú-äss-aa. Endungen Die meisten Dialekte unterscheiden zwei Nebensilbenvokale: -i und -ə, beispielsweise in i(ch) machə («ich mache», Indikativ) – i(ch) machi («ich mache», Konjunktiv). Höchstalemannische Dialekte wie das Walliserdeutsche haben teilweise einen noch erheblich differenzierteren Nebensilbenvokalismus, indem sie zusätzlich auch -a, -o und -u sowie geschlossenes -e unterscheiden: lauten der Singular und der Plural von «Zunge» in den meisten schweizerdeutschen Dialekten identisch Zunge, so heisst es in manchen Walliser Dialekten im Nominativ Singular Zunga (wie althochdeutsch zunga), im Dativ Singular Zungu (vgl. althochdeutsch zungûn) und im Nominativ Plural Zunge (hier ist das geschlossene /e/ frankoprovenzalischer Herkunft). Ein abschliessendes -n entfällt in den meisten Mundarten («n-Apokope»), vor allem in der Endung -en (chouffe – kaufen, Haagge – Haken), aber auch nach betontem Stammvokal wie in Wörtern wie Wy – «Wein» oder Maa – «Mann». Dafür taucht meistens ein Verbindungs-n zwischen Endvokalen und Anfangsvokalen wieder auf, z. B. I ha-n es Buech «ich habe ein Buch». Dieses Phänomen hat keine grammatikalische Bedeutung, sondern dient dazu, einen Hiatus zu vermeiden. Das passiert nicht nur bei Verben, sondern auch bei anderen Wortarten. (Bsp. I ha-n es Buech, wo-n är mir ggää het «ich habe ein Buch, das er mir gegeben hat»). Gewisse alpine Mundarten (bes. östliches Berner Oberland, oberes Prättigau und Lötschental) haben die n-Apokope nicht durchgeführt. Bei Substantiven entfällt auslautendes -e in vielen Fällen (Brügg/Brugg «Brücke», oder Pluralendung Böim «Bäume»). Konservative alpine Mundarten kennen diese Apokope allerdings nicht. Die Endung -ung wird in den meisten Dialekten als -ig gesprochen (nicht jedoch im Wallis, in traditionellem Stadtbernischen sowie im Schaffhauserdeutschen und nur teilweise im Senslerdeutschen). «Kreuzung» entspricht somit normalschweizerdeutschem Chrüüzig (aber senslerisch Chrüzùng, älter stadtberndeutsch Chrüzung, schaffhauserdeutsch Chrüüzing). Eine Ausnahme bilden die Typen auf -igung (z. B. «Kreuzigung»), wo es aus phonetischen Gründen bei «Chrüüzigung» bleibt. Ein Grenzfall ist auch das Wort «Achtung». In manchen Regionen wird das Wort als Achtig ausgesprochen, wenn es in einem Satz als Tugend/Wert ausgesprochen wird, hingegen verwendet man manchmal Achtung!, wenn es sich um den Ausruf «Vorsicht!» handelt. Dies liegt daran, dass es sich um ein Lehnwort aus der Standardsprache handelt, das das einheimische Obacht! verdrängt. Den Verb-Endungen -eln und -ern entsprechen in der Regel -(e)le und -(e)re (Bsp. zügle, bügle, tafle, ruedere, muure «umziehen, bügeln, tafeln, rudern, mauern»). Grammatik Siehe alemannische Grammatik Flexion der Zahlwörter In den meisten schweizerdeutschen Mundarten werden zumindest von älteren Sprechern die Zahlwörter dem grammatischen Geschlecht angepasst. So heisst es verbreitet zwee Manne, zwo Fraue, zwäi/zwöi/zwaa Chind (in der Innerschweiz zwee/zwöö Manne, zwee/zwöö Fraue, zwöi Chind) und drei Manne, drei Fraue, drüü Chind «drei Männer, Frauen, Kinder». Lexik Wortbildung Im Folgenden werden einige typische Eigenheiten der schweizerdeutschen bzw. alemannischen Wortbildung aufgeführt. Bekannt sind die häufig gebrauchten Verkleinerungsformen auf -li, von denen es oft noch Varianten mit unterschiedlichem Gefühlswert gibt, z. B. Hündli, Hündeli und Hundeli. Einige dieser Verkleinerungsformen wurden zu eigenständigen Begriffen, z. B. wird Müesli (Frühstücksflocken auf Haferflockenbasis) nicht als Verkleinerung von Mues (Mus), Rüebli (Karotte) nicht als Verkleinerung von Rüebe (Speiserübe) oder Gipfeli (Croissant) nicht als Verkleinerung von Gipfel (bspw. Berggipfel) verstanden. Es gibt im Schweizerdeutschen auch Verben in Verkleinerungsform, die mit -ele enden. Diese können eine niedliche kindliche Art ausdrücken, wie schlääffele für schlaaffe (schlafen), aber auch eine Abwertung bei schäffele statt schaffe (arbeiten) oder eine gemütliche, ausgedehnte Art der Tätigkeit wie bei käfele (von Kaffee trinken) oder zmörgele (von Zmorge Frühstück). Typisch für das Schweizerdeutsche sind aus dem Verb gebildete Täterbezeichnungen auf -i, wie Laferi von lafere (weitschweifig reden) oder Plagööri von plagiere (prahlen). Um einen Vorgang auszudrücken, wird die Endung -ete verwendet, z. B. Truckete (Gedränge) von trucke (drängeln) oder Züglete (Umzug) von zügle (umziehen). Einige dieser Begriffe haben sich konkretisiert, z. B. Lismete (Strickzeug) von lisme (stricken) oder Metzgete (Brauchtum des herbstlichen Schlachtens und der Verköstigung der Erzeugnisse) von metzge (schlachten). Wortschatz Manche typisch schweizerdeutsche Ausdrücke und Wörter können zu Missverständnissen bei deutschen Zuhörern führen, die keinen alemannischen Dialekt verstehen. Eine Auswahl steht in der folgenden Liste. (Es steht jeweils zuerst das schweizerdeutsche Wort bzw. der schweizerdeutsche Ausdruck, teilweise mit regionalen Varianten.) abverheit – misslungen, missglückt, missraten allwääg, äuä – Modalpartikel «wohl»; in der Verwendung als satzwertige Partikel hat sich die ursprünglich ironische Bedeutung 'wohl kaum' durchgesetzt. amel, amig(s), ame, aube – «jeweils» (von «allweil» und «allweg») Anke (m.) – «Butter» asewääg – «so, auf diese Weise; gerade so», auch im Sinne von «ist es gleich so schlimm...» äxgüsi, éxgüsee – «Entschuldigung!» (von französisch «excusez») blööterle – «trödeln, Zeit verschwenden», aber auch: Du chasch mer blööterle! – etwa «Du kannst mich mal!» Böögg – sowohl «Popel» als auch «Popanz» (so etwa die Figur am Sechseläuten) briegge, greine, gränne, brüele, hüüle – «weinen» brüele, bäägge – «schreien, laut weinen» Büez, Büezer, büeze – «Arbeit, Arbeiter, arbeiten» Bünzli – «Spiessbürger, Spiesser, Kleinbürger» Büsi, Büüssi, Busle – «Katze» Chaschte, Schaft – «Schrank», aber auch «muskulöse(r), sportliche(r) Mann/Frau» cheere – «drehen», «wenden», «umkehren» Cheib – «Kerl» (grob oder kumpelhaft, bedeutete ursprünglich «Aas») cheibe – Verstärkung ähnlich wie «sehr» («cheibeguet» = sehr gut, «cheibegross» = sehr gross etc.) Chog und choge – bedeutet dasselbe wie Cheib, cheibe (bedeutete ursprünglich «Fäulnis, Verwesung») Chlapf – «Knall, Schlag», auch «Ohrfeige», «Auto» oder auch «(Alkohol-)Rausch» Chnelle – «heruntergekommenes, einfaches Restaurant» chrampfe, chnorze – «hart arbeiten» (Chrampf – «harte Arbeit», aber auch Krampf oder Verkrampfung. Knorzen oder chnorze bedeutete ursprünglich «kneten».) fäge in: es fägt – «es macht Spass» gäng – «immer, stets, jeweils» Gischpel, Gischpli, Fägnäscht – «unruhige Person» (vor allem Kinder) Gonfi, Gumfi – «Konfitüre, Marmelade» Gröibschi, Gigetschi, Gürbschi, Bitzgi, Bützgi, Bütschgi, Butze – «Kerngehäuse» grüezi – «(Gott) grüsse Euch», Grussformel in der östlichen Hälfte der Deutschschweiz grüessech ([]) – «(Gott) grüsse Euch», Grussformel in Bern sowie Teilen von Freiburg, Solothurn, Baselbiet und Aargau glette – «bügeln» (mit dem Bügeleisen, eigentlich «glätten») Goof (m, n) – «Balg, Bub, Gör» (meist als Schimpfwort empfunden; in einigen Gegenden aber auch die gewöhnliche Bezeichnung für ein Kind) Grind – «Kopf» (salopp) gsii – «gewesen» gumpe – «springen, hüpfen» Gumsle, Gluggere – verachtendes Schimpfwort, sagt man nur bei weiblichen Personen (Gluggere bedeutet eigentlich eine brütende Henne) Gutsch – «Schluck» oder auch eine «überschwappende Menge Flüssigkeit, zum Beispiel aus einem Eimer» hoi (daneben auch sali, salü, sälü, von französisch «salut») – Grussformel für Leute, die man duzt halbbatzig – «ungenügend, unzulänglich» Hudigääggeler – «Schweizer Volksmusik» huere – zeigt als Adjektiv/Adverb Intensivierung an, kann je nach Dialekt und Kontext als üblicher umgangssprachlicher Ausdruck (insbesondere in der Jugendsprache) oder als derber Fluch verstanden werden. huure – «kauern» gheie – «fallen, stürzen; (hinab-)werfen» jäsoo – «ach so» Kolleeg – «Kumpel, Freund» lauffe, louffe – «gehen» leere – in vielen Dialekten sowohl «lehren» als auch «lernen» lisme – «stricken» lose – «zuhören, horchen», auch «gehorchen» (aber: (g)hööre – «hören») luege – «schauen, lugen» (aber: (g)seh – «sehen») merssi – «Dankeschön» (von französisch «merci») möge – «können», etwa in: Ich mag nümme – «Ich kann nicht mehr, ich bin fix und fertig» oder aber: «Ich kann nicht mehr [essen]», d. h.: «Ich bin satt»; Ich mag mi nümm bsinne/erinnere – «Ich kann mich nicht mehr erinnern» neime, nöime – «irgendwo» (vgl. die entsprechenden Varianten unter öpper, öppis) Nidel (m.), Nidle (f.) – «Rahm» öppe – «etwa, ungefähr» öpper, näber(t), neimer – «jemand» öppis, näbis, neimis – «etwas» poschte, in Bern kömerle – «einkaufen» (bei Spontankäufen sagt man: chröömle, chröömerle, gänggele) Puff – «Unordnung» (aber auch «Bordell») rüüdig – «sehr», aber auch «verrückt» Beispiel: rüüdigi Luzerner Fasnacht rüere – «rühren», aber auch «werfen» Sack – «Tüte», auch abgekürzt für Hosesack – «Hosentasche» schmöcke – «riechen», jünger unter hochdeutschem Einfluss auch «schmecken» schnore – «labern, plappern» Schnudergoof – «Bengel, Balg, Rotzlöffel», verstärkter Ausdruck für Goof (Schnuder bezeichnet das Nasensekret) Schoofseckel – etwa «Arschloch, Volltrottel» (wörtlich: «Schafs-Hodensack») Stäge – «Treppe», «Stiege» Siech – «Typ» (grob, meist in Verbindung mit «geile» [um Respekt auszudrücken], «blööde» [um Verachtung auszudrücken] oder «huere» [als allgemeiner Fluch, wie z. B. «verdammt!»]), bedeutete ursprünglich «Kranker», siehe Siechtum. springe, weniger schön auch seckle – «rennen, laufen» studiere – «nachdenken, überlegen» (aber auch studieren an einer Universität) Stutz – sowohl «steile Stelle im Gelände, steil aufwärts führende Strasse» als auch «Ein-Franken-Stück» (salopp, z. B. «Hesch mer en Stutz?» – Hast du mir einen Franken/etwas Geld?) tööne – «klingen»; töönt guet – «klingt gut» tschuute, schutte – «Fussball spielen» (von englisch «to shoot») uf em Sprung sii – «es eilig haben» Uufzgi – «Hausaufgaben» Uusgang in: in Uusgang gaa – «ausgehen» (ursprünglich militärsprachlich) voorig, vöörig, vüürig – «genügend; übrig» (’s hät no voorig, das isch no voorigplibe; aber auch «zur Genüge»: das langet voorig) zieh in: eis ga/go zieh – «einen trinken gehen» Zmittag – «Mittagessen» Zmorge, zmörgele – «Frühstück, frühstücken» Znacht – «Abendessen» Znüüni – «Snack, Zwischenmahlzeit am Vormittag» (eigentlich mhd. Präposition ze plus substantiviertes Zahlwort nüün) Zvieri – «Snack, Zwischenmahlzeit am Nachmittag» (eigentlich mhd. Präposition ze plus substantiviertes Zahlwort vier) Die meisten der obigen Ausdrücke sind allerdings nicht spezifisch für das Alemannische der Schweiz, sondern auch in den alemannischen Dialekten des Südschwarzwalds verbreitet. Einige Ausdrücke des schweizerdeutschen Wortschatzes haben ihren Eingang ins allgemein verbreitete Hochdeutsch gefunden, so z. B. Müesli oder Putsch, andere als sog. Helvetismen in die regionale Hochsprache (Schweizer Hochdeutsch). Bei Schweizer Schriftstellern erscheinen schweizerische Wörter in unterschiedlichem Mass. Schreibweise Alle Mundarten beziehungsweise Dialekte im deutschen Sprachraum haben eines gemeinsam: Es gibt für sie keine standardisierte Rechtschreibung. Genauso verhält es sich mit den schweizerdeutschen Dialektformen. In den Mundartwörterbüchern und in der Dialektliteratur lassen sich grob gesehen zwei verschiedene Schreibsysteme unterscheiden: Entweder eine weitgehend phonologische Schreibung, die sich in Eugen Dieths Vorschlag Schwyzertütschi Dialäktschrift kodifiziert findet, oder eine weitergehende Orientierung an der standarddeutschen Schreibung in der Tradition der älteren (vornehmlich Berner) Dialektliteratur, deren Regeln Werner Marti in seinem Vorschlag Bärndütschi Schrybwys zusammengefasst hat. Der Alltagsgebrauch, beispielsweise in SMS, Chat, E-Mail oder persönlichen Briefen, ist weitgehend unbeeinflusst von den Schreibungen der Dialektliteratur. Vielmehr ist die Einstellung verbreitet, man schreibe den Dialekt «nach Gefühl» oder «so, wie man es sagt», eine Einstellung, der zufolge die Rechtschreibung zur Domäne des Standarddeutschen gehört, nicht aber zum Dialekt. Eine Sonderstellung nimmt das Baseldeutsche ein, wo besonders die Schnitzelbänke an der Basler Fasnacht eine Schreibung anwenden, die sich stark am Baseldeutschen Wörterbuch von Rudolf Sutter orientiert. Es handelt sich dabei zwar um den Dieth-Typus, die Laut-Buchstaben-Zuordnung entspricht aber teilweise Lautungen, die im modernen Baseldeutsch kaum mehr anzutreffen sind (Entrundung von /ö/ und /ü/ zu /e/ bzw. /i/). Im Grossen und Ganzen richten sich alle Verschriftungen des Schweizerdeutschen nach den Laut-Buchstaben-Zuordnungen der Standardsprache. Es gibt allerdings einige Abweichungen: k und ck bezeichnen die Affrikate []. gg bezeichnet einen anderen Laut als g, nämlich die (unaspirierte) Fortis . y bezeichnet in einheimischen Wörtern und Namen immer geschlossenes [] oder . Diese Verwendung geht auf eine spätmittelalterliche Ligatur aus ij zurück. ä steht in erster Linie für das überoffene , in der Ostschweiz auch für das offene . Im Alltagsgebrauch findet es sich überdies für das Schwa ; eine Verwendung, die man in den Mundartwörterbüchern und in der Dialektliteratur nur für die alpinen Dialekte antrifft, wo sie in phonetischer Hinsicht eher angebracht ist. ie ist ausnahmslos für die Lautfolge [ɪə] reserviert, niemals für [i:]. Langes i wird je nach Schreibweise und/oder Öffnungsgrad ii, y, yy oder gelegentlich ih geschrieben. Anteil der Schweizerdeutschsprachigen Bei der Erhebung des Bundesamts für Statistik von 2010 betrug der Anteil der deutschsprachigen Schweizer 65,6 % der Gesamtbevölkerung. Von diesen gaben 93,3 % bei der Volkszählung 2000 an, im Alltag Dialekt zu sprechen. Im Jahr 2014 dagegen sprach noch 87 % der Deutschschweizer Bevölkerung Schweizerdeutsch im Alltag. Als Familiensprache wird Schweizerdeutsch von 78,4 % der Einwohner ab 15 Jahren in der deutschen Schweiz gesprochen. Der relative Anteil der Sprecher ist leicht rückläufig und variiert stark. So findet man Dialektsprecher häufiger in ländlichen Regionen und Menschen, die (nur) Standardsprache sprechen, häufiger in städtischen Gebieten. Die nachfolgende Tabelle gibt einen Überblick über den Anteil der Schweizerdeutschsprachigen, bezogen auf Dialekt als regelmässig verwendete Sprache (Alltagssprache) und Familiensprache: So wird die Hochsprache zwar in der Verfassung als eine der vier offiziellen Landessprachen definiert, bleibt aber für den Grossteil der Bevölkerung praktisch eine Fremdsprache (siehe auch Diglossie). Einsprachige Kantone, in denen von der einheimischen Bevölkerung Schweizerdeutsch gesprochen wird, sind: St. Gallen, Appenzell Innerrhoden und Appenzell Ausserrhoden, Thurgau, Glarus, Schaffhausen, Zürich, Zug, Schwyz, Luzern, Uri, Nidwalden und Obwalden, Aargau, Basel-Stadt und Basel-Landschaft sowie Solothurn. Eine deutschsprachige Mehrheit haben Graubünden (neben Bündnerromanisch und Italienisch) und Bern (neben Französisch). Eine deutschsprachige Minderheit neben einer französischen Mehrheit haben das Wallis und Freiburg. Im Kanton Jura gibt es eine deutschsprachige Gemeinde, Ederswiler, ebenso im Tessin die Walsersiedlung Bosco/Gurin. Mittlerweile sind auch die meisten Rätoromanen des Schweizerdeutschen mächtig. Historische Entwicklung des Schweizerdeutschen Noch im 18. Jahrhundert wurde die Mundart in der Schweiz als zweitrangig oder gar minderwertig angesehen. Während der Helvetik hatte das Sprechen und Schreiben im Dialekt eine oppositionelle Funktion; so drückte etwa der Konservative Gottlieb Jakob Kuhn seine konterrevolutionäre Gesinnung auf Berndeutsch aus. Eine erste Erhöhung zur Kultursprache wurde durch die Allemannischen Gedichte von Johann Peter Hebel aus dem Jahr 1804 ausgelöst, welche zudem die deutschländische Wahrnehmung der Schweiz prägten. Später trugen die Werke von Jeremias Gotthelf zu dieser neuen Etablierung bei. Durch die hohe Präsenz in Kunst und Kultur stiess die Mundart schliesslich auch in hochbürgerlichen und patrizischen Kreisen, wo sie lange als rückständig galt, auf Wohlwollen. Seit den späten 1960er Jahren kann man in der Schweiz eine richtiggehende Mundartwelle beobachten. Das Schweizerdeutsche dringt in viele Bereiche vor, in welchen vorher ausschliesslich Schriftdeutsch verwendet wurde, und geniesst als Zeichen der schweizerischen und regionalen Identität eine hohe Wertschätzung. Breitenwirksam verstärkt wurde diese Entwicklung vor allem durch den vermehrten Gebrauch des Dialekts in den Massenmedien Radio und Fernsehen. Vorreiter waren hierbei die privaten Radiostationen, die sich in den 1980er Jahren etablierten. Von ihnen schwappte die Mundartwelle dann sozusagen auch auf die öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten der SRG über. So waren je länger je mehr auch auf nationaler Ebene die verschiedensten regionalen Dialekte zu hören. Sehr prägend dürfte parallel dazu auch der grosse Erfolg von in Mundart singenden Musikern gewesen sein. Schon die berndeutschen Lieder Mani Matters waren sehr populär, und mit u. a. Polo Hofer, Züri West, Patent Ochsner in Berndeutsch und mit dem Trio Eugster, Jimmy Muff, den Schlieremer Chind, Toni Vescoli und den Minstrels in Zürichdeutsch kam die Dialektwelle dann in den 1980er Jahren so richtig in Schwung, auch in der Rockszene. In den 1990er Jahren und bis heute hielt dieser Trend z. B. mit Schtärneföifi, Roland Zoss, Big Zis, Bligg und Adrian Stern an und breitete sich der Gebrauch der Mundart in den elektronischen Medien und der einheimischen Popmusik noch weiter aus. Durch die Etablierung neuer Techniken, namentlich SMS, Instant Messaging, gemeinschaftliche Netzwerke, Internetforen, Chaträume und (private) E-Mails, die im eigentlichen Verwendungszweck der mündlichen oder quasimündlichen Kommunikation dienen, sich jedoch als Kommunikationsmittel der geschriebenen Sprache bedienen («geschriebene Gespräche»), stiess das vorwiegend nur gesprochene Schweizerdeutsch auch in den schriftlichen Ausdruck vor und verstärkte dadurch die Mundartwelle. Mangels verbreiteter Standards bedient sich dabei jeder seiner eigenen Orthographie, in SMS sind dabei zwecks Zeicheneinsparung häufig auch Abkürzungen, Anglizismen oder das in der Schweiz ansonsten unübliche ß anzutreffen. Durch die Entwicklung der audiovisuellen Medien und durch die erhöhte Mobilität der Bevölkerung werden die Dialekte ausgehend von den städtischen Gebieten immer mehr von Ausdrücken der standarddeutschen Schriftsprache und auch des Englischen durchzogen. Dazu kommt, dass praktisch der gesamte Wortschatz des modernen Lebens über jeweils einheitliche hochdeutsche Formen ins Schweizerdeutsche gelangt. So gelten die meisten Anglizismen aus der deutschen Sprache auch für Schweizerdeutsch, z. B. sori (von englisch «sorry») statt Äxgüsi, schoppe (von englisch «to shop») oder iichauffe (von deutsch «einkaufen») statt Komissioone mache oder (übrigens auch erst jüngerem) poschte. Der hochdeutsche Einfluss beschränkt sich dabei keineswegs auf den Wortschatz, sondern macht sich auch in der Grammatik und sogar in der Aussprache bemerkbar. Soziologische Aspekte Die sozialen Funktionen des Schweizerdeutschen sind vielfältig. Es kann sowohl als Umgangssprache als auch als Fachsprache verwendet werden. Schweizerdeutsch ist weder eine Trendsprache noch eine technische Sprache. Es wird von allen Gesellschaftsschichten gleichermassen verwendet und gilt nicht, anders als die Dialekte in manch anderen Ländern, als Sprachform einer «Unterschicht» . Wie überall beinhalten die Varietäten verschiedener Sprechergruppen (Secondos, Forstarbeiter usw.) zusätzliche spezielle Abkürzungen und Ausdrücke. Schweizerdeutsch gibt den Deutschschweizern starken emotionalen Halt und trägt wesentlich zu einem Gemeinschafts- und Heimatgefühl bei. Ein Beispiel dafür ist die Blüte der Mundartmusik seit 1990. In den grösseren Städten, besonders in Basel, Zürich und Bern, gab es jedoch noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts ausgeprägte soziale Dialektunterschiede (Soziolekte). Zwar sprachen alle Schichten Dialekt, aber der Dialekt der Oberschicht unterschied sich deutlich von demjenigen der Mittelschicht, der sich wiederum sowohl vom Dialekt der Unterschicht als auch vom Dialekt der Landbevölkerung abhob. Schweizer Hochdeutsch und Schweizerdeutsch Der Sprachgebrauch in der Schweiz unterscheidet zwischen Dialekt und Standardsprache. Während die Dialekte ein Kontinuum bilden, gibt es kein Kontinuum zwischen Schweizer Hochdeutsch und den schweizerdeutschen Dialekten. Eine sprachliche Äusserung kann also nicht auf mehr oder weniger dialektale oder standardsprachliche Art erfolgen; man spricht entweder Dialekt oder Standardsprache und wechselt zwischen beiden. Die funktionale Reichweite der Dialekte ist in der Schweiz wesentlich höher als in Deutschland oder Österreich. Sie werden von allen sozialen Schichten im mündlichen Bereich als normale Umgangs- und Verkehrssprache verwendet; Dialekt zu sprechen ist also nicht sozial geächtet. Auch gegenüber sozial höhergestellten Personen und im Umgang mit Behörden ist das Sprechen des Dialekts in beinahe jeder Situation üblich. Das Schweizer Hochdeutsch wird in der Schweiz hauptsächlich für schriftliche Äusserungen verwendet und wird deshalb auch oft «Schriftdeutsch» genannt. In den letzten Jahrzehnten sind verstärkt Gebrauchsausweitungen des Dialekts zu Lasten des (Schweizer) Hochdeutschen festzustellen (wobei im Weiteren unter «Hochdeutsch» stets die deutsche Standardsprache (teilweise mit deutlichem Schweizer Akzent) zu verstehen ist): Im mündlichen Bereich sollte das Hochdeutsche zwar offizielle Sprache des Schulunterrichts sein, doch beschränken sich die Lehrer aller Stufen oftmals darauf, nur den eigentlichen Unterrichtsgegenstand in Hochdeutsch zu erteilen; zwischendurch gemachte Bemerkungen und Anweisungen wie beispielsweise () erfolgen dagegen in der Mundart. Das Hochdeutsche wird damit zur Sprache der Distanz («Sprache des Verstandes»), der Dialekt zur Sprachform der Nähe («Sprache des Herzens»). Auch Zwischenfragen und ähnliche Interventionen von Schülern und Studenten erfolgen immer mehr im Dialekt. Diesen Zustand bestätigen auch indirekt die wiederholten Ermahnungen der Schulbehörden, das Hochdeutsche im Unterricht mehr zu pflegen. Vor allem in den privaten Radio- und Fernsehkanälen wird praktisch nur Dialekt gesprochen. Da es viele Mitarbeiter aber gewohnt sind, ihre Sprechtexte auf Hochdeutsch niederzuschreiben, entsteht beim Ablesen oft eine stark hochdeutsch geprägte Sprachform mit den Lautformen des Dialekts, aber der Syntax und dem Wortschatz des Hochdeutschen: Me befürchtet, das d Zaal der Verletzte, die i Chrankehüser ygliferet worde sy, no beträchtlech aaschtyge chönnt statt (Berndeutsch). In den öffentlich-rechtlichen Medien gilt es zu differenzieren: Im Radio (private Stationen und Schweizer Radio) werden fast nur noch Nachrichten und politische Informationssendungen (z. B. Echo der Zeit) sowie das gesamte Programm des Kulturkanals (Radio SRF 2 Kultur) auf Hochdeutsch ausgestrahlt. Im privaten und im Schweizer Fernsehen (SRF) ist der Dialekt üblich in Unterhaltungsshows, in Seifenopern und Serien (wobei hochdeutsche und hochdeutsch synchronisierte Serien nicht noch extra schweizerdeutsch synchronisiert werden), im Kinderprogramm, in allen Sendungen mit ausgesprochenem Schweizbezug (Volksmusik, Regionalnachrichten), in analysierenden Sportsendungen, in allen Interviews und Diskussionen mit Deutschschweizern ausserhalb der Hauptnachrichten. In Gemeinde- und Kantonsparlamenten ist es meist üblich, die Voten im Dialekt abzugeben. Gleiches gilt im mündlichen Verkehr mit Behörden und Gerichten. Im eidgenössischen Parlament wird jedoch, aus Rücksicht auf die Französisch-, Italienisch- und Bündnerromanisch-Sprechenden, (Schweizer) Hochdeutsch gesprochen. Auch in schriftlicher Verwendung ist das Hochdeutsche auf dem Rückzug, wo es sich um die Privatsphäre handelt: E-Mails und SMS vor allem der jüngeren Generation Sprache der Chatrooms Kontaktanzeigen und Annoncen in Zeitungen. Überdies werden in den hochdeutsch geschriebenen Zeitungen (zum Teil sogar im Weltblatt «NZZ») in lokalem Zusammenhang immer öfter spezielle schweizerdeutsche Vokabeln verwendet (beispielsweise für , für , (Zürich)/ (Bern) für ) Viele Deutschschweizer haben also mangelnde Übung im mündlichen Gebrauch des Hochdeutschen; weit verbreitet ist die Ansicht, diese offizielle Nationalsprache sei eigentlich eine Fremdsprache. Hochdeutsch wird seit dem Ersten Weltkrieg wenig geschätzt und als fremd empfunden. Andererseits klingt Schweizer Hochdeutsch auch für viele Schweizer selbst schwerfällig und ungelenk. Hinzu kommen aufgrund geschichtlicher Ereignisse vorhandene Vorbehalte und Vorurteile gegenüber den Deutschen und den Österreichern und damit verbunden oft auch eine ablehnende Haltung gegen das Hochdeutsche. Dialektsprache wird somit auch bewusst als Abgrenzung benutzt. Allerdings können auch andere deutschsprachige Menschen von ausserhalb der Schweiz sie einigermassen gut verstehen. Dazu mag eine Eingewöhnungszeit nötig sein, in der man genau zuhört. Schweizerdeutsch ist durch die vorgenannten Faktoren zwar eher auf dem Vormarsch, andererseits durchläuft es seit einigen Jahrzehnten markante Veränderungen: Einerseits führen die massiven Migrationsbewegungen innerhalb des Landes zu einer Nivellierung hin zu Grossagglomerationsdialekten. Andererseits hat der Konsum deutscher Medien zu einem Eindringen vieler hochdeutscher Elemente geführt. Durch diese Entwicklungen driften passive und aktive Sprachkompetenz der Schweizer, was das Hochdeutsche angeht, auseinander. Sie verstehen geschriebenes und gesprochenes Hochdeutsch genauso gut wie die Einwohner Deutschlands, wenn man Aspekte der sozialen Schicht und der Ausbildung berücksichtigt. Aber es fällt den Schweizern zunehmend schwerer, sich selbst im Hochdeutschen gewandt auszudrücken. Gleichzeitig wird das Schweizerdeutsche immer mehr mit hochdeutschen Vokabeln und Ausdrücken gesprochen. Doch auch das Englische wird immer mehr in der Alltagssprache der Jugend verwendet. So verwendet man oftmals z. B. «dä Tescht isch easy gsi!» anstatt des üblichen (). Schweizerisches Idiotikon und Sprachatlas der deutschen Schweiz Das Schweizerische Idiotikon ist das Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache und erfasst den lebenden und historischen schweizerdeutschen Wortschatz (einschliesslich der Walsergebiete Oberitaliens), jedoch nicht die bairische Mundart Samnauns, die im Wörterbuch der bairischen Mundarten in Österreich beschrieben wird. Der dokumentierte Wortschatz umfasst die Zeitspanne von etwa 1300 bis in die Gegenwart des jeweiligen Bandes (also je nach Band spätes 19. bis frühes 21. Jahrhundert). Der Sprachatlas der deutschen Schweiz (SDS) erfasst und dokumentiert die alemannischen Mundarten der Schweiz einschliesslich der Walserdialekte Norditaliens mittels der dialektgeographischen Methode. Er gibt einen Sprachstand von etwa 1950 wieder. 2010 ist mit dem «Kleinen Sprachatlas der deutschen Schweiz» eine populärwissenschaftliche Kurzversion des Sprachatlasses erschienen. – Unter der Leitung von Elvira Glaser wird derzeit an der Universität Zürich der «Syntaxatlas der deutschen Schweiz» (SADS) erarbeitet, der die im SDS weitgehend ausgesparte Dialektsyntax zum Thema hat. Trivia In dem 1978 entstandenen Kinofilm Die Schweizermacher wird das Erlernen von Schweizerdeutsch als Bestandteil des Einbürgerungsverfahrens persifliert. Es kann vorkommen, dass Deutsche meinen, das von Schweizern mit ihrem Akzent gesprochene Hochdeutsch sei Schweizerdeutsch. Siehe auch Brandstettersches Gesetz Heuslersches Gesetz Notkers Anlautgesetz Staubsches Gesetz Ostschweizerische Vokalspaltung Schweizer Literatur#Mundartliteratur Literatur Weitere Literatur siehe auch in den Artikeln zu den einzelnen Dialekten und Dialektgruppen. Schweizerisches Idiotikon. Wörterbuch der schweizerdeutschen Sprache. 17 Bde. Huber, Frauenfeld 1881ff., ISBN 3-7193-0995-9, ISBN 3-7193-1199-6 (die Homepage verweist auf über fünfzig Regionalwörterbücher). Albert Bachmann (Hrsg.): Beiträge zur Schweizerdeutschen Grammatik. Bde. 1–20. Huber, Frauenfeld 1910–1941. (Lautlehren sowie mehrheitlich auch Formenlehren der Dialekte von Appenzell, Berner Seeland, Bündner Herrschaft, Entlebuch, Glarus, Jaun, Kesswil, Mutten, Obersaxen, Schaffhausen, Sensebezirk, St.-Galler Rheintal, Toggenburg, Uri, Urseren, Visperterminen, Wallis und Walserkolonien, Zürcher Oberland; alle digital zugänglich über Helveticat). Albert Bachmann: Sprachen und Mundarten. I. Deutsch. In: Geographisches Lexikon der Schweiz. Band 5. Gebrüder Attinger, Neuenburg 1908, S. 58–76. Ann Beilstein-Schaufelberger: Züritüütsch – Schweizerdeutsch. Lehrmittel mit 2 Hör-CDs und Lösungsschlüssel zu den Aufgaben, 2. A. 2007, ISBN 978-3-033-01173-1. Hans Bickel, Robert Schläpfer (Hrsg.): Die viersprachige Schweiz. Benziger, Zürich 1982; Aarau 2., neu bearb. Aufl. 2000, ISBN 3-545-36312-0; ISBN 3-7941-3696-9. Hans Bossard: Zuger Mundartbuch. Schweizer Spiegel, Zürich 1962. Helen Christen: Alemannisch in der Schweiz. In: Joachim Herrgen, Jürgen Erich Schmidt (Hrsg.): Sprache und Raum – Ein internationales Handbuch der Sprachvariation. Band 4: Deutsch (= Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Band 30.4). De Gruyter Mouton, Berlin/Boston 2019, ISBN 978-3-11-018003-9, S. 246–279. Christoph Merian Stiftung (Hrsg.): Neues Baseldeutsches Wörterbuch. Christoph Merian Verlag, Basel 2020, ISBN 978-3-85616-502-4. Eugen Dieth: Schwyzertütschi Dialäktschrift. Leitfaden einer einheitlichen Schreibweise für alle Dialekte. Zürich 1938; Reprint 1986, ISBN 3-7941-2832-X. Renate Egli-Wildi: Züritüütsch verstaa, Züritüütsch rede. Mundartlehrgang des Vereins Schweizerdeutsch, Gruppe Zürich. 108 Seiten, 2 CD. Küsnacht 2007, ISBN 978-3-033-01382-7. Ludwig Fischer: Luzerndeutsche Grammatik. Schweizer Spiegel, Zürich 1960; Nachdruck: Comenius, Hitzkirch 1989, ISBN 3-905286-32-7. Csaba Földes: Deutsch als Sprache mit mehrfacher Regionalität – Die diatopische Variationsbreite. In: Muttersprache. Wiesbaden 112.2002, 3, S. 225–239. , Werner Hodler: Berndeutsche Syntax. Francke, Bern 1969. Sprachatlas der deutschen Schweiz. Hrsg. von Rudolf Hotzenköcherle, fortgeführt und abgeschlossen von Robert Schläpfer, Rudolf Trüb und Paul Zinsli. 8 Bde. Franke, Bern/Basel 1962–1997, Abschlussband 2003; ISBN 3-317-01652-3, ISBN 3-7720-1999-4. Helen Christen, Elvira Glaser, Matthias Friedli (Hrsg.): Kleiner Sprachatlas der deutschen Schweiz. Huber, Frauenfeld 2010, ISBN 978-3-7193-1524-5. Rudolf Hotzenköcherle: Die Sprachlandschaften der deutschen Schweiz. Hrsg. von Niklaus Bigler und Robert Schläpfer unter Mitwirkung von Rudolf Börlin. Sprachlandschaften Bd. 1. Sauerländer, Aarau 1984, 1994. ISBN 3-7941-2623-8. Rudolf Hotzenköcherle: Dialektstrukturen im Wandel. Hrsg. von Robert Schläpfer und Rudolf Trüb. Sprachlandschaften Bd. 2. Sauerländer, Aarau 1986. ISBN 3-7941-2729-3. Rudolf Hotzenköcherle (Hrsg.): Beiträge zur Schweizerdeutschen Mundartforschung. Bde. 1–24. Huber, Frauenfeld 1949–1982 (Sammlung von wissenschaftlichen Darstellungen zu grammatischen und lexikalischen Fragestellungen; alle digital zugänglich über Helveticat). Isabelle Imhof: Schwiizertüütsch, das Deutsch der Eidgenossen. Kauderwelsch. Bd. 71. Reise Know-How, Bielefeld 1993, 2001, ISBN 3-89416-261-9. Guido Kalberer: DIALEKTisch – Was Dialekt ist. Dörlemann, Zürich 2011, ISBN 978-3-908777-69-4. Andreas Lötscher: Schweizerdeutsch. Geschichte, Dialekte, Gebrauch. Huber, Frauenfeld 1983, ISBN 3-7193-0861-8. Georges Lüdi: Die Sprachenlandschaft der Schweiz – Eidgenössische Volkszählung 1990. Bundesamt für Statistik, Bern 1997, ISBN 3-303-16041-4. Werner Marti: Berndeutsche Grammatik für die heutige Mundart zwischen Thun und Jura. Bern 1985. Peter von Matt: Deutsch in der Deutschen Schweiz. In: Peter von Matt: Das Kalb vor der Gotthardpost. Zur Literatur und Politik in der Schweiz. Carl Hanser Verlag, München, 2012, ISBN 978-3-446-23880-0, S. 127–138. Emanuel Ruoss, Juliane Schröter (Hrsg.): Schweizerdeutsch. Sprache und Identität von 1800 bis heute. Schwabe, Basel 2020, ISBN 978-3-7965-4035-6. August Wilhelm von Schlegel: Das schweizerische Deutsch. In: Sämmtliche Werke. Hrsg. von Eduard Böcking. Bd. 8, Leipzig 1846 (Nachdruck Hildesheim 1971), S. 161–165. () Rudolf Schwarzenbach: Die Stellung der Mundart in der deutschsprachigen Schweiz. Studien zum Sprachgebrauch der Gegenwart (= Beiträge zur schweizerdeutschen Mundartforschung. Band XVII). Huber, Frauenfeld 1969 (Digitalisat). Beat Siebenhaar, Alfred Wyler: Dialekt und Hochsprache in der deutschsprachigen Schweiz. (PDF; 132 kB) Pro Helvetia, Zürich 1997; 5. Auflage 1998, ISBN 3-908102-63-4. Stefan Sonderegger: Die schweizerdeutsche Mundartforschung 1800–1959. Bibliographisches Handbuch mit Inhaltsangaben. Huber, Frauenfeld 1962 (Beiträge zur schweizerdeutschen Mundartforschung VIII). Stefan Sonderegger: Aspekte einer Sprachgeschichte der deutschen Schweiz. In: Sprachgeschichte. Ein Handbuch zur Geschichte der deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2., vollständig neu bearb. und erw. Aufl. Band 3. Walter de Gruyter, Berlin / New York 2003 (Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft 2.3), S. 2825–2888. Franz Joseph Stalder: Die Landessprachen der Schweiz oder Schweizerische Dialektologie. Sauerländer, Aarau 1819 (S. 271–418 auch das Gleichnis vom verlorenen Sohn in Dutzenden von alemannischen, französischen, frankoprovenzalischen, lombardischen und bündnerromanische Mundarten aufführend). Emil Steinberger: Schwyzerdütsch mit The Grooves. digital publishing, München 2008, Audio-CD plus Textheft, ISBN 978-3-89747-722-3. Rudolf Suter: Baseldeutsch-Grammatik. Merian, Basel 1976; 1992, ISBN 3-85616-048-5. Albert Weber: Zürichdeutsche Grammatik. Schweizer Spiegel, Zürich 1948; Nachdruck: Rohr, ebd. 1987, ISBN 3-85865-083-8. Heinz Wolfensberger: Mundartwandel im 20. Jahrhundert. Dargestellt an Ausschnitten aus dem Sprachleben der Gemeinde Stäfa. Huber. Frauenfeld 1967 (Beiträge zur Schweizerdeutschen Mundartforschung; 14). Wörterbuch Schweizerdeutsch–Deutsch. Zweitausendeins, Frankfurt am Main 2005, ISBN 3-86150-558-4. Weblinks Schweizerdeutsch – 18 Fragen und Antworten Dialektwörterbücher – Liste schweizerdeutscher Dialektwörterbücher Audiobeispiele Schweizer Dialekte Schweizerdeutsche Dialektometrie dialektkarten.ch – Auswahl digitalisierter Dialektkarten aus dem Sprachatlas der deutschen Schweiz, mit interaktiver Weiterbearbeitung Das Chochichästli-Orakel – identifiziert Schweizer Dialekte anhand von zehn Wörtern mit hoher Treffsicherheit Wortgeschichten – hrsg. von der Redaktion des Schweizerischen Idiotikons. regionalsprache.de – mit Zugang auf eine Auswahl digitalisierter Dialektkarten des Sprachatlasses der deutschen Schweiz Beat Siebenhaar, Walter Vögeli: Mundart und Hochdeutsch im Vergleich – beschreibt den Dialekt im Kontrast zur Hochsprache (PDF, 60 KiB) Elvira Glaser: Ist das Schweizerdeutsche eine eigene Sprache? Sammlung Schweizerdeutscher Dialektwörter und -begriffe Einzelnachweise Alemannischer Dialekt
39297
https://de.wikipedia.org/wiki/Briefmarke
Briefmarke
Eine Briefmarke, in Deutschland amtlich Postwertzeichen, ist die Bestätigung eines postalischen Beförderungsunternehmens über die Zahlung des aufgedruckten Betrages. Sie wird meist in mehreren Exemplaren als Briefmarkenbogen auf Papier gedruckt, ist üblicherweise rechteckig und rückseitig mit einer Gummierung versehen oder selbstklebend. Beim Trennen aus dem perforierten Bogen entsteht die typische Zähnung an den Rändern. Bei der Inanspruchnahme der Beförderungsleistung oder einer anderen Leistung des Unternehmens, für die keine andere Zahlungsart zwingend vorgeschrieben ist, wird die Zahlung des Entgelts oder der Gebühr durch das Aufkleben der Briefmarke an der hierfür vorgesehenen Stelle nachgewiesen. Um eine erneute Benutzung zu verhindern, wird die Briefmarke regelmäßig mit einem Poststempel entwertet, wobei auch andere Entwertungsmethoden (etwa per Kugelschreiber) bis heute üblich sind. Die Verwendung von Briefmarken findet heute fast nur noch im Rahmen privat versendeter Poststücke statt. Bei der Frankatur von umfangreicher gewerblicher Post wurde sie in der Regel meist von der Freistempelung mittels einer Frankiermaschine und bei Großversendern durch DV-Freimachung verdrängt. Herausgeber der Briefmarken ist der Anbieter. Dieser ist in jedem Land unterschiedlich, z. T. sind dies staatliche Postverwaltungen sowie gegebenenfalls kommerzielle Dienstleister. In Deutschland werden Briefmarken der Deutschen Post AG – 1995 aus der früheren Behörde Deutsche Bundespost hervorgegangen – vom Bundesfinanzministerium herausgeben. Insgesamt haben bis heute über 1000 Regierungen oder Verwaltungen eigene Briefmarken herausgegeben. Geschichte Vorläufer Bevor die erste offizielle Briefmarke der Welt 1840 ausgegeben wurde, gab es zahlreiche Vorläufer. So schuf der Pächter der Pariser Stadtpost, Jean-Jacques Renouard de Villayer, bereits 1653 das Billet de port payé, einen briefmarkenähnlichen Gebührenstreifen aus Papier. Dieser Streifen musste in Ermangelung einer Klebefläche mit Klammer oder Faden am Brief befestigt werden. Erhalten gebliebene Exemplare dieser Billets sind gegenwärtig nicht bekannt. Auch im Vereinigten Königreich gab es vergleichbare Vorläufer. Das ab 1680 von der London Penny Post der Kaufleute William Dockwra und Robert Murray entwickelte System eines Einheitspreises für Lokalpost mit Freimachung durch Stempel war so erfolgreich, dass der Duke of York sein Postmonopol in Gefahr sah. Auf seine Beschwerde hin musste die London Penny Post nach nur zwei Jahren ihr Geschäft aufgeben; sie wurde in die General Post Office eingegliedert. Einige Briefe mit den dreieckigen Stempeln (englisch triangular postmarks) der London Penny Post sind in Archiven erhalten, vier Exemplare sollen sich in privatem Besitz befinden. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es in manchen Städten so genannte Stadtkuverts, die als Vorläufer gedruckter Briefmarken auf Umschlägen angesehen werden können. Im Königreich Sardinien gab es beispielsweise 1818 ein mit einem Stempel versehenes Postpapier (Carta postale bollata), wobei allerdings nicht die Beförderungsgebühr, sondern eine staatliche Steuer auf die Lizenzierung der als Ergänzung zur Staatspost privat betriebenen Postunternehmen bezahlt wurde; britischen Zeitungen beigelegte Rückantwortkarten waren um 1821 ebenfalls bereits frankiert. Das Königreich Griechenland verausgabte im Mai 1831 mit der Tesserakontalepton eine 40-Lepta-Gebührenmarke für den Transport von Poststücken von Athen nach Piräus. Als erste Ganzsachen gelten die 1838 im australischen Sydney ausgegebenen letter sheets. Entstehung Die Grundidee der Erfindung war, das Briefporto nicht mehr vom Empfänger einziehen zu lassen, sondern vom Absender. Damit war das erste „Prepaid-System“ (Vorauszahlung und anschließende Nutzung) geschaffen. Außerdem wurde damit eine Vereinfachung und Senkung des Briefportos verbunden, so dass ein Briefwechsel nicht mehr nur reichen Personen vorbehalten war. Bereits 1836 machte der Slowene Laurenz Koschier aus Laibach der österreichischen Regierung den Vorschlag der Einführung von Briefmarken zur Vereinfachung des Postwesens. Der schottische Buchhändler James Chalmers reichte 1838 einen ähnlichen Vorschlag ein. Diesen Vorschlag hat Sir Rowland Hill, der von der britischen Regierung 1835 mit der Reformierung des Postwesens betraut wurde, wahrscheinlich aufgegriffen und in seine Postreform miteinbezogen. Er gilt damit als Urheber der Briefmarke. Die erste aufklebbare Briefmarke wurde ab dem 1. Mai 1840 nach den Vorschlägen von Rowland Hill im Vereinigten Königreich herausgegeben und ab dem 6. Mai 1840 frankaturgültig (die erste Verwendung fand ein Exemplar allerdings schon am 2. Mai). Der Wert zu einem Penny wird in Sammlerkreisen als One Penny Black bezeichnet. Sie gilt als die erste Briefmarke der Welt. Rowland Hill war auch für das Motiv der ersten beiden Briefmarken verantwortlich. Für die Gestaltung wurden mehrere 1000 Entwürfe eingereicht, die ausnahmslos von ihm abgelehnt wurden. Die Zeichnung schaute sich Rowland Hill deshalb von einer Gedenkmünze aus dem Jahr 1837 ab, die ihm besonders gefiel. Der Wert zu einem Penny trägt das Porträt der Königin Victoria auf schwarzem Grund, der Wert zu zwei Pence auf blauem Grund. Der Stecher der ersten Briefmarken war Henry Corbald. Mit dem Druck wurde die Druckerei Perkins, Bacon Petch betraut. Verbreitung Bereits kurz nach der Ausgabe der ersten beiden Briefmarken der Welt folgten andere Länder nach. 1841 und 1842 erschienen in den USA einige Lokalmarken. 1843 erschienen weitere Briefmarken in Brasilien (Ochsenaugen) und in den beiden Schweizer Kantonen Zürich (Zürich 4 und Zürich 6) und Genf (Doppelgenf). Die erste deutsche Briefmarke war der Schwarze Einser, der am 1. November 1849 zusammen mit zwei weiteren Marken zu 3 Kreuzer und 6 Kreuzer vom Königreich Bayern herausgegeben wurde. Von der Marke zu 3 Kreuzer ist ein bereits am 31. Oktober verwendetes Exemplar auf einem Brief aus Deggendorf bekannt. 1850 folgten die deutschen Staaten Hannover, Preußen, Sachsen und die dänisch-deutschen Herzogtümer Schleswig und Holstein und 1851 Baden. Die ersten österreichischen Briefmarken wurden am 1. Juni 1850 herausgegeben. Sie hatten auch für Liechtenstein Gültigkeit, in dem die Post bis 1920 von Österreich betrieben wurde. Bald entstanden neue Briefmarkenarten, wie beispielsweise in Österreich 1851 die ersten Zeitungsmarken der Welt. Als die erste Sondermarke der Welt wird meist eine im April 1871 anlässlich der Eröffnung der ersten Eisenbahnstrecke in Peru verausgabte Briefmarke angesehen, aber nicht alle Historiker unterstützen diese Ansicht. Dennoch wurde immer mehr die Werbewirksamkeit von Briefmarken erkannt. Die erste nennenswerte Veränderung erfuhren Briefmarken in den 1850er-Jahren, als man in Großbritannien erstmals versuchsweise 1850 und endgültig ab 1854 dazu überging, die Briefmarken auf den Bögen durch Perforierungen voneinander zu trennen, um damit das Abtrennen wesentlich zu vereinfachen. Dadurch entsteht der typische Zahnrand von Briefmarken. Zuvor musste zum Trennen eine Schere benutzt werden. Rechtliche Funktion in Deutschland Früher Die Briefmarke hieß früher offiziell Postwertzeichen. Dieses Wort entstammt dem „hoheitlichen“ Wortschatz und lässt den geschichtlichen Hintergrund der Briefmarke in rechtlicher Sicht gut erkennen. Da sich alle Postverwaltungen in staatlicher Hand befanden oder auf einem staatlich verliehenen Monopol (teilweise mit anderen Namen, etwa bei Thurn und Taxis) beruhten, war man im öffentlichen Recht tätig. So regelte bei der Deutschen Bundespost bis zur Privatisierung die Postordnung als Rechtsverordnung das Verhältnis zwischen der Post und dem Postbenutzer („Postbenutzungsverhältnis“). Aus diesem Umstand resultiert auch die – noch – bestehende Besonderheit, dass die für die Beförderung verlangten mittlerweile privatrechtlichen Entgelte von der Umsatzsteuer (besser bekannt als Mehrwertsteuer) befreit sind. Diese Regelung gilt mittlerweile auch für andere Postunternehmen in Deutschland, soweit sie flächendeckend Universaldienste anbieten. Das Entgelt für die Briefbeförderung war zuvor eine öffentlich-rechtliche Gebühr. Mit der Benutzung der Briefmarke wies man durch Aufkleben nach, dass die vorgeschriebene Verwaltungsgebühr für die staatliche Beförderung bezahlt worden war. Als hoheitliche Gebührenmarken fielen die Briefmarken nicht unter das privatrechtliche Wertzeichenrecht gemäß § 807 BGB. Strafrechtlich wurde die Briefmarke von 1871 an im Reichs-Strafgesetzbuch als Urkunde verstanden und ihre Fälschung als Urkundenfälschung bestraft (§ 275 RStGB). In der Bundesrepublik Deutschland wurde die Briefmarke nicht mehr als Urkunde, sondern als geldähnliches „amtliches Wertzeichen“ eingestuft. Mit der Großen Strafrechtsreform 1975 wurde ihre Fälschung neu unter „Geld- und Wertzeichenfälschung“ geregelt (§§ 148, 149 StGB). Heute Bei Gründung der Bundesrepublik Deutschland 1949 waren Briefmarken eindeutig hoheitliche Wertzeichen. Da sie grundsätzlich auch als Geldersatz genutzt werden konnten, bestand die Deutsche Bundesbank zunächst darauf, dass Briefmarken nur eine begrenzte Gültigkeit haben dürfen, um den Geldumlauf kontrollieren zu können. Erst langsam wurde dieser Vorbehalt gelockert. Im Jahre 1964 erschien die erste Briefmarkenserie mit unbegrenzter Gültigkeit, während erst ab 1969 alle Briefmarken grundsätzlich unbefristet gültig blieben. Die Deutsche Reichspost hatte bereits infolge der Gründung des Europäischen Post- und Fernmeldevereins die zu diesem Zeitpunkt noch gültigen Freimarken sowie alle seit 16. Juni 1942 bis Kriegsende erschienenen Marken mit unbefristeter Gültigkeit ausgestattet. Dies wurde nach der Kapitulation obsolet. Auch in der DDR waren Briefmarken zunächst mit einer befristeten Geltungsdauer versehen. Diese Befristung wurde im Jahr 1965 rückwirkend zum 1. Januar 1964 aufgehoben, sodass alle ab 1964 erschienenen Marken unbefristet gültig blieben. Der Charakter der Briefmarken in der DDR war dem in der Bundesrepublik vergleichbar. Zum 1. Januar 1995 wurde die staatliche Deutsche Bundespost privatisiert, das heißt, sie wurde als Staatsinstitution aufgelöst und als Deutsche Post AG neu aufgestellt. Als privatwirtschaftliches Unternehmen ist sie nicht mehr im öffentlichen Recht tätig. Sie erbringt privatrechtliche Dienstleistungen gegen Leistungsentgelt. Der Erwerb einer Briefmarke ist nun ein normaler privatrechtlicher Kaufvertrag. Der Deutschen Post AG wurde das Recht zur Ausgabe eigener Briefmarken nicht mehr eingeräumt. Stattdessen wurde sie gesetzlich verpflichtet, die von ihr benötigten Briefmarken von der Bundesrepublik Deutschland zu beziehen. Die heutigen Briefmarken werden nach Weisung des Bundesministeriums der Finanzen hergestellt und an die Deutsche Post AG ausgeliefert ( Absatz 1 Satz 1 des Postgesetzes). Der Rechtscharakter der deutschen Briefmarken war lange Zeit unklar, die Rechtsliteratur in Deutschland zum zivilrechtlichen Rechtscharakter von Briefmarken ist uneinheitlich. Erst das grundlegende Urteil des BGH vom 11. Oktober 2005 hat für Klarheit gesorgt. Demzufolge sind Briefmarken „kleine Inhaberpapiere“ im Sinne des BGB. Um „kleine Inhaberpapiere“ handelt es sich immer dann, wenn der Aussteller des Papiers sich durch Leistung an den Inhaber befreien kann, der Inhaber die versprochene Leistung zu fordern berechtigt ist, und der Besitz der Urkunde zur Geltendmachung des Rechts erforderlich ist. Danach ergebe sich aus der allgemeinen Verkehrssitte bei Inhaberzeichen, dass die Briefmarke einen Anspruch auf Beförderung einer Postsendung in dem Umfang verkörpert, der dem aufgedruckten Wert entspricht. Die Post will die Beförderungsleistung gegenüber jedermann mit schuldbefreiender Wirkung erbringen, der gültige Briefmarken in Höhe des vorgesehenen Leistungsentgelts auf die jeweilige Postsendung klebt. Zu diesem Zeitpunkt dient die Briefmarke nur noch der Kontrolle, ob das für die konkrete Postsendung vereinbarte Leistungsentgelt im Voraus geleistet worden ist. Der Besitz der Briefmarke ist zur Geltendmachung des Beförderungsanspruchs erforderlich, sodass bei Verlust der Briefmarke keine Leistung von der Post verlangt werden kann. Die Schutzfunktion des BGB (Herausgabe des Inhaberpapiers an den Aussteller) wird durch die Entwertung der Briefmarke mittels Stempel erreicht. Strafrechtlich fällt ihre Fälschung nicht mehr unter die „Geld- und Wertzeichenfälschung“ nach §§ 146 ff. StGB, sondern ist einfache Urkundenfälschung gemäß § 267 StGB. Briefmarken sind damit strafrechtlich mit den Privatmarken der anderen Postunternehmen gleichgestellt. Weitere Privatmarken wurden mit dem Ende des so genannten „Briefmonopols“ der Deutschen Post AG am 1. Januar 2008 vermehrt herausgegeben. Briefmarken von Erbringern von Universaldienstleistungen sind in Deutschland nach Nummer 11b Satz 1 UStG umsatzsteuerfrei. Dies wurde in der Vergangenheit damit begründet, dass die Post eine bis 31. Dezember 2007 befristete Exklusivlizenz für Briefe unter 50 Gramm besaß und somit als einziges Unternehmen einen flächendeckenden Universaldienst anbieten musste. Nach dem Auslaufen der Exklusivlizenz und dem damit verbundenen Fall des Briefmonopols in Deutschland sind diese Voraussetzungen nicht mehr gegeben, trotzdem wurde das Steuerprivileg der Post bis 30. Juni 2010 beibehalten. Am 1. Juli 2010 fiel dieses im Geschäftsbereich, während gleichzeitig die Post-Konkurrenten im Privatkundenbereich von der Umsatzsteuer befreit wurden, sofern sie ihre Dienste flächendeckend anboten. Seit September 2008 kann das Briefporto bei der Deutschen Post AG auch über neue Vertriebswege erworben und beglichen werden. Beim sogenannten Handyporto wird nach Auftrag über das Mobiltelefon per SMS ein Zahlencode übermittelt, der anstelle der Briefmarke von Hand auf der Sendung einzutragen ist. Hingegen wird die sogenannte Internetmarke vom Kunden über das Internet erworben, elektronisch bezahlt, als maschinenlesbarer Barcode vom Kunden ausgedruckt und auf die Sendung geklebt beziehungsweise direkt auf den Briefumschlag gedruckt. Das Verfahren ähnelt dem Stampit-Dienst. Während bei der Internetmarke nur der übliche Portobetrag zu begleichen ist, kostet das Handyporto einen Aufpreis. Es muss angemerkt werden, dass beide keine Briefmarke im eigentlichen Sinn mehr sind, weil ihnen der Charakter der Gleichmäßigkeit – identische Stücke werden in größerer Auflage hergestellt – fehlt. Briefmarken werden Sammelobjekte Durch die rasend schnelle Ausbreitung der Briefmarke breitete sich auch die Philatelie immer mehr aus. Der Begriff Philatelist wurde im Jahre 1864 von dem französischen Sammler Georges Herpin geprägt. Er bedeutet übersetzt aus dem Griechischen „Freund dessen, was frei von Abgaben ist“. Obwohl dieses Wort die Sammelleidenschaft der Philatelisten nur denkbar schlecht beschreibt, setzte es sich in fast allen Sprachen durch. Briefmarken sind als Sammelobjekte weit verbreitet. Zunächst sammelte man nur aus Spaß die kleinen Postwertzeichen aus der Tagespost und verwendete sie beispielsweise zum Bekleben von Lampenschirmen, was die Sammelobjekte fast immer zerstörte. Erst langsam begannen sich einige Leute mit den Briefmarken genauer zu befassen. Für den damaligen Sammler war es selbstverständlich und auch möglich, so genannte „Generalsammlungen“ anzulegen. Dies bedeutet, dass der Philatelist alle Briefmarken der Welt in seine Sammlung aufnahm. Dies war später bei der Masse der verschiedenen Briefmarkenausgaben undenkbar. Mit der Zeit entstanden zahlreiche Hilfsmittel für den Philatelisten. Im Jahre 1860 erschienen die ersten Briefmarkenalben. Bereits ein Jahr später, 1861, entstanden die ersten Vorläufer der heutigen Briefmarkenkataloge. Im Jahr 1862 kam es zur Ausgabe der ersten philatelistischen Fachzeitschriften. Es handelt sich dabei um The Monthly Advertiser, der im Geburtsland der Briefmarke erstmals am 15. Dezember 1862 erschien. Die Briefmarkenzeitschriften förderten vor allem den Tausch von Briefmarken zwischen den Philatelisten. Außerdem berichteten sie über die Neuausgaben der ganzen Welt und informierten die Sammler über alles Wissenswerte der Philatelie. Neben den neuen Hilfsmitteln für den Philatelisten entstanden immer mehr Briefmarkenvereine und Veranstaltungen speziell für den Philatelisten. Bereits aus dem Jahre 1856 sind Treffen von Philatelisten in den USA bekannt. 1866 kam es dort zur Gründung der Excelsior Stamp Association, des ersten Briefmarkenvereins der Welt. Die steigende Zahl philatelistischer Vereine führte zu zahlreichen Zusammenschlüssen. In Deutschland ist dies heute der Bund Deutscher Philatelisten, in Österreich der Verband Österreichischer Philatelistenvereine. Erste Postfälschungen Die rasche Ausbreitung der Briefmarke hatte nicht nur positive Begleiterscheinungen. Immer mehr Fälscher erkannten das lukrative Geschäft von Briefmarkenfälschungen, den so genannten Postfälschungen. Bereits kurz nach der Einführung der ersten Briefmarke am 6. Mai 1840 in Großbritannien tauchten die ersten Ganzfälschungen von Briefmarken auf. Neben diesen Ganzfälschungen gab es jedoch auch zahlreiche Teilfälschungen von postgültigen Briefmarken. Dies bedeutet, dass nur Teile einer echten Briefmarke verändert wurden, um deren Postwert zu erhöhen. Zu ihnen gehören beispielsweise die Farbänderung durch chemische Mittel sowie die Manipulation der Wertziffern, um Briefmarken mit höheren Nominalwerten zu imitieren. Auch bereits gebrauchte Briefmarken wurden oft nochmals verwendet, indem aus zwei (oder mehreren) gebrauchten Stücken in mühevoller Handarbeit eine ungebrauchte Briefmarke zusammengebastelt wurde. Den Federzug oder den Poststempel versuchte man durch chemische Mittel zu entfernen. Außerdem konnten Briefmarken, von denen nur ein kleiner Teil mit einem Poststempel versehen war, gemeinsam mit einer Originalmarke verwendet werden, die genau diesen Teil verdeckt. Schon früh trafen Postverwaltungen verschiedene Schutzvorkehrungen, um ihre Briefmarken vor Fälschungen zu schützen. Die älteste Schutzmaßnahme gegen Postfälschungen ist das Wasserzeichen. Es kam bereits auf Anraten Rowland Hills bei den ersten Briefmarken der Welt zur Anwendung. Manche Länder verwendeten ein Faserpapier für ihre Briefmarken. Bei dieser besonderen Papierart wurden dem Papierbrei (oft verschiedenfarbige) Seidenfadenflocken hinzugefügt, die später im Papier sichtbar wurden. Bei manchen Briefmarkenausgaben wurde in die noch nasse Papiermasse ein farbiger Seidenfaden eingebettet. Diese Schutzmaßnahmen findet man beispielsweise bei den Briefmarkenausgaben der deutschen Staaten Bayern und Württemberg sowie in der Schweiz. Farbiges Papier sollte ebenfalls das Fälschen erschweren. Ist das Papier nur vorderseitig gefärbt, spricht man von gefärbtem Papier. Diese Schutzmaßnahme ist beispielsweise bei den ersten Briefmarken Bayerns zu finden. In Österreich wurde das Briefmarkenpapier mit glänzenden Lackstreifen versehen. Dies sollte das Entfernen von Poststempeln, um die Briefmarken erneut verwenden zu können, stark erschweren. Die Lackstreifen lösten sich teilweise mit dem Markenbild im Wasser (oder anderen Flüssigkeiten) auf. Höhepunkt der Briefmarke Zur Zeit der Jahrhundertwende um 1900, kurz vor dem Ersten Weltkrieg, erreichte die Verbreitung der Briefmarke ihren Höhepunkt. Der Brief war dank des stetigen Ausbaus der Eisenbahn zum wichtigsten Kommunikationsmittel geworden. Die Auflagenzahlen schossen in die Höhe. Die wichtigsten österreichischen Briefmarkenwerte zu fünf und zehn Heller aus dem Jahre 1908 hatten beispielsweise eine Auflagezahl von je über drei Milliarden (3.000.000.000) Stück. Diese Briefmarken konnten allerdings nur im österreichischen Teil des Kaiserreichs Österreich-Ungarn verwendet werden, da Ungarn seit dem Ausgleich 1867 eigene Briefmarken ausgab. Mit der Zeit entwickelte sich eine eigene Briefmarkensprache. Durch die Stellung der Briefmarke(n) auf dem Brief, beispielsweise verkehrt herum aufgeklebt und nach rechts geneigt, konnte man dem Briefempfänger geheime Botschaften, wie „Auf ewig dein“, überbringen. Mit der Zeit verschwand diese Form der geheimen Kommunikation jedoch wieder. Briefmarken als Propagandamittel Während des Ersten Weltkrieges entdeckte man die Briefmarke als Propagandamittel. Man unterscheidet zwei verschiedene Arten der Briefmarkenfälschungen kriegführender Staaten, die zur Schädigung des Feindes hergestellt werden. Bei Spionagefälschungen handelt es sich um möglichst genaue Imitation der gegnerischen Freimarken, die dazu verwendet werden, Propagandamaterial über Mittelsmänner durch die feindliche Post zustellen zu lassen. Sie werden deswegen Kriegspostfälschungen genannt (→ Postfälschung). Ein Kauf von einer großen Menge von Briefmarken von Privatpersonen wäre, vor allem während eines Krieges, dem Feind sofort aufgefallen. Bei Propagandafälschungen handelt es sich um die Fälschung der gegnerischen Briefmarken, wobei der Bildinhalt zu Propagandazwecken verändert wird (z. B. Inschrift „Deutsches Reich“ → „Futsches Reich“). Vor allem während des Zweiten Weltkrieges fand diese Art der Briefmarkenfälschung eine große Verbreitung. Während des Kalten Krieges wurden ebenfalls noch Propaganda- und Kriegspostfälschungen hergestellt. Dass Briefmarken ein Propagandamittel sind, wurde nicht nur von den jeweiligen Feinden eines Landes erkannt. Vor allem diktatorische Staaten wie das nationalsozialistische Deutsche Reich nutzten Briefmarkenmotive für ihre eigene Propaganda. Der Personenkult um Adolf Hitler wurde durch hohe Auflagen entsprechender Marken unterstützt. Vergleichbares findet man in Nordkorea um Kim Il-sung, in der ehemaligen Sowjetunion um Josef Stalin oder in Rumänien um Nicolae Ceaușescu. Personen mit Symbolfunktionen kommen aber auch außerhalb eines ausgeprägten Personenkults auf Briefmarken vor, wie z. B. Königin Elisabeth II. von Großbritannien, der Gründervater George Washington der USA oder der Philosoph Karl Marx, der eine wichtige Rolle unter anderem für das politische Selbstverständnis der DDR hatte. Die Sowjetunion räumte Motiven aus der Raumfahrt breiten Raum ein, da diese Briefmarken die technologische Überlegenheit und den damit verbundenen Führungsanspruch des Landes propagieren sollten. Im sogenannten Postkrieg waren Briefmarken mit propagandistisch empfundenem Inhalt mehrfach Beanstandungen durch andere Länder ausgesetzt. Briefmarken heute Seit zu Beginn des 20. Jahrhunderts Frankiermaschinen aufkamen, wurde den Briefmarken immer wieder ein rasches Ende vorausgesagt. Dennoch bleiben Briefmarken auch heute noch mindestens für Privatpersonen die bequemste Art, Postsendungen freizumachen. Jährlich werden weltweit mehrere Milliarden Marken verbraucht. Dies hängt stark von den örtlichen Zahlungsgewohnheiten ab: In Ländern wie den USA, wo es üblich ist, die monatlichen Rechnungen durch das Versenden von Schecks zu bezahlen, ist der Verbrauch ungleich höher als in Ländern, in denen die Überweisung vorherrscht. Nach Schätzungen des Bundes Deutscher Philatelisten tragen heute nur noch etwa 5 % der in Deutschland beförderten Briefe ein Postwertzeichen. Da der Verkauf von Briefmarken an Sammler für die Postverwaltungen ein gutes Geschäft ist, werden viele Sondermarken hauptsächlich für Sammler produziert, und die Postverwaltungen bemühen sich bei der Themengestaltung um populäre Themen wie „Fußball-WM“ oder „Oldtimer“. Einige Kleinststaaten produzieren gar Briefmarken hauptsächlich nicht zur eigentlichen Verwendung, sondern um mit ihrem Verkauf an Sammler einen nicht unwesentlichen Beitrag zum Staatshaushalt zu erwirtschaften (z. B. der Vatikanstaat, Liechtenstein, San Marino oder einige sehr arme Staaten der Dritten Welt). Die isländische Post hat hingegen am 29. Oktober 2020 ihre letzten Briefmarken-Ausgaben herausgegeben, bereits ein Jahr zuvor wurde die Philatelie-Abteilung am 31. Dezember 2019 geschlossen. In manchen Ländern werden seit einigen Jahren Briefmarken ausgegeben, bei denen statt des konkreten Werts ein Buchstabe als Wertangabe aufgedruckt wird. Dabei gibt es zwei Systeme: Meist kennzeichnet der Buchstabe eine bestimmte Versendungsart, z. B. Inlandsbrief. Die Marken bleiben bei Preissteigerungen unabhängig vom Kaufpreis für diese Versendungsform gültig. Dieses Phänomen gibt es auch in Staaten mit einer hohen Inflationsrate, um bei steigender Geldentwertung nicht immer neue Marken drucken zu müssen. Gerade bei den ersten Marken mit Buchstaben der US-Post kennzeichnet der Buchstabe lediglich einen bestimmten Wert, bei einer Preissteigerung musste also die Differenz ergänzt werden (z. B. 1991 bei der Steigerung von 25c=E auf 29c=F mit einer speziellen Ergänzungsmarke). Moderne Vermarktung Von 2001 bis 2011 war es in Deutschland möglich, sog. Digitalmarken mit der Frankiersoftware Stampit aus dem Internet zu laden und auszudrucken. Durch die Postreform mit der einhergehenden Aufweichung des Briefmonopols ist es auch für private Unternehmen möglich, Briefmarken herauszugeben. 2003 führten die niederländische und die finnische Post (letztere zunächst nur für Firmenkunden) erstmals Briefmarken ein, die von den Kunden selbst gestaltet werden können. Dabei wird ein Foto, eine Grafik oder ein Logo in einen vorgegebenen Rahmen gedruckt. In Österreich kann man seine eigenen Briefmarken (sogenannte personalisierte Briefmarken) seit 2003 mit einer Mindestauflage von zunächst 200, seit 2005 von nur noch 100 Stück drucken lassen. Mittlerweile ist in den USA ein vergleichbares Programm verfügbar, hier beträgt die Mindestauflage sogar nur 20 Stück. In Deutschland bietet die Deutsche Post seit dem 1. Februar 2008 ihren Kunden mit dem Service „Plusbrief individuell“ die Möglichkeit, ihre Privat- oder Geschäftspost mit einer eigenen Briefmarke zu frankieren, ab einer Mindeststückzahl von 20 Stück für z. Zt. 32,33 Euro. Über das Internetportal kann man ein eigenes Motiv hochladen und die fertigen Kuverts werden einem nach Hause geschickt. Seit 2009 sind in Deutschland auch individuell gestaltete Briefmarken erhältlich. Diese können über das Programm „Marke Individuell“ der Deutschen Post bestellt werden. Hier können sowohl von Firmen als auch von Privatpersonen eigene Motive eingereicht werden, welche nach Freigabe sowohl auf Bogen als auch auf Rolle produziert werden. Derzeit werden über dieses Programm ausschließlich selbstklebende Marken in Auflagen von 20 bis 10.000 Stück hergestellt. In besonderen Fällen kann ein Praxistest erforderlich sein, welcher mit mindestens 150 frankierten Briefen in einem Briefzentrum durchgeführt wird. Der erfolgreiche Abschluss wird durch eine Zertifizierung bestätigt. Ein weiterer Online-Service zum Kauf von Brief- und Paketmarken ist die Internetmarke. Hier gibt es keine Mindeststückzahl. Briefmarken können mit vielen Motiven aus einer Bildergalerie persönlich gestaltet und sofort ausgedruckt werden. Im Dezember 2020 hat die Deutsche Post die sogenannte mobile Briefmarke eingeführt: Die Briefe werden mit einem Code frankiert, der mit #PORTO beginnt. Die Schweiz gab am 6. September 2005 weltweit erstmals vier Briefmarken heraus, die Fotos zeigen, die mit Mobiltelefonen aufgenommen wurden. Diese Fotos konnten von der gesamten Bevölkerung per MMS eingereicht werden. Per 2013 wurde die SMS-Briefmarke eingeführt. Österreich führte 1988 erstmals Briefmarken mit aufgedruckter Hologrammfolie ein. Diese Gestaltungsform ist aufgrund des technischen Herstellungsaufwandes eine Randerscheinung, die für hohe Nominale und besondere Anlässe verwendet wird. Weltweit sind seit 1988 etwa 120 verschiedene Ausgaben erschienen, die ein eigenes Sammelgebiet darstellen. Ebenfalls in Österreich wurde zur UEFA EURO 2008 erstmals eine neue Art Briefmarke mit Wackelbild herausgebracht. Sie zeigt den 6-sekündigen Torschuss von Andreas Herzog im Jahr 1997. Das Bild auf der Marke wird somit zum Kurzfilm. Der Preis liegt aufgrund der hohen Herstellungskosten bei 5,45 €. Im selben Jahr erschien ein 3D-Lentikularbild der Venus von Willendorf mit Nominale 3,75 €. Am 2. Januar 2010 hat die Deutsche Post mit den Wohlfahrtsmarken „Obst“ erstmals in Deutschland sogenannte Duftmarken ausgegeben, die beim Reiben über die Briefmarke den Geruch der abgebildeten Frucht freisetzen. Bereits 1973 hatte das Königreich Bhutan einen Sondermarkensatz herausgegeben, der mit duftenden Farben bedruckt war und anlässlich der 400-Jahre-Feier der Schokoladenhersteller in Bayonne erschienen in Frankreich am 23. Mai 2009 Briefmarken mit Schokoladenduft, was durch in der Druckerfarbe inkorporierte Mikrokapseln erreicht wurde. Im Jahr 2022 kündigte die Royal Mail an, ihren Briefmarken sogenannte DataMatrix-Codes, über die Videos, Nachrichten und andere Informationen ausgetauscht werden können, beizufügen. Charakteristische Merkmale und Gestaltung Form Die ursprüngliche Form der Briefmarke war rechteckig, wobei stehende Rechtecke häufiger als liegende waren. Rechteckige Briefmarken ergeben eine ideale Anordnung auf dem Bogen. Quadratische Briefmarken als Sonderform des Rechtecks sind eher selten zu finden. Von der ungarischen Post wurden häufig auf der Spitze stehende quadratische Briefmarken herausgegeben. Neben den klassischen Vierecken tauchen schon früh Briefmarken in Dreiecksform auf; die bekanntesten Vertreter dieser Gattung stammen vom Kap der Guten Hoffnung. Von zahlreichen Ländern wurden in den letzten Jahrzehnten Briefmarken in verschiedensten Formen ausgegeben, wobei runde Marken – etwa bei Marken mit Fußballmotiven – vergleichsweise häufig vertreten sind. Sie sind jedoch schwieriger zu zähnen und aus dem Bogen zu trennen als Rechtecke oder Dreiecke und werden daher meist im Rahmen eines Briefmarkenblocks ausgegeben. Sierra Leone und die Tonga-Inseln sind unter Sammlern bekannt für ihre speziellen Briefmarkenformen, die unter anderem die Form von Wappen, Obst, Vögeln, Landkarten, Pergamentrollen oder Kokosnüssen haben. La Poste in Frankreich gab bereits mehrere Marken in Herzform heraus. Beliebt sind auch Zusammenstellungen von Marken in Blockform und in Markenheftchen. Zähnung Die Zähnung ist heute die modernste Art der Perforation von Briefmarken. In den ersten Jahren ihrer Geschichte wurde sie manchmal noch schlecht ausgeführt. Heute ist sie jedoch in der ganzen Welt verbreitet und zu einer charakteristischen Eigenschaft der Briefmarke geworden. Die ersten Briefmarken der Welt hatten noch gar keine Zähnung. Der Postbeamte musste sie noch mit einer Schere aus dem Bogen schneiden. Der Brite Henry Archer dachte jedoch über eine bessere Trennungsmöglichkeit als die Schere nach. Zunächst konstruierte er eine Durchstichmaschine. Diese funktionierte durch die Verwendung von kleinen Messern, die eng nebeneinander angeordnet waren und in das Briefmarkenpapier zwischen den Marken in regelmäßigen Abständen kleine Schnitte ritzte. Die ersten durchstochenen Briefmarken der Welt erschienen 1848 versuchsweise an den Postschaltern. Henry Archer war jedoch noch nicht vollends mit seiner Maschine zufrieden. Er verbesserte sie immer mehr und ersetzte die feinen Messer bald durch Lochstifte. Dieses neue System der Briefmarkentrennung fand bald auch bei den Postbeamten großen Anklang. Nachdem die ersten gezähnten Briefmarken in Großbritannien ausgegeben wurden, folgten zahlreiche andere Postverwaltungen mit dieser Innovation nach. Viele Länder gehen immer mehr von der herkömmlichen Anordnung der Briefmarken im Bogen zu Rollenmarken über. Bei ihnen muss eine seitliche Zähnung nicht zwingend vorhanden sein. Gummierung Die Gummierung wird rückseitig auf die Briefmarken aufgetragen, damit die Marke durch Anfeuchten der Schicht auf einen Brief geklebt werden kann. Aus technischen Gründen wird die Gummierung heute im Allgemeinen vor dem Druck der Briefmarken auf den leeren Bogen aufgetragen; dies erfolgt im Normalfall maschinell. In der Anfangszeit wurden die Briefmarken dagegen oftmals erst nach dem Druck gummiert. Solange dafür keine Maschinen eingesetzt wurden, geschah dies per Hand mit einem Pinsel. Hauptbestandteile der Gummierung sind heutzutage vor allem Kunststoffe. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um Polyvinylalkohol (PVA), ein synthetisches Polymer auf Kohlenstoffbasis. Zunächst wurden vor allem tierische Leime verwendet, etwas später auch pflanzliche Stoffe, wie Dextrin oder Gummi arabicum. Manche Postverwaltungen experimentieren mit Briefmarken auf selbstklebender Kunststofffolie. In den USA z. B. werden heute bereits ausschließlich selbstklebende Marken ausgegeben. In den meisten anderen Ländern wird jedoch die Gummierung verwendet. Es gab auch zahlreiche Bemühungen, den Geschmack der Gummierung zu verbessern. Die Deutsche Bundespost experimentierte mehrfach, beispielsweise in den Jahren 1955 und 1956 sowie Anfang der 1980er Jahre mit einer Gummierung mit Pfefferminzgeschmack, später wurde auch die Geschmacksrichtung Waldmeister erprobt. Mittlerweile erfolgt die Gummierung regelmäßig mit einer Mischung, die weniger feuchtigkeitssaugend ist und damit das Verkleben und Welligwerden des Papiers vermindert. Material Das häufigste Material, auf welches Briefmarken gedruckt werden, ist ein speziell für den Druck von Briefmarken hergestelltes Papier. Dieses Briefmarkenpapier muss qualitativ sehr hochwertig sein, da es den drucktechnischen Anforderungen entsprechen muss, sicher gegenüber Fälschungen sein muss, sowie bei den einzelnen Auflagen nicht voneinander unterscheidbar sein soll. Dies ist vor allem in Krisenzeiten nicht immer möglich. Heutzutage wird meistens Briefmarkenpapier mit Lumineszenzkörper verwendet. Man unterscheidet fluoreszierende, phosphoreszierende sowie Briefmarkenpapiere mit optischem Aufheller. Die Lumineszenzkörper dienen als Schutz vor Fälschungen sowie zur Aufhellung des Briefmarkenpapiers und werden von automatischen Stempelmaschinen als Erkennungszeichen für die Position der zu stempelnden Briefmarke verwendet, gleichzeitig ist so die richtige Lage der Briefe für maschinelle oder manuelle Anschriftenlesung und Codierung gewährleistet. Phosphoreszenz (Nachleuchten bei Dunkelheit) ist relativ selten, aber zum Beispiel bei finnischen Briefmarken die Regel. Von einigen Postverwaltungen werden jedoch manchmal andere Materialien wie Holz oder Stoff verwendet. Diese beiden Beispiele wurden von der Schweizer Post verausgabt und dienen ausschließlich dem Verkauf an Sammler. Bhutan, das seit 1955 eigene Briefmarken herausgibt, präsentierte gar Briefmarken in Form von echten, 68 bis 100 mm großen, einseitig abspielbaren Schallplatten. Die DDR emittierte 1963 einen Block auf Dederongewebe. Das Königreich Burundi gab zum dritten Jahrestag seiner Unabhängigkeit verschiedene Briefmarken auf Goldfolie aus. Die Deutsche Bundespost gab in ihrer Reihe der Wohlfahrtsmarken 1999 zwei Briefmarken mit aufgeklebter Hologrammfolie heraus. 2003 kam in Italien eine Briefmarke auf Jeansstoff gedruckt heraus, 2004 brachte die Schweizer Post eine Briefmarke auf Holz heraus. Auch gestickte Briefmarken wurden seit den frühen 2000er Jahren von der Italienischen, der Schweizer und der Österreichischen Post produziert. Österreich gab 2008 zwei Briefmarken mit besonderen Materialien heraus: Zur Fußball-Europameisterschaft 2008 eine runde Briefmarke aus dem Kunstleder, aus dem auch die Fußbälle hergestellt wurden und ein Lentikularbild („Wackelbild“ mit 3D-Effekt) aus Kunststoff der Venus von Willendorf. In der Sowjetunion wurden zwei Briefmarken mit Raumfahrtmotiven aus dem Jahr 1965 auf Aluminium gedruckt. Opakes Briefmarkenpapier blieb jedoch bis heute das einzig zweckmäßige Material für Briefmarken. Gestaltung und Druck Die Motive von Briefmarken sind eine willkommene Möglichkeit zur Selbstdarstellung der Länder, die diese ausgeben. Deshalb trägt die Briefmarke neben dem Wert und der Herkunftsbezeichnung zumeist auch ein künstlerisches Motiv. Die in frühen Jahren häufig verwandten Bildnisse von Monarchen werden zunehmend durch interessante Darstellungen aus den Bereichen Kultur, Flora und Fauna, Technik, Sport, Bauwerke, Kunst sowie wichtiger Persönlichkeiten und aktueller Ereignisse abgelöst. In Deutschland werden Postwertzeichen durch das Bundesministerium der Finanzen unter Mitwirkung eines Kunst- und eines Programmbeirates für die Deutsche Post AG herausgegeben. Der vom Künstler eingereichte Entwurf muss in sechsfacher Vergrößerung erstellt sein, damit Details genauer erkennbar sind. Da es sich bei Briefmarken nicht um amtliche Werke handelt, unterliegen sie dem Urheberrechtsschutz. Ihr Urheberrecht liegt bei der jeweiligen Postverwaltung. Eine Abbildung der betroffenen Briefmarken ist meist trotzdem möglich. Handelt es sich dabei allerdings nicht um die Abbildung der ganzen Briefmarke als solcher, sondern vordergründig um die Abbildung des Motivs oder bestimmter Teile des Motivs, so könnte in diesem Falle das Urheberrecht des Entwerfers des Briefmarkenmotivs tangiert sein. Das Abbilden von Briefmarken in Büchern oder auf Internetseiten tolerieren die einzelnen Postverwaltungen der Welt in unterschiedlichem Maß. Während die Postverwaltung der Färöer beispielsweise eine unveränderte Abbildung ihrer Briefmarken erlaubt, ist eine Abbildung bei deutschen Briefmarken nur unter bestimmten Einschränkungen zulässig. So muss die abgebildete Briefmarke entweder mindestens 25 % größer oder 10 % kleiner als das Original sein oder einen Abdruck eines schrägen schwarzen Balkens über eine ihrer Ecken tragen. Die zuletzt genannte Methode wird von den meisten Postverwaltungen der Welt anerkannt. Beim Druck der Briefmarke wird vor allem auf eine qualitativ hochwertige Umsetzung der Entwürfe geachtet. Heutzutage kommen dabei zahlreiche verschiedene Drucktechniken zur Verwendung. Oft werden kombinierte Druckverfahren verwendet. Der Druck erfolgte früher mit Druckerpressen unter hohem Druck, dabei konnte es zu Brüchen des Papiers um das Druckbild kommen. Der Philatelist spricht dann vom sogenannten Bayernbruch. Am 9. September 2004 gab die Deutsche Post eine Sondermarke zum 50-jährigen Jubiläum des Bundessozialgerichtes heraus, die in aufwändigem Prägedruck hergestellt wurde. Am 2. März 2006 folgte eine Marke, die erstmals einen für Blinde geprägten tastbaren Schriftzug („Mit Händen sehen“) und die Wertangabe (55 Cent) in Brailleschrift enthielt. Vor der endgültigen Druckanordnung werden meist einige Probedrucke angefertigt. Trotz der zahlreichen Kontrollen und Probedrucken kommt es immer wieder zu kleineren Fehldrucken, wie die Verschiebung eines Druckganges. Diese kleinen Abarten sind meist nur für den Philatelisten interessant. Größere Fehler, wie eine falsche Farbe oder ein falsch herum eingesetztes Mittelstück, findet man nur sehr selten. Zu den berühmtesten Fehldrucken der Welt zählen vor allem die Tre Skilling Banco aus Schweden, von der nur ein Exemplar bekannt ist, und die US-amerikanische Inverted Jenny von 1918. Es gibt nicht nur Kunstwerke, die auf Briefmarken reproduziert werden oder künstlerische grafische Entwürfe, die auf ihnen abgebildet sind, sondern vielmehr auch Kunstwerke, die aus Briefmarken angefertigt sind. Überdruck Briefmarken mit zusätzlicher Überdruckung wurden herausgegeben um etwa in Zeiten starker Inflation kostensparend den Nennwert anzupassen. Häufig ist die Farbe des korrigierenden Aufdrucks schwarz, mitunter wird der ursprüngliche Wert mit einem separaten Balken durchgestrichen oder überdeckt. Überdrucke kamen auch vor, wenn neue Staatsgebilde oder -gebiete mit neuen Bezeichnungen auftraten. Die Österreichische Post ließ 2019 eine vierfarbige (blau (Mitgliedsländer), hellblau (GB), gelb, schwarz) Brexit-Sonderbriefmarke, die den ursprünglich geplanten Austrittstermin „29.3.2019“ anführt, nach einem Entwurf von Anita Kern drucken. Großbritanniens Austritt wurde verschoben. Per schwarzem Überdruck wurde das schwarze Datum daher auf der Marke korrigiert: Der ehemalige Datumswert wurde zart horizontal durchgestrichen, unmittelbar darunter folgt der letztlich geltende Wert „31.1.2020“, der Tag an dem die Marke dann erstmals ausgegeben wurde. Deutsche Bundesdruckerei Die Herstellung von Briefmarken ist seit mehr als 100 Jahren ein traditionelles Tätigkeitsgebiet der Bundesdruckerei (vorher: Reichsdruckerei). Der Herausgeber von deutschen Postwertzeichen ist heute das Bundesministerium der Finanzen (früher das Bundesministerium für das Post- und Fernmeldewesen), das unter anderem die Bundesdruckerei befugt, Briefmarken herzustellen. In der Bundesdruckerei werden fast alle deutschen und auch zahlreiche ausländische Briefmarken hergestellt. Andere Druckereien, die im Auftrag des Bundesministeriums der Finanzen Briefmarken herstellen, sind unter anderem Giesecke+Devrient Wertpapierdruckerei Leipzig GmbH und Bagel Security-Print GmbH & Co. KG in Mönchengladbach. In der Gründungsphase des Vorläufers der heutigen Bundesdruckerei (1879) produzierten die kaiserlichen Drucker jährlich rund 600 Millionen Freimarken. Heutzutage liefern die hochmodernen Druckmaschinen rund vier Milliarden Wertzeichen pro Jahr. Es wird größter Wert darauf gelegt, dass die nummerierten und perforierten Briefmarken von „makelloser Qualität“ sind. Entdecken die Kontrolleure eine minimale Farbabweichung oder eine Unregelmäßigkeit an den Rändern, so werden diese als „Fehldrucke“ klassifiziert und vernichtet. Da bei dem Briefmarkendruck eine hohe Akribie an den Tag gelegt wird, sind Fehldrucke rar und bei Briefmarkensammlern umso begehrter. Trotz der vielen Kontrollen und der Sorgfalt ist es erstaunlich, dass noch immer Fehldrucke zur Auslieferung kommen. Oft handelt es sich bei den Fehlern aber um minimale Abweichungen wie etwa einen Punkt im Druckbild, die mit bloßem Auge kaum oder gar nicht zu erkennen sind. Verkauf und Präsentation Briefmarken werden einzeln oder in Einheiten an Postdienststellen oder an postamtliche Verkaufsstellen, wie etwa ausgewählte Postagenturen, verkauft. Für Sammler gibt es jedoch besondere Verkaufsformen. Mit einem Sammelabonnement erhält der Briefmarkensammler monatlich oder quartalsweise die neu erschienen Briefmarkenausgaben zugeschickt. Oft ist es auch möglich, gestempelte Briefmarken zu bestellen. Briefmarkenabonnements sind vor allem für Sammler von Briefmarken „exotischer“ Länder nützlich. Nur für philatelistische Sammelzwecke werden am Erstausgabetag in einigen Ländern sogenannte Ersttagsbriefe angeboten. Das sind besonders gestaltete, auf den Ausgabeanlass hinweisende Schmuckumschläge, mit einer durch einen Ersttagsstempel und meist zusätzlich mit einem anlassbezogenen Sonderstempel entwerteten Briefmarke. Eine ähnliche Funktion erfüllen die mit zusätzlicher Motivbeschreibung der Briefmarken versehenen Ersttagsblätter. Mit dem Erwerb einer Jahreszusammenstellung erhält der Philatelist alle Briefmarken eines Jahres aus einem bestimmten Land. Daneben gibt es noch zahlreiche andere Verkaufs- und Präsentationsformen wie beispielsweise Ministeralben. Ein sehr beliebtes Datum der Postwesen zur Ausgabe und Präsentation neuer Briefmarken ist der Tag der Briefmarke. Dieser wird von zahlreichen Ländern der Welt jährlich begangen. Zum ersten Mal fand der Tag der Briefmarke im Dezember 1935 in Österreich statt. In Deutschland begeht man den Tag der Briefmarke seit 1948 jedes Jahr am letzten Sonntag im Oktober, in der Schweiz meist im Dezember, in Österreich meist im Mai. Preisentwicklung Die Preise für eine Standardsendung bei der Deutschen Post steigen anhaltend. Von 2012 bis 2019 betrug die Preissteigerung etwa 45 %. Zum ersten Januar 2022 hat die Deutsche Post die Portokosten erneut angehoben, ein Standardbrief von bis zu 20 Gramm Gewicht kostet jetzt 0,85 € und das Versenden einer Postkarte 0,70 €. Briefmarkenarten Heute gibt es viele verschiedene Briefmarkenarten. Schon bald nach der Einführung der Briefmarke wurden immer mehr Verwendungszwecke für sie gefunden. Die wichtigsten Briefmarkenarten sind: Freimarken Die Freimarke ist die älteste und häufigste Form der Briefmarke. Freimarken dienen zur Bezahlung der Beförderungsgebühren der Post. Freimarken gliedern sich in drei verschiedene Arten: Dauermarken sind Freimarken, die von der Post einen längeren Zeitraum lang in unbegrenzter Stückzahl ausgegeben werden. Dauermarken sind stets in allen wichtigen Portostufen erhältlich, die zusammen einen einheitlichen Dauermarkensatz bilden. In den meisten Fällen sind diese Marken weniger farbenprächtig als Sondermarken. In Deutschland werden Dauermarken entweder in Bogenform und in Rollenform abgegeben oder in Markenheftchen, die zum Teil ungezähnt waren. Sondermarken oder Gedenkmarken sind Freimarken, die zu einem besonderen Anlass ausgegeben werden. Nachdem die peruanische Post 1871 die ersten Sondermarken anlässlich der Eröffnung der ersten Eisenbahnlinie Perus zwischen Lima und Callao veröffentlicht hatte, zogen zahlreiche Staaten mit der Ausgabe dieser Marken nach. Viele Länder nutzen heutzutage Sondermarken als willkommene Selbstdarstellung. Insbesondere Kleinstaaten erwirtschaften mit der Ausgabe von Sondermarken beliebter Motive einen nicht unwesentlichen Anteil für die Staatskasse. (Wobei der mehr oder weniger propagandistische Aspekt nicht zu unterschätzen ist. So kamen Sondermarken in Deutschland bei der Kgl. Bayerischen Post 1911 zum Regentschaftsjubiläum des Prinzregenten Luitpold und bei der Reichspost 1919 für die Kriegsgeschädigtenhilfe und zur Eröffnung der Weimarer Nationalversammlung auf. Und auch heute ist die Selbstdarstellung eines Landes per Briefmarken nicht gering.) Sondermarken werden vor allem für Sammler hergestellt, da sie postalisch eigentlich nicht notwendig sind. Echte, mit Sondermarken frankierte Briefe, findet man daher viel seltener als Briefe mit Dauermarken. Manchmal werden Sondermarken teurer als ihr Nominalwert von der Post verkauft. Der Philatelist spricht von einem „Aufschlag“ oder „Zuschlag“. Meistens dient der Aufschlag wohltätigen Zwecken, wie bei den so genannten Wohlfahrtsbriefmarken aus Deutschland, aber es werden auch andere förderungswürdige Unternehmungen damit finanziert (Ausstellungen, Vereinigungen, …). Sondermarken erscheinen als Bogenmarke und in Markenheftchen. Automatenmarken: Eine Besonderheit unter den Freimarken stellen die Automatenmarken dar. Diese werden über Briefmarkenautomaten, die sich meist vor dem Postamt befinden, vertrieben. Meist ist es möglich, beliebige Werte in bestimmten Stufen auszudrucken. Dienstmarken Dienstmarken sind Briefmarken, die ausschließlich von Behörden, Dienststellen oder Ämtern zum Frankieren von Postsendungen der Dienstpost verwendet werden. Sie werden daher nicht am normalen Postschalter verkauft und sind auch nicht für den normalen Postverkehr zugelassen. Ein Diebstahl und Missbrauch von Dienstmarken kommt daher selten vor. Immerhin sind von der Danziger Post mehrfach unbeanstandete Verwendungen durch Privatpersonen bekannt. Auch die häufigen Überfrankaturen zu Lasten der Staatskasse, die zumindest ab den 1930er Jahren bei der Reichspost offensichtlich philatelistisch motiviert waren, sind als missbräuchlich anzusehen, wobei allerdings auch sehr oft Unkenntnis der Gebührensätze oder Unachtsamkeit die Ursache waren. Flugpostmarken Flugpostmarken dienen zur Bezahlung der Beförderung per Luftpost. Manchmal werden sie daher auch Luftpostmarken genannt. Manche Flugpostmarken konnten ausschließlich für Luftpost verwendet werden und durften nicht auf normale Briefe geklebt werden. Die deutschen amtlichen waren von Anfang an jedoch auch für alle anderen Postdienste zugelassen und die Mehrzahl der anderen Länder folgte dem früher oder später. Die meisten Staaten der Welt entschlossen sich zur Ausgabe eigener Flugpostmarken, da die Postbeförderung mittels Flugzeug zu Beginn und Mitte des 20. Jahrhunderts eine große Besonderheit darstellte, der so Rechnung getragen wurde. Deutschland führte seine ersten halbamtlichen Flugmarken bereits 1912 ein. Diese wurden in Zusammenarbeit mit und mit Genehmigung der Reichspost bzw. Kgl. Bayerischen Post von privaten Institutionen verausgabt. Diese Zeit bis 1914 wird als Pionierflugperiode bezeichnet. Die ersten amtlichen deutschen Flugpostmarken erschienen in der zweiten Oktoberhälfte 1919 (ein bestimmtes Ausgabedatum wurde nicht festgesetzt). In Österreich wurden während des Ersten Weltkrieges, am 30. März 1918, die ersten Flugpostmarken verausgabt. Die Schweiz verausgabte wie Deutschland 1913 eigene halbamtliche Pionierflugmarken, amtliche Flugpostmarken ab 30. April 1919. In den meisten europäischen Staaten wurden Flugpostmarken nach dem Zweiten Weltkrieg wieder abgeschafft. Gewöhnliche Freimarken konnten nun zur Frankierung von Flugpostbriefen dienen. In Deutschland waren diese von Beginn der amtlichen Flugpost am 6. Februar 1919 an hierfür zugelassen, bis Oktober 1919 sogar nur solche. Die Einführungsverordnungen im Amtsblatt der Reichspost empfahlen nur die Verwendung von Flugpostmarken für die Bezahlung des Luftpostzuschlags, schrieben sie aber nicht zwingend vor. Markwerte der Serien ab 1924 wurden sogar an Paketschaltern auf Paketkarten aufgebraucht. Portomarken Siehe auch Nachgebühr. In vielen Ländern werden und wurden eigene Nachportomarken für die Verrechnung des Nachportos für unzureichend frankierte Briefe ausgegeben. Sie werden vor der Zustellung des Briefes von einem Postbeamten aufgeklebt und bei der Auslieferung vom Postboten verrechnet. In Österreich wurden Portomarken erstmals 1894 ausgegeben. Sie wurden erst mit der Einführung des Euro im Jahre 2002 abgeschafft. Deutschland verausgabte nie eigene Portomarken. Nur die damals noch über eine eigene Posthoheit verfügenden Länder Baden (1862–1871) und Bayern (1862–1910) verausgabten eigene Portomarken. Außerdem wurden nach dem Anschluss Österreichs dessen Portomarken noch bis zum 31. Oktober 1938 dort, jedoch nicht im übrigen Reichsgebiet verwendet, ebenso nach der Wiedereingliederung Danzigs die der ehemaligen Freien Stadt dort bis 31. Oktober 1939. Eine weitere Ausnahme sind die Portomarken des Protektorates Böhmen und Mähren (1939–1943). Die Schweiz gab ab 1878 eigene Portomarken aus, stellte die Verwendung jedoch bereits am 29. Februar 1956 und die Ausgabe am Sammlerschalter am 31. Dezember 1956 ein. In Liechtenstein wurden bis zur Trennung von der österreichischen Postverwaltung 1920 österreichische Portomarken verwendet. In den folgenden Jahren der postalischen Selbstständigkeit verausgabte Liechtenstein zunächst eigene Portomarken in österreichischer Währung bis 31. Januar 1921, verwendete dann bis 11. April 1928 die der Schweiz und gab danach wieder eigene in Schweizer Währung aus, die bis 31. Dezember 1956 verwendet, aber noch bis 31. Dezember 1958 am Sammlerschalter verkauft und auf Wunsch auch gestempelt wurden. Andere Briefmarkenarten Das Große Lexikon der Philatelie gibt unter dem Stichwort Markenarten rund 100 verschiedene Gattungen von Briefmarken an. Neben den oben genannten Arten gelten folgende Briefmarkenarten als „Grundtypen“: Eilmarken (für die Eilzustellungsgebühr) Einschreibemarken (für eingeschriebene Sendungen) Gebührenmarken (für postalische Zusatzgebühren) Paketmarken (für Paketsendungen) Verrechnungsmarken im inneren Postdienst Zeitungsmarken (für den Versand von Zeitungen) Zustellungsmarken (für die Versandform eigenhändige Zustellung) Zwangszuschlagsmarken Diese Markengattungen können weiter untergliedert werden, beispielsweise in Eilmarken für Dienstsendungen, Luftpost, Pakete usw., so dass etwa 100 Arten zustande kommen. Viele Arten wurden allerdings nur kurzzeitig und von wenigen Ländern eingeführt. Neben den Marken der staatlichen Post, gibt es Marken weiterer Dienste, die auf Postsendungen auftreten können, dazu zählen Eisenbahnmarken für Pakete von teils staatlichen, teils privaten Bahnunternehmen (verbreitet u. a. in Belgien, Frankreich und Großbritannien) Feldpostmarken (für die Feldpost) Privatpostmarken (sogenannte Cinderellas) Stempelmarken (nur selten postalisch verwendet) Telegrafenmarken (für Telegrammgebühren, selten auch postalisch verwendet) Eine moderne Variante der Auslandsmarke ist das testweise betriebene EasyFranking für den Versand von Auslandsbriefen. Von April 2010 an führt die Deutsche Post mit nur wenigen Kunden einen Langzeittest mit selbstklebenden EasyFranking-Briefmarken durch. Die Marken, im Testbetrieb ausschließlich vorgesehen für den Auslandsversand von Briefsendungen, enthalten anstelle eines festen Portowertes einen 2D-Code. In dieser Codierung ist auch ein Schlüssel für die Zuordnung des Absenders enthalten. Die erforderliche Frankierung für die Sendung wird erst im Briefzentrum festgestellt; der dafür zu entrichtende Betrag wird dem jeweiligen Absenderkonto zugeordnet und in Rechnung gestellt. Zum 31. Dezember 2011 wurde der Test eingestellt. Frankierte und gelaufene Sendungen mit dieser Frankierungsart dürften sowohl in Deutschland als auch im Ausland schon jetzt Seltenheitswert besitzen, da sie nur in geringer Menge und ausschließlich mit Auslands-Geschäftspost getestet wurden. Entwertung von Briefmarken Um eine erneute Verwendung der Briefmarke zu unterbinden, wird diese von der Post entwertet. Die häufigste Entwertungsart ist heute der Poststempel. Diese meist kreisförmigen Stempel (häufig in schwarzer Farbe) geben Ort und Datum der Abstempelung an. Besondere Formen des Poststempels sind der Sonderstempel und der Ersttagsstempel, die nur zu besonderen Anlässen oder bei der Ausgabe eines neuen Postwertzeichens verwendet werden und meist neben den gewöhnlichen Inschriften ein zum Anlass passendes Motiv besitzen. Diese Entwertungsarten werden vor allem von Briefmarkensammlern geschätzt. Bei normalen Postsendungen wird die Entwertung heute maschinell vorgenommen. Dabei wird oft nur eine Reihe von geraden oder gewellten Linien oder ein Text auf der Marke abgeschlagen, woraus sich bei einer abgelösten Marke weder Zeitpunkt noch Ort der Entwertung erschließen lässt. Seit den 1990er Jahren werden Maschinen„stempel“ in einigen Ländern (z. B. Kanada oder Großbritannien) vermehrt durch Tintenstrahldrucker angebracht. Es gibt jedoch noch zahlreiche andere Entwertungsformen, die vor allem zu Beginn der Briefmarkenausgaben im 19. Jahrhundert zu finden sind. Vor allem in kleineren Postämtern, die in den Anfangsjahren der Briefmarke noch keine eigenen Poststempel hatten, wurden die Marken einfach durchgestrichen oder handschriftlich mit Ortsnamen und Datum versehen. In manchen Ländern, wie in Spanien, wurden Briefmarken durch eine Lochung entwertet. Im Osmanischen Reich verwendete man eine Zeit lang eine Scheren- oder Messerschnittentwertung. Dabei wurde die zu entwertende Briefmarke mit einer Schere oder einem Messer eingeschnitten. In anderen Ländern zum Beispiel in Frankreich werden Vorausentwertungen für Massenauflieferungen angewandt. Gültige Postwertzeichen werden durch spezielle Buchdruck- oder Handstempel im Voraus entwertet und so in ganzen Bögen an die Großauflieferer abgegeben. Dadurch erübrigt sich das spätere einzelne Abstempeln der Sendungen und der Postbetrieb wird vereinfacht. Auch die Nachentwertung von Briefmarken ist eine Entwertungsform. Dabei werden Briefmarken, die versehentlich nicht gestempelt wurden, nachträglich entwertet; vorgesehen ist dabei die Benutzung eines Stempels „Nachträglich entwertet“. Es kommt jedoch immer wieder zur Entwertung mittels Kugelschreiber oder Farbstift durch den Postboten, meist in Form eines Kreuzes. Briefmarken mit 2D-Matrixcode Der Matrixcode dient heute überwiegend postinternen Zwecken, um die korrekte und gültige Frankierung von Sendungen anhand des Matrixcodes automatisiert in den Briefzentren zu prüfen. Zudem ermöglicht der Code die Bereitstellung von Track & Trace-Informationen oder wird zur Steuerung interner Transport-/Verarbeitungsprozesse, wie z. B. bei Einschreiben, PREMIUMADRESS, RESPONSEPLUS oder PRIO verwendet. Die Mehrfachnutzung eines digitalen Frankiervermerks (z. B. durch Kopieren) oder die illegale Wiederverwendung einer Briefmarke wird erkannt durch die Speicherung eines Teils des Matrixcode-Inhaltes. Bei jeder digitalen Frankatur wird also geprüft, ob diese Frankier-ID bereits einmal verwendet worden ist. Damit ist jegliche Entwertung solcher Briefmarken überflüssig geworden. Berühmte Briefmarken Briefmarken erzielen bei Auktionen auf Grund ihrer Seltenheit und der hohen Beliebtheit bei den Sammlern oftmals hohe Preise. Die Frage nach der seltensten und wertvollsten Briefmarke ist nicht eindeutig zu klären, da mehrere Unikate von Briefmarken existieren. Zu den begehrtesten und berühmtesten Briefmarken unter Sammlern zählen: One Penny Black (Vereinigtes Königreich – 1840) Basler Taube (Schweiz – 1845) Rote und Blaue Mauritius (Mauritius – 1. Serie mit POST OFFICE: 1847 2. Serie mit POST PAID: 1848–1859) Schwarzer Einser (Bayern – 1849) Sachsen-Dreier (Sachsen – 1850) Zinnoberroter Merkur (Österreich – 1851) 9 Kreuzer blaugrün (Baden – 1851) Tre Skilling Banco (Schweden – 1855) British Guyana (British Guyana – 1856) Ochsenköpfe (Fürstentum Moldau – 1858) Z Grill (USA – 1868) Inverted Jenny (USA – 1918) Gelber Dom (Deutschland unter alliierter Besetzung – 1948), eine nie ausgegebene Briefmarke Gscheidle-Marke (Deutschland – 1980) Wohlfahrtsmarke Audrey Hepburn (Deutschland – 2001) Kerstfest-Marke (Deutschland – 2016) Die teuerste – jemals in Österreich angebotene – Marke aus Österreich ist die 3 Kreuzer Farbfehldruck Rot statt Grün aus 1867. Sie erzielte bei einer Auktion des Wiener Auktionshauses Merkurphila am 24./25. April 2021 den Preis von 135.000 Euro (plus etwa 20 % Aufgeld). Wegen der COVID-19-Pandemie fand die Auktion internetbasiert online vor 300 Interessierten statt. Philatelistisches Mit dem Erstausgabetag 7. Juli 2022 gab die Deutsche Post AG ein Sonderpostwertzeichen im Nennwert von 85 Eurocent mit der Bezeichnung Kinder malen eine Briefmarke heraus. Der Entwurf stammt von Jan Niklas Kröger aus Bonn. Mit dem Erstausgabetag 1. September 2022 gab die Deutsche Post AG in der Dauerserie Welt der Briefe zwei Briefmarken im Nennwert von 50 Eurocent (Schmetterlingsbrief) und 370 Eurocent (Leuchtmarke) heraus. Die Entwürfe stammen von der Grafikerin Bettina Walter aus Bonn. Literatur Burkhard Müller: Verschollene Länder. Eine Weltgeschichte in Briefmarken. Verlag zu Klampen, Springe 2013, ISBN 978-3-86674-221-5. Martina Gorgas: Merian Kompass – Briefmarken in Europa. Travel House Media, München 2004, ISBN 3-7742-6767-7. Joachim Helbig: Vorphilatelie. Schwaneberger, München 2004, ISBN 3-87858-553-5. Waldemar Gruschke: Markenländer-Lexikon. Books on Demand, Norderstedt 2004, ISBN 3-8334-1044-2. Guido Schmitz: Es muß nicht gleich die „Blaue Mauritius“ sein. Das „langweiligste Hobby der Welt“ und wie das Briefmarkensammeln richtig spannend werden kann. Martin Schmitz, Kelkheim 2004, ISBN 3-922272-91-6. Gerhard Webersinke: Michel Sammler-ABC. Richtig sammeln leicht gemacht! Schwaneberger, München 2001, ISBN 3-87858-539-X. Michel-Katalog Deutschland 2005/2006. Schwaneberger, Unterschleißheim 2005, ISBN 3-87858-034-7. Hans Reichardt, Wolfgang Maaßen: Was ist was? Band 52 – Briefmarken. Neuer Tessloff-Verlag, Hamburg 2001, ISBN 3-7886-2920-7. G. Feustel: Lexikon: Dichter und Schriftsteller auf Briefmarken. Berlin 1987. Ludwig Tröndle, Burkhard Brehme: Mein Hobby Briefmarken. Mosaik Verlag, München 1982, ISBN 978-3-570-04840-5. Heinz Kühne: Wir sammeln Briefmarken. Mosaik, München 1976, ISBN 3-570-02285-4. Buschmann, Konrad: Da ging die Post ab – Die Geschichte der Motorisierung der Post. Bd. 3. Michael Weyand, Trier 2002, ISBN 3-924631-98-0. Chris Gatz: Briefmarken – Perlen aus Papier. Phil* Creativ, Schwalmtal 1993, ISBN 3-928277-08-1. S. Jakucewicz, F.-J. Könsler, M. Szwemin: Eine Briefmarke entsteht. Darstellung und Erläuterung aller Produktionstechniken. Phil* Creativ, Schwalmtal 1999, ISBN 3-928277-18-9. Gerold Schmidt: Ist die Fälschung von sog. „Postwertzeichen“ (§ 148 StGB) seit der Postprivatisierung straffrei (Art. 103 Abs. 2 GG)? In: Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft, Bd. 111, 1999, S. 388–421. Gerold Schmidt: Postwertzeichen. In: Handwörterbuch der deutschen Rechtsgeschichte (HRG). 3. Bd. 1982, Sp. 1844–1846. Horst Zeisig: München und Bayern auf Briefmarken – Kleine Kunstwerke von 1849–2010. MünchenVerlag, München 2010, ISBN 978-3-937090-50-4. W. Stössel: Zur Entwicklung der Briefmarke. In: Archiv für deutsche Postgeschichte. Ausgabe 2/1974, S. 54–57. Georg Finke: Geschichte des Penny-Porto-Systems und der Briefmarken: Mit einem Anhang über d. Erfdg der Postkarte. Zum 50-jährigen Jubiläum der Briefmarken; mit einem Porträt J. Chalmers, dessen Briefmarken-Entwürfen und einem Postwertzeichen-Entwurfe Charles Whitings. E. Heitmann, Leipzig 1890. (Nachdruck: Unikum 2013, ISBN 3-8457-0238-9). Weblinks Lexikon über Philatelie mit vielen Begriffserklärungen Philatelistisches Wörterbuch Deutsch – Englisch – Französisch Infos für Briefmarkensammler Personalisierte Briefmarken der Österreichischen Post AG Personalisierte Ganzsachen der Deutschen Post AG philatelistisches Grundwissen mit vielen Bildern erklärt Welt der Briefmarken, Schweizerische Post Briefmarken kaufen – postshop.ch, Schweizerische Post Colnect – Weltweiter Briefmarkenkatalog mit der Möglichkeit eine eigene Sammlung zu verwalten (PDF; 4,0 MB) Fehler auf Briefmarken Einzelnachweise Papierprodukt Druckerzeugnis Wertzeichen Geldersatzmittel
42654
https://de.wikipedia.org/wiki/Politeia
Politeia
Die Politeia ( „Der Staat“; ) ist ein um 375 v. Chr. verfasstes Werk des griechischen Philosophen Platon, in dem über die Gerechtigkeit und ihre mögliche Verwirklichung in einem idealen Staat diskutiert wird. An dem fiktiven, literarisch gestalteten Dialog beteiligen sich sieben Personen, darunter Platons Brüder Glaukon und Adeimantos und der Redner Thrasymachos. Platons Lehrer Sokrates ist die Hauptfigur. Weitere Anwesende hören lediglich zu. Die Politeia ist die erste abendländische Schrift, die ein ausgearbeitetes Konzept der politischen Philosophie vorstellt. Sie ist ein Grundlagentext der Naturrechtslehre und zählt zu den wirkmächtigsten Werken der gesamten Philosophiegeschichte. Im 20. Jahrhundert wurde intensiv und kontrovers darüber diskutiert, inwieweit sich die modernen Begriffe Totalitarismus, Kommunismus und Feminismus auf Positionen in dem antiken Dialog anwenden lassen. Liberale, sozialistische und marxistische Kritiker haben das Konzept des Idealstaats angegriffen. Die neuere Forschung distanziert sich von diesen weltanschaulich gefärbten, teils polemischen Debatten und Bewertungen. Ferner ist umstritten, ob es sich bei der Politeia um ein rein utopisches Modell oder zumindest ansatzweise um ein politisches Programm handelt. Der in zehn Bücher gegliederte Dialog besteht aus zwei sehr unterschiedlichen Teilen. Am Anfang (Buch 1) führt Sokrates mit Thrasymachos ein Streitgespräch über die Frage, wie die Gerechtigkeit zu definieren sei. Im Hauptteil (Bücher 2–10) bemühen sich Sokrates, Glaukon und Adeimantos, die Natur der Gerechtigkeit zu bestimmen und ihren Wert zu erfassen. Sokrates meint, Gerechtigkeit sei zwar in der Seele des Menschen zu finden, doch im sozialen Kontext, im Staat, sei sie leichter erkennbar. Daher lenkt er das Gespräch auf die Frage, unter welchen Voraussetzungen im Staat Gerechtigkeit zustande kommt. Nach seinem Verständnis ist ein zusammengesetztes Ganzes dann gerecht, wenn jeder Teil seine naturgemäße Aufgabe erfüllt. Davon ausgehend entwirft Sokrates das Modell eines ständisch geordneten idealen Staates. Dessen Bevölkerung ist in drei Teile gegliedert: den Stand der Bauern und Handwerker, den Stand der Krieger oder Wächter und den Stand der „Philosophenherrscher“, die als kleine Elite aus dem Wächterstand hervorgehen und den Staat regieren. Zu den Kernelementen des Konzepts zählen zwei Bestimmungen, die nur für die Wächter und die Herrscher gelten: die Aufhebung des Privateigentums und die Abschaffung der Familie, die als elementare soziale Einheit beseitigt wird. Die herkömmlichen Aufgaben der Familie, insbesondere die gesamte Erziehung der Kinder, übernimmt die Gemeinschaft des Wächterstandes. Ein weiteres markantes Merkmal ist die Zensur: Dichtung, die sich auf die Charakterbildung ungünstig auswirken kann, wird nicht zugelassen. In Analogie zum dreiteiligen Aufbau des idealen Staates beschreibt Platons Dialogfigur Sokrates die Struktur der Seele, die ebenfalls aus drei Teilen zusammengesetzt sei. In diesem Modell wird die Verschiedenartigkeit der Menschentypen und der zu ihnen passenden Staatsformen auf unterschiedliche Machtverhältnisse zwischen den Seelenteilen zurückgeführt. Die Seele ist diesem Verständnis zufolge unsterblich und kann zur Ideenwelt Zugang finden, einem metaphysischen Bereich, in dem sich die ewigen, unveränderlichen „platonischen Ideen“ befinden. Die Ideenlehre, die Platon hier seinem Lehrer in den Mund legt, bildet einen Kernbestandteil seiner eigenen Philosophie, nicht der des historischen Sokrates. Eine zentrale Rolle spielt darin die Idee des Guten. Aus didaktischem Grund wird diese anspruchsvolle Thematik mit drei Gleichnissen veranschaulicht: dem Sonnengleichnis, dem Liniengleichnis und dem Höhlengleichnis. Ort und Zeit Der Schauplatz des Dialogs ist das Haus des Polemarchos, eines reichen Metöken, in der zu Athen gehörenden Hafenstadt Piräus. Die Zeit der fiktiven Dialoghandlung ist unklar und in der Forschung umstritten, da die chronologisch relevanten Angaben im Text widersprüchlich sind. Jedenfalls fällt die Handlung in die Zeit des Peloponnesischen Krieges, der mit Unterbrechungen von 431 bis 404 v. Chr. dauerte. Es ist von einer Schlacht bei Megara die Rede, an der Glaukon und Adeimantos teilgenommen haben. Im Rahmen einer historisch korrekten Chronologie kann damit nur die Schlacht von 409 v. Chr. gemeint sein, denn zur Zeit früherer Kampfhandlungen am selben Ort, die 424 v. Chr. stattfanden, waren Platons Brüder noch Kinder. Andererseits war aber der alte Kephalos, einer der Gesprächspartner, 409 v. Chr. bereits seit Jahren tot. Dieser Widerspruch bildet einen nicht auflösbaren Anachronismus. Das ist aber nicht problematisch, denn Platon nahm sich auch sonst gern die Freiheit, in seinen literarischen Werken chronologisch unstimmige Angaben zu machen. Möglicherweise war das erste Buch der Politeia, in dem Kephalos auftritt, ursprünglich ein separates Werk mit dramatischem Datum in den 420er Jahren; dann kann das im restlichen Teil des Dialogs dargestellte Gespräch mit der Erwähnung der Schlacht bei Megara um 408/407 datiert werden. Die Gesprächsteilnehmer Sokrates ist – wie in den meisten Dialogen Platons – die stark dominierende Hauptfigur. Er lenkt das Gespräch auf die Thematik, um die es ihm geht, und steuert die wesentlichen Einfälle bei. Zu seinem Gedankengut zählen das Modell des Ständestaats und das Konzept der dreiteiligen Seele ebenso wie die Ideenlehre und die Kritik an der Dichtung. Historisch gesehen handelt es sich bei der Ideenlehre allerdings um einen Hauptbestandteil der platonischen Philosophie, den Platon sicher nicht von seinem Lehrer Sokrates übernommen, sondern selbst entwickelt hat. Dieser Umstand zeigt, dass die Auffassungen, die der Autor seiner Dialogfigur Sokrates in den Mund legt, nicht ohne weiteres mit denen des historischen Sokrates gleichgesetzt werden dürfen. Zwar sind nicht alle Äußerungen der Dialogfigur Sokrates als Meinungsäußerungen Platons zu verstehen, doch ihre Kerngedanken entsprechen zweifellos seinen Überzeugungen. Unter den übrigen Beteiligten hat Glaukon quantitativ den größten Anteil an der Diskussion. Seine Beiträge sind auch philosophisch gewichtiger als die der anderen Gesprächspartner des Sokrates. In der Politeia wird Glaukon als liebeserfahren, gebildet, streitlustig und im Auftreten sehr entschieden beschrieben. Er erweist sich im Gespräch als ehrgeizig, optimistisch, geradlinig und erfolgsbewusst. Inwieweit diese Eigenschaften der Dialogfigur dem historischen Glaukon zukamen, ist unbekannt. Dieser war ein Bruder Platons, gehörte also einer vornehmen Familie Athens an. Eine weniger bedeutende Rolle spielt Adeimantos. Der historische Adeimantos wurde wohl um 432 geboren, er war der ältere der beiden Brüder Platons. Im Dialog wird er als ehrliebend und statusbewusst dargestellt. Er will zwar Ansehen genießen, empfindet aber große Anstrengungen als abschreckend. Die gewichtigen Verpflichtungen eines Bürgers des platonischen Idealstaats würde er auf sich nehmen, sofern sein sozialer Rang unangetastet bliebe. Bei den philosophischen Erörterungen zeigt er sich skeptisch, er ist schwer von seinen Überzeugungen abzubringen, nachdenklich und von ernster Gesinnung. Er denkt pragmatisch und wägt die Vor- und Nachteile von Verhaltensoptionen nüchtern, umsichtig und realistisch ab. Der Redner Thrasymachos beteiligt sich nur im ersten Buch an der Debatte, später hört er – abgesehen von zwei knappen Einwürfen im fünften Buch – schweigend zu. Er tritt grob auf und diskutiert polemisch. Zwischen ihm und Sokrates entzündet sich eine Kontroverse in gespannter Atmosphäre. Sein konfrontativer Stil prägt einen großen Teil des ersten Buches, während ab dem zweiten Buch Sokrates, Glaukon und Adeimantos konstruktiv und freundschaftlich bei der Wahrheitssuche zusammenwirken. Als reiner Machtmensch ist Thrasymachos zumindest prima facie ethischen Erwägungen nicht zugänglich, für ihn ist der Vorrang selbstsüchtiger Motive eine offenkundige Naturgegebenheit; dabei ist in der Forschung unterschiedlich bewertet worden, ob der platonische Thrasymachos überhaupt eine und wenn ja, welche normative Position vertritt. Der historische Thrasymachos ist in mehreren Quellen bezeugt. Er stammte aus Chalkedon, einer bedeutenden Hafenstadt in Kleinasien. In Athen, wo er möglicherweise auch als Diplomat für seine Heimatstadt auftrat, machte er sich als Redner und Rhetoriklehrer einen Namen. Er verfasste ein Lehrbuch der Rhetorik. Politisch setzte er sich für die Autonomie der griechischen Städte ein und wandte sich gegen Angriffskriege und imperialistische Bestrebungen. Der mit Sokrates befreundete Greis Kephalos und sein Sohn Polemarchos, in dessen Haus der Dialog stattfindet, sind in der Politeia Randfiguren, die nur im ersten Buch an der Diskussion teilnehmen. Bei beiden handelt es sich um historische Gestalten. Der historische Kephalos stammte aus Syrakus und war ein außerordentlich erfolgreicher Geschäftsmann, unter den Familien der in Attika wohnhaften Ausländer war seine die reichste. Seinem Sohn wurde der Reichtum zum Verhängnis: Während der Herrschaft der Dreißig, einer Zeit des Terrors, wurde Polemarchos 404 v. Chr. ohne Anklage und Gerichtsverfahren hingerichtet, sein Vermögen wurde konfisziert. Außerdem greift im ersten Buch der Politeia Kleitophon kurz in die Debatte ein. Wie Thrasymachos tritt er als Widersacher des Sokrates auf. Der historische Kleitophon war ein gemäßigt oligarchischer Politiker. Er wurde von dem Komödiendichter Aristophanes als schlauer Pragmatiker dargestellt. Inhalt Unter dem Gesichtspunkt der Gesprächsführung zerfällt das Werk in zwei verschiedenartige Teile: das anfängliche Streitgespräch über die Gerechtigkeit und den Hauptteil, in dem das Modell des Idealstaats dargelegt wird und bestehende Verfassungsformen analysiert werden. Inhaltlich ist die Klammer, die das Ganze zusammenhält, die Untersuchung der Frage, worin die Gerechtigkeit besteht und was sie erstrebenswert macht. Ein Leitmotiv ist die Parallelität zwischen der Gerechtigkeit im Staat und der Gerechtigkeit innerhalb der Seele. Für den als Stadtstaat (Polis) konzipierten Idealstaat wird an einer einzigen Stelle die Bezeichnung „Kallipolis“ („Schönstadt“) verwendet, die als Name historischer antiker Städte bezeugt ist. In der modernen Literatur wird Platons Idealstaat oft so genannt. Die Kontroverse um die Gerechtigkeit (Buch I) Das Einleitungsgespräch Der Dialog wird mit einer Rahmenhandlung eingeleitet: Sokrates tritt als Erzähler auf, er berichtet einem nicht genannten Zuhörer von den Umständen und dem Verlauf des Gesprächs, das am Vortag stattgefunden hat. Mit Glaukon ist er von Athen zum Piräus hinabgestiegen, um an den neu eingeführten Bendideia, dem Fest der thrakischen Jagdgöttin Bendis, teilzunehmen. Danach machten sich die beiden Männer auf den Heimweg, kamen aber nicht weit. Noch im Gebiet des Piräus stießen sie auf eine Gruppe von Festteilnehmern, die sie mit sanfter Gewalt zum Bleiben nötigte. Gemeinsam begab man sich dann ins Haus des Polemarchos, wo sich weitere Bekannte des Sokrates versammelt hatten. In dieser Runde spielte sich das Gespräch ab, dessen Verlauf Sokrates im Folgenden aus dem Gedächtnis wiedergibt. Sokrates wird von Kephalos, dem alten, schwerreichen Vater des Polemarchos, willkommen geheißen. Die beiden beginnen eine Unterhaltung über Vorzüge und Nachteile des Alters und den Nutzen des Reichtums. Dieser Nutzen besteht für Kephalos darin, dass der Reiche niemandem etwas schuldig bleibt und nicht in Versuchung gerät zu lügen und zu betrügen. Nichts kann ihn dazu verleiten, ein Unrecht zu begehen. Demnach besteht Gerechtigkeit darin, dass man die Wahrheit sagt und fremdes Eigentum respektiert. Dagegen führt Sokrates ein Gegenbeispiel an: Einem Wahnsinnigen die volle Wahrheit zu sagen oder ihm Waffen auszuhändigen, die ihm gehören, kann keine gerechte Handlung sein. Kephalos sieht dies ein. Die Debatte mit Polemarchos Nun greift Polemarchos in die Diskussion ein. Er denkt ähnlich wie sein Vater. Für ihn bedeutet gerechtes Handeln, dass man jedem gibt, was ihm zusteht. Den Freunden will man nützen, also tut man ihnen nur Gutes. Somit wird man einem Freund nichts geben, was ihm schaden könnte. Der wahnsinnige Freund bekommt die Waffe nicht. Den Feinden aber hat man Schaden zuzufügen, denn ihnen schuldet man Schlechtes. Dagegen macht Sokrates unter anderem die Möglichkeit einer Fehleinschätzung geltend. Man kann einen guten und gerechten Menschen irrtümlich für einen Feind und Bösewicht halten. Dann fügt man ihm Schaden zu und hält das für gerecht. Objektiv kann es aber nicht gerecht sein, dass ein guter, unschuldiger Mensch bekämpft und geschädigt wird. Eine Alternative wäre, nur den Gerechten zu nützen und nur den Ungerechten zu schaden. Dann fiele aber denen, die mit Schlechten befreundet und mit Guten verfeindet sind, die Aufgabe zu, ihren Freunden zu schaden und ihren Feinden zu nützen. Jedenfalls ergibt sich, dass das Bestehen einer Freundschaft oder Feindschaft nicht das alleinige Kriterium sein kann. Die moralische Qualität muss auf jeden Fall berücksichtigt werden. Anschließend bringt Sokrates die Überlegung vor, dass man den, dem man Schaden zufüge, schlechter mache. Ein Ungerechter, der schlecht behandelt werde, werde dadurch noch ungerechter; man bestärke ihn in der Ungerechtigkeit. Das könne man aber als Gerechter nicht tun, denn wenn es eine gerechte Handlungsweise wäre, würde die Gerechtigkeit ihren konträren Gegensatz fördern. Das sei so unlogisch wie die Vorstellung, dass Wärme abkühle oder Trockenheit befeuchte. Der Streit mit Thrasymachos Hier greift Thrasymachos ein, der bisher unwillig und ungeduldig zugehört hat. Für ihn sind die Überlegungen des Sokrates albernes, leeres Geschwätz. Nach seiner Definition ist das Gerechte das für den Stärkeren Vorteilhafte. Beispielsweise gibt es in jedem Staat Machthaber, die jeweils das, was ihrem Vorteil dient, gesetzlich vorschreiben und als gerecht definieren. Ihnen muss man gehorchen, dann handelt man gerecht. Sokrates weist aber auf eine Unstimmigkeit hin: Machthaber machen wie alle Menschen Fehler. Es kann also vorkommen, dass sie etwas anordnen, was in Wirklichkeit zu ihrem Nachteil ist. In diesem Fall schadet der Gehorchende dem Machthaber, indem er dessen Befehl ausführt. Somit kann es gerecht sein, dem Machthaber aus Gehorsam zu schaden. Dies widerspricht aber der Definition des Thrasymachos, wonach Gerechtigkeit stets dem Vorteil des Stärkeren dient. Nun mischt sich Kleitophon ein. Er interpretiert die These des Thrasymachos radikal: Gerecht ist immer das, was der Mächtige momentan will, unabhängig davon, ob es ihm objektiv schadet oder nützt. Dem stimmt Thrasymachos jedoch nicht zu. Er argumentiert anders: Die Gerechtigkeit hat dem Vorteil des Stärkeren zu dienen. Wenn der Befehlende seinen Vorteil nicht sieht, irrt er und ist somit insofern kein wahrer Machthaber, sondern schwach. Der echte Machthaber ist der wirklich Stärkere: der, der keinem Irrtum erliegt, sondern seinen tatsächlichen Vorteil kennt. Sokrates versucht die These des Thrasymachos mit Gegenbeispielen zu erschüttern. In einem längeren Monolog legt Thrasymachos sein Konzept ausführlich dar, wobei er nun die Begriffe „gerecht“ und „ungerecht“ nicht im Sinne seiner Definition, sondern in dem der Moral und des gängigen Sprachgebrauchs verwendet. Demnach ist der Gewaltherrscher, der seine Untertanen beraubt und versklavt, der ungerechteste Mensch und zugleich der glücklichste. Diejenigen hingegen, die das Unrecht erleiden und hinnehmen, befinden sich im Elend, ebenso wie die, die im Geschäftsleben übervorteilt werden oder zu ihrem eigenen Nachteil dem Gemeinwohl dienen oder sich durch ihre Unbestechlichkeit unbeliebt machen. Die Richtigkeit dieser Sichtweise erkennt man daran, dass alle, auch die unterdrückten Untertanen selbst, den rücksichtslosen Tyrannen für glücklich und beneidenswert halten. Er ist in seinem Handeln kraftvoll, frei und herrisch, und das sind wertvollere Qualitäten als die Gerechtigkeit. Wer in großem Stil ungerecht handelt, lebt vornehm. Der Erfolg honoriert sein Verhalten. Im weiteren Verlauf der Debatte wertet Thrasymachos die gängigen Werte im Sinne seiner Denkweise um. Ungerechtigkeit ist für ihn Ausdruck von Vernünftigkeit und Tüchtigkeit. Das gilt schon für den Taschendieb, in erster Linie aber für den Gewaltherrscher, der ganze Völker unterwirft. Dagegen führt Sokrates mehrere Überlegungen ins Feld. Eine davon lautet: Machtvolles, erfolgreiches Handeln erfordert Zusammenarbeit mit anderen. Der Ungerechte braucht Mitwirkende, um sein Ziel zu erreichen. Wenn er konsequent – also auf vollendete Weise – ungerecht ist, wird er alle, also auch seine eigenen Leute, ungerecht behandeln. Damit untergräbt er aber die Funktionsfähigkeit seiner Gruppe und lähmt sich selbst. Einen gemeinsamen Erfolg erzielen Ungerechte nur dadurch, dass sie untereinander einen Rest von Gerechtigkeit wahren. Somit verdanken sie den Erfolg der Gerechtigkeit, nicht der Ungerechtigkeit. Schließlich weiß Thrasymachos nichts mehr zu entgegnen und gibt sich geschlagen, doch ändert er seine Meinung keineswegs. Von der Tugendfrage zur Staatstheorie (Buch II) Einwände gegen die Gerechtigkeitsvorstellung des Sokrates Glaukon findet das bisher gegen die Auffassung des Thrasymachos Vorgebrachte nicht überzeugend genug. Sokrates hat für die Gerechtigkeit plädiert, aber er hat noch nicht bewiesen, dass sie nicht nur wegen ihrer erwünschten Konsequenzen, sondern auch an und für sich erstrebenswert ist. Um dies zu verdeutlichen, umreißt Glaukon eine Gegenposition. Demnach ist Gerechtigkeit nichts als ein Kompromiss, der aus pragmatischen Überlegungen resultiert. Jeder würde gern ungestraft nach Belieben Unrecht begehen, um sich Vorteile zu verschaffen, aber niemand will Unrecht wehrlos erleiden müssen. Da die Nachteile des Erleidens größer erscheinen als die Vorteile des Begehens, hat man sich darauf verständigt, das Begehen gesetzlich zu verbieten. Das wird Gerechtigkeit genannt, ist gesellschaftlich erwünscht und wird belohnt. Daher wird diese Tugend nicht um ihrer selbst willen praktiziert, sondern weil sie soziale Anerkennung verschafft. Ideal wäre demnach eine Gelegenheit, unbemerkt Unrecht zu tun und zugleich im Ruf eines Gerechten zu stehen, etwa wie Gyges, der sich der Sage zufolge mit einem Zauberring unsichtbar machen konnte, was er zum Ehebruch mit der Königin nutzte. All dies führt zum Ergebnis, dass Gerechtigkeit nur ein Mittel zur Erreichung von letztlich selbstsüchtigen Zielen und ansonsten bedeutungslos ist. Adeimantos führt diesen Gedankengang weiter aus und ergänzt ihn: Zwar bedrohen die traditionellen Autoritäten Übeltäter mit göttlichen Strafen, doch zeigen sie nicht, dass solche Strafen tatsächlich zu befürchten sind. Außerdem ist die Überzeugung verbreitet, man könne die erzürnten Götter bestechen, indem man sie mit Geschenken gnädig stimme. Wenn das zutrifft, wird Gerechtigkeit nicht benötigt; nur ihren Anschein muss man erwecken können. Die Theorie der Entstehung und Ausformung von Staaten Sokrates macht darauf aufmerksam, dass Gerechtigkeit zwar eine Eigenschaft von Individuen sei, aber sich am leichtesten erkennen lasse, wenn man den sozialen Kontext – den Staat – ins Auge fasse. Damit ist nach damaligem Verständnis nicht ein Flächenstaat gemeint, sondern ein Stadtstaat, der aus einer Stadt und dem von ihr beherrschten Umland besteht. Nach der Theorie des Sokrates ist der Anlass zur Staatenbildung das Bedürfnis nach einer arbeitsteiligen Wirtschaft. Aus Kleingruppen, deren Mitglieder untereinander Tauschhandel treiben, entwickeln sich größere Gemeinschaften, die Geldwirtschaft einführen. Es entsteht ein Markt mit berufsmäßigem Groß- und Kleinhandel und auch Fernhandel sowie Lohnarbeit. Im Frühstadium ist die Lebensweise einfach, die Ernährung frugal; Glaukon vergleicht den Urstaat mit einem „Schweinestaat“, was humoristisch, aber im Sinne von Bescheidenheit lobend gemeint ist. Dieses einfache Leben ist gesund. Später wird daraus der „üppig aufgeblasene“ Staat, Kunst und Kultur entfalten sich, aber auch Luxus reißt ein. Da das landwirtschaftlich nutzbare Land zur Ernährung der stark angewachsenen Bevölkerung nicht mehr ausreicht, muss das Territorium erweitert werden, daher kommt es zu Kriegen. Im Krieg ist Professionalität gefragt, daher bildet sich der Stand der Berufskrieger. Diese Gegebenheiten bestimmen die Ausgangslage für das Aufkommen von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Zu untersuchen ist nun, welche Faktoren bewirken, dass sich ein Staat in die eine oder andere Richtung entwickelt. Gerechtigkeit im Idealstaat (Bücher II–IV) Die Problematik des Berufsheeres Sokrates nennt die Berufskämpfer, die für die äußere Sicherheit benötigt werden, „Wächter“, da sie den Staat bewachen. Dank ihrer militärischen Schlagkraft sind sie sehr machtvoll. Der Gedanke, diese Macht zur Unterdrückung der eigenen Zivilbevölkerung zu missbrauchen, ist für sie naheliegend. Daher sind besondere Maßnahmen zu treffen, die dieser Gefahr vorbeugen und damit Gerechtigkeit ermöglichen. Krieger müssen von Berufs wegen mutig sein, doch für den Umgang mit der eigenen Bevölkerung benötigen sie zusätzlich eine andere, entgegengesetzte Eigenschaft, die Sanftmut. Die gleichzeitige Entwicklung beider Qualitäten erfordert eine sorgfältige, auf Charakterbildung abzielende Erziehung. In einem optimal eingerichteten Staat ist die Erziehung der Wächter somit eine wichtige Aufgabe. Die Erziehung der Wächter Die Erziehung bezweckt die bestmögliche Ausbildung körperlicher und geistiger Fähigkeiten. Der körperlichen Ertüchtigung dient die Gymnastik, der geistigen Entwicklung die musische Bildung („Musenkunst“), die Dichtung, Lied und Tanz umfasst. Die Dichtung als zentrales Element herkömmlicher Erziehung ist ein besonders wichtiges Thema. Bei der pädagogischen Funktion der Dichtung in der griechischen Gesellschaft geht es nicht um unterhaltsame Beschäftigung mit ansprechend gestalteten literarischen Fiktionen. Vielmehr gelten die berühmten epischen Dichter Homer und Hesiod traditionell als erstrangige Autoritäten, die göttliche Wahrheiten verkünden, und auch Aussagen von Lyrikern wie Pindar und Tragödiendichtern wie Aischylos haben großes Gewicht. Die Dichter belehren unter anderem über die Götter, die Entstehung der Welt, die Ordnung des Kosmos, die Pflichten der Menschen und vorbildliches Verhalten. Ihre Auffassungen über Tüchtigkeit und Tugenden, Ruhm und Schande, Ehrenhaftes und Unehrenhaftes, Recht und Unrecht prägen das allgemein herrschende Welt- und Menschenbild, die Wertordnung der Gesellschaft und die gängigen Moralvorstellungen. Das beginnt mit den Mythen, die Mütter und Ammen den kleinen Kindern erzählen. Der Gehalt der Mythen wird der als klassisch geltenden Dichtung entnommen. Hier setzt Sokrates mit seiner Kritik an. Er hält die meisten Mythen für unwahr und schreibt ihnen verheerende Auswirkungen auf die Charakterbildung zu. Vor allem missfällt ihm, dass die Dichter den Göttern oft Eigenschaften und Handlungen zuschreiben, die unter Menschen allgemein als schimpflich gelten, etwa Unaufrichtigkeit, Anstiftung zum Wortbruch und Gewaltanwendung gegen die eigenen Eltern. Auch die Erzählungen, in denen Götter untereinander streiten und kämpfen oder Menschen ins Unglück stürzen, hält er für Lügen. Das ist für ihn nicht nur Gotteslästerung, sondern stellt der Jugend falsche Vorbilder vor Augen, mit dem Ergebnis, dass die Erziehung zur Ethik scheitert und die Menschen schlecht werden. Sokrates ist der Überzeugung, dass die Götter ausschließlich gut seien und niemals etwas Schlechtes von ihnen ausgehen könne. Dies müsse man den Kindern von Anfang an beibringen, um ihnen eine konstruktive Wertordnung zu vermitteln. Gegenteilige Lehren seien nicht zu dulden. Schädlich sei auch die dichterische Schilderung des Hades – des Totenreichs – als schrecklicher Ort. Dies erzeuge Furcht vor dem Tod und sei einer freien Gesinnung abträglich. Auch die Darstellung des keineswegs vorbildlichen Verhaltens von Helden wie Achilleus in der Epik sei für die Jugend verderblich und literarisch gestalteter Jammer sei eine Aufforderung zur Wehleidigkeit. Unwürdige Szenen im Theater seien ebenfalls zu verpönen. Anschließend wendet sich Sokrates der Musik zu. Er bespricht mit Glaukon den Zusammenhang der verschiedenen Tonarten, Instrumente und Rhythmen mit der seelischen Entwicklung. Rhythmus und Tonart dringen am tiefsten in das Innere der Seele ein und ergreifen sie am stärksten, daher gebührt ihrer Auswahl besondere Aufmerksamkeit der Erzieher. Die musische Erziehung muss die Liebe zum Schönen fördern, wobei Schönheit im ästhetischen und zugleich im ethischen Sinn gemeint ist. Ein weiteres Thema ist die Ertüchtigung und Gesunderhaltung des Körpers. Ihr dient unter anderem die Gymnastik, bei der man sich aber vor Einseitigkeit zu hüten hat; sie soll nicht auf Kosten der Bildung betrieben werden. Übertriebene Sorge um den Körper ist verfehlt, denn alles, was man für ihn unternimmt, geschieht letztlich um der Seele willen. Wenn für Seele und Körper schlecht gesorgt wird, werden viele Richter und Ärzte benötigt; juristische Schliche sollen die Übeltäter vor den Folgen ihrer Taten bewahren und die Heilkunst soll die gesundheitlichen Folgen eines schlechten Lebenswandels beheben. In einem gut organisierten Staat muss solchen Verfallserscheinungen vorgebeugt werden. Die ständische Ordnung Eine Kernfrage jeder Verfassungstheorie lautet, wem die Regierung anvertraut werden soll. Dafür kommen nach Sokrates’ Überzeugung nur erprobte Personen in Betracht, die ihre Eignung, vor allem ihre Charakterfestigkeit, über einen langen Zeitraum erwiesen haben. Dazu gehört insbesondere, dass sie sich aus Überzeugung mit den Staatsinteressen identifizieren und begeistert für das Staatswohl eintreten. Im Rahmen seines Erziehungsprogramms möchte Sokrates am liebsten die meisten überlieferten Mythen wegen ihrer moralischen Fragwürdigkeit abschaffen und stattdessen einen neuen Mythos einführen, den er selbst – ein altes Sagenmotiv aufgreifend – erfunden hat. Ihm ist klar, dass eine Umsetzung dieses Vorhabens in der Praxis auf größte Schwierigkeiten stoßen müsste, da der neue Mythos keinen Glauben fände. Dennoch erzählt er seine Fiktion, um zu verdeutlichen, worauf es ihm ankommt. Der neue Mythos – eine edle Lüge – besagt, die Bürger des Idealstaats seien Kinder der Erde und als solche seien sie alle Geschwister. Ihren Seelen seien aber von der Gottheit, die sie geschaffen habe, Metalle unterschiedlicher Qualität beigemischt worden, und daraus resultiere eine Wesensverschiedenheit. Manchen sei Gold, anderen Silber beigefügt worden, anderen nur Eisen und Erze. Davon sei ihre jeweilige seelische Beschaffenheit geprägt, und diese werde gewöhnlich den Nachkommen vererbt. Allerdings komme es auch vor, dass ein Kind eine andere Metallqualität aufweise als seine Eltern. Die vorgegebene Metallbeimischung qualifiziere ihren Träger für bestimmte Funktionen im Staat: Gold befähige zur Übernahme von Führungspositionen, Silber bedeute Eignung für Wächteraufgaben, mit Eisen oder Erz sei man zu einem Leben als Bauer oder Handwerker bestimmt. Daher sei die Gesellschaft in die drei Stände der Herrscher, der Wächter und der Erwerbstätigen („Chrematisten“) gegliedert. Sokrates hält es für hilfreich, diese Gliederung, die er für den Idealstaat vorsieht, in mythischer Sprache zu veranschaulichen, damit sie von den Bürgern akzeptiert und verinnerlicht wird. Soziale Mobilität muss möglich sein: Wenn beispielsweise ein Herrscher sieht, dass sein Sohn eine eiserne Seele hat, muss er ihn in den untersten Stand versetzen. Umgekehrt ist einem Nachkommen von Bauern der Aufstieg in die Oberschicht zu ermöglichen, falls seine Seele die entsprechende Qualität aufweist. Lebensweise und Aufgaben der Wächter Anschließend skizziert Sokrates die asketische Lebensweise der Wächter, denen Privatbesitz über das Lebensnotwendige hinaus versagt sein soll. Adeimantos befürchtet, dass die Wächter ein unglückliches Leben führen müssen, wenn ihre Tätigkeit nicht honoriert wird und sie weit ärmer sind als die Erwerbstätigen, die rangmäßig unter ihnen stehen. Dagegen macht Sokrates geltend, es gehe nicht um das Wohl eines einzelnen Standes, sondern um das aller Bürger. Außerdem sei sowohl Reichtum als auch Armut der beruflichen Leistung abträglich; daher sei beides aus dem Leben der Wächter fernzuhalten. Neben den militärischen üben die Wächter auch polizeiliche Funktionen aus. Eine ihrer Hauptaufgaben ist die Wahrung der optimierten Stabilität, sowohl hinsichtlich der demographischen Verhältnisse – die Bürgerschaft soll konstant eine optimale Größe einhalten – als auch auf kulturpolitischem Gebiet, wo es darauf ankommt, schädlichen Neuerungen vorzubeugen. Eine übermäßige Reglementierung des Lebens der Bürger durch gesetzliche Vorschriften hält Sokrates aber für unzweckmäßig. Die Analogie zwischen sozialer und innerseelischer Gerechtigkeit (Buch IV) Gerechtigkeit im Verhältnis zwischen den Ständen im Staat In einem idealen Staat müssen die vier Grundtugenden Weisheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit praktiziert werden. Die Weisheit zeichnet die Herrscher aus, die den kleinsten Bevölkerungsteil bilden. Die Tapferkeit ist das besondere Merkmal der Wächter; sie zeigt sich in der unbeirrbaren Beharrlichkeit, mit der dieser Stand seine Aufgabe erfüllt. Die dritte Tugend, die Besonnenheit, äußert sich in der Einmütigkeit: Die hierarchische Struktur, in der das Bessere dem Geringerwertigen übergeordnet ist, wird von allen gebilligt. Besonnenheit ist somit nicht einem bestimmten Stand zugewiesen, sondern durchdringt und prägt die gesamte Bürgerschaft. Dann herrscht Eintracht, weil die Regierten nicht Unterworfene sind, sondern sich den Regierenden aus Einsicht willig unterordnen. Als vierte Qualität wird schließlich die Gerechtigkeit in den Blick genommen. Sie besteht für Sokrates darin, dass jeder „das Seine tut“, also nur der Art von Beschäftigung nachgeht, die seiner Befähigung entspricht („Idiopragie-Forderung“). Ungerechtigkeit zeigt sich darin, dass die Abgrenzung der Stände nach Qualifikation verwischt wird und verantwortungsvolle Aufgaben inkompetenten Personen übertragen werden. Gerechtigkeit ist dann gegeben, wenn jeder Teil des Ganzen nur genau die Funktion erfüllt, die ihm gemäß seiner besonderen Beschaffenheit zukommt. Gerechtigkeit im Verhältnis zwischen den Seelenteilen Nach der Bestimmung der sozialen Gerechtigkeit kehrt Sokrates zur Ausgangsfrage nach der Gerechtigkeit innerhalb der einzelnen Individuen zurück. Er zeigt die Analogien auf: Wie der Staat besteht auch die Seele aus drei Bestandteilen, deren Merkmale denen der drei Stände entsprechen. Die Dreiteilung der Seele leitet Sokrates mithilfe des Satzes vom Widerspruch ab, der hier erstmals formuliert wird: Es ist unmöglich, dass etwas zugleich entgegengesetzte Wirkungen im selben Sinn und in Bezug auf dasselbe verursacht. In der Seele lässt sich aber beobachten, dass beispielsweise Durst auftritt und dennoch aus einem bestimmten Grund beschlossen wird, nicht zu trinken. Die Instanzen, von denen die betreffenden Impulse ausgehen, müssen also verschieden sein. Der Urheber des Durstes ist das Begehrungsvermögen, während das, was in der Seele überlegt, ob getrunken werden soll, das Überlegungsvermögen ist. Das Begehrungsvermögen ist von leidenschaftlicher Natur, das Überlegungsvermögen emotionslos. Damit das, was die Überlegung erfordert, in die Tat umgesetzt werden kann, ist noch ein dritter Faktor erforderlich, der dem Begehrungsvermögen nötigenfalls im Gefühlsbereich entgegenwirkt und die Begierde im Auftrag des Überlegungsvermögens übermannt. Das ist „das Muthafte“, der dritte Seelenteil, der bei Kindern schon vor der Ausbildung der Vernunft hervortritt und daher kein Teil von ihr sein kann. Das Muthafte ergreift im „Bürgerkrieg“ zwischen Vernunft und Begierde für die Vernunft Partei. Manchmal verhilft es ihr zum Sieg, manchmal unterliegt es der Begierde und gerät dann in Zorn über seine Niederlage. Im Individuum ist die Vernunft der Teil, der die Weisheit beisteuert und dem daher die Herrschaft gebührt. Der muthafte Seelenteil verfügt über die Tapferkeit und hat die Wächterfunktion auszuüben. Ihm fällt die Aufgabe zu, in Schmerzen und Freuden unbeirrt an dem festzuhalten, was die Vernunft als richtig erkannt hat. Das Begehrungsvermögen als niedrigster Teil entspricht dem Stand der Bauern und Gewerbetreibenden im Staat. Es hat sich freiwillig unterzuordnen. Wenn dies geschieht, wird die Person als besonnen wahrgenommen. Damit lässt sich nun auch die Gerechtigkeit des einzelnen Menschen bestimmen: Sie besteht darin, dass in der Seele ebenso wie im gerechten Staat jeder Teil nur die ihm von Natur aus zukommenden Aufgaben erfüllt und keinerlei Übergriffe in fremde Kompetenzbereiche stattfinden. Dadurch steht alles dauerhaft in Einklang. Analoges gilt für den Körper: Dort wird die Gerechtigkeit Gesundheit genannt, die Ungerechtigkeit Krankheit. Daher kann man die Gerechtigkeit und allgemein die Tüchtigkeit oder Tugendhaftigkeit auch als Gesundheit der Seele bezeichnen. Die Tüchtigkeit oder das Gutsein (Arete) stellt eine Einheit dar, während es bei der Schlechtigkeit eine große Vielfalt von Arten gibt. Radikale Konsequenzen der Gerechtigkeit im idealen Staat (Bücher V und VI) Die Aufhebung der Familie Im fünften Buch kehrt Sokrates auf nachdrücklichen Wunsch von Adeimantos, Glaukon und Thrasymachos zu einem sehr sensiblen Thema zurück: dem schon früher angesprochenen Grundsatz, dass „Freunden alles gemeinsam“ sei. Im idealen Staat müssen die Wächter sowie die aus ihrer Mitte hervorgegangenen Herrscher alle untereinander befreundet sein. Dass sie deswegen kein Privateigentum besitzen, wurde bereits dargelegt. Eine andere, besonders heikle Konsequenz ist, dass der klassische Privatbereich, das Familienleben, beseitigt werden muss: Auch das Verhältnis der Geschlechter, die Zeugung und die Kindererziehung werden in den Zuständigkeitsbereich der Gemeinschaft verlagert. Für die Bauern und Gewerbetreibenden, die damit überfordert wären, gilt das nicht, sie führen ein konventionelles Familienleben. Bei der Darlegung der Einzelheiten zögert Sokrates zunächst, denn ihm selbst kommt die Kühnheit seines utopisch wirkenden Konzepts bedenklich vor, doch dann gibt er dem hartnäckigen Drängen der anderen nach. Den Ausgangspunkt bildet der Grundsatz, dass die Tüchtigkeit und Tugendhaftigkeit nicht geschlechtsbezogen ist, sondern für alle Menschen gleich. Die darauf abzielende Ausbildung muss somit für Männer und Frauen gleich sein, und beide Geschlechter sind soweit irgend möglich zu denselben Übungen und Aufgaben einschließlich des Kriegsdienstes heranzuziehen. Begabungen und Charaktereigenschaften sind individuell, nicht geschlechtsgebunden. Spezifisch weibliche oder männliche Beschäftigungen gibt es nicht. Daher soll es beim gemeinsamen Üben auch keine Trennung der Geschlechter geben. Der Wächterstand hat eine homogene Gemeinschaft von Männern und Frauen zu bilden. Dies nennt Sokrates die „erste Woge“ von Konsequenzen des neuartigen Gedankenguts, die in diesem Diskurs heranbrandet. Noch gewaltiger ist die „zweite Woge“, die nun folgt: die Einzelheiten der konsequenten Aufhebung des Familienlebens. Die Kinder der Wächter und Herrscher dürfen nicht wissen, wer ihre Eltern sind. So wie die Erziehung soll schon die Fortpflanzung planmäßig organisiert werden, wobei eugenische Gesichtspunkte maßgeblich sind; Menschen sind in Analogie zur Zucht der Nutztiere zu züchten. Damit das Erbgut optimiert wird, sollen sich die besten Männer mit den besten Frauen zur Fortpflanzung verbinden und möglichst viele Kinder zeugen. Die Regeln, die dabei anzuwenden sind, sollen nur die Herrscher kennen, da sonst leicht Unmut und Zwist unter den Wächtern entstehen könnten. Die Kinder werden ihren Müttern gleich nach der Geburt entzogen und von Ammen und Pflegerinnen betreut. Das Stillen wird von den Müttern gemeinsam besorgt, wobei keine ihr eigenes Kind erkennen soll. Die Funktion der Familie übernimmt vollumfänglich die Gemeinschaft. Behinderte und erblich belastete Kinder werden nicht aufgezogen, sondern – wie im antiken Griechenland üblich – „verborgen“, das heißt: nach der Geburt ausgesetzt. Angestrebt wird ein Gemeinschaftsbewusstsein von bisher unbekannter Intensität. Zwiespalt zeigt sich auch darin, dass manche Bürger über etwas erfreut sind, was andere betrübt. Das soll im idealen Staat nicht vorkommen. Erwünscht ist eine derart vollendete Einmütigkeit, dass alle Bürger auf Ereignisse in gleicher Weise mit Freude oder Schmerz reagieren. Dann verhalten sie sich zur Gemeinschaft wie ein Körperteil zum Körper. Wenn beispielsweise ein Finger verletzt wird, erlebt der ganze leibliche und seelische Organismus des Menschen den Vorgang einheitlich als Schmerz. Analog wird auch das erfreuliche oder unerfreuliche Schicksal eines einzelnen Bürgers von der ganzen Gemeinschaft miterlebt. Alle angenehmen und unangenehmen Gefühle werden geteilt. Wie beim Besitz und den sozialen Beziehungen soll auch bei den Emotionen die Unterscheidung von „mein“ und „dein“ wegfallen. Durch diese Eintracht wird das Justizwesen überflüssig. Kein Zweifel besteht für Sokrates daran, dass die Wächter unter solchen Bedingungen ein vollendet glückseliges Leben führen. Grundsätze der Kriegsführung Anschließend wendet sich das Gespräch Einzelheiten der Bewährung des idealen Staates im Krieg zu. Kämpfern, die sich durch Tapferkeit ausgezeichnet haben, sollen bedeutende Ehrungen zuteilwerden; Feiglinge werden in den Bauern- und Handwerkerstand versetzt. Nach einem Sieg können besiegte „Barbaren“ (Nichtgriechen) versklavt werden, Griechen jedoch nicht, da sonst die gesamtgriechische Widerstandskraft gegen Bedrohung durch fremde Völker geschwächt würde. Überhaupt ist es grundsätzlich falsch, Griechen als Sklaven zu halten. Bei innergriechischen Konflikten sollen zivilisierte kriegsrechtliche Normen gelten: Das Land des Gegners darf nicht verwüstet werden, Wohnstätten sind nicht niederzubrennen, Zivilisten sind zu schonen. Stets ist die Aussicht auf spätere Versöhnung zu wahren und im Auge zu behalten, alle unnötigen Feindseligkeiten sind zu vermeiden. Die Herrschaft der Philosophen und ihre Legitimation Glaukon zweifelt nicht an den bedeutenden Vorteilen des geschilderten Modells. Er möchte nun aber zur Erörterung der Frage übergehen, ob eine solche Staatsordnung utopisch bleiben muss oder doch verwirklicht werden kann. Für Sokrates ist das die „dritte Woge“ der Problematik und Kritik, die größte und gefährlichste Woge, die gegen seinen Vorschlag heranrollt. Es geht um die Klärung des Verhältnisses zwischen einem Ideal und dessen Verwirklichung, die nur eine mehr oder weniger gelungene Annäherung sein kann. Hierzu holt Sokrates weit aus, denn er benötigt dafür Überlegungen, die zur Ideenlehre gehören. Das Muster, in diesem Fall das Konzept des idealen Staates, hat aus seiner Sicht einen ideellen Wert, der nicht davon abhängt, ob es in dieser Form auch in die Praxis umgesetzt werden kann. Es ist eine Richtschnur für die Praxis. Jede Umsetzung ist gegenüber dem perfekten Ideal mangelhaft; ob die Realisierung überhaupt gelingen kann, ist unklar. Das mindert aber nicht den Wert des Ideals, an dem sich die Umsetzungsversuche orientieren. Eine Voraussetzung ist nach Sokrates’ Ansicht unumgänglich für die Umwandlung eines bereits existierenden Staates in einen idealen: Philosophisches Wissen und Befehlsgewalt müssen vereint werden. Dies kann auf zwei Wegen geschehen: Entweder übernehmen Philosophen die Herrschaft oder die bereits regierenden Machthaber werden echte und gründliche Philosophen. Wenn keines von beiden geschieht, wird das Elend der gewohnten Verhältnisse niemals enden. Sokrates weiß, dass diese Forderung seinen Zeitgenossen lächerlich erscheinen muss, da sie dem gängigen Bild von Herrschern und von Philosophen widerspricht. Der kritischen Sichtweise der Spötter stellt er eine eingehende, differenzierte Darstellung seines Konzepts entgegen. Er beschreibt, was für ihn einen Philosophen ausmacht und zur Herrschaft qualifiziert. Der Philosoph (wörtlich „Weisheitsliebende“) ist dadurch charakterisiert, dass er die Weisheit nicht nur bruchstückhaft, sondern ganz begehrt. Sein Wissensdurst richtet sich nicht auf beliebige Fakten, sondern auf die philosophisch relevante Wahrheit. Diese will er möglichst in ihrer Gesamtheit „anschauen“. Beispielsweise gilt sein Interesse nicht einzelnen schönen Dingen, sondern er konzentriert es auf die Natur des Schönen, das „Schöne selbst“. Das Schöne schlechthin ist für ihn keine bloße Abstraktion, sondern eine objektiv existierende, erkennbare Realität. Deren „Schau“ ist Erkenntnis im eigentlichen Sinn; sie verhält sich zum Erfassen einzelner schöner Dinge wie ein Urteilen im Wachzustand zu Reaktionen eines Träumenden auf die Eindrücke, die er im Traum empfängt. Es handelt sich hier um den Gegensatz von Wissen und Meinen. Das Meinen bestimmt Sokrates als ein Mittelding zwischen Wissen und Nichtwissen. Das Wissen des Philosophen bezieht sich auf das Seiende, auf die Wirklichkeit, während der Nichtphilosoph ein Meinender ist, der seine Aufmerksamkeit einem halbdunklen Zwischenbereich zwischen dem, was ist, und dem, was nicht ist, zuwendet. Philosoph ist derjenige, der das Einfache, überzeitlich Seiende, das sich niemals ändert, erfassen kann. Nichtphilosophen hingegen befassen sich nur mit der Mannigfaltigkeit der veränderlichen Einzeldinge. Da ihnen das Allgemeingültige unzugänglich ist, sind sie orientierungslos. Auf dem Gebiet der Staatskunst – der Wissenschaft von der Staatslenkung – ist somit der Philosoph der, der stets das gedankliche Muster des Idealstaates im Blick hat, um sein Handeln in der politischen Praxis konsequent danach auszurichten. Da das Ziel der Praxis eine möglichst gute Annäherung an das Ideal ist, kann somit niemand anders als ein Philosoph befähigt sein, einen optimal eingerichteten Staat zu regieren und dauerhaft im besten Zustand zu erhalten. Die Frage ist hier nur, ob der Philosoph neben seiner Überlegenheit im Theoretischen auch die erforderliche politische Befähigung mitbringt. Sokrates bejaht dies. Dabei macht er geltend, beim Philosophen sei das Weisheitsstreben, das seiner natürlichen Veranlagung entspreche, unauflöslich mit den notwendigerweise dazugehörenden Charaktermerkmalen verbunden: Wahrheitsliebe, Besonnenheit, Großzügigkeit, Furchtlosigkeit, Bescheidenheit, Umgänglichkeit, Gerechtigkeit und Fähigkeit zum Maßhalten. Außerdem verfügten Philosophen über ein gutes Gedächtnis, denn wenn sie vergesslich wären, könnten sie sich einer so anspruchsvollen Tätigkeit nicht mit Freude und Erfolg widmen. Daher sind sie fähig und vertrauenswürdig, man kann ihnen den Staat unbesorgt anvertrauen. Den Hintergrund dieser Behauptungen bildet das platonische Philosophieverständnis. Philosophie erschöpft sich nicht im Nachdenken, sie ist keine bloß intellektuelle Betätigung, sondern immer auch eine Lebensweise. Adeimantos kann zwar gegen den Gedankengang des Sokrates nichts einwenden, verweist aber auf gegenteilige empirische Beobachtungen: Philosophen werden entweder als Scharlatane oder als anständige, aber verschrobene und untüchtige Menschen wahrgenommen. Für diesen Sachverhalt nennt Sokrates zwei Gründe: erstens die Inkompetenz der Menge und der unwissenden Machthaber, die den Wert der Philosophie nicht zu würdigen wüssten, und zweitens das Auftreten von Scheinphilosophen, die Schwätzer seien und die Philosophie in Verruf brächten. Damit meint er die Sophisten, gegen Entgelt unterrichtende Wanderlehrer, die er für unseriöse Verführer hält. Sophistische Mentalität sieht er als Ergebnis einer schlechten Erziehung und eines durch ungünstige Einflüsse fehlgeleiteten Weisheitsstrebens. Die großen Verführer und Übeltäter seien hochbegabt, sie hätten unter förderlichen Bedingungen Philosophen werden können, seien aber auf Abwege geraten. Im Rahmen der bestehenden Verfassungen sei keine Besserung der Verhältnisse in Sicht. Dennoch ist Sokrates hinsichtlich der Möglichkeit eines Umschwungs optimistisch. Er hält es für möglich, dass Söhne von regierenden Herrschern philosophisch veranlagt seien und nach ihrer Machtübernahme willens und fähig seien, eine Verfassungsreform im erwünschten Sinne durchzuführen. Die einzigartige Sonderstellung der Philosophen beruht für Sokrates darauf, dass sie ihre Gedanken auf das Göttliche und Wohlgeordnete richten und es bewundern und nachahmen, wodurch sie selbst diese Beschaffenheit annehmen, soweit das einem Menschen möglich ist. Die Ausbildung der Philosophenherrscher (Bücher VI und VII) Die Idee des Guten als Richtschnur Der nächste Aspekt, der erörtert wird, ist die Auswahl und Ausbildung der Herrscher. Geeignet sind nur philosophisch veranlagte Angehörige des Wächterstandes, die Scharfsinn, geistige Beweglichkeit und Lernbereitschaft mit charakterlicher Zuverlässigkeit verbinden. Dass sie die vier Grundtugenden benötigen, wurde bereits festgestellt. Darüber hinaus gibt es aber ein noch höheres, übergeordnetes Wissen, das sie erlangen müssen, um sich für ihre Regierungstätigkeit zu qualifizieren. Sokrates nennt es „das höchste Lehrstück“. Es geht um die Erkenntnis der „Idee des Guten“. Das „Gute selbst“ – das metaphysische Prinzip des schlechthin Guten – soll erfasst werden. Daraus kann dann das Verständnis von allem, was die Tugenden und die Tüchtigkeit betrifft, abgeleitet werden. Die Bedeutung des Wissens vom Guten ist schon daraus ersichtlich, dass jede Seele nach dem Guten strebt und um seinetwillen alle ihre Taten vollbringt, wenngleich dies gewöhnlich aus Unwissenheit auf verfehlte Weise geschieht. Bei einzelnen Gütern wie dem Gerechten und Schönen geben sich viele mit dem bloßen Anschein zufrieden, das Gute hingegen wird immer als solches begehrt; ein scheinbares Gutes kann niemanden befriedigen. Dieses Erkenntnisobjekt ist allen anderen übergeordnet, denn erst seine Erfassung verschafft dem Denker den Maßstab für alles Übrige. Nur die Einsicht in das allgemeine Gute erschließt ein korrektes Verständnis der einzelnen guten Dinge und befähigt zu deren richtigem Gebrauch. Die Annäherung an die Idee des Guten ist die größte aller Herausforderungen. Da die Idee des Guten transzendent ist, also jenseits des gewöhnlichen Erfahrungs- und Verständnisbereichs liegt, verzichtet Sokrates auf eine direkte Beschreibung. Stattdessen wählt er den Weg der Annäherung über Gleichnisse, die das Gemeinte veranschaulichen und das Verhältnis des Wahrheitssuchers zur Idee des Guten beleuchten sollen. Zuerst erzählt er das Sonnengleichnis, dann das Liniengleichnis und schließlich – zu Beginn des siebten Buches – das Höhlengleichnis. Die drei Gleichnisse Im Sonnengleichnis vergleicht Sokrates das Gute mit der Sonne: Wie im Bereich des Sichtbaren die Sonne das Licht spendet, so ist in der geistigen Welt das Gute die Quelle von Wahrheit und Wissen. Wie die Sonne die einzelnen Dinge bescheint und damit sichtbar macht, so strahlt die Idee des Guten gleichsam ein „Licht“ aus, das die Objekte geistiger Erkenntnis für die Seele wahrnehmbar macht. Diese geistige Sonne verleiht den Denkobjekten nicht nur ihre Erkennbarkeit, sondern auch ihr Dasein und ihr Wesen (Ousia). Alle Inhalte des Denkens, darunter auch die Tugenden, verdanken der Idee des Guten ihre Existenz. Das Liniengleichnis veranschaulicht die hierarchische Ordnung der verschiedenen Erkenntnisweisen und der ihnen zugeordneten Erkenntnisgegenstände anhand einer in vier Abschnitte eingeteilten vertikalen Linie. Die Erkenntnisweisen sind nach ihrer Zuverlässigkeit, die Erkenntnisgegenstände nach ihrem ontologischen Rang geordnet. Das Spektrum reicht von bloßen Mutmaßungen bis zur Vernunfteinsicht (nóēsis), die zur höchsten Ebene des Erkennbaren aufsteigt, wo das Voraussetzungslose – die Idee des Guten – zu finden ist. Beim Aufstieg zum Voraussetzungslosen muss man von Voraussetzungen ausgehen, die aber nur Hilfsmittel sind; sie werden überflüssig, wenn die höchste Ebene erreicht ist. Dann wird das Voraussetzungslose seinerseits zum Ausgangspunkt für die – nunmehr korrekt fundierte – Erkenntnis aller ihm untergeordneten Wissensbereiche. Das Höhlengleichnis soll den Sinn und die Notwendigkeit des philosophischen Bildungswegs, der als Befreiungsprozess dargestellt wird, illustrieren. Der Weg gleicht dem Aufstieg aus einer unterirdischen Höhle, die für die sinnlich wahrnehmbare Welt der vergänglichen Dinge steht, zum Tageslicht, das heißt zum rein geistigen Bereich des unwandelbaren Seins, zum Reich der Ideen. Die Menschheit befindet sich in der Höhle der Unwissenheit, in der die Wirklichkeit nur schattenhaft wahrgenommen werden kann. Es ist aber grundsätzlich möglich, die Höhle zu verlassen und zur Erdoberfläche emporzusteigen. Dort können die Dinge so erfasst werden, wie sie wirklich sind; man kann sogar die Sonne – die Idee des Guten – erblicken. Wenn man dies erreicht hat, kann man mit dem neu erlangten Wissen freiwillig wieder hinabsteigen, um den anderen den Ausweg zu zeigen. Der Aufstieg aus der Höhle versinnbildlicht die Aneignung philosophischer Bildung. Sokrates betont, dass dieser Vorgang nicht darin besteht, dass gleichsam Blinden die Sehkraft verliehen wird. Über die „Sehkraft“ verfügt jeder bereits. Erforderlich ist nur, dass sich die ganze Seele samt ihrem „Auge“ „umwendet“. Im Gleichnis bedeutet das, dass sie erst unter kundiger Anleitung den Ausgang der Höhle findet, dann den steilen Gang betritt, der nach oben führt, und sich schließlich an den Glanz des Tageslichts gewöhnt. Wer aus der Höhle an die Erdoberfläche gelangt ist, kann dort bleiben, ein glückliches Leben führen und die Höhlenbewohner ihrem Schicksal überlassen. Wenn er dennoch in die Höhle zurückkehrt, um den anderen zu helfen und als Führer zu dienen, nimmt er große Unannehmlichkeiten in Kauf. Er muss sich dann mit dem Unverständnis der Masse auseinandersetzen, wobei er sogar lebensgefährlichen Anfeindungen ausgesetzt ist. Eine Gegenleistung hat er von den Höhlenbewohnern nicht zu erwarten, denn sie haben nichts zu bieten, was für ihn einen Wert darstellen könnte. Daher ist die Rückkehr für ihn überhaupt nicht attraktiv. So verhält es sich auch mit einem guten – das heißt philosophisch gebildeten – Staatsmann: Er drängt sich nicht nach einer Führungsaufgabe, denn er weiß, dass sie ihm nichts einbringt. Vielmehr muss er überredet werden, Regierungsverantwortung zu übernehmen und den Bürgern damit einen Gefallen zu tun. Das Studienprogramm Die Ausbildung der Herrscher umfasst zunächst das normale Erziehungsprogramm des Wächterstandes, also musische Bildung und Gymnastik. Über diese Wächterausbildung hinaus benötigen sie für ihre künftige Regierungstätigkeit Schulung auf weiteren Wissensgebieten. Auf die Einzelheiten geht Sokrates nun ein. Erforderlich sind Kenntnisse in Arithmetik, Geometrie (Planimetrie und Stereometrie), Astronomie und musikalischer Harmonielehre. Diese Fächer gehören zur philosophischen Propädeutik, da die Beschäftigung mit ihnen das Denken herausfordert. Im Rahmen der Philosophenausbildung sind sie allerdings nicht auf die oberflächliche, pragmatische Weise zu studieren, die im gängigen Unterricht üblich ist und nur auf einzelne empirische Gegebenheiten abzielt. Vielmehr muss ein vertieftes Verständnis der jeweiligen theoretischen Grundlage erlangt werden, damit das Fachwissen unter philosophischem Gesichtspunkt nutzbar wird. Man erkennt dann die Gemeinsamkeit und Verwandtschaft der Fächer und übt sich im dialektischen Denken, dem methodischen Vorgehen nach den Gesetzen der Logik. Die Dialektik ist das letzte Lehrfach des philosophischen Bildungswegs. Sie ist die hohe Kunst, mit der philosophische Probleme bewältigt werden. Ein gut geschulter Dialektiker kann allein durch logische Folgerungen, ohne Abstützung auf die immer täuschende Empirie, zur Wahrheit vordringen. Er erfasst die wahre Natur der Dinge, die dem Empiriker unzugänglich bleibt. Unter denen, welche die propädeutische Ausbildung erhalten haben, soll eine Vorauswahl derjenigen, die sich für die dialektische Schulung eignen, getroffen werden. Ihnen wird dann ab dem zwanzigsten Lebensjahr philosophischer Unterricht erteilt. Nach Vollendung des dreißigsten Lebensjahrs findet unter dieser Elite eine weitere Auslese der Tüchtigsten statt. Diese absolvieren ein fünfjähriges vertieftes Philosophiestudium. Anschließend sollen sie „in die Höhle zurückkehren“: In den folgenden fünfzehn Jahren haben sie sich in wichtigen staatlichen Ämtern zu bewähren und ihre Führungsqualitäten zu erproben. Erst als Fünfzigjährige, die sich sowohl im tätigen Leben als auch in der Wissenschaft bewährt haben, sind sie qualifiziert, die Idee des Guten zu erfassen und fortan der Regierung anzugehören. Staatsformen und Charaktertypen (Bücher VIII und IX) Im achten Buch wendet sich Sokrates den einzelnen Staatsformen zu, um sie im Licht der nunmehr gewonnenen Einsichten zu untersuchen. Jeder Staatsform entspricht ein bestimmter im Staat jeweils dominierender Charaktertyp. Es handelt sich um fünf Grundtypen, die als solche zu untersuchen sind; daneben bestehen Mischformen. Das Entwicklungsmodell, das Sokrates nun vorstellt, basiert auf der Vorstellung eines historischen Prozesses, der schrittweise von der besten zur schlechtesten Verfassung führt. Es soll aber kein empirisches Bild einer zwingend in diesen Phasen verlaufenden Geschichte geben, sondern nur modellhaft Gesetzmäßigkeiten aufzeigen. Aristokratie Der erste Grundtyp, die beste Verfassung, ist die Aristokratie (wörtlich „Herrschaft der Besten“). Damit meint Sokrates nicht im neuzeitlichen Sinne des Wortes eine Herrschaft des Erbadels, sondern – wie der Name besagt – die Staatslenkung durch eine qualifizierte Elite, eine Auslese der fähigsten Bürger. In einem solchen Staat sind ethisch hochstehende, gerechte Menschen an der Regierung. Das Muster dafür ist der bereits beschriebene ständisch gegliederte Idealstaat mit einer Oberschicht ohne Privateigentum. Auf der seelischen Ebene entspricht dem die Lenkung durch die Vernunft. Timokratie Wenn im aristokratischen Staat die Regeln, die seine Stabilität gewährleisten, vernachlässigt werden, können Unqualifizierte in Führungspositionen gelangen. Dadurch kommt es zu Zwietracht in der Bürgerschaft. Der schlechtere Teil der Oberschicht drängt zum Besitz von Land, Gold und Silber, der bessere Teil widersetzt sich dem, muss aber einen Kompromiss schließen, um einen Bürgerkrieg zu vermeiden. Gold und Silber bleiben der Oberschicht zwar verboten, aber Land und Häuser, die bisher den Bauern und Gewerbetreibenden gehörten, werden unter den Kriegern aufgeteilt. Der unterste Stand, der weiterhin die Last der Produktion zu tragen hat, wird unterjocht; aus freien Bauern werden Knechte. So wird aus der Aristokratie eine Timokratie, eine „Herrschaft der Angesehenen“, wobei das Ansehen nicht wie bisher von der Leistung, sondern vom Grundbesitz abhängt. Es entstehen Verhältnisse, wie sie in Sparta und den kretischen Städten zu beobachten sind. Militärische Belange treten in den Vordergrund. Leidenschaftliche Geldgier macht sich geltend, heimlich wird das Edelmetallverbot missachtet. Die Merkmale des in dieser Staatsordnung dominierenden Charaktertyps sind Streitsucht und Ehrgeiz. In der Seele entspricht diesem Zustand die Vorherrschaft des muthaften Teils. Oligarchie Die nächste Stufe des Prozesses ist die Entstehung einer oligarchischen Verfassung. Die Oligarchie, wörtlich „Herrschaft von Wenigen“, beruht auf dem Grundsatz, dass die Macht an die Finanzkraft gekoppelt ist. Die Anhäufung von Geldvermögen wird nicht nur generell zugelassen, sondern ermutigt, denn der Reichtum wird zum Kriterium für den Einfluss im Staat erhoben. Die Gesellschaft ist nun nicht mehr in Stände mit unterschiedlichen Aufgaben und Qualifikationsanforderungen gegliedert, sondern in Vermögensklassen. Die oberste Vermögensklasse regiert, sozialer Aufstieg hängt vom Besitz ab. Infolgedessen dominiert in der gesamten Gesellschaft ein ungehemmtes Bereicherungsstreben. Arme und Reiche treten einander wie feindliche Parteien gegenüber. Ämter werden nicht mehr nach Qualifikation besetzt, Bettlerwesen und Verbrechertum breiten sich aus, Wucher wird praktiziert. Der habgierige, unsoziale, zur Unehrlichkeit neigende und um sein Vermögen zitternde Geschäftsmann und der zügellose, im Luxus aufgewachsene junge Verschwender sind die markanten Typen, die diese Gesellschaft prägen. Die Oberschicht ist parasitär. In den Seelen herrscht der triebhafte, begehrende Seelenteil, wenngleich die herrschenden Oligarchen den Anschein der Redlichkeit wahren und einen Teil ihrer Begierden unterdrücken. Demokratie Die nächste Stufe der historischen Entwicklung ist für Sokrates die Demokratie, die Staatsform seiner Heimatstadt Athen. Den Keim zu ihrer Entstehung bilden die sozialen Spannungen im oligarchischen Staat, in dem immer mehr Bürger in die Verschuldung und Armut absinken. Die Armen sind erbittert. Sie erkennen die Schwäche der oligarchischen Herrenschicht, der die Kampfkraft abhandengekommen ist. Davon ermutigt führen sie einen Umsturz herbei, was nicht ohne Blutvergießen abgeht. Nach der neuen demokratischen Verfassung werden die Ämter gewöhnlich durch Losentscheid vergeben, ein Qualifikationsnachweis ist nicht erforderlich. Neben der Redefreiheit genießen die Bürger zahlreiche weitere Freiheiten; niemand muss in den Krieg ziehen oder ein Amt übernehmen, alles geschieht auf freiwilliger Basis. Gesetzliche Vorschriften werden missachtet, verhängte Strafen teils nicht vollstreckt, wodurch die Gesellschaft einen anarchischen Zug erhält. Übermut, Verschwendungssucht, Schamlosigkeit und Haltlosigkeit kennzeichnen die Lebensweise der tonangebenden Kreise in der demokratischen Gesellschaft. Der Untergang der Demokratie Als letztes Stadium geht aus der Demokratie die Tyrannenherrschaft hervor. Das Hauptmerkmal der demokratischen Gesinnung, der unbeschränkte Freiheitswille, wird den Demokraten letztlich zum Verhängnis, da sich die Freiheit zur Anarchie steigert. Der demokratische Bürger ist nicht gewillt, eine Autorität über sich anzuerkennen. Die Regierenden schmeicheln dem Volk. Niemand ist bereit sich unterzuordnen. Ausländer sind den Stadtbürgern gleichberechtigt, Kinder gehorchen nicht, sie respektieren weder Eltern noch Lehrer, und sogar Pferde und Esel schreiten frei und stolz einher und erwarten, dass man ihnen aus dem Weg geht. Dieser Zustand der höchsten Freiheit schlägt schließlich in die härteste Knechtschaft um. Den Ausgangspunkt der Wende bildet der Gegensatz zwischen Armen und Reichen, der weiterhin besteht, aber nun nicht mehr wie in der Oligarchie von der herrschenden Doktrin legitimiert wird. Die Vermögensunterschiede stehen im Gegensatz zum demokratischen Gleichheitsdenken. Die Masse der relativ Armen ist sich ihrer Macht im demokratischen Staat bewusst. Gern folgt sie einem Agitator, der eine Umverteilung des Reichtums fordert, die Reichen einer oligarchischen Gesinnung beschuldigt und entschlossene Anhänger um sich schart. Dadurch sehen sich die Besitzenden bedroht, sie beginnen tatsächlich oligarchische Neigungen zu entwickeln und trachten dem Agitator nach dem Leben. Dieser lässt sich nun zu seinem Schutz vom Volk eine Leibwache bewilligen, womit er sich eine Machtbasis verschafft. Die Reichen fliehen oder werden umgebracht. Der Weg zur Alleinherrschaft des Agitators, der nun zum Tyrannen wird, ist frei. Die Entwicklung der Tyrannis In der Anfangsphase seiner Herrschaft tritt der neue Tyrann volksfreundlich auf. Er verhält sich milde, erlässt Schulden, verteilt konfisziertes Land und belohnt seine Anhänger. Nachdem er seine Herrschaft stabilisiert und einige Gegner beseitigt hat, ist sein nächster Schritt, einen Krieg zu beginnen. Damit lenkt er die Aufmerksamkeit auf einen äußeren Feind, demonstriert seine Unentbehrlichkeit als Befehlshaber und verhindert, dass sich eine Opposition gegen ihn formiert. Mögliche Gegner räumt er aus dem Weg, indem er sie an die Front schickt. Jeder Tüchtige, ob Freund oder Feind, erscheint ihm als Gefahr, die beseitigt werden muss. Da sich in der Bürgerschaft zunehmend Hass auf den Tyrannen ansammelt, verstärkt er seine Leibgarde mit Söldnern und ehemaligen Sklaven, die ihm persönlich ergeben sind. Der Unterhalt dieser Truppe verursacht hohe Kosten. Zu deren Deckung werden zunächst die Tempel geplündert, dann Steuern erhoben. Das Volk ist aus der maßlosen Freiheit in die übelste und bitterste Sklaverei geraten. Bei den Tragödiendichtern findet der Tyrann allerdings Beifall, denn sie bekommen von ihm Honorare und Ehren. Analyse der Persönlichkeitsstruktur des Tyrannen Im neunten Buch der Politeia geht Sokrates zu einer ausführlichen Beschreibung der Persönlichkeit des Tyrannen über. Davon ausgehend wendet er sich der Frage zu, wie Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit mit Glück und Unglück zusammenhängen. Einleitend weist Sokrates auf die wilden, tierischen Triebe hin, die jedem Menschen angeboren seien. Sie könnten in Träumen, wenn die Hemmung durch die Vernunft wegfalle, unverhüllt hervortreten, etwa indem der Träumende einen Inzest oder Mord begehe. Nach Sokrates’ Darstellung erhalten diese Triebe in manchen jungen Männern, die in einem demokratischen Staat orientierungslos aufwachsen, eine besondere perverse Ausprägung. Das geschieht, wenn Trunksucht, erotische Süchtigkeit und eine Gemütskrankheit, die Melancholie, zusammentreffen. Diese Konstellation schafft die Disposition zum Tyrannen. Kostspielige Ausschweifungen brauchen die Geldmittel des Jünglings auf, er gerät in Schulden und greift daher nach dem elterlichen Besitz, den er sich durch Diebstahl und Betrug oder sogar gewaltsam aneignet. Vielfache Raubtaten folgen. Ähnlich Gesinnte machen ihn zu ihrem Anführer, wenn er die stärkste Tyrannenpersönlichkeit unter ihnen ist. Freundschaft mit seinen Gefährten und Treue zu ihnen kennt er aber nicht, da er niemandes Freund sein kann, sondern nur entweder Herr oder Knecht. Schließlich ergreift er die Macht und versklavt seine Heimatstadt. Glücklich kann der Tyrann dabei nicht sein, denn das Unglück, das er über seine Mitbürger bringt, spiegelt sich in seiner eigenen Seele. Diese ist ebenso beschaffen wie der von ihm regierte Staat: Der beste Teil in ihr ist geknechtet und der übelste und verrückteste herrscht. Daher kann sie nicht tun, was sie eigentlich will, sondern wird zum Spielball heftiger, quälender Impulse: der Furcht und der Reue und der Raserei der Begierden. Das bedeutet, dass sie von Leid erfüllt ist. Der Tyrann ist der unglücklichste Mensch. Er sitzt faktisch in einem Gefängnis, da er von lauter Gefahren umgeben ist und sich auf niemand wirklich verlassen kann. Sicherheitsbedenken schränken seine Bewegungsfreiheit ein, an eine Auslandsreise kann er nicht denken. Bei ihm ist die natürliche Rangordnung der Lüste in ihr Gegenteil verkehrt: Die wahre Lust, die nur Weisheit dem Menschen verschaffen kann, ist ihm völlig unbekannt und unerreichbar, und die niedrigsten Lüste, die gänzlich illusorisch sind, beherrschen sein Leben. Den Gegenpol dazu bildet der Philosoph, der alle Lüste aus Erfahrung kennt und beurteilen kann und die beste gewählt hat. Er ist der glücklichste Mensch. Wenn er sich politisch betätigt, orientiert er sich am Ideal des besten Staates. Nur für dieses interessiert er sich, auch wenn es nirgends verwirklicht ist; es ist gleichsam als „Musterbild im Himmel“ aufgestellt für den, der es sehen will. Staat und Dichtung im Licht der Ideenlehre (Buch X) Nach der Besprechung der Staatsformen und Charaktertypen kommt Sokrates auf die Rolle der Dichtung zurück. Die Analyse der Seelenteile bestärkt ihn in seiner Überzeugung, dass die Dichtung, soweit sie nachahmende Kunst ist, eine verderbliche Wirkung hat und in einem gut organisierten Staat nicht zugelassen werden darf. Zur schädlichen Dichtung zählt Sokrates auch die Epen Homers, was er allerdings wegen der ungeheuren Autorität dieses Dichters nur zögernd vorbringt. Bei der Begründung dieser schockierenden These kommt wiederum die Ideenlehre ins Spiel, die nun näher erläutert, aber nicht systematisch ausgeführt wird. Ihr zufolge haben alle einzelnen, vergänglichen Sinnesobjekte – als Beispiele nennt Sokrates Stühle und Tische – Urbilder, das heißt vollkommene, unveränderliche geistige Muster, nach denen sie gestaltet sind. Jede Art von Objekten hat ein eigenes Urbild, die ihr zugeordnete „platonische Idee“. So ist das Urbild aller Tische die Idee des Tisches; an ihr orientiert sich der Schreiner, wenn er einen Tisch anfertigt. Wenn nun ein Maler einen Stuhl malt, so orientiert er sich dabei im Gegensatz zum Schreiner nicht an der Idee des Stuhls, sondern an einem physischen Stuhl, dessen Bild er auf eine Fläche projiziert. Das heißt, er erzeugt ein Abbild eines Abbilds, also etwas, was wesentlich unvollkommener und dem Original – der Idee – ferner ist als das, was ihm als Vorbild dient. Das zweidimensionale Gemälde ahmt nicht den dreidimensionalen Stuhl nach, sondern dessen Erscheinungsbild. Dies gilt nicht nur für die Malerei, sondern für alle nachahmenden Künste, auch für die Dichtung. Wenn beispielsweise Homer in einem Epos die Taten eines Feldherrn schildert, bildet er dichterisch dessen Eigenschaften ab, die ihrerseits Abbilder der ihnen zugeordneten Ideen sind. Der Dichter erzeugt also Abbilder von Abbildern. An die Stelle von Taten treten Worte. Homer selbst war kein Feldherr und verstand nichts von Kriegskunst. Er konnte die Großtaten, die in seinem Epos beschrieben sind, nicht ausführen; anderenfalls hätte er selbst solche Taten vollbracht, statt Leistungen anderer zu preisen. Die Dichter praktizieren und verstehen das, was sie darstellen, nicht selbst, sie sind keine Fachleute. Sie können zwar schildern, aber weder vollbringen noch erklären. Daher kommt ihnen keine Autorität zu. Außerdem wirken ihre Werke auf den unvernünftigen Seelenbereich ein und verleiten das Publikum zum Kultivieren fragwürdiger Affekte. Die einzige Dichtung, die Sokrates gutheißt, sind Götterhymnen und Loblieder auf vorbildliche Persönlichkeiten. Der Gesichtspunkt der Unsterblichkeit (Buch X) Die Unsterblichkeit der Seele Zum Schluss kommt Sokrates auf die Unsterblichkeit der Seele zu sprechen. Sie bildet aus seiner Sicht den Hintergrund der Bemühungen um Tugend und Tüchtigkeit, stellt sie in einen größeren Zusammenhang und verleiht ihnen einen tieferen Sinn, den es sonst wegen der Kürze des Lebens nicht gäbe. Einen Hinweis auf die Unsterblichkeit bietet das Verhältnis der Seele zu den Übeln, von denen sie betroffen ist. Das Merkmal der vergänglichen Dinge ist, dass die Übel, die sie befallen, sie nicht nur schädigen, sondern auch zerstören können. So zerstört eine Krankheit den Leib, der Mehltau das Getreide, die Fäulnis das Holz, der Rost das Eisen. Diesen Übeln entsprechen bei der Seele Ungerechtigkeit, Zuchtlosigkeit, Feigheit und Unwissenheit. Der Unterschied zu den materiellen Objekten ist jedoch, dass die schädlichen Faktoren die Seele zwar moralisch schwer beeinträchtigen, aber nicht auflösen können. Sie geht daran nicht zugrunde, sie stirbt nicht an der Ungerechtigkeit. Ihre Übel setzen ihr äußerlich zu und umgeben sie wie eine dicke Kruste, von der sie entstellt wird, können sie aber nicht vom Sein ins Nichtsein überführen. Die Kruste kann entfernt werden. Der Mythos vom Schicksal im Jenseits und im Diesseits Die Ausführungen über die Unsterblichkeit rundet Sokrates mit einem Jenseitsmythos ab. Dieser drückt auf anschauliche Weise aus, dass die Gerechten im Jenseits belohnt und die Ungerechten zur Verantwortung gezogen werden. Zwar bedarf die Gerechtigkeit keiner Belohnung, da sie selbst der Lohn der Gerechten ist, doch erhalten die Seelen der Guten von den Göttern die Wertschätzung, die ihnen gebührt. Der Mythos handelt von der Jenseitserfahrung eines Kriegers, des Pamphyliers Er, der im Kampf gefallen war. Seine Leiche wurde zur Feuerbestattung vorbereitet, doch als sie schon auf dem Scheiterhaufen lag, kehrte die Seele in den Leib zurück und Er wurde wieder lebendig. Nun erzählte er, was seine Seele im Jenseits erlebt hatte. Zusammen mit anderen Verstorbenen war sie vor ein Totengericht gekommen, das die Gerechten von den Ungerechten trennte. Im Unterschied zu den anderen empfing sie dort aber kein Urteil, sondern erhielt die Anweisung, zu beobachten und dann zurückzukehren und den Lebenden Bericht zu erstatten. Nach der Darstellung des Er werden die Seelen der Gerechten in den Himmel geschickt, die der Ungerechten in ein unterirdisches Totenreich, wo es ihnen übel ergeht. In diesen Bereichen des Jenseits bleiben sie, bis sie ihre Belohnungen oder Strafen empfangen haben, dann kehren sie zurück. Die aus beiden Bereichen Zurückkehrenden erzählen einander, was sie erlebt haben. Die Seelen, die zum Himmel aufsteigen, gelangen unterwegs zur „Spindel der Notwendigkeit“, einem gigantischen Instrument, das sich gleichförmig dreht. Durch die Spindel werden die Drehungen aller Himmelssphären um die Erde, den Mittelpunkt des Universums, in Gang gehalten. Dort sitzen die drei Moiren (Schicksalsgöttinnen) Klotho, Lachesis und Atropos. Lachesis nimmt die Seelen, die ihren Jenseitsaufenthalt beendet haben, gruppenweise in Empfang. Die zurückkehrenden Seelen müssen im Rahmen der Seelenwanderung wieder in irdische Leiber eintreten. Es gibt jeweils eine Anzahl von vorgegebenen Rollen – künftigen Lebensumständen und Schicksalen –, die für eine Gruppe von Seelen zur Verfügung stehen, und die Zahl der Rollen ist viel größer als die der Seelen. Die Zuteilung erfolgt durch ein Verfahren, das Verlosung und Auswahl mischt. Jede Seele erhält ein Los. Die Lose enthalten die Reihenfolge, in der die Seelen aus der Menge der Lebensrollen jeweils eine für sich auswählen können. Wer das beste Los erhält, kommt als Erster an die Reihe und hat somit freie Wahl; der Letzte muss mit einer Rolle Vorlieb nehmen, die niemand sonst gewollt hat. Die Rolle der letzten Seele ist zwar von den anderen verschmäht worden, aber das bedeutet nicht, dass sie schlecht ist. Manche Seelen treffen eine törichte Wahl und fügen sich selbst damit schweren Schaden zu. So beobachtete Er, dass der, der das beste Los zog, sich leichtsinnig das verhängnisvolle Dasein des größten Tyrannen aussuchte, da er von der Macht fasziniert war. Seelen, die aus dem Himmel zurückkehren, wählen oft unüberlegt, da sie sorglos sind, während die aus der Unterwelt Zurückkehrenden meist umsichtig entscheiden, da das erlittene und bei anderen miterlebte Leid sie nachdenklich gemacht hat. Sokrates beendet die Erzählung des Mythos mit der Ermahnung, stets Gerechtigkeit zu üben und der Vernunft zu folgen. Politischer und philosophischer Gehalt Ein Hauptthema der Forschungsdiskussion ist die Frage, ob das Modell des Idealstaats als reine Utopie gedacht war, deren Verwirklichung Platon nicht ernstlich in Betracht gezogen hat, oder ob er beabsichtigt hat, die Umsetzung als praktikabel erscheinen zu lassen. Darüber gehen die Meinungen weit auseinander. Für beide Interpretationsweisen bietet der Text Anhaltspunkte. Die Frage der Praktikabilität wird im Dialog verschiedentlich erörtert, wobei unterschiedliche Sichtweisen zur Geltung kommen. Das Spektrum der modernen Deutungen reicht von der Annahme, dass Platon die Undurchführbarkeit aufzeigen wollte, bis zur Hypothese, dass er eine konkrete Handlungsvorlage für eine zeitgenössische Verfassungsreform geben wollte. Einige Interpreten, darunter Leo Strauss, sind sogar der Ansicht, es handle sich um eine „Antiutopie“, die Platon weder für möglich noch für wünschenswert gehalten habe; seine Darstellung des utopischen Staates als Ideal sei ironisch zu verstehen. Einer Forschungsrichtung zufolge war Platons Hauptanliegen nicht politisch, sondern ethisch; das Staatsmodell ist nicht als politisches Programm, sondern als Symbol für erstrebenswerte innerseelische Verhältnisse zu verstehen. Lebhaft diskutiert wird auch die Interpretation der fundamentalen Dichterkritik von Platons Sokrates. Diese macht einen zwiespältigen Eindruck. Sokrates weist auf einen „alten Streit“ hin, der zwischen Philosophie und Dichtung bestehe. Einerseits trägt er seine Dichterkritik wiederholt mit großem Nachdruck vor und begründet sie eingehend, andererseits relativiert er sie: Er bekennt, dass er seit seiner Jugend Liebe und Ehrerbietung für Homer empfinde, drückt sein Bedauern darüber aus, dass für die Dichter im Idealstaat kein Platz sei, und betont, dass er sich gern überzeugen lasse, falls es Dichtern oder Dichterfreunden gelinge zu zeigen, dass die Dichtung doch eine nützliche Funktion in der Gesellschaft erfülle. Ein Thema moderner philosophischer Debatten ist die Bedeutung der von Sokrates empfohlenen „edlen Lüge“, der Erfindung von Mythen und unzutreffenden Behauptungen durch die Philosophenherrscher zum Zweck einer heilsamen Einflussnahme auf die Gemüter der Regierten. Diese Problematik ist in die Frage nach dem philosophischen Verständnis von Wahrheit und Fiktionalität eingebettet. Dabei geht es um die Funktion der Mythen in Platons Diskurs, das Verhältnis zwischen buchstäblicher und symbolischer Wahrheit und das Spannungsverhältnis zwischen der „edlen Lüge“ und der von Platon ebenfalls empfohlenen Wahrheitsliebe. Platon akzeptiert und empfiehlt Mythen und im buchstäblichen Sinn unzutreffende Behauptungen, wenn sie im Dienst einer aus seiner Sicht höherrangigen Wahrheit stehen. Die höherrangige philosophische Wahrheit ist an und für sich gut und immer erstrebenswert. Nichtphilosophische Wahrheiten hingegen sind nach ihrem jeweiligen Nutzen zu beurteilen; sie sind nur dann wertvoll, wenn sie ein tugendhaftes Verhalten fördern. Kai Trampedach weist auf die „Antipolitik“ des Idealstaats hin, der sich im schärfsten Widerspruch zum gemeingriechischen Begriff des Politischen befinde, da er Bürgerstatus, Waffendienst und Herrschaftsbefugnis restlos und grundsätzlich voneinander scheide. Nicht nur im untersten Stand, sondern auch bei den Wächtern habe das eigentlich Politische keinen Raum, und sogar bei den Herrschern fehle ein Raum kommunikativer Entscheidungsfindung. Der aufgrund des Wissens bestehende Konsens der Philosophenherrscher lasse der Politik keinen Ansatzpunkt und mache politische Institutionen überflüssig. Kontrovers diskutiert wird Platons Verständnis der Rolle der Frau in Staat und Gesellschaft. Eine Forschungsrichtung, deren Wortführer Gregory Vlastos ist, betrachtet ihn als „Feministen“. Andere Forscher, insbesondere Julia Annas, widersprechen dieser Bezeichnung nachdrücklich. Wesentlich ist hierbei, wie man den Begriff Feminismus definiert. Im heute üblichen Sinn des Begriffs ist Platons Position nicht feministisch, doch nach dem Maßstab der damaligen Verhältnisse und Denkweisen erscheint er als Befürworter einer Frauenemanzipation, denn er wollte den Frauen den Zugang zu allen Ämtern im Idealstaat öffnen. In Anbetracht des damaligen Status der Frauen waren Platons Vorschläge umwälzend, denn im demokratischen Athen konnten Frauen nicht an der Volksversammlung teilnehmen oder politische Ämter ausüben. Außerdem war in der Oberschicht die Rolle der Frauen weitgehend auf die Erfüllung häuslicher Aufgaben beschränkt und sie hatten kaum Bildungsmöglichkeiten. Für die Wächterinnen im Idealstaat hingegen war Einbeziehung ins öffentliche Leben vorgesehen. Die Abschaffung des Privateigentums bei den Wächtern und den Herrschern wird oft mit der Ökonomie des modernen Kommunismus verglichen. In diesem Zusammenhang ist Platon als „erster Kommunist“ bezeichnet worden. In der neueren Forschung wird aber betont, dass im Idealstaat der unterste Stand, der für die gesamte Güterproduktion zuständig ist, privatwirtschaftlich organisiert ist und insbesondere keinerlei Kollektivierung der Landwirtschaft vorgesehen ist. Daher ist die Bezeichnung „Kommunismus“ unpassend. Von zentraler Bedeutung ist Platons Definition der Gerechtigkeit als Ordnungsprinzip in der Seele und infolgedessen auch im Staat. Dadurch unterscheidet sich sein Gerechtigkeitsbegriff grundlegend von allen Ansätzen, die Gerechtigkeit mit Bezug auf soziales Verhalten definieren. Zwar ergibt sich für Platon aus dem Vorhandensein gerechter Ordnung zwangsläufig ein tugendhaftes soziales Handeln, doch konstituiert dieses nicht die Gerechtigkeit, sondern ist nur eine Auswirkung von ihr. Umstritten ist, ob Platons Sokrates bei seiner Verteidigung der Gerechtigkeit einen Fehlschluss aufgrund von Homonymie („fallacy of equivocation“) begeht, indem er den Begriff „Gerechtigkeit“ in seiner Argumentation nicht immer im selben Sinn gebraucht, sondern teils im Sinn des damals gängigen Verständnisses („vulgar justice“), teils im Sinne seines eigenen („Platonic justice“). Eine wesentliche Neuerung in der Politeia ist die Einführung des Modells der dreigeteilten Seele. In früheren Werken hatte Platon die Seele als Einheit behandelt. Die eingehende Begründung des neuen Modells, das die irrationalen Kräfte in der Seele erklären soll, ist wohl auf die Neuartigkeit des Gedankens zurückzuführen. Schwierig zu bestimmen ist das Verhältnis des Dreiteilungsmodells zur Unsterblichkeitslehre; intensiv diskutiert wird die Frage, wie Platon die Dreiteiligkeit der Seele mit ihrer Einheit, Unzerstörbarkeit und körperfreien Existenz vereinbart hat. Entstehung und historischer Hintergrund Die Umstände und Phasen der Entstehung des Werks und damit auch der in Betracht kommende Zeitraum sind schwer zu ermitteln und stark umstritten. Verbreitet ist in der Forschung die Ansicht, dass Platon über einen längeren Zeitraum daran gearbeitet hat. Verschiedentlich ist versucht worden, einzelne Entstehungsphasen zu rekonstruieren. Viel Anklang hat die Hypothese gefunden, dass das erste Buch, das stilistische Besonderheiten aufweist, deutlich früher als der Rest geschrieben wurde. Auf Widerspruch ist hingegen die weiter reichende Vermutung gestoßen, das erste Buch sei ursprünglich als eigenständiger Dialog mit dem Titel Thrasymachos konzipiert worden. Eine andere Hypothese weist dem letzten Buch eine Sonderstellung zu; es sei nachträglich hinzugefügt worden. Diese Meinung wird aber in der neueren Forschung nur von einer Minderheit vertreten. Übereinstimmung besteht darüber, dass die Politeia in Platons mittlere Schaffensperiode gehört. Sofern das erste Buch ursprünglich als separates Werk entstanden ist, kann es in die Nähe der frühen Dialoge gerückt werden. Den Hauptteil setzen die meisten Datierungsansätze in den Zeitraum zwischen ca. 390 v. Chr. und ca. 370 v. Chr.; vereinzelt ist für das letzte Buch späte Entstehung (nach 370) angenommen worden. Die heute übliche Einteilung des Dialogs in zehn Bücher stammt nicht von Platon. Sie wirkt künstlich und ist vor dem Beginn der römischen Kaiserzeit nicht bezeugt. Eine ältere Einteilung in sechs Bücher geht auf den Gelehrten Aristophanes von Byzanz zurück, der im späten 3. und frühen 2. Jahrhundert v. Chr. tätig war. Textüberlieferung Aus der Antike sind nur einige Papyrus-Fragmente aus der römischen Kaiserzeit sowie ein kleines Fragment einer schlechten koptischen Übersetzung aus der Sammlung der Nag-Hammadi-Schriften erhalten. Die 53 mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Handschriften, die den Text ganz oder teilweise überliefern, stammen größtenteils aus dem Zeitraum vom 13. bis zum 16. Jahrhundert. Die älteste von ihnen, der „Codex A“, entstand im 9. Jahrhundert im Byzantinischen Reich. Rezeption Sowohl in der Antike als auch in der Neuzeit bis in die Gegenwart hat die Politeia eine intensive Nachwirkung entfaltet. Besondere Beachtung finden dabei seit jeher die Gütergemeinschaft, die Aufhebung der Familie, die Philosophenherrschaft und die vernichtende Kritik an den Dichtern. Sie haben zu einer Vielzahl von Urteilen und Kontroversen Anlass gegeben. Antike Schon in der Antike galt die Politeia als eines der wichtigsten Werke Platons. Sein Schüler Aristoteles betrachtete das Staatsmodell nicht als Gedankenexperiment, sondern kritisierte es als ernst gemeintes politisches Projekt. Die tiefe Meinungsverschiedenheit der beiden Philosophen betraf nicht nur die Umsetzung des Vorhabens, sondern schon die Zielsetzung. Aristoteles hielt das Ziel, im Staat Einheit herzustellen, für prinzipiell verfehlt, denn ein Staat könne nicht in dem von Platon gemeinten Sinne eine Einheit sein. Das Vorhaben, zwecks Schaffung eines Einheitsbewusstseins Besitzunterschiede und familiäre Bindungen zu beseitigen, sei zum Scheitern verurteilt, denn Menschen ohne Privatbesitz und Familie würden ihre Loyalität nicht der staatlichen Gemeinschaft zuwenden, sondern im Gegenteil kein Interesse am Gemeinwohl und an der nächsten Generation zeigen. Die Aufhebung des Privatbesitzes widerspreche einem Grundzug der menschlichen Natur und verunmögliche die Freigebigkeit. Außerdem lehnte Aristoteles die Ideenlehre ab. Er kritisierte, Platon habe es versäumt, die Erziehung und die politischen und ökonomischen Verhältnisse der Bauern und Handwerker zu klären; es müsse zu Konflikten zwischen den Erwerbstätigen und den Wächtern kommen. Die in der Politeia geschilderte Abfolge der Verfassungen hielt Aristoteles für willkürlich und schlecht begründet; empirisch seien auch andere Umschwünge zu beobachten. Auch in der Schule des Aristoteles, dem Peripatos, setzte man sich mit der Politeia auseinander. Aristoteles’ Schüler Theophrast fertigte einen Auszug aus dem Dialog in zwei Büchern an, ein weiterer Aristoteles-Schüler, Klearchos von Soloi, verfasste eine Schrift Über das in Platons Politeia mathematisch Dargestellte. Zu den Platonikern, die in der Zeit des Mittelplatonismus die Politeia oder zumindest einen Teil des Dialogs kommentierten, zählten Derkylides, Theon von Smyrna, Lukios Kalbenos Tauros, Albinos, Numenios von Apameia und Harpokration von Argos. Alle Kommentare der Mittelplatoniker sind verloren; aus einigen sind vereinzelte Fragmente überliefert. Zenon von Kition, der Begründer der Stoa, schrieb eine Politeia, ein heute bis auf Fragmente verlorenes Jugendwerk, das offenbar seine Antwort auf Platons Staatsmodell war. Im Zeitalter des Hellenismus und in der römischen Kaiserzeit nahmen eine Reihe von Autoren kritisch zur Politeia Stellung. Teils wiesen sie auf die fehlende praktische Relevanz der Utopie hin (Polybios, Athenaios), teils entrüsteten sie sich über die Verbannung der Dichter aus dem Idealstaat. Kritiker von Platons dichtungsfeindlicher Haltung waren neben Athenaios der Stoiker Herakleitos, der sich in seinen Quaestiones Homericae äußerte, der Rhetor und Literaturkritiker Dionysios von Halikarnassos und der Redner Maximos von Tyros. Der Epikureer Kolotes von Lampsakos (* wohl um 320 v. Chr.), der als scharfer Gegner Platons hervortrat, verfasste eine Schrift gegen den Er-Mythos. Er meinte, dieser Mythos habe ursprünglich nicht von Er, sondern von Zarathustra gehandelt. Zarathustra sei der Erfinder der Erzählung, die Platon später adaptiert habe. Außerdem bemängelte Kolotes Platons Stil. Chrysippos von Soloi, der im späten 3. Jahrhundert v. Chr. Schulhaupt der Stoa war, schrieb eine gegen Platon gerichtete Abhandlung über die Gerechtigkeit, in der er einzelne in der Politeia dargelegte Positionen angriff. Cicero orientierte sich in seinem Dialog De re publica am Vorbild von Platons Darstellung des Idealstaats. In seinen Tusculanae disputationes billigte Cicero die in der Politeia dargelegte Entscheidung, eine pädagogisch schädliche Dichtung nicht zuzulassen. In der Tetralogienordnung der Werke Platons, die anscheinend im 1. Jahrhundert v. Chr. eingeführt wurde, gehört die Politeia zur achten Tetralogie. Der Philosophiegeschichtsschreiber Diogenes Laertios zählte sie zu den „politischen“ Schriften und gab als Alternativtitel „Über das Gerechte“ an. Dabei berief er sich auf eine heute verlorene Schrift des Mittelplatonikers Thrasyllos. Der Stoiker Epiktet berichtet, dass die Politeia bei den Römerinnen wegen der Ausführungen über die Frauen eine beliebte Lektüre war. Der im 2. Jahrhundert lebende Rhetor und Musiktheoretiker Dionysios von Halikarnassos, der nicht mit dem gleichnamigen Schriftsteller der augusteischen Zeit zu verwechseln ist, verfasste eine Schrift mit dem Titel Welche Stellen in Platons Politeia musikalisch zu verstehen sind, die fünf Bücher umfasste. In der Frühzeit des Neuplatonismus wurde die Politeia eifrig studiert. Der Neuplatoniker Porphyrios schrieb ein großes Kommentarwerk zu dem Dialog. Amelios Gentilianos legte jedenfalls einzelne Stellen aus, doch ist unklar, ob seine überlieferten Äußerungen aus einem von ihm verfassten Kommentar stammen. In den Schulen der spätantiken Neuplatoniker Iamblichos und Proklos gehörte die Politeia wegen ihrer Länge nicht zum Lektürekanon, doch gab es auch Neuplatoniker, die sie im Unterricht behandelten. Iamblichos betrachtete sie als einen von pythagoreischem Einfluss geprägten Text. Syrianos schrieb einen Politeia-Kommentar in vier Büchern. Anscheinend hat auch Theodoros von Asine den Dialog ganz oder teilweise kommentiert. Proklos widmete der Politeia eine Reihe von 17 Einzelschriften, unter denen sein Kommentar zum Er-Mythos die weitaus umfangreichste ist. Die 17 Abhandlungen wurden wohl erst im 9. Jahrhundert zu einem Kommentar zusammengestellt. Die gängige Bezeichnung dieser Sammlung als „Politeia-Kommentar des Proklos“ ist daher ungenau. Da die spätantiken Neuplatoniker Homer sehr schätzten und als Autorität betrachteten, versuchten sie Platons Kritik an ihm zu relativieren. Mit Ausnahme der Politeia-Kommentierung des Proklos sind alle ihre Kommentare verloren. Bei christlichen Autoren fand Platons Kritik an unwürdigen Darstellungen der Götter in den Mythen der Dichter Beifall, denn die Christen polemisierten heftig gegen die alte polytheistische Religion, die auf diesen Mythen fußte. Minucius Felix und Augustinus lobten unter diesem Gesichtspunkt Platons Angriff auf die Dichter. Schon im 1. Jahrhundert hatte der jüdische Schriftsteller Flavius Josephus in seinem Werk Contra Apionem geschrieben, Platons Verbot der herkömmlichen Dichtung im Idealstaat basiere auf seiner richtigen Meinung über Gott. Auch die Feststellung im Er-Mythos, die Gottheit könne nicht für die Schicksale der Menschen verantwortlich gemacht werden, da diese eine Folge der menschlichen Entscheidungsfreiheit seien, wurde in christlichen Kreisen mit Zustimmung zitiert. Entrüstung rief hingegen die für den Idealstaat geforderte Abschaffung der Monogamie hervor. Mittelalter Byzantinische Gelehrte hatten Zugang zu dem Werk. Der Patriarch Photios I., der sich sehr für antike Literatur interessierte, äußerte sich mit Entrüstung über das Staatsmodell, das realitätsfern und voller Unmoral und Widersprüche sei. Bei den lateinischsprachigen Gelehrten des Westens war der Text des Dialogs im Mittelalter unbekannt. Allerdings lag den spätmittelalterlichen Scholastikern die Politik des Aristoteles in der lateinischen Übersetzung vor, die Wilhelm von Moerbeke um 1260/1265 angefertigt hatte; auf diesem Weg erhielten sie einige Informationen über die Politeia. Daher nahmen sie Platons Konzept aus der Perspektive des Aristoteles wahr. Im arabischsprachigen Raum war der Inhalt der Politeia zumindest teilweise gut bekannt. Im 10. Jahrhundert berichtete der Gelehrte ibn an-Nadīm in seinem Kitāb al-Fihrist, es liege eine von Ḥunain ibn Isḥāq stammende arabische Übersetzung vor. Unklar ist allerdings, ob Ḥunain, der im 9. Jahrhundert lebte, tatsächlich das ganze Werk übersetzt hat. Möglicherweise meinte ibn an-Nadīm die arabische Übersetzung von Galens ausführlicher Zusammenfassung des Dialogs, die Ḥunain nach seinen eigenen Angaben angefertigt hat. Der namhafte Mathematiker und Astronom Ṯābit ibn Qurra († 901) schrieb eine Abhandlung über die Gleichnisse in der Politeia, die heute verloren ist. Im 12. Jahrhundert verfasste der Philosoph Averroes einen selektiven Politeia-Kommentar, der nur in einer spätmittelalterlichen hebräischen Übersetzung überliefert ist. Er bekannte sich darin ausdrücklich zu Platons Auffassung von der Rolle der Frau in der Gesellschaft, womit er sich in einen scharfen Gegensatz zur islamischen Tradition stellte. Im Westen wurde die Politeia im Zeitalter des Renaissance-Humanismus wiederentdeckt. Die erste lateinische Übersetzung erstellte der byzantinische Gelehrte Manuel Chrysoloras zusammen mit seinem Schüler Uberto Decembrio 1400–1402. Ubertos Sohn Pier Candido Decembrio überarbeitete sie anhand des griechischen Originaltextes; 1440 beendete er seine Neufassung der lateinischen Politeia. Eine weitere lateinische Übersetzung stammt von dem Humanisten Antonio Cassarino († 1447). Frühe Neuzeit Der berühmte Humanist Marsilio Ficino fertigte eine neue lateinische Übersetzung des Dialogs an, die erste, die gedruckt wurde. Er veröffentlichte sie 1484 in Florenz in der Gesamtausgabe seiner Platon-Übersetzungen. Ficino brachte das platonische Staatsideal mit christlichen Vorstellungen in Zusammenhang; die Abschaffung des Privateigentums betrachtete er als Befolgung eines von Gott stammenden Naturgebots, in Platons bestem Staat sah er ein irdisches Abbild des himmlischen Jerusalems. Die Erstausgabe des griechischen Textes erschien im September 1513 in Venedig bei Aldo Manuzio als Teil der ersten Gesamtausgabe der Werke Platons. Der Herausgeber war Markos Musuros. Der Staatstheoretiker Jean Bodin wandte sich gegen Platons Konzept einer Einheit der Bürger durch Aufhebung des Privatbereichs. Der private und der öffentliche Bereich seien in Wirklichkeit komplementär und bedingten einander. Thomas More nahm in seinem 1516 veröffentlichten Dialog Utopia auf keine Schrift häufiger Bezug als auf die Politeia, an deren Vorbild er sich bei der Beschreibung der Lebensverhältnisse im fiktiven Staat Utopia anlehnte. In Mores Utopia besteht eine Gütergemeinschaft aller Bürger, nicht nur eines Standes. Die Frage, ob ein solcher konsequenter Verzicht auf Privateigentum praktikabel und wünschenswert ist, wird im Dialog kontrovers diskutiert, wobei sich der Befürworter der Gütergemeinschaft auf Platon beruft. Auch Utopisten des 17. Jahrhunderts (Tommaso Campanella, Johann Valentin Andreae, Gerrard Winstanley) entwarfen Modelle, die sich teilweise auf Gedankengut der Politeia zurückführen lassen. Den Hintergrund bildete wie bei Platon Kritik an den sozialen Verhältnissen der jeweiligen Gegenwart, deren Entwicklung als Desintegration des Gemeinwesens wahrgenommen wurde. Es wurde ein Zusammenhang zwischen Privatbesitz, sozialer Polarisierung und Verfall der Sitten hergestellt. Als Alternative konzipierten die Utopisten einen gerechten, wohlgeordneten Idealstaat, der Luxus verbietet und den Privatbesitz abschafft oder drastisch beschränkt. Campanella übernahm sogar Platons Beseitigung der Familie. Jean-Jacques Rousseau schätzte die Politeia; er nannte sie die schönste Abhandlung über die Erziehung, die je geschrieben wurde. Außerdem berief er sich auf die Abschaffung der Familie im Idealstaat, um seine Weigerung, für seine Kinder Verantwortung zu übernehmen, zu rechtfertigen. Der Philosoph Christian Wolff (1679–1754) stimmte Platons Forderung nach Philosophenherrschaft ausdrücklich zu. Da ihm aber die Unmöglichkeit einer Verwirklichung dieser Idee klar war, plädierte er für Beratung der Regenten durch Philosophen. Immanuel Kant verwarf in seiner Schrift Zum ewigen Frieden den Gedanken der Philosophenherrschaft: „Daß Könige philosophiren, oder Philosophen Könige würden, ist nicht zu erwarten, aber auch nicht zu wünschen: weil der Besitz der Gewalt das freie Urtheil der Vernunft unvermeidlich verdirbt.“ In seiner Kritik der reinen Vernunft verteidigte Kant jedoch die Absicht Platons: Es sei falsch, die „Platonische Republik“ als „Beispiel von erträumter Vollkommenheit, die nur im Gehirn des müßigen Denkers ihren Sitz haben kann“ zu betrachten und „unter dem sehr elenden und schädlichen Vorwande der Unthunlichkeit“ zu missachten. Vielmehr sei das Ziel zu würdigen, eine „Verfassung von der größten menschlichen Freiheit“ zu schaffen, die bewirke, dass die Freiheit eines jeden mit der Freiheit der anderen zusammen bestehen könne. Dies sei „doch wenigstens eine nothwendige Idee“. Diese Idee solle man nicht nur einer Staatsverfassung, sondern allen Gesetzen zugrunde legen. Die größte Glückseligkeit werde aus der Befolgung dieses Grundsatzes von selbst folgen. Mit Recht behaupte Platon, dass bei solcher Gesetzgebung und Regierung Strafen im Idealfall überflüssig würden; zumindest würden sie bei Annäherung an das Ideal seltener werden. Nicht Mängel der menschlichen Natur stünden der Verwirklichung entgegen, sondern die bisherige „Vernachlässigung der ächten Ideen bei der Gesetzgebung“. Die „pöbelhafte Berufung auf vorgeblich widerstreitende Erfahrung“ sei kein Einwand gegen ein Staatsideal, sondern eines Philosophen unwürdig. Moderne In der Moderne wird die Politeia oft als Platons bedeutendstes Werk eingeschätzt; sie ist aber auch – neben den Nomoi – das inhaltlich umstrittenste, sowohl wegen der stark ausgeprägten „autoritären“ Züge als auch wegen der Dichterkritik. Allgemeine Würdigungen In der Fachliteratur wird die Politeia häufig als Platons Hauptwerk bezeichnet. Der philosophische Gehalt des Dialogs wird auch von Kritikern des platonischen Staatsideals als bedeutend eingestuft. Olof Gigon fasst diesen Befund mit der Feststellung zusammen, die Politeia bringe wie kein anderer Dialog die Beweglichkeit, Vielseitigkeit und Kühnheit des platonischen Philosophierens zum Bewusstsein. Für Leo Strauss ist die Politeia das berühmteste politische Werk aller Zeiten. Sie biete eine einzigartig breite und tiefe Analyse des politischen Idealismus. Ernst Cassirer stellt fest, Platons Theorie des Gerechtigkeitsstaates sei „ein bleibendes Besitztum der menschlichen Kultur“ geworden. Die literarische Qualität findet hohe Wertschätzung; die Politeia gilt als Meisterwerk der Weltliteratur. Gerühmt wird vor allem der kunstvolle Aufbau. Als Pionierleistungen werden in der Forschung zwei Hauptforderungen Platons gewürdigt, mit denen er seiner Zeit voraus war und die viel später unter ganz anderen Verhältnissen und Voraussetzungen verwirklicht wurden: eine spezielle Ausbildung als Voraussetzung für die Aufnahme in ein Beamtentum, das Regierungsaufgaben übernimmt, und eine vom Staat geregelte Erziehung. Philosophiegeschichtliche Verortung im 19. Jahrhundert Georg Wilhelm Friedrich Hegel wies auf die Verwurzelung der Politeia in der geistigen Welt ihrer Entstehungszeit hin. Sie gelte „als das Sprichwort eines leeren Ideals“, sei aber Ausdruck der „Natur der griechischen Sittlichkeit“. Eduard Zeller knüpfte in seiner Darstellung der antiken griechischen Philosophiegeschichte, einem damals maßgeblichen Standardwerk, an Hegels Ausführungen an. Er meinte, das Prinzip des platonischen Staates sei echt griechisch und es sei dem Philosophen mit der Verwirklichung vollkommen ernst gewesen. Der Idealstaat der Politeia zeige diejenigen Merkmale des griechischen Geistes, durch die sich dieser vom modernen unterscheide, in der höchsten Vollendung. Dadurch wirke das Konzept in der Moderne fremdartig. Platon habe aber Bestrebungen und Einrichtungen der Zukunft mit kühnem Griff vorweggenommen; er habe die von der Geschichte gestellten Aufgaben vorzeitig und mit untauglichen Mitteln zu lösen versucht. In England trug der einflussreiche Philologe Benjamin Jowett maßgeblich dazu bei, die gebildete Öffentlichkeit mit dem Gedankengut der Politeia, die er ins Englische übersetzte, vertraut zu machen. Er sah in dem Dialog den Höhepunkt nicht nur von Platons Denken, sondern der gesamten antiken Philosophie. Karl Marx urteilte 1867: „Platos Republik, soweit in ihr die Teilung der Arbeit als das gestaltende Prinzip des Staats entwickelt wird, ist nur atheniensische Idealisierung des ägyptischen Kastenwesens, (…).“ Kontroverse Einschätzungen des Staatsideals im 20. Jahrhundert Im frühen 20. Jahrhundert äußerten sich Mitglieder des George-Kreises enthusiastisch über Platons politisches Gedankengut. Kurt Hildebrandt fasste diese Sichtweise zusammen, indem er die Bildung eines neuen Adels als Ziel Platons darstellte. Er sah in dem Staatsentwurf ein konkretes Angebot des Philosophen an seine Heimatstadt. In der Zeit von den frühen 1930er bis zu den frühen 1960er Jahren kam es zu heftigen ideologischen Kontroversen um das Staatsideal Platons vor dem Hintergrund der damaligen Auseinandersetzungen zwischen Vertretern liberaler, sozialistischer, marxistischer und nationalsozialistischer Positionen sowie Befürwortern eines Aktualitätswerts klassischer antiker Philosophie. Dabei ging es insbesondere um die Frage, ob oder inwieweit der platonische Idealstaat als Vorläufer moderner totalitärer Systeme zu betrachten sei. In den 1930er Jahren setzte eine vehemente Kritik liberaler und sozialistischer Autoren an Platons Entwurf ein. Wortführer der Kritiker waren Richard Crossman, Bertrand Russell und Karl Popper. Die polemisch geführte Debatte fand sowohl in akademischen Kreisen als auch in einer breiteren Öffentlichkeit statt. Sie war stark von den weltanschaulichen und politischen Präferenzen der Protagonisten geprägt. Nach dem Abflauen des Streits setzte sich ab dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts in der Forschung das Bemühen um eine unbefangene Sichtweise durch. Karl Popper veröffentlichte 1945 seine Abhandlung Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, deren erster Band die politische Philosophie Platons behandelt. Darin setzte er sich vor allem mit der Politeia auseinander, die „ein glänzendes Stück politischer Propaganda“ sei. Das Werk enthalte eine „bis zur Leidenschaft feindselige“ Parodie des politischen Lebens in Athen und der Demokratie; es gehöre zu den „giftgefüllten Schriften“ Platons und habe bis in die Moderne ungeheures Unheil angerichtet. Der Angriff auf die Demokratie sei durch eine Flut von Schmähungen und „das völlige Fehlen rationaler Argumente“ charakterisiert. Platon habe seinen Idealstaat als „Kastenstaat“ konzipiert; dabei habe er dem Klassenkampf vorbeugen wollen, indem er der herrschenden Klasse eine unanfechtbare Übermacht verliehen habe. Großes Gewicht legte Popper auf den Vergleich mit modernen totalitären Systemen, mit denen Platons politisches Programm im Grunde „identisch“ sei. Das in der Politeia propagierte Geschichtsbild sei reaktionär. Es handle sich um eine Form des Historizismus, einer von Popper so benannten Richtung der politischen Philosophie, die von der Gesetzmäßigkeit und Voraussagbarkeit der historischen Entwicklung ausgehe. Die historizistische Theorie Platons sei bemerkenswert wirklichkeitsnah, denn er habe im Klassenkampf die Triebkraft der Geschichte und zugleich die zum Verfall führende Kraft erkannt. Hinter seiner vergangenheitsorientierten Haltung stehe seine Sehnsucht nach der „verlorenen Einheit des Stammeslebens“. Dabei handle es sich um eine „romantische Liebe“ zum stabilen Kollektiv einer primitiven Urgesellschaft, von der er in der Politeia eine hervorragende soziologische Beschreibung gebe. Das historizistische Gedankengut habe er mit einem „biologischen Naturalismus“ verbunden, das heißt einer Theorie, der zufolge es ewige Naturgesetze gebe, aus denen die sittlichen Gesetze und die Staatsgesetze hergeleitet werden könnten. Seine Gerechtigkeitsvorstellung sei von einer höchst feindlichen Haltung zum Individualismus geprägt. Er habe sich selbst als denjenigen betrachtet, dem eigentlich die Macht zustehe; das Porträt des Philosophenherrschers in der Politeia sei sein Selbstporträt. Poppers Stellungnahme hat in der Forschung und auch in einer breiteren Öffentlichkeit einen starken Widerhall hervorgerufen. Das Spektrum der Reaktionen reicht von klarer Zustimmung bis zu heftiger Ablehnung und umfasst auch zahlreiche Bemühungen um eine differenzierende Sicht. Gegen Poppers Interpretation der platonischen Staatstheorie wandten sich eine Reihe von Altertumswissenschaftlern und Philosophiehistorikern. Aus philologischer Sicht wurde die Korrektheit seiner Wiedergabe von Platons Ausführungen bestritten. Altertumswissenschaftler bemängelten den einseitig systematischen, weitgehend unhistorischen Ansatz. Manche Kritiker Poppers versuchten Platons Position mit der demokratischen zu versöhnen und arbeiteten die Unterschiede zwischen dem platonischen Idealstaat und dem modernen Totalitarismus heraus. Ein Hauptargument der Kritik lautet, Popper sei nicht unbefangen, sondern beurteile antike Philosophie unter dem unmittelbaren Eindruck politischer Ereignisse seiner Zeit, wodurch eine verzerrte Perspektive entstehe. Aufgrund seines politischen Engagements sei er gegenüber den Denkern, die er für Vorläufer des Totalitarismus halte, voreingenommen. Bestritten wird auch Poppers Behauptung, Platon habe sich als Feind jeder Veränderung erwiesen. Außerdem wird auf Platons Freiheitsverständnis verwiesen, das auf dem Primat des vernunftgelenkten Individuums basiere; die Grundlage des Idealstaats sei Harmonie und freiwillige Einordnung der Bürger im Rahmen eines umfassenden Konsenses. Hans-Georg Gadamer legte schon in zwei 1934 und 1942 publizierten Aufsätzen und später in der Auseinandersetzung mit Poppers Platonbild seine Auffassung vom Zweck der Politeia dar. Er meinte, Platon habe in erzieherischer Absicht „einen Staat in Worten“ errichtet, um den Leser zum „neuen Finden des Rechten in der eigenen Seele“ anzuregen. Es sei ein Staat in Gedanken, an dem etwas sichtbar werden solle, kein Staat auf der Erde. Das Bildungsziel des Philosophen sei eine innere Harmonie als Einigung des Wilden und des Friedlichen im Menschen. Diese Harmonisierung sei „die Stimmung einer in der Natur des Menschen gelegenen Dissonanz“. Erforderlich sei für die Deutung der Politeia in erster Linie ein hermeneutischer Ansatz. Platon denke hier in Utopien, in „Formen von Vernunftspielen“. Dies habe Popper verkannt. Auch Jacques Derrida war der Ansicht, Platon habe mit der Forderung, Philosophie und Staatsgewalt zu vereinigen, ein auf immer unerreichbares Ideal formuliert. Dennoch habe er die strenge Beschreibung der reinen Strukturen dieses idealen Staates für unerlässlich gehalten, da erst das Muster den Begriffen der politischen Philosophie ihren Sinn verleihe. Der Marxist Ernst Bloch urteilte, die Politeia sei „so durchdacht wie reaktionär“, sie sei zwar „ein großartiges sozialutopisches Schiff“, aber zu Unrecht für eine kommunistische Schrift gehalten worden; ihr Kommunismus sei „keiner der Arbeit, sondern einer der Nicht-Arbeit“. Ein weiterer Aspekt des platonischen Idealstaats, der zum Anlass für Kritik genommen wurde, war die Ausrichtung auf bloße Erhaltung eines optimierten Zustands statt auf dauernden Fortschritt. Der Geschichtsphilosoph Arnold J. Toynbee befand, der Staat der Politeia sei ein Beispiel einer steckengebliebenen Zivilisation („arrested society“), und verglich ihn mit dem Osmanischen Reich. Typisch für solche Gesellschaften sei der Verzicht auf weitere Entwicklung und die Konzentration auf den Versuch, einen Abstieg aufzuhalten. Allen derartigen Gesellschaften seien zwei Merkmale gemeinsam: Kastentum und Spezialisierung. Auch der Soziologe Ralf Dahrendorf kritisierte den statischen Charakter des Idealstaats. Platons Sokrates sei der erste Funktionalist gewesen. Die von ihm angestrebte Gerechtigkeit sei „offenkundig ein unseliger Zustand: eine Welt ohne Rebellen und Eremiten, ohne Wandel und ohne Freiheit“; wirkliche Gerechtigkeit liege eher „im ständig sich wandelnden Resultat der Dialektik von Herrschaft und Widerstand“. Die Politeia als Grundlagentext der Naturrechtslehre Ein Thema weiterhin andauernder Debatten ist die Bedeutung der Politeia und des an sie anknüpfenden „politischen Platonismus“ in der Geschichte der Naturrechtslehre. Die Philosophiehistorikerin Ada Neschke-Hentschke sieht Platon als Urheber einer systematischen Naturrechtskonzeption, die eine „natürliche Gerechtigkeit“ zur Norm des positiven Rechts mache. Vor seiner Zeit seien „Natur“ und „Recht“ als Gegensätze aufgefasst worden, erst er habe sie zu einer Einheit verbunden und daraus ein Gebot der Natur gemacht. Die Forderung, dem Naturrecht zu folgen, habe Platon in der Politeia erhoben, im Dialog Nomoi habe er daraus die legislativen Konsequenzen gezogen. Von politischem Platonismus könne man überall dort sprechen, wo der Staat mit Bezug auf diese platonische Tradition naturrechtlich legitimiert werde. Neschke-Hentschke nimmt eine Kontinuität des naturrechtlichen Denkens an, die Platons Konzept mit der Theorie des modernen Rechtsstaates verbinde. Die wegweisende Rolle Platons in der Geschichte der Naturrechtslehre wird zwar in der Forschung anerkannt, die Wertungen fallen aber je nach der rechtsphilosophischen Position der Autoren sehr unterschiedlich aus. Der Rechtswissenschaftler Hans Kelsen, ein profilierter Naturrechtskritiker, übt aus rechtspositivistischer Sicht Kritik an Platons naturrechtlichem Gerechtigkeitsverständnis. In einer 1985 postum veröffentlichten Untersuchung bezeichnet er die Gerechtigkeitsdefinition, die sich aus der Diskussion in der Politeia ergibt, als inhaltslose Formel. Aktualisierung Der französische Philosoph Alain Badiou, der sich intensiv mit Platons Philosophie und der modernen Kritik an ihr auseinandergesetzt hat, hat 2012 eine verfremdete, modernisierte Version der Politeia publiziert. Badiou, der seine Arbeit als „Hyperübersetzung“ bezeichnet, verwandelt Adeimantos in eine weibliche Gestalt namens Amantha, die eine materialistische Position vertritt. Amantha kritisiert die Thesen des Sokrates lebhaft, wobei sie Präzision und Schlüssigkeit einfordert und kein Übergehen von Schwierigkeiten duldet. Sie tritt für konsequente „Universalisierung“ ein: Die philosophische Argumentation muss so vorgetragen werden, dass sie für jeden nachvollziehbar ist. Badiou modifiziert Platons elitäres Philosophieverständnis: Die Elite soll so erweitert werden, dass sie die gesamte Menschheit umfasst, analog der Forderung des Regisseurs Antoine Vitez, ein „elitäres Theater für alle“ zu schaffen. Ausgaben und Übersetzungen Ausgaben (teilweise mit Übersetzung) Simon R. Slings (Hrsg.): Platonis Respublica. Oxford University Press, Oxford 2003, ISBN 0-19-924849-4 (maßgebliche kritische Ausgabe). Gunther Eigler (Hrsg.): Platon: Werke in acht Bänden. Band 4, 4. Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005, ISBN 3-534-19095-5 (Abdruck der kritischen Ausgabe von Émile Chambry; daneben die deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, 2., verbesserte Auflage, Berlin 1828) Thomas Alexander Szlezák (Hrsg.): Platon: Der Staat. Politeia. Artemis & Winkler, Düsseldorf/Zürich 2000, ISBN 3-7608-1717-3 (enthält die Edition von Émile Chambry ohne den kritischen Apparat, die Übersetzung von Rudolf Rufener (1950) in einer von Szlezák geringfügig bearbeiteten Fassung sowie eine Einführung und Erläuterungen von Szlezák). Übersetzungen Otto Apelt, Karl Bormann: Platon: Der Staat. Über das Gerechte (= Philosophische Bibliothek, Bd. 80). 11., durchgesehene Auflage, Meiner, Hamburg 1989, ISBN 3-7873-0930-6 August Horneffer: Platon: Der Staat. Kröner, Stuttgart 1955. Gernot Krapinger: Platon: Der Staat. Reclam, Stuttgart 2017, ISBN 978-3-15-011142-0. Wilhelm Sigismund Teuffel, Wilhelm Wiegand: Der Staat. In: Erich Loewenthal (Hrsg.): Platon: Sämtliche Werke in drei Bänden. Bd. 2, unveränderter Nachdruck der 8., durchgesehenen Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2004, ISBN 3-534-17918-8, S. 5–407 Karl Vretska: Platon: Der Staat. Reclam, Stuttgart 2004, ISBN 3-15-008205-6 (Neudruck der durchgesehenen Ausgabe von 1982). Literatur Übersichtsdarstellungen Georges Leroux: La République. In: Richard Goulet (Hrsg.): Dictionnaire des philosophes antiques. Band 5, Teil 1, CNRS Éditions, Paris 2012, ISBN 978-2-271-07335-8, S. 789–814. Michael Erler: Platon (= Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike, hrsg. von Hellmut Flashar, Band 2/2). Schwabe, Basel 2007, ISBN 978-3-7965-2237-6, S. 202–215, 619–627. Einführungen Julia Annas: An Introduction to Plato’s Republic. Clarendon Press, Oxford 1981, ISBN 0-19-827429-7. Karlheinz Hülser: Platon für Anfänger. Der Staat. Eine Lese-Einführung. Deutscher Taschenbuch-Verlag, München 2005, ISBN 3-423-34239-0. Kommentare Alexander Becker: Platons „Politeia“. Ein systematischer Kommentar. Reclam, Stuttgart 2017, ISBN 978-3-15-019477-5. Olof Gigon: Gegenwärtigkeit und Utopie. Eine Interpretation von Platons „Staat“. Band 1: Buch I–IV. Artemis, Zürich/München 1976, ISBN 3-7608-3653-4 (mehr nicht erschienen). Joachim Lege: Politeía. Mohr Siebeck, Tübingen 2013, ISBN 978-3-16-152680-0. Kimon Lycos: Plato on Justice and Power. Reading Book 1 of Plato's Republic. Macmillan, Basingstoke 1997. Darren J. Sheppard: Plato’s Republic. An Edinburgh Philosophical Guide. Edinburgh University Press, Edinburgh 2009, ISBN 978-0-7486-2779-0. Mario Vegetti (Hrsg.): Platone: La Repubblica. Traduzione e commento. 7 Bände, Bibliopolis, Napoli 1998–2007 (der Kommentar besteht aus Aufsätzen verschiedener Autoren zur Thematik der einzelnen Abschnitte des Werks). Monographien Jacob Frederik M. Arends: Die Einheit der Polis. Eine Studie über Platons Staat. Brill, Leiden 1988, ISBN 90-04-08785-0. Norbert Blößner: Dialogform und Argument. Studien zu Platons ‚Politeia‘. Franz Steiner, Stuttgart 1997, ISBN 3-515-07060-5. Leon Harold Craig: The War Lover. A Study of Plato’s Republic. University of Toronto Press, Toronto 1994, ISBN 0-8020-0586-1. Kenneth Dorter: The Transformation of Plato’s Republic. Lexington Books, Lanham 2006, ISBN 0-7391-1188-4. Reinhart Maurer: Platons ‚Staat‘ und die Demokratie. Historisch-systematische Überlegungen zur politischen Ethik. De Gruyter, Berlin 1970, ISBN 3-11-006391-3. Aufsatzsammlungen Monique Dixsaut (Hrsg.): Études sur la République de Platon. 2 Bände, Vrin, Paris 2005, ISBN 2-7116-1815-3 und ISBN 2-7116-1816-1. Giovanni R. F. Ferrari (Hrsg.): The Cambridge Companion to Plato’s Republic. Cambridge University Press, Cambridge/New York 2007, ISBN 978-0-521-54842-7. Otfried Höffe (Hrsg.): Platon: Politeia. 3., bearbeitete Auflage, Akademie Verlag, Berlin 2011, ISBN 978-3-05-004978-6. Mark L. McPherran (Hrsg.): Plato’s Republic. A Critical Guide. Cambridge University Press, Cambridge 2010, ISBN 978-0-521-49190-7. Noburu Notomi, Luc Brisson (Hrsg.): Dialogues on Plato’s Politeia (Republic). Selected Papers from the Ninth Symposium Platonicum. Academia Verlag, Sankt Augustin 2013, ISBN 978-3-89665-538-7 Gerasimos Santas (Hrsg.): The Blackwell Guide to Plato’s Republic. Blackwell, Malden 2006, ISBN 1-4051-1564-5. Rezeption Bibliographie Ulrike Zimbrich: Bibliographie zu Platons Staat. Die Rezeption der Politeia im deutschsprachigen Raum von 1800 bis 1970. Klostermann, Frankfurt am Main 1994, ISBN 3-465-02652-7. Weblinks Textausgaben und Übersetzungen Politeia, griechischer Text nach der Ausgabe von John Burnet, 1902 Politeia, deutsche Übersetzung nach Wilhelm Siegmund Teuffel und Wilhelm Wiegand, 1855/1856, bearbeitet Politeia, deutsche Übersetzung nach Wilhelm Siegmund Teuffel und Wilhelm Wiegand, 1855/1856 Politeia, deutsche Übersetzung von Friedrich Schleiermacher (1828) Literatur Anmerkungen Corpus Platonicum Werk der Politischen Philosophie Antike Verfassungstheorie
49185
https://de.wikipedia.org/wiki/Viola%20da%20gamba
Viola da gamba
Viola da gamba (italienisch , zu viola „Geige“ und gamba „Bein“; im Deutschen Gambe, früher auch Kniegeige, Beingeige oder Schoßgeige) ist eine Sammelbezeichnung für eine Familie historischer Streichinstrumente. Sie entstand zur selben Zeit wie die Violinenfamilie. Die Bezeichnung da gamba leitet sich von der Spielhaltung ab. Die Instrumente sämtlicher Stimmlagen – Diskant-, Alt-/Tenor-, Bassgambe und Violone – werden im Gegensatz zu den viole da braccio, das heißt „Armgeigen“, zwischen den Beinen gehalten. Die kleineren Typen werden auch mit dem Korpus so auf den Schoß gestellt, dass der Hals nach oben ragt. Die Gamben entstanden wahrscheinlich im 15. Jahrhundert in Spanien. Sie haben fünf oder sechs, später auch sieben Saiten in Quart-Terz-Stimmung und ein mit Bünden versehenes Griffbrett. Den Bogen hält der Spieler im Untergriff. Die Gamben haben sich bis ins 18. Jahrhundert in der Musik zahlreicher europäischer Länder behauptet, vornehmlich in Italien und Frankreich, England und Deutschland mit jeweils eigenen Ausprägungen von Mensur und Baugestaltung sowie mit unterschiedlichen Funktionen beim Solo-, Ensemble- und Generalbass-Spiel. Mit dem Aufkommen von Violoncello und Kontrabass gerieten die Gamben, die bis dahin die Kammermusik von Akademien, Aristokratie und wohlhabendem Bürgertum bestimmt hatten, allmählich in Vergessenheit, gaben jedoch einige ihrer bau- und spieltechnischen Eigenheiten an die modernen Instrumente weiter. Vor allem durch die historische Aufführungspraxis erlebte die Viola da gamba seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine Renaissance. Wort und Wortgeschichte Der aus dem Italienischen bzw. Altprovenzalischen stammende Ausdruck viola und seine etymologischen Verwandten ( und ) sind seit dem Mittelalter bekannt. Deren Beziehung zum mittelhochdeutschen Wort fidel ist durchsichtig. Am frühesten belegt ist das mittellateinische viella, das ebenso die Fidel meint. Die unterschiedlichen Tonerzeugungsarten spiegeln sich am auffälligsten in der Familie der spanischen Vihuelas, die seit dem 13. Jahrhundert bezeugt ist und als Vihuela de péndola mit einem Federkiel angerissen, als Vihuela de arco mit dem Bogen gestrichen und als Vihuela de mano mit den Fingern gezupft wird; diese Bezeichnung hielt sich bis ins 16. Jahrhundert, während das Wort „Viola“ in anderen Sprachen bald auf Streichinstrumente eingeengt wurde. Ob alle diese Bezeichnungen, wie Johann Christoph Adelung vermutet, über das mittellateinische fiala „Saiteninstrument“ auf lateinisch fides „Lyra“ zurückgehen, kann nicht geklärt werden. Im 16. Jahrhundert bildeten sich mit der Entwicklung des Instrumentenbaus Ableitungen zu viola. Diese betrafen zum einen das Format, z. B. violino und violetta als verkleinerte, violone als vergrößerte Bauform; zum anderen teilte sich die Violenfamilie nach der Spielhaltung in Armgeigen (viole di braccio) und Kniegeigen (viole di gamba), wobei in Italien die Gattungsbegriffe viola und lira weitgehend synonym angewendet wurden. Die Drehleier hieß in Italien lira tedesca oder lira rustica. Der Bezeichnung Viola da gamba ging der allgemein beliebtere Name violone voraus, der noch 1553 in Diego Ortiz’ Tratado de Glosas als Bezeichnung für die ganze Familie galt, bevor er allein den Bassinstrumenten vorbehalten war. Die Bezeichnung Viola galt zunächst für die Violen- wie für die Violinenfamilie in sämtlichen Registern. Eine eingedeutschte Violdigamme oder Violdigamb bildete den Übergang, wenngleich die Gattungsbezeichnungen Viola und Geige sich bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts noch nicht trennten. Die Trennung und die Zusammenfassung als Instrumentenfamilie erfolgten erst am Ende des Jahrhunderts parallel zur Neubildung Kniegeige, während die Tenor- und Bassinstrumente allmählich dem Violoncello und die Diskantgambe der Barockvioline wichen. Im 18. Jahrhundert haben die modernen Bauformen die Gamben bereits so weit verdrängt, dass das Wort auf die unteren Stimmlagen beschränkt war. In nahezu allen anderen europäischen Sprachen setzte sich der italienische Terminus durch, so im Englischen und teilweise , im Französischen , im (frühen) Niederländischen , im Russischen . Zur Unterscheidung von der heute gebräuchlichen Viola bildete sich eine neue Bezeichnung heraus, die nach der Stimmlage der Bratsche heißt: englisch und französisch alto, polnisch , russisch . Einzig das Norwegische kennt wie das Deutsche und Gambe. Instrumente Michael Praetorius beschreibt in De Organographia (1619), dem zweiten Teil des Syntagma musicum, die Familie der Gamben folgendermaßen: Entstehung Die Gambenfamilie hat drei Vorläufer: den Rabāb, die Laute und die Viella. Der Rabāb () war mit der maurischen Kultur nach Spanien gelangt und ist seit dem 10. Jahrhundert als bundloses Zupf- und Streichinstrument mit zwei einfachen oder doppelten Saiten bekannt. Das Streichinstrument wird im Schoß gehalten oder hängt von der Griffhand herab. Es wird mehr mit dem Untergriff als mit dem Obergriff gespielt. Der Untergriff hat den Vorteil, dass mehr Kraft ausgeübt werden kann. Außerdem werden die Bogenhaare mit Fingerdruck gespannt – wie beim Kontrabass, der auch eine Gambe ist (und nicht etwa ein größeres Cello). Der lange Bogen erlaubt es dem Spieler, ganze Passagen auf einen Strich zu spielen, anstatt für jeden Ton zwischen Auf- und Abstrich wechseln zu müssen. Auch die Laute, die Spieltechnik und Namen dem Oud (arab. ) entlehnte, war eine Entwicklung des arabischen Kulturkreises. Allein in Spanien stand sie im 16. Jahrhundert in Konkurrenz zur Vihuela, im übrigen Europa entwickelte sie sich in zahlreichen Bauformen zum beliebtesten Zupfinstrument, denn durch die Anzahl ihrer Saiten ließ sie den Spieler beliebig transponieren. Die Bünde und die darauf beruhende Tabulaturnotation machten das Instrument leicht erlernbar. Informationen über die Spieltechnik konnten relativ einfach niedergeschrieben werden. Vieles spricht für die Herkunft der Viella aus Nordfrankreich oder Flandern. Sie war ein der Fidel ähnelndes „Modeinstrument“ des 12. Jahrhunderts, das nach Spanien gelangte und in der Vihuela sowohl etymologisch als auch bautechnisch weiterlebte: Im Gegensatz zu den runden Korpora von Rebab und Lauten besitzt sie einen flachen Boden und seitlich eingerundete Zargen wie die Gitarre. Die von Johannes Tinctoris in De usu et inventione musicae (um 1487) beschriebenen Vihuelas werden schon nach ihren Spieltechniken Zupfen und Streichen unterschieden. Einige Bilddarstellungen der Vihuela da mano aus dem 15. Jahrhundert lassen die spätere Gambenform bereits klar erkennen. Die Viola da Gamba war in der Summe eine gestrichene Vihuela da mano mit Stimmung, Bünden und Saitenzahl der Laute sowie Spielhaltung und Bogenhaltung des Rebab. Als Produkt dreier Bautypen blieben die Violen einerseits bautechnisch ohne einheitliche Normen, die lange und kurze Hälse kannten, runde und flache Schultern, unterschiedliche Formen von Schalllöchern; andererseits eigneten sie sich in ihrer Vielgestalt zum solistischen Spiel als Melodieinstrument ebenso wie im Gambenconsort als Akkordinstrument – und nicht zuletzt im Generalbass. Geprägt von drei Kulturen, gelangte die Viola da gamba nach Italien, als die Katholischen Könige am Ende der Reconquista 1492 zur „Reinerhaltung des Blutes“ Juden und Muslime aus Spanien vertrieben. Mit jüdischen Musikern gelangte sie an den Hof der Este in Ferrara und an die humanistischen Akademien. Allgemeine Bauform Die Viola da gamba wurde in drei Größen gebaut, Diskant, Alt/Tenor und Bass. Ihre beiden Entwicklungsstufen unterscheiden sich vor allem durch die Stimmung. Während der nordalpine Typ, der möglicherweise flandrischen Ursprungs war, fünf in Quarten gestimmte Saiten besaß, war der südalpine Typ aus Italien sechssaitig und hatte die Quart-Terz-Stimmung der Lauten übernommen. Die italienische Form erwies sich als besser und verdrängte im Laufe des 17. Jahrhunderts die nordalpine. Sie zeigte bereits die Gestaltungsmerkmale der klassischen Gambe, die spitz zulaufenden Oberbügel bzw. Schultern und den flachen Boden. Bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts sind es Instrumente im 12’-Register, wie sie die Theoretiker Praetorius, Pietro Cerone und Adriano Banchieri beschrieben. Noch das in Marin Mersennes Harmonie universelle (1636) abgebildete und mit einer Höhe von 4¼ Pariser Fuß (146 cm) bezeichnete Bassinstrument behielt diese Lage bei, die im Ensemblespiel Transpositionen erforderte, um die Stimmungen der unterschiedlichen Instrumente aneinander anzupassen. Die Mensur misst ungefähr 80 cm (zum Vergleich: der Kontrabass hat 102–108 cm, das Violoncello 69–71 cm an schwingender Saite), bei Tenor-Gamben ungefähr 60 cm, im Alt 50 cm, im Diskant 40 cm. Die Decke der Viola da gamba besteht gewöhnlich aus Fichtenholz, Boden, Zargen und Hals samt Schnecke aus unterschiedlichen Ahornhölzern. Auch Birke und Obsthölzer wie Pflaume und Kirsche sind geeignete Bodenhölzer. Auf dem innen mit Leisten verstärkten Boden, der unterhalb des Oberklotzes abgeschrägt ist, sitzt der Zargenkranz, der mit Eckklötzchen verstärkt wird. Im Unterschied zur Violinenform ragen diese jedoch nicht aus, die Mittelbügel bleiben stumpf. Die Decke bog der Instrumentenbauer – anders als bei den heutigen industriell gefertigten Kontrabässen – meist nicht über Dampf, sondern stach sie aus massivem Holz. Moderne Nachbauten gehen mehr und mehr zum Dampfbiegen über. Im Gegensatz zum Violinentyp steht die Decke nicht über den Zargen hervor. Griffbrett und Saitenhalter fertigte man seit dem 17. Jahrhundert aus Ebenholz, wie es heute bei Streichinstrumenten üblich ist. Zuvor waren Ahorn und Birne die bevorzugten Hölzer. Für die seitenständigen Wirbel eignen sich Harthölzer. Seit dem Barockzeitalter sind bei den Gamben Stimmstock mit Bodenplatte sowie der Bassbalken in Gebrauch. Der Steg wurde teils auf die Decke geleimt, teils beweglich verbaut. Silvestro Ganassi empfahl in der Lettione seconda (1543), je nach Spielpraxis den Steg auszuwechseln: Ein flacherer Steg erlaubt einfacheres Akkordspiel, ein runder eignet sich besser für das solistische Spiel auf der einzelnen Saite. Weiterhin ist die Gestaltung des Stegs von großem Einfluss auf den Klang. Die Stege baute man mit der Zeit weniger massig und eher durchbrochen, so dass sie für einen klaren, leicht nasalen Klang sorgten. Sie sitzen ungefähr in der Mitte der beiden Schalllöcher. Diese Schallöffnungen erscheinen in ƒ- oder c-Form und vielen individuellen Gestaltungen der Gambenbauer. In einige Decken sind zusätzlich an die Laute erinnernde Rosetten eingelassen, verkleidet mit geschnitztem oder gesägtem Gitterwerk. Viele Exemplare der Viola da gamba schmücken sich dazu mit aufwendigen Verzierungen: geschnitzten Löwen- und Drachen-, Menschen- und Engelsköpfen an Stelle der Schnecke, Intarsienarbeit aus Furnier und Elfenbein auf Griffbrett und Saitenhalter, Boden und Zargen, Brandmalerei, mit farbiger Einfassung, Vergoldung usw. Dies trifft vor allem auf englische Instrumente zu, denen gegenüber die französischen deutlich schlichter gehalten sind. Die Viola da gamba besaß ursprünglich sieben, seit dem 17. Jahrhundert gelegentlich auch acht Bünde (der letzte als Oktavbund) im Halbtonabstand. Sie bestehen aus Darm – dazu werden mitunter ausgediente Saiten verwendet – und werden ein- oder zweimal um das Griffbrett geschlungen und verknotet. (Heute sind auch Bünde aus Polyamid erhältlich.) Ein Bund ist nicht als Griffhilfe zu verstehen, er dient als künstlicher Sattel, der den Klang der schwingenden Saite klarer werden lässt. Besaitung Gambeninstrumente werden gewöhnlich mit Darmsaiten von 0,3 bis 4 mm Dicke bespannt. Da Gamben jedoch zu keiner Zeit „genormt“ waren, hängt die richtige Besaitung von mehreren Faktoren ab, von der Bauweise, von der Lage des Wolftons und von der Stimmung. In der Praxis übertrug man die Verhältnisse der Saiten-Intervalle (4:3 für die Quarte, 5:4 für die große Terz) umgekehrt proportional auf die zugehörigen Saitenstärken, so dass die höchste Saite eines sechssaitigen Instruments noch ein Viertel, die eines siebensaitigen noch ein knappes Fünftel an Durchmesser der Basssaite besaß. Außer mit einfachen Saiten aus Schafs- oder Rinderdarm bespannt man die Viola da gamba auch mit gedrehten oder umsponnenen Saiten (Florentiner und Catlines). Mit Metallsaiten wurde sie erst im Zuge ihrer Wiederentdeckung experimentell bespielt. Der zwar lautere, aber zugleich scharfe und weniger substanzreiche Klang der Metallsaiten stieß schon im 17. Jahrhundert auf Widerstand. Einzelne Versuche gab es ebenso mit Kunststoffsaiten. Bogen Der Gambenbogen ist ein rund konstruierter Renaissance- oder Barockbogentyp. Er ist generell länger als vergleichbare moderne Bauarten. Mersennes Harmonie universelle empfahl als Maximum die schwingende Saitenlänge des Instruments. Englische Lehrwerke rieten zu einer Stangenlänge von ungefähr 30 Zoll (ca. 76 cm). Ein nachgebauter Bassgambenbogen ist heute 72 cm lang. Die Bögen der Renaissance und im französischen Barock maßen bis zu 90 cm und waren damit länger als der Instrumentenkorpus. Am Griffende des Bogens befanden sich manchmal zusätzliche Gewichte zur Verbesserung der Balance. Im Gegensatz zur heutigen starren Bogenstange ist die Stange des Gambenbogens gerade hergestellt und biegt sich erst durch die Zugspannung der Bogenhaare. Zwar sind ältere Bögen aus Ahorn und Rotbuche erhalten, die meisten wurden jedoch aus Schlangenholz hergestellt (in der Regel von Brosimum guianense oder verwandten Arten stammend) und ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus Fernambuk, das durch sein hohes spezifisches Gewicht lange Bogenstangen mit dünn ausgearbeiteter Spitze erlaubte, die zugleich elastisch und stabil waren und über Jahrhunderte blieben. Der Stangenquerschnitt ist gewöhnlich rund. Einige erhaltene Bögen haben jedoch auch achteckige Stangen, die an der Spitze rhomboid auslaufen. Kannelierungen sind seit dem 18. Jahrhundert nachgewiesen. Die Bespannung bestand aus unterschiedlichen Arten von Rosshaar. Jean Rousseaus Traité de la viole (1687) befürwortete weißes Haar für kleinere und schwarzes für Bassinstrumente. Da schwarze Haare fester sind, sprechen dicke Darmsaiten beim Streichen damit leichter an. Der Frosch war vom Beginn des 17. bis ins späte 18. Jahrhundert ein Steckfrosch. Bei diesem Bauprinzip sind die Bogenhaare an beiden Seiten fest mit der Bogenstange verbunden und werden durch einen separaten, bis zu 22 mm hohen Frosch gespannt, den der Spieler in eine Nut an der Innenseite der Bogenstange einrasten lässt. Ein Nachteil dieses geschlossenen Systems ist, dass sich die Spannung nur durch zusätzlichen Fingerdruck regulieren lässt. Vorteile des Steckfroschbogens sind seine erhebliche Stabilität und Haltbarkeit gegenüber dem gegen 1720 erfundenen Schraubfrosch, dessen Mechanik schneller unbrauchbar wird, während alte Steckfroschbögen zum Teil bis in die Gegenwart funktionsfähig blieben. Sie wurden im Gegensatz zu Schraub- oder Crémaillèrebögen, bei denen ein Metallriegel in einer ausgesägten Kerbe liegt, auch selten entspannt. Typen der Gambenfamilie Die Instrumente der Viola-da-gamba-Familie unterlagen keiner Normierung, ihre Bautypen unterscheiden sich stark in Bautechnik und Besaitung, Stimmung, Klang und Spielweise. Sie wurden in unterschiedlichen Ländern und über mehrere Jahrhunderte hinweg zu unterschiedlichen Einsatzmöglichkeiten gebaut. Die Proportionen einzelner Instrumente: „Viola bastarda“ Es ist eine musikgeschichtliche Streitfrage, ob Viola bastarda als eigener Instrumententyp oder aber als Spielweise der Viola da gamba aufzufassen ist. Als Instrument wurde sie u. a. von Praetorius mit einer herkömmlichen Schnecke und einer zusätzlichen Rosette auf der Decke abgebildet. Er beschreibt sie als Tenorviola mit etwas geringeren Maßen im Vergleich zur normalen Stimmlage. Für die Deutung des Begriffs als figurative Spielweise im Ensemble spricht ihre Beschreibung als Instrument mit durchsetzungsfähigem Klang – während andere Instrumente nach ihren Baumerkmalen klassifiziert wurden – und die Verbreitung. Nördlich der Alpen war Viola bastarda quasi ein Synonym für die Sologambe. In Italien war sie ein Ensemble-Instrument für das Spiel von Diminutionen. Die Bezeichnung alla bastarda findet sich ebenfalls in Notentexten für Laute oder Posaune, so dass man sie eher auf die Spielbarkeit für unterschiedliche Instrumente beziehen mag, d. h. auf die Möglichkeit, Musik in flexiblen Besetzungen aufzuführen. In beiden Fällen könnte die Viola bastarda ein Instrument in Quart-Quint-Stimmung oder aber eine siebensaitige Gambe mit Erweiterung im Bassregister gewesen sein. Als gesichert gilt wenigstens, dass sie im Consort gespielt bzw. um die Wende zum 17. Jahrhundert dort als begleitendes Akkordinstrument integriert wurde. „Division viol“ Die Division viol (engl. division „Figuralvariation“) ist eine kleiner dimensionierte Bassgambe nach Art der Viola bastarda mit einer Mensur von ca. 30 Zoll (76 cm) und einer Gesamthöhe von 130 cm. Sie eignete sich vor allem für das im 17. Jahrhundert in England praktizierte Akkordspiel und für die Improvisation über einem Basso ostinato (divisions upon a ground). Damit war sie eine Verbindung zum Soloinstrument, das kammermusikalisch z. B. in einer Besetzung von zwei Violen und Orgel gespielt wurde. Sie war ein technischer Fortschritt, denn sie näherte sich bereits der Violinenform an. Bautechnisch unterschied sie sich von den italienischen Vorbildern, da ihre Decke nicht mehr nur gestochen, sondern oft schon gebogen wurde. Im Verlauf des 17. Jahrhunderts verringerte sich die Mensur auf durchschnittlich 69 cm, weshalb sie schließlich als Vorbild für den englischen Consort bass galt. Die Division viol spricht leichter an als andere Gambeninstrumente und hat einen klaren, hervortretenden Klang in allen Registern. „Lyra viol“ Die Lyra viol oder Lyra-Viol (englisch auch lyra-viol) war eine Entwicklung für das Akkordspiel in wechselnden Stimmungen. Außerhalb Englands war sie unbekannt. Am ehesten entspricht ihr die deutsche Bastardviole. Sie ist kleiner als die Division viol, ihre Korpusgröße tendiert zur Altlage. Der Steg ist für ein einfacheres Akkordspiels deutlich abgeflacht und die Besaitung weniger stark. Die Verwandtschaft zur Laute tritt unter den Gamben bei der Lyra viol am stärksten hervor. Seit Beginn des 17. Jahrhunderts wurde sie mit einem Chor von Resonanzsaiten aus Metall gebaut, die auf einem schräg angeleimten Steg in einen verlängerten Wirbelkasten verliefen. Die sympathetischen Saiten kamen bis spätestens 1650 wieder aus der Mode und erschienen erst später wieder beim Baryton und bei der Viola d’amore. Das Repertoire von Laute, Gitarre und Lyra viol überschnitt sich. Zu den Komponisten für die Lyra viol gehört etwa der englische Gambist Thomas Ford (Mr. Southcote’s Pavan für zwei „lyra-viols“ in Musicke of Sundry Kindes von 1607). In einer ersten Phase zwischen 1600 und 1645 war die Lyra viol mit einem Tonumfang von dreieinhalb Oktaven ein polyphon verwendetes Instrument, das im Consort in ein- bis dreifacher Besetzung erschien. Als sich nach dem Bürgerkrieg die englische Kultur neu orientierte, entwickelte sich die Lyra viol zu einem eleganten Soloinstrument und schließlich bis zum 18. Jahrhundert zu einem Dilettanteninstrument mit vereinfachten Saitenstimmungen, z. B. mit den Harp ways genannten Dur-/Moll-Dreiklangsbrechungen. Damit war sie bis auf den Steg von der Viola bastarda nicht mehr zu unterscheiden. Die zahlreichen unterschiedlichen Stimmungen, wegen derer die Literatur eher in Tabulatur als in Notenschrift aufgezeichnet wurde, erforderten für einzelne Kompositionen, die Saiten auszuwechseln. Andere Resonanzsaiteninstrumente Das Baryton war vermutlich eine süddeutsche Weiterentwicklung des alten Lyra-viol-Typs im 17. Jahrhundert. Neben sechs Haupt- und einem einfachen oder doppelten Satz an Resonanzsaiten an der Bass-Seite der Decke besaß es einen dritten Chor, der innerhalb des Halses verlief. Wollte man diese Saiten mit der Griffhand anzupfen, so öffnete man eine Klappe an der Rückseite des stark verbreiterten und mit Streben verstärkten Halses. Der breite Hals verlieh dem Instrument ein leicht plumpes Aussehen, umso mehr Intarsien und Schnitzarbeit dienten seiner Verschönerung. Dies Aussehen, sein sanfter und wegen vieler Obertöne silbriger Klang sowie die außerordentlich nuancierten Tonerzeugungsarten machten das Baryton im 18. Jahrhundert in der empfindsamen Gesellschaft beliebt, bis hin zum Fürsten Esterházy, für den Joseph Haydn insgesamt 126 Trios komponierte. Die hochgradig komplizierte Spielweise schränkte seine Verbreitung allerdings wieder ein. Während der Zeit der Resonanzsaiten-Mode begann man, auch andere Gamben mit solchen Bezügen zu versehen. Diderots und d’Alemberts Encyclopédie (1751–1772) bezeichnete die Form irrtümlich als Viole bâtarde, da Praetorius’ De Organographia die Resonanzsaiten im Abschnitt Violbastarda abgehandelt hatte. Als Gamba d’amore in Italien oder Basse de viole d’amour in Frankreich unterschied sie sich von normalen Bauformen lediglich durch ihre sechs bis acht Resonanzsaiten und geriet am Ausgang des 18. Jahrhunderts wieder in Vergessenheit. Zu den Aliquotgamben zählen schließlich die in Italien verbreiteten sechssaitigen viole bzw. violoncelli all’inglese. Über sie ist wenig bekannt, abgesehen von einigen Kompositionen, die Antonio Vivaldi für sie hinterließ. Offenbar bezog sich der Beiname nicht auf England, sondern war eine Entlehnung von Englische Violet. Diese Instrumente stammten aus Böhmen und hatten einen „engelhaften“ Klang, der bei der Rückübersetzung ins Italienische zur falschen Bezeichnung führte. Siebensaitige Bassviola Die Erfindung der Bassviola mit einer zusätzlichen von Silberdraht umsponnenen Saite in Kontra-A wird allgemein Monsieur de Sainte-Colombe zugeschrieben. Instrumente dieser Art wurden jedoch nicht nur zeitgleich in Deutschland bekannt, sie waren bereits viel früher auf italienischen Gemälden zu sehen, z. B. auf Jacopo Tintorettos Musizierenden Frauen (ca. 1555) oder Domenichinos Santa Cecilia (1618). Dazu kam das Antiken-Interesse der italienischen Humanisten. Sie hatten die griechische Lyra als Streichinstrument interpretiert und versucht, sie in der Lira da braccio nachzubilden. Die deutschen Typen unterschieden sich von den französischen. Es ist daher anzunehmen, dass die Entwicklung parallel vor sich gegangen ist. In Frankreich bildete sich dieser Typ erst vollkommen aus. Antonio Stradivaris Konstruktionspläne einer siebensaitigen Viola alla francese zeigen, dass sie auch in Italien als französische Spezialität galt. Die Erweiterung um eine tiefere statt einer höheren Saite, mit der die Spieler den Lagenwechsel hätten vermeiden können, folgte einem Trend um 1600. Die Musik hatte das Bassregister entdeckt. Die Verschiebung weiter in die Bassregion hinein ließ das mittlere und hohe Register weicher erscheinen. Die Kontra-A-Saite verstärkte die Resonanz. Das Instrument bot mehr Möglichkeiten zum Akkordspiel. Alt- und Tenorviola Für das Alt- und das Tenorregister existierte in der Renaissance nur ein einziges Instrument, das man englisch als Tenor, französisch als Taille („Mitte“) bezeichnete. In Deutschland wird diese Alt-Tenor-Gambe heute meist „Altgambe“ genannt. Der Chest of viols (deutsch „ein Satz Gamben“) eines englischen Hauses im 17. Jahrhundert umfasste sechs Instrumente, je zwei für den Diskant, den Tenor und den Bass. Die Alt-/Tenor-Viola war im Consortspiel des 16. und 17. Jahrhunderts unverzichtbar. Sie wurde ausschließlich im Ensemblespiel verwendet; es existiert so gut wie keine Sololiteratur für dieses Instrument. Sie wurde meist nach dem Vorbild der Laute gestimmt – also eine Quart über der Bassgambe. Manchmal stimmte man auch eine kleine Tenorgambe einen Ganzton höher, jedoch weniger aus Gründen des Tonumfangs als zur Klangdifferenzierung im oberen Mittelregister. Der Bau von Alt-/Tenorviolen setzte sich in Deutschland bis ins frühe 18. Jahrhundert fort. Danach fiel das Instrument unter der Bezeichnung Violetta mit der Bratsche zusammen, weil die Außenstimmen im musikalischen Satz zusehends mehr Gewicht bekamen. Ob man die Altviola weiterhin verwendete, lässt sich nur bei wenigen Kompositionen z. B. von Carolus Hacquart eindeutig klären. Notenschlüssel in Orchesterpartituren bis zur Jahrhundertmitte lassen es wenigstens vermuten und stützen auch die Annahme, sie sei ein Ensembleinstrument geblieben. Späte Beispiele der Verwendung sind Georg Philipp Telemanns Konzert für zwei Violetten G-Dur, Johann Sebastian Bachs 6. Brandenburgisches Konzert und seine Kantate 18. Diskantviolen Die sechssaitige Diskantviola ist eine Oktave über der Bassviola gestimmt. Sie gehörte von der Mitte des 16. bis zum Ende des 17. Jahrhunderts fest zur Consort-Besetzung. Wegen ihres im Verhältnis schwachen Klangs konnte sie sich jedoch nicht durchsetzen und wurde in gemischten Besetzungen deshalb als Alla-bastarda-Instrument behandelt, d. h. je nach Belieben durch Altviola oder Barockvioline ersetzt. Ihr Spiel war eher figurativ-solistisch als akkordisch. Die englische Treble viol stand seit dem zweiten Drittel des 17. Jahrhunderts in starker Konkurrenz zur Violine. Nur wenige Jahrzehnte später hatte sie sich als Soloinstrument mit eigener virtuoser Literatur etabliert, besonders als französischer Dessus de viole (frz. Sopranviola, wörtlich „Obere Viola“ d. h. „oberstimmige Viola“). Dieser klang zwar weniger brillant als die zeitgenössischen Violinen, besaß aber einen sanften und modulationsfähigen Ton. Ähnlich wie bei der siebensaitigen Bassgambe diente die tiefste Saite vor allem zur Resonanzstärkung. Darum wurde der Dessus neben der Violine bis ins 18. Jahrhundert hinein geschätzt und mit Originalliteratur wie Georg Philipp Telemanns Sonate G-Dur (TWV 41:G 6) oder Solosonaten von Carl Philipp Emanuel Bach bedacht. Gegen 1700 ergänzte den Dessus der Pardessus de viole (französisch für „noch darüber [über dem Dessus]“). Er war eine noch kleinere Viola mit fünf bis sechs Saiten, eine davon zusätzlich in der Höhe. Sein Korpus passte sich durch ausgezogene Ecken an der Mittelzarge an die Violinenform an. Beim fünfsaitigen Pardessus, dem Quinton, traten vereinzelt schon die gewölbten Böden und der Deckenüberstand der modernen Violine auf. Die charakteristischen flachen Oberbügel blieben allerdings zu jeder Zeit erhalten. Der Unterschied zwischen Pardessus und Quinton schlug sich eher in der Literatur für die Instrumente nieder, da man Letzteren nicht in Quart-Terz-, sondern in Quart-Quint-Stimmung besaitete. Der Quinton war eine Hybridform zwischen Viola da gamba und Violine. Er blieb stets ein reines Soloinstrument, das nie in den Consort Eingang fand. Sein in der Höhe heller und süßer Klang, der bis zum d’’’ weich bleibt, wird in Tiefe durch das Fehlen einer Saite gemindert und erscheint dort dünn und substanzlos. Violone Der Violone ist als Brückeninstrument zum Kontrabass bekannt. Allerdings ist diese Bauform ähnlich schwierig zu klassifizieren wie die Viola bastarda. Die Bezeichnung violone (ital. „große Viola“) war seit dem 16. Jahrhundert für mehrere Gambentypen in Gebrauch, auch für Instrumente oberhalb des Bassregisters. Lediglich eine Nennung als Contrabasso di viola deutete auf eine Bassgambe hin. Streng genommen zählt der Violone nicht zu den Gambenviolen, da er wegen seiner Größe als 16’-Instrument zum Spielen auf dem Boden steht. Eigenheiten wie die Korpusform mit geschweiften Mittelbügeln lassen ihn auch eher als Violineninstrument erkennen. Neben den abfallenden Schultern gibt allerdings die Quartstimmung den Ausschlag für die Zugehörigkeit zu den Gamben. Beides setzt sich im Kontrabass fort. Der Unterschied zwischen Bassviola und Violone hängt mit der musikalischen Funktion beider Instrumente zusammen. Im Generalbass ist ein Kontrabassinstrument überhaupt erst gegen 1630 als tiefste Stimme belegt. Die Darstellung in Praetorius’ Syntagma musicum scheint für ihr Register eher zu klein dimensioniert. Als sich die übrigen Viola-da-gamba-Instrumente seit Mitte des 16. Jahrhunderts kontinuierlich verkleinerten, entstand aus der Renaissance-Bassgambe ein 12’-Violone, während sich der Contrabasso di viola zum 16’-Instrument entwickelte. Stimmungen Der charakteristische Unterschied der Violen zu den Violinen besteht in ihrer Saitenstimmung, deren Leitintervall nicht die Quinte ist, sondern die Quarte. Eine Stimmung ausschließlich in Quarten, wie sie heute noch beim Kontrabass in Gebrauch ist, zeigte sich bei den Instrumenten der französischen Renaissance. Die deutschen Gamben dieser Epoche fügten einen Terzabstand ein, dessen Lage jedoch wechselte. Diese Saitenstimmung übernahmen die deutschen Musiker von den italienischen, die die Stimmpraxis der Laute auf die Violen übertrugen. Zum einen stand die vierte der sechs Saiten – auch die Saitenzahl passte sich der Laute an – im Abstand einer großen Terz, zum anderen bevorzugten die Italiener eine möglichst hohe Stimmung und spannten den höchsten Chor darum so stark wie möglich. Martin Agricolas Musica instrumentalis deudsch (1529) empfahl gar, die höchste Saite bis knapp vor den Zerreißpunkt zu spannen. Zum anderen wurde eine Stimmung der tiefsten Saite auf D üblich, wie sie dann auch später bei den vielchörigen Barocklauten Praxis sein sollte. Die Quartstimmung wurde in der Folgezeit zum Standard, so dass auch die zusätzlichen Saiten des französischen Pardessus und die siebensaitigen Violen jeweils im Quartabstand zu der nächstunteren standen. Die Stimmungen der deutschen Viola bastarda, der englischen Lyra viol und des Barytons waren nicht festgelegt. Sie glichen sich jeweils der Tonart des zu spielenden Stücks an. Ohnehin sind die in historischen Werken angegebenen Stimmungen nicht als absolute Vorschrift zu betrachten, sondern immer nur als relative Modelle. Sie beziehen sich einerseits auf die höchste Saite als Referenzton (welche wiederum von der Bauart, dem individuellen Instrument sowie dessen Besaitung abhängt und darum erheblich schwanken kann); andererseits ist im Ensemblespiel ein gemeinsamer Stimmton notwendig. Wird also die höchste Saite einer Lyra viol als d’ angegeben, so ist dies nicht als Stimmton im heutigen Sinne zu verstehen. Die Entwicklung zu einem festen Kammerton vollzogen erst die englischen Instrumente um 1620, die mit den Violinen und den seinerzeit gebräuchlichen Tasteninstrumenten wie Virginal und Spinett zusammen eingestimmt werden konnten, wie man es bis in die Gegenwart in der Kammer- und Orchestermusik praktiziert. Damit nahm für die Spieler die Notwendigkeit der Transposition ab und die Gambe bekam im Ensemble eine „feste“ Stimmung. Als Standard kann die von Ganassi in der Regola Rubertina (1542) angegebene Stimmung gelten: Diskant-Gambe: d-g-c′-e′-a′-d′′ Alt-Gambe: G-c-f-a-d′-g′ Tenor-Gambe: D-G-c-e-a-d′ Großbaß-Gambe: ′D-′G-C-E-A-d Die solistischen Stimmungen weichen zum Teil erheblich von den Ensemblestimmungen ab. Hauptsächlich die englische Lyra viol und der deutsche Dessus de viole wandelten sich durch ihre Stimmungen vom Akkord- zum Melodieinstrument, namentlich in den Werken der Sololiteratur ab dem 18. Jahrhundert, die eine charakteristische Klangfarbe erforderten. Ensemblestimmungen der Viola da gamba: Solistische Stimmungen einzelner Instrumententypen: Spieltechnik Spielhaltung Im Gegensatz zum Violoncello, das seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf einem Stachel stand, besaß die Viola da gamba keine Hilfsmittel. Die größeren Instrumente werden fest zwischen den Beinen eingeklemmt, wobei der Spieler jedoch nicht die Knie verwendet – was zu Verkrampfungen und chronischen Schmerzen führen könnte, wie es Le Sieur Danoville in L’Art de Toucher le Dessus et Basse de Violle (1687) beschreibt –, sondern die Oberschenkelmuskulatur. Dies klärt einerseits, warum das Instrument da gamba heißt; andererseits zeigt es, dass das eingedeutschte Wort „Kniegeige“ im Grunde sachlich falsch ist. Für diese Spielhaltung muss der Sitz so hoch sein, dass beide Beine in den Kniegelenken rechtwinklig abknicken und die Oberschenkel waagerecht liegen. Die Gambe wird auf den Waden abgestützt und sitzt damit höher als das Violoncello; dadurch werden die Vibrationen der Unterzargen weniger gedämpft und der Klang entfaltet sich stärker. Darüber hinaus befindet sich der Spieler in einer günstigeren Stellung, um die Saiten unmittelbar über dem Steg anzustreichen. Schiebt der Spieler den linken Fuß etwas vor, so erhält er mehr Bogenfreiheit auf den hohen Saiten, namentlich bei einer Bassgambe. Der Hals wird zum Spiel gegen die linke Schulter zurückgeneigt, aber nicht angelehnt. Die Schräge gibt der Bogenhand mehr Raum. Ungeklärt ist, ob der Stand der Füße die Spielhaltung negativ beeinflusste. Eine Vielzahl der Porträts aus dem 17. und 18. Jahrhundert zeigen Spieler im typisch hochhackigen Schuhwerk ihrer Zeit, so dass sie ihre Sohlen nicht flach auf den Boden stellen konnten. Linke Hand Das Spiel der Viola da gamba stand bis ans Ende des 17. Jahrhunderts unter dem Einfluss der Lautenpraxis. Die Griffweise unterscheidet sich in zahlreichen Punkten von der Technik auf modernen Streichinstrumenten. Wesentlich für das Spiel sind die an ihrer Griffposition ausgehaltenen Töne – in der englischen Literatur als Holds, in der französischen als Tenues bezeichnet – die der Spieler erst dann wieder loslässt, wenn er den Finger für einen anderen Ton benötigt oder wenn die Fingerhaltung unbequem wird. Die Grifftechnik der Violen ist also generell auf ein mehrstimmig gespieltes Instrument ausgelegt. Mit den gehaltenen Griffen verbinden sich auch ökonomische und klangliche Aspekte. Einerseits trainieren sie den Spieler darauf, die Finger allgemein nicht zu weit anzuheben, so dass er sie leicht wieder auf das Griffbrett setzen kann. Andererseits verlängern sie die Ausschwingphase der Saite. Dazu kommt der ästhetische Eindruck des Gambenspiels, das nach Lehrwerken wie Thomas Maces Musick’s Monument (1676) in ruhigen, sanften Bewegungen zu geschehen habe, einschließlich des durch die Tenues erforderlichen Über- oder Untersetzens. In Einzelfällen verlangt diese Technik eine weite Spreizung der Hand vom zweiten bis zum siebten Bund. Jean Baptiste Besards Isagoge (1617) nennt dazu Methoden, die die Spannfähigkeit wohl üben, der Hand aber eher schaden: Wie in der Lautengrifftechnik veränderte sich auch die Position des linken Daumens. Da die Gambenliteratur z. B. im Werk des Monsieur Demachy und bei Marin Marais von der gestreckten Lage bei Doppelgriffen ausging, wanderte der Daumen allmählich von seiner Stellung gegenüber dem Zeigefinger zum Mittelfinger hin. Vermeidet die Streichertechnik auf modernen Instrumenten die leeren Saiten, da sie durch die dünnere Obertonstruktur weniger farbig klingen (und da das Vibrato, das sich als „normale“ Spieltechnik seit den 1920er-Jahren etablierte, nur durch das Abgreifen funktioniert), so werden sie bei der Viola da gamba bevorzugt. Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts setzten die Spieler leere Saiten selbst bei Passagen ein, die dazu mehrfache Saitenwechsel erfordern. Englische und deutsche Tabulaturen sowie französische Fingersatzangaben verlangten dies ausdrücklich. Die gegriffenen Töne setzte die Spieltechnik nur bei Verzierungen wie Vibrato oder Trillern voraus oder benutzte sie für Einklangsdoppelgriffe, die entweder zur Verstärkung des Tons dienen oder, bei alternierend angestrichener leerer und gegriffener Saite, die Klangfarbe des Tons changieren lassen. Triller auf zwei Saiten sind zwar grundsätzlich möglich, aber selten spieltechnisch auch sinnvoll. Immerhin wurde die gegriffene Saite im Ensemblespiel als Mittel diskutiert, um verstimmte leere Saiten auszulassen, da sich die Tonhöhe durch den Griff korrigieren lässt. Das Lagenspiel entwickelte sich regional uneinheitlich. In Italien entfaltete es sich im 16., in England während und in Deutschland erst zum Ende des 17. Jahrhunderts. Die höchsten notierten Töne in der italienischen Literatur sind f’’, g’’ und schließlich h’’ bei Richardo Rogniono. Sie sprechen für eine Ausweitung des allgemeinen Tonumfangs und für eine komplexer werdende Technik, da sie in figurativ gesetzten Solowerken erschienen. Alfonso Ferrabosco der Jüngere nutzte die englische Division viol bis zum f’’, folgende Generationen bis zum a’’ bzw. bis zum 17. Halbton. Allgemein rückte das Rahmenintervall der Werke für die Lyra viol nach oben. Extreme Lagen blieben aber der Einzelfall. Im beginnenden 18. Jahrhundert markierte das Lagenspiel, das durch die geringere Griffweite auch Doppelgriffe und den mehrstimmigen Satz erleichterte, technisch und klanglich den Brückenschlag vom Lauten- zum Violoncellospiel; technisch durch das Spiel in bundlosen Regionen nahe am Steg, klanglich in der Angleichung an die hohen Instrumente und im Ausweiten des Timbres, z. B. durch hoch gesetzte Akkorde auf den tiefen Saiten. Eine Besonderheit des 17. Jahrhunderts stellen Dessus und Pardessus de viole sowie die Oktavlage der Bassgambe dar. Abweichend von der üblichen Technik werden sie in diatonischen Schritten gegriffen. Der kleine Finger stützt dabei die Griffhand, indem er auf dem siebten Bund ruht. Danoville hat erstmals diesen Griffmodus beschrieben. Bei den Diskantinstrumenten ergibt sich die Veränderung aus der geringen Größe des Instruments, die eine chromatische Griffweise im solistischen Spiel kompliziert macht. Bei der Bassgambe ist sie eine logische Folge der doppelten Größe, so dass die Mensur eine Oktave über der leeren Saite genau dem Diskant entspricht. Rechte Hand Abstrich und Aufstrich Die Bogentechnik der Viola da gamba ist in der Renaissance kaum belegt. Die Strichrichtung muss eine untergeordnete Rolle gespielt haben. Allein Ganassis Lettione seconda zog eine Analogie zur Lautentechnik und setzte den Daumenschlag der rechten Hand mit dem Aufstrich gleich, d. h. mit der Bogenbewegung von der Spitze zum Frosch. Die Strichweise moderner Instrumente ist dem genau entgegengesetzt, hier ist der Abstrich der Hauptstrich. Der Unterschied erklärt sich, wenn man berücksichtigt, dass ein kraftvoller Strich, wie ihn der violinentypische Obergriff ergibt, nicht dem Stilideal der Zeit entsprach. Gerade der starke Akzent in der Nähe des Frosches galt als unerwünscht, Ortiz’ Tratado ermahnte dazu, ihn zu vermeiden. Mace wies an: Der Spieler nutzt die ganze Länge des Bogens aus. Er führt ihn in einer geraden Linie rechtwinklig zu den Saiten, ohne mit der Spitze nach oben oder nach unten auszuweichen. Der gewünschte Strich erzeugt einen langen, vollen Klang. Dynamische Unterschiede, besonders das An- und Abschwellen, das zur Tonerzeugung bis einschließlich des Barockzeitalters gehörte, bewerkstelligt der Spieler, indem er den Druck auf die Bogenstange anpasst. Dies war die einzige Möglichkeit, den Ton zu beleben, da das Vibrato nur als Verzierung verwendet wurde. Bogenhaltung Zum Halten umfassen Daumen und Zeigefinger die Bogenstange, der Zeigefinger liegt dabei mit den ersten beiden Gliedern auf der Stange. Der Mittelfinger schiebt sich zwischen Stange und Haare, um den Bezug zusätzlich zu spannen. Außerdem kann der Ringfinger den Mittelfinger stützen. Einige Schulen empfahlen, den Bogen direkt am Frosch anzufassen, andere Lehrer wie Mace befürworteten zwei bis drei Zoll (5–8 cm) Abstand. Die Position beeinflusst das Spiel. Ein Griff näher am Frosch lässt den ganzen Bogen durch mehr Gewicht an der Spitze schwerer auf den Saiten liegen. Hält man den Bogen dagegen weiter in der Stange, so wird er „leichter“ und begünstigt die Bewegungen beim Saitenwechsel. Die Aufstrichbewegung wird zu drei Vierteln aus dem Schultergelenk bei angewinkeltem Handgelenk ausgeführt, danach vollendet das Handgelenk den Strich durch eine Streckbewegung. Umgekehrt beginnt der Abstrich aus der Schulter, das Handgelenk kehrt in seine „geschlossene“ Ausgangsposition zurück. Die Bogenhaltung erfordert einiges Geschick, denn das Zusammenwirken von Stangendruck und Druck auf Bogenhaare muss ausgewogen, das Handgelenk zugleich in einer lockeren Haltung und der Bewegungsapparat des Arms bis zur Schulter entspannt sein, um schnelle Passagen mit raschen Bogenstrichen leicht und flüssig auszuführen. Besonders im Abstrich ist dies wichtig. Die übliche Bogenhaltung im Untergriff hat den Vorzug, dass sich Fingerdruck und Armgewicht unabhängig voneinander zur Artikulation einsetzen lassen (bei einer Bogenhaltung im Obergriff würden sich die beiden Kräfte summieren und eine größere Lautstärke ermöglichen). Die Haltung des Oberarms – gerade ausgestreckt oder mit der Bogenbewegung mitschwingend – wurde in den historischen Gambenschulen kontrovers diskutiert. Anstrichstelle der Saiten Ein ebenso umstrittenes Thema war der Abstand von Steg und Anstrichstelle. Während Christopher Simpsons The Division Viol (1665) für die Bassgambe zwei bis drei Zoll zuließ, gab Danoville drei Finger (ca. 5½ cm) als Richtwert an. Insgesamt war die Entfernung viel kleiner als bei heutigen Instrumenten und die Toleranz für Abweichungen ebenso gering. Der Grund liegt in der Ansprache der Viola da gamba. Streichen am Steg erfordert mehr Bogendruck und erzeugt einen harten Ton, in der Nähe des Griffbretts klingt er dagegen mulmig und obertonarm. Der flache Bau von Steg und Griffbrett birgt nebenbei die Gefahr, bei zu starkem Bogendruck versehentlich mehrere Saiten anzustreichen. Allerdings nutzte man die ansonsten unerwünschten Klangfarbenänderungen auch zur Artikulation und Affektgestaltung im Solospiel aus. Mehrstimmiges Spiel Mehrstimmigkeit auf der Viola da gamba besteht aus Arpeggiospiel, das schon im 17. Jahrhundert bekannt war. Francesco Corbetta hatte 1656 die Gitarre nach Paris gebracht. Ludwig XIV. fand derartigen Gefallen an ihr, dass sie bald zum Modeinstrument avancierte. Die Schlagtechnik, die sich vom Zupfen der Laute grundlegend unterscheidet, machte das Instrument populär. Zwar existieren aus dem 17. Jahrhundert keine Darstellungen, die das Arpeggio als Grundtechnik des polyphonen Gambenspiels belegen, erst in der Vorrede zu seinen Pièces de clavecin en concert (1741) gab Jean-Philippe Rameau einen eindeutigen Hinweis zur Ausführung von Akkorden. Trotzdem ist es wahrscheinlich, dass das Arpeggiospiel zuvor besonders auf der Lyra viol gepflegt worden war, denn mehrstimmig gesetzte Kadenzen von Simpson und Tobias Hume legen nahe, dass es nicht nur als Verzierung diente. Eine ähnliche Spielweise in der französischen Musik ist das von Marais verwendete En plein (frz. „in der Mitte“), d. h. das gleichzeitige Anstreichen dreier Saiten. Weil dazu ein stärkerer Bogendruck nötig ist, wird auch die Entfernung zum Steg vergrößert, um Nebengeräusche zu vermeiden. Zum Unterstützen der Spannung ist hier der Ringfinger neben dem Mittelfinger unbedingt erforderlich. Ein Beispiel für das Arpeggiospiel ist Marais’ La Guitare aus den Pièces de violes III (1711). Notentext und Ausführungsmöglichkeit Analog dazu entwickelte sich aus dem Style brisé (frz. „gebrochener Stil“) der französischen Lautentechnik in England eine Satzweise, auf zwei Saiten drei- und vierstimmig zu spielen, indem jeweils zwei Stimmen auf je einer Saite verschränkt werden: der Spieler springt cross and skipping (engl. „überkreuz und hüpfend“) mit dem Bogen zwischen den Saiten hin und her, so dass eine Scheinpolyphonie aus durchbrochenen Melodielinien entsteht. Die Bogenführung dazu erfordert einerseits Leichtigkeit, andererseits muss die Griffhand dafür sorgen, dass die Töne nicht zu rasch verklingen. Die durchbrochene Arbeit des Style brisé in Alfonso Ferraboscos des Jüngeren dreistimmiger Almaine 16 aus den Lessons (1609) Geschichte und Repertoire Die Viola da gamba erschien am Ende des 15. Jahrhunderts in Italien und Flandern als Ensembleinstrument mit fünf bzw. sechs Saiten. Ihre Spieltechnik war stark von der Laute geprägt, die Musik von den Franko-Flamen und der Venezianischen Schule. Ein besonderes Augenmerk erhielt das Diminutionsspiel, d. h. die Ausschmückung melodischer Linien. Die Gambe wurde in Deutschland und Frankreich als Bassinstrument beliebt und als Generalbassinstrument eingesetzt. Vor allem in England entwickelte sie sich unter italienischem Einfluss zum Soloinstrument. Hier entstanden im Laufe des 17. Jahrhunderts die Division viol und die Lyra viol, die sich zum mehrstimmigen Spiel eigneten. Dies war der Ausgangspunkt für die weitere Ausbildung der Spieltechnik in Frankreich. Während in Deutschland und England das Kulturleben auf Grund der Kriege stagnierte, blühte die Gambenmusik in Frankreich auf. Neue Arten wie die siebensaitige Bassgambe und zwei Typen von Diskantviolen wurden eingeführt. Die stilisierten Tanz- und Suitensätze galten als stilistisches Vorbild für das Zeitalter des Absolutismus in ganz Europa bis ins 18. Jahrhundert. Dann schwand die Beliebtheit der Viola da gamba, da mit Violine und Violoncello zwei neue Instrumente an ihre Stelle traten. Bis an die Wende zum 20. Jahrhundert war die Gambe fast vergessen. Dann erwachte ein neues Interesse an der Instrumentenfamilie. Neben einer gründlichen musikhistorischen Erforschung entdeckte man im Zuge der historischen Aufführungspraxis auch das Gambenspiel neu. In der Gegenwart ist die Viola da gamba wieder Bestandteil des Konzertlebens Alter Musik. 16. Jahrhundert Italien Instrumente nach Art der Viola da gamba erschienen in Italien zum ersten Mal gegen Ende des 15. Jahrhunderts an den päpstlichen Höfen der Borgia in Ferrara, Mantua und Urbino. Alle drei Häuser standen in engen politischen und kulturellen Beziehungen zu Spanien. Ein Brief des Bernardo Prospero, seinerzeit Kanzler der Este in Ferrara, schilderte 1493 die Neuheit im Klang eines spanischen Gambenensembles als più presto dolce che de multa arte (ital. „eher süß als kunstvoll“). Akkordisches Spiel hatte es bereits auf der Fidel der Minnesänger gegeben, melodisches in gemischten Ensembles aus Blas- und Saiteninstrumenten. Neu daran für ein Streichinstrument war die Spielhaltung zwischen den Beinen. Das Gambenensemble war parallel zur niederländischen Polyphonie entstanden. Beide verband die Satzweise des homogenen Ensembleklangs mit gleichrangigen Partien, die nach dem Vorbild der menschlichen Stimme in Register geordnet sind. Dabei zeichnete sich früh eine Tendenz zum Bassregister ab, d. h. zum Bau vergrößerter Instrumente für tiefe Frequenzbereiche. Das Violenensemble blieb über zwei Jahrhunderte im 12’-Register. Damit verfolgten die Musiker das Ziel, eigenständige instrumentale Klangkörper zu schaffen, die auch ohne die Gesangsstimme alle Tonlagen abzudecken vermochten. Das erste gemalte Zeugnis einer Viola da gamba findet sich auf einem Bild des Timoteo Viti (um 1500). Baldassare Castigliones Libro del Cortigiano (1508–1516, veröffentlicht 1528) nennt bereits das Spiel eines Gambenconsorts nach Stimmführungsart der Niederländer. Komplette Sätze von sechs oder sieben Instrumenten nach Art des Chest of viols waren bereits vorhanden. Das solistische Spiel war allerdings noch nicht bekannt. Nördlich und südlich der Alpen unterschieden sich die Viola-da-gamba-Typen. Im Nordraum bevorzugte man fünfsaitige Instrumente, im Südraum sechssaitige, die die Quartstimmung und die Spieltechnik von der Laute übernahmen. Der südländische Typ sollte sich schließlich als bestimmend erweisen. Die Viola da gamba verbreitete sich in Italien in den Akademien und gebildeten Zirkeln. Man nannte sie nach der Vihuela zunächst einfach viola, dann wegen ihrer Bünde viola da tasti (ital. „mit Bünden“) oder zur Klarstellung der Streichtechnik viola de arco (ital. „mit Bogen“). Zur Unterscheidung von den kleinen Streichinstrumenten, die man beim Spielen auf dem Arm hielt, benutzte man auch viole grande und violoni (nicht zu verwechseln mit dem Violone), was schließlich zu Paradoxa wie soprano di viole grande oder soprano di violoni führte – die Bedeutung hatte sich so weit verselbstständigt, dass die Violen zum Gattungsbegriff geworden waren. In den Lexika und Musikschulen der Zeit, bei Hans Gerle, Hans Judenkönig und Martin Agricola, behandelte man sie als Verwandte der Laute, was sich in der Folgezeit auch in Spieltechnik und Tabulaturnotation niederschlagen sollte. Die Instrumente verfügten mit zweieinhalb Oktaven über einen größeren Tonumfang als andere und erlaubten durch ihre anpassungsfähige Stimmung bereits chromatische und enharmonische Satzweisen, die die mitteltönige Stimmung nicht leisten konnte. Als neuartiges Ausdrucksmedium, das die menschlichen Affekte durch die Tongestaltung widerspiegelt, wurde die Viola da gamba von Nicolas Gombert und Adrian Willaert, Philippe de Monte und Luca Marenzio eingesetzt und zum Teil (während eine variable Besetzung in dieser Zeit durchaus üblich war) sogar gefordert. Zu dieser Zeit begann die Praxis, Vokalwerke wie Madrigale und Motetten als Instrumentalsätze umzuschreiben. Dies bildete die Grundlage des Consort-Repertoires. Die Diskantinstrumente hatten vor 1580 noch keine große Bedeutung, Bass- und Tenorgamben dominierten die Besetzung. Für eine möglichst tiefe Tonlage wurde der Steg, wenn er beweglich war, manchmal nach unten gerückt. Das Instrumentalspiel wurde in dieser Zeit erstmals Gegenstand der Erörterungen und schließlich der Gambenschulen, die Praxis und Ästhetik festlegten. Die Technik entwickelte zunächst das Lagenspiel oberhalb der Bünde, die Praxis der Consorts das Diminutionsspiel, wie es in Diego Ortiz’ Tratado (1553) beschrieben ist: improvisierende Ausschmückungen der einzelnen Partie im Kontext der kontrapunktischen Stimmführung. Durch Alfonso Ferrabosco den Älteren gelangte diese Spieltechnik nach England. Girolamo Dalla Casas zweibändiges Grundlagenwerk II vero modo di diminuir con le tutte le sorte di stromenti (1584) prägte den Begriff Bastarda für die diminuierenden Stimmen. Praetorius beschrieb ihn in De Organographia folgendermaßen: Daraus wird nicht klar, ob es sich um eine Instrumentenneuentwicklung handelte oder um eine Spielpraxis für alle Stimmen. Immerhin kann es auch ausdrücken, dass die Viola bastarda jeden Themeneinsatz in jeder Stimme mitspielte. Sie entwickelte sich am Ende des 16. Jahrhunderts zum Soloinstrument. Zu den ersten Virtuosen gehörte Francesco Rognoni, der Sohn des Richardo Rognoni. Der frühe mehrstimmige Stil in einer Madrigalbearbeitung von Diego Ortiz: Recercada über O felici occhi miei Das Akkordspiel pflegten die Italiener höchstens zur Liedbegleitung im gemischten Ensemble. Giuliano Tiburtino und Ludovico Lasagnino blieben die einzigen Meister, die Silvestro Ganassis Lettione seconda für erwähnenswert hielt. Die Viola da gamba stand noch immer im Schatten der Laute, und während sie im Solospiel nach Rognionis Meinung zur „Königin aller diminuierenden Instrumente“ aufrückte, übernahmen Lira da gamba und Lira da braccio die akkordischen Aufgaben. Zwar beherrschten einige Musiker wie Alessandro Striggio der Ältere sowohl Liren als auch Violen, doch der Unterschied zwischen den Instrumenten scheint zeitgenössischen Beobachtern kaum aufgefallen zu sein. Deutschland Die großen deutschen Lehrwerke des 16. Jahrhunderts, Sebastian Virdungs Musica getutscht und außgezogen (1511) und Agricolas Musica instrumentalis deudsch (1529), behandelten eher die in größerer Fülle vorhandenen Blasinstrumente. Die Darstellung der Streichinstrumente blieb mangelhaft – die Anzahl der Saiten, die Darstellung von Stegen, die Zuordnung zu Instrumentenfamilien, die Korpusumrisse waren selten korrekt – und beruhte darauf, dass die Autoren weniger praktische Kenntnisse als z. B. Ganassi erwerben konnten. Die deutsche Musik beherrschten Blasinstrumente wie Zink und Posaune, Schryari, Schalmeien und Blockflöten, daneben Orgel und Regal. Gerles und Agricolas Werke verfolgten eher einen pädagogischen als einen künstlerisch-philosophischen Anspruch, denn sie wollten die Streichinstrumente erst ins deutsche Musikleben einführen, das sich in der Reformationszeit gründlich von der italienischen Renaissance unterschied. Erst gegen Ende des Jahrhunderts änderte sich die Lage. 1571 erwarb ein Händler im Auftrag der Fugger einen Chest of viols, sechs „grosse welsche geigen“ aus Londoner Herstellung für den Hof in München. Die Viola da gamba hielt auch in die deutsche Musiklandschaft Einzug. Seit 1562 wirkte Orlando di Lasso als Hofkapellmeister in München. Er hatte das italienische Musikleben in seiner Studienzeit selbst erlebt. Als ein „Fundamentalinstrument“ integrierte er die Viola da gamba in die Münchener Hofkapelle, die später zum Besetzungsvorbild für die generalbassorientierten Ensembles wurde. Davon profitierte die Diminutionspraxis unmittelbar und mittelbar auch die Satzweise der Mehrchörigkeit. Die Viola da gamba war zum Element der musikalischen Erneuerung geworden und hatte gleichzeitig eine tragende Funktion im Ensemblespiel übernommen. Die deutschen Gamben waren meist fünfsaitig und unterschieden sich von den italienischen Vorbildern im Bau, der weniger unter dem Einfluss der Lauten stand. Ihre Stimmungen eigneten sich besonders zum Ensemblespiel. Diminutionen wurden zur Ausschmückung von Klauseln empfohlen. Das virtuose Solospiel stand noch am Anfang. Die Literatur umfasste wie in Italien vorwiegend vokale Formen wie Lied- und Motettensätze. Anders als in der italienischen Musik forderte die Besetzung nie ausdrücklich Gambenstimmen. Auch die Tanzsatzfolgen, die parallel zu den französischen Suiten erschienen, berücksichtigten sie nicht. Dies war eine Folge der deutschen Bläsertradition. Frankreich Die ersten französischen Gamben, die Philibert Jambe de Fers Epitome musical (1556) beschrieb, waren eher mit den deutschen als mit den italienischen verwandt. Zunächst wies die Korpusform Eigenschaften des Violintypus auf. Dazu waren sie durchgängig in Quarten gestimmt ohne die lautentypische Terz in der Mitte. Außerdem betonte Jambe de Fer den hohen gesellschaftlichen Status des Gambenspiels. Den Ton der Violine beschrieb er als plus rude (frz. „sehr rau“), sie sei ein Spielmannsinstrument, kein Instrument der Vornehmen. Die zeitgenössischen Handlungsbücher wiesen italienische, deutsche und flämische Namen von Musikern aus. Sie hatten ihre süd- bzw. nordalpinen Instrumententypen mit ins Land geführt. Besonderes Ansehen scheinen die Musiker aus den Nordalpenländern genossen zu haben. Sie dienten zur Präsentation vor ausländischen Staatsgästen. Im Gegensatz zur italienischen Kammermusik der akademischen Zirkel orientierte sich das französische Musikleben eher an festlicher Prachtentfaltung. Consorts in der typischen Sechserbesetzung spielten bei öffentlichen Anlässen auf, bei Theateraufführungen, sogar unter freiem Himmel. Die Bildwerke des 16. Jahrhunderts weisen darauf hin, dass sich die Basslastigkeit in Frankreich fortsetzte. Übermannshohe basse-contre-Instrumente wurden gebaut, größer als der Violone. Obwohl der italienische sechssaitige Viola-da-gamba-Typ bereits in der zweiten Jahrhunderthälfte eingeführt und von Jacques Mauduit gefördert worden war, überwog das fünfsaitige Instrument noch bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts und war das bevorzugte Schulinstrument. Das Repertoire umfasste Chanson- und Motettenbearbeitungen, Tänze als Vorformen der französischen Suite und Fantasien. Die Kompositionen von Claude Gervaise, Eustache du Caurroy, Estienne du Tertre, Jacques Moderne und Claude Le Jeune sind oft noch rein homophon und wenig kunstvoll ausgearbeitet. England Während die deutsche Musik den Bläsern einen höheren Rang einräumte, entwickelten die Engländer seit dem Spätmittelalter ein besonderes Interesse an Saiteninstrumenten. Um das Jahr 1547 zählte das Inventar Heinrichs VIII. 54 Violen und Lauten. Bis zur Zeit Elisabeths I. reifte das Consortwesen zur vollen Blüte. Das Gambenspiel breitete sich in England bis 1540 aus. King’s Musick, die Hofkapelle der Könige, stand internationalen Musikern offen. Seit der Mitte des 16. Jahrhunderts ließen sich zahlreiche Italiener in London nieder, speziell ehemals jüdische Konvertiten aus Norditalien, die vor der spanischen Inquisition vom Kontinent geflüchtet waren. Zu ihnen gehörte die Familie der Bassano, deren Oberhaupt Jeronimo aus Venedig an den Königshof gekommen war. Die Nachfahren, u. a. sein Sohn Anthony Bassano, wirkten als Flötisten und Violisten eines sechsstimmigen Consorts in der Kapelle. Das höfische Musikleben lag ganz in italienischer Hand und vermischte sich mit einer voll ausgebildeten nationalen Tradition: die Vokalwerke waren auf englische Texte verfasst, die Volksliedmelodien besaßen einen hohen Stellenwert. Komponisten wie William Byrd und später Orlando Gibbons schrieben Madrigalkompositionen, die im Gambenconsort als Instrumentalfassungen gespielt wurden. Als vokal-instrumentale Mischbesetzung ging aus den volkstümlichen Airs der vier- bis fünfstimmige Consort Song hervor. 17. Jahrhundert Italien Die Viola da gamba blieb nach wie vor ein geschätztes Soloinstrument und hatte das Akkordspiel der Lira da gamba überlassen. Allerdings sollte sich diese nicht dauerhaft durchsetzen. Mit dem Ende des 17. Jahrhunderts kam sie aus der Mode. Eine Tendenz der italienischen Renaissance war die Entwicklung eines modernen Konzertlebens mit der Trennung von Ausführenden und Zuhörern. Es formten sich Instrumentalensembles mit solistischer Viola, mit Violinen und Zinken. Das Gambenconsort verlor nach 1600 seine führende Bedeutung in Italien. Obwohl viele Quellen des späteren 17. Jahrhunderts noch Gambisten nachweisen, praktizierte man das kammermusikalische Spiel nur mehr vereinzelt in geistlichen Konzerten oder Akademien. Inzwischen entwickelte sich die Viola bastarda in den höfischen Zirkeln zu einer Solostimme mit Generalbassbegleitung weiter. Bedeutender aber war die Entfaltung der Violinliteratur. Im Gegensatz zur Basslastigkeit anderer Musikkulturen bevorzugten die Italiener hohe Lagen. Sie richteten ihr Interesse auf die Oberstimme und nutzten den Bass lediglich als harmonische Stützfunktion. Der brillante Klang der Barockvioline lief der Diskantgambe rasch den Rang ab. Die Bassgamben blieben lediglich als Continuo-Instrumente. England Das Consortspiel erfreute sich ungeschmälerter Beliebtheit. Auch der Laute bedienten sich die englischen Musiker, sie blieb der Viola ebenbürtig. Lehrwerke wie Thomas Robinsons The Schoole of Musicke (1603) behandelten meist beide Instrumente. Titelblätter mit Besetzungsangaben wie to be sung to the lute or viol (engl. „mit Lauten- oder Gambenbegleitung zu singen“) ließen die freie Wahl bei der Ausführung. Die Lyra viol nutzte weiterhin die französische Lautentabulatur. Die beiden Instrumente führten eine Koexistenz als Soloinstrumente ohne Berührungspunkte. Viele Spieler beherrschten sowohl Viola als auch Laute oder die Theorbe, die bis 1620 als Generalbassinstrument vorherrschte; später nutzte man (anders als auf dem Kontinent) die Orgel. Aber außer John Dowlands Lachrimae or Seaven Teares (1604) ist kein Werk erhalten, das Consort und Solo-Laute vereint hätte. Die Musik der englischen Oberschicht bestimmten zwei Institutionen, die Hofkapelle im weltlichen und die Chapel Royal im geistlichen Bereich. Beide beschäftigten nach wie vor italienische Musikerdynastien, aber auch einheimische Komponisten wie Nicholas Lanier, John Bull, Thomas Lupo, Robert Johnson, Thomas Ford, William Lawes, John Jenkins und Thomas Tomkins, die als staatliche Würdenträger eine privilegierte Position genossen. In dieser elitären Klasse fungierte die Viola da gamba als Statussymbol. Die Instrumente waren mit Intarsien und Schnitzereien geschmückt und mit Familienwappen bemalt. Die Darmsaiten wurden zu hohen Kosten aus Italien importiert. Gedruckte Lieder und Madrigale waren mitunter Bürgerlichen gewidmet, die solistische Gambenliteratur jedoch nur Angehörigen der Aristokratie. Die Consortmusik erschien bis auf wenige Ausnahmen nicht im Druck, sondern beschränkte sich auf handschriftliche Kopien. Ab 1600 sind Diminutionen mit starker rhythmischer Komponente über einem ostinaten Bass bekannt, die divisions upon a ground. Die Division viol, ihre Spieler und die Divisions waren auch in Kontinentaleuropa berühmt. An der Lira da gamba zeigten die Engländer kein Interesse. Sie zogen die Lyra viol vor, da sie sich für eine Vielzahl von Saitenstimmungen eignete; diese leiteten sich von Dreiklangsbrechungen ab. Spieltechnisch waren Division viol und Lyra viol indes nicht vollkommen voneinander getrennt. Die Division viol eignete sich sowohl für akkordisches Spiel als auch die Lyra viol für Diminutionen. Christopher Simpson: Der Ground und eine Division-Möglichkeit Einige Theoretiker, unter ihnen Musiker wie Praetorius und Mersenne, Wissenschaftler wie René Descartes und Francis Bacon, hatten sich eingehend mit der Erregung von Resonanzen in schwingungsfähigen Systemen beschäftigt. Die Erfindung der Epoche waren sympathetische Saiten, d. h. solche, die die Schwingung gestrichener Saiten aufnehmen und den Instrumentalklang verstärken. Die Lyra viol war das erste spielfähige Resonanzsaiteninstrument. Gegen 1625 trat eine Wende in der englischen Kultur ein. Um das Krönungsjahr Karls I. und an einem Hochpunkt der englischen Musikgeschichte starben zahlreiche namhafte englische Komponisten, Byrd, Gibbons, Cooper, Dowland, Bull und Ferrabosco. Die junge Königin Henrietta Maria brachte bei ihrer Übersiedlung ein Gefolge von Musikern nach London, die den italienischen Einfluss durch den französischen ablösten: zweiteilige Tanzformen, subtile Verzierungen und den preziösen Zeitgeschmack. Die Consort-Literatur und die Musik der Lyra viol nahmen sich die französische Lautenmusik zum Vorbild. Neue Ensembleformen mit heterogenen Besetzungen formten sich. Lawes’ Harp Consorts sind für Violine, Division viol, Harfe und Theorbe kombiniert, für Zusammenklänge aus Darm- und Metallsaiten. Jacques Gaultier belebte die Lautenmusik neu durch Kompositionen im Style brisé, das heißt mit gegeneinander verschobenen mehrstimmigen Melodielinien. Die Gambenmusik ahmte diese Technik später nach. Neue terzreiche Stimmungen und Skordaturen für die Laute entstanden. Die Musik erlebte eine ästhetische Überfeinerung. Die Bürgerkriegszeit und die sich anschließende republikanische Zeit zerstörten das öffentliche Kulturleben. Für gut zwei Jahrzehnte erschienen keine neuen Noten im Druck. Die Schulen bildeten keinen Nachwuchs mehr aus. Die meisten Musiker wurden vertrieben oder zogen sich ins Privatleben zurück. Die englische Musik fiel auf den Status des Dilettantismus zurück, der noch über produktive Komponisten wie John Jenkins oder Christopher Simpson, aber nicht mehr über technisch erfahrene Instrumentalisten verfügte. Eine neue nationale Musikschule residierte im Exil in Oxford. Hier zeigte sich an den Schülern, dass ihnen die Violine im Vergleich zur Gambe noch recht unbekannt war: sie stimmten sie in Quarten statt in Quinten und hielten sie wie eine Treble viol zwischen den Beinen. Aber auch nach der Krönung Karls II. und der Rückkehr zur Monarchie erholte sich die Tradition nicht. Das Gambenconsort verblieb in den privaten Kreisen der Gentry, statt in die Hofkapelle zurückzukehren. Die Division viol konnte sich noch eine Weile lang neben der aufkommenden Violine behaupten. Danach beherrschte der französische Geschmack im Stil von Jean-Baptiste Lullys Vingt-Quatre Violons du Roy die King’s Musick. Einige Fantasien von Henry Purcell sind erhalten. Bis ins 18. Jahrhundert spielten auf dem Lande Consorts. 1652 publizierte der Verleger John Playford das Schulwerk Musick’s Recreation on the Lyra-viol (engl. „Musikalische Erholung auf der Lyra viol“), das mit jeder der drei Neuauflagen nur anspruchsloser wurde. Dann vergaß man die Viola da gamba. Frankreich Consortmusik blieb in Frankreich die Ausnahme. Wenige Komponisten wie Claude Le Jeune, Louis Couperin und Marc-Antoine Charpentier verfassten Ensemblewerke, und auch diese waren maximal vierstimmig. Das Ensemblevorbild blieben Lullys Vingt-Quatre Violons du Roy, deren Klang und Orchesterdisziplin die repräsentative Musik der Bourbonenkönige besser zur Geltung brachten. Die Satzweise unterschied sich von der englischen. Während die Diskantstimme für den Dessus de viole brillante Solopassagen spielte, übten die Mittel- und Unterstimmen nur eine Begleit- und Stützfunktion aus. Die sechssaitige Gambe hatte sich allgemein durchgesetzt. Aus den Erfahrungen mit der Laute entstand nun in Frankreich in kurzer Zeit eine solistische Spieltechnik. Berühmte Solisten der Zeit waren André Maugars und Nicolas Hotman. Das Lauten- und Gambenrepertoire bestand aus zweiteiligen Tanzsätzen, aus Branles oder Paaren von je einem schnellen und einem langsamen Tanz, aus Airs, Piècen in freier Form und Préludes. Man stellte die Einzelsätze zu Suiten zusammen, das verbindende Element war die Tonart. Ihr berühmtester Vertreter als Komponist und Instrumentalist war Marin Marais. An Diminutionen zeigte die französische Musik kein Interesse. Die verfeinerte Spieltechnik richtete ihr Augenmerk auf die Tonbildung und vor allem auf die Ornamentik. Die Verzierungen wurden nicht nur subtiler, sie erschienen erstmals in großer Anzahl im Notentext, durch Buchstaben und Zusatzzeichen abgekürzt oder ausnotiert. Zahlreiche Spielvorschriften sind in Jean Rousseaus Traité de la viole, in Simpsons Division Viol, später in Johann Joachim Quantz’ Versuch einer Anweisung die Flöte traversiere zu spielen (1752) erhalten. Lagenspiel und Ornamentik bei Marin Marais: Idylle Vermutlich hat Monsieur de Sainte-Colombe die siebte Saite in Kontra-A auf der Bassviola eingeführt. Siebensaitige Gamben waren schon vorher bekannt und der Trend zur Basslastigkeit spiegelte sich im tiefen französischen Stimmton wider. 1688 kam es zwischen Rousseau und Demachy zu einem öffentlichen Streit um das melodische und das harmonische Spiel. Der vordergründige Anlass für die Polemik war die Stellung des linken Daumens. Demachy beanspruchte für sich die alte Lautentechnik, den Daumen dem Zeigefinger gegenüber zu halten. Rousseau berief sich auf Sainte-Colombe, bestritt eine Beziehung zur Lautentechnik und plädierte für die Position gegenüber dem Mittelfinger. In der Folge unterschied man in der Violenmusik spieltechnisch zwischen Pièces de mélodie und Pièces d’harmonie. Die Lehrwerke trennten sich. Deutschland und die Niederlande Der englische Einfluss auf das deutsche Musikleben hielt an. Als 1613 der Kurfürst Friedrich Elisabeth Stuart heiratete, ließ sich John Cooper am Heidelberger Hof nieder. Weitere Landsmänner folgten ihm und breiteten die Consorttechnik in den Fürstentümern aus. Mit den Musikern kamen auch die Instrumente ins Land, englische und italienische Gamben, und die Fünfstimmigkeit der Madrigale Claudio Monteverdis. Johann Hermann Scheins Banchetto musicale (1617) und Samuel Scheidts Ludi musici (1621) empfanden das englische Klangbild von William Brade und Thomas Simpson nach. Der Generalbass, ausgeführ von Laute, Theorbe oder Cembalo, hatte sich bereits weiterentwickelt als in anderen Ländern. Die solistische Aufführungspraxis für die Viola da gamba war aber bis zu diesem Zeitpunkt vorwiegend Improvisation und wurde kaum notiert. Gedruckte Werke liegen nicht vor. Der Dreißigjährige Krieg erschütterte das Musikleben in Deutschland, Polen, Böhmen und in den Niederlanden nachhaltig. Die Fürstenhöfe entließen ihre Musiker, verkleinerten oder schlossen ihre Kapellen. Der Notendruck stagnierte. 1648 war die Epoche des Gambenconsorts in Deutschlands vorbei. Die englischen Gambisten besaßen keine Geltung mehr, an ihre Stelle traten italienische Musiker, die die Barockvioline einführten. Durch die politische Zersplitterung Deutschlands bildete sich eine vielfältige Musikkultur regionaler Gegensätze heraus. Es gab keinen einheitlichen öffentlichen Kulturträger. Die Sakralmusik trat mehr in den Vordergrund. In protestantischen Gebieten, in denen die wortbetonte Musik gepflegt, und in calvinistischen, wo die Gläubigen vollständig auf Kunstmusik verzichteten, war Instrumentalmusik nicht gefragt. Aus der italienischen Triosonate für zwei Violinen und Bass schufen Komponisten wie Johann Philipp Krieger, Philipp Heinrich Erlebach und Dietrich Buxtehude immerhin eine deutsche Variante für Violine, Viola da gamba und Generalbass. Das Spiel beschränkte sich auf die oberen drei Saiten und die höheren Lagen, akkordisches Spiel schwand völlig. Im norddeutschen Raum bauten die Hansestädte Lübeck und Hamburg ein eigenes Musikleben auf, das die englische Consort-Tradition mit der Mehrchörigkeit und dem italienischen Solospiel verband. Man besann sich hier auf die schon zuvor praktizierte Austauschbarkeit von Posaunen- und Gambenstimmen, so dass die Streichinstrumente wieder Einzug in die festliche Kirchenmusik hielten. Diskant- und Altviolen verschwanden. Übrig blieb die Bassgambe als Continuo- und Soloinstrument. Führende Institutionen waren das Hamburger Collegium musicum um Matthias Weckmann, Johann Schop, Thomas Selle und Christoph Bernhard, die ursprünglich von Franz Tunder begründeten Abendmusiken in St. Marien zu Lübeck und das Consort Friedrich Wilhelms von Brandenburg. Die Niederlande hatten seit dem Tod Jan Pieterszoon Sweelincks kaum eigene Musik hervorgebracht, stattdessen aber viele ausländische Einwirkungen aufgenommen. Die große religiöse Toleranz förderte die Ansiedelung von Flüchtlingen aus ganz Europa, spanischen und portugiesischen Juden und französischen Hugenotten. Hier wirkten Künstler wie Walter Rowe, Dietrich Steffkins, Nicolas Hotman, Carolus Hacquart und schließlich Johannes Schenck, der Gambist am Düsseldorfer Hof Johann Wilhelms II. von der Pfalz wurde. Er pflegte einen Mischstil mit Suiten nach französischer Art und Kirchensonaten. Das Satzbild ist in seiner Mehrstimmigkeit dabei allerdings teilweise derart kompliziert und überladen, dass es an der Grifftechnik der Gambe vorbei komponiert erscheint. Die deutsche Gambenliteratur des 17. Jahrhunderts ist insgesamt schwer zu beurteilen, da zahlreiche gedruckte Tabulaturen verschollen sind. 18. Jahrhundert Frankreich Nachdem der siebensaitige Basse de viole sich in Frankreich endgültig durchgesetzt hatte, schufen Rousseau, Le Sieur Danoville und Marais ihm mit Kompositionen für ein bis drei Instrumente ein spieltechnisches Fundament. Das Repertoire gründete auf der inzwischen formal gefestigten Suite, auf Tanzsätzen und Charakterstücken. Marais’ Schreibweise war bassbezogen, das in Deutschland und England beliebte Spiel in der Diskantlage über dem Continuo war nur von untergeordneter Rolle. Überhaupt wurde der Generalbass als zweitrangig behandelt, er übernahm oft nur eine Reduktion der Hauptstimmen. Eine kritische Auseinandersetzung brachte Hubert Le Blancs Streitschrift Défense de la basse de viole contre les entreprises du violon et les prétensions du violoncelle (1740). Einerseits zog sie die Viola da gamba der aufkommenden Violine und dem Violoncello vor, andererseits bemängelte sie die französischen Pièces und Suiten als einseitig. Für eine stilistische Erneuerung sorgte Antoine Forqueray, der Anregungen aus der italienischen Musik in die Spieltechnik einführte. Seine Kompositionen nutzen den vollen Tonumfang der Bassgambe und bisher nicht bekannte Akkordkombinationen in allen Lagen. Sein Sohn Jean-Baptiste, selbst ein berühmter Gambist, veröffentlichte die Kompositionen nach dessen Tod. Eine weitere Neuheit des Jahrhunderts waren die beiden Diskantgamben-Typen, der Dessus und der Pardessus de viole. Ein geschichtlicher Streitpunkt ist, ob sie ursprünglich als „Dameninstrumente“ entwickelt wurden. Beide waren in der Kammermusik geschätzt, da sie sich als Alternative zu Violine, Oboe und der noch neuen Querflöte anboten. Der ältere Forqueray hatte sie auch statt des Basse de viole eingesetzt. Deutschland Deutschland und das übrige Europa übernahmen den französischen Stil. Die Viola da gamba behielt ihren Status als Soloinstrument für den privaten Gebrauch in der Aristokratie. Etliche Fürsten beherrschten das Spiel, Friedrich Wilhelm I. von Brandenburg, Max Emanuel von Bayern, Leopold von Anhalt-Köthen und Friedrich Wilhelm von Preußen. Carl Friedrich Abel, der Sohn Christian Ferdinand Abels, gilt als der letzte deutsche Virtuose des Jahrhunderts. Seit dem Ausgang des 17. Jahrhunderts wurden die Gambensolisten zu reisenden Berufsmusikern (den heutigen professionellen Instrumentalsolisten durchaus vergleichbar), zu fest angestellten Kammermusikern mit diplomatischen Hofämtern, wie sie Johannes Schenck und Ernst Christian Hesse innehatten, oder sie ergänzten ihren Arbeitsbereich um das Violoncellospiel. Mit diesem Schritt brach die traditionelle Kombination von Gambe und Laute ab. Wie in England war die Viola ein Dilettanteninstrument geworden und ihre Rolle auf ein Ersatzinstrument eingeschränkt. Johann Mattheson kommentierte in Das neu-eröffnete Orchestre (1713): Friedrich Wilhelm II. versuchte noch einmal, die Viola da gamba zu kultivieren. Mit seinem Lehrer Ludwig Christian Hesse, dem Sohn Ernst Christians, bat er Jean-Baptiste-Antoine Forqueray um Noten und spieltechnische Unterweisung. Der Kontakt kam zustande, die nach Preußen übersandten Kompositionen sind nicht mehr erhalten. Einige Sonaten Carl Philipp Emanuel Bachs für die Diskantgambe entstanden in dieser Zeit. In gemischten Besetzungen bei Carl Heinrich Graun, Carl Stamitz u. a. war die Bassgambe oft noch obligates Instrument. Georg Philipp Telemann komponierte Zwölf Fantasien für Viola da Gamba solo (Fantaisies pour la Basse de Violle), die er 1735 herausgab. Für die Diskantgambe, die in Deutschland eher dem Dessus als dem Pardessus entsprach, verfassten Johann Daniel Hardt, Telemann, C. Ph. E. Bach und Johann Melchior Molter Werke von teils sehr anspruchsvoller Technik. Die übrige Literatur bestand überwiegend aus Violinmusik, die für die Gambe eingerichtet wurde. Parallel dazu bemühten sich die Instrumentenbauer um technische Modifikationen, die den Klang steigern sollten, auch wenn dabei manche Charakteristika verloren gingen. Der Hals neigt sich bei diesen Gamben zurück, der Boden ist gewölbt, Wände und Innenbalken sind verstärkt. Aber der neue Typ hatte keine Chance und wurde nicht ins Orchester aufgenommen. Die letzte Neuentdeckung des empfindsamen Zeitalters war das Baryton, das zusammen mit der Viola d’amore seit dem Ende des 17. Jahrhunderts als Liebhaberinstrument gespielt wurde. Sein Klang war weich, außerordentlich nuanciert und silbrig, die Spieltechnik jedoch verhältnismäßig schwierig wegen dreier Saitenbezüge, von denen einer zum Zupfen diente. Als Hofmusiker auf Schloss Esterházy komponierte Joseph Haydn 126 Trios für seinen Dienstherrn, den Fürsten Nikolaus I. Das Instrument kam mit der Vorklassik aus der Mode. Diskantgambenspiel bei Carl Friedrich Abel: Sonate für Viola da gamba solo G-Dur, 2. Satz 19. Jahrhundert Bis auf wenige Interpreten wie Franz Xaver Hammer oder Joseph Fiala war die Viola da gamba im 19. Jahrhundert weithin vergessen. Weder Musikpraxis noch Fachliteratur hatten sich nennenswert mit ihr beschäftigt. Unterdessen betrachtete man das Violoncello als Bezugspunkt der Gambe und spielte die noch vorhandenen Instrumente ohne Bünde, hielt den Bogen im Obergriff und stellte sie auf einen Stachel. Viele Instrumente wurden zu Violoncelli „umgebaut“, etliche sind dabei zerstört worden, bei den meisten anderen ist kein Originalhals mehr erhalten. Zahlreiche in dieser Zeit „entdeckte“ Gamben erwiesen sich später als Fälschungen. Die Zargen wurden niedriger geschnitten, die Böden von Diskantgamben am unteren Ende abgeschrägt, um sie in der Viola-da-braccio-Haltung spielen zu können; aus Decke und Boden von Bassgamben sägte man kleinere Instrumente heraus; die Deckeninnenseiten wurden ausgeschliffen oder unterfüttert, die Innenbalken durch stärkere ersetzt. Zudem wurden einige Instrumente mit Metallsaiten bespannt, so dass Decke und Boden unter dem Druck einbrachen. 1840 erwähnt ein Artikel über Christian Podbielski in der Neuen Zeitschrift für Musik die Viola da gamba als „romantische[s] Instrument“. Erst um 1880 erwachte das Interesse an der Viola da gamba neu, um sie in die damalige Musik einzubeziehen. Allerdings geschah dies eher aus musealer Neigung. Bei der Uraufführung von Julius Rietz’ Oper Georg Neumark und die Gambe (1885) in Weimar erschien auf der Bühne eine Viola da gamba, für die Rietz eine historisierende Originalmusik komponiert hatte. Doch die Pläne, das Instrument wieder in Orchesterapparat und Konzertwesen zu integrieren, schlugen fehl. Stattdessen fertigte man Gamben-Arrangements nach romantischer Musik an. Ab dem 20. Jahrhundert Neue Akzente setzte um die Jahrhundertwende der englische Instrumentenbauer und Musikforscher Arnold Dolmetsch, der als Pionier der Historischen Aufführungspraxis gilt. Nach Quellenstudium und praktischen Versuchen gründete er ein sechsstimmiges Consort aus den Mitgliedern seiner Familie und demonstrierte in öffentlichen Konzerten das Gambenspiel in historisch korrekter Spieltechnik und -ästhetik. Die Veranstaltungen waren beliebt und weckten die Aufmerksamkeit der englischen Musikwelt. Lehrwerke und Spielmusik Die ersten deutschen Versuche in Lehrwerken von Paul Grümmer (1928) und Christian Döbereiner (1936) beschränkten sich dagegen auf die solistische Bassgambe. Die historische Spieltechnik erkannten sie zwar an, hielten sie aber für überholt. Erst Joseph Bacher (1932) und August Wenzinger (1935) wandten sich im Zuge der Jugendmusikbewegung den historischen Originalen zu. Neben der Wiederentdeckung der alten Spielmusik für Amateurensembles griffen sie auch die historische Spieltechnik wieder auf, allerdings nur in Ansätzen. Das Spiel auf leeren Saiten lehnten sie weitgehend ab. Genaue instrumentalpädagogische Darstellungen leisteten erst Jean-Louis Charbonniers Jouer et apprendre la viole de gambe (1976) für die französische Sologambe und Play the viol (1989) von Alison Crum und Sonia Jackson für das Consortspiel. Neue Kompositionen für Viola da gamba Neue Musik für die Viola da gamba entstand in der Jugendmusikbewegung u. a. von Jens Rohwer, im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts jedoch nur sehr vereinzelt, z. B. Pierre Bartholomées Tombeau de Marin Marais für Violine, zwei Gamben und Klarinette oder Dieter Krickebergs vierteltönige Fantasia für 4 Gamben, die an die chromatischen Experimente des 16. Jahrhunderts anknüpft. Hugo Herrmann schrieb 1931 ein Konzert für Gambe und Streichorchester (op. 79c, UA Wien), das seine deutsche Erstaufführung in Köln 1932 mit Paul Grümmer erlebte und diesem frühen Gambisten des 20. Jahrhunderts auch gewidmet ist. Gambenmusik für einzelne CD-Projekte schrieben daneben Jazz-, Avantgarde- und Pop-Komponisten wie George Benjamin, Michael Nyman, Elvis Costello, Tan Dun, Alexander Goehr, Gavin Bryars, Barrington Pheloung, Barry Guy und Moondog. Dem Filmpublikum rief Die siebente Saite (Tous les matins du monde, 1991) des französischen Autors und Regisseurs Alain Corneau nach dem Roman von Pascal Quignard die Musik des 17. Jahrhunderts wieder in Erinnerung in Gestalt der Gambisten Sainte-Colombe (Jean-Pierre Marielle) und Marais (Gérard und Guillaume Depardieu). Bedeutende Gambisten und Ensembles des 20. und 21. Jahrhunderts Solche waren/sind beispielsweise August Wenzinger, Wieland Kuijken, Jordi Savall, Josef Ulsamer, Simone Eckert, Susanne Heinrich, Vittorio Ghielmi, Paul Grümmer, Hille Perl, Hans-Georg Kramer, Paolo Pandolfo und Thomas Fritzsch (Echo Klassik Preisträger 2017 für die Weltersteinspielung der Zwölf Fantasien für Viola da Gamba solo von Telemann) Lucile Boulanger. Bekannte Ensembles für Consortmusik sind Fretwork, Ulsamer-Collegium, Phantasm, Hamburger Ratsmusik, das Marais Consort (Leitung: Hans-Georg Kramer) und The Baltimore Consort. Literatur Historische Werke Viola da gamba Christopher Simpson: The Division Viol or The Art of Playing Ex Tempore Upon a Ground. London 1665. Faksimile-Nachdruck hrsg. von J. Curwen & Sons, London 1955. Thomas Mace: Musick’s Monument. London 1676. Faksimile-Nachdruck hrsg. vom Centre National de la Recherche Scientifique, Paris 1966. Le Sieur Danoville: L’Art de toucher le dessus et le basse de violle. Paris 1687. Faksimile-Nachdruck hrsg. von Minkoff, Genf 1972 Jean Rousseau: Traité de la viole. Paris 1687. Faksimile-Nachdruck hrsg. von Minkoff, Genf 1975. Michel Corrette: Méthode pour apprendre facilement à jouer du pardessus de viole à 5 et à 6 cordes avec des leçons a I. et II. parties. Paris 1738. Faksimile-Nachdruck hrsg. von Minkoff, Genf 1983. Hubert Le Blanc: Défense de la basse de viole contre les entreprises du violon et les prétensions du violoncelle. Amsterdam 1740; Faksimile-Nachdruck hrsg. von Karel Lelieveld, Den Haag 1983. Michel Corrette: Méthodes pour apprendre à jouer de la contre-basse à 3, à 4 et à 5 cordes, de la quinte ou Alto et de la viole d’Orphée, Nouvel instrument ajousté sur l’ancienne viole. Paris 1781. Faksimile-Nachdruck hrsg. von Minkoff, Genf 1977. Spielpraxis und Theorie Girolamo Dalla Casa: II vero modo di diminuir con le tutte le sorte di stromenti. 2 Bände. Venedig 1584. Faksimile-Nachdruck hrsg. von Giuseppe Vecchi, Bologna 1970. Scipione Cerreto: Della Prattica musica vocale, et strumentale. Opera necessaria a coloro, che di musica si dilettano. Carlino, Neapel 1601. Pietro Cerone: El Melopeo. Tractado de musica theorica y pratica. Neapel 1613. Faksimile-Nachdruck hrsg. von Franco Alberto Gallo, Bologna 1969. Jean Baptiste Besard: Isagoge in artem testudinariam. Augsburg 1617. Faksimile-Nachdruck hrsg. von Peter Päffgen. Junghänel Päffgen Schäffer, Neuss 1974. Marin Mersenne: Harmonie Universelle, contenant La Théorie et la Pratique de la Musique. Paris 1636. Faksimile-Nachdruck hrsg. vom Centre National de la Recherche Scientifique, Paris 1965. Marin Mersenne: Harmonicorum Libri XII. Paris 1648. Faksimile-Nachdruck hrsg. von Minkoff, Genf 1972. Weiterführende Literatur Instrument Christian Ahrens: Viola da gamba und Viola da braccio. Symposium im Rahmen der 27. Tage Alter Musik in Herne 2002. München 2006, ISBN 3-87397-583-1. Hans Bol: La Basse de viole du temps de Marin Marais et d’Antoine Forqueray. Creyghton, Bilthoven 1973 (Dissertation). Imke David: Die sechzehn Saiten der italienischen Lira da gamba. Orfeo-Verlag, Osnabrück 1999, ISBN 3-9806730-0-6. Christian Döbereiner: Ueber die Viola da Gamba und die Wiederbelebung alter Musik auf alten Instrumenten. Sonderdruck aus Zeitschrift für Musik. 1940, Heft 10, Leipzig 1940. Friedemann und Barbara Hellwig: Joachim Tielke. Kunstvolle Musikinstrumente des Barock. Deutscher Kunstverlag, Berlin/München 2011, ISBN 978-3-422-07078-3. Bettina Hoffmann: Die Viola da Gamba. Ortus Musikverlag, Beeskow 2014, ISBN 978-3-937788-32-6. Adolf Heinrich König: Die Viola da gamba. Anleitung zum Studium und zur Herstellung der Instrumente der Viola da gamba-Familie. Eine Berufskunde für Gambenbauer. Erwin Bochinsky, Frankfurt am Main 1985, ISBN 3-923639-64-3. Annette Otterstedt: Die Englische Lyra Viol. Instrument und Technik. Bärenreiter, Kassel 1989, ISBN 3-7618-0968-9 (Dissertation). John Rutledge: How did the Viola da gamba sound? In: Early Music. 7 (Januar 1979), S. 59–69. Erich Valentin: Handbuch der Musikinstrumentenkunde. Gustav Bosse, Regensburg 1954, S. 149–152 und 426. Instrumentalspiel und Musik Barbara Schwendowius: Die solistische Gambenmusik in Frankreich von 1650–1740 (= Kölner Beiträge zur Musikforschung. Band 59). Bosse, Regensburg 1970, ISBN 3-7649-2563-9 (zugleich Dissertation). Veronika Gutmann: Die Improvisation auf der Viola da gamba in England im 17. Jahrhundert und ihre Wurzeln im 16. Jahrhundert (= Wiener Veröffentlichungen zur Musikwissenschaft. Band 19). Schneider, Tutzing 1979. Alison Crum/Sonia Jackson: Play the viol. The complete guide to playing the treble, tenor, and bass viol. Oxford University Press, 1989, ISBN 0-19-317422-7. Mark Lindley: Lauten, Gamben und Stimmungen. Deutsch von Alois Hoizkrumm. Wilsingen 1990, ISBN 3-927445-02-9. Fred Flassig: Die solistische Gambenmusik in Deutschland im 18. Jahrhundert. Cuvillier, Göttingen 1998, ISBN 3-89712-241-3 (zugleich Dissertation). Sonstige Literatur Michael Praetorius: De Organographia. Wolfenbüttel 1619. Neudruck Kassel 1929. Alfred Einstein: Zur deutschen Literatur für Viola da Gamba im 16. und 17. Jahrhundert. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1905 (Dissertation); Nachdruck 1972, ISBN 3-500-24050-X. Nathalie Dolmetsch: The viola da gamba. Its origin and history, its technique and musical resources. Hinrichsen Edition, New York / London / Frankfurt am Main / Zürich 1962. Nikolaus Harders: Die Viola da gamba und Besonderheiten ihrer Bauweise. Verlag Das Musikinstrument, Frankfurt am Main 1977, ISBN 3-920112-58-X. Ian Woodfield: The Early History of the Viol. Cambridge University Press, 1984, ISBN 0-521-24292-4. Annette Otterstedt: Die Gambe. Kulturgeschichte und praktischer Ratgeber. Bärenreiter, Kassel u. a. 1994, ISBN 3-7618-1152-7. Weblinks Weblinks zum Instrument tielke-hamburg.de – Website für Joachim Tielke, von dem über 90 Viole da gamba aus den Jahren 1669 bis 1719 nachgewiesen werden können. Viola da gamba Sammlung der Orpheon Foundation – Ikonographische Dokumentation, Artikel zu Baumerkmalen, Geschickte u. a. Einzelnachweise Streichinstrument Lauteninstrument Historisches Musikinstrument
60684
https://de.wikipedia.org/wiki/Romy%20Schneider
Romy Schneider
Romy Schneider (* 23. September 1938 in Wien; † 29. Mai 1982 in Paris; geboren als Rosemarie Magdalena Albach) war eine deutsch-französische Schauspielerin und Synchronsprecherin. Schneider begann ihre Schauspielkarriere im Alter von 15 Jahren. An der Seite ihrer Mutter Magda Schneider spielte sie in Heimatfilmen wie Wenn der weiße Flieder wieder blüht (1953) und Die Deutschmeister (1955). In den Jahren 1955 bis 1957 gelang ihr in der Rolle der Kaiserin Elisabeth mit der Sissi-Trilogie der internationale Durchbruch. Auf der Suche nach anspruchsvollen Rollen ging sie 1958 nach Paris, wo sie ihr Theaterdebüt in John Fords Tragödie Schade, dass sie eine Dirne ist gab. Im Jahr 1963 drehte sie in den Vereinigten Staaten den Spielfilm Der Kardinal, für den sie eine Golden-Globe-Nominierung erhielt. 1969 hatte sie mit Der Swimmingpool an der Seite von Alain Delon einen Kinoerfolg. In den 1970er Jahren war Schneider auf dem künstlerischen Höhepunkt ihrer Karriere. Unter der Regie von namhaften Regisseuren wie Claude Sautet, Andrzej Żuławski und Luchino Visconti spielte sie zahlreiche Charakterrollen und avancierte zur erfolgreichsten Schauspielerin des französischen Films dieser Zeit. Für ihre schauspielerischen Leistungen in den Filmen Nachtblende (1975) und Eine einfache Geschichte (1978) wurde sie mit dem César als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet. Ihr letzter Film, Die Spaziergängerin von Sans-Souci, erschien 1982 wenige Wochen vor ihrem Tod. Bei der Verleihung des César im Jahr 2008 wurde ihr postum der Ehrenpreis verliehen. Leben und Werk Die frühen Jahre Romy Schneider wurde als Tochter des österreichisch-deutschen Schauspielerehepaares Wolf Albach-Retty und Magda Schneider im Billrothkrankenhaus (heute Rudolfinerhaus) in Wien geboren. Ihre Vorfahren väterlicherseits gehören der berühmten österreichischen Schauspielerdynastie Albach-Retty an. Schon Romy Schneiders Ururgroßvater Adolf Retty war Schauspieler, ihre Urgroßeltern waren der Regisseur und Schauspieler Rudolf Retty und die Sängerin Maria Katharina „Käthe“ Retty, geborene Schäfer. Deren Tochter – Schneiders Großmutter – war die k. u. k. Hofschauspielerin Rosa Albach-Retty. Vier Wochen nach Schneiders Geburt brachten die Eltern sie nach Schönau am Königssee, wo sie und später ihr Bruder Wolf-Dieter (* 1941) bei den Großeltern Franz Xaver und Maria Schneider auf dem Landgut Mariengrund aufwuchsen. In ihrem ersten Lebensjahr wurde Romy Schneider in die Hände einer Gouvernante gegeben. Die Eltern waren durch ihre schauspielerischen Engagements sehr selten anwesend. 1943 trennten sie sich und wurden 1945 geschieden. Schneider wurde im September 1944 in die Volksschule von Schönau eingeschult und besuchte ab Juli 1949 das Mädcheninternat auf Schloss Goldenstein, eine private Hauptschule der Augustiner-Chorfrauen B.M.V. in Elsbethen nahe Salzburg. Schon während ihrer Schulzeit entdeckte sie ihre Leidenschaft für die Schauspielerei, weshalb sie häufig bei Theateraufführungen des Internats auf der Bühne stand. In ihrem Tagebucheintrag vom 10. Juni 1952 schrieb sie: „Wenn es nach mir ginge, würde ich sofort Schauspielerin werden. […] Jedesmal wenn ich einen schönen Film gesehen habe, sind meine ersten Gedanken nach der Vorstellung: Ich muß auf jeden Fall einmal eine Schauspielerin werden. Ja! Ich muß!“ Am 12. Juli 1953 verließ sie das Internat Goldenstein mit dem Abschluss der mittleren Reife. Nach den Sommerferien sollte sie ein Studium an den Kölner Werkschulen beginnen, da sie während des Kunstunterrichts in der Schule ein Talent für die Malerei und das Zeichnen gezeigt hatte. Außerdem war Magda Schneider inzwischen in Köln mit dem Gastronomen und Unternehmer Hans Herbert Blatzheim liiert. Die Ausbildung trat sie jedoch zugunsten ihrer ersten Filmrolle nicht an. Beginn der Karriere in den 1950er Jahren In dem geplanten Heimatfilm Wenn der weiße Flieder wieder blüht sollte Magda Schneider die weibliche Hauptrolle spielen. Für die Rolle ihrer Filmtochter Evchen Forster suchten der Produzent Kurt Ulrich und der Regisseur Hans Deppe nach einer geeigneten Besetzung. Magda Schneider schlug ihre eigene Tochter vor, obwohl sie laut eigener Aussage nichts von deren Berufswunsch und Talent ahnte. Das erste Gespräch mit Ulrich und Deppe am 15. Juli 1953 in München verlief vielversprechend. Nachdem die vierzehnjährige Schneider bei Probeaufnahmen im Ufa-Atelier in Berlin Anfang September 1953 überzeugt hatte, wurde sie für die Rolle engagiert. Die Dreharbeiten an der Seite des berühmten Willy Fritsch und des gleichaltrigen Götz George, der in dem Film ebenfalls sein Leinwanddebüt gab, fanden in Wiesbaden statt und endeten am 9. November 1953. Die Premiere des Films folgte zwei Wochen später in Stuttgart. Fortan nutzte sie den Künstlernamen Romy Schneider. Im Dezember 1953 heirateten Magda Schneider und Hans Herbert Blatzheim. Im Mai 1954 begann Schneider mit den Dreharbeiten für ihren zweiten Film, Feuerwerk, an der Seite von Lilli Palmer, in dem sie ein junges Mädchen namens Anna Oberholzer spielt, das von zu Hause ausreißt, um sich einem Wanderzirkus als Artistin anzuschließen. Während der Arbeit am Film schrieb sie in ihr Tagebuch: „Ich weiß, dass ich in dieser Schauspielerei aufgehen kann. Es ist wie ein Gift, das man schluckt und an das man sich gewöhnt und das man doch verwünscht.“ In Feuerwerk hatte die damals fünfzehnjährige Schneider ihre erste Kussszene mit ihrem Schauspielerkollegen Claus Biederstaedt. Sie sagte später, dass es seiner einfühlsamen Art zu verdanken gewesen sei, dass sie ihre Verlegenheit während der Liebesszene habe überwinden können. Feuerwerk wurde im Juli 1954 fertig gestellt und kam im September 1954 in die deutschen Kinos. Noch während der Dreharbeiten zu Feuerwerk kam es im Juni 1954 zur ersten Begegnung zwischen Schneider und Ernst Marischka. Der Regisseur hatte zwar bereits eine Schauspielerin für seinen neuen Film Mädchenjahre einer Königin (1954) über die junge Victoria unter Vertrag, nachdem er aber Romy Schneider kennengelernt hatte, entschied er sich spontan, die Rolle mit ihr umzubesetzen. Später sagte die Schauspielerin im Interview für die Dokumentation Romy – Portrait eines Gesichts (1967) über Marischka und sein damaliges Vertrauen in sie: „Herr Marischka, der ein wirklicher Freund war, hat genau gewusst, was er will, als er mich engagierte. Ich war ja keine versierte Schauspielerin. […] Was ich ihm zu verdanken habe, weiß ich. Sehr viel. Alles. Damit hat es ja angefangen.“ 1955 spielte Schneider erneut unter der Regie Marischkas und zum dritten Mal gemeinsam mit ihrer Mutter in Die Deutschmeister, einem Remake des Films Frühjahrsparade (1934), in dem ihr Vater die männliche Hauptrolle gespielt hatte. Der Film und die Darsteller erhielten hymnische Kritiken, und das von Schneider in dem Film gesungene Lied Wenn die Vöglein musizieren erschien bald auch als Schallplatte. Innerhalb kurzer Zeit war Romy Schneider zu einem der erfolgreichsten Stars im deutschsprachigen Raum avanciert und hatte auch ihrer Mutter im Nachkriegsdeutschland zu neuer Anerkennung verholfen. Von der Fachzeitschrift Der neue Film erhielt sie 1955 gemeinsam mit Karlheinz Böhm ihre erste Auszeichnung als beliebtester Nachwuchsstar. Im selben Jahr spielte Schneider an der Seite von Joachim Fuchsberger und Hans Albers in der gleichnamigen Neuverfilmung von Der letzte Mann (1924). Albers, der die Hauptrolle spielte, sagte später: „Es war nicht mein Film, es war ihr Film.“ Der letzte Mann (1955) wurde vom Publikum allerdings weit weniger honoriert als ihre ersten Filme. Erfolg mit der Sissi-Trilogie Im August 1955 begannen die Dreharbeiten zu Sissi. Regisseur Ernst Marischka hatte die damals sechzehnjährige Schneider für die Hauptrolle in dem Historienfilm um die junge Kaiserin Elisabeth verpflichtet. An der Seite ihrer Tochter übernahm Magda Schneider die Rolle der bayerischen Herzogin Ludovika, Elisabeths Mutter. Die männliche Hauptrolle des österreichischen Kaisers Franz Joseph I. erhielt Karlheinz Böhm. Die Zusammenarbeit der beiden Hauptdarsteller verlief harmonisch, ihre Beziehung blieb jedoch rein beruflich. Die Dreharbeiten dauerten bis Jahresende und waren mit enormen Produktionskosten verbunden. Sissi hatte am 21. Dezember 1955 Weltpremiere im Apollo-Kino in Wien und kam einen Tag später in die westdeutschen Kinos. Durch den Film wurde Schneider weltberühmt, und auch in ihrer Heimat stieg ihre Popularität noch einmal deutlich. In einer Umfrage nach der beliebtesten Schauspielerin Deutschlands erreichte sie im November 1955 den zweiten Platz hinter Maria Schell, und Der Spiegel widmete ihr im März 1956 eine Titelgeschichte. Aufgrund ihres raschen Aufstiegs erhielt Schneider bald den Spitznamen „Shirley Tempelhof“ in Anlehnung an den ehemaligen US-amerikanischen Kinderstar Shirley Temple. Allein in Deutschland sahen in den kommenden zwei Jahren rund sechs Millionen Kinobesucher jeden der drei Sissi-Teile. Unterdessen hatte Schneiders Stiefvater Hans Herbert Blatzheim ihr Management übernommen. Er verwaltete ihre Einnahmen und sondierte die eingehenden Rollenangebote. So wurde ein Angebot für einen Film des spanisch-mexikanischen Regisseurs Luis Buñuel ebenso abgelehnt wie mögliche Engagements in Neuverfilmungen von Der Kongreß tanzt (1955) und Die Drei von der Tankstelle (1955). Eine Hollywood-Version von Mädchenjahre einer Königin scheiterte indes an den Bedingungen, die Schneiders Management stellte, wonach unter anderem die Drehzeit nicht länger als drei Monate hätte dauern dürfen. Stattdessen übernahm sie die Titelrolle in der Liebesgeschichte Kitty und die große Welt (1956), bei deren Umsetzung erneut auf die Zugkraft des Gespanns Romy Schneider und Karlheinz Böhm vertraut wurde. Trotz des großen Erfolgs des ersten Films lehnte Schneider eine Fortsetzung von Sissi zunächst kategorisch ab, konnte aber schließlich doch von Blatzheim und den Machern von Sissi, die junge Kaiserin (1956) dazu überredet werden, erneut in ihre Paraderolle zu schlüpfen. Im Gegenzug gelang es ihr, mit Robinson soll nicht sterben (1957) einen ihrer Lieblingsstoffe auszuhandeln. An der Seite von Horst Buchholz spielt Schneider in dem Film die Tochter einer Baumwollspinnerin aus der Unterschicht und grenzte sich damit deutlich von ihren zuvor gespielten Rollen ab. Im Vorfeld wurde befürchtet, dass das Publikum Schneider in dieser Rolle nicht akzeptieren würde, was sich letztlich als unbegründet erwies. Sowohl Kitty und die große Welt als auch Robinson soll nicht sterben verbuchten in den Kinos hohe Besucherzahlen, reichten aber nicht an den Erfolg des zweiten Sissi-Films heran. Für ihre erneute Darstellung der österreichischen Kaiserin wurde Schneider 1957 für den Bambi nominiert, der jedoch an Gina Lollobrigida ging. 1957 übernahm Schneider die Rolle der Erzählerin im musikalischen Märchen Peter und der Wolf, das als LP unter Herbert von Karajan aufgenommen wurde, und drehte drei Filme: Monpti (1957), für dessen Dreharbeiten sie zum ersten Mal nach Paris flog, Scampolo (1958) unter der Regie von Alfred Weidenmann und schließlich – nur noch widerwillig – den dritten und letzten Teil der Sissi-Trilogie: Sissi – Schicksalsjahre einer Kaiserin (1957). Schneider wollte sich nicht länger auf nur eine Rolle festlegen lassen und weigerte sich, einen vierten Sissi-Film zu drehen. Dies bedeutete nicht nur ihren eigenen finanziellen Nachteil, da sie eine Gage von einer Million Mark ausschlug, sondern ging auch zu Lasten Magda Schneiders, um die es ab 1959 merklich still wurde, und führte zu einer spürbaren Verschlechterung ihres Verhältnisses zu ihrem Stiefvater. „Daddy“ Blatzheim, für den die Lukrativität der Rollenangebote und werbewirksame Auftritte im Vordergrund standen, hatte wenig Gehör für den künstlerischen Anspruch seiner Stieftochter. Hinzu kamen Eifersuchtsszenen, die er ihr machte, wenn sie mit ihren Filmpartnern flirtete. Schneider fühlte sich bald bevormundet und begann zu rebellieren, zunächst nur im Stillen in ihren Tagebüchern, später durch die selbstbestimmte Wahl ihrer Filme und Partner. Der Ausbruch Vom 11. Februar 1957 bis 5. März 1957 bereiste Romy Schneider mit Mutter, Stiefvater und neun weiteren Personen Indien und Ceylon. Vom 13. Januar bis 5. Februar 1958 begab sich Schneider zusammen mit ihrer Mutter auf eine dreiwöchige Reise nach New York City und Hollywood. Anlass war die New Yorker Premiere ihres Films Mädchenjahre einer Königin, den die Walt Disney Company unter dem Titel The Story of Vicky in die US-amerikanischen Kinos brachte. Schneider gab zahlreiche Interviews in Rundfunk und Fernsehen, wurde von den großen Hollywood-Studios empfangen und pflegte Kontakte zu Kollegen wie Helmut Käutner, Curd Jürgens und Sophia Loren. Zurück in Deutschland drehte sie Mädchen in Uniform (1958) an der Seite von Lilli Palmer, Therese Giehse und Christine Kaufmann. Der Film von Regisseur Géza von Radványi spielt im Jahr 1910 in Preußen und erzählt die Geschichte der Internatsschülerin Manuela von Meinhardis (Schneider), die sich in ihre Lehrerin (Palmer) verliebt. Für die selbstkritische Schneider war es der erste Film, in dem sie sich selbst als Schauspielerin ernst nahm und bei dem sie selbstbewusst an ihre Rolle heranging. Auch die Presse lobte ihre schauspielerische Leistung. So schrieb beispielsweise die Neue Berliner Woche am 10. Oktober 1958: „Die lieblich herbe Romy Schneider und die souverän frauliche Lilli Palmer enttäuschten auch ein anspruchsvolles Parkett nicht: das lesbische Spiel kommt durchaus dezent und geschmackvoll über die Runden. Alles in allem eine saubere Arbeit, der man Anerkennung nicht versagen kann.“ Der Tag befand am 16. Oktober 1958: „Romy Schneider überrascht hier (nach den vielen Rollen, in denen sie kindlich-süßen Charme entwickeln musste) mit einer imponierenden darstellerischen Eindringlichkeit. Sie wirkt echt in ihrer anfänglichen Scheu und ihrer seelischen Verklemmung, aber auch in ihren späteren Gefühlsausbrüchen.“ Im Juni 1958 begannen die Dreharbeiten zu Christine, einem Remake der ersten Tonverfilmung des Stücks Liebelei von Arthur Schnitzler, in dem Romy Schneider den 1933 von Magda Schneider gespielten Part einnahm. Ihre Gage betrug 500.000 DM, womit sie 1958 die am besten bezahlte Schauspielerin Deutschlands war. Ihr Filmpartner war der damals noch unbekannte französische Schauspieler Alain Delon. Die beiden wurden nicht nur auf der Leinwand, sondern auch im wirklichen Leben ein Paar und nach dem Ende der Dreharbeiten im Herbst 1958 ging die damals Zwanzigjährige mit Delon nach Paris. Ihre Familie lehnte Delon ab; da sie die Beziehung jedoch nicht unterbinden konnte, drängte sie darauf, ihr wenigstens einen bürgerlichen Rahmen zu geben. So feierten Schneider und Delon am 22. März 1959 ihre Verlobung am Luganer See. Aber die Schauspielerin war nicht nur der Liebe wegen nach Frankreich gegangen. Für sie bedeutete es die endgültige Abnabelung von ihrem Elternhaus und die Hoffnung auf eine Karrierewende. Dass sie der deutschen Filmindustrie den Rücken kehrte, nahm ihr die heimische Presse lange Zeit übel und viele Journalisten übergossen sie mit Häme und Beschimpfungen. Von Paris aus erfüllte Schneider noch die Verträge für die Filme Ein Engel auf Erden, Die schöne Lügnerin sowie Katja, die ungekrönte Kaiserin (alle erschienen 1959) und spielte die Hauptrolle in Fritz Kortners Fernsehfilm Die Sendung der Lysistrata (1961). Danach konzentrierte sie sich auf ihr neues Leben in Frankreich: „[Es war] eine Welt, die ich erobern wollte: Paris, das Theater, künstlerische Filme, große Regisseure mit phantastischen Plänen […].“ Die ersten Monate in Paris waren jedoch nicht immer leicht für die Schauspielerin. Die erfolgsverwöhnte Schneider erhielt keine Rollenangebote mehr, während Alain Delon gleichzeitig zum Weltstar avancierte. „In Deutschland war ich abgeschrieben, in Frankreich war ich noch nicht ‚angeschrieben‘. […] Alain raste von einem großen Film zum anderen. Gereizt reagierte ich auf jede neue Erfolgsnachricht, auf jede Mitteilung über einen schönen Vertrag, den Alain erhielt.“ Die berufliche Wende kam schließlich, als Delon sie mit dem Regisseur Luchino Visconti bekannt machte und dieser ihr die weibliche Hauptrolle in seiner Inszenierung von John Fords Stück Schade, dass sie eine Dirne ist anbot. Für das Renaissance-Drama, bei dem sie gemeinsam mit Delon im Théâtre de Paris auf der Bühne stand, nahm sie französischen Sprachunterricht bei ihrem Kollegen Raymond Gérôme und Privatstunden bei einer Phonetik-Lehrerin. Schneider, die nie eine reguläre Schauspielausbildung absolviert hatte, sagte später über die Zusammenarbeit mit Visconti: „Ich habe vier Lehrer: Visconti, Welles, Sautet und Żuławski. Der größte ist Visconti. Er hat mir beigebracht, was er allen beibringt, die mit ihm arbeiten, nämlich seine Art, die Dinge auf die Spitze zu treiben, seine Disziplin.“ Die Premiere des Theaterstücks, bei der unter anderem Ingrid Bergman, Shirley MacLaine und Jean Cocteau im Publikum saßen, fand am 29. März 1961 statt und wurde für Schneider zu einem großen Erfolg. Ihre darstellerische Leistung brachte ihr viele lobende Kritiken und die Anerkennung der Branche ein, so dass neue Rollenangebote nicht länger auf sich warten ließen. Im selben Jahr drehte sie, wieder unter der Regie von Visconti, Boccaccio 70 (1962) und ging auf eine monatelange Theatertournee mit Sacha Pitoëffs Inszenierung von Tschechows Die Möwe, ihrer zweiten und gleichzeitig letzten Theaterrolle. Danach spielte sie an der Seite von Anthony Perkins in Orson Welles’ Film Der Prozeß (1962) die Rolle der Leni. Schneider selbst bezeichnete die Kafka-Verfilmung als einen ihrer wichtigsten Filme, für den sie mit dem Étoile de Cristal als beste ausländische Darstellerin ausgezeichnet wurde. Unter der Regie von Carl Foreman spielte sie dann in dem Episodenfilm Die Sieger (1963) eine junge Geigerin, die während des Zweiten Weltkriegs von einem Soldaten zur Prostitution gezwungen wird. Um in der Rolle einer Musikerin zu überzeugen, nahm Schneider Geigenunterricht bei dem schottischen Konzertmeister David McCallum Sr. (Vater des Schauspielers David McCallum), woraufhin ihr Filmpartner George Hamilton meinte, sie würde wohl auch den Ärmelkanal durchschwimmen, wenn es eine Rolle erfordere. In Otto Premingers Der Kardinal (1963) gab sie die Baronesse Annemarie von Hartmann. Zudem setzte sie für ihren Vater Wolf die Nebenrolle des Barons von Hartmann durch – es war das einzige Mal, dass Vater und Tochter gemeinsam vor der Kamera standen. Schneider erhielt für ihre Darbietung eine Golden-Globe-Award-Nominierung als beste Hauptdarstellerin in einem Drama, bei der Preisverleihung 1964 ging die Auszeichnung jedoch an Leslie Caron für ihre Rolle in Das indiskrete Zimmer. Im Herbst 1963 flog Schneider nach Los Angeles, um ihren ersten Hollywood-Film Leih mir deinen Mann an der Seite von Jack Lemmon zu drehen. Doch während sich ihre Karriere positiv entwickelte, brach zeitgleich das bis dato für sie „scheußlichste Jahr“ ihres Privatlebens an: Die Beziehung zu Delon ging in die Brüche. Aus der Zeitung erfuhr sie von seiner Affäre mit der Schauspielerin Nathalie Barthélemy. Als Schneider von den Dreharbeiten aus den Vereinigten Staaten nach Paris heimkehrte, hatte Delon die gemeinsame Wohnung bereits verlassen und heiratete kurz darauf Barthélemy. Schneider unternahm daraufhin einen Suizidversuch und nahm sich anschließend eine längere berufliche Auszeit. Leih mir deinen Mann feierte seine Weltpremiere am 22. Juli 1964 und wurde zum Kassenschlager. Um dieselbe Zeit trat Schneider wieder vor eine Filmkamera: Sie drehte unter der Regie von Henri-Georges Clouzot den Film L’Enfer (Die Hölle). Das Projekt stand jedoch von Anfang an unter keinem guten Stern. Schneiders Filmpartner Serge Reggiani erkrankte schwer, was sämtliche Dispositionen zunichtemachte, und drei Wochen nach Drehbeginn erlitt der Regisseur einen Herzinfarkt. Der Film wurde nie vollendet. Im darauffolgenden Jahr drehte Schneider an der Seite von Peter Sellers und Peter O’Toole in Paris die Komödie Was gibt’s Neues, Pussy? (1965) aus der Feder von Woody Allen. Rückkehr nach Deutschland Im April 1965 flog Schneider zur Eröffnung zweier Restaurants ihres Stiefvaters nach Deutschland, wo sie den Regisseur und Schauspieler Harry Meyen kennenlernte. Die beiden wurden ein Paar und bezogen bald darauf ein Haus in der Winkler Straße in Berlin-Grunewald. Schneider beabsichtigte, in Berlin Theater zu spielen, doch obwohl sie sich mehrere Male mit Boleslaw Barlog und Fritz Kortner traf, um ein geeignetes Stück zu finden, sollte sich dieser Wunsch nicht erfüllen. Ihr nächster Kinofilm war das deutsch-französische Drama Schornstein Nr. 4 (1966), das zu großen Teilen in Oberhausen gedreht wurde und Schneider erstmals an der Seite von Michel Piccoli zeigte. Während der anschließenden Dreharbeiten zu Spion zwischen 2 Fronten (1966) heirateten Schneider und Meyen am 15. Juli 1966, kurz nach dessen Scheidung von der Schauspielerin Anneliese Römer. Am 3. Dezember desselben Jahres wurde der gemeinsame Sohn David Christopher Haubenstock in Berlin geboren und in den darauffolgenden zwei Jahren widmete sich Romy Schneider fast ausschließlich ihrem Dasein als Mutter und Ehefrau. Im Februar 1967 erlitt Wolf Albach-Retty im Alter von 60 Jahren einen tödlichen Herzinfarkt. Nur ein Jahr später starb Schneiders Stiefvater an der gleichen Todesursache. Ihr erster Film nach der Geburt ihres Sohnes trug den Titel Ein Pechvogel namens Otley und wurde im Frühjahr 1968 in London produziert. Im Sommer desselben Jahres drehte Schneider wieder mit Alain Delon. Von Der Swimmingpool (1969) erhoffte sich die Klatschpresse neue Schlagzeilen durch ein mögliches Wiederaufleben der einstigen Romanze, doch Schneider schrieb in ihr Tagebuch: „Wenn alle Schauspieler, die einmal zusammengelebt haben, keine Filme mehr zusammen drehen würden, gäbe es bald keine Filme mehr. Ich empfinde nichts mehr, es ist, als ob ich eine Mauer umarme. Absolut!“ Der Swimmingpool hatte am 31. Januar 1969 in Paris Premiere und wurde ein großer Erfolg, sowohl bei Kritikern als auch kommerziell. Nach Inzest (1970) drehte Schneider Die Dinge des Lebens (1970) unter der Regie von Claude Sautet. Sie spielte darin erneut an der Seite von Michel Piccoli. Für den Soundtrack zum Film sangen sie das Duett La Chanson d’Hélène, das von Philippe Sarde und Jean-Loup Dabadie komponiert worden war. La Grande Dame in den 1970er Jahren In den 1970er Jahren drehte Romy Schneider überwiegend in Frankreich, wo sie zu einer Grande Dame des französischen Films avancierte und durchweg einen modernen, unabhängigen Frauentyp verkörperte. Sie gehörte in diesem Jahrzehnt zusammen mit Catherine Deneuve und Annie Girardot zu den populärsten Schauspielerinnen des Landes. Zu Beginn des neuen Jahrzehnts entstanden gleich mehrere Filme mit ihr in der Hauptrolle: Nach Die Geliebte des Anderen (1970) kamen im Jahr 1971 die Filme Bloomfield, La Califfa sowie Das Mädchen und der Kommissar in den Verleih. Außerdem stand sie zum dritten Mal mit Alain Delon für den Historienfilm Die Ermordung Trotzkis vor der Kamera, der in Deutschland unter dem Titel Das Mädchen und der Mörder erschien. Sie beteiligte sich zudem an der von Alice Schwarzer initiierten Medien-Aktion „Wir haben abgetrieben!“, zu der sich in der Zeitschrift Stern 374 Frauen bekannten. Ein Jahr später übernahm Schneider erneut die Rolle, die für sie in den 1950er Jahren zu Fluch und Segen geworden war: In Ludwig II. verkörperte sie wieder die Kaiserin Elisabeth von Österreich, doch inszenierte Visconti die „Sissi“ dieses Mal authentisch und Schneider befasste sich während der Vorbereitungen intensiv mit dem wahren Charakter der historischen Figur. Die Dreharbeiten begannen im Januar 1972 in Bad Ischl und wurden auf Englisch durchgeführt. Helmut Berger spielte den „Märchenkönig“; als Synchronregisseur hatte Romy Schneider ihren Ehemann Harry Meyen durchgesetzt. Ebenfalls 1972 erschien der Film César und Rosalie; sie spielte an der Seite von Yves Montand und unter Anweisung ihres „Lieblingsregisseurs“, Claude Sautet. Meyen und Schneider, die wegen seiner beruflichen Verpflichtungen inzwischen nach Hamburg gezogen waren, trennten sich 1973. Schneider kehrte daraufhin mit ihrem Sohn zurück nach Paris. Künstlerisch stand sie auf dem Höhepunkt ihrer Karriere. Sie konnte ihre Rollen frei wählen („Ich suche mir halt die Rosinen aus.“) und arbeitete mit bedeutenden Regisseuren und Schauspielerkollegen wie Richard Burton, Jean-Louis Trintignant, Klaus Kinski und Jane Birkin zusammen. 1973 und 1974 drehte Schneider innerhalb von zehn Monaten fünf Filme. In Le Train – Nur ein Hauch von Glück (1973) spielt sie Anna Kupfer, eine deutsche Jüdin auf der Flucht. Der schwelgerisch-melancholischen Romanze Sommerliebelei (1974) folgte Das wilde Schaf (1974), in dem sie eine vernachlässigte Ehefrau verkörpert, die sich auf einen Seitensprung einlässt, und in der bizarren Komödie Trio Infernal (1974) brilliert sie an der Seite von Michel Piccoli und Mascha Gonska als skrupellose und lebenshungrige Mordkomplizin. Im November 1974 filmte Schneider Die Unschuldigen mit den schmutzigen Händen (1975) und begann im April 1975 mit den Dreharbeiten zu dem Spielfilm Das alte Gewehr (1975), basierend auf dem Massaker von Oradour im Jahr 1944. Schneider spielt darin die Französin Clara, die von deutschen Soldaten vergewaltigt und ermordet wird. Für ihre Darbietung in Nachtblende (1975) erhielt sie im April 1976 schließlich ihren ersten César als beste Hauptdarstellerin und dankte in ihrer Rede ihrem „Meister und Freund“ Luchino Visconti, der wenige Wochen zuvor verstorben war. Die Ehe mit Harry Meyen wurde am 8. Juli 1975 geschieden. Zu diesem Zeitpunkt war Schneider bereits mit ihrem elf Jahre jüngeren Privatsekretär Daniel Biasini liiert. Am 18. Dezember 1975 heirateten die beiden in Berlin. Sie drehte wieder mit Sautet (Mado, 1976) und spielte in der Verfilmung von Heinrich Bölls Roman Gruppenbild mit Dame die Rolle der Leni Gruyten. Am 21. Juli 1977 kam ihre Tochter Sarah Magdalena Biasini in Gassin zur Welt. Im selben Jahr wurde ihr für Gruppenbild mit Dame (1977) das deutsche Filmband in Gold in der Kategorie Beste darstellerische Leistung verliehen. Nach der Geburt ihres zweiten Kindes arbeitete Schneider zum fünften und letzten Mal mit Claude Sautet zusammen. Für Eine einfache Geschichte (1978) wurde sie bei der Verleihung des César am 3. Februar 1979 erneut als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet und mit Lob überhäuft. Sautet über seine Hauptdarstellerin: „Sie ist die Synthese aus allen Frauen. Ihre Rolle in Eine einfache Geschichte ist von dem wahren Charakter Romy Schneiders inspiriert. Mit dieser Sprödigkeit, […], dieser Art von Stolz im Alltäglichen, dieser Würde, die sie auf eine ganz persönliche Art und Weise zeigt. Sie ist gleichzeitig Gefühl und Spannkraft, Panik und Heiterkeit! Vor allem aber besitzt sie Stärke. Sie hat eine Art von Anständigkeit, die aus ihr selbst herausstrahlt und die sie unabhängig macht. Romy ist eine Herausforderung.“ Ende der 1970er Jahre wollte Rainer Werner Fassbinder die Schauspielerin für die Hauptrolle in Die Ehe der Maria Braun (1979) gewinnen, doch die Zusammenarbeit scheiterte an Schneiders überzogener Gagenforderung und ihrem wankelmütigen Verhalten. Die Rolle ging schließlich an Hanna Schygulla. Stattdessen stand Schneider ab November 1978 mit Audrey Hepburn, Omar Sharif, Ben Gazzara, James Mason und Gert Fröbe für die Sidney-Sheldon-Verfilmung Blutspur (1979) vor der Kamera. Trotz seiner Starbesetzung hagelte es für den Kriminalfilm schlechte Kritiken. Beispielhaft stand im Tagesspiegel vom 23. Dezember 1979: „Namen wie Romy werden unter ihrem Preis verkauft. Ob man sie samt und sonders abschreiben kann? Die […] Produktion lässt es vermuten.“ Harry Meyen erhängte sich am 14. April 1979 in Hamburg und Schneider machte sich Vorwürfe, sich nicht genug um ihn gekümmert zu haben. Im Spätsommer 1979 kam Die Liebe einer Frau in die Kinos und Schneider wurde für ihre Darbietung in dem französischen Film für den César als beste Hauptdarstellerin nominiert. Im Science-Fiction-Krimi Death Watch – Der gekaufte Tod, der ein Jahr später in den Verleih kam, spielte sie an der Seite von Harvey Keitel, Harry Dean Stanton und Max von Sydow eine sterbenskranke Frau, die einer Fernsehgesellschaft die Übertragungsrechte an ihrem Tod verkauft. Die letzten Jahre Im Frühjahr 1980 drehte Schneider den Spielfilm Die Bankiersfrau, der lose auf der Biografie der französischen Anlagebetrügerin Marthe Hanau basiert und im Paris der 1920er Jahre angesiedelt ist. Der Beginn der Dreharbeiten ihres nächsten Films, das Drama Die zwei Gesichter einer Frau (1981), verzögerte sich laut Biasini um einige Tage, da die Schauspielerin aufgrund ihres Alkoholkonsums und Medikamentenmissbrauchs zusammengebrochen war. In einem Interview mit dem Stern vom 23. April 1981 sah Schneider sich am Ende ihrer Kräfte: „Ich muss Pause machen, ich muss endlich zu mir selbst finden. […] Im Moment bin ich zu kaputt.“ Auch die Ehe mit Biasini war in eine Krise geraten, die sich nicht bereinigen ließ, so dass Schneider im Mai 1981 die Scheidung einreichte. Im selben Monat unterzog sich die Schauspielerin außerdem einer schweren Operation: Wegen eines gutartigen Tumors musste ihr die rechte Niere entfernt werden. Ihr größter Schicksalsschlag ereilte sie jedoch im Sommer 1981. Am 5. Juli starb ihr vierzehnjähriger Sohn bei dem Versuch, über den Zaun auf das Grundstück von Biasinis Eltern zu gelangen. Er hatte beim Klettern das Gleichgewicht verloren und war im Fallen von einer Metallspitze des Zauns aufgespießt worden. Ihr vorletzter Film Das Verhör kam am 23. September 1981 – Schneiders 43. Geburtstag – in die französischen Kinos. Obwohl nach dem Tod ihres Sohnes alles danach aussah, als könne sie diesen Verlust nicht bewältigen, erschien Schneider kurz darauf im Oktober 1981 in Berlin zu den Dreharbeiten ihres letzten Films: Die Spaziergängerin von Sans-Souci. In dem Film nimmt sie in ihrer Rolle als Elsa Wiener den jüdischen Jungen Max Baumstein (gespielt vom damals dreizehnjährigen Wendelin Werner) in ihre Obhut. Auf die Frage, woher sie so kurz nach dem Tod ihres Sohnes die Kraft nehme, mit einem fast gleichaltrigen Jungen vor der Kamera zu stehen, antwortete sie: „Ich wusste, dass es schmerzhafte Momente geben würde, nicht nur wegen einiger Sequenzen, sondern weil mein Beruf sehr hart ist. [… Der Regisseur] Jacques Rouffio hat auf wundervolle Weise Verständnis gezeigt. Er erriet, wenn es für mich zu schmerzhaft war. Er verstand es, mir die richtigen Worte zu sagen.“ Außerdem meinte sie: „Man kann einen Augenblick lang nachdenken, aber dann muss man weitermachen. Stehenbleiben ist für mich nicht möglich. Man stürzt sich in die Arbeit, weil man es tun muss – und es hilft auch ein wenig zu vergessen.“ Nach den Dreharbeiten begab sich Schneider mit ihrem neuen Lebensgefährten, dem französischen Filmproduzenten Laurent Pétin, auf die Suche nach einem Haus auf dem Land, wo sie sich endgültig niederlassen und zur Ruhe kommen wollte. Im März 1982 wurden sie in Boissy-sans-Avoir, Département Yvelines, 50 Kilometer außerhalb von Paris fündig. Im April 1982 fand die Premiere von Die Spaziergängerin von Sans-Souci statt. Schneiders schauspielerische Leistung wurde als herausragend gefeiert, und sie erhielt eine Nominierung für den César als beste Hauptdarstellerin. Am 9. Mai 1982 flog sie mit Pétin zu ihrem Vermögensverwalter nach Zürich, denn es gab Schwierigkeiten bei der Finanzierung des Landhauses. Obwohl Schneider mit ihren Filmen ein Vermögen verdient hatte, stand sie am Ende ihres Lebens vor einem Schuldenberg: Hans Herbert Blatzheim, der bis zu seinem Tod im Mai 1968 die Gagen seiner Stieftochter verwaltete, hatte ihre gesamten Einnahmen veruntreut. Harry Meyen war nach der Scheidung eine Abfindung von über einer Million Mark gezahlt worden. Daniel Biasini hatte ebenfalls auf Kosten der Schauspielerin ein Luxusleben geführt, und zu guter Letzt verlangte das französische Finanzamt Nachzahlungen in Millionenhöhe. In Zürich verfasste sie am 10. Mai 1982 ihr Testament, in dem sie alles ihrer Tochter Sarah und Pétin hinterließ. Tod Am Abend des 28. Mai 1982 waren Schneider und ihr Lebensgefährte bei dessen Bruder in Paris zum Essen eingeladen. Auf dem Heimweg in ihre gemeinsame Wohnung in der Rue Barbet de Jouy 11 sprachen sie über ihre Wochenendpläne. Zu Hause angekommen, wollte Schneider noch etwas länger aufbleiben, um Musik zu hören. Am frühen Morgen des 29. Mai 1982 fand Pétin die 43-jährige Schauspielerin leblos zusammengesunken an ihrem Schreibtisch. In Interviews schlossen ihr Leibfotograf und ihr Manager Suizid aus und beriefen sich auf ein in Vorbereitung befindliches Filmprojekt mit Alain Delon und ihren Plan, aufs Land zu ziehen. In der Presse dagegen wurde Schneiders Tod zunächst meist als Suizid interpretiert, im Totenschein ist jedoch nur Herzversagen als Todesursache angegeben, was später zum Teil als „Tod an gebrochenem Herzen“ verklärt wurde, letztlich aber keinen sicheren Schluss auf die Todesumstände zulässt. Dass die Schauspielerin den Konsum von Alkohol, abendlichen Schlaf- und morgendlichen Aufputschmitteln entgegen ärztlicher Anweisung auch nach ihrer Operation nicht aufgegeben hatte, war bekannt. Nach Angaben des Leichenbeschauers konnte ein Fremdverschulden an ihrem Tod ausgeschlossen werden, weshalb der zuständige Staatsanwalt aus Pietät gegenüber ihren Angehörigen auf eine Obduktion verzichtete. Schneider wurde auf dem Friedhof von Boissy-sans-Avoir beigesetzt. Auf Veranlassung von Delon, der ihre Beerdigung organisiert hatte, wurde ihr Sohn vom Friedhof in Saint-Germain-en-Laye in das Grab seiner Mutter umgebettet. Ihr schriftlicher Nachlass befindet sich im Archiv der Akademie der Künste in Berlin. Wirkung und Rezeption Image, Inszenierung und Rollenwahl Auch Jahrzehnte nach ihrem Tod fasziniert Romy Schneider die Medien und das Publikum. Im Zusammenhang mit ihrer Person wird deshalb häufig von einem „Mythos“ gesprochen. Als Gründe für diese anhaltende Faszination werden ihre zeitlose Schönheit, die herausragende schauspielerische Leistung und ihr leidenschaftliches Streben nach beruflicher Anerkennung genannt. Auch ihre verzweifelte Suche nach dem privaten Glück und ihr früher Tod tragen zur Legendenbildung bei. Die Karriere der Schauspielerin dauerte fast 30 Jahre. Im Laufe dieser Zeit wandelte sich ihr Image, im Einklang mit ihrer Rollenwahl, vom Wiener Mädel über die schicke Pariserin und Femme fatale zur gereiften Dame von Welt. In ihren frühen Filmen der 1950er Jahre verkörperte sie stets den süßen, verliebten Backfisch und spielte sich als „Sissi“ in die Herzen eines Millionenpublikums. Um dem Bild des wahrgewordenen Prinzessinnentraums zu entfliehen, ging Romy Schneider nach Paris, wo sie ihr Äußeres in Coco Chanels berühmtem Atelier in der Rue Cambon verändern ließ. „Ich will ganz französisch sein in der Art, wie ich lebe, liebe, schlafe und mich anziehe“, kokettierte sie damals. Die Modeschöpferin stylte sie zu einer modernen, mondänen und verführerischen Frau und die französische Presse bemerkte bald: „Vom Deutschen hat diese junge Pariserin nichts mehr, keinen Akzent mehr, oder doch sehr wenig, keinen Appetit mehr, keinen schlechten Geschmack mehr … Die Metamorphose ist total.“ Auf der Leinwand zeigte sie ab den 1960er Jahren vermehrt nackte Haut und verkörperte geheimnisvolle, verruchte oder provokante Charaktere. In Interviews und für Magazinfotos gab sie sich verführerisch und begann mit zunehmender Erfahrung, sich gezielt zu inszenieren. So posierte sie 1964 – wenige Monate nach der Trennung von Alain Delon – für den Fotografen Will McBride in einem Pariser Hotelzimmer. Die bei diesem Fotoshooting entstandenen Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die in der Jugendzeitschrift twen veröffentlicht wurden, zeigen viele Facetten der Künstlerin: auf einigen wirkt sie verletzt, nachdenklich und traurig, auf anderen zeigt sie sich selbstbewusst und neuen Lebensmut ausstrahlend. In ihren Filmen der 1970er Jahre spielte sie oft den gleichen Typ Frau: verletzlich, gedemütigt, ein Opfer, nahe dem Nervenzusammenbruch. Hildegard Knef beschrieb ihre Kollegin damals mit den Worten: „Mehr und mehr entblättert sich ein Bündel brachliegender Nerven, unkontrollierbarer Emotionen. Selbstironie scheint furchteinflößend und weitab von ihrem Sprachschatz, Denken, Fühlen. Sie erinnert an die Monroe. Widerborstiger, angriffsbereiter als jene, doch gleichermaßen verwundbar-wankelmütig.“ Die Theatralik ihrer Rollen spiegelte sich auch in ihrem Aussehen wider: dunkles Make-up, stark geschminkte Augen und straff aus dem Gesicht gekämmte, den markanten Haaransatz betonende Frisuren wurden ihre Markenzeichen. Schauspielerische Ausdrucksmittel Da Romy Schneider der Spross einer Schauspieldynastie war und nie eine Schauspielschule besucht hatte, scheint es, als sei ihr das schauspielerische Können vererbt worden. Dieses Talent, gepaart mit ihrem schönen, makellosen Gesicht, das für Nahaufnahmen wie geschaffen schien und eine perfekte Projektionsfläche bot, verlieh Romy Schneider eine starke Leinwandpräsenz. „Die Kamera liebte sie, und sie liebte die Kamera“, weshalb sie sich nicht davor scheute, völlig ungeschminkt vor sie zu treten, um ihren Rollen mehr Dramatik zu verleihen. Zudem vermochte Schneider eine beachtliche Bandbreite an Gefühlen auszudrücken. So sagte Claude Sautet einmal über seine Muse: „Ihr Gesichtsausdruck kann sich abrupt verändern, von männlich-aggressiv in sanft-subtil. Romy ist keine gewöhnliche Schauspielerin […] Sie hat diese Vielschichtigkeit, die nur die ganz großen Stars haben. Ich habe sie hinter der Kamera gesehen, konzentriert, nervös, mit einer Vornehmheit und Impulsivität, einer inneren Haltung, von der Männer sich bedrängt und gestört fühlen. Romy erträgt weder die Mittelmäßigkeit noch den Verfall von Gefühlen. Sie hat sehr viel Gefühl. Sie wird immer als Schauspielerin arbeiten, denn sie hat ein Gesicht, dem die Zeit nichts anhaben kann. Die Zeit kann sie nur aufblühen lassen.“ Vor allem in ihren Filmen der 1970er Jahre spielte sie oft bis an ihre physischen und psychischen Grenzen und erweckte dabei den Eindruck, als füllte sie ihre Rollen mit eigenem Leben, eigenen Erfahrungen. „Ich wählte Romy Schneider nicht nur wegen ihres Talents [für die Rolle der Nadine Chevalier in Nachtblende] aus, sondern wegen der Affinität zwischen der Schauspielerin und der von ihr zu verkörpernden Figur. Denn zwischen ihr und der Person, die sie spielte, herrschte immer eine tiefe Übereinstimmung“, erklärte Regisseur Andrzej Żuławski. Schneider selbst betonte jedoch, dass sie niemals sich selbst spiele: „Jeder, der glaubt, ich sei wie in meinen Filmen, ist ein Idiot.“ Verhältnis zu den Medien Seit ihrer frühen Jugend war die mediale Berichterstattung in Romy Schneiders Leben allgegenwärtig. Während die französische Presse die Schauspielerin verehrte, lässt sich das Verhältnis zu den deutschen Medien als eine Art „Hass-Liebe“ charakterisieren. Zu Beginn ihrer Karriere feierte die deutsche Presse Schneider als das süße „Wiener Mädel“ und liebreizende Kaiserin; und die junge Schauspielerin las gern, wie begabt, hübsch und entzückend sie sei. Bald machte es ihr jedoch zu schaffen, dass die Medien weiterhin ihr „Sissi“-Image pflegten und sie als „Jungfrau von Geiselgasteig“ betitelten, obwohl sie diesem Bild in Wirklichkeit gar nicht entsprach und sich nach einer beruflichen Weiterentwicklung sehnte, die ihr die Presse nahezu unmöglich machte. Die Lobeshymnen der deutschen Presse verstummten, als Schneider es schließlich wagte, Deutschland beruflich den Rücken zu kehren und nach Paris zu gehen, um in „wilder Ehe“ mit dem Franzosen Alain Delon zu leben. Die Berichterstattung über die „abtrünnige Sissi“ verkehrte sich sogar ins Gegenteil: Jeder berufliche oder private Misserfolg wurde hämisch kommentiert und selbst vor Beschimpfungen als „dumme Liese“, „Vaterlandsverräterin“ und „Franzosenflittchen“ machten die deutschen Journalisten nicht halt. Später sagte Schneider in einem Gespräch mit Alice Schwarzer im Dezember 1976: „Wir sind die beiden meistbeschimpften Frauen Deutschlands.“ Lange Zeit machte sie sich deshalb für die deutsche Presse und das deutsche Publikum rar. Ihr erster Versuch nach vielen Jahren, mit den deutschen Medien Frieden zu schließen, misslang: Bei ihrem Auftritt im Deutschen Fernsehen in Dietmar Schönherrs Talkshow Je später der Abend im Oktober 1974 legte sie dem ebenfalls eingeladenen Schauspielerkollegen und verurteilten Bankräuber Burkhard Driest nach seiner Lebensbeschreibung ihre Hand auf den Arm und sagte: „Sie gefallen mir, Sie gefallen mir sehr.“ Am nächsten Tag berichteten die Zeitungen nicht über ihren neuen Film, sondern über diese „skandalöse“ Geste. Schneider sah sich selbst als Opfer der deutschen Presse: „Das Meiste, was über mich geschrieben wurde, sind Lügen – Lügen von unfähigen, dummen Journalisten.“ Auf der anderen Seite bediente sie die Reporter bereitwillig, teilte die intimsten Gedanken und ihren seelischen Schmerz mit der Presse und rief sogar solche Journalisten für ein Interview an, die zuvor über sie hergezogen hatten. Diese freiwilligen, gelegentlich gewährten Einblicke in ihr Privatleben vermochten die mediale Sensationsgier jedoch nicht zu befriedigen. Schneider wurde auf Schritt und Tritt von Paparazzi verfolgt, die selbst nach den von ihr erlittenen Schicksalsschlägen nicht davor zurückschreckten, in die Privatsphäre der Schauspielerin einzudringen. So versuchten Pressefotografen 1967 die trauernde Romy Schneider beim Begräbnis ihres Vaters abzulichten und einem als Krankenpfleger getarnten Paparazzo gelang es nach dem tödlichen Unfall ihres Sohnes, die Leiche des Kindes im Krankenhaus zu fotografieren. In einem Interview mit Michel Drucker in der französischen Fernsehsendung Champs-Élysées machte die Schauspielerin im April 1982 ihrer Wut über diesen Vorfall Luft: „… que des journalistes se déguisent en infirmiers pour photographier un enfant mort … où est la morale? Où est le tact?“ (dt.: „… dass sich Journalisten als Krankenpfleger verkleiden, um ein totes Kind zu fotografieren … wo ist da die Moral? Wo ist das Taktgefühl?“). Anders als von der deutschen Presse wurde Schneider von den Journalisten in Frankreich sehr geschätzt. Nach nur wenigen Auftritten am Theater bejubelten die Kritiker sie als Charakterdarstellerin und feierten sie in den 1970ern als „Romy, la Grande“ (Romy, die Große). Der französische Schauspieler Jean-Claude Brialy, ein langjähriger Freund Schneiders, erklärte diese Verehrung damit, dass die Schauspielerin die Franzosen mit ihrem Talent und ihrer Schönheit berührt habe und es deshalb einfach gewesen sei, ihr alles zu verzeihen, und er fügte hinzu: „Sie ließ sich lieber von der französischen Presse verhätscheln, als von der deutschen Presse kaputtmachen.“ Publikum und Anhängerschaft In den 1950er Jahren steckte das deutsche Fernsehen noch in den Anfängen, der Rundfunk folgte einem reinen Bildungsauftrag und das Theater war allein der wohlhabenden Gesellschaft vorbehalten. Das Kino hingegen war ein Vergnügen, das sich die breite Bevölkerung leisten konnte, und das deutsche Nachkriegspublikum sehnte sich nach unbeschwerter Unterhaltung, was die Blütezeit deutscher Heimatfilme nach dem Zweiten Weltkrieg erklärt. Der deutsche Film jener Zeit hatte Stars wie Sonja Ziemann, Lilli Palmer, Maria Schell oder Ruth Leuwerik, aber kaum eine Schauspielerin rührte die Herzen der Deutschen so wie die junge Romy Schneider. Sie verkörperte Unschuld, Unbekümmertheit und brachte Hoffnung auf einen glücklichen Neuanfang. In ihren ersten Filmen entführte Romy Schneider das Publikum in eine heile Welt und ließ es alle Alltagssorgen vergessen. Mit Sissi lieferte Romy Schneider schließlich den Stoff, aus dem Mädchenträume sind, und die Begeisterung der Deutschen für „ihre“ Märchenkaiserin kannte keine Grenzen mehr. Magda Schneider erklärte sich dies so: „Warum springen die Menschen so auf Romy an? Weil sie spüren, dass hier endlich mal ein Geschöpf ist, das mit dem Dreck der Welt nicht in Berührung gekommen ist.“ In dieser Zeit wurde Schneider vielfach mit Publikumspreisen wie dem Bravo Otto ausgezeichnet. 1957, 1958 und 1959 wählten sie die Leser der Zeitschrift Bravo stets unter die beliebtesten deutschen Schauspielerinnen. Nachdem Schneider Deutschland verlassen und sich die Berichterstattung der deutschen Presse ins Negative verkehrt hatte, brach jedoch die Begeisterung beim Publikum ab. Galt Schneider zuvor als einer der größten Kassenmagneten des deutschen Films, war dieser Ruf in den 1960er Jahren völlig ruiniert. Die Deutschen konnten mit Schneiders neuen, anspruchsvolleren Rollen wenig anfangen, verlangten vereinzelt sogar ihr Geld an der Kinokasse zurück. Das französische Publikum war hingegen offen für Schneiders „neue“ Filme. Es haftete nicht an den Erfolgen der Sissi-Trilogie und ließ der Schauspielerin jeglichen Freiraum, sich zu entwickeln. Die Deutschen zeigten sich erst in den 1970er Jahren wieder aufgeschlossen für Schneiders Arbeit, eine Welle der Begeisterung wie in den 1950er Jahren vermochte die Schauspielerin zu ihren Lebzeiten beim deutschen Publikum jedoch nicht mehr auszulösen. Filmografie Spielfilme Fernsehauftritte (Auswahl) Theaterauftritte 1961: Schade, dass sie eine Dirne ist (Dommage qu’elle soit une putain; Théâtre de Paris; Regie: Luchino Visconti, Rolle: Annabella) 1962: Die Möwe (La mouette; Théâtre de Paris, Theatertournee; Stationen unter anderem in Paris, Orléans, Nizza und Baden-Baden; Regie: Sacha Pitoëff, Rolle: Nina) Synchronisation Romy Schneider synchronisierte ihre auf Französisch gedrehten Filme fast ausschließlich selbst ins Deutsche und Englische. Die Synchronisation von Die Spaziergängerin von Sans-Souci konnte sie aufgrund ihres plötzlichen Todes nicht mehr übernehmen. Eva Manhardt, die Romy Schneider bereits in Das alte Gewehr synchronisiert hatte, lieh ihr deshalb ihre Stimme für die deutsche Version des Films. Diskografie (Originalveröffentlichungen) Lieder: 1955: Wenn die Vöglein musizieren (aus dem Film Die Deutschmeister), B-Seite: Der erste Liebesbrief (aus den Sessions zu diesem Film); Label: Electrola, Kat.-Nr. EG 8180 1958: Cuando los pajaritos cantan (1. Song der A-Seite, spanische Version von Wenn die Vöglein musizieren), La primera carta de amor (2. Song der A-Seite, spanische Version von Der erste Liebesbrief); Label: La Voz De Su Amo, Kat.-Nr. 7 EPL 13.100 1959: Merci Monpti (aus dem Film Monpti), B-Seite: Ja, man verliebt sich (aus dem Film Die schöne Lügnerin); Label: Ariola, Kat.-Nr. 35 484 1970: La Chanson d’Hélène mit Michel Piccoli (aus dem Film Die Dinge des Lebens); Label: Philips, Kat.-Nr. 6311 021 Hörspiele: 1957: Peter und der Wolf (Erzählerin); Label: Columbia/Deutscher Schallplattenclub, Kat.-Nr. D 001 Auszeichnungen und Ehrungen Auszeichnungen im Wettbewerb César 1976: Auszeichnung für Nachtblende als beste Hauptdarstellerin 1977: Nominierung für Die Frau am Fenster als beste Hauptdarstellerin 1979: Auszeichnung für Eine einfache Geschichte als beste Hauptdarstellerin 1980: Nominierung für Die Liebe einer Frau als beste Hauptdarstellerin 1983: Nominierung für Die Spaziergängerin von Sans-Souci als beste Hauptdarstellerin Golden Globe Award 1964: Nominierung für Der Kardinal als beste Hauptdarstellerin in einem Drama Bambi 1955: 2. Platz als beste Schauspielerin – national für Mädchenjahre einer Königin 1956: Nominierung für Sissi als beste Schauspielerin – national 1957: Nominierung für Sissi, die junge Kaiserin als beste Schauspielerin – national 1958: Nominierung für Sissi – Schicksalsjahre einer Kaiserin als beste Schauspielerin – national Filmband in Gold 1959: Nominierung für Mädchen in Uniform als beste Hauptdarstellerin 1977: Auszeichnung für Gruppenbild mit Dame als beste Hauptdarstellerin Rose d’Or 1982: Auszeichnung für Die Spaziergängerin von Sans-Souci als beste Hauptdarstellerin Étoile de Cristal 1963: Auszeichnung für Der Prozeß als beste ausländische Schauspielerin Bravo Otto 1957: Bravo Otto in Bronze 1958: Bravo Otto in Gold 1959: Bravo Otto in Silber 1971: Bravo Otto in Silber 1972: Bravo Otto in Bronze 1977: Bravo Otto in Bronze Preise außerhalb des Wettbewerbs und sonstige Ehrungen 1979 wurde Romy Schneider mit dem David di Donatello für ihr Lebenswerk geehrt und bei der Verleihung des César 2008 postum mit dem Ehrenpreis ausgezeichnet; die Laudatio hielt Alain Delon. 1984 wurde der Romy-Schneider-Preis geschaffen, mit dem Nachwuchsschauspielerinnen der französischen Filmindustrie ausgezeichnet werden. Zudem wird seit 1990 in Wien der österreichische Film- und Fernsehpreis Romy verliehen. Die Trophäe ist eine vergoldete Statuette der Schauspielerin aus einer Szene in Der Swimmingpool. Die Deutsche Post gab im Jahr 2000 zu Ehren Schneiders eine Wohlfahrtsmarke heraus; 2008 erschien die Sondermarke „Romy Schneider“ der Österreichischen Post. 2006 wurde Schneider in der ZDF-Reihe Unsere Besten von den Fernsehzuschauern auf den dritten Platz der deutschen Lieblingsschauspieler gewählt. Im März 2009 beschloss der Gemeinderat von Schönau am Königssee, wo die Schauspielerin als Kind gelebt hatte, nach einer Anregung des Berchtesgadener Kinobetreibers Hans Klegraefe, ein Romy-Schneider-Denkmal zu errichten. Die von Walter Andreas Angerer gestaltete Plastik besteht aus einem aus Stahl geschnittenen Negativ-Scherenschnitt. Zudem benannte der Ort Elsbethen, in dem Romy Schneider aufs Internat gegangen war, zu Ehren der Schauspielerin eine Straße nach ihr. Im 23. Wiener Gemeindebezirk Liesing wurde die Romy-Schneider-Gasse nach ihr benannt. Auch im Berliner Ortsteil Haselhorst und in Ingolstadt wurden Straßen nach ihr benannt. Seit 2010 trägt ein Stern auf dem Boulevard der Stars in Berlin ihren Namen. Im September 2020 beschloss der Münchner Stadtrat, Schneider mit der Benennung des „Romy-Schneider-Platzes“ in München zu ehren. Zum 82. Geburtstag am 23. September 2020 wurde Schneider in Deutschland, Frankreich, Österreich, Island und der Ukraine mit einem Google Doodle geehrt. Im September 2020 wurde das Romy Schneider Museum in der Gemeinde Felixsee in Brandenburg eröffnet. Literatur Michael Jürgs: Der Fall Romy Schneider. Ullstein, München 2003, ISBN 3-471-77885-3. Günter Krenn: Romy Schneider. Die Biographie. Aufbau-Verlag, Berlin 2008, ISBN 978-3-351-02662-2. Alice Schwarzer: Romy Schneider – Mythos und Leben. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1998, ISBN 3-462-02740-9. Renate Seydel: Ich, Romy – Tagebuch eines Lebens. Piper, München 2005, ISBN 3-492-22875-5. Michael Töteberg: Romy Schneider. Rowohlt, Reinbek 2009, ISBN 978-3-499-50669-7. Jürgen Trimborn: Romy und ihre Familie. Droemer, München 2008, ISBN 978-3-426-27451-4. Thilo Wydra: Romy Schneider. Leben – Werk – Wirkung. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008, ISBN 978-3-518-18230-7. Film- und Bühnenmaterial Dokumentationen Bereits zu Lebzeiten der Schauspielerin entstand der Dokumentarfilm Romy – Portrait eines Gesichts (Alternativtitel: Romy – Anatomie eines Gesichts; 1967) im Auftrag des Bayerischen Rundfunks. Die Dreharbeiten dazu fanden im Februar 1966 unter der Regie von Hans-Jürgen Syberberg in Kitzbühel statt. Drei Tage lang begleitete die Kamera die damals 27-jährige Romy Schneider, wie sie über sich und ihre Karriere sinnierte. Nachdem die entstandenen Aufnahmen vorab von der Schauspielerin und ihrem damaligen Lebensgefährten Harry Meyen begutachtet worden waren, bestand das Paar darauf, bestimmte Aufnahmen aus dem Film zu schneiden, wodurch sich die ursprüngliche Filmlänge von 90 Minuten auf eine Stunde verkürzte. Nach Schneiders Tod entstanden zahlreiche weitere Dokumentarfilme, wobei oftmals der Kontrast zwischen ihrer erfolgreichen Filmkarriere und ihrem teilweise tragischen Privatleben thematisiert wurde. Rosemarie Magdalena Albach, genannt Romy Schneider. Deutschland, 1996, 120 Min.; Regie: Christiane Höllger und Claudia Holldack. Legenden: Romy Schneider. Deutschland, 1998, 45 Min., Buch und Regie: Michael Strauven, Produktion: MDR, SWR. Romy Schneider – Eine Filmliebe in Frankreich (Romy Schneider, étrange étrangère). Frankreich, 2002, 55 Min.; ein Film von Anne Andreu und Francesco Brunacci, Produktion: Arte France, Cinétévé. Idole – Romy Schneider. Das Leben jenseits der Schlagzeilen. Deutschland, 2004, 45 Min., Buch und Regie: Jeremy J. P. Fekete, Produktion: cine+ Berlin, im Auftrag des ZDF. Ich über mich: Romy Schneider. Österreich, 1992, 47 Min., Regie: Petrus van der Let, Buch: Martin Luksan, Produktion: ORF. Der Fall Romy Schneider – „An meiner Angst werd’ ich noch einmal sterben.“ Deutschland, 2007, 61 Min., Autoren: Tamara Duve und Michael Jürgs, Produktion: Spiegel TV. Die Einzelkämpferin – Christiane Höllger über ihre Freundin Romy Schneider. Deutschland, 2007, 42 Min., ein Film von Robert Fischer. Die letzten Tage einer Legende. Romy Schneider. Frankreich, 2007, 52 Min., Buch und Regie: Bertrand Tessier, Produktion: France 5. Romy Schneider – Eine Frau in drei Noten. Österreich, 2008, 90 Min., Regie: Frederick Baker, Produktion: Media Europa Wien, London. Romy Schneider – Eine Nahaufnahme. Deutschland, 2009, 30 Min., Buch und Regie: Julia Benkert, Produktion: SWR. Die Hölle von Henri-Georges Clouzot (L’Enfer d’Henri-Georges Clouzot). Frankreich, 2009, 94 Min., Buch und Regie: Serge Bromberg und Ruxandra Medrea. Neufassung und Ergänzung des Materials von Henri-Georges Clouzot (1964). Verfilmungen und Musical 2008 wurde bekannt, dass sich gleich zwei Spielfilme über das Leben Romy Schneiders in Planung befanden. Die für 2009 geplante Filmbiografie Eine Frau wie Romy, die unter der Regie von Josef Rusnak mit Yvonne Catterfeld in der Rolle Schneiders produziert werden sollte, wurde abgesagt. Der Fernsehfilm Romy (2009) mit Jessica Schwarz in der Hauptrolle lief erstmals am 11. November 2009 im Ersten und erzählt Romy Schneiders Leben von der Kindheit auf Mariengrund bis hin zum Status als internationaler Filmstar und ihrem frühen Tod. Er setzt einen Schwerpunkt auf den Kampf der Künstlerin um berufliche Anerkennung und privates Glück. 2018 wurde der Spielfilm 3 Tage in Quiberon von Emily Atef veröffentlicht, in dem Marie Bäumer als Romy Schneider zu sehen ist. Am Theater Heilbronn fand 2009 die Uraufführung des Musicals Romy – Die Welt aus Gold mit Daniela Schober in der Titelrolle statt. Ausstellungen Im Filmmuseum Berlin fand von Dezember 2009 bis Mai 2010 eine Ausstellung über die wechselhafte Karriere von Romy Schneider statt. Anhand von 275 Exponaten (Bilder, Filmausschnitte, Plakate, Kostüme, Briefe und Fanartikel) wurde versucht, die Rollen- und Imagewechsel der Schauspielerin aufzuzeigen. Die Dokumentation war in die fünf Abschnitte Tochter, Aufbruch, Weltstar, Zerstörung und Mythos gegliedert. Anlässlich des 30. Todestages Romy Schneiders fand in der Bundeskunsthalle in Bonn vom 5. April bis 24. Juni 2012 eine Ausstellung statt. Das Theatermuseum Hannover beherbergte vom 21. September bis 8. Dezember 2013 die Sonderausstellung Romy Schneider. 60 Fotos. Die Laufzeit der privaten Sonderausstellung Romy Schneider – Ein Weltstar kehrt heim in Berchtesgaden wurde bis Ende 2014 verlängert. Am 7. Mai 2015 erfolgte die Neueröffnung in Schönau am Königssee. Weblinks Biografie, Literatur & Quellen zu Romy Schneider FemBio des Instituts für Frauen-Biographieforschung mit TV-Sendeterminen Harry-Meyen-Archiv (Romy-Schneider-Teilbestand) im Archiv der Akademie der Künste, Berlin Anmerkungen Einzelnachweise Filmschauspieler Theaterschauspieler César-Preisträger Träger des Deutschen Filmpreises Darstellender Künstler (Berlin) Darstellender Künstler (Paris) Darstellender Künstler (Wien) Pseudonym Deutscher Franzose Geboren 1938 Gestorben 1982 Frau
76511
https://de.wikipedia.org/wiki/Konfokalmikroskop
Konfokalmikroskop
Ein Konfokalmikroskop (von konfokal oder confocal, den gleichen Fokus habend) ist ein spezielles Lichtmikroskop. Im Gegensatz zur konventionellen Lichtmikroskopie wird nicht das gesamte Präparat beleuchtet, sondern zu jedem Zeitpunkt nur ein Bruchteil davon, in vielen Fällen nur ein kleiner Lichtfleck. Diese Beleuchtung wird Stück für Stück über das Präparat gerastert. Im Mikroskop entsteht also zu keinem Zeitpunkt ein vollständiges Bild. Die Lichtintensitäten des reflektierten oder durch Fluoreszenz abgegebenen Lichtes werden folglich nacheinander an allen Orten des abzubildenden Bereiches gemessen, so dass eine anschließende Konstruktion des Bildes möglich ist. Im Strahlengang des detektierten Lichts ist eine Lochblende angebracht, die Licht aus dem scharf abgebildeten Bereich durchlässt und Licht aus anderen Ebenen blockiert. Dadurch gelangt nur Licht aus einem kleinen Volumen um den Fokuspunkt zum Detektor, so dass optische Schnittbilder mit hohem Kontrast erzeugt werden, die fast nur Licht aus einer schmalen Schicht um die jeweilige Fokusebene enthalten. Heutige Konfokalmikroskope gibt es in verschiedenen Bauformen. Weit verbreitet sind Punktscanner, bei denen ein fokussierter Laserstrahl das Präparat abrastert (konfokales Laser-Scanning-Mikroskop, , CLSM, auch LSCM, nach : rastern). Bei Linienscannern wird dagegen eine ganze Bildzeile auf einmal erstellt, so dass eine höhere Geschwindigkeit erreicht werden kann. Eine dritte Variante benutzt eine Nipkow-Scheibe, auf der mehrere Lochblenden spiralförmig angeordnet sind. Bei der Rotation der Scheibe tastet jede Lochblende eine kreisförmige Kurve des Präparats ab. Diese Variante nutzt entweder Weißlicht zur Auflichtbeleuchtung, die zur Reflexion im Präparat führt. Oder es wird Fluoreszenz angeregt, wie es auch mit den anderen Bautypen möglich ist. Dann zählen sie zu den Fluoreszenzmikroskopen. Erste Konfokalmikroskope wurden bereits Mitte des 20. Jahrhunderts gebaut. Es dauerte jedoch bis in die 1980er Jahre, bis neue technische Möglichkeiten, darunter Laser und Computersysteme, Weiterentwicklungen erlaubten, die zu größerer Verbreitung führten. Das konfokale Prinzip In einem Konfokalmikroskop wird eine punktförmige Lichtquelle in das Präparat abgebildet. Von der so beleuchteten Stelle wird Licht durch das Objektiv auf eine Lochblende fokussiert, bevor es den Detektor erreicht. Der Punkt in der Mitte der Lochblende und der Beleuchtungspunkt im Präparat sind dabei konfokal zueinander, das heißt, sie sind gleichzeitig im Fokus. Konfokale Mikroskopie kann prinzipiell mit Durchlicht oder mit Auflicht realisiert werden. Heutige Konfokalmikroskope sind aber generell Auflichtmikroskope, sie benutzen das Objektiv für Beleuchtung und Detektion. Bei manchen Bautypen gibt es nicht nur einen, sondern mehrere Beleuchtungspunkte, die gleichzeitig an verschiedene Stellen des Präparats projiziert werden. Der Einfachheit halber wird das Prinzip hier am Beispiel eines einzigen Beleuchtungspunktes erläutert, der durch Auflicht erzeugt wird. Strahlengang von der Lichtquelle zum Präparat Das von der Lichtquelle kommende Licht (in der Schemazeichnung grün) wird zunächst in die Anregungslochblende fokussiert, um eine punktförmige Lichtquelle zu erzeugen. Auch im deutschen Sprachgebrauch werden diese und die zweite Lochblende häufig mit dem englischen Ausdruck Pinhole (wörtlich: Nadelloch) bezeichnet. In neueren konfokalen Laser-Scanning-Mikroskopen werden die Beleuchtungslaser mit Glasfasern eingekoppelt, und die Anregungslochblende kann dann durch diese ersetzt sein, da der kleine lichtführende Faserkern ähnliche optisch beschränkende Eigenschaften aufweist. Die Beleuchtung wird auf einen Strahlteiler weitergeleitet. Bei Weißlichtmikroskopie wird ein halbdurchlässiger Spiegel eingesetzt, der einen ausreichenden Anteil der Beleuchtung zum Präparat spiegelt. Soll Fluoreszenz im Präparat nachgewiesen werden, wird ein dichroitischer Spiegel eingesetzt, der das Anregungslicht spiegelt, das Fluoreszenzlicht aber durchlässt. Schließlich wird durch das Objektiv im Präparat ein verkleinertes Bild der Anregungslochblende projiziert. Aufgrund der Beugung entsteht am Fokuspunkt ein Beugungsscheibchen (genauer: eine Punktspreizfunktion) und kein tatsächlicher Punkt. Strahlengang vom Präparat zur Detektionslochblende Vom beleuchteten Punkt im Präparat geht das nachzuweisende Licht aus (rot in der Schemazeichnung). Dabei kann es sich um reflektiertes Licht oder um Fluoreszenz handeln. Der vom Objektiv aufgenommene Anteil durchtritt den Strahlteiler und wird in der Zwischenbildebene wieder in einem Punkt (einem Beugungsscheibchen) vereint. Bei modernen Objektiven mit unendlicher Tubuslänge ist hierfür noch eine Tubuslinse erforderlich. In der Zwischenbildebene ist die Detektions-Lochblende um diesen Punkt herum zentriert. Sie ist typischerweise gerade so groß, dass ihr Rand im ersten Minimum des Beugungsscheibchens verläuft. Der tatsächliche Durchmesser hängt also von der numerischen Apertur und der Vergrößerung des verwendeten Objektivs ab. Es kann auch noch eine weitere Vergrößerung bis zur Lochblendenebene vorgenommen werden, um den Durchmesser des Beugungsscheibchens und damit den Durchmesser der Lochblende zu vergrößern. Größere Blenden lassen sich einfacher fertigen. In den meisten Präparaten wird Licht nicht nur vom tatsächlich beleuchteten Punkt im Präparat ausgesandt, sondern auch von Stellen darüber oder darunter (in der Schemazeichnung pink). Beispielsweise werden Fluoreszenzfarbstoffe auch in Ebenen über und unter der Schärfeebene angeregt. Das von diesen Punkten kommende Licht wird jedoch nicht in der Zwischenbildebene, sondern in davor oder dahinter liegenden Ebenen zu einem Punkt vereint, so dass die Lichtstrahlen von diesen Punkten in der Zwischenbildebene als Strahlkegel vorliegen. Der überwiegende Teil dieser Strahlkegel wird deshalb durch die Lochblende blockiert, so dass am Detektor nur sehr wenig Licht ankommt, das nicht vom Fokuspunkt im Präparat ausgesandt wurde. Optische Information, die nicht aus dem Fokuspunkt des Präparats kommt, wird somit doppelt unterdrückt: Erstens wird sie nicht „abgefragt“, da die Beleuchtungsintensität außerhalb des Fokus schwach ist, und zweitens wird Licht von außerhalb des Fokuspunkts an der Lochblende fast vollständig blockiert. Dadurch werden eine deutliche Kontrastverbesserung und auch eine etwas bessere Auflösung erzielt. Der sogenannte „Fokuspunkt“, aus dem das Licht zur Bildentstehung beiträgt, ist ein dreidimensionales Volumen. Die genaue Form dieses Volumens wird als Punktspreizfunktion (engl. point spread function, abgekürzt PSF) bezeichnet. Je kleiner das Volumen ist, desto besser ist die Auflösung des Mikroskops. Da nur aus einem kleinen Volumen des Präparats Licht zum Detektor gelangt, ist es für die Bilderzeugung notwendig, dieses Volumen über das Präparat zu bewegen, also die Probe abzurastern. Auch wenn mehrere Fokuspunkte eingesetzt werden, müssen diese über das Präparat bewegt werden. Im Mikroskop selbst entsteht also zu keinem Zeitpunkt ein komplettes Bild des Präparats, dieses wird erst anschließend im Computer erzeugt oder, im Fall von mehreren Punkten, auf dem Film oder dem Chip einer Kamera. Das konfokale Laser-Scanning-Mikroskop – Abrastern mit einem fokussierten Laserstrahl In der biomedizinischen Forschung sind konfokale Laser-Scanning-Mikroskope (Abk. CLSM, nach englisch: confocal laser scanning microscope, seltener LSCM, deutsch auch: Laserrastermikroskop) weit verbreitet, bei denen ein vom Objektiv fokussierter Laserstrahl ein Objekt punktweise abrastert. Meistens wird dabei Fluoreszenz von speziellen Markern nachgewiesen, es handelt sich dann um eine Form der Auflicht-Fluoreszenzmikroskopie. Laser werden eingesetzt, da von anderen Lichtquellen nicht genügend Licht für eine intensive Fluoreszenzanregung auf einen Punkt konzentriert werden kann. Mit derartigen Geräten kann auch konfokale Reflexionsmikroskopie betrieben werden. Die für die konfokale Mikroskopie zusätzlich erforderlichen optischen Elemente werden bei kommerziellen Geräten in einer Box untergebracht, die an ein qualitativ hochwertiges Mikroskop angeflanscht wird. Das Laserlicht wird in diese Scannerbox geleitet und von dort in das Mikroskop gespiegelt, um durch das Objektiv ins Präparat zu gelangen. Das im Präparat erzeugte Signal geht den umgekehrten Weg zurück zur Box, wo hinter der Lochblende die Signalintensität gemessen wird. Der Aufnahmevorgang wird von einem Computer gesteuert und die Bilder werden am Computermonitor angezeigt. Vom Laser zum Präparat Typischerweise haben diese Geräte mehrere Anregungslaser, zum Beispiel einen Argonlaser, der mehrere Wellenlängen emittiert (458, 488, 514 nm und andere), und Helium-Neon-Laser, die Licht mit 543 oder 633 nm aussenden. Das Licht verschiedenfarbiger Laser kann mit dichroitischen Strahlteilern übereinandergelegt werden. In vielen aktuellen Geräten wird die Intensität der jeweiligen Wellenlängen über einen akusto-optischen Modulator (auch: Acousto-Optical Tunable Filter, AOTF) moduliert. Bei neueren Geräten wird das Laserlicht häufig über Glasfasern zur Scannerbox geleitet. Da der kleine lichtführende Kern einer Glasfaser optisch ähnlich wirkt wie eine Lochblende kann die Anregungslochblende entfallen. Das Licht fällt nun auf den dichroitischen Strahlteiler, der es zum ersten Scanspiegel lenkt. Bei der Verwendung von mehreren Anregungswellenlängen können Doppel- oder Tripel-Strahlteiler eingesetzt werden, die zwei oder drei Wellenlängen zum Präparat hin spiegeln, das jeweilige Fluoreszenzlicht aber durchlassen. Bei manchen Geräten übernimmt diese Funktion ein weiterer akusto-optischer Modulator, der dann als Acousto-Optical Beam Splitter (AOBS) bezeichnet wird. Die Bewegung der Scanspiegel bestimmt, wie schnell und in welchem Bereich der Anregungspunkt (genauer: das beugungsbegrenzte Anregungsvolumen) über das Präparat rastert. Die Scangeschwindigkeit wird in Bildzeilen pro Sekunde, also in Hertz (Hz) angegeben. Typische Geschwindigkeiten liegen zwischen 200 und 2000 Hz. Durch eine genau gesteuerte Auslenkung der Spiegel werden die Größe und die Position des abgerasterten Bereiches festgelegt. Der Anregungspunkt wird innerhalb einer Bildzeile kontinuierlich über das Präparat bewegt und durch Festlegung der sogenannten pixel dwell time (Pixelverweildauer, Zeit bis das Signal dem nächsten Pixel zugeordnet wird) ergibt sich die Anzahl der Bildpunkte (Pixel) pro Zeile. Zusammen mit der Anzahl der Bildzeilen ergibt sich die Gesamtzahl der Bildpunkte, zum Beispiel 512 × 512 Pixel. Eine variable Ansteuerung der Scanspiegel erlaubt es daher, mit dem gleichen Objektiv unterschiedlich stark vergrößerte Bilder aufzunehmen. Dies ist ein wichtiger Unterschied zu Kamera-basierten Systemen. Durch weitere Linsen und Spiegel wird das Anregungslicht schließlich durch das Objektiv auf das Präparat geleitet, wo es zur Fluoreszenzanregung oder zur Reflexion kommt. Vom Präparat zum Detektor Das Fluoreszenzlicht nimmt den gleichen Weg zurück über die Scanspiegel, passiert den dichroitischen Strahlteiler und gelangt gemäß dem oben beschriebenen konfokalen Prinzip zur Lochblende in einer Zwischenbildebene und schließlich zu den Detektoren. Alternativ oder zusätzlich kann auch reflektiertes Licht über diesen Strahlengang aufgefangen werden. Neben dem Auflösungsvermögen des verwendeten Objektivs (genauer: seiner numerischen Apertur) und der Wellenlänge des jeweiligen Lichts bestimmt der Durchmesser der Lochblende die Tiefenschärfe und damit die „Dicke“ des optischen Schnittes. Liegt der Durchmesser der Lochblende im ersten Minimum des Beugungsscheibchens (1 Airy unit), so wird das meiste Licht aus anderen Ebenen blockiert und der größte Teil des eigentlichen Signals tritt durch. Wird die Blende stärker geöffnet, so tritt mehr Licht aus höher und tiefer gelegenen Präparateebenen durch, so dass mehr unscharfe Anteile zum Bild beitragen (siehe Abbildungen). Wird die Blende stärker geschlossen als eine Airy unit, so tritt ein starker Helligkeitsabfall ein, der ein deutliches Bild ebenfalls erschwert. Um mehrere Fluoreszenzfarben oder reflektiertes und Fluoreszenzlicht parallel konfokal aufnehmen zu können, wird das Licht vor dem Detektor spektral aufgetrennt. Theoretisch müsste die Detektionslochblende für jede Wellenlänge in der Größe angepasst werden, da der Durchmesser des Beugungsscheibchens linear von der Wellenlänge abhängt. Tatsächlich geschah die spektrale Auftrennung in manchen früheren Geräten (zum Beispiel im Zeiss LSM 410) zuerst und jeder Farbbereich hatte anschließend seine eigene Lochblende. Aus praktischen Gründen verwenden heutige kommerzielle Geräte jedoch nur eine Lochblende für alle Farben. Die spektrale Auftrennung geschieht erst dahinter, beispielsweise mit dichroitischen Strahlteilern, die verschiedene Farbanteile auf unterschiedliche Detektoren lenken. Als Detektoren werden in kommerziellen Geräten meistens Photomultiplier (PMTs) und bei speziellen Anwendungen manchmal auch Avalanche-Photodioden (APDs) eingesetzt. Neue Hybrid-Photodetektoren (HPDs) verbinden Eigenschaften von PMTs und APDs. Sie werden, wie auch viele normale PMTs, von Hamamatsu Photonics hergestellt und von verschiedenen Mikroskopanbietern eingebaut. Manche Geräte haben einen weiteren Detektor im Strahlengang hinter dem Präparat, der durchtretendes Laserlicht auffängt. Im Computer kann aus den Messwerten eine Art Hellfeldbild rekonstruiert werden, in dem Licht-absorbierende oder ablenkende Strukturen im Präparat durch dunkle Stellen repräsentiert werden. Das Licht tritt auf dem Weg zu diesem Detektor aber nicht durch eine Lochblende, so dass kein konfokales Bild entsteht. Besonderheiten der Aufnahme Um das Signal-Rausch-Verhältnis und damit die Bildqualität zu erhöhen, erlaubt es die Steuersoftware, ein Bild mehrmals aufzunehmen und den Mittelwert zu bilden. Besonders bei schwach fluoreszenten Präparaten hilft dies, den Einfluss des Poisson-Rauschens der aufgefangenen Photonen und des statistischen Rauschen der elektronischen Komponenten auf das Bild zu reduzieren, da sich Rauschen bei jeder Aufnahme anders verteilt und somit bei Mehrfachaufnahmen weniger ins Gewicht fällt. Heutige kommerzielle konfokale Laser-Scanning-Mikroskope können durch Bewegung des Objektivs oder des Präparats die Schärfeebene stufenweise verschieben, um optische Serienschnitte zu erzeugen (siehe Filmsequenz). Derartige Bildserien können als Grundlage für dreidimensionale Computerrekonstruktionen verwendet werden (siehe Abbildungen). Punktscanning-Verfahren ohne Scanspiegel Frühe konfokale Mikroskope hatten einen unbeweglichen Strahlengang, stattdessen wurde das Präparat bewegt, da dies technisch einfacher zu realisieren war (siehe unten, Geschichte). Zwar ist dieser „Stage-Scanning“-Ansatz (von für Objekttisch) auf Grund der zu bewegenden Masse deutlich langsamer, er hat jedoch den Vorteil, dass die Beleuchtungsintensität für jede Stelle des Präparats exakt gleich ist. Bei „Beam-Scanning“, also der oben dargestellten Bewegung des Laserstrahls über das nicht bewegte Präparat, ist dagegen die Beleuchtung zum Rand des Gesichtsfeldes etwas weniger intensiv. Bei Anwendungen, für die dies wichtig und eine hohe Geschwindigkeit nicht erforderlich ist, kann daher auch heute (Stand 2013) Stage-Scanning zum Einsatz kommen, so bei der Fluoreszenzkorrelationsspektroskopie (FCS). Bei FCS wird die Fluoreszenzintensität im detektierten Volumen über längere Zeit an einem Punkt gemessen, so dass zwar Konfokalität, aber keine Rastervorrichtung zwingend erforderlich ist. Eine dritte Möglichkeit, um eine Ebene des Präparats abzurastern, besteht in der seitlichen Verschiebung des Objektivs. Diese Möglichkeit wird selten angewendet. Das erste konfokale Mikroskop mit Laser verwendete diesen Ansatz (siehe unten), aber auch aktuelle (2017) kommerzielle Geräte sind mit dieser Option erhältlich. Spezielle Anwendungen mit konfokalen Laser-Scanning-Mikroskopen Die besonderen Eigenschaften des konfokalen Laser-Scanning-Mikroskops erlauben neben der Herstellung von optischen Schnitten auch weitere Anwendungen. Teilweise ist dafür eine zusätzliche Ausstattung erforderlich. Zu diesen Techniken gehören Fluorescence Recovery after Photobleaching (FRAP), Fluoreszenzkorrelationsspektroskopie (FCS), Einzelmolekülfluoreszenzspektroskopie, Förster-Resonanzenergietransfer (FRET), Raman-Spektroskopie und Fluoreszenzlebensdauer-Mikroskopie (FLIM). Linienscanner Punktscanner sind relativ langsam, da jeder Punkt im Präparat einzeln abgerastert werden muss. Dies ist nicht nur ein technisches Problem der erreichbaren maximalen Geschwindigkeit: Bei einem zu schnellen Scanvorgang der einzelnen Bildpunkte wird auch nicht genügend Fluoreszenzlicht aufgefangen, um ein Bild mit ausreichendem Kontrast zu erstellen. Eine Möglichkeit, dieses Problem zu umgehen, ist, das Präparat mit einer Linie (statt mit einem Punkt) zu beleuchten und das Fluoreszenzlicht statt durch eine Lochblende durch eine entsprechende Schlitzblende zu führen. Daraus ergibt sich eine unterschiedliche (anisotrope) Auflösung in x- und y-Richtung. In Richtung der Scanlinie und der Schlitzblende (x) entspricht die Auflösung einem konventionellen Mikroskop, die Vorteile des Konfokalmikroskops kommen nur noch senkrecht dazu (y-Richtung) zum Tragen. Vor der Entwicklung von Spinning-Disk-Mikroskopen, die für die Fluoreszenzmikroskopie geeignet sind, waren Linienscanner die mit Abstand schnellste Möglichkeit, konfokale Bilder von schwach fluoreszierenden Präparaten zu erstellen. Die technische Hauptschwierigkeit beim Bau und Betrieb von Linienscannern ist die Realisierung einer beugungsbegrenzten schmalen Anregungslinie mit gleichmäßiger Helligkeit und einer ausreichend schmalen Schlitzblende sowie die Ausrichtung der beiden exakt parallel zueinander. Die Ausrichtung erfordert dabei nicht nur wie beim Punktscanner Bewegung in x- und y-Richtung, sondern auch Rotation. Wenn die beiden Kanten der Schlitzblende nicht völlig gleichmäßig und parallel zueinander sind, kann dies zu Streifen im Bild führen, beispielsweise wenn sich Staub an der Blendenkante anlagert. Diese Probleme führten in der Praxis dazu, dass sowohl Anregungslinie als auch Schlitzblende erheblich breiter waren, als sie theoretisch sein sollten. Die Linie des Fluoreszenzlichtes kann entweder mit einem CCD-Zeilen-Detektor aufgefangen werden (bei den Geräten LSM5 live und Duo von Zeiss), oder die Linie wird über einen beweglichen Spiegel auf eine Kamera abgebildet, so dass auf dem Kamerachip ein Bild zeilenweise aufgebaut wird (Meridian Insight, BioRad DVC 250). Aufgrund der hohen Scangeschwindigkeit lässt sich dieses Bild auch über ein Okular mit dem Auge betrachten. Statt einer Linie kann das Präparat auch mit mehreren nebeneinander liegenden Linien beleuchtet werden. Das für die Oberflächenuntersuchung von Werkstoffen vorgesehene Zeiss CSM 700 verwendet eine Schlitzmaske im Beleuchtungsstrahlengang, um auf dem Präparat ein Streifenmuster zu erzeugen. Zur Detektion wird die Fokusebene auf dem Chip einer Kamera abgebildet, die Funktion der Schlitzblende wird digital nachgebildet, indem nur bestimmte Pixel ausgelesen werden. Durch verschieben der Schlitzmaske wird das Präparat schließlich vollständig erfasst. Da weißes Licht zur Anregung verwendet wird, können Bilder in Echtfarben aufgenommen werden. Die berührungsfreie Untersuchung von Oberflächen wird ermöglicht, indem nur mit Trockenobjektiven gearbeitet wird. Konfokale Mikroskope mit Nipkow-Scheibe – Abrastern mit vielen fokussierten Lichtstrahlen Eine weitere Möglichkeit zur schnellen konfokalen Aufnahme ist die Verwendung von vielen, parallel genutzten Lochblenden auf einer Nipkow-Scheibe. Der Name ist etwas irreführend: Die Scheibe, die Paul Nipkow im 19. Jahrhundert zur Übertragung von Fernsehbildern entwickelte, enthielt eine Spirale mit Löchern. Zur konfokalen Mikroskopie verwendete Nipkow-Scheiben enthalten dagegen viele, dicht nebeneinander liegende Spiralarme. Die Beleuchtung trifft auf die Scheibe und tritt teilweise durch die Lochblenden hindurch. Diese werden in das Präparat verkleinert, um viele Fokuspunkte zu erzeugen. Durch Drehung der Scheibe rastern die Fokuspunkte in Kreisbögen sehr schnell über das Präparat, so dass im Bruchteil einer Sekunde ein vollständiges Bild entsteht. Dadurch kann das Bild auch mit dem Auge erkannt werden. Als Detektor wird eine Kamera eingesetzt, in der minimalen Belichtungszeit wird der untersuchte Präparateausschnitt einmal abgerastert. Für Fluoreszenzmikroskopie waren Mikroskope mit Nipkow-Scheiben zunächst wenig geeignet, da die Löcher der Nipkow-Scheibe weniger als ein Prozent der Beleuchtung durchlassen. Dadurch ist die Anregung für die allermeisten fluoreszenzmarkierten Präparate zu schwach. Zwar gibt es entsprechende Geräte, die für den Bereich der Lebenswissenschaften angeboten werden, sie sind jedoch wenig verbreitet. Erst etwa ab der Jahrtausendwende wurde die Anregungsstärke durch neue technische Ansätze verbessert. Tandem-Scanner für die Weißlichtreflexionsmikroskopie In den 1960er Jahren entwickelte der Tschechoslowake Mojmír Petráň das „Tandem-Scanning-Mikroskop“ (TSM), das konfokale Reflexionsmikroskopie ermöglichte. Es heißt so, weil der Beleuchtungsstrahlengang durch eine Seite der Nipkow-Scheibe geht und der bildgebende Strahlengang durch die gegenüberliegende Seite. Die Lochblenden auf beiden Seiten rastern also bei der Drehung der Scheibe im Tandem. Jeder Beleuchtungslochblende entspricht eine Detektionslochblende auf der genau gegenüberliegenden Position. Für die ursprüngliche Version des Mikroskops wurde die Nipkow-Scheibe von 8,5 cm Durchmesser aus 20 Mikrometer dünner Kupferfolie hergestellt, in die 26.400 Löcher von etwa 90 Mikrometer Durchmesser und durchschnittlich 280 µm Abstand von Lochmitte zu Lochmitte geätzt wurden. Die Löcher waren in 80 archimedischen Spiralen angeordnet. Die Scheibe rotierte dreimal pro Sekunde, das Beobachtungsfeld wurde 120-mal pro Sekunde abgerastert. Beleuchtungsquelle war eine Wolframlampe oder, zur stärkeren Beleuchtung, ein Bild der Sonne. Das Licht, das durch die Nipkow-Scheibe (in der Zeichnung rot unterlegt) tritt gelingt nach mehreren Spiegelungen zu einem teildurchlässigen Spiegel (über dem Objektiv, 3), der einen Teil der Beleuchtung zum Objektiv reflektiert. Der durch diesen Spiegel durchtretende Anteil der Beleuchtung geht verloren. Das Objektiv bildet die Lochblenden im Präparat ab. Das an diesen Stellen reflektierte Licht wird vom Objektiv wieder aufgenommen und zum teildurchlässigen Spiegel geleitet. Diesmal ist nur der durchtretende Anteil von Interesse: Er wird durch mehrere Spiegelungen zur gegenüberliegenden Seite der Nipkow-Scheibe geleitet. Durch eine anspruchsvolle Fertigungstechnik wird sichergestellt, dass beide Hälften der Scheibe optisch identisch sind, so dass nun entsprechend dem konfokalen Prinzip das in den Beleuchtungspunkten reflektierte Licht aus der Fokusebene durch die Lochblenden durchtreten kann. Theoretisch ergibt die Beleuchtung mit weißem Licht ein Echtfarbenbild. Auch sehr gute Glasoptiken können aber chromatische Aberration nicht ganz vermeiden. Dadurch ist die Beleuchtung im Präparat für verschiedene Farben in etwas verschobenen Ebenen. In der ersten Veröffentlichung zu Petráňs Mikroskop wurde die Abbildung von Spinalganglien und Gehirnen beschrieben. Tandem-Scanning-Mikroskope werden auch heute noch eingesetzt, beispielsweise bei der Untersuchung der Hornhaut des Auges. Einseitige Nipkow-Scheiben-Mikroskope für Weißlichtreflexionsmikroskopie Im Gegensatz zum Tandemscanner wird die Nipkow-Scheibe hier nur auf einer Seite durchstrahlt: Dieselben Lochblenden kommen erst bei der Beleuchtung und dann bei der Detektion zum Einsatz. Von oben kommend trifft die Beleuchtung zunächst auf einen Strahlteiler, der einen Teil des Lichts zur Nipkow-Scheibe leitet. Der hier durchtretende Anteil gelangt durch das Objektiv zum Präparat, wo korrespondierend zu jeder Lochblende je ein Fokuspunkt entsteht. Reflektiertes Licht fällt zurück ins Objektiv und gelangt durch dieselbe Lochblende weiter Richtung Strahlteiler. Dort wird es teilweise zur Kamera gespiegelt, der Rest geht verloren. Dabei gilt es zu vermeiden, dass von der Nipkow-Scheibe selbst reflektiertes Licht zur Kamera gelangt. Dies kann erreicht werden, indem die Nipkow-Scheibe verspiegelt und ein wenig geneigt wird. Allerdings befinden sich die Lochblenden dann nicht mehr in der optimalen Position. Um dies auszugleichen, müssen sie etwas größer gemacht werden. Alternativ kann mit polarisiertem Licht gearbeitet werden. Derartige Mikroskope für Reflexionsbilder werden in den Materialwissenschaften eingesetzt, um Oberflächen zu untersuchen, beispielsweise in der Halbleiterindustrie. Hier sind sie besser geeignet als konfokale Laser-Scanning-Mikroskope, da das kohärente Licht eines Lasers bei Reflexion auf glatten Oberflächen zu unerwünschten Interferenz-Effekten führt, die bei Beleuchtung mit nicht kohärentem Weißlicht vermieden werden. Lichtstarke Spinning-Disk-Mikroskope für fluoreszente Präparate Eine zweite Scheibe mit Mikrolinsen Die japanische Firma Yokogawa entwickelte als erste ein konfokales Nipkow-Scheiben-System, das für Fluoreszenzanregung geeignet ist, die Yokogawa-Spinning-Disk. Über der Nipkow-Scheibe befindet sich eine zweite Scheibe, die synchron mitdreht und auf der Mikrolinsen aufgebracht sind. Jeder Lochblende ist dadurch eine Mikrolinse vorgeschaltet, die das Licht auf die Öffnung fokussiert. So wird über 60 % zum Präparat durchgelassen. Der für die Fluoreszenzmikroskopie erforderliche dichroitische Strahlteiler befindet sich zwischen den beiden Scheiben und koppelt die Fluoreszenz, die vom Präparat zurückkommt, seitlich aus, Richtung Kamera. Dadurch geht das Fluoreszenzlicht zwar durch die Lochblenden, aber nicht durch die Mikrolinsenscheibe, so dass Lichtverluste hier vermieden werden. Außerdem kann Streulicht, das im Anregungsstrahlengang beim Auftreffen auf die Mikrolinsenscheibe entsteht, nicht zur Kamera gelangen. Die gute Lichtausbeute des Systems mit etwa 2000 gleichzeitig genutzten konfokalen Lochblenden ermöglicht Echtzeitbeobachtungen mit deutlich besserem Signal-zu-Rausch-Abstand als typische konfokale Punktscanner bei einer vergleichbaren Anzahl von Bildern pro Sekunde. Da ein Bildpunkt nicht nur einmal, sondern häufiger hintereinander abgerastert werden kann, ist die maximale Lichtpunktbelastung im Präparat niedriger als in typischen Punktscannern, so dass die Fluorochrome im Präparat weniger stark ausbleichen. Die Scheiben drehen sich mit 5 oder 10 Umdrehungen pro Sekunde. Einige publizierte Arbeiten haben Bildraten von 15 Bildern pro Sekunde erreicht. Durch die redundanten Muster auf den Scheiben ist weniger als eine Scheibenumdrehung erforderlich, um ein vollständiges Bild aufzunehmen. Auf Grund der hohen Bildraten ist es im Gegensatz zum Punktscanner auch möglich, das konfokale Bild durch das Okular mit dem Auge zu betrachten. Yokogawa selbst bietet keine Mikroskope an. Stattdessen wird das beschriebene Bauteil von anderen Firmen in eigene Geräte eingebaut, beispielsweise von Leica Microsystems, PerkinElmer und Zeiss. Als Lichtquelle werden Laser eingesetzt, da diese eine gleichmäßige und starke Beleuchtung ermöglichen. Daher handelt es sich bei diesem Gerätetyp auch um konfokale Laser-Scanning-Mikroskope. Es hat sich aber die Bezeichnung „Spinning Disk“-Mikroskope durchgesetzt. Eine Scheibe mit Hohlspiegeln Einen alternativen Ansatz für eine gute Lichtausbeute zur Fluoreszenzanregung mit Nipkow-Scheiben entwickelte Till Photonics in Gräfelfing. Bei diesem „Andromeda“-System wird Laserlicht über einen sogenannten Corner Cube eingespeist. Durch diesen geht das Licht zunächst gerade durch, wird vom dichroitischen Strahlteiler gespiegelt und geht weiter durch eine Linse zur Nipkow-Scheibe. Auf der Scheibe ist jede der vielen Lochblenden von einem sechseckigen konkaven Spiegel umgeben. Nur wenig Licht tritt sofort durch die Lochblenden durch. Der Rest wird zurückgespiegelt und trifft nach dem dichroitischen Strahlteiler wieder auf den Corner Cube. Von dieser Seite wirkt der Corner Cube wie ein flacher Spiegel, so dass das Licht wieder zurück zur Nipkow-Scheibe geleitet wird. Bei diesem zweiten Durchlauf tritt nun auf Grund der Wirkung der konkaven Spiegel der Großteil des Lichtes durch die Lochblenden durch und trifft auf das Präparat. Das vom Präparat zurückkommende Fluoreszenzlicht tritt dem konfokalen Prinzip entsprechend durch die Nipkow-Scheibe hindurch weiter zum dichroitischen Strahlteiler und durch diesen schließlich zur Kamera. Ein Vorteil dieses Systems ist, dass die dichroitischen Strahlteiler in einem Unendlich-Bereich des Strahlengangs liegen. Dadurch sind deren Charakteristika weniger kritisch für die Bildqualität. Vor- und Nachteile von konfokalen Nipkow-Scheiben-Systemen im Vergleich zu Punktscannern Durch die gleichzeitige Verwendung von vielen Lochblenden und damit vielen Beleuchtungspunkten können auf Nipkow-Scheiben basierende Systeme ein Präparat schneller abrastern als ein Punktscanner. Allerdings geht in einem konventionellen Nipkow-Scheiben-System der Großteil der Beleuchtung an der Scheibe verloren. Während die durchtretende Lichtmenge bei konfokalen Weißlichtmikroskopen trotzdem ausreicht, sind für die Fluoreszenzmikroskopie lichterhaltende Vorrichtungen erforderlich. Dann aber erlauben derartige Systeme ein schonenderes Aufnehmen von lebenden fluoreszenten Zellen, da die maximale Lichtbelastung jedes Punktes niedriger ist (siehe oben). Durch die Verwendung mehrerer nebeneinander liegender Lochblenden in der Nipkow-Scheibe ist es möglich, dass Licht von einem Punkt im Präparat durch die falsche Lochblende zur Kamera gelangt und so die Konfokalität des Bildes einschränkt. Bei Materialuntersuchungen von Oberflächen tritt dieser Effekt kaum auf. Bei dickeren biologischen Präparaten, in denen es zu Streuung kommt, kann dies jedoch zum Problem werden. Der konfokale Effekt wird dann mit zunehmender Tiefe der Schärfeebene abgeschwächt. Ferner ist bei Nipkow-Scheiben-Systemen die beobachtbare Region im Präparat fest vorgegeben. Ein Herein- oder Herauszoomen, also eine Änderung der Größe der abgerasterten Region wie beim Punktscanner, ist nicht möglich. Auch dies ist bei Materialuntersuchungen unproblematisch, da die Proben nicht ausbleichen und somit eine verkleinerte abgerasterte Region keinen Vorteil darstellt. Auch kann hier eine höhere Vergrößerung durch Wechsel zwischen den Trockenobjektiven oder durch eine vergrößernde Optik direkt vor der Kamera erzielt werden. Dagegen sind für Lebendzellbeobachtungen verwendete Spinning-Disk-Fluoreszenzmikroskope in der Regel von inverser Bauart und es werden Immersionsobjektive eingesetzt, da diese auf Grund der höheren numerischen Apertur einen größeren Anteil der Fluoreszenz auffangen. Da die Immersionsflüssigkeit bei Objektivwechsel entfernt und neu aufgetragen werden muss, ist ein Objektivwechsel hier aufwändiger. Zusätzliche Zoomoptiken führen immer auch zu etwas Lichtverlust durch Spiegelungen an den zusätzlichen Glasoberflächen, daher wird auf diese bei lichtschwachen Fluoreszenzbeobachtungen zugunsten einer höheren Sensitivität verzichtet. Unterschiedliche Objektive produzieren unterschiedlich große Beugungsscheibchen, je nach Vergrößerung und numerischer Apertur. Die Lochblenden auf einer Scheibe sind aber in der Größe nicht veränderbar, so dass die optimale Größe nur für ein einziges Objektiv oder für wenige Objektive erreicht werden kann. Bei Punktscannern kann die Größe der Lochblende dagegen an das jeweils verwendete Objektiv und an die verwendete Anregungswellenlänge angepasst werden. Einseitige Nipkow-Scheiben-Systeme haben dafür den Vorteil, dass eine Justierung von Anregungs- und Emissionslochblende zueinander wie bei Punktscannern nicht erforderlich ist, da für beide Zwecke derselbe Satz von Lochblenden benutzt wird. Auflösungsvermögen, optische Schnitte und Positionierungsgenauigkeit Auflösung Wie generell bei Lichtmikroskopen ist die Auflösung auch bei konfokalen Mikroskopen durch Beugung begrenzt. Eine punktförmige Lichtquelle wird auf Grund der Beugung als dreidimensionale Punktspreizfunktion (, PSF) abgebildet. Der Schnitt durch die mittlere Ebene der PSF wird als Beugungsscheibchen bezeichnet (siehe Abbildung). Aus praktischen Gründen wird in der Konfokalmikroskopie statt der Auflösung (Rayleigh-Kriterium) häufig die Halbwertsbreite (, FWHM) der PSF angegeben, also die Breite, bei der noch 50 Prozent der maximalen Helligkeit vorhanden sind. Diese Werte sind grundsätzlich etwas niedriger als die eigentliche Auflösung. Durch die Lochblenden im Beleuchtungs- und im Detektionsstrahlengang kann die konfokale Auflösung etwas besser sein als in konventionellen Mikroskopen. Die größtmögliche theoretische Auflösungsverbesserung um den Faktor wird aber nur erreicht, wenn die Detektionslochblende nahezu völlig geschlossen ist, so dass dann kein Licht mehr aufgefangen und daher kein Bild entstehen würde. Die tatsächlich erzielbare Auflösung ist daher nur wenig besser als in konventionellen Mikroskopen. Liegt der Lochblendendurchmesser im ersten Minimum des Beugungsscheibchens (also im ersten schwarzen Ring), so ist die Auflösung in der Fokusebene nicht mehr besser als im nicht-konfokalen Fall, wogegen die Signalintensität dann schon fast maximal ist. Dieser Wert ist in der Software von kommerziellen Konfokalmikroskopen häufig voreingestellt. Er wird als eine Airy Unit (AU) bezeichnet, nach den englischen Begriffen Airy disk (= Beugungsscheibchen) und unit (= Maßeinheit). Wie generell bei Lichtmikroskopen ist die Auflösung in der Schärfeebene besser als entlang der optischen Achse (anisotrope Auflösung). In der Tabelle sind die Formeln zur Berechnung der Halbwertsbreite der Punktspreizfunktion angegeben. Die beschriebenen Zusammenhänge gelten nur für ideale optische Bedingungen. Eine dieser Bedingungen ist eine völlig gleichmäßige Ausleuchtung der hinteren Brennebene des Objektivs durch das Anregungslichts, da nur dann im Präparat ein ideales Beugungsscheibchen entsteht. Der Helligkeitsquerschnitt eines Laserstrahls zeigt jedoch ungefähr eine Gauß-Verteilung. Um den negativen Effekt zu minimieren, wird die rückwärtige Pupille des Objektivs überstrahlt, das heißt, der Laserstrahl wird so stark aufgeweitet, dass die äußeren Bereiche abgeschnitten werden und der verbleibende Querschnitt geringere Helligkeitsunterschiede hat. Wird so stark aufgeweitet, dass noch 50 % des Lichts durchtreten, so beträgt der Auflösungsverlust noch etwa 8 %; treten noch 30 % durch, liegt der Verlust bei 5 %. Weiterhin kommt es bei der Untersuchung von Fluoreszenz zu einem Unterschied zwischen Anregungs- und Detektionswellenlänge (Stokes-Verschiebung), welche zu einem weiteren Auflösungsverlust führt. Die mittlere Wellenlänge ergibt sich näherungsweise zu . Ein weiterer Auflösungsverlust kann im Präparat verursacht werden, wenn der Brechungsindex des Einbettungsmediums oder die Deckglas-Dicke von den für das Objektiv vorgesehenen Werten abweicht und es dadurch zu sphärischen Aberrationen kommt. Axiale Begrenzung des Signals und Positionierungsgenauigkeit Die geringe Verbesserung der Auflösung rechtfertigt kaum den erhöhten Aufwand und die damit verbundenen Kosten. Der entscheidende Vorteil von Konfokalmikroskopen ist vielmehr die Möglichkeit, optische Schnitte aufzunehmen, denn bedingt durch die Lochblenden fällt die Intensität des Signals in etwa mit der vierten Potenz des Abstands zur Fokusebene ab (1/Abstand4). Der Effekt lässt sich am Beispiel einer spiegelnden Oberfläche bei Reflexion erklären. In konventionellen Auflichtmikroskopen lässt sich die genaue Position der Oberfläche nicht feststellen, da die reflektierte Lichtmenge in den darüber und darunter liegenden Ebenen die gleiche ist. Im konfokalen Mikroskop wird jedoch nur Licht detektiert, wenn die spiegelnde Oberfläche im Bereich der Schärfeebene liegt. Dadurch ist die Genauigkeit einer Positionsbestimmung sehr hoch. Ebenso verbessert sich der Kontrast in fluoreszierenden Präparaten, da keine Fluoreszenz aus anderen Ebenen zum Detektor gelangt. Die Genauigkeit, mit der eine Position bestimmt werden kann, ist erheblich besser als die erzielbare Auflösung, da die Mitte eines Helligkeitsmaximums sehr genau festgestellt werden kann (siehe Abbildung). Dadurch kommt keine Unterschreitung der erzielbaren Auflösung zustande, da nicht feststellbar ist, ob das aufgenommene Signal von einer oder mehreren dicht beieinander liegenden Strukturen stammt. Diese Einschränkung ist unerheblich, wenn in der Materialforschung die Höhe von Oberflächen vermessen werden soll. Eine derartige Höhenvermessung ist also nicht durch die Auflösung begrenzt. Der beschränkende Faktor ist die Unsicherheit, mit der die Position der maximalen Intensität entlang der optischen Achse bestimmt werden kann. Die Unsicherheit ist in erster Linie durch das Systemrauschen beschränkt und beträgt in einem gut aufgebauten Konfokalmikroskop bei Verwendung eines hochaperturigen Objektivs nur wenige Nanometer. Verwandte Verfahren Nicht-mikroskopische konfokale Techniken Konfokale Techniken werden auch außerhalb der Mikroskopie eingesetzt, beispielsweise für Chromatisch-konfokale Abstandsmessungen. Eine Übersicht gibt der Artikel Konfokaltechnik. In der Medizin wird konfokale Endomikroskopie als eine Methode der Endoskopie verwendet. Andere Laser-Scanning-Mikroskope siehe auch: Laser-Scanning-Mikroskope In gewisser Weise Vorläufer der konfokalen Laser-Scanning-Mikroskope sind Flying-Spot-Mikroskope. Bei ihnen wird wie bei den konfokalen Punktscannern ein Beleuchtungspunkt über das Präparat geführt. Dieser ist aber nicht notwendigerweise beugungsbegrenzt. Auch fehlt eine Detektionslochblende. Der Beleuchtungspunkt wurde in frühen Geräten häufig durch eine Braun'sche Röhre erzeugt, nach der Entwicklung des Lasers auch durch einen fokussierten Laserstrahl. Derartige Geräte waren die ersten Laser-Scanning-Mikroskope. Andere Laser-Scanning-Mikroskope wurden dagegen erst nach der Entwicklung des konfokalen Laser-Scanning-Mikroskops gebaut. 4Pi-Mikroskope und STED-Mikroskope sind spezielle konfokale Mikroskopie, die eine verbesserte Auflösung ermöglichen. Multiphotonenmikroskopie ist dagegen ein nicht-konfokales Laser-Scanning-Verfahren, da keine Lochblenden mit konfokalen Fokuspunkten benötigt werden. Hier entsteht nur dann ein Signal, wenn zwei oder mehr Photonen gleichzeitig am Fokuspunkt eintreffen, daher der Name. Die drei genannten Verfahren sind häufig als Zusatzeinrichtung eines konfokalen Laser-Scanning-Mikroskops eingebaut. Geschichte 1940: ein Spaltlampensystem zur Dokumentation von Augenuntersuchungen Der Augenarzt Hans Goldmann, Direktor der Universitäts-Augenklinik im schweizerischen Bern, kämpfte mit dem Problem, dass Spaltlampen immer nur einen eng begrenzten Teil des Auges scharf abbildeten (Hornhaut oder Teil der Linse). Zwar konnte ein Beobachter ein durchgehendes Bild im Geist zusammensetzen, eine fotografische Darstellung beschränkte sich jedoch immer auf einen schmalen Bereich. Goldmann entwickelte ein Gerät zur „Spaltlampenphotographie und -photometrie“, das von der ortsansässigen Firma Haag-Streit hergestellt wurde. Der scharfe Anteil des Bildes wurde durch ein Objektiv auf einen Film projiziert. Durch eine spaltförmige Blende vor dem Film wurde verhindert, dass unscharfe Bildanteile abgelichtet wurden. Der Mechanismus zur Bewegung des Beleuchtungsspalts war über eine Scheibe fest mit der Filmtrommel verbunden: Bewegte sich der Spalt der scharfen Abbildung über das Auge, so drehte sich der Film in der Trommel entsprechend hinter der Spaltblende vorbei. Die Beleuchtung durch einen Spalt entspricht in etwa einer Lichtscheibe, die Beleuchtung ist also nicht auf eine Linie fokussiert, wie in späteren konfokalen Linienscannern. Die Beobachtungsachse in Goldmanns Apparat lag aber ungefähr im 45°-Winkel zur Beleuchtungsachse, so dass – vom Detektor aus gesehen – dennoch nur eine Linie (und nicht die Ebenen darunter oder darüber) beleuchtet wurde. Der Spalt vor der Kamera entsprach von der Funktion her der Schlitzblende vor dem Detektor eines konfokalen Linienscanners, sodass das System nachträglich als konfokal bezeichnet wurde. Goldmanns Arbeit wurde in den 1970er Jahren von D. M. Maurice zitiert, der einen konfokales Line-Scanning-Microscope für die Augenheilkunde entwickelte. Auch historische Rückblicke erwähnen Goldmanns Apparat. 1943, 1951: konfokale Mikroskope für die Spektrophotometrie 1943 veröffentlichte Zyun Koana eine Arbeit über ein konfokales Mikro-Photometrie-System. Eine Abbildung zeigt das Schema eines konfokalen Transmissionsstrahlengangs: Die Beleuchtung gelangt durch zwei Linsen und die Anregungslochblende auf eine weitere Linse (entsprechend dem Kondensor in normalen Lichtmikroskopen), von der sie in das Präparat fokussiert wird. Das Licht durchtritt das Präparat und wird von einer weiteren Linse (entsprechend dem Objektiv) auf eine Detektionslochblende fokussiert. Von dieser japanischen Arbeit liegt keine Übersetzung oder Zusammenfassung in einer westlichen Sprachen vor. Koana (1907–1985) wurde später bekannt für die Entwicklung von Fotoapparat-Objektiven in Zusammenarbeit mit der Firma Nikon. Hiroto Naora, ein Mitarbeiter Koanas, veröffentlichte 1951 eine Arbeit in der Zeitschrift Science. Er fokussierte eine Lochblende im Beleuchtungsstrahlengang 2000-fach verkleinert ins Präparat. Eine zweite Lochblende in der Zwischenbildebene minimierte Streulicht bei der Aufnahme. Ziel war es, kleine Bereiche in Zellkernen zu beleuchten, in welchen die DNA mit der Feulgenfärbung nachgewiesen wurde, um die DNA-Menge quantitativ zu bestimmen. Das Mikroskop erzeugte keine Bilder, stattdessen wurden die Intensität und die Wellenlängen des vom Präparat durchgelassenen Lichtes gemessen (Spektrophotometrie). Durch die beiden Lochblenden wurde Streulicht vermieden und so die Messgenauigkeit verbessert. Der erzeugte Beleuchtungsfleck hatte 1 – 5 µm Durchmesser und war also nicht beugungsbegrenzt. Auch wurde das Präparat nicht abgerastert. 1955, 1957: der erste Punktscanner Das erste punkt-rasternde Konfokalmikroskop wurde von Marvin Minsky 1955 entwickelt und 1957 zum Patent angemeldet. Er wollte Gehirnschnitte untersuchen und kämpfte mit starker Streuung in diesem dichten Gewebe. Da das helle Streulicht das Erkennen der eigentlichen Strukturen verhinderte, suchte er nach einer Möglichkeit dieses zu reduzieren und fand sie im konfokalen Prinzip. Das Mikroskop hatte einen waagrechten, unbeweglichen Strahlengang (siehe Schemazeichnung) und eine Zirconium-Bogenlampe als Lichtquelle. Die Öffnung der ersten Lochblende wurde durch ein 45x-Trockenobjektiv ins Präparat fokussiert. Das Präparat wurde zwischen zwei Deckgläser platziert und in eine bewegliche Vorrichtung eingespannt, die zum Rastern in x- und y-Richtung bewegt wurde („stage scanning“). Das zweite, gleichartige Objektiv nahm das durchgetretene Licht auf und leitete es durch die zweite Lochblende zum Detektor. Minsky setzte nie Ölimmersion ein, da er befürchtete, dass die Viskosität zu Problemen bei der Bewegung des Präparates führen könnte und dass die geringere Eindringtiefe der Ölimmersionsobjektive nicht ausreichend wäre. Das System konnte Punkte auflösen, die einen Abstand von weniger als einem Mikrometer hatten. Detektor war ein Photomultiplier, als Anzeigegerät diente ein Radarschirm (Kathodenstrahlröhre) mit einer Bildanzeigedauer von etwa zehn Sekunden. Dies war auch die Zeit, die das Rastern eines Bildes benötigte. Eine Digitalisierung oder fotografische Dokumentation war nicht eingebaut, Bilder sind nicht überliefert. Später führte Minsky den Mangel an Dokumentationsmöglichkeiten als einen Grund an, warum es noch 30 Jahre dauerte, bis sich die Idee des konfokalen Mikroskops durchsetzte. Minsky schrieb keine wissenschaftlichen Arbeiten, die das konfokale Mikroskop erwähnten. Sein Schwager, ein Patentanwalt, fand das Gerät interessant, und so kam es zur einzigen zeitgenössischen Dokumentation in einem Patentantrag. In diesem ist auch der Aufbau einer zweiten Version beschrieben, bei der Licht durch das Präparat hindurchgeht, danach auf einen Spiegel trifft und von diesem wieder zurückgeworfen wird (siehe Abbildung). Er erwähnte auch die Möglichkeit des Scannens entlang der optischen Achse (z-Richtung), die er aber ebenfalls nicht verwirklichte. 1966: „Vorrichtung zur optischen Abtastung mikroskopischer Objekte“ Weniger bekannt ist die Entwicklung mehrerer Ansätze für konfokale Rastermikroskope durch Klaus Weber, Mitarbeiter der Ernst Leitz GmbH in Wetzlar. Wie bei Koana und Naora war das Ziel nicht die Erstellung eines Bildes, sondern das Messen der Signalintensität in kleinen Ausschnitten des Präparats. Für das Abrastern sah Weber drei alternative Möglichkeiten „zur synchronen Abtastung auf der Beleuchtungs- und der Beobachtungsseite“ vor: Eine klassische Nipkow-Scheibe (mit je nur einer Spirale aus Lochblenden) kam in die Ebene der Leuchtfeldblende und eine zweite, synchron laufende in die Zwischenbildebene (siehe linke Abbildung). In die Leuchtfeld- und die Zwischenbildebene kam je eine bewegliche Lochblende, die in einer Richtung (x-Achse) synchron elektrisch bewegt wurden. Das Rastern entlang der y-Achse geschah durch Bewegung des Objekts oder ebenfalls durch Bewegung der Lochblende. Diese „besonders vorteilhafte Anordnung“ verwendete einen Kippspiegel, der das Bild der Beleuchtungslochblende („Leuchtfleckblende“) als „Leuchtfleck“ über das Präparat bewegte, und über den auch der Beobachtungsstrahlengang zur Detektionslochblende („Bildfeldblende“) lief. Das Präparat war also stationär und wurde durch Verschiebung des Strahlengangs abgerastert (beam scanning). Von der Kippspiegelvariante schlug Walter wiederum mehrere Ausführungen vor. Dabei sollte entweder Beleuchtungs- und Beobachtungslicht über die gleiche Seite des Spiegels laufen, oder, „besonders zweckmäßig“, der Beobachtungsstrahlengang lief über die ebenfalls verspiegelte Rückseite, so dass Beleuchtungs- und Beobachtungsstrahlengang zwar getrennt, aber dennoch synchronisiert waren, so dass der im Präparat erzeugte Lichtfleck immer auf die Detektionslochblende abgebildet wurde. Für diese Lösung zeigt der Patentantrag eine Version für Durchlicht und eine für Auflicht-Reflexionsmikroskopie (siehe Abbildungen). Die Möglichkeit das elektrische Signal des Detektors zur Erstellung eines Bildes zu nutzen wie beim Minsky-Mikroskop wurde in den Patenten nicht erwähnt. Es ist unklar, ob die von Weber vorgeschlagenen Geräte tatsächlich gebaut wurden und ob seine Ideen Einfluss auf weitere Entwicklungen hatten. Das erste Patent, das Webers US-Patent zitierte, wurde 1980 eingereicht. Weber hatte nicht als Erster die Idee, eine Nipkow-Scheibe in Mikroskopen einzusetzen. Bereits 1951 wurde ein System vorgestellt, bei dem eine klassische Nipkow-Scheibe eingesetzt wurde, um ein Fluoreszenzbild so zu zerlegen, dass die Helligkeit der einzelnen Bildpunkte nacheinander von einem Photomultiplier gemessen werden konnte. Es handelte sich also nicht um ein konfokales Abbildungssystem, sondern um einen „Microfluorometric Scanner“. 1967: das erste bildgebende konfokale Mikroskop mit Nipkow-Scheibe In den 1960er Jahren entwickelte der Tschechoslowake Mojmír Petráň von der Medizinischen Fakultät der Karls-Universität in Pilsen, das oben beschriebene Tandem-Scanning-Mikroskop. Es war das erste konfokale Mikroskop, das zum Verkauf angeboten wurde: zum einen von einer kleinen Firma in der Tschechoslowakei und zum anderen in den USA von Tracor-Northern (später Noran). Der ausgebildete Arzt Petráň besuchte 1964 die Arbeitsgruppe von Robert Galambos an der Yale University in New Haven (Connecticut, USA). Sie überlegten, wie unfixierte, ungefärbte Nervenzellen im Gehirn beobachtet werden könnten und entwickelten während dieses Aufenthaltes das Konzept. Im folgenden Jahr bauten Petráň und Milan Hadravský in Pilsen den ersten Prototyp. Das tschechoslowakische Patent wurde 1966 von Petráň und Hadravský eingereicht. 1967 erschien eine erste wissenschaftliche Veröffentlichung in der Zeitschrift Science, welche mit dem Mikroskop gewonnene Daten und Abbildungen enthielt. Autoren waren M. David Egger von der Yale University und Petráň. In den Fußnoten dieser Arbeit heißt es, dass Petráň das Mikroskop entworfen und seine Konstruktion geleitet hatte und dass er zeitweise ein „research associate“ an der Yale University war. 1968 erschien eine weitere Arbeit, in der zusätzlich Hadravský und Galambos Autoren waren. Hier wurden Theorie und technische Details des Mikroskops beschrieben. 1970 wurde das 1967 beantragte US-Patent erteilt. Es enthält auch eine Version des Mikroskops für Durchlicht: Das Präparat wird durch ein Objektiv beleuchtet und durch ein weiteres, identisch gebautes, beobachtet. Es ist jedoch unklar, ob diese Variante tatsächlich gebaut wurde. Beim Jahrestreffen der European Light Microscopy Initiative (ELMI) 2011 wurden Petráň und Hadravský für ihre Verdienste geehrt, und 2012 wurden beide vom Projekt zur Kulturhauptstadt Europas „Plzeň 2015“, in ihrer Heimatstadt zu „Pilsener Ikonen“ ernannt. Für Hadravský wurde diese Ehrung in memoriam verliehen. Erst 1986 wurde das Tandem-Scanning-Mikroskop zur Untersuchung des Auges verwendet. Nach erfolgreichen ex vivo Versuchen entwickelten Wissenschaftler an der Georgetown University in den USA das Gerät so weiter, dass es auch an Patienten eingesetzt werden konnte. Eine kommerzielle Version wurde von Tandem Scanning Corporation, Inc. entwickelt. Das Gerät enthielt eine zusätzliche Linse, deren Bewegung die Schärfeebene im Auge veränderte, ohne dass das Objektiv bewegt werden musste. 1969: das erste konfokale Laser-Scanning-Mikroskop Egger war an einer weiteren Entwicklung beteiligt. Zusammen mit Paul Davidovits, ebenfalls Yale University, veröffentlichte er 1969 und 1971 zwei Arbeiten über das erste konfokale Mikroskop, das mit Laserlicht arbeitete, einen Punktscanner. Auch dieses Gerät war für Auflicht-Reflexionsmikroskopie vorgesehen, im Besonderen für die Beobachtung von Nervengewebe. Bereits 1969 spekulierten die Autoren über einen Einsatz von Fluoreszenzfarbstoffen für „in vivo“-Untersuchungen. Sie zitierten das Patent von Minsky und bedankten sich bei Steve Baer für den Vorschlag, einen Laser mit ‚Minskys Mikroskop‘ zu verwenden, sowie bei Galambos, Hadravsky und Petráň für Diskussionen, die zur Entwicklung des Mikroskops führten. Baer war Doktorand an der Albert Einstein School of Medicine in New York City, wo er ein konfokales Line-Scanning-Mikroskop entwickelte. Als Motivation für die Neuentwicklung gaben Egger und Davidovits in der zweiten Arbeit an, dass im Tandem-Scanning-Mikroskop nur ein Anteil von 10−7 der Beleuchtung im Okular zur Bildentstehung beitrage und die Bildqualität daher für die meisten biologischen Untersuchungen nicht ausreiche. Ein Helium-Neon-Laser mit 633 nm Wellenlänge und 5 mW Leistung wurde auf einen halbdurchlässigen Spiegel geleitet und von diesem zum Objektiv reflektiert. Als Objektiv diente eine einfache Linse mit einer Brennweite von 8,5 mm. Im Gegensatz zu allen früheren und den meisten späteren Entwicklungen wurde das Präparat durch Bewegen dieser Linse abgerastert (objective scanning), wodurch sich der Fokuspunkt entsprechend verschob. Reflektiertes Licht gelang zurück zum halbdurchlässigen Spiegel, und der durchgelassene Anteil wurde von einer weiteren Linse zur Detektionslochblende geleitet, hinter der sich ein Photomultiplier befand. Das Signal wurde von der Kathodenstrahlröhre eines Oszilloskops angezeigt, wobei der Kathodenstrahl synchron mit dem Objektiv bewegt wurde. Eine spezielle Apparatur konnte Polaroid-Fotos von der Anzeige machen, von denen drei in der Veröffentlichung von 1971 wiedergegeben sind. Laserlicht ist grundsätzlich linear polarisiert. In der ersten der beiden Veröffentlichungen bewirkte ein Analysator (ein Polarisationsfilter) vor der Detektionslochblende, dass Licht, welches innerhalb des Mikroskops reflektiert wurde, nicht zum Detektor gelangen konnte. Ein λ/4-Plättchen zwischen Objektiv und Präparat sorgte dafür, dass das vom Präparat reflektierte Licht um insgesamt 90° gegenüber der Laserpolarisation verschoben wurde, so dass dieses durch den Analysator gelang. In der Mikroskopversion der zweiten Veröffentlichung fehlten diese beiden Bauteile jedoch. Davidovits, Egger und Marvin Minsky erhielten 2000 den R. W. Wood Prize der Optical Society of America für Beiträge zur Entwicklung des Konfokalmikroskops. 1977–1985: Punktscanner mit Laser und Rasterung durch Präparatbewegung (stage scanning) Colin J. R. Sheppard und A. Choudhury in Oxford veröffentlichten 1977 eine theoretische Analyse von Konfokalmikroskopie und Laser-Scanning-Mikroskopie. Diese Arbeit ist vermutlich die erste Veröffentlichung, die den Ausdruck „confocal microscope“ enthält. Die Brüder Christoph Cremer und Thomas Cremer in Heidelberg entwarfen 1978 ein konfokales Laser-Scanning-Mikroskop für die Fluoreszenzanregung mit elektronischem Autofokus. Sie schrieben: „Aufgrund seiner besonderen Darstellungsmöglichkeiten könnte das Laser-Scanning-Mikroskop-Verfahren eine wertvolle Ergänzung herkömmlicher lichtmikroskopischer sowie rasterelektronenmikroskopischer Verfahren werden.“ Sie schlugen auch ein Laser-Punkt-Beleuchtung mit Hilfe eines „4π-Punkt-Hologramms“ vor. Die Oxford-Gruppe um Sheppard und Tony Wilson beschrieb 1978 und 1980 ein Auflicht-Konfokal-Mikroskop mit Stage-scanning, Laserbeleuchtung und Photomultipliern als Detektoren. Das Präparat konnte nicht nur in der Fokusebene, sondern auch entlang der optischen Achse bewegt werden, wodurch die Aufnahme von optischen Serienschnitten möglich wurde. Die Vorzüge des Gerätes konnten besonders überzeugend an integrierten elektronischen Schaltkreisen gezeigt werden. Der Begriff und die Methodes des „optical sectioning“ ist allerdings schon älter. Bereits 1930 zeigte Francis Lucas optische Serienschnitte, die er mit einem UV-Licht-Mikroskop auf Film erzeugte. Fred Brakenhoff und Mitarbeiter wiesen 1979 nach, dass die theoretischen Vorteile der optischen Schnitte und der Auflösungsverbesserung tatsächlich erreichbar sind. 1985 veröffentlichte die Gruppe die ersten überzeugenden Bilder zu zellbiologische Fragestellungen, die sie mit einem weiterentwickelten konfokalen Mikroskop aufnahmen. Weitere biologische Anwendungen folgten kurz darauf von anderen Gruppen. Zwischenzeitlich veröffentlichten I. J. Cox und Sheppard aus der Oxford-Gruppe 1983 die erste Arbeit über ein konfokales Mikroskop, das mit einem Computer verbunden wurde. Das erste kommerzielle konfokale Laser-Scanning-Mikroskop, der Stage-Scanner SOM-25, wurde ab 1982 von Oxford Optoelectronics (über Zwischenschritte von BioRad übernommen) angeboten; es basierte auf dem Design der Oxford-Gruppe. Ab 1985: Laser-Punktscanner mit Beam-Scanning Die meisten bisher entwickelten konfokalen Laser-Scanning-Mikroskope gehörten zum Stage-Scanning-Typ: Der Beleuchtungspunkt war unbeweglich und der Objekttisch (englisch stage) mit dem Präparat wurde in x- und y-Richtung bewegt, um die Objekte in der Fokusebene abzurastern. Dieses Verfahren war langsam und empfindlich bezüglich Erschütterungen. Bereits Minsky hatte die Möglichkeit erwähnt, stattdessen einen rasternden Lichtstrahl über das unbewegliche Präparat zu schwenken, dies jedoch wegen technischen Schwierigkeiten verworfen. Mitte der 1980er Jahre entwickelten W. B. Amos, J. G. White und Mitarbeiter in Cambridge das erste konfokale Beam-Scanning-Mikroskop (beam, englisch für Strahl, Lichtstrahl), bei dem das Präparat stillstand und stattdessen der Beleuchtungspunkt bewegt wurde. Dadurch konnten vier Bilder pro Sekunde mit jeweils 512 Zeilen aufgenommen werden. Die Idee des Beam-Scannings wurde aus Flying-Spot-Mikroskopen übernommen. Eine zweite wichtige Neuentwicklung war eine stark vergrößerte Zwischenbildebene durch einen um ein bis zwei Meter verlängerten Strahlengang. Das erzeugte Zwischenbild war dadurch 80-mal größer als durch die Objektivvergrößerung, mit der Folge, dass für die Lochblende eine gewöhnliche Irisblende mit einem Durchmesser von etwa einem Millimeter eingesetzt werden konnte, im Gegensatz zu den nur wenige Dutzend Mikrometer großen Lochblenden in früheren Systemen. Dadurch war die Justierung erheblich einfacher. Erste Fotografien wurden per Langzeitbeleuchtung mit Film gemacht, bevor eine digitale Kamera eingebaut wurde. Bilder von verschiedenen biologischen Präparaten waren, verglichen mit normaler Fluoreszenzmikroskopie, deutlich besser. Eine erste Veröffentlichung solcher Bilder erfolgte 1987. Eine weitere Geräteverbesserung erlaubte erstmals das Hineinzoomen in das Präparat, also die Auswahl eines Teilbereichs für eine vergrößerte Darstellung oder eine schnellere Aufnahme. Zeiss, Leitz und Cambridge Instruments hatten an einer kommerziellen Produktion kein Interesse. Das Medical Research Council (MRC) erklärte sich jedoch bereit, die Entwicklung eines kompakteren Prototyps zu finanzieren. Schließlich übernahm Bio-Rad das Design, und eine Software für die Computersteuerung wurde entwickelt. Das Gerät kam als MRC 500 auf den Markt, der Nachfolger hieß MRC 600. Dieses Gerät war auch Grundlage für das an der US-amerikanischen Cornell University entwickelte und 1990 publizierte erste Zwei-Photonen-Fluoreszenzmikroskop. Parallel gab es eine weitere Entwicklung an der Universität Stockholm, die etwa gleichzeitig zu einem kommerziellen Gerät führte, das von der schwedischen Firma Sarastro vertrieben wurde. Diese wurde 1990 von Molecular Dynamics, einer US-amerikanischen Firma übernommen, aber schließlich wurde die Produktion eingestellt. In Deutschland entwickelte die 1984 gegründete Firma Heidelberg Instruments ein konfokales Laserscanningmikroskop, das weniger für biomedizinische als für Industrieanwendungen entwickelt wurde. Dieses Gerät wurde 1990 von Leica Lasertechnik übernommen und weiterentwickelt. Zeiss hatte bereits ein nicht-konfokales Flying-Spot Laserscanning-Mikroskop auf dem Markt, das zu einem konfokalen Mikroskop erweitert wurde. Ein Bericht von 1990, der „einige“ Hersteller erwähnt, zählt die folgenden auf: Sarastro, Technical Instrument, Meridian Instruments, Bio-Rad, Leica, Tracor-Northern und Zeiss. Neuentwicklungen mit Nipkow-Scheibe Die vielen Spiegel und Prismen des Tandem-Scanners, die Anregungslochblenden und Detektionslochblenden im Strahlengang genau aufeinander abstimmen und zu justieren, ist schwierig; auch das Flattern der dünnen Nipkow-Scheibe führt zu Justierschwierigkeiten. Schon Egger und Petráň schlugen daher vor, Anregungs- und Detektionsstrahlengang durch dieselben Lochblenden zu führen („einseitige Nipkow-Scheibe“). Sie verwarfen diesen Ansatz jedoch, da die Reflexion des Anregungslichts an der Oberfläche der Scheibe nicht vom Detektionsstrahlengang zu trennen war. Albert Frosch und Hans Erdmann Korth bekamen 1975 ein US-Patent für IBM zugesprochen, in dem dieses Problem durch Schrägstellen der Nipkow-Scheibe angegangen wurde. Diese Idee wurde mit weiteren Verbesserungen die Grundlage für ein 1988 von Gordon S. Kino und Guoqing Xiao, Stanford University eingereichtes Patent über ein einseitiges Nipkow-Scheiben-Mikroskop für Auflicht-Reflexionsmikroskopie. Das Gerät war für die Vermessung von Halbleitern gedacht. Vorteile waren eine geringere Vibrationsanfälligkeit und eine vereinfachte Justierung. Außerdem konnte die Nipkow-Scheibe nun quer zum Strahlengang bewegt werden, so dass in unterschiedlichen Spuren zwischen Scheibenmittelpunkt und Rand unterschiedlich große Lochblenden angebracht werden konnten. Damit konnte die Lochblendengröße an die Auflösung verschiedener Objektive angepasst werden, oder an die unterschiedlich starke Reflexion von verschiedenen Präparateregionen. Zur Verminderung der Reflexion direkt von der Nipkow-Scheibe zum Detektor wurde eine geschwärzte, um 5° zur optischen Achse geneigte Scheibe eingebaut. Nach der Lichtquelle kamen ein Polarisator und dahinter ein halbdurchlässiger Spiegel, der zur Nipkow-Scheibe reflektierte. Zwischen Scheibe und Objektiv war ein Lambda-Viertel-Plättchen, auf dem Rückweg des Lichts, direkt vor dem Detektor, war ein Analysator. Zwar ging so ein größerer Teil des Lichts verloren, das direkt von der Nipkow-Scheibe reflektierte Licht wurde jedoch effektiv vom Analysator blockiert. Ichihara und Kollegen veröffentlichen 1996 die erste Arbeit zum Yokogawa-Spinning-Disk-System (siehe oben). Weblinks Optical Microscopy Primer. (englisch) Umfangreiche Linksammlung zu detaillierten Beschreibungen der Mikroskopie u. a. auch virtuelle Konfokalmikroskope Die konfokale Laser Scanning Mikroskopie. (PDF; 884 kB) Einführung in die konfokale Mikroskopie von Zeiss. Literatur Weiterführende Literatur Michael Volger: Lichtmikroskopie - Theorie und Anwendung. (PDF) Irene K. Lichtscheidl, Universität Wien (Hrsg.), Onlineausgabe vom 29. Februar 2008, univie.ac.at (Abhandlung über Lichtmikroskopie, S. 174–220 zur Fluoreszenz- und Konfokalmikroskopie.) Verlagswebsite (Einführung in die konfokale Fluoreszenzmikroskopie.) (2. Auflage. 2012, ISBN 978-1-4398-4825-8) (Allgemeine Einführung in die Lichtmikroskopie, mit Kapiteln speziell zur konfokalen Mikroskopie sowie digitalen Bildern, Aberrationen, Fluoreszenz etc.) (Das Nachschlagewerk zur konfokalen Mikroskopie in den Lebenswissenschaften, weniger für Einsteiger gedacht.) Einzelnachweise Lichtmikroskop-Art oder lichtmikroskopisches Verfahren Optisches Messgerät Biophysikalische Methode
78390
https://de.wikipedia.org/wiki/D%C3%B6bling
Döbling
Döbling ist der 19. Wiener Gemeindebezirk und liegt im Nordwesten Wiens am Rande des Wienerwaldes. Der Bezirk wurde 1892 aus den ehemaligen Wiener Vororten Unterdöbling, Oberdöbling, Grinzing, Heiligenstadt, Nussdorf, Josefsdorf, Sievering und dem Kahlenbergerdorf gebildet. 1938 wurde der Bezirk um Neustift am Walde und Salmannsdorf, die vorher zum Bezirk Währing gehörten, erweitert. Seither gehört auch ein kleiner Teil von Pötzleinsdorf zu Döbling, der umgangssprachlich Glanzing genannt wird. Heute gilt Döbling mit seinen Wienerwaldvillen ähnlich Währing und Hietzing als Nobelbezirk und verfügt über einen bedeutenden Weinanbau. Durch zahlreiche Gemeindebauten wie den Karl-Marx-Hof oder genossenschaftliche Wohnanlagen ist die Bevölkerungsstruktur jedoch ausgewogener als oftmals angenommen. Geographie Lage Döbling liegt im Nordwesten Wiens und umfasst den Abhang des Wienerwaldes zur Donau und zum Donaukanal, die den Bezirk im Osten begrenzen. Die Donau bildet dabei die Grenze zwischen Döbling und dem Bezirk Floridsdorf, der Donaukanal zum Bezirk Brigittenau. An der Gürtelbrücke über den Donaukanal zweigt die Bezirksgrenze schließlich ab und trennt Döbling im Süden entlang des Gürtels vom Bezirk Alsergrund. An der Schrottenbachgasse zweigt die Bezirksgrenze schließlich nach Nordwesten ab und trennt Döbling entlang der Linie Währinger Park-Hasenauerstraße-Peter Jordan Straße-Starkfriedgasse-Sommerhaidenweg vom Bezirk Währing. Die kurze Grenze zum Bezirk Hernals schließt direkt nach Norden an. Flächennutzung 32,6 % (im Vergleich zur gesamten Stadt Wien 33,3 %) der Döblinger Bezirksfläche ist Bauland. Zu 85,2 % handelt es sich dabei um Wohnbaugebiete, der Anteil der Betriebsbaugebiete ist mit 2,2 % der Bezirksfläche (Wien 7,6 %) hingegen sehr gering. Mit einem Grünraumanteil von 51,8 % (Wien 48,3 %) ist Döbling der fünftgrünste Wiener Gemeindebezirk. Dabei entfallen 14,9 % der Bezirksfläche auf landwirtschaftlich genutzte Flächen, wobei der Weinbau hier um Grinzing, Nussdorf, Sievering, Neustift am Walde und Salmannsdorf die größte Rolle spielt. Weitere 25,4 % des Bezirks sind bewaldet, hinzu kommen 5,3 % Wiesen, 2,7 % Kleingärten, 2,5 % Parkflächen und 0,9 % Sport- und Freizeitflächen. Die restliche Nutzung des Bezirksgebietes entfällt schließlich mit 11,0 % auf Verkehrsflächen und mit 4,6 % auf Gewässer, wobei der Anteil der Gewässer im Verhältnis zur ganzen Stadt Wien darüber, der Anteil der Verkehrsflächen darunter liegt. Berge Durch den großen Anteil am Wienerwald liegen in Döbling zahlreiche laubwaldbedeckte Hausberge Wiens. Sie liegen an der Grenze zu Niederösterreich bzw. den Nachbarbezirken. Höchster Gipfel ist der Hermannskogel (544 m), zum Wahrzeichen Döblings wurde jedoch der Kahlenberg (484 m) und der benachbarte Leopoldsberg (427 m). Weitere Berge in diesem Bereich sind der Reisenberg, Latisberg, Vogelsangberg, Handleinsberg, Dreimarkstein und Nussberg. Daneben gibt es teilweise verbaute Erhebungen in Döbling, wie die Hohe Warte in Heiligenstadt, den Hungerberg in Grinzing und den Hackenberg in Sievering. Flüsse Auf dem Bezirksgebiet entspringen zahlreiche Bäche, die jedoch heute großteils hart verbaut oder als Bachkanäle geführt werden. Ursprünglich mündeten sie mit Ausnahme des Waldbaches alle in den Donaukanal. Da die Einzugsgebiete der Bäche im Sandsteingebiet des Wienerwalds liegen, können und konnten die Bäche auf ein Vielfaches ihrer normalen Wassermenge anwachsen. Dies führte immer wieder zu zerstörerischen Hochwässern, insbesondere entlang des Krottenbaches. Der Krottenbach war der bedeutendste Bach in Döbling und wird praktisch vollkommen als Bachkanal geführt. Er nimmt im Bereich hinter dem Bundesgymnasium Billrothstraße unterirdisch den durch Sievering verlaufenden Arbesbach (Erbsenbach) auf, der heute im Oberlauf bis Obersievering noch offen verläuft. Der Nesselbach verläuft noch bis zum Krapfenwaldl offen, bevor er sich unterirdisch mit dem Reisenbergbach in Grinzing vereinigt. Der Reisenbergbach verläuft dabei noch bis kurz vor dem Ortszentrum Grinzings offen. Fast zur Gänze offen verlaufen noch der Schreiberbach bis Nussdorf und der Waldbach beim Kahlenbergerdorf. Gänzlich durch Ableiten verschwunden ist hingegen der Döblinger Bach. Dieser entsprang ursprünglich in der Cottage und mündete in der Spittelau in den Donaukanal. Bezirksteile Döbling wurde aus mehreren, früher selbstständigen Gemeinden gebildet. Dies sind: Grinzing Heiligenstadt Josefsdorf Kahlenbergerdorf Neustift am Walde Nussdorf Oberdöbling Salmannsdorf Sievering Unterdöbling Wappen Das Wappen Döblings bildet die neun ehemaligen Wappen der selbständigen Gemeinden ab, die 1892 zu Wien eingemeindet wurden. Herzschild: Oberdöbling. Die auf blauem Grund liegende goldene Weintraube symbolisiert dabei den dort betriebenen Weinbau. Links oben (heraldisch rechts oben): Heiligenstadt. Der auf silbernem Grund dargestellte Erzengel Michael mit einem grünen Drachen ist der Kirchenpatron von Heiligenstadt. Oben Mitte: Unterdöbling. Der heilige Jakob ist der Kirchenpatron der Heiligenstädter Pfarrkirche, zu der Unterdöbling früher gehörte. Rechts oben (heraldisch links oben): Nussdorf, symbolisiert durch einen goldenen Baumstamm mit drei goldenen Nüssen. Links Mitte (heraldisch rechts Mitte): Salmannsdorf. Der Märtyrer Sebastian ist der Patron der Kapelle von Salmannsdorf. Rechts Mitte (heraldisch links Mitte): Neustift am Walde. Der Heiligen Rochus ist der Kirchenpatron der Neustifter Pfarrkirche. Links unten (heraldisch rechts unten): Sievering. Der Heilige Severin ist der Patron der Sieveringer Pfarrkirche. Unten Mitte: Kahlenbergerdorf. Der Heilige Georg als Drachentöter ist der Kirchenpatron der Kahlenbergdorfer Kirche. Rechts unten (heraldisch links unten): Grinzing. Der Mann mit der Weintraube symbolisiert den im Ort betriebenen Weinbau. Nicht auf dem Wappen vertreten ist Josefsdorf, das zum Zeitpunkt der Eingemeindung nach Wien nicht selbstständig, sondern Teil des Kahlenbergerdorfs war. Geschichte Etymologie Döbling wurde erstmals 1114 als de Teopilic urkundlich erwähnt. Der Name leitet sich vom slawischen *topl’ika („sumpfiges Gewässer“ bzw. „sumpfige Stelle“) ab. Der Name Döbling deutet dabei auf die Lage am Krottenbach hin, wobei sich eine weitere Deutungsmöglichkeit vom altslawischen toplica („warmer Bach“) herleitet. Spätere Schreibweisen des Ortsnamens waren beispielsweise Toblich, Töbling und Tepling. Bei der Bildung des Bezirkes 1890/92 wurde der Name Döbling schließlich von der größten Gemeinde Oberdöbling für den gesamten Bezirk übernommen. Döbling in der Antike Der Bezirk Döbling war bereits vor etwa 5000 Jahren besiedelt, wobei das Gebiet Döbling-Nussdorf-Heiligenstadt neben dem Gebiet Simmering-Landstraße wahrscheinlich das älteste Siedlungsgebiet im Wiener Raum darstellt. Bekannt ist, dass auf dem Leopoldsberg ein wehrhaftes Dorf mit einem Wehrturm bestand, bei dem sich die Bewohner der umliegenden Dörfer bei Gefahr sammelten. Über die damaligen Bewohner ist wenig bekannt, die Wissenschaft bezeichnet sie als Träger der „donauländischen Kultur“, sie waren jedoch keine Indogermanen. Diese drangen in den Wiener Raum erst tausend Jahre später ein, wobei sich die ansässige Bevölkerung mit den Kelten vermischte. Das Wirken der Römer auf dem heutigen Gebiet von Döbling ist durch mehrere Funde belegt. So befand sich in Heiligenstadt ein Wehrturm des Limes, in Sievering wurde ein Mithräum gefunden und Ausgrabungen in der Heiligenstädter Kirche belegen einen römischen Friedhof. In Sievering befand sich zur Römerzeit ein großer Steinbruch mit einer größeren Arbeitersiedlung. Eine weitere Erwerbsquelle der Bevölkerung war der Weinbau, der vermutlich bereits vor den Römern betrieben wurde. Ansonsten betrieben die Menschen Landwirtschaft für den Eigenbedarf. Döbling im Mittelalter Nach dem Abzug der Römer liegt die weitere Entwicklung der Dörfer des Gebietes im Dunkeln, erste Nennungen der Dörfer stammen aus dem 12. Jahrhundert. Allmählich bildeten sich die späteren Gemeinden Unterdöbling, Oberdöbling, Heiligenstadt, Nussdorf, Sievering, das Kahlenbergerdorf, Josefsdorf, Salmannsdorf und Neustift am Walde auf dem Bezirksgebiet heraus. Daneben bestanden auf dem Bezirksgebiet zeitweise noch weitere Siedlungen. So bestand im 13. Jahrhundert ein Ort Chlaitzing (Glanzing) am Südwesthang des Hackenberges, von dem 1330 nur noch Weingärten, jedoch keine Häuser mehr genannt wurden. Entlang der Hackhofergasse bestand wiederum ein kleines, einzeiliges Gassendorf namens Altes Urfar. Letztlich gab es sogar am Hermannskogel ab 1200 den Ort Kogelbrunn, der 1417 zum letzten Mal genannt wurde. Das Gebiet Döblings in der Neuzeit Mehrmals wurden die Dörfer Döblings während der Neuzeit verheert. Als die Belagerung Wiens 1482 durch das Heer von Matthias Corvinus begann, plünderten seine Soldaten auch die umliegenden Dörfer. Auch 1529 überrannten die türkischen Soldaten im Zuge der Ersten Wiener Türkenbelagerung die Dörfer Döblings, töteten zahlreiche Bewohner und verschleppten viele als Sklaven. Während die Kirchen geplündert wurden, blieben die Dörfer jedoch großteils bestehen. Wirtschaftliche Not brachte in der Folge auch der Dreißigjährige Krieg. Der Einbruch des Weinexports und die Steuererhöhungen führten zu einer starken Verarmung der Bevölkerung. Die große Pestepidemie im Jahr 1679 forderte in den Dörfern ebenso zahlreiche Opfer, wie die im Sommer 1683 begonnene Zweite Wiener Türkenbelagerung. Am 13. Juli stürmte die osmanische Vorhut, die Tataren, die Dörfer Döblings und plünderten sie. In der Schlacht am Kahlenberg entschied sich am 12. September letztlich die Befreiung Wiens, als das Entsatzheer unter der Führung von Jan Sobieski über die Wienerwaldhöhen in den Rücken der türkischen Belagerer vorstieß. 1713 kam erneut die Pest nach Wien, wobei die Orte Sievering und Grinzing besonders stark betroffen waren. Hatten die zahlreichen Zerstörungen und Pestopfer die Entwicklung des Bezirksgebietes lange Zeit gehemmt, so begann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein stetiger Aufstieg. Durch die Nutzung des Gebietes als kaiserliches Jagdgebiet wurde insbesondere Oberdöbling auch für den Adel und die Wiener Bürger attraktiv. Wer es sich leisten konnte, baute sich hier ein Zweitwohnhaus. Ähnlich wie in Hietzing, das von der Nähe zum Schloss Schönbrunn profitierte, wurde hier der Grundstein für eine Sonderentwicklung des Vorortes gelegt. Zwischen 1765 und 1786 entstanden in Oberdöbling so fünf neue Straßen und es wurden auf dem heutigen Bezirksgebiet vier Jagdschlösser errichtet. Die Aufhebung zahlreicher Orden durch Joseph II. wirkte sich zudem auf die Grundherrschaften in Döbling aus, sodass aus dem eingezogenen Vermögen der Kamaldulenser (Kahlenberg), des Nonnenkloster Tulln (Oberdöbling) und des Stifts Gaming (Untersievering) die Errichtung der Pfarren Nussdorf und Grinzing sowie die Anlegung des Döblinger Friedhofes finanziert werden konnten. Auch der Ort Josefsdorf verdankt seine Entstehung der Aufhebung des Kamaldulenserklosters am Kahlenberg. Durch die Pfarrreform Joseph II. erlangten weiterhin die nun von Heiligenstadt unabhängigen Pfarren Oberdöbling, Nussdorf und Neustift am Walde ihre Selbständigkeit. Döbling im 19. Jahrhundert Schwierige Zeiten für das Gebiet brachten die Napoleonischen Kriege. Nach dem Sieg in der Schlacht von Ulm 1805 drang die französische Armee nach Wien vor, und die Soldaten plünderten die Dörfer, nach dem gescheiterten Feldzug gegen Bayern drangen die Franzosen 1809 erneut nach Wien vor, und so wurden die Gemeinden erneut geplündert und mussten die französischen Soldaten verpflegen. Nach dem Wiener Kongress begann die ordentliche Vermessung des Döblinger Gebietes. Die Arbeiten dauerten von 1817 bis 1819 und endeten mit der Einführung der Katastralgemeinden und der Fixierung der Grenzen zwischen den Orten. Das Wachstum sorgte nun in den bäuerlichen Dörfern für einen ersten Aufschwung in Gewerbe und Industrie. Gleichzeitig entwickelten sich die Orte Döblings zu beliebten Ausflugszielen der Wiener. Vor allem die Heurigen und die Nussdorfer Brauerei lockten die Besucher hinter den Linienwall. Während der Revolution blieb Döbling am Rande der Geschehnisse. Am 20. Oktober 1848 wurde das Bezirksgebiet von kaiserlichen Truppen besetzt, die von Nussdorf aus eine Brücke schlugen und das gegenüberliegende Ufer beschossen. Mitte des 19. Jahrhunderts sorgte die nun aufkommende Beliebtheit der Sommerfrische für einen wahren Wachstumsboom der Döblinger Dörfer. Durch den nun zusätzlichen Bedarf an Wohnraum entstanden zahlreiche Wohnbauten, und die Bevölkerung der Dörfer verdreifachte sich beinahe innerhalb von nur vierzig Jahren. Dies bewirkte auch eine Modernisierung der Infrastruktur. So wurden Mitte des 19. Jahrhunderts in Döbling auch die ersten Gaslaternen installiert, und das 1856 errichtete Gaswerk Döbling versorgte das Gebiet mit Gas. Döbling wird Bezirk Zur Gründung des 19. Wiener Gemeindebezirkes Döbling kam es schließlich Ende des 19. Jahrhunderts. Waren im Jahr 1850 bereits die Vorstädte von Wien eingemeindet worden, so begann in den 1870er Jahren auch die Diskussion über die Eingemeindung der Vororte. Obwohl die Vororte gegen diesen Schritt waren, beschloss der niederösterreichische Landtag die Vereinigung Wiens mit seinen Vororten, nachdem Kaiser Franz Joseph I. diesen Wunsch 1888 in einer Aufsehen erregenden Rede in Währing bekundet hatte. Das entsprechende Gesetz vom 19. Dezember 1890 wurde bis zum 1. Jänner 1892 umgesetzt und vereinte Unterdöbling, Oberdöbling, Grinzing (bis zum Kamm des Wienerwalds, der Rest kam zu Weidling), Heiligenstadt, Nussdorf, Sievering, das Kahlenbergerdorf (mit Ausnahme des nördlichen Teils des Berges, der zu Klosterneuburg kam), Josefsdorf sowie einen Teil von Weidling (Fischerhaus, Jägerwiese, Schutzhaus Hermannskogel) zum 19. Wiener Gemeindebezirk, Döbling. Aufgrund der Größe von Oberdöbling, das fast genauso viel Bewohner wie der Rest des Bezirkes hatte, gab es über den Namen des neuen Bezirkes keine Diskussion. Die Orte des Bezirkes waren darüber hinaus bereits weitgehend zusammengewachsen. Döbling bis zum Zweiten Weltkrieg Bereits ab 1872 war mit der Verbauung des Gebietes zwischen Döbling und Währing begonnen worden. Es entstand ein vornehmes Villenviertel, die erste Wiener Cottage. Ein Bauzonenplan der Stadtverwaltung sollte darüber hinaus in fast ganz Döbling die Bauhöhe auf zwei Stockwerke beschränken. Aus Furcht vor dem Verlust der Industriebetriebe setzte sich der Plan jedoch nicht durch, das Gebiet zwischen Heiligenstädter Straße und Donaukanal wurde als Industriegebiet gewidmet. Bis 1895 wurde weiters die Kanalisierung der Döblinger Bäche abgeschlossen. Sie mündeten nun nicht mehr in den Donaukanal, sondern in den parallel zum Donaukanal geführten Hauptsammelkanal. Die Bäche verschwanden dabei nun größtenteils von der Oberfläche und wurden als Bachkanäle zur Verbesserung der Kanalisation verwendet. Nach der Fertigstellung der Zweiten Wiener Hochquellenwasserleitung im Jahr 1910 wurden die meisten Häuser zudem an die Wasserleitung angeschlossen, zuvor waren die Menschen nur über Brunnen und Trinkwasserwagen versorgt worden. Die Gasversorgung des Bezirksgebietes hatte bereits 1856 durch das Gaswerk der ICGA, einer englischen Firma, begonnen. 1911 übernahm die Stadt Wien die Versorgung, und man ließ das Werk in Oberdöbling abtragen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Schaffung von leistbarem und adäquaten Wohnraum enorm wichtig, weshalb die sozialdemokratische Stadtregierung auch in Döbling mit dem massiven Bau von billigen Gemeindewohnungen begann. 1923 wurde der erste Gemeindebau mit 60 Wohnungen in der Schegargasse errichtet, insgesamt investierte die Stadt bis 1930 in den Bau von 2801 Wohnungen. Das größte und bekannteste Projekt war der Karl-Marx-Hof. Daneben versuchten die Sozialdemokraten die Sozialfürsorge durch zahlreiche Einrichtungen zu verbessern. Die Februarkämpfe im Jahr 1934 fielen im Bezirk besonders schwer aus. Hauptkampfgebiet war der Karl-Marx-Hof. Zwei Tage lang wurde das Gebäude mit Artillerie beschossen, drei weitere Gemeindebauten wurden vom Bundesheer erstürmt. Nach der Niederschlagung des Aufstandes büßten die Sozialdemokraten folglich auch den zuvor sozialdemokratischen Bezirksvorsteher in Döbling ein. Um die Arbeitslosigkeit zu lindern, begann 1934 die Bundesregierung mit dem Bau der Wiener Höhenstraße. Über Etappen wurde die Straße vom Cobenzl auf den Kahlenberg und danach bis Klosterneuburg geführt. Durch die Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde in der Folge eine Neuordnung der Wiener Bezirksgrenzen durchgeführt. Dies betraf auch Döbling, da Neustift am Walde mit Glanzing und Salmannsdorf von Währing an Döbling kamen. Die Herrschaft der Nationalsozialisten brachte jedoch sonst vor allem Leid über die rund 4000 Döblinger Juden (7 % der Bezirksbevölkerung). Am 10. November 1938 wurde die Synagoge Döbling in der Dollinergasse 3 zerstört. Die 2030 im Mai 1939 in Döbling verbliebenen, registrierten Juden wurden nach und nach in die Konzentrationslager deportiert. Während des Krieges mussten rund 5000 Döblinger einrücken, nicht viel mehr als die Hälfte kehrten zurück. Hinzu kamen die Bombardierungen, die erstmals am 8. Juli 1944 das Bezirksgebiet trafen. 12 Prozent der 20.960 Wohnungen wurden zerstört oder unbewohnbar gemacht. Besonders schwer betroffen waren der Bereich des Bahnhofs Heiligenstadt und die Hohe Warte. Döbling nach dem Zweiten Weltkrieg Sowjetische Truppen drangen am 8. April 1945 aus Richtung Klosterneuburg kommend über die Heiligenstädterstraße in den Bezirk ein und besetzten ihn bis zum 9. April zur Gänze. Karl Mark wurde vom Armeekommandanten zum ersten Bezirksvorsteher der 2. Republik ernannt und begann mit dem Wiederaufbau. In dieser Zeit verlor der Bezirk weitgehend seinen Charakter als Nebeneinander von Wohngebieten und Arbeitsstätten. Immer mehr Betriebe verließen den Bezirk, während die Zahl der Wohnungen von 20.000 nach Kriegsende bis auf 39.608 Wohnungen (2001) stieg. Diese Entwicklung führte auch dazu, dass zwei Drittel der Bezirksbevölkerung zur Arbeit in andere Stadtteile oder ins Umland pendeln müssen. An der Bauleistung war wesentlich auch die Stadt Wien beteiligt, die bis 1985 rund 7.000 weitere Gemeindebauwohnungen errichtete. Größter Gemeindebau der Nachkriegszeit in Döbling ist der zwischen 1956 und 1959 errichtete Kopenhagen-Hof auf dem ehemaligen Gelände der Döblinger Brauerei, der 436 Wohnungen beherbergt. Einen besonderen Aufschwung erlebte auch die Krim, ein Teil Oberdöblings. Das einst verrufene Elendsviertel wurde zu einem hochwertigen Wohngebiet mit einer eigenen Pfarre ausgebaut. Ein weiteres wichtiges Bauwerk ist das 1963 fertiggestellte Pressehaus in der Muthgasse (Sitz der Kronen Zeitung). Das derzeit wichtigste Bauprojekt ist die Verbauung von Gründen rund um das Stadion der Hohen Warte. In den 1990er Jahren wurden die Bezirksgrenzen zweimal geändert: 1995 zu den Gemeindebezirken Hernals und Währing, wobei im Wesentlichen Währing ein kleines Wohngebiet an Hernals verlor und die Währinger Bezirksgrenze zu Döbling zu Gunsten der Hernalser Bezirksgrenze zu Döbling verkürzt wurde, und 1996 zum Gemeindebezirk Brigittenau. Letztere Grenzänderung bedeutete einen Gebietsgewinn für Döbling, das seitdem direkt an den Donaukanal grenzt. Bevölkerung BevölkerungsentwicklungQuelle: Statistik.at Bevölkerungsentwicklung Im Jahre 1832 lebten im Bezirksgebiet 6438 Menschen. Durch das Wachstum der Vororte im 19. Jahrhundert verdoppelte sich die Zahl der Bevölkerung innerhalb von 20 Jahren und verdreifachte sich bis 1890. Die Zahl der Bewohner stieg bis zum Ersten Weltkrieg weiter stark an und steigerte sich durch den kommunalen Wohnbau weiter. Der Wohnbau sorgte bis in die 1980er Jahre für Zuwachs im Bezirk. Danach begann die Bezirksbevölkerung aufgrund der gesteigerten Wohnbedürfnisse bis 2001 leicht zu sinken, um seither im wienweiten Trend wieder leicht anzuwachsen, auf zuletzt 69.924 Einwohner Anfang des Jahres 2015. Bevölkerungsstruktur Döblings Bevölkerung ist wesentlich älter als der Wiener Durchschnitt. So ist der Anteil der Menschen, die 60 Jahre und älter sind, mit 29,9 % sehr hoch, im gesamten Stadtgebiet beträgt dieser Anteil nur 22,2 %. Ein Grund für die starke Überalterung Döblings ist auch der hohe Anteil von Pensionistenheimen in Döbling. Auch der Anteil der weiblichen Bevölkerung ist mit 55,1 % überdurchschnittlich, sind es in Wien insgesamt nur 52,4 %. Herkunft und Sprache Der Anteil der Döblinger mit ausländischer Staatsbürgerschaft lag 2003 mit 13,1 % rund 4 Prozentpunkte unter dem Durchschnitt Wiens. Dabei hatten 2 % der Döblinger eine Staatsbürgerschaft von Serbien oder Montenegro, 1,6 % sind deutsche Staatsbürger. Dahinter folgen Türken (1,2 %) sowie Polen, Bosniaken, Kroaten und Ungarn, deren Anteil an der Bevölkerung jedoch nur noch zwischen 0,5 und 0,3 % liegt. Insgesamt waren 2001 etwa 20 % der Döblinger in einem anderen Land geboren, daher gaben auch nur 82,8 % der Döblinger Deutsch als Umgangssprache an. Weitere 2,8 % sprachen hauptsächlich Serbisch, 1,6 % Türkisch, 1,2 % Kroatisch und 1,1 % Ungarisch. Religionsbekenntnis Mit 55,7 % ist der Anteil der Menschen mit römisch-katholischem Bekenntnis um rund 6 Prozentpunkte über dem Durchschnitt Wiens. Es gibt im Gemeindebezirk elf römisch-katholische Pfarren, die das Stadtdekanat 19 bilden. Auch die Anhänger der evangelischen Kirche liegt mit 6,5 % über dem Durchschnitt. Dahinter folgen 4,0 % mit islamischem und 3,2 % mit orthodoxem Bekenntnis. 23,8 % der Döblinger sind ohne Bekenntnis. Politik Die ersten Wahlen nach der Einführung des allgemeinen Wahlrechts brachten einen Sieg für die Sozialdemokraten. Sie erreichten knapp die absolute Stimmenmehrheit, dahinter belegten die Christlichsozialen mit rund 28 % den zweiten Platz. Die Dominanz der SPÖ blieb bis 1978 bestehen. In diesem Jahr überholte jedoch die ÖVP die SPÖ, die seitdem mit Adolf Tiller den Bezirksvorsteher in Döbling stellte. 1996 betrug der Vorsprung der ÖVP (37 %) auf die SPÖ (28 %) schon beinahe 10 %. Die SPÖ verlor rund 8 % ihrer Stimmen, wovon insbesondere FPÖ und das LIF profitierten. Die FPÖ kam auf rund 18 %, Grüne und das LIF bei seinem ersten Antreten kamen auf etwa 7 %. Die darauffolgende Bezirksvertretungswahl 2001 brachte schließlich einen Sieg von SPÖ und Grünen. Während die ÖVP mit 36,54 % leicht verlor, legte die SPÖ um rund 4,5 % auf 32,61 % zu. Die FPÖ rutschte hingegen auf 14,54 % ab, während die Grünen mit 12,63 % schon knapp aufschließen konnten. Das LIF verlor wiederum mehr als die Hälfte seiner Stimmen und erreichte mit 3,15 % nur noch ein Mandat. Bei den Bezirksvertretungswahlen 2010 legte die FPÖ mit Zugewinnen von 6,3 % stark zu und landete auf 14,7 % vor den Grünen auf Rang 3, die mit Verlusten von 0,3 % nur noch 13,6 % erreichten. Die ÖVP verlor stark mit 4,3 % und kam nur mehr auf 36,4 % die SPÖ verlor ebenfalls stark mit 2,5 % und kam nur mehr auf 31,8 %. Das BZÖ konnte sich quasi verdoppeln durch Zugewinne um 0,6 % auf nun 1,3 %, während die KPÖ mit 0,8 % de facto stagnierte. Die folgenden Wahlen 2015 brachten erneut Verluste für ÖVP, die 32,53 % erreichte und 16 Sitze in der Bezirksvertretung erhielt, SPÖ (27,85 %, 14 Sitze) und Grüne (11,69 %, 5 Sitze), während die FPÖ erneut drittstärkste Fraktion mit 18,09 % der Stimmen und 9 Sitzen wurde. Die NEOS, die erstmals antraten, erzielten auf Anhieb 7,93 % und entsandten 4 Vertreter in die Bezirksvertretung. Andere Gruppen blieben unter jeweils 1 % Stimmenanteil und erhielten keine Sitze in der Bezirksvertretung. In den Wahlen 2020 gewann die ÖVP dazu und kam auf 36,9 % der Stimmen, was 19 Sitze in der Bezirksvertretung bedeutete. Die SPÖ verlor leicht und erreichte 26,9 % und 14 Sitze, die Grünen gewannen deutlich und wurden mit 16,0 % und 8 Sitzen drittstärkste Fraktion. Auch die NEOS gewannen Stimmenteile, erzielten 9,8 % und 5 Sitze und überholten damit noch die FPÖ, die deutlich auf nur 5,1 % Stimmenanteil und 2 Sitze verlor. Verschiedene Kleinparteien (Liste HC, LINKS, Bierpartei, SÖZ) erzielten weniger als jeweils 2 % und sind in der Bezirksvertretung nicht vertreten. Kultur und Sehenswürdigkeiten Sehenswürdigkeiten Wienerwald Wichtigste Touristenattraktion Döblings ist der Kahlenberg am Rande des Wienerwaldes. Das ehemalige Hotel mit seiner bekannten Panoramaterrasse ist jedoch mittlerweile einem Neubau gewichen. Viele, vor allem polnische, Touristen besuchen am Kahlenberg auch die St. Josefskirche oder die Stefaniewarte. Weitere sehenswerte Berge in Döbling sind der benachbarte Leopoldsberg mit der St. Leopoldskirche und der höchste Berg Wiens, der Hermannskogel mit der Habsburgwarte. Unter den Döblingern und Wienern hat jedoch auch der Cobenzl und der Bereich Am Himmel mit dem sogenannten „keltischen“ Baumkreis und der Sisi-Kapelle einige Bedeutung. Zugänglich ist der Bereich des Döblinger Wienerwaldes durch die bekannte Wiener Höhenstraße. Ortskerne und Kirchen Die zehn Orte, aus denen Döbling gebildet wurde, tragen sehr viel zum Charakter des Bezirkes bei. Insbesondere die Orte in den Außenbereichen haben große Teile ihres Bestandes bewahren können. Bestes Beispiel sind hier sicherlich Grinzing, Salmannsdorf und das Kahlenbergerdorf, aber auch von den anderen Ortskernen ist viel Bausubstanz erhalten. Durch die getrennten Ortschaften entstanden in Döbling auch zahlreiche Ortskirchen. Älteste Kirche ist dabei die St.-Jakob-Kirche in Heiligenstadt. Sie wurde auf den Ruinen einer römischen Kirche erbaut und steht am, als Ensemble erhaltenen, Heiligenstädter Pfarrplatz. Hier finden sich, wie überall in Döbling, auch zahlreiche erhaltene Heurigenhäuser. Insbesondere Grinzing ist ob der zahlreichen Heurigen unter Touristen beliebt, Einheimische kehren eher in Sievering, Nussdorf, Heiligenstadt, Neustift am Walde oder dem Kahlenbergerdorf ein. Weitere Sehenswürdigkeiten Durch die enge Verbindungen zwischen Künstlern und Döbling haben sich auch in diesem Zusammenhang zahlreiche Sehenswürdigkeiten erhalten. Beethoven komponierte im sogenannten Eroicahaus in der Döblinger Hauptstraße die gleichnamige 3. Symphonie, in der Probusgasse verfasste er das Heiligenstädter Testament und unter anderem Teile der 2. Symphonie. Im Strauß-Lanner Park finden sich wiederum die Grabsteine der berühmten Wiener Walzermusiker Johann Strauss und Joseph Lanner. Des Weiteren findet man in Unterdöbling eines der ungewöhnlichsten Betriebsgebäude Wiens. Die sogenannte Zacherlfabrik, eine ehemalige Insektenpulverfabrik wurde im Stil einer Moschee errichtet. Auch aus dem 20. Jahrhundert haben sich bedeutende Sehenswürdigkeiten im Bezirk erhalten. So ist das Stadion des First Vienna FC 1894 auf der Hohen Warte die größte Naturarena Europas. Weiters befindet sich in Heiligenstadt einer der bekanntesten Gemeindebauten Wiens, der Karl-Marx-Hof. Auf dem Hackenberg findet sich der wahrscheinlich schönste Trinkwasserbehälter der Wiener Wasserversorgung: der Wasserbehälter Hackenberg, unscheinbar dagegen ist der Wasserbehälter Krapfenwaldl. Museen Das Bezirksmuseum Döbling in der Villa Wertheimstein widmet sich insbesondere der Bezirksgeschichte und verfügt auch über ein eigenes Weinbaumuseum. Auch Ludwig van Beethoven, der viel Zeit in Oberdöbling und Heiligenstadt verbrachte, sind zwei Museen gewidmet, das sogenannte Eroicahaus und ein Haus in der Probusgasse. In Oberdöbling befindet sich das von Maria Hornung gegründete Österreichische Sprachinselmuseum, das nur gegen Voranmeldung besichtigt werden kann. Über weitere sehenswerte Exponate verfügt darüber hinaus das Institut für Ur- und Frühgeschichte, das Kahlenbergermuseum (Zweite Wiener Türkenbelagerung) und das Lehár-Schikaneder-Schlössl. Weiters können in der St.-Jakob-Kirche Heiligenstadt Ausgrabungen aus römischer und frühchristlicher Zeit besichtigt werden. Seit 2010 läuft im Karl-Marx-Hof die Dauerausstellung "Das rote Wien im Waschsalon", wo über die Geschichte Wiens in den 1920er und 30er Jahren informiert wird. Parkanlagen Siehe auch: Liste der Wiener Parks und Gartenanlagen/Döbling Der Bezirk Döbling verfügt heute über einige Parkanlagen. Größter Park ist mit 9 Hektar der Heiligenstädter Park. Dahinter folgt mit gut 6 Hektar der Wertheimsteinpark, der im Tal des heute eingewölbten Krottenbachs und an dessen südlichen Hang liegt und früher auch über einen eigenen Blindengarten verfügte. Ähnlich groß ist der auf dem nördlichen Abhang der Krottenbachstraße angelegte Hugo-Wolf-Park, der einen guten Blick über das Krottenbachtal ermöglicht. Ein extensiv gepflegter Verbindungspark („Fellingerpark am Hirschenbergerl“) verknüpft zudem die Krottenbachstraße mit der Billrothstraße. Ein japanischer Architekt legte an der Hohen Warte den Setagaya-Park im Stil eines japanischen Gartens an, wobei der Park die Freundschaft zwischen Döbling und dem Stadtteil Setagaya in Tokio symbolisieren soll. Ähnlich wie in Währing wurde auch der ursprüngliche Ortsfriedhof von Döbling in eine Parkanlage umgewandelt. Der Strauss-Lanner-Park verfügt heute über die ursprünglichen Grabsteine der beiden Komponisten. Weitere kleinere Parks sind der Raimund-Zoder-Park nähe Krottenbachstraße, der Richard-Eybner-Park Ecke Silbergasse/Billrothstraße und der Saarpark in Unterdöbling. Sport Wichtigster und bekanntester Sportklub ist der Fußballklub First Vienna FC 1894, der älteste Fußballverein Österreichs. Am Sportplatz auf der Hohen Warte wurden in den 1920er Jahren auch Opern aufgeführt und Boxkämpfe veranstaltet, Länderspiele wie gegen Italien 1923 wurden in der größten Naturarena Europas von bis zu 80.000 Menschen verfolgt. Das Stadion ist heute auch die Heimarena des österreichischen Spitzenklubs im American Football, den Raiffeisen Vikings Vienna. Döbling verfügt über drei Bäder. Größtes ist das ganzjährig betriebene Döblinger Bad auf der Hohen Warte, hier gibt es sowohl ein Freibad als auch ein Hallenbad. Hinzu kommen das im Wienerwald gelegene Freibad Krapfenwaldlbad von dessen Sportbecken aus man das einzigartige Panorama der Stadt bewundern kann und das Familienbad (früher: Kinderfreibad) im Hugo-Wolf-Park. Seit 1914 spielt der Nußdorfer AC auf dem Sportplatz in der Grinzingerstraße. Im Kuchelauer Hafen ist der Ruderverein Austria angesiedelt, die Sportunion Döbling bietet zahlreiche Sportsparten wie Turnen, Ballsport, Badminton und Kampfsportarten. Am Cobenzl befand sich eine der Wiener Skisprungschanzen. Wirtschaft und Infrastruktur Wirtschaftsgeschichte Die Wirtschaft des Bezirks Döbling war über Jahrhunderte vom Weinbau geprägt. Die Relevanz des Weinbaus spiegelt sich auch darin wider, dass aus dem Mittelalter die „Winzerzechen“ als einzige gesellschaftliche Organisation bekannt ist. Diese verhandelten über die Löhne der Arbeiter sowie die Weinpreise und kümmerten sich um die Mitglieder und Kirchen. Bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts basierte die Lebensgrundlage der Bewohner des Bezirkes auf dem Anbau und Verkauf von Wein. Zudem wurden Milch, Eier, Fleisch, Obst und Gemüse nach Wien geliefert. An den Bächen bestanden kleinere Mühlen, auf den Anhöhen auch Windmühlen. Bedeutung hatte ebenfalls der Sieveringer Steinbruch, der dem Magistrat Wien unterstand. Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts siedelten sich auch die ersten, größeren Gewerbe- und Industriebetriebe im Bezirksgebiet an, insbesondere in Nussdorf, Heiligenstadt und Oberdöbling. Ab 1800 entstanden eine ganze Reihe von Betrieben der Textil-, Leder- und Chemieindustrie. Auch Brauereien wurden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Grinzing, Nussdorf und Oberdöbling gegründet, wobei insbesondere jene in Nussdorf einen bedeutenden Aufschwung erlebte. Bis zum Ersten Weltkrieg blieb die Milchwirtschaft mit ihren Meiereien von Bedeutung, danach verschwand dieser Wirtschaftszweig rasant. Dafür stieg die Bedeutung der Heurigenbetriebe. Diese konnten sich im Gegensatz zu den Betrieben der umliegenden Bezirke halten, auch weil sich das steile Gelände in Döbling weniger zur Verbauung eignete. Zu den wichtigsten Produktionsbetrieben gehörte ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts die Automobilfabrik Gräf & Stift in Sievering. In Unterdöbling wiederum erlangte die Insektenpulverfabrik Zacherl große Bedeutung. Ein weiterer wichtiger Betrieb war die Maschinenfabrik Heinrich in Heiligenstadt. Nach dem Zweiten Weltkrieg änderten sich die Charakteristika des Bezirkes. Immer mehr produzierende Betriebe (u. a. Inführ Sekt nach Klosterneuburg) verließen den Bezirk. Unternehmen Zu den bekanntesten noch bestehenden Betrieben gehören die Sektkellereien Kattus und Schlumberger. Q19 Einkaufsquartier Döbling Verkehr Der öffentliche Verkehr in Döbling wurde 1811 durch eine Stellwagenlinie zwischen der Freyung und dem Heiligenstädter Bad begründet. Weitere Linien folgten nach Oberdöbling, Grinzing und Sievering. Die Stellwagen waren pferdebespannte Wagen mit etwa einem Dutzend Sitzen. 1869 wurde Oberdöbling durch die fünfte Linie der Wiener Pferdetramway an Wien angeschlossen, weitere Linien folgten. Zwischen 1885 und 1903 verkehrte vom Döblinger Gürtel nach Nussdorf auch eine Dampftramway. 1874 wurde die Zahnradbahn auf den Kahlenberg eröffnet, 1898 folgte die Eröffnung der Wiener Stadtbahn mit den Stationen Ober-Döbling, Unterdöbling und Heiligenstadt. Die Pflasterung der Straßen im Bezirk setzte großflächig im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein und wurde nach der Bezirksgründung fortgesetzt. Viele Bäume und Alleen wurden dem Straßenbau geopfert. Nach dem Zweiten Weltkrieg existierte entlang des Donaukanals ein Flugfeld der US Army, das 1955 aufgelassen wurde. Die wichtigsten Verbindungen der Wiener Linien im Bezirk sind heute die Straßenbahnlinien 37 (Hohe Warte), 38 (Grinzing) und D (Nussdorf) sowie die Autobuslinien 35A (Salmannsdorf), 38A (Kahlenberg), 39A (Sievering) und 40A (Döblinger Friedhof). Zudem hat Döbling seit 1976 Anteil an der U-Bahn-Linie U4 (Heiligenstadt), wobei der Bahnhof Heiligenstadt zu einem wichtigen Bahn- und Busknoten in Richtung Klosterneuburg wurde. Über Heiligenstadt und die Stationen Oberdöbling und Krottenbachstraße hat Döbling auch Anschluss an die S-Bahn-Linie S45. Die bekannteste Straße in Döbling ist die Höhenstraße auf den Kahlenberg. Weitere wichtige Verbindungs- und Durchzugsstraßen sind die Krottenbachstraße, Billrothstraße, Döblinger Hauptstraße, Heiligenstädter Straße, Grinzinger Straße und Sieveringer Straße. Öffentliche Einrichtungen Es gibt zwei städtische Büchereien, in der Billrothstraße und im Volksheim in der Heiligenstädter Straße. Den Bewohnern von Döbling stehen zwei Märkte zur Verfügung: der Nussdorfer Markt und der Sonnbergmarkt. Bildung Grund- und Sekundarstufe Im Jahre 1890 gab es erst eine Mittelschule im Bezirk, das Communal-Gymnasium in der Gymnasiumstraße. 1914 kam die Staats-Realschule in der Krottenbachstraße hinzu, später wurden zwei weitere Gymnasien in der Billrothstraße errichtet. Der Bezirk verfügt über zahlreiche öffentliche und private Volks- und Hauptschulen und die Bildungsanstalt für Kindergartenpädagogik „Maria Regina“. Das pädagogische Programm Vienna Bilingual Schooling wird in drei Institutionen angeboten: in der Volksschule Grinzinger Straße, in der Hauptschule In der Krim und in der Oberstufe des Realgymnasiums Krottenbachstraße. Die Musikschule der Stadt Wien hat eine Betriebsstätte in der Döblinger Hauptstraße. Vor allem für internationale Schüler besonders aus dem englischen Sprachraum bietet die private American International School Vienna in Salmannsdorf Bildungsmöglichkeiten vom Kindergarten bis zur High school in englischer Sprache an. Hochschulen Universitäre Einrichtungen siedelten sich Ende des 19. Jahrhunderts im Bezirk an. 1896 wurde die spätere Universität für Bodenkultur Wien am Linnéplatz eröffnet. 1916 wurde in der Franz-Klein-Gasse die 1898 gegründete k.k. Exportakademie angesiedelt, die 1919 zur Hochschule für Welthandel erhoben, 1975 in Wirtschaftsuniversität Wien umbenannt und 1982 in den 9. Bezirk verlegt wurde. Nach der Absiedlung der Universität blieben einige Einrichtungen der Wirtschaftsuniversität im Gebäude erhalten. Hauptsächlich genutzt wird es von der Universität Wien; hier befinden sich u. a. das Institut für Ur- und Frühgeschichte und das Institut für Klassische Archäologie. Im Gebäudeteil an der Gymnasiumstraße befindet sich das Zentrum für Translationswissenschaften der Universität Wien. 2007 wurde auf dem Kahlenberg die Modul University Vienna, eine Privatuniversität der Wirtschaftskammer Wien mit englischer Unterrichtssprache, eröffnet. Die Lauder Business School ist eine private Fachhochschule, die wirtschaftswissenschaftliche Lehrgänge in englischer Sprache anbietet. Volksbildung Die Wiener Volkshochschulen betreiben Veranstaltungszentren in Oberdöbling (Gatterburggasse) und Heiligenstadt (Heiligenstädter Straße). An den gleichen Standorten oder in unmittelbarer Nähe befinden sich auch Zweigstellen der Städtischen Büchereien. Gesundheitswesen An Privatkrankenhäusern gibt es in Döbling: Rudolfinerhaus in der Billrothstraße; Privatklinik Döbling in der Heiligenstädter Straße. Persönlichkeiten Zahlreiche Persönlichkeiten, insbesondere Künstler, lebten und arbeiteten in Döbling. So wohnte auf der Hohen Warte (Wollergasse) bis 1938 der Dichter Franz Werfel mit seiner Frau Alma Mahler-Werfel. Ihr Nachbar war der Maler und Mahler-Werfels Stiefvater Carl Moll, dessen Bilder heute im Döblinger Bezirksmuseum hängen. Auch Koloman Moser, der Mitbegründer der Wiener Secession, lebte in unmittelbarer Nachbarschaft. Paula von Preradović, die Dichterin und Autorin der Bundeshymne Land der Berge, Land am Strome, wohnte in der Döblinger Osterleitengasse. Nach dem Komponisten Hugo Wolf wurde ein Park an der Krottenbachstraße benannt. Zahlreiche Schauspielerinnen und Schauspieler lebten in Döbling, so etwa die Burgschauspielerin Rosa Albach-Retty, Großmutter der bekannten Filmschauspielerin Romy Schneider. Burgschauspieler Werner Krauß wohnte bis zu seinem Tod in der Iglaseegasse. Das Ehepaar Paula Wessely und Attila Hörbiger war in Grinzing daheim. Auch Oscarpreisträger Christoph Waltz verbrachte seine Kindheit im Elternhaus an der Grinzinger Straße; er besuchte hier unter anderem das Billrothgymnasium, wo er auch maturierte. In dem seit 1996 in Helmut-Qualtinger-Hof umbenannten Gemeindebau zwischen Grinzinger Allee und Sieveringer Straße wohnten zahlreiche namhafte Künstler und Politiker: der Schriftsteller Reinhard Federmann, die Kinderbuchautorin und Schriftstellerin Friedl Hofbauer, die Schauspielerin Louise Martini, der Schauspieler Ernst Meister, der Schauspieler und ORF-Generalintendant Thaddäus (Teddy) Podgorski, der Schauspieler, Schriftsteller und Kabarettist Helmut Qualtinger, der Wienerlied-Komponist Sepp Fellner und der Jazzmusiker, Kapellmeister und Komponist Horst Winter. Den höchsten Bekanntheitsgrad erreichten jedoch die Musiker, die in Döbling lebten und wirkten. So spielten Johann Strauss (Vater) und Johann Strauss (Sohn) sowie Joseph Lanner im Casino Zögernitz auf, Lanners Wohn- und Sterbehaus befand sich in der Gymnasiumstraße. An der Stelle seines Hauses steht heute ein Gymnasium, in dem die Nobelpreisträger Richard Kuhn und Wolfgang Pauli ausgebildet wurden. Heinz Kohut und Karl Menger maturierten hier. Das Multitalent Peter Alexander lebte bis zu seinem Tod in Döbling. Am Standort des Studentenheimes Haus Döbling befand sich einst die Villa eines berühmten Wieners, des Großindustriellen und Besitzers der Ottakringer Brauerei, Kuffner. Zu den politischen Persönlichkeiten des Bezirkes gehörten Josef Hindels (Freiheitskämpfer und Gewerkschafter), Elisabeth Hlavac (Nationalratsabgeordnete), Erika Seda (Nationalratsabgeordnete und Bundesrätin), Johann Koplenig (Vizekanzler 1945 und Vorsitzender der KPÖ), Bruno Kreisky (Bundeskanzler), Karl Maisel (Gewerkschafter und Sozialminister), Heinrich Neisser (Minister und 2. Nationalratspräsident), Rudolf Sarközi (Vertreter der österreichischen Roma), Josef Taus (Nationalratsabgeordneter und Staatssekretär) sowie Franz Vranitzky (Bundeskanzler) und Ernst Wimmer (Marxistischer Theoretiker und Chefideologe der KPÖ). Hier geboren Ambros Rieder (1771–1855), Komponist und Organist Karl Alois Wucherer von Huldenfeld (1845–1914), Hofbeamter und Großkomtur des Deutschen Ritterordens Hans Klohß (1869–1954), österreichisch-deutscher Landschaftsmaler Fritz Novotny (1940–2019), Jazzmusiker und Komponist Gerhard Jandl (* 1962), Diplomat Städtepartnerschaften Setagaya, Tokio, seit 1985 Siehe auch Liste der Straßennamen von Wien/Döbling Filme Mein Döbling; Dokumentation von Chico Klein, Österreich 2015 Literatur Werner Filek-Wittinghausen: Gut gewerkt in Döbling: Beiträge und Dokumente zur Wirtschaftsgeschichte. Bastei, Wien 1984, ISBN 3-85023-006-6. Christine Klusacek, Kurt Stimmer: Döbling. Vom Gürtel zu den Weinbergen. Compress-Verlag, Wien 1988, ISBN 3-900607-06-0. Karl Kothbauer: Döbling – und seine Ried- und Flurnamen. Dissertation, Wien 2001. Helmut Kretschmer: Wiener Bezirkskulturführer: XIX. Döbling. Jugend und Volk, Wien 1982, ISBN 3-7141-6235-6. Carola Leitner: Döbling: Wiens 19. Bezirk in alten Fotografien. Ueberreuter, Wien 2006, ISBN 3-8000-7177-0. Godehard Schwarz: Döbling. Zehn historische Spaziergänge durch Wiens 19. Bezirk. Wien 2004, ISBN 3-900799-56-3. Franz Mazanec: Wien-Döbling. Frühere Verhältnisse. Sutton, Erfurt 2005, ISBN 3-89702-823-9. Weblinks Offizielle Seite des Bezirks Döbling Bezirksmuseum Döbling Einzelnachweise Wiener Gemeindebezirk Wiener Gemeindebezirk im Wienerwald
85643
https://de.wikipedia.org/wiki/Sendling
Sendling
Sendling ist der Stadtbezirk 6 der bayerischen Landeshauptstadt München. Sendling liegt südlich des Stadtbezirks Ludwigsvorstadt-Isarvorstadt, grenzt im Westen an die Bahnstrecke nach Holzkirchen und Wolfratshausen (S7, S20) und umschließt die Isar inklusive Flaucher im Osten. Historische Ortsteile Sendlings sind Untersendling und Mittersendling. Obersendling wurde bei der Gemeindebildung 1818 Thalkirchen zugeordnet und bildet heute einen Teil des Stadtbezirks Thalkirchen-Obersendling-Forstenried-Fürstenried-Solln. Der Stadtbezirk Sendling-Westpark umfasst zudem Teile des historischen Gebiets Mittersendlings. Lage Sendling liegt süd- bis südwestlich der Münchner Innenstadt. Der Bezirk Sendling grenzt im Norden an den Stadtbezirk Schwanthalerhöhe, nordöstlich an den Stadtbezirk Ludwigsvorstadt-Isarvorstadt, im Osten wird Sendling von der Isar begrenzt, jenseits des Flusses liegt der Stadtbezirk Untergiesing-Harlaching. Im Süden schließt sich der Stadtbezirk Thalkirchen-Obersendling-Forstenried-Fürstenried-Solln mit Obersendling und im Westen der Stadtbezirk Sendling-Westpark an. Geographisch gliedert sich das Gebiet in einen schmalen Streifen des Sendlinger Oberfelds im Westen oberhalb einer vom früheren Isarverlauf geprägten Hangkante, in dessen nördlichem Bereich der historische Ortskern des ehemaligen Dorfes Untersendling liegt, während das Südende dieses höher gelegenen Streifens den historischen Kern der Siedlung Mittersendling umfasst, sowie einen größeren Bereich unterhalb dieser Hangkante bis zur Isar im Osten, das so genannte Sendlinger Feld oder Unterfeld, das bis zur Regulierung der Isar und dem Bau des Isar-Werkkanals im 19. Jahrhundert häufig Überschwemmungsgebiet war und daher erst spät besiedelt wurde. Geschichte Vorgeschichte Die ältesten menschlichen Knochenfunde auf Sendlinger Gebiet sind etwa 4000 Jahre alt und stammen aus der frühen Bronzezeit. Die ersten Bewohner gehörten der Glockenbecherkultur an, sie siedelten auf dem Oberfeld nahe der Hangkante, betrieben Ackerbau und begruben ihre Toten in Hockergräbern. Im heutigen Untersendling wurden außerdem Siedlungsreste aus der Urnenfelderkultur der späten Bronzezeit gefunden. In anderen Gegenden Südbayerns gab es bereits seit der Jungsteinzeit sesshafte Bauern, aber die Bodenbeschaffenheit auf der Münchner Schotterebene war für den Ackerbau wenig geeignet. Ab dem 16. Jahrhundert v. Chr. folgte die Zeit der Hügelgräberkultur, die um das 12. Jahrhundert v. Chr. von der Urnenfelderkultur abgelöst wurde. Das Klima war zu jener Zeit relativ warm. Auch in der Eisenzeit war das Gebiet besiedelt. Keltische Bauern hinterließen Töpferwaren und schmiedeeiserne Produkte, die sie entweder selbst erzeugten oder in der Nähe erwarben. Ein paar Stunden Fußmarsch entfernt lagen keltische Ringwallanlagen. Spätantike Auf Sendlinger Terrain sind keine römischen Siedlungen, Höfe oder sonstigen Anlagen nachgewiesen, wohl aber in der näheren Umgebung, etwa die spätrömische Befestigung bei Grünwald oder die römische Siedlung in Gauting (Bratananium). Zwei Fußstunden südlich verlief eine römische Hauptstraße von Salzburg (Iuvavum) nach Augsburg (Augusta Vindelicorum), heute Via Julia genannt. Ein gutes Stück nördlich gab es eine zweite Römerstraße. Mittelalter Frühmittelalter Vermutlich im 6. Jahrhundert n. Chr. gründete oder übernahm ein germanischer Sippenchef namens „Sendilo“ (nicht schriftlich überliefert, Rekonstruktion aus der latinisierten Ortsbezeichnung „Sentilinga“) die Siedlung, die fortan nach ihm benannt wurde. Die Endung -ing(a) deutet auf eine relativ frühe Gründungszeit hin. Aus dem 7. Jahrhundert datieren einige Reihengräber im Sendlinger Oberfeld und Unterfeld als Zeugnisse einer bajuwarischen Besiedlung, einige davon scheinen sogar noch aus der Zeit vor 600 zu stammen. Erste schriftliche Hinweise unter der Bezeichnung Sentilinga finden sich im Zusammenhang mit Land- und Hofübertragungen u. a. an das Kloster Schäftlarn, wobei zwei Dokumente auf das Jahr 782 datiert werden. Hochmittelalter Bis etwa 950 wurde die Gegend wiederholt von Raubzügen der Ungarn heimgesucht. Ob Sendling direkt betroffen war, ist nicht bekannt. Ab etwa 980 sind mehrere Land-Übereignungen unter den adeligen Grundherrn schriftlich überliefert, die die Sendlinger Bauerngüter und ihre dort arbeitenden Leibeigenen ausbeuteten. Der Bischof von Freising und das Kloster Schäftlarn vermehrten ihren Besitz am Ort bis ins 11. Jahrhundert. Aus der Zeit um 1050 (genaue Datierung ungesichert) stammt die erste zuverlässige Erwähnung Sendlings als Dorf (villa). Die früheren Erwähnungen als in loco könnten auch einen Gutsbetrieb gemeint haben. 1158 gründete Heinrich der Löwe München. Das Dorfleben veränderte sich vermutlich durch die Stadtgründung und ihre schnelle Entwicklung. Die Stadt bot einen größeren Markt, die Peterskirche wurde zuständige Pfarrkirche für Sendling. Um dieselbe Zeit wurde der nobilis vir (Edelmann, Adeliger) namens Norpert Sentlinger erwähnt, möglicherweise gab es also im 12. Jahrhundert einen Herrenhof in Sendling, nach dem sich die Familie benannte. Die Familie war siegel- und turnierfähig, ihr Wappen zeigte auf Schwarz ein rotbewehrtes goldenes Einhorn. 1239 ist erstmals ein Sentlinger in der Verwaltung Münchens nachweisbar, Mitglieder der Familie saßen lange im Inneren Rat der Stadt, dem höchsten Bürgergremium. Sendling gehörte vermutlich zur Grafschaft der Andechser, bis diese 1248 von den Wittelsbachern beerbt wurden. 1258 und 1284 vermachte Sighart der Sendlinger Höfe in Obersendling und Sendling den Münchner Klarissen und der Frauenkirche. 1268 erwarb er einen Hof in Obersendling. Die Sentlinger kamen als Krötelherren (Salzgroßhändler) und Wechsler (Bankiers) in München zu Reichtum. Von 1314 bis 1322 war Konrad Sendlinger Bischof von Freising. Um 1320 wurde die zweite Stadtmauer Münchens errichtet und erhielt ein Südtor, das Sendlinger Tor genannt wurde. Von dort führte ein Weg, die heutige Lindwurmstraße, nach Sendling. Nicht nur die Kirche, auch Münchner Bürger erwarben Besitz in Sendling. 1397 gab es einen Bürgeraufstand in München. Heinrich der Sentlinger gewährte dem geflohenen Bürgermeister Kazmair Aufnahme, die Familie der Sentlinger stand auf der Seite der Münchner Herzöge Ernst und Wilhelm gegen die rebellierenden Bürger der Stadt München. Aus dem Jahr 1449 stammt eine Liste, die den damaligen Sendlinger Grundbesitz wiedergibt. Gegen 1500 starb das Geschlecht der Sentlinger aus. Neuzeit 17. Jahrhundert Der Dreißigjährige Krieg war für Landbewohner eine schwierige Zeit. Auch Sendling wurde mehrmals von eigenen wie fremden Truppen geplündert, von Not, Armut und Krankheiten wie der Pest heimgesucht. Die Einwohnerzahl dürfte in dieser Zeit abgenommen haben, wer konnte flüchtete in den Schutz der Stadtmauern. 1632 waren schwedische Truppen in der Münchner Gegend. Die Stadt ergab sich König Gustav Adolf und zahlte einen hohen Geldbetrag, dafür wurde sie nicht geplündert und zerstört. Umso mehr erbeuteten die Soldaten auf dem umliegenden Land, das dort geraubte Gut ließ sich in der Stadt zu Geld machen. Westenrieder schrieb rund 150 Jahre später: „Aus ihrem Lager vor dem Neuhauser Tor brachten die Schweden viel zum Verkauf in die Stadt: Tische, Bretter, Bänke, eine Menge Rosse, Rinder, Schweine, Leinwand, zinnerne Schüsseln und Kandeln, ganze Bauernwagen, Schlösser, Türbänder, Mäntel, Weiberröcke, Betten und mehr dergleichen.“ 1638 verkaufte der Abt von Benediktbeuern vom Krieg in Mitleidenschaft gezogene Sendlinger Güter und vermerkte aus diesem Anlass in seinem Tagebuch „dass etliche besagte, unserem Gotteshaus angehörige Höf und Güter verschiedene Jahre her, durch vorübergegangenes höchst leidiges Kriegswesen, sowohl von Freunds- als auch von Feindsvolk überverderbt und aufs äußerste ruiniert und teilweise gar abgebrannt worden.“ Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts wird sich das Dorf Sendling relativ rasch erholt haben. 18. Jahrhundert Im Jahr 1705 beendete die Sendlinger Mordweihnacht den Oberländer Bauernaufstand, der im Zusammenhang des Spanischen Erbfolgekriegs zu sehen ist. Im Verlauf der Ereignisse wurden von rund 2.700 aufständischen Landbewohnern knapp 1.100 brutal niedergemetzelt, weitere 700 wurden gefangen genommen und teilweise später hingerichtet. Der Schlachtruf der Aufständischen: „Lieber bayrisch sterben, als in des Kaisers Unfug verderben!“ ist sprichwörtlich geworden. Bereits im 18. Jahrhundert entwickelte Sendling dann Vorstadtcharakter, wie alte Gebäude, etwa in der Lindwurmstraße, bezeugen (siehe Liste der Baudenkmäler in Sendling). 19. Jahrhundert Der Alte Israelitische Friedhof an der Thalkirchner Straße wurde 1816 eröffnet und war bis 1907 in Gebrauch. Als durch das Zweite Gemeindeedikt von 1818 politische Gemeinden eingerichtet wurden, wurden Altsendling, Mittersendling, Neuhofen und die Sendlinger Haide (heute Theresienwiese und Schwanthalerhöhe) zur Gemeinde Untersendling zusammenfasst. Obersendling wurde dagegen der Gemeinde Thalkirchen zugeordnet. 1869 gründeten Sendlinger Bürger nach einem verheerenden Feuer im Gemeindehaus Sendling eine Freiwillige Feuerwehr, die in der Feuerwehr München – Abteilung Sendling fortexistiert. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dehnte sich mit der einsetzenden Industrialisierung im Westen der Stadt München das urban besiedelte Gebiet über den Harras und Mittersendling nach Obersendling aus. In den Anfängen des Industriezeitalters wurden entlang der Straße nach Wolfratshausen und westlich davon Fabrikanlagen und Firmenniederlassungen errichtet, die bis heute das Bild Sendlings mitbestimmen, die heute bedeutendste darunter war die Siemens AG. 1872 wurde der Grundstein für das Sendlinger Zweigwerk von Krauss & Comp., der späteren Krauss-Maffei gelegt, das bis 1937 bestand. Neben diesen beiden Großkonzernen gab es viele weitere Maschinenfabriken wie die ebenfalls bedeutende Motorenfabrik München-Sendling und auch mehrere Tabakfabriken. Zeitgleich breiteten sich auch die Wohnviertel aus, zum einen in Form von Etagenblöcken für die Arbeiter, zum anderen als herrschaftliche Häuser, die den Übergang zu den Villenvororten Solln und Großhesselohe ankündigen. Am 1. Januar 1877 wurden Unter- und Mittersendling sowie die ehemalige Sendlinger Haide, die eine ähnliche Entwicklung genommen hatte und zum Arbeiter- und Industrieviertel Westend geworden war, nach München eingemeindet. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstand entlang der späteren Lipowskystraße eine Künstlersiedlung. An der Ecke Spitzwegstraße wohnte seit 1882 der Maler, Kinderbuchautor und -illustrator Lothar Meggendorfer. In der 1884 bis 1885 errichteten Villa Lipowskystraße 26 wohnte der Landschaftsmaler Ernst Meissner, in der Lipowskystraße 30 lebte der Maler Josef Schoyerer und in der Lipowskystraße 24 befand sich das Atelier des Kunstmalers Albert Seifert. 20. Jahrhundert Im Jahr 1913 kaufte der Verein Pedagogium Español e. V. das Haus in der Lipowskystrasse 24 und baute es zu einem Wohnheim für spanische Schüler um. Der Verein war eine Stiftung der spanischen Prinzessin María de la Paz, Ehefrau des Prinzen Ludwig Ferdinand (1859–1949). Vereinszweck war die Förderung begabter, aber wirtschaftlich schwacher spanischer Kinder, um diesen eine Lehrerausbildung an der königlich bayerischen Lehrerbildungsanstalt in Pasing zu ermöglichen und die Absolventen dann als deutsche Kulturbotschafter in ihre spanische Heimat zurückzuschicken. Das Heim wurde am 27. August 1913 unter Anwesenheit bayerischer und spanischer Prominenter wie dem bayerischen Kultusminister Eugen von Knilling eröffnet. Leiter war der spanische Domkapitular Gonzalo Sanz, der wegen angeblich unmoralischem Lebenswandel im Frühjahr 1918 entlassen wurde, Nachfolger wurde Max Junkert von der Lehrerbildungsanstalt Pasing. Nach dem Ende der bayerischen Monarchie 1918 wurde der Verein aufgelöst und das Wohnheim verkauft. Ab 1908 begann man mit der Errichtung der 1912 eröffneten Großmarkthallen im Unterfeld, die zusätzliche wirtschaftliche Impulse gaben. Der wirtschaftliche Aufschwung verlor sich im Ersten Weltkrieg und der nachfolgenden Wirtschaftskrise mit Inflation und hoher Arbeitslosigkeit. Sendling in der Zeit des Nationalsozialismus Im traditionell „roten“ Arbeiterviertel Sendling sympathisierten relativ wenige mit dem erstarkenden Nationalsozialismus. Nach Hitlers Machtergreifung traf die in ganz Deutschland einsetzende Verfolgung auch die Sendlinger Juden. So wurde der jüdische Kaufmann Joachim Both im Zuge der Pogrome der „Reichskristallnacht“ 1938 in seiner Wohnung in der Lindwurmstraße 185 erschossen, nachdem ein Trupp von zehn SA-Männern zuvor sein darunterliegendes Herrenbekleidungsgeschäft verwüstet hatte. Andere jüdische Bürger wurden vertrieben oder deportiert, ihre Firmen und Geschäfte „arisiert“. Aber auch andere Bevölkerungsgruppen wie Zeugen Jehovas wurden bespitzelt und verfolgt, ebenso Christen, sofern sie allzu offen treu nach ihrem Glauben handelten oder gar Regimekritik übten. Polizeispitzel überwachten die Predigten des Pfarrers Paul Schattenmann der evangelischen Himmelfahrtsgemeinde, er selbst wurde von der Staatsanwaltschaft verhört. Ab 1939 setzten viele Sendlinger Industriebetriebe wie die Firma Deckel und der Rüstungsbetrieb Robel in der Thalkirchner Straße verschleppte Ausländer als Zwangsarbeiter ein, und sogar kleinere Handwerksbetriebe beschäftigten solche beschönigend „Fremdarbeiter“ genannten Arbeitskräfte. Das KZ Dachau unterhielt in Sendling zwei Außenlager, von denen aus Häftlinge zur „Umerziehung“ harte Zwangsarbeit leisten mussten, etwa im Straßenbau und später auch bei der Beseitigung von Kriegsschäden. Zweiter Weltkrieg Ab 1943 gingen in den Luftangriffen auf München der United States Army Air Forces (USAAF) und der britischen Royal Air Force (RAF) Hunderte von Sprengbomben, Luftminen und Brandbomben auf das Viertel nieder. Im Vergleich zur Münchner Innenstadt waren die Zerstörungen in Sendling nicht ganz so verheerend, relativ wenige Gebäude wurden so schwer zerstört, dass auf einen Wiederaufbau verzichtet werden musste. Schwer getroffen wurde das Areal der Großmarkthallen beim Luftangriff der RAF in der Nacht vom 6. zum 7. September 1943, fast alle Hallen wurden so schwer beschädigt, dass der Markt bis zum Wiederaufbau unter freiem Himmel abgehalten werden musste. Beim selben Angriff wurden etwa 80 Wohnhäuser vor allem in Mittersendling und im Brudermühlviertel total zerstört. Beim ersten Tagesangriff der 8th Air Force am 18. März 1944 wurde in Sendling neben mehreren Wohngebäuden die Himmelfahrtskirche erstmals getroffen, bis auf das vollständig zerstörte Vorderhaus konnte die Kirche jedoch nach dem Krieg wiederhergestellt werden. Der schwerste Angriff auf München, ebenfalls durch die 8th Air Force, fand am 12. Juli 1944 statt. In der ganzen Stadt gab es an diesem Tag etwa 700 Tote. Die Zahl der Opfer in Sendling ist nicht genau bekannt, an Bauwerken wurden bei dieser Angriffswelle St. Korbinian, die neue Margaretenkirche, deren Dachstuhl völlig ausbrannte, und die Gotzinger Schule getroffen; insgesamt wurden nach diesem Angriff etwa 50 Gebäude in Sendling als total zerstört gemeldet. Bei weiteren Angriffen wurde unter anderem der Südbahnhof mehrmals getroffen und die Bahnlinie zum Großmarkt unterbrochen. Aus diesem Grund und wegen der allgemeinen Versorgungsengpässe nahm das Handelsvolumen gegen Kriegsende stark ab und erholte sich nach dem Krieg nur zögernd. Die Anzahl der Todesopfer in der Zivilbevölkerung war in Sendling vergleichsweise gering. Gegen Ende des Krieges wurden auch in Sendling Widerstandsgruppen wie die Freiheitsaktion Bayern aktiv, um die Nationalsozialisten an weiteren Zerstörungstaten wie Sprengung von Brücken und Gebäuden zu hindern und eine geordnete Übergabe der Stadt an die alliierten Truppen zu ermöglichen. Nachkriegszeit In der Nachkriegszeit lebten zeitweise an die 1000 durch Krieg und Vertreibung heimatlos Gewordene in Sendlinger Barackenlagern, die es unter anderem an der Brudermühl-, Marbach- und Bavariastraße gab, darunter nahezu die gesamte Einwohnerschaft eines deutsch besiedelten Dorfes aus der Batschka. In der Zeit des Wirtschaftswunders gab es dann in Sendling eine erneute Welle von Firmen- und Industrieansiedlungen. So produzierten etwa von 1945 bis 1975 Reemtsma und von 1975 bis 2011 Philipp Morris als größter Gewerbesteuer-Zahler Münchens Zigaretten in Mittersendling. Sendling heute Wirtschaft Große Bedeutung für das Wirtschaftsleben in Sendling hat seit etwa einem Jahrhundert die 1912 im Viertel eröffnete Großmarkthalle München. Das Areal mit einer Fläche von 310.000 Quadratmeter ist der drittgrößte Umschlagsort für Obst und Gemüse in Europa nach Paris und Mailand. 2005 schlugen dort 270 Import- und Großhandelsfirmen 140 Warengattungen aus 83 Ländern im Wert von über 750 Millionen. Euro um. Insgesamt generieren auf dem Großmarkt inklusive Blumengroßmarkt und Gärtnerhalle knapp 400 Firmen mit über 3000 Mitarbeitern einen Jahresumsatz von geschätzten 1,5 Milliarden Euro. Die Großmarkthalle versorgt täglich eine Region mit etwa fünf Millionen Menschen und vermittelt Waren in das gesamte europäische Ausland. Dementsprechend entfallen von den rund 15.000 Arbeitsplätzen im Viertel etwa 20 Prozent auf Handelsunternehmen, von denen die Mehrzahl im Großhandel aktiv ist. Neben dem Handel ist das verarbeitende Gewerbe in Sendling nach wie vor stark vertreten, und auch das Handwerk hat hier noch immer einige Bedeutung. Die größten Wachstumspotenziale liegen jedoch mehr und mehr im Dienstleistungsbereich. Bebauung Wohnbebauung Entsprechend der ursprünglichen Funktionsmischung von Wohnen und Arbeiten wird das Bild des dichtbesiedelten Viertels von Mietshäusern und wohnungsgenossenschaftlichen Bauten geprägt, von denen etwa ein Drittel vor 1945 entstand. Etwa seit 1990 werden zunehmend mehr dieser alten Häuser saniert. Außerdem wird durch Nachverdichtung neuer Wohnraum auf vorhandenen Flächen geschaffen. Ein Beispiel dafür ist das Niedrigenergiehaus an der Ganghoferstraße. Einen Ausgleich zur konzentrierten Bebauung bilden große Frei- und Erholungsflächen am Rand des Bezirks wie die Neuhofener- und Flaucheranlagen und Kleingärten entlang der Bahnlinien. Im Zentrum Untersendlings liegt die sogenannte Stemmerwiese, die Bauernwiese des bis 1992 bestehenden Stemmer-Bauernhofes; jetzt wird sie als zusätzliche Freizeitfläche für die Anwohner genutzt. In dem ehemaligen Bauernhaus sind diverse Gewerbe ansässig und es finden manchmal kulturelle Veranstaltungen statt. Der seit 1899 existierende Traditionsbiergarten Tannengarten an der Pfeufer-/Ecke Spitzwegstraße sollte 2015 nach Plänen der Eigentümer abgerissen und durch einen Wohnungsneubau ersetzt werden. Daraufhin bildete sich eine Bürgerinitiative „Rettet den Tannengarten“, die über 5.000 Unterschriften sammelte. Der Eigentümer lenkte ein und verzichtete auf die Neubebauung. Im Jahr 2021 plante die Eigentümergemeinschaft der benachbarten Häuser den Bau einer Feuerwehrzufahrt durch den Biergarten, verbunden mit der Fällung einiger Bäume. Dies würde dessen Fläche um ein Drittel reduzieren und den Bestand des Biergartens erneut gefährden. Öffentliche Plätze Der rechteckige Gotzinger Platz befindet sich westlich der Kirche St. Korbinian in der Nähe des Großmarktes. Im östlichen Teil befindet sich eine Grund- und Hauptschule, im westlichen Teil die Maria-Probst Realschule. Der Platz wurde 1904 nach der Ortschaft Gotzing in der Gemeinde Weyarn im Landkreis Miesbach benannt. Das Münchner Stadtbauamt unter Leitung Theodor Fischers plante ihn im Rahmen des Stadterweiterungswettbewerbs von 1892/93. Das Bauensemble des Platzes steht unter Denkmalschutz. Östlich der Plinganserstrasse an der Neuen Pfarrkirche St. Margaret befindet sich seit 1899 der Margaretenplatz. Er ist benannt nach deren Schutzpatronin und christlichen Märtyrerin St. Margareta von Antiochia (* in Pisidien; † um 305). Am Margaretenplatz befindet sich das Pfarrheim der Kirche mit Kindergarten und Dienstwohnungen, im denkmalgeschützten ehemaligen Bürgermeisterhaus daneben liegt das Kloster der Ordensgemeinschaft Missionarinnen der Nächstenliebe. Auf dem Platz findet jeden Samstag ein Wochenmarkt statt. Die bis dahin namenlose Fläche an der Brudermühlstraße zwischen Implerstraße und Thalkirchner Straße wurde 2012 in Resi-Huber-Platz umbenannt. Namensgeberin war die Friedensaktivistin, Antifaschistin und Kommunistin Resi (Therese) Huber (1920–2000). Auf dem Platz befindet sich seit 1989 ein etwa zehn Meter hoher schwarzer Granit-Obelisk des Bildhauers Leo Kornbrust mit eingravierten Texten seiner Ehefrau, der Schriftstellerin und Lyrikerin Felicitas Frischmuth der im Rahmen des städtischen Projektes Kunst am Mittleren Ring erstellt wurde. 2019 wurde am Resi-Huber-Platz 1 das private Studentenwohnheim Reserl eröffnet, das sich auf den Namen der Platzpatin bezieht. Auf dem Resi-Huber-Platz findet jeden Samstag ein Wochenmarkt statt. Der Herzog-Ernst-Platz befindet sich zwischen Berlepsch-, Radlkofer- und Pfeuferstraße und wurde 1951 nach dem Wittelsbacher Herzog Ernst von Bayern-München (1373–1438) benannt. Auf der Westseite befindet sich eine Stahlpergola mit Sitzbänken, auf den anderen zwei Seiten wird er von Betonblöcken mit Sitzgelegenheiten umrahmt. Im Oktober 2020 forderte der Bezirksausschuss Sendling eine Umgestaltung des von den Bürgern wenig genutzten Platzes durch Verlegung der Busspur und Ersatz der Stahlpergola durch moderne Sitzgelegenheiten. Aufgrund der finanziellen Lage wurden im April 2021 nur kleinere Umbauten beschlossen. Am 9. Juli 2009 wurde das sogenannte „grüne Dreieck“ an der Einmündung der Bruderhofstraße und Dietramszeller Straße in die Schäftlarnstraße auf Initiative seiner Cousine Helga Lauterbach-Sommer vom Stadtrat in Sigi-Sommer-Platz benannt. Namensgeber ist der Münchner Journalist und Schriftsteller Siegfried „Sigi“ Sommer (1914–1996). Sommer wuchs in der Bruderhofstraße 43 auf und besuchte die nahegelegene Grundschule am Gotzinger Platz. Der Valleyplatz existiert seit 1904 und befindet sich südlich der Valleystraße zwischen der Dankl- und Aberlestraße. Wie die Valleystraße ist er benannt nach der Gemeinde Valley im Landkreis Miesbach. Auf dem Platz befindet sich der 1933 vom Bildhauer Hermann Geibel entworfene Genoveva-Brunnen, eine Kletteranlage sowie ein öffentlicher Kinderspielplatz. Demografie Von den knapp 36.500 Einwohnern ist fast jeder Zweite erwerbstätig. Unter den Erwerbstätigen bilden mittlerweile die Angestellten das größte Segment, der Anteil an Arbeitern beträgt nur noch etwa ein Drittel. Noch dominieren Bewohner mit unterem und mittlerem Ausbildungsniveau die soziale Schichtung, doch durch die verstärkte Zuwanderung jüngerer Haushalte mit höheren Bildungsabschlüssen wandelt sich die soziale und altersmäßige Zusammensetzung der Wohnbevölkerung mit jetzt schon deutlichem Schwerpunkt der 20- bis 40-Jährigen. Der Anteil an Ausländern unter den Einwohnern liegt mit knapp 28 Prozent leicht unter dem städtischen Durchschnitt (zirka 28,3 Prozent), die Anzahl der Einpersonenhaushalte ist relativ hoch. Moschee in Sendling Seit 1989 gibt es eine an den islamischen Dachverband DİTİB angeschlossene Moschee in Sendling in der Schanzenbachstraße. Seit dem Frühjahr 2005 wurde der Neubau einer Sendlinger Moschee kontrovers diskutiert: Mit Unterstützung der rot/grünen Mehrheitsfraktionen im Münchner Stadtrat sollte am Gotzinger Platz gegenüber der Kirche Sankt Korbinian eine neue Moschee gebaut werden. Das Projekt traf auf Gegenwehr vor allem bei der CSU sowie einer zu diesem Zweck gegründeten Bürgerinitiative. Ungeachtet diese Widerstandes trieb die Stadtverwaltung das Projekt dennoch voran, bis es schließlich Ende Februar 2010 vom islamischen Dachverband aus finanziellen Gründen zu den Akten gelegt wurde. Bedeutende Bauwerke und Orte Alte Pfarrkirche St. Margaret Die Alte Pfarrkirche St. Margaret (Plinganserstraße 1, Ecke Lindwurmstraße) wurde von 1711 bis 1712 nach Plänen von Wolfgang Zwerger errichtet. Sie ist der Nachfolgebau einer gotischen Kirche, die bei der Sendlinger Mordweihnacht 1705 zerstört wurde. Reste der mittelalterlichen Bausubstanz haben sich nur im Turm erhalten. In das linke Apsisfenster wurde ein Glasfenster aus dem Jahr 1493 eingesetzt. An der nördlichen Außenwand über dem Hauptportal stellt ein großes Fresko von Wilhelm Lindenschmit aus dem Jahr 1830 die Bauernschlacht dar. Das Fresko und der Kirchenbau wurden 2003 bis 2005 für den 300. Jahrestag des Aufstandes (Weihnachten 2005) restauriert. Gegenüber der Kirche auf der anderen Seite der Lindwurmstraße steht ein Denkmal für den Schmied von Kochel (angeblich Balthasar Riesenberger, aber auch andere Namen sind überliefert), einen legendären Helden des Aufstandes, der dem Mythos zufolge verschanzt auf dem Kirchhof von St. Margaret bis zuletzt tapfer Widerstand geleistet haben soll. Initiiert hatte das Monument mit Brunnen 1904 der Archivrat Ernst von Destouches, die Grundsteinlegung erfolgte 1905 bei der 200-Jahr-Gedenkfeier. Carl Ebbinghaus gestaltete die Plastik, Carl Sattler die Architektur. Eingeweiht wurde das fertiggestellte Denkmal 1911. Zur Alten Pfarrkirche St. Margaret gehört der Ende der 1890er Jahre von Theodor Fischer geplante Sendlinger Kirchplatz mit Sichtachse auf den Ostchor der Pfarrkirche. Er ist einer der kleinsten Münchner Plätze und befindet sich östlich unterhalb der Hangkante an der Kidlerstraße zwischen Lindwurmstraße und Alramstraße. Auf dem Platz findet im einmal im Sommer der sogenannte „Sommerabend“ mit Konzerten statt. Stemmerhof Der Stemmerhof wurde erstmals 1381 als Schenkung an das Heilig-Geist-Spital in München erwähnt und war bis 1992 der letzte Bauernhof mit Milchwirtschaft im engeren Stadtgebiet Münchens. Er liegt an der Plinganserstraße direkt gegenüber der alten Pfarrkirche und beherbergt heute eine Reihe von Läden mit Schwerpunkt Ökologie sowie ein Café. Westlich angrenzend liegt die große Stemmerwiese, die noch immer an den ehemals ländlichen Charakter des Stadtteils erinnert. Neue Pfarrkirche St. Margaret Die von Michael Dosch entworfene Neue Pfarrkirche St. Margaret (Margaretenkirche, Margaretenplatz 1) mit ihrem beeindruckenden Tonnengewölbe, das mit einer lichten Höhe von 26,60 Meter den 21 Meter breiten und 75,50 Meter langen Innenraum überspannt, gehört zu den größten Kirchen der Stadt. Die Fassade wurde sehr plastisch gestaltet, dabei liegt der Hauptakzent auf der Westansicht mit dem nördlich versetzt anschließenden, 85,50 Meter hohen Turm. Der dem italienischen Hochbarock nachempfundene Sakralbau bringt mediterranes Flair ins Viertel. 1891 hatte der Bauer Alois Stemmer vom benachbarten Stemmerhof zusammen mit zwei weiteren Sendlinger Landwirten, Kaffler und Berger, einen Kirchenbauverein für das Projekt gegründet und den Baugrund gestiftet. Dabei zahlte jeder der drei Bauern 100.000 Goldmark in die Vereinskasse, das wären in heutiger Währung eine Million Euro. 1902 wurde mit den Bauarbeiten begonnen. Schon bald wurde klar, dass die Kostenplanung der Architekten und Baufirmen nicht einzuhalten sein würde. 1910 wurde Dosch von Franz Xaver Boemmel abgelöst, bei Fertigstellung 1913 hatten die Baukosten den Kostenvoranschlag um 80 Prozent überschritten und die Stifter mussten weiteres persönliches Vermögen einbringen. Nur dank Pfarrer Alois Gilg (1909–1922) war es überhaupt gelungen, die Schwierigkeiten des Projektes zu überwinden und den Bau zu vollenden. Im Innenraum sind der Rokoko-Altar und zwei Holzskulpturen aus der Zeit um 1500, welche den heiligen Georg und die heilige Margarete darstellen, besonders hervorzuheben. Die Orgel wurde 1955 von Anton Schwenk mit 42 Registern auf drei Manualen und Pedal gebaut. Im Jahr 2002 wurde sie von der Orgelbaufirma Münchner Orgelbau Johannes Führer auf 56 Register erweitert und renoviert. Gemessen an der Höhe über Normalnull liegt die Spitze des Turmes der Margaretenkirche höher als die der Frauenkirche. Kirche St. Korbinian Die Kirche St. Korbinian am Gotzingerplatz Ecke Valleystraße ist ein barockisierender Bau, der von 1924 bis 1926 nach Plänen von Hermann Buchert erstellt wurde. Am 17. Oktober 1926 wurde sie durch Kardinal Michael von Faulhaber geweiht. Die Kirche wurde bei dem Luftangriff auf München der USAAF vom 12. Juli 1944 durch Sprengbomben und Brand fast komplett zerstört. Der Wiederaufbau war etwa 1951 abgeschlossen, 1959 erhielt die Kirche vier neue Glocken, nachdem die zwei größeren der ursprünglich drei Glocken im Januar 1944 für die Kriegswirtschaft beschlagnahmt worden waren. Die größte der jetzigen Glocken der Kirche, die nach dem Kirchenpatron Korbiniansglocke benannt wurde, wiegt fünfeinhalb Tonnen. Sehenswert sind insbesondere die von zwei Türmen gerahmte und einer Kreuzigungsgruppe gekrönte stattliche Ostfassade, die den Gotzinger Platz dominiert, und das Deckenfresko von Robert Holzer. Großmarkt In unmittelbarer Nachbarschaft zu St. Korbinian liegt das Gelände der Großmarkthalle München, das nicht nur wirtschaftliche Bedeutung hat, sondern auch mit einigen baugeschichtlich und architektonisch interessanten Gebäuden aufwartet: Der städtische Architekt Richard Schachner plante zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter anderem die Hallen 1 bis 4 dieses seinerzeit größten Bauprojekts in Eisenbetonbauweise. Nach den Kriegszerstörungen wurden die Hallen 2 bis 4 mit Flachdächern neu aufgebaut, die Halle 1 ist noch im alten Zustand erhalten und lässt die ehemals beeindruckende Gesamtansicht des Komplexes noch erahnen. Ebenfalls sehenswert ist die im Jahr 2000 eröffnete lichtdurchflutete Halle des Blumengroßmarktes. Gute bayerische Küche aus stets frischen Zutaten wird in den historischen Räumen der Gaststätte Großmarkthalle serviert. Kirche St. Achaz Um die Kirche St. Achaz (Fallstraße 7) liegt der alte Ortskern des Bezirksteils Mittersendling mit dem dazugehörigen Neuhofen. Der Ursprung von Neuhofen liegt im früheren Distelhof von Mittersendling. Der Hof wurde 1697 an den geheimen Rat Matheus von Joner verkauft, der sich außerhalb des Dorfes ein Landschlösschen errichten ließ. Gemäß Entschluss des geheimen Rats vom 9. Oktober 1698 wurde das Schlösschen mit Distelhof von Kurfürst Max Emanuel under dem Nammen Neuhofen zu ainem adelichen Siz erhoben. Als die alte Kirche zu klein wurde, wurde 1927 ein größerer Neubau im neobarocken Stil nach Plänen von Richard Steidle errichtet. Himmelfahrtskirche Die evangelisch-lutherische Himmelfahrtskirche (Kidlerstraße 15) entstand 1919/20 durch den Umbau des legendenumwobenen Sendlinger Vergnügungsetablissements „Elysium“. Verantwortlicher Pfarrer war der spätere bayerische Landesbischof Hans Meiser. 1944 stark kriegszerstört, wurde die Kirche bis 1950/53 unter Verwendung von Trümmerbacksteinen wieder aufgebaut. Der schlanke straßenseitige Glockenturm trägt ein fünfstimmiges Geläut in der Schlagtonfolge f1–as1–b1–c2–es2 und entstand erst 1963/64. Seit 1993 versammelt sich die Gemeinde nicht mehr linear zum Chor hin, sondern zentriert um Taufstein, Altar und Lesepult. Die Orgel wurde 1994 von Hermann Eule Orgelbau Bautzen gebaut. Sie hat 33 Register auf zwei Manualen und Pedal. Harras Der Harras ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt im Viertel, hier kreuzt sich die U-Bahn der Linie U6 mit der S-Bahn der Linien S7, der Bayerischen Regiobahn (BRB), dem Meridian und mehreren Buslinien. Seinen Namen hat der Platz nach dem Kaffeehausbesitzer Robert Harras, der hier an der Gabelung der Landstraßen nach Wolfratshausen und nach Weilheim in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das gleichnamige Café betrieb. Die Oberfläche wartet mit mehreren architektonisch interessanten Gebäuden auf: An der Nordseite des im Grundriss dreieckigen Areals stehen aneinandergereiht mehrere Wohnhäuser im Jugendstil aus der Zeit um 1900, zum Teil mit großformatigen Stuckornamenten. Die Südseite wird begrenzt durch ein Postamt, das zu den Klassikern der baulichen Moderne in München gehört. Für die Postbauverwaltung der Weimarer Republik entwarfen und bauten die Architekten Robert Vorhoelzer und Robert Schnetzer 1932 ein vorgelagertes weißes Amtsgebäude mit einer Rotunde, dahinter erheben sich hohe Wohnblöcke, die der Platzwand Tiefe geben. Der damalige moderne Baustil der Klassischen Moderne wurde von den Nationalsozialisten als „bolschewistisch“ diffamiert. Das Ensemble, das als typischer Vertreter des Neuen Bauens ohne jede Verzierung auskommt und hauptsächlich durch seine Volumina und Proportionen lebt, befindet sich seit 2001 in privater Hand, wurde 2002 behutsam renoviert und 2006 mit dem Fassadenpreis der Stadt München ausgezeichnet. Das Kaufhaus, das seit 1978 den Platz am Ausgang der Ostseite beschließt, wird in der Öffentlichkeit teilweise kritisiert, da es sich in das Ensemble nicht einfüge. Am Harras findet sich auch das Stadtbereichszentrum Süd der Münchner Volkshochschule, das sich im selben Haus wie die Außenstelle der Münchner Stadtbibliothek befindet (Albert-Roßhaupter-Straße 8). Ebenfalls am Harras liegt das gemeinsame Sozialbürgerhaus für Sendling und das benachbarte Sendling-Westpark. Der Bezirksausschuss beschloss 2002 die Planungen für einen grundlegenden Umbau samt Änderung der Verkehrsführung. Bei Erhaltung der Leistungsfähigkeit für den Verkehr sollte den Fußgängern mehr Raum gegeben und der Platz neu gestaltet werden. Der Umbau war bis 2013 abgeschlossen. Flaucher Der Flaucher ist ein großer Grünzug mit Wald und Wiesen, Spielplätzen und einem beliebten Biergarten. Benannt ist er nach dem Schankwirt Johann Flaucher, der 1873 in einem um 1800 erbauten Forsthaus an der Isar die Gastwirtschaft Zum Flaucher eröffnete. Die Parkanlage liegt am westlichen Flussufer und erstreckt sich vom Heizkraftwerk an der Brudermühlbrücke (Mittlerer Ring) stadtauswärts bis an die Bezirksgrenze zu Thalkirchen. Beliebte Bade- und Grillplätze liegen hier am renaturierten Fluss mit seinen Inseln und Kiesbänken. Bei einer je nach Wasserstand mehr oder weniger eindrucksvollen Staustufe an einem Knick im Flussverlauf unterhalb der Thalkirchner Brücke führt der lange hölzerne Flauchersteg auf die östliche Flussseite zum Tierpark Hellabrunn. Neuhofener Berg Auf dem Neuhofener Berg befindet sich eine 7,5 ha große Parkanlage mit Grünflächen und Baumbestand. Der Park erstreckt sich von der Greinerbergstraße bis zur Brudermühlstraße und wird an der Westseite durch die Plinganserstraße begrenzt. Neben dem Oberwiesenfeld mit dem Olympiapark und dem Luitpoldhügel war er einer der drei großen Schuttabladeplätze für die Trümmer der im Krieg zerstörten Häuser Münchens. Am höchsten Punkt am Nordende des Parks befindet sich ein offener Rundpavillon von Josef Wiedemann mit einem Tempelbrunnen. Daneben erinnert eine Bodenplatte aus Metall des Bildhauers Blasius Gerg an die Luftkriegsopfer des Zweiten Weltkriegs und die Bildung des Hügels aus den Trümmern der durch Bomben zerstörten Häuser. Auf der Wiese auf Höhe der Zechstraße befindet sich heute die im Zweiten Weltkrieg stark beschädigte Plastik „Isis, auf den Wellen schwimmend“ des Bildhauers Emil Krieger. 2013 wurde an der Hangkante ein 32 m² großes, barrierefrei zugängliches Baumhaus errichtet. Am Fuß des Neuhofener Bergs befinden sich der Alte Israelitische Friedhof, die Kleingartenanlage des Vereins Süd West 25 Neuhofen-Tal e.V. und der Wertstoffhof an der Thalkirchner Straße. Sendlinger Friedhof Da die Friedhöfe bei der alten Kirche St. Margaret und bei St. Achaz zu klein geworden waren, legte die Gemeinde Sendling 1871/1872 an der damaligen Forstenrieder Straße (heute Albert-Roßhaupter-Straße 5) zwischen Karwendelstraße und der Bahnstrecke nach Holzkirchen einen Gemeindefriedhof mit Leichenhaus an. Der Friedhof ging mit der Eingemeindung 1877 in die Zuständigkeit der Stadt München über, die erste Bestattung fand in diesem Jahr statt. Er ist heute etwa 2,2 Hektar groß und hat Platz für rund 4.200 Grabstätten. Auf dem Friedhof befinden sich die Gräber der Familien Stemmer und Kaffler, des Landschaftsmalers Josef Schoyerer (1844–1923), des Schriftstellers Arthur Achleitner (1858–1927), des bayerischen Staatsministers und Sendlinger Bezirksausschussvorsitzenden Fritz Endres (1877–1963) sowie des NS-Widerstandskämpfers Hans Hutzelmann, dessen Grab jedoch aufgelassen wurde. Die Opfer der Sendlinger Mordweihnacht (1705) wurden nicht, wie manchmal fälschlich behauptet, hier bestattet, sondern auf dem aufgelassenen Friedhof der alten Kirche St. Margaret und auf dem Alten Südlichen Friedhof. Der von Mauern und hohen Hecken umgebene Friedhof liegt erhöht und etwas versteckt an den Gleisanlagen der Bahnstrecke München-Holzkirchen in der Nähe des Harras. Der Sendlinger Friedhof ist als Münchner Stadtbiotop Nr. 490 erfasst, er ist nicht als Schutzgebiet ausgewiesen, nur ein einzelner Baum steht als Naturdenkmal unter Schutz. Geländebeschreibung und Vegetation Die in Nord-Süd-Richtung gestreckte, ungefähr rechteckige Friedhofsfläche wird von einem rechtwinkligen Wegenetz erschlossen. Die 2,5 Meter breiten Hauptwege sind weitgehend vegetationslos, die etwa 1,5 Meter breiten Querwege dagegen überwiegend mit einem lückigen Trittrasen bewachsen. Alle Wege sind wassergebunden. Durch die etwa 130 Jahre dauernde gleichförmige Nutzung der Fläche konnten einige für naturnahe Wälder typische Flechtenarten die Verstädterung Münchens bis heute überdauern, darunter die Bartflechte und die in München sonst nirgends mehr festgestellte Blattflechte. Die Bereiche zwischen den streng geometrisch angelegten Grabstätten werden fast vollständig von monotonen Scherrasen eingenommen. Unregelmäßig über das Gelände verteilt finden sich Einzelbäume unterschiedlichen Alters. Häufigste Baumart ist der Spitz-Ahorn, daneben kommen auch zahlreiche Robinien und einige Koniferen sowie Zuchtformen mit teils hängendem Wuchs vor. Einige Stämme sind mit Efeu bewachsen, den größten Stammdurchmesser mit zirka 100 cm hat ein als Naturdenkmal ausgewiesener Spitz-Ahorn ungefähr in der Friedhofsmitte. Das im Nordwesten neben den Bahngleisen befindliche Lager ist mit einer 1,8 Meter hohen, fast 80 Meter langen Thujenhecke zum Friedhof hin abgegrenzt. Diese setzt sich südwärts als frei wachsende Zierhecke mit buchtigen Rändern und hohem Anteil nicht heimischer Sträucher unter einer Platanen-Baumreihe fort. Die Säume sind sowohl auf der West- als auch auf der Südseite sogar bis 1,5 Meter hinter der randlichen Gräberreihe fast bis an die Begrenzungsmauer nahezu vollständig ausgemäht. Nur ansatzweise sind lückige, ziemlich artenarme Knoblauchsraukensäume unter dem Gehölztrauf auf der Süd- und Ostseite ausgebildet. Die Kronen einer vorwiegend aus ziemlich dickstämmigen Spitz-Ahornen, Eschen, Hainbuchen und anderen Laubgehölzen bestehenden Baumreihe knapp außerhalb des Holzbretterzauns auf der Ostseite ragen bis zu zehn Meter in den Friedhof herein. Darunter befinden sich am Wegrand einige Nischen aus niedrigen, streng geschnittenen Hartriegelhecken mit Sitzbänken und Abfallsammelflächen. Etwa 80 Prozent der Grabstätten sind gepflegt und weitgehend frei von Wildkräutern, auf 15 Prozent nehmen Wildkrautarten wenigstens 5 Prozent Deckung ein. 5 Prozent der Grabstellen sind aufgelassen und zeigen Spontanvegetation, sofern sie nicht mit Scherrasen eingesät wurden. Als Problempflanzen gelten invasive Neophyten wie Schlanke Karde, Aufrechter Sauerklee und Robinien. Sie haben gegenwärtig etwa 3 % Deckungsanteil. Baudenkmäler Liste der Baudenkmäler in Sendling Sendlinger Persönlichkeiten Konrad III. der Sendlinger, († 1322), war von 1314 bis 1322 der 31. Bischof von Freising. Georg Krauß (1826–1906) gründete hier ein Zweigwerk seiner Lokomotivfabrik, aus der später Krauss-Maffei entstand Josef Schoyerer (1844–1923), Landschaftsmaler, lebte und arbeitete einige Jahre in Sendling Lothar Meggendorfer (1847–1925), Künstler, Kinderbuchautor und Maler, lebte und arbeitete einige Jahre in Sendling Emanuel Gutmann (1873–1943), Besitzer des Lederwarenkaufhauses Gutmann in der Lindwurmstraße 205, ermordet im Ghetto Theresienstadt Fritz Endres (1877–1963), bayerische Staatsminister und Bezirksausschussvorsitzender des Stadtbezirks Sendling Sophie Gutmann (1878–1944), Ehefrau von Emanuel Gutmann, ermordet im Ghetto Theresienstadt Johannes Freumbichler (1881–1949), Schriftsteller, lebte einige Jahre in Sendling Ludwig Holleis (1897–1944), Opfer des NS-Regimes Emma Hutzelmann (1900–1944), Kommunistin und Widerstandskämpferin gegen das NS-Regime Karl Kraft (1903–1978), Organist und Komponist, geboren in Sendling Karl Wieninger (1905–1999), Mitbegründer der CSU, wuchs in Sendling auf Hans Hutzelmann (1906–1945), Kommunist und Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime, hingerichtet am 15. Januar 1945 Hermann Frieb (1909–1943), SPD-Mitglied und Widerstandskämpfer gegen das NS-Regime, hingerichtet am 12. August 1943 Siegfried Sommer (1914–1996), Schriftsteller und Journalist, war Schüler der Sendlinger Volksschule am Gotzinger Platz Therese Huber (1920–2000), Zivilangestellte im KZ Dachau, Friedensaktivistin, Antifaschistin, Kommunistin und Zeitzeugin des NS-Regimes. Uschi Obermaier (* 1946), Fotomodell, verbrachte ihre Kindheit und Jugend in Sendling Rudolf Voderholzer (* 1959), Bischof von Regensburg, wuchs in Sendling auf Patrick Lindner (* 1960), Schlagersänger, wurde in Sendling geboren Christoph Süß (* 1967), Moderator des Fernsehmagazins quer des Bayerischen Rundfunks, wurde in Sendling geboren Elyas M’Barek (* 1982), Schauspieler, wuchs in Sendling auf Sendlinger Straßennamen Die Straßennamen im Stadtbezirk 6 Sendling der bayerischen Landeshauptstadt München wurden zum großen Teil im ausgehenden 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts vergeben. Zu dieser Zeit nach der Eingemeindung Untersendlings 1877 begann mit der zunehmenden Industrialisierung des Münchner Westens eine rege Bautätigkeit auf den zuvor landwirtschaftlich genutzten Fluren im Sendlinger Ober- und Unterfeld, um Wohnraum für die Massen an zugezogenen Arbeitern zu schaffen. Es entstanden, entweder aus privater Hand oder durch Wohnungsbaugenossenschaften finanziert, vor allem große Mietwohnungsblöcke. Im Jahr 1905 gedachte man des 200. Jahrestages der Sendlinger Mordweihnacht, zum Gottesdienst in der noch unfertigen Neuen Pfarrkirche St. Margaret mit anschließendem Libera auf dem alten Sendlinger Friedhof erschien sogar der Prinzregent Luitpold mit Gefolge. Da zu dieser Zeit sich das Siedlungsviertel auf dem Sendlinger Unterfeld gerade rasant entwickelte, lag es nahe, die neu entstehenden Straßenzüge nach Helden des Freiheitskampfes oder nach Ortschaften, aus denen die Teilnehmer stammten, zu benennen, um ihnen ein ehrendes Gedächtnis sicherzustellen. Aus diesem Grund tragen viele ältere Straßen im Stadtteil Sendling Namen, die im Zusammenhang mit dem Aufstand stehen. Im Jahr 2005 wurde damit begonnen, einige Sendlinger Straßenschilder mit Zusatztafeln mit historischen Erklärungen zu versehen. Stadtteil-Kultur Die Initiative Historische Lernorte Sendling 1933–1945 wurde 2004 als Projektgruppe zur Erforschung der Sendlinger Stadtteilgeschichte zwischen 1933 und 1945 gegründet. Da über diesen Zeitraum der Sendlinger Historie allgemein relativ wenig bekannt ist, möchte die Initiative Bewohner des Stadtteils über die Geschichte ihres Wohn- und Lebensumfeldes informieren und zur aktiven Mitarbeit bei der weiteren Erforschung motivieren. Die Initiative ist privat, überparteilich und unabhängig und wird rein ehrenamtlich betrieben. Selbstverständnis der Initiative: Die Erinnerung bekommt einen Namen. Das Ereignis und der Ort werden Teil der Nachbarschaftsgeschichte und gehen ein in das Stadtteilgedächtnis. Der Ort ist der HISTORISCHE LERNORT. Die Sendlinger Kulturschmiede e.V. in der Daiserstraße widmet sich seit 1978 der bürger- und wohnnahen Kunst- und Kulturvermittlung mit dem Ziel, … das Bewusstsein der Sendlinger BürgerInnen zu fördern, in einem traditionsreichen Stadtteil zu leben, der die aktive Anteilnahme an Erhaltung fordert und für dessen Gestaltung und Entwicklung es sich einzusetzen lohnt. (Satzung 1978). In der evangelisch-lutherischen Himmelfahrtskirche in der Kidlerstraße 15 finden regelmäßig Konzerte und Ausstellungen statt. Die Gemeinde bietet ein umfangreiches Programm für alle Altersstufen an, wobei der Jugendarbeit besonderes Gewicht beigemessen wird. Betreuung von Pflegebedürftigen und Hilfe in unterschiedlichen Alltagssituationen leisten die Diakoniestation bzw. die Nachbarschaftbrücke. Angeschlossen an die Gemeinde sind Eltern-Kind-Gruppen (Betreuungsgruppen). Die Stadtbücherei Sendling am Harras als Filiale der Stadtbücherei München bietet neben Lesesaal (Tageszeitungen und Präsenzbibliothek kostenlos) wechselnde Kunstausstellungen bei freiem Eintritt und Mitgliedern gegen einen geringen Jahresbeitrag die Möglichkeit zur Ausleihe aller im Bibliotheksverbund vorhandenen Medien, neben Büchern auch Hörbücher, Videos und DVDs, CDs und MCs, Spiele, Software u. a. Das Spiel- und Begegnungszentrum Sendling (SBZ), getragen vom Kreisjugendring München-Stadt (KJR) bietet in der Danklstraße 34 die Bereiche Kindertreff und Jugendtreff mit vielfältigen Möglichkeiten zu Spiel und sinnvoller Beschäftigung für Kinder und Jugendliche zwischen sechs und 20 Jahren. Das SBZ ist täglich außer an Wochenenden geöffnet. Ebenfalls in Trägerschaft des KJR befindet sich der Jugendtreff Pullacher Platz in der Dietramszeller Str. 9. Jeder im Alter von sechs bis sechzehn Jahren kann seine Freizeit im Jugendtreff mit vielen Spielmöglichkeiten selbst gestalten. Ab 16 Jahren besteht die Möglichkeit Ehrenamtlicher zu werden. Am Harras findet sich das Stadtbereichszentrum Süd der Münchner Volkshochschule (MVHS) mit acht Unterrichtsräumen, Vortragssaal, Küche, Werkraum, Holzwerkstatt, EDV-Raum und Gymnastikraum. Die Volkshochschule bietet tausende von Kursen in den verschiedensten Disziplinen an und veranstaltet Vorträge und Führungen. Das Kulturzentrum Gasteig HP8 in der Hans-Preißinger-Straße 8 wurde am 8. Oktober 2021 eröffnet und dient während der Sanierung des Haidhausener Gasteigs als Ausweichquartier. Das Kulturzentrum LUISE unter Trägerschaft der Glockenbachwerkstatt e.V. bietet Raum für Engagement & Kultur: LU steht für Ludwigsvorstadt, I für Isarvorstadt und SE für Sendling. Die Alte Utting, ein ehemaliges Linienschiff auf dem Ammersee, welches sich seit Februar 2017 auf der ehemaligen Gleisanschlussbrücke zur Großmarkthalle befindet und als Gastronomiebetrieb, Kultur- und Partylocation dient. Das Hoftheater wurde im September 2021 im Stemmerhof eröffnet. Unter dem Namen Kunst in Sendling schlossen sich im Jahr 2003 Sendlinger Künstlerinnen und Künstler zusammen. Dieser lose Zusammenschluss wurde 2015 zu einem Verein umgewandelt. Zweck des Vereins ist die Förderung von Kunst und Kultur in Sendling. Der Verein veranstaltet Ateliertage, bei denen Künstlerinnen und Künstler aus und in Sendling an bis zu 50 Standorten ihre Werke präsentieren. Schulen Grundschulen Grundschule an der Pfeuferstraße: Staatliche Schule mit Tagesheim. Zusammenarbeit mit der städtischen Schule für Phantasie. Grundschule an der Plinganserstraße: Staatliche Schule. Sie ist die älteste Schule in Sendling. Weiterführende Schulen Dante-Gymnasium: Staatliches Gymnasium mit sprachlichem Zweig. Klenze-Gymnasium: Staatliches Gymnasium mit naturwissenschaftlich-technologischem Zweig. Grund- und Mittelschule Gotzinger Platz: Staatliche Seminarschule mit zwei Partnerklassen des sonderpädagogischen Förderzentrums. Maria-Probst-Realschule: Städtische Schule mit Ganztagesprogramm. Grund- und Mittelschule Implerstraße: Staatliche Schule mit Mittagsbetreuung und Ganztagesklassen. Private Schulen Lycée Jean Renoir Munich: Private, internationale Grundschule und Gymnasium mit französischen und internationalen Abschlüsse. Angeschlossen ist ein Kindergarten für Kinder mit französischer Muttersprache. Japanische Internationale Schule München: Private, staatlich genehmigte Ersatzschule für Grund- und Mittelschule. Bilinguale Ausbildung nach dem japanischen Bildungssystem. neuhof pro und neo Realschule: Private, staatlich anerkannte einzügige Realschulen mit musischer Ausrichtung. neuhof pro und neo Gymnasium: Private, staatlich genehmigte Gymnasien mit naturwissenschaftlich-technologischer Ausrichtung. Berufliche Schulen Berufsschule für den Einzelhandel Mitte: Städtische Schule, Lindwurmstraße. Therese-von-Bayern-Schule: Staatliche Fachoberschule (FOS) und Berufliche Oberschule (BOS) für Wirtschaft und Verwaltung an der Lindwurmstraße und Lipowskystraße. Seminar- und Universitätsschule. Dieter-Hildebrandt-Wirtschaftsschule: Staatliche zwei- und dreistufige Schule, Plinganserstraße und Außenstelle Oberhaching. Sportstätten und Vereine Das Südbad in der Valleystraße ist ein städtisches Hallenbad. Es wurde 1960 als erstes Stadtteilbad Münchens eröffnet. Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel hielt die Festrede in der großen Schwimmhalle, gefolgt von Vorführungen der Kunstturmspringerinnen und Schwimmerinnen des Vereins „Isarnixen“. Zur ursprünglichen Ausstattung des Südbads gehörte auch ein kleines Krokodil in einem Aquarium im kleinen Schwimmsaal. Das Bad bietet zwei Becken und im Sommer eine große Liegewiese. Im ersten Bauabschnitt von Umbau und Erweiterung, der 1999 bis 2000 im Auftrag der Stadtwerke München durch das Münchner Architekturbüro Guggenbichler + Netzer realisiert wurde, hat man das Bad komplett entkernt und umgebaut. Das Erd- und Untergeschoss wurden zu einem großen, zusammenhängenden Umkleidebereich zusammengeschlossen und mit neuen Dusch- und Sanitäranlagen ausgestattet. Durch einen Anbau auf der Nordseite wurde die interne Erschließung mit getrennten Barfuß- und Stiefeltreppen verbessert. Im Obergeschoss entstand eine großzügige Saunalandschaft mit zwei Saunen und Dampfbad. Der Ruheraum und der Frischluftbereich sollen in einem zweiten Bauabschnitt erweitert werden. Die verwendeten Materialien wie farblich gemischte Mosaikfliesen und der Betonwerkstein, starke Farbflächen und klare Formen nehmen die Architektur und Formensprache des bestehenden Gebäudes auf und erzeugen eine heitere und großzügige Atmosphäre. Der Umbau gilt als gelungenes Beispiel für neue Architektur in München. Der Damen-Schwimm-Verein München von 1903 Isarnixen e. V. bietet Gruppen für Breitensport, Erwachsenenschwimmen, Jubiläumsdamen/Isarnixen, Sportmannschaften, Wassergymnastik und Aquaball. Trainiert wird in den Schwimmhallen verschiedener Schulen des Bezirks und in weiteren Bädern im gesamten Stadtgebiet. Der HC Wacker München e. V. mit den Abteilungen Hockey und Tennis wurde 1911 gegründet. Gespielt wird auf der eigenen Anlage neben der Bezirkssportanlage Demleitnerstraße. Neben einem Kunst- und einem Naturrasenplatz für Hockey stehen sechs Tennissandplätze und eine Tennishalle mit drei Plätzen zur Verfügung. Die ersten Mannschaften der Hockeyherren und Hockeydamen spielen jeweils in der 2. Feldhockeybundesliga. Die Hockeyjugend gehört mit knapp 300 aktiven Spielern zu den größten Nachwuchsabteilungen bundesweit. Die Bezirkssportanlage Untersendling in der Demleitnerstraße wird nicht nur von den Schulen der Umgebung, sondern auch von verschiedenen Vereinen genutzt. Der FFC Wacker München 99 e. V. ist aus der Abteilung Frauenfußball des FC Wacker hervorgegangen und besteht seit 1999 als eigenständiger Verein, die 1. Mannschaft des Vereins spielt seit der Saison 2004 in der 2. Frauen-Bundesliga. Spielstätte ist die Bezirkssportanlage Untersendling. Der FC Wacker München e. V. ist einer der traditionsreichsten Fußballclubs Münchens (Gründung 1903 in Laim), der seit 1908 in Sendling beheimatet ist und seit 1945 seine Heimat an der Bezirkssportanlage Untersendling hat (zuvor an der Plinganserstraße). Die Vereine HC Wacker (Ausgliederung 1931) und FFC Wacker (Ausgliederung 1999) sind beides ehemalige Abteilungen des FC Wacker. Umgangssprachlich ist die Bezeichnung „Blausterne“ für den Verein gebräuchlich, der noch bis in die 1990er Jahre hinein als die „Nummer 3 der Stadt“ hinter dem FC Bayern und dem TSV 1860 galt. Der Fußballverein Ballspielclub Sendling München 1918 (BSC Sendling) entstand 1948 aus dem Zusammenschluss des BSC München mit der 1918 gegründeten SpVgg Sendling. Zwischen 1954 und 1958 spielte er in der I. Amateurliga Südbayern und wurde 1972 Meister der Landesliga Bayern und gehörte daraufhin für zwei Spielzeiten bis 1974 der drittklassigen Bayernliga an. Die Freie Turnerschaft München-Süd e. V. bietet seit 1893 ein umfangreiches Programm aus Sport, Kultur und Freizeitgestaltung für alle Altersstufen. Außer diversen Sportarten bietet der Verein auch eine Theatergruppe, die seit 1987 als Sendlinger Bauernbühne firmiert. Trainiert und geprobt wird in vereinseigenen Anlagen, im Südbad und in verschiedenen Sportstätten des Bezirks und der restlichen Stadt. Die Gruppen der Sportgemeinschaft München 2000 (seit Dezember 1999) trainieren Indoorsportarten (allgemeines Fitnesstraining, Badminton, Basketball, Fußball, Tischtennis und Volleyball) ganzjährig: für Kinder und Schüler in der Carl von Linde Realschule (im Nachbarbezirk Schwanthalerhöhe), für Jugend und Erwachsene in der Maria-Probst-Realschule am Gotzinger Platz. Von Frühjahr bis Herbst bietet der Verein ein vielfältiges Outdoor-Programm (Bergsteigen, Kajak, Mountainbiken, Windsurfen, Schwimmen und Tennis), im Winter gibt es Gruppen für Skifahren, Snowboard und Skilanglauf. Die Abteilung Sendling der Sudetendeutschen Turnerschaft München e. V. bietet in verschiedenen Schulen des Bezirks Nähe Harras für alle Altersstufen Trainingsgruppen für gesundheits-orientierten Freizeitsport an. Schwerpunktbereiche sind: Kinder, Volleyball, Gymnastik, Turnen, Aerobic, Senioren, Freizeit (Wandern, Kegeln) und Qigong. Der Hockey Club Rot-Weiß München wurde 1932 in Sendling gegründet und hat heute ungefähr 500 Mitglieder, davon 250 Kinder und Jugendliche. Der 1994 gegründete Lacrosse Club München e. V. gehört zu den beiden ersten Vereinen in Deutschland, welche die ursprünglich indianische Mannschaftssportart Lacrosse nach Deutschland gebracht haben. Der Club hat sich inzwischen als Abteilung dem HC Rot-Weiß München angeschlossen. HuVTV „Schmied von Kochel“ München-Sendling. 1905 wurde der Gebirgstrachten-Erhaltungs-Verein Schmied von Kochel in München-Sendling gegründet. Ziel und Zweck des Vereines ist, die Gebirgstracht zu erhalten, die Volksmusik, die Volkstänze und Schuhplattler, sowie die alten Bräuche zu pflegen. Ferner hat sich der Verein zur Aufgabe gemacht, die alljährliche Gedenkfeier mit Kranzniederlegung an der alten Sendlinger Kirche durchzuführen, um an die gefallenen Oberlandler Bauern der Sendlinger Mordweihnacht vom Jahr 1705 zu gedenken. Der Verein trägt die Miesbacher Gebirgstracht und bei Festzügen begleitet ihn die vereinseigene Historische Gruppe, die die Oberlandler Bauern und den „Schmied von Kochel“ darstellt. Verkehr Der Stadtbezirk ist verkehrstechnisch gut erschlossen, sowohl für den Individualverkehr als auch mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Als verkehrsreichste Straße mit einer Verkehrsbelastung von 2005 täglich bis zu 143.000 Fahrzeugen schneidet das Teilstück Brudermühlstraße des Mittleren Rings mit zwei Anschlussstellen von der Brudermühlbrücke an der Isar bis hinter den westlichen Ausgang des Brudermühltunnels in Ost-West-Richtung durch den Bezirk und teilt ihn in einen größeren nördlichen und einen kleineren südlichen Teil. Beginnend am Sendlinger Tor im Stadtzentrum Münchens und von Nord-Nordwest über den Goetheplatz in der benachbarten Isarvorstadt in den Bezirk reichend ist die Lindwurmstraße ab der Bahnunterführung beim Kreisverwaltungsreferat in der Ruppertstraße bis zu ihrer Einmündung in die Plinganser-/Pfeuferstraße am Sendlinger Berg eine wichtige Verkehrsachse Sendlings. Unmittelbar hinter der Unterführung beim KVR zweigt von der Lindwurmstraße die Implerstraße als Querverbindung durch das Unterfeld isarwärts zur Brudermühlstraße ab. Diese kreuzend verläuft sie als Thalkirchner Straße weiter Richtung Süden zum Pullacher Platz und ab dort als Pognerstraße auf die Thalkirchner Brücke zu. Nahe der westlichen Bezirksgrenze und sich abschnittweise auch mit dieser deckend durchläuft die Pfeuferstraße vom nördlichen Nachbarbezirk Schwanthalerhöhe her kommend oberhalb der Terrassenkante und dieser folgend Sendling zur alten Pfarrkirche St. Margaret hin. Ab dort führt sie als Plinganserstraße weiter entlang der Hangkante über den Harras nach Mittersendling. Nach der Kreuzung mit dem Mittleren Ring verläuft diese Achse relativ parallel zur Isar als Bundesstraße 11 weiter nach Obersendling, das bereits zum südlichen Nachbarbezirk 19 gehört, und über Solln weiter gegen Süden in Richtung Innsbruck. Am Harras zweigt von dieser Nord-Süd-Achse die Albert-Roßhaupter-Straße nach Westen ab (zum Bezirk gehörig bis zur Bahnunterführung am Harras), die dann im westlichen Nachbarbezirk Sendling-Westpark über den Partnachplatz zum Luise-Kiesselbach-Platz verläuft, dort den Mittleren Ring kreuzt und unter wechselnden Namen weiter nach Westen über Hadern nach Gräfelfing und in das Würmtal führt. Auf den genannten Hauptachsen ist das Verkehrsaufkommen mittel bis hoch und die direkten Anwohner werden durch die unangenehmen Begleiterscheinungen wie Lärm-, Feinstaub- und Abgasbelastung beeinträchtigt. Eine gewisse Entlastung der Wohnbevölkerung im Unterfeld, die sich ab 1971 mit Stahlhochbrücken auf dem Teilstück Brudermühlstraße des Mittleren Rings konfrontiert sah, brachte die Verlegung dieses Ringabschnitts in den 1988 fertiggestellten Brudermühltunnel, der 2005 für gut fünf Millionen Euro saniert und auf zeitgemäße Sicherheitsstandards umgerüstet wurde. Generell eher schwierig ist die Parkplatzsituation in den Wohnquartieren des Bezirks. Der Stadtbezirk verfügt mit dem Bahnhof Harras über einen wichtigen Knotenpunkt im Netz des ÖPNV. Er wird von der Bayerischen Oberlandbahn und der S-Bahn München mit der Linie S7 bedient. Der oberirdisch entlang der westlichen Bezirksgrenze verlaufende Bahnkörper der Bahnstrecke München–Holzkirchen ist mit dem unterirdischen Strang der U-Bahn-Linie U6 verknüpft. Südlich davon liegt der S-Bahnhof Mittersendling, welcher von der S7 und der S20 bedient wird. Weitere quartierrelevante U-Bahn-Stationen sind Poccistraße (U3/U6) an der Grenze zum nordöstlichen Nachbarbezirk Ludwigsvorstadt-Isarvorstadt, Implerstraße (U3/U6), Brudermühlstraße (U3) und Thalkirchen (U3) kurz hinter der Bezirksgrenze zu Thalkirchen. Außerdem fahren mehrere Buslinien der Münchner Verkehrsgesellschaft zahlreiche Haltestellen im Bezirk an. Politik Der Bezirksausschuss von Sendling wurde zuletzt am 15. März 2020 gewählt. Die Sitzverteilung lautet wie folgt: Grüne 9, SPD 6, CSU 4, FW 1 und FDP 1. Von den 30.524 stimmberechtigten Einwohnern Sendlings haben 16.140 von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht, womit die Wahlbeteiligung bei 52,9 Prozent lag. Statistik (Stand jeweils am 31. Dezember, Einwohner mit Hauptwohnsitz) Quelle mit weiteren Daten Literatur Allgemeine Entwicklung, historische Ereignisse Alt-Sendling und München. Nach der Chronik von Hans Lanzhammer bearbeitet von Wolfgang J. Clemens. München 1980. Franz Schiermeier: Sendling. Franz Schiermeier Verlag, 2019, ISBN 978-3-943866-80-3. Elsbeth Bösl, Sabine Schalm (Hrsg.): Sendling 1933–1945. Beiträge zur Geschichte des Stadtteils im Nationalsozialismus. Initiative Historische Lernorte Sendling, München 2005. Stefan Caspari, Annette Jäger: Menschen in Sendling. Buchendorfer, München 1996, ISBN 3-927984-53-1. Wolfgang Peschel, Hannes Sieber (Hrsg.): Sendling. 111 Gründe, warum ein Münchner Stadtteil der Nabel Bayerns ist. Frisinga, Freising 1992, ISBN 3-88841-048-7. Siedlungsstrukturen Einrichtungen Wolfgang J. Clemens: Herbergssuche in der Großstadt. Aus der Geschichte der evangelischen Gemeinde in Sendling. Münchner Wiss. Publ. (MWP), München 1987, ISBN 3-924615-10-1. Christian Haumayr: 125 Jahre Freiwillige Feuerwehr in Sendling. München 1994. Wolf Weber: 1200 Jahre Kirchengeschichte Sendling. Weber, München 1998. Erinnerungen, (Auto-)Biographien Fritz Koehle: Die Saubuam. Geschichten aus Sendling. München 1959. Karl Wieninger: Lausbubenjahre in Sendling. München um 1983. Leo Erhard-Rabenau: Denk ich an Sendling … Erinnerungssplitter und Erzählungen eines alten Sendlingers. München 1990. Belletristik Bernhard Setzwein: Wurzelwerk (Roman). Friedl-Brehm-Verlag, Feldafing 1984, ISBN 3-921763-86-X. (Das Buch handelt von der Zerstörung Sendlings durch rigorose Bebauungsmaßnahmen.) Bernhard Setzwein: OberländerEckeDaiser. Ein Gedicht. A 1 Verlag, München 1998, ISBN 3-927743-11-9. (Rezension (Bayerischer Rundfunk): Von Sendling kommt der Setzwein nicht mehr los. Jetzt hat er einen Band mit Gedankenlyrik vorgelegt, eine neobarocke Komposition, ein compendiöses Sentilingianum sozusagen, ein poetisch-moralisches Lehrgedicht zum Ende der klassischen Moderne, ein erstes postmodernes Bavaricum. […] Das spielt sich und spielt herum und wird dann manchmal böser Ernst, beim Türkenfresser Abraham a Sancta Clara und beim Miesbacher Ludwig Thoma, und da kennt der Setzwein keine Gnade. […] Nach dem großen Entwurf eines ‚Gegenmünchen‘ von Paul Wühr ist ‚OberländerEckeDaiser‘ nun der poetische Nachweis für den Stadtteil Sendling.) Bernhard Setzwein: Hirnweltlers Rückkehr. Das ist: der Absturz des Provinzlers Jean Paul Richter auf der Grossstadt, dessen beschwerlicher Fussmarsch durch Geschichte und Sendling, seine Zusammenkunft mit dem Geheimrat am Goetheplatz und finaler Ausblick aus dem Kopf der Bavaria auf die Wiesnmaschin / auf diesem Weg begleitet von Bernhard Setzwein (Erzählung). Peter Kirchheim Verlag, München 1986, ISBN 3-87410-022-7. Helga Lauterbach-Sommer (Hg.): Sendlinger G´schichten. Allitera Verlag, 2014, ISBN 978-3-86906-652-3. Weblinks Stadtteil Sendling – Landeshauptstadt München Stadtbezirk und Bezirksausschuss 6 Sendling – Landeshauptstadt München Einzelnachweise Stadtbezirk von München Stadtteil von München Ehemalige Gemeinde (München) Ersterwähnung 782 Gemeindeauflösung 1877
88474
https://de.wikipedia.org/wiki/Snooker
Snooker
Snooker ( – britisch ) ist eine Variante des Billard. Gespielt wird Snooker auf einem Snookertisch, der an jeder Seite von einer Bande begrenzt ist, in die insgesamt sechs Taschen eingelassen sind. Zu Beginn einer Runde („Frame“) liegen 22 Billardkugeln auf dem Tisch: 21 Objektbälle sowie der weiße Spielball. Dieser wird mit dem Queue gestoßen. Im Idealfall berührt er einen Objektball so, dass dieser in eine der sechs Taschen läuft. Falls mit einem Stoß kein Ball gelocht oder ein Regelverstoß begangen wird, so kommt der Gegner an den Tisch. Für das Lochen eines Balles erhält der Spieler Punkte: Die 15 roten Kugeln sind je einen Punkt wert, die anderen Objektbälle („Farben“) haben aufsteigende Punktzahlen (gelb → 2, grün → 3, braun → 4, blau → 5, pink → 6, schwarz → 7). Am Anfang einer Aufnahme („Break“) muss eine der Roten gespielt werden. Falls diese erfolgreich gelocht wurde, folgt eine Farbe, dann wieder eine Rote und so weiter. Nach dem Lochen bleiben die Roten in der Tasche, die Farben kehren zunächst auf den Tisch zurück. Erst wenn alle Roten gelocht wurden, werden auch die Farben final gelocht. Die Runde endet mit dem Lochen aller Objektbälle oder durch die Aufgabe eines Spielers. Sieger des Frames ist derjenige, der am Ende die meisten Punkte hat. Eine Partie besteht meist aus mehreren Frames. Für Sieg und Niederlage entscheidend sind technische und taktische Aspekte wie die Körperhaltung, die Konzentration und erspielte Vorteile. So wird zum Beispiel der Gegner gerne zu Regelverstößen genötigt, da gegnerische Fouls einem selbst Punkte bringen. Eine solche Situation ist beispielsweise der Snooker, bei dem der direkte Weg zum nächsten Ball versperrt wird. Zwar ist der Name dieser Spielsituation identisch mit dem Namen des gesamten Spieles, ein direkter Zusammenhang besteht aber wahrscheinlich nicht. Neben dem „normalen“ Snooker gibt es auch noch einige, meist wenig verbreitete, Variationen. Die bekannteste dieser Varianten ist das Six-Red-Snooker. Generell ist Snooker heute vor allem im Vereinigten Königreich und in der Volksrepublik China beliebt. Während Snooker in China erst seit wenigen Jahren durch die fortschreitende Globalisierung des Sportes ein Massensport ist, so ist das Vereinigte Königreich das Stammland des Snookers. Zwar wurde es in den 1870ern außerhalb der Britischen Inseln in Britisch-Indien erfunden, doch schon der Name „Snooker“ geht wahrscheinlich auf eine Bezeichnung für Kadetten an der englischen Royal Military Academy Woolwich zurück. Außerdem war das Vereinigte Königreich das erste Land, in dem der Sport sehr beliebt wurde. Dort wurde 1927 die erste Snookerweltmeisterschaft ausgetragen und es ist Heimat fast aller bedeutenden Spieler der Geschichte wie Joe Davis, Ray Reardon, Steve Davis, Stephen Hendry und Ronnie O’Sullivan. Die Beliebtheit des Sportes war in der Nachkriegszeit rückläufig, seit Ende der 1960er erfährt er aber eine recht breite mediale, aber auch eine künstlerisch-kulturelle Rezeption. Trotz einiger guter Spieler und wichtiger Turniere ist Snooker im D-A-CH-Raum dagegen nach wie vor eine Randsportart. Spielmaterial Snookertisch Snookertische gibt es in verschiedenen Größen, professionell werden aber 12-Fuß-Tische verwendet. Alle Tische sind doppelt so lang wie breit. Die Profitische haben, gemessen zwischen den Außenkanten, eine Fläche von etwa 366 × 183 Zentimetern und eine Innenfläche von circa 357 × 178 Zentimeter. Bei einer Höhe von etwa 85 bis 86 Zentimetern hat der Tisch ein Gesamtgewicht von etwa 1,5 Tonnen. Die Spielfläche besteht aus einer 4,5 bis 6 Zentimeter dicken Schieferplatte, auf der ein grünes Kammgarntuch gespannt ist. Heutzutage ist wegen einiger positiver Effekte die Beheizung der Spielfläche üblich. Umfasst ist die Spielfläche an jeder Seite von Banden, die aus einem elastischen Spezialgummi bestehen. Auch sie sind mit dem Kammgarntuch überzogen und sollen nach einem Ballkontakt einen „gleichmäßigen und dynamischen Abschlag“ ermöglichen. Dieser Effekt kann durch integrierte Stahlbänder gesteigert werden. An jeder Ecke sowie in der Mitte jeder langen Seite werden die Banden von den Taschen unterbrochen, die im Vergleich zum Poolbillardtisch eine andere Form haben und dadurch schwieriger anzuspielen sind. Die Beine des Tisches sind meist aus Eiche oder Mahagoni gefertigt. Auf dem Snookertisch befinden sich verschiedene weiße Markierungen. 737 Millimeter unterhalb der Fußbande gibt es eine durchgezogene Linie, die sogenannte Baulk-Linie. Sie hat im Snooker nur begrenzte Bedeutung und entstammt dem English Billiards. In der Mitte begrenzt die Baulk-Linie einen zur oberen Bande orientierten Halbkreis mit einem Radius von 292 Millimetern, das sogenannte D. Aus dem Bereich innerhalb des D wird am Anfang eines Frames beziehungsweise bei einem „Ball in Hand“ jeweils der Spielball herausgespielt. Zudem befinden sich auf der Baulk-Linie innerhalb des D drei Aufsetzmarkierungen (engl.: spots), zwei jeweils am Anfang bzw. Ende des Halbkreises und eine in der Mitte der anderen beiden. Von links nach rechts sind es die Markierungen für die Farben Gelb, Braun und Grün. Zudem gibt es drei weitere Aufsetzmarkierungen: für den blauen Ball in der Mitte des Tisches, für die pinke Kugel in der Mitte zwischen Blau und der Kopfbande sowie für die Schwarze 324 Millimeter oberhalb der Kopfbande. Unter der Aufsetzmarkierung für Pink werden in Dreiecksform die fünfzehn Roten angeordnet. Queue Das Queue [] ist das Spielgerät beim Snooker. Es ist im Grunde genommen ein spitz zulaufender Holzstab. Das Queue ist 450 bis 490 Gramm schwer und 140 bis 150 Zentimeter lang. Als Mindestlänge sind zwar 91,4 Zentimeter festgeschrieben, die optimale Länge liegt aber meistens im genannten Bereich und hängt von der Körpergröße des Spielers ab. Für den oberen Teil des Queues wird hauptsächlich Eschenholz, seltener auch Ahornholz, verwendet, da Esche vergleichsweise hart und stabil ist und ein gutes Schwingungsverhalten bietet. Der Griffbereich ist dagegen aus Gründen der Ästhetik und der Balance häufig aus Ebenholz. Lackierungen, Verzierungen und Einlegearbeiten sind der Stabilität sowie der Griffigkeit abträglich und werden deshalb meist weggelassen. Die meisten Queues lassen sich in zwei oder drei Teile zerlegen, um den Transport zu vereinfachen. Zum Schutz des Queues beim Transport verwenden insbesondere Profispieler spezielle Behältnisse, um das Risiko von Schäden zu minimieren. Für Transport und Lagerung ist häufig eine Aufteilung des Queues in mehrere zusammensetzbare Teilstücke notwendig. Davon abgesehen gibt es verschiedenartige Verlängerungen, die auf den Griff geschraubt werden können. Vor allem bei regelmäßigen Spielern hängt die Leistung des Spielers auch von der Verwendung eines bestimmten Queues ab. Da sich Queues in Feinheiten unterscheiden, passen sie unterschiedlich gut zur Spielweise eines bestimmten Spielers. Der Verlust oder die Beschädigung des gewohnten Queues kann bei Profispielern unter Umständen zu einem merklichen Leistungsverlust führen. Ferrule und Pomeranze Am oberen Ende wird das Queue von der Ferrule abgeschlossen, einem meist aus Messing bestehenden Teil. Auf der Ferrule ist ein kleines Lederplättchen angebracht, die sogenannte Pomeranze. Die Pomeranze soll einen kontrollierteren Stoß gewährleisten. Sie ist konvex gewölbt und berührt daher nur mit einer möglichst kleinen Fläche den Ball. Zudem sollte die Oberfläche der Pomeranze möglichst rau sein, um eine bessere Haftung beim Ballkontakt zu erzeugen. Der Durchmesser der Pomeranze hängt mit dem des Queues zusammen, beträgt aber durchschnittlich 9 bis 11,5 Millimeter und ist damit kleiner als das Pendant beim Poolbillard; dort sind die Queuespitzen wegen der größeren Kugeln größer als beim Snooker. Es gibt Pomeranzen aus hartem und Pomeranzen aus weichem Leder; beide Varianten weisen spezielle Feinheiten auf und sind für das Snookerspiel der einzelnen Personen von Bedeutung. Zudem gibt es sowohl Pomeranzen, die den Rand des Queues überlappen, und solche, die bündig mit dem Queue enden. Zwar ist die Verwendung einer bestimmten Pomeranzenart Geschmackssache, doch manche Spieler haben mit einer überlappenden Pomeranze das Gefühl, den Ball besser kontrollieren zu können. Generell ist die Pomeranze ein Verbrauchsartikel, der zwar teilweise durch bestimmte Mittel gepflegt werden kann, nach einer gewissen Zeit aber erneuert werden muss. Die Zeitspanne ist unter anderem von der Stoßhärte abhängig. Die Pomeranze wird mit einer speziellen Billardkreide eingekreidet, die die Haftung beim Stoß verbessern soll. Je nach Qualität ist die Kreide mehr oder weniger griffig; je vollständiger die Pomeranze eingekreidet wird, desto besser ist die Auswirkung. Sie lässt sich optimieren, indem man die Pomeranze drehend einkreidet. Generell ist die beim Snooker meist türkisfarbene bis grüne Kreide in Quaderform fettärmer als beim Poolbillard und verschmutzt weniger, die Pomeranze muss aber öfter eingekreidet werden. Außer dieser üblichen Kreide gibt es mit der sogenannten Taom-Kreide eine weitere häufig verwendete Kreideart, die im Gegensatz zur normalen Kreide rund ist. Sie soll Kicks reduzieren, erhöht aber die Wahrscheinlichkeit, dass die Queuespitze vom Spielball abrutscht. Hilfsqueues Zusätzlich gibt es auch einige Hilfsqueues, die das Spielen in bestimmten Situationen vereinfachen sollen. Die Hilfsqueues sind dabei eine zusätzliche Stütze bzw. Ablage für den Queue während des Stoßes. Insgesamt gibt es fünf dieser Hilfqueues, die allgemein zur Ausstattung eines Snookertisches gehören. Das Ende des Hilfsqueue wird fest in der Hand und der Unterarm waagerecht gehalten, womit die Körperhaltung eher seitlich und damit anders als im hilfsqueuelosen Spiel ist. Hierbei muss wie im übrigen Spiel darauf geachtet werden, dass mindestens ein Fuß den Boden berührt. Am häufigsten wird das „Kreuz“ eingesetzt, bei dem an der Spitze ein X befestigt ist. Es wird benutzt, indem man das Queue in eine Ecke des Kreuzes legt. Je nach Lage des Hilfsqueues (hochkant oder liegend) kann der Spielball damit höher oder tiefer angespielt werden. In anderen Situationen – wenn zum Beispiel über einen störenden Ball hinweggespielt wird – wird auch die „Spinne“ benutzt. Sie gibt es in insgesamt drei Varianten, und wird teils auch als „Brücke“ bezeichnet. Jede Variante hat vorn einen Kranz mit verschiedenen Auflagen für das Queue; im Falle der „verlängerten Spinne“ ist dieser Kranz nach vorn verschoben. Bei der Benutzung wird der Spielball allerdings steiler als gewöhnlich getroffen. In ähnlichen Fällen wie die Spinne wird der „Schwanenhals“ genutzt, bei dem man den Ball noch steiler trifft und bei dem man mit dem Queue zudem leicht abrutschen kann. Zudem gab es mit dem „Hookrest“ auch ein neuartiges Hilfsqueue, das neben dem normalen X vorne in der Mitte gebogen war, um störende Bälle umgehen zu können. Trotz der Vereinfachung des Spiels setzte sich dieses Queue nicht durch, da die umgangenen Bälle bei der Führung des Haupt-Queues störten. Bälle Beim Snooker gibt es insgesamt 22 Bälle; neben dem Spielball und den 15 Roten je ein Ball in der Farbe Gelb, Grün, Braun, Blau, Pink und Schwarz. Damit gibt es im Vergleich zum Poolbillard insgesamt mehr Kugeln und vor allem deutlich mehr von einer Farbe (von den Roten). Die Kugeln wurden im Laufe der Zeit aus den unterschiedlichsten Materialien hergestellt: so waren sie ursprünglich aus Stein oder Leder und später aus Metall, Elfenbein oder Knochen. Dies hatte aber den Nachteil, dass die Masse der Kugel nicht gleichmäßig verteilt war und der Schwerpunkt deshalb vom gewünschten Schwerpunkt in der Kugelmitte abweichen konnte. Dadurch konnte es bei langsamen Stößen passieren, dass die Kugel im Lauf zu einer Seite neigte und deshalb der Stoß unberechenbar wurde. Nachdem im 19. Jahrhundert versuchsweise Billardkugeln aus Zelluloid verwendet wurden, werden mittlerweile spezielle Kunststoffe wie Phenolharz eingesetzt. Durch solche Kunststoffe lässt sich die Masse der Kugeln optimal verteilen und die Stabilität der Kugeln verbessern. Der Durchmesser jeder einzelnen Kugel beträgt in etwa 52,5 Millimeter; möglich ist eine Toleranz von ± 0,05 Millimetern. Damit ist der Snookerball deutlich kleiner als eine Billardkugel beim Poolbillard oder beim Karambolagebillard. Zudem ist der Snookerball mit einem Gewicht von 142 Gramm auch leichter als andere Billardkugeln; hier ist eine Toleranz von ± 3 Gramm im gesamten Satz erlaubt. Üblicherweise garantiert der Hersteller bei für das Profisnooker bestimmten Sätzen, dass sich die leichteste und schwerste Kugel nicht mehr als ein Gramm voneinander unterscheiden. Wichtig ist davon abgesehen auch die Sauberkeit der Kugel; je sauberer die Kugel, desto kleiner die Wahrscheinlichkeit für Kicks. Gereinigt wird ein Ball allgemein mit einem Tuch aus Mikrofaser oder fusselfreier Baumwolle, zudem gibt es verschiedene Spezial-Reinigungsmittel. Spielablauf Ein Spiel Snooker wird zumeist zwischen zwei einzelnen Spielern ausgetragen, seltener zwischen zwei Teams mit zwei oder vier Personen. Vor Beginn eines Spieles wird entweder per Münzwurf (oder ähnlichem) oder per sogenanntem „Bandenentscheid“ entschieden, welcher Spieler über den Anstoß entscheiden darf. Dieser kann dann wahlweise sich selbst oder den Gegner als Anstoßer bestimmen. Danach wechselt das Anstoßrecht mit jedem Frame. Der anstoßende Spieler hat am Anfang Ball in Hand, darf also den weißen Spielball frei innerhalb des Ds platzieren. Ball in Hand ist ein Fachbegriff im Snookersport. Snooker hat – als Ergänzung zur Billard-Terminologie – eine Reihe eigener Fachbegriffe, die in der Liste der Snooker-Begriffe zusammengestellt sind. Diese Terminologie ist im deutschsprachigen Raum zwar von der deutschen Sprache beeinflusst, wird aber vom britischen Vokabular sowie von französischen Lehnwörtern geprägt. Ebenso gibt es im Snooker ein eigenes Regelwerk, das recht umfangreich ist. Ein Hyperlink auf das offizielle Regelwerk des professionellen Snooker-Weltverbandes, der World Professional Billiards & Snooker Association, befindet sich im Kapitel „Weblinks“. Ziel beim Snooker ist es, während eines Spiels so viele Punkte zu erreichen, dass der Gegner zwangsweise nicht mehr Punkte erzielen kann. Punkte bekommt man primär durch das Lochen mindestens eines Balles in eine der sechs Taschen des Tisches. Dazu stößt man mit dem Queue den weißen Spielball so, dass der Spielball mindestens eine weitere Kugel berührt und anschließend mindestens eine Kugel im Idealfall in eine der sechs Taschen des Tisches fällt. Gestoßen werden darf nur der Spielball und zwar ausschließlich mit der Queuespitze aufseiten der Pomeranze. Der Stoß erfolgt erst, wenn sich kein Ball mehr bewegt und alle notwendigen Bälle auf dem Tisch liegen. Abgesehen vom Stoßen des Spielballs darf der Spieler die Bälle nicht berühren (eine Ausnahme ist hierbei der Spielball bei Ball in Hand). Jede Aufnahme eines Spielers muss dabei mit dem Lochen einer Roten beginnen, woran sich das Lochen einer vom Spieler ausgesuchten andersfarbigen Kugel anschließt, ehe erneut eine Rote gelocht werden muss usw. Die versenkten roten Kugeln verbleiben dabei in den Taschen, während die versenkten andersfarbigen Kugeln wieder auf ihre Positionen (Spots) gesetzt werden. Sofern ihr eigener Spot durch eine andere Kugel blockiert ist, wird der Ball auf den nächsten freien Spot mit dem höchsten Wert gelegt. Sollten alle Spots blockiert sein, so wird die Kugel möglichst nahe von der Kopfbande aus gesehen an ihren Spot herangelegt. Das Lochen einer jeden Kugel bringt Punkte, wobei Rote mit einem Punkt am wenigsten und die Schwarze mit sieben Punkten am meisten Punkte bringt (vgl. die Tabelle links oberhalb dieses Textes). Erst wenn kein roter Ball mehr auf dem Tisch liegt und die letzte, zu einer Roten gehörende andersfarbige Kugel versenkt wurde, beginnt die letzte Phase des Spiels (Endspiel auf die Farben). In dieser Phase werden die andersfarbigen Kugeln in der Reihenfolge ihrer Punktzahl – beginnend mit dem kleinsten Wert – gelocht und verbleiben im Falle eines Locherfolgs auch in der Tasche. Anders als zum Beispiel im 8-Ball muss der Spieler mitteilen, welche Kugel er als nächstes spielen will. Fachsprachlich spricht man dann davon, einen Ball zu nominieren. Dieser Ball ist dann Ball on. Bei Farben kann die explizite wörtliche Nominierung entfallen, sofern dem Schiedsrichter klar ersichtlich ist, welche Farbe der Spieler anspielen will. Eine Aufnahme eines Spielers endet dabei, wenn mit einem Stoß keine Kugel versenkt wird oder ihm ein Fehler in Hinsicht auf die Regeln unterläuft. Der Frame endet spätestens mit dem Versenken der Schwarzen im Endspiel auf die Farben, sodass nur noch die Weiße auf dem Tisch liegt. Wer am Frameende am meisten Punkte hat, gewinnt den Frame. Im Falle eines Punktegleichstandes kommt es zu einer sogenannten Re-spotted black, bei der die Schwarze zur Entscheidung nochmals auf den Tisch gelegt wird und der Spielball vom D aus auf die Schwarze gespielt wird; der nächste Punktgewinn entscheidet dann den Frame. Daneben kann ein Spieler einen Frame auch aufgeben, sofern er bereits Snooker benötigt (siehe unten). Sollte es während des Frames zu einer Spielsituation kommen, in der das Spiel zum Stocken kommt, kann es zu einem sogenannten Re-Rack kommen, bei dem der Frame nochmals von vorne angefangen wird, wobei in diesem Fall die bislang erspielten Punkte des Frames zurückgesetzt werden. Ein gesamtes Spiel (engl.: match) besteht fast immer aus mehreren Frames; Profiturniere werden dabei zumeist in einem Best-of-Modus gespielt. Ein zu-null-Sieg wird dabei White-wash genannt. Die Serie von hintereinander erfolgreich und regelkonform gelochten Bällen beziehungsweise deren summierte Punktzahl nennt man „Break“. Somit ist im Idealfall eine Maximalpunktzahl von 147 Punkten möglich (Maximum Break, im Rahmen einer sehr seltenen Ausnahme sind theoretisch bis zu 155 Punkte möglich). Ein Break von hundert oder mehr Punkten wird zudem als Century Break bezeichnet. Sofern der Spieler es schafft, mit einem Break alle auf dem Tisch verbliebenen Kugeln zu lochen, bezeichnet man dies als Clearance. In jedem Stoß muss der Spielball mindestens eine Rote oder gegebenenfalls eine Farbe berühren, wobei die erste berührte Kugel eine solche Kugel sein muss, die der Spieler gerade spielen darf (Ball on). Bei einem Lochversuch können auch mehrere Rote in eine Tasche fallen. Sofern eine andersfarbige Kugel ebenfalls fällt oder bei einem Lochversuch auf einen andersfarbigen Ball zwei Bälle fallen, ist dies allerdings ein Foul. Der einzige Ball, der nie fallen darf, ist der Spielball. Fällt ein Ball regelkonform unbeabsichtigt oder zufällig, bezeichnet man diesen als Fluke. Die Fouls, also Regelverstöße, werden ebenfalls mit Punkten belohnt, allerdings für den Gegner. Pro Foul gibt es vier bis sieben Foulpunkte. Mehr als vier Strafpunkte werden aber nur bei der Beteiligung von Kugeln gegeben, die den entsprechenden Punktewert haben. Fouls werden mitunter gegenseitig provoziert. So kann kurz vor dem Ende des Frames ein Spieler, der mit den auf dem Tisch liegenden Bällen die Führung seines Gegners nicht mehr aufholen kann, durch Foulpunkte wieder aufholen. Umgangssprachlich wird dieser Sachverhalt als der Spieler braucht/benötigt Snooker bezeichnet. Grundsätzlich ist es möglich, mehrere Fouls hintereinander zu erzwingen. Einzige Ausnahme ist hierbei, wenn auf dem Tisch nur noch der Spielball und die Schwarze liegen; in diesem Fall endet der Frame entweder nach dem erfolgreichen Lochen der Schwarzen oder nach dem nächsten Foul. Dies gilt auch im Falle einer Re-spotted black. Alle Bälle müssen auf dem Tisch oder in den Taschen bleiben. Wenn ein Ball vom Tisch fällt, ist dies auch ein Foul. Ebenfalls verboten sind Jump Shots (vgl. Grafik unten) und Durchstöße. Durchstöße sind falsch ausgeführte Stöße, bei denen die Queuespitze mehr als einmal den Spielball berührt. Hierbei existiert ein Unterschied zum Begriff Double Kiss, der den legalen doppelten Kontakt von Spiel- und Objektball bezeichnet. Sofern der Schiedsrichter der Meinung ist, dass der Foulverursacher nicht sein Bestes gegeben hat oder der Schiedsrichter eine einfachere Lösung sieht, kann er zusätzlich ein Miss geben, abgesehen von Ausnahmen aber nur, wenn der Spieler dadurch nicht Snooker benötigt oder es bereits benötigt. Diese Regel zielt auf die Vermeidung taktischer Fouls ab. Im Anschluss an ein Foul entscheidet der Gegnerspieler des Verursachers darüber, wer das Spiel fortsetzt, was heißt, dass sowohl er weiterspielen kann als auch den Foulverursacher dazu zwingen kann. Im Falle eines Miss hat der Gegenspieler zudem die Möglichkeit, den Stoß wiederholen zu lassen. Ein Miss wirkt sich nicht zusätzlich auf die Foulpunkte aus. Sofern der Gegenspieler nach einem Foul auf den als nächstes zu spielenden Ball gesnookert ist, bekommt der Gegenspieler zusätzlich auch einen Freeball, bei dem man einen Ersatzball nominieren kann und diesen dann spielen darf. Sofern der Schiedsrichter ein Foul übersieht, ist der Spieler dazu angehalten, dieses dem Schiedsrichter zu melden. Diese Regel trägt wie auch die Kleidungsvorschriften im Profisnooker und die von den Spielern verlangte Contenance zum Image des „Gentlemen’s Sport“ bei. Auch die Schiedsrichter müssen während des Spieles im Sinne der Contenance handeln. So sollen sie ihre Aufgaben möglichst unauffällig ausführen, also zum Beispiel während des Stoßes möglichst außerhalb des Blickfeldes des stoßenden Spielers stehen. Technik Die Körperhaltung bei einem Stoß ist darauf ausgelegt, dem Körper Stabilität zu geben. Es gibt mit den beiden Beinen und der Führhand drei Gewichtsschwerpunkte, wobei die Führhand die Hand jenes leicht gebeugten Armes ist, mit dem nicht gestoßen wird. Letzteres übernimmt der andere Arm, der sogenannte Stoßarm. Dessen Oberarm ist im Idealfall rechtwinklig zum Unterarm angeordnet, verläuft oberhalb des Queues parallel zu ihm und hat Platz für den Stoß beziehungsweise zum Schwingen, während das Bein derselben Körperseite senkrecht und durchgedrückt auf dem Boden steht. Beim Stoß ist der Oberkörper nach vorne gebeugt, wobei der Kopf sich oberhalb des Queues befindet und idealerweise das Kinn auf dem Queue liegt. Annähernd über dem Queue befindet sich dabei das Führungsauge, mit dem der zu treffende Objektball anvisiert wird. Die Stoßhand umgreift dabei als Verlängerung des Unterarmes das obere Ende des etwa waagerecht gehaltenen Queues; je stärker oder länger der Stoß, desto weiter hinten. Die Führhand stabilisiert, wobei man je nach Situation und Handhaltung zwischen verschiedenen Arten unterscheidet, die sich grundsätzlich in den „offenen Bock“ mit den ausgestreckten Fingern am Tisch und den „geschlossenen Bock“ mit dem Handballen am Tisch unterteilen lassen. Zudem gibt es den „Bock über eine Kugel“, bei dem man durch eine nach oben gebeugte Handwurzel den Queue über eine Kugel hinweg führen kann, der auch „Übergriff“ genannt wird, sowie eine Form des Bockes speziell für die Bande. Elementar wichtig ist eine hohe Konzentration während des Spiels, insbesondere bei der Planung des Breaks und vor allem beim jeweiligen Stoß. Insbesondere im professionellen Snooker ist die Konzentration beziehungsweise die mentale Stärke spielentscheidend. Der Stoß selbst beginnt mit einem Schwingen des Unterarms, an das sich das Zurückziehen des Queues bis zur Führ- bzw. Bockhand anschließt. Der Abstoß erfolgt anschließend durch eine beschleunigte, nach vorne gerichtete Bewegung des Unterarms mitsamt dem Queue. Je nachdem, wie weit der Queue geführt wird und mit welchen Tempo, unterscheidet man zwischen kurzen, langsamen und langen, schnellen Abstößen. Je länger ein Abstoß, desto länger der Stoß; lange Stöße dienen zudem der Ausführung von Nach- und Rückläufern, kurze Stöße dagegen der Ausführung von Stoppbällen. Diese drei Stoßarten, bei denen der Spielball nach dem Kontakt mit dem Objektball dieser Kugel „nachläuft“, wieder „zurückläuft“ oder im Anschluss an den Kontakt „stoppt“, dienen auch der Kontrolle des Spielballs und damit dem Positionsspiel. Für alle drei Bälle variiert man den Kontaktpunkt zwischen Queue und Spielball, was heißt, dass der Queue nicht mehr im Zentrum des Spielballs trifft, sondern im Falle eines Stoppballs leicht unterhalb, im Falle eines Nachläufers oberhalb und im Falle eines Rückläufers (im Übrigen auch Zugball genannt) weiter unterhalb als beim Stoppball. Weitere Stoßarten sind der Kopfstoß und der Masséstoß, wie sie vor allem im Karambolagebillard genutzt werden. Sie sind aber recht risikoreich und können durchaus auch zu einer Beschädigung des Tisches führen. Theoretisch sind auch sogenannte Trickshots möglich, praktisch sind sie aber im professionellen Snooker verboten. Darüber hinaus wird zum Stellungsspiel auch der Effet genutzt; hierbei wird der Spielball im Gegensatz zum Stoppball, Nach- und Rückläufer nicht (nur) vertikal versetzt getroffen, sondern (auch) horizontal vom Zentrum des Spielballs versetzt. Dadurch rotiert der Spielball im Endeffekt selbst und driftet somit mehr zu der vom Spielball getroffenen Seite ab. Außerdem kann durch die Variation der Stoßgeschwindigkeit die Ablageposition des Spielballs beeinflusst werden. Ein weiterer Begriff rund um die Ausführung des Stoßes ist der sogenannte Kick, mit dem ein unsauberer, vorwiegend durch Verschmutzungen am Ball ausgelöster Kontakt zwischen Spielball und Objektball gemeint wird. Ein solcher Kick wirkt sich meistens kontraproduktiv auf den Weg des Objektballs und des Spielballs aus und wird deshalb gemieden. Bei einem Lochversuch trifft im Idealfall der gestoßene Spielball den Objektball, also den zu lochenden Ball, an einem Punkt, von dem man durch den Objektball hindurch eine gerade Linie zu einer Tasche ziehen kann. Diese Linie stellt gleichzeitig den Weg der Kugel dar. Je näher ein Objektball vor der Tasche liegt, desto einfacher ist dabei das Lochen, da es nun einen Spielraum in der Genauigkeit gibt; bei Abweichungen vom Idealfall fällt der Objektball gegebenenfalls also eher, je näher er an der Tasche dran ist. Ein Sonderfall bilden dabei Kombinationsstöße, bei denen ein erfolgreiches Lochen durch eine Kombination aus zwei Objektbällen versucht wird. Dabei stößt der Spielball einen der beiden Objektbälle so an, dass er den anderen Objektball so berührt, dass dieser in eine Tasche fällt. Um am Anfang des Frames den Pulk der Roten zu öffnen und sich somit mehr Möglichkeiten eröffnen, ist auch der sogenannte Split wichtiger Bestandteil der Technik. Beim Split wird primär eine Farbe, meist Schwarz oder Blau, gelocht, danach läuft der Spielball aber noch in den Pulk der Roten und öffnet diesen damit. Sofern ein Objektball nahe einer Bande liegt, ist er allgemein nur mit einem Stoß „über (eine) Bande“ zu lochen, wobei hier der Spielball den Objektball gegen die Bande spielt und dieser dann im Idealfall so abgestoßen wird, dass er in eine Tasche auf der gegenüberliegenden Seite läuft. Taktik Nebst den technischen Eigenheiten wird Snooker insbesondere von taktischen Aspekten geprägt. In seinen Anfängen verfügte Snooker nur über sehr wenige taktische Komponenten, da die Spieler lochten, was lochbar war, und dann versuchten, den Ball sicher abzulegen. Bereits mit Joe Davis entwickelte sich aber das Breakbuilding. Taktisch kommt es dabei vor allem auf das Stellungsspiel an. Der Spielball wird dabei im Idealfall so platziert, dass das Lochen des nächsten Balles möglichst einfach ist. Taktisch klug ist es dabei, den Spielball stets mit einem gewissen Winkel zum Objektball zu platzieren, um beim Stoßen mehr Möglichkeiten zum Ablegen des Spielballes zu haben, sodass die Fortführung des Breaks vereinfacht wird. Taktisch unklug ist dagegen das gleichzeitige Lochen mehrerer Kugeln. Sofern beide Kugeln gemäß der Regeln gerade spielbar sind, wäre dies zwar regelkonform. Allerdings entgehen dem Spieler so die Punkte eines andersfarbigen Objektballes, der hätte gelocht werden können, wenn beide Roten einzeln gelocht worden wären. Daneben gibt es auch einzelne Spielsituationen, in denen taktische Vorteile eine Rolle spielen. So ist der Touching Ball für Spieler interessant. Bei diesem bleibt der Spielball so liegen, dass er einen als nächstes regelkonform spielbaren Ball berührt. Falls dies eintritt, muss der Spielball nur noch weggespielt werden, ohne zwingend eine andere Kugel berühren zu müssen. Hieraus kann ein Spieler taktische Vorteile erringen, beispielsweise durch das Einleiten eines Snookers (siehe unten). Auch bereits beim Anstoß spielt die Taktik eine Rolle: Beim Eröffnungsstoß wird zumeist eine der beiden letzten Roten an einer der beiden hinteren Ecken am unteren Ende des Pulks, gesehen von der Kopfbande, anvisiert. Je nach Ecke kombiniert mit einem Links- oder Rechtseffet des Spielballs und einer passenden Stoßgeschwindigkeit, kann so der Spielball sicher im Bereich hinter dem D abgelegt werden. Dies kann dem Gegenspieler das Beginnen eines Breaks erschweren. In diesem Falle bleibt als sogenannter Einsteiger meist nur die sogenannte lange Rote. Bei diesem Stoß wird versucht, eine eventuell aus dem Pulk herausgelöste Rote zu lochen. Das ist aber taktisch riskant, denn sollte der Lochversuch scheitern, ist es wahrscheinlich, dass dem Gegner ein guter Einsteiger liegen bleibt. Grundsätzlich unterscheidet man daneben zwischen defensiveren und aggressiveren Spielern. So gibt es Spieler, die beispielsweise in Hinsicht auf einen Split jede Möglichkeit zu nutzen versuchen, die also offensiv versuchen, das Spiel zu gewinnen (bspw. Jimmy White). Es gibt aber auch solche Spieler, die zum Beispiel anstelle eines Splits lieber eine sogenannte Safety spielen. Damit kommt zwar der Gegner an den Tisch, bei korrekter Ausführung bleibt diesem aber nur eine geringe Chance auf das erfolgreiche Lochen eines Einsteigers. Als Safety bezeichnet man dabei Stöße, die keinen Lochversuch darstellen, sondern darauf bedacht sind, den Spielball und/oder die Objektbälle so abzulegen, dass dem Gegner der Einstieg in ein Break erschwert wird. Dabei schwingt die Hoffnung mit, dass sich im Anschluss an den Stoß des Gegners eine bessere Chance auftut. Daneben dienen Safetys auch dazu, Fouls zu provozieren und so zu Punkten zu kommen. Eine Variante einer Safety ist der Snooker. Dafür wird der Spielball so abgelegt, dass der Gegner die nächste zu spielende Kugel nicht auf direktem Wege erreichen kann. Dies gelingt dadurch, dass der direkte Weg zwischen Spielball und Objektball durch einen anderen, nicht spielbaren Ball verdeckt wird. Ziel ist es, dass der zu spielende Objektball nur über Bande anspielbar ist, was den Stoß erschwert. Tendenziell erhöhen Snooker dabei die Chancen auf ein Foul des Gegners. Eine weitere defensive Taktik ist der sogenannte Shot to Nothing, bei dem zwar ein Lochversuch unternommen wird, der Spielball aber wie bei einer Safety abgelegt wird. Varianten Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelte Altmeister Joe Davis mit dem Snooker Plus eine der ersten Varianten des Snookers. Hierzu fügte er zum normalen Bild auf dem Snookertisch zwei weitere Bälle hinzu. Diese Erweiterung und mit ihr Davis’ Variante konnten sich nie durchsetzen. 2010 und 2011 gab es auf der Main Tour jeweils ein Turnier in der Variante Power Snooker, die mithilfe verschiedener Regelungen wie einem Zeitlimit und einem Bonuspunkte bringenden Power Ball das Spiel unterhaltsamer und schnelllebiger machen sollte, sich aber ebenfalls nicht durchsetzen konnte. Ungefähr ab derselben Zeit erfuhr die Variante Six-Red-Snooker größere Aufmerksamkeit, die sich unter anderem mit der 6-Red World Championship auch im Profisnooker etabliert hat. Gespielt wird sie mit sechs statt fünfzehn Roten, wobei die normalen Snookerregeln größtenteils ihre Gültigkeit behalten und lediglich einige Ergänzungen sowie Veränderungen vor allem in Sachen der Regeln bezüglich Foul und Miss vorgenommen wurden. Auch für das professionelle Snooker Shoot-Out gibt es ein Sonder-Regularium, wobei die Veränderungen hier primär auf zeitliche Aspekte abzielen und keine Veränderungen am Aufbau des Spiels umfassen. Historisch etabliert war das sogenannte Volunteer Snooker, bei dem man nach dem Lochen einer Roten und einer Farbe je nach Belieben weitere Farben lochen konnte. Ging einer dieser Lochversuche aber schief, wurde das als Foul gewertet. Im Jahr 1995 versuchte ein Team aus verschiedenen Unternehmern wie Barry Hearn, Profispieler Steve Davis und dem Fernsehsender ITV sich daran, eine weitere Variante zu schaffen, woraus mit dem sogenannten Tenball eine Mischung aus dem normalen Snooker und der Poolbillard-Variante 9-Ball resultierte. Nach einem im Fernsehen ausgestrahlten Turnier geriet die Variante aber in Vergessenheit. Darüber hinaus gibt es noch verschiedene andere Varianten, die allerdings fast alle nur eine sehr begrenzte geographische Verbreitung beziehungsweise eine geringe Bekanntheit haben oder hatten. So gibt es in Brasilien eine Variante namens Sinuca brasileira, die mit nur einer Roten und abweichenden Regeln insbesondere in Hinsicht auf die Stöße gespielt wird. Der Brasilianer Igor Figueiredo begann dagegen das Snookerspielen mit der Variante Ten-Red-Snooker, die statt fünfzehn nur zehn Rote umfasst. Ebenfalls mit nur zehn Roten funktioniert das auf Poolbillardtischen gespielte Snookerpool, von dem es mit Snookerpool Rapide auch eine Variante mit einer zusätzlichen Stoßzeitbeschränkung gibt. In den Vereinigten Staaten gibt es außerdem eine American Snooker genannte Variante, die mittlerweile deutlich weniger bekannt ist als einst. Als vereinfachte Form des normalen Snookers angesehen, wird American Snooker mit schwereren Bällen und massiveren Taschen auf einem kleineren Tisch gespielt. Organisation Die World Snooker Tour (ehemals Snooker Main Tour) ist die professionelle Tour im Snooker. Die Tour ist prinzipiell für alle Personen offen, allerdings ist eine sportliche Qualifikation notwendig. Dazu gibt es verschiedenste Qualifikationsturniere für die Main Tour, darunter zum Beispiel die Q School. Spieler, die diese sportliche Qualifikation haben, bekommen eine zweijährige Startberechtigung für die Tour. Einzig und allein sicher sind abseits dieser Zweijahresregel die Top 64 der Snookerweltrangliste. Diese Weltrangliste wird auf Basis des erspielten Preisgeldes eines jeden Spielers innerhalb der letzten zwei Jahre errechnet. Durch verschiedene Sponsorenverträge und insbesondere über die Turnierpreisgelder verdienen diese Profispieler gut. Die wichtigsten Profiturniere sind dabei die sogenannten Weltranglistenturniere, deren Ergebnisse Einfluss auf die Weltrangliste haben. Mit am bedeutendsten sind dabei die Snookerweltmeisterschaft und die UK Championship. Die Snookerweltmeisterschaft wird jährlich 17 Tage lang im Crucible Theatre in Sheffield ausgetragen und ist der zumeist abschließende Saisonhöhepunkt. Ebenfalls zu den wichtigsten Turnieren zählt das Masters, das als Einladungsturnier keinen Einfluss auf die Weltrangliste hat. Das Teilnehmerfeld des Masters besteht nur aus den besten sechzehn Spielern der Weltrangliste. Diese drei Turniere werden zusammengefasst als Triple Crown bezeichnet. Mit der World Seniors Tour gibt es auch eine Tour extra für Senioren-Spieler. Des Weiteren gibt es mit der World Women’s Snooker Tour auch eine eigene Tour für Frauen. Diese konnten sich in der Vergangenheit nicht auf der eigentlichen Profitour etablieren, auch wenn es einzelne Profispielerinnen wie Reanne Evans durchaus gab. Zur Saison 2021/22 erhielten erstmals die besten beiden Spielerinnen der Frauen-Tour auch Startplätze für die World Snooker Tour. Neben Reanne Evans wurde dadurch Ng On Yee Profispielerin. Der Weltverband für den generellen Billardsport ist die sogenannte World Confederation of Billiard Sports. Der für den professionellen Snookersport zuständige Verband ist die World Professional Billiards & Snooker Association (WPBSA). Die Finanzierung des Verbandes läuft über die professionellen Spieler, die 2,5 % ihres gewonnenen Preisgelds an den Verband abgeben müssen. Die professionellen Spieler sind Einzelmitglieder des Verbandes. Die WPBSA kann zudem auch bei Verstößen gegen die Regularien (die Fouls während eines Spieles ausgenommen) Strafen bis hin zu Sperren verhängen, was allerdings selten passiert. Der Weltverband beziehungsweise seine kommerzielle Tochterorganisation World Snooker Tour (ehemals World Snooker) ist außerdem für die Auswahl der Schiedsrichter zuständig, wobei mit Jan Verhaas und Brendan Moore lediglich zwei Schiedsrichter fest beim Weltverband angestellt sind (Stand 2020). Alle anderen Schiedsrichter arbeiten hauptberuflich anderweitig und werden nach dem Erhalt entsprechender Lizenzen vom Weltverband als Schiedsrichter in Betracht gezogen und für bestimmte Turniere angefragt. Zudem kümmert sich der Weltverband um die Organisation der Turniere. Die Durchführung wird in der Regel je zwei der insgesamt vier angestellten Turnierdirektoren anvertraut. Für den Amateursektor ist primär die International Billiards & Snooker Federation (IBSF) zuständig, die verschiedene Turniere wie die Amateurweltmeisterschaft austrägt. Mitglieder des Verbandes sind zunächst die Kontinentalverbände für Afrika, Asien, Europa, Ozeanien und des amerikanischen Doppelkontinentes sowie die einzelnen nationalen Verbände. 2017 gründete die WPBSA als weitere Amateurorganisation insbesondere für die Qualifikationsmöglichkeiten für die Main Tour die World Snooker Federation, die ebenfalls eine Mitgliedschaft für kontinentale und nationale Verbände anbietet. Geschichte Das Billardspiel an sich hat seine Ursprünge wahrscheinlich in dem Spiel Paille-Maille, das seit dem 13. Jahrhundert in Frankreich, Italien und England gespielt wurde und als Rasenspiel mit zwei Kugeln und einem Schläger gespielt wurde. Ziel des Spiels war es, mit dem Schläger eine der beiden Kugeln zu treffen, diese durch ein Eisentor zu befördern und dann die zweite Kugel zu treffen, die wiederum einen Holzkegel umwerfen sollte. Aus dem Paille-Maille haben sich verschiedene Sportarten wie Krocket, Golf und auch Billard entwickelt. Wichtig waren dabei ein trockener und ebener Untergrund. Vermutlich begann durch diesen Umstand die Entwicklung des Billards, indem zum Beispiel ein Paille-Maille-Spiel wegen schlechter Witterungsbedingungen auf einen Tisch im Inneren eines Gebäudes verlegt werden musste. Wo genau jedenfalls das Billardspiel seinen Ursprung nahm, ist unklar. Am wahrscheinlichsten gelten aber England oder Frankreich. So hat auch der Begriff „Billard“ teils einen französischen Ursprung, da sich der Begriff aus dem lateinischen billa und dem französischen bille – jeweils mit der Bedeutung „Kugel“ bzw. „Ball“ – heraus entwickelte. Ähnlich ist es beim Queue. Zunächst wurden trotz der kleineren Spielfläche die Grundprinzipien des Paillie-Maillie erhalten. Im Laufe der Zeit wurden aber die Regeln und das Spielmaterial des neuen Sportes auf die neuen Umstände angepasst und verfeinert. Bei diesem Entwicklungsschritt spielte Frankreich eine wichtige Rolle. Zu diesen Änderungen gehörte die Einführung der Banden an den Seiten des Tisches, um ein Herunterfallen der Kugeln zu verhindern. Gleichzeitig erfreuten sich neben den Kegeln und Toren nun auch Löcher und andere Hindernisse großer Beliebtheit. Diese Löcher gab es nicht nur an den vier Ecken, sondern zum Beispiel auch in der Mitte des Tisches. Nach und nach kristallisierte sich aber das heutige Billardspiel heraus. Ab dem 15. Jahrhundert erfreute sich dieses in den europäischen Königshäusern großer Beliebtheit. 1610 wurden in Frankreich erstmals auch Billardtische in der Öffentlichkeit aufgestellt, allerdings fand dies in sogenannten Ballhäusern statt, die nur für die Oberschicht zugänglich waren. Trotz anderer Begrenzungen durch den Staat verbreitete sich im 18. Jahrhundert das Billardspiel in ganz Europa. Nachdem 1775 erstmals das Karambolagebillard namentlich erwähnt wurde, wurden nach der Französischen Revolution 1789 die Beschränkungen sukzessive aufgehoben. Zudem wurden im Laufe der Jahre die Spielmaterialien weiter- und unterschiedliche Billardvarianten entwickelt. So waren im 19. Jahrhundert vor allem das mit drei Bällen gespielte English Billiards, aber auch verschiedene Poolbillardvarianten sehr beliebt. Erfindung und frühe Entwicklung Eine solche Variante war das mit fünfzehn Roten und einer Schwarzen gespielte Black Pool, aus der im Jahr 1875 gemäß der heute weitestgehend anerkannten Version der zu dieser Zeit in Jabalpur stationierte britische Oberleutnant Neville Francis Fitzgerald Chamberlain durch das Hinzufügen weiterer farbiger Bälle das heutige Snooker entwickelte. Clive Everton sieht bei der Erfindung zusätzlich auch Einflüsse anderer damals populärer Billardvarianten wie Life Pool und Pyramids mitschwingen. Chamberlain erfand ferner auch den Namen des neuen Spieles. Wenngleich es unterschiedliche Versionen über den genauen Hergang gibt, so ist der Name „Snooker“ vermutlich der identischen Bezeichnung für neue Kadetten an der Royal Military Academy Woolwich entlehnt. Die Erfindung des Snookers reklamierte Chamberlain erst am 19. März 1938 in einem Artikel in der Zeitung The Field für sich. Ein Jahr später wurde dieser Anspruch vom populären Autoren Compton Mackenzie unterstützt. Insbesondere vor 1938 kursierten auch verschiedene andere Theorien über die Erfindung. Wenngleich es auch in Chamberlains Geschichte einige kleine Unstimmigkeiten gibt, so sind Alternativgeschichten nicht mal ansatzweise nachweisbar. Chamberlains Regiment wurde anschließend in eine Hill Station in Ootacamund versetzt, in deren Club erstmals Snookerregeln aufgeschrieben und ausgehängt wurden. 1885 machte ein englischer English-Billiards-Spieler – heute häufig als John Roberts Jr. identifiziert – über den Maharadscha von Cooch Behar Bekanntschaft mit Chamberlain und dem Snookerspiel. Da Roberts das Spiel gefiel, führte er es nach seiner Rückkehr in Großbritannien ein, indem er entsprechende Spiel-Sets verkaufte. Wegen seiner Geselligkeit erfreute sich das Spiel unter der britischen Bevölkerung schnell einer recht großen Beliebtheit. Spielerisch gesehen wurde durch diese zunehmende Popularität die Qualität des Spieles immer besser. So wurden in den 1910er-Jahren erste, selbst für moderne Verhältnisse hohe Breaks gespielt. Ab 1916 wurde die erste Meisterschaft im Snooker ausgetragen, aus der später die English Amateur Championship wurde. Grund für den schnellen Anstieg der Popularität war auch, dass die Menschen durch die zunehmende Industrialisierung mehr Zeit für Freizeitaktivitäten hatten. 1919 wurden die bis zu diesem Zeitpunkt uneinheitlichen Snookerregeln durch den Billiards Association and Control Council erstmals zusammengefasst, wobei dabei unter anderem die Re-spotted black eingeführt wurde. Ära Davis, kurzzeitiger Niedergang und Professionalisierung Zwischen Ende 1926 und 1927 fand erstmals eine Snookerweltmeisterschaft statt, welche von Joe Davis gewonnen wurde. Davis wurde nach und nach zum ersten großen Snookerspieler. Der Snookersport selbst definierte sich in dieser Zeit als „big business“, da die wenigen Spitzenspieler jener Zeit schon damals vergleichsweise viel Geld verdienten. In den folgenden Jahren wurde erstmals eine sogenannte Total Clearance sowie später auch erstmals ein Maximum Break gespielt. Währenddessen dominierte Davis bis hinein in die 1940er-Jahre die Snookerweltmeisterschaft mit 15 Titelgewinnen, bevor er sich 1946 ungeschlagen vom Turnier zurückzog. Dadurch wurde die Legitimität der Snookerweltmeisterschaft untergraben, wodurch gleichzeitig das Interesse am Snooker zurückging. Zugleich hatte der Sport nach dem Zweiten Weltkrieg Probleme, an die alten Zeiten mit der großen Popularität anzuknüpfen. Ebenso gab es weniger Sponsoren, da diese nach dem Krieg erst einmal weniger spendabel waren. In den folgenden beiden Jahrzehnten wurde die Snookerweltmeisterschaft unter verschiedenen Namen und in verschiedenen Formaten teils auch mit Unterbrechungen ausgetragen und dabei vor allem von Joes Bruder Fred Davis und John Pulman dominiert. 1950 übertrug die BBC erstmals Aufnahmen der damaligen Weltmeisterschaft, bevor Joe Davis 1956 mit dem Buch How I Play Snooker eine Art Lehrbuch fürs Snookerspiel herausbrachte. 1963 wurde erstmals eine Amateurweltmeisterschaft ausgetragen. Im Jahr 1968 wurde schließlich mit der World Professional Billiards & Snooker Association (WPBSA) ein Snooker-Dachverband gegründet. Bereits im nächsten Jahr kehrte die Snookerweltmeisterschaft im K.-o.-System wieder zurück. In diesem Jahr gewann John Spencer das Turnier, welches in den folgenden 1970er-Jahren insbesondere aber vom Waliser Ray Reardon und neben Spencer auch vom Publikumsliebling Alex Higgins dominiert wurde. Auch im Jahr 1969 wurde dadurch, dass sich Snooker in den Augen des Programmchefs von BBC2, David Attenborough, perfekt für die Darstellung der Möglichkeiten des neuen Farbfernsehens eignete, erstmals das Turnier Pot Black ausgetragen und im Fernsehen im Serienformat gezeigt. Dadurch erlangten die beteiligten Spieler große Bekanntheit und konnten ihre Einnahmen aufbessern. Neben den ersten Sponsoren verstärkte in den folgenden Jahren die BBC die Übertragung vom Snookersport, beispielsweise beim Masters, während erstmals eine Snookerweltrangliste aufgestellt wurde und nach dem WM-Titel von Terry Griffiths im Jahre 1979 in dessen erster Profisaison und generell durch die gewachsene Popularität die Zahl der Profispieler verstärkt anstieg. Rückblickend wird die Aufnahme ins BBC-Programm deshalb als ein „Durchbruch“ für den Snookersport angesehen. Nachdem im Jahr 1980 mit dem Kanadier Cliff Thorburn erstmals ein Spieler aus Übersee Weltmeister geworden war, wurden die 1980er-Jahre spielerisch von Steve Davis mit dem ersten offiziell anerkannten Maximum Break beim Classic 1982 sowie mit insgesamt sechs Weltmeistertiteln geprägt. Unternehmerisch wurde das Jahrzehnt durch Davis’ Manager Barry Hearn und dessen Unternehmen Matchroom Sport bestimmt, die zahlreiche Spieler unter Vertrag nahmen und weltweit eigens ausgetragene Snookerturniere veranstalteten. In diesen Jahren erlebte der Snookersport einen immensen Aufschwung. Neben der BBC begannen auch andere Sender wie Granada Television mit der Übertragung von Snookerturnieren, während gleichzeitig neue Rekorde an Einschaltquoten aufgestellt wurden. Somit wurde Snooker im Laufe der Zeit zu einem erfolgreich vermarkteten Sport. Globalisierung des Sportes und Hearn-Reformen Während Davis bis zum Ende der 1980er-Jahre unschlagbar schien, löste ihn in der Rolle als dominierender Spieler zum Start ins neue Jahrzehnt der Schotte Stephen Hendry ab. Dieser konnte zwischen 1990 und 1999 insgesamt sieben Weltmeisterschaften gewinnen und stellte zahlreiche teilweise bis heute bestehende Rekorde auf. Zudem veränderte Hendry die bis dahin vorherrschende defensivere Spielweise im Snooker hin zu einer wesentlich offensiveren Spielart. Hendrys Dominanz der 1990er Jahre ist vor allem seiner Einführung des heute als Standard geltenden langen roten Einsteigers zu verdanken. Weitere Grundlagen für seine Dominanz waren die häufige Nutzung der Mitteltaschen als Lochmöglichkeit und das Lochen aus spitzeren Winkeln. Während des gleichen Zeitraums fand das Publikum mit Jimmy White neben Alex Higgins einen weiteren Liebling, als ersterer zwischen 1984 und 1994 in sechs WM-Endspielen stand und jedes Mal – meistens Stephen Hendry – unterlag. Zwischenzeitlich wurde zur Saison 1991/92 die Profitour seitens der WPBSA für alle Spieler geöffnet, die ein Startgeld zu bezahlen bereit waren, wodurch die Profizahlen auf über siebenhundert Spieler anstiegen. Ein Jahr nach der Öffnung kam eine später auch als goldene Generation bezeichnete Gruppe dreier Spieler auf die Tour, bestehend aus dem Engländer Ronnie O’Sullivan, dem Schotten John Higgins und dem Waliser Mark Williams. Alle drei Spieler wurden im Laufe der nächsten Jahre zu führenden Spielern mit jeweils mehreren Weltmeisterschaftstiteln. Das Trio prägte insbesondere die 2000er-Jahre. O’Sullivan gilt dabei meist als führender Spieler des Jahrzehnts, doch seine wechselhafte Form und die starke Konkurrenz durch Williams, Higgins und andere Spieler ließen keine Dominanz à la Davis oder Hendry entstehen. Am 5. Februar 1998 wurde die World Confederation of Billiard Sports als Billard-Weltverband offiziell vom Internationalen Olympischen Komitee anerkannt und ist seitdem Mitglied der Association of IOC Recognised International Sports Federations. Darüber hinaus ist der Weltverband seit demselben Jahr auch Mitglied im Internationalen Verband für Weltspiele. Deshalb ist Snooker seit der Ausgabe 2001 Bestandteil der World Games. Zwischen 1998 und 2010 war Snooker zudem auch Bestandteil der Asienspiele. Laut entsprechender Ankündigungen soll die Sportart zur Ausgabe 2030 in deren Programm zurückkehren. In den ersten Jahren des neuen Jahrtausends entwickelte sich der Snookersport zu einem Sport mit weltweitem Ausmaß. Durch den Aufstieg des Chinesen Ding Junhui in die Weltspitze verstärkte sich die Aufmerksamkeit in Asien. Global bewirkte die Aufnahme ins Eurosport-Programm das gleiche. Allerdings verlor Snooker durch das Verbot von Werbung für Tabakunternehmen in Großbritannien eine seiner wichtigsten Einnahmequellen. Gleichzeitig traf der Vorstand der WPBSA einige Fehleinschätzungen. Alles in allem begann der Snookersport zu schrumpfen. Zeitweise stand sogar eine zur Snooker Main Tour konkurrierende Profiserie im Raum. Bedingt durch die gesunkenen Einnahmen der Spieler wuchs der Unmut, sodass der damalige WPBSA-Vorsitzende Sir Rodney Walker bei einem Misstrauensvotum abgewählt und kurze Zeit später durch Barry Hearn ersetzt wurde. Hearn etablierte beispielsweise mit der Players Tour Championship und einer rapide gestiegenen Zahl von Ranglistenturnieren weltweit zahlreiche Turniere und ermöglichte durch gestiegene Preisgelder den Spielern steigende Einnahmen. Die einzelnen Profiturniere fanden anschließend verstärkt in verschiedensten Ländern statt (siehe auch unten). In diesem Punkt war die COVID-19-Pandemie eine Zäsur, denn während ebenjener wurden die Turniere wieder verstärkt in England ausgetragen. Spielerisch gesehen wurden die 2010er neben dem weiterhin starken Trio O’Sullivan / Higgins / Williams durch aufstrebende Spieler wie Ding Junhui und insbesondere Mark Selby geprägt. Selby kam mit seiner Reihe von Weltmeistertiteln und der langjährigen Weltranglistenführung einer Dominanz wie bei Davis und Hendry noch am nächsten. Zu Barry Hearns Reformen gehörte auch die Einführung einer neuen Snookerweltrangliste. Die Weltrangliste wurde erstmals Mitte der 1970er-Jahre aufgestellt. Zunächst berechnete sie sich nur aus den Ergebnissen der Snookerweltmeisterschaft, später auch aus denen anderer Turniere, denen zuvor der Status eines Weltranglistenturnieres verliehen worden war. Für diese Turniere bildete die Weltrangliste auch die Grundlage der Setzliste. Berechnungsgrundlage der damals nur am Saisonende aktualisierten Weltrangliste waren sogenannte „Weltranglistenpunkte“, die man parallel zum Preisgeld bei jedem Weltranglistenturnier erhielt. Die genaue Anzahl der Punkte schwankte von Zeit zu Zeit, am meisten brachten aber stets die Snookerweltmeisterschaft und die UK Championship. Nach zwei Spielzeiten wurden alte Punkte jeweils gelöscht. Unter Barry Hearns Federführung wurde das System der Weltrangliste in den 2010ern in zwei Schritten grundlegend reformiert. Mit diesen Reformen trat das gewonnene Preisgeld der letzten zwei Jahre anstelle der Weltranglistenpunkte. Zusätzlich wird die Weltrangliste nun nach jedem Turnier aktualisiert. In regelmäßigen Abständen wird die jeweils aktuelle Rangliste als Setzliste für die anstehenden Weltranglistenturniere herangezogen, es gibt also auch eine regelmäßiger aktualisierte Setzliste. Daneben wird die Weltrangliste auch für den Erhalt der Profi-Spielberechtigung der meisten Spieler herangezogen, denn die Top 64 sind jeweils für die nächste Saison direkt qualifiziert. Darüber hinaus ist die Weltrangliste stets auch ein Indiz für die besten Spieler der jeweiligen Zeit. So dominierten in den meisten Jahrzehnten auch die jeweils prägenden Spieler die Auflistung und führten diese an: Ray Reardon in den 1970ern, Steve Davis in den 1980ern, Stephen Hendry in den 1990ern und das Trio Mark Williams, John Higgins und Ronnie O’Sullivan in den 2000ern. Neben diesen drei Spielern stießen in den 2010ern weitere Spieler wie Neil Robertson, Mark Selby, Judd Trump und Ding Junhui zur Spitze der Weltrangliste dazu, die Selby über Jahre anführte. Popularität und Verbreitung Snooker ist heutzutage ein globaler Sport mit einer weltweit verstreuten Anhängerschaft. Rolf Kalb gibt in seinem Buch aus dem Jahre 2018 an, dass Snooker „von über 120 Millionen Menschen weltweit gespielt und von 500 Millionen Zuschauern im Fernsehen verfolgt wird.“ Während geschichtlich das Vereinigte Königreich omnipräsent ist, spielt seit den 2000er-Jahren auch die Volksrepublik China eine immer wichtigere Rolle im Snooker. Dies spiegelt sich auch bei den Main-Tour-Turnieren wider. Lange Zeit konzentrierten sich diese vor allem auf das Vereinigte Königreich, auch wenn vereinzelt Turniere im englischsprachigen Ausland veranstaltet wurden. Dies intensivierte sich erst ab Mitte der 1980er-Jahre, als verstärkt Turniere außerhalb der britischen Inseln ausgetragen wurden. So führt Kalb im selben Buch als Beispiel die Saison 2018/19 an, in der nur neun von 20 Turnieren mit Ranglisteneinfluss im Vereinigten Königreich, aber allein fünf in der Volksrepublik China stattfanden. Weitere Profiturniere fanden beispielsweise in Indien (Indian Open) oder Belgien (European Open) statt. Obgleich Snooker in Indien eine recht große Anhängerschaft hat, dominiert dort das English Billiards die Billardszene. In Belgien bekam der Sport seit den 2010ern durch die Erfolge Luca Brecels verstärkt Aufmerksamkeit. Geschichtlich gesehen spielt auch die Empfangbarkeit der BBC und deren Snooker-Übertragungen eine Rolle, wodurch sowohl in Belgien als auch in den Niederlanden Anhängergemeinschaften entstanden. Weltweit gesehen spielen neben Europa und Asien vor allem Kanada und Südafrika eine kleine Ausnahme. Beide waren in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wichtige Snooker-Nationen, haben aber seitdem kaum mehr gute Spieler hervorgebracht. In vielen Ländern ist Snooker aber eine Randsportart, so auch im D-A-CH-Raum. Außerdem ist Snooker zum Beispiel in den Vereinigten Staaten kaum bekannt. Auch in Australien ist es eine Randsportart, auch wenn es einige sehr gute Spieler wie Neil Robertson und Eddie Charlton gibt beziehungsweise gegeben hat. Davon abgesehen erwiesen sich manche Länder als Austragungsorte von Profi-Snookerturnier als nicht sinnvoll, Beispiele dafür sind Brasilien (Brazil Masters) oder Bahrain (Bahrain Championship). Vereinigtes Königreich Das Vereinigte Königreich ist das Kernland des Snookers und dort eine Art Volkssport. Snooker war schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr beliebt, auch wenn es in der Nachkriegszeit aus verschiedenen Gründen Schwankungen gab. Seit der Erstausstrahlung des Pot Blacks 1969 erfuhr Snooker deutlich mehr mediale Berichterstattung und entwickelte sich zu einer der populärsten Sportarten der Briten. Über die Jahrzehnte blieben die Zuschauerzahlen von Snookerspielen dabei auf einem hohen Niveau. Höhepunkt war das Finale der Snookerweltmeisterschaft 1985, das von 18,5 Millionen Briten gesehen wurde. Erst in den 2000er-Jahren gingen die Beliebtheitswerte auch im Vereinigten Königreich zurück. Als Gründe dafür gelten das Fehlen von Publikumslieblingen in der Weltspitze, wirtschaftliche Probleme und Schließungen von Snookerhallen sowie die verstärkte Verdrängung des Snookers durch den Fußball. Dadurch erlahmte das öffentliche Interesse und damit auch die Fernsehberichterstattung. Hinzu kamen noch die Probleme des professionellen Snookers. Der englische Journalist Barney Ronay ging 2010 davon aus, dass Snooker binnen der nächsten Jahre wieder ein Amateursport sein würde. Im Zuge der Hearn-Reformen steigen auch im Vereinigten Königreich die Beliebtheitszahlen wieder. Auch kommerziell ist das Vereinigte Königreich im Snooker führend, insbesondere hinsichtlich der Preisgelder und der Dotierung von Werbeverträgen. Asien Asien rückte spätestens Mitte der 1980er in den Fokus der Snookerwelt, als Barry Hearns Unternehmen Matchroom Sport begann, eigene Profiturniere in asiatischen Ländern wie Malaysia, Hongkong oder der Volksrepublik China auszurichten. Meist traten dabei Spieler der Weltspitze gegen einige lokale Amateure an. Nur wenig später wurde mit dem Thailänder James Wattana ein vielversprechendes asiatisches Talent Profispieler. Wattana stieg binnen weniger Jahre in die Weltspitze auf und stand regelmäßig bei wichtigen Turnieren in den letzten Runden, darunter mehrfach auch bei asiatischen bzw. thailändischen Turnieren. Die thailändische Öffentlichkeit interessierte sich durch Wattanas Erfolge alsbald sehr für den Snookersport. So strahlte zum Beispiel das thailändische Fernsehen eigens ausgetragene Turniere aus. Neben Thailand weckten Wattanas Erfolge auch in anderen asiatischen Ländern das Interesse am Snooker. Als eine Art Nachfolger von Wattana kamen wenige Jahre später der Hongkonger Marco Fu und die Chinesen Ding Junhui und Liang Wenbo auf die Profitour. Ding war dabei der wichtigste Spieler dieser Dreier-Gruppe. Mit 18 Jahren gewann er die professionellen China Open 2005 gegen den siebenfachen Weltmeister Stephen Hendry, einige Monate später gegen den sechsfachen WM-Sieger Steve Davis die UK Championship 2005. Beide Erfolge lenkten das Interesse der chinesischen Öffentlichkeit auf den Sport. Im Zuge dessen berichteten die chinesischen Medien verstärkt über den Sport, was sich wiederum auf die Beliebtheit des Snookers in China rückkoppelte. Dass chinesische Snookerspieler weiterhin Erfolge feierten, verstärkte dies noch. So erreichte Ding nach zahlreichen Turniersiegen als erster Asiate der WM-Geschichte das Finale der Snookerweltmeisterschaft 2016. Wenngleich er das Endspiel verlor, schauten schätzungsweise 210 Millionen Chinesen im Fernsehen zu. Mittlerweile gilt die Volksrepublik als wichtigster kommerzieller Markt des Snookersportes. Es gab sogar Angebote aus China, die Austragung der Snookerweltmeisterschaft zu übernehmen; der Weltverband entschied sich aber dagegen, um nicht das Einkommen durch Gelder der BBC zu gefährden. Daneben entstanden in China zahlreiche, qualitativ hochwertige Snookerhallen, in denen 2017 schätzungsweise 60 Millionen Menschen Snooker spielten. Allein in Shanghai gab es 2016 mehr als 1500 solcher Spielorte. Die chinesische Regierung förderte diese Entwicklung, da Snookerhallen recht wenig Platz benötigen und sich so gut als Freizeitmöglichkeiten in den unter Platzmangel leidenden Großstädten eignen. Zudem ist Snooker als Teil der World Games, der Asienspiele und der Südostasienspiele recht prestigeträchtig, was den Förderungswillen der chinesischen Regierung noch verstärkte. Von daher hat China ein enormes Potential an jungen Talenten. Bereits zum Ende der 2010er-Jahre waren Chinesen auf der Profitour nach den Engländern die zweitgrößte Spielergruppe nach Nationalität. So kommen zum Beispiel knapp 20 % der Profispieler der Saison 2022/23 aus China. Zu Saisonbeginn standen mit Zhao Xintong und Yan Bingtao auch zwei von ihnen unter den Top 16 der Snookerweltrangliste, mit dem Iraner Hossein Vafaei auf Platz 17. Deutschland In Deutschland ist Snooker weniger populär als im Vereinigten Königreich oder vergleichbaren Ländern, der Sport erfuhr aber in den letzten Jahren Aufwind. Trotzdem gilt Snooker in Deutschland als Randsportart. Nachdem der Snookersport durch in Deutschland stationierte britische Soldaten nach Deutschland kam, eröffneten im November 1984 drei Briten in Hannover erstmals eine Snookerhalle auf deutschem Boden; ein halbes Jahr später folgte eine weitere in Gifhorn. An beiden Orten wurde in dieser Zeit jeweils ein Snookerverein gegründet, zum einen der 1. DSC Hannover, zum anderen der RSC Gifhorn. Zur ungefähr selben Zeit begann der Deutsche Pool Billard Bund (DPBB), sich auch für Snooker zu interessieren, und trug 1986 die erste offene deutsche Snooker-Meisterschaft aus. Die beiden Vereine in Hannover und Gifhorn bemühten sich um eine Verbindung mit dem Verband, was aber an der passiven Haltung des DPBB zunächst scheiterte. Da jedoch der DPBB einen Veranstaltungsort für die nächste Ausgabe der Meisterschaft suchte, entstand eine Zweck-Kooperation mit dem RSC Gifhorn, dessen Räumlichkeiten zum Austragungsort bestimmt wurden. Wegen verschiedener Unstimmigkeiten distanzierten sich die beiden Vereine allerdings vom DPBB und gründeten im Anschluss an die Meisterschaft den Deutschen Snooker Kontrollverband (DSKV), der Mitglied in der European Billiards and Snooker Association und in der International Billiards & Snooker Federation wurde. Ab 1988 beziehungsweise 1989 trug der DSKV eine offene Meisterschaft mit internationaler Beteiligung und ebenfalls eine deutsche Snooker-Meisterschaft aus. Zudem spielten einige DSKV-Spieler bei Turnieren auf internationaler Ebene mit. Mittlerweile war aus dem DPBB die Deutsche Billard-Union hervorgegangen. Im Juli 1997 verständigten sich die beiden Verbände darauf, dass der DSKV zu Beginn des Jahres 1998 der DBU beitreten soll, da sich beide Seiten von einem solchen Beitritt eine Stärkung des Snookers in Deutschland erhofften. Ungefähr im selben Zeitraum fand die Erstausgabe der 1. Bundesliga Snooker statt, der obersten Spielklasse im deutschen Snooker. Deutschland ist damit das einzige Land, in dem Snooker als Teamsport organisiert ist. Anfang der 2000er-Jahre beschloss Eurosport nach mehreren erfolgreichen Übertragungen die Übertragung im deutschsprachigen Raum zu intensivieren, wodurch der Sport in Deutschland deutlich bekannter wurde. Davon abgesehen fanden ab Mitte der 1990er-Jahre auch professionelle Snookerturniere auf deutschem Boden statt, zuerst mit der European Snooker League 1994 in Bingen am Rhein. Noch im selben Jahrzehnt versuchte der Weltverband mit den German Open ein zeitweiliges Ranglistenturnier in Deutschland etablieren, der Versuch ging jedoch aus verschiedenen Gründen schief. Neben einem Event der World Series of Snooker und verschiedenen Exhibitions etablierte sich ab 2004 in Fürth ein Snookerturnier, das ursprünglich unter dem Namen Snooker Grand Prix Fürth als Jubiläumsveranstaltung für den dortigen Snookerverein mit Beteiligung von Paul Hunter und Matthew Stevens stattfand. Ab 2005 hieß das Pro-Am-Event Fürth German Open und ab 2007 in Erinnerung an den ein Jahr zuvor verstorbenen Hunter Paul Hunter Classic. Später wurde es Teil der Snooker Main Tour und zeitweilig auch ein Ranglistenturnier. Seit 2011 findet im Berliner Tempodrom zudem mit dem German Masters ein weiteres Profiturnier statt, das seit seiner Einführung ein Ranglistenturnier ist. Im Jahr 2004 gab es in Deutschland gut 300 Snookervereine und circa 4000 aktive Spieler. Letztere Zahl wurde 2018 auch von Rolf Kalb angeführt. Carsten Scheele schätzte dagegen 2016, dass auf rund 1500 Snookertischen ca. 5000 Spieler regelmäßig spielen würden. Dabei wird laut ihm primär in Ballungsgebieten gespielt, während es in dünn besiedelteren Regionen wie Mecklenburg-Vorpommern vergleichsweise wenig Spieler gibt. Zu den ersten bekannteren deutschen Spielern gehört der in Schottland geborene und später nach Deutschland gezogene Mike Henson sowie Sascha Diemer, der sich unter Hensons Anleitung zu einem der führenden deutschen Snookerspieler seiner Zeit entwickelte. Nachdem Henson bereits in den 1990er-Jahren für vier Saisons Profispieler war und 1994 das erste Maximum Break auf deutschem Boden gespielt hatte, wurde mit Lasse Münstermann zur Saison 2000/01 erneut ein Deutscher Main-Tour-Profi. Zwischen 2006 und den ersten Jahren der 2010er konnte sich auch Patrick Einsle mehrfach für die Main Tour qualifizieren, konnte jedoch sportlich mit nur wenigen Spielern mithalten. Infolgedessen gab er seine Startberechtigung freiwillig ab. In den 2010er-Jahren gab es zeitweise sogar zwei deutsche Profispieler, als sich die Profi-Zeiten von Lukas Kleckers und Simon Lichtenberg teilweise überschnitten. Zu den weiteren bekannteren Personen aus dem Snooker gehört der mehrfache deutsche Meister Thomas Hein, der neben verschiedenen Tätigkeiten bei der DBU vor allem als Co-Kommentator bei der Snookerweltmeisterschaft bekannt ist. Der bekannteste deutschsprachige Snooker-Kommentator ist Rolf Kalb, dem mitunter zugeschrieben wird, Snooker in Deutschland groß gemacht zu haben. Österreich und die Schweiz In Österreich gibt es seit 1990 mit dem Österreichischen Snooker- und Billiardsverband (kurz ÖSBV) einen eigenen nationalen Verband, der unter anderem Mitglied in der IBSF und in der EBSA ist. Seit 1991 wird die österreichische Snooker-Meisterschaft ausgetragen, die neben der „allgemeinen Klasse“ auch in anderen Disziplinen stattfindet. Zudem war und ist Österreich Austragungsort verschiedener internationaler Snookerturniere, primär auf Amateurebene. Nachdem man 2004 die Europameisterschaft in Österreich ausgetragen hatte, fand 2008 die Amateurweltmeisterschaft im österreichischen Wels statt. Davon abgesehen finden seit 2010 mit den 3 Kings Open in Rankweil und mit den Vienna Open in Wien zwei weitere Amateurturniere jährlich statt, an denen auch verschiedene Profispieler teilnehmen. 2020 fand mit dem European Masters erstmals ein Ranglistenturnier in Österreich statt. Zu den besten österreichischen Spielern gehören in Abwesenheit von nicht existenten Profispielern Andreas Ploner und Florian Nüßle. In der Schweiz ist Snooker ebenfalls nur eine kleine Randsportart. Aus dem Land kommt mit Alexander Ursenbacher allerdings ein Snookerspieler, der ab 2013 als erster Schweizer überhaupt auf der Main Tour spielte und sich für diese auch mehrfach wiederqualifizieren konnte. 2020 erreichte er als erster Schweizer und als erster Spieler aus dem deutschsprachigen Raum die Hauptrunde der Snookerweltmeisterschaft. In der Schweiz ist Snooker im Verband Swiss Snooker organisiert, der 2018 Mitglied bei der World Snooker Federation wurde. Diese hat zudem ihren Sitz in Lausanne. Seit 1988 hat die Schweiz eine eigene nationale Meisterschaft, die neben dem Amateurturnier Swiss Open, an denen auch Profispieler teilnehmen, das wichtigste Schweizer Turnier ist. Rezeption Aufnahme in den Medien Die Fernsehberichterstattung, insbesondere durch die BBC, verhalf dem Snookersport zu seinem Durchbruch. Im Jahr 1989 war Snooker dabei im Vereinigten Königreich der Sport, der im Fernsehen am meisten übertragen wurde und im Hinblick auf die Anteile der Zuschauerzahlen ebenfalls führte. Ab dem 21. Jahrhundert begann zunächst Eurosport mit einer breit angelegten Fernsehberichterstattung. Mit der Übernahme des Weltverbandes durch Barry Hearn verstärkten bzw. begannen auch unter anderem der britische Fernsehsender ITV und China Central Television die Übertragung von Snookerturnieren. Die Volksrepublik China ist mittlerweile der größte TV-Markt in Sachen Snooker. Im Vereinigten Königreich gibt es dennoch ein reges mediales Interesse am Snookersport, sowohl seitens der seriöseren Medien, die größtenteils eigene Fachleute für Snooker haben, als auch seitens der Boulevardpresse. Im deutschsprachigen Raum ist die mediale Präsenz zwar vergleichsweise gering, aber vorhanden. So veröffentlichen überregionale Zeitschriften regelmäßig Artikel über den Sport. Auch im Lokalsport erfährt Snooker durchaus einen gewissen Grad an Berichterstattung. In Büchern wird Snooker erstmals im Jahr 1889 erwähnt. Allerdings gab es erst seit den 1930ern verstärkt Publikationen übers Snooker, als der Sport das English Billiards sukzessive verdrängte. Zu jener Zeit gehörte Joe Davis zu den wichtigsten Sachbuchautoren. Davis’ Lehrbuch How I Play Snooker gilt als eine Art „Bibel des Snookers“. Mit dem Niedergang des Sportes verringerte sich auch die Anzahl der Veröffentlichungen, ehe sie mit zunehmender Beliebtheit ab 1969 wieder anstieg. So wurden in den 1980er-Jahren schließlich mehr als hundert Bücher und ähnliches übers Snooker veröffentlicht. Seit dem Jahrtausendwechsel gibt es verstärkt auch Autobiografien und Biografien auf dem Markt. Zu den wichtigsten Autoren seit 1969 gehört insbesondere Clive Everton, der langjährig auch Herausgeber der Fachzeitschrift Snooker Scene war. Künstlerisch-kulturelle Wahrnehmung Die US-amerikanische Schriftstellerin Lionel Shriver veröffentlichte mit The Post-Birthday World (im Deutschen unter dem Titel Liebesbeziehungen erschienen) einen Roman, dessen Handlung sich im Snookersport bewegt. 2016 debütierte im WM-Spielort, dem Crucible Theatre, das Theaterstück The Nap von Richard Bean, das sich unter Mitwirkung der Schauspieler Jack O’Connell und Mark Addy und des Snookerspielers John Astley um einen Sheffielder Snookerspieler in der WM-Hauptrunde dreht. Im selben Jahr erschien die von der BBC herausgegebene Film-Dramedy Rack Pack, die die Konkurrenz zwischen Alex Higgins und Steve Davis zum Thema hat. 2020 feierte der Film Break mit den Schauspielern Rutger Hauer und David Yip sowie Cameos von Ken Doherty, Jack Lisowski und Liang Wenbo seine Premiere. Des Weiteren gibt es ein Gemälde von Damien Hirst, das das Maximum Break von Hirsts Freund Ronnie O’Sullivan bei der Snookerweltmeisterschaft 1997 zeigt. Außerdem gibt es einige Musikstücke mit und über das Thema, darunter der Song Snooker Loopy, der 1986 als Produktion des Duos Chas & Dave mit mehreren bei Matchroom Sport unter Vertrag stehenden Spitzenspielern, die unter dem Namen Matchroom Mob auftraten, ein Charthit wurde. Der deutsche Ex-Profi Lasse Münstermann veröffentlichte einen entsprechenden Song in Deutsch. Schließlich gibt es einige Snooker-Computerspiele. Ein solches ist zum Beispiel das 2019 veröffentlichte und vom Weltverband lizenzierte Snooker 19. Literatur Weblinks Offizielle Snooker-Regeln auf der Website der WPBSA (PDF) , Länge: je ca. 1:30h International Website der World Snooker Federation Website von World Snooker Tour Website der International Billiards & Snooker Federation Website der European Billiards and Snooker Association Website der Snooker-Datenbank CueTracker National Website der Deutschen Billard-Union Website des Österreichischen Snooker- und Billiardsverbandes Website der Sektion Snooker des Schweizerischen Billard Verbandes Website der German Snooker Tour Website der Informationsplattform Snookermania.de Einzelnachweise <-- Kalb/Hein 2019 --> Präzisionssportart Wikipedia:Artikel mit Video Billardvariante
101696
https://de.wikipedia.org/wiki/James%20A.%20Garfield
James A. Garfield
James Abram Garfield (* 19. November 1831 in Orange Township (heutiges Moreland Hills), Cuyahoga County, Ohio; † 19. September 1881 in Elberon, Monmouth County, New Jersey) war ein amerikanischer Politiker (Republikanische Partei) und vom 4. März 1881 bis zu seinem Tod infolge eines Attentats der 20. Präsident der Vereinigten Staaten. Garfield wuchs in ärmlichen Verhältnissen im damaligen Grenzland (Frontier) als Halbwaise auf. Als überzeugter Anhänger des christlichen Restoration Movements („Erneuerungsbewegung“) besuchte er dessen Western Reserve Eclectic Institute (heutiges Hiram College) und wechselte später auf das Williams College, wo er seinen Abschluss machte. Danach war er Lehrer am Hiram College, bis er 1859 in die Politik ging und in den Senat von Ohio gewählt wurde. Parallel dazu studierte er Jura. Während des Sezessionskriegs kämpfte er für die Nordstaaten und brachte es in der Unionsarmee zum Generalmajor, wobei er sich vor allem in der Schlacht von Middle Creek auszeichnen konnte. Ab 1863 war er Abgeordneter im Repräsentantenhaus der Vereinigten Staaten und zählte anfangs zur Fraktion der radikalen Republikaner. Später näherte er sich den Half-Breeds („Mischlingen, Halbblütern“) an, die eine Verwaltungsreform zur Abschaffung des Spoilssystems („Beutesystem“) anstrebten. Ein zentrales Projekt für Garfield im Kongress war die Durchsetzung einer auf dem Goldstandard beruhenden antiinflationäre Hartgeldpolitik. Die meisten Akzente konnte er als Vorsitzender des Committee on Appropriations („Haushaltsausschuss“) setzen. Im Jahr 1873 schädigten die mutmaßliche Verwicklung in den Korruptionsskandal um die Baufirma Crédit Mobilier of America und die Mitwirkung an einer Gehaltserhöhung für Kongressabgeordnete für einige Zeit sein Ansehen erheblich. Dennoch wurde er 1877 Fraktionsführer der Republikaner im Repräsentantenhaus. Im gleichen Jahr saß Garfield im Kongressausschuss, der über den umstrittenen Ausgang der Präsidentschaftswahl von 1876 entschied und war an der daran anschließenden Aushandlung des Kompromisses von 1877 beteiligt. Auf dem zwischen den Faktionen der Stalwarts („Feste, Starke, Mutige“) und Half-Breeds stark umkämpften Nominierungsparteitag der Republikaner im Juni 1880 konnte er sich als Überraschungssieger und Kompromisskandidat gegen Ulysses S. Grant und James G. Blaine durchsetzen. Nach seinem Sieg bei der Präsidentschaftswahl gegen den demokratischen Bewerber Winfield Scott Hancock war er nur für wenige Monate im Amt, die durch Querelen mit Roscoe Conkling um Stellenbesetzungen gekennzeichnet waren. Am 2. Juli 1881 wurde er bei einem Attentat von Charles J. Guiteau schwer verwundet und erlag seinen Verletzungen keine drei Monate später. Sein Mörder hatte sich zuvor erfolglos um eine Position in der Garfield-Administration beworben. Leben Familie und Ausbildung (1831–1850) James A. Garfield wurde nach seinem älteren Bruder James Ballou Garfield, der als Kind starb, und nach seinem Vater Abram Garfield benannt. Dessen Vorfahr Edward Garfield war 1630 aus Europa in die Massachusetts Bay Colony ausgewandert, wo seine Nachkommen für lange Zeit lebten. Abram Garfields Großvater übersiedelte nach der Amerikanischen Revolution nach Worchester in New York, wo auch sein Enkel zur Welt kam. James A. Garfields Mutter, Eliza Ballou, hatte aus Providence stammende Eltern und wurde in New Hampshire geboren. Nachdem ihr Vater gestorben war, lebte sie mit ihrer Mutter in Worchester, wo sie Abram Garfield kennenlernte. Im Februar 1820 heirateten sie und zogen in das malariaverseuchte Tal des Cuyahoga Rivers in der Western Reserve, damals vom restlichen Ohio isoliertes und durch ärmliche Lebensbedingungen gekennzeichnetes Grenzland (Frontier). Im Jahr 1829 erwarb Abram Garfield nach einem kurzfristigen geschäftlichen Erfolg als Kleinunternehmer im Kanalbau acht Hektar eigenes Farmland samt Blockhaus im Orange Township, dem heutigen Moreland Hills. Hier kam zwei Jahre später James A. Garfield als jüngstes von fünf Kindern zur Welt. Im Jahr 1833 traten Garfields Eltern dem Restoration Movement („Erneuerungsbewegung“) bei, einer christlichen Erweckungsbewegung unter Führung von Alexander Campbell. Diese Kirche, die in der Western Reserve als Disciples of Christ („Jünger Christi“) bekannt war und pietistische Züge aufwies, prägte den weiteren Lebensweg Garfields. Im Mai 1833 starb sein Vater an einer Lungenkrankheit, was die Familie an den Rand der Armut brachte. So musste die Mutter Teile ihres Grundbesitzes verkaufen, um die drängendsten Schulden abzuzahlen, und Garfields 12-jähriger Bruder Thomas die Farmarbeiten des Vaters übernehmen. Eliza Garfield heiratete im April 1842 erneut, aber verließ ihren in einem Nachbarort lebenden Mann nach einem Jahr, was in der damaligen Zeit als selten vorkommendes, skandalöses Verhalten galt. Als Jugendlicher wurde Garfield zu einem leidenschaftlichen Leser, den vor allem Seefahrtsgeschichten faszinierten. Im August 1848 verließ er kurzentschlossen die Mutter, um im nahegelegenen Cleveland auf einem Schiff anzuheuern. Letztendlich fand er eine Anstellung auf einem Kanalboot, das zwischen Cleveland und Pittsburgh verkehrte. Anfang Oktober musste er die Arbeit aufgeben und nach Hause zurückkehren, als bei ihm eine starke Fieberkrankheit ausbrach. Dort konnten ihn die Mutter und sein Grundschullehrer dazu überreden, fürs Erste weiter auf die Schule zu gehen. Ab März 1849 besuchte er eine weiterführende Akademie in Chester Township im Geauga County, die von Baptisten betrieben wurde. Zu dieser Zeit gab es kein bundesstaatliches Schulsystem in Ohio, weshalb Jugendliche auf Sekundarschulen dieser Art angewiesen waren, wenn sie nach der Grundschule weiterlernen wollten. In diesem Umfeld entwickelte Garfield einen außergewöhnlichen Bildungseifer und legte seine Seefahrtspläne rasch ad acta. Um Schule und Unterkunft in einer Pension zu finanzieren, arbeitete er in einer Zimmerei und wie viele seiner Mitschüler ab November 1849 nach einer oberflächlichen Prüfung als Lehrer. Auf einer regionalen Versammlung der Disciples of Christ im März 1850 hatte er ein religiöses Erweckungserlebnis und ließ sich taufen. Hatte er bis dahin vor allem der Mutter zuliebe die Gottesdienste besucht, war er von nun an ein überzeugter „Jünger Christi“. Sein Glaube spiegelte sich in seinen politischen Überzeugungen wider. So lehnte er den Abolitionismus, also die Sklavenbefreiung, ab, weil sich die Bibel an keiner Stelle gegen diese Institution ausspräche, und nahm nicht an den ausschweifenden Feiern zum Unabhängigkeitstag teil, sondern verbrachte die Zeit im Gebet. Aufgrund seiner religiösen Überzeugung und aus finanziellen Gründen fühlte er sich an der baptistischen Akademie zunehmend unwohl. Western Reserve Eclectic Institute und Williams College (1850–1856) Gegen Ende 1850 verließ er die Schule in Geauga und arbeitete für ein Jahr als Lehrer und Zimmerer. Im Herbst 1851 schrieb er sich am Western Reserve Eclectic Institute (heutiges Hiram College) in Hiram im Portage County ein, eine von den Disciples of Christ betriebene Bildungseinrichtung. Aufgrund seiner Vorbildung und starken Physis genoss er unter den Mitschülern hohes Ansehen. Garfield gewann in dieser Zeit weiter an Selbstvertrauen und entdeckte an sich eine außergewöhnliche Begabung als Redner. Tatsächlich wurde er später einer der effektivsten Wahlredner seiner Generation. Das Curriculum umfasste neben der von ihm besonders geschätzten klassischen Bildung in Latein und Griechisch auch Geologie, Mathematik und Spencer-Schrift. Außerschulisch las er mit einer befreundeten Mitschülerin Horaz, Vergil, Sallust, Xenophon und das Neue Testament. Daher rührend verwendete er bei seinen späteren Reden im Kongress der Vereinigten Staaten oft lateinische Zitate als Stilmittel. Ab Frühjahr 1853 begann er sich als Prediger in den Kirchen der Umgebung zu betätigen. Gegen Jahresende entwickelte er eine zunehmende Leidenschaft für die Mitschülerin Lucretia Rudolph, die er seit der Akademie in Chester kannte. Ihr Vater Zeb Rudolph war ein führender Disciple und saß im Vorstand des Western Reserve Eclectic Institute. Einer Vertiefung ihrer Beziehung stand vorerst entgegen, dass sich Garfield am Eclectic Institute, an dem er seit einem Jahr selbst Unterricht gab, intellektuell unterfordert fühlte, und Anfang 1854 beschloss, auf eine Universität zu wechseln. Hinzu kam, dass das Eclectic Institute keinen staatlich anerkannten Bachelor-Abschluss anbot. Im Juli 1854 wurde er nach einer kurzen Prüfung durch den Universitätspräsidenten Mark Hopkins als Student am Williams College in Williamstown, Massachusetts zugelassen. Hopkins Einfluss schärfte in den folgenden Jahren die kritische Denkfähigkeit Garfields, der in dem geistigen Klima dieses neuenglischen und calvinistischen Colleges aufblühte und es später als den eigentlichen Start seines intellektuellen Lebens beschrieb. Anfangs wurde er von den zumeist jüngeren und aus wohlhabenden Verhältnissen stammenden Kommilitonen kritisch beäugt. Aufgrund seiner glänzenden Leistungen im Debattierclub, der in der Ära vor dem Aufkommen des Collegesports den Mittelpunkt studentischer Aktivitäten auf dem Campus bildete, verschaffte er sich rasch hohes Ansehen. In der Folge wurde er zum Vorsitzenden einiger Studentenclubs und zum Herausgeber des Universitätsmagazins Williams Quarterly gewählt. Weil einige der Kommilitonen streng religiöse Calvinisten waren, hielt er sich mit dem eigenen Glauben bedeckt. Den zu dieser Zeit an Bedeutung gewinnenden Studentenverbindungen (Fraternities und Sororities) stand er ablehnend gegenüber. Zur Finanzierung seines Studiums arbeitete er während der Semesterferien in den umliegenden Ortschaften als Lehrer. In Pownal, Vermont, unterrichtete er an der gleichen Schule wie ein Jahr zuvor sein späterer Vizepräsident Chester A. Arthur. Garfield war ein guter, aber kein brillanter Student, der mit seinen Leistungen deutlich in der oberen Hälfte des Jahrgangs lag. Am Williams College kam er vertieft mit Naturwissenschaften in Berührung, wobei er sich aber mit Chemie nie anfreunden konnte. Insbesondere begeisterte sich Garfield so sehr für Germanistik, dass er eine Zeit lang ein Studium in Göttingen in Erwägung zog. Hopkins und das akademische Umfeld insgesamt bewirkten, dass Garfield sich für Politik zu interessieren begann. Im Frühjahr des Präsidentschaftswahljahrs 1856 besuchte er eine Wahlkampfveranstaltung für John C. Frémont und hielt hier seine erste politische Rede. Einige von Garfields religiösen Überzeugungen kamen in dieser Phase ins Wanken. So bewog ihn das Studium von Theodor Körners Gedichten dazu, seinen den Lehren der Disciples of Christ geschuldeten Pazifismus zu überdenken. Die Agitation in Neuengland gegen die durch den Kansas-Nebraska Act ermöglichte Einführung der Sklaverei im Kansas-Territorium (Bleeding Kansas „Blutendes Kansas“) führte bei ihm zu einem Gesinnungswandel. Er sprach sich nun für eine graduelle Abschaffung der Sklaverei und ein Verbot ihrer weiteren Verbreitung aus. Zwar bewahrte Garfield sich seinen Glauben, aber bis Juni 1856 war er zu der Überzeugung gelangt, dass er keine kirchliche Laufbahn mehr anstrebte. Im August schloss er das Studium ab und begann als Lehrer für alte Sprachen und Literatur am Eclectic Institute in Hiram zu arbeiten. Lehrtätigkeit (1856–1859) Zurück in Hiram fühlte er sich schnell von seiner Lehrtätigkeit nicht ausgefüllt. Daher engagierte er sich bei den Republikanern und predigte wieder verstärkt. Weil es an der Schule konstant Disziplinprobleme gab, wurde Direktor Hayden Anfang 1857 entlassen und Garfield zu seinem Nachfolger bestimmt, wobei der erfahrenere Norman Dunshee übergangen wurde. Unter Garfield verfolgte das Eclectic Institute eine liberalere Agenda. Die Bedeutung der Theologie wurde im Unterrichtsplan zugunsten von Fächern wie Geschichte, Naturwissenschaft und Sport herabgestuft und die Akademie für Schüler anderer Konfessionen geöffnet. Als Lehrer wandte er progressive Unterrichtsmethoden an, indem er nicht nur Lernstoff vermittelte, sondern die Schüler zu selbständiger Gedankenführung und kritischer Beobachtungsgabe ermunterte. Tatsächlich prosperierte unter Garfield das Eclectic Institute trotz der Wirtschaftskrise von 1857. Obwohl er seit vier Jahren mit Lucretia Rudolph verlobt war, zögerte er 1858 immer noch mit der Heirat. Erst nach Druck im Freundeskreis und durch den zukünftigen Schwiegervater kam es am 11. November 1858 zur Hochzeit. Aus der Ehe gingen sieben Kinder hervor, von denen fünf das Erwachsenenalter erreichten. Der 1865 geborene James war von 1907 bis 1909 amerikanischer Innenminister. Der um zwei Jahre ältere Harry wurde Jurist, Politikwissenschaftler und Präsident des Williams College. Die Ehe durchlief einige Tiefen, in den 1860er Jahren gab es immer wieder Gerüchte um außereheliche Beziehungen Garfields. Im Herbst 1862 hatte er eine Affäre, die fast zur Trennung führte. In der letzten Dezemberwoche 1858 führte Garfield in Chagrin Falls eine öffentliche Debatte mit einem umherziehenden atheistischen Freidenker. Sie stieß auf großes Interesse und lockte bis zu tausend Zuschauer an. Garfield wurde allgemein als Sieger betrachtet und erlangte Prominenz in der Region. In Vorbereitung auf die Debatte hatte er sich verstärkt mit Naturwissenschaften beschäftigt und ihnen danach im Curriculum des Eclectic Institute noch mehr Bedeutung zugestanden. Dies wie auch sein Versuch, eine Schachliga mit anderen Akademien auszurichten, brachte ihm Kritik von der Fraktion der strenggläubigen, Spiele als weltliche Vergnügungen verwerfenden Disciples ein, die Dunshee befeuerte. Obwohl Garfield selbst in einem Fall einem entflohenen Sklaven Unterschlupf gewährt hatte, hielt er die Schule aus der Politik raus und untersagte eine Kundgebung von Abolitionisten am Eclectic Institute. Bis 1859 hatte sich sein religiöser Eifer so weit gelockert, dass er nun, mit seiner aktuellen beruflichen Situation unzufrieden, mit einer Lehre zum Anwalt und einem Einstieg in die Politik zwei Tätigkeiten anstrebte, die er früher als moralisch verwerflich abgelehnt hatte. Als im August 1859 der republikanische Kandidat seines Wahlbezirks für den Senat von Ohio verstarb, stellten die lokalen Parteiführer Garfield auf, nachdem er auf dem Nominierungsparteitag das Rennen gemacht hatte. Weil sein Distrikt stramm republikanisch und abolitionistisch geprägt war, einer seiner späteren Wähler war John Brown, kam der Erfolg bei der Primary dem Einzug in den Senat gleich. Entsprechend gewann er nach einem Wahlkampf, in dem es fast ausschließlich um die Sklavenfrage gegangen war, am 11. Oktober mit großem Vorsprung gegen den Demokraten Alvah Udall. Garfield zog als jüngster Senator in die State Legislature („Bundesstaat-Parlament“). Im Senat von Ohio (1859–1861) Kurz vor dem Jahresende 1859 traf Garfield in Columbus, der Hauptstadt von Ohio ein. Er bezog ein Pensionszimmer mit Jacob Dolson Cox, mit dem ihm bald eine enge politische Partnerschaft verband. Obwohl ein Neuling, schaltete er sich von seinem ersten Tag an in die Debatten im Kongress Ohios (Ohio General Assembly) ein. Seinen Gesetzesinitiativen, deren wichtigste ihm die Finanzierung einer geologischen Kartierung Ohios war, war wenig Erfolg beschieden. Besonderen Beifall in seinem Wahlbezirk erhielt Garfield für seine Rede gegen einen Gesetzesvorschlag konservativer Republikaner, der vor dem Hintergrund von John Browns Überfall auf Harpers Ferry Sicherheitszusagen an den Sklavenstaat Virginia machte. Für die Teilnahme an einer Delegation der Ohio General Assembly, die sich in Louisville mit den Abgeordneten der State Legislature von Kentucky und Tennessee traf, musste er dagegen Kritik von seinen Wählern einstecken. Insgesamt machte er vor allem durch seine Fähigkeiten als Redner auf sich aufmerksam und erlangte im Bundesstaat zunehmende Bekanntheit. Auf dem Parteitag der Republikaner in Ohio im Juni 1860 hinterließ er einen starken Eindruck und war danach ein gefragter Redner im Präsidentschaftswahlkampf von Abraham Lincoln mit Auftritten auf mehr als 40 Kundgebungen. In der unmittelbar auf Lincolns Sieg folgenden Sezessionskrise, die sich an der Sklavenfrage entzündete und zur Herausbildung der Konföderierten Staaten von Amerika führte, befürwortete der ehemalige Pazifist Garfield leidenschaftlich einen Bürgerkrieg, um mit der Sklaverei endgültig Schluss zu machen. Diese Kriegsbegeisterung entsprach der allgemeinen Stimmungslage in Columbus. Die genauen Gründe für Garfields Wandel zum Falken sind nicht gesichert. Anfang 1861 schloss er die Anwaltslehre ab, die er zwei Jahre zuvor bei einer Kanzlei in Cleveland begonnen hatte. Mitte Februar traf er den designierten Präsidenten Lincoln und zeigte sich von ihm wenig beeindruckt. In den folgenden Jahren verhärtete sich dieses Gefühl wegen dessen Zögern in der Sklavenfrage zu Verachtung. Garfield erwartete einen kurzen, aber blutigen Bürgerkrieg und beschäftigte sich mit den Feldzügen von Napoleon Bonaparte und Arthur Wellesley, 1. Duke of Wellington. Im Sezessionskrieg Eintritt in die Unionsarmee und Schlacht von Middle Creek (1861–1862) Nach Ausbruch des Amerikanischen Bürgerkriegs am 12. April 1861 unterstützte er zuerst Gouverneur William Dennison junior im Senat bei der Finanzierung der hastig aufgestellten Freiwilligen-Regimenter. Außerdem brachte er ein Gesetz durch, das die Gesetzeshürden für die Bestrafung von Landesverrat gegenüber dem Bundesstaat Ohio absenkte und sich insbesondere gegen die Demokraten richtete. Nach mehreren gescheiterten Versuchen erhielt er im August von Dennison das ersehnte Kommando über ein Regiment zugewiesen, mit dem der Dienstgrad Oberstleutnant verbunden war. Nur wenige Wochen später beförderte ihn der Gouverneur zum Oberst. Garfields 42. Ohio-Freiwilligen-Infanterie-Regiment existierte zuerst nur auf dem Papier und musste von ihm selbst ausgehoben werden. Dazu wandte er sich zuerst an das Hiram College, wo er eine ganze Kompanie von Studenten rekrutierte. Bis September wuchs das 42. Ohio-Regiment auf sieben Kompanien auf und Garfield hatte mit Don Pardec und Lionel Allen Sheldon zwei Stabsoffiziere unter seinem Kommando. Ende November erreichte es mit zehn Kompanien seine volle Stärke und lagerte in Camp Chase am Stadtrand von Columbus. Garfield eignete sich parallel zu seinen Rekrutierungsbemühungen ein Grundwissen in Militärtaktik an. Ihm standen nur wenige Wochen Drill zur Verfügung, um seine Soldaten auf das Schlachtfeld vorzubereiten. Außerdem musste sich Garfield um die Ausrüstung des Regiments kümmern, die sich problematisch gestaltete. Bei der Führung der Untergebenen erwiesen sich die im Rahmen seiner Lehrtätigkeit erworbenen Kompetenzen als hilfreich. Mitte Dezember erhielt Garfield die Order, mit seinem Regiment nach Catlettsburg in Kentucky zu marschieren. Dort wurde er unter das Kommando von General Don Carlos Buell gestellt, der die Army of the Ohio („Armee des Ohio“) befehligte. Das strategische Ziel der Ohio-Armee war die Einnahme von Nashville, wobei ihre linke Flanke im Tal des Big Sandy River im östlichen Kentucky von Konföderierten Truppen unter der Führung von Brigadegeneral Humphrey Marshall bedroht wurde. Buell gab Garfield das Kommando über die 18. Brigade und entsandte ihn gegen Marshalls Truppen in das unwegsame und abgelegene Terrain des Big-Sandy-River-Tals. Bis Ende Dezember stieß die Brigade über Louisa in das Quellgebiet des George’s Creek, eines kleinen Zuflusses des Big Sandy, vor und errichtete hier eine Basis. Derweil marschierte Marshall aus dem Süden kommend durch das Big-Sandy-River-Tal und befestigte Anfang Januar 1862 seine Stellung im nahegelegenen Paintsville. Obwohl mit seinen 1500 Mann gegenüber Marshall in der Unterzahl und ohne Artillerie wartete Garfield nicht auf Verstärkung, sondern teilte seine Truppen auf, um am 5. Januar von allen drei Zufahrtsstraßen gleichzeitig auf Paintsville zu marschieren. Die Konföderierten überschätzten durch dieses Manöver die Truppenstärke des Gegners, räumten ihr Lager und zogen sich Richtung Süden zurück. Von diesem Moment an waren sie ständig in der Defensive. Einige Tage später setzte Garfield Marshalls Truppen entlang des Big Sandy nach. Am Middle Creek, einem weiteren Zufluss des Big Sandy, stieß er am 10. Januar auf die Konföderierten, die hinter einer Hügelkette Stellung bezogen hatten. Wiederum gelang es ihm, mittels einer Militärparade den übervorsichtigen Marshall über seine wahre Truppenstärke zu täuschen. Im Tagesverlauf griffen nie mehr als zwei Kompanien Garfields gleichzeitig die Hügelstellung der Rebellen bis in die Abendstunden an, während die eintreffende Verstärkung unter Oberst Lionel Allen Sheldon nicht mehr ins Kampfgeschehen eingriff. Marshall leistete nur schwache Gegenwehr, räumte in der darauffolgenden Nacht seine Position und setzte seinen Rückzug fort. Im Gegensatz zu den späteren Gefechten im Amerikanischen Bürgerkrieg waren die Verluste beider Seiten während der Schlacht von Middle Creek nur sehr gering; auf Seiten der Union fielen nur drei Mann. Wie bei vielen Landsleuten seiner Generation veränderte diese erste Kampferfahrung Garfields bis dahin provinzielles und behütetes Weltbild. In den Nordstaaten feierte die an Misserfolge der Unionsarmee gewöhnte Presse Garfields Sieg, bis er zehn Tage später von General George Henry Thomas’ Triumph im Gefecht bei Mill Springs aus den Schlagzeilen verdrängt wurde. Nachdem sich Marshall vollständig nach Virginia zurückgezogen hatte, sah sich Garfield mit der Verwaltung des östlichen Kentucky konfrontiert. Ihm wurde die Aufgabe dadurch erleichtert, dass es in diesem Landesteil keine Sklaverei gab. Mit einer vergleichsweise moderaten Besatzungspolitik, die gemäßigter war als die der späteren Reconstruction in den Sezessionsstaaten, gelang es ihm, in der Region die Ordnung wieder herzustellen. Im Februar verlegte die 18. Brigade ihr Hauptquartier von Paintsville nach Pikeville. Noch im gleichen Monat suchte sie eine Flutkatastrophe heim, in deren Nachklapp eine Seuche den Verband stark ausdünnte und viele Tote forderte. In dieser tragischen Zeit erfuhr Garfield von seiner Beförderung zum Brigadegeneral. Zwar begrüßte er ein größeres Kommando, andererseits fühlte er sich dem 42. Ohio-Regiment stark verbunden. Nachdem er mit seiner Brigade eine letzte Garnison der Rebellen auf der Passhöhe Pound Gap genommen hatte, beorderte sie Buell Ende März aus dem Big-Sandy-River-Tal nach Louisville, Kentucky. Von dieser Zeit an bis zu seinem Tod war er trotz der späteren politischen Karriere in der Öffentlichkeit als General Garfield bekannt. Schlacht von Shiloh und Wahl in das Repräsentantenhaus (1862) In Louisville angekommen, erhielt Garfield das Kommando über die 20. Brigade samt dem Befehl, sich mit seinen Truppen bei Pittsburg Landing am Westufer des Tennessee Rivers einzufinden, wo General Ulysses S. Grant eine große Armee aufstellte. Als am Morgen des 6. April 1862 die Schlacht von Shiloh am Sammelpunkt der Unionsarmee begann, waren Buell und Garfield noch mehr als 50 km vom Kampfgeschehen entfernt. Nach einem Gewaltmarsch ohne Schlaf erreichte Garfields Brigade am Vormittag des nächsten Tages Pittsburg Landing. Als sie an der Frontlinie eintrafen, hörten sie ihre Kameraden jubeln und sahen die Rebellen fliehen; ohne dass sie noch in den Kampf eingreifen konnten, war die Schlacht entschieden. Nach dem Sieg übernahm General Henry Wager Halleck als Oberbefehlshaber der Unionsarmee auf dem westlichen Kriegsschauplatz die Truppen und marschierte auf Corinth, Mississippi. Halleck bewegte sich aus Angst vor befestigten Stellungen der Konföderierten äußerst vorsichtig und beständig eingrabend, so dass sich der Anmarsch bis Ende Mai hinzog. Während dieser Zeit erlitt die Brigade Garfields durch Fieber aufgrund von Nässe und ständiger Erdarbeiten hohe Verluste. Als die Unionsarmee endlich vor der Stadt stand, waren die Konföderierten unter General Pierre Gustave Toutant Beauregard schon vollständig abgezogen, womit die Erste Schlacht um Corinth nicht nur in den Augen Garfields ein unwürdiges und frustrierendes Ende fand. Wie viele andere Kameraden auch warf er Absolventen von West Point, wie Halleck einer war, mangelnden Kampfeswillen vor, weil sie insgeheim Anhänger der Sklaverei seien. Aufgrund seiner Bekanntheit drängten ihn Freunde und Wähler, bei den Primaries für den 38. Kongress der Vereinigten Staaten gegen den bisherigen Repräsentanten John Hutchins anzutreten. Typischerweise scheute er eine aktive Bewerbung, gab keine verbindliche Antwort und überließ das weitere Vorgehen seinen Anhängern, die sofort eine Wahlkampforganisation für ihn auf die Beine stellten. Garfield bewegte sich derweil mit der 20. Brigade Richtung Chattanooga, ohne Feindkontakt zu haben. Unterwegs wurde er erstmals mit Massen ehemaliger Sklaven konfrontiert und gelangte durch diese Erfahrung zu der Überzeugung, dass die Union nur durch die Zerschlagung der Pflanzer-Klasse wiederhergestellt werden könnte. Im Spätsommer erkrankte Garfield an Gelbsucht, wurde Anfang August vom Dienst freigestellt und nach Hiram transportiert. Am 2. September siegte er in einem knappen Rennen gegen Hutchins auf dem Nominierungsparteitag und im Oktober bei den Kongresswahlen. Auf der Suche nach einem neuen Kommando in Washington Weil seine Sitzungsperiode im Repräsentantenhaus erst im Dezember 1863 anstand und er sich kurz nach seiner Nominierung soweit erholt hatte, um in den aktiven Militärdienst zurückzukehren, begab er sich Anfang September 1862 nach Washington, D.C., wohin ihn das Kriegsministerium berufen hatte. Dort sollte ihm ein neues Kommando zugewiesen werden. Das erste Angebot von Minister Edwin M. Stanton, das eine Verwendung im Westen Virginias vorsah, schlug er aus, auch weil er auf eine Wiedervereinigung mit seinem Regiment auf dem Cumberland Gap hoffte. In der Suche nach einem attraktiven Kommando fand er in Finanzminister Salmon P. Chase einen Verbündeten und Freund. Wenig später wurde er dauerhaft der Hausgast von Chase. Angesteckt durch den Finanzminister und seine hochrangigen Besucher, unter ihnen Politiker aber auch Gelehrte, begeisterte sich Garfield für Finanzpolitik und studierte während seiner Wartezeit auf ein neues Kommando die einschlägige Literatur. Er wurde zu einem Anhänger von „ehrlichem“ Hartgeld samt Goldstandard und stand der unlängst begonnenen Ausgabe von Dollar-Banknoten skeptisch gegenüber, auch wenn er sie zur Finanzierung des Bürgerkriegs als unvermeidlich ansah. Diese Auffassung wurde mit der Zeit zu einem Dogma, dem er mit großem Eifer folgte und das ihn kennzeichnete. Während dieser Phase begann er sich dem Parteiflügel der radikalen Republikaner zuzuordnen. Während aus unterschiedlichen Gründen immer noch kein neues Kommando zustande kam, setzte ihn das Kriegsministerium Ende des Jahres als Jurymitglied in den Militärgerichtsverfahren gegen die Generale Irvin McDowell und Fitz-John Porter ein. Als sich das Tribunal gegen Porter hinzog, der sich wegen seines Verhaltens bei der Zweiten Schlacht am Bull Run verantworten musste, begann Garfield damit, die Werke des von ihm bewunderten Friedrich des Großen zu übersetzen. Kurz vor der Fertigstellung dieses Buchprojektes erhielt er Mitte Januar 1863 endlich einen Dienstposten zu seiner Zufriedenheit; er wurde der von Generalmajor William Starke Rosecrans geführten Army of the Cumberland („Cumberland-Armee“) zugeteilt. In der Army of the Cumberland Ende Januar 1863 traf Garfield im Hauptquartier der Army of the Cumberland in Murfreesboro, Tennessee ein, wo er auf Rosecrans traf. Er verstand sich so gut mit dem umtriebigen Rosecrans, dass dieser ihn nicht aus seiner nächsten Umgebung in ein Feldkommando entließ, sondern Ende Februar zu seinem Chef des Stabes ernannte. Zum Widerwillen einiger Offiziere, die in ihm einen Informanten für die radikalen Republikaner sahen, entfaltete Garfield aufgrund seiner engen Beziehung zu Rosecrans mehr Einfluss auf die Organisation der Cumberland-Armee als in dieser Dienststellung zu dieser Zeit im amerikanischen Militär üblich war. Bis auf wenige Ausnahmen hörte der Armeechef auf seinen Rat. Garfield genoss an seiner Position vor allem, dass sie ihm den Entwurf von Strategien ermöglichte, ohne sich dabei mit West-Point-Absolventen auseinandersetzen zu müssen. Deren Militärdoktrin orientierte sich an der Kriegsführung des 18. Jahrhunderts und den Werken von Antoine-Henri Jomini, während Garfield erkannte, dass der Konflikt zwischen Nord- und Südstaaten mit militärischen Mitteln allein nicht beendet werden konnte, sondern eine politische Lösung in Form der Sklavenbefreiung verlangte. Auch verstand er, dass sich der amerikanische Bürgerkrieg nicht auf Armeen beschränken ließ, weil die Sklavenhaltergesellschaft mit Gewalt zerschlagen werden musste. Nachdem Rosecrans monatelang keine Anstalten machte, der im nicht weit entfernten Tullahoma positionierten Army of Tennessee unter Braxton Bragg nachzusetzen, die er noch Anfang des Jahres in der Schlacht am Stones River besiegt hatte, wurde Garfield immer unzufriedener. Wenigstens konnte er ihn zu einem Angriff auf die Nachschublinien der Konföderierten überreden. Zu Garfields Enttäuschung wurde jedoch nicht er, sondern Oberst Abel D. Streight Ende April mit dem Überfall betraut. Dieser endete in einem Fehlschlag, als die gesamte Kavallerie-Einheit gegen General Nathan Bedford Forrest kapitulierte. Anfang Juni bewegte Garfield Rosecrans endlich zu einer Offensive der gesamten Armee, die im letzten Moment aber auf Drängen hoher Offiziere abgesagt wurde. Er erhielt den Auftrag, in einem Bericht alle Argumente zusammenzufassen, die für einen Angriff auf die Tennessee-Armee sprachen. Garfield führte in diesem Text genaue Kalkulationen an, die eine geringere Truppenstärke der Konföderierten nahelegten. Sein Schlüsselargument war, dass selbst bei einem „Unentschieden“, also einem kampflosen Rückzug Braggs, die Südstaaten eine moralische und psychologische Niederlage erlitten hätten. Rosecrans ließ sich überzeugen und am 24. Juni setzte sich die Cumberland-Armee in Bewegung. Über den schwierigsten, aber am schwächsten verteidigten Pass Manchester Gap stieß der Großteil der Army of the Cumberland auf Tullahoma vor, während eine Kavallerie-Brigade unter Oberst John T. Wilder die Nachschublinien der Konföderierten abschnitt und kleinere Einheiten zwei weitere Pässe attackierten. Durch diese Operation glaubte sich Bragg mit mehreren Armeen konfrontiert und befahl den Rückzug über den Tennessee River Richtung Chattanooga. Als Rosecrans am 3. Juli Tullahoma nahm, fand er es daher verlassen vor. Entgegen dem Rat Garfields, der sich für eine sofortige Verfolgung der Tennessee-Armee aussprach, hielt Rosecrans fürs Erste die Stellung. Garfield machte seinen Unmut über diese Verzögerung Ende Juli in einem vertraulichen Brief an Chase Luft. Nach seinem Tod gelangte der Brief an die Öffentlichkeit und wurde von vielen als Vertrauensbruch angesehen und schadete seinem Ansehen. Allerdings sah sich Rosecrans schon vor dem Eintreffen von Garfields Schreiben in Washington enormer Kritik ausgesetzt. Erst auf Druck des Kriegsministeriums setzte sich Rosecrans wieder in Bewegung und überquerte den Tennessee River am 29. August an mehreren Stellen südlich und westlich von Chattanooga. Bragg zog seine Armee am 8. September aus Chattanooga ab und verbarg sie in den nahegelegenen Appalachen. Schlacht von Chickamauga Ohne von der gegnerischen Position zu wissen, schlug Rosecrans in Chattanooga sein Hauptquartier auf. Mitte September mehrten sich die Anzeichen, dass Bragg nicht weit entfernt lag und die verstreuten Einheiten der Cumberland-Armee wurden wieder zusammengezogen. Am Morgen des 19. September trafen die Armeen im Chickamauga Creek aufeinander, wobei der erste Tag der Schlacht keine Entscheidung brachte. Über eine missverständliche Order von Rosecrans, die nicht wie üblich von Garfield, sondern von Major Frank Bond schriftlich fixiert wurde, entstand am nächsten Tag eine Lücke in der Aufstellung der Divisionen, in die die Konföderierten unter der Führung von Generalleutnant James Longstreet vorstießen. Im Zentrum des verhängnisvollen Angriffs lag das Hauptquartier der Unionsarmee, so dass sich Rosecrans und Garfield zur Flucht gezwungen sahen. Während sich der Armeechef nach Chattanooga zurückzog, schlug sich Garfield zum linken Flügel durch, wo Generalmajor George Henry Thomas die Stellung hielt und einen weiteren Vormarsch Longstreets für Erste verhindern konnte. Dieser gefahrvolle Ritt zu Thomas wurde später ein Teil Garfields politischer Legende. Als Resultat der Schlacht von Chickamauga verteidigte die Cumberland-Armee zwar ihre Position in Chattanooga, war aber von der Army of Tennessee fast eingekesselt. Am 23. September berichtete Garfield, auch in Sorge um seine eigene militärische Karriere, dem Finanzminister per Telegramm von ihrer dramatischen Situation und löste damit eine Rettungsaktion durch Stanton aus, der 20.000 Mann Verstärkung nach Chattanooga entsandte. Die Belagerung war noch im Gange, als Garfield zum Rapport nach Washington beordert wurde. Noch auf dem Rückweg erfuhr er von der Ablösung Rosecrans’ durch Thomas. Obwohl diese Entscheidung von Grant aufgrund seiner persönlichen Lageeinschätzung getroffen wurde, hielt sich in den folgenden Jahren hartnäckig das in späteren Wahlkämpfen gegen ihn instrumentalisierte Gerücht, Garfield trage für diese Zurückstellung eine Mitverantwortung. Laut dem Biographen Allan Peskin war es vor allem der vom Kriegsministerium zur Beobachtung Rosecrans’ bestimmte Charles A. Dana, der mit seinen Berichten dessen Desavouierung betrieben hatte. Dennoch sei davon auszugehen, dass Garfields Rapport an Stanton weniger günstig für Rosecrans ausgefallen sei, als er diesem zugesichert habe. In Washington angekommen, wurde er zum Generalmajor befördert und entschloss sich nach einem Gespräch mit Lincoln, der ihm zusicherte, mehr als genug Generale zur Verfügung zu haben, seinen Sitz im Repräsentantenhaus einzunehmen. Repräsentantenhaus (1863–1880) 38. Kongress (1863–1865) Weil ein Putschversuch der durch Sezession und Bürgerkrieg demoralisierten Demokraten befürchtet wurde, startete der 38. Kongress am 6. Dezember 1863 in so bedrohlicher Atmosphäre, dass Garfield verdeckt einen Revolver trug. Die Republikaner bildeten eine eher lose Gruppierung, die einzig durch die gemeinsame Kriegsunterstützung zusammengehalten wurde. Ihre Parteiführer im Haus waren allesamt radikaler gesinnt als der Präsident. Am meisten Gewicht hatten bei den radikalen Republikanern die Stimmen von Thaddeus Stevens, der dem wichtigen Committee on Ways and Means („Mittel-und-Wege-Komitee“) vorstand, Robert Cumming Schenck und Henry Winter Davis. Garfield war das jüngste Kongressmitglied und gewann anfangs vor allem wegen seines jugendlichen Aussehens Aufmerksamkeit. Einerseits fand er durch seine gesellige und freundliche Art schnell sozialen Anschluss, andererseits verärgerte er die Parteikollegen, indem er mitunter gegen die eigene Fraktion und frühere Aussagen stimmte. Rasch suchte Garfield die Konfrontation mit Stevens, der ihn aber klassisch ausmanövrierte und eine Bundesmittelzuweisung für den im Kongresswahlbezirk von Garfield liegenden Hafen von Ashtabula verhinderte. Eine erste politisch bedeutsame politische Freundschaft schloss er mit Schenck, während Davis zu seinem Mentor und Vorbild wurde. Garfield war Mitglied im United States House Committee on Armed Services („Militärausschuss des Repräsentantenhauses“), dem Davis vorstand. Dieser Kongressausschuss hatte wegen des Bürgerkriegs eine besonders große Bedeutung und Arbeitsdichte. Schenck betraute Garfield mit der Überarbeitung des Wehrpflichtgesetzes, das in der Union extrem unpopulär war. Anders als viele seiner Fraktionskollegen störte er sich vor allem an zwei Punkten der bisherigen Bestimmung: der Möglichkeit, sich vom Dienst in der Nordstaaten-Armee über einen Ersatzmann freizukaufen, und am überregionalen Handel von lokalen „Wehrpflichtquoten“ zwischen unterschiedlichen Wahlbezirken. Nachdem der erste Gesetzesentwurf von Garfield im Juni 1864 im Haus gescheitert war, machte Lincoln persönlich den Ausschuss auf die Dringlichkeit dieses Vorhabens aufmerksam. Nach einigen Konzessionen an die Gegner fand die neue Form des Wehrpflichtgesetzes eine Mehrheit im Kongress. Eine wesentliche Änderung war, dass nun ein Freikauf vom Wehrdienst nicht mehr möglich war. Während dieser Phase seiner politischen Laufbahn trat Garfield für eine Stärkung der Bundesgewalt ein, auch auf dem Felde des Eisenbahnbaus. Mit seinen Ansichten zur Südstaatenpolitik gehörte er zum radikalen Flügel der radikalen Republikaner. So sprach er sich für die Enteignung der rebellierenden Plantagenbesitzer aus. Für erstes Aufsehen sorgte er Anfang April 1864 in einer Debatte mit dem demokratischen Copperhead („Kupferkopf“) Alexander Long, den er als Konföderierten bloßstellte, als dieser sich für ein Ende des Bürgerkriegs ausgesprochen hatte. Von Lincoln hatte er eine ausgesprochen niedrige Meinung, weshalb er seiner Wiederwahl in diesem Jahr ambivalent gegenüberstand. Als der Präsident Chase nicht vor Korruptionsvorwürfen von Francis Preston Blair junior Ende April in Schutz nahm, sondern aus dem Kabinett entfernte, stieg seine Verachtung für diesen umso mehr. Obwohl in Garfields Kongresswahlbezirk einige gegen das neue Wehrpflichtgesetz murrten, Gerüchte über seinen angeblich lasterhaften Lebenswandel in der Hauptstadt im Umlauf waren und er einräumte, dass Lincoln nicht seine erste Wahl als Präsident sei, nominierte ihn die lokale Republican Convention wieder als Abgeordneten für den 39. Kongress. In der folgenden Wahl besiegte er den demokratischen Konkurrenten mit einem Stimmenverhältnis von 3:1. Insgesamt konnte er in seiner ersten Amtszeit im Kongress nur wenig Erfolge vorweisen und war unter den Journalisten und Besuchern des Kapitols besser gelitten als in seiner eigenen Fraktion. Das sich abzeichnende Ende des Sezessionskriegs führte zudem zu einem Bedeutungsverlust des Militärausschusses. Aus diesen Gründen plagten ihn in der zweiten Sitzungsperiode des 38. Kongresses ab Dezember 1864 Selbstzweifel und er dachte über berufliche Alternativen nach. Unter anderem zog er eine Sozietät mit dem Disciple Jeremiah S. Black in Betracht, während eine ethisch fragwürdig konstruierte Ölbohrunternehmung mit Ralph Plumb zu einem Fehlschlag wurde. 39. Kongress (1865–1867) Mit dem Ende des Bürgerkriegs wurden seine radikalen Ansichten hinsichtlich der Südstaatenpolitik allmählich moderater. Nach dem Attentat auf Lincoln half er dem neuen Präsidenten Andrew Johnson bei der Vermittlung der Freilassung von Alexander H. Stephens, dem ehemaligen Vizepräsidenten der Konföderierten Staaten. Während zwischen dem Präsidenten und seiner Partei die Entfremdung zunahm, mühte sich Johnson, Garfield als Mittelsmann zu den radikalen Republikanern zu gewinnen. Im Februar 1866 stellte Garfield in seiner wichtigsten Rede zur Frage der Reconstruction klar, dass seiner Ansicht nach die rebellierenden Staaten niemals aus der Union entlassen worden seien, sie aber durch den Bürgerkrieg ihre vollen Rechte verwirkt hätten. Der geeignetste Beweis für ihre Reue sei erbracht, wenn sie den Schwarzen das Wahlrecht einräumten. Damit äußerte er sich gemäßigter als der radikale Flügel um Stevens. Als Johnson wenig später mit seinem Veto für das Ende des unter Lincoln zur Betreuung der befreiten Sklaven eingerichteten Freedmen’s Bureau („Freigelassenen-Agentur“) sorgte, wandte sich auch Garfield vom Weißen Haus ab und kehrte in das Lager der radikalen Republikaner zurück. Von nun an fokussierte er sich auf den Kampf gegen Johnson und die Finanzpolitik, wobei ihm zugutekam, dass er mittlerweile Mitglied im Committee on Ways and Means war. Dem Zeitgeist entsprechend folgten Garfields wirtschaftspolitische Vorstellungen weitgehend dem Leitbild des Laissez-faire. Seine erste Rede im Kongress zur Geldpolitik legte den Ton aller noch folgenden fest. Garfield forderte ein Ende des Umlaufs von Banknoten (Greenbacks), deren Tauschwert zum Gold starken Schwankungen unterworfen war, und die Rückkehr zu einer auf Münzgeld beruhenden Wirtschaft. Mit dieser Haltung kollidierte er mit dem radikalen Flügel um Stevens und machte sich in seinem Wahlbezirk unbeliebt, denn insbesondere in Ohio und den anderen nordwestlichen Bundesstaaten war die mit Papiergeld verbundene Inflationspolitik populär. Dennoch blieb er ein Verfechter des „ehrlichen“ Hartgelds, das für ihn den Stellenwert eines intellektuellen und moralischen Prinzips hatte. Weniger klar gestaltete sich Garfields Position zur Zollpolitik, wo er sich mehr von politischen Erwägungen als von ideologischen Überzeugungen leiten ließ. Im Interesse der Landwirtschaft und Industrie seines Wahlbezirks votierte er für Schutzzölle auf Lein und Eisenschienen. Wegen finanzieller Sorgen sah sich Garfield dazu gezwungen, als Anwalt zu praktizieren. Sein erster Auftritt im Gerichtssaal fand im März 1866 vor dem Obersten Gerichtshof im Fall Ex parte Milligan statt. Er vertrat mit Black den klagenden Copperhead Lambdin P. Milligan, der in Indiana kurz vor Ende des Sezessionskriegs von einem Militärgericht wegen Landesverrat zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt worden war. Milligan machte geltend, dass eigentlich die zivile Gerichtsbarkeit für seinen Fall zuständig gewesen sei. Letztendlich folgte der Oberste Gerichtshof dieser Argumentation. Die Wiederwahl in den 40. Kongress gelang Garfield im Oktober 1866 mit einem im Vergleich zu 1864 etwas schwächeren Stimmenverhältnis von 5:2. 40. Kongress (1867–1869) Beunruhigt von dem Vorhaben der radikalen Republikaner, ein Amtsenthebungsverfahren gegen Johnson anzustrengen, kehrte er in die Hauptstadt zurück. Nachdem die Südstaaten mit Rückendeckung des Weißen Hauses den 14. Zusatzartikel abgelehnt hatten, sprach sich Garfield für eine strikte militärische Verwaltung der ehemaligen Konföderierten aus. Während der Sitzungspause im Sommer 1867 unternahm Garfield mit seiner Frau eine 14-wöchige Europareise, in deren Verlauf er auch eine Debatte im House of Commons zum Reform Act 1867 verfolgte und John Stuart Mill, Benjamin Disraeli und William Ewart Gladstone sah. Als persönlichen Höhepunkt erlebte er die Besichtigung der antiken Stätten in Rom. Zurück in Amerika blieb Garfield der Vorsitz im Committee on Ways and Means verwehrt und zu seiner Enttäuschung erhielt er stattdessen vom Sprecher des Repräsentantenhauses (Speaker of the United States House of Representatives) Schuyler Colfax den Vorsitz über den Militärausschuss. Dessen Hauptaufgabe bestand darin, die Armee auf Friedensgröße zurückzufahren. Typischerweise veranlasste Garfield eine breit angelegte Organisationuntersuchung, um die zukünftigen Strukturen nicht nur schlanker, sondern auch effizienter zu gestalten. Ferner versuchte er, den südstaatenfreundlichen Militärkommandeur von Texas und Louisiana General Winfield Scott Hancock zu entmachten. Im Juli 1868 scheiterten Garfields Vorschläge zur Truppenreduzierung aufgrund seines ungeschickten Vorgehen im Kongress am Widerstand der Ex-Generale Benjamin Franklin Butler und John A. Logan. Zum Ende des 40. Kongresses wurde ein entsprechendes Gesetz aufgrund einer Senatsvorlage verabschiedet, die viele von Garfields Ideen aufgriff. Im Februar 1868 brachte er zwei Gesetze in das Haus ein, die die graduelle Rückkehr zum Hartgeld und die Legalisierung des Goldhandels vorsahen. Die Vorschläge wurden zwar an die zuständigen Ausschüsse zurückverwiesen, aber eines Tages wegweisend für die nationale Finanzpolitik. Nach der Entlassung von Kriegsminister Stanton durch Johnson im Februar 1868 änderte Garfield seine Meinung und befürwortete ein Amtsenthebungsverfahren gegen den Präsidenten, denn er sah im Vorgehen des Weißen Hauses einen Bruch des Tenure of Office Act („Amtsdauergesetz“), der eine Beteiligung des Senats vorschrieb. Für das knappe Scheitern des Impeachments bei der entscheidenden Abstimmung im Senat im März 1868 machte Garfield hauptsächlich die Prozessführung von Chase verantwortlich. Abgesehen von einer lokalen Oppositionsbewegung im industriell geprägten Warren, der Garfields Schutzzollpolitik zu weich war, gewann er ohne Probleme die Nominierung für den 41. Kongress und siegte bei den Kongresswahlen mit einem Stimmverhältnis von 2:1. Im Dezember 1868 scheiterte er mit einem Gesetzesvorschlag, der das Bureau of Indian Affairs („Amt für indianische Angelegenheiten“) unter militärische Kontrolle stellte. In der Debatte offenbarte er eine an Verachtung grenzende Einstellung zu den Indianern. Für Garfield wurde dieses Vorhaben zu einer Obsession und zum Ärger des Hauses setzte er diesen Vorschlag immer wieder auf die Tagesordnung, ohne dass es zu einer Verabschiedung kam. 41. Kongress (1869–1871) Der Speaker des 41. Kongresses James G. Blaine gab Garfield nicht den ersehnten Vorsitz im Committee on Ways and Means, sondern im Committee on Banking and Currency („Ausschuss für Banken und Währung“). Im Sommer 1869 leitete er den Unterausschuss zur Vorbereitung und Durchführung der Volkszählung im nächsten Jahr (United States Census 1870). Durch diese Tätigkeit wurde Garfield zu einem starken Fürsprecher statistischer Analysen in vielfältigen Feldern. Mit seinen Ideen zur Modernisierung des Census, die unter anderem einen Ersatz der Marshals als Volkszähler durch Fachpersonal vorsahen, scheiterte er im Senat. Bezüglich des neuen Präsidenten Grant zeigte er wenig Enthusiasmus und ihr Verhältnis blieb unterkühlt. Zu einem ersten Konflikt kam es vor dem Hintergrund des Spoilssystem („Beutesystem“), bei dem zwischen jeder neuen Administration und dem Kongress die Stellenbesetzung im öffentlichen Dienst ausgehandelt wurde. Garfields Wunsch nach einem Dienstposten für einen Anhänger in der Post (United States Postal Service) blieb vom Weißen Haus unerhört. In Garfields Sinne dagegen war die Haltung des Präsidenten zur Hartgeldpolitik und die Ernennung seines Freundes Cox zum Innenminister. Im September 1869 führten Spekulationen von James Fisk und Jay Gould auf dem Goldmarkt zum Schwarzen Freitag von 1869, dem eine Wirtschaftskrise folgte. Besondere Brisanz erhielten diese vom Committee on Ways and Means untersuchte Geschäfte auf dem Goldmarkt dadurch, dass Grants Schwager Abel Corbin darin verwickelt war. Auf Wunsch des Präsidenten lud Garfield Corbin nicht vor und entlastete in seinem Abschlussbericht Grant und dessen Familie. Garfield sah als eigentlichen Grund für die Wirtschaftskrise die auf den Greenbacks beruhende inflationäre Geldpolitik an. Er erarbeitete im Committee on Banking and Currency daher ein neues Bankengesetz, das aufgrund der Komplexität und seines ungeschickten Vorgehens im Kongress im Sommer 1870 scheiterte. Nach der Überarbeitung durch einen anderen Ausschuss wurde das Gesetz schließlich verabschiedet. Bei den Wahlen zum 42. Kongress siegte er, wobei er erstmals ein County an die Demokraten verlor. Da mit Schenck der Vorsitzende des Committee on Ways and Means den Wiedereinzug in das Repräsentantenhaus verpasst hatte, machte sich Garfield erneut Hoffnungen auf diese Position, die sich nicht erfüllten. Vor allem der einflussreiche Horace Greeley hatte sich bei Blaine gegen ihn verwandt, weil er in Garfield einen verkappten Anhänger des Freihandels vermutete. 42. Kongress (1871–1873) Im Dezember 1871 erhielt Garfield den Vorsitz im Committee on Appropriations („Haushaltsausschuss“), dessen wesentliche Aufgabe die Genehmigung von Bundesmitteln für die öffentliche Verwaltung war. Er zeigte in diesem Feld ein für seine Zeit sehr modernes, ganzheitliches Verständnis für Haushaltsplanung. So strebte er eine zentrale und periodische Vergabe der exekutiven Staatsausgaben an, die bis dahin nicht jährlich vom Kongress bewilligt, sondern auf unbestimmte Zeit von jedem Ressort einzeln auf unterschiedlichen Wegen beantragt wurden, was den tatsächlichen Staatshaushalt intransparent machte. Als Vorsitzender im durch überparteiliche und kollegiale Zusammenarbeit gekennzeichneten Haushaltsausschuss eignete er sich eine außergewöhnlich große verwaltungswissenschaftliche Expertise an, die von keinem seiner Amtsvorgänger im Weißen Haus erreicht worden war. Die vier Jahre im Haushaltsausschuss stellten für Garfield den Höhepunkt seiner politischen Karriere im Kongress dar. Er setzte sich in dieser Funktion für die Finanzierung von Wissenschafts- und Bildungsprojekten ein, was die Gründung des United States Geological Survey („Amt für Kartografie der Vereinigten Staaten“) ermöglichte. Die für eine skrupellose Ausnutzung des Spoilssystems stehende und einen großen Einfluss auf das Weiße Haus ausübende Faktion der Stalwarts („Feste, Starke, Mutige“) um Roscoe Conkling, Simon Cameron und Oliver Morton führte bei Garfield zu einer zunehmenden Distanzierung von seiner Partei. Reformorientierte Ökonomen und Publizisten wie Henry Adams zogen Garfield während dieser Zeit auf ihre Seite. Neben Hartgeldpolitik standen sie für niedrige Zölle, eine Amnestie für den Süden und insbesondere eine Verwaltungsreform zur Abschaffung des Spoilssystems zugunsten einer eignungsorientierten Personalauswahl. Folglich stimmte Garfield in der Südstaatenpolitik in einigen Fällen gegen den Präsidenten. Sein Einsatz für die Verwaltungsreform war nur halbherzig, weil er das Spoilssystem an sich nicht ablehnte, sondern nur über die Mühsal klagte, sich als Kongressmitglied der unzähligen Stellenbewerber zu erwehren. Garfield sah die Stellenbesetzung prinzipiell als eine exekutive Aufgabe an, die durch die Einmischung des Kongresses für Korruption anfällig geworden sei. Aus diesen Gründen unterstützte er die halbherzigen Reformbemühungen von Präsident Grant für die öffentliche Verwaltung. Die größte Differenz mit Grant hatte er bezüglich der Zweiten Dominikanischen Republik, deren Annexion das Weiße Haus obsessiv verfolgte, was aber letztendlich im Kongress am Parteiflügel um Charles Sumner scheiterte. Bereits im März 1871 hatte Garfield von Cox erfahren, dass einige Politiker des Reformflügels eine Parteiabspaltung vorbereiteten, um die Wiederwahl Grants zu verhindern. Als die aus diesem Prozess entstehende Liberal Republican Party Anfang 1872 John Sherman als Senator Ohios stürzen wollte, verhielt er sich ihren Avancen gegenüber passiv. Auch in den nächsten Monaten, in denen die neue Partei an Fahrt gewann, scheute er typischerweise eine Entscheidung und überließ das weitere dem Schicksal. Nach dem Verkauf seines Hauses in Hiram lebte er mit seiner Familie ab Juli 1872 die ganze Zeit über in der Hauptstadt. Bei der Präsidentschaftswahl im gleichen Jahr war Garfield erst unschlüssig, wen er unterstützen sollte. Als die Liberal Republicans Greeley zu ihrem Spitzenkandidaten kürten und mit den Demokraten paktierten, stellte er sich wieder hinter den am Ende siegreichen Grant. Garfield selbst erhielt in seinem Kongresswahlbezirk mehr als doppelt soviel Stimmen wie sein Gegner Milton Sutliff. 43. Kongress (1873–1875) Noch vor Beginn des 43. Kongresses wurde Garfield in den an September 1872 publik werdenden Korruptionsskandal um die vom Repräsentanten Oakes Ames gegründete Baufirma Crédit Mobilier of America hineingezogen, mit deren Hilfe die Direktoren der Union Pacific Railroad im Rahmen des transkontinentalen Eisenbahnbaus erhebliche Geldsummen in die eigene Tasche wirtschafteten und Kongressabgeordnete bestachen. Auf der Liste der betroffenen Politiker fand sich auch der Name Garfields, der deshalb im Januar 1873 vor den von Luke P. Poland geleiteten Untersuchungsausschuss aussagen musste. Dort gab er an, von Ames lediglich Crédit-Mobilier-Aktien zum Kauf angeboten bekommen zu haben, die ihm aber zu teuer gewesen wären. Ames selbst entlastete ihn mit seiner ersten Aussage, änderte diese aber einige Wochen später und beschädigte damit Garfields Ruf erheblich. Laut seiner zweiten Aussage habe Garfield von ihm die Aktien umsonst erhalten und erst später mit den ausgezahlten Dividenden zurückerstattet. Der Untersuchungsausschuss folgte dieser Version der Ereignisse, sah aber von einer Sanktionierung Garfields ab. Der Korruptionsskandal um Crédit Mobilier gilt als einer der berüchtigsten in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Als noch verheerender für Garfields Ansehen erwies sich das von ihm Ende Februar 1873 eingebrachte Haushaltsgesetz für die Ausgaben des Bundes. Butler versah es im Repräsentantenhaus kurz vor Auslaufen der Sitzungsperiode mit einem Zusatz, der erhebliche Gehaltserhöhungen für den Präsidenten und die Kongressabgeordneten vorsah. Garfield kämpfte dagegen an, konnte es aber im entscheidenden Kongressausschuss nur geringfügig abschwächen. Weil diese in der Öffentlichkeit als salary grab („Gehaltsraub“) apostrophierte Maßnahme mit seinem Haushaltsgesetz verbunden war, wurde vor allem er dafür verantwortlich gemacht. Etliche Ortsverbände der Republikaner in seinem Wahlbezirk forderten ihn zum sofortigen Rücktritt auf. Um den Unmut zu zerstreuen, verzichtete Garfield auf seine Gehaltserhöhung. Als Ende des Jahres der Kongress wieder tagte, sah dieser sich mit der Panik von 1873 konfrontiert. Gemeinsam mit Finanzminister Benjamin Bristow überzeugte er den Präsidenten davon, auf die Depression nicht mit einem inflationären Konjunkturprogramm zu reagieren, sondern lediglich eine Änderung der Konkursgesetze vorzunehmen und die Ausgaben zu kürzen. Infolgedessen verhinderte Grant die vom Kongress beschlossenen Wirtschaftshilfen mit einem Veto. Aufgrund der Skandale vom Frühjahr 1873 und seiner unpopulären Sparpolitik musste Garfield eine anstrengendere Wiederwahlkampagne führen als gewohnt. Die Nominierung sicherte er unter anderem, indem er dem Sohn des innerparteilichen Konkurrenten Benjamin Wade eine Anstellung in einer Bundesbehörde verschaffte und für Ashtabula die Bundesmittel-Förderung gewährleistete. Nach seiner Bestätigung auf der Primary im August 1874 und einer aufreibenden Wahlkampftour durch den gesamten Kongresswahlbezirk verteidigte Garfield seinen Sitz im Repräsentantenhaus, wobei er davon profitierte, dass eine republikanische Abspaltung und die Demokraten sich nicht auf einen Gegenkandidaten einigen konnten. 44. Kongress (1875–1877) Spätestens als Anfang 1875 in Louisiana Bundestruppen das State Capitol besetzten und genügend demokratische Abgeordneten abführten, um eine republikanisch kontrollierte State Legislature herzustellen, sah Garfield die Reconstruction als gescheitert an. Er fürchtete um die bis dahin erreichten Fortschritte in der Emanzipation der Afroamerikaner, zumal die öffentliche Meinung in den Nordstaaten dieses Themas zunehmend überdrüssig war. Im demokratisch dominierten 44. Kongress verlor Garfield den Vorsitz im Haushaltsausschuss und saß nun stattdessen im Mittel-und-Wege-Komitee. Dem Gesetzesvorschlag der Demokraten, hochrangigen früheren Konföderierten Amnestie und eine Rückkehr in die Politik zu gewähren, gab er mit einer national viel beachteten Rede im Frühjahr 1875 Kontra. Sie wurde vom Republican National Committee zur Verwendung im kommenden Präsidentschaftswahlkampf millionenfach nachgedruckt. Obwohl Blaine ihm damals nicht den erhofften Sitz im Mittel-und-Wege-Komitee gegeben hatte und er ahnte, dass der Reformer Bristow möglicherweise der geeignetere Mann sei, unterstütze Garfield ersteren im Rennen um die Nominierung als Präsidentschaftskandidat. Weitere Bewerber waren die Stalwarts Conkling und Morton sowie Ohios Gouverneur Rutherford B. Hayes. Garfield signalisierte Hayes seine Unterstützung mit dem Hintergedanken, die Delegation Ohios geschlossen gegen Conkling, Bristow und Morton zu halten und im richtigen Moment auf die Seite Blaines zu ziehen. Wenige Tage vor der Republican National Convention von Juni 1876 in Cincinnati erlitt Blaine einen Zusammenbruch und befand sich danach in einem nahezu komatösen Zustand. Zwar wurde seine Kandidatur aufrechterhalten, aber nach sechs Wahldurchgängen schwenkte die Mehrheit in das Lager von Hayes, der in sein Präsidentschaftswahlprogramm auf Drängen Garfields die Rückkehr zum Münzgeld aufnahm. Weil Blaine kurz zuvor in den Senat gewählt worden war, erhielt Garfield von der Partei die Position des Sprechers des Repräsentantenhauses zugesichert, sollten die Republikaner im nächsten Kongress wieder die Mehrheit zurückgewinnen. Im Wahlkampf engagierte er sich vor allem für Hayes und weniger in seinem eigenen Kongressbezirk, den er mit etwas mehr als 60 % aller Stimmen gewann. Kompromiss von 1877 Am Abend der Präsidentschaftswahl sah Garfield in den ersten Ergebnissen, die auf einen Sieg des Demokraten Samuel J. Tilden hinwiesen, seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Alarmiert fochten die Republikaner die Stimmenauszählungen in Florida, South Carolina und Louisiana an. Zu diesem Zweck entsandte ihn Grant am nächsten Morgen als Wahlbeobachter nach Louisiana, wo die Demokraten einen Vorsprung von mehr als 7000 Stimmen hatten. Schon kurz nach seiner Ankunft war er sich sicher, dass Hayes diesen Bundesstaat gewonnen hatte, und sah sich durch die Berichte von Manipulationen und gewalttätigen Übergriffen, mit denen Republikaner und Afroamerikaner an der Stimmabgabe gehindert worden waren, in seiner Überzeugung bestätigt. Der Leiter der Delegation, Sherman, schickte Garfield zu einer genaueren Untersuchung der Vorwürfe in das West Feliciana Parish, wo er die Vorwürfe bestätigende Zeugenaussagen aufnahm. Am Ende verwarf das zentrale Wahlleiterkomitee des Bundesstaates so viele demokratische Stimmen, dass Louisiana im Electoral College an Hayes ging. Ähnliches passierte mit Florida und South Carolina, so dass Hayes im Wahlmännerkollegium auf eine Stimme Mehrheit kam. Die Demokraten sprachen im Gegenzug von Wahlbetrug und Korruption der Wahlleiterkomitees. Insgesamt war die politische Lage so angespannt, dass sich in der Nation Sorge vor einem erneuten Bürgerkrieg breit machte. In dieser festgefahrenen Situation, in der nicht klar war, ob die Wahlmänner aus Florida, South Carolina und Louisiana am Ende auf Grundlage der ersten oder der durch die Wahlleiterkomitees korrigierten Resultate votierten, bemühte sich Garfield mit Hayes Zustimmung darum, einen Keil zwischen Nord- und Süddemokraten zu treiben. Dazu sprach er sich im Kongress im Dezember 1876 für eine Subvention des texanischen Hafens von Galveston mit Bundesmitteln aus, was von den strikt an Austerität orientierten Nordstaaten-Demokraten abgelehnt wurde. Er tat dies auch im eigenen Interesse, denn er brauchte Stimmen der Südstaaten-Demokraten im demokratisch dominierten 45. Kongress, um zum Sprecher des Repräsentantenhauses gewählt zu werden. Mit Unterstützung der Stalwarts richteten die Demokraten im Kongress schließlich eine 15-köpfige Wahlkommission zur Überprüfung der Präsidentschaftswahlergebnisse ein, die aus je fünf Mitgliedern des Repräsentantenhauses, Senats und Obersten Gerichtshof bestand. Das ab 31. Januar 1877 tagende Gremium war paritätisch mit Demokraten und Republikanern besetzt, wobei der als unabhängig geltende Bundesrichter Joseph P. Bradley die entscheidende Stimme hatte. Garfield, der die Einrichtung dieser Kommission bis zuletzt bekämpft hatte, wurde zu einer ihrer Mitglieder bestimmt. Nach etwas mehr als zwei Wochen entschied das Gremium dank des Votums von Bradley mit 8:7 Stimmen für eine Anerkennung der korrigierten Wahlresultate aus den fraglichen Bundesstaaten. In aufgeheizter Stimmung, Garfield konnte sich nur mit Personenschutz in der Öffentlichkeit bewegen, initiierten die Demokraten daraufhin einen Filibuster im Repräsentantenhaus, um die Abstimmung im Electoral College über den 4. März hinaus zu verschieben, an dem die Amtszeit Grants endete. Es drohte somit eine Verfassungskrise ohne amtierenden Präsidenten. Am 26. Februar nahm Garfield an einem Treffen von Republikanern aus Ohio mit Südstaaten-Demokraten teil, auf dem der Kompromiss von 1877 geschlossen wurde. Gegen die Zusicherung, dass Hayes als Präsident die von republikanischen Nordstaatlern, den sogenannten Carpetbaggern („Teppichtaschenträger“), geführte Regierung Louisianas nicht länger unterstützen werde, ließen die Demokraten den Filibuster auslaufen. Am Morgen des 1. März konnten im Repräsentantenhaus schließlich unter Mitwirkung von Garfield als informellen Führer der Republikaner die Stimmen des Electoral College ausgezählt und durch den demokratischen Sprecher Samuel J. Randall offiziell bekanntgegeben werden. 45. Kongress (1877–1879) Durch die Berufung von Sherman in das Kabinett wurde dessen Sitz im Senat frei, auf den Garfield ein Auge geworfen hatte. Hayes bat ihn jedoch, Stanley Matthews den Vortritt zu lassen, weil er ihn als Kandidaten für den Sprecher des Repräsentantenhauses benötigte. Schon bald entfremdete sich Garfield vom neuen Präsidenten. So war er mit einigen Personalien im Kabinett nicht einverstanden, aber vor allem störte er sich an Hayes’ Handhabung der Verwaltungsreform sowie dessen sprunghafter Aussöhnungspolitik mit dem Süden. Letztere war für Garfield von besonderer Bedeutung, da davon seine Mehrheit für die Wahl zum Speaker abhing. Obwohl der Präsident als Charmeoffensive viele Stellen im öffentlichen Dienst in den Südstaaten an Demokraten vergeben hatte, stimmten im Oktober 1877 alle Repräsentanten strikt nach Parteizugehörigkeit ab, womit Randall in dieser Position bestätigt wurde. Nachdem sich Hayes sowohl mit der Blaine- als auch der Conkling-Faktion überworfen hatte, fungierte Garfield als Mittelsmann des Präsidenten zum Kongress. Als Minority Leader („Minderheitsführer“) im Repräsentantenhaus vermied er für ein halbes Jahr lang die Einberufung eines Caucus, damit es nicht zum offenen Bruch zwischen den Republikanern im Kongress und dem Weißen Haus kam. Während fast alle Republikaner aus dem Mittleren Westen den Gesetzesvorstoß des Demokraten Richard P. Bland im November 1877 zur Prägung von Silbermünzen begrüßten, was den Bimetallismus als Währungssystem einführte, stand er an der Seite von Hayes in dessen vergeblichem Kampf gegen den Bland-Allison Act. Bei den Wahlen zum 46. Kongress der Vereinigten Staaten im Oktober 1878 siegte er trotz des Gerrymanderings seines Wahlbezirks durch die demokratische Mehrheit der State Legislature deutlich gegen die Kandidaten der Demokraten und United States Greenback Party. 46. Kongress (1879–1880) Zu dieser Zeit erreichte Garfield den Höhepunkt seines Einflusses auf den Kongress. Dabei agierte er laut Peskin weniger als eine durch ihren Willen wirkende politische Führungsfigur, sondern mehr als jemand, der andere durch Argumente überzeugte. Als größte Herausforderung stellte sich nach wie vor die Aussöhnung zwischen Partei und Präsident dar, die durch Hayes Verzicht auf eine zweite Amtszeit erschwert wurde. Als Lame Duck („lahme Ente“) öffnete Hayes somit dem Kampf um die Nachfolge Tür und Tor. Am Ende war es vor allem der Kampf gegen die demokratische Mehrheit im Kongress, der die Partei zusammenrücken ließ. Diese versahen das Haushaltsgesetz mit einem Zusatz, der den Einsatz von Bundestruppen zur Aufrechterhaltung der Ordnung bei Wahllokalen untersagte, was das letzte Überbleibsel der Reconstruction beseitigte. Anlässlich dieser Gesetzesinitiative hielt Garfield im Repräsentantenhaus Ende März 1879 eine Aufsehen erregende Rede, in der er den Demokraten eine „Revolution gegen die Verfassung und die Regierung“ vorwarf. Diese Wiederbelebung der politischen Gegensätze aus der Zeit des Bürgerkriegs brachte die Republikaner aus der Defensive. Die Demokraten statteten in den nächsten drei Monaten fünf Haushaltsgesetze nacheinander mit einem Zusatz aus und scheiterten jedes Mal am Veto des Präsidenten, das dank Garfields Einsatz im Repräsentantenhaus aufrechterhalten wurde. Weil sich die Hektik im Kongress zunehmend auf die Physis auswirkte, strebte er nach einem Sitz im vergleichsweise geruhsameren Senat, wozu er eine Mehrheit in der State Legislature benötigte. Daher engagierte er sich im Wahlkampf in Ohio, der Ende September mit einem Triumph der Republikaner endete. Sein größter Konkurrent um den Senatsposten Sherman verzichtete auf eine Kandidatur und sicherte sich dafür Garfields Unterstützung für die Nominierung als Präsidentschaftskandidat im nächsten Jahr. Am 6. Januar 1880 wählte ihn der Kongress Ohios als Nachfolger des ausscheidenden Allen G. Thurman in den Senat des 47. Kongresses der Vereinigten Staaten. Am 25. Mai hielt er seine letzte Rede im Repräsentantenhaus. Republican National Convention in Chicago (1880) Im Vorfeld der Republican National Convention von Chicago galt Grant als der Favorit für die Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten und Blaine und Sherman als seine größten Konkurrenten. Die starke Polarisierung der Partei in Stalwarts und ihre Gegner ließ andererseits die Erfolgswahrscheinlichkeit für einen Kompromisskandidaten ansteigen, worauf Garfield unter anderem Jeremiah McLain Rusk schon Anfang 1879 hinwies und seinen Namen ins Spiel brachte. In der Öffentlichkeit schlug er die Avancen aus, verneinte entsprechende Pressemeldungen im Frühjahr 1879 und stellte sich loyal hinter Sherman, aber blieb in Kontakt mit Anhängern in Pennsylvania und Wisconsin, die dort insgeheim Pläne für seine Kandidatur schmiedeten. Dies blieb nicht unbemerkt und im Februar 1880 forderte Sherman von Garfield, seine Anhänger auf Linie zu bringen und eine aktivere Rolle im Wahlkampf. Kurze Zeit später bestimmte er ihn zu seinem Kampagnenführer auf dem Nominierungsparteitag, weil zu dieser Zeit die Kontrahenten für eine Nominierung der Veranstaltung üblicherweise fernblieben. Widerwillig erfüllte Garfield diesen Wunsch und traf eine Woche vor Beginn der Convention am 29. Mai in Chicago ein. Die Ausgangslage war, dass für eine Nominierung 379 Stimmen benötigt wurden und Grant auf etwas über 300 Delegierte zählen konnte. Um die Abweichler aus den großen Blöcken der Bundesstaaten Illinois, New York und Pennsylvania auszuschalten, versuchten die Stalwarts über James Donald Cameron, den Vorsitzenden des Republican National Committee, eine Festlegung auf die Unit Rule („Einheitsregel“) in der Tagungsordnung zu implementieren. Diese Regelung sah eine geschlossene Abstimmung der jeweiligen Delegationen vor, so dass Grant diese drei Bundesstaaten nach dem „Winner-takes-all“-Prinzip komplett zugefallen wären. Hinter den Kulissen brachte Garfield die Anhänger von Sherman und Blaine im National Committee zusammen, die am 1. Juni gegen die Stalwarts den unabhängigen George Frisbie Hoar als Tagungspräsidenten durchsetzten und die Unit Rule nur erlaubten, sollte die am nächsten Tag beginnende Convention mehrheitlich zustimmen. Am 5. Juni lehnte der Parteitag die Unit Rule schließlich ab. Am Abend des gleichen Tages wurden die Nominierungen offiziell bekannt gegeben und mit seiner Rede für Sherman beruhigte Garfield für einige Zeit die aufgeheizte Atmosphäre des Parteitags, zu der nicht nur die Delegierten, sondern auch 15000 Zuschauer beitrugen. Nach diesen ersten Erfolgen bröckelte die gegen Grant gerichtete Einheitsfront der sogenannten Half-Breeds („Halbblüter, Mischlinge“), da weder Blaine noch Sherman bereit waren ihre Ambitionen zurückzustecken. In dieser Lage erreichten Garfield am 6. Juni erste Anfragen auf eine eigene Kandidatur, unter anderem von Benjamin Harrison und der Delegation aus Mississippi. Die Pattsituation bestätigte sich am nächsten Tag, denn nach 28 Abstimmungen mit weitgehend stabilen Stimmanteilen hatte keiner der Kandidaten eine ausreichende Mehrheit. Dies erhöhte den Druck auf Garfield, als Kompromisskandidat der Grant-Gegner in das Rennen einzusteigen. Nachdem die ersten Abstimmungsrunden am 8. Juni einen negativen Trend für Sherman gezeigt hatten, sahen die Anhänger Garfields den passenden Zeitpunkt für seine Wahl gekommen. Am Ende der 34. Abstimmungsrunde stimmte Wisconsin fast geschlossen für ihn, was für die entscheidende Wende sorgte, als in der nächsten Runde weitere Bundesstaaten diesem Beispiel folgten. In der 36. Abstimmungsrunde erhielt Garfield mit 399 Stimmen die erforderliche Mehrheit, wobei die Delegation Ohios gegen seinen Protest für ihn votierte. Obwohl Sherman ihm wie auch spätere Historiker nie eine aktive Beteiligung in dieses Manöver nachweisen konnte, sah er darin einen Verrat Garfields. Zur Bildung eines ausbalancierten Tickets wurde mit Arthur ein Stalwart zum Vizepräsidentschaftskandidaten auserkoren. Garfield kannte Arthur kaum und lehnte dessen Politik ab. Für die Demokraten gingen Hancock und William Hayden English ins Rennen. Präsidentschaftswahlen 1880 Bis zur Wahl verweilte Garfield überwiegend in seinem Haus in Mentor, Ohio, das er Ende 1876 erworben hatte, weil eine aktive Teilnahme am Wahlkampf für Präsidentschaftskandidaten als unschicklich galt. Er beschränkte sich daher, von seiner Residenz Lawnfield aus eine sogenannte Front Porch Campaign („Veranda-Wahlkampf“) zu führen, in deren Rahmen er täglich auf der Veranda Gäste empfing sowie Ansprachen hielt und der Öffentlichkeit ein harmonisches Familienleben vorführte. So blieb ihm als wichtigstes Mittel der eigenen landesweiten Kampagnenführung der öffentliche Brief, in dem er seine Nominierung akzeptierte (Letter of Acceptance). Nach Konsultationen mit Parteigrößen positionierte er sich in diesem Text im Sinne der damaligen Stimmung insbesondere in Kalifornien gegen chinesische Zuwanderung. Hinsichtlich der zwischen „Stalwarts“ und dem Reformflügel äußerst umstrittenen Verwaltungsreform formulierte er nur vage Versprechungen. Einige Reformer wie zum Beispiel Carl Schurz wandten sich daraufhin enttäuscht von Garfield ab. Während des Wahlkampfes bildete Stephen Wallace Dorsey, der Sekretär des Republican National Committee, in Indiana eine der ersten national geführten Kampagnenorganisationen unabhängig von der oft durch Partikularinteressen geleiteten Parteiorganisation des Bundesstaates. Garfields Wahlkampf war in dieser Beziehung richtungsweisend für eine größere Autonomie der nationalen Parteiorganisation von ihren subnationalen Ablegern und eine stärkere Parteiführung durch den Präsidenten. Diese Entwicklung hin zur modernen, auf die Präsidentschaft fokussierten Partei wurde einige Jahre später durch Grover Cleveland vorangetrieben. Die Konzentration der Kampagne auf Indiana hatte Garfield veranlasst, weil er diesem Bundesstaat aufgrund der dortigen Wahlen zur State Legislature wenige Wochen vor der Präsidentschaftswahl besondere strategische Bedeutung zumaß. Die Südstaaten hingegen erhielten von der nationalen Parteiorganisation keine Unterstützung. Schwierigkeiten bereitete zuerst die Einbindung der in Chicago unterlegenen Stalwarts in den republikanischen Wahlkampf, deren Hochburg der wichtige Bundesstaat New York war. Sie versuchten weiterhin die Partei zu kontrollieren und hatten unter anderem gegen Garfields Kandidaten Dorsey als Sekretär des Republican National Committee implementiert. Um den Präsidentschaftskandidaten mit dem Stalwart-Führer Conkling in einem persönlichen Gespräch zu versöhnen, richtete Dorsey am 5. August eine Partei-Konferenz in Manhattan aus. Während Sherman und Blaine sich dort zeigten, ließ sich Conkling entschuldigen und lud Garfield auf seine Privatresidenz in Coney Island ein. Dieser ging auf das Machtspiel nicht ein und verständigte sich mit den anwesenden Stalwarts, wenngleich die getroffenen Absprachen keinen formalen Charakter hatten. So sagte Garfield zu, weder Schurz noch Sherman als Minister aus dem Kabinett Grants zu übernehmen. Im Gegenzug schalteten sich die Stalwarts nun in die Wahlkampagne ein und der Bankier Levi P. Morton kümmerte sich um deren Finanzierung. Von da an konnte der Trend, der bisher für Hancock und English gesprochen hatte, umgekehrt werden. Zwar verloren die Republikaner im September bei den Wahlen zur State Legislature in Maine, aber dafür machten die meisten Beobachter das autokratische Regime Blaines in diesem Bundesstaat verantwortlich. Die damals üblichen Wahlkampfbiographien hoben ähnlich wie bei der legendären Log Cabin campaign („Blockhüttenkampagne“) von 1840 die bescheidenen Bedingungen, in denen der Kandidat geboren wurde, und seinen sozialen Aufstieg hervor. So steuerte der bekannte Autor Horatio Alger für Garfields Kampagne das Buch From Canal Boy to President bei. Außerdem kursierten mehr als 4 Millionen Kopien diverser Reden von Garfield, wobei ein zentrales Thema die Erinnerung an den Sezessionskrieg und die Republikaner als diejenige Partei war, die für die Union gekämpft hatte. Auf Initiative von Blaine wurde in der letzten Wahlkampfphase eine strengere Schutzzollpolitik in das Programm aufgenommen, von der die heimische Industrie profitierte. Ende September besuchte schließlich Conkling nach einer Wahlkampfveranstaltung in Warren Lawnfield und zollte Garfield seinen Tribut, was den Höhepunkt der Front Porch Campaign darstellte. Später berief sich Conkling darauf, dass er bei diesem Treffen die Zusage erhalten habe, dass nach der Wahl alle Stellen im New Yorker Spoilssystem an seine Freunde gingen. Die Demokraten fokussierten sich im Wahlkampf vor allem darauf, Garfields Charakter und seine Bilanz als Kongressabgeordneter anzugreifen. Mitte Oktober veröffentlichte die New Yorker Boulevardzeitung The Truth einen Brief von Garfield, der sich später als Fälschung herausstellte. In diesem hielt er an der chinesischen Zuwanderung fest und äußerte gewerkschaftsfeindliche Ansichten. Letztendlich schadete ihm diese Meldung nur an der Westküste, während er im Rest des Landes davon eher profitierte. Am Wahltag, dem 2. November, erreichte er im Popular Vote zwar nur wenige tausend Stimmen mehr als Hancock, aber im Electoral College gewann er 214 von 369 Wahlmännern. Den dieses Mal unumstrittenen Sieg hatte Garfield vor allem in den Nordstaaten gesichert, während die Demokraten den Solid South („Solider Süden“) und somit alle ehemaligen Sklavenstaaten als ihre Hochburg konsolidieren konnten. Hier kam ihnen zugute, dass einem Großteil der Afroamerikaner von den lokalen Behörden das Wahlrecht verweigert worden war. Insgesamt sieht Peskin im Wahlsieg vor allem einen persönlichen Triumph Garfields, dem es gelungen sei, die zerstrittenen Lager innerhalb der Partei hinter sich zu einen. Für eine kurze Zeit war Garfield somit gleichzeitig gewählter Präsident und Senator sowie amtierender Abgeordneter im Repräsentantenhaus, ein bis heute einmaliger Vorgang in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Gewählter Präsident der Vereinigten Staaten (1880–1881) Bis zur Amtseinführung am 4. März 1881 musste Garfield als gewählter Präsident der Vereinigten Staaten im Wesentlichen zwei Aufgaben erledigen: eine Antrittsrede schreiben und ein Kabinett zusammenstellen. Außerdem sah er sich einem steten Strom von Stellenbewerbern ausgesetzt, darunter etliche Freunde. Zunehmend misstrauisch gegenüber der sozialen Umwelt litt der eigentlich gesellige Garfield an der damit einhergehenden Isolation. Weil er nur durch außerordentliche Umstände zum Präsidentschaftskandidaten geworden war, hatte er sich bisher kaum Gedanken zu seinem künftigen Kabinett gemacht. Obwohl er ihm aufgrund früherer Enttäuschungen nicht vollständig vertraute, wurde Blaine zu seinem wichtigsten Berater. In dieser Funktion wollte ihn dieser zum Ausschluss der Stalwarts und des Reformflügels von Ministerposten überreden, aber Garfield fürchtete um die Einheit der Partei und setzte auf ein zwischen Faktionen und Regionen ausbalanciertes Personaltableau. Nachdem ihm Blaine Ende November zugesagt hatte, keine eigenen Ambitionen auf das Weiße Haus zu haben, sah er ihn für das Außenministerium vor. Als diese Entscheidung Mitte Dezember 1880 bekannt wurde, lief Conkling gegen die Ernennung seines Erzfeindes Sturm und forderte das Finanzministerium für die Stalwarts. Dessen Vorschlag Levi P. Morton war jedoch für Garfield nicht akzeptabel, zumal die Gesetze einen Ressortleiter ausschlossen, der als Banker im Handel mit Staatsanleihen tätig war. Er bot Morton als Ersatz das Amt des Marineministers an, was dieser jedoch aufgrund seiner Bewerbung für den offenen Senatssitz von New York ablehnte. Eine spätere Zusage zog Morton nach einem persönlichen und konfrontativ akzentuiertem Treffen mit Conkling und Arthur am 2. März zurück. Als Blaine im Hintergrund in die New Yorker Senatswahl eingriff, indem er Chauncey Depew zu einer Kandidatur gegen die Stalwarts überredete, vermutete Conkling dahinter Garfield als eigentlichen Drahtzieher, wodurch sich die Fronten erneut verhärteten. Der gewählte Präsident hingegen fühlte sich von der persönlichen Fehde zwischen Blaine und Conkling eher abgestoßen. Blaine überredete den widerstrebenden Garfield, Conkling nach Mentor einzuladen. Ein Hintergedanke war, den gewählten Präsidenten vor dem Vorwurf der Stalwarts in Schutz zu nehmen, er werde von Blaine dominiert. Das Treffen Mitte Februar 1881 verlief zwar harmonisch, endete aber ohne verbindliche Zusagen Garfields hinsichtlich der Kabinettauswahl. Kurze Zeit später bot er dem Stalwart Charles J. Folger den Posten des United States Attorney General (Justizminister) an, womit er Conkling enttäuschte, der das Finanzministerium für seine Faktion gefordert hatte. Weil der Blaine-Flügel gleichfalls gegen diese Besetzung opponierte, lehnte Folger das Angebot ab. Keine zwei Wochen vor der Amtseinführung am 4. März 1881 hatte Garfield weder sein Kabinett noch die Antrittsrede fertig gestellt und geriet unter großen Zeitdruck. In den letzten Februarstunden noch vor der Abfahrt nach Washington fragte er mit Erfolg Robert Todd Lincoln und Wayne MacVeagh nach ihrer Bereitschaft für das Kriegs- beziehungsweise Justizministerium. Auf Drängen Hayes’ sah er mit William H. Hunt einen Südstaatler für das Postministerium (United States Postmaster General) und gegen Blaines Protest William Windom für das Finanzministerium vor. Als zwei Tage vor der Amtseinführung das Kabinett immer noch nicht komplett war, gab Garfield schließlich Blaines Vorschlägen nach. Dieser ersetzte Windom mit William B. Allison, schob Hunt in das Innenministerium und machte den Stalwart Thomas Lemuel James zum Postmaster General. Letzteres führte zu einem Eklat, denn Conkling stürmte am Morgen des 3. März mit Arthur und Thomas C. Platt im Schlepptau das Schlafzimmer Garfields und erging sich in einer Tirade gegen den gewählten Präsidenten und die Illoyalität von James. Nachdem am Morgen der Amtseinführung Allison aus persönlichen Gründen das Finanzministerium abgelehnt hatte, machte Garfield in der folgenden Nacht wie ursprünglich geplant Windom zu dessen Ressortleiter und Samuel J. Kirkwood zum Innenminister. Insgesamt spiegelte sich trotz des wesentlichen Einflusses von Blaine in der Kabinettsauwahl des Präsidenten sein gelassener Führungsstil wider, der sich durch das respektlose Verhalten Conklings nicht aus der Ruhe bringen ließ. Präsidentschaft (1881) Zwar sahen manche Beobachter wie John Hay in Garfield einen außergewöhnlich gut qualifizierten Präsidenten und stellten ihn in dieser Hinsicht in eine Reihe mit John Quincy Adams, aber er selbst hatte durch seine Zeit im Repräsentantenhaus ein negatives Bild von den mit diesem Amt verbundenen Befugnissen. Abgesehen von der Personalpolitik, bei der das Weiße Haus seiner Überzeugung nach freie Hand bei der Besetzung von Dienstposten haben sollte, positionierte er die Regierungsverantwortung in erster Linie beim Kongress, dem gegenüber der Präsident eine Haltung des Laissez-faire einzunehmen habe. Der Schwerpunkt der 35-minütigen Antrittsrede am 4. März 1881 war die Südstaaten- und Minderheitenpolitik. Garfield rief dazu auf, den Ausgang des Sezessionskriegs endlich zu akzeptieren, und versprach, die Rechte der Afroamerikaner, insbesondere ihr Wahlrecht, zu verteidigen. Besondere Hoffnungen bei der Befriedung des Verhältnisses zwischen Weißen und Schwarzen setzte er in eine Verbesserung der Schulbildung. Konflikt mit Conkling In den ersten Tagen nach der Amtseinführung belagerten tausende von Stellenbewerbern das Weiße Haus, so dass die Warteschlange vom Oval Office bis zur Pennsylvania Avenue reichte. Zu dieser Zeit umfasste der öffentliche Dienst des Bundes mehr als 100.000 Dienstposten, die allesamt nach den politischen Mechanismen des Spoilssystems besetzt wurden. Garfield nutzte seine Befugnisse aus und verschaffte vielen Kameraden aus dem 42. Ohio-Regiment sowie einigen Verwandten eine Anstellung in der Verwaltung. Abgesehen davon empfand er diese Form des Klientelismus als eine Tortur und bat den Postminister um die Entwicklung einer eignungsorientierten Personalauswahl, mit deren Implementation James erste Erfahrungen in New York City gesammelt hatte. Blaine zeigte während dieser Zeit ständige Präsenz im Weißen Haus, um Einfluss auf Garfields Stellenbesetzungen zu nehmen. Ihre enge Verbindung äußerte sich auch darin, dass der Präsident vor Kabinettsitzungen erst mit diesem das Gespräch suchte. Garfield ernannte als Signal der Versöhnung an Conkling dessen Protegé Morton zum Botschafter der Vereinigten Staaten in Frankreich und lud ihn am 20. März in das Weiße Haus ein. Durch Blaine angefacht, eskalierte die Situation zwischen den beiden wenige Tage später erneut, als es um die Leitung der Zollstelle des New Yorker Hafens ging. Diese Behörde war wegen ihrer Größe, die 1500 Dienstposten umfasste, und den Spitzengehältern von zentraler Bedeutung für das Spoilssystem der Stalwarts. Als Präsident Hayes Arthur von der Leitung der Zollstelle (Collector of the Port of New York) entbunden hatte, war dies vor allem der Grund für den Bruch mit Conkling gewesen. Auf Drängen Blaines wollte Garfield nun Edwin Albert Merritt entlassen und William H. Robertson zum neuen Behördenleiter ernennen. Dies stieß auf erhebliche Proteste nicht nur der Stalwarts, sondern auch des Reformflügels; mehrere Minister drohten mit Rücktritt und brachten die Regierung an den Rand des Zusammenbruchs. Mit dem Postminister änderte Garfield daher das Personaltableau um, so dass Merritt im Amt verblieb und Robertson zum District Attorney in New York ernannt wurde. Nun drohte jedoch der gekränkte Conkling die Personalie Robertson im Senat zu stoppen, woraufhin Garfield jede weitere Kompromissfindung mit diesem abbrach. Weil Conkling den zu gleichen Teilen mit Republikanern und Demokraten besetzten Senat dominierte, sah sich der Präsident nun in einer Konfrontation mit dieser Institution an sich gefangen. Hinzu kam, dass der Senat in diesem Moment anlässlich einer anderen Personaldebatte um William Mahone und seine Readjuster Party von den Demokraten durch ein Filibuster handlungsunfähig gemacht wurde. Auf dem republikanischen Senats-Caucus drohte Conkling dem Präsidenten offen mit der Veröffentlichung eines kompromittierenden Briefs, der ihn mit dem in einen Korruptionsskandal verwickelten Thomas J. Brady in Verbindung brachte. Allerdings war der Text weit davon entfernt, Garfields Verhalten in irgendeiner Form in die Nähe eines Gesetzesverstoßes zu rücken, und schadete nach seiner Veröffentlichung mehr Conkling als dem Präsidenten. In der politischen Filterblase der Hauptstadt setzte sich bald die Erkenntnis durch, dass die Bevölkerung auf Seiten Garfields stand und selbst in New York mehrheitlich seinen Kampf gegen die Macht von Senat und Parteibossen unterstützte. Anfang Mai gelang Garfield die Beendigung des Filibusters, so dass im Senat über die Ernennung Robertsons abgestimmt werden konnte. Um den Druck auf die Stalwarts zu erhöhen, nahm Garfield vor der Senatssitzung alle ihre Kandidaten von seiner Vorschlagsliste. In einem letzten Versuch, die Wahl Robertsons zu verhindern, traten Platt und Conkling aus Protest gegen das Weiße Haus als Senatoren zurück, aber letztendlich wurde der Kandidat des Präsidenten am 18. Mai mit klarer Mehrheit bestätigt. Was den Konflikt mit Conkling zusätzlich belastet hatte, war die feindselige Beziehung zwischen Garfield und seinem Vizepräsidenten. Arthur war über die Personalie Robertson so aufgebracht, dass er sich für mehrere Wochen weigerte, mit dem Präsidenten zu sprechen und ihn in einem Zeitungsinterview als Lügner bezeichnete. Finanzpolitik Zum 1. Juli 1881 wurden Staatsanleihen mit einem Zinssatz von 6 % fällig. Die zu zahlende Summe betrug knapp 200 Millionen US-Dollar. Garfield ging das Risiko ein, keine zusätzlichen Mittel im Kongress zu beantragen und setzte darauf, dass das Finanzministerium die Gläubiger auszahlen konnte. Dazu bot er den Besitzern unter Umgehung der Banken eine Verlängerung der Anleihen zu einem niedrigeren Zinssatz an, wovon am Ende mehr als 90 % Gebrauch machten. Durch diese Maßnahme Garfields sparte der Bund jährliche Zinszahlungen von mehr als 10 Mio. US-Dollar ein, was einer Senkung von 40 % entsprach. Star-Route-Affäre Seit Juli 1880 waren Garfield Gerüchte bekannt, die Senator Dorsey, seinen Wahlkampfmanager in Indiana, mit Korruption im Postministerium in Verbindung brachten. Dabei ging es um die sogenannten Star Routes im dünn besiedelten Westen. Weil hier ein herkömmlicher Betrieb des Postwegs nicht praktikabel war, wurden die Routen an private Dienstleister zu niedrigen Preisen verkauft. Wenn diese auf den Star Routes ihr Angebot erweiterten, erhielten sie per Gesetz außergewöhnlich hohe Entschädigungen, was der Korruption Tür und Tor öffnete. Fünf Tage nach der Amtseinführung wies Garfield den Postminister daher an, eine entsprechende Untersuchung durchzuführen, die die erhebliche Verstrickung Dorseys in dieses Geschäftsmodell zutage brachte. Bis Juni waren genügend Beweise für eine Anklage durch den Justizminister gesammelt, deren Eröffnung für den Herbst geplant war. Ein weiteres Resultat der Untersuchung war, dass die jährlichen Ausgaben für die 93 Star Routes um knapp 800.000 US-Dollar gesenkt wurden. Außenpolitik Zur Zeit der Amtseinführung Garfields gab es in Lateinamerika mehrere Grenzdispute, die sich an der Schwelle zum Krieg befanden, so zwischen Mexiko und Guatemala, Costa Rica und Kolumbien sowie Argentinien und Chile. Außerdem drohte die Dritte Französische Republik wegen ausstehender Schuldenzahlungen mit einer Intervention Venezuelas und im Vereinigten Königreich Großbritannien und Irland und den Vereinigten Staaten erstarkten revisionistische Absichten hinsichtlich des Clayton-Bulwer-Vertrags. Insbesondere die letzten beiden Punkte erfüllten den Außenminister mit Sorge, weil sie der Monroe-Doktrin zuwiderliefen. Der diplomatische Dienst entfaltete unter Blaine daher hektische Aktivitäten in mehreren süd- und mittelamerikanischen Hauptstädten, ohne ein für ihn zufriedenstellendes Ergebnis zu erreichen. Er gab später an, dass an dieser Stelle Garfield eingegriffen und einen umfassenden Plan entworfen habe. Demnach sollten die Vereinigten Staaten ihren moralischen und politischen Führungsanspruch in der westlichen Hemisphäre mit der Ausrichtung einer panamerikanischen Konferenz in Washington untermauern. Peskin hält diese Angaben für plausibel, weil sich Blaine vor seiner Ernennung zum Minister kaum für Außenpolitik interessiert habe, während Garfield auf diesem Feld schon als Kongressabgeordneter eine Grundkonzeption habe erkennen lassen. Ira Rutkow hält fest, dass Garfield und Blaine die ersten Politiker in Regierungsverantwortung gewesen seien, die die Vereinigten Staaten als eine Seemacht über zwei Ozeane angesehen hatten. Entsprechend habe er nach hegemonialer Kontrolle über das Königreich Hawaiʻi gestrebt. Die europäischen Angelegenheiten betreffend, stimmte Garfield dem Beitritt der Vereinigten Staaten zu den Genfer Konventionen zu und unterstützte die Gründung des Amerikanischen Roten Kreuzes. Attentat (1881) Am 2. Juli 1881 begab sich Garfield in Begleitung von Blaine und zwei seiner Söhne zur Baltimore & Potomac Station (der späteren Pennsylvania Station) in Washington, um einen Zug nach New Jersey zu nehmen. Dort erholte sich Lucretia im Badeort Long Branch von einer Malariaerkrankung. Im Bahnhofsgebäude passte Charles J. Guiteau den Präsidenten ab. Dieser hatte während des Präsidentschaftswahlkampfs 1880 eine Rede für die Kampagne Garfields verfasst, die niemals gehalten wurde, und war im Hauptquartier der Republikaner an der Fifth Avenue ständig zugegen gewesen, ohne von irgendjemanden ernst genommen worden zu sein. Psychisch zu labil, diese Ablehnung zu perzipieren, war er zu der festen Überzeugung gelangt, dass er maßgeblich zum Wahlsieg beigetragen hatte, und erwartete im Gegenzug eine Dienstposten im Spoilssystem. Noch vor der Amtseinführung Garfields hatte er von diesem per Brief die Botschaft der Vereinigten Staaten in Wien gefordert. Am 8. März hatte er den Präsidenten im Weißen Haus persönlich aufgesucht und erneut eine Anstellung als Botschafter gefordert; ähnlich ging er bei Blaine vor. Als ihn beide hinhielten und weitere schriftliche Anfragen ignorierten, hatte Guiteau ab Mitte Mai mit der Planung und Vorbereitung des Attentats begonnen. Als Garfield ihm nun gegen 9:20 Uhr in der Wartehalle über den Weg lief, trat er hinter ihn und schoss aus geringer Distanz in seinen Rücken. Als sein Opfer schwankte und zu fallen begann, feuerte Guiteau ein weiteres Mal auf den Präsidenten, und floh. Noch in der Wartehalle wurde er von einem Polizisten festgenommen und sagte auf dem Weg zur Polizeiwache aus: „I am a Stalwart, Arthur is now President of the United States.“ Garfield lag derweil am Boden, eine Kugel hatte seinen Arm gestreift, die andere war mittig der rechten Körperhälfte in seinen Rücken eingedrungen, hatte die elfte Rippe zertrümmert und ihren Weg dann fortgesetzt. Erste behandelnde Ärzte, unter ihnen der rasch die Führung übernehmende Chefchirurg eines Militärhospitals Willard Bliss, untersuchten mit ihren ungewaschenen Fingern den Schusskanal, ohne an die Kugel zu gelangen. Weil der Präsident neben einem Schockzustand Symptome innerer Blutungen zeigte, gingen die Ärzte und er selbst davon aus, dass er diesen Tag nicht überleben werde. Zur weiteren Untersuchung wurde er zuerst ein Stockwerk höher getragen und kurze Zeit später auf den Wunsch Garfields hin in das Weiße Haus transportiert. Dort fanden sich Freunde und Kabinettsmitglieder ein, um sich von ihm zu verabschieden, derweil sich Lucretia in einem bereitgestellten Sonderzug auf den Weg in die Hauptstadt aufmachte. Obwohl die anwesenden knapp 30 Mediziner den Zustand des Präsidenten als hoffnungslos beschrieben, überlebte er den Nachmittag und die folgende Nacht. Ärztliche Behandlung und Tod (1881) Kein Ereignis seit dem Sezessionskrieg hatte die Nation emotional so stark geeint wie das Attentat auf Garfield, das in Nord- und Südstaaten Abscheu und Besorgnis hervorrief. Die Aussicht auf eine mögliche Nachfolge des Stalwarts Arthur, der aus seiner Verachtung für Garfield nie ein Geheimnis gemacht hatte, führte in Verbindung mit der Aussage Guiteaus unmittelbar nach seiner Verhaftung zu wilden Verdächtigungen und einem tiefen Misstrauen gegenüber dem Vizepräsidenten. Die ab dem 3. Juni täglich veröffentlichten ärztlichen Bulletins zum Gesundheitszustand des Präsidenten äußerten sich vor allem in den ersten drei Wochen nach dem Mordanschlag optimistisch. Zwar schwächten sich in dieser Zeit das Fieber und die Appetitlosigkeit Garfields ab, jedoch war er weitgehend bewegungsunfähig, auf intensive Pflege angewiesen und konnte keine feste Nahrung zu sich nehmen, so dass er in den folgenden Wochen stark an Gewicht verlor. Bis auf den Umgang mit der Familie verboten ihm die Ärzte jeglichen Besuch, selbst als er Blaine zu sehen wünschte. Weil der heiße und schwüle Washingtoner Sommer Garfield zusätzlich belastete, bauten Ingenieure der Marine mit Unterstützung von Simon Newcomb den Vorläufer einer Klimaanlage in sein Krankenzimmer ein. Während der gesamten Zeit versuchten die Ärzte immer wieder mit Fingern und Instrumente, die Kugel im Körper des Präsidenten zu detektieren, wobei sie dabei keine Sterilisation durchführten. Die Verteidigung im Prozess gegen Guiteau berief sich später vergeblich darauf, dass Garfield nicht wegen des Attentats, sondern aufgrund ärztlicher Behandlungsfehler gestorben sei. Peskin nimmt jedoch an, dass die Blutvergiftung, der Garfield am Ende zum Opfer fiel, selbst bei aseptischen Maßnahmen der Ärzte durch die Splitter der beim Schuss zertrümmerten Rippen ausgelöst worden wäre. Ein von Alexander Graham Bell entwickelter Metalldetektor erbrachte keine eindeutigen Ergebnisse bei der Suche nach der fehlenden Kugel, weil es zu Interferenzen mit den metallischen Bettfedern kam. Die spätere Autopsie zeigte, dass die Kugel in die linke Körperhälfte abgelenkt worden war und nicht, wie von den Ärzten vermutet, in die rechte. Auf ihrem Weg hatte die Kugel kein lebenswichtiges Organ verletzt. Rutkow weist bezüglich Garfields Todesursache darauf hin, dass im Jahr 1881 in den Vereinigten Staaten die meisten Ärzte die antiseptischen Maßnahmen von Joseph Lister, 1. Baron Lister nicht praktizierten oder sogar ablehnten. Die jungen, sich an Lister orientierenden Ärzte waren zu dieser Zeit noch ohne prägenden Einfluss. Er kommt zu dem Schluss, dass Garfields Genesungschancen von dem Augenblick an aufs Spiel gesetzt wurden, als der erste Arzt den Schusskanal ohne Antisepsis untersucht hatte. Außerdem schrieben sie das Fieber des Präsidenten nicht einer Wundinfektion zu, sondern der in Washington grassierenden Malaria. Nach einer Fieberattacke Ende Juli erholte sich Garfield so weit, dass er am 29. Juli eine kurze, sich nur auf Formalitäten beschränkende Kabinettssitzung an seinem Krankenbett leiten konnte. Weil er in den Monaten nach dem Attentat sein Amt nicht wahrnehmen konnte, entspann sich eine Verfassungsdebatte um diese bisher ungekannte Situation. Blaine schlug vor, dass Arthur als Präsident amtieren sollte, bis sich Garfield erholt hatte oder gestorben war. Der Vizepräsident, der nie eigene Ambitionen auf das Weiße Haus gehabt hatte, lehnte dieses Ansinnen ab und stieg in der Folge im öffentlichen Ansehen. Derweil zeichnete sich immer deutlich ab, dass Garfield zum Tode verurteilt war. Aus jeder gesundheitlichen Krise ging er geschwächter hervor; seine rechte Gesichtshälfte war gelähmt, es kam zu Halluzinationen und eine stark vergrößerte Eiterbeule hinter einem Ohr mit Eiterabfluss in den Mundraum ließ die Blutvergiftung zutage treten. Auf sein Drängen hin erlaubten ihm die Ärzte den Umzug in den Badeort Elberon, einen Stadtteil von Long Branch. Der Transport am 6. September geschah in einem eigens dafür umgebauten Eisenbahnwaggon. Die Schienen für den letzten Kilometer bis zur Pension waren in der Nacht zuvor verlegt worden. Die erhoffte Verbesserung von Garfields Gesundheitszustand stellte sich durch die Meeresfrische nicht ein, sondern am 15. September verschlimmerte sie sich dramatisch mit zusätzlicher Symptomatik. Vier Tage später starb der Präsident um 22:35 Uhr. Am nächsten Tag brachte derselbe Zug, der Garfield nach Elberon gefahren hatte, seinen Leichnam in die Hauptstadt. Dort wurden die Überreste des Präsidenten zwei Tage lang in der Rotunde des United States Capitol aufgebahrt und von über 70000 Trauergästen besucht. Anschließend wurde der Sarg nach Cleveland überführt, wo Garfield nach einer weiteren Aufbahrung am 26. September seine letzte Ruhestätte auf dem Lake View Cemetery fand. Persönlichkeit Weil er aus prekären Verhältnissen stammte und von einer alleinlebenden Mutter großgezogen wurde, erlebte Garfield in der Jugend regelmäßig Demütigungen durch die soziale Umwelt. Diese Erfahrung machte ihn als Erwachsenen besonders sensibel für persönliche Angriffe, die er entweder ignorierte oder nur sehr widerstrebend beantwortete. Sein politisches Umfeld erkannte darin eine Schwäche, während die Öffentlichkeit durch dieses Verhalten den Eindruck gewann, die Vorwürfe gegen Garfield seien berechtigt. Auch seine starken Selbstzweifel, die ihn beim kleinsten Missgeschick heimsuchten, schrieb er den Kindheitserlebnissen zu. Die ihn mitunter lähmende Selbstunsicherheit und stark ausgeprägte Vernunftbestimmtheit führte dazu, dass charismatische und dominante Persönlichkeiten wie zum Beispiel Blaine eine besondere Faszination auf ihn ausübten. Damit verbunden neigte Garfield dazu, Probleme aus vielen verschiedenen Perspektiven zu betrachten, und aus dieser Vorsicht heraus, bei Konflikten anderen zu schnell nachzugeben. Laut Peskin habe Garfield sich insgesamt lieber mit Ideen als mit Menschen beschäftigt. Andererseits wurde Garfields ärmliche Herkunft für ihn zu einem wichtigen politischen Aktivposten. Er verkörperte den Amerikanischen Traum des Selfmademan, der durch harte Arbeit und Fleiß den sozialen Aufstieg geschafft hatte. Vor allem dafür und weniger wegen seiner politischen Leistungen blieb er den Zeitgenossen in Erinnerung. Aus einer gewissen Schicksalsgläubigkeit heraus und weil er es für ein „vulgäres“, seinen religiösen Überzeugungen widersprechendes Verhalten hielt, lehnte er die initiative Bewerbung um Stellen und Ämter ab. Dieses fatalistische Element sorgte dafür, dass er in kritischen Momenten mitunter eine auffällige Passivität zeigte und selbst hinter Rückschlägen eine höhere Bestimmung vermutete. Andererseits kennzeichnete ihn eine gewisse Rastlosigkeit, so dass er stets auf der Suche nach dem nächsten Karriereschritt war. Garfield war sein Leben lang ein gläubiger Mensch. So sprach er sich öffentlich gegen die Evolutionstheorie von Charles Darwin aus. Jedoch war er darauf bedacht, dass seine religiösen Vorstellungen nicht die politischen Überzeugungen überformten. Garfield war stolz darauf, unter den Politikern als Intellektueller zu gelten. Parallel zu seiner beruflichen Karriere verfolgte er stets Studienprojekte wie zum Beispiel die Übersetzung von Horaz oder Johann Wolfgang von Goethe. Einige Beobachter bezeichneten ihn als den am besten gebildeten Kongressabgeordneten seiner Ära. Im Jahr 1876 lieferte Garfield einen von mehreren Beweisen zum Satz des Pythagoras. Garfield war von geselliger und freundlicher Natur, so dass er in seiner Umgebung stets schnell sozialen Anschluss fand. Dementsprechend bewies er Geschick darin, sich an veränderte Lebensumstände anzupassen. Politische Gegner verfolgte er nicht mit leidenschaftlichem Hass, wie dies die Erzfeinde Conkling und Blaine untereinander zu tun pflegten. Zum Nachteil gereichte ihm, dass er eine freundschaftliche Bitte nur schwer abschlagen konnte, was ihm den Ruf einbrachte, eine schlechte Menschenkenntnis zu haben. Nachleben Historische Bewertung Frederick D. Williams (1964) veröffentlichte die Korrespondenz Garfields aus dem Bürgerkrieg. Gemeinsam mit James Harry Brown (1967–1981) gab er in der vierbändigen Reihe The Diary of James A. Garfield die Tagebücher heraus. Als neuere Werke zu Garfield führt die Historikerin Ulrike Skorsetz Peskin (1978), Justus D. Doenecke (1981), Richard L. McElroy (1986) sowie Kenneth D. Ackerman (2003) an. Eine Zusammenfassung der Fachliteratur veröffentlichte Robert O. Rupp (1998), während James C. Clark (1994) sich mit dem Attentat beschäftigte. Laut Peskin (1978) habe Garfield veranlasst durch die Auseinandersetzung mit Conkling versucht, die Machtbalance zwischen Senat und Präsident wiederherzustellen. Während seiner Generation habe sich diese nach Lincoln stetig zuungunsten des Weißen Hauses in Richtung Kapitol verschoben, was insbesondere das Amtsenthebungsverfahren gegen Johnson verdeutlichte. Weder Grant noch Hayes hatten diesen Trend umkehren können. Garfields Bemühen um mehr präsidiale Unabhängigkeit vom Senat sei im 20. Jahrhundert wieder aufgegriffen worden. Anders als von vielen seiner Zeitgenossen kolportiert, sei er als Präsident auch selbständig in seinen Entscheidungen gewesen und stand nicht unter der Fuchtel von Blaine. Insgesamt habe er das Weiße Haus stärker hinterlassen, als er es vorgefunden habe, und gemeinsam mit Blaine die Republikaner modernisiert. Charles W. Calhoun (2002) kommt zu dem Schluss, dass Garfield mehr Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit dem Kongress hatte als Hayes, der sich während seiner Präsidentschaft zunehmend isoliert hatte. Entsprechend präferierte er Gesetzesvorlagen im legislativen Prozess gegenüber präsidialen Executive Orders („Durchführungsverordnungen“); wegen seines vorzeitigen Todes kam er aber nicht zur praktischen Umsetzung dieser politischen Linie. Die Stärke seines Amtes konnte er in der Auseinandersetzung mit den New Yorker Stalwarts unter Beweis stellen. Garfields größte politische Errungenschaft sei die Verlängerung der Staatsanleihen zu niedrigeren Zinssätzen gewesen. Die Epoche von Garfields Amtszeit, das Gilded Age, war geprägt durch die außerordentliche Macht und Prominenz von Tycoons und „Räuberbaronen“ wie Andrew Carnegie, Jay Gould, John D. Rockefeller und J. P. Morgan sowie das Entstehen einflussreicher Interessengruppen, nicht zuletzt der Gewerkschaften, und Monopolen in Form von Trusts. Anders als in der Zeit von Sezessionskrieg und Reconstruction rückte die Politik im öffentlichen Interesse mehr in den Hintergrund. Rutkow beurteilt Garfield vor diesem Hintergrund als einen Präsidenten, der mit seinen persönlichen Widersprüchen den Zeitgeist der 1880er Jahre in Amerika verkörpert habe. Er sei ein Gelehrter gewesen, der sich zum Soldaten, und ein Pragmatiker, der sich zum Politiker gewandelt habe. Er sei einer der bedeutendsten Kongressabgeordneten seiner Zeit gewesen, habe sich aber als Präsident in der Kontrolle der unterschiedlichen Faktionen innerhalb der Republikaner plump angestellt und wenig Durchsetzungsvermögen gezeigt. Insgesamt bleibe er eher als ein Parteifunktionär und Attentatsopfer in Erinnerung denn als inspirierender Präsident. Skorsetz (2013) resümiert, dass Garfield ähnliche politische Vorstellungen wie Hayes gehabt und versucht habe, die Exekutivgewalt des Präsidenten zu stärken. Parallel dazu sei es ihm um ein kooperatives Miteinander von Kongress und Weißen Haus gegangen. Kulturelle Rezeption In den Jahrzehnten nach seinem Tod schwand Garfield aus der nationalen Erinnerung und wurde in Anlehnung an eine Erzählung von Thomas Wolfe zu den „verlorenen“, sich äußerlich ähnelnden Präsidenten Hayes, Arthur und Benjamin Harrison gezählt, die während des Gilded Age amtiert hatten. In der zehnbändigen Romanreihe Roman über ein Verbrechen der schwedischen Autoren Maj Sjöwall und Per Wahlöö wird der Protagonist Martin Beck im siebten Teil Das Ekel aus Säffle durch einen Schuss in die Brust schwer verwundet. Im folgenden Band Verschlossen und verriegelt hat er wiederkehrende Alpträume: Er träumt davon, den Schuss von Charles J. Guiteau mit seinem Körper abgefangen zu haben, doch umsonst, Garfield wird dennoch getroffen. Eine Hauptrolle hat Garfield in der 19. Folge der elften Staffel der Fernsehserie American Dad. Die Episode trägt den Titel Garfield and Friends und wurde im Juni 2016 ausgestrahlt. Ehrungen und Denkmäler Zum ehrenden Angedenken Garfields errichtete man 1890 auf seinem Grab auf dem Lake View Cemetery in Cleveland einen turmartigen, über 50 m hohen Rundbau, das James A. Garfield Memorial. Dieses Bauwerk wurde im November 1973 in das National Register of Historic Places („Nationales Verzeichnis historischer Orte“; NRHP) eingetragen. Das James A. Garfield Monument steht in den Gartenanlagen vor dem Kapitol in Washington, D.C. Es ist eine Bronzestatue von John Quincy Adams Ward auf einem gestalteten Granitsockel von Richard Morris Hunt. Lawnfield, die heutige James A. Garfield National Historic Site war bis 1936 in Familienbesitz. Das Anwesen wurde im Januar 1964 zum National Historic Landmark („Nationales historisches Wahrzeichen“) erklärt und im Oktober 1966 in das NRHP aufgenommen. Im Dezember 1980 erhielt der Ort auf Beschluss des Kongresses den Status einer National Historic Site („Nationale historische Stätte“) zuerkannt. Außerdem sind mit Schwerpunkt im Westen sechs Countys in den Vereinigten Staaten nach ihm benannt (siehe Garfield County). Mehrere Berge tragen seinen Namen, zwei davon stehen in Colorado, nämlich im Mesa und im San Juan County. Weitere liegen im Grafton County, New Hampshire und im King County (Washington), Washington. In der Serie der Präsidentendollars wurden ab November 2011 Münzen mit dem Konterfei von Garfield geprägt. Quellen James A. Garfield Papers in der Library of Congress James Harry Brown, Frederick D Williams (Hrsg.): The Diary of James A. Garfield. Vier Bände. Michigan State University, East Lansing 1967–1981,. Frederick D Williams (Hrsg.): The Wild Life of the Army: Civil War Letters of James A. Garfield. Michigan State University, East Lansing 1964, . Literatur Thomas C. Sutton: James A. Garfield. In Ken Gormley (Hrsg.): The Presidents and the Constitution. Volume 1 (= From the Founding Fathers to the Progressive Era). New York State University Press, New York 2020, ISBN 978-1-4798-2323-9, S. 266–275. Ulrike Skorsetz: James A. Garfield (1881): Der verhinderte Reformer. In: Christof Mauch (Hrsg.): Die amerikanischen Präsidenten: 44 historische Portraits von George Washington bis Barack Obama. 6., fortgeführte und aktualisierte Auflage. Beck, München 2013, ISBN 978-3-406-58742-9, S. 219–221. Candice Millard: Destiny of the Republic. A Tale of Madness, Medicine and the Murder of a President. Anchor Books, New York 2012, ISBN 978-0-7679-2971-4. Ira Rutkow: James A. Garfield (= The American Presidents Series. Hrsg. von Arthur M. Schlesinger, Sean Wilentz. The 20th President). Times Books, New York 2006, ISBN 0-8050-6950-X. Kenneth D. Ackerman: The Dark Horse: The Surprise Election and Political Murder of President James A. Garfield. Carroll & Graf, New York 2003, ISBN 0-7867-1151-5. Robert O. Rupp (Hrsg.): James A. Garfield. A Bibliography (= Bibliographies of the Presidents of the United States. Bd. 20). Greenwood Press, Westport CT u. a. 1997, ISBN 0-313-28178-5 (Stellt die Forschungsliteratur bis 1998 zusammen). James C. Clark: The Murder of James A. Garfield: The President’s Last Days and the Trial and Execution of His Assassin. McFarland, Jefferson 1994, ISBN 978-0-89950-910-5. Richard L. McElroy: James A. Garfield: His Life & Times: A Pictorial History. Daring, Canton 1986, ISBN 978-0-938936-45-9. Justus D. Doenecke: The Presidencies of James A.Garfield and Chester A. Arthur. University Press of Kansas, Lawrence 1981, ISBN 978-0-7006-0208-7. Allan Peskin: Garfield. A Biography. Neuauflage der Erstausgabe von 1978. Kent State University Press, Kent 1999, ISBN 0-87338-210-2. Weblinks The American Presidency Project: James A. Garfield. Datenbank der University of California, Santa Barbara mit Reden und anderen Dokumenten aller amerikanischen Präsidenten (englisch) Life Portrait of James A. Garfield auf C-SPAN, 26. Juli 1999, 147 Minuten (englischsprachige Dokumentation und Diskussion mit den Historikern Allan Peskin und John Shaw sowie Führung durch die James A. Garfield National Historic Site) Anmerkungen Präsident der Vereinigten Staaten Mitglied des Repräsentantenhauses der Vereinigten Staaten für Ohio Mitglied des Senats von Ohio Mitglied der Republikanischen Partei Politiker (19. Jahrhundert) Militärperson (Nordstaaten) Opfer eines Attentats Mordopfer US-Amerikaner Geboren 1831 Gestorben 1881 Mann
103626
https://de.wikipedia.org/wiki/Olympische%20Sommerspiele%201984
Olympische Sommerspiele 1984
Die Olympischen Sommerspiele 1984 (offiziell Spiele der XXIII. Olympiade genannt) fanden vom 28. Juli bis zum 12. August 1984 in Los Angeles in den Vereinigten Staaten statt. Die kalifornische Stadt hatte sich als einzige beim Internationalen Olympischen Komitee (IOC) um die Austragung dieser olympischen Sportwettkämpfe beworben. Es nahmen 140 Mannschaften mit 6797 Sportlern teil, davon 5230 Männer und 1567 Frauen. Nach dem Olympiaboykott der USA und 41 weiterer Staaten bei den Olympischen Sommerspielen 1980 in Moskau und den 1983 eingeleiteten Maßnahmen US-amerikanischer Politiker zum Ausschluss sowjetischer Sportler boykottierte die Sowjetunion die Spiele von Los Angeles. Weitere 18 meist realsozialistische Staaten verweigerten ebenfalls die Teilnahme – nicht jedoch Rumänien, China und Jugoslawien. Obwohl mit 140 Nationen ein neuer Teilnahmerekord verzeichnet wurde, blieben allein mit den betroffenen Ostblockstaaten sowie Kuba sieben Mannschaften fern, die noch acht Jahre zuvor bei den letzten gemeinsamen Olympischen Sommerspielen 1976 in Montreal rund die Hälfte aller Medaillen gewonnen hatten. In zahlreichen Sportarten fehlte deshalb ein Großteil der Weltspitze. Es waren die letzten Olympischen Spiele mit einem großen Boykott. In Los Angeles wurden die Olympischen Spiele erstmals privatwirtschaftlich finanziert, wobei sich das IOC der Kommerzialisierung öffnete. So nutzten in großem Umfang Sponsoren die Spiele für ihre Werbung. Die erfolgreichsten Teilnehmer waren die rumänische Turnerin Ecaterina Szabó mit vier Gold- und einer Silbermedaille und der amerikanische Leichtathlet Carl Lewis mit vier Goldmedaillen. Bewerbung Los Angeles in früheren Bewerbungen Los Angeles bemühte sich nach der Austragung der Olympischen Sommerspiele 1932 mehrmals vergeblich darum, erneut Austragungsort zu werden. 1932 waren rund eine Million Dollar Gewinn erzielt worden, weshalb ortsansässige Geschäftsleute die Olympischen Sommerspiele 1940 in die Stadt holen wollten. Dazu gründeten sie das Southern California Committee for the Olympic Games (SCCOG). Nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges geriet das Projekt jedoch in Vergessenheit. Nach dem Krieg bewarb sich Los Angeles dreimal erfolglos um die Ausrichtung: 1946 für die Olympischen Sommerspiele 1948, 1947 für die Olympischen Sommerspiele 1952 und 1949 für die Olympischen Sommerspiele 1956. Nachdem das United States Olympic Committee (USOC) bei den folgenden vier Bewerbungen jeweils Detroit nominiert hatte und damit gescheitert war, bewarb sich 1970 wieder Los Angeles um die Ausrichtung der Olympischen Sommerspiele 1976. Bürgermeister Sam Yorty gründete das Bewerbungskomitee „LA76 Committee“ mit dem Vorsitzenden John Kilroy, einem Unternehmer und Sportler, das die Spiele anlässlich der 200-Jahr-Feier der Unabhängigkeitserklärung in die Staaten holen sollte. In der inneramerikanischen Ausscheidung beim USOC konnte sich Los Angeles durchsetzen. Beim IOC rief jedoch der Plan, die Olympischen Spiele mit einem privaten Fonds zu finanzieren, falls der Staat sich nicht beteiligen sollte, Misstrauen hervor. Bei der Wahl während der IOC-Session 1970 in Amsterdam schied Los Angeles mit nur 17 Stimmen in der ersten Runde aus, im zweiten Wahlgang gewann Montreal gegen Moskau. Los Angeles unternahm nach dieser Niederlage einen neuen Anlauf und bewarb sich um die Olympischen Sommerspiele 1980. Die Chancen wurden durch die sportpolitische Situation gemindert, da die Sowjetunion verärgert auf das Scheitern Moskaus bei der Entscheidung 1970 reagiert hatte und einige IOC-Mitglieder sie nicht weiter verärgern wollten. So konnte sich Moskau bei der IOC-Session 1974 in Wien mit 39 zu 20 Stimmen bei zwei Enthaltungen gegen Los Angeles durchsetzen und die Sommerspiele 1980 ausrichten. Bewerbung für 1984 Für die Olympischen Sommerspiele 1984 ging Los Angeles erneut ins Rennen. Der Stadtrat sicherte dem SCCOG am 27. Oktober 1975 in einer Resolution seine Unterstützung zu und gab eine Studie zur Kosten-Nutzen-Analyse in Auftrag. Diese Studie gab ein erwartetes Defizit von 200 bis 336,5 Millionen Dollar an, da keine Unterstützung aus Staats- oder Bundesmitteln zu erwarten war, während das SCCOG einen Gewinn von 750.000 Dollar erwartete. Nachdem der SCCOG-Präsident John C. Argue versichert hatte, dass keine Steuermittel benötigt würden, stimmte der Stadtrat mit 12 zu 0 Stimmen bei drei abwesenden Olympiagegnern am 12. Mai 1977 für die Bewerbung um die Spiele. Im inneramerikanischen Auswahlverfahren beim USOC setzte sich Los Angeles am 25. September 1977 mit 55 zu 39 gegen New York City durch. Zuvor hatten sich Atlanta, Boston, Chicago und New Orleans aus dem Verfahren zurückgezogen. Beide Kammern des Kongresses unterstützten die Bewerbung von Los Angeles, was jedoch keine finanziellen Hilfen des Staates nach sich zog. Wegen des finanziellen Verlustes bei den Olympischen Sommerspielen 1976 von Montreal, der weltweiten Wirtschaftskrise der Jahre 1974 und 1975 und der Forderung des IOC nach besseren Garantien gaben die Städte Algier, Glasgow und Riad ihre Bewerbungen auf. Im Juni 1977 zog sich mit Teheran der letzte Mitbewerber zurück, sodass Los Angeles zum Anmeldeschluss des IOC am 31. Oktober 1977 der einzig verbliebene Kandidat war. Im Vorfeld der 80. IOC-Session in Athen trafen sich die Führung des USOC, Vertreter der Stadt Los Angeles und Thomas Keller, der Präsident der General Association of International Sports Federations (GAISF), zu einem Gespräch, bei dem Keller für ihn unbefriedigende Antworten erhielt. Hinzu kam, dass 17 der 22 in der GAISF vertretenen Sportverbände das Konzept von Los Angeles ablehnten und vom IOC eine erneute Ausschreibung forderten. Die Olympischen Spiele wurden auf der IOC-Session am 18. Mai 1978 dennoch provisorisch an Los Angeles vergeben, nachdem US-Präsident Jimmy Carter und der Gouverneur Kaliforniens, Jerry Brown, ihre Unterstützung zugesagt hatten und das IOC Keller versichert hatte, dass Los Angeles alle Anforderungen der Olympischen Charta erfüllen müsse. Eine Bedingung war dabei, dass der Vertrag bis zum 1. August 1978 mit den olympischen Regeln übereinstimmen sollte, andernfalls wäre das Recht der Austragung wieder an das IOC zurückgefallen. Besonders um die finanzielle Haftung wurde gestritten, da weder das USOC noch die Stadt diese übernehmen wollten. Schließlich trat ein privates „Committee of Seven“ dem IOC als Verhandlungspartner gegenüber. Aus diesem wurde am 15. Juni 1978 das Los Angeles Olympic Organizing Committee (LAOOC), das mit den Plänen, die Wettkämpfe weitgehend in bestehenden Sportanlagen auszutragen, selbst den Fernsehvertrag auszuhandeln, auf ein zentrales olympisches Dorf zu verzichten und den Gewinn nicht an das IOC abzuführen, beim IOC auf wenig Gegenliebe stieß. Es ließ sich jedoch kein alternativer Bewerber mehr finden, da New York die finanziellen Risiken zu groß waren und der Münchner Oberbürgermeister Erich Kiesl erfolglos versuchte, München als Austragungsort vorzuschlagen. Daher gab das IOC schrittweise nach: Die Frist für Los Angeles wurde erst auf den 21., dann auf den 31. August 1978 verlängert, bis schließlich in einer Briefwahl des IOC Los Angeles mit 75 Jastimmen, drei Gegenstimmen und sechs Enthaltungen die Olympischen Sommerspiele 1984 zugesprochen wurden. Der Stadtrat von Los Angeles stimmte mit acht zu vier Stimmen bei drei abwesenden Mitgliedern zu, und schließlich wurde am 20. Oktober 1978 im Weißen Haus der Vertrag zwischen Los Angeles und dem IOC durch Tom Bradley und Lord Killanin unterzeichnet. Vorbereitung Organisation Am 26. Januar 1979 berief das LAOOC das 65 Personen umfassende Board of Directors, am 26. März 1979 wurde Paul Ziffren als Chairman und Peter Ueberroth als Präsident eingesetzt. Für die Organisation der Wettkämpfe bestimmte das LAOOC für die einzelnen Sportarten jeweils einen Kommissar. 1982 wurde dann für die Organisation der 25 einzelnen Tätigkeitsbereiche jeweils eine Subkommission eingerichtet. Als Sportdirektor war Michael O’Hara tätig, der 1964 selbst am olympischen Volleyballturnier teilgenommen hatte. Wie schon während der Bewerbungsphase angekündigt, gab es kaum größere Bauprojekte. Das LAOOC wählte größtenteils bereits existierende Sportstätten im Großraum Los Angeles für die olympischen Wettbewerbe aus. Lediglich das Schwimmstadion, das Velodrom und die Tennisplätze wurden neu errichtet. Die beiden ersten wurden dabei jeweils von Sponsoren finanziert. Wie angekündigt errichtete das LAOOC kein zentrales olympisches Dorf, sondern verteilte die Sportlerunterkünfte auf drei Orte. Für den Aufenthalt der Athleten wollte das Organisationskomitee zunächst pro Tag 55 bis 58 Dollar verlangen, vier Jahre zuvor waren es noch umgerechnet 20 Dollar. Nach Protesten einiger IOC-Mitglieder senkte das LAOOC den Preis letztendlich auf 42 Dollar. Zur Finanzierung schloss das LAOOC mit 34 Unternehmen Sponsorenverträge ab. So zahlte Coca-Cola 25 Millionen Dollar und Anheuser-Busch 15 Millionen Dollar, weitere Sponsoren waren unter anderem Canon, McDonald’s und American Express. Insgesamt erzielte das LAOOC damit 123 Millionen Dollar. Darüber hinaus verkaufte das Organisationskomitee an 64 Unternehmen Lizenzen. Das LAOOC und das USOC beantragten beim Kongress zudem die Prägung von Silbergedenkmünzen mit den Nennwerten 1 und 10 Dollar sowie Goldgedenkmünzen mit den Nennwerten 50 und 100 Dollar. Genehmigt wurden schließlich zwei silberne Ein-Dollar-Münzen zum Verkaufspreis von 32 Dollar und eine goldene Zehn-Dollar-Münze zum Verkaufspreis von 352 Dollar. LAOOC und USOC erhielten jeweils fünf Dollar pro verkaufter Silbermünze und 25 pro Goldmünze. Insgesamt übertraf das Ergebnis den erwarteten Gewinn von 150 Millionen Dollar, das LAOOC erwirtschaftete einen Gewinn von 232,5 Millionen Dollar. Statt dieses Geld wie zuvor üblich an das IOC abzuführen, gingen 60 % an das USOC. Mit den übrigen 40 % wurde die Amateur Athletic Foundation of Los Angeles (LA84 Foundation) gegründet, in der ehemalige hohe Mitglieder des LAOOC Positionen übernahmen. Sportpolitik Boykott Die Olympischen Sommerspiele 1984 in Los Angeles stellten einen sportpolitischen Wendepunkt dar. Es waren die letzten Spiele mit einem der großen Olympiaboykotte. Nachdem am 1. September 1983 ein südkoreanisches Passagierflugzeug von einem sowjetischen Abfangjäger wegen Verletzung des Luftraumes abgeschossen worden war, verstärkte sich die antisowjetische Stimmung in den USA. Der rechtskonservative Politiker John Doolittle, der Mitglied des Senats von Kalifornien war, brachte eine Resolution ein, die Maßnahmen bis hin zum Ausschluss sowjetischer Athleten von Olympia forderte, um die sowjetische Aggression zu stoppen. Diese wurde vom Abgeordnetenhaus Kaliforniens mit 74 zu 0 Stimmen und im kalifornischen Senat mit 36 zu 0 gebilligt. Hinter Doolittle versammelten sich eine Gruppe kalifornischer Geschäftsleute und Vertreter der koreanisch-amerikanischen Gemeinschaft, die im Herbst 1983 eine groß angelegte Unterschriftenaktion gegen eine mögliche sowjetische Olympiateilnahme starteten. Diesen Bestrebungen standen die offizielle Position des LAOOC und die Versicherung zweier US-Präsidenten entgegen, allen vom IOC akzeptierten Teilnehmern die Einreise zu garantieren. Trotzdem wurde die Entwicklung in der Sowjetunion kritisch aufgenommen. Hinzu kamen Streitigkeiten um die Akkreditierung von Radio Free Europe und Radio Liberty, um Lande- und Anlegerechte und um Fragen des Transports und der Visa, in denen das LAOOC lange Zeit für die Sowjetunion inakzeptable Pläne hatte. Der Konflikt eskalierte Anfang März 1984, als das US-Außenministerium dem sowjetischen Olympia-Attaché Oleg Jermischkin die Akkreditierung verweigerte, weil er als Offizier des KGB bekannt war. Daraufhin deutete die Sowjetunion am 2. April 1984 ihren Verbündeten erstmals einen Boykott an. Dieser wurde auf einer Konferenz in Moskau am 5. und 6. April vom Chef der Propagandaabteilung des Zentralkomitees der KPdSU mit fehlenden Sicherheitsgarantien begründet. Am 9. April forderte das NOK der UdSSR den IOC-Präsidenten auf, eine Sondersitzung einzuberufen und das LAOOC zu einer strikten Einhaltung der Olympischen Charta zu verpflichten. Juan Antonio Samaranch zögerte mit einer Reaktion und setzte schließlich ein Treffen zwischen dem sowjetischen NOK und dem LAOOC in Lausanne am 24. April an. Dort ließ sich der Streit jedoch nicht beilegen. Der NOK-Präsident Marat Gramow versicherte Samaranch, dass er nichts unternehmen würde, ehe dieser mit Ronald Reagan gesprochen hätte. Als Samaranch jedoch am 7. Mai nach New York reiste, um den US-Präsidenten am Folgetag zu treffen, wusste er bereits, dass die Sowjetunion fest zum Boykott entschlossen war. Am 8. Mai gab die Sowjetunion den Boykott offiziell bekannt. Der Schweizer Historiker Jérôme Gygax kam nach der Durchsicht von Quellen aus dem Archiv der CIA und anhand sowjetischer Quellen zum Schluss, dass die Sowjetunion zunächst keinen Boykott der Spiele von Los Angeles vorgesehen hatte, weil sie Aussicht auf großen sportlichen Erfolg auf amerikanischem Boden hatte. Im Bewusstsein der voraussichtlichen Überlegenheit sowjetischer Sportler bei den Spielen in Los Angeles verbreiteten insbesondere US-amerikanische Neokonservative in Medien die Ankündigung, dass man das Überlaufen von Sportlern der Ostblock-Staaten in den Westen nicht verhindern werde, sollten diese an den Spielen in Los Angeles teilnehmen. Offensichtlich versandte der Sowjetische Geheimdienst zusätzlich gefälschte Briefe an Nationale Olympische Komitees von nicht mit der Sowjetunion verbündeten afrikanischen und asiatischen Ländern, in welchen er sich als amerikanischer Ku-Klux-Clan ausgab und mit Angriffen auf Sportler dieser Länder drohte. Sowjetische Medien berichteten ausführlich über diese angeblichen Drohungen, über die US-Justizminister William French Smith sagte, sie seien eine "zynische Falschheit, die sowohl das olympische Ideal als auch die Rechtsstaatlichkeit verletzten". Der LAOOC-Präsident Ueberroth versuchte einzelne Mitglieder des Ostblocks dennoch zu einer Teilnahme zu überreden. In der DDR scheiterten seine Gesandten, aber Rumänien ließ sich wie die Volksrepublik China überzeugen. Samaranch unternahm am 18. Mai beim sowjetischen NOK und am 24. Mai vor den Vorsitzenden der Sportabteilungen der sozialistischen Länder noch einen Versuch zur Abwendung des Boykotts, scheiterte jedoch. Neben der Sowjetunion blieben schließlich mit Afghanistan, Albanien, Angola, Äthiopien, Bulgarien, der DDR, dem Iran, der Volksrepublik Jemen, Kuba, Laos, Libyen, der Mongolei, Nordkorea, Obervolta, Polen, der Tschechoslowakei, Ungarn und Vietnam 18 weitere NOKs den Spielen fern. Mit diesem Boykott, dem dritten großen in Folge, und den Befürchtungen, dass es bei den Olympischen Sommerspielen 1988 in Seoul wieder zum Fernbleiben wichtiger Mannschaften kommen könnte, drohte der olympischen Bewegung trotz des sowjetischen Verzichts auf Gegenspiele die Spaltung. Deshalb wurde für den 1. und 2. Dezember 1984 eine außerordentliche IOC-Session einberufen, auf der die Pflicht der NOKs, die Teilnahme ihrer Athleten sicherzustellen, festgeschrieben und beschlossen wurde, die Einladungen nur noch vom IOC zu verschicken. Kommerzialisierung Die Spiele von Los Angeles markierten einen Wendepunkt im Hinblick auf die Kommerzialisierung der Olympischen Spiele. Sie waren privat finanziert und zeigten, dass sie nicht nur einen sportlichen oder ideellen, sondern auch einen wirtschaftlichen Wert haben. Die Ausrichtung des IOC auf die Wirtschaft wurde durch die Wahl von Juan Antonio Samaranch, einem Industriellensohn mit Betriebswirtschafts- und Management-Studium, zum IOC-Präsidenten begünstigt. Er setzte eine Kommission ein, die nach neuen Finanzquellen für das IOC suchen sollte. Im Geheimen handelte er zudem einen Vertrag über die exklusive Vermarktung späterer Olympischer Spiele mit der 1982 gegründeten Schweizer Agentur International Sport and Leisure (ISL) aus, hinter der Horst Dassler stand, mit dessen Unterstützung Samaranch 1980 zum IOC-Präsidenten aufgestiegen war. Der Vertrag wurde auf der IOC-Session 1983 in Neu-Delhi bekannt und führte zu Kritik durch einige IOC-Mitglieder. Doch er bereitete auch den Weg zur vollständigen globalen Kommerzialisierung der Olympischen Spiele: , so Steffen Haffner. Vertreter der Verbände nahmen Samaranch größtenteils positiv auf, weil er zum Beispiel den NOKs, die sich durch ISL vermarkten ließen, erhebliche finanzielle Mittel einbrachte. Nach den Olympischen Sommerspielen 1984, die vom LAOOC selbst vermarktet wurden, gründete das IOC in Zusammenarbeit mit ISL das Sponsorenprogramm „The Olympic Program“ (TOP I), das ihm von 1985 bis 1988 rund 97 Millionen Dollar einbrachte. Die Erfolge der Kommerzialisierung der 1984er-Spiele machte sie trotz aller Kritik an dieser Entwicklung zum Modell für die folgenden Sommerspiele (→Kommerzialisierung und Kritik). Olympische Solidarität und Profisport Zu den Olympischen Sommerspielen 1984 gründete das IOC die „Olympische Solidarität“, ein Programm, in dem mit fünf Millionen Dollar Athleten aus Entwicklungsländern unterstützt werden sollten. Erste Ideen dieser Art kamen 1974 auf, sie wurden jedoch erst nach zehn Jahren umgesetzt. Sportler wurden in Trainingskursen auf die Teilnahme vorbereitet, zudem unterstützte das IOC die Mannschaften bei den Reisekosten. Dies half dabei, trotz des Boykotts eine hohe Teilnehmerzahl zu erreichen. Während der 84. IOC-Session in Baden-Baden 1981 wurde die als Amateurparagraph bezeichnete Zulassungsregel 26 geändert und somit die olympische Bewegung für Profisportler geöffnet. Willi Daume, der Vorsitzende der Zulassungskommission, erreichte die Änderung, indem er es so darstellte, dass die Regel nur neu interpretiert werden sollte. Sportverbände sollten mehr Entscheidungsfreiheit haben und Sportler auf von Sponsoren finanzierte Fonds zurückgreifen können, wobei direkte Verbindungen zwischen Athlet und Sponsor weiterhin verboten bleiben sollten. In der praktischen Umsetzung wurde das Fonds-Konzept durch die Regelung ersetzt, dass sich die Sportler in Fragen des Sponsorings der Kontrolle des jeweiligen NOKs in einem Zeitraum von vier Wochen vor bis zwei Wochen nach den Spielen unterwerfen müssten. Doch die Regeln zu dieser Karenzzeit wie zur Finanzierung über Sponsoren-Fonds wurden in der Folge verwässert, die Professionalisierung des Leistungssports veränderte die . Für die 1984er Spiele nahm nur die FIFA die neuen Möglichkeiten der Teilnahme von Profis in Anspruch. Sie beschloss am 9. Juni 1982 die Zulassung von Profis, die nach dem 1. Juni 1961 geboren worden waren. Eine unbeschränkte Zulassung von Profis gab es erst 1988 in Seoul in den Sportarten Tennis und Tischtennis. Diese Entwicklung setzte sich in der Folge fort, symbolisiert durch das „Dream Team“ der NBA-Basketballprofis 1992 in Barcelona. Gebäude Sportstätten Das LAOOC wählte für die Ausrichtung der Wettkämpfe größtenteils bestehende Anlagen in Los Angeles und Südkalifornien aus, es gab lediglich drei Neubauten. Spiele des Fußballturniers fanden auch in drei Stadien in größerer Entfernung zu Los Angeles statt. Zentrales Areal der Spiele war der Exposition Park, der bereits das Herzstück der Olympischen Sommerspiele 1932 gewesen war. Dort befindet sich das Los Angeles Memorial Coliseum, in dem sowohl die Eröffnungs- und Schlussfeier als auch die Wettbewerbe der Leichtathletik stattfanden. Für die Olympischen Spiele wurde es renoviert, eine neue Laufbahn errichtet und die Zuschauerkapazität auf 90.500 Plätze festgesetzt. Neben dem Los Angeles Memorial Coliseum liegt die 1959 eröffnete Los Angeles Memorial Sports Arena, in der 1984 die Boxwettkämpfe stattfanden. Die Spiele der Baseballdemonstration fanden im 1962 eingeweihten Dodger Stadium statt, das 56.000 Zuschauern Platz bot. Für die Turnwettbewerbe wurde der Pauley Pavilion genutzt, der 1965 eröffnet worden war und zum Campus der University of California, Los Angeles (UCLA) gehört. Die Judowettkämpfe führten die Organisatoren in der Eagles Nest Arena durch, die zur California State University, Los Angeles (CSULA) gehört. Extra für die Olympischen Spiele wurde das Schwimmstadion errichtet, in dem alle Schwimmwettbewerbe und das Wasserspringen stattfanden. Die Finanzierung der 16.000 Zuschauer fassenden Sportstätte übernahm die Fast-Food-Kette McDonald’s, errichtet wurde sie auf dem Campus der University of Southern California (USC). Eine weitere neu errichtete Sportstätte war das Los Angeles Tennis Center auf dem Campus der UCLA, wo die Demonstration dieser Sportart durchgeführt wurde. Die Wettbewerbe im Gewichtheben fanden im 1981 eröffneten Gersten Pavilion, der sich auf dem Gelände der Loyola Marymount University befindet und 4156 Zuschauern Platz bietet, statt. In Südkalifornien waren die meisten anderen Sportstätten angesiedelt. Das Bogenschießen fand auf einer temporären Schießanlage im El Dorado Park in Long Beach statt, wo 4000 Zuschauer Platz fanden. Ebenfalls in Long Beach wurden im Long Beach Convention Center aus dem Jahr 1962 die Wettbewerbe im Fechten sowie die Volleyballturniere ausgetragen. Zudem befindet sich dort der Long Beach Shoreline Marina and Harbor, der die Wettkampfstätte des Segelns war. Austragungsort der Wettkämpfe im Kanurennsport und Rudern war der Lake Casitas in Ventura County, die Strecken des Straßenradsports lagen in Mission Viejo im Orange County. Die Basketballturniere fanden in der 1967 eröffneten Sporthalle The Forum in Inglewood vor rund 17.000 Zuschauern statt. In Carson wurde das von einer Supermarktkette finanzierte Velodrom auf dem Gelände der „California State University, Dominguez Hills“ errichtet. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Olympischen Spielen gab es diesmal keine Holzbahn, stattdessen wurde der Belag Chemcomp verwendet. Zur „California State University, Fullerton“ gehört das Titan Gymnasium in Fullerton, in dem während der Spiele die Handballturniere ausgetragen wurden. Die Wettbewerbe im Ringen wurden im 1967 eröffneten Anaheim Convention Center in Anaheim ausgetragen, die im Schießen auf der Olympic Shooting Range im Prado Recreational Park in Chino. Das Wasserballturnier fand im Raleigh Runnels Memorial Pool der Pepperdine University in Malibu, die Feldhockeyturniere im 1951 eröffneten und für die 1984er-Spiele renovierten Weingart Stadium des East Los Angeles College in Monterey Park statt. Als Austragungsort für die Wettbewerbe des Reitsports wählte das LAOOC das 1934 eröffnete Reitsportzentrum Santa Anita Park in Arcadia aus. Der Moderne Fünfkampf wurde in Coto de Caza veranstaltet. Das Finale sowie einige Vorrunden- und K.-o.-Spiele des Fußballturniers fanden im 1922 eröffneten Rose Bowl Stadium in Pasadena statt, das 104.594 Zuschauern Platz bot. Weitere Stadien des Fußballturniers waren das Harvard Stadium in Boston, das Navy-Marine Corps Memorial Stadium in Annapolis und das Stanford Stadium in Palo Alto. Olympische Dörfer In Los Angeles wurde entgegen der Tradition kein zentrales olympisches Dorf gebaut. Stattdessen richtete das LAOOC an drei Universitäten olympische Dörfer ein, die nach den Spielen von diesen weiter genutzt werden konnten. Das größte, in dem rund 7000 Athleten und Offizielle aus 79 Mannschaften untergebracht wurden, befand sich auf dem Gelände der USC, wo es direkt an die anderen universitären Einrichtungen angeschlossen war. Dort wurden insgesamt 1200 Mitarbeiter der USC beschäftigt, um den Teilnehmern Trainingsmöglichkeiten, technische Hilfe sowie ein Einkaufszentrum und eine zuvor neu gebaute Mensa zur Verfügung zu stellen. Zudem gab es Zelte, in denen die Presse Interviews mit den Sportlern führen konnte. Das zweite olympische Dorf befand sich auf dem Gelände der UCLA, war jedoch vom Rest der Universität viel stärker abgeschieden als bei der USC. In ihm fanden 4400 Athleten und Offizielle ihre Unterkunft. Es gab vier Mensen, in denen insgesamt 2000 Personen zeitgleich essen konnten. Ebenso waren im Dorf Trainingsmöglichkeiten geboten, daneben gab es Vergnügungsangebote wie Bühnenshows und Filmvorführungen in einem Amphitheater sowie Konzerte. Das dritte olympische Dorf war auf dem Gelände der „University of California, Santa Barbara“ (UCSB) eingerichtet worden und beherbergte die Ruderer und Kanuten sowie deren Trainer und weitere Offizielle. Auch wenn es oft als Sub-Dorf angesehen wurde, so enthielt es doch alle Angebote der anderen beiden Dörfer. Die Vertreter des IOC waren während der Spiele im Baltimore Hotel in der Innenstadt von Los Angeles untergebracht. Logo und Maskottchen Das Logo der Olympischen Sommerspiele 1984 zeigt drei Sterne, die das Streben nach höchsten Leistungen der Menschheit symbolisieren. Die horizontal verlaufenden Streifen symbolisierten die Schnelligkeit, die ein Teil des Strebens nach Bestleistungen ist. Die drei Sterne in den US-Nationalfarben blau, weiß und rot spielten auf die Siegerehrung der Erst- bis Drittplatzierten an. Das Maskottchen der Spiele von Los Angeles war der Adler Sam, weil der Weißkopfseeadler nationales Symbol der Vereinigten Staaten ist. Der Seeadler sollte auch das olympische Motto Citius, altius, fortius repräsentieren. Damit die Figur als Teilnehmer an den Wettkampfsportarten gezeichnet werden konnte, wurden die Flügel als Arme, die Federn als Finger gestaltet. Der Entwurf für „Sam“ stammte von Robert C. Moore, dem Art Director des Publicity Art Department von Walt Disney Productions. Das Aussehen des Maskottchens war darauf ausgerichtet, auf Kinder anziehend zu wirken. Für diese Gestaltung musste das Maskottchen jedoch auch Spott einstecken, so bekam es Spitznamen wie („Sam, das Huhn“) verpasst. In Japan wurde im Jahr vor den Spielen eine Animeserie mit dem Maskottchen ausgestrahlt. Fackellauf Die Fackel für den Fackellauf der Olympischen Sommerspiele 1984 besaß einen ledernen Griff und einen bronzefarbenen Kopf, auf dem der offizielle Name der Spiele, das olympische Motto und das Los Angeles Memorial Coliseum zu sehen waren. Die Gestaltung war von der Firma Newhart, Donges, Newhart Designers vorgenommen worden. Das Hauptmaterial war Aluminium, um die Anforderungen zu erfüllen, dass die Fackel unter 1600 Gramm wiegen, 55 Minuten lang und auch bei leichtem Regen und Windgeschwindigkeiten über 60 km/h brennen sollte. Das verwendete Modell wog schließlich ein Kilogramm, wurde mit rund 360 Gramm Propan befüllt und war 56 Zentimeter lang; seine Flammenschale besaß einen Durchmesser von 13 Zentimetern. Als Brenndauer wurden schließlich lediglich 45 Minuten angenommen. Turner Industries stellte 4500 Fackeln für die USA und 740 Fackeln für Griechenland her. Die griechischen Fackeln wurden nach Absage des dortigen Fackellaufs zurückgegeben. Der Fackellauf fand 1984 auf der mit 15.000 Kilometern bis dahin längsten Strecke statt, die insgesamt 3636 Läufer quer durch die USA zurücklegten. Die im Vergleich zu vorherigen und nachfolgenden Spielen sehr lange Strecke bei Beteiligung weniger Fackelläufer ergab sich daraus, dass die größte Strecke von einem durch AT&T gesponserten Team aus 200 Läufern bestritten wurde. Lediglich 3436 Kilometer des 82 Tage dauernden Laufs wurden als „Youth Legacy Kilometers“ für je 3000 Dollar vermarktet. Diese Vermarktung löste erhebliche Proteste in Griechenland aus, weshalb der dort geplante viertägige Staffellauf zwischen Olympia und Athen abgesagt wurde. Das olympische Feuer wurde am 7. Mai 1984 im antiken Olympia unter Ausschluss der Öffentlichkeit von der griechischen Schauspielerin Katerina Didaskalou entzündet. Vor dem Rathaus von Archea Olymbia fand zeitgleich eine Protestkundgebung gegen die Vermarktung des Fackellaufes statt, zu der der Bürgermeister des Ortes aufrief. Die Fackel wurde per Helikopter nach Athen transportiert und anschließend mit einem Flugzeug nach New York überführt. Dort begann am 8. Mai der amerikanische Fackellauf auf dem United Nation Plaza. Die ersten Läufer waren Gina Hemphill – die Enkelin von Jesse Owens – und Bill Thorpe Jr. – der Enkel von Jim Thorpe. Zwei Stunden nach Beginn des Fackellaufs verkündete die Sowjetunion ihren Boykott der Spiele von Los Angeles (→Boykott). Der Lauf führte durch 33 Bundesstaaten der USA und durch Washington, D.C. und besuchte 41 der größten Städte des Landes. Am 28. Juli erreichte das olympische Feuer Los Angeles. Die Vermarktung des Fackellaufs brachte 10.950.567,68 Dollar ein, die an die YMCA, US-amerikanische Boys Clubs und Girls Clubs, die Special Olympics und weitere Begünstigte ausgeschüttet wurden. Teilnehmer An den Olympischen Spielen 1984 in Los Angeles nahmen 140 Mannschaften mit insgesamt 6797 Sportlern teil, davon waren 5230 Männer und 1567 Frauen. Nach dem Olympiaboykott bei den Olympischen Sommerspielen 1980 in Moskau und nach einigen Zwischenfällen, die die Zusage der UdSSR zur Teilnahme an den Spielen gefährdeten, erklärte die Sowjetunion am 8. Mai 1984 ihren Boykott der Spiele von Los Angeles. Dem schlossen sich 18 weitere NOKs an (→ Boykott). Dennoch brachen die Spiele von Los Angeles mit 140 teilnehmenden Mannschaften den Rekord von 121, der seit den Olympischen Sommerspielen 1972 in München bestand. In der Zwischenzeit hatten die „Boykottspiele“ 1976 und 1980 eine Zunahme der teilnehmenden Mannschaften verhindert. Erstmalige Teilnehmer waren die Mannschaften Äquatorialguinea, Bahrain, Bangladesch, Bhutan, Britische Jungferninseln, Dschibuti, Gambia, Grenada, Jemenitische Arabische Republik, Katar, Mauretanien, Mauritius, Oman, Ruanda, Salomonen, Tonga, Vereinigte Arabische Emirate, Volksrepublik China und Westsamoa. Besondere Aufmerksamkeit wurde dabei der Volksrepublik China zuteil, die zuvor aus Protest gegen die Zulassung der Republik China (Taiwan) nicht an Olympischen Spielen teilgenommen hatte. Diese startete in Los Angeles zwar auch, aber unter dem Kompromissnamen Chinesisch Taipeh. Algerien, die Dominikanische Republik, die Elfenbeinküste, Sambia und Syrien gewannen jeweils ihre erste olympische Medaille, Marokko, Portugal und die Volksrepublik China jeweils ihr erstes olympisches Gold. Der Rekord für die Anzahl teilnehmender Sportler konnte jedoch nicht gebrochen werden. Er verblieb mit 7132 bei München. Bei den Olympischen Sommerspielen 1988 wurden dann beide Rekorde übertroffen. Zeremonien Eröffnungsfeier Am 28. Juli um 15 Uhr begann die Eröffnungsfeier der Olympischen Sommerspiele 1984, die im Los Angeles Memorial Coliseum stattfand. Zu Beginn der Veranstaltung spielten 110 Trompeter und 20 Kesselpaukisten das „Los Angeles Olympic Theme“. Das Musikstück war von John Williams komponiert worden, der dafür einen Grammy erhielt. Anschließend schrieben fünf Flugzeuge den Schriftzug „Welcome“ in den Himmel und ein „Rocketman“, der einen Raketenrucksack trug und auf dessen Rücken ebenfalls „Welcome“ geschrieben stand, landete im Stadion. Das erste Tanzelement war eine von 1262 Tänzern präsentierte Choreographie mit weißen und goldenen Ballons als Requisiten zu einem dafür eigens geschriebenen „Welcome“-Lied. Dabei bildeten sie verschiedene Formationen, unter anderem die olympischen Ringe. Während dieser Sequenz der Veranstaltung wurden auf der Videoleinwand Filme eingespielt, die winkende Bürger von Los Angeles zeigten. Zum Ende dieses Teils der Eröffnungsfeier ließen die Tänzer die Ballons, von denen sich Spruchbänder mit dem Wort „Willkommen“ in 23 Sprachen entrollten, fliegen. An diesen Auftakt anschließend nahmen der US-Präsident Ronald Reagan, der IOC-Präsident Samaranch und der LAOOC-Präsident Ueberroth ihre Plätze ein. Die Hymne der USA wurde gespielt und die Flagge gehisst. Dann lief eine Marschkapelle mit 800 Musikern in das Stadion ein, und es folgte eine 30-minütige Vorführung mit dem Titel Music of America. Es wurden unter anderem die Entwicklung der Marschmusik vorgeführt sowie die Entwicklung des Jazz und der Big Bands präsentiert. Zum Finale dieses Abschnittes traten alle mitwirkenden Künstler zusammen auf, und ein Teil von ihnen bildete den Umriss der Vereinigten Staaten. An diese Vorstellung schloss sich eine Zuschauerchoreographie an, bei der die rund 85.000 Gäste im Los Angeles Memorial Coliseum zu festgelegten Zeitpunkten farbige Plastikkarten heben mussten, um dadurch die Flaggen aller teilnehmenden NOKs abzubilden. Anschließend wurde der offizielle Teil des Programms begangen. Der Präsident des IOC übergab die olympische Flagge an den Bürgermeister von Los Angeles, Tom Bradley. Dieser gab sie dann an den Chairman des LAOOC, Paul Ziffren, weiter. An dieser Übergabezeremonie waren mit Aileen Riggin und Alice Lord zwei Teilnehmer der 1920er-Spiele beteiligt, bei denen die Flagge erstmals eingesetzt worden war. Dann wurde erneut das „Los Angeles Olympic Theme“ gespielt, woran sich der Einmarsch der Athleten anschloss. Griechenland marschierte entsprechend der Tradition als erste Mannschaft ins Stadion, ihr folgten die weiteren in alphabetischer Reihenfolge ihrer englischen Schreibweise. Als Letztes zog die Gastgebermannschaft USA ein. Nach diesem 1 Stunde und 22 Minuten dauernden Programmpunkt, der die geplante Dauer lediglich um zwei Minuten überschritt, hieß der LAOOC-Präsident Ueberroth die Athleten in Los Angeles willkommen, nahm in seiner Ansprache auf den Fackellauf Bezug und dankte der Bevölkerung Südkaliforniens. Dann stellte er den IOC-Präsidenten Samaranch vor. Samaranch betonte den Rekord von 140 teilnehmenden NOKs und bezog sich anschließend auf den Boykott: Anschließend gab er das Wort an Ronald Reagan weiter, den ersten US-Präsidenten, dem die Ehre zuteilwurde, die Olympischen Spiele offiziell für eröffnet zu erklären. Anschließend trugen Wyomia Tyus, John Naber, Parry O’Brien, Al Oerter, Bruce Jenner, Bill Thorpe Jr., Billy Mills und Mack Robinson die olympische Flagge in das Stadion. Während diese gehisst wurde, erklang die olympische Hymne. 4000 Tauben wurden anschließend als Symbole des Friedens freigelassen. Dann lief Jesse Owens’ Enkelin Gina Hemphill, die bereits den Fackellauf in New York begonnen hatte, mit der Fackel ins Los Angeles Memorial Coliseum ein und absolvierte dort eine Stadionrunde, bevor sie das Feuer an Rafer Johnson übergab. Dieser trug es eine Treppe hinauf und entzündete die olympischen Ringe, bevor letztendlich das olympische Feuer entbrannte. Dann stellten sich die Flaggenträger im Halbkreis um das Rednerpodest auf, wo Edwin Moses für die Athleten und Sharon Weber für die Kampfrichter den olympischen Eid sprachen. 2000 Statisten aus verschiedenen Ländern betraten das Stadion in ihren traditionellen Kostümen und bildeten einen Kreis um die Athleten. Danach nahm ein Kinderchor seinen Platz auf der Treppe ein und sang die Ode an die Freude von Ludwig van Beethoven. Zum Finale der Eröffnungsfeier trat Vicky McClure aus dem Chor hervor und trug „Reach out and touch“ vor, wobei sich viele Zuschauer und Sportler bei den Händen fassten und mitsangen. Schlussfeier Die Schlussfeier begann am 12. August 1984 um 18:45 Uhr im Los Angeles Memorial Coliseum. Vor der Abschlusszeremonie wurden die Siegerehrungen des kurz zuvor beendeten Marathonlaufs der Männer und des Einzelwettbewerbs im Springreiten durchgeführt. Danach lief eine Marschkapelle gefolgt von den Athleten in das Stadion ein. Erstmals war es vom IOC erlaubt worden, dass alle Athleten und nicht nur kleine Delegationen bei der Schlussfeier einmarschieren durften. Da die Sportler ausgelassen tanzten und feierten, dauerte dieser Programmpunkt mit 28 Minuten deutlich länger als geplant. Im Anschluss daran wurden die Flaggen von Griechenland, den USA und dem Gastgeberland der folgenden Olympischen Sommerspiele Südkorea gehisst und deren Hymnen gespielt. Dem folgte die Übergabe der Olympiaflagge von Tom Bradley, dem Bürgermeister von Los Angeles, an Bo Hyun-yum, den Bürgermeister von Seoul. Es war das erste Mal, dass diese Übergabe in einer Schlussfeier durchgeführt wurde. Anschließend führte das Seoul City Dance Theatre einen traditionellen koreanischen Tanz auf, während das Dance Theatre of Harlem das Finale des „Stars and Stripes Ballet“ aufführte. Es folgte der Höhepunkt der Schlussveranstaltung mit den Reden des LAOOC-Präsidenten Ueberroth und des IOC-Präsidenten Samaranch. Ueberroth bezeichnete die Gruppe der Sportler als die beste, die die Welt je gesehen habe, und betonte die hohe Zuschauerzahl der internationalen Fernsehübertragungen: Dann gab er das Wort an Samaranch weiter, der Ueberroth den Olympischen Orden in Gold verlieh. In seiner Ansprache dankte der IOC-Präsident unter anderem den freiwilligen Helfern, den Sportlern, den Medien, dem LAOOC, dem Staat Kalifornien und der Ausrichterstadt für die Durchführung der Spiele, die er als „perfekt“ beschrieb. Samaranch erklärte die Olympischen Spiele von Los Angeles für beendet und lud die Jugend der Welt zu den Olympischen Sommerspielen 1988 in Seoul ein. Danach wurde es im Stadion dunkel, während die olympische Fahne bei ihrer Einholung und dem Heraustragen aus dem Stadion angestrahlt wurde. Der Schauspieler Richard Basehart las ein Textfragment vor, das der griechische Dichter Pindar für die Spiele von Delphi verfasst hatte. Kurz danach wurde die olympische Flamme kleiner und erlosch. Anschließend war zur Inszenierung ein blinkendes Raumschiff über dem dunklen, mit Lichtblitzen durchzuckten Stadion zu sehen. Am Fuß des olympischen Feuers erschien ein „Alien“, der verkündete, er sei den langen Weg gekommen, weil ihm das, was er sehen konnte, gefallen habe (). Dann verschwand er wieder, und ein 30 Minuten dauerndes Feuerwerk mit Musikuntermalung begann, das alle vorherigen Austragungsorte symbolisierte. Zuletzt sang Lionel Richie, begleitet von 300 Tänzern, eine eigens arrangierte 9-Minuten-Version von All Night Long (All Night). Wettkampfprogramm In Los Angeles gab es in 21 Sportarten/29 Disziplinen insgesamt 221 Wettbewerbe (146 für Männer, 62 für Frauen und 13 offene Wettbewerbe). Das waren 18 Wettbewerbe und 2 Disziplinen mehr als in Moskau 1980 – die Anzahl der Sportarten blieb gleich. Daneben gab es die Demonstrationssportarten Baseball und Tennis. Als Vorführungen waren Rollstuhlrennen und Windsurfen zu sehen, wobei sich bei letzterem das eingesetzte Sportgerät von dem der Windsurfwettbewerbe des offiziellen Programms unterschied. Insgesamt 5.017.524 Zuschauer verfolgten die Wettkämpfe und Zeremonien. Das Fußballturnier war mit 1.422.605 Zuschauern am populärsten, gefolgt von der Leichtathletik mit insgesamt 1.129.485 Zuschauern. Nachfolgend die Änderungen zu den vorherigen Olympischen Sommerspielen im Detail: Im Boxen wurde bei den Männern eine Gewichtsklasse (Superschwergewicht) hinzugefügt. Im Kanu wurde das Programm um K4 500 m für Frauen erweitert. In der Leichtathletik erweiterte man das Programm bei den Frauen um 400 m Hürden, 3000 m und den Marathon. Darüber hinaus ersetzte der Siebenkampf den Fünfkampf bei den Frauen. Im Bahnradsport kam das Punktefahren der Männer hinzu – auf der Straße kam es zum Debüt für die Frauen. Beim Schießen wurden die offenen Wettkämpfe Trap, Schnellfeuerpistole, Kleinkalibergewehr liegend, 50 m, Kleinkalibergewehr Laufende Scheibe 50 m und Freie Pistole 50 m in Männerwettkämpfe umgewandelt. Der offene Wettkampf Kleinkalibergewehr Dreistellungskampf wurde in einen Männer- und einen Frauenwettkampf gesplittet. Darüber hinaus kam Luftgewehr für Männer und Frauen hinzu – und Sportpistole für Frauen. Beim Schwimmen wurde das Programm um die 4 × 100-m-Freistilstaffel für Männer erweitert – sowie die 200 m Lagen für Männer und Frauen nach zweimaliger Pause wiedereingeführt. Darüber hinaus wurde das Programm im Schwimmsport um die Disziplin Synchronschwimmen für Frauen (Duett und Solo) vergrößert. Im Segeln wurde zum ersten Mal eine Bootsklasse eingeführt, die nicht für beide Geschlechter offen war – Windsurfing (Board Windglider) für Männer wurde dem Wettkampfprogramm hinzugefügt. Im Turnsport wurde für Frauen die Disziplin Rhythmische Sportgymnastik mit einem Einzelwettbewerb ins Programm aufgenommen. Olympische Sportarten/Disziplinen Anzahl der Wettkämpfe in Klammern Zeitplan Farblegende Wettbewerbe Basketball In Los Angeles fanden ein Basketballturnier der Herren und eines der Damen statt. Bei den Herren starteten zwölf Mannschaften, wobei die Sowjetunion als Weltmeister von 1982, im Vorfeld als größter Konkurrent des US-Teams angesehen, aufgrund des Boykotts nicht am Start war. Die von Bob Knight trainierte Mannschaft der Vereinigten Staaten, der unter anderem Chris Mullin, Patrick Ewing und Michael Jordan angehörten, geriet in keinem Spiel in Bedrängnis und setzte sich souverän bis zum Olympiasieg durch. Im Finale besiegten die Amerikaner die Mannschaft aus Spanien, in der unter anderem San Epifanio spielte, mit 95:65. Im Spiel um Bronze gewann Jugoslawien mit 88:82 gegen Kanada. Die Mannschaft der BRD, die für die UdSSR nachrücken durfte, erreichte den achten Platz. Am Damenturnier nahmen nach zwei boykottbedingten Absagen lediglich sechs Mannschaften teil. Mit der UdSSR fehlten die Weltmeisterinnen von 1983, die als härteste Konkurrentinnen der Amerikanerinnen erwartet worden waren. Die Mannschaft der Vereinigten Staaten mit Cheryl Miller und Teresa Edwards bestritt das Turnier souverän. Im Finale gewann sie gegen Südkorea mit 85:55 – ihrem knappsten Sieg im Turnier. Im Spiel um Bronze setzte sich die Volksrepublik China mit 63:57 gegen die Mannschaft aus Kanada durch. Siehe auch: Olympische Sommerspiele 1984/Basketball Bogenschießen Im Bogenschießen fanden zwei Einzelwettbewerbe statt, an denen insgesamt 62 Männer und 47 Frauen teilnahmen. Im Wettkampf absolvierten die Schützen eine doppelte FITA-Runde mit 144 Pfeilen. Bei den Männern gewann der Amerikaner Darrell Pace mit 2616 Punkten vor seinem Landsmann und häufigen Konkurrenten Richard McKinney, der 2564 Punkte erreichte. Pace stellte damit einen neuen olympischen Rekord auf. Bei der Weltmeisterschaft 1983 hatte sich noch McKinney vor Pace durchgesetzt, weil er bei gleicher Punktzahl zwei Zehnen mehr erzielt hatte, im olympischen Wettkampf fehlte diese Dramatik, weil Pace von der ersten Runde an führte. Die Bronzemedaille ging an den Japaner Hiroshi Yamamoto mit 2563 Punkten. Bei den Frauen holte die erst 17 Jahre alte Südkoreanerin Seo Hyang-soon mit dem olympischen Rekord von 2568 Punkten die Goldmedaille. Silber gewann die Chinesin Li Lingjuan mit 2559, Bronze die Südkoreanerin Kim Jin-ho, die 2555 Punkte erzielte und als Weltmeisterin des Vorjahres und Favoritin angetreten war. Siehe auch: Olympische Sommerspiele 1984/Bogenschießen Boxen Insgesamt starteten in den Boxturnieren 354 Boxer aus 81 Ländern. Neun der zwölf Titel gingen an die Vereinigten Staaten, deren Boxer zudem eine Silber- und eine Bronzemedaille holten. Insgesamt waren die Boxwettkämpfe von parteiischen und falschen Schiedsrichterentscheidungen überschattet. So stellte sich im Nachhinein heraus, dass sich der Amerikaner Paul Gonzales Jr., der im Leichtfliegengewicht die Goldmedaille geholt hatte und den Val-Barker-Pokal für den technisch besten Boxer verliehen bekam, im Kampf gegen den Südkoreaner Kim in der ersten Runde des Turniers die Hand gebrochen hatte. Er hätte somit nicht weiter starten dürfen, jedoch fiel dies keinem Ringrichter auf. Besondere Brisanz erhielt diese Tatsache dadurch, dass sein Finalgegner, Salvatore Todisco aus Italien, aufgrund einer gebrochenen Hand nicht mehr antreten durfte und Gonzales somit Gold kampflos gewann. Nachdem im Achtelfinale des Halbweltergewichts der Nigerianer Charles Nwokolo dem Puertoricaner Jorge Maisonet mit einem umstrittenen 3:2-Kampfrichterentscheid unterlag, bewarfen Zuschauer das Kampfgericht sogar mit Tierexkrementen, und der Präsident des nigerianischen Boxverbandes bedrohte die Kampfrichter mit einem Gehstock. Im Vorfeld der Olympischen Spiele von Los Angeles hatte die AIBA beschlossen, dass 3:2-Kampfrichterurteile von einer Jury mit 5:0 gekippt werden konnten. Da ein Jurymitglied in 19 von 20 Fällen mit seiner Bewertung falschlag, wurde diese Regelung nach den Spielen wieder abgeschafft. Siehe auch: Olympische Sommerspiele 1984/Boxen Fechten In Los Angeles gingen insgesamt 202 Männer und 60 Frauen in den Fechtwettbewerben an den Start. Dominierende Nationen waren Italien mit drei Gold-, einer Silber- und zwei Bronzemedaillen und Frankreich mit zwei Gold-, einer Silber- und drei Bronzemedaillen. Dahinter lag die BRD mit zwei Titeln und drei zweiten Plätzen. Die Fechter dieser Mannschaften machten die Wettbewerbe größtenteils untereinander aus. Eine der wenigen Überraschungen war der Schwede Björne Väggö, der als 44. der Weltrangliste in Los Angeles gestartet war und schließlich Silber im Degeneinzel gewann. Im Floretteinzel der Frauen gewann die Chinesin Luan Jujie mit 8:3 gegen die Deutsche Cornelia Hanisch die Goldmedaille. Die Chinesin war zuvor 1981 Vizeweltmeisterin hinter Hanisch und 1983 Bronzemedaillengewinnerin. Die Bronzemedaille ging an die Italienerin Dorina Vaccaroni, die im Gefecht um Platz drei die Rumänin Elisabeta Guzganu bezwang. Den Mannschaftswettbewerb gewannen die deutschen Fechterinnen vor Rumänien und Frankreich. Siehe auch: Olympische Sommerspiele 1984/Fechten Fußball Am olympischen Fußballturnier nahmen 16 Mannschaften teil. Die FIFA hatte nach der Lockerung des Amateurparagraphen beschlossen, dass alle Spieler, die nach dem 1. Juni 1961 geboren worden waren, teilnehmen durften. Für Mannschaften aus Südamerika und Europa galt zudem, dass ihre Spieler noch nie an der Qualifikation oder Endrunde der Weltmeisterschaft teilgenommen haben durften. Aufgrund des Boykotts waren die Medaillengewinner von 1980, ČSSR, DDR und UdSSR, den Spielen ferngeblieben. Da diese Mannschaften sich neben Jugoslawien und Frankreich in der europäischen Qualifikation durchgesetzt hatten, rückten die BRD, Norwegen und Italien nach. Unter den Teilnehmern hatten daher außer Jugoslawien nur Costa Rica und der Irak bereits am olympischen Fußballturnier 1980 teilgenommen. Die Brasilianer konnten als erste südamerikanische Mannschaft nach Uruguay und Argentinien bei den Olympischen Sommerspielen 1928 die Vorrunde überstehen. Im Spiel um Bronze unterlag Italien der Mannschaft aus Jugoslawien mit 1:2, nachdem es in der ersten Halbzeit in Führung gelegen hatte. Im Finale gewann das französische Team unter Trainer Henri Michel, in dem unter anderem Albert Rust und Didier Sénac spielten, mit 2:0 gegen Brasilien. Es war der erste Olympiasieg in dieser Sportart für Frankreich und der erste einer westeuropäischen Mannschaft seit den Spielen von London 1948. Sechs Wochen vor dem Endspiel war das französische Team – dem von den Olympiateilnehmern nur Albert Rust angehört hatte – Europameister geworden, sodass Frankreich mit dem Olympiasieg zum einzigen Mal beide Titel in einem Jahr errang. Siehe auch: Olympische Sommerspiele 1984/Fußball Gewichtheben Im Gewichtheben traten 186 Sportler in zehn Gewichtsklassen an. Diese Sportart war besonders hart von boykottbedingten Ausfällen getroffen. So fehlten 29 der 30 Medaillengewinner von den Spielen in Moskau 1980, von den 100 besten Hebern fehlten 94. Die erfolgreichste Nation war die Volksrepublik China mit vier Gold- und zwei Silbermedaillen in den leichten Gewichtsklassen. Die meisten Medaillen gingen an Rumänien – zwei goldene, fünf silberne und eine bronzene. Im Fliegengewicht gewann der Chinese Zeng Guogiang mit 235 Kilogramm gehobenem Gewicht vor seinem Landsmann Zhou Peishun, der ebenfalls 235 Kilogramm hob, weil er 100 Gramm leichter war, und wurde so mit 19 Jahren der bis dahin jüngste Olympiasieger im Gewichtheben. Mit Karl-Heinz Radschinsky im Mittelgewicht und Rolf Milser im Schwergewicht I konnten zwei Deutsche Goldmedaillen gewinnen, im Superschwergewicht gewann Manfred Nerlinger hinter dem Amerikaner Mario Martinez und dem Olympiasieger Dean Lukin aus Australien Bronze. Lukin war der erste australische Olympiasieger in dieser Sportart. Siehe auch: Olympische Sommerspiele 1984/Gewichtheben Handball Am Handballturnier der Männer in Los Angeles nahmen zwölf Mannschaften teil. Boykottbedingt traten die Sowjetunion, die DDR, Polen, Ungarn, die Tschechoslowakei und Kuba nicht an und wurden durch fünf Nachrücker aus der Europa-Qualifikation und einem aus Asien ersetzt. So rückten die BRD, die Schweiz, Schweden, Spanien und Island ins Turnier, hinzu kam noch Südkorea. Olympiasieger wurde die Mannschaft aus Jugoslawien, die sich im Finale knapp mit 18:17 gegen die bundesdeutsche Mannschaft unter Trainer Simon Schobel, der unter anderem Andreas Thiel und Jochen Fraatz angehörten, durchsetzen konnte. Mit 23:19 konnte sich Rumänien gegen Dänemark im Spiel um Platz 3 durchsetzen und gewann somit Bronze. Die Schweiz belegte mit einem 18:17 gegen Spanien den siebten Platz. Im Frauenturnier starteten sechs Mannschaften. Da die UdSSR, die DDR und Ungarn aufgrund des Boykotts nicht starteten, wurden sie durch die BRD, Österreich und Südkorea ersetzt. Der Titel wurde in einer einfachen Runde im Modus jeder gegen jeden ausgespielt. Wie bei den Männern gewann Gold die jugoslawische Mannschaft, die unbesiegt blieb. Dahinter gewannen die Südkoreanerinnen Silber und Bronze ging an die Volksrepublik China. Die deutsche Mannschaft, in der Silvia Schmitt und Petra Platen spielten, erreichte den mit den Amerikanerinnen geteilten vierten Platz. Die Österreicherinnen konnten keines ihrer fünf Spiele gewinnen und nahmen den sechsten Platz ein. Siehe auch: Olympische Sommerspiele 1984/Handball Hockey Im Hockeyturnier der Männer traten zwölf Mannschaften an, womit sich die Zahl von 1980 verdoppelte. Die Mannschaft der Sowjetunion war aufgrund des Boykotts nicht vertreten und wurde durch Großbritannien ersetzt. Die Briten konnten sich als Erste der Gruppe B noch vor Pakistan für das Halbfinale qualifizieren, unterlagen in diesem jedoch mit 0:1 gegen die BRD. Der Erste der Gruppe A, Australien, verlor sein Halbfinale gegen Pakistan ebenfalls mit 0:1. Im Spiel um Bronze setzte sich die britische Mannschaft mit 3:2 gegen die Australier durch, die 1983 die Champions Trophy in Karatschi vor Pakistan gewonnen hatten. Die deutsche Mannschaft, in der unter anderem Andreas Keller und Carsten Fischer spielten, unterlag im Finale trotz der von Michael Peter zwischenzeitlich erzielten Führung mit 1:2 den Pakistanis. Der Trainer der pakistanischen Mannschaft war Manzoor Hussain Atif, der 1960 als Spieler Olympiasieger geworden war und bereits 1968 die pakistanische Olympiasiegermannschaft trainiert hatte. Nachdem das Hockeyturnier der Frauen 1980 in Moskau sein Debüt gehabt hatte, nahmen in Los Angeles erstmals Topmannschaften wie die Niederlande, die BRD und Australien teil. Die Titelverteidigerinnen aus Simbabwe waren zwar automatisch qualifiziert, verzichteten jedoch. Der Modus war ein Turnier jeder gegen jeden. Die Niederländerinnen waren als Weltmeisterinnen von 1983 die Favoritinnen und wurden dieser Rolle mit ihrem Olympiasieg auch gerecht. Silber ging an die deutsche Mannschaft und Bronze an die Heimmannschaft aus den Vereinigten Staaten. Siehe auch: Olympische Sommerspiele 1984/Hockey Judo 212 Judoka starteten in acht Gewichtsklassen. Letztmals traten dabei Sportler in der Kategorie „Offene Klasse“ an, die nicht mehr zum Wettkampfprogramm der nächsten Spiele gehörte. Im Judo dominierten die asiatischen Starter. Erfolgreichste Nation war Japan, deren Judoka mit vier Titeln die Hälfte der möglichen Goldmedaillen und zudem eine Bronzemedaille gewannen. Dahinter lag Südkorea mit zwei Gold-, zwei Silber- und einer Bronzemedaille. Die einzigen europäischen Sieger waren der Deutsche Frank Wieneke im Halbmittelgewicht und der Österreicher Peter Seisenbacher im Mittelgewicht. Seisenbacher konnte in Seoul vier Jahre später den Erfolg wiederholen und war damit der Erste, dem dies in der olympischen Geschichte des Judo gelang. Dem Japaner Hitoshi Saitō, der in Los Angeles Gold im Schwergewicht gewonnen hatte, glückte es ebenfalls, seinen Titel zu verteidigen, allerdings erst zwei Tage nach dem Österreicher. Mit Josef Reiter im Halbleichtgewicht, Günther Neureuther im Halb-Schwergewicht und Arthur Schnabel in der offenen Klasse erreichten die deutschsprachigen Judoka zudem dreimal den Bronzerang. Siehe auch: Olympische Sommerspiele 1984/Judo Kanurennsport Im Kanurennsport starteten insgesamt 195 Fahrer – 158 Männer und 37 Frauen. In Los Angeles war der Viererkajak der Frauen erstmals Teil des Wettkampfprogramms. Die erfolgreichste Nation war Neuseeland mit vier Goldmedaillen. Ian Ferguson gewann drei der Goldmedaillen und zog damit mit Peter Snell, dem bis dahin erfolgreichsten Olympioniken Neuseelands, gleich. Im Canadier-Einer über 1000 Meter gewann der Deutsche Ulrich Eicke Gold vor dem Kanadier Larry Cain und dem Dänen Henning Lynge Jakobsen. Cain wurde über die halbe Distanz Olympiasieger, wobei der Däne dort Silber holte. Die dominierende Kanutin war Agneta Andersson aus Schweden. Sie gewann Gold im Kajak-Einer und zusammen mit Anna Olsson im Kajak-Zweier, im Kajak-Vierer erreichte sie zudem die Silbermedaille. Im Kajak-Einer ging Silber an die Deutsche Barbara Schüttpelz, die im Zweier mit Josefa Idem Bronze gewann, vor der Niederländerin Annemiek Derckx. Siehe auch: Olympische Sommerspiele 1984/Kanu Leichtathletik In den Leichtathletikwettbewerben starteten 1280 Athleten aus 124 Mannschaften – 895 Männer und 385 Frauen. Die dominierende Nation waren die Vereinigten Staaten mit 16 Gold-, 15 Silber- und neun Bronzemedaillen. Sie stellte auch den erfolgreichsten Teilnehmer mit Carl Lewis, der sich im Vorfeld zum Ziel gesetzt hatte, Jesse Owens Erfolg von 1936 zu wiederholen. Dies gelang ihm mit den Siegen im 100-Meter-Lauf, im 200-Meter-Lauf, mit der 4-mal-100-Meter-Staffel und im Weitsprung. Im Lauf über 5000 Meter erreichte der Schweizer Markus Ryffel hinter Saïd Aouita aus Marokko und vor dem Portugiesen António Leitão die Silbermedaille, die einzige Leichtathletikmedaille der Eidgenossen bei diesen Spielen. Über die 400 Meter Hürden gewann Edwin Moses, der bereits in Montreal 1976 den Olympiasieg erreichte und 1980 boykottbedingt um die Möglichkeit zur Titelverteidigung gebracht worden war, vor seinem Landsmann Danny Harris und dem Deutschen Harald Schmid, dem es 1977 letztmals zuvor gelang, Moses über diese Distanz zu schlagen. Dietmar Mögenburg aus der BRD siegte im Hochsprung vor dem Schweden Patrik Sjöberg und dem Chinesen Zhu Jianhua. Der Portugiese Carlos Lopes gewann den Marathon und damit die erste olympische Goldmedaille für sein Land überhaupt. Hinter ihm platzierten sich der Ire John Treacy und der Brite Charlie Spedding. Beide Titel im Gehen gingen an mexikanische Athleten. Die 20 Kilometer gewann Ernesto Canto, die 50 Kilometer Raúl González, der zuvor bereits über die kürzere Distanz Silber erreicht hatte. Die Wurfdisziplinen waren besonders vom Boykott betroffen. Im Hammerwurf, den der Finne Juha Tiainen vor den Deutschen Karl-Hans Riehm und Klaus Ploghaus gewann, fehlte der Großteil der Top 10 der Welt. Im Diskuswurf wurde Rolf Danneberg Olympiasieger. Den Zehnkampf gewann der Brite Daley Thompson mit 8797 Punkten (die 1985 nach Änderung der Wettkampftabelle auf den Weltrekord 8847 Punkte korrigiert wurden) Gold vor seinem Dauerrivalen Jürgen Hingsen aus der BRD. Thompson verteidigte damit seinen Titel von 1980. Die Entscheidung fiel erst in der drittletzten Disziplin, dem Stabhochsprung, in dem Hingsen nur 4,50 m übersprang, während Thompson fünf Meter erreichte. Die erfolgreichste Leichtathletin war die Amerikanerin Valerie Brisco-Hooks, die Gold über 200 und 400 Meter und mit der 4-mal-400-Meter-Staffel gewann, jeweils mit olympischem Rekord. Mit Silber über 200 Meter gewann zudem Florence Griffith-Joyner, die in Seoul erfolgreichste Leichtathletin war, ihre erste Olympiamedaille. Gold im Hochsprung ging an die Deutsche Ulrike Meyfarth, die bereits zwölf Jahre zuvor in München Olympiasiegerin geworden war. Den Wettbewerb im Kugelstoßen entschied die bundesdeutsche Stoßerin Claudia Losch mit dem letzten Versuch über 20,48 m vor der Rumänin Mihaela Loghin für sich, deren Weite nur einen Zentimeter geringer war. Die erste Olympiasiegerin im Marathon war Joan Benoit aus den USA vor Grete Waitz aus Norwegen und der Portugiesin Rosa Mota. Den Siebenkampf gewann die Australierin Glynis Nunn vor der Amerikanerin Jackie Joyner-Kersee, die bei den beiden folgenden Spielen den Olympiasieg in dieser Disziplin holte. Siehe auch: Olympische Sommerspiele 1984/Leichtathletik Moderner Fünfkampf Im Modernen Fünfkampf starteten 52 Teilnehmer aus 18 Mannschaften. Es gab einen Einzelwettkampf und einen Mannschaftswettkampf, dessen Ergebnis sich aus den Einzelresultaten ergab. Das Programm bestand aus dem Springreiten am ersten Tag, dem Degenfechten am zweiten Tag, dem 300-Meter-Freistilschwimmen am dritten Tag und schließlich dem Schießen und dem abschließenden 4000-Meter-Geländelauf. Erstmals erstreckte sich der Wettbewerb über vier Tage und ebenfalls zum ersten Mal war der Modus des Geländelaufs ein Handicapstart, sodass der Zieleinlauf dem Endergebnis entsprach. Die Goldmedaille im Einzel gewann der Italiener Daniele Masala, der bereits 1976 Olympiavierter war und in Moskau nicht starten durfte, mit 5469 Punkten vor dem Schweden Svante Rasmuson und seinem Landsmann Carlo Massullo. Der Mannschaftstitel ging an Italien. Dahinter konnten sich die Vereinigten Staaten und Frankreich in den Medaillenrängen platzieren. Die Schweizer Mannschaft erreichte den vierten Platz. Siehe auch: Olympische Sommerspiele 1984/Moderner Fünfkampf Radsport 314 Radfahrer und 45 Radfahrerinnen gingen bei den Olympischen Spielen in Los Angeles an den Start. Das IOC hatte die Einführung des Punktefahrens bei den Männern beschlossen und bei deren Straßenrennen die maximale Teilnehmerzahl pro NOK auf drei gesenkt. 1983 nahm es zudem das Straßenrennen der Frauen in das Programm auf und vertagte die Einführung von Bahnradwettbewerben für Frauen auf 1988. Erfolgreichste Nation waren die USA, deren Radsportler mit vier Goldmedaillen die Hälfte der möglichen Titel und zudem drei Silber- und zwei Bronzemedaillen gewannen. Das 190,2 Kilometer lange Straßenrennen gewann der Amerikaner Alexi Grewal mit 4:59:57 Stunden im Sprint vor dem Kanadier Steve Bauer. Bronze gewann der Norweger Dag Otto Lauritzen. Das 100-Kilometer-Mannschaftszeitfahren gewann Italien vor der Schweiz, für die Alfred Achermann, Richard Trinkler, Laurent Vial und Benno Wiss starteten, und den USA. Die Bahnradwettbewerbe fanden auf einem nicht überdachten Velodrom mit Kunststoffbahn statt. In den Wettbewerben konnten die BRD einige Erfolge verbuchen. Fredy Schmidtke gewann Gold im 1000-Meter-Zeitfahren; Rolf Gölz in der 4000-Meter-Verfolgung und Uwe Messerschmidt im Punktefahren gewannen beide Silber und in der Mannschaftsverfolgung belegte das bundesdeutsche Team den Bronzerang. Das olympische Debüt der Frauen im Radsport gewann die Amerikanerin Connie Carpenter-Phinney, die sich im Sprint des Straßenrennens vor ihrer Landsfrau Rebecca Twigg und der Deutschen Sandra Schumacher durchsetzte. Siehe auch: Olympische Sommerspiele 1984/Radsport Reitsport In Los Angeles starteten 157 Reiter (110 Männer und 47 Frauen) aus 30 Nationen. Im Dressur-, Spring- und Vielseitigkeitsreiten konnten sie jeweils in einem Einzel- und einem Mannschaftswettbewerb antreten. Mit der Dressurmannschaft bestehend aus Reiner Klimke, Uwe Sauer und Herbert Krug gewann die BRD die Goldmedaille vor den Mannschaften aus der Schweiz und Schweden. Die besten zwölf Reiter aus dem Mannschaftswettbewerb durften im Einzel starten. Die Goldmedaille in diesem Wettbewerb ging ebenfalls an Klimke, der sich vor der Dänin Anne Grethe Jensen-Törnblad durchsetzte, und mit der insgesamt sechsten Goldmedaille zum damals erfolgreichsten deutschen Olympioniken aller Zeiten wurde. Bronze ging an den Schweizer Otto Hofer. Der Amerikaner Joe Fargis gewann die Goldmedaille im Einzel des Springreitens erst im Stechen, als er sich mit 0 Fehlerpunkten gegen seinen Landsmann Conrad Homfeld mit 8 Fehlerpunkten durchsetzte. Bronze ging, ebenfalls im Stechen vergeben, an die Schweizerin Heidi Robbiani, die im ersten Umlauf 8 Fehlerpunkte und im Stechen 0 erzielte. Im Vielseitigkeitseinzel siegte Mark Todd aus Neuseeland, der zuvor noch keine internationale Meisterschaft gewonnen hatte und in Seoul den Olympiasieg wiederholen konnte. In den Mannschaftswettbewerben des Spring- und Vielseitigkeitsreitens war die Besetzung des Siegertreppchens gleich: Gold ging jeweils an die USA vor Großbritannien und der BRD. Siehe auch: Olympische Sommerspiele 1984/Reiten Ringen 267 Ringer aus 44 Ländern traten in Los Angeles an. Das Ringen gehörte zu den besonders stark vom Boykott betroffenen Sportarten. Im griechisch-römischen Stil waren 20 der 30 Medaillengewinner von Moskau abwesend, im Freistilringen waren es 23. Die erfolgreichste Nation waren die Vereinigten Staaten mit neun Goldmedaillen, wobei ihre Stärke vor allem im Freistilringen lag. Im Papiergewicht gewann der Deutsche Markus Scherer Silber hinter Vincenzo Maenza aus Italien und vor dem Japaner Ikuzo Saito. Maenza konnte in Seoul seinen Titel verteidigen. Im Finale des Bantamgewicht Freistil lag der Deutsche Pasquale Passarelli gegen Weltmeister Masaki Eto aus Japan bereits mit 8:2 in Führung, als er kurz vor eine Schulterniederlage geriet und die letzten 1:36 Minuten in der Brücke überstehen musste, um die Goldmedaille zu gewinnen. Im Federgewicht konnte Hugo Dietsche aus der Schweiz mit 3:1 gegen Abdurrahim Kuzu die Bronzemedaille gewinnen. Martin Knosp aus der BRD gewann im Weltergewicht Freistil die Silbermedaille hinter dem Amerikaner David Schultz. Siehe auch: Olympische Sommerspiele 1984/Ringen Rudern Aus 30 Ländern waren 447 Ruderer am Start – 286 Männer und 161 Frauen. Rumänien war die erfolgreichste Nation und gewann mit sieben Goldmedaillen die Hälfte aller möglichen Titel. Im Einer wurde Pertti Karppinen zum dritten Mal in Folge Olympiasieger und stellte damit den Rekord von Wjatscheslaw Iwanow ein. Hinter ihm belegte der Deutsche Peter-Michael Kolbe den zweiten und der Kanadier Robert Mills den dritten Rang. Im Zweier mit Steuermann gewannen die Italiener Carmine Abbagnale, Giuseppe Abbagnale und Giuseppe Di Capua ihre erste olympische Goldmedaille, nachdem sie 1981 und 1982 bereits Weltmeister in dieser Klasse geworden waren. Mit dem Vierer mit Steuermann holte der Brite Steven Redgrave seine erste Goldmedaille. Der bundesdeutsche Doppelvierer gewann die Goldmedaille als amtierender Weltmeister, nachdem er erstmals seit Einführung der Bootsklasse 1974 die DDR bei den Weltmeisterschaften 1983 geschlagen hatte. Silber ging an Australien, Bronze an Dänemark. Das Achterrennen gewann das kanadische Boot, das nach guten Ergebnissen bei der Rotsee-Regatta bereits im Vorfeld zu den Medaillenkandidaten gezählt wurde. Die Kanadier setzten sich vor den Amerikanern und den Australiern durch. Bei den Frauen gingen alle Goldmedaillen an Rumäninnen mit Ausnahme des Achters, in dem sie Silber hinter den Vereinigten Staaten gewannen. Im Zweier ohne Steuermann gewannen die Deutschen Ellen Becker und Iris Völkner die Bronzemedaille hinter dem kanadischen Boot und den souverän siegenden Rumäninnen Rodica Arba und Elena Horvat, die im Vorjahr bereits Vizeweltmeisterinnen geworden waren. Siehe auch: Olympische Sommerspiele 1984/Rudern Schießen 383 Schützen und 77 Schützinnen waren am Start. Das IOC beschloss auf der Session 1980 die Einführung von drei Disziplinen für Frauen und die Öffnung der Wurftaubendisziplinen für beide Geschlechter. Zudem wurden in Los Angeles erstmals Wettbewerbe mit dem Luftgewehr ausgetragen. Im Wettbewerb mit der Freien Pistole siegte der Chinese Xu Haifeng. Er war der erste Olympiasieger und überhaupt der erste Medaillengewinner der Volksrepublik China. Mit dem Luftgewehr gewann der Franzose Philippe Heberlé die Goldmedaille. Hinter ihm schossen Andreas Kronthaler aus Österreich und Barry Dagger aus Großbritannien beide 587 Ringe, der Österreicher erhielt jedoch die Silbermedaille, weil er im Ausschießen 36 Ringen schoss und der Brite nur 22. Im Kleinkaliber-Dreistellungskampf ging Silber an Daniel Nipkow aus der Schweiz, der 1983 in Bad Homburg zwei WM-Titel im Armbrustschießen gewonnen hatte. Olympiasieger in dieser Disziplin wurde der Brite Malcolm Cooper, der diesen Titel in Seoul verteidigen konnte. Die Entscheidungen im Wurftaubenschießen fielen sehr knapp aus. Im Trap wurden hinter dem Olympiasieger Luciano Giovannetti aus Italien Silber und Bronze im Stechen vergeben. Den zweiten Platz gewann der Peruaner Francisco Boza mit 24 Punkten vor Daniel Carlisle aus den USA mit 22 Punkten. Im Skeet erzielten der Zweit- und Drittplatzierte jeweils 192 Punkte; Ole Riber Rasmussen aus Dänemark gewann im darauffolgenden Stechen mit 25 Punkten Silber vor dem Italiener Luca Scribani Rossi, der 23 Punkte erreichte. Die Entscheidung mit der Sportpistole bei den Frauen war äußert knapp. Die Kanadierin Linda Thom gewann Gold im dritten Stechen gegen die Amerikanerin Ruby Fox mit 49:48. Im Kleinkaliber-Dreistellungskampf ging Silber an die Deutsche Ulrike Holmer hinter der Chinesin Wu Xiaoxuan, die drei Tage zuvor bereits Bronze mit dem Luftgewehr gewonnen hatte. Siehe auch: Olympische Sommerspiele 1984/Schießen Schwimmen In den 29 Wettbewerben des Schwimmens gingen insgesamt 494 Athleten an den Start – 308 Männer und 186 Frauen. Hinzu kamen 50 Synchronschwimmerinnen, 45 Wasserspringer, 35 Wasserspringerinnen und 146 Wasserballer. Das IOC hatte 1983 der FINA die Austragung von Wettbewerben im Synchronschwimmen erlaubt; zudem wurde 1980 die Wiederaufnahme der 200-Meter-Lagenwettbewerbe und der 4-mal-100-Meter-Freistilstaffel der Männer ins Programm beschlossen. Nur neun der 29 Titel der Schwimmwettbewerbe gingen an Schwimmer, die nicht aus den Vereinigten Staaten stammten. Dabei gelang es den Amerikanern, alle Staffeln für sich zu entscheiden. Die erfolgreichsten Schwimmer waren zwei US-Amerikaner mit jeweils drei Goldmedaillen: Ambrose Gaines gewann die 100 Meter Freistil, mit der 4-mal-100-Meter-Freistilstaffel und der 4-mal-100-Meter-Lagenstaffel, während Richard Carey die 100 und 200 Meter Rücken, sowie mit der 4-mal-100-Meter-Lagenstaffel gewann. Die meisten Medaillen konnte jedoch der Deutsche Michael Groß sammeln, der jeweils in Weltrekordzeit Olympiasieger über 200 Meter Freistil und 100 Meter Schmetterling wurde sowie über 200 Meter Schmetterling und mit der 4-mal-200-Meter-Staffel Silber gewann. Über 400 Meter Freistil ereignete sich aufgrund der in Los Angeles erstmals ausgetragenen B-Finals ein einmaliger Fall, als der Deutsche Thomas Fahrner, der das Finale als Neunter um 19 Hundertstelsekunden verpasst hatte, mit 3:50,91 Minuten einen olympischen Rekord aufstellte und dabei schneller war als der Olympiasieger George DiCarlo aus den USA. Erfolgreichste Schwimmerinnen waren Tracy Caulkins mit Gold über 200 und 400 Meter Lagen und mit der Lagenstaffel, und Mary T. Meagher, die Gold über 100 und 200 Meter Schmetterling und mit der Lagenstaffel gewann. Hinter den Vereinigten Staaten belegte die deutsche Lagenstaffel mit Svenja Schlicht, Ute Hasse, Ina Beyermann, die den dritten Platz über 200 Meter Lagen belegte, und Karin Seick, die Bronze über 100 Meter Lagen gewinnen konnte, den zweiten Platz. Mit acht von zwölf möglichen Medaillen waren die USA die dominierende Mannschaft im Wasserspringen. Bei den Männern gewann Greg Louganis sowohl vom Brett als auch vom Turm die Goldmedaille und dies jeweils mit souveränem Vorsprung. Der Silbermedaillengewinner vom Brett, Tan Liangde aus der Volksrepublik China, hatte einen Rückstand von 92,1 Punkten; der vom Turm, Bruce Kimball aus den USA, erreichte 67,41 Punkte weniger als sein Landsmann. Bei den Frauen siegte die Kanadierin Sylvie Bernier vom Brett und die Chinesin Zhou Jihong vom Turm. Hinter beiden konnten sich jeweils zwei Amerikanerinnen platzieren. Im erstmals ausgetragenen Synchronschwimmen gab es einen Solo- und einen Duettwettbewerb. In beiden ging Gold an die USA, Silber an Kanada und Bronze an Japan. Die Amerikanerin Tracie Ruiz war dabei zweifache Olympiasiegerin. Im Solo platzierte sich hinter ihr Carolyn Waldo, die in Seoul Doppelolympiasiegerin wurde. Im Wasserballturnier traten zwölf Mannschaften an. Die Platzierungen wurden in einem Gruppensystem ausgespielt, in das die Mannschaften nach der Vorrunde eingeordnet wurden. Der Olympiasieg ging an die Mannschaft aus Jugoslawien, hinter der das Team aus den Vereinigten Staaten mit Terry Schroeder Silber erreichte. Bronze ging an die Mannschaft aus der BRD, in der unter anderem Frank Otto und Peter Röhle spielten. Siehe auch: Olympische Sommerspiele 1984/Schwimmen, Olympische Sommerspiele 1984/Wasserspringen und Olympische Sommerspiele 1984/Wasserball Segeln 298 Männer und zwei Frauen nahmen an den Segelwettbewerben teil. Die sieben Bootsklassen standen beiden Geschlechtern offen. Erstmals gab es den Wettbewerb im Windsurfen, der auf der Session 1980 beschlossen worden war, während die Einführung von reinen Frauendisziplinen weiterhin auf sich warten ließ. In der Star-Klasse gewann das deutsche Duo Joachim Griese und Michael Marcour die Silbermedaille hinter dem Boot aus den USA und vor den Italienern. Das Boot des Amerikaners Robbie Haines in der Soling-Klasse lag bereits nach sechs Wettfahrten uneinholbar in Führung, sodass er die letzte Wettfahrt gar nicht mehr bestritt. Der erste Olympiasieger im Windsurfen war der Niederländer Stephan van den Berg, der sich vor dem Amerikaner Scott Steele und dem Neuseeländer Bruce Kendall durchsetzen konnte. Siehe auch: Olympische Sommerspiele 1984/Segeln Turnen Es nahmen 65 Turnerinnen und 71 Turner an den olympischen Wettbewerben teil. 1980 hatte die FIG beschlossen, ein Mindestalter von 15 Jahren bei den Frauen und 16 Jahren bei den Männern einzuführen. Eine dominierende Nation ließ sich nicht ausmachen, die USA, Rumänien und die Volksrepublik China konnten jeweils fünf Goldmedaillen gewinnen. Den Mannschaftsmehrkampf der Männer gewannen die USA vor der Volksrepublik China und Japan. Dieser Sieg war nicht nur auf die eigene Stärke und den Heimvorteil zurückzuführen, sondern auch auf parteiische Punktrichterentscheidungen. Der erfolgreichste Turner war der Chinese Li Ning; er gewann Gold am Boden, an den Ringen und am Seitpferd, Silber im Pferdsprung und im Mannschaftsmehrkampf sowie Bronze im Einzelmehrkampf. Bei den Turnerinnen war die Rumänin Ecaterina Szabó die herausragende Athletin mit Goldmedaillen im Mannschaftsmehrkampf, am Schwebebalken, am Boden und im Pferdsprung, sowie Silber im Einzelmehrkampf. Der Mehrkampf der Rhythmischen Sportgymnastik litt unter der Abwesenheit der besten Sportlerinnen. Aufgrund des Boykotts waren alle Medaillengewinnerinnen der WM von 1983 abwesend. Gold ging an die Kanadierin Lori Fung, hinter der Doina Stăiculescu aus Rumänien und Regina Weber aus der BRD Silber und Bronze gewannen. Siehe auch: Olympische Sommerspiele 1984/Turnen und Olympische Sommerspiele 1984/Rhythmische Sportgymnastik Volleyball In den Volleyballturnieren erreichten jeweils die beiden Besten der Vorrundengruppen die Halbfinals, während die weiteren Mannschaften die Plätze ausspielten. Bei den Männern starteten zehn Mannschaften. Die Mannschaft aus den USA, in der unter anderem Craig Buck und Charles Kiraly spielten, gewann die Goldmedaille vor den Mannschaften aus Brasilien und Italien. Bei den Frauen siegten die Chinesinnen vor der Mannschaft aus den USA um Flora Hyman. Bronze gewann die japanische Mannschaft. Siehe auch: Olympische Sommerspiele 1984/Volleyball Herausragende Sportler Die erfolgreichste Sportlerin der Olympischen Sommerspiele 1984 war die rumänische Turnerin Ecaterina Szabó, die vier Gold- und eine Silbermedaille gewinnen konnte. Hinter ihr lag der amerikanische Leichtathlet Carl Lewis mit vier Goldmedaillen. Die meisten Medaillen konnte der Turner Li Ning aus China gewinnen, der drei Gold-, zwei Silber- und eine Bronzemedaille holte. Der jüngste Teilnehmer war der Ruderer Philippe Cuelenaere aus Belgien mit 12 Jahren und 334 Tagen, der älteste war der spanische Schütze Luis del Cerro mit 60 Jahren und 85 Tagen. Der deutschen Hochspringerin Ulrike Meyfarth gelang es zwölf Jahre nach ihrem Sieg in München 1972 erneut, die Goldmedaille zu erringen. Sie war damit zugleich jüngste und älteste Olympiasiegerin in dieser Disziplin. Mit der Bogenschützin Neroli Fairhall aus Neuseeland nahm erstmals eine querschnittsgelähmte Sportlerin an Olympischen Spielen teil. Doping Für die Dopingkontrollen richtete das LAOOC an der UCLA ein eigenes Dopinglabor ein, da bis dahin das einzige den Ansprüchen des IOC genügende Labor Nordamerikas in Montreal lag. Am 30. November 1983 akkreditierte das IOC das Labor an der Universität, sodass es die Dopingkontrollen bei den Spielen übernehmen konnte. Das IOC forderte 2000 Dopingkontrollen, während das LAOOC nur 1500 Athleten testen wollte. Schließlich setzte sich das Organisationskomitee durch und ließ während der 15 Wettkampftage 1502 Athleten testen. Elf Dopingtests auf Steroide zum Muskelaufbau fielen positiv aus, zwei davon stammten von Medaillengewinnern, die ihre Medaillen zurückgeben mussten. Der finnische 10.000-Meter-Läufer Martti Vainio und der schwedische Superschwergewichtsringer im griechisch-römischen Stil Tomas Johansson, die beide Silber erreicht hatten, wurden des Dopings mit dem anabolen Steroid Methenolon überführt und für mindestens ein Jahr gesperrt. Ein Hammerwerfer und ein Volleyballspieler wurden des Testosteron-Dopings für schuldig befunden, zwei weitere Leichtathleten und fünf Gewichtheber aller Gewichtsklassen wurden positiv auf Nandrolon getestet. Mindestens zehn weitere Gedopte mussten keine Konsequenzen befürchten, da ihre positiven Tests aus dem Hotelzimmer von IOC-Medizinchef Alexandre de Mérode verschwunden waren. Im Nachhinein gerieten vertrauliche Aufzeichnungen des USOC an die Öffentlichkeit, die offenbarten, dass bei geheimen Dopingproben im Vorfeld der Spiele 34 US-Athleten positiv getestet, jedoch nicht gesperrt worden waren. Diese Tests sollten verhindern, dass Spuren des Dopings bei den Spielen entdeckt werden könnten. Dabei standen die Vereinigten Staaten auch unter dem Druck, dass die Spiele von Moskau offiziell als die ersten dopingfreien Olympischen Spiele der Geschichte gefeiert worden waren und die USA 1984 nachziehen wollten. Mit 1610 Geschlechtsüberprüfungen war die Anzahl medizinischer Tests zur Bestätigung des Geschlechts aller weiblichen gemeldeten Starterinnen größer als die Zahl der Dopingproben. Dabei wurden Wangenschleimhaut-Abstriche bei 88 % der Teilnehmerinnen entnommen und auf Y-Chromosomen untersucht, da die übrigen 12 % bereits „Weiblichkeits-Zertifikate“ der IOC Medical Commission besaßen. Die Proben wurden vor dem ersten Wettkampf der Athletinnen in den Polikliniken der drei olympischen Dörfer entnommen und binnen 24 Stunden in einem zentralen Labor getestet. Uneindeutige Testergebnisse führten zu Beratungen der IOC Medical Commission. Das LAOOC gab keine offiziellen Ergebnisse bekannt, um die Würde der Betroffenen zu schützen. Gleichwohl wird eine Anzahl von sechs Athletinnen angenommen, deren erste Testergebnisse „männlich“ lauteten. Kommerzialisierung und Kritik Die Spiele von Los Angeles 1984 bewirkten eine starke Kommerzialisierung der Olympischen Spiele (siehe Kommerzialisierung). Die offiziellen Sponsoren, die einen Teil zur Finanzierung des LAOOC-Etats beitrugen, konnten mit diesem Status werben. So benutzte Coca-Cola den Werbeslogan „“ und schätzte seinen Erfolg auf 21 Millionen verkaufte Getränke während der Wettkämpfe. Levi Strauss machte aus der Ausstattung der amerikanischen Olympiamannschaft eine werbewirksame Publikumswahl. McDonald’s startete die Werbeaktion , bei der Kunden auf Rubbellosen olympische Disziplinen freirubbeln konnten und bei einer Goldmedaille eines Amerikaners in dieser Disziplin einen Big Mac gratis bekamen, bei Silber Pommes frites und bei Bronze eine Cola. Die unerwarteten Kosten durch die zahlreichen Goldmedaillen in Abwesenheit der sowjetischen Mannschaft führten zu einem großen finanziellen Verlust, auf den etwa die Fernsehserie Die Simpsons 1992 anspielte. Das LAOOC begab sich aufgrund des Fehlens öffentlicher Mittel auch beim Bau neuer Sportstätten in Abhängigkeit von den Sponsoren, die Neubauten finanzierten. Nur deshalb konnte der Etat von Los Angeles bei 470 Millionen Dollar liegen, während die Olympischen Sommerspiele in Moskau 1980 umgerechnet neun Milliarden Dollar kosteten und Montreal vier Jahre zuvor 1,5 Milliarden Dollar ausgab und sich daraufhin verschuldete. Die Vermarktung der Spiele stieß auf teils heftige Kritik. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schrieb, „Profitgeist und kapitalistisches Denken begleiten die Vorbereitungen“, Mario Pescante vom NOK Italiens warnte, Olympia würde von den Amerikanern „als ein beliebiges geschäftliches Unternehmen“ behandelt. Mit Maureen Kindel war selbst ein Mitglied des Aufsichtsrats des LAOOC „beunruhigt, dass die Seele, der Zauber der Spiele Schaden erleiden“ würde. Der Präsident des LAOOC, Peter Ueberroth, vertrat hingegen die Meinung, dass diese Art der Finanzierung „ein Modell für künftige Olympische Spiele“ sein würde. Tatsächlich orientierten sich die Organisatoren Seouls und Calgarys am LAOOC, Sponsoring wurde ein Teil der Olympischen Spiele, der in Atlanta 1996 sehr stark ausgereizt wurde. Andererseits wurden Stimmen laut, die sich von der offenen Kommerzialisierung ein Ende der olympischen Verlogenheit versprachen: Berichterstattung Der Pressechef der Olympischen Sommerspiele von Los Angeles war Richard B. Perelman. Insgesamt waren 8700 Journalisten, Techniker und weitere Mitarbeiter der Medien akkreditiert. Allein 4863 Mitarbeiter von Fernsehen und Rundfunk waren anwesend, um von den Olympischen Spielen zu berichten. Das LAOOC nahm durch den Verkauf der Fernsehrechte insgesamt 286,764 Millionen Dollar ein. Allein die American Broadcasting Company zahlte 225 Millionen, es folgten die Europäische Rundfunkunion mit 19,8 Millionen und Japan mit 18,5 Millionen. Der Vertrag mit ABC enthielt im Gegenzug die Zusicherung, Die ABC übertrug die Spiele nicht nur in den USA, sondern produzierte das Weltbild, auf das alle Sender zurückgriffen. Mit 216 Kameras brachte ABC insgesamt 180 Stunden Olympia auf den Fernsehschirm. Die tägliche Übertragung gliederte sich in vier Abschnitte. Von acht bis elf Uhr gab es eine morgendliche Übertragung im Stil von Good Morning America, in der nur live vom Rudern und Kanurennsport berichtet wurde. Zwischen 13 und 14:30 Uhr übertrug ABC die ersten Entscheidungen des Tages und zwischen 16 und 21 Uhr alle wichtigen Entscheidungen. Von 21:30 bis 23 Uhr folgten Nachberichte. Jede Werbeminute während dieser Sendungen brachte dem Sender 250.000 Dollar ein. Alle Werbeplätze von ABC waren bereits Mitte 1983 für insgesamt 615 Millionen Dollar ausverkauft. Zum Teil vergab ABC freie Werbeminuten an Firmen, deren Werbung während der Olympischen Winterspiele 1984 unter gesunkenen Einschaltquoten wegen des frühen Ausscheidens der amerikanischen Eishockeymannschaft und der Verschiebung des Abfahrtsrennens gelitten hatte. In Deutschland übertrugen die ARD und das ZDF die Spiele. Die Bilder unterschieden sich nur geringfügig von denen in den USA, da auf das Weltbild von ABC zurückgegriffen wurde. Zusätzlich zum Anteil für die Bildrechte wurden die Kosten für die deutschen Sender auf 17 Millionen D-Mark geschätzt, da Studioräume, technische Ausstattung und Dekoration, sowie Sprecherplätze in den Stadien erstmals separat bezahlt werden mussten. Literatur Volker Kluge: Olympische Sommerspiele. Die Chronik III. Mexiko-Stadt 1968 – Los Angeles 1984. Sportverlag Berlin, Berlin 2000, ISBN 3-328-00741-5. Olympische Sport Bibliothek (Hrsg.): Los Angeles '84. Prosport Verlag für Sport und Kultur, 1984. Bill Dwyre: Los Angeles Times 1984 Olympic Sports Pages. Harry N. Abrams, 1984, ISBN 0-8109-1286-4. Zander Hollander, Phyllis Hollander (Hrsg.): The Complete Handbook of the Summer Olympic Games: 1984 Los Angeles. Signet, 1984, ISBN 0-451-12885-0. Los Angeles 1984. Das F.A.Z.-Olympiabuch. Limpert Verlag, 1985, ISBN 3-7853-1435-3. Los Angeles Olympic Organizing Committee: Official Report of the Games of the XXIIIrd Olympiad. Los Angeles, 1984. 2 Bände. Hrsg. von Richard B. Perelman, Los Angeles 1985, ISBN 0-9614512-0-3 (Volume 1: Organization and Planning. Volume 2: Competition Summary and Results). Online auf la84foundation.org in sechs Teilen: Band 1, Teil 1 (PDF; 26,1 MB); Band 1, Teil 2 (PDF; 12,3 MB); Band 1, Teil 3 (PDF; 21,0 MB); Band 2, Teil 1 (PDF; 24,1 MB); Band 2, Teil 2 (PDF; 11,1 MB); Band 2, Teil 3 (PDF; 11,4 MB); abgerufen am 30. September 2009. Weblinks Olympische Sommerspiele L.A. 1984. Auf olympic.org, Website des Internationalen Olympischen Komitees 1984 Los Angeles Summer Games. Auf sports-reference.com (englisch) LA84 Foundation. Offizielle Homepage auf la84foundation.org (englisch) Einzelnachweise 1984 Multisportveranstaltung 1984 Sportveranstaltung in Los Angeles Los Angeles Memorial Coliseum
103680
https://de.wikipedia.org/wiki/Henry%20Dunant
Henry Dunant
Henry Dunant [], eigentlich Jean-Henri Dunant (* 8. Mai 1828 in Genf; † 30. Oktober 1910 in Heiden), war ein Schweizer Geschäftsmann und ein Humanist christlicher Prägung. Während einer Geschäftsreise wurde er im Juni 1859 in der Nähe der italienischen Stadt Solferino Zeuge der erschreckenden Zustände unter den Verwundeten nach einer Schlacht zwischen der Armee Österreichs sowie den Truppen Sardinien-Piemonts und Frankreichs. Über seine Erlebnisse schrieb er ein Buch mit dem Titel Eine Erinnerung an Solferino, das er 1862 auf eigene Kosten veröffentlichte und in Europa verteilte. In der Folge kam es ein Jahr später in Genf zur Gründung des Internationalen Komitees der Hilfsgesellschaften für die Verwundetenpflege, das seit 1876 den Namen Internationales Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) trägt. Die 1864 beschlossene Genfer Konvention geht wesentlich auf Vorschläge aus Dunants Buch zurück. Henry Dunant, der danach aufgrund geschäftlicher Probleme und seines darauf folgenden Ausschlusses aus der Genfer Gesellschaft rund drei Jahrzehnte lang in Armut und Vergessenheit lebte, gilt damit als Begründer der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung. Im Jahr 1901 erhielt er für seine Lebensleistung zusammen mit dem französischen Pazifisten Frédéric Passy den ersten Friedensnobelpreis. Leben 1828–1859: Jugend und geschäftliches Wirken Elternhaus und Ausbildung Jean-Henri Dunant wurde am 8. Mai 1828 in Genf als erster Sohn von Antoinette Dunant-Colladon und deren Mann, dem Kaufmann Jean-Jacques Dunant, in eine sehr fromme calvinistische Familie geboren. Das Elternhaus befindet sich in Genf in der Rue Verdaine 12. Seine Eltern verfügten in Genf über grossen Einfluss und engagierten sich politisch und sozial. Der Vater war Mitglied des Conseil Représentatif, der damaligen Legislative der Stadt Genf, und kümmerte sich um Waisen und Vorbestrafte. Henri Dunants Mutter war eine Tochter Henri Colladons, Leiter des Genfer Spitals und Bürgermeister von Avully bei Genf. Sie war im wohltätigen Bereich vor allem für Arme und Kranke tätig. Ein Onkel Henry Dunants mütterlicherseits war der Physiker Jean-Daniel Colladon. Die wohltätigen Aktivitäten der Eltern schlugen sich in der Erziehung ihrer Kinder nieder: Soziale Verantwortung wurde Jean-Henri Dunant, seinen beiden Schwestern und beiden Brüdern schon in jungen Jahren nahegelegt. Prägend war für ihn eine Reise mit seinem Vater nach Toulon. Dort musste er die Qualen von Galeerenhäftlingen mitansehen. Über seine Kindheit ist ansonsten in seinen eigenen Lebenserinnerungen wenig überliefert. Aufgrund schlechter Noten verliess Henri „Henry“ Dunant das Collège de Genève vorzeitig und begann 1849 eine dreijährige Lehre bei den Geldwechslern Lullin und Sautter. Nach dem erfolgreichen Abschluss der Ausbildung blieb Dunant als Angestellter in der Bank tätig. Christliches Engagement Henry Dunants christlicher Glaube wurde geprägt durch den Genfer Theologen Louis Gaussen, der 1831 die Société Evangélique de Genève gegründet hatte und dessen Sonntagsschule Dunant als Jugendlicher besuchte. Bei der Société Evangélique handelte es sich um eine Kirchengemeinde, der auch seine Mutter, die Schwester seines Vaters und seine eigene Schwester Marie angehörten. Mit dem Wunsch, sich sozial zu engagieren, trat Henry Dunant unter dem Einfluss des Réveil, einer Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts in Genf und anderen französischsprachigen Regionen, mit 18 Jahren der Genfer Société d'Aumônes (Gesellschaft für Almosenspenden) bei. Im darauffolgenden Jahr rief er mit Freunden die sogenannte „Donnerstags-Vereinigung“ ins Leben, einen losen Bund junger Menschen, die sich in den Räumlichkeiten der Société Evangélique zu Bibelstudien trafen und gemeinsam hungernde und kranke Menschen unterstützten. Seine freien Abende und Sonntage verbrachte Henry Dunant grösstenteils mit Gefangenenbesuchen und der Hilfe für arme Menschen. Bereits früh galt er als begabt darin, andere Menschen für ein gemeinsames Ziel zu begeistern und sie zu motivieren, ihm in seinen Aktivitäten zu folgen. Animiert durch einen Aufenthalt des Erweckungspredigers Adolphe Monod in der Donnerstags-Vereinigung gründete er am 30. November 1852 eine Genfer Gruppe des Christlichen Vereins junger Männer (CVJM), in der er als Schriftführer fungierte. Drei Jahre später war er massgeblich an der Gründung der Young Men's Christian Association in Paris beteiligt. In der sich ab 1846 aus England ausbreitenden Evangelischen Allianz, die zur Entstehung der CVJM-Gruppen in verschiedenen Ländern beitrug, gehörte Dunant 1847 zu den fünfzehn Gründern der Schweizerischen Evangelischen Allianz. Er wurde 1852 im Alter von 24 Jahren ihr Sekretär und leitete sie in dieser Funktion bis 1859. Geschäfte in Algerien 1853 besuchte Dunant im Auftrag der „Genfer Handelsgesellschaft der Schweizer Kolonien von Setif“ (franz. Compagnie genevoise des Colonies Suisses de Sétif) Algerien, Tunesien und Sizilien. Trotz geringer Erfahrungen erledigte er die Geschäfte seiner Auftraggeber erfolgreich. Inspiriert durch seine Reiseeindrücke, schrieb Dunant sein erstes Buch mit dem Titel Notice sur la Régence de Tunis, das 1858 erschien. Mit Hilfe dieses Buches gelang es ihm, Zugang zu mehreren wissenschaftlichen Gesellschaften zu erhalten. Im Jahre 1856 gründete er eine Kolonialgesellschaft und, nachdem er im französisch besetzten Algerien eine Landkonzession erworben hatte, zwei Jahre später unter dem Namen „Finanz- und Industriegesellschaft der Mühlen von Mons-Djémila“ (franz. Société financière et industrielle des Moulins des Mons-Djémila) in der Nähe der römischen Ruinen von Djémila ein Mühlengeschäft. Die Land- und Wasserrechte waren jedoch nicht klar geregelt, die zuständigen Kolonialbehörden verhielten sich darüber hinaus nicht kooperativ. 1858 nahm Henry Dunant (wie sich Jean-Henri Dunant ab etwa 1857 schrieb) neben seiner Schweizer auch die französische Staatsbürgerschaft an, um sich dadurch den Zugang zu Landkonzessionen der Kolonialmacht Frankreich in Algerien zu erleichtern. Ein Jahr später beschloss er, sich direkt an Kaiser Napoléon III. zu wenden, als dieser sich mit seinem Heer in der Lombardei aufhielt. Dort kämpfte Frankreich auf Seiten Sardinien-Piemonts gegen die Österreicher, die das Gebiet des heutigen Italien zu grossen Teilen besetzt hatten. Napoleons Hauptquartier befand sich in der kleinen Stadt Solferino in der Nähe des Gardasees. Dunant verfasste unter dem Titel Das wiederhergestellte Kaiserreich Karls des Grossen, oder das Heilige Römische Reich, erneuert durch Seine Majestät, den Kaiser Napoleon III. eine schmeichelhafte Lobschrift auf Napoleon III., um diesen seinem Anliegen gegenüber positiv zu stimmen. Anschliessend begab er sich auf eine Reise nach Solferino, um den Kaiser dort persönlich zu treffen. 1859–1867: Das Rote Kreuz und die Genfer Konvention Schlacht von Solferino Am Abend des 24. Juni 1859 kam Dunant nach dem Ende einer Schlacht zwischen den Truppen Sardinien-Piemonts und Frankreichs unter der Führung Napoleons III. auf der einen Seite und der Armee Österreichs auf der anderen Seite am Schlachtfeld in der Nähe Solferinos vorbei. Noch immer lagen etwa 38.000 Verwundete, Sterbende und Tote auf dem Schlachtfeld, ohne dass ihnen jemand Hilfe leistete. Zutiefst erschüttert davon, was er sah, organisierte er spontan mit Freiwilligen aus der örtlichen Zivilbevölkerung, hauptsächlich Frauen und Mädchen, die notdürftige Versorgung der verwundeten und kranken Soldaten. In der Kleinstadt Castiglione delle Stiviere in unmittelbarer Nähe zu Solferino richtete er mit anderen Helfern in der Chiesa Maggiore, der grössten Kirche des Ortes, ein Behelfshospital ein. Hier wurden etwa 500 der insgesamt etwa 8.000 bis 10.000 Verwundeten versorgt, die nach Castiglione gebracht worden waren. Wie er schnell feststellte, fehlte es an fast allem: an Helfern, an Fachwissen und an medizinischem Material und Verpflegung. Dunant und die seinem Aufruf folgenden Helfer machten bei ihrer Hilfeleistung keinen Unterschied zwischen den Soldaten hinsichtlich ihrer nationalen Zugehörigkeit. Berühmt für diese Einstellung wurde die Losung „Tutti fratelli“ (ital. Alle sind Brüder) der Frauen Castigliones. Es gelang Dunant darüber hinaus, von den Franzosen gefangengenommene österreichische Armeeärzte für die Versorgung der Verletzten freigestellt zu bekommen. Er richtete Behelfskrankenhäuser ein und liess auf seine Kosten Verbandsmaterial und Hilfsgüter herbeischaffen. Trotz der Hilfe starben viele Verwundete. Gründung des Roten Kreuzes Unter dem Eindruck dieser Ereignisse kehrte Dunant Anfang Juli nach Genf zurück. Auf Anraten seiner Mutter verbrachte er zunächst einen Monat in der Berghütte eines Freundes der Familie in Montreux. Anschliessend reiste er für mehrere Wochen nach Paris. Für sein Wirken in Solferino erhielt er im Januar 1860, zusammen mit dem Genfer Arzt Louis Appia, vom sardischen König Viktor Emanuel II. den Orden des Heiligen Mauritius und Lazarus, später die zweithöchste Auszeichnung des Königreichs Italien. Mit Beginn des Jahres 1860 versuchte er zunächst, die finanzielle Situation seiner Unternehmungen in Algerien zu verbessern, was ihm jedoch nicht gelang. Da er darüber hinaus das in Solferino Erlebte nicht vergessen konnte, begann er ein Buch mit dem Titel Un souvenir de Solferino („Eine Erinnerung an Solferino“) zu schreiben. Darin beschrieb er die Schlacht, das Leiden und die chaotischen Zustände in den Tagen nach der Schlacht. Darüber hinaus entwickelte er in diesem Buch die Idee, wie zukünftig das Leid der Soldaten verringert werden könnte: Auf einer Basis von Neutralität und Freiwilligkeit sollten in allen Ländern Hilfsorganisationen gegründet werden, die sich im Fall einer Schlacht um die Verwundeten kümmern würden. Im September 1862 liess er das Buch auf eigene Kosten von der Genfer Buchdruckerei Fick in einer Auflage von 1.600 Exemplaren drucken und verteilte es anschliessend in ganz Europa an viele führende Persönlichkeiten aus Politik und Militär. Anschliessend begab Dunant sich auf Reisen quer durch Europa, um für seine Idee zu werben. Sein Buch wurde nahezu einhellig positiv und mit grossem Interesse und Begeisterung aufgenommen, er erhielt Anerkennung und Sympathie. Noch im Dezember 1862 wurde eine zweite Auflage gedruckt, zu Beginn des folgenden Jahres erschienen neben einer dritten auch Übersetzungen ins Englische, Deutsche, Italienische und Schwedische. Zu den wenigen negativen Reaktionen gehörte die Aussage des französischen Kriegsministers Jacques-Louis Randon, dass das Buch „gegen Frankreich“ gerichtet sei. Andererseits äusserte sich auch Florence Nightingale überraschend kritisch, da sie der Meinung war, dass die von Dunant vorgeschlagenen Hilfsgesellschaften eine Aufgabe übernehmen würden, die den Regierungen oblag. Der Präsident der Genfer Gemeinnützigen Gesellschaft, der Jurist Gustave Moynier, machte das Buch und Dunants Ideen zum Thema der Mitgliederversammlung der Gesellschaft am 9. Februar 1863. Dunants Vorschläge wurden geprüft und von den Mitgliedern als sinnvoll und durchführbar bewertet. Dunant selbst wurde zum Mitglied einer Kommission ernannt, der ausser ihm noch Gustave Moynier, der General Guillaume-Henri Dufour sowie die Ärzte Louis Appia und Théodore Maunoir angehörten. Während der ersten Tagung am 17. Februar 1863 beschlossen die fünf Mitglieder, die Kommission in eine ständige Einrichtung umzuwandeln. Dieser Tag gilt damit als Gründungsdatum des Internationalen Komitees der Hilfsgesellschaften für die Verwundetenpflege, das seit 1876 den Namen Internationales Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) trägt. Dufour wurde zum ersten Präsidenten ernannt, Moynier wurde Vizepräsident und Dunant Sekretär des Komitees. Konflikt mit Moynier Zwischen Moynier und Dunant entwickelten sich bald Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich verschiedener Aspekte des gemeinsamen Vorhabens. So hatte Moynier wiederholt den Vorschlag Dunants, Verwundete, Pflege- und Hilfskräfte sowie Lazarette unter den Schutz der Neutralität zu stellen, als undurchführbar bezeichnet und Dunant aufgefordert, nicht auf dieser Idee zu beharren. Dunant setzte sich jedoch bei seinen nun folgenden umfangreichen Reisen durch Europa und seinen Gesprächen mit hochrangigen Politikern und Militärs mehrfach über die Meinung Moyniers zu dieser Frage hinweg. Dies verschärfte den Konflikt zwischen dem Pragmatiker Moynier und dem Idealisten Dunant weiter und führte zu Bestrebungen Moyniers, Dunant auch dessen ideellen Führungsanspruch streitig zu machen. Während seiner Reisen durch Europa nahm Dunant vom 6. bis 12. September 1863 am Internationalen Statistischen Kongress in Berlin teil. Dort traf er mit dem Militärarzt Johan Hendrik Christiaan Basting zusammen, der bereits das Buch Dunants ins Niederländische übersetzt hatte. Dunants Auftrag war es, ein Memorandum und eine Einladung des Internationalen Komitees zu einer internationalen Konferenz an die Teilnehmer des Kongress zu verteilen. Zusammen mit Basting, und ohne Rücksprache mit den Mitgliedern des Komitees in Genf, ergänzte er die im Memorandum enthaltenen Vorschläge um die Idee der Neutralisierung der Hilfskräfte. Diese eigenmächtige Entscheidung Dunants in einer aus Moyniers Sicht zentralen Frage vertiefte den Konflikt zwischen beiden weiter. Basting präsentierte anschliessend als Teilnehmer des Kongresses den anwesenden Delegierten Dunants Ideen. Kurz nach dem Kongress reiste Dunant nach Dresden zu einer Audienz beim König Johann von Sachsen. Auf Dunants Bitte um Unterstützung antwortete der König mit einem Satz, den Dunant in der Folgezeit mehrfach in Briefen an andere ranghohe Persönlichkeiten zitierte: Abschluss der Genfer Konvention Im Oktober 1863 kam es in Genf zu der vom Internationalen Komitee geplanten Konferenz. Vertreter von 16 Ländern nahmen daran teil und berieten über Massnahmen zur Verbesserung der Hilfe für im Felde verwundete Soldaten. Dunant selbst war, auf Betreiben Moyniers, während dieser Konferenz nur Protokollführer. Ein Jahr später fand im August auf Einladung des Schweizer Bundesrates eine diplomatische Konferenz statt, in deren Rahmen am 22. August 1864 von zwölf Staaten die erste Genfer Konvention unterzeichnet wurde. Hier einigte man sich auch auf ein einheitliches Symbol zum Schutz der Verwundeten und des Hilfspersonals: das leicht und weithin erkennbare Rote Kreuz auf weissem Grund, die Umkehrung der Schweizer Flagge. Dunant war für diese Konferenz nur die Aufgabe zugewiesen worden, für die Unterhaltung der Gäste zu sorgen. Trotzdem stand er in den folgenden zwei Jahren im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit und erhielt zahlreiche Ehrungen und Einladungen. So wurde er im Frühjahr 1865 durch Napoléon III. in die französische Ehrenlegion la Légion d'honneur aufgenommen. Im Mai des gleichen Jahres traf er in Algier auch persönlich mit dem französischen Kaiser zusammen und erhielt von diesem die unverbindliche Zusage, dass seine Unternehmungen in Algerien unter dem Schutz der französischen Regierung stehen würden. 1866 wurde er nach dem Ende des Preussisch-Österreichischen Krieges von Augusta, der Frau des preussischen Königs und nachmaligen deutschen Kaisers Wilhelm I., zu den Siegesfeierlichkeiten nach Berlin eingeladen und dort ehrenvoll empfangen. Er konnte hier erleben, wie bei der Siegesparade der preussischen Armee Fahnen mit dem Roten Kreuz neben der Nationalflagge gezeigt wurden. 1867–1895: Sozialer Abstieg und Vergessenheit Bankrott Das Jahr 1865 war in Algerien durch eine Serie katastrophaler Ereignisse gekennzeichnet: Nach kriegerischen Auseinandersetzungen folgten eine Cholera-Epidemie, eine Heuschreckenplage, Erdbeben, eine Dürre und schliesslich ein aussergewöhnlich harter Winter. Aufgrund dessen verschlechterte sich Dunants geschäftliche Situation zusehends, zu einem nicht unwesentlichen Teil allerdings auch, weil er sie wegen seines Einsatzes für seine Ideen vernachlässigt hatte. Im April 1867 erfolgte die Auflösung der an seinen Unternehmungen beteiligten Finanzierungsgesellschaft Crédit Genevois. Seine Mitgliedschaft im Verwaltungsrat dieser Gesellschaft führte zu einem Skandal. Er war gezwungen, Konkurs anzumelden, wovon auch seine Familie und Freunde aufgrund ihrer Investitionen in seine Unternehmungen erheblich betroffen waren. Am 17. August 1868 wurde er vom Genfer Handelsgericht wegen betrügerischen Konkurses verurteilt. Aufgrund der damaligen gesellschaftlichen Zwänge führte dieser wirtschaftliche Absturz auch zu Forderungen, aus dem Internationalen Komitee auszuscheiden. Am 25. August 1867 trat Dunant als Sekretär des Komitees zurück, am 8. September wurde er vollständig aus dem Komitee ausgeschlossen. Wesentlichen Anteil an diesem Ausschluss hatte erneut Moynier, der 1864 die Präsidentschaft des Komitees übernommen hatte. Am 2. Februar 1868 starb Dunants Mutter. Im weiteren Verlauf des Jahres wurde er auch aus dem CVJM ausgeschlossen. Bereits im März 1867 hatte er Genf verlassen und sollte seine Heimatstadt nach dem auf seine Verurteilung folgenden endgültigen Ausstoss aus der Genfer Gesellschaft bis zu seinem Tod nicht mehr wiedersehen. Moynier nutzte in der Folgezeit wahrscheinlich seine Beziehungen und seinen Einfluss mehrfach, um zu verhindern, dass Dunant von Freunden und Unterstützern aus verschiedenen Ländern finanzielle Hilfe erhielt. Die Goldmedaille der Sciences Morales der Pariser Weltausstellung im Jahr 1867 wurde aufgrund von Bemühungen Moyniers beispielsweise nicht wie ursprünglich vorgesehen an Dunant, sondern zu gleichen Teilen an Moynier, Dufour und Dunant verliehen, so dass das Preisgeld an das Internationale Komitee überwiesen wurde. Ein Angebot des französischen Kaisers Napoléon III., die Hälfte der Schulden Dunants zu übernehmen, wenn dessen Freunde für die andere Hälfte aufkämen, scheiterte ebenfalls an Moyniers Einfluss. Dunant siedelte, nachdem er Genf verlassen hatte, nach Paris über, wo er in ärmlichen Verhältnissen lebte. Er versuchte jedoch auch hier, sich entsprechend seinen Vorstellungen und Ideen zu betätigen. Im Deutsch-Französischen Krieg 1870/1871 gründete er eine Allgemeine Fürsorgegesellschaft und kurz darauf eine Allgemeine Allianz für Ordnung und Zivilisation. Deren Ziele waren die Verminderung der Zahl bewaffneter Konflikte und des Ausmasses von Gewalt und Unterdrückung, indem durch Bildung die moralischen und kulturellen Standards der einfachen Bürger der Gesellschaft verbessert werden sollten. Darüber hinaus setzte sich die Allianz für den Schutz von Arbeitern vor unbeschränkter Ausbeutung durch ihre Arbeitgeber ein, ebenso wie vor dem aus Sicht der Allianz atheistischen und korrumpierenden Einfluss der 1864 in London gegründeten Internationalen Arbeiterassoziation. Dunant forderte während seines Werbens für die Ziele der Allgemeinen Allianz unter anderem Abrüstungsverhandlungen und die Einrichtung eines Internationalen Gerichtshofes zur Vermittlung bei zwischenstaatlichen Konflikten, um diese ohne Gewaltanwendung friedlich beizulegen. Einsatz zugunsten Kriegsgefangener Während des ersten Kongresses der Allgemeinen Allianz für Ordnung und Zivilisation 1872 in Paris wurde ein Artikel Dunants zur Behandlung von Kriegsgefangenen verlesen. Diesen Artikel hatte er bereits 1867 für die erste Rotkreuz-Konferenz geschrieben, auf der dieser Beitrag jedoch nicht diskutiert worden war. Nachdem seine Vorschläge mit Begeisterung von den Anwesenden aufgenommen worden waren, versuchte Dunant auf einer Reise nach England, Unterstützung für eine internationale Konferenz zur Frage der Kriegsgefangenen zu gewinnen. Er hielt Reden vor Mitgliedern der englischen Social Science Association, einer der Allgemeinen Allianz in ihren Zielen vergleichbaren Vereinigung, unter anderem am 6. August 1872 in London und am 11. September des gleichen Jahres in Plymouth. Während seines Auftrittes in Plymouth brach er aufgrund eines Schwächeanfalls zusammen. Erneut stiessen seine Vorschläge auf grosse Zustimmung und Begeisterung. Kurz nachdem auch Napoléon III. erneut seine Unterstützung zugesagt hatte, starb dieser am 9. Januar 1873 während einer Gallensteinoperation. Im Februar 1874 wurde Dunant auf dem ersten Kongress der in Paris neugegründeten Gesellschaft für die Verbesserung der Bedingungen der Kriegsgefangenen zu deren Internationalem Sekretär ernannt. Die Gesellschaft plante für den Mai des gleichen Jahres die Durchführung einer diplomatischen Konferenz und bat Dunant, bei den Vorbereitungen in Paris zu helfen. Auf Initiative des russischen Zaren Alexander II. kam es jedoch stattdessen im Juli und August 1874 in Brüssel zu einer entsprechenden Konferenz. Aufgrund von Diskussionen um einen Entwurf der russischen Regierung für eine Erweiterung der Genfer Konvention erhielten Dunants Vorschläge zugunsten der Kriegsgefangenen nicht genug Aufmerksamkeit von den Teilnehmern. Die Brüsseler Konferenz endete letztendlich ohne eine Änderung der Genfer Konvention oder konkrete Beschlüsse zur Frage der Kriegsgefangenen. Während Moynier als Präsident des Internationalen Komitees mit dem Ergebnis zufrieden war, da er ein Scheitern der Genfer Konvention befürchtet hatte, war Dunant vom Ausgang der Konferenz enttäuscht. Leben in Armut In der Folgezeit warb er weiter für die Ziele der Allgemeinen Allianz. Er schrieb Artikel und hielt Vorträge, nun unter anderem auch zum Befreiungskampf der Sklaven in Nordamerika. Ferner regte er zusammen mit dem Italiener Max Gracia die Gründung einer Weltbibliothek an – eine Idee, die etwa 100 Jahre später durch die UNESCO aufgegriffen wurde. Zu seinen weiteren, teils visionären Ideen aus dieser Zeit gehörte die Gründung eines Staates Israel. Mit dem Engagement für seine Ideen vernachlässigte er seine persönlichen Angelegenheiten und verschuldete sich weiter. Aufgrund seiner Schulden wurde er von der Umgebung gemieden. Auch von der Rotkreuzbewegung, die sich in dieser Zeit durch Gründung nationaler Gesellschaften in vielen Ländern weiter ausbreitete, wurde er nahezu vergessen, auch wenn ihn die nationalen Rotkreuz-Gesellschaften Österreichs, Hollands, Schwedens, Preussens und Spaniens zum Ehrenmitglied ernannten. Die Zeit in Paris in den Jahren während des Deutsch-Französischen Krieges und der innenpolitischen Auseinandersetzungen nach der Gründung der Dritten Französischen Republik wurde zu einem weiteren Wendepunkt in Dunants Leben. Er zog sich noch weiter aus der Öffentlichkeit zurück und entwickelte eine ausgeprägte Menschenscheu, die sein Verhalten bis zu seinem Lebensende entscheidend prägte. Dunant führte in den folgenden Jahren ein einsames Leben in materiellem Elend, zwischen 1874 und 1886 unter anderem in Stuttgart, Rom, Korfu, Basel und Karlsruhe. Nur wenige Details zu seinem Leben sind aus dieser Zeit bekannt. Vor dem völligen Absturz bewahrten ihn die finanzielle Unterstützung von Freunden sowie gelegentliche Tätigkeiten, mit denen ihm Bekannte und Gönner einen kleinen Verdienst ermöglichten. Zu diesen Unterstützern zählten unter anderem der amerikanische Bankier Charles Bowles, der als Delegierter an der diplomatischen Konferenz 1864 teilgenommen hatte, Jean-Jacques Bourcart, ein Geschäftsmann aus dem Elsass, sowie Max Gracia, der Dunant unter anderem auch bei Auseinandersetzungen mit seinen Gläubigern half. Auch Léonie Kastner-Boursault, die Witwe des Komponisten und Musikschriftstellers Jean-Georges Kastner, half Dunant wiederholt in schwierigen Situationen. So betraute sie ihn mit der Aufgabe, die Vermarktung des Pyrophons zu übernehmen, eines von ihrem Sohn Frédéric Kastner erfundenen Musikinstrumentes. Auch wenn Dunant damit keinen Erfolg hatte, so bewahrte ihn diese Tätigkeit und eine längere Italien-Reise zusammen mit Léonie Kastner-Boursault in der Zeit von 1875 bis zum Beginn der 1880er Jahre vor einem Leben in völliger Armut. In Stuttgart lernte er 1877 den Tübinger Studenten Rudolf Müller kennen, mit dem ihn später eine enge Freundschaft verband. Heiden 1881 kam Dunant, in Begleitung von Freunden aus Stuttgart, erstmals in das Schweizer Dorf Heiden im Appenzellerland. Ab 1887 erhielt er, zu der Zeit in London lebend, von seinen Angehörigen eine kleine monatliche finanzielle Unterstützung. Da ihm diese einen zwar bescheidenen, aber dennoch sicheren Lebensstil ohne Armut ermöglichte, liess er sich im Juli des gleichen Jahres endgültig in Heiden im Gasthof „Paradies“ der Familie Stähelin nieder. Nachdem die Familie die Pension einige Jahre später verkaufte und in die nahegelegene Gemeinde Trogen zog, wohnte er ab Ende 1890 im dortigen Hotel „Lindenbühl“, ohne sich jedoch wohlzufühlen. Schon nach etwas mehr als einem Jahr kehrte er nach Heiden zurück und lebte ab dem 30. April 1892 im Spital des Ortes, das vom Arzt Hermann Altherr geleitet wurde. Hier verbrachte er völlig zurückgezogen seinen in den folgenden Jahren zunehmend von religiös-mystischen Gedanken und prophetischen Vorstellungen geprägten Lebensabend. Zu den Gründen für die Wahl Heidens zählte neben der Abgeschiedenheit und dem guten Ruf als Kur- und Erholungsort auch der Blick vom hochgelegenen Ort auf den Bodensee, eine Aussicht, die Dunant an seine Heimatstadt und den Genfersee erinnerte und die er während seiner Spaziergänge sehr schätzte. Bereits kurz nach seiner Ankunft freundete er sich mit dem jungen Lehrer Wilhelm Sonderegger und dessen Frau Susanna an. Auf Drängen Sondereggers begann er auch, seine Lebenserinnerungen niederzuschreiben. Sondereggers Frau regte die Gründung einer Sektion des Roten Kreuzes in Heiden an, eine Idee, von der Dunant ausserordentlich angetan war. 1890 wurde er Ehrenpräsident des am 27. Februar des gleichen Jahres gegründeten Heidener Rotkreuz-Vereins. Er verband mit der Freundschaft zu Sonderegger und dessen Frau grosse Hoffnungen und Erwartungen hinsichtlich der Weiterverbreitung seiner Ideen, insbesondere in Form einer Neuauflage seines Buches. Die Freundschaft litt jedoch später stark unter ungerechtfertigten Anschuldigungen Dunants, dass Sonderegger mit Moynier in Genf gemeinsame Sache machen würde. Der frühe Tod Sondereggers 1904 im Alter von nur 42 Jahren belastete Dunant trotz der bestehenden tiefen Spannungen zwischen beiden stark. Die Verehrung der Sondereggers für Dunant, die sie auch nach den Vorwürfen Dunants empfanden, übertrug sich später auch auf ihre Kinder. Ihr Sohn René veröffentlichte im Jahr 1935 Briefe Dunants aus dem Nachlass des Vaters. 1895–1901: Wiederentdeckung und Anerkennung Spätes Erinnern Im September 1895 verfasste Georg Baumberger, Chefredakteur der Zeitung Die Ostschweiz aus St. Gallen, einen Artikel über den Rotkreuz-Gründer, mit dem er bei einem Spaziergang in Heiden im August zufällig ins Gespräch gekommen war. Dieser Artikel mit dem Titel Henri Dunant, der Begründer des Roten Kreuzes erschien in der deutschen Illustrierten Über Land und Meer, Nachdrucke fanden sich innerhalb weniger Tage in ganz Europa. Man erinnerte sich an ihn, und er erhielt Sympathiebekundungen und Unterstützung aus der ganzen Welt. Er gelangte nun auch wieder in das Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit als Gründer der Rotkreuz-Bewegung, wenn auch das Internationale Komitee in Genf weiterhin jeden Kontakt zu ihm vermied. Dunant erhielt in dieser Zeit unter anderem vom Schweizer Bundesrat den Binet-Fendt-Preis und vom damaligen Papst Leo XIII. Anerkennung in Form eines Bildes mit persönlicher Widmung. Dank einer jährlichen Rente der russischen Zarenwitwe und Kaiserinmutter Maria Feodorowna und anderer Geldzuwendungen besserte sich die finanzielle Lage Dunants schnell. In der 1897 von Rudolf Müller, nun Gymnasialprofessor in Stuttgart, im Verlag Greiner & Pfeiffer veröffentlichten Entstehungsgeschichte des Roten Kreuzes und der Genfer Konvention wurde Dunants Rolle als Gründer des Roten Kreuzes erstmals seit seinem Rückzug aus dem Internationalen Komitee wieder angemessen gewürdigt. Das Buch enthielt auch eine gekürzte deutschsprachige Neuausgabe von Eine Erinnerung an Solferino. Veröffentlichung weiterer Schriften Dunant selbst stand in dieser Zeit in einem Briefwechsel mit der österreichischen Pazifistin Bertha von Suttner, nachdem sie ihn in Heiden persönlich besucht hatte. Er verfasste auf ihre Anregung hin zahlreiche Artikel und Schriften, unter anderem in der von ihr herausgegebenen Zeitschrift Die Waffen nieder! einen Aufsatz unter dem Titel An die Presse. Darüber hinaus veröffentlichte er unter den Titeln Kleines Arsenal gegen den Militarismus beziehungsweise Kleines Arsenal gegen den Krieg auch Auszüge aus bisher unveröffentlichten Manuskripten. Beeindruckt vom Wirken Bertha von Suttners und Florence Nightingales gelangte er in dieser Zeit zu der Überzeugung, dass Frauen bei der Verwirklichung eines dauerhaften Friedens eine sehr viel grössere Rolle spielen würden als Männer. Eigennutz, Militarismus und Brutalität sah er in diesem Zusammenhang als typisch männliche Prinzipien, während er den Frauen Nächstenliebe, Einfühlungsvermögen und das Streben nach einer gewaltfreien Konfliktlösung zusprach. Basierend auf dieser Sichtweise setzte er sich auch verstärkt für die Gleichberechtigung der Frauen ein. 1897 regte er unter dem Namen „Grünes Kreuz“ die Gründung eines internationalen Frauenhilfsbundes an. Im Februar 1899 erschien im Vorfeld der ersten Haager Friedenskonferenz in der Deutschen Revue der Aufsatz Der Vorschlag Seiner Majestät des Kaisers Nikolaus II. Dies war Dunants letzter nennenswerter Versuch, zugunsten der damaligen Friedensbemühungen öffentlich Einfluss zu nehmen. Friedensnobelpreis Im Jahr 1901 erhielt Dunant für die Gründung des Roten Kreuzes und die Initiierung der Genfer Konvention den erstmals verliehenen Friedensnobelpreis. Mit folgendem Telegramm, das ihn am 10. Dezember dieses Jahres erreichte, teilte ihm das Nobelkomitee in Oslo die Entscheidung mit: Als Fürsprecher Dunants beim Nobelkomitee wirkte dabei der norwegische Militärarzt Hans Daae, dem Rudolf Müller ein Exemplar seines Buches zugeschickt hatte. Gemeinsam mit Dunant wurde der französische Pazifist Frédéric Passy mit dem Preis ausgezeichnet, der Gründer der ersten Friedensliga in Paris 1867 und mit Dunant gemeinsam in der Allianz für Ordnung und Zivilisation tätig. Die Glückwünsche, die ihm anlässlich der Preisverleihung vom Internationalen Komitee offiziell übermittelt wurden, bedeuteten nach 34 Jahren die späte Rehabilitierung und waren für ihn als Anerkennung seiner Verdienste für die Entstehung des Roten Kreuzes wichtiger als alle anderen Auszeichnungen, Preise, Ehrungen und Sympathiebekundungen. Für die Rotkreuz-Bewegung bedeutete der Preis eine wichtige Anerkennung ihrer Arbeit und der Bedeutung der Genfer Konvention in einer Atmosphäre stetig steigender Kriegsgefahr durch eine Verschärfung internationaler Spannungen sowie eine zunehmende militärische Aufrüstung. Sowohl Moynier als auch das Internationale Komitee waren ebenfalls für den Preis nominiert worden. Obwohl Dunant von einer ausgesprochen breiten Auswahl an Unterstützern vorgeschlagen worden war – darunter drei Professoren aus Brüssel und sieben Professoren aus Amsterdam, 92 Abgeordnete des schwedischen und 64 Abgeordnete des württembergischen Parlaments, zwei Minister der norwegischen Regierung sowie das Internationale Friedensbüro –, war er als Kandidat für den Preis nicht unumstritten. Man war geteilter Meinung über die Wirkung des Roten Kreuzes und der Genfer Konvention auf den Krieg: machten sie den Krieg nicht eher attraktiv und damit wahrscheinlicher, weil sie ihm einen Teil des mit Krieg verbundenen Leids und Schreckens nahmen? Rudolf Müller hatte sich in einem langen Brief an das Nobelkomitee für die Preisverleihung an Dunant ausgesprochen und dabei den Vorschlag unterbreitet, den Preis zwischen Frédéric Passy, der ursprünglich als alleiniger Preisträger vorgesehen war, und Dunant zu teilen. Da eine Verleihung des Preises an Dunant in späteren Jahren diskutiert wurde, verwies er dabei auch auf das fortgeschrittene Alter Dunants und dessen Gesundheitszustand. Die gemeinsame Verleihung des Preises an Passy und Dunant erfolgte auch vor dem Hintergrund einiger Differenzen, die damals trotz vieler Gemeinsamkeiten zwischen der Friedensbewegung und der Rotkreuzbewegung bestanden. Bereits mit der Entscheidung zur Teilung des ersten Friedensnobelpreises zwischen Passy, einem Pazifisten traditioneller Prägung und dem bekanntesten Vertreter der damaligen Friedensbewegung, und dem Humanisten Dunant, schuf das Nobelkomitee damit zwei wesentliche Kategorien von Gründen für die Verleihung, denen sich viele der späteren Preisträger zuordnen lassen. Auf der einen Seite steht die Verleihung an Menschen und später auch an Organisationen, die sich der Friedensarbeit im direkten Sinne widmeten und damit dem Teil des Testament Nobels entsprachen, der den Preis vorsieht für denjenigen, „der am meisten oder am besten für … die Abschaffung oder Verminderung der stehenden Heere sowie für die Bildung und Verbreitung von Friedenskongressen (gewirkt hat)“. Andererseits wurde, in der Tradition der Preisverleihung an Dunant, der Preis in der Folgezeit auch vergeben für herausragende Leistungen im humanitären Bereich. Dies folgt einer Argumentation, die humanitäres Wirken letztendlich auch als friedensstiftend ansieht und sich dabei auf eine breite Auslegung desjenigen Teils des Testament Nobels beruft, der den Preis bestimmt für den, „der am meisten oder am besten für die Verbrüderung der Völker gewirkt hat“. Hans Daae gelang es, Dunants Anteil des Preisgeldes in Höhe von 104.000 Schweizer Franken bei einer norwegischen Bank zu verwahren und so vor dem Zugriff durch dessen Gläubiger zu schützen. Dunant selbst tastete das Geld zeit seines Lebens nicht an. Lebensende Letzte Lebensjahre Neben einigen anderen Ehrungen, die ihm in den folgenden Jahren noch zuteilwurden, erhielt Dunant 1903 zusammen mit Gustave Moynier die Ehrendoktorwürde der Medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg. Zu einer Aussöhnung mit Moynier kam es aber nicht mehr. Dunant lebte bis zu seinem Tod weiter im Spital in Heiden. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er zunehmend in Depressionen. Bis an sein Lebensende fühlte er sich dadurch belastet, dass ihm eine vollständige Begleichung seiner Schulden nicht möglich war. Er litt unter Angst vor Verfolgung durch seine Gläubiger und seinen Widersacher Moynier. Es gab Tage, an denen der Koch des Spitals die Speisen für Dunant vor dessen Augen vorkosten musste. In seinen letzten Lebensjahren verachtete Dunant jegliche religiösen Institutionen und sagte sich vom Calvinismus wie von jeder anderen Form organisierter Religion los, sah sich aber weiterhin mit dem christlichen Glauben verbunden. Tod Den Angaben der ihn betreuenden Krankenschwestern zufolge war die letzte bewusste Handlung in Dunants Leben, dass er eine Ausgabe des Buchs Rudolf Müllers zusammen mit einer persönlichen Widmung an die italienische Königin Elena verschickte. Er starb in den Abendstunden des 30. Oktober 1910 gegen 22 Uhr und überlebte Moynier damit um etwa zwei Monate. Seine letzten Worte waren an Hermann Altherr gerichtet: „Ah, que ça devient noir!“ („Wie finster wird es um mich her!“) Gemäss diesen 1890 in einem Brief an Wilhelm Sonderegger formulierten Worten, für die in vielen Darstellungen seines Lebens fälschlicherweise sein Testament als Quelle genannt wird, wurde er drei Tage später unauffällig und ohne Trauerfeier auf dem Friedhof Sihlfeld in der Stadt Zürich bestattet. Zu den wenigen anwesenden Trauergästen zählten neben Hermann Altherr und Rudolf Müller einige Abgesandte von Rotkreuz-Vereinen aus der Schweiz und Deutschland sowie seine aus Genf angereisten Neffen. Am 9. Mai 1931 wurde in einer Weihefeier das vom Zürcher Bildhauer Hans Gisler geschaffene Grabdenkmal enthüllt. Testament Am 2. Mai und am 27. Juli 1910 hatte Dunant sein Testament verfasst. Damit stiftete er von dem bescheidenen Vermögen, das er zum Zeitpunkt seines Todes aufgrund des Nobelpreisgeldes und zahlreicher Spenden besass, ein Freibett im Spital in Heiden für die Kranken unter den armen Bürgern des Ortes. Darüber hinaus liess er einigen seiner engsten Freunde, unter anderem Rudolf Müller, Hermann Altherr und dessen Frau, sowie Mitarbeitern des Heidener Spitals, kleinere Geldsummen als Dank zukommen. Den Rest spendete er je zur Hälfte an gemeinnützige Organisationen in Norwegen und in der Schweiz und übertrug seinem Testamentsvollstrecker die Vollmacht, über die Auswahl der Empfänger zu entscheiden. Alle Bücher, Notizen, Briefe und sonstigen Schriftstücke in seinem Besitz sowie seine Auszeichnungen überliess er seinem in Genf lebenden Neffen Maurice Dunant. Sein für die Forschung aufschlussreicher Briefwechsel mit Rudolf Müller, der in über 500 Briefen insbesondere Erkenntnisse über Dunants Lebens ab 1877 erbrachte, wurde 1975 veröffentlicht. Rezeption und Nachwirkung Lebenswerk Die Tatsache, dass fast alle Ideen Henry Dunants im Laufe der Zeit realisiert wurden und zum grossen Teil noch heute relevant sind, zeigt, dass er mit vielen seiner Visionen seiner Zeit voraus war. Dies gilt neben der Begründung der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung und der Ausweitung der Aktivitäten des Internationalen Komitees auf die Kriegsgefangenen unter anderem auch für den Weltbund des Christlichen Vereins junger Männer, für die Gründung des Staates Israel, für die Schaffung einer Organisation zur Pflege des kulturellen Erbes der Menschheit in Form der UNESCO sowie für seinen Einsatz für die Befreiung der Sklaven in Nordamerika und für die rechtliche Gleichstellung der Frauen. Bei der Bewertung seiner Verdienste um die Gründung des Roten Kreuzes ist jedoch auch die Rolle seines Widersachers Gustave Moynier zu berücksichtigen. Dunant hatte durch sein Buch, sein charismatisches Auftreten und seine Aktivitäten im Vorfeld der Genfer Konferenz von 1863 zweifelsohne entscheidenden Anteil am Zustandekommen des Internationalen Komitees und der Genfer Konvention. In der Entstehungsgeschichte des Roten Kreuzes war er damit der Idealist, ohne dessen Ideen die historische Entwicklung nach der Schlacht von Solferino höchstwahrscheinlich einen anderen Verlauf genommen hätte. Erst seine zufällige Anwesenheit am Ort einer kriegerischen Auseinandersetzung wie viele andere der damaligen Zeit, die Verarbeitung seiner Erlebnisse in einem Buch und die darin durch ihn entwickelten Vorschläge gaben dem Ort Solferino und dem Jahr 1859 ihren heutigen Platz in der Geschichte. Auf der anderen Seite wäre dieser Erfolg kaum möglich gewesen ohne das pragmatische Wirken Moyniers, der zudem wesentlich für die Weiterentwicklung des Komitees nach seiner Gründung und die Ausweitung der Rotkreuz-Bewegung und ihrer Aktivitäten verantwortlich war. Wie sehr die Kombination aus dem Wirken beider Männer zum Erfolg beigetragen hatte, den das Rote Kreuz und die Genfer Konvention aus historischer Sicht darstellen, zeigte das Schicksal der Vorschläge Dunants zur Frage der Kriegsgefangenen. Rund zehn Jahre nach der Gründung des Internationalen Komitees und der Verabschiedung der Genfer Konvention wies die Entwicklung seines Einsatzes für die Kriegsgefangenen zunächst einige Parallelen zu den Ereignissen in den Jahren 1863 und 1864 auf. Auch wenn das letztendliche Scheitern mehrere Gründe hatte, so die Konkurrenz durch Alexander II. und dessen Brüsseler Konferenz von 1874, hätte eine erneute Zusammenarbeit Dunants und Moyniers möglicherweise mehr Erfolg gehabt. Eine juristische Lösung der Behandlung der Kriegsgefangenen wurde in Ansätzen erst 25 Jahre später in der Haager Landkriegsordnung von 1899 und 1907 sowie in vollem Umfang erst Jahrzehnte nach den Toden Dunants und Moyniers durch die Genfer Kriegsgefangenen-Konvention von 1929 beziehungsweise 1949 verwirklicht. Die Sichtweise, die Dunant und Moynier gleichermassen einen eigenen Anteil an der Entstehung der Rotkreuz-Bewegung zuweist und sowohl Dunants als auch Moyniers Wirken als Voraussetzung des Erfolges sieht, wird jedoch von einigen Autoren auch in Frage gestellt. Deren Meinung zufolge wären beide hinsichtlich ihrer Ideale und Charaktereigenschaften so verschieden gewesen, dass eine substantielle Zusammenarbeit für ein gemeinsames Ziel mit sich gegenseitig ergänzenden Aktivitäten praktisch ausgeschlossen gewesen sei. Eine entsprechende Darstellung der Geschichte des Roten Kreuzes basiert dieser Ansicht nach vielmehr auf Versuchen zur Beschönigung der Rolle Moyniers. Auszeichnungen und Würdigung Die Leistungen Henry Dunants wurden und werden bis in die Gegenwart in vielfältiger Weise gewürdigt. Herausragend aus der Vielzahl der Ehrungen, die ihm insbesondere in den letzten 15 Jahren seines Lebens verliehen wurden, ist dabei der Friedensnobelpreis. Sein Geburtstag, der 8. Mai, wird von der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung jährlich ihm zu Ehren als Weltrotkreuz- und Rothalbmond-Tag begangen. Am 29. Oktober, dem Tag vor seinem Todestag, erinnert die Evangelische Kirche in Deutschland mit einem Gedenktag im Evangelischen Namenkalender an ihn. Die alle zwei Jahre von der Ständigen Kommission der Internationalen Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung verliehene Henry-Dunant-Medaille ist die höchste Auszeichnung der Bewegung. Das Dunant-Denkmal auf dem Dunantplatz in Heiden wurde von Charlotte Germann-Jahn geschaffen. Es wurde am 28. Oktober 1962 eingeweiht, am Sonntag vor dem 52. Todestag Henry Dunants. Zum hundertjährigen Gründungsjubiläum des Internationalen Komitees im Jahr 1963 wurde auch in Dunants Heimatstadt Genf ein Denkmal zu seinen Ehren errichtet. Die Einweihung des von Jakob Probst geschaffenen Denkmals im Parc des Bastions fand an Dunants Geburtstag am 8. Mai statt. 1969 wurde das Henry-Dunant-Museum Heiden in dem ehemaligen Spital eröffnet, in dem Dunant zuletzt gelebt hatte. Im Oktober 1988 wurde in Genf das Internationale Rotkreuz- und Rothalbmondmuseum eröffnet, in dem zwei Räume der Schlacht von Solferino und der Gründung des Roten Kreuzes gewidmet sind. In Genf und mehreren Städten in anderen Ländern sind Strassen, Plätze, Schulen und andere Einrichtungen nach Dunant benannt. Der 1973 entdeckte Asteroid (1962) Dunant wurde nach ihm benannt; ebenso im Jahr 2014 die Dunantspitze, eine Spitze im Gipfelgrat des Monte Rosa, die nur zwei Meter niedriger ist als dessen Hauptgipfel. Literarische Darstellungen 1938 wurde Martin Gumperts Buch Dunant. Der Roman des Roten Kreuzes veröffentlicht, eine literarische Bearbeitung der Biografie Dunants. Zu den wichtigsten dokumentarischen Werken in deutscher Sprache gehört das zwischen 1962 und 1985 in mehreren Auflagen erschienene Buch J. Henry Dunant. Gründer des Roten Kreuzes, Urheber der Genfer Konvention von Willy Heudtlass und Walter Gruber. Dem Autor Willy Heudtlass war es unter anderem zum Beginn der 1960er Jahre möglich, zwei bis dahin unbekannte Briefarchive auszuwerten, die sich im Besitz der Nachfahren Rudolf Müllers und Hans Daaes befanden. In Eveline Haslers biographischem Roman Der Zeitreisende. Die Visionen des Henry Dunant (1994) wird das Leben Dunants aus der erzählerischen Perspektive eines anonymen Beobachters in einem Wechsel aus Erinnerungen und gegenwärtiger Schilderung der letzten Jahre seines Lebens dargestellt. Film Im Jahr 1948 erschien als französisch-schweizerische Co-Produktion ein 96 Minuten langer Kinofilm des Regisseurs Christian-Jaque mit dem Titel D’homme à hommes. Darsteller Dunants war der französische Schauspieler Jean-Louis Barrault. Eine deutschsprachige Fassung mit dem Titel Von Mensch zu Mensch lief 1964 in den Kinos der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). 1966 folgte der 50 Minuten Dokumentarfilm Von allen geehrt: Henry Dunant unter der Regie von Gaudenz Meili. 1998 produzierte das Henry-Dunant-Museum Heiden einen etwa 30-minütigen Dokumentarfilm mit dem Titel Henry Dunant (1828–1910). Der erste Fernsehfilm über Dunant hatte im Jahr 2006 Premiere: Henry Dunant – Rot auf dem Kreuz (französischer Originaltitel Henry Dunant: Du Rouge Sur La Croix) mit Thomas Jouannet in der Rolle des Henry Dunant. Der Spielfilm mit einer Laufzeit von etwa 98 Minuten entstand unter der Regie von Dominique Othenin-Girard in Zusammenarbeit zwischen Sendern und Produzenten der Länder Österreich, Schweiz, Frankreich, Algerien und Griechenland. Theater Als Theaterschauspiel umgesetzt wurde Dunants Lebensgeschichte durch Dieter Forte unter dem Titel Jean Henry Dunant oder Die Einführung der Zivilisation, erstmals aufgeführt am 30. März 1978 im Staatstheater Darmstadt. Werke (Auswahl) Notice sur la Régence de Tunis. Genf 1858. L’Empire de Charlemagne rétabli ou Le Saint-Empire romain reconstitué par sa Majesté L’Empereur Napoléon III. Genf 1859. Mémorandum au sujet de la société financière et industrielle des Moulins de Mons-Djémila en Algérie. Paris, undatiert (ca. 1859) Un Souvenir de Solférino. Genf 1862 L'Esclavage chez les musulmans et aux États-Unis d'Amérique. Genf 1863. La charité sur les champs de bataille. Genf 1864. Les prisonniers de guerre. Paris 1867. Bibliothèque internationale universelle. Paris 1867. An die Presse. In: Die Waffen nieder! Wien 1896, Nr. 9, S. 327–331. (Online bei ANNO) Kleines Arsenal gegen den Militarismus. In: Die Waffen nieder! Wien 1897, Nr. 5, S. 161–166; Nr. 6, S. 208–210; Nr. 8–9, S. 310–314. Kleines Arsenal gegen den Krieg. In: Die Waffen nieder! Wien 1897, Nr. 10, S. 366–370. Literatur Willy Heudtlass, Walter Gruber: J. Henry Dunant. Gründer des Roten Kreuzes, Urheber der Genfer Konvention. Eine Biographie in Dokumenten und Bildern. Vierte Auflage. Verlag Kohlhammer, Stuttgart 1985, ISBN 3-17-008670-7. Franco Giampiccoli, Elena Ascheri-Dechering (Übers.): Henry Dunant: Der Gründer des Roten Kreuzes. Aussaat, Neukirchen-Vluyn 2009, ISBN 978-3-7615-5722-8. Pierre Boissier: History of the International Committee of the Red Cross. Volume I: From Solferino to Tsushima. Henry Dunant Institute, Genf 1985, ISBN 2-88044-012-2. Caroline Moorehead: Dunant's Dream: War, Switzerland and the History of the Red Cross. HarperCollins, London 1999, ISBN 0-00-638883-3. André Durand: The First Nobel Prize (1901): Henry Dunant, Gustave Moynier and the International Committee of the Red Cross as Candidates. In: International Review of the Red Cross. 842/2001. IKRK, S. 275–285, . Angela Bennett: The Geneva Convention: The Hidden Origins of the Red Cross. Sutton Publishing, Gloucestershire 2005, ISBN 0-7509-4147-2. Raimonda Ottaviani, Duccio Vanni, M. Grazia Baccolo, Elizabeth Guerin, Paolo Vanni: Rewriting the Biography of Henry Dunant, the Founder of the International Red Cross. In: Vesalius – Acta Internationalia Historiae Medicinae. 11(1)/2005. International Society for the History of Medicine, S. 21–25. Hans Amann: Henri Dunant: Das Appenzellerland als seine zweite Heimat. (= Das Land Appenzell. Heft 23). Appenzeller Verlag, Herisau 2008, ISBN 978-3-85882-118-8. Report of Charles S.P. Bowles, Foreign Agent of the United States Sanitary Commission, Upon the International Congress of Geneva, for the Amelioration of the Condition of the Sick and Wounded Soldiers of Armies in the Field, Convened at Geneva, 8th August. Franklin Classics, 2018, ISBN 978-0484411219. Weiterführende Veröffentlichungen Lisette Bors: Wer ist Henry Dunant? Zwei Kinder entdecken die Geschichte Henry Dunants und des Roten Kreuzes. Kinder- und Jugendbuch. Verlag Zeit-Fragen, Zürich 2010, ISBN 978-3-909234-08-0. Felix Christ: Henry Dunant. Leben und Glauben des Rotkreuzgründers. Friedrich Wittig Verlag, Hamburg 1983, ISBN 3-85740-092-7. Marc Descombes: Henry Dunant: Finanzmann – Phantast – Gründer des Roten Kreuzes. Schweizer Verlagshaus, Zürich 1988, ISBN 3-7263-6554-0. Emanuel Dejung: Die zweite Wende im Leben Henry Dunants 1892–1897: Sein Briefwechsel mit der Sektion Winterthur vom Roten Kreuz. (= Neujahrsblatt der Stadtbibliothek Winterthur. Band 294). Winterthur 1963. Elke Endraß: Der Wohltäter. Warum Henry Dunant das Rote Kreuz gründete. Wichern Verlag, Berlin 2010, ISBN 978-3-88981-288-9. Eveline Hasler: Der Zeitreisende. Die Visionen des Henry Dunant. Verlag Nagel & Kimche, Zürich 1994, ISBN 3-312-00199-4. Martin Gumpert: Dunant. Der Roman des Roten Kreuzes. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt 1987, ISBN 3-596-25261-X. Werner Legère: Der Ruf von Castiglione. Henri Dunant, ein Leben im Dienste der Menschlichkeit. Achte Auflage. Evangelische Verlagsanstalt, Berlin 1978. Gabriel Mützenberg: Henry Dunant, le prédestiné. Du nouveau sur la famille, la jeunesse, la destinée spirituelle du fondateur de la Croix-Rouge. Robert-Estienne, Genève-Acacias 1984. Daniel Regli: Die Apokalypse Henry Dunants. Das Geschichtsbild des Rotkreuzgründers in der Tradition eschatologischer Naherwartung. Peter Lang, Bern 1984, ISBN 3-906752-72-0. Dieter und Gisela Riesenberger: Rotes Kreuz und Weiße Fahne: Henry Dunant 1828–1910. Der Mensch hinter seinem Werk. Donat Verlag, Bremen 2010, ISBN 978-3-938275-83-2. Yvonne Steiner: Henry Dunant. Biographie. Appenzeller Verlag, Herisau 2010, ISBN 978-3-85882-537-7. Philipp Osten: Die Stimme von Solferino – Telegrafie und Militärberichterstattung. Eine Presseschau. In: Wolfgang U. Eckart, Philipp Osten: Das Rote Kreuz und die Erfindung der Menschlichkeit im Kriege. (= Neuere Medizin- und Wissenschaftsgeschichte. Band 20). Centaurus Verlag, Freiburg 2011, ISBN 978-3-86226-045-4. Weblinks Société Henry Dunant Website der schweizerischen Henry-Dunant-Gesellschaft (französisch) Henry Dunant auf ICRC (englisch) Henry-Dunant-Museum Website des Dunant-Museums in Heiden AR, Schweiz Anmerkungen und Einzelnachweise Gründer einer Organisation Person (Internationales Komitee vom Roten Kreuz) Person des evangelischen Namenkalenders Person (Schweizer Geschichte) Evangelikaler Friedensnobelpreisträger Träger des Ordens der hl. Mauritius und Lazarus (Ausprägung unbekannt) Mitglied der Ehrenlegion (Ritter) Ehrendoktor der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Person (Christlicher Verein Junger Menschen) Person als Namensgeber für einen Asteroiden Person (Genf) Person (humanitäre Hilfe) Humanist Schweizer Geboren 1828 Gestorben 1910 Mann Autor
110717
https://de.wikipedia.org/wiki/Preu%C3%9Fische%20Reformen
Preußische Reformen
Als Preußische Reformen oder Stein-Hardenbergsche Reformen werden die in den Jahren 1807–1815 eingeleiteten Reformen bezeichnet, die die Grundlage für den Wandel Preußens vom absolutistischen Stände- und Agrarstaat zum aufgeklärten National- und Industriestaat schufen. Der Zusammenbruch Preußens 1806/1807 nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt sowie dem Frieden von Tilsit zwang König Friedrich Wilhelm III. zu Reformen, die seine Minister Karl Freiherr vom Stein und Karl August von Hardenberg als „Revolution von oben“ einleiteten. Die erste Säule der Erneuerungen bildeten die Befreiung der Bauern, die Gleichstellung der Bürger, die Selbstverwaltung der Städte durch gewählte Volksvertreter, die Neuordnung der Staatsverwaltung durch verantwortliche Fachminister, die Einführung der Gewerbefreiheit und die Gleichberechtigung der Juden. Die zweite Säule umfasste die Bildungsreform, für die Wilhelm von Humboldt verantwortlich war. Er erneuerte das Bildungswesen im Sinne des Humanismus, setzte die allgemeine Schulpflicht durch und gründete die Berliner Universität. Die dritte Säule bildete die Heeresreform, die Gerhard von Scharnhorst, August Neidhardt von Gneisenau und Hermann von Boyen einleiteten. Sie modernisierten die Preußische Armee, schafften die Prügelstrafe für Soldaten ab und führten die allgemeine Wehrpflicht ein. In der Geschichtswissenschaft werden die Preußischen Reformen insgesamt als erfolgreich bewertet. Sie ermöglichten nicht nur die Befreiungskriege von 1813–1815, sondern schufen auch die Voraussetzungen für die Märzrevolution von 1848/1849. Anlass, Ziele und Grundsätze Der Zusammenbruch und das Ziel der „Reform von oben“ Die Niederlage von 1806 war nicht nur eine Folge falscher Entscheidungen oder des militärischen Genies Napoleons, sondern hatte auch innerpreußische strukturelle Gründe. Preußen war im 18. Jahrhundert der klassische Staat des aufgeklärten Absolutismus in Deutschland. Ständische und andere partikulare Gewalten wie im Westen und Süden gab es kaum noch. Zur Zeit Friedrichs II. († 1786) war Preußen ein vergleichsweise fortschrittliches und reformorientiertes Land. Insbesondere nach dessen Tod begann das absolutistische System zu erstarren und die Reformen blieben stecken oder waren ambivalent. Das gilt insbesondere für die ausbleibende soziale Modernisierung. Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 zielte zwar auf die Bindung von Staat und staatsbürgerlicher Gesellschaft an Gesetz und Recht ab, fixierte aber gleichzeitig die feudale Ordnung insgesamt. Zwar wurde auf den Staatsdomänen die Leibeigenschaft abgeschafft, nicht aber auf den ostelbischen Großgrund- und Adelsgütern. Die Reformbedürftigkeit des preußischen Staates war für viele Beobachter und hohe Beamte schon vor dem Krieg von 1806 offensichtlich und fand sich auch in Denkschriften Steins und Hardenbergs wieder. Friedrich Wilhelm III. entließ Stein daraufhin im Januar 1807 aus seiner Stellung als Wirtschafts- und Finanzminister. Der völlige Zusammenbruch Preußens infolge der Niederlage gegen Napoleon bei Jena und Auerstedt machte die notwendigen Reformen aber schließlich unvermeidbar. Im Frieden von Tilsit verlor das Land etwa die Hälfte seiner Fläche. Dazu gehörten vor allem die Gebiete westlich der Elbe und die bei den letzten polnischen Teilungen annektierten Territorien. Damit war der altpreußische Staat faktisch untergegangen. In dieser Situation gewannen die Reformer in der Bürokratie und im Militär die Oberhand über die konservativen und restaurativen Teile der Bürokratie und über den Adel. Einen erheblichen Einfluss übte die idealistische Philosophie in der Nachfolge von Immanuel Kant auf die Hauptakteure aus. Die Ziele der Reformer definierte die Rigaer Denkschrift von 1807. Formuliert wurde diese im Wesentlichen von Barthold Georg Niebuhr, Karl vom Stein zum Altenstein und Theodor von Schön für Hardenberg. Sie konstatierten, dass die Revolution den Franzosen einen ganz neuen Schwung gegeben habe. „Alle schlafenden Kräfte wurden geweckt, das Elende und Schwache, veraltete Vorurteile und Gebrechen wurden zerstört.“ Auch Preußen bleibe nichts anderes übrig, als sich tiefgreifend zu reformieren. Der „Wahn, dass man der Revolution am sichersten durch Festhalten am Alten und durch strenge Verfolgung der durch solche geltend gemachten Grundsätze entgegen streben könne, hat besonders dazu beigetragen, die Revolution zu befördern und derselben eine stets wachsende Ausdehnung zu geben. Die Gewalt dieser Grundsätze ist so groß, sie sind so allgemein anerkannt und verbreitet, dass der Staat, der sie nicht annimmt, entweder seinem Untergange, oder der erzwungenen Annahme derselben, entgegensehen muss; Ja selbst die Raub- und Ehr- und Herrschsucht Napoleons und seiner begünstigten Gehilfen ist dieser Gewalt untergeordnet und wird es gegen ihren Willen bleiben. Es lässt sich auch nicht leugnen, dass unerachtet des eisernen Despotismus, womit er regiert, er dennoch in vielen wesentlichen Dingen jene Grundsätze befolgt, wenigstens ihnen dem Schein nach zu huldigen genötigt ist.“ Daraus folgerten die Autoren: „Also eine Revolution im guten Sinn, gemach hin führend, zu dem großen Zwecke der Veredlung der Menschheit, durch Weisheit der Regierung und nicht durch gewaltsame Impulsion von Innen oder Außen – das ist unser Ziel, unser leitendes Prinzip. Demokratische Grundsätze in einer monarchischen Regierung: diese scheint mir die angemessene Form für den gegenwärtigen Zeit-Geist. Die reine Demokratie müssen wir noch dem Jahre 2440 überlassen, wenn sie anders je für den Menschen gemacht ist.“ Mit Blick auf die Niederlage von 1806 ging auch Friedrich Wilhelm III. davon aus, dass Preußen nur bei grundlegenden Reformen in Staat und Gesellschaft weiter bestehen könne. Napoleon selbst war es, der den König veranlasste, Stein im September 1807 in die Regierungsspitze zurückzuholen, weil er ihn fälschlicherweise für einen Befürworter seiner Politik hielt. Auch die Reformpartei in Preußen setzte sich für die Berufung Steins ein. Dieser selbst stellte allerdings schwerwiegende Bedingungen, die vom König im Vorfeld die Zustimmung zu wesentlichen Reformschritten verlangten. Dazu gehörte die Abschaffung des königlichen Kabinettsystems. Die Regierung sollte nur durch die Minister erfolgen, die ein unmittelbares Vortragsrecht beim König haben sollten. Stein, der konzeptionell für kollegiale Führungsstrukturen plädierte, verlangte und erhielt von Friedrich Wilhelm III. die Position eines leitenden Ministers. Direkte Weisungsbefugnis hatte er dabei für die Zivilverwaltung. Gegenüber den anderen Ressorts verfügte Stein über Kontrollrechte. Als Napoleon merkte, dass ihm in Stein ein ernsthafter Gegner erwachsen war, tat er alles, um diesen auszuschalten. Letztlich war Stein gezwungen, Preußen zu verlassen. So hatte er nur etwas mehr als ein Jahr bis November 1808 Zeit für seine Reformpolitik. Die politischen Konzepte von Stein und Hardenberg Stein und Hardenberg prägten nicht nur nacheinander die politische Richtung, sie standen auch für zwei tendenziell unterschiedliche Ansätze. Anders als die Reformen in den Rheinbund­staaten war Steins Ansatz eher antiaufklärerisch, traditionalistisch und knüpfte an adelige Absolutismuskritik und an englische Vorbilder, insbesondere die Glorious Revolution von 1688, an. Er stand den zentralistischen Bürokratien skeptisch gegenüber und trat für Kollegialität in der Verwaltung und für Dezentralisierung ein. Gemeinsam mit anderen führenden Reformköpfen verfolgte er „eine Politik der defensiven Modernisierung, nicht mit, sondern gegen Napoleon.“ Hardenberg, der Stein ablöste, allerdings auch sein Vorgänger gewesen war, war dagegen mehr von den Traditionen der Aufklärung geprägt. Er nahm stärker als Stein die Prinzipien der französischen Revolution und Anregungen der napoleonischen Herrschaftspraxis auf. Im Gegensatz zu Stein war er Etatist. Er strebte eine Stärkung des Staates durch eine straffe und zentral organisierte Verwaltung an. Gleichwohl bedeuteten diese Unterschiede nur eine gewisse Akzentverschiebung innerhalb der Reformkräfte. Die Initiativen hingen zeitlich, inhaltlich und von ihren Zielen her zusammen, so dass der Begriff Stein-Hardenbergsche Reformen tatsächlich gerechtfertigt ist. Zentrale Handlungsfelder Im Kern waren die „organischen Reformen“ eine Synthese aus Altem und Fortschrittlichem. Es galt, die inzwischen wenig effektiven Strukturen des absolutistischen Staates aufzubrechen. Stattdessen sollte ein Staat mit Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger auf der Grundlage von persönlicher Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz entstehen. Hauptziel der Staatsführung war es, durch eine Erneuerung von Innen den Weg zur Befreiung von der faktischen französischen Oberherrschaft und den Wiederaufstieg zur Großmacht zu ermöglichen. Ein zentraler Punkt waren die Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger im Staat durch Einführung der Selbstverwaltung in Provinzen, Kreisen und Kommunen. Nach der Nassauer Denkschrift Steins war das Ziel: „Belebung des Gemeingeistes und des Bürgersinns, die Benutzung der schlafenden und falsch geleiteten Kräfte und zerstreut liegenden Kenntnisse, der Einklang zwischen dem Geist der Nation, ihren Ansichten und Bedürfnissen und denen der Staatsbehörden, die Wiederbelebung der Gefühle für Vaterland, Selbständigkeit und Nationalehre.“ Aus den Untertanen sollten Staatsbürger werden, die die Sache des Staates vertreten sollten. Teilweise waren allerdings die Pflichten von größerer Bedeutung als die Rechte. Außerdem gründeten Steins Vorstellungen von Selbstverwaltung noch auf ständischen Grundlagen. Letztlich kam es zu einem Kompromiss zwischen den Vorstellungen eines modernen Repräsentativsystems und ständischen Aspekten. An die Stelle der alten ständischen Gliederung von Geistlichkeit, Adel und Bürgertum traten nun Adel, Bürgertum und Bauern. Das Wahlrecht sollte ausgeweitet werden und auch freie Bauern umfassen. Dieser letzte Punkt war daher eine Grundlage der Bauernbefreiung. Außerdem war die Neuordnung der Verhältnisse auf dem Lande neben den Gewerbereformen auch Teil der Liberalisierung der preußischen Wirtschaft. In diesem Punkt gingen die Reformen in Preußen deutlich weiter als in den Rheinbundstaaten und waren letztlich auch erfolgreicher. Der unmittelbare Anstoß für Veränderungen in diesem Bereich war die Finanzkrise des preußischen Staates nach 1806. Dazu trugen die Kontributionen, Besatzungskosten und sonstigen kriegsbedingten Ausgaben erheblich bei. Insgesamt musste Preußen 120 Millionen Franc an Frankreich zahlen. Die Bauernbefreiung, die Gewerbefreiheit und andere Maßnahmen sollten wirtschaftliche Hemmnisse beseitigen und die freie Konkurrenz im Wirtschaftsleben durchsetzen. Die preußischen Reformer orientierten sich dabei stärker als die süddeutschen am Wirtschaftsliberalismus, wie ihn Adam Smith vertrat und wie ihn Theodor von Schön oder Christian Jakob Kraus propagierten. Dabei stand allerdings nicht die Förderung einer noch kaum vorhandenen Industrie im Vordergrund, sondern vielmehr die teils krisenhafte Lage der Landwirtschaft. Auch die Gewerbefreiheit zielte vor allem auf die Beseitigung von Schranken für die ländliche Gewerbetätigkeit. Die Reformpolitik im Überblick In der kurzen Zeit, in der Stein die leitende Position innehatte, wurden die entscheidenden Gesetze erlassen, auch wenn das Organisationsgesetz über die Staatsverwaltung erst 1808 nach seinem Sturz veröffentlicht wurde. In Steins Amtszeit fielen das Oktoberedikt von 1807 zur Bauernbefreiung und die Städteordnung von 1808. Nach einer kurzen Zwischenphase unter Karl vom Stein zum Altenstein übernahm Hardenberg die Führung der Politik. Seit 1810 trug er den Titel eines Staatskanzlers; dieses Amt bekleidete er bis 1822. In seine Amtszeit fallen die Vollendung der Agrarreform mit den Regulierungsedikten von 1811 und 1816 sowie der Ablöseordnung von 1821. Hinzu kamen Gesetze zur Gewerbereform. Dazu gehörten insbesondere das Gewerbesteueredikt vom 2. November 1810 und das Gewerbepolizeigesetz von 1811. Im Jahr 1818 folgten Zollgesetze zur Aufhebung der Binnenzölle. Zu den gesellschaftlichen Reformen gehörte das Emanzipationsedikt von 1812 für die jüdischen Staatsbürger. Trotz unterschiedlicher Ausgangslage und Zielsetzung gab es vergleichbare Reformen auch in den Rheinbundstaaten, was jedoch kaum für die Militär- und Bildungsreformen gilt. Im Zuge restaurativer Tendenzen wurde die Reformpolitik in Preußen 1819/20 abgebrochen. Kernpunkte der vollzogenen Reformen blieben jedoch erhalten. Den Zusammenhang des Reformkomplexes verdeutlichte Gneisenau mit der Aussage, Preußen müsse sich auf „den dreifachen Primat der Waffen, der Wissenschaft und der Verfassung“ gründen. Staats- und Verwaltungsreformen Bürokratie und Staatsführung Die Reform von Verwaltung und Staatsstruktur hatte für die Reformkräfte besonders hohe Priorität. Einen preußischen Staat hat es vor 1806 eigentlich nicht gegeben, sondern es gab verschiedene Länder, Provinzen und Staaten, die zu einem beträchtlichen Teil nur von der Person des Königs zusammengehalten wurden. Eine einheitliche Verwaltung gab es nicht. Es existierten eine Reihe teilweise sachbezogener und teilweise provinzbezogener Behörden, deren Koordination nur schwach ausgeprägt war. So fehlte etwa ein fundierter Gesamtüberblick über die Finanzsituation. Es gab zwar Minister, aber neben diesen stand das Kabinett des Königs. Auf den Rat der dort vertretenen persönlichen Berater und Kabinettsräte stützten sich meist die königlichen Entscheidungen. Mit Beginn der Ära Steins wurde aus den preußischen Staaten ein einheitlicher preußischer Staat. Auch das alte Kabinettsystem wurde beseitigt. An die Stelle unklar abgegrenzter Oberbehörden wie dem Generaldirektorium trat 1808 ein nach dem Ressortprinzip klar gegliedertes Staatsministerium. Die Minister etwa für Inneres, Äußeres, Finanzen, Justiz und Krieg waren dem König verantwortlich. Die Veränderungen gingen in ihrer Bedeutung über die Schaffung einer effektiveren Staatsführung deutlich hinaus. Der preußische Spätabsolutismus wurde nun durch eine bürokratisch-monarchische Doppelherrschaft abgelöst. In dieser hatten die Minister eine starke Stellung. In der Reformära überflügelten sie sogar den Einfluss des Königs. Dieser konnte nur noch mit seinen Ministern und durch sie regieren. Zu Steins Zeiten war das Staatsministerium kollegial organisiert, es gab keinen ersten Minister. Dies änderte sich unter Hardenberg, der das Amt eines Staatskanzlers innehatte und als solcher den Zugang der Minister zum König kontrollierte. Auch unterhalb der Staatsspitze kam es zu weitgehenden Veränderungen. Preußen wurde 1815 in 10 Provinzen und 25 Regierungsbezirke eingeteilt. Die Regierungen waren wie die Staatsministerien in Ressorts gegliedert. Im Unterschied zu den Rheinbundstaaten hatten die Regierungspräsidenten keine umfassenden Kompetenzen, sondern sie standen jeweils als primus inter pares einem auf Diskussion und Konsensfindung angelegten Regierungskollegium vor. Auch Justiz und Verwaltung wurden in diesem Zusammenhang endgültig getrennt. Dabei stand den Betroffenen bei Verwaltungsakten zwar ein Einspruchsrecht zu. Darüber entschieden wurde aber innerhalb der Bürokratie; eine juristische Kontrolle der Verwaltung gab es nicht. Allerdings bedeutete die weiter verstärkte Verschriftlichung, die Niederlegung der Vorgänge in Akten, eine weitere Einschränkung informellen Verwaltungshandelns. Die innere Organisation der Verwaltung wurde später Vorbild für andere deutsche Staaten und für Großunternehmen. In der Reformzeit erfuhr das Berufsbeamtentum, wie es seitdem nur wenig verändert in Deutschland besteht, seine wesentliche Ausprägung. Der Staat zahlte den Beamten auf Lebenszeit ein regelmäßiges und auskömmliches Gehalt. Damit wurden diese von Nebeneinkünften unabhängiger und weniger anfällig für Bestechungen. Im Zusammenhang mit der Gewährung einer lebenslangen Absicherung verlangte der Dienstherr aber auch eine unbedingte Treue und Hingabe. Privilegierung und Disziplinierung waren eng verbunden. Es entstanden Laufbahnvorschriften, Dienstpläne, an bestimmte Bildungsabschlüsse gebundene Einstellungsvoraussetzungen und Prüfungsordnungen. Damit verstärkte sich die Konkurrenz unter den Bewerbern. Gleichzeitig wurden Einstellungen von objektiven Kriterien und nicht mehr von der Gunst des Entscheidungsträgers abhängig. Außerdem wurde durch diese Praxis das Leistungsprinzip gestärkt. Dem konnten sich auch die adeligen Anwärter auf höhere Beamtenstellen nicht mehr entziehen. Diese Modernisierung der Verwaltung wurde allerdings in den folgenden Jahrzehnten und vor allem im Vormärz von der liberalen Öffentlichkeit immer mehr als eine alles durchdringende Bürokratisierung kritisiert. Ein wichtiges Ziel der Reformer war nicht zuletzt die verwaltungsrechtliche Durchdringung des gesamten Landes. Insbesondere auf dem Land gab es neben dem Staat bislang noch adelige Partikularrechte, die dies verhinderten. Mit dem Gendarmerie-Edikt von 1812 wurden Landkreise als einheitliche Verwaltungseinrichtungen für Gebietseinheiten aus Dörfern, kleineren Städten und Gutsbezirken geschaffen. Die Kreise wurden anfangs direkt in die staatliche Kontrolle eingebunden. An der Spitze standen nicht mehr adelige Landräte, sondern ernannte Kreisdirektoren mit weitreichenden Vollmachten. Als Vertreter der Bevölkerung kamen sechs Kreisdeputierte hinzu. Die Patrimonialgerichte des Adels wurden durch die staatliche Gerichtsverwaltung ersetzt. Auch die polizeilichen Rechte der Gutsherren wurden durch Einführung der Gendarmerie eingeschränkt. Die Kreisreform war einer der tiefgreifendsten Angriffe der Reformer auf Adelsprivilegien. Letztlich ist sie daher auch in weiten Teilen am erbitterten Widerstand der Aristokratie gescheitert. Sie konnte im Jahr 1816 durchsetzen, dass der Landrat, der nun wieder die führende Position einnahm, in der Regel aus den Reihen der eingesessenen Gutsbesitzer kommen sollte. Dies führte letztlich dazu, die Stellung des Adels auf dem Land zu stärken. Gesamtstaatliche Repräsentation? Neben dem Staatsministerium plante Stein auch die Einrichtung eines Staatsrates. Mitglieder sollten amtierende und ehemalige Minister sein. Hinzu kamen weitere hohe Beamte, die Prinzen des Königshauses und vom König ernannte Personen. Das Gremium war als eine Art Ersatzparlament mit recht weitgehenden Entscheidungsrechten konzipiert. Als Bastion der Bürokratie sollte der Staatsrat einen Rückfall in den Absolutismus und das Erstarken feudaler Interessen verhindern. Bereits 1808 hat sich gezeigt, dass der Staatsrat nur unzureichend funktionierte. Hardenberg stufte ihn 1810 dann zu einem Beratungsgremium zurück. Gewissermaßen analog zu der Einführung der Selbstverwaltung der Städte plante Hardenberg eine gesamtstaatliche Nationalrepräsentation. Auch diese Pläne sahen eine Mischung von ständischen und repräsentativen Elementen vor. Eine erste Versammlung von Notabeln trat 1811 zusammen, eine zweite folgte 1812. Diese setzte sich auf ständischer Grundlage aus achtzehn adeligen Gutsherren, zwölf städtischen Grundbesitzern und neun Bauernvertretern zusammen. Der Grund für die ständische Zusammensetzung war neben eher theoretischen Präferenzen auch ganz praktischer, insbesondere fiskalischer Art. Um die hohen Kriegskontributionen zahlen zu können, war der Staat in hohem Maße auf Kredite des Adels angewiesen. Ausländische Kredite dagegen waren nur dann zu erhalten, wenn die Stände für die Rückzahlung hafteten. Nach der Einberufung der provisorischen Versammlungen zeigte sich bald, dass die Deputierten keineswegs nur das Gesamtinteresse des Staates im Auge hatten, sondern auch die Interessen ihres Standes durchsetzen wollten. Vor allem der Adel, der durch die Reformen seine Vorrechte in Gefahr sah, versuchte die Versammlungen als Waffe der Opposition gegen die Veränderungen zu nutzen. An ihrer Spitze standen Friedrich August Ludwig von der Marwitz und Friedrich Ludwig Karl Finck von Finckenstein. Deren Widerstand ging so weit, dass die Regierung sie sogar zeitweise verhaften ließ. Der Historiker Reinhart Koselleck hat die These vertreten, dass bei der endgültigen Etablierung einer ständischen Nationalrepräsentation weitere Reformen unmöglich gewesen wären. Am Ende der Reformen standen Kreise und Provinzvertretungen (Provinziallandtage) auf ständischer Grundlage und eine vergleichbare städtische Selbstverwaltung. Dass die Schaffung einer Nationalrepräsentation gescheitert ist, hatte erhebliche Folgen für die weitere innere Entwicklung Preußens und des Deutschen Bundes. Während sich die süddeutschen Rheinbundstaaten zu Verfassungsstaaten entwickelten, blieb Preußen bis 1848 ohne ein gesamtstaatliches Parlament. Städtereform Die Städte im ostelbischen Preußen wurden bis in die Reformzeit direkt vom Staat kontrolliert. Wo es dem Namen nach noch Selbstverwaltungsorgane gab, hatten diese kaum Einfluss oder waren sinnentleert. Stein knüpfte mit der „Ordnung für sämtliche Städte der preußischen Monarchie“ vom 19. November 1808 in Teilen an diese älteren Traditionen an, indem Sonderrechte beseitigt wurden und alle Städte derselben Ordnung unterworfen wurden. Auch städtische Resthoheiten etwa im Polizei- und Gerichtswesen wurden aufgehoben. Im Zentrum der Kommunalreform von 1808 stand das Ideal der Selbstverwaltung. Die Städte sollten nunmehr nicht mehr ausschließlich dem Staat untergeordnet sein, sondern die Bürger sollten über ihre Angelegenheiten bestimmen können. In diesem Bereich kam Steins Ablehnung einer zentralen Bürokratie am deutlichsten zum Ausdruck. Stein hoffte außerdem auf einen erzieherischen Effekt. Die Selbstverwaltung sollte das Interesse an öffentlichen Angelegenheiten wecken, was letztlich auch dem Gesamtstaat zugutekommen sollte. Johann Gottfried Frey, auf die wesentlichen Teile der Reform zurückgehend, schrieb: „Zutrauen veredelt den Menschen, ewige Vormundschaft hemmt sein Reifen.“ Die Stadtverordneten waren Repräsentanten der gesamten Gemeinde und nicht einer ständischen Gruppe. Das Wahlrecht war dabei an einen vergleichsweise niedrigen Zensus gebunden. Die Stadtverordneten konnten von allen Bürgern mit Besitz von Grund und Boden, Inhabern eines Gewerbebetriebes, mit einem Einkommen von mindestens 200 Talern in den größeren Städten, in den übrigen kleineren Städten von 150 Talern oder gegen eine Gebühr gewählt werden. Das aktive und passive Wahlrecht der Bürger bedeutete auch die Pflicht, städtische Lasten mitzutragen und öffentliche Stadtämter unentgeltlich zu übernehmen. Wer dem nicht nachkam, konnte sein Stimmrecht verlieren und verstärkt mit städtischen Lasten belegt werden. In Abhängigkeit von der Größe der Stadt sollten 24 bis 102 Stadtverordnete für jeweils drei Jahre ohne Rücksicht auf Zünfte und Korporationen gewählt werden. Zwei Drittel der Stadtverordneten mussten Hausbesitzer in ihrem Wahlbezirk sein. Die erste Berliner Stadtverordnetenversammlung von 1809 umfasste 102 Abgeordnete. Zu den wichtigsten Aufgaben der Stadtverordneten gehörte die Wahl des Magistrats. Dieser war das kollegial organisierte Vollzugsorgan der Stadtverwaltung. An der Spitze stand der Bürgermeister, dessen Wahl wie die der Magistratsmitglieder von der Staatsregierung bestätigt werden musste. Für die verschiedenen Verwaltungsbereiche wurden Kommissionen eingesetzt. Die zentrale Aufgabe der Selbstverwaltung ergab sich aus der Verantwortung für den städtischen Haushalt. Die Polizei ging als Auftragsverwaltung erneut in den Aufgabenbereich der Kommunen über. Trotz dieser Ansätze einer Repräsentativverfassung gab es weiterhin ständische Elemente. So blieb die Unterscheidung in unterschiedliche Gruppen bestehen. Die vollen Rechte blieben den Bürgern vorbehalten. Zum Erwerb des Bürgerrechts verpflichtet waren Grundeigentümer und Gewerbetreibende. Grundsätzlich stand das Bürgerrecht auch anderen offen. Dazu zählten die städtischen Unterschichten, die im Allgemeinen Landrecht als Schutzverwandte bezeichnet wurden, und die Eximierten. Dies waren im Landrecht Gebildete und meist im Staatsdienst stehende Personen, die vor der Reformzeit nicht der städtischen, sondern der staatlichen Gerichtsbarkeit unterlagen. Von dem Recht zum Erwerb der städtischen Bürgerrechte konnten aber wegen der damit verbundenen Kosten insbesondere die unteren Schichten und ärmeren Eximierten nur selten Gebrauch machen. Erst in der revidierten Städteordnung von 1831 gab es Ansätze, an Stelle der Bürgergemeinde die Einwohnergemeinde zu setzen. Insgesamt lag die Selbstverwaltung bis in den Vormärz hinein in den Händen der in den Städten ansässigen Handwerker und Kaufleute. In den großen Städten machten die Vollbürger und ihre Familien etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung aus. Trotz dieser Einschränkungen waren die Reformen ein Schritt auf dem Weg zur modernen kommunalen Selbstverwaltung. Die tatsächliche Einführung der revidierten Städteordnung brauchte noch mehrere Jahre, in Münster beispielsweise erfolgte sie 1835, in den Kleinstädten des Regierungsbezirks Münster 1837. Der Versuch, vergleichbare Strukturen wie in der Stadt auch in den Landgemeinden einzuführen, scheiterte am Widerstand des Adels. Steuer- und Zollreform Die Steuerreform war ein zentrales Problem der Politik während der Reformzeit, galt es doch die hohen Kontributionen für Napoleon aufzubringen. Insbesondere die Anfänge der Amtszeit Hardenbergs waren davon geprägt. Ihm gelang es mit Hilfe von Steuererhöhungen über Domänenverkäufe bis hin zu Schuldenaufnahme und anderen Maßnahmen, den Staatsbankrott abzuwenden und eine Papiergeldinflation zu verhindern. Aus diesen akuten Finanzproblemen erwuchs eine allgemeine Steuerreform. Es ging dabei darum, eine Vereinheitlichung der Steuern über das ganze Staatsgebiet zu erreichen. Außerdem sollte das Steuerrecht durch den Aufbau einiger weniger Hauptsteuern anstelle zahlreicher Einzelsteuern vereinfacht werden. Ein weiterer Punkt war die steuerrechtliche Gleichbehandlung aller Staatsbürger. Diese richtete sich de facto gegen die Privilegien des Adels. Das ambitionierte Konzept ließ sich allerdings nur teilweise verwirklichen. Gelungen war es 1818, die Verbrauchssteuern, die zuvor nur für die Städte galten, landesweit einzuführen und dabei auf wenige zu besteuernde Güter zu beschränken. Hinzu kamen Steuern auf einige Luxusgüter. Im gewerblichen Bereich wurde anstelle zahlreicher früherer Abgaben eine progressiv gestaffelte Gewerbesteuer eingeführt. Gescheitert war dagegen faktisch eine auch den Adel einbeziehende Grundsteuer. Immerhin gelang es, Einkommens- und Vermögenssteuern – freilich auf der Basis der Selbsteinschätzung – einzuführen. Die Proteste dagegen führten 1820 zur sogenannten Klassensteuer als einer Art Zwischenform zwischen Kopf- und Einkommensteuer. Den Städten blieb die Möglichkeit, als indirekte Steuer an der Mahl- und Schlachtsteuer festzuhalten. Insgesamt blieben die Ergebnisse der Steuerpolitik widersprüchlich. Durch die Konsum- und Klassensteuern wurden keineswegs, wie ursprünglich beabsichtigt der Adel, sondern die ärmeren Steuerzahler belastet. Die Reform der Zollpolitik erfolgte im Kern erst nach dem Ende der napoleonischen Kriege und nach der territorialen Neuordnung Europas durch den Wiener Kongress. Preußen hatte seine westlichen Besitzungen wiedergewonnen. Damit entstand nicht nur ein wirtschaftsstruktureller Gegensatz zwischen den gewerblich entwickelten westlichen preußischen Provinzen Rheinland, Westfalen sowie den sächsischen Gebieten auf der einen Seite und den stark agrarisch geprägten ostelbischen Gebieten auf der anderen Seite. Auch die Zollpolitik war höchst unterschiedlich. Während man im altpreußischen Gebiet 1817 noch 57 Zolltarife für etwa 3000 Waren im inneren Verkehr kannte, wurden Binnenzölle in den Westprovinzen seit der französischen Herrschaft so gut wie gar nicht mehr erhoben. Eine Angleichung war auch aus diesem Grund unerlässlich. In Preußen waren mit dem Zollgesetz von 1818 alle innerstaatlichen Handelsschranken gefallen. Nach außen hin wurde ein nur mäßiger Schutzzoll erhoben. Für den Durchgangsverkehr wurden allerdings hohe Zölle fällig. Dies war ein Kompromiss zwischen den Interessen der im Freihandel engagierten Großgrundbesitzer und denen der noch schwachen gewerblichen Wirtschaft, die Schutzzölle verlangte. Das preußische Zollgesetz, das konsequent angewandt wurde, erwies sich als einfach und effizient. Dieses Zollsystem wurde daher für etwa ein halbes Jahrhundert mehr oder weniger zum Vorbild für das Zollsystem in den deutschen Ländern insgesamt und blieb im Kern bis in das Kaiserreich hinein bestehen. Nicht zuletzt war die preußische Zollpolitik ein wichtiger Faktor für das Entstehen des Deutschen Zollvereins in den 1830er Jahren. Gesellschafts- und wirtschaftspolitische Reformen Die Agrarreformen Die Bauernbefreiung war ein Vorgang, der sich in unterschiedlichen Phasen und in verschiedener Weise in ganz Europa vollzog. Dabei spielten verschiedene Gründe eine Rolle. Moralisch war die Leibeigenschaft spätestens Ende des 18. Jahrhunderts anstößig geworden, und ökonomisch wuchs der Zweifel an der Zweckmäßigkeit der bisherigen Agrarverfassung. Deshalb wurden die alten feudalen, aber auch die genossenschaftlichen Agrarstrukturen aufgelöst. Die Bauern wurden dabei persönlich frei, sie erhielten das volle Eigentum am Boden; Dienste und sonstige feudale Verpflichtungen wurden aufgehoben. Die Individualisierung des Bodens führte aber auch zur Auflösung der Allmende, also der gemeinsamen Nutzung von Wald und Weiden der Dörfer. Bereits vor 1806 hatte es in Preußen Vorreformen in Teilbereichen gegeben. Dazu zählte die Befreiung der Bauern auf dem königlichen Domänenbesitz seit dem 18. Jahrhundert, die allerdings auch erst 1807 vollständig abgeschlossen werden konnte. Gegen vergleichbare Veränderungen hatte sich der grundherrschaftliche Adel bis dahin erfolgreich gesträubt. Auch gegen die nach 1806 eingeleiteten Reformmaßnahmen gab es erhebliche Widerstände aus dieser mächtigsten Schicht des Landes. Den sich formierenden Kräften des Adels musste die Staatsregierung in verschiedenen Punkten entgegenkommen. Dies gilt etwa für die Gesindeordnung von 1810. Diese bedeutete zwar Fortschritte für die Bediensteten im Vergleich mit dem Allgemeinen Landrecht, war aber gemessen an der späteren Gesetzgebung noch konservativ und adelsfreundlich. Der Widerstand des Adels führte auch dazu, dass nicht alle feudalen Rechte beseitigt wurden. Polizei- und Gerichtsrechte wurden zwar staatlich stärker kontrolliert, aber ebenso wenig völlig abgeschafft wie Kirchen- und Schulpatronate, Jagdrechte und Steuervorteile. Auch wurde vom Adel, anders als im Königreich Bayern, kein demütigender Nachweis über ihre adelige Stellung verlangt. Insofern gab es zwar Kompromisse, aber in zentralen Punkten gelang es der adeligen Opposition nicht, die grundlegenden Veränderungen zu blockieren. Oktoberedikt von 1807 Bis 1807 waren die Bauern durch die Erbuntertänigkeit leibeigen. Sie wurden durch Frondienste und Abgaben belastet. Das Oktoberedikt vom 9. Oktober 1807 stand zeitlich am Beginn der Reformpolitik in Preußen. Es hob alle bislang bestehenden Berufsschranken auf, beseitigte die Erbuntertänigkeit der Bauern und gab den Güterverkehr frei. Die Bauern waren seither persönlich frei. Auch ihre Freizügigkeit wurde durch die Abschaffung der Loskaufsgelder und des Gesindezwangsdienstes hergestellt. In dem Edikt hieß es: „Mit dem Martini-Tage Eintausend Achthundert und Zehn hört alle Guts-Unterthänigkeit in Unseren sämtlichen Staaten auf. Nach dem Martini-Tage 1810 gibt es nur freie Leute …“ Damit eng verbunden waren das Recht auf freien Eigentumserwerb und die Freiheit der Berufswahl für alle preußischen Bürger. Damit konnten Bauern in die Stadt abwandern, Bürger konnten Landgüter erwerben, und Adeligen, die zuvor nur standesgemäßen Tätigkeiten nachgehen konnten, war es nun möglich, bürgerliche Berufe zu ergreifen. Mit der persönlichen Freiheit der Landbevölkerung entfiel auch die bisherige Pflicht, vom Gutsherren einen Ehekonsens zu erwirken. Die Freiheit der Eheschließung führte zu einer Erhöhung der Geburtenziffer und letztlich zum Wachstum besonders der ländlichen Bevölkerung. Die Reform brachte durch die Art ihrer Umsetzung für die Landbevölkerung aber auch gravierende Nachteile. Der freie Güterverkehr beseitigte die bisherigen Einschränkungen des Bauernlegens. Nunmehr konnten die Gutsbesitzer Bauernland, wenn auch staatlich kontrolliert, einziehen. Außerdem entfiel die Pflicht der Gutsherren, für Unterkunft bei Invalidität oder Alter der ehemals gutsuntertänigen Personen aufzukommen. Der gegenüber dem Bürgertum abgeschlossene Stand der adeligen Gutsbesitzer wurde tendenziell zu einer Wirtschaftsklasse von bürgerlichen und adeligen Gutsunternehmern. Regulierungsedikt von 1811 Nach der persönlichen Befreiung der Bauern wurde die Herstellung des völligen Eigentums an den bewirtschafteten Flächen und die Abschaffung feudaler Dienstpflichten zum Hauptproblem der Reformer, da dies nach der am Allgemeinen Landrecht orientierten Rechtsauffassung nur in Form von Entschädigungen möglich war. Die Notwendigkeit, die „Revolution von oben“ an die Legalität der Verfahren zu binden, verlangsamte die Reform. Die Lösung brachte das Regulierungsedikt vom 14. September 1811, das wesentlich von Christian Friedrich Scharnweber formuliert wurde. Dieses machte alle Bauern zu Eigentümern der Höfe, die sie bewirtschafteten. Anstelle einer meist unmöglichen Ablösung in Geld wurden die Bauern verpflichtet, die ehemaligen Gutsherren zu entschädigen und die Höfe abzulösen. Falls sie berechtigt waren, ihren Hof zu vererben (sogenanntes „besseres Besitzrecht“), mussten die Bauern ein Drittel des Bodens an die bisherigen Grundherren abtreten, ohne ein Erbrecht sogar die Hälfte. Auch Ablösungen mit einem Drittel des Grundwerts als Geldzahlungen oder fortlaufende Zahlungen eines Drittels des jährlichen Gesamtertrags waren möglich. Letztlich profitierte nur eine vergleichsweise kleine Gruppe rechtlich ohnehin bessergestellter Bauern vom ersten Regulierungsedikt. Im zweiten Regulierungsedikt wurde am 29. Mai 1816 die Ablösung im anfänglichen Umfang auf größere Höfe eingeschränkt. Das propagierte Ziel war, das Entstehen von Besitzungen zu verhindern, die nicht genug zum Überleben abwarfen. Die kleineren Höfe (solche ohne Spanndienstpflicht) blieben von der Allodifikation ausgeschlossen. Darüber hinaus sicherte das durch die Ständeversammlung erheblich überarbeitete Edikt die Gutsherrschaften in Preußen über die folgenden Jahrzehnte hinweg ab. Hingegen wurden andere mit der Gutsuntertänigkeit verbundene Lasten wie der Zwangsgesindedienst, Heiratserlaubnisgebühren und Ähnliches ohne Gegenleistung abgeschafft. Anders verhielt es sich mit den Fron- und Naturaldiensten. Deren Wert wurde ermittelt, und die Bauern hatten das Fünfundzwanzigfache in Raten an den Gutsherrn zu zahlen, um auch diese Pflichten abzulösen. Am 7. Juni 1821 folgte dann mit dem Gemeinheitsteilungsgesetz eine Regelung für die Ablösung des grundherrschaftlichen Eigentums, das in den neupreußischen Gebieten verbreitet war. Dieses Gesetz orientierte sich an Vorbildern aus den Rheinbundstaaten oder übernahm sie in neu dazugewonnenen Gebieten direkt. Gegenüber der Praxis in den Rheinbundstaaten hatte die Entschädigung in Form der Abgabe von Grundbesitz ihre Vorteile, da sie das Verfahren beschleunigte. Allerdings waren damit auch Nachteile für die Bauern verbunden. Allein die 12.000 Rittergüter in Preußen vergrößerten ihren Besitz zusammen um anderthalb Millionen Morgen. Hinzu kam ein Großteil der Allmende, also das bislang von allen nutzbare Land eines Dorfes. Von diesem fiel nur 14 % an die Bauern, der Rest ging auch in den Besitz der Gutsbesitzer über. In der Folge verloren viele Kleinbauern ihre Existenzgrundlage und mussten ihr überschuldetes Land ebenfalls an die Grundherren verkaufen. Diese vergrößerten so weiter ihren Besitz, während die ehemaligen Bauern meist Landarbeiter wurden. Einen gewissen Ausgleich für die Bauern bot die Nutzbarmachung brachliegender Flächen, allerdings bedeutete dies die Abdrängung auf schlechtere Böden. Für die fiskalischen Interessen des Staates, die letztlich hinter der Bauernpolitik standen, waren die Maßnahmen äußerst erfolgreich. Die landwirtschaftlich genutzte Fläche wurde bis 1848 von 7,3 Millionen auf 12,46 Millionen Hektar vergrößert, und die Produktion erhöhte sich um vierzig Prozent. Große Teile der Bauernschaft wurden von den Reformen überhaupt nicht erfasst. So blieben die grundherrlichen und nicht an Güter gebundenen Bauern zunächst außen vor. Auch für die nicht-spannfähigen Kötter änderte sich der Besitzstatus nicht und sie verloren zudem ihren Zugriff auf die Allmende. Unter den übrigen Bauern konnten nur diejenigen von der Aufteilung der Allmende profitieren, die bereits zu weit zurückliegenden Stichtagen in entsprechende Kataster eingetragen waren. In der Summe führte dies zum herabsinken zahlreicher Kleinbauern in die Rolle von Landarbeitern. Auch verfügten nur wenige Bauern über das nötige Kapital, um am Ablöseverfahren auf der Basis von Geldzahlungen teilzunehmen. Eine Ausweitung der Reformen auf große Teile der Bauernschaft erfolgte erst mit dem Ablösungs- und Regulierungsgesetz vom 2. März 1850. Die verwaltungstechnische Umsetzung der Agrarreformen lag im rechtsrheinischen Preußen bei den Generalkommissionen als neu geschaffenen Behörden. Insbesondere deren Vorgehen bei der Allmendeaufteilung löste vielfach den Widerstand der Landbevölkerung aus, insbesondere in Schlesien. Soziale Folgen In den Gebieten östlich der Elbe hatten die Agrarreformen erhebliche soziale Folgen. Zunächst führte die Erweiterung des Gutslandes dazu, dass sich bis in die zweite Jahrhunderthälfte hinein die Zahl der Rittergutsfamilien stark vergrößerte. Die Zahl der Bauernhöfe blieb in etwa gleich. Neu war jedoch, dass eine breite ländliche Unterschicht entstand. Die Zahl der je nach Region und Rechten unterschiedlich bezeichneten Landarbeiter (Instleute, Gesinde, Tagelöhner) stieg um das Zweieinhalbfache. Die Zahl der Kleinbesitzer, regional Kätner genannt, nahm um das Drei- bis Vierfache zu. Viele waren auf einen handwerklichen oder sonstigen Nebenerwerb angewiesen. Viele Bauern konnten die Entschädigungssumme nicht aufbringen. In diesem Fall mussten sie entweder den Gutsbesitzern bis zur Hälfte ihres Landes als Entschädigung überlassen, wobei der Rest oft nicht mehr genug Ertrag brachte, oder sie mussten sich stark verschulden. Als schließlich durch eine neue Verordnung auch noch die Allmende (das von allen nutzbare Land eines Dorfes) den Großbauern und Gutsherrn als Entschädigung zugesprochen wurde, verloren viele Kleinbauern endgültig ihre Existenzgrundlage und mussten sich als Landarbeiter auf den großen Gütern verdingen. Obwohl die Reformer mit diesem Edikt hauptsächlich für mehr Freiheit sorgen wollten, vergrößerte sich in der Folgezeit die besitzlose ländliche Unterschicht. Letztlich profitierten außer einem begrenzten bäuerlichen Mittelstand die Großgrundbesitzer und adligen Junker von der Reform, die auf diese Weise ihren Landbesitz mehren konnten. Ernst Rudolf Huber wertete dies als „eine der tragischen Ironien der deutschen Verfassungsgeschichte. Es offenbart sich hier die innere Antinomie des bürgerlichen Liberalismus, der die Freiheit des Individuums und seines Eigentums schuf und zugleich vermöge der Eigengesetzlichkeit der Eigentumsfreiheit die Akkumulation der Eigentumsmacht in die Hand weniger Einzelner auslöste.“ Gewerbereform und ihre sozialen Folgen Nicht zuletzt basierend auf den Theorien von Adam Smith strebten die Reformer im agrarischen wie im gewerblichen Bereich eine Freisetzung aller individuellen Kräfte an. Dies erforderte, alle korporativen Einschränkungen, aber auch alle bürokratischen Gängelungen des Wirtschaftslebens in der Tradition des Merkantilismus zu beseitigen. Die Förderung des freien Wettbewerbs bedeutete gleichzeitig den Wegfall aller Begrenzungen der Konkurrenz. In diesem Sinne wurde 1810 die Gewerbefreiheit eingeführt. Die Aufnahme eines Gewerbes war nur noch abhängig vom Erwerb eines Gewerbescheins. (Allerdings gab es einige Ausnahmen, z. B. für die freien Berufe der Ärzte und Apotheker, aber auch für Gastwirte.) Dies bedeutete außerdem, dass die Zünfte als Inhaber von Monopolen und sonstigen wirtschaftlichen Privilegien ausgedient hatten. Sie wurden zwar nicht aufgelöst, aber die Mitgliedschaft war nunmehr freiwillig. Damit verbunden war das weitgehende Ende der Aufsicht des Staates über die Wirtschaft. An ihre Stelle traten das Recht auf freie Berufswahl und der freie Wettbewerb. Die Gewerbereform beseitigte wirtschaftliche Betätigungsschranken und trug dazu bei, dass sich neue gewerbliche Impulse entfalten konnten. Zwischen Stadt und Land gab es fortan keine rechtlichen Unterschiede in Hinsicht auf gewerbliche Betätigungsmöglichkeiten mehr. Eine Ausnahme war bis in die 1860er Jahre der Bergbau. Ursprünglich vor allem für die Förderung des Landgewerbes gedacht, wurde die Gewerbefreiheit zu einer der zentralen Voraussetzungen für den wirtschaftlichen Aufstieg Preußens auf industrieller Basis. Mitinitiator an der Gewerbereform war der Berliner Politiker und Unternehmer Carl Friedrich Wilhelm Knoblauch, welcher Gutachten und Ideen dazu ausarbeitete und diese vom Stein zur Prüfung zusandte. Ähnlich wie der Adel wehrten sich die Stadtbürger gegen die Reformen, wenn auch mit wenig Erfolg. Die unmittelbaren Folgen waren widersprüchlich: In den Städten war die nichtzünftige Konkurrenz anfangs vergleichsweise gering; allerdings begann sich nach einer Übergangszeit die Zahl der nicht in Zünften organisierten Handwerker deutlich zu vermehren. Auf dem Land dagegen nahm die Bedeutung des Handwerks und des sonstigen Gewerbes erheblich zu. Auf längere Sicht führte die Gewerbefreiheit allerdings auch zu Problemen. Die Zahl der Handwerker nahm stärker zu als das Wachstum der übrigen Bevölkerung. Zunächst stieg die Zahl der Meister, die aber aufgrund der starken Konkurrenz oft nur einen geringen Verdienst teilweise am Rande der Armut hatten. Vor allem Schneider, Schuhmacher, Tischler und Weber gehörten im Vormärz zu den überbesetzten Handwerken. Wie das Wachsen der ländlichen Unterschichten verschärfte auch dieser Prozess die soziale Frage und war eine der sozialen Ursachen für die Revolution von 1848. Emanzipationsedikt Dem Entwurf Hardenbergs nach erhielten die Juden die gleichen bürgerlichen Rechte und Pflichten wie die anderen Staatsbürger; der Erwerb von Grundbesitz wurde ihnen gestattet, der Zugang zu städtischen und Universitätsämtern ermöglicht. Auch die freie Ausübung der jüdischen Religion und des kulturellen Brauchtums wurde nunmehr garantiert. Aufgrund der Korrekturen Friedrich Wilhelms III enthielt das preußische Edikt jedoch Einschränkungen, anders als entsprechende Gesetze im Königreich Westphalen: Die Juden erhielten vorerst keinen Zugang zu Offiziersrängen, Justiz- und Verwaltungsämtern, unterlagen aber der Wehrpflicht. Durch Kabinettsorder Friedrich Wilhelms IV. vom Dezember 1841 wurden Juden dauerhaft vom Staats- und Militärdienst ausgeschlossen. Unabhängig von den Korrekturen des Königs stieß das Edikt schon bald auf Kritik von Emanzipationsgegnern. Trotz der Einschränkungen bedeutete es einen großen Schritt hin zur Emanzipation in den deutschen Staaten des 19. Jahrhunderts. In dieser Zeit war die rechtliche Lage der Juden hier deutlich besser als in den meisten südlichen und östlichen Nachbarregionen. Dies machte Preußen für jüdische Zuwanderung auf Jahrzehnte hinaus attraktiv. Weitere zentrale Reformfelder Bildungsreform Den Reformen im Bildungsbereich kam in der Konzeption der Reformer eine Schlüsselstellung zu. Alle Reformen setzten einen neuen Bürgertypus voraus, der in der Lage war, selbstverantwortlich zu handeln. Man war überzeugt, dass die Nation gebildet und erzogen werden müsse, damit die neue Gesellschaft überhaupt funktionieren könne. Im Gegensatz etwa zur Staatsreform, die ja noch ständische Elemente einschloss, richteten sich die Bildungsreformen von Anfang an gegen jegliche Form der Standeserziehung. Hauptsächlich konzipiert wurden die Bildungsreformen von Wilhelm von Humboldt, der 1808 die Leitung der Abteilung Kultus und Unterricht (noch im Innenministerium angesiedelt) übernahm. Ähnlich wie Stein nur etwa ein Jahr in diesem Amt, gelang es ihm doch in dieser Zeit, entscheidende Weichenstellungen vorzunehmen. Humboldt hing einem neuhumanistischen Bildungsideal an. Im Unterschied zur utilitaristischen Pädagogik der Aufklärung, die zweckdienliches Wissen für das praktische Leben vermitteln wollte, setzte er auf eine allgemeine und zweckfreie Menschenbildung. Die in dieser Hinsicht als besonders lohnend angesehene Beschäftigung mit Antike und alten Sprachen sollte die geistige, moralische, intellektuelle und ästhetische Entfaltung des Menschen fördern. Erst danach sollten die für die verschiedenen Berufe nötigen Spezialkenntnisse erworben werden. Unter dem Aspekt der allgemeinen Menschenbildung war das Interesse des Staates am Nutzwert seiner Bürger folglich zweitrangig, aber keineswegs unberücksichtigt: „Jeder ist offenbar nur dann ein guter Handwerker, Kaufmann, Soldat und Geschäftsmann, wenn er an sich und ohne Hinsicht auf seinen besonderen Beruf ein guter, anständiger, seinem Stande nach aufgeklärter Mensch und Bürger ist. Gibt ihm der Schulunterricht, was hierzu erforderlich ist, so erwirbt er die besondere Fähigkeit seines Berufs nachher sehr leicht und behält immer die Freiheit, wie im Leben so oft geschieht, von einem zum anderen überzugehen.“ Anders als Humboldt, bei dem das Individuum im Mittelpunkt des Bildungsprozesses stand, ging es dem Republikaner Johann Gottlieb Fichte vorrangig um eine Nationalerziehung, um die Erziehung des ganzen Volkes zu Zwecken der nationalen Selbstbehauptung angesichts der seinerzeitigen napoleonischen Fremdherrschaft. An die Stelle der Vielfalt der alten kirchlichen, privaten, städtischen oder korporativen Einrichtungen trat nunmehr die staatliche Schule, gegliedert in Volksschule, Gymnasium und Universität. Der Staat hatte die Aufsicht über alle Schulen, setzte nun die allgemeine Schulpflicht und einheitliche Lehrpläne streng durch und wachte über das Prüfungswesen. Staatlich anerkannte Leistungskriterien wurden geschaffen als Voraussetzung für den Eintritt in den Staatsdienst: Es sollte auf Bildung und Leistung ankommen, nicht mehr auf Herkunft und Stand. Die Leistungsfähigkeit der Volksschule wurde durch eine bessere Bezahlung der Lehrer und ihre Ausbildung in Lehrerseminaren verbessert. Für die höhere Schulbildung war fortan das neu konzipierte humanistische Gymnasium zuständig. Der erfolgreiche Abschluss berechtigte zum Universitätsstudium. Daneben entstanden Realschulen, und es hielten sich einige Kadettenanstalten. Trotz des verstärkten staatlichen Einflusses verblieb die Schulinspektion bei den Geistlichen. Den krönenden Abschluss des Bildungsganges im Humboldtschen Sinne stellte die reformierte Universität dar. Hier galt das Ideal der Freiheit von Forschung und Lehre und eine Vorrangstellung für die Forschung. Die Studenten sollten durch Teilnahme an der Forschung selbständiges Denken und wissenschaftliches Arbeiten lernen. Die Gründung und Ausgestaltung der Universität Berlin diente dafür als Modell. Um der Universität den festen Platz in der Gesellschaft zu garantierten, übernahm der Staat alle anfallenden Kosten und die damit verbundene Verantwortung und gewann somit auch stetig an Einfluss. In der Praxis führte die auf staatsbürgerliche Emanzipation und Chancengleichheit zielende Bildungsreform nach Humboldts Abschied vom Amt nicht zu den von ihm gewünschten Ergebnissen. Die einseitige Umsetzung und Formalisierung des philologischen Bildungsideals wirkte in Verbindung mit dem Aufkommen restaurativer Tendenzen abschließend gegenüber den unteren Gesellschaftsschichten. Auch die mit beträchtlichen Kosten verbundene lange Dauer des idealtypischen neuhumanistischen Bildungsgangs schlug nachteilig zu Buche. Allerdings hat es in einem begrenzten Umfang nachfolgend durchaus sozialen Aufstieg durch Bildung gegeben. Heeresreform Da, anders als in den Rheinbundstaaten, die Reformpolitik von Anfang an auch klar gegen die französische Suprematie gerichtet war, hatten die Militärreformen eine weit größere Bedeutung als in den süddeutschen Reformstaaten. Innerhalb des preußischen Militärs entstand nach der verheerenden Niederlage in der Schlacht bei Jena und Auerstedt am 14. Oktober 1806 eine Gruppe von Offizieren, die auf Veränderungen drängten. Nach dem Frieden von Tilsit verfolgte die von König Friedrich Wilhelm III. eingesetzte Militär-Reorganisations-Kommission das Ziel, ein neues, starkes Heer aufzustellen, das in Struktur und Charakter den veränderten Anforderungen der damaligen Zeit entsprechen sollte. Der Militär-Reorganisations-Kommission gehörten an: Generalmajor Gerhard von Scharnhorst (Vorsitzender der Kommission), Oberstleutnant August Neidhardt von Gneisenau, Major Hermann von Boyen, Major Karl von Grolman und Stabskapitän Carl von Clausewitz. Scharnhorst wurde zudem Chef des Kriegsdepartements (Kriegsministerium) und zum Chef des Generalstabes ernannt. In enger Abstimmung mit den Ministern Karl vom und zum Stein und Karl August von Hardenberg, die die politischen Reformen einleiteten, gelang es Scharnhorst, den widerstrebenden König von der Notwendigkeit der Veränderungen zu überzeugen. Die Erfahrungen von 1806 hatten gezeigt, dass die altpreußische Heeresorganisation den Franzosen nicht mehr gewachsen war. Sie war gegenüber der französischen Schützentaktik zu unbeweglich, ihre Offiziere behandelten die Soldaten als willenlose Objekte, die bei Vergehen mit harten Strafen bis hin zum Spießrutenlaufen zu rechnen hatten. Dem stand die französische Bürger- und Wehrpflichtarmee gegenüber. Ein Aspekt der Reformen war es, die teilweise bestehenden Schranken zwischen Armee und Gesellschaft zu beseitigen; so hoffte man die Armee auf den Patriotismus der Staatsbürger aufbauen zu können. Daher wurde damit begonnen, die Würde und Stellung der einfachen Soldaten anzuheben, indem die Soldatengesetze dem bürgerlichen Rechtsempfinden angepasst wurden. Das drakonische Strafsystem und insbesondere die Prügelstrafe wurden weitgehend abgeschafft. Das Offizierskorps wurde reformiert. Eine nicht unbeträchtliche Zahl ungeeigneter höherer und niederer Offiziere wurde entlassen. Das Adelsprivileg wurde abgeschafft; damit stand die Offizierslaufbahn auch Bürgerlichen grundsätzlich offen. Insbesondere dies stieß auf erheblichen Unwillen des Adels, wie etwa bei Ludwig Yorck von Wartenburg. In der Praxis zeigte sich allerdings bald durch eine Art Kooptationsrecht der Offiziere, die in der Regel adelige Fähnriche bevorzugten, dass der bürgerliche Einfluss gering blieb. Innerhalb des Offizierskorps sollten bei den höheren Rängen nicht mehr das Dienstalter, sondern die Leistung den Aufstieg bestimmen. Die Preußische Kriegsakademie sollte eine bessere Ausbildung der Offiziere gewährleisten. Im engeren militärischen Bereich wurden nach französischem Vorbild Jäger- und Schützeneinheiten gebildet. Wie in der zivilen Verwaltung wurde die Militärorganisation gestrafft. An die Stelle einer Vielzahl von oberen Behörden trat 1809 das Kriegsministerium mit dem Generalstab. Die zentrale Reform war die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Damit sollten die Ungerechtigkeiten des bisher geltenden Wehrersatzsystems und die ständischen Unterschiede aufgehoben werden. Zwar wurden Pläne gemacht, die Begrenzung der Truppenstärke auf 42.000 Mann durch den Frieden von Tilsit mit dem Krümpersystem zu umgehen, gleichwohl kam es zunächst nicht zur Umsetzung der Wehrpflicht. Der König zögerte, und aus Adel und Offizierskorps gab es Widerstände. Auch das Bürgertum blieb skeptisch. Erst mit dem Beginn der Befreiungskriege konnten die Reformer 1813 die Wehrpflicht durchsetzen. Endgültig gesichert wurde diese allerdings erst 1814 in einem allgemeinen Wehrgesetz. Neben den Linientruppen wurde nunmehr auch die Landwehr zur Heimatverteidigung und als Reservetruppe aufgestellt. Die Landwehr war organisatorisch selbständig, es gab eigene Einheiten und Offiziere. Ausschüsse in den Kreisen organisierten diese Truppe, in der Bürgerliche zu Offizieren aufsteigen konnten. Hier schien die Idee der Reformer, Volk und Armee zu einen, der Verwirklichung am nächsten. Münzreform Auch die Vereinheitlichung des preußischen Münzsystems gehört zu den preußischen Reformen. Seit der Graumannschen Reform von 1750 waren bereits die Silberkurantmünzen (Taler und Talerteilstücke) für ganz Preußen vereinheitlicht worden. In den Provinzen galten aber weiter unterschiedliche Kleinmünzensysteme. Brandenburg unterteilte den Taler grundsätzlich in 24 Groschen zu je 12 Pfennige, Westfalen den Taler in 36 Mariengroschen, Ost- und Westpreußen den Taler in 30 Düttchen (Dreigroschenmünzen), wobei der Groschen in 3 Schillinge unterteilt wurde, Schlesien teilte den Taler in 90 Kreuzer oder 120 Gröschel, den Gröschel zu je 3 Pfennigen, und in den bis 1807 südpreußischen Kreisen Flatow und Deutsch Krone – und ebenso in der ab 1815 im früheren Südpreußen bestehenden Provinz Posen – wurde der Taler in 180 Kupfergroschen unterteilt. Diese Provinzialkleinmünzensysteme waren im Zuge der wirtschaftlichen Belastungen durch die Napoleonischen Kriege zudem zerrüttet. Der nominale Wert des Talers als einer Kurantmünze entsprach seinem Silberwert; er hatte sich in Brandenburg von 24 Groschen (Scheidemünze, deren nominaler Wert somit höher war als der Wert des enthaltenen Silbers) auf zeitweise mehr als 40 Groschen auf einen Taler verschoben. Die unterschiedlichen Kleinmünzensysteme belasteten den provinzübergreifenden Handel erheblich. Im Jahr 1812 wurden erste Proben neuer Kleinmünzen geprägt, Prägungen für den Zahlungsverkehr erfolgten aber zunächst nicht. Mit Gesetz vom 30. September 1821 wurde nun auch ein für ganz Preußen gültiges Kleinmünzensystem eingeführt, das als Meilenstein der Preußischen Münzgeschichte gilt. Der Taler stand nun in einem festen Verhältnis zu 30 Silbergroschen, der Silbergroschen zu 12 Pfennigen. Dieses neue Kleinmünzensystem wurde in der Folgezeit beispielhaft für andere nord- und mitteldeutsche Staaten, die das preußische System ganz oder teilweise übernahmen. Dies erleichterte die Harmonisierung verschiedener Münzsysteme durch den Dresdner Münzvertrag von 1838, der ein wichtiges Fundament für die Einführung der Reichswährung durch die Reichsmünzgesetze von 1871 und 1873 wurde. Die Reformen in der Historiografie In der Geschichtsschreibung des späten 19. Jahrhunderts wurden die preußischen Reformen und die „Revolution von oben“ etwa von Heinrich von Treitschke zur direkten Vorgeschichte der kleindeutschen Nationalstaatsgründung erklärt. Wegweisend für die spätere Entwicklung waren die Reformen auch aus der Sicht Friedrich Meineckes. Lange Zeit wurde die Ära der Reformen, angelehnt an Leopold von Ranke, vor allem im Sinne der Taten und Schicksale „großer Männer“ geschrieben. Davon zeugen zahlreiche biografische Arbeiten zu den Protagonisten der Reform. So schrieben z. B. Hans Delbrück über Gneisenau, Meinecke über Boyen. Galt das Augenmerk anfangs vor allem den militärischen Reformen, so begann mit der Biografie von Max Lehmann die Erforschung von Person und Wirken Steins. Hardenberg hat dagegen vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit unter Historikern erregt. Trotz der deutlichen Unterschiede zwischen den Hauptakteuren sieht die Geschichtsforschung weit überwiegend eine grundsätzliche Kontinuität der Ansätze und hält an einer Einheit der Stein-Hardenbergschen Reformen fest. Von einigen Autoren, so von Otto Hintze, wurde auf die bereits vor 1806 anzutreffenden Reformansätze wie das Allgemeine Landrecht und andere Maßnahmen hingewiesen. Eine derartige Kontinuitätslinie würde die These der Reformer von den organischen Reformen im Rahmen der bestehenden Ordnung bestätigen. Thomas Nipperdey resümierte die Debatte in dem Sinne, dass es vor dem Zusammenbruch von 1806 zwar Reformansätze gegeben habe, dass es aber an Energie zu ihrer Umsetzung wie an einem inneren Zusammenhalt der Vorhaben gefehlt habe. In Bezug auf die Agrarreformen lösten die Arbeiten von Georg Friedrich Knapp seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine wissenschaftliche Kontroverse aus. Bei Knapp überwog die Kritik an der Reformpolitik, die letztlich den adeligen und nicht den bäuerlichen Interessen entsprochen habe. Auch der wirtschaftsliberale Einfluss eines Adam Smith wurde für Problementwicklungen mitverantwortlich gemacht. Die Forschung des letzten Jahrhunderts aber hat gezeigt, dass pauschale Kritik nicht aufrechtzuerhalten ist. Immerhin nahmen die Bauernstellen zu, wenngleich die hinzugewonnenen meist auf schlechteren, neu erschlossenen Böden lagen. Ähnlich differenziert wird heute auch der Erfolg der Gewerbereformen beurteilt. Sie waren nicht unmittelbar Ursache für Not und Elend der Handwerker, da die Gesetzgebung letztlich einen nur geringen Einfluss auf die Entwicklung hatte. Barbara Vogel hat versucht, eine Gesamtkonzeption agrarischer und gewerblicher Reformansätze zu erfassen und als eine „bürokratische Modernisierungsstrategie“ zu beschreiben. Mit Blick auf die industrielle Entwicklung zeichnet sich die Einschätzung ab, dass die Reformpolitik zwar primär auf die Förderung des ländlichen Gewerbes in Altpreußen ausgerichtet war, letztlich aber doch den Durchbruch der industriellen Revolution erleichtert hat. Den Versuch einer Gesamtinterpretation der Reformpolitik mit der Perspektive auf die Revolution von 1848 machte Reinhart Koselleck mit seinem Buch „Preußen zwischen Reform und Revolution“. Er unterschied dabei drei Teilprozesse. Das allgemeine Landrecht stellte demnach zwar u. a. bereits eine Reaktion auf die sozialen Probleme dar, hielt aber noch an ständischen Elementen fest. Als eine verfassungspolitische Vorleistung betrachtete Koselleck die Entstehung eines Verwaltungsstaats während der Reformzeit und den Behördenausbau zwischen 1815 und 1825. In den folgenden Jahrzehnten entzog sich dann aber die soziale und politische Bewegung den bürokratischen Kontrollen. Nach dem Ende der Reformzeit, so die These, zerbrach die Übereinstimmung zwischen der höheren Beamtenschaft und dem nicht beamteten Bildungsbürgertum. Zumindest während der Reformzeit, meint Koselleck, habe die Bürokratie gewissermaßen gegen die Einzelinteressen das übergeordnete Allgemeininteresse vertreten. Die Nichteinführung einer Nationalrepräsentation war demzufolge von der Befürchtung bestimmt, dass die Reformpolitik von den versammelten Partikularinteressen gestoppt werde. Schon seit längerem, so zunächst von Hans Rosenberg und später von Vertretern der Historischen Sozialwissenschaft, wurde das Ende der Verfassungsentwicklung in Preußen teilweise als eine Ursache für das Scheitern der Demokratisierung in Preußen und letztlich für den sogenannten deutschen Sonderweg mitverantwortlich gemacht. Hans-Jürgen Puhle hielt die preußische Ordnung gar für „langfristig auf Untergang programmiert“. Andere wie Thomas Nipperdey eher historistisch orientierte Forscher verwiesen auf die häufige Diskrepanz zwischen den Intentionen der Handelnden und den unbeabsichtigten Folgen, die sich daraus ergeben. In den letzten Jahrzehnten verloren die preußischen Reformen der Zeit zwischen 1807 und 1815 etwas von ihrer zentralen Position in der Geschichtsdeutung des 19. Jahrhunderts. Dazu trug bei, dass die Reformen der süddeutschen Rheinbundstaaten von vielen Historikern unterdessen als ebenbürtig angesehen werden. In diesen Zusammenhang gehört auch, dass die in Bezug auf die gewerbliche und gesellschaftliche Entwicklung dynamischen Regionen Preußens bis zum Ende der napoleonischen Herrschaft entweder direkt oder indirekt zum französischen Machtbereich gehört hatten. Siehe auch Borussia-Denkmal Literatur Elisabeth Fehrenbach: Vom Ancien Regime zum Wiener Kongress. Oldenbourg, München 2001, ISBN 3-486-49754-5. Werner Frotscher, Bodo Pieroth: Verfassungsgeschichte. 5. Auflage. München 2005, ISBN 3-406-53411-2, § 7. Werner Hahlweg: Preußische Reformzeit und revolutionärer Krieg (= Wehrwissenschaftliche Rundschau. Beiheft 18). Mittler, Berlin u. a. 1962. Otto Hintze: Die Hohenzollern und ihr Werk. A. Steiger, Solingen 1915, S. 402–515. Walther Hubatsch: Die Stein-Hardenbergschen Reformen. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1977, ISBN 3-534-05357-5. Reinhart Koselleck: Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848. Klett-Cotta, Stuttgart 1967, ISBN 3-12-905050-7 (Habilitationsschrift Heidelberg 1965). Jürgen Kloosterhuis, Sönke Neitzel (Hrsg.): Krise, Reformen – und Militär. Preußen vor und nach der Katastrophe von 1806. Duncker & Humblot, Berlin 2009, ISBN 978-3-428-13096-2. Thomas Nipperdey: Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat. München 1998, ISBN 3-406-44038-X. Paul Nolte: Staatsbildung als Gesellschaftsreform. Politische Reformen in Preußen und den süddeutschen Staaten 1800–1820. Campus, Frankfurt am Main/ New York 1990, ISBN 3-593-34292-8. Hans-Ulrich Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Erster Band Vom Feudalismus des alten Reiches bis zur defensiven Modernisierung der Reformära. 1700–1815. C.H. Beck, München 1987, ISBN 3-406-32261-1. Jürgen Manthey: Die preußischen Reformen, nicht aus der Not geboren, in ders.: Königsberg. Geschichte einer Weltbürgerrepublik. München 2005, ISBN 978-3-423-34318-3, S. 351–359. Weblinks Preußische Reformen – rbb Preußen-Chronik Marion W. Gray: Prussia in Transition. Society and politics under the Stein Reform Ministry of 1808. Philadelphia, 1986 Ludwig von Rönne: Die Preußischen Städte-Ordnungen vom 19. November 1808 und vom 17. März 1831 mit ihren Ergänzungen und Erläuterungen durch Gesetzgebung und Wissenschaft. Georg Philipp Aderholz, Breslau 1840. Website zu Leben und Werk des Freiherrn vom und zum Stein – Biografie, Chronologie, Quellen, Bibliografie, Denkmäler, Städteordnung Das geistige Preußen (Oswald Hauser, 1980) Einzelnachweise Napoleonische Zeit (Deutschland) Reform Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein Karl August von Hardenberg
113858
https://de.wikipedia.org/wiki/Skorpione
Skorpione
Die Skorpione (Scorpiones) sind eine Ordnung der Spinnentiere (Arachnida). Weltweit sind, je nach Zuordnung, zwischen 1750 und 2500 Arten bekannt, wovon nur etwa 25 als für Menschen potentiell tödlich gelten. Skorpione erreichen Körpergrößen zwischen 9 Millimetern bei der Art Typhlochactas mitchelli und 21 Zentimetern beim Kaiserskorpion (Pandinus imperator) und Hadogenes troglodytes. Sie leben vorwiegend in sandigen oder steinigen Böden oder in Bodennähe der Tropen und Subtropen, Wüsten und Halbwüsten. Wenige Arten sind kletternde Baumbewohner, Wanderer oder Höhlenbewohner und halten sich als Kulturfolger in der Nähe menschlicher Behausungen auf. Bau der Skorpione Äußere Anatomie Der Körper der Skorpione ist undeutlich in einen Vorderkörper (Prosoma) und einen deutlich zweigeteilten Hinterleib (Opisthosoma) gegliedert. Das Opisthosoma besteht aus einem breiten Teil, dem Mesosoma, sowie einem schwanzartig verlängerten Metasoma. Der Vorderkörper besteht aus sechs Segmenten und trägt die Extremitäten. Zu ihnen gehören die relativ kleinen, dreigliedrigen Kieferklauen (Chelicere), denen die auffallend großen Pedipalpen folgen. Diese sind zu großen Fangarmen ausgebildet, die am Ende in einer Schere enden. Skorpione sind in der Lage, mit ihren kräftigen Scheren Erdgänge und Höhlen zu graben. Außerdem dienen die Scheren zum Fang und Festhalten der Beute, meist andere Gliederfüßer oder kleinere Wirbeltiere. Die Cheliceren dienen zur Nahrungszerkleinerung und arbeiten gegen die Basen der Pedipalpen und der nachfolgenden beiden Laufbeinpaare, welche zusammen die untere Begrenzung des Mundraumes bilden (Gnathobasis). Den scherenbesetzten Pedipalpen folgen vier Laufbeinpaare. Das zweite Hinterleibssegment der Skorpione trägt die Genitalplatten und im hinteren Bereich auffällige kammartige Strukturen, die als Kammorgan (Pecten) bezeichnet werden. Im Hinterleib sitzt, wie bei den Webspinnen, die Fächerlunge. Der Anus liegt im fünften Hinterleibssegment. Der Hinterleib, das Opisthosoma, besteht aus Chitinringen, die untereinander beweglich verbunden sind. Dadurch sind sie formfest und erhalten zugleich eine extreme Beweglichkeit. Bei der Fortbewegung wird dieser Teil aufrecht über dem Körper der Skorpione getragen. Das Opisthosoma weist 13 Segmente auf, von denen die letzten 5 Segmente wie bei den Seeskorpionen (Eurypteriden) zu schmalen Ringen verengt sind und das Metasoma bilden. Dieses Metasoma trägt das Telson (Endstachel und Giftblase). Größere Beutetiere werden mit einem Stich durch den Stachel getötet. Ihre Beute nehmen die Skorpione im Wesentlichen durch ihre Spaltsinnesorgane wahr. Ein Skorpion erkennt eine grabende Schabe an den Vibrationen aus 50 Zentimetern Entfernung. Die Augen der Skorpione eignen sich nur zum groben Orientieren (Sonnenstand, Mondschein etc.). Diese nervöse Leistung wird durch eine Kette von Ganglien, der Bauchganglienkette, erbracht, die bei Webspinnen bereits zum Bauchganglion verschmolzen ist. Der Vorderkörper ist außerdem mit einem großen medialen Augenpaar und bis zu fünf kleineren Punktaugenpaaren ausgestattet. Die Cuticula der Skorpione fluoresziert bei Bestrahlung mit Ultraviolettstrahlung. Dabei werden eingelagerte beta-Carboline und 7-Hydroxy-4-methylcoumarin angeregt. Mit Hilfe entsprechender Lampen können die Tiere daher bei Dunkelheit leicht entdeckt werden. Auch nach dem Ableben der Tiere bleibt dieser Effekt erhalten. Innere Anatomie Wie bei allen Gliederfüßern setzen die Muskeln der Skorpione an den Innenflächen sowie an Spangen des Chitinskeletts an. Sie sind innerviert durch Nerven, die von einem zentralen Bauchmark mit sieben Nervenknoten (Ganglien) ausstrahlen. Neben dem Bauchmark gibt es außerdem ein Gehirn aus zwei großen Ganglien, welche im Kopfbereich liegen und den Schlundbereich umspannen. Das Verdauungssystem beginnt mit einem Mundbereich, welcher mit einem muskulösen Schlund ausgestattet ist. Dieser funktioniert wie eine Pumpe, der die vorverdaute Nahrung in den Mund saugt, von wo sie dann in den Vorder- und Mitteldarm geleitet wird. Die Verdauung erfolgt im Mitteldarm, in den mehrere Drüsen münden, die die erforderlichen Enzyme wie Amylasen, Proteasen und Lipasen produzieren. Als Speicherorgan dient ein großes Hepatopankreas (entspricht einer Kombination aus Leber und Bauchspeicheldrüse), das bis zu 20 Prozent des Körpergewichts der Tiere ausmachen kann. Die Speicherung der Nährstoffe erfolgt als Glykogen. Die Metabolismusrate der Tiere ist sehr gering, und die Nahrung kann sehr effektiv verwertet werden, außerdem können Skorpione mit einer Nahrungsaufnahme bis zu einem Drittel ihres eigenen Körpergewichts aufnehmen. Durch diese Anpassungen können Skorpione bis zu 12 Monate hungern. Die Exkretion erfolgt, wie bei anderen Gliederfüßern auch, über Malpighische Gefäße, die in den Darm im Bereich des Übergangs zwischen Mitteldarm und Enddarm enden und die Stickstoffverbindungen in diesen abgeben. Diese Exkretion erfolgt mit nur sehr geringem Wasserverlust, die Stoffe werden als Harnsäure mit dem Kot abgegeben. Das Blutgefäßsystem ist mit Ausnahme des dorsalen Herzschlauchs offen, das Blut (Hämolymphe) flottiert entsprechend frei im Körper und in den Blutsinus im Gewebe der Tiere. Die Atmung erfolgt über Buchlungen, die an der Unterseite der Skorpione als Einfaltung der Cuticula vorhanden sind. In diesen wird der Sauerstoff in die Hämolymphe abgegeben. Die Gonaden sind bei beiden Geschlechtern paarig als ein Netzwerk von Schläuchen angelegt, welches sich auf den ersten Blick nicht unterscheiden lässt. Die Männchen produzieren in ihren Hodenschläuchen Spermien, die in besonderen Organen (Paraxialorgan) zu Spermatophoren verpackt werden. Die Weibchen produzieren Eier, die artspezifisch mit oder ohne Dottervorrat angelegt werden. Bei den apoikogenischen Eiern existiert ein Dotter, der von den Embryonen als Nahrung genutzt wird, die Jungskorpione aus katoikogenischen Eiern greifen stattdessen mit ihren Cheliceren nach speziellen Futterdivertikeln im weiblichen Uterus und werden auf diese Weise ernährt. Verbreitung und Lebensraum Skorpione finden sich weltweit auf allen Kontinenten mit Ausnahme der Antarktis. In Amerika reicht ihr Verbreitungsgebiet von Südkanada bis ins südliche Südamerika. In Europa findet man sie mit einer nördlichen Verbreitung bis in den Süden und Osten Österreichs und der Schweiz sowie bis in den Süden Tschechiens. In Österreich handelt es sich hierbei um die Arten Alpiscorpius germanus (Deutscher Skorpion), Alpiscorpius ypsilon, Alpiscorpius gamma (Gammaskorpion), Euscorpius tergestinus (Triestiner Skorpion) und in der Schweiz um die Arten Alpiscorpius alpha, Alpiscorpius beta, Alpiscorpius germanus und Polytrichobothrius italicus (Italienischer Skorpion). Aus Tschechien ist Euscorpius tergestinus bekannt. In Großbritannien und Neuseeland wurden Skorpione als Neozoen eingeschleppt. Der Schwerpunkt liegt aber in tropischen und subtropischen Regionen. Die größte Artenvielfalt findet sich in den mexikanischen Wüstengebieten. Die Tiere finden sich in den meisten Lebensräumen wie Wüsten und Halbwüsten, in der grasbewachsenen Savanne, in tropischen Wäldern, an Küsten in der Gezeitenzone, vereinzelt auch in Höhlen. Viele graben sich in den Untergrund ein, während manche Arten in Bäumen leben. Alacran tartarus ist ein Höhlenbewohner und kann bis zu 800 Metern unter der Oberfläche gefunden werden. Die meisten Arten sind aber bodenlebend und werden nach McDaniels 1968 in vier Grundtypen aufgeteilt: Psammophile Skorpione sind an sandige Habitate angepasst. Sie sind auf diesem Untergrund sehr schnelle Läufer und gut gegen Austrocknung geschützt. Lithophile Skorpione leben bevorzugt in Felslebensräumen und sind meist flach gebaut, damit sie sich gut zwischen Steinen bewegen können. Grabende Skorpione leben vor allem unterirdisch in selbst gegrabenen Höhlen. Sie verlassen diese nur zur Jagd und zur Fortpflanzung. Wandernde Skorpione wechseln ihren Lebensraum und sind entsprechend wenig an bestimmte Verhältnisse angepasst. Skorpione gelten traditionell als in trockenen Lebensräumen gedeihende Tiere, doch sind viele Arten auf eine hohe Luftfeuchtigkeit angewiesen. Lebensweise Ernährung Skorpione ernähren sich von diversen wirbellosen Tieren wie Insekten (Insecta) oder Spinnentieren (Arachnida), seltener auch von Schnecken oder kleinen Wirbeltieren wie Nagern, Schlangen und Eidechsen. Die Nahrungswahl ist dabei artspezifisch mehr oder weniger ausgeprägt, nur die Art Isometroides vescus gilt als Nahrungsspezialist und ernährt sich ausschließlich von wenigen grabenden Spinnenarten. Skorpione sind überwiegend nachtaktiv. Die meisten Arten lauern ihrer Beute in der Nähe ihrer Höhle oder anderer Unterschlupfmöglichkeiten auf. Einige Arten sind in der Lage, auch fliegende Insekten zu fangen. Auch aktive Jäger gibt es unter den Skorpionen, dabei handelt es sich meist um schlanke Tiere mit sehr starken Skorpiongiften. Beim Beutefang werden die beiden Pedipalpen als Greifzangen eingesetzt; falls sich das Opfer nicht schon dadurch wehrunfähig machen lässt, kommt der Stachel zum Einsatz, der in weniger als einer Sekunde über den Kopf hinweg geführt wird und Gift in das Beutetier injiziert. Mit den Kieferklauen wird es nun zerkleinert, während gleichzeitig Enzyme die Nahrung vorverdauen. Der flüssige Nahrungsbrei wird dann durch den Schlund in den Darm gesaugt. Der Fressvorgang kann mehrere Stunden in Anspruch nehmen. Viele Skorpione sind in der Lage, für längere Zeit, manche Arten sogar ein bis zwei Jahre, ohne Nahrung auszukommen, da ihr Ruhestoffwechsel kaum Energie verbraucht. Fressfeinde und Verteidigung Skorpione sind eine beliebte Beute für verschiedene Vögel (vor allem Eulen), Eidechsen, Schlangen, große Frösche und Säugetiere. Außerdem jagen viele Skorpione selbst andere Skorpione, sowohl der eigenen Art als auch andere Arten, und auch unter größeren Gliederfüßern haben sie Feinde wie Hundertfüßer, Walzenspinnen und Webspinnen. Um sich gegen Fressfeinde zur Wehr zu setzen, besitzen Skorpione mehrere Abwehrmechanismen. Die auffälligste Verteidigung ist die Ausstattung mit einem Giftstachel und einem hochpotenten Gift, welches in der Giftdrüse im letzten Körpersegment produziert wird und bei den meisten Skorpionen aus zwei Komponenten besteht: Einer zum Töten von Gliederfüßern als Nahrung und einer gegen Wirbeltiere zur Verteidigung. Je nach Art wirkt das Gift entweder neuromuskulär (u. a. Centruroides spp. und Parabuthus spp.) oder kardiovaskulär (u. a. Buthus spp., Mesobuthus spp. und Androctonus spp.). Für das Vergiftungsgeschehen selbst sind besonders die neurotoxischen Bestandteile relevant. Das Gift der meisten Skorpione ist in der Regel für große Wirbeltiere nur wenig gefährlich. Wie einführend benannt besitzen allerdings einige wenige Arten Gifte, die auch bei Menschen zu potentiell tödlichen kardialen und zentralnervösen Symptomen führen können. Dies betrifft ca. 10 % aller Stichunfälle, wobei insb. Ältere, (Klein-)Kinder sowie Kranke besonders gefährdet sind. Regionen, in denen es gehäuft zu (tödlichen) Stichunfällen kommt sind etwa Mexiko oder auch Iran. Besonders starke Gifte finden sich bei Vertretern der Buthidae (LD50-Wert zwischen 0,25 ppm (Millionstel Teilen) und 4,25 ppm bei der Maus). Jährlich sterben weltweit je nach Quelle etwa 1000 bis 5000 Menschen durch Skorpionstiche. Einige Tierarten haben sich auf Skorpione soweit spezialisiert, dass sie gegen die Gifte immun sind oder Verhaltensweisen besitzen, die es ihnen ermöglichen, dem Stich zu entgehen. Ihre nächtliche Lebensweise und ihr Verhalten, sich fast immer in Verstecken aufzuhalten, vermeidet außerdem den Kontakt mit potenziellen Feinden. Sozialverhalten Die meisten Skorpione sind Einzelgänger, die mit anderen Skorpionen nur in der Zeit nach der Geburt, als Jäger oder Gejagte sowie zur Paarungszeit zusammentreffen. Einige Arten zeigen jedoch ein ausgeprägtes Sozialverhalten. So gibt es Arten, die gemeinsam im gleichen Unterschlupf überwintern und dazu Aggregationen bilden. Bei einigen Arten, etwa dem Kaiserskorpion (Pandinus imperator), bleibt auch die Bindung zwischen den Jungskorpionen eines Wurfes bestehen, und sie bilden Familiengruppen, die sogar gemeinsam jagen. Fortpflanzung und Entwicklung Zu den wichtigsten Voraussetzungen für die Besiedlung des extrem trockenen Lebensraumes gehört die Gewährleistung der Fortpflanzung und somit der Schutz der Eier und Spermien vor Austrocknung. Paarung und Paarungstanz Die Männchen der Skorpione legen die Spermien in einen dafür gebildeten Behälter, die Spermatophore, ab. Diese bietet den Spermien einen Schutz vor äußeren Einflüssen. Da die meisten Arten jedoch in sehr trockenen Gegenden leben, ist auch dieser Schutz allein nicht ausreichend, wenn die Spermatophore nicht innerhalb kürzester Zeit vom Weibchen aufgenommen wird. Der „Hochzeitstanz“ der Skorpione dient dieser Funktion. Ein solcher wurde auch in dem Walt-Disney-Film Die Wüste lebt gezeigt. Zur Paarungszeit verströmen die Weibchen Sexuallockstoffe (Pheromone), die die Männchen zu ihnen führen. Haben die Männchen eines gefunden, versuchen sie durch Zuckbewegungen (juddering), dieses in Paarungsstimmung zu versetzen. Hat das Männchen seine Partnerin „überredet“, greifen sie sich an den Scheren, und der manchmal Stunden andauernde Paarungstanz beginnt. Zu Beginn des Paarungstanzes halten sich die Männchen vieler Skorpionarten nicht nur mit den Scheren am Weibchen fest. Sie stechen ihren Giftstachel in die dünne Haut am Scherenarm des Weibchens. Vermutet wird eine Stimulation des Weibchens; es ist jedoch nicht geklärt, ob das Männchen dem Weibchen auch Gift einspritzt. Beim Paarungstanz führt das Männchen das Weibchen manchmal über viele Meter und versucht mit den Kammorganen (Pectines) auf der Bauchseite einen geeigneten Ablageplatz für seine Spermatophore zu finden. Hat es ihn ertastet, verharrt es kurz und setzt die Spermatophore ab. Dann zieht es das Weibchen darüber hinweg, so dass das Sperma direkt in dessen Genitalporus eindringen kann. Damit ist der Tanz beendet, und die Partner trennen sich schnell – manchmal endet er allerdings auch mit dem Verzehr des Gatten (Kannibalismus). Beide Geschlechter können sich in ihrem Leben mehrmals verpaaren, wobei Weibchen der Buthidae auch bei Paarungen beobachtet wurden, während sie die Brut der letzten Paarung noch auf dem Rücken trugen. Entwicklung Nach einigen (bis zu zwölf) Monaten gebiert das Weibchen lebende Junge (Viviparie), die Eier werden also bereits im Uterus „ausgebrütet“. Die Anzahl der jungen Skorpione kann artspezifisch zwischen 2 und über 100 betragen. Die Jungskorpione sind bei der Geburt weiß, und jedes ist einzeln von einer Embryohaut, dem Chorion, umschlossen. Nachdem sich die Jungskorpione aus dieser befreit haben, steigen sie auf den Rücken der Mutter, die sie bis zur ersten Häutung herumträgt. Die erste Häutung erfolgt je nach Art und äußeren Bedingungen nach 1 bis 51 Tagen. In dieser Zeit sind die Weibchen besonders aggressiv. Die Ernährung der Jungskorpione erfolgt in dieser Zeit durch körpereigene Reserven, Flüssigkeit bekommen sie durch die Rückenhaut der Mutter. Nach der ersten Häutung verlassen die Jungen ihre Mutter und sind auf sich selbst gestellt. Die weitere Entwicklung läuft über mehrere, meist fünf bis acht, weitere Häutungen. Danach sind die Tiere geschlechtsreif. Nach dem Erreichen dieser Geschlechtsreife finden keine weiteren Häutungen mehr statt. Gefährdung Gegenwärtig stehen drei Arten der Skorpione auf der Roten Liste der International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN): Isometrus deharvengi, ein höhlenbewohnender Skorpion aus Vietnam, sowie Chiromachus ochropus und Lychas braueri, zwei Endemiten der Seychellen. Drei Arten, der Kaiserskorpion (Pandinus imperator) sowie Pandinus dictator und Pandinus gambiensis werden in Anhang II des Washingtoner Artenschutz-Übereinkommens geführt und sind Exportkontrollen unterworfen. Stammesgeschichte Als Landbewohner mit einer relativ dünnen Chitinschicht hinterlassen Skorpione nur sehr selten Fossilreste, entsprechend wenig ist bekannt über die Evolution der Tiere. Die meisten Erkenntnisse stammen aus der phylogenetischen Forschung. So kann aufgrund der Position der Skorpione an der Basis der Spinnentiere davon ausgegangen werden, dass die Skorpione von marinen Formen abstammen, die gleichzeitig auch die Stammarten der an den Meeresküsten lebenden Pfeilschwanzkrebse (Xiphosura) und der ausgestorbenen Seeskorpione (Eurypterida) gewesen sein dürften. Alle meereslebenden Arten benutzten noch Kiemen zur Atmung, die bei den Pfeilschwanzkrebsen an der hinteren Innenseite von Extremitäten angelegt waren. Die Fächerlungen der Skorpione sind aus den Kiemen ihrer Vorfahren hervorgegangen. Erste Fossilien eindeutig landlebender Skorpione fanden sich aus dem späten Silur vor etwa 430 bis 390 Millionen Jahren. Diese frühen Arten waren wahrscheinlich amphibisch lebende Formen, die mit Kiemen ausgestattet und an das Leben an den Meeresküsten und im Tidenbereich angepasst waren. Eine Aufsplitterung der Formen begann ebenfalls zu dieser Zeit und war im Devon bzw. spätestens im Karbon vor etwa 325 Millionen Jahren bereits abgeschlossen. Aus dieser Zeit sind Fossilien beinahe aller heute lebenden Skorpionstaxa bekannt, von denen die größten mehr als 85 Zentimeter lang wurden. Die Skorpione stellen die ursprünglichste Gruppe innerhalb der Spinnentiere dar und werden entsprechend als Schwestergruppe aller anderen Spinnentiere angesehen. Systematik Die systematische Einteilung der Skorpione erfolgt auf der Basis von morphologischen Eigenschaften wie der Anzahl und Verteilung der Trichobothrien, der Form des Sternums, der Mundstrukturen, der Bezahnung der Cheliceren, der Gestaltung der Beine, des Telson und vielen weiteren Merkmalen. Daneben spielen Besonderheiten der Embryologie sowie der inneren Anatomie eine Rolle. Aktuell werden die heute lebenden Skorpione meist in 13 Familien und jeweils mehrere Gattungen aufgeteilt (nach Fet et al. 2000): Bothriuridae , 1880 14 Gattungen Buthidae , 1837 99 Gattungen, u. a. Karasbergia , 1913 Lychas , 1845 Parabuthus , 1890 Uroplectes , 1861 Caraboctonidae , 1905 Caraboctonus , 1893 Hadruroides , 1893 Hadrurus , 1876 Chactidae , 1893 11 bis 16 Gattungen Chaerilidae , 1893 Chaerilus , 1877 Euscorpiidae , 1896 14 Gattungen, u. a. Euscorpius , 1876 Alpiscorpius 2019 Hemiscorpiidae , 1893 12 Gattungen Iuridae , 1876 Calchas nordmanni , 1899 Iurus dufoureius , 1832 Microcharmidae , 1996 Microcharmus Lourenço, 1995 Neoprotobuthus Lourenço, 2000 Pseudochactidae , 1998 Aemngvantom 2012 Pseudochactas Gromov, 1998 Troglokhammouanus Scorpionidae , 1802 Heterometrus Ehrenberg, 1828 Opistophthalmus C. L. Koch, 1837 Pandinus Thorell, 1876 Scorpio Linnaeus, 1758 Superstitioniidae , 1940 Superstitioniidae , 1940 Vaejovidae , 1876 23 Gattungen Die Buthidae sind die größte Familie der Skorpione (Scorpiones) mit 1.352 Arten in 99 Gattungen (Stand: 28. März 2023). Zu dieser Familie gehören auch die meisten gefährlich giftigen Arten. Eine weitere Familie, die nur durch Akrav israchanani bekannten Akravidae, ist vermutlich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgestorben. Ebenso die Gattung Electrochaerilus der Familie Chaerilidae. Mensch und Skorpione Volksmedizin Als Bild sollten Skorpione den bösen Blick abwenden, weshalb man ihr Bildnis auf Lampen und anderen Gegenständen finden kann. Als Talisman soll ein Skorpion die Stadt Emesa in Vorderasien vor echten Skorpionen und Schlangen beschützt haben. Als giftiges Tier fand der Skorpion unterschiedlichste Verwendungen in der Volksmedizin. Nach Megenberg konnten Skorpionsasche, in Wein getrunken, und Skorpionsöl, mit dem man die Stichstellen einreiben musste, gegen das Gift der Tiere helfen. Das „Skorpenöl“ wurde gewonnen, indem man lebende Skorpione in Olivenöl tauchte und dieses dann erhitzte. Mit diesem Öl sollten sich verschiedenste Beschwerden heilen lassen, darunter Wunden, Koliken, Gicht und Ohrenschmerzen. In Tirol verwendete man das Öl sogar gegen Harnwegsbeschwerden und die Pest sowie gegen Bienen- und Wespenstiche. Die Galle der Skorpione wurde gegen Augenleiden und zur Hautverschönerung eingesetzt. Im Aberglauben und der Volksmedizin spielt der Skorpion vor allem aufgrund seines Giftes in einigen Völkern eine große Rolle. Konrad von Megenberg beschrieb die Tiere in seinem Buch der Natur als „eine Schlangenart, welche ein gar zartes Gesicht hat, dem Antlitz einer keuschen Jungfrau zu vergleichen. Wer vom Skorpion vergiftet wird, hat noch drei Tage Zeit, ehe er sterben muß.“ Er führt seine Beschreibung weiter, indem er von zweistachligen Skorpionen berichtet, von denen Aristoteles berichtet hat. Unter den Schweinen soll das Gift nur schwarze Schweine sicher töten; die Giftwirkung werde noch beschleunigt, wenn diese ins Wasser gingen. Beim Menschen greife der Skorpion zudem nur behaarte Körperstellen an und steche niemals in die hohle Hand. Ein weiteres Kuriosum weiß Konrad von Megenberg zu berichten: „Wenn man einen Skorpion in Öl ertränkt und bei Sonnenlicht Essig auf ihn gießt, wird er sofort wieder lebendig. Das Öl verstopft nämlich die kleinen Öffnungen an seinem Leibe, die beim Menschen Schweißlöcher und lateinisch Pori heißen. Der Essig dagegen öffnet beim Skorpion die Poren wieder.“ Weitere interessante Geschichten waren über die Entstehung der Skorpione verbreitet. Im Altertum gab es nach Otto Kellers Antike Tierwelt die Vorstellung, Skorpione erwüchsen aus gestorbenen Krokodilen oder (nach Plinius) aus begrabenen Seekrebsen, wenn die Sonne das Sternbild des Krebses durchwandert. Nach Paracelsus entstanden Skorpione aus verfaulenden Artgenossen, die sie dadurch töteten. Ähnlich ist die Vorstellung, dass sich die Jungskorpione aus dem Bauch der Mutter herausfressen. Im deutschen Aberglauben soll der Skorpion nachts fliegen und alles, was er berührt, vertrocknen lassen. Als Sternbild Skorpion taucht das Tier bereits in Kalenderzeichnungen der Babylonier auf. In der Wahrsagerei bedeutete der Skorpion einen frühen Tod. Skorpione in der Kulturgeschichte Skorpione spielen in der Kulturgeschichte seit Jahrtausenden eine Rolle. Sie werden in Sagen und Mythen meist als gefährliche, todbringende Wesen dargestellt. Skorpion I. ist der früheste namentlich bekannte König Altägyptens, womit sozusagen zu Beginn der Menschheitsgeschichte ein Skorpion steht. Bereits das sumerische Gilgamesch-Epos erzählt von Skorpionmenschen, deren Oberkörper Menschengestalt und Unterkörper Skorpionsgestalt hat. Als der Held Gilgamesch den Berg Mâschu betritt, stellen sich ihm ein solcher Skorpionmann und eine Skorpionfrau in den Weg, deren „Furchtbarkeit ungeheuer ist, deren Anblick Tod ist“. Sie bewachen dort den Aus- und Einzug der Sonne. Noch nie hat es ein Mensch gewagt, diesen Weg zu gehen, doch Gilgamesch gelingt es, die Skorpione zu überzeugen, ihn vorbeizulassen. Die ägyptische Mythologie kennt die Göttin Selket, welche stets mit einem Skorpion auf dem Kopf dargestellt wird. Sie verfügt über magische Heilkräfte und bewahrt vor Skorpionsstichen, weshalb sie in entsprechenden Schutzzaubern angerufen wird. Als die Göttin Isis von Seth bedroht wird, sendet sie sieben Skorpione aus, um sie vor ihm zu schützen. Hededet hat den Unterkörper eines Skorpions. Auch der punische Heilgott Schadrapa wurde mit Schlange oder Skorpion dargestellt. In der griechischen Mythologie bringt die wütende Göttin Artemis einen Skorpion hervor, der den Jäger Orion mit einem Stich tötet. Beide werden daraufhin zusammen als Sternenbilder an den Himmel versetzt. Ihre Feindschaft lebt dort weiter, denn man sieht die zwei Sternbilder nie zur gleichen Zeit. Auch in der biblischen Offenbarung des Johannes treten Skorpione während der Apokalypse auf. Die fünfte Posaune ruft Heuschrecken hervor, die eine Kraft erhalten, „wie sie Skorpione auf der Erde haben.“ (). Der von ihnen verursachte Schmerz wird mit dem eines stechenden Skorpions () verglichen, denn sie besitzen Schwänze mit Stacheln wie die Skorpione und setzen diese ein, um den Menschen fünf Monate lang zu schaden (). „Oh, full of scorpions is my mind“ sagt MacBeth in Shakespeares Drama (Akt III, Szene 2) nach dem heimtückischen Dolchmord. Gottlieb Konrad Pfeffels Gedicht Skorpion und Hirtenknabe warnt vor bösen Menschen. Anna Elisabet Weirauch schrieb Der Skorpion (1919), Anna-Leena Härkönen (siehe Regine Pirschel) Der traurige Skorpion (1989). Bruna Surfistinhas Das süsse Gift des Skorpions (2007) behandelt Prostitution. Hinrich Matthiesens Der Skorpion (2015) ist ein Krimi. Skorpionstiche kommen vor in John Steinbecks Novelle Die Perle und den Filmen Das blaue Paradies (1982) oder Die letzte Mätresse (2007). Skorpione eignen sich mit Blick auf altägyptische Mythologie bzw. das gleichnamige Sternbild für Fantasy – wie auch Science Fiction – Werke. In Filmtiteln steht das Wort für Aktion, gepaart mit Heimtücke, auch in Verbindung mit Sexualität: Der goldene Skorpion (1921), Der blonde Skorpion (1958), Der Schwanz des Skorpions (1971), Sasori – Scorpion (1972), Scorpio, der Killer (1973), Hungrige Skorpione (1985, siehe Julia Kent (Schauspielerin)), Red Scorpion (1989), Die Jagd nach dem goldenen Skorpion (1991), Der Skorpion (1997), Bichhoo (2000), Der schwarze Skorpion (2000), Im Bann des Jade Skorpions (2001), The Scorpion King (2002), Der Stich des Skorpion (2004), Scorpion – Der Kämpfer (2007), Scorpion (Fernsehserie, seit 2014). In Rote Laterne (1991) hat die Intrigantin „das Gesicht eines Buddhas, aber das Herz eines Skorpions.“ Im Actionfilm Drive (2011) zeigt die Jacke des agilen, einsamen Helden einen Skorpion am Rücken. Krimis zitieren auch die Fabel vom Skorpion und dem Frosch: Der Skorpion lässt sich vom Frosch über den Fluss tragen und verspricht, er steche ihn nicht, sonst stürben sie ja beide. Dann tut er es doch: So sei eben seine Natur. Skorpion oder englisch Scorpion ist ein Name für Motorräder (MZ Skorpion), Autos (Skorpion (Automarke), Scorpion (Humberstone), Scorpion (Innes Lee), Ford Scorpio, Mahindra Scorpio), Jagdflugzeuge (Suchoi Su-25, EADS Scorpio, Textron AirLand Scorpion), eine Maschinenpistole, Panzer (Scorpion, Minenwurfsystem Skorpion), Kampfschiffe (z. B. die SMS Scorpion) und ein antikes Geschütz. Scorpions heißen Sportvereine und Rockbands, Cor Scorpii eine Metal-Band. Seltener ist skorpionähnliche Bauweise einer Maschine namensgebend, wie beim Teleskoplader Claas Scorpion, dem Tauchroboter ROV Scorpio oder einem Gehroboter. Namensgebungen zur Raumfahrt spielen wohl auf das Sternbild Skorpion an, z. B. Richard Morgans Roman Skorpion (2007), der Film Stunde des Skorpions (1968). Gesetzliche Regelung Das nordrhein-westfälische Gifttiergesetz reglementiert seit dem 1. Januar 2021 die Haltung von allen Arten der Gattungen Androctonus, Apistobuthus, Buthacus, Buthus, Centruroides, Hottentotta (Buthotus), Leiurus, Mesobuthus, Odonthobuthus, Parabuthus und Tityus sowie die Arten der Gattungen Bothriurus, Hemiscorpius und Nebo einschließlich ihrer Unterarten und Kreuzungen. Quellen Einzelnachweise Literatur Gesamtdarstellungen Arachne – das Fachmagazin für Spinnentiere. Deutsche Arachnologische Gesellschaft. Druck und Papier Meyer, Scheinfeld 1.1995ff. . M. E. Braunwalder: Scorpiones. Fauna Helvetica. Bd 13. CSCF/SZKF, Neuchâtel 2005, ISBN 2-88414-025-5. J. Leeming: Scorpions of Southern Africa. Struik Publishers, Cape Town 2003, ISBN 1-86872-804-8. Dieter Mahsberg, R. Lippe, S. Kallas: Skorpione. Natur und Tier-Verlag, Münster 1999, ISBN 3-931587-15-0. Gary A. Polis (Hrsg.): The Biology of Scorpions. Stanford University Press, California 1990, ISBN 0-8047-1249-2. P Weygoldt: Chelicerate, Spinnentiere. in: Wilfried Westheide, Rieger (Hrsg.): Spezielle Zoologie. Teil 1. Einzeller und Wirbellose Tiere. Gustav Fischer Verlag, Stuttgart 1997, Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2004, ISBN 3-8274-1482-2. Günter Schmidt: Skorpione und andere Spinnentiere. Landbuch-Verlag, Hannover 1992, 1996, 1999, ISBN 3-7842-1313-8. Spezielle Literatur W. Bücherl: Classification, Biology and Venom Extraction of Scorpions. in: Wolfgang Bücherl, Eleanor E.Buckley: Venomous Animals and their Venoms. Academic Press, New York 1971, pp. 317–348, ISBN 0-12-138902-2. V. Fet, W. D. Sissom, G. Lowe & M. E. Braunwalder: Catalog of the Scorpions of the World (1758–1998). The New York Entomological Society, New York 2000, ISBN 0-913424-24-2. E. N. Kjellesvig-Waehring: A restudy of the fossil Scorpionida of the World. in: Palaeontographica Americana. Palaeontological Research Institution, Ithaca / New York 55.1986, pp. 1–287, . E. E. Ruppert, R. S. Fox, R. P. Barnesm: Invertebrate Zoology – A functional evolutionary approach. (Kap. 18.) Brooks/Cole 2004, S. 565, ISBN 0-03-025982-7. M. E. Soleglad, V. Fet: High-level systematics and phylogeny of the extant scorpions (Scorpiones: Orthosterni). in: Euscorpius. (nur elektronische Resource) Marshall University, Huntington / W. Va. 11.2003, pp. 1–175 (Download). Euscorpius (Zeitschrift) Kulturgeschichte Hanns Bächtold-Stäubli (Hrsg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Walter de Gruyter, Berlin 1927–42, 1987, 2000 (Reprint), ISBN 3-11-016860-X. Weblinks ARACHNODATA: Informations- und Beratungsfachstelle für Skorpione und andere Spinnentiere Deutsche Arachnologische Gesellschaft e. V. – DeArGe (Publikationsorgan: „ARACHNE“ – ) Scorpiologie-Journal mit Online-Zugang zu allen Artikeln (englisch) The Scorpion Files (englisch)
147968
https://de.wikipedia.org/wiki/Tabakpfeife
Tabakpfeife
Die Tabakpfeife (mitunter auch Tabakspfeife oder kurz auch einfach Pfeife) ist ein Rauchinstrument, in dem in einer Brennkammer Tabak verglimmt und der dabei entstehende Rauch durch ein Mundstück abgegeben wird. Die Tabakspfeife ist fast so lange bekannt wie das Tabakrauchen selbst und Bestandteil vieler nord- und südamerikanischer Kulturen. Das Pfeifenrauchen war neben dem Tabakschnupfen und dem Tabakkauen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die verbreitetste Art, Tabak zu konsumieren. Seither sind Tabakspfeifen und Pfeifenraucher durch die Verbreitung von Zigaretten und Zigarren zunächst in den Hintergrund gerückt. Geschichte Die Datierung der ältesten europäischen Pfeifenfunde ist seit dem 19. Jahrhundert immer wieder Gegenstand harter fachlicher Diskussionen. Ob ein Objekt aus Bad Abbach, Niederbayern, aus der mittleren Bronzezeit (1600–1300 v. Chr.) tatsächlich eine Pfeife zum Rauchen ist, darf stark bezweifelt werden. Da Tabak als neuweltliche Pflanze im damaligen Europa nicht vorkam, wird angenommen, dass hiermit vermutlich Obst, getrocknete Kräuter oder Hanf geraucht wurden. Grundsätzlich besteht unter Tonpfeifenforschern momentan kein Zweifel daran, dass die ältesten zum Rauchen von Tabak genutzten Pfeifen im späten 16. Jahrhundert in England gefertigt wurden. Der älteste bekannte Fund einer Pfeife, die definitiv zum Tabakrauchen genutzt wurde, stammt von der Insel Marajó an der Amazonas-Mündung. Sie wurde auf die Zeit des 15. Jahrhunderts v. Chr. datiert. Pfeifenähnliche Gegenstände waren zu jener Zeit auch im Nahen Osten bekannt, wo mit ihnen wahrscheinlich Hanf oder Opium konsumiert wurde. In der Zeit vor Christoph Kolumbus war das Pfeifenrauchen im gesamten nördlichen Amerika bekannt, lediglich die Inuit sollen diese Sitte erst 100 Jahre nach Kolumbus übernommen haben. Meistens wurden die damaligen Pfeifen aus Holz, Horn, Catlinitstein oder Keramik hergestellt. Der spanische Mönch Román Pané, der Kolumbus auf seiner zweiten Reise begleitete, beschrieb 1496 die zweizackige Tabakspfeife, die er bei den Bewohnern von Santo Domingo gesehen hatte. Die Friedenspfeife () ist noch heute ein bekanntes und gebräuchliches Symbol für eine Streitschlichtung. Die Friedenspfeife wurde früher „heilige Pfeife“ genannt und diente mehreren indianischen Ethnien, wie zum Beispiel den Lakota-Indianern, zum Gebet. Die „heilige Pfeife“ wurde auch zu Friedensabschlüssen, zur „Besiegelung“ von Freundschaften und während des Abschlusses von Verhandlungen, Geschäften und Verträgen geraucht. Daher prägten die weißen Siedler, die in diesen Zusammenhängen mit dem Ritual in Berührung kamen, den Begriff „Friedenspfeife“. Seit durch den kulturellen Austausch mit den Indianern zusammen mit dem Tabak auch die Tabakspfeife aus der Neuen Welt nach Europa kam, haben sich bis heute vielfältige technische Variationen in der Pfeifenherstellung ergeben. Grundsätzlich muss man zwischen Tonpfeifen, Metallpfeifen und Holzpfeifen unterscheiden. Für letztere verwendete man seit dem Ende des 19. Jahrhunderts auch Bruyèreholz zur Herstellung und seit dem 20. Jahrhundert Maschinen für die Massenherstellung günstigerer Pfeifen. Zur Herstellung von Tonpfeifen bediente man sich in verschiedenen Regionen Europas verschiedener Methoden. Hochwertige Pfeifen wurden in zweiteiligen Metallmodeln ausgeformt, einfachere Pfeifen konnten auch von Hand gerollt werden. Es gibt auch Pfeifenmodelle, die ganz oder teilweise auf der Töpferscheibe gedreht oder aus zwei Teilen zusammengesetzt wurden. Die typische Pfeifenform hat sich im Gegensatz zu den langen, dünnen Pfeifen der amerikanischen Ureinwohner stark verändert. Die Tabakspfeife wurde kürzer und kleiner, bekam einen größeren Kopf, einen kürzeren Holm und ein gebogenes Mundstück. Die heute bekannte Tabakspfeifenform wird erst seit dem 18. Jahrhundert verwendet. Die amerikanischen und europäischen Tonpfeifen blieben bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts das gebräuchlichste Rauchinstrument für Tabak und können durch die auf ihnen angebrachten Marken oder Aufschriften sehr exakt datiert werden. So können Tonpfeifen innerhalb einer archäologischen Grabung eine gute Datierungshilfe sein. In den Niederlanden (vor allem die Stadt Gouda ist hierfür bekannt) wurden bis etwa zum Jahr 1900 lange, schmale Tonpfeifen geraucht. Auf den Gemälden Jan Steens, Jan Vermeers und anderer Meister aus dem 17. Jahrhundert sind sie oft abgebildet. Die Abbildung einer Pfeife hatte oft eine moralisierende Bedeutung. Sie galt, wie der Weinbecher und die Seifenblase, als Sinnbild der Unmäßigkeit oder der Eitelkeit. Im Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach findet sich ein Loblied Johann Sebastian Bachs auf seine „Tobackspfeife“, in der er sich selbst mit dieser identifiziert und vergleicht. Von vielen Leuten (u. a. von J. R. R. Tolkien) wird das Pfeifenrauchen, im Gegensatz zum Zigaretten- oder Zigarrenrauchen, als eine „Kunst“ bezeichnet, da das erfolgreiche Rauchen einer Pfeife dem Raucher ein nicht zu unterschätzendes Maß an Können und vor allem Erfahrung abverlange. Nachdem in vielen Dörfern ganze Häuserreihen abbrannten, wurden im 18. Jahrhundert unter Pfalzgraf Karl IV. der Verhütung eines Feuerbrandes dienende strenge Anordnungen erlassen, in denen auch der vorschriftsmäßige Gebrauch einer Tabakspfeife geregelt war. Aufbau Eine Tabakspfeife besteht meistens aus einer Kammer zur Verbrennung des Tabaks und einem Holm, der vom Pfeifenkopf aus im Mundstück endet. Das Mundstück wurde früher aus Naturkautschuk (Ebonit) gefertigt, besteht heutzutage aber meistens aus hitzebeständigem Acryl und wird in den Holm eingesteckt. Ebonitmundstücke haben den Vorteil, dass ihr Biss weicher ist. Ihr entscheidender Nachteil ist aber, dass sie sich im Laufe der Zeit durch Oxidation grünlich verfärben und dann unangenehm schmecken. Um dieses zu verhindern, müssen sie oft gereinigt und poliert werden. Verschiedentlich wird der Zapfen, der Teil des Mundstückes, der in den Pfeifenkopf gesteckt wird, aus Teflon gefertigt. Manche Pfeifen verfügen über einen sog. Saftsack. Dieser dient dazu, Kondensflüssigkeit und Speichel aufzufangen. Der Pfeifenholm ist oft so gearbeitet, dass zwischen Kopf und Holm ein Filter eingesetzt werden kann. In Deutschland ist dieses System mit einer Auslegung für Filter mit einem Durchmesser von 9 mm vorherrschend. Populärster Filterstoff ist dabei Aktivkohle. Jedoch sind auch filterlose Pfeifen oder Pfeifen mit anderen Filterformaten erhältlich. In vielen ausländischen Regionen und Staaten ist nur ein einziges bestimmtes Pfeifenformat erhältlich. Des Weiteren gibt es einige wenige Hersteller, die Spezialfilter für eigentlich filterlose Pfeifen herstellen. Diese Filter sind je nach Durchmesser des Holmes durchnummeriert: Je kleiner der Durchmesser, desto höher die Nummer. Zum Beispiel hat ein Filter der Nummer 4 einen Durchmesser von 3 Millimetern, ein Filter der Nummer 5 einen Durchmesser von 2 Millimetern. Der Tabakrauch wird von der Glutstelle durch den restlichen Tabak in den Holm gesogen, wo er eventuell gefiltert und durch das Mundstück in den Mund aufgenommen wird. Mundstücke, mit denen der Raucher die Pfeife mit den Zähnen im Mund halten kann, sind am weitesten verbreitet. Diese Form nennt man Normalbiss. Seltener sind Mundstücke, die so geformt sind, dass man die Pfeife sowohl mit den Lippen als auch mit den Zähnen im Mund halten kann. Diese Mundstücke haben die etwas missverständliche Bezeichnung Lippenbissmundstück. Der entscheidende Unterschied ist, dass die Rauchöffnung nach oben in Richtung des unempfindlicheren Gaumens gerichtet ist. Bei Normalbissmundstücken ist sie auf die geschmacks- und temperaturempfindlichere Zunge gerichtet. Durch die Abwinklung zum Gaumen lassen sich Lippenbissmundstücke schlechter reinigen. Einige Pfeifenhersteller legen diese speziellen Mundstücke einer Pfeife als Bonus bei. Herstellung, Formen und Preise Tabakspfeifen können maschinell oder von Hand gefertigt werden, was sich im Verkaufspreis niederschlägt. Handgemachte Pfeifen lassen sich meistens erst ab 100 Euro aufwärts kaufen, während maschinell gefertigte bereits ab 5 Euro zu haben sind. „Markenpfeifen“ von bekannten Pfeifenherstellern wie Dunhill, Stanwell oder Vauen können mehrere hundert Euro kosten. Sammlerpfeifen, wie signierte und limitierte Jahres- und Weihnachtspfeifen, Einzelstücke wie Freehandpfeifen und Antiquitätenstücke, können einen mittleren fünfstelligen Euro-Preis erreichen. Der Preis richtet sich weiterhin nach dem Renommee des Herstellers und insbesondere nach der verwendeten Holzqualität. Pfeifenköpfe ohne Kittstellen zur Kaschierung von natürlich gewachsenen Holzfehlern sind besonders selten und teuer. Interessante Holzmaserungen werden Straight Grain, Cross Grain oder Birds Eye genannt. Ein Straight Grain ist eine Maserung aus geraden, parallelen und engen Linien. Cross Grains sind Linien, die sich zu schneiden scheinen, und der Birds Eye ist ein charakteristischer kleiner Ring an einer Seite des Pfeifenkopfes oder am Holm, der an ein Vogelauge erinnert. Pfeifen der unteren Preiskategorien haben meistens kaum eine erkennbare Maserung und sind zudem dunkel lackiert. Außer der glatten Oberfläche sind auch bearbeitete Oberflächen (rustiziert oder sandgestrahlt) bekannt. Zur Verzierung können an der Pfeife Applikationen aus Acryl, Edelhölzern oder Metallen wie Messing, Silber oder Gold angebracht sein. Bei den Formen wird zwischen klassischen Pfeifenformen und den frei gestalteten Freehandpfeifen, die Pfeifenmacher ohne Zuhilfenahme von Planungen oder Vorlagen entwickeln, unterschieden. Manche Pfeifenraucher kaufen preiswerte gebrauchte Pfeifen (Estatepfeifen), um sie nach ihren Bedürfnissen anzupassen, zu restaurieren, zu sammeln oder um eine günstige Pfeife zum Rauchen zu haben. Heute wird, ohne Einbeziehung von Freehandpfeifen, zwischen zwanzig und fünfzig Pfeifenformen unterschieden. Die bekanntesten und meistverkauften Formen sind die Billiard und die Bent. Die Billiard-Pfeife ist eine zehn bis fünfzehn Zentimeter lange Pfeife mit geradem Holm und geradem Mundstück. Ohne Benutzung der Hände ist sie schwer im Mund zu halten und daher eher eine Pfeifenform für Pfeifenraucher, die während des Rauchens keiner anderen Beschäftigung nachgehen. Die Bent-Pfeife ist eine gute Wander- oder Lesepfeife. Sie lässt sich einfach mit den Zähnen im Mund halten und ist für viele Raucher durch den abgeknickten Holm und das gebogene Mundstück ästhetischer. Die Pfeifenform hat kaum Einfluss auf den Geschmack des Tabaks. Wenn der Tabakrauch jedoch durch einen langen Holm und ein langes Mundstück gezogen wird, zum Beispiel bei Lesepfeifen, die ein langes Mundstück von ungefähr zwanzig Zentimetern haben, ist der Rauch kühler und wird als angenehmer empfunden. Darüber hinaus verringert ein langer Holm bei Lesepfeifen eine Reizung der Augen durch den Rauch. Materialien Das Material einer Pfeife hat einen nicht unerheblichen Einfluss auf den Geschmack und die Ästhetik der Pfeife. Tabakspfeifen werden aus vielen verschiedenen Materialien gefertigt. Die am häufigsten benutzten sind Bruyère-Holz, Sepiolith (Meerschaum), Ton oder andere Hölzer wie Kirschbaum und Olivenbaum. Auch Mooreichenholz wird zum Pfeifenbau verwendet. Seltener hergestellt und daher sehr teuer sind Pfeifen aus den speziell gezüchteten afrikanischen Calabash-Kürbissen mit Meerschaumeinsatz. Glaspfeifen sind eher Kunstobjekte, wobei diese auch zum Rauchen von Cannabis benutzt werden. Ton Die ersten europäischen Tabakspfeifen wurden von Pfeifenbäckern oder Töpfern bzw. Hafnern aus Ton gefertigt. Zur Herstellung bediente man sich in verschiedenen Regionen Europas verschiedener Methoden. Qualitätsvolle Pfeifen wurden in zweiteiligen Metallmodeln ausgeformt, einfachere Pfeifen konnten auch von Hand gerollt werden. Es gibt auch Pfeifenmodelle, die ganz oder teilweise auf der Töpferscheibe gedreht oder aus zwei Teilen zusammengesetzt wurden. Durch das beständige Material und die regional unterschiedlichen Formen und Herstellerstempel sind Tabakspfeifen zu wertvollen Datierungshilfen für Archäologen geworden. Auch Sammler begeistern sich für diese Art von Pfeifen. Tonpfeifen wurden im 19. Jahrhundert mehr und mehr durch Holzpfeifen verdrängt, die handlicher und nicht so zerbrechlich waren. Heute werden Tonpfeifen wegen ihres geringen Anschaffungspreises überwiegend als Gastpfeifen verwendet. Durch das hitzebeständige Material eignen sie sich außerdem als Probierpfeifen für neue Tabaksorten. Nach dem Gebrauch können sie durch Ausglühen wieder vollständig gereinigt werden. In Norddeutschland spielen sie auf Traditionsveranstaltungen, wie der Schaffermahlzeit in Bremen, nach wie vor eine große Rolle. Hier gelten sie nun gerade als Zeichen der Distinktion. Bruyèreholz Die meisten der heute verkauften Pfeifen, ob handgemacht oder maschinell gefertigt, sind aus Bruyèreholz gefertigt. Erstmals wurde um 1850 dieses sehr glutbeständige Holz von Pfeifenmachern aus dem französischen Juraort Saint-Claude zur Tabakspfeifenherstellung verwendet. Bruyère ist aus den Wurzelknollen (Maserknolle) der Baumheide gefertigt, die meistens in mediterranen Gegenden wild wächst. Es weist eine Struktur auf, die abwechselnd aus festen Bestandteilen und solchen mit schwammigem Charakter besteht, die sehr viel Kondensat aufnehmen können. Es hat eine typische helle Holzfarbe, die mit Beizen und Lacken farblich verändert werden kann, ohne seine holztypischen Maserungen zu verlieren. Dazu erntet man die mit 30 bis 60 Jahren etwa fußballgroßen Wurzelknollen (Souches, Burls) und lagert sie mehrere Monate, ab und zu müssen sie bewässert werden, bevor sie weiterverarbeitet werden. Nach dem Zersägen kocht man die Holzstücke (Kanteln, Ebauchons) bis zu 12 Stunden in Kupferkesseln. Dabei werden dem Holz die natürlichen Säfte, Harze und Säuren entzogen. Meist jedoch ist die Qualität durch Holzwürmer, Brandschäden und eingeschlossene Steine schlecht, sodass aus den Knollen häufig nur wenig verwertbar ist, rund 70 % des Holzes ist Abfall. Das beste Holz erhält man aus den äußeren Regionen der Knolle, dem sogenannten Plateaux, Plateau-Holz, das meistens eine sehr schöne Maserung aufweist. Es wachsen mit der Zeit auch Steinchen und Sandkörner in das Holz ein, die später zu Kittstellen werden. Darum ist das Holz auch sehr teuer. Abschließend wird das Holz über mehrere Wochen getrocknet und dann für mehrere Monate gelagert. Je weniger Fehler im Holz und je dichter und schöner die Maserungsverläufe sind, desto höher ist der Preis. Nur wenige Stücke sind komplett frei von Einschlüssen und können zu kittfreien Pfeifen verarbeitet werden, was sich dann natürlich auch im Preis widerspiegelt. Das Holz (Bruyere, Bruyère, von franz. Bruyère = Erica; engl. Briar root) ist hell- bis rotbraun, häufig schön gemasert, sehr hart und schwer, aufgrund mineralischer Ablagerungen (Kieselsäure) ist es hitzeresistent, dadurch beeinträchtigt es das Aroma des Pfeifentabakrauchs nicht. Kunststoff Weiterhin sind Kunststoffpfeifen (aus Bakelit oder Kunststoffpfeifen mit Metalleinsatz) auf dem Markt. Maiskolben Seit den 1860er Jahren werden im US-Bundesstaat Missouri Pfeifen aus dem Innenteil (der sogenannten Spindel) von Maiskolben hergestellt. Für den Pfeifenbau wird eine spezielle Maissorte verwendet, die größer und härter als der bekannte Gemüsemais ist. Der Mais wird ausschließlich zu diesem Zweck angebaut. Durch den günstigen Rohstoffpreis wird diese Pfeife gerne als Gastpfeife angeboten. Allerdings ist die Haltbarkeit bei weitem nicht so groß wie die einer Bruyère-Pfeife. In Anlehnung an den ersten industriellen Hersteller dieser Pfeife wird sie auch als Missouri Meerschaum bezeichnet. Meerschaum Meerschaumpfeifen stammen ursprünglich aus der Türkei. Dort waren sie aller Wahrscheinlichkeit nach bereits im 17. Jahrhundert nach der Einführung des Tabaks im Gebrauch. Seit 1700 ist die nordanatolische Stadt Eskişehir ein Herstellungszentrum dieses Pfeifentyps; in Europa ist er seit dem 18. Jahrhundert bekannt. Während ungerauchte Meerschaumpfeifen weiß sind, dunkeln sie bei häufigem Gebrauch nach. Diese Eigenheit unterscheidet sie von anderen Pfeifenmodellen. Meerschaumpfeifen werden aus dem Tonmineral Sepiolith angefertigt, das nach der türkischen Bezeichnung lületaş ursprünglich „Lüle-Stein“ genannt wurde. Dieses hauptsächlich in der Region um Eskişehir vorkommende, mit dem Magnesit verwandte Magnesiumsilikat wurde bereits im Jahre 1173 zwischen den dortigen fossilen Kalksedimenten gewonnen, die in Tiefen von bis zu 250 Metern lagern. Daneben finden sich weitere Vorkommen des Minerals in Tansania, aber auch z. B. in Italien bei Baldissero Canavese (Piemont). Die Vorteile von Meerschaumpfeifen gegenüber Pfeifen aus Holz bestehen u. a. darin, dass ein Einrauchen überflüssig wird, dass sie zunächst geschmacksneutral sind und dass das Material (Sepiolith = umgangssprachlich „Meerschaum“) überaus feuerbeständig ist. Sie bieten also eine geringe Geschmacksabsorption. Das heißt, dass ein Anbrennen einer solchen Pfeife theoretisch ausgeschlossen ist und es problemlos möglich ist, eine solche Pfeife heiß zu rauchen. Ein Nachteil besteht allerdings darin, dass Meerschaum Tabakaromen aufnimmt, welche beim Rauchen verschiedener Tabaksorten stören. Außerdem ist Meerschaum ein sehr zerbrechliches Material. Ein Abfallprodukt des Meerschaums ist „Massa“, eine Masse, die aus den Abfällen der Blöcke und einigen anderen Substanzen wie Gips und einem Bindemittel vermischt, zu entsprechenden Blöcken gepresst und zu Pfeifen verarbeitet wird. Die Pfeifen aus diesem Material sind daher – wie das Ausgangsmaterial selbst – etwas schwerer als der echte Meerschaum. Es werden auch Pfeifen aus Bruyèreholz angeboten, die einen Einsatz aus Meerschaum besitzen. Sie sind billiger und weniger empfindlich in der Handhabung. Pappmaché Der für seine Lackarbeiten bekannte Luxuswarenhersteller Stobwasser in Braunschweig ersetzte im 18. Jahrhundert Meerschaum bei seinen lackierten Tabakspfeifen durch Pappmaché. Porzellan Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Porzellanpfeifen zu einem beliebten Geschenkartikel, der mit persönlichen Widmungen und Botschaften an den Beschenkten in Porzellanmalerei individualisiert wurde. Häufig finden sich solche Pfeifenköpfe als Studentica in der Couleur der Studentenverbindung des Schenkenden. Zu den Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts beliebten Reservistika, also Andenken an die Zeit des Militärdienstes, zählen auch entsprechende Porzellanpfeifen mit dem Namen des Soldaten und seiner Einheit. Im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts (Bürgerporzellan) dienten die mit bunten Muffelfarben gemalten Dekore auch der Multiplikation von Kunst. Neben alten Meistern wurden aktuelle Gemälde aus Kunstausstellungen, Sammlungen oder Rezensionen als Vorlagen gewählt. Besondere Beliebtheit erlangten Reproduktionen von Werken der Düsseldorfer Malerschule. Calabashpfeife (Kürbispfeife) Ebenfalls im Handel, aber sehr teuer und selten sind Calabash-Pfeifen, die aus dem im südlichen Afrika wachsenden Flaschenkürbis hergestellt und mit einem Einsatz aus Meerschaum zu einer Pfeife werden. Die Calabashpfeife hat einen stark geschwungenen Holm und einen konischen Pfeifenkopf (Bilder siehe Weblinks). Glas Glaspfeifen werden fast ausschließlich zum Rauchen von Cannabis genutzt. Mundgeblasene Pfeifen sind eines der meistproduzierten, aber auch eines der am aufwändigsten zu erstellenden Werkstücke. Typisch ist die Verwendung hitzebeständiger und widerstandsfesterer Borosilikatgläser. Glaspfeifen beeinträchtigen durch ihre Geschmacks- und Geruchsneutralität den Rauch in keiner Weise. Jedoch kann das Glas im Gegensatz zu Holz, Ton oder Meerschaum das beim Rauchen entstehende Kondenswasser nicht aufnehmen, so dass dieses den Tabak oder das Cannabis durchfeuchtet und das verklumpte Kondensat (Sud) in den Mund gelangen kann. Hanfblüten werden andererseits selten so langsam und sporadisch geraucht wie Pfeifentabak, da der entstehende Rauch üblicherweise inhaliert wird. Der entscheidende Vorteil bei der Verwendung von Glas liegt in der einfacheren Reinigung von klebrigen Harzrückständen. Zu erwähnen ist auch die mittlerweile gewaltige Auswahl an Glaspfeifen mit Wasserfiltration (sogenannte Bongs). Metall Auch wenn dies heute unüblich ist, gab es in der Geschichte der Tabakpfeife Phasen, in denen diese aus Metall gefertigt wurden. Belegt sind aufwändig gestaltete Pfeifen aus Silber, gegossene aus Messing beziehungsweise Bronze und zusammengelötete aus Eisenblech. Unabhängig vom Material des Pfeifenkörpers waren jahrzehntelang auch Deckel für die Köpfe in Gebrauch. Diese wurden meist aus Metall angefertigt und mit Ziselierungen oder Reliefs geschmückt. Als ein Hersteller solcher metallenen Pfeifendeckel war Wellner in Aue bekannt. Shisha (Osmanische Wasserpfeife) Die Shisha, auch Wasserpfeife oder Hookah (nicht zu verwechseln mit der Bong), ist keine typische Tabakspfeife. Um sie zu rauchen, werden neben dem speziellen Wasserpfeifentabak auch Wasser und spezielle Kohle benutzt, welche den Tabak zwar erhitzt, ihn aber nicht direkt verbrennen soll. Die Shisha entspricht im Aufbau eher einer chemischen Waschflasche als einer Tabakspfeife. Sie besteht aus mindestens vier Teilen: einem Gefäß, einer Rauchsäule, einem Kopf und einem Schlauch. Das Gefäß wird Bowl oder Vase genannt. Es ist häufig verziert und besteht aus Glas oder Metall. Auf die Bowl wird die Rauchsäule gesteckt oder geschraubt. Sie besteht im Allgemeinen aus Metall, das mit Chrom oder Messing beschichtet wurde und ebenfalls verziert sein kann. Manche Rauchsäulen sind auch aus Holz gefertigt. Auf die Rauchsäule wird der Kopf gesetzt. Es handelt sich dabei um ein kleines Gefäß aus Ton (meist lackiert) oder Metall, welches an der Unterseite Löcher aufweist. An der Rauchsäule befinden sich mehrere Schlauchanschlüsse. Da viele Shishas nur einen Schlauch haben, kann stattdessen ein Ventil angeschraubt werden, welches zur Vermeidung von Überdruck dient. Imkerpfeife Die Imkerpfeife (auch Smoker) ist keine Pfeife im herkömmlichen Sinn, sondern eher ein Rauchbläser. Sie dient dazu, beim Arbeiten des Imkers am Bienenstock die Stechbereitschaft der Bienen mit dem erzeugten Rauch zu senken. Ein Ventil kann im Inneren verbaut sein, das nur das Pusten zulässt und das Ansaugen von Rauch verhindern soll, da als Rauchmaterial meistens kostengünstiges Material, wie Sägespäne, Gras, Rainfarn oder morsches Weichholz (z. B. Pappel) verwendet wird. Die Imkerpfeife ist aus Haltbarkeits- und Gewichtsgründen meistens aus Aluminium gefertigt. Pfeifentabak Fertiger Pfeifentabak besteht aus verschiedenen Rohtabaken, die eine große Bandbreite an Verarbeitungsschritten durchlaufen können. Durch unterschiedliche Kombinationen aus Rohtabaken und Verarbeitungsverfahren ergibt sich die große Vielfalt an erhältlichen Pfeifentabaken. Rohtabake Virginia Virginia-Tabak war schon immer stark nachgefragt und stellt heute die am meisten verwendete Tabaksorte in Pfeifentabaken dar. Virginia-Tabak besitzt einen hohen natürlichen Zuckergehalt, sein Rauch einen aromatischen und leicht süßlichen Geschmack und Geruch. Virginia-Tabak reift an der Pflanze. Wenn die etwa 20–50 cm großen Blätter eine gelbliche Färbung annehmen beginnt die Ernte, wobei hier oft schrittweise nur die reifen Blätter gepflückt werden. Nach dem Pflücken werden die Blätter in Bündeln von 10 bis 12 Stück auf Stangen gehängt und es folgt die Trocknung des Tabaks. Die meisten Virginia-Tabake werden mit Wärme getrocknet (sog. flue-curing). Hierbei wird die Lufttemperatur langsam auf ca. 70 Grad gebracht, und das genaue Verhältnis von Temperatur und Luftfeuchtigkeit spielt eine entscheidende Rolle. Der seltenere Orient-Tabak ist eine Virginiatabaksorte. Orient-Tabak ist über die Virginia-Eigenschaften hinaus besonders aromatisch. Dies liegt an der Wachsschicht, die dieser Tabak zum Schutz vor dem Austrocknen entwickelt. Orient-Tabak bildet viele kleine Blätter von ca. 5–10 cm Länge aus. Bei der Ernte wird die ganze Pflanze in einem Schritt geerntet. Die Blätter werden anschließend einzeln abgepflückt, gestreckt und zum Trocknen in die Sonne gehängt (sog. sun-curing). Anbauländer des Orient-Tabaks sind z. B. Griechenland oder die Türkei. Meist wird Orienttabak nur in sehr geringen Mengen als Würztabak in hochwertigen Tabakmischungen eingesetzt. Latakia-Tabak ist ebenfalls eine Virginiatabaksorte. Hierbei wird sonnengetrockneter Virginia über offenem Feuer weiter getrocknet (sog. fire-curing) und absorbiert hierbei die Aromen von Feuer und Rauch. Der typisch rauchige Geschmack hängt auch von der für das Feuer verwendeten Holzsorte ab. Dieser Tabak kommt ursprünglich aus Syrien und wurde über den Hafen Latakia verschifft. Heute wird er in Syrien und Zypern angebaut. Burley Burley ist die zweitwichtigste Sorte Tabak, die für Pfeifentabak verwendet wird. Die Blätter dieses Tabaks werden ungefähr so groß wie Virginia-Tabakblätter (ca. 20–50 cm), sind aber wesentlich dicker. Dieser Tabak enthält fast keinen Zucker und somit auch nicht die Süße eines Virginia-Tabaks, dafür kräftige Aromen, die an Kakao erinnern. Burley-Tabak wird häufig als Träger von Aromatisierungen verwendet. Wenn der reife Tabak geerntet wird, sind die Blätter noch grün. Hier werden die Pflanzen, wie beim Orient-Tabak, ganz geerntet und erst anschließend werden die Blätter von der Pflanze gepflückt. Die Blätter werden vor der Sonne geschützt in Schuppen aufgehängt, um zu trocknen. Warmluft wird nicht verwendet, allerdings werden die Trocknungsbedingungen durch die Frischluftzufuhr reguliert (sog. air-curing). Kentucky-Tabak ist ein speziell getrockneter Burley-Tabak. Hier werden die Blätter nach dem Lufttrocknen noch rauchgetrocknet (sog. fire-curing). Dabei wird im Trockenschuppen ein Holzfeuer gemacht und die Burley-Blätter absorbieren dessen Rauch. Dementsprechend besitzt der Kentucky-Tabak einen leicht rauchigen Geschmack und Geruch. Ursprünglich kommt Kentucky-Tabak aus dem gleichnamigen US-Bundesstaat, wird heute aber auch in anderen Teilen der Erde angebaut. Perique-Tabak ist roter Burley-Tabak aus Louisiana. Er ist selten, brennt langsam, schmeckt streng und ist eher stark. Perique-Tabak wird kürzer getrocknet als herkömmlicher Burley-Tabak. Anschließend wird er in großen Holzfässern unter starkem Druck bis zu einem Jahr lang gepresst und zwischendrin regelmäßig aufgemischt. Der aroma- und nikotinreiche Perique wird selten pur geraucht, sondern findet als Würztabak Verwendung in hochwertigen Tabakmischungen. Cavendish-Tabak Cavendish-Tabak ist keine Tabaksorte im eigentlichen Sinn, sondern das Ergebnis eines speziellen Verarbeitungsverfahrens von Virginia- und Burley-Tabaken. Für den Cavendish-Prozess wird Zucker benötigt. Da Burley-Tabak fast keinen Zucker enthält, muss dieser von außen zugegeben werden. Anschließend werden dem Tabak entweder mittels Dampf Wärme und Feuchtigkeit zugeführt, oder der Tabak wird gleichzeitig gepresst und erwärmt. Beide Verfahren ergeben einen dunklen, milden und süßlichen Tabak. Typen von Tabakmischungen Länderbezeichnungen bei Tabaken betreffen hauptsächlich Machart eines Tabaks. Diese kann mit dem Herstellungsland übereinstimmen, muss aber nicht. So kann z. B. eine typisch „dänische“ Mischung in England produziert sein, oder ein in Dänemark ansässiger Tabakhersteller unter Lizenz typisch „englischen“ Tabak produzieren. Traditionell sind „amerikanische“ oder „dänische“ Tabake leicht bis stark aromatisiert. Der auch vielen Nichtrauchern bekannte typische „Pfeifentabakgeruch“ stammt von den „dänischen“ Sorten. Typisch „englische“ Tabake dagegen basieren meist auf einer nicht aromatisierten Mischung von Virginia-, orientalischem und Latakiatabak. Vor allem der letztgenannte gibt ihnen ihr rauchig-erdiges Aroma. Sie kommen in ihrem würzigen Rauchgeruch starken Zigarren nahe. Neben diesen zwei Formaten ist in den 1990er Jahren ein Trend in Richtung sehr stark aromatisierter Tabake entstanden, die meistens mit künstlichen Fruchtaromen versetzt werden (z. B. Kirsche, Vanille) und bei denen das „Trägermaterial“ Tabak manchmal nur noch zu erahnen ist. Ein Großteil der Pfeifentabake des europäischen Marktes, die unter Markennamen wie z. Bsp. Orlik, Stanwell und MacBaren vertrieben werden, wird heute in Dänemark oder in Außenstellen dänischer Firmen produziert und exportiert. In England produziert Samuel Gawith & Company Ltd, eine der ältesten und traditionsreichsten Hersteller von Pfeifen- und Schnupftabak. Tabakfabriken in Deutschland sind z. B. Planta Berlin, Pöschl und Kohlhase & Kopp. Stärke einer Tabakmischung Die „Stärke“ eines Pfeifentabaks setzt sich zusammen aus der Geschmacksintensität des Rauches und dem Nikotingehalt. Die Geschmacksintensität wird vom Raucher während des Rauchens mit den Geschmacksnerven des Mundes erschmeckt. Der Nikotingehalt eines Tabaks spielt eine Rolle dabei, wie viel Nikotin im Laufe eines Rauchvorgangs von der Mundschleimhaut absorbiert werden kann. Geschmacksintensität und Nikotingehalt eines Tabaks müssen nicht zwangsläufig miteinander einhergehen. So kann z. B. ein dunkler, kräftig schmeckender Tabak dennoch vergleichsweise wenig Nikotin enthalten und umgekehrt. Der überwiegend milde und süßliche Cavendish-Tabak ist ein gutes Beispiel dafür, dass schwarzer Tabak nicht gleichbedeutend ist mit starkem Tabak. Press- und Schnittarten von Pfeifentabaken Fertige Pfeifentabake werden in den verschiedenen Press- und Schnittarten angeboten. Fast jeder Tabak wird individuell gemischt und anschließend in großen Platten erhitzt, gepresst, ggf. aromatisiert und gereift. Anschließend wird er meistens in eine der folgenden Schnittarten verarbeitet: Ready Rubbed Heute sehr verbreitet ist Pfeifentabak, bei dem die Blätter zunächst stark gepresst und anschließend aufgelockert verpackt werden (ready rubbed mixture). So lässt sich der Tabak ohne große Vorbereitung rauchen und er brennt leichter. Flake Flake-Tabak ist ein stark komprimierter Tabak in rechteckigen dünnen Scheiben. Der Tabak wird mit einem Druck von über 50 Tonnen mindestens zwölf Stunden lang zu Platten gepresst. Die Platten werden zur Geschmacksentwicklung weitere Wochen gelagert. Nach der Pressung und Lagerung werden die Flakes schließlich in kleine rechteckige Scheiben von ca. 1,5 mm Dicke geschnitten und werden, oft noch per Hand, verpackt. Flake-Tabak wurde ursprünglich von Seeleuten entwickelt, um größere Mengen Tabak möglichst platzsparend zu transportieren. So tragen heute noch viele Flake-Sorten einen Namen, der mit der Schifffahrt in Verbindung steht, beispielsweise Navy Flake. Ein weiterer Vorteil der Flakes für Seeleute lag in der längeren Lagerfähigkeit dieser Tabake; durch die geringere Oberfläche halten sie die Feuchtigkeit länger als fertiggeschnittene Mischungen. Der wohl gewichtigste Vorteil von Flake-Tabak wird jedoch oft darin gesehen, dass die stark verdichteten Tabakscheiben, wenn sie lediglich geknickt und gefaltet in die Pfeife eingebracht werden, bei niedrigerer Temperatur verbrennen als Ready-Rubbed Tabak. Das ermöglicht ein Geschmackserlebnis, das von vielen Pfeifenrauchern geschätzt wird. Das Anzünden und Inbrandhalten von Flake-Tabak erfordert etwas Übung. Von einigen Tabakmanufakturen wird der ungeschnittene Tabakkuchen als Plug verkauft, von diesem kann sich dann der Pfeifenraucher seine Portionen abschneiden. Der Cube Cut ist eine selten verkaufte Schnittform, bei der verschiedene Tabakblattsorten aufeinander gelegt werden. Diese werden wie beim Flake gepresst und in kleine Würfel (cubes) von jeweils nur wenigen Kubikmillimetern geschnitten. Diese Schnittsorte zu rauchen ist ebenfalls anspruchsvoll, da die kleinen Tabakwürfel vergleichsweise schlecht verbrennen. Curly Cut Als Curly Cut bezeichnet man in Scheiben geschnittenen Strangtabak. Hierbei werden zunächst ganze Tabakblätter ausgewählt, vorbehandelt, sorgfältig übereinander gelegt und zu einem kompakten Strang von etwa 3 cm Durchmesser gesponnen. Die Saftadern des Tabakblatts werden hierbei nicht entfernt. Die gerollten Tabakstränge werden zur Reifung weiter gelagert, anschließend in dünne Scheiben von ca. 1–2 mm Breite geschnitten und schließlich im Ofen auf die richtige Feuchtigkeit getrocknet. Diese Art Pfeifentabak herzustellen ist sehr aufwändig. Es können nur unversehrte, ganze Tabakblätter verwendet werden, welche von Hand geerntet werden müssen. Auch die Verarbeitung zum Strang und die Verpackung ist weitgehend Handarbeit. Es gibt auch vereinzelt Hersteller, die die Tabakstränge am Stück verkaufen. Der Pfeifenraucher kann sich dann seine Scheiben selbst herunterschneiden. Ähnlich wie Flake-Tabake sind die Tabakscheiben verdichtet und verglimmen, wenn sie nur leicht geknickt in die Pfeife eingebracht werden, bei niedriger Temperatur. Das ermöglicht ein Geschmackserlebnis, das von vielen Pfeifenrauchern geschätzt wird. Das Anzünden und Inbrandhalten von Curly Cut-Tabak erfordert etwas Übung. Verpackung und Preise Die Mischungen werden in Weichpackungen (engl. „Pouches“), meistens zu 50 Gramm, vereinzelt auch in 40-Gramm- oder 100-Gramm-Einheiten, oder in vakuumversiegelten Dosen von 50 bis 500 Gramm angeboten. Letztere sind oft fast luftdicht wiederverschließbar. Zunehmend sind allerdings auch (undichte) Schmuckdosen mit Aufsteck-/Klappdeckel auf dem Markt, in denen der Tabak in einer versiegelten Schutzfolie verpackt ist. Nach Öffnung dieser Hülle bieten diese Dosen jedoch kaum Schutz gegen Austrocknung und Aromaverflüchtigung. Diese Art der Verpackung ist bei einigen Herstellern besonders für neueingeführte Modetabake verbreitet. Pfeifentabake kosten in Deutschland vier bis dreizehn Euro je 50 Gramm. Hochwertige Tabake und Sondereditionen (Weihnachts- und Jubiläumstabake) können auf 50 Gramm umgerechnet zwischen acht und 20 Euro kosten. Selbstverständlich sind auch einfache Grobschnitte zum Pfeifenrauchen geeignet. Feinschnitttabake für Zigaretten eignen sich weniger zum Pfeifenrauchen. Gesundheitsaspekte Das Tabakrauchen ist unbestritten gesundheitsgefährdend, somit ist auch Pfeifenrauchen eine risikobehaftete Variante des Tabakkonsums. Viele Pfeifenraucher nehmen den Rauch nicht in die Lunge auf, wie das die meisten Zigarettenraucher tun, sondern paffen ihre Pfeife. Unter Pfeifenrauchern werden diejenigen, die auf Lunge rauchen, oft als „unzivilisierte Raucher“ bezeichnet (einige ehemalige Zigarettenraucher tun dies, um damit die aufgenommene Nikotindosis zu erhöhen). Dennoch ist das Pfeifenrauchen, auch wenn der Rauch nicht inhaliert wird, mit gesundheitlichen Risiken verbunden. Dies sind u. a.: Chronische Bronchitis, Lungen-, Kehlkopfkrebs sowie Rachen- oder Mundhöhlenkrebs. Im Jahr 2004 veröffentlichte die American Cancer Society eine Studie, die über einen Zeitraum von 18 Jahren Daten von knapp 140.000 amerikanischen Männern erfasste, von denen 15.000 Pfeife rauchen oder rauchten. Hierbei wurden im Mittel ca. sechs Pfeifen pro Tag geraucht. Die festgestellten Gesundheitsrisiken waren generell geringer als die des Zigarettenrauchens und ungefähr vergleichbar mit denen des Zigarrenrauchens.Im Vergleich zu Nichtrauchern war das durchschnittliche Risiko, an Lungenkrebs zu sterben, um den Faktor 5 erhöht, an Kehlkopfkrebs um den Faktor 13, und für Krebserkrankungen im Mund-/Rachenraum um den Faktor 4. Diese Risiken können variieren, abhängig z. B. von der Anzahl der gerauchten Pfeifen pro Tag oder dem Grad des Inhalierens. Von den 8.880 aktiven Pfeifenrauchern starben im Untersuchungszeitraum 1.883 Personen an einer der 12 untersuchten Erkrankungen (21,2 %). Von den 123.044 Nichtrauchern starben im selben Zeitraum 20.620 an einer der untersuchten Erkrankungen (16,8 %). Die Studie bestätigte den starken Einfluss von Alkohol auf die Entstehung von Mundhöhlen-, Kehlkopf- und Speiseröhrenkrebs bei Rauchern. Pfeifenraucher, die durchschnittlich weniger als ein alkoholisches Getränk pro Tag tranken, starben ähnlich selten an irgendeiner dieser Krankheiten wie Niemals-Raucher (Faktor 1.3). Das Risiko stieg jedoch exponentiell bis zum 15-fachen Risiko bei vier oder mehr alkoholischen Getränken pro Tag. Dieses Ergebnis steht im Einklang mit einer älteren Fall-Kontroll-Studie, welche für Pfeifen- oder Zigarrenraucher, die im Schnitt nicht mehr als vier alkoholische Getränke pro Woche konsumierten, keinerlei erhöhtes Erkrankungsrisiko für Mundhöhlenkrebs fand. Auch hier zeigte sich ein exponentieller Anstieg des Erkrankungsrisikos auf das 23-fache bei 30 oder mehr alkoholischen Getränken pro Woche. Gemäß einer Patienteninformation der Bundesärztekammer und der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde entstehen bösartige Erkrankungen der Mundschleimhaut (Mundhöhlenkrebs) aus Vorstufen über einen langen Zeitraum von Monaten und manchmal Jahren. Diese Vorstufen sind häufig für den Fachmann (z. B. Zahnarzt) mit dem bloßen Auge erkennbar. Durch eine regelmäßige Untersuchung des Mundes können Vorstufen erkannt und anschließend auch beseitigt werden. Das Suchtpotenzial von oral aufgenommenem Nikotin ist geringer als das von durch Inhalieren aufgenommenem, allerdings spielen bei Abhängigkeiten auch psychische Faktoren eine wesentliche Rolle. Statistik Anzahl des im Schnitt jährlich verkauften Pfeifentabaks in Deutschland (in Tonnen): Ab dem Jahr 2022 wird in der Statistik zwischen klassischem Pfeifentabak, Wasserpfeifentabak und erhitztem Tabak unterschieden. Demnach entwickelte sich der Verbrauch beim Pfeifentabak mit steigender Tendenz. Bekannte Pfeifenraucher Eine Auflistung bedeutender Persönlichkeiten und literarischer Figuren, die einer breiteren Öffentlichkeit als Pfeifenraucher bekannt waren bzw. sind: Jacques Tati – französischer Schauspieler und Regisseur Basil Rathbone – britischer Sherlock-Holmes-Filmdarsteller 1939–1946 Heinrich Albertz – deutscher Politiker Buzz Aldrin – amerikanischer Astronaut Roald Amundsen – norwegischer Entdecker Clement Attlee – britischer Premierminister Johann Sebastian Bach – deutscher Komponist Stanley Baldwin – britischer Premierminister Karl Barth – Schweizer Theologe Zygmunt Bauman – polnisch-britischer Soziologe und Philosoph Eduard VIII. – britischer König Enzo Bearzot – italienischer Fußballspieler und -trainer Ernst Benda – deutscher Jurist und Politiker Hilaire Belloc – britischer Schriftsteller Jacques Berndorf alias Michael Preute – deutscher Journalist und Schriftsteller Ernst Bloch – deutscher Philosoph Christoph Blocher – Schweizer Politiker und Bundesrat Norbert Blüm – deutscher Politiker Niels Bohr – dänischer Physiker Willy Brandt – deutscher Politiker und Bundeskanzler Georges Brassens – französischer Chansonnier Bill Bryson – amerikanischer Schriftsteller Claude Chabrol – französischer Filmregisseur, Drehbuchautor, Filmproduzent und Schauspieler Raymond Chandler – amerikanischer Schriftsteller Graham Chapman – britischer Schauspieler, Schriftsteller und Mitglied der Komiker-Gruppe Monty Python Le Corbusier – Schweizer Architekt, Architekturtheoretiker, Stadtplaner, Maler, Zeichner, Bildhauer und Designer Walter Cronkite – US-amerikanischer Fernsehjournalist Bing Crosby – US-amerikanischer Schauspieler Jacques Derrida – französischer Philosoph Milo Dor – österreichischer Schriftsteller serbischer Herkunft und Übersetzer Allen Welsh Dulles – US-amerikanischer Direktor der CIA und Mitglied der Warren-Kommission Friedrich Dürrenmatt – Schweizer Schriftsteller, Maler und Dramatiker Albert Einstein – deutscher Physiker und Physik-Nobelpreisträger Björn Engholm – deutscher Politiker William Faulkner – US-amerikanischer Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger Adolf Fehr – Schweizer Maler, Zeichner und Grafiker Gerald Ford – ehemaliger US-Präsident Egon Friedell – österreichischer Schriftsteller, Philosoph und Kulturhistoriker Max Frisch – Schweizer Schriftsteller Stephen Fry – britischer Schauspieler Joachim Fuchsberger – deutscher Schauspieler und Entertainer James Galway – britischer Flötist Bronisław Geremek – polnischer Politiker Vincent van Gogh – niederländischer Maler Thomas Gottschalk – deutscher Entertainer Günter Grass – deutscher Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger Ernesto Che Guevara – Revolutionär Jörg Haider – österreichischer Politiker Mike Hawthorn – britischer Rennfahrer Hugh Hefner – US-amerikanischer Verleger Ernest Hemingway – US-amerikanischer Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger Robert Hochner – österreichischer Journalist und Fernsehmoderator Sherlock Holmes – Romanfigur von Sir Arthur Conan Doyle Uwe Johnson – deutscher Schriftsteller Carl Gustav Jung – Schweizer Arzt und Seelenforscher, Begründer der Analytischen Psychologie Ernst Jünger – deutscher Schriftsteller und Publizist Immanuel Kant – deutscher Philosoph Paul Klee – deutsch-schweizerischer Maler und Lehrperson des Bauhauses Otto Klemperer – deutscher Dirigent und Komponist Helmut Kohl – deutscher Politiker und Bundeskanzler Norbert Lammert – deutscher Politiker und Bundestagspräsident Andrew Bonar Law – britischer Premierminister John le Carré – britischer Schriftsteller Siegfried Lenz – deutscher Schriftsteller Harald Lesch – deutscher Astrophysiker Clive Staples Lewis – britischer Schriftsteller Horst Lichter – deutscher (Fernseh)koch und Entertainer Loriot – deutscher Autor und Schauspieler Konrad Lorenz – österreichischer Verhaltensforscher Siegfried Lowitz – deutscher Schauspieler Sergei Lukjanenko – russischer Schriftsteller Douglas MacArthur – US-amerikanischer General im Zweiten Weltkrieg Harold Macmillan – britischer Premierminister Golo Mann – deutscher Historiker Subcomandante Marcos – mexikanischer Guerilla-Kämpfer Georg Mautner Markhof – österreichischer Industrieller und Politiker Friedrich Merz – deutscher Politiker Tobias Moretti – österreichischer Schauspieler Kiem Pauli – deutscher Musikant und Volksliedsammler Sandro Pertini – italienischer Politiker Gert Postel – deutscher Hochstapler Wolfgang Rihm – deutscher Komponist Julius Röntgen – deutsch-niederländischer Komponist Jürgen Roth – deutscher Publizist Jürgen Rüttgers – deutscher Politiker Bertrand Russell – britischer Mathematiker und Philosoph Rüdiger Safranski – deutscher Philosoph Ernst von Salomon – deutscher Schriftsteller Jean-Paul Sartre – französischer Philosoph und Schriftsteller Wolfgang Schäuble – deutscher Politiker Helmut Schmidt – deutscher Politiker und Bundeskanzler, bekannter als Raucher von Mentholzigaretten Georges Simenon – belgischer Schriftsteller Josef Stalin – sowjetischer Diktator Otto Stich – Schweizer Politiker und Bundesrat Manfred Stolpe – deutscher Politiker Peter Struck – deutscher Politiker Josip Broz Tito – ehemaliger Präsident der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien Gerhard Tötschinger – österreichischer Schauspieler, Intendant und Schriftsteller J. R. R. Tolkien – britischer Schriftsteller und Philologe Mark Twain – US-amerikanischer Schriftsteller Lech Wałęsa – polnischer Politiker Alfred Wegener – deutscher Meteorologe, Polar- und Geowissenschaftler Herbert Wehner – deutscher Politiker Harold Wilson – britischer Premierminister P. G. Wodehouse – britischer Schriftsteller Alfred Worm – österreichischer Journalist, Buchautor und Universitätslehrer Siehe auch Pfeifenraucher des Jahres Dannike-Frau, die Moorleiche einer Pfeifenraucherin aus dem 17. Jahrhundert Theo der Pfeifenraucher, fiktiver Name eines Mannes aus dem 18. Jh., dessen Skelett 1984 auf einem ehemaligen Basler Armenfriedhof gefunden wurde und forensisch-historisch untersucht wird. Die Tabakspfeife in der Kunst Malerei Das Pfeifenrauchen war wie andere orientalische Motive in der europäischen Malerei der Neuzeit ein beliebtes Motiv. Im Jahr 1905 malte Picasso das Gemälde Junge mit Pfeife; es hat mit der Auktionssumme von 104,2 Millionen US-Dollar den dritthöchsten je erzielten Kaufpreis für ein Bild vorzuweisen. Ein weiteres bekanntes Gemälde einer Tabakspfeife ist das surrealistische Bild La trahison des images von René Magritte (1898–1967) mit der Unterschrift „Ceci n’est pas une pipe“, von dem es verschiedene Versionen gibt. René Magritte äußerte sich zu dem Bild: „Ein Bild ist nicht zu verwechseln mit einer Sache, die man berühren kann. Können Sie meine Pfeife stopfen? Natürlich nicht! Sie ist nur eine Darstellung. Hätte ich auf mein Bild geschrieben, dieses ist eine Pfeife, so hätte ich gelogen. Das Abbild einer Marmeladenschnitte ist ganz gewiss nichts Essbares.“ Literatur Drei bekannte pfeifenrauchende Krimi-Helden sind: Sherlock Holmes, Detektiv aus den Romanen und Kurzgeschichten von Arthur Conan Doyle Maigret, Kommissar aus den gleichnamigen Romanen von Georges Simenon Siggi Baumeister, Protagonist der Eifel-Krimis von Jacques Berndorf Pozzo, eine Figur aus dem berühmt gewordenen Theaterstück Warten auf Godot des irischen Literatur-Nobelpreisträgers Samuel Beckett, raucht ebenfalls Pfeife. Beckett entwickelte für seine Figuren Pozzo und Estragon folgenden „Doppel-Monolog“ über die Pfeife, die Pozzo verliert: Pozzo: Was habe ich bloß mit meiner Bruyère gemacht? Estragon: Ist ja toll! Er hat seinen Rotzkocher verloren! Er lacht schallend. Die Pfeifenpassion J. R. R. Tolkiens schlug sich auch in seinem berühmten Roman Der Herr der Ringe nieder. Das Volk der Hobbits erfand und kultivierte das Pfeifenrauchen, welches danach auch bei den Zwergen und den nördlichen Menschenvölkern Verbreitung fand. Viele der Hauptfiguren des Buches rauchen Pfeife. Gegen den aktuellen Trend hat Peter Jackson in seinen Verfilmungen des Romans die Figuren ebenfalls rauchen lassen. Die Pfeifen haben es sogar als Merchandising-Objekte in den Pfeifenhandel geschafft. Im Vierten Streich bei Max und Moritz wird dem Lehrer Lämpel, einem Knaster-Liebhaber, Schwarzpulver in die Pfeife gefüllt, was zu einer Explosion führt. Auch das Bäuerle auf de schwäbsche Eisebahne zünd’t sei stinkichs Pfeifle a, nachdem er den Geißbock mit fatalen Folgen an den Zug gebunden hat. Musik Das Rauchen einer Pfeife wird auch musikalisch ungesetzt. Bekanntestes Beispiel hierfür ist die Geistliche Arie „So oft ich meine Tobackspfeife“ von Johann Sebastian Bach (BWV 515, es findet sich in zwei Fassungen – vokal und instrumental – im 1725er Notenbüchlein für Anna Magdalena Bach). Hierbei wird die Tabakspfeife zum Andachtsgegenstand und das Rauchen selber zur theologischen Meditation. Ein weiteres Beispiel entstammt der dritten Tracht des „Ohren-vergnügende[n] und Gemüth-ergötzende[n] Tafel-Confect“ (Augsburger Tafelkonfekt, 1739) von Valentin Rathgeber, das ein Streitgespräch zwischen einem „Schmaucher“ und einem „Schnupfer“ über die „sozialverträglichere“ und „bessere“ Seite des Tabakkonsums vertont. Siehe auch Flohbein Tabak Tabakskollegium Zigarette Zigarre Schnupftabak Museum Schloss Jánský Vrch, Tschechien, (größte Tabakspfeifensammlung Mitteleuropas) Pipe-Museum-Amsterdam, Tabakspfeifenmuseum mit rund 20.000 Tabakspfeifen Pfeifenloch Literatur Aufsätze Knasterkopf. Fachzeitschrift für Tonpfeifen und historischen Tabakgenuss. Hrsg. im Auftrag des Helms-Museums (Hamburger Museum für Archäologie und die Geschichte Harburgs), Langenweißbach 1989 ff., . Daraus: Ralf Kluttig-Altmann, Martin Kügler: Bewegung in Sachsen. Ein Beitrag zur Emanzipation der deutschen Tonpfeifenforschung. Band 16, 2003, S. 88–98. Eva Roth Heege: Tonpfeifen des 17.–19. Jahrhunderts im Kanton Zug (CH). Band 19, 2007, S. 100–115. Andreas Heege: Pipe de fer et de letton. Tabakpfeifen aus Eisen und Buntmetall. Zum Stand der Forschung in der Schweiz. Band 20, 2009, S. 19–55. Bücher Alfred H. Dunhill: Die edle Kunst des Rauchens („The Gentle Art of Smoking“, 1954). Neuauflage. Heyne, München 1982, ISBN 3-453-41488-8 (EA 1971). Richard Carleton Hacker: Das Handbuch des Pfeifenrauchers. Die Kunst, Pfeife zu rauchen („Handbook for pipesmokers of the 21st century“, 1998). Heyne, München 2000, ISBN 3-89910-066-2 (Collection Rolf Heyne). Helmut Hochrain: Das Taschenbuch des Pfeifenrauchers. Neuauflage. Heyne, München 2000, ISBN 3-453-17137-3 (EA 1972). Thomas Huber, Wolfgang J. Rieker: Abenteuer Pfeife. Die andere Art zu leben. Wjr-Verlag, Eching 2004. ISBN 3-935659-27-X. Martin Kügler: Tonpfeifen. Ein Beitrag zur Geschichte der Tonpfeifenbäckerei in Deutschland. Hanusch & Ecker Verlag, Höhr-Grenzhausen 1987, ISBN 3-926075-00-7. Lothar Markmann: Das kleine Buch für Pfeifenraucher. AT Verlag, Aarau 1986, ISBN 3-85502-270-4. Otto Pollner: Pfeiferauchen leicht gemacht. Die richtige Art, Tabak zu genießen. Falken Verlag, Niedernhausen 1989, ISBN 3-8068-1026-5. Rolf J. Rutzen: Das Buch der Pfeife. Heyne, München 2003, ISBN 3-89910-170-7 (Collection Rolf Heyne). Aldo Pellissone: Die Pfeife: Kulturgeschichte und Typologie für Pfeifenraucher und Pfeifensammler. Callwey, 1988, ISBN 3-7667-0901-1. Friedrich Sternberg: Knasterkopfs Annehmlichkeiten und Freuden. Nach der Ausgabe von 1834. Harenberg, Dortmund (= Die bibliophilen Taschenbücher. Band 54). Weblinks Pfeifenkopf „Die Wahrsagerin“ auf oblivion-art.de Einzelnachweise
174055
https://de.wikipedia.org/wiki/Der%20Zauberer%20von%20Oz
Der Zauberer von Oz
Der Zauberer von Oz ist ein Kinderbuch des US-amerikanischen Schriftstellers Lyman Frank Baum. Die Erzählung erschien 1900 unter dem Originaltitel The Wonderful Wizard of Oz (später auch unter dem Titel The Wizard of Oz) mit Illustrationen von William Wallace Denslow. Wegen des großen Erfolges schrieben Baum und andere Autoren zahlreiche Fortsetzungen. Die erste Übersetzung ins Deutsche erschien 1940 in der Schweiz. Viele US-Amerikaner sind mit dieser Erzählung aufgewachsen und mit ihr so vertraut wie deutschsprachige Mitteleuropäer mit den Märchen von Hänsel und Gretel oder Rotkäppchen. Zu ihrem Bekanntheitsgrad und Wiedererkennungswert trugen vor allem die Verfilmungen bei, deren bekannteste mit Judy Garland in der Rolle der „Dorothy“ im Jahr 1939 entstand (Das zauberhafte Land). Handlung Die Hauptfiguren der Geschichte Hauptfiguren der Erzählung sind Dorothy Gale, ein junges Mädchen aus Kansas, ihr kleiner Hund Toto, die Vogelscheuche, die gerne Verstand hätte, der Blechmann, dem das Herz fehlt, und der Feige Löwe, dem der Mut fehlt. Die Gegenspieler von Dorothy und ihren Begleitern sind zahlreich. Zu ihnen zählen die Böse Hexe des Westens, Wölfe, Krähen, Bienen, die Geflügelten Affen, die der Goldenen Zauberkappe gehorchen müssen, Spinnen, Kampfbäume, Hammerköpfe und der titelgebende Zauberer von Oz selbst. Ebenfalls treten die Bewohner einer Porzellanstadt auf, die selbst alle aus Porzellan bestehen. Im Land der Munchkins Dorothy lebt gemeinsam mit ihrem Onkel Henry, ihrer Tante Emmy und dem Hund Toto auf einer Farm in Kansas. Als ein Wirbelsturm die Region heimsucht, gelingt es Dorothy nicht mehr rechtzeitig, in den Sturmkeller zu flüchten. Der Wirbelsturm reißt das gesamte Farmhaus mit sich und mit ihm Dorothy und ihren Hund. Nach stundenlanger Reise setzt der Sturm das Haus auf einer Wiese im Land der Munchkins (manche Übersetzungen auch: Mümmler) ab und begräbt dabei die Böse Hexe des Ostens unter dem Haus. Diese herrschte bis dahin über die Munchkins. Gemeinsam mit den Munchkins begrüßt die Gute Hexe des Nordens die gelandete Dorothy und überreicht ihr die Silberschuhe, welche die Böse Hexe des Ostens trug, als sie vom landenden Farmhaus erschlagen wurde. Um den Weg zurück nach Hause zu finden, rät die Gute Hexe ihr, auf dem gelben Ziegelsteinweg in die Smaragdstadt zu gehen und dort den Zauberer von Oz um Hilfe zu bitten. Zum Abschied küsst die Gute Hexe Dorothy auf die Stirn und verspricht ihr, dass dieser Kuss sicherstellen werde, dass keiner ihr Schaden zufügen könne. Unterwegs auf dem Weg zur Stadt nimmt Dorothy die Vogelscheuche von dem Pfahl, an dem sie hängt; sie sorgt auch dafür, dass der Blechmann sich wieder bewegen kann, und ermutigt den Feigen Löwen, mit ihr in die Stadt zu reisen. Alle drei sind davon überzeugt, dass der Zauberer von Oz ihnen das geben werde, was sie sich am meisten wünschen: der Vogelscheuche Verstand, dem Feigen Löwen Mut und dem Blechmann ein Herz. Sie schließen sich daher Dorothy und ihrem Hund Toto an. In der Smaragdstadt Als sie die Smaragdstadt erreichen, in der sie spezielle Brillen tragen müssen, um nicht vom Glanz der Stadt geblendet zu werden, dürfen sie nur einzeln vor den Zauberer von Oz treten. Jedem erscheint dieser in einer anderen Gestalt. Dorothy sieht ihn als gigantischen Kopf, die Vogelscheuche erblickt eine schöne Frau, dem Blechmann begegnet er als gefährliches Raubtier, und der Löwe sieht sich einem Ball aus Feuer gegenüber. Der Zauberer verspricht, jedem von ihnen zu helfen. Doch müssen sie zuerst eine Bedingung erfüllen: einer von ihnen muss die Böse Hexe des Westens töten, die über das Land Winkie herrscht. Gemeinsam mit ihren Begleitern macht Dorothy sich daher auf den Weg. Die Böse Hexe des Westens sendet Wölfe, Krähen, Bienen, ihre Winkie-Soldaten und letztlich die mit Hilfe der goldenen Zauberkappe herbeibefohlenen Geflügelten Affen Dorothy und ihrer Begleitung entgegen. Den Geflügelten Affen schließlich unterliegen sie; Dorothy und der Feige Löwe werden gefangen genommen, die Vogelscheuche und der Blechmann werden von den Geflügelten Affen zerstört. Im Palast der Bösen Hexe des Westens Als Gefangene muss Dorothy als Dienstmädchen der Bösen Hexe arbeiten, und der Feige Löwe soll ihre Kutsche ziehen. Der Löwe allerdings verweigert seine Arbeit, obwohl ihm als Strafe dafür kein Futter gegeben wird. Dorothy versorgt ihn jedoch heimlich nachts. Sie trägt immer noch die silbernen Schuhe, von denen magische Kräfte ausgehen. Mit einem Trick vermag es die Böse Hexe, an einen der Schuhe zu gelangen. Dorothy schüttet aus Zorn darüber der Hexe einen Eimer Wasser über den Kopf, worauf diese zerschmilzt. Die Winkies sind so erfreut, ihre Tyrannin durch Dorothy losgeworden zu sein, dass sie ihr helfen, die Vogelscheuche und den Blechmann wieder zusammenzusetzen. Vom Blechmann sind die Winkies so angetan, dass sie ihn bitten, ihr neuer Herrscher zu werden. Er nimmt das Angebot gerne an, will jedoch erst Dorothy helfen, nach Kansas zurückzukehren. Zurück in der Smaragdstadt Mit Hilfe der Goldenen Zauberkappe ruft Dorothy die Geflügelten Affen herbei, die sie und ihre Begleiter zurück in die Smaragdstadt tragen. Der Zauberer von Oz versucht, sich der Begegnung mit ihnen zu entziehen, lässt Dorothy und ihre Begleiter jedoch in den leeren Thronsaal vor, als Dorothy mit den Geflügelten Affen droht. Im Thronsaal entpuppt sich der Zauberer von Oz als weiser, alter Mann, den eine Ballonfahrt von Omaha in das Reich Oz verschlagen hatte. Wegen seines ungewöhnlichen Transportmittels hielten die Einwohner ihn für einen mächtigen Magier. Als Zauberer von Oz begann er, sein Reich zwischen den Herrschaftsgebieten von Hexen zu regieren. Mit Hilfe von raffinierten Effekten trat er als mächtiger Magier auf. Obwohl der Zauberer von Oz die Vogelscheuche, den Blechmann und den Feigen Löwen davon zu überzeugen versucht, dass ihnen weder Verstand, Herz, noch Mut fehle, sondern lediglich der Glaube an sich selbst, muss er jedem erst eine Scheinarznei verabreichen, damit sie wirklich überzeugt sind, dass sie die Eigenschaften besitzen, die sie während der bisherigen Handlung bereits gezeigt haben. Um sein Versprechen gegenüber Dorothy und Toto einzulösen, sie wieder nach Kansas zurückzubringen, muss er jedoch seinen alten Heißluftballon reaktivieren und mit ihnen fahren. Ein letztes Mal zeigt er sich den Einwohnern als mächtiger Magier und ernennt die Vogelscheuche aufgrund ihres Verstandes zu seinem Nachfolger. Dorothy allerdings verpasst die Abfahrt des Ballons, da sie ihren Hund einfangen muss. Der Weg nach Hause Dorothy wendet sich nun an die Geflügelten Affen mit dem Wunsch, sie und Toto nach Hause zu tragen. Doch die Affen sind nicht in der Lage, die Wüste, die Oz umgibt, zu durchqueren. Die Bürger der Smaragdstadt raten Dorothy, sich an Glinda, die Gute Hexe des Südens zu wenden. Nach einer gefahrvollen Reise, bei der die Vogelscheuche, der Blechmann und der Feige Löwe noch einmal ihren Mut, ihren Verstand und ihr Herz unter Beweis stellen und der Löwe ein Königreich gewinnt, erreichen sie den Palast von Glinda, wo sie warmherzig empfangen werden. Erst Glinda verrät Dorothy, dass die silbernen Schuhe, die sie die ganze Zeit trug, magische Macht besitzen, sie nach Hause zu bringen. Unter Tränen trennt sich Dorothy von der Vogelscheuche, dem Blechmann und dem Feigen Löwen, die in ihr jeweiliges Königreich zurückkehren. Dorothy und Toto aber kehren nach Kansas zurück, wo sie freudig von ihrer Tante und ihrem Onkel in Empfang genommen werden. Ihr Onkel hat bereits ein neues Haus gebaut und Dorothy weiß, dass sie nicht mehr zurückkehren kann, da sie ihre silbernen Schuhe auf ihrer Rückreise, über der Wüste, verloren hat. Die Entstehungsgeschichte Der 1856 geborene Lyman Frank Baum verfolgte während seiner beruflichen Laufbahn unterschiedlichste Interessen. Er war erst als Geflügelzüchter erfolgreich, wurde dann Schauspieler und besaß kurzzeitig ein eigenes Theater, für das er die Stücke schrieb und in deren männlicher Hauptrolle er selbst auftrat. Im Oktober 1888 eröffnete er in Aberdeen, South Dakota einen Gemischtwarenladen, den er Baum's Bazaar nannte, den er aber im Januar 1890 wieder schließen musste. 15 Monate lang besaß er eine eigene Zeitung, bis er diese 1891 wegen wirtschaftlicher Erfolglosigkeit wieder einstellen musste und als Vertreter für einen Chicagoer Glas- und Porzellangroßhändler zu arbeiten begann. Seine Schwiegermutter Matilda Joslyn Gage, eine prominente Frauenrechtlerin, die bereits als Herausgeberin aktiv gewesen war, erlebte während dieser Zeit, wie er eines Abends seinen Söhnen Kindergeschichten erzählte. Sie legte ihm nahe, die Geschichten aufzuschreiben und zu veröffentlichen, und machte ihm Hoffnung, dass er damit so erfolgreich sein würde wie Lewis Carroll mit seinem Buch Alice im Wunderland. Baum meldete tatsächlich am 17. Juni 1896 für zwei Sammlungen von Kindergeschichten Titelschutz an. Mother Goose in Prose, eine Sammlung von Kindergedichten, die von Maxfield Parrish illustriert war, wurde 1897 veröffentlicht. Das Buch war nur mäßig erfolgreich, und sein Verleger Chauncy L. Williams musste seinen Verlag aufgrund einiger wirtschaftlicher Fehlentscheidungen Anfang 1898 an einen anderen Verlag verkaufen, der dieses Buch nicht wieder auflegte. Für Baum war jedoch der bescheidene Erfolg von Mother Goose in Prose der Anlass, seine Stelle als Handelsvertreter aufzugeben und gemeinsam mit seinem ehemaligen Verleger eine Zeitschrift für Schaufensterdekorateure zu gründen. Damit stand ihm der Chicagoer Presseklub offen, und er lernte dort William Wallace Denslow kennen, der als Künstler und Buchillustrator bereits einige Erfolge aufzuweisen hatte. Mit ihm gemeinsam schuf er das Bilderbuch Father Goose, his book, für das sie die Firma George M. Hill Company als Verleger gewinnen konnten. Die Erstauflage von 5700 Exemplaren des Father Goose war sehr schnell verkauft, das Buch wurde zum erfolgreichsten Bilderbuch des Jahres 1900 und die Rezensenten, zu denen auch Mark Twain gehörte, fanden viel Lob für dieses Buch, das sie mit den Büchern von Lewis Carroll und Edward Lear verglichen. Der Erfolg war für den Verlag George M. Hill Company der Anlass, zwei weitere Bücher mit Gedichten von Baum zu veröffentlichen. The Army Alphabet und The Navy Alphabet wurden allerdings nicht von Denslow illustriert, sondern von Harry Kennedy. Schon lange bevor Father Goose sich als kommerzieller Erfolg erwies, hatte Baum gemeinsam mit Denslow die Arbeit an einem weiteren Kinderbuch, dem späteren Zauberer von Oz begonnen. Auch dieses Buch, für das Baum lange Zeit keinen passenden Titel fand, sollte beim Verlag Hill erscheinen. Am 28. Mai 1900 erschienen die ersten gebundenen Exemplare, auch wenn das offizielle Copyright-Datum der August 1900 ist. Bereits nach 14 Tagen waren 5000 Bücher verkauft. In der Weihnachtssaison des Jahres 1900 war der Zauberer von Oz das am meisten gekaufte Kinderbuch. Wirkungsgeschichte Die ersten Reaktionen der Kritiker Baum war bereits vor der Drucklegung fest davon überzeugt, ein ganz besonderes Buch geschaffen zu haben. Er schrieb den Zauberer von Oz bewusst als modernes Märchen, weil er die Geschichten der Brüder Grimm und Hans Christian Andersen zwar schätzte, aber sie wegen ihres literarischen Stils als nicht mehr zeitgemäß empfand. Die Kritiken seines Buches waren unterschiedlich – wieder wurde es mit Lewis Carrolls Alice im Wunderland verglichen und nicht immer fiel der Vergleich zu Gunsten von Baum aus. Eine Reihe anderer Kritiker betonten jedoch, dass dieses Buch sich deutlich von den üblichen Kinderbüchern unterscheide. Das Minneapolis Journal erklärte das Buch am 18. November 1900 zur besten Kindergeschichte des Jahrhunderts. Viele Rezensenten waren von den ungewöhnlich qualitätsvollen farbigen Illustrationen von Denslow beeindruckt und sahen sie als gleichwertig zu der Erzählung an. Die wenigen Besprechungen, die Baums spätere Bücher bei ihrem Erscheinen erhielten, als Baum längst nicht mehr mit Denslow zusammenarbeitete und farbige Illustrationen für Kinderbücher zum Standard geworden waren, weisen darauf hin, dass es tatsächlich die Illustrationen waren, die den Zauberer von Oz aus der Masse der Erscheinungen hervorhob und die Aufmerksamkeit der Kritiker auf dieses Buch lenkte. Der Zauberer von Oz im Vergleich zu anderen Kinderbüchern seiner Zeit Baum verwendete in Der Zauberer von Oz einen klaren, schnörkellosen Stil und vermochte mit nur wenigen Sätzen, dem Leser die Atmosphäre zu vermitteln. Mit diesem Realitätsbezug unterschied sich Baums Erzählung insbesondere von den in den USA seinerzeit veröffentlichten Kinderbüchern, die häufig von der Moral der Sonntagsschulen geprägt waren, die in ihrer Erzählart sentimental waren, Kinder belehren und erziehen wollten. Für Cathleen Schine war die oben zitierte Passage aus dem ersten Kapitel später der Anlass, den Zauberer von Oz als einen „öden, flachen Schlag ins rosige Gesicht der Kinderliteratur“ zu nennen – was positiv gemeint war. Baums Schreibstil unterschied sich gleichfalls deutlich von dem weitschweifigeren, literarischeren Stil seiner Zeitgenossen, was dem Zauberer von Oz in den kommenden Jahrzehnten gelegentlich den Vorwurf einbrachte, schlecht geschrieben zu sein. Trotz der häufigen Vergleiche zu Alice im Wunderland fiel keinem der zeitgenössischen Kritiker auf, wie „amerikanisch“ Dorothy im Vergleich zu Lewis Carrolls Figur der Alice war. Erst spätere Kritiker setzten sich ausführlich mit diesem Unterschied auseinander. Die Romanautorin Alison Lurie hielt in einer Besprechung für The New York Review of Books am 18. April 1974 fest, dass Alice ein typisches Kind der britischen oberen Mittelschicht sei: Carol Ryrie Brink, eine andere amerikanische Kinderbuchautorin, war eine der Ersten, die 1947 Baums Buch als eines der wenigen wirklich gelungenen amerikanischen Kinderbücher bezeichneten. Für Kinder ungeeignet? Die Erhebung von Baums Erzählung zum amerikanischen Kinderbuchklassiker durch Carol Ryrie Brink fiel in eine Zeit, als Baums Buch bereits heftig umstritten war. Viele Bibliothekare und Kritiker bemängelten, dass das Buch schlecht geschrieben sei. Dazu trug zum einen Baums einfacher, gradliniger Stil bei, der sich deutlich von den eher literarischen Erzählungen eines Hans Christian Andersen, Kenneth Grahame oder eines Robert Louis Stevenson abhob. Zum anderen liebte Baum die Verwendung von Wortspielen, was von vielen Literaturkritikern als niveaulos und platt angesehen wurde. Negativ wirkte sich außerdem aus, dass man in Baums Bücher eine politische Botschaft hineinlas. Bereits 1938 bemängelte ein Journalist in einem Artikel mit der Überschrift The Red Wizard of Oz, dass in den Bibliotheken der New York Public Library lediglich noch The Wizard of Oz, aber keines der weiteren Oz-Bücher zu finden sei. Als Ursache vermutete der Journalist, dass man Baums Beschreibung von Oz einer marxistischen Utopie gleichsetze. Diese Interpretation von Baums Werken verstärkte sich während der McCarthy-Ära. 1957 erläuterte der Leiter der Detroit Public Library, dass Baums Bücher nicht mehr öffentlich zugänglich aufbewahrt würden, sondern nur noch auf Anfrage ausleihbar wären. Er begründete dies damit, dass die Geschichten weder erbaulich noch erhebend, dass sie in ihrer Qualität schlecht seien, dass sie Negativismus förderten und längst bessere Kinderbücher zur Verfügung stünden. Im US-Bundesstaat Florida standen Baums Bücher ab 1959 auf einer Liste von Büchern, die von öffentlichen Büchereien weder verliehen noch angekauft oder über eine Schenkung angenommen werden dürften. Auch in Washington D.C. waren Baums Bücher bis 1966 nicht entleihbar. Diese Einstellung hat sich in den letzten Jahrzehnten geändert. Dazu hat nicht unwesentlich beigetragen, dass das MGM-Musical von 1939 ab 1956 jährlich im US-Fernsehen ausgestrahlt wurde und sich damit der Film und das Buch im Bewusstsein der US-amerikanischen Öffentlichkeit als Klassiker etablierten. 1961 erschien ein erster längerer Essay über den Autor Baum in einem angesehenen Literaturmagazin, 1990 widmete sich ein Fernsehfilm dem Autor Baum, und zum hundertjährigen Erscheinungsjubiläum des Zauberer von Oz im Jahre 2000 richtete die US-amerikanische Library of Congress eine Ausstellung zu Ehren von Baum und dem Zauberer von Oz aus. Trotzdem entschied noch 1986 ein Bundesrichter in Greeneville, Tennessee, dass es gegen die Verfassung verstoße, wenn fundamentalistische Christen in der Schule zum Lesen des Zauberer von Oz gezwungen würden. Die Geschichte vom Zauberer von Oz sei antichristlich, weil sie gute Hexen beschreibe, die Bibel nicht kenne und weil sie die Auffassung vertrete, dass Intelligenz, Liebe und Mut vom Individuum selbst entwickelt werden könnten, statt sie als gottgegeben anzusehen. Diese Auffassung wird von den meisten christlichen Richtungen jedoch nicht geteilt. So wählte beispielsweise 1996 eine Vatikan-Kommission der katholischen Kirche die MGM-Verfilmung des Buches in die nur fünfundvierzig Filme zählende Filmliste des Vatikans mit der Begründung, dass dieser Film die Perspektive der Kirche repräsentiere. Wirkung auf andere Schriftsteller Eine ganze Reihe von Schriftstellern sind Verehrer dieses Kinderbuches. Zu ihnen zählen beispielsweise James Thurber, F. Scott Fitzgerald, Gore Vidal, John Updike und Salman Rushdie. Viele Science-Fiction-Autoren haben seit Erscheinen des Buches ihre Wertschätzung gegenüber diesem Werk zum Ausdruck gebracht. Robert A. Heinlein bezieht sich beispielsweise in seinen Büchern mehrfach auf Baums Bücher. So lässt Heinlein seine marsianische Heldin in Bürgerin des Mars (1963) sagen, dass ihre Vorstellungen von der Erde vorwiegend aus den Oz-Geschichten stammen. In Keith Laumers The Other Side of Time spaltet sich 1814 die Erde in zwei Paralleluniversen, und in beiden schreibt ein Lyman F. Baum ein Buch mit dem Titel Zauberer von Oz. In Ray Bradburys Geschichte Die Verbannten aus der Erzählung Der illustrierte Mann gehört L. Frank Baum zu den verbotenen Schriftstellern, der gemeinsam mit Literaturgrößen wie Edgar Allan Poe, Charles Dickens, Henry James und Nathaniel Hawthorne auf den Mars verbannt wird, während auf der Erde ihre Bücher verbrannt werden. Parodistisch verwendet wird der Zauberer von Oz unter anderem von Terry Pratchett in Total verhext. Tad Williams widmet dem Zauberer von Oz eine eigene VR-Simulation im zweiten Teil seines vierbändigen Romans Otherland. Der Strohmann, der Blechmann und der Löwe treten hier als böse und angsteinflößende Wesen auf; ihre ursprünglichen Eigenschaften hat Williams ins Negative verdreht. Als Reminiszenz an Dorothy kann die Figur der Emily verstanden werden: ein vielfach repliziertes Klonwesen, das die Weiten des Zauberlandes bevölkert und als „Menschenmaterial“ missbraucht wird. Stephen King verwendet Motive aus dem Zauberer von Oz an verschiedenen Stellen in seinem Werk. So zieht sich Der Große und Schreckliche Oz wie ein bedrohliches, ständig präsentes Leitmotiv durch seinen Roman Friedhof der Kuscheltiere. In seinem Romanzyklus Der Dunkle Turm wird mehrfach auf den Zauberer von Oz Bezug genommen, insbesondere im vierten Band Glas, in dem sich die Gefährten der Suche in einem Smaragdpalast einer Figur stellen müssen, die sich als der Zauberer von Oz ausgibt. Der in Kanada geborene Schriftsteller Geoff Ryman verbindet in seinem Roman Was (1992, bislang nicht auf Deutsch erhältlich) eine sehr freie Neuerzählung der Geschichte von Dorothy aus Kansas und die der Schauspielerin Judy Garland, Darstellerin der Dorothy in der Verfilmung von 1939, zu einem bewegenden Drama. In eine etwas zeitgenössischere Sprache, versehen mit einem alternativen Ende, kleidete der österreichische Kinderbuchautor Martin Auer 1992 den Oz-Stoff. Auers Neufassung, farbig illustriert von Grafiker Christoph Eschweiler, erschien im Weinheimer Verlag Beltz & Gelberg. Die Zauberland-Reihe von Alexander Melentjewitsch Wolkow und weiteren Autoren nimmt Baums Stoff als Ausgangspunkt für eine literarisch eigenständige Fortsetzung. In Gregory Maguires Roman Wicked – Die Hexen von Oz. Die wahre Geschichte der bösen Hexe des Westens wird die politisch unruhige Zeit, bevor Dorothy nach Oz kommt, beschrieben. Er begleitet die grünhäutige Elphaba von ihrer Geburt über ihre Schulzeit, ihre Arbeit im Untergrund gegen den Zauberer von Oz bis zu ihrer Herrschaft im Westen und ihrem Tod. Dabei wird die böse Hexe des Westens als missverstandener, eigentlich guter Mensch mit Sehnsüchten und Wünschen und Hoffnungen betrachtet. Seit 2004 ist Wicked – Die Hexen von Oz auch als Musical am Broadway und seit Herbst 2006 in London zu sehen. Im November 2007 startete das Musical in Stuttgart, im März 2010 in Oberhausen. Der Zauberer von Oz als Allegorie Die Vertrautheit mit den Figuren und der Handlung führte dazu, dass gelegentlich in US-amerikanischen Geschichts-, Psychologie- oder Wirtschaftsbüchern Figuren und Handlungsbestandteile dieser Erzählung verwendet werden, um historische Abläufe, Ideen und die Motivation von Personen zu erläutern. Der Autor Baum hat immer bestritten, dass seine Erzählung für irgendetwas eine Allegorie darstelle. Die Person des Zauberers von Oz ist dem damals in den USA populärsten Zauberkünstler Harry Kellar nachempfunden, was sich äußerlich in den Illustrationen von Denslow niedergeschlagen hat. Verwendung in Psychologie- und Religionsbüchern Der Psychologe Sheldon B. Kopp nutzte in einem Artikel, der 1970 in Psychology Today erschien, die Handlung der Erzählung, um den Prozess zu erläutern, den Patienten während einer psychologischen Therapie durchlaufen. Diese Idee wurde von der Psychologin Madonna Kolbenschlag in ihrem Sachbuch Lost in the Land of Oz noch ausführlicher aufgegriffen. Sie verwendet beispielsweise den Begriff „Dorothy-Muster“ für den Wandlungsprozess, den Frauen häufig erleben. Für sie symbolisiert Dorothy ein Wesen, „… das lernt, indem es weggeht, und dort hingeht, wo es hingehen muss, für das es keine Vorbilder und wenige Mentoren gibt, das sich von den meisten Systemen, die von der dominanten männlichen Kultur geschaffen werden, entfremdet fühlt.“ In seinem Buch The Zen of Oz: Ten Spiritual Lessons from Over the Rainbow, untersuchte Joey Green Parallelen zwischen dem Zauberer von Oz und dem Zen-Buddhismus. Tatsächlich war Baum mit den Grundprinzipien des Buddhismus sehr gut vertraut, da seine Schwiegermutter, die einen großen Einfluss auf ihn ausübte, sich sehr für östliche Religionen interessierte. Andere Autoren nutzten die Erzählung Der Zauberer von Oz, um Abläufe in Europa vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zu verdeutlichen, obwohl das Buch fast 40 Jahre vor dessen Beginn publiziert wurde. Der Zauberer von Oz als Allegorie auf die Situation der USA vor 1900 Eine der hartnäckigsten Theorien unterstellt, dass Baum seine Erzählung als Allegorie auf die politischen und ökonomischen Verhältnisse der USA zu Ende des 19. Jahrhunderts schrieb. Diese Idee wurde und wird sowohl von Literaturwissenschaftlern als auch von Nachfahren Baums lebhaft bestritten. Diese Idee ist auf das Jahr 1963 zurückzuführen, als der Geschichtslehrer Henry Littlefield begann, seine Geschichtsstunden über die Geschichte der USA im späten 19. Jahrhundert mit der Verwendung von Charakteren und Handlungen aus dem Zauberer von Oz lebendiger und spannender zu gestalten. Gemeinsam mit seinen Schülern suchte er nach Parallelen zwischen der Handlung der Erzählung und historischen Ereignissen vor 1900. 1964 publizierte er die von ihm und seinen Schülern gefundenen Parallelen in einem Artikel in der Zeitschrift American Quarterly. Littlefield stellte niemals die Behauptung auf, dass Baum bewusst diese Themen in seiner Erzählung einbaute, verwies aber darauf, dass das Buch 1900 veröffentlicht wurde und Baum als politisch interessierter Mensch und Journalist mit der wirtschaftlichen und politischen Situation der USA seiner Zeit wohl vertraut gewesen sei. In den Folgejahren fand diese Idee eine Reihe von Nachahmern, die Littlefields Parallelen aufgriffen und weiter ausbauten. Dabei verfestigte sich zunehmend die Idee, dass Baum seine Erzählung tatsächlich als politische Allegorie auf seine Zeit schrieb und damit beispielsweise den republikanischen Präsidenten William McKinley mit seiner Geldpolitik angriff. Literaturwissenschaftler, die sich ausführlicher mit Baums politischen Ansichten auseinandergesetzt haben, bestreiten das. Aufgrund von Baums journalistischer Tätigkeit lässt sich belegen, dass Baum eher einer republikanischen Gesinnung zugeneigt war. Als Unterstützer von McKinley stehen Baums politische Grundüberzeugungen in klarem Widerspruch zu den publizierten Auslegungen des Buches. Zu den häufig zitierten Allegorien zählen beispielhaft die folgenden: Die etwas warmherzige, gradlinige Dorothy symbolisiert die US-amerikanische Bevölkerung. Die Böse Osthexe steht für den finanziellen Einfluss der Ostküste, wo die Großbanken und -unternehmen beheimatet waren. Die Unterdrückung der Munchkins symbolisiere daher die Unterdrückung des durchschnittlichen Amerikaners durch diese Wirtschaftskreise. Die Vogelscheuche stellt den amerikanischen Farmer dar, dem zwar eine geringe Bildung nachgesagt wird, der jedoch viel pragmatischen Verstand besitzt. Der Blechmann repräsentiert die in der US-amerikanischen Industrie beschäftigten Arbeiter. Diesen werde zwar Herzlosigkeit unterstellt; in Wirklichkeit zeichneten sie sich durch eine starke Kooperationsbereitschaft aus. Der Feige Löwe steht für die Reformer unter den US-amerikanischen Politikern, und zwar insbesondere für William Jennings Bryan. Der Zauberer von Oz symbolisiert wie die Böse Hexe des Ostens die politisch und wirtschaftlich einflussreichen Kreise innerhalb der USA. Obwohl sie in dem Ruf großer Macht stehen und hohes Ansehen genießen, sind sie letztlich nur Scharlatane und mehr armselig als beeindruckend. Besonders diese Darstellung wird als Beispiel für Baums Überzeugung angesehen, das Herz der USA sei in der Arbeiterklasse und ihrem Wertesystem zu finden. Der Zauberer von Oz sei daher als Darstellung des Präsidenten William McKinley zu verstehen. Auch Ereignisse der weiteren Oz-Bücher, die Baum nach dem Erfolg von Der Zauberer von Oz schrieb, werden auf diese Weise interpretiert und gelegentlich als Beleg verwendet, dass Baum sich sehr wohl mit diesen Büchern auf die aktuelle wirtschaftliche Situation beziehe. Ein häufig dafür herangezogener Beweis ist das sechste Buch der Oz-Serie (The Emerald City of Oz), in dem Onkel und Tante von Dorothy, die sich wirtschaftlich nie wieder von den Sturmschäden des Tornados erholten, aufgrund von Schulden ihre Farm an eine Bank verlieren. Dorothy führt ihre Verwandten nach Oz, wo es keine Armen gibt. Niemand arbeitet für einen Lohn, sondern jeder nur für den Nutzen der Gemeinschaft. Alle Produktionsmittel gehören der Prinzessin Ozma von Oz, die dafür sorgt, dass jeder nach seinen Bedürfnissen versorgt werde. Weiteres Aufgrund des großen Erfolgs baute Baum den Zauberer von Oz zu einer Serie rund um das Land Oz aus. Auch andere Autoren griffen die Geschichte auf, um sie in weiteren Erzählungen fortzuspinnen. So nutzte beispielsweise der russische Autor Alexander Melentjewitsch Wolkow Baums Vorlage, um daraus seine mehrbändige und durchaus eigenständige Saga rund um den Zauberer der Smaragdenstadt zu entwickeln, indem er neue Figuren und Handlungsstränge hinzuerfand. Die Illustration von Denslow Das Buch Der Zauberer von Oz unterschied sich vor allem durch seine ungewöhnlich prachtvollen und dem Kunststil der Jahrhundertwende entsprechenden Illustrationen von anderen Kinderbüchern seiner Zeit. Kinderbücher, die in dieser Zeit verlegt wurden, waren meistens mit schwarzweißen Zeichnungen versehen, die häufig nur skizzenhaft waren. Der Herstellungsprozess für das Buch war aufgrund der Illustrationen sehr aufwändig. Für die Farbtafeln in der Mitte des Buches waren vier Druckplatten erforderlich. Die erste war eine Zinkradierung, die als sogenannte „Schwarzplatte“ gedruckt wurde, und hinzu kamen drei Holzschnitte, die jeweils in Rot, Gelb und Hellblau gedruckt wurden. Für die Illustrationen im Text wurden gleichfalls Zinkradierungen verwendet, die mit einem erst 1879 patentierten Druckverfahren farbig gedruckt wurden. Denslow war als Künstler stark vom Japanischen Farbholzschnitt beeinflusst. Seit dem Jahre 1850 waren japanische Farbholzschnitte mit besonders hohem technischen und künstlerischen Niveau in großer Stückzahl nach Europa gelangt, hatten dort vor allem Impressionisten wie Claude Monet und Edgar Degas geprägt und über die europäischen Künstler auch die nordamerikanischen Künstler beeinflusst. Denslows Arbeiten weisen mit dem kräftigen schwarzen Strich, den kompakten Farbflächen, der Konzentration auf das Wesentliche und den klar aufgebauten Strukturen die Beeinflussung durch die Japanische Kunst auf. Deutlich zu erkennen ist aber auch die Prägung durch den Jugendstil. Kunstkritiker zählen die Illustrationen, die Denslow für den Zauberer von Oz schuf, zu seinen besten Arbeiten, und der Kunstkritiker J.M. Bowles erklärte Denslow 1903 zum „Impressionisten für die Kleinen“, der alles Unwesentliche aus seinen Zeichnungen verbanne. Auch viele der Rezensenten begeisterten sich an den Bildern, lobten diese mitunter mehr als den Text oder führten den Erfolg des Buches überwiegend auf sie zurück. Kritisiert wurde gelegentlich die wenig kindliche Zeichnung von Dorothy durch Denslow. Auch Baums spätere Äußerungen und die Briefe seiner Frau Maud lassen darauf schließen, dass Baum diese Einschätzung teilte. Jahre später schrieb er, dass ein Autor nur selten mit der Illustration seiner Figuren einverstanden sei, da sie selten mit seiner Vorstellung übereinstimme. Die Zusammenarbeit zwischen Denslow und Baum endete 1901 aufgrund von Auseinandersetzungen im Rahmen der von Baum geplanten musikalischen Revue The Wizard of Oz. Rivalitäten hatten zwischen den zwei Künstlern bereits seit dem großen Erfolg von Father Goose bestanden. Als ihr gemeinsamer Verleger bankrottging, war es für sie einfach, die Zeit ihres gemeinsamen Schaffens zu beenden. Übersetzungen Der Zauberer von Oz wurde in mehr als vierzig Sprachen übersetzt; dabei wurde die Erzählung immer wieder den lokalen Gegebenheiten angepasst. So tritt in einigen hinduistischen Ländern eine Schlange anstelle des Blechmanns auf. Die erste autorisierte Übersetzung erfolgte erst 1932 und war eine Übersetzung ins Französische. Erst mit dem Erfolg des MGM-Musicals 1939 stieg die Anzahl der Sprachen, in die der Zauberer von Oz übersetzt wurde, deutlich an. 1939 wurde Der Zauberer von Oz als Волшебник Изумрудного города (Der Zauberer der Smaragdenstadt) erfolgreich in der Sowjetunion veröffentlicht. Der Autor Alexander Wolkow wählte dabei den Weg einer Nacherzählung, wobei er das Buch auch größeren redaktionellen Änderungen unterwarf und beispielsweise ein Kapitel hinzufügte, in dem Dorothy (die in Wolkows Interpretation den Namen Elli trägt) von einem Menschenfresser entführt wird. Da alle anderen Tiere des Zauberlandes sprechen können, kann auch ihr Hund Totoschka sprechen. Des Weiteren ist der Holzfäller aus Eisen, da dieses bekanntlich das einzige Material ist, das rostet. Nach dem Erfolg der Neuausgabe von 1959 schrieb Wolkow fünf Fortsetzungen. Nach seinem Tode setzten weitere Autoren die Zauberland-Reihe fort. Für die sechs Wolkow-Bücher schuf der russische Grafiker Leonid Wladimirski aquarell-ähnliche Zeichnungen. Anders als in den US-amerikanischen Illustrationen, die von W.W. Denslow geschaffen wurden, ist beispielsweise die vom russischen Illustrator Leonid Wladimirski gezeichnete Vogelscheuche eine kleine und rundliche Figur. Mit seiner grafischen Interpretation prägte Wladimirski die visuelle Wahrnehmung der Wolkow-Bücher in der Sowjetunion, der DDR und anderen Ländern. Die erste deutsche Übersetzung erfolgte 1940. In der DDR wurde vor allem die Übersetzung der russischen Nacherzählung von Alexander Wolkow Der Zauberer der Smaragdenstadt und deren Fortsetzungen bekannt. Eine DDR-Ausgabe des Originals erschien erst 1988. In der Bundesrepublik Deutschland erschien das Buch erstmals 1964. Bei den Übersetzungen tat man sich vielfach mit den englischen Eigennamen schwer. Der „Zauberer von Oz“ wurde zum „Zauberer von Oos“ beziehungsweise „vom Ozenreich“. Bis in die 1990er Jahre hinein wurde auf die Zeichnungen Denslows in Deutschland verzichtet. Den Übersetzungen gelingt es in unterschiedlichem Maße, den Charme der Erzählung von Baum wiederzugeben. So lautet die Übersetzung des Buchanfangs bei Alfred Könner aus dem Jahre 1996: Die Übersetzung von Freya Stephan-Kühn aus dem Jahre 2001 weicht in kleinen Passagen davon ab: Auch Übersetzungen, denen es gelingt, den schnörkellosen Stil von Baums Originalversion auch im Deutschen beizubehalten, sind meistens nicht in der Lage, die Wortspiele Baums zu übersetzen. So spricht die Vogelscheuche in Alfred Könners Übersetzung mit krächzender Stimme. Im englischen Original hat die im Maisfeld stehende Vogelscheuche „a rather husky voice“ – „husky“ bedeutet nicht nur heiser, sondern beinhaltet auch das Wort „husk“, mit dem das Hüllblatt des Mais bezeichnet wird. Kinder mögen im Allgemeinen solche Wortspiele, die ihre Sprachfähigkeit herausfordern und von ihnen geistige Beweglichkeit erfordern. Heutige Literaturkritiker lehnen dagegen reine Wortspiele, die auf zufälligen klanglichen Ähnlichkeiten beruhen, eher ab. Baum liebte Wortspiele und verwendete sie in seinen Büchern häufig – das mag zu der Kritik beigetragen haben, seine Bücher seien schlecht geschrieben (siehe auch Absatz Für Kinder ungeeignet?) Verfilmungen Die Erzählung wurde mehrfach sowohl für die Schauspielbühne als auch für den Film adaptiert. Eine erste Musical-Variante wurde bereits 1902 erstmals aufgeführt und erwies sich als sehr erfolgreich. Baum selber produzierte 1917 einen ersten Film, der die Erzählung zum Inhalt hat, und in einer Filmversion mit dem Titel Auf nach Illustrien von 1925 spielte Oliver Hardy den Blechmann. Die bekannteste Verfilmung ist The Wizard of Oz von 1939 mit der jungen Judy Garland als Dorothy, die in Deutschland auch unter dem Titel Das zauberhafte Land bekannt ist. Dieser mit großen Problemen wie dem Austausch von Regisseuren produzierte Film war einer der ersten amerikanischen Farbfilme und zählt bis heute in den USA zu den bekanntesten Filmen überhaupt. Der Bekanntheitsgrad der Figuren und Handlung ist daher auch eher auf diese Verfilmung als auf das Buch zurückzuführen. Die Musiknummern aus diesem Film, zu denen beispielsweise Over the Rainbow zählt, sind bis heute Ohrwürmer. Im Film wurden die silbernen Zauberschuhe durch optisch auffälligere rote Paillettenpumps ersetzt. Diese Pumps erzielten 1988 auf einer Versteigerung $ 165.000 und im Mai 2000 sogar $ 666.000. Eine der bekanntesten Szenen des Films zeigt die Munchkins, wie sie um das Farmhaus tanzen, das die Böse Hexe des Ostens erschlagen hat und von der nur noch die roten Schuhe unter dem Haus herausragen. Diese Szene hat im englisch-sprachigen Raum wesentlich zu der Assoziation von roten Schuhen und Hexen beigetragen. Vor diesem Hintergrund ist es auch zu sehen, dass der Autor Terry Pratchett eine seiner Scheibenwelt-Hexen mit roten Schuhen ausstattete. Auch im deutschsprachigen Raum ist diese Assoziation umgesetzt worden. So hat die böse Hexe Rabia in Bibi Blocksberg einen Fetisch für rote Schuhe. Die 1971 erschienene türkische Verfilmung Ayşecik ve sihirli cüceler rüyalar ülkesinde (dt.: Die kleine Aysche und die sieben Zwerge im Land der Träume) kombiniert Schneewittchen und den Zauberer von Oz. Als Alternativtitel hat sich für den Film The Turkish Wizard of Oz etabliert. Der Film wird für das niedrige Budget der Filmaufnahmen und seine manchmal sinnlosen Filmszenen und geringe Werktreue kritisiert, wird aber immer wieder als sehr unterhaltsam beschrieben, manchmal auch als die „albernste, aber die unterhaltsamste Verfilmung“. Darüber hinaus wird in den diversen Filmkritiken immer wieder angemerkt, dass die Vogelscheuche in der türkischen Version expliziter homosexuell wirke als in den Hollywoodversionen. Dorothy heißt in dieser Version Ayşecik (Die kleine Aysche), weil die Hauptdarstellerin, der in diesem Film 17-jährige ehemalige Kinderstar Zeynep Değirmencioğlu, in allen ihren Filmen Die kleine Aysche hieß. Der 1974 erschienene Spielfilm Zardoz (Hauptdarsteller Sean Connery) erzählt vom Herrscher Zardoz, der sich als „Scharlatan“ basierend auf dem Wi – ZARD – of – OZ entpuppt. Oz – Eine fantastische Welt ist ein US-amerikanischer Fantasyfilm aus dem Jahr 1985, dessen Geschichte im Herbst des Jahres 1899 spielt. Der Film basiert auf den beiden Romanen Im Reich des Zauberers Oz und Ozma von Oz von Lyman Frank Baum und setzt die Handlung des MGM-Musicalfilms Der Zauberer von Oz fort. 1986 wurde in Japan mit „Ozu no Mahōtsukai“ () eine Zeichentrick-Version mit insgesamt 52 Folgen erstausgestrahlt. Produziert wurde es vom Nippon Animation Studio, welches auch andere berühmte Kinderbuch-Klassiker (unter anderem Betty und ihre Schwestern, Das Dschungelbuch, Heidi, Die Schatzinsel) umsetzte. In Deutschland lief die Anime-Serie unter dem Titel „Im Land des Zauberers von Oz“ in den 1990er Jahren beim Privatsender RTL2. Es wurden darin außer dem ersten Oz-Roman auch die fortführenden Romane wie „Im Reich des Zauberers Oz“, „Ozma of Oz“ und „Dorothy in der Smaragdenstadt“ behandelt. 2004 wurde Der Zauberer von Oz mit den Muppets verfilmt. Die Rolle der Dorothy wurde in Muppets: Der Zauberer von Oz von Ashanti Douglas gespielt. Im Dezember 2007 realisierten RHI Entertainment und der Fernsehkanal SciFi Channel die dreiteilige US-Miniserie Tin Man als überarbeitetes, modernes, sich aber weitgehend an das Buch haltendes Science Fiction/Fantasy-Märchen unter der Regie von Nick Willing mit den Schauspielern Zooey Deschanel, Richard Dreyfuss, Alan Cumming, Raoul Trujillo, Neal McDonough und Kathleen Robertson. In Deutschland wurde die Serie 2009 als gekürzter Zweiteiler (Originalversion USA: drei Teile) auf SciFi ausgestrahlt. Auch die deutschen DVD- und BluRay-Versionen werden, anders als zum Beispiel in Großbritannien, als von 279 Minuten auf 178 Minuten geschnittene Version verkauft. Als erwachsene Kinderbuchautorin gibt Regisseur Leigh Scott die Figur der Dorothy Gale in seinem 2011 erschienenen Film Die Hexen von Oz aus. Die Kinderbuchautorin Dorothy schreibt über Geschichten im Oz-Land und muss im New York der Gegenwart erkennen, dass sie ihre vermeintlich erfundenen Geschichten, die sie zu Papier bringt, als Kind tatsächlich selbst erlebt hat, wobei ihre Erinnerung daran lediglich unterdrückt war. Ebenfalls 2011 erschien die Zeichentrick-Version Tom and Jerry & The Wizard of Oz bei Warner Brothers mit einer Länge von 57 Minuten, in Farbe und Format 16:9. Hier werden die bekanntesten Musiknummern der klassischen Verfilmung verwendet. Auch die gezeichneten Charaktere entsprechen den klassischen Figuren weitestgehend. Im Frühjahr 2013 kam Die fantastische Welt von Oz in die Kinos, ein von Walt Disney produziertes Prequel zum Zauberer von Oz. In der Titelrolle als Oscar Diggs ist James Franco zu sehen. In weiteren Rollen sind Mila Kunis als die böse Hexe des Westens, Michelle Williams als Glinda und Rachel Weisz als Evanora, die Böse Hexe des Ostens zu sehen. Regie führte Sam Raimi. 2017 entstand der russische Trickfilm Urfin, der Zauberer von Oz. Er basiert im Wesentlichen auf Alexander Wolkows zweitem Buch Der schlaue Urfin und seine Holzsoldaten. Aber: Während bei Wolkow das Mädchen (mit dem Hund Totoschka) Elli heißt, heißt sie in der deutschen Version dieses Trickfilms – wie bei Baum – Dorothy. Allerdings ist es eine Dorothy von heute, die mit ihrem Hund ins Land Oz verschlagen wird, als sie silberne Schuhe aus einem Schrank ausprobiert. Dort hat vorher Urfin mit seiner Holz-Armee die Herrschaft übernommen. Sie soll nun helfen, das Land Oz wieder zu befreien. In dem Fantasy-Film Tintenherz von 2008 tritt der Hund Toto auf, indem ein Mädchen namens Meggie, das über die magische Gabe verfügt, literarische Figuren durch das bloße Vorlesen einer fiktiven Geschichte in die Wirklichkeit zu holen, einige zentrale Sätze aus dem Roman Der Zauberer von Oz vorliest. Auch der Wirbelsturm, das fliegende Farmhaus und die geflügelten Affen tauchen auf diese Weise in dem Fantasy-Film auf. Es handelt sich um die Verfilmung des gleichnamigen Romans Tintenherz der deutschen Schriftstellerin Cornelia Funke von 2003, in dem jedoch diese Motive von Der Zauberer von Oz nicht vorkommen. Hörfunk Thomas Gaevert: Wege nach Oz – Hörfunk-Feature; Produktion: Südwestrundfunk 2009 – 55 Minuten; Erstsendung: 21. Juni 2009, 15.05 Uhr, SWR2 Feature am Sonntag Theaterinszenierungen Seit Erscheinen des Buchs wird der Zauberer von Oz immer wieder erfolgreich auf Bühnen weltweit als Theaterstück aufgeführt. Der Zauberer von Oz in der Musik Revue Bereits 1902 schrieb Baum eine musikalische Revue, deren Titel gleichfalls The Wizard of Oz lautete. Das ursprüngliche Manuskript stammte von Baum, der sich eng an sein Buch hielt. Julian Mitchell, der bereits erfolgreich eine Reihe von Musikrevues auf die Bühne gebracht hatte, hielt dieses Manuskript jedoch für wenig bühnentauglich. Er wollte die Inszenierung nur übernehmen, wenn das Libretto komplett umgeschrieben würde. Es entstand eine Nummernrevue, die nur noch wenig Ähnlichkeit mit dem Buch hatte. Dorothy wird von einer Kuh mit Namen Imogene statt des Hundes Toto begleitet, und eine Reihe neuer Figuren treten in der Bühnenhandlung auf. Die Revue wurde am 16. Juni 1902 uraufgeführt und war von Beginn an ein großer Erfolg. Sie gilt als die erfolgreichste Revue ihrer Zeit. Sie wird heute jedoch nicht mehr gespielt, da weder die Musik noch das Libretto als zeitgemäß gelten. Musicals Zu den Bühnenadaptionen zählt auch ein sehr erfolgreiches Musical, das unter dem Titel The Wiz mit einer rein schwarzen Besetzung 1970 am Broadway aufgeführt wurde. Der Regisseur Sidney Lumet verfilmte 1978 dieses Musical als The Wiz – Das zauberhafte Land mit Diana Ross als Dorothy und Michael Jackson als Vogelscheuche, wobei der Film durch von Musikproduzent Quincy Jones arrangierte Motown-Soul-Songs besticht. Das erfolgreiche Broadway-Musical Wicked – Die Hexen von Oz (Erstaufführung 2003) basiert auf dem gleichnamigen Roman von Gregory Maguire. Wicked ist ein revisionistischer Blick auf das Land und die Charaktere von Oz. 2011 adaptierten Lord Andrew Lloyd Webber und Jeremy Sams die Geschichte als Jukebox-Musical für das Londoner West End. Darin verwendeten sie die Lieder des Filmklassikers von 1939. Das Musical erhielt unter anderem eine Olivier-Nominierung als bestes neuinszeniertes Musical und gewann zwei What’s-on-Stage Awards (Publikumspreis) in den Kategorien „Beste Musical-Neuinszenierung“ und „Beste Nebendarstellerin (Musical)“ (Hannah Waddingham). Ballett Für die Tanzbühne wurde das Kinderbuch 2011 von dem Choreographen Giorgio Madia adaptiert. Als OZ – The Wonderful Wizard gelangte der Stoff als Tanzstück mit Vladimir Malakhov (als Zauberer von OZ) und Polina Semionova (als Dorothy) mit dem Staatsballett Berlin zur Uraufführung. Musikalisch beruht diese Fassung auf Kompositionen von Dmitri D. Schostakowitsch. Musikalben Seit mehr als 30 Jahren wird vermutet, dass das Pink-Floyd-Album The Dark Side of the Moon eine Vertonung des Filmklassikers von 1939 sei. Eine Reihe von Musikfans behaupten, dass bei einem parallelen Abspielen der CD und des Films die Musik von Pink Floyd die visuellen Eindrücke des Films gelegentlich sehr deutlich wiedergeben. So sei beispielsweise ein Fahrradklingeln auf dem Pink Floyd-Album in genau dem Moment zu hören, in dem im Film ein Fahrrad vorbeifährt. Und Pink Floyd sängen über den Sturz in einen Abgrund, wenn im Film Dorothy auf einem Zaun balanciere. Pink Floyd haben sich zu dieser Vermutung allerdings bis heute nicht geäußert. Die spanische Heavy-Metal-Band Mägo de Oz benannte sich nach dem spanischen Titel dieses Werks. Die Band Toto benannte sich nach dem gleichnamigen Hund aus der Geschichte. Das Lied „Emerald City“ (1967) der Gruppe The Seekers bezieht sich auf die Smaragdstadt. Die amerikanische Rockband Melvins brachte 1989 das Album Ozma heraus, eine Hommage an Prinzessin Ozma. Thomas Bürkholz schrieb ein gleichnamiges Musical, das 2000 beim Theatersommer in Garmisch-Partenkirchen uraufgeführt wurde. Die deutsch-amerikanische Heavy-Metal-Band Demons & Wizards interpretierte in dem Lied Wicked Witch das Werk auf eigene Art. Darin wird der Tod der Hexe des Westens mit dem Tod der Phantasie und Magie gleichgesetzt, was unabdingbar für das Erwachsenwerden sei. 1973 veröffentlichte Elton John das Album Goodbye Yellow Brick Road. Das Cover sowie das gleichnamige Lied nehmen Bezug auf „Der Zauberer von Oz“. Das Cover des 1974 veröffentlichten Albums „Eldorado“ der Band Electric Light Orchestra zeigt die Filmszene, in der die Hexe des Westens versucht, Dorothy die Schuhe zu entwenden. Blizzard of Ozz war der Titel des ersten Soloalbums von Ozzy Osbourne, nach seiner (ersten) Karriere als Sänger der Band Black Sabbath. Literatur Erstausgabe The Wonderful Wizard of Oz (auch The Wizard of Oz). George M. Hill Company, Chicago/New York 1900. Deutsche Übersetzungen Der Zauberer von Oz. Übersetzung von Ursula von Wiese. Morgarten, Zürich 1940 Der Zauberer Oz. Übersetzung von Sybil Gräfin Schönfeldt, Maria Torris. Dressler, Berlin 1964; wieder Ravensburger 1975; wieder: Illustr. Janosch, Hamburg 1984 Der Zauberer von Ozenreich. Übers. Marlene Schneider. Hallmark Cards, München 1969 Der Zauberer Oz. Illustr. Eberhard Binder. Altberliner Verlag, Berlin 1988 ISBN 3-357-00113-6 Der Zauberer von OZ. Illustr. William Wallace Denslow. Artia Verlag, Hanau 1999 ISBN 3-934236-04-9 Der Zauberer von Oz. Übers. Freya Stephan-Kühn, Illustr. Klaus Müller. Arena Verlag, Würzburg 2001 ISBN 3-401-05702-2 Der Zauberer von Oz. Übers. Alfred Könner. in: Michael Patrick Hearn (Hrsg.): Alles über den Zauberer von Oz von L. Frank Baum. Europa Verlag, Hamburg 2003 ISBN 3-203-75550-5 Der Zauberer von Oz. Übers. Felix Mayer. Anaconda Verlag, 2012 Weitere Oz-Romane von L. Frank Baum The Marvelous Land of Oz (auch The Land of Oz). Reilly and Britton Company, Chicago 1904.Deutsch: Im Reich des Zauberers Oz. Übers. Christine Hettinger. Heyne, München 1981. Ozma of Oz. Reilly and Britton Company, Chicago 1907.Deutsch: Prinzessin Ozma von Oz. Übers. v. Christine Hettinger. Heyne, München 1981. Dorothy and the Wizard in Oz. Reilly and Britton Company, Chicago 1908.Deutsch: Dorothy und der Zauberer in Oz. Übers. v. Esmy Berlt. LeiV, Leipzig 1999. The Road to Oz. Reilly and Britton Company, Chicago 1909.Deutsch: Dorothy auf Zauberwegen. Übers. Esmy Berlt. LeiV, Leipzig 2000. The Emerald City of Oz. Reilly and Britton Company, Chicago 1910.Deutsch: Dorothy in der Smaragdenstadt Übers. Esmy Berlt. LeiV, Leipzig 2001. The Patchwork Girl of Oz. Reilly and Britton Company, Chicago 1913.Deutsch: Dorothy und das Patchwork-Mädchen Übers. Esmy Berlt. LeiV, Leipzig 2003. Tik-Tok of Oz. Reilly and Britton Company, Chicago 1914.Deutsch: Tik-Tak von Oz Übers. Maria Weber. BoD, Norderstedt 2018. The Scarecrow of Oz. Reilly and Britton Company, Chicago 1915.Deutsch: Die Vogelscheuche von Oz Übers. Maria Weber. BoD, Norderstedt 2018. Rinkitink in Oz. Reilly and Britton Company, Chicago 1916.Deutsch: Rinkitink in Oz Übers. Maria Weber. BoD, Norderstedt 2018. The Lost Princess of Oz. Reilly and Britton Company, Chicago 1917.Deutsch: Die verschwundene Prinzessin von Oz Übers. Maria Weber. BoD, Norderstedt 2019. The Tin Woodman of Oz. Reilly and Lee Company, Chicago 1918.Deutsch: Der Blechmann von Oz Übers. Maria Weber. BoD, Norderstedt 2019. The Magic of Oz. Reilly and Lee Company, Chicago 1919.Deutsch: Die Magie von Oz Übers. Maria Weber. BoD, Norderstedt 2019. Glinda of Oz. Reilly and Lee Company, Chicago 1920.Deutsch: Glinda von Oz Übers. Maria Weber. BoD, Norderstedt 2019. Weitere Oz-Bücher in deutscher Sprache Philip José Farmer: Ein Himmelsstürmer in Oz. Droemer Knauer, München 1985, ISBN 3-426-05800-6. Joan D. Vinge: Oz – Eine phantastische Welt. Das Buch zum Film. Droemer Knauer, München 1982, 1991, ISBN 3-426-01382-7. Oz-Comic in deutscher Sprache David Chauvel (Text), Enrique Fernández (Zeichnungen): Der Zauberer von Oz. Ehapa Comic Collection. Egmont-vgs-Verl.-Ges., Köln 2006, ISBN 3-7704-2915-X. Eric Shanower (Text), Skottie Young (Zeichnungen): Der Zauberer von Oz. Panini Comics, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-86201-281-7. Eric Shanower (Text), Skottie Young (Zeichnungen): Ozma von Oz. Panini Comics, Stuttgart 2013, ISBN 978-3-86201-475-0. Eric Shanower (Text), Skottie Young (Zeichnungen): Dorothy und der Zauberer in Oz. Panini Comics, Stuttgart 2013, ISBN 978-3-86201-661-7. Eric Shanower (Text), Skottie Young (Zeichnungen): Das zauberhafte Land Oz. Panini Comics, Stuttgart 2014, ISBN 978-3-86201-949-6. Eric Shanower (Text), Skottie Young (Zeichnungen): Die Straße nach Oz. Panini Comics, Stuttgart 2014, ISBN 978-3-95798-097-7. Eric Shanower (Text), Skottie Young (Zeichnungen): Die Smaragdstadt von Oz. Panini Comics, Stuttgart 2015, ISBN 978-3-95798-186-8. Oz-Comic in englischer Sprache Eric Shanower (Text), Skottie Young (Zeichnungen): The Wonderful Wizard of Oz. Marvel Comics Group, 2009, ISBN 978-0-7851-2921-9. Sekundärliteratur Michael Patrick Hearn (Hrsg.): Alles über den Zauberer von Oz von L. Frank Baum. Europa Verlag, Hamburg 2003, ISBN 3-203-75550-5. Lucille Grindhammer: Nachwort. In: L. Frank Baum: The Wonderful Wizard of Oz. Reclam Fremdsprachentexte. Reclam, Stuttgart 1994, ISBN 3-15-009001-6. Ranjit S. Dighe (Hrsg.): The Historian's Wizard of Oz – Reading L. Frank Baum's Classic as a Political and Monetary Allegory. Praegur Publishers, Westport Con 2002, ISBN 0-275-97418-9. Eleanor D. Payson: The Wizard of Oz and Other Narcissists. Julian Day Publications, Royal Oak Mich 2002, ISBN 0-9720728-3-7. Weblinks Freie deutsche Übersetzung online E-Book als Download (engl.) vom Project Gutenberg Einzelnachweise Lyman Frank Baum Die Welt von Oz Literarisches Werk Literatur (19. Jahrhundert) Literatur (Englisch) Literatur (Vereinigte Staaten) Kinderliteratur Fantasyliteratur Erzählung Fiktive Welt Hexerei in der Kultur
183919
https://de.wikipedia.org/wiki/Ritualmordlegende
Ritualmordlegende
Eine Ritualmordlegende (auch: Ritualmordfabel, Ritualmordvorwurf, Blutbeschuldigung, Blutanklage, Blutlüge; englisch blood libel) sagt gesellschaftlich diskriminierten Minderheiten Ritualmorde an Angehörigen einer Mehrheitsgruppe nach. Die Kolporteure greifen oft unaufgeklärte Entführungs-, Unglücks- oder Tötungsfälle auf, besonders von Kindern, und bieten dafür „Sündenböcke“ an. Historisch besonders folgenreich wurden Ritualmordvorwürfe im europäischen Christentum, die behaupteten: Die Juden würden heimlich christliche Kinder entführen und ermorden, weil sie deren Blut für ihre Pessachfeier und zu verschiedenen magischen oder medizinischen Zwecken bräuchten. Solche Legenden wurden von kirchlichen Interessengruppen gezielt erfunden, erstmals 1144 in England, und mit Predigtkampagnen, Traktaten, Volkssagen und religiöser Folklore in weiten Teilen Europas verbreitet. So wurde daraus ein dauerhaftes Stereotyp des christlichen Antijudaismus. Ritualmordanklagen von Christen gegen Juden lösten jahrhundertelang immer wieder Judenpogrome, Verfolgungen und Vertreibungen jüdischer Minderheiten aus oder rechtfertigen sie nachträglich. Sie blieben bis ins 20. Jahrhundert hinein „ein allgemein akzeptiertes Kulturmuster des christlichen Europa, das kirchenpolitisch und zeitweise staatspolitisch normative Geltung hatte.“ Daraus entstand die Verschwörungstheorie eines angeblichen Weltjudentums, das sich heimlich für schwerste Verbrechen an Nichtjuden verabrede. Ritualmordanklagen gegen Juden überdauerten die Aufklärungsepoche und wurden im modernen Antisemitismus seit 1800 erneut verbreitet. Die Nationalsozialisten benutzten die überlieferten Legenden zur systematischen Volksverhetzung vor und während des Holocaust. Aktuell lebt die antisemitische Ritualmordlegende in verschiedenen Varianten vor allem im Rechtsextremismus und Islamismus fort. Antike Griechisch-Römische Überlieferung Vorwürfe ritueller Kindesmorde, Menschenverzehr und das Trinken oder der kultische Gebrauch von Menschenblut sind aus griechischer Literatur der Antike seit den Historien des Herodot (5. Jahrhundert v. Chr.) bekannt. Sie richteten sich ursprünglich nicht gegen Juden, sondern andere Fremdvölker. Im antiken Griechenland wurden Menschenopfer bis etwa 480 v. Chr. abgewertet und verboten. Doch zugleich wurden manche Andersgläubige und Fremde mit Vorwürfen geheimer ritueller Menschenopfer dämonisiert. Im Hellenismus brachten gebildete Griechen solche Gerüchte gegen das Judentum in Umlauf. Dies war Teil der im hellenistischen Bildungsbürgertum üblichen Judenfeindschaft. Der Sophist Apion verleumdete die Juden in Alexandria um 40 n. Chr. gezielt beim römischen Kaiser Caligula, um jüdischen Widerstand gegen den Kaiserkult zu brechen. Apions Vorwürfe, die der jüdische Historiker Flavius Josephus in seiner Gegenschrift Contra Apionem (94 n. Chr.) wiedergab, gipfelten in der Erzählung: Der seleukidische Herrscher Antiochos IV. Epiphanes habe 167 v. Chr. im Jerusalemer Tempel einen Griechen gefesselt aufgefunden. Dieser habe berichtet, dass Juden ihn gefangen, im Tempel isoliert eingeschlossen und ein Jahr lang für ein rituelles Menschenopfer gemästet hätten, das sie jährlich vollzögen. Dabei würden sie das Fleisch des Opfers essen und ihrem Gott einen mächtigen Eid schwören, die Feindschaft zu den Griechen aufrechtzuerhalten. Die Einzelmotive der Legende (Menschenopfer, kannibalischer Opferverzehr, eines geraubten Fremden, für einen Gott, als jährliches Ritual, im Zentralheiligtum, zum Bekräftigen einer Feindschaft) lassen sich jeweils auf ältere Vorbilder zurückführen, darunter die antijüdischen Traktate des Ägypters Manetho (3. Jahrhundert v. Chr.). Dem Althistoriker Bezalel Bar-Kochva zufolge wurden die Motive von Menschenopfern und Kannibalismus schon vor den Makkabäeraufständen (ab ~160 v. Chr.) im Perserreich und in Ägypten zu einer antijüdischen Verleumdung kombiniert und gelangten über Hofhistoriker der Seleukiden und Römer an Apion. Dieser nannte laut Josephus die griechischen Historiker Poseidonios und Apollonius Molon (beide 1. Jahrhundert v. Chr.) als Quellen der Legende, um die Tempelentweihung und Judenverfolgung des Antiochus zu rechtfertigen. Schon Diodorus hatte diese Verfolgung mit angeblichen jüdischen Bräuchen gerechtfertigt. Laut dem byzantinischen Lexikon Suda schrieb der (sonst unbekannte) griechische Historiker Damokritos kurz vor oder nach der Tempelzerstörung 70 n. Chr. in seinem Werk „Über die Juden“: „… dass die Juden ihre Köpfe vor einem goldenen Esel beugen und alle sieben Jahre einen Nichtjuden fangen, als Opfer anbieten, sein Fleisch zerreißen und ihn so töten.“ Damokritos variierte hier wohl die von Apion überlieferte Legende. Im Römischen Kaiserreich übertrugen gebildete Römer die etablierten Vorwürfe ab etwa 150 n. Chr. auf die Christen und behaupteten wie zuvor von Juden, dass sie Eselsköpfe verehrten und kleine Kinder in geheimen Ritualen verspeisten. Solche Vorwürfe wurden mitunter durch Folter-Verhöre von Christen scheinbar bestätigt. Sie sind fast nur in Werken christlicher Apologeten und Kirchenväter belegt, die ihnen entgegentraten: darunter Justin der Märtyrer in seiner Apologiae pro Christianis (um 150); im Dialog mit dem Juden Tryphon (um 160); bei Origenes in Contra Celsum (um 250); bei Eusebius von Caesarea in den Praeparatio evangelica (um 320). Die römischen Gegner der Christen missdeuteten deren Bräuche, etwa die Adoption von ausgesetzten römischen Neugeborenen und die Eucharistie. Die nächtlichen Feiern der Christen verstärkten das römische Misstrauen: Man glaubte, sie übten dort geheime okkulte und staatsfeindliche Praktiken. Bei den Christenverfolgungen im Römischen Reich sagten regionale und staatliche Verfolger den Christen etwa nach, Neugeborene und Kleinkinder zu entführen, heimlich rituell zu töten und zu verspeisen. Dies beschrieb der Christ Minucius Felix in seinem Dialog Octavius (um 200): Judentum Im frühen Judentum galten Kindesmord und Kannibalismus als Kennzeichen von Götzendienst der Fremdvölker. Die Israeliten kannten in alter Zeit noch Kulte, die ein Opfer des ersten Kindes verlangten (; ). Dieses verbietet die jüdische Tora streng und wiederholt (; ; ; ; ; ; ) und bedroht es mit Todesstrafe (). Die biblischen Propheten verurteilten Menschenopfer als Götzendienst (; ; ; ; ) und tabuisierten sie so. Eventuell schon in der vorstaatlichen Zeit um 1200 v. Chr., spätestens bis 800 v. Chr. ersetzten im Judentum nach Tieropfer jedes Menschenopfer. Die Tora verbietet diese als „Greuel für JHWH“ wiederholt streng (; ; ; ). Auch die Tieropfer regelte die Tora streng und verbietet Juden unter anderem den Blutgenuss, da im Blut das Leben sei und dieses ausschließlich dem Schöpfergott gehöre (; ; ; ). Damit wurde eine wesentliche Begründung für Opfer, das Hingeben und Einverleiben fremder Lebenskraft, entkräftet. Das apokryphe Buch der Weisheit (~1. Jahrhundert v. Chr.) rechtfertigte die fiktive Ausrottung der Kanaanäer bei der Landnahme der Israeliten nachträglich mit deren angeblichen Kindesopfern (). Christentum Im Christentum tauchten Kindesmordvorwürfe zunächst gegen manche gnostischen oder christlichen Sekten auf. So überlieferte Augustinus von Hippo als Gerücht über die Montanisten, sie hätten einem einjährigen Kind kleine Wunden zugefügt, ihm das Blut entzogen, dieses mit Mehl verrührt zu Brot gebacken und dieses bei ihrem Abendmahl verzehrt. Falls das Kind starb, habe man es als Märtyrer, falls nicht, als Hohepriester verehrt. Die Kirchenväter übernahmen das biblische Verbot der Menschenopfer und begründeten es mit dem Kreuzestod Jesu Christi: Dort sei Gottes Versöhnung mit der Welt ein für allemal geschehen (). Das stellvertretende Selbstopfer des Sohnes Gottes habe alle weiteren Opfer überflüssig gemacht (; ). Sie unterstellten Juden daher zunächst keine kultischen Menschenopfer. Aber mit der These vom jüdischen Gottesmord, einer angeblichen Kollektivschuld aller Juden am Tod Jesu, sowie der Ersetzung des erwählten Gottesvolks Israel durch die Kirche (Substitutionstheologie) schufen sie die theologische Basis, auf die spätere Ritualmordlegenden sich stützten. Nach der Konstantinischen Wende stieg die Kirche bis 391 zur Staatsreligion des Römischen Reiches auf und beanspruchte dann auch politisch die Alleingeltung ihres Glaubens. Bald stellte fast nur noch die jüdische Minderheit diesen Absolutheitsanspruch in Frage, indem sie den Glauben an die Messiaswürde und Göttlichkeit Jesu und Heilswirkung seines Todes ablehnte und allen Bekehrungsversuchen widerstand. Juden galten daher neben „Ketzern“ als Hauptfeinde des Christentums und wurden systematisch diskriminiert. In der Spätantike waren Ritualmordvorwürfe von Christen gegen Juden noch selten und spielten dann auf das um 160 n. Chr. etablierte Dogma vom Gottesmord an. Mit der Kirchenherrschaft wurde der Glaube an die Heilkraft der christlichen Sakramente dogmatisiert. Parallel dazu wuchs die Vorstellung, die Juden wollten und müssten aufgrund ihrer erblichen Verbindung mit Satan oder dem Antichrist die Folter und Kreuzigung Jesu Christi ständig wiederholen. Dies zeigt der Bildfrevel, den Athanasius von Alexandria († 373) den Juden von Berytos (Beirut) zuschrieb, wobei er das biblische Bilderverbot überging: Sie hätten Jesu Marter an einem Christusbild wiederholt. Das Bild habe begonnen zu bluten und Wunder zu wirken; dies habe die Juden zur Taufe bewegt. Diese Legende wurde später weit verbreitet und vielfach abgewandelt: etwa in der Weltchronik des Sigebert von Gembloux († 1112), aber auch von dem Protestanten Hieronymus Rauscher († 1569). Sie lebt als Wallfahrtslegende in Oberried (Breisgau) bis heute fort. Der antike Kirchenhistoriker Socrates Scholasticus beschrieb in seiner Historia ecclesiastica (~415) einen Unfall bei einem jüdischen Purim-Fest: Betrunkene Juden hätten in einem syrischen Dorf einen Christenknaben aufgehängt und eher versehentlich zu Tode gefoltert. Cecil Roth, der britische Herausgeber der Encyclopaedia Judaica, sah hier den Ursprung der christlichen Ritualmordlegende und interpretierte diese damit als Fehlwahrnehmung jüdischer Bräuche. Diese Erklärung wird heute als spekulativ zurückgewiesen, da jene Episode keine Bezüge zu einem rituellen Opfer und Blutgenuss enthält und die christliche Legende sich nirgends auf das Purimfest bezog. Hochmittelalter Seit dem Hochmittelalter breiteten sich Ritualmordanklagen im von der Römisch-Katholischen Kirche beherrschten Europa aus. Sie wurden zum festen Bestandteil der Verfolgung Andersgläubiger, vor allem von Juden, seltener auch sogenannter Ketzer und Hexen. Die antijüdische Ursprungslegende In Norwich, der damals zweitgrößten englischen Stadt, wurde 1144 der christliche Junge William tot aufgefunden. Wie bei ungeklärten Todesfällen üblich, wurden ortsansässige Juden als seine Mörder verdächtigt, aber der örtliche Vogt schützte sie und ein Gericht wies die Anklage ab. Um 1150 kam der Benediktinermönch Thomas von Monmouth nach Norwich und schrieb von da an bis zu seinem Tod 1172 sein siebenbändiges Werk The Life and Passion of Saint William the Martyr of Norwich. Er behauptete, Juden hätten den 12-jährigen William im März 1144 gekauft, gemartert und gekreuzigt. Ostersamstag habe man seine Leiche gefunden. An seinem Grab hätten sich fortan immer wieder Wunder ereignet. Die als Faktenbericht ausgegebene Legende sollte einen Heiligen- und Märtyrerkult in Norwich etablieren, wundergläubige Pilger anwerben und so Einkünfte für den 1096 begonnenen Bau einer Kathedrale gewinnen. Obwohl der Papst diesen Kult nicht autorisierte, stimmten die englischen Bischöfe dem Vorhaben zu und legitimierten damit auch den Ritualmordvorwurf gegen Juden. Die Kernpassage der Legende lautet: Diese Motive tauchten in vielen Ritualmordanklagen der folgenden Jahrhunderte immer wieder auf: Bezug auf den jährlichen Karfreitag, Motiv des „unschuldigen Kindes“, Entführung oder „Kauf“ und Folterung des Opfers, blasphemisch verspottende Nachahmung der Kreuzigung Jesu, Schuldbeweis durch Wunder, die von der Leiche des vermeintlichen Opfers ausgehen. Nur der Blutgenuss fehlte noch. Monmouth stellte Williams Folterung als verabredete Rache von Juden für Grausamkeiten dar, die Christen ihnen bezüglich der Kreuzigung Jesu unterstellt hätten. Das spielte auf die Gottesmordthese an, mit der die christlichen Kreuzfahrer ihre Judenpogrome rechtfertigten, und projizierte deren Motive und Taten auf die Juden zurück. Der Vogt, der die Juden 1144 geschützt hatte, war 1147 gestorben. Teilnehmer des Zweiten Kreuzzugs (1147–1149) kehrten nach England zurück, brauchten Arbeit und Einkünfte. 1149 hatte ein verschuldeter christlicher Handwerker, Simon de Novers, in Norwich seinen Gläubiger getötet, den jüdischen Bankier Deulesalt. 1150 wurde Novers in London vor Gericht gestellt. 1150/51 wurde Williams Leichnam erst in die Klosterkapelle, dann die Kathedrale umgebettet. Um Novers zu entlasten, brachte sein Verteidiger, der Bischof von Norwich, den angeblichen Judenmord an William ins Spiel. Monmouth wollte diese Behauptung mit seiner Legende untermauern. Dazu nannte er den Juden, in dessen Haus William angeblich gefangen und gemartert worden war, „Deulesalt“. Während des Gerichtsverfahrens schmückte er die Legende weiter aus und behauptete: Sein Mitmönch Theobald von Cambridge, ein konvertierter Jude, habe ihm von einem jährlichen Treffen der führenden Juden Spaniens in Narbonne erzählt. Dort werde ausgelost, in welcher Stadt im laufenden Jahr ein Christenkind zu opfern sei, um den Judengemeinden weltweit Christenblut bereitzustellen. 1144 sei das Los auf Norwich gefallen. Jüdische Schriften verlangten dieses jährliche Opfer, weil die Juden nur so ihre Freiheit und verlorene Heimat wiederzuerlangen glaubten. Hier begann die Theorie der jüdischen Weltverschwörung. Sie verknüpfte den angeblichen jüdischen Ritualmord mit der jüdischen Befreiungshoffnung, an die das Pessachfest erinnert, und stellte diese als Ursache für das Leiden Jesu und der Christen dar. Ritualmordanklagen wurden daher stets in der Karwoche oder zeitlich nahe beim jüdischen Pessachfest erhoben. Der Historiker Israel Yuval deutete die christlichen Ritualmordanklagen als Reaktion auf die Selbstauslöschung jüdischer Gemeinden bei den Gezerot Tatnu von 1096 im Rheinland. Vor die Wahl zwischen Taufe und Tod gestellt, töteten viele Juden zuerst ihre Kinder, dann sich selbst. Jüdische Chroniken verherrlichten dies als „Heiligung des Gottesnamens“ (Kiddusch Haschem) in Erwartung kommender göttlicher Gerechtigkeit. Dies habe die Christen bestärkt, Juden eine bösartige Gier nach Rache an Christen und nach Kindesopfern zuzuschreiben. Die christlichen Legenden spiegelten die jüdische Märtyrertheologie. Ohne jüdisches Leiden zu bestreiten, wies Yuval dem Judentum damit eine Mitverantwortung für mittelalterliche Ritualmordlegenden zu. Diese Erklärung setzte sich nicht durch. Scheinprozesse Im französischen Blois wurden Juden 1171 beschuldigt, sie hätten ein totes christliches Kind in einen Fluss geworfen. Weder wurde ein Kind vermisst noch eine Leiche gefunden. Die bedrohten lokalen Juden zeigten den Fall bei König Ludwig VII. an, der ihnen Hilfe versprach. Gleichwohl erklärten der Bischof und der Graf von Blois dutzende Juden in einem Schauprozess zu Mördern. Die Angeklagten schlugen Angebote aus, sich freizukaufen und christlich taufen zu lassen, um ihre Gemeinde nicht künftigen Erpressungen auszuliefern. Darauf wurden am 26. Mai 1171 mehr als 30 Juden verbrannt. Der Abt Robert von Torigni behauptete später in seiner Chronik einen jüdischen Ritualmord und legitimierte so nachträglich den Massenmord. Die jüdische Gebetsliturgie zum Jom Kippur und zum Tischa beAv erinnert daran. Auch Legenden zu Richard in Pontoise (1167), Harald in Gloucester (1168) und Rodbertus in London (1181) stellten diese Todesfälle christlicher Knaben analog zur Marter und Kreuzigung Jesu dar und beschrieben Wunder, um die Schuld der Juden zu beweisen und einen Heiligenkult zu gründen. Mit dem Pogrom von 1171 in Blois griffen Ritualmordanklagen auf Frankreich und Spanien über. Auch 1179 in Paris, 1182 und 1250 (Domingo de Val) in Saragossa sollten Juden christliche Knaben gekreuzigt haben. Alle Prozesse dazu endeten mit Todesurteilen. 1191 in Bray-sur-Seine ermordete ein königlicher Vasall einen Juden. Die Opferangehörigen erwirkten gegen Geldzahlungen, dass der Täter verurteilt und ihrer Gemeinde übergeben wurde. Dessen Hinrichtung beim Purimfest stellten dann viele vermeintliche Zeugen als Ritualmord und Bestätigung weiterer Ritualmordanklagen hin. König Philipp II. nutzte dies, um seine Herrschaft in der Region zu festigen. Er zog nach Bray, stellte die Juden dort vor die Wahl zwischen Taufe und Tod und verurteilte 80 Gemeindeglieder zum Tod auf dem Scheiterhaufen. Viele töteten sich vorher selbst. Im englischen Winchester dagegen wurde eine Klage gegen Juden wegen der fehlenden Leiche 1192 abgewiesen. 1244 wurde in London ein toter Säugling gefunden, Wundmale auf der Leiche als hebräische Schriftzeichen gedeutet und Londoner Juden angeklagt. Sie konnten nicht überführt werden und ein Todesurteil gegen hohe Geldstrafen abwenden. Der Londoner Chronist Matthäus Paris hielt fest, frühere Ritualmordberichte, Märtyrerüberführungen und folgende Wunder hätten die Kleriker zu dieser Anklage bewogen. 1255 fand man in Lincoln den Knaben Hugh nahe beim Haus eines Juden tot auf. Dieser wurde gefoltert, gestand einen rituellen Auftragsmord, wurde daraufhin durch die Londoner Straßen geschleift und zuletzt gehängt. König Heinrich III. griff die Anklage auf und ließ nach einem Schauprozess 97 (andere Quellen: 18) weitere Juden hängen. Andere Mordanklagen gegen Juden tauchten nach Leichenfunden von christlich getauften Mädchen auf: etwa in Boppard (1179), Speyer (1195), Valréas (1247), Pforzheim (1267), Lienz (1442). Sie zeigen, wie sich der Vorwurf aus seinem rituellen Kontext löste und verallgemeinerte. Folklore und Literatur Um 1200 erzählte eine Legende in England von einem jungen Klosterschüler, der durch die Judengasse gezogen sei und dabei das Marienlied Alma redemptoris mater gesungen habe. Ein Jude habe ihn aus Wut erschlagen und in seinem Haus verscharrt. Doch seine Leiche habe weitergesungen und den Täter verraten. Auch Chroniken verbreiteten das Motiv: Matthäus von Paris († 1259) stellte Hughs angebliche Marter in grausamen passionsähnlichen Details dar. Darauf beriefen sich Ankläger in späteren Fällen, so der Stadtprediger von Celle, Sigismund Hosemann, noch 1699 in seinem Pamphlet Das schwer zu bekehrende Juden-Hertz. Geoffrey Chaucer (ca. 1340–1400) nahm die Legende vom Marienlied in seine Canterbury Tales auf und verknüpfte sie mit dem Motiv des Herodianischen Kindermords (Mt 2,16) und dem angeblichen Martyrium des Hugh von Lincoln. Diese Legenden verstärkten den Judenhass, bis die Juden 1290 aus England vertrieben wurden. Danach bestanden nur noch kleine jüdische Enklaven in manchen englischen Städten fort. Das Stereotyp des blutgierigen, heimtückischen, auf Verbrechen an Christen lauernden Juden wanderte in englische Bühnenstücke ein, so in Christopher Marlowes Der Jude von Malta (1592) und William Shakespeares Der Kaufmann von Venedig (1596–1598). Christenblut als „Heilmittel“ 1215 dogmatisierte das 4. Laterankonzil die Transsubstantiationslehre: Weil sich Wein und Brot bei der Eucharistie in das reale Blut und den Leib Christi verwandeln sollten, schrieb man der Hostie magische Kräfte zu. Ihr Missbrauch konnte im Aberglauben der Bevölkerung weitreichende Folgen haben. Seitdem verband sich der Ritualmordvorwurf mit dem des Hostienfrevels. Mit der Entfaltung der christlichen Blutmystik trat neben die Analogie zum Leiden Jesu immer öfter die Behauptung, Juden bräuchten Christenblut zum Einbacken in ihre Mazzen, für Zauberei oder zur Heilung ihnen angeborener Leiden. Sie seien demnach nicht nur aus Religion, sondern auch von ihrer „Natur“ her genötigt, solche Morde zu begehen. Ihnen wurde also eine analoge Sakramentalisierung ihrer Riten nachgesagt und der eigene Glaube an die Heilswirkung des Blutes unterstellt. Diese Blutanklage tauchte erstmals 1235 in Fulda auf deutschsprachigem Boden auf. Dort kamen am Heiligabend fünf Kinder bei einem Hausbrand ums Leben. Man beschuldigte örtliche Juden, sie hätten zwei der Opfer ermordet und ihr Blut in Säcke abgefüllt, um es als Heilmittel zu verwenden. Von einer rituellen Tötung reden die Akten nicht; doch erschien die ganze Judengemeinde beteiligt. Zufällig anwesende Kreuzfahrer verbrannten am 28. Dezember 34 ihrer Mitglieder. Seit diesem Massenmord bezeichneten deutsche Aschkenazim alle derartigen Ritualmordanklagen, auch die früheren englischen und französischen, als „Blutbeschuldigung“ (englisch blood libel). Der Dominikaner Thomas von Cantimpré schrieb 1263, Gott habe die Juden seit ihrer Selbstverfluchung () mit einem hässlichen Blutfluss gestraft, der erst aufhöre, wenn sie sich bekehrten. „Sie glaubten aber, sie könnten von ihrer geheimen Qual befreit werden, wenn sie christliches Blut vergössen!“ Darum würden sie jedes Jahr Christen ermorden. Erfolglose Schutzbemühungen Das Papsttum folgte gegenüber der jüdischen Minderheit vom 12. bis ins 20. Jahrhundert dem aus der Substitutionstheologie abgeleiteten Prinzip der doppelten Schutzherrschaft: Einerseits mussten sich die Juden den Christen unbefristet unterwerfen, erhielten weniger Rechte und getrennte Berufs- und Wohnbereiche, andererseits sollten sie die Überlegenheit der katholischen Kirche bestätigen und für die Judenmission verfügbar bleiben. Daher verboten einige Päpste den Christen mit Schutzbullen, die Juden zu ermorden und zu verfolgen, so Calixtus II. (Sicut Judaeis, 1120) und Innocenz III. (Licet perfidia Judeorum, 1199). Einige Bullen nahmen explizit auf Ritualmordlegenden Bezug. Während des zweiten Kreuzzugs (1147–1149) verurteilte der Abt Bernhard von Clairvaux in Briefen an Bischöfe die Zerrbilder angeblicher Mordlust der Juden an Christen. Dem folgten Gregor IX. (1233) und einige spätere Päpste. Sie konnten ihre Schutzgarantien für Juden jedoch oft nicht durchsetzen. Nach dem Präzedenzfall von Fulda 1244 wollte Kaiser Friedrich II. ähnliche Pogrome verhindern. Er setzte eine Untersuchungskommission ein, der Theologen und jüdische Konvertiten aus ganz Europa angehörten. Sie stellten fest: Mit dieser rationalen Begründung verbot er weitere Ritualmordanklagen. Doch diese erfolgten weiterhin, verbreiteten sich europaweit und endeten fast alle mit Massenhinrichtungen oder Massakern. 1247 in Valréas gaben die Angeklagten nach grausamer Folter alles zu, was die Ankläger hören wollten: Juden würden weltweit am Karfreitag zur Beschimpfung und Entmachtung Jesu ein Christenkind kreuzigen, sein Blut auffangen und dieses am Karsamstag, ihrem heiligen Sabbat, trinken, um so wie früher durch Opfer im Tempel entsühnt und gerettet zu werden. Daraufhin sandten die Judengemeinden eine Petition an Papst Innozenz IV. Dieser erließ eine Schutzbulle, die häufige Motive der Anklagen benannte: Er forderte daher die Adressaten auf, die Christen dazu anzuhalten, den Juden „freundlich und wohlwollend zu begegnen“. Doch er war es auch, der den Talmud und Disputationen mit Juden offiziell verbot, so dass sie ihre Religion den Christen nicht erklären konnten. Zudem erlaubte er der Inquisition, Blutanklagen, die oft von Priestern und Theologen formuliert wurden, mit Foltergeständnissen zu bekräftigen. Zwischen 1264 und 1267 erfolgten ständige Judenpogrome. Nach dem Regierungsantritt der Habsburger häuften sich die Ritualmordprozesse, so 1283 in Mainz, 1286 in München und 1288 in Oberwesel. Eine Schutzbulle von Papst Gregor X. (1272) zeigt, dass Anklagen bewusst gefälscht wurden: Christen würden Juden nicht nur zu Unrecht der Kindesentführung bezichtigten, sondern sogar bewusst Kinder verstecken und Juden eine Anklage androhen, um von ihnen Geld zu erpressen. Dennoch lebte der Glaube an die Legende fort: Manchmal bot man Juden sogar Kinder zum Kauf an. Weitere Schutzbullen von Martin V. (1417–1431), Nikolaus V. (1447–1455) und Paul III. (1534–1549) zeigen die Kontinuität der Anklagen. Päpstliche und königliche Verbote blieben weitgehend wirkungslos. So ist in Ritualmordprozessen von 1200 bis 1500 nur ein einziger Freispruch bekannt (1329 in Savoyen). Das Statut von Kalisch, das Herzog Bolesław der Fromme 1264 erließ, sicherte allen Juden von Großpolen den Schutz ihres Lebens und Vermögens zu und verbot, sie vor Gericht zu diskriminieren. Der Eid eines angeklagten Juden sollte vor Gericht als Beweis gelten. Das Dokument ist nur noch als Kopie aus dem 16. Jahrhundert bekannt. Die folgenden Herrscher Polens bestätigten die darin erlassenen Rechte. Gleichwohl kam es in Polen später zu Ritualmordprozessen, erstmals 1547. Kultstiftung Im Jahr 1287 sollten Juden Werner von Oberwesel aus religiösen Motiven ermordet haben. Die Legende entstand 1288 und löste blutige Verfolgungen der Juden im ganzen Rheinland aus. In Bacharach wurden deswegen 26 Juden ermordet. Heinrich Heine erinnerte in seiner fragmentarischen Erzählung Der Rabbi von Bacherach daran. Um die Leiche des Jungen entstand ein Kult: Man schrieb ihr besondere Leuchtkraft zu und weigerte sich zunächst, sie zu beerdigen. Um 1370 berichtete eine lateinische Chronik, Juden hätten ihn an den Füßen aufgehängt, um eine Hostie, die er gerade verschlucken wollte, zu erlangen. Daraufhin wurde Werner als Märtyrer mit einem Fest jedes Jahr am 19., später am 18. April verehrt. Am 17. April 1294 wurde Rudolf von Bern ermordet. Als Täter wurden die Berner Juden verantwortlich gemacht. Auch er wurde später als Märtyrer verehrt. Zudem wurde das Stereotyp mittels christlicher Kunst und volkstümlicher Passionsspiele im Volksglauben verankert. Altar- und Deckengemälde in Kirchen zeigen, wie Juden den kreuzförmig ausgestreckten Leib ihres angeblichen Opfers mit Messern oder Lanzen verletzen oder schächten, ihm Blut entziehen, dieses auffangen usw.; oft auch nach einer vorherigen Beschneidung, so auf dem Herrenberger Altar von Jörg Ratgeb (1518). 1303 wurde den Juden in Weißensee (Thüringen) ein Ritualmord an dem verschwundenen Knaben Conrad nachgesagt, was zu ihrer Verfolgung in der Region führte. Conrad wurde ansatzweise als Heiliger verehrt. Diese Episode wurde in mehreren Chroniken überliefert. Sie war auch Martin Luther bekannt und diente ihm 1543 dazu, allen Juden heimliche Mordabsichten an den Christen zu unterstellen. Frühe Neuzeit Ketzer und Hexen Im 15. Jahrhundert kamen auch Ritualmordvorwürfe gegen weibliche und männliche „Hexen“ auf. Ihnen wurden Praktiken vorgeworfen, die die kirchliche Inquisition seit dem 13. Jahrhundert Katharern und Waldensern unterstellt und mit Folterverhören „bestätigt“ hatte: nächtliche orgiastische Zusammenkünfte mit Teufelsanbetungen oder Huldigungsritualen an böse Geister und Kinderopfern. Nachdem bis dahin nur vereinzelte Klagen gegen als Zauberer Verdächtigte laut geworden waren, wurde nun eine bedrohliche Sekte angenommen, die Praktiken wie „Schwarze Magie“ heimlich verabrede und zur Zerstörung des Christentums ausübe. Motive wie der „Hexensabbat“ (vom Schabbat), die „Synagoge“ (für den Hexentanz) und Ritualmord stammten aus älteren antijudaistischen Vorstellungen. Die Chronik des Hans Fründ aus Luzern (~1431) zählte erstmals auf, was angeblich an einem Hexensabbat geschehe: Teufelspakt, Luftflug, Herstellung und Verwendung von Hexensalben, orgiastisches Mahl mit geraubten Lebensmitteln, Schadenzauber, ritueller Kindesmord und Kannibalismus. Prozessakten und Chroniken wie die des Heidelberger Hofkaplans Matthias von Kemnat zeigen, wie die heimlichen Praktiken, die Christen Juden unterstellten, auf Ketzer und Hexen übertragen wurden. Juden Um 1430 sind 30 Ritualmordanklagen gegen Juden im deutschen Sprachraum dokumentiert, vier in Spanien und Italien, zwei in Polen und eine in Ungarn. Sie endeten fast alle tödlich für die Angeklagten. Im Juli 1430 wurden die meisten Juden der Gemeinden von Lindau, Ravensburg und Überlingen verbrannt. Die Übrigen flohen oder wurden vertrieben; einige ließen sich taufen. Aus Buchhorn wurden die Juden 1433 zumindest vertrieben und ihnen die Ansiedlung verboten. In Konstanz wurden inhaftierte Juden gegen hohe Geldbußen aus der Haft entlassen, so auch in Zürich. In allen Verläufen waren die jeweiligen Interessen der Obrigkeit entscheidend. Wo ein dringender Tatverdacht vorgelegt wurde, kam es in der Regel zu Folter, um Geständnisse und Hinrichtungen zu erreichen. Wo Stadträte die Vorwürfe nicht glaubten, nutzten sie die Anzeigen oft, um Gegner und Konkurrenten auszuschalten. Im Ergebnis wurden Juden auch dort meist vertrieben, wo die Anklage entkräftet wurde. 1451 dehnte Papst Nikolaus V. die Inquisition unter Johannes von Capistrano auch gegen Juden aus. Dieser erneuerte die Vorwürfe von Ritualmord und Hostienfrevel gegen sie, die Innozenz IV. 1247 zurückgewiesen hatte. War die Anklage einmal erhoben, dann wurden die Begründungen dafür beliebig ausgetauscht, bis das durch Folter erpresste Geständnis das gewünschte Ergebnis lieferte. Ein Verhörprotokoll aus Endingen am Kaiserstuhl 1470 spiegelt die verzweifelte Suche des mit dem christlichen Aberglauben wenig vertrauten Juden Merklin nach der „richtigen“ Antwort, die seine Qual beenden würde: Er und seine Angehörigen bräuchten das Christenblut als heilsame Arznei; dann für die Fallsucht eines seiner Söhne; dann als Odor gegen ihren üblen Körpergeruch; dann als Chrisam (Salböl) für die Beschneidung. Das Christenblut sollte für die Ankläger also die Erlösung garantieren, die Juden nach der Patristik seit Jesu Blutopfer verloren hätten. Merklins Familie wurde lebendig verbrannt. Kaiser Friedrich III. konnte die Ausweitung des Verfahrens auf andere Städte verhindern, nach einem zähen Rechtsstreit 1476–1480 die Regensburger Juden retten und damit die kaiserliche Rechtshoheit über die Reichsstädte wahren. Die Geschichte des Simon von Trient wurde in ganz Deutschland und Oberitalien bekannt und folgenreich: 1475 begann Bernhardin von Feltre als neu ernannter Prior des Franziskanerklosters eine Serie von Hetzpredigten gegen die Juden von Trient, die ihr bisheriges friedliches Zusammenleben mit den Christen beendete. Am Gründonnerstag (23. Mai) gab er öffentlich den Juden die Schuld am Verschwinden eines Knaben und prophezeite, sie würden noch vor dem bevorstehenden Osterfest ihre Bosheit beweisen. Der jüdische Hofbesitzer Samuel fand am Karsamstag im Bach vor seinem Haus Simons Leiche und meldete den Fund den Behörden. Diese nahmen ihn und weitere Vertreter der jüdischen Gemeinde fest. In einem zweijährigen Verfahren nutzte der Tridentiner Bischof Johannes Hinderbach alle verfügbaren Foltergeständnisse von Ritualmorden im Bodenseegebiet für seine eigenen Verhöre. An der Folter starben 14 der Angeklagten, die übrigen legten erfolterte Scheingeständnisse ab. Hinderbach gab noch vor Prozessende Druckwerke in Auftrag, die in drastischen Holzschnitten die angebliche Marter Simons illustrierten. Daraufhin beauftragte Papst Sixtus IV. eine Untersuchungskommission mit der Prüfung des Falls. Deren Vorsitzender, ein Freund Feltres, stellte das Unrecht der Foltergeständnisse fest, zugleich aber das Recht zur Festnahme der Juden und zur Anklage gegen sie. Diese wurde nun ergebnislos fallengelassen. Aber mit „Augenzeugenberichten“ über Simons Leiden und Eingaben erreichte Feltres Orden schließlich, dass der Papst Simon heiligsprach. Bei Bischof Hinderbachs Sammlung angeblicher Ritualmordfälle von 1475 bezeugten lokale Gewährsleute, 1442 oder 1443 habe man bei Lienz eine mit vielen Stichwunden übersäte Mädchenleiche aus dem Fluss geborgen. Zwei als Mörder verdächtigte Juden des Ortes gestanden unter der Folter alles. Sie wurden erhängt, ihre Ehefrauen sowie eine Christin, die ihnen das Opfer angeblich verkauft hatte, wurden lebendig verbrannt. Diese Ritualmordlegende zu „Ursula Pöck“ war die älteste aus dem 15. Jahrhundert, blieb aber trotz mehrerer Wiederbelebungsversuche wenig beachtet. Kulturzeugnisse dazu wurden nach 1945 ohne Aufsehen beseitigt. Nachdem Pilger zum Grab Simons in Trient strömten, erinnerte man sich auch anderswo an unaufgeklärte Todesfälle von Kindern, die sich als Ritualmorde ausgeben ließen, um eine einträgliche Heiligenverehrung in Gang zu bringen: so in Padua (1475), Brescia, Mailand (1476), Motta di Livenza (1480) und Marostica (1485). Nur wenige davon lösten erfolgreich einen Kult aus. Erst 1588 erlaubte ein Papst, Sixtus V., den Kult um Simon von Trient. Die Schedelsche Weltchronik von 1493 zeigte anschauliche Bilder von Juden, um die gängigen antijudaistischen Stereotype zu belegen. Darunter waren die angebliche Kreuzigung des William von Norwich und die rituelle Tötung des Simon von Trient als markante Beispiele aller Ritualmordlegenden des Mittelalters. Das Bild zu Simon nannte sogar die Namen seiner angeblichen jüdischen Mörder. Es wurde oft nachgedruckt; eine danach gestaltete Figurengruppe befand sich bis 1965 in der Kirche St. Peter und Paul in Trient. Ein um 1475 entstandenes, ebenso wirkmächtiges Wandbild auf einem Brückenturm in Frankfurt am Main kombinierte Simons Leichnam mit einer „Judensau“ und einer Bildunterschrift, die an „der Juden Schelmstück“ im Bund mit dem Teufel erinnerte. Nach Johannes Matthias Tiberinus beglaubigte der Pseudomediziner Hippolyt Guarinoni um 1620 erneut den angeblichen Ritualmord an Simon, indem er seine Gebeine ausgraben ließ, zu einer Mumie präparierte und dann „obduzierte“. Sein Gutachten stellte exakt 5812 Wunden an Simons Körper fest. Nach diesem Muster schuf und propagierte Guarinoni im Zuge der katholischen Gegenreformation auch die Legende zu Anderl von Rinn. Den Anlass dazu gab ihm eine namenlose Kinderleiche, die seit 1612 in der Dorfkirche von Rinn als Reliquie ausgestellt, aber weithin unbeachtet geblieben war. In Rinn waren keine Juden ansässig. Mit Hilfe des Stadtrats und der Jesuiten im nahen Innsbruck konstruierte Guarinoni daraus einen jüdischen Ritualmord, zunächst mit erfolglosen Verhören von Dorfbewohnern, ab 1619 mit eigenen fiktionalen Texten, zuletzt 1642 mit einem langen Gedicht. Als exaktes Morddatum erfand er den 12. Juli 1462, also vor dem Todesjahr Simons, gab dem Kind den Namen des Apostels Andreas, den auch Simons Vater trug, und seiner Mutter wie Simons Mutter den Namen Maria. 1620 ließ Guarinoni das Skelett in Rinn exhumieren und stellte daran 20 Wunden fest. Ab 1621 popularisierte ein Theaterstück der Innsbrucker Jesuiten, dessen Uraufführung auch Erzherzog Leopold V. besuchte, die Legende rasch. Bis 1670 wurde über dem vermeintlichen Tatort, dem „Judenstein“, eine Wallfahrtskirche gebaut. 1671 wurde die Reliquie dorthin zeremoniell überführt und ausgestellt. Bald folgten Wallfahrten, Prozessionen und viele weitere Theaterstücke zu Anderl. 1730 stellte eine barocke Bildserie den erfundenen Ritualmord blutig und plastisch dar. 1754 gestattete Papst Benedikt XIV. den Anderlkult mit der Bulle Beatus Andreas offiziell. So wurde aus einer literarischen Fiktion ein „Volkstum“ Tirols und eine gewinnträchtige Wallfahrt, die Jahrhunderte überdauerte. Das „Anderl-Spiel“ wurde in der näheren und weiteren Umgebung nachgeahmt und trug erheblich zum Aufschwung des Tiroler Volksschauspiels bei. Im Jahr 1622 taf den jüdischen Kaufmann Isaak Jeschurun in Ragusa (Dubrovnik), die falsche Anschuldigung eines Ritualmords an einem christlichen Mädchen. In Wahrheit hatte eine nichtjüdische Frau das Kind getötet; sie brachte jedoch die Schutzbehauptung vor, von „einem Juden“ des Blutes wegen zur Tat angestiftet worden zu sein. Isaak wurde verhaftet und wiederholt aufs Grausamste gefoltert. Weil ihn die Folter nicht umbrachte, verurteilte man ihn zu Gefangenschaft unter derart unmenschlichen Bedingungen, dass der baldige Tod unausbleiblich schien. Doch auf wundersame Weise überstand Isaak auch diese Tortur länger als seine Richter es für möglich gehalten hätten und kam endlich frei. Abklingen Im 16. Jahrhundert trat der antijudaistische Ritualmordvorwurf in der kirchlichen Theologie Mitteleuropas zurück und konnte vor Gericht kaum noch durchgesetzt werden. Immer öfter stellten sich Klagen als unwahr und betrügerisch heraus, so 1504 in Frankfurt am Main, 1529 in Pösing und 1540 in Sappenfeld. Dort angeklagte Juden zitierten vor Gericht den Reformator Andreas Osiander, der den Vorwurf in einer anonymen Schrift exegetisch und logisch widerlegte (Ob es war und glaublich sey / daß die Juden der Christen Kinder heymlich erwürgen / vnd jr blut gebrauchen, 1540). Die Gegenschrift von Johannes Eck (1541) führte nochmals alle überlieferten angeblichen Beweise für einen religiösen Blutdurst der Juden an, fand aber kaum noch gelehrte Unterstützer. Auch katholische Theologen beriefen sich nun auf die Schutzbulle von Papst Innozenz IV. von 1247. Folglich wurden die Sappenfelder Juden freigesprochen. 1563 prüfte das Reichskammergericht letztmals eine Ritualmordanklage. Dort war von einem Bedarf der Juden an Christenblut keine Rede mehr, der Angeklagte wurde freigelassen. Später schrieben Katholiken auch Protestanten und Freimaurern solche Praktiken zu, während die Puritaner dies Katholiken zutrauten. Neuzeit Polen und Litauen Nachdem die meisten deutschsprachigen Städte die Juden bis etwa 1700 vertrieben hatten, kam es dort nur noch selten zu neuen Ritualmordanklagen, dafür umso mehr in Osteuropa, wohin viele vertriebene Juden geflohen waren. Besonders in Polen wurden die neuzugezogenen Juden anfangs begrüßt und tolerant behandelt. Doch 1407 kam es erstmals in Krakau zu einem Ritualmordvorwurf, begleitet von einem Pogrom. In der Lubliner Union, so ermittelten Historiker, fanden von 1500 bis 1800 mindestens 89 Ritualmordanklagen und -prozesse statt. Man schätzt 200 bis 300 Hinrichtungen als ihre Folge. Im Jahr 1758 baten die jüdischen Gemeinden Polens Papst Benedikt XIV., sie gegen die häufigen Ritualmordvorwürfe von Katholiken ihres Landes zu verteidigen. Nach dessen Tod beauftragte das Heilige Offizium den Franziskaner Lorenzo Ganganelli, die Vorwürfe zu prüfen. In seinem Gutachten kam er zu dem Ergebnis, dass historische und aktuelle Beispielfälle unbegründet seien. Er nannte judenhetzende Christen „Pöbel“ und „Lügner“ und wies polnischen Bischöfen ihre widersprüchliche Argumentation für die angeblichen Ritualmorde nach. Man müsse vernunftgemäß argwöhnen, dass die Vorwürfe insgesamt nur „Verleumdung“ der Juden durch Christen seien. Bei Andreas von Rinn 1462 und Simon von Trient 1475, deren Kulte Päpste anerkannt hatten, fand Ganganelli berechtigte Verdachtsmomente für jüdische Ritualmorde. Er betonte jedoch zugleich: Selbst wenn diese Ritualmorde tatsächlich geschehen seien, seien es Einzelfälle, die auf keinen Fall den Verwandten der Täter oder gar allen Juden angelastet werden und als Eigenart der „jüdischen Nation“ ausgegeben werden dürften. Jüdische Ritualgesetze verböten Menschen-, besonders Kindesopfer. Damit machte er das Durchsetzen von Einzelfallprüfungen aufgrund einer juristisch korrekten Beweisaufnahme zur Pflicht des Heiligen Stuhls. Dem schloss sich Papst Clemens XIII. am 24. Dezember 1759 in allen Punkten an. Die jüdischen Beschwerdeführer erhielten einen päpstlichen Sendbrief, der den polnischen Nuntius beauftragte, sie unter seinen Schutz zu stellen. Erst 1762 informierte dieser den polnischen König von dieser Haltung des Papstes und seinem Auftrag, Ritualmordvorwürfe nur noch nach individueller Beweislage zuzulassen und danach Recht zu sprechen. Russland In Russland soll laut einer Überlieferung der Russisch-orthodoxen Kirche ein Junge namens Gavriil 1690 einem jüdischen Ritualmord zum Opfer gefallen sein. Er wurde noch 1914, nach dem Freispruch des angeblichen Ritualmörders Mendel Beilis, von seiner Kirche als Märtyrer heiliggesprochen. Einige Zaren nutzten Ritualmordlegenden gezielt zur Diskriminierung der Juden und des Liberalismus; sie waren dort also Ausdruck eines gesamtpolitischen Antisemitismus. Der erste dortige Ritualmordprozess 1799 in Senno endete für vier angeklagte Juden mit Freispruch aus Mangel an Beweisen. Danach forderte Zar Paul I. einen offiziellen Bericht über Weißrusslands Juden an. Der als Autor beauftragte spätere Justizminister Gawriil Romanowitsch Derschawin hielt Ritualmorde für das Fantasieprodukt unwissender Fanatiker, schloss aber nicht aus, sie könnten früher tatsächlich verübt worden sein. Es gebe in den Judengemeinden noch lebende Täter. Daher seien solche Anklagen ernst zu nehmen und zu verfolgen. Nach einem weiteren Fall 1816 in Hrodna verbot Zar Alexander I. mit einem Ukas am 6. März 1817, Juden künftig ohne hinreichende Indizien und nur wegen der abergläubischen Ritualmordlegende anzuklagen. Zugleich aber ließ er die Prüfung von Freisprüchen zu, so im Fall von Welisch 1823. Der mit der Untersuchung beauftragte Generalgouverneur Tschowanski – ein bekannter Judenfeind – bezichtigte 1824 in seinem Bericht die ganze jüdische Gemeinde von Welisch als Auftraggeber des Mordes. Darauf ließ der neue Zar Nikolaus I. alle jüdischen Schulen und Synagogen der Stadt schließen. Tschowanski versuchte nun, auch bei weiteren ungeklärten Mordfällen eine Verstrickung von Juden nachzuweisen und dazu den Fall in Grodno wieder aufzurollen. Doch 1835 sprach der Staatsrat die seit 1825 inhaftierten Juden von Welisch in letzter Instanz frei, verurteilte drei Belastungszeugen wegen Meineids und verbannte sie nach Sibirien. Der Zar akzeptierte das Urteil, bestätigte aber nicht den Ukas seines Vorgängers von 1817, da er an jüdische Sekten glaubte, die christliches Blut für ihre Riten benötigten. Aus Anlass des Falls von Saratow 1853 beauftragte er eine Sonderkommission, die angeblichen „Dogmen des religiösen Fanatismus der Juden“ zu untersuchen. Obwohl diese bis 1856 keine Beweise fand und den Fall einzustellen riet, verurteilte der Staatsrat die Beschuldigten zu lebenslanger Haft im Arbeitslager. Der als Reformzar geltende Alexander II. bestätigte das Urteil 1860 und lehnte Begnadigungsgesuche ab. Zwei der Verurteilten begingen in Haft Suizid, der dritte wurde 1867 begnadigt. Trotz einer Justizreform wurde etwa die Anklage 1879 in Kutaissi (Georgien) zugelassen, die mit Freispruch für zehn Juden endete. Unter Alexander III. fanden trotz wachsender antisemitischer Stimmung keine Ritualmordprozesse statt, erst wieder 1900 in Vilnius unter Nikolaus II. (1902 Freispruch nach Revision). 1903 in Kischinjow brachten orthodoxe Priester und die vom Geheimdienst Ochrana mitfinanzierte Tageszeitung Bessarabetz nach einem bereits aufgeklärten Mordfall Ritualmordgerüchte auf, die zu einem schweren Pogrom führten. Unter dem Ruf „Tötet die Juden“ wurden vom 6. bis 9. Februar 45 bis 49 jüdische Bewohner der Stadt ermordet, darunter Frauen, Alte, Säuglinge. 400 bis 500 wurden verletzt und über 700 ihrer Wohnungen und Geschäfte geplündert und zerstört. Die Polizei griff nicht ein. Auf internationale Proteste und eine Petition des US-amerikanischen Senats antwortete der Zar nicht. Dies gab dem Zionismus Auftrieb; zehntausende Juden verließen wie schon nach den staatlich geduldeten Judenpogromen von 1880 Russland. 1910 gelang einer jüdischen Familie in Smolensk, mit einer Verleumdungsklage nach einer gefälschten Anklage die Verurteilung der Hauptbelastungszeugin und eines örtlichen Geistlichen zu erreichen, der das Gerücht als Redakteur der reaktionären Zeitung Russkoje Snamja („Russisches Banner“) und Vorsitzender des Sojus russkowo naroda („Bund des russischen Volkes“) geschürt hatte. 1911 wurde die Jüdin Chana Spektor in Taraschtscha noch im selben Monat nach einer Anklage freigesprochen. Nach Protesten bestätigte der Senat den Freispruch 1912. Der Prozess gegen Mendel Beilis in Kiew 1911 war die letzte international beachtete russische Ritualmordanklage. Sie wurde vom zaristischen Innenministerium selbst konstruiert, um parlamentarische Forderungen nach Aufhebung der seit Jahrzehnten gültigen antijüdischen Knebelgesetze zurückweisen zu können. Trotz fingierter Beweise sprach eine Jury den Angeklagten nach zweijähriger Haft 1913 einstimmig frei; er musste aber emigrieren. Die Haltung der Staatsbehörden fand vielfache Kritik im Ausland und rückte den russischen Antisemitismus ins Blickfeld der Weltöffentlichkeit. Sie trug auch zur Verständigung von konservativen und revolutionären russischen Oppositionellen in der „Judenfrage“ bei. Nach 1918 wurde die Ermordung der Zarenfamilie von Gegnern der Bolschewiki als Ritualmord hingestellt: Die Thronfolger seien wie bei einer Schächtung regelrecht ausgeblutet worden. Da das verbreitete Theorem des jüdischen Bolschewismus die Revolutionäre ohnehin oft umstandslos mit dem Judentum gleichsetzte, waren schwere antisemitische Ausschreitungen in den von den Weißen beherrschten Gebieten die Folge. Osmanisches Reich Das vom Islam geprägte Osmanische Reich pflegte religiöse Toleranz gegen die Minderheiten der Christen und Juden. Im 15. Jahrhundert nahm es die aus Spanien vertriebenen Juden auf. Seitdem traten auch hier Blutanklagen gegen Juden auf. Sie gingen alle von orthodoxen Christen – Griechen und Armeniern – aus, die die Juden als wirtschaftlich privilegierte Konkurrenten sahen. Sie waren bis 1800 aber sehr selten und wurden allesamt mit Dekreten von der Regierung zurückgewiesen. Ab 1830 und nochmals ab 1860 nahmen solche Anklagen jedoch sprunghaft zu: Bis 1900 sind 80 Fälle verzeichnet, ein Großteil davon in türkischen Hafenstädten des Mittelmeers. Dies hing mit verschärften Spannungen zwischen christlichen Griechen und muslimischen Türken und dem wachsenden Druck der europäischen Kolonialmächte zusammen. Judenfeindliche Agitatoren versuchten, die Ritualmordlegende nach dem Vorbild christlicher Gruppen für politische Ziele zu nutzen und Unruhe in der Bevölkerung zu schüren. Sie fanden unter Muslimen zunächst wenig Glauben. Ein Pamphlet von 1803 – Die Widerlegung des Judaismus und seiner Gebräuche – wurde jedoch in zahlreiche Sprachen übersetzt und vor allem auf dem Balkan und Kleinasien verbreitet. Autor war der griechische Mönch Noah Belfer, der sich als bekehrter Jude ausgab (Neophytos, „der Wiedergeborene“) und unter dem Pseudonym E.G. Jab behauptete, sein Vater habe ihn als 13-Jährigen in das Einbacken von Christenblut in die Passahmazzen eingeweiht und ihm den Eid abverlangt, dieses Geheimnis nur einem von zehn seiner zukünftigen Kinder weiterzugeben. Es sei nur den Rabbinern bekannt. Christliche Mönche lösten mit einer Ritualmordanklage gegen Juden in Damaskus 1840 die international beachtete Damaskusaffäre und antijüdische Ausschreitungen in einigen Städten des Osmanischen Reichs aus. Der Vatikan unterstützte ihre Anklage. Diese wurde durch Folter von acht hochgestellten Juden, Kindesentführung, Erpressung und Bestechung gestützt. Ihr folgten weitere Ritualmordanklagen gegen Juden im arabischen wie europäischen Raum. 1870 mussten jüdische Kaufleute in Konstantinopel zur Passahzeit ihre Handelssäcke öffnen, da man den Transport von Kinderleichen darin vermutete. 1872 folgte ein Pogrom in Smyrna; in Marmara wurde eine Synagoge niedergebrannt. 1874 konnte die türkische Polizei ein weiteres Pogrom in Konstantinopel verhindern. – Die Affäre mobilisierte die westeuropäische und nordamerikanische Öffentlichkeit gegen solche Blutanklagen und gilt daher als erstes Zeichen einer globalisierten Mediengesellschaft. Österreich-Ungarn Die verschärfte Lage der Juden in Osteuropa führte ab etwa 1800 zu Rückwanderungsbewegungen. Diesen folgten in den Zuzugsländern wie Österreich-Ungarn wiederum neue Ritualmordanklagen, etwa im ungarischen Tiszaeszlár 1882 und im böhmischen Polná 1899. Diese standen nun auch hier bereits im Kontext des modernen Antisemitismus. Im Fall von Tiszaeszlár verteidigten die ungarische politische Elite unter Ministerpräsident Kálmán Tisza die beschuldigten Juden sofort. Der Nationalratsabgeordnete und Rechtsanwalt Károly Eötvös erreichte vor Gericht ihren Freispruch. Ungarns Behörden und Regierungsparteien traten Judenpogromen, die auf die unbegründete Anklage in einigen Orten des Landes folgten, entschieden entgegen und begrenzten sie so. Frankreich In Frankreich wurde der jüdische Viehhändler Raphaël Lévy 1670 in Metz wegen eines Ritualmordvorwurfs angeklagt, gefoltert und hingerichtet. Ein ebenfalls angeklagter jüdischer Entlastungszeuge wurde vor der Hinrichtung bewahrt, indem Ludwig XIV. jeden weiteren Ritualmordprozess und sogar den bloßen Glauben an Ritualmordanklagen verbot. Zwar erreichte ein Theologe posthum die juristische Rehabilitation Levys, doch Schmähschriften verbreiteten diese und andere Ritualmordlegenden weit ins 18. Jahrhundert hinein. Selbst Befürworter der jüdischen Emanzipation wie Henri Grégoire schlossen die Möglichkeit einiger vergangener jüdischer Ritualmorde nicht aus. In der Dreyfus-Affäre (1894–1906) tauchten modernisierte Ritualmordanklagen in Frankreich wieder auf. Einige Vertreter des katholischen Ultramontanismus warfen Juden wie 200 Jahre früher vor, sie stünden hinter der Säkularisierung durch die Regierung. Die katholische Zeitung La Croix warf Juden vor, sie zerstörten die Seele Frankreichs durch ihre angebliche radikale säkular-antikatholische Agenda, so wie Juden früher Christenkinder ermordet hätten. Um die Justiz zum Eingreifen zu bringen, erinnerte Dreyfus' Verteidiger Joseph Reinach an den Justizmord an Raphael Lévy und das Prozessverbot des damaligen Königs. – Im Jahr 2001 entschuldigte sich ein Urgroßneffe von Didier Le Moyne, dem angeblich von Levy ermordeten Jungen, bei dessen einzigem Nachfahren öffentlich für das seinem Urahnen angetane Unrecht. Glatigny, die Heimatgemeinde des angeblichen Opfers Lévys, verbot allen Juden das Betreten des Ortes und hob diesen 344 Jahre strikt eingehaltenen Bann erst 2014 auf. Akademischer Diskurs in Europa Seit der Aufklärung waren Ritualmordlegenden unter Gebildeten unglaubwürdig geworden. Doch seit 1800 versuchten frühe Antisemiten, sie wiederzubeleben und pseudowissenschaftlich zu untermauern. 1840 löste die Damaskusaffäre in Westeuropa eine breite Debatte darüber aus, ob jüdische heilige Schriften Ritualmorde verlangen. Die Londoner Times druckte Noah Belfers Pamphlet von 1803 nach und kommentierte, falls die Angaben zuträfen, müsse die jüdische Religion eines Tages von der Erde verschwinden. Auch die Leipziger Allgemeine Zeitung gab judenfeindlichen Argumenten viel Raum. In meist anonymen Leserbriefen beriefen sich christliche Autoren auf antijüdische Schriften, etwa von Matthäus Rader (Bavaria Sancta, ab 1615), Johann Christoph Wolf (Bibliotheca hebraica, ab 1683) und Johann Andreas Eisenmenger (Entdecktes Judenthum, 1711; 1759). Daraufhin erinnerten anerkannte Rabbiner an weithin vergessene Zurückweisungen der Legende von Salomo ibn Verga (Schewet Jehuda, ~1554), Menasse ben Israel (Vindiciae Judaeorum, 1656; deutsche Übersetzung und Vorwort von Moses Mendelsohn, 1782); Johann Christoph Wagenseil (Unwidersprechliche Widerlegung der entsetzlichen Unwarheit, Daß die Juden zu ihrer Bedürffnis Christen-Blut haben müssen, 1705) und Aloysius von Sonnenfels (Judaica Sanguinis Nausea, 1753). Beide Seiten bezogen sich auch auf Martin Luthers Judenschriften. Im Debattenverlauf versuchten Judenfeinde, das Verbot des Blutgenusses in zum Gebot des Trinkens von Menschenblut am Altar umzudeuten. Der Talmud erlaube den Gebrauch von Menschenblut etwa bei der Beschneidung, geringfügig auch in koscherem Essen und in Mazzen. Dann, so eine Antwort, hätte ja auch Jesus als toratreuer Jude Menschenblut getrunken. Bei den unterstellten Riten, so schon Isaak Bär Levinsohn (Efes Dammim, 1834), müsse jede Synagoge pro Jahr zwei, allein in London also 16 Christen ermorden. Doch habe man seit 100 Jahren nirgends so einen Mord entdeckt und rechtskräftig bewiesen. Somit seien auch die früheren angeblichen Ritualmorde nur durch Folterverhöre belegt. Diese rationalen Argumente verfingen jedoch nicht gegen die seit 1144 übliche Behauptung, Juden würden Morde an Christenkindern bei jährlichen Geheimtreffen verabreden. Diese Treffen waren schon seit 1540 nur noch bestimmten Rabbinerfamilien oder isolierten jüdischen Sekten nachgesagt worden. So erschien nun plausibel, dass früher bei Juden übliche Ritualmorde seit der Aufklärung nur noch bei ungebildeten Ostjuden und „fanatischen Sekten“ außerhalb Europas praktiziert würden. Damit hielten Judenfeinde die Legende trotz fehlender Beweise wach und erhöhten den Anpassungsdruck auf gebildete Juden Europas. Dagegen veröffentlichte Adolphe Crémieux erneut das Vindiciae Judaeorum von 1656. Darin hatte Menasse ben Israel stellvertretend für alle Juden öffentlich den heiligen Eid geschworen, sie seien schuldlos solcher Verbrechen. Spätere Rabbiner wie Jacob Emden, Jonathan Eybeschütz und David Meldola hatten diesen Eid feierlich bekräftigt. Dies taten 1840 auch Solomon Hirschell in England, Emmanuel Deutz und mit ihm viele Rabbiner in Frankreich. Auch jüdische Konvertiten wie Johann Emanuel Veith, Wildon Pieritz und August Neander traten gegen die Ritualmordlegende auf. Mit seiner Schrift Reasons for Believing that the Charge Lately Revived Against the Jewish People Is a Baseless Falsehood veröffentlichte Alexander McCaul einen Protestbrief von 35 Konvertiten, darunter der Bischof Michael Salomo Alexander. Sie erklärten feierlich, als erfahrene Kenner des Judentums hätten sie „niemals unter Juden davon gehört und erst recht keine Juden gekannt, die den Brauch üben, Christen zu ermorden oder christliches Blut zu benutzen. Wir halten diese Anklage, die früher so oft gegen sie vorgebracht und erst kürzlich wiederbelebt wurde, für eine widerliche und satanische Lüge.“ Ein angeblicher Talmudexperte schrieb anonym in der Leipziger Allgemeinen Zeitung, zwar habe er wie Eisenmenger im Talmud keine Spur von Ritualmordregeln und Blutgenuss gefunden. Doch die Bibelstelle hätten auch Rabbiner als Prophezeiung späterer Ritualmordanklagen verstanden. Er behauptete, um das Passahfest herum würden auffällig viele christliche Kinder ermordet; darum müssten nicht alle Legenden unwahr sein. Um jüdische Ritualmorde als möglich darzustellen, veröffentlichte er einige Talmudzitate, die Gojim den Tod wünschten. Gegengutachten zeigten, dass er die Folgesätze weggelassen hatte: Diese verboten strikt direktes oder indirektes Ermorden von Nichtjuden. In seiner Schrift Ueber den Ursprung der Wider die Juden Erhobenen Beschuldigung (1840) erklärte der gelehrte Konvertit Joachim Biesenthal die Legenden psychologisch als Projektion: Die Christen unterstellten Juden das, was sie ihnen heimlich gern selbst antun würden. Das 1871 veröffentlichte Werk Der Talmudjude des katholischen Alttestamentlers August Rohling war ein Plagiat von Eisenmengers Pamphlet Entdecktes Judenthum. Obwohl Rohling den Talmud selbst kaum kannte, galt er jahrelang als Experte für das Judentum und behauptete jüdische Ritualmorde auch vor Gericht. Ebenfalls 1871 wies der Rabbiner Theodor Kroner in seiner Gegenschrift (Entstelltes, Unwahres und Erfundenes in dem Talmudjuden Professor Dr. August Rohling’s) nach, dass dieser von 61 herangezogenen Talmudzitaten 29 verdreht und entstellt, 27 erfunden und drei falsch zitiert hatte. Damit schien der Fall erledigt. Doch 1883 bezeugte Rohling im Strafprozess zum Judenpogrom in Tisza-Eszlár (Ungarn), Juden bräuchten für ihr Passahfest christliches Blut. Als der Wiener Rabbiner Joseph Samuel Bloch ihm in mehreren Zeitungsartikeln Fälschung und Verleumdung vorwarf, zeigte Rohling ihn an. Der Konvertit und Alttestamentler Franz Delitzsch erweiterte seine Schrift Rohling’s Talmudjude Beleuchtet (1881) nun zum Gegengutachten (Schachmatt den Blutlügnern Rohling und Justus, 1883). Als das Wiener Gericht ihn als Gutachter zuließ, zog Rohling seine Anzeige kurz vor der Hauptverhandlung zurück. Obwohl er seine Lehrerlaubnis verlor, beeinflussten seine Thesen weitere Ritualmordprozesse und antisemitische Kampagnen in Mittel- und Osteuropa. Zusammen mit Delitzsch engagierte sich auch der damals führende Judaist Hermann Leberecht Strack gegen die verstärkte antisemitische Propaganda. 1891 veröffentlichte er den Aufsatz Der Blutaberglaube bei Christen und Juden, den er in den Folgejahren ständig erweiterte und unter neuen Titeln herausgab. Die fünfte Auflage von 1900 hieß Das Blut im Glauben und Aberglauben der Menschheit. Mit besonderer Berücksichtigung der ‚Volksmedizin‘ und des ‚jüdischen Blutritus‘. Mit demselben Anliegen gaben einige christliche Theologen, Orientalisten und Historiker 1899 und 1900 die umfangreichen Dokumente zur Aufklärung heraus. Der erste Band zu den Blutbeschuldigungen gegen die Juden enthielt auch die Schutzbullen der Päpste gegen die Ritualmordlegenden. In Frankreich reagierten der Journalist Bernard Lazare und der Religionswissenschaftler Salomon Reinach auf die Schrift La France Juive (1886) des Antisemiten Edouard Drumont mit historischen Abhandlungen, auch zur Ritualmordlegende (L’accusation de meurtre rituel, 1893). Deutschland Kultüberlieferung In Mitteleuropa überdauerten Ritualmordlegenden gegen Juden die Aufklärung und Französische Revolution. Sie lebten vor allem in ländlichen Gebieten mündlich fort und wurden auch durch schriftliche und bildliche Überlieferung, vor allem Heiligenverehrung, gestützt und wachgehalten. Großen Einfluss hatte die weithin bekannte Bavaria Sancta des Jesuiten Matthäus Rader von 1627 (1704 ins Deutsche übersetzt). Sie erneuerte einige mittelalterliche Ritualmordlegenden oder erfand neue und beschrieb die angeblichen Opfer als Märtyrer, „Selige“ oder „Heilige“ Bavarias. Im Kampf von Judengegnern und Nationalisten gegen die Judenemanzipation erhielten diese Legenden im 19. Jahrhundert neuen Auftrieb. Verschwörungsideologische Propaganda verknüpfte Juden nun als angebliche Drahtzieher der Französischen Revolution mit Templern, Freimaurern, Illuminaten und anderen angeblichen Geheimsekten. Aber auch die älteren christlichen Varianten blieben in manchen Gegenden, etwa im katholischen Rheinland, bis 1900 gängiger Volksglaube. Obwohl die Wallfahrten zum Sarg des Werner von Oberwesel 1545 beendet worden waren, zeigten regelmäßig restaurierte Deckengemälde und Altarbilder der Dorfkirche weiter sein angebliches Martyrium. Das Bistum Trier nahm Werner 1761 in den örtlichen Heiligenkalender auf und beging seinen angeblichen Todestag bis 1963 jedes Jahr mit einer Prozession. Womrath, sein angeblicher Geburtsort, widmete ihm noch 1911 eine neue Kapelle mit Kultgemälden und feierte ein jährliches „Wernerfest“ mit eigens komponierten Liedern. Im Kölner Dom war er zusammen mit einem Judensaumotiv in das Chorgestühl eingeschnitzt. Bei Johanneken von Troisdorf gelang der Versuch einer Kultstiftung weniger nachhaltig. Verfolgungswellen Vielerorts bedrohte schon das bloße Gerücht eines Ritualmords die ortsansässigen Juden, so in Ilsenburg (Harz) (1599), Feuchtwangen (1656), Gerabronn (1687), Gunzenhausen (1715), Reckendorf (1746), Markt Erlbach (1758), Muggendorf, Pretzfeld (1785), Küps (1797), Uhlstädt-Kirchhasel (1803), Höchberg bei Würzburg (1830), Thalmässing, im Nördlinger Ries (1845) sowie in Enniger (1873), Kempen (1893), Berent (1894) Burgkunstadt (1894), Ulm (1894), Berlin (1896), Issum (1898), Skaisgirren (1898), Schoppinitz (1898), Langendorf (1898), Braunsberg in Schlesien (1898), Oderberg (1900) und Neuss (1910). Im katholischen Rheinland führten dutzende Ritualmordanklagen wiederholt zu schweren Ausschreitungen gegen Juden: so 1819 in Dormagen, obwohl das ermordete Mädchen dort nachweislich Opfer einer Sexualstraftat war. Trotzdem wurden auch in Neuss, Grevenbroich, Hülchrath, Emmerich, Binningen (Eifel) und Rheinbrohl Synagogen, Friedhöfe und Häuser von Juden angegriffen und teilweise zerstört; Plünderungen blieben aus. In den Vormonaten hatten in größeren Städten anderer Regionen die stärker ökonomisch motivierten Hep-Hep-Krawalle stattgefunden. In Neuenhoven, Bedburdyck, Stessen (heute Ortsteile von Jüchen) kam es 1834 nach einem Sexualverbrechen an einem Jungen (15. Juli) wiederum wochenlang zu schweren Exzessen gegen Juden, denen diesmal auch Plünderungen und Mordversuche folgten, etwa in Grevenbroich, Neuss, Düsseldorf, Rommerskirchen, Güsten, Aachen und Xanten. Preußisches Militär musste die Krawalle beenden, da örtliche Gendarmerie vielfach nicht eingriff. 1835 wurde in Willich bei Krefeld nach dem Fund einer Kinderleiche sofort das Ritualmordgerücht gegen Juden laut. Ein Handwerkslehrling, der sich als Augenzeuge ausgab und damit einen jüdischen Kaufmann vor Ort zu erpressen suchte, wurde als der Mörder überführt. 1836 in Düsseldorf erhielten Lokalzeitungen ein Ritualmordgerücht noch ein Jahr nach dem Fund einer Kinderleiche aufrecht. 1840 inhaftierte man in Jülich ein altes jüdisches Ehepaar eine Woche lang wegen eines angeblichen Mordversuchs an einem neunjährigen Mädchen. Nachdem sich herausstellte, dass Angehörige das Mädchen zu der belastenden Aussage angestiftet hatten, verebbten die anfangs groß aufgemachten Berichte darüber. Dieser Fall war auch ein Echo der international beachteten Damaskusaffäre. 1862 entstand während der Karwoche in Köln eine Hysterie in der Bevölkerung. Ein Mann, der sein eigenes Kind an der Hand führte, wurde von einer Menschenmenge als vermeintlicher jüdischer Kindesentführer bedroht und konnte sich nur mit Mühe als der Vater ausweisen. Andere als Kindesmörder verdächtigte Personen wurden schwer misshandelt. Einen katholischen Passanten, dem Kinder „Blutjude“ nachgerufen hatten, prügelten herbeieilende Erwachsene fast tot. Propaganda Ab etwa 1870 begannen deutsche Nationalisten, pseudowissenschaftliche statt religiöse Erklärungen für „jüdische Ritualmorde“ zu konstruieren. Nun leiteten rassistische Antisemiten den angeblichen jüdischen „Blutdurst“ aus Rasse-Eigenschaften her und stützten sich dabei auf vorherige kirchliche Erklärungen. Papst Pius IX. sah die Kirche von der „Synagoge des Satans“ bedroht, erhob Simon von Trient 1867 zum Märtyrer und Heiligen und pries 1869 das antisemitische Pamphlet Der Jude, das Judentum und die Verjudung der christlichen Völker, das die Juden der Neigung zum Ritualmord bezichtigte. Er verlieh dessen Autor Henri Roger Gougenot des Mousseaux einen hohen kirchlichen Orden. Auch Bischof Konrad Martin von Paderborn gab Schriften heraus, die behaupteten, Juden bräuchten das Blut christlicher Kinder für ihre Religionsausübung. Der Antisemit Max Liebermann von Sonnenberg brachte solche christlichen Ritualmordbeschuldigungen als kostenlose Broschüren in Massenauflage in Umlauf. Der nationalsozialistische Ideologe Alfred Rosenberg übersetzte das Pamphlet von Mousseaux 1921 ins Deutsche. Ab 1881 begann das Jesuiten-Organ La Civiltà Cattolica eine jahrelange antisemitische Artikelserie, die laufende Ritualmordprozesse zum Erneuern der Ritualmordlegende benutzte. Der Autor versuchte zu beweisen, dass das Purimfest, nicht das Pessach diese Ritualmorde veranlasse. Er empfahl den europäischen Regierungen, Sondergesetze für die außerordentlich „verdorbene Rasse“ der Juden einzuführen und ihre Emanzipation zurückzunehmen; das würde sie vor Pogromen schützen. Im Einklang mit damaligen Antisemiten behauptete das Blatt ein heimliches jüdisches Streben nach Weltbeherrschung und Talmudgebote, Christen zu betrügen und zu ermorden. Die Brüder Grimm nahmen zwei Ritualmorderzählungen in ihre Sammlung Deutsche Sagen auf: den „Judenstein“ als Version der Legende von Anderl von Rinn (Nr. 353) und „Das von den Juden getötete Mägdlein“ (Nr. 354). Für viele weitere deutschsprachige Sagensammlungen gehörten angebliche jüdische Ritualmorde zum beliebten Stoff. So nahm Karl Paulin die Anderle-Legende noch 1972 in seine „Schönsten Tiroler Sagen“ auf und schmückte sie mit grausamen Details aus. Zugleich unterschlug die deutsche Volkskunde alle jüdischen Sagen. So trug sie erheblich zum Judenhass bei. Nur einzelnen Volkskundlern war dies bewusst: So enthielt Will-Erich Peuckerts Sammlung „Schlesische Sagen“ von 1924 nur regionale Ritualmordlegenden, kommentierte sie kritisch und stellte ihnen eine jüdische Messiaserzählung positiv gegenüber. Der völkische Schriftsteller Max Bewer behauptete in seiner Sammlung „Gedanken“ (1892), die Juden benötigten Christenblut zur Durchführung einer homöopathischen Therapie zwecks Reinhaltung ihrer Rasse. Er versuchte, christliche, nationalistische und rassistische Feindbilder „der Juden“ zu vereinen. Die Affären in Xanten und Konitz 1885 wurde in Skurz bei Danzig ein Strafprozess wegen eines angeblichen Ritualmords durchgeführt. Am 21. Februar 1889 wurde in Breslau dem Rabbinatskandidaten Max [Moses] Bernstein vorgeworfen, er habe bei einem achtjährigen christlichen Knaben eine „rituelle Blutabzapfung“ vollzogen. Der neu ernannte Justizminister Hermann von Schelling ließ diesen Fall näher untersuchen. 1891 kam es nach dem Fund einer Kinderleiche am 29. Juni in Xanten zur „Affäre Buschhoff“: Adolf Buschhoff, der Metzger und ehemalige Schächter der kleinen jüdischen Gemeinde, wurde eines Ritualmords verdächtigt. Zeugen behaupteten, sie hätten das Kind kurz vor der Tatzeit des Mordes vor seinem Haus spielen und dann hinein gehen sehen. Nach Ausschreitungen gegen Wohnungen und Läden ortsansässiger Juden, einer antisemitischen Pressekampagne und einem fingierten Polizeibericht, der die Zeugenaussagen stützte, wurde Buschhoff im April 1892 wegen Mordes angeklagt. 160 Zeugen wurden verhört, deren Vorwürfe seit den ersten Vernehmungen erheblich präziser und schärfer geworden waren. Doch Buschhoff konnte ein lückenloses Alibi vorweisen und wurde am 14. Juli freigesprochen. Am Vortag hatte man sein Haus in Xanten zerstört; seine berufliche Existenz war vernichtet, und er konnte nicht mehr dorthin zurückkehren. Während des Prozesses und danach kam es in den Kreisen Neuss und Grevenbroich wie 1819 und 1834 zu schweren judenfeindlichen Ausschreitungen. Dort wurden jüdische Friedhöfe verwüstet, Fensterscheiben eingeworfen, Bäume umgehauen, Gärten zerstört, von Juden bewohnte Häuser angezündet und versucht, die Synagoge von Grevenbroich zu sprengen. Ein Viertel der jüdischen Einwohner von Neuss verließ damals den Ort und zog in andere Gegenden. Die übrigen waren gesellschaftlich geächtet und verarmten in den Folgejahren. Bei der Reichstagswahl 1893 erzielte der liberal-katholische Stadtrat Clemens Freiherr von Schorlemer-Lieser gegen den umgebenden Trend mit antisemitischer Propaganda und Unterstützung der ansonsten im Rheinland abgelehnten preußisch-protestantischen Christlich-Sozialen Partei Adolf Stoeckers enorme Stimmengewinne. Zudem folgten der überall publizierten Affäre im ganzen folgenden Jahrzehnt viele weitere Ritualmordbeschuldigungen, auch in weit entfernten und überwiegend protestantischen Regionen: so 1893 in Kempen und Posen, 1894 in Berent, Burgkunstadt, Rotthausen, Ulm, 1895 in Berlin, Köln, Mienken, 1896 in Berlin, Seckenburg, Żerków, 1898 in Bromberg, Chorzów, Issum, Langendorf, Schoppinitz, Skaisgirren, 1899 in Braunschweig, Breslau, Versmold, 1900 in Königshütte, Meseritz, Myslowitz, Übermatzhofen, Pudewitz, Rogasen, 1901 in Großschönau, Kleve, Oderberg, Rittel, Rosenberg, Schneidemühl, Strehlen, Uetersen, 1902 in Marienburg und Schlochau. Diese Fälle fanden meist nur lokale Beachtung. Doch zugleich wurden die von 1890 bis 1917 besonders häufigen Ritualmordbeschuldigungen im zaristischen Russland und in der Habsburger K.u.K.-Monarchie stets von der deutschen Presse aufgegriffen und öffentlich stark beachtet. Der gewaltsame Tod von Ernst Winter am 11. März 1900 in Konitz (Westpreußen) fand erst durch gezielte, antisemitische Pressepropaganda überregionale Aufmerksamkeit. Ein Berliner Zeitungsverleger, Wilhelm Bruhn, der später wegen Landfriedensbruchs verurteilt wurde, schürte das aufgekommene Ritualmordgerücht mit einem Untersuchungsausschuss, dem viele angesehene Stadtbürger angehörten. Er verfolgte in Konkurrenz zur Polizei Spuren, die auf jüdische Täter verweisen sollten, und gab den jüdischen Metzger Adolph Lewy als Tatverdächtigen aus. Die Presse griff jedes belanglose Detail und nachgewiesen unwahre Zeugenaussagen auf und strickte daraus Szenarien des Tathergangs. Eine Ansichtskartenserie zeigte die Leichenteile, ihre Fundorte, den Beschuldigten, den später des Meineids überführten Hauptbelastungszeugen beim Beobachten der Tat, deren Ausführung als rituelles Schächten im Keller des Metzgers, die dabei Anwesenden, darunter den stadtbekannten Metzgersohn, mit Bärten, Zylindern und Gebetsriemen. Darunter standen Parolen wie „Hütet eure Kinder!“, „Den Mördern zur Warnung, den Christen zur Wahrung ihrer teuersten Güter“, „blutgierige Sekte unter den Hebräern“. Die Bildmotive wurden während der laufenden polizeilichen Suche nach dem Täter in Umlauf gebracht, ihr Verkauf sollte den Bau eines Grabmals für das Mordopfer finanzieren. Neben antisemitischen Zeitungen machten sich auch katholische und evangelisch-lutherische Presseorgane die Anklage zu eigen. Der über Monate anhaltenden Hetzpropaganda folgte am 10. Juni 1900 (einem Sonntag) ein Massenauflauf auf dem Konitzer Markt. Die Menge ließ sich weder vom Bürgermeister noch der Gendarmerie abhalten, das Haus Lewys und die örtliche Synagoge völlig zu zerstören. Auch in den Nachbarorten Prechlau und Kamin wurden Juden angegriffen. Da die Behörden sie nicht schützten, flohen viele aus der Gegend und ließen ihren Besitz zurück; Gemeinden trafen sich nur noch heimlich in ihren Häusern zu Privatgottesdiensten. Die antijüdische Stimmung hielt in der Gegend jahrelang an: 1903 wurde ein älterer Jude in Stegers bei Schlochau erschlagen, nachdem er in einer Gastwirtschaft jede jüdische Beteiligung am Mord an Ernst Winter bestritten hatte. Weimarer Republik und NS-Zeit In der Weimarer Republik verbreiteten vor allem Nationalsozialisten und andere völkische Bewegungen, Vereine und Zeitungen Ritualmordlegenden. Franz Fühmann beschrieb in seiner fiktiven, aber autobiografische Erlebnisse verarbeitenden Erzählung Das Judenauto von 1962, wie ein sudetendeutscher Schüler in den 1920er Jahren antisemitische Ritualmordgerüchte in der Schule hörte und aufnahm. Das antisemitische Hetzblatt „Der Stürmer“, herausgegeben von Julius Streicher, nutzte diese Gerüchte seit 1923 fortwährend für seine Karikaturen, um Juden als besonders abstoßende, heimtückische „Blutsauger“ darzustellen. Es griff dabei auf antijudaistische Hetzschriften wie die von Eisenmenger und Rohling zurück. Artikel über verschwundene oder tot aufgefundene Kinder wurden stets mit Hinweisen auf das „jüdische Blutritual“ verknüpft. Im Juli 1926 erschien aus Anlass eines Doppelmordes in Breslau ein Heft, das sich ausschließlich mit angeblichen von Juden begangenen Ritualmordfällen befasste. Bis 1929 erschienen mindestens neun Einzelhefte nur zu diesem Thema. Im Illustrierten Beobachter ließ sich Hermann Esser ebenfalls über den vermeintlichen Ritualmord in Breslau aus. Die Legende wurde außerdem verschiedentlich mit zeitgenössischen antisemitischen Motiven verknüpft. So schrieb Johannes Dingfelder 1928 in Alfred Rosenbergs Zeitschrift Der Weltkampf einen Aufsatz unter dem Titel „Schächtung und Weltgewissen“, der sich vordergründig mit Tierschutz und einem daraus abgeleiteten Schächtverbot auseinandersetzt, der aber in erster Linie auf die Verbreitung der Falschbehauptung abzielte, von Juden vorgenommene Schächtungen stünden im Zusammenhang mit einem „Blutglauben“, der besonders in „fanatischen orthodoxen jüdischen Kreisen […] hin und wieder […] zu sogenannten Ritualmorden an Menschen“ führe. Im „Stürmer“ hieß es im selben Jahr über den Mordfall Helmut Daube, er sei wohl von einer „jüdischen Geheimsekte“ ermordet worden, die mit den Genitalien von Heranwachsenden düstere Rituale durchführe. Das bediente Verschwörungsfantasien und voyeuristische Bedürfnisse durch eine stark sexuell konnotierte Berichterstattung über vermeintliche jüdische Sexualverbrechen, Zwangsprostitution und Handel mit heranwachsenden Kindern. Am 17. März 1929 fand man bei Manau den Jungen Karl Kessler tot auf. Daraufhin schrieb der Zahnarzt Otto Hellmuth als „Sonderberichterstatter“ einen Leitartikel im folgenden Stürmer, der behauptete: „Die Sektion der Leiche ergab, daß der Körper völlig ausgeblutet war. … Damit ist der Beweis einwandfrei geliefert, daß es sich hier nur um einen jüdischen Blutmord handeln kann.“ Der Untersuchungsrichter widersprach öffentlich jedem Detail des frei erfundenen Textes. Doch Hellmuth und der Stürmer-Redakteur Karl Holz hielten im ganzen Landkreis gut besuchte Vorträge zum Thema „Blutmord in Manau“ um das Osterfest (31. März 1929) herum und verteilten dabei eine Hetzschrift mit dem Titel „Jüdische Moral und Blutmysterien“, die 50 vermeintlich nachgewiesene jüdische Ritualmorde behauptete. Daraufhin wurden zahlreiche Juden der Umgebung festgenommen und mussten ein Alibi nachweisen. Am Fundort der Leiche wurde eine Tafel, später ein Gedenkstein mit der Aufschrift „Karl Kessler – Opfer eines Ritualmordes“ aufgestellt. Dort hielten örtliche NS-Aktivisten nun jährlich Gedenkfeiern ab. Hellmuth stieg zum Gauleiter von Mainfranken auf und betrieb 1934 und 1937 die „Aufklärung“ des Falls, um seine Verdienste für das Gau aus der Zeit vor der Machtergreifung hervorzuheben. Nach einer großen „Gedenkfeier“ am 19. März 1937 verhaftete die Gestapo neun Juden in Würzburg und Erlangen, die gestreute Gerüchte mit dem Tod des Jungen verbanden. Obwohl alle Beschuldigten ein hieb- und stichfestes Alibi vorweisen konnten, wurden sie bis November 1937 inhaftiert. Am 1. Mai 1934 gab der „Stürmer“ ein Flugblatt mit dem Titel „Jüdischer Mordplan gegen nichtjüdische Menschheit aufgedeckt“ heraus, dessen Titelbild einen angeblichen jüdischen Ritualmord darstellte. Der Text beschuldigte die Juden, sie planten aufgrund angeblicher Ritualmordneigungen Morde an führenden NS-Vertretern, darunter Adolf Hitler. Die Reichsvertretung der deutschen Juden protestierte mit einem Telegramm an die Reichskanzlei und an den Reichsbischof der DEK, Ludwig Müller, gegen die Veröffentlichung: Sie bedrohe Juden an Leib und Leben, schände ihren Glauben und gefährde Deutschlands Ruf im Ausland. Eine Antwort blieb aus. Auch die Gestapo befürchtete, das Flugblatt werde eine unüberschaubare Flut einzelner Gewalttaten gegen Juden auslösen. Es durfte dennoch erscheinen; jedoch ließ Hitler die Restauflage beschlagnahmen. Mit dieser Ritualmordkampagne wurden die Nürnberger Gesetze vom September 1935 angebahnt, vor allem das Verbot von Ehen sowie sexuellen Kontakten zwischen Juden und Nichtjuden („Rassenschande“). Ein seltenes Beispiel für wissenschaftliche Zivilcourage während der NS-Herrschaft waren die Artikel des Breslauer Volkskundlers Will-Erich Peuckert zu den Stichworten „Freimaurer“, „Jude“ und „Ritualmord“ im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Sie widerlegten kenntnisreich die antisemitische Ritualmordlegende und Verschwörungsthese einer Beziehung zwischen Juden und Freimaurern. Eine Denunziation des NS-Volkskundlers Walther Steller führte 1935 zu einem Gestapoverhör Peuckerts und Entzug seiner akademischen Lehrbefugnis wegen „politischer Unzuverlässigkeit“. Im Mai 1939 reihte der Stürmer mit einer weiteren Sonderausgabe zum Thema Ritualmord wie die Chroniken des Mittelalters „historische Zeugnisse“ aneinander und griff dabei auf bekannte Bildmotive zurück. Das Titelbild wurde aus der Bavaria Sancta von 1627 übernommen. Ein Aufruf an die Leser, der Redaktion Materialien über ähnliche frühere oder aktuelle Fälle zuzusenden, fand jedoch nicht das gewünschte Echo. Neue spektakuläre Anklagen blieben aus, so dass nur die Neuauflage altbekannter Legenden blieb. Umso mehr intensivierte der „Stürmer“ seine Hetzpropaganda mit Kriegsbeginn: Der Krieg wurde als letzter Ritualmord des „Weltjudentums“ dargestellt. Ein typisches Hetzpamphlet aus dem Umfeld der faschistischen Sekte Bund für Deutsche Gotterkenntnis von Erich und Mathilde Ludendorff war die Schrift von Wilhelm Matthießen: Israels Ritualmord an den Völkern (München 1939). Sie versuchte einen angeblichen religiösen Zwang des Judentums zum Blutopfer aus der Bibel herzuleiten und behauptete einen jüdischen „Geheimplan zur Völkervernichtung“. Während des Krieges betonten NS-Pamphlete immer wieder den Zusammenhang, den Hitler in seiner Januarrede 1939 konstruiert hatte, so im Jahr 1942: Damals war der Holocaust in vollem Gang. Die Ritualmordlegende eignete sich wegen ihrer historischen Konstanz, Volkstümlichkeit und kulturellen Verankerung bestens zu seiner Rechtfertigung. Hellmut Schramm veröffentlichte dazu 1943 das 475 Seiten starke Buch Der jüdische Ritualmord, ausgegeben als „historische Untersuchung“. Es fasste alle früheren Hetzschriften zum Thema zusammen und berief sich ausdrücklich auch auf vatikanische Erklärungen. Nach der Lektüre bestellte Heinrich Himmler eine Auflage des Buchs und sandte es den ihm unterstellten Einsatzkommandos, die die Judenmorde ausführten. Zudem befahl er dem Chef des Reichssicherheitshauptamts Ernst Kaltenbrunner, in den von Deutschland besetzten Gebieten nach weiteren Ritualmordlegenden und Fällen vermisster Kinder zu forschen, um diese Juden anzulasten, für Schauprozesse und antisemitische Radiopropaganda zu nutzen. Hitler verlangte analog zu dem Film Der ewige Jude in den letzten Kriegsjahren einen Propagandafilm über die Damaskusaffäre, der während des Krieges aber nicht mehr gedreht werden konnte. Außerhalb Europas Ritualmordgerüchte wurden im 19. Jahrhundert in China, Indien und Madagaskar auch gegen Europäer verbreitet. Diese wiederum unterstellten der aus Westafrika importierten Voodoo-Religion in Haiti Ritualmordpraktiken, so 1886 in dem populären Buch von Sir Spencer St. John, Haiti or the Black Republic. In Massena (New York) ereignete sich 1928 die einzige bekannte Ritualmordanklage gegen Juden in den USA. Wer sie aufbrachte, ist unbekannt. Die lokalen Behördenvertreter, Polizei, Justiz und der Bürgermeister machten sich den Verdacht unbesehen zu eigen. Seit 1945 Römisch-katholische Kirche In der römisch-katholischen Kirche besiegelte das Dekret Nostra Aetate vom 28. Oktober 1965 die Abkehr von der Gottesmordtheorie und erklärte die Bekämpfung jeder Form von Antisemitismus zur gesamtchristlichen Pflicht. Das entzog auch der christlichen Ritualmordlegende die theologische Basis. Der Kult um Werner von Wesel wurde im Bistum Trier erst 1963 eingestellt. Er verschwand 1965 aus dem katholischen Heiligenkalender. Der Kult um Simon von Trient wurde 1965 vom zuständigen Diözesanbischof verboten; eine päpstliche Kommission stellte einen Justizirrtum fest und hob Simons Heiligsprechung auf. Um den Kult zu Anderl von Rinn tobte ein jahrzehntelanger Machtkampf. Der Vatikan ließ die jährlichen Wallfahrten zum Judenstein 1954 einstellen, doch der regionale Weihbischof Paulus Rusch und viele Ortsbewohner widersetzten sich. 1961 verbot Papst Johannes XXIII. den Anderlekult mit einem Dekret. Katholische Kultanhänger deuteten die päpstliche Kultanerkennung von 1755 jedoch als unumkehrbare unfehlbare Entscheidung. Seit 1985 versuchte Bischof Reinhold Stecher das Papstdekret von 1961 durchzusetzen. 1988 unterstützte der Vatikan seine Maßnahmen und erklärte, alle antijüdischen Ritualmordlegenden seien haltloser Aberglaube. Der Wiener Weihbischof Kurt Krenn äußerte kurz nach seinem Amtsantritt 1987 Verständnis für den Anderlekult. Bischof Stecher ließ ein Fresko von Anderls „Schlachtung“ in der Ortskapelle übermalen und suspendierte Kaplan Gottfried Melzer, den Hauptinitiator der Wallfahrten. Regionale katholische und rechtsextreme Antisemiten setzten diese trotzdem fort. Im Frühjahr 1990 veröffentlichte Melzers Loreto-Bote das Sonderheft „Ritualmorde und Hostienschändungen als Werke des Hasses der Gegenkirche“. Der Text behauptete erneut einen Ritualmord von Juden an Anderl. Sie seien Werkzeuge Satans „gegen das von Gott geschaffene Leben“ und gegen die katholische Eucharistie sowie Nachfahren jener, „die Jesus Christus … ans Kreuz schlagen ließen und seine Anhänger unerbittlich verfolgten.“ Das Pamphlet präsentierte 36 Fälle aus der antijüdischen Hetzliteratur als Fakten und verknüpfte sie mit Motiven des Taxil-Schwindels zu einer globalen Verschwörungstheorie: Satan sei der ‚Menschenmörder seit Anbeginn‘ (Joh 8,44); Satans kultische Verehrung gehöre wesentlich zur Freimaurerei; diese werde ausschließlich von Juden geführt; diese hätten die Fristenlösung geplant und verwirklicht; dieser „Massenmord an den ungeborenen Kindern (60 Millionen jährlich)“ sei daher als „‚immerwährendes‘ und ‚unaufhörliches‘ Menschenopfer an Satan […] anzusehen“. Föten würden zu Medikamenten und Schönheitsmitteln verarbeitet und als solche konsumiert. Zweck dieses „weltweiten ‚rituellen Massenmordes‘“ sei, Satans Weltherrschaft anzubahnen. „Wie lange noch wird das Blut der Gemordeten zum Himmel um Rache schreien?!“ Der katholische Theologe Robert Prantner schrieb zum „Anderlegedenken“ 1997 einen antisemitischen Hetzartikel in der neurechten Zeitschrift Zur Zeit. Melzer wurde in Österreich 1999 wegen Verhetzung verurteilt; Prantner dagegen erhielt 2002 trotz Strafanzeige das „Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse“. Der Vatikan widerrief frühere päpstliche Dekrete, die Kulte um angebliche Ritualmordopfer anerkannt hatten, nicht offiziell. Der Historiker David Kertzer, der die 1998 geöffneten Vatikanarchive für den Zeitraum 1800–1938 auswerten konnte, sah darin ein Zeichen einer Verdrängung der kirchlichen Mitwirkung an der Entstehung des Antisemitismus. Europa Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verschwand die Ritualmordlegende nicht. Im Zusammenhang mit Fluchtbewegungen überlebender Juden kam es 1946 in Osteuropa zu neuen Pogromen. Das Pogrom von Kielce am 4. Juli 1946 wurde durch Ritualmordvorwürfe ausgelöst, ebenso Angriffe auf Juden in Kunmadaras, Miskolc und Özd in Ungarn im Mai und Juli 1946. In Kunmadaras sollten sieben christliche Kinder unauffindbar verschwunden sein; die Landbevölkerung glaubte, Juden würden sie zu Wurst verarbeiten. Eine aufgebrachte Menge verhinderte die Verhaftung eines ortsbekannten Nazi-Kollaborateurs, erschlug drei und verletzte 18 von 73 Juden des Ortes. 1969 erinnerte das Gerücht von Orléans, jüdische Boutiquenbesitzer würden junge Mädchen entführen, an die Ritualmordlegende. Solche Gerüchte tauchten von 1966 bis 1985 an mindestens 20 Orten Frankreichs auf. In Orléans verurteilten Politiker, Kirchen, Gewerkschaften und Presse das Gerücht rasch und entschlossen, so dass ein Pogrom ausblieb. 2007 erschien in Italien das Werk Pasque di sangue („Passah des Blutes“) des israelischen Historikers Ariel Toaff. Er stützte sich auf Folterverhöre der Damaskusaffäre von 1840 und interpretierte die erfolterten Aussagen als möglicherweise zutreffend. Das Werk löste eine internationale Debatte und viele Proteste aus. Daraufhin stoppte der Verlag den Verkauf. In der gründlich überarbeiteten zweiten Auflage von 2008 stellte Toaff klar, dass die Behauptung, Juden hätten Christenblut verwenden können, eine Legende sei. 2007 versuchte eine Gruppe italienischer Neonazis, den Kult um Simon von Trient wiederzubeleben. 2015 versuchten britische Neonazis die Ritualmordlegende zu Hugh von Lincoln zu erneuern. Deutsche Rechtsextremisten verbreiten historische antisemitische Ritualmordlegenden im Internet, so seit 2001 eine englische Übersetzung von Hellmut Schramms Pamphlet von 1943. Am Jahrestag der Novemberpogrome 1938, dem 9. November 2004, gab das verfassungsfeindliche Deutsche Kolleg von Reinhold Oberlercher und Horst Mahler die Hetzschrift „Semitischer Ritualmord“ heraus. Diese schrieb den sieben Tage zuvor verübten Mord an Theo van Gogh „Semiten“ (Juden) zu. Islamische Länder Die Damaskusaffäre 1840 brachte die christliche Ritualmordpropaganda gegen Juden auch in islamische Länder. Besonders in Ägypten, Jordanien, im Iran und in Saudi-Arabien werden Ritualmordlegenden bis heute auch in staatlich kontrollierten Medien verbreitet. 1983 veröffentlichte Mustafa Tlas, ein ehemaliger Außenminister Syriens, das antisemitische Pamphlet Fatir Ziun („Die Matze von Zion“). Unter dem Vorwand, die Damaskusaffäre historisch zu untersuchen, behauptete er im Anschluss an August Rohlings 1899 ins Arabische übersetzte Werk Der Talmudjude: Der Talmud schreibe Juden den Ritualmord als religiöse Handlung vor und fordere sie zum „Hass gegen die Menschheit“ auf; sie bräuchten das Blut von Nichtjuden für die Mazzen ihrer Rituale. Als Beweise dafür nahm er durch Folter erpresste Aussagen von Opfern der Damaskusanklage 1840. Er behauptete, die islamische Toleranz habe dieses „verborgene, zerstörerische Böse der jüdischen Ideologie“ anders als in Europa in arabischen Ländern bis 1840 verdeckt. Als im September 2000 die Zweite Intifada gegen Israel begann, veröffentlichten arabische Staatsmedien neue Ritualmordanklagen gegen Juden. Am 24. Oktober 2000 behauptete der PLO-Vertreter und Mufti Scheich Nader Al-Tamimi im Sender Al Jazeera, es könne keinen Frieden mit den Juden geben, da sie während ihrer Feste Purim und Pessach das Blut von Arabern saugten. Die ägyptische Staatszeitung Al-Ahram publizierte am 28. Oktober 2000 einen ganzseitigen Artikel von Adel Hamooda mit dem Titel: „Eine jüdische Mazze, aus arabischem Blut hergestellt.“ Der Autor gab an, schon sein Großvater habe diese Geschichte erzählt. Er habe sie damals für ein Kindermärchen gehalten, später aber in französischen Gerichtsakten der Damaskusaffäre von 1840 entdeckt, dass sie wahr sei. Als Beweise zitierte Hamooda dann ausgiebig ins Arabische übersetzte Auszüge aus damaligen Folterverhören. Am 10. März 2002 schrieb der Dozent der König-Faisal-Universität Umayma Ahmad Al-Jalahma in der saudi-arabischen Regierungszeitung Al Riad: Die Juden seien für das Purimfest verpflichtet, „Menschenblut aufzutreiben, damit ihre Geistlichen dieses Gebäck für die Feiertage vorbereiten können.“ Im Herbst 2003 erschien zuerst im Fernsehsender der Hisbollah Al-Manar in Syrien, dann auch im Al-Mamnou TV in Jordanien und im Iran die Vorabendserie Asch-Schatat. Über den saudischen Satelliten ArabSat erreichte sie ein Millionenpublikum. Sie stellte die antisemitischen Protokolle der Weisen von Zion szenisch auch für Kinder dar und erweiterte sie um moderne antisemitische Legenden etwa der Täter-Opfer-Umkehr, wonach Juden Hitler beim Holocaust geholfen hätten. Eine Folge zeigt, wie zwei Rabbiner einen christlichen Jungen fangen, ihm die Kehle durchschneiden, sein Blut auffangen und zum Backen von Mazzen verwenden, die sie dann auch säkularen Juden zum Verzehr geben. Eine weitere Folge inszeniert ein angebliches „talmudisches Strafgericht“: Rabbiner halten dem Verurteilten ein Verhältnis zu einer nichtjüdischen Frau vor, füllen seinen Mund mit flüssigem Blei, schneiden ihm ein Ohr ab und schlitzen ihm den Hals auf. Zunächst sollte die Serie im Staatsfernsehen Syriens gezeigt und in mehrere Sprachen übersetzt werden. Auf internationale Kritik hin zog Syriens Regierung den Plan zurück und bestritt, dass sie die Produktion unterstützt habe. Der Direktor des Senders betonte jedoch: „Die Serie zeigt die Wahrheit und nichts als die Wahrheit.“ Ende 2005 behauptete ein Dr. Hasan Haizadeh im iranischen Staatssender Jaam-e Jam TV: Juden hätten vor dem Pessachfest 1883 in Paris und London 150 französische und viele englische Kinder ermordet, um ihr Blut an sich zu nehmen. Dies hätten damalige Untersuchungen ergeben, die durch öffentliche Ausschreitungen gegen Juden erzwungen worden seien. Die von Juden und Zionisten beeinflusste westliche Geschichtsschreibung erwähne diese Vorfälle nie. – Im April 2015 listete die iranische Nachrichtenagentur Alef angebliche Ritualmorde von Juden aus der Vergangenheit auf. Als eine der Quellen gab sie eine Ausgabe des NSDAP-Hetzblatts „Der Stürmer“ von 1939 an. Barack Obama hielt ab 2009 als erster US-Präsident ein privates Seder-Mahl mit seiner Familie zum jährlichen Passahfest. Der Palästinenser Nawwaf Al-Zarou schrieb dazu: „Kennt Obama überhaupt die Beziehung, zum Beispiel, zwischen ‚Passah‘ und ‚christlichem Blut‘?!… Oder sind seine Handlungen bloß Speichelleckerei gegenüber dem Jüdischen Rat…“ In einem langen Text versuchte er dann, jüdische Ritualmorde zum Passah als Faktum darzustellen. Dazu stützte er sich auf das Buch von Ariel Toaff, das die israelische Zeitung Haaretz kurz zuvor besprochen hatte. Am 27. März 2013 publizierte die PLO-nahe Organisation Miftah, die die Kampagne Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) gegen Israel unterstützt, Al-Zarous Artikel auf ihren Webseiten. Einen Blogger, der dies bekannt machte, griff Miftah als Urheber einer „Schmutzkampagne“ an und löschte den Artikel nur von ihrer englischen, nicht von der arabischen Webseite. Die UNO, die Europäische Union (EU), acht EU-Staaten, mehrere Nichtregierungsorganisationen (NGOs) aus den USA und zwei deutsche Parteistiftungen hatten Miftah mit Millionengeldern gefördert. Die meisten setzten dies trotz Kritik nach dem Vorfall fort. Am 12. Mai 2013 erklärte der Parteipolitiker Khaled Al-Zaafrani im Staatsfernsehen Ägyptens: „Es ist gut bekannt, dass sie [die Juden] während des Passah Mazzen machen, die sie ‚Blut von Zion‘ nennen. Sie nehmen ein christliches Kind, schlitzen seine Kehle auf und schlachten es.“ Die französischen Könige und russischen Zaren hätten dieses Ritual in den Judenvierteln entdeckt. Alle Judenpogrome in ihren Ländern seien Folgen der Entdeckung, dass Juden christliche Kinder entführt und geschlachtet hätten. Scheich Khaled al-Mughrabi belehrte Jugendliche im Mai 2015 in der Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem: „Die Juden suchen nach einem Kleinkind, entführen es und stecken es in ein im Innern mit Nägeln versehenes Fass.“ Um ihren Wunsch nach ewigem Leben zu erfüllen, verzehrten sie dann „mit Kinderblut geknetetes Brot“. Diese Tatsachen seien in Europa enthüllt worden und hätten dort zur Vertreibung und in Deutschland zur Vernichtung der Juden geführt. Neuere Varianten Dämonisieren von Abtreibung Ab 1970 entstand in den USA eine christlich-fundamentalistische “Pro Life”-Bewegung gegen jede Form von Schwangerschaftsabbruch. Zugehörige Gruppen dämonisieren Abtreibungen als angebliche Ritualmorde, im Anschluss an eine seit dem Mittelalter bekannte Gleichsetzung. Ihr Propagandamaterial behauptet etwa, Ärzte, die Abtreibungen durchführen, seien insgeheim Juden, die Kinder für ihre sakralen Riten töten. Der Kurzfilm Abortion: A Doctrine of Demons (November 2019) stellte Abtreibungsbefürworter mit Stilmitteln eines Horrorfilms als Satanisten und Verfechter heimlicher Blutrituale mit Föten dar. Der Kampf gegen sie wurde in ein apokalyptisches Szenario eingebettet, wonach das Ende Amerikas als christlicher und weißer Nation bevorstehe. Solche Gruppen sagten auch den Chinesen nach, sie äßen abgetriebene Föten für medizinische Zwecke. 1996 veranlassten evangelikale Christen den rechtsgerichteten Senator Jesse Helms, dieses Gerücht im US-Senat prüfen zu lassen. Dämonisieren des Staates Israel Am 27. Januar 2003, dem Holocaustgedenktag, erschien in der britischen Zeitung The Independent die Scharon-Karikatur von Dave Brown 2003. Sie zeigt, wie Ariel Sharon, Israels damaliger Ministerpräsident, in den Kopf eines palästinensischen Babys beißt, mit dem Untertitel: „Was ist das Problem? Haben Sie nie einen Politiker ein Kind küssen sehen?“ Auf die Beschwerde von Israels Regierung nannte Dave Brown das Bild Saturn opfert seinen Sohn von Francisco de Goya als Vorbild seiner Karikatur; diese sei nicht antisemitisch motiviert. Für viele Kritiker spielte die Darstellung Sharons als eines fast nackten, blutrünstigen Babymörders, der über die Reste bombardierter Häuser von Palästinensern hinwegwalzt, mit dem Titel „Sharon is eating a baby“ jedoch eindeutig auf das Motiv des Ritualmords an. Am Holocaustgedenktag 2013 veröffentlichte die britische Sunday Times eine Karikatur von Gerald Scarfe: Sie zeigte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu als Maurer mit blutiger Kelle, der mit Blut und Körperteilen von Palästinensern eine Mauer baut. Die Textzeile lautete: „Israel elections. Will cementing the peace continue?“ Die Zeichnung dämonisiert Israel mit typischen Elementen antisemitischer Karikaturen. Seit den Gaza-Konflikten von 2009 und 2014 wurde bei israelfeindlichen Kundgebungen die antisemitische Parole vom „Kindermörder Israel“ gerufen, neben Parolen wie „Israel trinkt das Blut unserer Kinder aus den Gläsern der UN“, „Entfernt den Tumor Israel“, „Jude Jude feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein“, „Intifada bis zum Sieg“. Die Parole „Kindermörder Israel“ war auch beim jährlichen Al-Quds-Tag zu hören, etwa 2014 in Wien. Sie gilt in der Antisemitismusforschung als moderne Variante der Ritualmordlegende, wurde aber von zuständiger Polizei oft nicht als antisemitisch erkannt. Seit 2009 wird die Behauptung verbreitet, Israel betreibe einen weltumspannenden mörderischen Organhandel. Damals schrieb der Journalist Donald Boström in der Tageszeitung Aftonbladet in Schweden ohne Belege, die Armee Israels (IDF) fange Palästinenser, unterziehe sie unfreiwilligen Autopsien und entnehme ihnen Körperorgane, bevor man sie töte. Er verwies auf einen israelischen Organhändler der 1990er Jahre, der jedoch keinen Bezug zur IDF hatte und 2001 durch israelische Gerichte verurteilt worden war. Antisemitische Webseiten verbreiteten den Artikel dennoch als Beweis für einen angeblichen Organhandelring Israels und stellten dann etwa Israels humanitäre Hilfe nach dem Erdbeben in Haiti 2010 als Tarnung für Organdiebstahl dar. Im November 2009 veröffentlichte Allison Weir, Chefin der Organisation If Americans Knew, im Journal Washington Report on Middle East Affairs den Artikel Israeli Organ Trafficking and Theft: From Moldova to Palestine. Darin behauptete sie ohne jeden Beweis, israelischer Organhandel sei seit vielen Jahren dokumentiert. Hohe Beamte, prominente Ärzte und Ministerien Israels unterstützten dies im Rahmen eines nationalen Transplantationsprogramms. Menschenrechtsgruppen in der West Bank beklagten einen organisierten Organdiebstahl an getöteten Palästinensern durch israelische Pathologen. 2010 behauptete Bouthaina Shaaban, die spätere Medienberaterin von Syriens Diktator Bashar Assad, auf der Website der palästinensischen Organisation Miftah: Israel stehle „ukrainische Kinder, um ihre Organe zu ernten.“ Am 23. September 2015 behauptete die Palästinenserin und BDS-Unterstützerin Mana Tamimi auf Twitter, „Vampirzionisten“ würden das Versöhnungsfest Jom Kippur feiern, „indem sie palästinensisches Blut trinken. Ja, unser Blut ist rein und schmeckt gut, aber am Ende wird es euch umbringen.“ Die UNO strich sie daraufhin von ihrer Liste der Menschenrechtsaktivisten. Ihr Mann Bassem Tamimi behauptete am 14. Oktober 2015 auf einer Vortragstour durch die USA: Israelis verhafteten Kinder von Palästinensern, um ihre Organe zu stehlen. Dazu zeigte er die Fotografie eines Jungenkörpers mit einer großen Schnittwunde und Nähten. Das werde nicht berichtet, denn „die gleichen Zionisten, die das tun, kontrollieren die Medien.“ 2018 behauptete der Gewerkschaftsführer Robrecht Vanderbeeken in einem Nachrichtenblatt in Belgien: Israel hungere die Bevölkerung von Gaza zu Tode aus, vergifte sie, kidnappe ihre Kinder und ermorde sie für deren Organe. Nach Beschwerden entfernte das Blatt nur den Satzteil zum angeblichen Organdiebstahl, hielt die übrigen Vorwürfe zum Kidnappen und Töten von Kindern aber aufrecht. Der iranische Staatssender Press TV verbreitete Vanderbeekens Geschichte weiter. „Pizzagate“ und „QAnon“ In den 1980er Jahren vermutete der Verschwörungsideologe Ted Gunderson unter der McMartin-Vorschule in Manhattan einen geheimen unterirdischen Raum zum sexuellen Missbrauch von Kindern und ließ erfolglos danach suchen. Dies gilt als Vorläufer der Pizzagate- und QAnon-Verschwörungstheorien, die ab 2016 von den USA aus in Umlauf gebracht wurden. Vor der Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten 2016 erfanden Anhänger des Kandidaten Donald Trump die Behauptung, dass Trumps Gegenkandidatin Hillary Clinton und andere prominente Vertreter der Demokraten im Keller einer Pizzeria in Washington einen Pädophilenring betrieben. Auf dieser „Pizzagate“-These baute ab Oktober 2016 die QAnonideologie auf: Jener Pädophilenring sei international, an ihm seien liberale Eliten, Hollywood-Schauspieler, Sexualstraftäter und Politiker in aller Welt beteiligt, auch in Europa. Kinder würden nicht nur entführt und sexuell missbraucht, sondern auch rituell ermordet. Die Verbindung von Kindesentführung, Kindermorden, Sexualverbrechen und religiösen Riten ist aus mittelalterlichen Ritualmordlegenden bekannt. Das angebliche geheime internationale Netzwerk soll die entführten Kinder in unterirdischen Tunnelsystemen gefangen halten und dort foltern, um ihnen das durch Angst ausgeschüttete Stoffwechselprodukt Adrenochrom aus der Blutbahn abzuzapfen und als Verjüngungsmittel für die Eliten zu verwenden. Dies gilt als aktuelle Form der antisemitischen Ritualmordlegende. Die Pizzagatethese verbreitete unter anderen der Verschwörungsideologe Alex Jones über seinen Kanal InfoWars im Internet. Er beschrieb Hillary Clinton ab Oktober 2016 als Mörderin und Vergewaltigerin. Er behauptete, sie und der frühere US-Präsident Barack Obama seien von Dämonen besessen und röchen nach Schwefel. So dämonisierte er sie in antisemitischer Tradition als Werkzeuge Satans. Dies motivierte einige Trumpanhänger zu Gewalttaten und Terrorangriffen. Den Anschlag auf eine Synagoge in Poway (April 2019) rechtfertigte der Täter kurz zuvor in einem online-Text mit der Ritualmordlegende: „Du bist nicht vergessen, Simon von Trient; der Horror, den du und zahllose andere Kinder von den Händen der Juden erlitten haben, wird niemals vergeben werden.“ Im deutschsprachigen Raum verbreitete unter anderen der Sänger Xavier Naidoo die QAnonideologie. In Liedtexten auf dem Album „Kopfdisco“ (2010) und im Song „Wo sind sie jetzt?“ (2012) vertrat er, dass ungenannte Eliten verschwundene Kinder organisiert, geheim und rituell missbrauchen, quälen und töten. In einem Interview bekräftigte er: Es gehe dabei „um furchtbare Ritualmorde an Kindern, die tatsächlich ganz viel in Europa passieren, über die aber nie jemand spricht, nie jemand berichtet.“ Seine Quellen wollte er nicht mitteilen. Im April 2020 verbreitete Naidoo in einem Video, derzeit würden entführte Kinder aus den Fängen eines internationalen Pädophilennetzwerks befreit, und forderte die Zuschauer auf, nach dem Begriff „Adrenochrom“ zu googeln. Auch der Rapper Sido hielt die Adrenochromthese für möglich. Tobias Rathjen, der beim Anschlag in Hanau 2020 (19. Februar) neun Menschen ermordete, hatte sich durch QAnonwebseiten radikalisiert. Literatur Gesamtdarstellungen Raphael Israeli: Blood Libel and Its Derivatives: The Scourge of Anti-Semitism. Routledge, London 2017, ISBN 1-138-50774-1. Frauke von Rohden, Regina Randhofer: Ritualmord. In: Dan Diner (Hrsg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur Band 5: Pr–Sy. Metzler, Stuttgart/Weimar 2014, ISBN 3-476-02505-5, S. 235–243. Hannah Johnson: Blood Libel: The Ritual Murder Accusation at the Limit of Jewish History. University of Michigan Press, 2012, ISBN 0-472-11835-8. Susanna Buttaroni, Stanisław Musiał (Hrsg.): Ritualmord. Legenden in der Europäischen Geschichte. Böhlau, Wien 2003, ISBN 3-205-77028-5. Ritualmord. In: Gerhard Muller (Hrsg.): Theologische Realenzyklopädie. Band 29. Walter de Gruyter, Berlin 1998, ISBN 3-11-016127-3, S. 253–259. Alexander Baron: Jewish Ritual Murder: Anti-semitic Fabrication or Urban Legend? Anglo-Hebrew Publishing. London 1994, ISBN 1-898318-36-0. Rainer Erb: Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigung gegen Juden. Metropol, Berlin 1993, ISBN 3-926893-15-X. Alan Dundes: The Blood Libel Legend: A Casebook in Anti-Semitic Folklore. The University of Wisconsin Press, Madison 1991, ISBN 0-299-13110-6. Stefan Rohrbacher, Michael Schmidt: Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1991, ISBN 3-499-55498-4, S. 269–291: Ritualmord und Hostienfrevel; S. 304–368: Die Barbarei längst verflossener Jahrhunderte. Ronnie Po-Chia Hsia: The Myth of Ritual Murder: Jews and Magic in Reformation Germany. Yale University Press, New Haven 1988, 1990, ISBN 0-300-04746-0. Magda Teter: Blood Libel: On the Trail of an Antisemitic Myth. Harvard University Press, Cambridge / Massachusetts 2020, ISBN 0-674-24355-2. Teilaspekte Johannes T. Groß: Ritualmordbeschuldigungen gegen Juden im Deutschen Kaiserreich (1871–1914). Metropol, Berlin 2002, ISBN 3-932482-84-0. Hannelore Noack: Unbelehrbar? Antijüdische Agitation mit entstellten Talmudzitaten. Antisemitische Aufwiegelung durch Verteufelung der Juden. Verlag für wissenschaftliche Literatur, Paderborn 2001, ISBN 3-935023-99-5. John M. McCulloh: Jewish Ritual Murder: William of Norwich, Thomas of Monmouth, and the Early Dissemination of the Myth. In: Speculum. Columbus Ohio, 1997 / Nr. 3 (Juli), S. 698–740, . Gerd Mentgen: Über den Ursprung der Ritualmordfabel. In: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 4 / 1994, S. 405–416 Stefan Rohrbacher: Ritualmord-Beschuldigungen am Niederrhein. In: Menora 1 / 1990, S. 299–305 Georg R. Schroubek: Zur Kriminalgeschichte der Blutbeschuldigung. In: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform. Köln 1985, Nr. 65, S. 2–17, . Georg R. Schroubek: Der „Ritualmord“ von Polná – Traditioneller und moderner Wahnglaube. In: Rainer Erb, Michael Schmidt (Hrsg.): Antisemitismus und jüdische Geschichte – Studien zu Ehren von Herbert A. Strauss. Wissenschaftlicher Autorenverlag, Berlin 1987, ISBN 3-88840-239-5, S. 149–171. Weblinks Überblick TheGolem: The Blood Libel. Antike Pieter W. van der Horst: De Mythe van het Joodse Kannibalisme. (2006; niederländisch) Ritualmord im Christentum – Ursprünge und Ursachen eines antiken heidnischen Vorurteils. Mittelalter Fordham University Medieval Source Book: A Blood Libel Cult: Anderl von Rinn, d. 1462 (englisch) Fordham University: Medieval Sourcebook: Ephraim ben Jacob: The Ritual Murder Accusation at Blois, May, 1171 (englisch) Neuzeit Nils Freytag: Der Fall Konitz. (Rezension auf historicum.net) Adolph Kohut: Ritualmordprozesse. Bedeutsame Fälle aus der Vergangenheit. Basch, Berlin-Wilmersdorf 1913. Freimann-Sammlung, Goethe-Universität Frankfurt, Digitalisat Gegenwart MEMRI: Ägyptische Wochenzeitung: ‚Die Juden ermorden Nicht-Juden, um ihr Blut für religiöse Rituale zu verwenden‘ 19. August 2004 (englisch) Einzelnachweise Hexenverfolgung Verschwörungstheorie
205563
https://de.wikipedia.org/wiki/Saatkr%C3%A4he
Saatkrähe
Die Saatkrähe (Corvus frugilegus) ist eine der vier europäischen Arten der Gattung Corvus aus der Familie der Rabenvögel (Corvidae). Die große Krähe mit markantem Schnabel und metallisch glänzendem schwarzem Gefieder ist mit der Nominatform C. frugilegus frugilegus in einem breiten Gürtel von Westeuropa bis in die Steppen des Altaigebietes verbreitet. Das Vorkommen der zweiten Unterart, C. frugilegus pastinator, schließt ostwärts an das der Nominatform an und reicht bis zur Pazifikküste. Sie ist geringfügig kleiner als die Nominatform und ihr Gefieder schimmert eher rötlich-purpurn. Aussehen Die Saatkrähe ist im Alterskleid kaum verwechselbar. Jungvögel können aber mit der fast gleich großen Aaskrähe (C. corone corone) verwechselt werden. Die Spannweite liegt bei 98 Zentimeter. Das Gefieder der kräftigen, etwa 46 Zentimeter großen Saatkrähe ist einheitlich schwarz, mit leicht rötlichem Glanz. Je nach Lichteinfall schillern Scheitel und Nacken grünlich- oder violett-metallisch. Der Schnabelgrund der Altvögel ist nackt und grindig-weißlich, derjenige der Jungvögel ist noch befiedert. Der Schnabel ist spitz, der Oberschnabel vorn weniger nach unten gebogen und schlanker als jener der Aaskrähe. Unterhalb des Schnabels befindet sich wie bei der Rabenkrähe der Kehlsack, der zum Transport von Nahrung benutzt wird. Im Flugbild ist die Saatkrähe an den etwas längeren und tiefer gefingerten Schwingen einigermaßen gut von der Aaskrähe unterscheidbar. Ihr Flug wirkt leichter, der Flügelschlag ist etwas schneller als bei C. c. corone. Die Geschlechter unterscheiden sich weder in Färbung noch in der Größe; die Jungvögel bekommen etwa mit acht Monaten das Aussehen der Altvögel. Stimme Als sozial lebende Art ist die Saatkrähe sehr ruffreudig und verfügt über eine Vielzahl von Lautäußerungen. Auf einige Entfernung hin meist viel besser als optisch lassen sich Saat- von Aaskrähen akustisch unterscheiden. Insbesondere hohe, jauchzerartige Rufe, wie man sie von Raben- bezw. Nebelkrähen her nicht kennt und wie sie insbesondere geäußert werden, wenn von weiter her eintreffende Saatkrähen-Schwärme sich aus etwas größerer Anflughöhe über ihren abendlichen Sammelplätzen geradezu verspielt herabtrudeln lassen, sind so von Aaskrähen nie zu hören. Häufigster Laut ist das „Kah“ oder „Krah“, das recht variabel klingen kann; oft wird es beim rituellen Verbeugen sich begrüßender Partner eingesetzt. In aggressiven Situationen ist dieser Laut länger und höher: „krääääh“. Daneben ist besonders im Frühjahr ein leises, gurrendes Schwätzen in die längeren Krächzlaute eingebettet. Auch die Jungvögel und Nestlinge rufen sehr laut, sie quietschen hörbar. Später hört man von ihnen ein durchdringendes „Rrrah“. Verbreitung Die Saatkrähe ist von Irland und Großbritannien über Frankreich und Nordspanien bis in die Steppen der Altairegion verbreitet. Sie fehlt in der Südschweiz, in weiten Teilen Österreichs und in Italien. Im Norden erreicht sie Dänemark und Südschweden, im Südosten die Küsten des Schwarzen und des Kaspischen Meeres. In den Wintermonaten werden zudem noch die norwegische Küste bis Mittelnorwegen, weite Teile des Balkan, sowie der größte Teil der Türkei besiedelt. In Neuseeland wurde die Saatkrähe eingeführt und genoss dort lange Zeit sogar Schutzstatus; heute werden die dortigen Bestände jedoch wieder energisch dezimiert. Lebensraum C. frugilegus besiedelt meist offenes, von Gehölzen, Wäldchen oder Baumreihen bestandenes Acker- und Wiesenland. Sie ist weitgehend auf vom Menschen umgewandeltes Kulturland angewiesen. Grünlandgebiete, die einen gewissen Anteil an Ackerflächen aufweisen, sind für sie besonders günstig. Sie bevorzugt ebene oder hügelige Gegenden, Gebirge meidet sie. Der Bewuchs ihres Nahrungsgebietes sollte nicht zu hoch sein, obwohl sie bei günstigen Verhältnissen auch in höherem Gras nach Nahrung sucht. Die Nähe des Menschen scheut sie nicht. So liegen viele ihrer Brutkolonien und Schlafplätze in unmittelbarer Nachbarschaft zu menschlichen Siedlungen, vielfach auch in Parkanlagen großer Städte, wo ihr recht lautes Verhalten sowie ihr Koten auf Gehwege und Autos oft als störend empfunden werden. Vom Schlupf der Jungen an sind das Koten über den Nestrand hinweg und die Lärmbelästigungen der Anwohner der neuerdings oft großen Brutkolonien in sehr vielen Städten eine kaum zu ertragende Plage. In einigen europäischen Großstädten haben sich sehr große Überwinterungsgesellschaften etabliert (z. B. Wien mit etwa einer Viertelmillion Saatkrähen). Die verstädterten Krähen entwickelten verschiedene Anpassungen in Bezug auf Verhalten, Nahrungsaufnahme und Tagesaktivität. So kann die Fluchtdistanz vor dem Menschen auf unter einen Meter sinken, die Tagesaktivität der Stadtvögel ist durch das reichlich zur Verfügung stehende Futter deutlich verkürzt. Ähnlich wie etwa bei der Lachmöwe entwickelten sich viele Überwinterungspopulationen zu Resteverwertern auf Abfall- und Mülldeponien. Auch das Füttern durch Menschen hat zum Entstehen dieser riesigen Saatkrähenschwärme beigetragen. Dabei zeigen die Tiere eine große Ortstreue. So wurden Individuen beobachtet, die über Jahre hinweg denselben Hinterhof oder denselben Parkabschnitt besuchten. Nahrung und Nahrungserwerb Wie bei allen Corvus-Arten ist auch das Nahrungsspektrum der Saatkrähe äußerst vielfältig. Obwohl sie tierische Nahrung pflanzlicher vorzieht, liegt letztere dennoch mit drei Fünftel anteilsmäßig im Übergewicht. Regenwürmer, verschiedene Schnakenarten, Käfer und ihre Entwicklungsstadien (vor allem Drahtwürmer, die Larven der Schnellkäfer) sowie Nacktschnecken gehören zu bevorzugten Beutetieren. Daneben werden aber auch Säugetiere wie zum Beispiel Spitzmäuse, Feld- und Schermäuse und gelegentlich, aber selten, Vögel und deren Gelege verzehrt. In den Wintermonaten geht die Saatkrähe auch an Aas, doch in bedeutend geringerem Maße als dies die Aaskrähe tut. Die pflanzliche Nahrung besteht aus Samen aller Art, Getreidearten überwiegen. Daneben werden auch Nüsse und Eicheln, in geringerem Maße Früchte, wie Kirschen und Pflaumen und verschiedene Wildbeeren, aufgenommen. Das Aufzuchtfutter der Jungen ist zu einem hohen Prozentsatz, aber nicht ausschließlich, tierisch. Im Gegensatz zu Raben- und Nebelkrähen zeigen Saatkrähen eine Art Wasserscheu: Um sich Nahrungsbrocken von dort zu ergattern, waten sie nicht in das Wasser flacher Pfützen, sondern hüpfen dazu auf aus dem Wasser ragende Steine. Dies könnte auch mit den für Saatkrähen typischen „Federhosen“ der Beine zusammenhängen. Auf ebenen, kurzrasigen Flächen bewegen sich Saatkrähen in der Regel schreitend fort, während bei Aaskrähen dort sehr oft beidbeiniges Hüpfen zu beobachten ist. Der spitze Schnabel wird bei der Nahrungssuche als Universalwerkzeug eingesetzt, das sowohl zum Graben und Hacken als auch zum Sondieren und Stochern dient. Fluginsekten werden auch durch kurze Flugsprünge gefangen. Die Nahrungssuche ist vor allem optisch orientiert. Pflanzliche Nahrung wird vom Boden aufgelesen oder ausgegraben. Manchmal frisst die Saatkrähe auch Maiskörner oder Sonnenblumensamen, indem sie sich direkt an die Pflanze klammert. Beutetiere werden nur kurz oder gar nicht verfolgt. Im Tagesrhythmus wird am Morgen vor allem an der Oberfläche gesucht (surface feeding), im weiteren Tagesverlauf beginnt die Phase des Grabens und Stocherns (subsurface feeding), das schließlich vom systematischen Absuchen weiter Flächen abgelöst wird (areal feeding). Verhalten Der Aktivitätsbeginn der Art liegt mit etwa einer Stunde vor Sonnenaufgang sehr früh und endet sehr spät, so dass auch im Hochwinter an die acht Stunden zur Nahrungssuche zur Verfügung stehen. Saatkrähen sind während des gesamten Jahres gesellig, brüten in zum Teil sehr großen Kolonien. So wurden in der südlichen Oberrheinebene, in einem Wäldchen hoher Pappeln am Rande des vorwiegend von Maisfeldern umgebenen Dorfes Biengen im nördlichen Markgräflerland, vor dem Laubaustrieb unabhängig voneinander von drei Ornithologen jeweils rund 560 Nester gezählt. In den Brutkolonien werden vorjährige Nester in der Regel unter Ausbesserung wiederverwendet. Sie verbringen die Nacht gemeinsam auf Schlafbäumen. Sie haben eine Fülle von sozialen Verhaltensweisen ausgebildet. Am Boden bewegt sich die Saatkrähe gemessen schreitend oder, seltener als die Aaskrähe, hüpfend fort, in der Luft in einem kräftigen Ruderflug, in dem längere Segelstrecken eingebettet sind. Im Frühjahr sieht man häufig Flugspiele und Flugkapriolen. Recht oft sind Spiele zwischen den Gruppenmitgliedern zu beobachten, wie Fallenlassen und Auffangen von Gegenständen oder Schaukeln auf einem Ast. Sehr vielfältig und differenziert sind die Verhaltensstrukturen zwischen den Partnern und den anderen Koloniemitgliedern. Die Partner begrüßen einander mit einer Art Paradegang, bei dem die Flügel leicht angehoben sind. Während der Balz kommt es zur sozialen Federpflege, zum Futterbetteln und zu langen Balzrufduetten, wobei beide Partner meist etwas abgesondert von den anderen mit breit gefächertem Schwanz nebeneinander sitzen. Die Rollen von Männchen und Weibchen scheinen sich erst während dieser Balzrituale zu festigen, da das Rollenverhalten zumindest am Anfang der Balz häufig zwischen den Geschlechtern wechselt. Sehr häufig schließen sich Dohlen (C. monedula), seltener Aaskrähen (C. corone) den Überwinterungsschwärmen und Kolonien von Saatkrähen an. Wie bei anderen Krähenvögeln ist das Erkundungsverhalten auch bei C. frugilegus sehr ausgeprägt. Die dadurch entstehenden, meist bei Volierenvögeln beobachteten Verhaltensweisen wurden – in rein anekdotischen Fallschilderungen – auch als Werkzeuggebrauch beschrieben. Glutz von Blotzheim berichtet beispielsweise von dem Verhalten einer jungen Saatkrähe, die eine von sechs Abflussöffnungen ihrer Voliere so verstopfte, dass ein „Badepool“ entstand. An trockenen und warmen Tagen fanden diese Aktionen häufiger statt als an kühlen und regnerischen. Eine Studie britischer Forscher wies 2009 an Saatkrähen, die im Labor gehalten wurden, zweifelsfrei die Fähigkeit zum Werkzeuggebrauch nach. Um einen Leckerbissen aus einer Glasröhre herauszuholen, benutzten die Vögel Stöckchen, und zwar umso kleinere, je enger die Glasröhre war. Auch bogen sie die Enden von Drahtstücken so um, dass sie diese Enden als Haken benutzen konnten. Bei freilebenden Individuen wurden bisher jedoch niemals Verhaltensweisen beschrieben, die sich als Werkzeuggebrauch interpretieren ließen. Im Gegensatz zur Aaskrähe wird das Fallenlassen von Nüssen aus größerer Höhe bei der Saatkrähe nur selten beobachtet. Wanderung und Zug Die Saatkrähe kann sowohl Zugvogel als auch Standvogel sein. Generell lässt sich sagen, dass der Anteil der Individuen, die obligate Zugvögel sind, von West nach Ost zunimmt. Westeuropäische Vögel verbleiben zum Großteil im Brutgebiet. Mitteleuropäische Populationen ziehen zu etwa 60 % in klimatisch günstigere Gebiete ab, wobei die Zugentfernungen in der Regel 1000 Kilometer nicht überschreiten. Im europäischen Russland und östlich davon sind schließlich alle Saatkrähen Zugvögel mit Zugdistanzen zwischen 1000 und 3000 Kilometern. Hauptsächliche Zugrichtungen sind West und Südwest, zuweilen Nordnordwest, doch gibt es auch Populationen mit Süd- und Südostzügen, die vom Balkan über Griechenland, Kleinasien bis Syrien und dem Irak überwintern. Regelmäßig gelangen ziehende Saatkrähen auf die Färöer und nach Island. Die meisten Saatkrähen bleiben bis Ende September/Mitte Oktober im Brutgebiet und treten erst dann den Zug an, der von längeren Rast- und Ruhepausen unterbrochen werden kann. Der Zug findet in großen Scharen statt, die aber keinen starken Zusammenhalt aufweisen; kleinere Zuggruppen scheinen jedoch recht feste Einheiten zu bilden. Mit dem Wegzug beginnen die Altvögel schon Anfang Februar, in der ersten Märzwoche ist er meist abgeschlossen. Zusätzlich zu diesem Zugverhalten sind Saatkrähen imstande, bei sehr ungünstigen Witterungen sogenannte Wetterfluchten durchzuführen, die in alle Himmelsrichtungen führen können. Neben den großräumigen jahreszeitlichen Wanderbewegungen können bei Saatkrähen außerhalb der Zeit von Brut und Jungenaufzucht vielerorts auch allabendliche schwarmweise Flüge zu Sammel- und Übernachtungsplätzen beobachtet werden. Dabei können die kleineren bis großen Schwärme durchaus auch Entfernungen von jeweils über 12 km zurücklegen. Fortpflanzung und Brut Die Saatkrähe wird am Ende ihres zweiten Lebensjahres geschlechtsreif, die Partner führen eine monogame Dauerehe. Der Nestbau beginnt Anfang März, Neststandort ist meist der Kronenschluss von Laubbäumen in Alleen oder Feldgehölzen. Die Nester liegen nah beieinander, oft wird ein Abstand von einem Meter unterschritten und es kommt zu nachbarlichem Diebstahl von Nistmaterial. In einer großen Platane im Schlosspark von Bad Krozingen wurden 25 Saatkrähen-Nester gezählt. Neststandorte in Gebäuden, Brücken und ähnlichen Orten sowie Bodenbruten kommen vor, sind aber sehr selten. Das Nest, das von beiden Partnern gebaut wird, ist ein kompakter Bau aus dünnen, biegsamen Zweigen, der innen mit verschiedenen Materialien ausgekleidet wird. Materialdiebstahl innerhalb der Kolonie sowie zwischen verschiedenen Kolonien ist häufig. Das Gelege besteht aus drei bis sechs, manchmal bis zu neun graugrünen, undeutlich gesprenkelten Eiern, und wird vom Weibchen, das in dieser Zeit vom Männchen gefüttert wird, 16 bis 19 Tage bebrütet. Intraspezifischer Brutparasitismus kommt zumindest gelegentlich vor, wobei nicht eindeutig geklärt ist, ob die parasitierenden Eltern auch ein eigenes Gelege betreuen. Bei sehr großen Gelegen muss an einen solchen gedacht werden. Die Nestlingsdauer beträgt etwa einen Monat. In den ersten zehn Tagen besorgt das Männchen allein die Fütterungsarbeit, danach beide Partner. Nach dem Selbständigwerden werden die Jungvögel noch eine gewisse Zeit von den Altvögeln versorgt, bevor sie sich Jugendtrupps anschließen und in den meist näheren Gegenden umherstreifen. In diesen Jugendtrupps findet nach einem Jahr auch die Paarbildung statt. Meist findet nur eine Jahresbrut statt, nur bei Gelegeverlust Zweit- und in Ausnahmefällen auch Drittbruten. Lebenserwartung und Höchstalter Die Sterblichkeit von Saatkrähen liegt im ersten und zweiten Lebensjahr zwischen 54 und 59 Prozent und sinkt erst danach etwas ab. Eine Krähe hat zu Beginn ihres zweiten Lebensjahres eine durchschnittliche Lebenserwartung von knapp 3,5 Jahren. Die Verluste werden vor allem direkt durch Nahrungsmangel oder indirekt durch dadurch verursachte Krankheiten herbeigeführt. In Ausnahmefällen können Saatkrähen recht alt werden. Das bisher höchste Alter einer beringten Krähe wurde in Großbritannien bei einer tot aufgefundenen mit 22 Jahren und 11 Monaten festgestellt. Bestand und Bestandtrends Bestand und Bestandsentwicklung hängen sowohl im Positiven wie auch im Negativen seit langem vom direkten Eingreifen des Menschen ab. Durch Umwandlung der Naturlandschaft in landwirtschaftlich genutzte Gebiete schuf er die Voraussetzungen für Bestandsvermehrung und Arealausweitung, durch direkte Verfolgung limitiert und gefährdet er die Bestände. Noch immer ist Verfolgung durch den Menschen, wie Abschuss oder Vergiften, Ausschießen der Nester, Fällen von Horst- oder Schlafbäumen Ursache regionaler Rückgänge und Bestandsschwankungen. Die Saatkrähe gilt als Verursacher landwirtschaftlicher Schäden, obwohl diese Zuweisung einer wissenschaftlichen Nachprüfung in manchen Fällen nicht standhält. Erst in letzter Zeit – die Saatkrähe war Vogel des Jahres 1986 – hat ein gewisses Umdenken eingesetzt, das sich auch positiv auf die Bestände auswirkt. Insgesamt ist eine leichte Westausbreitung festzustellen. Ein Beispiel ist die Neuansiedlung in den 1960er Jahren in der Schweiz. Auch die Bestände in bisher labil besiedelten Regionen, wie zum Beispiel in Ostösterreich, scheinen sich zu stabilisieren. Europaweit wird der Bestand der Art als S (für engl. secure, dt. gesichert) eingestuft, in Österreich, der Schweiz und in Tschechien befindet sie sich auf den Roten Listen. Der europäische Gesamtbestand wird auf über 10 Millionen Brutpaare geschätzt. Schäden in der Landwirtschaft Das Schadpotential der Saatkrähe wird je nach Blickwinkel sehr unterschiedlich beurteilt. Die tatsächliche Schadintensität ist sowohl jahreszeitlich als auch regional unterschiedlich. Oft aber steht dem tatsächlichen Schadverhalten ein Nutzverhalten durch den Verzehr von unterschiedlichen Agrar- und Forstschädlingen gegenüber. Bedeutende Schäden können entstehen, wenn ein Krähenschwarm in ein frisch eingesätes Feld einfällt. Gefährdet sind besonders frühe oder späte Einzelfelder, vor allem bei langsamem Feldaufgang wie zum Beispiel Mais. Die Krähen bevorzugen das keimende Saatkorn; um dieses zu erreichen, reißen sie oft reihenweise junge Pflänzchen aus. Der indirekten Verhinderung von Schäden dient eine nicht zu frühe Saat. Eine Saattiefe von etwa acht Zentimetern (statt zwei bis vier Zentimeter) und das Anwalzen der Saat erschweren das Ausreißen der Pflänzchen, steht aber einem optimalen Feldaufgang und gutem Ernteertrag entgegen. Das Saatgut ist in der Regel mit einem unangenehm schmeckenden Stoff vergällt, wodurch der Fraß reduziert wird. Für mehrere Tage lassen sich Krähen von einem Feld fernhalten, wenn Ablenkungsfütterung am Feldrand erfolgt oder arteigene Angstschreie elektronisch abgespielt werden. Kürzer ist die Wirkungsdauer von Knallgeräten. Die Wirksamkeit der optischen Maßnahmen wie Spannen farbiger Bänder, Aufstellen von Vogelscheuchen und Aufhängen toter Krähen ist begrenzt. Namensherleitung Das hier als Gattungsbezeichnung verwendete Wort Corvus ist die lateinische Bezeichnung für Rabe. Das lateinische Wort frugilegus setzt sich aus dem Nomen frux, frugis f. = Frucht sowie dem Verb legere = sammeln, auflesen zusammen und wird in antiker Literatur bei Ovid (Metamorphosen 7, 624) im Zusammenhang mit Ameisen verwendet. Der wissenschaftliche Name kann also wörtlich mit „Früchte sammelnder Rabe“ übersetzt werden. Der Namenszusatz pastinator der Unterart C. frugilegus pastinator bedeutet wörtlich „Behacker des Weinbergs“. Literatur Klaus Ruge: Die Saatkrähe. Franckh-Kosmos, Stuttgart 1986, ISBN 3-440-05645-7. Urs N. Glutz von Blotzheim, Kurt M. Bauer: Handbuch der Vögel Mitteleuropas (HBV). Band 13/III, Passeriformes (4. Teil): Corvidae – Sturnidae, AULA-Verlag, ISBN 3-923527-00-4, S. 1731–1857 Hans-Günther Bauer, Peter Berthold: Brutvögel Mitteleuropas. Bestand und Gefährdung. 2. durchgesehene Auflage. Aula, Wiesbaden 1997, ISBN 3-89104-613-8, S. 452–454. Viktor Wember: Die Namen der Vögel Europas. Aula, Wiesbaden 2005, ISBN 3-89104-678-2. Robert Gerber: Die Saatkrähe (= Die neue Brehm-Bücherei, Heft 181), unveränderte Auflage, Nachdruck der 1. Auflage Wittenberg Lutherstadt, Ziemsen, 1956, Westarp Wissenschaften, Hohenwarsleben 2003, ISBN 3-89432-189-X (Print on Demand). Dieter Glandt: Kolkrabe & Co. AULA-Verlag, Wiebelsheim 2012, ISBN 978-3-89104-760-6. Weblinks corvids.de – Rabenvogel-Literatur-Datenbank Vogelstimme Die Federn der Saatkrähe Federn der Saatkrähe Einzelnachweise Raben und Krähen Vogel des Jahres (Deutschland)
220980
https://de.wikipedia.org/wiki/Reichsbr%C3%BCcke
Reichsbrücke
Die Reichsbrücke ist eine der bekanntesten Brücken Wiens. Sie überquert die Donau, die Donauinsel sowie die Neue Donau und verbindet den 2. Wiener Gemeindebezirk, Leopoldstadt, mit dem 22. Bezirk, Donaustadt. Das Bauwerk erstreckt sich vom Mexikoplatz am Handelskai (2. Bezirk) in nordöstlicher Richtung bis zur Donau City und dem Vienna International Centre (22. Bezirk). Die heutige Reichsbrücke wurde im Jahr 1980 eröffnet; sie ist der dritte Donauübergang in derselben Achse, der den Namen Reichsbrücke trägt. Die erste Reichsbrücke (auch: Kronprinz-Rudolf-Brücke, als Projekt: Reichsstraßenbrücke), eine eiserne Strombrücke auf fünf Pfeilern, bestand von 1876 bis 1937. Die zweite Reichsbrücke, eine Kettenbrücke mit zwei 30 Meter hohen Pylonen auf zwei Strompfeilern, wurde 1937 eröffnet; sie war neben Stephansdom und Riesenrad eines der Wahrzeichen der Stadt Wien. Nach dem Zweiten Weltkrieg war sie der einzige intakte Donauübergang in Österreich stromabwärts von Linz und entwickelte sich zum meistbefahrenen Straßenstück Österreichs. Am Sonntag, dem 1. August 1976, stürzte die Brücke in den frühen Morgenstunden auf voller Breite der Donau ins Wasser. Bei dem Unglück, das bei dem damaligen Stand der Technik nicht vorhersehbar gewesen war, kam ein Mensch ums Leben. Die Bedeutung und die emotionale Aufladung, welche die Brücke durch ihre bewegte Vergangenheit bei der Wiener Bevölkerung erhalten hatte, steigerten sich durch den Einsturz weiter. Vorgeschichte Einige Jahre nach dem schweren Hochwasser des Jahres 1830 wurde bereits erwogen, die Donau zu regulieren und gleichzeitig mehrere Brücken über das dadurch entstehende Strombett zu errichten. Geplant war unter anderem eine Kettenbrücke etwa am Ort der heutigen Reichsbrücke, deren Errichtungskosten auf zwei bis drei Millionen Gulden geschätzt wurden. Diese Pläne kamen jedoch ebenso wie spätere Absichten, stabile Brücken über die unregulierte Donau zu schlagen, vor der Wiener Donauregulierung nicht zur Ausführung; die Projekte kamen über die Planungsphase nicht hinaus. Sämtliche Donaubrücken, ob für den Straßenverkehr oder seit 1838 für die Nordbahn, hatten damals eher provisorischen Charakter: Es waren Jochbrücken aus Holz, die regelmäßig von Überschwemmungen oder Eisstößen weggerissen und anschließend neu errichtet wurden. Am 12. September 1868 wurde durch einen kaiserlichen Erlass die Regulierung der Donau angeordnet. Gleichzeitig sollten „stabile Brücken“ errichtet werden. Eine davon sollte eine direkte Verlängerung der Jägerzeile (heute: Praterstraße) und der Schwimmschulstraße (heute: Lassallestraße) darstellen. Mit der Wahl dieses Standortes sollte eine zentrale städtebauliche Achse fortgesetzt werden, die von der Gloriette in Schönbrunn über den Stephansdom und den Praterstern bis zur Donau reichte. Auf der anderen Seite der Donau sollte die Brücke an die Wiener, Kagraner und Leopoldauer Reichsstraße (seit 1910 Wagramer Straße) anschließen, die zu einer wichtigen Verkehrsverbindung in die nordöstlichen Gebiete der Monarchie wurde. Der Name der Brücke wurde dementsprechend auf „Reichsstraßenbrücke“ festgelegt. Erste Reichsbrücke – 1876 bis 1937 Die von Kaiser Franz Joseph I. in Auftrag gegebene Brücke, die den Hauptteil des 2. Bezirks mit dem nach der Donauregulierung am linken Donauufer liegenden Bezirksteil Kaisermühlen, mit der nunmehrigen Alten Donau und mit der bis 1890 / 1892 selbstständigen Gemeinde Kagran verband, war vom August 1876 bis zum Oktober 1937 befahrbar. Sie wurde mehrmals umbenannt: Während der Bauzeit hatte sie den vorläufigen Namen Reichsstraßenbrücke, nach ihrer Eröffnung hieß sie Kronprinz-Rudolf-Brücke. Die Bezeichnung „Reichsbrücke“ setzte sich aber schon bald im allgemeinen Sprachgebrauch durch, so hieß zum Beispiel die Haltestelle der Donauuferbahn bei der Brücke offiziell Kommunalbad-Reichsbrücke. Nach dem Zerfall der Monarchie wurde sie am 6. November 1919 offiziell in Reichsbrücke umbenannt. Mit einer Gesamtlänge von knapp 1020 Metern war sie die damals längste Brückenverbindung über die Donau. Sie war 11,40 Meter breit, wobei die Fahrbahn 7,60 Meter und die beiden Trottoirs 3,80 Meter einnahmen. Die ursprüngliche Planung hatte eine Gesamtbreite von acht Klaftern (15,20 Meter) vorgesehen; das Parlament entschied kurz vor Baubeginn, die Breite aus Kostengründen zu reduzieren. Die Brücke bestand aus drei Teilen. Der so genannte Hubertusdamm, der das Marchfeld vor Hochwasser schützte, und das bei der Donauregulierung geschaffene Überschwemmungsgebiet (Inundationsgebiet) am nördlichen, linken Stromufer wurden von einer steinernen, 432 Meter langen Inundationsbrücke überspannt, die aus 16 Bögen mit 23 beziehungsweise 39 Meter lichter Weite bestand. Den Handelskai am südlichen, rechten Stromufer überspannte die sogenannte Kaibrücke aus Stein mit einer Länge von 90,4 Metern und vier Bögen zu je 18,96 Meter lichter Weite. Die eigentliche Strombrücke war 341,20 Meter lang und bestand aus vier einzelnen eisernen Gittertragwerken, die auf fünf 3,80 Meter starken Pfeilern ruhten, von denen drei im Wasser standen. Der Abstand der Pfeiler zueinander betrug 79,90 Meter. Bau Der Bau begann im August 1872. Damals war zwar das Strombett der Donau bereits größtenteils fertiggestellt, jedoch noch nicht geflutet. Die Reichsbrücke wurde also, wie die Nordbahnbrücke, die Stadlauer Brücke und die Kaiser-Franz-Josephs-Brücke (später: Floridsdorfer Brücke), in Trockenbauweise errichtet. Geplant wurde das Bauwerk vom Straßen- und Wasserbau-Department des k.k. Innenministeriums, dessen Chef, Ministerialrat Mathias Waniek, Ritter von Domyslow, mit der Oberbauleitung betraut war. Insgesamt kostete der Bau 3,7 Millionen Gulden. Die Metallkonstruktion hatte ein Gesamtgewicht von 2.193 Tonnen und wurde von der Firma Schneider & Co in Burgund aus belgischem Schweißeisen hergestellt. Die beiden Brückenpfeiler an den Ufern wurden etwa fünf Meter unter der Flusssohle, die drei im Wasser stehenden Pfeiler etwa elf Meter unter der Flusssohle auf so genanntem „blauen Wiener Tegel“ gegründet (ein steifer bis halbfester Boden ähnlich dem Ton, der als Sedimentgestein typisch für das Wiener Becken ist). Die Pfeiler der beiden Vorlandbrücken (Kaibrücke und Inundationsbrücke) wurden flach in grobem Schotter gegründet. Als einzige der vier zu jener Zeit gebauten Donaubrücken war die Reichsbrücke noch nicht für den Verkehr freigegeben, als das neue Donaubett am 14. April 1875 geflutet wurde. Erst 16 Monate später, am 21. August 1876, am Geburtstag von Kronprinz Rudolf, eröffnete der k.k. Statthalter von Niederösterreich, Freiherr Sigmund Conrad von Eybesfeld, in Vertretung des Kaisers die Brücke und gab ihr zu Ehren des Kronprinzen – entgegen der ursprünglichen Planung – den Namen „Kronprinz-Rudolf-Brücke“. An der Eröffnungsfeier nahmen unter anderen eine Delegation aus Japan, Reichskriegsminister Feldzeugmeister Graf Artur Maximilian von Bylandt-Rheidt und der Wiener Bürgermeister Cajetan von Felder teil. Der Statthalter verlas eine kaiserliche Entschließung, worin Franz Joseph I. die volle kaiserliche Zufriedenheit mit Oberbauleiter Waniek bekanntgab und mehrere Ingenieure und Bauräte mit dem Ritterkreuz des kaiserlichen Franz-Joseph-Ordens ausgezeichnet wurden. Als Höhepunkt der Feier wurde der Schlussstein des letzten Pfeilers der Auffahrtsrampe eingesetzt, – unter ihm wurden in einer Kassette mehrere Urkunden, Fotos der Brücke, Münzen und Medaillen eingemauert. Brückenbetrieb Nach dem Selbstmord Kronprinz Rudolfs im Jahr 1889 erhielt die Brücke im Volksmund den Namen „Selbstmörderbrücke“. Sie war in den ersten Jahren ihres Betriebs noch kein besonders beliebter Donauübergang: Industrie und Gewerbe siedelten sich nur langsam jenseits der Donau an. Außerdem gab es noch keine nennenswerten Handelswege ins nördlich gelegene Marchfeld: Über die Alte Donau, die dafür hätte überquert werden müssen, führte bis etwa 1900 lediglich eine wackelige Holzbrücke. In den ersten 28 Jahren ihres Betriebs war die Überquerung der Reichsbrücke kostenpflichtig: Pro Fahrzeug waren 32 Kreuzer bzw. 64 Heller zu entrichten, was regelmäßig von Wiener Zeitungen kritisiert wurde. Erst nachdem die Ortschaften nördlich der Alten Donau im Jahr 1904 / 1905 als 21. Bezirk eingemeindet worden waren, wurde die Überfahrt kostenfrei gestellt und die Beliebtheit der Brücke stieg. Ab dem 26. Juni 1898 wurde die Brücke von der Straßenbahn befahren. Anlass dafür war das 50-Jahre-Regierungsjubiläum von Kaiser Franz Joseph. Die Strecke führte (über die Strombrücke nur eingleisig) vorerst zur Schießstätte bei der Arbeiterstrandbadstraße und wurde am 22. Dezember 1898 bis zum Kagraner Platz verlängert. Betreiber war die Wien-Kagraner Bahn (WKB), die dafür anfänglich sechs aus Hamburg übernommene Triebwagen verwendete. 1904 übernahm der Verkehrsbetrieb Gemeinde Wien – Städtische Straßenbahnen die WKB. Das Ende der Brücke 1910 wurden in Wien über zwei Millionen Einwohner gezählt. Am linken, nördlichen Donauufer entstanden immer mehr Siedlungen und Gewerbebetriebe. Dies erhöhte zugleich die Bedeutung und die Verkehrsbelastung der Reichsbrücke. Weder die Gesamtlast noch die Fahrbahnbreite von weniger als acht Meter waren für diese Mehrbelastung ausreichend. 1930 wurden Schäden an der Brücke entdeckt, die in absehbarer Zeit die Generalsanierung notwendig gemacht hätten. In den letzten Jahren ihres Bestandes wurden Gewichtsbeschränkungen verfügt, um die Brücke zu schonen. Die Wiener Stadtregierung plante zunächst einen Umbau der alten Reichsbrücke. 1933 wurde unter der Bundesregierung Dollfuß ein Neubau verfügt. Während der drei Jahre dauernden Bauarbeiten musste die alte Brücke benutzbar bleiben, – also wurde die bestehende 340 Meter lange und 4.900 Tonnen schwere Strombrücke im September 1934 um 26 Meter stromabwärts verschoben und dort mit den Ufern verbunden. Der Verschiebevorgang dauerte nur sechs Stunden, die Verkehrsunterbrechung bis zur Wiederbenutzbarkeit dauerte insgesamt drei Tage. Die verschobene Brücke war daraufhin noch drei Jahre lang in Betrieb. Direkt nach der Eröffnung ihrer Nachfolgerbrücke wurde sie demontiert. Zweite Reichsbrücke – 1937 bis 1976 Die zweite Reichsbrücke hatte eine Gesamtlänge von 1255 Meter. Die Strombrücke war mit einer Länge von 373 Meter und einer maximalen Stützweite von 241,2 Meter beim Bau die drittgrößte Kettenbrücke Europas. Sie besaß zwei Pylonen aus Stahl mit einer Höhe von 30 Meter über Fahrbahnoberkante, die auf zwei Strompfeilern standen und zwei Stahlketten mit den Brückenüberbaulasten trugen. Die Brücke war als Symbol für den Reichtum und die Größe Wiens inszeniert. So wurde sie noch in den späten 1930er Jahren neben Stephansdom und Riesenrad zum dritten Stadtemblem Wiens erklärt und diente als international verbreitetes Symbol auf allen Werbeschriften und Einladungen zur Wiener Messe 1938. Wettbewerb Zunächst schrieb das Handelsministerium einen Vorwettbewerb aus, den zwar die Architekten Emil Hoppe und Otto Schönthal gewinnen konnten, dessen Ergebnis jedoch nicht den Vorstellungen des Ministeriums und der Stadt Wien entsprach. Der finale Wettbewerb zum Neubau der Reichsbrücke wurde schließlich im Frühling 1933 ausgeschrieben und im November prämiert. Als baukünstlerischer Berater der achtköpfigen Jury fungierte der Architekt Clemens Holzmeister. Die Juroren wählten aus 64 eingereichten Vorschlägen, wovon einer sogar eine Untertunnelung der Donau vorsah. Das Siegerprojekt war eine Kettenbrücke der Architekten Siegfried Theiss und Hans Jaksch. Dieser Entwurf sah nur zwei im Wasser stehende Pfeiler vor. Drei Viertel der vollen Flussbreite sollten frei überspannt werden. Die Brücke würde direkt an die weiterhin zu nutzende, lediglich zu verbreiternde Inundationsbrücke der ersten Reichsbrücke über Überschwemmungsgebiet und Hubertusdamm anschließen. Bau Baubeginn war am 26. Februar 1934, zwei Wochen nach den bürgerkriegsartigen Februarkämpfen. Die Kosten von 24 Millionen Schilling wurden zu einem Drittel der Stadt Wien auferlegt, zwei Drittel kamen aus dem Bundesbudget. Es waren ausschließlich österreichische Firmen am Bau beteiligt. Die beiden Pfeiler wurden im Fluss in Senkkasten-Bauweise errichtet, der Tragwerksbalken auf einem temporären Stützgerüst aus Stahlblech durch Nieten zusammengesetzt. Die alte Brücke wurde dabei während des Baus in Betrieb gelassen, da sie schon zu wichtig für den Verkehr in Wien war. Die Pfeiler der alten Brücke wurden deshalb verlängert und der Oberbau der alten Brücke 26 m in Fließrichtung der Donau verschoben. Bald tauchten die ersten Schwierigkeiten auf. Der Baugrund, insbesondere in der Donau, auf dem die Brückenpfeiler und die Ankerblöcke für die Ketten fundiert werden sollten, erwies sich als weniger tragfähig, als die Planer angenommen hatten. Ursprünglich war vorgesehen, einen Großteil des Gewichtes der Strombrücke, vornehmlich des zwischen den Pfeilern liegenden mittleren Teils der Brücke, von zwei Ketten tragen zu lassen, die auf beiden Seiten über die zwei Pylone verlaufen und direkt im Fluss an schweren, festliegenden Ankerblöcken aus Beton verankert werden sollten. Jedoch wurde befürchtet, dass diese Widerlager auf dem weichen Donauboden durch die großen Zugkräfte von 78,5 Millionen N (8.000 t) je Kette ins Gleiten geraten würden und nicht ausreichend im Donauboden verankert werden könnten. Professor Paul Fillunger von der Technischen Hochschule in Wien entwickelte sich zum größten öffentlichen Kritiker des Baus. Er war der Ansicht, dass nicht nur die Gründung der Ankerblöcke, sondern auch die der Pfeiler im weichen Donauboden unverantwortlich war, weil die Brücke nicht die nötige Standsicherheit aufweisen würde. Gegensätzlicher Meinung war sein Professorenkollege, der Bodenmechaniker Karl von Terzaghi. Seiner Ansicht nach war die Beschaffenheit des Donaubodens für die Pfeilergründung geeignet. Die Meinungsverschiedenheit war Teil einer persönlichen Fehde, die öffentlich ausgetragen wurde. Fillunger nahm sich 1937 aufgrund eines Disziplinarverfahrens, das an der TH Wien gegen ihn lief, gemeinsam mit seiner Frau das Leben. Die Konstruktion der Brücke wurde nach den Vorschlägen Terzaghis umgeplant: Die Ketten wurden nicht in Ankerblöcken am Donauboden befestigt, sondern direkt an den beiden Hauptträgern des stählernen Tragwerkes, also an der Brücke selbst, rückverankert, sie war also eine sogenannte unechte Hängebrücke (Zügelgurtbrücke). Im Juni 1936 wurde der Bau von einem Schiffsunglück überschattet: Der Personendampfer „Wien“ der DDSG wurde an einen Pfeiler getrieben. Das Schiff zerbrach und sank sofort. Sechs Menschen kamen dabei ums Leben. Das letzte Schlussglied der aus je 49 Blechpaketen als Gliedern bestehenden zwei Ketten wurde am 16. November 1936 eingelegt. Danach begann das Absenken des Trägergerüsts, um die Kette in Spannung zu versetzen. Die Herstellung der Betonfahrbahnplatte des Brückenüberbaus sowie die Montage der Gehsteige folgten im Frühjahr 1937, im Sommer wurden die Eisenteile der Brücke dunkelgrün gestrichen. Vom 1. bis zum 3. Oktober 1937 fand die Belastungsprobe des Bauwerks statt, bei der die Ketten gedehnt und die Pylonen leicht gedreht wurden. Anschließend wurden als Belastungsprobe 84 Lastkraftwagen und 28 mit Steinen beladene Straßenbahnwagen auf die Brücke gefahren und für einige Stunden dort stehen gelassen. Alle Messungen liefen zufriedenstellend ab, sodass am 4. Oktober die erste Straßenbahngarnitur der Linie 16 über die Reichsbrücke fahren konnte. Einen Tag später wurde die Brücke inoffiziell für den Straßenbahnverkehr freigegeben. Für den Autoverkehr blieb sie bis zu ihrer Eröffnung gesperrt. Austrofaschistische Propaganda Ein arbeits- und kostenintensives Projekt wie der Bau der Reichsbrücke war ganz im Sinne des austrofaschistischen Regimes: Die Arbeitslosigkeit lag Ende 1933 bei 38,5 Prozent. Der Bau der zweiten Reichsbrücke kann daher auch als Arbeitsbeschaffungsprojekt gesehen werden, ähnlich wie die Errichtung der Großglockner-Hochalpenstraße oder der Wiener Höhenstraße. Am 10. Oktober 1937 wurde die Reichsbrücke offiziell eröffnet. Die ständestaatliche Regierung veranstaltete einen feierlichen Staatsakt mit Bundespräsident Wilhelm Miklas, Bundeskanzler Kurt Schuschnigg, Kardinal Theodor Innitzer, dem Wiener Vizebürgermeister Fritz Lahr und dem Handelsminister Wilhelm Taucher, der die neue Reichsbrücke als „Symbol schaffender Lebenskraft des neuen Österreich“ bezeichnete. Anwesend waren neben Architekten, Bauverantwortlichen und Konstrukteuren auch eine Delegation des Werks „Neues Leben“ der Vaterländischen Front, alle am Bau beteiligten Arbeiter der Baufirmen sowie 10.000 Schulkinder. Soldaten des Bundesheeres säumten das Ufer. Der Wiener Stadtforscher Peter Payer schreibt über die pompöse Inszenierung: Die Veranstaltung wurde live im Radio übertragen, die Zeitungen berichteten breit darüber. Zu dem Anlass wurden Postkarten und Briefumschläge herausgegeben, ein Sonderstempel verwendet und sogar ein eigenes „Reichsbrückenlied“ gedichtet: Das Lied wurde zur Melodie von Prinz Eugen, der edle Ritter gesungen. Die Reichsbrücke im Zweiten Weltkrieg Während des Zweiten Weltkriegs setzte die deutsche Wehrmacht zwei Unterstützungspfeiler aus Eisenbeton unter der Reichsbrücke in die Donau, damit das Bauwerk bei einem Treffer nicht vollständig ins Wasser fallen würde, sondern wieder repariert werden könnte. Außerdem wurden an jedem der beiden Pylonen Plattformen für Flugabwehrkanonen errichtet. Anfang April 1945, in den letzten Tagen des Krieges, bewegten sich sowjetische Armeen von Süden und Westen auf das Stadtzentrum zu. Die flüchtenden Einheiten der SS sprengten bei ihrem Rückzug nach Norden nach und nach fast alle Wiener Donaubrücken. Für die Nordwestbahnbrücke, die Floridsdorfer Brücke und die Nordbahnbrücke hatten die „Verteidiger“ Wiens vom Führerhauptquartier am 8. April 1945 die Erlaubnis zur Sprengung eingeholt; die Stadlauer Ostbahnbrücke wurde ohne explizite Erlaubnis ebenfalls gesprengt. Bei der Reichsbrücke hatte Adolf Hitler die Sprengung bis zum 11. April 1945 zunächst mehrmals ausgeschlossen und sie erst am 13. April Nachmittag erlaubt, zu einem Zeitpunkt, als der südliche Brückenkopf bereits von der Roten Armee eingenommen war, der nördliche Brückenkopf ohne Deckung in ihrem Feuerbereich lag und die deutschen Truppen, die sich aufs linke Donauufer zurückgezogen hatten, nordwestwärts abzogen, um nicht von der Roten Armee eingeschlossen zu werden. Daher bestand zur Sprengung keine Chance mehr. Die Rote Armee besetzte am Abend des 13. April auch den nördlichen Brückenkopf. Am 11. April, am Höhepunkt der Schlacht um Wien, waren die russischen Truppen mit Panzerbooten auf der Donau bereits bis zur Reichsbrücke (von den Russen offiziell „Objekt 56“ genannt) vorgedrungen und hatten das Gebiet vernebelt. Sie gingen am rechten Donauufer, etwa 500 Meter nordwestlich der Brücke, an Land und rückten langsam zum Bauwerk vor. In den Morgenstunden des 13. April deponierte ein Pioniertrupp in einem Wartehäuschen der Straßenbahn, im Bereich der Brückenauffahrt hochexplosives Material für die Sprengung der Brücke. Der Trupp suchte sich einen Unterschlupf in einem Keller im Bereich Schüttaustraße und wartete dort auf weitere Befehle. Entsprechend eines Befehles vom 26. März 1945, der nach der Inbesitznahme der Rheinbrücke bei Remagen durch US-Truppen ergangen war, musste bei allen wichtigen Brücken eine zusätzliche Sprengmunitions- und Zündmittelreserve bereitgehalten werden. Um 13:50 Uhr explodierte das Material, wohl durch einen Artillerietreffer. Dabei starb eine größere Zahl deutscher Soldaten, die in der Böschung unterhalb des Wartehäuschens Schutz gesucht hatten. Auch die Besatzungen zweier Panzer, die dort zur Sicherung der Brückenauffahrt in Stellung gegangen waren, starben. Die restlichen deutschen Nachhuten zogen sich kampflos im Schutz der Dunkelheit zurück. Noch Jahrzehnte später war unklar, wieso gerade die Reichsbrücke nicht gesprengt wurde. Die Rote Armee, die österreichische Widerstandsbewegung O5 sowie Angehörige der Wehrmacht behaupteten später, gerade sie hätten die Sprengung verhindert. Eine Version besagte, dass schon bei der Schlacht am 11. April einige Soldaten der Roten Armee bis zum Brückenkopf gelangt sein sollen, wo sie Sprengleitungen zerstörten. Eine andere Version lautete, dass Rotarmisten unter Führung eines ortskundigen Wiener Kanalarbeiters durch das Wiener Kanalsystem zur Brücke geschlichen seien, um die Sprengung zu verhindern. Klarheit schuf 2012 die Auswertung historischer Quellen mit dem Resumee: Letztlich war es Hitler selbst, der eine Sprengung der Brücke bis zum letzten Augenblick verhindert hatte. Ein Aktivist der Widerstandsbewegung wies 1945 immer wieder darauf hin, dass in der Reichsbrücke noch gefährliche Sprengladungen eingebaut seien. Schließlich beauftragte das Stadtbauamt das Unternehmen Waagner Biró. Dieses fand 49 Ladungen (Gewicht zwischen 1 kg und 50 kg) und beseitigte sie, ebenso mehr als 50 m Detonier-Zündschnur. Der Sprengmeister schrieb anschließend: Es ist nicht recht verständlich, wieso bei dieser umfangreichen und zeitraubenden Vorbereitung zur Sprengung dieses Objektes eine Sprengung nicht auch tatsächlich zur Ausführung kam. An manchen Stellen waren wohl deutlich Sabotage gegen die Sprengung erkennbar, ohne daß dies allein eine umfangreiche Sprengung hätte verhindern können. Da während der Zeit der Besatzung Zweifel an der Theorie der alleinigen Rettung der Reichsbrücke durch die siegreiche Rote Armee verboten waren, blieb all dies geheim. Die Reichsbrücke war nun der einzige intakte Donauübergang zwischen Krems und Belgrad. Ihr wurde dadurch ein Symbolstatus zuteil; sie stand als Zeichen für die Widerstandskraft Österreichs. Die Stadtverwaltung benannte die Reichsbrücke zum Jahrestag der Befreiung Wiens am 11. April 1946 zu Ehren der Befreier in „Brücke der Roten Armee“ um. Aus diesem Anlass ließ die Stadtverwaltung links neben der Brückenauffahrt im 2. Bezirk einen Obelisk (rötlich gefärbter Leichtbeton auf Holzkonstruktion) mit dem Sowjetstern an der Spitze errichten, auf dem in Deutsch und Russisch stand: Der Obelisk wurde nach 1955 entfernt. Die Inschrift wurde nun auf einer Bronzetafel angebracht, die direkt an der Brücke montiert war. Die Brücke wurde per 18. Juli 1956 wieder Reichsbrücke benannt. Die Reichsbrücke in der Nachkriegszeit Bis zum Wiederaufbau der Floridsdorfer Brücke 1946 blieb die Reichsbrücke der einzige Weg, Wien von Nordosten kommend auf der Straße zu erreichen. Obwohl sie nicht gesprengt wurde, erlitt sie dennoch zahlreiche Schäden, in erster Linie durch Granattreffer. 1946 erfolgte die erste Sanierung der Kriegsschäden der Brücke, ab Mai 1947 erfolgten Arbeiten in größerem Umfang. Dabei wurden fünf Hängestangen instand gesetzt und die Gewölbe der Inundationsbrücke repariert. Die Rauchschutzdecke über der Donauuferbahn wurde ausgewechselt. An sieben Kettengliedern mussten insgesamt 26 Lamellen erneuert werden. Dafür wurden Hilfspfeiler auf Schleppkähnen verwendet, die auf der Flusssohle aufsaßen. Die Arbeiten wurden 1952 beendet. Auf der Reichsbrücke war ursprünglich Holzstöckelpflaster verlegt, dieses wurde 1958–1960 durch Granitsteinpflaster ersetzt, wodurch sich für jedes Pylonlager eine zusätzliche Auflast von 4688 kN ergab. Der enorm angestiegene Individualverkehr führte immer öfter zur Behinderung des Straßenbahnverkehrs auf der Brücke; daher wurden die Gleise in den sechziger Jahren durch Sperrlinien zu für den Individualverkehr nicht zugelassenen Fahrbahnteilen erklärt. Nun waren Staus des Autoverkehrs die Folge. Brückenprüfung und geplante Instandsetzung Im Herbst 1975 wurde als Folge einer Bauwerksüberprüfung mit der Vorbereitung einer umfassenden Brückeninstandsetzung begonnen. Geplant waren eine Erneuerung des gesamten Fahrbahnaufbaus mit einem lärmarmen Asphaltbelag, die Erneuerung der beiden Gehwege und ein kompletter Korrosionsschutz der Stahlkonstruktionen. Für das Projekt erfolgte eine intensive Überprüfung durch die MA29 unter Beiziehung eines im Stahlbau renommierten Ziviltechnikers. Die Ausschreibung der gesamten Arbeiten (Generalunternehmerausschreibung) war in Arbeit. Am 30. Juli 1976 – also zwei Tage vor dem Einsturz der Brücke – waren die Prüfer noch in den Brückenträgern unterwegs, um die letzten technischen Details für die Instandsetzung zu klären. Der unerwartete Einsturz beendete das Projekt. Reichsbrückeneinsturz 1976 Am Sonntag, dem 1. August 1976, stürzte die Reichsbrücke zwischen 4:53 Uhr und 4:55 Uhr auf beinahe voller Länge der Strombrücke ins Wasser. Die erste Radiodurchsage erfolgte um 5:00 Uhr. Ein Augenzeuge beschrieb den Einsturz so: „Die ganze Brücke hat sich plötzlich einen halben Meter gehoben und ist dann laut krachend auf der gesamten Länge abgesackt.“ Auf der Kaibrücke sowie auf der Inundationsbrücke brach der Träger samt Fahrbahn an mehreren Stellen, beide Brücken hielten jedoch stand. Die Strombrücke selbst brach in drei Teile, wobei der Mittelteil als Ganzes ins Wasser fiel und die beiden Außenteile schräg ins Wasser hingen. Der südseitige Pylon fiel stromabwärts und beschädigte dabei das Heck eines Passagierschiffes schwer; der nordseitige Pylon stürzte in die andere Richtung auf das Überschwemmungsgebiet. Zum Zeitpunkt des Einsturzes waren sieben Menschen in vier Fahrzeugen auf der Brücke: ein Busfahrer in einem städtischen Gelenkbus, zwei Mitarbeiter des ÖAMTC in einem Pannenhilfe-Fahrzeug, der Lenker eines VW Käfers, welcher mit zwei Mitfahrern unterwegs war und wegen eines abgefallenen Rades die Pannenhilfe beantragt hatte, sowie ein ORF-Chauffeur am Steuer eines Ford Transit. Der Busfahrer stürzte mit seinem Fahrzeug in die Donau, konnte jedoch binnen weniger Stunden unverletzt gerettet werden, da der Bus nicht unterging, sondern auf den Trümmern im Wasser stehen blieb. Die ÖAMTC-Mitarbeiter und die drei VW-Insassen befanden sich auf jenem Teil der Kaibrücke, der zwar brach und sich senkte, jedoch nicht völlig zerstört wurde, so dass sie sich selbst zu Fuß retten konnten. Der ORF-Chauffeur, welcher zuvor noch bei der Panne Hilfe geleistet hatte, wurde in seinem Ford Transit eingeklemmt und am Tag nach dem Einsturz tot geborgen. Er war somit das einzige Todesopfer. Binnen einer Stunde war ein Viertel aller in Wien verfügbaren Fahrzeuge der Feuerwehr am Einsturzort, es wurde Alarm der Stufe IV gegeben. Auch Polizei, Rettung und Bundesheer waren mit großen Aufgeboten vertreten. Die auf der Brücke befindlichen Wasserleitungen, die den Norden Wiens mit Trinkwasser versorgten, setzten den Handelskai unter Wasser. Zudem wurden Explosionen befürchtet, weil die über die Brücke geführten Gasleitungen gebrochen waren. Es herrschte am Unglücksort tagelang strenges Rauchverbot. Zunächst waren zahlreiche Menschen nördlich der Donau ohne Gas, Strom, Wasser und Telefon. Am 2. August war die Versorgung wiederhergestellt. Einsturzursachen Bereits kurz nach dem Einsturz erklärte die Wiener Stadtregierung eine Fremdeinwirkung für höchst unwahrscheinlich. Zugleich gab die Stadtregierung bekannt, dass die Brücke im Jahr der Katastrophe insgesamt siebenmal überprüft worden sei, wobei keine erheblichen Mängel hätten festgestellt werden können. Eine umgehend einberufene Expertenkommission aus Professoren der Technischen Universitäten in Wien und Graz legte am 9. August ihren ersten Zwischenbericht vor, in dem die Einsturzursache grob eingegrenzt wurde: So schieden laut Untersuchungskommission eine Sprengung, Erdbeben, generelle Instabilität, ein Abreißen der Ketten oder Hänger, ein Ausreißen der Verankerungen aus den Widerlagern und die Korrosion eines tragenden Bauteiles als Ursachen eindeutig aus. Laut dem Untersuchungsbericht brach zuerst der nordöstliche Pylon durch Abscheren des Pfeilers knapp unter dem Brückenauflager ein. Der zweite Pylon wurde dann mitgerissen. Ein halbes Jahr später präsentierte die Kommission ihren 400-seitigen Endbericht, der vom vorläufigen Bericht nicht abwich, sondern ihn nur präzisierte. Die zentrale Aussage des Berichtes bestand darin, dass der Einsturz nicht vorhersehbar gewesen sei, weil eine Vielzahl an Faktoren zusammengewirkt habe und die technischen Mittel 1976 nicht ausgereicht hätten, um all diese Faktoren zu berücksichtigen. Die Hauptfaktoren lassen sich wie folgt zusammenfassen: Der Auflagerost, der das gesamte Gewicht der Brückenlager auf die Pfeiler übertrug, lag auf einem Betonsockel ohne Bewehrung. Beim Bau der Brücke war dieser Trägerrost tatsächlich mit minderwertigem Beton ummantelt worden, der Sandbrocken enthielt. Dieser Beton war aber nicht tragend – er hatte nur die Aufgabe, den Auflagerost vor Korrosion zu schützen und die Blechträger zusätzlich zu stützen. Durch die Minderwertigkeit und die nicht ausreichende Verdichtung dieses Füllbetons habe Wasser in den Pfeilersockel eindringen können, was zu einer „fortschreitenden Zerrüttung“ (Kriechen und Schwinden) im Betonsockel führte. Durch Frostwirkung sind im Beton des Pfeilersockels auch Spaltzugkräfte aufgetreten. Die Kommission hielt es für wahrscheinlich, dass es dadurch schon früh zu Rissen im Pfeilerbeton gekommen sei. Weil die Pfeiler mit massiven Granitblöcken umgeben waren, konnte dies bei Überprüfungen nicht festgestellt werden. Darüber hinaus erkannte die Kommission mehrere Faktoren, die sich ungünstig auswirkten und zum Einsturz beitrugen. Die wichtigsten davon: Die Brückenpfeiler waren ungewöhnlich schlank ausgebildet, wodurch die Kontaktflächen der Pfeiler zum Trägerrost äußerst klein waren. Die Festlager (jene Lager, die alle horizontalen Kräfte wie Windlast oder Bremskräfte der Fahrzeuge aufnahmen) waren an der stromabwärts gelegenen Pfeilerseite angebracht worden – was sich als ungünstig erwies, weil die Hauptwindrichtung von Nordwest nach Südost verläuft. Ursprünglich war die Reichsbrücke als reine Hängebrücke konstruiert gewesen. Weil der weiche Donauboden eine Verankerung der Ketten nicht zuließ, änderten die Planer den Entwurf auf eine in sich verankerte Brücke um, was die Statik des Bauwerks nachteilig veränderte. Politische Folgen Die in der Stadt Wien regierende SPÖ geriet unverzüglich ins Kreuzfeuer der Opposition. Am Tag nach dem Einsturz kündigte die ÖVP an, eine Sondersitzung des Wiener Gemeinderates einzuberufen und dabei die Absetzung des SPÖ-Stadtrates für Planung, Fritz Hofmann, zu verlangen. Politiker von ÖVP und FPÖ forderten den Rücktritt des Bürgermeisters Leopold Gratz, der sich zwar gegen diese Angriffe verteidigte, Stadtrat Hofmann aber nicht in Schutz nahm. Am 5. August gab Gratz in einer internen Sitzung der SPÖ seinen Rücktritt bekannt. Nach Unterredungen mit Bundeskanzler Bruno Kreisky und Verkehrsminister Erwin Lanc zog er diesen jedoch wieder zurück. Planungsstadtrat Hofmann war am 31. Juli auf Urlaub gefahren und es galt als wahrscheinlich, dass er nichts vom Einsturz der Reichsbrücke wusste. Sein Aufenthaltsort war unbekannt. Hofmann wurde mehrere Tage lang durch Presse und Rundfunk gesucht. Am 5. August gab es ein Lebenszeichen von ihm: Er hatte die vergangenen Tage auf einer Berghütte am Matterhorn verbracht und dabei keine Medien konsumiert. In Zermatt wurde sein Autokennzeichen von einer Schweizerin erkannt, die die Suchaufrufe in einer Schweizer Zeitung gelesen hatte. Hofmann wurde mit einem Flugzeug in Zürich abgeholt; er traf am 6. August in Wien ein und erklärte sofort seinen Rücktritt, der von Bürgermeister Gratz angenommen wurde. Durch den Abschlussbericht der Expertenkommission galt Fritz Hofmann als rehabilitiert; er wurde 1981 erneut als amtsführender Stadtrat berufen. Folgen für den Verkehr Die Reichsbrücke war im Jahr 1976 nicht nur eines der am meisten befahrenen Straßenstücke Wiens, sie überquerte auch eine der wichtigsten Binnenwasserstraßen Westeuropas. Ihr Einsturz wirkte sich daher sowohl auf den Straßen- wie auf den Schiffsverkehr aus. Noch am Einsturztag wurden bei einer Pressekonferenz erste Maßnahmen für den Straßenverkehr präsentiert. Alle zur Reichsbrücke führenden Straßen wurden gesperrt, die Straßenbahnlinien 25 und 26 über die Schüttaustraße nach Kaisermühlen abgelenkt sowie die Linien B und BK zum Mexikoplatz kurzgeführt. Der Krisenstab der Wiener Stadtregierung ordnete umgehend an, zwei Ersatzbrücken zu errichten: eine für die Straßenbahn sowie eine für den Autoverkehr. Entgegen den Befürchtungen kam es in Wien zu keinem Verkehrschaos. Während der Personenschiffsverkehr der DDSG schon am Tag nach dem Einsturz problemlos wiederaufgenommen werden konnte, weil die Anlegestellen entsprechend verlegt wurden (die DDSG bot lediglich Fahrten von Wien oder nach Wien an), kam der Erz-, Kohle-, Benzin- und Heizöltransport auf der Donau in den ersten Wochen komplett zum Erliegen. Am 1. August wiesen die österreichischen Behörden alle ausländischen Schiffe an, stromabwärts fahrend vor Passau sowie stromaufwärts fahrend vor Budapest vor Anker zu gehen. Zwar wurde das Bundesheer beauftragt, am nordseitigen Ufer umgehend eine Schifffahrtsrinne in die Trümmer zu sprengen, jedoch war klar, dass es Wochen dauern würde, bis die Donau wieder regulär befahrbar sein würde. Auch auf den Bahnverkehr hatte der Einsturz Auswirkungen, da im Bereich der Reichsbrücke die für den Güterverkehr wichtige Donauuferbahn unterbrochen wurde. So wurde noch am 1. August um 17:00 die aufgrund ihres schlechten Zustandes seit 1. Juni 1975 für den durchgehenden Verkehr gesperrte Vorortelinie als Teil der Umgehungsstrecke (via Verbindungsbahn und Donauländebahn) wieder in Betrieb genommen. Indirekt bewirkte der Einsturz der Reichsbrücke eine Verlängerung des Dampfbetriebes auf den Lokalbahnen des Weinviertels, weil so viele Dieselloks wie möglich für den umgeleiteten Güterverkehr in Wien benötigt wurden. Am 9. August entschied die Stadtregierung, dass kleine und mit ungefährlichen Gütern beladene Schiffe die Einsturzstelle durch den Donaukanal umschiffen durften. Tanker wurden in dem schmalen Gewässer, das am Stadtzentrum vorbeifließt, nicht zugelassen. Am 20. September befuhr das hundertste Schiff den Donaukanal. Am 26. September durchfuhr erstmals wieder ein Schiff die Donau auf Höhe der Reichsbrücke, am 30. September wurde die Strecke Regensburg–Schwarzes Meer offiziell wiedereröffnet. Der Einsturz in Kunst und Medien Die österreichischen Medien berichteten durchwegs entsetzt über den Einsturz und forderten einhellig politische Konsequenzen, vor allem den Rücktritt des Planungsstadtrats Hofmann. Auch Bürgermeister Gratz sowie die gesamte Stadtregierung wurden scharf kritisiert. Mit der Parole „Einer muss gehen!“, forderte etwa der Wiener Kurier mindestens ein Mitglied der Stadtregierung zum Rücktritt auf. Die Katastrophe dominierte am 2. August – neben Niki Laudas Unfall auf dem Nürburgring – auch die europäische Medienberichterstattung. Die Neue Zürcher Zeitung etwa wunderte sich über die vielen Schaulustigen: Unter dem Titel „Sonntagsvergnügen für Schaulustige“ berichtete sie über die „Völkerwanderung der Wiener“ zum Ort der Katastrophe: Noch am 1. August pilgerten Tausende zum Ort des Einsturzes, um die im Wasser liegende Brücke und als besondere Attraktion den noch auf ihr stehenden Gelenkbus – im Volksmund schon nach einigen Tagen „Donaubus“ genannt – zu besichtigen. Das „Brückenschauen“ wurde später Thema des Volkslieds „Reichsbrückenmarsch“ der beiden Wiener Liedersänger Kratochwil und Napravnik auf einer Single, die bald nach dem Brückeneinsturz erschien. (Auf der Rückseite der Single befindet sich „Donauwies’n“). In dem Lied heißt es: Wolfgang Ambros verarbeitete den Einsturz der Brücke unter dem Pseudonym „Anton Brückenkopf und der Chor der Donaustädter Verkehrsbehinderten“ im satirischen Lied „Gratz´s mi!“ zur Melodie seines Hits „Zwickt´s mi!“. Der Titel ist eine Anspielung auf Bürgermeister Gratz, ebenso wird der Planungsstadtrat Fritz Hofmann und dessen Abwesenheit kritisiert: Schon Tage nach dem Einsturz gab es ein reges Geschäft rund um die Brücke, das an einen Devotionalienhandel erinnerte. So wurden etwa Schrauben und Nieten eingesammelt und an Ort und Stelle um 20 Schilling pro Stück verkauft. Eine Trafikantin aus Kaisermühlen kaufte alle Ansichtskarten der Reichsbrücke, die sie bekommen konnte, und verkaufte sie als letzte Souvenirs des eingestürzten Bauwerks. Später wurde der Einsturz in mehreren literarischen Texten verarbeitet. So schrieben etwa Gert Jonke und Peter Orthofer literarische Essays zur Katastrophe, Ludwig Roman Fleischer widmete der Brücke einen Roman: Die Reichsbrücken-Rhapsodie erschien 1994. Die Lyrikerin Christine Busta widmete der Brücke ein Gedicht namens „Nachruf einer Brücke“, in dem es unter anderem heißt: Bergung und Wiederverwertung der Brücke Insgesamt waren 180 Arbeiter in mehreren Schichten an der Bergung der Reichsbrücke beteiligt. Die Arbeiten dauerten bis zum Jänner 1977. Als Priorität wurden die Brückenteile an den beiden Ufern erkannt, von denen einer die Donauuferbahn blockierte und so den Zugverkehr beeinträchtigte. Erste Bergungsversuche durch das österreichische Bundesheer am 6. August 1976 schlugen fehl: Die Bergepanzer rutschten an den Ufern ab. Auch mehrere Versuche der Feuerwehr, den Boden zu befestigen, scheiterten. Pläne, die schweren Brückenteile am zentrumsseitigen Ufer mit mehreren großen Explosionen zu zerkleinern, wurden nach Probesprengungen wieder verworfen: Die Druckwelle hätte angrenzende Hochhäuser beschädigen können. Am 11. August wurden schließlich insgesamt 40 kleine Sprengungen mit insgesamt 15 Kilogramm Gelatine-Donarit in 120 Bohrlöchern durchgeführt. Die Sprengungen erfolgten im Abstand von je einer Tausendstelsekunde. Danach konnten die zerkleinerten Teile nach und nach geborgen werden. Deutlich aufwendiger gestaltete sich die Bergung des Mittelteils, der als Ganzes ins Wasser gefallen war. Im Oktober 1976 beschloss die Wiener Stadtregierung, den 240 Meter langen Brückenrest in einem Stück aus dem Wasser zu ziehen: Dafür wurden am zentrumsseitigen Ufer, im Bereich Mexikoplatz, Fundamente für 14 hydraulische Pressen gemauert. Die Maschinen wurden mittels Stahlseilbündeln mit der Brücke verbunden. Ende November 1976 begann die Bergung: Die Brücke wurde in einer stundenlangen Prozedur jeweils 30 Meter an Land gezogen und danach durch Brennschneiden abgeschnitten. Anschließend wurden die Seile an der Brücke neu befestigt und der Vorgang insgesamt siebenmal wiederholt. Am 25. Jänner 1977 war die Bergung abgeschlossen. Im Brückeninformationscenter der Magistratsabteilung 29 (Brückenbau) ist heute noch ein Teil der Brückenauflage zu besichtigen. Einige Nieten und Schrauben werden im Bezirksmuseum Donaustadt ausgestellt. Der legendäre „Donaubus“ konnte nach der Bergung repariert werden und wurde noch 13 Jahre lang im Linienverkehr eingesetzt. Als betriebsfähiges Museumsfahrzeug wird er im Verkehrsmuseum Remise gezeigt. Die Stahlteile der Reichsbrücke wurden in den Monaten nach dem Einsturz nach Linz transportiert, wo sie von Voestalpine eingeschmolzen wurden. Die Beton- und Granitteile wurden teilweise an Ort und Stelle für den Straßenneubau verwendet. Ein Großteil des Brückenbruchs wurde jedoch auf die Mülldeponie Rautenweg im Nordosten Wiens transportiert. Erst vor wenigen Jahren stießen die Arbeiter der Deponie auf etwa 30.000 Tonnen an steinernen und granitenen Überresten der alten Reichsbrücke, über deren genauen Standort keine Aufzeichnungen existiert hatten. Sie wurden freigelegt (Koordinaten: ) und sollen für den Straßenbau wiederverwertet werden. Aus einem Teil des Granitbruchs machte die für die Müllbeseitigung zuständige Magistratsabteilung 48 (Stadtreinigung und Fuhrpark) 31 Jahre nach dem Brückeneinsturz 500 Reichsbrücken-Gedenksteine für ausgewählte Empfänger. Dazu wurden kleine Granitwürfel aus der alten Reichsbrücke auf Holzbrettern befestigt und an Personen vergeben, die sich in besonderer Art und Weise um die Abfallbeseitigung und den Umweltschutz in Wien verdient gemacht haben. Ersatzbrücken Noch am 1. August beschloss die Wiener Stadtregierung, zwei Ersatzbrücken über die Donau anzulegen, eine Straßenbahnbrücke sowie eine für den Individualverkehr. Die Pläne waren am 4. August fertig, und das Bundesheer begann am 17. August gemeinsam mit Straßenbaufirmen, die Behelfsbrücken zu errichten. Nach fünf Wochen war eine eingleisige Straßenbahnbrücke fertig, das zweite Gleis wurde einige Wochen später verlegt. Der Bau der Brücke für den Individualverkehr dauerte bis in den Dezember. Die Verkehrswege beider Ersatzbrücken wurden am linken, nördlichen Stromufer in die unbeschädigte Inundationsbrücke „eingeschleift“. 1977 erhielten die Donau-Ersatzbrücken den Stahlbaupreis der European Convention for Constructional Steelwork. Die Jury begründete ihre Entscheidung damit, dass die Brücken demonstrieren würden, „wie mit Stahl als konstruktivem Material eine Katastrophalsituation schnell und sicher wieder beseitigt werden kann“. Nach dem Abbau wurden die Ersatzbrücken mehrfach bei weiteren Projekten verwendet, so u. a. beim Neubau der Floridsdorfer Brücke und beim Neubau der Brücke der Kremser Schnellstraße S33 über die neue Westbahn östlich von St. Pölten. Die dritte Reichsbrücke Die dritte Reichsbrücke wurde am 8. November 1980 eröffnet. Es handelt sich um eine zweigeschoßige Spannbetonbrücke, die aus drei Abschnitten besteht: der Strombrücke über die Donauländebahn, die Donau und die Donauinsel, der Brücke über die Neue Donau sowie der Brücke über die Donauuferautobahn parallel zum Hubertusdamm. Auf dem Oberdeck befinden sich sechs Fahrstreifen für den Straßenverkehr. Auf dem Unterdeck der Brücke verläuft die Wiener U-Bahn-Linie U1 mit der U-Bahn-Station Donauinsel. An beiden Seiten des Unterdecks sind überdachte Fahrrad- und Fußwege angelegt. Wie schon bei der Vorgängerbrücke laufen auch über die dritte Reichsbrücke Rohrstränge für Gas-, Wasser- und Fernwärmeversorgung und Kabeltrassen für Starkstrom und Telefon. Die Brücke ist bereits mehrmals generalsaniert worden. Die Gesamtlänge der Brücke beträgt 865 Meter, wovon 528 Meter auf das Stromtragwerk über die Donau und die Donauinsel, 213 Meter auf das Tragwerk über die Neue Donau sowie 124 Meter auf das Tragwerk über die Donauuferautobahn entfallen. Wettbewerb Drei Tage nach dem Einsturz der Reichsbrücke setzte der damalige Wiener Stadtbaudirektor Anton Seda einen Planungskreis Reichsbrücke ein, der aus 23 Personen bestand und von Gerhard Gilnreiner geleitet wurde. Die Stadtregierung beauftragte diese Arbeitsgruppe mit der Durchführung der Vorarbeiten für die Projektierung der neuen Brücke. Vor der Katastrophe war geplant gewesen, direkt neben der Reichsbrücke einen eigenen Donauübergang für die U-Bahn-Linie U1 zu errichten, die nach Kagran verlängert werden sollte. Durch den notwendigen Neubau war dieser Plan hinfällig geworden. Es stand nun fest, dass die neue Brücke den Donauübergang für die U1 gewährleisten sollte. Dies machte auch Straßenbahnschienen auf der Brücke obsolet. Außerdem wurde die Höhe des neuen Tragwerks bei der Ausschreibung hoch genug angegeben, um ein Donaukraftwerk im Raum Wien zu ermöglichen. So musste die Reichsbrücke beim Bau des Kraftwerks Freudenau im Jahr 1998 nicht auf die entsprechenden Stauziele angehoben werden. Wenige Monate später, im Dezember 1976, begann der internationale Wettbewerb für den Bau der neuen Reichsbrücke. Den Vorsitz der Jury übernahm der Brückenbauexperte Fritz Leonhardt. Bis zum Ende der Einreichfrist, 2. Mai 1977, gaben 19 Planungsteams 31 Projekte zum Wettbewerb ab. Am 13. Juni gab die Jury bekannt, dass fünf Entwürfe in die engere Wahl genommen würden. Die Planer der fünf Entwürfe wurden zu einer gemeinsamen Diskussion eingeladen, um über Vor- und Nachteile aller fünf Einreichungen zu sprechen. Am 17. Juni schließlich gab die Jury ihre Entscheidung bekannt. Mit acht gegen fünf Stimmen in direkter Abstimmung hatte das Projekt mit dem Namen „Johann Nestroy“ die Unterstützung der Jury. Mit 564 Millionen Schilling geplanter Baukosten war dieses Projekt das billigste von den fünf Projekten in der Endauswahl. Die Planungsgruppe bestand aus den Architekten Norbert Kotz aus Wien und Heikki Siren aus Helsinki, dem Bauingenieur Alfred Popper sowie den Bauunternehmen Hofmann & Maculan, Züblin, Negrelli, E.Hamberger und Stuag. Konstruktion Das Projekt sah eine Brücke vor, die sich – obwohl sie durch die Aufschüttung der Donauinsel streng genommen zwei verschiedene Flüsse überqueren würde – als einheitliches Bauwerk präsentierte. Dies sollte ihren verbindenden Charakter betonen. Die Planer sparten bewusst hohe Aufbauten auf der Brücke aus: Sie sollte sich der städtebaulichen Umgebung unterordnen. Der Entwurf der Planungsgruppe wurde nur mehr in Details abgeändert. Die wesentliche Konstruktion blieb erhalten: Die Reichsbrücke ist eine zweigeschoßige Balkenbrücke aus Spannbeton. Die größte Spannweite über die Donau beträgt 169 Meter, über die Neue Donau sind es 76 Meter. Die maximale Fahrbahnbreite beträgt 26,10 Meter. Im Querschnitt besteht das Bauwerk über seine ganze Länge aus einem Überbau mit zwei Hohlkästen. In jedem findet ein Streckengleis der U-Bahn Platz. Die seitlichen, überdachten Fußgängerbereiche im Unterdeck sind auf der auskragenden Bodenplatte des Hohlkastens angeordnet. Im Hauptfeld über der Donau ist der Brückenüberbau gevoutet ausgeführt, die maximale Bauhöhe beträgt 8,8 Meter über dem Strompfeiler, die minimale Bauhöhe 5,5 Meter. Die modernen, kugelförmigen Straßenlaternen an den Seiten sollten zudem für einen Boulevard-ähnlichen Charakter sorgen. Sie wurden später mit dem Österreichischen Staatspreis für Design ausgezeichnet. Bau Mit dem Bau wurde im Jänner 1978 begonnen. Geplant war der Spatenstich ursprünglich für November 1977 gewesen, doch es kam zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Vertretern der Stadt Wien und der Bundesregierung über die Aufteilung der Kosten am Bau. Man einigte sich schließlich darauf, die Kosten zu je 50 Prozent zwischen Bund und Wien aufzuteilen. Am Bau waren fünf Firmen beteiligt: Hofman & Maculan, Züblin, Negrelli, E.Hamberger und Stuag. Die neue Reichsbrücke wurde in der Achse der eingestürzten Brücke errichtet. Für die Unterbauten der neuen Brücke wurden sowohl das Widerlager als auch der alte Pfeiler am rechten Ufer nach gründlicher Sanierung wiederverwendet. Die Konstruktion der Brücke erfolgte im freien Vorbau. Das bedeutet, dass die Brücke Stück für Stück von drei Ufern (Nordufer, Südufer sowie der an dieser Stelle bereits fertig aufgeschütteten Donauinsel) Richtung Flussmitte hergestellt wurde und die Enden der Brücke sozusagen frei in der Luft schwebten. Der Bau des einzigen Strompfeilers geschah mittels Pfahlgründung. Zu diesem Zweck wurde in der Donau vom südlichen Donauufer her eine Dienstbrücke errichtet, die 140 Meter lang war und bis zur Strommitte reichte. Eine Stahlplattform im Ausmaß von 23 mal 23 Meter am stromseitigen Ende der Brücke ermöglichte den Baufahrzeugen das Wenden. Im Schutz eines Fangdammes und mehrerer stählerner Spundwände wurden 37 Bohrpfähle von je 1,50 Meter Durchmesser bis in eine Tiefe von 28 Meter abgeteuft. Danach wurde der Pfeiler eingesetzt und mit Granitsteinen verkleidet. Die beiden Pfeiler der Brücke über die Neue Donau konnten auf dem Trockenen gebaut werden, weil der Entlastungskanal, den die Brücke heute überquert, erst 1988 fertiggestellt wurde. Während der Bauarbeiten kamen zwei Menschen bei Arbeitsunfällen ums Leben. Im Oktober 1979 stießen Bauarbeiter auf einen Pfeiler der alten Kronprinz-Rudolf-Brücke, der ersten Reichsbrücke. Er war durch natürliche Veränderungen aus dem Strombett „herausgewachsen“ und verursachte eine Untiefe im Strombett. Das Bundesstrombauamt beschloss, die Untiefe mittels Baggerarbeiten zu beseitigen. Ansonsten verlief der Bau nach Plan: Der sogenannte Brückenschlag (die Verbindung der drei im freien Vorbau errichteten Tragwerksteile) konnte wie geplant am 6. Mai 1980 vorgenommen werden. Kurz nach 7:00 Uhr früh setzten Bürgermeister Leopold Gratz und Bautenminister Karl Sekanina symbolisch den Schlussstein der Brücke. Die Arbeiten dauerten noch bis November 1980 an. Die markanten Beleuchtungskörper der neuen Brücke stammen vom Unternehmen Austria Email AG, welches dafür 1980 den Staatspreis für gute Form erhielt. Eröffnung Drei Tage vor der offiziellen Eröffnung der Brücke sprach Stadtrat Heinz Nittel bei einer inoffiziellen Präsentation davon, dass die Brücke insgesamt 914 Millionen Schilling gekostet habe und dass 50.000 Kubikmeter Beton, 3.100 Tonnen Bewehrungsstahl und 2.400 Tonnen Spannstahl verbaut wurden. Er gab außerdem bekannt, dass sich die Stadt Wien gemeinsam mit dem Bautenministerium auf eine direkte Abfahrt von der Brücke auf die Donauinsel geeinigt habe. Die Benützung dieser Abfahrt ist jedoch bis heute Einsatzfahrzeugen, Radfahrern und Fußgängern vorbehalten. Die offizielle Eröffnung der Brücke erfolgte am 8. November 1980 vor einem Publikum von etwa 10.000 Menschen. Bundespräsident Rudolf Kirchschläger, Bürgermeister Gratz, Bautenminister Karl Sekanina und Erzbischof-Koadjutor Franz Jachym waren bei der Eröffnung anwesend und hielten Ansprachen. Alle Redner sprachen vom Einsturz. Kirchschläger stellte moralische Überlegungen an: „Waren auch andere Pfeiler in unserem Leben so hohl, dass sie im Morgenlicht zerbrechen können?“ Bevor der Erzbischof die Brücke weihte, sagte er in seiner Festansprache: „Ich war auch bei der Eröffnung der alten Reichsbrücke dabei und habe ähnliches Lob für die Leistungen gehört. Zu rasch waren die Worte damals verhallt, und auch der Segen der Kirche konnte die Ereignisse der Jahre danach nicht verhindern.“ Die Eröffnung wurde begleitet von Sonderausgaben von Tageszeitungen, die direkt auf der Brücke verteilt wurden. Die Arbeiter-Zeitung stiftete Tausende von Rosen, ein Torten-Modell der Brücke wurde angefertigt und angeblich in 400 Portionen zerteilt und verteilt. Laut Augenzeugenberichten soll es zu Rangeleien um ein Stück des Eröffnungsbandes gekommen sein, die von der Polizei geschlichtet werden mussten. Nach Ende der offiziellen Feierlichkeiten überquerten Tausende Fußgänger die neue Brücke. Danach, um etwa 12 Uhr mittags, wurde sie für den Straßenverkehr freigegeben. U-Bahn-Eröffnung Während der Autoverkehr seit 1980 über die neue Reichsbrücke geleitet wurde, musste der öffentliche Verkehr weiterhin über die Ersatzbrücke geführt werden. Die Eröffnung der U1 Richtung Kagran war für Herbst 1982 geplant. Im März 1982 berichteten mehrere Tageszeitungen, dass es zu Problemen bei ersten Testfahrten der U-Bahn über die Reichsbrücke gekommen sei. Schwingungen, die von den Zügen verursacht würden, seien für die Brücke gefährlich. Deshalb könne nur ein sehr eingeschränkter U-Bahn-Betrieb erlaubt werden. Am 8. März berief Planungsstadtrat Hofmann eine Pressekonferenz ein, bei der er dieses Gerücht als unwahr widerlegte. Es stellte sich heraus, dass ein anonymer Anrufer die Tageszeitungen offenbar mutwillig zu diesen Zeitungsenten animiert hatte. Die erste mit Fahrgästen besetzte U-Bahn passierte am 3. September 1982 um 17:30 Uhr die Reichsbrücke. Am selben Tag setzte zum letzten Mal eine Straßenbahn an dieser Stelle über die Donau, – der Betrieb der Straßenbahnlinien 25 und 26 über die Donau wurde am 4. September eingestellt (die Linien selbst blieben im 22. Bezirk erhalten). Die beiden Ersatzbrücken wurden schließlich im März 1983 abgerissen. Instandsetzung und Umbau In den Jahren 2003 bis 2005 wurde die Reichsbrücke mit Projektkosten von 30 Mio. € instand gesetzt und umgebaut. Dabei wurde der komplette Fahrbahnbelag samt Abdichtung erneuert. Die beiden Richtungsfahrbahnen wurden mit Stahlleitwänden System H2 (getestet für Busanprall mit 70 km/h) neu gesichert. Die auf der Brücke stadteinwärts in Höhe linker Donaudamm vorhandene Bushaltestelle wurde umgebaut, 2 zusätzliche Haltestellen wurden im Bereich der beiden Rampen zur Donauinsel neu errichtet. Eine neue effiziente und stromsparende Beleuchtung wurde hergestellt. Die beiderseits der U-Bahntrasse angebrachten 3,65 Meter breiten Tragwerke für den Fuß- und Radverkehr wurden abgebrochen und durch Stahlkonstruktionen mit jeweils 5,27 Meter Breite ersetzt. Durch die Verbreiterung der getrennt geführten Geh- und Radwege wurden die ursprünglichen Einrichtungsradwege (östlich stadtauswärts nach Norden; westlich stadteinwärts nach Süden) jeweils in beide Fahrtrichtungen für den Radverkehr geöffnet. Durch Rampen auf beiden Seiten wurden behindertengerechte Zugänge geschaffen. Das Fußgänger-Wegesystem umfasst nun eine Fläche von 10.000 Quadratmeter. Die Tragwerksuntersichten wurden so wie die Brückenrandkonstruktionen (Bedienungswege der Fahrbahnen ebenso wie Geh-/Radwege samt Rampen und Stiegen) in modernster Leichtbauweise mit Sandwichplatten aus Aluminium und Kunststoff verkleidet – das ursprüngliche Erscheinungsbild der Brücke wurde in Abstimmung mit Architekt Norbert Kotz (Architekt beim Neubau) unter gleichzeitig wesentlicher Gewichtseinsparung beibehalten. Dieser Optik wurden auch alle neuen Rampen und Stiegen untergeordnet. Ein Novum ist die umfassende Abstimmung mit den Blindenverbänden – in der kompletten Geh- und Radwegebene erfolgte bei allen Stiegenabgängen und Rampen ebenso wie bei den Stationszugängen der U1 eine taktile Kennzeichnung der jeweiligen Ziele auf den Holmen der Geländer. Leider wurden diese mehrfach durch Vandalen beschädigt. Weiters hat die MA29 im Wege des Wiener Blindeninstituts 2.000 taktile Pläne des Wegenetzes von Mexikoplatz bis Schüttaustraße in Auftrag gegeben und bezahlt. In Abstimmung mit den Veranstaltern konnte dank effizienter Projekt- und Bauablaufplanung trotz laufender Baustelle auch in der Bauzeit – natürlich mit reduzierter Nutzbreite – jedes Jahr der Vienna City Marathon durchgeführt werden. Brückenbetrieb Die Brücke stellt eine der wichtigsten Verbindungen der Wiener Innenstadt mit den Stadtteilen am linken Donauufer und dem Umland im Nordosten Wiens dar. Auf der Reichsbrücke befinden sich außerdem Zugänge zum Naherholungsgebiet Donauinsel sowie am zentrumsferneren Brückenende zum im November 2013 geschlossenen Kinder-Freizeitpark Minopolis. Heute wird die Reichsbrücke im Jahresdurchschnitt täglich von rd. 39.000 Kfz und an Werktagen von über 43.000 Fahrzeugen täglich befahren. Im Jahr 2019 wurden an der Zählstelle Lassallestraße täglich rd. 3.400 Radfahrer gezählt, wobei in den Sommermonaten wiederholt Werte von über 9.000 Radfahrer pro Tag auftraten. Seit 1984 findet jährlich im Frühjahr der Vienna City Marathon statt, dessen Strecke über die Reichsbrücke führt. Im Jahr 2004 installierte die Wiener Magistratsabteilung 29 gemeinsam mit der Firma Arsenal Research ein Messsystem, um die Auswirkung der Schwingungen von 25.000 Läufern auf die Brücke zu ermitteln. Diese Messung wurde unter anderem durchgeführt, weil an den Tagen des Marathons von Läufern und Passanten sehr starke Schwingungen der Brücke wahrgenommen wurden. Laut Ergebnis der Studie besteht bei der Reichsbrücke keine Gefahr. Der Einfluss der U-Bahn-Linie U1 ist in Vertikalrichtung um das fünf- bis sechsfache, in Querrichtung sogar um das 16fache höher als der Einfluss der Tausenden Marathonläufer. Die Diskrepanz zwischen gefühlter und tatsächlicher Bewegung der Brücke erklärten die Forscher damit, dass die von den Läufern verursachten Schwingungen im tieferen Frequenzbereich wirksam werden und dadurch deutlicher wahrnehmbar seien als jene der U-Bahn. Im Juni 2004 wurde die Reichsbrücke von einem deutschen Passagierschiff gerammt. Es gab dabei einen Schwerverletzten und mehrere Leichtverletzte. Die Brücke wurde dabei jedoch nicht ernsthaft beschädigt. Literatur Walter Jaksch (Hrsg.): Schicksal einer Brücke, die Reichsbrücke. Von der Planung bis zum Einsturz. Böhlau, Graz 1976, ISBN 3-205-07121-2. Alfred Karrer: Reichsbrückeneinsturz 1976. Ein Verkehrsstrom zwängt sich durch den Donaukanal. Martin Fuchs, Wien 2002, ISBN 3-9501581-3-8. Alfred Pauser: Brücken in Wien. Ein Führer durch die Baugeschichte. Springer, Wien u. a. 2005, ISBN 3-211-25255-X. Peter Payer: Die Reichsbrücke: Zur Geschichte eines Mythos (PDF; 457 kB). In: Walter Hufnagel (Hrsg.): Querungen. Brücken – Stadt – Wien. Sappl, Kufstein 2002, ISBN 3-902154-05-5, S. 111–122. Günter Ramberger, Francesco Aigner: Donaubrücken in Wien: Geschichte, Konstruktion, Besonderheiten. In: Robert Ofner u. a. (Hrsg.): Festschrift für Univ. Prof. Richard Greiner. Eigenverlag der Technischen Universität Graz, Graz 2001, , S. 161–199. () Friedrich Schneider: Die Reichsbrücke. Die schicksalhafte Geschichte eines 110-jährigen Donauüberganges. 1876–1986. Österreichischer Donaubrücken-Verein, Wien 1987, , . Weblinks Video der eingestürzten Reichsbrücke im Video-Album des Österreich-Lexikons von aeiou Der Einsturz der Reichsbrücke Permanente Zustandsüberwachung der Reichsbrücke auf reichsbruecke.net Einzelnachweise Brücke in Wien Brücke in Europa Donaubrücke Doppelstockbrücke Erbaut in den 1870er Jahren Erbaut in den 1930er Jahren Erbaut in den 1980er Jahren Kettenbrücke Balkenbrücke Donau bei Wien
247834
https://de.wikipedia.org/wiki/Feuersalamander
Feuersalamander
Der Feuersalamander (Salamandra salamandra) ist eine europäische Amphibienart aus der Familie der Echten Salamander. Die Spezies wurde erstmals 1758 von dem schwedischen Naturforscher Carl von Linné beschrieben. Je nach regionaler Mundart wird sie unter anderem auch als Feuermolch, Erdmolch, Erdsalamander, Regenmolch, Regenmännchen, Gelber Schneider, Bergnarr, Wegnarr, Regenmolli oder Tattermandl (bayerisch) bezeichnet. Diese volkstümlichen Namen unterscheiden allerdings nicht immer eindeutig zwischen Feuer- und Alpensalamander. Die Schwanzlurche leben in größeren Laub- und Mischwaldgebieten mit naturnahen Bachläufen. Sie sind überwiegend nachtaktiv. Anders als bei vielen anderen mitteleuropäischen Lurchen werden keine Eier, sondern in der Regel weit entwickelte, kiementragende Larven ins Wasser abgesetzt (Ovoviviparie). Die Hauptlaichzeit erstreckt sich witterungsbedingt von Anfang März bis in den Mai. In Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz sind erste Auswirkungen der eingeschleppten Salamanderpest (Bsal) erkennbar. Im Ruhrgebiet wurden bereits Massensterben beobachtet. Die tödliche Bsal-Infektion greift inzwischen auch auf andere Bundesländer über. Der Feuersalamander war Lurch des Jahres 2016. Aufgrund seiner Vorliebe für unterirdische Verstecke wurde er für das Jahr 2023 als Höhlentier des Jahres in Deutschland und der Schweiz ernannt. Verbreitung in Europa Der Feuersalamander ist über weite Teile Mittel- und Südeuropas verbreitet. Er hat das größte Verbreitungsgebiet unter den europäischen Landsalamandern. Die Nordgrenze seines Areals verläuft durch Nord- und Mitteldeutschland, dann südostwärts entlang der Karpaten bis in die Ukraine und Rumänien und südwärts über Bulgarien nach Griechenland, wobei die Verbreitung maßgeblich durch die Gebirge Südosteuropas bestimmt wird. In Südwesteuropa, insbesondere auf der Iberischen Halbinsel, stellen die großen Gebirgszüge die Lebensräume für mehrere Feuersalamanderunterarten. Die großen subkontinental geprägten Hochebenen, beispielsweise die Iberische Meseta, werden aus klimatischen Gründen nicht besiedelt. Nicht besiedelt sind auch Skandinavien, Großbritannien, Irland und Nordosteuropa. In Mitteleuropa unterscheidet man die Tiere je nach ihrem gelben Zeichnungsmuster auf dem Rücken als gebänderte Unterart (Salamandra salamandra terrestris) mit dem Hauptverbreitungsgebiet West- und Mitteleuropa sowie die Nominatform mit geflecktem Muster (Salamandra salamandra salamandra) mit dem Verbreitungsgebiet Mittel-/Osteuropa. In Deutschland gibt es Regionen, in denen sich die Areale dieser beiden Unterarten überschneiden, beispielsweise im Rhein-Main-Gebiet. Im Gesamtareal werden derzeit 14 Unterarten unterschieden, die meisten davon auf der Iberischen Halbinsel. Vier ehemalige Unterarten werden mittlerweile aufgrund genetischer Untersuchungsergebnisse als eigenständige Arten angesprochen: Nordafrikanischer Feuersalamander – Salamandra algira Bedriaga, 1883: Disjunkt zwischen Nord-Marokko bis Tunesien Korsischer Feuersalamander – Salamandra corsica (Savi, 1838): lebt endemisch auf Korsika in den Bergwäldern mittlerer Hochlagen Kleinasiatischer Feuersalamander – Salamandra infraimmaculata Martens, 1885: Türkei, Libanon, Nord-Israel und Iran Der Südspanische Feuersalamander (Salamandra salamandra longirostris Joger & Steinfartz, 1994) kommt von der Sierra de Ronda südöstlich bis Marbella vor. Er wurde im Jahr 2009 als eigene Art anerkannt, aber aufgrund molekulargenetischer Untersuchungen wieder zur Unterart zurückgestuft. Noch nicht alle Publikationen haben diese taxonomischen Änderungen berücksichtigt. Die Vorkommen vor allem am südlichen Arealrand müssen ferner sämtlich als Refugialhabitate angesehen werden, die wohl weitgehend voneinander isoliert sind. Verbreitung in Deutschland Der Feuersalamander ist in Deutschland vor allem in bewaldeten Landschaften beheimatet. Verbreitungsschwerpunkte sind die Mittelgebirge im westlichen, mittleren und südwestlichen Deutschland. Dazu kommen zusammenhängende Bereiche unter anderem im Erzgebirge sowie in Nord- und Ostbayern. Im nordwestdeutschen Tiefland gibt es mehrere isolierte Vorkommen, insbesondere auch im Gebiet der Lüneburger Heide und im Münsterland. Im nordostdeutschen Tiefland fehlt die Art, die Elbe wird in östlicher Richtung nicht überschritten. Auch im südwestlichen Bayern, südlich der Donau, gibt es die so genannte „Allgäu-Lücke“. Dieser Raum ist weitgehend unbesiedelt von Feuersalamandern. In Sachsen-Anhalt befindet sich der Verbreitungsschwerpunkt im Harz. Daneben existiert ein isoliertes Vorkommen im Süden, im Bereich des Zeitzer Forsts (FFH-Gebiet), das Anschluss an die Vorkommen in Thüringen hat. Im Saarland und in Rheinland-Pfalz ist die Art in fast allen Lebensräumen oberhalb 200 m gut verbreitet. Die Tieflagen (Nördliche Oberrheinebene, Rheinhessen) dagegen sind fundfrei. In Hessen sind die Mittelgebirge Odenwald, Spessart, Taunus und Westerwald fast flächendeckend besiedelt. Niedersachsen besitzt Verbreitungsschwerpunkte im Osnabrücker Hügelland sowie im Weser- und Leinebergland. Isolierte Fundpunkte liegen bei Delmenhorst, Vechta und südlich von Nordhorn. In Nordrhein-Westfalen finden sich Feuersalamander im Bergischen Land sowie in der Nordeifel. Im Ruhrgebiet (Bochum) dringen kleine Populationen sogar bis in den Siedlungsbereich (Parks und Hausgärten) vor. Baden-Württemberg ist innerhalb Deutschlands ein wichtiges Verbreitungszentrum. Hier sind Feuersalamander bis auf die Naturräume Oberrheinebene und Oberschwaben nahezu flächenhaft vorhanden. Im Bereich des Kleinen Odenwalds in Nordbaden überschneiden sich die Vorkommen von S. salamandra salamandra und S. salamandra terrestris. Im Freistaat Bayern liegen die meisten Vorkommen im Südosten. In den bayerischen Alpenregionen ist die Art selten; ebenso im Chiemgau. Im Bayerischen Wald, Oberpfälzer Wald, Frankenwald, in der Südrhön sowie im Spessart ist der Feuersalamander fast flächendeckend verbreitet (z. B. NSG Amphibienfreistätte Sommergrund im Landkreis Aschaffenburg). Die Höhenlage ist nicht unbedingt maßgeblich für die Verbreitung des Feuersalamanders in Mitteleuropa. Wichtig ist die Existenz alter, naturnaher Laubwälder, dem Lebensraum heimischer Feuersalamander. Diese liegen etwa zwischen 200 und 600 Metern über Normalhöhennull; darüber hinaus werden auch Höhen zwischen 650 Meter ü. NHN im Harz und 900 Meter ü. NHN im Südschwarzwald und in den Alpen erreicht. In Niedersachsen und in Nordrhein-Westfalen finden sich auch Vorkommen deutlich unter 100 Meter ü. NHN, wie beispielsweise in der Umgebung von Münster und im Nordwesten des Kreises Warendorf (beide etwa 60 m ü. NHN), im Hasbruch bei Oldenburg (25 Meter ü. NHN). Manche Vorkommen des Feuersalamanders sind wohl immer noch unbekannt. Durch ihre versteckte Lebensweise sowie durch ihre nächtliche Aktivität, können diese Lurche trotz ihrer auffälligen Färbung jahrzehntelang einen Lebensraum besiedeln, ohne dass der Mensch sie bemerkt. Lebensraum Unter den einheimischen Amphibien ist der Feuersalamander die Art mit der engsten Bindung an den Lebensraum Wald (silvicol). Bevorzugt werden heterogen strukturierte, grundwassernahe Laub- und Mischwälder. Reine Nadelwaldbestände dagegen werden gemieden; allenfalls noch akzeptiert werden lückenhafte Bereiche von Fichtenwäldern mit aufkommender Moos- und Krautvegetation. Wo der Wald verschwunden ist, kann der Feuersalamander sich als Faunenrelikt für längere Zeit noch halten, wenn die klimatischen Bedingungen günstig sind. Habitate Feuersalamander sind als erwachsene Tiere weitgehend unabhängig von Oberflächengewässern und führen ein verborgenes Dasein in Nischen von Höhlen, unter Totholz und Baumstümpfen, zwischen Felsen und Blockhalden sowie im Lückensystem des Bodens, zum Beispiel in Kleinsäugergängen. Bei den Weibchen spielt die Nähe zu einem Laichgewässer bei der Wahl des Habitats neben dem Vorhandensein von Tagesverstecken eine wichtige Rolle. Auch Bauwerke wie Brunnenstuben, Stolleneingänge und stillgelegte, verschlossene Eisenbahntunnel bieten guten Unterschlupf. Die stäbchenreiche Netzhaut der Feuersalamanderaugen ist für die visuelle Orientierung in lichtarmen Habitaten wie stillgelegte Bergwerke besonders hilfreich. In Regionen mit weichen bzw. lockeren Böden graben sich die Lurche auch selbst eigene kleine Gänge mit einer Tiefe bis zu 16 cm, in die sie sich zurückziehen. Da adulte Feuersalamander sehr ortstreu sein können, behalten sie ihre Rückzugsgebiete und Laichplätze über lange Zeiträume bei. Eine besondere Vorliebe besitzen Feuersalamander für in Waldnähe gelegene, schattenreiche Friedhofsanlagen mit Altbaumbestand; sie bieten den Tieren bei günstiger Konstellation nahezu ideale Lebensmöglichkeiten: eine räumliche Verzahnung mit dem nahen Wald Strukturvielfalt durch Grabhügel, Grabsteine, Saumbiotope aus Hecken und Gebüschen, alte Laubbäume mit Efeubewuchs im Traufbereich hohe Bodenfeuchtigkeit durch bewässerte Gräber Bodennahe Brunnen zum Wasserzapfen bzw. -schöpfen sowie gefasste Quellbecken in Bodennähe Keine Störungen durch Menschen während der nächtlichen Aktivitätsphase Der Strukturwandel im Bestattungswesen (vermehrte Feuerbestattung) ändert inzwischen die allg. Beerdigungskultur auf öffentlichen Friedhöfen. Von daher werden die genannten landschaftstypischen Aspekte mittelfristig verschwinden. Aktivität In Abhängigkeit zur geografischen Lage sind unterschiedliche Jahresaktivitäten zu beobachten. Im atlantisch geprägten Teil des westlichen Europas können die Salamander ganzjährig aktiv sein. Faktoren für einsetzende Aktivität sind Temperatur und relative Luftfeuchte sowie die eingestrahlte Tageslichtmenge. Bei starken Regenfällen, besonders nach längerer Trockenheit, verlassen Feuersalamander ihre Verstecke sogar tagsüber. Normalerweise liegt das Aktivitätsmaximum in der Nacht. Nach der Aktivitätsphase kehren die Tiere in der Morgendämmerung zum Tagesversteck zurück. Bei ihren nächtlichen Streifzügen können sie im Schnitt Strecken bis zu 350 m zurücklegen. Die weiteste Entfernung wurde von Reiner Klewen (1985) ermittelt. Sie lag bei 980 m. In den überdurchschnittlich heißen, trockenen Sommermonaten der Jahre 2019/20 verlagerte sich die Aktivität der heimischen Feuersalamander auf die Herbst- bzw. Wintermonate (Oktober/November). Generell gelten in Europa Temperaturen um den Gefrierpunkt als begrenzender Aktivitäts-Parameter. Dennoch gibt es in kalten Wintermonaten hin und wieder Beobachtungen von einzelnen Exemplaren, auch auf Schneefeldern. Oft handelt es sich um Weibchen. Normalerweise beginnt die Hauptaktivität der Weibchen mit der Laichzeit im März. Ab Mai finden sich dann überwiegend Männchen im Gelände. Offensichtlich spielen auch die Windverhältnisse eine wichtige Rolle. So verharren die Schwanzlurche bei starkem Wind in ihren Verstecken, trotz ansonsten optimaler äußerer Bedingungen. Begleitfauna Ausgewachsene Feuersalamander sind aufgrund ihrer Lebensraumansprüche mit vergleichsweise wenigen anderen Amphibien vergesellschaftet. Den Salamandermännchen schreibt man sogar einen gewissen Hang zu innerartlich territorialer Lebensweise zu, was aber noch nicht eindeutig belegt ist. Nachgewiesen sind Rangeleien und „Ringkämpfe“ von männlichen Exemplaren untereinander, vor allem während der Paarungszeit. In den Salamanderbiotopen findet man manchmal den Grasfrosch, die Erdkröte und den Bergmolch als Begleitarten. In seltenen Fällen treten dabei Fehlpaarungen zwischen männlichen Froschlurchen und Feuersalamanderweibchen auf. Je nach Region finden sich im Laichgewässer weitere Arten, wie zum Beispiel die Geburtshelferkröte im Südschwarzwald sowie der Fadenmolch. Vergesellschaftet mit Feuersalamanderlarven finden sich in Quellnähe häufig die Strudelwürmer Crenobia alpina und Polycelis felina sowie die Quellschnecke Bythinella dunkeri. In tiefer gelegenen Bachabschnitten finden sich syntop Bachflohkrebse wie Gammarus fossarum, Hakenkäfer (Elmis rietscheli), die Libellenlarve Cordulegaster boltonii, die Köcherfliegenlarven Plectrocnemia geniculata und Silo nigrocornis, die Steinfliegenlarve Leuctra prima sowie die Fischarten Bachforelle, Groppe, Bachsaibling und gelegentlich auch das Bachneunauge. In seltenen Fällen kann die Wasserspitzmaus als Begleitart auftreten. Sie fängt und frisst auch Salamanderlarven. Merkmale Körpergröße, Körperfärbung Ausgewachsene mitteleuropäische Feuersalamander können eine maximale Körperlänge von Kopf bis Schwanzspitze von 21 Zentimetern und ein Körpergewicht bis zu 71 Gramm erreichen. Bei einigen außereuropäischen Feuersalamanderarten existieren noch deutlich größere Exemplare. So erreicht beispielsweise der im Nahen Osten heimische Kleinasiatische Feuersalamander (Salamandra infraimmaculata) eine Gesamtlänge von bis zu 30 cm. Einen umfassenden Überblick zu dieser Art gibt Degani (1996). Untersuchungen im Rahmen einer Kartierung in den Wäldern um Heidelberg zeigten, dass dort Gesamtlängen von über 20 Zentimetern nur von der gebänderten Unterart Salamandra salamandra ssp. terrestris erreicht werden. Der Gefleckte Feuersalamander Salamandra salamandra salamandra wird vergleichsweise nur 16 bis max. 20 cm lang. Auch moderne molekulargenetische Untersuchungen (DNA-Barcoding) belegen zwischen beiden Arten Unterschiede. Die glatte, tiefschwarze Haut des Feuersalamanders wird auf dem Rücken durch ein gelbes, gelegentlich auch orangefarbenes bis rotes Zeichnungsmuster aus Punkten und/oder Linien unterbrochen. An der Variabilität dieses Musters kann man adulte Exemplare individuell unterscheiden. In diesem Zusammenhang hat sich die fotografische Dokumentation des rückseitigen Zeichnungsmusters als zuverlässige, individuelle Identifikationsmethode bewährt. Die computergestützte, fotografische Erfassung (Photographic-Mark-Recapture – PMR) ist für die Tiere schonend und damit ethisch vertretbar. Die funktioniert neuerdings auch bei den Feuersalamanderlarven. Für ein erfolgreiches Monitoring ist es notwendig, die zu beobachtenden Populationen zwei- bis dreimal jährlich aufzusuchen. Geplant sind PMR-Studien, die anhand des Feuersalamanders und der Gelbbauchunke an der Universität Bielefeld und der TiHo Hannover mit Unterstützung durch den NABU Niedersachsen durchgeführt werden sollen. Die hohe Variationsbreite der Rückenzeichnung erschwert zugleich die Zuordnung von Individuen zu einer der beiden mitteleuropäischen Unterarten, insbesondere in Mischpopulationen. Die Existenz von zwei oder mehr unterschiedlich gefärbten Phänotypen einer sich kreuzenden Population wird als Farbpolymorphismus bezeichnet. Bei der gebänderten Unterart kommt hinzu, dass sich die individuelle Zeichnung in den ersten anderthalb bis zwei Lebensjahren noch deutlich verändert. In Ausnahmefällen findet man Feuersalamander sogar ohne gelbe Musterung, also als schwarz gefärbte Tiere. Hin und wieder werden auch albinotische Salamander, also Weißlinge oder Gelblinge, beschrieben. Bei den Larven gelten gelbliche beziehungsweise helle Flecken an den oberen Extremitäten als gutes Erkennungsmerkmal in Abgrenzung zu syntop vorkommenden Bergmolchlarven. Wie bei anderen Amphibienarten können auch bei Feuersalamandern Umgebungsfaktoren die Intensität der Körperfärbung beeinflussen. Auf gelblichen Böden, zum Beispiel in Löß- und Keupergebieten, erscheinen Salamander oft insgesamt heller, das Gelb intensiver. Den intensiv gelb gefärbten Exemplaren wird eine angeblich höhere Giftigkeit nachgesagt. In montanen Lebensräumen erreicht die Schwarzfärbung ihre höchste Intensität. Dies wird als Anpassung zur besseren Aufnahme von Sonnenenergie interpretiert. Unter dem Einfluss von Trockenheit und Wärme stumpfen die Körperfarben ab, bei längerer Einwirkung beider Faktoren erscheint die gesamte Hautoberfläche spröde und faltig. Diese äußerlichen Veränderungen spiegeln zugleich ein „Unwohlsein“ des Tieres wider, da die gesamte Hautoberfläche bei erwachsenen Salamandern atmungsaktive Aufgaben erfüllt, was nur in feuchter Umgebung optimal möglich ist. Ebenso wesentlich für den Gasaustausch ist die Atmung über die Mundhöhle. Durch Heben und Senken des Mundbodens können Salamander ein- bzw. ausatmen, bei gleichzeitig koordiniertem Schließen bzw. Öffnen der Nasenlöcher. Die auffällige Körperfarbe des Feuersalamanders erfüllt noch eine weitere wichtige Funktion, sie dient als Warnhinweis auf die Giftigkeit. Beispiele für Warnfarben finden sich auch bei anderen Amphibienarten, vgl. Pfeilgiftfrösche, Gelbbauchunke. Mittels der Warntracht erfährt der potentielle Beutegreifer ein eindeutiges visuelles Signal, sich von dem Beutetier fernzuhalten. Das „Vomeronasalorgan“ Feuersalamander verfügen neben der Nase über ein weiteres Geruchsorgan, das Vomeronasalorgan. Es handelt sich dabei um eine länglich blind endende Einstülpung auf der Außenseite der Nasengänge, deren Epithel Geruchszellen enthält, die den nasalen Geruchsnerven angeschlossen sind. Es wird vermutet, dass das Organon vomeronasale die Zusammenführung der Sexualpartner unterstützt sowie dem Lurch bei der Orientierung im Gelände hilft. Möglicherweise steht die erstaunliche Ortstreue beim Auffinden der Laichplätze sowie der Sommer- und Winterquartiere damit in engem Zusammenhang. Ohrdrüsen (Parotiden) Charakteristisch sind die paarig ausgebildeten, auffälligen Ohrdrüsen (Parotiden), die zum Beispiel den Wassermolchen fehlen, aber auch beim nah verwandten Alpensalamander sowie bei den Echten Kröten zu finden sind. Von den Parotiden ausgehend erstreckt sich auf beiden Seiten der Rückenmitte jeweils eine Drüsenreihe, die bis zum Schwanz reicht. Zur Abwehr von Feinden können die Ohrdrüsen sowie die am Rücken lokalisierten Drüsenreihen ein weißliches, giftiges Sekret absondern. Unter starkem Stress stehende Tiere sind sogar in der Lage, das Gift in dünnen Strahlen bis über einen Meter weit auszustoßen. Erste Hinweise, dass Feuersalamander Gift absondern, wurden bereits im 17. Jh. schriftlich belegt. Nach neueren Erkenntnissen, sind auch die am Rücken verlaufenden Hautdrüsen nach mechanischem Reiz in der Lage Gift zu versprühen. Die Reaktionen zeigen sich selbst noch bei der Präparation frisch toter Exemplare. Die Fähigkeit des willkürlichen und offensichtlich auch unwillkürlichen Verspritzens von giftigen Flüssigkeiten, hat in vergangener Zeit die menschliche Phantasie dazu bewegt, im Feuersalamander ein dämonisches, mit übernatürlichen Fähigkeiten ausgestattetes Wesen zu erkennen → (Kap. Historisches). Hautsekrete Die in den Hautdrüsen des Feuersalamanders erzeugten Sekrete enthalten verschiedene organische Verbindungen. Dazu zählen Alkaloide, Steroide und biogene Amine. Zu den auch als Salamander-Alkaloide bezeichneten Substanzen gehören untern anderen Samandarin (C19H31NO2), Samandaridin (C21H31NO3), Samandaron (C19H29NO2). Alle Salamander-Alkaloide besitzen eine Steroid-ähnliche Struktur und leiten sich vom 3-Aza-A-homo-5β-androstan ab. Einige dieser Alkaloide enthalten ein Oxazolidin als Struktureinheit, wie z. B. Samandaridin, andere ein Carbinolamin, wie es im Cycloneosamandinon der Fall ist. Die letale Dosis (LD50) der isolierten Salamander-Alkaloide liegt bei 1,2–1,5 mg/kg. Weiterhin befinden sich Cholesterin und davon abgeleitete Steroide, sowie die biogenen Amine Tryptamin und Serotonin im Gift des Feuersalamanders. Meist verursachen die Sekrete beim Menschen ein leichtes Brennen auf der Haut. Bei empfindlichen Personen und Kleinkindern können sie auch zu Übelkeit, Atembeschwerden und Erbrechen führen. Hin und wieder wird in der Tagespresse von Vergiftungserscheinungen durch Feuersalamander berichtet. Insbesondere junge Hunde und unerfahrene Katzen, die den Lurch meist als Spiel- oder Beuteobjekt betrachten, werden dabei in „Mitleidenschaft“ gezogen. Die Folgen sind Maulsperre, Genickstarre oder starker Speichelfluss, in Einzelfällen auch der Tod. Neben der Abwehr von Fressfeinden dient das Hautdrüsensekret in erster Linie der Hemmung des Bakterien- und Pilz­wachstums auf der feuchten Hautoberfläche. Gegen die neuerdings aus Asien eingeschleppte Pilzerkrankung Batrachochytrium salamandrivorans (Bsal) sind die Hautsekrete allerdings ohne Wirkung. Häutung Feuersalamander müssen sich in gewissen Abständen häuten, insbesondere die heranwachsenden Exemplare. Da während des Häutungsprozesses die Abwehr mittels der Hautgifte stark eingeschränkt ist, vollziehen die Tiere diesen Vorgang überwiegend an versteckten Plätzen. Die Häutung wird eingeleitet, indem der Kopf oder die Schnauzenspitze an Holz, Steinen oder sonstigem Substrat gerieben wird. Nachdem der Kopf von der alten Haut befreit ist, schiebt sie sich über dem Hals zusammen. Wenn dieser Hautwulst den Hals zu eng umschließt, kann es im Extremfall zum Ersticken kommen, insbesondere bei jüngeren Exemplaren. Mittels schlängelnder und ruckartiger Bewegungen versucht der Lurch den Hautwulst vom Hals über die Brust bis zum Schultergürtel herabzuziehen, um dann anschließend mit den Vorderbeinen aus der restlichen Hauthülle auszusteigen. Ist dies gelungen, hat der Salamander die schwierigste Phase der Häutung hinter sich. Der Ausstieg aus dem verbliebenen Rest gleicht dem Abstreifen eines Strumpfes, wobei Unebenheiten des Untergrundes unterstützende Dienste leisten können. Vielfach wird die alte Haut abschließend gefressen. Die frische Haut ist nach dem Häutungsvorgang noch feucht, weich und etwas empfindlich; nicht selten verharren die Salamander darum einige Zeit mit ausgestreckten Armen und Beinen. Nach vollzogener Häutung sind die farblichen Kontraste der schwarz-gelben Körperoberfläche am intensivsten. Vermehrte Häutungen sind wohl ein Abwehrverhalten zur Verringerung der Pilz- und Parasitenlast. Gegen den o. g. Hautpilz (Bsal) bewirken sie offensichtlich wenig. Feuersalamanderlarven häuten sich nicht. Ihre Epidermis ist wesentlich einfacher strukturiert als die der erwachsenen Tiere. Lautäußerungen Feuersalamander haben keine Schallblasen wie die Froschlurche. Trotzdem sind sie zu Lautäußerungen fähig; allerdings ist die Deutung von Lauten wie „Quietschen“, „Fiepen“ und „Piepsen“ oder „hellem Knurren“ umstritten. Manche Fachleute gehen davon aus, dass bioakustische Phänomene beim Feuersalamander mehr zufälliger Natur sind und durch mechanisches Auspressen von Luft bei Erschrecken entstehen. In diesem Fall würde dies keine wirkliche Kommunikation darstellen. Dafür spricht auch die Tatsache, dass Schwanzlurche weder ein Mittelohr noch ein Trommelfell besitzen. Dennoch gibt es einige zuverlässige Autoren die von Lautäußerungen berichten. Die älteste, belegte Mitteilung geht auf den Nürnberger Arzt Joh. Paul Wurfbain aus dem Jahr 1683 zurück. In jüngerer Zeit hat G. Menges eine Reihe von Literaturstellen über Lautäußerungen des Feuersalamanders zusammengestellt. Demnach sind die Laute meist leise und werden in Situationen abgegeben, in denen sich die Lurche besonders wohl fühlen oder aber bedroht bzw. erschreckt werden. Äußerungen des Wohlbefindens werden durch sehr leises Trillern und Piepsen ausgedrückt. Reaktionen des Erschreckens und der Abwehr äußern sich je nach Situation in Quietschlauten. Auch beim Aufnehmen der Tiere kann es zu Lautäußerungen kommen. Von den Riesen-Querzahnmolchen (Dicamptodon) z. B. ist bekannt, dass sie in Gefahrenmomenten ein „bellendes“ Geräusch erzeugen können. Optischer Sinn Dass sich erwachsene Feuersalamander sehr gut visuell orientieren können, ist durch die erstaunliche Standorttreue der Tiere sowie das gezielte Wiederauffinden der verschiedenen Quartiere (Winterquartier, Laichplatz, Nahrungshabitate) belegt. Da sich der Salamander überwiegend in der Dämmerung und in der Nacht mithilfe seiner Augen orientieren muss, erhob sich die Frage, unter welchen Lichtstärken ein Feuersalamander seine Umwelt noch wahrnehmen kann. Man ist dieser Frage mit Hilfe eines Infrarot-Sichtgeräts nachgegangen und hat ermittelt, dass S. salamandra noch bei 10−4 Lux Beutetiere erkennen kann und sie erfolgreich fängt. Die Augen des Menschen erkennen bei dieser geringen Lichtintensität schon nichts mehr. Im Normalfall verlassen die Tiere bei weniger als 10 Lux ihre Tagesverstecke, um sie dann in der Morgendämmerung wieder aufzusuchen. Lebensweise Lebenserwartung In Gefangenschaft kann der Feuersalamander ein hohes Lebensalter erreichen. So wird von einem Feuersalamander berichtet, der im Museum Koenig (Bonn) von 1863 bis 1913 in einem Terrarium gepflegt wurde und ein Alter von mehr als 50 Jahren erreichte – das Tier war zum Zeitpunkt des Fanges bereits erwachsen. Die Lebenserwartung in freier Wildbahn beträgt nachweislich über 20 Jahre. Fortpflanzung und Entwicklung Geschlechtsreife und Geschlechtsmerkmale Feuersalamander erlangen die Geschlechtsreife mit zwei bis vier Jahren. Die Geschlechter sind außerhalb der Paarungszeit, zum Beispiel im Winterquartier, nur schwer oder nicht unterscheidbar. Im Sommer ist beim männlichen Tier aber die Kloake halbkugelig aufgewölbt und in der Körperlängsrichtung verläuft ein deutlich sichtbarer Spalt. Die Kloakenregion der Weibchen bleibt auch in der Fortpflanzungsphase flach. Paarung Die Paarung des Feuersalamanders unterscheidet sich von der in Mitteleuropa heimischen Amphibien und stellt einen Sonderfall dar. Während die meisten Lurche im Frühjahr für einen gewissen Zeitraum Teiche und Tümpel aufsuchen, um sich dort zu paaren und Eier abzulegen, paaren sich Feuersalamander ausschließlich an Land. Die Paarungszeit erstreckt sich von etwa April bis September mit einem klaren Schwerpunkt im Juli. Die Geschlechter finden wahrscheinlich über Geruchs- und Berührungsreize zueinander. Zur Paarung schiebt sich das männliche Tier unter das Weibchen und umgreift mit den Vorderbeinen diejenigen der Partnerin. Das Weibchen nimmt dazu ein vom Männchen auf dem Untergrund abgesetztes Samenpaket mit seiner Kloake auf. Nach einer erfolgreich verlaufenden Paarung ist das Weibchen in der Lage, die Samenflüssigkeit des Männchens mehrere Jahre im Körper aufzubewahren. Infolge dieser Strategie ist es den Tieren möglich, über längere Zeiträume auch ohne Sexualpartner alljährlich für Nachwuchs zu sorgen. Vorgeburtliche Entwicklung der Larven Nach der Paarung trägt das weibliche Tier etwa acht bis neun Monate die Embryonen aus (sog. intrauterine Entwicklung). Während dieser Entwicklungsphase liegen die noch von den Eihüllen umgebenen Larven in einer Flüssigkeit, die beträchtliche Mengen an Harnstoff enthält. Man nimmt an, dass die jeweilig vorherrschende Harnstoffkonzentration im Muttertier maßgeblich die Entwicklungsgeschwindigkeit der Larven mitbestimmt. Bei Feuersalamander-Populationen, die in höheren Lagen leben, soll es nur alle zwei Jahre neugeborene Larven geben. Auch dies wäre eine Parallele zur Fortpflanzung des Alpensalamanders. Geburt und weitere Entwicklung der Larven Für den Geburtsakt suchen weibliche Exemplare im Frühjahr passende Gewässer in ihrem näheren Umfeld auf. Dafür legen sie Strecken bis zu 375 Meter zurück. Vor allem in Mittelgebirgslagen wandern die trächtigen Tiere zu Fließgewässern, um die Larven bevorzugt in fischfreien Quellbereichen oder Bachoberläufen abzusetzen. Unter den einheimischen Amphibien ist der Feuersalamander die einzige Art, die fließende Gewässer als Vermehrungsplatz akzeptiert. Im Flachland dagegen werden überwiegend Stillgewässer genutzt. Dort können bei günstigen Bedingungen die Larven auch vor Beginn des Winters abgesetzt werden. Sie haben dann einen deutlichen Entwicklungsvorsprung gegenüber den Larven, die erst im Frühjahr geboren werden. Larven, die den Winter im Gewässer überstehen, können so bereits im Frühsommer an Land gehen. Zur Geburt der Larven bewegt das Weibchen seinen Hinterleib ins Wasser, um den Nachwuchs an geeigneten Stellen im Uferbereich abzusetzen; dies geschieht überwiegend nachts. Je nach Alter, Körpergröße und Ernährungszustand des Weibchens werden innerhalb mehrerer Tage schubweise durchschnittlich 30 Larven geboren, von wenigen bis zu 70. Die Eihüllen platzen im Moment der Geburt auf. Der Feuersalamander laicht also nicht, sondern ist lebendgebärend; man spricht hier von Ovoviviparie oder auch Larviparie. Die zunächst 25 bis 35 Millimeter kleinen Larven des Feuersalamanders sind anfangs unscheinbar bräunlich gefärbt. Sie haben äußere Kiemenbüschel und von Anfang an vier Beine. Erkennungsmerkmale der Larven sind: Der Kopf ist merklich breiter als der Rumpf und an allen vier Oberschenkeln befindet sich ein heller gelblicher Fleck. Mit zunehmendem Wachstum werden diese dunkler, während die spätere Fleckung allmählich immer deutlicher wird. Die Morphologie eines Gewässers hat einen großen Einfluss auf die Entwicklung der Salamanderlarven. In den Verbreitungsgebieten Mitteleuropas findet man sie meist in kleinen Bachoberläufen, vorzugsweise an Stellen mit geringer Fließgeschwindigkeit, in Quelltümpeln und Gumpen sowie dort, wo sich größere Bäche im Schatten stauen. Recht beliebt sind auch gefasste Quelltöpfe und beschattete Quellhorizonte. Den meisten Reproduktionsgewässern gemeinsam ist kühles, nährstoffarmes, sauerstoffreiches Quellwasser von 8 °C bis 10 °C mit kühl-feuchtem, schattigem und windstillem Mikroklima, das in der Regel aus Grundwasser oder Hangdruckwasser stammt. Bei höheren Fließgeschwindigkeiten findet man die Larven in Auskolkungen und lenitischen (langsamfließenden) Buchten. Gute Bedingungen bieten die so genannten Siepen (V-Tälchen). Weil der aquatische Lebensraum in der Regel recht kühl ist, benötigen die Larven für ihre Entwicklung recht lange. So vollzieht sich die Metamorphose vom kiemenatmenden Wasserbewohner zum lungenatmenden Landtier bei einer mittleren Temperatur um die 10 °C, meist erst nach drei bis fünf Monaten – der Maximalwert steht dabei vor allem für kalte Gewässer in Gebirgslagen. Als besonders wichtig hat sich die Nahrungsaufnahme nach der Geburt herausgestellt. Zur Nahrung gehören Larven von Wasserinsekten, Flohkrebse und Wasserasseln; wie bei den Adulten gilt: Was überwältigt werden kann, wird aufgenommen. In Gewässern mit geringem Nahrungsangebot ist sogar Kannibalismus zu beobachten. Feinde der Larven sind Fische, insbesondere Forellen (Salmo trutta fario, Oncorhynchus mykiss) und Groppen sowie größere Libellenlarven (z. B. Gestreifte Quelljungfer) und Rückenschwimmer (Notonecta glauca). Bei sehr günstigen Bedingungen, z. B. bei wärmeren Wasser (um 15 °C) und optimalem Futterangebot, kann die Metamorphose bereits nach zwei Monaten abgeschlossen sein. In diesem Stadium sind die Tiere etwa 50 bis 70 Millimeter lang. Größere Larven sind grundsätzlich in der Lage temporär geringere Sauerstoffwerte durch Luftschnappen an der Wasseroberfläche zu kompensieren. Meist verharren die Tiere dann an der Wasseroberfläche um Energie zu sparen. Salamanderlarven, die im Jahresverlauf erst spät abgesetzt wurden (Juli/August) und nicht mehr ihre Entwicklung im gleichen Jahr beenden können, sind bei günstigen Lebensbedingungen in der Lage, im Larvalgewässer auch zu überwintern. Eine umfassende Übersicht zur Ökologie der Larven des Europäischen Feuersalamanders beschreiben die Autoren M. Veith, Lisa Geimer, N. Wagner & B. Thiesmeier (2022). Viviparie und Neotenie bei Feuersalamandern Einige Populationen von Feuersalamandern in Südeuropa können zum Teil fertig entwickelte Jungsalamander gebären (Viviparie), die sofort terrestrisch leben, während in sehr seltenen Fällen auch Neotenie vorkommt und die Tiere ihr Leben lang im Larvenstadium verweilen. 1928 hatte der Herpetologe Willy Wolterstorff von „vollmolchgebärenden“, also von Geburt an sofort lungenatmenden Feuersalamandern aus Oviedo in Nordwestspanien berichtet, die er damals als Unterart Salamandra maculosa taeniata forma bernardezi beschrieb. In den 1970er Jahren wurde der „Oviedo-Feuersalamander“ (Salamandra salamandra bernardezi) bestätigt, der dank seiner obligatorisch vollständigen Jungtiere völlig entkoppelt von Gewässern vor allem inmitten einer Stadtlandschaft lebt. Es liegt nahe, die Evolution zum „Lebendgebären“ sowohl beim Alpen- als auch beim Feuersalamander als Anpassung an geänderte, extreme Lebensbedingungen zu deuten. Die Viviparie beim Feuersalamander in Spanien kann als Anpassung an trockenwarmes (xerothermes) Klima und die damit verbundene Gewässerknappheit interpretiert werden. Überwinterung Die Winterquartiere werden erst mit Beginn bodenfrostkalter Nächte, also Ende Oktober/Anfang November aufgesucht. Die Überwinterung erfolgt überwiegend unterirdisch, vorzugsweise in wasserführenden Fels- und Bodenspalten, unter Baumstümpfen, in Brunnenstuben, in Bergwerksstollen sowie in Höhlen. Je nach Beschaffenheit der Höhle können die Lurche über 100 m in die Systeme vordringen. So wurden in alten Bergwerkstollen stellenweise bis zu 190 Exemplare während der Wintermonate nachgewiesen. Für einen längeren Aufenthalt zum Beispiel in quellwassergespeisten Höhlen müssen sich die Salamander jederzeit auf wechselnde Wasserstände einstellen, insbesondere nach Starkregen oder bei Schneeschmelze. So berichtet der Höhlenforscher F. Krauß von verblüffenden Überlebensstrategien des Feuersalamanders in den Karsthöhlen der Schwäbischen Alb: Aufgrund seiner Vorliebe für unterirdische Verstecke wurde der Feuersalamander für das Jahr 2023 als Höhlentier des Jahres in Deutschland und der Schweiz ernannt. Gelegentlich sind Feuersalamander an wärmeren und windstillen Tagen auch während der Wintermonate anzutreffen. Es wird berichtet, dass sie sogar in der Lage sind, über kurze Zeiträume leichten Frost, Temperaturen bis −5 °C, unversehrt zu überstehen. Geschlossene Schneedecken verhindern allerdings jegliche Aktivität. Mit einsetzender Schneeschmelze werden die Salamander wieder aktiv. So können die Laichwanderungen der Weibchen bereits Mitte Februar beginnen. Als zusätzliche Faktoren spielen Tageslichtlänge, Luftbewegung und Luftfeuchte eine wichtige Rolle. Optimale Bedingungen herrschen bei etwa +10 °C, begleitet von einer hohen Luftfeuchtigkeit von 75 bis 90 Prozent und Windstille, dem sogenannten „Salamanderwetter“. Ernährung Erwachsene Salamander ernähren sich weitgehend von wirbellosen Organismen wie Asseln, zum Beispiel Porcellio scaber, kleinen weichen Käfern sowie kleinen bis mittelgroßen Exemplaren der Wald-Wegschnecke (Arion sylvaticus), Braunen Wegschnecke (Arion subfuscus) sowie Roten Wegschnecke (Arion rufus). Die zweite der drei genannten Nacktschnecken-Arten sitzt häufig an Pilzen und wird dort vom Feuersalamander „abgeweidet“. Daneben sind insbesondere Regenwürmer (Lumbricidae) als Beute sehr beliebt, aber auch Spinnen und Insekten sind begehrte Nahrungsquellen; sie werden vielfach in „Chamäleon-Manier“ beschlichen und dann je nach Größe entweder mit der Zunge oder mit einem Sprung und anschließendem Zupacken der Kiefer gefangen. Generell verzehren Feuersalamander alles, was von der Körpergröße noch überwältigt und verschlungen werden kann, also unter Umständen auch andere Amphibien wie Molche oder kleine Frösche. Wenn sich die ansonsten sehr langsamen Tiere einmal dafür „entschieden haben“, Beute zu machen, können sie plötzlich sehr agil werden. Kleine Zähne im Ober- und Unterkiefer sowie am Gaumen dienen zum Festhalten und zum Transport der Beute in den Schlund. Stark pendelnde Körperbewegungen unterstützen den Schlingvorgang, insbesondere nach der Überwältigung größerer Beuteorganismen. Jungtiere verzehren im Schnitt kleinere Beuteorganismen wie Springschwänze (Collembola), Enchyträen, Larven von Pilzmücken und Nymphen von Waldschaben. Das Körpergewicht der Schwanzlurche kann beträchtlich schwanken, zum einen, weil Feuersalamander zuweilen übermäßig viele und große Beutetiere fressen, zum anderen, weil die adulten Weibchen im Frühjahr durch die Embryonen in ihrem Bauch stark an Masse zulegen. Ein gut genährter Feuersalamander von 19 Zentimetern Länge kann durchaus ein Gewicht von 55 Gramm oder mehr erreichen, große trächtige Weibchen sogar noch deutlich mehr. Die Nahrung der Salamanderlarven besteht überwiegend aus larvalen Stadien von Wasserinsekten wie Steinfliegen, Eintagsfliegen (hier: Ephemera danica), Zuckmücken (speziell Prodiamesa olivacea), Kriebelmücken (Simuliidae), Köcherfliegen (Trichoptera; hier vorwiegend köcherlose, also freilebende Formen wie etwa Rhyacophila dorsalis) sowie aus Bachflohkrebsen (speziell Gammarus fossarum). Es gilt aber für die Larve das gleiche wie für erwachsene Tiere: Was überwältigt werden kann, wird aufgenommen; so schreckt die Larve auch vor Kaulquappen nicht zurück. Salamanderlarven, die im unmittelbaren Bereich von Höhlengewässern aufwachsen, ernähren sich überwiegend von Höhlenflohkrebsen (Niphargus puteanus), Höhlenasseln (Asellus cavaticus) sowie vom Höhlenhüpferling (Graeteriella unisetigera). Bei extrem geringem Nahrungsangebot und hoher Larvendichte kann unter Salamanderlarven Kannibalismus auftreten. Beginnende Anzeichen sind abgebissene Gliedmaßen und zerfetzte Kiemenbüschel. Der Kannibalismus kann ebenso durch allzu große Altersunterschiede unter den abgesetzten Larven (Frühlarven/Spätlarven) innerhalb eines gemeinsamen Laichgewässers ausgelöst werden. Mit zunehmender Körpergröße steigern sich die Beißereien, bis letztendlich ein schwächerer oder bereits stark verletzter Artgenosse vom Stärkeren gefressen wird. Beim Eintritt in die Metamorphose wird die Nahrungsaufnahme für mehrere Tage bis zur vollständigen Umwandlung unterbrochen. Fressfeinde Der beste Schutz des Feuersalamanders gegen potentielle Fressfeinde (Prädatoren) sind sein Aposematismus (auffällige Warntracht) im Zusammenspiel mit seinem toxischen Hautdrüsensekret, das je nach Heftigkeit des Angriffs oder der lebensbedrohenden Situation stufenweise zum Einsatz kommen können. Erwachsene Salamander nehmen bei Gefahr zunächst eine typische Abwehrhaltung ein, indem sie der Gefahrenquelle die giftreichen Ohrdrüsen entgegenhalten. Lässt der Angreifer von seinen feindlichen Absichten nicht ab, sondert der Salamander weißlich gefärbte, schaumartige Drüsensekrete in sehr kurzer Zeit über die Ohrdrüsen und über die dorsal gelegenen Drüsenporen ab. Die heftigste Form der Abwehr ist das aktive Spritzen des Drüsensekrets. Es wurde beobachtet, dass ausgewachsene Feuersalamander in der Lage sind, ihr Hautsekret bis zu einem Meter weit auszustoßen. In der Literatur finden sich keine Hinweise, dass erwachsene Salamander gezielt von Beutegreifern gesucht und verzehrt werden. Bislang wurden lediglich Angriffe von Ratten, Hühnern, Enten, Hunden, Katzen und manchmal auch Schlangen (z. B. Ringelnatter) beschrieben, die aber alle recht schnell von einem Angriff auf den Feuersalamander Abstand nahmen. Man kann deshalb generell sagen, dass erwachsene Feuersalamander keine natürlichen Feinde haben. Anders ist die Situation bei den Larven und den juvenilen Exemplaren. So sind Angriffe waldbewohnender Laufkäferarten, z. B. der Goldleiste (Carabus violaceus), auf junge Feuersalamander beobachtet worden. Demnach verzehren die Käfer die frisch entwickelten Salamander meist von der Bauchseite her, dabei bleiben Rückenhaut sowie Teile des Kopfes und des Schwanzes übrig. Stärker gefährdet sind die Salamanderlarven, da sie noch nicht in der Lage sind, giftige Drüsensekrete zu produzieren. Zu den Prädatoren zählen die Larven der Libellenarten Zweigestreifte Quelljungfer (Cordulegaster boltoni) und Gestreifte Quelljungfer (Cordulegaster bidentata) sowie der Rückenschwimmer(Notonecta glauca). Weitere Fressfeinde sind die bereits genannten Fischarten wie Bachforelle, Bachsaibling und Groppe, insbesondere dann, wenn die Salamanderlarven durch Verdriftung in tiefer gelegene Zonen von Bachläufen gelangen. Auch die Wasseramsel sowie die seltene Wasserspitzmaus stellen Feuersalamanderlarven gelegentlich nach. Parasiten Der Befall erwachsener Feuersalamander durch äußere Parasiten („Ektoparasiten“) ist aufgrund der starken Hautgifte weder zu erwarten noch wurde dergleichen bisher beobachtet. Parasiten, die innerhalb der Leibeshöhle leben, Endoparasiten genannt, gibt es auch beim Feuersalamander. So konnte an einer Salamanderpopulation im Taunus der Befall der Larven mit der Art Pomphorhynchus laevis beobachtet werden, die zu den Kratzern (Acanthocephala) gezählt wird. Die Parasitierung betraf im vorliegenden Fall die Leber, in der pro Larve bis zu fünf Exemplare gefunden wurden. Direkte Beeinträchtigungen der Lurche konnten trotz dieser Befallsrate nicht festgestellt werden. Vereinzelt wurden auch Infektionen mit Fadenwürmern (Nematoda) in Darm und Mundschleimhaut beobachtet. Mensch und Feuersalamander Historisches – vom Monster zur Werbefigur Der Feuersalamander ist aufgrund seines auffälligen äußeren Erscheinungsbildes seit langer Zeit dem Menschen vertraut, was nicht immer zu seinem Vorteil war. In früheren Jahrhunderten glaubte man, dass die Hautsekrete des Salamanders nicht nur todbringend giftig seien, sondern auch imstande seien, Brände zu löschen. Entsprechend abergläubisch reagierten die Menschen und warfen die Tiere ins Feuer; darauf geht wohl auch der Name zurück. Der Glaube an die angebliche Unzerstörbarkeit durch Feuer ist bereits im spätantiken Wiener-Dioskurides-Manuskript belegt. Joachim Camerarius aus Nürnberg schreibt 1590 in seinem Werk „Symbolorum et emblematum ex animalibus quadrumpedibus desumtorum centuria altera“: Nach den verschiedenen Darstellungen in den so genannten Emblembüchern des späten Mittelalters hat der Feuersalamander aber mehr Ähnlichkeit mit einem Reptil, das eher an ein „drachenähnliches Geschöpf“ erinnert. Diesen Darstellungskonventionen entkommt der Feuersalamander erst Mitte des 17. Jahrhunderts durch ein Gemälde des Antwerpener Malers Jan van Kessel der Ältere (1626–1679), das einen naturalistisch dargestellten Feuersalamander inmitten eines Ensembles von 39 verschiedenartigen Insekten und Reptilien zeigt. Ungeachtet der systematisch fehlerhaften Zuordnung, der auch Carl von Linné anfänglich unterlag und die sich etwa in der Bezeichnung Lacerta salamandra äußert – Lacerta ist das lateinische Wort für „Eidechse“ – erinnert dieses Gemälde bereits an eine didaktisch orientierte Lehrtafel zur Biologie. Eine der dekorativsten Wiedergaben des Feuersalamanders erstellte der Nürnberger Aquarellmaler und Kupferstecher August Johann Rösel von Rosenhof (1705–1759) in seinem 1758 handkolorierten Tafelwerk Historia naturalis ranarum nostratium. Mit der Veröffentlichung dieses Werks wurde zugleich der Grundstein wissenschaftlich orientierter herpetologischer Forschung (Herpetologie) gelegt. Noch etwas realistischer gestaltet ist die Abbildung von Pierre André Latreille. Sein Aquarell aus dem Jahr 1800 zeigt erstmals Details, wie die Hautdrüsen und eine verdickte Kloake. Größere Fortschritte hinsichtlich Biologie und Ökologie des Feuersalamanders vermittelt die Darstellung von Heinrich Harder in der Enzyklopädie Schmeils Naturwissenschaftliche Atlanten von 1912. Erstmals wird einer großen Leserschaft die Morphologie der kiementragenden Larven im Laichgewässer vermittelt. Das am Ufer abgebildete adulte Exemplar zeigt sowohl in den Körperproportionen als auch der übrigen Körpermerkmale (Färbung, Hautdrüsen, dunkle Augen) sehr reale Verhältnisse an. Der Verzehr eines Regenwurms, ist natürlich als kleines „Highlight“ zu betrachten. Sehr realitätsnah ist auch die farbige Zeichnung aus der wissenschaftlichen Publikation von Marie Phisalix: Animaux venimeux et venins: la fonction venimeuse chez tous les animaux. Masson & Co., Paris 1922, frei übersetzt: Gifttiere und ihre Gifte – Eigenschaften und Funktionen. Auf der Abbildung werden insbesondere die Giftdrüsen auf der Hautoberfläche hervorgehoben. Der wissenschaftliche Name Salamandra maculosa in der Bildunterschrift, war zu dieser Zeit taxonomisch korrekt. Selbst in der Kinderliteratur taucht der Feuersalamander recht früh in Erscheinung (z. B. Walter Caspari, 1905). Ab Mitte des 20. Jahrhunderts erlangt der Feuersalamander als Markenzeichen der Salamander Schuh GmbH weit verbreitete Sympathie. Sowohl das Firmensymbol als auch die Comicfigur „Lurchi“ sprechen vor allem Kinder und Jugendliche an. Der nachfolgende Reim erreicht Kultstatus: Der Verein für Geschichte und Heimatpflege Kornwestheim e.V. unterhält in seinem Museum eine separate Abteilung, die umfassend über die Geschichte der Firma Salamander und über Lurchi informiert. Die französische Gemeinde Pinas (Département Hautes-Pyrénées) führt zwei Feuersalamander in ihrem Wappen. Auch Straßen und Wege sind nach dem Lurch benannt. So existiert in Zürich (CH) seit vielen Jahren eine Straße mit dem Namen Feuersalamanderweg, ebenso in Halle (Saale). Der Salamander (auch Schoppensalamander) ist eine bei Studentenverbindungen übliche, besonders feierliche Form des Zutrinkens als Teil der akademischen Trinkkultur. Gefährdung und Schutz Rote Liste Bundesrepublik Deutschland: Vorwarnliste Rote Liste Bayern: Gefährdet Rote Liste Sachsen: Stark gefährdet Gemäß Bundesartenschutzverordnung (BArtSchV) und Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG) gilt der Feuersalamander in Deutschland als „Besonders geschützt“. Dies bedeutet unter anderem, dass die Tiere nicht eingefangen, verletzt oder getötet werden dürfen. Der Anteil Deutschlands am europäischen Gesamtareal beträgt etwas mehr als 10 %. Hierbei liegt der Südwesten (Baden-Württemberg, Saarland, Rheinland-Pfalz) im Zentrum der Verbreitung mit der vermutlich höchsten Besiedlungsdichte. Deutschland ist somit für den Schutz und Erhalt des Feuersalamanders in hohem Maße verantwortlich. S. salamandra ist in den meisten Ländern Europas durch die Aufnahme in Anhang III des Berner Übereinkommens geschützt. In der Schweiz steht er auf der Roten Liste und wird als „Gefährdet“ (VU, „vulnerable“) eingestuft. In Österreich gilt seit 2007 die Kategorie „NT“ („Gefährdung droht“), was etwa der deutschen Vorwarnliste entspricht. Frankreich hat seine Rote Liste Amphibien und Reptilien 2015 aktualisiert. Hier werden Alpensalamander als gefährdet (Vulnérable), Korsischer Feuersalamander als bedroht (Quasi menacée) und S. salamandra auf der Vorwarnliste (Préoccupation mineure) eingestuft. Bestandsgefährdungen entstehen in der Hauptsache durch landschaftliche Eingriffe an den Laichgewässern durch Schadstoffeinträge und Verbauung sowie durch häufiges Befahren von Wegen und Straßen am Waldrand und in den Wäldern. Auch Fahrräder (Mountainbikes, Tourenräder) auf Waldwegen können für die Lurche eine tödliche Gefahr darstellen. Die Individuenverluste haben hierdurch sowie durch den allgemeinen Anstieg der Verkehrsdichte lokal erheblich zugenommen. Die langsame Fortbewegungsweise haben den Feuersalamander örtlich zum häufigsten Verkehrsopfer nach Igeln und Erdkröten werden lassen. Hohe Bordsteinkanten sind dabei oft eine zusätzliche Barriere. Vielerorts existieren spezielle Amphibienschutzanlagen mit speziellen Durchlässen unter der Straße. Davon profitieren nicht nur Feuersalamander, sondern auch zahlreiche andere, vom Straßentod bedrohte Kleintiere. Die „Kinderstuben“ des Feuersalamanders, wie naturnahe Quellbachregionen, haben in den letzten 50 Jahren starke Beeinträchtigungen erfahren. Unzählige Quellfluren sind inzwischen entwässert, Quellen verbaut und verrohrt oder aufgrund übermäßigen Wasserkonsums gänzlich versiegt. In Salamanderlebensräumen sollen heute sogenannte Mikrohabitatstrukturen, zum Beispiel Hohlräume unter Bäumen, Erdhöhlen, Blockschutt, Steinspalten und andere Bodenlückensysteme, erhalten werden. Weitere Schutzmaßnahmen sind: der Erhalt von Stollen und Höhlen im Wald oder in Waldnähe, zumal sie auch bedeutende Sommer- und Winterquartiere für weitere Tierarten neben dem Feuersalamander darstellen, etwa für Fledermäuse. Die Verkehrssicherheit und die Vermeidung potentieller Unfälle lassen sich durch abschließbare Vergitterungen des Höhleneingangs herstellen. Der Gitterrost sollte breitmaschig sein und nicht direkt am Boden abschließen, damit ihn Salamander ungehindert passieren können. die Sicherung bestehender und die Wiederherstellung ehemaliger Larvengewässer, zum Beispiel durch Rückbau von Verbauungen und Einfassungen. Fischteichwirtschaft an Bachoberläufen ist ein erheblicher Eingriff in die Lebensräume und sollte nach Ansicht von Naturschützern aufgegeben werden. die Entwicklung von Waldrändern in möglichst großer Breite und mit guter Verzahnung zur Umgebung. Sie sind als Saumbiotope wichtige Übergangsflächen zwischen Wäldern und angrenzendem Offenland. Gleiches gilt für Gehölzsäume entlang von Wegen und Gewässern. der langfristige Umbau standortfremder Nadelholzforste zu naturraumtypischen, strukturreichen Laubwäldern durch die Forstwirtschaft. die temporäre Sperrung von Waldwegen für Verkehrsmittel aller Art in der Zeit der Frühjahrswanderungen der Salamanderweibchen. der Aufbau eines angemessenen Inventars an Totholz als Lebensstätte für Tier- und Pflanzenarten innerhalb von Wäldern im Rahmen einer naturnahen, nachhaltigen Forstwirtschaft (Waldmanagement). Quellen und Quellgebiete gehören oft zu den Bestandteilen von Natur- oder Landschaftsschutzgebieten. Sie unterliegen sowohl nationalen als auch internationalen Verordnungen. Von besonderer Bedeutung sind die in Anhang I der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie der Europäischen Union aufgeführten Gewässerlebensräume, wie z. B. Abschnitte von Wasserläufen mit natürlicher bzw. naturnaher Dynamik. Für diese Lebensräume gelten für potentielle Eingriffe strenge Regelungen. Bsal → Hauptartikel: Batrachochytrium salamandrivorans Seit einiger Zeit drohen dem Feuersalamander neue Gefahren. Eine aus Asien eingeschleppte Pilzerkrankung, hervorgerufen durch den Chytrizidpilz Batrachochytrium salamandrivorans (Bsal), breitet sich im Süden der Niederlande sowie in Belgien und den angrenzenden Regionen Deutschlands (z. B. in der Eifel) fortschreitend aus. Der Nachweis von Bsal im Heimtierhandel legt nahe, dass dies die Hauptursache für die rasche Ausbreitung sein könnte. Die Mykose führt zu tiefen, offenen Geschwüren und bereits nach wenigen Tagen zum Tod der Salamander. Davon befallene Populationen verschwinden innerhalb von zwei bis drei Jahren vollständig. Bisher sind keine Anzeichen einer natürlichen Widerstandsfähigkeit bei den Lurchen beobachtet worden. In Deutschland wurde die Krankheit im Oktober 2015 erstmals erkannt. 2017 wurde der Erreger bereits im Ruhrgebiet nachgewiesen. Die detaillierte Überwachung eines Standorts in Essen (Kruppwald) von Januar bis Mai 2019 lieferte Daten zur Infektions- und Krankheitsdynamik während eines akuten Ausbruchs in einer Feuersalamander-Population. Die Prävalenz der Infektion lag zwischen 4 % und 50 % und stieg im Laufe des Frühjahrs signifikant an. Durch eine Förderung des Hessischen Biodiversitäts-Forschungsfonds werden aktuell Feuersalamander im Freiland über drei Jahre lang (2018–2021) erforscht. Helfen kann hierbei jeder, der sich für den Amphibienschutz interessiert. Schwerpunktgebiet ist der westliche Vogelsberg. Inzwischen ist die Krankheit auch in Bayern angekommen. Das Bayerische Landesamt für Umwelt (LfU) beprobt aktuell Feuersalamander und Molche aus dem nördlichen Steigerwald (Landkreis Bamberg). Gleichzeitig wird die derzeitige Bestandssituation mithilfe von Larven des Feuersalamanders, die dort in den Bächen leben, dokumentiert. B. salamandrivorans ist auch für andere Arten von Schwanzlurchen gefährlich. Teich- und Bergmolche können ebenso davon befallen werden. Alljährliche „Krötenrettungsaktionen“ mit Fangeimern können den Pilz durch den Körperkontakt der gefangenen Amphibien unmittelbar übertragen. Die Sporen von B. salamandrivorans sind außerdem in der Lage, lange Zeit in Wasser und Boden zu überleben. Die Krankheitserreger leben nachweislich in Süßwassersystemen weiter, indem sie sich an Mikroplastik anheften. Feuersalamander in Wissenschaft und Forschung Insbesondere die Studien an Geweben des Feuersalamanders etablierten ein neues Feld innerhalb der Biowissenschaften, zum besseren Verständnis der Zellteilung. Die Pionierarbeiten dazu leistete Walther Flemming, ab 1876 Professor für Anatomie und Histologie in der medizinischen Fakultät der Universität Kiel. Mit Hilfe der Lichtmikroskopie untersuchte er die Zweiteilung einer Zelle, der die Teilung ihres Kernes (Karyokinese) vorausgeht. Flemming prägte den Begriff Chromatin für die technisch färbbaren Substanzen im Zellkern. Er war der Erste, der Kernteilungen in lebenden Zellen unter dem Mikroskop verfolgte. Er sah, wie sich aus dem Chromatin kompakte individuelle Schleifen, die Chromosomen, formen. Nach der bipolaren Teilung der Chromosomen, lockert sich ihre Struktur zur Ausbildung der Tochterkerne. Flemming nannte diesen Vorgang Mitose; in ihrem Verlauf zählte er 2n = 24 Chromosomen. Der Feuersalamander wurde dazu als idealer Modell-Organismus über Jahre an der Kieler Anatomie in Zucht gehalten, weil er besonders große Zellkerne und Chromosomen besitzt. Die Genomgröße von S. salamandra beträgt 41 pg DNA. Demnach enthält ein mittleres G1-Chromosom des Feuersalamanders 3,4 pg DNA. Es ist damit fast so schwer wie das ganze menschliche Genom, das aus 1 C = 3,7 pg DNA besteht. Aufgrund seiner chromosomalen Forschungsarbeiten erzielte Flemming einige wissenschaftlichen Erfolge in den Anfängen der Lichtmikroskopie. Flemming hat auch zum besseren Verständnis der Meiose grundlegende Beobachtungen bei S. salamandra gemacht: Jede Spermatozyte vollführt zwei unterschiedliche Teilungen unmittelbar hintereinander. Die erste Kernteilung hat eine „heterotypische“ Form; wegen der chromosomalen Rekombinationen (Chiasmata) erscheint sie anders als eine normale Mitose. Die zweite Kernteilung erweist sich „homöotypisch“ – morphologisch einer normalen Mitose ähnlich. DNA-Barcoding DNA-Barcoding befähigt die Wissenschaft, ein Individuum mittels seines genetischen Barcodes zuverlässig einer Tierart taxonomisch zuzuordnen. Dies geschieht durch den Abgleich des ausgelesenen Barcodes mit einer Referenzdatenbank, die bereits vorhandene Barcodes für die entsprechenden Art enthält. Um einen Barcode zu erzeugen, wird aus einer Gewebeprobe die DNA extrahiert und auf einem Sequenzierer ausgelesen. Dazu ist jedes Labor in der Lage, das über eine entsprechende Ausstattung für molekulargenetische Untersuchungen verfügt. Seit 2012 existiert das Projekt German Barcode of Life (GBOL) in Bonn. Der Schwerpunkt der Untersuchungen lag zunächst im Bereich der Entomologie, als leicht verfügbare sowie artenreichste Tiergruppe. Amphibien kamen erst 2014/15 dazu. Hinsichtlich des Ausbaus der Datenbank ist internationale Zusammenarbeit gefragt. Um maximale Synergie-Effekte zu erlangen, stellen wissenschaftliche Institutionen inzwischen weltweit ihre Daten auch in der globalen Datenbank BOLD (Barcode of Life Database), mit Sitz an der University of Guelph (Kanada) zur Verfügung. Die erstellte DNA-Barcode-Referenzbibliothek ist öffentlich einsehbar. Sie steht zur Artidentifikation und zum Abgleich mit eigenen Barcode-Sequenzen bereit. Zur Qualitätssicherung unterliegen die an BOLD gemeldeten Daten strengen Standards. Jede gemeldete Barcode-Sequenz benötigt vollständige Metadaten zu Fundort, Zeitpunkt und Sammler. Ein Belegexemplar muss in einer öffentlichen Sammlung (z. B. Museum) archiviert und fotografisch dokumentiert werden. Die Nomenklatur bei den Amphibien folgt der erwähnten Datenbank Amphibian Species of the world. Für den Feuersalamander aus Deutschland liegen derzeit 21 untersuchte Belegexemplare aus verschiedenen Bundesländern in der GBOL vor (Stand: November, 2021). Das Verbundprojekt hat inzwischen viel Beachtung in Land- und Forstwirtschaft, Behörden sowie bei Naturschützern und Umweltplanern gefunden. Aufruf der Webseite sowie Nutzung der Daten sind kostenfrei und stehen jedermann zur Verfügung. Ein weiterer Ausbau dieser zukunftsweisenden Gen-Datenbank ist in Arbeit. Synonyme Der Feuersalamander wurde mehrfach wissenschaftlich beschrieben; dadurch entstanden neben dem heute gültigen Namen unter anderem die folgenden Synonyme: Lacerta salamandra Linnaeus, 1758 (Lacerta bedeutet „Eidechse“!). Salamandra candida Laurenti, 1768. Salamandra maculosa Laurenti, 1768. Gecko salamandra Meyer, 1795. Salamandra maculata Merrem, 1820. Salamandra vulgaris Cloquet, 1827. Triton corthyphorus Leydig, 1867. Salamandra salamandra Lönnberg, 1896. Das Synonym Salamandra maculosa – das Epitheton maculosa bedeutet „fleckig, gefleckt“ – war noch bis 1955 als wissenschaftlich gültiger Name gebräuchlich. Als literarische Grundlage diente seinerzeit das mehrbändige Werk „Brehms Tierleben“ aus dem 19. Jh. Quellen Weiterführende Literatur W. Böhme: Zum Höchstalter des Feuersalamanders „Salamandra salamandra“ (L.), ein wiederentdecktes Dokument aus der Frühzeit der Terraristik (Amphibia: Caudata: Salamandridae). In: Salamandra. (Rheinbach). Band 15, Nr. 3, 1979, , S. 176–179. L. Dalbeck, H. Düssel-Siebert, A. Kerres, K. Kirst, A. Koch, S. Lötters, D. Ohlhoff, J. Sabino-Pinto, K. Preißler, U. Schulte: Die Salamanderpest und ihr Erreger Batrachochytrium salamandrivorans (Bsal): aktueller Stand in Deutschland. In: Zeitschrift für Feldherpetologie. Band 25, Nr. 1, 2018, S. 1–22, . J. Eiselt: Ergebnisse zoologischer Sammelreisen in der Türkei: Amphibia caudata. In: Annalen des Naturhistorischen Museums Wien. Band 69, 1966, , S. 427–445 (). R. Feldmann: Winterquartiere des Feuersalamanders „Salamandra salamandra terrestris“ Lacépede, 1788 in Bergwerksstollen des südlichen Westfalen. In: Salamandra. (Rheinbach). Nr. 3, 1967, , S. 1–3. R. Feldmann: Über Lautäußerungen einheimischer Schwanzlurche. In: Natur u. Heimat. Band 28, Münster 1968, , S. 49–51. R. Feldmann: Felduntersuchungen an westfälischen Populationen des Feuersalamanders, „Salamandra salamandra terrestris“ Lacépede, 1788. In: Dortmunder Beiträge zur Landeskunde. Band 5, Dortmund 1971, , S. 37–44. R. Feldmann: Überwinterung, Ortstreue und Lebensalter des Feuersalamanders, „Salamandra salamandra terrestris“. Schlußbericht einer Langzeituntersuchung. In: Jahrbuch Feldherpetologie. Band 1, Köln 1987, , S. 33–44. R. Feldmann, R. Klewen: Feuersalamander. In: R. Feldmann (Hrsg.): Die Amphibien und Reptilien Westfalens. In: Abhandlungen aus dem Westfälischen Museum für Naturkunde. Band 43, Nr. 4, Münster 1981, , S. 30–44. G. Freytag: Feuersalamander und Alpensalamander. (= Die Neue Brehm-Bücherei. Band 142). 3. Auflage. Hohenwarsleben 2002, ISBN 3-89432-480-5. G. Freytag: Aktives Giftspritzen bei „Salamandra salamandra“ (Amphibia: Caudata: Salamandridae). In: Salamandra. (Rheinbach). Band 18, Nr. 3/4, 1982, , S. 356–357. G. Freytag: Eine albinotische Larve des Feuersalamanders (Salamandra salamandra) aus dem Harz und andere Feuersalamander-Weißlinge (Amphibia: Caudata: Salamandridae). In: Salamandra. (Rheinbach). Band 18, Nr. 1/2, 1982, S. 89–92. J.-P. Gasc, A. Cabela, J. Crnobrnja-Isailovic, D. Dolmen, K. Grossenbacher, P. Haffner, J. Lescure, H. Martens, J. P. Martinez-Rica, H. Maurin, M. E. Oliviera, T. S. Sofianidou, M. Veith, A. Zuderwijk (Hrsg.): Atlas of the Amphibians and Reptiles in Europe. Societas Europaea Herpetologica. Museum National d’Histoire Naturelle, Paris 1997, ISBN 2-85653-574-7. G. Habermehl: The biological relevance of Salamandra venom. In: Biology of Salamandra and Mertensiella. Symposium papers 4.1994, ISBN 3-9801929-3-8, S. 209–214. P. A. Hardy, H. Zacharias: Walther Flemming und die Mitose: Der Beitrag seiner ersten Kieler Jahre. In: Schr. Naturwiss. Ver. Schlesw.-Holst. Band 70, 2008, S. 3–15. (schriften.uni-kiel.de, PDF-Datei; 624 kB) F. Krauss: Zur Überwinterung des Feuersalamanders in Höhlen. In: Laichinger Höhlenfreund. Band 15, 1980, , S. 29–36. M. Linnenbach: Fehlpaarung zwischen „Rana temporaria“ und „Salamandra salamandra“ mit tödlichem Ausgang. In: Zeitschrift für Feldherpetologie. (Bielefeld) Band 7, 2000, , S. 224–225. M. Linnenbach: Zwei bemerkenswerte Larvalhabitate des Feuersalamanders im Kleinen Odenwalds bei Heidelberg. Feldherpetologisches Magazin 19, 2023, S. 3–8. R. Manenti, G. F. Ficetola, F. de Bernardi: Water, stream morphology and landscape: complex habitat determinants for the fire salamander Salamandra salamandra. In: Amphibia-Reptilia. Band 30, 2009, S. 7–15. D. Mebs, W. Pogoda: Variability of alkaloids in the skin secretion of the European fire salamander (Salamandra salamadra terrestris). Zentrum der Rechtsmedizin, University of Frankfurt, Frankfurt 2005, doi:10.1016/j.toxicon.2005.01.001. G. Menges: Und er quietscht doch! Von der Stimme des Feuersalamanders. In: Beiträge zur Naturkunde Niedersachsens. Band 3, 1951, S. 1–5. Thomas Mutz: Salamandra corsica (Savi, 1838) – Korsischer Feuersalamander. In: Burkhard Thiesmeier, Kurt Grossenbacher (Hrsg.): Handbuch der Reptilien und Amphibien Europas. Schwanzlurche IIB. Aula Verlag, 2004, ISBN 3-89104-674-X, S. 1029–1046. H. Sauer, H. Weibecker: Einheimische Schlangen als gelegentliche Verfolger des Feuersalamanders („Salamandra salamandra“) – zwei Feldbeobachtungen. In: Natur und Museum. (Senckenberg, Frankfurt). Band 124, Nr. 10, 1994, , S. 349–350. Ben C. Scheele, Frank Pasmans, Lee F. Skerratt, Lee Berger, An Martel, Wouter Beukema & Aldemar A. Acevedo: Amphibian fungal panzootic causes catastrophic and ongoing loss of biodiversity. Science 29 Mar 2019: Vol. 363, Issue 6434, pp. 1459–1463 DOI: 10.1126/science.aav0379 B. R. Schmidt, M. Schaub, S. Steinfartz: Apparent survival of the salamander Salamandra salamandra is low because of high migratory activity. In: Frontiers in Zoology. Band 4, 2007, S. 19. V. Schulz u. a.: Batrachochytrium salamandrivorans in the Ruhr District, Germany: history, distribution, decline dynamics and disease symptoms of the salamander plague. In: Salamandra. Band 56, Nr. 3, 2020, S. 189–214. B. Thiesmeier: Der Feuersalamander. Zeitschrift für Feldherpetologie Suppl. 4, Laurenti Verlag, 2004, ISBN 3-933066-21-2. B. Thiesmeier, R. Günther: Feuersalamander – „Salamandra salamandra.“ (Linnaeus, 1758). In: R. Günther (Hrsg.): Die Amphibien und Reptilien Deutschlands. Gustav Fischer, Jena 1996, ISBN 3-437-35016-1, S. 82–104. M. Veith, G. Erpelding: Presence of “Pomphorhynchus laevis” Salamandra salamandra. In: Journal of helminthology. (Cambridge). Band 69, , S. 267–268. M. Veith, Lisa Geimer, N. Wagner, B. Thiesmeier: Ökologie der Larven des Europäischen Feuersalamanders (Salamandra salamandra) - eine Übersicht. Zeitschrift für Feldherpetologie 29, 2022, S. 1–42. Einzelnachweise Weblinks Fotos des Feuersalamanders In: herp.it. Informationen zum Feuersalamander in Österreich Feuersalamander auf Briefmarken lars-ev.de – Landesverband für Amphibien- und Reptilienschutz Bayern e.V. Meldeformular am Hautpilz erkrankter Feuersalamander (feuersalamander-hessen.de) Magdalena Meikl u. a.: Alpen- und Feuersalamander in Österreich und Europa: Ein Sparkling Science-Projekt der Universität Salzburg in Zusammenarbeit mit Schulen. ANLiegen Natur 36(1), Laufen 2014, S. 120–124 (PDF; 0,6 MB). Claudia Steiner: Der Feuersalamander - Waldlurch mit Vorliebe für klares Wasser Bayern 2 Radiowissen. Ausstrahlung am 9. April 2020 (Podcast). Echte Salamander Gifttier
264701
https://de.wikipedia.org/wiki/Orphiker
Orphiker
Die Orphiker () waren eine religiöse Strömung der Antike, die sich ab dem 6./5. Jahrhundert v. Chr. oder schon früher in Griechenland, im griechisch besiedelten Süditalien und an der nördlichen Schwarzmeerküste ausbreitete. Sie beriefen sich auf den mythischen Sänger und Dichter Orpheus, in dem sie den Urheber ihrer Lehren und den Autor maßgeblicher orphischer Texte sahen. Ihr Bestreben war die Vorbereitung auf das von ihnen erwartete Fortleben der Seele nach dem Tod des Körpers. Bei der Orphik handelte es sich aber nicht um eine einheitliche Religionsgemeinschaft mit einer in sich geschlossenen Lehre, sondern um eine Vielzahl von autonomen Gruppen. Entstehung und Frühzeit Die Orphik stammte vermutlich aus Thrakien, das als Heimat des Orpheus galt und von den Griechen als Barbarenland betrachtet wurde. Sie verbreitete sich in Griechenland – mit Schwerpunkten in Nordgriechenland und auf Kreta –, in den von griechischen Siedlern kolonisierten Gebieten Süditaliens und an der griechisch besiedelten Schwarzmeerküste. Eindeutig bezeugt ist orphisches Gedankengut erst im 5. Jahrhundert v. Chr., doch können die Anfänge viel früher liegen. Die in der Forschung diskutierten Erklärungsansätze für die Entstehung und frühe Entwicklung sind spekulativ. Unklar ist insbesondere das Verhältnis der Orphik zu verwandten Phänomenen innerhalb der griechischen Religion wie dem Pythagoreismus, den eleusinischen Mysterien, verschiedenen Erscheinungsformen des Dionysos-Kults und der religiösen Philosophie des Vorsokratikers Empedokles. Im 5. Jahrhundert v. Chr. berichtete Herodot vom Verbot der Beisetzung in wollener Kleidung, einer Begräbnisvorschrift, die bakchisch (dionysisch) und orphisch genannt werde. Empedokles, der ebenfalls im 5. Jahrhundert lebte, scheint sich als Orphiker betrachtet zu haben; einer Forschungshypothese zufolge ging er in seiner Dichtung nicht nur inhaltlich von orphischen Ideen aus, sondern lehnte sich auch formal an ein orphisches Vorbild an. Manche Ziele und Überzeugungen teilten die Orphiker mit den Pythagoreern, einer religiösen Gemeinschaft, die Pythagoras im 6. Jahrhundert v. Chr. in Süditalien gegründet hatte. Der Schriftsteller und Dichter Ion von Chios (5. Jahrhundert v. Chr.) behauptet, Pythagoras habe Gedichte, die er selbst schrieb, als Werke des Orpheus ausgegeben. Nach späteren Berichten gehörten in Italien lebende Pythagoreer zu den Autoren orphischen Schrifttums. Gegenseitige Beeinflussung von Orphikern und Pythagoreern ist wohl anzunehmen. Entsprechende Hypothesen werden in der Forschung seit langem erörtert, doch erlaubt die ungünstige Quellenlage keine gesicherten Aussagen darüber, denn eindeutige Belege fehlen. Jedenfalls lassen die vorliegenden Berichte erkennen, dass die frühen Orphiker eine Protest- und Reformbewegung waren, die sich elitär von der Volksreligion abgrenzte und daher von ihrer Umwelt skeptisch betrachtet wurde. Im Gegensatz zu den Pythagoreern sind bei den Orphikern keine politischen Zielsetzungen erkennbar. Orpheus, der angebliche Urheber der Orphik, wurde schon im 6. Jahrhundert v. Chr. zu den Argonauten gezählt, also eine Generation vor dem Trojanischen Krieg datiert. Ob es für diese mythische Gestalt ein reales historisches Vorbild gab und ob die Orpheus-Sage einen historischen Kern hat, ist unbekannt. In der Forschung gehen die Meinungen darüber auseinander. Orphische Schriften Die reichhaltige Buchproduktion der Orphik, die schon für das 5. Jahrhundert v. Chr. bezeugt ist, hielt bis in die Spätantike an. Charakteristisch für die Orphiker ist einerseits ihre hohe Wertschätzung ihrer Bücher und andererseits der Umstand, dass sie ihre Lehrtexte anscheinend nicht in einer bestimmten Fassung dauerhaft als verbindlich fixierten, sondern immer wieder neu formulierten und auslegten. Es handelt sich hauptsächlich um mythische Schilderungen der Weltentstehung (Kosmogonie) und Hymnen. Die orphische Dichtung, das Schrifttum der Orphiker in Versform, als dessen Autor gewöhnlich Orpheus selbst galt, ist größtenteils verloren. Eine Anzahl von Gedichten liegt vollständig vor, ein anderer Teil der orphischen Dichtung ist nur bruchstückhaft erhalten oder aus Inhaltsangaben bekannt, von manchen Werken sind nur die Titel überliefert. Die Suda, eine byzantinische Enzyklopädie, nennt eine Reihe von Titeln. Diese Liste stammt wohl aus einer verlorenen, in der Epoche des Hellenismus von dem Grammatiker Epigenes verfassten Abhandlung über die orphischen Dichtungen. Das Versmaß der orphischen Dichtung ist immer der Hexameter. Vollständig erhalten ist eine Sammlung von orphischen Hymnen. Es handelt sich um 87 Gedichte, deren Umfang zwischen sechs und dreißig Versen schwankt. Darin verherrlicht Orpheus als fiktiver Verfasser die von den Orphikern verehrten Gottheiten. Vermutlich wurden diese Dichtungen im 2. Jahrhundert für eine kleinasiatische Kultgemeinschaft geschaffen, vielleicht mit Verwertung älteren Materials. Nur fragmentarisch überliefert oder aus Inhaltszusammenfassungen bekannt sind folgende Dichtungen: die alte orphische „Theogonie“, ein Gedicht, das die Entstehung des Kosmos, der Götter und der Menschen behandelt. Der Peripatetiker Eudemos von Rhodos, der im 4. Jahrhundert v. Chr. lebte, soll eine Inhaltswiedergabe verfasst haben. Auf ihn beruft sich der spätantike neuplatonische Philosoph Damaskios, der mehrere Varianten des Mythos skizziert. Die „Heiligen Reden (hieroí lógoi) in 24 Rhapsodien“. Sie schildern ebenfalls die mythische Urgeschichte des Kosmos. Erhalten sind 176 Fragmente. Die Datierungsansätze für die Gestalt des Textes, aus der die überlieferten Bruchstücke stammen, schwanken zwischen dem späten 2. Jahrhundert v. Chr. und dem 2. Jahrhundert n. Chr. Die verlorene Urfassung dürfte in der Frühzeit der Orphik entstanden sein. Nur aus Zitaten bekannt sind ein Hymnus an Zeus, den der Neuplatoniker Porphyrios zitiert, und einer an Dionysos, auf den der spätantike Gelehrte Macrobius in seinen „Saturnalien“ wiederholt Bezug nimmt. Im 2. Jahrhundert berichtete der Schriftsteller Pausanias von hymnischen Gesängen, die Orpheus verfasst habe und die von den Lykomiden, den Angehörigen eines athenischen Priestergeschlechts, bei ihren Kulthandlungen gesungen würden. Pausanias meinte, die Hymnen des Orpheus würden an Schönheit nur von denen Homers übertroffen. die „orphischen Argonautika“ (Orphéōs Argōnautiká „Die Argonautenfahrt des Orpheus“), ein spätantikes Gedicht von 1376 Hexametern. In dieser Version der Argonautensage erzählt Orpheus vom Argonautenzug. Dabei spielt er selbst eine maßgebliche Rolle in der Heldenschar, die auf dem Schiff Argo eine abenteuerliche Fahrt unternimmt, um das Goldene Vlies zu erbeuten. Zwar steht Orpheus schon in hohem Alter, doch ohne ihn könnte das Vorhaben nicht gelingen. Die Argonauten brechen von ihrer griechischen Heimat aus auf und fahren zunächst nach Kolchis an der Ostküste des Schwarzen Meeres, wo sie sich das Vlies aneignen. Auf der Rückfahrt gelangen sie über den Fluss Tanaïs (Don) in den äußersten Norden des eurasischen Festlands. Dort erreichen sie den Okeanos, den Strom, der die bewohnte Welt ringförmig umfließt. Darauf wenden sie sich nach Westen und umschiffen erst Nord- und dann Westeuropa; der Heimweg führt durch die Straße von Gibraltar. Der Derveni-Papyrus, eine 1962 in der Grabstätte A der Derveni-Gräber bei Thessaloniki aufgefundene Schriftrolle, enthält Fragmente eines Kommentars zu einer ansonsten unbekannten Version des orphischen Schöpfungsmythos, aus welcher der Kommentator einzelne Verse zitiert, die er allegorisch auslegt. In dieser Version spielt Zeus als Schöpfer die Hauptrolle. Der Kommentator distanziert sich nachdrücklich von einem aus seiner Sicht verfehlten vordergründigen, buchstäblichen Textverständnis. Der Papyrus wurde im 4. Jahrhundert v. Chr. beschriftet, der Kommentar stammt aus dem späten 5. oder frühen 4. Jahrhundert v. Chr. und das kommentierte Gedicht dürfte noch wesentlich älter sein. Zu den verlorenen Schriften zählen die „Orakel“ (chrēsmoí), die „Weihen“ (teletaí), die „Mischkrüge“ (kratḗres), der „Mantel“ (péplos), das „Netz“ (díktyon), die „Physik“ (physiká, über Kosmologie) und die „Sternkunde“ (astrologiká). Lehren Das Interesse der Orphiker richtete sich in erster Linie auf die Entstehung des Kosmos, der Götterwelt und der Menschheit und auf das Schicksal der Seele nach dem Tod. Ihre mythische und poetische Denk- und Ausdrucksweise bewirkte, dass ihre Lehren nicht in klarer, verbindlicher Form fixiert und dogmatisiert wurden, sondern einen fluktuierenden Charakter behielten und unterschiedlich interpretierbar waren. Kosmologie Die orphische Kosmogonie (Weltentstehungslehre) macht in ihrer ältesten bekannten Version, die Eudemos von Rhodos aufzeichnete, die Nacht zum Anfang aller Dinge. Der Schöpfungsvorgang erstreckt sich nach der alten orphischen Dichtung über sechs Generationen, wie aus einem Zitat bei Platon hervorgeht, wonach Orpheus „die Ordnung des Gesangs“ mit dem sechsten Geschlecht enden lässt. Eine Gruppe anderer Versionen bietet verschiedene Varianten einer abweichenden Überlieferung des Mythos. Eine davon ist die von Damaskios wiedergegebene Fassung aus den „Heiligen Reden in 24 Rhapsodien“, daher spricht man von der „rhapsodischen Kosmogonie“ der Orphiker. In diesem Überlieferungszweig erscheint die Zeit (Chronos) als das Prinzip, das den Ursprung von allem bildet. Chronos bringt zunächst zwei Prinzipien hervor, Aither und Chaos. Die zweite Phase der kosmischen Geschichte beginnt mit der Entstehung des silbrig glänzenden Welteis, das Chronos im Aither erschafft. Aus dem Weltei wird der geflügelte Lichtgott Phanes geboren. Phanes ist eine Hauptgottheit der Orphiker, außerhalb orphischer Kreise scheint er nicht verehrt worden zu sein. Er wird in der spätantiken, vielleicht auch schon in der frühen Orphik mit Eros gleichgesetzt. Seine Gefährtin ist Nyx, die Nacht; ihr vertraut er sein Szepter an. Nyx gebiert den Gott Uranos, der als nächster die Welt regiert. Dies ist die dritte Phase. Uranos wird von seinem Sohn Kronos gestürzt; dieser Machtwechsel leitet die vierte Phase ein. Auf Kronos folgt Zeus, dessen Regierung die fünfte Phase bildet. Zeus verschlingt Phanes, womit er sich dessen gesamte Kraft und Macht aneignet. Mit seiner Mutter zeugt er die Tochter Persephone, mit Persephone den Sohn Dionysos. Später überlässt Zeus die Herrschaft dem noch kindlichen Dionysos, womit die sechste Phase beginnt. Gegen Dionysos stachelt Hera, die eifersüchtige Gattin des Zeus, die Titanen auf. Die Titanen locken Dionysos in eine Falle, töten und zerstückeln ihn. Dann kochen sie seinen Leichnam und beginnen ihn zu verzehren, wodurch sie etwas von seinem Wesen in sich aufnehmen. Zeus überrascht die Mörder jedoch und verbrennt sie mit seinem Blitz zu Asche. Aus der Asche, in der Titanisches mit Dionysischem gemischt ist, steigt Rauch auf und es bildet sich Ruß; daraus erschafft Zeus das Menschengeschlecht. Damit erklärt eine Variante des Mythos die Ambivalenz der menschlichen Natur, die zwei gegensätzliche Tendenzen aufweist: einerseits einen zerstörerischen, titanischen Zug, der zur Rebellion gegen die göttliche Ordnung anstachelt, andererseits aber auch ein dionysisches Element, das zum Göttlichen hinführt. Apollon sammelt die Stücke von Dionysos’ Leichnam ein, Athene bringt sein intaktes Herz zu Zeus, der nunmehr den Ermordeten zu neuem Leben erweckt. Eine weitere Version gibt Damaskios mit Berufung auf zwei Autoren namens Hieronymos und Hellanikos wieder. Ihr zufolge gab es anfangs zwei Prinzipien, das Wasser als Prinzip der Zerstreuung und die Erde als Prinzip der Zusammenfügung. Aus ihnen ist als drittes Prinzip ein Drache hervorgegangen, der zugleich den Namen des nicht alternden Chronos (Zeit) und des Herakles trägt. Dieses Wesen trägt Flügel auf den Schultern und ist dreiköpfig; neben einem Stier- und einem Löwenkopf hat es in der Mitte einen göttlichen. Seine Gefährtin ist Ananke, die weltumfassende Notwendigkeit. Chronos ist der Vater von Aither und Chaos. Später erzeugt Chronos aus Aither, Chaos und Erebos (der Finsternis) das Weltei. Nach einer anderen Variante dieser Version des Mythos, die der christliche Apologet Athenagoras von Athen überliefert, war das Wasser das alleinige Urprinzip; aus ihm bildete sich das Erdelement als Schlamm. Nach Athenagoras’ Darstellung spaltete sich das Weltei in zwei Teile; aus dem oberen entstand der Himmel, aus dem unteren die Erde. Seelenlehre Schon in den homerischen Epen ist die Auffassung anzutreffen, im menschlichen und tierischen Dasein gebe es ein belebendes Prinzip, dessen Anwesenheit Voraussetzung des Lebens sei und das den Tod des Körpers überdauere. Nach den bei Homer überlieferten Vorstellungen trennt sich diese Instanz, die „Seele“ (griechisch psychḗ), beim Tod vom Körper und begibt sich als dessen schattenhaftes Abbild in die Unterwelt. Der Dichter geht davon aus, dass das nachtodliche Dasein der Seele unerfreulich ist; er lässt sie ihr Schicksal beklagen. Die Orphiker teilten die herkömmliche Überzeugung, dass es eine Seele gibt, die den Körper belebt und nicht mit ihm stirbt, sondern den Leichnam verlässt. Dieses Konzept verbanden sie mit der Vorstellung der Seelenwanderung, die besagt, dass die Seele nacheinander in verschiedene Körper eingeht und so eine Mehrzahl von Leben durchmacht. Indem die Orphiker der Seele ein eigenständiges Dasein schon vor der Entstehung des Körpers zusprachen, gaben sie die Annahme einer natürlichen Bindung der Seele an einen bestimmten Körper auf. Dadurch erhielt die Seele eine zuvor unbekannte Autonomie. Ihre Verbindung mit einem Körper erschien nicht mehr als Erfordernis ihrer Natur, sondern als bloße Episode in ihrem Dasein. Sie galt nun nicht nur als unsterblich, sondern ihre Existenz wurde auf eine von der vergänglichen Körperwelt gänzlich unabhängige Basis gestellt. Damit wurde ihr eine naturgegebene göttliche oder gottähnliche Beschaffenheit und entsprechende ursprüngliche Freiheit zugeschrieben. Mit diesen Annahmen über die Natur der Seele kontrastiert ihr irdisches Dasein, ihre Verbindung mit dem vergänglichen Körper, in den sie nach der orphischen Lehre von außen eintritt. Dadurch kommt sie mit Leid und Sterblichkeit in Berührung und muss entsprechende Erfahrungen machen. Eine solche Daseinsweise entspricht aus orphischer Sicht nicht der natürlichen Bestimmung der Seele, sondern ist nur ein von den Göttern gewollter vorübergehender Zustand. Daher bezeichneten die Orphiker, wie Platon bezeugt, den Körper als Gefängnis der in ihm eingekerkerten Seele. Nach der Auffassung der Orphiker kann die Seele nach dem Tod des Körpers, den sie bewohnt hat, nicht einfach in ihre jenseitige Heimat zurückkehren, vielmehr muss sie sich erneut mit einem Körper verbinden. So kommt es zum Kreislauf aufeinander folgender Leben und Tode, der Seelenwanderung. Die Ursache dafür sind Vergehen, die gebüßt werden müssen, was dazu führt, dass die Seele sich gezwungen sieht, im Kreislauf zu verbleiben. Worin die Vergehen bestehen, geht aus den spärlichen Angaben der Quellen nicht klar hervor. Jedenfalls muss der orphischen Weltanschauung zufolge dieser Zustand nicht ewig dauern. Vielmehr kann die Seele die Körperwelt endgültig verlassen, wenn sie einen bestimmten Erlösungsweg beschreitet. Das Ziel ist ein dauerhaftes glückseliges Dasein in ihrer Heimat, dem Jenseits. Das entspricht ihrer eigentlichen, ursprünglichen Natur, die göttlich oder gottähnlich ist. Die Orphiker glaubten, dass die Seele erlöst werden kann, und vertraten damit ein grundsätzlich optimistisches Weltbild, das sich fundamental von der traditionellen, prinzipiell pessimistischen Sichtweise der Griechen unterscheidet, wie sie sich in der homerischen Dichtung spiegelt. Die erforderliche Belehrung darüber, wie man sich aus dem Elend des irdischen Daseins befreit, verdankt die Menschheit nach der orphischen Lehre Orpheus. Er ist der Sage zufolge in die Unterwelt hinabgestiegen, um im dortigen Totenreich seine verstorbene Gattin Eurydike zu finden und sie in die Welt der Lebenden zurückzuführen. Tatsächlich erhielt er von den dortigen Göttern die Erlaubnis, sie mitzunehmen, doch missglückte der gemeinsame Aufstieg, Eurydike musste den Rückweg antreten. Immerhin hatte Orpheus als Lebender das Totenreich betreten und war von dort zurückgekehrt. Dadurch wurde er aus der Sicht der Orphiker zu einer Autorität, die über die Totenwelt Auskunft erteilen kann und über religiöses Wissen verfügt, das eine Erlösung der Seele ermöglicht. So fiel ihm in der Orphik die Rolle des Religionsstifters zu. Lebensweise Gemeinschaftsbildung Das Ausmaß der Institutionalisierung der Orphik – man spricht auch von „Orphismus“ – als Religion ist in der Forschung umstritten. Die „minimalistische“ Interpretation der Quellen (Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff, Ivan M. Linforth, Martin L. West u. a.) besagt, dass es eine orphische Religion als gemeinsamen Glauben einer Gemeinschaft mit Kult und entsprechenden Riten nie gegeben habe. Daher könne man nicht von „Orphikern“ im Sinne einer Anhängerschaft einer bestimmten Religion sprechen, sondern dieser Begriff solle nur zur Bezeichnung der Autoren orphischer Schriften verwendet werden. Eine neuere Variante des minimalistischen Ansatzes besagt, Orphik sei nichts als „die Mode, sich auf Orpheus zu berufen“. Die gegenteilige Position findet in neueren Funden Anhaltspunkte. Sie lautet, dass die Orphik durchaus durch ein bestimmtes Weltbild gekennzeichnet ist und dass sich Gemeinschaften von Orphikern organisierten, die sich mit Berufung auf Orpheus gemeinsam rituellen Praktiken widmeten, die ihnen zu einem besseren Dasein nach dem Tode verhelfen sollten. Als plausibel gilt heute die Annahme, dass es zwar keine einheitliche Religion gab, aber lokale Zusammenschlüsse von Personen, die einen Kernbestand von religiösen Überzeugungen teilten. Einige Indizien sprechen dafür, dass die Orphik vor allem in der Oberschicht Fuß fassen konnte und dass der Frauenanteil hoch war. Verhaltensregeln Die Pythagoreer waren für ihre besondere, strikt eingehaltene Lebensweise bekannt, zu deren Merkmalen insbesondere Ernährungsregeln und ethische Grundsätze gehörten. Platon bezeugt, dass es auch orphische Lebensregeln gab; er erwähnt eine Vergangenheit, in der diese Regeln allgemein befolgt worden seien. Zu den Normen gehörte ebenso wie bei den Pythagoreern – zumindest deren engerem Kreis – auch bei den Orphikern ein ethisch motivierter Vegetarismus, der mit der Seelenwanderungslehre und der dadurch bedingten höheren Einschätzung des Werts tierischen Lebens zusammenhing. Aus dem toten Tierkörper gewonnene Nahrung war ebenso verpönt wie die in der griechischen Volksreligion üblichen Tieropfer. Blutige Opfer und Fleischverzehr führten zum Verlust der rituellen Reinheit. Inwieweit die Orphiker über das allgemeine Verbot des Blutvergießens hinaus bestimmten ethischen Normen folgten und dies als notwendige Voraussetzung der angestrebten Erlösung betrachteten, ist weitgehend unbekannt. Ihre Einschränkungen der Ernährung basierten nicht nur auf dem Tötungsverbot, sondern auch auf ihrer Kosmogonie; das von Plutarch überlieferte Verbot des Essens von Eiern hing mit der mythischen Weltei-Vorstellung zusammen. Allerdings galt das erst spät bezeugte Eier-Tabu in der Frühzeit möglicherweise noch nicht. Ein allgemeines Alkoholverbot bestand zumindest in der Frühzeit nicht. Unklar ist, inwieweit die Mitgliedschaft in einer Orphikergemeinschaft als Voraussetzung für das Beschreiten eines orphischen Erlösungswegs betrachtet wurde. Jedenfalls galt die rituelle Reinigung als unerlässliche Bedingung für die Erlösung der Seele. Bei den wandernden Orphikern, die gegen Bezahlung jedem Reinigung anboten, handelte es sich wohl um eine Verfallserscheinung der orphischen Bewegung. Archäologischer Befund Mit der Orphik wird in der modernen Forschung ein Brauch beim Begräbnis in Verbindung gebracht. Den Toten wurden beschriftete Goldblättchen oder Knochenplättchen ins Grab mitgegeben. Diese Sitte ist vom 5./4. Jahrhundert v. Chr. bis zum 3. Jahrhundert n. Chr. archäologisch bezeugt; die meisten Texte stammen aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. Bei den Goldblättchen handelt es sich um dünne Folien, die in der Forschungsliteratur seit 1915 als Lamellae Orphicae bezeichnet werden. Die Beschriftungen sind griechische Texte mit Auskünften, Parolen und teils detaillierten Anweisungen, die der Seele des Toten in ihrer nachtodlichen Existenz Orientierung bieten und zu göttlicher Gnade verhelfen sollten. Die pauschale Bestreitung eines orphischen Hintergrunds (Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff u. a.) hat sich als falsch erwiesen, aber auch eine undifferenzierte Zuordnung der Funde zur orphischen Strömung ist auf Widerspruch gestoßen. Nach dem heutigen Forschungsstand gilt die Hypothese, es handle sich um orphische Texte, als relativ plausibel. Ob das Gedankengut ursprünglich nur aus der Orphik stammte und inwieweit sich Einflüsse verschiedener religiöser Strömungen vermischt haben, ist unklar. Einige Funde lassen erkennen, dass manche Blättchen in den Zusammenhang eines Dionysos-Mysterienkults gehören. Offenbar hatten die Verstorbenen einer Kultgemeinschaft von Verehrern des Gottes Bakchos (Dionysos) angehört. In einem Teil der Texte tritt der Verstorbene als Sprecher auf. Er wendet sich an die Götter und drückt seinen Wunsch aus, künftig im Reich der Unsterblichen bleiben zu dürfen. In anderen Texten ist der Verstorbene der Angesprochene. Er erhält Anweisungen für seinen Weg oder wird glücklich gepriesen (Seligpreisung, makarismós), da sein Tod als Mensch ihm eine Neugeburt als göttliches Wesen ermöglicht hat. Aussagen und Hinweise wie „Leben – Tod – Leben“ oder „Jetzt bist du gestorben und jetzt geworden, dreifach Seliger, an diesem Tag“ stellen den Tod als Durchgang zu neuem Leben dar. Feststellungen wie „Gott wirst du sein anstelle eines Sterblichen“ oder die an die unsterblichen Götter gerichteten Worte „Ja, auch ich rühme mich, von eurem seligen Geschlecht zu sein“ zeugen vom Optimismus und Selbstbewusstsein der Texturheber, die die gereinigte Seele für göttergleich hielten. Einen Sonderfall bildet ein 1978 veröffentlichter Fund aus Olbia an der Nordküste des Schwarzen Meeres. Hier handelt es sich nicht um ein Grab, sondern um Täfelchen (Knochenplättchen), die anscheinend einem kultischen Zweck dienten. Im Text wird durch den Begriff „Orphiker“ ein Bezug zur Orphik ausdrücklich hergestellt, woraus die Existenz einer Orphikergemeinschaft in Olbia gefolgert werden kann. Dieser Fund ist der älteste archäologische Beleg für orphische Aktivität; die Plättchen stammen aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. Rezeption Einschätzungen bei antiken Dichtern und Philosophen Die ältesten überlieferten Darstellungen von Verhaltensweisen der Orphiker durch Außenstehende lassen Geringschätzung erkennen. Es handelt sich um zwei Stellen bei Euripides und Platon, die zugleich die frühesten Belege für die Existenz orphischen Schrifttums sind. In Euripides’ Tragödie Der bekränzte Hippolytos, die 428 v. Chr. aufgeführt wurde, wirft Theseus seinem Sohn Hippolytos vor, ein Heuchler zu sein, der sich etwas auf seinen Vegetarismus einbilde, den Eingeweihten und Auserwählten der Götter spiele und im Dienst des Orpheus den „Rauch vieler Schriften“ ehre. Im 4. Jahrhundert v. Chr. schilderte Platon das Treiben von Scharlatanen, die Mengen von Büchern zur Hand hatten, die sie Orpheus und dem mythischen Dichter Musaios zuschrieben. Darin waren ihre Opferriten und Weihen dargelegt. Gegen Bezahlung boten sie den Reichen ihre Dienste an und es gelang ihnen sogar, ganze Städte zu überzeugen. Sie rühmten sich ihrer besonderen Beziehung zu den Göttern und ihrer magischen Fähigkeiten und behaupteten, durch die von ihnen propagierten rituellen Handlungen könne man Entsühnung für begangene Verbrechen erlangen. Damit befreie man sich von den drohenden Übeln des Jenseits. Sogar bereits Verstorbenen könne man auf diesem Weg Verschonung von den Strafen für ihre Missetaten verschaffen. Wer aber diese Gelegenheit nicht nutze, dem stehe nach dem Tod Schreckliches bevor. Aus Platons drastischer Beschreibung solcher Machenschaften ist aber nicht zu folgern, dass er die gesamte Orphik verwarf. Vielmehr verarbeitete er orphisches Gedankengut für seine Zwecke und nutzte es in abgewandelter Form zur Illustration oder Abstützung seiner philosophischen Ausführungen. Anscheinend hat der Dichter Aristophanes in seiner 414 v. Chr. aufgeführten Komödie Die Vögel, in der er den Vögelchor einen Weltentstehungsmythos vortragen lässt, auf die orphische Kosmogonie angespielt. Mit seinen Versen parodierte er damals bereits geläufige mythische Vorstellungen, deren Bekanntheit bei einem breiten Publikum er offenbar voraussetzte. Dabei vermischte Aristophanes wohl die hesiodische mit der orphischen Kosmogonie. Im 4. Jahrhundert v. Chr. brachte der athenische Geschichtsschreiber Androtion das Argument vor, die „orphischen“ Schriften könnten nicht authentisch sein, denn Orpheus sei als thrakischer Barbar nicht alphabetisiert gewesen. Auch Aristoteles hielt die Orpheus zugeschriebenen Schriften für unecht; er meinte sogar, wie Cicero bezeugt, der mythische Dichter und Sänger habe nie gelebt, er sei eine erfundene Gestalt. Die orphische Seelenlehre lehnte Aristoteles ab. Der Geschichtsschreiber Diodor (1. Jahrhundert v. Chr.) teilt eine Überlieferung mit, der zufolge Orpheus in Ägypten war und dort sein religiöses Wissen erwarb; dann habe er die ägyptische Tradition nach Griechenland verpflanzt. In der römischen Kaiserzeit vertrat der Mittelplatoniker Plutarch eine philosophisch-theologische Auslegung der orphischen Texte, die sich weit von deren buchstäblichem Sinn entfernt. Die Neigung zu solcher Interpretation verstärkte sich später noch im Neuplatonismus, wo Orpheus in erster Linie als Theologe betrachtet wurde. Die spätantiken Neuplatoniker kannten und schätzten die „Heiligen Reden in 24 Rhapsodien“. Iamblichos stellte in seiner Schrift „Über das pythagoreische Leben“ fest, Pythagoras habe sein theologisches Wissen von den Orphikern bezogen. Syrianos schrieb eine Abhandlung „Über die Theologie des Orpheus“ und eine Darlegung der Übereinstimmung von Orpheus, Pythagoras und Platon hinsichtlich der Orakel in zehn Büchern. Syrianos’ berühmter Schüler Proklos setzte sich mit den Ausführungen seines Lehrers über die Orphik auseinander und verfasste Aufzeichnungen darüber. Er führte alles theologische Wissen der Griechen letztlich auf Orpheus zurück und praktizierte selbst orphische Reinigungsriten. Damaskios, der letzte Leiter der neuplatonischen Philosophenschule in Athen, bezeichnete die „Heiligen Reden“ als die zu seiner Zeit geläufige Fassung der orphischen Schöpfungsgeschichte. Er bemühte sich um die Harmonisierung der orphischen und der neuplatonischen Kosmologie. Rituelle Praktiken in der römischen Kaiserzeit Spuren ritueller Praktiken, die mehr oder weniger deutlich an die orphische Tradition anknüpften, liegen für die römische Kaiserzeit vor. Hierzu gehören Hinweise in erzählenden Quellen, vor allem der Bericht des Pausanias über hymnische, angeblich von Orpheus verfasste Gesänge der athenischen Priester aus dem Geschlecht der Lykomiden, die bei deren Kulthandlungen gesungen würden. Die Lykomiden waren für das Gaia-Heiligtum in Phlya zuständig. Hinzu kommen epigraphische und papyrologische Quellen. Epigraphisches Material stammt aus Kleinasien, papyrologisches aus Ägypten; in Griechenland ist nur eine einzige möglicherweise relevante Inschrift gefunden worden. Die Auswertung ist schwierig, da oft unklar ist, ob die Angaben nur ein Fortleben orphischen Gedankenguts in gebildeten Kreisen bezeugen oder auf eine tatsächliche orphische oder orphisch beeinflusste Kultpraxis deuten. Die Echtheit der Orpheus zugeschriebenen Gedichte war umstritten; anscheinend waren die Lykomiden der Meinung, nur die von ihnen gesungenen Hymnen seien authentisch. In Rom wurde orphischer Kult stets als fremdländisch empfunden. Deutlich erkennbar ist eine Wiederbelebung des Interesses an orphischer Religiosität im Römischen Reich ab dem 2. Jahrhundert. Judentum Ab der hellenistischen Zeit wurde der Orpheus-Mythos von hellenisierten jüdischen Kreisen aufgegriffen und in das jüdische religiöse Weltbild integriert. Dabei erscheint Orpheus als frommer monotheistischer Weiser. Für die Existenz einer Orphikerbewegung innerhalb des Judentums gibt es aber keinen Beleg. Der in Alexandria lebende jüdische Schriftsteller Artapanos (3./2. Jahrhundert v. Chr.) identifizierte den mythischen Dichter Musaios, den die Orphiker als Autorität betrachteten, mit Mose und stellte Orpheus als dessen Schüler dar. Ein unbekannter jüdischer Autor der hellenistischen Zeit, der in der Forschung als „Pseudo-Orpheus“ bezeichnet wird und wohl ebenfalls in Alexandria tätig war, verfasste ein Gedicht in Hexametern, das unter dem – nicht authentischen – Titel „Testament des Orpheus“ (diathḗkai „Testamente“) bekannt ist. Formal ahmte er eine orphische „Heilige Rede“ nach; inwieweit er auch orphisches Gedankengut übernahm, ist nicht deutlich zu erkennen. Orpheus, dem er den Text in den Mund legt, bekennt sich in diesen Versen zum Monotheismus; er bereut den Irrtum seines früheren Polytheismus und belehrt Musaios, der hier als sein Sohn und Schüler erscheint, über die Kosmologie. Das Gedicht fand viel Beachtung, es galt bei jüdischen und christlichen Autoren allgemein als authentisches Werk des Orpheus. Schon im 2. Jahrhundert v. Chr. wurde es von dem jüdischen Philosophen Aristobulos herangezogen, der nachweisen wollte, dass Orpheus ebenso wie Pythagoras, Sokrates und Platon wesentliche Lehren von Mose übernommen habe. Christentum Eine Beeinflussung des entstehenden Christentums durch die Orphik im 1. Jahrhundert gilt seit der wegweisenden Untersuchung dieser Frage, die André Boulanger 1925 veröffentlichte, nicht als plausibel. Im Neuen Testament findet sich nur eine Stelle, die möglicherweise einen Anklang an eine orphische Formel zeigt: „Ich bin (…) der Erste und der Letzte“ (Offenbarung des Johannes 22,13). Ab dem 2. Jahrhundert kommen in der christlichen Literatur einzelne Vorstellungen orphischen Ursprungs vor. Die Einschätzung des Orpheus und der Orphik bei den antiken christlichen Schriftstellern fiel zwiespältig aus. Die polytheistische orphische Mythologie wurde scharf zurückgewiesen und Orpheus auch ausdrücklich als Betrüger dargestellt. Andererseits meinten manche Kirchenväter, einzelne Aspekte des Orpheus-Mythos und Stellen im orphischen Schrifttum seien für die christliche Apologetik verwertbar. Dazu gehörte vor allem die jüdische Legende von der Bekehrung des Orpheus zum Monotheismus, die bei christlichen Autoren Glauben fand. Besonders Clemens von Alexandria nutzte die Legende; er zitierte Pseudo-Orpheus und wies auf die angebliche Konversion des berühmten griechischen Weisen hin. Gegen Ende des 4. Jahrhunderts, als das Römische Reich bereits christianisiert war, gehörte „Orpheus“ ebenso wie Homer zu den Autoren, deren Werke Schullektüre waren. Im Mittelalter fand zwar die Gestalt des Orpheus in der lateinischsprachigen Gelehrtenwelt Beachtung, aber die orphische Literatur war im Westen verschollen. Frühe Neuzeit Im 15. Jahrhundert gelangten Handschriften der orphischen Hymnen in den Westen, 1500 wurde in Florenz die Erstausgabe der Hymnen und der orphischen Argonautika gedruckt. 1561 fertigte Joseph Justus Scaliger eine lateinische Übersetzung der Hymnen an. Im Renaissance-Humanismus wurde Orpheus, der als historische Gestalt galt, im Sinne der neuplatonischen Tradition zusammen mit Platon, Pythagoras und anderen zu den weisen Menschheitslehrern und Religionsstiftern gezählt. Er galt als prominenter Vertreter der „altehrwürdigen Theologie“ (prisca theologia). Damit griffen die Humanisten einen Kerngedanken der orphischen Tradition auf. In diesem Sinne äußerte sich insbesondere Marsilio Ficino, für den Orpheus ein göttlich inspirierter Dichter war. Er legte die orphischen Hymnen, an deren Echtheit er nicht zweifelte, nicht nur aus, sondern pflegte sie auch zu singen. Der Philosoph Giovanni Pico della Mirandola stellte in seiner berühmten Rede De hominis dignitate fest, in den orphischen Hymnen sei ein göttliches Geheimnis verborgen, eine Lehre, die Orpheus in verhüllter Form dargeboten habe, wie es die Sitte der „altehrwürdigen Theologen“ gewesen sei; ihm – Pico – sei es gelungen, den verschleierten philosophischen Sinn zu entdecken. Im 18. Jahrhundert lagen Berichte über den asiatischen Schamanismus vor, der nun mit Orpheus und dem orphischen Impuls in der griechischen Kulturgeschichte in Verbindung gebracht wurde. Johann Gottfried Herder hielt Orpheus, den er sehr bewunderte, für einen Schamanen und schrieb ihm eine maßgebliche Rolle bei der Ausformung der griechischen Zivilisation zu. In der Encyclopédie schilderte Louis de Jaucourt 1765 die orphische Lebensweise in dem ihr gewidmeten Artikel sehr positiv. Er kennzeichnete sie als tugendhaft und religiös und beschrieb Orpheus, der die Orphik begründet habe, als den ersten Weisen und als Reformator, der die Wilden zivilisiert habe. Verbreitet war im 18. und noch im frühen 19. Jahrhundert die schon von antiken Autoren geäußerte Meinung, Orpheus sei der Gründer der eleusinischen Mysterien gewesen. Moderne In der französischen Literatur der Romantik, insbesondere der Dichtung, machten sich Vorstellungen und Bestrebungen bemerkbar, die in der Forschungsliteratur als „Orphismus“ (orphisme) bezeichnet worden sind. Dazu gehört eine metaphysische Deutung der Welt, die als Rätsel und Geheimnis aufgefasst wird, dessen Enträtselung dem Dichter obliegt. Dabei erscheint Orpheus als Prototyp des spirituell orientierten, inspirierten Dichters, der zugleich auch Seher und Wahrheitsverkünder ist. In der modernen Forschung kam es zu starken Schwankungen in der Einschätzung der Orphik. Hinsichtlich ihrer Relevanz im Rahmen der griechischen Kulturgeschichte und ihrer Fassbarkeit als abgrenzbares und beschreibbares Phänomen gingen die Meinungen im Verlauf der Forschungsgeschichte weit auseinander. Friedrich Creuzer hielt Orpheus für eine historische Gestalt. Er wies 1812 in seiner Untersuchung Symbolik und Mythologie der alten Völker Orpheus und der Orphik eine wichtige Rolle bei der Formung der frühgriechischen Kultur zu. Dagegen wandte sich Christian August Lobeck, der in seinem 1829 veröffentlichten Aglaophamus eine kritische Sichtung des Quellenmaterials vornahm. Im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert stufte eine starke Forschungsrichtung (Erwin Rohde, Albrecht Dieterich, Otto Kern) die Orphik als eigenständige Religionsform mit deutlichen Konturen ein und betonte deren Gegensatz zur griechischen Volksreligion. Rohde unterschied scharf zwischen einer authentischen griechischen Religion ohne Erlösungsverheißung und der Erlösungsreligion der Orphiker, die orientalischen Ursprungs und ihrer Natur nach ungriechisch sei; sie habe in der griechischen Kultur einen Fremdkörper gebildet. Gegen eine Überschätzung der Bedeutung der Orphik in der griechischen Kulturgeschichte wandten sich die „Minimalisten“ (Skeptiker). Unter ihnen war im frühen 20. Jahrhundert Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff der prominenteste. Weitere Vertreter dieser Richtung waren André-Jean Festugière, Ivan M. Linforth und Eric Robertson Dodds. Hinter den Debatten der Gelehrten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts stand die allgemeine, damals kontrovers diskutierte Frage, wie „rational“ die „klassische“ griechische Kultur war und wie bedeutsam orientalische Einflüsse waren. Eine wichtige Rolle spielte auch die stark umstrittene, brisante Frage, ob bzw. inwieweit das Christentum als Erlösungsreligion „heidnische“ Vorläufer hatte, zu denen manche Forscher – darunter Eduard Zeller, Ernst Maass und Robert Eisler – die Orphik zählten. Extreme und besonders einflussreiche Varianten der Parallelisierung von Orphik und Christentum vertraten Salomon Reinach und Vittorio Macchioro, die eine Vorbildfunktion der Orphik für das christliche Erlösungskonzept annahmen. Auch Nietzsche sah in der Orphik einen Vorläufer des Christentums und wertete sie aus diesem Grund als Dekadenzphänomen in der griechischen Religionsgeschichte. Die Betrachtung der Orphik unter diesem Gesichtspunkt führte zu einer verzerrten Perspektive und zu Vorstellungen von einer einheitlichen kirchenartigen Struktur der orphischen Bewegung mit Gemeinden, Dogmen und gemeinsamen Riten. In der neueren Forschung dominieren gemäßigte Varianten der „maximalistischen“ Auffassung, deren Vertreter die kulturgeschichtliche Relevanz und Definierbarkeit der Orphik bejahen. Alberto Bernabé, der 2004–2007 die jetzt maßgebliche Edition der orphischen Fragmente publiziert hat, gilt als „Maximalist“. Ein profilierter Wortführer der Skeptiker ist Radcliffe G. Edmonds III. Angesichts der Komplexität der nur zu einem kleinen Teil durchschaubaren Zusammenhänge und Beeinflussungen wird konstatiert, dass sich die Orphik nicht sauber von anderen, verwandten Strömungen abgrenzen lässt. Ausgaben und Übersetzungen Alberto Bernabé (Hrsg.): Poetae epici Graeci. Testimonia et fragmenta. 2. Teil: Orphicorum et Orphicis similium testimonia et fragmenta. 3 Bände. Saur, München 2004–2007 (maßgebliche kritische Ausgabe) Alberto Bernabé, Ana Isabel Jiménez San Cristóbal (Hrsg.): Instructions for the Netherworld. The Orphic Gold Tablets. Brill, Leiden 2008, ISBN 978-90-04-16371-3 (kritische Ausgabe mit englischer Übersetzung und Kommentar) Angelo Tonelli: Eleusis e Orfismo: I Misteri e la tradizione iniziatica greca. Feltrinelli, 2015, ISBN 978-8807901645 Marie-Christine Fayant (Hrsg.): Hymnes orphiques. Les Belles Lettres, Paris 2014, ISBN 978-2-251-00593-5 (kritische Edition mit französischer Übersetzung) Carl R. Holladay (Hrsg.): Fragments from Hellenistic Jewish Authors. Band 4: Orphica. Scholars Press, Atlanta (Georgia) 1996, ISBN 0-7885-0143-7 (kritische Ausgabe mit englischer Übersetzung und Kommentar) Mirjam E. Kotwick, Richard Janko (Hrsg.): Der Papyrus von Derveni. De Gruyter, Berlin/Boston 2017, ISBN 978-3-11-041473-8 (altgriechischer Text mit deutscher Übersetzung, Einleitung und ausführlichem Kommentar) Theokritos Kouremenos u. a. (Hrsg.): The Derveni Papyrus. Olschki, Firenze 2006, ISBN 88-222-5567-4 (kritische Edition mit englischer Übersetzung und Kommentar) Joseph O. Plassmann: Orpheus. Altgriechische Mysterien. 2. Auflage. Diederichs, München 1992, ISBN 3-424-00740-4 (Übersetzung orphischer Hymnen) Francis Vian (Hrsg.): Les Argonautiques orphiques. Les Belles Lettres, Paris 1987, ISBN 2-251-00389-4 (kritische Edition mit französischer Übersetzung) Markus W. BENEŠ (Hrsg.): Lithika: Altgriechisch und Deutsch (Steinklassiker) [Über die Steine, De lapidibus]. Nornenthal, Wien 2023, ISBN 979-8377441144 (altgriechischer Text mit deutscher Übersetzung) Literatur Übersichtsdarstellungen Alberto Bernabé: Orphische Schriften. In: Christoph Riedweg u. a. (Hrsg.): Philosophie der Kaiserzeit und der Spätantike (= Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike. Band 5/2). Schwabe, Basel 2018, ISBN 978-3-7965-2629-9, S. 1176–1201 Luc Brisson: Orphée, orphisme et littérature orphique. In: Richard Goulet (Hrsg.): Dictionnaire des philosophes antiques. Band 4, CNRS Éditions, Paris 2005, ISBN 2-271-06386-8, S. 843–858. Fabienne Jourdan: Orpheus (Orphik). In: Reallexikon für Antike und Christentum. Band 26, Hiersemann, Stuttgart 2015, ISBN 978-3-7772-1509-9, Sp. 576–613. Jean-Michel Roessli: Orpheus. Orphismus und Orphiker. In: Michael Erler, Andreas Graeser (Hrsg.): Philosophen des Altertums. Von der Frühzeit bis zur Klassik. Eine Einführung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2000, ISBN 3-89678-177-4, S. 10–35. Untersuchungen Anthi Chrysanthou: Defining Orphism. The Beliefs, the ›teletae‹ and the Writings. de Gruyter 2020, Berlin, ISBN 978-3-11-067839-0. Radcliffe G. Edmonds III (Hrsg.): The „Orphic“ gold tablets and Greek religion. Further along the path. Cambridge University Press, Cambridge 2011, ISBN 978-0-521-51831-4. Radcliffe G. Edmonds III: Redefining Ancient Orphism. A Study in Greek Religion. Cambridge University Press, Cambridge 2013, ISBN 978-1-107-03821-9. Fritz Graf, Sarah Iles Johnston: Ritual Texts for the Afterlife. Orpheus and the Bacchic Gold Tablets. Routledge, London 2007, ISBN 978-0-415-41550-7. Martin L. West: The Orphic Poems. Clarendon Press, Oxford 1983, ISBN 0-19-814854-2. Rezeption Miguel Herrero de Jáuregui: Orphism and Christianity in Late Antiquity. De Gruyter, Berlin 2010, ISBN 978-3-11-020633-3. Weblinks Ausgabe der orphischen Fragmente von Otto Kern, 1922 (überholt) Die orphischen Hymnen (englische Übersetzung von Thomas Taylor, 1792) Die orphischen Hymnen (englische Übersetzung von Virginia Stewart-Avalon) Hermann Sauter: Die orphischen Argonautika Anmerkungen Orphik Vegetarismus
299521
https://de.wikipedia.org/wiki/Leopard%201
Leopard 1
Der Leopard 1 ist ein deutscher Kampfpanzer – der erste in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte. Insgesamt wurde er in 13 Staaten auf fünf Kontinenten eingesetzt. Durch beständige Kampfwertsteigerungen ist er auch im 21. Jahrhundert in einigen Armeen zu finden. Von 1964 bis 1984 wurden 4700 Exemplare gebaut. Hersteller Krauss-Maffei Wegmann bietet mehrere Nachrüst-Varianten an, um Produktkonfigurationen den gewünschten Schwerpunkten bei Feuerkraft, Schutz, Mobilität und Logistik anzupassen. 2003 wurde der Leopard 1 bei der Bundeswehr außer Dienst gestellt. Entstehungsgeschichte Die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik ab Mitte der 1950er-Jahre führte zur Erstausstattung der Bundeswehr mit US-amerikanischen und britischen Panzerfahrzeugen. Die deutsche Rüstungsindustrie war zu dieser Zeit nicht in der Lage, an die seit 1945 fortgeschrittene Panzerentwicklung anzuschließen. Mit der Unterstützung ausländischer Hersteller versuchte Daimler-Benz, den Entwicklungsrückstand aufzuholen. Gemeinsam mit der Porsche KG, der ZF Friedrichshafen, der Ruhrstahl AG und der indischen Tata-Gruppe sollte für Indien ein Kampfpanzer entwickelt werden. Dieses Projekt scheiterte jedoch. Die Erkenntnisse erlaubten Porsche die Teilnahme an der Entwicklung des ersten Kampfpanzers für die Bundeswehr. Am 23. November 1956 kam ein den NATO-Standards entsprechender Forderungskatalog heraus. So sollte der Kampfpanzer ein Gesamtgewicht von 30 Tonnen aufweisen und dabei hochbeweglich sowie wartungsfreundlich sein. Panzerung und Feuerkraft waren sekundär. Die Entscheidung, Beweglichkeit vor Panzerschutz zu setzen, ist damit zu begründen, dass die zu dieser Zeit verfügbare Panzerungstechnologie keinen vertretbaren Schutz vor Hohlladungsgeschossen bot. Zudem hatten die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs gezeigt, dass einerseits eine gute operative Beweglichkeit von hoher Wichtigkeit war. Andererseits wollten die Planer nun mehr Plattformmodelle von Panzern, die sich lediglich durch ihre Aufbauten unterschieden. Im Juni 1957 schlossen Frankreich und Deutschland ein Militärabkommen, das zum Ziel hatte, gemeinsamen einen Kampfpanzer zu entwickeln. In Abstimmung mit dem französischen Verteidigungsministerium (DEFA) veröffentlichte das Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) am 25. Juli 1957 die neuen Anforderungen. Diese waren: 30 Tonnen Gesamtgewicht, Vielstoffmotor mit einem Leistungsgewicht von 30 PS/t, Technik auf dem letzten Stand und eine maximale Breite von 3,15 Metern. Der Fokus lag besonders auf der Hauptbewaffnung und deren Ziel- und Richtmittel. So wurden Treffsicherheit bei Tag und Nacht sowie eine Durchschlagsleistung von 150 Millimeter starkem Panzerstahl bei um 30° geneigter Auftrefffläche und einer Entfernung zwischen 2000 und 2500 Metern gefordert. Die Panzerung sollte auf kurze Distanz gegen 20-Millimeter-Geschosse schützen, und eine ABC-Schutzbelüftungsanlage den Einsatz in atomar kontaminiertem Gelände für 24 Stunden ermöglichen. Ein Jahr später, am 1. April 1958, folgte eine Ergänzung der Forderungen. Deutschland beabsichtigte, die maximale Breite auf 3,25 Meter zu erhöhen, Frankreich forderte jedoch, diese auf 3,10 Meter zu reduzieren. Im September 1958 trat Italien der Entwicklungsgemeinschaft bei. Am 6. Mai 1959 kam es zu einer Einigung über die Entwicklung und den Bau von je zwei Prototypen I mit den Arbeitsgruppen A, B und der DEFA. Das Bundesamt für Wehrtechnik und Beschaffung (BWB) wickelte das Projekt ab. Es bildeten sich drei Gemeinschaftsbüros zur Bewältigung dieser Aufgabe: Arbeitsgruppe A: Die Unternehmen Porsche, Atlas-MaK, Luther-Werke und Jung-Jungenthal. Arbeitsgruppe B: Die Unternehmen Ruhrstahl AG, Rheinstahl-Hanomag und Rheinstahl-Henschel Arbeitsgruppe C: Das Unternehmen C. F. W. Borgward trug die Kosten der Entwicklung zum Teil allein. Nach dem Zusammenbruch des Unternehmens wurde 1961 die Panzerentwicklung eingestellt. Zudem wurde die Verwirklichung des Entwurfs vom Bundesministerium der Verteidigung als zu risikoreich eingestuft. Die Unternehmen Rheinmetall und Wegmann übernahmen die Turmherstellung. Insgesamt wurden vier Prototypen in Deutschland und ein Prototyp in Frankreich gefertigt. Die Finanzierung aller Prototypen übernahm Deutschland. Auf der Grundlage der Erkenntnisse entwickelten die Arbeitsgruppen A und B den Prototyp II, wobei Gruppe B im Oktober 1961 die Arbeit wegen technischer Schwierigkeiten sowie Einsparungen einstellte und nur zwei von sechs Kampfpanzern lieferte. Im April 1963 waren die Vergleichserprobungen der Arbeitsgruppen abgeschlossen. Der Panzer wurde am 11. Juli 1963 unter der Bezeichnung „Standardpanzer“ der Öffentlichkeit vorgestellt. Zeitgleich lief die Produktion der Nullserie (Porschenummer 814) mit 50 Panzern, die im Juni 1961 angelaufen war. Sie basierten auf dem Prototyp II und dienten der Erprobung in der Wehrtechnischen Dienststelle 91 auf dem Schießplatz Meppen. Höhepunkt war eine Vergleichserprobung des damals noch namenlosen deutschen Standardpanzers gegen den französischen Panzer vom Typ AMX-30. Sie fand unter italienischer Leitung im August 1963 auf dem Truppenübungsplatz Mailly-le-Camp in der Champagne statt und stellte die hohe Leistungsfähigkeit des deutschen Modells unter Beweis. Es war trotz sechs Tonnen Mehrgewicht etwa zehn Prozent schneller und beschleunigte um 18 Prozent besser als sein französisches Gegenstück. Aufgrund der geänderten Verteidigungsstrategie Frankreichs konnten bis 1965 keine Gelder für die Panzerfertigung freigemacht werden. Jedoch beabsichtigte die Bundeswehr, ihre M47 zu ersetzen. Man einigte sich auf eine nationale Panzerfertigung und stellte den Panzer am 1. November 1963 in Anlehnung an den Inspizienten der Panzertruppe unter dem Namen „Leopard“ vor. Die „Taufe“ fand am 4. Oktober 1963 statt, auf Weisung des Führungsstabes des Heeres durch den Kompaniechef der 2. Kompanie des Panzerlehrbataillons 93, Hauptmann Schmidt. Am 9. September 1965 übernahm Bundesverteidigungsminister Kai-Uwe von Hassel den ersten serienmäßig hergestellten Kampfpanzer (damaliger Einzelstückpreis 950.000 DM), der bei der Krauss-Maffei AG (heute Krauss-Maffei Wegmann) in München vom Band rollte, und übergab ihn an die 4. Kompanie des Panzerlehrbataillons 93. Damit begann die Einführung von zunächst 1500 Kampfpanzern dieses Typs in die Verbände des I. und III. Korps der Bundeswehr. Bis 1968 erhöhte die Bundeswehr ihre Bestellung auf 1845 Fahrzeuge mit einer Option für 111 weitere. Von 1965 bis 1978 wurden 2437 Kampfpanzer sowie 1165 auf dem Fahrgestell Leopard beruhende Abwandlungen an die Bundeswehr geliefert. Weitere 2691 Leopard-Panzer kauften Belgien, Dänemark, Italien, die Niederlande, Norwegen, Australien, Kanada, Griechenland und die Türkei im selben Zeitraum. Nach Beginn der Serienfertigung erhielt Porsche den Auftrag für eine Weiterentwicklung. Daraufhin wurde eine intern unter der Bezeichnung vergoldeter Leopard geführte Studie erarbeitet, die am 6. Juli 1965 als Vorschläge zur Kampfwertkraftsteigerung des Kampfpanzers Leopard vorgelegt wurden. So wurde angeregt: Steigerung der Feuergeschwindigkeit durch eine Ladeautomatik, Steigerung der Trefferwahrscheinlichkeit, größerer Richtbereich der Hauptwaffe, stärkere Koaxialwaffe, fernbedienbares Fliegerabwehr-MG, stärkerer Motor (809 kW) mit verbesserter Kühlanlage, verbesserte Turmfront und ein verbessertes Fahrgestell inklusive Federn und Panzerschutz. Im Jahr 1967 war die Studie beendet. Durch Schwierigkeiten beim Kampfpanzer-70-Projekt sah sich das Bundesministerium der Verteidigung veranlasst, das Projekt vergoldeter Leopard mit dem Ziel einer Neuentwicklung und der Kampfwertsteigerung des Leopard 1 voranzutreiben. Aufgrund des Entwicklungsvertrages zum Kampfpanzer 70 und des Verbotes einer Neuentwicklung lief das Vorhaben unter dem Begriff Experimentalentwicklung mit einem Gesamtvolumen von 32 Millionen DM, wovon 25 Millionen genehmigt wurden. Am 7. November 1968 schloss das BMVg den Vertrag mit Krauss-Maffei. Der Panzer hatte ein Gesamtgewicht von 40 Tonnen und ähnelte bereits dem Leopard 2. Als im Jahr 1969 das Projekt Kampfpanzer 70 scheiterte, wurde im Auftrag des Bundesamtes für Wehrtechnik und Beschaffung durch Krauss-Maffei eine Studie unter dem Namen „Eber“ gebaut. Dieser Panzer vereinte die Technik des Kampfpanzers 70 mit dem konventionellen Panzerbau. Die mit 25 Millionen finanzierte Entwicklung wurde darauf von Krauss-Maffei und seinen Partnern als Experimentalentwicklung „Keiler“ vorgestellt. Mit der Entscheidung im Jahr 1970 zum Bau des Leopard 2 wurden die Kampfwertsteigerungen verworfen und auf Basis des Projektes „Keiler“ die Neuentwicklung begonnen. Die Gesamtkosten für die Entwicklung, Prototypenfertigung, Truppenversuche und weiteres betrugen 249.030.222 Deutsche Mark. Die letzten Kampfpanzer Leopard 1A5 wurden am 19. Dezember 2003 mit der Außerdienststellung des Panzerbataillons 74 in Cuxhaven/Altenwalde aus dem aktiven Dienst in der Bundeswehr genommen. Technik Allgemeines Der Leopard basiert auf dem Porsche-Typ 814 und ist eine Weiterentwicklung der 0-Serie. Als Turmpanzer in konventioneller Anordnung ausgeführt, verfügt er über eine 4-Mann-Besatzung. Der Kommandant befindet sich rechts im Turm, unter ihm zu seinen Füßen sitzt der Richtschütze, auf der anderen Seite der Bordkanone und somit links der Ladeschütze. Die Wanne beherbergt neben dem Fahrer einen Munitionshalter für die Hauptwaffe sowie eine ABC-Schutz- und Belüftungsanlage, die durch das Ansaugen von Außenluft über Filter einen Überdruck erzeugt. Gegen Feuer besitzt ausschließlich der Triebwerksraum eine Brandunterdrückungsanlage. Das Löschmittel ist Halon. Die vier Löschmittelbehälter befinden sich beim Fahrer. Zwei der Behälter lösen automatisch aus, zwei weitere können manuell ausgelöst werden. Durch den Aufbau eines Unterwasserfahrschachtes und der Tauchhydraulik können Gewässer bis zu einer maximalen Tiefe von vier Metern durchfahren werden. Dabei werden alle Luken bis auf die des Kommandanten verschlossen. Die Tauchhydraulik schließt dabei Be- und Entlüftungen am Motor und öffnet eine Brennluftklappe am Motorschott im Panzerinneren. Über diese saugt der Motor beim Waten, Tiefwaten und Unterwasserfahren die Verbrennungsluft über die Kommandantenluke mit aufgesetzten Tiefwat- oder Unterwasserfahrschacht an. Der Kommandant steht bei der Durchfahrt in diesem Schacht und unterstützt den Fahrer beim Durchfahren. Gleichzeitig dient der Schacht bei einer Havarie als Notausstieg. Da ein Wassereintritt nicht vollständig zu vermeiden ist, verfügt der Leopard über zwei Lenzpumpen. Der Panzer ist voll nachtkampf- und eingeschränkt allwetterfähig. Es besteht die Möglichkeit zum Einbau eines Restlichtverstärkers für Fahrer und Ladeschütze. Dabei wird ein Winkelspiegel entfernt. Panzerung Die Wanne besteht aus geschweißtem Panzerstahl und wird durch eine querlaufende Trennwand in Kampf- und Triebwerkraum getrennt. Die Bugpanzerung beträgt 70 Millimeter und ist in einem Winkel von 30° schräg gestellt, was einer Durchschlagslänge von 140 Millimetern entspricht. Die Seitenpanzerung beträgt im Durchschnitt 30/35 Millimeter, Wannenboden und Heck haben 20 und 25 Millimeter starke Panzerplatten. Die Panzerstärke des Gussturms beträgt bis zu 60 Millimeter, die beim A2 aufgedickt und im späteren Kampfwertsteigerungsprogramm durch gummierte Stahlplatten verstärkt wurde. Die mit Abstand und an der Turmfront zusätzlich schockgedämpft (mit Shock-mounts genannten Gummielementen) auf der Grundpanzerung angeschraubten Platten hatten die Aufgabe, anfliegende Geschosse frühzeitig zu zünden und Explosionsenergie abzubauen. Die Türme der Ausführungen A3 und A4 wurden geschweißt und verfügten über eine Schottpanzerung mit gleicher Schutzstufe. Eine nachträgliche Zusatzpanzerung gab es nicht. Mit seinen neun Tonnen war der Gussturm von Wegmann im Vergleich zu den zwölf Tonnen des M48 oder den 15 Tonnen des Chieftain verhältnismäßig leicht. Antrieb und Laufwerk Als Laufwerk wurde ein drehstabgefedertes Stützrollenlaufwerk gewählt. Die sieben Laufrollenpaare sind mit den Drehstäben über Schwingarme verbunden, wobei die ersten drei und die letzten beiden Laufrollen je mit einem hydraulischen Stoßdämpfer versehen sind. Kegelstumpffedern begrenzen den Ausschlag der Schwingarme. Als Gleiskette diente in den Anfangsjahren eine gummigelagerte Verbinderkette mit fester Gummipolsterung, die im fünften Baulos durch eine „lebende“ Endverbinderkette mit auswechselbaren Kettenpolstern des Herstellers Diehl ersetzt wurde. Der Dieselmotor MB 838 CaM-500 ist ein aufgeladener Zehnzylinder-V-Motor mit 90° Bankwinkel. Der von Daimler-Benz entwickelte Motor mit zwei mechanisch angetriebenen Kompressoren und Vorkammereinspritzung wurde von der damaligen DB-Tochterfirma Maybach-Motorenbau GmbH (ab 1966 Maybach Mercedes-Benz Motorenbau GmbH bzw. MTU Friedrichshafen) hergestellt. Obwohl der Motor konstruktiv bereits für den Vielstoffbetrieb ausgelegt war, wurde die Vielstofffähigkeit erst nach Serieneinführung durch technische Änderungen umgesetzt. Der Hubraum ist mit 37,4 Litern angegeben, die installierte Leistung beträgt 610 kW und ist höher als die der Prototypen 837 Aa und 838 Ca500. Um die Ölversorgung an allen Schmierstellen bei extremen Schräglagen sicherzustellen, wurde eine Trockensumpf-Druckumlaufschmierung eingebaut. Die Schaltvorgänge des Planetengetriebes mit vier Vorwärts- und zwei Rückwärtsgängen erfolgen elektrohydraulisch. Die Lenkung des integrierten Überlagerungslenkgetriebes ist abhängig von Motordrehzahl und Geschwindigkeit. Ein Novum im Motorenbau war das Zusammenfassen von Motor, Kühlanlage sowie Schalt- und Lenkgetriebe in einem Triebwerksblock. Diese Bauweise erlaubt durch Schnellkupplungen ein rasches Trennen des Elektrik- und Kraftstoffkreises. Der Wechsel des kompletten Leopard-1-Triebwerkes dauert mit Vor- und Nacharbeiten etwa 30 min. Bei seinem Nachfolger, dem Leopard 2, konnte diese Zeit auf die Hälfte reduziert werden. Eine 9-kW-Drehstromlichtmaschine stellt die Bordspannung von 24 V bereit. Um die Infrarot-Signatur zu reduzieren und damit Infrarotzielsystemen die Ortung zu erschweren, werden die heißen Abgase beiderseits vor dem Austritt aus den hinteren Gitterrosten (Grätings) mit der Kühlerabluft vermischt. Für heiße Regionen und hohe Außentemperaturen entwickelte Krauss-Maffei ein sogenanntes Tropical Kit. Mit diesem Nachrüstsatz konnte die Kühl- und Kraftstoffanlage modifiziert werden. Ein weiterer Rüstsatz verbesserte die Geländegängigkeit durch die Verwendung hydraulischer Endanschlagsdämpfer und eines optimierten verkleinerten Leitrades. Bewaffnung Waffenanlage Die Hauptbewaffnung besteht aus der deutschen Lizenzproduktion L7A3 der weit verbreiteten britischen Hochleistungskanone Royal Ordnance L7. Die Kanone ist bei einem Kaliber von 105 mm 51 Kaliber lang, mit einem Rauchabsauger ausgestattet und wie damals üblich mit einem Feld/Zug-Profil versehen. Der Schwenkbereich des Turms beträgt 360°, der Höhenrichtbereich der Kanone von −9° bis +20°. Untergebracht ist die Bordkanone neben der Turmbesatzung im Drehturm. Der Richt- und Schwenkvorgang der Waffennachführanlage läuft elektro-hydraulisch. Mit der Umrüstung zum A1 im Jahr 1971 und dem Angleich der ersten Baulose erhielt die Waffe eine Wärmeschutzhülle zum Ausgleich der Temperaturbeeinflussung bei Sonnenbestrahlung, Regen und Schnee und – wesentlicher – gegen Verzug infolge der Erwärmung beim Schuss. Beim Einsatz der ABC-Schutzanlage kann die Hauptwaffe nur noch die bereits im Rohr befindliche Munition verschießen. Das automatische Öffnen des Verschlusses wird durch Auskoppeln der Auflauframpe blockiert. Der Verschluss kann manuell geöffnet werden, wodurch jedoch die ABC-Sicherheit nicht mehr gegeben ist. Als Sekundärbewaffnung dient ein koaxial zur Bordkanone angeordnetes Maschinengewehr und ein um 360° drehbares Fliegerabwehr-MG auf dem Turm. Die Bewaffnung kann hier, wie bei der Nebelmittelwurfanlage, je nach Einsatzland variieren. Um bei Manövern, Übungen oder während der Ausbildung den Abschuss der Bordkanonen ohne scharfen Schuss darzustellen, verfügt der Leopard 1 über Aufnahmen für das KADAG (Kanonen-Abschuss-DArstellungs-Gerät) oder DARKAS (DARstellung-Kanonen-AbSchuss). Hinten auf der Kanone montiert, simuliert es den beim Abschuss der Hauptwaffe entstehenden Knall, Rauch und Blitz. Waffenstabilisierung Der Panzer besitzt seit der Version A2 eine gyroskopisch geregelte Waffenstabilisierungsanlage, welche die Bordkanone während der Fahrt stets auf das Ziel richtet. Die damalige Technik – das Stabilisieren der Waffe und Nachführen der Optiken – diente jedoch vorrangig nur zur besseren Zielaufklärung und Beobachtung während der Bewegung, um die sonst benötigten Schießhalte für die Eröffnung des Feuerkampfes zu minimieren. Mit einer eingeübten Besatzung war ein Feuerkampf aus der Bewegung bedingt möglich. Eine hohe Erstschusstrefferwahrscheinlichkeit wie beim Leopard 2 war jedoch bis zur Nutzung von dessen Feuerleitanlage im 1A5 nicht umsetzbar. Feuerleit- und Zielausrüstung Die Entfernungsmessung erfolgt vor dem Leopard 1A5 optomechanisch. Das Turmentfernungsmessgerät (TEM) mit 16-facher Vergrößerung war bis zum Leopard 1A4 das Herzstück der Feuerleitanlage und ermöglichte dem Richtschützen die Entfernungsermittlung nach dem Misch- oder Raumbildprinzip. Der Aufsatzwinkel der geladenen Munition war vom Richtschützen manuell per Hebel einzustellen. Der Leopard 1A4 war mit dem optischen Raumbildentfernungsmesser EMES-12A1 ausgestattet. Als zweites Zielgerät stand das Turmzielfernrohr (TZF) mit 8-facher Vergrößerung zur Verfügung. Bei Ausfall des TEM war es als Notzielgerät vorgesehen, die Schussentfernung wurde geschätzt und mittels einer Skala im Strichbild für die jeweilige Munition eingestellt. Zudem erlaubte es den Feuerkampf in der Bewegung, weil der waffenparallele Einbau in die Blende die Waffenstabilisierung auf diese Optik übertrug. Das Turmrundblickpankrad (TRP) stand dem Kommandanten als Beobachtungs-, Ziel- und Entfernungsmessgerät zur Verfügung. Bei Bedarf konnte er den Richtschützen komplett übersteuern, um im Notfall selbst den Feuerkampf zu führen. Das stabilisierte Rundblickperiskop PERI R12 im Leopard 1A4 erlaubte hingegen dem Kommandanten erstmals, Ziele während der Fahrt zu suchen und dem Richtschützen zuzuweisen. Es gab dieser Variante Hunter/Killer-Fähigkeit. Für den Nachtkampf verfügte der Kampfpanzer zunächst über einen IR-/Weißlicht-Schießscheinwerfer zur Zielbeleuchtung. Wurde mit Infrarotlicht beleuchtet, musste der Kommandant das Schießen übernehmen, da dessen TRP gegen ein Infrarot-Zielfernrohr getauscht wurde. Die Nachtkampffähigkeit des 1A4 wurde durch Umschalten des PERI R12 auf den IR-Kanal erreicht. Der Scheinwerfer wurde im Gefecht verteilt eingesetzt und ließ sich deshalb nur aus dem Stand nutzen. So übernahmen abwechselnd Beleuchtungspanzer die Aufgabe des Beleuchtens, während ein zweiter Panzer den Gegner bekämpfte. Die Einstellungen des Scheinwerfers waren streuend beim Suchen oder gebündelt zur Zielbeleuchtung beim Kampf. In den Anfangsjahren waren nur wenige Kampfpanzer mit dem Schießscheinwerfer ausgestattet. Lediglich die Fahrzeuge der Zugführer und des Kompaniechefs verfügten über den XSW-30-U von AEG-Telefunken zur Zielbeleuchtung. Die durchschnittliche Kampfentfernung von 2,5 Kilometer am Tag sank mit dem Schießscheinwerfer auf 1,2 Kilometer bis 1,5 Kilometer. Mit der Einführung des Restlichtverstärkers PZB 200 wurde diese Form der Gefechtsführung zunehmend bedeutungslos. Mit der letzten Kampfwertsteigerung zum 1A5 erhielten Kommandant und Richtschütze ein gemeinsames Wärmebildgerät, das mit dem Laserentfernungsmesser (LEM) im Hauptzielgerät EMES-18 untergebracht war. Mit dem WBG-X von Zeiss stieg die Aufklärungsreichweite gegenüber dem PZB 200 enorm. So konnten Ziele am Tag – je nach Wetterbedingungen – in einer Entfernung bis zu 3000 Metern entdeckt und bei 2000 Metern identifiziert werden. Die angepasste Feuerleitanlage des Leopard 2 machte das Richten und Schießen für den Richtschützen einfacher. Zudem erfolgte das Einstellen der geladenen Munitionssorte beim EMES durch den Ladeschützen per Taster. Munition Durch die Verwendung einer Zugrohrkanone konnte der Leopard 1 eine Reihe von Munitionsarten verschießen. So stand als panzerbrechendes Wuchtgeschoss die APDS-Munition (Armor Piercing, Discarding Sabot) zu Verfügung, die ab den 1980er-Jahren durch die flügelstabilisierte Variante APDSFS-T (Armor Piercing, Discarding Sabot, Fin-Stabilized-Tracer) ersetzt wurde. Für die damalige Zeit üblich, wurde als Sprengmunition das Quetschkopfgeschoss (HESH – High Explosive Squash Head) eingesetzt, das jedoch nach dem Aufkommen von Schott- und Verbundpanzerung durch Hohlladungsmunition (HEAT – High Explosive Anti Tank) ersetzt wurde. Vor der Einführung der Wärmebildgeräte konnten „Illum“-Leuchtpatronen zur Gefechtsfeldbeleuchtung verschossen werden. Des Weiteren waren Nebel- und Canistermunition verfügbar. Für jede Gefechtspatrone gab es Übungsmunition ohne scharfen Gefechtskopf sowie Exerziermunition zum Einüben der Bewegungsabläufe. Gegenüber der schwarzen Gefechtsmunition waren diese blau (Üb) bzw. oliv (Ex) markiert. Der Munitionsvorrat der deutschen Kampfpanzer betrug 60 Patronen, später 55 Patronen, für die Hauptwaffe sowie 5000 Schuss für die Sekundärbewaffnung. Technische Daten Einsatzerfahrungen Dänemark setzte den Leopard 1 als erstes Nutzerland im Kampf ein. Im Rahmen der Schutztruppe der Vereinten Nationen im ehemaligen Jugoslawien dienten die Kampfpanzer als Unterstützungsfahrzeuge des dänischen Kontingents. Bei der Operation Bøllebank 1994 kam es erstmals zu Kampfhandlungen. Kanada entsandte eine Kompanie der Lord Strathcona’s Horse (Royal Canadians), ausgerüstet mit Leopard C2 mit und ohne Zusatzpanzerung, zwei Bergepanzern und zwei Werkstattwagen nach Afghanistan. Die Panzergruppe sollte Konvois beschützen und die Kanada unterstellten Provincial Reconstruction Teams (PRT) sowie andere nur mit leichten Fahrzeugen ausgerüstete Organisationen unterstützen. Die ersten Panzer erreichten Kandahar Mitte Oktober 2006. Am 2. Dezember 2006 wurden die Panzer in Kandahar in Dienst gestellt, womit Kanada das erste Mal seit dem Koreakrieg Panzer in eine Kriegszone entsandte. Erstmals seit dieser Zeit feuerten kanadische Panzer ihre Kanonen auf den Feind ab, als sie am folgenden Tag einen Raketenüberfall der Taliban mit Feuer erwiderten. Ebenfalls im Einsatz waren die kanadische Variante des Pionierpanzers Dachs und seit August 2007 kanadische Leopard 2A6M CAN. Varianten Die Produktion des Leopard wurde in Baulosen abgewickelt. Rund 2.700 Unternehmen waren am Bau beteiligt. Darunter waren die Blohm & Voss AG, MTU Friedrichshafen, die ZF AG, die Rheinmetall GmbH, die Wegmann & Co. GmbH, AEG Telefunken, die Drägerwerke, die Anton Piller KG sowie die Eberspächer KG. Außer in Deutschland wurde und wird der Leopard 1 in Australien, Belgien, Brasilien, Chile, Dänemark, Griechenland, Italien, Kanada, den Niederlanden, Norwegen und der Türkei verwendet. Auf dem Leopard basierende Berge- und Pionierpanzer werden in Australien, Brasilien, Chile, Dänemark, Deutschland, Griechenland, Italien, Kanada, den Niederlanden, Norwegen, Polen und der Türkei eingesetzt. Um die Weiterentwicklung des Waffensystems Leopard und dessen Fahrzeug-Familie auf eine gemeinsame Basis zu stellen, wurde 1969 von Deutschland, Belgien, den Niederlanden und Norwegen die LeoBen-Gemeinschaft (Leopard-benutzende Staaten) gegründet. In mehrere Arbeitsgruppen aufgeteilt und von einem Lenkungsausschuss gesteuert sind die Ziele, die Versorgung zu vereinfachen, das Waffensystem gemeinsam weiterzuentwickeln, die Instandsetzung zu vereinfachen, die Leopard-Familie an kommende Bedrohungen anzupassen sowie Kosten zu senken. Leopard Nullserie Die Nullserie entsprach in der Grundform schon dem Serienstand. Gegenüber der Serienfertigung verfügten die 50 Exemplare über eine eckige Ladeschützenluke ohne Ring, eine schräge Rückwand des Turmstaukorbes und eine andere Lafettierung des Flugabwehr-MG. Ebenfalls ein markantes Detail der Vorserie war der mittig auf der Kanonenblende angebrachte Schießscheinwerfer sowie der Schutz aus Segeltuch. Die Werkzeughalterungen an den Seiten sowie die Formgebung der Werkzeugkiste und Außenbordsprechstelle am Heck erfuhren ebenfalls Änderungen. Leopard Die Fertigung des 1. Bauloses mit 400 Fahrzeugen erstreckte sich von September 1965 bis Juli 1966. Die Grundausrüstung bestand aus gegossenen Türmen, konventioneller Feuerleitanlage, Turmentfernungsmesser (TEM) 2A, Turmrundblickperiskop (TRP) 2A, IR-Zielgerät B171 V, Turmzielfernrohr (TZF) 1A, elektrohydraulischer Waffenrichtanlage ohne Waffenstabilisierung, eckiger Außenbordsprechstelle, IR-Nachtsichtgeräten für Fahrer und Kommandant und einer Verbindergleiskette D139 E2 mit festem Kettenpolster. Der Schießscheinwerfer wurde auf der linken Seite der Kanonenblende installiert. Das Baulos 2 schloss nahtlos an und endete 1967 mit der Fertigung von 600 Leopard-Panzern. Die Änderungen umfassten eine runde Außenbordsprechstelle, einen Griff auf der Werkzeugkiste am Heck, Stützdreiecke für die Aufstiegshilfen am Turm, eine Regenrinne an der Unterseite des Turmhecks sowie einen Geschossabweiser für den Turmdrehkranz und Halterungen für die Kettenblenden. Das dritte Baulos folgte im Juli 1967 bis August 1968. Die Ausstattung änderte sich nicht, jedoch wurden Heißösen für die Verladung angeschweißt. 16 Leopard aus dem Los gingen nach Belgien. Die Gesamtstückzahl belief sich auf 484 Panzer. Baulos 4 folgte ebenfalls nahtlos und endete im Februar 1970. Die Gesamtstückzahl betrug 361 Stück. Die Änderungen umfassten einen klappbaren Tauchschacht, verbesserte Laufrollen und Treibradkränze. Die Abgasgrätings wurden ab diesem Baulos ohne senkrechte Verstrebungen als Strangpressprofile ausgeführt. Leopard A1 In den Jahren 1975 bis 1977 wurden alle Panzer des Loses 1 bis 4 einer Kampfwertsteigerung unterzogen und an das fünfte Baulos angepasst. So wurden alle Fahrzeuge mit einer auf Gummielementen befestigten Turmzusatzpanzerung ausgestattet und die Kanonenblende zusätzlich durch eine Stahlplatte gepanzert. Die so umgerüsteten Panzer trugen die Bezeichnung Leopard A1A1. Mit dem Angleich an den Leopard 1A4, dem Einbau der Funkgerätefamilie SEM 80/90 und des passiven Nachtziel- und Beobachtungsgeräts PZB 200 werden diese Panzer als Leopard 1 A1A4 bezeichnet. Fahrzeuge ohne PZB 200, jedoch mit SEM, trugen die Kennung A1A3. Fahrzeuge mit PZB 200 aber ohne SEM trugen die Kennung A1A2. Leopard A2 Die Fertigung des fünften Bauloses begann im April 1972 und endete im Mai 1973. Die mit dem Baulos um 232 Panzer gesteigerte Stückzahl diente zur Ablösung der M48 A2 beim II. Korps der Bundeswehr. Die Änderungen umfassten eine Aufdickung der Turmpanzerung, eine leistungsfähigere Verbrennungsluft-Filteranlage, verbesserte ABC-Filter, Bildverstärker (BiV)-Nachtsichtgeräte für Fahrer und Kommandant, Waffenstabilisierung für Waffenrichtanlage, Wärmeschutzhülle für die Kanone, Verbindergleiskette D 640A mit auswechselbaren Kettenpolstern und seitliche Kettenblenden. Mit eingeführt wurden ebenfalls Abschleppseile mit einer Länge von fünf Metern, um die Drei-Meter-Seile zu ersetzen. Im Turm wurde ein Schutzgitter nachgerüstet, um die Besatzung bei eingeschalteter Waffenstabilisierung vor den Bewegungen der innenliegenden Bordkanonenteile zu schützen. Leopard A3 Die letzten 110 Fahrzeuge des Bauloses 5 wurden vom Mai 1973 bis November 1973 gefertigt. Die Änderungen umfassten einen geschweißten langgestreckten Turm in Schottbauweise. Das Innenvolumen stieg um 1,5 Kubikmeter. Der Ladeschütze erhielt einen dreh- und kippbaren Winkelspiegel. Auf den Einbau eines Nahverteidigungssystems wurde aufgrund der hohen Selbstgefährdung verzichtet. Mit dem Ende des Kalten Krieges wurden die A3 aus dem Bestand genommen und verkauft. Leopard A4 Die Auslieferung des Bauloses 6 begann im August 1974 und endete im März 1976 mit einer Stückzahl von 250 Fahrzeugen. Die Änderung bestand in einer integrierten Feuerleitanlage für Kommandant und Richtschütze. Diese beinhaltete einen verbesserten optischen Entfernungsmesser (EMES 12A1), ein PERI R12 für den Kommandanten mit IR-Nachtsichtkanal und einen verbesserten Feuerleitrechner. Mit dem A4 war die Lieferung an die Bundeswehr abgeschlossen. Alle Modelle wurden mit einem PZB 200 (passives Ziel- und Beobachtungsgerät) nachgerüstet. Im Jahr 1989 wurden 235 Panzer des Loses aus dem Bestand genommen und zum A3 zurückgerüstet. 150 Panzer gingen an die Türkei, 75 nach Griechenland und 10 nach Dänemark. Andere Exemplare dienten auf den Schießplätzen der Bundeswehr als Hartziele oder wurden demilitarisiert an Museen abgegeben. Leopard 1A5 Mit der Kampfwertsteigerung von 1339 Leopard vom Oktober 1986 bis September 1992 aus den Baulosen 1 bis 4, davon 1225 aus dem Bestand der Bundeswehr, änderte sich die Bezeichnung zu 1A5. Nachfolgend werden alle Leopard um die Zahl 1 ergänzt. Die Umrüstung umfasste eine Verbesserung der Erstschusstrefferwahrscheinlichkeit aus der Bewegung sowie eine Verkürzung der Reaktionszeit durch eine neue Feuerleitanlage EMES 18 (angepasste FLA des Leopard 2 mit stabilisiertem Hauptzielfernrohr (HZF) und Laserentfernungsmesser, jedoch ohne Waffennachführanlage (WNA)), eine Verbesserung des ABC-Schutzes, eine Winkelspiegelwaschanlage für den Fahrer, verstärkte Schwingarmlagerungen und eine Feldjustieranlage. Eine weitere Änderung war die Vorbereitung zur Aufnahme der 120-mm-Bordkanone des Leopard 2. Wurden die A5 mit der neuen Funkgerätefamilie SEM 80/90 ausgestattet, erweiterte sich die Bezeichnung auf Leopard 1A5A1. Mit der Heeresstruktur 5 aus dem Jahr 1994 blieben 737 Leopard 1A5 bis zur Außerdienststellung im Jahr 2003 im Bestand der Bundeswehr. Alle Panzer werden laut dem Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa demilitarisiert, verschrottet oder verkauft. Die Verschrottung wurde im thüringischen Rockensußra, in der Demilitarisierungsstelle für Kriegsgerät durchgeführt. Leopard 1A6 Der 1A6 ist eine Projektstudie des Bundesamtes für Wehrtechnik und Beschaffung für einen Panzerabwehrkampfwagen aus dem Jahr 1986. Im Rahmen der Studie Panzerkampfwagen 90 wurden zwei Versuchsträger mit unterschiedlichen Rüstständen gebaut, der VT-2 und VT-5. Der VT-2 erhielt gegenüber dem VT-5 eine Turmzusatzpanzerung auf dem Dach, eine Reduzierung der IR-Signatur des Fahrwerks sowie eine Aufpanzerung der Wannenfront. Beide Versuchsträger verfügten über eine Brandunterdrückungsanlage (BUA) für den Kampfraum und die 120-mm-Waffenanlage. Der VT-5 erhielt dagegen ein Kommandanten-PERI. Der Gewichtszuwachs betrug 4,6 Tonnen beziehungsweise 3,5 Tonnen. Das Projekt wurde 1987 nach einer Dauererprobung in der Erprobungsstelle 41, der heutigen Wehrtechnischen Dienststelle 41, mit dem Nachweis seiner Erfüllbarkeit eingestellt. Der Leopard 1 in nichtdeutschen Streitkräften Australien Nach dem Truppenvergleich im Jahr 1972 wurden zwischen Juni 1976 und November 1978 insgesamt 90 Leopard an Australien geliefert. Sie entsprachen dem Leopard 1A3 auf dem Stand des 5. Bauloses. Zusätzlich verfügen die Fahrzeuge über ein Tropical Kit (verbesserte Kühlung der Motoren), hydraulische Endanschläge, seitliche Werkzeugkästen, Feuerleitanlage SABCA und einen Räumschild. In den 1990er-Jahren wurden die Panzer modernisiert und mit einer Klimaanlage, einer Minenräumeinrichtung und dem Tarnsystem (Mobile Camouflage System (MCS)) Barracuda des gleichnamigen schwedischen Unternehmens Barracuda Company ausgestattet. Die Typenbezeichnung lautete Leopard 1AS1. Belgien Ursprünglich 334 Leopard 1 aus den Baulosen 3 und 4 wurden zwischen Mai 1968 und März 1971 an Belgien geliefert. Die Panzer hatten zusätzliche seitliche Werkzeugkästen, ein Tank Fire Control System (TFCS-Feuerleitanlage) und ein Wärmebildgerät. Zehn Panzer dienten zur Ersatzteilgewinnung. Von den 324 Leopard 1 wurden 132 Panzer zum Leopard 1A5 (BE) umgerüstet und genutzt. Der Auftrag hatte ein Gesamtvolumen von 360 Millionen DM. Neben dem Kampfpanzer nutzte das belgische Heer auch den Flugabwehrkanonenpanzer Gepard und einen Brückenleger auf Basis des Leopard 1. Der mit der Panzerschnellbrücke Leguan ausgestattete Brückenleger entspricht im Aussehen dem Brückenlegepanzer Biber, hat aber eine tragfähigere Brücke (MLC 70), einen verstärkten Heckausleger und einen geänderten Stützschild. Die Brücke und Brückenleger wurden so auch von KMW und der MAN Mobile Bridges GmbH (seit 2005 Tochtergesellschaft von Krauss-Maffei-Wegmann) gefertigt. Im Dezember 2007 hat Belgien 43 Leopard 1A5 an den Libanon verkauft. Allerdings konnte die Lieferung bisher nicht erfolgen, da die Bundesregierung keine Exportgenehmigung erteilte. Im Jahr 2014 hat Belgien seine letzten 30 Leopard-Panzer ausgesondert und verfügt seitdem über keine Kampfpanzer mehr. 50 Leopard 1 A5 befanden sich Anfang 2023 im Eigentum einer belgischen Rüstungsfirma, die diese Jahre zuvor von der belgischen Regierung für 10.000 € pro Stück gekauft und eingelagert hatte. Nachdem im Januar 2023 die deutsche Bundesregierung Liefergenehmigungen für die Leopard-2-Panzer erteilte, die viele Staaten nach der Invasion Russlands in die Ukraine Anfang 2022 an die Ukraine liefern wollten, zeigten mehrere Regierungen Interesse an den belgischen Leopard 1A5. In Belgien kam es zu einer politischen Debatte um den Rückkauf der Panzer: Der belgischen Verteidigungsministerin zufolge sei der geforderte Preis von 500.000 € (inkl. Modernisierung) überzogen. Nur 33 der Panzer seien funktionsfähig; alle müssten überarbeitet und erneuert werden, etwa mit einer neuen Waffenleitanlage und Teilen der Motoren. Brasilien Von 1997 bis 1999 kaufte Brasilien insgesamt 128 Leopard 1 der belgischen Streitkräfte, die in drei Losen ausgeliefert wurden. Vor der Auslieferung wurden diese Fahrzeuge von der belgischen Firma SABIEX generalüberholt. 2006 wurde zwischen der deutschen und der brasilianischen Regierung ein Kaufvertrag über 250 Leopard 1A5 aus Depotbeständen unterzeichnet. Die Panzer werden seit 2009 durch Krauss-Maffei Wegmann instand gesetzt und modernisiert. In dieser Lieferung sind neben den Kampfpanzern 30 Exemplare als Ersatzteilspender vorgesehen. Weiterhin ist die Lieferung von sieben Bergepanzern, vier Panzerschnellbrücken, vier Pionierpanzern und fünf Fahrschulpanzern vorgesehen, so dass nach Planung bis 2012 insgesamt 200 Kampfpanzer und 50 Unterstützungsfahrzeuge ausgeliefert werden. Chile Chile kaufte 1998 insgesamt 202 Leopard 1 der niederländischen Streitkräfte, welche die teilweise aus dem Zweiten Weltkrieg stammenden Panzer der chilenischen Armee ersetzen sollten. Vor der Lieferung wurden alle Panzer mit dem PZB 200 ausgerüstet. 2009 wurden 30 Panzer an Ecuador weiterverkauft. Neben dem Kampfpanzer nutzt Chile den Pionierpanzer Dachs, die Panzerschnellbrücke Biber und einen Faschinenträger auf Leopard-1-Chassis. Ecuador Ecuador hat 30 Einheiten Leopard 1V im Wert von 55 Millionen US-Dollar von Chile erworben. Niederlande Nach einer Vergleichserprobung zwischen dem Chieftain und dem Leopard vom Dezember 1967 bis Mai 1968 entschied sich die Koninklijke Landmacht Ende 1968 für den Kauf von 400 Leopard-1-Kampfpanzern mit einem Gesamtwert von 550 Millionen DM. Mit Beginn der Lieferung im Oktober 1969 erhöhte sich diese Zahl auf insgesamt 468 Fahrzeuge. Die Fahrzeuge waren mit geänderter Gleiskette Typ D139 E2 und seitlichen Werkzeugkästen auf dem Stand des 4. Bauloses. Die Nachrüstungen umfassten eine Zusatzpanzerung für den Turm, ein Feuerleitsystem des Herstellers Honeywell AFSL-2 (NL), Laserentfernungsmesser, einen optischen Raumbildentfernungsmesser, einen elektronischen Feuerleitrechner, Nebelmittelwurfanlage (NL), eine MG-Lafette für ein niederländisches Maschinengewehr und eine Waffenstabilisierungsanlage von Honeywell. 170 Leopard 1 V gingen nach Verhandlungen an Griechenland und 202 nach Chile. Wie Belgien setzten die Niederlande auf den Flugabwehrkanonenpanzer Gepard, geläufig unter der Bezeichnung Cheetah. Alle Leopard 1 wurden durch Leopard 2 ersetzt. Norwegen Im Jahr 1968 erteilte Norwegen den Auftrag zur Beschaffung von 78 Leopard-1-Kampfpanzern. Die Fahrzeuge entsprachen dem Baulos 4, wurden jedoch leicht modifiziert. Die Umrüstung umfasste eine andere Kette Typ D 640 A, breitere Laufrollen, eine Lukensicherung am Turm und eine Wärmeschutzhülle für das Rohr. Im Zeitraum 1991 bis 1994 gab es eine Lieferung von weiteren 92 Leopard 1A5 aus den Beständen der Bundeswehr. Von den insgesamt 170 Leopard 1(NO) wurden 111 auf den Stand A5 umgerüstet. Sie wurden inzwischen durch den Leopard 2A4 ersetzt. Italien Insgesamt erhielt Italien 920 Leopard 1 auf dem Stand der Baulose 4 und 5. 200 Fahrzeuge wurden von Krauss-Maffei gefertigt und in den Jahren 1971 (92 Kampfpanzer) und 1972 (108 Kampfpanzer) geliefert. Ab 1974 fertigte OTO-Melara zwei Baulose, das erste ab 1974 über 400 Fahrzeuge, das zweite zwischen 1981 und 1983. Alle italienischen Leopard-Panzer wurden nach dem A2-Standard ausgeliefert und bis 1995 nicht kampfwertgesteigert. 1995 kaufte das italienische Heer 127 A5-Türme von der Bundeswehr; diese wurden dazu verwendet, 120 Panzer der Version A2 in Version A5 umzurüsten. Der letzte A2-Leopard wurde 2003 außer Dienst gestellt. Ende 2008 folgten die letzten A5. Zudem besitzt Italien 64 Biber (von OTO-Melara gefertigt) sowie 137 Bergepanzer 2 (69 von Krauss-Maffei und 68 von OTO-Melara) und 40 Pionierpanzer (12 von Krauss-Maffei und 28 von OTO-Melara). Dänemark Die 120 Leopard 1A3(DK) Dänemarks entsprachen dem Stand des fünften Bauloses. Sie waren die einzigen Fahrzeuge mit serienmäßig eingebauter Feuerleitanlage EMES 18/TIS. Vom Februar 1976 bis August 1978 wurden die Panzer geliefert. Zwischen 1992 und 1994 wurde ein zweites Los mit einer Stückzahl von 110 Fahrzeugen aus den Beständen der Bundeswehr angeglichen. Alle Leopard 1 wurden auf den Stand A5 umgerüstet und sind inzwischen durch 57 Leopard 2A5DK ersetzt worden. Laut einer Erklärung des dänischen Verteidigungsministeriums vom 12. März 2023 will Dänemark der Ukraine bis zu 100 Leopard 1 kostenfrei übergeben. Die Panzer sind auf den Rüststand des Leopard 1A5 und befinden sich z. Z. noch bei der Firma FFG (Flensburger Fahrzeugbau Gesellschaft). Die Lieferung soll voraussichtlich im ersten Quartal 2024 stattfinden und beinhaltet neben Ersatzteilen, Munition, Instandsetzung auch die Ausbildung am Leopard 1. Die Gesamtkosten belaufen sich auf ca. 130 Mio. Euro. Kanada Kanada ist ein weiterer NATO-Partner, der den Leopard 1 nutzt. Die 114 Fahrzeuge entsprachen dem Rüststand A3 des fünften Bauloses und wurden Leopard 1C1 bezeichnet. Des Weiteren erhielt das Fahrzeug eine Kabeltrommel für Fernmeldekabel, eine Halterung für 20 Schneegreifer auf der Bugplatte, einen Laserentfernungsmesser, den elektronischen Feuerleitrechner SABCA, einen Windsensor auf dem Turmdach, PZB 200, einen integrierten Weißlichtscheinwerfer anstelle des linken E-Messer-Ausblicks, eine Winkelspiegelwaschanlage für den Fahrer, eine verstärkte Nebelmittelwurfanlage zum Verschießen von Sprengkörpern, eine Anbauvorrichtung für einen Räumschild sowie belgische Maschinengewehre. Die Auslieferung begann im Juli 1978 und endete im Juni 1979. Dieser Auftrag wurde von Krauss-Maffei und MAK ausgeführt. Im Jahr 2000 folgte eine Kampfwertsteigerung durch Kanada. Die Änderungen umfassten den Kauf von 123 A5-Türmen zum Einbau in die bestehenden Panzer, davon neun Türme für Ausbildungszwecke. Darüber hinaus erhöhte sich die Feuerkraft durch eine verbesserte Kanone, Einbau des Feuerleitsystems EMES 18 und eine Mexas-Zusatzpanzerung. Insgesamt befanden sich noch 66 Leopard 1C2 im Dienst. Ihr Einsatz war bis zum Jahr 2015 geplant. Türkei Im Rahmen der Militärhilfe erhielt die Türkei zwischen September 1982 und Dezember 1983 insgesamt 77 Leopard 1 A3 auf dem Stand des fünften Bauloses. Die Änderungen umfassten eine AFS-Feuerleitanlage mit Laserentfernungsmesser, einen PZB 200 und das Tropical Kit. Mit den Veränderungen in der Bundeswehr wurden 1990 bis 1992 zurückgerüstete A4 an die Türkei verkauft. Insgesamt wurden 397 Leopard 1 an die Türkei geliefert, davon 320 aus den Beständen der Bundeswehr. Griechenland Vom Februar 1983 bis April 1984 erhielt Griechenland unter der Kennung Leopard 1GR1 die letzten 106 Panzer vom Band. Sie entsprachen der türkischen Konfiguration. Die Niederlande lieferten weitere 170 ihrer Leopard 1V, Deutschland 3 A3, 342 A5 (1998, 2000 und 2005) und 2 A5(NL) aus den Beständen der Bundeswehr. Die Gesamtstückzahl belief sich auf mehr als 618. Mit der Einführung des Leopard 2 verblieben alle Leopard 1A5 und 25 Leopard 1 vom Muster GR1 im Dienst. Alle anderen Exemplare wurden verkauft. Panzer auf Basis der Leopard-1-Wanne Auf Initiative von General Dietrich Willikens wurde das Leopard-Fahrgestell zu einem Mehrzweckfahrzeug weiterentwickelt. Maßgeblich an der Entwicklung beteiligt, überzeugte er die Führung davon, dass Ausbildung, Versorgung und die geringeren Produktionskosten wirtschaftlicher seien. So wurden auf Basis des Leopard 1 ein Fahrschulpanzer, der Brückenlegepanzer Biber, der Flugabwehrkanonenpanzer Gepard, der Bergepanzer 2 und der Pionierpanzer Dachs entwickelt. Der Fahrschulpanzer Leopard 1 trägt eine Fahrerkabine, die jederzeit gegen einen Turm getauscht werden kann. Um den Drehturm zu simulieren, wurden ein 8,5 Tonnen schwerer Ballastring sowie eine Kanonenattrappe in die Kabine integriert. Insgesamt wurden 60 Kabinen für die Bundeswehr beschafft. Für das niederländische Marinekorps wurden von Alvis Moelv vier Leopard 1 zu Beach Armoured Recovery Vehicles (BARV) umgebaut – Samson (BARV1), Hercules (BARV2), Goliath (BARV3) und Titan (BARV4). Sie sind 7,65 Meter lang, 3,25 Meter breit sowie 3,35 Meter hoch bei 0,44 Meter Bodenfreiheit. Das Gewicht beträgt 42,5 Tonnen. Eingesetzt werden sie bei amphibischen Landeoperationen der HNLMS Rotterdam bzw. HNLMS Johan de Witt (Rotterdam-Klasse) zur Bergung von Schadfahrzeugen in Ufernähe. Nicht fortgeführt wurde dagegen das trinationale Projekt Panzerhaubitze 155-1 aus den Jahren 1973 bis 1986. Das mittlere Artillerie-Raketensystem Wegmann-Raketenwerfer Rocket System 80 auf Leopard-Fahrgestell wurde zugunsten der Radentwicklung LARS ebenfalls nicht realisiert. Das 1991 begonnene Waffensystem Panther, eine Trilateralentwicklung zwischen Deutschland, Frankreich und Großbritannien, wurde 1993 eingestellt. So befand sich beim deutschen Modell auf dem Fahrgestell ein ausfahrbarer 12-Meter-Mast mit der Startvorrichtung für die Lenkflugkörper PARS 3 LR und dem opto-elektronischen Ziel- und Aufklärungssystem Osiris. Ebenfalls nicht umgesetzt wurde das 1997 gestartete Projekt für einen Beobachtungspanzer Artillerie auf Basis des Leopard 1A5. Ohne Hauptwaffe und ausgestattet mit der Funkanlage SEM 80/90, einem GPS-Empfänger und artilleriespezifischen Computeranlagen zur Feuerleitung sollte diese Konfiguration den Beobachtungspanzer Artillerie auf dem M113 ablösen. Nur den Prototypstatus erreichte der 1999 gebaute Leopard 1 AMCV Armoured Mine Clearing Vehicle, ein norwegischer Minenräumpanzer, erprobt im KFOR-Einsatz. Er gleicht im Funktionsprinzip dem deutschen Keiler, besitzt jedoch das britische Aardvark-Minenräumsystem sowie elektronisches und explosives Minenräumequipment. Weitere nicht umgesetzte Prototypen/Studien waren Leopard FlaRakPz Roland, Leopard MKPV (gepanzertes Feldstraßengerät), Leopard MKPV (gepanzerter Minenleger), die gepanzerte Pioniermaschine, ein Flapanzer mit Otomatic-76/62-Flakturm (76 mm) von Oto Melara, der Leopard 1 ADATS (ähnlich dem Panther-Projekt), der Leopard 1/Gepard PRTL (niederländische Gepardalternative) und eine Variante mit GIAT-155-mm-Turm. Literatur Karl Anweiler, Jürgen Plate, Manfred Pahlkötter: Radfahrzeuge und Kettenfahrzeuge der Bundeswehr in den 90er Jahren. Motorbuch-Verlag, Stuttgart 1997, ISBN 3-613-01847-0. Karl Anweiler, Rainer Blank: Die Rad- und Kettenfahrzeuge der Bundeswehr. Bechtermünz, Augsburg 1998, ISBN 3-8289-5331-X. Christopher Foss: Jane’s Armour & Artillery 2009–2010. Jane’s Information Group Inc, Coulsdon 2009, ISBN 978-0-7106-2882-4. Rolf Hilmes: Kampfpanzer heute und morgen. Konzepte – Systeme – Technologien. Motorbuch-Verlag, Stuttgart 2007, ISBN 978-3-613-02793-0. Rolf Hilmes: KPz Leopard 1: 1956–2003 (Typenkompass). Motorbuch-Verlag, Stuttgart 2011, ISBN 978-3-613-03360-3. Raimund Knecht: Kampfpanzer Leopard. (= Waffensysteme heute. 1) völlig überarbeitete Fassung, Verlag Wehr & Wissen, Koblenz/Bonn 1977, ISBN 3-8033-0262-5. Paul-Werner Krapke: Leopard 2. Sein Werden und seine Leistung. Selbstverlag, s. l. 2004, ISBN 3-8334-1425-1. Jill Marc Münstermann: Kampfpanzer Leopard im Einsatz: Historie, Varianten und Kampfeinsätze der Panzer Leopard 1 und 2. K&F Verlag, Stuttgart 2020, ISBN 978-3-96403-100-6. Jürgen Plate, Lutz-Reiner Gau, Jörg Siegert: Deutsche Militärfahrzeuge. Bundeswehr und NVA. Motorbuch-Verlag, Stuttgart 2001, ISBN 3-613-02152-8. Walter J. Spielberger: Die Kampfpanzer Leopard und ihre Abarten. (= Militärfahrzeuge. 1) Motorbuch-Verlag, Stuttgart 1988, ISBN 3-613-01198-0. Weblinks Bundeswehr: 60 Sekunden CLASSIX – Der Kampfpanzer Leopard 1 (YouTube-Video) Bundeswehr Classix: Der teuerste Hardtop Europas (1970) (YouTube-Video zur Herstellung des Leopard 1) Bundeswehr Classix: Vier im Leopard (1972) (YouTube-Video) Tankograd – Militärfahrzeuge Spezial No 5013: Kampfpanzer LEOPARD 1 in der Bundeswehr – Frühe Jahre. (PDF; 52,3 MB) auf porschecarshistory.com Bilderserie zum Kpz Leopard 1 und Varianten Bilderserie zum Leopard 1 A5 Details zur Feuerleitanlage des Leopard 1 und Details zur Feuerleitanlage des L1 A4 Der Leopard 1 auf www.hartziel.de Seite des PzBtl 74 Seite des PzBtl 194 Niederländisches Kavalleriemuseum Einzelnachweise Kampfpanzer Kettenfahrzeug der Bundeswehr Krauss-Maffei Wegmann Rheinmetall Museumsbestand (Wehrtechnische Studiensammlung Koblenz)
343058
https://de.wikipedia.org/wiki/Dunkelfeldmikroskopie
Dunkelfeldmikroskopie
Die Dunkelfeldmikroskopie ist eine bereits seit über 250 Jahren bekannte Variante der Lichtmikroskopie. Sie führt zu einem dunklen Bildhintergrund, vor dem sich die zu beobachtenden Strukturen hell abheben. Dadurch können von durchsichtigen Objekten mit nur sehr geringem Kontrast dennoch gut aufgelöste, kontrastreiche Bilder erzeugt werden, ohne dass eine vorherige Färbung des Präparats erforderlich ist. Auch lebende Objekte sind gut beobachtbar. Bis zur Entwicklung der Phasenkontrastmikroskopie in den 1930er Jahren war die Dunkelfeldmikroskopie neben der ähnlichen Kontrastfarben-(„Rheinberg“)-Beleuchtung (siehe unten) und der schiefen Beleuchtung (vgl. Kreutz-Blende) die einzige Methode zur Kontrastverstärkung bei ungefärbten Präparaten. In Abgrenzung zur Dunkelfeldmikroskopie wird die Technik der „normalen“ Lichtmikroskopie als Hellfeldmikroskopie bezeichnet. Das Prinzip der Dunkelfeldmikroskopie beruht darauf, dass Objekte Licht nicht nur absorbieren, sondern auch immer einen Teil des Lichtstrahls ablenken. Wenn die Beleuchtung so eingestellt ist, dass die direkten Lichtstrahlen am Objektiv des Mikroskops vorbeigehen, sieht der Betrachter nur das abgelenkte Licht. Eine der Ablenkungsursachen ist die als Tyndall-Effekt bezeichnete Streuung von Licht an kleinen Teilchen, welche beispielsweise auch zu beobachten ist, wenn Licht in einen dunklen Raum fällt und der Staub innerhalb des Lichtstrahls deutlich sichtbar wird. Auch Teilchen, die kleiner sind als die Auflösungsgrenze des Mikroskops, lenken Licht ab und lassen sich daher mit einem Dunkelfeldmikroskop nachweisen. Manche Eigenschaften wie die Beweglichkeit von Teilchen lassen sich so untersuchen. Diese Anwendung hatte Anfang des 20. Jahrhunderts als Ultramikroskopie größere Bedeutung. Die Beleuchtung des Präparats kann vom Objektiv aus gesehen von hinter dem Präparat erfolgen (Durchlicht) oder von der Objektivseite (Auflicht) oder auch seitlich, wie dies beim Spaltultramikroskop der Fall ist. Durchlicht- und Auflicht-Dunkelfeld sind sowohl in „normalen“ Mikroskopen als auch in Stereomikroskopen möglich. Vergleich von Hellfeld und Dunkelfeld Hell- und Dunkelfeld bei Durchlichtbeleuchtung Als Durchlichtbeleuchtung wird in der Mikroskopie eine Anordnung bezeichnet, bei der die Beleuchtung vom Objektiv aus gesehen von der Rückseite des Präparats erfolgt, das Licht durch das Präparat durchtritt (Transmission) und schließlich in das Objektiv gelangt. Die normale Durchlicht-Mikroskopie, genauer: Durchlicht-Hellfeldmikroskopie, ist die am häufigsten in der Biologie und Medizin eingesetzte Variante, sie findet auch in Schulmikroskopen Anwendung. Bei der klassischen Durchlicht-Hellfeldmikroskopie entsteht der Bildkontrast hauptsächlich dadurch, dass das Präparat einen Teil des eingestrahlten Lichts absorbiert und so der entsprechende Bereich dunkler erscheint (vergleiche Abbildung 1). Viele mikroskopische Objekte sind aber weitgehend durchsichtig oder sehr klein und absorbieren daher nur sehr wenig Licht. Sie erzeugen im Hellfeldmikroskop nur einen geringen Kontrast und sind somit vor dem hellen Hintergrund schlecht zu erkennen (vergleiche Abbildung 2 links). Derartige Objekte können Licht ablenken, also die Richtung einiger Lichtstrahlen durch Streuung, Beugung, Brechung und/oder Reflexion verändern. Unter Hellfeldbeleuchtung lassen sich diese Ablenkungen aber kaum feststellen, da die Helligkeit der abgelenkten Lichtstrahlen viel schwächer ist, als der hell erleuchtete Bildhintergrund. In gewissen Grenzen kann der Kontrast bei Hellfeldbeleuchtung erhöht werden, indem eine kleinere Blende im Strahlengang der Beleuchtung (Kondensorblende) gewählt wird (vergleiche Abbildung 2 Mitte). Gleichzeitig verstärken sich dadurch aber auch Abbildungsfehler und es entstehen am Rand der Objekte störende Beugungsmuster (vergleiche kleine Bildausschnitte in Abbildung 2). Bei der Durchlicht-Dunkelfeldmikroskopie wird das Präparat von der Rückseite so beleuchtet, dass die Beleuchtung nicht direkt in das Objektiv gelangt, sondern nur das im Präparat abgelenkte Licht. Der Hintergrund des Bildes erscheint somit dunkel, während Objekte im Präparat hell erscheinen (vergleiche Abbildung 1 rechts). Dies funktioniert auch und besonders bei weitgehend transparenten Proben. Während die Helligkeitsunterschiede des abgelenkten Lichts wegen der hohen Lichtintensität der Hellfeldabbildung schwer zu erkennen sind, erscheinen diese Unterschiede in der Dunkelfeldabbildung deutlich stärker. Die feinen Fettspuren eines Fingerabdrucks in Abbildung 2 (rechts) sind daher klar zu erkennen. Die schon bei Hellfeldbeleuchtung erkennbaren Verunreinigungen (Partikel und Kratzer) zeigen im Dunkelfeld jedoch einen so starken Kontrast, dass sie im Bild nur noch als helle, überstrahlte Flecken abgebildet werden. Bei Durchlicht-Dunkelfeldbeleuchtung ist es besonders wichtig, dass Objektträger, Deckglas und auch die Glasoberflächen im Mikroskop sauber sind, da jedes Staubkorn durch seine Ablenkung des Lichts zum Hintergrundrauschen beiträgt. Auch dürfen lichtablenkende Strukturen nicht in verschiedenen Ebenen übereinander vorkommen, da sich deren Signale sonst überlagern. Dementsprechend ist Dunkelfeldbeleuchtung nicht geeignet für dickere Präparate wie typische Gewebeschnitte. Physikalisch lässt sich Durchlicht-Dunkelfeldbeleuchtung als eine Beleuchtung beschreiben, bei der das Beugungshauptmaximum des Lichts (siehe Beugungsscheibchen) nicht in die hintere Brennebene des Objektivs gelangt. Nur abgelenktes Licht, beispielsweise durch Beugung entstandene Nebenmaxima, nehmen am Bildaufbau teil. Hell- und Dunkelfeld bei Auflichtbeleuchtung Von Auflichtbeleuchtung spricht man in der Lichtmikroskopie, wenn das Licht von oben (genauer: von der Objektivseite aus) auf das Präparat fällt. Die Beleuchtung erfolgt entweder durch das Objektiv selbst hindurch oder durch eine eigenständige Beleuchtungseinrichtung, die seitlich oder um das Objektiv herum angeordnet ist. Der Winkel, in dem das Licht auf das Objekt fällt, bestimmt das Aussehen des Bildes. Wird ein Großteil des von der Probe gerichtet reflektierten Lichts vom Objektiv eingefangen, so erscheint das Objekt in der Abbildung hell (Hellfeldbeleuchtung). Erfolgt die Beleuchtung jedoch so weit von der Seite, dass das gerichtet reflektierte Licht am Objektiv vorbei strahlt, spricht man von Dunkelfeldbeleuchtung. Bei Materialuntersuchungen ist die Hellfeld-Beleuchtung die am häufigsten verwendete Technik für die Ausleuchtung von rauen, wenig reflektierenden Objekten. Die Auflicht-Hellfeldbeleuchtung entspricht der normalen Sehweise des Menschen: Glatte, stark reflektierende Oberflächen erscheinen aufgrund ihres starken Glanzes hell (Abbildung 3 links). Die Reflexion verleiht Metalloberflächen den typischen Glanz. Unterhalb von Glas oder anderen transparenten Oberflächen angeordnete Strukturen wären bei dieser Beleuchtungsart durch die starke Reflexion an der Oberfläche nur schlecht zu erkennen. Bei Auflicht-Dunkelfeldbeleuchtung erscheinen glatte, stark reflektierende Flächen dunkel. Kanten und Oberflächendefekte wie Kratzer oder Auflagerungen leuchten jedoch hell (Abbildung 3 rechts). Diese werden stark hervorgehoben und können leichter erkannt, bzw. mit bildverarbeitenden Verfahren einfacher detektiert werden. Bei rauen, wenig reflektierende Oberflächen sorgt die seitliche Anordnung der Auflicht-Dunkelfeldbeleuchtung für lokale Schattenbildung, so dass Oberflächenstrukturen etwas plastischer wirken. Dieser Effekt kann durch eine einseitige Beleuchtung noch deutlich verstärkt werden. Dunkelfeldmikroskopie außerhalb der Lichtmikroskopie Die Begriffe Dunkelfeld und Hellfeld lassen sich auch auf mikroskopische Verfahren übertragen, die zur Bilderzeugung kein Licht, sondern andere Signale verwenden. Es wird entsprechend unterschieden, ob nicht abgelenktes Anregungssignal vom Detektor registriert wird (Hellfeld), oder ob nur das von der Probe veränderte Signal zur Bildgebung beiträgt (Dunkelfeld). Mit Dunkelfeld bezeichnete Verfahren gibt es zum Beispiel in der Elektronenmikroskopie (siehe etwa Rastertransmissionselektronenmikroskop) und in der Akustischen Mikroskopie. Dunkelfeldbeleuchtung in heutigen Durchlichtmikroskopen Die einfachste Möglichkeit mit einem normalen Durchlichtmikroskop mit Lichtquelle, Kondensor und Objektiv bei Köhlerscher Beleuchtung eine Dunkelfeldbeleuchtung zu erzeugen, besteht darin, die Kondensorblende eng zu schließen und anschließend so lange seitlich zu verschieben, bis kein direktes Licht mehr in das Objektiv eindringt. Die Beleuchtung erfolgt hier demnach nur von einer Seite. Jedoch bieten gerade neuere Mikroskope häufig keine Möglichkeit, die Blende relativ zum Kondensor zu bewegen. Gemeinsame Grundlagen Bessere Bildqualitäten werden bei zentriertem Kondensor mit Hilfe einer Zusatzeinrichtung erreicht. Diese Zusatzeinrichtung beschränkt die Beleuchtung des Präparats auf einen Kegelmantel (gelb in der Schemazeichnung rechts). Der innere Teil des Kegels enthält kein Licht (grau in der Schemazeichnung). Der vom Kondensor kommende Kegelmantel wird in die Präparatebene fokussiert und weitet sich im einfachsten Fall danach wieder, so dass nicht abgelenktes Licht vollständig an der Objektivöffnung vorbeigeht, der Bildhintergrund bleibt dunkel. Nur Licht, das durch die zu beobachtenden Objekte abgelenkt wird, gelangt in das Objektiv und erzeugt ein Bild mit hellen Strukturen auf dunklem Hintergrund. Alle heutigen Durchlicht-Dunkelfeldbeleuchtungen erzeugen einen Kegelmantel, jedoch treten diese nicht immer durch das ganze Präparat hindurch: In manchen Fällen kommt es zur Totalreflexion des nicht abgelenkten Lichts an der Deckglasoberkante. Um den Beleuchtungskegelmantel zu erzeugen, werden zwei verschiedene Verfahren angewendet. Eine Zentralblende zur Erzeugung des Kegelmantels ist einfach in der Herstellung und Handhabung, preisgünstig und daher weit verbreitet. Dieses Verfahren eignet sich besonders für Objektive mit relativ geringer Vergrößerung, wobei die Dicke des Beleuchtungskegelmantels durch einfaches Wechseln der Blende optimal auf das verwendete Objektiv abgestimmt werden kann. Spezielle Dunkelfeldkondensoren erreichen durch Spiegeltechniken eine höhere Lichtausbeute und können durch Immersion auch den Anforderungen höher vergrößernder Objektive gerecht werden. Die Abbildungsqualität wird besser. Wenn der Beleuchtungskegelmantel wie in der Schemazeichnung durch das Präparat hindurch tritt, so muss er außen am Objektiv vorbeigehen. Eine Dunkelfeld-Beleuchtung ist nur dann möglich, wenn der Winkel des aus dem Kondensor austretenden Lichts (Öffnungswinkel) größer ist als der Winkel des vom Objektiv aufgefangenen Lichts. Je größer der Öffnungswinkel eines Objektivs oder Kondensors, desto besser ist die maximal erzielbare Auflösung. Statt des Öffnungswinkels wird bei Objektiven und Kondensoren die numerische Apertur angegeben, die ohne Immersion bis zu 0,95 betragen kann und mit Ölimmersion bis etwa 1,4. Für Dunkelfeldbeleuchtung muss also die numerische Apertur des Kondensors höher sein als die des verwendeten Objektivs. Ohne Immersion des Kondensors ist die Anwendung daher auf Objektive mit einer numerischen Apertur von etwa 0,75 oder weniger beschränkt. 40x-Objektive, die ohne Immersion verwendet werden, haben häufig eine numerische Apertur von 0,65. Beleuchtung mit Zentralblende Hier wird eine ringförmige Blende in einem ansonsten normalen Durchlicht-Hellfeldmikroskop verwendet. Diese Zentralblende (1 in der oberen Schemazeichnung rechts) weist einen lichtdurchlässigen Rand oder Ring auf und reduziert damit die Beleuchtung mit Hilfe eines normalen Kondensors (2) auf einen Kegelmantel (3). Um den Öffnungswinkel des Kondensors optimal auszunutzen, wird ein möglichst weit außen liegender Teil des Kondensors verwendet. Je größer der Öffnungswinkel des verwendeten Objektivs ist, desto größer muss auch der Durchmesser der zentralen lichtundurchlässigen Fläche sein, die Beleuchtungsstärke verringert sich entsprechend. Vom Objekttisch mit dem Objektträger (4) ausgehend verläuft das Licht somit am Objektiv (6) vorbei. Nur von Strukturen im Präparat abgelenktes Licht (5) gelangt in das Objektiv. Die Zentralblende kann als Einschub unter die Kondensorlinse eines normalen Durchlichtmikroskops eingesetzt werden. Die weiter verbreitete Phasenkontrastmikroskopie beruht zwar auf einem völlig anderen optischen Phänomen, aber auch dort werden Blenden verwendet. Diese Ringblenden lassen sich manchmal als Dunkelfeldblenden zweckentfremden. Phasenkontrast-Ringblenden sind so angelegt, dass der Lichtkegel bei richtiger Einstellung in das Objektiv eintritt und nicht daran vorbei geht, wie dies für Dunkelfeld erforderlich ist. Daher lassen sich für ein gegebenes Objektiv nur solche Phasenkontrast-Ringblenden als Dunkelfeld-Blenden einsetzen, die eigentlich für Objektive mit deutlich größerem Öffnungswinkel (höherer numerische Apertur) gedacht sind. Beispielsweise eignet sich eine Phasenkontrast-Ringblende für ein 100x-Ölimmersionsobjektiv in der Regel als Dunkelfeldblende für 10x- und 20x-Trockenobjektive, da Ölimmersionsobjektive einen größeren Öffnungswinkel haben. Dunkelfeldkondensoren Bei besonders hohen Ansprüchen an die Abbildungsqualität werden statt Zentralblenden spezielle Dunkelfeldkondensoren eingesetzt. Es gibt Trockendunkelfeldkondensoren und Immersionsdunkelfeldkondensoren, bei letzteren wird Immersionsöl oder Wasser zwischen den Kondensor und den Objektträger eingebracht. Dadurch ist eine höhere numerische Apertur und damit eine höhere Auflösung möglich. Auch liefert ein Immersionskondensor einen besseren Kontrast, da Reflexe an der Objektträgerunterseite und Kondensoroberfläche vermieden werden, die zu einer Aufhellung des Bildhintergrundes führen. Seine Handhabung ist jedoch aufwändiger, auch weil Öl sorgfältige Reinigungsarbeiten erforderlich macht. Der Nachteil beider Dunkelfeldkondensorarten gegenüber einer Zentralblende ist der aufwändigere Wechsel zu einer Hellfeldbeleuchtung, da der Kondensor hierfür ausgetauscht werden muss. Trockendunkelfeldkondensoren sind für Objektive mit numerischen Aperturen bis zu 0,65 oder 0,75 geeignet, während Immersionskondensoren für Objektive mit numerischen Aperturen bis zu 1,2 verwendet werden können. Moderne Dunkelfeldkondensoren sind meist Kardioidkondensoren. Hier leitet ein konvex gewölbter zentraler Spiegel das eintreffende Licht nach außen auf einen rundherum laufenden konkaven Spiegel, so dass der Kegelmantel erzeugt wird (siehe vergleichbare Zeichnung von 1910 rechts). Der konkave Spiegel hat idealerweise eine wie eine Kardioide geformte Oberfläche, daher der Name. Aus fertigungstechnischen Gründen wird diese Oberfläche jedoch als Kugelfläche ausgeführt, ohne dass dies zu nennenswerten Qualitätseinbußen führt. Ein Paraboloidkondensor hat dagegen die Form eines abgeschnittenen Paraboloids. Das Licht wird hier nur einmal abgelenkt, nämlich durch Totalreflexion (siehe Zeichnung von Wenhams Glasparaboloid weiter unten), wodurch wiederum ein rundum verlaufender Beleuchtungskegelmantel erzeugt wird. Um sicherzustellen, dass die numerische Apertur des Objektivs kleiner ist, als die des Kondensors, kann ergänzend ein Objektiv eingesetzt werden, bei dem über eine bewegliche Irisblende die numerische Apertur eingeschränkt werden kann. Der Öffnungswinkel des Objektivs kann damit optimal auf den Durchmesser des Beleuchtungskegels abgestimmt werden, um letzteren gerade noch ausblenden zu können. Kardioid- und Paraboloidkondensoren werden auch als katoptrische Dunkelfeldkondensoren bezeichnet, da in ihnen die Lichtablenkung durch Spiegelung erfolgt, während dies in den sogenannten dioptrischen Kondensoren durch Glaslinsen geschieht. Durchlicht-Dunkelfeld in Stereomikroskopen Auch für Stereomikroskope sind Durchlicht-Dunkelfeld-Beleuchtungen verfügbar. Die Beleuchtungseinrichtung ist im Stativfuß untergebracht. Abgesehen von der eigentlichen Lichtquelle, z. B. einer Halogenlampe, werden eine zentrale Abdeckung und außen liegende, aufrecht stehende spiegelnde Oberflächen eingesetzt, um die Beleuchtung des Objekts mit einem Kegelmantel zu ermöglichen. Das Prinzip entspricht also in etwa dem oben beschriebenen Spiegelkondensor. Das Objekt wird auf eine Glasplatte gelegt, die den Stativfuß nach oben abschließt. Das Bild setzt sich zusammen aus Lichtstrahlen, die im Objekt durch Reflexion, Lichtbrechung oder Beugung abgelenkt wurden. Typischerweise kann die zentrale Abdeckung gegen eine Mattscheibe ausgewechselt werden, so dass neben Dunkelfeld auch Hellfeld-Durchlichtbeleuchtung möglich ist. Die außen stehenden Spiegel leiten dann zwar noch genauso viel Licht schräg auf das Präparat wie vorher, durch die sehr viel hellere Hellfeldbeleuchtung führt dies jedoch nicht mehr zu sichtbaren Effekten. Frühere Ansätze zur Durchlicht-Dunkelfeldbeobachtung Vor 1900 Schon im 17. Jahrhundert wurde Dunkelfeldmikroskopie von Antoni van Leeuwenhoek, Robert Hooke und Christiaan Huygens angewendet, um Blutbestandteile oder Kleinlebewesen zu beobachten. Dabei wurden jedoch keine speziellen Gerätschaften eingesetzt. Vielmehr wurde die Lichtquelle, etwa eine Kerze, so positioniert, dass kein direktes Licht auf das Objektiv fiel. Schon mit einem sehr schräg gestellten Beleuchtungsspiegel ist Dunkelfeldmikroskopie möglich. Der Erste, der eine besondere Apparatur für die Dunkelfeldbeleuchtung beschrieb, war 1837 Joseph Bancroft Reade (1801–1870), dessen Verfahren in John Quecketts „Practical treatise on the use of the microscope“ 1852 als Background Illumination bezeichnet wurde. Die Lichtquelle wurde seitlich platziert, eine Sammellinse fokussierte das Licht so auf das Präparat, dass nicht abgelenktes Licht am Objektiv vorbei geleitet wurde. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden von einer Reihe von Autoren weitere Beleuchtungsapparaturen entwickelt. Da Brechung an Glasoberflächen chromatische Aberration hervorruft, die bei Dunkelfeldmikroskopie besonders störend ist, wurden auch Spiegelkondensoren entwickelt, da bei Spiegelung dieser Fehler nicht auftritt. Die Spiegelung wurde entweder durch reflektierende Oberflächen erreicht, oder durch Totalreflexion. Francis Herbert Wenham (1824–1908) beschrieb zwischen 1852 und 1856 in mehreren Arbeiten verschiedene Dunkelfeld-Beleuchtungsprinzipien. Neben einer seitlichen Beleuchtung (mit Wirkung ähnlich wie bei Reade) gehörten Kondensoren für eine zentral positionierte Beleuchtungsquelle dazu, darunter ein hohler, versilberter Paraboloid und ein massiver Glasparaboloid, in dem die Reflexion durch Totalreflexion zu Stande kam (siehe Abbildung). Hierbei hatte der Objektträger direkten Kontakt mit dem Kondensor. Das Präparat war in Kanadabalsam oder Flüssigkeit eingebettet. Zwischen dem Deckglas und dem Objektiv war Luft. Das Prinzip der Beugung, das wesentlich für eine effektive Dunkelfeldbeleuchtung kleiner Objekte ist, war damals noch nicht verstanden. Wenham nahm daher an, dass die beobachteten Effekte darauf zurückzuführen seien, dass das Objekt von oben beleuchtet wurde, nämlich durch Licht, das von der oberen Deckglaskante durch Totalreflexion auf das Präparat zurückgeworfen wurde. Ab ca. 1900 Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts wurde Dunkelfeldmikroskopie zwar von Amateuren, aber wenig im wissenschaftlichen Bereich eingesetzt, da sie nicht mit höher auflösenden Objektiven (mit hoher numerischer Apertur) funktionierte. Durch die Arbeiten von Ernst Abbe wurden Ende des 19. Jahrhunderts die optischen Grundlagen wie die Beugung verstanden. Dies nutzte W. Gebhardt bei Zeiss, indem er für die Dunkelfeldbeleuchtung eine Zentralblende für den Abbe’schen Beleuchtungsapparat vorschlug, die Zeiss 1898 ins Programm nahm. Wurde Immersion zwischen Kondensor und Objektträger verwendet, konnten Trockenobjektive mit einer Apertur bis zu 0,95 eingesetzt werden. Zeitweise wurde diese Zentralblende bei allen entsprechenden Geräten mitgeliefert, da sie jedoch bei den Kunden wenig Anklang fand, wurde dies wieder eingestellt. Die Firma Wiener Mikroskopfirma Reichert bot eine ähnliche Lösung an. Durch die Entdeckung des Syphilis-Erregers erlebte die Dunkelfeldmikroskopie ab 1906 einen Aufschwung, da sie eine gute Darstellung lebender Spirochäten ermöglichte, zu denen der Erreger gehört. Mehrere große Mikroskopfirmen entwickelten verbesserte Dunkelfeldkondensoren. Der von Karl Reichert enthielt eine Zentralblende mit veränderlicher Größe. Henry Siedentopf entwickelte 1907 für Zeiss einen Paraboloid-Kondensor. Das Design entsprach zwar dem Glasparaboloid von Wenham mit einer Abdunklung im Zentrum der unteren Seite des Paraboloids, durch verbesserte Fertigungstechniken konnte die optische Qualität jedoch so gesteigert werden, dass die innere und äußere Apertur des Beleuchtungskegelmantels 1,1 und 1,4 betrugen. Auf Grund der Arbeiten Abbes war klar, dass die Beugung entscheidenden Anteil an der Bildentstehung hat und dass die Totalreflexion am Deckglas lediglich hilft, den Eintritt von nicht abgelenktem Licht ins Objektiv zu vermeiden. Bei einer späteren Ausführung, dem sogenannten Helldunkelfeldkondensor, konnte die zentrale Abdunklung über einen Hebel entfernt werden, so dass ein schneller Wechsel zwischen Dunkel- und Hellfeld möglich war. Bisher beschriebene Ansätze beruhen darauf, dass die Beleuchtung des Präparats mit einer höheren numerischen Apertur, also mit einem breiteren Winkel, erfolgt, als sie vom Objektiv aufgenommen werden kann. Aber auch der umgekehrte Ansatz ist möglich: Das Präparat wird mit einem vollständigen Kegel einer geringen numerischen Apertur (beispielsweise 0,2) beleuchtet. Hierbei lassen sich auch höchstauflösende Objektive einsetzen, denn die numerische Apertur und damit der Öffnungswinkel können beliebig groß sein, sie müssen allerdings deutlich größer sein als die der Beleuchtung. Das im Präparat nicht abgelenkte Licht wird dann im Objektiv nur einen zentralen Bereich einnehmen, während der äußere Bereich frei von direktem Beleuchtungslicht bleibt. Das nicht abgelenkte Licht wird quasi nachträglich im oder hinter dem Objektiv an einer geeigneten Stelle im Strahlengang entfernt. Dies wurde als „konaxiale Anordnung“ oder als „Zentrales Dunkelfeld“ bezeichnet und zu den ultramikroskopischen Methoden (siehe unten) gezählt. Nachteil dieses Ansatzes ist, dass im Präparat wesentlich höhere Lichtstärken erreicht werden als beispielsweise bei einer Zentralblende im Kondensor, wodurch in Präparaten mit vielen Objekten störende Nebenbeugungsbilder entstehen. Henry Siedentopf verwendete für ein derartiges von ihm entwickeltes System ein Objektiv, bei dem die sonst halbkugelförmige Rückseite der Frontlinse (der erste Glaskörper im Objektiv) flach geschliffen und schwarz lackiert war. Carl Metz (1861–1941) bei Leitz entwickelte 1905 ein System mit Ölimmersionsobjektiven, bei dem eine Stempelblende (auch: Trichterblende) von der Rückseite beweglich in das Objektiv eingeführt wurde. Dadurch war es möglich, das gleiche Objektiv ohne diese Blende für Hellfeld-Anwendungen einzusetzen, ohne dass Helligkeitsverluste auftraten. Dafür war die Justierung schwierig. Wladimir Sergejewitsch Ignatowski entwickelte für Leitz einen Dunkelfeldkondensor, der zwei spiegelnde Oberflächen besaß aber einfacher zu handhaben war als frühere entsprechende Modelle (siehe Schemazeichnung von 1910 weiter oben). Er wurde ab 1907 verkauft. Die Querschnittszeichnung des von Felix Jentzsch entwickelten Nachfolgemodells von 1910 wurde Vorlage für ein Leitz-Logo, den sogenannten Leitz-Sarg. Auch Henry Siedentopf bei Zeiss entwarf einen Kondensor mit zwei spiegelnden Flächen, der dem weiterentwickelten Kondensor von Ignatowski sehr ähnelte. Aus theoretischen Gründen sollte die zweite spiegelnde Oberfläche einem Ausschnitt einer Kardioiden entsprechen. Kardioide Oberflächen waren aber nur schwierig herzustellen. Stattdessen wurde eine kugelige Oberfläche verwendet, die innerhalb der Fertigungstoleranzen den gleichen Effekt hervorrief. Trotzdem wurde das Gerät von Zeiss als Kardioidkondensor vermarktet. Vor- und Nachteile der Durchlicht-Dunkelfeldbeleuchtung im Überblick Vorteile: Kleine, auch ungefärbte, Objekte können mit starkem Kontrast beobachtet werden, besonders gut in geringer Konzentration bei dünnen Präparaten. Auch Objekte unter der Auflösungsgrenze verursachen Signale, wenn die Beleuchtung stark genug ist. Einige Formen der Dunkelfeldbeleuchtung, besonders bei niedriger Vergrößerung, sind sehr einfach und ohne nennenswerte Kosten zu realisieren. Bei Dunkelfeldbeleuchtung kommen im Gegensatz zur Hellfeldbeleuchtung keine entoptischen Erscheinungen vor. Dabei handelt es sich um Schlieren, die im Glaskörper des Augevorhanden sind („Mouches volantes“) und Schatten auf die Netzhaut werfen. Nachteile: Zwar verursachen Oberflächen von Objekten durch den Brechungsindexwechsel Signale, nicht aber ein homogenes Inneres, so dass dann im Bild auch nur die Umrandung zu sehen ist. Für dickere Präparate oder Präparate mit vielen Objekten ist die Technik wenig geeignet, da dann Überstrahlungen bzw. Streulicht aus verschiedenen Schärfeebenen dem Dunkelfeld-Effekt entgegenwirken. Verunreinigungen im Strahlengang führen ebenfalls zu störenden Signalen, daher sind die Anforderungen an die Sauberkeit von Gerät und Präparat sehr hoch. Für höhere Ansprüche sind spezielle Kondensoren erforderlich, da die Reflexionen zwischen den verschiedenen Linsen in normalen Kondensoren den Dunkelfeld-Effekt verringern. Da entweder der Öffnungswinkel (Apertur) des Kondensors vergrößert (technisch schwierig), oder die Apertur des Objektives (z. B. durch Einhängeblenden) verringert werden muss, ist die Auflösung im Vergleich zu Hellfeld und zu anderen kontrastverstärkenden Methoden wie Phasenkontrast und Differentialinterferenzkontrast reduziert. Rheinbergbeleuchtung Die Rheinbergbeleuchtung (auch: optische Färbung oder Kontrastfarbenbeleuchtung) ist eine Abwandlung der Dunkelfeldmikroskopie mit Zentralblende, die 1896 in London von Julius Rheinberg erstmals beschrieben wurde. Die Zentralblende wird dabei durch einen runden Filter mit zwei Farben in konzentrischer Anordnung ersetzt: Eine Farbe bildet einen äußeren Ring, er entspricht dem Ring in der herkömmlichen Ringblende. Das hier durchtretende Licht wird also nur dann ins Objektiv fallen, wenn es im Präparat abgelenkt wird. Im mittleren, sonst lichtundurchlässigen Bereich befindet sich die zweite Farbe. Sie legt den Bildhintergrund fest. So entstehen ästhetisch teilweise sehr ansprechende Bilder, ohne dass zusätzliche Strukturen sichtbar werden. Unter dem Namen Mikropolychromar lieferte Zeiss um 1939 bis nach dem Zweiten Weltkrieg Kondensorzubehör aus, mit dem Rheinbergbeleuchtung möglich war. Eine zentrale Hellfeld- und eine äußere Dunkelfeldbeleuchtung konnten mit Filtern unterschiedlich eingefärbt werden. Zeiss empfahl diese Vorrichtung „zur Erleichterung der Untersuchung ungefärbter Objekte mit geringen Kontrasten“. Gerlach (2009) schrieb über diese Einrichtung sie habe „vor der Einführung des Phasenkontrastverfahrens sicherlich eine gewisse Bedeutung“ gehabt. Die Firma Reichert vertrieb unter dem Namen Optikolor eine Spiegelkondensor-basierte Lösung, die ebenfalls Rheinbergbeleuchtung ermöglichte. Mit dreifarbigen Rheinbergfiltern lassen sich Präparate besonders effektvoll darstellen, die deutlich strukturiert sind. Der äußere Ring des Filters wird in vier 90°-Winkel aufgeteilt, die jeweils gegenüberliegenden Quadranten werden gleichartig eingefärbt, benachbarte aber in unterschiedlichen Farben. Der innere Kreis wird mit der dritten Farbe eingefärbt. Der zweifarbige äußere Ring bewirkt, dass Strukturen, die von links nach rechts streuen, in einer anderen Farbe dargestellt werden als solche, die in der Präparatebene von vorne nach hinten streuen. Beispiele für solche Präparate sind Diatomeen oder Textilgewebe. Dunkelfeldbeleuchtung in Auflichtmikroskopen Klassische Auflicht-Dunkelfeld-Mikroskopie Bei der Auflichtmikroskopie wird das Licht von derselben Seite aus eingestrahlt, von der aus auch beobachtet wird. Dieses Verfahren wird bei lichtundurchlässigen Materialien angewendet, beispielsweise bei Mineralien oder bei Werkstoffprüfungen. Bei Auflicht-Hellfeldbeleuchtung kann die Beleuchtung über den gleichen Objektivstrahlengang eingespeist werden, mit dem auch beobachtet wird. Bei Auflicht-Dunkelfeldbeleuchtung sind Beleuchtungs- und Beobachtungsstrahlengang dagegen getrennt: Spezialobjektive haben einen zusätzlichen äußeren Bereich, der dem Beleuchtungsstrahlengang vorbehalten ist (siehe Schemazeichnung). Der innere Bereich entspricht einem normalen Objektiv, bei Dunkelfeldbeleuchtung dient er ausschließlich der Beobachtung. Der äußere Bereich entspricht dem Kondensor. Hier wird das Licht (1 in der Zeichnung) durch einen ringförmigen Hohlspiegel im äußeren Bereich (3) schräg auf das Präparat (4) geleitet. Wäre das Präparat ein flacher Spiegel, so würde das dort reflektierte Licht vollständig am inneren Bereich des Objektivs vorbeigeleitet: Das Bild bliebe dunkel. Von Oberflächenstrukturen wie Kratzern abgelenktes Licht wird dagegen vom Objektiv aufgenommen (5). Bei einigen Auflicht-Dunkelfeld-Objektiven ist es möglich, einzelne Sektoren des Beleuchtungsrings ein- oder auszublenden. Dadurch kann eine Schattenbildung verstärkt werden, so dass Strukturen, die in bestimmten Richtungen verlaufen, besser erkannt werden können. Bei sogenannten Ultropak-Beleuchtungseinrichtungen kann der ‚Kondensor‘, der um das Objektiv angebracht ist, in der Höhe verschoben werden, um unterschiedliche Ebenen im Präparat maximal zu beleuchten. Bei geringen Vergrößerungen lässt sich die erforderliche Lichtstärke auch durch eine seitlich aufgestellte externe Lichtquelle erreichen, beispielsweise Faseroptik-Leuchten. Oberflächenstrukturen wie zum Beispiel Kratzer heben sich im Auflicht-Dunkelfeld deutlich vom Hintergrund ab, da an ihnen reflektiertes oder gestreutes Licht teilweise in den zentralen Bereich des Objektivs gelenkt wird. Derartige Strukturen sind im Bild daher hell auf dunklem Hintergrund. Entsprechend ist Auflicht-Dunkelfeldbeleuchtung besonders geeignet für die Untersuchung von Oberflächen, etwa in den Materialwissenschaften. Dunkelfeldbeleuchtung ist bei Auflichtmikroskopen weit verbreitet. Im Gegensatz zur Durchlicht-Dunkelfeldbeleuchtung kann Auflicht-Dunkelfeldbeleuchtung auch mit den stärksten Objektiven eingesetzt werden. Um unerwünschte Reflexionen zu vermeiden, wird nach Möglichkeit ohne Deckglas gearbeitet. Auflicht-Dunkelfeld in Stereomikroskopen Bei Stereomikroskopen kann Auflicht-Dunkelfeld realisiert werden, indem die Beleuchtung eher streifend zur Oberfläche erfolgt und das gerichtet reflektierte Licht das Objektiv nicht direkt erreicht. Dies ist zum Beispiel möglich durch leichte Kippung eines flachen Präparats oder eine geschickte Anordnung frei positionierbarer Lichtquellen (z. B. Schwanenhalsbeleuchtung mit einer langen, biegbaren Halterung). Für ringförmige, allseitige Dunkelfeldbeleuchtung gibt es spezielle Ringleuchten mit einem Abstrahlwinkel von beispielsweise 60°, die in einem geringen Abstand von nur 5–15 mm oberhalb der Probe angeordnet sind. Der zugehörige Dunkelfeld-Adapter (höhenverstellbarer Tubus) erlaubt eine Montage am Objektiv und vermeidet Streulichteinstrahlung. Ein Beispiel für eine mit einer derartigen Beleuchtung aufgenommenen Probe ist die Abbildung der rechten 2-Euro-Münze im obigen Abschnitt Hell- und Dunkelfeld bei Auflichtbeleuchtung. Bei Stereomikroskopen wird Auflicht-Dunkelfeldbeleuchtung teilweise als Standardbeleuchtungsart gesehen. Bei gering reflektierenden Objekten entsteht durch die Dunkelfeldabbildung je nach Einfallswinkel eine mehr oder weniger plastische Darstellung. Extreme Dunkelfeldbedingungen lassen sich mit einem Linienlicht realisieren, das ein Lichtband erzeugt, das unter einem extrem flachen Beleuchtungswinkel von einer Seite über die Oberfläche streift. Durch die Schattenbildung entstehen sehr kontrastreiche Aufnahmen selbst von geringen Höhenunterschieden. Fingerabdrücke lassen sich so einfach auf flachen, ebenen Oberflächen darstellen. Sidestream Dark Field Imaging Als sidestream dark field imaging (abgekürzt SDF, zu deutsch: Seitenstrom-Dunkelfeld-Bildgebung) wird ein Verfahren zur Untersuchung der Mikrozirkulation bezeichnet, also zur Untersuchung kleiner und kleinster Blutgefäße. Das Verfahren wird mit einem kleinen Gerät durchgeführt, mit dem solche Gefäße bei Patienten zum Beispiel unter der Zunge untersucht werden können, wo keine störenden Hautschichten vorhanden sind. Die Technik verwendet einen zentralen Lichtleiter, in dem eine Linse das Bild des Präparats auf einen Kamerachip projiziert. Aus einem Ring um den zentralen Lichtleiter herum wird das Licht von grünen Leuchtdioden (Wellenlänge 530 nm) auf das Präparat eingestrahlt. Durch die Streuung im Präparat kommt es zu einer gleichmäßigen Verteilung des Lichts im beobachteten Bereich, so dass eine Art Hintergrundbeleuchtung entsteht. Das Hämoglobin in den roten Blutkörperchen absorbiert grünes Licht sehr stark, so dass sich die Blutgefäße, die dicht mit roten Blutkörperchen gefüllt sind, als dunkle Strukturen vor einem erhellten Hintergrund abheben. Die maximale Eindringtiefe ins Gewebe liegt bei 500 Mikrometern. Nachweis submikroskopischer Teilchen Optische Grundlagen Die Stärke eines Signals ist bei der Dunkelfeldmikroskopie nicht von der Größe einer Struktur abhängig, sondern davon wie stark das Licht von ihr abgelenkt wird. Daher können mit ihr, ähnlich wie mit der Fluoreszenzmikroskopie, auch manche Partikel oder Strukturen nachgewiesen werden, die kleiner sind als die Auflösungsgrenze des jeweiligen Mikroskops. Allerdings kann dann nicht unterschieden werden, ob das Signal von nur einer oder mehreren, dicht beieinander liegenden Strukturen kommt. Auch entsteht kein Abbild, sondern eine als Punktspreizfunktion bezeichnete Beugungserscheinung, deren Größe wiederum von der Auflösung des Mikroskops abhängt. Die Form der Teilchen (rund, länglich, kantig …) spielt für die Form und Größe der erzeugten Beugungserscheinung keine Rolle, so dass die Form der Teilchen nicht feststellbar ist. Für kleinere Teilchen nimmt allerdings die Intensität ab, da an ihnen weniger Licht abgelenkt wird. Daher ist für diese eine starke Beleuchtung erforderlich. Die Intensität ist auch abhängig vom Unterschied in der optischen Dichte (Brechungsindex) zwischen Struktur und umgebenden Medium, da bei größeren Brechungsindexunterschieden mehr Licht abgelenkt wird. Beispiele Dunkelfeldbeleuchtung wird im Rahmen des Millikan-Versuchs genutzt, bei dem die Dunkelfeldtechnik die Beobachtung von Öltröpfchen in einem Kondensator ermöglicht. Für die Bestimmung der Elementarladung eines Elektrons durch dieses Experiment erhielt Robert Andrews Millikan im Jahr 1923 den Nobelpreis für Physik. Auch zum Nachweis von Metallpartikeln in Gewebeschnitten kann die Dunkelfeldmikroskopie genutzt werden (siehe auch Abbildung). Ultramikroskopie Um das Jahr 1900 herum kam der Begriff „Ultramikroskopie“ auf, mit dem die dunkelfeldmikroskopische Untersuchung sogenannter „Ultramikronen“ bezeichnet wurde, Partikel kleiner als die Auflösungsgrenze des Lichts, also kleiner als 0,2 Mikrometer. Die minimale Größe solcher Partikel die man bereits 1902 mit hellem Sonnenlicht in Goldrubingläsern mit Hilfe des Ultramikroskops bestimmte, liegt bei unter vier Nanometern. Das von Henry Siedentopf und Richard Zsigmondy entwickelte Spaltultramikroskop wurde für die Untersuchung von Kolloiden eingesetzt, für biomedizinische Untersuchungen war es nicht geeignet. Die Beleuchtung erfolgte in Form einer Ebene, die seitlich in das Präparat eingekoppelt wurde, ähnlich wie bei der moderneren Technik der Lichtscheiben-Mikroskopie (SPIM), bei der Laser verwendet werden und auch Fluoreszenz angeregt werden kann. Zur Erzeugung der Ebene wurde beim Ultramikroskop ein Spalt vor der Beleuchtungsquelle platziert, dessen Kanten nur einige Hundertstel Millimeter auseinander lagen. Dieser Spalt wurde durch ein Linsensystem etwa 50-fach verkleinert und schließlich ins Präparat abgebildet. Die Firma Zeiss bot Spaltultramikroskope inklusive Zubehör 1910 für 474,50 Mark (für Kolloide in Flüssigkeiten) beziehungsweise 744,50 Mark (Kolloide in festen Materialien) an. Um besonders Nanopartikel in Flüssigkeiten beobachten und deren Verhalten studieren zu können entwickelte Richard Zsigmondy das Spaltultramikroskop in Göttingen zusammen mit der Firma R. Winkel GmbH weiter und stellte 1912 das Immersionsultramikroskop vor. Beim 1903 entwickelten, vereinfachten Ultramikroskop von Cotton und Mouton kam eine völlig andere Beleuchtungsgeometrie zum Einsatz. Ein Lichtkegel wurde seitlich in ein Glas-Prisma mit Parallelogramm-Seitenflächen eingespeist. An der Unterseite des Glaskörpers entstand Totalreflexion, wodurch das Licht zum Präparat geleitet wurde. Der Objektträger wurde mit Immersion direkt auf den Glaskörper gelegt. Die Lichtstrahlen trafen nun so schräg auf das Präparat, dass an der Oberkante des Deckglases ebenfalls Totalreflexion hervorgerufen wurde und kein direktes Licht auf das Objektiv traf. Nur im Präparat gebeugtes Licht wurde aufgenommen. Dieser Aufbau konnte nicht mit Immersionsobjektiven verwendet werden, da sonst am Deckglas keine Totalreflexion stattfand. Weitere Anwendungen Auf Grund der im Vergleich zu anderen Kontrastverstärkungsverfahren wie Phasenkontrast oder Differentialinterferenzkontrast limitierten Auflösung der Dunkelfeldmikroskopie ist sie heute nicht mehr so stark verbreitet und nur für einige spezielle Anwendungen von Bedeutung. Beispielsweise wird sie nach wie vor für den mikroskopischen Nachweis einiger Krankheitserreger in der klinischen Mikrobiologie genutzt, etwa Spirochaeten. Die Fähigkeit submikroskopische Strukturen zu detektieren, kann verwendet werden um isolierte Organellen und Polymere wie Flagellen, Cilien, Mikrotubuli und Aktinfilamente zu untersuchen. In der Halbleiterindustrie wird Auflicht-Dunkelfeldmikroskopie bei der Oberflächenkontrolle von Wafern eingesetzt, um Schmutzpartikel aufzufinden. Derartige Untersuchungen werden mit Trockenobjektiven (also ohne Immersion) durchgeführt, die Auflösungsgrenze liegt hier bei etwa 0,35 Mikrometern. Dank Dunkelfeldbeleuchtung werden aber auch Partikel sichtbar, die diese Grenze unterschreiten. In der Metallografie werden die meisten Schliffuntersuchungen im Hellfeld durchgeführt. Daneben kann Dunkelfeld vorteilhaft eingesetzt werden, um mechanische Oberflächenstörungen (Kratzer, Risse, Einschlüsse, Poren, Lunker oder Ausbrüche) zu visualisieren und um an geätzten Schliffen Korngrenzen zu untersuchen. Farben von Einschlüssen (Sulfide oder Oxide) erscheinen im Dunkelfeld deutlicher als im Hellfeld, so dass Zuordnungen einfacher sind. Auf Grund der ästhetisch ansprechenden Bilder hat die Dunkelfeldmikroskopie bei Hobbymikroskopikern eine gewisse Verbreitung. Mit ihr lassen sich zum Beispiel durchsichtige Wasserkleinstlebewesen (Plankton) beobachten. Alternativmedizin Die Nutzung der Dunkelfeldmikroskopie in der Alternativmedizin als Diagnoseverfahren bei Blutuntersuchung soll eine Vielzahl von Erkrankungen erkennen. Häufig folgt der Verkauf von Nahrungsergänzungsmitteln und anderer Therapeutika, um angeblich diagnostizierte Krankheiten zu behandeln. Die Diagnosetechnik basiert auf der Annahme, dass bestimmte Krankheiten sichtbare Phänomene von frischem Blut (zum Beispiel eine Erythrozyten-Aggregation) hervorrufen. Die Methode ist weder plausibel noch eine verlässliche diagnostische Methode, es werden falschpositive oder -negative Diagnosen getroffen. Nach Günther Enderlein (Isopathie) soll die Dunkelfeldmikroskopie eine Krebsfrüherkennung ermöglichen. Das Verfahren beruht auf wissenschaftlich nicht haltbaren Annahmen zur Morphologie von Mikroorganismen (sogenannter Pleomorphismus). Eine wissenschaftliche Studie kam im Jahr 2005 zu dem Schluss, dass die Dunkelfeldmikroskopie zur Erkennung von Krebs ungeeignet sei. Ein weiterer alternativmedizinischer Bluttest, der mittels Dunkelfeldmikroskopie durchgeführt wird, ist die Dunkelfeldblutdiagnostik nach von Brehmer. Diese geht auf den Pharmazeuten Wilhelm von Brehmer zurück und soll ebenfalls eine Früherkennung von Krebserkrankungen ermöglichen. Ein Nachweis der Eignung fehlt jedoch. Bei diesem Bluttest wird nach Propionibacterium acnes (alias Siphonospora p.) gesucht, der ein typischer Bestandteil der Hautflora ist, und im Rahmen der Blutabnahme leicht den Ausstrich verkeimen kann. Weblinks Christian Linkenheld: Dunkelfeld-Mikroskopie mit der Zentralblenden-Methode. und Dunkelfeldmikroskopie mit speziellen Dunkelfeld-Kondensoren. mikroskopie.de, 2002; abgerufen am 14. Mai 2012. Paraboloid-Kondensor und Kardioid-Kondensor von Zeiss im Museum optischer Instrumente. Dunkelfeldbeleuchtung in den Materialwissenschaften, eine Übersicht über Beleuchtungstechniken an der Universität Siegen. Immersionsultramikroskop nach R. Zsigmondy mit 1912 patentierten Optiken Einzelnachweise Lichtmikroskop-Art oder lichtmikroskopisches Verfahren
356223
https://de.wikipedia.org/wiki/Wei%C3%9Feritztalbahn
Weißeritztalbahn
|} Die Weißeritztalbahn ist die zweitälteste sächsische Schmalspurbahn und die dienstälteste öffentlich betriebene Schmalspurbahn Deutschlands. Die Strecke führt seit 1882 von Freital-Hainsberg bei Dresden durch das Tal der Roten Weißeritz bis Dippoldiswalde und seit 1883 bis Kipsdorf im Osterzgebirge. Sie wurde beim Hochwasser im August 2002 so schwer beschädigt, dass sie komplett außer Betrieb ging. Nach einem langen, durch viele Verzögerungen geprägten Wiederaufbau wurde die Strecke von Freital-Hainsberg bis Dippoldiswalde 2008, die Strecke von dort bis Kurort Kipsdorf am 17. Juni 2017, fast 15 Jahre nach deren Verwüstung durch das Hochwasser, wieder in Betrieb genommen. Geschichte Vorgeschichte Ein erstes Bahnprojekt, das eine Streckenführung durch das Tal der Roten Weißeritz vorsah, wurde schon im Jahre 1865 vorgelegt. Damals wurde der Bau einer Hauptbahn von Dux nach Dresden für den Import der hochwertigen nordböhmischen Braunkohle diskutiert. Obwohl seinerzeit im Falle der Realisierung des Vorhabens eine Verzinsung von sechs Prozent des Anlagekapitals errechnet wurde, kam es nicht zur Ausführung. Gründe dafür waren vermutlich neben zu hohen Kosten die ungeklärte Frage der Trassierung am südlichen Steilabfall des Erzgebirges. Gebaut wurde die Strecke später weiter westlich im Tal der Freiberger Mulde als Bahnstrecke Nossen–Moldau. Ein mittlerweile gegründetes Bahnbaukomitee in Dippoldiswalde forderte weiterhin eine Bahn im Tal der Roten Weißeritz. Mehrere Projekte sahen etwa Trassen in Verlängerung der Strecke der Albertsbahn (Dresden–Tharandt) als auch von Possendorf (Windbergbahn) vor. Vor allem eine bessere Transportmöglichkeit für das im Freitaler Steinkohlenbergbau benötigte Grubenholz wurde erwartet. Keines dieser Projekte wurde realisiert. Am 11. April 1876 wandte sich das Dippoldiswalder Eisenbahnkomitee erneut an den Sächsischen Landtag. In einer Petition wurde der Bau einer Bahn von Dresden nach Schmiedeberg auf Staatskosten gefordert. Letztlich begannen im Dezember 1878 die Vermessungsarbeiten für eine normalspurige Secundärbahn von Hainsberg nach Schmiedeberg. Der Bau einer normalspurigen Bahn durch den Rabenauer Grund erwies sich wegen der Enge des Tales als unmöglich. Erörtert wurden deshalb Trassierungsvarianten von Niedersedlitz durch das Lockwitztal über Kreischa und Reinhardtsgrimma nach Dippoldiswalde. Nachteilig wäre hier die Notwendigkeit einer maximalen Neigung von 25 Promille gewesen, im Rabenauer Grund reichten 17 Promille aus. Angesichts dessen wurde wie bei der zur gleichen Zeit geplanten Strecke Wilkau–Kirchberg für eine schmalspurige Ausführung der Strecke festgelegt. Am 11. Februar 1880 genehmigte die zweite Kammer des Sächsischen Landtags den Bau der Schmalspurbahn. Mit dieser Entscheidung betraten die Kgl. Sächsischen Staatseisenbahnen absolutes technisches Neuland, da es bislang mit der Bröltalbahn nur eine einzige dem öffentlichen Verkehr dienende Schmalspurbahn in Deutschland gab. Bau und Eröffnung Hainsberg–Schmiedeberg Im Frühjahr 1880 begannen die Vermessungsarbeiten an der vorgesehenen Trasse, die sich wegen des schlechten Wetters bis in den Herbst hinzogen. Anschließend fanden die Verhandlungen für die Enteignung der für den Bau benötigten Grundstücke statt. Die gesamte Strecke wurde in drei Baulose eingeteilt, wobei das dritte Los noch nicht genehmigt worden war: Los 1: Hainsberg–Dippoldiswalde Los 2: Dippoldiswalde–Schmiedeberg Los 3: Schmiedeberg–Kipsdorf Die eigentlichen Bauarbeiten an den Losen 1 und 2 begannen am 16. Juli 1881 mit dem ersten Spatenstich an der Rabenauer Mühle. Schwierig gestalteten sich die Bauarbeiten vor allem im engen und felsigen Rabenauer Grund. Für die Erstellung der Bruchsteinmauern waren – wie seinerzeit vielfach üblich – darin erfahrene italienische Arbeiter beschäftigt. Für den Bau der Steinbogenbrücken waren einheimische Unternehmen mit entsprechenden Referenzen verpflichtet worden. Am 9. Oktober 1882 waren schließlich die Gleise der ersten beiden Sektionen bis Schmiedeberg fertiggestellt. Fünf Tage später trafen die ersten beiden Lokomotiven in Hainsberg ein. Ein erster Probezug mit der Lokomotive Nr. 1 fuhr am 18. Oktober 1882 bis Naundorf. Die eigentliche Abnahmefahrt fand am 20. Oktober statt, dabei wurde der Eröffnungstermin auf den 1. November 1882 festgelegt. Mit einem Festzug für geladene Gäste wurde die Strecke schließlich am 30. Oktober 1882 eingeweiht. Der planmäßige Zugverkehr begann am Tag darauf mit zunächst drei gemischten Zugpaaren zwischen Hainsberg und Schmiedeberg. Schmiedeberg–Kipsdorf Am 22. Oktober 1881 begannen schließlich die Vermessungsarbeiten auf der restlichen Trasse bis Kipsdorf. Zwischenzeitlich war durch die Zwitterstocksgesellschaft zu Altenberg eine weitere Verlängerung der Strecke bis Altenberg gefordert worden, was aber wegen zu hoher Kosten abgelehnt wurde. Altenberg erhielt später eine Eisenbahnverbindung durch das Müglitztal. Als unerwartet problematisch erwies sich die Trassierung oberhalb des Bahnhofes Schmiedeberg, wo die ursprünglich vorgesehene Streckenführung eine Maximalneigung von 40 Promille bedingt hätte. Erst am 3. April 1882 genehmigte die Ständeversammlung die Verlängerung bis Kipsdorf. Am 3. September 1883 war die Bahn bis zum heutigen Endpunkt Kipsdorf fertiggestellt. Die ersten Betriebsjahre Von Anfang an wurde die Schmalspurbahn von der Bevölkerung und dem ansässigen Gewerbe rege genutzt. Obwohl so ursprünglich nicht vorgesehen, musste schon bald die Mehrzahl der Züge zur Bewältigung des Verkehrsaufkommens mit Vorspannlokomotive gefahren werden. Zudem mussten schon 1883 einige Stationen mit längeren Ladegleisen ausgestattet werden. Eine Zäsur bedeutete das Jahrhunderthochwasser vom 29. Juli 1897, das enorme Schäden an der Strecke hinterließ. Fast alle der 40 Brücken der Weißeritztalbahn wurden beschädigt oder gar gänzlich zerstört. Die Wiederaufbauarbeiten begannen schon nach wenigen Tagen. Bereits am 25. August 1897 fuhren wieder Reisezüge zwischen Hainsberg und Rabenau. Nach nur knapp zwei Monaten – am 10. September 1897 – war die Gesamtstrecke auf provisorische Weise wieder befahrbar. Die Wiederaufbauarbeiten dauerten noch bis in das Jahr 1898 an, so musste etwa im Bahnhof Spechtritz die Stützmauer zur Weißeritz komplett neu errichtet werden. Ein weiteres Hochwasser, bei dem Schäden am Gleis der Weißeritztalbahn zu verzeichnen waren, ereignete sich am 14. September 1899. Der Bahnhof Hainsberg wurde zwischen 1901 und 1911 im Zuge des Umbaus der Albertsbahn um ca. 100 Meter in Richtung Potschappel verlegt. (Dies erklärt die negative Kilometrierung am Startpunkt der Strecke.) Das alte Bahnsteigdach wurde dabei nach Dippoldiswalde versetzt. Schon vor der Jahrhundertwende wurde auf der Weißeritztalbahn die Einführung des bewährten Rollbockverkehrs geplant, um in den Schmalspurzügen auch normalspurige Güterwagen befördern zu können. 1902 erfolgte in Hainsberg der Bau der Rollbockgrube. Rollbockverkehr fand zunächst nur bis Coßmannsdorf zur Bedienung der Spinnerei und des Steinbruches statt, da im weiteren Verlauf der Strecke erst das nötige vergrößerte Lichtraumprofil hergestellt werden musste. Neben der Vergrößerung der Gleismittenabstände in den Bahnhöfen mussten auf freier Strecke etliche Felsvorsprünge beseitigt werden. Der Tunnel am Einsiedlerfelsen wurde in dem Zusammenhang restlos abgetragen, da sich ein Aufweiten der Tunnelröhre nicht lohnte. Im Februar 1907 wurde die Umsetzanlage in Hainsberg für den geplanten Einsatz der moderneren Rollwagen nochmals umgebaut. Am 12. Juni 1907 erreichte schließlich erstmals ein Zug mit aufgebockten Normalspurgüterwagen Kipsdorf. Der Bau der Talsperre Malter |} Die Talsperre Malter war Teil eines Hochwasserschutzkonzeptes, das nach dem verheerenden Hochwasser von 1897 umgesetzt wurde. Die Staumauer wurde in den Jahren 1908 bis 1913 unterhalb des Dorfes Malter errichtet, was eine Neutrassierung der Weißeritztalbahn zwischen Spechtritz und Dippoldiswalde bedingte. Schon beim Bau der Weißeritztalbahn hatten die Gemeinden Oelsa, Wendisch Carsdorf und Oberhäslich eine Streckenführung durch das Oelsabachtal gefordert. Umso mehr hofften diese Orte nunmehr, dass die umzulegende Strecke im Oelsabachtal errichtet würde. Am 27. Juni richteten die drei Gemeinden eine entsprechende Petition an die Amtshauptmannschaft Dresden-Altstadt. Letztlich wurde diese Streckenführung wegen der ungünstigen Neigungsverhältnisse und dem geplanten Bau einer Talsperre im Oelsabachtal abgelehnt. Die neue Trasse wurde parallel zur alten mit einer Neigung von 20 Promille im Tal der Roten Weißeritz vorgesehen. 1909/10 wurden die benötigten Flurstücke enteignet. Kurz darauf begann der Bau der neuen Trasse. Die Hanglage der neuen Strecke bedingte umfangreiche Erdarbeiten und den Bau von vier großen Brücken. Im Bereich des Stausees wurde das Gleis zwei Meter über dem höchsten Wasserspiegel trassiert. Am 15. April 1912 wurde die neue Strecke mit einem Sonderzug eröffnet. Das alte Gleis von Spechtritz bis zur Sperrmauer wurde fortan noch als Anschlussgleis zur Baustelle genutzt. Später wurde dort ein Wanderweg eingerichtet. Neutrassierung zwischen Obercarsdorf und Buschmühle |} Nach 1900 wuchs die heute noch existierende Gießerei in Schmiedeberg von einem Kleinbetrieb zu einem Großunternehmen. Damit stieg die Güterverkehrsleistung für die Gießerei immer mehr an. Schon um 1907 musste darum der Bahnhof in Schmiedeberg um längere Kreuzungs- und Ladegleise erweitert werden. Es fehlte der Platz für größere Erweiterungen. Um 1910 kam der Bahnhof Schmiedeberg schließlich an seine Kapazitätsgrenze. Oft musste der Güterumschlag unmittelbar auf der heutigen Bundesstraße 170 erfolgen. Jetzt erwies sich die in Straßenseitenlage trassierte Bahn in Schmiedeberg zunehmend als Verkehrshindernis. Wegen zu enger Gleisabstände war zudem das Kreuzen von Rollwagenzügen verboten. Erste Planungen für eine Umverlegung der Bahn aus der Ortslage Schmiedeberg an den Talhang stammten schon von 1909. Die Umsetzung des Vorhabens wurde jedoch erst im Zusammenhang mit dem begonnenen Bau der Pöbeltalbahn nach dem Ersten Weltkrieg Wirklichkeit. Die Enteignung des benötigten Grund und Bodens erfolgte im Laufe des Jahres 1919. Wegen der hohen Arbeitslosigkeit nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Bauarbeiten 1920 in Regie der nunmehr gegründeten Deutschen Reichsbahn als Notstandsarbeit begonnen, 125 Arbeitslose aus Schmiedeberg und Umgebung fanden auf der Baustelle eine neue Beschäftigung. In Schmiedeberg musste über die Einmündung des Pöbeltales ein Viadukt errichtet werden, ansonsten kam die Neubautrasse ohne größere Kunstbauten aus. Die Bauarbeiten wurden mehrfach verzögert, einerseits durch die beginnende Hyperinflation zu Beginn der 1920er Jahre, andererseits durch schneereiche Winter. Am 23. Dezember 1923 kam der Streckenbau schließlich gänzlich zum Erliegen. Erst im April 1924 wurden die Arbeiten fortgesetzt, die sich noch bis in den November hinzogen. Probleme bereitete zum Schluss noch die Einbindung der neuen Trasse in den Bahnhof Obercarsdorf. Dort musste der gesamte südliche Bahnhofskopf bei laufendem Betrieb umgebaut werden. Am 1. Dezember 1924 verließ um 12:20 Uhr der letzte Zug den alten Bahnhof Schmiedeberg. Danach wurde die neue Strecke in Obercarsdorf mit dem Einschub der schon bereitliegenden Weiche endgültig eingebunden. Der planmäßige nachmittägliche Gegenzug fuhr kurz nach 15:00 Uhr schon über die neue Strecke. Die alte Strecke wurde kurz darauf abgebrochen. Am 1. Februar 1925 war sie gänzlich demontiert. Sie wird heute (2016) zwischen Obercarsdorf und der Einmündung des Pöbeltales noch als Radweg genutzt. Im Betrieb der Deutschen Reichsbahn bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges Die 1920er und 1930er Jahre waren für die Weißeritztalbahn vor allem durch eine umfassende Modernisierung und Kapazitätserweiterung der Strecke geprägt. Mit der Indienststellung neuer, moderner Wagen und leistungsfähiger Lokomotiven avancierte die Strecke nunmehr zur modernsten sächsischen Schmalspurbahn. Der in den Jahren 1933 bis 1934 durchgeführte Um- und Neubau des Bahnhofes Kipsdorf beseitigte schließlich das letzte betriebliche Nadelöhr der Strecke. Ab diesem Zeitpunkt war der Einsatz bis zu 56 Achsen starker Reisezüge auf der Weißeritztalbahn berg- und talwärts zugelassen. Vor allem im Wintersportverkehr verkehrten planmäßig Reisezüge, die aus 13 Personenwagen und einem Gepäckwagen bestanden. Diese Züge boten über 550 Sitzplätze. Mit dem Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde ein Teil des Personals zur Wehrmacht eingezogen. Damit einhergehend kam es im Laufe des Krieges zu immer mehr Einschränkungen im Zugverkehr. So waren etwa im Jahresfahrplan 1944/45 täglich nur noch fünf Reisezugpaare auf der Gesamtstrecke verzeichnet. Von direkten Kriegseinwirkungen blieb die Strecke wegen ihrer Frontferne jedoch verschont. Mit der Besetzung des Bahngebietes durch die Rote Armee kam der Zugverkehr im Mai 1945 schließlich gänzlich zum Erliegen. Der Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg Schwierig war der Neubeginn nach dem Zweiten Weltkrieg. Die meisten Lokomotiven waren schadhaft abgestellt, da eine Instandsetzung im zuständigen Raw Chemnitz wegen der dortigen starken Kriegszerstörungen vorerst nicht möglich war. So führten die Personale der Bahn die notwendigen Reparaturen selbst aus, um wenigstens einen eingeschränkten Betrieb zu ermöglichen. Der Zugverkehr auf der Weißeritztalbahn wurde nach Kriegsende am 15. Juni 1945 wieder aufgenommen. Die Züge wurden vor allem zu Hamsterfahrten, aber auch von Berufspendlern genutzt. An einen Ausflugsverkehr war vorerst nicht zu denken. 1946 musste ein Teil der Lokomotiven als Reparationsleistung an die Sowjetunion abgegeben werden. Ein erheblicher Verkehrszuwachs im Personen- und Güterverkehr war durch die Aufnahme des Uranerzbergbaues im Revier Niederpöbel durch die sowjetische Wismut AG im Jahr 1948 zu verzeichnen. Zu den Schichtwechseln verkehrten zum Teil besondere Züge, die den dort beschäftigten Bergarbeitern vorbehalten waren. Langsam normalisierte sich der Verkehr auf der Weißeritztalbahn. In den 1950er Jahren erlangte die Weißeritztalbahn zudem ihre alte Bedeutung im Ausflugsverkehr weitgehend zurück. Im Wintersportverkehr wurden wieder Vor- oder Nachzüge zu den planmäßigen Zügen gefahren, um den enormen Andrang zu bewältigen. 1953 sah der Fahrplan insgesamt sieben werktägliche Reisezugpaare vor. Stilllegungspläne Anfang der 1960er Jahre fanden auf allen Nebenstrecken der Deutschen Reichsbahn Untersuchungen über deren Wirtschaftlichkeit statt. Angesichts des europaweiten Trends zur Verlagerung der Transporte von der Schiene auf die Straße wurde daraufhin 1964 die Stilllegung aller Schmalspurbahnen in der DDR bis 1975 beschlossen. Für die Weißeritztalbahn bedeutete dieser Beschluss, dass fortan keinerlei Investitionen mehr in die Infrastruktur erfolgten. Noch im Laufe des Jahres 1964 wurde der vereinfachte Nebenbahnbetrieb eingeführt. Fortan waren die Bahnhöfe Seifersdorf, Obercarsdorf und Schmiedeberg nicht mehr mit Fahrdienstleitern besetzt. In diesen Bahnhöfen werden die Weichen durch die Zugpersonale gestellt, was die Fahrzeiten der meisten Zügen verlängerte. In den Folgejahren wurden an Gleisen und Anlagen nur noch die notwendigsten Erhaltungsarbeiten durchgeführt. Zunehmend wurden Langsamfahrstellen in abgängigen Abschnitten eingerichtet. In dieser Situation verlor die Bahn einen Gutteil des Reiseverkehrsaufkommens an die mittlerweile eingerichteten, schnelleren Buslinien. So schien die Einstellung des Zugverkehrs nur noch eine Frage der Zeit. Dem Kraftverkehr war es wegen fehlender Kapazitäten nicht möglich, den umfangreichen Ausflugsverkehr an Sonn- und Feiertagen zur Gänze zu übernehmen. Ein Großteil des Güterverkehrs wurde in den 1960er Jahren auf die Wagenladungsknoten Freital-Hainsberg und Freital-Potschappel, aber auch nach Dresden-Reick und Dresden-Friedrichstadt verlagert. Infolgedessen wurden die Güterverkehrsstellen Seifersdorf, Malter, Obercarsdorf und Kurort Kipsdorf ab 1968 aufgelassen. Der Schmalspurbahn blieben die Massentransporte, die der Kraftverkehr nicht übernehmen wollte und konnte. So mussten nach wie vor umfangreiche Transporte für die Gießerei in Schmiedeberg bewältigt werden. Mehrere Betriebe in Dippoldiswalde, wie das Pflug-Hafernährmittelwerk oder die Großhandelsgesellschaft (GHG), erhielten weiterhin noch Wagenladungen zugestellt. Entwicklung ab 1974 Anfang der 1970er Jahre mehrten sich die Stimmen, die eine Erhaltung einiger Schmalspurbahnen als touristische Attraktion forderten. So beschloss die Hauptverwaltung des Betriebs- und Verkehrsdienstes am 17. September 1973 die langfristige Erhaltung von sieben Schmalspurbahnen in der DDR, darunter die der Weißeritztalbahn. Die Weißeritztalbahn sollte vorrangig zu einer touristischen Attraktion unter Beibehaltung des regulären Reise- und Güterverkehrs entwickelt werden. Nur langsam konnten in den nächsten Jahren die jahrzehntelang ausgebliebenen Investitionen nachgeholt werden. Gleiserneuerungen beschränkten sich etwa in den Folgejahren auf kürzere Abschnitte. Eine generelle Sanierung von Gleisen und Anlagen erfolgte nicht. Mehrfach war die Strecke in den 1970er Jahren von der Sperrung wegen Oberbauschäden bedroht. Nur durch das Engagement der Bahnmeisterei und Einsatz von Freiwilligen konnte dies abgewendet werden. Typisch für jene Zeit waren Arbeitseinsätze von Studenten, die im Rahmen von Studentensommern Gleisabschnitte erneuerten. Der Zustand der Fahrzeuge war in den 1970er Jahren noch zufriedenstellend. Angesichts des teilweise hohen Alters der Wagen sah die Deutsche Reichsbahn bis 1979 eine Neubeschaffung bulgarischer Reisezugwagen vor, was sich aus finanziellen Gründen jedoch zerschlug. Ab 1977 wurde letztlich der vorhandene Bestand an Reisezugwagen grundlegend modernisiert. HL-Lichtsignale wurden in Hainsberg, Dippoldiswalde und Kipsdorf installiert. Die Reichsbahndirektion Dresden strebte weiterhin die Einstellung des Güterverkehrs an. Dieses Vorhaben scheiterte wie in den Jahren zuvor an den fehlenden Kapazitäten des Kraftverkehrs. So fehlten etwa spezielle LKW, um den für die Gießerei Schmiedeberg bestimmten Gusssand zu transportieren. Erst nach der Ölkrise in der DDR 1981 stieg die Güterverkehrsleistung wegen der staatlich verordneten Verlagerung von Transporten von der Straße auf die Schiene wieder an. Oft mussten die Güterzüge bis Dippoldiswalde mit zwei Lokomotiven bespannt werden. Im Winterfahrplan 1980/81 waren sieben Reisezugpaare an Werktagen verzeichnet. Für den Ausflugsverkehr an Sonntagen wurden fünf Zugpaare eingesetzt. Besondere Wintersportzüge – wie auf der benachbarten Müglitztalbahn – gab es nicht. Ein herausragendes Ereignis in der Geschichte der Weißeritztalbahn war die 100-Jahr-Feier im Jahr 1983. Während einer Festwoche vom 27. August bis zum 4. September 1983 verkehrte eine Vielzahl von Sonderzügen, darunter der Traditionszug der Lößnitzgrundbahn. Nach der politischen Wende in der DDR Der gesellschaftliche Umbruch im Osten Deutschlands 1989/90 war für die Weißeritztalbahn mit erheblichen Veränderungen verbunden. Innerhalb kürzester Zeit stellte ein Großteil der Betriebe im Einzugsgebiet ihre Produktion ein, was zu einem drastischen Einbruch der Verkehrsleistung im Personen- und Güterverkehr führte. Beispielsweise fielen die Gießerei in Schmiedeberg und das Küchenmöbelwerk in Obercarsdorf als Güterkunde weg. Nur im Ausflugsverkehr besaß die Bahn weiterhin Bedeutung. Die baldige Stilllegung schien somit bevorzustehen. Trotzdem erfolgten in Regie der Deutschen Reichsbahn in den Jahren 1991 bis 1993 noch enorme Investitionen in die Strecke und den Fahrzeugpark. So erhielten alle Lokomotiven größere Grundinstandsetzungen und die seit 1977 laufende Modernisierung des Wagenparkes wurde zum Abschluss gebracht. Im Sommer 1993 führte die Gleisbau Bautzen GmbH größere Erneuerungen am Oberbau aus. Dabei kam erstmals eine tschechische Gleisstopfmaschine zum Einsatz. Im Betrieb der Deutschen Bahn AG Eine gänzlich neue Situation entstand mit Gründung der Deutschen Bahn AG (DB AG) zum 1. Januar 1994. Der neue Eigentümer strebte schnellstmöglich eine Privatisierung oder Stilllegung der Strecke an. Infolge dieser Entwicklung wurde die Weißeritztalbahn am 14. März 1994 durch das Landesamt für Denkmalpflege Sachsen einschließlich der Fahrzeuge unter Denkmalschutz gestellt. Am 31. Dezember 1994 wurde schließlich der verbliebene Güterverkehr trotz noch vorhandenen Bedarfs eingestellt. Zuletzt wurden Transporte für einen Schrotthandel in Schmiedeberg-Naundorf und mehrere Kohlehändler in Dippoldiswalde und Schmiedeberg ausgeführt. Mitte der 1990er Jahre gab es erste Bestrebungen von Seiten des Freistaates Sachsen, die Strecke mittels einer landeseigenen Gesellschaft weiter zu betreiben. Letztlich zerschlugen sich diese Pläne und es wurde eine Privatisierung nach dem Vorbild der Zittauer Schmalspurbahn und der Fichtelbergbahn favorisiert. Allerdings zeigten weder der Weißeritzkreis noch die Anliegergemeinden entsprechendes Interesse, ein solches finanzielles Risiko einzugehen. Daraufhin beabsichtigte die Deutsche Bahn AG 1998 die Einstellung des Personenverkehrs. Dieses Vorhaben wurde nur durch einen buchstäblich in letzter Minute ausgehandelten Verkehrsvertrag mit dem in Gründung befindlichen Verkehrsverbund Oberelbe verhindert. Trotzdem hielt die Deutsche Bahn AG weiterhin an ihrer Absicht fest, die Strecke an einen privaten Betreiber abzugeben. Am 31. Dezember 2000 übernahm die DB-Tochtergesellschaft Mitteldeutsche Bahnreinigungsgesellschaft (BRG) die Betriebsführung der Weißeritztalbahn. Ende der 1990er Jahre wies der Fahrplan werktags insgesamt acht Zugpaare im Zweistundentakt aus. Ein weiteres Zugpaar verkehrte nur bis Dippoldiswalde. Die Weißeritztalbahn beförderte vor dem Hochwasser 2002 jährlich rund 200.000 Fahrgäste. Das Jahrhunderthochwasser im August 2002 Am 13. August 2002 wurde die Strecke – wie schon 1897 – bei einem Hochwasser schwer beschädigt. Vor allem im Rabenauer Grund zwischen Freital-Coßmannsdorf und Spechtritz waren Gleise und Brücken weitgehend zerstört. Zwischen Buschmühle und Kurort Kipsdorf hatte das Hochwasser den Bahnkörper abschnittsweise vollständig weggespült. Zwei weniger beschädigte Teilabschnitte konnten schon bald durch Spenden von Eisenbahnfreunden wieder aufgebaut werden, sodass dort von 2003 bis 2006 Sonderfahrten stattfinden konnten. Die Kosten für die Instandsetzung der gesamten Strecke wurden auf rund 20 Millionen Euro geschätzt. Der Bund und der Freistaat Sachsen wollten diese je zur Hälfte tragen. Der erste Spatenstich zum Wiederaufbau erfolgte am 14. September 2004, fünf Tage vor der Landtagswahl 2004 in Sachsen. Der tatsächliche Baubeginn wurde immer wieder hinausgeschoben. Insgesamt standen 30 Millionen Euro zur Verfügung. Mit dem Freistaat wurde vereinbart, dass dieser noch weitere 9 Millionen Euro bereitstellt, wenn der Zweckverband Verkehrsverbund Oberelbe wegen Mehrkosten eine weitere Million Euro bereitstellt. Am 14. September 2004 erfolgte die Übergabe der Bahn an die BVO Bahn GmbH. Diese betrieb damals bereits die Fichtelbergbahn und die Lößnitzgrundbahn. Im Juni 2007 wurde aus steuerlichen und kommunalrechtlichen Gründen entschieden, die Grundstücke, über die die Bahnstrecke führt, für 206.000 Euro an den Weißeritzkreis zu verkaufen. Im Gegenzug beteiligt sich der Verkehrsverbund Oberelbe mit 35 Prozent an der nunmehr als Sächsische Dampfeisenbahngesellschaft (SDG) firmierenden BVO Bahn. Am 27. September 2007 gab das Regierungspräsidium Dresden insgesamt 17,8 Millionen Euro aus dem Bundes-Fluthilfefonds für den Wiederaufbau des Abschnittes Freital-Hainsberg–Dippoldiswalde frei. Diese Fördermittel für den Verkehrsverbund Oberelbe waren mit der Auflage verbunden, den Betrieb der wiederaufgebauten Strecke für die nächsten 20 Jahre zu gewährleisten. Wiederaufbau Freital–Dippoldiswalde 2007/08 Am 29. Oktober 2007 begannen im Bahnhof Rabenau die Arbeiten zum Wiederaufbau des Streckenabschnittes Freital-Hainsberg–Dippoldiswalde. Im Rabenauer Grund konnte als Zufahrtsstraße nur der schmale Wanderweg genutzt werden, was eine besonders ausgefeilte Baustellenlogistik erforderte. In einem ersten Bauabschnitt erfolgte die Wiederherstellung der Stützmauern und Brücken, sodass zunächst die Bahntrasse selbst als Baustraße genutzt werden konnte. Im August 2008 wurde mit der Verlegung des neuen Gleises begonnen. Die völlig zerstörte Station Spechtritz erhielt eine neue Wartehalle, die sich aus Denkmalschutzgründen am historischen Vorbild orientierte. Auch die weniger zerstörten Abschnitte zwischen Freital-Hainsberg und Freital-Coßmannsdorf sowie Spechtritz und Dippoldiswalde wurden komplett erneuert. Neben den Brücken wurden Stützmauern und Wasserabläufe erneuert sowie zum Teil neue Gleise verlegt. Der planmäßige Zugverkehr zwischen Freital-Hainsberg und Dippoldiswalde wurde zum Fahrplanwechsel am 14. Dezember 2008 wieder aufgenommen. Es verkehren nunmehr täglich sechs Reisezugpaare zwischen Freital-Hainsberg und Dippoldiswalde in einem angenäherten Zweistundentakt. Die etwa 66.000 Zugkilometer jährlich werden vom Zweckverband Verkehrsverbund Oberelbe bestellt. In den ersten sechs Wochen seit der Wiederinbetriebnahme wurden an den Wochenenden über 2000 Reisende pro Tag gezählt. Teilweise wurden die Züge auf zehn Wagen verstärkt, um den Andrang zu bewältigen. An Werktagen wurden 1000 Reisende täglich befördert. Insgesamt nutzten im ersten Jahr nach dem Wiederaufbau mehr als 185.000 Fahrgäste die Weißeritztalbahn zwischen Freital-Hainsberg und Dippoldiswalde. Wiederaufbau bis Kipsdorf Am 3. April 2009 wurde im sächsischen Wirtschaftsministerium der weitere Wiederaufbau bis zum Endpunkt Kurort Kipsdorf beschlossen. Die Ausschreibung der Bauleistungen sollte erst beginnen, wenn die Baumaßnahmen auf dem ersten Abschnitt bis Dippoldiswalde beendet und vollständig abgerechnet sind. Nach damaligem Stand waren die Kosten für den Wiederaufbau des ersten Abschnitts um 7 Millionen Euro höher ausgefallen als geplant. Nach Aussage des Sächsischen Staatsministeriums für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr war im Landeshaushalt der Jahre 2011/12 ein Finanzposten für den vollständigen Wiederaufbau der Strecke bis Kipsdorf vorgesehen. Es gab durch den Verkehrsverbund Oberelbe zwischenzeitlich die Überlegung, den Betrieb im Abschnitt zwischen Dippoldiswalde und Kipsdorf nur touristisch mit dem Hauptaugenmerk auf dem Wochenendverkehr auszurichten. In der Region gab es nach wie vor ein starkes Interesse am kompletten Wiederaufbau der Strecke. Der Sonderzugverkehr zwischen Obercarsdorf und Schmiedeberg im Dezember 2010 wurde von 2.500 Fahrgästen genutzt. Für den völligen Wiederaufbau sprachen überdies wirtschaftliche Gründe. Nach Angaben des Verkehrsverbunds Oberelbe entstehe durch die Ausgaben der Tages- und Übernachtungsgäste, die wegen der Bahn die Region besuchen, eine zusätzliche regionale Wertschöpfung im Umfang von einer Million Euro, was einem Gegenwert von 40 Arbeitsplätzen entspreche. Im Juni 2011 gab Sachsens Wirtschaftsminister Sven Morlok (FDP) bekannt, dass die Planungsmittel für den zweiten Streckenabschnitt freigegeben worden seien. Es stünden 11 Millionen Euro Hochwassergelder für die Bahnstrecke zur Verfügung, außerdem stelle der Freistaat in den Jahren 2011 und 2012 je 2 Millionen Euro Haushaltsgelder zur Verfügung. Nach Ansicht des Pressereferenten des Ministeriums sollte diese Summe die Kosten für den Wiederaufbau vollständig abdecken. Im zweiten Betriebsjahr nach dem Wiederaufbau fuhren 2011 insgesamt 160.000 Fahrgäste mit der Weißeritztalbahn. Dies war ein leichter Rückgang gegenüber dem Vorjahr. Das sächsische Kabinett stimmte am 31. Januar 2012 dem Bau- und Finanzierungsvertrag für den Wiederaufbau der Strecke von Dippoldiswalde nach Kipsdorf zu. Dafür wurden 15,2 Millionen Euro bereitgestellt. Das Betriebskonzept sah einen Betrieb des oberen Abschnitts an nur 40 Tagen im Jahr vor. Zur Kostenkompensation sollte die Zugfrequenz zwischen Freital-Hainsberg und Dippoldiswalde auf fünf Zugpaare reduziert werden. Am 2. Juni 2013 musste der Zugbetrieb erneut aufgrund eines Hochwasserereignisses eingestellt werden. Schäden am Gleisbett gab es insbesondere an einem 200 Meter langen Abschnitt zwischen Rabenau und Spechtritz. Bereits am 9. Juni konnte der Betrieb zwischen Freital-Hainsberg und Rabenau nach einem Sonderfahrplan wieder aufgenommen werden. Nach Beseitigung der Schäden wurde die gesamte Strecke bis Dippoldiswalde ab dem 15. Juni 2013 wieder fahrplanmäßig befahren. Der Leiter der Infrastruktur der Sächsischen Dampfeisenbahngesellschaft sagte gegenüber der Sächsischen Zeitung: „Die technische Ausführung des ersten Bauabschnittes hat sich bei dem Hochwasser bewährt. Im Einzelnen kann man sicher nachbessern.“ Durch den langen Winter und in Folge des Hochwassers konnten 2013 nur 135.000 Fahrgäste gezählt werden, 13 Prozent weniger als im Vorjahr. Am 19. Mai 2014 begannen die Arbeiten auf dem Streckenabschnitt nach Kipsdorf in Schmiedeberg, wobei zunächst nur einige Brücken instand gesetzt wurden. Die öffentliche Ausschreibung für den zweiten Bauabschnitt startete die SDG letztlich erst am 20. November 2015. Die Bieterfrist endete am 12. Januar 2016, die Bauaufträge wurden am 22. Februar 2016 an eine Bietergemeinschaft sächsischer Firmen vergeben. Laut Ausschreibung begannen die Arbeiten an der Strecke am 1. März 2016 und sollten bis zum 30. September 2016 abgeschlossen sein. Am 30. November 2016 beschloss der Verkehrsverbund Oberelbe auf seiner Verbandsversammlung den zukünftigen Fahrplan, der zwei durchgehende Zugpaare bis Kurort Kipsdorf und ein weiteres nur bis Dippoldiswalde vorsieht. An zwölf weiteren Tagen im Jahr wird der Fahrplan mit zwei weiteren Zugpaaren bis Kipsdorf verdichtet. Am 11. Mai 2017 fand im Beisein des Landesbeauftragten für Bahnaufsicht die Abnahmefahrt auf der fertiggestellten Strecke statt. Dabei kam erstmals seit fast 15 Jahren wieder ein von einer Dampflokomotive geführter Zug nach Kurort Kipsdorf. Am 17. Juni 2017 eröffnete der Staatsminister für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr Martin Dulig zusammen mit weiteren Vertretern des Landes und der Kommunen die Strecke mit dem symbolischen Durchschnitt des Bandes im Bahnhof Dippoldiswalde. Der Minister unterstrich dabei in besonderer Weise „unser Bekenntnis zu Pflege und Erhalt der historischen Bahnen“ in Sachsen. Insgesamt seien für den Wiederaufbau etwa 40 Millionen Euro investiert worden, davon rund 17 Millionen für den oberen Abschnitt. Der Landrat des Landkreises Sächsische Schweiz-Osterzgebirge Michael Geisler betonte, dass sich vor allem die Bevölkerung entlang der Strecke für den Wiederaufbau starkgemacht habe. „Der Wiederaufbau ist für die Bürger ein deutliches Zeichen, welch hohen Stellenwert die Schmalspurbahn für die Region hat.“ Der reguläre Zugverkehr nach Kipsdorf begann am Nachmittag desselben Tages und damit etwa zur gleichen Tageszeit, als am 13. August 2002 der Zugverkehr wegen des Hochwassers zum Stillstand kam. Der Normalfahrplan mit lediglich zwei täglichen Zugpaaren nach Kurort Kipsdorf trat am 19. Juni in Kraft. Nach zwei Monaten Betrieb nach Kurort Kipsdorf zog die SDG eine positive Bilanz. Im Juli 2017 fuhren etwa 10.000 Fahrgäste mehr mit der Schmalspurbahn als im gleichen Zeitraum des Vorjahres. Zwei Drittel der Fahrgäste lösen Fahrscheine für die Gesamtstrecke. Die im Vorfeld befürchtete Verringerung der Nachfrage im Abschnitt Freital–Dippoldiswalde sei trotz des ausgedünnten Fahrplanes bislang nicht zu beobachten. Im Jahr 2018 gingen die Fahrgastzahlen um 37.000 auf insgesamt 155.000 zurück. Laut Betriebsleiter Mirko Froß haben die Rückgänge vor allem einen statistischen Hintergrund. In der Vergangenheit seien die Familientageskarten mit zwölf Fahrgästen je verkauftem Ticket in die Statistik eingegangen, da es für sechs Personen und mindestens die Hin- und Rückfahrt gilt. Laut Pressemitteilung des VVO beziffert er den tatsächlichen Rückgang auf etwa 25.000 Fahrgäste. Vom 17. Juli bis 15. November 2019 wurde die Strecke zwischen Dippoldiswalde und Kurort Kipsdorf für den Neubau der Weißeritzbrücke in der Ortslage Obercarsdorf noch einmal voll gesperrt. Zur Erweiterung des Flussquerschnittes wurde die Stützweite der Brücke um drei Meter vergrößert. Damit entspricht die Brücke den Anforderungen an den Hochwasserschutz. Die Kosten von etwa 1,7 Millionen Euro trug der Freistaat Sachsen. Im Jahr 2019 zählte die Weißeritztalbahn etwa 132.000 Fahrgäste. Vom 28. März bis 16. Mai 2020 war der Eisenbahnbetrieb aufgrund der Corona-Pandemie ersatzlos eingestellt. Im Jahr 2021 zählte die Weißeritztalbahn 131.484 Fahrgäste. Streckenbeschreibung Verlauf Die Weißeritztalbahn beginnt im heutigen Freitaler Stadtteil Hainsberg. Auf dem ersten Streckenkilometer folgt die Strecke zunächst der Hauptbahn Dresden–Werdau, erst in Höhe des Zusammenflusses von Roter und Wilder Weißeritz zweigt das Gleis der Schmalspurbahn von der Normalspurtrasse ab. Ab Freital-Coßmannsdorf tritt die Weißeritztalbahn in den felsigen und engen Rabenauer Grund ein. Das Gleis folgt in vielen engen Bögen dem Lauf der namensgebenden Roten Weißeritz, deren Lauf bis Rabenau insgesamt zwölfmal überbrückt wird. Am Anfang des Spechtritzgrundes kurz nach dem Bahnhof Rabenau passiert die Bahn einen der engsten Abschnitte des Tales. Hier befinden sich die zwei engsten Gleisbögen der Strecke mit 50 Metern Halbmesser. Am folgenden Haltepunkt Spechtritz beginnt die längere 25-Promille-Steigung bis zur Talsperre Malter. Fast eben führt das Gleis dann entlang des Stausees bis Dippoldiswalde. Ab Dippoldiswalde folgt die Strecke weitgehend der parallelen Bundesstraße 170. Nur zwischen Obercarsdorf und Schmiedeberg verläuft die Strecke in Hanglage, um das Ortszentrum von Schmiedeberg zu umgehen. Auf diesem Abschnitt befindet sich der Schmiedeberger Viadukt, der größte Kunstbau der Bahn. Auf den letzten Kilometern steigt die Strecke nochmals stark an. Kurz vor dem Endbahnhof Kurort Kipsdorf befindet sich die Maximalneigung von 34,7 Promille (1:28,8). Betriebsstellen Freital-Hainsberg Der Bahnhof Freital-Hainsberg (bis 1965: Hainsberg (Sachs)) ist seit dem 1. November 1882 der Ausgangspunkt der schmalspurigen Weißeritztalbahn. Sein heutiges Aussehen erhielt der Spurwechselbahnhof bei einem Umbau in den Jahren 1903 bis 1912. Neben der Lokomotiveinsatzstelle und den ehemaligen Güterverkehrsanlagen befinden sich hier mehrere Abstellgleise. Bis 2018 will die SDG mit Fördermitteln des Landes eine neue Werkstatt zur Wartung und Reparatur von Lokomotiven und Wagen bauen. Die Station wurde am 28. Juni 1855 eröffnet und am 1. Oktober 1874 zum Bahnhof erhoben. Die Station trug in ihrer Geschichte bereits vier unterschiedliche Namen, im Einzelnen waren dies: bis 12. Januar 1918: Hainsberg bis 12. Dezember 1933: Hainsberg (Sa) bis 29. September 1965: Hainsberg (Sachs) seit 29. September 1965: Freital-Hainsberg In Freital-Hainsberg besteht Anschluss von und nach den Zügen der S-Bahn-Linie S3 und der Regionalbahnlinie RB30 Dresden–Zwickau. Freital-Coßmannsdorf Der Haltepunkt Freital-Coßmannsdorf besteht seit dem 1. April 1883. 1887 wurde er im Zusammenhang mit dem Bau des Anschlussgleises zur Spinnerei Coßmannsdorf an die heutige Stelle verlegt. 1905 wurde er zum Bahnhof erweitert, sodass Zugkreuzungen stattfinden konnten. Bereits Anfang der 1950er Jahre wurde Freital-Coßmannsdorf wieder zum Haltepunkt zurückgebaut. Von 1935 bis 1974 befand sich direkt am Haltepunkt die Endstelle einer Dresdner Straßenbahnlinie. Stattdessen halten hier heute die Busse der Linie A (früher 3A) des Freitaler Stadtverkehrs. Heute besteht gegenüber dem Haltepunkt das Einkaufszentrum „Weißeritz-Park“, welches in die Gebäude der einstigen Kammgarnspinnerei Coßmannsdorf integriert wurde. Das historische Dienstgebäude des Haltepunktes ist bis heute original erhalten und steht unter Denkmalschutz. Es befindet sich heute im Eigentum der IG Weißeritztalbahn. Rabenau Der Bahnhof Rabenau besteht seit Eröffnung der Strecke. Wegen Platzmangels befanden sich die Dienstgebäude auf einem Balkon über der Weißeritz, wurden aber in den 1970er Jahren abgerissen. Bereits kurz nach Betriebseröffnung musste der Bahnhof wegen des regen Andranges der Reisenden erstmals erweitert werden. 1885 wurden die heute nicht mehr existierenden Ladegleise im Oelsabachtal eingerichtet, welche vor allem der Stuhlbauindustrie in Rabenau und Oelsa dienten. Am 1. Januar 1970 wurde Rabenau als Güterverkehrsstelle aufgelassen, 1981 wurden die Ladegleise abgebaut. Zugkreuzungen fanden in Rabenau planmäßig bis in die 1990er Jahre statt. Der Güterboden mit der abgeschrägten Giebelseite wurde im Dezember 2007 abgerissen. Rabenau erhielt beim Wiederaufbau 2008 wegen seiner Funktion als Kreuzungsbahnhof Rückfallweichen. Die Rückfallvorrichtungen wurden im Jahr 2019 ausgebaut und die Signale deaktiviert. Spechtritz Der heutige Haltepunkt Spechtritz hatte früher ein Ladegleis. Es wurde 1968 nach der Einstellung des Stückgutverkehrs abgebaut. Nahe dem Haltepunkt befand sich das kurze Anschlussgleis der Korkmühle Spechtritz, welches noch bis 1986 regelmäßig bedient wurde. Die Hochbauten des Bahnhofes – bestehend aus Beamtenwohnhaus und Wartehalle – waren bis zum Hochwasser 2002 noch komplett erhalten. Anfang 2008 wurden sie wegen der Hochwasserschäden abgerissen. Die Wartehalle wurde mittlerweile in historischer Form wieder neu aufgebaut. Seifersdorf Der heutige Bahnhof Seifersdorf wurde 1912 in Betrieb genommen, als die Trasse wegen des Baues der Talsperre Malter neu trassiert werden musste. Der alte Bahnhof befand sich auf gleicher Höhe jenseits der Weißeritz und ist bis heute im Gelände trotz Überbauung mit Garagen noch auszumachen. Bemerkenswert ist die hohe, aus Bruchsteinen aufgesetzte Stützmauer zur Weißeritz. Die Hochbauten des Bahnhofes stehen unter Denkmalschutz. Sie sind nicht mehr vollständig erhalten. Ein Güterschuppengebäude wurde im Zuge des Wiederaufbaues nach dem Hochwasser des Jahres 2002 abgerissen. Die verbliebenen Gebäude befinden sich heute in der Obhut der IG Weißeritztalbahn. Zugkreuzungen fanden in Seifersdorf planmäßig bis in die 1990er Jahre statt. Wendisch Carsdorf Die Ladestelle Wendisch Carsdorf befand sich an der 1912 aufgegebenen Trasse in Höhe der Staumauer der Talsperre Malter. Sie diente ausschließlich der Holzverladung aus den Wäldern der Dippoldiswalder Heide. Für die vier Kilometer entfernte namensgebende Ortschaft Karsdorf hatte die Betriebsstelle keine Bedeutung. Malter Der heutige Bahnhof Malter wurde wie der Bahnhof Seifersdorf erst 1912 errichtet. Er ist insbesondere für die An- und Abreise von Urlaubern und Badegästen zur Talsperre Malter bedeutsam. Die unter Denkmalschutz stehenden Hochbauten des Bahnhofes sind nicht mehr komplett erhalten. Der denkmalgeschützte Güterschuppen wurde im Zuge des Wiederaufbaus im Jahr 2008 abgerissen. Die alte Station befindet sich heute unter dem Wasserspiegel des Stausees. Sie bestand aus getrennten Anlagen für den Personen- und Güterverkehr. 1890 wurde der Personenhaltepunkt Malter wegen des stark angestiegenen Zugverkehrs zum Kreuzungsbahnhof ausgebaut. Planmäßige Zugkreuzungen fanden in Malter bis Ende der 1960er Jahre statt. Ein Rückbau des Kreuzungsgleises erfolgte bis heute nicht. Dippoldiswalde Der Bahnhof Dippoldiswalde ist der wichtigste Bahnhof der Weißeritztalbahn. Neben zwei Bahnsteiggleisen existieren umfangreiche Anlagen für den Güterverkehr, die seit 1995 nicht mehr genutzt werden. Bemerkenswert ist der für eine Schmalspurbahn ungewöhnliche Inselbahnsteig mit Bahnsteigdach. Der Bahnhof Dippoldiswalde wurde in der Zeit seines Bestehens mehrfach erweitert. 1905 wurde der Bahnhof in Vorbereitung der Einführung des Rollfahrzeugverkehrs zur heutigen Größe erweitert. Kurioserweise wurde seinerzeit ein normalspuriges Ladegleis eingerichtet, welches mit zwei Rollwagengruben an die schmalspurigen Gleisanlagen angebunden war. In den Jahren 1913 und 1914 wurde das markante Wasserstationsgebäude errichtet, welches bis heute der Versorgung der Lokomotiven mit Speisewasser bei der Bergfahrt dient. Seit einem nochmaligen Umbau 1932 besitzen die Kreuzungsgleise eine Nutzlänge von 200 Metern. Seitens der SDG ist vorgesehen, den Bahnhof Dippoldiswalde zu einem musealen Ensemble umzugestalten. Der Bahnhof Dippoldiswalde erhielt 2008 gemäß seiner Funktion als Kreuzungsbahnhof Rückfallweichen. Ulberndorf Der heutige Haltepunkt Ulberndorf besteht seit der Eröffnung der Strecke im Jahr 1881. Das ursprünglich 30 Meter lange Ladegleis wurde 1895 wegen des regen Güteraufkommens verlängert. Es war beidseitig mit Weichen ins Streckengleis eingebunden. Das hölzerne Stationsgebäude mit Dienst- und Warteraum wurde 1932 erbaut und im Zuge des Ausbaus der B 170 nach dem Hochwasser von 2002 abgerissen. Wichtigster Güterkunde war das Naßpappenwerk Ulberndorf, für das um 1960 bis zu vier Güterwagen täglich bereitgestellt wurden. 1971 wurde das Ladegleis letztmals bedient, 1979 wurden die verschlissenen Weichen ausgebaut. Obercarsdorf Die Bahnstation in Obercarsdorf befand sich einst unmittelbar auf dem Dorfplatz. Sie wurde erst 1910 im Zusammenhang mit dem Ausbau zu einem Kreuzungsbahnhof an die heutige Stelle verlegt. Am 4. Mai 1971 wurde Obercarsdorf als öffentlicher Gütertarifpunkt aufgelassen, jedoch erhielt die örtliche Bäuerliche Handelsgenossenschaft (BHG) weiterhin noch Wagenladungen zugestellt. An der Einfahrt des Bahnhofes befand sich bis 1990 das Anschlussgleis des Küchenmöbelwerkes Obercarsdorf (heute: Sachsenküchen). Die Hochbauten des Bahnhofes Obercarsdorf sind bis heute nahezu komplett erhalten. Bis in die 1990er Jahre fanden in Obercarsdorf noch Zugkreuzungen statt. Schmiedeberg-Naundorf Der heutige Haltepunkt Schmiedeberg-Naundorf wurde im Rahmen der Neutrassierung von 1924 errichtet. Das ursprünglich vorhandene Ladegleis existiert nicht mehr. An dessen Stelle befinden sich heute Garagen. Schmiedeberg (Bz Dresden) Der heutige Bahnhof Schmiedeberg wurde ebenfalls im Rahmen der Neutrassierung von 1924 errichtet. Vorbereitet war an seiner Westseite die Einbindung der nicht fertiggestellten Pöbeltalbahn nach Moldau. Die zusätzlichen Gleise wurden jedoch nur teilweise errichtet. 1983 wurde das für die Pöbeltalbahn vorgesehene Gelände an eine Bürgergemeinschaft verkauft, welche darauf Garagen errichtete. Das Empfangsgebäude wurde Anfang der 1990er Jahre an einen privaten Eigentümer veräußert und dient heute gewerblichen Zwecken. Zugkreuzungen fanden in Schmiedeberg noch bis in die 1990er Jahre statt. Buschmühle Die Haltestelle Buschmühle besteht seit der Eröffnung der Strecke. Bis Anfang der 1990er Jahre endeten hier die Güterzüge zur Bedienung der Gießerei Schmiedeberg. Um die Lokomotive nach der Anschlussbedienung umsetzen zu können, wurde noch 1988 das ehemalige Ladegleis der Haltestelle erneuert. Die Anlagen des Haltepunktes wurden während des Hochwassers im Jahr 2002 nur gering beschädigt und sind noch heute vollständig erhalten. Kurort Kipsdorf Ldst Der Güterbahnhof in Kurort Kipsdorf war aus Platzgründen räumlich vom Personenbahnhof getrennt. Während seiner Existenz wurde er mehrfach erweitert, 1926 entstand die bis heute bestehende Lokomotiveinsatzstelle. 1935 wurde der bislang selbständige Güterbahnhof betrieblich mit dem Personenbahnhof vereinigt. Um 1970 wurden die Gleise letztmals zum Güterumschlag genutzt. Später wurde hier der Bau von Garagen genehmigt. 2002 wurde das Planum des ehemaligen Bahnhofes durch die Wassermassen des Hochwassers weitgehend zerstört. Kurort Kipsdorf Der Bahnhof Kurort Kipsdorf erhielt sein heutiges Gesicht bei einem Umbau im Jahre 1934. Statt der alten beengten Bahnhofsanlage von 1883 entstand seinerzeit ein großzügig gestalteter Kopfbahnhof mit vier Bahnsteiggleisen. Als Besonderheit besitzt das Empfangsgebäude eine Einfahrt für die Gepäckwagen, so konnte früher das Gepäck der Urlaubsgäste direkt aus dem Wagen zur Gepäckausgabe gebracht werden. Vergleichsweise einmalig für deutsche Schmalspurbahnen ist die Ausrüstung des Bahnhofes mit einem eigenen Hochstellwerk; nur der Bahnhof Bertsdorf der Zittauer Schmalspurbahnen besitzt noch ein solches. Das Empfangsgebäude befindet sich heute im Eigentum der Stadt Altenberg, die darin ein Bürgerzentrum betreibt. Ingenieurbauten Brücken Im Verlauf der Strecke von Hainsberg bis Kipsdorf überquert die Strecke 28 Brücken, davon zwölf allein zwischen Coßmannsdorf und Rabenau. Es handelt sich um Blechträgerbrücken, Steinbogenbrücken, Betonbrücken (teils mit Natursteinverblendung) sowie um eine Stabbogenbrücke. Weißeritzbrücken km 2,556, 2,941, 3,123 und 3,196 Die vier Brücken wurden 1881 in massiver Bauweise als Steinbogenbrücken erstellt. Die geringen Zugmassen ermöglichten eine vergleichsweise schlanke, formschöne Konstruktion, die bis heute den mittlerweile gestiegenen Anforderungen des Bahnbetriebes genügt. In jüngerer Zeit erhielten alle Brücken eine neue Fahrbahnwanne aus Stahlbeton; zuletzt die Brücke am Wasserkraftwerk bei Kilometer 2,556 im Jahr 2008. Die Brücke nach dem ehemaligen Tunnel am Einsiedlerfelsen bei Kilometer 3,196 wurde bei dem Hochwasser 2002 komplett weggerissen. Im Laufe des Jahres 2008 wurde sie in ähnlicher Form als Stahlbetonkonstruktion mit Natursteinverblendung neu aufgebaut. Weißeritzbrücke km 5,391 Die Brücke bei Kilometer 5,391 liegt an einer der engsten Stellen des Rabenauer Grundes unmittelbar nach dem Bahnhof Rabenau. Wegen ihrer exponierten Lage an einer Flussbiegung wurde sie bei den beiden großen Hochwassern in den Jahren 1897 und 2002 schwer in Mitleidenschaft gezogen. Die erste Brückenkonstruktion bestand aus genieteten Blechträgern in Bogenbauweise, 1931 wurde sie wegen der notwendigen Erhöhung der Achslasten durch eine neue dreifeldrige Brücke aus geraden Blechträgern ersetzt. Im Herbst 2008 wurde eine neue Stabbogenbrücke eingebaut, die nunmehr ohne Pfeiler im Flussbett auskommt. Brücke Seifersdorf Die 70 Meter lange Brücke über die alte bisherige Trasse und die Weißeritz bei Seifersdorf wurde 1911 im Rahmen der Neutrassierung des Abschnittes Spechtritz–Dippoldiswalde errichtet. Sie besteht aus Stahlbeton mit einer Natursteinverblendung. Brücke Goldgrubengrund Die 45 Meter lange Brücke über den Goldgrubengrund liegt im bis 1913 neutrassierten Abschnitt Spechtritz–Dippoldiswalde. Bis in die 1990er Jahre trug die Brücke einen Windschutzzaun, um bei hohen seitlichen Winddrücken ein Entgleisen und Umkippen von Zügen zu verhindern. Im Rahmen der Wiederaufbauarbeiten nach dem Hochwasser 2002 erhielt sie eine neue Gewölbeabdichtung. Brücke Bormannsgrund Die Brücke über den Bormannsgrund führt heute über einen Seitenarm der Talsperre Malter. Ursprünglich war der Bau einer kombinierten Brücke für Straße und Bahn als dreifeldrige Blechträgerbrücke angedacht, gebaut wurden jedoch zwei separate Brücken in Steinbogenbauweise. Fertiggestellt wurde die 66 Meter lange Brücke im August 1911. Sie besteht aus Stampfbeton mit Natursteinverblendung. Die Brücke Bormannsgrund besaß ursprünglich einen Windschutzzaun. Viadukt Schmiedeberg Der Viadukt Schmiedeberg ist mit 191 Metern Gesamtlänge das längste Brückenbauwerk entlang der Weißeritztalbahn. Die Brücke wurde erst 1920 im Rahmen der Neutrassierung des Abschnittes Obercarsdorf–Buschmühle über die Einmündung des Pöbelbachtales in der Ortslage Schmiedeberg errichtet. Wegen der seinerzeit hohen Stahlpreise wurde anstatt der ursprünglich konzipierten Stahlträgerbrücke eine Bogenbrücke mit acht Bögen in Stahlbetonkonstruktion ausgeführt. Aus optischen Gründen erhielt die Brücke eine Natursteinverkleidung. Tunnel Beim Bau der Weißeritztalbahn wurde im Rabenauer Grund nahe dem Einsiedlerfelsen ein kurzer, nur 17 Meter langer Tunnel erstellt. Am 11. Oktober 1881 erfolgte der Durchschlag, am 5. April 1882 war der Tunnel mit dem Setzen des Schlusssteines fertiggestellt. Nach der Jahrhundertwende wurde die Beförderung normalspuriger Güterwagen mit Rollwagen auf der Weißeritztalbahn geplant. Voraussetzung dafür war eine erhebliche Erweiterung des vorhandenen Lichtraumprofiles. In dem Zusammenhang wurde der Tunnel vom 28. Mai bis 15. August 1905 durch das Deubener Bauunternehmen Emil Partzsch abgetragen. Heute befindet sich an Stelle des Tunnels ein Einschnitt. Fahrzeugeinsatz Lokomotiven In den ersten Betriebsjahren wurde der Zugverkehr zunächst mit den recht leistungsschwachen dreifachgekuppelten I-K-Lokomotiven abgewickelt. Schon bald zeigte es sich jedoch, dass diese kleinen Lokomotiven mit den steigenden Zugmassen überfordert waren. 1885 beschafften die Kgl. Sächs. Staatseisenbahnen darum zwei Lokomotiven von R. & W. Hawthorn aus England. Diese als II K bezeichneten Lokomotiven bewährten sich nicht. Sie blieben bis 1903 bzw. 1909 auf der Weißeritztalbahn und wurden danach verschrottet. Über zwei Jahrzehnte war die ab 1892 beschaffte Gattung IV K (DR-Baureihe 99.51–60) die Stammlokomotive auf der Weißeritztalbahn. Diese Lokomotiven waren durch ihre Drehgestellbauart sehr kurvenläufig und zugleich ungewöhnlich leistungsstark. Die IV K waren mit den überlangen Zügen des Wintersportverkehrs trotzdem oft überfordert, sodass Vorspannlokomotiven nötig waren. Planmäßig waren sie zwar nicht auf der Weißeritztalbahn im Einsatz, trotzdem waren Lokomotiven der Gattung V K auf der Weißeritztalbahn anzutreffen. Die ersten drei V K absolvierten auf der Linie Messfahrten. Überliefert ist der gelegentliche Einsatz von drei Lokomotiven, die hauptsächlich auf der Müglitztalbahn eingesetzt waren, jedoch durch die Zugehörigkeit beider Strecken zum selben Maschinenamt gelegentlich auf der Weißeritztalbahn verkehrten. In dem Zeitraum von 1918 bis 1923 zeigen Quellen den Einsatz der Lokomotiven beim Bau der Talsperre Malter im Güterzugdienst auf. Als erste leistungsfähige Bauart kam nach dem Ersten Weltkrieg die Gattung VI K (DR-Baureihe 99.65–71) auf der Weißeritztalbahn zum Einsatz. Diese fünffachgekuppelten Lokomotiven nach dem Gölsdorf-Prinzip blieben bis Anfang der 1950er Jahre auf der Weißeritztalbahn. Ab 1928 gelangten fabrikneu die ersten Einheitslokomotiven der DR-Baureihe 99.73–76 zur Weißeritztalbahn. Damit war es möglich, die überlangen Wintersportzüge mit nur einer Lokomotive bergwärts zu befördern. Bis heute ist diese Baureihe prägend für den Betrieb auf der Weißeritztalbahn. Erst in den 1970er Jahren kamen infolge der Stilllegung der Trusebahn und der Strecken Schönfeld-Wiesa–Meinersdorf und Wilischthal–Thum einige Neubaulokomotiven der DR-Baureihe 99.77–79 zur Weißeritztalbahn. Die SDG beheimatet seit 2008 drei Lokomotiven beider Bauarten in Freital-Hainsberg, mit denen der planmäßige Betrieb abgewickelt wird. Bei fälligen Hauptuntersuchungen sind Lokomotivtausche mit den anderen beiden Bahnen der SDG üblich. Seit 2002 befindet sich eine Diesellokomotive der rumänischen Bauart L45H bei der Weißeritztalbahn, die vom Oberschlesischen Schmalspurnetz in Polen stammt. Genutzt wird sie für Rangierarbeiten, Arbeitszüge oder als Ersatzlokomotive vor planmäßigen Zügen. Während der Wiederaufbauarbeiten 2007/2008 und 2016/2017 kam sie im Bauzugverkehr zum Einsatz. Wagen Die eingesetzten Wagen entsprachen den allgemeinen sächsischen Bau- und Beschaffungsvorschriften für die Schmalspurbahnen und konnten daher freizügig mit Fahrzeugen anderer sächsischer Schmalspurstrecken getauscht werden. Jahrzehntelang prägend war für die Weißeritztalbahn ein großer Bestand an Einheitsreisezugwagen, die in den Jahren 1928 bis 1933 geliefert worden waren. Noch bis in die 1980er Jahre bestanden Reisezüge oftmals typenrein aus diesen Fahrzeugen. Heute kommen in den planmäßigen Reisezügen nur noch modernisierte Reko-Wagen zum Einsatz, welche von 1977 bis 1992 in der Werkabteilung Perleberg des Raw Wittenberge auf den alten Fahrgestellen neu aufgebaut wurden. Die Weißeritztalbahn als Versuchsstrecke Wegen ihrer Nähe zu Dresden und ihres Streckenprofils diente die Weißeritztalbahn als Versuchsstrecke: 1885 kamen zwei Lokomotiven der Gattung II K des englischen Herstellers Hawthorn zur Weißeritztalbahn. Sie waren als leistungsstärkerer Nachfolger für die vergleichsweise leistungsschwachen I K konzipiert. Allerdings erwiesen sie sich aufgrund ihres hohen Gewichtes und der ungünstigen Führerhausgestaltung für den Einsatz auf den sächsischen Schmalspurbahnen als ungeeignet. 1912 wurde auf der Weißeritztalbahn ein Zugverband mit der neuartigen Saugluftbremse Bauart Körting erprobt. Da sich das System bewährte, begann im Herbst 1913 zunächst die Umrüstung der Fahrzeuge der Weißeritztalbahn. Ab 1914 wurde die Saugluftbremse auf den sächsischen Schmalspurbahnen allgemein eingeführt. 1922 wurden zwei Wagen versuchsweise mit einer einfachen Bauform der neu entwickelten Scharfenbergkupplung versehen und erprobten diese fortan im Betriebseinsatz. Im Juli 1925 wurden die Wagen gemeinsam mit der ebenso umgebauten IV K 99 597 auf der Verkehrsausstellung in München präsentiert. Um 1927 verkehrte ein kompletter Versuchszug mit der neuen Kupplung. Da sich das neue System bewährte, wurden die ab 1928 neu gelieferten Einheitswagen bereits mit Scharfenbergkupplung ausgeliefert. Vom 15. September bis 20. Oktober 1947 erprobte das Unternehmen Orenstein & Koppel aus Potsdam-Babelsberg die vierfachgekuppelte Schlepptenderlokomotive ГР 001 (GR 001) auf der Weißeritztalbahn, welche für die Waldbahnen der Sowjetunion vorgesehen war. Die Probelokomotive verblieb später als 99 1401 im Bestand der Deutschen Reichsbahn, sie kam auf der Strecke Glöwen–Havelberg zum Einsatz. Die Sowjetunion erhielt bis 1954 insgesamt 427 Lokomotiven dieses Typs als Reparationsleistung. Am 19. August 1952 absolvierte die Neubaulokomotive 99 771 auf der Weißeritztalbahn ihre erste Probefahrt. Bis 1956 wurden insgesamt 24 Lokomotiven dieser Bauart für die sächsischen Schmalspurbahnen in Dienst gestellt. In den 1950er Jahren fanden Leistungsmessungen an Lokomotiven der Gattung IV K statt, um Vergleichsdaten für eine neu zu beschaffende Diesellokomotive zu erhalten. Ein avisierter Probeeinsatz der tschechoslowakischen Reihe T 47.0 musste aus technischen Gründen abgesagt werden. Im Mai 1962 absolvierten die neuen Streckendiesellokomotiven V 36 4801 und 4802 auf der Weißeritztalbahn Probefahrten. Wegen technischer Mängel blieb es bei den beiden Baumustern, die nie planmäßig eingesetzt und bald verschrottet wurden. 1982 verkehrte auf der Weißeritztalbahn erstmals ein Zugverband mit KE-Druckluftbremse. Wenig später wurde sie auf den verbliebenen sächsischen Schmalspurbahnen allgemein eingeführt. Die IG Weißeritztalbahn Die „Interessengemeinschaft Weißeritztalbahn e. V.“ ist ein gemeinnütziger Verein von Eisenbahnfreunden. Gegründet wurde er 1978 als „Arbeitsgemeinschaft 3/67“ des Deutschen Modelleisenbahn-Verbandes (DMV). In den ersten Jahren unterstützte der Verein mit freiwilligen Arbeitseinsätzen die Bahnmeisterei bei der Gleiserneuerung, später widmete er sich der Erhaltung der Bahnhofsgebäude. Ein wichtiges Ergebnis der Vereinsarbeit ist der seit 1980 eingesetzte Salonwagen, der seinerzeit aus einem ausgemusterten Einheitsreisezugwagen entstand. Nach dem Hochwasser 2002 kämpfte der Verein mit vielfältigen Aktionen für den Erhalt der Weißeritztalbahn. So wurde eine Spendensammlung initiiert, um zumindest einige Teilabschnitte des zerstörten Gleises wieder aufbauen zu können. Zwischen 2003 und 2006 organisierte der Verein auf dem wieder hergerichteten Abschnitt zwischen Seifersdorf und Dippoldiswalde Sonderfahrten. Die IG Weißeritztalbahn hat ihren Vereinssitz im Bahnhof Freital-Hainsberg. Film SWR: Eisenbahn-Romantik – Die Weißeritztalbahn (Folge 224) Siehe auch Liste der Kulturdenkmale der Weißeritztalbahn Literatur Holger Drosdeck: Osterzgebirge – Die Weißeritztalbahn. Schmalspurbahn Freital-Hainsberg – Kurort Kipsdorf. SBBMedien, Zittau 2009 (Dampfbahn-Magazin Spezial 3, ). Rainer Fischer, Sven Hoyer, Joachim Schulz: Die Wagen der sächsischen Sekundärbahnen. EK-Verlag, Freiburg i. Br. 1998, ISBN 3-88255-682-X. Siegfried Gerhardt: Der Kopfbahnhof der Weißeritztalbahn. In: Petra Binder (Hrsg.): Auf Straßen, Schienen und Wegen. Landkalenderbuch 2011 für die Sächsische Schweiz und das Osterzgebirge. Schütze-Engler-Weber-Verlag, Dresden 2010, ISBN 978-3-936203-14-1, S. 55–58. Gustav W. Ledig, Johann Ferdinand Ulbricht: Die schmalspurigen Staatseisenbahnen im Königreiche Sachsen. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Engelmann, Leipzig 1895 (Reprint: Zentralantiquariat der DDR, Leipzig 1987, ISBN 3-7463-0070-3) – Volltext online. Friedrich Polle: Führer durch das Weißeritzthal nach Schmiedeberg und seiner Umgebung. Sekundärbahn Hainsberg – Kipsdorf. Huhle, Dresden 1885 (Digitalisat) Erich Preuß, Reiner Preuß: Schmalspurbahnen in Sachsen. transpress Verlag, Stuttgart 1998, ISBN 3-613-71079-X. Hans-Christoph Thiel: 100 Jahre Weißeritztalbahn. In: Modelleisenbahner 32(1983)8, S. 4–7. Hans-Christoph Thiel: Die Weißeritztalbahn – Schmalspurbahn Freital-Hainsberg–Kurort Kipsdorf. Verlag Kenning, Nordhorn 1994, ISBN 3-927587-21-4. Hans-Christoph Thiel, Christian Eißner: Wieder unter Dampf – Wiederaufbau der Weißeritztalbahn nach der Augustflut 2002. Edition Sächsische Zeitung, Redaktions- und Verlagsgesellschaft Freital-Pirna, Freital 2008, ISBN 978-3-936642-04-9. Stefan Müller: Anekdoten und Geschichten zur Weißeritztalbahn. Bildverlag Böttger GbR, Witzschdorf 2018, ISBN 978-3-937496-89-4. Weblinks Internetpräsentation der SDG zur Weißeritztalbahn Internetpräsentation der IG Weißeritztalbahn e. V. Streckenbeschreibung und Bilder auf sachsenschiene.net Bilder der ehemaligen Tunnelportale Einzelnachweise Bahnstrecke in Sachsen Verkehr (Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge) Denkmalgeschützte Sachgesamtheit in Sachsen Rote Weißeritz
366511
https://de.wikipedia.org/wiki/St.%20Michael%20%28Berlin-Mitte%29
St. Michael (Berlin-Mitte)
Die 1851–1856 erbaute Sankt-Michael-Kirche ist die drittälteste römisch-katholische Kirche in Berlin, die nach der Reformation errichtet wurde. Die Michaelskirche wurde während des Zweiten Weltkriegs teilweise zerstört und anschließend nicht vollständig wiederaufgebaut. Das Gotteshaus steht im Bezirk Mitte in der historischen Luisenstadt an der Grenze zwischen den Ortsteilen Mitte und Kreuzberg. Es gilt als eine brillante Umsetzung des für Karl Friedrich Schinkel typischen Rundbogenstils durch seinen Schüler August Soller. Das Gebäude steht unter Denkmalschutz. Lage Die Sankt-Michael-Kirche ist Namensgeberin für den Michaelkirchplatz am Engelbecken, das Teil des ehemaligen Luisenstädtischen Kanals ist. Nachdem der 1926 zugeschüttete Kanal, an dessen Rundbogen entlang bis zur Wende die Berliner Mauer verlief, wieder zur Grünfläche und Flanierstrecke umgewandelt wurde, bot sich aus südlicher Richtung ein freier Blick auf die Sankt-Michael-Kirche. Doch erst der Fall der Mauer öffnete die Sichtachse wieder, sodass die Kirche heute ihre ursprüngliche städtebauliche Idee wieder erfüllt und den Akzentpunkt des Luisenstädtischen Kanals bildet. Vom Michaelkirchplatz zur Spree über die seit dem 16. Jahrhundert bestehende Köpenicker Straße verläuft die Michaelkirchstraße. In unmittelbarer Nähe befinden sich das ebenfalls unter Denkmalschutz stehende Haus des Deutschen Verkehrsbunds und das St.-Marien-Stift. Architektur Außen Der dreischiffige Backsteinbau ist 55 m lang und 30 m hoch, das Langhaus ist 19 m breit. Überragt wird die Kirche von der 56 m hohen, mit Kupferblech gedeckten Kuppel, die auf dem mit Rundbogenarkaden verzierten Tambour thront, der sich über der Vierung erhebt. Auf den Eckpfeilern der Vierung standen vor der Zerstörung Statuen der vier Evangelisten auf hohen Postamenten. Über der turmlosen Frontseite befindet sich ein Glockengeschoss mit drei Rundbogenfenstern. Die Figur des Heiligen Michael auf der Eingangsfassade stammt vom Bildhauer August Kiß. Sie ist eine Replik, weil die Figur nicht speziell für die Sankt-Michael-Kirche entworfen worden ist. Der Bau ist mit Strebepfeilern, Friesen und Figuren sowie zweifarbigen Backsteinen verziert. Innen Das Querschiff ist mit einem Tonnengewölbe abgeschlossen. Das Gotteshaus ist eine Hallenkirche, das heißt, die drei Langschiffe waren vor der Zerstörung gleich hoch. Soller plante die Kirche zwischenzeitlich als Zentralbau. Diese Idee übernahm er in der Basilika und überkuppelte jedes einzelne Joch, so dass es als Folge aneinander gereihter Zentralbauten erschien. Die drei Langschiffe werden jeweils durch eine Apsis abgerundet, was einer romanischen Bauform entspricht. In den zwei Seiten-Apsiden standen früher ein Marien- und ein Josefs-Altar. In der mittleren Apsis befand sich auf dem Hochaltar ein Bild des Erzengels Michael im Kampf mit Luzifer in Drachengestalt und im Halbrund darüber Christus als Pantokrator. Bei der Restaurierung wurden nicht alle Verzierungen und Bilder wiederhergestellt. Die heute zerstörte Orgel war auf der Empore über dem Haupteingang installiert. Die Kanzel stand am östlichen Vierungspfeiler. In der Kirche befand sich auch ein Altartabernakel mit einem Marienbildnis in Marmor, das von dem Bildhauer Heinrich Pohlmann gestaltet wurde. Infolge der teilweisen Zerstörung der Kirche finden die Gottesdienste im Querschiff statt, wobei der östliche Seiteneingang nun der Haupteingang ist, über dem sich die neue Orgelempore befindet. Die Orgel wurde 1960 durch die Firma W. Sauer Orgelbau Frankfurt (Oder) errichtet. Sie verfügt über eine elektro-pneumatische Traktur mit einer freien Kombination und folgender Disposition: Das Westende des Querschiffs dient als Chorersatz, hier steht der Altar. In den Langbau wurde später ein zweigeschossiger Flachbau eingelassen, der bis zur letzten Säule vor dem Querbau reicht. Der Rest des zerstörten Langbaus ist ein Garten. Architektonische Einordnung Die Kirche gilt als gelungene Synthese zwischen klassizistischer und mittelalterlicher Architektur. In historistischer Manier bediente sich Soller vergangener Stilepochen. Stilprägend sind vor allem norditalienische Kirchen aus Padua und Venedig aus der Zeit des Mittelalters und der Renaissance. Soller unternahm 1845, unmittelbar vor seinen ersten Entwurfsarbeiten, eine fünfmonatige Studienreise nach Italien. Venedig war ihm auch für das Zusammenspiel von Wasserfläche und Architektur Inspiration. Die Fassade mit dem filigranen Erzengel an der Spitze erinnert an die venezianische Kirche San Giorgio Maggiore. Der Grundriss mit seinen drei Apsiden und dem ausgedehnten Langhaus orientiert sich hingegen stark an der San Salvatore in Venedig. Die Verbindung von Zentralbau und Langhaus war kunstgeschichtlich bedeutsam für mehrere Berliner Nachfolgebauten der zweiten Generation der Schinkelschule. Das Kirchengebäude traf den Nerv der Zeit, selbst Kritiker der Schinkelschule erkannten ihre gelungene Ausführung an. Geschichte Planung (1846–1850) Der protestantische König Friedrich Wilhelm IV. genehmigte den Bau einer zweiten repräsentativen katholischen Kirche in Berlin nach der Reformation, die am Anfang vor allem als Garnisonkirche geplant war. Sie sollte den in Berlin lebenden katholischen Soldaten eine geistliche Heimat geben und die Hedwigskirche entlasten. Eine weitere noch bestehende Kirche ist die 1848 geweihte Kirche St. Marien am Behnitz in der damals selbständigen Stadt Spandau. Die ersten Entwürfe für die Kirche fertigte Soller schon im Jahre 1846 an. Dabei plante er zunächst eine Doppelturmfront mit gotischen Elementen, auf die er später verzichtete. Auch den Plan, die Kirche als Zentralbau anzulegen, verwarf er später. Durch den Verzicht auf die Doppeltürme an der Front fehlte der Kirche nun ein weit sichtbarer baulicher Akzent. Diesen konnte das ursprünglich statt der Kuppel geplante geometrisch strenge Oktogonzeltdach nicht bieten. So entschied sich Soller 1848 den Wünschen Friedrich Wilhelms IV. und den damaligen architektonischen Vorlieben entsprechend für den Kuppelbau mit dem lang gezogenen Tambour. Bau (1851–1856) Friedrich Wilhelm IV. hatte zuvor die Michaelstraße (seit 1849: Michaelkirchstraße) nach dem Erzengel Michael benannt und brachte die Baukommission zu dem Entschluss, auch die Kirche unter das Patrozinium des Erzengels Michael zu stellen. Am 14. Juli 1851 erfolgte die feierliche Grundsteinlegung im Beisein des Königs und seiner Familie, von kirchlichen und weltlichen Würdenträgern, Militärs und Beamten. Es fanden sich mehrere tausend Personen am Engelufer ein. Bereits drei Jahre vor der Fertigstellung starb Soller und wurde dann 1856 in der von ihm entworfenen Kirche beigesetzt. Nachdem die Finanzierung der Kirche zwischenzeitlich ins Stocken geraten war, vollendeten Andreas Simons, Martin Gropius und zuletzt Richard Lucae den Bau in seinem Sinne. Die Baukosten wurden 1896 auf umgerechnet 438.000 Mark beziffert (kaufkraft­bereinigt in heutiger Währung: rund  Millionen Euro). Von der Militär- zur Zivilgemeinde Nach der Konsekration der Kirche 1861 wurde eine Militärgemeinde für 3.000 katholische Soldaten gegründet. Zwei Jahre später kam eine örtliche Gemeinde hinzu, die ständig wuchs, bis die Kirche 1877 schließlich ganz in deren Besitz überging. 1888 wurde die Gemeinde zur Pfarrei erhoben. Mit der Besiedlung der Umgebung der Kirche, die bei Baubeginn 1851 noch weitgehend Heideland war, vergrößerte sich die Gemeinde weiter. Waren es bei Gründung der Gemeinde noch 6000 Mitglieder, gehörten ihr zur Jahrhundertwende schon 20.000 Katholiken an, die sich „Michaeliten“ nannten. Soziale Konflikte und soziales Engagement Die Gegend um St. Michael mit ihren vielen Mietskasernen war in der Zeit um 1900 ein sozialer Brennpunkt. So kam es am 26. Februar 1892 zu Ausschreitungen und Plünderungen durch Arbeitslose, die Geschäfte überfielen. Wohlhabende Gemeindemitglieder bemühten sich um die Gründung von Hilfsvereinen, um die Probleme zu dämpfen. 1888 kamen Marienschwestern aus Breslau in die Gemeinde und gründeten 1909 das Marienstift, das sie bis 1995 betreuten. Zum Marienstift gehörten auch soziale Einrichtungen wie eine ambulante Krankenpflege, ein Kindergarten sowie Unterkünfte für Dienstmädchen. Der selige Dompropst Bernhard Lichtenberg, der später Widerstand gegen den Nationalsozialismus leistete, war 1903–1905 Kaplan an St. Michael. Das soziale Engagement der Kirche wurde 1917–1926 unter Maximilian Kaller ausgebaut, der sich wie Lichtenberg später auch gegen den Nationalsozialismus wenden sollte. Maximilian Kaller band im Rahmen des Laienapostolats auch Gemeindemitglieder in die Seelsorge ein. Engelbecken Als der Luisenstädtische Kanal 1926 zugeschüttet wurde, sollte das nach dem Schutzpatron der Kirche benannte Engelbecken in ein Freibad umgewandelt werden. Dies empörte Berlins Katholiken; mit Hilfe der Zentrumspartei wurde die Umsetzung des Plans im Preußischen Landtag schließlich verhindert und das Engelbecken zu einem Schwanenteich mit Grünanlage ausgebaut. Kriegszerstörung und Wiederaufbau In den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs wurde die Luisenstadt am 3. Februar 1945 durch einen Luftangriff der USAAF mit über 950 Maschinen fast völlig zerstört. Die Sankt-Michael-Kirche erlitt schwere Schäden durch Brand- und Sprengbomben. Dabei wurde auch die Orgel vernichtet, die als eine der schönsten und größten Kirchenorgeln Berlins galt. Auch die Innenausstattung wurde größtenteils zerstört. Die Umfassungsmauern und die Kuppel sowie die Front blieben jedoch weitgehend erhalten. Wegen des zerstörten Dachs ist durch das Portalfenster die Kuppel zu sehen, über der sich das Glockengeschoss erhebt. Ganz unten befindet sich das Mosaik mit der Verkündigung des Herrn. Wegen des überstehenden Eingangs hat es die Zerstörungen teilweise überstanden. Mit den Gottesdiensten wich man nun in das Marienstift aus. Unter Pfarrer Franz Kusche wurden die Apsis, die Sakristei und das Querschiff wiederaufgebaut, so dass 1953 erstmals wieder Gottesdienste gehalten werden konnten. Über dem Altar stand die Inschrift „Wer ist wie Gott?“, die Übersetzung des hebräischen Namens Michael. 1957 wurden drei neue Glocken und 1960 nach dem Bau einer Orgelempore die neue Sauer-Orgel eingeweiht. Mauerbau und Teilung der Gemeinde Mit dem Bau der Mauer 1961 wurde die Gemeinde in einen östlichen und einen nun heimatlosen westlichen Teil zerrissen. Die West-Berliner Gemeinde erhielt eine eigene Sankt-Michael-Kirche in der Waldemarstraße (Alfred-Döblin-Platz) direkt am Mauerstreifen, die nach den Plänen des 1961 verstorbenen Architekten Rudolf Schwarz errichtet wurde und eines seiner letzten Werke ist. Nach einer möglichen Wiedervereinigung sollte der neu erbaute Kirchenraum dann als Gemeindesaal dienen. Das hundertjährige Jubiläum der Kirchweihe im Oktober 1961 wurde getrennt gefeiert. Während der Zeit der Trennung hatten sich beide Gemeindeteile jedoch sehr unterschiedlich entwickelt: Hatten sich die Gemeinde St. Michael im Westen in den 1980er Jahren der Stadtteilarbeit in Kreuzberg geöffnet und sich stärker auf jüngere Christen eingestellt, blieben die Gemeinde im Osten eher bei traditioneller Seelsorge und Liturgie. So blieb es nach der Wiedervereinigung zunächst bei der Trennung. Seit dem 1. Januar 2021 gehören St. Michael im Osten und St. Michael im Westen zur Pfarrei Bernhard Lichtenberg Berlin-Mitte. Im Jahr 1978 wurde die Kirche unter Denkmalschutz gestellt. Von 1978 bis 1980 wurde die Kuppel neu mit Kupfer eingedeckt, das Mauerwerk ausgebessert und das neuvergoldete Kreuz wieder aufgesetzt. 1984 zog das Pfarrhaus von der Michaelkirchstraße in das 1985 bis 1988 in der Kirchruine als Flachbau errichtete Pfarrhaus um. Nach der deutschen Wiedervereinigung Nach dem Fall der Mauer wurde der Glockenturm saniert und die restaurierte Figur des Erzengels Michael wieder auf den Turm gesetzt (1991–1993). Das Mosaik über dem Portal wurde 1999 ebenfalls wiederhergestellt. Es stellt die Verkündigung des Herrn dar. Dennoch trägt das Längsschiff bis heute kein Dach. Die Gottesdienste werden im Querschiff abgehalten. Am 7. März 2001 wurde der Förderverein zur Erhaltung der katholischen Kirche St. Michael Berlin-Mitte e. V. gegründet, der die Erhaltung des Kirchengebäudes und die damit verbundenen Aktivitäten unterstützen soll. Am 31. Oktober 2003 wurde auf Beschluss des Erzbistums Berlin die Pfarrei St. Michael, die zu diesem Zeitpunkt 800 Mitglieder zählte, in die benachbarte Domgemeinde St. Hedwig eingegliedert. Die Kirche ist somit keine Pfarrkirche mehr, Gottesdienste finden jedoch in bisherigem Umfang statt. Im August 2005 wurden Pläne bekannt, nach denen das Zentrum gegen Vertreibungen des Bundes der Vertriebenen ab Herbst 2006 im wieder aufzubauenden Längsschiff untergebracht werden sollte. Die Verhandlungen der Kirchengemeinde mit dem Bund der Vertriebenen darüber wurden jedoch am 15. August 2005 nach Aussagen des Erzbistums „wegen des fehlenden gesellschaftlichen Konsens einer Ansiedlung des Zentrums in einer Kirche“ abgebrochen. Die freie Sicht auf St. Michael vom Oranienplatz aus war zwischen 1961 und 1990 durch die Berliner Mauer nicht möglich. Die untere Hälfte der Kirche, deren Ansicht durch die Betonsegmente versperrt war, wurde im Jahre 1986 auf Initiative des Berliner Architekten Bernhard Strecker durch den in Berlin lebenden Künstler Yadegar Asisi auf westlicher Seite durch eine illusionistische Malerei ergänzt, um die „Durchlässigkeit“ der Mauer zu demonstrieren („Mauerdurchblick“). Nach dem Abbau der Betonteile der Mauer konnte der Italiener Marco Piccininni die nahe der Waldemarbrücke befindlichen bemalten Segmente auf einer Auktion in Monte Carlo 1990 ersteigern und verschenkte sie später an den Vatikan, wo sie im August 1994 in den Vatikanischen Gärten aufgestellt wurden. Die anderen Graffiti auf der Berliner Mauer entlang der Waldemarstraße sind in zehn zusammengesetzten Posterfotos durch die Fotografen Liselotte und Armin Orgel-Köhne dokumentiert (Stand: 1985). Literatur Weblinks Förderverein St.-Michael-Kirche Homepage der Dompfarrei St. Hedwig Einzelnachweise Michael Michael Berlin Michael Mitte Berlin Michael Mitte Michael Mitte Berlin Michael Berlin Katholische Garnisonkirche Berlin Mitte Berlin Michael Mitte Berlin, Michael Mitte Michael Michael Mitte Berlin Michael Mitte August Soller Wikipedia:Artikel mit Video Kirchengebäude in Europa
370062
https://de.wikipedia.org/wiki/Metro%20Rotterdam
Metro Rotterdam
Die U-Bahn oder Metro von Rotterdam ist neben Straßenbahn, Bussen und Vorortbahnen Trägerin des öffentlichen Nahverkehrs innerhalb der zweitgrößten niederländischen Stadt und die älteste U-Bahn der Benelux-Region. Der erste Abschnitt wurde 1968 eröffnet. Das System besteht aus zwei Stammstrecken, die sich im Stadtzentrum an der Metrostation Beurs kreuzen. Die Ost-West-Strecke verläuft im engeren Stadtgebiet auf dem rechten Ufer der Nieuwe Maas, die Nord-Süd-Strecke dient vor allem der Verbindung des linken Ufers mit dem auf der gegenüberliegenden Seite liegenden Stadtzentrum. Die Metro verkehrt in den Innenstädten von Rotterdam und Schiedam unterirdisch und im Außenbereich überwiegend an der Oberfläche, entweder als Hochbahn oder zu ebener Erde. Das Einsatzgebiet der Metro ist die Stadtregion Rotterdam, während das innere Stadtgebiet überwiegend durch die Straßenbahn Rotterdam erschlossen wird. Die Metro weist deshalb große durchschnittliche Stationsabstände und eine hohe Reisegeschwindigkeit auf. Außer in der Stadt Rotterdam selbst gibt es Stationen in den Gemeinden Schiedam, Spijkenisse, Albrandswaard, Capelle aan den IJssel, Vlaardingen und Maassluis. Betreiber der Metro ist das Verkehrsunternehmen Rotterdamse Electrische Tram (RET), die auch 9 Straßenbahnlinien und 28 Stadtbuslinien betreibt. Allgemeines Der Rhein, der in allen anderen durchflossenen Ländern von keinem einzigen Tunnel gequert wird, wird allein von der Rotterdamer Metro drei Mal unterfahren. Zwei Tunnel verlaufen unter dem innerstädtischen Mündungsarm Nieuwe Maas, einer unter der südlich parallelen Oude Maas (die trotz ihres Namens kein Maas-, sondern ausschließlich Rheinwasser enthält). Es bestehen außerdem noch zahlreiche Straßentunnel. Im Gegensatz zu den etwa gleichzeitig gebauten Stromschienen-Metros in München, Nürnberg und Wien hat die Rotterdamer Metro, ähnlich wie das System in Amsterdam, nur kurze Tunnelstrecken und verkehrt überwiegend als Hochbahn oder in Dammlage. Dafür gibt es zwei wichtige Gründe: Das Stadtgebiet südlich der Neuen Maas besteht überwiegend aus Großsiedlungen der 1960er und 1970er Jahre; es bestanden keine Bedenken hinsichtlich einer Gefährdung des ohnehin umstrittenen Stadtbilds, darüber hinaus waren in diesen Stadtteilen breite Schneisen für Verkehrstrassen freigehalten worden, die für die Hochbahn genutzt werden konnten. Die besondere hydrologische Situation der westlichen Niederlande macht Bau und Betrieb von Tunneln besonders schwierig, fast das ganze Stadtgebiet liegt niedriger als der Meeresspiegel (die auf Meereshöhe liegenden Flussufer sind damit der höchste, statt wie in anderen Städten der niedrigste Punkt der Stadt). Der potentiell natürliche Grundwasserspiegel liegt weit über Straßenniveau, nur durch Dauerbetrieb zahlreicher Pumpwerke wird eine Überschwemmung verhindert. Die Metro verkehrt deshalb nur im Innenstadtbereich unterirdisch, alle anderen Stationen liegen über der Erde. Liniennetz Das Rotterdamer Metronetz besitzt fünf Linien, die durch Buchstaben gekennzeichnet werden. Zusätzlich besitzt jede Linie eine Kennfarbe, die aber nicht als direkte Kennzeichnung (z. B.: blaue Linie) genutzt wird. Die Linien trugen früher keine Buchstaben, sondern Namen. Während die Stammstrecken zunächst nur Nord-Süd und Ost-West hießen, erhielten sie Anfang der 1990er Jahre „richtige“ Namen: Erasmuslijn (heute Linien D und E) und Calandlijn (heute Linien A, B und C). Als optisches Kennzeichen waren den beiden Strecken außerdem Farben zugeordnet, nämlich Blau (Erasmuslijn) und Rot (Calandlijn). Die Strecken zwischen den Bahnhöfen Tussenwater und De Akkers wird von Linien beider „Stammstrecken“ bedient (Linien C und D). Linien A, B und C – die Calandlijn Am 6. Mai 1982 wurde der erste Abschnitt der neuen Ost-West-Strecke eröffnet, die in rascher Folge drei Mal verlängert wurde und dadurch bereits 1986 vom Nordosten der Stadt bis in den Westen reichte. Namenspatron dieser Linie ist Pieter Caland (1827–1902), der Erbauer des Nieuwe Waterweg, ohne den Rotterdams Aufstieg zum größten Seehafen der Welt undenkbar gewesen wäre. Ommoord und Nesselande – Linien A/B Im Osten hat die Calandlijn drei Enden, von denen zwei über ebenerdige Stadtbahnstrecken erreicht werden. Die Stromzufuhr erfolgt hier über Oberleitung, im übrigen Teil der Linie über Stromschiene. Die Fahrzeuge haben Stromabnehmer für beide Zufuhrarten. Eine ähnliche Lösung gibt es weltweit nur noch auf der Blauen Linie der U-Bahn Boston, der Linie 3 der Metro Athen zum Flughafen, der Oslo T-bane, der S-Bahn Hamburg sowie auf der randstadrail Rotterdam-Den Haag der Erasmuslijn. Die Verzweigung der Linien geschieht im Bahnhof Capelsebrug. Nach Norden zweigt der erwähnte Stadtbahnabschnitt ab. Stadtauswärts fahrende Züge fahren hier den Dachstromabnehmer aus und fahren ebenerdig per Oberleitung weiter. Die Strecke verläuft in Seitenlage auf der östlichen Seite der Prinz-Alexander-Allee durch den gleichnamigen Stadtbezirk Prins Alexander. Dieser ist mit rund sechs Metern unter NAP der tiefste bewohnte Punkt der Niederlande. Die Strecke entlang der Prins Alexanderlaan hat fünf Stationen, einer davon liegt am Bahnhof Rotterdam-Alexander der Bahnstrecke nach Gouda und Utrecht. Hinter der Haltestelle Graskruid trennen sich die Linien A und B. Die Linie A biegt nach links ab und endet im Stadtteil Ommoord am Bahnhof Binnenhof, dem Endpunkt des ersten Bauabschnitts der Stadtbahnstrecke, der 1983 eröffnet wurde. Die Linie B verlässt die Prinsenallee nach rechts und endete nach 4 Stationen in De Tochten. 2005 wurde die Linie um eine Haltestelle verlängert. Die Züge fahren hier ihre Dachstromabnehmer wieder ein und der Zug wird wieder von einer Stromschiene versorgt. Endstation ist Nesselande. Capelle aan den IJssel – Linie C Die Linie C führt vom Trennungsbahnhof Capelsebrug weiter nach Osten in die Nachbargemeinde Capelle aan den IJssel. Diese Strecke wird konventionell mit Stromschiene betrieben, sodass die Linie C keine Dachstromabnehmer braucht. Die Linie führt als Hochbahn über Capelle Centrum zur Endstation De Terp. Die 1994 eröffnete Strecke hat drei neue Haltestellen. Innenstadt – Linien A/B/C An dem schon erwähnten Bahnhof Capelsebrug schließt sich stadteinwärts zunächst der ebenerdig gelegene Metro-Betriebshofs Gravenweg der RET an. Am Bahnsteigende der nächsten Station Kralingse Zoom beginnt der Innenstadttunnel der Calandlijn. Auch die beiden folgenden U-Bahnhöfe Voorschoterlaan und Gerdesiaweg liegen im östlichen Innenstadtbezirk Kralingen, an der nächsten Station Oostplein beginnt der Bereich der 1940 durch einen deutschen Luftangriff vernichteten Altstadt. Das heute modern bebaute Gebiet wird entlang der breiten Verkehrsschneise Blaak durchfahren. An der gleichnamigen Station kann zum unterirdischen, viergleisigen Bahnhof der Bahnstrecke nach Dordrecht umgestiegen werden. Der Ballungsraum Randstad Holland hat keinen S-Bahn-Verkehr, es fahren allerdings in sehr dichtem Abstand Nahverkehrszüge (Sprinter), die, wie an diesem Bahnhof zu sehen, auch die Stadtzentren erschließen. Der Eisenbahntunnel verläuft anstelle der früher hier fließenden Rotte, deren Abdeichung (an der heutigen Ecke zur Hoogstraat 200 m nördlich) der Stadt einst ihren Namen gab. Bis 1993 verlief diese Eisenbahnstrecke auf der Luchtspoor oberirdisch, zwischen 1993 und 1996 wurde sie durch den Tunnel ersetzt. Hinter der dreigleisig ausgebauten Station Blaak gibt es eine eingleisige Verbindungskurve zur Erasmuslijn, genauer zu deren Bahnhof Leuvehaven. Die nächste Station ist Beurs, der Umsteigebahnhof zur Erasmuslijn. Sie liegt zwei Straßen südlich des eigentlichen Börsengebäudes und hatte deshalb anfangs einen eigenen Namen (Churchillplein), wurde aber 2002 umbenannt. Die Station der Calandlijn wurde bereits 1967 als Vorleistung im Rahmen des Baus der Erasmuslijn angelegt, öffnete aber erst 1982 mit der Eröffnung der Calandlijn. Die nächste Station (Eendrachtsplein) liegt in der Nähe des bekannten Museum Boijmans Van Beuningen, die übernächste (Dijkzigt) am Universitätsklinikum der Stadt. Die folgenden Stationen Coolhaven und Delfshaven liegen im multikulturell geprägten westlichen Innenstadtbezirk Delfshaven, der nicht nur zahlreiche Gründerzeitbauten, sondern sogar einen mittelalterlichen Altstadtkern aufweist. Es handelt sich um den ehemaligen Vorhafen der Stadt Delft, die den Überseehandel nicht den an der Neuen Maas liegenden Städten Rotterdam und Schiedam überlassen wollte und zu diesem Zweck das bisher in Schiedam mündende Flüsschen Schie nach Delfshaven umleiten ließ. Der folgende Bahnhof Marconiplein im Stadtteil Spangen war von 1986 bis 2002 die westliche Endstation der Linie, er liegt in der Nähe des Stadions von Sparta Rotterdam, an seiner Südseite befindet sich die Verwaltung des Rotterdamer Hafens. Weil der Hafen so groß und bedeutend ist, wurde das Verwaltungshochhaus nicht als Zwillings-, sondern gar als Drillingsturm errichtet. Die Station besitzt drei Gleise an einem Seiten- und einem Inselbahnsteig, wobei der Seitenbahnsteig seit der Streckenverlängerung 2002 nur noch in Sonderfällen genutzt wird. Die Verlängerung der Calandlijn durch die westliche Nachbarstadt Schiedam hindurch zur südwestlichen Trabantensiedlung Hoogvliet wurde unter dem Projektnamen Beneluxlijn geplant. Grund für die Namensgebung war der unter der Neuen Maas hindurchführende Beneluxtunnel, dessen vierte Röhre für die Metro genutzt wurde (die anderen drei sind Teil des Autobahnrings A 4). Rund 500 Meter jenseits der Station Marconiplein kommt die Metro aus dem Tunnel an die Oberfläche, nach einem knappen Kilometer biegt sie in die Trasse der Eisenbahnstrecke nach Den Haag ein. Nach einem weiteren Kilometer Fahrt erreicht die Metro den Bahnhof von Schiedam. Hier enden die Linien A und B, die Beneluxlijn genannte Strecke führt weiter bis zum Bahnhof Tussenwater Der Schiedamer Bahnhof und die Metrostation heißen nun Schiedam Centrum, was nicht ganz der Wahrheit entspricht. Die historische Altstadt liegt rund einen Kilometer südwestlich des Bahnhofs. Hoek van Holland – Linien A/B In ähnlicher Weise wie die Hofpleinlijn wurde auch die Strecke von Hoek van Holland, die sogenannte „Hoekse Lijn“, an der Station Schiedam Centrum der Calandlijn mit der Metro verbunden. Die Metro folgt dabei vollständig der ehemaligen Eisenbahnstrecke, deren Betrieb am 31. März 2017 endete. Die Wiederinbetriebnahme war ursprünglich für Januar 2018 geplant, aufgrund verschiedener Probleme beim Umbau der Anlagen und der Realisierung der Zugsicherung verzögerte sie sich allerdings mehrfach. Am 28. September 2019 wurde die Strecke schließlich – vom letzten Teilstück abgesehen – mit 21 Monaten Verspätung als Teil der Metrolinien A und B wiedereröffnet. Über ein neu konstruiertes Ausfädelungsbauwerk, das aus der vormaligen Kehr- und Abstellanlage konstruiert wurde, fädelt die Metro wenige hundert Meter westlich vom Bahnhof Schiedam Centrum in die Hoekse Lijn ein. Das Schiedamer Stadtgebiet wird hinter der Station Schiedam Nieuwland verlassen. Nachdem die Autobahn A 4 überquert wurde, durchquert die Strecke die Nachbarstadt Vlaardingen, in der an den Bahnhöfen Vlaardingen Oost, Vlaardingen Centrum und Vlaardingen West gehalten wird. Letztere ist gleichzeitig neue Endstation der Linie A. Dahinter führt die Strecke hauptsächlich durch ländliches Gebiet, nach wenigen Kilometern wird die Gemeinde Maassluis mit den Haltepunkten Maassluis, Maassluis West und Steendijkpolder erreicht. Etwa fünf Kilometer hinter Steendijkpolder passiert die Metro das Maeslant-Sperrwerk, wo bauliche Vorbereitungen für eine später einzurichtende Haltestelle getätigt wurden. Nach weiteren drei Kilometern wird ohne weiteren Zwischenhalt der neue Endbahnhof Hoek van Holland Haven erreicht. Das letzte Stück der Hoekse Lijn, die ursprünglich noch einen Kilometer bis zum Bahnhof Hoek van Holland Strand führte, bleibt bis auf weiteres außer Betrieb. Grund hierfür ist, dass besagter Bahnhof abgerissen werden soll, um die Strecke bis zum ca. 1 km entfernten Strand zu verlängern und dort für die Metro einen neuen Endbahnhof mit gleichem Namen zu errichten. Dieses Vorhaben wird allerdings nicht vor 2021 umgesetzt sein. Am 31. März 2023 wurde das letzte Teilstück zwischen Hoek van Holland Haven und Hoek van Holland Strand eingeweiht. Somit verkehrt die Metro jetzt bis direkt zum Strand. Erwähnenswert ist, dass die Strecke unter der Verwendung von Diesellokomotiven oder anderen Triebfahrzeugen, die nicht auf die Oberleitung angewiesen sind (da deren Spannung von 1500 V auf 750 V umgestellt wurde), bis Maassluis nach wie vor von Eisenbahnzügen befahren werden kann. Dies ist notwendig, da bis dorthin noch weiter Güterverkehr betrieben werden soll. Zu diesem Zweck wurden im Bereich der Haltestellen Gleisverschlingungen angelegt: Durch die geringere Breite der Metro-Fahrzeuge im Vergleich zu Fahrzeugen der „großen“ Bahn würden letztere mit den neuen Bahnsteigkanten kollidieren, was durch das Befahren des weiter links befindlichen Gleises verhindert wird. Optional kann diese Infrastruktureinrichtung später bis Hoek van Holland erweitert werden. Hoogvliet – Linie C Westlich des Bahnhofs, nach der Überquerung der Schie, beginnt ein weiterer Tunnelabschnitt mit zwei unterirdischen Stationen, wobei die erste (Parkweg) deutlich näher am Zentrum Schiedams liegt als Schiedam Centrum Die Station Troelstralaan wurde als bauliche Besonderheit im offenen Einschnitt direkt neben einem Parksee angelegt. An den Tunnel schließt sich ein kurzer Hochbahnabschnitt an, dessen einzige Station Vijfsluizen im Hafengebiet von Schiedam liegt, an der Grenze zur Nachbarstadt Vlaardingen und direkt an der Autobahn, die die Metro nun durch den Beneluxtunnel hindurch bis zum Autobahnkreuz Beneluxplein begleitet. Kurz südlich des Beneluxtunnels liegt Pernis. Der Stadtteil liegt völlig isoliert inmitten des Hafengebiets und ist durch den Fluss, mehrere Hafenbecken, die riesigen Öllager des Ölhafens, zwei Autobahnen, eine Schnellstraße, ein Autobahnkreuz sowie das breite Gleisfeld der Hafenbahn von der Außenwelt abgeschnitten. Die 2002 eröffnete Metrostation darf als echte Verbesserung angesehen werden. Im Rahmen der Bauarbeiten zum Anschluss der Hoekse Lijn an das Metronetz wurde die Linie A, welche vorher in Schiedam Centrum endete, bis Pernis verlängert, wo sie hinter der Haltestelle über einen Gleiswechsel kehrt. Grund hierfür ist einerseits, dass aufgrund der Bauarbeiten in Schiedam Centrum nur begrenze Kehrmöglichkeiten zur Verfügung stehen; andererseits verkehren manche Buslinien, die Teil des Schienenersatzverkehrs sind, erst ab der Station Vijfsluizen. Nach Abschluss der Arbeiten wird die Linie wieder von der Beneluxlijn abgezogen. Nach rund drei Kilometern Fahrt erreicht die Bahn die Trabantenstadt Hoogvliet und die Station Tussenwater, wo sie auf die Erasmuslijn trifft. Die letzten fünf Stationen durch Hoogvliet und Spijkenisse befahren beide Linien gemeinsam, siehe dort. Erasmuslijn Die blaue Nord-Süd-Linie ging als erste in Betrieb. Die erste Metrostrecke auf (genauer: unter) niederländischem Boden wurde am 9. Februar 1968 von Kronprinzessin Beatrix und Prinz Claus eröffnet. Die Linie ist 21,5 km lang und hat 17 Stationen, davon fünf im Tunnel. Sie trägt den Namen des größten Sohnes der Stadt, Erasmus von Rotterdam (1469–1536), Humanist und Philosoph. Den Haag – Linie E Die Linie E nahm 2006 den Betrieb zwischen Nootdorp und Rotterdam Hofplein auf. Seit Dezember 2011 beginnt die Linie in Den Haag Central, dem Hauptbahnhof der Stadt. Nutzte die Linie zunächst zwei Gleise im Hauptbahnhof selbst, so besitzt sie seit 2016 eine eigene Haltestelle neben dem Hauptbahnhof. Über die Hofpleinlijn, einer ehemaligen Eisenbahn- und jetzigen Stadtbahnstrecke, führt sie nach Rotterdam. Die Strecke wird ebenfalls von zwei Den Haager Straßenbahnlinien benutzt und deshalb mit Oberleitung, 750 V DC, betrieben. Entlang der Strecke wurden zwischenzeitlich die neuen Stationen Berkel Westpolder, Meijersplein und Melanchthonweg eröffnet, dafür wurde 2010 die Station Wilgenplas nach 102 Jahren geschlossen. Zunächst befuhr die Linie die Hofpleinlijn bis zum 1908 eröffneten Endpunkt Hofplein. Im August 2010 ging zwischen Melanchthonweg und Bergweg der Abzweig zur neu gebauten Tunnelstrecke über Blijdorp nach Rotterdam Centraal in Betrieb; gleichzeitig wurde das letzte Streckenstück der ehemaligen Eisenbahnstrecke über Bergweg nach Hofplein endgültig stillgelegt und abgerissen. Für den Anschluss der Strecke wurde die 1968 eröffnete, zweigleisige Metro-Station am Rotterdamer Hauptbahnhof abgerissen und etwas weiter nördlich mit drei Gleisen neu aufgebaut. Die Linie E ist Teil der RandstadRail, einem städteübergreifenden Stadtbahnnetz zwischen Den Haag, Rotterdam und Zoetermeer. Daher wurden auch die ersten Fahrzeuge der Strecke in der blau-weißen Farbgebung der RandstadRail ausgeliefert. Innenstadt – Linien D/E Der zentrale Abschnitt der Erasmuslijn, der von beiden Linien bedient wird, beginnt am Hauptbahnhof am nordwestlichen Rand der City. Die zwei folgenden Bahnhöfe am Rathaus und der Börse liegen unter dem zentralen Boulevard Coolsingel im Zentrum der Stadt. An letzterer Station kreuzt die Calandlijn, der Zugang von den Fußgängerstraßen Lijnbaan und Hoogstraat wurde Mitte der 1990er Jahre aufwendig gestaltet, seitdem unterquert die Beurstraverse an dieser Stelle die Coolsingel. Die Hoogstraat verläuft, wie ihr Name erahnen lässt, auf der Krone des Zeedijk (Seedeich), alle südlich dieser Deichlinie liegenden Gebäude einschließlich des U-Bahnhofs Leuvehaven müssen bei Sturmfluten eigenständig geschützt werden. Die Station Leuvehaven liegt im ältesten Hafengebiet Rotterdams. Südlich von ihr unterquert die U-Bahn die Neue Maas, wenige Meter flussabwärts liegt die 1996 eröffnete Erasmusbrücke, die letzte Rheinbrücke vor der Mündung in die Nordsee. Unmittelbar nach Erreichen des linken Ufers steigt der Streckenverlauf wieder an, bis er nach rund 500 Metern aus dem Tunnel über eine Rampe in einen Hochbahnviadukt übergeht. Der 1997 nachträglich eingefügte Tunnelbahnhof Wilhelminaplein liegt deshalb in einer Steigung. Solche Stationen sind weltweit sehr selten und in vielen Ländern aus Sicherheitsgründen gar nicht genehmigungsfähig; dass ausgerechnet das ansonsten wenig bergige Rotterdam über eine solche Station verfügt, ist ein Kuriosum. Die beiden nächsten Hochbahnhöfe Rijnhaven und Maashaven liegen an zwei um 1900 angelegten Becken des Seehafens. Direkt hinter der Tunnelausfahrt vor der Station Rijnhaven befand sich zwischen 1968 und 2008 eine Gleisverbindung zum Betriebshof Hilledijk, dem ersten Betriebshof der Metro, welcher 2011 abgerissen wurde. Die folgende Station Zuidplein (Südplatz) war die Endstation des 1968 eröffneten Streckenabschnitts. Sie liegt im Zentrum des Stadtbezirks Süd, zu ihr gehören ein großes Einkaufszentrum, ein Hallenbad, ein Bezirksrathaus, ein Theater und ein Busbahnhof. In unmittelbarer Nähe liegen der Südpark und das Veranstaltungszentrum Ahoy. Nach Durchqueren des Südparks erreicht die Hochbahn die Großsiedlungen Pendrecht rechter- und Zuidwijk linkerhand, an der Kreuzung mit der durch beide Viertel verlaufenden Hauptstraße Slinge liegt ein gleichnamiger Hochbahnhof. Dieser ist dreigleisig ausgeführt und seit 2011 Endpunkt der Linie E aus Den Haag. Die Strecke Richtung Spijkenisse wird allein von der Linie D befahren. Südliches Rotterdam und Spijkenisse – Linie D Südlich dieser Viertel überquert die Metro die in den Seehafen führende Güterbahnstrecke und biegt in einem weiten Bogen in westliche Richtung ein. Nach rund zwei Kilometern folgt, zwischen einem Güterbahnhof und einem Gewerbegebiet gelegen, der Betriebshof Waalhaven der Metro, dessen Gelände jedoch ohne Halt durchfahren wird. Erst nach drei weiteren Kilometern folgt der nächste Bahnhof (Rhoon). Dieser und die folgende Station Poortugaal liegen auf dem Gebiet der südlichen Vorortgemeinde Albrandswaard. Rhoon und Portugaal sind alte Dörfer, die zu großen Wohngemeinden herangewachsen sind. Die wiederum zu Rotterdam gehörende Großsiedlung Hoogvliet wird von drei Hochbahnhöfen erschlossen, von denen jedoch keiner im eigentlichen Zentrum des Gebiets liegt. Im ersten dieser Bahnhöfe (Tussenwater) vereinigt sich die von Norden hinzustoßende Calandlijn mit der Erasmuslijn. Die Station ist viergleisig, wurde aufgeständert in einem Wasserlauf errichtet und besitzt spektakuläre Zugangsgebäude nach Entwurf von Maarten Struijs. Der Bahnhof Tussenwater wurde aber nicht mit der Eröffnung der Linie D 1974 errichtet, sondern kam erst 2002, mit der Einbindung der Calandlijn in die Spijkenisser Strecke, hinzu. Nachdem die Oude Maas wiederum im Tunnel unterquert wurde, folgen noch drei weitere Hochbahnhöfe innerhalb der Vorstadt Spijkenisse, bevor die Endstation De Akkers erreicht wird. Jenseits der Station schließt sich eine 700 Meter lange, viergleisige Abstellanlage an. Ausbauplanungen Unter dem Bahnhof Rotterdam Lombardijen befindet sich eine rohbaufertige Metro-Station. Diese war vorgesehen für einen Abzweig der Erasmuslijn über IJsselmonde nach Ridderkerk, welche nun höchstwahrscheinlich als Straßenbahn realisiert wird. Beim Umbau der Hoekse Lijn in eine Metro-Strecke wurden die baulichen Voraussetzungen geschaffen, um später am Maeslant-Sperrwerk eine weitere Haltestelle einzurichten. In Ommoord wird westlich des Endpunkts Binnenhof der Platz für eine zweigleisige Trasse freigehalten, um die Linie A nach Hillegersberg und Terbregge verlängern zu können. Bis zum John Mottweg wurden Gleise verlegt, die zum Abstellen von Zügen genutzt werden konnten. 2010 wurden diese Gleise im Rahmen einer Gebietsneugestaltung entfernt, seitdem enden die Gleise am Bahnsteigende der Haltestelle. Eine Verlängerung der Strecke ist 2019 nicht mehr geplant. Ebenso besitzt die Station De Akkers weitergeführte Gleise hinter dem Bahnsteig, die für eine spätere Verlängerung nach Hellevoetsluis und Brielle errichtet wurden. Bei der Bebauung der Flächen wurde auf eine Trassenfreihaltung geachtet. Inzwischen ist auch die Umsetzung dieser Pläne unwahrscheinlich, die Abstellgleise existieren allerdings weiterhin. Weitere Maßnahmen zur Verbesserung des ÖPNV werden vor allem die Straßenbahn betreffen. Das Programm TramPlus kombiniert Beschleunigungsmaßnahmen mit Netzerweiterungen vor allem auf dem linken Ufer und in die Vorstadt Vlaardingen. Betrieb Die Metro nimmt morgens um halb sechs den Betrieb auf und verkehrt bis kurz nach Mitternacht. Die Calandlijn mit ihren drei östlichen Endpunkten wird in der Fahrplangestaltung als drei Linien angesehen, die tagsüber folgendermaßen verkehren: Ommoord (Binnenhof) ↔ Vlaardingen West (Linie A) Nesselande ↔ Hoek van Holland Haven (Linie B) Capelle a/d IJssel (De Terp)↔ Spijkenisse Centrum (Linie C) Die beiden Stadtbahnlinien durch den Prins-Alexander-Polder verkehrten bis 2019 nur bis zum Bahnhof von Schiedam, während die durchgehend als Metro ausgebaute Linien von Capelle auch das sich anschließende Stück durch das dünn besiedelte Hafengebiet bedient und in der Vorstadt Hoogvliet auf die Erasmuslijn trifft. Seit der Eingliederung der Hoekse Lijn endet in Schiedam keine Linie mehr. Jede dieser drei Linien verkehrt tagsüber (6–19 Uhr, samstags ab 7 Uhr) im 10-Minuten-Takt, sonntags im 15-Minuten-Takt. Zwischen Kralingse Zoom und Schiedam Centrum, also im innerstädtischen Abschnitt der Linie, verkehren demnach 18 Züge pro Stunde und Richtung. Abends und am Sonntagmorgen gelten folgende verkürzten Linienführungen: Binnenhof ↔ Kralingse Zoom Nesselande ↔ Hoek van Holland Haven De Terp ↔ Spijkenisse Centrum Diese werden alle 15 Minuten bedient. Der Ast nach Ommoord wird im Pendelverkehr bedient, an der Station Kralingse Zoom kann auf die Hauptlinie umgestiegen werden. Im Innenstadtabschnitt addieren sich die Fahrten aus Nesselande und Capelle zu einem 7/8-Minuten-Takt. Die Erasmuslijn hat keine Verzweigungen, aber trotzdem zwei verschiedene Linienwege. Jeder Zug der Linie E endet bereits am Bahnhof Slinge. Der Grund ist der gleiche wie bei der Calandlijn: jenseits dieses Bahnhofs verlässt die Metro das geschlossene Stadtgebiet und fährt durch extensiv genutzte Gewerbe- und Hafengebiete: Rotterdam Centraal Station ↔ Spijkenisse (Linie D) Den Haag Centraal Station ↔ Slinge (Linie E) Verkehrte die Linie E früher nur werktags von 7:30 bis 19 Uhr (samstags schon ab 6 Uhr) im 10-Minuten-Takt und sonntags von 10:45 bis 18:15 Uhr im 15-Minuten-Takt nach Slinge, so gelten diese Takte nun ganztägig. Die Gesamtstrecke wird in der Hauptverkehrszeit (HVZ) im 5-Minuten-Takt und während der übrigen Tageszeiten und sonntags im 7½-Minuten-Takt bedient. Beide Linienführungen addieren sich in den HVZ auf 18 Züge pro Stunde und Richtung, tagsüber auf 12. Fahrzeuge Die auf den beiden Linien eingesetzten Fahrzeuge sind nicht identisch. Da ein Teil der Linien A und B (ehemals Calandlijn) im Stadtbahnbetrieb gefahren wird, müssen die Züge theoretisch auch die Zulassungsvoraussetzungen für Straßenbahnen erfüllen. Zusätzlich zur Metro-Ausrüstung besitzen die Fahrzeuge dieser Linien deshalb Dachstromabnehmer, Schienenbremsen, Bremssand, Rückleuchten mit Bremslicht und Blinker. Als einzige Linie auf der Ost-West-Strecke ist die Linie C hiervon ausgenommen, da sie nur nach U-Bahn-Kriterien ausgebaute Streckenteile befährt. Bei Aufnahme des U-Bahn-Betriebs 1968 besaß die RET 27 Züge des Ursprungsmodells „MG2“, wovon bis 1976 insgesamt 71 Doppeltriebwagen ausgeliefert wurden. Zwischen 1980 und 1984 kamen 71 Fahrzeuge vom Typ „SG2“ hinzu, welche für den Betrieb auf der Calandlijn die Stadtbahnkriterien erfüllen. Sie waren mechanisch und elektrisch vollumfänglich mit den MG2 kuppel- und einsetzbar, was auf der Erasmuslijn und später der Calandlijn auch genutzt wurde. Alle Einheiten wurden Ende der 1990er ertüchtigt. Ab 1998 erfolgte die Ablösung der Ursprungsfahrzeuge durch die neue Baureihe „MG2/1“, welche bis 2002 in 63 Einheiten ausgeliefert wurde. Diese Fahrzeuge besitzen als Besonderheit nur an einem Wagenende einen Führerstand und müssen daher im Fahrgastbetrieb mindestens als Doppeltraktion eingesetzt werden. 2002 wurden zusätzlich 18 modifizierte Triebwagen produziert, welche auch als Stadtbahnen eingesetzt werden können und daher „SG2/1“ genannt werden. Beide Fahrzeugtypen ersetzten bis 2003 alle MG2-Triebwagen. Als neue Züge für alle Linien wurde beim Hersteller Bombardier das Modell Flexity Swift bestellt, die Fahrzeuge werden im flämischen Brügge gebaut. Wagenbaulich orientieren sich die „SG3“ genannten Fahrzeuge am SG2/1, allerdings besitzen sie eine neue Frontpartie, wieder zwei Führerstände und drei statt zwei Wagen pro Einheit. Alle Fahrzeuge können mit Oberleitung und Stromschiene betrieben werden. Insgesamt wurden zwischen 2008 und 2017 drei Bauserien herstellt, wovon die erste Serie die weiß-blaue Lackierung der RandstadRail trägt und daher nahezu nur auf der Linie E zum Einsatz kommt. Die Züge trugen bis Ende der 1990er Jahre eine dunkelgrüne Lackierung, die mit der Inbetriebnahme der Baureihe MG2/1 durch eine silbergraue abgelöst wurde. Die SG2 wurden bei ihrer Ertüchtigung in dieses Farbschema überführt, die kurze Zeit später ausgemusterten MG2 nicht mehr. Mit der Inbetriebnahme der SG3 wurde diese Lackierung überarbeitet, was wiederum nicht mehr auf die SG2 übertragen wurde, wohl aber auf die MG2/1 und SG2/1 bei deren Ertüchtigung Mitte der 2010er Jahre. Als die RET dem R-Net-Verbund beitrat, welcher eigentlich eine eigene Lackierung vorschreibt, wurde die RET-Lackierung als Kompromiss um rote (zuvor dunkelgrüne) Türen und das R-Net-Logo erweitert. Geschichte Vorgeschichte Bereits um 1920 war Rotterdam innerhalb der Niederlande das Zentrum eines radikal modernen Städtebaus, die hier ansässige Architektengruppe De Opbouw um Oud und van Eesteren propagierten einen funktionalen Rationalismus anstatt des Festhaltens an baulichen Traditionen, wie es die am deutschen Expressionismus orientierte Amsterdamer Schule in ihrer Stadt bis in die 1930er Jahre hinein durchsetzen konnte. Die Vernichtung der gesamten Innenstadt durch den deutschen Luftangriff vom 14. Mai 1940 bot nach dem Krieg die Gelegenheit, die Vorstellungen des Opbouw und der internationalen Gruppe CIAM in die Realität umzusetzen. Eine großmaßstäbliche, moderne Bebauung mit breiten Straßen und weitgehender Trennung der städtischen Funktionen war die Grundlage des neu entstehenden Rotterdam. Die 1953 eröffnete Einkaufsstraße Lijnbaan war die erste Fußgängerzone Europas, außerhalb davon wurde die Verkehrsplanung ganz am Automobil ausgerichtet. Auch die Straßenbahn sollte den Kfz-Verkehr möglichst nicht mehr behindern. Um die öffentlichen Verkehrsströme aus den Straßen herausnehmen zu können, entschied man sich Ende der 1950er Jahre nach umfangreichen Verhandlungen zum Bau einer Untergrundbahn vom neuen (1954 eröffneten) Hauptbahnhof zum Zentrum des schnell wachsenden Stadtbezirks Süd. Am 19. Januar 1959 stellten Vertreter der städtischen Bauämter die Planungen im Stadtparlament vor. Der offizielle Beschluss des Stadtparlaments erfolgte am 14. Mai 1959. U-Bahn-Bau im Wasser Der erste Bauabschnitt war gleich der technisch schwierigste. Er umfasste den gesamten unterirdischen Teil der späteren Erasmuslijn einschließlich der Unterführung der an dieser Stelle 600 Meter breiten Neuen Maas. Der mit Ab- und Anstieg 1040 Meter lange Bauabschnitt unter dem Fluss besteht aus zwölf Tunnelelementen. Diese wurden auf der van-Brienenoord-Insel (nahe der Kuip, des Stadions von Feyenoord) im Trockendock hergestellt, flussabwärts zum Einsatzort gebracht und in einen vorbereiteten Graben im Flussbett eingeschwommen. Die Tunneldecke in der Flussmitte liegt etwa 12,5 Meter unter dem Meeresspiegel. Die Tunnelstrecken auf dem rechten Ufer mussten aufgrund der beschriebenen besonderen Situation der westlichen Niederlande auf eine ähnliche Weise gebaut werden. Die anderswo übliche Cut-and-cover-Methode (offene Bauweise), bei der ein Graben ausgehoben, Fahrweg, Seitenwände und Gleise errichtet und schließlich der „Deckel“ aufgesetzt und die aufgerissene Straße wiederhergestellt wird, ist in Rotterdam nicht möglich: jede ausgehobene Grube läuft innerhalb von Stunden voll Wasser. Deshalb wurden in den breiten Straßen Blaak und Weena ebenfalls kleine Trockendocks errichtet, in denen die Tunnelelemente vorproduziert wurden. Die Coolsingel, in dessen Mitte mehrere Jahre lang die wassergefüllte Baugrube verlief, erlebte einen interessanten Rückgriff auf seine eigene Geschichte: er war früher der Graben vor der westlichen Stadtmauer Rotterdams (ein Singel ist ein Wassergraben). Trotz des Bauens unter Wasser war dieser Abschnitt einfacher zu errichten als die Flussquerung, da hier immerhin weder Strömung noch Tidenhub die Arbeiten erschwerten und die Baukräne unmittelbar neben der Baugrube platziert werden konnten. Wichtig für die Sicherheit der gesamten Stadt sind die beiden Fluttore des Bahnhofs Leuvehaven, wie schon weiter oben erwähnt, liegt er unter der Hauptdeichlinie des rechten Ufers (Westzeedijk). Um zu verhindern, dass bei einem Wassereinbruch im Bereich der Flussunterquerung die ganze nördliche Stadthälfte vollläuft, wurde an beiden Enden der Station Stahltore installiert, die sich im Unglücksfall automatisch schließen. Der Betonviadukt der Hochbahn auf dem linken Ufer konnte vergleichsweise einfach gebaut werden. Am 9. Februar 1968 konnte der erste Abschnitt der Metro eröffnet werden, über zwei Jahre bevor im ungeliebten Amsterdam mit dem Bau der dortigen Metro auch nur begonnen wurde. Kritiker in Amsterdam und anderswo ließen jedoch nicht unerwähnt, dass die Rotterdamer U-Bahn mit rund fünf Kilometern Länge und sieben Stationen die angeblich kürzeste der Welt sei (was nur bedingt der Wahrheit entsprach). Der Bau der Ost-West-Linie Der Bau der heutigen Calandlijn begann 1971 mit den im U-Bahn-Bau üblichen Vorarbeiten wie der Verlegung des Straßenverkehrs sowie zahlreicher unterirdischer Versorgungsleitungen, die dem künftigen Tunnel „im Weg“ sind. Im Gegensatz zur ersten Linie umfasste diese Linie einen langen Tunnelabschnitt, und mit dem Hafenbecken Coolhaven musste auch wieder eine Wasserstraße unterfahren werden, wobei die zuvor beschriebenen Methoden zur Anwendung kamen. In der City verläuft die Calandlijn unter breiten Verkehrsachsen, was den Bauablauf vereinfachte. Der Bahnhof Beurs (damals Churchillplein) war bereits beim Bau der ersten Linie als Vorleistung im Rohbau mit errichtet worden, umgekehrt wurde die Station Blaak bereits als Umsteigebahnhof zur noch zu bauenden unterirdischen Staatsbahnstrecke vorbereitet: die Metrostrecke wurde hier als Brücke mit einer Spannweite von 52 Metern ausgeführt. Der Eisenbahntunnel wurde in den Jahren 1987–93 gebaut und ersetzte die vormalige Viaduktstrecke. Im Stadtteil Kralingen verläuft die U-Bahn durch schmale Straßen und sogar unter Häuserblocks hindurch, die Gebäude wurden mit verwegenen Konstruktionen abgefangen, sodass die Bewohner während des Baus in ihren Wohnungen bleiben konnten. Auch im Bereich zwischen Eendrachtsplein und Coolhaven wurden dichtbebaute Stadtviertel unterquert. Der Hauptteil der neuen Strecke wurde 1982 eröffnet, die zwei westlichen Stationen bis Marconiplein folgten 1986. Hochbahnstrecken in die Vororte Die erste Erweiterung der Rotterdamer Metro erfolgte am südlichen Ende der Urstrecke. Die Hochbahn auf dem linken Maasufer wurde um 1,6 km in die Trabantensiedlung Pendrecht/Zuidwijk verlängert. Diese Wohngebiete entstanden um 1960 nach Entwurf der aus dem Umfeld der Gruppe de Opbouw stammenden Architektin Lotte Stam-Beese und gelten heute als eines der vielen Rotterdamer Beispiele für die menschenfeindliche Stadtplanung der Nachkriegsjahrzehnte. Durch den U-Bahn-Anschluss (Station Slinge) erhielten die Bewohner 1970 eine schnelle Verbindung in die Innenstadt. Die zweite Erweiterung (1974) über Pendrecht hinaus verlief über viele Kilometer durch den von Autobahnen, Kleingärten, Sportanlagen, Gewerbe- und Hafengebieten geprägten Süden des Stadtgebiets. Hier zeigte sich der Charakter der Metro als echte Schnellbahn, zwischen den Stationen liegen jeweils mehrere Kilometer. Die Wohnvororte Rhoon und Portugaal liegen außerhalb der Stadtgrenzen und waren nicht der Anlass (wohl aber Nutznießer) der Metro-Verlängerung. Der Grund war vielmehr die Anbindung von Rotterdams größter Trabantensiedlung, dem im Südwesten der Stadt gelegenen Hoogvliet. Die Stadtbahnstrecken durch die nordöstlichen Trabantensiedlungen Prins Alexander, Ommoord und Zevenkamp entstanden in der ersten Hälfte der 80er Jahre. Sie zweigten am Bahnhof Capelsebrug ab und setzen sich als ebenerdige Schnellstraßenbahn (Sneltram) fort. Zur gleichen Zeit war am anderen Ende der Stadt die Verlängerung von Hoogvliet in die jenseits der Alten Maas gelegene, als Wachstumsgemeinde ausgewiesene Stadt Spijkenisse im Bau. Innerhalb ihres Stadtgebiets entstand eine Hochbahnstrecke mit drei Stationen, die Querung der Alten Maas geschah in einem weiteren Unterwassertunnel. Zur Vorfertigung der Tunnelsegmente wurde wiederum das Trockendock auf der van Brienenoordinsel genutzt. Die Gleise der fertigen Strecke liegen an der tiefsten Stelle 23 Meter unter dem Meeresspiegel. 1985 konnte die Erweiterung in Betrieb genommen werden. Das östliche Ende der Calandlijn wurde 1994 in die Umlandgemeinde Capelle hinein verlängert, diesmal nicht als sneltram, sondern als Hochbahn im Metrobetrieb. Kop van Zuid Mitte der 1990er Jahre begannen die Bauarbeiten zur Umnutzung des brach liegenden Hafengebiets am linken Flussufer. Die um 1900 gebauten Hafenbecken waren für die modernen Seeschiffe zu klein geworden, der Hafenbetrieb verlagerte sich immer weiter nach Westen aus der Stadt heraus. Man beschloss, die Nordspitze (Kopf) des Bezirks Süd (deshalb: Kop van Zuid) für eine Erweiterung der Geschäftscity zu nutzen. Auf dem Wilhelminapier zwischen Fluss und Rijnhaven sollten Bürohochhäuser entstehen, in der zweiten Reihe ein verdichtetes Wohngebiet und ein Stadtpark. Als sichtbarstes Zeichen des „Sprungs“ über den Fluss entstand die Erasmusbrücke, wegen ihrer eigenwilligen Form auch als Schwan bezeichnet. Über diese Brücke konnte erstmals seit über 20 Jahren auch wieder die Straßenbahn den Fluss überqueren, bis dahin hatte die Linie 2 auf dem linken Ufer ein einsames Inseldasein ohne Verbindung zum übrigen Netz gefristet. Außer der neuen Straßenbahnlinie 20 sollte auch die Metro das Quartier erschließen. Die Station Rijnhaven liegt an seinem Südrand und ist für einen Teil der neuen Bewohner relevant, der Mittelpunkt von Kop van Zuid ist jedoch der Wilhelminaplein, der südliche Brückenkopf der Erasmusbrücke und Beginn des Wilhelminapiers. Die U-Bahn fuhr bisher unter dem Platz ohne Halt hindurch, weil sie hier den Höhenunterschied zwischen Flussunterquerung und der weiter südlich folgenden Rampe zu überwinden hat. Aufgrund der großen Bedeutung des Projekts wurde schließlich beschlossen, unter dem Platz, bei weiterlaufendem Metrobetrieb, eine zusätzliche Station in die Strecke einzufügen. Die Station wurde 1997 eröffnet, sie liegt 17 Meter unter dem Meeresspiegel und ist damit eine der tiefstliegenden Stationen der Welt. Chronik der Streckeneröffnungen Unfälle In der Nacht vom 1. November 2020 überfuhr eine Metro-Garnitur ohne Fahrgäste in der Station De Akkers, die sich in Hochlage über einem Kanal befindet, beim Abstellen auf einem Stumpfgleis den Prellbock. Das führende Fahrzeug kam auf der Nachbildung einer Walfluke zum Stehen, die dort als Teil eines Kunstwerks von Maarten Struijs aus dem Wasser ragt. Sie verhinderte, dass der Triebwagen 10 m in die Tiefe stürzte. Der Fahrzeugführer blieb unverletzt. Die Bergung des Fahrzeugs erwies sich als aufwändig. Der Künstler zeigte sich beeindruckt davon, was das von ihm geschaffene Kunstwerk so aushalte. Literatur Henk van Bruggen: Rotterdam, Rijnmond, Dordrecht. ANWB, Den Haag 1994, ISBN 90-18-00406-5. Kees Stiksma: Tunnels in the Netherlands. Underground transport connections. 2. Aufl. Illustra, Rotterdam 1993, ISBN 90-6618-591-0. Vittorio Magnago Lampugnani: Hatje-Lexikon der Architektur des 20. Jahrhunderts. Hatje, Stuttgart 1983, ISBN 3-7757-0174-5. Weblinks Offizielle Betreiberseite (niederländisch) Rotterdam Metro In: urbanrail.net (englisch) Einzelnachweise Rotterdam Rotterdam Verkehrsbauwerk in Rotterdam Rotterdam Schienenverkehr (Niederlande) Rotterdam
493908
https://de.wikipedia.org/wiki/Werner%20Heyde
Werner Heyde
Werner Heyde – Pseudonym Fritz Sawade – (* 25. April 1902 in Forst/Lausitz; † 13. Februar 1964 in Butzbach/Hessen) war ein deutscher Psychiater und Neurologe. Heyde war Klinikdirektor und Professor für Psychiatrie und Neurologie an der Universität Würzburg, hochrangiges SS-Mitglied und Gutachter für die Gestapo. Als Leiter der medizinischen Abteilung der Tarnorganisation „Zentraldienststelle T4“ und erster T4-Obergutachter während der Zeit des Nationalsozialismus war er für die Ermordung von Heilanstaltsinsassen und Konzentrationslagerhäftlingen verantwortlich. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges praktizierte er unter dem Pseudonym Dr. Fritz Sawade mehrere Jahre als Arzt. Fünf Tage vor der Eröffnung des Prozesses wegen seiner Verbrechen beging Heyde in der Untersuchungshaft Suizid. Leben Kindheit, Jugend und Berufsausbildung Werner Heyde war Sohn eines Tuchfabrikanten. Im Herbst 1914 zog die Familie in das nahegelegene Cottbus, wo Heyde im März 1920 als Klassenbester sein Abitur ablegte. Während der Schulzeit meldete er sich als Kriegsfreiwilliger für die Teilnahme am Ersten Weltkrieg. Spätestens ab Sommer 1918 war er bei der Gruppenfernsprechabteilung 656 in Reval in Estland eingesetzt. Auch nach dem Waffenstillstand im November 1918 blieb er bis Anfang 1919 als Angehöriger eines Freikorps in Estland. Beim Kapp-Putsch im März 1920 beteiligte er sich auf Seite der Putschisten an Kämpfen im Raum Cottbus. Heyde hatte sich für zwei Monate als Zeitfreiwilliger zum Infanterieregiment 52 unter Major Bruno Ernst Buchrucker gemeldet. Ab Mai 1920 studierte Werner Heyde Medizin in Berlin, Freiburg, Marburg, Rostock und Würzburg. Das Physikum legte er im Juli 1922 in Marburg ab, im Mai 1925 promovierte er nach dem Staatsexamen mit Note 1 in Würzburg. Anschließend war er für ein Jahr als Medizinalpraktikant an den städtischen Krankenanstalten in Cottbus, den Wittenauer Heilstätten in Berlin und der Würzburger Universitätsnervenklinik tätig. Am 8. Juni 1926 erhielt Heyde die Approbation, anschließend war er Hilfsassistent bei Martin Reichardt, der ihn förderte. Zeitweise war er auch als Forschungsstipendiat an der Psychiatrischen Klinik in Würzburg tätig. Ab November 1928 wechselte er für zwei Jahre an das chemische Institut der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in München. Zurück in Würzburg habilitierte sich Werner Heyde mit der Habilitationsschrift Untersuchungen über Gehirnfermente. Am 10. August 1932 wurde Heyde als Privatdozent für Psychiatrie und Neurologie an der Würzburger Universität aufgenommen, nachdem er schon seit Juli 1931 als planmäßiger Assistent an der dortigen Nervenklinik beschäftigt war. Im Februar 1931 heiratete Heyde Erika Precht. Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor. Eintritt in die NSDAP und in die SS-Totenkopfverbände Im März 1933 traf Werner Heyde mit einem prominenten Patienten zusammen: Der SS-Oberführer Theodor Eicke aus Ludwigshafen war wahrscheinlich nach Streitereien mit innerparteilichen Gegnern auf Veranlassung des Gauleiters der bayerischen Pfalz, Josef Bürckel, zur Untersuchung seines Geisteszustands in die Würzburger Klinik eingewiesen worden. Eicke sollte vermutlich über eine „Psychiatrisierung“ aus dem Verkehr gezogen werden. Heyde, mit einem amtsärztlichen Gutachten beauftragt, sah jedoch keinerlei Anzeichen von Geistes- oder Gehirnkrankheit bei Eicke. Im Gegenteil, so Heyde in einem Schreiben an Heinrich Himmler, Eicke habe sich „hier musterhaft geführt und fiel durch sein ruhiges, beherrschtes Wesen sehr angenehm auf, er machte keinesfalls den Eindruck einer intrigierenden Persönlichkeit.“ In seinem Antwortschreiben an Heyde bat Himmler, Eicke mitzuteilen, dass er ihn „in irgendeiner, möglichst sogar Staatsstellung“ verwenden wolle. Wenige Wochen später wurde Eicke zum ersten Kommandanten des KZ Dachau ernannt, wo er das Regime der SS über Häftlinge organisierte, ehe er Inspekteur der Konzentrationslager sowie Führer der SS-Totenkopfverbände wurde. Nach Heydes eigenen Angaben trat er zum 1. Mai 1933 auf Empfehlung Eickes in die NSDAP ein (Mitgliedsnummer 3.068.165). Von Oktober 1934 bis Mai 1936 war Heyde Mitarbeiter des Rassenpolitischen Amtes Würzburg, ab 1935 als Kreisamtsleiter. Parallel dazu entschied er als Beisitzer im dortigen Erbgesundheitsgericht über Anträge auf Zwangssterilisationen. Im Mai 1936 wandte sich Heyde mit einer Denkschrift zur Praxis der Erbgesundheitsgerichte an Arthur Julius Gütt, den Mitverfasser des offiziellen Kommentars zum Sterilisierungsgesetz. Gütt vermittelte Heyde an den damaligen Chef des Sanitätsamts im SS-Hauptamt, Ernst-Robert Grawitz. Heyde und Grawitz kamen überein, dass Heyde zum 1. Juni 1936 als Hauptsturmführer der SS (SS-Nr. 276.656) beitrat. Heyde wurde der Sanitätsabteilung der SS-Totenkopfverbände zugewiesen und erhielt den Titel „Leiter der psychiatrischen Abteilung beim Führer der SS-Totenkopfverbände / Konzentrationslager“ – war also bei Eicke beschäftigt. Er baute die Überprüfung der „Erbgesundheit“ der KZ-Häftlinge auf, eine Aufgabe, die – so Heyde – „angesichts der psychischen und körperlichen Minderwertigkeit des weitaus größeren Teils der Lagerinsassen ganz besonders vordringlich war.“ Heyde erstellte Gutachten, die den Erbgesundheitsgerichten zugeleitet wurden und Grundlage für deren Entscheidungen über die Sterilisation oder Kastration der Häftlinge war. Daneben war Heyde als Obergutachter für die kasernierten SS-Truppen (SS-Verfügungstruppe und SS-Totenkopfverbände) und als beratender Facharzt im SS-Lazarett Berlin tätig und erstellte Gutachten für das Geheime Staatspolizeiamt. Seine umfangreiche Tätigkeit für die SS tat Heydes weiterer Karriere an der Universität Würzburg keinen Abbruch: Sie wird im Vorfeld von Heydes Ernennung zum außerordentlichen Professor am 5. April 1939 ausdrücklich als „ehrenvoll“ erwähnt und diente gleichzeitig als Begründung für die nur geringe Anzahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen. Zuvor, am 1. April 1934, war Heyde Oberarzt der Universitätsnervenklinik und Leiter der angeschlossenen Poliklinik geworden. Mit Wirkung zum 1. Dezember 1939 wurde Heyde – bestimmt durch die Reichsgesundheitsbehörde und gegen den ausdrücklichen Willen der Medizinischen Fakultät – Nachfolger Martin Reichardts auf dem Würzburger Lehrstuhl für Psychiatrie und Neurologie und Direktor der Psychiatrischen- und Nervenklinik der Universität Würzburg. Für seine Berufung hatten sich zuvor die „Kanzlei des Führers“ und das Reichserziehungsministerium eingesetzt. Heyde war homosexuell, was für ihn ein Problem war. Er wurde von Arthur Kronfeld behandelt, dem Mitbegründer des Instituts für Sexualwissenschaft. Am 24. Oktober 1939 wurde ein SS-internes Untersuchungsverfahren gegen Heyde eingestellt: Anschuldigungen, Heyde habe homosexuelle Handlungen begangen, hätten sich als unrichtig erwiesen. Derartige Vorwürfe gegen Heyde hatte Ende 1935 der SS-Untersturmführer Süttinger, seine Studienzeit in den Jahren 1927 und 1928 betreffend, im Zuge der Ermittlungen gegen den Würzburger Weinhändler Leopold Obermayer erhoben. Die damaligen Ermittlungen der Gestapo und der Justiz wurden im Januar 1936 nicht weiter verfolgt, da Heyde als Sachverständiger in einem Mordprozess benötigt wurde oder möglicherweise durch Eicke beschützt wurde. Süttinger wurde am 3. November 1939 aus der SS entlassen. Mittäter bei der Aktion T4 Vermutlich ab Ende Juli 1939 war Werner Heyde an der Vorbereitung der Tötung von Geisteskranken und Behinderten, der sogenannten „Aktion T4“, beteiligt. Zuvor hatte die Kanzlei des Führers (KdF) unter Philipp Bouhler von Hitler den mündlichen Auftrag zur Durchführung der „Erwachsenen-Euthanasie“ erhalten. Die KdF war bereits mit der sogenannten „Kinder-Euthanasie“ beauftragt. Mit den Vorbereitungen zur Aktion T4 befasste sich ein Beratungsgremium, dem Mitarbeiter der Kanzlei, ein Vertreter des Reichsministeriums des Innern und mehrere einflussreiche Psychiater, darunter Heyde, angehörten. Themen der Beratungen dürften die Organisation, das Verfahren und die Geheimhaltung der geplanten Massentötungen und die Abgrenzung und Auswahl der Kranken gewesen sein. Zur Verschleierung der Verantwortlichkeit von Staats- und Parteidienststellen wurde die Zentraldienststelle T4 gegründet, die im Schriftverkehr unter diversen Tarnbezeichnungen auftrat, darunter als „Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten“ (RAG). Die RAG entstand etwa im Oktober 1939 als medizinische Abteilung der Zentraldienststelle, spätestens ab Mai 1940 war Werner Heyde ihr medizinischer Leiter. Nach Zeugenaussagen konnten alle grundsätzlichen Fragen nicht ohne ihn entschieden werden. Er führte den gesamten Schriftwechsel mit den Gutachtern und Heil- und Pflegeanstalten und erarbeitete Stellungnahmen zu Protesten gegen die Krankenmorde. Ab 9. Oktober 1939 wurden an alle Heil- und Pflegeanstalten Meldebögen versandt, mit denen folgende Patienten erfasst werden sollten: an Schizophrenie, Epilepsie, „Schwachsinn“ und neurologischen Endzuständen Erkrankte, soweit sie nicht zur Arbeit in Anstaltsbetrieben oder nur zu mechanischen Arbeiten herangezogen werden konnten; alle kriminellen Geisteskranken; Patienten, die sich seit mindestens fünf Jahren in Anstalten befanden; alle nichtdeutschen Patienten unter Angabe der Rasse. Die Meldebögen gingen über den Referatsleiter in der Gesundheitsabteilung im Reichsministerium des Innern, Herbert Linden, an die RAG. Hier wurden sie registriert und Fotokopien für drei Gutachter gefertigt. Die Gutachter entschieden meist nur anhand der Angaben auf dem Meldebogen: Sollte nach ihrer Auffassung der Patient getötet werden, trugen sie in einem schwarz umrandeten Kasten auf dem Meldebogen ein rotes „+“ ein; ein blaues „−“ bedeutete, dass der Patient am Leben bleiben sollte. Konnte sich der Gutachter nicht entscheiden, trug er ein „?“ ein. Die abschließende Entscheidung fällte ein Obergutachter anhand der drei vorliegenden Gutachten. Als Obergutachter tätig waren Werner Heyde (seit 1939) und Herbert Linden. Linden wurde später durch Hermann Paul Nitsche ersetzt, der auch Heydes Stellvertreter in der RAG wurde. Nur in Zweifelsfällen wurde zur Entscheidung über das Schicksal des Patienten dessen Krankenakte mit herangezogen. Anstalten, die sich weigerten, die Meldebögen auszufüllen, oder die im Verdacht standen, falsche Angaben zu machen, wurden von Ärztekommissionen der „Aktion T4“ aufgesucht, die dort die Meldebögen ausfüllten oder überprüften. Mehrfach leitete Werner Heyde derartige Ärztekommissionen. Die so zur Ermordung bestimmten Patienten wurden in den eigens hierfür umgebauten Tötungsanstalten Bernburg, Brandenburg, Grafeneck, Hadamar, Hartheim und Sonnenstein mit Kohlenmonoxid vergast. Im Zeitraum zwischen Januar 1940 und August 1941 starben so etwa 70.000 Menschen. Heyde hatte im Januar 1940 an einer „Probevergasung“ in Brandenburg teilgenommen. Die Entscheidung, Kohlenmonoxid zu verwenden, war unter Mitwirkung Heydes getroffen worden: Er hatte sich hierzu mit dem Würzburger Pharmakologen Ferdinand Flury beraten. Unter dem Begriff „Sonderbehandlung 14f13“ wurde die Aktion T4 wahrscheinlich Ende März 1941 auf Häftlinge der Konzentrationslager ausgedehnt: Die schon erwähnten Ärztekommissionen – teilweise unter Leitung Werner Heydes – selektierten in den Konzentrationslagern Häftlinge, die anschließend in den Tötungsanstalten vergast wurden. Nach Schätzungen wurden allein im Jahr 1941 etwa 10.000 KZ-Häftlinge auf diese Weise ermordet. Am 23. April 1941 sprachen Werner Heyde und sein Vorgesetzter Viktor Brack auf einer Tagung der Generalstaatsanwälte und Präsidenten der Oberlandesgerichte beim geschäftsführenden Reichsjustizminister Franz Schlegelberger. Sie stellten die Aktion T4 vor, zeigten den Brief Hitlers von 1939 und erwähnten, dass Hitler die Verabschiedung eines förmlichen Gesetzes zur „Euthanasie“ aus außenpolitischen Gründen abgelehnt hatte. Wahrscheinlich im Dezember 1941 übergab Werner Heyde die Leitung der Aktion T4 an Paul Nitsche. Die genauen Gründe für sein Ausscheiden konnten nicht aufgeklärt werden, nach späteren Angaben von Viktor Brack lagen die Gründe in Heydes Person. Nach Aussagen von Hans Hefelmann hatte Reinhard Heydrich die Ablösung Heydes verlangt, da Heyde homosexuell sei. Bei Vernehmungen gestand Heyde „Erlebnisse auf homosexuellem Gebiet“. In der zur Geheimen Reichssache erklärten Angelegenheit empfahl Himmler Heydrich ein Verbleiben Heydes in der SS: „Ich möchte eigentlich den Professor nicht entlassen. Ich glaube, er ist sehr verständig und wirklich völlig gerettet.“ Von Heyde stammt ein Gutachten über den im September 1943 verhafteten Waldemar Hoven. Dieser stand als SS-Arzt des Konzentrationslagers Buchenwald im Verdacht, Belastungszeugen in einem Korruptionsverfahren gegen die Buchenwalder Lagerkommandantur ermordet zu haben. Vom 18. April 1944 datiert ein Bericht Heydes an den SS-Obergruppenführer Gottlob Berger über eine gemeinsame Reise mit Frits Clausen nach Dänemark. Clausen, Arzt und Parteiführer der dänischen Nationalsozialisten, hatte sich nach ausbleibenden Erfolgen seiner Partei zur Waffen-SS gemeldet, vor der Reise arbeitete der Mediziner zuletzt in der Würzburger Klinik unter Heyde. In der SS wurde Heyde mehrfach befördert, so am 30. Januar 1941 zum SS-Sturmbannführer, am 20. April 1943 zum SS-Obersturmbannführer und am 20. April 1945 zum SS-Standartenführer. Am 21. Februar 1944 erhielt er den SS-Totenkopfring. Während seiner Tätigkeit bei der Aktion T4 und darüber hinaus bis Kriegsende behielt Heyde seinen Lehrstuhl in Würzburg. An der dortigen Universitätsnervenklinik wurden Ärzte der Aktion T4 fortgebildet, ebenso gewann Heyde Absolventen der Universität wie Klaus Endruweit als Mitarbeiter der Aktion T4. 1942 war Heyde an der Tötung des polnischen Zwangsarbeiters Rostecki beteiligt: Das Reichssicherheitshauptamt hatte am 22. Juni 1942 die Exekution Rosteckis angeordnet. Heyde hatte die Würzburger Staatspolizei zuvor aufgefordert, den Patienten seiner Klinik abzuholen, da diese keine Bewahranstalt für „andersstämmige Untermenschen“ sei. Eine Tötung Rosteckis in der Universitätsklinik lehnte Heyde ab, versprach der Polizei aber Hilfe bei der Ermordung. Rostecki starb im Juli 1942 auf dem Weg nach Nürnberg. Ab November 1941 war Heyde zudem Leiter eines SS-Lazaretts für Hirnverletzte, das der Würzburger Klinik angegliedert war. Zwischen April 1943 und März 1945 bestand in der Klinik ein Außenlager des KZ Flossenbürg, als dessen „Initiator“ Heyde gilt. Die bis zu 58 Häftlinge des Außenlagers waren mit Bauarbeiten im Klinikbereich beschäftigt. Nach einem schweren Luftangriff auf Würzburg wurde das SS-Lazarett im März 1945 nach Dänemark verlegt und unter Heydes Leitung in Gråsten neu errichtet. Unter dem Namen Dr. Fritz Sawade in Flensburg Am 28. Mai 1945 wurde Heyde vom britischen Militär im Lager Fårhus in Dänemark nahe Flensburg interniert. Am 9. Oktober 1945 wurde er zunächst in das Internierungslager Gadeland, dann im Juli 1946 in das Internierungslager Eselheide bei Paderborn überführt. Während der Internierung lernte Heyde mehrere Personen kennen, die ihm später beim Untertauchen in Schleswig-Holstein behilflich waren. Die Amtsenthebung des Lehrstuhlinhabers erfolgte am 26. Juli 1945. Am 13. Februar 1947 wurde Heyde der deutschen Justiz überstellt, zuvor hatte das Landgericht Frankfurt am Main Haftbefehl gegen ihn erlassen. Anfang April 1947 wurde Heyde nach Nürnberg überführt, denn die Verteidigung im Nürnberger Ärzteprozess hatte ihn als Entlastungszeugen angefordert. Im Laufe dieses Verfahrens wurde Heyde durch Zeugen und Dokumente schwer belastet. Zu einem Auftritt Heydes als Zeuge im Ärzteprozess kam es jedoch nicht. Auf dem Rücktransport nach Frankfurt sprang Heyde am 25. Juli 1947 in Würzburg von einem fahrenden Militärlastwagen. Die nächsten zwölf Jahre konnte Heyde untertauchen. Nach eigenen Angaben kam er zu Fuß oder per Anhalter nach Schleswig-Holstein, wo er zunächst als selbstständiger Gärtner in Mönkeberg bei Kiel, dann als Landarbeiter bei verschiedenen Bauern arbeitete. Mit Hilfe gefälschter Entlassungspapiere als Kriegsheimkehrer erhielt Heyde offizielle Ausweise auf den Namen Fritz Sawade. Als Geburtsort gab er das östlich der Neiße liegende Triebel an, womit die Nachprüfung seiner Angaben zur damaligen Zeit nahezu unmöglich war. 1948 nahm Heyde wieder Kontakt zu seiner Familie auf, die später in Bayern lebte. Seine Frau, Erika Heyde, erhielt ab 1952 Versorgungsbezüge, da ihr Mann nach ihren Angaben verschollen sei. Wegen Betruges wurde sie deswegen 1962 zu einem Jahr Gefängnis verurteilt. Ende 1949 erhielt Heyde unter seinem Falschnamen Dr. Fritz Sawade eine Anstellung als Sportarzt an der Sportschule in Flensburg-Mürwik. Im Stadtteil Westliche Höhe, wo nach dem Krieg etliche Nazi-Größen untergetaucht waren, besaß er im Walter-Flex-Weg 16 ein Reihenhaus. Mit Unterstützung des Mediziners Hans Glatzel, dem er seine wahre Identität offenbarte, erhielt er die Möglichkeit, freie nervenärztliche Gutachten für das Oberversicherungsamt in Schleswig-Holstein zu erstellen. In dieser Tätigkeit gelangte er bald zu einem überdurchschnittlichen Einkommen: Bis zu seiner Verhaftung 1959 erstellte er etwa 7.000 Gutachten für verschiedenste Behörden und Institutionen. Heydes Verhaftung am 12. November 1959 war Folge einer Verärgerung des Kieler Medizinprofessors Helmuth Reinwein über die Justiz. Auslöser war eine Zivilklage des Professors wegen nächtlicher Ruhestörungen, die von seinem Nachbarhaus ausgingen. Reinwein fühlte sich bei seinem Nachbarschaftsstreit mit der Landsmannschaft Troglodytia Kiel von der Justiz im Stich gelassen und drohte damit, seine Kenntnisse über den unter falschem Namen seit 1951 als Gerichtsgutachter, insbesondere bei Sozialgerichten, tätigen Heyde öffentlich zu machen. Als schleswig-holsteinische Landesbehörden hiervon erfuhren, wurde Heyde am 4. November 1959 erstmals aufgefordert, seine Approbationsurkunde vorzulegen. Heyde verließ daraufhin Flensburg. Nach einer von verschiedenen Pannen gekennzeichneten Fahndung stellte er sich am 12. November 1959 in Frankfurt am Main den Behörden. Zuvor hatte er sich mit den zwei Würzburger Professoren Martin Reichardt und Hans Rietschel beraten, die sein Leben kannten. Zu diesem Zeitpunkt war Heinz Wolf Oberstaatsanwalt in Frankfurt, der bereits anderen hochrangigen NS-Funktionären wie Kurt Bode zu Persilscheinen verholfen hatte. Heyde stellte sich dieser Oberstaatsanwaltschaft. Untersuchungshaft und Suizid Schon rasch nach seiner Verhaftung stellte sich heraus, dass etliche Juristen und Mediziner in Schleswig-Holstein Kenntnis von der Identität Fritz Sawades mit dem per Haftbefehl gesuchten Werner Heyde hatten: So hatte der ehemalige Kieler Professor für Neurologie und Psychiatrie, Hans Gerhard Creutzfeldt, im Dezember 1954 den Präsidenten des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts in Schleswig schriftlich auf die Identität aufmerksam gemacht. Der Gerichtspräsident reichte Creutzfeldt das Schreiben zurück, ohne gegen Heyde vorzugehen. Auch Creutzfeldt unterließ es, seine Kenntnisse den Fahndungsbehörden mitzuteilen. 1961 konnte ein Untersuchungsausschuss des Schleswig-Holsteinischen Landtags 18 Spitzenbeamten und Personen des öffentlichen Lebens diese Kenntnis nachweisen. Der Kreis derer, die von entsprechenden Gerüchten wussten, dürfte weitaus größer gewesen sein: Zu sehr klafften die Legende vom „einfachen Nervenarzt Dr. Sawade“ und Heydes Kenntnisse und Fähigkeiten auseinander. Parallel zur Arbeit des Untersuchungsausschusses wurden gegen mehrere von Heydes Mitwissern Ermittlungsverfahren wegen Begünstigung eingeleitet, die aber in keinem Fall zu strafrechtlichen Konsequenzen führten. Die Ermittlungen gegen Heyde übernahm die Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft unter Fritz Bauer. Bis Mai 1962 wurde eine umfangreiche Anklageschrift erstellt, die die Aktion T4 rekonstruierte und später eine wichtige Grundlage der historischen Forschung zur NS-Euthanasie wurde. Heyde wurde angeklagt, „heimtückisch, grausam und mit Überlegung mindestens 100.000 Menschen getötet zu haben“. Die Eröffnung des Prozesses gegen Werner Heyde und die Mitangeklagten Gerhard Bohne, Hans Hefelmann und Friedrich Tillmann vor dem Limburger Landgericht war für den 18. Februar 1964 angesetzt. Dem Prozess entzog sich Heyde, indem er sich am 13. Februar 1964 im Zuchthaus Butzbach das Leben nahm. „Vor Gott trete ich gefaßt und unterwerfe mich seinem Spruch. Ich habe nichts Böses gewollt, soweit ich dies als Mensch zu beurteilen vermag. Er wird entscheiden.“ Mit diesen Worten endet der neunseitige Abschiedsbrief Heydes, in dem er seine Selbsttötung mit „Selbstachtung und Protest“ begründete. Medizin und Verbrechen Heyde gehörte zur sogenannten Kriegsjugendgeneration, einer Generation, für deren politische Sozialisation die deutsche Niederlage im Ersten Weltkrieg und die unruhigen Anfangsjahre der Weimarer Republik entscheidend waren. Für Heydes Eltern war diese Zeit mit einem gravierenden sozialen Abstieg verbunden: Der Vater hatte nach Heydes eigenen Angaben 1908 einen Unfall zum Anlass genommen, die Tuchfabrik zu verkaufen, sich dann in einem für diese Zeit sehr außergewöhnlichen Maß für die Erziehung seiner Kinder zu engagieren und dabei vom Verkaufserlös der Fabrik zu leben. Er zeichnete Kriegsanleihen, die nach der Niederlage wertlos wurden; in der Inflation von 1923 wurde das restliche Vermögen weitgehend dezimiert. Wie viele spätere Nationalsozialisten war Heyde Mitglied eines Freikorps und beteiligte sich am Kapp-Putsch. Eine organisierte politische Betätigung Heydes während der Weimarer Republik lässt sich allerdings nicht nachweisen. Spätere politische Äußerungen lassen ihn als rechtsstehend erkennen. Der Eintritt in die NSDAP dürfte – bei grundlegender Übereinstimmung mit den Zielen und Methoden der Partei – auch von Opportunismus und Sorge um die eigene Karriere bestimmt gewesen sein. Die Bekanntschaft mit Eicke verschaffte Heyde einen hochkarätigen Einstieg in die SS. Seine Tätigkeit in den Konzentrationslagern ab 1936 fiel zusammen mit einem Funktionswandel der Lager: Als Gegner wurden nunmehr diejenigen definiert, die von den Nationalsozialisten als abweichend von einem „gesunden“ Zustand des Volkes betrachtet wurden: sogenannte Asoziale, Berufs- und Gewohnheitsverbrecher. Die Aktion T4 stellte die Anwendung dieser „rassistischen Generalprävention“ auf psychisch Kranke und eine Radikalisierung der Methoden dar: Methode war jetzt auch die vorsätzliche Tötung der „Abweichenden“. Über das hierfür aufgebaute Begutachtungssystem kam das Oberlandesgericht Frankfurt am Main in einem Beschluss vom 4. Januar 1963 zu folgender Bewertung: „Vielmehr spricht alles dafür, dass die ‚Begutachtungen‘ überhaupt nur bloße tarnende Formalitäten zur Verschleierung der wahren Art und des wahren Zwecks der Aktionen gewesen sind. Das ergibt sich schon mit aller Deutlichkeit aus den dürftigen Unterlagen, die den Gutachtern für die Beurteilung des Einzelfalls zur Verfügung standen, und der Flüchtigkeit, mit der über Leben und Tod der einzelnen Kranken in Massenbegutachtungen entschieden worden ist.“ Dass den Verantwortlichen der NS-Euthanasie die rechtliche Fragwürdigkeit ihres Handelns sehr wohl bewusst war, zeigen ihre letztlich gescheiterten Bemühungen um eine gesetzliche Grundlage für die Aktion T4. Heyde, so heißt es in dem schon zitierten Beschluss des Frankfurter Oberlandesgerichtes vom 4. Januar 1963, war dabei an maßgeblichster Stelle an der Planung und Durchführung der Aktionen beteiligt: „Er konnte also, wie kaum ein anderer, die wirkliche Zielsetzung, die notwendige Tarnung und die Art der tatsächlichen Durchführung der Massentötungen lückenlos überblicken; er wusste auch, dass Hitler es abgelehnt hatte, die Massentötungsaktionen durch ein förmliches Gesetz äußerlich zu legalisieren.“ Heyde war dabei keineswegs ein Befehlsempfänger, er trug seine Meinung engagiert vor und geriet dabei auch in Konflikt mit seinem Vorgesetzten Viktor Brack, der später seine Zusammenarbeit mit Heyde als „keine besonders erspriessliche“ charakterisierte. Heydes Nachkriegstätigkeit unter dem Namen Dr. Fritz Sawade wirft Licht auf den Umgang mit den nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in den 1950er Jahren und die weit verbreitete Bereitschaft, einen „Schlussstrich“ unter die Vergangenheit zu ziehen: In Flensburg war es „praktisch allgemein bekannt, insbesondere in ärztlichen Kreisen, daß der Name Dr. Sawade ein Pseudonym war. Wenn der Name Sawade genannt wurde, zwinkerte man mit den Augen und schwieg“, so später einer der Mitwisser Heydes, Professor Glatzel. Einem anderen Mitwisser wäre es wie „Vertrauensbruch“, wie „glatte Denunziation“ vorgekommen, das eigene Wissen über den untergetauchten Kollegen den Behörden zu offenbaren. Nach Heydes Verhaftung wurde dieses Verhalten thematisiert, aber auch beklagt, dass eine Auseinandersetzung mit diesem Verhalten in der Ärzteschaft ausblieb. Ende der 1950er Jahre wandelte sich der Blick der bundesdeutschen Öffentlichkeit auf die eigene Vergangenheit: Insbesondere der Ulmer Einsatzgruppen-Prozess machte deutlich, dass ein Großteil der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen nicht untersucht und geahndet worden war. Die Ermittlungen der Frankfurter Generalstaatsanwaltschaft und des Kieler Untersuchungsausschusses sowie Heydes Selbsttötung unmittelbar vor Prozessbeginn wurden von teilweise ausführlichen Medienberichten begleitet. In seinem Abschiedsbrief äußerte sich Heyde zu seiner Beteiligung an der Aktion T4 und seinen Motiven: „Ich habe mich zur Euthanasie nicht gedrängt. Den in den Anfangsbesprechungen versammelten Professoren, Anstaltsdirektoren und sonstigen Psychiatern wurde klar, daß die Euth.[anasie] so oder so durchgeführt werden würde. Niemals, das versichere ich feierlich angesichts des Todes, handelte es sich für uns beteiligte Ärzte um die Beseitigung unnützer Esser, wie man es jetzt darzustellen beliebt, niemals auch nur um lebensunwertes Leben, wie Binding-Hoche es nannten, sondern um sinnloses Dasein von Wesen, die wie bei der von mir nicht zu vertretenden Kindereuthanasie entweder nie Mensch werden konnten oder denen wie bei den Erwachsenen das spezifisch Menschliche unwiderbringlich verloren gegangen war und die – mag man Gegenteiliges behaupten soviel man will – oft genug unter unwürdigen Bedingungen ihr Dasein fristeten. Ich kann weder mich noch die anderen beteiligten Ärzte als schuldig im juristischen Sinne ansehen.“ Untersuchungsausschuss Zu einer anderen Einschätzung von Heydes Motiven kamen die beiden Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses im Kieler Landtag, Paul Rohloff und Heinz Adler, nachdem sie Heyde in der Untersuchungshaft besucht hatten: „Von einem Schuldbewußtsein könne bei Heyde nicht die Rede sein. Er sei ein ehrgeiziger und außerordentlich geltungssüchtiger Mensch, dem seine Karriere wahrscheinlich über alles gegangen sei.“ Der Untersuchungsausschuss wurde im Dezember 1959 eingesetzt, um zu untersuchen, wie es möglich sein konnte, dass Werner Heyde über so lange Zeit unentdeckt bleiben konnte. Der Untersuchungsausschuss trat von Januar 1960 bis Juli 1961 zu 43 Sitzungen zusammen und hörte 60 Zeugen. Der Abschlussbericht im Juni 1961 nennt 18 Namen von Personen, die Heydes wahre Identität gekannt hatten, darunter Professoren, Richter und Beamte. Der Landtag verabschiedete einstimmig eine Erklärung, in der er verlangte, dass „diejenigen zur Rechenschaft gezogen werden sollten, die die Unrechtstäter decken“. Zu strafrechtlichen Konsequenzen kam es durch die Ermittlungsverfahren wegen Begünstigung für die 18 namentlich bekannten Mitwisser nicht. Mitwisser Adolf Voß, Generalstaatsanwalt für Schleswig-Holstein, wurde am 28. Dezember 1960 seine vorzeitige Versetzung in den Ruhestand genehmigt. Voß hatte sein Gesuch auf Versetzung in den Ruhestand erst am 27. Dezember gestellt. Voß sollte im Januar 1961 vom Untersuchungsausschuss gehört werden. Da, laut Attesten, seine Gesundheit kurzfristig derart angegriffen war, konnte Voß nicht vor dem Ausschuss erscheinen. Der schleswig-holsteinische Justizminister Bernhard Leverenz hatte den Mitwisser Generalstaatsanwalt Voß vorher mit den Ermittlungen gegen die mutmaßlichen Mitwisser beauftragt. Volkmar Hoffmann, ein Reporter der Frankfurter Rundschau, wurde hingegen wegen übler Nachrede zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Er hatte u. a. geschrieben: „Selbst Ministerpräsident Kai-Uwe von Hassel (CDU) und Kultusminister Osterloh oder gar das ganze Kabinett? – wußten seit Monaten, daß sich unter dem Namen Dr. Sawade der steckbrieflich gesuchte Euthanasiearzt und SS-Standartenführer Professor Werner Heyde verbarg.“ Nachwirkung Unter dem Titel Die Affäre Heyde-Sawade wurde die Geschichte Heydes 1963 in der DDR verfilmt. Der Maler Gerhard Richter erfuhr Anfang der sechziger Jahre, dass sein ehemaliger Schwiegervater Heinrich Eufinger mit Heyde zusammengearbeitet hatte. Richter malte 1965 nicht nur seine Tante Marianne, die ein Opfer der Euthanasie-Verbrechen wurde, sondern stellte im gleichen Jahr die Verhaftung Heydes in einem Ölgemälde dar. Nachdem sich das Bild 40 Jahre in Privatbesitz befunden hatte, wurde es am 15. November 2006 von Christie’s in New York versteigert. Das Werk wurde für 2,816 Mio. US-Dollar dem amerikanischen Kunsthändler Larry Gagosian zugeschlagen, der Schätzwert lag zwischen 2,0 und 3,0 Millionen US-Dollar. Literatur Ute Felbor: Rassenbiologie und Vererbungswissenschaft in der Medizinischen Fakultät der Universität Würzburg 1937–1945 (= Würzburger medizinhistorische Forschungen, Beiheft 3). Königshausen & Neumann, Würzburg 1995, ISBN 3-88479-932-0 (Zugleich: Dissertation Würzburg 1995), S. 42 und 87. Norbert Frei (Hrsg.): Hitlers Eliten nach 1945. dtv, München 2003, ISBN 3-423-34045-2. Werner E. Gerabek: Heyde, Werner. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin/New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 592 f. Klaus-Detlev Godau-Schüttke: Die Heyde/Sawade-Affaire: Juristen und Mediziner in Schleswig-Holstein decken den NS-Euthanasiearzt Prof. Dr. Werner Heyde und bleiben straflos. In: Helge Grabitz (Hrsg.): Die Normalität des Verbrechens. Berlin 1994, S. 444–479. Klaus-Detlev Godau-Schüttke: Die Heyde/Sawade-Affäre. 2. Auflage. Nomos-Verlag, Baden-Baden 2001, ISBN 3-7890-7269-9. Hermann Hennermann: Werner Heyde und seine Würzburger Zeit. In: Gerhardt Nissen, Gundolf Keil (Hrsg.): Psychiatrie auf dem Wege zur Wissenschaft. Psychiatrie-historisches Symposium anläßlich des 90. Jahrestages der Eröffnung der „Psychiatrischen Klinik der Königlichen Universität Würzburg“. Thieme, Stuttgart/New York 1985, ISBN 3-13-671401-6, S. 55–61. Ernst Klee: „Euthanasie“ im NS-Staat. Die Vernichtung lebensunwerten Lebens. 11. Auflage. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-596-24326-2. Ernst Klee: Was sie taten – Was sie wurden. Ärzte, Juristen und andere Beteiligte am Kranken- oder Judenmord. 12. Auflage. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-596-24364-5. Alexander Mitscherlich, Fred Mielke: Medizin ohne Menschlichkeit. Dokumente des Nürnberger Ärzteprozesses. 16. Auflage. Fischer Taschenbuch, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-596-22003-3. Johannes Tuchel: Konzentrationslager. Organisationsgeschichte und Funktion der „Inspektion der Konzentrationslager“ 1934–1938. (= Schriftenreihe des Bundesarchivs, Band 39) Boldt, Boppard am Rhein 1991, ISBN 3-7646-1902-3. Julian Clement, Björn Rohwer: Der Skandal um den ‚Euthanasie‘-Arzt Werner Heyde in den ost- und westdeutschen Medien. In: Sönke Zankel (Hrsg.): Skandale in Schleswig-Holstein. Beiträge zum Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten. Schmidt & Klaunig, Kiel 2012, ISBN 978-3-88312-419-3, S. 129–166. Thomas Vormbaum (Hrsg.): „Euthanasie“ vor Gericht. Die Anklageschrift des Generalstaatsanwalts beim OLG Frankfurt/M. gegen Dr. Werner Heyde u. a. vom 22. Mai 1962. Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2005, ISBN 3-8305-1047-0. Filme, Filmbeiträge 1963 (DDR): Die Affäre Heyde-Sawade (Film der Fernsehpitaval-Reihe). Buch: Walter Jupé, Friedrich Karl Kaul; Regie: Wolfgang Luderer. Deutscher Fernsehfunk, DDR. Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv Babelsberg. Archivnummer des IDNR 035813 1964: Lutz Lehmann: Beitrag 1: Zum Selbstmord von Werner Heyde; Beitrag 2: Eugen Kogon Zum Heyde-Prozess. Norddeutscher Rundfunk (NDR, Panorama, 17. Februar 1964), Hamburg. 2001: Niels Grevsen, Wolfgang Mönninghoff: Der Führer ging – die Nazis blieben – Nachkriegskarrieren in Norddeutschland. Norddeutscher Rundfunk (NDR), 2001. 2002: Gerolf Karwath: Hitlers Eliten nach 1945 Teil 1: Ärzte – Medizin ohne Gewissen. Regie: Holger Hillesheim. Südwestrundfunk (SWR, 2002). Weblinks Einzelnachweise Person (Flensburg) SS-Arzt KZ-Arzt Rassismus im Nationalsozialismus T4-Gutachter NSDAP-Mitglied Hochschullehrer (Julius-Maximilians-Universität Würzburg) Psychiater Neurologe Person im Ersten Weltkrieg (Deutsches Reich) Freikorps-Mitglied Teilnehmer am Kapp-Putsch Richter (Erbgesundheitsgericht) Deutscher Geboren 1902 Gestorben 1964 Mann
503043
https://de.wikipedia.org/wiki/Babisnauer%20Pappel
Babisnauer Pappel
Die Babisnauer Pappel ist eine Schwarz-Pappel (Populus nigra) bei Babisnau, einem Ortsteil der Gemeinde Kreischa in Sachsen. Sie steht exponiert auf einer Hochfläche südlich von Dresden und ist als Landmarke weithin sichtbar. Der Babisnauer Gutsbesitzer Johann Gottlieb Becke pflanzte die Pappel 1808 als Grenzbaum an der Grenze seines Besitzes. Sie ist seit dem Jahre 1936 als Naturdenkmal ausgewiesen. Die Pappel hat bei starken Stürmen in den Jahren 1967 und 1996 einen Großteil ihrer runden Krone verloren. Sie ist 17,3 Meter hoch, der Stamm hat einen Umfang von 5,1 Metern. Der Baum ist wegen der Aussicht nach allen Seiten und zur Stadt Dresden ein beliebtes Ausflugsziel. Im Deutschen Krieg 1866 diente die Pappel mit einem vorübergehend eingebauten Beobachtungsgerüst als Ausguck. Ein festes Aussichtsgerüst neben dem Baum entstand 1885 und wurde in den Jahren 1922, 1963 und 1999 erneuert. Die Pappel wurde ab 1993 mehrmals vegetativ vermehrt. Einer Legende nach zeigt die Pappel mit ihrer Blüte, die nicht in jedem Jahr erscheint, das nahende Ende eines Krieges an. Zweimal im Jahr findet mit dem Wendelauf ein Volkslauf um die Pappel statt. Lage Die Pappel steht auf dem unbewaldeten 335 Meter über Normalnull hohen Zughübel mit freier Sicht in alle Richtungen, vor allem nach Dresden, das auf etwa 110 Meter Höhe liegt, und zur Sächsischen Schweiz. Sie ist etwa neun Kilometer südlich von der Inneren Altstadt Dresdens und etwa 800 Meter westlich von Babisnau entfernt, steht etwa 220 Meter oberhalb der Elbe und ist von landwirtschaftlich genutzten Feldern umgeben. Die Pappel befindet sich unmittelbar an der Flurgrenze zwischen den Gemarkungen des Kreischaer Ortsteils Babisnau und Golberode, einem Ortsteil von Bannewitz. In nächster Nähe steht eine Aussichtsplattform und in etwa zehn Metern Entfernung die im Jahr 1890 gepflanzte Bismarck-Eiche. Am 8. April 2006 wurde einige Meter weiter eine weitere, aus einem Steckholz der Altpappel herangewachsene, Schwarz-Pappel gepflanzt. Das Panorama von der Pappel und der Plattform aus umfasst im Norden über der breiten Elbtalweitung den bewaldeten Steilhang, der die Westlausitzer Hügel- und Berglandschaft nach Süden begrenzt. Diese lässt sich von dem 361 Meter über Normalnull hohen Borsberg bis zu den Lößnitzhöhen verfolgen. Im Osten ist das Relief der Tafelberge des Elbsandsteingebirges zu sehen. Im Süden umrahmt der Höhenzug mit der Quohrener Kipse, dem Hermsdorfer Berg und dem Wilisch das Kreischaer Becken. Die Pappel steht auf einer kreidezeitlichen (turonen) Pläner-Sandsteintafel, die in etwa 320 Metern Höhe endet. Entsprechend dem schwachen Einfallen der Sandsteine neigt sich die Tafel mit sanft geneigten Hängen von zwei bis vier Grad nach Norden in Richtung Golberode. Am Zughübel begrenzt eine ausgeprägte, nach West und Südwest gerichtete, etwa 40 Meter hohe Schichtstufe die Tafel gegen den Zertalungsbereich des Possendorfer Baches. Auf den Sandsteinen befindet sich eine flache Lößlehmdecke, auf der sich flachgründige Decklöß-Parabraunerden entwickelt haben. Aufgrund dieser geologischen Bedingungen auf dem Zughübel konnte die Pappel an diesem Standort gedeihen. Die Pappel gehört einer Gattung an, die sonst in der Regel in feuchten Niederungen wächst und nicht auf einem Höhenzug. Geschichte Gutsbesitzer Johann Gottlieb Becke aus Babisnau pflanzte die Schwarzpappel 1808 als Grenzbaum zur benachbarten Golberoder Flur an der höchsten Stelle des Zughübels. Ob dies als dauerhafte Markierung auf der Flurgrenze wegen eines Streites mit dem Nachbarn geschehen ist oder im Einvernehmen mit ihm, ist nicht überliefert. Auch ist nicht bekannt, wie alt der Baum bei der Pflanzung war. Maximilian Eckhardt versah 1858 seine Grafik Blick auf Leubnitz von Norden her mit einer Baumsignatur der Pappel am Horizont. Im Jahr 1866 soll die schon stattliche Pappel während des Preußisch-Österreichischen Krieges sächsischen Pionieren als Beobachtungspunkt von einem eingebauten Gerüst aus gedient haben. Die Kampfhandlungen fanden jedoch weiter südlich in Böhmen statt, so dass die Pappel ohne Schäden blieb. Die Plattform diente danach als Aussichtspunkt mit Rundblick und wurde immer mehr von Ausflüglern aufgesucht. Wie lange sie existierte, ist nicht bekannt. Das älteste bekannte Foto des Baumes stammt aus dem Jahre 1878. Am Grenzbaum führte der Weg von Babisnau nach Golberode und Possendorf vorbei. Im Jahr 1883 beabsichtigte man, diesen Kommunikationsweg zu verlegen, und der Gutsbesitzer Gießmann wollte deswegen die Pappel fällen. Er befürchtete, dass die zahlreichen Ausflügler nach der Verlegung des Weges seinen Feldweg zur Pappel benutzen und den Ertrag seines benachbarten Feldes beeinträchtigen würden. Die Pappel war jedoch bereits zum Wahrzeichen des Elbtals bei Dresden geworden und der Baum diente auch als Visierpunkt für geodätische und ähnliche Arbeiten. Um die Fällung zu verhindern, fand am 27. Januar 1884 eine Delegierten-Versammlung des 1877 gegründeten Gebirgsvereins für die Sächsisch-Böhmische Schweiz statt. Man verhandelte mit dem Eigentümer der Pappel und am 23. März 1884 kaufte der Gebirgsverein den Baum für 300 Mark. Der umliegende Grund von 150 Quadratmetern wurde gepachtet. Am 6. Mai 1884 setzten Geometer die Grenzsteine. Nach dem Kauf der Pappel gründete Ernst Wilhelm Zöllner die Gebirgsvereinssektion Golberode-Babisnau, die auch den Gutsbesitzer Gießmann als Vereinsmitglied gewinnen konnte. Am 17. Mai 1885 wurde das erste, von der Sektion für 360 Mark errichtete, etwa vier bis fünf Meter hohe Aussichtsgerüst eingeweiht. Die Aussichtsplattform lag in etwa drei Metern Höhe, zu ihr führten 16 Stufen. Darunter, innerhalb des Aussichtsgerüstes, befand sich eine offene Unterstellmöglichkeit als Wetterschutz. Später wurde sie zum Teil geschlossen. Im Jahr 1886 berichtete das Aprilheft der Bergblumen, illustrierte Blätter der Sektion Strehlen über die Pappel mit einer Zeichnung, die sie mit einer beinahe kugelrunden Krone zeigt. Die Mitglieder der Gebirgsvereinssektionen Strehlen und Golberode-Babisnau pflanzten zwischen 1887 und 1896 vier Eichen neben die Pappel. Die erste davon, die Wettin-Eiche, ging vermutlich bereits nach kurzer Zeit ein. Deshalb wurde anlässlich der 800-Jahr-Feier des Hauses Wettin im Jahr 1889 eine weitere Eiche gesetzt. Ebenfalls im Jahr 1889 kaufte der Gebirgsverein das 150 Quadratmeter große umliegende Grundstück für 12 Mark pro Quadrat-Rute. Die nächste Eiche wurde im Jahr 1890 zu Ehren von Reichskanzler Otto von Bismarck als Bismarck-Eiche gepflanzt. Als letzte kam im Frühjahr 1896 die König-Albert-Eiche zu Ehren König Alberts hinzu. Eine Zeit lang war die Pappel von drei Eichen umgeben. Die Bismarck-Eiche ist die einzige, die noch steht. Eine Fotografie der Pappel vom Juni 1897, auf der auch das Aussichtsgerüst zu sehen ist, zeigt sie wiederum mit einer runden Krone. Im Jahr 1899 wurde das morsch gewordene und teilweise mutwillig beschädigte Aussichtsgerüst instand gesetzt. Am 21. September 1922 feierte die Gebirgsvereinssektion Golberode-Babisnau als Bauherrin nach zweiwöchiger Bauzeit die Einweihung eines neuen, vier Meter hohen Aussichtsgerüsts. Eine Rotdornhecke wurde im Jahr 1925 angepflanzt. Eine Verordnung des Kreishauptmanns Dresden-Bautzen vom 28. Dezember 1936 wies die Pappel 128 Jahre nach ihrer Pflanzung als Naturdenkmal nach dem Reichsnaturschutzgesetz (RNG) aus. Von 1944 bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war bei der Pappel eine Fliegerabwehrstaffel stationiert. Nachdem die deutschen Linien am Boden nicht mehr standgehalten hatten, stand die Pappel mitten im Kriegsgeschehen. Kurz vor dem Ende des Krieges sollte sie gefällt werden, da sie als gefährliche Sichtmarke angesehen wurde. Dazu kam es jedoch nicht mehr. Im Jahr 1945 löste sich der Gebirgsverein auf und das Flurstück mit der Pappel und der Bismarck-Eiche ging in die Betreuung der Gemeinde Bärenklause-Kautzsch über. Im Jahr 1957 wurde Babisnau der Gemeinde Bärenklause-Kautzsch im Kreis Freital angegliedert. Ein Jahr später, am 23. August 1958, wies der Rat des Kreises (RdK) Freital mit seinem Beschluss 108/58 die Pappel zum zweiten Mal als Naturdenkmal aus. In der zweiten Hälfte der 1950er Jahre wurde das Aussichtsgerüst baupolizeilich gesperrt, da es durch die Witterung und mutwillige Beschädigungen unbrauchbar und gefährlich geworden war. Freitaler Heimatfreunde errichteten 1962/63 in Eigenleistung eine neue, stählerne Aussichtsplattform. Am 21. Juni 1961 wurde die Babisnauer Pappel mit dem Flurstück 36a und den beiden umliegenden Flurstücken 35a und 40 zum Volkseigentum erklärt, womit sie der staatlichen Verwaltung unterlagen. Die Betreuung blieb jedoch weiterhin bei der Gemeinde. Bei einem starken Gewittersturm am 20. Juli 1967 mit Hagel nach Temperaturen von 30 Grad Celsius verlor die Pappel ein Drittel ihrer inzwischen großen Krone. Einer der drei nach oben gehenden Haupttriebe brach aus und die Krone verlor damit ihre kugelrunde Form. Die Höhe reduzierte sich von etwa 26 auf etwa 20 Meter. Wegen seiner Größe waren zwei Traktoren nötig, um den ausgebrochenen Ast wegzuschleppen. Von da an übernahm immer mehr die inzwischen ebenfalls große Krone der Bismarck-Eiche die Rolle als Blickfang aus der Ferne. Die ersten Pflegemaßnahmen an der Pappel fanden im Auftrag des Landratsamtes Freital am 9. Dezember 1991 statt. Dabei wurde auch der Stumpf des 1967 ausgebrochenen Astes gerade gesägt. In der Nacht vom 30. zum 31. Dezember 1993 legten Vandalen im Hohlraum der Pappel Feuer. Gegen Mitternacht waren die Feuerwehren von Bärenklause-Kautzsch und Kreischa vor Ort, um den Schwelbrand im hohlen Baumstamm zu bekämpfen. Wer die Feuerwehr alarmierte, ist nicht bekannt. Der komplette Wasserinhalt eines Löschfahrzeuges wurde in den Hohlraum gepumpt, der stürmische Wind ließ jedoch die Glut nicht erlöschen. Am frühen Silvesternachmittag fuhr die Feuerwehr erneut zur Pappel, um mit einer weiteren Tankladung Wasser zu löschen. Zusätzlich wurde in die Öffnung des Stammes Sand gefüllt; die Löcher im Wurzelbereich wurden mit Erde zugestopft, damit die Kaminwirkung des hohlen Stammes nachließ. Dies beendete den Schwelbrand. Hätte die Feuerwehr Schaum angewandt, hätte die Pappel größeren Schaden davongetragen. Der Landkreis Freital, zu dem Babisnau gehörte, fusionierte 1994 mit dem Landkreis Dippoldiswalde zum neu gebildeten Weißeritzkreis. Die Pappel wurde am 23. August 1995 per Verordnung des Landratsamtes Weißeritzkreis ein drittes Mal als Naturdenkmal ausgewiesen. Im Jahr 1996 übernahm die am 1. Januar 1993 gegründete Ortsgruppe Babisnau im Landesverein Sächsischer Heimatschutz die Flurstücke 35a und 36a der Gemarkung Babisnau und 1997 das Flurstück 40 der Gemarkung Golberode zum symbolischen Preis von jeweils einer Mark. Weil die Aussichtsplattform gefährliche Roststellen aufwies, beauftragte der Vorstand des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz am 1. Dezember 1996 die Babisnauer Ortsgruppe, sie zu entfernen. Für die nächsten Jahre blieb der Bereich der Pappel ohne Aussichtsplattform. In der Nacht vom 5. zum 6. Juli 1996 brach bei einem heftigen Sturm der zweite Hauptast ab. Er war an der Abzweigstelle des 1967 abgebrochenen Astes stark angefault. Aufgrund der beträchtlichen Länge von etwa sieben Metern konnte er dem Sturm nicht standhalten. Die Krone der Pappel bestand nun nur noch zu einem Drittel mit einem von ehemals drei Hauptästen. Die Charakteristik der Pappel hatte sich stark geändert und wird von einem Hauptast geprägt. Nach dem ersten Spatenstich am 1. Juni 1999 wurde das neue Aussichtsgerüst am 2. Juli 1999 eingeweiht. Finanziert wurde das Gerüst und die Gestaltung des umliegenden Areals mit Fördermitteln des Regierungspräsidiums Dresden und durch Sponsoren. An der Wunde des 1996 ausgebrochenen Astes hatte sich im Laufe der Zeit ein Riss gebildet, der sich immer mehr verbreiterte. Um ein Auseinanderbrechen des Baumes zu verhindern, wurden im Jahr 2000 an der verbliebenen Krone Metallbänder, verbunden mit einem Stahlseil, angebracht. Gegen Ende Dezember des Jahres 2003 brach ein großer Seitenast heraus. Das Kronenvolumen verringerte sich dadurch erneut. Die Pappel überragte nur noch mit ein paar Zweigen die Krone der danebenstehenden Eiche. An der Ausbruchstelle des Seitenastes wuchs ein Porling. Im Frühjahr des Jahres 2006 waren es mehrere solcher Pilze, so dass die Gefahr bestand, dass der Ast, der an dieser befallenen Stelle abzweigt, vorzeitig abbrach. Um dem entgegenzuwirken, musste er entlastet werden. Der große Ast wurde am 11. April 2006 stark eingekürzt, so dass seine Masse abnahm. Die Höhe der Krone verringerte sich dadurch nochmals auf 17 Meter. Damit ist die Pappel niedriger als die danebenstehende Eiche. Zusätzlich zu den Metallbändern wurden flexible Sicherungsgurte angebracht. Am 16. August 2008 feierten über 500 Besucher das 200. Jubiläum der Pappelpflanzung. Zur selben Zeit fand eine Ausstellung über den Baum in Babisnau statt. Am 21. Mai 2009 wurden mit einem Festakt ein steinerner Tisch und Bänke, gesponsert von einer Dresdner Familie, als Rastplatz eingeweiht. An der Aussichtsplattform befindet sich eine Tafel mit kurzen Informationen über die Pappel. Im Juli 2020 wurde der Zugang auf die Aussichtsplattform (Holz-Stahl-Konstruktion) aus Gründen der Verkehrssicherheit dauerhaft gesperrt, weil die hölzernen Trittbohlen im oberen Teil der Plattform verwitterungsbedingt marode waren. Nach der Instandsetzung konnte die Plattform im Juli 2022 wieder geöffnet werden. Beschreibung Der Stamm der Pappel ist gleichmäßig und vollständig erhalten. In etwa vier Metern Höhe teilte er sich ehemals in drei große Äste, die die runde Krone bildeten. Heute ist nur noch ein Ast vorhanden, aus dem die unregelmäßige Krone hervorgeht. Das Ausbrechen der Äste öffnete den Stamm. Die Krone hatte im Jahr 2004 eine Ausdehnung von 14 auf 19 Metern. Die Höhe des Baums hat sich nach mehreren Astausbrüchen auf 17,3 Meter reduziert. Die Pappel wurde zu verschiedenen Zeiten vermessen. Bei der ersten Messung im Jahr 1896 betrug der Stammumfang etwa 4,30 Meter auf einem Meter Höhe. Der Baum war damals 23 Meter hoch. Im Jahr 1957 hatte er mit 26 Metern die größte Höhe erreicht. Der Stammumfang in 1,3 Metern Höhe, der Höhe des sogenannten Brusthöhendurchmessers, belief sich auf 4,70 Meter. Im Jahr 2007 war der Umfang auf gleicher Höhe auf 5,13 Meter angewachsen. Das Deutsche Baumarchiv, das die alten Bäume in Deutschland dokumentiert, gibt in Bäume, die Geschichten erzählen, einen Umfang – in einem Meter Höhe gemessen – von 5,00 Metern an. Aufgrund ihres Standortes hat die Pappel wohl zu keiner Zeit die Messdaten von Schwarzpappeln gleichen Alters, die in artgerechter Umgebung aufgewachsen sind, erreicht. Verschiedenes Wendelauf Im Jahr 1991 fand zu Silvester der erste Wendelauf um die Babisnauer Pappel statt. Seitdem hat sich der jährliche Volkslauf im Sportkalender von Dresden etabliert. Gegen Ende der 1990er Jahre hatten am Wendelauf, der kein Wettkampf ist, bereits über 300 Läufer, Wanderer und Radfahrer teilgenommen. Der Wendelauf findet zweimal jährlich, als Sommersonnenwendelauf und als Jahreswendelauf an Silvester, statt. Bei diesem Volkslauf ist der Start- und Zielpunkt beliebig, die Wende an der Hälfte der Strecke ist aber stets die Babisnauer Pappel, wo es im Winter gratis Glühwein und im Sommer Sekt gibt. Auch Verpflegung wird dort ausgegeben. Die Art der Fortbewegung spielt keine Rolle. So haben im Winter auch schon Skiläufer teilgenommen, auch einen Reiter gab es bereits. Angeboten werden immer verschiedene Routen mit unterschiedlicher Länge, die sternförmig zur Pappel führen. Verschiedene Namen Die Pappel wird heute ausschließlich als Babisnauer Pappel bezeichnet. Das war jedoch nicht immer so. In der Zeitschrift Bergblumen wurde die Pappel in der Festausgabe zum zehnjährigen Bestehen der Sektion Strehlen im Jahr 1888 und auf zwei Fotografien aus dem Jahr 1897 sowie auf später erschienenen Ansichtskarten als Zöllner-Pappel bezeichnet. Dieser Name ging vermutlich auf den damaligen Vorsitzenden der Sektion Strehlen des Gebirgsvereins für die Sächsisch-Böhmische Schweiz zurück, den Strehlener Privatus Ernst Wilhelm Zöllner, der im Jahr 1884 die Pappel im Auftrag des Vereins gekauft hatte. Um die Jahrhundertwende bürgerte sich in den Wanderbüchern wieder der Name Babisnauer Pappel ein. Ein weiterer Name in manchen Wanderführern und auf Ansichtskarten der damaligen Zeit ist Silberpappel. In die Naturdenkmal-Liste wurde die Pappel als Deutsche Pappel eingetragen. Legende Einer Legende nach blüht die Pappel immer dann, wenn das Ende eines Krieges bevorsteht. Eine Schwarzpappel blüht nicht in jedem Jahr, was in der Botanik als natürliche Ökonomie der Pflanzen und Bäume bezeichnet wird. Die Pappel soll im Jahr 1870 geblüht haben und das Ende des Deutsch-Französischen Krieges im Jahr 1871 angezeigt haben. Ein weiteres Mal blühte der Baum im Jahr 1918 zum Ende des Ersten Weltkrieges. Im Frühjahr 1943 stand die Pappel erneut in Blüte und trug Früchte in großer Fülle. Der deutsche Romanist Victor Klemperer schrieb am 23. Mai 1943 in seinem Tagebuch, dass die Babisnauer Pappel blühte und dem Aberglauben nach der Krieg bald zu Ende gehen würde. Im Jahr 1947 erwähnte Klemperer diese Legende auch in seinem Werk LTI – Notizbuch eines Philologen. Er schrieb, dass die Babisnauer Pappel nur selten blühe und dass ihm erzählt worden sei, sie habe auch bei allen anderen Kriegen im 19. Jahrhundert geblüht. Bei der Pappelblüte im Jahr 1943 war die Legende vom Ende des Krieges weit über Dresden hinaus bekannt. So wurde aus Oberschlesien berichtet, dass bei Dresden eine Pappel steht, bei deren Blüte der Krieg zu Ende geht. Menschen, die von der Wunderblüte gehört hatten, kamen aus fernen Gegenden, um die Pappel aufzusuchen. Zwei Jahre später, im Mai 1945, endete tatsächlich der Weltkrieg. Die von den Menschen wahrgenommene „Blüte“ sind allerdings die schon reifen wolligen Fruchtstände, die eigentliche Pappelblüte ist sehr unscheinbar. Vegetative Vermehrung Die Sächsische Forstliche Versuchs- und Forschungsanstalt Graupa prüfte die Pappel auf ihre genetische Reinheit. Sie kam dabei zu einem positiven Ergebnis und schloss somit aus, dass es sich um eine Bastard-Schwarz-Pappel handelt. Im Februar 1993 schnitt Rudolf Schröder, der damalige Leiter des Botanischen Gartens Dresden, von der Pappel Steckhölzer. Steffen Ruhtz, der Vorsitzende der Ortsgruppe Babisnau im Landesverein Sächsischer Heimatschutz, betreute in den darauffolgenden Jahren die Steckhölzer, die beim Aufwachsen die gleichen klimatischen Bedingungen wie der Altbaum hatten. Im Jahr 1997 wurde einer der jungen Bäume auf dem Gelände der Sternwarte in Radeberg bei Dresden gepflanzt. Am 8. April 2006, im Jahr, als die Schwarzpappel zum Baum des Jahres gewählt wurde, pflanzten Babisnauer Mitglieder der Regionalgruppe Goldene Höhe des Landesvereins eine zweite solche Schwarzpappel neben der Babisnauer Pappel. Der junge Baum hatte Anfang November 2007 eine Höhe von 8,20 Metern. Literatur Siehe auch Liste markanter und alter Baumexemplare in Deutschland Weblinks Ein beachtenswertes Naturdenkmal vor den Toren Dresdens Babisnauer Pappel Die Babisnauer Pappel Einzelnachweise Naturdenkmal im Landkreis Sächsische Schweiz-Osterzgebirge Einzelbaum in Sachsen Geographie (Kreischa) Einzelbaum in Europa Individuelle Pappel oder Baumgruppe mit Pappeln
548013
https://de.wikipedia.org/wiki/Rigoletto
Rigoletto
Rigoletto ist eine Oper von Giuseppe Verdi, die 1851 am Teatro La Fenice in Venedig uraufgeführt wurde. Das Libretto stammt von Francesco Maria Piave und beruht auf dem Melodrama Le roi s’amuse von Victor Hugo (1832). Die Oper wurde zunächst von der Zensur beanstandet; Verdi und Piave mussten daher unter anderem den ursprünglich vorgesehenen Titel La maledizione (Der Fluch) ändern sowie den Schauplatz von Paris nach Mantua verlegen. Die für Verdi wesentlichen Elemente, wie die verkrüppelte Hauptfigur Rigoletto und der Sack, in den dessen sterbende Tochter gesteckt wird, blieben jedoch erhalten. Die Oper gilt als das erste Meisterwerk Verdis und begründete dessen Weltruhm. Verdi selbst hielt Rigoletto für eines seiner gelungensten Werke, und im Unterschied zu anderen Verdi-Opern gibt es keine Überarbeitungen oder Neufassungen. Rigoletto war schon bei der Uraufführung ein überwältigender Erfolg und wurde in den nächsten Jahren an fast allen europäischen Opernhäusern gespielt. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde das Libretto häufig als „Schauerstück“ und die Musik als triviale „Leierkastenmusik“ kritisiert; heute ist der Rang von Rigoletto beim Publikum wie bei den Fachleuten unbestritten. Die Oper gehört seit über 160 Jahren durchgängig zum Repertoire vieler Opernhäuser und ist nach wie vor eine der meistgespielten italienischen Opern, was sich nicht nur in regelmäßigen Neuinszenierungen, sondern auch in einer Vielzahl von Einspielungen auf Ton- und Bildträgern niederschlägt. Handlung Erster Akt Erstes Bild: Im Palast des Herzogs von Mantua Auf einem Ball in seinem Palast unterhält sich der Herzog von Mantua mit dem Höfling Borsa über ein unbekanntes, schönes Bürgermädchen, das er wiederholt in der Kirche gesehen hat. Der Herzog wendet sich der Gräfin Ceprano zu, die er für sich gewinnen will (Questa o quella). Sein buckliger Hofnarr Rigoletto verspottet den Ehemann der Gräfin, worauf dieser, unterstützt von den übrigen Höflingen, Rache schwört. Der Höfling Marullo überrascht die übrigen Höflinge mit der Nachricht, dass Rigoletto eine Geliebte habe (Gran nuova! Gran nuova!). Als Rigoletto dem Herzog vorschlägt, Ceprano verhaften oder köpfen zu lassen, um freie Bahn bei der Gräfin zu haben, beschließen die Höflinge, sich an Rigoletto zu rächen. Der Graf von Monterone, dessen Tochter vom Herzog entehrt wurde, erscheint auf dem Fest, um vom Herzog Rechenschaft zu fordern. Monterone wird von diesem abgewiesen und wird von Rigoletto ebenfalls verspottet (Ch’io gli parli). Monterone verflucht daraufhin den Herzog sowie Rigoletto und wird festgenommen. Zweites Bild: Dunkle Sackgasse vor Rigolettos Haus Der Fluch hat Rigoletto zutiefst beunruhigt. Nun eilt er nach Hause, um sich zu überzeugen, dass seine Tochter Gilda in Sicherheit ist (Quel vecchio maledivami!). In einer Sackgasse trifft er auf den Mörder Sparafucile, der ihm seine Dienste anbietet (Un uom di spada sta). Rigoletto weist ihn ab, erkundigt sich aber, wo er Sparafucile im Falle des Falles finden könne. Rigoletto erkennt Parallelen zwischen sich und dem Mörder (Pari siamo! … io la lingua, egli ha il pugnale). Als er nach Hause kommt (Figlia! … – Mio padre!), wird er von Gilda nach ihrer Herkunft und Familie gefragt. Er verweigert ihr aber die Auskunft und nennt ihr nicht einmal seinen Namen (Padre ti sono, e basti). Rigoletto schärft Gilda ein, das Haus außer zum Kirchgang nicht zu verlassen. Giovanna, Gildas Gesellschafterin, wird ermahnt, die Haustüre immer geschlossen zu halten. Dann kehrt er in den Palast zurück. Der verkleidete Herzog hat sich aber bereits in Rigolettos Haus geschlichen und erkennt, dass die Unbekannte aus der Kirche Rigolettos Tochter ist. Er stellt sich Gilda als armer Student vor und erklärt ihr seine Liebe (È il sol dell’anima, la vita è amore). Währenddessen bereiten vor dem Haus die Höflinge die Entführung Gildas vor. Giovanna meldet, dass draußen Schritte zu hören sind, woraufhin der Herzog durch den Hinterausgang verschwindet. Gilda schaut ihm versonnen von ihrem Balkon nach (Gualtier Maldè!), aber die maskierten Höflinge stehen mit einer Leiter bereit, um die vermeintliche Geliebte Rigolettos zu entführen. Rigoletto kehrt, von bösen Ahnungen getrieben, zurück. Die Höflinge machen ihn glauben, sie würden gerade die Gräfin Ceprano entführen. Rigoletto wird maskiert, er hält die Leiter, die aber nicht an Cepranos Haus, sondern an sein eigenes angelegt wird. Erst als er Gildas Hilferuf hört (Soccorso, padre mio!), wird ihm klar, was gespielt wird; er sucht in seinem Haus vergeblich nach seiner Tochter (wobei er nicht „Gilda, Gilda“ ruft, wie in etlichen Einspielungen und Inszenierungen zu hören ist), und er erinnert sich erneut an Monterones Fluch (Ah, la maledizione). Zweiter Akt Im Palast des Herzogs Im Palast ist der Herzog verärgert, dass seine neue Geliebte entführt wurde (Ella mi fu rapita! … Parmi veder le lagrime). Als die Höflinge ihm erzählen, sie hätten diese entführt und bereits in sein Schlafzimmer gebracht, eilt er freudig zu ihr. Rigoletto kommt auf der Suche nach Gilda in den Palast und fordert von den Höflingen, die ihn verhöhnen (Povero Rigoletto!), Auskunft über das Schicksal seiner Tochter. Die Höflinge erschrecken zwar, als sie erfahren, dass es sich bei Gilda um Rigolettos Tochter handelt, aber sie verweigern ihm den Zutritt zum Herzog, worauf er sie in ohnmächtiger Wut beschimpft (Cortigiani, vil razza dannata). Gilda kommt aus dem Schlafzimmer des Herzogs und wirft sich in die Arme ihres Vaters (Mio padre! – Dio! Mia Gilda!). Rigoletto muss erkennen, dass seine Tochter nicht nur entführt und entehrt wurde, sondern sich auch in den Herzog verliebt hat. In diesem Moment wird Monterone auf dem Weg zum Kerker vorbeigeführt. Als Monterone beklagt, dass er den Herzog vergebens verflucht habe, schwört Rigoletto dem Herzog Rache (Sì, vendetta, tremenda vendetta). Dritter Akt Straße vor Sparafuciles Haus, dreißig Tage später Um seine Tochter von ihrer Liebe zum Herzog abzubringen, besucht Rigoletto mit ihr heimlich die Schenke Sparafuciles und zeigt ihr, wie der verkleidete Herzog (La donna è mobile) nun Sparafuciles Schwester Maddalena umgarnt (Un dì, se ben rammentomi). Er schickt seine Tochter, als Mann verkleidet, nach Verona und beauftragt (wieder ohne seinen wahren Namen zu nennen: Egli è ‚delitto‘ ,punizion‘ son io – Er heißt ‚Verbrechen‘, ich heiße ‚Strafe‘) Sparafucile, den Herzog zu ermorden und ihm dessen Leiche in einem Sack zu übergeben (Venti scudi hai tu detto?). Als der Mörder die Tat ausführen will, stellt sich ihm seine Schwester in den Weg und bittet um das Leben des Gastes (Somiglia un Apoll quel giovine … io l’amo). Sparafucile lässt sich nach einigem Zögern umstimmen und will ersatzweise den nächsten Mann ermorden, der zur Tür hereinkommt, da er von Rigoletto schon den Vorschuss für eine Leiche erhalten hat. Gilda hat einen Teil des Gesprächs zwischen Sparafucile und Maddalena belauscht, sie beschließt, ihr Leben für den immer noch von ihr geliebten Herzog zu opfern (Io vo’ per la sua gettar la mia vita). Sie geht, gemäß Rigolettos Anweisung für die Flucht aus Mantua schon als Mann verkleidet, in die Schenke und wird von Sparafucile während des Höhepunkts eines Gewitters erstochen. Um Mitternacht erscheint Rigoletto, um den Sack mit der Leiche in Empfang zu nehmen. Er glaubt schon, seine Rache sei gelungen (Della vendetta alfin giunge l’istante!), als er aus der Ferne die Stimme des Herzogs hört. Rigoletto öffnet den Leichensack und hält seine sterbende Tochter im Arm. Sie bittet ihren Vater noch um Vergebung, dann stirbt sie (V’ho ingannato … colpevole fui …). Rigoletto erkennt, dass sich der Fluch Monterones nicht am Herzog, sondern an ihm erfüllt hat (Ah, la maledizione). Entstehung Vorlagen Dem Libretto zu Rigoletto liegt das Versdrama Le roi s’amuse von Victor Hugo zu Grunde, das seinerseits auf ältere Vorbilder, wie das 1831 erschienene Vaudeville-Stück Le Bouffon du Prince (‚Der Narr des Fürsten‘) von Anne-Honoré-Joseph Duveyrier und Xavier-Boniface Saintine, zurückgreift. In diesem Theaterstück sind wesentliche Handlungselemente bereits angelegt, es findet aber, entsprechend den Gepflogenheiten des Melodrams, ein gutes Ende: Der Herzog bereut hier seine Untaten und heiratet die Nichte des Narren Bambetto. Hugo machte aus diesem Stoff mit Le roi s’amuse ein Drama um den Renaissance-König Franz I. und seinen Narren Triboulet mit klarer politischer Stoßrichtung und wollte eine „Literatur des Volkes“ gegen eine „Literatur des Hofes“ setzen. In einer zudem angespannten politischen Lage (die gescheiterte Julirevolution von 1830, die in die Einsetzung des Bürgerkönigs Louis-Philippe I. gemündet war, war allen Beteiligten noch gegenwärtig) war es dann kein Wunder, dass die Uraufführung des Stücks am 22. November 1832 zu einem riesigen Theaterskandal wurde. Anhänger Hugos sangen im Parkett Spottlieder auf den König und beantworteten das Pfeifkonzert des royalistischen Teils des Publikums mit dem Absingen der Marseillaise. Schließlich mündete die Aufführung in eine große Schlägerei, und am nächsten Tag wurden weitere Aufführungen des Stücks polizeilich verboten. Die zweite Aufführung fand in Paris erst zum 50. Jahrestag dieses Skandals am 22. November 1882 statt, also auch lange nach der Pariser Erstaufführung von Rigoletto im Jahre 1856. Verdi hatte Hugos Drama 1850 bei der Suche nach einem Stoff für eine Oper, die im folgenden Jahr für Venedig am Theater La Fenice geplant war, erstmals gelesen und war davon sofort begeistert, wenngleich er die Bedeutung von Le roi s’amuse, das heute nur noch als Vorlage von Rigoletto bekannt ist, weit überschätzte: Verdi begann diese Oper unter dem Titel La maledizione (‚Der Fluch‘) zu schreiben und stellte die geplante (und später nie ausgeführte) Oper Re Lear zurück. Den Auftrag für das Libretto erhielt Francesco Maria Piave, mit dem Verdi bereits bei den Opern Ernani (1844, ebenfalls nach einem Drama Hugos), I due Foscari (1844), Macbeth (1847), Il corsaro (1848) und Stiffelio (1850) zusammengearbeitet hatte. Die Übereinstimmungen zwischen Hugos Drama und Piaves Libretto sind deutlich und um vieles größer als bei anderen von Verdi vertonten Dramen, die meist sehr weit vom Original abweichen. Zwar sind die Schauplätze und Eigennamen in Drama und Oper unterschiedlich, aber es stimmen nicht nur die wesentlichen Motive und die handelnden Personen überein, sondern sogar die einzelnen Szenen. „Mit Ausnahme der Arie des Herzogs zu Beginn des zweiten Aktes (‚Ella mi fu rapita!‘), haben alle ‚Nummern‘ der Oper eine direkte Entsprechung bei Hugo.“ Umgekehrt gibt es nur zwei Auftritte im Drama ohne Pendant bei Verdi. Auch der Leichensack im Schlussakt, um den Verdi mit der Zensurbehörde streiten musste, geht auf Hugo zurück. Mehr noch: Piave hat sogar einzelne Verse fast wörtlich übernommen, so die wohl berühmtesten der Oper: La donna è mobile, die Hugo angeblich in Schloss Chambord entdeckt hatte und König Franz zuschrieb: Souvent femme varie … Trotz der großen Übereinstimmung mit Hugos Vorlage weicht das Libretto an entscheidenden Punkten davon ab, wobei erstaunlich ist, „mit welch geringen Änderungen im Äußeren die Unterschiede im Inneren erreicht werden“. Piave und Verdi machen aus Hugos politischem Tendenzstück eine weitgehend unpolitische, einem eigenständigen Konzept folgende Oper, was sich nicht zuletzt in der Titelgebung zeigt: Trotz der wiederholten, von der Zensur erzwungenen Änderungen des Titels (von La maledizione über Il duca di Vendôme zu Rigoletto) stand Hugos ursprünglicher Titel Le roi s’amuse nie zur Debatte. Auseinandersetzungen mit der Zensur Während Verdi in Triest noch an den letzten Proben des Stiffelio arbeitete, erfuhr er am 11. November 1850 von Carlo Marzari, dem Intendanten des Teatro La Fenice, dass die Behörden Einwände gegen das Stück haben und das Libretto einsehen wollen. Begründet wurde dies durch das „Gerücht […] wonach das Drama Le roi s’amuse von Victor Hugo, das der neuen Arbeit von Herrn Piave zu Grunde liegt, eine negative Aufnahme sowohl in Paris als auch in Deutschland gefunden habe: Grund dafür war die Ausschweifung, von der das Drama voll ist. Da die Ehrbarkeit des Dichters und des Maestro bekannt sind, hat die zentrale Direktion Vertrauen, dass das Sujet auf richtige Art entwickelt wird. Nur um sich dessen zu versichern, hat sie um Vorlage des Librettos gebeten.“ Mit einer solchen Reaktion der Behörden im österreichisch regierten Venedig hatte zwar nach den Ereignissen von 1832 eigentlich gerechnet werden müssen, aber Piave scheint die Situation falsch eingeschätzt zu haben. Zu diesem Zeitpunkt, rund vier Monate vor der geplanten Uraufführung, war diese Entwicklung jedenfalls eine Katastrophe. Am 1. Dezember teilte Marzari Verdi dann mit, dass der Stoff von der Zensurbehörde endgültig abgelehnt worden sei und dass auch Piaves Vorschläge, König Franz durch einen zeitgenössischen Lehnsherrn zu ersetzen und einige „Ausschweifungen“ wegzulassen, nicht akzeptiert worden seien. Verdi, der sich bereits mitten in der Komposition befand, war über diesen Bescheid wütend (nicht zuletzt über den „vertrottelten“ Piave), aber auch verzweifelt. Er bot dem Fenice an, ersatzweise Stiffelio zu überarbeiten und persönlich in Venedig zu inszenieren. Nun schlug Piave die Umarbeitung von La maledizione in Il duca di Vendôme vor. Mit den damit verbundenen Änderungen war allerdings Verdi nicht einverstanden, da er dadurch den Charakter des Stücks und der Protagonisten entstellt sah; so wollte er beispielsweise keinesfalls auf Triboulets Buckel und auf den Leichensack im Schlussbild verzichten. An Mazari schrieb Verdi am 14. Dezember 1850: „[…] aus einem ursprünglichen, gewaltigen Drama hat man etwas ganz Banales und Leidenschaftsloses gemacht. […] als gewissenhafter Künstler kann ich dieses Libretto nicht komponieren.“ Die Situation war gründlich verfahren, als am 29. Dezember 1850 Piave Verdi in dessen Haus in Busseto aufsuchte, wo am nächsten Tag eine Vereinbarung geschlossen wurde, die Komponist, Theater und Zensur zufriedenstellen sollte. Nun wurde die Handlung nach Mantua verlegt, die Hauptfigur von Triboulet in Rigoletto umbenannt, der Titel von Maledizione in Rigoletto und der historische König Franz in einen fiktiven Herzog abgeändert. Die für Verdi wesentlichen Elemente der Handlung – die Hauptfigur hässlich und entstellt, der Fluch und der Sack – blieben erhalten. Gestrichen wurde eine Szene im 2. Akt, in der der Herzog mit Hilfe eines Schlüssels in ein Zimmer des Schlosses eindringt, in dem sich Gilda eingeschlossen hat. Die Zensur verlangte außerdem noch die Änderung einiger Personennamen, die zu große Ähnlichkeit mit wirklichen Namen aufwiesen. Die Diskussion um angebliche Unmoralität oder Ausschweifungen des Stücks war zunächst jedenfalls vom Tisch. Am 20. Januar 1851 hatte Verdi die Komposition des zweiten Akts fast beendet, aber die offizielle Genehmigung für die Aufführung lag noch immer nicht vor. Erst am 26. Januar konnte Piave die formelle Freigabe des Stücks nach Busseto melden. Am 5. Februar schloss Verdi die Komposition ab, am 19. Februar kam er schließlich selbst nach Venedig und übernahm die Probenarbeit, für die lediglich noch 20 Tage zur Verfügung standen. Entsprechend seinem Arbeitsstil hatte er nur die Singstimmen fertig ausgearbeitet, während er die Orchesterstimmen im Lauf der anschließenden Probenarbeiten komponierte. Die Hauptrollen für die Uraufführung übernahmen Felice Varesi (1813–1889) als Rigoletto, Raffaele Mirate (1815–1885) als Herzog und Teresa Brambilla (1813–1895) als Gilda. Die Sänger erhielten ihre Partituren erst am 7. Februar. Einer gern wiederholten Anekdote zufolge hat Mirate seine Arie La donna è mobile erst am Tag vor der Uraufführung erhalten, um eine vorzeitige Verbreitung dieser Zugnummer zu unterbinden. Tatsächlich ist die Canzone aber bereits in den ersten Skizzen und im Originallibretto enthalten, sie wurde auch ganz normal geprobt. Verdis Arbeit an Rigoletto war von Anfang an von einer „bis dahin auch bei Verdi seltenen Sicherheit bei allen künstlerischen Entscheidungen geprägt“. Im Unterschied zu anderen seiner Opern, beispielsweise Simon Boccanegra oder Don Carlos, sah Verdi die Arbeit an Rigoletto nach der Uraufführung als getan an: Es gibt von Rigoletto daher weder Überarbeitungen noch Umarbeitungen. Lediglich mit der aus Zensurgründen gestrichenen „Schlüsselszene“ scheint Verdi nicht zufrieden gewesen zu sein; so schrieb er am 8. September 1852 an Carlo Antonio Borsi, dass es notwendig sei, „Gilda und den Herzog in dessen Schlafzimmer zu zeigen“. Verdi kam darauf allerdings nicht mehr zurück, der 2. Akt blieb, wie er war. Aufführungsgeschichte Uraufführung Die Uraufführung von Rigoletto fand am 11. März 1851 statt, Dirigent war Gaetano Mares, das Bühnenbild hatte Giuseppe Bertoja gestaltet. Das Fenice war mit rund 1900 Plätzen damals eines der größten Opernhäuser Italiens und verfügte seit 1844 über eine moderne Gasbeleuchtung sowie über neueste Bühnentechnik, die unter der Leitung des Obermaschinisten Luigi Caprara stand. Damit ließen sich die hohen Ansprüche Verdis an die Technik umsetzen: „Donner und Blitze nicht [wie üblich] ganz nach Laune […], sondern im Takt. Ich wünsche mir, dass die Blitze auf dem Bühnenhintergrund aufleuchten.“ Bertoja erstellte für die Uraufführung von Rigoletto die ersten dreidimensionalen Bühnenbauten Italiens. Bis dahin bestanden Bühnenbilder aus gemalten Prospekten und Kulissen, die je nach Bedarf verschoben wurden. Für Rigoletto wurden nun erstmals Elemente wie Stiegen, Terrassen und Balkone gebaut. „Im zweiten Bild des ersten Aktes wurde vor einem Haus eine auf Höhe des ersten Stocks vorspringende große Terrasse mit einem Baum davor errichtet, im dritten Akt ein im Erdgeschoss zum Zuschauerraum hin offenes zweistöckiges Wirtshaus. Diese Bauelemente bildeten voneinander getrennte Spielebenen, die die Bühne dramatisch aufgliederten.“ Verdi waren Bühnenbild und Inszenierung so wichtig, dass er Piave noch von Busseto aus beauftragt hatte, sich nun nicht mehr um das Libretto, sondern vor allem um Bühnenanweisungen zu kümmern. Nur wenige Wochen vor der Aufführung, zu einem Zeitpunkt, als die Oper noch nicht einmal instrumentiert war, galt Verdis größte Sorge offenbar deren szenischer Wirkung. Die erwarteten Effekte stellten sich ein, und die Uraufführung war für Verdi ein großer, in diesem Ausmaß nicht erwarteter Triumph. Komponist und Sänger wurden vom Publikum gefeiert, das Duett Rigoletto/Gilda aus dem ersten Akt sowie das Duett Gilda/Herzog mussten wiederholt werden. Während der Arie des Herzogs im dritten Akt soll das Publikum in eine derartige Begeisterung geraten sein, dass Raffaele Mirate nicht mehr mit der zweiten Strophe habe beginnen können. In der Uraufführungskritik der örtlichen Presse klangen allerdings auch schon Einwände gegen diese neuartige Oper an: Verbreitung Von Venedig verbreitete sich die Oper sehr schnell über die Bühnen Italiens: Bergamo, Treviso, Rom, Triest und Verona folgten noch im selben Jahr. Auf Grund der Zensur wurde das Werk in Italien anfangs oft unter anderen Titeln und inhaltlich verstümmelt aufgeführt: In Rom (1851) und Bologna (1852) hieß die Oper Viscardello, in Neapel Clara di Perth, an anderen Orten im Königreich beider Sizilien Lionello. An etlichen Opernhäusern kam es in der Absicht, die „moralischen Ausschweifungen“ des Werks zu eliminieren, auch zu kuriosen inhaltlichen Änderungen: Mal durften sich der Herzog und Gilda nicht in der Kirche kennengelernt haben, mal wurde aus der Gattin des Grafen Ceprano dessen unverheiratete Schwester, und schließlich rief Rigoletto am Ende der Oper nicht „La maledizione“, sondern „O clemenza di cielo“. 1852 wurde Rigoletto an weiteren 17 Opernhäusern gespielt, 1853 kamen noch einmal 50 Inszenierungen dazu, darunter an der Mailänder Scala, in Prag, London, Madrid, Stuttgart und St. Petersburg, 1854 noch einmal 29, darunter San Francisco, Odessa, Tiflis und München. In Paris war Rigoletto erst 1857 zu sehen: Victor Hugo, der die Oper als Plagiat ansah, hatte die Aufführung sechs Jahre lang verhindert; erst durch ein Gerichtsurteil konnte sie schließlich durchgesetzt werden. In den ersten zehn Jahren nach der Uraufführung wurde Rigoletto an etwa 200 Bühnen herausgebracht. Überall, wo es Theater gab, wurde Rigoletto gespielt, auch an hinsichtlich der Operntradition eher exotischen Orten wie Bombay (1865), Batavia, Kalkutta oder Manila (1867). Zu einem Theaterskandal kam es am 7. März 1933 bei einer Aufführung von Rigoletto an der Semperoper in Dresden. Das hauptsächlich aus SA- und NSDAP-Mitgliedern bestehende Publikum schrie den Dirigenten Fritz Busch, der einer der Protagonisten der „Verdi-Renaissance“ war und der sich bei der NS-Führung unbeliebt gemacht hatte, nieder und hinderte ihn an der Aufführung. Gegenwart Rigoletto gehört seit der Uraufführung, also seit über 160 Jahren, zum Standardrepertoire und heute in jeder Saison zu den am meisten gespielten Werken. Laut Operabase lag Rigoletto in der Saison 2011/2012 unter den meistgespielten Opern weltweit auf Platz neun. Für 2011–2013 wurden weltweit 37 Neuinszenierungen verzeichnet. Nicht zufällig nimmt sich auch das moderne Regietheater immer wieder des Rigoletto an: Die Metaphern des Melodrams mit seinen schroffen Gegensätzen und drastischen Effekten bieten zahlreiche Gelegenheiten zu Interpretationen. So beispielsweise bei Hans Neuenfels, der Rigoletto 1986 an der Deutschen Oper Berlin auf einer typisierten Palmeninsel ansiedelte, oder Doris Dörrie, die Rigoletto 2005 in München auf den Planeten der Affen und die Hofgesellschaft in Affenkostüme steckte; Stephen Landridge verlegte das Werk an der Wiener Volksoper ins Filmmilieu der 1950er-Jahre; Thomas Krupa wiederum versetzte Rigoletto 2012 in Freiburg in eine Puppenstube. Jonathan Miller begründete 1983 in New York eine eigene Tradition von Rigoletto-Interpretationen, die die Oper im Mafia-Milieu spielen lässt, eine Idee, die unter anderen Kurt Horres 1998 in Frankfurt und Wolfgang Dosch 2009 in Plauen aufgriffen. Michael Mayer wiederum platzierte Rigoletto 2013 in einer Neuproduktion der Met ins Las Vegas der 1960er-Jahre – im „Sinatra-Stil“. 2013 setzte Robert Carsen die Reihe der Verlagerung der Oper in mehr oder weniger zeitgenössische Milieus beim Festival in Aix-en-Provence fort und wählte dabei die Zirkuswelt um 1830. Dem gegenüber stehen auch in jüngerer Zeit immer wieder historisierende Inszenierungen, so etwa an der New Yorker Metropolitan Opera 1977 durch Kirk Browning oder 1989 durch Otto Schenk, in Europa beispielsweise die aufwendigen Inszenierungen von Sandro Sequi an der Wiener Staatsoper, die dort schon seit 1983 im Repertoire sind, oder die von Gilbert Deflo, die seit 1994 an der Mailänder Scala gespielt wird. Solche sich vom Regietheater absetzenden „Kostümschlachten“ waren auch in Verfilmungen der Oper zu sehen, so 1983 unter der Regie Jean-Pierre Ponnelles und unter der Leitung von Riccardo Chailly oder in der 2010 an „Originalschauplätzen in Mantua“ aufgenommenen Live-Inszenierung unter Zubin Mehta mit Plácido Domingo in der Titelrolle in einer vermeintlich „authentischen Kulisse“ (tatsächlich ist der Schauplatz Mantua fiktiv und wurde von der Zensur erzwungen). Libretto Rezeption So beliebt Rigoletto von Anfang an beim Publikum war, bei Kritikern und Musikerkollegen stieß das Libretto, aber auch die Musik auf teilweise starke Ablehnung – eine Haltung, die erst Mitte des 20. Jahrhunderts einer differenzierten Einschätzung wich. So meinte der Musikkritiker Hermann Kretzmar 1919: „Bei Werken wie Rigoletto […] ist der Haupteindruck [… das] Bedauern über das musikalische Talent, das an dergleichen ekelhafte Geschichten hinausgeworfen ist.“ Der Stoff und das Libretto des Rigoletto wurden auf diese Weise lange Zeit als „Blödsinn“, „Schauerstück“ oder „Kolportage“ abgewertet und nicht als genretypisch verstanden. „Ekelhafte Geschichten“ meinte nicht zuletzt auch die Charaktere und die Konstellation der Protagonisten – die Menschen am Rand der Gesellschaft, Krüppel, Zuhälter, Hure auf der einen Seite und die verkommene, amoralische Hofgesellschaft auf der anderen –, die nicht in die gängige Opernwelt zu passen schienen. Nicht zuletzt hat das Stück auch keinen positiven Helden, sondern als Hauptfigur eine überaus widersprüchliche Persönlichkeit: Rigoletto ist als zynischer, hinterhältiger Hofnarr im ersten Akt nicht weniger skrupellos als sein Chef – noch unter dem Eindruck von Monterones Fluch stehend und voller Angst um seine Tochter beteiligt er sich gleich an der nächsten Schandtat, der (vermeintlichen) Entführung der Gräfin Ceprano, und auch im Schlussakt ist ihm seine Rache wichtiger, als die Tochter in Sicherheit zu bringen. Nicht nur Rigoletto ist widersprüchlich: „[…] wird der Herzog von Verdi nicht bloß als herrschaftlicher Bonvivant dargestellt, der sich leichtfertig alle Rechte herausnimmt. Die Musik zeichnet ihn auch als wahrer Gefühle fähig […].“ Und „[…] selbst die süße Gilda ist nicht gänzlich aus einem Stück: das Laster hat sie angerührt. Sie vergibt ihrem Verführer (womit sie stillschweigend seine Sünde entschuldigt), und begeht Selbstmord, um ihn zu retten. Sämtliche Charaktere sind widersprüchlich, unerwartet gegen den Strich.“ Das Libretto Piaves wurde aber auch immer wieder wegen unübersehbarer Ungereimtheiten und Unwahrscheinlichkeiten kritisiert: Schon dass der Palast des Grafen Ceprano und das Haus des Hofnarren in derselben Straße nebeneinander stehen, ist wenig glaubwürdig, und dies ist auch der denkbar ungeeignete Ort, um eine Tochter versteckt zu halten. Unwahrscheinlich erscheint auch, dass Rigoletto, obwohl er ja Ende des ersten Aktes auf Grund böser Ahnungen zurückkehrt, bei der Entführung vor seinem eigenen Haus so gar keinen Verdacht schöpft; Monterone wird im zweiten Akt ohne rechten Grund quer durch den Palast in den Kerker geführt; Sparafucile schließlich, obwohl als professioneller Killer vorgestellt, führt den Mord so stümperhaft aus, dass Gilda „aus ihrem Leichensack krabbeln und ihrem Vater alle Zusammenhänge ausführlich erklären kann“. Einige Ungereimtheiten gehen freilich auf Änderungen zurück, die durch die Zensur veranlasst wurden. So wurden, um angebliche „Ausschweifungen“ zu mildern, Korrekturen vorgenommen, die bis heute das ursprüngliche Libretto entschärfen und verfälschen. So fordert der Herzog im ursprünglichen Text des dritten Akts (Szene 11, Takt 33) von Sparafucile „zwei Dinge, sofort […] deine Schwester und Wein“; in der veröffentlichten Partitur heißt es dagegen: „zwei Dinge, sofort … ein Zimmer und Wein“ – der Herzog geht seither also ins Bordell, um ein Zimmer zu mieten. Der sich daran anschließende Versuch Rigolettos, Gilda von der Schlechtigkeit ihres Geliebten zu überzeugen: „Son questi i suoi costumi“ („Das sind seine Sitten“ – Szene 11, Takt 33–35), ist damit allerdings nicht mehr recht verständlich. Verdi hat Einwände gegen das Libretto von Rigoletto, wie auch bei anderen seiner Opern (insbesondere später bei Il trovatore), stets ignoriert. Ein möglichst „realistischer“, logisch voll stimmiger Handlungsablauf war nicht sein Anliegen, ihm kam es auf den bühnenwirksamen Effekt und die Stimmigkeit der Charaktere an. Wie im französischen Melodram, das über Le roi s’amuse mittelbares Vorbild auch für Rigoletto darstellt, geht es um schroffe, theaterwirksame Gegensätze (hier: der entstellte Hofnarr und die schöne Tochter, die verkommene Hofgesellschaft und der liebende Vater, der herzogliche Palast und die Spelunke) und um Ereignisse, die effektvolle Handlungsumschwünge ermöglichen: ein unerwartetes Wiedersehen und Wiederfinden, Mächtige, die unschuldige Opfer bedrohen, Gefahr, Verfolgung, schließlich (worin Hugo dem Genre nicht mehr folgt) Errettung, Läuterung und gutes Ende. Auch das Aussehen Rigolettos ist in diesem Zusammenhang keineswegs äußerlich – Verdi setzte sich hier dezidiert von einer Mitte des 19. Jahrhunderts noch weit verbreiteten Auffassung ab, die von körperlichen Defiziten auf charakterliche Mängel schloss – eine Auffassung, die einen buckligen Narren als Hauptfigur allein schon als Skandal verstehen musste: „Ein Buckliger, der singt! werden manche sagen. Na und? […] Ich finde es gerade sehr schön, eine äußerst missgestaltete und lächerliche Person darzustellen, die innerlich leidenschaftlich und von Liebe erfüllt ist“ (Verdi an Piave). Thematik Nach dem Scheitern der Revolution von 1848 hatte sich Verdi zunächst von politischen Stoffen abgewandt. Die kompositorische Neuorientierung, bei der Verdi „neue dramaturgische Konzepte erprobte und subtilere Ausdrucksmittel fand, verband sich mit einem grundlegenden Wandel auch des Sujets“. Thematisiert wurden nun „zwischenmenschliche Konflikte im überschaubaren Handlungsrahmen der bürgerlichen Familie“. Die Familie bildet das „Modell für eine taugliche gesellschaftspolitische Verfassung“. In Rigoletto wird diese Position im Duett des zweiten Bildes in einer emphatischen Phrase exemplarisch vorgestellt: „Culto, famiglia, la patria, il mio universo è in te!“: Die Werte der patriarchalischen Welt Rigolettos sind hier „metaphysisch überhöht“ und fokussiert in seiner Tochter, der Inkarnation seines Lebensentwurfs. Eine Stelle, „die Wucht und Spannkraft des berühmten Hebräerchores aus Nabucco (1842) scheinbar unverändert aufgreift […]. Nur ist die vormals kollektive Emotion nun der übersteigerte Ausdruck eines einzelnen. Es geht nicht mehr um die Affirmation eines aktuellen politischen Volkswillens, sondern um die spektakulär übertriebene Geste eines Vaters […].“ Verdi thematisiert in dieser Oper, wie in den anderen dieser Zeit, nicht mehr die Ideale des Risorgimentos, sondern die Familie als patriarchalisch konservatives Gesellschaftsmodell sowie die Kräfte, die dessen Verwirklichung entgegenstehen. Die Konstellation Vater – Tochter hat Verdi wiederholt aufgegriffen, schon in seiner ersten Oper Oberto, dann in Nabucco, Luisa Miller und Stiffelio (Stankar – Lisa), in den späteren Werken in La forza del destino, vor allem in Simon Boccanegra (Simon – Amelia, Fiesco – Maria) und schließlich wieder in Aida. Musik Rezeption Trotz der großen Popularität Rigolettos und seiner Musik, insbesondere der Arien Caro nome oder La donna è mobile (Nummern, die heute auch außerhalb der Oper bekannt sind und wie der sogenannte Gefangenenchor aus Nabucco, der Triumphmarsch aus Aida oder Che gelida manina aus Puccinis La Bohème weithin als typisch für die italienische Oper gelten), war nicht nur Piaves Libretto, sondern auch Verdis Musik lange Zeit umstritten. Vielen Zeitgenossen galt die Musik des Rigoletto als oberflächlich, seicht und melodienselig, als „Leierkastenmusik“, nicht trotz, sondern oft gerade wegen ihrer Popularität. In Italien wurde diese Kritik insbesondere von Künstlern vorgebracht, die sich als Avantgarde verstanden und sich zwischen 1860 und 1880 in der Gruppe Scapigliatura, zu der auch der spätere Verdi-Librettist Arrigo Boito gehörte, versammelt hatten. In Deutschland wurden Einwände gegen die Musik des Rigoletto insbesondere von Anhängern Richard Wagners oder ihm nahestehenden Kreisen vorgebracht; Wagner und Verdi galten vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Antipoden. Kurz nach der Uraufführung von Rigoletto schrieb die Hannoversche Zeitung: Nur wenig freundlicher urteilten die Frankfurter Nachrichten, die, acht Jahre nach der Uraufführung, Verdis sogenannte Fehler und Tugenden schon als bekannt voraussetzen durften: Der Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick (ein Verdi- und Wagner-Kritiker) meinte: „Ebenso unheilvoll wie auf die moderne italienische Komposition wirkt Verdis Musik auf die Gesangskunst.“ Hanslick kritisierte eine „dicke, lärmende Instrumentalisierung“ und vordergründige Effekte. Für das Schwächste im Rigoletto hielt der Kritiker die „kokette, kalte Figur der Gilda; ihre ‚Bravourarie aus den steirischen Alpen‘ und das herabtänzelnde ‚Addio‘ in dem Liebesduett wirkten auf Hanslick ‚geradezu komisch‘“. Mit der „Verdi-Renaissance“ der 1920er-Jahre und verstärkt in den 1950er-Jahren setzte eine differenzierte Betrachtung ein. Die angebliche Oberflächlichkeit, die Mängel oder die vermeintliche Schlichtheit der Instrumentierung wurden nun als „Ausdruck der Natürlichkeit und (von) dramatischer Unmittelbarkeit“ verstanden. Bezeichnenderweise haben dabei nicht nur am publikumswirksamen Aufführungsmaterial interessierte Dirigenten und Sänger, sondern auch eine Reihe von „Avantgarde“-Komponisten für die Musik von Rigoletto das Wort ergriffen, so Luigi Dallapiccola, Luciano Berio, Ernst Krenek, Wolfgang Fortner, Dieter Schnebel oder früher schon Igor Strawinsky, der polemisch meinte: „… ich behaupte, dass zum Beispiel in der Arie ‚La donna è mobile‘, in der jene Elite nur klägliche Oberflächlichkeit sah, mehr Substanz und mehr wahre Empfindung steckt als in dem rhetorischen Redeschwall der Tetralogie.“ Konzeption Rigoletto ist in musikalischer Hinsicht ein neuartiges Werk, das der Komponist selbst als „revolutionär“ ansah. Verdi beginnt hier die traditionelle Nummernoper aufzulösen und durch eine durchkomponierte Struktur zu ersetzen. „Das Neue ist formal die konsequente dramatische wie musikalische Durchgestaltung im Sinne jener Bild-Ton-Komposition mit ihrer ‚fortlaufenden Musik‘, welche beispielsweise in Macbeth schon einmal partiell gelingen konnte.“ Musik und Handlung drängen sich gegenseitig vorwärts; abgesehen von den traditionellen Arien des Herzogs, steht in Rigoletto „die Zeit niemals still“. Selbst das große „Liebesduett“ im zweiten Bild wird geradezu hastig gesungen (Allegro, anschließend Vivacissimo), der Herzog und Gilda benötigen nur 132 Takte, um sich näherzukommen. Wie die (verbliebenen) „Nummern“ in den Handlungsfluss eingebunden sind, wird besonders deutlich in Gildas noch konventioneller und einziger Arie Caro nome (die sich bezeichnenderweise inhaltlich um einen falsch angegebenen Namen, also um eine Lüge, rankt): Schon am Ende der vorherigen Nummer haben die Höflinge vor dem Haus mit den Vorbereitungen der Entführung begonnen (Szene Che m’ami, deh, ripetimi …), während der gesamten Arie setzen sie diese fort, und mit dem Ende der Arie sind auch die Höflinge fertig (Szene È là … – Miratela); die Entführung könnte nun stattfinden, käme nicht in diesem Moment Rigoletto dazwischen, was direkt in die nächste Szene (Riedo! … perché?) führt. Im Sinne des Handlungsflusses konzipierte Verdi Rigoletto als „Abfolge von Duetten“. Sie, nicht die Arien, bilden den Kern des Werks, vor allem die drei auf die drei Akte verteilten Duette zwischen Rigoletto und Gilda. Auch das berühmte Quartett im dritten Akt besteht aus zwei parallelen Duetten, eines innerhalb des Hauses (Duca und Maddalena) und eines außerhalb (Rigoletto und Gilda). Im Schlussduett des dritten Akts verbinden sich die Stimmen nicht; Rigoletto und die sterbende Gilda, die schon nicht mehr zu Rigolettos Welt gehört, singen nur abwechselnd, wie schon im ersten Akt Rigoletto und Sparafucile (Verdi greift hier das Duettino zwischen Astolfo und Rustighello aus Gaetano Donizettis Lucrezia Borgia auf). Dieses Duett zwischen Rigoletto und Sparafucile wurde „von jeher als ein besonderes Meisterstück Verdis gepriesen und [ist] sicherlich das unkonventionellste Stück der gesamten Oper“. In der „Konzentration auf dunkle Farben und kammermusikalische Feinheit“ suggeriert es eine Art Selbstgespräch Rigolettos, der in Sparafucile gewissermaßen seinem anderen Ich begegnet. Da der Kern der Oper eine „Abfolge von Duetten“ ist, hat die Hauptperson Rigoletto auch keine Arie im herkömmlichen Sinn: Pari siamo zu Beginn des 2. Bildes ist ein auskomponiertes Rezitativ als Vorbereitung des ersten großen Duetts mit Gilda, und auch Cortigiani im 2. Akt ist in der Partitur zwar als Arie bezeichnet, jedoch szenisch und musikalisch vollständig in den Handlungsverlauf eingebunden; beide Nummern finden daher auch nur sehr selten den Weg ins Wunschkonzert oder auf Sampler. Es gibt in Rigoletto zwar eine Reihe konventioneller Nummern, aber als solche erfüllen sie einen dramatischen Zweck, indem sie der Hofgesellschaft, also dem Herzog und dem Chor (anfangs auch Gilda), zugewiesen sind, die damit musikalisch explizit als Vertreter des Herkömmlichen und Überkommenen gekennzeichnet werden. Mit dieser Gegenüberstellung von Gegensätzen wird das Grundkonzept des Melodramas also auch in der musikalischen Struktur aufgegriffen. Rigoletto ist somit auch ein Werk des Übergangs von der traditionellen Nummernoper zu einer musikdramatischen, einheitlichen Struktur, wie sie Verdi sehr viel später in Otello realisierte. Insofern ist das Werk eine hybride Oper, wobei Verdi die beiden Formen nicht einfach nebeneinanderstellt, sondern sie organisch in sein dramatisches Konzept einfügt. Dieses Konzept wird von Verdi nicht nur im formalen Aufbau umgesetzt: Die Kritik an der „Leierkastenmusik“ zielte insbesondere auf die „Hm-Ta-Ta-Musik“, wie sie etwa in den bekannten Arien des Herzogs oder im Chor der Höflinge im ersten und zweiten Akt ja tatsächlich anklingt. Dies ist jedoch Teil der dramatischen Konzeption Verdis, denn die eingängige, aber anspruchslose Melodie des „Gassenhauers“ La donna è mobile wird verwendet, um Vergnügungssucht und Oberflächlichkeit der Hofgesellschaft zu kennzeichnen, ist also absichtsvoll trivial anlegt. Wobei Verdi für alle, die es nicht gleich gemerkt haben, dieses Stück anschließend selbst gleich noch zweimal in diesem Sinne zitiert – beim zweiten Mal als Triumph des Banalen über Rigolettos Racheschwur. Der „Bösewicht“ poltert hier nicht mit Pauken und Posaunen, sondern trällert vergnügt vor sich hin, und er entgeht dem auch auf ihn gerichteten Fluch. Wenn Verdi in Rigoletto mit Motiven arbeitet, so unterscheidet sich dies deutlich von der von Wagner verwendeten Technik der Leitmotive: „Freilich handelt es sich anders als bei Wagner eben nicht um Leit-Motive, die leitend Zeichen setzen, als vielmehr um Erinnerung und Gefühlszusammenhänge.“ So bestimmt das Fluch-Motiv schon das Vorspiel in c-Moll (auf einer einzigen Tonhöhe, dem c, in langsamem Crescendo und in doppelt punktiertem Rhythmus); es tritt wieder in Erscheinung beim Auftritt Monterones und in der Folge immer dann, wenn sich Rigoletto an diesen Fluch erinnert, also bis zum letzten Takt. Ein anderes Motiv, das den hinkenden Gang Rigolettos rhythmisch auffängt, begleitet beispielsweise dessen Auftritt am Ende des ersten Aktes (Nummer 7, ab Takt 8) oder im zweiten Akt (Nr. 9). „Die punktierten Rhythmen Verdis erhalten einen neuen dramatischen Sinn; der Zusammenfall von Musik und Geste tritt ein.“ Auf diese Weise sind auch die Tempi in die kompositorische Architektur eingebunden: „Ist es nicht eine tragische Ironie, dass das gleiche Tempo für Gildas Arie ‚Caro nome’ (wo sie ihre Liebe zum verkleideten Duca ausdrückt) und Rigolettos ‚Larà, lalà‘ (wo sich Rigoletto in tiefster Verzweiflung vor den Höflingen zu verstellen versucht, um Gildas Spuren zu suchen) steht? Oder ist nicht ein musikdramaturgischer Bogen gespannt, wenn Gildas Arie das gleiche Tempo hat wie später ihre Erzählung über die Begegnung mit dem Duca (‚tutte le feste‘) und ebenso ‚Cortigiani‘, Rigolettos Ausbruch gegen die Höflinge?“ Dementsprechend hat Verdi das Werk mit ausführlichen Tempoangaben versehen, was jedoch nicht verhindert hat, dass es „Tradition geworden [ist] diese systematisch zu missachten. Tempoangaben sind nicht Geschmackssache, sondern architektonische, formbildende Parameter.“ Umsetzung – Quartett und Terzett Als musikalischer Höhepunkt der Oper gilt der dritte Akt, in dem die zuvor aufgebauten Gegensätze aufeinanderprallen und zur Katastrophe führen, insbesondere das schon von Zeitgenossen bewunderte Quartett Un dì, se ben rammentomi … Bella figlia dell’amore, übrigens das einzige Stück, dem nicht einmal Victor Hugo seine Anerkennung versagen wollte. In dieses Quartett bringt jede Person eine eigene musikalische Charakterisierung ein: der Herzog, der die Führung übernimmt und mit ausladenden lyrischen Melodiebögen versucht, Maddalena zu verführen; Maddalena mit Staccato-Achteln, in denen sie die Versprechungen des Herzogs verspottet (der – immerhin verheiratete – Inkognito-Herzog verspricht ihr gerade die Ehe), die aber im Fortgang der Szene immer weniger abgeneigt zu sein scheint; Gilda und Rigoletto wiederum, die beobachtend außerhalb des Hauses bleiben, zunächst mit langen Pausen und nur gelegentlichen Einwürfen, Gilda dann zunehmend verzweifelt, Rigoletto, der „von Zeit zu Zeit seinen Grimm in langsam fortschreitenden, gewichtigen Phrasen äußert“ und der gegen Schluss des Quartetts ungeduldig zum Aufbruch drängt, weil ihm bewusst wird, dass das Belauschen des Herzogs in der Spelunke wohl doch keine so gute Idee war. Die Umsetzung dieser vielfältigen Intentionen Verdis ist denn auch sängerisch anspruchsvoll und nicht in jeder Aufführung oder Einspielung zu hören: „Es ist unnachahmlich, wie Caruso […] das kurze Solo Bella figlia dell’amore auf dem Wort consolar mit einem brillanten Gruppendo abschließt, mit einer Klangfigur, die zur sichtbaren Geste wird und die Doppelbödigkeit der Situation, das erotische Werben eines ‚Macho‘, kongenial erfasst: Caruso schafft es, mit emphatischem Klang zu singen – um Maddalena zu verführen – und zugleich die Emphase als gespielt, als erotische Floskel zu entlarven.“ Hält sich das Quartett noch an traditionelle Formen, so entzieht sich die anschließende „Szene, Terzett und Gewitter“ (Scena, Terzetto e Tempesta) den bisherigen Normen „… der ganze dritte Akt vom Beginn des Sturmes an [ist] ohne Beispiel.“ Ganz anders als etwa die Gewittermusiken bei Gioachino Rossini (Der Barbier von Sevilla oder La Cenerentola) bildet hier das Gewitter keine musikalische Einlage zwischen Akten oder Szenen, sondern ist – mit Streichern in tiefer Lage, Einwürfen von Oboe und Piccoloflöte, vor allem aber mit den charakteristischen, summenden Chorstimmen hinter der Bühne – in den Handlungsverlauf vollständig integriert. Es unterlegt der gesamten Szene ein spannungsgeladenes Grundrauschen zunehmender Intensität: zunächst für den zynischen Dialog zwischen Sparafucile und Maddalena über das passende Mordopfer (Maddalena schlägt vor, der Einfachheit halber gleich Rigoletto umzubringen), der übergangslos in das Terzett mündet, in dem die verzweifelte Gilda den wahnwitzigen Entschluss fasst, den (heimlichen) Lebensplan ihres Vaters endgültig zu verwerfen (dessen ist sie sich sehr wohl bewusst: „perdona o padre!“) und sich für dessen Todfeind, den Geliebten, der sie längst vergessen hat, umbringen zu lassen. Nummern Erster Akt Nr. 1. Orchestervorspiel – Andante sostenuto, c-Moll Nr. 2. Introduktion Introduktion: Della mia bella incognita borghese (Duca, Borsa) – Allegro con brio, As-Dur Ballade: Questa o quella per me pari sono (Duca) – Allegretto, As-Dur Menuett und Perigordino: Partite? … Crudele! (Duca, Contessa, Rigoletto, Chor, Borsa) – Tempo di Minuetto, As-Dur Chor: Gran nuova! Gran nuova! (Marullo, Duca, Rigoletto, Ceprano, Chor) – Allegro con brio Szene: Ch’io gli parli (Monterone, Duca, Rigoletto, Chor) – Sostenuto assai, c-Moll, f-Moll Stretta: Oh tu che la festa audace hai turbato (alle außer Rigoletto) – Vivace, des-Moll Nr. 3. Duett: Quel vecchio maledivami! … Signor? (Rigoletto, Sparafucile) – Andante mosso, d-Moll Nr. 4. Szene und Duett (Rigoletto, Gilda) Szene: Quel vecchio maledivami! … Pari siamo! … io la lingua, egli ha il pugnale (Rigoletto) – Adagio, d-Moll Szene: Figlia! … – Mio padre! (Rigoletto, Gilda) – Allegro vivo, C-Dur Duett: Deh, non parlare al misero (Rigoletto, Gilda) – Andante, As-Dur Cabaletta: Veglia, o donna, questo fiore (Rigoletto, Gilda, Giovanna, Duca) – Allegro moderato assai, c-Moll Nr. 5. Szene und Duetto (Gilda, Duca) Szene: Giovanna, ho dei rimorsi … (Gilda, Giovanna, Duca) – Allegro Assai moderato, C-Dur, G-Dur, Szene: T’amo! (Gilda, Duca) – Allegro vivo, G-Dur Duett: È il sol dell’anima, la vita è amore (Duca, Gilda) – Andantino, B-Dur Szene: Che m’ami, deh, ripetimi … (Duca, Gilda, Ceprano, Borsa, Giovanna) – Allegro, B-Dur Cabaletta: Addio … speranza ed anima (Gilda, Duca) – Vivacissimo, Des-Dur Nr. 6. Arie und Szene Arie: Gualtier Maldè! … Caro nome che il mio cor (Gilda) – Allegro moderato, E-Dur Szene: È là … – Miratela (Borsa, Ceprano, Chor) – Allegro moderato, E-Dur Nr. 7. Finale I Szene: Riedo! … perché? (Rigoletto, Borsa, Ceprano, Marullo) – Andante assai mosso, As-Dur Chor: Zitti, zitti, muoviamo a vendetta (Chor) – Allegro, Es-Dur Stretta: Soccorso, padre mio! (Gilda, Rigoletto, Chor) – Allegro assai vivo Zweiter Akt Nr. 8. Szene Szene: Ella mi fu rapita! (Duca) – Allegro agitato assai, F-Dur/d-Moll Arie: Parmi veder le lagrime (Duca) – Adagio, Ges-Dur Szene: Duca, Duca! – Ebben? (Chor, Duca) – Allegro vivo, A-Dur Chor: Scorrendo uniti remota via (Chor) – Allegro assai moderato Cabaletta: Possente amor mi chiama (Duca, Chor) – Allegro, D-Dur Nr. 9. Szene Szene: Povero Rigoletto! (Marullo, Ceprano, Rigoletto, Paggio, Borsa, Chor) – Allegro moderato assai, e-Moll Arie: Cortigiani, vil razza dannata (Rigoletto) – Andante mosso agitato, c-Moll, f-Moll, Des-Dur Nr. 10. Szene und Duett (Rigoletto, Gilda) Szene: Mio padre! – Dio! Mia Gilda! (Gilda, Rigoletto, Chor) – Allegro assai vivo ed agitato, Des-Dur Duett: Tutte le feste al tempio (Gilda, Rigoletto) – Andantino, e-Moll, As-Dur, C-Dur, Des-Dur Szene: Compiuto pur quanto a fare mi resta (Rigoletto, Gilda, Usciere, Monterone) – Moderato, As-Dur Cabaletta: Sì, vendetta, tremenda vendetta (Rigoletto, Gilda) – Allegro vivo, As-Dur Dritter Akt Nr. 11. Szene und Canzone Szene: E l’ami? – Sempre (Rigoletto, Gilda, Duca, Sparafucile) – Adagio, a-Moll Canzone: La donna è mobile (Duca) – Allegretto, H-Dur Recitativo: È là il vostr’uomo … (Sparafucile, Rigoletto) Nr. 12. Quartett Szene: Un dì, se ben rammentomi (Duca, Maddalena, Rigoletto, Gilda) – Allegro, E-Dur Quartetto: Bella figlia dell’amore (Duca, Maddalena, Rigoletto, Gilda) – Andante, Des-Dur Recitativo: M’odi, ritorna a casa … (Rigoletto, Gilda) – Allegro, a-Moll Nr. 13. Szene, Terzett, Gewitter Szene: Venti scudi hai tu detto? (Rigoletto, Sparafucile, Duca, Gilda, Maddalena) – Allegro, h-Moll Terzett: Somiglia un Apollo quel giovine … (Maddalena, Gilda, Sparafucile) – Allegro, h-Moll Gewitter Nr. 14. Szene und Finale II Szene: Della vendetta alfin giunge l’istante! (Rigoletto, Sparafucile, Gilda) – Allegro, A-Dur Duett V’ho ingannato … colpevole fui … (Gilda, Rigoletto) – Andante, Des-Dur Rollen und Stimmen Instrumentierung Holzbläser: zwei Flöten (2. auch Piccoloflöte), zwei Oboen (2. auch Englischhorn), zwei Klarinetten, zwei Fagotte Blechbläser: vier Hörner, zwei Trompeten, drei Posaunen, Cimbasso Pauken, Schlagzeug: Große Trommel und Becken Streicher: Violinen, Viola, Celli und Kontrabässe Bühnenmusik: Banda Große Trommel hinter der Bühne Bearbeitungen Entsprechend der großen Beliebtheit der Oper und ihrer schnellen Verbreitung bestand bald ein Bedarf an Reproduktionen, in der Zeit vor Erfindung des Fonografen also vor allem an musikalischen Bearbeitungen für Soloinstrumente, die eine Wiedergabe in Konzerten, aber auch im Rahmen der Hausmusik ermöglichten. Anton Diabelli verfasste schon 1853 drei Potpourri[s] nach Motiven der Oper: Rigoletto von G. Verdi. Für Pianoforte und Violine concertant (op. 130). Bekannt waren auch eine Rigoletto-Fantasie von Karl und Franz Doppler für zwei Flöten und Klavier sowie eine Rigoletto-Fantasie für zwei Klarinetten und Bassetthorn (op. 38), außerdem eine Bearbeitung des Gitarrenvirtuosen Johann Kaspar Mertz. Bis in die Gegenwart erhalten haben sich vor allem die Verdi Paraphrasen und Transcriptionen von Franz Liszt, zu denen auch die Konzert-Paraphrase des Quartetts aus dem dritten Akt von 1859 gehört. Diskografie Das in der dramatischen Konzeption von Rigoletto so wichtige Aufeinanderprallen gegensätzlicher Momente betrifft nicht nur Libretto und Musik, sondern immer auch das unmittelbare Bühnengeschehen bis hin zu einzelnen Requisiten: Die Anordnung von Orchester und Bühnenmusik, Rigolettos Buckel, Sparafuciles Degen im zweiten Bild, Maske und Leiter bei der Entführung Gildas, das Innen und Außen in Quartett und Terzett des dritten Aktes und schließlich der Sack in der Schlussszene sind als visuelle Elemente wesentlich. Dass sie in Tonaufzeichnungen fehlen, liegt in der Natur der Sache, „… bedenklich stimmt nur, wie selten dieser Verlust auch als Mangel empfunden wird“ – die „ekelhafte Geschichte“ der Bühne wird so vom konzertanten Charakter der Tonaufzeichnung wieder verdrängt. In den Aufnahmen „… spiegeln sich daher konsequenterweise sehr viel häufiger die Veränderungen in der Kunst italienischen Operngesangs als Ansätze für eine dramaturgische Bewältigung von Victor Hugos und Giuseppe Verdis Stück“. Die Aufnahmen von Rigoletto bilden deshalb nicht selten bloß eine Plattform zur Präsentation von Gesangsstars – eine „dramaturgisch überzeugende Besetzung“ der drei Hauptrollen ist jedoch alles andere als trivial und im Ergebnis „eher ein seltener Glücksfall als der Regelfall“. Einer umfangreichen Diskografie stand das jedoch nicht im Wege. Für die Zeit zwischen 1907 und 2009 verzeichnet Operadis 190 komplette Einspielungen, davon 115 Live-Aufnahmen. Bis 1939 waren es zehn, zwischen 1940 und 1950 noch einmal 15. Zu einer Fülle von Einspielungen kam es dann in den 1950er-Jahren, als neue Aufnahmetechniken nicht nur eine längere Spieldauer der Tonträger, sondern durch Bandschnitt auch erstmals echte „Musikproduktionen“ (nicht nur bloße Wiedergaben) ermöglichten. Zwischen 1950 und 1959 waren es 31, zwischen 1960 und 1969 weitere 36, zwischen 1970 und 1979 noch einmal 33 Aufnahmen; seither geht die Zahl etwas zurück: 1980–1989: 23, 1990–1999: 14 und 2000–2009: 26; wobei seit Anfang der 1980er-Jahre viele Vinyl-Einspielungen auf CD digitalisiert wurden, so dass der jährliche Rigoletto-Output zum Teil deutlich höher lag. Fünf Aufnahmen erfolgten in Englisch, zwölf in Deutsch und jeweils eine in Russisch, Bulgarisch und Ungarisch, die letzte Produktion in deutscher Sprache erfolgte 1971 unter Siegfried Kurz mit der Dresdner Staatskapelle, Ingvar Wixell in der Titelrolle, Anneliese Rothenberger (Gilda) und Róbert Ilosfalvy (Herzog). Seit 1983 werden die Aufnahmen nur noch in der italienischen Originalsprache produziert. Weitere Veränderungen im Musikmarkt zeigen sich darin, dass seit 1996 keine Studioproduktionen mehr erstellt wurden und dass neuere Aufnahmen, wie die unter Nello Santi (2002) oder die unter Fabio Luisi (2010), nur noch auf DVD, also nicht mehr als reine Tonträger veröffentlicht wurden. Historische Aufnahmen Aufnahmen von Rigoletto bzw. einzelner Nummern aus dieser Oper gibt es, seit es professionelle Tonaufnahmen gibt. Die Arie „Questa o quella“ aus dem ersten Akt ist mit Klavierbegleitung schon auf der legendären ersten Aufnahme (noch auf Walze) Enrico Carusos von 1902 zu finden. Andere bekannte Interpreten von Nummern aus Rigoletto waren in der Frühzeit der Tonaufzeichnung Giovanni Martinelli, Giacomo Lauri-Volpi (jeweils Herzog), Titta Ruffo, Giuseppe De Luca, Pasquale Amato (Rigoletto), Marcella Sembrich, Luisa Tetrazzini oder Lily Pons (Gilda). 78er-Schallplatten mit dem Quartett aus dem dritten Akt von Rigoletto und dem Sextett aus Lucia di Lammermoor auf der Rückseite gehörten in den 1920er- und 1930er-Jahren zur Grundausstattung einer Schallplattensammlung. Fast alle diese Aufnahmen sind heute auf CD erhältlich. Rigoletto ist eine der ersten Opern, die in voller Länge auf Schallplatte aufgezeichnet wurden. Erstmals wurde das Werk 1912 komplett aufgenommen (in französischer Sprache), wofür insgesamt 25 Platten benötigt wurden; bei einer Gesamtspieldauer von knapp zwei Stunden musste also alle vier bis fünf Minuten gewechselt werden. 1915–1918 erfolgte eine erste Aufnahme in italienischer Sprache, mit Antonio Armentano Anticorona, Angela De Angelis und Fernando de Lucia in den Hauptrollen auf 18 doppelseitigen 78er-Platten. Die unzureichende Aufnahmetechnik in der Ära der akustischen Tonaufzeichnung (bis etwa 1925 wurden dafür keine Mikrophone verwendet, sondern ein Schalltrichter, vor dem sich Sänger und Orchester drängten) verfälscht allerdings den Höreindruck nicht unerheblich: „… während beim Quartett aus dem vierten [sic! recte: dritten] Akt des Rigoletto die Stimme Carusos – das Spektrum des Tenors liegt etwa zwischen 200 und 700 Hz – in ihrer ganzen Fülle und Farbigkeit erfaßt worden ist, klingen die Stimmen von Marcella Sembrich (1908), Luisa Tetrazzini (1912) und Amelita Galli-Curci (1917) wie farblose Pfeiftöne.“ Von diesen technischen Mängeln abgesehen, erlauben die zahlreichen historischen Aufnahmen einen Überblick über mittlerweile rund zwei Drittel der Interpretationsgeschichte des Rigoletto und damit auch über Veränderungen im Verständnis dieser Oper, soweit sich das im Gesang ausdrückt. Rollenportraits auf CD Rigoletto Die ersten Tonaufzeichnungen von Rigoletto wurden in einer Zeit vorgenommen, die stilistisch vom Verismo und seinem expressiven Gesangsstil geprägt war, damals in der italienischen Oper die zeitgenössische Musikrichtung. Die noch am Belcanto orientierte „alte Schule“, wie sie beispielsweise in den Rigoletto-Interpretationen von Giuseppe de Luca, Mattia Battistini oder Victor Maurel anklingt, bilden gegenüber diesem Trend eine Ausnahme. Der herausragende Sänger des Rigoletto war Anfang des 20. Jahrhunderts Titta Ruffo, der in dieser Rolle 1904 an der Scala debütierte. Auch von ihm gibt es keine Gesamtaufnahme, aber seine Interpretation ist in allen großen Szenen der Oper in Einzelaufnahmen erhalten. Wie Ruffo die Rolle gestaltet, analysiert Jürgen Kesting: Ruffos Interpretation blieb stilbildend bis ins Zeitalter der Langspielplatte. Anfang der 1950er-Jahre wurden nicht nur die Aufnahmetechniken verbessert, sondern auch künstlerisch neue Wege beschritten, etwa durch die Wiederbelebung von Traditionen des Belcanto. In dieser Ära schufen neben Leonard Warren, Gino Bechi, Ettore Bastianini und Giuseppe Taddei insbesondere Tito Gobbi und Robert Merrill prägende Rollenportraits: „… der zwischen Witz und Pathos, Parlando und Kantilene, Zynismus und Liebe gespaltenen Titelfigur kam bislang [1986] niemand näher als Merrill.“ Gobbi machte stimmliche Grenzen durch seine Ausdrucksfähigkeit wett, zum Beispiel in Rigolettos Monolog „Pari siamo“: Auch wenn der Rigoletto heute zum Standard-Repertoire von Baritonen gehört, so gelingt es nicht jedem Interpreten, die lyrisch-belcantistischen ebenso wie die dramatischen Seiten der Rolle abzudecken. Die Anforderungen sind groß: „Die Rigoletto-Stimme benötigt deshalb in gleichem Maße Zerbrechlichkeit wie Grandiosität, helle Beweglichkeit wie baritonale Wucht.“ Selbst namhafte Sänger wie Dietrich Fischer-Dieskau, Leo Nucci oder Plácido Domingo waren bzw. sind in dieser Rolle umstritten. Gilda An der Auffassung der Rolle Gildas zeigt sich ein Wandel anderer Art. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde Gilda, entsprechend dem damals gängigen Frauenbild, primär als schwärmerisches Mädchen, als unschuldig Verführte und schließlich als törichtes Opfer gesehen: „… ein Mädchen von äußerster Einfachheit, Reinheit und Unschuld“. Dementsprechend wurde die Partie in der Anfangszeit der Einspielungen vornehmlich mit „leichten“ Stimmen besetzt, mit soprani leggeri, also Koloratursopranen wie Marcella Sembrich, Luisa Tetrazzini oder Erna Berger. Toti dal Monte, die die Gilda in einer Inszenierung von 1922 unter Arturo Toscanini an der Scala sang, galt so lange Zeit als die ideale Gilda. Ihr „ätherischer Gesang“ sorgte für das „Unberührbare, Mädchenhafte, Kristallinische“, das von dieser Partie erwartet wurde. Diese Richtung der Interpretation verstellt jedoch eine andere Dimension: Gilda ist ja keineswegs das „unschuldige Mädchen“, das vielleicht in „Caro nome“ (entsprechend der Verdischen Logik der Gegensätze) zu hören ist; inwieweit zwischen ihr und dem Herzog Einverständnis herrscht, bleibt in der letztlich realisierten Fassung (nach Streichung der „Schlüsselszene“) ohnehin offen. Alle drei Duette mit Rigoletto zeigen eine Gilda, die sich ihrem Vater, seinem Lebensplan bzw. seiner „Lebenslüge“ und seinem patriarchalischen Wertekanon widersetzt, bis sie am Ende den Entschluss fasst, die Pläne des Vaters zu vernichten, ein Rollenverständnis, das mit den Mitteln des Koloratursoprans nicht mehr umzusetzen ist: „Die Interpretin der Gilda braucht für diese Rolle ein tiefes menschliches Empfinden, Einfühlungsvermögen und Verständnis; darum kann ich nicht verstehen, warum dieser Part oft einem soprano leggero anvertraut wird. Gilda schätzt die Liebe so hoch, dass sie bereit ist, ihr Leben dafür zu opfern. Den Herzog töten hieße ihr Ideal der Liebe töten.“ In diesem Sinne hat Toscanini schon 1944 die Gilda abweichend von der jahrzehntelangen Praxis mit Zinka Milanov besetzt, also mit einer dramatischen Sopranistin, die vor allem als La Gioconda, Aida oder Leonora (in Il trovatore) bekannt wurde; eine CD-Aufnahme des dritten Akts dieser Inszenierung ist erhalten. Diese Besetzung stieß jedoch auf deutliche Ablehnung, sodass diese Interpretationsrichtung vorerst eine Episode blieb. Anfang der 1950er-Jahre veränderte Maria Callas, die über beide Stimmtypen verfügte, die Sicht auf diese Rolle. Auf der Bühne hat Callas die Gilda zwar lediglich zweimal gesungen, es liegen der Mitschnitt einer Aufführung von 1952 (in Mexiko-Stadt unter Umberto Mugnai mit Piero Campolonghi als Rigoletto und Giuseppe Di Stefano als Herzog) sowie eine Studioproduktion von 1955 (unter Tullio Serafin) auf CD vor, wobei nur in der Studioproduktion mit Tito Gobbi ein adäquater Partner zur Verfügung stand. Das Rollen-Portrait, das nicht nur erklärte Callas-Fans unter den Experten wie Jürgen Kesting („Callas entwickelt die Partie wie keine andere Interpretin, singt zu Beginn mit ihrer zaubrischen Kleinmädchenstimme, entfaltet ein exemplarisches Legato im Duett mit Rigoletto, … In ‚tutte le feste’ und im Duett ‚Piangi, fanciulla piangi’ ist plötzlich eine ganz neue Stimme zu hören, ein von Leid und Schmerz getränkter Klang“) oder John Ardoin als „Meilenstein der Interpretationsgeschichte“ ansehen: „Den Soprano spinto der Gilda hat zumindest auf der instrumentalen Seite der Medaille wohl keine genialer getroffen als Maria Callas …“ Ab den 1960er-Jahren wurden für Einspielungen der Oper, so verfügbar, dann Stimmen bevorzugt, die über Koloratursicherheit hinaus auch den dramatischen Aspekt umsetzen konnten, beispielsweise Joan Sutherland, Renata Scotto oder Ileana Cotrubaș. Herzog Die Partie des Herzogs gilt seit Caruso als Paraderolle für Tenöre. Nicht zuletzt wegen der einfach strukturierten Zugnummern wie „La donna e mobile“ werden jedoch die Anforderungen an die Partie häufig unterschätzt. Die Mischung aus Emphase, Machismo und Zynismus fordert die Ausdrucksmöglichkeiten der Sänger: „Nicht allen war es jedoch gegeben, mit stimmlicher Eleganz genau diese von Verdi intendierte Charakterisierung zu treffen.“ Auch technisch ist die Partie anspruchsvoll: „Sie verlangt nicht nur großen Umfang und eine leichte Extensionsfähigkeit in die Höhe bis zum Des und zum D, sondern auch Singen ‚auf dem Atem‘ in vielen Passagen, die in der so genannten Passagio-Region liegen.“ Alfredo Kraus, Carlo Bergonzi und Luciano Pavarotti haben in Interviews erklärt, dass sie diese Partie für die schwierigste der Tenor-Partien Verdis halten. Nach Caruso konnten sich Beniamino Gigli und Tito Schipa in der Rolle des Herzogs profilieren; sie „verbanden in ihren Interpretationen veristische Manierismen mit beeindruckendem Mezzavoce alter italienischer Schule“. Bekannte Vertreter der Partie waren nach dem Zweiten Weltkrieg unter anderen Jussi Björling und Carlo Bergonzi, nachhaltig geprägt hat die Rolle Alfredo Kraus, der die Partie insgesamt vierzehnmal einspielte: „1960 sang er den Herzog unter Gavazzeni, 1963 unter Georg Solti – und beide Male sang er ihn besser, vor allem vollständiger als alle seine Rivalen.“ Hervorzuheben ist auch die Aufnahme von 1971 mit Luciano Pavarotti; er „bietet eine exemplarische Interpretation – auch wenn sie nicht alle Erwartungen erfüllen mag“. Dagegen entsprechen Interpretationen von Sängern wie Giuseppe Di Stefano, Franco Corelli oder Mario del Monaco, die einen „athletischen Gesangsstil“ pflegten, nicht mehr den heutigen Hörgewohnheiten. Gesamtaufnahmen (Auswahl) (Dirigent; Rigoletto, Gilda, Herzog, Sparafucile, Maddalena; Label) 1912; François Ruhlmann, Jean Noté, Aline Vallandri, Robert Lassalle, Pierre Dupré, Ketty Lapeyrette; Audio Encyclopedia, (CD 1999) 1944; Arturo Toscanini; Leonard Warren, Zinka Milanov, Jan Peerce, Nicola Moscona, Nan Merriman; RCA/Urania (nur 3. Akt) 1954; Angelo Questa; Giuseppe Taddei, Lina Pagliughi, Ferruccio Tagliavini, Giulio Neri, Irma Colasanti; Warner-Fonit 1955; Tullio Serafin; Tito Gobbi, Maria Callas, Giuseppe Di Stefano, Nicola Zaccaria, Adriana Lazzarini; EMI 1956; Ionel Perlea; Robert Merrill, Roberta Peters, Jussi Björling, Giorgio Tozzi; Naxos 1956; Mario Rossi, Josef Metternich, Mimi Coertse, Libero De Luca, Gottlob Frick, Ira Malaniuk, Walhall - WLCD0193 1960; Gianandrea Gavazzeni; Ettore Bastianini, Renata Scotto, Alfredo Kraus, Ivo Vinco, Fiorenza Cossotto; BMG 1961; Nino Sanzogno; Cornell MacNeil, Joan Sutherland, Renato Cioni, Cesare Siepi, Stefania Malagu; Decca 1963; Georg Solti; Robert Merrill, Anna Moffo, Alfredo Kraus, Ezio Flagello, Rosalind Elias; RCA 1964; Rafael Kubelík; Dietrich Fischer-Dieskau, Renata Scotto, Carlo Bergonzi, Ivo Vinco, Fiorenza Cossotto; Deutsche Grammophon 1967; Francesco Molinari-Pradelli; Cornell MacNeil, Reri Grist, Nicolai Gedda, Agostino Ferrin, Anna di Stasio; EMI 1971; Richard Bonynge; Sherrill Milnes, Joan Sutherland, Luciano Pavarotti, Martti Talvela, Huguette Tourangeau; Decca 1977; Francesco Molinari-Pradelli; Rolando Panerai, Margherita Rinaldi, Franco Bonisolli, Bengt Rundgren, Viorica Cortez; Arts Music 1978; Julius Rudel; Sherrill Milnes, Beverly Sills, Alfredo Kraus, Samuel Ramey, Mignon Dunn; EMI 1979; Carlo Maria Giulini; Piero Cappuccilli, Ileana Cotrubaș, Plácido Domingo, Nikolaj Gjaurow, Elena Obraztsova; Deutsche Grammophon 1984; Giuseppe Sinopoli; Renato Bruson, Edita Gruberová, Neil Shicoff, Robert Lloyd, Brigitte Fassbaender; Decca 1989; Riccardo Chailly; Leo Nucci, June Anderson, Luciano Pavarotti, Nikolaj Gjaurow, Shirley Verrett; Decca 1993; James Levine; Vladimir Chernov, Cheryl Studer, Luciano Pavarotti, Roberto Scandiuzzi, Denyce Graves; Deutsche Grammophon 2000; Mark Elder; John Rawnsley, Helen Field, Arthur Davies, John Tomlinson, Jean Rigby; Chandos Verfilmungen (Auswahl) Rigoletto (1946) – Regie: Carmine Gallone, Dirigent: Tullio Serafin, Sänger: Tito Gobbi, Lina Pagliughi, Mario Filippeschi, Giulio Neri Rigoletto (1977) – Regie: Kirk Browning, Dirigent: James Levine, Sänger: Cornell MacNeil, Ileana Cotrubaș, Placido Domingo Rigoletto (1983) – Regie: Jean-Pierre Ponnelle, Dirigent: Riccardo Chailly, Sänger: Ingvar Wixell, Edita Gruberova, Luciano Pavarotti, Ferruccio Furlanetto Rigoletto (1995) – Regie: Barry Purves (Animationsfilm) Rigoletto (2000) – Regie: David McVikar, Dirigent: Edward Downes, Sänger: Paolo Gavanelli, Christine Schäfer, Marcelo Álvarez Rigoletto (2002) – Regie: Gilbert Deflo, Dirigent: Nello Santi, Sänger: Leo Nucci, Elena Mosuc, Piotr Beczala Giuseppe Verdi’s Rigoletto Story (2005) – Regie: Gianfranco Fozzi, Dirigent: Keri-Lynn Wilson, Sänger: Roberto Servile, Inva Mula, Marcelo Álvarez, Dauer: 126 Minuten Rigoletto (2008) – Regie: Nikolaus Lehnhoff, Dirigent: Fabio Luisi, Sänger: Zeljko Lučić, Diana Damrau, Juan Diego Flórez Rigoletto in Film und Fernsehen Aufgrund der großen Popularität gilt Rigoletto häufig als Synonym für Oper überhaupt (oder sogar für „Italianità“ bzw. italienische Lebensweise im weitesten Sinn und wird beispielsweise im Film entsprechend zitiert). In dem deutschen Kriminalfilm „Die Stunde der Versuchung“ von 1936 unter der Regie von Paul Wegener, mit Gustav Fröhlich, Lída Baarová und Harald Paulsen, bildet ein Opernbesuch mit einer Rigoletto-Aufführung die Rahmenhandlung. In Bernardo Bertoluccis 1976 entstandenem Filmepos Novecento (1900) leitet ein als Rigoletto verkleideter betrunkener Buckliger mit dem Ausruf „Verdi ist tot“ die zweite Episode ein. Das Quartett aus dem 3. Akt von Rigoletto steht im Zentrum des unter der Regie von Dustin Hoffman gedrehten britischen Spielfilms Quartett (2012). Der auf einem Theaterstück von Ronald Harwood basierende Film erzählt die Geschichte von ehemaligen Sängern und Musikern, die ihr Altenheim durch eine Verdi-Gala, in deren Mittelpunkt das Quartett stehen soll, vor dem finanziellen Ruin retten wollen. Auch die Werbung greift gelegentlich auf Rigoletto zurück, so 1992 ein Werbeclip für Choco Crossies von Nestlé mit einem Zitat der Arie La donna è mobile, ebenso Dr. Oetker 2006 für die Pizza Ristorante. Literatur Noten Der Partitur-Verlag ist: G. Ricordi & C.S.p.A., Mailand. Rigoletto. Klavierauszug. Edition C. F. Peters, Frankfurt 2010, . Libretto Kurt Pahlen, Rosemarie König: Giuseppe Verdi: Rigoletto. Textbuch. Italienisch / Deutsch. 5. Auflage. Schott, Mainz 2003, ISBN 3-254-08025-4. Giuseppe Verdi: Rigoletto. Deutsch, Italienisch. Reclam, Stuttgart 1998, ISBN 3-15-009704-5. Sekundärliteratur Daniel Brandenburg: Verdi. Rigoletto. Bärenreiter, Kassel 2012, ISBN 978-3-7618-2225-8. Julian Budden: Verdi. Leben und Werk. 2., revidierte Auflage. Reclam, Stuttgart 2000, ISBN 3-15-010469-6. Attila Csampai, Dietmar Holland (Hrsg.): Giuseppe Verdi. Rigoletto (= rororo-Sachbuch. Nr. 7487; rororo-Opernbücher). Rowohlt, Reinbek 1982, ISBN 3-499-17487-1. Rolf Fath: Reclams Kleiner Verdi-Opernführer. Reclam, Stuttgart 2000, ISBN 3-15-018077-5. Leo Karl Gerhartz: Rigoletto. In: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters. Band 6. Piper, München/Zürich 1986, ISBN 3-492-02421-1, S. 432–439. Egon Voss: Rigoletto. In: Anselm Gerhard, Uwe Schweikert (Hrsg.): Verdi-Handbuch. Bärenreiter, Kassel 2001, ISBN 3-7618-2017-8, S. 386 ff. Weblinks Libretto (italienisch), Venedig 1850. Digitalisat des Münchener Digitalisierungszentrums Werkinformationen und Libretto (italienisch) als Volltext auf librettidopera.it Einzelnachweise Oper in italienischer Sprache Oper von Giuseppe Verdi Musik 1851 Oper aus dem 19. Jahrhundert Operntitel Werk nach Victor Hugo Francesco Maria Piave
555697
https://de.wikipedia.org/wiki/Rasiermesser
Rasiermesser
Ein Rasiermesser ist ein sehr scharfes Messer für die Nass-, seltener auch für die Trockenrasur, bestehend aus einer länglichen Stahlklinge und einem Griff. Die Klinge ist zumeist aus nicht rostfreiem Kohlenstoffstahl gefertigt und hohl geschliffen. Für den Griff werden Materialien wie Holz, Perlmutt, Horn oder auch Kunststoff verwendet. Für die Lagerung und den Transport kann die scharfe Klinge in den Griff eingeklappt werden. Rasiermesser dieser Bauart dominierten im 19. Jahrhundert, der „Goldenen Ära“ des Rasiermessers und wurden lange Zeit nur noch von professionellen Barbieren verwendet. Seit einigen Jahren finden Rasiermesser jedoch auch zunehmend im Privatbereich wieder eine wachsende Verwendung. Im Gegensatz zu Rasierhobeln und Systemrasierern fallen bei einem Rasiermesser nach der Anschaffung keine weiteren Kosten für Wechselklingen an. Zudem können mit einem Rasiermesser gründlichere Rasuren erzielt werden. Jedoch bedarf die Benutzung einer gewissen Übung, um Verletzungen zu vermeiden. Die Klinge muss vor jeder Rasur auf einem Streichriemen abgeledert und in regelmäßigen Abständen nachgeschliffen werden, um die Schärfe der Schneide zu erhalten. In Abgrenzung zum klassischen Rasiermesser wird ein Rasiermesser mit Wechselklinge als Shavette bezeichnet. Geschichte Bronzezeit In Ägypten kam das Rasieren des Gesichts in der Frühdynastischen Periode (3100–2686 v. Chr.) zunächst bei den oberen Schichten in Mode und verbreitete sich später auch im Rest der Bevölkerung. Rasiermesser bestanden aus Kupfer oder Bronze. Die Existenz von Barbieren ist durch Grabszenen belegt, so etwa im Grab des Userhet (KV45), eines hohen Beamten der 18. Dynastie (1550–1292 v. Chr.). In Europa sind Rasiermesser nachweislich seit der Mittleren Bronzezeit in Gebrauch. Dabei werden zwei Typen unterschieden, die sich beide vom östlichen Mittelmeerraum aus im übrigen Europa verbreiteten, jedoch zu unterschiedlichen Zeiten. Doppelschneidige Rasiermesser kamen in Mittel- und Westeuropa, einschließlich der britischen Inseln, im 16. Jahrhundert v. Chr. in Gebrauch, einschneidige Rasiermesser dagegen ausschließlich in Skandinavien im 15. Jahrhundert v. Chr. Die Funktion dieser Messer ist laut Frank Gnegel, Autor einer Kulturgeschichte der Selbstrasur, „durch erhaltene Haarreste an den Schneiden eindeutig belegt“. Dabei hatten Rasiermesser, so Gnegel, „anscheinend zusätzlich eine religiöse oder kultische Funktion, denn sie fanden sich nur in einem Teil der Männergräber und standen offensichtlich nur Familienoberhäuptern oder Personen aristokratischer Herkunft zu“. Römisches Reich Zur Zeit des Römischen Reiches unterlag die Verwendung von Rasiermessern der jeweiligen Mode. Der römische Gelehrte Marcus Terentius Varro schreibt in seinem Lehrbuch De re rustica, das Rasieren des Gesichts habe sich erst um 300 v. Chr. in Rom verbreitet, nachdem P. Ticinius Menas einen Barbier aus Sizilien mitgebracht habe, und Plinius der Ältere schreibt in seiner Naturalis historia, Scipio der Jüngere sei der erste Römer gewesen, der sich jeden Tag rasierte. Auch im späteren Römischen Reich, insbesondere von der Regierung Hadrians bis zu den späten Severern und von der Herrschaft des Gallienus bis zur Römischen Tetrarchie, war das Rasieren eine selten geübte Praxis. Ein Rasiermesser (novacula) gehörte genauso wie ein Kamm (pecten), Spiegel (speculum), Schere (acitia) und Brennschere (calamistrum) zur Standardausstattung eines römischen Barbiers. Das Messer wurde unter Verwendung von Öl auf einem Stein geschärft und nach dem Gebrauch in einem Kästchen aufbewahrt. Laut Plinius dem Älteren wurden Spinnweben zur Versorgung von Schnitten im Gesicht verwendet. In Pompeji gefundene Exemplare von frühen Klapp-Rasiermessern mit zwölf Zentimeter langen trapezförmigen Klingen und Griffen aus Elfenbein gehörten als Luxusobjekte zum Hausstand höherer Schichten. Mittelalter Seit der Spätantike war die Bartlosigkeit ein Kennzeichen des abendländischen Klerus. Bei den Mönchsorden regelten genaue Vorschriften die Benutzung und Verwahrung der verwendeten Rasiermesser. Sie wurden in einem geschlossenen Kasten aufbewahrt und von einem eigens hierfür bestimmten Bruder vor der Verwendung geschärft. Zur Rasur teilten sich die Mönche in Paare auf, bei denen jeweils ein Mönch das Rasiermesser und der andere eine Schüssel mit Wasser hielt. Allerdings wurde das Rasieren nicht durchgängig einheitlich gehandhabt. Mittelalterliche Bildquellen zeigen sowohl glattrasierte Kleriker als auch solche mit Vollbärten. Spätestens im 14. Jahrhundert etablierte sich das Handwerk der Barbiere, die neben medizinischen Tätigkeiten auch die Rasur vornahmen. Da die Verwendung von Seifenschaum beim Rasieren erst später üblich wurde, war das Rasieren mit dem Messer zu jener Zeit eine schmerzhafte Prozedur. Erleichtert wurde der Vorgang allein in Badestuben, in denen Wasser oder Dämpfe das Barthaar vor der Verwendung des Rasiermessers aufweichten. Frühe Neuzeit Wie zu allen Zeiten stieg und fiel die Bedeutung des Rasiermessers in der Frühen Neuzeit mit der Notwendigkeit zur Rasur und damit der jeweiligen Bartmode. Anfang des 16. Jahrhunderts setzte sich – beeinflusst von der Mode des französischen Königs Franz I. – der Vollbart wieder stärker durch. Doch schon in den vierziger Jahren des 16. Jahrhunderts wurden die Vollbärte – diesmal vom spanischen Hof ausgehend – von kurzen Spitzbärten abgelöst. Im Frankreich des späten 17. Jahrhunderts waren zunächst dünne Oberlippenbärte beliebt, die – auf Ludwig XIV. Bezug nehmend – „Royale“ genannt wurden. Dass Ludwig schließlich in seinen letzten Lebensjahren gänzlich zur Glattrasur überging, wurde von späteren Autoren als der „Untergang des Bartes in […] Europa“ beklagt. Für die Entwicklung des Rasiermessers war vor allem die Erfindung des besonders reinen und extrem harten Gussstahls Mitte des 18. Jahrhunderts von Bedeutung. Eine neue, gemeinhin Benjamin Huntsman zugeschriebene Produktionsmethode sowie das Streben englischer Stahlproduzenten nach höherer Qualität ermöglichten die Herstellung von Rasiermessern mit einer bis dahin nicht gekannten Schärfe und Schnitthaltigkeit. Die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aufkommende Selbstrasur wurde durch Werke wie Jean-Jacques Perrets La Pogonotomie, ou l’art d’apprendre à se raser soi-même, einer Anleitung zum eigenständigen Gebrauch des Rasiermessers aus dem Jahr 1770, sowie vergleichbare Werke von Benjamin Kingsbury und John Savigny popularisiert. 19. Jahrhundert Das 19. Jahrhundert gilt als die „Goldene Ära“ des Rasiermessers. Mit dem Aufkommen der Serienproduktion im 19. Jahrhundert erreichten Rasiermesser eine weitere Verbreitung als jemals zuvor. Insbesondere Klingen aus Solingen, Sheffield und den französischen Zentren der Messerherstellung dominierten den Markt. Die schnelle Auflagenfolge der bereits erwähnten Anleitungen zum Gebrauch und zur Pflege von Rasiermessern belegt eindrücklich, in welchem Maße sich die Verwendung des Rasiermessers zu einem breite Schichten durchdringenden Phänomen entwickelte. Allein Kingsburys Treatize on Razors erlebte zwischen 1797 und 1837 insgesamt zwölf Auflagen. Schon seit 1800 war das Buch unter dem Titel Abhandlung von Barbier-Messern auch für das deutsche Publikum verfügbar. Während sich die Selbstrasur in England noch länger hielt, wurde es in Deutschland gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend unüblicher, selbst zum Rasiermesser zu greifen. Stattdessen ging man zum Barbier, einem Gewerbe, das im Deutschland der 1890er einen kräftigen Aufschwung nahm. Laut Gnegel standen im Jahr 1895 „43.500 Erwerbstätigen im Barbiergewerbe lediglich 16.900 im Friseurgewerbe entgegen.“ Dabei kam das Rasiermesser nicht nur bei der Glattrasur zum Einsatz, denn auch Schnurrbartträger ließen sich Teile des Gesichts mit dem Messer rasieren. 20. und 21. Jahrhundert Durch die Einführung des von King Camp Gillette entwickelten Rasierhobels mit austauschbarer Klinge in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das Rasiermesser zurückgedrängt. Die von Gillette hergestellten Rasierklingen mussten nicht mehr nachgeschärft werden und ersparten dem Anwender damit einen bei der Verwendung von Rasiermessern notwendigen Pflegeschritt. Hersteller wie Gillette wiesen darauf hin, dass bei der Verwendung von Rasierhobeln eine geringere Ansteckungsgefahr für übertragbare Hautkrankheiten bestand als beim Besuch eines Rasiermesser benutzenden Barbiers. Zudem spare die Selbstrasur mit einem Rasierhobel von Gillette „Zeit und Geld“ und verschaffe dadurch „ein wahres Vergnügen“, wie es in einem zeitgenössischen Bericht hieß. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs bekam das Rasiermesser zusätzliche Konkurrenz durch die Erfindung des elektrischen Trockenrasierers. Im Bereich der Nassrasur dominieren heute Systemrasierer, bei denen auswechselbare Baugruppen aus Kunststoff mit bis zu sechs Klingen nach mehrmaliger Verwendung weggeworfen werden. Die klassische Nassrasur mit einem Rasiermesser hat zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine in ihrer Wirkung begrenzte Renaissance erlebt. Insbesondere nach dem Erscheinen des Kinofilms Skyfall, in dem der Hauptdarsteller Daniel Craig von seiner Filmpartnerin mit einem Rasiermesser rasiert wird und diese die Messerrasur mit den Worten „manchmal ist die altmodische Art auch die beste“ (engl. „sometimes the old ways are the best“) kommentiert, konnten einige der europäischen Hersteller von Rasiermessern ihre Absatzzahlen vervielfachen. Herstellung Heute im Handel erhältliche industriell gefertigte Rasiermesser werden aus gewalzten Stahlbändern gefertigt. Von diesen Stahlbändern werden zunächst „Spalten“ abgeschnitten, deren Querschnitt annähernd dem der fertigen Klinge entspricht. Diese Spalten werden in einem Ofen für die Weiterverarbeitung erhitzt. Anschließend holt der Schmied die Metallrohlinge mit einer Zange aus dem Ofen und gibt ihnen in einem Gesenk unter einem Fallhammer ihre spätere Gestalt. Dann wird beim Entgraten das überschüssige Metall entfernt. Hierzu wird mit einer Maschine der Rand ausgestanzt. Die auf diese Weise entstandenen Stahlrohlinge werden anschließend gehärtet, damit die späteren Rasiermesser eine ausreichende Schnitthaltigkeit aufweisen. Hierzu werden die Rohlinge für einige Minuten in ein Bad aus flüssigem, über 850 °C heißem Blei gehalten. Dann werden die Rohlinge in einem mit Öl gefüllten Becken abgekühlt, was dem Stahl seine Härte verleiht. Die beim Temperatursturz entstandenen Abweichungen werden anschließend von Hand mit Hammer und Amboss korrigiert. In der Schleiferei erhalten die so entstandenen Rohlinge dann ihre endgültige Form. Das Hohlschleifen erfolgt mittels rotierender Schleifsteine, deren Durchmesser der Krümmung des Hohlschliffs entspricht. In einer Reihe von Arbeitsschritten gibt der Rasiermesserschleifer dem Werkstück dabei seine – je nach Fertigungsserie charakteristische – Form. Beim anschließenden Feinschliff wird das Rasiermesser schließlich weiter geschärft. Dann werden die Klingen poliert und mit einer Verzierung versehen. Zum Anbringen von dekorativen Goldätzungen werden die Stahlklingen in ein Elektrolysebad gehängt. Der letzte Arbeitsschritt besteht aus der Montage der Griffschalen, die individuell an jedes Messer angepasst werden, damit die empfindliche Klinge die Schalen beim Ein- und Ausklappen nicht berührt. Seine letzte Schärfe erhält das Messer auf Schleifsteinen unterschiedlicher Körnung. Anschließend wird der Grat des Messers auf einem Streichriemen aufgerichtet und das fertige Stück für den Verkauf verpackt. Technische Aspekte Aufbau Ein klassisches Rasiermesser besteht grundsätzlich aus zwei Teilen: der Klinge und dem Griff. Die Klinge ist über einen Stift in ihrem Schaft mit der Griffschale verbunden. Der Klingenschaft – auch als ‚Erl‘ bezeichnet – läuft in die Angel aus. Diese Fingerhohlung vereinfacht das Ausklappen des Messers und bietet während des Rasierens einem Finger – zumeist dem Ringfinger – Halt. Der Schaft ist häufig mit einem Markenzeichen versehen, das entweder als Gravur oder mittels eines Stempels aufgebracht ist. In einigen Fällen werden auf der Ober- oder Unterseite des Schaftes Einkerbungen angebracht, die ein Verrutschen des Messers verhindern sollen. Die in der Regel aus besonders schnitthaltigem Kohlenstoffstahl (seltener aus rostfreiem Edelstahl) bestehende Rasiermesserklinge ist üblicherweise mit einem Hohlschliff versehen. Viele moderne Rasiermesserhersteller polieren die Klingen und bringen auf der Vorderseite eine Ätzung mit der Serien- oder Herkunftsbezeichnung an. Besonders hochwertige Klingen wie etwa diejenigen aus der Serie „Bergischer Löwe“ der Solinger Firma DOVO werden auf ihrer Vorderseite mit einer Goldätzung versehen. Die obere Kante der Klinge wird als ‚Rücken‘ bezeichnet, die untere Kante als ‚Schneide‘. An ihrem Ende läuft die Klinge in den ‚Kopf‘ aus, der unterschiedliche Formen aufweisen kann (mehr dazu siehe unten). Der Griff des Rasiermessers besteht zumeist aus zwei Schalen, die durch zwei bis drei Metallstifte miteinander verbunden sind. Die Griffschalen können aus Kunststoff, Holz, Perlmutt oder Horn, seltener aus exotischeren Stoffen wie Mammutelfenbein bestehen. Dabei spiegelt sich die Verwendung von hochwertigeren Materialien für den Griff zumeist im Preis des Rasiermessers wider. Klingentypen Die verschiedenen Typen von Rasiermesserklingen unterscheidet man auf der Grundlage von drei Merkmalen: der Kopfform der Klinge, der Klingenbreite und dem Schliff der Klinge. Beim Klingenkopf unterscheidet man zwischen Gradkopf – der Kopf läuft an beiden Enden rechtwinklig aus. Diese Kopfform ermöglicht eine präzisiere Konturführung, kann aber bei unsachgemäßer Handhabung des Rasiermessers zu Verletzungen durch die spitzen Enden führen. Rundkopf – der Kopf ist abgerundet. Diese Kopfform wird häufig für Anfänger in der klassischen Nassrasur mit einem Messer empfohlen, da sie keine spitzen Enden aufweist. Französischer Kopf – der Kopf läuft in einem Viertelkreis aus, der sich zum Klingenende hin zuspitzt. Die Konturführung ist ähnlich präzise wie beim Gradkopf. Spanischer Kopf – der Kopf hat einen leichten Radius nach innen, was die Konturführung erleichtern soll. Die Klingenbreite wird traditionell in Achtel-Zoll (engl. „Inch“) angegeben. Die im Handel verfügbaren Klingen variieren zwischen 3/8 und 7/8 Zoll; schmalere oder breitere Klingen sind sehr selten zu finden. Bei der Rasur nehmen breitere Klingen zwar eine größere Menge an Rasierschaum auf, sind aber im Vergleich zu schmaleren Klingen schwieriger an engen Gesichtspartien – wie etwa dem Bereich zwischen Nase und Oberlippe – zu führen. Die am häufigsten verwendete Klingenbreite ist 5/8 Zoll. Sie ist insbesondere bei Anfängern in der klassischen Nassrasur beliebt. Eines der wichtigsten Qualitätsmerkmale eines Rasiermessers ist der Schliff der Klinge. Art und Form des Klingenschliffs haben entscheidenden Einfluss auf die Güte der Rasur. Sie beeinflussen die Flexibilität und die Schärfe der Schneide. Die meisten Rasiermesserklingen, die heute in den Handel gelangen, sind mit einem Hohlschliff versehen. Je nach Stärke der Hohlung reicht die Bezeichnung der Klingen von derb (flacher Schliff) über halbhohl bis vollhohl. Darüber hinaus gibt es auch noch einige Spezialschliffe, wie extrahohle Messer oder Varianten mit einem sogenannten Wall zur Stabilisierung der Klinge. Als Faustregel heißt es, je hohler der Schliff, desto hochwertiger das Messer. Mit zunehmender Hohlung wird die Klinge deutlich flexibler und kann sich bei der Rasur besser schwierigen Gesichtspartien anpassen. Gebrauch und Pflege Vor der Rasur Um größtmögliche Wirkung zu erzielen, muss ein Rasiermesser so scharf wie möglich sein. Vor jeder Rasur sollte das Messer deshalb auf einem Streichriemen „abgeledert“ werden, um den feinen Grat der Messerschneide, der nach der letzten Rasur winzige Unebenheiten aufweist, wieder aufzurichten. Das Abledern erfolgt, indem das Rasiermesser flach auf den Streichriemen aufgelegt und dann mit wenig Druck in Richtung Klingenrücken streichend über das Leder gezogen wird. Durch die Verwendung eines mit einem Schleifmittel behandelten Streichriemens aus Stoff oder eines Balsaholzstabs kann das Rasiermesser zusätzlich poliert werden. Während der Rasur Zur Vorbereitung der klassischen Nassrasur wird die untere Gesichtshälfte mit einem Rasierpinsel und unter Verwendung von Rasierseife oder Rasiercreme eingeschäumt. Einige Nutzer verwenden vor dem Einschäumen zusätzlich ein spezielles Pre-Shave-Öl, um ein besseres Gleiten der Klinge zu ermöglichen. Während der Rasur wird das Rasiermesser in einem Winkel von 30° zur Gesichtshaut geführt. Hierzu wird das Rasiermesser so weit aufgeklappt, dass der Griff im rechten Winkel zur Klinge steht. Das Rasiermesser kann dann in drei verschiedenen Haltungen geführt werden: Bei der „Eins-zu-eins-Haltung“ liegt allein der Zeigefinger auf dem Erl, dem Schaft des Messers, bei der „Zwei-zu-eins-Haltung“ liegen Zeige- und Mittelfinger auf dem Erl und bei der „Drei-zu-eins-Haltung“ Zeige-, Mittel- und Ringfinger. Die Wahl der Haltung ist letztendlich eine Frage der persönlichen Vorliebe und hängt von dem Gefühl ab, mit welcher Haltung die beste Balance zwischen Kontrolle über das Rasiermesser und flexibler Klingenführung erzielt werden kann. Je nach Haltung des Messers liegen der oder die nächsten, dem Körper abgewandten Finger auf der Hohlung der Angel. Nach der Rasur Nach der Rasur bedarf die Klinge spezieller Pflege – sie muss gründlich gereinigt und getrocknet werden. Da Rasiermesser in der Regel aus nicht rostfreiem Stahl bestehen, sind sie besonders anfällig für Rost. Deshalb sollte die Klinge bei längerer Nichtbenutzung mit einem Waffenöl wie Ballistol eingeölt werden. Wird ein Rasiermesser durch das Abziehen auf dem Lederriemen nicht mehr scharf genug für eine Rasur, muss es mit Hilfe eines Abziehsteins (z. B. Belgischer Brocken, Arkansasstein) nachgeschärft werden. Im Gegensatz zum Abziehen auf dem Lederriemen schleift man beim Abziehen auf dem Stein Material ab. Zu Zeiten, als die Rasur mit einem Rasiermesser die bevorzugte Methode der Nassrasur war, schafften sich vermögendere Nutzer einen Satz von sieben Messern an. Verkauft wurden diese Messersätze in speziellen Aufbewahrungsbehältnissen, in denen die einzelnen Rasiermesser mit „Sonntag“ bis „Samstag“ gekennzeichnet waren. Laut Phillipp L. Krumholz lag die Anschaffung eines Wochensatzes an Messern darin begründet, dass die über Land ziehenden Scherenschleifer nicht immer verfügbar waren und eine größere Zahl von Messern dafür sorgte, dass zumindest eines von ihnen die für die Rasur ausreichende Schärfe aufwies. Kulturgeschichte Rasiermesser in religiösen Ritualen und Vorstellungen Außerhalb ihres eigentlichen Verwendungszweckes spielen Rasiermesser eine Rolle in verschiedenen religiösen Ritualen und Vorstellungen. So kommt es etwa im Zuge der alljährlich stattfindenden Aschura-Riten zu Ehren des Martyriums des dritten Imams Husain ibn ʿAlī traditionell zu Selbstgeißelungen, bei denen sich einige der teilnehmenden jungen Männer unter anderem mit Rasiermessern Schnitte im Stirnbereich zufügen lassen. Anschließend gehen die Männer durch die Straßen, um durch die Zurschaustellung ihrer blutgetränkten Kleider und blutverschmierten Gesichter ihre Treue zum schiitischen Glauben zu bezeugen. In Indien werden Rasiermesser bis heute im Chudakarana (auch: Mundana), einem der Übergangsrituale des Hinduismus, eingesetzt. Dabei wird Kindern der Kopf rasiert, um sie auf diese Weise von unerwünschten Eigenschaften aus ihren vorigen Leben zu befreien und ihnen ein neues langes Leben zu garantieren. Rasiermesser als chirurgisches Werkzeug bei Beschneidung und Geburt In Ländern, in denen Beschneidungen des Penis (Zirkumzision) oder der Klitoris (Klitoridektomie) üblich sind, fungiert das Rasiermesser häufig als chirurgisches Werkzeug. So ist etwa von der traditionellen Beschneidungszeremonie von neun- bis zehnjährigen Jungen auf Samoa überliefert, dass diese entweder mit einem Rasiermesser, einem Bambusmesser oder einer Glasscherbe vorgenommen wurde. Bei den Efik, einem im Südosten Nigerias lebenden Volk, wurden bis mindestens in die 1950er Jahre die Entfernung der Klitoris sowie die Entfernung der Penisvorhaut mit einem Rasiermesser vorgenommen. Die in Tunesien lebenden Berber nutzten Rasiermesser in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Durchtrennung der Nabelschnur bei Neugeborenen. Rasiermesser in der Kriminalitätsgeschichte der Neuzeit Aufgrund seiner außerordentlichen Schärfe ist ein Rasiermesser auch eine gefährliche Waffe. Rasiermesser als Tatwerkzeuge wurden sowohl von kriminellen Einzeltätern als auch von Gruppen verwendet. Im Zuge der Racecourse Wars (dt. Rennbahn-Kriege) fochten englische Banden wie die Birmingham Boys in den 1920er und 1930er Jahren blutige Schlachten um die Kontrolle des Pferdewettengeschäfts aus und bauten dabei auf die besonders abschreckende Wirkung der scharfen Rasiermesserklingen. In Australien gingen organisierte Banden Ende der 1920er Jahre als Razor Gangs in die Geschichte ein. Sie setzten Rasiermesser ein, nachdem der Schusswaffenbesitz in New South Wales durch den Pistol Licensing Act von 1927 eingeschränkt worden war. Darüber hinaus gibt es Fälle, in denen Rasiermesser von Einzeltätern zur Verstümmelung oder Zerstückelung ihrer Opfer benutzt wurden. In Deutschland erregte vor allem die Tat des in Bayreuth stationierten amerikanischen Offiziers Gerald M. Werner Aufsehen, der seine Freundin Ursula im März 1966 im Bad umbrachte und die Bewusstlose dabei mit einem Rasiermesser zerstückelte. Nachdem das Bayreuther Schwurgericht Werner wegen Schuldunfähigkeit von der Mordanklage freigesprochen hatte, bestätigte der Bundesgerichtshof dieses Urteil im April 1967. Beide Urteile riefen in der deutschen Öffentlichkeit heftige Diskussionen hervor. Rasiermesser in der Weltliteratur In der Weltliteratur gibt es zahlreiche Werke, in denen Rasiermesser eine prominente Rolle spielen. Häufig dienen Rasiermesser dabei als Mordwerkzeug, so etwa in Edgar Allan Poes Kurzgeschichte The Murders in the Rue Morgue, in der ein Orang-Utan eine Frau beim Nachahmen des Rasiervorgangs mit einem Rasiermesser tötet, oder in dem Kriminalroman Das Versprechen von Friedrich Dürrenmatt (nach der Drehbuchvorlage des Films Es geschah am hellichten Tag), in dem ein Mädchen im Wald aufgefunden wird, das mit einem Rasiermesser ermordet wurde. Neben der Verwendung in der Kriminalliteratur tauchen Rasiermesser im Zusammenhang mit Mord auch in anderen Werken der Weltliteratur auf. In The Posthumous Papers of the Pickwick Club von Charles Dickens sinniert einer der Protagonisten darüber nach, seine Frau im Schlaf mit einem Rasiermesser zu töten, lässt aber noch in letzter Sekunde davon ab. In William Faulkners Roman Light in August wird Joanna Burden mit einem Rasiermesser getötet und dabei beinahe geköpft, wobei es laut der Literaturwissenschaftlerin Martha Banta der Glaube des Mörders an seine eigene schwarzafrikanische Herkunft ist, der ihn zum Rasiermesser statt zur Pistole greifen lässt. Darüber hinaus spielt das Rasiermesser eine Rolle als Werkzeug zum Suizid. In August Strindbergs Tragödie Fröken Julie überzeugt Jean, der Diener des Grafen, Julie am Ende davon, Selbstmord zu begehen. In der Schlussszene des Dramas gibt er ihr ein Rasiermesser, woraufhin Julie mit dem Messer in der Hand die Bühne verlässt. Weiterhin tauchen Rasiermesser in Werken der Weltliteratur in Szenen auf, in denen sich eine männliche Figur rasiert. Mit Bezug auf die prominent am Beginn des Romans Ulysses von James Joyce beschriebene Rasur Buck Mulligans weist Cheryl Temple Herr in ihrem Essay Joyce and the Art of Shaving darauf hin, dass das von Mulligan benutzte Rasiermesser und die Art seiner sehr vorsichtigen Handhabung dem Leser Interpretationsansätze zu Mulligans Charakter bieten. Und schließlich werden Rasiermesser immer dann in die Handlung eingeführt, wenn es gilt, die besondere Härte ihres Stahls zu betonen. So etwa, wenn Kapitän Ahab in Herman Melvilles Roman Moby-Dick seinen Schiffsschmied anweist, seine Rasiermesser („the best of steel“) zur Anfertigung einer besonders scharfen Harpune zu verwenden. Neben ihrer fiktionalen Verwendung spielten Rasiermesser auch eine reale Rolle bei Suiziden von Literaten. So schnitt sich der österreichische Schriftsteller Adalbert Stifter im Jahr 1868 mit einem Rasiermesser die Halsschlagader auf, und der italienische Autor Emilio Salgari beging 1911 mit einem Rasiermesser Suizid nach Art des Seppuku. Rasiermesser im Film Eine in ihrer Schockwirkung kaum übertroffene Szene bildet den Auftakt des surrealistischen Films Un chien andalou von Luis Buñuel und Salvador Dalí, der zum ersten Mal 1929 in Paris vorgeführt wurde. Der Schwarzweißfilm beginnt zunächst harmlos mit einer Einblendung der Worte „Il était une fois…“ (dt. „Es war einmal…“), um den nichts ahnenden Zuschauer anschließend mit einer Szene zu konfrontieren, in der ein Mann einer vor ihm sitzenden Frau mit einem Rasiermesser durch den Augapfel schneidet. In der Literatur wird diese Szene als „Angelpunkt“ beschrieben, von dem aus „die Schockwellen des restlichen Films ausströmen“. In amerikanischen Kinofilmen werden Rasiermesser in Nassrasurszenen häufig dazu eingesetzt, die Männlichkeit der sich rasierenden Figuren zu betonen. Besonders im Gangster-, Western- und Abenteuerfilm-Genre sind eine Reihe bekannter Hollywood-Darsteller wie Edward G. Robinson (Key Largo, 1948), Humphrey Bogart (African Queen, 1951), oder Clint Eastwood (High Plains Drifter, 1973) bei der Messerrasur zu sehen. Mit nur wenigen Ausnahmen wird die Rasur mit dem Messer als eine rein männliche Beschäftigung dargestellt. Wenn Frauen in die Szene einbegriffen sind, dann häufig, um die besondere Gefährlichkeit der Messerrasur zu betonen (etwa, wenn Angie Dickinson ihren Filmpartner Dean Martin in dem 1958 entstandenen Western Rio Bravo rasiert, oder in der Rasurszene des 2012 erschienenen James-Bond-Films Skyfall, bei dem Naomie Harris die Halspartie ihres Filmpartners Daniel Craig gegen die Wuchsrichtung der Barthaare rasiert und dies mit den Worten „This is the tricky part“ kommentiert). Vereinzelt wird dabei auch die Rasur mit dem Systemrasierer als „weiblich“ von der als „männlich“ geltenden Messerrasur abgegrenzt (so etwa in dem 1959 erschienenen Film North By Northwest, in dem Cary Grant sich in einem öffentlichen Waschraum mit dem Systemrasierer seiner Filmpartnerin rasiert, während ein neben ihm stehender und ihn in Körpergröße überragender Darsteller eine Messerrasur praktiziert). Und nicht zuletzt findet das im englischsprachigen Kulturraum bisweilen als „cut-throat“ (dt. „Halsabschneider“) bezeichnete Rasiermesser in Hollywood-Filmen auch Verwendung als Waffe (so etwa in dem 2003 erschienene Science-Fiction-Film Matrix Reloaded) oder als Werkzeug (etwa wenn Uma Thurman in dem 2004 erschienenen Film Kill Bill – Volume 2 ihre Fesseln mit einem solchen Messer durchschneidet). Sammlerszene Insbesondere im anglo-amerikanischen Sprachraum hat sich rund um das Rasiermesser eine Sammlerszene entwickelt, die sich unter anderem über das Internet organisiert. Dabei geht es – wie bei anderen Sammeltätigkeiten auch – in vielen Fällen darum, entweder besonders seltene oder alte und in ihrem Originalzustand erhaltene Stücke zu sammeln. Der Preis der Sammlerstücke wird beim Sammeln von Rasiermessern häufig durch die – bisweilen kunstvoll verzierte – Griffschale bestimmt. Veröffentlichungen wie Roy Ritchies und Ron Stewarts Standard Guide to Razors: Identification and Values (2007 in dritter Auflage erschienen) sowie Robert Doyles Straight Razor Collecting: An Illustrated History and Price Guide (1980) stellen dabei wichtige Hilfsmittel für die Sammler dar. Weitere Verwendungen des Wortes „Rasiermesser“ In der englischen Sprache wird das Wort „Rasiermesser“ (engl. „razor“) außerhalb seines eigentlichen Sinnzusammenhanges in drei Bezeichnungen verwendet. Der Begriff „Occam’s Razor“ bezeichnet ein heuristisches Forschungsprinzip aus der Scholastik, das bei der Bildung von erklärenden Hypothesen und Theorien Sparsamkeit gebietet. Das „Rasiermesser“ lässt sich hierbei als Metapher verstehen: Die jeweils einfachste passende Erklärung ist vorzuziehen, alle überflüssigen Zusatzannahmen werden wie mit einem Rasiermesser abgeschnitten. Die traditionelle deutsche Bezeichnung für dieses Prinzip lautet allerdings „Ockhams Skalpell“, verwendet mithin ein anderes Schneidwerkzeug zur Verdeutlichung. Darüber hinaus gibt es im Englischen auch den Begriff „Hanlon’s Razor“, der sich als Bezeichnung für die Lebensweisheit „Schreibe nichts der Böswilligkeit zu, was durch Dummheit hinreichend erklärbar ist“ eingebürgert hat. Dieser Begriff ist von „Occam’s Razor“ inspiriert und taucht erstmals in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts im Umfeld der amerikanischen Hacker-Kultur auf. Die im Süden der USA lebende Population verwilderter Hausschweine, die sich mit ausgesetzten Wildschweinen gekreuzt haben, wird Razorbacks genannt. Der Name stammt von einer Linie hochstehender Rückenhaare, die reine Hausschweine normalerweise nicht besitzen. Liste von Rasiermesserherstellern (Auswahl) Aufgenommen wurden lediglich Hersteller, die auch heute noch produzieren. Zu ehemaligen Rasiermesserherstellern vergleiche die Angaben der im untenstehenden Abschnitt „Handreichungen für Sammler“ unter Literatur aufgeführten Werke. Literatur Quellen La Pogonotomie, ou l’art d’apprendre à se raser soi-même; avec la manière de connoître toutes sortes de pierres propres à affiler tous les outils ou instumens; & les moyens de préparer les cuirs pour repasser les rasoirs, la maniere d’en faire de très-bons; … Par J. J. Perret, Maître & Marchand Coutelier, Ancien Juré Garde, Yverdon 1770, online abrufbar über das Internet Archive, San Francisco. Treatise on the use and management of a razor: with practical directions relative to its appendages; also a description of the advantages attending the form of the Convex Penknives. With Additions and Alterations. To which are now first added, instructions at large for making and repairing pens. By J. H. Savigny, Razor and Surgeon’s Instrument Maker, 4th edition, London [1786]. A treatise on razors: in which the weight, shape, and temper of a razor, the means of keeping it in order, and the manner of using it, are particularly considered; And In which it is intended to convey a knowledge of all that is necessary on this subject; By Benjamin Kingsbury, Razor-Maker, 6th edition, London 1810, online abrufbar über die Bodleian Libraries, University of Oxford. Benjamin Kinsbury [sic], Sr. Kön. Maj. von Großbritannien Leib-Barbierers, Abhandlung von Barbier-Messern: deren Auswahl im Einkaufe, Schwere, Gestalt und Härte; ingleichen von den Mitteln, sie immer in gutem Stande zu erhalten, und der rechten Art, sie zu brauchen; Zum Nutzen aller Barbierer, und eines jeden der sich selbst barbiert; Nebst einem Anhange zur Eröffnung eines bisher unbekannten Geheimnisses, Barbier-Messer ohne Wetzstein und Streichriem immer scharf zu erhalten; Aus dem Englischen, Leipzig 1800, online abrufbar über das Göttinger Digitalisierungszentrum der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek. Rasirspiegel oder die Kunst sich selbst zu rasiren, nebst den nothwendigen Belehrungen über Rasirmesser, Englische Mineralpaste, Streichapparate, Seifen und alles zur Verschönerung des männlichen Antlitzes Erforderliche. Faßlich dargestellt von Herrn Professor Legrand in Paris. Aus dem Französ. übersetzt und … vermehrt von Leopold Reinig, Weimar 1846, online abrufbar über die Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden. Napoleon Leblanc: Essay on barbers’ razors, razor hones, razor strops and razor honing, Parkesburg, PA 1895, online abrufbar über das Internet Archive, San Francisco. Max Schmidt: Das Rasiermesser, sein Werdegang, seine Pflege, Radebeul 1939, online abrufbar über das Münchener Digitalisierungszentrum der Bayerischen Staatsbibliothek. Darstellungen Zur Geschichte des Rasiermessers Frank Gnegel: Bart ab. Zur Geschichte der Selbstrasur. DuMont, Köln 1995, ISBN 3-7701-3596-2. Zum Gebrauch des Rasiermessers Shaving made easy. What the man who shaves ought to know. The 20th century correspondence school, New York NY 1905, online abrufbar über das Internet Archive. Handreichungen für Sammler Phillip L. Krumholz: A History of Shaving and Razors. Ad Libs, Bartonville IL 1987 (enthält – abweichend vom Titel – lediglich einen kurzen Abschnitt zur Geschichte des Rasiermessers und ansonsten eine ausführliche Liste mit Angaben zu Messerherstellern und Marken). Roy Ritchie, Ron Stewart: The Standard Guide to Razors. Identification and Values. 3. Auflage. Collector Books, Paducah KY 2007, ISBN 978-1-57432-550-8. Robert A. Doyle: Straight Razor Collecting. An Illustrated History and Price Guide. Collector Books, Paducah KY 1980, ISBN 0-89145-126-9. Weblinks Rasiermesser Basiswissen über bart-trimmen-faerben.de Einzelnachweise Rasiergerät Messer (Werkzeug) Wikipedia:Artikel mit Video
555921
https://de.wikipedia.org/wiki/Toiletten%20in%20Japan
Toiletten in Japan
In Japan sind drei Typen von Toiletten im Gebrauch. Die älteste Form ist die Hocktoilette, die noch immer in öffentlichen Bedürfnisanstalten üblich ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg fanden westliche Wasserklosetts und Urinale wachsende Verbreitung. In neuester Zeit haben sich Dusch-WCs verbreitet, das sind Bidettoiletten, die in Japan meist Washlets genannt werden (), ein Markenname der Toto K.K. aus Kitakyūshū. Geschichte Die ältesten Kanalisationssysteme in Japan stammen aus der Yayoi-Zeit (300 v. Chr. bis 250 n. Chr.) und wurden wahrscheinlich in Verbindung mit Toiletteneinrichtungen in größeren Siedlungen angelegt. Für die spätere Nara-Zeit (710–784) ist die Errichtung eines Abwassersystems für die damalige Hauptstadt Japans Heijō-kyō (Nara) belegt. Aus dieser Zeit stammen auch die ersten belegten Wassertoiletten, bestehend aus einem 10 bis 15 cm breiten Bach, den man ähnlich wie die moderne Hocktoilette benutzt hat. Aus dieser Zeit ist auch hölzernes Toilettenpapier erhalten. Weiterhin wurden auch Überbauungen offener Latrinengruben ähnlich den heutigen „Plumpsklos“ als Toiletten benutzt. Zur Selbstreinigung diente anfangs Seetang, bis in der Edo-Zeit (1603 bis 1868) das Toilettenpapier eingeführt wurde, das man damals aus dem traditionellen Washi-Papier herstellte. In Gebirgsregionen wurden auch Holzschaber und Pflanzenblätter eingesetzt. Toiletten wurden oftmals über fließenden Gewässern errichtet, um die Fäkalien auf einfache Art abzutransportieren. Dennoch waren Latrinengruben häufiger, da sie einfacher zu errichten waren und die Nutzung der Exkremente als Dünger erlaubten. Dieser Vorteil war gerade deshalb wichtig, da die Viehhaltung auch als Folge des mit dem Vegetarismus verbundenen Buddhismus nicht in großem Umfang betrieben wurde und somit Jauche oder Gülle als Düngemittelquelle weitgehend ausfiel. Diese Praxis trug erheblich zu den Hygienestandards im alten Japan bei, die viel besser waren als im damaligen Europa, wo der Unrat oft einfach auf die Straßen geworfen wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg fanden chemische Düngemittel allgemeine Verbreitung. Trotzdem wird auch heute noch gelegentlich auf traditionelle Methoden zurückgegriffen. In Okinawa waren Toiletten oft an Schweinekoben angebaut. Diese Sitte wurde nach dem Zweiten Weltkrieg beendet. In der Azuchi-Momoyama-Zeit (1568–1600) wurde der Taiko-Kanal um die Burg Ōsaka angelegt, die noch heute in Betrieb ist. Die Benutzung moderner Kanalisationsanlagen begann 1884 mit dem Bau der ersten gemauerten Kanalisierung in Kanda, Tokio. Nach dem Großen Kanto-Erdbeben wurden weitere Kanalisierungen vorgenommen, um Epidemien nach Erdbeben vorzubeugen. Abwassersysteme im großen Stil wurden erst nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt, um den Anforderungen der schnell wachsenden Ballungszentren gerecht zu werden. Im Jahr 2000 waren 60 % der Bevölkerung an das öffentliche Abwassernetz angeschlossen. Westliche Toiletten und Urinale erschienen in Japan erstmals zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zu größerer Verbreitung gelangten sie jedoch erst unter der US-amerikanischen Besatzung nach 1945. Bereits 1977 überstieg schließlich der Absatz westlicher Toiletten den von traditionellen Hocktoiletten. Auf der Grundlage schweizerischer und amerikanischer Technik entwickelte die Firma Toto 1980 das sogenannte Washlet,. Terminologie Im Japanischen gibt es mehrere Ausdrücke für Toiletten bzw. die Räume, in denen diese aufgestellt sind. Das gebräuchlichste Wort ist Toire (), eine Abkürzung von Toiretto (), das dem englischen toilet entliehen ist. Ebenso wie das Wort „Toilette“ im Deutschen können beide Begriffe sowohl die Toilette selbst als auch den Toilettenraum bezeichnen. Unter den vielen anderen Bezeichnungen für Toilettenräume ist wahrscheinlich Otearai (, wörtlich „Händewaschen“) am verbreitetsten, eine Lehnübersetzung des englischen lavatory. Im engeren Sinne bezieht sich dieser Ausdruck auf das Waschbecken und hat somit eine ähnliche euphemistische Funktion wie das amerikanische bathroom. Ein anderer Anglizismus, der sich nicht allgemein durchgesetzt hat, ist das Wort Resutorūm (, von englisch restroom). Der Ausdruck Benjo (, wörtlich „Exkrementort“) wird nicht im öffentlichen Verkehr gebraucht, sondern eher im privaten Bereich und zumeist von Männern. Eine übliche Beschriftung von Schildern, die in der Öffentlichkeit auf Toiletten hinweisen, ist Keshōshitsu (, wörtlich „Make-up-Zimmer“), oft in Verbindung mit einem Piktogramm. Es gibt noch eine Reihe anderer Ausdrücke, wie Kawaya () oder Habakari (), aber diese sind meist selten gebraucht oder veraltet. Die Toilette selbst, das heißt die Schüssel, der Wassertank usw., wird Benki (, wörtlich „Exkrementvorrichtung“) genannt. Der Toilettensitz ist der Benza (, „Exkrementsitz“). Töpfchen und Schüsseln für Kinder, Alte oder Kranke werden als Omaru bezeichnet (Schreibung gelegentlich ). Der inoffizielle „Toilettentag“ der Japan Toilet Association (JTA) ist der 10. November, weil in Japan die Zahlen 11 und 10 zusammen als Ii To(ire) gelesen werden können, was auch „gute Toilette“ bedeutet. Der japanische „Abwassertag“ ist am 10. September. Hideo Nishioka, Vorsitzender der JTA, besitzt eine Sammlung von über 400 Arten verschiedener Klopapiere aus aller Welt. Toilettentypen Hocktoiletten Die traditionelle japanische Toilettenform () ist die Hocktoilette, die in dieser Form in ganz Asien verbreitet ist und deshalb auch „asiatische Toilette“ genannt wird. In Bauart und Gebrauch bestehen große Unterschiede zu westlichen (Sitz-)Toiletten und auch zu westlichen Hocktoiletten. Eine japanische Hocktoilette ähnelt einem kleinen Urinal, das liegend in den Boden eingelassen ist. Die meisten sind aus Porzellan, wenn auch in manchen Fällen, wie z. B. in Zügen, rostfreier Stahl eingesetzt wird. Der Spülmechanismus, der dem herkömmlicher WCs ähnelt, befördert die Exkremente anschließend durch einen Abfluss in ein Reservoir, dessen Inhalt geleert und in die Kanalisation entsorgt wird. Meist wird die Spülung per Hand mit Hebeln u. ä. ausgelöst, gelegentlich auch per Pedal. Viele japanische Toiletten sind zur Wasserersparnis mit zwei Spülarten ausgerüstet: „klein“ (小) und „groß“ (大). Zwei Varianten sind üblich: Bei der einen ist die Toilette auf einer Höhe mit dem Fußboden, und bei der anderen ist sie auf einem etwa 30 cm hohen Podest eingelassen, was es Männern einfacher macht, stehend in sie zu urinieren. Beide Formen eignen sich jedoch auch zur Benutzung für den Stuhlgang: Anstatt zu sitzen, hockt sich der Benutzer mit dem Gesicht zum halbrunden erhöhten Ende der Schüssel. Während des Vorgangs ist es wichtig, die Körperbalance zu halten. Oft sind Griffe angebracht, die dem Benutzer helfen, das Gleichgewicht zu halten. Ein Vorteil dieser Toilettenform ist die Leichtigkeit ihrer Reinigung. Wegen der simplen Bauweise kann eine Hocktoilette mit einem Mopp geputzt werden. Darüber hinaus sind sie billiger in der Herstellung und haben einen geringeren Wasserverbrauch als ihre westlichen Pendants. Hocktoiletten vermitteln oft das Gefühl eines Hygienevorteils, da der Benutzer keinen Körperkontakt mit einem Toilettensitz hat. Gerade bei Frauen sollen Hocktoiletten überdies die Beckenbodenmuskulatur trainieren und dadurch der Inkontinenz vorbeugen. Angeblich stärken sie außerdem die Hüftmuskulatur, verbessern die Atmung und das Konzentrationsvermögen, und die Körperhaltung soll die Abfuhr von Exkrementen begünstigen. Eine seltene Form der japanischen Hocktoilette ist eine Hybride, die über einen verstellbaren Sitz verfügt, so dass die Toilette je nach Einstellung sitzend oder stehend genutzt werden kann. Diese Einrichtungen sind fast ausschließlich in ländlichen Gegenden zu finden. Traditionelle japanische Toiletten werden eher mit Holz als mit Fliesen verkleidet, deshalb herrscht in ihnen auch ein dunkleres Licht. Der Schriftsteller Jun’ichirō Tanizaki stellte in seinem Essay Lob des Schattens die Bedeutung der japanischen Toilette noch über die des Teeraums, da sie ein Ort ist, an dem der Körper Ruhe findet. Um diese Harmonie, die durch die Dunkelheit entsteht, noch zu unterstreichen, schlug er lackierte hölzerne Toiletten vor. Westliche Sitztoiletten Das im Westen hauptsächlich vorkommende WC ist in Japan als „Toilette westlicher Art“ () bekannt. Diese Bauart ist heutzutage zusammen mit den Bidettoiletten in Privathaushalten am meisten verbreitet. Während öffentliche Einrichtungen wie Schulen, Tempel und Bahnhöfe gelegentlich auch mit Hocktoiletten bestückt sind, sind im privaten Umfeld die Sitztoilette verbreiteter, insbesondere bei älteren Menschen, denen das Kauern und Balancieren auf Hocktoiletten zu anstrengend ist. In manchen älteren japanischen Badezimmern befindet sich noch ein Aufkleber, der die korrekte Benutzung westlicher Toiletten illustriert. Dies stammt noch aus der Zeit, in der westliche Sitztoiletten noch nicht allgemein bekannt waren. Japanische Bidettoiletten 1980 wurde in Japan die Bidettoilette Washlet () oder „Toilettensitz mit Warmwasser-Reinigung“ () durch die Firma Toto eingeführt, basierend auf dem Dusch-WC, das der Schweizer Hans Maurer 1957 erfunden und unter dem Namen Closomat im europäischen Markt eingeführt hatte. Vor der Markteinführung der Bidettoilette herrschte die Auffassung, dass nur wenige Menschen bereit seien, mehr Geld für eine Sache auszugeben, die sie auch von Hand erledigen könnten. Diese Ansicht wandelte sich. 1990 hatten rund 10 % der japanischen Haushalte eine Bidettoilette, 2002 war es über die Hälfte. Japanische Bidettoiletten haben meist zahlreiche Funktionen, die außerhalb Japans wenig verbreitet sind. Zur Grundausstattung zählt die Bidetfunktion, eine Düse von der Größe eines Bleistifts, die unter dem Toilettensitz hervortritt und Wasser verspritzt. Sie hat zwei Einstellungen, eine für anale Reinigung und eine weitere für die Intimhygiene der Frau („weibliche Wäsche“). Die Düse berührt den Körper des Benutzers nicht und verfügt über eine Selbstreinigungsfunktion, die vor und nach jeder Benutzung aktiviert wird. Die Bidetfunktion selbst wird durch einen Knopf am Bedienelement ausgelöst. Bei einigen Modellen gibt es einem Kontaktschalter an der Toilettenbrille, so dass der Spritzmechanismus nur ausgelöst werden kann, wenn Druck auf den Sitz ausgeübt wird, also jemand darauf sitzt. Wassertemperatur und --druck der Bidetfunktion sind wählbar. Standardmäßig erfolgt die anale Reinigung mit höherem Druck als die Intimreinigung. Die Wassertemperatur liegt meist knapp über der Körpertemperatur, etwa bei 38 °C. Die Düsenposition lässt sich manuell ändern. Es gibt Modelle mit vibrierenden und pulsierenden Wasserstrahlen und Modelle, die Seife in den Wasserstrahl mischen. Im Unterschied zu westlichen Haushalten ist die Zentralheizung in Japan nicht sehr verbreitet, und die Wärmedämmung schwach, so dass die Toilette im Winter sehr kalt werden kann. Deshalb hat die Brille eine Sitzheizung (mit dem unerwünschten Nebeneffekt, dass sich Keime schnell vermehren können). Weit verbreitet sind Warmluftgebläse, meist zwischen 40 und 60 °C variierbar, um die mit dem Wasserstrahl gereinigten Körperregionen zu trocknen. Eine japanische Bidettoilette kann das Toilettenpapier ersetzen, dennoch ergänzen viele Benutzer die Hygiene mit WC-Papier. In der Regel ist die Brille mit einem geruchsfilternden Lüfter versehen, seltener das Becken selbst mit einer Luftabzugsvorrichtung. Es gibt Modelle mit konventionellem Raumdeodorierer, Ozon-Deodorierer, automatischer Spülung, automatischem Klodeckelöffner, keimhemmenden Oberflächen, Massagefunktion oder Funkbedienung. Einige Modelle leuchten im Dunkeln. Modelle für alte Menschen sind mit Armlehnen ausgerüstet und helfen dem Benutzer, sich nach dem Vorgang wieder zu erheben. Die Bedienung erfolgt mittels einer separaten Steuerung, die seitlich an der Toilette oder an der Wand befestigt ist und oft per Infrarot mit der Toilette kommuniziert. Aktuelle Modelle speichern die Benutzungszeiten, verfügen über eine Energiesparfunktionen der Sitzheizung, oder Klimaanlagen für heiße Sommertage. Matsushita plante medizinische Sensoren einzuführen, die anhand des Urins erhöhte Blutzuckerwerte feststellen können sowie Puls, Blutdruck und Körperfettanteil anzeigen. Auch sollten Viskositätswerte des Stuhls und okkultes Blut durch Sensoren erfasst werden. Die gewonnenen Daten sollen dann mittels eines internetfähigen Mobiltelefons an den Hausarzt gesendet werden. Diese Einrichtungen sind aber selbst in Japan noch sehr selten, und ihr Erfolg am Markt lässt sich gegenwärtig schwer einschätzen. Eine Toilette mit Sprachsteuerung ist in der Entwicklung. Toto, Inax, NAIS und andere Hersteller bieten auch tragbare, batteriebetriebene Washlets an, die vor der Benutzung mit warmem Wasser gefüllt werden müssen. Urinale Japanische Urinale und Pinkelrinnen gleichen denen im Rest der Welt und werden ebenfalls vorwiegend auf öffentlichen Herrentoiletten mit großem Andrang eingesetzt. Vor und während der Meiji-Zeit wurden Urinale sowohl von Männern als auch von Frauen gebraucht. Traditionell werden Kimonos ohne Unterwäsche getragen, so dass die Frauen leicht ihren Kimono anheben konnten und durch leichten Zug an der Vulva den Urin in ein Urinal zielen konnten. Den Frauen war es somit möglich, stehend vorwärts zu urinieren. Diese Sitte verschwand im 20. Jahrhundert, nachdem sich bei den meisten Frauen westliche Kleidung durchgesetzt hatte. Heutzutage werden auch die Kimonos fast immer mit Unterwäsche getragen. Das Damenurinal erlebte eine Renaissance zwischen 1951 und 1968. Diese Vorrichtungen waren kegelartig geformt und auf dem Boden befestigt. Sie setzten sich aber nicht durch, so dass heute nur noch wenige Damenurinale zu sehen sind, beispielsweise unter dem Nationalstadion, das für die Olympischen Spiele 1964 in Tokio erbaut wurde. Eine weitere Form sind interaktive Urinale, welche Urinal und Videospiel miteinander verbinden, wie die Sega Toylet. Zubehör In Japan werden ähnliche Zubehörartikel benutzt wie im Westen, also Toilettenpapier, Klobürste usw. Darüber hinaus trifft man jedoch auch einige spezifische Accessoires an, die man außerhalb Japans kaum findet. „Geräuschprinzessin“ Vielen japanischen Frauen ist der Gedanke unangenehm, jemand könnte Geräusche bei der Toilettenbenutzung von ihnen hören. Um die Geräusche ihrer Körperfunktionen zu überdecken, war es deshalb bei vielen Frauen verbreitet, währenddessen kontinuierlich die Klospülung zu betätigen. Dadurch wurden große Mengen Wasser verschwendet. Da Aufklärungskampagnen keine Wirkung zeigten, wurde in den 1980er Jahren ein Gerät eingeführt, das das Geräusch der Wasserspülung nachahmte und so das tatsächliche Spülen zur reinen Geräuschübertönung überflüssig machte. Ein bekannter Markenname ist Otohime (), was wörtlich „Geräuschprinzessin“ heißt, nach der gleichnamigen japanischen Göttin (der Name der Göttin wird eigentlich mit den Kanji geschrieben), der schönen Tochter des Meereskönigs Ryūjin. Dieser Apparat wird mittlerweile standardmäßig in die meisten Neubauten öffentlicher Toiletten installiert, und viele ältere Anlagen wurden nachgerüstet, sodass es das Gerät heute auf fast allen öffentlichen Toiletten Japans gibt. Die Otohime gibt es als separate Wandgeräte oder als integrierte Funktion. Die Aktivierung erfolgt per Knopfdruck oder Handwinken vor einem Sensor. Daraufhin erzeugt das Gerät ein lautes, rauschendes Geräusch ähnlich dem einer Toilettenspülung. Die Wiedergabe wird entweder durch abermaligen Knopfdruck oder den Ablauf einer vorgegebenen Zeit beendet. Es wird geschätzt, dass so etwa 20 Liter Wasser pro Vorgang gespart werden. Dennoch glauben manche Frauen, dass sich das Otohime zu künstlich anhört, und bevorzugen weiterhin das kontinuierliche Spülen. Für Herrentoiletten existiert bisher kaum Nachfrage nach „Geräuschprinzessinnen“, daher sind sie dort fast nie anzutreffen. Toilettenpantoffeln Japaner neigen dazu, ihr Leben in reine und unreine Bereiche einzuteilen, die Berührungspunkte letzteren Bereiches werden so gering wie möglich gehalten. Zum Beispiel wird das Innere der Wohnung als rein betrachtet, während es draußen unrein ist. Um die Unterteilung aufrechtzuerhalten, werden beim Betreten einer Wohnung die Schuhe ausgezogen, so dass die unreinen Schuhe nicht den reinen Bereich berühren. Historisch befanden sich Toiletten außerhalb des Hauses, und beim Gang zur Toilette wurden Schuhe getragen. Heute sind sie innerhalb der Wohnung, und die hygienische Situation hat sich bedeutend verbessert. Dennoch wird die Toilette weiterhin als unreiner Bereich betrachtet. Um den Kontakt zwischen dem unreinen Boden in der Toilette und dem reinen Boden im Rest des Hauses zu minimieren, stehen in vielen Haushalten und manchen öffentlichen Toiletten Pantoffeln vor dem Eingang, die vor dem Betreten angezogen und nach dem Verlassen sofort wieder abgelegt werden. Gleichzeitig wird so angezeigt, ob die Toilette gerade besetzt ist. Die Ausführung der Pantoffeln reicht von einfachen Gummilatschen über Manga-bedruckte Kinderschlappen bis hin zu teuren Pelzpantoffeln. Ein häufiger Fauxpas, den Ausländer begehen, besteht darin, die Toilettenpantoffeln nicht sofort wieder auszuziehen, sondern mit ihnen durch die Wohnung zu laufen. Andererseits ignorieren selbst einige Japaner die Toilettenpantoffeln. Im Jahr 2003 begann ein Versandunternehmen, Pantoffeln am Markt anzubieten, in die man von beiden Seiten „eintreten“ kann. Damit ist es möglich, beim Verlassen der zum Teil extrem engen Toiletten die Pantoffeln ohne größere Akrobatik so stehen zu lassen, dass der nächste Besucher sie beim Betreten der Toilette in der richtigen Position vorfindet. Diese Pantoffeln waren ursprünglich lediglich ein Scherzprodukt aus der Chindōgu-Bewegung. Durch ihren tatsächlichen Einsatz zu praktischen Zwecken verloren sie sofort den Chindōgu-Status. Spülkästen Viele Toiletten verfügen über ein spezielles System zum Wassersparen: Ein Wasserhahn und ein kleines Waschbecken sind auf dem Spülkastendeckel angebracht, so dass die Möglichkeit besteht, das Wasser, mit dem man sich die Hände wäscht, zum Auffüllen des Toilettenkastens zu verwenden. Bei den oft sehr beengten Toiletten ist dies darüber hinaus auch oftmals die einzige Lösung um überhaupt ein Waschbecken anbringen zu können, aus diesem Grund sind solche Modelle auch außerhalb Japans erhältlich. Öffentliche Toiletten Öffentliche Toiletten sind in Japan leicht zu finden. Ausgestattet sind Kaufhäuser, Supermärkte, die meisten Lebensmittelgeschäfte, viele 24-Stunden-Läden (conbini), Buchläden, Musikgeschäfte, Parks, fast sämtliche Autobahnraststätten, Bahnhöfe (meist im „bezahlten“ Bereich hinter der Sperre) und andere öffentliche Einrichtungen. Der Zugang ist insgesamt deutlich besser als in Europa, wo in der Regel gezahlt werden muss, oder in den USA, wo öffentliche Toiletten meist schwer zu finden sind. Abgesehen von Graffiti ist Vandalismus sehr selten. Die Toiletten sind in der Regel wesentlich besser gepflegt als im europäischen Raum. Seit den 1990er Jahren hat es Bemühungen gegeben, diese Orte einladender zu gestalten. Die Räume wurden größer und heller, die Sanitäreinrichtungen mit neuerer Technik nachgerüstet und große Spiegel aufgehängt. Selbst die beherbergenden Gebäude wurden umgestaltet, um ansprechender zu wirken. In vielen öffentlichen Toiletten findet man heute Bidettoiletten, gelegentlich auch Hocktoiletten. Früher boten viele Bahnhofstoiletten wie auch öffentliche Schulen ausschließlich traditionelle japanische Hocktoiletten. Das Gleiche galt für Züge, Parkanlagen, Tempel, traditionelle Restaurants und ältere Gebäude. Die weniger hygienischen (weil Körperkontakt unvermeidbar machenden) Sitztoiletten waren meist anhand von Hinweisschildern zu finden, die mit Yōshiki (), dem englischen Western-Style oder dem entsprechenden Piktogramm versehen sind. Auch Behindertentoiletten sind stets Toiletten westlicher Prägung. Kulturelle Aspekte Das Empfinden für Hygiene hat sich weltweit im Allgemeinen abhängig von der allgemeinen Verfügbarkeit von Wasser unterschiedlich entwickelt. Zusätzlich hat sich in hoch entwickelten Konsumgesellschaften eine über das Minimum weit hinausgehende Komforterwartung entwickelt. Japan ist dafür das Musterland, wobei die hohen Standards durchaus nicht in jedem Haus anzutreffen sind. Sauberkeit ist in Japan ein sehr bedeutender Faktor, was sich schon dadurch zeigt, dass manche Wörter der japanischen Sprache wie beispielsweise Kirei () sowohl „sauber“ als auch „schön“ bedeuten können. Das mag sowohl den fortgesetzten Erfolg der Hocktoiletten mit ihrem relativen Hygienevorteil wie auch die Beliebtheit der Multifunktionstoiletten erklären. Der Proktologe Hiroshi Ojima vertritt die Ansicht, dass Bidettoiletten ihre Popularität teilweise der ballaststoffarmen Ernährung der Japaner verdanken, die zu Verdauungsproblemen führen kann. Die oft gedrängten Wohnverhältnisse in japanischen Städten und der Mangel an verschließbaren Räumen im traditionellen japanischen Wohnen machen die Toilette zum idealen Rückzugsort. In manchen finden sich Bücherborde oder Zeitungen, sogar Poster. Dennoch wird man, sofern die Möglichkeit besteht, stets eine Trennung der Toilette vom Badezimmer vornehmen. Dies hängt wieder mit der Trennung von „rein“ und „unrein“ zusammen und ist ein Umstand, der z. B. in Wohnungsannoncen erwähnt wird. Ausländer haben oft Probleme mit den japanischen Toiletten. Insbesondere die Bidettoiletten, die im Ausland fast völlig unbekannt sind, verabreichen unkundigen Benutzern, die auf der Suche nach der Spülung sind, gelegentlich überraschende Wasserspritzer. Aus diesem Grunde ist man dazu übergegangen, zur Reduzierung des Kulturschocks englischsprachige Bedienungsanleitungen auszuhängen oder Tasten auf Englisch zu beschriften. Sanitärindustrie Toto ist der größte Hersteller von Toiletten mit Bidetfunktion und Washlets weltweit. Marktkonkurrenten sind Inax, NAIS, Panasonic und Toshiba. Der Weltmarkt für High-Tech-Toiletten lag 1997 bei etwa 800 Millionen US-Dollar. Davon deckt Toto etwa die Hälfte ab, gefolgt von Inax mit 25 %. Japan ist weiterhin der bedeutendste Einzelmarkt für Washlets – Überseekunden machen nur 5 % des Umsatzvolumens aus. Der wichtigste außerjapanische Markt ist China, wo immerhin über eine Million Washlets pro Jahr verkauft werden. Dagegen wurden in den USA 2003 nur etwa 1.000 Stück pro Monat abgesetzt, was dennoch einer Steigerung von etwa 70 % gegenüber 2001 entspricht. Europa wird durch das in der Schweiz ansässige Unternehmen Geberit dominiert, Toto verkauft nur ca. 5000 Washlets pro Jahr. Von den meisten Europäern werden die japanischen Washlets eher als Kuriosität angesehen. Aufgrund des Nutzen für körperlich beeinträchtigte Menschen steigt aber das Interesse. Die Selbstreinigung mit Hilfe des Wasserstrahls und des Warmluftgebläses kann auch von solchen Personen vorgenommen werden, die bei der herkömmlichen Art Schwierigkeiten haben. Auf diese Weise entfällt die Notwendigkeit, diese Aufgabe von jemand anderem erledigen zu lassen. Siehe auch Ittōen Welttoilettenorganisation Literatur Innovative Produktkonzepte – Die High-Tech Toilette von Toto. Beratungsletter, 12/2002 (Nov.). Making Great Breakthroughs – All about the Sewage Works in Japan. Japan Sewage Works Association, Tokyo 2002, S. 47ff. (Englisch) Mark Magnier: Japan Is Flush With Obsession. Los Angeles Times. 1999 (englisch). Christine Dimmer, Brian Martin: Squatting for the Prevention of Hemorrhoids?. In: Townsend Letter for Doctors & Patients. Jonathan Collins, Port Townsend WA 1996,159 (Okt.), S. 66–70 (englisch). James Brooke: Japanese Masters Get Closer to the Toilet Nirvana. The New York Times. New York 2002 (Oktober 8) (englisch). Daniel McGinn: The King of Thrones. Wired Magazine. Condé Nast Publ., Boulder (Colorado) 2005, 13.03 (März) (English). Weblinks Japanese sewer history and modern technology (englisch) Gesundheitliche Vorteile der Hocktoilette: englisches Original / deutsche Übersetzung The Japanese Toilet Association (japanisch) Blog Artikel Der „Händewasch-Ort“ The Culture Behind Japanese Toilets (englisch) Einzelnachweise Kultur (Japan) Bad und WC Wikipedia:Artikel mit Video
560469
https://de.wikipedia.org/wiki/Nicolaus%20Bruhns
Nicolaus Bruhns
Nicolaus Bruhns, auch Nikolaus Bruhns, manchmal Nicolaus Bruhn oder Nicolaus Bruns (* Dezember 1665 in Schwabstedt; † in Husum), war ein deutsch-dänischer Komponist der norddeutschen Orgelschule und ein Orgel- und Geigenvirtuose. Sein überliefertes Werk umfasst vier vollständige Orgelwerke sowie zwölf geistliche Kantaten und enthält einige außergewöhnlich originelle Stücke. Leben Bruhns entstammte einer schleswig-holsteinischen Musikerfamilie. Sein Großvater Paul war Lautenist und Musikmeister in der Kapelle des Gottorfer Herzogs Friedrich III. Nicolaus’ Onkel Friedrich Nicolaus Bruhns war Direktor der Hamburger Ratsmusik. Nicolaus’ Vater Paul – möglicherweise ein Schüler von Franz Tunder – war Organist der St.-Jakobi-Kirche in Schwabstedt, wo er die Tochter des Vorgängers heiratete. Der Werdegang von Nicolaus Bruhns ist nur bruchstückhaft überliefert. Lübeck und Kopenhagen Nicolaus erhielt ersten Unterricht vermutlich von seinem Vater. Wie Ernst Ludwig Gerber später in seinem Lexikon der Tonkünstler schrieb, beherrschte er bereits in frühem Alter das Orgelspiel und fertigte „gute“ Kompositionen für Klavier und Stimme an. Wahrscheinlich wirkten auch musikalische Eindrücke aus dem benachbarten Husum, der wohl reichsten Stadt der nordfriesischen Küste, auf ihn ein. Nicolaus bewies genügend Talent, um auf Anraten seines Vaters mit 16 Jahren bei seinem Onkel Peter, Ratsmusiker in Lübeck, Geige und Gambe zu erlernen. Auf diesen Instrumenten erwarb er „eine solche Fähigkeit, dass ihn jeder, wer ihn nur hörte und kennen lernte, bewundern und schätzen musste“ (Gerber). Von allen Lübecker Violinisten – deren Kunstfertigkeit im In- und Ausland bestaunt wurde – war Bruhns der jüngste Vertreter. Außerdem war er der Lieblingsschüler Dietrich Buxtehudes, bei dem er Komposition studierte und sein Orgelspiel vervollkommnete. Laut Matthesons Musiklexikon war Buxtehude Bruhns’ größtes Vorbild. Nachdem Bruhns einige Zeit in der umliegenden Region umherreiste, erlangte er dank eines an den Organisten der Kopenhagener Nicolaikirche, Johann Lorenz d. J., gerichteten Empfehlungsschreibens von Buxtehude eine Stelle als Komponist und Geiger am dortigen Hof – derartige Fahrten in die Nordländer kamen unter Lübecker Musikern des Öfteren vor. Sein späterer Schwager Johann Hermann Hesse, der in Kopenhagen Beziehungen hatte, verhalf ihm zu dieser Reise. Bruhns blieb einige Jahre in Kopenhagen; die genauen Umstände seines Aufenthalts sind unbekannt. Beamtet war Bruhns nicht, als sicher gilt jedoch, dass er stellvertretender Organist von Lorenz war. Wahrscheinlich trat er als Orgel- und Violinvirtuose in dessen gerühmten Abendkonzerten sowie am königlichen Hof auf. Über die Zeitspanne, während der Bruhns bisher in Kopenhagen vermutet wird, geben die Magistratsprotokolle des Archivs der Landeshauptstadt Kiel neue Informationen. Danach kann Bruhns etwa 1683/84 im Raum Kopenhagen als Musiker tätig gewesen sein. Keinesfalls kommt aber ein mehrjähriger Aufenthalt in Betracht. Ab 1684 warb der Rat der Stadt Kiel mit Wissen oder gar im Auftrag des im Hamburger Exil lebenden Herzogs Christian Albrecht von Schleswig-Holstein-Gottorf um den jungen Organisten und Komponisten. Ihm wurden eine Wohnung und finanzielle Sicherung geboten, Vertreter der Stadt trafen mehrfach mit Bruhns zusammen und zahlten ihm unter anderem 2400 Rthlr. Prozesskosten für seinen Prozess in Kopenhagen. Stadtvertreter reisten nach Kopenhagen und erwarben dort ein offenbar Bruhns betreffendes „zugefundenes Papier“. Zwischen März und September 1685 wurde Bruhns offenbar arrestiert, wobei die Gründe nicht bekannt sind. Im Januar 1687 berichten die Protokolle von einem misslungenen Versuch, Bruhns aus dem Arrest zu befreien. Daran beteiligen sich neben den Kielern hochgestellte Persönlichkeiten aus Regierung und Militär. Der als „Passagier“ bezeichnete Bruhns schlafe zwischen Lübeck und Laboe, sein Fußgelenk sei gering deformiert, die Arrestkosten höher als der Verdienst seiner Arbeit. Offenbar bemühten sich seine Gönner 1688 erneut um eine Freilassung. In der Schlussphase der Verhandlungen zum Altonaer Vertrag am Jahresanfang 1689 wuchs in Kiel das Verlangen nach einem erfolgreichen Abschluss des langen Werbens um Nicolaus Bruhns. Husum Nach dem Tod des alten Organisten Friedrich zur Linden der – heute nicht mehr bestehenden – alten Husumer Marienkirche im Januar 1689 wollte der Stadtrat dem bereits zu gewissem Ruhm gekommenen Bruhns diese Stelle anbieten. Da man nicht wusste, wo er sich gerade aufhielt, wurde der Posten nur vorläufig besetzt, und die Stadtväter versuchten, Bruhns ausfindig zu machen. Dies geschah in großer Eile – sogar des Nachts war ein Kurier nach Schwabstedt unterwegs, um vom Vater oder Bruder dessen Anschrift zu erhalten. Möglicherweise interessierten sich andere, konkurrierende Städte für den begabten Musiker. Nach einem Probespiel am 29. März in Husum wurde er schließlich einstimmig angenommen, „da vorher seinesgleichen von Kompositionen und Traktierung allerlei Arten von Instrumenten in dieser Stadt nicht war gehöret worden“. Mit seiner Berufung zum Organisten heiratete Bruhns Anna Dorothea Hesse, die Stiefschwester seiner Tante. Der Rat der Stadt Kiel hielt sich aufgrund seiner materiellen und ideellen Leistungen sowie eines offenbar von Bruhns gegebenen Versprechens für berechtigt, ihn als Organisten nach Kiel zu verpflichten. Drei Monate nach seiner Bestallung in Husum bot der Kieler Stadtrat ihm eine Stelle als Nachfolger des damaligen Organisten der Nikolaikirche Claus Dengel an, was zu einem heftigen Streit zwischen beiden Städten führte. Bruhns, von einer aus der Sicht des Husumer Rates „mittels gewisser Vorwände“ von Kiel geschürten Intrige eingeschüchtert, reiste am 22. Juli des Jahres dorthin und versprach am 29. Juni 1689, in drei Wochen sein Amt anzutreten. Daraufhin versprach die Stadt Husum, die sich in ihrer Ehre verletzt fühlte, Bruhns als einzigem Organisten eine Erhöhung des ausgezahlten Gehalts um 100 auf 500 Taler jährlich, was Bruhns überzeugte, weiterhin in Husum zu bleiben. Der Husumer Rat musste allerdings eine “consentierte Beisteuer” [einvernehmlichen Beitrag, Zuschuss] von 2500 Reichsthalern, umgerechnet 7500 Mark Lübsch, an den wieder in seine Rechte eingesetzten Gottorfer Herzog zahlen. Mit dem Wechsel der Husumer Deputierten im Jahr 1691 wurde Bruhns gegen den Willen des Stadtrat die außergewöhnliche Gehaltserhöhung verweigert. Er reichte beim Gottorfer Herzog eine Klage ein, die er auch gewann. In seinem Schreiben an den Herzog deutete der Husumer Rat an, dass Bruhns das Geld dringend benötigte. Neben der 1629 von Gottfried Fritsch restaurierten Orgel stand Bruhns auch der Vokalchor der Kirche zur Verfügung. Zwei Jahre lang arbeitete er mit dem örtlichen Kantor Georg Ferber zusammen, der für seine ausnehmend wohlklingende Bassstimme bekannt war und schließlich von Petrus Steinbrecher abgelöst wurde. Die Leitung des Instrumentalensembles übernahm der Stadtmusikant Heinrich Pape. Bis zu seinem frühen Tod im Alter von 31 Jahren blieb Bruhns in Husum. Am 2. April 1697 wurde er zu Grabe getragen, „von jedermann bedauert, dass ein solcher trefflicher Meister in seiner Profession, auch vertragsamer Mann nicht länger hat leben sollen“. Laut dem Kirchenarchiv der Stadt starb Bruhns an der „Schwindsucht“. Bruhns hatte fünf Kinder, von den zwei Mädchen bereits im Kleinkindalter verstorben waren, weshalb er drei Kinder hinterließ, die von seinem Schwager in väterliche Obhut genommen wurden. Sein einziger Sohn Johannes Paulus studierte Theologie und war zuletzt Pastor an der Klosterkirche in Preetz. Zu seinen Nachkommen gehört Matthäus Friedrich Chemnitz, der Dichter des Schleswig-Holstein-Liedes. Nicolaus hatte einen Bruder Georg, der zunächst Nachfolger des Vaters in Schwabstedt war und sein Amt in Husum übernahm. Allerdings sind von diesem weder Kompositionen noch Hinweise auf eine historische Nachwirkung bekannt, sodass mit Nicolaus auch die Geschichte der Musikerfamilie Bruhns erlosch. Spieltechnik Bruhns galt weit über die Stadtgrenzen Husums hinaus als Orgel- und Violinvirtuose. Wie Mattheson berichtet, habe er dann und wann gleichzeitig Geige und an der Orgel mit dem Pedal den Bass gespielt. Gerber berichtet 1790/1792, dass er währenddessen sogar gesungen habe, sodass sich sein Spiel wie von mehreren Personen anhörte. Möglicherweise führte Bruhns seine Kantate Mein Herz ist bereit auf diese Art auf. Bruhns soll auf der Geige eine Spieltechnik besessen haben, die es ihm erlaubte, aushaltende vierstimmige Akkorde zu spielen. Albert Schweitzer führt in seiner Monographie über Johann Sebastian Bach bei der Besprechung von Bachs Solo-Violinsonaten Bruhns als einen Beleg dafür an, dass in der Zeit vor und bis Bach das mehrstimmige Spiel auf der Geige ohne die heute üblichen Intervallzerlegungen oder das Arpeggieren möglich und üblich gewesen sei. Das überlieferte Werk lässt keine Rückschlüsse auf das ebenfalls von Gerber berichtete Geschick im Gambenspiel zu, jedoch finden sich Hinweise darauf möglicherweise in den Kompositionen Buxtehudes: Wahrscheinlich schrieb Buxtehude seine Kantate Jubilate Domino für Alt und obligate Gambe für Bruhns und sah ihn als Gambensolisten der Kantate Gen Himmel vor. Sollte dies stimmen, so würden die virtuosen Läufe der Gambenstimmen beweisen, dass die Gambe nicht nur ein Nebeninstrument von Bruhns war. Werk Aufgrund seines frühen Todes sind von Bruhns nur vier vollständige Orgelwerke und zwölf geistliche Kantaten eindeutig überliefert. Er schrieb auch Kammermusik, die jedoch verschollen ist. Geck charakterisierte Bruhns als einen Komponisten „mit der Leidenschaft eines Künstlers, der nicht über seinem Werk steht, sondern in ihm aufgeht“. Bruhns’ Kompositionen werden in hohem Maße von ihrer erwünschten emotionalen Wirkung bestimmt, die über formale Aspekte vorherrscht. Orgelwerk In Quantz’ Versuch einer Anweisung… wurde Bruhns zu den besten Verfassern von Orgelwerken seiner Zeit gerechnet. Drei Praeludien sowie eine Fantasie über den Choral Nun komm der Heiden Heiland stammen mit Sicherheit von Bruhns. Die Orgelwerke weisen typische Merkmale des norddeutschen Orgelstils auf: Kontrast von homophonen und fugierten Abschnitten, Arpeggii und virtuose Pedalpassagen mit Trillern. Auffallend sind die kühne Harmonik und verschachtelte Rhythmik. Bruhns schöpfte alle Freiheiten des Stylus Phantasticus aus, um affektreiche, zuweilen herb und fast „modern“ anmutende Kompositionen zu schaffen. Da die schnellen Läufe der Praeludien klare und präzise Rhythmik – teilweise unter Einsatz des Doppelpedals – erfordern, stellen sie hohe Anforderungen an den Interpreten. Dieses Praeludium ist zweifellos Bruhns’ eigenwilligstes Orgelwerk. Es besteht aus zwei voneinander unabhängigen Fugen mit jeweiligem Vor-, Zwischen- und Nachspiel, in die freie Abschnitte eingestreut sind. Mit seiner enormen Vielfältigkeit treibt es den „Fantastischen Stil“ auf die Spitze. Apel verglich das Stück – möglicherweise in Anlehnung an eine Charakterisierung des Stylus Phantasticus in Matthesons Werk Der vollkommene Capellmeister – mit einem „magischen Theater, in dem jeden Augenblick neue Personen auftreten, sich über die Bühne bewegen und wieder verschwinden“. Die freie Einleitung besteht aus einer Chromatik, die mit im späteren ersten Fugenthema verdeutlichten kürzeren Tonfolgen verwoben ist. Die Fuge beginnt mit einer chromatischen Tonfolge, der das vom Einsatz der zweiten Stimme begleitete Hauptthema folgt: Die Fuge geht mittels einer freien Überleitung in einen Abschnitt im 12/8-Takt über. Diesem schließt sich eine unerwartete Arpeggio-Passage an. Im darauf folgenden Ostinato wechseln sich Manual und Pedal ab. Schließlich setzt die zweite Fuge mit ihrem synkopierten Hauptthema ein: Der im -Takt gehaltene Schlussteil ist von komplexem Aufbau und endet mit einem auf E aufgebauten Akkord. Das „kleine“ e-Moll-Praeludium ist nicht so reichhaltig wie das größere, aber von ebenso zerstückeltem Aufbau. Der Einleitung, die aus einer schnellen Pedalfolge mit punktweiser Begleitung durch das Manual besteht, schließt sich ein langer Echoteil an. Darauf folgt ein fröhlich anmutendes Fugato. Dem nächsten Abschnitt in Allegro folgen einige Arpeggio-Takte, die zum Schlussteil überleiten. Praeludium in G-Dur Dieses Werk ist formal ähnlich wie viele andere norddeutsche Tokkaten aufgebaut. Es besteht aus Vorspiel, Fuge mit Reperkussionsthema, Zwischenspiel, Fuge über die Dreiertakt-Variante des Themas und Nachspiel. Es handelt sich hierbei im Gegensatz zu den beiden e-Moll-Praeludien um ein Stück, das trotz scheinbar unterschiedlicher Abschnitte über innere Kohärenz verfügt und von sorgfältigem Aufbau zeugt. Nach einer Tokkata und einigen einleitenden Takten beginnt die erste Fuge, deren Thema, ähnlich wie bei Buxtehude, wiederholte Noten enthält. In schneller Abfolge setzen vier weitere Stimmen ein. Einige Stellen verwenden das Doppelpedal und sind somit sechsstimmig; die Unterschiede in der Tonhöhe beider Pedalstimmen erreichen bis zu zwei Oktaven. Einem Zwischenspiel folgt die ebenfalls fünfstimmige zweite Fuge. Ein virtuoses Pedalspiel leitet schließlich das dramatische Nachspiel ein. Choralfantasie: Nun komm der Heiden Heiland Das Lied Nun komm der Heiden Heiland ist Luthers deutsche Übersetzung des mittelalterlichen Hymnus Veni redemptor gentium und wurde im ersten lutherischen Gesangbuch von 1524 in Erfurt veröffentlicht. Die Melodie erscheint bei Bruhns zunächst im Tenor: Nacheinander übernehmen der Alt und schließlich das Pedal diese Melodie. Mit der Zeit kommen immer neue Figuren und Melodiefragmente mit Echopassagen und Einschüben im Stil der Partita hinzu. Mit einer jähen Unterbrechung endet der Klangreichtum, um schließlich in einen gleichförmig fließenden letzten Abschnitt zu münden, der relativ unspektakulär abschließt. Vokalwerk Bruhns’ Vokalwerk lässt sich grob in drei Kategorien teilen. Einen Teil bilden die durchkomponierten Konzerte, die nur aus einem zusammenhängenden Stück bestehen und die Texte der Schriften unverändert übernehmen.Den anderen großen Teil bilden die durchnummerierten Konzerte, die – wie auch die Kantate im engeren Sinn – aus mehreren Sätzen bestehen und die Originaltexte paraphrasieren. Dabei verwenden sie alle Techniken, die auch in der Oper Gebrauch finden, wie Ritornelle, Arien, Duos, Trios und Chöre.Schließlich ist noch eine als lutherisches Kirchenlied konzipierte Choralkantate überliefert. Bruhns vereinte Stilelemente zweier entgegengesetzter Musikgattungen, nämlich des von Schütz geprägten geistlichen Konzerts und des bis dahin weitgehend der weltlichen Musik vorbehaltenen Madrigals. Ebenso wie die Kompositionen für Orgel zeugen die Vokalwerke von einem großen Gespür für die Affektwirkung. Einige der Werke verlangen eher instrumentale, andere eher vokale Souveränität. Ebenso finden sich fugierte Abschnitte, die instrumentale und vokale Stimmen vereinen, wie etwa bei der Kantate Jauchzet dem Herren. Dies lässt darauf schließen, dass Bruhns Stimmen und Instrumente weitgehend als eine Einheit betrachtete. Die Instrumentation ist allerdings recht begrenzt, was damit zusammenhängen dürfte, dass Bruhns keine Gelegenheit zu diesbezüglicher Ausbildung erhielt. Nur vereinzelt sind die Originaltitel der Vokalwerke – wie etwa „Madrigal“ (Hemmt eure Tränenflut) oder „Canzon spirituale“ (O werter heil’ger Geist) – überliefert. Heute werden sie gemeinhin unter dem Begriff „Kantaten“ zusammengefasst. Eine Datierung ist nur grob und vereinzelt möglich. Die Reihenfolge der im Folgenden näher erläuterten Werke folgt der Gesamtausgabe. Durchkomponierte geistliche Konzerte Die Zeit meines Abschieds ist vorhanden Vierstimmiger Chor (Sopran, Alt, Tenor, Bass), Saiteninstrumente, GeneralbassText: 2. Timotheus, Kapitel 4, Verse 6–8 Dieses Werk steht noch größtenteils in der Tradition der Konzertmotette: Jede Idee des Textes wird motivisch selbstständig umgesetzt. Das Werk gliedert sich in fünf literarische Abschnitte, die in drei musikalischen Sätzen zusammengefasst sind. Die Fünfgliederung erinnert an Tunder, wirkt jedoch wegen ausgeglichenerer Abschnitte homogener. Das Stück beginnt mit einer vierstimmigen Fuge in D-Dur, die aus dem Thema Die Zeit meines Abschieds ist vorhanden und einem Gegenthema über Ich habe einen guten Kampf und einer harmonischen Sequenz über gekämpfet besteht. Der Hauptidee des zweiten Textabschnitts (Ich habe den Lauf vollendet), der „Lauf“, wird durch Betonungen des Vokals, begleitet von einem Echo der Saiteninstrumente, hervorgehoben. Der Zentralabschnitt wird von der schrittweisen chromatischen Erhöhung von hinfort, sowie einem harmonischen Abschluss über der Gerechtigkeit bestimmt. Der letzte Abschnitt (Nicht mir aber allein) beginnt mit Sopran und Alt, die von Tenor und Bass verstärkt werden. Der Herr hat seinen Stuhl im Himmel bereitet Bass, zwei Violinen, zwei Gamben, Violine oder Fagott, GeneralbassText: 103. Psalm, Verse 19–22 Von der Stimmführung her ist diese Kantate in A-Dur wie ein dreistimmiges Concertato aufgebaut und enthält zahlreiche fugierte Abschnitte. Der erste Textabschnitt wird vom Solobass eröffnet, auf den das fünfstimmige Instrumentalensemble antwortet. Den Kern des Werkes bilden die Verse 20 sowie 21/22. Eine breit ausgeführte Allelujah-Fuge schließt das Werk ab, in dem Bruhns eher auf einen mathematisch genauen formalen Aufbau als auf eine getreue musikalische Umsetzung des Textmaterials Wert legt. Jauchzet dem Herren, alle Welt Tenor, zwei Violinen und GeneralbassText: 100. Psalm Diese Kantate gliedert sich in drei große Teile. Der erste reiht Rezitative und Ariosos aneinander, die ob ihrer schnellen Tonfolgen hohe Ansprüche an den Tenor stellen. Der zweite (Geht zu seinen Toren) enthält eine vierstimmige Fuge, die neben dem Sänger alle Instrumente mit einbezieht. Der dritte Teil ähnelt dem ersten. De profundis Bass, 2 Violinen und GeneralbassText: 130. Psalm, Verse 1–8 Diese Bass-Solokantate, möglicherweise auch die beiden virtuosen Stücke Der Herr hat seinem Stuhl im Himmel bereitet und Die Zeit meines Abschieds ist vorhanden, könnte Bruhns in Husum für Ferber geschrieben haben. Es handelt sich dabei um eine der beiden überlieferten Kompositionen in lateinischer Sprache. Die Bassstimme findet ihr Gegenstück in den wenigen Instrumenten, die zeitweise in den Vordergrund rücken. Das Stück beginnt mit einer schwermütigen Sinfonia. Die Tiefe wird durch einen chromatischen Abstieg bei Fiant aures tuae intendentes symbolisiert. Der Zentralteil stellt den zweifelnden Gläubigen mit einem zögernden Wechsel zwischen langsamen Rezitativen und schnelleren Ariosos dar. Eine fröhlich anmutende Beschleunigung des Tempos bei et ipse redimet legt jeden Zweifel beiseite und mündet schließlich in ein jubilierendes Amen. Mein Herz ist bereit Bass und obligate ViolineText: 57. Psalm, Verse 8–12 Diese Komposition ist diejenige, die einen Einblick in Bruhns’ Spieltechnik gibt. Insbesondere im Präludium wird das virtuose Geigenspiel, bei dem häufig zwei oder drei Saiten gleichzeitig erklingen, als Effekt verwertet. Der Text ist die deutsche Übersetzung von Paratum cor meum. Die Kantate besteht aus fünf Abschnitten und ist von komplexer Struktur. Die naiv-heitere Grundstimmung wird durch zahlreiche Figuren, wie die Melodie Wache auf, meine Ehre und den Wechsel zwischen Stimme und Instrumenten erreicht. In Einzelstücke gegliederte geistliche Konzerte Wohl dem, der den Herren fürchtet 2 Sopranos, Bass, Streicher und GeneralbassText: 128. Psalm, Verse 1–6 Diese Kantate besteht aus vier Sätzen. Der Einleitung im konzertanten Stil folgt der zweite Satz (Dein Weib wird sein), der ausschließlich den Sopranos vorbehalten ist. Der dritte Satz (Siehe, also wird gesegnet der Mann) wird dementsprechend vom Bass bestimmt. Der vierte und letzte Satz schließlich (Der Herr wird dich segnen aus Zion) besteht aus Wechseln zwischen den Stimmen. Paratum cor meum Zwei Tenöre, Bass, Violine, zwei Gamben, GeneralbassText: 57. Psalm, Verse 8–12 (lat. Fassung) Dieses Konzert besteht aus einem eröffnenden Allelujah und drei Sätzen. Der erste (Verse 8–9) und der letzte (Vers 12) Satz ist dreistimmig mit Instrumentalensemble. Der auf den übrigen Versen aufgebaute solistische Mittelteil besteht aus einem Rezitativ und Arioso für den ersten Tenor sowie zwei Ariosi für den zweiten Tenor. Ich liege und schlafe Vierstimmiger Chor (Sopran, Alt, Tenor, Bass), vier Einzelstimmen, Streicher, GeneralbassText des Anfangs- und Schlusssatzes: 4. Psalm, Vers 9; Mittelsatz: Ich hab Gott Lob das Mein vollbracht (Georg Werner) Dem Text entsprechend ist die Kantate in der „tragischen“ Tonart c-Moll gehalten. Eine Sinfonia der Streicher geht dem Einzug der Stimmen voran. Der zweite Satz ist eine Soloarie für Sopran. In der von Fritz Stein 1939 besorgten Ausgabe dieser Kantate enthält diese Arie einen Transkriptionsfehler im Text: die Soprankoloratur lautet auf das Wort "Freuden" und nicht, wie Stein angibt, auf das Wort "Frieden" (Lit.: Aderhold 2008, S. 352). An ein instrumentales Ritornell schließt sich das Tenor-Alt-Duo In Jesu Namen an. Nach einem zweiten Ritornello folgt eine Soloarie für Bass in der Tradition Buxtehudes. Die ergreifende, von einigen Autoren als „mystisch“ bezeichnete musikalische Umsetzung der Betrachtungen über den Tod macht die ganz besondere Qualität dieser Kantate aus. Der Ecksatz dieses Stückes ist auch mit dem Text Ich habe Lust abzuscheiden (nach Phil. I, 23) als Parodie überliefert. Muss nicht der Mensch Vierstimmiger Chor (Sopran, Alt, Tenor, Bass), vier Einzelstimmen, Streicher, zwei Clarini, GeneralbassText: Paraphrase von Hiob VII, Kapitel I, 1 Diese Kantate ist vermutlich ein unter der Aufsicht Buxtehudes entstandenes Jugendwerk, in dem Bruhns versuchte, den Stil der „großen Abendmusiken“ seines Lehrers zu imitieren. Sie beginnt mit einer Ouvertüre, in der Clarini, Streicher und Clarini aufeinanderfolgen. Darauf folgen drei Strophen, die allesamt mit einem Chor über das fugierte Thema Da gibt es schon auf allen Seiten abschließen. Der zweite Teil der Kantate besteht aus je einer Strophe für Bass und Tenor und mündet schließlich in die Schlussstrophe über Triumph, der Kampf ist gekämpfet. Parallelen zwischen diesem Madrigal und Buxtehudes Abendmusik „Das Jüngste Gericht“, BuxWV 129, deuten darauf hin, dass Bruhns an der Entstehung letzterer lebhaften Anteil hatte (Lit.: Kölsch 1957, S. 22). O werter heil’ger Geist Vierstimmiger Chor (Sopran, Alt, Tenor, Bass), vier Einzelstimmen, zwei Clarini, Streicher und GeneralbassText: Paraphrase des Luther-Chorals Komm heiliger Geist Text und ausgereifter Stil dieser viersätzigen Kantate deuten darauf hin, dass sie 1691 zur Amtseinführung eines Predigers geschrieben wurde. Der erste Satz besteht aus einem Ritornello in C-Dur, gefolgt von einem Refrain über Die sündliche Schwachheit, der wiederum mit einem Ritornello abschließt. Die drei folgenden Sätze bestehen aus Einsätzen der Solisten, die gelegentlich vom anfänglichen Ritornello unterbrochen werden und mit einem Schlusschor enden. Hemmt eure Tränenflut Vierstimmiger Chor (Sopran, Alt, Tenor, Bass), vier Einzelstimmen, Streicher und GeneralbassTextquelle unbekannt Dieses möglicherweise letzte Werk des Meisters zelebriert das Osterfest. Instrumentale Ritornellos und im Sologesang vorgetragene Strophen wechseln ab. Am Schluss steht ein Amen, das auf dem Choral Christ lag in Todes Banden basiert. Choralkonzert Erstanden ist der heilige Christ 2 Tenöre, 2 Violinen und Generalbass Die Choralkantate basiert auf dem aus dem 14. Jahrhundert stammenden lateinischen Gesang Surrexit Christus hodie, der 1531 im Brüdergesangbuch von Michael Weisse veröffentlicht wurde. Der von Bruhns angewandte Cantus firmus wurde bereits 1555 von Valentin Triller verwendet. Fragmentarische und ungewisse Werke Ein Praeludium in g-Moll, das ähnlich lang wie das kleine e-Moll-Praeludium ist, wurde 1970 entdeckt. Das Vorspiel macht Gebrauch von Parallelbewegungen auf dem Manual, die mit einem Pedalsolo abwechseln. Ein kurzes Adagio, das mit einem Orgelpunkt abschließt, leitet die schwungvolle Fuge ein. Der Schluss kommt unerwartet in Form eines wiederholten Akkords. Kollmannsperger schreibt dieses Praeludium Arnold Matthias Brunckhorst zu. Anzeichen für eine fremde Verfasserschaft ist die – verglichen mit den anderen Orgelwerken Bruhns’ – recht einfache Struktur der Komposition. Der Autor ist in der einzigen Quelle mit Mons: Prunth. angegeben. Ein im Husumer Orgelbuch von 1758 überliefertes kurzes Adagio. ⟨D-Dur⟩ di Nicolai Bruhns. könnte aus einem ansonsten verschollenen Praeludium stammen. Eitner schrieb noch die Kantate Wie lieblich sind deine Wohnungen und das Madrigal Satanas und sein Getümmel Nicolaus Bruhns zu. Als Autor ersterer wurde allerdings sein Onkel Friedrich Nicolaus mit hoher Wahrscheinlichkeit nachgewiesen. Zweitere muss aus stilistischen Gründen Bruhns abgesprochen werden; vermutlich stammt sie ebenfalls vom hamburgischen Ratsmusikanten. Nachwirkung Musikalischer Einfluss Ob und wie Nicolaus Bruhns die spätere Barockmusik direkt beeinflusst hat, lässt sich angesichts der knappen Quellenlage nicht eindeutig feststellen. Ein Schriftstück, in dem sein Name auftaucht, ist ein 1775 von Carl Philipp Emanuel Bach verfasster Brief an Johann Nikolaus Forkel, aus dem kurz hervorgeht, dass sein Vater Johann Sebastian die Orgelwerke mehrerer norddeutscher Komponisten – darunter auch Bruhns – sowie einiger französischer Komponisten „geliebt und studiert“ haben soll. Ähnliches schrieb er 1754 in seinem Nekrolog auf Johann Sebastian Bach. Der Grund lag wohl in Johann Sebastians Zugang zur so genannten Möllerschen Handschrift und zum Andreas-Bach-Buch seines älteren Bruders und Klavierlehrers Johann Christoph Bach. Diese Musiksammlungen enthalten Bruhns’ Präludien in e-Moll sowie das Präludium in G-Dur. Riedel untersuchte mögliche formale Gemeinsamkeiten im Werk Bruhns’ und Bachs. Einige von Bachs frühen Werken enthalten zwar Motive, die eine oberflächliche Ähnlichkeit zu denen von Bruhns aufweisen. Da diese aber zur damaligen Zeit weit verbreitet waren, kann kein beweiskräftiger Zusammenhang zwischen den Werken der beiden Musiker hergestellt werden. Über das Vokalwerk sind keine Referenzen bekannt. Mehrere Musikwissenschaftler folgten jedoch Steins Darstellung von Bruhns als einem der Komponisten, die den Weg zur madrigalischen Kantate ebneten; dies wird von Webber bestritten. Moderne Wiederentdeckung In den 1930er Jahren wurden erstmals moderne biografische Nachforschungen über Bruhns betrieben. Damals kannte man vom Werk nur vier der Orgeltokkaten sowie eine Bass-Solokantate. Stein veröffentlichte 1939 die erste Gesamtausgabe des Werks als „Urtext“. Ebenso wie bei den meisten norddeutschen Meistern fehlt es auch bei Bruhns sowohl an gesichertem autographem Quellenmaterial als auch an Mehrfachüberlieferungen, sodass auf einzelne Abschriften zurückgegriffen werden muss, wie sie unter anderem von Agricola, Walther und Österreich angefertigt wurden. Neuere Ausgaben der Werke versuchen dies zu berücksichtigen und bei der Abschrift entstandene eventuelle Fehler zu korrigieren. Nicolaus Bruhns wird kurz in einem Abschnitt der Novelle Renate (1878) des gebürtigen Husumers und Musikfreundes Theodor Storm erwähnt, in dem das abendliche Orgelspiel von Georg Bruhns stimmungspoetisch verwertet wird. Leben und Werk des Komponisten bilden die Grundlage für den Roman Mitternacht von Andreas Nohr. Husum war Sitz der mittlerweile aufgelösten Nicolaus-Bruhns-Gesellschaft e. V., die 1947 im Anschluss an ein vom Rundfunk übertragenes Bruhns-Konzert unter der Leitung von Kurt Rienecker gegründet wurde. Vorsitzende waren Rienecker und Walter Rath; Fritz Stein war Ehrenvorsitzender der Gesellschaft, die über einen eigenen Chor sowie ein eigenes Orchester verfügte und weit über 100 Musikveranstaltungen mit Werken von Bruhns und anderen Komponisten durchführte. Eine Ehrung zum 350. Geburtstag des Komponisten erfolgte in Schwabstedt und der Marienkirche (Husum) durch den Musikzweig der Husumer Theodor-Storm-Schule zusammen mit dem ensemble avelarte Leipzig im Juli 2015. Existierten 1965 nur drei Schallplattenaufnahmen, so ist die Auswahl an Tonträger-Veröffentlichungen von Bruhns’ Werken mittlerweile erheblich gewachsen – darunter finden sich hochwertige, von Musikzeitschriften ausgezeichnete Interpretationen. Die Orgelwerke wurden relativ häufig, auch als Gesamtaufnahmen, veröffentlicht. Den Vokalwerken hingegen wurde bisher eine geringere Aufmerksamkeit geschenkt: Neben mehreren Veröffentlichungen einzelner Stücke gibt es nur eine Gesamtaufnahme auf CD. 2018 wurde in Husum der Nicolaus-Bruhns-Chor gegründet, der sich besonders den Werken Bruhns’ und seiner Zeitgenossen widmet. Eponyme Der am 4. Februar 1989 entdeckte Asteroid (5127) Bruhns trägt seit Juli 1992 seinen Namen. Literatur Klaus Beckmann: Die Norddeutsche Schule. Orgelmusik im protestantischen Norddeutschland zwischen 1517 und 1755. Teil II Blütezeit und Verfall 1620-1755. Schott, Mainz 2009. Stephan Aderhold: Der Schlaf und sein Bild im Dienst der Frömmigkeit am Beispiel der Kirchenlieder aus George Christian Schemellis Musicalisches Gesang=Buch. (Dissertation), Berlin 2008. Michel Fructus: L’œuvre d’orgue de Nicolaus Bruhns (1665–1697), Essai sur la persuasion musicale dans l’Allemagne baroque du XVIIe siècle. (Diplomarbeit), Lyon 1999. Michel Fructus: Les cantates de Nicolaus Bruhns (1665–1697). (Dissertation), Lyon 2009. Martin Geck: Nicolaus Bruhns – Leben und Werk. Musikverlag Hans Gerig, Köln 1968. Lorenzo Ghielmi: Nicolaus Bruhns. Zur Interpretation der Orgelmusik. Editioni Carrara, Bergamo 2007, ISMN M-2157-4799-3. Heinz Kölsch: Nicolaus Bruhns. Schriften des Landesinstituts für Musikforschung. Bärenreiter, Kassel 1958 (Wiederveröffentlichung einer Dissertation von 1938, Kiel). Martial Leroux: Nicolaus Bruhns. In: Edmond Lemaître (Hrsg.): Guide de la musique sacrée et chorale profane – L’âge baroque (1600–1750). Éditions Fayard, Paris 1992, ISBN 2-213-02606-8. Eckardt Opitz: Nicolaus Bruhns in: Die unser Schatz und Reichtum sind. 60 Porträts aus Schleswig-Holstein. Christians, Hamburg 1990, S. 61–64 ISBN 3-7672-1115-7. Michel Roubinet: Nicolaus Bruhns. In: Gilles Cantagrel (Hrsg.): Guide de la musique d’orgue. Éditions Fayard, Paris 1991, ISBN 2-213-02772-2. Manfred Hartwig: Nachricht von den Organisten, Komponisten und Violinisten Nicolaus Bruhns (1665-1697). In: Jahrbuch für Heimatkunde im Kreis Plön, Plön 2016, S. 135–152 Weblinks Verzeichnis von Tonträgern mit Orgelwerken Bruhns’ (französisch) Bruhns350 Nicolaus-Bruhns-Chor Husum Einzelnachweise und Anmerkungen Komponist (Deutschland) Komponist (Dänemark) Komponist (Barock) Komponist (Kirchenmusik) Klassischer Organist Klassischer Geiger Gambist Multiinstrumentalist (Klassik) Norddeutsche Orgelschule Person als Namensgeber für einen Asteroiden Deutscher Däne Geboren 1665 Gestorben 1697 Mann
582714
https://de.wikipedia.org/wiki/Neues%20K%C3%B6nigliches%20Opernhaus%20Berlin
Neues Königliches Opernhaus Berlin
Das Neue Königliche Opernhaus Berlin war ein Projekt der preußischen Regierung und des Kaisers Wilhelm II. zum Bau eines neuen Operngebäudes in Berlin, dessen Verwirklichung der Erste Weltkrieg und die Finanzknappheit in der Weimarer Republik verhinderten. Es handelt sich um eines der langwierigsten und verworrensten Bauvorhaben der Kaiserzeit. 1924 bezeichnete der Kritiker und Journalist Paul Westheim es als die „groteskeste Architekturkomödie aller Zeiten“. Vorgeschichte Auslöser der Planungen für ein neues Opernhaus war der Brand im Iroquois Theater in Chicago am 30. Dezember 1903. Nachdem das Königliche Opernhaus Unter den Linden mit 1.500 Sitzplätzen bis dahin nur als zu klein empfunden worden war, wurde nun auch seine Sicherheit angezweifelt. Der Kaiser schickte ein Telegramm an seinen Finanzminister Georg von Rheinbaben, das einen „schleunigen Neubau“ anregte und mit den Worten endete: „Ich kann keine Nacht mehr ruhig schlafen“. Die preußische Regierung begann daraufhin mit der Planung eines Neubaus für mindestens 2.500 Zuschauer unter Abriss des alten Hauses. Entwürfe von Felix Genzmer Die erste Wahl für das Neubauprojekt war der Architekt Felix Genzmer, der nach dem Bau des Foyers des Hoftheaters Wiesbaden als Architekt der königlichen Theater in Berlin und als Professor an der Technischen Hochschule Charlottenburg tätig war. Genzmer wurde vom Generalintendanten der Königlichen Schauspiele Georg Graf von Hülsen-Haeseler vorgeschlagen und war durch seine Arbeit in Wiesbaden auch beim Kaiser bekannt und beliebt. Zwischen 1904 und 1905 baute Genzmer die Innenräume des Berliner Schauspielhauses um, wobei neben dem Brandschutz eine repräsentativere Ausstattung im Vordergrund stand. Parallel dazu begann er mit den Plänen zum neuen Opernhaus. Die Beauftragung Genzmers stieß vor allem bei den nationalen Architektenverbänden auf Kritik. Der Opernbau war zu diesem Zeitpunkt das einzige geplante Großprojekt, und die Architekten forderten einen Wettbewerb, während der Kaiser Wettbewerbe grundsätzlich ablehnte. Auch die Person Genzmer stieß auf Kritik, so etwa beim Publizisten Maximilian Harden, der 1906 in der Zukunft schrieb: 1906 legte Genzmer seine ersten Pläne vor, die der Kaiser ablehnte, da er nun doch „die in der Umgebung des jetzigen Opernhauses dominierende einfache aber vornehme Architektur aus Friedrichs des Großen Zeit durch einen Kolossalbau nicht geschädigt sehen“ wollte. Genzmer sollte ein neues Projekt für den Königsplatz gegenüber dem Reichstagsgebäude erarbeiten, wo 1896 die Krolloper zum „Neuen Königlichen Operntheater“ umgebaut worden und deutlich mehr Platz vorhanden war. Die Pläne, die Felix Genzmer 1909 vorlegte, sahen den Bau der Oper südlich der Ost-West-Achse auf dem Königsplatz vor; außerdem sollte ein zweites Gebäude an der Nordseite errichtet werden. Dieser Entwurf wurde vom preußischen Ministerium der öffentlichen Arbeiten abgelehnt mit der Begründung: Das Ministerium hatte außerdem ein Problem mit der Höhe der Kosten des Neubaus – vor allem, weil die Finanzierung zu diesem Zeitpunkt nicht geklärt war. Dabei ging es in erster Linie um die Anteile, die der preußische Staat und die Krone zu bezahlen hatten. Die Krone wollte keinen wesentlichen Beitrag zum Bau leisten, obwohl der Kaiser den Neubau als „seine“ Oper betrachtete. So wurde sogar der entschädigungslose Beitrag des Grundstücks der Kroll-Oper durch die Krone intern in Frage gestellt. Der kaiserliche Berater Graf Philipp zu Eulenburg bezeichnete den Bau als eine Kulturaufgabe des Staates, auf der anderen Seite konnte das preußische Finanzministerium keinen Grund dafür finden, einen Bau mit Räumen für den Hof ohne einen Beitrag desselben zu errichten. Aus Sicht des Finanzministers war es fast unmöglich, dem preußischen Abgeordnetenhaus diese Kostenverteilung zu erklären und sie auch durchzusetzen. Nachdem auch die zweite Planung Genzmers abgelehnt worden war, setzte sich die Ansicht durch, dass er für den geplanten Bau nicht der richtige Architekt war, zumal der äußere Druck durch die Architektenverbände und die Öffentlichkeit stieg. Graf von Hülsen-Haeseler, auf dessen Vorschlag bereits Genzmer ausgewählt wurde, wollte offensichtlich erst einen weiteren Architekten auf das Projekt ansetzen und fragte aus diesem Grunde am 11. Januar 1910 unverbindlich den Berliner Stadtbaurat Ludwig Hoffmann, der jedoch ablehnte. Erster Architektenwettbewerb Am 28. März 1910 unterbreitete Graf von Hülsen-Haeseler Wilhelm II. vorsichtig den Vorschlag, zum Bau des Opernhauses mehrere Architekten in einer geschlossenen Konkurrenz (einem beschränkten Wettbewerb) gegeneinander antreten zu lassen. Er argumentierte mit der Bedeutung des Gebäudes, das zu einem gebauten Denkmal der glorreichen Regentschaft Wilhelms II. hätte werden sollen. Er betonte das Interesse der Architekten an dem Bauwerk und stellte heraus, dass es sich bei dem Wettbewerb um eine unverbindliche Ausschreibung (Ideenwettbewerb) handeln sollte, die die besten Ideen zutage fördern solle. Die letzte Entscheidungsinstanz sollte weiterhin der Kaiser selbst bleiben. Der Kaiser willigte in den Wettbewerb schließlich ein, lehnte jedoch eine Prüfkommission (Preisgericht) ab und stellte klar, dass er den Architekten auf gar keinen Fall freie Hand lassen würde. Er kommentierte entsprechend den Vorschlag: Der Vorschlag traf ebenfalls auf Zustimmung des Ministeriums der öffentlichen Arbeiten und des Ministeriums der Finanzen, die in der Konkurrenz eine Möglichkeit sahen, die kritische Frage der Finanzierung zu lösen. Durch eine Ausschreibung sollte die Budgetkommission des preußischen Abgeordnetenhauses zu einer Zustimmung zur Kostenübernahme gebracht werden. Am 28. Juni entwickelten die beteiligten Ministerien die Rahmenbedingungen für den Wettbewerb. Als Ort wurde weiterhin das Grundstück der Kroll-Oper ins Auge gefasst, die Architekten durften jedoch auch Alternativen vorschlagen. Die Oper selbst sollte über 2.250 Sitzplätze verfügen, wobei neben dem Parkett und vier Rängen ein „Amphitheater“ als abschließender Rang existieren sollte. Vor dem Zuschauerraum sollte ein Eingangstrakt mit einer repräsentativen Eingangshalle (Vestibül) und Kassenräumen sowie eine Treppenhalle mit Zugängen zum Parkett und zum ersten Rang entstehen. Zwei Foyers für die unterschiedlichen Ränge und das Parkett sollten ebenfalls eingeplant werden. Ein wichtiger Teil der Planung umfasste den Bereich für den Hof. Dieser sollte eine große Festloge im ersten Rang für 80 Plätze sowie weitere Plätze im Parkett und im ersten Rang des linken Bühnenvorraums (Proszenium) umfassen. Die Logen sollten mit verschiedenen Salons ausgestattet werden, außerdem sollte als Zugang ein getrennter Eingang an der linken Seite eingeplant werden. Alle Hofbereiche sollten miteinander verbunden, vom restlichen Publikum jedoch getrennt sein. Im August 1910 wurden die ausgewählten Architekten benachrichtigt, dabei handelte es sich neben Felix Genzmer um Eduard Fürstenau, Ludwig Hoffmann, Ernst von Ihne, Anton Karst, Max Littmann, Heinrich Seeling und Friedrich von Thiersch. Die Auswahl fiel dabei auf Architekten, die bereits erfolgreich für den Kaiser gearbeitet hatten und deren Arbeiten ihn überzeugten. Anton Karst wurde aufgrund seines Neubaus des Königlichen Hoftheaters in Kassel (Vorgängerbau des heutigen Staatstheaters Kassel) vom Kaiser selbst hinzugezogen. Besonders Max Littmann und Heinrich Seeling waren bekannte Theaterarchitekten. Die von den ausgewählten Architekten eingereichten Entwürfe sollten gegen die Zahlung eines Honorars als Eigentum mit uneingeschränktem Verfügungsrecht an den Staat übergehen. Ludwig Hoffmann nahm an dieser Ausschreibung nicht teil und begründete dies mit seinen vielfältigen Aufgaben für die Stadt Berlin sowie einem Bebauungsplan für die Stadt Athen, an dem er gerade arbeitete. Gegenüber der Öffentlichkeit rechtfertigten die Ministerien den beschränkten Wettbewerb mit den besonderen technischen Schwierigkeiten des Baus. Dies konnte die Kritik jedoch nicht beruhigen, die sowohl von der Presse als auch aus den Architekturverbänden laut wurde. Letztere forderten einen offenen Wettbewerb und verwiesen dabei vor allem auf den Bau der Pariser Oper. Weitere Kritik rief die fehlende Jury sowie die fehlende Verbindlichkeit einer Auftragserteilung an den Wettbewerbssieger hervor, was gegen die von den Verbänden postulierten, elementaren Grundregeln des Wettbewerbswesens verstieß. Im Berliner Tageblatt vom 2. September 1910 war deshalb zu lesen: Die Ergebnisse lagen Anfang Dezember 1910 vor. Vor allem von Ihne und Littmann integrierten wesentliche Elemente der Pariser Oper von Charles Garnier in ihren Entwurf, darunter die zentrale mehrgeschossige Festtreppe innerhalb eines eigenen zentralen Raumes zwischen dem Foyer und dem Auditorium. Weitere Ideen lieferte die Wiener Staatsoper von Eduard van der Nüll und August Siccard von Siccardsburg. Auf der Basis der Ergebnisse regten die beteiligten Minister die gemeinsame Erstellung eines Grundrisses an. Sie schlugen vor, dies durch die die Teilnehmer Ernst von Ihne, Heinrich Seeling und Friedrich von Thiersch durchführen zu lassen. Auf Druck des Hofes erklärten sich das Ministerium der öffentlichen Arbeiten und das Finanzministerium Ende 1910 bereit, den Bau der Oper als preußischen Staatsbau anzusehen und damit die Finanzierung auf Staatskosten mit Zuschuss der Krone vorzunehmen. Die weitere Organisation unterlag vollständig dem Ministerium der öffentlichen Arbeiten. Als Beitrag der Krone legte der Kaiser eine Gesamtsumme von drei Millionen Mark fest. Der Kaiser willigte außerdem in einen engeren Wettbewerb zwischen Ernst von Ihne, Heinrich Seeling und (im Gegensatz zum Vorschlag der Ministerien) Max Littmann ein. Zweiter Architektenwettbewerb In Vorbereitung auf diesen Nachfolgewettbewerb erstellte der Regierungsbaumeister Hans Grube im Ministerium der öffentlichen Arbeiten einen Vorentwurf als Grundlage für die weiteren Planungen. Dazu gehörten Grundrisse sowie eine Fassadenansicht des geplanten Gebäudes. Die Entwürfe fanden großen Zuspruch, und Grube wurde als vierter Teilnehmer am Wettbewerb nachträglich zugelassen, seine Pläne bildeten die Vorlage für die offizielle Programmskizze und damit die verbindliche Voraussetzung, auf der die Teilnehmer ihre neuen Entwürfe aufbauen mussten. Am 3. Oktober wurden die Architekten um ihre neuen Entwürfe gebeten, die Ergebnisse lagen im Februar 1912 vor. Die Ergebnisse beider Runden des Wettbewerbes wurden im März 1912 öffentlich im Abgeordnetenhaus ausgestellt, wobei die Pläne aus dem engeren Wettbewerb die Grundlage für den endgültigen Bau darstellen sollten. Wilhelm II. bevorzugte dabei sehr eindeutig die Ergebnisse des Baubeamten Grube. Am 6. März stellte der Geheime Baurat Richard Saran aus dem Ministerium der öffentlichen Arbeiten den aktuellen Stand der Diskussionen in einer Rede vor dem Abgeordnetenhaus vor: Als Baubeginn sah man den April 1913 vor. Die Entscheidung stieß auf starke Kritik in der Presse und der Öffentlichkeit. Vor allem das Vorgehen der Ministerien in dem beschränkten Wettbewerb und die Tatsache, dass am Ende ein unbekannter Baubeamter den Siegerentwurf lieferte, wurde sehr negativ kommentiert. Die Presse forderte erneut einen offenen Wettbewerb, die Vereinigung Berliner Architekten schrieb am 14. März 1912 eine Resolution mit derselben Forderung. Am 20. April des Jahres beschloss der Bund Deutscher Architekten, dass nach einer entsprechenden Neufestlegung des Bauprogramms und der Abstimmung im Abgeordnetenhaus ein offener Ideenwettbewerb zum Bau der Oper gefordert werden sollte. Diese Kritik, in der sich alle Fraktionen gegen die geplante Fortführung des Projektes aussprachen, trug sich entsprechend bis ins Abgeordnetenhaus. Am 2. Mai verabschiedete das Abgeordnetenhaus einen Entwurf, der einen neuen Entwurf unter „Einbeziehung weiterer Kreise der deutschen Künstlerschaft“ verlangte. Nach dem Beschluss wurde ein offener Wettbewerb vorgesehen, bei dem die Teilnehmer von der Programmskizze auch abweichen durften und bei dem eine abschließende Beurteilung durch die Preußische Akademie des Bauwesens stattfinden sollte. Damit entschieden sich die Abgeordneten ganz klar gegen die Intentionen des Kaisers Wilhelm II. Der SPD-Abgeordnete Karl Liebknecht stellte sehr deutlich dar: Dritter Architektenwettbewerb Der dritte Wettbewerb um das Opernhaus wurde im Juni 1912 vom Ministerium der öffentlichen Arbeiten ausgeschrieben. Obwohl dieser Wettbewerb nun tatsächlich offen war, wurden die Architekten Hermann Billing in Karlsruhe, Wilhelm Brurein in Berlin, Martin Dülfer in Dresden, Theodor Fischer in München, Georg Frentzen in Aachen, Otto March in Berlin, Bruno Möhring in Berlin, Carl Moritz in Köln, Bruno Schmitz in Berlin sowie die Architektengemeinschaft Lossow & Kühne (William Lossow und Max Hans Kühne) in Dresden direkt angeschrieben und zur Teilnahme aufgefordert. Wie die erste Auswahl bestand auch diese vor allem aus Architekten, die bereits Erfahrungen beim Bau von Theatern oder ähnlichen Gebäuden besaßen und dem Kaiser positiv aufgefallen waren. Von den Eingeladenen sagte nur Theodor Fischer ab, alle anderen bestätigten ihre Teilnahme. Neben diesem Personenkreis war jedem die Teilnahme erlaubt, der Mitglied im Verband Deutscher Architekten- und Ingenieur-Vereine (VDAI) oder im Bund Deutscher Architekten (BDA) war. Die Basis für die Arbeit bildeten drei Grundrisszeichnungen, auf denen die Projekte aufbauen sollten. Im Oktober 1912 lagen insgesamt 68 Entwürfe vor, zu der die Preußische Akademie des Bauwesens Stellung nahm. Die Jury urteilte in der Form, dass von sämtlichen Entwürfen keine den bisherigen Entwürfen so sehr überlegen war, dass sie als Grundlage für den Bau empfohlen werden konnte. Besonders hervorgehoben wurden die Entwürfe von Otto March, Richard Seel, Martin Dülfer, Carl Moritz sowie der Beitrag des Architekturbüros von Peter Jürgensen und Jürgen Bachmann (Berlin). Die Jury empfahl außerdem eine Vereinfachung des Bauprogramms, die jedoch vom Generalintendanten abgelehnt wurde. Zu den Gutachtern der Abteilung Hochbau der Akademie gehörte auch Ludwig Hoffmann. Die Ergebnisse des dritten Wettbewerbs wurden im Januar 1913 öffentlich ausgestellt. Obwohl man sich in der Presse darüber einig war, dass die Konkurrenz einen Fortschritt darstellte, gab es jedoch kein Ergebnis zu der Frage, welcher Entwurf nun der beste war. Der Favorit war offensichtlich der Entwurf von Otto March, doch auch er konnte nicht endgültig überzeugen. Wieder kam auch Kritik am gesamten Baukonzept auf, so wurde vor allem auch die Neuplanung des gesamten Königsplatzes gefordert. Ein Ergebnis war jedoch deutlich: Der dritte Wettbewerb brachte keinen Gewinner hervor und damit auch keinen Architekten für das Opernhaus. Am 13. Februar 1913 nahm das preußische Abgeordnetenhaus eine Resolution an, nach der die Regierung einen freien Architekten suchen und beauftragen sollte, der die besten Anregungen aller bisherigen Konzepte in einen Entwurf einbringen sollte. Für den Königsplatz sollte ein neuer Wettbewerb ausgeschrieben werden. Allerdings war diese Resolution nicht einstimmig, Karl Liebknecht etwa kritisierte sie stark: Entwürfe von Ludwig Hoffmann Für die Auswahl eines bislang weitestgehend unbeteiligten Architekten kamen nur sehr wenige Personen in Frage, da sich alle bekannten Architekten und Spezialisten bereits zur Opernhausfrage geäußert hatten. Einer der wenigen war der Berliner Stadtbaurat Ludwig Hoffmann, der zwar mehrfach angefragt worden war, bislang die Aufgabe aber jedes Mal abgelehnt hatte. Im April 1913 wurde er erneut gefragt, ob er dieses Gebäude entwerfen und bauen möchte. Hoffmann zeigte allerdings weiterhin kein Interesse daran, vor allem aufgrund seiner eher schlechten Erfahrungen bei der Ausführung des von Alfred Messel entworfenen Pergamon-Museums auf der Berliner Museumsinsel. Die Zusammenarbeit mit der Generalintendanz der Königlichen Theater schreckte ihn ab, außerdem lag zu diesem Zeitpunkt das Hauptinteresse Hoffmanns auf dem Bau von Sozial- und Wohlfahrtsbauten. In seinen Lebenserinnerungen schrieb er dazu: Nachdem jedoch auch Kaiser Wilhelm II. wünschte, dass Ludwig Hoffmann den Bau übernehme, und der Oberbürgermeister Adolf Wermuth darauf bestand, stimmte Hoffmann letztlich doch zu. Am 4. Mai 1913 gab er dem Ministerium seine Zusage, an dem Neubau mitzuwirken. Er selbst wollte sich dabei auf die künstlerischen Fragen konzentrieren und das Ministerium sollte die bautechnischen Aufgaben übernehmen. Bereits am 9. Mai 1913 legte Ludwig Hoffmann ein Exposee vor, in dem er seine Gedanken zu dem neuen Opernhaus mitteilte. Da er bereits 1912 Teil der Gutachtergruppe der Entwürfe war, hatte er sich bereits eingehend mit dem Gebäude befasst. Die ersten Entwürfe in Form von Fassadenzeichnungen legte Hoffmann zu Pfingsten des Jahres vor. Die drei Bleistiftzeichnungen waren mit dem 11. Mai 1913 datiert und zeigten alternative Fronten des Operngebäudes, teilweise flankiert von weiteren, bislang nicht vorgesehenen Gebäuden, um die weitere Bebauung des Platzes darzustellen. Die Öffentlichkeit erfuhr erst Ende Mai von der Beteiligung Hoffmanns am Bau, die Resonanz in der Presse auf diese Auswahl war allerdings sehr positiv und zugleich mit hohen Erwartungen verbunden. Der Entwurf sollte zusammen mit einem Kostenvoranschlag im Dezember fertig sein, dabei sollte sich auch Hoffmann weitestgehend an die Programmskizze halten. Am 5. November ließ sich Hoffmann die Genehmigung seiner Entwürfe durch den Kaiser bestätigen, im Dezember legte er einen Kostenvoranschlag über 19,5 Millionen Mark (kaufkraftbereinigt in heutiger Währung: rund  Millionen Euro) vor. Nach einem Zusammentreffen mit dem Finanzminister wurden einige Einsparungen beschlossen, vor allem bei der Gestaltung der Innenräume sowie am Depotbau, der mit der Oper verbunden sein sollte. Im Januar 1914 präsentierte Ludwig Hoffmann ein Modell des Gebäudes dem Kaiserpaar in einem eigens dafür eingerichteten Atelier. Der Kaiser zeigte sich zufrieden und willigte in den Bau des Opernhauses ein. Auch die endgültigen Grundrisse, Ansichten, Schnitte und Perspektiven wurden im Zentralblatt der Bauverwaltung mitsamt der persönlichen Entwurfserläuterungen Ludwig Hoffmanns veröffentlicht. Am 19. Mai 1914 wurde die erste Baurate vom preußischen Arbeitsministerium bewilligt, der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhinderte allerdings die Bauausführung. Architektonische Betrachtung des Hoffmann-Entwurfs Ludwig Hoffmann sollte sich als beauftragter Architekt noch enger an die vorgegebenen Grundpläne halten als die Teilnehmer des Wettbewerbs. Hoffmann versuchte allerdings trotzdem, vor allem die Fassade seinen Vorstellungen entsprechend zu verändern. Während etwa der ursprüngliche Plan auf Wunsch des Kaisers einen großen Dreiecksgiebel mit acht tragenden Säulen (Portikus) vorsah, plante Hoffmann eine geräumige Vorhalle mit einer Kolonnade aus korinthischen Säulen mit nur dezentem Giebel. Außerdem setzte er die Fensterachsen enger als vorgesehen und plante den Gesamtbau mit 96 Metern Breite um vier Meter breiter als in den Vorgaben gewünscht. Hinter der Säulenhalle sollte ein geräumiges Foyer entstehen. Die Kassen, die nach der Vorgabe seitlich eines zentralen Vestibüls entstehen sollten, platzierte Hoffmann an die beiden äußersten Enden und stattete diese Bereiche mit jeweils einem eigenen Gebäudevorsprung (Risalit) aus, der weitere Nebenräume aufnehmen sollte. Eines der Hauptprobleme des Grundrisses war der starke Eindruck des viereckigen Kastenbaus, der bereits in den Entwürfen der verschiedensten Wettbewerbsteilnehmer durch Vorbauten und Ausgestaltungen des Portikus verdeckt werden sollte. Hoffmann versuchte, durch das Vorziehen des Bühnenkörpers über den Zuschauerraum sowie die Anlage der zentralen Treppenhalle einen lang gestreckten Eindruck zu vermitteln, die er optisch an das Berliner Schauspielhaus anglich. Im Gesamtbild stellte allerdings die Ausdehnung in die Länge das größere Problem dar, zumal der Bau aus Kostengründen nicht die gesamte Breite des Königsplatzes ausfüllen sollte und so das Missverhältnis noch deutlicher auffiel. Hoffmann plante aus diesem Grund direkt beidseitig anschließende Funktionsbauten und eine Betonung der Außenkanten während er auf eine Betonung des Zentralteiles eher verzichten wollte. Neben den bereits erwähnten Risaliten sollte die Kolonnade als eine über zwei Geschosse gebaute offene Säulenvorhalle diesen Effekt verstärken. Für das Hauptgeschoss waren große Rundbogenfenstern vorgesehen. Durch aufwändigen Figurenschmuck sollte die umlaufende Balustrade des Gebäudes akzentuiert werden. Im Inneren gliederte Hoffmann den Bau in einen Bühnen- und einen Zuschauerteil. Dabei bildet der Zuschauerteil das Zentrum des Gebäudes, ihm sind ein großes Treppenhaus und ein Foyer vorgelagert. Vier Lichthöfe gliedern das Gebäude weiter. Der Zentraleingang sollte sich am Königsplatz befinden, durch diesen sollte man in eine quer angelegte Vorhalle gelangen, die die gesamte Breite des Gebäudes einnehmen sollte. Über einige Stufen gelangte man in das zentrale Treppenhaus oder in die Seitengänge. Eine breite Treppe im zentralen Treppenraum sowie weitere Treppen in den seitlichen Gängen führen in den ersten Rang, zwei Treppen hinter der Haupthalle in das Oberparkett. Das Auditorium sollte aus vier Rängen bestehen, überspannt durch zusätzliche Sitzreihen in der Art eines Amphitheaters, architektonisch herausgestellt wurden die Festloge sowie die dreigeteilten Proszeniumslogen. Ein großes Foyer sollte oberhalb der Eingangshalle für die Pausengestaltung eingerichtet werden, weitere Aufenthaltsräume befanden sich im gesamten Gebäude. Separat angelegt wurde ein seitlicher Eingang für die Besucher der kaiserlichen Loge. Dieser führte über ein Treppenhaus in einen großen Salon vor der Festloge. Den Zuschauerweg sollte dieser Zugang nur seitlich des Salons kreuzen, sodass die beiden Besuchergruppen gut voneinander getrennt waren. Weitere Räume für die Angehörigen des Hofes gruppierten sich um den hinteren linken Lichthof. Über einen Speisesaal und einen Teesalon wurde ein Durchgang zu den Proszeniumslogen geschaffen. Volksopernhaus Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Ludwig Hoffmann von Adolph Hoffmann, dem neuen preußischen Kultusminister aus den Reihen der USPD, gebeten, das Projekt als Volksopernhaus neu ins Auge zu fassen. Dabei sollten die Zuschauerkapazität auf 3.000 Plätze erhöht werden, woraufhin Ludwig Hoffmann das Parkett durch eine steilere Höhenkurve erweiterte. Der zur Beratung herangezogene Komponist Richard Strauss war von der Idee begeistert, da auf diese Weise die Zuschauer über die Köpfe der vor ihnen Sitzenden hinweg die Sänger in ihrer ganzen Gestalt sehen konnten. Diese Pläne verliefen allerdings im Sande und statt des Volksopernhauses wurde in den Jahren 1920 bis 1923 die auf dem vorgesehenen Grundstück stehende alte Krolloper modernisiert. Literatur Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin. Beiheft 10. Lebenserinnerungen eines Architekten – Ludwig Hoffmann. Veröffentlicht u. hrsg. von Wolfgang Schäche. Gebr. Mann, Berlin 1983, ISBN 3-7861-1388-2 Dörte Döhl: Ludwig Hoffmann – Bauten für Berlin 1896-1924. Ernst Wasmuth, Tübingen 2004. ISBN 3-8030-0629-5 Hans Schliepmann: Die neuen Entwürfe zum Berliner Königlichen Opernhaus. Berliner Architekturwelt, Sonderheft 12. Berlin: Wasmuth, 1913. Digitalisiert von der Zentral- und Landesbibliothek Berlin, 2020. https://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:kobv:109-1-15382701 Saran: Die bisherige Entwicklung der Vorbereitungen zum Neubau eines Königlichen Opernhauses in Berlin. In: Zentralblatt der Bauverwaltung. Ernst, Berlin 1912, S. 133 f. Maximilian Harden: Das neue Opernhaus. In: Maximilian Harden (Hrsg.) Die Zukunft. Die Zukunft, Berlin 1906, ISBN 3-89131-445-0 Fritz Stahl: Das neue Berliner Opernhaus. Ein sehr enger Wettbewerb. In: Berliner Tageblatt, 2. September 1910, Mosse, Berlin. Paul Seidel: Der Kaiser und die Kunst. Schall, Berlin 1907. Paul Westheim, in: Das Kunstblatt. Hrsg. Paul Westheim. Reckendorf, Berlin 8.1924, S. 135. Zentralblatt der Bauverwaltung, Nr. 8, Berlin 28. Januar 1914, S. 61–65 Einzelnachweise Berlin im Deutschen Kaiserreich Architekturprojekt Architektur (Berlin) Nicht realisiertes Bauprojekt Ludwig Hoffmann (Architekt)
602334
https://de.wikipedia.org/wiki/Gie%C3%9Fkannenschimmel
Gießkannenschimmel
Die Gießkannenschimmel (Aspergillus) sind eine über 350 Arten umfassende Gattung von Schimmelpilzen mit aspergillförmigen Sporenträgern. Sie sind weltweit verbreitete Saprobionten, die überwiegend in toter, sich zersetzender organischer Substanz leben und einen erheblichen Anteil am Stoffkreislauf im Ökosystem der Erde haben. Einige Arten sind jedoch Krankheitserreger, die den Menschen, verschiedene Tiere oder Pflanzen befallen können. Die Gattung Aspergillus wurde lange Zeit zu den Fungi imperfecti gezählt, die sich von anderen Pilzen dadurch unterscheiden, dass sie sich nur asexuell fortpflanzen. Inzwischen ist aber bei einigen Arten bekannt, dass sie einen pleomorphen Entwicklungszyklus durchlaufen, in dem sich eine asexuelle Form (Anamorphe) und eine sexuelle Form (Teleomorphe) abwechseln. Bislang werden provisorisch die asexuellen Formen weiterhin als Aspergillus bezeichnet, während die bekannten sexuellen Formen unter anderen Gattungsnamen zu den Schlauchpilzen (Ascomycota) gerechnet werden. Der Name Aspergillus geht auf den italienischen Priester und Botaniker Pier Antonio Micheli zurück, den die Form des Pilzes an ein Aspergill (Weihwassersprenger) erinnerte. Der deutsche Name entstand durch die Ähnlichkeit mit dem Brausekopf einer Gießkanne. Beschreibung Gießkannenschimmel bilden weißliche, grünliche, schwarze, rote, braune, gräuliche oder gelbe Pilzrasen, die in sogenannten Kolonien wachsen. Diese Kolonien bestehen zunächst aus einem dichten Hyphengeflecht, das Myzel genannt wird. Die Hyphen durchmessen zwischen 3 und 5 Mikrometer und sind in der Länge sehr variabel. Bei A. nidulans sind sie zwischen 110 und 160 Mikrometer lang und in 30 bis 60 Mikrometer lange Kompartimente unterteilt. Dies kann bei anderen Arten, Mutanten oder veränderten Umweltbedingungen aber erheblich abweichen. Das Myzelwachstum ist zunächst exponentiell, verlangsamt sich dann aber fortschreitend. Mit zunehmendem Wachstum verzweigen sich die Hyphen an ihren Spitzen und das typische weitverzweigte Myzel entwickelt sich. Im Alter werfen sich die Kolonien zunehmend auf und Furchen bilden sich. Dabei kann es innerhalb der Kolonie zu Bereichen mit anaerobem Stoffwechsel oder Bereichen, in denen keine Nährstoffe mehr vorliegen, kommen. Bei der Fruktifikation bilden sich aspergillartige Konidienträger, die der Vermehrung dienen und an denen Konidiosporen (Konidien) reifen. Die Konidienträger bestehen aus Fußzelle, Konidiophor, Vesikel und Phialiden. Der Begriff Konidiophor wird allerdings uneinheitlich verwendet und gelegentlich synonym zum gesamten Konidienträger verwendet. Fußzellen Das erste Anzeichen der Konidiogenese ist das Anschwellen von Zellen innerhalb des Myzels, die dann konidogener Ort genannt werden. Anschließend bilden diese Zellen ein Septum (eine starke Verdickung der Zellwand). Aus jeder dieser sogenannten Fußzellen wächst als Verzweigung senkrecht zur Längsachse der Zelle und üblicherweise annähernd in ihrer Mitte ein einziger Konidiophor. Beim fortschreitenden Wachstum des Konidienträgers verbiegt und verwindet sich die Fußzelle zunehmend. Ihre Verbindung zu den vegetativen Hyphen wird mehr und mehr unscheinbar. Fußzellen können sich sowohl innerhalb des Substrats als auch an Lufthyphen entwickeln. Das Vorhandensein von Fußzellen ist ein recht deutliches Merkmal für die Gattung Aspergillus, allerdings finden sie sich auch in wenigen anderen Gattungen wie etwa Sterigmatocystis. Konidiophor Die senkrecht aus der Fußzelle herauswachsende Struktur wird Konidiophor oder einfach Stiel genannt. Er bildet den Konidienkopf aus. Bei nahezu allen Arten ist der Konidiophor unverzweigt, wenige Ausnahmen finden sich allerdings in den Sektionen Aspergillus, Cervini, Sparsi und Cremei. Die Zellwand des Konidiophors ist gleichmäßig oder zur Basis hin zunehmend verdickt. Der Stiel ist häufig unseptiert (ohne innere Trennwände), kann bei einigen Arten aber auch septiert sein. In diesem Fall sind die Septa nur schwach ausgebildet. Die Außenwand des Konidiophors ist glatt oder rau, die Innenwand zeigt häufig unregelmäßige Verdickungen. Bricht ein Konidiophor, ähnelt die Bruchkante meist gebrochenem Glas. Die Farbe variiert zwischen den Arten und die Spanne reicht von grün über gelb bis braun. Vesikel Im Fortschreiten der Konidiogenese verdickt sich der Konidiophor an seiner Spitze und bildet ein kugeliges, halbkugelähnliches, ellipsoides oder länglich keulenförmiges Vesikel (auch Blase genannt). Bei einigen Arten aus den Sektionen Cervini, Restricti und Fumigati steht das Vesikel nicht senkrecht zum Konidiophor, sondern ist abgeknickt, bei einigen dieser Arten ist das Vesikel auch gabelförmig. Die Färbung des Vesikels ist häufig intensiver als die des Stiels. Phialiden Am Vesikel wachsen kegelförmige Auswüchse, Phialiden genannt. Diese sind zumeist hyalin oder in derselben Farbe wie die Blase. Häufig belegen sie nicht die ganze Oberfläche des Vesikels, sondern wachsen nur auf bestimmten fertilen Flächen. Ihre Zellen haben entweder sehr dünne oder aber stabile Zellwände, die beim Abfallen der Phialiden am Ende der Konidiogenese eingedrückte Spuren im Vesikel hinterlassen. Die Phialiden stehen entweder nur in einer Lage, oder übereinander in zwei Schichten. In letzterem Fall wachsen aus jedem primären Phialidus, Prophilalidus genannt, zwei oder mehrere sekundäre Phialiden. Diese sitzen kronenförmig, gabelförmig oder wirtelig an der Spitze des Prophilalidus. Ein Phialidus ist an der Basis mehr oder minder zylindrisch und verengt sich dann kegelförmig zu einer Spitze, an der sich ein enger konidienproduzierender Tubus befindet. Bei fast allen Arten enthält das Vesikel nur einen Zellkern. In den Phialiden entstehen durch Kernteilung mehrere Zellkerne, die dann, falls vorhanden, an die sekundären Philaliden weitergereicht werden. Eine Ausnahme stellt A. brunneus dar, wo die Zellkerne vom Vesikel an die Phialiden weitergegeben werden. Die Zellkerne werden dann in den konidienproduziernden Tubus geschoben und dort nacheinander abgeschnürt. Im Ergebnis entspringt an jedem Tubus eine einzelne, unverzweigte Kette von Konidien. Konidien Bei fast allen Aspergillus-Arten enthält jede Konidie nur einen Zellkern. Einige Arten der Sektion Aspergillus produzieren jedoch Konidien mit bis zu 12 Zellkernen. Zumindest bei Aspergillus brunneus und Aspergillus reptans entstehen diese zusätzlichen Zellkerne durch fortgesetzte Teilung in der jungen Konidie. Für andere Arten ist dies unklar. Auch die bereits abgeschnürten Konidien werden immer noch vom Vesikel mit Nährstoffen versorgt, bis sie vollständig gereift sind. Die Farbe der reifen Konidien variiert über oliv-braun, rot-braun bis hell-grün oder fast gelb, abhängig von der Art. Innerhalb der Kette sind die einzelnen Konidien durch sehr feine Brücken verbunden. Verbreitung Gießkannenschimmel sind kosmopolitisch verbreitet. Eine Metaanalyse aus dem Jahr 2002, die 250 andere Studien ausgewertet hatte, kam zu dem Schluss, dass die meisten Arten bevorzugt zwischen dem 26. und dem 35. Breitengrad leben, also in den Subtropen. Dabei scheint sich die Sektion Aspergillus vor allem auf Wüsten spezialisiert zu haben. Die Sektion Ornati hingegen hat ihren Verbreitungsschwerpunkt näher an den gemäßigten Zonen bis zum 45. Breitengrad. Generell gilt, dass die Gießkannenschimmel tropisches Klima bevorzugen, wohingegen Pinselschimmel stärker in den gemäßigten Breiten anzutreffen sind. Dennoch sind Gießkannenschimmel nicht auf warme Gegenden beschränkt. In Permafrostboden und Eisproben aus der Antarktis wurden mehrere Aspergillus-Arten isoliert. Viele Arten sind auch extrem salztolerant und können gut mit osmotischem Stress umgehen (vergleiche Halophile). Aspergillus sydowii lebt sogar als Pathogen auf karibischen Hornkorallen im Meer. Aspergillus-Konidien sind Bestandteil des Aerosols in der Luft. Eine Langzeitstudie von 1963 bis 1991 in Cardiff maß im Mittel eine Konidienkonzentration zwischen 45 und 110 Sporen pro Kubikmeter Luft. Die gemessene Maximalkonzentration lag bei über 100.000 Sporen in einem Kubikmeter. Dabei ist die Konzentration im Sommer niedriger als im Winter. Die Sporen können sehr hoch verweht werden. Eine Studie fand Sporen von Aspergillus calyptratus noch in 4.100 Meter Höhe. Aspergillus niger-Sporen fanden sich bis zu 3.200 Meter, Aspergillus glaucus-Konidien bis zu 2.200 Meter und die Sporen von Aspergillus fumigatus und Aspergillus flavus noch in 1.400 Meter Höhe. Durch den Wind können die Sporen auch sehr weit verweht werden, so wurden beispielsweise Sporen aus der Sahara bis in die Karibik getragen. Lebenszyklus und Ökologie Das Leben eines Gießkannenschimmels beginnt in der Regel als Konidie. Selten ist aber auch eine Ascospore von einer zugeordneten Teleomorphe der Ursprung eines Aspergillus. Wenn die Konidien auf eine feste oder flüssige Oberfläche treffen, setzen sie sich dort fest und beginnen dort in Abhängigkeit von Temperatur, Feuchtigkeit, pH-Wert und anderen Verhältnissen zu keimen. Dabei schwillt die Konidie zunächst an und ein Keimfaden wächst aus. Bei den Ascosporen verhält es sich analog. Durch Zellteilung entstehen mehrere verkettete längliche Zellen, die eine Hyphe darstellen. Beim weiteren Wachstum verzweigen sich die Hyphen. Ein Hyphengeflecht in seiner Gesamtheit heißt Myzel. Ist das Wachstum weit genug fortgeschritten und sind genügend Nährstoffe vorhanden, beginnt die Fruktifikation und die Sporenträger entstehen, an denen asexuell Konidien reifen. Von etlichen Aspergilli ist ein pleomorpher Entwicklungszyklus bekannt, das heißt, dass sie über eine sexuelle Form (Hauptfruchtform, Teleomorphe) und eine asexuelle Form (Nebenfruchtform, Anamorphe) verfügen. Viele Arten sind sogenannte Fungi imperfecti, das heißt, dass unbekannt ist, ob sie sich ausschließlich asexuell vermehren oder die Phase der sexuellen Vermehrung noch unentdeckt ist. Die Bezeichnung einer pleomorphen Pilzart mit all ihren Fruktifikationsformen, Anamorphe und Teleomorphe, ist Holomorphe. Für die Holomorphen soll üblicherweise der Name der Teleomorphe verwendet werden. Unter bestimmten Umweltbedingungen beginnen einige Aspergillus-Arten mit der sexuellen Vermehrung. Sie bilden Cleistothecien (nahezu runde Ascomata), in denen sich Ascosporen entwickeln. Diese Cleisthotecien sind dann streng genommen keine Organe eines Aspergillus mehr, da die Art nun den Namen der Teleomorphe trägt. Da die anamorphe Gattung Aspergillus zu verschiedenen teleomorphen Gattungen gehört, ist die Gestalt dieser sexuellen Organe sehr verschieden. Zum Beispiel ist bei Aspergillus alliaceus das Cleistothecium der Teleomophe Petromyces alliaceus in ein dickwandiges Sklerotium eingebettet. In der Gattung Eurotium, die die teleomophe Gattung zur Sektion Aspergillus ist, sind die Cleistothecien klein, nackt, gelb und sitzen an stielartigen Hyphen. In der Gattung Sektion Emericella (Teleomorphe zur Sektion Nidulantes) sind sie dunkel purpurn und von dickwandigen Hülle-Zellen umgeben. Die Frage, ob alle Aspergilli über Teleomorphen verfügen, ist ungeklärt und umstritten. Zum Beispiel gehörte Aspergillus fumigatus zu den am besten erforschten Gießkannenschimmeln überhaupt, dennoch war es in über 100 Jahren Forschung nicht gelungen, die Hauptfruchtform zu isolieren. Dies nahmen viele Forscher als Hinweis darauf, dass ausschließlich die Nebenfruchtform existiert. Als Céline M. O’Gorman, Hubert T. Fuller und Paul S. Dyer dann im Jahr 2009 die Teleomorphe Neosartorya fumigata entdeckten, relativierte sich dieses Argument aber. Ob wirklich alle Aspergilli der sexuellen Vermehrung fähig sind, ist dadurch aber nicht geklärt. Ernährung Eines der hervorstechendsten Charakteristika des Reichs der Pilze (Fungi) ist die Art und Weise, Nährstoffe aufzunehmen. Sie sezernieren Säuren und Enzyme in ihre Umwelt, die die dort vorhandenen Makromoleküle zu einfacheren Verbindungen zersetzen, die dann von den Pilzen aufgenommen werden können. Vereinfacht heißt das, dass Pilze ihre Nahrung erst verdauen und dann aufnehmen. Gießkannenschimmel durchwachsen potentielle Nahrung mit ihrem Hyphengeflecht und zersetzen sie dann zunehmend. Typische Bezeichnungen für diesen Prozess sind Schimmel und Fäulnis. Viele menschliche Nahrungsmittel sind auch für Aspergillus-Arten attraktiv. Dabei werden auch schwierige Habitate besiedelt. So wurden zum Beispiel Aspergilli der Sektion Aspergillus aus gesalzenem Trockenfisch isoliert. Ein anderer, bislang nicht identifizierter Gießkannenschimmel ist sogar in der Lage, auf gering inkohlter Kohle zu wachsen. Natürliche Feinde Eine Vielzahl von Insekten, vor allem Käfer (Coleoptera), fressen Pilze. Dabei haben sich einige Arten auf Gießkannenschimmel als Nahrung spezialisiert. Auf der anderen Seite sind viele Sekundärmetabolite, vor allem Aflatoxine, die von Aspergilli produziert werden, für Insekten stark giftig. Der Tropische Schimmelplattkäfer (Ahasverus advena) frisst die Konidienköpfe von Aspergillus glaucus, meidet jedoch die Ascomata der Teleomorphe. Der Glanzkäfer (Nitidulidae) Carpophilus freemani hat sich ganz auf Aspergillus spezialisiert und frisst kaum etwas anderes. Der Leistenkopfplattkäfer (Cryptolestes ferrugineus) frisst Aspergillus fumigatus, Aspergillus niger, A. versicolor und A. ochraceus, verschmäht aber Aspergillus flavus, der viele Aflatoxine produziert. Der Backobstkäfer Carpophilus hemipterus hingegen hat sich gerade auf solche sehr giftigen Aspergilli spezialisiert. Er ist immun gegen 25 ppm Aflatoxine. Mykoviren Eines der ersten Mykoviren überhaupt wurde 1970 in Aspergillus foetidus entdeckt. Es handelte sich um ein doppelsträngiges RNA-Virus. Im selben Jahr wurde auch die Übertragung von Virus-like particles in Aspergillus niger beschrieben. Mykoviren können ihre Wirte beeinträchtigen. So wurde beobachtet, dass infizierte Aspergillus niger- und Aspergillus tubingensis-Kolonien unter stark reduziertem Hyphenwachstum leiden und die Sporenproduktion abnimmt. Infizierte Individuen der Sektion Flavi oder infizierte Aspergillus nidulans Kolonien wirkten allerdings wenig beeinträchtigt. Inzwischen wurden in über 25 verschiedenen Arten von Aspergilli Mykoviren nachgewiesen, dabei traten zwölf verschiedene Viren aus neun Familien auf. Pathogenität Die Fähigkeit der Gießkannenschimmel, auf vielen verschiedenen Substraten unter einem breiten Spektrum von Umweltbedingungen zu leben, führt dazu, dass einige Arten auch lebende oder tote Gewebe von Menschen oder Tieren bewachsen können. Der Befall von lebendem Gewebe ist der Auslöser verschiedener Krankheiten. Ein solcher Befall ist aber immer zufällig, da alle Aspergillus-Spezies eigentlich Saprobionten sind. Neben dem direkten Befall von Gewebe produzieren viele Aspergillus-Arten giftige oder allergene Sekundärmetabolite. Historisch Im Jahr 1748 entdeckte William Arderon einen Pilz, der auf einem lebenden Fisch wuchs. Geoffrey Clough Ainsworth nennt dies die erste Aufzeichnung über einen Pilz als Pathogen auf einem Wirbeltier. Réaumur fand im Jahr 1815 einen ihm unbekannten Schimmel im Luftsack einer Bergente (Aythya marila). Den ersten pathogenen Pilz in einem Menschen entdeckte Franz Unger im Jahr 1833, als er Soor untersuchte. Er hielt den Pilz aber für einen Effekt der Erkrankung und nicht für ihre Ursache. Im Jahr 1842 entdeckten Rayer und Montagne eine Aspergillus candidus-Kolonie im Luftsack eines Gimpels (Pyrrhula pyrrhula). Abbildungen eines Pilzes aus dem Luftsack derselben Art von Deslongchamps aus dem Jahr 1841 (ein Jahr früher) lassen jedoch vermuten, dass es sich um eine Aspergillus-Art handelt. Robin entdeckte 1852 Aspergillus fumigatus im Luftsack eines Fasans (Phasianus colchicus). Der erste Bericht über Aspergillose bei Säugetieren stammt wahrscheinlich bereits aus dem Jahr 1841, als Rousseau und Serrurier Pilze in der Lunge eines Axishirsches (Axis axis) fanden. Leider ist die Beschreibung des Pilzes aber kurz und ungenau. Aspergillose als Erkrankung des Menschen wurde erstmals von Rudolf Virchow im Jahr 1856 beschrieben. Diese Aspergillosen wurden wahrscheinlich durch Aspergillus fumigatus verursacht. Erkrankungen durch Aspergillus niger wurden erstmals von Cramer 1859 beschrieben, Erkrankungen durch Aspergillus nidulans und Aspergillus flavus von Siedemann 1889. Aspergillus terreus wurde als Erreger 1922 von Langeron identifiziert. Infektionen Infektionen durch Aspergillus-Arten entwickeln sich oft in den Lungen von Säugetieren oder Vögeln. Der bedeutendste Erreger in der Gattung ist Aspergillus fumigatus. Bei gesunden Organismen kann sich als akute Erkrankung ein Aspergillom bilden. Dies ist eine kugelige Kolonie in den Lungen oder den Nasennebenhöhlen, vergleichbar mit einem Pilzball, der sich in das Organ einnistet. Menschen sind vor allem dann gefährdet, wenn Lungenkavernen oder vernarbtes Gewebe aus vorhergegangenen Erkrankungen vorhanden sind, wie zum Beispiel nach einer Tuberkulose. Bei Nutztieren sind Aspergillome häufig. Wachsen eingeatmete Aspergillus-Sporen in der Lunge aus und sind nicht auf eine kompakte Kolonie beschränkt, entwickelt sich eine akute Aspergillose. In der Lunge bilden sich Hyphen und anschließend Myzel, das schließlich über die Blutbahn im gesamten Körper streut. Es bilden sich Metastasen an den Organen und im zentralen Nervensystem. Bei erwachsenen Menschen mit intaktem Immunsystem kommen akute Aspergillosen nicht vor, bei Kindern sind sie sehr selten. Immunsupprimierte Patienten, zum Beispiel nach einer Knochenmark- oder Stammzelltransplantation oder AIDS-Patienten erkranken aber nicht selten daran. Die invasive Aspergillose ist eine gefährliche Infektion mit einer hohen Letalität im Bereich zwischen 50 % und 95 %. Vor allem Vögel erkranken häufig an akuten Aspergillosen. Bei Küken von Haushühnern wird die Erkrankung Aspergillus-Pneumonie genannt und führt immer wieder zu Massensterben in Zuchtanlagen. Auch bei Wildvögeln treten immer wieder Epidemien auf und wurden unter anderem bei Afrikanischen Straußen (Struthio camelus) und Silbermöwen (Larus argentatus) beobachtet. Bei Papageien (Psittaciformes) treten durch Aspergillus verursachte Lungen- und Luftsackmykosen auf. Unter Säugetieren sind Erkrankungen bei Lämmern häufig, bei Hausrind-Kälbern dagegen sehr selten. Epidemien traten bei Kaninchen und Meerschweinchen (Caviidae) auf. Bei Pferden (Equus) sind vor allem Luftsackmykosen gefürchtet. Diese werden zumeist durch Aspergillus fumigatus, aber auch durch andere Aspergilli oder Pilze der Gattungen Penicillium oder Mucor verursacht. Neben der akuten Aspergillose kann sich auch eine chronische Form der Krankheit entwickeln. Diese folgt entweder einem überstandenen akuten Krankheitsverlauf oder entwickelt sich langsam, ohne zunächst Symptome zu zeigen. Chronische Aspergillosen treten sporadisch bei Pferden, Schafen (Ovis) oder Affen auf. Bei Vögeln sind solche chronischen Formen häufig und insbesondere bei Wasservögeln verbreitet. Bei Pinguinen (Spheniscidae) hat diese Erkrankung erheblichen Einfluss auf den Bruterfolg. Es gibt keinen Hinweis, dass Aspergillus-Spezies auf Keratin wachsen können. Aus diesem Grund kommen sie als Hautpilze nicht in Frage. Selten wurden bei Haushühnern subkutane Kolonien von Aspergillus glaucus gefunden. Bedeutender sind Erkrankungen des Ohres. Aspergillus-Arten können auf Ohrenschmalz, Epithelablagerungen oder Exsudat wachsen und dann das Innenohr schädigen. Auch Erkrankungen des Auges sind nicht selten. Dort können Aspergillus-Arten Keratitis, eine Entzündung der Hornhaut, verursachen. Solche Erkrankungen sind vor allem bei Hühnern sehr verbreitet. Auch Infektionen im Genitaltrakt kommen vor. Bei Rindern und Pferden kann es zu Fehlgeburten durch Aspergillus-Infektionen im Genitalbereich kommen. Beim Menschen wurde nur ein einziger Fall aus dem Jahr 1959 bekannt. Bei Vögeln befallen Aspergillus-Spezies die Eier und zersetzen diese. Bei Hühnereiern stirbt der Embryo in der Regel nach dem sechsten Tag nach der Infektion des Eis. Einige Aspergillus Arten können als fakultative Endoparasiten in Insekten leben und dabei wahre Tierseuchen auslösen. Die Pilze dringen dabei in die Insekten ein und ernähren sich von der Hämolymphe. Aspergillus flavus beispielsweise befällt Schmetterlingsarten wie den Maiszünsler (Ostrinia nubilalis) oder Hyalophora cecropia, wurde aber auch schon in Springschrecken (Orthoptera) nachgewiesen, die wiederum auch regelmäßig von Aspergillus parasiticus befallen werden. Wirtschaftlichen Schaden verursachen vor allem Aspergillus fumigatus und Aspergillus ochraceus, die Honigbienen (Apis) befallen. Auch durch den Befall von Seidenspinnern (Bombyx mori) durch verschiedenen Aspergillus-Arten entsteht immer wieder wirtschaftlicher Schaden. Zur Behandlung von Infektionen mit Aspergillus-Arten werden verschiedene antimikrobielle Medikamente (Antimykotika) eingesetzt (unter anderem Voriconazol, Caspofungin, Posaconazol oder Itraconazol). Allergien Einer der wichtigsten Aspekte der Pathogenität der Aspergilli ist, dass fast alle Arten Allergene produzieren. In Konsequenz kann das Einatmen von Sporen allergische Reaktionen auslösen. Durch Aspergillus ausgelöste Allergien betreffen fast ausschließlich den Atmungsapparat, sehr selten wird aber auch von leichten Hautreaktionen berichtet. Eine leichte Form wird Aspergillus Asthma genannt. Schwerere Formen sind die Allergische bronchopulmonale Aspergillose, bei der die Lunge stark von eosinophilen Granulozyten besiedelt wird. Eine chronische Form ist die sogenannte Farmerlunge, die zu einer Vernarbung des Lungengewebes (Lungenfibrose) führen kann. Toxikosen Aspergillus-Arten bilden sowohl Endotoxine als auch Exotoxine. Diese sind für Menschen und Tiere von großer Bedeutung, weil die saprobiontischen Pilze auch auf Nahrung gedeihen können und so in den Organismus gelangen. Solche Vergiftungen werden Aspergillustoxikosen oder auch Aspergillotoxikosen genannt. Spezies aus der Sektion Clavati produzieren vor allem Patulin. Dieses Gift kommt als Verunreinigung häufig in verschimmeltem Obst, Gemüse, Getreide und anderen Lebensmitteln sowie in schimmelnder Maissilage vor; wichtigste Kontaminationsquelle sind jedoch Äpfel und Apfelerzeugnisse, häufig Apfelsaft. Da Patulin auch in Früchten auftreten kann, die äußerlich nicht sichtbar beschädigt oder verdorben sind, lässt sich die Kontamination durch Entfernen aller sichtbar beschädigten oder verdorbenen Früchte nicht völlig eliminieren. Die letale Dosis LD50 liegt bei 25 bis 35 Milligramm Sporen pro Kilogramm Körpergewicht bei Mäusen. Sporen aus der Sektion Nigri sind nur schwach giftig, sie enthalten große Mengen Oxalsäure. Auch Pilze aus der Sektion Aspergillus sind nur schwach giftig. Bedeutender sind die Pilze aus der Sektion Fumigati, sie produzieren vor allem drei Toxine: Fumigatin, Helvolsäure und Gliotoxin. Die letale Dosis LD50 liegt bei Mäusen bei 1,5 Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht. Noch deutlich giftiger sind Arten aus der Sektion Flavi, sie produzieren eine Vielzahl von Aflatoxinen, vor allem Dehydrofurane. Bei Hunden liegt die letale Dosis LD50 bei 200 Mikrogramm pro Kilogramm Körpergewicht, bei Vögeln ist sie noch bedeutend niedriger. Die hohe Giftigkeit von Aspergillus flavus ließ in den 1980ern die Theorie aufkommen, dass die Art von den alten Ägyptern zum Schutz ihrer Gräber verwendet wurde und sie für den sogenannten Fluch des Pharao verantwortlich sei. Die Gifte von A. flavus sind für fast alle Insekten tödlich, aber auch Pilzarten, die keine Aflatoxine enthalten, können Insekten gefährlich werden. Zum Beispiel ist Kojisäure, die von vielen Arten, vor allem aber von Aspergillus flavus produziert wird, für den Seidenspinner (Bombyx mori) giftig. Aspergillus parasiticus tötet die Schmierlaus (Pseudococcidae) Saccharicoccus sacchari unabhängig davon, ob es sich um den Wildtyp oder eine Mutante, die keine Aflatoxine produzieren kann, handelt. Die Mykotoxine aus den Sektionen Clavati, Fumigati und Flavi sind neben den direkten schädlichen Wirkungen stark krebserregend (karzinogen). Aspergillus als Pflanzenpathogen Neben Tieren und Menschen können Aspergilli auch Pflanzen als Phytopathogen schädigen. János Varga listet in seiner Arbeit aus dem Jahr 2004 insgesamt 30 wichtige durch Aspergillus-Spezies ausgelöste Pflanzenkrankheiten und über 50 Wirtspflanzen auf. Einige wichtige Krankheiten sind zum Beispiel die Chlorose bei Mandeln (Prunus dulcis), die durch Aspergillus niger verursacht wird, oder Albinismus bei Zitruspflanzen (Citrus), ausgelöst durch Aspergillus flavus. Auch die Schwarzfäule der Speisezwiebel und die Erdnuss-Kronenfäule, die regelmäßig große wirtschaftliche Schäden verursacht, sind Infektionen durch Aspergillus niger. Auch der im Weinbau gefürchtete Weinkrebs wird durch dieselbe Art ausgelöst. Aspergillus fischerianus hingegen befällt bevorzugt Storchschnäbel (Geranium), wohingegen beispielsweise Aspergillus aculeatus auch Weinreben (Vitis vinifera) bewohnt. Gleich eine Vielzahl von Aspergilli befällt Kaffeepflanzen (Coffea). Auf diesem Weg gelangen auch viele Mykotoxine in die menschliche Nahrung. Vor allem bei der Baumwollproduktion verursacht Aspergillus flavus regelmäßig große Schäden. Genetik Guido Pontecorvo begann sich um 1950 für die Genetik von Aspergillus nidulans zu interessieren. Er beschrieb 1952 erstmals die parasexuelle Fortpflanzung der Art und erkannte dabei den Mechanismus, wie zwei haploide Zellkerne spontan zu einem mitotischen Diploid fusionieren. Haben die Zellkerne eine unterschiedliche genetische Konstitution, so ist der gebildete Kern heterozygot für bestimmte Gene. In der diploiden Phase kann es nun zur Rekombination homologer Chromosomen kommen. Danach entstehen durch den schrittweisen Verlust von Chromosomen im Verlauf einer Reihe von Zellteilungen wieder haploide Kerne. So können sich Anamorphen, ohne die Möglichkeit der Sexualität, veränderten Umweltbedingungen anpassen. Obwohl die Parasexualität in einer Art entdeckt wurde, zu der auch eine Teleomorphe (Emericella nidulans) mit Sexualität im engeren Sinne existiert, wurde die Transformation schnell zu einer Alternative zur Kreuzung in der Aspergillus-Genetik. So wurden – lange bevor rekombinante DNA verfügbar wurde – durch Ausnutzung der Parasexualität bereits genetische Marker rekombiniert. Schnell wurde Aspergillus nidulans zum bedeutendsten eukaryotischen Modellorganismus überhaupt. Die ersten genetischen Arbeiten zum Zellzyklus wurden ebenfalls an Aspergillus nidulans durchgeführt. Auch die Erkenntnisse über die Katabolitrepression, die Stickstoff-Katabolitrepression, die pH-Regulation, das polare Wachstum, die Signaltransduktion und die Morphogenese myzelbildender Mikroorganismen wurden durch Arbeiten am Modellorganismus Aspergillus nidulans fundamental vorangetrieben. Als ein wichtiges Ergebnis wurde beispielsweise γ-Tubulin an einer Aspergillus nidulans-Mutante entdeckt. Im Jahr 2003 wurde die komplette DNA-Sequenz des Genoms von Aspergillus nidulans veröffentlicht. Im Dezember 2005 wurden in einer einzigen Ausgabe von Nature zusammen die Sequenzen von Aspergillus fumigatus, Aspergillus flavus und Aspergillus oryzae (= Aspergillus flavus var. oryzae) publiziert. Diese simultane Veröffentlichung von gleich drei Genomen machte Aspergillus schnell zur bedeutendsten Gattung für vergleichende Genomik der Pilze überhaupt. Zudem zeigte sich eine starke Heterogenität innerhalb der Gattung. Im Jahr darauf folgte die komplette Sequenz von A. niger. Das kleinste bislang sequenzierte Aspergillus-Genom ist das von Aspergillus fumigatus mit 29,3 Megabasenpaaren (Mb), das größte das von Aspergillus flavus var.oryzae mit 37,1 Mb. Aspergillus fumigatus verfügt über 9.926 Gene, wohingegen Aspergillus flavusvar. oryzae 12.071 Gene hat. Die Größe des Genoms von Aspergillus niger liegt mit 33,9 Mb zwischen den beiden anderen Arten. Für Aspergillus nidulans, Aspergillus fumigatus, Aspergillus flavus und Aspergillus oryzae existieren inzwischen vollgenomische Microarrays. Bislang wurden vor allem Studien zur Optimierung von Fermentern und zu verschiedenen Sekundärmetaboliten angefertigt. Systematik Der Name Gießkannenschimmel stammt von der Form der Konidienträger. Diese sehen unter dem Mikroskop dem Brausekopf einer Gießkanne oder einem Staubwedel ähnlich. Auch der wissenschaftliche Name Aspergillus leitet sich von der Form der Konidienträger ab. Mykologische Geschichte Verschiedene Schimmel waren ständig in der menschlichen Umwelt präsent. Vor der Entwicklung des Lichtmikroskops um 1600 war die Beschreibung aber auf die Farben der Kolonien begrenzt. Pier Antonio Micheli war der Erste, der im Jahr 1729 Sporen und Sporenträger unter dem Mikroskop untersuchte. Er beobachtete, dass die Sporenketten radial von einer zentralen Achse abstanden. Die Struktur erinnerte ihn an ein Aspergill, ein liturgisches Gerät, das zum Besprengen mit Weihwasser genutzt wird. Deswegen verwendete er den Namen Aspergillus für die von ihm beobachteten Schimmel. Micheli fasste den Begriff Aspergillus aber sehr weit und beschrieb fast alle von ihm beobachteten Schimmel als Aspergillus. Diese sehr breite Auffassung der Gattung hielt sich sehr lange. Zum Beispiel beschrieb Albrecht von Haller noch im 18. Jahrhundert mehrere Aspergillus-Arten, die dann später anderen Gattungen, wie beispielsweise Sporodina zugeordnet wurden. Christian Hendrik Persoon hingegen lehnte in seinen Werken aus den Jahren 1797 und 1801 die Gattung Aspergillus in Gänze ab und schlug sie der von ihm beschriebenen und sehr breit gefassten Gattung Monilia zu, da er die Sporenketten als Aneinanderreihung von holoblastischen Monilia-Konidien auffasste. Heinrich Friedrich Link wiederum lehnte diese Auffassung von Persoon ab, da er der Meinung war, dass die Form der Sporenketten direkt aus dem Vorhandensein eines Konidiophors resultiert. Jedoch ist die Beschreibung der Konidienträger bei Link sehr ungenau, was wohl auch an den schlechten Herbarbelegen, die ihm zur Verfügung standen, lag. Die erste genaue Beschreibung des Konidiophors und der enteroblastischen Konidien fand sich um 1828 bei August Karl Joseph Corda. Seine Beschreibungen waren sehr genau, aber kompliziert und unverständlich, so dass es um 1850 wohl nur eine Handvoll Menschen gab, die Aspergillus-Arten bestimmen konnten. Im Jahr 1856 klagte Montagne, dass jeder Schimmel, den er betrachte, eine neue Art darstelle. Im Jahr 1854 entdeckte Anton de Bary, dass die Konidien von Aspergillus glaucus und die Cleistothecien der von Link beschriebenen Art Eurotium herbariorum demselben Myzel entspringen. Dieser Befund wurde von Fresenius, Cramer und Oscar Brefeld bestätigt. Victor Félix Raulin und van Tieghem begannen 1860 in Frankreich mit der Herstellung von Gallussäure durch Fermentation von Pflanzengallen und studierten die beteiligten Schimmel. Carl Friedrich Wilhelm Wehmer veröffentlichte 1901 die erste umfassende Monografie Ueber einige neue Aspergillus Arten. Im Jahr 1926 erschien The Aspergilli von Charles Thom und Margaret Brooks Church, in diesem Werk wurde die Gattung erstmals in Gruppen geteilt. Die Monografie beschreibt 350 Arten in elf Gruppen. Inzwischen waren sehr viele kleinere Artikel über die Gattung erschienen und die Situation war sehr unübersichtlich. Hiroshi Tamiya und Tatsuyoshi Morita zitierten in ihrem Werk Bibliografie von Aspergillus, 1729 bis 1928 bereits 2.424 einzelne Artikel. Von diesen waren nur 115 älter als de Barys Aufsatz von 1854, 309 Artikel erschienen bis 1891 und die restlichen 2000 zwischen 1891 und 1928. Im Jahr 1929 erschien System und Phylogenie von Adalbert von Blochwitz. Er schlägt eine ganz andere Einteilung der Gruppen als Thom und Church vor. George Smith fertigte im Jahr 1938 erstmals systematisch Mikrofotografien von vielen Arten an. In den 1940er Jahren wurde die Forschung an der Gattung Aspergillus nochmals intensiviert. Einige Arten wurden bereits industriell zur Herstellung verschiedener organischer Säuren verwendet und auch das pathogene Potential der Pilze rückte zunehmend in das Interesse der Wissenschaftler. Im Jahr 1945 erschien A Manual of the Aspergilli von Charles Thom und Kenneth B. Raper. Die Monografie enthielt Beschreibungen von 80 Arten, zehn Varietäten und 14 Gruppen. Kenneth B. Raper veröffentlichte dann 1965 zusammen mit Dorothy I. Fennel das Buch The Genus Aspergillus, das 132 Arten in 18 Gruppen enthielt. Die innere Systematik der Gattung entwickelte sich weiter, als Robert A. Samson und John I. Pitt im Jahr 1985 das Werk Advances in Penicillium and Aspergillus Systematics herausgaben. Sie waren unzufrieden mit dem taxonomisch nicht definierten Begriff der Gruppen, die Thom und Church eingeführt hatten und teilten die Gattung in sechs Untergattungen und 16 Sektionen. Diese Ansicht vertieften sie noch einmal in ihrem Werk Modern Concepts in Penicillium and Aspergillus Classification, das die beiden im Jahr 2000 herausgaben. Im Jahr 2002 erschien eine Art Bestimmungsschlüssel für Gießkannenschimmel, wenngleich mit molekularbiologischen Markern, unter dem Titel Identification of Common Aspergillus Species. Im Jahr 2008 gaben Samson und János Varga das Werk Aspergillus Systematics in the Genomic Era heraus, in dem sie die taxonomische Einteilung noch einmal bearbeiteten. Schlussendlich erschien im Februar 2010 das von Masayuki Machida und Katsuya Gomi herausgegebene Werk Aspergillus: Molecular Biology and Genomics, in dem stärker darauf hingewiesen wird, dass es sich bei den Aspergilli nicht um eine klassische Gattung, sondern um ein Formtaxon handelt. Dennoch wird die Einteilung von Samson und Pitt in Untergattungen und Sektionen auch in diesem Werk beibehalten. Äußere Systematik Wird Aspergillus als Formtaxon betrachtet, werden die Gießkannenschimmel auch nicht als Verwandtschaftsgruppe angesehen, sie sind in dieser Lesart vielmehr ein gemeinsamer Organisationstyp. Wird Aspergillus hingegen als Gattung betrachtet, steht sie in der Familie der Trichocomaceae. David Malloch teilte diese Familie 1985 in zwei Unterfamilien, die Trichocomiideae mit den anamorphen Gattungen Penicillium und Paecilomyces sowie die Dichlaenoideae mit den Anamorphen Aspergillus, Penicillium, Merimbla, Paecilomyces und Polypaecilum. Dass dieselben Anamorphen in beiden Unterfamilien vorkommen, zeigt bereits, dass es sich hierbei nicht um monophyletische Gruppen handelt. Eine Untersuchung aus dem Jahr 1995, die neben morphologischen Merkmalen auch die ribosomale DNA betrachtete, ergab die Gattungen Monascus und Eupenicillium als nächste Verwandte der Gießkannenschimmel. Die Studie lässt auch vermuten, dass es sich bei den Aspergilli um eine monophyletische Gruppe handeln könnte. Drei Jahre später untersuchte eine japanische Forschergruppe die Phylogenie anhand der 18S rRNA. Im Ergebnis wurden die anamorphen Gattungen Penicillium und Geosmithia als nächste Verwandte der Aspergilli bestimmt. Auch diese Studie legt die Monophylie der Gruppe Aspergillus in der Familie der Trichocomaceae sensu Malloch und Cain 1972 nahe. Eine neuere molekulargenetische Untersuchung aus dem Jahr 2000 kommt zu dem Schluss, dass es sich bei den Gießkannenschimmeln nicht um eine monophyletische Gruppe handelt. Dennoch konnte die Frage bis heute (Stand März 2010) nicht abschließend geklärt werden. Nomenklatur Der Status der Aspergilli ist höchst umstritten. Probleme macht vor allem, dass diese Gruppe morphologisch so eindeutig zusammengehört, die sexuellen Formen aber in insgesamt elf Gattungen zerfallen. Der Umgang mit der Situation ist nicht eindeutig geklärt. Der Internationale Code der Botanischen Nomenklatur hat im Jahr 1910 in Paragraph 59 geregelt, dass in diesem Fall zwei Namen für eine Art vergeben werden dürfen, nämlich einer für die Anamorphe und einer für die Teleomorphe. Diese Regel ist auch heute (Stand 2010) noch gültig. Im Jahr 2003 wurde jedoch der Vorschlag eingebracht, diese duale Nomenklatur zu verwerfen und einer Art auch nur noch einen Namen zuzugestehen, dann würde jeweils der Gattungsname der Teleomorphe verwendet werden. Für viele Gießkannenschimmel ist die Teleomorphe jedoch unbekannt oder sogar inexistent. Für diesen Fall wurde vorgeschlagen, die Arten in die wahrscheinliche teleomorphe Gattung zu überführen, auch wenn die Teleomorphe tatsächlich unbekannt ist. Ein anderer Vorschlag geht dahin, die Aspergilli als Formtaxon zu behalten und den Namen Aspergillus für solche Arten, bei denen die Teleomorphe unbekannt ist, vorläufig beizubehalten. Innere Systematik Stephen W. Peterson, Janos Várga, Jens C. Frisvad und Robert A. Samson unterteilten die Aspergilli 2008 in acht Untergattungen und 22 Sektionen. Diese Einteilung wurde nach molekulargenetischen Gesichtspunkten getroffen, deckt sich aber gut mit der Einteilung von Kenneth B. Raper und Dorothy I. Fennel nach morphologischen Kriterien aus dem Jahr 1965. Auch einige Sektionen, die nach 1965 nach chemischen Gesichtspunkten (Sekundärmetabolite) angelegt wurden, blieben erhalten. Masayuki Machida und Katsuya Gomi übernahmen in ihrer Monografie aus dem Jahr 2010 diese Einteilung. Bei dieser Untersuchung wurden auch die Verwandtschaftsverhältnisse zwischen den einzelnen Sektionen bestimmt. Sie sind in folgendem Kladogramm dargestellt: Die Aspergillus-Arten sind mit Teleomorphen aus insgesamt elf Gattungen verknüpft. Diese sind: Chaetosartorya Emericella Eurotium Fennellia Hemicarpenteles Hemisartorya Neocarpenteles Neopetromyces Petromyces Sclerocleista Warcupiella Die meisten Aspergillus-Sektionen bilden genau auf eine teleomorphe Gattung ab, umgekehrt bilden die teleomorphen Gattungen nicht notwendigerweise auf eine Aspergillus-Sektion ab. Eine Ausnahme im ersteren Sinn ist die Sektion Ornati, in der sich Hauptfruchtformen aus den Gattungen Sclerocleista und Hemicarpenteles finden. Wahrscheinlich handelt es sich bei den Hemicarpenteles aber ebenfalls um Sclerocleista, die in diese Gattung übertragen werden können. Eine ähnlich gelagerte Ausnahme tritt in der Sektion Clavati auf. So wie es viele Gießkannenschimmel gibt, zu denen die Anamorphe unbekannt ist, gibt es auch eine Zahl von Teleomorphen aus den Aspergillus zugeordneten Gattungen, zu denen die Anamorphen unbekannt sind. Ein besonderer Fall ist die Art Dichotomomyces cejpii; eine molekulargenetische Untersuchung zeigte, dass die Art sehr nah mit den Arten der Sektion Clavati verwandt ist und ihr zugeordnet werden müsste. Die Anamorphe zu der Art ist aber bislang unbekannt. Selbiges gilt für die Art Penicilliopsis clavariaeformis und die Sektion Zonati. Die Gruppe Aspergillus ist sehr artenreich und noch nicht endgültig erforscht. Viele der Arten sind unsicher oder umstritten. Ein Grund hierfür ist, dass bei vielen Arten keine oder unbrauchbare Typusexemplare vorliegen. Vor allem bei den Arten, die im 18. und 19. Jahrhundert beschrieben wurden, wurden gar keine oder ungenügende Typusexemplare angelegt, oder diese gingen später verloren. Auch sind die alten Erstbeschreibungen oft kurz und nach heutigen Maßstäben ungenügend, so dass nicht mehr eindeutig geklärt werden kann, ob der Status als eigenständige Art zurecht besteht. Wenn auf der anderen Seite aber Typusexemplare angelegt wurden, sind die Sporen zwar nach so langer Lagerzeit nicht mehr keimfähig, aber immer noch intakt, so dass sie molekulargenetisch ausgewertet werden können. Auf diese Art und Weise konnten bereits einige taxonomische Fragen geklärt werden. In einigen Fällen war es auch möglich, einen Neotyp zu definieren. Die Molekulargenetik hatte einen sehr großen Einfluss auf die Systematik der Gießkannenschimmel. Viele Verwandtschaftsverhältnisse konnten geklärt werden, Varietäten wurden zu Arten heraufgestuft oder Arten zu Varietäten herabgestuft. Das bekannteste Beispiel ist wohl Aspergillus oryzae. Die äußerst bekannte Art, die in der Fermentation verwendet wird, wurde nach einer molekulargenetischen Untersuchung zu einer Varietät Aspergillus flavus var. oryzae herabgestuft. Dennoch ist der Name Aspergillus oryzae heute noch sehr verbreitet. Aktuell (Stand März 2010) gibt es 355 gültige Aspergillus-Arten, davon sind 354 rezent. Die fossile Art Aspergillus collembolorum wurde 2005 eingeschlossen in einem Bernstein entdeckt. Die Typusart der Gießkannenschimmel ist Aspergillus glaucus, die Arten und ihre Zuordnung sind: Industrielle Nutzung Seit über 1.500 Jahren werden Aspergillus flavus var. oryzae, Aspergillus sojae und andere nah verwandte Arten in großen Teilen Asiens zur Fermentation von Nahrungsmitteln verwendet. In Japan sind die Pilze unter dem Namen Kōji (jap. ) bekannt. Durch Fermentation von Soja mittels Kōji wird beispielsweise Miso oder Sojasauce erzeugt. Dabei wächst das Myzel durch das Substrat und die Aspergillus-Spezies schüttet Enzyme und organische Säuren durch die Zellwände aus. Die Enzyme zersetzen die Kohlenhydrate und Eiweiße aus dem Substrat teilweise und verändern den Geschmack. Ähnliche Verfahren der Fermentation mit Aspergilli sind auch in anderen Ländern der Region verbreitet, so heißen verschiedene Sojapasten in der Volksrepublik China jiàng (酱). Ein Beispiel ist die gelbe Sojapaste huángjiàng (黄酱), die vor allem in der Gegend um Peking gegessen wird. In Korea sind verschiedene auf diese Weise fermentierte Pasten verbreitet und werden unter dem Namen jang (醬, Hangeul 장) gehandelt. Auch in Indonesien und Thailand werden ähnliche Pasten konsumiert, in Vietnam heißen sie Tương. Ganze fermentierte Sojabohnen werden in Thailand tao-tjo, genannt. Eine andere Verwendung von Gießkannenschimmeln ist die Fermentation von Reis mittels Aspergillus oryzae für Sake oder mittels eines weißen Kōji Aspergillus kawachii für Shōchū. Awamori () ist eine andere Spirituose, die vor allem in Okinawa hergestellt wird, aber in ganz Südostasien verbreitet ist. Zur Herstellung wird ein schwarzer Kōji Aspergillus awamori benutzt. Der japanische Wissenschaftler Jōkichi Takamine brachte im späten 19. Jahrhundert Kōji in die Vereinigten Staaten. Dort entzog er dem Pilz durch Alkohol Enzyme und vermarktete das Ergebnis unter dem Namen Takadiastase als Heilmittel gegen Verdauungsbeschwerden. Im Jahr 1894 ließ er das Verfahren patentieren und erhielt damit das erste US-Patent auf ein mikrobiologisches Enzym überhaupt. Im Jahr 1895 entwickelte Albert Boidin in Frankreich ein Verfahren zur Herstellung von Alkohol, in dem er mit Aspergillus sp. geimpftes Getreide verkochte. Weitere Pioniere auf dem Gebiet der industriellen Nutzung von Aspergillus waren Leo Wallenstein und Otto Röhm, die als erste Enzyme isolierten und technisch verwerteten. Die drei weltgrößten Unternehmen auf dem Gebiet der Fermentation, DSM, Novozymes und Genecor-Danisco, geben an, dass Aspergillus ihre wichtigsten Organismen sind. Für DSM ist dies A. niger und für Novozymes Aspergillus flavus var. oryzae. Citronensäureproduktion Carl Wehmer entdeckte 1891, dass Aspergillus niger bei Abbau von Zucker nicht geringe Mengen von Oxalsäure produziert, dabei entsteht auch etwas Citronensäure. Diese Entdeckung war zunächst nicht besonders aufsehenerregend, da Oxalsäure bereits günstiger produziert werden konnte. Im Jahr 1917 verfeinerte James N. Currie das Verfahren und schuf die Möglichkeit der industriellen Produktion von Citronensäure aus A. niger. Currie vermarktete seine Idee an die Pfizer Inc., die das Verfahren weiterentwickelte. Bis dahin wurde Citronensäure aus Zitronen (Citrus × limon) hergestellt und Italien hatte ein wirtschaftliches Monopol auf das Produkt. Heute stammt fast 100 Prozent der verwendeten Citronensäure aus Aspergillus niger, bei einer Weltproduktion von 1,6 Millionen Tonnen pro Jahr (Stand 2007) und wird in großen Bioreaktoren erzeugt. Citronensäure und ihre Salze werden zur Konservierung und als Säuerungsmittel von Lebensmitteln verwendet, beispielsweise in Getränken. Sie wird insbesondere in Limonaden und Eistees verwendet und ist in der Europäischen Union als Lebensmittelzusatzstoff der Nummer E 330 zugelassen. Verwendung findet Citronensäure aber auch in Reinigungsmitteln, in der Kosmetik und in der Medizin. Andere Sekundärmetabolite Heute werden über 100 verschiedene Enzyme industriell aus Aspergilli hergestellt. Wichtige Gruppen sind Amylasen, Katalasen, Cellulasen, Lipasen, Phytasen und Xylanasen. Wichtige Sekundärmetabolite von Aspergillus niger sind des Weiteren Gluconsäure, die als Lebensmittelzusatz (E 574), als Metallbeizmittel und in der Medizin als Eisengluconat bei der Behandlung von Eisenmangel eingesetzt wird, sowie Itaconsäure, die als Comonomer für die Synthese von Polyacrylaten und Gummi verwendet wird. Auch Cyanocobalamin (Vitamin B12) wird mit Hilfe von Aspergillus niger hergestellt. Kojisäure wird vor allem mit Hilfe von Aspergillus flavus gewonnen und in der Kosmetik zur Hautbleichung verwendet. Im Jahr 1980 patentierte Merck Lovastatin, ein Sekundärmetabolit von Aspergillus terreus, das heute zur Behandlung der Hypercholesterinämie eingesetzt wird. Quellen Literatur Weblinks Einzelnachweise Eurotiomyceten Fungi imperfecti Schimmelpilze Wikipedia:Artikel mit Video
691783
https://de.wikipedia.org/wiki/Rudolph-Wilde-Park
Rudolph-Wilde-Park
Der Rudolph-Wilde-Park (früher: Stadtpark Schöneberg) liegt im Berliner Ortsteil Schöneberg. Die öffentliche Grün- und Erholungsanlage trägt den Namen des ersten Oberbürgermeisters Rudolph Wilde, auf dessen Initiative zwischen 1911 und 1914 das Rathaus der damals noch selbstständigen Stadt Schöneberg gebaut wurde. Der langgestreckte, schmale Park mit einer Fläche von 6,6 Hektar beginnt am Rathaus und zieht sich von der Martin-Luther-Straße über rund 650 Meter nach Westen bis zur Bezirksgrenze am Volkspark Wilmersdorf an der Kufsteiner Straße. Baumbestandene Spazierwege, Spiel- und Liegewiesen, das Baudenkmal Carl-Zuckmayer-Brücke mit dem oberirdischen U-Bahnhof Rathaus Schöneberg und der Hirschbrunnen im Kurpark-ähnlich angelegten Ostteil prägen das Bild des stark frequentierten Parks. Eiszeitliche Abflussrinne Geologisch liegt das Gartendenkmal Rudolph-Wilde-Park in einem Nebenarm der glazialen Rinne der Grunewaldseenkette. Das Gebiet gehörte zu einem morastigen Fenn, das am Ende der letzten Eiszeit entstanden war und ursprünglich vom Nollendorfplatz entlang des Teltowrückens bis zum Lietzensee floss. Eine Informationstafel vor Ort führt dazu aus: Diese verbliebene Abflussrinne begann südlich des ehemaligen Mühlenbergs, auf dem das Rathaus errichtet wurde. Der Ententeich vor dem U-Bahnhof Rathaus Schöneberg stellt heute das letzte östliche Gewässer der Niederung dar, die sich als insgesamt rund  Kilometer langer und rund 150 Meter breiter innerstädtischer Grünzug nach Westen über den benachbarten Volkspark Wilmersdorf und den Fennsee bis zum Stadtring erstreckt. Die Nebenrinne setzt sich nach ihrer Unterbrechung durch Sportplätze und umbautes Gelände am Hubertussee fort und trifft mit dem Herthasee am Koenigssee senkrecht auf die Grunewaldrinne. Der Park heute Allgemeine Beschreibung Die sanft geschwungenen Liegewiesen im Westteil und die gerne von Joggern genutzten und baumbestandenen Wege in erhöhter Randlage zeigen auch heute noch die Rinne der Schmelzwässer an. Besonders deutlich ist der Talcharakter des Parks am U-Bahnhof Rathaus Schöneberg zu sehen. Carl-Zuckmayer-Brücke Die U-Bahn-Linie U4 teilt den Park in einen östlichen und einen westlichen Abschnitt. Die Ingenieure nutzten die gesamte Parkbreite für die Anlage des U-Bahnhofs, der hier mit seinen beiden verglasten Seiten offen zum Park liegt und zu den schönsten U-Bahnhöfen der Stadt zählt. Die U-Bahn fährt unterirdisch bis zur Parkrinne und tritt im Park an die vom Bahnhof umbaute Oberfläche, um auf der anderen Bahnhofs- und Parkseite wieder unter die Erde zu tauchen. Trotz der offenen Lage ist der Bahnhof nicht zu ebener Erde, also von den beiden Parkseiten aus zugänglich, sondern muss wie jeder U-Bahnhof von oben über Treppen begangen werden. Dieses „Oben“ beziehungsweise das Dach des Bahnhofs bildet die historische Carl-Zuckmayer-Brücke mit steinernen Figuren und Vasen auf einer kunstvollen Brüstung, von der breite Treppen in die beiden Parkteile hinunterführen. Die Brücke verbindet den nördlichen und südlichen Teil der Innsbrucker Straße über die Parkniederung hinweg, ist allerdings für den Durchgangsverkehr gesperrt und bleibt Fußgängern und Radfahrern vorbehalten. Sie trägt ihren Namen nach dem Schriftsteller Carl Zuckmayer, der 1924 zusammen mit Bertolt Brecht als Dramaturg am Deutschen Theater in Berlin tätig war und unmittelbar beim südlichen Ende der Brücke wohnte. Die Brücke und der U-Bahnhof erfuhren zwischen 1995 und 2005 eine langwierige und aufwendige Sanierung, die durch den nach wie vor morastig-sumpfigen Untergrund erschwert wurde. Bei dem Neubau der Treppenaufgänge stellte sich beispielsweise heraus, dass die Eichenpfähle im Sumpf unter den Treppen faulten und zu kurz waren. Als Ersatz wurden 21 Meter lange Betonpfähle tief in den Untergrund getrieben. Die Notwendigkeit zu den umfangreichen Sanierungen ergab sich aus einer Absackung des Gebietes vor dem Bahnhof um rund sechzig Zentimeter; der Hirschbrunnen und das Milchhäuschen im Ostteil des Parks drohten gleichfalls im Untergrund zu versinken. Ententeich und Trauerweiden Westlich direkt vor der Brücke beziehungsweise vor der Verglasung des U-Bahnhofs liegt der kleine Ententeich, der – wie die anschließende Liegewiese – bereits auf das neue Niveau angehoben ist. Während der Ostteil des Parks inzwischen vollständig saniert wurde, dauerten die Arbeiten am Ententeich länger und waren erst im Oktober 2005 nach zehn Jahren Bauzeit endgültig abgeschlossen. Der Teich erhielt seine ursprüngliche Funktion als „spiegelnde“ Verbindung der Architektur des Bahnhofs zum Landschaftsgarten „im Stil einer Orangerie“ zurück. Nach einem Informationsblatt vor Ort plante das Bezirksamt: In einer – für die Bevölkerung überraschenden – Aktion waren im April 2005 fünfzehn Bäume rund um den Ententeich gefällt worden. Zwei Trauerweiden mit Vogelnestern, um die ein heftiger Streit entbrannt war, blieben vorerst am Ufer stehen. Während Baustadtrat Gerhard Lawrentz (CDU) und auch die obere Denkmalschutzbehörde aus den beschriebenen Gründen nach wie vor für die Fällung eintraten, befürwortete Bezirksbürgermeister Ekkehard Band (SPD) ihre Erhaltung. Da die Sanierungsmaßnahmen und auch der „Kahlschlag am Ententeich“ (Berliner Morgenpost vom 23. April 2005) über „ökologische Ausgleichsmaßnahmen“ finanziert werden, erwägt der Bund für Umwelt und Naturschutz Berlin (BUND) eine Klage gegen das Bezirksamt wegen einer Zweckentfremdung der Mittel. Die schnell gebildete Parkinitiative Rettet die Trauerweiden brachte an einer Weide ein Plakat mit der Aufschrift „Dieser Baum bleibt stehen“ an. Ingrid Winkler von der Initiative protestierte laut Berliner Morgenpost vom 26. April 2005 unter anderem gegen „die zynische Fällbegründung der Denkmalbehörde, die Bäume störten die Wirkung des Baudenkmals U-Bahnhof im Wasserspiegel des Teichs.“ Zum Ende des Jahres 2005 kamen die Bauarbeiten am Ententeich zum Abschluss. Eine naturnahe Abdichtung aus Lehm ersetzt das bisherige Asphaltbecken des Teiches. Die Wasserversorgung erfolgt nun aus einem Tiefbrunnen am südlichen Ende des U-Bahnhofs. Das Frischwasser und am Ufer abgesaugtes Teichwasser kann über Umwälzpumpen mit Luft-Sauerstoff angereichert werden. Zusammen mit einem biologisch arbeitenden Filtersystem, dem sumpfigen Schilfgürtel am Nordufer, soll diese Maßnahme die Nährstoffkonzentration im Teich in Grenzen halten und so der Veralgung vorbeugen. Kurparkcharakter im Ostteil Während die Arbeiten am Ententeich im westlichen, eher „naturlandschaftlich geprägten Parkteil“ längere Zeit in Anspruch nahmen, ist die Sanierung des kleineren, rund ein Drittel der Gesamtfläche einnehmenden östlichen Teils seit 2001 beendet. Dieser Teil beginnt unmittelbar am Rathaus Schöneberg und gilt als der „architektonische Teil“ oder auch „geometrische Teil“ mit repräsentativem Kurparkcharakter. An einem historischen und sanierten Milchhäuschen führt eine breite Treppe hinunter zu einer großen Brunnenanlage mit Fontänen, in dessen Mitte sich eine 8,80 Meter hohe Säule erhebt, die ein goldener Hirsch, das Wappentier von Schöneberg, krönt. Der Hirsch ist ein Werk des Bildhauers August Gaul. Im Milchhäuschen wurde im Jahr 2001 ein Biergarten eingerichtet. Eine weite Brüstung fasst bis zur Carl-Zuckmayer-Brücke im Halbrund eine Wiese ein, die von breiten baumbestandenen Wegen gesäumt ist. Auf dieser Wiese wurde 1951 eine öffentliche Fernsehübertragung veranstaltet. Viele Bänke und im Sommer ein Biergarten am Milchhäuschen laden zum Verweilen ein. Neben der Stabilisierung von Milchhäuschen und Brunnenanlage auf dem morastigen Untergrund sowie ihrer Renovierung umfasste die Sanierung umfangreiche Neupflanzungen und die Anlage von Blumenbeeten. Die Sanierungsgesamtkosten betrugen für diesen etwa 200 Meter langen Parkteil rund fünf Millionen Euro. Die Sanierung des direkten Bahnhofsbereichs oblag ihrem Besitzer, der BVG. Gründungsgeschichte des Parks Namensgebung Um 1900 stellte Stadtbaurat Friedrich Gerlach einen Bebauungsplan für Schöneberg auf, der im rund 7,5 Hektar großen Talfenn eine Parkanlage vorsah, die sich in der Nachbarstadt nach Westen bis zum ehemaligen Wilmersdorfer See fortsetzen sollte, der zwischen der heutigen Bundesallee und der Uhlandstraße lag und ab 1915 zugeschüttet wurde. Der Volkspark Wilmersdorf hieß daher lange „Seepark“, während der Schöneberger Abschnitt ursprünglich als „Stadtpark Schöneberg“ angelegt war. Auch der U-Bahnhof trug den Namen Stadtpark. Die Umbenennung in Rudolph-Wilde-Park erfolgte ersatzweise, als drei Tage nach der Ermordung Kennedys zu dessen Ehren und zur Erinnerung an seine berühmte Rede auf dem Rathausvorplatz vom 26. Juni 1963 mit dem legendären Bekenntnis „Ich bin ein Berliner“ der Platz am 25. November 1963 in John-F.-Kennedy-Platz umbenannt wurde – bis dahin hatte der Rathausvorplatz den Namen Rudolph-Wilde-Platz getragen. Planung und Baudaten Das Konzept der Parkgestaltung ging aus verschiedenen preisgekrönten Arbeiten eines überregionalen Wettbewerbs von 1906 hervor, deren Ausführungsplanung Stadtbaurat Gerlach übernahm. Gewinner des Wettbewerbs war der Gartenarchitekt Otto Kruepper. Gerlach übernahm allerdings keinen Wettbewerbsentwurf in reiner Form, sondern erarbeitete eine Kombination aus verschiedenen Beiträgen, die dem Entwurf des zweiten Preisträgers Fritz Encke am nächsten kam. (Nach dem Kölner Gartendirektor Encke ist der Fritz-Encke-Volkspark in Köln-Raderthal benannt). Die noch heute bestehende Teilung des Schöneberger Parks in den westlichen Teil mit landschaftlichem und den östlichen Teil mit repräsentativem Charakter geht auf die ursprünglichen Planungen zurück, die Ruhe und Naturbeobachtung in den Vordergrund stellten und damit entgegen der späteren Nutzung Spiel und Sport ausschlossen. Spielplätze, soweit unumgänglich, sollten möglichst unauffällig integriert werden. Für die Begrünung pflanzten die Gartenarchitekten rund 500 bis zu 20 Meter hohe Bäume. Die Anlage des Parks stellte die Planer vor erhebliche Probleme, denn ein bis zu 30 Meter tiefer Sumpf war trockenzulegen und mit Sand aufzufüllen. Zur Verankerung im morastigen Boden mussten sämtliche Bauten im Parkgelände auf Eichenpfähle gestellt werden. Die Arbeiten wurden zwischen 1910 und 1912 durchgeführt und mit dem Bau der U-Bahn koordiniert, indem der Aushub der Bahnschächte in einem Gesamtvolumen von rund 850.000 m³ zur Aufschüttung im Fenn verwendet wurde. Die Informationstafel gibt die Erinnerung eines Schöneberger Bürgers wieder, der als Kind den Bau hautnah miterlebte: Bis zu 500 Arbeiter waren an einem derartigen Tagwerk beteiligt. Die Landschaftsteile waren im Wesentlichen zur U-Bahn-Eröffnung 1910 fertig, der Hirschbrunnen und die Treppenanlagen zum Rathaus folgten 1912. Der Bau der heutigen U-Bahn-Linie U4, die zu dieser Zeit getrennt vom Berliner U-Bahn-Netz eine eigenständige Schöneberger Linie darstellte, hatte 1908 begonnen und am 1. Dezember 1910 wurde die Linie feierlich eröffnet. Der U-Bahnhof Stadtpark (heute: Rathaus Schöneberg) und die Carl-Zuckmayer-Brücke gehen auf einen Entwurf des Architekten Johann Emil Schaudt zurück, der 1907 das KaDeWe gestaltet hatte. Eine strenge vertikale und horizontale Gliederung zeichnet das Bauwerk aus. Die vier Figurengruppen auf den Brüstungen stammen von Richard Guhr und stellen laut Informationstafel „Tritonen aus mythischer Zeit dar, die auf ihren Rücken Nymphen über das einstmals aus einer Seenkette bestehende Fenngelände von einem Ufer zum anderen tragen“. Der Rathausbau auf dem südöstlichen Teil des benachbarten Mühlenbergs folgte zwischen 1911 und 1914 unter dem Nachfolger von Rudolph Wilde, dem Schöneberger Oberbürgermeister Alexander Dominicus, der wiederum dem historischen Mühlenweg den heutigen Namen Dominicusstraße gab. Gegen Ende der 1920er Jahre erfolgten kleinere Umbauten und Veränderungen im Park. In diese Zeit fallen erste Verärgerungen der Bürger, die Freiflächen und Spielmöglichkeiten für ihre Kinder suchten, nachdem Schöneberg inzwischen nahezu vollständig zugebaut war. Der Bezirk stellte daraufhin 1928 die Wiese im Ostteil an drei Wochentagen nachmittags zur allgemeinen Nutzung frei. Im Jahr 1954 kamen die beiden Frauenstandbilder Der Morgen und Der Abend des Künstlers Georg Kolbe, die seit Ende der 1920er Jahre in der unweit entfernten Siedlung Ceciliengärten (nahe dem Innsbrucker Platz) und nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Wittenbergplatz standen, in den Park. Anlässlich der 750-Jahr-Feier Berlins im Jahr 1987 wurden beide Plastiken wieder an ihren angestammten Platz in die inzwischen restaurierte und denkmalgeschützte Anlage der Ceciliengärten zwischen Haupt- und Rubensstraße zurückgebracht. Die Skulptur Der Morgen stand bereits 1929 im Deutschen Pavillon auf der Weltausstellung in Barcelona. Einbindung in den Ortsteil Stadthäuser und Salons Nach 1912 zogen die Landschaftsarchitekten zunehmend die angrenzenden Straßenabschnitte in die Parkgestaltung ein. So sind die Parkseiten der beiden angrenzenden Straßen – im Norden die Freiherr-vom-Stein-Straße und im Süden die Fritz-Elsas-Straße – in das Wegesystem integriert worden. Beide Straßen sind geschwindigkeitsbegrenzte Zonen. Zwischen 1919 und 1957 gab es eine Straße Am Stadtpark, die heute unbezeichnet ist. An der Kufsteiner Straße Ecke Fritz-Elsas-Straße liegt das repräsentative ehemalige Gebäude des RIAS, an der Badenschen Straße das der FHW (bis 1959: DHfP). Die überwiegend ruhigen Wohnviertel am Park sind heute geprägt von gutbürgerlichen Mietshäusern, die weitgehend die ehemaligen prächtigen Stadthäuser der Gründerzeit ersetzen, die in hoher Zahl dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer fielen. In unmittelbarer Nachbarschaft zum Park liegt das Bayerische Viertel, das um 1900 gezielt für ein großbürgerliches Publikum konzipiert wurde. Finanzstarke Bevölkerungsschichten sollten gewonnen werden, um mehr Steuereinnahmen für die bis 1920 selbstständige und kreisfreie Stadt Schöneberg zu erzielen. Neben dem wenige Jahre zuvor entstandenen Villenviertel im Grunewald und dem altehrwürdigen Fichtenberg in Steglitz zählte das Bayerische Viertel bald zu den gediegensten Wohnbereichen im Berliner Südwesten. Vornehme Fassaden, riesige Wohnungen mit Salons, reizvolle Platzanlagen und die eigene städtische U-Bahn-Linie zeichneten den Reichtum des Viertels aus, in dem sich schnell Ärzte, Rechtsanwälte, Beamte in höheren Positionen und viele prominente Künstler und Intellektuelle der 1920er Jahre niederließen. Dazu zählten unter anderem Albert Einstein, Arno Holz, Gottfried Benn und Erwin Piscator. Die Architektur der Häuser war im Stil der Gebäude bayerischer Kleinstädte gehalten und führte zur Bezeichnung Bayerisches Viertel oder früher auch Klein-Nürnberg, aufgrund des sehr hohen Anteils jüdischer Bürger gelegentlich Jüdische Schweiz genannt. Die Architektur des U-Bahnhofs und der Carl-Zuckmayer-Brücke sowie die Gestaltung des Rudolph-Wilde-Parks fügten sich harmonisch in das Bild der Straßenzüge ein. Gegen das Vergessen Gegen das Vergessen der Deportationen, von denen die Bürger des Bayerischen Viertels besonders zahlreich betroffen waren, findet man heute 80 Gedenktafeln und mehrere Hinweistafeln mit Orientierungsplänen, die an Lampenmasten als flächendeckendes Denkmal unter dem Titel Orte des Erinnerns im Bayerischen Viertel – Ausgrenzung und Entrechtung, Vertreibung, Deportation und Ermordung von Berliner Juden in den Jahren 1933 bis 1945 im gesamten Bayerischen Viertel verteilt sind. Das im Zweiten Weltkrieg zu 60 Prozent zerstörte Viertel hat sich mit seiner Straßenstruktur und den Vorgärten bis heute erhalten, die zerstörten Bauten sind allerdings weitgehend durch schmucklose Nachkriegsblocks ersetzt. In der Wohnung seiner Frau in der Meraner Straße, die auf den Park zuführt, riefen die Trümmer 1947 im Schriftsteller Hans Fallada folgende Empfindungen hervor: Die Bauwerke im Rudolph-Wilde-Park überstanden – bis auf den Mittelteil des U-Bahnhofs – den Zweiten Weltkrieg unversehrt. Literatur Horst Günter Lange: Der Rudolph-Wilde-Park in Berlin-Schöneberg, im Auftrag des Senators für Stadtentwicklung und Umweltschutz – Gartendenkmalpflege, Berlin 1986. Guido Wenzel: Wo der Boden wankte und schwankte. Der Schöneberger Stadtpark. In: Ländliches und Städtisches Grün. Bezirksamt Schöneberg, Berlin 1987. Zeitungsartikel Baumfällungen im Wildepark. In: Berliner Morgenpost, 27. April 2005. Baustadtrat und Denkmalbehörde für Baumfällungen. In: Berliner Morgenpost, 26. April 2005. Kahlschlag am Ententeich. In: Berliner Morgenpost, 23. April 2005. Birgitt Eltzel: Der geteilte Garten. In: Berliner Zeitung, 11. September 2004. Das Zitat zur Kennzeichnung des Park-Ostteils als Kurparkcharakter stammt von Baustadtrat Gerhard Lawrentz und ist hier entnommen, S. 2 Weblinks Rudolph-Wilde-Park. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Wenzel-Orf (Zitat aus Der Alpdruck, 1947, hier entnommen) Quellen und Einzelnachweise Ein Teil der hier aufgeführten Informationen beruht auf den Darstellungen der großen Schautafel am Park, die das Bezirksamt Schöneberg aufgestellt hat. Die Tafel enthält neben einem ausführlichen „Summary“ für die englischsprachigen Gäste des Parks und Rathauses verschiedene historische Fotos. Das Zitat zur Planung am Ententeich entstammt einem gesonderten Informationsblatt direkt am Teich. Parkanlage in Berlin Gartendenkmal in Berlin Gewässer in Berlin Berlin-Schöneberg
701534
https://de.wikipedia.org/wiki/Heterotardigrada
Heterotardigrada
Als Heterotardigrada bezeichnet man eine Klasse von Bärtierchen (Tardigrada), die entweder durch auffällige Kopfanhänge oder verhärtete Rückenpanzerplättchen (Skleriten) gekennzeichnet sind. Sie wurde 1929 durch den deutschen Zoologen Ernst Marcus (1893–1968) beschrieben und umfasst sowohl meereslebende (marine) als auch land- und süßwasserlebende (limno-terrestrische) Arten. Insbesondere die marinen Formen zeichnen sich durch eine hohe Artenvielfalt und eine für Bärtierchen große Variabilität der Körperform aus. Merkmale Bärtierchen sind eine insgesamt gesehen sehr homogene Tiergruppe, deren Körperbau nur in engen Grenzen variabel ist. Im Folgenden sind daher nur diejenigen Merkmale der Heterotardigrada aufgeführt, die für diese Klasse besonders charakteristisch sind; eine ausführlichere Einführung in die Anatomie findet sich im Hauptartikel zu den Bärtierchen. Die meisten Heterotardigrada erreichen eine Körperlänge zwischen 100 und 150 Mikrometern. Cuticula Eines der auffälligsten Merkmale vieler Heterotardigrada sind Verhärtungen der nicht-zelligen Außenhaut, der Cuticula, die insbesondere in der mehrheitlich limno-terrestrischen Ordnung Echiniscoidea, aber in geringerem Ausmaß auch bei manchen Arten aus der Ordnung Arthrotardigrada zu finden sind. Dadurch entsteht eine Gliederung in einzelne rückseitige (dorsale) Plättchen, die Sclerite, die als Panzerung des Körpers angesehen werden können und oft dornige Vorsprünge tragen. Die genaue Zahl und Anordnung der Platten, die auch teilweise miteinander verwachsen sein können, ist ein wichtiges Merkmal für die Artbestimmung. Innerhalb der Gattung Testechiniscus treten daneben auch bauchseitige (ventrale) Panzerplättchen auf, die man dann als Sternite bezeichnet. Die mikroskopische Feinstruktur der Cuticula ist ebenfalls für die Heterotardigrada typisch: In einer als Epicuticula bezeichneten Schicht sind hier charakteristische, von Hohlräumen umgebene „Stützpfeiler“ ausgeprägt, so dass sich im Querschnitt eine Bienenwabenstruktur ergibt, durch welche die Außenhaut nochmals versteift wird. Die meereslebenden Heterotardigrada sind farblos, während landlebende Formen oft durch die Nahrung oder spezielle Pigmente gefärbt sein können. Kopf- und Körperanhänge Außer durch Skleriten zeichnen sich viele Heterotardigrada, darunter insbesondere die Arten der Arthrotardigrada, auch durch vielfältige Kopf- und Körperanhänge aus. Besonders auffällig sind die sogenannten Cirri am Kopf, die vermutlich der Wahrnehmung mechanischer Berührungsreize dienen. Ein einzelner Cirrus besteht meist aus einer Basis, der Cirriphore, einem kurzen verbreiterten Abschnitt, dem Kragen oder Scapus, und dem eigentlichen langen und schmalen Sinneshaar, das als Flagellum bezeichnet wird. Neben den Cirri findet man am Kopf der Heterotardigrada auch Strukturen mit wahrscheinlich chemosensorischer Funktion, die Clavae, die wahrscheinlich von Cirri abgeleitet, aber gegenüber diesen verbreitert und innen hohl sind. Die genaue Form, Anzahl und Anordnung der Cirri und Clavae ist ein wichtiges Merkmal bei der Artbestimmung innerhalb der Heterotardigrada. Weitere charakteristische Kennzeichen sind seitlich am Körper oder am Hinterende entspringende lange Filamente, die als Alae bezeichnet werden, und großflächige Auswüchse der Cuticula, die sich bei vielen marinen Arten finden und vermutlich der Verbreitung der Tiere durch Meeresströmungen dienen. Extremitäten Die Beine haben dieselbe grundlegende Struktur wie bei allen Bärtierchen; am vierten Beinpaar findet sich jedoch oft ein um das jeweilige Bein herumlaufender Kranz kleiner Cuticula-Zähnchen, dessen Funktion unbekannt ist. Die Klauen der Heterotardigrada befinden sich oft nicht direkt am Beinende, sondern entspringen an separaten „Zehen“. Sie sind manchmal mit „Sporen“, kleinen Vorsprüngen, versehen und bei einigen Arten durch Haftscheiben ersetzt. Leibeshöhle und Verdauungssystem Auch in der inneren Anatomie existieren bei den Heterotardigrada einige Besonderheiten. Zunächst fällt bei ihnen die Leibeshöhle, das Haemocoelom, im Vergleich kleiner aus als bei den meisten Eutardigrada, der anderen großen Bärtierchenklasse. Die Stilette, mit denen die Tiere zum Beispiel Algenzellen anstechen und sie aussaugen können, sind meist dünner ausgeprägt und fast immer ungekrümmt. Der muskulöse Schlund wird von durchlaufenden verhärteten Längsstreifen stabilisiert, nicht aber durch individuelle Placoiden, stäbchenförmige Strukturen, die man bei den Eutardigrada findet. Die Schlundmuskulatur besteht aus 51 gleichberechtigten Epithelmuskelzellen; eine frühere Annahme, dass sich diese in 27 Epithelzellen und 24 eigentliche Muskelzellen aufteilen, von denen Erstere das Schlundvolumen auskleiden und zweitere für die Saugkraft verantwortlich sind, hat sich nach elektronenmikroskopischen Untersuchungen als inkorrekt erwiesen. Der Darm weist meist fünf oder sechs Ausstülpungen, die Diverticula, auf. Ausscheidungs- und Fortpflanzungsorgane Der Ausscheidung und Osmoregulation dienende Malpighische Drüsen, wie sie sich bei den Eutardigrada finden, existieren innerhalb der Heterotardigrada nicht. Osmoregulation, also eine Regelung des Salzhaushalts, ist bei den meereslebenden Formen nicht notwendig, da die Körperflüssigkeit isotonisch mit Meerwasser ist, also kein Unterschied im Salzgehalt besteht. Bei einigen landlebenden Arten existieren bauchseitig zwischen dem Ansatz des zweiten und dritten Beinpaares spezielle Organe, die vermutlich eine Ausscheidungsfunktion innehaben. Sie bestehen, wenn vorhanden, aus einer in der Mitte (medial) gelegenen und zwei seitlichen (lateralen) Zellen. Charakteristisch für die Heterotardigrada ist die Gonopore genannte Mündungsstelle des Eileiters, die bei ihnen immer auf der Körperaußenseite, meist vor, selten hinter dem Anus, aber nie innerhalb des Hinterdarms oder Rektums liegt. Sie ist immer von einer Rosette aus bis zu sechs „Blättern“, den Petalen, umgeben. Spermienspeicher, in denen das Männchen sein Sperma deponieren kann, sind, falls vorhanden, doppelt ausgeführt. Bei den Männchen ist die Geschlechtsöffnung oval oder kreisförmig und steht etwas nach außen vor. Verbreitung und Lebensraum Heterotardigrada finden sich weltweit und zwar sowohl im Meer als auch in Süßgewässern und an Land, wobei man bei den marinen Arten meist eine geringere Populationsdichte findet als bei den landlebenden, die dafür allerdings auch besser untersucht sind. Einige Arten, etwa aus der Gattung Batillipes, sind weltweit zu finden und leben als Bestandteil der Sandlückenfauna innerhalb der Gezeitenzone an nahezu allen Sandstränden; andere wie etwa Moebjergarctus manganis haben sich aus noch unbekannten Gründen anscheinend auf südpazifische Manganknollen spezialisiert. Eine Reihe von Arten leben als Parasiten oder Kommensale, also ohne Schädigung des Wirts, auf anderen Tieren, Echiniscoides sigismundi etwa auf Muscheln (Bivalvia) und Rankenfüßern (Cirripedia), Pleocola limnoriae auf Asseln (Isopoda), Actinarctus doryphorus auf Seeigeln (Echinoidea) und Echiniscus molluscorum sogar in der landlebenden Schneckenart Bulimulus exilis. Landlebende Parasiten oder Kommensalen sind ansonsten selten, da Bärtierchen im aktiven Zustand auf Feuchtigkeit angewiesen sind, die an Land nicht immer garantiert ist; Echiniscus molluscorum ist daher auch endoparasitär oder -kommensal. Eine eindeutig ectoparasitische Art ist dagegen die meereslebende Form Tetrakentron synaptae, die einzelne Zellen von Seegurken (Holothuroidea) ansticht und aussaugt. Lebensweise Die meisten Aspekte der Lebensweise der Tiere sind nicht spezifisch für die Heterotardigrada und daher im allgemeinen Bärtierchen-Artikel abgehandelt. Anhydrobiose, die hohe Widerstandsfähigkeit gegenüber Austrocknung durch Bildung spezieller Überlebensstrukturen, der Tönnchen, gilt oft als charakteristische Bärtiercheneigenschaft, existiert aber nur innerhalb der Ordnung Echiniscoidea. Mit einer Ausnahme leben alle Arthrotardigrada im Meer, das konstante Umweltbedingungen bietet, so dass diese Arten nie die Fähigkeit zur Tönnchenbildung entwickeln mussten. Heterotardigrada können sich sowohl geschlechtlich als auch ohne Sexualität fortpflanzen. Insbesondere bei den Echiniscoidea findet sich bei vielen Arten Parthenogenese, also eine ungeschlechtliche Vermehrung ohne Männchen, bei der die Weibchen unbefruchtete Eier legen, aus denen wiederum ausschließlich Weibchen hervorgehen. Diese Form der Fortpflanzung ist mit Anhydrobiose gekoppelt und kommt insbesondere in Lebensräumen mit starken Schwankungen der Umweltbedingungen vor. Bei der sexuellen Fortpflanzung existieren dagegen fast immer getrennte Geschlechter; hermaphroditische Arten, die in der Lage sind, sich selbst zu befruchten, findet man nur bei einer Gattung innerhalb der Arthrotardigrada. Die Eier der Heterotardigrada sind glatt und werden von den Weibchen entweder frei oder in die alte, abgestoßene Haut, das Exuvium, gelegt. Die Entwicklung zum erwachsenen Tier gilt als direkt, auch wenn das Vorhandensein verschiedener Häutungsstadien gelegentlich als Hinweis auf eine indirekte Entwicklung angesehen wird. Die schlüpfenden Jungtiere haben meist noch keinen Anus, so dass Abfallstoffe erst bei der ersten Häutung zusammen mit der Cuticula abgegeben werden können, daneben fehlt ihnen die Geschlechtsöffnung (Gonopore); die Beine weisen oft noch zwei Klauen weniger als beim erwachsenen Tier auf. Nach der ersten Häutung tritt der Anus zutage und die volle Klauenzahl stellt sich ein; die Gonopore bildet sich dagegen erst nach der zweiten Häutung aus. Bei Batillipes nourrevangi existiert noch ein weiteres Häutungsstadium; bei der parasitischen Art Tetrakentron synaptae sind dagegen schon die schlüpfenden Jungtiere mit allen Erwachsenenmerkmalen ausgestattet. Die Lebensdauer der meisten Heterotardigrada-Arten ist unbekannt, liegt aber wohl zwischen einigen Monaten und ein bis zwei Jahren. kryptobiotische Zeiträume, in denen die Tiere nicht altern, können die tatsächliche Lebenszeit bei den landlebenden Arten der Ordnung Echiniscoidea um Jahre erhöhen; für die mehrheitlich meereslebenden Arthrotardigrada besteht diese Möglichkeit nicht. Stammesgeschichte Moderne Formen Das Verhältnis zur anderen großen Bärtierchen-Klasse, den Eutardigrada ist gegenwärtig noch ungeklärt. Oft geht man davon aus, dass aus meereslebenden Vorläufern der Ordnung Arthrotardigrada zunächst die land- und süßwasserlebenden Formen der Ordnung Echiniscoidea und hier insbesondere der Familie Echiniscidae entstanden sind, aus denen sich dann wiederum die Eutardigrada entwickelt haben: Dies würde bedeuten, dass die Heterotardigrada keine natürliche Gruppe bilden, da einzelne Arten, etwa aus der Familie Echiniscidae, enger mit den Eutardigrada verwandt wären als mit anderen Heterotardigrada. Diese Hypothese wird dadurch gestützt, dass die Heterotardigrada noch relativ viele primitive, also für die Stammform aller Bärtierchen als charakteristisch angesehene Merkmale aufweisen. Während das oben stehende Szenario sehr plausibel erscheint, konnte es durch vorläufige molekulargenetische Untersuchungen nicht bestätigt werden; diese sprechen stattdessen dafür, dass die Heterotardigrada ein monophyletisches Taxon sind, also ausnahmslos alle Nachkommen des letzten gemeinsamen Vorfahren der Gruppe umfassen. Diese Hypothese ist im folgenden Diagramm dargestellt: Fossile Formen Es gilt als sehr wahrscheinlich, dass die Heterotardigrada bereits sehr früh, vermutlich in der erdgeschichtlichen Ära des Paläozoikums das Land eroberten, auch wenn aus dieser Zeit noch keine eindeutig den Heterotardigrada zuzuordnenden Fossilfunde vorliegen. In kreidezeitlichem Bernstein hat sich ein schlecht erhaltenes Jungtier erhalten, das sich möglicherweise den Heterotardigrada zuordnen lässt, ansonsten aber keine Hinweise auf die Stammesgeschichte dieses Taxons gibt. Systematik Die Monophylie der Heterotardigrada ist wie angesprochen umstritten, das heißt, es ist gegenwärtig unklar, ob alle Arten zusammengenommen eine natürliche Verwandtschaftsgruppe bilden und nicht stattdessen einige Formen enger mit Eutardigrada-Arten verwandt sind. Klassisch unterscheidet man in jedem Fall zwei sehr unterschiedliche Ordnungen: Die Arthrotardigrada kommen mit Ausnahme von Styraconyx hallasi ausschließlich im Meer vor und gelten oft als charakteristisch für die Vorfahren aller Bärtierchen. Sie zeichnen sich durch besonders viele urtümliche Merkmale aus und sind durch zahlreiche Kopfstrukturen wie Cirri und Clavae charakterisiert, die auch für die weitere Unterteilung der Gruppe in Familien herangezogen werden. Ihre vier bis sechs Klauen setzen oft nicht direkt am Beinende an, sondern befinden sich am Ende dünner „Zehen“. Die meisten Gattungen sind monotypisch, enthalten also nur eine Art, was manchmal als Hinweis auf ihr hohes Alter gewertet wird. Die Echiniscoidea leben überwiegend im Süßwasser oder an Land, selten auch im Meer. Die ersteren Formen zeichnen sich durch verhärtete rückseitige und gelegentlich bauchseitige Cuticula-Panzer, Sclerite und Sternite, aus. Ihre genaue Anordnung und Struktur ist ein wichtiges Hilfsmittel bei der weiteren Klassifikation der Echiniscoidea. Kopfanhänge sind oft zwar vorhanden, aber meist nicht besonders auffällig; die bis zu 13 Klauen entspringen immer direkt am Beinende. Bei beiden Ordnungen spielen die Feinstruktur der Klauen und der Aufbau der Schlundmuskulatur eine große Rolle bei der weiteren Klassifikation. Ob es sich bei den beiden Ordnungen um monophyletische Gruppen handelt, ist unklar; es wird, wie schon erwähnt, häufig angenommen, dass die Echiniscoidea aus den Arthrotardigrada hervorgegangen sind. In diesem Fall wird oft die Arthrotardigrada-Familie Stygarctidae angeführt, die besonders eng mit den Echiniscoidea verwandt sein könnte: Sollte sich diese Annahme bewahrheiten, wären die Arthrotardigrada eine paraphyletische Gruppe, das heißt, eine Untergruppe wäre mit Arten außerhalb des Taxons enger verwandt als mit anderen Arthrotardigrada. Kladistisch arbeitende Systematiker würden sie dann nicht mehr anerkennen. Erste molekulargenetische Untersuchungen sprechen derzeit jedoch gegen diese Ansicht. Literatur I. M. Kinchin: The biology of tardigrades. Portland Press, 1994. A. Jörgensen, R. Kristensen: Molecular Phylogeny of Tardigrada – investigation of the monophyly of Heterotardigrada. Molecular Phylogenetics and Evolution, 32 (2), 2004, Seite 666. Weblinks Artenliste für marine Heterotardigrada (englisch) Bärtierchen Tardigrada
724651
https://de.wikipedia.org/wiki/Vulkankaninchen
Vulkankaninchen
Das Vulkankaninchen (Romerolagus diazi) ist eine Säugetierart aus der Familie der Hasen (Leporidae). Es gehört zu den kleinsten Arten der Familie und kommt endemisch ausschließlich in der Gebirgsregion im zentralen Teil Mexikos vor und wird dort als Zacatuche oder Teporingo bezeichnet. Dort lebt es vorwiegend im Gebiet der Vulkane Popocatépetl und Iztaccíhuatl, worauf auch sein deutscher und englischer Trivialname Bezug nimmt. Die Tiere sind einheitlich gelbbraun bis schwarz gefärbt, sie haben vergleichsweise kurze Ohren und der Schwanz ist äußerlich nicht sichtbar. Sie leben im Unterwuchs von Kiefern- und Erlenwäldern in Höhen von 2800 bis 4250 Metern, wobei die Lebensräume stark von dicht wachsenden Büschelgräsern („zacatón“) und von steinigem bis felsigem Untergrund geprägt sind. Die Tiere bilden Gruppen von zwei bis fünf Individuen und ernähren sich von Gräsern und Kräutern. Sie graben Baue in den Waldboden oder nutzen die verlassenen Höhlen anderer Tierarten. Vorwiegend zwischen April und September werden durchschnittlich zwei Jungtiere geboren. Die Art steht unter strengem Schutz und wird aufgrund des sehr kleinen Verbreitungsgebietes als bedroht eingestuft. Merkmale Allgemeine Merkmale Das Vulkankaninchen hat eine Kopf-Rumpf-Länge von etwa 23 bis 35 Zentimetern und ein Gewicht von etwa 380 bis 600 Gramm. Kleiner ist in seiner Familie nur noch das im Westen der Vereinigten Staaten lebende Zwergkaninchen (Brachylagus idahoensis). Ein Sexualdimorphismus ist nur gering ausgeprägt, die Weibchen sind in der Regel etwas größer als die Männchen. Der Schwanz ist sehr kurz und von außen nicht sichtbar; wie bei den Pfeifhasen ist er durch einen ihn überdeckenden Hautlappen verdeckt. Die Länge der Schwanzwirbel beträgt etwa 18 bis 31 Millimeter. Die Hinterbeine und die Füße sind vergleichsweise klein, die Hinterfußlänge beträgt im Durchschnitt etwa 51 Millimeter mit einer Varianz von 42 bis 55 Millimetern. Die Ohren sind klein und gerundet, sie erreichen eine Länge von 40 bis 45 Millimeter. Das Fell ist sehr kurz und dicht, es ist auf der Rückenseite einheitlich dunkel gelbbraun bis grau oder schwarz gefärbt. Dabei sind die Basen und die Spitzen der Fellhaare schwarz und der mittlere Teil gelblich. Die Kehle, die Brust und die Bauchseite sind heller sandbraun mit dunkelgrauem Einschlag der Unterwolle. Auf der Brust befindet sich eine „Mähne“ aus etwas längeren und weicheren Haaren, die in der Farbe der restlichen Brustbehaarung entspricht und sich von dieser nicht absetzt. Die Hinterbeine und die Füße sind kurz, die Oberseiten der Vorderfüße sind hell sandgelb, die der Hinterfüße braun. Die Füße besitzen jeweils fünf Zehen, auch wenn ihre Spuren häufig nur vier Zehen zeigen. Die Seiten der Nase und die Augenregion sind hell sandbraun, die Basis der kurzen und runden Ohren ist etwas dunkler sandbraun. Hinter den Ohren befindet sich ein undeutliches Dreieck aus gelblichen Haaren. Die Weibchen besitzen drei Paar Zitzen, jeweils eines im Brust-, im Abdomen- und im Lendenbereich. Während der Stillzeit schwellen die Milchdrüsen auf eine Dicke von etwa einem Millimeter an und bilden zwei jeweils zwei Zentimeter breite Streifen, die die jeweils vorderen beiden Zitzen verbinden. Dabei produzieren die Weibchen nie in allen Zitzen Milch und besitzen in der Regel vier wechselnde aktive Zitzen. Schädelmerkmale Der Schädel erreicht eine Gesamtlänge von etwa 45 bis 47 Millimetern und eine maximale Breite von 25 bis 27 Millimetern im Bereich der Jochbögen. Er entspricht in seinem generellen Aufbau dem eines typischen Hasenartigen. Die Länge der Nasenbeine beträgt etwa 22 bis 25 Millimeter bei einer Breite von 9,5 bis 11,5 Millimetern und das Gaumenbein ist mit einer Länge von etwa 6 bis 8 Millimetern im Vergleich zu anderen Arten verlängert. Der bei einigen Hasen typische Processus postorbitalis, ein Knochenvorsprung hinter dem Auge, ist bei dieser Art nur kurz ausgebildet. Die Paukenhöhlen sind nicht vergrößert und entsprechen dem Foramen magnum in der Größe. Die Gehörgänge sind dagegen im Vergleich zu anderen Hasenartigen verlängert und erreichen eine Länge von 5,2 bis 6,4 Millimetern. Die Tiere besitzen im Oberkiefer jeweils zwei Schneidezähne (Incisivi) gefolgt von einer längeren Zahnlücke (Diastema) sowie von drei Vorbackenzähnen (Praemolares) und von drei Backenzähnen (Molares). Im Unterkieferast sind außer den drei Backenzähnen nur ein Schneidezahn sowie nur zwei Prämolaren vorhanden. Insgesamt besitzen die Tiere also 28 Zähne. Die Länge der Zahnreihe beträgt etwa 10 bis 12 Millimeter. Genetische Merkmale Der Karyotyp besteht aus einem diploiden Chromosomensatz von 2n = 48 Chromosomen mit einer Armanzahl (fundamental number, FN) von 78. Er entspricht dem aller Vertreter der Gattung Lepus sowie dem des Strauchkaninchens (Sylvilagus bachmani) und wird als ursprüngliches Merkmal betrachtet, wobei andere Arten der Gattungen Sylvilagus und andere Kaninchenarten eine variable Chromosomenzahl von 2n = 42 bis 52 aufweisen. Es handelt sich um einen Karyotyp mit 16 metazentrischen und 7 telozentrischen Chromosomen sowie zwei großen Geschlechtschromosomen (subtelozentrisches X und metazentrisches Y). Spuren Die wichtigsten Spuren der Vulkankaninchen sind Fußspuren und Kotspuren. Erstere bestehen in der Regel aus Abdrücken der Vorder- und der Hinterfüße, wobei meistens je nur vier Zehen erkennbar sind. Die Vorderfußspuren haben eine Länge von etwa 3 Zentimetern und die Hinterfußspuren eine Länge von etwa 4,6 Zentimetern, die Breite beträgt bei beiden etwa 1,5 Zentimeter. Trittsiegel laufender Vulkankaninchen entsprechen denen anderer Kaninchen, aufgrund der geringeren Größe sind sie jedoch näher beieinander. Die Vorderfüße kommen in der Regel mit einem Abstand von 10 bis 12 Zentimetern hinter den letzten Hinterfußspuren auf. Die Kotpillen der Tiere sind linsenförmig mit einem Durchmesser von 5 bis 9 Millimeter. Frische Pillen sind ockerfarben und weich, später werden sie gelblich und trocken. Sie können vor allem nahe der Baue und der Hauptwege der Tiere gefunden werden. Verbreitung Das Vulkankaninchen kommt endemisch in Zentralmexiko vor. Das Verbreitungsgebiet beschränkt sich auf die Gebirgsregion im transmexikanischen Vulkangürtel um die Vulkane Popocatépetl, Iztaccíhuatl, El Pelado und Tlaloc (Sierra Volcánica Transversal) in Morelos, im Westen von Puebla und im südlichen Umland von Mexiko-Stadt („Distrito Federal“). Bei intensiven Suchen in den angrenzenden Gebieten in den 1980er Jahren konnten keine weiteren Vorkommen identifiziert werden. Die Gesamtfläche des Verbreitungsgebietes beträgt maximal etwa 386 Quadratkilometer, wodurch das Vulkankaninchen wahrscheinlich das am engsten eingegrenzte Verbreitungsgebiet aller Säugetiere in Mexiko hat. Historisch war das Gebiet etwas größer: Die Art ist unter anderem von den östlichen Ausläufern des Iztaccihuatl sowie der Nevado de Toluca verschwunden; zudem verringert sich das Gebiet aufgrund der Fragmentierung und Umnutzung in der Region zunehmend. Lebensweise und Ökologie Lebensräume Der Lebensraum des Vulkankaninchens sind Kiefern- und seltener Erlenwälder der Höhenlagen mit dichtem Unterbewuchs aus hohen und dicht wachsenden Büschelgräsern („zacatón“) und einem steinigen bis felsigen Untergrund, durchsetzt von Bereichen mit dunklen und tiefen Böden. Die Höhenverbreitung der Art liegt zwischen 2800 und 4250 Metern, die höchste Bestandsdichte befindet sich allerdings in Höhen von 3150 bis 3400 Metern. Sie besiedelt auch Gebiete mit plötzlichen und steilen Abhängen. Diese Habitate im Grenzbereich zwischen der nearktischen und neotropischen Zone sind geprägt von warmen und feuchten Sommern und kalten und trockenen Wintern, der jährliche Niederschlag beträgt durchschnittlich 1330 Millimeter und die Durchschnittstemperatur über das Jahr etwa 9,5 °Celsius. Die Vegetation besteht vor allem aus bis etwa 25 Meter hohen Beständen der Montezuma-Kiefer (Pinus montezumae), teilweise durchsetzt mit anderen Kiefernarten wie Pinus hartwegii, Pinus teocote, Pinus rudis, Pinus patula und Pinus pseudostrobus. Der Unterwuchs setzt sich aus bis zu 5 Meter hohen Gräsern, hauptsächlich Arten wie Muhlenbergia macroura, Festuca amplissima, Festuca rosei, Stipa ichu sowie Epicampus-Arten zusammen. Hinzu kommen sekundäre Bestände der Erle Alnus acuminata subsp. arguta (Syn. Alnus arguta) mit Höhen bis 12 Meter und der palmenähnlichen Agavenart Furcraea bedinghausii, die bis zu 6 Meter hoch wird, sowie einem Unterwuchs aus Sommerflieder (Buddleja), Brombeeren (Rubus), Wasserdost (Eupatorium) und anderen krautigen Pflanzen. Die Auflage erreicht zusammen mit den Gräsern Höhen von 2 bis 5 Metern mit einem hohen Anteil an Gräsern und Kräutern. Seltener besiedelt das Vulkankaninchen auch temporär Felder mit Saat-Hafer (Avena sativa) und verlässt diese nach der Haferernte Anfang Oktober. Sozialverhalten und Ernährung Vulkankaninchen leben häufig in kleinen Gruppen von zwei bis fünf Individuen. Sie sind vorwiegend dämmerungsaktiv am Abend und am frühen Morgen, können aber auch am Tag und in der Nacht außerhalb ihrer Baue angetroffen werden. Sie meiden allerdings die Mittagshitze. Während dieser Zeiten suchen sie nach Nahrung und gehen anderen Aktivitäten nach, darunter auch dem „Hinterherlaufen“, dem „Kämpfen“ und dem „Spielen“. Die Nahrung der Tiere besteht aus grünen Blättern verfügbarer Gräser und Kräuter, vor allem den „zacatón“-Gräsern Festuca amplissima, Festuca rosei, Muhlenbergia macroura und Stipa ichu. Hinzu kommen Kräuter wie Cunita tritifolium, Alchemilla sebaldiaefolia und Museniopsis arguta. Dabei fressen die Kaninchen in der Regel die jungen und noch grünen Triebe der Gräser und beißen die Blätter an der Basis des Stiels ab. Während der Regenzeiten fressen die Tiere auch junge Hafer- und Maispflanzen in landwirtschaftlich genutzten Flächen nahe ihrer Baue. Die Ruhezeiten verbringen sie in den Bauen, deren versteckte Eingänge sich an der Basis von Grasbüscheln befinden. Diese Baue sind bis zu 5 Meter lang und haben oft mehrere Ausgänge, oft teilen sich die Gruppen einen gemeinsamen Bau. Die Baue haben eine maximale Länge von etwa fünf Metern und sind aufgrund des steinigen Untergrunds selten geradlinig. Sie werden teilweise nicht selbst gegraben, sondern stammen von andern grabenden Tieren der Habitate wie dem Silberdachs (Taxidea taxus), dem Felsenziesel (Otospermophilus variegatus), dem Neunbinden-Gürteltier (Dasypus novemcinctus) oder der Merriam-Taschenratte (Cratogeomys merriami). Als temporärer Unterschlupf werden zudem Höhlen zwischen Steinen und Holzstämmen oder Erdlöcher genutzt. Die Nester für die Jungtiere werden von den Weibchen in einem flachen Bau angelegt, der in der Regel an der Basis von Grasbüscheln in den Boden gegraben wird; der Nesteingang wird unter Pflanzenmaterial versteckt. Eher selten kommen auch Nester im Bereich von Geröll und Steinen vor. Ein einzelnes Nest hat einen Durchmesser von etwa 15 Zentimetern und eine Höhe von etwa 11 Zentimetern. Als Nestmaterial wird trockene Vegetation wie Gras, Blätter und Zweige verwendet, die durch Haare der Mutter ausgepolstert wird. Innerhalb ihrer Gruppen wurden Hierarchien mit einem dominanten Weibchen beobachtet, in der Regel sind ein männliches Tier und maximal ein oder zwei Weibchen sexuell aktiv. Untereinander verständigen sie sich mit variablen und hohen Pfeiftönen, die an die der Pfeifhasen erinnern und bei anderen Hasen und Kaninchen nicht ausgeprägt sind, sowie durch Trommeln mit den Hinterpfoten. Nach einzelnen Beobachtungen erhöht sich die Ruffrequenz nach einem Regen. Innerhalb in Gefangenschaft gehaltener Gruppen wurden Aggressionen beobachtet, die in der Regel von dominanten Weibchen ausgehen und sich meist gegen andere Weibchen und seltener gegen Männchen richten. Fortpflanzung und Entwicklung Eine feste Paarungs- und Fortpflanzungssaison gibt es für die Vulkankaninchen nicht, sie können das ganze Jahr über Nachwuchs zur Welt bringen. Die Männchen sind das gesamte Jahr fortpflanzungsfähig, ihre Hoden liegen entsprechend über das gesamte Jahr im Hodensack. Der Höhepunkt der Geburten liegt im warmen und regenreichen Sommer, es wurden jedoch trächtige Weibchen von Januar bis Oktober und laktierende Weibchen von Februar bis Dezember identifiziert. In der Gefangenschaft verpaaren sich die Männchen in der Regel immer mit dem gleichen Weibchen und erst, wenn dieses nicht mehr vorhanden ist, mit einem anderen Weibchen. Die Begattung kann während des gesamten Tages stattfinden. Zur Paarung nähert sich das Männchen in der Regel von hinten an das Weibchen an und bleibt dort stehen, häufig beschnüffelt es danach die Hinterbeine und das Hinterteil des Weibchens. Danach dreht sich das Weibchen zu dem Männchen um und flankiert es und es folgen mehrere rasche Umrundungen, bevor das Männchen das Weibchen besteigt und dieses mit ein paar Beckenstößen begattet. Die Nester für die Jungtiere finden sich vor allem zwischen April und September. Die Tragzeit beträgt rund 38 bis 41 Tage und ist damit etwas länger als die der meisten Baumwollschwanzkaninchen und Pfeifhasen, jedoch kürzer als bei Echten Hasen. Die Wurfgröße liegt bei einem bis (selten) fünf, durchschnittlich zwei, Jungtieren. Sie entspricht der von Hasenarten der Gattung Lepus, unterscheidet sich jedoch deutlich von den großen Würfen der Baumwollschwanzkaninchen (Sylvilagus) und der Wildkaninchen (Oryctolagus). Die Geburt findet fast immer nachts statt. Die Jungtiere werden vollständig behaart und mit geschlossenen Augen geboren, die sie nach vier bis acht Tagen öffnen. Sie haben eine Körperlänge von etwa 8 bis 10 Zentimeter mit einem Schwanz von 8 bis 10 Millimetern Länge und einem Gewicht von etwa 25 Gramm. Ihre Rückenfärbung ist mattgrau, die Färbung des Kopfes und der Körperseiten ist gelblich mit einzelnen weißen Bereichen an den Flanken. Der Schwanz ist noch sichtbar und nicht wie bei den ausgewachsenen Tieren von einem Hautlappen bedeckt. Die Füße besitzen kräftige, dunkelbraune Krallen. Die Jungtiere verbringen die ersten beiden Lebenswochen im Bau und werden von der Mutter gestillt. Dabei gibt die Mutter zumeist nur über vier der insgesamt sechs Zitzen Milch. Nach etwa drei Wochen beginnen die Jungtiere mit der Aufnahme fester Nahrung und mit einem Monat sind sie selbstständig, können aber noch eine Zeitlang Milch der Mutter bekommen. Sie verlassen den Bau mit einem Gewicht von etwa 100 Gramm. Die Muttertiere können direkt nach dem letzten Wurf und noch während der Jungenaufzucht wieder trächtig werden. Da mehrere noch stillende Weibchen identifiziert wurden, die zugleich trächtig waren, geht man von einem nachgeburtlichen Eisprung der Weibchen aus, nach dem sie wieder fruchtbar sind. Interaktionen mit anderen Arten Innerhalb des Verbreitungsgebietes tritt das Vulkankaninchen sympatrisch mit zwei Arten der Baumwollschwanzkaninchen auf, dem Mexikanischen Baumwollschwanzkaninchen (Sylvilagus cunicularius) und dem Florida-Waldkaninchen (S. floridanus). Dabei kommen die beiden Gattungen in etwa 8 % der Fläche gemeinsam vor, das Vulkankaninchen lebt allerdings vorwiegend in den höheren Lagen. Ebenso wie die Baumwollschwanzkaninchen stellt das Vulkankaninchen eine wichtige Beute der in der Region lebenden Kojoten (Canis latrans cagottis) und Rotluchse (Lynx rufus escuinapae) dar. Der Anteil an Vulkankaninchen an den Beutetieren beider Arten liegt jedoch niedriger als der der Baumwollschwanzkaninchen, auch unter Berücksichtigung des selteneren Vorkommens werden sie seltener erbeutet. Dies wird vor allem auf ihre geringe Größe und die Aktivität während der Dämmerung statt in der Nacht zurückgeführt. Weitere Beutegreifer, die Vulkankaninchen erbeuten, sind das Langschwanzwiesel (Mustela frenata perotae), die Mexikanische Plateau-Klapperschlange (Crotalus triseriatus) und der Rotschwanzbussard (Buteo jamaicensis costaricensis). Als Endoparasit wurden der Fadenwurm Paraheligmonella romerolagi aus dem Dünndarm wildlebender und in Gefangenschaft gehaltener Vulkankaninchen sowie Teporingonema cerropeladoensis und Dermatoxys romerolagi als artspezifische Parasiten aus dem Vulkankaninchen isoliert und beschrieben. Daneben wurden mit Trichostrongylus calcaratus, Trichostrongylus tatertaeformis, Trichuris leporis und Dermatoxys veligera weitere Nematoden als Endoparasiten identifiziert, die die Tiere in der Wildnis und im Zoo befallen können. Unter den Bandwürmern konnten Cittotania ctenoides und Multiceps serialis im Darmtrakt der Art nachgewiesen werden, zudem wurde die neue Art Anoplocephaloides romerolagi aus dem Gallengang der Art isoliert und beschrieben. Auch Kokzidien wie Eimeria perforans, Eimeria coecicola und Eimeria stiedae, die eine Kokzidiose der Kaninchen auslösen, wurden in inneren Organen und in Kotpillen der Tiere gefunden. Unter den Ektoparasiten sind wie bei anderen Kleinsäugern vor allem Flöhe und Zecken relevant. Floh- und Zeckenbefall kommt bei den Tieren das gesamte Jahr vor und ist besonders stark in den warmen und feuchten Sommern, wobei die Zecken sich vor allem im Bereich der Ohren und am Gesicht befinden. Unter den Flöhen wurde Cediopsylla inequalis, Strepsylla mina und andere Strepsylla-Arten nachgewiesen sowie Cediopsylla tepolita und Hoplopsyllus pectinatus neu beschrieben. Die artspezifische Zecke Cheyletiella mexicanus wurde 1979 neu beschrieben, zudem wurden Cheyletiella parasitivorax und Ixodes spinipalpis auf der Art identifiziert. Weitere Ektoparasiten an Vulkankaninchen sind nicht näher benannte Laufmilben (Trombiculidae) und Dasselfliegen (Cuterebridae), deren Larven unter der Haut leben. Systematik Taxonomie und Taxonomiegeschichte Das Vulkankaninchen wird als eigenständige und einzige Art der damit monotypischen Gattung Romerolagus den Hasen (Leporidae) zugeordnet. Die wissenschaftliche Erstbeschreibung der Art erfolgte 1891 durch Fernando Ferrari-Pérez als Lepus diazi aus dem Umland von San Martin Texmelucan vom nordöstlichen Hang des Vulkans Iztaccíhuatl in Puebla, Mexico. Die Art wurde im Rahmen eines Katalogs zur Erfassung der Geographie der Region durch die Comision Geografico Exploradora unter Leitung des Ingenieurs Augustín Diáz unter der Bezeichnung „Conejo del volcán“ als neu beschriebene Art aufgeführt und abgebildet, jedoch nicht detaillierter beschrieben. 1896 beschrieb Clinton Hart Merriam die Gattung Romerolagus und darin die Art Romerolagus nelsoni vom Popocatépetl als nomenklatorischer Typus. Gesammelt wurden die Typen von Edward William Nelson, nach dem er die Art benannte, und Edward Alphonso Goldman. Romerolagus nelsoni wurde im Jahr 1911 durch Gerrit Smith Miller mit Lepus diazi synonymisiert und mit dem heute gültigen Artnamen Romerolagus diazi benannt. Gerrit Smith Miller ordnete die Erstbeschreibung allerdings Diáz zu und argumentierte, dass dieser die Publikation mit der Erstbeschreibung veröffentlicht hat. Gemeinsam mit Ferrari-Pérez untersuchte er weitere Individuen der Art und verglich diese mit den Typen von Merriam, um eine sichere Synonymisierung vornehmen zu können. Erst 1955 wurde von P. Rojas vorgeschlagen, entsprechend den Regeln der Internationalen Regeln für die Zoologische Nomenklatur (ICZN) „(Ferrari-Pérez in Diáz)“ als Erstbeschreiber für Romerolagus diazi anzugeben. Phylogenetische Einordnung Fossilbefunde für das Vulkankaninchen und potenzielle Vorfahren liegen nicht vor. Bei Untersuchungen im Verbreitungsgebiet konnten nur die Überreste von Sylvilagus floridiana und Sylvilagus cunicularius identifiziert werden. Auf der Basis von molekularbiologischen Daten wurde von Conrad A. Matthee et al. 2004 und später von Robinson & Mathee 2005 ein Kladogramm entwickelt, das die phylogenetischen Verwandtschaften der Gattungen innerhalb der Hasen zueinander darstellt. Demnach wird das Vulkankaninchen innerhalb der Hasen einem Taxon bestehend aus den Echten Hasen (Gattung Lepus), den Baumwollschwanzkaninchen (Gattung Sylvilagus), dem Zwergkaninchen, dem Wildkaninchen (Oryctolagus cuniculus), dem Borstenkaninchen (Caprolagus hispidus), dem Buschmannhasen (Bunolagus monticularis) und dem Ryukyu-Kaninchen (Pentalagus furnessi) als basale Art gegenübergestellt. Das Buschkaninchen (Poelagus marjorita), die Rotkaninchen (Pronolagus) und die Streifenkaninchen (Nesolagus) bilden die Schwestergruppe zu den übrigen Hasen. Der Kariotyp ist ursprünglich, über einen Vergleich verschiedener Allozyme wurde eine nähere Verwandtschaft der Art zu der Gattung Sylvilagus als zur Gattung Lepus bestätigt. Das Vulkankaninchen ist monotypisch, innerhalb der Art werden also neben der Nominatform keine Unterarten unterschieden. Etymologie Fernando Ferrari-Pérez benannte das Vulkankaninchen nach Augustín Diáz, dem Leiter der geographischen Expedition in Mexiko. Die später von Clinton Hart Merriam erfolgte Gattungsbenennung Romerolagus leitet sich ab vom Namen des mexikanischen Politikers Martín Romero, der Nelson und Goldman bei ihren Arbeiten in Mexiko unterstützte, sowie von der griechischen Benennung des Hasen, „lagos“. Obwohl international in der Regel der englische Name „volcano rabbit“ bzw. im deutschsprachigen Raum „Vulkankaninchen“ gebräuchlich ist, wird die Art im Verbreitungsgebiet in der Regel Zacatuche oder seltener als Teporingo bezeichnet. Der lokale Name Zacatuche stammt aus der Sprache der Azteken und bedeutet „Grashase“, abgeleitet von „zacatl“ für „Gras“ und „tochtli“ für „Hase“. Über die Bedeutung der ebenfalls gebräuchlichen Benennung Teporingo gibt es keine Angaben. Bedrohung und Schutz Die Art wird von der International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN) aufgrund des sehr kleinen Verbreitungsgebietes und der starken Bestandsrückgänge als bedroht (endangered) eingestuft. Die Hauptbedrohung für die Art ging und geht von der Umwandlung ihres Lebensraums in Felder und Weiden und die damit einhergehende Fragmentierung und Lebensraumverschlechterung durch die Beweidung und die landwirtschaftliche Nutzung der Gebiete aus. Hinzu kommen die Entfernung der Zacatón-Gräser sowie die Brandrodung der Zacatón-Gräser zur Vorbereitung neuer Nutzflächen oder zur Verbesserung der Weidebedingungen für Rinder und Schafe sowie die Entnahme der Gräser für die häusliche Nutzung. Auch die Nähe zu Mexiko-Stadt und die Ausbreitung der Vorstädte in die Verbreitungsgebiete der Art führen zu Lebensraumverlusten und Bestandsrückgängen. Eine weitere Fragmentierung wird durch den Bau von Straßen und Highways verursacht. Nach Schätzungen gingen die verfügbaren Habitate entsprechend um 15 bis 20 % über die letzten drei Generationen der Kaninchen zurück. Bestandsschätzungen nehmen eine Gesamtpopulation von etwa 2.500 bis 12.000 Tieren an. Ihr Verbreitungsgebiet ist heute in wenige, nach konkreteren Angaben 16, kleine Flecken zerstückelt, in denen die Tiere genetisch voneinander isoliert sind. Diese fragmentierte Verbreitung erhöht das Risiko der lokalen Ausrottung einzelner Populationen und damit verbunden den weiteren Rückgang der Bestände. Bei einer Landschaftsmodellierung im Jahr 2018 wurde eine Gesamtfläche von 75,44 km2 identifiziert, die potenziell als Lebensraum für die Art verfügbar ist, aufgeteilt in 957 Einzelflächen von in der Regel etwa 2500 m2 Größe. Dabei wurde vor allem die Region am Pelado und am Tlaloc als Rückzugsgebiet für die Tiere bestimmt, die bereits jetzt als Kernlebensraum für die Art gilt. Obwohl die Art in Mexiko geschützt und die Bejagung verboten ist, wird sie von der einheimischen Bevölkerung manchmal immer noch als Fleischquelle bejagt, Jungtiere werden zudem häufig von Hunden getötet. Das Vulkankaninchen gehörte zu den ersten Arten der Hasenartigen, die in den Fokus des Artenschutzes gerückt sind. Gemeinsam mit dem Borstenkaninchen (Caprolagus hispidus), dem Sumatra-Kaninchen (Nesolagus netscheri) und dem Ryukyu-Kaninchen (Pentalagus furnessi) war es bereits 1972 und 1978 in den IUCN Reda Data Books vertreten und als gefährdete Tierart gelistet. Es ist auf dem Appendix I des Washingtoner Artenschutzübereinkommen (CITES) von 1973 gelistet und somit streng geschützt. Der Import in die und der Handel in den Vereinigten Staaten ist ebenfalls verboten. Es kommt im Parque Nacional Izta-Popo-Zoquiapan vor, ist jedoch auch hier nicht ausreichend vor Brandrodungen und Bejagung geschützt und die heimische Bevölkerung ist über den besonderen Schutz der Tiere nur wenig aufgeklärt. Zum Schutz der Bestände wurden Nachzuchtprogramme in Gefangenschaft gestartet, vor allem im Chapultepec-Zoo (Zoológico de Chapultepec) in Mexiko-Stadt, dem Durrell Wildlife Conservation Trust sowie in Kawasaki in Japan und im Zoo Antwerpen in Belgien. Die Programme waren und sind teilweise erfolgreich, allerdings ist die Mortalität der Jungtiere in Gefangenschaft sehr hoch. Belege Literatur S. C. Shai-Braun, K. Hackländer: Volcano Rabbit. In: Don E. Wilson, T. E. Lacher, Jr., Russell A. Mittermeier (Hrsg.): Handbook of the Mammals of the World: Lagomorphs and Rodents 1. (HMW, Band 6) Lynx Edicions, Barcelona 2016, S. 111–112, ISBN 978-84-941892-3-4. John E. Fa, Diana J. Bell: The Volcano Rabbit Romerolagus diazi. In: Joseph A. Chapman, John E. C. Flux (Hrsg.): Rabbits, Hares and Pikas. Status Survey and Conservation Action Plan. (PDF; 11,3 MB) International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN), Gland 1990; S. 105–106. ISBN 2-8317-0019-1. Francisco J. Romero, Fernando A. Cervantes: Zacatuche, Teporingo, Volcano rabbit. In: Gerardo Ceballos: Mammals of Mexico. JHU Press, 2014; S. 121–125. (Google Books) Weblinks Hasenartige Endemisches Säugetier Mexikos
767965
https://de.wikipedia.org/wiki/Museum%20Kunstpalast
Museum Kunstpalast
Die Stiftung Museum Kunstpalast wurde 1998 von der Stadt Düsseldorf und der E.ON AG (bis 2017 Stiftungspartner) gegründet. Von 2000 bis 2011 in der Schreibweise museum kunst palast, seit Ende 2018 als KUNSTPALAST benannt, führte die Stiftung das Kunstmuseum inklusive Glasmuseum Hentrich, den Kunstpalast und den Robert-Schumann-Saal in ihrer Trägerschaft zusammen. Seit 2020 gehört auch das NRW-Forum zum Kunstpalast. Das unter dem Namen Kunstmuseum Düsseldorf im Ehrenhof von der Stadt allein betriebene kommunale Institut wurde mit der Stiftungsgründung in die Trägerschaft einer „Public-Private-Partnership“ (PPP) überführt. Stiftungspartner der Stadt waren die Unternehmen E.ON AG (ehemals VEBA) sowie bis Ende 2013 die Metro Group und bis 2010 die Evonik Industries AG (ehemals Degussa). Das Kunstmuseum in Düsseldorf wurde 1913 gegründet. Es gehört zu dem nach Entwürfen von Wilhelm Kreis von 1925 bis 1926 im Stil des Backstein-Expressionismus erbauten Gebäude-Ensemble im Ehrenhof. Der seit 1902 existierende und für Ausstellungen genutzte Kunstpalast wurde integriert. Von 1999 bis 2000 erfolgte unter Erhalt der denkmalgeschützten Fassade eine Sanierung des Kunstpalastes nach Plänen von Oswald Mathias Ungers. Seit 2020 sind Sieber Architekten mit einem Teilumbau des Kunstpalasts bei laufenden Ausstellungen betraut. Eine umfassende Neupräsentation der Sammlung ist für Frühling 2023 geplant. Die Sammlung des Museums umfasst fast alle künstlerische Gattungen mit über 100.000 Objekten. Neben Gemälden und Skulpturen vom Mittelalter bis zur Gegenwart sind Spezialsammlungen zu Kunstgewerbe und Design, Grafik, Fotografie sowie eine bedeutende Glassammlung zu sehen. (Bis Spätsommer 2022 geschlossen.) In den Kunstpalast integriert ist der Robert-Schumann-Saal, der ein eigenständiges Veranstaltungsprogramm anbietet. Der Konzertsaal bietet 796 Sitzplätze. Dem Gründungsdirektor der Stiftung, Jürgen Harten, folgte mit der Neueröffnung im Jahre 2001 der als Generaldirektor des Museums berufene französische Kunsthistoriker und Ausstellungsmacher Jean-Hubert Martin. Ihm folgte im Jahre 2007 bis zu seinem Ruhestand der Schweizer Beat Wismer. Sein Nachfolger als Generaldirektor und Künstlerischer Leiter der Stiftung Museum Kunstpalast ist seit Oktober 2017 Felix Krämer. Seit Anfang 2020 ist das benachbarte NRW-Forum mit dem Kunstpalast fusioniert und untersteht Generaldirektor Felix Krämer. Beide Häuser zusammen beschäftigten im Jahr 2020 85 Mitarbeiter. Geschichte Vorgeschichte Der Kurfürst und Mäzen Johann Wilhelm (Jan Wellem) von Pfalz-Neuburg hatte nach seiner Hochzeit mit der Prinzessin Anna Maria Luisa de’ Medici in Gestalt der Gemäldegalerie Düsseldorf ab 1709 eine der ersten öffentlichen Kunstgalerien angelegt. Die Sammlung, die durch den Kunstschatz seiner Gattin und durch Erwerbungen seines Kunstagenten und Hofmalers Jan Frans van Douven beträchtlich erweitert wurde, gründete auf der Kunstsammlung seines Großvaters Wolfgang Wilhelm von Pfalz-Neuburg und ging nach seinem und dem Tod seines Bruders Karl III. Philipp an andere Linien des Hauses Wittelsbach über. Die Düsseldorfer Sammlung des Kurfürsten wanderte 1805, im Zusammenhang mit der Bündnispolitik des kurpfalz-bayerischen und bergischen Landesherrn Maximilian IV. und dem Dritten Koalitionskrieg, großenteils nach München und bildete dort den Grundstock für die Alte Pinakothek; nur wenige Gemälde blieben zurück. Unter ihnen waren zwei schwer transportierbare Rubens-Gemälde, die im heutigen Museum den Glanz der Rubens-Galerie bilden. Gründung Die Geschichte des Museums begann im Jahr 1846 mit der Gründung des Vereins zur Errichtung einer Gemäldegalerie zu Düsseldorf, der vor allem Werke der Düsseldorfer Malerschule ankaufte. Lange Zeit wurde aber kein eigenes Museum gegründet. Der Beschluss, ein eigenes Museumsgebäude für die Präsentation der Städtischen Kunstsammlung zu errichten, fiel am 1. Juli 1913 und damit später als in den anderen rheinischen Großstädten. Als Gründungsdirektor wurde der Berliner Karl Koetschau angestellt; wegen des Beginns des Ersten Weltkrieges konnten Pläne für den Neubau jedoch nicht umgesetzt werden. Koetschau wollte die Sammlung von alter Kunst durch Zukäufe ergänzen und plante eine Modernen-Galerie, um so eine einem Museum angemessene Sammlung aufzubauen. Dabei stieß er aber auf Widerstände. So konnte er aufgrund der nationalistischen Stimmung keine französischen Werke erwerben, mit denen er die internationale Kunstentwicklung in der Sammlung hätte aufnehmen können. Damit blieb als Grundstock nur der bereits vorhandene Bestand an Werken der Düsseldorfer Malerschule, der den Großteil der Kunstsammlung der Stadt Düsseldorf ausmachte. Zusammen mit dem Kurator Walter Cohen erwarb Koetschau moderne deutsche Werke, beispielsweise der Gruppe Junges Rheinland. Daneben blieb in den Anfangsjahren des Museums das Problem des Fehlens eigener Räume; es konnte seine Sammlung nur in wenigen Räumen der Kunsthalle Düsseldorf präsentieren. Eigenes Museumsgebäude Ein eigenes Gebäude erhielt das Museum nach der GeSoLei, der Großausstellung für Gesundheitspflege, soziale Fürsorge und Leibesübungen, die 1926 in Düsseldorf stattfand. Die Planungen der von der Stadt Düsseldorf beauftragten Bürohausgesellschaft sahen vor, dass nach Ende der Ausstellung der nordwestliche Flügel der von Wilhelm Kreis erbauten Ehrenhof-Anlage als Museumsgebäude dienen sollte. Die Räumlichkeiten wurden deshalb anschließend, soweit möglich, entsprechend angepasst. Vom vormaligen Ausstellungspalast, welcher südlich des heutigen Rheinparks Golzheim im Bereich des heutigen Ehrenhofs und des Hofgartens für die Industrie- und Gewerbeausstellung Düsseldorf erbaut und am 8. Mai 1902 eingeweiht wurde, wurden die letzte noch erhaltene Bausubstanz von 1902 völlig abgerissen. Im Jahr 1928 eröffnete dann das Kunstmuseum der Stadt Düsseldorf. In der Folge wurde die Sammlung des Museums durch Ergänzungen geprägt, die zu einer besonderen Vielfalt von Exponaten führten. So löste der Central-Gewerbe-Verein für Rheinland, Westfalen und benachbarte Bezirke das 1883 von ihm gegründete Düsseldorfer Gewerbemuseum auf, das im Historismus begründete Konzept, nach dem Werke aus der Vergangenheit dem heutigen Gewerbe als Vorbild dienen sollten, galt inzwischen als überholt. Die Bestände wurden in das neue Kunstgewerbemuseum Düsseldorf eingegliedert. 1928 kam die keramische Spezialsammlung des Hetjens-Museum hinzu, die bis 1967 Bestandteil des Museums blieb. Dadurch veränderte sich das Konzept des Museums, das vorher eine Gemäldegalerie mit angegliedertem Kupferstichkabinett war. Diese Entwicklung wurde durch die Einkaufspolitik von Karl Koetschau weiter verstärkt. 1932 wurde dem Museum die Sammlung der Kunstakademie Düsseldorf mit einem langfristigen Leihvertrag übergeben. Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges 1933 verließ Karl Koetschau das Kunstmuseum der Stadt Düsseldorf und ging nach Berlin, wo er Leiter der Gemäldegalerie des Kaiser-Friedrich-Museums wurde. Neuer Museumsdirektor wurde am 1. März 1934 der Nationalsozialist Hans Wilhelm Hupp. Dieser arbeitete zwar an der zentralisierenden Umgestaltung der Düsseldorfer Museenlandschaft mit, vertrat aber unabhängige künstlerische Ansichten. Er förderte die Galerie der Neuzeit, die in der alten Kunsthalle realisiert wurde. Sie war jedoch umstritten und musste in den folgenden Jahren mehrmals kurz nach der Eröffnung wieder geschlossen werden, weil die dort ausgestellten Kunstwerke innerhalb der NSDAP auf Kritik stießen. Mit Verkäufen aus dem Museumsbestand versuchte Hupp Eingriffe der Reichskulturkammer in das Museum zu verhindern, trotzdem wurden 1937 mehr als 1000 Werke als „Entartete Kunst“ konfisziert, von denen einige in der von München ausgehenden Wanderausstellung „Entartete Kunst“ präsentiert wurden. 1938 machte die Propagandaschau „Entartete Kunst“ auch Station im Kunstmuseum in Düsseldorf. In den 1930er Jahren wurden große Geldmittel für den Ankauf älterer Kunstwerke ausgegeben, besonders im Bereich mittelalterliche Skulpturen. Die Erben der früheren Eigentümer zweier Werke, die 1935 erworben wurden, verlangen hierfür eine Restitution oder Entschädigung. Es handelt sich um das Stillleben Fruchtkorb an einer Eiche (um 1670) von Abraham Mignon und das Werk Pariser Wochentag (1869) von Adolph Menzel. Die Erben und die Stadt Düsseldorf haben die Limbach-Kommission um eine Empfehlung zu den streitigen Fragen gebeten. Mit Blick auf das Werk von Menzel gab die Limbach-Kommission im Februar 2015 eine ablehnende Empfehlung ab. Den Zweiten Weltkrieg überstand die Sammlung aufgrund frühzeitiger Auslagerungen ohne Schäden. Hupp erwarb bis zu seinem Tod Ende 1943 für große Geldsummen Kunstwerke in den besetzten Niederlanden und Frankreich, die nach Kriegsende nach einem Beschluss der alliierten Verwaltung an die Herkunftsländer zurückgegeben wurden. Knapp 50 der in den Niederlanden erworbenen Werke sind heute im Bestand der Nederlands Kunstbezit-collectie (NK). Zu den Verkäufern zählten u. a. die nichtjüdischen Kunsthandlungen Schretlen, Hoogendijk, Douwes und de Boer sowie die jüdischen Kunsthandlungen Goudstikker und Kurt Walter Bachstitz. Die Nachfolge Hupps trat der Maler Fred Kocks an. Er war aktives Mitglied der NSDAP und künstlerischer Berater und Textschreiber des NS-Gauleiters Friedrich Karl Florian. Kocks war bereits unter Hupp Ausstellungsleiter gewesen. Nachkriegszeit Nach Kriegsende wurde der belastete Kocks als Direktor von der britischen Militärregierung entlassen und durch den politisch unbelasteten Kunsthistoriker Werner Doede ersetzt, der die Rückführung der Sammlung und erste Ausstellungen organisierte. So zeigte er im unbeschädigten Hetjens-Museum 1946 in der Ausstellung Lebendiges Erbe Werke, die unter der nationalsozialistischen Herrschaft als entartet galten. Die Ausstellungsaktivitäten erstreckten sich wieder mehr auf das eigentliche Museumsgebäude, das leicht beschädigt war und teilweise von der Telegraphenverwaltung genutzt wurde. Am 19. Juli 1949 wurde das renovierte und in Teilen neu gegliederte Museum endgültig wiedereröffnet. Bereits im Februar 1953 wurde von der Düsseldorfer Stadtverwaltung wieder der diskreditierte ehemalige Nationalsozialist Kocks als Kustos der Kunstsammlungen eingesetzt, was zu Auseinandersetzungen mit Doede führte. Fred Kocks hatte diese Position – mehrere Direktoren überdauernd – durchgehend bis 1964 besetzt. Werner Doede, der begonnen hatte die von den Nationalsozialisten mit der Verfolgung von Entarteter Kunst in die Sammlung geschlagene Lücke wieder zu füllen, kündigte Ende 1953 wegen dauernder Konflikte mit der Düsseldorfer Kulturverwaltung. Meta Patas, die 1954 die kommissarische Leitung des Museums innehatte, wie auch ihr Nachfolger Gert Adriani, der 1958 ebenfalls unter Protest kündigte und dem wieder Patas nachfolgte, führten die von Doede begonnene Ankaufpolitik fort. Die Kündigungen lagen unter anderem darin begründet, dass das Museum von der Expansion des angrenzenden Messegeländes bedroht wurde und zeitweise Teile des Museums für Messen geräumt werden mussten. Über einen Museumsneubau wurde zwar diskutiert, jedoch kam es zu keinen genaueren Planungen. Im Jahr 1958 wurde das Museum für zwei Jahre geschlossen, die ausgestellten Werke im Magazin eingelagert und die Räumlichkeiten durch die Messegesellschaft NOWEA genutzt. Wiedereröffnung 1964 übernahm mit Wend von Kalnein ein neuer hauptamtlicher Direktor die Leitung des Museums. Er versuchte, das Museum mit intensiver Öffentlichkeitsarbeit, wissenschaftlicher Arbeit und einem weiteren Sammlungsausbau neu zu positionieren. Die Ausstellungsräume wurden renoviert. 1968 wurde die Düsseldorfer Messe an einen anderen Ort verlegt, so dass der Standort des Museums am Ehrenhof gesichert war. Wend von Kalnein legte einen besonderen Schwerpunkt auf die Kunstvermittlung. So wurde 1970 die Pädagogische Abteilung gegründet, die mit Düsseldorfer Schulen kooperierte. Zudem wurden ab 1977 spezielle kindgerechte Ausstellungen veranstaltet. In den 1970er Jahren richtete das Museum erste groß angelegte, katalogbegleitete Sonderausstellungen aus. Zum Teil wurden diese international wahrgenommen, wie eine Ausstellung von Werken der Russischen Avantgarde aus der Sammlung von George Costakis, was die Position des Museums weiter stärkte. Dies führte in den 1970er Jahren zu Ausstellungen des Museums in Irland und Finnland sowie in den 1980er Jahren in den Vereinigten Staaten und Japan. Nachdem Kalnein 1979 in den Ruhestand eingetreten war, übernahm Hans Albert Peters den Posten des Museumsdirektors. Ab 1979 musste die Museumsarbeit auf verschiedene andere Gebäude, darunter die Kreuzherrenkirche, aufgeteilt werden, da im Ehrenhof schwere Baumängel festgestellt worden waren, die die Räumung und Schließung des eigentlichen Museumsgebäudes im Juli des Jahres zur Folge hatten. Die Planungs- und Bauphase mit der Entkernung und Kompletterneuerung des Gebäudes dauerte sechs Jahre, bis es 1985 wiedereröffnet werden konnte. Die Sanierung löste aber nicht die räumlichen Probleme des Museums, so dass 1988 ein Wettbewerb für eine Mitnutzung des gegenüberliegenden Kunstpalastes ausgeschrieben wurde. Das Ergebnis hätte zwar die Anforderungen des Museums erfüllt, konnte jedoch aufgrund einer verschlechterten Wirtschaftslage nicht umgesetzt werden. Infolge eines Brandes 1993 im Museum kam es zu einer Kontaminierung des Gebäudes. Die Sanierungsmaßnahmen dauerten bis in den Dezember 1994, das Museum wurde 1995 wiedereröffnet. Während über die Zusammenlegung des Kunstmuseums mit der Kunsthalle nachgedacht wurde und neue Pläne bezüglich des Kunstpalastes bestanden, ging Hans Albert Peters 1995 aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig in den Ruhestand. Helmut Ricke wurde sein Nachfolger als Direktor. Neuere Geschichte Für die geplante institutionelle Zusammenführung von Kunstmuseum und der am Grabbeplatz gelegenen Kunsthalle wurde 1998 die Stiftung museum kunst palast gegründet, deren Gründungsdirektor Jürgen Harten war. Es dauerte sechs Jahre, bis die Neuordnung der Museen, die seit 1995 diskutiert worden war, umgesetzt wurde. Die Leitung des Museums hatte von 1999 bis 2006 Jean-Hubert Martin, der frühere Direktor des Musée National d’Art Moderne und des Musée national des arts d’Afrique et d’Océanie. Am 1. September 2001 wurde das museum kunst palast eröffnet, nachdem die Sanierung des Kunstpalastes hinter der denkmalgeschützten Fassade abgeschlossen worden war. Nach sechsjähriger Amtszeit trat Martin zurück und erhob öffentlich Vorwürfe wegen Einmischung in die Programmgestaltung gegen einen der privaten Partner des Museums. Von März 2007 bis September 2017 leitete der Schweizer Beat Wismer, früherer Direktor des Aargauer Kunsthauses, als Generaldirektor das Museum. Kaufmännischer Direktor der Stiftung Museum Kunstpalast war von Juli 2008 bis Juni 2013 Carl Grouwet. Seit 2001 war das Museum Kunstpalast keine rein städtische Einrichtung mehr, sondern wird von einer Stiftung betrieben, die von der Stadt Düsseldorf anfangs gemeinsam mit E.ON (bis Ende 2017), Metro (bis Ende 2013) und Evonik (bis 2010) als privatwirtschaftlichen Geldgebern finanziert wurde. Diese Stiftung war die erste große Public-private-partnership im Museumsbereich in Deutschland. Mit dem Energiekonzern E.ON wurde Ende 2008 der Vertrag zur Sicherung der Betriebskosten um weitere fünf Jahre verlängert. Seit 2006 sponserte der Partner E.ON nicht mehr allgemein die Ausstellungstätigkeit des Hauses, sondern nur noch ausgewählte Ausstellungen. Auf Veranlassung von E.ON hatten 2012 Unternehmensberater der „Boston Consulting Group“ das Museum auf Einsparmöglichkeiten überprüft, mit dem Ergebnis, dass das Museum ineffizient wirtschafte. Seit November 2012 steht der Betriebswirt Harry Schmitz als Kaufmännischer Direktor der Stiftung Museum Kunstpalast vor. Von 2011 bis 2018 hieß das Haus Museum Kunstpalast. Im Mai 2011 wurde nach mehr als zweijähriger Schließung aufgrund von Renovierungsmaßnahmen die Sammlung Museum Kunstpalast wiedereröffnet und in neuer Hängung präsentiert. Nach einem Wasserschaden mussten seit Anfang 2012 Bereiche des Sammlungsflügels wegen eines über Jahre andauernden gerichtlichen Beweissicherungsverfahrens bis dato gesperrt bleiben. Im Juni 2020 beschloss der Rat der Stadt Düsseldorf die Sanierung des Hauses für rund 39,9 Mio. Euro. Für Herbst 2022 ist eine umfassende Neupräsentation der Schausammlung inklusive Glasmuseum Hentrich auf der rund 4.500 m² umfassenden Ausstellungsfläche im Sammlungsflügel geplant. Den Umbau, wie auch die Realisierung eines Restaurants im Nordflügel, hat das Düsseldorfer Architekturbüro Sieber Architekten übernommen. Seit dem 1. Oktober 2017 ist Felix Krämer Generaldirektor und künstlerischer Leiter der Stiftung Museum Kunstpalast und zusammen mit dem Kaufmännischen Direktor Harry Schmitz Vorsitzender des Vorstandes. Felix Krämer war zuvor im Städel Museum in Frankfurt am Main von 2008 bis 2017 Sammlungsleiter im Bereich Kunst der Moderne. In der programmatischen Verschränkung von Malerei, Skulptur, Mode, Design und Fotografie hat Felix Krämer dem Kunstpalast in den letzten Jahren neue Publikumskreise erschließen können. 2019 startete der Kunstpalast als erstes deutsches Museum eine eigens für Kinder entwickelte Webseite mit einem Nashorn als Maskottchen. Der Rhinopalast unterbreitet seitdem Kindern zwischen sechs und zwölf Jahren ein breites digitales Angebot mit animierten Tierfiguren, Spielen, Videos, Bastelanleitungen und Bilder-Geschichten. 2020 wurde das benachbarte NRW-Forum als Tochter in den Kunstpalast eingegliedert. Künstlerischer Leiter des NRW-Forums ist wie bereits vor der Fusion Alain Bieber. Der Fokus des Ausstellungsprogramms liegt auf Fotografie, Pop und digitale Kultur. Die Arbeit des Museums wird durch den Verein Freunde Museum Kunstpalast e. V. unterstützt. Dies ist dem Verein satzungsgemäß unter anderem durch Pflege und Erweiterung der Sammlungsbestände oder durch Veranstaltungen sowie Fördermaßnahmen möglich. In dem Jungen Freundeskreis Kunstpalast und NRW-Forum sind die jungen Mitglieder bis 30 Jahre aktiv. Der Sammlungsflügel des Kunstpalasts wird seit Ende 2020 einer grundlegenden Sanierung mit Umbau unterzogen; die Sammlungspräsentation ist deshalb seit Juni 2020 geschlossen. Die Umbau- und Sanierungsarbeiten im Sammlungsbereich und im Belvedere werden bei laufendem Ausstellungsbetrieb fortgeführt. Die Wiedereröffnung ist für den 21. November 2023 vorgesehen. Pandemie-bedingt musste der Ausstellungsbetrieb im Kunstpalast 2020 und 2021 zeitweise geschlossen werden. Der Konzert- und Veranstaltungsbetrieb im Robert-Schumann-Saal fiel aus bzw. wurde in die Folgesaison verschoben. Im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie hat der Kunstpalast sein Angebot digitaler Formate ausgebaut: Neben Hybridveranstaltungen und nur online angebotenen Workshops, Gesprächen und Führungen wurden Videoclips und Live-Streamings aus den Ausstellungen bereitgestellt. Architektur Der Kunstpalast liegt zwischen dem Rhein und dem Hofgarten, nördlich der Düsseldorfer Altstadt. Er befindet sich auf dem 1926 von Wilhelm Kreis für die Großausstellung GeSoLei zum kulturellen Zentrum ausgebauten Areal, das von der Altstadt durch die Auffahrt zur Rheinbrücke nach Oberkassel getrennt ist. Das Gelände liegt zwar außerhalb des Stadtkerns, aber dennoch zentral. Vor dem Ausbau befand sich dort nur das 1902 parallel zum Fluss gebaute neobarocke Ausstellungsgebäude namens Kunstpalast. Kreis ließ eine neue Fassade für dieses Gebäude anbringen und integrierte es in eine hufeisenförmige Anlage, die nach den Empfangshöfen von Schlossanlagen als Ehrenhof bezeichnet wird. Das Gebäude wirkt mit den breiten Baukörpern, die auf Sockeln aus Muschelkalk ruhen, monumental. Damit spielte Wilhelm Kreis auf eine Grab- und Pyramidenarchitektur an, was er jedoch mit den um das ganze Gebäude verlaufenden Fenstern wieder zurücknahm. Diese Fensterreihe scheint von der Industriearchitektur inspiriert worden zu sein. Wie alle Dauerbauten der GeSoLei weist auch das Kunstmuseum zur Rheinseite hin eine palastartige, symmetrische Backsteinfassade mit großflächiger Ornamentik und mit Elementen aus Werkstein auf. Auf einem horizontal über die Fassade laufenden flachen Ziegelstreifen ist hier in lateinischen Lettern das Motto des Kunstmuseums angebracht: ARS AETERNA – VITA BREVIS (Die Kunst ist ewig, das Leben kurz). Das Kunstmuseum, das benachbarte Reichsmuseum für Gesellschafts- und Wirtschaftskunde (heute das NRW-Forum), die offenen mit Mosaiken geschmückten Säulenhallen sowie die imposante Kuppel des Planetariums (heute die Tonhalle) formulieren eine festliche, teilweise sakral wirkende Abfolge von Großbauten mit bewusst gewählten historischen Anklängen. Die monumentale Gestaltung und die Ausrichtung auf den Rhein entspricht den Bemühungen der Stadtplaner seit Anfang des 20. Jahrhunderts, das Rheinufer attraktiver zu gestalten, um die symbolische Bedeutung des Rheins als Sinnbild des Deutschen Reichs und um die Rolle Düsseldorfs als Großstadt zu unterstreichen. Im Innern weist das Gebäude eine für die damalige Zeit hochmoderne Funktionalität und Nüchternheit auf, die sich an den Forderungen des Museumspädagogen Alfred Lichtwark orientierte und diese sogar noch übertraf. Schlichte, hell verputzte Ausstellungsräume, ein flexibler Grundriss, hochgerückte Fensterbänder und der erstmalige Einsatz der aus dem Fabrikbau entlehnten Sheddächer belegen das innovative Architekturkonzept. Das Gebäude umschließt zunächst einen Innenhof. Entlang der Uferstraße schließen sich ihm weitere Ausstellungsgebäude an. An den Stellen, wo Querstraßen die Hauptachse des Ausstellungsgeländes kreuzen, flankieren den Komplex tempelartige offene Säulenhallen mit Mosaiken von Heinrich Nauen und Johan Thorn Prikker. Der Außenraum des Museums ist mit Skulpturen geschmückt. Auf dem Dach des Museums, über dem Triumphtor in der Hauptachse des Ehrenhof-Komplexes, befindet sich die Skulptur Aurora von Arno Breker. Vor dem Eingang des Museums stehen zwei Aktfiguren von Ernst Gottschalk. Neben Gottschalks Arbeiten befanden sich dort zwei Skulpturen von Bernhard Sopher, die von den Nationalsozialisten aufgrund der „nicht-arischen“ Abstammung Sophers eingeschmolzen wurden. Der Brunnen im Ehrenhof wurde ebenfalls zur GeSoLei von Wilhelm Kreis angelegt. Er befindet sich in der Mittelachse des hufeisenförmigen Gebäudeensemble des Museums und besteht aus einem runden Becken aus Kunststein und einem einfachen Brunnenkopf mit Wasserstrahlbündel. Der Beckenrand wurde 1957 bei einer Restaurierung erneuert. Mit der großformatigen Glasmalerei von Johan Thorn Prikker erinnert die Eingangshalle des westlich gelegenen Museumstrakts an einen sakralen Bau. Von beiden Seiten des Foyers aus erstrecken sich die Ausstellungsräume, zu denen eine zweiflügelige Treppe ins Obergeschoss führt. Die Räumlichkeiten, in denen die Sammlung präsentiert wird, sind sachlich und neutral gestaltet. Hinter der Fassade befindet sich eine moderne Stahlbetonkonstruktion, so dass das Gebäude die Bombenangriffe im Zweiten Weltkrieg relativ unbeschadet überstand. Bei der Sanierung des Museums in der ersten Hälfte der 1980er Jahre wurde der Übergang zum östlich gelegenen Gebäudetrakt verglast und der Ausstellungsbereich um ein zweites Obergeschoss erweitert. Diese Sanierung war vom Gesichtspunkt des Denkmalschutzes nicht unproblematisch. Zudem verschwand die ursprünglich großzügig angelegte Raumstruktur und es entstanden stattdessen kleine, verwinkelte Räume. In dem Sammlungsflügel des Kunstpalastes befinden sich neben den Präsentationsräumen der Schausammlung die Präsenzbibliothek und das Depot der Graphischen Sammlung, deren Bestand dem Publikum in einem Studiensaal zugänglich sind. Nach dem Beschluss von 1998, Kunstpalast und Kunstmuseum zu vereinigen, wurde das aus dem Jahr 1902 stammende und 1926 umgebaute Gebäude abgerissen. An seiner Stelle entstand hinter der denkmalgeschützten Fassade ein Neubau, der von Oswald Mathias Ungers entworfen wurde. Dieser bietet 3000 Quadratmeter Fläche für Wechselausstellungen, womit der Kunstpalast insgesamt eine Fläche von etwa 9000 Quadratmetern umfasst. Von einem Foyer, das mit einer Kuppel überspannt ist, zweigen vom Parterre bis in das 2. Obergeschoss insgesamt vier Galeriehallen ab. Dem Haus angegliedert ist mit dem Robert-Schumann-Saal ein Konzert- und Theatersaal mit rund 800 Plätzen, der ebenfalls von Ungers entworfen wurde und für verschiedene kulturelle Anlässe genutzt wird. Das Motiv neoklassizistischer Triumphbögen und Tempel findet in der Gebäudeanlage ihren Niederschlag: so verbindet die beiden Ausstellungsbauten ein „triumphbogenartiger Torbau“. Auch der Mittelrisalit „stellt ein auf einfache geometrische Formen reduziertes Triumphbogenmotiv dar“. An der südlichen Seite befindet sich ein „tempelartige Eckpavillon“. Diese neoklassizistischen Motive „tempelartiger Vorbauten“ finden sich auch im NRW-Forum sowie Motiv an der Tonhalle wieder. Monumental gestaltet ist die Rheinfassade des Gebäudes; die horizontale Schichtung mit gerippten Lagen von Ziegelsteinen über schräg gestellten („geböschten“) Sockeln aus Muschelkalk werden allein durch ein vertikal betontes Mittelrisalit unterbrochen. Unter- und oberhalb der Fenster befinden sich vor- und zurückspringende rote Klinkersteine, die typisch für die Architektur der 1920er Jahre, aber ebenso für die Bautradition der Region Niederrhein sind. Die regelmäßige Architektur des Gebäudes wird von den hohen neoklassizistischen Portalen unterbrochen. Die nördliche Durchfahrt wurde als ein kubisch abgewandelter Triumphbogen konzipiert. Im Ehrenhof wurden in den vergangenen Jahren zwei Kunstwerke auf Dauer platziert: das lebensgroße bronzene Nashorn (2002) von Johannes Brus sowie die elf Meter hohe, Malerei und Skulptur vereinende farbige Ellipse (2009) von Katharina Grosse. Sammlung Die Sammlung des Museums umfasst fast alle künstlerische Gattungen und eine Vielzahl von Epochen. Die Gemäldegalerie umfasst rund 3000 Gemälde von der Renaissance bis zum Impressionismus mit Schwerpunkten insbesondere auf niederländische und flämische Malerei des 17. Jahrhunderts, römischer und norditalienischer Gemälde des 17. bis 18. Jahrhunderts samt einer Sammlung von 350 Ölskizzen des Barock sowie Malerei des Klassizismus und des 19. Jahrhunderts, insbesondere der Düsseldorfer Malerschule von 1819 bis 1918. Im Bereich der Modernen Kunst ist die Kunst des Expressionismus und des Jungen Rheinlands, die Neue Sachlichkeit und des Konstruktivismus mit herausragenden Beispielen vertreten. Wesentliche Bereiche der Kunst nach 1945 werden durch das Informel, die Gruppe ZERO, durch Farbfeldmalerei und Op-Art markiert. Der Bestand der Abteilung Moderne reicht bis in die unmittelbare Gegenwart und verfügt über Skulpturen, Installationen, Objektkunst, Neue Medien und Künstlerräume. Der Bereich Skulptur und Angewandte Kunst umfasst insgesamt über 1300 Exponate und sammelt schwerpunktmäßig Skulptur des Mittelalters, der Gotik und des Barocks sowie Möbel und Kunsthandwerk aus dem 15. bis 20. Jahrhundert und verfügt über eine Kollektion von Objekten islamischer, japanischer und südostasiatischer Kunst sowie zeitgenössischem Design. Die Abteilung Graphische Sammlung bewahrt über 90.000 Zeichnungen, Aquarelle, Druckgrafik und Buchmalerei auf Papier und Pergament aus acht Jahrhunderten. Der seit 2019 bestehende Sammlungsbereich Fotografie des Kunstpalasts umfasst rund 3500 fotografische Abzüge, die die Vielfalt des Mediums in ganzer Breite von den Anfängen bis heute auffächern. Beispiele der Reisefotografie des 19. Jahrhunderts, Fotografie des Piktorialismus, des Neues Sehen und der Neue Sachlichkeit der 1920er und 1930er Jahre sind ebenso im Bestand wie die Subjektive Fotografie der 1950er oder die Autorenfotografie der 1970er und 1980er Jahre. Vom altägyptischen Ohrschmuck bis zur zeitgenössischen Kunst, gefertigt aus Glas, reicht der Bestand des Glasmuseums Hentrich. Die Spezialsammlung zählt nicht nur zu der größten auf dem europäischen Kontinent, sondern bietet einen fast vollständigen Überblick zur Geschichte der Glaskunst mit besonderen Schwerpunkten auf Antike, Mittelalter, Renaissance bis 19. Jahrhundert, Jugendstil, die Jahre 1920 bis 1960, Glasdesign, Studioglas und zeitgenössische Kunst. Gemäldegalerie Die Wurzeln des ersten Sammlungsbereiches der Gemäldegalerie liegen in der Kurfürstlichen Sammlung von Johann Wilhelm von der Pfalz begründet, der die kleine Sammlung, die er in Düsseldorf vorfand, mit seiner zweiten Frau, der Prinzessin Anna Maria Luisa de’ Medici, im 17. Jahrhundert erweiterte und durch großzügiges Mäzenatentum Künstler und Musiker an den Hof zog und die Stadt zu einer europäischen Kunstmetropole machte. Deren Porträtbüsten, geschaffen Anfang 1700 von Gabriel de Grupello, die ursprünglich den Eingang zur kurfürstlichen Gemäldegalerie flankierten, befinden sich heute als Dauerleihgabe der Kunstakademie in der Rubens-Galerie. Die Sammlung gelangte jedoch 1805 durch Erbfolge nach München, wo sie heute zum Bestand der Alten Pinakothek zählt. Die Gemäldegalerie besitzt heute nur noch 50 Werke der Kurfürstlichen Sammlung. Drei dieser Werke gehören als Dauerleihgaben zum Museumsbestand: Himmelfahrt Mariä und Venus und Adonis von Peter Paul Rubens sowie Samson und Delila von Joos van Winghe. Als Entschädigung für den Verlust wurden 1846 dem Verein zur Errichtung einer Gemäldegalerie zu Düsseldorf 415 Gemälde, vor allem der Düsseldorfer Malerschule, aus den Depotbeständen der Königlichen Museen Breslau zugesprochen. Werke der Renaissance zählen zu den ältesten der Sammlung (Cima da Conegliano, Giovanni Bellini, Lucas Cranach d. Ä.). Die flämische Barockmalerei ist durch rund 300 Werke von Rubens bis van Winghe prominent vertreten. Niederländische Meister des 17. Jahrhunderts sind mit wichtigen Werken präsent. Ein Konvolut hochwertiger Stillleben rundet den Bestand ab. Zu den heutigen Sammlungsbeständen Alter Malerei gehört unter anderem Das ungleiche Paar von Lucas Cranach dem Älteren, ein moralisierendes Genrebild mit einer Darstellung des Lasters. Im Gegensatz dazu stellt die Allegorie Der Kuß von Gerechtigkeit und Friede eines Antwerpener Meisters die Tugend heraus. Mit dem Gemälde Landschaft mit Tobias und dem Engel von Jan van Scorel befindet sich ein bedeutendes Werk der Landschaftsmalerei in der Sammlung des Museums. Ein weiteres wichtiges Werk ist das Gemälde Mann mit brennender Kerze, das einem Nachfolger Godfried Schalckens zugeschrieben wird; es handelt sich um ein virtuoses Beispiel der einfigurigen Bildnis- und Genremalerei und weist ein außergewöhnliches Spiel von Licht und Schatten auf. Das Bild Tod der Kleopatra von Jean-Baptiste Regnault ist ein Beispiel für die französische Malerei des 18. Jahrhunderts mit dem Napoleonischen Klassizismus. 625 Dauerleihgaben der Akademie bereichern seit 1932 den Schwerpunkt der Gemälde des 15. bis 18. Jahrhunderts und bilden einen der Höhepunkte innerhalb der Sammlung. Einzigartig in Deutschland ist die Sammlung von 350 Ölskizzen römischer Meister des Barock. Innerhalb der venzianisch-norditalienischen Malerei des 18. Jahrhunderts sind Bernardo Bellotto und Francesco Guardi hervorzuheben. Klein, aber fein ist die Gruppe klassizistischer Gemälde mit Werken Jakob Philipp Hackerts, Henri Regnaults, Joseph Anton Kochs oder Angelika Kauffmanns. Die Düsseldorfer Malerschule ist mit mehr als 1200 Gemälden, unter anderem mit Künstlern wie Andreas Achenbach und Oswald Achenbach, Eduard Bendemann, Theodor Hildebrandt, Julius Hübner, Carl Friedrich Lessing, Wilhelm von Schadow, Karl Ferdinand Sohn oder Adolph Tidemand in der Museumssammlung stark vertreten. Zu den bekanntesten Werken gehören Die alte Akademie von Andreas Achenbach, Das Wetterhorn von Johann Wilhelm Schirmer sowie Arbeiter vor dem Magistrat von Johann Peter Hasenclever. Bedeutende Arbeiten der Nazarener Peter von Cornelius, Friedrich Overbeck oder Julius Schnorr von Carolsfeld gehören ebenso zur Gemäldesammlung. Unter den Gemälden der Romantik bis zum Impressionismus geben Caspar David Friedrich mit dem Bild Das Kreuz im Gebirge sowie die Maler Carl Gustav Carus, Hans Dahl oder Ludwig Richter mit Frühlingsabend Einblicke in die Blütezeit der Dresdner Landschaftsmalerei. Neben den Werken von der Biedermeierzeit bis zum Naturalismus sind ebenso die des Symbolismus mit Anselm Feuerbach, Hans von Marées oder Arnold Böcklin gut repräsentiert. Die Münchner Malerschule mit Carl Spitzweg oder Wilhelm Trübner steht im Dialog mit der Berliner Malerei von Carl Blechen, Adolph Menzel, Max Liebermann, Lovis Corinth und Max Slevogt. Moderne Abteilung Die Moderne Abteilung umfasst Gemälde, Skulpturen, Objektkunst und Werke aus dem Bereich Neuer Medien des gesamten 20. Jahrhunderts bis hin zur zeitgenössischen Kunst. Angeschlossen ist das Archiv künstlerischer Fotografie der rheinischen Kunstszene (AFORK). Die Malerei des Expressionismus, die Kunst des Sonderbunds, des Jungen Rheinlands, der Neue Sachlichkeit sowie das Informel, die Kunst um die Gruppe ZERO, Joseph Beuys und seine Schüler sind wie auch die junge zeitgenössische Kunst mit herausragenden Beispielen vertreten. Zur Sammlung gehören Werke wie Stillende Mutter von Paula Modersohn-Becker aus dem Jahr 1902, vertreten ist die Malerei der Künstlergruppe Brücke mit Arbeiten von Ernst Ludwig Kirchner, Erich Heckel, Max Pechstein oder Emil Nolde, aber auch Der Blaue Reiter mit Werken wie Murnau (Landschaft mit Baumstamm) von Wassily Kandinsky aus dem Jahr 1909 und August Mackes Vier Mädchen von 1912. Walter Ophey, Gert Heinrich Wollheim, Otto Dix und Jankel Adler als Vertreter des Jungen Rheinlands sind mit Hauptwerken vertreten. Bedeutende Skulpturen der Klassischen Moderne von Ernst Barlach, Wilhelm Lehmbruck, Alexander Archipenko und Rudolf Belling ergänzen die Sammlung. Franz Marcs Gemälde Füchse aus dem Jahr 1913 befand sich bis 2022 in der Sammlung und wurde dann an die Erben des ehemaligen jüdischen Besitzers Kurt Grawi restituiert. Wesentliche Bereiche der Kunst nach 1945 wurden gelangten durch die großzügige Stiftung des Sammlers Willi Kemp in die Abteilung Moderne und sind durch das Informel mit Karl Karl Otto Götz, Peter Brüning, Gerhard Hoehme, Winfred Gaul und der Gruppe ZERO mit Heinz Mack, Otto Piene, Günther Uecker markiert. Zur Sammlung des Kunstpalasts gehört die ZERO-Rauminstallation Lichtraum. Hommage à Fontana, 1964. Ein umfangreicher Bestand an Werken der Farbfeldmalerei und der Op-Art ist mit wichtigen internationalen Positionen von Künstlern wie Frank Stella, Kenneth Noland, Ellsworth Kelly, Bridget Riley, Jesús Rafael Soto und Almir Mavignier belegt. Vertreter der Nouveau Réalisme wie Arman und César Baldaccini, Popkünstler wie Roy Lichtenstein und Andy Warhol sind ebenso Teil der Sammlung wie die der Düsseldorf Kunstakademie entwachsenen Künstler: Konrad Klapheck, Gerhard Richter, Ulrike Rosenbach, Reiner Ruthenbeck, Joseph Beuys, Blinky Palermo und Katharina Sieverding gehören. Eine Besonderheit in der Sammlung des Kunstpalasts sind die Exponate aus dem legendären, von verschiedenen Künstlern wie Heinz Mack, Günther Uecker, Nam June Paik ausgestatteten Düsseldorfer Club Creamcheese und dem von Daniel Spoerri gegründeten Eat-Art Restaurant. Die Arbeiten der Sammlung Moderne Kunst reichen bis in die unmittelbare Gegenwart: Werke von Laurie Anderson, Nicole Eisenman, Manuel Graf, Katharina Grosse, Hans-Peter Feldmann, Thomas Schütte und Tal R dokumentieren die Vielfalt der Sammlung, die mit besonderer Berücksichtigung der in Düsseldorf aktiven Kunstszene weiter entwickelt wird. Beispiele für Werke der jüngeren Kunst mit Düsseldorfer Bezug sind Razzia in der Kiefernstrasse von Bertram Jesdinsky aus dem Jahr 1987 sowie die Installation Portable City: Düsseldorf, 2012, von Yin Xiuzhen. Skulptur und Angewandte Kunst Die Sammlung von Skulpturen und Kunsthandwerk basiert auf der Sammlung des Kunstgewerbemuseums Düsseldorf. Beim weiteren Ausbau der Sammlung wurde ein Schwerpunkt auf die Plastik des Mittelalters gelegt. So wurden 1929 hochrangige mittelalterliche Bildwerke aus der Sammlung Hohenzollern-Sigmaringen erworben und in den 1930er Jahren weitere Werke angekauft. Aus aufgelösten Privatsammlungen stammen Skulpturen wie die Oertel-Madonna eines unbekannten Meisters oder der Heilige Christopherus des Meisters von Ottobeuren, beides bedeutende Werke der süddeutschen Spätgotik. Ebenso wurden niederrheinische und niederländische Plastiken gesammelt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden weniger Werke angekauft, jedoch gab es vermehrt Schenkungen und Leihgaben. So gelangten mit der Sammlung M. J. Binder Kleinplastiken und Skulpturen aus Spätgotik, Renaissance und Barock in die Museumssammlung. Die Sammlung umfasst bedeutende Madonnen-Darstellungen wie die Regensburger Madonna, in der die künstlerische Darstellung der menschlichen Annäherung und Zwiesprache zwischen Maria und dem Jesuskind in den Vordergrund tritt. Zudem enthält die Sammlung eine Schöne Madonna aus der Epoche der internationalen Gotik Ende des 14. Jahrhunderts vom Salzburger Hof. Neben diesen Skulpturen umfasst die Sammlung jedoch auch Werke wie den Dreikönigsaltar aus dem Jahr 1516 vom Oberrhein oder die Kupfertafel Prophet Ezechiel aus Hildesheim, die zwischen 1160 und 1180 entstand. Dieses Täfelchen ist ein Beispiel der mittelalterlichen Schmelztechnik und steht in Verbindung zu Werken, die unter anderem in St. Petersburg und im Louvre gezeigt werden. Die Gestaltung ist, wie in der Romanik üblich, streng formal und knüpft an die Buchmalerei an. Der Sammlungsbestand von Werken der Renaissance umfasst eine größere Kollektion italienischer Bronzen wie Judith mit dem Haupt des Holofernes von Alessandro Vittoria. Aus derselben Epoche stammen die zwei Nussbaumfiguren Adam und Eva aus Süddeutschland oder den südlichen Niederlanden, die mit ihrem anatomischen Aufbau den für die Hochrenaissance typischen Formenkanon bereits in Frage stellen. Die beiden Figuren stehen mit ihrer Gestik und Blickrichtung miteinander in Beziehung. Der Schwerpunkt der Barocksammlung bildet die 1932 übernommene Akademiesammlung, die unter anderem eine Gruppe von Skulpturen des Hofbildhauers Gabriel de Grupello enthält. Daneben werden vor allem Werke der süddeutschen Barockplastik gezeigt. Ein Teil der Bestände gelangte 1928 in das damalige Kunstmuseum (den heutigen Kunstpalast), darunter eine vielseitige Möbel-, Orient- und Asiatika-Sammlung sowie eine beachtliche Anzahl an Metallobjekten zur christlichen Liturgie und zur Tafelkultur. Ein besonders herausragendes Stück ist eine Kuß- und Paxtafel aus gegossenem Silber, die vom Anfang des 17. Jahrhunderts aus Antwerpen stammt. Im Gegensatz zu den sonst dargestellten Leiden Christi enthält die Düsseldorfer Tafel die Wandlungs-Worte Jesu beim Abendmahl. Zur Sammlung gehören auch Holz- und Lederarbeiten ebenso wie eine umfangreiche Vorbildersammlung von Textilien. Die Sammlung islamischen Kunsthandwerks des Kunstpalasts geht zurück auf den ersten Direktor des Kunstgewerbemuseums, Heinrich Frauberger (1845–1920), der in den 1880er und 1890er Jahren diesen Bereich systematisch durch den Erwerb von Handschriften, Miniaturen, Koraneinbänden, Textilien, Metall-, Holz- und Keramikobjekten aufbaute. Der Bestand japanischer Kunst, zu dem eine Sammlung von 88 Tsuba der Sammlung Georg Oeder (1846–1931) gehört, wurde 2004 durch eine Schenkung von Bruno Werkelmann (1920–2010) mit einer über 1000 Objekte umfassende historische Kollektion von Netsuke des 17. bis 20. Jahrhunderts erweitert. In den vergangenen Jahrzehnten wurde der Sammlungsbereich Skulptur und Angewandte Kunst um den Bereich Design ergänzt. Graphische Sammlung Die Graphische Sammlung umfasst 70.000 Zeichnungen und Druckgraphiken vom 15. bis zum 21. Jahrhundert. Sie beinhaltet Werke aus allen bedeutenden europäischen Kunstlandschaften. Mit ihrem Bestand an italienischen Barockzeichnungen zählt sie neben dem Louvre, der Albertina, Windsor Castle und der Farnesina zu den wichtigen Referenzsammlungen. Den Kern der Sammlung bildet die 14.000 Zeichnungen umfassende Sammlung der Kunstakademie Düsseldorf, die sich seit 1932 als Dauerleihgabe im Museum befindet. Diese Sammlung war von Lambert Krahe aufgebaut worden; 1778 verkaufte er sie an die Bergischen Landstände, die sie der Akademie zu Studienzwecken übereigneten. Sie bietet einen Überblick über die Zeichenkunst in Deutschland vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Darunter befinden sich mit einer Verklärung Christi eines von nur zehn bekannten Blättern mit szenischem Inhalt von Hermann tom Ring sowie Arbeiten von Christoph Schwartz und Carl Loth. Mit der Zeichnung Susanna im Bade von Albrecht Altdorfer enthält die Sammlung den einzigen bildmäßig ausgeführten Gesamtentwurf zu einem seiner Gemälde. Daneben sind Zeichnungen aus dem 16. und 17. Jahrhundert aus den Niederlanden Bestandteile der Sammlung. Unter ihnen befindet sich beispielsweise der allegorische Holzschnitt Herkules tötet Cacus von Hendrick Goltzius und die Genreszene Die Neugierigen von Leonaert Bramer, die eine Gruppe von Menschen zeigt, die durch ein Schlüsselloch späht. Zu den französischen Zeichnungen gehören mit 40 Blatt die umfassendste Gruppe von Landschaftszeichnungen Gaspard Dughets sowie eine Gruppe von Kreidezeichnungen Jean Charles Frontiers. Werke der Professoren der Kunstakademie und der Künstler der Düsseldorfer Malerschule sind ebenfalls Bestandteil der Sammlung. Der bedeutendste Teil der Sammlung der Kunstakademie besteht aus den italienischen Zeichnungen. Sie stammen unter anderem von Domenico Campagnola, Bartolomeo Passarotti, Andrea del Sarto, Federico Barocci und Luca Cambiaso sowie so bekannten Künstlern wie Michelangelo, Paolo Veronese, Perugino, Giorgio Vasari und Raffael. Werke der Sammlung sind unter anderem das Bildnis eines jungen Mannes von Lorenzo di Credi. Besondere Berühmtheit besitzen aber die Werke des Römischen Barocks, von dessen Künstlern das Museum zum Teil mehrere Hundert Zeichnungen besitzt. So werden zum Beispiel einige Studien und Skizzen für eine Figur des Heiligen Longinus und die Zeichnung Grotesker Kopf von Gian Lorenzo Bernini gezeigt, von Pietro da Cortona die Zeichnung Thronende Madonna mit Kind, Johannes dem Täufer und dem Heiligen Stefan. Von Giuseppe Passeri befinden sich 1000 Zeichnungen wie der Kompositionsentwurf für das Fresko Rückkehr Jasons aus Kolchis in der Sammlung. Ein weiterer Teil der Sammlung des Museums stammt aus dem 1926 aufgelösten Kunstgewerbemuseum. Er umfasst vor allem Porträt- und Ornamentstiche, aber auch vier Radierungen von Juste de Juste. Diese zeigen bizarre Pyramiden von Männern und haben keinen auf ihren Zweck ausgerichteten, sondern experimentellen Charakter. Die Graphische Sammlung wurde 1928 mit zahlreichen bedeutenden Blättern des 15. bis 18. Jahrhunderts aus der Sammlung von Laurenz Heinrich Hetjens ergänzt, zu denen auch Hendrick Goltzius’ Holzschnitt Clair-obscur, auf dem eine der Heraklestaten zu sehen ist, gehört. Weiterhin wurde die Sammlung um Werke von Künstlern ergänzt, die im 19. Jahrhundert in Düsseldorf studiert hatten. Trotz des Schwerpunktes der Sammlung von Zeichnungen des 19. Jahrhunderts der Düsseldorfer Malerschule wurden aber auch Zeichnungen von Caspar David Friedrich, Karl Friedrich Schinkel und Adolph Menzel erworben. Auch Zeichnungen des 20. Jahrhunderts wurden seit Bestehen des Museums gesammelt, aber durch die Verfolgung von Entarteter Kunst der Nationalsozialisten gingen mehr als 500 graphische Arbeiten verloren. 1964 erbte das Museum von einem Düsseldorfer Bürger Drucke und Aquarelle des Expressionismus, unter anderem von Ernst Ludwig Kirchner, August Macke und Wassily Kandinsky. Zudem sind Werke der Klassischen Moderne von Max Ernst, Lyonel Feininger und Paul Klee Bestandteil der Sammlung, wie auch Max Beckmanns Vorzeichnungen für das Gemälde Die Nacht. Im Jahr 1999 wurden 10 Grafiken der ungarischen Künstlerin, Ilka Gedő erworben. Mit über 560 Lithografien, Holzschnitten und Radierungen besitzt die Sammlung einen Großteil der druckgraphischen Werke Conrad Felixmüllers, ebenso befinden sich rund 2000 Werke Walter Opheys im Besitz des Museums. Neben der europäischen Kunst beinhaltet die Sammlung seit vielen Jahren einen kleinen Bestand japanischer Kunst. Dank der Schenkung von Hans Lühdorf (1910–1983) konnte die Sammlung nicht nur mit expressionistischer Druckgrafik, sondern auch mit einer mehr als 400 Blatt umfassenden japanischen Farbholzschnittsammlung des 19. Jahrhunderts, überwiegend von Künstlern der Utagawa-Schule so wie von Kunisada und Kuniyoshi, ergänzt werden. Eine weitere bedeutende Schenkung erhielt die Sammlung von Wolfgang Hanck (* 1939), die in den Techniken breit gefächert sowohl die Entwicklung der Zeichnung und Grafik in den 1980er und 1990er Jahren als auch die Reflexion zeit- und gesellschaftskritischer Themen „auf Papier“ widerspiegelt. Den Kern des von dem Sammler Willi Kemp gestifteten Konvoluts von Papierarbeiten (sowie von Gemälden) bilden wichtige Werke der ZERO-Bewegung und des Informel. Sammlung Fotografie Die Sammlung bildet die wichtigsten Tendenzen der europäischen Fotokunst des 19. und 20. Jahrhunderts ab und enthält Ikonen der Fotografiegeschichte, darunter Werke von Leopold Ahrendts, Gertrud Arndt, Bernd und Hilla Becher, Sibylle Bergemann, Robert Capa, Hugo Erfurth, Horst P. Horst, Lotte Jacobi, Rudolf Koppitz, Heinrich Kühn, André Kertész, László Moholy-Nagy und Lucia Moholy, Helmut Newton, Man Ray, Albert Renger-Patzsch, Franz Roh, August Sander, Otto Steinert und Edward Weston. Das über 3000 Werke umfassende Konvolut beinhaltet Originalabzüge („Vintage Print“), von den Fotografen selbst angefertigte, autorisierte spätere Abzüge sowie Portfolios und Alben. Sammlungsschwerpunkte sind die Fotografie des 19. Jahrhunderts, der Bereich des Neuen Sehens und der Neuen Sachlichkeit, die Bauhaus-Fotografie, die Subjektive Fotografie und die New-Topographic-Movement-Autorenfotografie. Darüber hinaus umfasst die Sammlung wesentliche Arbeiten aus der Frühzeit der Fotografie, des Piktorialismus sowie der Pressefotografie und Modefotografie. Der Schwerpunkt des Konvoluts liegt auf Arbeiten von Fotografen aus Europa und den USA, welche in dem Entstehungszeitraum der Bilder die führenden Regionen für die Entwicklung des Mediums darstellen. Glasmuseum Hentrich Die Glassammlung im Glasmuseum Hentrich ist die jüngste Sammlung dieser Art von Bedeutung in Europa und neben der des Victoria and Albert Museums die umfassendste. Den Ausgangspunkt bilden die Glasprodukte der Vorbildersammlung des ehemaligen Düsseldorfer Kunstgewerbemuseums. Zwischen 1928 und 1940 wurde diese Sammlung durch den Ankauf bedeutender Privatsammlungen allmählich zu der heutigen weltweiten Bedeutung geführt, die aber erst 1963 mit der Entscheidung Helmut Hentrichs, seine Sammlung dem Museum in Jahresschenkungen zuzuführen, erreicht war. Bis zu seinem Tod 2001 wurden mit den Schenkungen und seiner weiteren Sammeltätigkeit die Bestände der Sammlung ergänzt, die seit 1990 zu seinen Ehren die Bezeichnung Glasmuseum Hentrich trägt. Mit der Sammlung Hentrich wurde die Glassammlung besonders gestärkt, weil ihre Schwerpunkte mit antiker und islamischer Glaskunst sowie der des Art Nouveau, Art déco und Jugendstils die bis dahin im Museum nur schwach vertretenen Bereiche ergänzten. Endgültig zur Weltgeltung gelangte der Sammlungsbereich Jugendstilglas durch die Schenkung von Gerda Koepff (1919–2006). Die Sammlung wird weiterhin durch bedeutende Schenkungen, Vermächtnisse und Dauerleihgaben, wie italienische und tschechische Gläser aus den Beständen der Steinberg Foundation, mittelalterliche Gläser der Sammlung Karl Amendt und niederländische Gläser der Sammlung Knecht-Drenth, erweitert. Mit Schenkung der Sammlung von Frauke Thole kann imGlasmuseum fortan das Lebenswerk des tschechischen Bildhauers Jan Fišar (1933–2010) reflektiert werden. Die eigenen Ankäufe des Museums seit den 1960er Jahren konzentrieren sich auf die moderne und zeitgenössische Glaskunst. Die ältesten Stücke der Sammlung stammen aus vorrömischer Zeit. Das bedeutendste Gefäß aus dieser Zeit ist eine achämenidische Schale mit geschliffenem Lanzettdekor aus dem späten fünften Jahrhundert vor Christus. Die Glaskunst des Römischen Reiches ist mit über 300 Gefäßen in der Sammlung vertreten. Ebenso sind Objekte der geläufigen Gefäßtypen aus den islamischen Reichen des Nahen Ostens Bestandteil der Sammlung. Aus der Zeit vor der Epoche des Waldglases im Mittelalter stammt eine aufgrund ihres vollständigen Erhaltungszustandes einzigartige Schale aus der Zeit um das Jahr 1300. In der Sammlung sind zudem Werke der venezianischen Glaskunst des 15. Jahrhunderts vorhanden, wie zum Beispiel ein Ziergefäß in der Form einer Moscheeampel, das nach bisherigem Kenntnisstand ein Einzelstück ist und die Einflüsse der islamischen Glasherstellung in Europa aufzeigt. Hinzu kommen höfische Glasgefäße des 17., 18. und 19. Jahrhunderts. Die Jugendstil-Glaskunst wird unter anderem mit Arbeiten von Louis Comfort Tiffany wie einem Blütenkelch und einer Blattschale aus der Zeit zwischen 1897 und 1905 präsentiert. Die Glaskunst des 20. Jahrhunderts wird in ihrer Vielgestaltigkeit ebenfalls im Museum gezeigt. So gibt es Werke der Glaskunst der Werkbundbewegung, des Art déco, des Bauhauses sowie der nordeuropäischen Länder und aus Italien. Ein Beispiel dieser Werke ist die Mosaik-Schale von Carlo Scarpa. Seit August 2008 leitet der Kunsthistoriker Dedo von Kerssenbrock-Krosigk das Glasmuseum. Damit trat er die Nachfolge des langjährigen Leiters Helmut Ricke an. Wegen Umbau des Sammlungsflügel des Kunstpalastes ist es derzeit (2022) geschlossen. Jutta Cuny-Franz-Erinnerungspreis Die im Glasmuseum Hentrich seit 1993 angesiedelte Jutta Cuny-Franz Foundation verleiht seit 1987 alle zwei Jahre an Kunstschaffende unter 40 Jahre, in deren Arbeiten das Medium Glas eine maßgebliche Rolle spielt, einen mit 10.000 Euro dotierten Preis zur Erinnerung an die Glaskünstlerin Jutta Cuny (1938–1983). Zusätzlich werden von der Fachjury zwei Förderpreise von jeweils 1.500 Euro sowie weitere undotierte Ehrendiplome vergeben. 2021 wurde die US-amerikanische Künstlerin Anna Lehner von der Fachjury mit dem international renommierten Jutta Cuny-Franz Memorial Award ausgezeichnet. Ehrenhof-Preis / Landsberg-Preis In Kooperation mit dem Museum Kunstpalast hat der Düsseldorfer Unternehmer Georg Landsberg im Jahr 2015 den Ehrenhof-Preis ins Leben gerufen. Der von 2016 bis 2018 vergebene Preis richtete sich an Absolventinnen und Absolventen der Kunstakademie Düsseldorf, die zum jährlich stattfindenden Rundgang ihre Abschlussarbeiten präsentieren. Über die Vergabe des Ehrenhof-Preises entschied eine Fachjury nach Besuch des Akademierundgangs. Mit dem Ehrenhof-Preis ausgezeichnet wurden Ulrike Schulze (2016), Morgaine Schäfer (2017) und Aurel Dahlgrün (2018). Seit 2019 erfolgte eine Neuausrichtung des nun benannten Landsberg-Preises. Ausgezeichnet werden Arbeiten von Kunstschaffenden, deren Abschluss an der Düsseldorfer Akademie 10 bis 12 Jahre zurückliegt. Die jährlich einberufene Fachjury kürte als Preisträgerinnen Sabrina Fritsch (2019) und Monika Stricker (2020). Sonderausstellungen Die ersten groß angelegten, katalogbegleiteten Sonderausstellungen im Kunstmuseum wurden in den 1970er Jahren ausgerichtet. Den Auftakt bildete die 1971 von Christian Theuerkauff konzipierte Ausstellung Europäische Barockplastik am Niederrhein – Grupello und seine Zeit. In der Folge konzentrierten sich die Ausstellungen auf die klassische und die zeitgenössische Moderne. International wahrgenommen wurde vor allem die Ausstellung von Werken der Russischen Avantgarde aus der Sammlung von George Costakis, in der unter anderem Werke von Marc Chagall und Wassily Kandinsky gezeigt wurden. Auch Ausstellungen zur Düsseldorfer Malerschule, die spezielle Aspekte wie etwa deren Einfluss auf die skandinavische und amerikanische Kunst betonten oder die Schule an sich umfassender behandelten, sowie zur Geschichte der Glaskunst fanden Beachtung. Zur Wiedereröffnung des Museums im Dezember 1994 wurde die bis dahin aufwendigste Sonderausstellung mit Werken bedeutender Künstler der Moderne aus der Sammlung des Pariser Kunsthändlers Daniel-Henry Kahnweiler gezeigt. Diese Ausstellung zog über 160.000 Besucher an. Große Resonanz fanden zudem Ausstellungen zur Glaskunst, zum zeitgenössischen Design und von japanischen Farbholzschnitten. Im Sommer 2006 realisierte Spencer Tunick seine ersten Körperinstallationen aus nackten Menschen in Deutschland im und rund um das museum kunst palast. Die dabei entstandenen Fotografien und Videoinstallationen wurden im Herbst desselben Jahres in einer Sonderausstellung im Museum präsentiert. Auf den Spuren eines Genies. hieß die vom 9. September 2006 bis 7. Januar 2007 gezeigte Caravaggio-Ausstellung. Vom 15. September 2007 bis zum 6. Januar 2008 fand die Ausstellung Bonjour Russland statt, in der Werke aus den Sammlungen der Eremitage Sankt Petersburg, des Russischen Museums, des Puschkin-Museums und der Tretjakow-Galerie gezeigt, darunter Bilder von Claude Monet, Pierre-Auguste Renoir, Paul Cézanne, Kandinsky, Chagall, Henri Matisse und Kasimir Sewerinowitsch Malewitsch. Insgesamt kamen ca. 256.000 Besucher zu dieser Ausstellung, womit sie zu den erfolgreichsten Schauen des Hauses gehörte. Das Museum verfolgte auch weiterhin die Strategie, Blockbuster-Ausstellungen zu veranstalten. 2012 zeigte das Museum mit der Schau El Greco und die Moderne die erste große Ausstellung zu El Greco in Deutschland seit 100 Jahren. Sie stellte den Werken des spanischen Malers solche von modernen Künstlern gegenüber und versuchte auf diese Weise, dessen Einfluss auf die Moderne nachzuweisen. Die Schau wurde kritisch rezensiert. So wurde die Auswahl nicht aussagekräftiger Werke moderner Künstler problematisiert. Das Museum habe etwa Skulpturen von Wilhelm Lehmbruck gezeigt, obwohl keine Rezeption El Grecos bei ihm nachzuweisen sei; statt einer aussagekräftigen Zeichnung von August Macke seien Gemälde von diesem ausgestellt worden, in denen ein Bezug zu El Greco nicht klar erkennbar sei. Ebenso wurde kritisiert, dass die Zuschreibungen zu El Greco bei einigen Werken recht großzügig ausfielen und dass sich zwei Werke auf Vermittlung des Auktionshauses Christie’s in der Ausstellung befanden, die so eine Nähe zum aktuellen Kunstmarkt hervorriefen. 2011 schenkte der Düsseldorfer Sammler Willi Kemp seine Sammlung Ingrid und Willi Kemp mit rund 1.200 Objekten zeitgenössischer Kunst der Schwerpunkte Informel und ZERO dem Museum, das seither im Turnus ausgewählte Werkgruppen aus der Sammlung ausstellt, zuletzt Gotthard Graubner, Karl Otto Götz, Winfred Gaul, Bernard Schultze, Carl Buchheister und Otto Piene. Den unterschiedlichen Positionen zeitgenössischer Malerei widmete sich der Kunstpalast in mehreren großen Einzelausstellungen wie Klapheck Bilder und Zeichnungen (26. April bis 4. August 2013), Katharina Grosse. Inside the Speaker (30. September 2014 bis 1. Februar 2015), FABELFAKT. Pia Fries (28. März bis 16. Juni 2019) oder Norbert Tadeusz (29. August 2019 bis 2. Februar 2020) Mit einer großen Werkschau von Andreas Gursky (23. September 2012 bis 13. Januar 2013, verlängert bis 3. Februar 2013) und einer Ausstellung von 70 ausschließlich in Düsseldorf entstandenen Werken Candida Höfers (14. September 2013 bis 9. Februar 2014) präsentierte das Kunstmuseum repräsentative Foto-Ausstellungen von zwei der bekanntesten Düsseldorfer Becher-Schüler. „SPOT ON“ hieß eine bis 2018 präsentierte Ausstellungsreihe, die im halbjährlichen Rhythmus in unterschiedlich inszenierten Projekträumen Werke oder auch Werkgruppen zeigte, die es neu oder wieder zu entdecken galt: Beispielsweise Neuerwerbungen für die Sammlung, aktuelle Forschungsergebnisse, Abschlüsse eines Restitutionsverfahren oder auch Restaurierungserfolge. Unter dem Titel Christo und Jeanne Claude – Paris, New York, Grenzenlos veranstaltet der Kunstpalast eine „posthume Retrospektive“ vom 7. September 2022 bis 22. Januar 2023. Literatur Museum Kunstpalast. Eine Düsseldorfer Museumshistorie. Herausgegeben von Stiftung Museum Kunstpalast, Düsseldorf, 2013. Die Sammlung. Museum Kunstpalast, Düsseldorf. Ausgewählte Werke aus den fünf Abteilungen, Skulptur und Angewandte Kunst, Gemäldegalerie, Moderne Kunst, Graphische Sammlung, Glasmuseum Hentrich. Mit Beiträgen von Beat Wismer, Barbara Til, Bettina Baumgärtel, Kay Heymer, Gunda Luyken, Dedo von Kerssenbrock-Krosigk und weiteren Autoren. Herausgegeben von Museum Kunstpalast. modo Verlag, Freiburg i. Br. 2011, ISBN 978-3-86833-080-9 (deutsch, auch englische Ausgabe). museum kunst palast, Düsseldorf. Mit Beiträgen von Bettina Baumgärtel, Sonja Brink, Christoph Danelzik-Brüggemann, Jean-Hubert Martin, Helmut Ricke, Dieter Scholz, Barbara Til, Stephan von Wiese. Buchreihe der Fondation BNP Paribas. Paris 2003, ISBN 2-7118-4673-3 (deutsch, auch französische und englische Ausgaben). Bogomir Ecker, Thomas Huber: Künstlermuseum. Eine Neupräsentation der Sammlung des museum kunst palast, Düsseldorf. Herausgegeben von Jean-Hubert Martin mit Barbara Til und Andreas Zeising. Düsseldorf 2002, ISBN 3-9808208-5-8. Weblinks Offizielle Webpräsenz Einzelnachweise Kunstsammlung Kunstmuseum in Düsseldorf Baudenkmal in Düsseldorf Wilhelm Kreis Bauwerk in Pempelfort Erbaut in den 1920er Jahren Denkmalgeschütztes Bauwerk in Düsseldorf Museumsbau in Düsseldorf Museumsbau in Europa
800720
https://de.wikipedia.org/wiki/Am%20Brunnen%20vor%20dem%20Tore
Am Brunnen vor dem Tore
Am Brunnen vor dem Tore ist der erste Vers eines deutschen Liedes, das sowohl in Form eines Kunstlieds als auch in Form eines Volkslieds bekannt geworden ist. Der ursprüngliche Titel lautet Der Lindenbaum. Der Text stammt von Wilhelm Müller und gehört zu einem Gedichtzyklus, den Müller mit Die Winterreise überschrieb. Franz Schubert vertonte den gesamten Gedichtzyklus unter dem Titel Winterreise und in diesem Rahmen auch den Lindenbaum als Kunstlied. In der bekanntesten und populärsten Bearbeitung der Schubertschen Vertonung von Friedrich Silcher ist das Werk zum Volkslied geworden. Für diese Fassung hat sich der Anfangsvers des Gedichts als Titel eingebürgert. Müllers Gedicht Wilhelm Müller veröffentlichte das Gedicht zuerst als Der Lindenbaum in Urania – Taschenbuch auf das Jahr 1823, einem der beliebten Taschenbücher des frühen 19. Jahrhunderts, die auf mehreren hundert Seiten Gedichte, Erzählungen und Berichte enthielten. Das Werk bildete dort das fünfte Gedicht eines Zyklus, überschrieben Wanderlieder von Wilhelm Müller. Die Winterreise. In 12 Liedern. Unverändert erschien der Text herausgegeben von Christian G. Ackermann in Dessau und mit Widmung an Carl Maria von Weber in einer auf 24 Gedichte erweiterten Fassung der Winterreise im zweiten Bändchen der Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten im Jahr 1824. Text Am Brunnen vor dem Thore Da steht ein Lindenbaum: Ich träumt’ in seinem Schatten So manchen süßen Traum. Ich schnitt in seine Rinde So manches liebe Wort; Es zog in Freud und Leide Zu ihm mich immer fort. Ich mußt’ auch heute wandern Vorbei in tiefer Nacht, Da hab’ ich noch im Dunkel Die Augen zugemacht. Und seine Zweige rauschten, Als riefen sie mir zu: Komm her zu mir, Geselle, Hier findst Du Deine Ruh’! Die kalten Winde bliesen Mir grad’ in’s Angesicht; Der Hut flog mir vom Kopfe, Ich wendete mich nicht. Nun bin ich manche Stunde Entfernt von jenem Ort, Und immer hör’ ich’s rauschen: Du fändest Ruhe dort! Metrisches und Formales Das Gedicht folgt ohne Abweichungen einem festen, zu Müllers Zeit bereits wohlbekannten formalen Muster: vierversige Strophen, die im Wechsel zweisilbig und einsilbig ausklingen (Alternation); in jeder Strophe reimen sich die Schlusssilben des zweiten und vierten Verses. Ein durchgängiges auftaktiges Metrum ist dem Text unterlegt: Jamben mit jeweils drei Hebungen. Die Form wird in der Literatur als Volksliedstrophe bezeichnet. „Volkslieder“ folgen allerdings nicht einer bestimmten Form; so findet sich etwa in der bekannten Volksliedsammlung „Des Knaben Wunderhorn“ eine große Vielfalt von variabel gehandhabten Metren, Reimschemata und Strophenformen. Die Form der Volksliedstrophe war aber bei den Romantikern als liedhafte, sangbare, Schlichtheit suggerierende Gedichtform sehr beliebt und bereits etabliert. Ein Beispiel ist das zehn Jahre ältere Gedicht Eichendorffs „Das zerbrochene Ringlein“, an dessen Beginn „In einem kühlen Grunde/Da geht ein Mühlenrad“ der Lindenbaum anklingt. Müller handhabt das Formschema in diesem Gedicht jedoch sehr streng und verzichtet auf jegliche Variationen. Fast alle Gedichte der Winterreise sind in ähnlicher Form metrisch und formal gebunden. Der „ruhige Fluss der Verse“, der dadurch entsteht, wird von den düsteren Themen und Stimmungen der Winterreise kaum berührt, wie Rolf Vollmann feststellt. Dieser Kontrast hat starke Wirkungen, Vollmann spricht gar von „Entsetzen“. Ähnlich argumentiert Erika von Borries: Der Kontrast zwischen ruhigem Gang der Sprache und der beunruhigenden Aussage verleihe dem Gedichtzyklus einen „schaurigen und befremdlichen“ Ausdruck. Kontext: Die Winterreise Der Lindenbaum ist eine Station in einer recht locker gefügten Handlung, an der sich die Gedichte von Müllers Zyklus aufreihen. Noch vor deren Beginn liegt eine gescheiterte Liebesbeziehung des Protagonisten, eines jungen Mannes, der das Lyrische Ich verkörpert. Das erste Lied des Zyklus, Gute Nacht, beschreibt die Ausgangssituation: Das „Ich“ verlässt in einer Winternacht das Elternhaus der Geliebten und begibt sich auf eine einsame, ziellose Wanderung, deren Stationen die Gedichte des Zyklus wiedergeben. Zu diesen Stationen zählen vereiste Flüsse und verschneite Felsenhöhen, Dörfer und Friedhöfe – und eben auch der Lindenbaum. Die Winterreise ist als „Monodrama“ beschrieben worden oder auch als eine Folge von „Rollengedichten“. In allen Stationen spricht nur das Lyrische Ich mit sich selbst, aber auch mit der Natur oder mit seinem Herzen. Einige Motive wiederholen sich immer wieder: Liebe und Todessehnsucht, der Gegensatz der erstarrten Winterlandschaft und der fließenden Emotionen (vor allem in Gestalt der Tränen), Trotz und Resignation, vor allem aber das wie getriebene, zwanghafte Wandern. Auffallend im gesamten Zyklus sind die sprachlichen Gegensätze (heiße Tränen – Schnee, Erstarren – Schmelzen etc.), die auch dem auf feine Nuancierungen verzichtenden Volkslied eigen sind. Nach Erika von Borries gelingt es Müller, eingebettet in alte und naiv-vertraut wirkende Formen, die Erfahrungen einer Moderne zu vermitteln. Die Leitmotive des Lindenbaums, Traum und Ruhe, tauchen mehrmals im Zyklus mit jeweils unterschiedlichen Bedeutungen auf – diese Mehrdeutigkeit steht nach von Borries für die dichterische Darstellung einer unverlässlich gewordenen Welt. Der Zyklus und der Begriff Winter (siehe Heines Wintermärchen) sei nach Achim Goeres als Metapher für eine Politik der Restauration nach dem Wiener Kongress zu verstehen. Wie bei Heine stehe der politische „Winter“ dem „Mai“ („Der Mai war mir gewogen“) als politisches Pendant gegenüber. Die politische Dimension der Winterreise beschreibt Harry Goldschmidt so: Müllers Text der Winterreise erschien in der 1822 verbotenen Literaturzeitschrift Urania, wobei ausgerechnet ein Text Müllers Anlass für das Verbot gewesen war. Schubert war selbst politisch nicht aktiv, hatte aber enge Kontakte zu Kreisen der intellektuellen Opposition. Es ist verschiedentlich versucht worden, die Gedichte der Winterreise zu Gruppen zusammenzustellen. Norbert Michels etwa geht von Vierergruppen aus (hier: Der Lindenbaum, Wasserflut, Auf dem Flusse und Rückblick), wobei das erste Gedicht einer Gruppe ihm zufolge immer eine Neuerung, psychische Grundlage bzw. neu aufkommende Hoffnung des Wanderers darstellen soll. Aufbau Von der Zeitstruktur des Gedichts her ergeben sich deutlich drei Teile: Die ersten beiden Strophen sind teilweise zeitlos, teilweise beziehen sie sich auf eine weiter zurückliegende Vergangenheit. Erst mit der dritten Strophe nimmt das Ich Bezug auf die Handlung der Winterreise; es beginnt zu erzählen, nämlich von einem nur kurz zurückliegenden Ereignis: Es ist („heute“) an dem Lindenbaum vorbeigekommen. Die sechste Strophe enthält einen Rückblick des Ichs, der in der erzählten Gegenwart steht („nun“). Das erste Verspaar bringt mit Brunnen, Tor und Lindenbaum klassische Bestandteile eines ‚lieblichen Orts‘ oder Locus amoenus. Ihm folgt eine Reihe durchaus konventioneller Bilder (süßer Traum, liebes Wort, Freud und Leid), die ans Klischee grenzen und eine vergangene glückliche Zeit an diesem Ort evozieren. Es ist gerade dieser Teil des Liedes, der etwa in den Darstellungen auf Postkarten so gern im Bild wiedergegeben wird. Im Verhältnis zu den anderen Naturbildern der Winterreise, die von Fels, Eis und Schnee bestimmt sind, wirkt das Ensemble Brunnen/Tor/Lindenbaum wie eine idyllische Insel. Mit der dritten Strophe wechselt nicht nur die zeitliche Einordnung, sondern auch die Stimmung abrupt. Die statische Idylle wird durch die rastlose, erzwungene Bewegung des lyrischen Ichs kontrastiert, die am Lindenbaum vorbeiführt. Obwohl ohnehin „tiefe Nacht“ herrscht, verweigert der Wanderer den Blickkontakt: „Er will oder kann nicht hingucken.“ Doch die Magnetwirkung, die dem Lindenbaum bereits oben zugesprochen wurde („es zog […] zu ihm mich immer fort“), verwirklicht sich über einen anderen Sinn, das Gehör: Das Rauschen der blattlosen Zweige, das der Wanderer als Lockruf und Versprechen hört. Christiane Wittkop weist auf die dunklen u-Vokale hin, die dieses Versprechen auf Erlösung vom Weiterwandern prägen (zu, Ruh) – und auf die hellen a- und i-Vokale, die die folgende Strophe deutlich davon absetzen (kalten, grad, Angesicht, Winde, bliesen). Diese fünfte Strophe läuft erstmals auf eine bewusste Handlung des lyrischen Ich zu: Es widersteht dem Lockruf des Baumes; dieser Entschluss erhält einen eigenen Vers, den vierten Vers dieser Strophe, während sonst die Sinneinheiten regelmäßig zwei Verszeilen umfassen. Das Ich entscheidet sich für das schutzlose Weiterwandern (ohne Hut) und präsentiert der Kälte und Wucht des Windes sein Gesicht. Den Übergang zur sechsten Strophe zeichnet erneut ein abrupter Stimmungswechsel aus. Nun kommt die Erzählsituation ins Bild: das sich erinnernde und erzählende Ich, „manche Stunde“ entfernt von den Ereignissen der letzten drei Strophen. Die letzte Strophe greift erneut das Moment der Zeitlosigkeit („immer“) auf, das die ersten beiden Strophen prägte, und ebenso die Anrede der Lindenbaum-Zweige aus Strophe 4, die nun jedoch im Irrealis steht („fändest“). Sie kann als eine Art bleibendes Resümee aus der Distanz betrachtet werden („jenem Ort … dort“). Formale und inhaltliche Textinterpretationen Sowohl Müllers Text als auch die beiden musikalischen Ausdeutungen des Textes haben Interpretationen und Deutungsmuster im rein auf Müller, Schubert und Silcher bezogenen literaturwissenschaftlichen und musikwissenschaftlichen Bereich, aber auch im weiteren Bezug von Musiksoziologie, Geschichtswissenschaft, Germanistik und Psychologie hervorgerufen. Müllers Zyklus lässt sich unter dem Aspekt der Verwendung sprachlicher Formen, aber auch im Hinblick auf den intendierten Bedeutungsrahmen (individuelles oder allgemein Menschliches oder auch historisch-politische Bedeutung) unterschiedlich interpretieren. Diese verschiedenen Möglichkeiten beeinflussen auch die Deutung des Liedes vom Lindenbaum samt seiner Metaphern und formalen Merkmale. Symbolik In Müllers Gedicht besonders auffallende Begriffe, denen auch schon vorher im Alltagsleben und in der Literatur symbolische Bedeutung zugemessen wurde: der Brunnen der Lindenbaum das Wandern der Hut Diese Symbole behalten in Müllers Dichtung wie auch in Schuberts Vertonung meist ihre seit alters her ambivalente Bedeutung. Der Brunnen Der Brunnen ist ein seit alters her in Literatur und Märchen häufig verwandtes, mehrdeutiges Symbol. Er kann die Ambivalenz von Leben und tödlicher Gefährdung darstellen. Das deutsche Wort benennt damit bis in die Neuzeit hinein sowohl die frei fließende Quelle und ihr Wasser, die eingefasste Quelle und den gegrabenen Brunnen. Er hat einerseits lebenspendende Aspekte als Quelle, Wasser des ewigen Lebens, Symbol für Wachstum und Erneuerung (Jungbrunnen), und ist darüber hinaus ein sozialer Treffpunkt. Er ist auch Symbol für die Liebe, die Brautwerbung und die Ehe. Andererseits verkörpert er aber auch auf Grund seiner oft nicht erkennbaren Tiefe den Zugang zu verborgenen, schöpferischen und oft destruktiven Schichten der Seele. Der Lindenbaum Der Lindenbaum hat in der Symbolik und Metaphorik des Baums spezielle Bedeutung. Zu Müllers Zeiten war die Linde als Baum der Liebe bzw. Treffpunkt der Liebenden und Symbol einer milden und wohltuenden Natur ein in der deutschen Literatur und Musik etabliertes Motiv, das sich seit Walther von der Vogelweides Under der linden oder dem Volkslied des 16. Jahrhunderts Es steht ein Lind in jenem Tal tradiert hatte. Sie stand außerdem für Muttertum, Fruchtbarkeit, Geborgenheit, Harmonie und Schutz, Tanz und Feste. Siehe dazu die Deutung der Linde von Carl Gustav Jung als Baum der Liebenden und der Mütterlichkeit. Sie war aber auch Ort des Gerichts (Gerichtslinde), altgermanischer Treff der Rechtsprechung (Thing), Sinnbild der Gemeinschaft, Verurteilungs- und Hinrichtungsplatz sowie der von Selbstmördern bevorzugte Ort. Sie wurde so zu einem Sinnbild der Gemeinschaft, das in Müllers Text in Kontrast zur Einsamkeit des Wanderers steht. Die Linde galt zugleich, zusammen mit der Eiche, als Baum der Deutschen und speziell der deutschen Romantik. Das gesamte Ensemble der ersten zwei Verse von Müllers Gedicht tritt in den Jahren um 1800 immer wieder als Ort des Idylls auf: etwa in Goethes Hermann und Dorothea, wo sich die Liebenden „vor dem Dorfe“ treffen, „von dem würdigen Dunkel erhabener Linden umschattet“; oder in den Leiden des jungen Werthers, wo „gleich vor dem Orte ein Brunnen“ ist, als Ort des geselligen Lebens und des Phantasierens vom Paradies, und gleich nebenan ein Wirtshaus unter zwei Linden. Die ersten zwei Gedichtstrophen erscheinen im Lindenbaum wie ein Bild im Rahmen – ein zeitloses, wohlbekanntes Tableau der Idylle. Diese „Brunnenlinde“ verspricht dem Wanderer in der Folge die Erlösung von seiner Wanderschaft, die Ruhe. Im Kontext der düsteren Thematik der Winterreise mit ihren zahlreichen Todessymbolen gewinnt diese Ruhe die Konnotation der ewigen Ruhe, der Verlockung zum Ende der Lebenswanderung durch Suizid. Diese naheliegende Interpretation ist in der Rezeption des Werkes vielfach wirkmächtig geworden. Ein prominentes Beispiel dafür ist der Zauberberg von Thomas Mann. Dort beantwortet der Erzähler die Frage, was die Welt sei, die hinter dem Lied vom Lindenbaum stehe: Der Held des Zauberberg, Hans Castorp, und dessen Schicksal verliert sich schließlich in den Schlachten des Ersten Weltkriegs, auf den Lippen genau diejenige Passage des Liedes, in der die Linde zum ersten Mal ihre Lockung ausspricht: „als rauschten sie dir zu“. Auch die wissenschaftliche Rezeption hat diesen Zusammenhang des Lindensymbols in Müllers Gedicht mit dem Tod immer wieder betont. Das lyrische Ich verspürt die Magnetwirkung der Todessehnsucht, sie bleibt ihm bis in die letzte Strophe erhalten; doch es widersteht ihr. Es „wendet sich nicht“ und bleibt bei seiner getriebenen Wanderschaft, in der Region von Schnee, Eis und kalten Winden. Heinrich Heine hat genau diese Figur, die Abwendung vom romantischen Sehnsuchtsbild der Linde und die Zuwendung zum zeitgenössischen Winter, in freilich deutlich ironischer Rede später noch einmal formuliert: Mondscheintrunkne Lindenblüten, Sie ergießen ihre Düfte Und von Nachtigallenliedern Sind erfüllet Laub und Lüfte. […] Ach, ich will es dir, Geliebte, Gern bekennen, ach, ich möchte, Daß ein kalter Nordwind plötzlich Weißes Schneegestöber brächte; Und daß wir, mit Pelz bedecket Und im buntgeschmückten Schlitten, Schellenklingelnd, peitschenknallend, Über Fluß und Fluren glitten. Linde und Brunnen Die typische Gruppierung von Linde und Brunnen als Herzstück einer Siedlung, als sozialer Treffpunkt beim Wasserholen, Platz abendlicher Gespräche, aber auch Tagungsort ist ein schon lange vor dem 19. Jahrhundert vorhandenes reales Motiv. Die Verbindung von Brunnen und Lindenbaum ist auch ein bekanntes Motiv im Märchen. So heißt es in Der Froschkönig oder der eiserne Heinrich: Das Wandern Das Wandern ist Bestandteil menschlicher Bewusstwerdung. Die Romantik prägte im 19. Jahrhundert den Topos von Wandern und Wanderschaft. Dabei war der Blick auf landschaftliche und soziale Realitäten gekennzeichnet durch die Schau des eigenen, inneren Ichs. Das Symbol des Wanderns ist auch in Schuberts Werk, z. B. in der Wanderer-Fantasie und anderen Liedern, häufig anzutreffen. Die Symbolik des Wanderns veranschaulichte den besonderen Charakter der menschlichen Lebensreise, in der auch die Gefährdung, das Scheitern und Sterben inbegriffen ist. In der Winterreise wird das „Wandernmüssen“ zur Zwangsvorstellung, die fort von menschlichen Beziehungen, in Wahnvorstellungen und Tod mündet. Mit Erfahrungszugewinn und Reifung wie beim wandernden Handwerksgesellen hat der Schubertsche Wanderer wenig gemein. Der Hut Der Hut (oder dessen Verlust) kann als ein psychologisches Statussymbol oder Symbol der Macht des Trägers und dessen Schutzzeichen gedeutet werden, oder er kann ein Indiz des Verlusts gesellschaftlicher Macht darstellen. Eine andere dichterische Anwendung dieser Symbolik findet sich in Jakob van Hoddis’ Gedicht mit dem bezeichnenden Titel Weltende (1911), das mit der sehr ähnlichen Verszeile „Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut“ beginnt. Der Verlust des Hutes beim Verlassen der Stadt in Die Winterreise kann als „gleichnishaft für einen Bürger, der das Bürgertum“ verlässt gesehen werden. Nach C. G. Jung kann der Verlust des Hutes auch den „Verlust des eigenen Schattens“ symbolisieren. Das Tragen eines Hutes (siehe Heckerhut) war auch nach den Napoleonischen Kriegen ein Bekenntnis zu bürgerlich-demokratischen, damals revolutionären Einstellungen. Schuberts Lied Schuberts Liedkunst wurde durch die schwäbisch-süddeutsche Schule und die Erste Berliner Liederschule beeinflusst, ebenso durch gewisse Vorbilder wie zum Beispiel Beethoven (Adelaide, An die ferne Geliebte) oder auch Haydns Englische Kanzonetten und Mozarts Lied vom Veilchen. Trotzdem war seine Emanzipation des Begleitinstrumentes – mit eigenen Motiven, Begleitformen und übergreifenden Bezügen – im Lied damals eine vollkommene Neuheit. Der Lindenbaum, als Lied für hohe Männerstimme mit Klavierbegleitung vertont, bildet die Nr. 5 des Liederzyklus Winterreise von Franz Schubert (Deutsch-Verzeichnis Nr. 911-5). Zum ersten Mal wurde das Lied im Freundeskreis von Schubert aufgeführt. Joseph von Spaun hat berichtet, dass Schubert eines Tages zu ihm kam und zu ihm sagte: „Komme heute zu Schober, ich werde euch einen Zyklus schauerlicher Lieder vorsingen.“ Mit dem hier erwähnten Zyklus ist nur die erste Abteilung der Winterreise gemeint, die Schubert Anfang 1827 komponierte und schon im Februar 1827 vor seinen Freunden aufführte. Position im Gesamtzyklus Schubert vertonte Anfang 1827 die ersten zwölf Lieder Müllers, wie sie 1823 im fünften Band des Urania-Taschenbuchs erschienen waren. Erst nachdem er im Herbst auf den vollständigen Zyklus Müllers aus 24 Liedern stieß, der 1824 als zweiter Band der Gedichte aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten erschienen war, vertonte er auch die restlichen zwölf. Die zweiten zwölf Lieder sind in Müllers Fassung letzter Hand aber nicht einfach an die vorab erschienenen angehängt, sondern in diese eingeschoben. Schubert dagegen behielt die ursprüngliche Abfolge der ersten zwölf Lieder Müllers – ob aus Gründen des Entstehungsprozesses oder wegen eigener musikalisch-textlicher Intentionen – bei. Durch diese Änderung der Stellung des Lindenbaums im Zyklus ergab sich eine Bedeutungsverschiebung. Während der Lindenbaum in Müllers 1824 erschienener Gesamtversion vom primär noch positiv hoffenden Die Post gefolgt wird, folgt bei Schubert der eher fragend-resignierende Titel Wasserflut. Silchers Satz Für den Erfolg des Liedes war jedoch vor allem eine Bearbeitung durch Friedrich Silcher verantwortlich. Auf der Basis von Schuberts Vertonung der ersten Strophe setzte er Am Brunnen vor dem Tore 1846 für vier Männerstimmen a cappella aus. Vor allem diese Fassung ist es, die das Lied zum „Volkslied“ gemacht hat und für seine enorme Bekanntheit verantwortlich ist, da sie vielfach in Schul- und Chorliederbüchern gedruckt wurde. Arnold Feil kommentiert die gängigen Hörerfahrungen mit dem Lindenbaum Silchers Bearbeitung findet sich zuerst in Heft VIII seiner Volkslieder, gesammelt und für vier Männerstimmen gesetzt, seinem Hauptwerk, das in zwölf Heften über den Zeitraum von 1826 bis 1860 verteilt erschienen ist. Wie alle Silcherschen Volksliedsätze steht es nunmehr als Einzelwerk da, der Kontext der Winterreise fehlt also; auch der Titel Der Lindenbaum erscheint nicht mehr. Dass Silcher sich seiner Vereinfachungen im Sinne der volksmusikalischen Verwendung bewusst war, legt folgendes Zitat von ihm nahe: „Nach Franz Schubert zu einer Volksmelodie umgearbeitet von F.S.“ Musikalischer Vergleich Primär musikalisch orientierte Analysen konzentrieren sich meist auf folgende Fragen: Wie haben Schubert und Silcher den textlichen Vorwurf Müllers mittels musikalischer Techniken dargestellt/umgesetzt, eventuell weitergeführt, vertieft, verflacht oder erweitert? In welchen Merkmalen unterscheiden bzw. widersprechen sich die Versionen von Schubert und Silcher in Intention und Aussage? Vergleich der Versionen von Silcher und Schubert Die Versionen von Schubert und Silcher weisen etliche Unterschiede in formaler, melodischer, harmonischer und rhythmischer Hinsicht auf. Auch die Form der Begleitung ist (allerdings auch der notwendigen unterschiedlichen Stimmführung für Klavier und Solo-Gesang im Gegensatz zu einem Arrangement für Chor geschuldet) anders. Dies alles bewirkt eine gänzlich andere und teilweise diametral entgegengesetzte musikalische Ausdeutung der identischen Textvorlage. Herauslösung aus dem Gesamtzyklus Schon der Vorgang der Herauslösung eines Einzelliedes aus einem vom Komponisten für den Hörer vorgesehenen Gesamtzusammenhang eines Zyklus bedingt fast immer einen Verlust bzw. eine Verschiebung der musikalischen Wahrnehmung und inhaltlichen Interpretation. Motivische Zusammenhänge mit und Anspielungen auf vorhergehende und nachfolgende Titel gehen meist ebenso verloren wie die tonartlichen Bezüge und typische rhythmische Figurationen. Clemens Kühn schreibt dazu: So geht die tonartliche Einbettung des Lindenbaums in die Klammer von in Moll gehaltenen Stücken (das E-Dur des „Lindenbaum“ im Rahmen von c-Moll in Erstarrung und e-Moll in „Wasserflut“) in einer isolierten Darstellung des Liedes (wie in der Version von Silcher) verloren. Die besondere Stellung des Lindenbaums, der eine Wende im Zyklus von Gefrorenem (Gefrorene Tränen, Erstarrung) zu aufgetautem Schnee (Wasserflut, Auf dem Flusse) markiert, fällt in Silchers Version ebenso weg wie die besonders kontrastierende und stark stilisiert wirkende Form des Volkslieds innerhalb eines Kunstliedzyklus und das erstmalige Auftreten eines Liedes in Dur, das nach Peter Gülke den „Bann des Moll“ erstmals durchbrechend im Verhältnis zum vorangehenden c-Moll als „Super-Dur“ fast einen Schock auslöse. Den zyklusimmanenten Gegensatz zwischen der melancholischen Grundstimmung der Winterreise und den wenigen eher helleren bzw. positiv wirkenden Titeln wie Der Lindenbaum, Frühlingstraum und Die Post formuliert der Komponist und Musikwissenschaftler Hans Gál folgendermaßen: Auch sind motivische Vorausnahmen und Nachklänge des Lindenbaums sowie typische rhythmische Figurationen des Titels im Kontext des Gesamtzyklus in einem isolierten Einzeltitel wie von Silcher nicht nachvollziehbar. Eine elementare, wohl den Anforderungen an ein singbares Volkslied geschuldete Kürzung, ist die Weglassung des kurzen dramatischen, musikalisch ganz anders gearteten Mittelteils der Schubertversion (Takt 53 bis 65 – Die kalten Winde bliesen …) bei Silcher. Der musikalische Verlust übergreifender Bezüge durch eine motivische Herauslösung eines Einzeltitels wird speziell am Lindenbaum an folgendem Beispiel deutlich. Der Sekundschritt in der linken Hand von Erstarrung (Takt 1, 44, 65, 69 und 103) mit anschließendem aufwärts gerichtetem Terzsprung und abwärtslaufender Sekunde findet im Lindenbaum in der Oberstimme der Klavierbegleitung in Takt 1, 3, 25, 27 und dem Mittelteil (44, 47, 49 und 50) eine Entsprechung/Vorwegnahme. Ein in der chronologischen Abfolge der Lieder umgekehrtes Beispiel gibt der triolisch aufwärts gerichtete Dreiklang aus Takt 59 bis 66 des Lindenbaumes, der in Takt 1 und von Wasserflut als triolisch aufwärtsgerichteter Triolengang wieder aufgegriffen wird. Melodische Unterschiede Die Melodieführungen von Schuberts und Silchers Versionen sind zu neunzig Prozent identisch. Doch sind gerade die restlichen, voneinander abweichenden zehn Prozent auch in Hinsicht auf die harmonischen und formalen Gesamtfolgen für das Verständnis der beiden Versionen entscheidend und oft an zentralen harmonischen Eckpunkten verortet. Der erste Unterschied ist in Takt 11 (Schubert) festzustellen. Schubert und Silcher beginnen den Takt gleichermaßen mit einer punktierten Viertelnote und einer darauf folgenden Achtelnote. Während Schubert diese Tonfolge mit einer Achteltriole abwärts in Sekunden (A – Gis – Fis) weiterführt, bringt die Silcherversion stattdessen ein punktiertes Achtel mit anschließendem Sechzehntel im Terzschritt (B – G). Der abschließende Sekundschritt auf „Baum“ ist bei Schubert abwärts, bei Silcher dagegen aufwärts gewandt. In Takt 15 folgt Silcher allerdings wieder dem triolischen Modell von Schubert. Ein weiterer Unterschied ist in Takt 23 nach Schubert („… zu ihm mich immer …“) festzustellen. Schubert verwendet hier eine relativ schwierige rhythmische Abfolge von Viertel – Achtel – Achtel – Punktiertes Achtel – Sechzehntel. Silcher weicht auf die einfachere Version (wohl auch in Hinsicht auf die bessere Singbarkeit durch einen Laienchor) auf Viertel und vier Achtel aus, die Schubert in Takt 70–76 verwendet. Dadurch verändert sich auch, Schubert folgend, die Melodie und der Teil „zu ihm mich“ wird entsprechend der Takte 74–76 (Schubert) wiederholt. Harmonische Unterschiede Auch die harmonischen Unterschiede zwischen beiden Versionen sind rein statistisch gesehen relativ unbedeutend. Dennoch sind sie (vergleichbar sind sowieso nur die ersten beiden Strophen) an entscheidenden Wendepunkten der Gattung Liedform (Takt 4, 8, Vordersatz, Nachsatz etc.) positioniert und geben damit dem „musikalischen Meinen“ einen oft anderen Verlauf. Ein Beispiel dafür ist das Ende des ersten Viertakters auf „-baum“ in Takt 12. Bei Schubert endet er auf der Tonika E-Dur, wechselt dann auf die Dominante H-Dur, auf der dann auch der Auftakt der nächsten Zeile auf „ich“ beginnt, bevor die Melodie danach in beiden Versionen identisch weiterläuft. Silcher dagegen beendet auf „-baum“ in der Tonika (hier F-Dur), wechselt im Übergang zum zweiten Teil gar nicht und beginnt den zweiten Teil im Auftakt genauso auf der Tonika. Indem Silcher den harmonischen Gesetzen der Schlussklauseln von Vorder- und Nachsatz und dem „klassischen Kanon“ gehorcht, stellt er einen Gegensatz zu Schuberts hier eher unkonventioneller Form her, die nach Peter Rummenhöller einen vielfältigeren „Ausdruck von Ruhe, Spannungslosigkeit, Willenslosigkeit und Verzauberung“ verwirklicht. Die harmonischen Vereinfachungen von Silcher sind an vielen Stellen zu beobachten. So wechselt in Takt 17 auf einem konstanten Melodieton bei Schubert wenigstens die Begleitung harmonisch, während Silcher die Harmonien einfach beibehält. Formale, rhythmische und besetzungstechnische Unterschiede Der entscheidende Unterschied ist, dass Silchers Version alle Strophen immer mit den gleichen musikalischen Mitteln verwirklicht – sie ist an die Instrumentierung von Schuberts erster Strophe angelehnt. Die sechs Strophen des Textes werden von Schubert musikalisch in vier Teile neu gegliedert. Teil I und Teil II umfassen die Strophen 1 und 2 sowie 3 und 4. Teil III stellt in Form eines kontrastierenden Zwischenspiels Strophe 5 dar und Teil IV Strophe 6. Er gestaltet die verschiedenen Strophen in fast allen Aspekten (rhythmisch, harmonisch, besetzungstechnisch, dynamisch) unterschiedlich. Schuberts Version entspricht somit dem Typus des variierten Strophenliedes, während Silchers Fassung ein einfaches Strophenlied darstellt. Harry Goldschmidt sieht im Lied sogar das variierte Strophenlied mit den Prinzipien der Sonatenform verschmolzen. Außerdem fehlen bei Silcher die in schnellen Sechzehnteltriolen gehaltenen Vorspiele (Takt 1 bis 8 nach Schubert ab Takt 1), Zwischenspiele (z. B. Takt 25 bis 28) und das Nachspiel (die letzten sechs Takte Schuberts). Ein weiterer wichtiger Unterschied ist der Einschub bei Schubert (Takt 45 bis 58) mit seiner textlich und musikalisch ganz anders gelagerten Aussage „die kalten Winde bliesen mir grad in’s Angesicht …“ Dieser Teil hat rein melodisch wenig mit dem eigentlichen Lied zu tun. Er ist musikalisch eigentlich nur als Fortsetzung der Sechzehnteltriolenbewegung in der Einleitung und im ersten Zwischenspiel (Takt 25 bis 28) deutbar. Zu beobachten ist aber, dass er von Schubert vor der zweiten Strophe mit der Begleitung in triolischen Figuren vorweggenommen wurde und auch danach wieder aufgegriffen wird. Teil I: Die erste Strophe ist von der Begleitung her bei Schubert und Silcher überwiegend ähnlich gehalten. Bei beiden beschränkt sich die Begleitung primär auf die rhythmisch parallele – den Anforderungen der Besetzung angepasste – Begleitung in meist blockmäßigen Dreiklängen (oder in seltenen Fällen Septakkorden). Dennoch existieren im Detail Unterschiede. Ob diese durch die unterschiedlichen besetzungstechnischen Anforderungen, wie beispielsweise durch die größere Beweglichkeit eines Klaviers gegenüber einem von Silcher wohl vorgesehenen Laienchor, oder aber durch andere Intentionen Silchers bedingt sind, ist schwer zu entscheiden. Während schon im zweiten Takt auf den drei Achteln von „nen – vor – dem“ bei Schubert der aufsteigende Bass Tonika, Terz und Dominante bringt, repetiert der Bass bei Silcher dreimal den Tonikagrundton. F. Schubert verwendet in Takt 3 in der Begleitung mit halber und Viertelnote längere Notenwerte als in der Melodie und stellt damit auch einen eventuell vorbereitenden Gegensatz zu den darauf folgenden Achteln der Begleitung in Takt 4 her. Bei Silcher sind Alt, Tenor und Bass hier mit dem Sopran rhythmisch exakt verkoppelt. Während sich die Silcherversion in Takt 5 auf einer halben und einer nachfolgenden Viertelpause auch harmonisch unflexibel ausruht, bringt Schubert hier einen in Terzen geführten Einschub des Klaviers. In Takt 10 ist das schon bekannte Vorgehen zu sehen – Schuberts Version wird von Silcher rhythmisch und besetzungstechnisch verändert und zumindest aus rhythmischer Sicht umgedreht. Während Schuberts Begleitung hier rhythmisch mit der Melodie fast identisch verläuft, bringt Silcher in den tiefen Stimmen (Tenor und Bass) die kompliziertere – und für einen Chor nicht leichte – Version aus punktierter Achtel, Sechzehntel, punktierter Viertel und Achtel gegenüber punktierter Viertel und drei Achteln in Sopran und Alt. Allerdings vollzieht Schuberts rhythmisch einfachere Version in Takt 10 einen harmonischen Wechsel, während Silcher im selben Takt die Harmonie beibehält. Teil II: In diesem Teil sind die Unterschiede zwischen den beiden Versionen auch ohne theoretische Analysen unmittelbar hörbar. Schubert bringt primär Triolen, während Silcher Strophe 1 wiederholt. Schubert hält hier die Begleitung relativ abwechslungsreich. Rein triolische Begleitung wechselt mehrmals mit Triolen und Achteln, Triolen sowie Achteln und Vierteln oder Triolen und punktierten Achteln und Sechzehnteln. Permanent vorhanden ist aber immer die Triole. Ein entscheidender Unterschied ist, dass der erste Teil der zweiten Strophe (Takt 28 bis 36) in e-Moll anstatt wie die erste in E-Dur gehalten ist. Erst danach erfolgt in Takt 27 die Rückung in das gewohnte E-Dur. Die Gegenwart wird hier in Moll dargestellt und die Vergangenheit in Dur. Sogar das Versprechen der „Ruhe durch den Baum“ (was auch als Suizidaufforderung deutbar ist) ist in Dur formuliert. Als eine Möglichkeit außermusikalischer Interpretation meint Clemens Kühn, dass die Triolen hier im Gegensatz zur ersten Strophe als „stabiler Existenz“ dem „bewegten Symbol des Wanderns“ gegenüberständen und die tonale Stabilität der Strophen mit jeder Strophe geringer werde. Teil III: Das schubertsche Zwischenspiel ist weniger gesanglich als eher dramatisch-rezitativ gehalten. Obwohl gewisse intervallische Reminiszenzen an die Ursprungsmelodie durchaus erhalten bleiben, ist die Gesangsmelodie oft auf deklamatorische Tonrepetitionen und unsangliche Sprünge wie auf den Oktavsprung auf dem Wort „Kopfe“ reduziert. Die hektische, ausschließlich auf die Triolenbewegung des Anfangs- und Mittelspiels sowie die von Schubert in tiefe Bassregionen – auf C unter später sogar H – verlegte repetitive linke Hand verstärkt diesen Eindruck zusätzlich. Der Teil kann auch als Variation und Durchführung in einem verstanden werden. Teil IV In der dritten Strophe kombiniert Schubert Elemente der vorhergehenden Strophen. Er bleibt im Dur der ersten Strophe und vermeidet das Moll der zweiten Strophe. Gleichzeitig behält er aber die abwechslungsreiche meist triolische Begleitung von Strophe 2 bei. Aber auch das eher an beide Strophen angelehnte Erklingen bedingt kein musikalisch gleiches Erscheinen. So meint Clemens Kühn: Generell ist es – auch etwa bei Schumann, Brahms oder Grieg – keine Seltenheit, dass Lieder mit jeder Strophe entsprechend der musikalischen Intention anders variiert werden. Kritik an Silchers Bearbeitung Silcher ist für die „töricht anmutende Selbstverständlichkeit, mit der er die Volksliedstrophe fast wie ein Bild aus dem Rahmen aus dem Gesamtkontext herauslöste“ und damit die „Einrahmung des Lindenbaums“ beseitigte, häufig getadelt worden. Seine Vertonung wird beispielsweise als „Eindimensionalisierung/Nivellierung“ der vielschichtigeren Textdeutung von Schuberts Version gewertet. Peter Rummenhöller bezeichnet Silchers Fassung als „verständlich, volkstümlich und leider auch unabweislich trivial“. Frieder Reininghaus konstatiert, die Version von Silcher mache aus dem Schubert-Lied, obwohl es „um Leben und Tod“ gehe, eine „spießbürgerliche und reaktionäre Sonntagsnachmittagsidylle in der Kleinstadt“. Die „Doppelbödigkeit und Ironie“ von Müller und Schubert gehe dabei vollkommen verloren. Elmar Bozzetti kritisiert, dass die Utopie des Lindenbaumes, die durch die variierte Form bei Schubert erkennbar sei, durch die unvariierte und vereinfachte Form bei Silcher zur „biedermeierlichen Scheinwirklichkeit ohne Realitätsbezug“ werde. Clemens Kühn vertritt die Meinung, dass die Silcherversion durch die „immer gleiche Melodie“ das bei Schubert erkennbare „Anschlagen eines anderen Tons in der zweiten und dritten Strophe“ nicht wahrnehme. Durch das „harmlos-schöne Geglättete“ verliere das Lied in Silchers Version „jene Tiefe, die es im Original besitzt“. Dagegen hebt Joseph Müller-Blattau anerkennend hervor, dass Silcher aus den drei variierten Strophen Schuberts die „Urmelodie“ aus Schuberts Variationen herausdestilliert habe. Wirkungsgeschichte Schuberts Lied und Zyklus haben spätere klassische Komponisten inspiriert. So sind Gustav Mahlers Lieder eines fahrenden Gesellen sowohl von der textlichen Intention als auch in kompositorischen Details deutlich von der Winterreise bzw. Dem Lindenbaum (viertes Lied bei Mahler: „Auf der Straße stand ein Lindenbaum, da hab ich zum ersten Mal im Schlaf geruht…“) beeinflusst. Auch von Anton von Webern liegt eine Instrumentation der Winterreise vor. In vielen Bearbeitungen ist Der Lindenbaum zu einem beliebten Bestandteil des Repertoires der Gesangsvereine geworden. Dabei ist die ambivalente Haltung des Liedes oft einer verharmlosenden Romantisierung gewichen. Im 1916 uraufgeführten Singspiel Das Dreimäderlhaus lässt Schubert, um seiner angebeteten Hannerl eine Liebeserklärung zu machen, Franz von Schober das Lied vom Lindenbaum vortragen. Eine leitmotivische Rolle spielt Der Lindenbaum im Roman Der Zauberberg von Thomas Mann. Im Kapitel Fülle des Wohllauts hört sich Hans Castorp das Lied hingebungsvoll auf einer Grammophon-Platte an. Im Schlusskapitel Der Donnerschlag zieht er mit dem Lied auf den Lippen in den Krieg; der Lindenbaum wird zum Symbol seiner sieben sorglosen Jahre im Sanatorium Berghof. Verdeckt zitiert wird das Lied auch in Thomas Manns Doktor Faustus. Am Brunnen vor dem Tore ist auch der Titel eines 1952 von Kurt Ulrich produzierten Heimatfilms mit Sonja Ziemann und Heli Finkenzeller, wo ein Gasthaus seinen Namen dem Liedtitel entlehnt. Neben Komponisten setzen sich im 20. Jahrhundert auch Literaten, Dramaturgen und bildende Künstler mit der Winterreise auseinander. Modernere kompositorische Auseinandersetzungen stammen von Hans Zender (Tenor und kleines Orchester), Reiner Bredemeyer, Friedhelm Döhl (Streichquintett) und Reinhard Febel. Hans Zender bezeichnete dabei seine Interpretation von 1993 ausdrücklich als „eine komponierte Interpretation“. Er versuche hier in seinen eigenen Worten die „durch die Rezeptionsgeschichte, Hörgewohnheiten und Aufführungspraxis verdeckten Intentionen Schuberts in eine gesteigert expressive musikalische Sprache der Gegenwart zu übersetzen“. Döhl kombiniert allerdings den Text von Müller mit Texten von Georg Trakl und eigenen sozialistischen Überzeugungen. Bearbeitungen und Einspielungen Der Lindenbaum in der schubertschen Fassung wurde von fast allen namhaften Sängern des 20. Jahrhunderts in allen Stimmlagen vom Sopran bis zum Bass aufgenommen und aufgeführt. Einige wenige Namen sind Hans Hotter, Lotte Lehmann, Peter Anders, Dietrich Fischer-Dieskau, Hermann Prey, Theo Adam, Peter Schreier, Ernst Haefliger, Olaf Bär, Brigitte Fassbaender, René Kollo und Thomas Hampson. Als Begleiter fungierten oft weltbekannte Pianisten wie Gerald Moore, Jörg Demus, Swjatoslaw Richter, Murray Perahia, Daniel Barenboim, Alfred Brendel, Wolfgang Sawallisch oder András Schiff. Weitere Chorversionen stammen von Conradin Kreutzer, Ludwig Erk, Peter Hammersteen und Josef Böck. Daneben existieren auch dreistimmige Chorversionen (z. B. von Stinia Zijderlaan) für zwei Sopranstimmen und einen Alt. Daneben existieren viele mehr oder minder bekannte Bearbeitungen des Liedes für diverse Instrumentalkombinationen. Von Franz Liszt stammt eine Fassung für Klavier zu zwei Händen, die viel zur Popularisierung des Liedes und des Gesamtzyklus beigetragen hat. Im von Gustav Lazarus herausgegebenen Schubert-Liszt-Album ist die virtuose Liszt-Transkription im technischen Anspruch vereinfacht. Ferner gibt es unzählige Einspielungen mit anderer instrumentaler Besetzung. Die Singstimme wird dabei von Cello, Posaune, Violine, Klarinette, Fagott oder Viola gespielt und von Streichorchestern, Klaviertrio (Emmy Bettendorf), Gitarre oder anderen Instrumentalkombinationen begleitet. Vermarktung und Popkultur Relativ freie Uminstrumentierungen im popklassischen Bereich wie zum Beispiel von Helmut Lotti oder Nana Mouskouri mit dichtem Streichersatz oder das Klavier verstärkenden Streichern sind keine Seltenheit. Politisch engagierte Liedermacher wie Franz Josef Degenhardt und Konstantin Wecker sowie Herman van Veen und Achim Reichel haben das Lied ebenfalls vertont. Auch von der französischen Sängerin Mireille Mathieu existiert eine Einspielung. Was aus den Versionen von Schubert und Silcher heutzutage manchmal gemacht wird, lässt exemplarisch folgendes Zitat aus der Werbebroschüre eines Blasorchesters erahnen: Das nordhessische Städtchen Bad Sooden-Allendorf wirbt für sich damit, dass Wilhelm Müller das Gedicht am dortigen Zimmersbrunnen vor dem Allendorfer Steintor geschrieben habe, wo eine alte Linde stand. Dort ist auch eine Tafel mit dem Liedtext angebracht. Allerdings deutet nichts darauf hin, dass Müller jemals in Allendorf gewesen ist. Die Gaststätte Höldrichsmühle in Hinterbrühl bei Wien wiederum reklamiert für sich, Entstehungsort von Schuberts Komposition zu sein. Dafür gibt es jedoch ebenfalls keinerlei Anhaltspunkte. In der deutschen Version der Episode Der Versager (Code 7G03, Szene 03) der Simpsons rappt Bart Simpson dieses Lied – mit stark verändertem Text, aber deutlich zu erkennen. (In der Originalversion singt er „John Henry Was a Steel Driving Man“). Auch im Film 1½ Ritter – Auf der Suche nach der hinreißenden Herzelinde wird das Lied von der Prinzessin und den Hofdamen unter Anleitung des Gesangslehrers gesungen und später von Ritter Lanze erwähnt. Literatur Reinhold Brinkmann: Franz Schubert, Lindenbäume und deutsch-nationale Identität. Interpretation eines Liedes. Wiener Vorlesungen im Rathaus, Nr. 107. Picus-Verlag, Wien, ISBN 3-85452-507-9. Gabriel Brügel: Kritische Mitteilungen zu Silcher’s Volksliedern, zugleich ein Beitrag zur Volksliedforschung. In: Sammelbände der Internationalen Musikgesellschaft. 15. Jahrg., H. 3. (Apr.–Jun., 1914), S. 439–457. Elmar Budde: Schuberts Liederzyklen. München 2003, ISBN 3-406-44807-0. Dietrich Fischer-Dieskau: Franz Schubert und seine Lieder. Frankfurt 1999, ISBN 3-458-34219-2. Marie-Agnes Dittrich: Harmonik und Sprachvertonung in Schuberts Liedern. In: Hamburger Beiträge zur Musikwissenschaft. Band 38. Verlag der Musikalienhandlung Wagner, Hamburg 1991, ISBN 3-88979-049-6. Kurt von Fischer: Some thoughts on key order in Schubert’s song cycles. In: Kurt von Fischer: Essays in musicology. New York 1989, S. 122–132. Cord Garben: Zur Interpretation der Liedzyklen von Franz Schubert – Die schöne Müllerin, Winterreise, Schwanengesang – Anmerkungen für Pianisten. Verlag der Musikalienhandlung Wagner, Eisenach 1999. Harry Goldschmidt: Schuberts „Winterreise“. In: Um die Sache der Musik – Reden und Aufsätze. Verlag Philipp Reclam jun., Leipzig 1970. Veit Gruner: Ausdruck und Wirkung der Harmonik in Franz Schuberts Winterreise – Analysen, Interpretationen, Unterrichtsvorschlag. Verlag Die Blaue Eule, Essen 2004, ISBN 3-89924-049-9. Peter Gülke: Franz Schubert und seine Zeit. (Anm.: Zum Lemma der Abschnitt Die großen Liederzyklen, Seite 216–265), Laaber-Verlag, 2. Aufl. der Originalausgabe von 1996, 2002, ISBN 3-89007-537-1. Günter Hartung: „Am Brunnen vor dem Tore …“ – Rede über ein Lied von Wilhelm Müller und Franz Schubert. In: Impulse – Aufsätze, Quellen, Berichte zur deutschen Klassik und Romantik. Folge 3, Berlin / Weimar 1981, S. 250–267. Uwe Hentschel: Der Lindenbaum in der deutschen Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts. In: Orbis Litterarum. Jg. 60 (2005), H. 5, S. 357–376. Wolfgang Hufschmidt: „Der Lindenbaum“ – oder: Wie verdrängt man eine böse Erinnerung. In: ders.: Willst zu meinen Liedern deine Leier drehn? Zur Semantik der musikalischen Sprache in Schuberts „Winterreise“ und Eislers „Hollywood-Liederbuch“. Pfau Verlag, Saarbrücken 1992, S. 96–102. Wilhelm Müller: Werke, Tagebücher, Briefe in 5 Bänden und einem Registerband. Hrsg. von Maria-Verena Leistner. Mit einer Einleitung von Bernd Leistner. Verlag Mathias Gatza, Berlin 1994, ISBN 3-928262-21-1. Christiane Wittkop: Polyphonie und Kohärenz. Wilhelm Müllers Gedichtzyklus „Die Winterreise“. M und P Verlag für Wissenschaft und Forschung, Stuttgart 1994, ISBN 3-476-45063-5. Martin Zenck: Franz Schubert im 19. Jahrhundert. Zur Kritik eines beschädigten Bildes. In: Klaus Hinrich Stahmer (Hrsg.): Franz Schubert und Gustav Mahler in der Musik der Gegenwart. Schott, Mainz 1997, ISBN 3-7957-0338-7, S. 9–24. Weblinks Wilhelm Müllers Gedicht „Der Lindenbaum“ (Am Brunnen vor dem Tore) in Illustrationen auf Postkarten Essay von Robert Peters über Müllers Lindenbaum auf einer der Winterreise gewidmeten Webseite Am Brunnen vor dem Tore. MIDI/MP3-Dateien und Notenblatt Einzelnachweise Kunstlied Volkslied Gedicht Lied von Franz Schubert Baum in der Kultur Wilhelm Müller (Dichter) Friedrich Silcher
808426
https://de.wikipedia.org/wiki/STS-121
STS-121
STS-121 (englisch Space Transportation System) ist die Missionsbezeichnung für den am 4. Juli 2006 gestarteten Flug des US-amerikanischen Space Shuttles Discovery (OV-103). Es war die 115. Space-Shuttle-Mission, der 32. Flug der Raumfähre Discovery und der 18. Flug eines Shuttles zur Internationalen Raumstation (ISS). Mannschaft Shuttle-Besatzung Steven Lindsey (4. Raumflug), Kommandant Mark Kelly (2. Raumflug), Pilot Michael Fossum (1. Raumflug), Missionsspezialist Piers Sellers (2. Raumflug), Missionsspezialist Lisa Nowak (1. Raumflug), Missionsspezialistin Stephanie Wilson (1. Raumflug), Missionsspezialistin ISS-Crew Hinflug ISS-Expedition 13/ISS-Expedition 14 Thomas Reiter (2. Raumflug), Bordingenieur / Ersatz Léopold Eyharts (2. Raumflug), Bordingenieur / für Thomas Reiter Bodenpersonal Flugleiter: Steve Stich während Start und Landung; Tony Ceccacci, Paul Dye und Norm Knight während der Zeit im Orbit; (ISS-Flugleiter: Rick LaBrode, Annette Hasbrook und Matt Abbott) Startleiter: Michael D. Leinbach Verbindungssprecher (CapComs): Steve Frick während Start und Landung; Rick Mastracchio, Lee Archambault und Steve Swanson während der Zeit im Orbit; (ISS-CapComs: Julie Payette, Megan McArthur und Thadd Bowers) Missionsüberblick Nach dem Columbia-Unglück im Februar 2003 war dies nach STS-114 der zweite Testflug zur Wiederaufnahme der Shuttle-Flüge, die die NASA unter das Motto „Return to Flight“ gestellt hatte. Zunächst sollte bewiesen werden, dass die Verbesserungen funktionieren, die nach STS-107 und STS-114 durchgeführt wurden. Deshalb wurde besonders darauf geachtet, dass keine Stücke der Schaumstoffisolierung des Außentanks abplatzten. Während des Starts lösten sich tatsächlich nur wenige Teile, die keine Gefahr darstellten. Wie beim letzten Shuttle-Flug, der ein Jahr früher stattfand, wurde in der Umlaufbahn viel Zeit darauf verwendet, den Hitzeschild der Raumfähre auf Beschädigungen zu untersuchen. Diese Inspektionen wurden mit dem 15 Meter langen Abtastarm (OBSS) vorgenommen. Verbunden mit dem Roboterarm (RMS) des Orbiters, kann so die Oberfläche – insbesondere die Unterseite der Fähre – genau untersucht werden. Daneben wurde getestet, wie belastbar die mechanischen Arme sind, wenn man sie miteinander verbunden hat. Dazu wurde während eines Außenbordeinsatzes (EVA) am Ende des OBSS eine Plattform montiert, die zwei Astronauten trug. Wenn das System aus RMS und OBSS stabil genug sein sollte, würde es künftig möglich sein, einen Astronauten damit in die Nähe von beschädigten Kacheln zu bringen, um sie reparieren zu können. Die Reparatur der empfindlichen Hitzeschutzfliesen war auch Ziel einer weiteren EVA, bei der eine neuentwickelte Spachtelmasse unter Weltraumbedingungen getestet wurde. Mit dem Flug wurde die Besatzung der ISS um ein Besatzungsmitglied aufgestockt. Damit arbeiteten erstmals seit der Expedition 6 wieder drei Raumfahrer auf der Station. Der deutsche Astronaut Thomas Reiter verblieb noch das kommende halbe Jahr nach der Mission auf der ISS. Daneben gehörte der Transport von Gütern zu den Aufgaben von STS-121. Ein Großteil der über 4 Tonnen Fracht wurden mit dem Logistikmodul Leonardo (2,4 Tonnen) zur Station gebracht. Die NASA bezeichnete den Flug als vollen Erfolg, weil alle Aufgaben erfüllt wurden. Vorbereitungen Ursprüngliche Planungen Bei STS-121 handelt es sich um einen eingeschobenen Flug, der von der NASA im Jahr 2003 ins Programm genommen wurde. Es hatte sich herausgestellt, dass die von STS-114 nach der durch den Columbia-Absturz verursachten Zwangspause zu bewältigenden Aufgaben zu umfangreich für eine Mission sein würden. Für die NASA sind deshalb STS-114 und STS-121 miteinander verbunden. Sie sieht beide Missionen als Testflüge an, die die Wiederaufnahme der Shuttle-Flüge unter der Bezeichnung „Return to Flight“ dokumentieren. Die ersten Planungen sahen einen Start im November 2004 vor, als die NASA-Leitung im Herbst 2003 davon ausging, STS-114 im September 2004 durchführen zu können. Mit der Verschiebung von STS-114 sollte sich auch der Beginn von STS-121 verzögern. Als die Discovery schließlich Ende Juli 2005 zur ISS aufbrach, sollte die Raumfähre Atlantis zwei Monate später folgen. Während des Starts von STS-114 lösten sich jedoch wieder Teile der Schaumstoffisolierung des Außentanks. Deshalb setzte die US-Raumfahrtbehörde, noch bevor die Discovery zur Erde zurückgekehrt war, alle weiteren Flüge aus. Zunächst sollte endlich geklärt werden, warum immer wieder Teile der Isolierung abplatzten, und dafür eine Lösung gefunden werden. Mit einem Start sei frühestens im November 2005 zu rechnen, erklärte William Gerstenmaier, der damalige Leiter des ISS-Programms und mit der Untersuchung der sich lösenden Isolierung Beauftragte, kurz nach der Landung von STS-114. Nur eine Woche darauf musste Gerstenmaier einräumen, dass man viel mehr Zeit benötige – mindestens ein halbes Jahr. Alle drei bereits ausgelieferten Außentanks würden zur Überarbeitung an den Hersteller, die Michoud Assembly Facility (MAF) in Louisiana, zurückgeschickt werden, erklärte er. Außerdem hätte man sich für einen Tausch des Orbiters entschieden. Wie bei STS-114 werde die Discovery mit der Durchführung von STS-121 beauftragt, um die Atlantis für die Mission STS-115 verwenden zu können. Bei dieser Mission sollen schwere Komponenten zur ISS geflogen werden. Diese Entscheidung wurde getroffen, weil die Atlantis etwas leichter ist als die Discovery und deshalb mehr Nutzlast tragen kann. In der Folge gab es eine ganze Reihe von Zwischenfällen und weiteren Problemen, sowohl am Orbiter als auch am Außentank, die das Programm weiter verzögerten. Probleme am Außentank Da der Hurrikan Katrina Ende August 2005 die MAF, die sich östlich von New Orleans befindet, schwer beschädigt hatte, sah sich die NASA gezwungen, den Start auf Mai 2006 zu verschieben. Die MAF-Anlage stand unter Wasser, es gab keinen Strom und zeitweise wurde sie vom US-Militär als Basis für Hilfsaktionen genutzt. Außerdem hatten die Arbeiter genug eigene Probleme, denn mehr als die Hälfte war obdachlos geworden. Erst Anfang November nahm die MAF die Arbeit wieder auf. Als mögliche Ursache für die Probleme mit der Schaumstoffisolierung wurden die so genannten PAL-Schwellen (Protuberance Air Load) erkannt. Diese Schwellen decken die außen am Tank verlaufenden Treibstoffleitungen zum Orbiter mit Schaum ab, um sie gegen Luftverwirbelungen zu schützen. Diese Isolierung ist jedoch sehr exponiert und platzt leicht ab. Im Dezember 2005 entschloss sich die NASA deshalb, zumindest bei diesem Flug auf die PAL-Schwellen zu verzichten. Ein entsprechend umgebautes Modell traf Anfang März 2006 im Kennedy Space Center (KSC) ein. Ein weiteres Problem waren die Treibstoffsensoren im Außentank, die bereits Startverzögerungen von STS-114 verursacht hatten. Die so genannten Engine-Cutoff-Sensoren (ECOs), die die Füllstände messen, hatten bei Tests Unregelmäßigkeiten gezeigt. Sie sollen die Haupttriebwerke rechtzeitig abschalten, wenn der Tank vorzeitig einen zu niedrigen Füllstand aufweist. So wird verhindert, dass die Turbopumpen leerlaufen, durchdrehen und explodieren, was den Orbiter schwer beschädigen würde. Mitte März kündigte Wayne Hale, der Manager des NASA-Shuttle-Programms an, dass die Sensoren vorsorglich ausgetauscht würden. Ein Starttermin im Mai sei deshalb nicht zu halten. Anfang April zeigten sich neue Probleme mit dem Außentank. Bei Windkanaltests mit einem originalgetreuen Modell des Tanks, die die NASA von der US-Luftwaffe in deren riesiger Anlage in der Nähe von Tullahoma (Tennessee) durchführen ließ, waren erneut Teile der Isolierung abgeplatzt. Diesmal im Bereich der so genannten Frostschwellen (sieben dieser „Ice/Frost-Ramps“, von denen jede etwa 30 Zentimeter lang ist, befinden sich am Wasserstoff- und zwei am Sauerstoffbereich). Sie sorgen dafür, dass sich beim Einfüllen des eiskalten Treibstoffes kein Eis an den Leitungen außen am Tank bildet. Die Schwellen waren neu konzipiert worden, um die Menge des aufgetragenen Isoliermaterials zu verringern. Der Tank wurde Mitte April im VAB auf der Startplattform mit den beiden bereits fertig aufgebauten Feststoffraketen verbunden. Zuvor hatte die NASA entschieden, diese Mission nach den missglückten Windkanaltests nun doch mit den alten Frostschwellen zu fliegen. Einige der NASA- und Lockheed-Martin-Ingenieure waren jedoch dafür, mit dem Start so lange zu warten, bis man eine sicherere Konfiguration gefunden hätte. Andere, unter ihnen auch Shuttle-Manager Wayne Hale, waren jedoch dagegen, weil sie neben dem Entfernen der PAL-Schwellen keine zweite schwergewichtige Änderung machen wollten. Am 4. Mai hatten die Verantwortlichen entschieden, keinen Betankungstest durchzuführen. Es hatte Überlegungen gegeben, wegen der Problematik mit den ECO-Sensoren, eventuell Anfang Juni den Außentank zu befüllen, um das Verhalten der Sensoren unter realen Bedingungen zu testen. Man befürchtete jedoch, dass ein mehrmaliges Befüllen zu Rissen im Isolationsmaterial führen könnte. Diese würden die Gefahr abplatzender Teile vergrößern, weil sich so Luftturbulenzen bilden könnten. Im Juni wurde der Tank endgültig für flugtauglich erklärt. Probleme am Orbiter Während der Startvorbereitungen kam es Anfang März in der Wartungshalle (Orbiter Processing Facility) des Orbiters am KSC zu einem Unfall. Eine Lampe zerbrach und Glasscherben fielen in die geöffnete Nutzlastbucht. Techniker entfernten die Scherben mit teleskopartigen Hebebühnen. Dabei wurde die Isolierung des Robotarms (RMS) leicht beschädigt, an der ein drei Zentimeter langer, nicht sichtbarer Riss entstand. Zwecks Ausbesserung und weiterer Inspektion wurde der beschädigte Teil des RMS zum Hersteller nach Kanada geschickt. Ende März traf das reparierte Stück wieder am KSC ein. Nachdem der Arm wieder zusammengesetzt und seine Funktionsfähigkeit überprüft worden war, wurde er kurz vor Ostern in den Orbiter eingebaut. Damit waren die Arbeiten am Orbiter abgeschlossen und er wurde am 12. Mai in das VAB überführt. Dort wurde die Discovery mit dem Außentank sowie den beiden Feststoffraketen verbunden und auf die Startplattform gesetzt. Genau eine Woche später wurde die Fähre zur Startrampe gerollt. Am 17. Juni wurden während der traditionellen Flugbereitschaftsabnahme, dem so genannten Flight Readiness Review, sämtliche Systeme der Discovery für startbereit erklärt und das vorläufige Startdatum (1. Juli) bestätigt. Ersatzorbiter Wie beim letzten Flug (STS-114) hielt die NASA einen zweiten Orbiter für den Fall bereit, dass die Discovery während des Starts beschädigt worden wäre. Die Atlantis hätte die Rettungsmission frühestens Ende August unter der Bezeichnung STS-300 durchgeführt und die STS-121-Besatzung sicher zur Erde gebracht. Bis dahin hätten die Astronauten auf der ISS ausharren müssen. Die Ressourcen der Raumstation würden für neun Personen – sechs Shuttle- und drei ISS-Raumfahrer – nach Angaben der NASA zwölf Wochen ausreichen. Dies ist die erste Mission, bei der es möglich ist, die Raumfähre ferngesteuert landen zu lassen. Dazu hat die Discovery ein 8,5 Meter langes Kabel an Bord, das die Kontrollen des Flugdecks mit einer Steuerungsbox im Mitteldeck verbindet und der Bodenkontrolle erlaubt, das Shuttle unbemannt zu landen. Dadurch kann das Kontrollzentrum in Houston Aktionen ausführen, die sonst die Piloten durchführen – beispielsweise das Fahrwerk ausfahren oder den Bremsschirm aktivieren. Missionsverlauf Die 115. Space-Shuttle-Mission (die 90. seit der Challenger-Katastrophe) begann am 4. Juli um 18:38 UTC, nachdem die ersten beiden Startversuche wegen ungünstiger Wetterverhältnisse abgebrochen werden mussten. 1. Startversuch, 1. Juli 2006 Der Countdown begann am 28. Juni 2006 um 21:00 UTC bei der T-43-Stunden-Marke. Einen Tag vorher traf die Besatzung, die bisher im Johnson Space Center in Houston trainiert hatte, im KSC ein. Die Meteorologen der NASA gingen zu Beginn des Countdowns von einer Wahrscheinlichkeit von 40 Prozent aus, dass der Start wie vorgesehen stattfinden könne. Es wurde befürchtet, dass Sommergewitter auftreten könnten. Diese Angst war berechtigt, denn schon am 27. Juni hatte ein Blitz in eine Verteileranlage nahe der Startrampe eingeschlagen. Die Besatzung wurde kurz nach 9:00 UTC geweckt, frühstückte und legte ihre orangefarbenen ACES-Start- und Landeanzüge (Advanced Crew Escape Suits) an. Gegen 16:00 UTC verließen alle Astronauten das Mannschaftsquartier, fuhren zur Startrampe und stiegen in die Raumfähre ein. Trotz Schauern am Nachmittag wurde der Countdown nicht abgebrochen. Erst um 19:41 UTC, also acht Minuten vor dem geplanten Abheben, wurde die Countdown-Uhr angehalten und der Start um 24 Stunden verschoben. Gewitterwolken hatten sich bis auf 35 Kilometer dem KSC genähert, die Sicherheitsvorschriften verlangen aber eine Mindestentfernung von 55 Kilometern. Mögliche Blitzschläge hätten so eine eventuelle Notlandung des Orbiters am Startplatz verhindert. 2. Startversuch, 2. Juli 2006 Der zweite Startversuch war für den 2. Juli um 19:26 UTC geplant. Bezüglich der Wetterlage sah es für den zweiten Startversuch sogar noch schlechter aus als einen Tag zuvor: Die Wahrscheinlichkeit, den Start wegen schlechten Wetters erneut verschieben zu müssen, wurde von der NASA mit 70 Prozent angegeben. Am Nachmittag zog auch tatsächlich ein Gewitter über das Startgelände. Um 17:14 UTC, als die Mannschaft bereits eingestiegen und angeschnallt war, brach die NASA den Start erneut wegen der unsicheren Wetterlage ab. Er wurde um zwei Tage auf den 4. Juli verschoben. Die 48-stündige Verschiebung war nötig, um die Tanks für flüssigen Sauerstoff und flüssigen Wasserstoff in der Nutzlastbucht des Shuttles wieder aufzufüllen. Damit werden die Brennstoffzellen betrieben, die die Bordelektrik versorgen. Sie hatten seit dem 1. Juli um 4:00 UTC ununterbrochen gearbeitet. 3. Startversuch und Start, 4. Juli 2006 Beim dritten Versuch am 4. Juli gelang der Start. Pünktlich zum festgesetzten Zeitpunkt um 18:37:55 UTC hob die Discovery von der Startrampe ab. Diesmal gab es auch von Seiten der Meteorologen keine Einwände: Es war ein sonniger Tag mit 30 Grad Celsius Lufttemperatur und leichter Bewölkung. Am Vortag war ein 13 Zentimeter langer Riss in der Schaumstoffisolierung an einer Strebe der Sauerstoffzuleitung vom Außentank entdeckt worden. Außerdem fand man auf der Startplattform ein 8 Zentimeter großes und einen halben Zentimeter dickes Schaumstoffstück, das sich von dieser Stelle gelöst hatte. Durch sein Gewicht von 2,5 Gramm hätte dieses Stück Schaum allerdings keine Gefahr für den Orbiter dargestellt, wenn es während des Starts vom Tank abgefallen wäre und den Orbiter getroffen hätte. Während des Starts fielen erneut einige kleine Teile vom Außentank ab. Nach Angaben der NASA lösten sich drei oder vier Stücke knapp drei Minuten nach dem Verlassen der Rampe sowie ein weiteres Stück zwei Minuten später. Ob es sich dabei um Eis oder Teile der Isolation gehandelt habe, könne man nicht sagen. Die Astronauten Fossum und Wilson hatten die Aufgabe, die Trennung des Tanks zu filmen. Fossum meldete, er könne etwas erkennen, das wie ein Stück Stoff aussehe und zwischen Orbiter und Tank schwebe. Es sei etwa anderthalb bis vielleicht zweieinhalb Meter groß. Er vermutete, dass es sich dabei um ein Stück des Hitzeschildes handelte. Bildauswertungen ergaben jedoch, dass es eine große Eisplatte war. Shuttle-Programmmanager Wayne Hale erklärte auf einer ersten Pressekonferenz, dass der Tank „sehr, sehr gut“ gearbeitet hätte. Man habe nichts entdeckt, was zu Besorgnis Anlass gebe. 1. Missionstag, 4. Juli 2006 Eineinhalb Stunden nach dem Start der Raumfähre wurden die Ladebuchttore geöffnet und die Kommunikations- und Bordsysteme überprüft. 2. Missionstag, 5. Juli 2006 Ziel des ersten ganzen Tages im Orbit war das Überprüfen des Hitzeschildes der Raumfähre auf eventuelle Beschädigungen. Dabei wurden über den Tag verteilt – insgesamt sechseinhalb Stunden lang – die Hitzeschutzkacheln mit dem neuen OBSS-Inspektionsarm (Orbital Boom Sensor System) untersucht, der erstmals vor einem Jahr auf STS-114 zum Einsatz kam. Zentimeterweise wurden mit hoch auflösenden Kameras und Laser-Sensoren die Nase des Orbiters sowie die rechte Tragfläche inspiziert, weil diese Bereiche nach dem Andocken an die Station nicht mehr mit dem Roboterarm zugänglich sind. Die Astronauten Wilson, Nowak und Fossum wechselten sich dabei immer wieder ab, da es sehr ermüdend ist, lange Zeit die gefilmten Gebiete auf dem Monitor konzentriert zu beobachten. Eine erste Auswertung der Überprüfung des Hitzeschildes ergab, dass er beim Start lediglich kleine Schäden davontrug. Flugdirektor Tony Ceccacci erklärte, dass es noch zu früh sei, um das endgültig sagen zu können. Die abschließende Analyse würde erst in etwa zwei Tagen vorliegen. Lediglich am rechten Flügel wurde ein Füllstreifen entdeckt, der zwischen zwei Hitzeschutzkacheln hervorstand. Dieser befand sich jedoch nicht an einer kritischen Stelle und musste nicht unbedingt entfernt werden. Zudem wurden ebenfalls an der rechten Tragfläche drei weiße Flecken gefunden, bei denen es sich laut Ceccacci mit größter Wahrscheinlichkeit um Vogelkot handelte. Die Ingenieure würden die Bilder aber noch weiter untersuchen, um sicher zu sein. Während die Missionsspezialisten sich bei der aufwändigen Inspektion am Roboterarm ablösten, brachten Kommandant Lindsey und Pilot Kelly die Raumfähre durch mehrmaliges Einschalten der Manövriertriebwerke immer näher an die ISS. Außerdem überprüfte man die Raumanzüge auf ihre Funktionstüchtigkeit. 3. Missionstag, 6. Juli 2006 Der dritte Flugtag stand ganz im Zeichen der Internationalen Raumstation (ISS): Als der Orbiter die Station erreicht hatte, stoppte er in 180 Meter Entfernung. Wie bereits bei STS-114 wurde die Discovery von Kommandant Steven Lindsey genau eine Stunde vor der Kopplung langsam um 360° über die Querachse gedreht, damit die ISS-Crew hochauflösende Fotos von der Unterseite der Fähre anfertigen konnte. 350 Aufnahmen wurden innerhalb von neun Minuten gemacht und umgehend zum Kontrollzentrum nach Houston gesendet. Die Auswertung ergab, dass der Hitzeschild völlig intakt war. Genau nach Zeitplan dockte die Discovery um 14:52 UTC an die ISS an. Nach den notwendigen Dichtigkeitstests wurden die Luken geöffnet. Die Erlaubnis dazu kam 20 Minuten früher als vorgesehen um 16:30 UTC. Die siebenköpfige Mannschaft der Discovery wurde herzlich von den beiden ISS-Hausherren begrüßt. Für Winogradow und Williams war es der erste Besuch seit sie die Station Anfang April übernahmen. Nach einer kurzen Sicherheitseinweisung wurde der vom Shuttle mitgebrachte Schalensitz von Reiter in dem russischen Sojus-Raumschiff installiert. Damit gehörte er offiziell zur Besatzung der Raumstation. 4. Missionstag, 7. Juli 2006 Mit dem Roboterarm der Raumstation wurde am vierten Flugtag das in Italien gefertigte Logistikmodul Leonardo aus dem Frachtraum der Discovery gehievt und mit der ISS verbunden. Eineinhalb Stunden später als im Flugplan vorgesehen wurde Leonardo um 12:15 UTC am Modul Unity angekoppelt. Es beinhaltete über drei Tonnen Güter, Ausrüstungsteile und Experimente, die von der 13. Stammbesatzung der ISS dringend gebraucht wurden. Später begannen die Astronauten mit dem Entladen des Containers, das mehrere Tage dauerte. Im weiteren Verlauf des Tages widmeten sich die Missionsspezialistinnen Nowak und Wilson zusammen mit Pilot Kelly einer weiteren vierstündigen Überprüfung der Hitzeschutzkacheln des Orbiters. Auf dem Programm standen ausgewählte Gebiete, die beim ersten Scan aufgefallen waren. Darunter die Flügelvorderkanten und die hervorstehenden Füllstreifen. Beim letzten Flug ein Jahr zuvor hatte sich die NASA entschieden, einen Ausstieg (EVA) anzuordnen, um die Kunststoffstreifen zu entfernen, die sich gelöst hatten. Flugdirektor Tony Ceccacci gab bekannt, dass die Missionsleitung einen zusätzlichen Flugtag genehmigt habe. Dies bedeute, dass eine dritte EVA der beiden Astronauten Fossum und Sellers durchgeführt werde. Falls erforderlich, würden dabei die beiden Füllstreifen entfernt. Eine dritte EVA war ursprünglich geplant, wurde jedoch lange vor dem Start wieder gestrichen, weil das Arbeitspensum für die Mannschaft zu umfangreich sei. 5. Missionstag, 8. Juli 2006 Für den 8. Juli stand der erste von insgesamt drei Außenbordeinsätzen (EVAs) auf dem Programm. EVA-1 begann um 13:17 UTC, als der ausstiegserprobte Missionsspezialist Piers Sellers und der Neuling Mike Fossum ihre Raumanzüge auf interne Stromversorgung umschalteten. Kurz darauf verließen sie die Raumstation durch die Luftschleuse Quest. Ein Ziel der EVA war, ein beschädigtes Kabel des Mobilen Transporters zu ersetzen. Außerdem wurde der Robotarm (RMS) des Orbiters mit dem Inspektionsarm (OBSS) verbunden – wie bereits zur Überprüfung des Kachelzustands geschehen. Die NASA wollte so erfahren, ob das 30 Meter lange RMS/OBSS-System stabil genug ist, um Astronauten tragen zu können und im Fall einer Kachelreparatur als Arbeitsplattform zu dienen. Gesteuert von Lisa Nowak und Stephanie Wilson aus dem Shuttle-Cockpit, stieg erst Sellers auf die Plattform am Ende des OBSS. Später kam Fossum dazu, der zunächst alles aus der Nutzlastbucht beobachtet hatte. Entgegen den Erwartungen der Ingenieure wurden auftretende Schwingungen sehr schnell gedämpft. Die Verbindung von RMS und OBSS schien also stabil genug für Arbeiten zu sein, was allerdings durch Analyse der gesammelten Informationen noch verifiziert werden musste. Nach 7 Stunden und 31 Minuten endete der erste Außeneinsatz um 20:48 UTC. John Shannon, Vorsitzender der Flugleitung, gab bekannt, dass die Auswertung der Daten über den Zustand der Hitzeschutzkacheln abgeschlossen sei. Bis auf eine Stelle befände sich der Hitzeschild in bestem Zustand. Die Techniker müssten nur noch die Aufzeichnungen über einen der hervorstehenden Füllstreifen an der Unterseite der Discovery analysieren. 6. Missionstag, 9. Juli 2006 Hauptpunkt der Aktivitäten des sechsten Flugtages war das weitere Entladen von Leonardo. Nach Angaben der NASA waren zu Beginn dieses Arbeitstages erst 20 Prozent aller Güter aus Discovery und Leonardo in die ISS gebracht worden. Gegen 16:00 UTC gaben alle neun Raumfahrer im Modul Destiny eine ausführliche Pressekonferenz. Angesprochen auf seinen ein Jahrzehnt zurückliegenden Flug zur Raumstation Mir und einen Vergleich zur jetzigen Mission, erwiderte Reiter, dass die ISS bereits im Augenblick mehr Platz biete, als die voll ausgebaute russische Station. Es sei alles viel großzügiger dimensioniert. Zur Zeit sei ein volles Pensum zu absolvieren, so dass wenig Zeit für Anderes bleibe. Wenn die Raumfähre abgedockt habe, würde er sofort mit seinem Fitnessprogramm beginnen, um die körperlichen Strapazen des bevorstehenden Außenbordeinsatzes Anfang August problemlos meistern zu können. Auf den Ausstieg mit seinem US-Kollegen freue er sich. Unmittelbar bevor für die Raumfahrer der Tag zu Ende ging, wurden sie von der Bodenkontrolle mit guten Nachrichten versorgt: die NASA-Ingenieure hätten alle Daten und Aufnahmen des Hitzeschildes sorgfältig geprüft und er sei „hundertprozentig klar zum Wiedereintritt“. Die Discovery-Crew nahm die Meldung mit Erleichterung auf. 7. Missionstag, 10. Juli 2006 Die Besatzung der Discovery wurde um 6:08 UTC mit dem Lied „Clocks“ der Gruppe Coldplay geweckt. Seine Familie hatte es für Piers Sellers ausgesucht, der im weiteren Verlauf des Tages seinen insgesamt fünften Außenbordeinsatz (EVA) durchführte. Die Mannschaft der Raumstation wurde eine halbe Stunde später mit dem Standardton geweckt. Sellers und Mike Fossum verließen wie vorgesehen um 12:14 UTC die Quest-Schleuse und begannen die zweite EVA dieser Mission. Zunächst hoben die beiden eine Ammoniakpumpe (sie wird für das Kühlsystem der Raumstation benötigt) aus dem Frachtraum der Raumfähre und verstauten sie im „Ersatzteillager“ der ISS. Es handelt sich um ein Reservegerät, das erst gebraucht wird, wenn die ISS weiter ausgebaut ist. Diese Pumpe wurde am 16. August 2010 von Tracy Caldwell-Dyson und Douglas Wheelock genutzt, um bei einer EVA die kaputt gegangene Originalpumpe in der S1-Trägerstruktur auszutauschen. Hauptaufgabe des Ausstiegs war jedoch das Auswechseln eines Fernseh- und Datenkabels, das für die Funktion des ISS-Transportwagens – offiziell als Mobile Transporter (MT) bezeichnet – wichtig ist. Er wird verwendet, um den Robotarm der Station an seine Einsatzorte zu bringen. Der Wagen war vor genau sieben Monaten ausgefallen, als eine Trennvorrichtung im MT eines der beiden Datenkabel durchschnitt. Fossum und Sellers konnten alle gestellten Aufgaben der EVA erfüllen, die nach 6 Stunden und 47 Minuten endete. Während der Außenarbeiten gab es etwas Aufregung, als sich das kleine Rettungsgerät (SAFER) von Sellers' Raumanzug löste. Er war zwar nicht in Gefahr, weil er durch eine Sicherungsleine immer noch mit dem „Raketenrucksack“ verbunden war, trotzdem kam ihm Fossum zu Hilfe, um SAFER wieder zu befestigen. An den EVA-Aktivitäten waren alle Shuttle-Astronauten beteiligt, während die drei ISS-Männer weiterhin mit dem Ausladen des Leonardo-Moduls beschäftigt waren. 8. Missionstag, 11. Juli 2006 Die Flugleitung war hocherfreut über den Ausgang der zweiten Außenbordaktivität. Erste Daten zeigten, dass der tags zuvor reparierte ISS-Transportwagen (MT) wieder voll funktionstüchtig ist. Er ist unverzichtbar für den weiteren Ausbau der Raumstation. In der morgendlichen E-Mail dankte das Kontrollzentrum den „All-Arbeitern“ für ihre geleistete Arbeit. Phil Engelauf, der oberste Flugdirektor, erklärte, dass der bisherige Flugverlauf der Discovery optimistisch stimme, die Atlantis wie geplant Ende August starten zu können. Hauptaufgabe des achten Flugtages war das weitere Entladen des Leonardo-Moduls. Am Ende hatten die Astronauten rund 90 Prozent aller Güter umgeladen. Daneben warteten Piers Sellers und Mike Fossum ihre Raumanzüge für ihren dritten Ausstieg. Nach dem Mittagessen erhielten die Astronauten einen „wichtigen“ Anruf aus dem Oval Office des Weißen Hauses: US-Präsident George Bush beglückwünschte gegen 14:30 UTC die ISS-Bewohner zu ihrer guten Arbeit. 9. Missionstag, 12. Juli 2006 Für den neunten Tag stand der dritte Ausstieg (EVA) im Mittelpunkt der Aktivitäten. Um 11:20 UTC stiegen Piers Sellers und Mike Fossum über die Luftschleuse Quest der Raumstation aus. Nachdem sie eine Fußhalterung am ISS-Roboterarm montiert hatten, machte sich Sellers daran fest und ließ sich über die Nutzlastbucht der Raumfähre hieven. Mit einer Infrarotkamera fertigte er Einzelbilder sowie einen 20-Sekunden-Film der Flügelvorderkanten an. Mit Hilfe dieser Aufnahmen wollen die NASA-Ingenieure Beschädigungen aufspüren, die oberflächlich nicht zu entdecken sind. Danach erprobten die beiden Astronauten Reparaturmethoden an Hitzeschutzkacheln. Dazu befand sich in der Nutzlastbucht eine Palette mit einem Dutzend präparierter Kacheln. Nach dem Absturz der Columbia im Februar 2003 tüftelte die NASA an Instandsetzungstechniken für den Hitzeschild. Noch im Entwicklungsstadium ist eine Spezialspachtelmasse, die kleine Risse und Fugen abdichten soll. Fossum und Sellers experimentierten mit dem Kleber, um festzustellen, wie gut sich dieser unter Weltraumbedingungen auftragen und verteilen lässt. Danach wurden auch von den Testkacheln Infrarotaufnahmen gemacht. Zum Vergleich fertigte man sowohl von den behandelten als auch von den unbehandelten Fliesen Fotos und einen einminütigen Film an. Die dritte und letzte EVA dieser Mission ging nach 7 Stunden und 11 Minuten zu Ende. Während der EVA verlor Piers Sellers einen Spachtel, den er für das Auftragen des Klebers verwendet hatte. Die Bodenkontrolle konnte das wegschwebende Werkzeug mit der Kamera beobachten und kam zum Schluss, dass seine Flugbahn keine Gefahr für den Orbiter oder die Station darstelle. Es kommt nur sehr selten vor, dass während eines Außenbordeinsatzes Werkzeug verloren geht. Die dreiköpfige Mannschaft der Raumstation belud während der EVA das Logistikmodul Leonardo. Insgesamt mussten knapp zwei Tonnen nicht benötigter Geräte, zur Auswertung bereiter Proben und Abfall zurück zur Erde gebracht werden. 10. Missionstag, 13. Juli 2006 Nach den sehr arbeitsreichen Tagen genehmigte die Flugleitung den Astronauten einige Stunden Freizeit, die allerdings immer wieder von offiziellen Interviews und Fernsehübertragungen unterbrochen wurde. Den ersten dieser offiziellen Programmpunkte hatte Thomas Reiter gegen 8:15 UTC zu absolvieren. Eine Viertelstunde hatten bayerische Schüler Gelegenheit, den Deutschen zu seinen ersten Eindrücken auf der Raumstation zu befragen. Es waren Gymnasiasten einer 7. Klasse, die auf Einladung ins DLR-Kontrollzentrum nach Oberpfaffenhofen gekommen waren. Reiter erklärte, dass seine Arbeit „hoch interessant“ sei, wenn man auch zunächst noch damit beschäftigt sei, die Bordsysteme zu warten, bevor die Experimente gestartet würden. Die Schwerelosigkeit demonstrierte Reiter, indem er ein Handbuch vor der Kamera schweben ließ und einen Kopfstand vollführte. Zwischenzeitlich hatte sich ein Problem an einem System der Raumfähre eingestellt: Zwei der drei Hilfskraftanlagen (APUs), die die Hydraulik betreiben, zeigten kleine Abweichungen. Ein Gerät wies einen geringen Druckabfall auf und die andere APU hatte einen Defekt in der Wärmeregulierung. Die Ingenieure des Kontrollzentrums machten sich auf die Suche nach der Ursache, um die Fehler beseitigen zu können. 11. Missionstag, 14. Juli 2006 Nachdem die letzten noch verbliebenen Frachten im Logistikmodul Leonardo verstaut wurden, verschlossen die Raumfahrer den Container. Um 13:32 UTC koppelten die Missionsspezialistinnen Stephanie Wilson und Lisa Nowak Leonardo vom ISS-Modul Unity ab und verankerten den Frachtbehälter um 15:00 UTC im Frachtraum des Orbiters. Im weiteren Verlauf des Tages untersuchten die Astronauten Teile der Raumfähre auf Mikrometeoriteneinschläge. Dazu wurde – wie zu Beginn der Mission geschehen – der Robotarm des Shuttles mit dem Inspektionsarm (OBSS) verbunden. Die Systeme des OBSS inspizierten dann die linke Tragfläche. Die NASA-Ingenieure suchten noch immer nach dem Grund der Probleme mit den Hydraulikaggregaten (APUs), die am Vortag aufgetreten waren. Wayne Hale, der Leiter des Space-Shuttle-Programms, erklärte, dass er davon ausgehe, dass dieser Defekt die bevorstehende Landung nicht beeinträchtige. Der Druckverlust bei einer der drei mit Hydrazin betriebenen APUs sei so gering, dass auch die Gefahr eines Brandes unwahrscheinlich sei. Man untersuche noch immer, ob überhaupt Hydrazin austritt, oder Stickstoff, der den Tank unter Druck hält. (Der Shuttle ist in der Lage, mit nur einer APU zu landen.) 12. Missionstag, 15. Juli 2006 Nach 8 Tagen, 19 Stunden und 16 Minuten dockte die Discovery pünktlich um 10:08 UTC von der Raumstation ab und ließ den Deutschen Thomas Reiter zurück. Damit arbeitet an Bord der ISS erstmals seit genau drei Jahren wieder eine dreiköpfige Stammbesatzung. Zwei Stunden zuvor hatten sich die Besatzungen verabschiedet und die Luken geschlossen. Nach der Trennung überprüfte die Mannschaft ein letztes Mal die Raumfähre auf Spuren von Mikrometeoriteneinschlägen. Zunächst wurde mit dem Inspektionsarm der rechte Flügel des Orbiters abgetastet und anschließend die Hitzeschutzkacheln an der Nase. Bis die Discovery den Rückflug antrat, hielt sie sich in rund 75 Kilometern Entfernung zur Raumstation auf. Dadurch bestand jederzeit die Möglichkeit, bei Problemen zur ISS zurückkehren zu können. Bezüglich des kleinen Lecks an einer der Turbinen (APUs) für den Betrieb der Hydraulikaggregate entschied sich die NASA, die für den nächsten Tag anstehende Überprüfung des Flugkontrollsystems abzuwarten. Hätte sich dabei die Leckrate vergrößert, wäre ein Leerlaufen der defekten APU in Erwägung gezogen worden. 13. Missionstag, 16. Juli 2006 Die sechsköpfige Crew des Orbiters traf an Bord die letzten Vorbereitungen für die Heimkehr. Gegen 8:00 UTC begannen die Piloten mit der Überprüfung des Flugkontrollsystems. Während der einstündigen Prozedur wurde auch die Hydraulik getestet, die durch die Hilfskraftanlagen (APUs) gespeist wird. Am Ende konnten die Piloten melden, dass es keine Probleme mit den Aggregaten gibt. Alle drei APUs zeigten normale Werte. Die NASA-Ingenieure schlossen im Laufe des Tages die Überprüfung der letzten OBSS-Inspektion ab. Die Suche nach mikroskopisch kleinen Einschlägen verlief negativ. Gegen 14:00 UTC funkte das Kontrollzentrum zur Discovery, dass keine Schäden am Hitzeschild gefunden worden seien und die für den nächsten Tag geplante Landung durchgeführt werden könne. 14. Missionstag und Landung, 17. Juli 2006 Für eine Landung am 14. Missionstag bestanden am KSC zwei Landemöglichkeiten: 13:14 UTC und um 14:50 UTC. Es gab zunächst Überlegungen, die Ausweichlandeplätze Edwards Air Force Base in Kalifornien und White Sands Missile Range in New Mexico miteinzubeziehen, da es hätte sein können, dass nur zwei APUs funktionieren. Eine Landung mit nur zwei APUs wäre unter strengeren Wettervorschriften erfolgt. Aber der zuständige Flugdirektor Steve Stich gab am Vortag nach der Überprüfung der defekten APU bekannt, dass nur das KSC in Florida für die Landung am 17. Juli genutzt werde. Wäre die Landung auf den nächsten oder übernächsten Tag verschoben worden, hätten Edwards und White Sands als weitere Landeplätze aktiviert werden können. Der einzige Unsicherheitsfaktor war das Wetter: Von Norden näherte sich ein Regengebiet. Die Richtlinien der NASA sehen vor, dass die Landung abgesagt werden muss, wenn innerhalb von 55 Kilometern um das KSC herum eine Regen- oder Gewitterfront aufgezogen ist. Um 9:35 UTC wurden die Frachtraumtore geschlossen. Bis zur letzten Möglichkeit hatte die Flugleitung mit ihrer Entscheidung gewartet, den Wiedereintritt zu genehmigen. Schließlich wurde die erste Landemöglichkeit (13:14 UTC) genutzt. Um 11:56 UTC gab Houston grünes Licht für die dreiminütige Zündung der Bremstriebwerke, die um 12:07 UTC begann. Die Landung erfolgte pünktlich um 13:14:43 UTC bei bewölktem Himmel auf der Landebahn 15 des KSC. Eine knappe Minute später kam die Raumfähre um 13:15:49 UTC zum Stehen. Zunächst sollte Kommandant Steven Lindsey die Discovery auf Bahn 33 landen. Südlich des KSC hatte sich jedoch zehn Minuten nach Beginn des Wiedereintritts ein Regengebiet formiert. Daher ordnete das Kontrollzentrum während des Landeanflugs den Wechsel auf die einige Dutzend Kilometer nördlichere Route an. Die Discovery flog das KSC von Südwesten an. Zur Vernichtung der kinetischen Energie beschrieb sie etwa fünf Minuten vor dem Aufsetzen eine langgezogene Linkskurve. Dort, wo die Fähre ursprünglich diese Kurve hätte fliegen sollen, regnete es. Deshalb entschied die NASA, die Landebahn von Norden anfliegen zu lassen. Das KSC verfügt nur über eine Landebahn. Wird die Piste aus südlicher Richtung angeflogen (330°) ist es die Bahn 33, schwebt der Shuttle von Norden ein (150°) nennt man sie Bahn 15. Etwa anderthalb Stunden nachdem die Raumfähre gelandet war, machte die Besatzung ihren obligatorischen Rundgang um den Orbiter, nachdem sie medizinisch untersucht und für gesund befunden wurde. Mit dabei waren auch NASA-Direktor Mike Griffin und Bill Gerstenmaier, der Verantwortliche für den Raumfahrtbetrieb. Kommandant Lindsey betonte vor der Presse, dass dies sein vierter Flug war und er anschließend immer um die Fähre herumgegangen sei, aber noch nie habe er ein Fahrzeug gesehen, das so sauber ausgesehen hätte. Damit spielte er auf die Beschädigungen der Hitzeschutzkacheln der Raumfähre an. Nach der Landung wurden 96 kleine Schäden (ein Dutzend davon waren größer als 2,5 Zentimeter) gefunden. Das waren laut NASA weniger Funde als bisher, so ergab die Inspektion nach dem letzten Flug über 150 defekte Kacheln. Wake-Up-Calls Die Crew von STS-121 wurde von der Bodenkontrolle mit folgenden Weckrufen auf den neuen Arbeitstag eingestimmt: 2. Flugtag (MP3; 1,6 MB): „Lift Every Voice and Sing“ von New Galveston Choral für Stephanie Wilson 3. Flugtag (MP3; 2,1 MB): „Daniel“ von Elton John für Thomas Reiter 4. Flugtag (MP3; 2,1 MB): „Good Day Sunshine“ von den Beatles für Lisa Nowak 5. Flugtag (MP3; 1,3 MB): „God of Wonders“ von dem Duo Marc Byrd und Steve Hindalong für Mike Fossum 6. Flugtag (MP3; 245 kB): „I Have a Dream“ von Abba für Mark Kelly 7. Flugtag (MP3; 1,3 MB): „Clocks“ von Coldplay für Piers Sellers 8. Flugtag (MP3; 914 kB): „All Star“ von Smash Mouth für Lisa Nowak 9. Flugtag (MP3; 1,5 MB): „I Believe I Can Fly“ von R. Kelly für Stephanie Wilson 10. Flugtag (MP3; 1,2 MB): Titelsong aus der Serie „3 Engel für Charlie“ für die gesamte Crew 11. Flugtag (MP3; 3,1 MB): „Aggie Kriegs Hymne“ von der Fighting Aggie Texas Band für Mike Fossum 12. Flugtag (MP3; 1,3 MB): „Beautiful Day“ von U2 für Mark Kelly 13. Flugtag (MP3; 1,5 MB): „Just Like Heaven“ von The Cure für Piers Sellers 14. Flugtag (MP3; 1,6 MB): „The Astronaut“ von Something Corporate für Steven W. Lindsey Siehe auch Liste der Space-Shuttle-Missionen Liste der bemannten Raumflüge Liste der Raumfahrer Bemannte Raumfahrt Weblinks NASA: Offizielle Missionsseite (englisch) NASA: Missionsübersicht (englisch) NASA: Statusberichte des Kontrollzentrums (englisch) NASA: Fotogalerie der Mission (englisch) Videozusammenfassung mit Kommentaren der Besatzung (englisch) Einzelnachweise Discovery (Raumfähre) NASA Deutsche Raumfahrt Europäische Weltraumorganisation Raumfahrtmission 2006
858522
https://de.wikipedia.org/wiki/Arleigh-Burke-Klasse
Arleigh-Burke-Klasse
Die Arleigh-Burke-Klasse ist eine Klasse von Lenkwaffenzerstörern der United States Navy. Mit derzeit 68 Schiffen ist sie – was die Zahl der Einheiten betrifft – eine der zahlenmäßig am meisten gebauten Schiffsklassen der US Navy seit dem Zweiten Weltkrieg und die meistgebaute seit dem Ende des Kalten Krieges. Das erste Schiff dieser Klasse wurde 1991 in Dienst gestellt. Die Produktion sollte ursprünglich im Jahr 2012 mit der 62. Einheit USS Michael Murphy (DDG-112) auslaufen. 2009 wurde beschlossen, die Zahl der geplanten Einheiten der Zumwalt-Klasse zu verringern und stattdessen weitere Schiffe der Arleigh-Burke-Klasse zu bauen. 12 weitere Einheiten sind derzeit im Bau oder in der Haushaltsplanung fest vorgesehen, weitere Planungen gehen vom Bau von 20 bis 40 zusätzlichen Einheiten bis in die 2030er Jahre aus. Die Schiffe sind die ersten Marineeinheiten der USA, die nach den Prinzipien der Tarnkappentechnik entwickelt wurden. Sie sind in den Trägerkampfgruppen vor allem für Flugabwehr zuständig, können aber auch für Angriffe auf Landziele eingesetzt werden. Zu den bekanntesten Schiffen der Arleigh-Burke-Klasse gehört die USS Cole, die im Jahr 2000 im Nahen Osten bei einem Terroranschlag schwer beschädigt wurde. Geschichte Planung und Bau Die Planung für die Zerstörer der Arleigh-Burke-Klasse begann Anfang der 1980er Jahre als Ersatz für die Lenkwaffenzerstörer der Charles-F.-Adams-Klasse sowie der Farragut-Klasse. Planungswerft für die Klasse war Bath Iron Works, eine Werft aus dem General-Dynamics-Konzern. Zwei Werften, Bath Iron Works in Bath, Maine und Ingalls Shipbuilding (zugehörig zum Konzern Northrop Grumman) in Pascagoula, Mississippi fertigen die Schiffe. Für den Bau verwenden sie die sogenannte Modularbauweise. Dabei werden einzelne Sektionen so weit wie möglich ausgerüstet, in ein Trockendock gebracht und dort zum Rumpf verschweißt. Die Aufbauten werden auf den fertigen Rumpf aufgesetzt. Diese Bauweise erleichtert die Arbeiten, da vieles nicht im engen kompletten Rumpf, sondern in einfacher zugänglichen Modulen erledigt werden kann. Zwischen Kiellegung und Stapellauf liegen bei einem Zerstörer der Klasse rund 16 Monate, danach verbringt jedes Schiff noch 12 bis 18 Monate an der Ausrüstungspier und bei ersten Erprobungsfahrten. Die Kosten für den Bau eines Zerstörers lagen bei den Genehmigungen aus dem Haushaltsjahr 2005 bei über 1,1628 Mrd. Dollar. Die Kosten für das gesamte Programm (62 Schiffe) liegen nach derzeitigen Schätzungen bei fast 59,5 Mrd. Dollar, die durchschnittlichen Kosten pro Schiff damit bei knapp 0,960 Mrd. Dollar. Für das Haushaltsjahr 2005 waren drei Zerstörer budgetiert, die Kosten von knapp 3,5 Mrd. Dollar machten mehr als 30 % des gesamten Navy-Budgets für den Schiffsneubau von knapp 10,6 Mrd. Dollar aus. Von den Gesamtkosten für einen Zerstörer geht knapp ein Drittel an die Bauwerft, der Rest wird für die Herstellung und Installation der auf dem Schiff verwendeten Systeme aufgewendet. Der Unterhalt eines Schiffs kostet (Stand 1996) ca. 20 Mio. Dollar jährlich. Benennung Die Schiffe sind allesamt nach Personen benannt. Die Klasse trägt traditionsgemäß den Namen des ersten Schiffes, das nach Admiral Arleigh Burke benannt ist, einem Zerstörerkommandanten aus dem Zweiten Weltkrieg. Die weiteren Einheiten wurden entweder nach amerikanischen Seeleuten niederen Ranges benannt, die in Kriegen seit dem Zweiten Weltkrieg gefallen sind, oder aber nach hohen Offizieren aus der frühen Navy beziehungsweise nach hohen Bundesbeamten. Die Kennungen bestehen aus dem Kürzel DDG für destroyer guided missile, also Lenkwaffenzerstörer, die Rumpfnummern beginnen bei 51 für das erste Schiff und laufen ununterbrochen bis 112 für die letzte Einheit. Eine Besonderheit stellt die USS Winston S. Churchill dar, die nach dem britischen Premierminister Winston Churchill benannt wurde und (Stand 2006) das einzige aktive amerikanische Kriegsschiff ist, das nach einem ausländischen Staatsbürger benannt ist. USS Hopper ist erst das zweite Kriegsschiff in der Geschichte der Navy, das nach einem weiblichen Soldaten der Navy benannt wurde, nämlich nach Admiral Grace Hopper. Modifikationen Der Entwurf der Klasse wurde mit der Zeit verändert, so dass drei Varianten, genannt Flights, existieren. Der Flight I umfasst 21 Schiffe und stellt die Basisversion dar. Flight II mit sieben Schiffen erhielt lediglich verbesserte Elektronik. Umfassende Änderungen wurden an Flight IIA (laut Planung 34 Schiffe) vorgenommen. Hier wurde zur permanenten Stationierung von zwei SH-60 Sea Hawk-Helikoptern ein Hangar hinzugefügt, was die Schiffe um ca. zwei Meter länger und fast 1000 ts schwerer macht. Auch innerhalb der Flights wurden kleinere Modifikationen vorgenommen. So sind zum Beispiel die Auslassöffnungen der Schornsteine ab der Mustin verkleidet, in einige Einheiten beginnend mit der Pinckney wurde das AN/WLD-1 Remote Minehunting System eingerüstet. Alle Flight-IIA-Schiffe erhalten auch serienmäßig das CEC-Kampfsystem. Im National Defense Authorization Act of 2007 ist die Empfehlung für einen 200-Millionen-Dollar-Posten enthalten, der vor allem für eine mid-life modernization (etwa: Modernisierung nach der halben vorgesehenen Dienstzeit von 35 Jahren) der Schiffe des Flight I verwendet werden soll. Außerdem sollen vor allem die Betriebskosten durch Reduzierung der Besatzungsmitglieder gesenkt werden, was durch Implementierung von Technologien aus dem Smart Ship Project erreicht werden soll. Durch den Einsatz von Stabilisatoren und einem Wulstbug soll der Treibstoffverbrauch signifikant gesenkt werden. Daneben sollen die Schiffe durch die Modernisierungen kampfstärker werden. So ist für die Zukunft geplant, die Zerstörer als Teil der National Missile Defense verwenden zu können. Außerdem ist geplant, Schiffe des Flight IIA mit neuer Munition für das Geschütz auszurüsten. Diese raketenunterstützten Projektile können Ziele erreichen, die bis zu 40 Meilen weit landeinwärts liegen. Dies soll die artilleristische Fähigkeitslücke, die die Ausmusterung der Schlachtschiffe der Iowa-Klasse im Jahr 2006 erzeugt hat, schließen, denn der Kongress der Vereinigten Staaten hat diese Fähigkeit für die Unterstützung von Landungsoperationen für nötig erachtet. Der Entwurf des Zerstörers wurde exportiert, die japanischen Selbstverteidigungsstreitkräfte betreiben vier modifizierte Arleigh Burkes (Flight I) als Kongō-Klasse (veränderte Elektronik und Waffensysteme mit stärkerer Defensivausrichtung). Japan hat außerdem die Beschaffung von drei weiteren Einheiten nach Flight IIA als Atago-Klasse bis 2010 beschlossen. Die Royal Australian Navy entschied sich 2007 bei der Hobart-Klasse gegen den sich ebenfalls in der engeren Auswahl befindenden Burke-Entwurf und wählte den der spanischen Álvaro-de-Bazán-Klasse. Gegenwart und Zukunft Gegenwärtig (Stand September 2020) sind 68 Einheiten der Arleigh-Burke-Klasse bei der US Navy in Dienst; das Typschiff von 1991 ist das älteste. Zwölf Schiffe sind im Bau oder beauftragt, davon neun nach Flight IIA und drei vom Typ Flight III. Die Lebenszeit der Schiffe war ursprünglich auf jeweils 35 Jahre ausgelegt. Um jedoch eine Flottengröße von über 300 Einheiten auch halten zu können, wird die Lebensdauer auf bis zu 40 Jahre ausgedehnt. Hierfür finden seit 2010 Modernisierungen der Einheiten statt. Die Außerdienststellung der Schiffe wird damit voraussichtlich ab 2031 beginnen. Als die ersten Einheiten der Arleigh-Burke-Klasse in Dienst gingen, existierten in der US Navy noch mehrere verschiedene Zerstörerklassen, die jeweils unterschiedliche Hauptaufgabenfelder besaßen. Die Charles-F.-Adams- und Farragut-Klasse waren multifunktionale Entwürfe mit dem Schwerpunkt Flugabwehr und gingen mit Erscheinen der ersten Burkes komplett außer Dienst. Um 2000 wurden außerdem die vier Einheiten der Kidd-Klasse ausgemustert. Seit 2005, als der letzte U-Jagd-Zerstörer der Spruance-Klasse aus dem aktiven Dienst zurückgezogen wurde, sind die Burkes die einzigen Zerstörer in der Flotte der US Navy. Dass dies weit vor dem geplanten Termin erfolgte, mag ein Hinweis auf den Erfolg des Burke-Entwurfes sein. Die ursprünglich als Nachfolgerin vorgesehene Zumwalt-Klasse wird auf Grund starker Etatkürzungen eher als Technologiedemonstrator dienen und soll nur noch drei der ursprünglich geplanten 32 Schiffe umfassen. Deshalb brachte der Abgeordnete Gene Taylor, Vorsitzender des Subkomitees für Seestreitkräfte im United States House Committee on Armed Services, im März 2008 eine nuklear angetriebene Version der Burkes ins Gespräch. Stattdessen entschied sich die Navy allerdings, die Klasse nur wenig modifiziert weiterzuführen. Im Juni 2011 wurde der erste der neuen Zerstörer genehmigt, im September zwei weitere, die nach wie vor nach den Standards des Flight IIA gebaut werden. Da die Zumwalt-Klasse größtenteils von Bath gebaut wird, wird Ingalls den größten Teil der zusätzlichen Burkes fertigen. Erst nach 2016 soll ein Flight III der Arleigh-Burke-Klasse zulaufen, der eine abgespeckte Variante des für die CG(X) vorgesehenen Air and Missile Defense Radar (AMDR) erhalten soll. Dieses Dualbandradar soll größere (14 statt 12 ft Durchmesser) Antennenflächen sowie eine aktive elektronische Strahlschwenkung aufweisen, wodurch erheblich bessere Leistungen in der Luftraumüberwachung erzielt werden sollen, als mit dem passiv phasengesteuerten SPY-1D Radar. Dadurch soll ein adäquater Ersatz der Ticonderoga-Klasse möglich werden. Im November 2011 wurden von den beteiligten Schiffsbauern Bath Iron Works und Huntington Ingalls Industries die ersten Kostenschätzungen für den Flight III vorgelegt. Danach würde jedes Schiff bei BIW 2,7 Milliarden USD, bei HII 3,7 Mrd. Dollar kosten. Die Werften verweisen zur Rechtfertigung auf die Risiken des Fix-Preis-Vertragsmodells und die Notwendigkeit, für das neue Radar mit seinem Strombedarf von rund 10 Megawatt das gesamte elektrische System der Schiffe völlig neu zu konstruieren. Nachfolger Im April 2014 begann die US Navy an Studien eines Nachfolgers mit dem Namen „Future Surface Combatant“. Der Bau der Schiffe soll ab 2030 erfolgen, und das Design ist zurzeit noch komplett offen. Rumpfform und Technik sind noch nicht festgelegt, es sollen aber Techniken der Zumwalt-Klasse, des Littoral Combat Ship und der Gerald-R.-Ford-Flugzeugträger in weiterentwickelter Form genutzt werden. Die Schiffe sollen zusammen mit den 22 Zerstörern des Flight III eingesetzt werden. Technik Rumpf Abmessungen und verwendete Werkstoffe Die Schiffe des Flight I sind knapp 153 Meter lang, die modifizierten Einheiten des Flight IIA messen knapp 155 Meter. Die Breite beträgt rund 20 Meter. Der Rumpf ist damit im Gegensatz zu den älteren Zerstörern eher kurz und breit (Verhältnis Länge:Breite 7,9:1). Dadurch erhoffte sich die Navy bessere See- sowie Manövrierfähigkeit. Der Mast erreicht eine Höhe von über 50 Metern. Die Verdrängung bei voller Zuladung beträgt bei den frühen Schiffen circa 8300 ts, der Hangar auf Flight IIA vergrößerte sie um fast 1000 ts. Als Werkstoff wurde im Wesentlichen nur Stahl eingesetzt, auf die Verwendung von Aluminiumlegierungen wurde weitgehend verzichtet. Dies macht die Schiffe zwar schwerer und auch topplastiger, vermeidet aber bei Bränden die Gefahr des unkontrollierbaren Weiterbrennens von Magnesium, wie nach einer Kollision bei der Belknap im Jahr 1975. Zum Schutz vor Waffeneinwirkung sind im Rumpf um die wichtigsten Räume (Gefechtszentrale, Brücke und ähnliches) ca. 130 Tonnen Aramid verbaut worden. Decks Das Außendeck wird mit Level 1 bezeichnet. Darunter, also im Rumpf, liegen drei weitere Decks, von oben nach unten Level 2 bis 4. In diesen sind vorrangig die Schlaf- und Aufenthaltsräume für die Besatzung sowie die Maschinen und weiteren technischen Einrichtungen untergebracht. Über dem Hauptdeck, in den Aufbauten, liegen fünf Decks, bezeichnet (von unten nach oben) als Level 01 bis 05. In diesen liegen die Kommando- und Kontrollräume, auf Level 05 liegt die Brücke auf einer Höhe von rund 17 Metern über der Wasseroberfläche. Luftfahrzeuge Die Schiffe der Flights I sowie II haben auf ihrem Landedeck die Elektronik installiert, die erforderlich ist, um Helikopter nach dem Standard LAMPS III – dies entspricht den Helikoptern vom Typ Sikorsky SH-60 Seahawk – aufnehmen und mit Treibstoff und Waffen versorgen zu können, aber keinen Hangar zur permanenten Unterbringung. Dies galt als größte Schwäche der Klasse und wurde mit Flight IIA geändert. Bei diesen Schiffen wurde das Achterdeck erhöht und dort ein Hangar für zwei Helikopter Typ LAMPS III eingerichtet, so dass zwei Seahawk eingeschifft und wettergeschützt transportiert werden können. Auf der Mastspitze befindet sich ein TACAN-Funkfeuer für den Helikopteranflug. Für die Versorgung durch schwebende Helikopter (genannt VERTREP für vertical replenishment) ist neben dem Landeplatz auf dem Achterdeck auch exklusiv eine Fläche auf dem Vordeck reserviert. Tarnmaßnahmen Sämtliche außen liegende Flächen und Decksaufbauten der Schiffe wurden nach den Prinzipien der Tarnkappentechnik geplant und gebaut. Damit waren die Zerstörer die ersten für den Einsatz bestimmten Einheiten, die solche Merkmale aufwiesen. Die Navy konnte dabei auf Erfahrungen zurückgreifen, die sie mit dem zu Forschungszwecken konstruierten Tarnkappenschiff Sea Shadow gewonnen hatte. Für einen möglichst geringen Radarquerschnitt wurden Flächen vermieden, die rechtwinklig zur Wasseroberfläche stehen. Solche würden Radarstationen an der Küste oder auf Schiffen durch den so genannten broadside flash (dt. etwa: Breitseiten-Echo) die größtmögliche Rückstrahlfläche bieten. Deshalb ist der Rumpf der Zerstörer bis zur Schanz nach außen geneigt, so dass einfallende Radarstrahlen auf das Wasser abgelenkt werden, die Deckshäuser sind nach innen geneigt, Radarstrahlen werden so in Richtung Himmel gelenkt. Zusätzlich mussten auch auf dem Deck sämtliche Gegenstände auf eine möglichst geringe Radarrückstrahlfläche hin optimiert werden. Viereckige Formen wie die Reling sind um 45° gedreht, um Radarquellen keine plane Fläche zuzuwenden. Auch runde Gegenstände (etwa die Schornsteinöffnungen oder Poller) wurden im Aussehen verändert, hier wurde das Design an die Form einer Sanduhr angelehnt. Der Mast wurde aus demselben Grund nicht senkrecht aufgestellt, sondern leicht nach achtern gekippt. Um wie viel schwieriger ein Schiff der Arleigh-Burke-Klasse im Gegensatz zu herkömmlichen Schiffen per Radar zu erfassen ist, wurde nicht bekannt gegeben. Um vor passivem Sonar besser getarnt zu sein, sind die Zerstörer mit dem Prairie-Masker-System ausgestattet, das Luftblasen an speziellen Gürteln am Rumpf und an den Propellern erzeugt, die die Antriebsgeräusche nach innen reflektieren, wodurch weniger Geräusche, vor allem von Antriebssystemen und Kavitation, nach außen dringen können. Probleme Im Oktober 2007 wurde ein Bericht der Jane’s Information Group bestätigt, nachdem es bei den Zerstörern Probleme mit der Festigkeit des Bugs gibt. Besonders bei hoher Zuladung verbiegen sich demnach in gröberer See Stützstreben im Bug. Die Navy legte ein Reparaturprogramm auf, das Kosten von 62 Millionen US-Dollar nach sich ziehen wird. Dabei werden verkrümmte Stützstreben in engen Räumen über dem Sonardom entfernt und durch stärkere ersetzt, neue Schiffe erhalten diese schon beim Bau. Antrieb Der Antrieb der Schiffe besteht aus vier Gasturbinen vom Typ LM-2500-30 von General Electric, die insgesamt 100.000 PS auf die zwei Wellen eines Schiffes übertragen. Je zwei Turbinen sind für eine Welle zuständig, es gibt zwei Maschinenräume. Die Propeller bestehen aus Bronze und sind fünfblättrig, ihr Durchmesser beträgt 17 Fuß, circa 5,20 Meter. Sie bewegen sich gegenläufig, der Backbord-Propeller läuft (gesehen von hinten) gegen den Uhrzeigersinn, der an Steuerbord im Uhrzeigersinn. Hinter jeder Schraube befindet sich ein hydraulisch gesteuertes Ruder. Durch die Gasturbinen können die Schiffe in kurzer Zeit auf ihre Höchstgeschwindigkeiten von über 30 Knoten (56 km/h) beschleunigen; die Reichweite ohne die Versorgung durch Trossschiffe bei einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 20 Knoten (37 km/h) liegt bei ca. 4400 Seemeilen (ca. 8150 km). Eine erhöhte Manövrierfähigkeit wird durch den Einsatz von Verstellpropellern (genannt Controllable Reversible Pitch Propellers), bei denen die einzelnen Blätter um ihre Längsachse gedreht werden können, erreicht. Da die Gasturbinen die Wellen nicht gegenläufig antreiben können, können die Blätter auch so weit gedreht werden, dass sie Rückwärtsschub erzeugen. Die elektrische Energie für die Schiffssysteme wird von drei Gasturbinengeneratoren vom Typ 501-K34 der Allison Engine Company, die je 2,5 Megawatt leisten, bereitgestellt. Neuere Einheiten besitzen drei Generatoren von Rolls-Royce, die je 3 Megawatt Leistung liefern. Auch diese werden von Gasturbinen angetrieben. Zukünftig sollen die Zerstörer einen Hybridantrieb erhalten, dessen elektrischer Anteil für Geschwindigkeiten bis zu 14 kn sparsamer ist als die nur im oberen Leistungsbereich effizienten Gasturbinen. Im Juli 2009 erhielt General Atomics den Entwicklungsauftrag. An Bord der Truxtun sollte 2012 der Prototyp getestet werden. Es wurde eine Treibstoffeinsparung von 10–16 % erwartet, wodurch sich die Nachrüstung nach fünf Jahren amortisiert. Die Umrüstung von je vier Zerstörern pro Jahr begann 2016. Bewaffnung Die Hauptbewaffnung der Schiffe besteht aus Lenkflugkörpern, die aus Senkrechtstartanlagen vom Typ Mk 41 gestartet werden. Auf den Schiffen des Flight I und II gibt es 90 Zellen in zwei getrennten Abschussgruppen, auf denen des Flight IIA wurden durch das Weglassen der zwei Ladekräne sechs Zellen hinzugefügt. Im Wesentlichen kann pro Zelle eine Lenkwaffe geladen werden. Das System ist in zwei Zellenblöcke aufgeteilt, von denen sich je einer auf dem Vordeck, der andere auf dem Achterdeck befindet. Die Senkrechtstartanlage (engl. Vertical Launching System, VLS) ist in der Lage, verschiedenste Waffen abzufeuern. Sowohl gegen Luft- als auch Seeziele kann die Standard-Missile-2-Flugabwehrrakete verwendet werden, die für gewöhnlich den größten Teil der Bewaffnung ausmacht. Für Angriffe auf Landziele trägt jede Einheit eine Zahl von BGM-109-Tomahawk-Marschflugkörper, gegen U-Boote werden RUM-139-Raketentorpedos mitgeführt. Schiffe des Flight I besitzen zusätzlich zwei Vierfachstarter Mk. 141 für den Seezielflugkörper AGM-84 Harpoon. Auf späteren Einheiten sind diese aus Kostengründen nicht mehr verbaut, da die zukünftige Long Range Anti-Ship Missile (LRASM) aus der Senkrechtstartanlage verschossen wird. Einheiten des Flight IIA sind in der Lage auch die modernere Flugabwehrrakete RIM-162 Evolved Sea Sparrow Missile (ESSM) abzufeuern. Diese werden in so genannten Quad-Packs in das VLS geladen, so dass vier Raketen in eine Zelle passen. Als seegestützter Beitrag zum nationalen Raketen-Abwehrprogramm der USA ist unter anderem die Ausstattung einiger Schiffe mit SM-3-Raketen vorgesehen. Zusätzlich besitzt jede Einheit neben den Aufbauten zwei Dreifach-Torpedorohre, diese verschießen Torpedos Typ Mk. 46 zum Einsatz gegen U-Boote. Auf dem Vordeck befindet sich ein 127-mm-Geschütz mit Kaliberlänge 54 Typ Mark 45, ab DDG-80 mit Kaliberlänge 62. Dieses Geschütz kann zum Angriff auf Oberflächen- sowie Luftziele und zum Küstenbombardement auf eine Reichweite von ca. 24 km verwendet werden. Die Schussfrequenz liegt bei 16–20 Schüssen pro Minute, im Magazin lagern 500 Granaten für das Geschütz. Die Entwicklung von reichweitengesteigerter Extended Range Guided Munition (ERGM) und Ballistic Trajectory Extended Range Munition (BTERM), die bis zu 70 Kilometer weit verschossen werden kann, wurde 2008 ohne Serienreife beendet. Zur Nahbereichsverteidigung gegen anfliegende Flugkörper stehen vor und hinter den Aufbauten je ein Gatlinggeschütz Phalanx CIWS zur Verfügung. Dieses wird jedoch zunehmend durch die ESSM abgelöst und ist auf neueren Einheiten (ab Flight IIA) nicht mehr installiert. Bis 2013 will die US Navy jedes Schiff mit einem CIWS (nach achtern) nachrüsten. Elektronik Der Kern der Erfassungselektronik auf den Zerstörern ist das so genannte Aegis-Kampfsystem. Die Hauptkomponente dieses Waffensystems bildet das SPY-1-Radar, das aus vier flachen Phased-Array-Antennen mit passiver elektronischer Strahlschwenkung besteht und den Luftraum um das Schiff permanent überwacht. Zusätzlich dient Aegis auch als Warnsystem, das mögliche Bedrohungen analysieren und bewerten kann. Außerdem dient es der Vernetzung mit anderen Einheiten. Als Navigations- und Ortungsradare für Überwasserziele werden das SPS-67 und das SPS-64 der Norden Corporation eingesetzt, die auf den Bändern G respektive I arbeiten. Zur Feuerleitung und der Flugkörpersteuerung wird hauptsächlich SPY-1 verwendet, erst im Endanflug werden dazu auch die drei Feuerleitgeräte SPG-62, hergestellt von der Radio Corporation of America, eingesetzt, von denen zwei nach achtern und eines nach vorn gerichtet ist. Feindliche Ziele können auch passiv mit Hilfe des AN/SSQ-108 erfasst werden. Hierbei handelt es sich um ein überhorizontfähiges SIGINT-System, das Radioemissionen auf große Distanzen erfassen und orten kann. Die Systeme zur elektronischen Kampfführung bestehen aus dem SLQ-32. Die Antennen, die sich auf den Mast befinden, können für Fernmelde- und elektronische Aufklärung sowie als Störsender eingesetzt werden. Ebenfalls zum SLQ-32-Paket gehört das Mark 36 SRBOC, das Düppel und Flares in die Luft schießt, die anfliegende Raketen sowohl mit Radar- wie auch mit Infrarotsuchkopf vom Schiff ablenken sollen. Aktuell modernisiert die US Navy ihre SRBOC-Startsysteme, um auch Radarköder vom Typ Nulka einsetzen zu können. Diese fliegen nach dem Abschuss autonom über der Wasseroberfläche und vergrößern in Abstimmung auf das feindliche Radarsystem aktiv ihren eigenen Radarquerschnitt, um feindliche Lenkwaffen vom Schiff abzulenken. Als Sonarsystem dient das SQS-53C, das im Bug hinter einer Fiberglaskappe untergebracht ist und sowohl aktiv als auch passiv arbeiten kann. Einige Einheiten besitzen für die Erfassung von U-Booten über größere Entfernungen außerdem ein Schleppsonar von Typ SQR-19. Die vom Bordsonar, aber auch von durch Helikopter ausgelegten Sonobojen gesammelten Daten werden vom U-Jagd-Kampfsystem SQQ-89 gesammelt, aufbereitet und schließlich für die Sonaroperatoren an Bord ausgegeben. Zur Abwehr von Torpedoangriffen kann jedes Schiff zwei Täuschkörper vom Typ SLQ-25 Nixie hinter sich herschleppen. Neben Funkgeräten auf herkömmlichen Frequenzbändern (Dezimeterwelle, Ultrakurzwelle, Kurzwelle) besitzen die Schiffe auch Geräte zur Satellitenkommunikation, die damit weitere Entfernungen überbrücken können und gleichzeitig schwer abzuhören sind. Der Datenaustausch mit anderen Schiffen im Verband findet über Geräte nach den Standards Link 11, Link 16 und CEC statt. Zur eigenen Positionsbestimmung kann neben GPS-Empfängern auch auf ein inertiales Navigationssystem zurückgegriffen werden. Im März 2019 wurde bekannt, dass Raytheon für rund 402,6 Millionen US-Dollar die Schiffe des Flight III der Arleigh-Burke-Klasse mit dem neuen Waffensystem SPY-6-Radar ausrüsten soll. Das System verfügt über 37 Radarmodule sogenannte Radar Modular Assemblies (RMA) mit größerer Reichweite. Fotodetails Oben zu sehen: Ramage des Flight I, unten Mustin, Flight IIA. Gut ist hier zu erkennen, wie der Hangar das Gesamtbild der Klasse verändert hat. Während Ramage nur ein Landedeck besitzt, an das sich Richtung Bug das Hauptdeck mit dem achteren VLS anschließt, besitzt die zwei Meter längere Mustin zwei Hangartore, das Deck wurde dort erhöht. Sichtbare Detailveränderungen umfassen die komplette Verkleidung der Schornsteinauslässe sowie die Erhöhung der nach achtern gerichteten SPY-1-Antennen. Auf Ramage sind hinter dem achteren Schornstein-Deckshaus die Harpoon zu erkennen. Diese, ebenso wie die darüber angebrachte Phalanx fehlen auf Mustin. Besatzung Die Schiffe des Flight I und II tragen je 26 Offiziere und 315 bis 330 Mannschaften und Unteroffiziere. Auf denen des Flight IIA betragen die Zahlen 32 beziehungsweise 348 bis 350. Die Steigerung ist hauptsächlich durch die Helikoptercrews und -techniker zu erklären, die zusätzlich benötigt werden. An Bord, auf Level 1, existiert eine große Messe, in der die Mannschaften der Schiffe 24 Stunden am Tag essen können, zu jedem Schichtwechsel, also alle acht Stunden, wird eine warme Mahlzeit serviert. Zusätzlich befinden sich auf den unteren Decks Friseure, eine Wäscherei, sowie Einkaufsmöglichkeiten für die Crew. Die Mannschaft ist eingeteilt in sechs so genannte Departments, etwa Abteilungen. Dies sind: Administrative Department, zuständig für die Personalverwaltung an Bord, den Umgang mit offiziellen Dokumenten, sowie die medizinische Versorgung. Ebenfalls zu Admin gehören die Master-At-Arms, die für die Disziplin an Bord verantwortlich sind. Das Combat System Department ist in vier Divisions eingeteilt: Die CE Division ist für die Kommunikations- und Navigationselektronik verantwortlich, die CF Division betreibt das Aegis-System, die CS Division koordiniert Tests und Wartung der Waffensysteme, während die CX Division für die Tomahawks, Harpoons und Phalanx verantwortlich ist. Das Weapons Department besteht aus der WA Division, die für die U-Jagd zuständig ist, sowie der WO Division die für den Umgang mit Munition an Bord verantwortlich ist. Eingegliedert ins Engineering Department sind vier Divisions: Die A/R Division unterhält die nicht direkt kampfnotwendigen technischen Geräte, unter anderem die Klimaanlage, die Wäscherei und die Wasseraufbereitung und -verteilung. Die E Division kümmert sich hauptsächlich um die Stromversorgung, die MP Division ist für sämtliche Systeme rund um die Gasturbinen zuständig. Die DC Division ist für die Schiffssicherung an Bord verantwortlich. Das Operations Department ist ebenfalls in vier Bereiche unterteilt: die OC Division, die für die Kommunikation verantwortlich ist, die OD Division, zuständig für alle Vorgänge an Deck (darunter fallen unter anderem An- und Ablegen sowie die Versorgung und Flugoperationen), die OI Division, die in der Kommandozentrale des Schiffs das Radar und die EloKa-Systeme bedient, und die ON Division, die die Seekarten verwaltet und somit für die Navigation des Schiffs zuständig ist. Letztes Department ist das Supply Department, das in fünf Divisionen eingeteilt ist. S-1 ist das „Lagerhaus“ des Schiffs, wo Ersatzteile gelagert werden. S-2 ist für die Nahrungsversorgung an Bord, also die Messe und die Kombüse zuständig, S-3 betreibt die Wäscherei, den Friseur sowie die Cola- und anderen Automaten, S-4 ist die „Bordbank“, die sich um Geldangelegenheiten der Seeleute kümmert, S-5 letztlich ist verantwortlich für die Offiziermesse. Arleigh-Burkes im Einsatz Einsatzprofil Die Zerstörer sind klar als Multi-Mission-Platforms ausgelegt, können also mehrere Rollen gleichzeitig ausführen. So ist das SPY-1-Radar zusammen mit dem Aegis-Kampfsystem in der Lage, eine Rundum-Flugabwehr zu garantieren. Ebenso können mit den Tomahawks aber sowohl Landziele als auch Überwassereinheiten auf große Distanz angegriffen werden. Die Mark 46 Leichtgewichtstorpedos und Vertical-Launch-ASROC-Raketentorpedos befähigen die Schiffe zur Ausführung von U-Jagd. Je nach vorgesehener Verwendung der Schiffe auf einem Einsatz können die jeweiligen Waffen-Mixturen völlig frei gewählt werden. Normalerweise agieren die Schiffe im Rahmen von Flugzeugträgerkampfgruppen. Sie bieten den im Wesentlichen unbewaffneten Trägern Luftschutz und werden im Gegenzug von den Trossschiffen der Gruppe mit Treibstoff versorgt. Dank ihrer Stealth-Fähigkeiten können die Zerstörer aber auch abseits der Gruppe operieren, sie etwa für einen Raketenangriff auf Landziele temporär verlassen. Dabei sind die Hubschrauber der Flight-IIA-Schiffe von Bedeutung, da diese als „Außenbord-Sensor“ die umliegenden Gewässer über die Kimm hinaus aufklären können. Einsätze Im Krieg wurden Einheiten der Arleigh-Burke-Klasse sowohl im Krieg in Afghanistan 2001 als auch während der gegen den Irak gerichteten Operationen Desert Strike 1996, Desert Fox 1998, Iraqi Freedom 2003 und Inherent Resolve ab 2014 eingesetzt. Neben der Eskortfunktion waren die Schiffe jedes Mal auch in Marschflugkörper-Angriffen auf Landziele eingebunden. Attentate und Unfälle Im Oktober 2000 verübten zwei Selbstmordattentäter im Hafen von Aden im Jemen einen Anschlag auf die Cole, indem sie ein mit Sprengstoff beladenes Boot beim Aufprall auf das Schiff explodieren ließen. Dieser Anschlag, bei dem 17 Seeleute starben, verursachte die bisher schwersten Schäden an einem Arleigh-Burke-Zerstörer. Nachdem das Halbtaucherschiff Blue Marlin die Cole zur Reparatur in die Vereinigten Staaten zurückgebracht hatte, kehrte der Zerstörer im April 2002 in die Flotte zurück. Ein erster Anschlagsversuch im Januar 2000 auf ein Schwesterschiff der USS Cole, die The Sullivans, war gescheitert, weil das angreifende Boot wegen Überladung gesunken war. In den frühen Morgenstunden des 12. August 2012 kollidierte die Porter mit dem unter der Flagge Panamas fahrenden japanischen Tanker M/V Otowasan in der Straße von Hormus. Entsprechend einer Aussendung der 5. US-Flotte wurden bei der Kollision auf beiden Seiten keine Beteiligten verletzt. Die Porter konnte aus eigener Kraft den Hafen von Dschabal Ali in den Vereinigten Arabischen Emiraten anlaufen und wurde dort inspiziert und repariert. Am 15. Juni 2017 kollidierte die Fitzgerald 56 Seemeilen südwestlich vor Yokosuka, Japan, mit dem unter philippinischer Flagge fahrenden Containerschiff ACX Crystal der japanischen Reederei Nippon Yūsen. Sieben Besatzungsmitglieder des Zerstörers wurden bei dem Zusammenstoß getötet, ihre Leichen wurden in einem überfluteten Schlafraum gefunden. Mehrere andere – darunter der Kommandant – wurden verletzt. Der Kommandant und ein weiteres Besatzungsmitglied wurden mit dem Hubschrauber ausgeflogen und in ein Krankenhaus gebracht. Die Besatzung des Frachters blieb unverletzt. Am 20. August 2017 kollidierte die John S. McCain vor der Küste von Singapur in der Malakkastraße mit dem unter liberianischer Flagge fahrenden Tanker Alnic MC. Dabei wurden zehn Besatzungsmitglieder des Zerstörers getötet. Das Schiff wurde vom Halbtaucherschiff Treasure der Reederei Dockwise zum US-Stützpunkt Yokosuka transportiert. Am 11. November 2017 wurde ein abschließender Untersuchungsbericht veröffentlicht, der sowohl bei dem Unfall der USS Fitzgerald als auch dem der USS John S. McCain Versäumnisse der wachhabenden Besatzung und der Offiziere als Grund nennt. Beide Unfälle seien laut U.S. Navy vermeidbar gewesen. In den Medien Im US-amerikanischen Science-Fiction-Film Battleship von 2012 spielen zwei Schiffe der Arleigh-Burke-Klasse eine wichtige Rolle. In dem Film werden die John Paul Jones und die Sampson beim Versuch, eine Invasion abzuwehren, zerstört. In der US-amerikanischen Fernsehserie The Last Ship (2014–2018) spielt ein Schiff der Arleigh-Burke-Klasse eine zentrale Rolle. An Bord der fiktiven USS Nathan James mit der Kennung DDG-151 befinden sich die Schiffsbesatzung um Kapitän Commander Tom Chandler und die Wissenschaftlerin Dr. Rachel Scott auf der Suche nach einem Gegenmittel gegen eine weltweite Pandemie. Die Navy stellte für die Dreharbeiten die Halsey zur Verfügung. In der Krimiserie Navy CIS werden des Öfteren Schiffe dieser Klasse behandelt, beispielsweise in der fünfzehnten Folge der Staffel 16 direkt in der Eingangssequenz, in welcher die USS Ewing mit der Kennzeichnung DDG 150 den Äquator passiert. Literatur Michael S. Sanders: The Yard: Building a Destroyer at the Bath Iron Works. HarperCollins, New York NY 1999, ISBN 0-06-019246-1 (über den Bau der USS Donald Cook). Michael Green, Gladys Green: Destroyers. The Arleigh Burke Class. Capstone Press, Mankato MN 2005, ISBN 0-7368-2722-6 (Edge Books, War Machines). Weblinks Offizielles Fact-Sheet der US Navy (engl.) (engl.) Arleigh-Burke-Klasse auf globalsecurity.org (engl.) Arleigh-Burke-Klasse auf naval-technology.com (engl.) Fußnoten Militärschiffsklasse (Vereinigte Staaten) Zerstörerklasse Electric Boat Ingalls Shipbuilding
925577
https://de.wikipedia.org/wiki/Schloss%20Neudeck
Schloss Neudeck
Schloss Neudeck (polnisch: Zamek w Świerklańcu) war die Residenz des Adelsgeschlechts Henckel von Donnersmarck in Oberschlesien. Die Schlossanlage samt Park war eine der größten und prächtigsten des Deutschen Reiches und wurde volkstümlich auch Klein Versailles oder Oberschlesisches Versailles genannt. Sie liegt etwa zwei Kilometer südöstlich des Ortes Neudeck (polnisch: Świerklaniec) im Powiat Tarnogórski in Polen. Das Alte und das Neue Schloss wurden 1945 von der Roten Armee in Brand gesteckt und im August 1961 abgetragen. Heute besteht die Anlage aus dem Schlosspark, dem Kavalierspalast, der Grabkapelle der Donnersmarck sowie einigen Wirtschaftsgebäuden und Denkmälern. Geschichte Im Mittelalter war das Gebiet um das heutige Świerklaniec ein strategisch wichtiger Punkt, da dort die Brinitz eine natürliche Grenze zwischen Schlesien und Polen bildete. Außerdem verlief dort eine bedeutende Handelsstraße von Tschenstochau nach Beuthen. So wurde bereits im 11. Jahrhundert zur Befestigung der Grenze ein Herrschaftssitz gebaut, aus dem später das jetzige Alte Schloss entstand. Zur Verteidigung wurde er mit einem Wassergraben und einem aufgeschütteten Erdwall umgeben. Dort war gleichzeitig der Sitz eines Starosten Boleslaus des Tapferen. 1179 erwarb der Ratiborer Herzog Mieszko I. das Gut vom polnischen Herzog Kasimir II. Später waren es die Teschener Fürsten, die 1337 die Herrschaft Świerklaniec von den Ratiborern übernahmen. Wahrscheinlich wurde das Gut in dieser Übergangszeit vom Oelser Herzog Konrad II. zu einer wehrhaften Burg ausgebaut, wobei anzumerken ist, dass in Schlesien zu dieser Zeit 18 Fürstentümer und mehrere Standesherrschaften bestanden und somit fast jede bedeutendere Stadt Sitz eines eigenen Fürstentums war. Das 15. Jahrhundert war von vielen Herrschaftswechseln geprägt. Die letzte urkundliche Erwähnung der Teschener als Besitzer war 1451. 1477 wurde Świerklaniec erstmals als Teil des Beuthener Herzogtums genannt und im selben Jahr erstmals der Name der Grenzburg Swiklenczy erwähnt. Der Oppelner Herzog Johann II., der letzte Oppelner Piast, erwarb 1498 das Gebiet um Beuthen für 19.000 Gulden und baute die bestehende Burg um. Dabei wurden Backsteinziegel im gotischen Verband verwendet. Neudeck war zu dieser Zeit Teil des bedeutendsten schlesischen Fürstentums. Als Johann 1526 das Geld ausging, musste die Burg verpfändet werden. Sechs Jahre später, in seinem Todesjahr 1532, fiel die Herrschaft Neudeck mitsamt dem ganzen Umland an Josef von Brandenburg und damit an die Hohenzollern, die mit der Markgrafschaft Brandenburg auch die Kurwürde innehatten. Dadurch erreichte Świerklaniec erstmals eine gewisse politische Bedeutung, die gut hundert Jahre andauerte. Als damalige Besitzer sind namentlich Josef und seine Nachfolger Josef Friedrich, Joachim Friedrich und Johann Josef von Hohenzollern zu nennen. Sie haben sich im Beuthener Land vor allem durch die Wiedererrichtung zahlreicher Bergwerke verdient gemacht, mit der sie die industrielle Entwicklung der Region entscheidend in Gang brachten. In ihre Herrschaftszeit fällt auch die Verleihung der Berg- und Stadtrechte an die spätere Kreisstadt Tarnowitz. Im Laufe des Dreißigjährigen Krieges verloren die Hohenzollern 1621 ihren gesamten oberschlesischen Besitz an die Habsburger, die ihn aber nur für sehr kurze Zeit ihr Eigen nennen konnten. Im Besitz der Donnersmarck Denn 1623 erhielt Lazarus I. Henckel von Donnersmarck die Herrschaft vom schlesischen Ober- und Fürstengericht zunächst als Pfand und leitete somit die lange Donnersmarck´sche Ära ein. In diesem Zusammenhang erscheint auch zum ersten Mal die Bezeichnung Neudeck. Am 26. Mai 1629 kaufte sein Sohn Lazarus II. offiziell die Neudeck´schen Güter von Kaiser Ferdinand II. und machte Neudeck zum Stammsitz einer Linie der Donnersmarck. Seitdem war der gesamte Besitz der Donnersmarck unteilbares Erbgut. Zu Reichsgrafen wurde die Familie 1651 erhoben. 1670 wurden die Erblande in die Fideikommisse Beuthen sowie Tarnowitz-Neudeck geteilt. Der erste Vertreter der protestantischen Tarnowitz-Neudecker Linie war Carl Maximilian Graf Henckel von Donnersmarck. Er ließ die alte Burg zwischen 1670 und 1680 von einem Italiener zu einer repräsentativen Renaissance-Residenz mit angrenzendem Park umgestalten. Dem Zeitgeist entsprechend wurde das Schloss im 18. Jahrhundert barock „modernisiert“. Blütezeit im 19. Jahrhundert Im 19. Jahrhundert vergrößerte Graf Carl Lazarus den Besitz der Familie durch den Kauf neuer Güter. In dieser Zeit erfuhr die Anlage ihre entscheidenden Umbauten. Zuerst wurde das alte Schloss im Tudorstil erweitert und umgebaut. 1848 übertrug Carl Lazarus seinem Sohn Guido Graf Henckel von Donnersmarck, dem wohl bedeutendsten Spross der Familie, sein gesamtes Vermögen. Am großen See im Schlosspark wurde dann 1868 nach seinem Auftrag mit dem Bau eines neuen, zweiten Schlosses begonnen. Zu Beginn lag die Bauleitung in den Händen des französischen Architekten Pierre Manguin, unter dessen Ägide bereits das 1857 von Donnersmarck für seine zweite Ehefrau, Blanka Marquise de Païva, erworbene französische Schloss Pontchartrain bei Paris restauriert worden war. In enger stilistischer Anlehnung an Pontchartrain (siehe untenstehende Abbildungen) wurde Donnersmarcks neue Residenz im neubarocken Stil erbaut. Die Bauleitung ging nach Manguins Tod (1869) an Hector Lefuel, den damaligen Chefarchitekten des neuen Louvre, über, der den Neubau im Jahre 1876 vollendete. Seitdem wurde das Tudorschloss auch als Altes Schloss bezeichnet. Als dritter und zugleich kleinster Palast wurde der Kavalierspalast bis 1906 südöstlich vom Neuen Schloss errichtet. Mit der Anlage des 250 ha großen Parks war bereits 1865 der irische Ingenieur Fox beauftragt worden, der sich auf Pläne des kurz darauf verstorbenen Peter Joseph Lenné sowie seines Schülers Gustav Meyer stützte. Es wurde ein Landschaftspark im Englischen Stil geschaffen, der von Hainen und kleinen Waldgebieten sowie Wiesen durchsetzt war und von kleinen Bächen mit steinernen und gusseisernen Brücken durchzogen wurde. Neudeck besaß somit nicht nur eine der prächtigsten Schlossanlagen, sondern auch einen der größten Parks des Deutschen Reichs. Dieses einmalige Ensemble aus Altem und Neuem Schloss, dem Kavalierspalast sowie der zur selben Zeit errichteten Grabkapelle der Donnersmarcks wurde mehrmals von Kaiser Wilhelm II. besucht, der nicht nur in den umliegenden waldreichen Gebieten zur Jagd ging, sondern auch oftmals Kredite des Grafen in Anspruch nahm. Schließlich erhob er Graf Guido für seine Verdienste auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet in den Fürstenstand (Guido Graf Henckel Fürst von Donnersmarck). Somit war Neudeck auch Fürstensitz. Von hier aus wurden umfangreiche Besitztümer mit insgesamt 27.500 ha Fläche in ganz Ostmitteleuropa verwaltet, vor allem in Oberschlesien (Besitz von zahlreichen Bergwerken), aber auch im österreichischen Galizien und im russisch besetzten Kongresspolen. Zwischenkriegszeit 1922 fiel Neudeck nach der Volksabstimmung in Oberschlesien an Polen und wurde seitdem wieder Świerklaniec genannt. Die Donnersmarcks konnten ihren Besitz unter polnischer Herrschaft jedoch retten, da Guidos Sohn Kraft für Polen optierte. Von 1924 bis 1937 wohnte der Schweizer Altbundespräsident Felix Calonder als Präsident der Gemischten Kommission für Oberschlesien im Schloss. Seine Aufgabe war es, als unabhängiger Beobachter die Einhaltung des Deutsch-Polnischen Abkommens über Oberschlesien (Genfer Abkommen) und die Wahrung der Rechte der jeweiligen Minderheiten in beiden Teilen Oberschlesiens zu kontrollieren. Zerstörung und Nachkriegszeit Beim Überfall auf Polen 1939 wurde Świerklaniec wie ganz Ostoberschlesien von deutschen Truppen besetzt. Mit dem Jahr 1945 endete die 316-jährige Herrschaft der Henckel von Donnersmarck in Neudeck endgültig. Die Familie wurde von den Kommunisten enteignet, das Alte Schloss und das Neue Schloss nach Kriegsende durch Brandstiftung der Roten Armee zerstört. Die örtliche Bevölkerung führte die Zerstörung zu Ende, indem sie die Innenräume ausplünderte und das Äußere sowie den Park verwüstete. Die beiden ehemals bedeutenden Schlösser blieben als Ruinen bestehen, die in der Nachkriegszeit weder konserviert noch wiederaufgebaut, sondern schließlich 1961 abgetragen wurden. Der Kavalierspalast wurde zwar 1945 ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen, die Schäden hielten sich jedoch in Grenzen, so dass er später wiederaufgebaut werden konnte. Das Eingangsportal mit der Umzäunung, das früher vor dem Schloss stand, wurde später vor dem Chorzówer Zoo aufgestellt. Es wurde gefordert, dass es bis zum hundertjährigen Bestehen des Kavalierspalastes 2006 an seinen Ursprungsplatz zurückkehren soll, was jedoch nicht gelang. Von den vielen Denkmälern im Park blieben nur die Skulpturen von Emmanuel Frémiet unzerstört; der Park selbst ist in vereinfachter Form wiederhergestellt worden. Auch wenn das Schlossensemble von Neudeck heute nur bruchstückhaft erhalten ist, erfreuen sich der Park und die erhaltenen Gebäude und Denkmäler großer Beliebtheit als Ausflugsziel. Besitzer Neudecks Im Folgenden werden die einzelnen Besitzer des Schlosses und des Gutes Neudeck von 1497 bis 1945 dargestellt. Die Zeit, in der Neudeck dem Oppelner Herzog Johann II. gehörte, ist blau, die Herrschaft der Hohenzollern rot gekennzeichnet, die kurze Habsburgerperiode ist weiß belassen. Neudeck befand sich am längsten in Händen der Henckel von Donnersmarcks, deren Herrschaftszeit gelb markiert ist. Architektur und Baugeschichte Anlage und Park Der ganze Schlosskomplex ist von einem 154 ha großen Park umgeben; zur Zeit seiner Entstehung war er mit rund 200 ha einer der größten Deutschlands. Er grenzt im Westen an die Zufahrtsstraße (ul. Parkowa), im Osten an den Diablina-See, den größten See der Gemeinde; im Süden und Norden bilden zum Teil andere Straßen eine Begrenzung. Von der Parkowa-Straße führen mehrere Wege durch den Schlosspark, wobei der Hauptweg zum früheren Standort des Neuen Schlosses im Ostteil des Parks (1) führt. Dort befindet sich der große, dem Diablina-See vorgelagerte See (5), der mit seinem Wasser die vielen Kanäle und künstlichen Wasserfälle speist. Von hier sind es nur wenige Schritte zum westlich gelegenen Kavalierspalast (2). Gleich am Parkeingang liegt der frühere Standort des Alten Schlosses (3), nordöstlich davon befindet sich die Grabkapelle (4). Altes Schloss Das Aussehen des Schlosses bis 1945 rührte vom Umbau in den 1840er Jahren her. Die unregelmäßige, zuletzt barock umgebaute Anlage erhielt unter anderem neugotische Flügel, die eine Vorburg bildeten. Später kamen noch zwei achteckige Türme im Tudorstil hinzu, und die vorher großen Fenster wurden dem Stil entsprechend verkleinert. Dies verlieh ihr wieder einen burgähnlichen Charakter. Von der gräflichen Familie wurde das Schloss aber nur ein paar Jahrzehnte bewohnt und es verlor 1875 endgültig seine Bedeutung zu Gunsten der neuen Residenz. Nun wurde es zur Unterscheidung Altes Schloss oder Burg (polnisch: zamek) genannt und diente den Beamten des Schlosses als Wohnung. 1961 wurden die recht gut erhaltenen Ruinen auf Anordnung der politischen Verwaltung abgerissen. Heute erinnern kaum noch Überbleibsel an das geschichtsträchtige Schloss. Neues Schloss Obwohl das Neue Schloss erst im 19. Jahrhundert erbaut wurde, bildete es das Zentrum der ganzen Anlage. Die Idee für einen neuen Palast ging von der späteren Ehefrau Guidos, Blanka Marquise de Païva, aus, die sich ein neues repräsentatives Schloss anstatt des alten, unregelmäßigen, am Rande des Parks gelegenen Schlosses wünschte. 1868 begann der renommierte französische Architekt Hector Lefuel mit dem Bau der neuen Residenz der Donnersmarcks. Bei den Bauarbeiten kam es jedoch zu Schwierigkeiten, da der ganze Untergrund um den Parksee schlammig und durchnässt war und durch seinen hohen Grundwasserspiegel keinen ausreichenden Halt für ein herkömmliches Fundament bot. Damit das große Schloss an dieser markanten Stelle errichtet werden konnte, musste der Grund trockengelegt und befestigt werden. Man wandte hier eine ähnliche Methode wie bei vielen am Meer gelegenen Städten an: In den feuchten Boden wurden rund 10.000 Eichenstämme eingelassen. Man ging aber noch weiter und goss auf diese Konstruktion Beton und dichtete das Ganze mit einer 10 cm dicken Bleischicht ab. Erst nach dieser gewaltigen Bauleistung konnte mit den eigentlichen Bauarbeiten begonnen werden, die 1875 abgeschlossen wurden. Das Ergebnis war ein lang gestreckter neubarocker Prachtbau, der den großen europäischen Schlössern in nichts nachstand. Das Schloss wurde zwar später wegen seiner Größe als Klein-Versailles oder Oberschlesisches Versailles bezeichnet, das Vorbild des Bauwerks war jedoch, wie oben bereits erwähnt, das Schloss in Pontchartrain bei Paris, welches sich von 1857 bis 1888 ebenfalls im Besitz des Fürsten von Donnersmarck befand. Der Mittelteil wurde mit einem hohen Dach und einer kleinen Laterne darauf versehen und überhöhte damit den Nord- und Südflügel des Schlosses. An den Seiten wurden vier höhere Dächer angefügt, die wie Erker hervorragten. Nach Süden und Norden schlossen sich noch einstöckige Pavillons an. An der nach Westen gerichteten Eingangsfront war für die Gäste eine Uhr und eine schmiedeeiserne Umzäunung angebracht, die einen halbkreisförmigen Vorplatz bildete. Unterbrochen wurde sie von einem hohen löwenbekrönten Einfahrtstor (heute im Chorzówer Zoo). An der Parkseite nach Osten wurden Terrassen mit Balustraden errichtet, von denen aus über Treppen der See erreicht werden konnte. Diese Terrassen mit den Wasserbassins und Skulpturen sind die einzigen Überreste, die nach dem Abriss 1961 erhalten blieben. Sie lassen die Pracht der Anlage erahnen. Die sehenswerten Skulpturen stellen kämpfende Tiere dar und wurden vom französischen Bildhauer Emmanuel Frémiet geschaffen. Aussagen über Aufteilung und Aussehen des Inneren sind nur anhand von Beschreibungen möglich, da keine Fotografien oder Pläne erhalten sind und auch beim Abriss nichts dokumentiert wurde. Es ist aber bekannt, dass das Schloss 99 Zimmer besaß, und in einer kurzen Beschreibung des Schlosses wird von fünf Sälen berichtet. Der prächtigste soll der mit Emporen ausgestattete Ballsaal gewesen sein; seine luxuriöse Ausstattung bestand aus zahlreichen Gobelins, Mosaiken und einer Wandverkleidung aus Malachit. Im Roten Saal hingen einige wertvolle Gemälde: die Ehebrecherin (nach dem Johannesevangelium) und der Ungläubige Thomas des spanischen Barockmalers Bartolomé Esteban Murillo, eine Abigail von Lucas Cranach d. Ä. und ein Lessing-Porträt von Anton Graff. Im Arbeitszimmer des Grafen Guido befanden sich eine umfangreiche Bibliothek und eine Sammlung von Familienporträts von Franz von Lenbach. Die architektonische Ausstattung der Schlosssäle und insbesondere dieses Arbeitszimmers stammte von der französischen Firma Christofle und ihrem Entwurfschef Charles Rossigneux. Im Jagdzimmer gab es neben einigen Jagdgemälden auch einen mit der Göttin Diana geschmückten Kamin desselben Herstellers. Das Gemälde Mutterglück des französischen Malers Eugène Carrière schmückte den Musiksalon. Kavalierspalast Der Kavalierspalast (polnisch Pałac Kawalera) ist das einzige profane Gebäude, das nach der Verwüstung von 1945 erhalten blieb. Als letzter Bauteil der Anlage wurde er Anfang des 20. Jahrhunderts als Wohnung der jüngeren Familienangehörigen und als Gästehaus in unmittelbarer Nähe des Neuen Schlosses errichtet. Ausschlaggebend für den Bau war, dass in den beiden Schlössern nicht genügend Platz für die Unterbringung der vielen Gäste der Familie war und ein Gästehaus dringend benötigt wurde. Mit den Plänen wurde der Berliner Architekt und Hofbaumeister Ernst von Ihne beauftragt, er musste sich jedoch an die Vorgaben der gräflichen Baukommission halten. Die Wahl Ihnes zum Architekten hängt wohl mit den guten Kontakten der Donnersmarcks zum Berliner Hof und zu Kaiser Wilhelm II. zusammen, der dann auch mehrfach im Kavalierspalast wohnte. Das Gebäude wurde von 1903 bis 1906 im Stil der Neorenaissance errichtet. Wie beim neuen Schloss, nur in kleinerem Umfang, wurde auch hier das Fundament stabilisiert. Das annähernd quadratische Gebäude wurde aus Backstein erbaut, mit dem die reiche Stuckbekrönung der Fensterrahmen und die in Naturstein ausgeführten Teile der Fassade kontrastieren. Den Eingang bildet ein mit dem Henckel von Donnersmarckschen Familienwappen geschmückter elliptischer Erker aus Naturstein, dem ein Balkon mit Arkaden vorgelagert ist. Das Gesims ist am Dachansatz von einer mit Voluten geschmückten Balustrade bekrönt. Das Äußere des nur zwei Stockwerke hohen Gebäudes wirkt insbesondere durch seine Höhe und die Betonung der Vertikalen, die allerdings durch die Gesimse unterbrochen wird. Zu Repräsentationszwecken wurde dem runden Treppenhaus im Zentrum des Gebäudes viel Platz zugestanden. Im Inneren sind die alte Aufteilung des Schlosses in viele Salons und die alte Ausstattung größtenteils erhalten. Seit 1992 beherbergt das Gebäude ein Hotel mit Restaurant. Zusammen mit dem Park ist der Kavalierspalast die Hauptsehenswürdigkeit der heutigen Gemeinde Świerklaniec. Grabkapelle Die erhaltene neugotische Grabkapelle der Donnersmarcks wurde von 1895 bis 1897 von Julius Carl Raschdorff nordöstlich des alten Schlosses errichtet. Als Vorbild diente die Berliner Monbijou-Kirche. Die Grabkapelle sollte zum einen den protestantischen Bewohnern des Schlosses und der örtlichen Bevölkerung als Gotteshaus dienen, zum anderen war das anliegende Mausoleum (erbaut 1903–1905) die Ruhestätte einiger Vertreter der Neudecker Linie des Hauses Donnersmarck. Im Mausoleum wurden unter anderem Guido Graf Henckel Fürst von Donnersmarck († 1916) und seine zweite Frau Katharina Slepzow, eine russische Adlige, bestattet. Sein Vater Carl Lazarus Henckel von Donnersmarck († 1864) wurde jedoch im heute nicht mehr vorhandenen alten Mausoleum in der Nähe des Alten Schlosses beigesetzt. Umgeben ist das Bauwerk von Kanälen und hundertjährigem Baumbestand. Die zierliche neugotische Kapelle hat eine rechteckige Form und wird von einem Dachreiter gekrönt. An der Nordseite schließt sich ein Kreuzgang mit dem angrenzenden, eigentlichen Mausoleum an. Auf der Dachspitze des quadratischen Baus ist ein Todesengel aus Kupfer angebracht, der die Funktion des Gebäudes symbolisiert. Unter den vielen plastischen Details sind noch ein Relief des Agnus Dei (Lamm Gottes) und einige Wasserspeier zu nennen. Im Inneren konnte sich die alte Ausstattung nicht erhalten, da das Kirchlein nach dem Zweiten Weltkrieg unter den Augen der damaligen Verwaltung ausgeplündert wurde. Die örtliche Pfarrei bemühte sich in den Folgejahren um die Übernahme der Grabkapelle und kaufte sie 1947. 1957 wurde die Kapelle nach Überwindung zahlreicher bürokratischer Hürden neu geweiht, nachdem sie renoviert und neu ausgestattet worden war. Dennoch war sie noch nicht gerettet: In den nächsten Jahren verfiel sie wieder, da sie aus politischen Gründen auch für Gottesdienstbesucher nur gegen Eintrittsgeld zu betreten war und deshalb kaum genutzt wurde. Später wurden Pläne diskutiert, wonach die Kapelle abgerissen oder in einen Umkleideraum mit Toiletten für ein neues Schwimmbad umgestaltet werden sollte. Es gelang aber der Pfarrgemeinde schließlich, die Kirche in drei Jahren bis 1983 zu renovieren. Die Kapelle dient heute der örtlichen katholischen Gemeinde als Filialkirche. Literatur Danuta Emmerling u. a.: Górnośląskie Zamki i Pałace. ADAN, Opole 1999, ISBN 83-908136-8-8. (Buch über oberschlesische Schlösser) Josef von Golitschek: Schlesien – Land der Schlösser. 286 Schlösser in 408 Meisterfotos. Bd. 2. Moschen bis Zyrowa. Orbis, München 1988, ISBN 3-572-09275-2. (mit einigen hist. Fotos der Anlage) Irma Kozina: Pałace i zamki na pruskim Górnym Śląsku w latach 1850–1914. Muzeum Śląskie, Katowice 2001, ISBN 83-87455-36-9. (polnisch mit deutscher Zus. Schlösser und Landhäuser in Oberschlesien 1850–1914) Jarosław Aleksander Krawczyk, Arkadiusz Kuzio-Podrucki: Zamki i pałace Donnersmarcków / Schlösser der Donnersmarcks. 2. Auflage. Rococo, Radzionków 2003, ISBN 83-86293-37-3. (deutsch und polnisch) Anna Ocieczek: Załozenie pałacowe Świerklańca. (Die Residenzanlage Neudeck). Diplomarbeit. Sozialwissenschaftliche Fakultät der Schlesischen Universität, Katowice ca. 2000. Hermann Reuffurth: Neudecker Neubauten. O. O. 1908. Marek Zgórniak: Le Château Świerklaniec, œuvre oubliée d'Hector Lefuel. In: La revue du Louvre et des Musées de France. Paris 1989. (Schloss Neudeck als vergessenes Werk Lefuels; französisch, auch in polnischer Ausgabe) Weblinks Seite des oberschlesischen Kulturerbes mit Artikel zum Schloss (deutsch) Homepage der Gemeinde mit Informationen zum örtlichen Schloss (polnisch) Homepage des Hotels im Kavalierspalast mit Informationen zur Geschichte (polnisch) Homepage mit den Sehenswürdigkeiten der Region, darunter auch das Schloss (polnisch) Einzelnachweise Neudeck Neudeck Neudeck Neudeck Gmina Świerklaniec Bauwerk von Julius Carl Raschdorff Neudeck Neudeck Abgegangenes Bauwerk in Polen
933987
https://de.wikipedia.org/wiki/Wetzlarer%20Dom
Wetzlarer Dom
Der Wetzlarer Dom, auch Dom Unserer Lieben Frau, ist eines der Wahrzeichen von Wetzlar und gleichzeitig größter Sakralbau der Stadt. Die ehemalige Stifts- und heutige Pfarrkirche ist dem Marienpatrozinium unterstellt. Sie ist keine Kathedrale im eigentlichen Sinne, da sie nie Sitz eines Bischofs war. Die Bezeichnung Dom setzte sich Ende des 17. Jahrhunderts durch, nachdem der Kurtrierer Erzbischof Karl Kaspar von der Leyen 1671 auch das Amt des Stiftspropstes übernommen hatte. Der Dom zu Wetzlar ist heute die älteste Simultankirche im Bereich der Evangelischen Kirche im Rheinland und gehört zu den ältesten Kirchen in Deutschland, die von Katholiken und Protestanten gemeinsam genutzt werden. Katholischer Dompfarrer ist Dekan Peter Hofacker und evangelischer Dompfarrer Björn Heymer. Im 13.–15. Jahrhundert sollte der romanische Kirchenbau des Wetzlarer Doms durch einen gotischen Nachfolgebau ersetzt und erweitert werden, was üblicherweise durch Errichtung eines neuen Baues um den noch nicht entfernten Vorgängerbau erfolgte. Eine Besonderheit des Wetzlarer Domes ist, dass der Bau in dieser Umbauphase unvollendet blieb und die verschiedenen verschachtelten Bauabschnitte zum Teil erhalten blieben. Geschichte Die erste Kirche und Stiftsgründung Zu einem unbekannten Zeitpunkt hatten sich Menschen auf der Erhebung südlich der Lahn niedergelassen. Es ist anzunehmen, dass sich dort um das Jahr 800 auch ein befestigter Hof befand. Er wurde entweder durch die Rupertiner oder die Konradiner als fränkische Straßenfeste erbaut. Vermutlich existierte ab der Mitte des 9. Jahrhunderts auch eine Pfarrkirche, da Wetzlar zum Sitz eines Archipresbyterats aufgrund der neuen Trierer Dekanatsverfassung geworden war. Am 6. Oktober 897 ließ Gebhard, Graf in der Wetterau, und ab 904 Herzog von Lothringen, durch den konradinischen Bischof Rudolf von Würzburg eine Salvatorkirche weihen. Diese Kirche wurde als Basilika, ähnlich der Einhardsbasilika bei Michelstadt, erbaut. Sie besaß einen dreischiffigen Grundriss mit seitlichen Nebenkapellen. Die Kirchenschiffe wurden jeweils mit einer Apsis geschlossen. Des Weiteren war der Kirchbau den frühchristlichen Märtyrern Marcellinus und Petrus geweiht. Dabei ist unklar, ob dieses Patrozinium vor oder erst nach der Weihung als Salvatorkirche bestand. Zu Beginn des 10. Jahrhunderts erfolgte die Gründung des Marienstifts als Kollegiatstift. Die Stiftsgründung war ein jahrzehntelanger Prozess. Als Stifter wurden 1389 im Nekrolog die konradinischen Herzöge Udo und Hermann genannt. Bei Udo handelte es sich vermutlich um einen direkten Nachfahren von Gebhard, wahrscheinlich seinen Sohn Udo I. von der Wetterau. Hermann III. war der zweite Stifter. Die Kirche wurde mehrfach umgebaut und vergrößert. Vermutlich erfolgte ein erster Umbau um das Jahr 1000. Zur Zeit von Friedrich I. Barbarossa geschah ein zweiter Umbau. Die spätromanische Basilika Um 1170/80 errichtete man eine spätromanische Pfeilerbasilika mit zweitürmigem Westbau. Dabei übernahm man den Grundriss der Vorgängerkirche. Eine neue Mittelapsis mit zwei Nebenapsiden entstand. Die Pfeiler im Langhaus wurden versetzt und den sieben Jochen angepasst. Das Querhaus blieb vermutlich erhalten. Die genaue Ausführung des Querschiffes ist allerdings nicht bekannt. Grabungen ergaben, dass die Westwand des Langhauses knapp zwei Meter vor der neuen Doppelturmfassade stand. Die Doppelturmfassade mit halbrunden Treppentürmen war demnach vom eigentlichen Kirchbau abgerückt. Östlich der Fassade schloss sich eine Eingangshalle an. An der Westwand des Langhauses befand sich eine Empore mit Dreiecksgiebel. Dombau vom 13. bis zum 15. Jahrhundert Baubeginn des heutigen Domes war um 1230. Zunächst wurden die Nebenkapellen abgerissen. Um die alte Chorapsis herum errichtete man einen neuen, höheren Hochchor mit einer nördlich gelegenen Stephanuskapelle und südlich gelegenen Muttergotteskapelle. Im Osten wurde eine Apsis mit 3/6-Schluss angebaut. Eine Nikolauskapelle wurde 1240/1241 vollendet, die sich südlich an die Apsis anschließt. Zwischen 1240 und 1275 errichtete man die Südfassade mit dem Querarm sowie dem Seitenschiff. Um 1250 war das Südportal fertiggestellt. Danach erbaute man den nördlichen Querarm und das nördliche Seitenschiff, das nach 1292 vollendet war. Anfang des 14. Jahrhunderts hatte man die Arbeiten am Langhaus unvollendet abgeschlossen. Entgegen den Planungen wurden nur drei, und nicht vier, Joche gebaut. Der Dachreiter über der Vierung wurde 1334 errichtet. Die dortige Glocke ist mit derselben Jahreszahl versehen. Um 1336 begannen die Bauarbeiten für die neue Westfassade mit zwei hohen Türmen. Der Bau wurde durch zwei Hütten ausgeführt. Die Planung und die wesentlichen Arbeiten sind auf die erste Hütte zurückzuführen. Zunächst wurden die Fundamente sowie das Westportal fertiggestellt. Die zweite Hütte erbaute das südliche Turmportal und den Altan des Südturms. Sie wurde vermutlich durch den Baumeister Tyle von Frankenberg geleitet. Vermutlich im Zuge der Errichtung der Westfassade wurde im 14. Jahrhundert von der zweiten Dombauhütte ein Lettner errichtet, der den Chor von dem Kirchenschiff trennte. Auf ihm befand sich ein Altar, der dem heiligen Erasmus von Antiochia geweiht war. Er diente dem Zweck, die Evangelien zu verlesen. An der Westseite waren mehrere Skulpturen angebracht. Links stand die heilige Barbara mit Turm und Palmzweig. In der Mitte waren die Heiligen Drei Könige mit Maria. Die vier Figuren waren jeweils zu zweit links und rechts des mittleren Spitzbogens befestigt. An der rechten Seite befand sich die Skulptur der heiligen Katharina von Alexandria. Sie hielt Buch und Schwert in den Händen. Neben Engeln und Propheten gab es acht Skulpturen, die in der Form von Wasserspeiern gestaltet waren. Motive waren Ritter, Edelfrau, Tod, Drache und geflügelte Sphinxe. Später wurde die kleine Bicken-Orgel der katholischen Gemeinde auf den Lettner versetzt. Der Dekan des Walpurgisstifts Weilburg erneuerte 1433 die Statuten des Wetzlarer Marienstifts im Auftrag des Bistums. Dabei wurde eine größere Disziplin der Kanoniker für den Gottesdienst und ihre Lebensführung festgeschrieben. Zudem ließ Erzbischof Raban von Trier die Pfründen des Stifts reduzieren. Bis 1485 hatte man den Südturm der Westfassade mit drei Geschossen vollendet. Er erhielt eine mechanische Turmuhr. Um 1490 wurde das Spitzhelmdach aufgesetzt. Immer wieder behinderten zahlreiche Baustillstände den Ausbau, sodass der Südturm erst um 1490 vollendet werden konnte. Dies lag an der finanziellen Not von Wetzlar, die durch Pestjahre, Fehden mit den Solmser Grafen und schließlich den Stadtbankrott hervorgerufen worden war. Der Dom als Simultankirche Die Reformation erreichte die Stadt bereits 1524. Allerdings war das Marienstift 1522 unter Reichsschutz gestellt worden, weshalb es sehr lange dauerte, ehe sich die Reformation in der Reichsstadt durchsetzte. So kam es erst 1561 zum Streit zwischen der Bürgerschaft und dem Stiftskapitel über das „Hausrecht“ im Dom. In den beiden Jahrzehnten zuvor war das Kapitel von zehn Kanonikern und 14 Vikaren im Jahr 1540 auf nun sieben Kanoniker sowie drei Vikare geschrumpft. Am 8. September 1561 wurde eine vertragliche Regelung für eine gemeinsame Nutzung der Kirche durch die katholischen Stiftsherren und die lutherischen Bürger festgelegt. In den Folgejahren kam es dennoch immer wieder zu Auseinandersetzungen. So verboten die Stiftsherren bereits kurze Zeit später Lutheranern das Betreten der Kirche. Im Gegenzug besetzte die evangelische Gemeinde 1567 das Kirchenschiff. Ab 1571 wurde zunächst keine Messe mehr von den Stiftsherren im Chor der Marienkirche gefeiert. Der Chor der Kirche blieb dennoch als katholische Institution erhalten, da der Trierer Erzbischof eingriff. Im ausgehenden 16. Jahrhundert kam es schließlich zu einer Einigung über die Nutzungsrechte der neuen evangelischen Gemeinde, weil der Großteil der Wetzlarer Bürger nun evangelischer Konfession war und eine katholische Gemeinde nicht mehr existierte. Ein Blitzeinschlag verursachte 1561 einen Brand im Südturm, dem der hölzerne Turmhelm, die Turmuhr sowie die Türmerwohnung zum Opfer fielen. Der Turmhelm wurde durch eine barocke, kupfergedeckte Turmhaube ersetzt. Die Reparaturkosten von Uhr und Wohnung übernahm der Magistrat alleine. Demzufolge war der Türmer stets von der Bürgerschaft beauftragt. Mit dem Bau des Nordturms wurde zwar begonnen, dieser wurde jedoch niemals fertiggestellt. Um 1667 entstand wieder eine katholische Gemeinde, die rund 50 Mitglieder umfasste. Der Erzbischof von Trier übernahm 1671 das Amt des Stiftspropstes. Seitdem wurde die Marienkirche immer häufiger als „Dom“ bezeichnet. Nachdem das Reichskammergericht im Jahre 1689 aus Speyer nach Wetzlar gezogen war, setzte sich diese Bezeichnung durch. Gleichzeitig stieg die Zahl der Katholiken in Wetzlar. Mit der Säkularisation des Stifts im Jahre 1803 ging das Propstgut an den Reichserzkanzler Karl Theodor von Dalberg und den Magistrat. Einem katholischen Kirchen- und Schulfonds Dalbergs kam um 1812 das Stiftsgut zu. Die evangelische Domgemeinde ließ 1837 das Interieur renovieren. Dabei entfernte man die 21 Nebenaltäre und das Sakramentshaus. Zwölf Jahre später, im Jahre 1849, folgte die Gewölberestaurierung. Das 20. Jahrhundert Nachdem bereits im 19. Jahrhundert mehrfach das Mauerwerk ausgebessert worden war, befand sich der Dom zu Beginn des 20. Jahrhunderts dennoch in schlechtem Zustand. Grund dafür waren vor allem die Schadstoffe aus Emissionen der eisenverarbeitenden Industrie. So griffen insbesondere die zersetzenden Säuren von Kohlenstoffdioxid und Schwefeldioxid den Sandstein an. Die Baubehörden der Rheinprovinz befürworteten deshalb eine Gesamtrenovierung. Im Oktober 1901 entstand auf diese Weise der „Wetzlarer Dombauverein“, der sich den Erhalt des Doms zur Aufgabe machte und die notwendigen Geldmittel zu sammeln versuchte. Großzügige Spenden und sogar eine „Domlotterie“, die im Jahr 1902 landesweit ausgespielt wurde, sorgten dafür, dass bereits 1903 die Restaurierung beginnen konnte. Sie wurde vom Kreisbauinspektor Ernst Stiehl geleitet. Er hatte geplant, neben der Renovierung auch die gotische Westfassade zu vollenden. Stiehls Plänen zufolge hätten die Türme eine Gestalt ähnlich denen des Freiburger Münsters erhalten. Dies wurde aber nicht umgesetzt. Die Renovierung konnte 1910 abgeschlossen werden. Im Jahr 1920 fand im Dom ein Einbruch statt, bei dem sechs große Silberleuchter, silberne Leuchter vom Tabernakel sowie eine aus Elfenbein bestehende Christusfigur vom Kruzifix entwendet wurden, einige Teile konnten wiedergefunden werden. Ob die Einbrecher gefasst wurden, ist nicht überliefert. Im Zweiten Weltkrieg wurde das Gebäude stark beschädigt. Am 8. und 9. März 1945 zerstörten Fliegerbomben den Chor, den Hochaltar, den Lettner sowie beide Orgeln und die bunten Glasfenster im Dom. Nach Kriegsende konnte man das Bauwerk wiederherstellen, diese Arbeiten dauerten bis 1955. Dennoch gingen der Lettner mit der dortigen Orgel der katholischen Gemeinde sowie der Hochaltar endgültig verloren. Allerdings sind die Figuren des Lettners erhalten und werden in den Städtischen Sammlungen Wetzlar aufbewahrt. Auch die Kanzel wurde durch den Bombeneinschlag beschädigt und konnte erst 1984 vollständig rekonstruiert werden. 1978 wurden die Rechte der beiden Domgemeinden abschließend geklärt. Beim Grundbuchamt erfolgte eine Eintragung, dass sie „gemeinsam und zu gleichen Teilen“ Eigentümer des Wetzlarer Doms sind. Der Kircheninnenraum wurde erneut zwischen 1981 und 1989 saniert und das Dach im Jahre 1990 erneuert. Die Kosten für die Dacharbeiten lagen bei 1,5 Millionen Deutsche Mark und wurden von der Dombauverwaltung, dem Wetzlarer Dombau-Verein und dem Landesamt für Denkmalpflege Hessen übernommen. Architektur und Baubeschreibung Im Wesentlichen wurde der Wetzlarer Dom in drei Hauptbauphasen errichtet. Die erste markiert der stehen gebliebene Teil der romanischen Westfassade mit einem von ursprünglich zwei Türmen mit byzantinisch anmutendem Helm in der Art romanischer Turmhelme in Rheinhessen; den zweiten Bauabschnitt markiert die Hallenkirche des 13. Jahrhunderts und den dritten die unvollendete spätgotische Westfassade des 14./15. Jahrhunderts. Es ist eine dreischiffige, rippengewölbte Hallenkirche mit einer Doppelturmfassade. Der dreigeschossige, aus rotem Sandstein bestehende Turm an der Südwestecke des Langhauses ist beherrschend. Im Inneren übernehmen die mächtigen, geschmückten Pfeiler eine dominante Rolle. Aber wegen seiner über die Jahrhunderte dauernden Bauzeit und seiner nie vollendeten Westfassade ist der Wetzlarer Dom sowohl ein in seiner Art einzigartiges Abbild der Entwicklung der Baukultur vom 12. bis zum 16. Jahrhundert, als auch der wechselhaften ökonomischen Geschichte einer Reichsstadt während dieser Zeit. Die jeweiligen Bauhütten wurden durch Bautechnik und Gestaltungsweisen des Frankfurter Kaiserdoms St. Bartholomäus und der Kölner Dombauhütte beeinflusst. Sie orientierten sich aber vor allem an der Trierer Liebfrauenkirche und dem Paderborner Dom sowie den nahegelegenen Kirchbauten, dem Limburger Dom und der Elisabethkirche Marburg. Chor Der spätromanische Chor war der erste Bauabschnitt des Neubaus von 1230. An der Außenseite wurden die Chorfenster mit jeweils zwei Spitzbögen und Fünfpass gebaut. Das Vorbild der Bauhütte war vermutlich die Liebfrauenkirche zu Trier, bei der die Ornamentik allerdings als Sechspass ausgeführt ist. In das Faltdach der Apsis wurden drei arkadenförmige Giebel eingesetzt. Der Sockel wird von einem Konsolenfries umlaufen. Den Chor flankieren an der Westseite zwei Rundtürmchen mit Wendeltreppe, die über das Dach hinausragen. Im Inneren besteht der Vorchor aus zwei schmalen Jochen. Die Apsis wurde als einzelnes Joch mit 3/6-Polygon errichtet. Die Chorfenster waren im frühgotischen Stil gehalten. In den Jahren 1588 und 1592 wurden größere Arbeiten an den Fenstern vorgenommen. Zumindest seit dieser Zeit stellten sie großformatig Heilige dar, bis sie im Zuge der Renovierung von 1903 durch kleinformatige Fenster mit neugotischen Darstellungen ersetzt wurden. Nach der Zerstörung von Chor und somit auch dessen Fenstern im Zweiten Weltkrieg sollten farbig gestaltete Chorfenster eingesetzt werden. Der Künstler Ludwig Baur aus Telgte entwarf im expressionistischen Stil drei neue Chorfenster in den Jahren 1958/1959 sowie ein großes und ein kleines Ornamentfenster im Jahre 1962. Sie wurden durch die Firma Hein Derix gesetzt. Die Chorfenster zeigen Motive mit Ereignissen aus dem freudenreichen, schmerzhaften und glorreichen Rosenkranz. Aufgrund des großen Kapitels in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts bot das Chorgestühl für circa 75 bis 80 Stiftsherren Platz. Das Chorquadrat beherbergte einen großen Marien-Hochaltar sowie das Hochgrab der Stifter. Hier befanden sich vermutlich nur jeweils Bestandteile der Gebeine. Zunächst waren Chor und Langhaus durch eine Chorschranke getrennt. Um 1350 wurde sie durch einen Lettner ersetzt. 1706 verlagerte man das Grab in den Boden des Chors, da die Stiftsherren ausreichend Platz für ihren Gottesdienst benötigten. Querschiff und Langhaus Der Bau des 13. Jahrhunderts verbindet Elemente der rheinischen Spätromanik mit hochgotischer Architektur. Auch im Inneren von Langhaus und Querschiff finden sich teils romanische, teils gotische Bauformen. Vermutlich wurde nach einem romanischen Plan begonnen, der in gotischen Formen weitergeführt wurde, ohne das bereits Gebaute zurückzunehmen. Die Gewölbe, Pfeiler und Maßwerkfenster sind auf den Einfluss der Marburger Elisabethkirche zurückzuführen, die bestimmend war für die Entwicklung gotischer Hallenkirchen in Hessen. Das Maßwerk ist allerdings bereits weiter entwickelt. Das Südquerhaus wurde mit zwei hohen Fenstern an der Südseite erbaut. Sie besitzen drei Spitzbögen und jeweils drei Dreipasse. Darüber wurde ein Giebel mit drei spitzbögigen Arkaden sowie einem Laufgang errichtet. Die Südfront wurde von zwei Ecktürmchen mit Rhombendach abgeschlossen, deren Ausführung sich am Limburger Dom orientiert. Die schmale Westseite des Südquerarms zeigt ein kleines Fenster mit zwei Spitzbögen und Rundpass. Darunter befindet sich die angebaute Johanniskapelle. Die Ostseite des Südquerhauses wurde mit zwei hohen Fenstern errichtet. Die Fenster zeigen je zwei Spitzbögen und einen Rundpass. Das innere Fenster wurde zugemauert. Auf der Innenseite verläuft oberhalb der Sockelzone ein Fensterrundgang. Die Streben sind jeweils durchbrochen. Das Nordquerhaus unterscheidet sich stark vom Südquerarm. Das Strebensystem ist nicht nach innen verlegt und die Strebepfeiler enden mit Fialen. Oberhalb der Sockelzone umläuft ein Fensterrundgang mit Dreipassverzierung an der Brüstung den Querarm. Die Ecken sind mit Tabernakeln flankiert. Die Brüstung weist hier ein geändertes Maßwerk, einen Vierpass, auf. Die vier identischen Fenster am Nordquerhaus bestehen aus jeweils vier spitzbögigen Lanzettfenstern, zwei kleinen Vierpassen und einem großen Vierpass mit Dreiviertelkreisbögen. Die Fenster sind zudem von Wimpergen bekrönt, die auf dem Querhausdach eine Maßwerkbrüstung überlagern. Das Innere weist mit einem vierteiligen Rippengewölbe und dem eingerückten Schlussstein Ähnlichkeiten einer Apsis auf. Das Langhaus besitzt drei vollendete Joche, das vierte Joch ist im Ansatz an der Südseite vorhanden. Am nördlichen Seitenschiff wird die Gestaltung der Fenster vom Nordquerhaus vereinfacht fortgesetzt. Die Wimperge entfallen und sind durch verschieferte Zwerchgiebel ersetzt. Das südliche Seitenschiff verfügt über verjüngte Strebepfeiler mit pyramidenähnlichen Fialen. Die Fenster bestehen aus zwei spitzbögigen Lanzettfenstern. Dabei hat das mittlere der drei fertiggestellten Fenster einen Fünfpass als Maßwerk. Die beiden äußeren Maßwerke sind als Rundpass gestaltet. Im Inneren orientierte sich die Bauhütte bei Kapitellen und Wandvorlagen im südlichen Bereich am Paderborner Dom. Bei den Arbeiten ab etwa 1260 werden diese Elemente vor allem durch die Marburger Elisabethkirche beeinflusst. Schließlich fließt bei den Ausführungen von Kapitellen und Fenstermaßwerk im nördlichen Seitenschiff die Kölner Dombauhütte stilistisch ein. Das Gewölbe im Langhaus wird von Rundpfeilern mit einem vierteiligen, schlanken Dienstbündel gestützt. Dabei sind die Pfeiler des nördlichen Seitenschiffs stärker. Stephanuskapelle und Sakristeien Die Kapelle des heiligen Stephanus befindet sich an der nördlichen Seite des Chores. Zunächst stand die Nebenkapelle unter dem Patronat des heiligen Petrus. Der Künstler Ludwig Baur formte 1942 ein Mosaik, das Maria mit Kind porträtiert und sich mindestens seit 1965 in der Stephanuskapelle befindet. 1983 erfolgte eine Renovierung der Kapelle. Sie dient heute der Beichte. Östlich schließt sich die katholische Sakristei an. Das Kapitel nutzte den Raum als Bücherei und Archiv. Erst 1954 wurde die evangelische Sakristei an das nördliche Seitenschiff angebaut. Dort befand sich zuvor die 1482 erwähnte „Schultür“ der Scholaren, die vermutlich direkt zur Stiftsschule führte. Nikolauskapelle Die südlich des Chors gelegene Nikolauskapelle entstand in ihrer heutigen Form erst durch Zusammenführung mit der Muttergotteskapelle. Diese wurde vor 1230 erbaut und bildet somit den älteren Bereich der Kapelle. Die Räumlichkeit diente zunächst als Sakristei des Stiftkapitels. Die Stiftsherren hielten hier auch zeitweise ihre Sitzungen ab. An der Ostwand der Nikolauskapelle befanden sich seit 1907/1908 drei Fenster von Friedrich Stummel. Im mittleren Fenster wurde Maria dargestellt. Das linke Fenster zeigte Johannes und rechts befand sich Josef. Die Fenster ersetzte 1953 der Marburger Künstler Erhardt Klonk. An der Ostwand ist heute der heilige Nikolaus von Myra in violettem Gewand auf dem mittleren der drei Lanzettfenster zu sehen. Auf seiner rechten Seite befinden sich drei Knaben. Ihre Darstellung beruht auf der Legende der „Auferweckung der getöteten Scholaren“. Links ist mit drei Frauen, die jeweils eine goldene Kugel in Händen halten, die Legende der „Ausstattung der drei Jungfrauen“ abgebildet. Neben dem heiligen Nikolaus sind in der Mitte auch drei Seeleute dargestellt, die zu ihm hinaufschauen. Klonk wählte dieses Motiv, da Nikolaus von Myra auch Schutzpatron der Seemänner ist. Der heilige Nikolaus hält in seiner linken Hand einen Anker sowie einen Bischofsstab. Außerdem trägt er eine Bischofsmütze, die von einem Heiligenschein umgeben ist. Das dreigeteilte Ornamentfenster an der Südwand der Nikolauskapelle stammt ebenfalls von Erhardt Klonk und ist in den Farben Blau, Weiß und Rot gehalten. Es zeigt in der Mitte die Buchstaben Α und Ω sowie darüber ein Kreuz. Die Fenster links und rechts zeigen gleichermaßen ein weißrotes Kreuz mit zwei roten Fischen darüber. Auf dem Altar im Bereich der ehemaligen Muttergotteskapelle befindet sich ein Bronzekreuz. Es ist 162 cm groß und wurde von Hans Mettel hergestellt. Es zeigt eine blockhafte Christusfigur mit einfacher Königskrone. Des Weiteren steht in der Kapelle ein romanisches Taufbecken aus Tuffbasalt. Die gotische Westfassade Die gotische Westfassade wurde nicht vollendet. Das Provisorium besitzt eine Breite von ca. 22,5 Metern und einen hohen Sockel aufgrund des abfallenden Platzes. Die Westfassade ist durch die Verwendung von Rotsandstein auch farblich vom Langhaus abgesetzt. Zudem wurde grüner Schalstein verwendet, insbesondere beim Bau des gesamten Untergeschosses. Die rechtwinkligen Strebepfeiler sind am Südturm stark ausgeführt und in vier Geschosse eingeteilt. Vom neuen Nordturm wurde nur das Untergeschoss ausgeführt. Dabei fehlen Deckenplatte und Geschossgesims. Im Inneren des neuen Nordturms war auch eine Kapelle geplant. Vermutlich sollte sie dem Evangelisten Johannes geweiht und als Taufkapelle genutzt werden. Dass der zweite Turm unvollendet liegenblieb und die Fassade somit asymmetrisch wurde, störte das ästhetische Empfinden des Mittelalters nicht. Das Westportal ist ein Stufenportal mit Mittelpfeiler und Wimperg. Der Wimperg führt in das Maßwerk hinein, schließt jedoch nicht ab. Die Wimpergspitze wurde nicht vollendet. Am Mittelpfeiler steht Maria mit dem nackten Jesuskind auf ihrem linken Arm. Sie wird von einem Tabernakel bekrönt. Das Tympanon ist in zwei Register unterteilt, die horizontal verlaufen. Die Anbetung des Jesuskindes durch die Heiligen Drei Könige zeigt das untere Relief, das durch den Tabernakel der Trumeaumadonna geteilt ist. Das obere Relief stellt die Krönung Mariens durch Gottvater dar. In der inneren Bogenstufe stehen unter Baldachinen rechts vier Figuren von den klugen, links vier von den törichten Jungfrauen. Der Bogenlauf ist allerdings für je fünf Plastiken ausgelegt. Die oberen beiden Plätze sind nicht besetzt. Die beiden Gruppen treffen sich oben bei dem mit einem Kreuznimbus versehenen Christuskopf. Der äußere Bogenlauf zeigt zehn Propheten. Das Tympanon des Westportals ist unter mittelrheinischen Einflüssen in einer hessischen Werkstatt entstanden. Turmportal Das nach Süden gerichtete Turmportal zeigt sechs Skulpturen, die auf verzierten Säulen stehen und jeweils einen Tabernakel über ihren Köpfen haben. Am Trumeau des Turmportals befindet sich eine Madonna. Von der linken Seite blicken die Apostel Paulus und Andreas zu ihr hinüber. Auf der rechten Portalseite sind die Apostel Petrus und Johannes zu ihr gewandt. Neben Johannes steht Jakobus der Ältere mit der Pilgermuschel als Attribut. Diese Figur passt nicht in den symmetrischen Aufbau des Portals und wird wohl nicht zum ursprünglichen Programm gehört haben. Zu Füßen des Jakobus wurde ein kniender Mann neben seinem Pferd dargestellt und ein Wappenschild mit drei Muscheln. Es ist wohl das Wappen eines Mannes, der eine Pilgerfahrt gemacht hatte, und zum Dank für seine glückliche Heimkehr Jakobus als Schutzpatron der Pilger eine Statue stiftete. Über dem Eingang ist im Tympanon Christus als Weltenrichter dargestellt, flankiert von Maria und Johannes dem Täufer. Oberhalb des Turmportals befindet sich der Altan mit der Schmerzensmanngruppe. Sie entstand im ersten Viertel des 15. Jahrhunderts. Die Gruppe besteht heute aus vier Großplastiken, die jeweils auf einer Konsole stehen und einen Baldachin besitzen. Die mittlere Christusfigur mit Nimbus zeigt einige Wunden. Die Seitenwunde mit Blutstraube soll auf das Abendmahl hinweisen. Sein Baldachin ist größer als die anderen. Zur Rechten Jesu stehen Maria im Gebetsgestus verharrend und eine Engelsfigur, zu seiner Linken sieht man den trauernden Evangelist Johannes. Als fünfte Skulptur war neben ihm vermutlich ebenfalls eine Engelsfigur geplant, davon zeugt der allein hängende Baldachin auf der rechten Seite. Eine Konsole wurde für diese Figur nicht mehr angebracht, da offensichtlich klar geworden war, dass die weit nach rechts ausladende Figur des Johannes einem weiteren Engel zu wenig Platz übrig ließ. Nordturm mit Heidenportal Der spätromanische Nordturm der Vorgängerkirche, auch Heidenturm genannt, ist durch den neueren, gotischen Bau umschlossen. Er ist insgesamt 29,50 Meter hoch und etwas zurückgesetzt. Der Nordturm besitzt vier Geschosse, die sich jeweils um etwa 20 bis 30 Zentimeter verjüngen. Dabei schließt er mit einem Oktogon zwischen vier Giebeln und Spitzhelmdach ab. Der Turm war bis zur Renovierung von 1903 mit einer oktogonalen, steinernen Kuppel gedeckt. Der Nordturm wird von einem runden Treppenturm flankiert. Das Heidenportal, ein romanisches Mittelschiffportal mit Trumeau, ist als Stufenportal mit Doppelarkade ausgeführt. Über der Mittelsäule befindet sich ein ungedeutetes Tympanonmotiv, das einem Widderkopf ähnelt. Das Portal ist 4,47 Meter breit. Vermutlich führten mehrere Stufen zum Portal hinauf, bevor man die gotische Westfassade erbaute. Südturm Der Hauptturm des Domes ist an seiner längsten Seite 50,68 Meter hoch. Damit ist der Dom das siebthöchste Bauwerk in der Stadt Wetzlar. Hauptportal In der Mitte des südlichen Seitenschiffes befindet sich das frühgotische Hauptportal. Der Eingang ist ebenerdig und mit doppeltem Kleeblattbogen, Blattfries und Skulpturenschmuck versehen. Die Bauhütte orientierte sich vermutlich am Paradiesportal des Paderborner Doms, das große Ähnlichkeiten aufweist. Der plastische Schmuck des Portals symbolisiert den Kampf zwischen Gut und Böse. Im Giebel über der Tür erscheint Christus als Richter. Zwei Engel über ihm halten ein Spruchband mit den Worten Alpha et Omega. Außerhalb des Giebels ist zur Rechten von Christus Abel platziert, der ein Lamm als Opfergabe hält, zur Linken trägt Kain seine Gabe in Händen, einen Korb mit Früchten des Feldes, hier in Form von Getreideähren. Abel verkörpert das Gute, Kain als sein Mörder das Böse. Die Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse findet seine Fortsetzung zwischen Maria und dem Teufel. Im Portalbogen unterhalb von Christus steht eine Muttergottes mit Kind auf einer Konsole, die einen Menschen zeigt, der von hinten von einem Teufel umklammert wird. Vermutlich handelte es sich bei dem Menschen zunächst um eine Nonne. Auf diese Darstellungsform bezieht sich ein Spruch, der in der Umgebung von Wetzlar schon im 17. Jahrhundert geläufig war: Zu Wetzlar auf dem Dom sitzt der Teufel auf der Nonn. Erst mit der Domrenovierung von 1903 wurde aus der Nonne ein Jude, erkennbar an seinem spitzen Judenhut. Diese Entwicklung hing mit der aufkommenden Judenfeindlichkeit zusammen. 2011 wurde neben dem Portal eine erläuternde Gedenktafel angebracht. Links neben der Tür stehen unter Baldachinen in Tabernakeln, die von Säulen gebildet werden, zwei Heilige. Es sind Jakobus der Ältere und Maria Magdalena, die der Tür zugewandt ist. Magdalena tritt einen gehörnten Teufel nieder zum Zeichen des Sieges über ihre Begierden, denen sie entsagt hat. Rechts der Tür finden wir in gleicher Anordnung die heilige Katharina von Alexandria, zur Tür blickend, und neben ihr eine Skulptur des Apostel Petrus. Katharina tritt Kaiser Maxentius mit Füßen, der sie töten ließ und über den sie innerlich triumphierte. Die vier Figuren sind Nachbildungen, die im Rahmen der Restaurierung Anfang des 19. Jahrhunderts entstanden sind. Die Originale befinden sich im Kircheninneren. Die Skulptur von Maria ist im Original zu sehen, ebenso die beiden Engel über Christus, während die Konsole und die Statue von Christus als Richter Abgüsse sind. Ausstattung Altäre und Wandmalereien Als Simultankirche besitzt der Dom zwei Altäre, beide einfach und schlicht gehalten. Der katholische Altar befindet sich in der Apsis, der evangelische ist in der Vierung aufgestellt. Die Sitzbänke des Vorchors sind umklappbar, um je nach Bedarf die Ausrichtung zum katholischen oder zum evangelischen Altar zu ermöglichen. Die Westwand des Kirchenschiffes erhielt bereits zu Beginn des 14. Jahrhunderts ein großformatiges Weltgericht als Wandgemälde. Christus richtet im Beisein von Maria und Johannes dem Täufer die Toten, die sich aus ihren Gräbern erheben. Hinter der Orgelempore sind Maria, Engel mit Posaunen sowie drei Heilige erhalten geblieben. Am Vierungsbogen war bis zur Zerstörung im Zweiten Weltkrieg eine weitere Darstellung des Jüngsten Gerichts zu sehen. Sie beruhte auf der Beschreibung der Johannesapokalypse und zeigte Christus mit Schwert und Lilie auf einem Regenbogen, flankiert von Maria und Johannes dem Täufer als Fürbittern. Während zur Rechten Christi die Seligen ins Paradies traten, gerieten die Verdammten zu seiner Linken in einen Drachenschlund. Mehrere Wandmalereien entstanden in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts im Kircheninnenraum und wurden 1987 restauriert. Ein rechteckiges Feld im Nordquerhaus zeigt ein großes Kreuz sowie fünf Heilige. Die rechte Heiligenfigur stellt Christophorus dar. Diese kleine Malerei war das aufgemalte Retabel eines ehemaligen Seitenaltars. Im Südquerhaus zeigt oberhalb des Epitaphs des Hulderich von Eyben ein Wandgemälde mehrere Szenen aus dem Leben der Maria Magdalena. An der Südwand sind die Heiligen Drei Könige auf zwei gleich großen Teilen eines Wandgemäldes dargestellt. Beide Wandmalereien gehörten vermutlich auch zu zwei Seitenaltären. Kanzel Die Kanzel mit Schalldeckel befindet sich am südwestlichen Pfeiler der Vierung. Sie stammt aus dem Barockzeitalter und wurde vermutlich gegen Ende des 17. Jahrhunderts gebaut. Auf den Intarsien sind Christus als Salvator mundi sowie die vier Evangelisten abgebildet. Bei dem Salvator-mundi-Motiv ist bemerkenswert, dass Christus mit seiner Linken segnet, statt mit seiner Rechten, und in der Rechten die Weltkugel hält. Auf dem Schalldeckel steht eine barocke gefasste hölzerne Skulptur Johannes des Täufers mit Kreuzstab und Lamm. Kreuztragender Christus Im Nordquerhaus befindet sich eine Skulptur des Kreuztragenden Christus. Sie zeigt ihn zusammen mit einer Statue Simon von Kyrene auf dem Weg nach Golgota. Die Laubholzfiguren auf einem Unterbau entstanden im ersten Drittel des 15. Jahrhunderts und sind oberrheinischer Herkunft. Die Skulptur ist 160 cm groß und erhielt eine mehrfarbige Gestalt auf Kreidegrund. 1995 konservierte der Restaurator Peter R. Pracher aus Würzburg den Kreuztragenden Christus. Die Untersuchungen ergaben zudem, dass das Gewand Jesu ursprünglich weiß war, um die Unschuld zu symbolisieren. Später wurde das Gewand zunächst mit rotbrauner Ölfarbe bemalt, ehe schließlich eine dunkelbraune Ölfarbe folgte. Bei der Konservierung wurde auf das Wiederherstellen der weißen Farbgebung verzichtet. Dennoch konnten Schäden behoben und die Holzfigur geschützt werden. Die Originalstatue des Simon von Kyrene wurde im Zusammenhang der Renovierungsarbeiten 1983 gestohlen. 1996 erstellte der Bildhauer Karl-Heinz Müller aus Brühl eine Nachbildung anhand von Fotografien des Originals. Aufgrund eines Hinweises aus der Bevölkerung entdeckte der ev. Dompfarrer Michael Stollwerk Anfang Oktober 1997 die verschollene Skulptur auf dem LKW eines Antiquariats in Giessen. Die Kriminalpolizei beschlagnahmte daraufhin das Fahrzeug und übergab die leicht beschädigte Originalfigur den beiden Pfarrern der ev. und kath. Domgemeinde. Sie befindet sich heute im Wetzlarer Stadtmuseum. Pietà Das bedeutendste Kunstwerk unter den erhaltenen Stücken des Doms ist eine Pietà, die aus der Zeit um 1370/1380 stammt und in der Johanniskapelle zu sehen ist. Im Laufe der Jahrhunderte war das Kunstwerk an unterschiedlichen Orten im Innenraum des Doms aufgestellt. Es zeigt den toten Leib Christi, der schräg auf dem Schoß von Maria liegt. Das Vesperbild ist vermutlich mittelrheinisch-hessischen Ursprungs. Die sitzende Maria wird mit blauem Kleid und weißem Mantel dargestellt, der mit reichen Borten verziert ist. Ihr Kopftuch ist schleierartig über den Kopf gezogen. Aufrecht auf der lehnenlosen Steinbank sitzend, stützt sie mit der rechten Hand den toten Körper Jesu. In der Realität wäre diese Stützhaltung kaum möglich, da sie ihn nur am Kopf hält und er sie durch sein Gewicht normalerweise nach vorne ziehen würde. Obwohl sie ihn anblickt, ist Marias Gesicht stark dem Betrachter zugewandt. Diesem präsentiert sie in dieser Haltung ihren Sohn, was sich auch im Lendentuch Jesu zeigt, das nur am schmalen unteren Saum rüschenartige Falten aufweist und sonst flach am Körper anliegt. Mondsichelmadonna Im Chor steht eine hölzerne, spätgotische Mondsichelmadonna. Die gekrönte, unterlebensgroße Skulptur trägt ein beiges Gewand mit Goldsaum und darüber einen blauen, weiten Mantel mit Goldsaum und goldenem Futter. Außerdem hält sie das Kind auf dem rechten Arm. Es handelt sich vermutlich nicht um die ursprüngliche Fassung der Figur. Marienleuchter Der aus der Spätgotik stammende Leuchter befindet sich im Mittelschiff des Doms und wird auch als Zunftleuchter bezeichnet. Hauptbestandteil ist eine etwa einen Meter hohe geschnitzte Mondsichelmadonna. Die bekrönte Figur trägt auf der rechten Hand ein nacktes Jesuskind, in der linken hält sie ein Zepter. Sieben kleinere Engelsfiguren mit Spruchbändern in den Händen umgeben die Statue. Sie sind durch gebogene Eisenstäbe am Sockel und an Marias Füßen befestigt. Das Kind blickt an Maria vorbei nach oben, hat beide Arme einladend ausgebreitet und die rechte Hand im Segensgestus erhoben. Im offenen Haar trägt Maria eine goldene Lilienkrone und ist mit einem roten Untergewand sowie goldenem, rosengesäumtem Mantel bekleidet. Die Figur wird nach hinten durch einen Strahlenkranz abgeschlossen. Der heutige Zustand des Leuchters weicht stark von der ursprünglichen Form ab. Auch Fotografien vor der Bombardierung des Doms im März 1945 zeigen nicht, wie er als Leuchter gedient haben soll, da keine Befestigungsmöglichkeiten für Kerzen oder andere Lichtquellen vorhanden ist. Epitaphien Im Dom haben sich insgesamt 52 Epitaphien und Grabsteine erhalten. Sie erinnern an die in der Kirche bestatteten Personen, befinden sich aber größtenteils heute nicht mehr an den jeweiligen Begräbnisplätzen. Die Epitaphien sind auf Apsis, Nikolauskapelle, Querhaus, Kirchenschiff und den Südturm verteilt und stehen aufrecht an den Wänden oder sind in diese eingelassen. Die Epitaphien sind aus unterschiedlichen Materialien gefertigt. 21 Stück bestehen aus Rotsandstein, 28 Steine wurden aus Lahnmarmor gefertigt und je ein Epitaph wurde aus Holz, Lavastein sowie Schalstein hergestellt. Dabei entstammen die Sandstein-Epitaphien dem Spätmittelalter und der Renaissance, während der Lahnmarmor in der Zeit des Reichskammergerichts verwendet wurde. Die mittelalterlichen Steine waren ursprünglich Bodengrabplatten und haben deshalb nur ein gering ausgeprägtes Relief. Ältestes Epitaph ist der Grabstein des Wetzlarer Schöffen Richolf Reige aus dem Jahre 1362. Es wurde im Zuge der Domrenovierung 1906 im Fußboden entdeckt und anschließend an die Wand des nördlichen Seitenschiffes versetzt. Ursprünglich besaßen alle Epitaphien im Dom Inschriften. Diese sind heute teils verwittert, wie das Epitaph einer unbekannten Frau, die 1599 verstorben war, im Untergeschoss des Südturms. Hauptsächlich haben sich Epitaphien mit lateinischer Inschrift erhalten. Nur drei Steine sind in deutscher Sprache gehalten. Auf den Epitaphien wurden unterschiedliche Darstellungsformen gewählt. Sechs Epitaphien zeigen lebensgroße Darstellungen der Verstorbenen. Beispielhaft ist hier der Grabstein des Ritters Anselm genannt Hun. Er befindet sich an der Nordwand der Apsis und zeigt einen Ritter mit Kittel und Schwert. Zwei Epitaphien haben biblische Motive. Auf dem Epitaph des Ehepaares Pussel wird die Ankündigung der Geburt Christi dargestellt. Ein weiteres zeigt die Anbetung des gekreuzigten Christus. Die meisten Epitaphien weisen allerdings keine besonderen Darstellungen der Verstorbenen auf, sondern sind mit den jeweiligen Familienwappen versehen oder verwenden Symbole. Auf dem Epitaph von Johann Christoph von Schmitz ist beispielsweise ein Totenschädel als Symbol der Vergänglichkeit zu sehen. Bei den Verstorbenen handelt es sich hauptsächlich um Mitglieder des Reichskammergerichts, wie Hulderich von Eyben, Erich Mauritius und Valentin Ferdinand Gudenus. Außerdem existieren Epitaphien für Dekane und Kanoniker des Marienstifts sowie Adlige des Lahngaus. Nebenbei sind auch drei Epitaphien Wetzlarer Bürgern gewidmet. Orgel Eine Orgel im Wetzlarer Dom wird erstmals urkundlich 1279 erwähnt. Sie befand sich im südlichen Querhaus und wurde 1474 erneuert. 1510 kam eine Orgel an der Westfassade des Langhauses hinzu. Diese stiftete das Geschlecht derer von Bicken. Die mit der Reformation entstandene evangelische Gemeinde nutzte die Orgel im Querhaus, die katholische Gemeinde die sogenannte „Bicken-Orgel“. 1648 ließ man letztere in das südliche Querhaus versetzen, um an der Westfassade eine neue Orgel zu erbauen. Diese war 1655 fertiggestellt und kostete mit Orgelempore rund 1000 Gulden. 1686 setzte man die Bicken-Orgel auf den Lettner. Ein Scholaster stiftete 1758 eine neue Orgel auf dem Lettner. Die Orgel an der Westwand wurde 1785 durch ein größeres Instrument von den Gebrüdern Stumm aus Rhaunensulzbach ersetzt. Die heutige Orgel auf der Westempore des Langhauses wird sowohl durch die evangelische, als auch durch die katholische Gemeinde genutzt. Sie wurde durch die Wetzlarer Industriellenfamilie Leitz in den 1950er-Jahren gestiftet, nachdem die die Vorgängerinstrumente im Zweiten Weltkrieg zerstört worden waren. Den Bauauftrag für die neue Domorgel erhielt 1953 der Hamburger Rudolf von Beckerath. Zusammen mit dem Frankfurter Organisten Helmut Walcha plante man eine Disposition mit 49 klingenden Stimmen (3394 Pfeifen) im Stil des Norddeutschen Barocks. Die Register sind auf drei Manuale und das Pedal verteilt. Die Spieltraktur ist mechanisch, die Registertraktur pneumatisch. Über vier pneumatische freie Kombinationen können vor dem Spiel festgelegte Registrierungen während des Spiels abgerufen werden. Anfang 1955 wurde das Instrument installiert und am 14. Mai 1955 durch Walcha eingeweiht. Auch Albert Schweitzer bespielte die Domorgel mehrmals. Koppeln: III/I, II/I, II/P. Spielhilfen: 4 freie Generalkombinationen, 3 freie Kombinationen für Pedal, 3 freie Kombinationen für Hauptwerk, 3 freie Kombinationen für Rückpositiv, 3 freie Kombinationen für Brustwerk Technische Daten 49 Register, 3394 Pfeifen. Körperlänge der größten Pfeife: ca. 7 m. Körperlänge der kleinsten Pfeife: 10 mm. Gehäuse/Prospekt: Material: Eichenholz und Orgelmetall. Höhe: ca. 10 m. Tiefe: ca. 4 m und Rückpositiv ca. 1,5 m. Windversorgung: Winddruck: ca. 66–68 mmWS. Gebläse: Elektrische Windmaschine. Blasbälge: Magazinbalg und Bälge je Werk. Spieltisch(e): Freistehend. Pedal: Parallel, nach außen etwas ansteigend. Traktur: Tontraktur: Mechanisch. Registertraktur: Pneumatisch. Koppeln: Barkermaschine. Stimmung: Höhe a1= Hz: 440 Hz bei 14 °C. Stimmung: gleichstufig. Glocken Der Wetzlarer Dom verfügt über ein siebenstimmiges Geläut. Die Glocken unterliegen der Läuteordnung beider Kirchengemeinden und werden nach deren Vorgaben an bestimmten Tagen mit unterschiedlichen Zusammenstellungen geläutet. Vier Glocken befinden sich im Südturm und bilden das Hauptgeläut in einem ausgefüllten Dur-Dreiklang. Die drei weiteren Glocken sind im Dachreiter oberhalb der Vierung untergebracht und bilden einen Dur-Sextakkord. Sie fügen sich somit zu einem „Doppelchor“. Das Hauptgeläut besteht aus Dammerich, Vaterunserglocke, Elfuhrglocke und Neunuhrglocke. Es ruht auf einem stählernen Glockenstuhl. Die Joche sind ebenfalls aus Stahl gefertigt. Die Basisglocke bildet der durch die Firma Buderus gegossene Dammerich, der als einzige Glocke aus Gussstahl hergestellt wurde. Die Herkunft des Namens Dammerich ist ungeklärt. Er stammt bereits von der Vorgängerglocke aus dem Jahre 1568, die mit folgendem Spruch versehen war: Proditur his signis latro, fur, mors, hostis et ignis (Durch diese Signale wird öffentlich gemacht Räuber, Dieb, Tod, Feind und Feuer). Diese Glocke sprang 1775 und wurde 1782 neu gegossen. Nachdem man sie 1845 ein zweites Mal gegossen hatte, wurde die Glocke im Jahre 1917 für Kriegszwecke enteignet. 1920 entstand der heutige Dammerich. Die Läutemaschine stammt von den Herforder Elektromotoren-Werken (HEW). Die übrigen drei Glocken des Hauptgeläuts bestehen aus Glockenbronze. Gießer der Vaterunserglocke war Dilman Schmid aus Aßlar. Die Elfuhrglocke wurde von Guido Mongiot aus Levecourt gegossen und die Neunuhrglocke ist unbezeichnet. Das Dachreitergeläut, bestehend aus Prima, Ökumeneglocke und Secunda, ist in einem dreigefachten hölzernen Bockstuhl aufgehängt. Alle drei Glocken sind aus Glockenbronze gefertigt. Der Gießer von Prima und Secunda ist unbezeichnet. Die Ökumeneglocke wurde erst 1998 gegossen. Sie entstand durch die Glocken- und Kunstgießerei Rincker in Sinn. Ihre Vorgängerin wurde ohne genauere Beschreibungen als Dechantenglocke erwähnt. Als achte Glocke befindet sich in der Laterne des Südturms die Uhrschlagglocke. Sie wurde im Jahre 1615 aus Glockenbronze von Hans Bader aus Frankfurt am Main in Kröffelbach gegossen. Über dem Dach des Chors befand sich bis 1779 eine kleine Glocke aus Glockenbronze, die wegen ihres hellen Klanges „silberne Glocke“ genannt wurde. Man läutete sie nur beim Tod eines Stiftsherrn. Nach ihrem Diebstahl 1779 wurde sie zwar wieder zurückgegeben, aber nicht mehr aufgehängt. Domschatz Neben einem Kruzifix aus einer hölzernen Reliquienbüste des heiligen Stephanus aus dem 15. Jahrhundert sowie einer weiblichen Reliquienbüste des 16. Jahrhunderts existiert auch ein Reliquienbuch, das um 1500 gefertigt wurde. Der ehemalige Domschatz umfasst auch drei Monstranzen, darunter eine Barockmonstranz von 1690 in vergoldetem Silber. Sieben Messkelche, davon ein Kelch aus dem Rokoko mit Patene (1746), sowie ein kleiner Reisekelch und ein neugotischer Kelch mit Löffel sind erhalten. Zum Schatz gehören auch drei Ziborien, eine Custodia und zwei Weihrauchfässer mit Schiffchen. Weiterhin haben sich einige Aufbewahrungsgefäße aus unterschiedlichen Epochen erhalten. Eines der wertvollsten Stücke ist ein Vortragekreuz aus dem frühen 12. Jahrhundert. Der Kreuzbalken bestand ursprünglich aus einem madagassischen Quarz-Monolithen und wurde 2006 durch Holz ersetzt. Der Korpus ist 13 cm groß und aus feuervergoldetem Bronzeguss gefertigt. Der Domschatz befindet sich heute zum Teil im Wetzlarer Stadtmuseum. Heutige Nutzung Der Wetzlarer Dom wird heute noch simultan genutzt. Der Kirchenraum und alle Seitenkapellen werden gleichmäßig von beiden Gemeinden genutzt. Diese veranstalten auch ökumenische Gottesdienste in der ehemaligen Stiftskirche. Am Pfingstmontag findet seit 1995 jedes Jahr ein gemeinsamer Fürbitt- und Segnungsgottesdienst statt. Hinzu kommt eine ökumenische Faschingsmatinee. Bis 2006 fand auch alljährlich am 1. Advent eine gemeinsame Lichtvesper statt, die seither nur noch von katholischer Seite ausgerichtet wird. Der Dom bietet über 1000 Menschen Platz und wird auch für Konzerte genutzt. Vor allem Orgelkonzerte und Weihnachtsoratorien werden veranstaltet. Zeitweilig wird auch ein Teil der Wetzlarer Festspiele im Dom aufgeführt. Evangelischer Pfarrer am Dom ist Björn Heymer. Katholischer Dompfarrer Bezirksdekan Peter Hofacker. Domplatz, Kirchhof und Michaelskapelle Der Domplatz ist die größte Freifläche innerhalb der Altstadt. Er war Kristallisationspunkt der Wetzlarer Bürger und ist bis heute Marktplatz von Wetzlar. Der Platz erhielt dadurch auch seinen Beinamen Buttermarkt. Bis 1757 war der Kirchhof südlich des Doms als Begräbnisstätte verwendet worden. Erst mit der Auflösung dieses Bereiches als Friedhofsgelände entstand der Domplatz in seiner heutigen Gestalt. An der Nordseite des Wetzlarer Doms befindet sich der „kleine Kirchhof“. Zu ihm führt die „Domtreppe“ von der Hauser Gasse hinauf. Die Stiftsgebäude an der Nordseite sind nicht stehen geblieben, jedoch hat sich die Stiftsdechanei östlich des Doms erhalten. Die Michaelskapelle befindet sich südöstlich des Domchores auf dem ehemaligen Friedhofsgelände und ist eine Doppelkapelle. Das Untergeschoss diente als Beinhaus, das Obergeschoss war dem heiligen Laurentius von Rom geweiht. Die Kapelle wurde erstmals 1292 als „Ossarium“ urkundlich erwähnt und war vermutlich um 1250 erbaut worden. Im Untergeschoss befand sich der namensgebende Michaelsaltar, im Obergeschoss wurden die Rechtsgeschäfte des Domkapitels abgewickelt. Zuweilen hielten die Stiftsherren auch dort ihre Sitzungen. Im Jahre 1758 fand die letzte Beisetzung im Beinhaus statt. Die Decke zwischen den Geschossen ließ man 1854 abtragen. Es folgte eine Renovierung im Jahre 1900. Die Glocke der Kapelle erklingt immer zu katholischen Gottesdiensten. Literatur nach Autoren / Herausgebern alphabetisch geordnet Eduard Brüdern: Der Dom zu Wetzlar. 2. Aufl. Verlag Langewiesche, Königstein im Taunus 2001, ISBN 3-7845-5191-2. Landesamt für Denkmalpflege Hessen (Hrsg.); Reinhold Schneider (Bearb.): Kulturdenkmäler in Hessen. Stadt Wetzlar (= Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland). Theiss, Stuttgart 2004, ISBN 3-8062-1900-1, S. 166–175. Heinrich Gloël: Der Dom zu Wetzlar. Wetzlar 1925. Oda Peter: Der Dom zu Wetzlar – Kunstwerke aus fünf Jahrhunderten. Wetzlarer Dombau-Verein e. V. (Hrsg.) Wetzlar 1999. Franz Schulten: Der Dom zu Wetzlar – Erbe und Aufgabe. Wetzlarer Dombau-Verein e. V. (Hrsg.) Wetzlar 1995. Eduard Sebald: Die Baugeschichte der Stiftskirche St. Marien in Wetzlar. Wernersche Verlagsgesellschaft, Worms 1990, ISBN 3-88462-930-1 Eduard Sebald: Der Dom zu Wetzlar. 2., durchges. Aufl. Verlag Langewiesche, Königstein im Taunus 2001, ISBN 978-3-7845-5291-0. Gerhild Seibert: Der Dom zu Wetzlar – Chorfenster. Wetzlarer Dombau-Verein e. V. (Hrsg.) Wetzlar 2004. Jürgen Wegmann: Der Wetzlarer Dom. Sichtbares und Verborgenes. Michael Imhof Verlag, 2019, ISBN 3-7319-0894-8. Jürgen Wegmann: Der Wetzlarer Dom. Epitaphien und Grabplatten. Tectum Wissenschaftsverlag, 2018, ISBN 978-3-8288-4142-0. Jürgen Wegmann: Der Wetzlarer Dom – ein Haus für zwei Konfessionen: Eine der ältesten Simultankirchen Deutschlands. Tectum Wissenschaftsverlag, 2017, ISBN 978-3-8288-3427-9. Weblinks Archivalien vom Stift Wetzlar im Hessischen Hauptstaatsarchiv, Wiesbaden www.dom-wetzlar.de Website der beiden Domgemeinden mit virtuellem Dommuseum Wetzlarer Dombau-Verein mit Darstellung der Geschichte und historischen Aufrissen Fachhochschule Wiesbaden: Virtuelle Dombauhütte: in VRML-Dateien, erstellt Oktober 1997 anlässlich des 1100-jährigen Weihefestes Einzelnachweise Wetzlar Dom Simultankirche Wetzlar Maria Wetzlar Maria Wetzlar Wetzlar Maria Nach der Haager Konvention geschütztes Kulturgut in Hessen Wetzlar, Dom Wetzlar, Dom Geläut Dom Wetzlar Bauwerk der Romanik in Hessen Gotisches Bauwerk in Hessen Romanische Kirche Gotische Kirche Kirchengebäude in Europa
967719
https://de.wikipedia.org/wiki/Mojmir%20I.
Mojmir I.
Mojmir I. (auch Moimir, Moymir; † wahrscheinlich August 846) war von spätestens um 830 bis 846 der erste historisch belegte Herrscher der Mährer (dux Maravorum) und Namensgeber der mährischen Mojmiriden-Dynastie. Über Mojmirs Herkunft und Herrschaftsführung ist nichts bekannt, jedoch wird ihm von Historikern die spätestens um 833 erfolgte Vereinigung der mährischen Slawen in einem gemeinsamen Mährerreich zugeschrieben. Die Fragen nach der Annahme des Christentums durch Mojmir und seiner Rolle bei der Christianisierung Mährens sind Gegenstand wissenschaftlicher Debatten. Historiker, die Mojmir als christlichen Herrscher betrachten, führen die von einer späten Quelle überlieferte Taufe „aller Mährer“ durch den Passauer Bischof Reginhar im Jahr 831 auf sein Wirken zurück. Im Jahr 846 wurde er vom ostfränkischen König Ludwig dem Deutschen durch seinen Neffen Rastislav ersetzt. Herkunft Zuverlässige Belege über Mojmirs Herkunft gibt es nicht. Nach ihm ist die mährische Dynastie der Mojmiriden benannt, obwohl er möglicherweise nicht deren erster Herrscher war. Laut einer von Tomáš Pešina z Čechorodu (1629–1680) mitgeteilten späten Überlieferung stammen die Mojmiriden direkt vom frühen Slawenherrscher Samo (623–658) ab. Pešinas Aufzeichnungen zufolge war Mojmir I. der Sohn eines gleichnamigen mährischen Fürsten „Mojmir“, der angeblich vom Passauer Bischof Urolf zwischen 804 und 806 getauft wurde und von 811 bis 820 über die Mährer geherrscht haben soll. Dieser historisch unbelegte Mojmir soll drei Söhne gehabt haben: Ljudevit, Boso und Mojmir I. (in der Tradition als Mojmir II. angeführt), der sein Nachfolger wurde. Die Regierungszeit Mojmirs I. dauerte dann laut der Überlieferung von 820 bis 842. Einer anderen Theorie zufolge war Vojnomir – ein slawischer Markgraf des 8. Jahrhunderts, der in den Diensten von Erich von Friaul stand – ein Vorgänger Mojmirs. Der Name Mojmir (geschrieben auch Moimar, Moymar) deutet laut manchen Forschern auf eine alanische Herkunft der Dynastie bzw. der Mährer überhaupt hin. Solche Hypothesen gibt es jedoch auch in Bezug auf Anten, Russen, Kroaten und Serben. Fürst der Mährer Machtpolitik Mojmir I. setzte sich in den 820er Jahren oder spätestens um 830 als Machthaber von Mähren durch. Die Anfänge der mährischen Reichsbildung bleiben völlig unklar, jedoch fällt auf, dass – im Gegensatz zu Böhmen und Polen – in Mähren im 9. Jahrhundert die alten Stämme bereits verschwunden waren. Somit muss die Zentralisierung hier früher eingesetzt haben als in den benachbarten Ländern. Die Mährer selbst werden in den schriftlichen Quellen erstmals 822 erwähnt. Im Bericht der Annales regni Francorum zu diesem Jahr sind sie unter den slawischen Völkern aufgelistet, die dem fränkischen Kaiser Ludwig dem Frommen Tribute brachten. Möglicherweise wurden ihre Gesandten jedoch schon 811 in Aachen und 815 in Paderborn von den karolingischen Kaisern empfangen. Da die Mährer und ihr Gebiet 817 noch nicht als Bestandteil des bayerischen Königreiches Ludwigs des Deutschen erwähnt werden, erkannten sie vermutlich erst zwischen 817 und 822 die Tributpflicht gegenüber dem Frankenreich an. Fortan sahen die Franken Mähren als ein von ihrem Reich abhängiges Tributärfürstentum an. Allerdings respektierte die fränkische Politik die Macht des östlichen Nachbarn, dessen Herrschaftsgebiet als „Reich der Maraven“ (regnum Maravorum) bezeichnet wurde. Die das Land durchziehenden Fernhandelsstraßen und der mit dem Fernhandel einhergehende Wohlstand begünstigten die rasche Machtausweitung des mährischen Fürsten. Archäologische und schriftliche Quellen belegen, dass der mährische Adel einen beträchtlichen Wohlstand genoss und einen aristokratischen Lebensstil pflegte, der dem der Franken nicht unähnlich war. Um das Jahr 833 verbannte Mojmir I. den rivalisierenden Machthaber Pribina aus Mähren. Dieser hatte zuvor in der Stadt Nitra („Nitrava“) eine Kirche gebaut und durch den Salzburger Erzbischof Adalram weihen lassen. Dies stand im Zusammenhang mit dem Anspruch Salzburgs auf dieses Territorium als Missionsgebiet. Die genaue Stellung von Pribina ist unter Historikern umstritten. So bezeichnen ihn manche als Herrscher eines eigenständigen Fürstentums Nitra, während andere ihn für einen mährischen Statthalter Mojmirs I. und möglicherweise ein Mitglied der Mojmiriden-Dynastie halten. Falls Pribina der Fürst eines eigenen politischen Gebildes mit Zentrum in Nitra war, ist spätestens mit seiner Verbannung und der Vereinigung beider Fürstentümer unter Mojmirs Herrschaft das Mährerreich („Großmähren“) entstanden. Pribina ließ sich nach seiner Verbannung in Traismauer taufen und erhielt später von Ludwig dem Deutschen ein eigenes Fürstentum in Unterpannonien zugeteilt, welches als Bollwerk gegen die Mährer und Bulgaren dienen sollte. Die Grenzen des mährischen Staates unter Mojmir I. sind nicht genau bekannt. Die unzureichende Überlieferung und die Schwierigkeiten, einzelne Orte zu identifizieren, erschweren die Abgrenzung des Herrschaftsbereichs. Jedenfalls dürfte er sich im Westen bis zur Böhmisch-Mährischen Höhe, im Süden bis an die Donau und im Osten mindestens bis über das untere Waagtal erstreckt haben. Die Machtzentren befanden sich einerseits entlang des Flusses March (slawisch: Morava), wohl in den heute mährischen Orten Mikulčice und Staré Město, andererseits (spätestens seit den 830ern) im slowakischen Nitra. Alternative Theorien, die das Mährerreich südlich der Donau, am serbischen Fluss Morava, oder sogar im westlichen Rumänien lokalisieren, stellen in der Fachwelt eine Minderheitsmeinung dar. Den Aufzeichnungen des Bayerischen Geographen zufolge, dessen Eintrag zu den Mährern („Marharii“) deren Situation zwischen 817 und 843 beschreiben dürfte, verfügten die Mährer zu dieser Zeit über insgesamt 11 „civitates“ (Burgen oder Städte). Archäologische Grabungen belegen eine hochstehende materielle Kultur und relativ große Agglomerationen. Christianisierung Das Gebiet der Mährer wurde im Jahr 796 ein Missionsgebiet von Passau und um das Jahr 800 entstanden hier die ersten Kirchen. Unter Mojmir zeigte Mähren dann die typischen Anzeichen einer im Wandel begriffenen Gesellschaft. Obwohl der Widerstand gegen die Annahme des Christentums wie auch anderswo wohl groß war, gibt es in Mähren keine archäologischen Hinweise auf einen paganen Aufstand. Daher besteht die Möglichkeit, dass zwischen dem neuen und dem alten Kult eine zeitweilige gegenseitige Duldung bestand. Pagane Praktiken scheinen unter Mojmir bis zu einem gewissen Grad weiterhin toleriert worden zu sein, da eine Kultstätte in der zentralen mährischen Burganlage in Mikulčice bis Mitte des 9. Jahrhunderts parallel mit den christlichen Kirchen genutzt wurde. Die Mainzer Synode beschied den reichsangehörigen Mährern erst 852 ein „rohes Christentum“. Mojmirs Taufe und seine Rolle bei der Christianisierung der mährischen Slawen sind unter Historikern umstritten. Während deutsche und österreichische Forscher relativ skeptisch sind und Mojmir entweder als Repräsentanten „einer noch heidnischen Herrschersippe“ oder als „vielleicht selbst getauft“ bezeichnen, halten ihn slowakische, tschechische und amerikanische Historiker für einen Christen. So datiert Alexis P. Vlasto aufgrund von archäologischen Quellen Mojmirs Taufe bereits in den Zeitraum zwischen 818 und 825. Das am häufigsten genannte Datum ist jedoch das Jahr 831. Für dieses Jahr erwähnt Albert Behaim in seiner im 13. Jahrhundert verfassten Geschichte der Passauer Bischöfe und bayerischen Herzöge, dass der Passauer Bischof Reginhar „alle Mährer“ getauft habe. Mit Verweis darauf, dass Behaim die Notiz sehr wahrscheinlich von einer zuverlässigen Quelle übernommen habe und die Angabe vor allem sehr gut zur Situation in Mähren am Anfang der 830er Jahre passe, wird die Nachricht trotz ihrer späten Bezeugung von slowakischen und tschechischen Historikern als relativ verlässlich eingestuft. Bei der erwähnten Taufe „aller Mährer“ 831 dürfte es sich entweder um eine Taufe des Fürsten Mojmir I., seiner Familie und seines engsten Gefolges oder, falls Mojmir bereits getauft war, um eine Taufe der gesamten mährischen Nation gehandelt haben. Im Falle einer Massentaufe wäre Mähren dann auf dem Weg gewesen, ein „christlicher Staat“ zu werden, da Mojmir I. dann die Massentaufe nicht mehr als Stammesfürst, sondern als Fürst eines entstehenden Staates durchgesetzt hat. Bezüglich der Kirchenorganisation bestand bis 829 ein Konflikt zwischen dem Bistum Passau und dem Erzbistum Salzburg, da die Salzburger Erzbischöfe ebenfalls Anspruch auf die betreffenden Gebiete erhoben und Passaus Missionsrecht nicht anerkannten. Zu den Höhepunkten des Eingreifens des Salzburger Erzbischofs Adalram (821–836) in die Diözesan- und Missionsrechte Passaus gehörte dessen Weihung einer Kirche in Nitra. Letzten Endes setzte sich aber Passau unter Bischof Reginhar (818–838) gegen Salzburg durch, als König Ludwig der Deutsche im November 829 die alten Diözesengrenzen bestätigte. Ende der Herrschaft und Nachfolge Die genauen Umstände des Endes der Herrschaft Mojmirs I. sind umstritten. Die Annales Fuldenses berichten zum Jahr 846: Aufgrund der sehr allgemeinen Formulierung ist es relativ schwierig, einen sicheren Rückschluss auf die Umstände des Eingreifens Ludwigs des Deutschen in Mähren zu ziehen. So wird die fränkische Invasion in Mähren von Historikern entweder auf eine rebellische Unabhängigkeitspolitik Mojmirs I. – wohl Verweigerung der Tributzahlung – zurückgeführt, die zu seiner Absetzung durch Ludwig geführt habe, oder auf den Tod Mojmirs, der zu Nachfolgestreitigkeiten unter den Mährern führte und Ludwig zum Eingreifen bewog. Möglicherweise war der fränkische Einmarsch in Mähren aber auch nur Teil der seit 845 unternommenen systematischen Offensive Ludwigs gegen alle slawischen Stämme entlang der Ostgrenze, um deren Abhängigkeit vom 843 neuentstandenen Ostfrankenreich durchzusetzen. Das noch unter Karl dem Großen an der Ostgrenze aufgebaute System tributär-vasallenhafter Abhängigkeit scheint seit der innerfränkischen Krise in den 830er Jahren praktisch zusammengebrochen zu sein. Rezeption Über Mojmirs Herrschaftspraxis lässt sich aufgrund der ungünstigen Quellenlage kaum Klarheit gewinnen. Daher besteht bei der Deutung und Beurteilung seiner Außenpolitik, Christianisierungspolitik und Herrschaftsetablierung unter den Historikern keine Einigkeit. So hat Mojmir je nach Interpretation der Quellen entweder außenpolitisch Unabhängigkeit vom Frankenreich angestrebt und innenpolitisch seine straffe Herrschaft konsolidiert sowie die Christianisierung aktiv betrieben, oder er orientierte sich in der Außenpolitik weitgehend an den Franken und ging Konflikten aus dem Weg, ließ die Christianisierung nur passiv zu und war im Inneren als Herrscher noch nicht umfassend anerkannt. Dušan Třeštík sieht Mojmir als „großen Fürsten“ und „autokratischen Herrscher“, der es geschafft habe, in seinem Land 831 das Christentum als Staatsreligion durchzusetzen, ohne dadurch einen paganen Aufstand auszulösen. Mit seinem Herrschaftsantritt sei die Abhängigkeit der Mährer vom Frankenreich, in welche sie zwischen 817 und 822 geraten seien, faktisch beendet worden, da die Mährer „aus ihrem eigenen Willen heraus“ und „ohne die Kontrolle des Reiches“ die Taufe angenommen hätten. Dabei vergleicht Třeštík die Rolle Mojmirs bei der Taufe der Mährer mit jener des Großfürsten Wladimir I. bei der Christianisierung der Kiewer Rus. Wilfried Hartmann sieht die Ereignisse um Mojmirs Absetzung 846 als Ergebnis von dessen Außenpolitik, denn er sei im Begriff gewesen, ein „unabhängiges slawisches Herrschaftsgebilde zu errichten“. Eric J. Goldberg geht noch weiter und nimmt an, dass Mojmir I. in den frühen 830er Jahren „im wesentlichen zu einem König“ aufstieg, eine „ernsthafte Bedrohung“ für den ostfränkischen König Ludwig den Deutschen darstellte und versuchte, ein „unabhängiges slawisches Königreich“ zu schaffen. Anders äußern sich deutsche und österreichische Historiker. Jörg K. Hoensch räumt ein, dass Mojmir „vielleicht selbst getauft wurde“ und zumindest der Ausbreitung des Christentums durch die bayerisch-salzburgische Mission keine Hindernisse in den Weg stellte. Für Herwig Wolfram wiederum ist Mojmir „Repräsentant einer noch heidnischen Herrschersippe“, welche „spätestens um 850“ christianisiert worden sei. Wolfram bezeichnet die in einer späten Quelle erwähnte Missionierung Mährens durch den Passauer Bischof Reginhar 831 als „späte Erfindung“. Seit den achtziger Jahren des 18. Jahrhunderts nahm die slowakische Nationalbewegung die Tradition des von Mojmir I. geschaffenen „Großmährischen Reiches“ als Basis einer sich herausbildenden Nationalidentität an. In Böhmen und Mähren konnte sich die Tradition auf das ununterbrochene Interesse für dieses Thema in Werken der Geschichtsschreibung seit dem Mittelalter stützen, die den Verweis auf Großmähren bei der Bildung des Königreichs Böhmen nutzten. In der Geschichtsschreibung des mit dem Dritten Reich verbündeten Slowakischen Staates (1939–1945) wurde Mojmir I. als Herrscher dargestellt, der mit der Vertreibung Pribinas aus Nitra die „slowakischen Stämme“ in einem Staatsgebilde vereinigt und so den „ersten slowakischen Staat“ geschaffen habe. Sein Verhältnis zu den „deutschen Nachbarn“ wird hier als durchwegs positiv beschrieben. Die Einschätzung Mojmirs I. in der heutigen Slowakei variiert stark. Neben seiner Charakterisierung als „slowakischer“ oder „altslowakischer“ Herrscher steht die Ansicht, er habe die kurzlebige Eigenstaatlichkeit der Slowaken oder ihrer Vorfahren unter Pribina mit der „Eroberung“ von dessen Nitraer Fürstentum beendet. Im Jahr 1948 wurde die nahe Nitra gelegene slowakische Stadt Urmín nach Mojmir I. in Mojmírovce umbenannt. In der slowakischen Literatur wurde die Gestalt Mojmirs I. in Ján Hollýs Klagelied Stežovaní Mojmíra (dt.: Die Klage Mojmirs) und Ľudo Zúbeks Roman Svätoplukova ríša (dt.: Das Reich des Svatopluk) thematisiert. Für die moderne tschechische Historiographie hat Mojmir I. insbesondere insofern Bedeutung, als das von ihm vereinte Mährerreich der „mächtige Nachbar, Verbündete, zeitweise Herrscher und vor allem das Vorbild“ der tschechischen Přemysliden war und den Impuls für die Entstehung des böhmischen (tschechischen) Staates gab, der gewissermaßen als der Erbe des Mährerreiches angesehen wird. 2003 wurde der Asteroid (53285) Mojmír nach ihm benannt. Quellen Lubomír E. Havlík: Kronika o Velké Moravě. [= Chronik über Großmähren]. 3. Auflage, JOTA, Brünn 2013, ISBN 978-80-85617-06-1. (Quellenedition zur mährischen Geschichte vom 6. Jahrhundert bis zum 11. Jahrhundert) Herwig Wolfram: Conversio Bagoariorum et Carantanorum. Das Weißbuch der Salzburger Kirche über die erfolgreiche Mission in Karantanien und Pannonien. Böhlau, Wien/ Köln/ Graz 1979. (Quellenedition) Literatur Deutsche und österreichische Forschung Sebastian Brather: Archäologie der westlichen Slawen. Siedlung, Wirtschaft und Gesellschaft im früh- und hochmittelalterlichen Ostmitteleuropa. 2. überarbeitete Auflage, Walter de Gruyter, Berlin / New York 2008, ISBN 978-3-11-020609-8. Jörg K. Hoensch: Geschichte Böhmens. Von der slavischen Landnahme bis zur Gegenwart. 3., aktualisierte und ergänzte Auflage. Beck, München 1997, ISBN 3-406-41694-2. Wilfried Hartmann: Ludwig der Deutsche. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2002, ISBN 3-534-14115-6. Herwig Wolfram: Österreichische Geschichte 378–907: Grenzen und Räume. Geschichte Österreichs vor seiner Entstehung. Ueberreuter, Wien 1995, ISBN 3-8000-3524-3. US-amerikanische Forschung Paul M. Barford: The Early Slavs. Cornell University Press, Ithaca NY 2001, ISBN 0-8014-3977-9. Charles R. Bowlus: Franks, Moravians, and Magyars. The Struggle for the Middle Danube, 788–907. University of Pennsylvania Press, Philadelphia PA 1995, ISBN 0-8122-3276-3. Eric J. Goldberg: Ludwig der Deutsche und Mähren. Eine Studie zu karolingischen Grenzkriegen im Osten. In: Wilfried Hartmann (Hrsg.): Ludwig der Deutsche und seine Zeit. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2004, ISBN 978-3-534-17308-2, S. 67–94 (PDF; Rezension). Eric J. Goldberg: Struggle for Empire: Kingship and Conflict under Louis the German, S. 817–876. Cornell University Press, Ithaca NY 2006, ISBN 978-0-8014-3890-5. Richard A. Fletcher: The Barbarian Conversion: From Paganism to Christianity. H. Hold & Co, New York 1998, ISBN 0-8050-2763-7. Alexis P. Vlasto: The Entry of the Slavs into Christendom. An Introduction of the Mediaval History of the Slavs. Cambridge University Press, Cambridge 2009, ISBN 978-0-521-10758-7. Tschechische Forschung František Graus: Dux-rex Moraviae. In: Sborník prací Filozofické Fakulty Brnenské Univerzity C. Band 9, 1960, S. 181–190. František Graus: Die Nationenbildung der Westslawen im Mittelalter (= Nationes. Historische und philologische Untersuchungen zur Entstehung der europäischen Nationen im Mittelalter. Band 3). Thorbecke, Sigmaringen 1980, ISBN 3-7995-6103-X. Lubomír E. Havlík: Svatopluk Veliký, král Moravanů a Slovanů [= Svatopluk der Große, König der Mährer und Slawen]. Jota, Brno 1994, ISBN 80-85617-19-6. Václav Richter: Die Anfänge der grossmährischen Architektur. In: Magna Moravia. Praha 1965, S. 121–360. Dušan Třeštík: Počátky Přemyslovců. Vstup Čechů do dějin (530–935). [= Die Anfänge der Přemysliden. Der Eintritt der Tschechen in die Geschichte (530–935)]. 2. Auflage, Nakladatelství Lidové noviny, Praha 2008, ISBN 978-80-7106-138-0. Dušan Třeštík: Vznik Velké Moravy. Moravané, Čechové a střední Evropa v letech 791–871. [= Die Entstehung Großmährens. Mährer, Tschechen und Mitteleuropa in den Jahren 791–871]. 2. Auflage, Nakladatelství Lidové noviny, Praha 2010, ISBN 978-80-7422-049-4 (Standardwerk zur Vorgeschichte, Entstehung und Entwicklung des mährischen Staates bis 871). Slowakische Forschung Miroslav Lysý: Titul mojmírovských panovníkov. [= Die Titel der mojmiridischen Herrscher]. In: Historia et theoria iuris. Band 5, Nr. 1, 2013, S. 24. Miroslav Lysý: Mojmírovská Morava na hraniciach s impériom [= Das mojmiridische Mähren an den Grenzen des Imperiums]. In: Forum Historiae. Band 8, Nr. 2, 2014, S. 98–129. Miroslav Lysý: Moravania, Mojmírovci a Franská ríša. Štúdie k etnogenéze, politickým inštitúciám a ústavnému zriadeniu na území Slovenska vo včasnom stredoveku [= Die Mährer, die Mojmiriden und das Fränkische Reich]. Atticum, Bratislava 2014, ISBN 978-80-971381-4-1. Ján Steinhübel: Die großmährischen Bistümer zur Zeit Mojmírs II. In: Bohemia. Band 37, Nr. 1, 1996, S. 2–22 (Digitalisat). Ján Steinhübel: Die Kirchenorganisation in Neutra um die Jahrtausendwende. In: Bohemia. Band 40, Nr. 1, 1999, S. 65–78 (Digitalisat). Ján Steinhübel: Nitrianske kniežatstvo. Počiatky stredovekého Slovenska [= Das Fürstentum Nitra. Die Anfänge der mittelalterlichen Slowakei]. Rak/Veda, Bratislava 2004, ISBN 80-224-0812-3 (Standardwerk der slowakischen Sichtweise). Tatiana Štefanovičová: Osudy starých Slovanov [= Schicksale der alten Slawen]. Osveta, Martin 1989, , detaillierte Darstellung zur archäologischen Entwicklung des Mährerreiches, – mit russischer, englischer und deutscher Zusammenfassung. Weblinks Petr Sommer, Dušan Třeštík, Josef Žemlička: Great Moravia. Abgerufen am 7. Mai 2014 (englisch). Anmerkungen Herrscher (9. Jahrhundert) Person (Mähren) Fürst (Mährerreich) Person als Namensgeber für einen Asteroiden Person (slowakische Geschichte) Geboren im 8. oder 9. Jahrhundert Gestorben im 9. Jahrhundert Mann
1086686
https://de.wikipedia.org/wiki/Ohrentaucher
Ohrentaucher
Der Ohrentaucher (Podiceps auritus) ist eine Vogelart aus der Familie der Lappentaucher (Podicipedidae). Sein Verbreitungsgebiet erstreckt sich über Nordeuropa, Nordasien und das nördliche Nordamerika. Er ist der einzige Lappentaucher, der auch nördlich des Polarkreises brütet. Im Nordosten Mitteleuropas gibt es einige wenige Brutvorkommen dieser Art. In Mitteleuropa ist er außerdem regelmäßig in kleiner Zahl als Durchzügler und Wintergast zu beobachten. Er trägt dann sein Schlichtkleid, in dem er mit dem in Mitteleuropa häufigeren Schwarzhalstaucher leicht zu verwechseln ist. Erscheinungsbild Ohrentaucher haben eine Körperlänge von 31 bis 38 Zentimetern. Sie sind damit deutlich größer als Zwergtaucher und haben einen weniger gedrungenen Körperbau und einen längeren Hals als diese. Die Männchen sind im Mittel etwas größer als die Weibchen. Bei den Männchen sind die Handflügel zwischen 13,2 und 16,0 Zentimeter lang, der Schnabel misst von der Stirnbefiederung bis zur Spitze zwischen 2,0 und 2,7 Zentimeter und sie wiegen zwischen 320 und 570 Gramm. Weibchen haben eine Flügellänge zwischen 12,4 und 15,3 Zentimeter, ihr Schnabel ist mit 1,9 bis 2,5 Zentimeter geringfügig kürzer als der der Männchen. Weibchen wiegen im Winterhalbjahr zwischen 300 und 430 Gramm. Der Geschlechtsdimorphismus ist insgesamt so gering ausgeprägt, dass er keine feldornithologische Unterscheidung der Geschlechter ermöglicht. Der Schnabel ist bei beiden Geschlechtern blaugrau bis schwarz mit einer fleischfarbenen Basis und einer hellen, fast weißlichen Spitze. Das Gefieder am Oberkopf ist beim Ohrentaucher eng anliegend. Die Iris ist während der Balzzeit intensiv rot und in der Ruhezeit rosa. Die Pupille ist von einem schmalen, silberweißen Ring umrandet. Die Beine sind grau, die Füße blau bis blaugrün. Die Beine setzen weit hinten am Körper an. Prachtkleid Das Prachtkleid ist durch ein glänzend schwarzes, sowie in seltenen Fällen auch matt schwarzes, Kopfgefieder mit spreizbaren Federbüscheln an den Kopfseiten gekennzeichnet. Diese Feder- oder Ohrbüschel sind auffällig gelbrot und bestehen aus langen, schmalen Federn zwischen Auge und Hinterkopf. Die Federbüschel sind beim Männchen etwas ausgeprägter als beim Weibchen. Die schwarzen Federn an der Kehlseite und den Wangen sind ebenfalls stark verlängert und können abgespreizt werden. Vom Schnabelende bis zum Auge zieht sich ein schmaler, rotbrauner Zügelstreif. Der Hals ist vorn und an den Seiten rotbraun, der Nacken schwarz. Die Vorderbrust, die Brustseiten und die Flanken sind rotbraun, die Rumpfunterseite ist weiß. Bei schwimmenden Vögeln ist die weiße Unterseite meist nicht zu sehen. Das Rückengefieder ist schwarz, die einzelnen Federn sind grau gesäumt. Die Handschwingen sind braun und haben hellere Innenfahnen mit weißer Basis. Die Unterflügeldecken sind weiß. Den auffälligen Kopfschmuck trägt der Ohrentaucher nur im Frühjahr. Ab etwa Mitte Juni weisen die Vögel nach einer Teilmauser einen Sommerkopfschmuck auf, bei dem die Federbüschel deutlich kürzer und weniger farbig sind. Ab Mitte Juli beginnen sich die weißen Wangen zu entwickeln, die für das Schlichtkleid charakteristisch sind. Es ist gewöhnlich das Weibchen, bei dem sich diese Mauser zuerst vollzieht. Beim Männchen vollzieht sich dieser Wechsel etwa einen Monat später. Schlichtkleid Das im Herbst und Winter getragene Schlichtkleid ist überwiegend schwarz und weiß mit einem schwarzen Oberkopf und weißen Wangen. Der Rücken und die Rückseite des Halses sind dunkel gefiedert. Am schmalsten ist diese dunkle Befiederung am Oberhals. Der Vorderhals ist überwiegend weiß. An der Kehle haben adulte Vögel gelegentlich kleinere schwarze Flecken. Am Übergang des Halses zur Vorderbrust ist das Gefieder bräunlich verwaschen. Die Kopfzeichnung ist beim Ohrentaucher auch im Schlichtkleid kontrastreich. Die reinweißen Wangen sind bei adulten Vögeln vom dunklen Oberkopf scharf abgesetzt, die Trennungslinie verläuft auf Augenhöhe. Das Weiß der Wangen dehnt sich fast bis zum Hinterkopf aus, so dass ein nahezu geschlossener weißer Nackenring ausgebildet ist. Über dem Zügelstreif befindet sich ebenfalls eine kleine weiße Federpartie, die sich von der Schnabelwurzel bis zum Auge erstreckt. Küken und Jungvögel Das Dunenkleid frisch geschlüpfter Küken weist ein charakteristisches Streifenmuster auf. Auf der Körperoberseite wechseln sich breite, dunkelgraue bis schwarze Streifen mit feinen weißen Längsstreifen ab. Auf Kopf, Hals und Brust sind die schwarzen und weißen Streifen gleich breit. Auf den unteren Kopfseiten sind die schwarzen Streifen unterbrochen und wirken punktförmig. Dies unterscheidet die Küken des Ohrentauchers von denen des Hauben- und des Rothalstauchers, die ansonsten ein sehr ähnliches Streifenmuster aufweisen. Auf dem Scheitel haben die Jungvögel einen nackten Fleck, der bei Erregung rötlich leuchtet. Die Iris ist orangebraun. Der Schnabel ist rosa mit weißer Spitze. Am Oberschnabel weisen die Dunenjungen zwei schwarze Querbinden auf, während der Unterschnabel ohne Zeichnung ist. Beine und Zehen sind schwärzlichgrau. Die Schwimmlappen der Zehen haben einen fleischfarbenen Saum. Das Streifenmuster auf der Körperoberseite verliert sich in den ersten Lebenswochen. Jungvögel behalten allerdings während ihrer ersten Lebensmonate das für die Art charakteristische Streifenmuster an Kopf und Hals bei. Sie wechseln dann in ein Jugendkleid, das dem Schlichtkleid der ausgewachsenen Vögel gleicht. Die dunklen Federpartien wirken jedoch insgesamt bräunlicher. Auch das erste Prachtkleid, das die Jungvögel tragen, weist häufig an Stelle des sonst blauschwarzen Kopfgefieders ein schwarzbraunes Gefieder auf. Die charakteristischen Federbüschel und die verlängerten Federn an den Kopfseiten werden noch nicht ausgebildet. In das Federkleid adulter Vögel wechseln Jungvögel erst gegen Ende ihres zweiten Lebensjahres. Verwechslungsmöglichkeiten mit anderen Vogelarten Der Ohrentaucher kann vor allem mit dem fast gleich großen Schwarzhalstaucher verwechselt werden. Verglichen mit diesem ist der Schnabel beim Ohrentaucher gedrungener und gerader. Der Schwarzhalstaucher dagegen hat einen leicht aufgeworfenen Schnabel. Auch das Kopfprofil unterscheidet sich. Der Schwarzhalstaucher ist steilstirnig, während der Ohrentaucher wegen der flach anliegenden Federn am Oberkopf eine nur mäßig ansteigende Stirn hat. Ohrentaucher und Schwarzhalstaucher gleichen sich im Schlichtkleid sehr. Neben der anderen Schnabelform und der steileren Stirn lässt sich der Schwarzhalstaucher im Schlichtkleid an dem fließenden Übergang zwischen dunklem Oberkopf und weißen Wangen erkennen. Die Wangen wirken dadurch insgesamt gräulicher. Stimme Ohrentaucher sind grundsätzlich wenig ruffreudig und vorwiegend während der Balzzeit zu hören. Sie geben weiche Trillerrufe von sich, die sich lautmalerisch mit dji-ji-ji…ji-jrrr umschreiben lassen und an die Rufe des Zwergtauchers erinnern. Ein in der Tonhöhe abfallendes, nasales Aaanrr dient während der Balzzeit dazu, den Partnervogel zu locken. Die Rufweise ist dabei individuell so unterschiedlich ausgeprägt, dass daran einzelne Vögel unterschieden werden können. Die Stimmhöhe schwankt situationsbedingt. Der Alarmruf gleicht dem Lockruf während der Balz, ist jedoch in der Tonlage höher. Bei Auseinandersetzungen mit Artgenossen sind die Rufe ebenfalls höher und stärker abgehackt. Die Trillerrufe während der Paarung sind dagegen schneller, gleichmäßiger und tiefer. Verbreitung Brutgebiet Ohrentaucher haben ein lückenhaft zirkumpolares Verbreitungsgebiet. Ihre Brutgebiete liegen überwiegend zwischen 50° und 65° nördlicher Breite. In Nordeuropa brüten Ohrentaucher im Nordosten von Norwegen, in Nord- und Mittelschweden, Finnland, Estland, den Färöer-Inseln, im Norden von Schottland und auf Island. Von Russland erstreckt sich das Brutgebiet ostwärts über Sibirien bis zur Mündung des Anadyr und bis nach Kamtschatka. In südlicher Richtung erreichen sie die Südgrenze des Urals und den Amur. In Mitteleuropa ist der Ohrentaucher ausnahmsweise Brutvogel im äußersten Nordosten. Für Polen liegen aus den letzten Jahren mehrere Brutnachweise vor. In Schleswig-Holstein kam es 1981 zur Ansiedlung eines Brutpaares, das bis 1987 zweimal erfolgreich brütete. Ein zweites Brutpaar hatte zwischen 1988 und 1999 bei alljährlichen Brutversuchen sieben erfolgreiche Bruten, aus denen insgesamt 16 Jungvögel hervorgingen. Seit 1999 gibt es ein zweites Vorkommen mit ein bis zwei Brutpaaren sowie Übersommerungen und Balz an einer dritten Stelle. Eine stärkere Ausbreitung in Mitteleuropa ist wegen Bestandsrückgängen im baltischen Raum derzeit nicht zu erwarten, jedoch scheint der derzeitige Bruterfolg ausreichend, um das Vorkommen in Schleswig-Holstein zu stabilisieren. Während Ohrentaucher in Alaska und im Westen Kanadas weit verbreitet sind, gibt es im Osten Nordamerikas nur in der Nähe von Québec eine kleine, isolierte Brutpopulation von fünf bis fünfzehn Brutpaaren. Diese unterscheiden sich genetisch deutlich von den übrigen nordamerikanischen Populationen und sind vermutlich Abkömmlinge von europäischen Brutvögeln, die als Irrgäste nach einer Überwinterung an der Küste Südwest-Grönlands dorthin verschlagen wurden. Überwinterung Die einzelnen Populationen der Ohrentaucher weisen kein einheitliches Zugverhalten auf. Sie sind Breitfrontzieher, die häufig nur kurze Zugstrecken zurücklegen. Einige europäische Populationen ziehen beispielsweise in westlicher Richtung zu den nächsten eisfrei bleibenden Meeresküsten, andere weisen eine südliche Zugrichtung auf. Die schottischen Populationen überwintern überwiegend in ihrem Brutgebiet. Überwinternde Ohrentaucher findet man unter anderem an den Küsten Irlands, der Atlantikküste Spaniens und im Südwesten Grönlands sowie im Nordwesten Norwegens. Sie halten sich dort gelegentlich auch im Winter nördlich des Polarkreises auf. Große überwinternde Populationen gibt es auch an der Küste der Ostsee. Sowohl an der Nord- als auch der Ostseeküste finden sich die ersten Überwinterungsgäste ab Ende August ein. Teile der nordeuropäischen Brutpopulationen ziehen südwärts durchs Binnenland und sind dann auch auf größeren Binnenseen und Flüssen zu beobachten. Im Mittelmeerraum überwintern Ohrentaucher vor allem an Binnengewässern der Türkei. Zu den Überwinterungsgebieten der außereuropäischen Brutvögel zählen sowohl die West- als auch die Ostküste Nordamerikas, die Aleuten und in Asien die Küsten Japans, die Ostküste Nordkoreas und Chinas. Auch die außereuropäischen Brutvögel halten sich im Winter zum Teil auf größeren, eisfreien Binnengewässern auf. Wintergäste sind vor allem im Osten der USA bis hinab zum Golf von Mexiko auf Binnengewässern zu finden. Auch die zentralasiatischen Binnengewässer zählen zu den Winterquartieren der Art. Vereinzelt überwintern Ohrentaucher auch in Indien und Pakistan sowie auf den Azoren, den Bermudas und Hawaii. Lebensraum Ohrentaucher sind Brutvögel der Marsch- und Sumpfgebiete sowie Binnenseen. Man findet sie als Brutvogel sowohl in Regionen der subarktischen Baumgrenze als auch an Gebirgsseen. Letzteres ist beispielsweise im Nordwesten der USA sowie im Grenzland zwischen Russland und China der Fall. Für Kirgisistan gibt es Brutbelege bis in Höhenlagen von mehr als . Eine hohe Siedlungsdichte ist vor allem in der Übergangszone zwischen lichtem Laub- oder Laubmischwald und borealem Nadelwald zu beobachten. Der Ohrentaucher präferiert in dieser Region kleine bis mittelgroße Teiche oder Seen. Im Schnitt haben diese Binnengewässer eine Größe von 1,2 bis 1,3 Hektar. In Regionen, in denen andere Lappentaucherarten nicht vorkommen, sind sie auch an oligotrophen, großen Seen anzutreffen. Dort wo sie an größeren Binnenseen brüten, halten sie sich bevorzugt in abgeschiedenen Buchten auf. Ohrentaucher scheinen solche Gewässer zu bevorzugen, bei denen eine offene Wasserfläche von niedrigen Seggen und Schachtelhalmgewächsen umgeben ist. Sie sind anders als Schwarzhalstaucher aber auch an fast vegetationslosen Krater- und Hochmoorseen zu finden. Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass Ohrentaucher nur wegen der Nahrungskonkurrenz mit Binden- und Rothalstaucher weniger häufig auf nahrungsreicheren Wasserflächen zu beobachten sind, die von hohen Sumpfpflanzen umgeben sind. Ohrentaucher brüten gelegentlich auch an Brackwasserseen. Nahrung und Nahrungserwerb Ohrentaucher ernähren sich von kleineren Fischen sowie Insekten und Krebstieren. Sie nehmen im Schnitt täglich etwa 100 Gramm Nahrung zu sich. Ob Fische oder Insekten und Krebstiere den Hauptteil der Nahrung ausmachen, ist abhängig vom Lebensraum. Bei den europäischen Brutvögeln spielen Fische eine wichtige Rolle in der Ernährung. Gefressen werden Fische bis zu einer Länge von zehn Zentimetern. Die wichtigsten Nahrungsbestandteile bei den asiatischen und nordamerikanischen Vögeln sind dagegen Krebstiere und Wasserinsekten. Auf Binnengewässern suchen Ohrentaucher ihre Nahrung bevorzugt in den Gewässerbereichen, die eine Tiefe zwischen 0,5 und 2 Metern aufweisen und dicht mit Unterwasserpflanzen bewachsen sind. Während der Überwinterung, wenn Ohrentaucher auch auf Küstengewässern zu beobachten sind, nutzen sie Tiefen bis zu 20 Meter für die Nahrungssuche. Sie bilden in dieser Zeit gelegentlich kleine Gruppen, die häufig mit Trauer- und Samtenten vergesellschaftet sind. Nach Nahrung suchen Ohrentaucher überwiegend tauchend und sind dabei im Schnitt höchstens dreißig Sekunden unter Wasser. Häufig tauchen sie nur so flach ein, dass der Rücken über Wasser bleibt. Der Tauchgang in größere Wassertiefen wird durch einen kräftigen Satz nach vorne eingeleitet, ehe sie mit dem Kopf und Hals eintauchen. Sie erreichen dadurch einen steileren Eintauchwinkel. An der Wasseroberfläche schwimmende Insekten werden aufgepickt, fliegende Insekten auch aus der Luft geschnappt. Dieses Verhalten intensiviert sich insbesondere, wenn Mücken schlüpfen. Komfortverhalten Ohrentaucher verbringen den größten Teil des Tages auf dem Wasser schwimmend. Die weit hinten ansetzenden Beine stellen eine weitgehende Anpassung an das Leben im Wasser dar. Für die Fortbewegung an Land sind sie jedoch schlecht geeignet. Außerhalb der Brutzeit verbringen sie auch die Nacht auf dem Wasser schlafend. Der Schnabel ruht dann links oder rechts vom Hals im Brustgefieder. Ohrentaucher putzen und ölen ihr Gefieder regelmäßig. Die Gefiederpflege findet auf dem Wasser schwimmend statt. Die auffälligste Bewegung bei der Gefiederpflege ist der Moment, wenn sie sich im Wasser auf die Seite drehen, um die silbrig-weiße Körperunterseite zu putzen. Lose Federn werden entfernt und meist auch gefressen. Führen Ohrentaucher Jungvögel, bieten sie ihnen Federn auch zur Nahrung an. Dieses Verhalten ist für alle Lappentaucher charakteristisch. Die Federn zersetzen sich im Magen zu einer grünlichen, schwammartigen Masse, die das Magenvolumen bis zur Hälfte füllen kann. Zusammen mit unverdaulichen Nahrungsresten wird diese Masse als Gewölle regelmäßig wieder hervorgewürgt. Der Nutzen dieses ungewöhnlichen Verhaltens ist noch nicht vollständig geklärt. Wahrscheinlich verhindert die Federmasse, dass feste und spitze Substanzen in den Darm gelangen. Sie schützt vermutlich auch die Magenwand vor Verletzungen durch Gräten. Möglicherweise wird über dieses Verhalten aber auch der Befall durch Parasiten verringert, die überwiegend mit der Nahrung aufgenommen werden. Fortpflanzung Die Balz Der Ohrentaucher gehört zu den Arten der Lappentaucher, die eine komplexe Balzzeremonie mit einer Reihe von synchronen, tanzartigen Bewegungen beider Geschlechter aufweisen. Die Verhaltensweisen der Balzzeremonie sind nicht geschlechtsgebunden. Alle Bewegungsabläufe können vom Weibchen wie vom Männchen ausgeführt werden. Das Balzzeremoniell wird eingeleitet, indem die Vögel mit in der Tonhöhe abfallenden, nasalen Aaanrr-Rufen nacheinander rufen. Einer der Vögel schwimmt tauchend in Richtung des anderen Partners, wobei er mehrfach wieder an der Oberfläche auftaucht. Dieser Bewegungsablauf endet, indem der Vogel zunächst nur bis zum Hals, langsam dann auch bis zur Brusthälfte aus dem Wasser auftaucht. Die hintere Körperhälfte bleibt untergetaucht; Kopf und Schnabel weisen vom Partner weg. Der inaktivere Teil des Paares „wartet“ mit nach hinten gebogenen Hals, die gelben Federbüschel am Kopf sind dabei weit gesträubt und die Flügel angehoben und gleichfalls gesträubt. Akzeptieren die beiden Vögel einander, geht das Balzzeremoniell in eine synchrone Schwimmbewegung über, bei der sich beide Vögel mit ihrem Oberkörper aus dem Wasser erheben. In dieser Phase wenden sie sich einander zu. Die Vögel schwimmen dann langsam auseinander, tauchen nach Wasserpflanzen und präsentieren diese in ihren Schnäbeln, während sie parallel zueinander eine sechs bis sieben Meter lange Strecke mit zum Teil weit aus dem Wasser erhobenen Oberkörpern schwimmen. Vor allem etablierte Paare zeigen anschließend auch ein Triumphschwimmen, bei dem die Flügel stark angehoben und gespreizt sind, die Federbüschel stark gesträubt und der Hals weit nach hinten gebogen ist. Nur miteinander harmonisierende Paare zeigen die vollständige Balz. Das Balzritual wird häufig bereits in der Phase, in der einer der Ohrentaucher in Richtung des anderen Partners schwimmt, von einem dritten Ohrentaucher unterbrochen, der gezielt zwischen die werbenden Vögel schwimmt. Es handelt sich dabei meist um bereits verpaarte Ohrentaucher. Auch Vögel des gleichen Geschlechts beginnen miteinander das Balzzeremoniell. Dabei wird jedoch nie die vollständige Balz gezeigt. Weibchen schwimmen bereits in der Frühphase des Zeremoniells wieder auseinander. Zwischen Männchen, die zuvor miteinander gebalzt haben, kann es vereinzelt auch zu Kämpfen kommen. Während der Balzzeit sind Ohrentaucher ausgesprochen aggressiv. Ausgeführt werden unter anderem tauchende Angriffe auf andere Wasservogelarten. Belegt ist, dass Ohrentaucher eine Schar wesentlich größerer Graugänse aus ihrem Revier vertrieben, indem sie diese unter Wasser schwimmend angriffen. Nest und Brut Ohrentaucher bilden mitunter ähnlich wie Zwergtaucher ein Brut- und Nahrungsterritorium, das ausschließlich durch das Männchen verteidigt wird. Häufiger brüten Ohrentaucher jedoch in Kleinkolonien. Das Nest wird gelegentlich am Gewässerrand der Ufervegetation gebaut, befindet sich jedoch genauso häufig auf dem offenen, bis höchstens ein Meter tiefen Wasser. Die Nester ruhen auf einem Unterbau aus Schilf- und Binsenhalmen und sind schwimmfähig. Häufig sind umgeknickte, tote Halme der benachbarten Vegetation in die Nestgrundlage mit eingebaut oder die Vögel nutzen eine von Pflanzen dicht umgebene kleine Wasserfläche, so dass ein Abtreiben des Nests verhindert wird. Das eigentliche Nest wird aus faulenden Blättern und Laichkrautsprossen errichtet und ist häufig vollständig durchnässt. Es wird vermutet, dass durch die Fäulniswärme des Nistmaterials die Brut begünstigt wird. Am Nestbau sind beide Elternvögel beteiligt. Die Vögel sind in der Lage, binnen vierundzwanzig Stunden ein für eine Brut geeignetes Nest zu errichten. Normalerweise erstreckt sich der Nestbau jedoch über eine Periode von vier bis sieben Tagen. Das fertige Nest kann ein Gewicht von einem bis zwei Kilogramm tragen. Das Gelege besteht aus drei bis sechs Eiern, die etwa 4,5 Zentimeter lang sind und einen Durchmesser von 3 Zentimeter haben. Im Mittel schlüpfen nur aus 63 Prozent der Eier Junge. Ohrentaucher sind jedoch in der Lage, wenige Tage nach dem Verlust eines Geleges einen erneuten Brutversuch zu starten. Bei einzelnen Untersuchungen konnte nachgewiesen werden, dass Weibchen bei mehrfachen Gelegeverlusten in einer Saison bis zu 50 Eier legen. Nach einer erfolgreichen Brut und Aufzucht der Jungen kommt es jedoch nur selten zu einem zweiten Brutversuch innerhalb des gleichen Jahres. Die Weibchen brüten bereits ab dem ersten gelegten Ei. An der Brut sind beide Elternvögel beteiligt, das Weibchen brütet allerdings ausdauernder. Die Dunenjungen schlüpfen etwa drei Wochen nach Brutbeginn. Sie verlassen sogleich das Nest und werden in den ersten Tagen auf dem Rücken ihrer Eltern getragen. Nach etwa vier bis fünf Wochen sind sie selbständig. Die Jungvögel eines Gewässers versammeln sich häufig in sogenannten Kindergärten und werden dort von allen adulten Vögeln gefüttert. Natürliche Todesursachen Fressfeinde Zu den Fressfeinden des Ohrentauchers zählen Baummarder, Fischotter, Rotfuchs und Wildkatze sowie Nerze. Der aus Nordamerika eingeführte Mink hat vermutlich eine starke Auswirkung auf die Bestände in Schottland und Island. Raubsäuger erbeuten brütende Ohrentaucher am Nest und fressen außerdem die Eier. Auch die großen Eulenarten schlagen Ohrentaucher, wenn diese auf ihrem Nest sitzen. Vor allem fliegende Ohrentaucher sind auch durch Greifvögel bedroht. In Island jagen beispielsweise Gerfalken erfolgreich Ohrentaucher, die fliegend von einem Gewässer zu einem anderen wechseln. Die im Nest befindlichen Eier werden außerdem von Waschbären sowie von Möwen, Raben und Krähen gefressen. Parasitenbefall Ohrentaucher sind wie alle Lappentaucher stark von Endoparasiten befallen. Lappentaucher sind möglicherweise die Vogelfamilie, die den stärksten Befall an diesen Parasiten aufweist. Dies ist durch ihr weites Nahrungsspektrum bedingt, das zahlreiche unterschiedliche Wasserinsekten umfasst. Zu den Endoparasiten zählen unter anderem Band- und Fadenwürmer. In weit geringerem Maße sind Ohrentaucher dagegen vom Befall durch Ektoparasiten betroffen. Da sie ihre Nester auf schwimmenden Plattformen errichten, ist der Befall durch Zecken, Flöhe und Wanzen geringer als bei anderen Vogelarten. Systematik Äußere Systematik Ohrentaucher gehören zur Familie der Lappentaucher und werden innerhalb dieser Familie der Gattung der Tauchern (Podiceps) zugeordnet. Innere Systematik Es werden meist zwei Unterarten anerkannt. Die Nominatform Podiceps auritus auritus ist in Nordeuropa und im nördlichen Asien bis nach China verbreitet. Podiceps auritus cornutus ist dagegen in Ostsibirien und Nordamerika beheimatet. Das Rückengefieder dieser Unterart wirkt eher gräulich. Im Prachtkleid sind die Federbüschel am Kopf blasser als bei der Nominatform und durch graubeige Federn umrahmt. Die Abgrenzung einer dritten Unterart Podiceps auritus arcticus in an den Nordatlantik angrenzenden Regionen wurde bereits 1822 vorgeschlagen. Als Unterscheidungsmerkmal zu den übrigen Unterarten wurde unter anderem der deutlich kräftigere Schnabel angeführt. Gegenwärtig wird diese dritte Unterart jedoch nicht akzeptiert. Bestand Die westeuropäischen Bestände des Ohrentauchers sind verhältnismäßig gut untersucht. Charakteristisch ist, dass der Bestand stark schwankt und sich die Anzahl der Brutpaare innerhalb kurzer Zeit verdoppeln kann. Insgesamt wird die Zahl der in Europa und Asien beheimateten Vögel der Nominatform Podiceps auritus auritus auf etwa 50.000 bis 100.000 Vögel geschätzt. Der Bestand der in Nordamerika und Sibirien lebenden Unterart Podiceps auritus cornutus beträgt mehr als 100.000 Vögel. Der Ohrentaucher ist eine Art des Anhangs I der EU-Vogelschutzrichtlinie (RL 79/409/EWG), für die in der Europäischen Union Vogelschutzgebiete auszuweisen sind. In der Roten Liste der Brutvögel Deutschlands von 2020 wird die Art in der Kategorie R (extrem selten) geführt. Mensch und Ohrentaucher Bejagung Ohrentaucher weisen wie alle Lappentaucher ein sehr dichtes Brustgefieder auf, das sich wie Pelz anfühlt. Die Verwendung von Lappentaucherbälgen für die Herstellung von Kleidung lässt sich für viele Kulturen nachweisen. Besonders intensiv wurden Lappentaucher im 19. und (teilweise) bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts bejagt. Aus den Vogelbälge wurden Handschuhe, Schulterumhänge und Muffs gefertigt. Betroffen von der Jagd waren vor allem die großen Taucherarten wie Haubentaucher und Renntaucher. Es liegen keine detaillierten Informationen vor, wie stark Ohrentaucher von der Bejagung wegen ihres Gefieders oder wegen ihres Fleisches betroffen waren. Für andere Lappentaucherarten wie etwa den gleich großen Schwarzhalstaucher ist nachgewiesen, dass sie früher von indigenen Völkern als Nahrungsmittel genutzt worden. Es ist daher naheliegend, dass dies auch für den Ohrentaucher zutrifft. Bestandsveränderungen durch Umweltbedingungen Es wirkt sich potenziell negativ auf den Bestand der Ohrentaucher aus, wenn die Brutgewässer eutrophieren. Ohrentaucher benötigen verhältnismäßig klares Wasser mit einem dichten Bewuchs von Unterwasserpflanzen. Eine Nährstoffanreicherung verändert die Zusammensetzung der jeweiligen Fischpopulation häufig in Richtung der Arten, die bevorzugt Makroplankton fressen. Dies führt zu einer Anreicherung des Wassers mit Mikroplankton, durch die das Wasser unklar wird, worauf der Bestand an Unterwasserpflanzen zurückgeht. Ohrentaucher sind daher von einer Intensivierung der Landwirtschaft betroffen, selbst wenn die Brutgewässer nicht unmittelbar dadurch betroffen sind. Einen gravierenden Einfluss auf die Bestände des Ohrentauchers hat die Verschmutzung der Meere mit Erdöl. 1976 starben nach einem Öltankerunfall 4000 Ohrentaucher, die in der Chesapeake Bay überwinterten. Tankerunfälle können einen signifikanten Einfluss auf Bestände haben, da Ohrentaucher regelmäßig in großen Scharen in derselben Region überwintern. Der Ohrentaucher gilt als eine der Arten, die vom Klimawandel möglicherweise besonders betroffen sein wird. Ein Forschungsteam, das im Auftrag der britischen Umweltbehörde und der Royal Society for the Protection of Birds die zukünftige Verbreitungsentwicklung von europäischen Brutvögeln auf Basis von Klimamodellen untersuchte, geht davon aus, dass sich bis zum Ende des 21. Jahrhunderts das Verbreitungsgebiet des Ohrentauchers deutlich verändern wird. Nach dieser Prognose bieten achtzig Prozent des heutigen Verbreitungsgebietes dem Ohrentaucher dann keine geeigneten Lebensräumer mehr. Das Verbreitungsgebiet wird sich jedoch bis nach Spitzbergen erstrecken und auch die höhergelegenen Regionen Schwedens und Norwegens umfassen, die heute vom Ohrentaucher nur dünn besiedelt werden. Literatur Hans-Günther Bauer, Einhard Bezzel, Wolfgang Fiedler (Hrsg.): Das Kompendium der Vögel Mitteleuropas: Alles über Biologie, Gefährdung und Schutz. Band 1: Nonpasseriformes – Nichtsperlingsvögel. Aula-Verlag Wiebelsheim, Wiesbaden 2005, ISBN 3-89104-647-2. R. S. Ferguson, S. G. Sealy: Breeding biology of the Horned Grebe, Prodiceps auritus, in southwestern Manitoba. In: Canadian Field-Naturalist. Band 97, S. 401–408. Jon Fjeldså: The Grebes. Oxford University Press, Oxford 2004, ISBN 0-19-850064-5. V. D. Il'ičev, V. E. Flint (Hrsg.): Handbuch der Vögel der Sowjetunion. Band 1: Erforschungsgeschichte, Gaviiformes, Podicipediformes, Procellariiformes. Aula Verlag, Wiesbaden 1985, ISBN 3-89104-414-3 Günther Niethammer (Hrsg.): Handbuch der Vögel Mitteleuropas. Band 1: Gaviiformes – Phoenicopteriformes. Akademische Verlagsgesellschaft, Wiesbaden 1966. R. W. Storer: The metazoan parasite fauna of grebes (Aves: Podicipediformes) and its relationship to the birds’ biology. Miscellaneous publications of the Museum of Zoology, University of Minnesota no. 188, 2000. Miklos D. F. Udvardy: National Audubon Society Field Guide to North American Birds – Western Region. Alfred A. Knopf, New York 2006, ISBN 0-679-42851-8. Weblinks Federn des Ohrentauchers Einzelbelege Lappentaucher
1101525
https://de.wikipedia.org/wiki/Harry%20Potter%20und%20der%20Stein%20der%20Weisen%20%28Film%29
Harry Potter und der Stein der Weisen (Film)
Harry Potter und der Stein der Weisen (Originaltitel Harry Potter and the Philosopher’s Stone, in den USA als Harry Potter and the Sorcerer’s Stone veröffentlicht) ist ein britisch-US-amerikanischer Fantasyfilm aus dem Jahr 2001 und die Verfilmung des gleichnamigen ersten Romans der Harry-Potter-Buchreihe. Er entstand unter der Regie von Chris Columbus nach einem Drehbuch von Steve Kloves, Produzent war David Heyman. Joanne K. Rowling, die Autorin der Buchvorlage, übte starken Einfluss auf eine werktreue Verfilmung ihres erfolgreichen Debütromans aus. Im Mittelpunkt der Geschichte steht Harry Potter, der an seinem elften Geburtstag erfährt, dass er ein Zauberer ist und an die Zaubererschule Hogwarts berufen wird. Während seines ersten Schuljahres lernt der Waisenjunge die wundersame Welt der Magie kennen, durchlebt verschiedene Abenteuer und wird schließlich mit dem dunklen Magier Lord Voldemort konfrontiert. Der Film wurde fast ausnahmslos mit britischen Schauspielern besetzt, die vielen Kinderrollen mit bis dahin weitestgehend unbekannten Jungdarstellern. Den Titelhelden spielt Daniel Radcliffe, in weiteren Hauptrollen sind Rupert Grint und Emma Watson als Harrys beste Freunde Ron Weasley und Hermine Granger zu sehen. Nach einer Vorpremiere am 4. November 2001 in London kam der Film am 16. November in Großbritannien und den USA und am 22. November 2001 in Deutschland in die Kinos. Die Presse bewertete den Film unterschiedlich. Sie bemängelte vor allem, dass er zu viele inhaltliche Details des Romans in schneller Folge wiedergebe, ohne sich Zeit für die Entwicklung einer Atmosphäre zu nehmen. Mit der Ausnahme des Hauptdarstellers wurde das Schauspielerensemble überwiegend wohlwollend beurteilt. Auch das Produktionsdesign und die Effekte wurden meist gelobt, ganz im Gegensatz zur Musik. Trotz insgesamt gemischter Kritiken erzielte der Film ein Einspielergebnis von rund 975 Millionen US-Dollar weltweit und war damit seinerzeit einer der kommerziell erfolgreichsten Filme überhaupt. Er erhielt für Szenenbild, Kostümdesign und Filmmusik drei Oscar-Nominierungen, darüber hinaus war er in sieben Kategorien für einen BAFTA Award vorgeschlagen. Handlung Der Waisenjunge Harry Potter wächst in Surrey bei der spießigen Familie seiner Tante auf, den Dursleys, die ihn sehr schlecht behandeln. So muss Harry in einem Wandschrank unter der Treppe schlafen und hat unter den Schikanen seines verwöhnten Cousins Dudley zu leiden. Kurz vor seinem elften Geburtstag erhält Harry einen Brief, der ihm – noch ungeöffnet – von den Dursleys weggenommen wird. Von Eulen werden ihm immer mehr Briefe zugestellt, die ihm sein Onkel ebenfalls vorenthält. Erst als der hünenhafte Rubeus Hagrid an seinem Geburtstag auftaucht, erfährt Harry zu seiner Überraschung, dass seine Eltern Zauberer waren. Sie wurden von dem dunklen Magier Lord Voldemort getötet. Harry überlebte den Angriff bis auf eine blitzförmige Narbe auf der Stirn unversehrt, und Voldemort verlor seine Kräfte beim Versuch, das einjährige Kind zu töten. Deswegen ist Harry in der Welt der Zauberer eine Legende. Die Dursleys haben Harry dies vorenthalten, weil sie als Nicht-Zauberer – sogenannte „Muggel“ – alles Magische verabscheuen und sich davor fürchten. Hagrid übergibt Harry einen der Briefe; es ist eine Einladung in die Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei. Hagrid, der Wildhüter der Schule, führt Harry in die versteckte Winkelgasse in London, wo er Unterrichtsmaterialien wie Bücher und einen Zauberstab kaufen kann. Zum Geburtstag bekommt Harry von Hagrid die Eule Hedwig geschenkt. Außerdem übergibt er ihm eine Fahrkarte für den Hogwarts-Express, der die Hogwarts-Schüler von Gleis 9 ¾ des Londoner Bahnhofs King’s Cross zu der abgelegenen Zauberschule bringt. Auf der Fahrt lernt Harry zwei seiner späteren Klassenkameraden kennen: den Rotschopf Ron Weasley, mit dem er sich auf Anhieb versteht, und die neunmalkluge Hermine Granger. Im Schloss-Internat Hogwarts angekommen, werden die Schüler vom Sprechenden Hut den vier Schulhäusern zugeordnet: Gryffindor, Hufflepuff, Ravenclaw und Slytherin. Harry, Ron und Hermine kommen ins Haus Gryffindor. Ab dem folgenden Tag werden die Schüler in verschiedenen Disziplinen der Zauberei ausgebildet, darunter Verwandlung, Zaubertränke, Verteidigung gegen die Dunklen Künste und das Fliegen auf Besen. Für letzteres beweist Harry ein außergewöhnliches Talent, weswegen er ins Quidditch-Team von Gryffindor aufgenommen wird. Diese Mannschaftssportart wird auf fliegenden Besen ausgetragen, und Harry kann das erste Spiel gegen Slytherin für sein Haus entscheiden. Zwischen Harry, Ron und Hermine entwickelt sich eine enge Freundschaft. In einem gleichaltrigen Mitschüler aus Slytherin, Draco Malfoy, findet Harry einen Rivalen und Erzfeind. Mittlerweile haben Harry, Ron und Hermine herausgefunden, dass in der Schule etwas Wertvolles von einem dreiköpfigen Hund bewacht wird. Ihre Nachforschungen ergeben, dass es sich um den Stein der Weisen handelt, der seinem Besitzer Unsterblichkeit verleiht. Auf besondere Anweisung des Schulleiters Albus Dumbledore wird der Stein in der Schule verwahrt und bewacht, nachdem ein Versuch vereitelt worden war, ihn aus der Zaubererbank Gringotts zu stehlen. Harry vermutet dahinter den Lehrer für Zaubertränke, Professor Snape, den er verdächtigt, im Dienst Lord Voldemorts zu stehen. Harry glaubt außerdem, Snape wolle Voldemort mithilfe des Steines wieder zu einer menschlichen Gestalt und zu neuer Macht und Größe verhelfen. Harry, Ron und Hermine beschließen, selbst nach dem Stein zu suchen, um ihn vor Snape zu finden. Sie bewältigen eine Reihe von Hindernissen, die den Stein beschützen sollen: eine tödliche Pflanze, die Jagd nach einem fliegenden Schlüssel und ein gewalttätiges, überlebensgroßes Schachspiel. Harry dringt ins Versteck des Steines vor und findet dort Professor Quirrell, den unscheinbaren Lehrer für Verteidigung gegen die Dunklen Künste. Als Quirrell seinen Turban entfernt, zeigt sich, dass Voldemort von seinem Körper Besitz ergriffen hat. Der Stein wird von einem Zauber beschützt: Nur wer ihn finden will, ohne ihn zu gebrauchen, kann ihn erlangen. Daher bringt Voldemort Harry dazu, den Stein an sich zu nehmen, und will den Jungen dann verleiten, ihm den Stein zu geben. Als Harry standhaft bleibt, versucht Quirrell, Harry zu töten, aber durch Harrys Berührung zerfällt er zu Staub. Voldemort verlässt Quirrells Körper und flieht, Harry fällt in Ohnmacht. Nachdem er im Krankenflügel wieder zu sich gekommen ist, erklärt ihm Dumbledore, dass Harry für Voldemort unantastbar war, weil seine Mutter sich für ihn geopfert hatte. Außerdem berichtet er, dass der Stein der Weisen in der Zwischenzeit vernichtet worden ist, um zu vermeiden, dass er in Voldemorts Hände fällt. Das Schuljahr endet traditionsgemäß mit einem großen Fest in der Großen Halle. Dabei wird der Hauspokal an eines der vier Häuser verliehen, und eigentlich lag Gryffindor mit seiner Punktezahl auf dem letzten Platz. Im Lichte der vorausgegangenen Ereignisse erhalten Hermine, Ron, Harry und auch Neville aber Extrapunkte zugesprochen, und so wird Gryffindor auf den letzten Metern doch noch zum Sieger. Am Ende des Films schenkt Hagrid Harry ein Fotoalbum mit Aufnahmen seiner Eltern, kurz bevor die Schüler von Hogwarts zurück in die Welt der „Muggel“ fahren. Produktionsgeschichte Vorproduktion Idee und Rechtekauf Der britische Produzent David Heyman suchte 1997 nach einem Kinderbuch, um es für einen familienfreundlichen Kinofilm zu adaptieren. Eine Mitarbeiterin seines Produktionsunternehmens Heyday Films schlug ihm das gerade erschienene Romandebüt von Joanne K. Rowling vor – ein Fantasybuch namens Harry Potter und der Stein der Weisen, das die Kritiker lobten und das im Begriff war, sich zu einem Bestseller zu entwickeln. Heyman fand Gefallen an dem Buch und trat in regelmäßigen Kontakt mit der Autorin. Erst nach der Veröffentlichung des zweiten Harry-Potter-Romans im Juli 1998 schlug Heyman der US-amerikanischen Filmgesellschaft Warner Bros. die Verfilmung des ersten Buches vor. Weil Rowling die Kontrolle über ihr Werk nicht in fremde Hände geben wollte, lehnte sie ein Angebot von Warner ebenso wie die Offerten einiger anderer Unternehmen zunächst ab. Erst als das Studio ihr erhebliche Mitspracherechte bei der Umsetzung des Films, eventueller Nachfolger und der Merchandising-Produkte zusicherte, stimmte sie der Verfilmung zu. Zu diesem Zeitpunkt war in Großbritannien bereits ein Kult um Harry Potter entstanden; in den USA, wo gerade das erste Buch erschienen war, war der Zauberschüler dagegen noch weitgehend unbekannt, sodass Warner das Marktpotential außerhalb des Vereinigten Königreichs verhalten einschätzte. Was der Konzern neben einer Gewinnbeteiligung für die Filmrechte gezahlt hat, wird in verschiedenen Quellen unterschiedlich beziffert: 500.000 Dollar, 700.000 Dollar oder 1 Million Dollar sollen es gewesen sein; andere nennen 1 Million Pfund (damals knapp 1,7 Millionen Dollar) für die Verfilmung der ersten vier Bände. Den Einfluss, den Rowling letztlich auf die gesamte Produktion ausübte, bezeichnete Heyman als . Sie war an allen wesentlichen Entscheidungen der Vorproduktion beteiligt. Dies umfasst die Personalien des Regisseurs, des Drehbuchschreibers und der wichtigsten Darsteller. Der Entwicklung des Drehbuchs stand sie außerdem als Beraterin zur Seite. Sie bestand darauf, dass alle Schauspieler Briten sein sollten und dass im Film britisches Englisch gesprochen wird. Auch den visuellen Stil des Films – beispielsweise das Aussehen von Szenenbild, Kostüme, Maske und Requisiten – bestimmte sie wesentlich mit. Auswahl des Regisseurs Als Regisseur war zunächst Hollywood-Größe Steven Spielberg im Gespräch. Im Februar 2000 sagte dieser jedoch ab, weil das Projekt, wie er später sagte, für ihn keine Herausforderung geboten habe. Danach begannen Gespräche mit einer Vielzahl von anderen Regisseuren, darunter Tim Burton, Chris Columbus, Jonathan Demme, Terry Gilliam – ein Favorit Rowlings –, Mike Newell, Alan Parker, Wolfgang Petersen, Tim Robbins, Rob Reiner, Ivan Reitman, Brad Silberling, Guillermo del Toro, M. Night Shyamalan, und Peter Weir. Ende März 2000 fiel die Wahl auf Chris Columbus, der bereits erfolgreiche Familienfilme wie Kevin – Allein zu Haus und Mrs. Doubtfire geleitet hatte. Laut Heyman war es vor allem Columbus’ Wunsch, der Romanvorlage so treu wie möglich zu bleiben, der letztlich den Ausschlag zu seinen Gunsten gab. Drehbuchentwicklung Anfang 1999 hatte Warner Bros. dem US-amerikanischen Drehbuchautor Steven Kloves eine Reihe von Romanen zur Umarbeitung in ein Drehbuch vorgeschlagen, darunter auch Harry Potter und der Stein der Weisen. Kloves war von der Vorlage überzeugt und nahm die Aufgabe an. Um sicherzustellen, dass kleinere Details bei der Umsetzung von Text in Film stimmig blieben, hielt Kloves engen Kontakt mit Rowling. So wurde gleichzeitig vermieden, dass sich der Film in Widerspruch zu späteren, noch unveröffentlichten Teilen der Reihe setzte. Soweit Kloves eigene Dialoge ergänzte, versuchte er, den Roman zu interpolieren, und Rowling genehmigte die Teile, die sie für passend hielt. Rückblickend beschrieb Kloves die Arbeiten am Drehbuch als schwierig, weil die Romanvorlage der am wenigsten handlungslastige der Harry-Potter-Bände sei. Er schaffe die Grundlagen für spätere Entwicklungen und enthalte dadurch weniger erzählende Teile als seine Nachfolger. Rollenbesetzung Als Casting-Direktorin wurde Susie Figgis benannt, die sich mit der Schauspielerauswahl für Produktionen wie Gandhi, Interview mit einem Vampir oder The Full Monty einen Ruf erarbeitet hatte. Gemeinsam mit Rowling und Columbus setzte sie ein mehrstufiges Verfahren in Gang, um die Hauptrollen von Harry Potter, Ron Weasley und Hermine Granger zu besetzen. Berücksichtigt wurden nur britische Kinder im Alter zwischen neun und elf Jahren. Sie mussten zunächst eine Seite aus der Romanvorlage vorlesen; wer hierbei überzeugte, wurde eingeladen, eine Szene von der Ankunft der Schüler in Hogwarts zu improvisieren und in einem dritten Schritt einige Seiten aus dem Drehbuch vorzulesen. Das Casting wurde schließlich öffentlich ausgeschrieben. Anfang Sommer 2000 verließ Figgis das Projekt frühzeitig, nachdem mehrere tausend britische Jungschauspieler gesichtet worden waren, ohne dass einer von Chris Columbus oder den Produzenten als „der Rolle würdig“ eingestuft wurde. Das weitere Casting übernahmen Janet Hirshenson und Jane Jenkins. Allein für die Hauptrolle hatte es rund 40.000 Bewerbungen gegeben. Verschiedene bekannte US-amerikanische Jungdarsteller hatten ihr Interesse an der Rolle bekundet, darunter Haley Joel Osment (damals zwölf Jahre alt, Oscar-nominiert für The Sixth Sense), Eric Sullivan (neun Jahre, Jerry Maguire) und Liam Aiken (zehn Jahre, Seite an Seite), waren aber an Rowlings Vorgabe gescheitert, die Titelrolle mit einem Briten zu besetzen. William Moseley, der später eine Hauptrolle in der Kinofilmreihe Die Chroniken von Narnia übernahm, wurde ebenfalls abgelehnt. Am 21. August 2000 gab Warner Bros. schließlich bekannt, dass die Wahl für die Hauptrolle auf den bis dahin im Filmgeschäft weitestgehend unbekannten Daniel Radcliffe gefallen war; die Film-Neulinge Emma Watson und Rupert Grint waren für die Rollen von Hermine bzw. Ron ausgesucht worden. Abgesehen von Radcliffe und Tom Felton, der Draco Malfoy darstellte, wurden die meisten Kinderrollen mit unerfahrenen Darstellern besetzt, die bislang allenfalls in Schultheateraufführungen mitgewirkt hatten. Columbus hatte Radcliffe für die Rolle des Harry Potter gewollt, seit er ihn in einem BBC-Fernsehfilm gesehen hatte. Allerdings verhinderten dies anfangs Radcliffes Eltern, die beide selbst in der Casting-Branche arbeiteten, um ihren Sohn vor dem Druck aus der Öffentlichkeit zu bewahren. Erst nachdem Heyman, ein Freund von Radcliffes Vater, die Eltern überzeugte, ihren Sohn vor dem zu erwartenden Medienhype beschützen zu können, gaben sie ihr Einverständnis. Auch Rowling meinte, man hätte keinen besseren Harry finden können. Radcliffes Verdienst aus dem Film wird auf eine Million Pfund geschätzt. Rupert Grint hatte sich mit einem selbstgedrehten Video auf die Rolle Ron Weasleys beworben, nachdem er im Fernsehen von den Castings erfahren hatte. Dagegen wurde Emma Watson als langjähriges Mitglied ihrer Schultheatergruppe nach einem Vorschlag ihrer Theater-Lehrerin und einem Vorsprechen an ihrer Schule vor Casting-Agenten berücksichtigt. Rowling beeinflusste die Auswahl der meisten erwachsenen Darsteller. Ausdrücklich forderte sie Robbie Coltrane für die Rolle des Rubeus Hagrid. Andere wie Richard Harris als Professor Dumbledore, Maggie Smith als Professor McGonagall und Alan Rickman als Professor Snape entstammen einer Cast-Wunschliste, die Rowling den Produzenten vorlegte. Viele der erwachsenen Schauspieler sind Mitglieder der Royal Shakespeare Company. Rowlings Vorgabe, nur Briten zu besetzen, wurde weitestgehend entsprochen; die wenigen Ausnahmen in bedeutenderen Rollen sind der Ire Harris, seine Landsleute Fiona Shaw als Petunia Dursley und Devon Murray als Seamus Finnegan sowie der Neuseeländer Chris Rankin als Percy Weasley. Für eine ausführliche Auflistung der wichtigsten Rollen und ihrer Besetzung siehe Abschnitt Deutsche Synchronfassung. Auswahl der Drehorte 1999 handelten Vertreter der britischen Filmindustrie mit den amerikanischen Geldgebern aus, dass der Film in Großbritannien gedreht wird. Als Gegenleistung dafür, dass das meiste Geld für die Produktion in Großbritannien ausgegeben wurde, leistete die britische Filmindustrie Unterstützung bei der Auswahl der Drehorte und stellte die Leavesden Film Studios in der Nähe der Stadt Watford zur Verfügung. Laut einem Bericht des US-amerikanischen Magazins Entertainment Weekly soll sogar versprochen worden sein, zu versuchen, eine Änderung der britischen Arbeitsbestimmungen für Kinder zu erwirken, die flexiblere und längere Drehzeiten zulassen sollten. Steve Norris, der als Leiter der British Film Commission verantwortlich dafür war, dass der Film in Großbritannien gedreht wurde, fasste den Bezug Harry Potters zu seinem Heimatland so zusammen: Die Szenen, die im Buch an tatsächlich existierenden Orten spielen – etwa im Reptilienhaus des Londoner Zoos und am Bahnhof King’s Cross –, wurden auch dort gedreht. Drehort für das fiktive Gleis 9 ¾ waren die Bahnsteige 4 und 5 am King’s Cross. Für eine Reihe erfundener Handlungsorte wurde an mehr oder weniger prominenten Plätzen in Großbritannien ein reales Pendant gefunden: Die Straße Picket Post Close in Martins Heron, einem Vorort von Bracknell, diente als Ligusterweg; das Haus mit der Nummer 12 entspricht dem Haus der Dursleys. Szenen in der Winkelgasse wurden im Londoner Leadenhall Market gedreht; ein damals leerstehendes Ladengeschäft in Bull’s Head Passage Nummer 42 fand Verwendung als Eingang in den Pub Zum Tropfenden Kessel. Die Innenaufnahmen der Zauberbank Gringotts stammen aus Australia House, dem Sitz des australischen Hochkommissars in der Londoner Straße Strand. Der Hogwarts-Express fuhr tatsächlich auf der Zugstrecke North Yorkshire Moors Railway, deren Bahnhof in Goathland wurde zum Bahnhof von Hogsmeade. Für die Zauberschule Hogwarts wurden mehrere Drehorte gewählt, damit der Eindruck aufrechterhalten bleibt, dass das Zauber-Internat nicht an einem realen Ort untergebracht ist. Die Mauern von Alnwick Castle stellten die Außenansicht, seine langgezogenen, flachen Grünflächen das Quidditch-Feld. Aufnahmen für die Gänge und Flure stammen aus den Kreuzgängen der Abtei von Lacock, der Kathedrale von Gloucester und der Kathedrale von Durham. Die Wärmestube der Erstgenannten lieferte außerdem die Kulisse für das Unterrichtszimmer von Professor Quirrel, der Kapitelsaal der Letzteren das von Professor McGonagall. Das Zimmer von Professor Flitwick befindet sich dagegen in der englischen Schule Harrow. Verschiedene Gebäude der Universität Oxford trugen ebenfalls zur Filmarchitektur von Hogwarts bei: Die Duke Humfrey’s Library, ein Teil der Bodleian Library, repräsentiert die Bibliothek der Zauberschule, die Divinity School ihr Spital und das College Christ Church den Trophäenraum. Dreharbeiten Die Dreharbeiten begannen am 29. September 2000 am Bahnhof Goathland. Trotz verschiedener Gegenmaßnahmen gelangten Details von den Dreharbeiten an die Öffentlichkeit, etwa Fotos von Kulissen oder von den Dreharbeiten selbst. Für die rund 450 Kinder, die an der Produktion mitwirkten, wurde im Studio eine eigene Schule eingerichtet. Die Hauptdarsteller Radcliffe, Grint und Watson waren täglich für vier Stunden mit Dreharbeiten beschäftigt; drei Stunden hatten sie Unterricht; die übrige Zeit stand ihnen als Freizeit zur Verfügung. Da der Film entsprechend dem Buch in den USA unter dem abweichenden Titel Harry Potter and the Sorcerer’s Stone veröffentlicht werden sollte, wurden alle Szenen, in denen die Worte vorkamen, doppelt gedreht, um das Wort durch zu ersetzen. Andere Formulierungen, die für die US-Ausgabe des Buches vom britischen ins amerikanische Englisch übertragen worden waren, wurden im Film beibehalten. Üblicherweise werden solche Änderungen heute durch nachträgliche Synchronisation vorgenommen. Wegen verschiedener Verzögerungen musste der Drehzeitraum mehrfach verlängert werden und endete schließlich nach 169 Drehtagen im April 2001. Im Juli wurden einige Nacharbeiten erledigt. Kostüme und Maske Zur Kostümbildnerin wurde Judianna Makovsky bestimmt, die kurz zuvor für ihre Arbeiten am Film Pleasantville – Zu schön, um wahr zu sein für einen Oscar nominiert gewesen war. Sie entwarf die Trikots der Quidditch-Spieler zunächst anhand der Vorlage des Covers der US-amerikanischen Ausgabe des Romans vom Verlag Scholastic, die Harry in einem modernen Rugbytrikot, Jeans und einem roten Umhang zeigt. Die Ausfertigung war jedoch zu unordentlich und zu wenig elegant, daher verpasste sie den Spielern zu den Umhängen adrette Pullover und Krawatten, sportliche Reiterhosen und Armschützer. Verantwortlich für die Maske war Clare Le Vesconte. Früh musste geklärt werden, wo genau auf Daniel Radcliffes Stirn Harry Potters äußerliches Markenzeichen, die blitzförmige Narbe, platziert werden sollte. Buchcover waren als Vorlage in dieser Frage wenig hilfreich, weil die verschiedenen internationalen Ausgaben die Narbe an unterschiedlichen Stellen zeigten. Daher suchte Regisseur Columbus direkt bei Rowling Rat: Er malte ein Gesicht mit einem Zauberhut und bat sie, die Narbe einzuzeichnen. Sie bezeichnete die Narbe als und zeichnete sie nach unten gerichtet auf der rechten Seite der Stirn ein. Szenenbild Das Szenenbild wurde vom britischen Oscar-Preisträger Stuart Craig entworfen. Er fertigte verschiedene Filmsets in den Leavesden Film Studios an, darunter der große Saal von Hogwarts. Da die Geschichte von Hogwarts bis ins Mittelalter zurückreicht, ließ er sich hierfür von den größten englischen Kathedralen dieser Zeit inspirieren, aber auch vom College Christ Church. Die Architektur sollte realistisch sein, aber , so Craig. Für die Winkelgasse sollte aus Kostengründen ursprünglich ein realer Drehort gefunden werden, aber keiner genügte den hohen Anforderungen: Der erste Einblick in die Welt der Zauberer sollte Harry und die Zuschauer optisch überfordern. Letztlich baute Craig in den Leavesden Film Studios eine Pflastersteinstraße, die er mit Gebäuden im Tudorstil, in Georgianischer Architektur und im Queen Anne Style säumte – ein Stil-Mix, der nirgendwo in einem echten Straßenzug zu finden war. Spezialeffekte Um Zauberei, Fantasiegeschöpfe, Flugszenen und dergleichen auf die Leinwand zu bringen, plante Chris Columbus eine Kombination aus Spezialeffekten und computer-generierten Bildern. Für verschiedene der fantastischen Figuren und Kreaturen, etwa den dreiköpfigen Hund, sollte das Animatronic-Verfahren zum Einsatz kommen. Puppen, Filmprothesen und Make-up-Effekte für die unwirklichen Lebewesen steuerten die britischen Effektkünstler Nick Dudman und John Coppinger bei, unterstützt vom Creature Shop des US-amerikanischen Puppenschöpfers Jim Henson. Weil der Regisseur und die Produzenten großen Wert darauf legten, optisch den Vorgaben des Buches möglichst nahezukommen, mussten Figuren oft in mehr als einer Ausführung entworfen oder nachträglich geändert werden. Laut Coppinger bestand eine besondere Herausforderung darin, Fabelwesen, die nicht nur in den Harry-Potter-Romanen auftauchen – beispielsweise Einhörner –, so zu gestalten, dass sie nicht durch ein „neues“ oder „exotisches“ Äußeres, sondern durch möglichst großen Realismus überzeugten. Einige Szenen wurden mithilfe von Modellbauten realisiert, etwa wenn Eulen über Hausdächer fliegen oder manche der Außenansichten von Hogwarts. Nachbearbeitung Visuelle Effekte Die Spezialeffekte wurden im Rahmen der Postproduktion durch eine Vielzahl computergenerierter visueller Effekte abgerundet. Beispielsweise entstanden ein etwa vier Meter großer Troll und ein Baby-Drache als Computeranimationen. Die sich bewegenden Treppen von Hogwarts wurden teilweise im Studio gebaut und später digital nachbearbeitet. Radcliffe, dessen Augen blau sind und nicht grün wie die von Harry Potter, musste beim Dreh anfangs farbige Kontaktlinsen tragen. Da sich diese als sehr störend erwiesen, wurde seine Augenfarbe nachträglich am Computer vereinheitlicht. Im Film ist Harry letztlich mit blauen Augen zu sehen. Auch die Bluescreen-Technik spielt eine erhebliche Rolle im Stein der Weisen. Insgesamt verfügt der Film über rund 500 bis 600 solcher Effekte, die von unterschiedlichen Spezialunternehmen beigesteuert wurden: Industrial Light & Magic modellierte das Gesicht Lord Voldemorts, für das kein eigener Schauspieler angeheuert wurde; stattdessen stand der Quirrell-Darsteller Ian Hart Pate für das CGI-Modell des Gesichts. Rhythm & Hues animierte den Baby-Drachen, Sony Pictures Imageworks produzierte die effektlastigen Quidditch-Szenen, die als die komplexeste tricktechnische Arbeit des Films gelten. Insgesamt führt der Abspann des Films neun Filmtrick-Unternehmen auf, für deren Koordination Robert Legato zuständig war. Für die Tricks soll die Hälfte des Budgets ausgegeben worden sein. Endschnitt Für den Schnitt zeichnete der australische Filmeditor Richard Francis-Bruce verantwortlich. Regisseur Columbus wusste, dass der Film ohne größere Auslassungen sehr lang werden würde. Er wollte sie dennoch nach Möglichkeit vermeiden, um die Fans nicht zu enttäuschen. Sein Argument war ein Vergleich mit dem vierten Buch der Reihe, dem im Juli 2000 erschienenen Harry Potter und der Feuerkelch: Dennoch wurden einige Szenen im Endschnitt entfernt, darunter die Auftritte des Poltergeists Peeves und die letzte Hürde auf dem Weg zum Stein der Weisen, ein Gift-Rätsel des Zaubertränke-Lehrers Snape, das Hermine löst. Der Film kommt letztlich in der Kinofassung auf 152 Minuten, in der Langfassung auf 159 Minuten. Filmmusik Für die Musik wurde einer der bekanntesten Filmkomponisten Hollywoods engagiert, John Williams, mit dem Columbus bereits bei den Filmen Kevin – Allein zu Haus und Seite an Seite zusammengearbeitet hatte. Zur Vorbereitung las Williams die Romanvorlage. Dies hatte er in anderen Fällen bis dahin nicht getan, um wie die Mehrheit des Kinopublikums unvoreingenommen zu sein. Er komponierte die einzelnen Musikstücke in Tanglewood und in seiner Wohnung in Los Angeles. Dabei ließ er sich von klassischen Komponisten inspirieren. Deutlich sind die Anlehnungen an Tschaikowski, etwa aus den Balletten Der Nussknacker oder Schwanensee. Gleichzeitig stand für Williams an vorderster Stelle, dass er Musik für Kinder komponierte, also für ein Publikum mit weniger hoch entwickelten Hörgewohnheiten. Ein Thema, das er für die Eule Hedwig entworfen hatte, entwickelte er fort zu einem musikalischen Leitmotiv des Films, denn . Es wurde im ersten Trailer für den Film eingesetzt und am 31. Juli 2001 auf einem Konzert im Rahmen des Tanglewood-Sommerfestivals vorgeführt. In beiden Fällen waren die Reaktionen ausnehmend positiv. Die Aufnahmen für den Film entstanden in den Londoner Studios Air Lyndhurst und Abbey Road. Williams konnte dafür nicht wie geplant das London Symphony Orchestra einsetzen und griff auf andere Londoner Musiker zurück, darunter der Chor von London Voices. Deutsche Synchronfassung Die deutsche Synchronbearbeitung fertigte die FFS Film- & Fernseh-Synchron München und Berlin an. Das Dialogbuch verfasste Frank Schaff, der auch Synchronregie führte und darüber hinaus noch zwei Rollen sprach. Filmanalyse Vergleich mit der Romanvorlage Unterschiede in der Handlung Die Verfilmung bleibt sehr nahe an J. K. Rowlings Buch. Eine Gegenüberstellung der einzelnen Filmszenen mit den entsprechenden Passagen des Romans zeigt auf, dass die Handlung der Romanvorlage fast eins zu eins in den Film übertragen wurde; wesentliche Änderungen, Auslassungen oder Ergänzungen sind selten. Im Film treten verschiedene Nebencharaktere nicht auf, darunter der Lehrer für Geschichte der Magie Professor Binns, der Poltergeist Peeves, ein Freund von Dudley Dursley namens Piers Polkiss und Mrs. Figg, eine Nachbarin der Dursleys (Mrs. Figg hat allerdings in der Verfilmung von Harry Potter und der Orden des Phönix ihren ersten Auftritt in der Filmreihe, da ihre literarische Bedeutung zu Drehbeginn des ersten Films noch nicht abzusehen war. Ihre Hintergrundgeschichte aus den Büchern wird daher nicht berücksichtigt.) Er beginnt mit der Szene, in der Harry zu seinen Pflegeeltern gegeben wird, und überspringt damit fast das gesamte erste Kapitel des Romans. Gekürzt wurden die Versuche der Dursleys, vor den massenhaft ankommenden Briefen zu fliehen. Andere Szenen wurden ganz weggelassen, darunter Harrys erste Begegnung mit Draco Malfoy in der Winkelgasse – im Film treffen sie erstmals in Hogwarts aufeinander – und das erste Duell der beiden Widersacher, das Lied des Sprechenden Huts, das Quidditch-Spiel gegen Hufflepuff, sowie Snapes Rätsel und Quirrels inzwischen außer Gefecht gesetzter Troll auf dem Weg zum Stein der Weisen. Auch erfährt Harry am Ende nicht, warum Professor Snape ihn hasst und dass Dumbledore ihm den Tarnumhang gegeben hat. Andere Szenen wurden grundlegend geändert. Beispielsweise müssen Harry, Hermine und Neville mitsamt Malfoy in der Buchfassung Strafdienst verrichten, weil sie vom Hausmeister Filch bzw. Professor McGonagall erwischt werden, als sie nachts durch Hogwarts schleichen. In der Filmversion sind es Harry, Hermine und Ron, die mit Malfoy die Strafe verrichten müssen, weil Malfoy verpetzt, dass sie sich nachts zu Hagrids Hütte geschlichen hatten. Außerdem helfen die Freunde im Buch Hagrid, den Drachen Norbert zu Rons Bruder zu schaffen, indem sie ihn nachts auf den Astronomieturm bringen, wo er abgeholt wird (hierbei werden sie von Filch erwischt). Stattdessen erwähnt Hagrid im Film, der Drache sei von Dumbledore nach Rumänien geschickt worden. Im Buch bekommt Harry im Krankenbett nach seiner Konfrontation mit Voldemort von Hagrid ein Album mit Fotos von seinen Eltern geschenkt. Der Film verlegt diese Szene ans Ende der Geschichte, zum Abschied auf dem Bahnhof. Das Fotoalbum kann so auch gleich die Brücke zum zweiten Film bilden, wo Harry es auf seinem Zimmer eingehend betrachtet. Schließlich wurde eine Reihe kleinerer Details modifiziert: Die Schlange im Zoo ist im Buch eine Boa constrictor aus Brasilien, im Film ein Python aus Myanmar. Während Dudley und Petunia Dursley im Buch als blond beschrieben werden, sind sie im Film brünett. Auch die Haarfarbe des Zentaurs Firenze wurde von hellblond zu dunkel verändert. Der Film verlagert das Quidditch-Spielfeld von einem klassischen Stadion auf eine offene Fläche, die von Türmen umgeben ist. Auswirkungen der Unterschiede Auf der inhaltlichen Ebene lösen die einzelnen Abweichungen von der Vorlage unterschiedliche Umdeutungen aus. Zwei wesentliche Punkte lassen sich identifizieren als die Verkürzung und Vereinfachung des Erzählten zum einen, zum anderen die schwächere Gewichtung der düsteren Handlungsteile und damit eine Verschiebung des Gesamteindrucks hin zum Freundlichen und Harmlosen. Der erste Punkt trägt in erster Linie einer Notwendigkeit des Medienwechsels Rechnung, indem er für Raffung und Zeitersparnis sorgt. Kürzungen wurden schon bei der Abfassung des Drehbuchs vorgenommen. Zum Beispiel schlug Kloves Rowling vor, zu ändern, wie der Drache verschwindet. Die Autorin gab an, beim Schreiben der Buchfassung dieser Szene selbst Schwierigkeiten gehabt zu haben, sodass diese Änderung für sie am leichtesten zu akzeptieren war. Dagegen wurden die Auftritte von Peeves und Snapes Rätsel erst im Schnitt entfernt, weil der Film ansonsten zu lang geworden wäre. Die verknappte Darstellung des Films lässt wenig Raum, Entwicklungen der späteren Teile der Harry-Potter-Reihe vorzubereiten. Zum Beispiel erfährt man aufgrund der Verlagerung des ersten Treffens von Harry und Malfoy wenig über Rons Hausratte, der im weiteren Verlauf eine größere Bedeutung zukommt. Der zweite Punkt, die unbekümmertere Grundstimmung, wird teilweise durch weitere Auslassungen erreicht, teilweise, indem den negativen Handlungsphasen ein geringerer Anteil am Gesamtwerk eingeräumt wird. So zeigt der Film verschiedene Szenen nicht, in denen sich Harry und seine Freunde aggressiv verhalten und Regeln brechen: Im Buch ist Harry entschlossen, ein Zauberduell mit Draco Malfoy auszutragen, was die Feindseligkeit offenbart, die er für seinen Gegenspieler empfindet; um zu dem Duell zu gelangen, schleichen die Freunde nachts unter Missachtung ausdrücklicher Verbote und Warnungen durch Hogwarts. Während des zweiten Quidditch-Spiels, das im Film gar nicht auftaucht, kommt es zu einer Prügelei zwischen Ron und Malfoy, der sich auch Neville, Crabbe und Goyle anschließen. Auch die Rettungsaktion für den Drachen Norbert, die im Buch ein ganzes Kapitel einnimmt, zeigt, dass die Freunde bereit sind, aus Solidarität zu Hagrid Regelbruch und Gefahren hinzunehmen. Mit dem Aussparen dieser Handlungselemente werden die kämpferischen und eigenwilligen Seiten der Figur unterschlagen, und der Film-Harry wirkt braver und weniger emotional als sein vergleichsweise freches und draufgängerisches Roman-Pendant. Darüber hinaus nimmt beispielsweise die Handlungsphase, in der die steigende Bedrohung Harrys durch Voldemort vermittelt wird, anteilig weniger Raum am Gesamtwerk ein, nämlich rund 9 Prozent der Filmminuten gegenüber rund 15 Prozent der Buchseiten. Im Gegenzug werden die actionreichen und positiv besetzten Handlungsteile quantitativ aufgewertet. Filmspezifische Gestaltungsmittel Musik Zur musikalischen Untermalung des Films schuf Komponist John Williams verschiedene eingängige Themen, die er vor allem als Leitmotive einsetzt. Ihre spätromantische Prägung und ihr großorchestraler Aufbau entsprechen früheren Werken des Musikers und sind insbesondere mit seinen Arbeiten für die Filme Hook und Star Wars: Episode I vergleichbar. Das Hauptthema des Films ist der Welt der Zauberer gewidmet, symbolisiert durch die Eule Hedwig. Es ist jedoch nicht gleichzusetzen mit der Suite Hedwig’s Theme, an deren Anfang es zu hören ist und mit der es gelegentlich verwechselt wird. Das Walzer-basierte Thema wird gleich zu Beginn des Prologs eingeführt und taucht als Kennzeichen des Magischen, oft von einer Celesta gespielt, im Laufe der Handlung immer wieder auf, wenn es Zauberhaftes und Verwunderliches hervorzuheben gilt. In dieser Funktion dominiert es die Szenen bis zur Ankunft in Hogwarts, findet aber auch in späteren Szenen Verwendung, beispielsweise beim Anblick der sich bewegenden Treppen oder während des Quidditch-Spiels. Ein zweites Thema, ein Marsch, steht für das Schloss Hogwarts. Es ähnelt dem Zauberwelt-Thema stark in der Progression und kann als dessen Fortentwicklung begriffen werden. Beide enden in einer kleinen Terz, die eine mysteriöse Stimmung vermittelt. Seinen prominentesten Auftritt hat es beim ersten Anblick des Schlosses. Mit einem eigenen Thema wird das Handlungselement Fliegen hervorgehoben: Nach einem treibenden ersten Teil mit Blechbläsern, Bässen und Glockenspielen, spielen Streicher einen ruhigen, ansteigenden Notenlauf. In erster Linie wird dieses Thema mit Quidditch in Verbindung gebracht, es ist beispielsweise aber auch recht markant während der Einführung der Schüler in den Besenflug zu hören. Für die Hauptperson Harry Potter und für dessen Nemesis Lord Voldemort schrieb Williams zwei Charakterthemen. Das kräftige Thema für Harry entfaltet sich optimistisch und gipfelt in heroischen Fanfaren. Es illustriert Harry selbst, seine wachsende Freundschaft zu Ron und Hermine und die Verbindung, die er zu seinen verstorbenen Eltern empfindet. Das Thema für Voldemort ist eine düstere Variation des Zauberwelt-Themas. Mithilfe eines Tritonus verschafft es dem schwarzen Magier eine besonders bedrohliche Wirkung. Darüber hinaus zerfällt es in zwei Teile – der erste aus drei, der zweite aus vier Noten –, die einzeln als Kontrapunkt eingesetzt werden, wenn Mysteriöses passiert. Die Leitmotive, die zunächst Handlungsbestandteile untermalen oder auf Personen hindeuten, erlangen eine zusätzliche Bedeutung, indem sie das Geschehen subtil kommentieren. Deutlich wird dies am Einsatz des Voldemort-Motivs, das beispielsweise ertönt, während Harrys anderer Feind, Draco Malfoy, vom Sprechenden Hut beurteilt wird. Auch in der Zoo-Szene, in der Harry entdeckt, dass er mit Schlangen kommunizieren kann, taucht es auf und weist musikalisch auf die Verbindung Harrys zu Voldemort hin. Als es im Kampf zwischen Gut und Böse zum entscheidenden Moment des Films kommt, der Auseinandersetzung zwischen Harry und Voldemort, werden die beiden Leitmotive kombiniert und so gegeneinander gestellt, dass die musikalische Ebene die Dramatik des Kampfes widerspiegelt. Daneben gibt es Passagen der Filmmusik, die nicht der leitmotivischen Begleitung dienen. Dazu gehören Klangteppiche, die die Stimmung der jeweiligen Szene auch auf der Tonebene abbilden und so verstärken, etwa heiteres Flötenspiel in der Winkelgasse oder bedrückende Spannungsmusik im Verbotenen Wald. An anderer Stelle hilft die musikalische Untermalung, Inhalte zu betonen, etwa, indem sie wichtige Stellen mit Akzenten versieht oder Hintergrundmusik unvermittelt abbricht, bevor entscheidende Worte gesagt werden. Kamera und Schnitt Kameraführung und Schnitt werden nur zurückhaltend als Gestaltungsmittel eingesetzt. Der Film ist geprägt durch weite Kameraeinstellungen und Aufsichten, die den Blick auf viele Details zulassen, sowie durch wenige Schnitte. Häufig werden stark perspektivische Aufnahmewinkel verwendet, um die Bedeutung einer Person zu vermitteln. So wird in Gesprächen der Dominantere stets von unten, sein Gegenüber im Schuss-Gegenschuss-Verfahren von oben gezeigt. Ein Beispiel hierfür sind die Begegnungen Harrys mit dem strengen und furchteinflößenden Lehrer Snape. Im Falle Hagrids illustriert der Perspektivenwechsel außerdem die enorme Größe des Hünen. Der Film kommt mit verhältnismäßig wenigen Schnitten aus. Teilweise werden Schnitte durch Kamerafahrten umgangen. Zur Spannungssteuerung wird die Schnittgeschwindigkeit kaum – wie sonst üblich – erhöht. Selbst im actionreichsten Teil des Films, während des Quidditch-Spiels, bleibt die durchschnittliche Länge einer Einstellung mit rund 2,3 Sekunden weit oberhalb dessen, was in Actionszenen von Spielfilmen gängig ist. Kompensiert wird dies auf der Tonebene: Neben treibender Spannungsmusik wird das Spiel von verschiedenen Geräuscheffekten begleitet, die die Bewegungen durch die Luft mit pfeifenden oder sausenden Lauten akustisch wiedergeben. Als Motiv für die geringe Schnitt-Frequenz kann die Ausrichtung auf ein junges Zielpublikum angenommen werden, denn für Kinder sind allzu schnelle Schnittfolgen nicht geeignet. An wenigen Stellen geht der Einsatz der Kamera über das hinaus, was im Buch bereits angelegt war. Beispielhaft kann hierfür eine Szene stehen, nachdem Harry von Dumbledore den väterlichen Ratschlag erhalten hat, nicht zu sehr dem Traum nachzuhängen, seine toten Eltern wiederzusehen: Harry geht mit seiner Eule Hedwig auf dem Arm in einen schneebedeckten Innenhof von Hogwarts und schaut ihr nach, wie sie zu einem langsamen Flug abhebt. Die Kamera folgt dem Vogel, bis er im Weiß der Wolken verschwindet. Als er wieder auftaucht, zeigt das satte Grün der Landschaft an, dass Frühling geworden ist. Indem die Kamera den symbolischen Flug der Eule begleitet, kann sie nicht nur eine Zeitraffung rein optisch vermitteln. Kloves fügte die Szene ins Drehbuch ein, um den Zuschauer zu bewegen. Gleichzeitig erzeugen die Bilder von poetischer cineastischer Stärke einen Moment der Ruhe, in dem Dumbledores Worte nachwirken können, bevor die Handlung weitergeht. Veröffentlichung In der Vorweihnachtszeit 2000 wurden erste Filmplakate aufgehängt. Der erste englischsprachige Trailer wurde am 1. März 2001 per Satellitenfernsehen veröffentlicht. Am Tag darauf war er erstmals in den Kinos vor dem Film Spot zu sehen. Parallel dazu wurde eine internetbasierte Guerilla-Marketing-Kampagne mit dem Trailer gestartet. Die Welturaufführung des Films fand am 4. November 2001 in einem als Hogwarts umgestalteten Kino am Londoner Leicester Square vor geladenen Gästen statt. Am 16. November lief der Film in den regulären Kinos in Großbritannien und den USA an, sechs Tage später – mit einer Mitternachtspremiere – auch in Deutschland. In den USA wurde der Film unter dem abweichenden Titel Harry Potter and the Sorcerer’s Stone veröffentlicht, unter dem dort auch der Roman erschienen war. Der Verlag Scholastic hatte den Titel des Buches geändert, um Assoziationen zur Philosophie durch die Vokabel zu vermeiden. Stattdessen sollte mit deutlich auf das Thema Magie hingewiesen werden. Die Entscheidung wurde kritisiert, weil mit dem der Bezug zur Alchemie verloren ging (siehe Auflagen und Ausgaben von Harry Potter und der Stein der Weisen). Insgesamt wurde der Film in 43 Sprachen übersetzt und spielte auf mehr als 10.000 Kinoleinwänden. Für den Heimkinomarkt veröffentlichte Warner Bros. den Film am 11. Mai 2002 in der DVD-Region 2 (unter anderem West- und Mitteleuropa) und am 28. Mai 2002 in der Region 1 (USA und Kanada) zunächst auf DVD und VHS. Später wurde der Film auch auf HD DVD und Blu-ray Disc vertrieben. Im Free-TV war der Film in den USA am 9. Mai 2004 auf dem Sender ABC sowie in der Schweiz am 3. September 2005 bei SF 1 zu sehen. In Deutschland lief die Free-TV-Premiere am 2. Oktober 2005 bei RTL. Diese verfolgten insgesamt 9,94 Millionen Zuschauer bei 31,3 Prozent Marktanteil, in der werberelevanten Zielgruppe waren es 6,36 Millionen Zuschauer bei 46,0 Prozent Marktanteil. Nachwirkungen Kontroversen um Altersfreigaben In Deutschland und in Österreich wurde der Film jeweils ab sechs Jahren freigegeben. In Großbritannien und in den USA erhielt er jeweils die Altersfreigabe PG, die empfiehlt, Kinder sollten den Film in Begleitung ihrer Eltern sehen. Höhere Altersgrenzen setzten beispielsweise Dänemark und Schweden fest, wo der Kinobesuch erst ab dem Alter von elf Jahren gestattet wurde. In Deutschland löste die Freigabe eine öffentliche Kontroverse aus, in der sich unter anderem Politiker, Kirchenvertreter, Eltern und Angehörige der Presse zu Wort meldeten. Als strittigsten Aspekt der Debatte identifizierte die Freiwillige Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK), die für die Altersfreigaben in Deutschland zuständig ist, die Frage, Der Bundestagsabgeordnete Benno Zierer (CSU) warnte vor der Wirkung des Films auf kleine Kinder: Er schlug vor, und forderte den Kulturstaatsminister auf einzuschreiten. Die Abgeordnete Ingrid Fischbach (CDU) versuchte, eine Entscheidung durch die Kinderkommission des Deutschen Bundestages zu erwirken. Beide Gremien sahen jedoch keinen Handlungsbedarf. Auch nach der Einschätzung von Vertretern der evangelischen und der katholischen Kirche in Deutschland war der Film für Kinder geeignet. Eine okkulte Bedrohung schlossen sie aus. Eltern, die sich in Briefen an die FSK wandten, zeigten gemischte Reaktionen. Während die einen größte Bedenken für Kinder unter zwölf Jahren anmeldeten, kündigten andere an, den Film auch mit ihrem vierjährigen Kind anzusehen. Wegen des hohen Tempos und einzelner gruseliger Szenen empfahlen verschiedene Zeitungsrezensenten dagegen, Kindern erst ab einem Alter von acht oder neun Jahren den Kinobesuch zu erlauben. Der katholische film-dienst hält den Film für geeignet für Kinder ab zehn Jahren. Bereits nach der Veröffentlichung der Romane war vor allem in den USA ein Disput um die Gefährdung von Kindern durch die Harry-Potter-Geschichten ausgebrochen. Vertreter christlicher Kirchen hatten vor einer und der gewarnt und erreicht, dass die Romane indiziert und aus verschiedenen Bibliotheken entfernt wurden. Vielerorts wurden ähnliche Kontroversen geführt, beispielsweise in Australien, Großbritannien, Italien und Österreich. Finanzieller Erfolg Die Produktionskosten des Films werden auf 125 Millionen US-Dollar geschätzt, andere Quellen beziffern sie mit 130 oder 140 Millionen US-Dollar. Weitere 40 bis 50 Millionen US-Dollar sollen ausgegeben worden sein, um den Film zu bewerben. Der Kinostart von Harry Potter und der Stein der Weisen war äußerst erfolgreich. Der Film stellte weltweit etliche Rekorde an den Kinokassen auf. Am ersten Wochenende waren Einspielergebnisse von 90,3 Millionen US-Dollar in den USA und Kanada, und 16,3 Millionen £ in Großbritannien ebenso unerreichte Spitzenwerte wie Besucherzahlen von über 2.590.000 in Deutschland, mehr als 220.000 in Österreich und rund 136.000 in der deutschsprachigen Schweiz. Der Startrekord in Deutschland wurde bislang nicht gebrochen (Stand: Januar 2014). Für über 10 Millionen verkaufte Kinokarten in Deutschland in 100 Tagen wurde der Film außerdem mit dem Bogey in Titan geehrt, für über 12 Millionen Zuschauer bekam er die Goldene Leinwand mit drei Sternen. Insgesamt sahen den Film mehr als 58,5 Millionen Menschen in den USA im Kino, über 17,5 Millionen in Großbritannien, über 12,5 Millionen in Deutschland und jeweils rund 1 Million in Österreich und der Schweiz. Er spielte in den USA und Kanada über 317 Millionen US-Dollar, in Großbritannien über 66 Mio. £ und weltweit mehr als 974 Millionen US-Dollar ein. Größter Markt nach Nordamerika war Japan mit umgerechnet rund 153 Millionen US-Dollar. Damit war er weltweit die erfolgreichste Kinoproduktion des Jahres 2001. In deutschen Kinos war er der meistgesehene Film des Jahrzehnts und rückte unter den meistgesehenen Filmen aller Zeiten auf den vierten Platz, den er seither hält (Stand: Januar 2013). Er belegt Platz in der Liste der erfolgreichsten Filme aller Zeiten. Die Einnahmen aus dem DVD-Vertrieb und dem Verkauf der Fernsehrechte werden auf jeweils 600 Millionen US-Dollar geschätzt. Der Verkauf von Merchandising-Lizenzen brachte rund 150 Millionen US-Dollar von Coca-Cola ein, weitere 50 Millionen US-Dollar vom Spielwarenhersteller Mattel. Zu den vielen anderen Lizenznehmern zählen Lego und Hasbro; in der Summe übersteigen die Einnahmen aus dem Lizenzverkauf 300 Millionen US-Dollar. Kritiken Von der internationalen Kritik wurde der Film unterschiedlich aufgenommen. Während ihn die britische Presse vornehmlich lobte, waren die Stimmen in den USA und in Deutschland verhaltener. Die Spannweite der einzelnen Bewertungen reicht von , so Roger Ebert für die Chicago Sun-Times, der den Film in einer Reihe mit Der Zauberer von Oz, Charlie und die Schokoladenfabrik, Star Wars und E.T. – Der Außerirdische sah, bis hin zum Urteil von Elvis Mitchell, der für die New York Times schrieb, der Film sei und gekennzeichnet von einem . Die Website Rotten Tomatoes, die einen Index aus gesammelten englischsprachigen Kritiken zusammenstellt, errechnete eine zu 80 Prozent positive Bewertung. Bei der nach einem ähnlichen Prinzip funktionierenden Website Metacritic erreichte der Film 64 von 100 möglichen Punkten. In beiden Fällen lag die Publikumswertung geringfügig höher. Weitgehend ähnlich fallen die Nutzerwertungen in der Internet Movie Database und der Online-Filmdatenbank aus: Hier erreicht der Film im Schnitt 7,5 beziehungsweise 7,2 von 10 möglichen Punkten. Harry Potter als Literaturverfilmung Einhellig betonten die Kritiker die Nähe zu Rowlings Roman. Dank seiner „Buchstabentreue“ sei Columbus eine „makellose Literaturadaption gelungen“, die „Film und Buch perfekt zur Deckung gebracht“ hat. Das hohe Maß an Werktreue wurde allerdings äußerst unterschiedlich bewertet: Im Daily Telegraph und in der New York Post wurde die Umsetzung als Erfolg beschrieben, und ein Kritiker von Empire meinte, . Im Gegensatz dazu war es für Konrad Heidkamp von der Zeit der „entscheidend[e] Fehler“ des Films, dass er sich kaum von seiner Vorlage entfernt. Ohne Raum für eigene kreative Entfaltung sei „ein Abziehbild des Romans entstanden.“ So bedauerte auch die tageszeitung, dass der Film trotz seiner Überlänge „nur stichpunktartig erzählt, was [im Roman] passiert.“ Harald Martenstein schrieb für den Tagesspiegel: Und in der Berliner Zeitung ergänzte Anke Westphal: Dagegen gestand Hanns-Georg Rodek in seiner Kritik für die Welt zu, dass ein in sich stimmiges Werk entstanden sei: Im Anschluss rügt Rodek allerdings, dass der Film nicht ohne das Buch für sich selbst stehen könne und „geradezu selbstverständlich vorausgesetzt [wird], dass vor dem Kinobesuch die Lektüre stand.“ Dagegen fand Westphal legitim, dass sich die Verfilmung „vollständig im Dienst eines kindlichen Zuschauers“ gestellt habe, dem der Kinobesuch zum „Abgleich [der] Leseerfahrung“ diene. Zusammenfassend stellte Der Spiegel fest, der Film Etliche Male wurde bedauert, dass nur wenig von der Atmosphäre und Gefühlswelt des Romans in seine Filmversion gelangt sei. Zum Beispiel hebt die Besprechung von USA Today hervor, dass gerade Rowlings Art, Emotionen darzustellen, den Charme des Buches ausgemacht habe, und fährt dann fort: Spiegel Online sieht einen Grund erneut darin, dass der Film zu viele Details des Buches wiedergibt: „Für die Entfaltung eines Charakters bleibt im Film keine Zeit.“ Schauspielerische Leistung Der Hauptdarsteller Daniel Radcliffe konnte nur wenige Kritiker von sich überzeugen. Während der Daily Telegraph die Darstellung des Titelhelden als bezeichnete, wurde sie oft als „flach“ oder „glatt“ bemängelt, das New York Magazine bescheinigte Radcliffe sogar eine . Viele Rezensionen identifizierten ihn als Schwachstelle des Ensembles; so schrieb etwa Katrin Hoffmann für den epd Film: Indessen sah die Zeit-Rezension Heidkamps in Radcliffes zurückhaltender Spielweise einen Vorteil: Das Magazin Time nannte die drei Jungstars Radcliffe, Rupert Grint und Emma Watson . Anders urteilten beispielsweise Variety, die Watson fand, oder das New York Magazine, das Grint im Gegensatz zu Radcliffe für hielt. Nach Auffassung der New York Post stahl Grint dem Hauptdarsteller Radcliffe sogar die Show. Derweil war für die New York Times Tom Felton als Harrys Gegenspieler Draco Malfoy der „Showstopper“ des Films. Die schauspielerische Leistung des erwachsenen Ensembles wurde fast ausnahmslos gelobt. Häufig wurde Robbie Coltranes Darstellung des Hünen Hagrid hervorgehoben, bei dem sich Welt-Autor Rodek „nicht wunderte, würde die Rowling irgendwann gestehen, dass sie die Figur dem Schauspieler nachempfunden habe.“ Für andere war Alan Rickman als Professor Snape besonders erwähnenswert; so schrieb beispielsweise CNN: Produktionsdesign und Effekte Das Zusammenspiel von Produktionsdesign und Effekten erhielt in der Presse viel Anerkennung. So schrieb die Berliner Zeitung: „Die Szenenbilder sind prachtvoll, die Filmbauten und Kostüme wundervoll, die Tricks charmant – besonders Details wie der ‚Sprechende Hut‘ […] findet man liebevoll ausgeführt.“ Einige Kritiken führten das actionreiche Quidditch-Spiel als Beispiel für „beeindruckend[e]“ Computerarbeiten an. Dagegen war es für Variety die einzige Szene mit übertriebenen CGI-Effekten, Für die New York Times waren die Effekte . Musik Deutliche Ablehnung drückten die Kritiker für die Filmmusik von John Williams aus: Der laut Slant Soundtrack war für den Hollywood Reporter nicht mehr als . USA Today schrieb: Variety fasste zusammen: Auszeichnungen Filmpreise Der Film war für eine Vielzahl bedeutender Filmpreise nominiert und hat einige Auszeichnungen erhalten. Bei der Oscarverleihung 2002 war der Film in drei Kategorien vorgeschlagen: Stuart Craig und Stephenie McMillan standen für das beste Szenenbild zur Wahl, Judianna Makovsky für das beste Kostümdesign und Altmeister John Williams für die beste Filmmusik. Bei der Vergabe der Preise gingen die Nominierten in allen drei Kategorien leer aus. Ebenfalls nicht zur Auszeichnung kam es bei den Grammy Awards 2003, wo Williams’ Filmmusik als bester Soundtrack und Hedwig’s Theme als bestes Instrumentalstück vorgeschlagen waren. Sieben Nominierungen erhielt der Film für den British Academy Film Award 2001: als bester britischer Film, Robbie Coltrane als bester Nebendarsteller, für die besten visuellen Effekte, die besten Kostüme, die beste Maske, das beste Szenenbild sowie den besten Ton. Darüber hinaus war die Romanverfilmung im Jahr darauf für den British Academy Children’s Awards, einen Preis, den die BAFTA an Angebote für Kinder vergibt, in der Kategorie Bester Spielfilm nominiert. Auch hier konnte Harry Potter keine der Nominierungen in eine Auszeichnung umsetzen. Die Broadcast Film Critics Association prämierte Harry Potter 2001 als besten Familienfilm mit dem Critics’ Choice Movie Award; in der gleichen Kategorie zeichneten ihn die Las Vegas Film Critics Society und die Phoenix Film Critics Society aus. Als Gesamtwerk war er außerdem für einen Amanda, einen Hugo Award, einen Satellite Award und für einen Teen Choice Award nominiert, ohne eine Auszeichnung zu erhalten. Nach zwei erfolglosen Nominierungen für Empire Awards 2002 – als bester Film und für das Trio Radcliffe/Grint/Watson als beste Newcomer – wurde die damals vierteilige Harry-Potter-Filmreihe 2006 mit dem Sonderpreis Outstanding Contribution to British Cinema Award geehrt. Von insgesamt neun Nominierungen bei den Saturn Awards 2001 konnte der Film nur die Kategorie Beste Kostüme für sich entscheiden. Kostümbildnerin Judianna Makovsky erhielt außerdem eine Auszeichnung der Costume Designers Guild. Das Szenenbild wurde mit einem Evening Standard British Film Award honoriert, die Filmmusik mit einem BMI Award. Die Casting Society of America vergab einen Artios Award für die Schauspielerauswahl. In insgesamt fünf Kategorien war der Film für Satellite Awards nominiert, doch nur Rupert Grint nahm eine Auszeichnung mit nach Hause: als bestes Neu-Talent. Er erhielt darüber hinaus einen Young Artist Award in der Kategorie Most Promising Young Newcomer; seine Kollegin Emma Watson teilte sich den Preis in der Kategorie Best Performance in a Feature Film – Leading Young Actress mit Scarlett Johansson; drei weitere Nominierungen hatten keine Auszeichnung zur Folge. Daniel Radcliffe war als bester Newcomer bei den MTV Movie Awards 2002 nominiert, konnte sich aber nicht gegen Orlando Bloom durchsetzen. Filmprädikate Die Deutsche Film- und Medienbewertung (FBW) zeichnete den Film mit dem Prädikat „wertvoll“ aus. Fan-Tourismus an den Drehorten Schon vor Veröffentlichung des Films hatten Fans begonnen, gezielt die Drehorte zu besuchen; nach dem Kinostart verstärkte sich das Phänomen. Während die Anwohner von Picket Post Close in Martins Heron gelassen reagierten und aus Sicherheitsgründen keine Touristen ins Australia House gelassen wurden, warben andere Orte mit ihrer Rolle im Film. Der Londoner Zoo machte mit einer Hinweistafel auf seine Funktion als Filmkulisse aufmerksam und nahm Harry-Potter-Artikel ins Sortiment seines Souvenirladens auf. Am Bahnhof King’s Cross wurden Schilder installiert, die beispielsweise Zaubern oder das Parken von Besen untersagten. Ein Schild mit der Aufschrift wurde später ergänzt durch die Installation eines Trolleys, der scheinbar in der Wand stecken geblieben ist. Ein Transparent mit den Worten vor dem Haupteingang von Alnwick Castle musste auf Druck von Warner Bros. wieder entfernt werden. Zeitnah zum Kinostart gab die Tourismusbehörde Großbritanniens einen Reiseführer speziell für die Drehorte heraus, etablierte Reiseführer folgten dem Beispiel, und verschiedene Veranstalter stellten Reiseangebote speziell für Harry-Potter-Fans zusammen. Harry-Potter-Filmreihe Die Verfilmung von Harry Potter und der Stein der Weisen setzte den Startpunkt zu einer achtteiligen Filmreihe. Nach dem ersten wurden auch die folgenden sechs Harry-Potter-Romane verfilmt; der letzte Band, Harry Potter und die Heiligtümer des Todes, wurde in zwei abendfüllende Filme geteilt, von denen der zweite im Juli 2011 erschienen ist. Mit einem Gesamt-Einspielergebnis von rund 7,7 Milliarden US-Dollar weltweit gelten die Harry-Potter-Filme als erfolgreichste Filmreihe überhaupt (Stand: April 2012). Als erster Film der Reihe schuf Harry Potter und der Stein der Weisen in vielerlei Hinsicht die Grundlage für die weiteren Filme, angefangen beim Personal: Die Schlüsselfiguren des Filmstabs setzten ihre Arbeiten an der Filmreihe mehrheitlich fort. David Heyman war Produzent aller nachfolgenden Filme, beim dritten und ab dem fünften teilte er sich diese Aufgabe mit anderen. Chris Columbus führte auch beim zweiten Film Regie, am dritten war er als Produzent beteiligt. Steve Kloves schrieb die Drehbücher aller Harry-Potter-Filme mit Ausnahme des fünften. John Williams komponierte die Filmmusik bis einschließlich zum dritten Teil der Reihe. Szenenbildner Stuart Craig und Dekorateurin Stephenie McMillan arbeiteten an allen acht Filmen. Desgleichen waren die Schauspieler fast ausnahmslos in den späteren Filmen wieder zu sehen. Einzig die Rolle des Schulleiters Dumbledore wurde nach dem Tod von Richard Harris neu besetzt, ab dem dritten Film übernahm Michael Gambon den Part. Alle anderen Haupt- und Nebenrollen wurden in allen acht Filmen jeweils von denselben Darstellern verkörpert. Die Verfilmung des ersten Bandes muss daher auch als Auftakt einiger Schauspieler-Karrieren gesehen werden. Vor allem die Jungdarsteller waren zuvor keinem größeren Publikum bekannt. Auch in etlichen Aspekten seiner filmischen Umsetzung beeinflusste Der Stein der Weisen seine Nachfolger stark. Die Verfilmung war beispielsweise – abgesehen vom Design der Buchcover – die erste umfassende offizielle Visualisierung des Harry-Potter-Stoffes. Zum ersten Mal wurde etwa das Aussehen von Schuluniformen, fantastischen Kreaturen oder der Architektur von Hogwarts festgelegt. An viele dieser Design-Entscheidungen schlossen die Nachfolger an. Kostüme wurden eher ergänzt und modifiziert als grundlegend neu entworfen. Drehorte wie Alnwick Castle, die Bodleian Library und die Kathedrale von Gloucester fanden in den späteren Teilen erneut Verwendung, das Haus der Dursleys wurde im Studio nachgebaut. Im Laufe der Reihe wurden Details der Kostüme, das Szenenbild und das Aussehen von Fabelwesen allerdings modifiziert und – unter anderem dank des Fortschritts auf dem Gebiet der visuellen Effekte – verfeinert. In ähnlicher Weise baut die Musik der späteren Harry-Potter-Filme auf den Arbeiten von John Williams auf, dessen Hedwig-Thema zu einer Erkennungsmelodie für die Filmreihe avancierte. Dem hohen Maß an Kontinuität steht gegenüber, dass die Filmreihe von vier unterschiedlichen Regisseuren umgesetzt wurde, von denen jeder seinen Harry-Potter-Filmen eine eigene Prägung verlieh. Gelten die ersten beiden Filme, die unter Columbus’ Regie entstanden, als einander noch sehr ähnlich, wird die Inszenierung des dritten Teils von Regisseur Alfonso Cuarón als grundlegende Neuerung wahrgenommen. Literatur Weblinks Anmerkungen Einzelnachweise Filmtitel 2001 Britischer Film US-amerikanischer Film Fantasyfilm Abenteuerfilm Kinderfilm Jugendfilm Familienfilm Joanne-K.-Rowling-Verfilmung Stein Der Weisen #Der Hexerei im Film Chris Columbus (Filmproduzent) Schienenverkehr im Film
1131271
https://de.wikipedia.org/wiki/Carl%20Kellner%20%28Optiker%29
Carl Kellner (Optiker)
Carl Kellner (* 21. oder 26. März 1826 in Hirzenhain; † 13. Mai 1855 in Wetzlar) war ein deutscher Entwickler und Hersteller von Teleskopen und Mikroskopen. Er erlangte erste Bekanntheit als Entwickler und Produzent des heute nach ihm benannten Kellner-Okulars. Seine Geräte wurden nach ganz Deutschland und ins Ausland geliefert und fanden in Wissenschaftskreisen Anerkennung für ihre Qualität. Das von ihm in Wetzlar gegründete Optische Institut war die Keimzelle der Wetzlarer optischen Industrie. Diese Werkstatt hatte unter Kellner bis zu 12 Mitarbeiter. In den knapp sechs Jahren unter seiner Leitung wurden etwa 130 Mikroskope und etwa 100 kleine und große Teleskope und Fernrohre produziert. Über mehrere Jahre arbeitete Kellner eng mit seinem Freund Moritz Hensoldt zusammen, der einen weiteren Wetzlarer Optikbetrieb gründete. Kellner starb im Alter von 29 Jahren 1855 an Lungentuberkulose, an der er im Vorjahr erkrankt war. Kurz vor seinem Tod wurde ihm die Goldmedaille für hervorragende gewerbliche Leistungen des preußischen Königs verliehen. Kellner war verheiratet, hinterließ aber keine Kinder. Nach Kellners Tod wurde der Betrieb von seinem ehemaligen Mitarbeiter Friedrich Belthle (1828–1869) weitergeführt. Nach dessen Tod 14 Jahre später wurde er von Ernst Leitz übernommen und unter dem Namen Leitz zu einem der größten Mikroskophersteller und Optik-Unternehmen der Welt ausgebaut. Nach einer Aufspaltung dieses Konzerns heißt die Mikroskopsparte heute Leica Microsystems, der Hauptsitz ist nach wie vor in Wetzlar. Leben Kellner wurde am 21. oder 26. März 1826 in Hirzenhain geboren, einem Ort im westlichen Vogelsberg (Osthessen), der etwa 60 Kilometer südöstlich von seiner späteren Wirkungsstätte Wetzlar liegt. Während die meisten Quellen, darunter die erste Kellner-Biographie von seinem Schwager Julius Hinckel von 1910, den 26. angeben, wurde 2018 berichtet, dass sein Taufeintrag den 21.03. als Geburtsdatum angibt. Ein Gedenkstein an seinem Grab gibt ebenfalls den 26.03. an (siehe auch Abbildung). Dieser Gedenkstein wurde jedoch erst 1926 errichtet und 1949 erneuert. Es ist nicht bekannt, ob das Geburtsdatum 1926 oder 1949 eingetragen wurde. Der Originalgrabstein des Familiengrabs war wohl bei der Auflösung des Friedhofs nach dem Ersten Weltkrieg verloren gegangen, so der Bericht von 2018 weiter. Carl war das zweite von vier Kindern, einem älteren Bruder Eduard (1824–1851) und zwei Schwestern, Mathilde und Wilhelmine. Seine Mutter war Johanna Elisabeth, geborene Rudersdorf (1792–1848), aus Haiger. Sein Vater Albert Philipp Kellner (nach anderer Quelle Georg Philipp Albrecht Kellner; 1791–1865), geboren in Bendorf, war Hüttenverwalter der Buderus’schen Eisenhütte in Hirzenhain. Dieser verfasste auch ein kaufmännisches Rechenbuch. Später wurde der Vater Verwalter der Oberndorfer Hütte der Fürstlich Solms’schen Hüttengesellschaft bei Braunfels, westlich von Wetzlar. Carl Kellner verbrachte dort seine Schulzeit und besuchte bis zum 17. Lebensjahr die Lateinschule im benachbarten Braunfels. Anschließend wurde er Lehrling beim Mechaniker (nach anderer Quelle: Messerschmied) Philipp Caspar Sartorius in Gießen, der östlichen Nachbarstadt Wetzlars. Ob er parallel dazu mathematischen Unterricht beim Gründer der Gießener Realschule Georg Stein (1810–1884) nahm, ist in den Quellen umstritten. Dessen Adoptivtochter Maria Werner wurde später seine Frau. Anschließend ging Kellner nach Hamburg zu A. Repsold & Söhne, einem Betrieb, der für seine hochwertigen optischen, besonders astronomischen Instrumente bekannt war. Die Dauer seines Aufenthalts dort wird unterschiedlich angegeben. Während ältere Quellen von Mai 1845 bis Ende 1846 beziehungsweise von 1845 bis 1846 berichten, schreiben neuere von vier Monaten oder von 15. April bis 15. August 1846. Die Optik ließ Repsold von anderen Herstellern zuliefern, sie wurde mit eigener Mechanik verbunden. Hier lernte Kellner seinen fünf Jahre älteren Freund Moritz Hensoldt aus Sonneberg als Kollegen kennen. Anschließend zog Kellner wieder zu seinen Eltern, die jetzt in Braunfels wohnten, und begann ein Selbststudium der Optik. Durch Experimente prüfte er Angaben aus der optischen Literatur. Sein Bruder Eduard, Student der Kameralwissenschaft, unterstützte ihn bei der Einarbeitung in die Integral- und Differentialrechnung. Kellners Hauptaugenmerk galt astronomischen Fernrohren. Er erkannte Möglichkeiten, deren sphärische Aberration zu verbessern, und stellte verkittete Fernrohrobjektive her, die den zeitgenössischen zweilinsigen Objektiven von Fraunhofer, Herschel und anderen überlegen waren. „Verkitten“ bedeutet, zwei optische Elemente mit Kitt so zu verbinden, dass diese nahtlos, also ohne Luftzwischenraum, ineinander übergehen, so dass keine Reflexion auftritt. Spätestens ab 1847 beschäftigte sich Kellner mit einer wesentlichen Verbesserung der zeitgenössischen Okulare. Er schrieb später über seine Zeit des Selbstudiums: Wie von ihm erhofft führte die Veröffentlichung einer wissenschaftlichen Schrift über das von ihm entwickelte Okular im Oktober 1849 zu einer Bekanntheit, die es ihm ermöglichte, ein erfolgreiches Unternehmen aufzubauen, obwohl er keine formale Lehre als Optiker oder Mechaniker abgeschlossen hatte. Am Ende seiner Schrift schrieb er: Der genannte Freund ist Moritz Hensoldt, der viele mechanische Arbeiten für ihn ausführte. Am 27. Dezember 1852 heiratete Kellner die Adoptivtochter seines ehemaligen Lehrers Stein, Maria Werner (1830–1881). Die beiden hatten nur ein Kind, einen Sohn, geboren am 13. April 1854, der aber nur einen Tag überlebte. Zu dieser Zeit war Kellner bereits an Lungentuberkulose erkrankt. Eine Kur blieb ohne Erfolg. Anfang 1855 erlebte er noch die Verleihung der vom preußischen König gestifteten „Goldmedaille für hervorragende gewerbliche Leistungen“. Im Alter von 29 Jahren verstarb er am 13. Mai 1855. Er wurde auf dem heute aufgelassenen historischen Friedhof, genannt Rosengärtchen, beigesetzt. Sein Grabmal ist durch einen Gedenkstein markiert. Wirken Das Kellner-Okular Die bekannteste optische Neuentwicklung Kellners ist das Okular, das er für Fernrohre und Mikroskope entwickelte und das später als Kellner-Okular nach ihm benannt wurde. Physik Astronomische Fernrohre und typische (sogenannte zusammengesetzte) Lichtmikroskope haben eine zweistufige Bilderzeugung: Das Objektiv erzeugt ein vergrößertes Zwischenbild, welches durch das Okular ein zweites Mal vergrößert wird. Okulare, die in zeitgenössischen Fernrohren oder Mikroskopen verwendet wurden, erzeugten gewölbte Bilder, das heißt, bei einem flachen Präparat konnte entweder die Mitte oder der Rand scharf gestellt werden, aber nicht beides gleichzeitig. Diese Bildfeldwölbung konnte mit dem Kellner’schen Okular stark vermindert werden, so dass dem Betrachter ein auch bei großem Gesichtsfeld durchgehend ebenes, unverzerrtes Bild zur Verfügung stand. Kellner nannte seine Entwicklung daher „orthoskopisches“, also richtig-sehendes Okular. Okulare bestanden zu Kellners Zeit aus zwei einzelnen Linsen, der Augenlinse und der Feldlinse. Sie waren entweder als Huygens-Okular (bei Kellner „astronomischen Doppelocular erster Klasse“) oder als Ramsden-Okular (bei Kellner „Doppelocular zweiter Klasse“) ausgeführt (siehe auch Abbildungen). Kellner schuf einen neuen Typ, der als aus dem Ramsden-Okular abgeleitet angesehen wird, da sich bei beiden das Zwischenbild vor der ersten Linse befindet, während es beim Huygens-Okular zwischen den beiden Linsen entsteht. Kellner ersetzte die einzelne Augenlinse des Ramsden-Okulars durch ein Linsenpaar mit geringeren Farbfehlern, einen Achromaten, so dass insgesamt drei Linsen verwendet wurden. Die Feldlinse war eine bikonvexe Sammellinse, in deren Brennweite sich das Augenlinsenpaar befand. Heute wird eine andere Konstruktion als orthoskopisches Okular bezeichnet, die ein Glied aus drei Einzellinsen enthält und von Ernst Abbe (1840–1905) entwickelt wurde. Entwicklung und der Weg zur Veröffentlichung Der älteste Hinweis auf Kellners Neuentwicklung wurde in einem Brief von ihm vom 1. Dezember 1847 gefunden. Im Herbst 1848 entschloss er sich seine Ergebnisse in einem selbständigen Werk zu veröffentlichen, also nicht als Zeitschriftenbeitrag. Er wollte durch diese Veröffentlichung einen guten Ruf erwerben, der ihm die Geschäfte erleichtern sollte. Im März 1849 schrieb er deswegen an den Verleger Vieweg in Braunschweig, dieser schlug jedoch zunächst einen Zeitschriftenbeitrag vor, bevor er doch einwilligte, vermutlich nachdem Justus von Liebig, zu dieser Zeit Inhaber des Lehrstuhls für Chemie an der nahen Universität Gießen, sich für Kellner eingesetzt hatte. Vieweg schlug Kellner sogar einen Umzug des Betriebs nach Braunschweig vor, den dieser jedoch aus wirtschaftlichen Gründen für nicht möglich hielt. Außerdem schlug er Kellner vor statt wie bisher das Fernrohr zukünftig den Mikroskopbau in den Vordergrund zu stellen. Anfang 1849 bat Kellner Hensoldt, nach Wetzlar umzuziehen auch weil er eine vorzügliche Handschrift habe, um die Reinschrift des Manuskripts zu erstellen. Hensoldt kam Anfang Juli, am 18. des Monats war das Manuskript druckfertig und wurde zum Verlag gesandt. Ende Oktober erschien „Das orthoskopische Ocular, eine neu erfundene achromatische Linsenkombination, welche dem astronomischen Fernrohr, mit Einschluss des dialytischen Rohrs, und dem Mikroskop, bei einem sehr großen Gesichtsfeld, ein vollkommen ungekrümmtes, perspektivisch richtiges, seiner ganzen Ausdehnung nach scharfes Bild ertheilt, so wie auch den blauen Rand des Gesichtsraumes aufhebt.“ Kellner bezeichnet sich selbst als „Optiker zu Wetzlar“. Hensoldt, „Mechaniker“, steuerte einen Anhang „Zur Kenntnis der genauen Prüfung der Libellen oder Niveau’s“ bei. Inhalt der Veröffentlichung Das knapp 70-seitige „Heftchen“ beginnt mit einer zweiseitigen Vorrede (siehe auch Zitat oben), in der Kellner seinen Eltern und seinem Freund Moritz Hensoldt dankt und in blumigen Worten seinen Drang beschreibt zum Fortschritt der Wissenschaften beizutragen. Es folgt eine siebenseitige Einleitung über Vorzüge und Geschichte der Optik, besonders Entwicklungen der vorigen Jahrzehnte, bevor der Hauptteil mit einer Abhandlung über Okulare und deren Mängel beginnt. Ausführlich geht er auf Probleme des „astronomischen Oculars erster Klasse“ ein, nach heutigem Sprachgebrauch das Huygens-Okular. Er bespricht unter anderen „Das krumme Bild“ (Bildfeldwölbung) und die daraus resultierende Verzerrung des Bildes am Rand des Gesichtsfeldes. Die anschließende Besprechung der Fehler des „Doppeloculars zweiter Klasse“, „von Ramsden entwickelt und von Fraunhofer bedeutend verbessert“, ist wesentlich kürzer, jedoch schreibt Kellner: „Dieses … Ocular bleibt im Allgemeinen an guten Eigenschaften noch weit hinter dem Doppelocular erster Klasse zurück“ und „das die Mängel vorliegenden Oculars der Hauptsache nach dieselben sind, als die des vorigen.“ Nach einer Besprechung der Beugungserscheinungen kommt er schließlich zum von ihm entwickelten „orthoskopischen“, heute Kellner-Okular genannt. Dort beschreibt er ausführlich die Vorteile, die sich für den Anwender ergeben, aber nicht wie das Okular konkret gebaut war. So war der Text für den Anwender von Interesse, ohne Geschäftsgeheimnisse zu verraten, die Konkurrenten hilfreich gewesen wären. Dieser Teil beginnt: Dann geht er aber doch begrenzt auf die Konstruktion ein, denn es plagt ihn die Sorge, der Leser könnte meinen, dass das Okular aus vielen einzeln stehenden Linsen bestehen würde. Dies hätte zur Folge, dass an jeder Luft-Glas Grenzfläche Reflexion auftritt, wodurch die Helligkeit des Bildes stark nachlassen könnte. Daher bemerkt er: Dem kundigen Leser erschließt sich dadurch, dass zwei der Linsen miteinander verkittet sein müssen, um diese Bedingung zu erfüllen, jedoch nicht, ob es sich um die Augenlinse (die es tatsächlich war), oder die Feldlinse, auch Kollektivlinse genannt, handelte. So nahm P. Harting 1866 fälschlicherweise an: „Nach Kellner (Das orthoskopische Ocular, eine neu erfundene achromatische Linsencombination u. s. w. Braunschweig 1849) besteht das unterste Glas seines Oculares, d. h. also das biconvexe Collectivglas, aus zwei unter einander verbundenen Linsen.“ Nach ausführlicher Besprechung der Vorteile des neuen Okulars in Listenform mit neun Punkten beendet Kellner den Abschnitt über sein Okular: Es folgt eine etwa eben so lange Abhandlung über Objektive, deren Aufbau und Bau sowie mögliche Tests zur Qualität. Dieser Abschnitt hat keinen direkten Bezug zu Kellners Okular, er zeigt aber die Sachkenntnis des Autors. Abschließend folgt ein Kapitel über den Gebrauch optischer Instrumente, gedacht um „dem Unkundigen den Weg zu zeigen, auf welchem er, seine Kräfte übend, zur Kenntniß der vorteilhaftesten Anwendung und näheren Bekanntschaft mir der Behandlungsart genannter Instrumente fortschreiten kann.“ Kellner schließt mit dem oben bereits teilweise zitierten Appell an die „Männer der Wissenschaft“, der mit folgendem Absatz endet: Passend zur Geschäftseröffnung schließt sich eine Preistabelle für Okulare, Fernrohrobjektive und ganze Fernrohre an, und eine Bestellanleitung, bevor der Anhang von Moritz Hensoldt beginnt. Aufnahme und weitere Entwicklung Kellners Okulare fanden in Fachkreisen schnell Anerkennung. Beispielsweise lobte Carl Friedrich Gauß ein Kellner’sches Okular in einem Brief: Optik-Lehrbücher aus dem 20. und 21. Jahrhundert schreiben, dass Kellner Okulare typischerweise in Ferngläsern oder bestimmten Teleskopen und niedrig vergrößernden Mikroskopen, aber selten in Mikroskopen üblicher Bauweise verwendet werden. Kellner-Okulare gehörten bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts zur Grundausrüstung vieler Hobby-Astronomen, da sie bei akzeptabler Abbildungsleistung vergleichsweise kostengünstig waren. Weiterhin fanden Kellner-Okulare oft Anwendung in Prismenfeldstechern. Auch im 20. und 21. Jahrhundert fanden und finden Kellner-Okulare in der Mikroskopie noch Anwendung als Messokular. Entsprechend wird es auch in neueren Lehrbüchern noch behandelt. Fernrohrobjektive Kellner war anfänglich eher Teleskopen als Mikroskopen zugeneigt. Sein Okular konnte an beiden eingesetzt werden. Parallel zu seinen Arbeiten zum Okular beschäftige er sich auch mit Verbesserungen von Fernrohrobjektiven. Durch Rechnungen und Experimente gelang es ihm, die sphärische und chromatische Aberration zu vermindern. Sein Objektiv mit verkitteten (verklebten) Linsen erlaubte deutlich höhere Vergrößerungen als vergleichbare achromatische Teleskope. Zusammen mit seinem Okular konnte ein vergrößertes Gesichtsfeld beobachtet werden. Die Anregung Objektivlinsen zu verkitten kam ursprünglich von Hensoldt. Um mehrere Fernrohre herzustellen fehlte im zunächst eine geeignete Menge optischen Glases, daher bat er Hensoldt 1847 auf seinem Weg von Hamburg ins heimatliche Sonneberg bei Friedrich Körner (1778–1847) in Jena Kron- und Flintglas für ihn einzukaufen. Kellner hätte seine Teleskopobjektive gerne ausschließlich nach Berechnungen hergestellt. Dies war ihm jedoch noch nicht möglich. Auch Ausprobieren nach Versuch und Irrtum, bei optischen Elementen pröbeln genannt, war in diesem Fall erforderlich. Unternehmensgründung in Wetzlar Kellner und Hensoldt beschlossen bereits in ihrer gemeinsamen Hamburger Zeit, zusammen ein Unternehmen zu gründen. Während Kellner sich im Elternhaus weiterbildete, blieb Hensoldt zunächst bei Repsold. Aus ihrem Briefwechsel geht hervor, dass sie Frankfurt am Main und Mainz als Standort erwogen. Der Erwerb der für die Ansiedlung erforderlichen Bürgerrechte war ihnen jedoch zu teuer. Schließlich wurde Hensoldts Heimatstadt Sonneberg gewählt. Diese liegt heute im Süden von Thüringen, an der Grenze zu Bayern und nahe dem fränkischen Coburg. Im Frühjahr 1848 zog Kellner nach Sonneberg, nach nur kurzem Aufenthalt war er aber Anfang Juli des Jahres schon in Wetzlar wohnhaft. Hier war seine Schwester Mathilde mit einem ortsansässigen wohlhabenden Kaufmann und Porzellanhändler verheiratet, Johann Hinckel (1814–1874), der Kellner finanziell unterstützte. Kellner übernahm das Haus zweier nach Amerika auswandernder Klaviermacher. Diese nahmen ein Kellner’sches Fernrohr mit in die USA. Ein Freund der beiden war so angetan, dass er ebenfalls ein solches Gerät bei Kellner in Auftrag gab. Anfangs war Kellner der einzige Mitarbeiter seiner Werkstatt. Die Zusammenarbeit mit Hensoldt ging zunächst weiter, indem Kellner Linsenkombinationen nach Sonneberg schickte, während Hensoldt mechanische Arbeiten für Kellner ausführte. Kellners Mutter verstarb nach langer schwerer Lungenkrankheit am 2. Dezember 1848. Bereits im Frühsommer 1849, kurz vor einem mehrmonatigen Aufenthalts Hensoldts in Wetzlar ab 1. Juli, bezog Kellner eine größere Werkstatt im ehemaligen reformierten Pfarrhaus an der Jäcksburg, das er für 45 Taler jährlich mietete. Die eigentliche Geschäftsgründung des „Optischen Instituts“ erfolgte um den 15. Juli 1849. Hensoldts Anwesenheit war wohl erforderlich, da dieser im Gegensatz zu Kellner eine abgeschlossene Ausbildung hatte. Kellner war jedoch alleiniger Inhaber. Er hoffte auf Bekanntheit und geschäftlichen Erfolg durch die Veröffentlichung zu seinem Okular im selben Herbst, aber Planungen waren auf Grund der politischen Umwälzungen schwierig und Kellner und Hensoldt nahmen sich vor im Falle größerer Probleme nach Amerika auszuwandern. Anfangs gefiel es Hensoldt in Wetzlar, doch am 25. November zog er zurück nach Sonneberg. Es gab mangels Aufträgen wenig zu tun. Der Betrieb konnte wohl nur durch Unterstützung des Schwagers bestehen. Offizieller Name war daher bis 1852 „Optisches Institut Johannes Hinckel“, erst danach tauchte Kellner im Geschäftsnamen auf. Kellners Vater, ab Herbst 1849 im Ruhestand, zog mit der jüngeren Tochter Wilhelmine nach Wetzlar, wohnte ebenfalls im ehemaligen Pfarrhaus und erledigte dem Sohn die Buchhaltung. Hensoldt und Kellner blieben freundschaftlich verbunden. In Briefen an Hensoldt schildert Kellner, dass Bestellungen von Mikroskopen stark zunahmen, während astronomische Fernrohre kaum gefragt waren. In den erhaltenen Unterlagen Kellners ist die erste Lieferung eines „Mykroskop-Oculars“ am 22. Dezember 1849 vermerkt, es ging an den Bremer Apotheker und Naturforscher Georg Christian Kindt, der schon im Januar 1850 ein weiteres erhielt. Von Fernrohren zu Mikroskopen Im Briefverkehr mit dem Verleger Vieweg vor der Veröffentlichung zu seiner Okular-Schrift schlug dieser Kellner vor auch Mikroskope anzubieten. Kellner schrieb noch am 13. Juni 1849, dass sein Hauptaugenmerk zunächst auf Fernrohre gerichtet sei. Auch wenn er die Theorie des Mikroskops vollständig kenne, fehle es ihm doch an praktischer Erfahrung. Kellner bemühte sich jedoch rasch diese Lücke zu schließen. Schon am 24. November des Jahres schrieb er an Vieweg: Kellner hatte sich bereits in seiner Braunfelser Zeit mit Mikroskopobjektiven beschäftigt, musste diese Arbeiten aber aufgeben, da ihm kein geeignetes Mikroskopgestell für die die Entwicklung zur Verfügung stand. Ausgangspunkt seiner neuen Arbeiten war ein selbstentwickeltes Fernrohrobjektiv, bei dem er die Brennweite verkürzte und die Öffnung vergrößerte. Seine Objektive mit mittlerer Vergrößerung hatten eine zweifach verkittete Frontlinse und dahinter zwei Linsenpaare. Jedes der drei Teile war in sich achromatisch, die sphärische Aberration wurde weitgehend in den hinteren Teilen korrigiert. Diese Objektive gehörten mit zu den besten, die unter den Bedingungen der Zeit hergestellt werden konnten. Die höchste erzielbare numerische Apertur lag bei 0,60. Heutige Standard-40x-Objektive haben eine numerische Apertur von 0,65. Die erste Lieferung eines Mikroskops aus dem Optischen Institut ist im Lieferbuch am 9. Mai 1851 vermerkt. Dieses ging an einen Pfarrer Duby nach Genf, es wurde aber später zurückgesandt und wohl im April 1852 an den Botaniker Gottlob Ludwig Rabenhorst in Dresden weiterverkauft. Wirtschaftliche Entwicklung Zahlreiche Professoren der nahen Universität Gießen sind in Kellners Lieferbüchern aufgeführt. Von dieser Nähe profitierte Kellner auch durch Anregungen aus der Praxis. Während die feinmechanische Ausstattung seiner Mikroskope und Fernrohre im Vergleich zu französischen oder englischen Konkurrenten einfach ausfiel, gehörte die Güte der Optik zu den besten. Die Geräte legten daher auch weitere Wege zurück, so zu Matthias Jacob Schleiden nach Jena, zu Albert von Koelliker in Würzburg, zu Justus von Liebig, der von Gießen nach München wechselte, und nach Tübingen zu Hugo von Mohl. Ein besonderer Förderer der Werkstatt war Theodor von Bischoff, zu dieser Zeit Professor für Anatomie und Physiologie an der Universität Gießen. In Kellners Lieferbüchern sind sieben Mikroskope dokumentiert, die an von Bischoff gingen. Bestellungen von weiteren Gießener Professoren sind wohl auch seiner Fürsprache zu verdanken. Des Weiteren waren unter anderem acht Marburger und sechs Würzburger Wissenschaftler Kellners Kunden, unter den letzteren auch Albert von Koelliker, Franz von Leydig und Rudolf Virchow. Die Werkstatt war ab Herbst 1850 voll ausgelastet, ihre Produkte konnten sich gegen andere führende Mikroskophersteller der Zeit wie Simon Plössl in Wien, Friedrich Wilhelm Schiek in Berlin, Georg Oberhäuser und Charles Chevalier in Paris behaupten. Carl Zeiß hatte zwar 1846 schon seine Werkstatt in Jena eröffnet, fertigte aber erst ab 1857 zusammengesetzte Mikroskope. Von Anfang an hatte Kellner, auch wegen Werkstatterweiterungen und Personalkosten, häufig finanzielle Probleme, aus denen ihm mehrfach sein Schwager Johann Hinckel half. Ein Autor schreibt, dass die Hauptursache der Finanzprobleme die Verschwendungssucht von Kellners Ehefrau gewesen sei, ohne jedoch anzugeben, worauf sich diese Annahme stützt. Kellner versuchte 1850 und 1851 Hensoldt in Briefen wiederholt zu einem weiteren Umzug nach Wetzlar zu bringen. Schließlich kam dieser vom 27. Juni 1851 bis zum 12. Juni 1852 für fast ein weiteres Jahr um dann wieder nach Sonneberg zurückzukehren. Hensoldts Urenkelin Christine Belz-Hensoldt und ihr Mitautor vermuten als Grund für die Rückkehr, dass er sich „zunehmend in die Ecke des reinen Mechanikers gedrängt“ fühlte, was er nicht war und auch nicht sein wollte. Kellner dagegen wollte sich auf die Optik konzentrieren. Nach einigen weiteren Briefen scheint der Kontakt zu erlöschen, möglicherweise weil sich Hensoldt entschloss selbst Mikroskope zu bauen. Produktion In den sechs Jahren vor seinem Tod stellte Kellners Werkstatt etwa 130 Mikroskope her, die auch nach Österreich, Holland, England, Schweden und Norwegen geliefert wurden, sowie mindestens 5 große astronomische Teleskope und etliche kleine Fernrohre. Kellner hatte bis zu zwölf Gehilfen und Lehrlinge. Die genaue Zahl der produzierten Gerätschaften weicht bei verschiedenen Autoren voneinander ab, obwohl sich alle auf Kellners Lieferbücher beziehen. Nach Berg wurden 1852 28 Mikroskope geliefert, 1853 schon 39, 1854 dann 50 während 1855 die Zahl auf 44 zurückging. Nach Belz-Hensoldt ergibt sich die folgende Tabelle und Grafik: Neben Einzelstücken, die an spezielle Kundenanforderungen angepasst waren, wurden bei Mikroskopen auch Baureihen angeboten: ‚System‘ oder ‚Linsensystem‘ war im 19. Jahrhundert eine Bezeichnung für Objektive, die aus mehreren Linsen zusammengesetzt sind, und die angegebenen Vergrößerungen sind die Gesamtvergrößerungen von Okular und Objektiv zusammen. Noch bis in das 20. Jahrhundert war es üblich, dass zur Veränderung der Vergrößerung nicht nur das Objektiv, sondern auch das Okular gewechselt wurde. Bei Vergleichen mit heutigen Mikroskopen ist zu berücksichtigen, dass Kellner ausschließlich Trockenobjektive herstellte, also solche, die ohne Immersionsflüssigkeit verwendet wurden. Heutige Trockenobjektive haben in der Regel eine Vergrößerung von 40-fach oder weniger, so dass in Kombination mit einem typischen 10-fach vergrößernden Okular eine Gesamtvergrößerung von 400-fach erreicht wird. Bei optimaler Beleuchtung mit Kondensor kann mit den besten Trockenobjektiven (numerische Apertur 0,95) heute eine Auflösung von knapp 300 Nanometern erreicht werden. Von den 108 bis Jahresende 1854 ausgelieferten Mikroskopen gehörten 22 zur mittleren und zwei zur größeren Art. Die Zusammensetzung, Position und Form der optischen Elemente in Kellners Instrumenten wurde von ihm vorab auf wissenschaftlicher Grundlage berechnet, um die chromatische Aberration und die sphärische Aberration zu minimieren. Sein Geselle und Nachfolger Belthle beschrieb „daß Kellner nach genauer Ermittlung der Brechungs- und Zerstreuungsverhältnisse die Radien für die erste Annäherung seiner ersten Objective nach der gewöhnlichen Form genau ausrechnete u. diese ausgerechneten Radien in der Praxis auch genau ausführte u. den noch vorhandenen Rest sowohl der chromatischen als sphärischen Aberration durch Correktur beseitigte“. Die Qualität von Kellners Instrumenten In den wenigen Jahren zwischen der Geschäftseröffnung am 15. Juli 1849 und dem Beginn seiner Krankheit 1854, die am 13. Mai 1855 mit seinem Tod endete, gelang es Kellner, sich in der Spitzenriege der Hersteller optischer Geräte zu etablieren. Dies lässt sich zum einen indirekt schließen, aus der Liste der namhaften Kunden, von denen oben einige genannt sind. Zum anderen wird es auch in zeitgenössischer Literatur erwähnt. Pieter Harting, der 1859 ein viele hundert Seiten umfassendes Lehrbuch über Mikroskopie verfasste, beschrieb darin auch Instrumente der wichtigsten Hersteller. Hier ist der Bericht über Kellner aus der zweiten Auflage von 1866 zitiert, der sich sprachlich leicht abweichend auch in der ersten Auflage findet: „Das Mikroskop und seine Anwendung“ von Leopold Dippel erschien 1867, also zwölf Jahre nach Kellners Tod, daher werden dort nur die Mikroskope des Nachfolgers Belthle besprochen. Der Abschnitt beginnt jedoch mit einer Erwähnung Kellners: Das große Mikroskop für von Bischoff Kellner plante 1851, in den kommenden Jahren den Betrieb nach Gießen zu verlegen, wo von Bischoff sein wichtigster akademischer Ratgeber war. Dazu sollte es jedoch nicht mehr kommen. Von Bischof gab Kellner um diese Zeit auch den Auftrag zur Herstellung eines besonderen Großmikroskops, dessen Bau ebenfalls nicht mehr zu Stande kam. Kellner schrieb darüber an Hensoldt: Von Bischof hatte zusammen mit Justus Liebig den Betrag von 1500 Talern organisiert. Weitere Einzelheiten über das Projekt sind nicht bekannt, zum Bau ist es nicht gekommen. Zu berücksichtigen ist, dass die physikalische Begrenzung der mikroskopischen Auflösung durch Beugung zu Kellners Zeiten noch nicht bekannt war. Auch wurde die maximal mögliche Auflösung erst einige Jahrzehnte später, nach weiteren technischen Verbesserungen, erreicht. Kellners Verwandtschaft und Vermächtnis: Die optische Industrie in Wetzlar Kellners Mutter, Johanna Elisabeth (1792–1848), geborene Rudersdorf, war das jüngste von zehn Kindern; sie hatte drei Schwestern. Die älteste, Catharina Elisabeth (1777–1828), ab 1810 verheiratet mit Johann Philipp Neumann (1783–1852), war Mutter von Katharina (1813–1893), verheiratet mit Peter Seibert (1813–1870). Katharina wiederum war Mutter der Gebrüder Wilhelm und Heinrich Seibert. Die zweite Schwester, Katharina Jakobina (1786–1850), heiratete 1807 Abraham Engelbert (1784–1827). Deren Sohn war Ludwig (Louis) Engelbert (1814–1887). Die drittälteste Schwester hieß Sara Philippine Helene (1789–1856). Sie heiratete 1816 Jacob Ohlenburger (1787–1863) und ihre Tochter Christine (1829–1903) wurde 1854 die Ehefrau von Moritz Hensoldt. Vor seinem Tod besprach Kellner seine Erfahrungen mit seinem wichtigsten Mitarbeiter und Cousin, dem Schreinermeister Ludwig Engelbert, und schrieb seine Erkenntnisse auch auf, um den weiteren Betrieb der Werkstatt zu sichern. Kellner ernannte Engelbert zum Werksleiter, und dieser übernahm die Betriebsführung während der Krankheit Kellners und auch nach dessen Tod am 13. Mai 1855, bis zur Hochzeit von Kellners Witwe mit Friedrich Belthle (1828–1869) am 6. Dezember 1856. Belthle hatte im November 1853 Metallarbeiten für Kellner gefertigt und war vom 8. Februar bis 28. April und wieder ab 20. Juni 1855, fünf Wochen nach Kellners Tod am 13. Mai, Mitarbeiter der Werkstatt. Nun übernahm er die Werkstatt auf Rechnung seiner Frau. Mit einer jährlichen Produktion von um die 70 Mikroskopen konnte Belthle den Betrieb des Unternehmens sichern. Die optische Qualität wurde von Zeitgenossen unterschiedlich beurteilt, von „den besten Kellnerschen beinah gleich“ und „…für die feineren histologischen Untersuchungen ausgezeichnet ……… von keinem der gleichstarken neueren Systeme übertroffen“ zu „stehen in der Schärfe und Klarheit des Bildes hinter jenen seines Vorgängers entschieden zurück“. Am Neujahrstag 1864 trat Ernst Leitz in die Firma ein. 1865 wurde er Teilhaber und 1869 alleiniger Inhaber. Auch die Firma wurde in Leitz umbenannt und in der Folge einer der größten Hersteller in der optischen Industrie weltweit. Die beiden Nachfolgefirmen Leica Microsystems und Leica Camera haben noch heute ihren Sitz in Wetzlar. Engelbert schied mit der Hochzeit von Kellners Witwe aus der Werkstatt aus und gründete zunächst eine eigene Werkstatt im nahen Oberndorf. 1861 begann er eine Zusammenarbeit mit Hensoldt, die 1865 wieder beendet wurde, worauf beide ihre Werkstatt nach Wetzlar verlegten. Engelbert verkaufte seine Geräte bis zu seinem Tod 1877 unter „Engelbert und Hensoldt“. Sein Sohn Fritz beschränkte sich auf Mikroskopobjektive und Okulare. Hensoldt spezialisierte sich auf geodätische Instrumente. Er starb am 10. Oktober 1903. Unter seinen Söhnen Waldemar und Karl nahmen die Hensoldt-Werke einen wesentlichen Aufschwung. Sie sind heute als Carl Zeiss Sports Optics nach wie vor in Wetzlar ansässig. Auch die Wetzlarer Optik-Firma W. & H. Seibert geht auf Kellners Optisches Institut zurück. Gründer waren die Brüder Wilhelm (* 1840) und Heinrich Seibert (* 1852). Ihre Mutter war eine Nichte von Kellners Mutter und hatte als Jugendliche sechs Jahre bei Kellners Eltern gelebt. Sie lebte wohl in ärmlichen Verhältnissen und Kellner versprach ihre Söhne auszubilden. 1854 begann Wilhelm eine Lehre im Betrieb, nach Kellners Tod machte dies auch Heinrich. Weitere Optik-Firmen siedelten sich im Laufe der Jahre in Wetzlar an. Hierzu gehören Wilhelm Will und der Nachfolgebetrieb Helmut Hund GmbH, Minox und die Wilhelm Loh KG Optikmaschinenfabrik. Wetzlar war bis zur Auflösung des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation 1806 Sitz des Reichskammergerichts, des höchsten Gerichts im Reich und als solcher auch Schauplatz von Goethes berühmtem „Die Leiden des jungen Werthers“. Mitte des 19. Jahrhunderts drohte Wetzlar mit nur etwa 5000 Einwohnern in die Bedeutungslosigkeit abzurutschen. Die Entstehung der optischen Industrie trug wesentlich dazu bei, es zu einem wichtigen Wirtschaftsstandort aufblühen zu lassen. Ehrungen Goldmedaille für hervorragende gewerbliche Leistungen, gestiftet vom preußischen König und verliehen vom Minister für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten, 1855 Wetzlar benannte Anfang des 20. Jahrhunderts den damals neuen Karl-Kellner-Ring nach ihm. Die Braunfelser Gesamtschule, die Carl-Kellner-Schule, ist nach ihm benannt. Rezeption Als Begründer der optischen Industrie in Wetzlar und eines Betriebs, der ab Ende des 19. Jahrhunderts als „Ernst Leitz Wetzlar“ zu den Weltmarktführern der optischen Industrie gehören sollte, war Kellner sicher im größeren Ausmaß Thema biographischer Schriften als vergleichbare Optiker seiner Zeit. Entsprechend ist die Mehrzahl der Biographien auch aus dem Kreis der Ernst-Leitz-Werke und der Familie entstanden. Die älteste Biographie stammt von Julius Hinkel, dem Enkel von Kellners Schwager, und erschien beim Wetzlarer Geschichtsverein. Alexander Berg verfasste anlässlich des hundertjährigen Bestehens der Leitz-Werke, gerechnet ab der offiziellen Gründung von Kellners optischem Institut, 1949 ein 120-seitiges Buch, in dem sich auch ein Kapitel mit Kellner beschäftige. Zum 100. Todestag Kellners verfasste er eine Broschüre ausschließlich über Kellner, die von den „Optischen Werken Ernst Leitz in Wetzlar“ herausgegeben wurde. 2010 erschien ein Buch über Ernst Leitz I, dass von dessen Urenkel Knut Kühn-Leitz herausgegeben wurde. Auch hier ist ein Kapitel über Kellner enthalten. Es wurde von Christine Belz-Hensoldt mitverfasst, einer Urenkelin von Moritz Hensoldt und somit auch Urgroßnichte von Carl Kellner. Schon drei Jahre zuvor hatte sie eine kommentierte Edition der Briefe von Kellner an Hensoldt herausgegeben. Jene von Hensoldt an Kellner sind nicht erhalten. Darüber hinaus ist Kellner aber auch Thema in firmenunabhängigen Darstellungen der Geschichte der Mikroskopie. Literatur Alexander Berg: Carl Kellner. Zum hundertsten Todestag des Begründers der optischen Industrie in Wetzlar. Als Gedenkschrift zum hundertsten Todestag ihres Begründers herausgegeben von den optischen Werken Ernst Leitz in Wetzlar. Bearbeitet von Dr. med. habil. et phil. Alexander Berg, Hildesheim, 1955. S. 7–25. Weblinks Frühes Mikroskop von C. Kellner in Wetzlar im „Museum optischer Instrumente“. Kleines Mikroskop von Fr. Belthle in Wetzlar, Nachfolger von C. Kellner im „Museum optischer Instrumente“. Einzelnachweise Optiker Erfinder Unternehmer (19. Jahrhundert) Persönlichkeit der Lichtmikroskopie Person (Wetzlar) Deutscher Geboren 1826 Gestorben 1855 Mann
1340951
https://de.wikipedia.org/wiki/Pehr%20Henrik%20Ling
Pehr Henrik Ling
Pehr Henrik Ling (in älteren Quellen meist Per Henrik Ling, in englischen Quellen auch Peter Henry Ling; * 15. November 1776 in Södra Ljunga (Kronobergs län); † 3. Mai 1839 in Stockholm) war ein schwedischer Dichter und Autor sowie Begründer der Schwedischen Gymnastik. Er gilt neben Albert Hoffa und Johann Georg Mezger als Vater der Klassischen Massage, die deshalb auch Schwedische Massage genannt wird. Leben Kindheit und Lehrjahre Ling wurde im Dorf Södra Ljunga in der Provinz Kronobergs län (historische Provinz Småland) etwa 15 Kilometer südlich von Ljungby geboren. Vier Jahre nach Lings Geburt starb sein Vater, Lars Peter Ling, der Pfarrer von Södra Ljunga war. Seine Mutter, Hedvig Maria Molin, heiratete den Amtsnachfolger, verstarb allerdings kurz nach dieser Hochzeit. Er wurde auf das Gymnasium im nahe gelegenen Växjö geschickt. Eine Jahreszahl ist nicht bekannt, ebenso ob er vorher eine andere Schule besucht hat. 1792 wurde Ling des Gymnasiums verwiesen, als er sich nach einem Aufstand einiger Schüler weigerte, die Anführer zu nennen. Die nächste nachweisliche Station Lings ist die Universität Uppsala, an der er 1793 Theologie studierte. Nach vier Jahren konnte er dieses Studium am 21. Dezember 1797 mit einem Diplom abschließen. Er entschloss sich zu einer längeren Reise durch Europa und verließ 1799 Schweden in Richtung Dänemark. Seine erste Station war Kopenhagen. Danach hielt er sich in Deutschland, Frankreich und England auf. Er eignete sich die Sprachen der von ihm bereisten Länder an und lernte in Deutschland das frisch erwachte „deutsche Turnen“ kennen. Einige Quellen sehen in dieser Begegnung den Grundstein für seine spätere Arbeit mit der schwedischen Gymnastik. Die nächsten Aufzeichnungen über Lings Leben berichten vom Jahr 1801, in welchem er als Offizier der Marine an der Seeschlacht von Kopenhagen teilnahm. Obwohl Ling auf seinen Reisen immer wieder Arbeit hatte, war er in diesen Jahren des Öfteren mittellos. Später erzählte er Freunden, dass er stolz darauf sei, seine Lebensbedürfnisse jederzeit auf das äußerste Maß einschränken zu können. Allerdings hinterließen die Jahre der Reisen und Armut, manchmal ohne Essen und Schlaf, und der Dienst bei der Armee körperliche Spuren: sein allgemeiner körperlicher Zustand verschlechterte sich, er zeigte Symptome von Rheuma und hatte sogar Paralysen. Ein Ziel, zwei Wege Im Jahr 1804 errichteten zwei französische Immigranten an der Universität Kopenhagen eine Fechtschule. Interessiert an diesem Sport, reiste Ling nach Dänemark und wurde Schüler der beiden Franzosen. Er bemerkte, dass die regelmäßigen Fechtübungen seine Gesundheit verbesserten und er schließlich wieder vollkommen rehabilitiert war. Da er eine besondere Begabung für diesen Sport hatte, wurde er ein Jahr später Fechtmeister an der Universität von Lund. Dort unterrichtete er Fechten und die modernen Sprachen, die er sich auf seinen Reisen angeeignet hatte. Neben seiner Tätigkeit als Dozent hielt Ling Vorträge über die skandinavische Mythologie und beschäftigte sich mit der Vergangenheit des schwedischen Volkes. Er belegte Kurse für Anatomie und Physiologie an der Universität, um den Gründen für seine Genesung auf die Spur zu kommen. Spätestens an diesem Punkt in seinem Leben fasste er den Entschluss, die Schweden zu würdigen Nachkommen der alten Nordländer zu machen. Dieses Ziel wollte er sowohl mit Gymnastik als auch mit Poesie erreichen. Durch sein Engagement als Dichter und Autor der nordischen Mythologie bekam er Kontakt zu Gleichgesinnten. Anfangs trafen sie sich aus Spaß, später gründete diese Gruppe den Gotischen Bund (Götiska Förbundet) mit dem Ziel, den Schweden über Poesie ihren Stolz und ihr nordländisches Nationalgefühl wiederzugeben. Ling selbst schrieb einige Stücke, wie zum Beispiel Asarne oder Gylfe. Die Schwedische Akademie (Svenska Akademien) ernannte ihn im Jahre 1835 zum Nachfolger des Verstorbenen Anders Fredrik Skjöldebrand (1757 bis 1834). Ling bekam dessen Sitzplatz (Nummer 18) und blieb, wie es die Statuten der Akademie vorsehen, bis zu seinem Tod im Jahre 1839 Mitglied. Umstrittener Erneuerer 1812 bat er die schwedische Regierung um Gelder für die Einrichtung eines gymnastischen Institutes in Stockholm. Die Antwort war genauso knapp wie direkt: „Wir haben der Jongleure und Seiltänzer schon genug, ohne ihretwegen die Staatskasse zu belästigen.“ Ling konzentrierte sich auf die Weiterentwicklung des Fechtens und seiner Gymnastik. Seine Bekanntheit als Fechtlehrer half ihm seine gymnastischen Übungen bekannt zu machen. Innerhalb eines Jahres war sein Ansehen in der Gesellschaft so stark gewachsen, dass ihm die Gelder für das Institut bei einer erneuten Anfrage genehmigt wurden. Es waren zwar nur geringe Gelder, aber Ling konnte 1813 das Gymnastische Zentralinstitut (schwedisch Gymnastiska Centralinstitutet, kurz GCI) in Stockholm gründen und wurde dessen Vorsteher. Bereits wenige Monate später wurden seine gymnastischen Übungen in vielen schwedischen Einrichtungen, wie z. B. Schulen, und bei der Armee eingeführt. 1818 übernahmen die Truppen der Provinz Schonen eine von ihm entwickelte Art des Bajonettfechtens. Diese Erfolge in staatlichen Einrichtungen versetzten ihn in den Stand, weitere Gelder für das GCI zu fordern und sie auch genehmigt zu bekommen. Ling war allerdings nicht unumstritten. Die Schulmediziner standen seiner Arbeit skeptisch gegenüber und wollten seine Gymnastik höchstens zur Prävention oder als Behandlung bei „Wehwehchen“ anerkennen. An dieser Einstellung änderte sich bis zu seinem Tod nichts. Trotz seiner umstrittenen Person wurden ihm allerdings Auszeichnungen wie der Schwedische Professorentitel, der Titel Ritter des Nordstern-Ordens verliehen und er wurde zum Mitglied der Schwedischen Medizinischen Gesellschaft (Sveriges läkarförbund) gewählt. Seine Schüler hingegen zeigten ihm ihre Wertschätzung insbesondere in Form einer ihm 1821 zum Geschenk gemachten silbernen Medaille: Auf der einen Seite ein Brustbild von Ling, auf der anderen die Umschrift „Dem hochgefeierten Idrottmann von seinen Freunden und Schülern“. Die folgenden Jahre verbrachte Ling mit der Verbesserung seiner Übungen an GCI. 1836 wurde sein Bajonettfechten bei der schwedischen Infanterie übernommen. Er schrieb noch weitere Gedichte und die einzigen drei Bücher, die es über seine Lehren aus seiner Feder gibt. Das größte und wichtigste Werk, Gymnastikens allmänna grunder, wurde erst ein Jahr nach seinem Tod durch seine Schüler Liedbeck und Georgii veröffentlicht. Ling starb am 3. Mai 1839 in Stockholm, nachdem er einige Monate vorher an einer Lebertuberkulose erkrankt war. Lehre Lings Leitbild war es, den vaterländischen Geist zu stärken und das Heldentum der Ahnen zu erneuern. Nach Aussagen seiner Schüler war Lings Urgroßvater sein größtes Vorbild. Dieser wurde über 100 Jahre alt und zeugte 19 Kinder. Ling wollte, nachdem er seine körperliche Stärke durch die Fechtübungen zurückbekam, dieses Wissen der skandinavischen Bevölkerung zu Nutze machen. Da seine Übungen bereits in der Jugend anzuwenden waren, gilt er neben F. L. Jahn, J. C. F. GutsMuths und J. H. Pestalozzi als Reformator der Jugenderziehung. Bereits ein paar Jahre bevor Ling mit seiner systematischen Entwicklung der Gymnastik begann, machte sich Franz Nachtegall in Dänemark mit Gymnastik einen Namen. Teilweise beruhen Lings Theorien auf Nachtegalls Leibesübungen. Das Leben besteht nach Lings Theorie aus der chemischen Grundform, der dynamischen Grundform und der mechanischen Grundform. Wenn eine dieser Formen von Erkrankungen oder Beschwerden heimgesucht wird, muss mit der jeweils entsprechenden Therapie begonnen werden. Bei der mechanischen Grundform war die Gymnastik seine Therapie der Wahl. Die Gymnastik war in seinen Augen aber nicht in erster Linie Heilmethode, sondern galt vielmehr der Prävention. Hierfür entwickelte Ling sein System der Gymnastik, welches auf vier Säulen aufbaut und, sofern es konsequent durchgeführt werde, dem Menschen Kraft und Fitness bescheren sollte. Die vier Säulen stehen für verschiedene Arten der Gymnastik, mit eigenen Übungen und eigenen Schwerpunkten im Bezug auf Ausübung, Dauer, Exaktheit und vieles mehr. Die Medizinische Gymnastik soll den schwachen Körper des Patienten stärken und das Allgemeinwohl heben. Genau geleitete Übungen sollen bei der Pädagogischen Gymnastik der Jugend Disziplin und Gehorsam lehren. Die Wehrgymnastik dient als Vorbereitung auf die Armee, sollte den Körper stählen und für eine aufrechte Haltung sorgen. Als letzte Säule hatte die Ästhetische Gymnastik die Aufgabe, die Bewegungen des Körpers eleganter zu machen und so Schönheit zu bringen. In Lings spärlichen Aufzeichnungen finden sich immer wieder Hinweise auf Handgriffe, die der Massage sehr ähnlich sind. Nach seiner Lehre hatten diese allerdings nicht die gleiche Bedeutung wie sie das in der heutigen Klassischen Massage haben. Sie dienten aber Albert Hoffa und Johann G. Mezger als Grundlage für die heute üblichen 5 Handgriffe der Massage. Neben dem Körper wollte Ling auch den Geist der Nordländer im modernen Skandinavien wieder aufleben lassen. Seine Gedichte und Epen mit Themen aus nordischen Märchen und Geschichten erzählen von Helden und ihrem Leben. Asarne ist z. B. ein Epos über die Frühzeit des Nordens. Seine literarischen Werke sind heute, außer im skandinavischen Bereich, nicht mehr sehr verbreitet. Nachleben Nach Lings Tod übernahm sein Schüler, Professor Lars Gabriel Branting, die Leitung des GCI und führte seine Ideen fort. Die Gymnastik entwickelte sich in zwei unterschiedliche Richtungen. Die eine Gruppe seiner Schüler zeigte einen gemäßigten Ansatz und verstand die Gymnastik als Teil oder Ergänzung der schulmedizinischen Behandlung und der Prävention. Die andere Gruppe wollte bei vielen Erkrankungen die Schulmedizin gänzlich vertreiben und die Gymnastik als alleinige Therapie manifestieren. In Anerkennung seiner Verdienste steht heute in Stockholm in der Nähe des früheren GCI, an der Kreuzung Hamngatan und Sveavägen, die Statue eines kleinen Mädchens beim Ausüben der Lingschen Gymnastik. In Göteborg steht eine Büste von Ling. Das Pfarrhaus, wo er seine Kindheit verbrachte, ist inzwischen zu einem Museum umfunktioniert worden. Eine besondere Ehre wurde Ling bei den Olympischen Sommerspielen 1912 in Stockholm zuteil, bei denen seine Büste auf der Rückseite der Medaillen abgebildet war. Schriften Ling hat erst gegen Ende seines Lebens Bücher über seine Lehren der Gymnastik und des Fechtens veröffentlicht. Alle früheren Werke sind Gedichte und Dramen über die nordische Mythologie, die größtenteils im oder in Zusammenarbeit mit dem Götiska Förbundet entstanden sind. Agne (sorgspel). Lund 1812. Eylif den göthiske (sorgspel). Stockholm 1814. Gylfe. Stockholm 1814. Asarne (sånger). Stockholm 1816. Riksdagen 1527 (historisk Skadespel). Stockholm 1817. Den heliga Birgitta (sorgspel). Stockholm 1818. Eddornas sinnebildslära för olärde (framställd). Stockholm 1819. Blot-Sven (sorgspel). Stockholm 1824. Styrbjörn Starke (historiskt skådespel 1). Stockholm 1824. Ingiald Illråda och Ivar Widfamne (historiskt skådespel 2). Stockholm 1824. Reglemente för gymnastik. Stockholm 1836. Reglemente för bajonett fäktning. Stockholm 1838. Gymnastikens allmänna grunder. Uppsala 1840. (von seinen Schülern vollendet) Literatur Hugo Rothstein: Die Gymnastik nach einem Systeme des Schwedischen Gymnasiarchen P. H. Ling. Schroeder, Berlin 1848. Alfred Brauchle: Die schwedische Gymnastik und Massage. Der Dichter Per Henrik Ling. In: derselbe: Geschichte der Naturheilkunde in Lebensbildern. 2. erw. Auflage von Große Naturärzte. Reclam-Verlag, Stuttgart 1951, S. 191–194. Franz Kirchberg: Handbuch der Massage und Heilgymnastik. Band 1, Georg Thieme Verlag, Leipzig 1926. Augustus Georgii: A biographical sketch of the swedish poet and gymnasiarch, Peter Henry Ling. H. Bailliere, London 1854. (Digitale Version bei Google Books) Carl August Westerblad: Ling the founder of swedish gymnastics – His life, his work and his importance In: Tidskrift i gymnastik. 4/1909. Karl Warburg: Svensk Litteraturhistoria i sammandrag. P. A. Norstedt & Söners Förlag, Stockholm 1904. Herman Hofberg: Svenskt Biografiskt Handlexikon. Albert Bonniers Förlag, Stockholm 1906. Horace Everett Hooper: The Encyclopædia Britannica. 11. Auflage. o. O. 1911. Arnd Krüger: Geschichte der Bewegungstherapie. In: Präventivmedizin. Springer Loseblatt Sammlung, Heidelberg 1999, 07.06, 1 – 22. Jan Lindroth: Ling - från storhet till upplösning: studier i svensk gymnastikhistoria 1800–1950. B. Östlings, Eslöv 2004, ISBN 91-7139-692-6. Julia Helene Schöler: Über die Anfänge der Schwedischen Heilgymnastik in Deutschland – ein Beitrag zur Geschichte der Krankengymnastik im 19. Jahrhundert. Münster 2005, PDF; 1 MB – Dissertation zur Erlangung des doctore medicinae Siehe auch Lingiade Weblinks Medaille der Olympischen Sommerspiele 1912 (Rückseite) Das Gymnastiska centralinstitutet (GCI) heute Bilder des „Lingmuseet“ in Södra Ljunga Anmerkungen Autor Lyrik Literatur (Schwedisch) Literatur (19. Jahrhundert) Trainingstheoretiker Mitglied der Schwedischen Akademie Träger des Nordstern-Ordens (Ritter) Schwede Geboren 1776 Gestorben 1839 Mann
1344485
https://de.wikipedia.org/wiki/Johan%20Vilhelm%20Snellman
Johan Vilhelm Snellman
Johan Vilhelm Snellman (* 12. Mai 1806 in Stockholm; † 4. Juli 1881 in Kirkkonummi) war ein finnischer Philosoph, Journalist und Staatsmann. Als in der Tradition Hegels stehender Denker und engagierter Journalist hatte er erheblichen Anteil an der Entwicklung eines finnischen Nationalbewusstseins, als dessen Ausdruck auch die finnische Sprache eine neue Wertschätzung erfuhr. Als Mitglied des finnischen Senats erreichte er die währungspolitische Unabhängigkeit Finnlands und erzielte einen Durchbruch auf dem Weg zur Anerkennung des Finnischen als Amtssprache. Leben Jugend und Studium Johan Vilhelm Snellman wurde am 12. Mai 1806 in Stockholm als Sohn des aus dem westfinnischen Pohjanmaa stammenden schwedischsprachigen Seekapitäns Christian Henrik Snellman geboren. Als Finnland im Jahr 1809 an Russland fiel, entschied sich die Familie für eine Rückkehr in die Heimat und siedelte sich 1813 im schwedischsprachigen Kokkola an. Ab 1816 besuchte J. V. Snellman die allgemeine Schule im finnischsprachigen Oulu. Hier erlernte Snellman, dessen Muttersprache Schwedisch war, die finnische Sprache. Im Jahr 1822 begann er sein Studium an der Kaiserlichen Akademie zu Turku, welche nach dem Brand Turkus von 1827 nach Helsinki verlegt wurde. An der Akademie studierte Snellman zunächst Theologie, später Philosophie sowie Geschichte, Griechisch, Latein und Literatur. Über seine Lehrer Adolf Ivar Arwidsson und Johan Jakob Tengström kam der junge Snellman in Kontakt mit der Philosophie Hegels, welche er bald zur Grundlage seiner eigenen Philosophie machte, jedoch eigenständig weiterentwickelte. Während seiner Studienzeit kam Snellman in engen Kontakt mit einer Gruppe von Studenten, deren Mitglieder später zu den einflussreichsten Förderern der finnischen Kultur gehören sollten. Mitglieder dieser sich als Samstagsgesellschaft (lauantaiseura) bezeichnenden Gruppe waren unter anderen Johan Ludvig Runeberg, Zacharias Topelius, Johan Jakob Nervander und Fredrik Cygnaeus. Unbequemer Denker Im Jahr 1831 schloss Snellman sein Studium der Philosophie ab und stellte 1835 seine Dissertation über die Philosophie Hegels fertig. In den folgenden Jahren wirkte er als Dozent an der Universität Helsinki, geriet aber wegen seiner Betonung der akademischen Freiheiten wiederholt unter Druck. Im Jahr 1839 verlor Snellman seine Dozentenstelle, nachdem er sich geweigert hatte, auf Weisung der Universitätsverwaltung das Amt des Kurators in der Studentenschaft von Nordpohjanmaa anzunehmen. Snellman vertrat die Ansicht, die Studentenschaft müsse ihren Kurator selbst wählen können. Nach seinem Ausscheiden aus dem Dienst der Universität reiste Snellman nach Tübingen in Deutschland, wo er mit den Schülern des zehn Jahre zuvor verstorbenen Hegel zusammentraf, insbesondere mit Jakob Friedrich Reiff, der mit seinem Anfang der Philosophie eine Synthese von Alt- und Junghegelianismus versuchte, und David Friedrich Strauß, welcher soeben mit seinem Werk Das Leben Jesu, kritisch betrachtet ein erhebliches Aufsehen erregt hatte. Snellmans hier verfasstes deutschsprachiges Werk Versuch einer speculativen Entwicklung der Idee der Persönlichkeit, in welchem er die Thesen Strauß' zum Entsetzen konservativer Kreise nicht verwarf, brachte ihm in Schweden und im Heimatland den Ruf eines gefährlichen Radikalen ein. Im Herbst 1841 ging Snellman nach Stockholm, wo er 1842 sein Hauptwerk Staatslehre (Läran om Staten) verfasste, welches auch in Finnland veröffentlicht werden durfte und mit 442 verkauften Exemplaren bis Juli 1843 einen erheblichen Verkaufserfolg erzielte. Eine der Kernthesen des Werkes war, dass Finnland sich durch die Entwicklung der eigenen Sprache und Kultur einen Platz in der Mitte der Völker erwerben müsse. Für Snellman war die Etablierung eines finnischen Nationalbewusstseins die einzige Möglichkeit zur Abwendung einer Russifizierung. Nach seiner Rückkehr nach Finnland im Jahr 1842 stellte Snellman fest, dass sein durch seine Schriften erworbener Ruf ihm eine Anstellung in den gewünschten Positionen in der Hauptstadt praktisch unmöglich machte. Schließlich nahm er die Stelle des Rektors der Volksschule in Kuopio an, welche er bis 1849 innehatte. Während dieser Zeit widmete er sich auch intensiv der Förderung der finnischen kulturellen und politischen Entwicklung durch die Herausgabe verschiedener Zeitungen in schwedischer und finnischer Sprache. Sodann kehrte er nach Helsinki zurück und arbeitete, nachdem sich ein akademisches Amt aufs Neue als unerreichbar erwiesen hatte, bis 1856 als Büroangestellter. Professor und Staatsmann Mit der Thronbesteigung des Zaren Alexander II. im Jahr 1855 entspannte sich das Umfeld für die Tätigkeit Snellmans merklich. Außerdem erhielten die Lehren Snellmans für die infolge des verlorenen Krimkrieges geschwächten russischen Herrscher eine neue Bedeutung. Insbesondere im Hinblick auf den erstarkten Skandinavismus musste der Zar befürchten, dass sich Finnland wieder verstärkt Schweden zuwendet und eine Ablösung vom Zarenreich anstrebt. Die Hervorhebung der finnischen Nation und Sprache galt nun als willkommenes Mittel zur Abwehr dieser Gefahr. 1856 wurde Snellman ohne formelles Bewerbungsverfahren auf den Lehrstuhl für Philosophie an der Universität Helsinki berufen. Als Professor betonte Snellman die Freiheit der wissenschaftlichen Überzeugung und der bürgerlichen Bildung, wirkte aber zugleich mäßigend auf seine Studenten ein. Er erwarb sich in dieser Zeit das Vertrauen Alexanders II. und wurde schließlich 1863 zum Mitglied des finnischen Senats, der damaligen Regierung des Landes, bestellt. Er übernahm das Amt des Vorsitzenden der Finanzkommission, eine dem heutigen Finanzminister vergleichbare Position. Als Anerkennung für seine Dienste erhob Alexander II. Snellman 1866 in den Adelsstand. Zwei Jahre später schied Snellman aus dem Senat aus, nachdem er sich in der Folge eines Streites um Detailfragen des Baus der Eisenbahnverbindung nach St. Petersburg mit Generalgouverneur Nikolai Adlerberg überworfen hatte. Nach seinem Ausscheiden aus dem Senat war Snellman noch in verschiedenen wirtschaftlichen und politischen Ämtern tätig und war von 1870 bis 1874 Vorsitzender der Finnischen Literaturgesellschaft. Johan Vilhelm Snellman starb am 4. Juli 1881 auf seinem Landsitz in Kirkkonummi. Leistungen Philosoph Als Philosoph stand Johan Vilhelm Snellman fest auf dem Boden des Idealismus von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, von welchem ausgehend er seine eigene Staats- und Gesellschaftsphilosophie entwickelte. Bereits in seiner lateinischen Dissertation Akademische Dissertation zur Verteidigung des Absolutismus des Systems Hegels (Dissertatio academica absolutismum systematis Hegeliani defensura) verwarf er einerseits gegen Hegel gerichtete Angriffe und richtete andererseits das Augenmerk auf den Begriff der Persönlichkeit. Diesen Ansatz vertiefte er in seiner Schrift Versuch einer speculativen Entwicklung der Idee der Persönlichkeit. Die Schrift war im Spannungsfeld der unter den Erben Hegels neu entstandenen Gegensätze zwischen den sog. Junghegelianern und den Althegelianern entstanden. Sie stand insbesondere im Zusammenhang mit der von David Friedrich Strauß vorgebrachten Kritik an der historischen Person Jesus und dem durch diese ausgelösten Entrüstungssturm unter konservativeren Hegelianern. Snellman verwarf die von Strauß vertretenen Thesen nicht. Gott existiere nur in Menschen, die die Grenzen ihrer Individualität überschritten, die Bräuche ihres Volkes annähmen und zum Wohle der Nation förderten. Den Gedanken einer unsterblichen Seele hielt Snellman für eitel und selbstsüchtig. Strauß und die Junghegelianer kritisierte Snellman aber dafür, dass sie der konkreten Persönlichkeit nicht die gebührende Bedeutung zumäßen. Diese Gedanken fanden auf konkretere Art ihre Fortsetzung in Snellmans Hauptwerk Staatslehre, einer gesellschaftsphilosophischen Arbeit mit soziologischem Ansatz. In Anlehnung an Hegels Rechtsphilosophie teilt sich das Werk in die Abschnitte Familie, Gesellschaft und Staat. Die Familie diene der ethischen Erziehung der Kinder und der Weitergabe des nationalen Bildungserbes an die nächste Generation. In der bürgerlichen Gesellschaft unterwerfe sich der Mensch den als vernünftig verstandenen Gesetzen, während der Mensch im Staat als höchster Entwicklungsform vom Zwang der Gesetzesbefolgung befreit sei, sein Verhalten stattdessen von patriotischer Bindung an die eigenständige Kultur der Nation geleitet werde. Die Begriffe der Nation und des Nationalbewusstseins stehen im Mittelpunkt der Philosophie Snellmans. Das Volk erwirbt seine Nationalität als Ergebnis eines historischen Prozesses durch Entwicklung des Geistes, der Kultur und der Bildung. Zu einer eigenständigen Nationalität ist nur ein Volk mit einer eigenständigen Kultur fähig. Dies setzt das Vorhandensein einer gemeinsamen Sprache als Ausdrucksform der nationalen Bildung voraus. Die Sprache ist nicht nur Werkzeug zur Formulierung von Gedanken, sondern die nationale Denkweise ist in der gemeinsamen Sprache strukturell angelegt. Journalist Die Erreichung eines finnischen Nationalbewusstseins sowie einer nationalen Kultur suchte Snellman insbesondere durch die Herausgabe von Zeitungen zu fördern. Während seiner Zeit als Schulrektor in Kuopio begann Snellman im Januar 1844 mit der Herausgabe der wöchentlich erscheinenden Zeitung Saima, welche sich zu der ersten kulturpolitischen Zeitschrift mit bemerkenswertem Einfluss auf das finnische Kulturleben entwickelte. Sie erschien in schwedischer Sprache und richtete sich an eine gebildete Leserschaft. Inhaltlich behandelte das Blatt Nachrichten, Bekanntmachungen, aber auch Gedichte und Erzählungen, Reiseberichte und Literaturkritiken. Die Lehren Snellmans erhielten hier einen volkstümlicheren, dem breiteren Publikum zugänglicheren Ausdruck. Die Saima erreichte ein vergleichsweise breites Publikum. Mit einer Auflage von etwa 700 gehörte sie zu den vier auflagenstärksten Blättern des Landes. Obwohl in der Saima keine tagespolitischen Geschehnisse kommentiert wurden, zeigten die kraftvoll formulierten Artikel eine freiheitlich-liberale Linie und erweckten bald auch die Aufmerksamkeit des russischen Generalgouverneurs Menschikow, auf dessen Befehl die Lizenz für die Saima schließlich Ende 1846 widerrufen wurde. Neben der schwedischsprachigen Saima war Snellman an der Gründung des finnischsprachigen Blattes Maamiehen Ystävä („Der Freund des Landmannes“) beteiligt und 1843–1844 dessen Herausgeber. Anders als die Saima konzentrierte sich der Maamiehen Ystävä auf die Vermittlung praktischer Ratschläge und grundlegender Bildung für die landwirtschaftliche Bevölkerung. Das Blatt fand einen noch größeren Leserkreis als die Saima. Sofort nach dem Verbot der Saima bereitete Snellman unter dem Namen seines Freundes Elias Lönnrot eine neue Publikation vor. Ab Mai 1847 erschien monatlich die Zeitschrift Litteraturblad för allmän medborgerlig bildning („Literaturblatt für allgemeine mitbürgerliche Bildung“), in dessen ausführlichen Artikeln vor allem aktuelle Themen aus Wissenschaft und Literatur behandelt wurden. Auch das Literaturblatt erzielte eine beachtliche Auflage von rund 400. Snellman gab die Führung des Blattes 1849 wegen seines Umzuges nach Helsinki ab, übernahm sie aber erneut im Jahr 1855. Er widmete sich thematisch verstärkt der Modernisierung der finnischen Wirtschaft. Gleichzeitig wandte er sich gegen antirussische Tendenzen und vertrat die Auffassung, das finnische Volk könne nur durch Bildung, nicht aber mit Gewalt eine eigenständigere staatliche Rolle erreichen. Staatsmann Nach seiner Berufung zum Senator im Jahr 1863 war Snellman als Vorsitzender der Finanzkommission für den Staatshaushalt verantwortlich. Er war in diesem Amt mit erheblichen Problemen konfrontiert, da in seine Amtszeit einige verheerende Ernteausfälle fielen. Dennoch gelang es ihm, die für die finnische Infrastruktur wichtige Bahnstrecke nach Sankt Petersburg zu finanzieren. Die wirtschaftspolitisch bedeutsamste Leistung Snellmans war die Durchsetzung einer radikalen Währungsreform. Bereits 1860 war die Finnische Mark als Zahlungsmittel eingeführt worden. Diese Neuerung war aber zunächst rein nomineller Natur, da das russische Papiergeld, welches gegenüber dem Silberrubel erheblichen Schwankungen unterworfen war, weiterhin gesetzliches Zahlungsmittel blieb. Snellman leistete ab 1864 bei den russischen Regierungsbehörden beharrliche Überzeugungsarbeit, in deren Folge Zar Alexander II. am 4. November 1865 das sogenannte Währungsmanifest unterzeichnete. Die Silbermark wurde zum einzigen gesetzlichen Zahlungsmittel im Großherzogtum Finnland erklärt. Zwar blieb auch der Silberrubel gültig, aber das instabile russische Papiergeld musste nicht mehr angenommen werden. Die finnische Währung wurde der unter Aufsicht der finnischen Stände operierenden Finnischen Bank unterstellt. Damit hatte Finnland währungspolitische Unabhängigkeit erlangt. Die zweite weittragende Leistung des Senators Snellman steht im Zusammenhang mit der Sprachpolitik. Gemäß Snellmans Staatsphilosophie konnte die Entwicklung des finnischen Volkes zur Nation nur durch die finnische Sprache erfolgen. Zu Snellmans Amtszeit war Schwedisch jedoch die einzige Amts- und Kultursprache Finnlands. Der Senat zeigte geringe Neigung, an diesem Zustand etwas zu ändern. So beschloss Snellman nach seiner Berufung zum Senator, die Sache unter Umgehung des Senats dem Zaren persönlich vorzulegen. Es gelang ihm, eine Audienz im Rahmen eines Besuches Alexanders im finnischen Hämeenlinna zu arrangieren, und am 1. August 1863 unterzeichnete der Zar tatsächlich die vorgeschlagene Sprachverordnung, welche die Einführung des Finnischen als Amtssprache innerhalb einer Übergangszeit von 20 Jahren anordnete. Bedeutung für die Nachwelt Johan Vilhelm Snellman ist dank seiner Staatsphilosophie und seiner staatsmännischen Leistungen zur Symbolfigur der finnischen Nationalbewegung geworden. Er gilt vielen Finnen als Wegbereiter der finnischen Unabhängigkeit, wenn er auch selbst eine staatliche Unabhängigkeit nie ausdrücklich angestrebt hat. Im Jahr 1906 zu Snellmans hundertstem Geburtstag änderten rund 100.000 Finnen ihren schwedischsprachigen Nachnamen demonstrativ in eine finnischsprachige Entsprechung. Im fortdauernden Kampf um das Finnische als universitäre Lehrsprache versammelten sich 1928 alle finnischsprachigen Studentenschaften um die von Emil Wikström und Eliel Saarinen entworfene Statue Snellmans, die 1924 vor dem Gebäude der Finnischen Bank (Suomen Pankki) in Helsinki enthüllt worden war. Als „Vater der Finnischen Mark“ war Snellman im Jahr 1940 die erste historische Person, die auf einer finnischen Banknote, der damaligen 5000-Mark-Note, abgebildet wurde. Der Geburtstag Johan Vilhelm Snellmans, der 12. Mai, wird in Finnland seit der Unabhängigkeit als „Tag des Finnentums“ (Suomalaisuuden päivä) gefeiert, an dem landesweit die finnische Flagge gehisst wird. Das Jahr 2006, in dem sich Snellmans Geburtstag zum 200. Mal jährte, wurde im ganzen Land mit zahlreichen Veranstaltungen als Snellman-Festjahr begangen. Schriften Das Werk J.V. Snellmans umfasst insgesamt weit über zehntausend gedruckte Seiten. Im Folgenden eine Auswahl seiner wichtigsten Schriften: Dissertatio academica absolutismum systematis Hegeliani defensura. (Akademische Dissertation zur Verteidigung des Absolutismus des Systems Hegels). Helsinki 1835. Försök till framställning af logiken. (Versuch einer Darstellung der Logik). Helsinki 1837. Philosophisk elementarkurs. (Philosophischer Elementarkurs, drei Bände). Stockholm 1837–1840. Versuch einer speculativen Entwicklung der Idée der Persönlichkeit. Tübingen 1841. Läran om staten (Staatslehre). Stockholm 1842. Tyskland. Skildringar och omdömen från en resa 1840–1841. (Deutschland. Schilderungen und Einschätzungen von einer Reise 1840–1841). Stockholm 1842. De spiritus ad materiam relatione. (Über das Verhältnis des Geistes zur Materie). Helsinki 1848. Das gesamte Werk Snellmans ist im Jahr 1998 in einer 24-bändigen Gesamtausgabe Samlade arbeten im Verlag Edita Publishing Oy, Helsinki, erschienen. Im gleichen Verlag erschien 2005 eine vollständige finnischsprachige Übersetzung der Gesamtausgabe Kootut teokset. Literatur Raija Majamaa, Leeni Tiirakari: J. V. Snellman: Valtioviisas vaikuttaja. Suomalaisen Kirjallisuuden Seura, Helsinki 2006, ISBN 951-746-678-1 (finnisch) Pentti Virrankoski: Suomen historia. Suomalaisen Kirjallisuuden Seura, Helsinki 2001, ISBN 951-746-321-9, ISBN 951-746-342-1 (finnisch) I. Patoluoto (Hrsg.): J. V. Snellmanin filosofia ja sen hegeliläinen tausta. Helsingin yliopiston filosofian laitoksen julkaisuja 1, 1984 (finnisch) Matti Kinnunen: "J. V. Snellman-Bibliografiaa" in J. V. Snellman ja nykyaika, Hrsg.: Kai Huovinmaa Helsinki, 1981, S. 61–71 Eino Karhu: Nation building in Finnland und Ingermanland. Essay und Autobiographie. Herne 2007 (v. a. S. 70–91) Raimo Savolainen: "J. V. Snellman als Vordenker der Nation" im Jahrbuch für finnisch-deutsche Literaturbeziehungen, Nr. 38, 2006, S. 73–86, Hrsg.: Fromm, Nevela, Ingrid Schellbach-Kopra, Deutsche Bibliothek Helsinki Weblinks Website zum Snellman-Festjahr 2006 (finnisch, schwedisch) Philosoph (19. Jahrhundert) Politischer Philosoph Hochschullehrer (Universität Helsinki) Politiker (Finnland) Hegelianer Finne Geboren 1806 Gestorben 1881 Mann Finnlandschwede Literatur (Schwedisch) Literatur (Finnland)
1354699
https://de.wikipedia.org/wiki/Vicke%20Schorler
Vicke Schorler
Vicke Schorler (* um 1560; † 1625) war ein Rostocker Krämer, der zwei historisch bedeutende Werke über die Hansestadt anfertigte: die Wahrhaftige Abcontrafactur der hochloblichen und weitberuhmten alten See- und Hensestadt Rostock von 1578 bis 1586 sowie die Rostocker Chronik von 1583 bis 1625. Quellenlage So ungewöhnlich viel Schorler vom Rostock seiner Zeit hinterlassen und damit erhalten hat, so wenig kann über sein Leben gesagt werden. Dass er beispielsweise der Verfasser der anonymen Rostocker Chronik ist, konnte nur durch Zufall herausgefunden werden. Seinen Namen hinterließ er nur auf der später nach ihm benannten Vicke-Schorler-Rolle. Nichts lässt darauf schließen, dass er die Chronik und die Rolle als Auftragswerke schuf. Seine Arbeit wird also eher in einem persönlichen Interesse für seine Heimatstadt begründet gewesen sein. Leben und Wirken Herkunft Vicke war im Niederdeutschen eine übliche Koseform für den Namen Friedrich; Schorler nannte sich selbst nur so. Ob er tatsächlich in Rostock geboren wurde, ist nicht sicher, aber wahrscheinlich. Er hatte einen Bruder, den Kaufmann Hans Schorler, und eine namentlich nicht bekannte Schwester. Da die Brüder zu Beginn nicht vermögend waren, wird angenommen, dass sie beide Witwen heirateten und in deren Häuser zogen. Das Bürgerrecht konnte Vicke Schorler am 11. Januar 1589 als Krämergeselle erwerben. Er machte sich selbständig, heiratete und wurde am 3. Februar 1589 Mitglied der Krämerkompanie, muss also zu diesem Zeitpunkt schon genügend finanzielle Mittel besessen haben. Das Eintrittsgeld in diese Kompanie betrug ein Amtsgeld von 50 und ein Kapellengeld von 3 Gulden. Aus dem Jahr 1589 findet sich eine Quelle, aus der hervorgeht, dass Schorler ein Haus Am Schilde bewohnte, das früher dem Beutler Marten Randow gehört hatte. Dessen Witwe, Margarete Schmidt, ließ es am 4. Juli 1590 auf Schorler überschreiben. Demzufolge muss die Hochzeit von Vicke Schorler und Margarete Schmidt 1589 stattgefunden haben. Margarete Schmidt kann nicht lange mit ihrem früheren Mann verheiratet gewesen sein, denn dessen vorherige Frau Anna starb erst 1582. Trotzdem brachte sie aus dieser Ehe zwei Kinder mit und machte Vicke Schorler zum Stiefvater. Schorler selbst hatte mindestens zwei Kinder, eine Tochter und einen Sohn. Schorlers Frau war Tochter eines Kürschners beziehungsweise Buntmachermeisters (ein vor allem auf Edelfelle spezialisierter Kürschner), der ein Haus in der Blutstraße besaß, dem heutigen Teil der Kröpeliner Straße vom Neuen Markt bis zum Universitätsplatz. Sie erbte dieses Haus später und ließ es ebenfalls auf Schorler als ihren ehelichen Vormund überschreiben. Den Tod ihres Vaters vermerkte Schorler in der Rostocker Chronik: und fügte später dazu: Auch der Tod von Schorlers Frau ist in seiner Chronik zu finden, was gleichzeitig den einzig wirklichen Hinweis auf die Identität des Autors der Chronik lieferte: Sehr wahrscheinlich ist Schorler bis zu seinem Tod Mitglied des Hundertmänner-Kollegiums der Stadt gewesen, hatte also neben dem des Ältermannes der Landfahrer-Krämerkompanie zur Heiligen Dreifaltigkeit ein wichtiges politisches Amt in Rostock inne. Womit er tatsächlich handelte, ist nicht nachweisbar. Da er zu den reichsten Krämern gehörte, ist anzunehmen, dass er Seiden-, Gewürz- oder Eisenkrämer gewesen ist, da diese zu den angesehensten gehörten. Die letzte Eintragung in Schorlers Chronik stammt vom Februar 1625, knapp drei Monate nach dem Tod seiner Frau. In den Steuerlisten des Jahres 1626 ist er bereits als verstorben vermerkt. Familie Auch Schorlers Sohn, der vermutlich nach dem Schwiegervater Franz genannt wurde, war wie sein Vater Krämer. Seine Einschreibung in der Krämerkompanie stammt vom 4. April 1616. Das Bürgerrecht erwarb er im folgenden Jahr, am 1. Februar 1617. So ließ Schorler bereits am 4. April 1617 das Haus Am Schilde auf seinen Sohn übertragen unter der Bedingung, dass ihm und seiner Frau der Keller als Wohnung für immer vorbehalten bliebe. Auch das Haus in der Blutstraße verkaufte er um diese Zeit. Als Käufer ist ein Hans Klein vermerkt, Schorlers Schwiegersohn, Ältester des Goldschmiederates und später Münzmeister der Hansestadt. Allerdings verkauften sich kurze Zeit später Hans Klein und Franz Schorler die Häuser gegenseitig. Vicke Schorler, der in dem Haus Am Schilde wohnen blieb, lebte dort bis zu seinem Tod. Schorlers Sohn starb spätestens ein Jahr nach dem Tod des Vaters. 1624 hatte er das Haus erneut verkauft, wahrscheinlich aus Geldsorgen, denn neben Kindern und einer Witwe hinterließ er einige Schulden. Auch Vicke Schorlers Tochter lebte nicht viel länger, was daraus zu schließen ist, dass im Jahr 1632 die Witwe Anna Fickers als die neue Frau ihres Mannes Hans Klein vermerkt wird. Er machte sich im Übrigen später einen Namen, als er im Dienste des englischen Königs das große Siegel Karls II schuf. Schorlers Bruder, der nicht viel älter als er selbst gewesen sein dürfte, starb mit ungefähr 38 Jahren zwischen 1600 und 1603. Mit der Witwe, die er geheiratet hatte und die fünf Kinder mit in die Ehe brachte, hatte er noch zwei eigene. Daneben müssen die beiden Brüder auch eine Schwester gehabt haben, die ebenfalls in Rostock lebte. Aus Schorlers Familie ist viel über die übliche Familienstruktur Rostocks in dieser Zeit abzulesen. Er lebte in bürgerlichen Verhältnissen, die stark geprägt waren von Versorgung und Unterhalt, finanzieller, aber auch juristischer Sicherheit. Die Familienstrukturen waren von einer hohen Frauen- und Kindersterblichkeit bestimmt. Es gab viele Waisen, Halbwaisen und Witwen. Selten waren Bürger nur einmal verheiratet. Die Bildrolle des Vicke Schorler Die kolorierte Federzeichnung mit einer Länge von 18,68 Metern und einer Höhe von 60 Zentimetern ist überschrieben mit dem Titel: Wahrhaftige Abcontrafactur der hochloblichen und weitberuhmten alten See- und Hensestadt Rostock – Heuptstadt im Lande zu Meckelnburgk. Hauptstadt ist hier nicht politisch gemeint, sondern bedeutet vielmehr die wichtigste und größte Stadt im Land. Das spiegelt sich auch im Bildaufbau wider. Rostock steht im Zentrum und beansprucht fast die gesamte Rolle. Nur an den Rändern befinden sich Kirchdörfer wie Kessin und Schwaan oder etwas größer die fürstliche Residenz Güstrow (deren älteste Abbildung im Übrigen die auf der Schorler-Rolle ist); auch Warnemünde ist in einer Aufsicht zu erkennen. Auf dieser Rolle sind wichtige Gebäude, Straßen und Handelswege zu sehen, aber auch Schiffe und Personen wie Händler und Studenten bei ihren Tätigkeiten. Acht Jahre hatte Schorler an dem Bildwerk gearbeitet, bis er darunter schreiben konnte: „Anno Domini 1586 am Tage Sankt Johannis des Teuffers habe ich, Vicke Schorler dis vorgehemde Werck gantz un gar vollenbracht.“ Rezeption Mit der Rolle schuf Vicke Schorler ein tatsächlich einmaliges, kulturhistorisches Zeugnis nicht nur der Hansestadt Rostock, sondern auch ein Bild der hansisch geprägten Kultur an sich. So zeigt sie eine Architektur, die sowohl auf dem Höhepunkt der Gotik ist als auch bereits den Einfluss der Renaissance verdeutlicht. Mit der überaus detaillierten Darstellung präsentiert Schorler die Stadt Rostock in ihrem ganzen hanseatischen Reichtum. Die Form der gewählten perspektivischen Darstellung ist eine dem Zeitgeschmack entsprechende Mischform zwischen Vedute und Vogelperspektive. Besonderen kulturgeschichtlichen Wert hat die Rolle für das Wissen über die Architektur Rostocks vor dem Brand im Jahr 1677, der große Teile der Stadt zerstörte. Einige nach den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs neu errichteten Gebäude, wie die in der Wokrenterstraße, konnten von ihren Architekten originalgetreu nach der Darstellung in der Vicke-Schorler-Rolle gestaltet oder in ihrer Erscheinung, so wie das Fünf-Giebel-Haus, zumindest beeinflusst werden. Im Andenken an Schorler und die Rolle wurde 2006 eine stilistische Abbildung eines Teils der Rolle als Bronzerelief von Jo Jastram gestaltet und an einer Fassade beim Glatten Aal in Rostock angebracht. Vorgeschichte Künstler wie Albrecht Dürer hatten dazu beigetragen, dass die Stadt in einer realistischen Darstellung immer stärker zum selbständigen Motiv von Malern und Grafikern werden konnte. Bei dieser Entwicklung spielte auch die Weltchronik des Nürnberger Stadtarztes Hartmann Schedel eine wichtige Rolle. Sein Liber chronicarum erschien 1493 in lateinischer und in deutscher Ausgabe. Es enthielt mehr als 1800 Holzschnitte von Wilhelm Pleydenwurff und Michael Wohlgemut, Dürers Lehrer. Von den Holzschnitten waren 116 mit Ortsnamen überschrieben, 30 stellten bereits realistische Ansichten dar. Im 15. und 16. Jahrhundert waren es vorwiegend die humanistischen Gelehrten, welche die Herausgabe dieser doch recht populären Darstellungen im Buchformat förderten. Als ein mehr oder weniger direktes Vorbild Schorlers für seine Rolle kann die Stadtansicht Hans Weigels angenommen werden, der um 1550/60 einen Holzschnitt fertigte mit dem Titel: „Wahrhafftige Contrafactur der alten herrlichen Stat Rostock“. Die Ähnlichkeit mit dem Titel Schorlers ist unverkennbar. Auch die Genauigkeit der Darstellung von Toren, Kirchen, Häusern ähnelt der Vicke Schorlers. Bildkomposition Schorler gliederte seine Abcontrafactur in fünf Abschnitte, die er durch die perspektivische Ansicht verdeutlichte. Die Orte an den beiden Rändern der Rolle stellte er in einer Aufsicht dar, die Stadt Rostock selbst indes frontal. Die Darstellung, die in ihrer Größe einen Kontrast zum „Umland“ bildet, macht somit die Hansestadt deutlich zur „Haupt-Stadt“ im Land Mecklenburg. Drei weitere Abschnitte sind horizontal angelegt und folgen der gesamten Länge der Rolle. Sie bilden drei Wege um und durch die Stadt. Unten, an der Basis des Bildes, folgt der Betrachter der Warnow, dem Hafen und dem Strand, oben dem Weg vom Kröpeliner Tor zum Mühlentor. Dabei passiert er die repräsentativsten und bedeutendsten Gebäude: Kirchen, Klöster, das Rathaus, den Marktplatz, das Steintor und wichtige Bürgerhäuser. In der Mitte indes bewegt sich Schorler auf einem Außenring durch die Stadt: durch das Bramower Tor bis zum Gerberbruch zeigt er die Stadtmauer, die Hafentore und Türme sowie die Giebelhäuser-Reihen am Hafen. Umsetzung Zur Herstellung der Rolle verwendete Schorler eine Kiel- oder Rohrfeder. Mit Lineal und Zirkel zeichnete er die Vorlagen der Gebäude nach. Als Farbe verwendete er, so ergaben die Untersuchungen zur Restaurierung im Jahr 1938 durch Hugo Ibscher, gebrannten, gemahlenen Ton und Ruß, als Bindemittel Honig oder Firnis. Auf diese Weise entstand als Farbgemisch der dunkelbraune Sepiaton des Bildes, der enorm beständig war. Dies kolorierte Schorler mit Wasserfarben, was noch immer recht gut zu sehen ist. Nur das Blau scheint heute teilweise Rot und auch das Grün ist verblasst. Spätere, bei der Restaurierung vorgenommene Korrekturen gelten als eher unsachgemäß. In seiner Flächigkeit der Darstellung befindet sich Schorler noch in der Tradition des Spätmittelalters. Es finden sich keine Verkürzungen der Linien wie in perspektivischen Darstellungen, trotzdem zeichnete er manche Gebäude von verschiedenen Seiten. Auch die Reihenfolge der Häuser nebeneinander und übereinander entspricht nicht der Wirklichkeit: Häuserfronten, die Schorler von links nach rechts darstellte, reihen sich eigentlich von rechts nach links aneinander. Der Grund für diese Darstellung ist darin zu sehen, dass es Schorler eben nicht um eine Gesamtsicht auf die Stadt ging, sondern vor allem um die Darstellung der einzelnen Gebäude in ihren Details. Darin lag für ihn die Wahrhaftigkeit der Darstellung. Geschichte der Rolle Eine Zeit lang muss die Rolle im Besitz der Familie Schorler geblieben sein, es gibt darüber keine Aufzeichnungen. Erst 1760, also über einhundert Jahre nach Schorlers Tod, findet sie sich in einem Quellenverzeichnis zur Geschichte und Verfassung der Stadt Rostock. Um diese Zeit muss sie in die alte Ratsfamilie Nettelbladt gelangt sein. Diese verkauften die Rolle dem Rostocker Rat im Juli 1792. Seither befindet sie sich im Stadtarchiv Rostock. Den Zweiten Weltkrieg und dabei insbesondere die Bombardierung Rostocks überstand die Vicke-Schorler-Rolle unbeschadet in den Kellern der Rostocker Bank. Die Rostocker Chronik des Vicke Schorler Vicke Schorler fertigte außerdem eine Rostocker Chronik an, die direkt an die Rostocker Chronik des Buchbinders Dietrich vam Lohe anschließt und die Jahre zwischen 1583 und 1625 umfasst. Lange war nicht bekannt, wer der Urheber dieser Chronik gewesen war, bis der Stadtarchivar Ernst Dragendorff (1869–1938) Schriftbilder aufwendig verglich und Schorler eindeutig identifiziert werden konnte. In der Chronik finden sich Berichte zu Unglücken wie Stürmen, Bränden, Unfällen, aber auch Hochzeiten oder wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Ereignissen, den Kämpfen und Machenschaften der Frau von Bülow um ihr Recht oder den Verdächtigungen, die alte Frau Thamar sei eine Hexe. Die Chronik ist eines der sehr wichtigen und interessanten Zeugnisse, die heute noch über das Alltagsleben in der Stadt dieser Zeit berichten. Die Schorlersche Chronik befindet sich in einem grauschwarzen Buch im Quartformat (siehe Abbildung). Sehr gut ist hier die Genauigkeit der Arbeitsweise Schorlers zu sehen: Exakte Linienführung, dünne, mit Bleistift und Lineal gezogene Hilfslinien, ein fast korrekt eingehaltener Rand, kaum Streichungen und selbst die Schrift, die Tinte und die Feder scheinen im gesamten Text unverändert. Vor seiner eigenen Arbeit fertigte er eine Abschrift der vam Loheschen Chronik. In dessen Original sind darum seine Randbemerkungen zu finden. Der Unterschied zu dieser Abschrift ist vor allem, dass Schorler statt in Niederdeutsch in Hochdeutsch schrieb. Damit gehörte er zu einer Generation von Bürgern, welche die Veränderungen sehr bewusst wahrnahmen und sich dagegen nicht wehrten. Auch wich er von dem vam Loheschen Text inhaltlich ab, indem er teilweise Details, mit denen vam Lohe häufig sparte, hinzufügte. Dass diese Details Schorler immer wichtig gewesen sind, ist vor allem auch an der Schorler-Rolle zu sehen, in der er nicht darauf verzichtete, einzelne Ziegel, Inschriften und Bilder an den Häusern mit einzuzeichnen. Allerdings finden sich bei ihm keine Wertungen. Er ist in den Schilderungen sehr objektiv. Darin ähnelt er vam Lohe sehr. Diese Wahrhaftigkeit ist es auch, die er schon im Titel der Schorler-Rolle betont. Allein in der Wahl einiger der Dinge, von denen er in der Chronik berichtete, wie dem Wiker-Gelag, ein jährliches Vogelschießen seiner Krämerkompanie, kann etwas Subjektives gesehen werden. Seine letzten Einträge zeigen schließlich noch einmal die Unglücke, welche die Rostocker erlitten: Die Pestepidemie im Jahr 1624 füllt zwei Seiten der Chronik mit Namen von Toten, welche aber sicher nicht alle gewesen sind. In der letzten Aufzeichnung vom 10. Februar 1625 schildert er noch einmal ausführlich die starke Sturmflut, welche das Wasser in die Stadt trieb, die Keller unter Wasser setzte und die Schiffe bis an die Stadtmauer drückte. Über seinen Tod wurde in keiner Chronik berichtet. Schorlers, aber auch vam Lohes Chronik nehmen als Chroniken eine Sonderstellung ein, da diese erst Mitte des 16. Jahrhunderts relativ regelmäßig geführt wurden. So gingen, anders als in anderen hansischen Städten, wo viel früher eine Tradition eingesetzt hatte, viele Informationen verloren. Besonders sind sie auch, weil sie beide nicht von Berufsschreibern angefertigt wurden. Erst nach ihnen wurden Stadtchroniken von Gelehrten, vor allem Theologen, geschrieben. Damit sind Namen wie Lucas Bacmeister, David Chyträus, Thomas Lindemann, Nikolaus Gryse und Peter Lindenberg insbesondere verbunden. Literatur Jan Scheunemann: Das Erscheinungsbild Rostocks am Übergang vom 16.–17. Jahrhundert. Versuch einer Neubewertung der Stadtdarstellung von Vicke Schorler mit Hilfe des Rostocker Grundregisters, in: Kersten Krüger (Hg.), Stadtgeschichte und Historische Informationssysteme. Der Ostseeraum im 17. und 18. Jahrhundert. Beiträge des wissenschaftlichen Kolloquiums in Rostock vom 21. und 22. März 2002, Münster 2003, S. 281–328. Wolfgang Behringer, Bernd Röck (Hrsg.): Das Bild der Stadt in der Neuzeit 1400–1800. Beck-Verlag, München 1999, ISBN 3-406-40998-9. Ingrid Ehlers (Hrsg.): Vicke Schorler – Rostocker Chronik 1584–1625. Verlag Schmidt-Römhild, Rostock 2000. In: Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Mecklenburg. Reihe C, Band 3 ISBN 3-7950-3734-4. Horst Witt (Hrsg.): Die wahrhaftige „Abcontrafactur“ der See- und Hansestadt Rostock des Krämers Vicke Schorler. Hinstorff, Rostock 1989, ISBN 3-356-00175-2. Oscar Gehrig (Bearb.): Warhaftige Abcontrafactur der hochloblichen und weitberumten alten See- und Hensestadt Rostock, Heubtstadt im Lande zu Mecklenburg 1578 - 1586. Mit einer farbigen Wiedergabe des Originals im Kupfertiefdruck sowie 21 Textabbildungen und 4 zweifarbigen Plänen. Hinstorff, Rostock 1939 (Digitalisat RosDok). Weblinks Autor Chronik (Literatur) Zeichner (Deutschland) Unternehmer (16. Jahrhundert) Unternehmer (Rostock) Deutscher Geboren im 16. Jahrhundert Gestorben 1625 Mann
1450938
https://de.wikipedia.org/wiki/Osedax
Osedax
Osedax ist eine Gattung der Bartwürmer (Siboglinidae), die sich auf die Besiedlung von Skeletten auf dem Meeresgrund spezialisiert hat. Die weiblichen Würmer leben sessil auf den Knochen von abgesunkenen toten Tieren und ernähren sich über eine Art Wurzelsystem von Nährstoffen im Knochen. Sie lösen den Knochen dabei durch Säureabsonderung auf und setzen so die Nährstoffe aus dem Mineraliengerüst frei. Bei der Verdauung der Fette und Proteine aus dem Knochen spielen endosymbiontische Bakterien eine Rolle, die in einem spezialisierten Gewebe des Wurzelsystems leben. Die mikroskopisch kleinen Männchen (Zwergmännchen) gleichen bis auf ihre Geschlechtsorgane völlig dem Larvenstadium und leben in großer Zahl in den Wohnröhren der Weibchen. Entdeckt wurde Osedax im Jahr 2002. Ein Wissenschaftler des Monterey Bay Aquarium Research Institute suchte mit einem Tauchroboter (ROV) nach Tiefseemuscheln im Monterey Canyon, fand jedoch durch Zufall, in drei Kilometern Tiefe, den Walsturz eines Grauwals, dessen Knochen dicht von Osedax besiedelt waren. 2004 erfolgte dann in Science die Erstbeschreibung der Gattung durch Greg W. Rouse, Shana K. Goffredi und den Entdecker Robert C. Vrijenhoek. Der Name ist dem Lateinischen entlehnt und bedeutet „knochenfressend“. Morphologie Morphologie des Weibchens Für die Gattung typisch sind die einige Zentimeter langen adulten Weibchen. Ihr zylindrischer Rumpf ragt aus dem besiedelten Walknochen heraus und liegt in einer durchsichtigen und gelatinösen Röhre, die von Drüsenzellen der Rumpfepidermis abgesondert wird. Die Rumpfwand beinhaltet neben dem Drüsengewebe auch Längsmuskulatur, mit der sich der Wurm bei Gefahr in seine Röhre zurückziehen kann. Im unteren Teil des Rumpfs liegt das Herz, von dem gut ausgeprägte Blutgefäße ausgehen. Wie für Bartwürmer typisch, besitzen adulte Osedax keinen Mund, Darmtrakt und Anus. Ins offene Wasser ragen von der Rumpfspitze vier Ärmchen, die fein gefiedert oder glatt (O. nude palp) sein können; die glatten Ärmchen der sogenannten „O. nude palp“ sind allerdings nur makroskopisch glatt, und zeigen unter dem Mikroskop eine gelappte Oberfläche. Die Ärmchen dienen als kiemenartige Atmungsorgane und sind meistens rötlich gefärbt, können aber auch grünlich oder fast weiß sein. Zwischen diesen Ärmchen befinden sich die Enden der länglichen Eileiter. Sie entspringen an der Basis des Rumpfs und verlaufen längs des Rumpfs in der Röhre, bis sie zwischen den Kiemen ins Seewasser hinausragen. An seiner Basis geht der Rumpf in eine rundliche Verdickung über, den sogenannten ovisac. Ab diesem Teil ist der Wurm in seinem Substratknochen eingebettet. Vom ovisac gehen wurzelartige, grünliche Verzweigungen aus, die den Knochen aushöhlen. Eine markante Ausnahme von diesem Körperbau stellt die noch unbeschriebene Art Osedax spiral dar: Ihr dem Wasser zugewandtes Rumpfende hat keine Ärmchen, sondern endet spiralig gedreht. Ihre Eileiter ragen nicht aus dem Rumpf heraus. Der ovisac und die Wurzeln sind nach außen hin von einem einschichtigen Epithel umgeben, an das sich nach innen eine dünne und unauffällige Schicht von Muskulaturzellen anschließt. Zwischen diesen Schichten und einem einschichtigen, das Coelom umschließenden Peritoneum liegt eine dicke, grüne Gewebeschicht. Sie enthält die Bacteriocyten, welche die endosymbiontischen Bakterien von Osedax beherbergen. Die Bakterien liegen teils frei im Zellplasma, teils sind sie in Vakuolen eingeschlossen. Als weitere Organellen dieser Zellen gibt es nur einen Zellkern und sternförmige Strukturen unbekannter Funktion. Daneben existieren in diesem Gewebe auch bakterienfreie Zellen mit einem stark ausgeprägten endoplasmatischen Retikulum. Vergleichbare Gewebe zur Behausung von endosymbiontischen Bakterien sind von allen Bartwürmern bekannt und werden Trophosom genannt. Es ist jedoch unklar, ob die verschiedenen Ausprägungen von Bakterien beherbergendem Gewebe bei den Bartwürmern homologe Strukturen sind. Bei Osedax entsteht das Trophosom aus dem somatischen Teil des lateralen Mesoderms, bei anderen Bartwürmern meist aus einer anderen Region des Mesoderms und teilweise auch aus dem Entoderm. Morphologie des Männchens Die Männchen der meisten Osedax-Arten sind mit 0,2 bis 1,1 Millimetern extrem klein. Ihre Körperorganisation entspricht der einer kürzlich angesiedelten Trochophora-Larve, mit einem Prostomium, einem nach hinten unklar abgegrenzten Peristomium und anschließend einem längeren und einem kürzeren Körpersegment, ohne erkennbares Pygidium. Zahlreiche larvale Merkmale sind noch vorhanden, wie der Prototroch genannte Zilienring an der Grenze von Prostomium und Peristomium. Mundöffnung und Verdauungstrakt sind nicht vorhanden, sie ernähren sich für ihre Lebenszeit von Dotter. Ventral am Vorderende der als Segment 1 zusammengefassten Einheit von Peristomium und dem langen Segment liegen Spermatogonien. Die von ihnen erzeugten Spermatiden reifen zu Spermien, die von ventral gelegenen, paarigen Zilienbändern an der inneren Körperwand der Männchen in den hinter dem Prostomium gelegenen Samenleiter befördert werden. Der Samenleiter mündet in das sackartige Seminalvesikel, in dem die Spermien angesammelt werden. Aus dem Seminalvesikel mündet die Geschlechtsöffnung der Männchen. Die Männchen behausen keine endosymbiontischen Bakterien. Eine Ausnahme stellen die Männchen von O. priapus dar – sie erreichen ein Drittel der Körpergröße von Weibchen ihrer Art und sind gleichartig in einen aus dem Knochen ragenden Rumpf und ein in den Knochen eingebettetes Wurzelsystem organisiert. Sie können ihren im Ruhezustand kontrahierten Rumpf auf ein Vielfaches seiner Ruhelänge ausstrecken, um über eine Geschlechtspore an der Spitze ihres Rumpfes in Nachbarschaft siedelnde Weibchen zu besamen. Außerdem besitzen sie wie die Weibchen ein Trophosom mit endosymbiontischen Bakterien. Die Vorfahren dieser Art hatten vermutlich bereits die sonst für die Gattung typischen Zwergmännchen; deren fortgesetzte Entwicklung bei O. priapus stellte damit einen evolutionary reversal dar, wie er nur selten vorkommt (siehe Dollosches Gesetz). Ökologie Osedax sind Meeresbewohner und besiedeln Knochen von Wirbeltieren, die nach ihrem Tod auf den Meeresboden abgesunken sind. Nahrungsquelle für Osedax sind die in der mineralischen Matrix (Gerüst) des Knochens eingebetteten Strukturproteine (z. B. Kollagen) und Fette. Die Tiere sind weltweit in Meerestiefen von 20 Metern bis über 4 Kilometern gefunden worden. Das charakteristische Substrat für weibliche Osedax-Würmer sind die Knochen von Walen. Ein Walsturz stellt auf dem Meeresgrund der Tiefsee einen enormen Nährstoffimpuls für das ansonsten nährstoffarme marine Sediment dar. Die Substanz eines Wals bildet Grundlage für ein ganzes Ökosystem, welches eine charakteristische Sukzession aufweist. Anfänglich fressen mobile Aasfresser wie Schleimaale, Schlafhaie, Grenadierfische und diverse Wirbellose innerhalb von maximal zwei Jahren das Weichgewebe des Wals. Ist das Skelett freigelegt, beuten opportunistische Krebstiere und Vielborster noch die Reste an den Knochen sowie das organisch angereicherte Sediment um den Wal herum aus. Die Knochen selbst enthalten bei Walen viel chemisch gebundene Energie, da sie für verbesserte hydrostatische Eigenschaften zu stark fetthaltigen Spongiosaknochen umgebildet sind. Die Fette und Kollagene im Walknochen werden unter anderem von spezialisierten, sulfatatmenden Bakterien ausgebeutet. In dieser von freigelegten Walknochen charakterisierten Phase besiedeln dann auch Osedax-Würmer das Skelett des Wals, teilweise auch mehrere Arten von Osedax gleichzeitig. Von einer bestimmten Osedax-Art besiedelte Walgerippe können nach nur wenigen Monaten vollständig von einer anderen Osedax-Art besiedelt sein. Im Monterey Canyon etwa befindet sich auf kürzlich freigelegten Walgerippen am häufigsten die Art O. rubiplumus, die ein flaches und fadenartiges Wurzelsystem ausbildet und damit insbesondere die kollagenreichen äußeren Schichten des Knochens ausbeutet. Auf älteren Gerippen wird diese Art dann von O. frankpressi abgelöst, deren lappenförmige und robuste Wurzeln tiefer in den Knochen eindringen und damit insbesondere die schwammartig gebauten inneren, fettreichen Knochenareale ausbeutet. In den späten Stadien dieser Sukzession ist die noch unbeschriebene taxonomische Einheit „O. spiral“ darauf spezialisiert, mit ihren Wurzeln bereits von Sediment bedeckte Knochenstücke auszubeuten. Die verschiedenen Ausprägungen des Wurzelsystems koexistierender Osedax-Arten deuten auf eine Nischenteilung hin, die ein wichtiger Faktor für die Artbildung bei Osedax sein könnte. Oft sind jedoch auch Arten mit nahezu gleicher Wurzelmorphologie auf einem Gerippe präsent, was eher für eine neutrale Theorie spricht. Osedax ist nicht ausschließlich auf Walknochen spezialisiert, sondern besiedelt auch die Knochen von Fischen, anderen Säugetieren, Vögeln und in seltenen Fällen Weichgewebe von Walen wie etwa das Spermaceti von Pottwalen. Fortpflanzung und Entwicklung Weibchen von Osedax werden von den Männchen befruchtet, die sich in ihrer gelatinösen Wohnröhre angesiedelt haben. In den Wohnröhren älterer Weibchen leben einige wenige bis über 100 der mikroskopisch kleinen Männchen. Die Spermien der Männchen werden einzeln frei schwimmend und nicht als Spermatophore freigesetzt, es erfolgt eine noch nicht näher charakterisierte innere Befruchtung. Geschlechtsreife, mit Männchen besiedelte Weibchen setzen im Labor durchschnittlich 335 befruchtete Eier pro Tag frei. Anscheinend werden die Eier von Art zu Art unterschiedlich direkt ins freie Wasser gegeben, oder durchlaufen ihre frühe Entwicklung im Wohnröhrenschleim des Weibchens. Die Eizelle durchläuft eine ungleiche Spiralfurchung, und nach ein bis drei Tagen hat sich eine freischwimmende Trochophora gebildet. Diese kann aktiv schwimmen und etwa zwei Wochen von ihren Dottervorräten leben. Die Larven können sich dann auf Knochen ansiedeln, wobei die erste Verankerung vermutlich über zwei hakenförmige Chaetae (Borsten) erfolgt. Sie beginnen dann mit der Absonderung der gelatinösen Wohnröhre und der Ausbildung von Adultmerkmalen des Weibchens, wie etwa den Kiemenärmchen und dem Wurzelsystem. Größere Weibchen werden nach und nach von kleinen Männchen besiedelt, bis in der Population eine große Überzahl an Männchen lebt. Als mögliche Grundlage dieser Populationsdynamik wird eine umweltabhängige Geschlechtsdetermination bei Osedax diskutiert: Siedelt sich eine Larve auf einem Knochen an, entwickelt sie sich zum Weibchen – hingegen wird sie zu einem Männchen, wenn ihre Ansiedlung auf einem adulten Weibchen erfolgt. Eindeutige Belege für diese Hypothese gibt es noch nicht. Physiologie Nahrungsaufnahme Die Nährstoffaufnahme des Weibchens aus den Knochen erfolgt über das Wurzelsystem, welches bis in die Spitzen mit Blutgefäßen versorgt ist. Die in Kontakt mit der Umgebung stehenden Epithelzellen der Wurzeln zeigen viele oberflächenvergrößernde Mikrovilli, wie sie für stoffaustauschende Epithelien typisch sind, sowie eine auffallend hohe Dichte von Mitochondrien. Dem Aufschluss von Proteinen und Lipiden aus der anorganischen Knochenmatrix dienen in der Epithelmembran eingebettete H+-ATPasen, die unter ATP-Verbrauch Protonen (H+) aus den Epithelzellen pumpen. Die aus den Epithelzellen gepumpten H+ säuern das Knochenmilieu an und lösen in der Folge das mineralische Knochengerüst aus Calciumphosphaten wie Hydroxylapatit auf. Die nun freigelegten Proteine und Fette werden dann über die Membran des Wurzelepithels aufgenommen. Beständigen Nachschub an Protonen für dieses Verfahren liefert Kohlensäure (H2CO3, dissoziiert zu H+ + HCO3−), das aus einer Reaktion von Wasser mit Kohlenstoffdioxid entsteht. Die Bildung von Kohlensäure aus Wasser und Kohlenstoffdioxid wird gefördert von einer Carboanhydrase, die das Wurzelgewebe der Würmer in großen Mengen herstellt. Dieses Verfahren zur Knochenauflösung erfordert eine ständige Neubildung von Kohlensäure. Das hierzu benötigte Kohlenstoffdioxid stammt aus der sauerstoffzehrenden Zellatmung – die unmittelbare Umgebung der Knochen und damit auch der Wurzeln ist jedoch aufgrund bakterieller Aktivitäten extrem sauerstoffarm (anoxisch). Um den eigenen Stoffwechsel und den der endosymbiontischen Bakterien mit genügend Sauerstoff zu versorgen, verfügen die Weibchen von Osedax mit ihren weit über die Substratknochen herausragenden Kiemenarmen über sehr effiziente Atmungsorgane. Über diese Kiemen wird wahrscheinlich auch überschüssiges HCO3− entsorgt, um es dem Reaktionsgleichgewicht der Kohlensäurebildung zu entziehen und die Bildung von neuem H2CO3 zu fördern. Sulfatatmende Bakterien erzeugen außerdem hohe Konzentrationen von hochgiftigem Schwefelwasserstoff im Knochenmilieu; noch ist unbekannt, welcher physiologische Mechanismus es Osedax erlaubt, diese hohen Konzentrationen zu tolerieren. Endosymbiose Die durch die Wurzeln aufgenommenen Proteine und Fette aus den besiedelten Knochen dienen Osedax als Quelle von Energie und organischen Verbindungen. Eine wichtige Rolle im Stoffwechsel und der Ernährung der Würmer spielen γ-Proteobakterien aus der Ordnung der Oceanospirillales. Stämme dieser Bakteriengruppe werden in adulten Weibchen von Osedax stets angetroffen und stehen mit den Würmern in einer symbiontischen Beziehung, die den Wurm in seinem Stoffwechsel und seiner Ernährung unterstützt. Bei einzelnen Arten von Osedax wurden auch Vertreter der ε-Proteobakterien als Endosymbionten gefunden. Die Bakterien werden nicht von den Elterntieren an die Jungtiere weitergegeben, sondern von jedem Individuum aus der Umwelt erneut aufgenommen. Ein Individuum kann sich dabei aus mehreren, sich opportunistisch ereignenden Infektionen verschiedene Bakterienstämme als Endosymbionten aneignen. Einzelne Bakterienstämme scheinen nicht spezifisch an bestimmte Osedax-Arten gebunden zu sein. Für ein vermutetes freilebendes Stadium der symbiontischen Bakterien sprechen genetische Befunde an zwei Stämmen von bei Osedax endosymbiontischen Oceanospirillales: Sie besitzen Gene zur Bildung von Geißeln sowie für Rezeptoren zur Erkennung von extrazellulären Molekülen, die in einem freien Lebensstadium der Fortbewegung und dem Auffinden von Osedax-Wirten dienen könnten. Die Symbiose ist noch nicht völlig verstanden; Bartwürmer gehen häufig Symbiosen mit Bakterien ein, dies sind dann jedoch meistens chemoautotrophe Bakterien, die zur Fixierung von freiem Kohlenstoff in der Lage sind. Die Symbionten von Osedax sind heterotroph, was für Bartwürmer einzigartig ist. Dies heißt, dass zunächst der Wurm seine Symbionten mit Energie und Vorläufermolekülen versorgen muss, bevor er Nutzen aus dem Stoffwechsel der Bakterien ziehen kann. Eine Rolle der Bakterien im Fettsäurestoffwechsel des Wurms ist ersichtlich in der Abundanz von cis-Vaccensäure und Eicosapentaensäure in deren Gewebe. Erstere ist ein typisches Endprodukt von mikrobiellem Fettsäurestoffwechsel, letztere ist bekannt als Membranbestandteil einiger Oceanospirillales-Tiefseemikroben, da sie unter hohem Druck und bei niedrigen Temperaturen zur Erhaltung der Biomembranfluidität beiträgt. Zumindest einen Teil seiner Fettsäuren bezieht der Wurm also aus dem Stoffwechsel der γ-Proteobakterien. Wachsester, deren gebundene Fettsäuren mit hoher Wahrscheinlichkeit cis-Vaccensäuren sind, dienen Osedax als Speicherstoffe. Entgegen früheren Annahmen kommt den Symbionten keine kollagenlösende (kollagenolytische) Funktion zu, da sich in deren Genomen keine Gene für Kollagenasen finden. Dieses Strukturprotein der Knochen wird vermutlich zunächst vom Wurm in Oligopeptide und Aminosäuren gespalten, bevor es den Bakterien zukommt. Genomanalysen von Symbiontenstämmen zeigten die Fähigkeit dieser Bakterien zur Neusynthese aller B-Vitamine, inklusive des für alle Tiere essentiellen Vitamin B12, sowie zur Neusynthese von 18 der 20 natürlichen Aminosäuren. Sie besitzen außerdem Gene, die Exportproteine für verschiedene essentielle Aminosäuren codieren. Im Rahmen der Symbiose erhalten die Bakterien also vom Wurm aus dem Knochen freigesetzte Fette, Proteine und andere Moleküle. Im Gegenzug erhält der Wurm Fettsäuren sowie essentielle Aminosäuren und Vitamine aus dem Stoffwechsel der Bakterien. Teilungsaktive Bakteriocyten mit intakten Symbionten sind insbesondere im Wurzelgewebe vorhanden, während in Bakteriocyten in Richtung des ovisac zunehmend eine Verdauung von Symbionten innerhalb von Vakuolen stattfindet. Außerdem steigt im Bereich des ovisac die Häufigkeit von in der Apoptose befindlichen Bakteriocyten. Vermutet wird daher ein bestimmter Lebenszyklus von Bakteriocyten und Endosymbionten, der im teilungsaktiven Gewebe der Wurzeln beginnt und nach Wanderung in Richtung des ovisac mit Verdauung der Bakterien und Apoptose der Bakteriocyte endet. Systematik Morphologische Merkmale und DNA-Analysen weisen Osedax als der Familie der Bartwürmer (Siboglinidae) zugehörig aus. Schwestergruppe von Osedax ist eine Klade aus Vestimentifera (eine Großgruppe der Bartwürmer) und deren Schwestergruppe, die bisher kaum erforschte Gattung Sclerolinum. Osedax und die Klade aus Vestimentifera und Sclerolinum bilden die Schwestergruppe zur anderen Großgruppe der Bartwürmer, den Frenulata. Die Typusart von Osedax ist O. rubiplumus. Mittlerweile sind weltweit 25 Arten von Osedax mit einem wissenschaftlichen Namen beschrieben worden: O. antarcticus Glover et al. 2013, Südpolarmeer (Bransfield-Straße) O. braziliensis Fujiwara, Jimi, Sumida, Kawato & Hiroshi Kitazato 2019, Südatatlantik O. bryani Rouse et al. 2018, Monterey Bay, Kalifornien O. crouchi Amon et al. 2014, Südpolarmeer (Bransfield-Straße) O. deceptionensis Glover et al. 2013, Südpolarmeer (Bransfield-Straße) O. docricketts Rouse et al. 2018, Monterey Bay, Kalifornien O. fenrisi Eilertsen, Dahlgren & Rapp 2020, Arktischer Ozean O. frankpressi Rouse et al. 2004, Nordostpazifik (Monterey Bay Canyon vor Kalifornien) O. japonicus Fujikura et al. 2006, Westpazifik vor Südwest-Kyushu (Japan) O. jabba Rouse et al. 2018, Monterey Bay, Kalifornien O. knutei Rouse et al. 2018, Monterey Bay, Kalifornien O. lehmani Rouse et al. 2018, Monterey Bay, Kalifornien O. lonnyi Rouse et al. 2018, Monterey Bay, Kalifornien O. mucofloris Glover et al. 2005, Nordatlantik vor Schweden und Norwegen O. nordenskjoeldi Amon et al. 2014, Südpolarmeer (Bransfield-Straße) O. packardorum Rouse et al. 2018, Monterey Bay, Kalifornien O. priapus Rouse et al. 2015, Nordostpazifik (Monterey Bay Canyon vor Kalifornien) O. randyi Rouse et al. 2018, Monterey Bay, Kalifornien O. rogersi Amon et al. 2014, Südpolarmeer (östliche Scotiasee) O. roseus Rouse et al. 2008, Nordostpazifik (Monterey Bay Canyon vor Kalifornien) O. rubiplumus Rouse et al. 2004, Nordostpazifik (Monterey Bay Canyon vor Kalifornien), 2019 auch im Indischen Ozean nachgewiesen, auch im Südwest-Atlantik nachgewiesen. O. ryderi Rouse et al. 2018, Monterey Bay, Kalifornien O. sigridae Rouse et al. 2018, Monterey Bay, Kalifornien O. talkovici Rouse et al. 2018, Monterey Bay, Kalifornien O. tiburon Rouse et al. 2018, Monterey Bay, Kalifornien O. ventana Rouse et al. 2018, Monterey Bay, Kalifornien O. westernflyer Rouse et al. 2018, Monterey Bay, Kalifornien Daneben sind jedoch zahlreiche weitere Arten bekannt, deren wissenschaftliche Beschreibung und Benennung noch aussteht. Im wissenschaftlichen Diskurs werden sie als operational taxonomic units (OTUs) bezeichnet und erhalten auf ihr Erscheinungsbild bezogene Arbeitsnamen. Evolution Stammesgeschichte Osedax ist eine stammesgeschichtlich sehr alte Gattung. 2015 fand man in einem 100 Millionen Jahre alten Knochen eines Plesiosauriers Aushöhlungen, deren Form den von heutigen Osedax geschaffenen Knochenaushöhlungen entspricht: Einer kurzen zylindrischen Öffnung schließt sich eine durch das Wurzelsystem erzeugte, unregelmäßig geformte Aushöhlung an. Dieser bisher älteste Fund von Osedax-Spuren deutet darauf hin, dass die Evolution von Osedax zeitlich an das Aufkommen großer mesozoischer Meeresreptilien angeschlossen war. Deren Gerippe dienten den frühen Osedax-Würmern als Nahrung. Ebenfalls kreidezeitliche Spuren von Osedax wurden auf fossilen Knochen von Meeresschildkröten gefunden. Diese Funde verschieben das bisher angenommene, junge evolutionäre Alter der Bartwürmer um viele Millionen Jahre zurück bis ins Mesozoikum. Nach dem Aussterben der großen Meeresreptilien an der KT-Grenze überlebte Osedax durch die hoch spezialisierte Ernährungsweise, die sie auch die Knochen kleinerer Meerestiere besiedeln lässt. Dazu gehörten einerseits Meeresschildkröten, andererseits sind auch oligozäne Osedax-Bohrungen in Fossilien früher Seevögel der Familie Plotopteridae und in versteinerten Fischknochen bekannt. Mit dem Auftreten der Wale erschloss sich Osedax mit deren Gerippen eine neue und die heute wohl wichtigste Nahrungsquelle, wie Bohrungen in oligozänen und pliozänen Walfossilien belegen. Einige Paläontologen vermuten, dass Osedax durch den Konsum von Knochen die fossile Erhaltung von Meereswirbeltieren maßgeblich beeinträchtigt hat. Der sogenannte „Osedax-Effekt“ müsse bei der Auswertung des Fossilbelegs vieler Wirbeltiergruppen berücksichtigt werden. Männchenverzwergung Die Evolution von Zwergmännchen wird oft gefördert von Ressourcenknappheit, schwieriger Partnersuche, einer sessilen Lebensweise und geringer Konkurrenz zwischen Männchen um Weibchen. Bei einer Lebensweise in der Tiefsee auf nur sporadisch vorhandenen Gerippen trafen diese Faktoren für Osedax zu und förderten die Evolution eines markanten Geschlechtsdimorphismus. Hierbei haben diejenigen Weibchen eine höhere evolutionäre Fitness, die auf den knapp vorhandenen Ressourcen (Knochen) schnell wachsen und diese effizient ausbeuten können, und so eine höhere Fruchtbarkeit erzielen. Bei Männchen hingegen ist eine frühe Geschlechtsreife und hohe Mobilität vorteilhaft – dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, eine der weitläufig verstreuten Habitatinseln zu erreichen und ein Weibchen zu befruchten. Dieser Selektionsdruck führte bei den Männchen zu einer Geschlechtsreife im Larvenstadium. So wurde auch die Konkurrenz um die begrenzten Ressourcen zwischen Weibchen und Männchen eliminiert. Der Rückfall bei O. priapus zu größeren Männchen ist noch ungeklärt, allerdings erreichen auch bei dieser Art die Männchen nur ein Drittel der Körpergröße von Weibchen. Sexuelle Selektion könnte die Entstehung größerer Männchen gefördert haben, da ein solches Männchen mit ausstreckbarem Rumpf Zugang zu mehreren Weibchen hat, und so mehr Nachkommenschaft zeugen kann als ein Zwergmännchen, welches auf die Wohnröhre eines einzelnen Weibchens beschränkt ist. Noch ist zu wenig über die Biologie dieser Art bekannt, um fundierte Aussagen zu machen. Belege Weblinks Artikel zur Entdeckung von Osedax auf mbari.org (englisch) Canalipalpata (Ringelwürmer) Canalipalpata
1508636
https://de.wikipedia.org/wiki/Zeremonialschwert%20%28Essen%29
Zeremonialschwert (Essen)
Das Schwert des Essener Domschatzes, häufig als Richtschwert der Heiligen Cosmas und Damian bezeichnet, war das Zeremonialschwert der Äbtissinnen des Damenstifts Essen. Es handelt sich um ein kunsthistorisch wie schmiedetechnisches Einzelstück, das zudem für die Stadt Essen stadtgeschichtlich bedeutend ist. Das aus der Zeit der Ottonen stammende Schwert, das heute in seiner goldbeschlagenen Scheide in der Essener Domschatzkammer ausgestellt ist, wurde 1988 in einem Forschungsprojekt unter Leitung des damaligen Essener Domkapitulars Alfred Pothmann fachübergreifend untersucht. Bei diesen Untersuchungen wurden umfangreiche Erkenntnisse zur Schmiedetechnik und zur Geschichte des Schwerts gewonnen. Geschichte Das Schwert gelangte wahrscheinlich 993 als Geschenk des späteren Kaisers Otto III. an das Stift Essen. Der Besuch Ottos III. im Stift Essen, dem seine Verwandte Mathilde vorstand, stand nach neuerer Forschung vermutlich im Zusammenhang mit der Einrichtung einer Memorialstiftung für Otto II., zu der auch der nicht mehr erhaltene goldene Schrein des Hl. Marsus gehörte. Nach der Essener Überlieferung gelangte bei dem Besuch auch die Krone der Goldenen Madonna nach Essen. Die Umstände der Schenkung wie auch die Herkunft des Schwerts scheinen bereits früh in Vergessenheit geraten zu sein. Zeugnisse aus der Frühzeit der Stiftsgeschichte über die Verwendung des Schwerts gibt es nicht. Das Essener Liber Ordinarius aus dem 14. Jahrhundert, das die sakrale Verwendung der Gegenstände des Essener Stiftsschatzes dokumentiert, erwähnt das Schwert nicht. Hieraus wird geschlossen, dass es zu dieser Zeit noch nicht als Reliquie angesehen wurde. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts war der weltliche Ursprung des Schwerts vergessen, man glaubte nunmehr, das Schwert sei eine Reliquie, nämlich das Richtschwert der im 3. Jahrhundert hingerichteten Stiftspatrone Cosmas und Damian. Dieses ergibt sich aus der Inschrift Gladius cum quo decollati fuerunt nostri patroni („Das Schwert mit dem unsere Patrone enthauptet wurden“) und den auf den spätgotischen Ausbesserungen des Scheidenmundblechs (der Einfassung der Öffnung der Schwertscheide) eingravierten Figuren der beiden Heiligen. Das Reliquienverzeichnis des Essener Stifts vom 12. Juli 1626 verzeichnet das Schwert unter der Nr. 55 als Gladius sanctorum Cosmae et Damiani. Als Reliquie wurde das Schwert auch bei Prozessionen mitgeführt, die Beschädigungen an dem Schwert stammen hauptsächlich aus dieser Zeit. Schwerter galten bereits im frühen Mittelalter in Anlehnung an eine Bibelstelle als Herrschaftssymbol und Symbol der Obrigkeit. Möglicherweise ließen sich die Äbtissinnen schon im hohen Mittelalter das Schwert in ähnlicher Weise als Herrschaftszeichen vorantragen wie die Kaiser das Reichsschwert, Belege dafür fehlen. Das Schwert gelangte jedoch zu einer Zeit nach Essen, als das Stift mit den Äbtissinnen Mathilde, Sophia und Theophanu Verwandte der ottonischen Kaiserfamilie regierten. Gerade Theophanu verwandte viel Energie auf die Ausschmückung des Stifts mit Prachtobjekten wie dem Theophanu-Evangeliar und die Einführung entsprechender Riten. Dazu dürfte auch das Vorhertragen des Schwerts gehören, das sie vermutlich aufgrund ihrer kaiserlichen Abstammung als Herrschaftsinsignie beanspruchte. Diesen Brauch führten ihre nicht mehr mit dem Kaiserhaus verbundenen Nachfolgerinnen weiter. Als man diesen Brauch nicht mehr mit dem Rechtsstand der Äbtissin verbinden konnte, verschob sich die Bedeutung vom Rechtssymbol zur Reliquie. Mit Sicherheit wurde das Schwert im Spätmittelalter der Fürstäbtissin als Symbol der Herrschaft vorangetragen, dieses berichtet, ohne weitere Details mitzuteilen, der Essener Kanoniker Wirich Hiltrop († 1617), der die Herausgabe einer Geschichte des Essener Stifts vorbereitete und dessen Notizen erhalten sind. Nach Hiltrop, der den Reliquiencharakter des Schwerts anzweifelte, ging der Brauch, der Äbtissin das Schwert voranzutragen, in den Wirren der Reformationszeit unter. Im 18. Jahrhundert wurde der Brauch, der Äbtissin bei festlichen Anlässen das Schwert voranzutragen, wieder aufgenommen und bis zur Aufhebung des Stifts ausgeübt. Beim festlichen Einzug der letzten Essener Äbtissin Maria Kunigunde von Sachsen schritt dieser der Hofmarschall mit dem Schwert in der Hand voran. Der Glaube an das Schwert als Reliquie war in Essen tief verwurzelt. Das Schwert fand Aufnahme auf das 1473 erstmals nachgewiesene Briefsiegel der Stadt Essen wie auch auf die 1483 gegossene Ratsglocke. Trotz der Einführung der Reformation durch den Rat der Stadt Essen wurde das Wappen mit dem Schwert weitergeführt und fand so Aufnahme in das heutige Essener Stadtwappen. Mit der Auflösung des Stifts aufgrund der Säkularisation 1803 gelangte das Schwert wie die übrigen Sakralgegenstände des Domschatzes an die Kirchengemeinde, die aus der Pfarrgemeinde der Stiftsangehörigen hervorgegangen war. In deren Obhut blieb es bis zur Gründung des Bistums Essen 1958. Die ursprüngliche Waffe Eine Erklärung zu den waffentechnischen Fachbegriffen findet sich unter Schwert. Das Schwert Das Schwert besteht klassisch aus der Klinge, dem Knauf und der Parierstange. Diese Bauteile sind aus Metall gefertigt; lediglich der Schwertgriff war nicht aus Metall, sondern vermutlich aus Holz gearbeitet. Der Griff ist nicht erhalten, die heutige Verzierung ist direkt auf der Angel angebracht. Schmiedetechnik Der wichtigste Bauteil des Schwerts ist die Klinge. Sie besteht aus Stahl, der in Damaszenertechnik geschmiedet wurde. Diese Technik stellt eine Verfeinerung der alten Schmiedetechnik des Raffinierens dar. Hierbei wurde der im Rennofen verhüttete unreine Stahl durch mehrfaches Falten, Feuerverschweißen und Ausrecken gereinigt. Damaszenerstahl entsteht dann, wenn Stähle mit unterschiedlichen Legierungen in dieser Weise miteinander verschweißt werden. Nach dem Schleifen der Klinge offenbart ein Ätzvorgang die meist zahlreichen Stahllagen, die vom Ätzmittel (häufig Säuren bzw. aggressive Substanzen) unterschiedlich stark angegriffen wurden. Dabei geht es nicht primär darum, sog. 'weiche' und 'harte' Stähle zu kombinieren, wie oft fälschlich angenommen wird, sondern es werden heute meist zwei oder mehr gut härtbare Stähle kombiniert. Eine andere Technik, wie sie im frühen Mittelalter (z. B. bei den Wikingern) häufig bei Schwertklingen Anwendung fand, kombinierte einen dekorativen Verbund aus nicht oder nur gering härtbaren Stahlsorten (zu geringer Kohlenstoffgehalt) in der Mitte der Klinge mit einem gut härtbaren Stahl im Bereich der Schneide. Solche Klingenkonstruktionen wiesen eine gute Schnitthaltigkeit auf, waren aber gleichwohl elastisch genug, um die Schockbelastung eines harten Hiebs auf einen festen Gegenstand (Schild, Rüstung etc.) ohne Bruch auszuhalten. Gleichzeitig zeigten solche Schwertklingen ein dekoratives Damastmuster (sog. wurmbunte Klingen). Diese Klingen waren technische Meisterleistungen der Schmiedekunst und naturgemäß von sehr hohem Wert. Das Klingenblatt des Essener Schwerts wurde genau in dieser kunstvollen und handwerklich aufwändigen Technik hergestellt. Dazu wurden fünf im Querschnitt quadratische Stäbe unterschiedlicher Stahlsorten miteinander so verschweißt, dass sich ein Schlangenornament mit 29 Überkreuzungspunkten ergibt. Der entstandene Block wurde mit einem härtbaren Schneidenstahl zu der Schwertklinge verschweißt. Nach dem Formschmieden wurde das Schwert ausgekehlt: In der Blattmitte unterhalb der Damaszierung ist es dünner als zu den beiden Schneiden hin. Durch die Hohlkehle (fälschlich „Blutrinne“) ähnelt das Profil der Klinge in dem Bereich einer flachgeschlagenen Acht. Schleiftechnik Im Anschluss an das Schmieden wurde das Schwert geschliffen, im unteren Teil zu seiner normalen flach-rhomboiden Form, im oberen Drittel nahe der Parierstange so tief in der Hohlkehle, dass das Muster des Damasts erkennbar wurde. Dieses Muster ist beim Essener Schwert besonders aufwändig gefertigt: zwei der fünf Stahlstäbe bekamen vor dem Verschweißen Mäntel mit stählernem, dünnstem Rödeldraht. Weder beim Verschmieden noch beim anschließenden Schleifen durfte ein einziger dieser dünnen Drähte durchtrennt werden, um nicht das Muster zu stören. Aufgrund der Materialverluste durch Abbrand beim Verschmieden und durch das Schleifen erforderte das Gelingen dieses Vorhabens ein herausragendes Können und die Erfahrung eines Meisterschmieds. Die besondere Schmiedetechnik der Damaststahleinlage war durch den Anschliff für den kundigen Betrachter erkennbar, der das Schwert als besonders hochwertig identifizieren konnte, was den Status des Trägers unterstrich. Nach Fertigstellung der Klinge wurde diese mit einer Griffhülse, über deren Aussehen nichts bekannt ist, da sie bei der Umgestaltung der Waffe entfernt wurde, und dem Knauf versehen. Der Besitzer wird es in einer Schwertscheide getragen haben, die heutige Schwertscheide ist nicht die ursprüngliche. Einsatz des Schwerts Das fertige Schwert war eine funktionale, ausgesprochen gebrauchsfähige und gleichzeitig wertvolle Waffe, die von ihrem Besitzer entsprechend ihrer Bestimmung eingesetzt und sicherlich häufig bei Waffenübungen und wahrscheinlich auch im Ernstfall benutzt worden ist. Die Waffe wurde zwischen Herstellung und Eingliederung in den Stiftschatz mehrfach nachgeschliffen, was auf den intensiven Gebrauch schließen lässt. Wer der Besitzer und vermutlich auch Auftraggeber der Klinge war und wo die Klinge eingesetzt wurde, ist mangels Quellen nicht bekannt. Die Eingliederung in den Stiftsschatz lässt darauf schließen, dass der Besitzer gesellschaftlich hoch gestellt war und die Waffe in wichtigen historischen Konflikten eingesetzt wurde. Da Essen ein ottonisches Hauskloster war, kommen hierfür Otto der Große, Otto II. oder auch der Bruder der Äbtissin Mathilde, Herzog Otto von Schwaben in Betracht. Die populärste Spekulation ist dabei, dass das Schwert von Otto I. in der Schlacht auf dem Lechfeld geführt wurde. Wahrscheinlicher ist jedoch Otto II. als Benutzer, da das Schwert im Zusammenhang mit einer Memorialstiftung für diesen nach Essen gelangte. Die Umwidmung zum Kunstwerk Technik der Verzierungen Bei der Umwidmung der Waffe zum Kunstwerk war ein Meister der Goldschmiedetechnik am Werk, der, typisch für den frühmittelalterlichen Künstler, unbekannt ist. Der ursprüngliche Schwertgriff und die Parierstange wurden entfernt. Sodann wurden auf dem Schwertknauf Edelsteine in einfachen Kastenfassungen angebracht, zwischen denen Goldfiligran, teilweise in Form von Halbkügelchen oder spiralförmig gerollten Kegeln, angebracht ist. Der Griff – tatsächlich die Angel des Schwerts – wie auch die Ober- und Unterseite einer neuen Parierstange wurden ebenfalls mit Goldfiligran bedeckt. Die Seiten der Parierstange wurden außerdem mit Goldfiligran und Edelsteinen mit im Zellenschmelzverfahren angefertigten Emailletäfelchen verziert. Diese zeigen Stern- und Palmettenmuster in verschiedenen Farben. Die Schwertscheide Den Inhalt der Schwertscheide bilden zwei gewölbte Bretter aus Obstbaumholz, vermutlich Kirsche, mit zugeschärften Kanten. Diese Innenscheide aus Holz ist komplett mit getriebenen Goldplatten besetzt. Die Treibarbeit ist von hoher Handwerkskunst. Den größten Teil der Fläche nimmt Rankenwerk ein, mit sorgfältig verteilten Blättern in fantastischen Formen. Zwischen diesen Ranken hat der Künstler verschiedene fantastische Tiere eingestreut. Mit Ausnahme bestimmter vierfüßiger Tiere, die der Künstler auf der Vorderseite zweimal wiederholt hat, sind sämtliche Ornamente nur einmal verwendet. Auffällig ist, dass das Rankenwerk der Rückseite stärkere Windungen, aber weniger und dünnere Blätter aufweist. Stilistisch deuten die fantastischen Blattformen auf byzantinischen Einfluss, Ranken wie Tiergestalten finden sich ähnlich am Siebenarmigen Leuchter des Essener Münsters. Der filigrane Schmuck der Scheide hat durch die Jahrhunderte währende Benutzung gelitten, bereits im Mittelalter traten Beschädigungen am Klingenmund und der Spitze auf. Diese häufig beanspruchten Stellen wurden bereits im 15. Jahrhundert durch Silberbleche geschützt, die stilistisch der Spätgotik zuzuordnen sind. Das Ortstück trägt auf der Vorderseite die Abbildung der Heiligen Cosmas und Damian, auf der Rückseite ein geschlungenes Spruchband. Am Mundstück sind zwei Metallösen auf der Rückseite auffällig. Diese sind zu filigran, um als Aufhängung für ein Schwertgehänge zu dienen, wahrscheinlich dienten sie dazu, um das Schwert mittels einer durch die Ösen gezogenen und um den Schwertgriff geschlungenen Schnur in der Scheide zu fixieren. Restaurierung und Forschung Angeregt durch Vermutungen, das Essener Schwert sei ein Vorgänger des Reichsschwerts gewesen, wurde das Schwert ab 1989 in einem interdisziplinären Forschungsprojekt untersucht und restauriert. Beteiligt waren neben Kunsthistorikern Archäologen, Paläobiologen, Ingenieure sowie ein Schmied und Klingensachverständiger. Da in der Vergangenheit hauptsächlich kunsthistorische Untersuchungen zum Goldschmuck der Scheide und des Gefäßes vorgenommen worden waren, war Ziel der Untersuchung, besonders Erkenntnisse zur Klinge und Herkunft des Schwerts zu gewinnen. Oberstes Prinzip war bei diesen Untersuchungen, die Substanz des Schwerts nicht zu mindern, nirgendwo Material abzutragen oder zu zerstören. Dieses wurde durch die Förderung der Thyssen AG, die ihre Laboratorien und Mitarbeiter zur Verfügung stellte, ermöglicht. Weiter war Ziel dieser Untersuchungen, einen Nachbau dieses Schwerts zu fertigen, um dadurch weitere Erkenntnisse zur Schmiedetechnik der Klinge zu gewinnen. Der Nachbau, der durch den Schmied Manfred Sachse geschmiedet wurde, befindet sich heute ebenfalls in der Domschatzkammer. Da das Schwert niemals, wie die meisten erhaltenen Schwerter, Grabbeigabe war oder als Erdfund auf einem historischen Schlachtfeld gefunden wurde, sondern stets gepflegter Gebrauchsgegenstand oder Objekt sakraler Verehrung war, ist es außergewöhnlich gut erhalten. Der Erhaltungszustand erlaubt es, eine Vielzahl von Rückschlüssen auf seine Fertigung zu ziehen. Abmessungen Das Schwert ist heute etwa 94 cm lang, wovon 80,5 cm auf die Klinge und 13,5 cm auf das Heft entfallen. Die Parierstange hat eine Länge von 14 cm. Die Breite des Klingenblatts an der Parierstange beträgt 5,5 cm, in der Mitte der Klinge 4,5 cm. Ungefähr 10 cm vom Ort (der Klingenspitze) entfernt geht die gleichmäßige Verjüngung der Klinge in eine stärkere Zuspitzung über. Die Länge der Schwertscheide beträgt 82 cm, sie ist am Mundstück 7,5 cm, in der Mitte 6,5 cm und am Ortbeschlag 5,5 cm breit. Die Klinge wiegt 823,8 g, der Knauf 238,7 g und die Parierstange 254,5 g. Metallurgische Untersuchungen Das Schwert wurde in den Laboratorien der Thyssen AG metallurgisch untersucht, wobei alle zerstörungsfreien Untersuchungsmethoden nach dem damaligen Stand der Technik (1988) angewendet wurden, wie Durchstrahlungsprüfung (Radiografie), Ultraschallprüfung (Sonografie), Magnetstreuflussprüfung Farbeindringprüfung Spektrometrische Prüfung. Weiter wurden Analysen der metallurgischen Bestandteile vorgenommen, die eine Zuordnung der verwendeten Metalle und Verarbeitungs- sowie Gebrauchseigenschaften erlaubten. Der Kohlenstoffgehalt im Stahl des Schwerts liegt im Angelbereich bei 0,7 %, im Ortbereich bei 1,1 %. Das bedeutet, dass der damalige Stahl bereits bei der Herstellung die Qualität eines hochwertigen Werkzeugstahles hatte. Die chemische Zusammensetzung entspricht dem Stahl aus lothringischer Minette. Parierstange Die Parierstange wies Korrosion und grobe Schleif- und Feilspuren auf, die weitaus weniger sorgfältig als die Klinge nachbearbeitet sind. Die achteckige Aussparung für die Durchführung der Angel ist gefeilt. Die Parierstange wurde an der Klinge durch Körnerhiebe fixiert, um einen Reibschluss zu erzeugen. Merkmale für eine eventuelle Verwendung einer Griffhülse waren nicht zu finden. Die Unterseite der Parierstange zeigt Wachsauflagen, die möglicherweise bei Anbringen der Goldauflagen erfolgten. Knauf Der Knauf zeigt Korrosion vergleichbar mit der Parierstange. Er ist präzise gelocht für die Angel. Er weist vier Feilkerben an der Knauf-Unterseite für die Befestigung der Goldauflagen auf. Klinge Die Klinge zeigte eine alte Korrosion, die inaktiv war, also sich durchverrostet zeigt. Es gab unterschiedlich helle und dunkle Partien. Die hellen Partien zeigten intensiven Glanz aus der Politur. Es waren Farbschattierungen vorhanden, die wie eine Marmorierung wirken. Mehrere Partien der Klinge hatten tiefe Korrosion; diese hat in diesen Partien die ursprüngliche Oberfläche zerstört. Die Regelmäßigkeit der Korrosionsmuster deutete auf unterschiedliche Materialien hin. Mittels Schaben wurde die Oberfläche vorsichtig freigelegt. Durch die folgenden Untersuchungen wurde festgestellt, dass die Ursache der regelmäßigen Korrosionsmuster eine vorher nicht bekannte Damaszierung der Klinge war, die durch die modernen Untersuchungsmethoden wieder erkennbar wurde. Das Schwert weist ein Gittermuster auf der Oberfläche der Klinge auf, das durch die Damaszierung hervorgerufen wird. Diese besteht aus fünf verflochtenen viereckigen Metallstäben, die aus drei Drähten von je 1,5 mm Durchmesser, ein Draht als Seele, von den beiden anderen umwickelt, geschmiedet worden waren. Der eine Umwicklungsdraht besteht aus hoch kohlenstoffhaltigem Stahl, der andere aus kohlenstoffarmem Eisen. Diese Stäbe wurden in einem Gittermuster verflochten und verschweißt. Im Ergebnis zeigt sich ein Muster aus Schrägkreuzen, bei dem die einzelnen Linien, die von den Stäben gebildet wurden, durch die unterschiedlichen Drahtsorten abwechselnd hell und dunkel schraffiert erschienen. Der gesamte entstandene Zierblock wurde dann mit der Klinge verschweißt. Die linienförmigen Schweißnähte sind mit Unvollkommenheiten erkennbar, die die Begrenztheit damaliger Herstellungstechnik zeigen und die vor der Korrosion auch sichtbar gewesen sind. Die ursprünglichen Effekte der Drahtwicklungen waren durch Magnetpulverprüfungen sichtbar zu machen. Zur Herstellung dieses Musters und seiner Verschmiedung in der Klinge müssen hoch spezialisierte Kenntnisse und Berechnungen des Schmiede-Abbrands vorgenommen worden sein. Sowohl beim Verschweißen der Stäbe als auch beim späteren Spiegelschliff war sorgsam darauf zu achten, von den dünnen Ummantelungsdrähten keinen zu beschädigen, um nicht das Muster zu zerstören. Die Anfertigung der Rekonstruktion des Schwerts im Originalzustand ergab einen extrem hohen Grad an schmiedetechnischen Problemen bei dieser Partie der Klinge. Die Schwertklinge weist keine angesetzten Schneiden auf; die Klinge besteht mit Ausnahme der Einlagearbeit aus einem Stück Material. Beim Klingenmaterial handelt es sich um Damaszener-Stahl, vielfach gefaltet und verschmiedet. Die Anzahl der Faltungen ließ sich nicht mehr rekonstruieren; in der Reproduktion ergab das mehrfache Teilen und Neuverschmieden letztlich eine Lagenzahl vom mehr als 300, und die Eigenschaften der Reproduktion zeigen, dass das ursprüngliche Schwert eine ähnliche Anzahl von Stahllagen enthält. Die Klingenschultern (der Übergang vom breiten Klingenblatt zur Angel) weisen eine ungewöhnliche, unregelmäßige Form auf. An ihrer Breite war der Substanzverlust durch häufiges Nachschärfen deutlich erkennbar: Gemessen wurde eine maximal 63 mm breite Klinge, die knapp 2 cm unterhalb der Schultern nur noch 55 mm breit ist. Die Klingenschultern sind 10 mm tief in die Parierstange eingelassen, was ungewöhnlich ist, da die wesentlich einfacher gestaltete Parierstange so die Ornamente der Klinge teilweise verdeckt. Es ist daher wahrscheinlich, dass die heutige Parierstange nicht die ursprüngliche ist, da die Ornamentik der Klinge ein äußeres Zeichen für deren Qualität war und die meisterliche Arbeit den Status des Trägers unterstrich. Der Schwertschmied, der ursprünglich die Klinge schuf, hätte die Parierstange sicher nicht in dieser Art befestigt. Die Ortpartie findet sich ebenso nicht in ihrer ursprünglichen Gestalt. Es fehlt Länge und die ursprünglich vorhandene Schwertspitze. Wahrscheinlich gingen diese beim vielfachen Nachschärfen verloren, das durch einen intensiven Gebrauch der Waffe vor ihrer Umgestaltung notwendig gewesen war. Aufgrund der starken Verjüngung der Klinge zum Ort hin und dem weit zum Gefäß gerückten Schwerpunkt der Klinge war anzunehmen, dass das Essener Schwert nicht mehr primär Hiebwaffe war. Es wird daher im Ursprungszustand über eine ausgeprägte Spitze verfügt haben. Zustand von Scheide und Griff Die Schwertscheide besteht aus zwei gewölbten hölzernen Scheidenbrettern, die am Rand mit einer größeren Anzahl Metallstiften aneinander geheftet sind. Bekleidet sind die Außenseiten der Scheidenbretter mit zwei Streifen verzierten Goldblechs, die seitlich von sieben V-förmig geknickten Kantenstreifen aus vergoldetem Silberblech gehalten werden. Befestigt sind diese durch Stifte aus vergoldetem Silber und Messing. Mundstück und Ortstück sind aus vergoldetem Silber. Zur Untersuchung der Scheidenbretter wurden Mund- und Ortstück abgelöst. Die Scheidenbretter zeigten sich an den Enden verwittert und insbesondere am Ort stark abgestoßen. Ein abgewittertes Holzstück wurde an das Institut für Ur- und Frühgeschichte der Universität Kiel zur paläobiologischen Untersuchung übersandt. Diese ergab, dass es sich um Obstbaumholz, wahrscheinlich Kirsche, handelt. Eine Innenverkleidung der Schwertscheide aus Fellstreifen, die üblicherweise ein Herausgleiten der Klinge verhindern, fehlt. Am oberen Ende der Scheidenbretter waren Streifen unterschiedlicher Entfärbung des Holzes durch Verwitterung erkennbar: Unterhalb des oberen Randes befand sich ein etwa 1 cm breiter, stark entfärbter Streifen, darunter eine Zone von etwa zwei Zentimeter Breite, der deutlich frischer wirkt, unter diesem beginnt der Bereich, wo das Holz durch die Scheidenbeschläge dauerhaft geschützt war. Hieraus wird geschlossen, dass die goldenen Scheidenbeschläge ursprünglich länger waren und auch den weniger entfernten Bereich schützten. Die Verkürzung dürfte im Zusammenhang mit der Anpassung von Ort- und Mundstück geschehen sein. Die Scheidenbretter sind daher älter als diese hochgotischen Ausbesserungen. Eine präzisere Altersbestimmung durch Dendrochronologie war nicht möglich, hierfür fehlt eine ausreichende Anzahl Jahresringe auf den Brettern wie auch Vergleichstabellen. Die Radiokohlenstoffdatierung versprach ebenfalls keinen Erfolg, da Steinobstgewächse sehr langlebig sind und diese Messmethode unterschiedliche Ergebnisse für Holz aus der Baummitte und rindennahes Holz liefert. Die Reliefs der Scheidenbeschläge waren getrieben. Diese sind zu großen Teilen zerdrückt, weil bei einer zeitgenössischen Ausbesserung vergessen wurde, Polstermaterial, möglicherweise Filz oder Rohwolle, hinter den getriebenen Goldblechverzierungen wieder einzulegen. Als Beleg hierfür wird angeführt, dass die V-förmigen Kantenbeschläge, die die Goldbleche halten, ältere Nagellöcher in den Goldblechen verdecken, was darauf schließen lässt, dass die Scheide ursprünglich einen durch die jetzt fehlende Polsterung größeren Umfang besaß. Besonders stark zerdrückt sind die Treibarbeiten im Bereich der dritten Rankenwindung der Rückseite und der dritten und vierten Rankenspirale der Vorderseite. Diese Stellen befinden sich dort, wo die Schwertscheide auf dem Unterarm eines Trägers aufliegen würde, sind also mutmaßlich Gebrauchsspuren aus der Zeit, als das Schwert als Zeremonialschwert verwendet wurde. Am Griff ist der untere Teil der Umkleidung der Angel eine spätere Ausbesserung, was daran erkennbar ist, dass dort die Ranken durch tordierten Golddraht gebildet sind. Am oberen Teil befindet sich wie am Knauf Ranken aus geperltem Golddraht. Von den am Knauf angebrachten Edelsteinen sind sämtliche der Rückseite und zwei der Vorderseite verloren gegangen; an der Parierstange fehlen drei der vier Emailtäfelchen, zwei vorne, eine hinten. Insgesamt sind die Schäden am Schmuck des Schwerts durch den Gebrauch als Zeremonialschwert entstanden; das Schadenbild deckt sich genau mit den Berichten über die Verwendung. Formenkundliche Analyse Aus dem 10. Jahrhundert ist eine Vielzahl Schwerter erhalten, zumeist als Bodenfunde. Das Essener Schwert konnte daher mit anderen Schwertern seiner Zeit verglichen werden. Beim Essener Schwert sind Schneiden und Hohlkehlen voneinander abgesetzt, eine gängige Gestaltungstechnik im Hochmittelalter. Das Schwert war dadurch als eindeutig später als karolingerzeitlich zu datieren. Der Klingenquerschnitt ist mehrfach verändert: die Klinge ist längsoval im Bereich der Klingenwurzel, sechskantig im dekorierten Klingendrittel, und in der Ortpartie existiert eine beidseitige Hohlkehle. Es ist kein älteres Schwert bekannt, das eine solche Gliederung aufweist, die später zum Regelfall wurde. Diese Art der Gliederung wird zur Erstellungszeit des Schwerts entwickelt worden sein. Die Klinge stammt aus der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts, die chemische Zusammensetzung des Stahls wie auch die Damaszierung lassen eine Fertigung im Frankenreich als wahrscheinlich erscheinen. Zusammenfassung Neben der bekannten Bedeutung des Schwerts als Kunstobjekt ergab die wissenschaftliche Untersuchung, dass das Essener Zeremonialschwert eine zuvor unbekannte Damaszierung besitzt. Die Massivtechnik der Damastarbeit ist ein Einzelfall. Eine Verwendung von Drähten zur Erzielung von Damasteffekten ist von anderen Klingen nicht bekannt, die Verwendung tordierter Damaste für Inschriften, Marken und Ornamente ist zu dieser Zeit eher eine Ausnahme, üblicher waren aufgelagerte Damaste. Die meisterhafte Schmiedearbeit des Essener Schwerts stellt mit der anspruchsvollen Technik und der Gestaltung der subtilen Damasteffekte einen Höhepunkt europäischer Damaszierungen dar. Literatur Georg Humann: Die Kunstwerke der Münsterkirche zu Essen. Schwann, Düsseldorf 1904, S. 96–114. Leonard Küppers, Paul Mikat: Der Essener Münsterschatz. Fredebeul & Koenen, Essen 1966. Alfred Pothmann (Hrsg.): Das Zeremonialschwert der Essener Domschatzkammer. Aschendorff, Münster 1995, ISBN 3-402-06243-7. Alfred Pothmann: Der Essener Kirchenschatz aus der Frühzeit der Stiftsgeschichte. In: Herrschaft, Bildung und Gebet. Gründung und Anfänge des Frauenstifts Essen. Klartext-Verlag, Essen 2000, ISBN 3-88474-907-2. Weblinks Essener Schwert auf den Seiten der Domschatzkammer Essen Essener Domschatz Ottonische Kunst Individuelles Schwert Stift Essen Zeremonialwaffe Schmiedearbeit
1576979
https://de.wikipedia.org/wiki/Nachtschattengew%C3%A4chse
Nachtschattengewächse
Die Nachtschattengewächse (Solanaceae) sind eine Familie der Bedecktsamigen Pflanzen (Magnoliopsida). Zu ihr gehören etwa 90 bis 100 Gattungen, die Zahl der zugehörigen Arten wird mit etwa 2700 angegeben. Die größte Gattung innerhalb der Familie sind die Nachtschatten (Solanum), zu denen meist circa 1000 bis 2300 Arten gezählt werden. Innerhalb der Familie gibt es sowohl wichtige Nahrungspflanzen als auch Zierpflanzen; durch den Gehalt an Alkaloiden und Steroiden gelten sie auch als bedeutende Medizin-, Rausch- und Kultpflanzen. Charakteristische Merkmale sind vor allem die fünfzähligen Blüten mit verwachsenen Kelchblättern, teilweise verwachsenen Kronblättern, fünf Staubblättern und meist zwei miteinander verwachsenen Fruchtblättern. Die Früchte der Nachtschattengewächse sind meist Beeren oder Kapselfrüchte. Namensherkunft Sowohl der deutsche als auch der wissenschaftliche Name der Familie leitet sich vom Namen der Gattung Nachtschatten (Solanum) ab. Die Zusätze -aceae bzw. -gewächse weisen auf den Familienstatus hin. Der Name Nachtschatten leitet sich vom althochdeutschen nahtscato bzw. mittelhochdeutschen nahtschade ab. Für die Deutung des Namens gibt es mehrere Hypothesen. Zum einen könnten mit „nächtlicher Schatten“ die dunklen Beeren des Schwarzen Nachtschattens gemeint sein, andererseits ist auch die medizinische Wirkung der Pflanzen eine mögliche Herleitung. Otto Brunfels schreibt 1532 in seinem Contrafayt Kreüterbuch: „Diß kraut würt auch sonst gebraucht, wider die schäden die die hexen den leuten zufügen, und das uff mancherley weiße, noch gelegenheit des widerfarenden schadens, nicht on sonderliche supersticion und magia. Würt deßhalb in sonderheyt Nachtschatt genannt.“ Johann Christoph Adelung (1808) sieht den Ursprung des Namens in Verbindung mit den Kopfschmerzen (Schaden), welche die nachts stark duftenden Blüten der Pflanzen verursachen. Siehe auch Albtraum unter „Etymologie“. Der Name Solanum wurde durch Linné von anderen Autoren übernommen, die damalige Bedeutung umfasste unter anderem Tollkirsche (Atropa), Paprika (Capsicum), Stechapfel (Datura), Blasenkirschen (Physalis) und Nachtschatten (Solanum). Zum Teil wurden jedoch auch ganz andere Pflanzengruppen diesem Namen untergeordnet, beispielsweise Wunderblumen (Mirabilis), Einbeeren (Paris) und Kermesbeeren (Phytolacca). Die Herkunft des wissenschaftlichen Namens ist ebenso wie die des deutschen Namens nicht geklärt. Die Verbindung zum lateinischen sōl (Sonne), die von einigen Autoren genannt wird, ist laut Helmut Genaust nicht anzunehmen, wahrscheinlicher ist die Ableitung vom lateinischen sōlārī (trösten, lindern), was auf die medizinische Wirkung geringer Dosen von Nachtschattengewächsen hinweisen könnte. Beschreibung Habitus Nachtschattengewächse sind einjährige, zweijährige, mehrjährige oder ausdauernde Pflanzen, die sowohl krautig als auch seltener verholzend wachsen können. Meist erreichen sie Wuchshöhen von 0,5 bis 4 m, jedoch gibt es auch Vertreter, die als Lianen mit bis zu 15 m Länge oder als kleine Bäume 5 bis 10 m, in Ausnahmen bis zu 25 m Höhe erreichen. Daneben gibt es auch pygmäische Vertreter (z. B. Solanum euacanthum oder Petunia patagonica), die nur Wuchshöhen von 5 bis 20 cm erreichen. Nachtschattengewächse wachsen meist aufrecht, teilweise kletternd, epiphytisch oder hemiepiphytisch, nicht selten auch myrmecophil. Es gibt einige niederliegende Vertreter (vor allem die Gattungen Lycianthes und Exodeconus), selten sind wie bei den Alraunen (Mandragora) Rosettenbildungen zu beobachten. Die Sprossachse ist normalerweise massiv, teilweise aber auch hohl, beispielsweise bei den Gattungen Markea, Giftbeeren (Nicandra), Deprea oder Witheringia. Der Sprossaufbau ist oft aufgrund von Verwachsungen und Verschiebungen der Achsen und Blätter schwer durchschaubar. Nachtschattengewächse bilden verschiedene Wurzeltypen aus, unter anderem dicke, fleischige Pfahlwurzeln, für die beispielsweise die Alraunen (Mandragora) bekannt sind, Wurzelsysteme mit Adventivwurzeln (bei den Leptoglossis sowie bei diversen Arten der Blasenkirschen (Physalis) und Nachtschatten (Solanum)), mit extremen Anschwellungen (in der Gattung Lycianthes) oder mit Knollen oder Stolonen (vor allem in der Solanum-Sektion Petota). Selten treten auch Rhizome auf, unter anderen bei den Salpichroa und Nectouxia. Vor allem an den Blättern und Sprossen, gelegentlich auch an den Blüten, bilden viele Nachtschattengewächse eine Behaarung aus Trichomen aus. Da diese Behaarung sehr unterschiedlich ausfällt, dient sie als ein wichtiges morphologisches Merkmal zur Bestimmung und Klassifizierung. Eine häufig vorkommende Form sind einfache, drüsige Trichome. Diese können wie in der Solanum-Sektion Rhynchantherum, der Untertribus Nierembergiinae einen einzelligen Kopf oder auch einen mehrzelligen Kopf – wie etwa bei diversen Arten des Tabak (Nicotiana) – besitzen. Verzweigte Trichome können entweder baumartig verzweigen oder mit quirlartigen Zweigen besetzt sein, ersteres ist unter anderem in den Gattungen Sessea und Juanulloa zu finden, letzteres tritt in den Anthocercidoideae auf; in der Solanum-Untergattung Brevantherum sind auch sternförmige, seeigelförmige oder schildförmige Trichomköpfe zu finden. Stacheln treten nur in der Solanum-Untergattung Leptostemonum auf. Bei jüngeren Trieben der Saracha treten bräunliche, baumartig verzweigte, mehrzellige Emergenzen auf. Kristallsand ist vor allem in den Pflanzen der Unterfamilie Solanoideae zu finden, unter anderem in den Triben Atropeae, Jaboroseae, Solaneae, Datureae, Lycieae und Hyoscyameae. Blätter Die wechselständigen Laubblätter sind meist ganzrandig, oft unregelmäßig gezähnt oder gespalten. Sie sind normalerweise einfach, gelegentlich auch zusammengesetzt, dann unpaarig gefiedert oder dreiteilig, immer nebenblattlos. Gelegentlich treten dicke und ledrige Blätter auf. Die Blätter stehen einzeln, manchmal in Quirlen aus drei Blättern oder in Büscheln aus drei bis sechs Blättern. Es gibt sowohl aufsitzende Blätter als auch solche mit Blattstielen. Blütenstände und Blüten Die Blüten sind zum Teil einzelstehend, meist aber in verschiedenen geformten Blütenständen, teilweise mit bis zu 200 Blüten. Die Blüten oder Blütenstände stehen in den Sprossachseln (axillar), außerhalb der Achseln (extra-axillar), den Blättern gegenständig, terminal (dabei oft in scheinachseligen Gruppen, die zu lockeren Rispen oder engen Trauben geformt sind) oder in vielblütigen terminalen Rispen, manchmal auch büschelweise in Gruppen. In der Untergattung Lyciosolanum der Nachtschatten (Solanum) fehlen die Blütenstiele, Stammblütigkeit ist nur aus der Gattung Dyssochroma bekannt. Die längsten Blütenstände kommen in den Gattungen Cuatresia (bis 25 cm) und Merinthopodium (bis zu 90 cm) vor. In den meisten Fällen sind die Blüten der Nachtschattengewächse zwittrig, nur in Ausnahmen gibt es zweihäusige Pflanzen, dazu gehört mindestens je eine Art in Dunalia und Withania, zwei Arten in Symonanthus und je vier Arten in den Gattungen Deprea und den Bocksdornen (Lycium). In der Gattung der Spaltblumen (Schizanthus) gibt es auch andromonoezische Pflanzen, das heißt, sie haben sowohl zwittrige als auch männliche Blüten an einer Pflanze. Die Blüten sind meist fünfzählig, selten vier- oder sechs- bis neunzählig. Die Blütenformel ist bis , Abweichungen werden im Folgenden erwähnt. Kelch Der Kelch ist meist radiärsymmetrisch, nur selten monosymmetrisch (zygomorph) wie bei den Engelstrompeten (Brugmansia). Die Kelchblätter sind miteinander verwachsen, der Kelchrand ist ganzrandig oder mit fünf bis zehn geraden Zähnen versehen. In den meisten Fällen bleibt die Größe des Kelches nach der Blühphase konstant, jedoch ist eine Vergrößerung des Kelches sehr oft in der Familie zu finden. Teilweise ist diese Vergrößerung so stark, dass der Kelch sich um die Beere oder Kapsel herum vergrößert, bis er fast geschlossen ist und die Frucht fast vollständig einschließt. Diese Kelchvergrößerung tritt beispielsweise in den Gattungen der Blasenkirschen (Physalis) oder Quincula auf. Eine andere Art der Kelchvergrößerung kommt unter anderem in den Gattungen Chamaesaracha und Leucophysalis vor, hier liegt der Kelch eng am Perikarp der Frucht an, ist jedoch meist nach oben offen. Selten wölbt sich der Kelch nach außen und gibt so die reife Frucht frei, dies tritt vor allem in der Gattung Jaltomata auf. Krone Die Kronblätter sind, wie auch die Kelchblätter, miteinander verwachsen. Teilweise sind sie wie in der Gattung Melananthus mit 2,5 bis 8 mm sehr klein, können aber beispielsweise in der Gattung Solandra auch 100 bis 370 mm lang werden. Die Kronen sind normalerweise radiärsymmetrisch, nur selten zygomorph, beispielsweise in der Tribus Browallieae und in den Gattungen Rahowardiana oder Schultesianthus, manchmal ist die Krone sogar zweilippig (Spaltblumen (Schizanthus)). Als Blütenformen treten vor allem auf: radförmig, sternförmig, röhrenförmig, trichterförmig und überbecherförmig. Androeceum Der Androeceum genannte männliche Blütenanteil besteht meist aus fünf, nur sehr selten aus vier (Nothocestrum) oder zwei (Spaltblumen (Schizanthus)) Staubblättern. Sie stehen in nur einem Kreis, sind untereinander nicht verwachsen. Sie sind zwischen den Kronblättern angeordnet und sind mit ihnen verwachsen. Bei vielen Vertretern sind in einer Blüte Staubblätter unterschiedlicher Länge zu finden, jedoch sind gleich lange Staubblätter ähnlich häufig. Zum Teil überragen die Staubblätter die restliche Blüte (Vestia, Dunalia), jedoch können sie auch innerhalb der Blüte liegen (Lycianthes, Juanulloa etc.) Antheren Die Staubbeutel (Antheren) bestehen meist aus zwei Theken. Es gibt sowohl mit 0,2 bis 2 mm Länge kleine (Deprea, Hammersträucher (Cestrum), Tribus Schwenckieae usw.) als auch große Antheren (6 bis 13 mm bei Solandra oder 12 bis 40 mm bei Engelstrompeten (Brugmansia)). Sie sind für gewöhnlich gerade, Ausnahmen sind die Gattung Normania und die Art Solanum pennellii, welche gebogene Antheren besitzen. Die Theken sind im Allgemeinen gleich groß, in Ausnahmen, wie bei Schwenckia, Melananthus, Heteranthia oder Normania geschwungen. Durch Verkümmerung jeweils einer der Theken sind die Antheren der Tribus Browallieae deutlich unsymmetrisch. Meist sind die Antheren unbehaart, in den Gattungen Hammersträucher (Cestrum) und Hawkesiophyton sind sie mit Papillen besetzt, in einigen Gattungen existieren Vertreter mit – im Vergleich zu den Antheren – relativ großen, einfachen Trichomen auf den Antheren (Datureae, Giftbeeren (Nicandra), Streptosolen, Solanum pennellii sowie bei Tomaten (Solanum lycopersicum)). Staubfäden Die Staubfäden sind normalerweise gerade und zylindrisch oder leicht zusammengedrückt. Eine Ausnahme ist die Gattung Browallia mit gekrümmten und abgeflachten Staubfäden. Die Staubfäden sind ähnlich lang oder länger als die Antheren. Davon abweichend sind die Gattungen Nothocestrum mit stark reduzierten, fast inexistenten Staubfäden, Hawkesiophyton mit sehr kurzen Staubfäden, Nectouxia mit laminar vergrößerten Staubfäden und Vestia mit sehr langen Staubfäden. Die Länge der Staubfäden einer Blüte ist im Allgemeinen gleich, aber es kommen auch unterschiedlich lange Staubfäden vor, beispielsweise bei Lycianthes, Capsicum campylopodium, Fabiana, Vestia und anderen. Didynamie (das Auftreten zweier unterschiedlicher Typen von Staubfäden innerhalb einer Blüte) tritt unter anderen bei Anthocercis, Crenidium, Cyphanthera und Duboisia sowie in der Unterfamilie Salpiglossideae auf. Manchmal sind die Staubfäden oder ihr oberer Teil zum Blüteninneren gebogen (u. a. bei den Tribus Atropeae und Mandragoreae sowie bei diversen Arten der Gattung Jaborosa), sind schräg geneigt (Schultesianthus, Solandra) oder am oberen Ende verbreitert (in der Tribus Jaboroseae). Weiterhin kommen knieförmig umgebogene Staubfäden sowohl am oberen (unter anderem in den Giftbeeren (Nicandra), Hammersträuchern (Cestrum), Petunien (Petunia), Fabiana, Sessea und Trianaea) als auch am unteren Ende (Petunien (Petunia), Fabiana und Streptosolen), sowie hakenförmige Staubfäden (Jaboroseae) vor. Pollen Die Pollenkörner der Nachtschattengewächse kommen in sehr vielen unterschiedlichen Gestalten vor, so dass sie auch als ein wichtiges morphologisches Merkmal zur Bestimmung herangezogen werden können. Erster Unterscheidungspunkt ist die Größe der Pollenkörner – sie können klein (Latua, Hawkesiophyton, Fabiana, Tribus Lycieae und andere), mittelgroß (Sessea, Hammersträucher (Cestrum), Juanulloa, Rahowardiana und andere) und auch groß (Metternichia, Vestia, Merinthopodium, Weißbecher (Nierembergia)) sein. Die absoluten Größen reichen dabei von ca. 20 µm bei den kleinen bis zu ca. 70 µm bei den großen Pollenkörnern. Weiterhin gibt es starke Unterschiede im Aussehen der Pollenkornoberfläche. Die äußere Pollenwand (Exine) kann Ubisch-Körper (eine Schicht von Plättchen auf der Pollenkornoberfläche) besitzen (Markea sessiliflora, Markea venosa, sowie diverse Arten von Schultesianthus) oder nicht (Trianaea, Juanulloa, Dyssochroma, Solandra, Rahowardiana), kann stachelig (Metternichia, Alraunen (Mandragora)), faltig (Sessea), netzartig-faltig (Merinthopodium), gerillt oder glatt (Hammersträucher (Cestrum)), glatt (Rahowardiana), glatt oder schwach gekörnt (Nothocestrum), schuppig (Hawkesiophyton, Juanulloa), gedoppelt oder gerillt (Trompetenzungen (Salpiglossis)), feinstachelig (Lycianthes), papillar oder warzig (Normania) sowie netzartig (Dyssochroma) sein. Gynoeceum Bei den Blüten der meisten Nachtschattengewächse besteht der weibliche Blütenanteil, das Gynoeceum, aus zwei verwachsenen Fruchtblättern, welche meist schräg zur Medianebene der Blüte stehen. Es gibt jedoch mit der Gattung der Giftbeeren (Nicandra) und zwei Arten der Gattung Jaborosa sowie Trianaea auch Gymnoeceen mit drei bis fünf Fruchtblättern, die Art Iochroma umbellatum besitzt vier, die Gattung Nolana fünf Fruchtblätter und die Gattung Melananthus besitzt wahrscheinlich nur ein Fruchtblatt. In einigen kultivierten Formen, beispielsweise der Tomate (Solanum lycopersicum), kommen auch größere Zahlen von Fruchtblättern vor. Fruchtblätter Die verwachsenen Fruchtblätter bilden einen oberständigen Fruchtknoten, nur die Gattungen Stechäpfel (Datura), Solandra und Nothocestrum haben teilweise unterständige Fruchtknoten. Bis auf kleine drüsige (Athenaea) oder starre (Browallia) Trichome, sowie kleine fleischige Dornen (Stechäpfel (Datura)) sind die Fruchtknoten kahl. Normalerweise besitzt der Fruchtknoten genau so viele Fruchtknotenfächer wie Fruchtblätter, Ausnahme davon sind die Trianaea mit acht bis zehn und die Solandra mit vier Fruchtknotenfächern. Daneben gibt es in zwei Gattungen Fruchtknoten mit teilweise vier Fruchtknotenfächern: bei den Grabowskia in der oberen Hälfte, bei den Vassobia in Teilen der unteren Hälfte. Nektarien Normalerweise befindet sich am Boden der Fruchtknoten Honigdrüsen (Nektarien), die wie in den Benthamiella und einigen Bocksdornen (Lycium) verdeckt sein, oder auch wie bei den Weißbechern (Nierembergia) und der Untertribus Solaninae komplett fehlen können. Wenn Honigdrüsen vorhanden sind, sind sie im Allgemeinen ringförmig und leicht hervorstehend, nur in den Giftbeeren (Nicandra) sind sie umschlossen. Es existieren jedoch auch zwei Varianten eingestülpter Honigdrüsen: beckenförmig-eingestülpt, ohne Lappen oder Einschnitte in der Gattung Schwenckia oder zweilappig-eingestülpt mit zwei Lappen und zwei Einschnitten, wie es in der Untertribus Nicotianinae und den Gattungen Bouchetia, Phrodus und einigen anderen zu finden ist. Eine weitere Variante von Honigdrüsen ist die dick-kissenförmige der Protoschwenckia. Samenanlagen Die Samenanlagen stehen an einer recht fleischigen Plazenta und können sowohl umgewendet (z. B. in Metternichia und den Weißbechern (Nierembergia)), umgewendet bis krummläufig (Phrodus, Grabowskia und Vassobia), halb umgewendet (Hammersträucher (Cestrum) und andere) oder halb krummläufig (Paprika (Capsicum), Spaltblumen (Schizanthus), Bocksdorne (Lycium) und andere) sein. Normalerweise sind in jedem Fruchtknotenfach viele Samenanlagen zu finden, zum Teil sind es aber auch deutlich weniger, beispielsweise in Grabowskia mit zwei Samenanlagenpaaren in jedem Fruchtknoten, oder in den Bocksdornen (Lycium) mit nur einem Samenanlagenpaar je Fruchtknoten. Als Ausnahme gilt die einzelne Samenanlage, wie sie in der Gattung Melananthus auftritt. Griffel Die Form des Griffels ist normalerweise zylindrisch, manchmal gestaucht (Bouchetia) oder mit zwei seitlichen Auswüchsen am oberen Ende versehen (Unterfamilie Salpiglossoideae und Untertribus Leptoglossinae), gelegentlich terminal (Salpichroa, Saracha, Eriolarynx und andere) oder in einer Zwischenform zwischen terminal und gymnobasisch (Vassobia, Jaborosa, Paprika (Capsicum), Dunalia und andere). Der Griffel ist für gewöhnlich massiv, nur gelegentlich hohl mit einem Griffelkanal (Trompetenzungen (Salpiglossis), Bouchetia und andere), normalerweise glatt oder stark runzelig (Browallia). Selten ist er mit den Fruchtknoten verbunden (Withania, Triguera, Tubocapsicum). Manchmal treten zwei verschiedene Griffellängen an der gleichen Pflanze auf (Aureliana, Athenaea, Capsicum baccatum var. umbilicatum und andere). Ausnahmen bilden auch Discopodium und Jaborosa ameghinoi, an deren Griffeln anthrorse Trichome zu finden sind. Narbe Die Narbe ist gewöhnlich scheibenförmig und leicht kopfförmig oder kopfförmig-gelappt (Giftbeeren (Nicandra), Alraunen (Mandragora)), selten fast kugelig oder halbkugelig wie in der Gattung Paprika (Capsicum), manchmal sattelförmig (Datureae, Juanulloeae, Nothocestrum und andere). Ausnahmen sind fünfteilige Narben wie bei Jaborosa odonelliana oder zweilappige Narben (Normania). Innerhalb der Familie treten sehr kleine und unauffällige Narben (Spaltblumen (Schizanthus)), aber auch relativ große Narben (Ectozoma) auf. Sie sind für gewöhnlich drüsig und feucht, Ausnahmen davon sind die drüsenlosen Narben der Spaltblumen (Schizanthus) und Nierembergia linariaefolia und die trockenen einzelligen Drüsen von Solandra. Früchte Die Früchte sind meist vielsamige Beeren oder verschiedenförmige Spaltkapseln (in der Gattung Markea, der Unterfamilie Cestroideae und anderen), zum Teil kommen auch Zwischenformen zwischen beiden Fruchttypen vor. Ausnahmen sind die Deckelkapseln in der Tribus Hyoscyameae, die Steinfrüchte in einigen Vertretern der Tribus Lycieae, sowie die Sammelfrüchte der Gattung Nolana. Obwohl entwicklungsgeschichtlich die Kapsel die ursprünglichere Fruchtform ist, kommen sie heute nur noch in einigen basalen Kladen und in der Gattung der Stechäpfel (Datura) vor. Die in der Familie überwiegenden Beeren haben phylogenetischen Untersuchungen zufolge drei verschiedene Quellen, was entweder auf eine monophyletische Klade, in der die Eigenschaft der Beerenbildung dreimal verloren wurde, oder auf eine dreimalige Entwicklung der gleichen Eigenschaft hinweist. Oftmals sind die Früchte nicht sehr groß, teilweise unter 1 cm Durchmesser, jedoch können beispielsweise kultivierte Sorten von Tomaten und Auberginen Früchte mit einem Gewicht von mehreren Kilogramm haben. Doch auch bei wildwachsenden Vertretern können sehr große Früchte vorkommen, so hat die Frucht von Solanum lycocarpon einen Durchmesser von bis zu 15 cm. Bei den beerenartigen Früchten können sich das Perikarp und die Plazenta soweit vergrößern, dass sie miteinander komplett verschmelzen, so zum Beispiel in den Gattungen Tubocapsicum, Acnistus oder Iochroma, sowie bei den Tomaten (Solanum lycopersicum) und anderen Arten der Nachtschatten (Solanum). Es kommt allerdings auch oft vor, dass beide Strukturen nicht verschmelzen, so dass im Inneren der Frucht ein Hohlraum entsteht, beispielsweise bei den Paprika (Capsicum), Schultesieanthus, Lycianthes rantonnei und anderen. Das Perikarp kann dick und saftig sein und Steinzellen enthalten (Witheringia, Acnistus, einige Blasenkirschen (Physalis)) oder nicht (die meisten Blasenkirschen (Physalis), Jaltomata, Tomaten (Solanum lycopersicum)). Es kann aber auch dünn und ohne Steinzellen aufgebaut sein, wie in den Gattungen Chamaesaracha und Quincula oder nur kleine Steinzellen besitzen, wie in der Gattung Darcyanthus. In Ausnahmefällen ist das Perikarp zerbrechlich und bricht leicht in unregelmäßige Stücke, so zum Beispiel bei Quincula und Chamaesaracha. Die Kapselfrüchte öffnen sich entweder durch Zerbrechen der Scheidewand mit zwei oder vier Klappen (Stechäpfel (Datura)), springen scheidewandspaltig (Petunien (Petunia), Fabiana) oder scheidewand- bis fachspaltig (in der Unterfamilie Salpiglossoideae und den Gattungen Metternichia, Tabak (Nicotiana) und der Unterfamilie Anthocercidoideae) auf. Die Anzahl der Samen je Frucht schwankt sehr stark: Während in der Gattung Tabak (Nicotiana) bis zu 5000 Samen zu finden sind, sind es in der Gattung Petunien (Petunia) bis zu 1200, in den Fabiana etwa 30 bis 50 und in den Metternichia vier bis fünf. In den Melananthus ist nur ein Samen pro Frucht zu finden. Samen Die Größe der Samen beträgt zwischen 0,75 mm (Darcyanthus) bzw. 0,6 bis 1 mm (Schwenckia, in Schwenckia micrantha nur 0,3 bis 0,4 mm) und 7 bis 8 mm (Jasminosolanum) großen Samen. Die Form ist mehr oder weniger gestaucht, scheiben- oder nierenförmig (in der Unterfamilie Solanoideae und in den Gattungen Combera, Spaltblumen (Schizanthus), Trompetenzungen (Salpiglossis)), linsen- bis nierenförmig (in der Nachtschatten- (Solanum) Untergattung Leptostemonum), bumerangförmig oder bacilliform (viele Vertreter der Unterfamilie Juanulloideae), gestreckt und dünn (Trianaea) oder relativ dick und nicht gestaucht in verschiedenen Formen (innerhalb der Unterfamilie Cestroideae). Samenschale Die Samenschalen treten in verschiedensten Varianten auf: In den Gattungen Sessea und Oryctes ist ein dünner, peripherer, verholzter Flügel ein alleinstellendes Merkmal; in einigen Arten der Leptostemonum, einer Untergattung der Nachtschatten (Solanum), ist ein breiter Flügel ausgebildet; manchmal ist die Samenschale bemerkenswert dick, so wie bei den Engelstrompeten (Brugmansia). Die Oberfläche kann glatt (Melananthus), netzartig (Juanulloa), höckerig (Solanum chamaesarachidium, Capsicophysalis) oder wabenartig (Acnistus, Witheringia) sein. Die Zellen der Samenschalen können dickwandig (Spaltblumen (Schizanthus)), mit einem gewellten oder welligen Rand versehen (Ectozoma, Spaltblumen (Schizanthus)), tief (Triguera, Witheringia, Jaborosa) oder flach (Brachistus), eiförmig oder netzartig-eiförmig (Hyoscyamus) sein. Ein besonderer Fall sind die Samen der Tomaten (Solanum lycopersicum), deren äußerste Schicht der Samenschale schleimig ist und, wenn diese trocknet, den Samen wie mit trichomartigen Härchen bedeckt erscheinen lässt. Embryo Ein wichtiges Merkmal zur morphologischen Bestimmung und Systematisierung von Nachtschattengewächsen ist der im Samen enthaltenen Embryo. Er kann dick (Schultesianthus) oder schlank (Markea), gerade, manchmal lang (in Metternichia: 17 bis 19 mm), manchmal kurz (in Sessea nur knapp 2 bis 3 mm), leicht gekurvt (in den Unterfamilien Anthocercidoideae, Cestroideae und Juanulloideae), wurmförmig (Ectozoma, Anthocercis), ringförmig (Tribus Benthamielleae) oder schraubenförmig bis fast schraubenförmig (in den Unterfamilien Solanoideae, Salpiglossoideae und den Gattungen der Spaltblumen (Schizanthus) und Solandra) sein. Zudem gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, wie die Kotyledonen geformt sein können: Drei Arten der Tribus Cestreae und die Gattungen Merinthopodium, Markea und Juanulloa haben durchgehend Embryos mit breiten Kotyledonen, während der Rest der Familie Kotyledonen aufweist, die genauso breit sind wie der restliche Embryo. Weiterhin ist das Verhältnis der Größe von Embryo und Kotyledonen innerhalb der Familie unterschiedlich: Die Unterfamilie Anthocercidoideae sind die Kotyledonen nur ein Sechstel bis ein Achtel so lang wie der restliche Embryo, in allen anderen Unterfamilien kommen Kotyledonen vor, die genauso lang bis 2,5 bis dreimal kürzer als der restliche Embryo sind. Große Aufmerksamkeit bei morphologischen Untersuchungen der Samen erhält auch die Art, in der die Kotyledonen innerhalb des Samens angeordnet sind. In den Unterfamilien Solanoideae, Cestroideae, Salpiglossoideae und Schizanthoideae liegen die Kotyledonen oben oder leicht schief, die Juanulloideae haben hingegen anliegende, in seltenen Fällen schiefliegende Kotyledonen. Ölige Endosperme sind innerhalb der Familie sehr selten. Dieses Merkmal vor allem in der Unterfamilie Juanulloideae und in der Gattung Metternichia zu finden. Die Entwicklung des Endosperms ist für gewöhnlich zellulär, Ausnahme ist die Gattung der Spaltblumen (Schizanthus) mit nukleärer Entwicklung. Verbreitung Die Gattungen der Nachtschattengewächse sind weit über die gesamte Welt verteilt. Es gibt einige kosmopolitisch vorkommende Gattungen wie Bocksdorne (Lycium), Blasenkirschen (Physalis) und Nachtschatten (Solanum), aber auch Gattungen, die nur in einzelnen Florenreichen vorkommen. Es gibt einige endemisch vorkommende Gattungen, so beispielsweise Nothocestrum auf Hawaii, Normania auf den Kanarischen Inseln sowie Combera und Benthamiella in Patagonien. Die Gattungen Bouchetia, Grabowskia, Leptoglossis, Leucophysalis, Weißbecher (Nierembergia) und die Petunien (Petunia) haben disjunkte Verbreitungsgebiete. Die Mannigfaltigkeit der Nachtschattengewächse Südamerikas übertrifft die aller anderen Kontinente und Subkontinente. Neben den kosmopolitisch verbreiteten Gattungen sind in den Anden 13 nur dort vorkommende Gattungen zu finden, in den Anden und Südost-Südamerika weitere drei Gattungen. Eine Gattung (Sessea) kommt sowohl in Südamerika als auch auf den Antillen vor, es existieren 14 Endemiten und die schon erwähnten Gattungen mit disjunkten Verbreitungsgebieten. Südamerika ist mit einer großen Anzahl an vorkommenden Wildarten ebenfalls das Genzentrum wichtiger Kulturpflanzen wie Kartoffel, Paprika, Tabak und Tomate. Geht man von der Anzahl der vorhandenen Gattungen aus, sind die Nachtschattengewächse in Afrika mit nur acht Gattungen relativ schwach vertreten. Mit den Nachtschatten (Solanum) und Bocksdornen (Lycium) findet man zwei der drei kosmopolitisch vorkommenden Gattungen; daneben mit Triguera und den Alraunen (Mandragora) zwei Gattungen, die Afrika mit Europa gemeinsam hat. Des Weiteren gibt es mit den Bilsenkräutern (Hyoscyamus) und Withania zwei Gattungen, die sowohl in Asien, Europa und Afrika vorkommen und eine einzelne Art des Tabaks (Nicotiana) aus Namibia, sowie die endemische Gattung Discopodium. In Asien kommen zum einen die drei kosmopolitischen Gattungen vor, weiterhin die nur in Asien vorkommende Gattung Tubocapsicum. Zudem existieren hier die auch in Europa zu findenden Tollkirschen (Atropa) und die Alraunen (Mandragora) und die mit Amerika gemeinsamen Gattungen Lycianthes, Bilsenkräuter (Hyoscyamus) und Withania. Somit gibt es in Asien insgesamt neun der Nachtschatten-Gattungen. Die Unterfamilie Anthocercidoideae mit sieben Gattungen kommt ausschließlich in Australien vor. Zudem gibt es hier 18 endemische Arten der Gattung Tabak (Nicotiana) und eine große Anzahl Arten aus anderen Gattungen. Chromosomenzahl Mehr als 50 % der untersuchten Arten der Nachtschattengewächse weisen eine Basis-Chromosomenzahl von auf, wobei auch und häufig vorkommen. Die größte Varianz ist innerhalb der Unterfamilie Cestroideae zu finden, in der alle Chromosomenzahlen von bis auftauchen. Große Unterschiede treten auch in der Unterfamilie Solanoideae auf, hier wurden neben den häufigen auch Chromosomenzahlen von (bei einigen Arten des Paprika (Capsicum) und einem Kultivar der Tomate (Solanum lycopersicum)), (Solanum bullatum) und (Nachtschatten (Solanum), Untergattung Archaesolanum) festgestellt. Die weiteren Unterfamilien besitzen Chromosomenzahlen von (Juanulloideae), (Salpiglossoideae), (Schizanthoideae, Anthocercidoideae) oder (Anthocercidoideae). Nicht selten tritt Polyploidie innerhalb der Familie auf, bekannt ist diese Vervielfältigung der Chromosomenzahl aus den Weißbechern (Nierembergia), Withania, Blasenkirschen (Physalis), Quincula, Chamaesaracha, Nachtschatten (Solanum)-Sektionen Solanum und Petota und -Unterfamilien Leptostemonum und Archaesolanum, Alraunen (Mandragora) und Bocksdornen (Lycium). Zwei Berichten zufolge wurden aus der Nachtschatten (Solanum)-Sektion Solanum Pflanzen gefunden, die octoploide Chromosomensätze mit Chromosomen besitzen. Systematik Äußere Systematik Die Nachtschattengewächse werden in die Ordnung der Nachtschattenartigen eingeordnet, wo sie eine Schwesterklade zu den Windengewächsen (Convolvulaceae) bilden. Beide Familien wiederum bilden ein monophyletisches Taxon, welches eine Schwesterklade zu den Familien Hydroleaceae, Sphenocleaceae und Montiniaceae bildet. Kladogramm nach Innere Systematik Die Anzahl der Gattungen innerhalb der Familie liegt bei 90 bis 100, die Angabe zur Anzahl der Arten schwankt je nach Quelle und Autor zwischen 2.300 und 9.000 bis 10.000 Arten. Eine Schätzung aus dem Jahr 2007 geht von 2716 anerkannten Arten aus. Die letzte, bis auf Art-Ebene vollständige, taxonomische Darstellung der Familie wurde 1852 von Michel Félix Dunal veröffentlicht, spätere Arbeiten betrachten meist nur einen kleinen, botanisch oder regional begrenzten Teil der Familie, oder sind nur bis auf Gattungs-Ebene vollständig. Neuere, phylogenetische Untersuchungen sind aufgrund der Größe der Gattung noch nicht vollständig vorhanden, so dass in Zukunft mit neuen Erkenntnissen über die Familien-Systematik und damit weiteren Änderungen gerechnet werden muss. Die folgende Systematik orientiert sich an der Arbeit von Richard Olmstead et al. aus dem Jahr 2008, Änderungen dazu sind mit Einzelnachweisen gekennzeichnet: Ohne Zuordnung in eine Unterfamilie: Duckeodendron, Schizanthus Unterfamilie Goetzeoideae : Coeloneurum, Espadaea, Goetzea, Henoonia, Metternichia, Tsoala Tribus Benthamielleae (evtl. auch in die Unterfamilie Cestroideae eingeordnet): Benthamiella, Combera, Pantacantha Unterfamilie Cestroideae : Ohne Zuordnung zu einer Tribus: Protoschwenckia Tribus Cestreae: Cestrum, Sessea, Vestia Tribus Browallieae : Browallia, Streptosolen Tribus Salpiglossideae : Reyesia, Salpiglossis Tribus Petunieae : Bouchetia, Brunfelsia, Calibrachoa, Fabiana, Hunzikeria, Leptoglossis, Nierembergia, Petunia, Plowmania Tribus Schwenckieae : Heteranthia, Melananthus, Schwenckia x=12-Klade (Ohne Rang) Unterfamilie Nicotianoideae : Tribus Anthocercideae : Anthocercis, Anthotroche, Crenidium, Cyphanthera, Duboisia, Grammosolen, Symonanthus Nicotiana Unterfamilie Solanoideae : Ohne Zuordnung zu einer Tribus: Exodeconus, Mandragora, Nicandra, Schultesianthus, Solandra Atropina (Ohne Rang): Tribus Hyoscyameae: Anisodus, Atropanthe, Atropa, Hyoscyamus, Physochlaina, Przewalskia, Scopolia Tribus Lycieae : Lycium (incl. Grabowskia, Phrodus) Jaborosa, Latua, Nolana, Sclerophylax Tribus Capsiceae : Capsicum, Lycianthes Tribus Datureae : Brugmansia, Datura, Iochroma cardenasianum Tribus Juanulloeae : Dyssochroma, Juanulloa, Markea (incl. Hawkesiophyton), Merinthopodium, Trianaea Tribus Physaleae : Subtribus Withaninae : Athenaea, Aureliana, Discopodium, Nothocestrum, Tubocapsicum, Withania (incl. Archiphysalis, Physaliastrum, Mellissia) Subtribus Iochrominae : Acnistus, Dunalia, Eriolarynx, Iochroma, Saracha, Vassobia Subtribus Physalinae : Brachistus, Calliphysalis, Capsicophysalis, Chamaesaracha, Leucophysalis, Margaranthus, Oryctes, Physalis, Quincula, Schraderanthus, Tzeltalia, Witheringia Ohne Zuordnung zu einer Subtribus: Cuatresia, Deprea, Larnax Salpichroina (ohne Rang): Nectouxia, Salpichroa Tribus Solaneae : Jaltomata, Solanum Inhaltsstoffe Vor allem aufgrund der großen Anzahl und der unterschiedlichen Einsatzgebiete von Nahrungs- und Heilpflanzen innerhalb der Nachtschattengewächse wurde die Familie relativ früh in phytochemischen Arbeiten untersucht. Mit der Untersuchung neuer Arten wurden immer weitere Inhaltsstoffe gefunden, so dass die Arbeit an dieser Familie weiterhin interessant blieb und damit eine sehr große Anzahl an phytochemischen Untersuchungen zu den Nachtschattengewächsen vorliegt. Vor allem Alkaloide und Steroide haben eine bedeutende Stellung als charakteristische sekundäre Pflanzenstoffe innerhalb der Familie. Alkaloide Insgesamt wurden neun Alkaloid-Gruppen innerhalb der Familie nachgewiesen, wobei die Tropanalkaloide (Beispiel Atropin) die am meisten verbreitete Gruppe ist und in fünf Unterfamilien (Solanoideae, Cestroideae, Salpiglossoideae, Schizanthoideae und Anthoceridoideae) in mindestens 33 Gattungen auftaucht. Andere nachgewiesene Alkaloid-Gruppen sind Steroidalkaloide, Pyrrolalkaloide, Pyrazolalkaloide, Pyridinalkaloide, Imidazolalkaloide, Aliphatische Alkaloide oder alkaloide Amine und Amide, Chinolinalkaloide und Indolalkaloide. Das bekannteste Alkaloid der Nachtschattengewächse ist das Pyridinalkaloid Nikotin aus der Tabakpflanze (Nicotiana sp.), weitere bekannte Alkaloide sind Hyoscyamin, Atropin, Scopolamin und Capsaicin. Aufgrund der speziellen pharmakologischen Eigenschaften dieser Alkaloide wurden die Gewinnungsverfahren aus den unterschiedlichen Pflanzenteilen und die chemischen Eigenschaften der einzelnen Verbindungen in ausführlichen Übersichten beschrieben. In der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts spielten diese Alkaloide in verschiedenen Mischungen und Dosierungen eine wichtige Rolle als Therapeutika. Steroide Die meisten Steroide der Nachtschattengewächse sind vor allem als primäre Inhaltsstoffe eingeordnet, nur wenige können zu den sekundären Inhaltsstoffen gezählt werden. Vor allem Phytosterine wie Cholesterin, β-Sitosterol, Stigmasterin und Campesterin sowie deren Glykoside und Ester, aber auch Steroidlactone in zahlreichen Varianten sind innerhalb der ganzen Familie vorhanden. Eine der phytochemisch interessantesten Gruppen der Steroidlactone ist die der Withanolide, von denen bisher über 300 aus der Unterfamilie Solanoideae isoliert werden konnten, in allen anderen Unterfamilien jedoch kein einziges. Sie dienen der Pflanze, ähnlich wie die Alkaloide, zur Abwehr von Fressfeinden. Weitere Inhaltsstoffe Charakteristisch für Nachtschattengewächse ist das Vorkommen von Cumarinen, welche auch von den Doldenblütlern bekannt sind. Cumarinfreie Arten sind innerhalb der Nachtschattengewächse nicht bekannt. Nachtschattengewächse enthalten selten größere Mengen an ätherischen Ölen, iridoide Verbindungen scheinen in der Familie nicht vorzukommen. Nachtschattengewächse bilden zwar Polyphenole, jedoch keine echten Gerbstoffe. An Flavonoiden sind mit Kaempferol und Quercetin vor allem Flavonole vorhanden, Flavone sind weniger verbreitet. Bedeutung für den Menschen Nahrungsmittel Viele Nachtschattengewächse werden vom Menschen als Nahrungsmittel genutzt. Obwohl meist die Früchte geerntet werden, wird bei der wichtigsten Nahrungspflanze, der Kartoffel, ein anderer Pflanzenteil, nämlich die unter der Erde wachsende Knolle, verwendet. 2005 lag die Weltproduktion von Kartoffeln bei 324,5 Mio. Tonnen (388 Mio. Tonnen im 2017). Weitere wichtige Nahrungsmittel unter den Nachtschattengewächsen sind Tomaten mit einer Jahresproduktion von 124,7 Mio. Tonnen (2017: 182,3 Mio. Tonnen), Auberginen mit 30,8 Mio. Tonnen (2017: 52,3 Mio. Tonnen) und Paprika bzw. Chilis mit 24,7 Mio. Tonnen (2017: 36 Mio. Tonnen) frischen und 2,6 Mio. Tonnen (2017: 4,6 Mio. Tonnen) getrockneten Früchten. Alle Angaben beziehen sich auf das Jahr 2005, resp. ergänzt mit Angaben zu 2017. Weitere als Nahrungspflanzen genutzte Vertreter der Familie, deren Produktionszahlen nicht an die bisher genannten heranreichen, sind einige Arten der Gattung Nachtschatten, wie Pepino, Tamarillo, Lulo, verschiedene Arten der Blasenkirschen, seltener auch Bocksdorn oder Jaltomata. Gelegentlich wird berichtet, dass selbst als Giftpflanzen behandelte Arten als Nahrungsmittel genutzt werden. Beispielsweise werden laut verschiedenen Veröffentlichungen die Blätter und jungen Sprosse des Schwarzen Nachtschattens als Gemüse zubereitet. Oftmals wird der Giftgehalt durch mehrmaliges Kochen bzw. Zugabe von möglicherweise entgiftenden Zutaten wie Milch gemindert. Auch die reifen Früchte des Schwarzen Nachtschattens und verwandter Arten sollen gelegentlich, zum Teil nachdem sie zuvor gekocht worden sind, gegessen werden. Die drei wichtigsten Nahrungspflanzen unter den Nachtschattengewächsen – Kartoffel, Tomate und Paprika – stammen ursprünglich aus Süd- und Mittelamerika, wo sie zum Teil schon seit mehreren tausend Jahren als Nahrung genutzt wurden. Reste von Kartoffelschalen wurden bei Ausgrabungen in Chile gefunden und auf etwa 11.000 Jahre v. Chr. datiert. Die ältesten bekannten Belege über die Kultivierung und damit Zuchtformen von Nachtschattengewächsen sind in etwa 6.000 Jahre alt und stammen von Arten des Paprika. Der Zeitpunkt, zu dem die Aubergine über die arabische Welt nach Europa eingeführt wurde, ist nicht genau zu bestimmen. Es ist wahrscheinlich, dass die römischen und griechischen Kulturen die Pflanze noch nicht kannten, die Verwendung im arabischen Raum ist seit dem 11. Jahrhundert belegt. Die erste Beschreibung der Aubergine aus Europa stammt aus der Historia stirpium (1542) von Leonhart Fuchs, der dort bereits ihren Einsatz als Nahrungsmittel erwähnt. Vor allem die aus Amerika eingeführten Pflanzen wurden zunächst meist als exotische Zierpflanzen gezogen, der kulinarische Wert wurde oft erst nach langer Zeit entdeckt. Jedoch erreichten in Europa vor allem die Kartoffel, aber auch die Tomate bis zum 18. Jahrhundert eine wichtige Rolle als Nahrungsmittel, so dass beide Pflanzen von europäischen Auswanderern erneut über den Atlantik gebracht wurden, um sie in Nordamerika zu kultivieren. Die gewachsene Abhängigkeit von der Kartoffel als Nahrungsmittel wurde vor allem während der Großen Hungersnot in Irland in der Mitte des 19. Jahrhunderts deutlich, die durch mehrere krankheits- und schädlingsbedingte Missernten der bis dahin üblichen Kartoffel-Monokulturen ausgelöst wurde. Mystische Pflanzen, Genuss- und Rauschmittel Viele der in Nachtschattengewächsen enthaltenen Alkaloide stellen einen Schutz vor Fressfeinden dar, da sie oftmals giftig sind und vor allem bei Säugetieren und dem Menschen auf das zentrale Nervensystem wirken und unter anderem Halluzinationen oder Drogenpsychosen auslösen, jedoch auch bis zum Tod führen können. Belege über den Einsatz von Nachtschattengewächsen als Rauschmittel sind schon aus den antiken Kulturen der Griechen, Römer, Araber und Hebräer bekannt, aber auch aus vielen anderen Kulturen sind Berichte über Einsatzmethoden zur Erzeugung rauschartiger Zustände überliefert. Als Rauschmittel bekannte Nachtschattengewächse sind unter anderem die Gemeine Alraune (Mandragora officinarum), die Schwarze Tollkirsche (Atropa belladonna), das Schwarze Bilsenkraut (Hyoscyamus niger), verschiedene Stechäpfel (Datura sp.) und die Engelstrompeten (Brugmansia). Die wirtschaftlich bedeutendste Genuss- und Rauschpflanze unter den Nachtschattengewächsen ist jedoch der Tabak (Nicotiana tabacum u. a.), dessen Welternte 2005 unverarbeitet 6,6 Mio. Tonnen betrug. Um die Rauschwirkung zu erzielen, werden verschiedene Methoden beschrieben, unter anderem Essen verschiedener Pflanzenteile, Rauchen von Blättern und Früchten, Einreiben mit Salben aus Pflanzenextrakten, Versetzen von Getränken mit Früchten und Samen. Eine besondere Bedeutung als mystische Pflanze erhielt vor allem die Gemeine Alraune (Mandragora officinarum), deren verzweigte Pfahlwurzel oft mit der Form eines menschlichen Körpers verglichen wurde. In einer der ältesten Geschichten der Bibel, , wird eine Pflanze namens dudai erwähnt, die mit hoher Wahrscheinlichkeit mit der Alraune identisch ist. Aus dem antiken Griechenland sind erste Erwähnungen der Pflanze aus der Zeit um 400 v. Chr. bekannt, Theophrastus erwähnte um 230 v. Chr. neben medizinischen Einsatzmöglichkeiten auch die Verwendung als Aphrodisiakum. Weitere Erwähnungen der Pflanze finden sich auch in Aufzeichnungen aus dem Römischen Reich, nach dessen Zusammenbruch wird die Alraune zunächst wenig erwähnt. Erst zwischen 1200 und 1600 gewinnt die Pflanze wieder an mystischer und spiritueller Bedeutung, sie wird als Talisman geschätzt. Es ranken sich jedoch zugleich diverse Mythen um die Pflanze. Oftmals wird berichtet, dass die Pflanze die Kraft besitze, Menschen zu töten, die die Wurzel ausgraben wollen. Mit der stärker werdenden Hexenverfolgung taucht die Alraune immer wieder als Zutat der sogenannten Hexensalben auf, auch andere Nachtschattengewächse wie Bilsenkraut, Stechapfel oder Tollkirsche findet man in diesem Zusammenhang. Die Legende von Odysseus, dessen Gefährten durch die Zauberin Kirke in Schweine verwandelt werden, wird oft auf eine Gabe von Bilsenkraut (Hyoscyamus) und die dadurch hervorgerufenen Halluzinationen zurückgeführt. Das Bilsenkraut wird auch als Zugabe zu Bädern in mittelalterlichen Badestuben aufgeführt, um dort die Freizügigkeit zu fördern. Weiterhin wurden die Samen auch als Zusatz zu Bier verwendet. Oftmals wurde dies verboten, beispielsweise durch eine Polizeiordnung von 1507 aus Eichstätt oder das bayrische Reinheitsgebot von 1516. Weitere Berühmtheit erlangte das Bilsenkraut durch den Mordprozess aus dem Jahr 1910 gegen Hawley Crippen, der seine Ehefrau mit Hyoscin, dem giftigen Alkaloid der Pflanze, umbrachte. Besondere Beachtung erlangte der Fall zum einen dadurch, dass die Verhaftung Crippens möglich gemacht wurde, indem erstmals die Kommunikation per Telegramm zwischen Europa und Amerika für diese Zwecke benutzt wurde. Andererseits gilt die Ermittlung und Beweisführung vor Gericht als erster Einsatz der forensischen Medizin: Der Toxikologe William Willcox extrahierte aus dem Mageninhalt, dem Darm, den Nieren und der Leber der Leiche das Alkaloid, das zur Vergiftung führte und konnte anhand des Schmelzpunktes nachweisen, dass es sich dabei um Hyoscin handelte. Ende der 1990er Jahre wurde bei Untersuchungen des Drogenkonsumverhaltens Jugendlicher eine verstärkte Einnahme pflanzlicher Halluzinogene festgestellt. Dabei wurden den Umfrageergebnissen zufolge pflanzliche „Modedrogen“ der 1970er Jahre, wie der Peyote-Kaktus oder Ayahuasca kaum noch verwendet. Es wurde jedoch neben verstärkter Verwendung verschiedener psychoaktiver Pilze (z. B. Psilocybe sp.) eine Zunahme des Konsums von Nachtschattengewächsen wie Engelstrompeten und Stechapfel festgestellt. Von den Konsumenten werden diese Rauschmittel fälschlicherweise oft als ungefährlich eingestuft. Einsatz in der Medizin Die Entwicklung der medizinischen Nutzung der Nachtschattengewächse ist eng mit der Geschichte als Rauschmittel verbunden, oftmals lässt sich die historisch belegte Verwendung schlecht in eine der Kategorien einordnen. Eine erste belegte rein medizinische Verwendung der Nachtschattengewächse stammt aus dem ersten Jahrhundert n. Chr. vom griechischen Arzt Dioskurides, der beschreibt, wie mit Alraunenwurzel versetzter süßer Wein zur Narkose von Patienten vor chirurgischen Eingriffen benutzt wird. Viele Nachtschattengewächse sind in verschiedenen Kulturen in der Volksmedizin bekannt, beispielsweise wird Bilsenkraut zur Schmerzbekämpfung, bei Keuchhusten, Geschwüren oder Unterleibsentzündungen eingesetzt. Zur Verwendung des Schwarzen Nachtschatten (Solanum nigrum) und verwandter Arten gibt es fast weltweit Belege als Mittel gegen verschiedene Erkrankungen, vor allem gegen Fieber und Entzündungen des Verdauungstraktes. In Brasilien gilt die Dama da Noite (Cestrum laevigatum) nicht nur als Rauschmittel, sondern auch als Antiseptikum, Sedativum, Emolliens (Linderungsmittel) und Leberstimulans. Lange Zeit galt auch das Verbrennen und Einatmen des Rauches von Datura-Blättern als Mittel gegen Asthma. Bekanntestes aktuelles Einsatzgebiet der Nachtschattengewächse ist die Verwendung von aus Paprika (Capsicum) gewonnenen Capsaicin-Extrakten zur Durchblutungsförderung unter anderem bei Rheuma. Obwohl der Name des ABC-Pflasters noch auf den Inhaltsstoff Belladonna (Tollkirsche (Atropa belladonna, Atropin enthaltend)) hinweist, wird dieser heute nicht mehr verwendet. Jedoch werden Extrakte aus der Tollkirsche in der Augenheilkunde zur Pupillenerweiterung und bei Magen-Darm-Erkrankungen verwendet. Weiterhin werden Extrakte aus den Samen des Stechapfels gegen Asthma, Extrakte aus dem Bittersüßen Nachtschatten (Solanum dulcamara) gegen Ekzeme und Rheuma sowie das Nikotin verschiedener Tabake zur Entwöhnung von Rauchern beispielsweise mit Nikotinpflastern oder -kaugummis verwendet. Kartoffelstärke wird als Zusatz zu medizinischen Pudern gebraucht. Das Bilsenkraut hat heute nur noch selten Bedeutung in der Medizin, Extrakte sind nur noch in wenigen Asthmamitteln und Salben zu finden. Zierpflanze Durch die meist zahlreichen und vielfarbigen, zum Teil auch ungewöhnlich geformten Blüten der Nachtschattengewächse werden viele Vertreter der Familie als Zierpflanzen geschätzt. Verschiedene Hybriden der Petunien wie die Surfinia-Petunien zählen zu den beliebtesten und wirtschaftlich bedeutendsten Balkonblumen, Engelstrompeten werden aufgrund ihrer außergewöhnlich großen Blüten in Kübeln gezogen. Als Ziertabak bezeichnete Arten und Hybriden des Tabaks zeichnen sich durch auffällige, stark duftende Blüten in verschiedenen Farben aus. In den letzten Jahren wurde Lycianthes rantonnei, auch Enzianstrauch oder Kartoffelbaum genannt, durch seine vielen dunkelblauen Blüten als Kübelpflanze sehr beliebt. Verschiedene buntblühende Büsche, beispielsweise aus den Gattungen Bocksdorne oder Spaltblumen (Schizanthus) werden gerade in wärmeren Lagen zur Grünflächengestaltung genutzt. Aber auch wegen der dekorativ aussehenden Früchte einiger Nachtschattengewächse werden diese in Zierformen gezogen, beispielsweise die Lampionblume (Physalis alkegengi), verschiedene Züchtungen des Paprika, der Korallenstrauch (Solanum pseudocapsicum) oder die Kuheuterpflanze (Solanum mammosum). Quellen und weiterführende Informationen Hauptquellen Armando T. Hunziker: The Genera of Solanaceae. A.R.G. Gantner Verlag K.G., Ruggell, Liechtenstein 2001, ISBN 3-904144-77-4. J. G. Hawkes et al. (Hrsg.): Solanaceae III: Taxonomy, Chemistry, Evolution. Royal Botanic Gardens, Kew 1991, ISBN 0-947643-31-1. M. Nee et al. (Hrsg.): Solanaceae IV, Advances in Biology and Utilization. Royal Botanic Gardens, Kew 1999, ISBN 1-900347-90-3. Anmerkung: Um eine Einheitlichkeit in der Bezeichnung der Untertaxa zu gewährleisten, wird im Artikel die Systematik nach Hunziker (The Genera of Solanaceae) verwendet. Spätere, allgemein anerkannte Umordnungen, beispielsweise die Einordnung der Gattungen Lycopersicon und Cyphomandra in die Gattung Solanum wurden ebenfalls berücksichtigt. Einzelnachweise Weblinks Solanaceae bei APG (englisch) Beschreibung der Familie (deutsch) SOL Genomics Network (englisch)
1612618
https://de.wikipedia.org/wiki/Kastell%20Hesselbach
Kastell Hesselbach
Das Kastell Hesselbach war ein römisches Numeruskastell der älteren Odenwaldlinie des Neckar-Odenwald-Limes. Das heutige Bodendenkmal befindet sich auf dem Gebiet von Hesselbach, einem Ortsteil der Stadt Oberzent im Odenwaldkreis. Die einstige Fortifikation ist das am besten erforschte Militärlager des Odenwaldlimes und das südlichste Limeskastell Hessens. Das Kastell Hesselbach dient als „Referenz-Kastell“ für nahezu alle anderen Militärlager des Odenwaldlimes, die hier gewonnenen Erkenntnisse werden in der Provinzialrömischen Archäologie zur Interpretation des gesamten Limesabschnitts zwischen Main und Neckar herangezogen. Lage Das ehemalige Kastell Hesselbach liegt am nordöstlichen Ortsrand von Hesselbach auf einem als Wiesenfläche genutzten, nicht überbauten Gelände am östlichen Ortsrand, unweit der heutigen hessisch-bayrischen Landesgrenze. Vor seiner Prätorialfront (Vorderfront) und vor den beiden Flanken verlaufen moderne Straßen, an die Dekumatseite (Rückfront des Kastells) schließt das Hof- und Weidegelände eines landwirtschaftlichen Betriebes an. Die Konturen der ehemaligen Umwehrung zeichnen sich deutlich im Gelände ab. Topographisch befindet sich das Kastell in 489 m ü. NHN auf dem Plateau eines Höhenrückens, der sich von der Mündung der Mümling bei Obernburg bis in die Gegend um Schloßau im SSO erstreckt. Das Plateau mit seinen nährstoffarmen Buntsandsteinverwitterungsböden in relativ rauem Klima bot und bietet nicht gerade die besten Voraussetzungen für menschliche Ansiedlungen. Doch verläuft der Buntsandsteinrücken parallel zur Mümling auf relativ gleichmäßiger Höhe, weshalb er sich wahrscheinlich als Grenzlinie besonders anbot. Vorrömerzeitliche Funde fehlen in dieser Gegend und auch das römische Fundmaterial weist auf eine rein militärische, bestenfalls eine sehr kurzfristige zivile, nachkastellzeitliche Nutzung des Platzes hin. Forschungsgeschichte und Bedeutung Das Kastell Hesselbach fand bereits bei Ernst Christian Hansselmann (1699–1776) 1768 eine kurze Erwähnung. Eine ausführlichere Beschreibung erfolgte ein halbes Jahrhundert später bei Johann Friedrich Knapp (1776–1848), der den Odenwaldlimes im Auftrag des Grafen Franz I. zu Erbach-Erbach (1754–1823) untersuchte. Von der hessischen Limeskommission wurde der Kastellbereich vermutlich nur oberflächlich untersucht, die Identifikation der Befunde mit einem Kastell überhaupt in Frage gestellt, da lediglich an einer Stelle festes Mauerwerk nachgewiesen werden konnte. Im Jahre 1895 wurden die Ausgrabungen der Reichslimeskommission unter der Leitung des Streckenkommissars Friedrich Kofler (1830–1910) durchgeführt. Die Veröffentlichung der Ergebnisse fand bereits 1896 statt. Um konstruktive Details noch erhaltener römischer Kastelltoranlagen zu studieren, besuchte 1961 der provinzialrömische Archäologe Dietwulf Baatz (1928–2021) das tripolitanische Limeskastell Gholaia. Analog übertrug er seine zur Diskussion gebrachten Beobachtungen auf zeichnerische Rekonstruktionen der Torbauten am Kastell Hesselbach. Baatz hatte anschließend auch die wissenschaftliche Leitung der umfangreichen Untersuchungen mit den damals modernsten Methoden inne, als Hesselbach von 1966 bis 1968 durch das Saalburgmuseum ergraben wurde. Diese Grabungen sowie die hieraus resultierende Publikation waren wegweisend für weitere Forschungen am Odenwaldlimes. Seit der Grabungskampagne der 1960er Jahre gilt das Kastell Hesselbach als das am besten erforschte Numeruskastell des Odenwaldlimes, vor allem, weil im Unterschied zu anderen Odenwaldkastellen die Innenbebauung umfassend erschlossen und dokumentiert werden konnte. Die Innenbebauung der anderen Numeruskastelle der Odenwaldlinie wird seither oft analog zu der des Kastells Hesselbach rekonstruiert. Befunde Während sich die Ausgrabungen der Reichs-Limeskommission Ende des 19. Jahrhunderts in erster Linie der Kastellumwehrung gewidmet hatten (es war auch mit den feldarchäologischen Methoden jener Zeit noch gar nicht möglich, die komplexen und diffizilen Befunde der Innenstrukturen zu erfassen), lag der Schwerpunkt der Untersuchungen der 1960er Jahre auf der Erforschung des Lagerinneren. Bei beiden Befundkomplexen gelang es, mehrere Bauphasen voneinander zu differenzieren. Da kein gesicherter stratigraphischer Zusammenhang zwischen den Perioden der Umwehrung und den Phasen der Innenstrukturen hergestellt werden konnte, wurden unterschiedliche Bezeichnungen gewählt. Es ist jedoch aufgrund der Befunde und der Verteilung des Fundmaterials erlaubt, Korrelationen zwischen diesen herzustellen. Zeitliche Korrelationen zwischen den Bauphasen der Umwehrung und der Innenstrukturen: Umwehrungen Die Form und der Umfang (und somit die eingeschlossene Fläche) der Umwehrungsanlagen des Kastells Hesselbach änderten sich während der verschiedenen Bauphasen nicht oder nur in Details. Die verschiedenen Mauern lagen nahezu übereinander. Das gesamte durch die Wehranlagen definierte Kastellgelände nahm zu allen Zeiten eine Fläche von rund 6000 Quadratmetern ein. Ebenfalls während der gesamten Zeit seiner Existenz war das Vordertor (Porta praetoria) der Fortifikation zum Limes hin ausgerichtet, der das Kastell in nur etwa 150 Meter Entfernung östlich passierte. Auffällig ist, dass die Porta principalis dextra (rechtes Seitentor) und nicht die Porta praetoria die größte Durchfahrtbreite besaß, was dafür spricht, dass dieses Seitentor die Funktion eines „Haupttores“ übernahm. Die Konturen der Kastellumwehrung sind im größtenteils nicht überbauten Wiesengelände noch heute gut zu erkennen, die moderne Wegführung läuft außen um das Kastell herum. Eine Schautafel mit Erläuterungen ist im Norden des Kastells zu finden. Umwehrung A Die älteste „Umwehrung A“ entstand zusammen mit dem Kastell in trajanischer Zeit und war gänzlich in Holz-Erde-Bauweise ausgeführt. Die hölzerne Palisade wurde nach hinten, also zum Lagerinneren hin, mit einem durch Holzpfähle verstärkten Erdwall stabilisiert, der gleichzeitig die Funktion hatte, einen einfachen Wehrgang zu tragen. Vor dieser Holz-Erde-Mauer befand sich – nach einer schmalen Berme – ein Spitzgraben in Form einer sogenannten fossa Punica („Punischer Graben“). Bei der fossa Punica war die dem Feind zugewandte Böschung des Grabens deutlich steiler eingetieft als die zum Lager hin weisende. In dieser frühen Phase besaß die Umwehrung nur drei Tore: neben der Porta praetoria gab es eine Porta principalis dextra (rechtes Seitentor) und eine Porta principalis sinistra (linkes Seitentor). Die Porta decumana (rückwärtiges Tor) fehlte und konnte auch nicht in Form einer reduzierten Schlupfpforte nachgewiesen werden, wie sie von der letzten Bauphase her bekannt ist. Die Tore waren von hölzernen Tortürmen flankiert, wobei jeder einzelne von sechs Pfosten getragen wurde. Alle Indizien sprechen für das Fehlen von Ecktürmen, jedoch können diese nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden. Umwehrung B In hadrianischer Zeit, genauer zwischen 115 und 130, wurde die hölzerne Umwehrung durch eine zweischalige Trockenmauerkonstruktion ersetzt. Diese Konstruktion, die sogenannte „Umwehrung B“, besaß eine Gesamtbreite von 5,00 bis 6,90 Metern. Der Raum zwischen der bis zu 1,50 Meter breiten äußeren Mauerschale und der etwas schmaleren inneren Mauer war mit von Knüppelholzeinlagerungen durchsetzter Erde verfüllt. Die Mauerschalen waren aus unbehauenem lokalem Buntsandstein ausgeführt. Die Konstruktion trug einen möglicherweise mit Holzbohlen befestigten Wehrgang und auf der Feindseite eine aus Brettern oder Flechtwerk bestehende Brustwehr. Die in der Phase A angelegte fossa Punica diente weiterhin als Wehrgraben, war allerdings im Laufe der Jahre so weit zugeschwemmt, dass sie keine prägnante Spitze mehr besaß. Ebenfalls ohne Veränderung übernommen wurden die hölzernen Torbauten. Das Lager besaß weiterhin nur diese drei Tore, die in der späteren Bauphase festgestellte Schlupfpforte an der Dekumatfront konnte für diese Periode nicht festgestellt werden. In dem hierfür anzunehmenden Bereich wurde stattdessen ein Abwasserkanal angelegt, der eine in der Retentura (rückwärtiger Lagerteil) unmittelbar an der Umwehrung eingebaute Latrine entsorgte. Umwehrung C Zwischen 140 und 150 unserer Zeitrechnung wurde die Trockenmauer durch eine gemörtelte Mauer ersetzt. Die neue Wehrmauer orientierte sich am Verlauf der alten „Umwehrung B“, vor deren Außenmauer sie errichtet wurde. Nur an einzelnen Stellen wird die Front der älteren Mauer von der neuen Konstruktion überschnitten. Hinter der Mauer wurde ein Erdwall angeschüttet, der jedoch zum Lagerinneren hin nicht vollständig geböscht war, sondern die Innenschale der Trockenmauer als stützende Begrenzung nutzte. Das Fundament der Mauer war 80 Zentimeter eingetieft und besaß eine zwischen 1,0 und 1,2 Meter schwankende Breite, die Stärke des Aufgehenden betrug am Mauerfuß rund 95 Zentimeter. Als Baumaterial diente lokaler Buntsandstein, den die Erbauer mit Kalkmörtel vermauert hatten. Dieser Mörtel stammte aus nicht allzu weit entfernten Muschelkalkvorkommen im Odenwald. Die Steine auf der Innenseite waren klein und nur grob behauen, während die Quader der Außenseite größer und sehr sorgfältig ausgeführt worden waren. Oberhalb der Brustwehr war die Außenmauer vermutlich mit Zinnen besetzt. Der möglicherweise ursprünglich vorhandene, üblicherweise mit roten Scheinfugen übermalte weiße Außenverputz konnte nicht mehr festgestellt werden. Er ist wahrscheinlich in dem sauren Boden Hesselbachs vollständig erodiert, kann analog zu anderen Kastellen und Wachtürmen allerdings mit ziemlicher Sicherheit angenommen werden. Im Zuge der Neuanlage der Mauer wurde auch der – inzwischen zumindest stellenweise zugeschwemmte – Verteidigungsgraben durch einen neuen ersetzt. Er war durch eine 60 bis 80 Zentimeter breite Berme von der Mauer abgesetzt und besaß bei einer Tiefe von rund 1,50 Metern eine Breite von etwa sechs Metern. Es ist anzunehmen, dass dieser Graben dementsprechend in einem Verhältnis von fünf römischen Fuß zu 20 römischen Fuß konzipiert worden. Auch die Tore wurden von Grund auf neu errichtet. Zu den bisher vorhandenen drei großen Toranlagen kam eine kleine Schlupfpforte auf der Dekumatseite (Rückfront des Kastells) hinzu. Die großen Tore waren weiterhin von zwei Türmen flankiert, die vermutlich nicht nur mittels einfacher Wehrplattformen, sondern durch überdachte Torhäuser miteinander verbunden waren. Hierfür spricht der Umstand, dass sich nicht nur auf der Feindseite, sondern auch auf der Innenseite kräftige Torbögen befanden. Denn während solche Bögen an der Außenseite aus fortifikatorischen Gründen notwendig sein könnten, machen sie auf der Innenseite nur aus statischen Gründen Sinn. Die lichte Durchfahrtsweite betrug bei der Porta principalis dextra 3,40 Meter, bei den beiden anderen Toren, der Porta praetoria und der Porta principalis sinistra je drei Meter. Bei der neuen, rückwärtigen Schlupfpforte, die in dieser Form auch in den Kastellen Würzberg und Eulbach angetroffen wurde, handelt es sich um ein einfach gehaltenes Tor mit einem lichten Durchlass von nur 1,25 Meter, das möglicherweise durch einen Sperrbalken gesichert wurde. Vor der Pforte war der Grabenverlauf nicht unterbrochen, eine Pfostengrube weist auf einen möglichen Holzsteg an dieser Stelle hin. Auch in dieser Bauphase gab es keine Ecktürme. Die abgerundeten Ecken der Mauer waren jedoch an der Außenseite mit schwach vorspringenden Risaliten versehen. Diese nicht recht erklärbare Eigenart des Mauerbaus findet sich auch beim Kastell Oberscheidental. Innenbebauung Die Innenbauten bestanden in allen kastellzeitlichen Perioden aus dem zentralen Stabsgebäude (Principia), vier Mannschaftsbaracken mit den Stuben (Contubernia), der Kommandeurswohnung (Praetorium) sowie Magazinen und Ställen. Die Existenz der Principia macht deutlich, dass hier ein taktisch selbständiger Verband stationiert war, ein Numerus mit einer Besatzungsstärke von ungefähr 160 Mann. In der Praetentura, dem vorderen Lagerbereich, waren Stallungen und Magazine untergebracht. Das Zentrum wurde, wie bei römischen Militärlagern üblich, von den Principia beherrscht. In der Retentura, dem rückwärtigen Lagerteil, befanden sich unmittelbar hinter den Principia das Praetorium und – die Principia flankierend – rechts und links jeweils zwei Mannschaftsbaracken. Alle Bauten bestanden aus Holz, wodurch sie nur noch anhand der Bodenverfärbung ihrer Pfostengräben und -löcher identifizierbar sind, ein Umstand, mit dem die frühen Ausgräber noch nicht hinlänglich vertraut waren, sodass mit den grabungstechnischen Methoden jener Zeit kaum Befunde der Innenbebauung erfasst werden konnten. Periode 1 Die Principia, das Stabs- und Verwaltungsgebäude (in Publikationen über Hesselbach auch als „Gebäude 5“ bezeichnet) bedeckten in dieser Periode einschließlich der Vorhalle eine Fläche von etwa 10,5/10,8 Meter mal 18,0/18,2 Meter, insgesamt also etwas weniger als 200 Quadratmeter. Eine ungenaue Bauausführung sowie unklare und zum Teil gestörte Befunde erschweren jedoch die Zuweisung wirklich exakter Bemaßungen. Möglicherweise war der Bau ursprünglich auf eine Größe von 36 mal 45 römische Fuß konzipiert worden. Man betrat die Principia durch eine etwa 4,2/4,4 mal 10,7 Meter große offene Vorhalle. Diese Halle überdeckte die Via principalis (Lagerhauptstraße, welche die beiden seitlichen Lagertore miteinander verband) und öffnete sich mit ihrer Front zur Via praetoria (vordere Lagerhauptstraße) und zur Porta praetoria (Vorderes Lagertor, Haupttor) hin. Neben den Principia des Kastells Künzing gehört die Kommandantur von Hesselbach zu den ältesten Stabsgebäuden mit Vorhalle. An die Vorhalle schloss sich ein seitlich von zwei Portiken gesäumter Hof an, der zu einer Querhalle (Basilica) überleitete. Die Querhalle (und damit der gesamte Gebäudekomplex) wurde an ihrer Rückseite von einem aus drei Räumen bestehenden Gebäude abgeschlossen. Der mittlere, etwas größere dieser Räume war das „Fahnenheiligtum“ (Aedes principiorum oder Sacellum), die beiden anderen dürften als Verwaltungsräume gedient haben. Hinter den Principia, in der Mitte der Retentura (rückwärtiger Lagerbereich), befand sich das Wohngebäude des Praepositus Numeri, des Kommandanten (Praepositus) der Garnison („Gebäude 6“). Seine Außenmaße betrugen rund 10,5 mal 15,0 Meter (gut 150 Quadratmeter), vermutlich war es mit einer Bemaßung von 35 mal 50 römischen Fuß angelegt worden. Mit seinem Eingang öffnete sich das Kommandantengebäude zu den Principia hin. Der Eingang führte möglicherweise in einen kreuzförmig angelegten Flur, in dessen Mitte sich eine Art Atrium oder eine Atrium-ähnliche Konstruktion mit Oberlicht befunden haben könnte. In diesem Falle hätten sich sechs etwa gleich große Zimmer und ein kleinerer Raum (vielleicht eine Latrine) in dem Gebäude befunden. Eine andere Interpretation der Befunde lässt aber auch einen lang gestreckten Mittelkorridor möglich erscheinen, der auf jeder Längsseite von vier separaten Räumen flankiert gewesen wäre und dessen Ende ein kleiner Raum gebildet haben könnte. Eine nachgewiesene Herdstelle belegt, dass in dem Gebäude zumindest einzelne Räume beheizbar waren. Principia und Kommandantenwohnhaus wurden von je zwei Mannschaftsbaracken („Gebäude 1 bis 4“) flankiert. Die insgesamt vier Baracken maßen jeweils etwa 34,6/34,8 mal 4,55 Meter (außen) und waren in neun etwa gleich große Räume von etwa 3,70 mal 4,15 Meter lichter Weite unterteilt, wodurch sich eine Nutzfläche von 15,5 Quadratmeter pro Raum ergab. Ein vergrößerter Raum oder ein Kopfbau für den Unteroffizier war nicht vorhanden. Eine Portikus konnte nicht nachgewiesen werden, ihre Existenz kann jedoch nicht gänzlich ausgeschlossen werden. Dietwulf Baatz ging in seinen Untersuchungen davon aus, dass die Contubernien jeweils mit vier bis fünf Soldaten belegt gewesen sein dürften, sodass, wenn ein Raum für den Unteroffizier abgezogen und die mögliche geringere Belegungsdichte einiger Räume, in denen Chargen untergebracht gewesen seien, berücksichtigt würde, von einer Barackenbelegung mit rund 32 Mann ausgegangen werden könne. Hierdurch ergäbe sich eine Barackenbelegung mit rund 128 Mannschaften, sodass einschließlich Unteroffizieren und Offizieren von einer Gesamtstärke von 130 bis 140 Mann ausgegangen werden könnte. Allerdings betonte Baatz den hypothetischen Charakter seiner Überlegungen, die lediglich eine ungefähre Vorstellung von der Stärke des Numeruskastells vermitteln sollten. In der Praetentura, dem vorderen Teil des Lagers, wurden insgesamt drei größere Bauten nachgewiesen. Die Interpretation der Befunde ist auf Grund der in diesem Bereich sehr starken Bodenerosion nicht gänzlich gesichert. Das „Gebäude 7“ im südöstlichen Bereich des Kastells wird als Speichergebäude oder Magazin, möglicherweise einschließlich der in den Principia fehlenden Armamentaria (Waffenkammern) interpretiert. Die beiden 4,30 mal 10,60 Meter und 4,30 mal 13,50 Meter großen „Gebäude 8 und 9“ im Nordwesten des Lagers wurden mit einiger Wahrscheinlichkeit als Ställe angesprochen, davor befand sich möglicherweise eine Backofengruppe. Alle Gebäude der Periode 1 wurden in Holzbauweise errichtet. Reparaturen und Zerstörungen konnten an keiner Stelle nachgewiesen werden, die Bauten wurden offenbar planmäßig niedergelegt, bevor sie baufällig wurden, um Platz für die Errichtung neuer Gebäude zu schaffen. Periode 2 Die Struktur des Kastells in der Periode 2 entsprach in etwa der Gliederung der Periode 1. Auch die Bautechnik war weitestgehend identisch, es wurden jedoch kräftigere Holzpfosten als zuvor verwendet. Die Gebäude waren so lange in Gebrauch, bis sich die Notwendigkeit zu Reparaturmaßnahmen ergab. Die Phase der dann einsetzenden Instandsetzungsmaßnahmen wird als Periode 2a differenziert. Der Grundriss der Principia (so genanntes „Gebäude 5“) ähnelte dem der Periode 1, jedoch ragte die Vorhalle seitlich über die beiden Fluchten des restlichen Gebäudekomplexes um jeweils etwas mehr als einen Meter hinaus. Die Halle besaß eine Breite von 6,3 bis 6,4 Meter, eine Länge von etwa 14,3 Metern, war in offener Bauweise konstruiert und überdeckte die gesamte Breite der Via Principalis. Von der Vorhalle aus gelangte man in einen kleinen, 3,8 Meter breiten und 7,7 Meter langen Hof, der an seinen Schmalseiten von 1,8 Meter tiefen Portiken gesäumt war. An den Hof schloss sich eine Querhalle mit einer lichten Breite von 6,9 Metern und einer Länge von 11,5 Metern an. In den unterschiedlichen Proportionen zwischen dem Hof mit seinen Portiken und der Querhalle besteht der augenfälligste Unterschied zum Grundriss der Periode 1. Der Platz für den Hof reduzierte sich zugunsten des Raums für die Halle. Eine Besonderheit innerhalb der Querhalle war der Nachweis einer knapp 1,50 Meter durchmessenden Zisterne mit kanalisiertem Abfluss zur Rückseite des Kastells hin. Vermutlich wurde das Wasser bei kultischen Handlungen benötigt, die in den Principia durchgeführt wurden. Auf die Querhalle folgte, den Gebäudekomplex an seiner Rückseite abschließend, wie schon in der Periode 1 eine dreiräumige Zimmerflucht. Der mittlere, etwas größere Raum, war das Fahnenheiligtum (Aedes oder Sacellum), das im Gegensatz zur Periode 1 an der Rückwand der Principia über die Flucht des Gebäudes leicht nach außen vorkragte. Dieser Vorsprung wurde in der (Reparatur-)Periode 2a zurückgenommen, sodass die Rückfront des Gebäudekomplexes wieder eine einheitliche Flucht bildete. Die zuweilen bei Fahnenheiligtümern vorkommende Unterkellerung konnte in Hesselbach für die zweite Bauphase ebenso wenig wie für die erste festgestellt werden und erscheint überdies aufgrund der Bodenverhältnisse (Staunässe) unwahrscheinlich. Das „Gebäude 6“, das vermutliche Wohnhaus des Praepositus Numeri, besaß Außenmaße von rund 11,7 mal 10,8 Metern. Es war ein Korridorhaus mit einem Mittelflur, der von je drei Räumen gesäumt war. Alle sechs Räume waren mit ungefähr 15 Quadratmeter etwa gleich groß, wenigstens vier von ihnen waren mit Herdstellen beheizbar. Das Gebäude war mit seinem Haupteingang auf die Principia ausgerichtet. Ein zweiter Eingang auf der Gegenseite kann nicht ausgeschlossen werden, jedoch war dieser Bereich durch eine neuzeitliche Grube gestört. Möglicherweise könnte sich an diesem Ende des Korridors eine Latrine befunden haben. Wie in der Periode 1 wurde das Ensemble aus Principia und Kommandantur von zwei Mannschaftsbaracken („Gebäude 1 bis 4“) auf jeder Seite flankiert. Im Gegensatz zur frühen Bauphase verfügten diese sowohl über Kopfbauten als auch über Portiken. In einem besonders guten Erhaltungszustand befand sich die „Baracke 4“. Sie erstreckte sich bei einer Breite (mit Portikus) zwischen 7,30 und 7,45 Metern über eine Länge von 34,8 Meter und setzte sich aus einer Flucht von sieben Contubernien mit vorgelagerter Portikus sowie einem Kopfbau für den Centurio oder/und die Unteroffiziere zusammen. Die lichte Breite der Portikus bewegte sich zwischen 1,6 und 1,7 Meter. Auf die sieben Contubernien entfielen 27,4 Meter der Gesamtlänge, jedes einzelne Contubernium dürfte eine Nutzfläche von etwas mehr als 19 Quadratmetern besessen haben. Jedes Contubernium bestand aus einem einzelnen, nicht weiter unterteilten Raum mit einer Herdstelle, die sich ungefähr mittig an der Zwischenwand zu einem Nachbarcontubernium befand. Die Herdstellen besaßen in etwa das Aussehen noch heute gebräuchlicher offener Kamine: Hinter einer feuerfesten Bodenplatte befand sich ein Rauchabzug und oberhalb der Feuerstelle ein Rauchfang. Die Herdstellen dienten der Zubereitung der Mahlzeiten und als Heizung in den kälteren Jahreszeiten. Der Kopfbau der „Baracke 4“ besaß einen annähernd quadratischen Grundriss von etwa 7,4 Meter Seitenlänge, woraus sich eine Gesamtwohnfläche von 53 Quadratmeter ergibt. Er bestand (in der Fortsetzung der Portikus) aus einem Korridor sowie zwei Räumen, von denen jeder mit einer Heizstelle versehen war. Jeweils zwei Baracken (1 und 2 sowie 3 und 4) bildeten ein Barackenpaar, in dessen Mitte sich ein mit Schotter befestigter Weg befand. Die einzelnen Baracken unterschieden sich in einigen Merkmalen hinsichtlich Form und Größe voneinander: Die „Baracke 3“ war deutlich schmaler als die „Baracke 4“ und besaß keinen Kopfbau, sondern bestand aus neun annähernd gleich großen Contubernien mit jeweils rund 12,5 Quadratmetern Grundfläche. „Baracke 2“ besaß einen überdurchschnittlich großen Kopfbau mit insgesamt drei Räumen und einem vom Hauptkorridor abknickenden Seitenkorridor. In den Kopfbauten der „Baracken 1 und 2“ konnten Latrinen mit Entwässerungskanälen nachgewiesen werden. Ebenfalls für den Kopfbau der „Baracke 4“ ist eine entsprechende Latrine als wahrscheinlich anzunehmen, jedoch war der hierfür in Frage kommende Bereich durch eine neuzeitliche Grube gestört, so dass der entsprechende archäologische Nachweis nicht geführt werden konnte. Die östliche Hälfte der Praetentura, des vorderen Lagerteils, wurde zur Gänze von dem so genannten „Gebäude 7“ eingenommen. Es handelte sich hierbei um ein komplexes, möglicherweise mehrphasiges Bauwerk mit unregelmäßiger Raumaufteilung. Das Gebäude bedeckte mit seinen Außenmaßen von rund 20,8 mal 13,1 Meter eine Fläche von rund 270 Quadratmeter und verfügte über zwei Eingänge. Da die Retentura (rückwärtiger Lagerteil) vollständig von den Principia, dem Praetorium und den vier Mannschaftsbaracken ausgefüllt war und sich Horreum (Speichergebäude) und Armamentaria (Waffenkammer) folglich nicht dort befinden konnten, interpretierte Dietwulf Baatz diesen Befund als „Mehrzweckgebäude“, das die Funktionen des Speichers und der Waffenkammer unter einem Dach vereinigt habe. Hierfür sprach nach Ansicht des Archäologen auch die Lage dieses Gebäudes unmittelbar an der offenbar als Haupttor dienenden Porta principalis dextra (vgl. weiter oben). Im westlichen Teil der Praetentura konnten die Fundamentspuren zweier einfacher, im Inneren nicht weiter unterteilter Gebäude nachgewiesen werden. Beide Bauten hatten eine länglich rechteckige Form. Das zur Via Praetoria hin gelegene „Gebäude 8“ war 14,6 Meter lang und 4,0 Meter breit, das zur Umwallung hin gelegene „Gebäude 9“ besaß eine Länge von 14,3 Metern und eine Breite von 5,3 Meter. Analog zu den Befunden der Periode 1 wurden die beiden Bauwerke als Stallungen interpretiert, wofür auch die Beobachtung von Wasserbehältern außerhalb der Gebäude sprach, sowie von Rinnen, die zur Versorgung des Viehs mit Frischwasser und/oder zur Entsorgung der Jauche gedient haben könnten. Die Funktion eines weiteren „Gebäudes 10“, eines einfachen Schuppens von rund 8,0 mal 2,8 Metern Größe, der sich an der Stelle befand, an der für die Periode 1 eine Backofengruppe angenommen worden war, konnte nicht geklärt werden. Die Lagerstraßen bestanden aus einer mehrschichtigen Schotterung ohne Belag durch größere Steine und ohne Randsteine. Die Form, in der das Lager mit Frischwasser versorgt wurde, ist unklar. Der Umstand, dass keine Brunnen innerhalb des Kastells festgestellt wurden, spricht nicht per se gegen ihre Existenz, da die Kastellfläche nicht vollständig ergraben wurde. Spuren von Wasserbehältern und -rinnen sprechen jedoch eher für eine Versorgung mit fließendem Wasser, möglicherweise aus einem Bereich etwa 250 bis 300 Meter nordöstlich des Kastells, in dem noch heute Quellen aus den Feuchtwiesen zu Tage treten. Dieser vielleicht nicht gänzlich ausreichende Frischwasserzufluss wurde vielleicht durch von den Dächern aufgefangenes Regenwasser ergänzt. Besser geklärt ist die Abwasserentsorgung. Sie erfolgte über mehrere kleinere Rinnen, die in einem größeren Sammelgraben mündeten, der schließlich neben der Porta decumana aus dem Kastell heraus in Wehrgraben führte. An dieser Stelle unweit der Porta decumana sind auch die Latrinen des Lagers zu vermuten, die mit dem abfließenden Brauchwasser gespült worden sein könnten. Archäologisch konnten solche Latrinen jedoch nicht nachgewiesen werden, da der für sie grundsätzlich in Frage kommende Bereich des Lagers nicht ausgegraben worden ist. Periode 2a (Reparaturphase) Die Periode 2a bezeichnet keine eigenständige Bauphase. Unter diesem Begriff wurden vielmehr alle Reparaturmaßnahmen der Periode 2 ungeachtet ihrer konkreten Zeitstellung zusammengefasst. Keine dieser Maßnahmen führte zu einer fundamentalen Änderung der Grundrisse. So wurden teilweise einzelne Pfosten, im Kopfbau der Baracke 4 ein vollständiger Pfostengraben erneuert, in mehreren Contubernien wurden die Herdstellen verlegt. An den Principia bestand die augenfälligste Veränderung in der Erneuerung der Rückwand des Fahnenheiligtums, die nach der Renovierung nicht mehr aus der rückwärtigen Gebäudeflucht vorsprang. Periode 3 (Nachkastellzeit) Die Befunde der Periode 3 waren bereits nachkastellzeitlich, die ihnen zugrunde liegende ehemalige Bebauung entstand also erst nach der Vorverlegung der römischen Truppen auf die Linie des sogenannten „Vorderen Limes“ im Bereich Miltenberg-Walldürn-Osterburken und war wahrscheinlich rein ziviler Natur. In dieser Periode wurden entweder keine separaten Bauten errichtet, oder die Bauwerke bestanden aus leichten Holzbauten, deren Spuren in dem später abgetragenen und/oder erodierten Boden nicht mehr auszumachen waren. Möglicherweise wurden auch die alten Kastellbauten zum Teil weiter genutzt, was insbesondere für die „Gebäude 5 und 6“ sowie eventuell für das „Gebäude 10“ nicht gänzlich unwahrscheinlich erscheint. Die Ausgrabungsbefunde der Periode 3 bestanden ausschließlich aus den Resten von Siedlungsgruben. In einer davon wurden die Reste eines Ofens festgestellt, der mit Sicherheit als Rennofen zur Eisenverhüttung identifiziert werden konnte. Die Befundsituation ließ es als gesichert erscheinen, dass dieser Ofen nur einer von mehreren war, sodass mit hoher Wahrscheinlichkeit von einer Nutzung des aufgelassenen Kastellplatzes durch einen eisenverhüttenden Betrieb ausgegangen werden kann. Die Rohstoffe zur Eisengewinnung, namentlich Eisenerz und Holz(-kohle), konnten in der unmittelbaren oder relativen Nähe gewonnen werden. An Holz hatte es in den auch in antiker Zeit dicht bewaldeten Gebieten des Odenwalds keinen Mangel und Eisenerz konnte möglicherweise in Form des sogenannten Raseneisenerzes verwendet werden. Diese Art der Eisengewinnung ist für die nachrömische Zeit auch an anderen Plätzen des Odenwaldes nachgewiesen. Darunter befindet sich eine Stelle in nur einem Kilometer nördlicher Entfernung von Hesselbach. Schon nach einigen wenigen Jahren wurde der Hüttenbetrieb wieder eingestellt, vermutlich mangels Rentabilität infolge der geringen Ergiebigkeit lokaler Erzvorkommen. Fundmaterial Münzen Bei den Ausgrabungen in Hesselbach wurden insgesamt nur vier eindeutig bestimm- und datierbare Münzen gefunden, zu wenig, um konkrete und verlässliche Aussagen daraus ableiten zu können. Die Münzen im Einzelnen: Sigillaten Die Anzahl der in Hesselbach geborgenen Sigillata-Scherben war mit 24 % (= 224 Stück) des Gesamtaufkommens an keramischen Funden (932 Stück) relativ hoch und lieferte wichtige Anhaltspunkte zur Datierung des Kastells. Die ältesten Fragmente von Bilderschüsseln südgallischer Provenienz ließen sich erst auf das letzte Jahrzehnt des 1., spätestens aber auf den Anfang des 2. Jahrhunderts datieren, frühere Dekorationsweisen fehlten hingegen völlig. Baatz wies bei der Auswertung der Keramik zusätzlich darauf hin, dass die Typen Drag. 29 und Drag. 15 fehlten, Sigillata-Typen, die üblicherweise in Kastellen vorkommen, die unmittelbar nach dem Jahr 90 entstanden sind. Dies wertete er als Indiz dafür, dass der Anfang des Lagers frühestens einige Jahre nach 90 angenommen werden dürfe. Die Verteilung der Sigillata-Typen im Einzelnen: Aufgrund des relativ hohen Anteils an südgallischer Ware bei den Bilderschüsseln wies Dietwulf Baatz weiterhin einen Errichtungszeitpunkt des Kastells nach dem Jahr 105 als äußerst unwahrscheinlich zurück. Die Verteilung der Bilderschüsseln und Töpferstempel auf glatter Ware setzte sich folgendermaßen zusammen: Insgesamt gelangte Baatz bei der Auswertung der Sigillaten zu dem Ergebnis, dass die Gründung von Hesselbach in die spätdomitianische bis frühtrajanische Zeit zu datieren, konkret für den Zeitraum zwischen den Jahren 95 und 105 anzunehmen sei. Sonstige Keramik Die gesamte Keramik setzte sich neben der relativ häufig vorkommenden Terra Sigillata aus rauwandiger Ware, Schwerkeramik, glattwandiger Ware, Firnisware und Terra Nigra zusammen, wovon die rauwandige Ware, wie auch anderenorts üblich, den größten Anteil bildete. Rauwandige Ware ist eine durch starke Sandmagerung feuerfest gemachte Keramikart. Daher ist es nicht verwunderlich, dass unter den Funden an rauwandiger Ware Töpfe und Schüsseln dominierten (399 von insgesamt 463 Scherben). Das Fundaufkommen an größerer/gröberer Keramik bestand ausschließlich aus Reibschalen (120 Stück) und Amphoren (elf Stück), tönerne Fässer (so genannte Dolien) waren nicht vorhanden. Die glattwandige Ware bestand überwiegend aus Krügen und Amphoren. Engobierte Ware und Terra Nigra waren in nur geringem Umfang vertreten und beide in unterschiedlichen Materialzusammensetzungen und unterschiedlichen Techniken gefertigt. Die Verteilung des gesamten Keramikaufkommens stellte sich folgendermaßen dar: Sonstige Funde Metallfunde lagen nur in geringem Umfang vor und waren zudem durch die Bodenverhältnisse in Hesselbach stark korrodiert. Auch gab es keine gesicherte stratigraphische Zuordnung, sodass einzelne Stücke durchaus nachrömisch sein könnten. Namentlich konnten neben mehreren Nägeln bei den Grabungen der 1960er Jahre eine Bronzefibel, eine Bleischeibe, ein eiserner Bohrer und ein eiserner Pfriem, sowie bei den älteren Ausgrabungen ein Eisenmesser und eine eiserne Torpfanne geborgen werden. Unter den mengenmäßig ebenfalls nicht sonderlich stark vertretenen Glasfunden fielen neben dem Bruchstück einer amethystfarbenen Rippenschale und einigen Bruchstücken weiterer Glasgefäße insbesondere zwei Fragmente von Fensterglas auf. Unter etwas über 100 Ziegelfunden (neun ganze Ziegel und rund 100 Bruchstücke) befanden sich keine gestempelten Exemplare. Mengenmäßig dominierten Lateres (Mauerziegel), daneben fanden sich auch Tegulae und Imbrices (flache und bogenförmige Dachziegel) sowie Wandplatten mit Kammstrichrauung. Die Menge an Dachziegeln insgesamt erlaubt es jedoch nicht, eine Ziegeleindeckung der Kastellinnenbauten oder der Tortürme zu postulieren. Sie können auch von dem anzunehmenden Kastellbad stammen und sekundär oder zweckentfremdet weiterverwendet worden sein. Eine solche Verwendung ist auch für die Wandplatten anzunehmen, die üblicherweise nur an im Hesselbacher Kastell nicht vorkommenden Steinwänden verbaut wurden. Die Ziegel entstammen möglicherweise einer unbekannten Produktionsstätte des Odenwaldes, wofür die Magerung mit Sandsteinpartikeln spricht, wie sie in den regionstypischen Buntsandsteinverwitterungsböden vorkommen. Insgesamt 70 Sandsteinkugeln von unterschiedlicher Größe und Gewicht (von weniger als 200 Gramm bis hin zu 15–20 Kilogramm) wurden bei den Grabungen des 19. und des 20. Jahrhunderts in Hesselbach gefunden. Sie waren von Friedrich Kofler noch als ballistische Kugeln interpretiert worden. Dietwulf Baatz gelangte hingegen zu dem Ergebnis, dass zum einen die Tortürme des Kastells Hesselbach für die Installation ballistischer Vorrichtungen viel zu klein und zum anderen die Mehrzahl der Kugeln abgeplattet gewesen seien. Letzteres hätte aber beim Abschuss zu einem für die Geschützmannschaften unkalkulierbaren Risiko geführt. Baatz ging weiter davon aus, dass es sich möglicherweise um Handschleudersteine gehandelt haben könnte, aber auch um Steine, die zur Beschwerung, als Kontergewichte oder als Schleif- und Reibesteine dienten. Naturgemäß gab es in der Form von Architekturteilen weitere Steinfunde, ferner einige Skulpturteile. Unter den Architekturfragmenten dominierten Gesimse, Keilsteine und die für die Bauwerke des Odenwaldlimes typischen Lünetten. Augenfälligster Skulpturenrest war das Fragment eines Reliefs aus rotem Sandstein, von dem nur noch die Darstellung eines 17 Zentimeter langen und fünf Zentimeter erhabenen Phallus mit abgebrochenen Hoden erhalten war. Des Weiteren wurden einige Bruchstücke von Handmühlen geborgen. Limesverlauf zwischen dem Kastell Hesselbach und dem Kleinkastell Zwing Vom Kastell Hesselbach aus zieht der Limes weiter in südsüdöstliche Richtung auf einem Bergrücken des Odenwaldes, der sich von einem breiten Plateau ausgehend nach Süden hin allmählich zu einem bis zu weniger als einhundert Meter schmalen Berggrat verjüngt. Hierbei tritt er am Ortsrand von Hesselbach in ein dichtes Waldgebiet ein, in dem er streckenweise sehr gut erhalten ist und stellenweise von einer mittelalterlichen Landwehr begleitet wird. Auf diesem Weg steigt er zunächst um rund 55 Höhenmeter an und erreicht in der Nähe der hessisch-badischen Grenze mit etwa 545 Metern ü. NN seinen höchsten Punkt, um anschließend auf badischer Seite, zum Kleinkastell Zwing hin, wieder um gut 50 Höhenmeter abzufallen. Dieser Limesabschnitt gilt als einer der landschaftlich schönsten der gesamten Odenwaldlinie. Denkmalschutz Das Kastell Hesselbach und die anschließenden Limesbauwerke sind Bodendenkmale nach dem Hessischen Denkmalschutzgesetz. Nachforschungen und gezieltes Sammeln von Funden sind genehmigungspflichtig, Zufallsfunde an die Denkmalbehörden zu melden. Siehe auch Liste der Kastelle am Obergermanisch-Raetischen Limes Literatur Dietwulf Baatz: Kastell Hesselbach und andere Forschungen am Odenwaldlimes. Gebr. Mann, Berlin 1973, ISBN 3-7861-1059-X (Limesforschungen, Band 12). Dietwulf Baatz: Das Numeruskastell Hesselbach (Odenwald). Kurzbericht. In: Saalburg-Jahrbuch 25, 1968, S. 185–192. Dietwulf Baatz: Hesseneck-Hesselbach. In ders. und Fritz-Rudolf Herrmann (Hrsg.): Die Römer in Hessen. Lizenzausgabe, Nikol, Hamburg 2002, ISBN 3-933203-58-9, S. 348 f. Dietwulf Baatz: Der Römische Limes. Archäologische Ausflüge zwischen Rhein und Donau. Gebr. Mann, Berlin 2000, ISBN 3-7861-2347-0, S. 192–194. Ernst Fabricius, Felix Hettner, Oscar von Sarwey (Hrsg.): Der obergermanisch-raetische Limes des Roemerreiches, Abteilung A, Band 5: Strecke 10 (Der Odenwaldlimes von Wörth am Main bis Wimpfen am Neckar), 1926, 1935; S. 62–68 sowie Tafel 7, Abb. 2, Tafel 8, Abb. 1–2, Tafel 16, Tafel 18, Abb. 2. Holger Göldner, Fritz-Rudolf Herrmann: Wachtposten 10/30 „In den Vogelbaumhecken“ und Kastell Hesselbach am Odenwaldlimes. Amt für Denkmalpflege Hessen, Wiesbaden 2001, ISBN 3-89822-154-7 (Archäologische Denkmäler in Hessen, 154). Margot Klee: Der römische Limes in Hessen. Geschichte und Schauplätze des UNESCO-Welterbes. Verlag Friedrich Pustet, Regensburg 2009, ISBN 978-3-7917-2232-0, S. 196–199. Friedrich Kofler: In: Der obergermanisch-raetische Limes des Roemerreiches (Hrsg. Ernst Fabricius, Felix Hettner, Oscar von Sarwey): Abteilung B, Band 5, Kastell Nr. 50 (1896). Egon Schallmayer: Der Odenwaldlimes. Entlang der römischen Grenze zwischen Main und Neckar. Theiss, Stuttgart 2010, ISBN 978-3-8062-2309-5, S. 104–110. Egon Schallmayer: Der Odenwaldlimes. Neueste Forschungsergebnisse. Beiträge zum wissenschaftlichen Kolloquium am 19. März 2010 in Michelstadt. Saalburgmuseum, Bad Homburg 2012, ISBN 978-3-931267-07-0 (Saalburg-Schriften, 8). Weblinks Hesselbach und der Odenwaldlimes auf einer privaten Webpräsenz Einzelnachweise Anmerkungen Römisches Bauwerk in Hessen Römische Befestigungsanlage (Germania superior) Bodendenkmal in Hessen Kastell Hesselbach Geographie (Oberzent) Kultur (Oberzent) Archäologischer Fundplatz in Europa Archäologischer Fundplatz im Odenwaldkreis
1645912
https://de.wikipedia.org/wiki/Yagan%20%28Noongar%29
Yagan (Noongar)
Yagan (spr. ) (* vermutlich 1795; † 11. Juli 1833 in Belhus, einem Vorort von Perth) war ein Krieger der Noongar, eines Aborigine-Stammes Australiens. Im Widerstand der Bevölkerung der Region um Perth gegen die Inbesitznahme des Landes durch Europäer spielte er eine wesentliche Rolle. Yagan wurde im Juli 1833 von einem jungen Siedler erschossen, nachdem er eine Reihe von Angriffen auf Weiße angeführt hatte und deswegen für seine Gefangennahme oder Tötung ein Kopfgeld ausgesetzt worden war. Yagans Tod ist als Symbol für die Konflikte zwischen der indigenen Bevölkerung Australiens und den europäischen Siedlern in die westaustralische Folklore eingegangen. Yagans Kopf wurde nach seiner Erschießung nach London gebracht und dort zunächst als anthropologische Kuriosität ausgestellt. Nachdem der Kopf über ein Jahrhundert lang in einem Museumsspeicher aufbewahrt worden war, wurde er 1964 auf einem Liverpooler Friedhof beigesetzt. 1993 konnte dieses Grab lokalisiert werden und vier Jahre später wurde der Kopf exhumiert und nach Australien zurückgebracht. Die angemessene Zeremonie zur Beerdigung dieses Kopfes wurde lange Zeit unter den indigenen Einwohnern der Region Perth kontrovers diskutiert. Der Schädel von Yagan wurde im Juli 2010, 177 Jahre nach seinem Tod, in einer traditionellen Beisetzungszeremonie der Aborigines in der Nähe von Perth im Swan Valley, an der Stelle, an der er erschossen wurde, beigesetzt. Leben Stammeszugehörigkeit und Familie Yagan gehörte dem Stamm der Whadjuk-Noongar an und zählte nach den Informationen von Robert Lyon innerhalb dieses Stammes zu einem etwa 60 Personen zählenden Aborigine-Stamm, den Lyon als „Beeliar“ bezeichnete. Robert Lyon war ein zeitgenössischer australischer Siedler, der sich um eine Verständigung mit den Aborigines bemühte. Seine Informationen sind jedoch nicht immer zuverlässig. Heute vermutet man eher, dass die Beeliar lediglich ein Familienverband innerhalb eines größeren Stammes war, der nach Daisy Bates als Beelgar bezeichnet wurde. Nach den Informationen von Robert Lyon zog der Verband der Beeliar in einem Gebiet umher, das vom Südufer der Flüsse Swan und Canning bis zur Mangles Bay reichte. Offensichtlich besaß die Gruppe aber viel umfangreichere Gebietsansprüche, die im Norden bis zum Lake Monger und nordöstlich bis zum Helena River reichten. Sie konnten sich auch auf benachbarten Gebieten ungewöhnlich frei bewegen, was möglicherweise auf Verwandtschafts- oder Ehebeziehungen mit den benachbarten Stämmen zurückzuführen ist. Wie alle Stämme der Aborigines betrieben die Beeliar keine Landwirtschaft im europäischen Sinne. Sie waren Sammler und Jäger, die nur dann länger an einem Ort blieben, wenn das Nahrungsangebot vor Ort sehr reichlich war. Yagan wurde vermutlich um 1795 geboren. Sein Vater war Midgegooroo, ein Elder der Beeliar, seine Mutter wahrscheinlich eine von Midgegooroos beiden Ehefrauen. Yagan war in der Klassifikation der Noongar möglicherweise ein Ballaroke. Laut dem Historiker Green hatte er eine Frau und zwei Kinder, die meisten Historiker sind jedoch der Überzeugung, dass Yagan unverheiratet und kinderlos war. Er wird als überdurchschnittlich groß und eindrucksvoll stämmig beschrieben. Eine Tätowierung auf seiner rechten Schulter identifizierte ihn als „Mann von hohem Rang im Stammesrecht“. Er galt allgemein als der kräftigste Vertreter seines Stammes. Zeitgenössische Dokumente schrieben seinen Namen Egan oder Eagan, was nahelegt, dass die korrekte Aussprache näher an lag als die heutige Version . Der Beginn der Besiedlung durch Europäer Yagan war etwa 35 Jahre alt, als im Jahre 1829 britische Siedler begannen, im Gebiet der Noongar zu siedeln. Zu den Gründungen der Siedler zählte unter anderem die Swan River Colony, deren Siedlungsgebiet auf dem Land der Beeliar lag. Während der ersten zwei Jahre, in denen diese Siedlung bestand, waren die Beziehungen zwischen den europäischen Siedlern und den Aborigines überwiegend freundlich. Die beiden Gruppen konkurrierten noch nicht um die Ressourcen des Landes, und die Noongar begriffen die weißen Siedler als Djanga oder wiedergekehrte Geister der Noongar-Ahnen. Mit dem Wachsen der Siedlung nahmen jedoch auch allmählich die Konflikte zwischen den beiden Kulturen zu. Die Siedler waren der Auffassung, dass den Noongar als Nomaden kein Besitzrecht auf das Land zustand, das diese in ihrer traditionellen Lebensweise durchstreiften. Sie fühlten sich daher im Recht, Land für Beweidung und Ackerbau einzuzäunen. Den Noongar wurde damit zunehmend der Zugang zu ihren traditionellen Jagdgebieten und heiligen Stätten verwehrt. Bereits 1832 war der Gruppe, zu der Yagan gehörte, der Zugang zum Swan oder Canning River nahezu unmöglich, da sich die Siedler bevorzugt entlang der Flussufer angesiedelt hatten. Die Noongar reagierten auf den Verlust ihrer Jagd- und Sammelgebiete, indem sie zunehmend Anbauflächen der Siedler abernteten oder die Rinder der Siedler erlegten. Außerdem begannen sie, die ihnen bislang unbekannten Lebensmittel der Siedler zu schätzen. Die zunehmende Aneignung von Mehl oder anderen Lebensmitteln durch die Noongar war nach den Maßstäben der Siedler ein zu bestrafender Diebstahl und stellte außerdem ein potentiell bedrohliches Problem für die Siedlung dar. Zur traditionellen Landnutzung der Noongar gehörte außerdem ein regelmäßiges Abbrennen von Flächen. Dieses Abbrennen scheuchte nicht nur jagdbares Wild auf, sondern förderte auch das Wachstum einer Reihe von Pflanzen, die in der Ernährung der Aborigines eine Rolle spielten. Es ist eine Form der Landbewirtschaftung, die heute teilweise in Australien wieder praktiziert wird, weil sie eine den Gegebenheiten dieses Kontinents angemessene Form des Landmanagements ist. Aus Sicht der Siedler stellten die Feuer eine Bedrohung ihrer Anbauflächen und Häuser dar. Die ersten Konflikte Die erste bedeutsame Auseinandersetzung zwischen Aborigines und weißen Siedlern im westlichen Australien ereignete sich im Dezember 1831. Thomas Smedley, ein Arbeiter auf der Farm von Archibald Butler, lauerte einigen Aborigines auf, die ein Kartoffelfeld der Siedler abernteten, und erschoss einen von ihnen. Der Tote gehörte zum Familienverband von Yagan. Einige Tage nach diesem Vorfall überfielen Yagan, Midgegooroo und einige andere das Farmhaus von Archibald Butler. Als sie die Eingangstür des Hauses verschlossen fanden, begannen sie ein Loch in die aus Lehmziegeln bestehenden Hauswände zu schlagen. Im Hausinnern befand sich Erin Entwhistle, ein weiterer Arbeiter auf der Butler-Farm, mit seinen zwei Söhnen Enion und Ralph. Nachdem er seine Söhne unter einem Bett versteckt hatte, öffnete Entwhistle die Tür, um mit den Angreifern zu verhandeln. Er wurde sofort von den Speeren von Yagan und Midgegooroo durchbohrt. Das Stammesrecht der Noongar verlangte, dass ein Mord durch den Tod eines Mitglieds aus dem Familienverband des Mörders gesühnt wurde. Der Tote musste dabei keineswegs zwangsläufig der Mörder sein. Die Ermordung von Erin Entwhistle konnte daher aus der Sicht der Noongar, die die zur Farm der Butler gehörenden Personen vermutlich als einen Familienverband ansahen, als die angemessene Sühne für die zuvor erfolgte Ermordung des eigenen Familienmitglieds angesehen werden. Für die weißen Siedler war es eine unprovozierte Ermordung eines unschuldigen Mannes. Im Juni 1832 führte Yagan einen Angriff der Aborigines gegen zwei Arbeiter, die auf einem Feld am Canning in der Nähe von Kelmscott Weizen säten. Einer der beiden Männer konnte fliehen. Der zweite mit Namen William Gaze wurde verwundet und starb später an seinen Verletzungen, die sich wahrscheinlich infiziert hatten. Yagan wurde daraufhin zum Gesetzlosen erklärt. Für seine Ergreifung setzte man eine Belohnung von 20 £ aus. Er konnte der Verhaftung entgehen, bis Anfang Oktober 1832 eine Gruppe von Fischern Yagan und zwei seiner Freunde in ihr Boot lockten und mit ihnen aufs Meer hinausfuhr. Die drei Noongar wurden zunächst im Wachhaus von Perth eingesperrt und später in das Round House bei Fremantle überführt. Yagan wurde zum Tode verurteilt. Dass das Todesurteil nicht vollstreckt wurde, verdankte er Robert Lyon, der argumentierte, dass Yagan lediglich sein Land gegen die Inbesitznahme durch weiße Siedler verteidige und daher kein Krimineller, sondern ein Kriegsgefangener sei und deswegen auch als solcher behandelt werden müsse. Bis zur Entscheidung des Gouverneurs über die Beurteilung des Falles wurden auf Vorschlag von John Septimus Roe Yagan und seine zwei Freunde auf die Insel Carnac verbannt. Dort standen sie unter der Überwachung von Robert Lyon und zweier Soldaten. Lyon war überzeugt, dass er Yagan zivilisieren und ihn zum Christentum bekehren könne. Da Yagan innerhalb seines Stammes ein hohes Ansehen genoss, war Lyon davon überzeugt, dass durch Yagan die Noongar davon überzeugt werden könnten, die Autorität der Weißen anzuerkennen. Um dies zu erreichen, verbrachte Lyon viele Stunden mit Yagan, um unter anderem seine Sprache sowie seine Lebensauffassung zu erlernen. Yagan und seine Begleiter entkamen allerdings bereits nach einem Monat von der Insel. Ihnen gelang es, ein unbewachtes Dingi zu stehlen und dieses bis nach Woodman Point auf dem Festland zu rudern. Versuche, die drei Männer wieder festzusetzen, wurden nicht unternommen. In der Region des King George Sund lebten andere Familiengruppen der Noongar und dort waren die Beziehungen zwischen den Siedlern und den Aborigines nach wie vor freundlich. Als im Januar 1833 Gyallipert und Manyat, zwei Noongar aus dieser Region, Perth besuchten, organisierten die zwei Siedler Richard Dale und George Smythe ein Treffen zwischen den lokalen Noongar und diesen zwei Männern. Sie verbanden damit die Hoffnung, dass das Beispiel der Noongar vom King George Sund die vor Ort ansässigen Noongar überzeugen könne, eine ähnlich gute Beziehung zur Swan River Colony aufzubauen. Am 26. Januar 1833 führte Yagan eine Gruppe von zehn formell bewaffneten Männern an, die in der Nähe des Lake Monger mit den zwei Männern vom King George Sund zusammentrafen. Die beiden Gruppen tauschten Waffen untereinander aus und hielten ein Corroboree ab, obwohl sie sich offenbar auf Grund von Dialektunterschieden nicht unterhalten konnten. Yagan und Gyallipert traten dann in einem Speerwurf-Wettbewerb gegeneinander an, bei dem Yagan unter Beweis stellte, dass er mit seinem Speer noch einen 25 Meter entfernten Stock treffen konnte. Gyallipert und Manyat blieben für einige Wochen in der Region um Perth und Yagan holte sich die Erlaubnis ein, ein weiteres Corroboree abzuhalten. Der Ort des Zusammentreffens war diesmal der Garten des Postgebäudes in Perth. In der Abenddämmerung des 3. März trafen sich die Noongar aus Perth und King George Sund, kreideten ihre Körper ein und führten eine Reihe ihrer traditionellen Tänze auf, darunter den Känguru-Jagd-Tanz. Die örtliche Zeitung, die Perth Gazette, schrieb dazu, dass Yagan nicht nur der Zeremonienmeister dieses Abends gewesen sei, sondern sich auch durch „körperliche Anmut und Würde“ ausgezeichnet habe. Während der Monate Februar und März 1833 war Yagan in eine Reihe von kleineren Konfrontationen zwischen Noongar und weißen Siedlern involviert. Im Februar hatte sich der Siedler William Watson darüber beschwert, dass Yagan gewaltsam die Tür seines Hauses geöffnet habe, nach einem Gewehr verlangte, sich Taschentücher aneignete und dass Watson ihm und seinen Begleitern Mehl und Brot geben musste. Im März gehörte Yagan zu einer Gruppe von Noongar, die von einem Militärkontingent unter Leitung von Leutnant Norcott Zwieback erhielten. Als Leutnant Norcott die Menge des Zwiebacks begrenzen wollte, die den Noongar gegeben wurde, bedrohte ihn Yagan mit dem Speer. Wenig später im selben Monat drang Yagan mit einer Gruppe anderer Noongar erneut in das Haus von Watson ein. William Watson selbst war nicht anwesend und die Noongar verließen das Haus erst, als Watsons Frau ihre Nachbarn zur Hilfe holte. Für die Perth Gazette war dies der Anlass, sich über die „rücksichtslosen Kühnheiten dieses Desperados“ auszulassen, der „sein Leben für den Gegenwert einer Stecknadel riskiert […]. Er würde aus dem nichtigsten Anlass heraus jedem Menschen, der ihn provoziert, das Leben nehmen. Er ist derjenige, der hinter jedem Unfug steckt“. Zum Gesetzeslosen erklärt In der Nacht des 29. April 1833 brach eine Gruppe von Noongar in einen Laden in Fremantle ein. Sie wurden von Peter Chidlow überrascht, der auf sie schoss. Domjum, ein Bruder von Yagan, wurde dabei schwer verletzt und starb ein paar Tage später im Gefängnis. Die restlichen Mitglieder der Gruppe zogen von Fremantle nach Preston Point, wo man hörte, wie Yagan Rache für den Tod schwor. Fünfzig bis sechzig Noongar versammelten sich in Bull Creek in Sichtweite der High Road, wo sie auf eine Gruppe von Siedlern trafen, die Wagen mit Vorräten beluden. Später am Tag überfielen sie den führenden Wagen aus dem Hinterhalt und töteten Tom und John Velvick mit Speeren. Das Stammesrecht der Noongar verlangte nur den Tod eines Mannes, um Domjum zu sühnen. Der Aborigine Munday erklärte später, dass beide Velvicks getötet worden wären, weil sie zuvor Aborigines misshandelt hätten. Tatsächlich waren die Velvicks früher bereits verurteilt worden, weil sie Aborigines und farbige Seeleute angegriffen hatten. Alexandra Hasluck nannte den Wunsch, die Vorräte zu stehlen, als wichtiges Motiv für den Angriff, was aber von anderen Forschern abgelehnt wird. Vizegouverneur Frederick Irwin erklärte Yagan, Midgegooroo und Munday wegen der Ermordung der Velvicks zu Geächteten. Für die Gefangennahme von Midgegooroo und Munday wurden jeweils 20 Pfund Belohnung ausgesetzt. Wem es dagegen gelingen sollte, Yagan gefangen zu nehmen oder zu töten, sollte 30 Pfund erhalten. Der Aborigine Munday legte dagegen erfolgreich Einspruch ein. Midgegooroo und Yagan scheint es klar gewesen zu sein, dass die Siedler nun Jagd auf sie machen würden. Ihre Gruppe verließ sofort die Region, in der sie traditionell umherstreiften, und zog nach Norden in Richtung des Helena River. Dort wurde vier Tage nach der Ermordung der beiden Velvicks Midgegooroo gefangen. Nach einem kurzen, formlosen Gerichtsprozess wurde Midgegooroo durch ein Erschießungskommando hingerichtet. Yagan konnte seiner Gefangennahme weitere zwei Monate entgehen. Gegen Ende Mai traf George Fletcher Moore auf seiner Farm im Gebiet von Upper Swan auf Yagan und die zwei unterhielten sich zunächst in Pidgin-Englisch. Yagan wechselte während dieser Unterhaltung in seine eigene Sprache und Moore hielt in seinem später veröffentlichten Tagebuch fest: Da Moore nur sehr wenig von Yagans Sprache beherrschte, hat die Historikerin Hasluck allerdings darauf hingewiesen, dass dieser Tagebucheintrag mehr die moralische Gefühlswelt eines europäischen Siedlers in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts widerspiegelt als das, was Yagan zu diesem Zeitpunkt gedacht und gefühlt haben mag. Yagan fragte dann Moore darüber aus, ob Midgegooroo noch am Leben sei. Moore selbst gab auf diese Frage keine Antwort. Einer von Moores Arbeitern behauptete an seiner Stelle, dass Midgegooroo auf der Carnac Insel gefangen gehalten werde. Yagan antwortete darauf mit der Drohung: „White man shoot Midgegooroo, Yagan kill three“ (Weißer Mann erschießt Midgegooroo, Yagan tötet drei). Moore selber unternahm keinerlei Versuche, Yagan gefangen zu nehmen, meldete aber an den nächsten Friedensrichter, dass Yagan sich in der Region aufhalte. In seinem Tagebuch hielt George Fletcher Moore fest: Yagans Tod Am 11. Juli 1833 kam es nördlich von Guildford erneut zu einer Begegnung zwischen Weißen und Yagan. Die beiden Brüder William und James Keates, die beide noch im Teenager-Alter waren, trieben eine Herde von Rindern entlang des Ufers des Swan Rivers. Ihnen kam eine Gruppe von Noongar entgegen, die auf dem Weg zu Henry Bulls Haus war, um dort ihre Ration Mehl zu erhalten. In der Gruppe befand sich auch Yagan. Die Brüder und Yagan kannten sich durch frühere Begegnungen und waren bislang freundschaftlich miteinander umgegangen. Die Keates-Brüder schlugen daher vor, dass Yagan bei ihnen bleiben sollte, um sich nicht der Gefahr einer Gefangennahme bei Henry Bulls Haus auszusetzen. Yagan nahm den Vorschlag an und blieb während des gesamten Vormittags bei den beiden Brüdern. Im Laufe des Vormittags allerdings beschlossen die beiden Brüder, Yagan zu töten und anschließend die Belohnung zu kassieren. Beim ersten Versuch von William Keates, unbemerkt auf Yagan anzulegen und ihn zu erschießen, blockierte das Gewehr und der Versuch scheiterte. Vor der Rückkehr der anderen Noongar von Henry Bulls Mühle bot sich den beiden Brüdern keine Gelegenheit mehr, Yagan zu töten. Erst als die Noongar sich von den Brüdern trennen wollten, um weiterzuziehen, bot sich den Brüdern erneut eine Schussmöglichkeit. William Keates erschoss Yagan und James Keates einen weiteren Aborigine mit dem Namen Heegan, als dieser einen Speer in ihre Richtung schleuderte. Die beiden Brüder rannten in Richtung Fluss. William Keates wurde allerdings von den überlebenden Noongar eingeholt und von ihren Speeren getötet. James Keates konnte schwimmend den Fluss durchqueren und eine Gruppe bewaffneter Siedler von Henry Bulls Anwesen herbeiholen. George Fletcher Moore hat diesen Vorfall in seinem Tagebuch ebenfalls festgehalten und berichtet, dass eine Gruppe von Soldaten kurz nach dem Vorfall in der Nähe vorbeikam. Nach Moores Überzeugung war es ihre Nähe, die verhinderte, dass die Noongar die Körper von Yagan und Heegan bargen. Als die Gruppe der bewaffneten Siedler wenig später eintraf, fand sie Yagan tot und Heegan sterbend vor. Heegan hatte schwere Kopfverletzungen und lag stöhnend am Boden. Einer der Siedler setzte das Gewehr an Heegans Kopf und erschoss ihn. Moore lässt offen, ob dies aus einem Rache- oder Mitgefühl geschah. Yagans Kopf wurde vom Körper abgetrennt und sein Rücken gehäutet, um seine Stammestätowierungen als Trophäe aufzubewahren. Beide Körper wurden in unmittelbarer Nähe beerdigt. James Keates, der die Belohnung für Yagans Erschießung erhielt, wurde für sein Verhalten überwiegend kritisiert. Die Perth Gazette bezeichnete die Erschießung Yagans als eine unüberlegte und verräterische Tat. Die Zeitung schrieb auch, dass es abstoßend und abscheulich sei, diesen Vorgang als verdienstvoll zu loben. James Keates verließ die Kolonie noch im folgenden Monat. Die Gründe sind unbekannt. Es ist aber nicht unwahrscheinlich, dass er eine tödliche Vergeltung seitens der Noongar befürchtete. Yagans Kopf Ausstellung und Begräbnis Yagans Kopf war zunächst zu Henry Bulls Haus gebracht worden. George Fletcher Moore sah den Kopf dort und skizzierte ihn mehrmals in seinem Tagebuch. Er hielt damals bereits fest, dass dieser Kopf möglicherweise in Großbritannien in einem Museum ausgestellt werden könnte. Um den Kopf vor der Verwesung zu bewahren, wurde er in einem hohlen Baum aufgehängt und mehrere Wochen über einem Eukalyptusfeuer geräuchert. Im September 1833 nahm der Ensign Robert Dale Yagans Kopf mit nach London. Nach Meinung des Historikers Paul Turnbull überzeugte Robert Dale den verantwortlichen Gouverneur Irwin, ihm den Kopf als „anthropologische Kuriosität“ zu überlassen. Nach seiner Ankunft in London trat Dale an eine Reihe von Anatomen und Phrenologen heran und versuchte, ihnen den Kopf für 20 Pfund zu verkaufen. Als niemand Interesse bekundete, überließ er den Kopf ein Jahr lang Thomas Pettigrew. Pettigrew war Arzt und Antiquar, der in der Londoner Gesellschaft bekannt dafür war, private Abendgesellschaften zu veranstalten, bei denen er unter anderem Autopsien an altägyptischen Mumien vornahm. Pettigrew zeigte Yagans Kopf auf einem Tisch vor einem Panorama des King George Sunds, das nach Skizzen von Dale gemalt worden war. Um den Effekt des Kopfes zu erhöhen, wurde der Kopf mit einem Stirnband und Kakadufedern verziert. Thomas Pettigrew ließ den Kopf auch durch einen Phrenologen untersuchen. Die Untersuchungen wurden jedoch erschwert, weil die Schädelknochen am Hinterkopf Frakturen aufwiesen. Die Befunde des Phrenologen entsprachen erwartungsgemäß dem zeitgenössischen europäischen Bild über die Charaktereigenschaften der indigenen Bevölkerung Australiens und waren Bestandteil einer Publikation von Dale über den King George Sund und das angrenzende Land, die unter anderem von Pettigrew als Erinnerung an die Gäste seiner Abendveranstaltungen verkauft wurde. Das Deckblatt des Pamphlets war eine handkolorierte Aquatinta von George Cruikshank, die Yagans federgeschmückten Kopf zeigte. Anfang Oktober 1835 gab Thomas Pettigrew sowohl Yagans Kopf als auch das Panoramagemälde an Robert Dale zurück. Dale lebte zu dem Zeitpunkt in Liverpool. Er übergab beides der Liverpool Royal Institution, wo der Kopf möglicherweise gemeinsam mit anderen, ähnlichen Kopfpräparaten sowie Wachsmodellen ausgestellt wurde. 1894 wurde diese Sammlung aufgelöst und Yagans Kopf dem Liverpool Museum übergeben. Es ist verhältnismäßig sicher, dass diese Institution den Kopf nie in ihren Schauräumen zeigte. Der Kopf wurde wahrscheinlich lediglich in den Lagerräumen des Museums aufbewahrt. Zu Beginn der 1960er Jahre zeigte Yagans Kopf deutliche Verfallsspuren und im April 1964 wurde entschieden, dass der Kopf entsorgt werden sollte. Am 10. April 1964 wurde Yagans Kopf gemeinsam mit einer peruanischen Mumie und einem -Kopf in eine Sperrholzkiste gelegt und auf dem Everton Friedhof in Liverpool beerdigt. In den folgenden Jahren wurden die benachbarten Gräber belegt und 1968 ließ ein ortsansässiges Krankenhaus in dem Grab, in dem sich die Sperrholzkiste mit den Überresten von Yagans Kopf befanden, die Leichen von 20 Totgeburten sowie von zwei Babys, die ihre ersten 24 Lebensstunden nicht überlebt hatten, beerdigen. Das war möglich, weil die Sperrholzkiste 1964 sehr tief beigesetzt worden war. Kampf um die Repatriierung Es lässt sich nicht genau datieren, ab wann Noongar-Gruppen Schritte unternahmen, um Yagans Kopf zurückzuerhalten. Die ersten Aktivitäten lassen sich mindestens bis in die frühen 1980er Jahre zurückverfolgen. Nach dem Glauben der Aborigines bleibt ein Geist eines Toten mit der Erde verbunden, wenn sein Körper nicht vollständig und an einer Stelle beerdigt wird. Eine Beisetzung von Yagans Kopf dort, wo auch der Torso begraben war, würde bedeuten, dass sein Geist endlich die Ewigkeitsreise würde antreten können. Zu Beginn der achtziger Jahre war den Noongar unbekannt, was mit Yagans Kopf geschehen war, nachdem Thomas Pettigrew ihn an Robert Dale wieder zurückgegeben hatte. Ken Colbung wurde von den Ältesten des Noongar-Stammes damit beauftragt, diesbezüglich Nachforschungen anzustellen. Nachfragen bei verschiedenen britischen Museen nach dem Verbleib des Kopfes blieben zunächst erfolglos. In den frühen 1990er Jahren gelang es Ken Colbung, die Unterstützung des Archäologen Peter Ucko von der University of London zu gewinnen. Mit Mitteln der australischen Regierung wurde Cressida Fforde, eine von Uckos Mitarbeiterinnen, damit beauftragt, in Veröffentlichungen der damaligen Zeit nach Informationen über den Verbleib von Yagans Kopf zu recherchieren. Dies erwies sich als erfolgreich. Im Dezember 1993 wusste man, dass der Kopf an das Liverpool Museum übergeben und 1964 beigesetzt worden war. Im April 1994 stellte Colbung den Antrag, den Kopf nach „Section 25 of the Burial Act 1857“ exhumieren zu dürfen. Dazu wäre nach britischem Recht die Einwilligung der jeweils nächsten Verwandten der 22 Kleinkinder notwendig gewesen, die ebenfalls in dem Grab beerdigt waren. Mit der Argumentation, dass die Exhumierung für Yagans noch lebende Verwandte von großer persönlicher Wichtigkeit sei und dass die Wiederauffindung auch Bedeutung für die australische Nation habe, versuchten Ken Colbungs Anwälte diese Forderung allerdings auszusetzen. Mittlerweile war es innerhalb der Noongar-Gemeinde von Perth zu Streitigkeiten gekommen. Die Beauftragung von Ken Colbung, der kein reinblütiger Aborigine war, wurde von einer Reihe von Elders hinterfragt. Ein Noongar reichte sogar eine offizielle Beschwerde über Colbungs Rolle in der geplanten Exhumierung und Rückführung von Yagans Kopf beim Stadtrat von Liverpool ein. Die Debatte innerhalb der Noongar-Gemeinde, welche kulturellen Qualifikationen jemand haben müsse, der sich um die Wiedererlangung des Kopfes kümmere, wurde teilweise mit Verbitterung geführt und in den Medien kommentiert. Am 25. Juli 1994 wurde in Perth ein öffentliches Treffen veranstaltet, bei dem die zu diesem Zeitpunkt involvierten Parteien übereinkamen, dass man die Streitigkeiten beilegen und kooperieren wolle, um möglichst schnell eine Rückführung des Kopfes zu erreichen. Ken Colbung durfte seine Arbeit fortsetzen; ihm wurde ein „Yagan Steering Committee“ als Beirat zur Seite gestellt. Im Januar 1995 entschied das britische Home Office, dass sie auf die Einwilligung der Verwandten der in dem Grab beigesetzten 22 Kleinkinder bestehen müsse, bevor eine Exhumierung vorgenommen werden könne. Das Home Office kontaktierte fünf Familienangehörige, deren Adresse man ausfindig machen konnte. Eine uneingeschränkte Einwilligung gab nur eine Familie. Am 30. Juni 1995 wurde daher Ken Colbung mitgeteilt, dass man keine Bewilligung für die Exhumierung erteilen könne. Das Yagan Steering Committee traf sich am 21. September 1995 und entschied, dass man sich zunächst darauf konzentrieren wolle, die Unterstützung von australischen und britischen Politikern zu gewinnen. Dieses Vorgehen resultierte in einer Einladung für Colbung nach Großbritannien auf britische Regierungskosten. Colbung kam am 20. Mai 1997 in Großbritannien an. Über seinen Besuch in Großbritannien wurde umfangreich in der britischen Presse berichtet. Dies erhöhte den politischen Druck auf die britische Regierung, ebenfalls nach einer Lösung zu suchen. Während Colbungs Aufenthalt in Großbritannien hielt sich auch der australische Premierminister John Howard anlässlich einer Staatsvisite in Großbritannien auf. Ken Colbung gelang es während dieser Visite, ein Gespräch mit John Howard zu erzwingen und damit auch die persönliche Unterstützung des australischen Premierministers zu erhalten. Exhumierung Während sich Colbung im Vereinigten Königreich aufhielt, waren Martin und Richard Bates mit einer geophysikalischen Untersuchung der Begräbnisstätte beauftragt. Mit Elektromagneten und Bodenradar konnten sie die ungefähre Position der Sperrholzkiste in der Grabstätte lokalisieren. In ihrem anschließenden Bericht wiesen sie auch auf die Möglichkeit hin, die Sperrholzkiste von einem benachbarten Grab aus zu erreichen, ohne die Totenruhe der oberhalb der Sperrholzkiste beigesetzten Kleinkinder zu stören. Die Untersuchung wurde an das britische Home Office weitergeleitet und führte zu weiteren Gesprächen zwischen der britischen und australischen Regierung. In der Zwischenzeit erhielt das britische Home Office eine unbekannt gebliebene Anzahl von Briefen, in denen Einwände gegen Ken Colbungs Rolle in der Rückführung des Kopfes erhoben wurde. Das Home Office wandte sich an die australische Regierung, um überprüfen zu lassen, ob Ken Colbung zu Recht die führende Rolle in diesem Prozess spielte. Als Reaktion darauf bat Colbung die Ältesten der Noongar, von der Aboriginal and Torres Strait Islander Commission (ATSIC) seine Funktion bestätigen zu lassen. Die ATSIC trat daraufhin in Perth zusammen und bestätigte erneut Ken Colbungs Auftrag. Trotz dieser internen Zwistigkeiten versuchte Ken Colbung weiterhin die Exhumierung durchzusetzen. Er bat darum, dass die Exhumierung möglichst vor dem 11. Juli 1997 durchgeführt werde, damit der 164. Jahrestag des Todes von Yagan für eine angemessene Feier genutzt werden könnte. Seiner Bitte wurde jedoch nicht entsprochen und an dem Jahrestag hielt Colbung lediglich eine kleine Gedenkfeier an der Grabstätte auf dem Liverpooler Friedhof ab. Am 15. Juli 1997 kehrte er mit leeren Händen nach Australien zurück. Ohne dass Colbung davon Kenntnis hatte, begann man in Großbritannien endlich, Yagans Kopf zu exhumieren. Dazu wurde an der Seite des Grabes ein sechs Fuß tiefer Schacht ausgehoben und von dort aus horizontal in Richtung der Stelle gegraben, an der man die Sperrholzkiste vermutete. Die Exhumierung konnte so erfolgen, ohne die Überreste der anderen dort Beerdigten zu stören. Am nächsten Tag wurde durch den forensischen Paläontologen der University of Bradford bestätigt, dass es sich beim Fund um Yagans Kopf handelt. Die Bruchstellen am Hinterkopf, die ausführlich in zeitgenössischen Berichten beschrieben waren, stimmten mit dem ausgegrabenen Schädel überein. Der Schädel wurde bis zum 29. August in einem Museum aufbewahrt und dann dem Stadtrat von Liverpool übergeben. Repatriierung Am 27. August 1997 reiste eine Delegation der Noongar nach Großbritannien, um den Schädel in Empfang zu nehmen. Der Delegation gehörten Ken Colbung, Robert Bropho, Richard Wilkes und Mingli Wanjurri-Nungala an und sie sollte ursprünglich aus noch mehr Noongar-Mitgliedern bestehen. Die Finanzierung der Reise der Noongar durch offizielle Stellen des britischen Commonwealths scheiterte kurz vor der Abreise, die Delegation musste daher auf vier Personen begrenzt werden. Die Übergabe verzögerte sich jedoch, da ein Noongar namens Corrie Bodney beim Supreme Court (Oberstes Gericht) von Western Australia eine einstweilige Verfügung beantragte. Mit Verweis auf die alleinige Verantwortung seiner Familie für Yagans Überreste erklärte er die Exhumierung für illegal und leugnete die Existenz einer Tradition oder eines Glaubens, der die Exhumierung und die Rückkehr nach Australien erforderte. Dem Supreme Court von Western Australia war es rechtlich nicht möglich, einen Eilbeschluss zu fassen, der für die britische Regierung bindend gewesen wäre. Er wandte sich stattdessen mit der Bitte an die Regierung des australischen Bundesstaates Westaustralien, bei der britischen Regierung einen vorläufigen, förmlichen Einspruch gegen die Übergabe einzulegen. Die britische Regierung stoppte daraufhin tatsächlich die Übergabe, bis über den Einspruch von Bodney entschieden war. Am 29. August wies das Gericht die Klage zurück, da Bodney zuvor mit dem Vorgang einverstanden gewesen sei und ein Noongar-Älterer und ein Anthropologe, die als Zeugen gehört worden waren, Bodneys Anspruch auf alleinige Verantwortung zurückwiesen. Am 31. August 1997 wurde in einer Zeremonie in der Liverpool Town Hall Yagans Schädel an die Noongar-Delegation überreicht. Am Morgen dieses Tages war Diana, Princess of Wales tödlich verunglückt und die Worte, mit denen Ken Colbung den Schädel entgegennahm, wurden mit diesem Unglücksfall in Verbindung gebracht. Colbung hatte bei der Übergabe gesagt Ken Colbungs Kommentar löste in Australien ein großes Medienecho aus; australische Zeitungen erhielten zahlreiche Briefe ihrer Leser, die Schock und Verärgerung über diese Äußerungen ausdrückten. Ken Colbung hat später behauptet, dass man seinen Kommentar fehlinterpretiert habe. Die Diskussion über die geeignete Beerdigungsstätte Auch nach seiner Rückkehr nach Perth war Yagans Kopf weiterhin der Anlass für Kontroversen und Konflikte. Für die erneute Bestattung des Kopfes wurde ein Komitee ernannt, dem Richard Wilkes vorstand. Die Beerdigung wurde jedoch durch Diskussionen zwischen den Ältesten der Noongar verzögert. Der genaue Bestattungsort von Yagans Torso war unbekannt und die Ältesten waren sich uneinig, wie wichtig es sei, den Kopf dort zu beerdigen, wo auch der Körper bestattet lag. Man versuchte mehrfach, den genauen Bestattungsort von Yagans Torso zu finden. Generell war man der Überzeugung, dass sich das Grab auf einem Grundstück an der West Swan Road in Belhus, einem der äußeren Vorort von Perth, befände. Dort wurden sowohl 1998 als auch 2000 Untersuchungen vorgenommen. Ein Grab konnte allerdings nicht gefunden werden. Das führte zu Diskussionen darüber, ob der Kopf separat vom Körper beerdigt werden könne. Richard Wilkes, der Vorsitzende des Beerdigungskomitees, argumentierte, dass es ausreichend sei, den Kopf dort zu beerdigen, wo Yagan getötet wurde. Die „Traumzeit-Geister“ würden die leiblichen Überreste dann zusammenführen. Auch offizielle australische Regierungsstellen mischten sich in diese Diskussion ein. Bereits 1998 hatte die „Western Australian Planning Commission“ und das „Department of Aboriginal Affairs“ gemeinsam ein Dokument mit dem Titel „Yagan’s Gravesite Master Plan“ (Richtschnur für Yagans Beerdigungsstätte) veröffentlicht. In diesem Bericht wurden Überlegungen angestellt, wie zukünftig mit dem Grundstück verfahren werden sollte, auf dem man Yagans Körper vermutete. Vorgeschlagen wurde, das Grundstück in eine traditionelle Beerdigungsstätte für die indigene Bevölkerung von Perth zu verwandeln. Das Grundstück sollte von der Behörde verwaltet werden, die auch für die übrigen Friedhöfe in Perth zuständig war. Der Kopf wurde einige Zeit in einem Banksafe verwahrt und dann an forensische Experten übergeben, die auf Basis des Schädels versuchten, die Gesichtszüge von Yagan zu rekonstruieren. Seitdem befand sich der Kopf im staatlichen Leichenschauhaus von Westaustralien. Die Bestattung des Kopfes wurde mehrfach verschoben und ist nach wie vor die Ursache für eine Reihe von Konflikten zwischen einzelnen Noongar-Gruppen. Dem Beerdigungskomitee wurde wiederholt vorgeworfen, gegen die Wünsche der Noongar-Gemeinde zu handeln und den Kopf auszunutzen, um Parks und Denkmäler in Erinnerung an Yagan errichten zu lassen. Richard Wilkes hält diesen Angriffen entgegen, dass die Mitglieder des Komitees mit Yagan verwandt seien und daher eine angemessene Beerdigung wünschten. Die Beerdigung sei bisher lediglich wegen der Suche nach der richtigen Beerdigungsstelle verzögert worden. Mittlerweile sind auch alternative Vorschläge zur Beisetzung diskutiert worden. Ken Colbung schlug zu Beginn des Jahres 2006 beispielsweise vor, den Kopf verbrennen zu lassen und die Asche auf dem Swan River zu verstreuen. Im Juni 2006 kündigte Richard Wilkes an, dass der Kopf bis Juli 2007 beerdigt sein werde. Am 10. Juli 2010 wurde Yagans Kopf feierlich beigesetzt. An der Zeremonie in Belhus nahmen rund 300 Personen teil, darunter Elders der Noongar und Colin Barnett, der Premierminister von Western Australia. Der Krieger Yagan in der australischen Kultur Yagan als Comic-Figur: Alas Poor Yagan Am 6. September 1997 veröffentlichte die australische Zeitung „The West Australian“ ein Comic von Dean Alston mit dem Titel „Alas Poor Yagan“ (angelehnt an Shakespeare’s Hamlet, Akt 5, Szene 1, etwa mit „Ach, armer Yagan“ zu übersetzen), der sich sehr kritisch darüber ausließ, dass die Rückkehr von Yagans Kopf die Ursache zahlreicher Konflikte innerhalb der Noongar-Gemeinde war statt diese zu einigen. Die Art, wie der Comic das Thema behandelte, konnte dabei durchaus so interpretiert werden, dass er Aspekte der Noongar-Kultur beleidigte. Der Comic hinterfragte außerdem die Motive und die Legitimität nicht reinblütiger Aborigines, die an der Rückführung und der Diskussion über die Beerdigung des Kopfes beteiligt waren. Für eine Gruppe von Noongar-Ältesten war dies der Anlass, sich bei der australischen Gleichstellungsbehörde zu beschweren. Die Behörde entschied tatsächlich, dass sich der Comic in einer nicht angemessenen Weise über Glaubensinhalte der Noongar auslasse. Er verstoße jedoch nicht gegen das Gesetz gegen Rassendiskriminierung. Dies entschied der Federal Court of Australia genauso. Das Yagan-Denkmal Mitglieder der Noongar-Gemeinde hatten sich bereits Mitte der 1970er Jahre dafür eingesetzt, dass in Erinnerung an Yagan ein Denkmal errichtet werden sollte. Das Denkmal sollte anlässlich der 150-Jahr-Feier der Gründung des westaustralischen Bundesstaates im Jahre 1979 errichtet werden. Der Vorschlag der Noongar-Gemeinde fand jedoch kein Gehör. Charles Court, der zu dem Zeitpunkt amtierende Staatsminister dieses australischen Bundesstaates, folgte mit seiner Ablehnung dem damaligen Ratschlag von Historikern, die Yagan als für die westaustralische Geschichte zu unwesentlich einordneten, um ein Denkmal zu rechtfertigen. Ken Colbung behauptet, dass die Mittel, die zur Verfügung gestanden hätten, stattdessen für die Renovierung der Beerdigungsstätte von James Stirling, dem ersten Gouverneur von Westaustralien verwendet wurden. Trotz dieser Ablehnung hielt die Noongar-Gemeinde an der Idee eines Denkmals für Yagan fest. Sie gründete ein Komitee und begannen, Geld für ein solches Denkmal zu sammeln. Mit der Gestaltung des Denkmals wurde der australische Bildhauer Robert Hitchcock beauftragt. Hitchcock schuf eine lebensgroße Bronzestatue, die Yagan nackt mit einem über den Schultern getragenen Speer zeigt. Das Denkmal wurde auf der Heirisson Insel im Swan River nahe Perths errichtet und am 11. September 1984 der Öffentlichkeit übergeben. 1997, nur eine Woche nach der Rückkehr von Yagans Kopf nach Perth, wurde dem Denkmal der Kopf abgeschlagen und gestohlen. Das wiederholte sich ein zweites Mal, nachdem das Denkmal restauriert worden war. Seit der zweiten Renovierung ist das Denkmal bis heute unbeschädigt geblieben. Die Täter konnten nicht gefunden werden, obwohl es ein anonymes Bekennerschreiben gab, in dem behauptet wurde, die Beschädigung des Denkmals sei als Rache für Ken Colbungs Kommentar bei der Übergabe erfolgt, der sich auf den Unfalltod von Diana, Princess of Wales bezog. Im Jahre 2002 schlug allerdings Janet Woollard, ein Mitglied des westaustralischen Landesparlaments vor, dass die Statue überarbeitet und dabei die Geschlechtsteile bedeckt werden sollten. Der Vorschlag wurde im November 2005 auch von Richard Wilkes aufgegriffen. Er argumentierte, dass diese Veränderung dazu beitrüge, ein historisch korrekteres Bild von Yagan wiederzugeben. Yagan habe vermutlich für den größten Teil des Jahres einen Lendenschurz getragen. Zurzeit wird außerdem die Errichtung eines weiteren Denkmals erwogen. Bei diesem neuen Denkmal soll die Kopfform den Erkenntnissen aus der forensischen Gesichtsrekonstruktion entsprechen. Literatur und Film 1964 veröffentlichte Mary Durack einen Jugendroman, der das Leben Yagans in fiktiver Form nacherzählte. Das Buch trug den Titel Der höfliche Wilde: Yagan vom Swan River. Bei seiner Wiederauflegung im Jahre 1976 wurde der Titel des Buches in „Yagan, der Bibbulmun“ geändert, da man den ursprünglichen Titel wegen der Verwendung des Ausdrucks „der Wilde“ als rassistisch begriff. Die wiederholte Köpfung des Yagan-Denkmals im Jahre 1997 veranlasste den Aborigine-Schriftsteller Archie Weller eine Kurzgeschichte mit dem Titel Bekenntnisse eines Kopfgeldjägers (englischer Originaltitel: Confessions of a Headhunter) zu veröffentlichen. Weller arbeitete später mit der Filmregisseurin Sally Riley zusammen, um ein Drehbuch auf Basis dieser Erzählung zu erarbeiten. Aus diesem Drehbuch entstand im Jahre 2000 ein 35 Minuten langer Kurzfilm mit demselben Titel. Sowohl der Film als auch das Drehbuch wurden in Australien mit Preisen ausgezeichnet. Im Jahre 2002 veröffentlichte der in Südafrika geborene, aber mittlerweile in Australien lebende Dichter John Mateer seine vierte Gedichtsammlung mit dem Titel „Loanwords“ (Geliehene Worte). Die Gedichtsammlung ist in vier Teile aufgeteilt. Der dritte Teil trägt den Titel In the Presence of a Severed Head (In Gegenwart eines abgeschlagenen Kopfes). Die dort wiedergegebenen Gedichte befassen sich mit Yagan. Weitere kulturelle Bezüge Im September 1989 wurde eine früh reifende Sorte Gerste in den Handel gebracht, die die Bezeichnung „Hordeum vulgare (Barley) c.v. Yagan“ trägt. Züchter dieser Gerstensorte, die vor allem auf sandigen Böden gut gedeiht, war das „Australian Department of Agriculture“. Die Sorte wird im normalen Sprachgebrauch als „Yagan“ bezeichnet und trägt den Namen in Erinnerung an den Noongar-Krieger. Mit der Namensgebung folgte das „Australian Department of Agriculture“ dem Brauch, dass in Westaustralien gezüchtete Getreidesorten nach historischen Persönlichkeiten der westaustralischen Geschichte benannt werden. Weblinks Einzelnachweise Person (Australien) Geschichte der Aborigines Aborigines (Krieger) Geboren im 18. Jahrhundert Gestorben 1833 Mann
1756612
https://de.wikipedia.org/wiki/Friedrich%20Accum
Friedrich Accum
Friedrich Christian Accum (* 29. März 1769 in Bückeburg; † 28. Juni 1838 in Berlin) war ein deutscher Chemiker, dessen Hauptverdienste in der Förderung der Leuchtgaserzeugung, dem Kampf gegen Lebensmittelverfälschungen und der Popularisierung der Chemie liegen. Zwischen 1793 und 1821 lebte Accum in London, wo er ein eigenes Labor betrieb, Chemikalien und Laborgeräte verkaufte, Lehrstunden in praktischer Chemie abhielt und an mehreren naturwissenschaftlichen Forschungsinstituten arbeitete. Angeregt durch Friedrich Albert Winsor (1763–1830) und dessen langjährige Werbekampagne für die Gasbeleuchtung, begann Accum sich mit dem Thema der Leuchtgasproduktion zu beschäftigen. Im Auftrag der 1810 gegründeten Gaslight and Coke Company führte er zahlreiche Versuche durch und wurde 1812 in ihren ersten Vorstand berufen. Mit der von Accum geleiteten Errichtung der ersten Londoner Gasanstalt wurde die Nutzung der Gasbeleuchtung vom industriellen auf den öffentlichen und privaten Raum ausgeweitet. Accums 1820 erschienenes Werk Treatise on Adulteration of Food, in dem er den Einsatz von giftigen Lebensmittelzusatzstoffen anprangerte, markiert den Beginn eines bewussten Umgangs mit Nahrungsmitteln. Accum war der erste, der sich dieses Themas annahm und zugleich eine breite Öffentlichkeitswirkung erzielte. Während seine Bücher beim Publikum reißenden Absatz fanden, brachte ihm seine Aufklärungsarbeit unter den Londoner Lebensmittelproduzenten zahlreiche Feinde ein. Nach einem gegen ihn angestrengten Gerichtsprozess verließ Accum England und verbrachte den Rest seines Lebens als Lehrer am Gewerbeinstitut und an der Bauakademie in Berlin. Seine vornehmlich in englischer Sprache publizierten Schriften zeichnen sich durch ein besonderes Maß an Allgemeinverständlichkeit aus. Auf diese Weise trug Accum maßgeblich zur Popularisierung des Faches Chemie bei. Leben und Werk Jugend- und Lehrjahre Friedrich Accum wurde am 29. März 1769 in Bückeburg, etwa 50 km westlich von Hannover, geboren. Sein Vater stammte aus Vlotho an der Weser und hatte zunächst in einem Infanterieregiment des Grafen Wilhelm von Schaumburg-Lippe gedient. Im Jahr 1755 konvertierte Accums Vater vom Judentum zum evangelisch-reformierten Glauben und heiratete kurze Zeit später in Bückeburg Judith Berth dit La Motte, die Tochter eines Hutfabrikanten aus der französischen Kolonie Berlins und Enkelin eines hugenottischen Religionsflüchtlings. Bei seiner Taufe änderte er seinen Geburtsnamen Markus Herz in Christian Accum. Sowohl der Vorname Christian, der dem Wortsinn nach „Anhänger Christi“ bedeutet, als auch der aus dem hebräischen Wort „Akum“ für „Nicht-Jude“ abgeleitete Nachname unterstrichen den Religionswechsel auf besonders nachdrückliche Art und Weise. Unbekannt ist, ob dies auf Drängen der Familie seiner Braut oder aus eigenem Antrieb geschah. Auf jeden Fall begann Christian Accum nach der Hochzeit in einem ursprünglich den Eltern seiner Frau gehörenden Haus in der Bückeburger Schulstraße 141 eine selbständige Tätigkeit als Kaufmann und Seifenfabrikant und erwarb neun Jahre nach seiner Hochzeit das Bürgerrecht der Stadt. Bereits drei Jahre nach Friedrichs Taufe am 2. April 1769 starb Christian Accum im Alter von fünfundvierzig Jahren und hinterließ neben Friedrich und seiner Mutter noch die älteren Geschwister Philipp Ernst, Henriette Charlotte und die achtmonatige Ernestine, die aber bereits im Alter von fünf Jahren starb. Friedrich Accum besuchte das Bückeburger Gymnasium Adolfinum und erhielt darüber hinaus Privatunterricht in Französisch und Englisch. Nach der Schulausbildung absolvierte er eine Lehre in der Apotheke der mit den Accums befreundeten Familie Brande in Hannover. Die Brandes betrieben auch eine Filiale in London und waren die Apotheker des englisch-hannoverschen Königs Georg III. Da London als Zentrum der Technologie zum Ende des 18. Jahrhunderts große Anziehungskraft auf junge, naturwissenschaftlich interessierte Menschen aus ganz Europa ausübte, ging auch Friedrich Accum im Jahr 1793 dorthin und arbeitete als Assistent in der Apotheke Brande in der Arlington Street. Die ersten Jahre in London Neben seiner Tätigkeit in der Apotheke der Brandes betrieb Accum zunächst naturwissenschaftliche Studien und besuchte medizinische Vorlesungen in der School of Anatomy in der Great Windmill Street. Er hatte Kontakt zu dem Chirurgen Anthony Carlisle (1768–1840) und zu dem Londoner Chemiker William Nicholson (1753–1815), in dessen Zeitschrift Nicholson’s Journal er 1798 – im Alter von neunundzwanzig Jahren – seinen ersten Fachaufsatz veröffentlichte. Am 10. Mai 1798 heiratete Accum, der seinen Namen inzwischen zu „Frederick Accum“ anglisiert hatte, die Engländerin Mary Ann Simpson (* 6. März 1777; † 1. März 1816 in London). Mit ihr hatte er insgesamt acht Kinder, von denen aber sechs schon tot auf die Welt kamen oder im Kindesalter starben. Sein ältestes Kind, die Tochter Flora Eliza (* 17. Mai 1799), heiratete Ernst Müller, mit dem sie drei Kinder hatte. Sein Sohn Friedrich Ernst Accum (* 3. April 1801; † 28. Januar 1869) hatte mit seiner Frau Charlotte Wilhelmina Johanna Henkel vier Kinder, deren im Jahr 2006 noch lebende Nachfahren aber nicht mehr den Namen Accum trugen. Im Herbst des Jahres 1799 erschien in Nicholson’s Journal eine Übersetzung von Franz Carl Achards richtungsweisender Arbeit zur Zuckergewinnung aus Runkelrüben. Bis zu diesem Zeitpunkt war das in Übersee angebaute Zuckerrohr die einzige Nutzpflanze, aus der Zucker gewonnen wurde. Entsprechend wurde die Möglichkeit einer einheimischen Zuckererzeugung mit großem Interesse aufgenommen. Schon kurze Zeit nach der Veröffentlichung ließ Accum sich aus Berlin Proben des Rübenzuckers nach London schicken und präsentierte sie William Nicholson. Es war das erste Mal, dass Rübenzucker nach England gelangte, und Nicholson veröffentlichte in seiner Zeitschrift im Januar 1800 einen detaillierten Bericht über die von ihm angestellten Untersuchungen, bei denen er keine Geschmackseinbußen gegenüber dem Rohrzucker feststellte. Laborbetreiber, Kaufmann und Privatlehrer Im Jahr 1800 zog Accum mit seiner Familie vom Haymarket 17 in die Old Compton Street 11. Hier lebte er die nächsten zwanzig Jahre und nutzte sein Haus sowohl für den Unterricht von Schülern als auch für Experimente und zum Verkauf chemischer Stoffe und Apparaturen. Auf seinen aus jener Zeit erhaltenen professional cards, mit denen Accum seine Dienste anbot, beschrieb er selbst seine Tätigkeit in der Old Compton Street wie folgt: An seine Kunden in London verteilte Accum in der Old Compton Street Kataloge seiner Waren und verschickte diese auf Nachfrage auch in andere Städte Englands und ins Ausland. Accums Labor in der Old Compton Street war für lange Jahre die einzige bedeutendere Einrichtung in Großbritannien, an der ergänzend zu den theoretischen Vorlesungen zur Chemie auch praktische Laborübungen veranstaltet wurden. Accums Unterricht zog ein zum Teil prominentes Publikum an. Zu seinen Zuhörern gehörten so bekannte Londoner Politiker wie der spätere Premierminister Lord Palmerston, der Duke of Bedford oder der Duke of Northumberland. Gleichzeitig war Accums Labor die erste europäische Lehranstalt für Chemie, die auch von Studenten und Wissenschaftlern aus den Vereinigten Staaten besucht wurde, unter ihnen so berühmte Namen wie Benjamin Silliman und William Dandridge Peck. Als Silliman später Professor für Chemie am Yale College (der heutigen Yale University) in New Haven wurde, bestellte er die erste Laborausstattung bei Accum in London. Accums Biograph Charles Albert Browne vermutete in einer 1925 erschienenen Lebensskizze, dass sich an einigen der älteren US-amerikanischen Colleges noch Belege für Lieferungen aus Accums Londoner Geschäft finden ließen. Bei der Entwicklung neuer Laborgeräte standen für Accum Praktikabilität und geringe Anschaffungskosten im Mittelpunkt. Auch Laien sollten in die Lage versetzt werden, einfache chemische Untersuchungen durchzuführen. So entwickelte Accum tragbare Laborkisten zur Analyse von Boden- und Gesteinsproben für Landwirte, bei denen auch im Falle des Umkippens keine Reagenzien auslaufen konnten. Die zu Preisen zwischen drei und achtzig Pfund Sterling angebotenen Truhen waren die ersten tragbaren Chemielabore. Dozent und Forscher Im März 1801 erhielt Friedrich Accum eine Berufung an die Royal Institution in der Albemarle Street, ein erst zwei Jahre zuvor von dem Experimentalphysiker Graf Rumford gegründetes Forschungsinstitut. Dort arbeitete er als Laborassistent unter Humphry Davy, der zugleich mit ihm zum Direktor des Labors berufen worden war und später Präsident der Royal Society werden sollte. Accums Tätigkeit an der Royal Institution war allerdings nicht von langer Dauer, denn schon im September 1803 schied er auf eigenen Wunsch aus. Sein Biograph R. J. Cole vermutet einen Zusammenhang mit dem ungefähr gleichzeitigen Weggang des Grafen Rumford nach Paris, der dort Marie Lavoisier, die Witwe des 1794 guillotinierten Chemikers Antoine Laurent de Lavoisier, heiratete. Rumford war die treibende Kraft hinter Accums Berufung an die Royal Institution gewesen und vor diesem Hintergrund erscheint es plausibel, dass das Ausscheiden Accums mit dem seines Förderers zusammenhing. Bis 1803 veröffentlichte Accum eine Reihe weiterer Artikel in Nicholson’s Journal, die einen breiten Themenbereich abdeckten: vom Auftreten von Benzoesäure in alten Vanilleschoten über Möglichkeiten, die Reinheit von Medikamenten zu bestimmen, bis hin zu Beobachtungen über die Explosivität von Schwefel-Phosphor-Gemischen. Weitaus bedeutender als diese zumeist recht kurzen Abhandlungen war jedoch sein 1803 veröffentlichtes Werk System of Theoretical and Practical Chemistry. Es war das erste auf Englisch veröffentlichte Buch, das auf den bahnbrechenden Erkenntnissen des häufig als „Vater der modernen Chemie“ bezeichneten französischen Chemikers Lavoisier beruhte. Darüber hinaus zeichnete es sich dadurch aus, dass der Text in einer allgemeinverständlichen Sprache gehalten war. Cole bewertet Accums erste umfangreichere Arbeit deshalb auch als eine „herausragende“ Leistung. Seine ersten Vorlesungen zur Chemie und Mineralogie hielt Accum noch in einem kleinen Saal seines Hauses in der Old Compton Street. Seine Zuhörerschaft wuchs jedoch so schnell, dass er bald in das Medical Theater in der Cork Street ausweichen musste. Das große Interesse der Londoner Öffentlichkeit an seinen Vorlesungen führte nach Accums Weggang von der Royal Institution zu seiner Anstellung an der Surrey Institution in der Londoner Blackfriars Road. Einer in der Londoner Times erschienenen Zeitungsannonce vom 6. Januar 1809 lässt sich entnehmen, dass Accum jeden Mittwochabend um 19 Uhr Kurse in Mineralogie und der chemischen Analyse von Metallen anbot. Seine verstärkte Beschäftigung mit der Mineralogie in jener Zeit ist auch an den Titeln von zwei Büchern ablesbar, die Accum zwischen 1803 und 1809 schrieb: 1804 erschien ein zweibändiges Werk mit dem Titel A Practical Essay on the Analysis of Minerals (das 1808 als A Manual of Analytical Mineralogy eine zweite Auflage erlebte) und 1809 sein Analysis of a Course of Lectures on Mineralogy. Darüber hinaus veröffentlichte Accum während seiner Tätigkeit an der Surrey Institution noch wissenschaftliche Aufsätze zu den chemischen Eigenschaften und Inhaltsstoffen von Mineralwasser, die ab 1808 in Alexander Tillochs Philosophical Magazine erschienen. Als der Pariser Salpetersieder Bernard Courtois im Jahr 1811 erstmals Jod aus der Asche von Seetang gewann, wurde seine Entdeckung von der Fachwelt mit großem Interesse aufgenommen. In England gehörte Accum zu den ersten Chemikern, die Versuche zur Isolierung des Stoffes unternahmen. In zwei Aufsätzen, die Accum in Tillochs Philosophical Journal im Januar und Februar 1814 veröffentlichte, wies er erstmals auf den unterschiedlichen Jodgehalt verschiedener Seetangsorten hin und beschrieb detailliert die Schritte, die zur Jodgewinnung notwendig waren. Accums Rolle in der Geschichte der Leuchtgasproduktion Der industrielle Fortschritt im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert war in hohem Maße von der Entwicklung einer künstlichen Beleuchtung abhängig. Eine Textilfabrik auf traditionelle Weise mit Tausenden von Kerzen oder Öllampen zu beleuchten, hätte enorme Summen verschlungen und verbot sich schon allein aus ökonomischen Gründen. Die mit dem Aufkommen der industriellen Produktionsweise errichteten neuen Fabrikhallen waren nicht nur räumlich größer, sie mussten auch länger und heller beleuchtet werden. Angetrieben durch den erhöhten Lichtbedarf und theoretisch fundiert durch die Entdeckung Lavoisiers, dass zur Verbrennung nicht nur der im Brennmaterial enthaltene Kohlenstoff, sondern auch der in der Luft enthaltene Sauerstoff notwendig ist, geriet am Ende des 18. Jahrhunderts die über Jahrtausende nahezu unveränderte Beleuchtungstechnik in Bewegung (Schivelbusch). Die Eigenschaften des bei der Destillation von Kohle entstehenden Gases waren spätestens seit der Veröffentlichung eines Briefes von John Clayton an Robert Boyle in einer Ausgabe der Philosophical Transactions der Royal Society in London aus dem Jahr 1739 bekannt. Clayton schrieb darin: Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts fanden diese Kenntnisse allerdings kaum praktische Anwendung. Das bei der Verkokung von Steinkohle anfallende Gas entwich ungenutzt, und erst die Arbeiten des Schotten William Murdoch markierten den Beginn der Nutzung von Kohlegas zu Beleuchtungszwecken. Erste Versuche von Georg Dixon 1780 in Cockfield, Johannes Petrus Minckeleers 1783 in Löwen oder Archibald Cochrane 1787 in Culross Abbey blieben auf einzelne Räume beschränkt. Erste Prototypen späterer Gasanstalten entstanden 1802 in einer Schmiede in Soho und 1805 in einer Baumwollspinnerei in Salford nahe Manchester. Die Skepsis gegenüber der neuen Technik war allerdings groß. Noch 1810 wurde Murdoch von einem Abgeordneten des britischen Unterhauses gefragt: „Sie wollen uns also tatsächlich weismachen, daß es eine Lampe geben soll, die ohne einen Docht auskommt?“ Es dauerte das gesamte erste Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts, bis die zur Beleuchtung von Fabriken entwickelte Leuchtgastechnik auch auf den Sektor des öffentlichen und privaten Lebens ausgeweitet wurde. Hierbei spielte Friedrich Accum eine Schlüsselrolle. Angeregt durch den – wie er selbst nach England emigrierten – Geschäftsmann Friedrich Albert Winsor (1763–1830) und dessen langjährige Werbekampagne für die Gasbeleuchtung begann Accum sich mit dem Thema der Leuchtgasproduktion zu beschäftigen. Bevor die von Winsor seit 1807 beworbene Aktiengesellschaft zur Leuchtgaserzeugung 1810 als „Chartered Gaslight and Coke Company“ die Bewilligung des englischen Parlaments erhielt, hatte Accum vor dem für die Genehmigung zuständigen Parlamentsausschuss als Experte ausgesagt. Als die Gesellschaft nach Erfüllung der festgelegten Auflagen schließlich 1812 ihre Tätigkeit aufnahm, berief man Friedrich Accum in ihren ersten Vorstand. Die von Accum geleitete Errichtung einer Gasanstalt in der Curtain Road war zugleich der Auftakt zur Geschichte der öffentlichen Gasversorgung. Von nun an war die Beleuchtung mit Kohlegas nicht mehr auf den industriellen Sektor beschränkt und die neue Technik hielt Einzug in das städtische Leben. 1813 wurde die Westminster Bridge mit Gaslampen beleuchtet, ein Jahr später die Straßen von Westminster. In seinem 1815 veröffentlichten Werk Description of the Process of Manufacturing Coal-Gas verglich Accum die neue Form der Gasversorgung mit der in London seit dem frühen 18. Jahrhundert bestehenden Versorgung der Haushalte mit Leitungswasser: „Durch das Gas wird es möglich sein, so oft wir wollen in jedem Zimmer des Hauses ein angenehmes Licht zu haben, so wie dies auch mit dem Wasser der Fall ist.“ Der Übersetzer der 1815 in Berlin erschienenen deutschen Ausgabe fühlte sich genötigt, diese Analogie für all diejenigen Leser in Deutschland zu erklären, die die zentrale Versorgung mit Wasser nicht kannten: „In England sind viele Privathäuser durch innerhalb der Wände geleitete Röhren usw. so eingerichtet, daß man fast in allen Zimmern nur einen Hahn öffnen darf, um jederzeit Wasser zu haben.“ Hatte London im Jahr 1814 nur einen einzigen Gasometer mit einem Volumen von 14.000 Kubikfuß, so waren es 1822 schon vier Gasgesellschaften, die Gasometer mit einem Gesamtvolumen von fast einer Million Kubikfuß betrieben. Um die Leitungswege so kurz wie möglich zu halten, wurden die Gasometer direkt in den Wohnvierteln errichtet. Mit diesem Eindringen chemischer Fabriken in die Wohngebiete begann auch erste öffentliche Kritik an der neuen Technik einzusetzen. Diese speiste sich vor allem aus den immer wieder auftretenden Explosionen und Vergiftungen durch ausströmendes Gas. Accum, der sich neben seiner Arbeit als Chemiker auch in hohem Maße als Propagandist der neuen Technik hervortat, ging in seinen Veröffentlichungen wortstark gegen die Kritiker der Gasbeleuchtung vor. Durch die genaue Analyse der jeweiligen Unfallursachen zeigte er, dass die Unglücke in der Regel auf einen verantwortungslosen Umgang mit der Technik zurückzuführen und damit vermeidbar waren. Schon früh hatte Accum sich auch mit den Nebenprodukten der Leuchtgaserzeugung auseinandergesetzt. Die bei der Vergasung der Kohle anfallenden Teerrückstände wurden in der Regel entweder vergraben oder in Flüssen und im Meer entsorgt. Insbesondere die ammoniakhaltigen Rückstände des Gaswaschens schädigten die Umwelt nachhaltig. Bereits 1820 forderte Accum gesetzliche Maßnahmen gegen das Einleiten dieser Rückstände in die Kanalisation und in Flüsse. Positive Reaktionen auf seine Kritik blieben jedoch aus. Die kleineren und größeren Katastrophen durch Gasunfälle waren offenbar greifbarer als die langfristigen Umweltbelastungen durch die bei der Leuchtgasproduktion anfallenden giftigen Rückstände. “There is death in the pot” – Kampf gegen giftige Lebensmittelzusätze Im Jahr 1820 begann Friedrich Accum mit seiner Schrift A Treatise on Adulterations of Food and Culinary Poisons (dt. unter dem Titel: Von der Verfälschung der Nahrungsmittel und von den Küchengiften) den öffentlichen Kampf gegen gesundheitsschädigende Lebensmittelzusatzstoffe. Schon seit Jahrtausenden war es gebräuchlich gewesen, Lebensmittel durch pflanzlich-chemische Zusätze haltbarer zu machen oder in Geschmack oder Aussehen zu verändern. Mit dem Aufkommen industrieller Fertigungsmethoden zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelte sich diese Praxis erstmals zu einem breite Schichten betreffenden Problem. Fanden die Herstellung und der Vertrieb von Lebensmitteln bis dahin nämlich weitgehend auf der Basis einer persönlichen Verantwortlichkeit des Produzenten gegenüber seinen Kunden statt, wurde diese Verantwortlichkeit durch die zunehmende Zentralisierung in der Lebensmittelproduktion verringert. Wissensfortschritte in der Chemie und das Fehlen ausreichender Gesetze zum Schutz der Verbraucher ermöglichten es, immer neue und nicht auf ihre Schädlichkeit für den Menschen erprobte Lebensmittelzusätze zu entwickeln und einzusetzen. Accum war der erste, der sich dieses Themas annahm und damit zugleich eine breite Öffentlichkeitswirkung erzielte. Innerhalb eines Monats nach ihrem Erscheinen waren alle tausend Exemplare der ersten Auflage von A Treatise on Adulterations of Food and Culinary Poisons verkauft. Noch im selben Jahr wurde in London eine zweite Auflage gedruckt; zwei Jahre später erschien in Leipzig eine deutsche Übersetzung. Schon der Einband der in London erschienenen englischsprachigen Ausgaben zeugt dabei von Accums Geschick, seine wissenschaftlichen Erkenntnisse öffentlichkeitswirksam zu vermarkten. Eingerahmt von ineinandergeschlungenen Schlangen zeigt der Bucheinband ein mit einem Spinnennetz ausgefülltes Rechteck, in dessen Mitte eine Spinne auf Beute lauert und an dessen Kopfseite ein Totenkopf angebracht ist. Unter dem Totenkopf steht die aus dem Alten Testament entlehnte Warnung „There is death in the pot“ („Es ist der Tod im Topf“). In den einzelnen Abschnitten seines Buches wechseln harmlosere Betrügereien wie etwa die Beimischung von zermahlenen Trockenerbsen zum Kaffee mit Verunreinigungen durch massiv gesundheitsschädigende Substanzen ab. Accum erklärte den Lesern anschaulich, dass der hohe Bleigehalt in spanischem Olivenöl durch das Klären des Öls in bleiernen Behältern verursacht wurde, und empfahl ihnen die Verwendung von Öl aus Ländern wie Frankreich und Italien, in denen diese Praxis nicht üblich war. Er warnte vor dem leuchtendgrünen Konfekt, das in den Straßen Londons von fliegenden Händlern angeboten wurde, da das beim Färben eingesetzte sogenannte „Saftgrün“ stark kupferhaltig war. Essig, so erfuhr der Leser, werde „zuweilen reichlich mit Schwefelsäure verfälscht, um ihm mehr Säure zu geben.“ Ein besonderes Augenmerk legte Accum auf das Bier, zu dem er einleitend schrieb: „Malzgetränke, und vorzüglich Porter, das Lieblingsgetränk der Einwohner von London und anderer großer Städte, gehört unter die Artikel, bei deren Bereitung häufig die größten Betrügereien begangen werden.“ Hier erfuhr man, dass dem englischen Bier bisweilen Substanzen wie Melasse, Honig, Vitriol, Guineapfeffer und sogar Opium beigemischt wurden. Für heutige Leser besonders aufschlussreich sind kulturgeschichtliche Hinweise wie etwa zur Praxis der Zugabe von indischen Kockelskörnern des Anamirta cocculus zum Porter-Bier, die offenbar insbesondere während der Koalitionskriege überhandnahm und von Accum auf die berauschende Wirkung des Stoffes zurückgeführt wurde. Zur Absicherung seiner Behauptungen griff Accum auf die unterschiedlichsten Quellen zurück. Als Beleg für seine Aussagen bezüglich der Kockelskörner führte er z. B. Einfuhrstatistiken an und ergänzte dies durch Beobachtungen darüber, wann die Körner erstmals in den Preiscouranten der Händler für Braumaterial auftauchten und wie sich ihr Preis in den zurückliegenden Jahren entwickelt hatte. Zwei weitere Besonderheiten zeichnen den Treatise on Adulterations of Food and Culinary Poisons aus: Zum einen das bereits aus früheren Schriften Accums bekannte Augenmerk auf Allgemeinverständlichkeit, wobei Accum alle in seinem Buch beschriebenen chemischen Analysemethoden ausdrücklich mit einbezog. Jede Probe sollte auch vom Laien auf möglichst einfache Art und Weise nachvollzogen werden können. Accum schrieb dazu im Vorwort zur ersten Auflage: Zum anderen beschränkte Accum sich in seinem Kampf gegen giftige Lebensmittelzusätze nicht auf die reine Aufklärungsarbeit. Indem er nämlich am Ende eines jeden Kapitels die Namen derjenigen Händler und Geschäftsleute nannte, die in den Jahren vor 1820 der Betrügerei überführt worden waren, versuchte er den Lebensmittelverfälschern durch öffentliche Bloßstellung ihre Existenzgrundlage zu entziehen und griff damit aktiv in das Wirtschaftsleben Londons ein. Skandal und Prozess Dass die Nennung von Namen aus der Londoner Geschäftswelt auf Widerstand und womöglich heftige Reaktionen stoßen würde, war Accum schon vor der Veröffentlichung seines Treatise klar. Im Vorwort zur ersten Auflage nannte er die Veröffentlichung der Namen betrügerischer Lebensmittelverfälscher eine „gehässig scheinende“ und „schmerzliche Pflicht“, der er sich aber dennoch unterziehe, weil dies zur Bekräftigung seiner Beweise notwendig sei. Seine Einschränkung, er habe die namentliche Nennung „sorgfältig vermieden, mit Ausnahme derjenigen, welche in den Parlaments-Akten und andern öffentlichen Berichten verzeichnet sind“ rettete ihn jedoch nicht vor dem Zorn seiner Gegner. Schon im Vorwort zur zweiten Auflage erklärte er, Drohungen erhalten zu haben. Gleichzeitig bekräftigte er aber, dies halte ihn nicht davon ab, „den Unvorsichtigen vor den Betrügereien gewissenloser Menschen, wer sie auch seyn mögen, zu warnen.“ Im Nachsatz fügte er hinzu: „Ich benachrichtige im Gegentheile hierdurch meine verborgenen Feinde, daß ich in jeder folgenden Ausgabe dieser Schrift fortfahren werde, der Nachwelt die Schande zu berichten, welche die Betrüger und ehrlosen Handelsleute trifft, die vor den Schranken der öffentlichen Gerechtigkeit überführt worden sind, Nahrungsmittel der Gesundheit nachtheilig gemacht zu haben.“ Wenige Monate nach dem Erscheinen von Accums Buch über Lebensmittelverfälschungen begannen die Vorgänge, die letztlich dazu führten, dass Accum England verließ und nach Deutschland zurückkehrte. Über die genauen Umstände kursierten lange Zeit widersprüchliche Darstellungen. In einer 1951 publizierten Untersuchung konnte Cole schließlich anhand von Sitzungsprotokollen der Royal Institution nachweisen, dass die auf einem Lexikoneintrag im Dictionary of National Biography fußende und später auch von der Allgemeinen Deutschen Biographie übernommene Darstellung, nach der Accum als Bibliothekar der Royal Institution in einen Prozess wegen Veruntreuung verwickelt wurde und nach seinem Freispruch nach Deutschland ging, nicht den Tatsachen entspricht. Die von Cole im vollen Wortlaut wiedergegebenen Protokolle einer außerordentlichen Sitzung der Royal Institution vom 23. Dezember 1820 belegen dagegen, dass die Ereignisse durch eine Beobachtung eines Bibliothekars der Royal Institution namens Sturt ausgelöst wurden. Sturt meldete seinen Vorgesetzten am 5. November 1820, aus einer Reihe von Büchern im Lesesaal des Instituts seien Seiten entfernt worden. Dabei handele es sich um Bücher, die Friedrich Accum gelesen habe. Auf Anweisung seiner Vorgesetzten musste Sturt nun ein kleines Loch in die Wand des Lesesaals bohren, um Accum vom Nebenraum aus zu beobachten. Am Abend des 20. Dezember, so wird im Protokoll weiter ausgeführt, habe Sturt beobachten können, wie Accum einen Aufsatz über die Inhaltsstoffe und die Nutzung von Schokolade aus einer Ausgabe von Nicholson’s Journal herausgerissen und mitgenommen habe. In einer vom Magistrat der Stadt London am 21. Dezember angeordneten Hausdurchsuchung in der Old Compton Street wurden dann tatsächlich herausgerissene Seiten gefunden, die Büchern der Royal Institution zugeordnet werden konnten. In dem Sitzungsprotokoll heißt es weiter: Die am 23. Dezember 1820 tagende Kommission der Royal Institution gab sich jedoch mit diesem Urteil nicht zufrieden und beschloss, weiter gerichtlich gegen Accum vorzugehen. Daraufhin erschien am 10. Januar 1821 in der Times ein an Earl Spencer, den Präsidenten des Instituts, gerichteter offener Brief zur Verteidigung Accums. Cole vermutet, dass der mit „A. C.“ unterzeichnende Verfasser der Chirurg Anthony Carlisle war, mit dem Accum seit den ersten Jahren seines Aufenthalts in London befreundet war. Offenbar half Accum auch die prominente Unterstützung nicht, denn aus einem weiteren Protokoll der Royal Institution vom 16. April 1821 geht hervor, dass er nach Einleitung eines Verfahrens wegen Diebstahls von Papier im Gesamtwert von vierzehn Pence gemeinsam mit zweien seiner Freunde, dem Verleger Rudolph Ackermann und dem Architekten John Papworth, vor Gericht erschienen war und dort insgesamt 400 Pfund Sterling als Sicherheitsleistung hinterlegt hatte. Zum nächsten Gerichtstermin erschien Accum schon nicht mehr. Er hatte England bereits verlassen und war nach Deutschland zurückgekehrt. Zurück in Deutschland In den beiden Jahren vor seiner Rückkehr nach Deutschland hatte Accum noch mehrere Bücher veröffentlicht, mit denen er seine Arbeiten zur Lebensmittelchemie fortsetzte. 1820 erschienen zwei Schriften über die Herstellung von Bier (A Treatise on the Art of Brewing) und von Wein (A Treatise on the Art of Making Wine). Ein Jahr später folgten Culinary Chemistry, in dem Accum praktische Hinweise zu den naturwissenschaftlichen Grundlagen des Kochens gab, sowie ein Buch über die Herstellung von Brot (A Treatise on the Art of Making Good and Wholesome Bread). Noch während seiner Jahre in Deutschland durchliefen einige seiner Werke zahlreiche Neuauflagen und erreichten als französische, italienische und deutsche Übersetzungen eine breite Leserschaft in Europa und als Nachdrucke auch in den Vereinigten Staaten. Direkt nach seiner Ankunft in Deutschland ging Accum nach Althaldensleben. Dort hatte der Großindustrielle Johann Gottlob Nathusius Güter erworben und nutzte diese zum Aufbau einer großflächigen Gewerbeansiedlung. Zwischen 1813 und 1816 betrieb Nathusius als einer der deutschen Pioniere auf diesem Gebiet dort auch eine Fabrik zur Herstellung von Rübenzucker. Vermutlich hatten Nathusius’ umfangreiche Bibliothek und sein chemisches Labor Accum angezogen. Er blieb jedoch nur kurze Zeit in Althaldensleben, weil er bereits 1822 eine Professur am Gewerbeinstitut und an der Bauakademie in Berlin erhielt. Seine dortige Lehrtätigkeit in den Bereichen Physik, Chemie und Mineralogie schlug sich in dem zweibändigen Werk Physische und chemische Beschaffenheit der Baumaterialien, deren Wahl, Verhalten und zweckmässige Anwendung nieder, das 1826 in Berlin erschien. Es blieb das einzige Werk, das Accum zuerst in deutscher Sprache veröffentlichte. Einige Jahre nach seiner Übersiedlung nach Berlin ließ Accum ein repräsentatives Haus in der Marienstraße 16 (später Marienstraße 23) bauen, das er bis zu seinem Tod bewohnte. Seine letzten Jahre waren von einer schweren Gichterkrankung geprägt, die schließlich auch zu seinem Tod führte. Anfang Juni 1838 verschlechterte sich sein Gesundheitszustand rapide und am 28. Juni, rund 16 Jahre nach seiner Rückkehr nach Deutschland, starb Accum im Alter von 69 Jahren in Berlin. Begraben wurde er dort auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof. Das Grab ist nicht erhalten. Zur Literatur- und Quellenlage Eine erste biographische Skizze zu Friedrich Accum legte der US-amerikanische Agrikulturchemiker und Wissenschaftshistoriker Charles Albert Browne im Jahr 1925 vor. Er hatte sich in zehnjähriger Arbeit intensiv mit Leben und Werk Accums auseinandergesetzt und seine Studie durch Auskünfte von Behörden- und Kirchenvertretern aus Bückeburg ergänzen können. Seine Begeisterung für das Thema ging so weit, dass er im Juli 1930 nach Deutschland reiste und dort Hugo Otto Georg Hans Westphal (* 26. August 1873; † 15. September 1934), einen Urenkel Accums, traf. Brownes letzter Aufsatz zum Thema erschien 1948 in Chymia, einer Zeitschrift zur Geschichte der Chemie, und beruhte in hohem Maße auf den Auskünften Hugo Westphals. Drei Jahre später veröffentlichte R. J. Cole einen auf englische Quellen gestützten Lebensabriss, in dem er insbesondere in der Frage des 1821 in London gegen Accum angestrengten Gerichtsverfahrens neue Erkenntnisse zu Tage förderte. Sowohl Browne als auch Cole verfügten jedoch über nur geringes Wissen bezüglich des letzten Lebensabschnittes, den Accum in Berlin verbrachte. Eine modernen Ansprüchen genügende Gesamtdarstellung von Leben und Werk Accums, die auch diese Lücke schließt, fehlt bislang. Nicht zu Unrecht bezeichnete Lawson Cockroft von der Royal Society of Chemistry in London Friedrich Accum als einen jener Chemiker, die trotz ihrer bedeutenden Leistungen heute weitestgehend vergessen sind. Die wohl bekannteste bildliche Darstellung von Accum ist ein Punktierstich von James Thomson, der im Juli 1820 in der englischen Zeitschrift European Magazine abgedruckt wurde und Accum an einem Tisch sitzend neben einer Gaslampe darstellt. Thomsons Stich basiert vermutlich auf einem Ölgemälde des Londoner Porträt- und Historienmalers Samuel Drummond (1765–1844), das Accum in einer ähnlichen Pose zeigt und einige Jahre zuvor entstanden war. Ferner existiert ein von Accums Schwager, dem Künstler Anton Wilhelm Strack, gemaltes Ölporträt, das Friedrich Accum als kleinen Jungen darstellt. Browne gibt an, dieses Gemälde in Augenschein genommen zu haben, als er Accums Nachfahren Hugo Westphal in Deutschland aufsuchte. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass Browne eine Fotografie des Bildes sah und sich das Original schon zum damaligen Zeitpunkt nicht mehr im Familienbesitz befand. 1930 existierte außerdem noch ein großes bronzenes Profilrelief, das ehemals auf Accums Grabstein angebracht war und dessen Verbleib ungeklärt ist. Einige Schriftstücke und Dokumente aus dem Leben Friedrich Accums befinden sich heute in Familienbesitz. Eine Urkunde der Gesellschaft naturforschender Freunde Berlin zur Verleihung der Ehrenmitgliedschaft an Friedrich Accum vom 1. November 1814 wurde im September 2006 online zugänglich gemacht. Ein aus London an seinen Bruder Philipp in Bückeburg gerichteter Brief Accums, in dem dieser unter anderem sehr anschaulich über das Leben in London nach dem Ende der Napoleonischen Kriege berichtet, ist heute im Projekt Wikisource frei verfügbar. Verzeichnis der eigenständigen Schriften und ihrer Nachdrucke System of Theoretical and Practical Chemistry, London 1803, 21807; Nachdruck Philadelphia 1808, 21813 , A Practical Essay on the Analysis of Minerals, London 1804, auf zwei Bände erweiterte Neufassung 1808 unter dem Titel A Manual of Analytical Mineralogy , London 1809, erweiterte Auflage 1810 unter dem Titel A Manual of a Course of Lectures on Experimental Chemistry and Mineralogy Descriptive Catalogue of the Apparatus and Instruments Employed in Experimental and Operative Chemistry, in Analytical Chemistry, and in the Pursuits of the Recent Discoveries of Electro-Chemical Science, London 1812 Elements of Crystallography, London 1813 Practical Treatise on Gas-Light, London 1815, insgesamt vier englischsprachige Auflagen bis 1818, Neufassung unter dem Titel Description of the Process of Manufacturing Coal-Gas. For the lighting of streets, houses, and public buildings, with elevations, sections, and plans of the most improved sorts of apparatus. Now employed at the gas works in London, London 1819, 21820; deutsch in der Übersetzung von Wilhelm August Lampadius als Praktische Abhandlung über die Gaserleuchtung: enthaltend eine summarische Beschreibung des Apparates und der Maschinerie, Berlin 1816, 21819; französisch als Traité pratique de l’éclairage par le gaz inflammable mit einem Vorwort und Ergänzungen von Friedrich Albert Winsor, Paris 1816; italienisch als Trattato pratico sopra il gas illuminante: contenente una completa descrizione dell’apparecchio … con alcune osservazioni, Mailand 1817; A Practical Essay on Chemical Re-agents or Tests: Illustrated by a Series of Experiments, London 1816, erweiterte zweite Auflage 1818 unter dem Titel Practical Treatise on the Use and Application of Chemical Tests with Concise Directions for Analyzing Metallic Ores, Metals, Soils, Manures and Mineral Waters, 31820; Nachdruck Philadelphia 1817; französisch Traité pratique sur l’usage et le mode d’application des réactifs chimiques, Paris 1819; italienisch (Übersetzung der zweiten englischen Ausgabe) Trattato practico per l’uso ed apllicazione de’reagenti chimici, Mailand 1819; Chemical Amusement, a Series of Curious and Instructive Experiments in Chemistry Which Are Earily Performed and Unattended by Danger, London 1817, 21817, 31818, vierte durchgesehene Auflage 1819; deutsch als Chemische Unterhaltungen: eine Sammlung merkwürdiger und lehrreicher Erzeugnisse der Erfahrungschemie, Kopenhagen 1819 , als Chemische Belustigungen Nürnberg 1824; zweite amerikanische Auflage auf der Grundlage der dritten englischen mit Zusätzen von Thomas Cooper, Philadelphia 1818; französisch in einer Übersetzung von V. Riffault als Manuel de Chimie Amusante; ou nouvelles recreations chimiques, contenant une suite d’experiences d’une execution facile et sans danger, ainsi qu’un grand nombre de faits curieux et instructifs, 1827, später in einer Neuauflage hrsg. von A. D. Vergnaud, zuletzt sechste erweiterte Auflage Paris 1854; italienisch in einer zweibändigen Übersetzung als Divertimento chimico contenente esperienze curiose, Mailand 1820, zweite erweiterte Auflage in einer Übersetzung von Pozzi als La Chimica dilettevole o serie di sperienze curiose e instruttive di chimica chi si esequiscono con facilità e sicurezza, Mailand 1854 Dictionary of the Apparatus and Instruments Employed in Operative and Experimental Chemistry, London 1821, Nachdruck unter Weglassung der Verfasserangabe als Explanatory Dictionary of the Apparatus and Instruments Employed in the Various Operations of Philosophical and Experimental Chemistry by a Practical Chemist, London 1824, A Treatise on Adulterations of Food and Culinary Poisons: Exhibiting the Fraudulent Sophistications of Bread, Beer, Wine, Spirituous Liquors, Tea, Coffee, Cream, Confectionery, Vinegar, Mustard, Pepper, Cheese, Olive Oil, Pickles, and Other Articles Employed in Domestic Economy, and Methods of Detecting Them, London 1820, 21820, 31821, 41822; Nachdruck Philadelphia 1820; deutsch in der Übersetzung von L. Cerutti als Von der Verfälschung der Nahrungsmittel und von den Küchengiften, Leipzig, 21841 A Treatise on the Art of Brewing: exhibiting the London practice of Brewing, Porter, Brown Stout, Ale, Table Beer, and various other Kinds of Malt Liquors, London 1820, 21821; deutsch in der Übersetzung von Accums Nichte Fredrica Strack Abhandlung über die Kunst zu brauen, oder Anweisung Porter, Braun-Stout, Ale, Tischbier … zu brauen, Hamm 1821; französisch in einer Übersetzung von Riffault als Manual théorique et pratique du brasseur, Paris 1825, später in einer Neuauflage hrsg. von A. D. Vergnaud A Treatise on the Art of Making Wine, London 1820, danach mehrere Auflagen, zuletzt London 1860; französisch als Nouveau Manuel complet de la Fabrication des Vins de Fruits, 1827, später auch in der Übersetzung von Guilloud und Ollivier als Nouveau Manuel complet de la fabrication des vins de fruits, du cidre, du poiré, des boissons rafraîchissantes, des bières économiques et de ménage …, Paris 1851 Treatise on the Art of Making Good an Wholesome Bread, London 1821 Culinary Chemistry, exhibiting the scientific principles of Cookery, with concise instructions for preparing good and wholesome Pickles, Vinegar, Conserves, Fruit Jellies with observations on the chemical constitution and nutritive qualities of different kinds of food, London 1821 Physische und chemische Beschaffenheit der Baumaterialien, deren Wahl, Verhalten und zweckmässige Anwendung, 2 Bände, Berlin 1826, , Literatur Quellen Brief Friedrich Accums an seinen Bruder vom 26. April 1816 (Digitale Volltext-Ausgabe in Wikisource; zugleich Erstveröffentlichung in deutscher Sprache). A. C.: Mr. Frederick Accum, in: The Times Nr. 11140 vom 10. Januar 1821, S. 3 (offener Brief, Anthony Carlisle zugeschrieben; online abrufbar als Digitalisat bei Wikimedia Commons) Darstellungen Wolfgang Schivelbusch: Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert, München [u. a.] 1983, ISBN 3-446-13793-9 (insbesondere das Kapitel „Gaslicht“, S. 22–54). R. J. Cole: Friedrich Accum (1769–1838). A biographical study, in: Annals of Science: the history of science and technology 7, 2 (1951), S. 128–143. Charles Albert Browne: Recently acquired information concerning Friedrich Accum, in: Chymia: annual studies in the history of chemistry 1 (1948), , S. 1–9 (mit Porträt). Charles Albert Browne: Correspondence. Prices as considered by Accum, in: Chemistry and industry review 9 (1931), S. 444–445 (Enthält eine unvollständige englischsprachige Übersetzung des Briefs Friedrich Accums an seinen Bruder vom 26. April 1816). Charles Albert Browne: The life and chemical services of Frederick Accum, in: Journal of Chemical Education 2 (1925), , S. 829–851, 1008–1034, 1140–1149. Weblinks Textausgaben Friedrich Accum: A Treatise on Adulterations of Food, and Culinary Poisons, Elektronischer Volltext auf der Grundlage des Nachdrucks Philadelphia 1820, online abrufbar im Project Gutenberg. Nouveau Manuel complet de la fabrication des vins de fruits, du cidre, du poiré, des boissons rafraîchissantes, des bières économiques et de ménage …, übersetzt aus dem Englischen von Guilloud und Ollivier, erweitert von François Malepeyre (1794–1877), Paris 1851, online abrufbar als PDF-Dokument über Gallica, das Digitalisierungsprojekt der Französischen Nationalbibliothek. Manuel de chimie amusante …, hrsg. von A. D. Vergnaud, 3. durchgesehene und erweiterte Auflage, Paris 1829, online abrufbar über Google Books. Informationen über Friedrich Accum Informationen zu Friedrich Christian Accums 1821 in London erschienenem Buch Culinary Chemistry, online abrufbar über die Special Collection der Kansas State University Libraries. Frederick Carl Accum – Kurzbiographie von Lawson Cockroft, online abrufbar als PDF-Dokument über den Webserver der Bibliothek der Royal Society of Chemistry, London. Richard Hemmer und Daniel Meßner: Kleine Geschichte eines Chemikers, der Lebensmittelpanscher entlarvte in Spektrum.de vom 6. Oktober 2021 Anmerkungen Chemiker (19. Jahrhundert) Unternehmer (19. Jahrhundert) Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften Hochschullehrer (Technische Universität Berlin) Autor Deutscher Geboren 1769 Gestorben 1838 Mann
1768451
https://de.wikipedia.org/wiki/Erinnerung%20an%20die%20Marie%20A.
Erinnerung an die Marie A.
Erinnerung an die Marie A. ist ein Gedicht, das Bertolt Brecht in der Urfassung am 21. Februar 1920 auf einer Zugfahrt nach Berlin in sein Notizbuch schrieb. Unter anderem publizierte der Autor es 1927 in der Sammlung Bertolt Brechts Hauspostille. Es thematisiert die Erinnerung an eine vergangene Liebe, die Brecht in das berühmte Bild von der vergehenden weißen Wolke gefasst hat. Und über uns im schönen Sommerhimmel War eine Wolke, die ich lange sah Sie war sehr weiß und ungeheuer oben Und als ich aufsah, war sie nimmer da. Das Bild der Wolke für die verblassende Erinnerung an das Gesicht der Geliebten ist ein literarisches Motiv, das der frühe Brecht regelmäßig eingesetzt hat. Das Namenskürzel „Marie A.“ im Titel bezieht sich auf Brechts Augsburger Jugendliebe Marie Rose Amann. Das Gedicht ist auf eine populäre Melodie der Jahrhundertwende geschrieben, die unter dem Titel Verlor’nes Glück bekannt war. Brecht hat es bereits vor der ersten Veröffentlichung seines Texts mehrfach zur Gitarre gesungen. Die Melodie kannte er sehr wahrscheinlich aus seiner Zusammenarbeit mit Karl Valentin, der die sentimentale Liedvorlage bereits parodistisch verarbeitet hatte. Brecht-Biograph John Fuegi zählt das „täuschend schlichte Gedicht, leicht auswendig zu lernen …, zum Grundbestand der deutschen Literatur.“ Inhalt Die erste Strophe schildert ein Liebeserlebnis in der Natur, die Begegnung mit einer „stillen bleichen Liebe“, der „Marie A.“ aus dem Titel. Eine Wolke am Sommerhimmel, „sehr weiß und ungeheuer oben“, die schließlich verschwindet, macht das Erlebte unvergesslich. In der zweiten Strophe setzt sich der Sprecher aus zeitlicher Distanz mit seinen Erinnerungen an das Liebeserlebnis auseinander. „Viele Monde“ seien inzwischen ereignislos vergangen. An das Gesicht der Geliebten könne er sich nicht mehr erinnern, nur an seine Liebesgefühle: „Ich weiß nur mehr: ich küßte es dereinst.“ In der dritten Strophe koppelt der Sprecher sein Erinnerungsvermögen an das unvergessliche Bild der weißen Wolke. Und auch den Kuß, ich hätt ihn längst vergessen Wenn nicht die Wolke dagewesen wär Die weiß ich noch und werd ich immer wissen Sie war sehr weiß und kam von oben her. Die einstmals Geliebte hat „jetzt vielleicht das siebte Kind“, was bleibt, ist allein die Erinnerung an den großen Moment der Liebe. Doch jene Wolke blühte nur Minuten Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind. Entstehung Biographischer Kontext Das Manuskript des Gedichts findet sich in Bertolt Brechts Notizbuch aus dem Jahre 1920, überschrieben als Sentimentales Lied Nr. 1004. Darunter die Bemerkung: „21.II.20, abends 7h im Zug nach Berlin […] Im Zustand der gefüllten Samenblase sieht der Mann in jedem Weib Aphrodite. Geh. R. Kraus“. Sowohl den Titel des Gedichts als auch den angefügten Kommentar hat Brecht nach dem Handschriftenbefund später eingetragen als den Gedichttext selbst, „in gewissem zeitlichen Abstand“. Der handschriftliche Titel verweist auf Don Juan bzw. Don Giovanni, der – wie Leporello in der Registerarie von Mozarts Oper singt – allein in Spanien 1003 Geliebte hatte, eine Zahl, die der junge Brecht um eine zu überschreiten wünschte. Der auf den ersten Blick so romantische Text („An jenem Tag im blauen Mond September – Still unter einem jungen Pflaumenbaum – Da hielt ich sie, die stille bleiche Liebe – In meinem Arm wie einen holden Traum […]“) ist also nicht frei von Aggressionen. Allein die hohe Zahl der Geliebten relativiert das geschilderte Liebeserlebnis. Brechts angefügter Kommentar spielt möglicherweise an auf Verse aus Goethes Faust, Szene Hexenküche: „Du siehst mit diesem Trank im Leibe bald Helenen in jedem Weibe.“ Der „Geheime Rat Kraus“, dem das Zitat in den Mund gelegt wird, ist vermutlich eine Erfindung Brechts. In der veröffentlichten Fassung wurde der alte Titel getilgt und das Gedicht erhielt die Überschrift Erinnerung an die Marie A., unter der es bekannt geworden ist. Die Schülerin Maria Rosa Amann (1901–1988), in der Literatur häufig geschrieben „Marie Rose Aman“, die Brecht im Frühsommer 1916 in einer Eisdiele kennenlernte, soll die Realfigur hinter der geheimnisvollen Marie A. gewesen sein. Jürgen Hillesheim bezweifelt die Eindeutigkeit dieses Bezuges, unter anderem weil Brecht auch die ältere Schwester Rosas umworben und deshalb ein Hausverbot von deren Eltern erhalten habe. Deren Rufname aber sei „Maria“ gewesen, während Brecht die jüngere Schwester ganz nach Laune „Rosa, Rosa Maria, Rosa Marie, Rosmarie und Rosl“ genannt habe. Bereits Albrecht Schöne hat 1956 auf die häufige Verwendung des Namens „Marie“ beim frühen Brecht und auf die Wortspiele mit diesem Namen hingewiesen. Seiner Auffassung nach lässt sich das Kürzel „die Marie A.“ auch als „die Maria“ lesen. Jürgen Hillesheims Fazit ist die Kritik an der kurzschlüssigen biographischen Konkretisierung der im Titel genannten Frau: „Die eine wurde also Rosa, die andere Maria genannt. Hieraus ergibt sich, dass Brecht nicht nur beide Schwestern im Sinn hatte, beiden nachstellte, sondern auch mit den Namen beider Schindluder trieb. Er ließ sie zu einer Person verschmelzen, bildete immer wieder spielerisch eine Einheit aus Rosa, mit der er ein Verhältnis hatte, und Maria, die er nicht haben konnte. (…) Dem Gedicht liegt also in der Tat kein konkretes Du zugrunde.“ Brechts Liebe zu Rosa scheiterte schließlich. „An diesem Mädchen aus der Eisdiele ist noch einer interessiert … ‚Der holde Traum meiner kalten Nächte liebt mich nicht mehr‘“ Marie Rose Amann hat in einem späten Filminterview „gewichtige Gründe dafür angeführt, daß sie sich die Wolkenromantik nicht leisten konnte. Man hätte sie aus der Schule geworfen, behauptete sie, wenn Brecht sie, wie er es häufig zu tun pflegte, weiterhin von dort abgeholt hätte. Nach dem ersten Kuß weinte sie, weil sie glaubte, nun ein Kind zu bekommen.“ Aus Angst habe sie Brecht ihrer Turnfreundin Paula Banholzer überlassen und sei froh, dass diese das uneheliche Kind bekommen habe und nicht sie selbst. Bis in seine Studienzeit hing Brecht der Marie nach. Es geht in dem Gedicht also um den Wunsch zu vergessen und um das Problem, nicht vergessen zu können. An seinen Freund Caspar Neher schrieb Brecht schon am 18. Dezember 1917: „Ich kann also die Rosmarie nicht mehr küssen (sie hat weiche, feuchte, volle Lippen in dem blassen, durstigen Gesichtchen). Ich kann aber andere küssen, natürlich. Ich sehe 100 Münder vor mir, sie verschmachten ohne meinen Kuß. 30 Jahre gebe ich mir und 5 Erdteile. Aber die Rosmarie kann ich also … Kreuzteufel! Was sind 100 Möglichkeiten gegen eine Unmöglichkeit? Vergessen ist Kraft = Flucht aus – Schwäche. Das Höchste, was man kann, ist: das zu nehmen, was man kann. Und das andere? Aber das andere, das man nicht …? Es kann keinen Gott geben, weil ich es sonst nicht aushielte, kein Gott zu sein… Wer lacht da nicht? (Lachen ist auch so eine Kraft der Schwachen!)“ Die Herabsetzung der Marie A., der unvergesslichen 15-jährigen Friseurstochter vom Kesselmarkt in Augsburg, wird im oben zitierten Brief recht drastisch: „Die Rosa Maria ist nämlich nicht hübsch. Das war eine Legende, die ich erfunden hatte. Sie ist es nur von weitem und wenn ich frage: ‚Ist sie nicht hübsch?‘ – Ihre Augen sind schrecklich leer, kleine, böse, saugende Strudel, ihre Nase ist aufgestülpt und zu breit, ihr Mund zu groß, rot, dick. Ihr Hälschen ist nicht reinlinig, ihre Haltung kretinhaft, ihr Gang schusselig und ihr Bruch (Bauch) vorstehend. Aber ich habe sie gern. (Obwohl sie nicht klug und nicht lieb ist.) Ich habe sie durchaus immer noch gern. Es ist greulicher Unsinn. Bin ich hübsch?“ Sabine Kebir weist auf einen Tagebucheintrag Brechts vom 26. August 1920 hin, um zu zeigen, dass „das Gedicht zunächst nur den intellektuellen Versuch darstellt, Abstand zu Marie Rose Aman zu gewinnen“. Ein halbes Jahr nach dem Gedicht, das so eindringlich Vergessen und verblassende Erinnerung beschwört, notiert Brecht: „Abends eine liebliche Dämmergeschichte. Ich hatte die Rosl bestellt. (…) Wir laufen in die Birkenau. Wir rutschen auf einer Bank herum, sie ist bleich, kindlich, schleckig. Der Himmel ist bewölkt, er schwimmt über uns weg, und in den Gebüschen rumort der Wind: er langt ihnen leider unters Laub. Ich küsse ihr weiches Visägechen ab und zerdrücke sie etwas. Im übrigen sieht sie auf guten Ton in allen Lebenslagen und muss um 9 daheim sein.“ Anschließend beschreibt Brecht, wie er in der Nacht „wie kaltes Getier durch wimmelndes Gesträuch trabend – die Wolken fallen einem fast auf das Genick – wieder an den ‚Galgei‘ herangetreten“ sei. Sabine Kebir sieht in dieser letzten Annäherung nach fünf Jahren der vergeblichen Werbung um Rose so etwas wie den Versuch, die eigene Dichtung noch einmal zu leben. „Schließlich faselt er noch von einer gewissen ‚Sauarbeit der Entjungferung‘, was er allerdings auf das schwierige Gebären poetischer Einfälle bezieht.“ Aufgrund dieser konkreten biographischen Hintergründe weist Kebir Interpretationen zurück, die in der „Erinnerung an die Marie A.“ die „faustische Tradition“ und den „baalschen Charakter des jungen Brecht“ suchten, die konkrete Erfahrung einer gescheiterten Liebe zur Begegnung rücksichtsloser Männlichkeit mit dem ewig Weiblichen abstrahierten. „Die am Biographischen orientierte kontextuelle Analyse zeigt uns keine Personen, die die Dimensionen eines Faust und eines Gretchen haben. Eher tritt da ein unsicherer junger Mann hervor, der vor allem in seiner Dichtung den starken Mann markiert – und eine Frau, die am Ende weiß, was sie will beziehungsweise nicht will: kein Abenteuer mit dem ihr zwar sympathischen, aber irgendwie unheimlichen Eugen Berthold.“ Literarische und musikalische Quellen Anregungen für das Gedicht gab ein französisches Chanson, das im deutschen Sprachraum in einer Bearbeitung des Wiener Komponisten Leopold Sprowacker um die Jahrhundertwende große Popularität genoss und in zahlreichen unterschiedlichen Arrangements verbreitet war. Carl Zuckmayer sprach von einer „gegen Ende der Kriegszeit allbekannte(n), vulgäre(n) Schlagermelodie“. Viele sentimentale Ansichtskarten aus der Zeit der Jahrhundertwende enthalten Textauszüge des Werks. Karl Valentin, den Brecht seit 1919 kannte, hatte das Lied 1915 in seinem Sketch Tingeltangel, auch als Theater in der Vorstadt bekannt, parodiert: Eine Sängerin, die es in romantischem Ton vorzutragen versuchte, wurde von Valentin auf immer neue Weise gestört. Brecht hatte, wie Fritz Hennenberg kommentiert, beim Dichten die „Melodie im Ohr“, und die von Brecht selbst in Zusammenarbeit mit Franz Servatius Bruinier komponierte Vertonung hält sich eng an diese Melodie. Die erste Strophe der deutschen Fassung des Schlagers lautet: So oft der Frühling durch das offne Fenster Am Sonntagmorgen uns hat angelacht Da zogen wir durch Hain und grüne Felder. Sag, Liebchen, hat dein Herz daran gedacht? Wenn abends wir die Schritte heimwärts lenkten, Dein Händchen ruht in meinem Arm, So oft der Weiden Rauschen dich erschreckte, Da hielt ich dich so fest, so innig warm. Zu jener Zeit, wie liebt ich dich, mein Leben, Ich hätt geküßt die Spur von Deinem Tritt, Hätt gerne alles für Dich hingegeben Und dennoch du – du hast mich nie geliebt! Zunächst fällt die Ähnlichkeit zum Brechtgedicht in Rhythmus und Reimschema ins Auge; allerdings wählte Brecht statt der acht plus vier Verse der Vorlage (Strophe plus Refrain) eine achtzeilige Strophenform ohne Refrain. „Metrum ist der fünfhebige Jambus, gereimt sind lediglich die Verse 2 und 4 sowie 6 und 8 jeder Strophe.“ Weiterhin sind einzelne Formulierungen übernommen, das Grundthema eines Liebeserlebnisses in der Natur ist teilweise übernommen, teilweise variiert. Es bleiben der klassische liedhafte Ton, die Eingängigkeit von Rhythmus und Bildern, die dem Gedicht eine gewisse Leichtigkeit verleihen und die Aspekte Verlust und Abwertung der geliebten Frau überlagern oder verdecken. Brecht greift mit dem Gedicht aber auch Motive aus dem eigenen Schaffen auf. Die Wolke ist „ein Grundmotiv der frühen Lyrik Brechts“. Das Motiv taucht bereits in dem 1918 verfassten Drama Baal auf: Baal: Es ist auch Frühjahr. Es muss etwas Weißes in diese verfluchte Höhle! Eine Wolke! (…) Baal: Aber erst hole ich mir eine Frau. Allein ausziehen, das ist traurig. Irgend eine! Mit einem Gesicht wie eine Frau! Baal: Wenn du sie beschlafen hast, ist sie vielleicht ein Haufen Fleisch, das kein Gesicht mehr hat. Der Übersetzer Jean-Claude Capèle sieht das Gedicht in diesem Kontext als Ausdruck des „asozialen Weltbild[s] eines Baal“, geprägt von der Erfahrung des Ersten Weltkriegs und dem Überlebenskampf der Nachkriegszeit. Weit zurück geht Albrecht Schöne auf die Suche nach literarischen Quellen. Er sieht als ältesten Vorgänger „ein altes bretonisches Hafenlied, dessen Worte verlorengingen“, dessen Spuren sich in der „Volksballade von ‚Schön Anna‘“ erhalten hätten. Ebenfalls auf dieses Lied gehe „ein etwa ins Jahr 1160 zu datierendes Lai der Marie de France zurück, das entsprechend nahe Verwandtschaft mit den genannten Balladen zeigt: ‚Le Fraisne‘.“ „Ezra Pounds ‚La Fraisne‘, 1909 in dem Bande ‚Personae‘ erschienen, das vom Lai der Marie de France ausgeht“, sei nun als ein Ausgangspunkt für Brechts Gedicht zu werten. Schöne zitiert den Schluss des Gedichts: „Once there was a woman … / … but I forget … she was … / … I hope she will not come again. / …. I do not remember … / I think she hurt me once, but … / That was very long ago. / I do not like to remember things any more. / I like one little band of winds that blow / In the ash trees here: / For we are quite alone / Here 'mid the ash trees.“ Editions- und Textgeschichte Veröffentlichungen Bereits 1922 war das Gedicht für die Sammlung Hauspostille vorgesehen, und zwar schon unter dem späteren Titel, wie aus einem erhalten gebliebenen Inhaltsverzeichnis hervorgeht. Doch die Fertigstellung dieser Gedichtsammlung verzögerte sich erheblich. So erschien die Erinnerung an die Marie A. zuerst am 2. August 1924 im Berliner 8 Uhr-Abendblatt unter der Rubrik „Neue Lyrik“. Im Dezember 1924 folgte die Veröffentlichung in der Zeitschrift Junge Dichter vor die Front!, einem von dem Rezitator Franz Konrad Hoefert redigierten Periodikum, das noch nicht arrivierten Dichtern ein Podium bieten wollte. Für den 15. Dezember 1924 wurde dort ein „Brecht-Abend“ angekündigt, bei dem Hoefert und die Rezitatorin Erna Feld Brecht-Texte vortragen sollten und Jo Lherman, ein umtriebiger Theatermacher und Regisseur, die einleitenden Worte sprechen sollte; diese Abendveranstaltung kam aber vermutlich nicht in der vorgesehenen Form zustande. Lherman wiederum nahm die Erinnerung an die Marie A. Anfang Januar 1925 in die von ihm herausgegebene „Anthologie unveröffentlichter Gedichte sechzig deutscher Autoren“ unter dem Titel Die Lyrik der Generation auf. Es handelte sich um ein Sonderheft der Berliner „Monatszeitschrift für Philosophie, Dichtung und Kritik“ Das Dreieck, die sich avantgardistischer Literatur und Politik verschrieben hatte (zu ihren Mitarbeitern gehörte der junge Herbert Marcuse). Im November 1926 erschien ein weiterer Nachdruck in einem viel gelesenen und renommierten Magazin des Ullstein-Verlags, der Zeitschrift Uhu mit einer Auflage von zeitweise über 100.000 Exemplaren. Wie schon seit 1922 geplant, wurde das Gedicht dann Teil der 1927 endlich bei Ullstein erschienenen Hauspostille, die als „Parodie auf die Haus- und Kirchenpostillen Luthers“ zu lesen ist. Brechts Gedichtsammlung ist in „Lektionen“ eingeteilt mit Titeln, die ironisch auf religiöse Kontexte verweisen. Die Erinnerung an die Marie A. erscheint in der Lektion Chroniken. Anders als die „Chroniken“ des Alten Testaments stellt das Kapitel der Hauspostille nicht exemplarische, bedeutsame Lebensläufe dar, sondern das Leben der ‚kleinen Leute‘. Textvarianten Der gedruckte Text weicht nicht wesentlich von der handschriftlichen Fassung von 1920 ab. Der auffallendste Unterschied betrifft die Überschrift: Sentimentales Lied Nr. 1004 wird ersetzt durch Erinnerung an die Marie A. Der biografische Bezug kam also erst in der Druckfassung zum Tragen, während die ironische Anspielung auf Don Giovanni getilgt wurde. Ferner schwächte Brecht direkte Bezüge auf einen sexuellen Akt leicht ab. Statt „und als ich aufstand“ hieß es nunmehr: „Und als ich aufsah, war sie nimmer da“; die Zeile „An meiner Brust wie einen Morgentraum“ (evtl. auch „Wiegentraum“, die Handschrift ist nicht eindeutig zu entziffern) wurde ersetzt durch „In meinem Arm wie einen holden Traum“. Vortragsanweisungen Jan Knopf weist darauf hin, dass Brechts „Vortragsstil jede ‚Stimmung‘ bzw. ‚Einstimmung‘“ verhinderte. Als Verfremdungseffekt habe Brecht das laute Nennen der Strophennummern eingesetzt. In der „Anleitung zum Gebrauch der einzelnen Lektionen“ empfiehlt Brecht weiterhin, beim Vortrag zu rauchen und mit einem „Saiteninstrument“ zu „akkordieren“. Der ideale Vortragskontext seien „Regengüsse, Schneefälle, Bankerotte usw.“, kurz das, was Brecht unter „rohen Naturgewalten“ versteht. Außerdem empfiehlt Brecht, „jede Lektüre in der Taschenpostille mit dem Schlusskapitel zu beschließen.“ Gemeint ist das Gedicht Gegen Verführung, das angesichts der Endlichkeit menschlichen Lebens zu gierigem Lebensgenuss und zur Abkehr von jeder religiösen Jenseitshoffnung auffordert. Laßt euch nicht betrügen! Das Leben wenig ist. Schlürft es in vollen Zügen! Es wird euch nicht genügen Wenn ihr es lassen müßt! Jeder sentimental-romantischen Rezeption der Erinnerung an die Marie A. wird hier konsequent entgegengearbeitet. Interpretationen Die Rezeption des Gedichts ist umfangreich, die „Erinnerung an die Marie A. gehört zu den meistinterpretierten Gedichten Brechts“. Dabei dreht sich die Debatte von Anfang an um die Frage, ob das Gedicht ein Liebesgedicht sei. Als irritierend wird empfunden, dass sich der Sprecher des Gedichts sehr intensiv an die „weiße Wolke“, nicht aber an das Gesicht der Geliebten erinnern kann. Die Interpreten legen dieses Faktum unterschiedlich aus: – als Verdrängung der bedrückenden Erinnerung an den Verlust der Geliebten, – als selbstverliebtes Liebeserleben, das nur die eigenen Gefühle erinnert, – als autobiografischen Text Brechts, der in dem Gedicht seine Liebe zur Schülerin Marie Rose Amann verarbeite, – als Verdichtung der großen Liebe zu einem eindrücklichen literarischen Symbol. Beim Vergleich der Deutungen ist zu berücksichtigen, dass den Interpreten bis zu den Untersuchungen Jan Knopfs um 1995 der Entstehungszusammenhang des Gedichts weitgehend unbekannt war. Form und Symbolik Zentrales Bild des Gedichts ist die „weiße Wolke“, hervorgehoben durch die Formulierung „ungeheuer oben“, die Marcel Reich-Ranicki zum Titel seines Brecht-Buches gewählt hat. Jörn Albrecht bezeichnet diese Verwendung des Adverbs „oben“ als „prädikatives Adjektiv“ als „eine raffinierte Form der Katachrese“ „Üblicherweise befindet sich etwas sehr weit oben, aber nicht ungeheuer oben“. Die Kraft dieses Bildes liegt also im bewussten Verstoß gegen grammatische Regeln, es entwickelt sich „der naiv-aufsässige Brechtsche Ton“. In der langen, romantischen Schilderung der Liebesbegegnung versteckt Brecht ein Geschehen, das die Wolke zum Verschwinden bringt: „und als ich aufsah, war sie nimmer da.“ In der ursprünglichen Notizbuchfassung („und als ich aufstand“) war dieser Bezug zu einem Liebesakt noch deutlicher formuliert. Wie in anderen frühen Gedichten Brechts repräsentiert die Wolke die große Liebe, ihr Verschwinden und den Kampf mit den Erinnerungen und Verlustgefühlen. Reich-Ranicki sieht in der Wolke ein Symbol der Liebe, ihrer „Reinheit und vor allem ihre(r) Vergänglichkeit“. Die erste Strophe, nach Reich-Ranicki die „These“ des Gedichts, repräsentiere die Erinnerung an die Liebe. Nur durch die Liebe zu Marie könne der Poet sich an die Wolke erinnern, der später eingefügte Titel drücke also „Dankbarkeit“ aus. Die zweite Strophe legt eine große Distanz zwischen die Liebe und die Erinnerung („viele, viele Monde“), das Gesicht ist vergessen: „Ich kann mich nicht erinnern.“ Geblieben sei nur die Erinnerung an das eigene Gefühl, an den Kuss. Die Größe des Verlustes und die Trauer werden im Bild der zerfließenden Zeit, der Leere des Danach deutlich. John Fuegi spricht von einem „Zeitsprung“, „fast mit einem filmischen Schnitt“. Das Bild des jungen, inzwischen alt gewordenen Pflaumenbaums impliziert eine Distanz an Jahren, die den zeitlichen Abstand in der Situation des jungen Brecht, die dem Text zugrunde liegt, weit überschreitet: Zum Ausdruck kommt der Wunsch nach Verdrängung des Verlusts. Marcel Reich-Ranicki sieht diese Strophe als „Antithese“ des Gedichts. Die dritte Strophe erscheint aus der Sicht Reich-Ranickis als „Synthese“ des dialektischen Konstrukts, die zugleich die Sicht der zweiten Strophe widerlege. Die Erinnerung an die Wolke sei doch nur durch die Erinnerung an die Geliebte motiviert, die Behauptung, sich nicht erinnern zu können, sei in der Synthese widerlegt. In dieser Strophe mischen sich Elemente aus den beiden ersten. Die große romantische Erinnerung ist integriert in eine ernüchternde Sicht der Geliebten, die jetzt vielleicht schon sieben Kinder hat. Themen sind der Erhalt der Erinnerung an die eigenen Gefühle, aber auch die Bewältigung des Verlusts der großen Jugendliebe. Der Bruch zwischen der kurzen „Blüte“ und den zahlreichen Schwangerschaften verweist nochmals auf den Aspekt der Unschuld, der Sicht der Liebe als großes Abenteuer der ersten Begegnung. „Die großen Glücksgefühle des Menschen sind schnell vergänglich, sie verblassen unversehens und sind nicht mehr erinnerlich. Sie benötigen des Zufälligen, um in Erinnerung zu bleiben. Brecht denunziert die Vorstellung von der ‚ewigen Liebe‘ aus der Haltung, der er damals anhing: sich an nichts binden, auf nichts vertrauen, nichts als dauernd betrachten. Alles, worauf die Menschen zu bauen glauben, ist ebenso flüchtig und zufällig wie eine Wolke. Die Wolke, die Brecht hier besingt, gehört in den ‚Himmel der Enttäuschten‘. Das Menschliche, das menschliche Gesicht (‚Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer‘), es ist nichts Bleibendes.“ Rezeptionsgeschichte Bereits Hanns Schukarts frühe Interpretation aus dem Jahre 1933 weist romantische Lesarten zurück. Die Besonderheit des Gedichts sei der „pessimistische Unglaube, dem es unmöglich ist, eine vergangene Lebenssituation wieder erlebbar zu gestalten.“ Nur im Moment des Liebesakts sei dem lyrischen Ich das Bild der Frau gegenwärtig, das Bild verblasse sofort danach. Nur die Wolke sei „aus dem sinnlichen Empfindungskomplex dieses Augenblicks in der Erinnerung des Ich geblieben“, was die lyrische Dichte des Symbols erkläre. Albrecht Schöne klassifiziert 1956 ohne Kenntnis der Entstehungsgeschichte die Erinnerung an die Marie A. als „Liebesgedicht“. Obwohl die Erinnerung eigentlich der Wolke gelte und die Liebe nur durch „abgenutzte, klischeehafte Bilder“ beschrieben werde, sei das Liebeserlebnis in der Erinnerung an die Wolke aufgehoben. Schöne ordnet das Gedicht zunächst in den Kontext der Brechtschen Hauspostille ein. Zwischen den Texten von wilden Abenteuern wirke das Liebesgedicht auf den ersten Blick fehl am Platze, „klingen die Verse der Liebe zu einer vergessenen Frau so fremd, so unerwartet, als hätten sie sich nur verirrt in diese rohe, lärmende Gesellschaft.“ Schöne deutet diesen Kontrast als Kontrapunkt „zu einer grausamen Gegenwart und unbarmherzigen Zukunft“, der „die Vergangenheit, die im Worte der Erinnerung Gestalt gewinnt“, zeitliche Tiefe verleihe. Schon in der das Kapitel Chroniken einleitenden „Ballade von den Abenteurern“ sei die Dimension der Erinnerung angesprochen: … ganze Jugend, nur nicht ihre Träume vergessen Lange das Dach, nie den Himmel, der drüber war. Schöne betont im Folgenden den Bruch in der ersten Strophe des Gedichts zwischen an Kitsch grenzender „Pseudo-Romantik“ in der Schilderung der Geliebten und der nüchternen Klarheit der drei Schlussverse: „Denn jetzt steht plötzlich die ‚Wolke‘ vor dem Auge des Sprechenden, befreit vom Stimmungsklischee der schmückenden Adjektive, und ihre adverbialen Bestimmungen treten klar, scharf, präzise in seine erinnernde Vorstellung: ‚sehr weiß und ungeheuer oben‘. Das wirkt nach dem Vorangehenden so kühl, nüchtern und schockierend ‚unpoetisch‘, wie ein erlösender Durchbruch zu Wahrheit und Wirklichkeit.“ Die eigentliche Erinnerung – so folgert Schöne – gilt der Wolke, nicht der Geliebten. Die zweite Strophe markiert für Schöne einen Bruch durch den zeitlichen Sprung und die dialogische Ansprache eines fiktiven Zuhörers. In der Klarheit der Aussage, dass sich der Sprecher nicht erinnern könne, erkennt Schöne einen „Unterton des Nichterinnern-Wollens“. Er vergleicht das Vergessen des Sprechers mit dem Vergessen Gottes in den Schlussversen von Brechts Gedicht Vom ertrunkenen Mädchen: Geschah es (sehr langsam), daß Gott sie allmählich vergaß Erst ihr Gesicht, dann die Hände und ganz zuletzt erst ihr Haar Dann ward sie Aas in Flüssen mit vielem Aas. Die dritte Strophe kontrastiert nach Schöne das Bild der Wolke mit einer fast zynischen Sicht der vergessenen Geliebten: Die Pflaumenbäume blühn vielleicht noch immer Und jene Frau hat jetzt vielleicht das siebte Kind. Doch jene Wolke blühte nur Minuten Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind. „Die Person der Geliebten – ausgelöscht, ihr Gesicht – vergessen, der Tag ihrer Begegnung – vergangen, der Pflaumenbaum – vielleicht abgehauen, vielleicht noch immer in Blüte; alles Dingliche, Gestalthafte, Feste, auch nur ein wenig Dauernde fiel dem Vergehen zum Opfer. Allein die ‚Wolke‘, die nur für Augenblicke am Himmel stand, die im Winde dahinschwand, schon als er aufsah, dies Allervergänglichste besteht in der Erinnerung des Sprechenden und in der Dauer des Gedichts.“ In Bezug auf die Form hebt Schöne die eigenartige Verwendung der grammatischen Zeitformen hervor. Das Präteritum stehe gerade für das Gegenwärtige, die Wolke „‚war‘, ‚blühte‘, ‚schwand‘; der Sprechende ‚küßte‘ ihr Gesicht und ‚hielt‘ sie im Arm.“ Dagegen stehe das Präsens für das Vergessen und das Unsichere. „Die Redeweise der Gegenwart dient dem Vergessenen – die der Vergangenheit dem wahrhaft Gegenwärtigen. Aus dem gegenläufigen Fortwirken des ursprünglichen Tempusgebrauchs aber zieht der umgewandte Zeitbezug die erhöhte Spannung einer leisen Befremdung und Paradoxie.“ Klaus Schuhmann analysiert 1964 wie Reich-Ranicki den Dreischritt des Gedichts, konstatiert aber einen Bruch schon in der ersten Strophe. Formal kontrastiere das in den letzten Versen bei der Beschreibung der Wolke dreimal wiederholte, „prosaisch anmutende“ Hilfsverb „war“ mit den „sentimentbeladene(n) Attributen der ersten Verse (blau, jung, still, bleich, hold)“. Durch die nüchterne Schilderung der Wolke in den letzten Versen verblasse die sentimentale Schilderung der ersten Verse. „Das Stimmungsbild der ersten Strophenhälfte erweist sich als Klischee. Sogar die Geliebte fällt dem Vergessen zum Opfer.“ Thema der zweiten Strophe ist nach Schuhmann der „alle Erinnerung auslöschende Strom der Zeit“. Sie dokumentiere das Scheitern aller Erinnerungsversuche an die Geliebte. Die Fähigkeit des Sprechers, die weiße Wolke zu erinnern, erklärt Schuhmann aus der nüchternen Betrachtung des Himmelsphänomens. Die dritte Strophe sieht Schuhmann als „Vergegenwärtigung des damaligen Septembertages durch die Wolken.“ Das Bild des Windes in den beiden Schlusszeilen des Gedichts: Doch jene Wolke blühte nur Minuten Und als ich aufsah, schwand sie schon im Wind. ist für Schuhmann „nicht mehr nur eines der Lebenselemente des Asozialen (…) sondern wird zum integrierenden Bestandteil der Vergänglichkeit“. Ausgangspunkt der Analyse von Albrecht Weber ist 1971 der historische und literarische Entstehungskontext. Die Erfahrung des Weltkriegs und der anschließenden Wirren habe eine ganze Generation erschüttert: „Die hoffnungslose Situation der Zeit entfachte eine Nach-uns-die-Sintflut-Stimmung, eine carpe-diem-Haltung – und die hektischen roaring twenties sind von Verzweiflung untermalt und nicht zufällig wurde damals die Existenzphilosophie formuliert – sie entfesselte, wie im jungen Brecht, eine gesteigerte Begierde nach Lust, rücksichtslose Lebensgier, einen asozialen, amoralischen Vitalismus. Alles wurde dem Ich zum Mittel, sich auszuleben, des Genusses. Das Geschlecht sollte die Lebenslust stillen.“ Weber zitiert dazu Hanns Otto Münsterers Schlagwort vom „Baalischen Weltgefühl“ Brechts und seiner Umgebung in Augsburg. Als zentrale Motive dieses rücksichtslosen, genussorientierten Liebeslebens nennt Weber „Liebe als Ausleben der Sinnlichkeit … aus Verzweiflung, … aus innerer Not“ „Unter einem gleichgültigen, azuren strahlenden Himmel vollziehen die Bilder von Wind, Wolke und Wasser die Zeichen der Vergänglichkeit.“ Vergänglichkeit und „Baalisches Weltgefühl“ sieht Weber im Anschluss an Walter Muschg in der Erinnerung an die Marie A. realisiert. Die Wolke scheint ihm die Liebe zu einer „Naturerscheinung“ zu überformen, die Liebe sei dadurch „nichts als ein wie eine Wolke wiederholbarer Naturvorgang“. Im Anschluss an Schöne rekonstruiert Weber eine Art von „Schalenbau“ des Gedichts mit dem rhetorischen Dialog im Zentrum („Und fragst Du mich“) und einer „Symmetrie“ der äußeren Elemente „Pflaumenbaum“ und „Wolke“. Weber kommt zu dem Schluss, dass „jenes Liebesgedicht eher ein Gedicht der Vergänglichkeit ist, ein Gedicht der vergänglichen Liebe, auch ein ‚Reflex der Trauer‘“. Andreas Hapkemeyer konkretisiert in seiner Analyse aus dem Jahre 1986 die Verschiebung der Erinnerung an die Geliebte auf die Wolke. Die Konzentration auf die „Wolke und die damit verbundene Selbsterfahrung des lyrischen Ichs“ lasse das Werk „nur bedingt“ als Liebesgedicht kategorisieren. Jan Knopfs Arbeiten ab 1995 bezeichnen durch die systematische Erschließung des Entstehungszusammenhangs eine Wende in der Rezeptionsgeschichte. Knopf analysiert zunächst die „Intensität“ des Gedichts, die er auf seinen „unerhörten Klang“ zurückführt. Durch die prägnante, dreifache Wiederholung des Diphthongs „au“ („blauen Mond“ (1), „Pflaumenbaum“ (2, 11, 21)) würden zwei Liebessymbole, „der Mond, das Liebessymbol (und Kitschsymbol für Liebe) schlechthin“ und „der Pflaumenbaum mit seinen sexuellen Konnotationen“, hervorgehoben. Zusammenklänge ergäben zudem die vielen „o“ (Mond (1), Sommerhimmel (5), Wolke (6, 18, 23), oben (7)) und in der Folge der „i“-Laut (Still (2), die stille .. Liebe (3), Sommerhimmel (5), die ich (6), ich (8), sie nimmer (8)). Diese Harmonie der Laute erstrecke sich über alle drei Strophen, zum Teil verstärkt durch Wortwiederholungen (etwa Pflaumenbaum, still). Ein weiteres prägnantes Stilmittel seien Anaphern, besonders deutlich als Verbindung zwischen den Schlüsselwörtern „Gesicht“ und „Wolke“: Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer und Doch jene Wolke blühte nur Minuten John Fuegi hat darauf hingewiesen, dass die enge Verbindung der Schlüsselwörter „Wolke“ und „Gesicht“ auch über die Doppeldeutigkeit des Wortes „weiß“ im Gedicht hergestellt wird, das einmal die Farbe der Wolke bezeichnet, andererseits als Form des Verbs „wissen“ die Erinnerung an das Gesicht. Ein weiteres Klangelement sind nach Knopf „syntaktische Klein-Einheiten“ aus zweifüßigen Jamben („Da hielt ich sie“ (3); „Sie war sehr weiß“ (7); „Und fragst Du mich“ (12); „So sag ich Dir“ (13); „Die weiß ich noch“ (19)). Auch zahlreiche Alliterationen verstärkten die lautliche Harmonie (etwa: „Wolke“ (6, 18, 23), „weiß“ (7, 14, 15, 16, 19, 20), „gewiß“ (14), „wohl“ (11), „Wind“ (24) usw.). Hinzu kämen Assonanzen und Parallelismen („ich weiß schon, was du meinst“ (14); „das weiß ich wirklich nimmer“ (15); „Ich weiß nur mehr“ (16)). Aufgrund der klanglichen Harmonie sei leicht zu überlesen, dass sich nur jede zweite Zeile reime. Trotz dieser harmonischen, lyrischen Form läuft – so Jan Knopf – „alles auf Desillusionierung hinaus“, Jan Knopf verweist zunächst auf den großen zeitlichen Abstand zwischen Erinnerung und Ereignis, ein Konstrukt, das er nicht als psychologischen Versuch der Distanzierung von dem Erlebnis des Verlassenwerdens deutet, sondern als Hinweis auf die Distanz zwischen lyrischem Ich und dem jungen Bertolt Brecht. Das lyrische Ich sei „mit dem 23jährigen Autor kaum identifizierbar.“ Im Brecht-Handbuch weist Jan Knopf darauf hin, dass die Hauspostille ein „Anti-Erbauungsbuch“, distanziert zu lesende „Rollenlyrik“ sei. Verschiedene Deutungen, vor allem aber die Albrecht Schönes, hätten das Gedicht „Erinnerung an die Marie A.“ zu Unrecht zum „Prototyp bürgerlicher Dichtkunst erhoben.“ Nach Schöne liege das „Wunder dieses Gedichts“ in dem Symbol der Wolke dadurch, „daß gerade dieses Sinnbild der Flüchtigkeit durch die Kühnheit der Sprache, die Kraft des Rhythmus, den Zauber des Klanges und die Steigerung der Bildwiederholung sich verwandelt ins eigentlich Dauernde und Gegenwärtige.“ Obwohl Schöne prosaische Elemente sehe, seien für ihn die „Wolkenbilder“ Garanten „der geformten Beständigkeit des Kunstwerks.“ Jan Knopf weist Schönes Interpretation scharf zurück. „Diese Deutung entzieht dem Gedicht jeden Gebrauchscharakter und jede Rollenfunktion; der alte Erbauungscharakter ist wiederhergestellt, das Flüchtige hat wieder Ewigkeitswert. Gerade bei diesem Gedicht sind zunächst die »prosaischen« Zusammenhänge wiederherzustellen.“ In der Folge untersucht Jan Knopf distanzierende Aspekte im Gedicht und im Kontext seiner Entstehung. Die zweite Strophe weise das Gedicht als Dialog aus („Und fragst du mich, was mit der Liebe sei“), die Erinnerung an die Marie A. werde negiert („ich kann mich nicht erinnern“; „Doch ihr Gesicht, das weiß ich wirklich nimmer“). Das lyrische Ich sei als deutlich älter angelegt als der junge Brecht, der das Gedicht in sein Notizbuch geschrieben habe. Weitere Hinweise entnimmt Knopf den zynischen Bemerkungen zum Gedicht in Brechts Notizbuch. Vor allem in Brechts Verweis auf Giacomo Casanova und seine über 1.000 Geliebten und in Brechts Notiz, er habe das Gedicht im Zustand der „gefüllten Samenblase“ geschrieben, entdeckt Knopf das beherrschende sexuelle Motiv, zu dessen Befriedigung „dann jede Frau willkommen ist: sie hat schon in der Aktualität kein Gesicht.“ Die Entstehung aus einem Schlager als Vorlage sieht Knopf als weiteren Hinweis, dass das Gedicht als „parodistischer Gegenentwurf zu bürgerliche(r) Liebeslyrik“ zu verstehen sei: „Der große Liebende – so wird später auch Max Frischs Deutung in Don Juan oder Die Liebe zur Geometrie (1952) ausfallen – ist in Wahrheit Narziß, einer, der nur sich selbst liebt und die Frauen lediglich zu seiner Bestätigung benötigt. […] Der flüchtige Selbstgenuß, in Abwehr aller bürgerlicher sentimentaler Liebesbeschwörungen, ist Thema und »Ausdruck« des Gedichts.“ Es ist nicht möglich, die verschiedenen Interpretationen auf einen Nenner zu bringen. Von den meisten Interpreten wird eine sentimental-romantische Lektüre zurückgewiesen. Die weiße Wolke steht nicht zuerst für die Reinheit der Liebe, sondern für Vergänglichkeit der Reinheit, den für den Sprecher einmaligen Moment der ersten Eroberung. Schon im Moment der romantischen Erinnerung erscheint die Geliebte seltsam sprach- und gesichtslos. („still“, „stille“, „bleich“). John Fuegi spricht von „namenlosen, schweigenden, gesichtslosen Frauen“ im Werk Brechts, es finde „eine Verschiebung von einem Menschen aus Fleisch und Blut zu einer körperlosen Wolke statt“. In der langen Umarmung, während der die Wolke vom hohen Sommerhimmel verschwindet, vergeht auch die Reinheit und der große, unvergessliche Moment der ersten Liebe. Das Konzept der Erinnerung Brechts Gedicht stellt für einige Autoren grundsätzlich die Frage nach dem menschlichen Erinnerungsvermögen. Elisabeth von Thadden setzt in der ZEIT das Brecht-Gedicht in Beziehung zum Themenfeld Hirnforschung und zu Zweifeln am menschlichen Erinnerungsvermögen. „Brechts frühes Gedicht Erinnerung an die Marie A., das mehr von der Ungewissheit des Erinnerns, von der Faszination einer gedächtnisstimulierenden Wolke als von einer Liebeserfahrung spricht, bringt zur Darstellung, was jetzt den renommierten Frankfurter Historiker Johannes Fried dazu veranlasste, seine Grundzüge einer historischen Memorik zu erarbeiten: die Irritation über die Unsicherheit des menschlichen Gedächtnisses nämlich.“ Nach von Thadden zeigt die Erinnerung an die Marie A. die Dominanz der „jeweiligen Gegenwart des Erinnerns“, die die Vergangenheit zur Anpassung an die Bedürfnisse des Jetzt zwingt. Auch für Jean-Claude Capèle ist die Liebe beim frühen Brecht geradezu definiert durch Vergänglichkeit. „Das menschliche Gefühl ist dazu bestimmt, nur kurz aufzuleben, um sich sehr rasch wieder ins Nichts des Vergessens aufzulösen. Mit diesem Prozeß des Vergessens steht die Natur in engem Zusammenhang, da das Vergessen des geliebten Menschen immer wieder an Gegenständen der Natur artikuliert wird.“ Capèle sieht im Bild der Wolke, die sich dem Gedächtnis des lyrischen Ich eingeprägt hat, eine Betonung der Vergänglichkeit der Liebe. Die Liebe werde dabei einerseits als „wiederholbarer Naturvorgang“ gefasst, andererseits sei die Wolke „von Natur aus das Vergänglichste schlechthin“, das dennoch aber eher im Gedächtnis bleibe als die geliebte Frau, die „in der bedeutungslosen Ungewißheit untergeht“. Jochen Vogt sieht das Vergessen beim frühen Brecht als „Chiffre“ für den Verlust Gottes, für „die leere Transzendenz“, aber auch für „die Entfremdung im menschlichen Miteinander, nicht zuletzt in der Beziehung zur «stillen, bleichen Liebe» Marie A.“. Als eine Ursache nennt Vogt „den dramatischen Erfahrungsverlust der Generation von 1918“, das Entfremdungsgefühl der Kriegsteilnehmer angesichts der veränderten Welt. Als Beleg für diese Erfahrung zitiert er Walter Benjamin: Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Landschaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der winzige, gebrechliche Menschenkörper. Brecht gehört für Jochen Vogt zu den Autoren der Moderne, die das Erinnern als flüchtig und zufällig bestimmen. „Die Wolke figuriert in Brechts Gedicht als simulacrum des menschlichen Gesichts.“ Brecht inszeniere Erinnern als Vergessen und sei damit sehr nahe an anderen literarischen Erinnerungsprojekten der Moderne. Die Kennzeichnung von Marcel Prousts Schreiben als “Poetik der Erinnerung aus der Tiefe des Vergessens” treffe insofern auch die Lyrik des frühen Brecht. Weitere Verwendung der Motive bei Brecht Das Symbol „Pflaumenbaum“ Klaus Schuhmann weist darauf hin, dass das erotische Symbol des Pflaumenbaums vor der Erinnerung an die Marie A. ebenfalls im Baal auftaucht und später mit deutlichen erotischen Anspielungen im Pflaumenlied aus Herr Puntila und sein Knecht Matti. Als wir warn beim Pflaumenpflücken legte er sich in das Gras Blond sein Bart, und auf dem Rücken Sah er zu, sah die und das. Auch Sabine Kebir untersucht die spätere Verwendung des Pflaumenmotivs bei Brecht als „Synonym für die weiblichen Schamlippen“. Sie zitiert neben dem Puntila „Das Lied vom kleinen Wind“, das Brecht 1943 im Zuge der Entstehung des Schweyk verfasste. Nimm’s von den Pflaumen im Herbste Wo reif zum Pflücken sind Und haben Furcht vorm mächtigen Sturm Und Lust auf ’n kleinen Wind. So ’n kleiner Wind, du spürst ihn kaum ’s ist ein sanftes Wiegen. Die Pflaumen wollen ja so vom Baum Wolln auf’m Boden liegen. Sabine Kebir sieht in beiden Liedern den Ausdruck von „weiblich-erotischem Selbstbewusstsein“ und schlägt einen Bogen von der Erinnerung an die Marie A. zum Lied aus dem Schweyk. Beide Texte vereine die „Ungeduld des jugendlichen Liebhabers“ und der Wunsch der Frauen nach „Verzögerung beim Liebesabenteuer“, beim Schwejk sehe der „gereifte Dichter“ dies mit „Verständnis und Sympathie“. Das Wolkensymbol Die deutlichste Wiederaufnahme des Wolkensymbols ist Brechts um 1921 entstandene „Ballade vom Tod des Anna Gewölkegesichts“. Hier wird zunächst der Wunsch nach Vergessen der Geliebten sehr deutlich ausgesprochen: Sieben Jahre vergingen. Mit Kirsch und Wacholder Spült er ihr Antlitz aus seinem Gehirn Auch in der achtstrophigen Ballade repräsentiert die Wolke die verlorene Erinnerung an das Gesicht der Geliebten. Wie war ihr Gesicht? Es verschwamm in den Wolken? und Einmal sieht er noch ihr Gesicht: in der Wolke! Es verblaßte schon sehr. Da er allzu lang blieb… Wie in der Erinnerung an die Marie A. spielt Brecht auch hier mit den verschiedenen Bedeutungen und Konnotationen des Wortes „weiß“. Nach dem Schwinden der Erinnerung sieht der Sprecher in deutlicher Anspielung auf die Situation des Schriftstellers „dieses weiße Papier“. Aus der „stillen bleichen Liebe“ wird in der Ballade „Eine Stimme, der ihre Lippe verblich“. Ihr Gesicht in der Wolke „verblaßte schon sehr“. Am Ende verblassen mit der Erinnerung auch die Wünsche: In den weißen Winden des wilden April Fliegen wie Wolken die blässeren Wünsche: Ein Gesicht vergeht. Und ein Mund wird still. „Das uralte Vergänglichkeitssymbol“ der Wolke findet Albrecht Schöne auch in Brechts Erzählgedicht Schuh des Empedokles aus den Svendborger Gedichten aus dem Jahre 1939: … Langsam, wie Wolken Sich entfernen am Himmel, unverändert, nur kleiner werdend, Weiter weichend, wenn man nicht hinsieht, entfernter, Wenn man sie wieder sucht, vielleicht schon verwechselt mit andern, So entfernte er sich aus ihrer Gewohnheit, gewöhnlicherweise. Allerdings sei hier nur eine Seite des Leitmotivs der Erinnerung an die Marie A. aufgegriffen: die „Vergänglichkeit“. Sabine Kebir weist darauf hin, dass das Wolkensymbol beim frühen Brecht zunächst „ein ernstes, ins Tragische weisendes Bild“ gewesen sei. Als Beleg zitiert sie Das Lied von der Wolke der Nacht: Mein Herz ist trüb wie die Wolke der Nacht Und heimatlos, o Du! … Die Wolke der Nacht ist mit dem Wind allein. Auch in den bereits genannten Verwendungen im Schuh des Empedokles und in der Ballade vom Tod des Anna Gewölkegesichts sieht Kebir „eine ernste, melancholische Atmosphäre der Liebestrauer“. Es gebe jedoch einen Unterschied in der Verwendung des Wolkensymbols beim frühen Brecht: In der Erinnerung an Paula Banholzer sehe Brecht in der Wolke das Gesicht der Geliebten, nicht nur im Gedicht, sondern auch in Notizen: „Nach einem Tag ohne Tagwerk, voll von Rauchen, Schwatzen, Bummeln und unnützen Haltungen, schlafe ich schlecht in der heißen Budike und verwickle mich in Eifersuchtskrämpfe. Über dem blassen Plafond schwimmt das Gesicht der Bi: Es ist unruhig.“ Anders verschwinde das Gesicht in der Erinnerung an die Marie A. und im Text Von He. 9. Psalm: Darum starb sie im 5. Monat des Jahres 20, eines schnellen Todes heimlich, als niemand hinsah, und ging hin wie eine Wolke, von der es heißt: Sie war nie gewesen. Im realen Leben sei Brecht der Abschied weder von seiner Münchner Geliebten Hedda Kuhn (die er „He“ nannte) noch von Marie Amann leichtgefallen, zu He habe er noch lange nach der Trennung Kontakt gehabt und Marie A. lange nachgetrauert. Sabine Kebir sieht hier zwei Aspekte, zunächst den deutlichen Abstand zwischen Biographie Brechts und literarischer Verarbeitung, des Weiteren in der konsequenten Verdrängung des Gesichts der Geliebten in der Erinnerung an die Marie A. „den furiosen Versuch, sich mit der Erfolglosigkeit einer fünf Jahre währenden Werbung abzufinden“, eine „selbsttherapeutische Maßnahme“. Vertonungen Frühe Vorträge und erste Fixierung eines Notentexts Brecht hat die Erinnerung an die Marie A. bereits vor der Erstveröffentlichung mehrfach vor Publikum gesungen. Er berichtet in seinen Tagebüchern von einem Auftritt am 27. Mai 1921 bei Maifestspielen „zugunsten notleidender Akademiker“ auf einer „Groteskbühne“ im Münchner Ausstellungspark: „Ich kann es nicht ganz auswendig … ich mache schlapp und trudle ab, von Gewissensbissen zerfleischt, übrigens unter Beifallsklatschen.“ Arnolt Bronnen hat Brecht das Lied Mitte Dezember 1921 in Berlin bei einer Gesellschaft im Haus des Schriftstellers und Dramaturgen Otto Zarek mit einer „krächzenden, konsonantischen Stimme“ singen gehört, Carl Zuckmayer Anfang oder Mitte Oktober 1923 bei einer privaten Feier in der Wohnung der Schauspielerin Maria Koppenhöfer in München, „with its kitschy, totally gripping French chanson tune“ (so John Fuegi). Brecht begleitete sich in beiden Fällen selbst auf der Gitarre. Auch noch 1924 und 1925 in Berlin gehörte das Lied zum Repertoire des Balladensängers Brecht; er trug es regelmäßig bei Gesellschaften in seinem Zimmer vor. Zwar war Brecht musikalisch, sang und spielte Gitarre, und er beherrschte auch die Notenschrift. Wie spätestens 1925 bei der Vorbereitung der Notenanhänge zur Hauspostille offenkundig wurde, reichten seine technischen Fähigkeiten aber nicht aus, eine Druckvorlage für einen Notentext zu erstellen. Er begann daher mit dem Komponisten Franz Servatius Bruinier zusammenzuarbeiten, den er beim Berliner Rundfunk kennen gelernt hatte. Wie Fritz Hennenberg vermutet, hat Brecht seine Interpretation des Liedes Bruinier vorgesungen, Bruinier hat diese Fassung aufgezeichnet, möglicherweise auch Änderungen vorgeschlagen und zudem eine Klavierbegleitung erstellt. Ein undatiertes Manuskript dieser Fassung, wohl 1927 entstanden, ist im Bertolt-Brecht-Archiv erhalten. Hier erscheinen Brecht und Bruinier gemeinsam als Komponisten, mit dem Vermerk: „nach einer alten Melodie“. Diese „alte Melodie“ stammt ursprünglich aus der 1875 erstveröffentlichten „Romance“ mit dem Titel Tu ne m’aimais pas! („Du hast mich nicht geliebt“) von Léon Laroche (Text) und Charles Malo (Musik). Das Stück war, wie das Titelblatt ausweist, bereits vor der Publikation der Noten im Pariser Café-concert Eldorado von einem gewissen „Mr. Max“ gesungen worden. 1896 erschien eine sehr populäre Bearbeitung dieses Liedes durch den Wiener Komponisten Leopold Sprowacker (op. 101, Verlor’nes Glück). Sprowacker hatte nicht nur den Text ins Deutsche übertragen, sondern auch „geschmeidigere Melodiekurven“ eingebaut, was nach Fritz Hennenbergs Urteil die schon bei Malo „kräftig aufgetragene“ Sentimentalität noch zusätzlich „verdickte“. Die Vertonung von Brecht und Bruinier Das Manuskript hält sich weitgehend an die Melodie von Sprowackers Fassung des Verlor’nen Glücks. Der größte Unterschied besteht darin, dass aufgrund des Verzichts auf einen Refrain acht Takte der Melodie fehlen. Brecht und Bruinier strichen jedoch nicht die Refraintakte, sondern die letzten beiden Melodiezeilen der Strophe und die ersten beiden des Refrains, während die letzten beiden erhalten blieben. Als Ergebnis dieser Montage entstanden zwei miteinander korrespondierende achttaktige Perioden, die Trennung von Strophe und Refrain wurde aufgehoben. Zudem weichen einige Intervalle leicht von der Vorlage ab. Die Begleitung des in C-Dur notierten Liedes beschränkt sich auf stützende Akkorde (Tonika, Dominante und Subdominante), rhythmisiert in fast durchlaufenden Achteln. Sie ist damit weit schlichter als in der Vorlage; insbesondere die harmonischen Ausweichungen und dramatisierenden Zuspitzungen in den letzten beiden Strophenversen entfallen infolge der Streichung dieser Zeilen völlig. Das Lied rückt so noch näher an den beabsichtigten „Volkston“, wie Fritz Hennenberg anmerkt. Ein konstantes Rhythmusmodell, bereits bei Malo und Sprowacker etabliert, gibt dem Lied seine Struktur: Jede Verszeile beginnt mit drei auftaktigen Achteln, worauf eine punktierte Viertel folgt, die eine Zäsur markiert. Der zweite Teil der Phrase enthält fünf Achtel und dann, je nach Versschluss, ein oder zwei längere Notenwerte. Diese Zweiteilung des Verses nutzt Brecht, anders als Sprowacker, tatsächlich meist als einen Einschnitt. So werden für den Vortrag kleinere rhythmische Einheiten geschaffen: „An jenem Tag | im blauen Mond September“. Allerdings fällt gerade in der Schlusszeile der Strophen zweimal das distanzierende „(als ich) auf-sah“ genau in diese Zäsur, die damit überbrückt wird. Die Melodie des Stücks enthält, dem Schlager-Charakter der Vorlage entsprechend, effektvolle Skalenanstiege, aufsteigende Dreiklangsmelodik und Quintfälle und wirkt daher sehr sanglich. Die Interpreten haben den Gegensatz zwischen den kantablen Melodielinien und der desillusionierenden Sprache insbesondere der letzten beiden Strophen oft parodistisch genutzt. Am auffälligsten ist die Gestaltung der siebten Musikzeile: Nach mehreren abgebrochenen Anstiegen im ersten Teil der Strophe wird hier endlich der Spitzenton D erreicht, jeweils auf ein Schlüsselwort: „(sie war sehr) weiß“, „(und ihr Ge-)sicht“, „(doch jene) Wol-(ke)“. Das Ende dieser Phrase markiert der tiefste Abwärtssprung, ein Septfall (etwa auf den Text „o-ben“ in der ersten Strophe), zusätzlich herausgehoben durch plötzliches Aussetzen der durchlaufenden Achtel und die auffälligste Harmonie des schlichten Stücks (Subdominant mit Sixte ajoutée). Brecht und Bruinier verzichteten hier auf die Ersetzung durch die Mollparallele, wie sie bei Sprowacker vorgegeben war; es bleibt beim nüchternen Dur. Mit einer sachlich anmutenden Phrase kehrt das Lied in der Schlusszeile zum Grundton zurück. Musikalische Interpretationen und weitere Fassungen Diese Fassung ist es, die im Allgemeinen den Interpretationen des Liedes zugrunde lag. 1928 nahm Kate Kühl, die „Lucy“ der Dreigroschenoper-Premiere, das Lied auf Schallplatte auf. Hans Reimann bezeichnete die Aufnahme im März 1933 in der beliebten Kulturzeitschrift Querschnitt als „das köstlichste Liebeslied der letzten Jahre“ und wies bereits zu diesem Zeitpunkt auf Malo und Sprowacker als Autoren der Vorlage hin. 1952 erinnerte er sich in seiner Literazzia: „Wer beschreibt mein Entsetzen, als ich Anno 1928 das längst verloren geglaubte ‚Verlor’ne Glück‘ vortragen hörte von Kate Kühl? … Die Firma Grammophon warf es (das Glück) als Schallplatte auf den Markt. Ein Komponist stand nicht drauf. Statt dessen: Alte Volksweise. … Und der Verfasser? – Bert Brecht! Er hatte den Charles Malo neu textiert. Ich nehme an, aus Übermut. Oder aus Freude am Kitsch. Aber die Kühl trug es so beseelt vor, daß der Scherz zum Ernst wurde.“ Reimanns Angabe, dass Malos Melodie selbst ein Plagiat der Weise Behüt dich Gott, es wär so schön gewesen aus Victor Ernst Nesslers Oper Der Trompeter von Säckingen sei, trifft freilich nicht zu, wie Fritz Hennenberg gezeigt hat. Dies ist schon aufgrund der zeitlichen Folge unmöglich, da die Oper 1884 uraufgeführt, Malos Chanson jedoch bereits 1875 veröffentlicht wurde; auch der Notentext bietet keine Anhaltspunkte für ein Plagiat, in welcher Richtung auch immer. Hauptsächlich Veränderungen in der Begleitung bringt eine Variante mit Klaviersatz, die aus dem Besitz von Ernst Busch stammt und sich um 1933 datieren lässt. Wahrscheinlich ist Hanns Eisler der Urheber. Im Verhältnis zur Urfassung hält sie sich enger an die Vorlage von Sprowacker. Busch hat das Lied unter anderem im April 1936 in London gesungen, begleitet von Eisler am Klavier. Später hat er es zumindest zweimal auf Schallplatten aufgenommen, einmal Ende der 1940er Jahre mit Gitarrenbegleitung, einmal 1965 mit Klavier. Zudem ist eine Neueinrichtung von Hanns Eisler aus dem Jahre 1962 erhalten, die Ernst Busch jedoch nie verwendet hat, seinem Vermerk auf dem Manuskript nach zu schließen. Aus demselben Zeitraum wie die Brecht-Bruinier-Vertonung stammt ein Notenmanuskript, das von Bruinier allein gezeichnet ist. Es ist datiert vom 10. Januar 1927. Bruinier ergänzt nicht nur Vor-, Zwischen- und Nachspiele des Klaviers, sondern setzt das Lied auch in Moll. Harmonik und Melodiephrasen sind weit anspruchsvoller, chromatische Anstiege und Vorhalte werden eingebaut; doch das konstante Rhythmusmodell der Vorlage ist auch für diese Fassung verbindlich. Albrecht Dümling charakterisiert dieses „a-Moll-Andantino“ als „sentimentales Lied im Salonstil“. Das Manuskript wurde erst im Nachlass Brechts gefunden. Eine Aufführung dieser Fassung fand bei einer Soirée des Brecht-Zentrums der DDR am 7. Januar 1982 statt (Gesang: Roswitha Trexler, Klavier: Fritz Hennenberg). Keine der Fassungen fand Eingang in die Notenanhänge zur Hauspostille, deren Druckvorlage bereits 1925 fertiggestellt werden musste. Die Erinnerung an die Marie A. gehört dementsprechend nicht zu den 14 Liedern, deren Noten in den gedruckten Fassungen der Hauspostille veröffentlicht wurden. Das Stück ist noch mehrfach vertont worden, die Neukompositionen sind aber recht unbekannt geblieben und kaum für Interpretationen genutzt worden. So gibt es eine Komposition des Werks von Rolf Liebermann um 1933. Hans Reimann hat 1948 das Lied von einer in München tätigen Schauspielerin gehört; es habe damals „eine neue musikalische Untermalung“ und eine „neue Singweise“ gehabt. Reimann macht dazu aber keine näheren Angaben. Gottfried von Einem hat 1961 eine mit der Vorlage gar nicht verwandte, ganz eigenständige Vertonung geschaffen. In seinen „Lyrischen Phantasien für Gesang und Orchester“, betitelt Von der Liebe (op. 30), ist die Erinnerung an die Marie A. die Nummer VI. Diese Vertonung steht, so ein gewisser R. L. in einer zeitgenössischen Rezension, „fest in der Tradition Mahler'scher Orchesterlieder-Zyklen“. Die Song- und Schlager-Elemente sind ganz aufgegeben, ebenso das Rhythmusmodell der ursprünglichen Vertonung; von Einem nutzt Ganztonleitern, Chromatik und Imitationstechniken. Es ergibt sich ein elegisches Klangbild mit kantablen Melodielinien, die „die Augen jeder Kammersängerin zum Leuchten bringen würden“. Von der Liebe hat insgesamt „eher den Charakter einer Solokantate als den eines Liederkreises“, so Friedrich Saathen in seiner Einem-Chronik. Ein Frühwerk der 17-jährigen Karola Obermüller sind Drei Lieder über die Liebe, uraufgeführt 1994 in der Darmstädter Akademie für Tonkunst, in denen Brechts Gedicht von zwei Werken Ingeborg Bachmanns eingerahmt ist. Text Bertolt Brecht. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Berlin, Weimar, Frankfurt am Main 1988, Band 11, Gedichte 1, S. 92 f. Faksimile der Urfassung in: Werner Hecht (Hrsg.): Brecht, Sein Leben in Bildern und Texten. Frankfurt am Main 1988, S. 39 Film Die Pflaumenbäume sind wohl abgehauen, Interview mit Marie Rose Aman, Dokumentarfilm, DDR 1978, s/w, 9 min., Regie und Drehbuch: Kurt Tetzlaff Noten, Aufnahmen und Aufführungen Musikalische Quellen Léon Laroche, Charles Malo: Tu ne m’aimais pas! Romance, Paris: Bathlot, 1875 Leopold Sprowacker: Verlor’nes Glück: „So oft der Frühling durch das off’ne Fenster“. Ein rumänisches Lied für eine Singstimme mit Pianoforte (op. 101), Wien: Adolf Robitschek, 1896 Noten der Vertonungen Fritz Hennenberg (Hrsg.): Brecht-Liederbuch, Frankfurt: Suhrkamp, 1985, ISBN 3-518-37716-7. Dort die Brecht/Bruinier-Fassung (S. 42f) mit Kommentar (S. 376–379) und die Bruinier-Fassung (S. 46f) mit Kommentar (S. 379). Gottfried von Einem: Von der Liebe. Lyrische Phantasien für Gesang und Orchester (op. 30). Klavierauszug. London et al.: Boosey & Hawkes, 1961. Uraufführung am 18. Juni 1961 in Wien, Konzerthaus mit dem Radio-Symphonieorchester Berlin, Heinrich Hollreiser, Irmgard Seefried Aufnahmen (Auswahl) Stefanie Schlesinger: Erinnerung an die Marie A. (2019) in der Vertonung von Wolfgang Lackerschmid Kate Kühl: Hoppla wir leben! Ein musikalisches Porträt in Originalaufnahmen mit ihren Kabarett-Chansons, Schlagern und Erfolgsliedern. Berlin Cabaret, 2007 Ernst Busch: Fragen eines lesenden Arbeiters. Originalaufnahmen 1946–1953 (III). Barbarossa, 2005 Ernst Busch: b. b. Legenden, Lieder und Balladen 1914–1934. Eterna, 1965. Ernst Busch singt Brecht, Songs, Lieder und Gedichte Jutta Czurda: Czurda Singt Brecht David Bowie hat den Song für eine Fernsehproduktion von Bertolt Brechts Theaterstück Baal verfilmt und als EP veröffentlicht; siehe (David Bowie in Bertolt Brecht’s „Baal“) Udo Samel in der Fernsehproduktion „100 Jahre Brecht“ von Ottokar Runze, 1997 Angela Winkler: Brecht Gala – Ungeheuer oben. Berliner Ensemble, Berlin, 20. Januar 2007, Begleitung am Flügel: Adam Benzwi Konstantin Wecker: Brecht, 2. Februar 1998, GLOBAL MUSICON (Sony Music) Wolf Biermann: Brecht, Deine Nachgeborenen, 20. März 1998 Eine Vertonung des Gedichts von Herb Weidner gelesen von Fritz Stavenhagen Übertragungen in andere Sprachen Diese Übertragungen sind – vielleicht mit Ausnahme der englischen – eher Übersetzungen, die die sprachlichen Eigenheiten von Brecht nicht berücksichtigen und auch vom Rhythmus her nicht in die Vertonung passen (Zu dieser Problematik siehe Jörn Albrecht: Übersetzung und Linguistik, Grundlagen der Übersetzungsforschung Bd. 2.). Englisch von Dominic Muldowney / David Bowie Englisch von John Willet Französisch von Maurice Regnaut Italienisch von Roberto Fertonani Ungarisch von Győző Csorba Literatur Jörn Albrecht: Übersetzung und Linguistik, Grundlagen der Übersetzungsforschung Bd. 2, Tübingen (Narr) 2005.books.google.com John Fuegi: Brecht & Co., Biographie, Hamburg 1997, ISBN 3-434-50067-7. Andreas Hapkemeyer: Bertolt Brecht: Formale Aspekte der ‚Hauspostille‘ – Am Beispiel von ‚Erinnerung an die Marie A.‘. In: Sprachkunst 17, 1986, S. 38–45 Werner Hecht (Hrsg.): Brecht, Sein Leben in Bildern und Texten, Frankfurt am Main 1988, ISBN 3-458-32822-X. Fritz Hennenberg: „An jenem Tag im blauen Mond September…“, Ein Brecht-Gedicht und seine musikalische Quelle. In: Neue Zeitschrift für Musik 7/8 1988, S. 24–29 Fritz Hennenberg: Bruinier und Brecht: Nachrichten über den ersten Brecht-Komponisten. In: Die Internationale Brecht-Gesellschaft (Hrsg.): Versuche über Brecht. Brecht-Jahrbuch 15, 1990. University of Maryland, University of Wisconsin Press, S. 1–43, ISBN 0-9623206-1-7. Jürgen Hillesheim: Augsburger Brecht-Lexikon: Personen – Institutionen – Schauplätze. Königshausen & Neumann, Würzburg 2000 Jürgen Hillesheim: „Ich muss immer dichten“: zur Ästhetik des jungen Brecht. Königshausen & Neumann, Würzburg 2005 Sabine Kebir: Ein akzeptabler Mann? Brecht und die Frauen. Aufbau, Berlin 1998, ISBN 3-7466-8028-X. Jan Knopf: „Sehr weiß und ungeheuer oben“, Erinnerung an die Marie A. In: ders. (Hrsg.): Interpretationen, Gedichte von Bertolt Brecht. Frankfurt am Main 1995, S. 31ff., ISBN 3-15-008814-3. Jan Knopf: Brecht-Handbuch, Lyrik, Prosa, Schriften. Metzler, Stuttgart 1986, ungekürzte Sonderausgabe, S. 35ff., ISBN 3-476-00587-9. Jan Knopf: Erinnerung an die Marie A. In: Brecht-Handbuch, Band 2: Gedichte. Metzler, Stuttgart 2001, ISBN 3-476-01830-X, S. 78–84. Helmut Koopmann (Hrsg.): Brechts Lyrik – neue Deutungen, Würzburg (Königshausen&Neumann) 1999, 216 S., ISBN 3-8260-1689-0. Ana Kugli: Feminist Brecht? Zum Verhältnis der Geschlechter im Werk Bertolt Brechts. M-Press, München 2004, Forum deutsche Literatur 6, zugleich Karlsruhe, Universität, Dissertation 2004 Dieter P. Meier-Lenz: Brechts „Sentimentales Lied No 1004“. Zur Biografie eines Gedichtes. In: Muschelhaufen. Jahresschrift für Literatur und Grafik. Nr. 46. Viersen 2006. Edgar Marsch: Brecht, Kommentar zum lyrischen Werk, 1974, ISBN 3-538-07016-4. Werner Mittenzwei: Das Leben des Bertolt Brecht oder Der Umgang mit den Welträtseln, Band 1, Berlin (Aufbau) 1986, ISBN 3-7466-1340-X, S. 158 ff. Hans-Harald Müller, Tom Kindt: Brechts frühe Lyrik – Brecht, Gott, die Natur und die Liebe. München (Fink) 2002, 158 S., ISBN 3-7705-3671-1 (Rezension der IASL: „Das wohl berühmteste Liebesgedicht Brechts ‚Erinnerung an die Marie A.‘ (1920) handelt beispielsweise gerade nicht von der Beständigkeit, sondern – im Gegenteil – von der Vergänglichkeit der Liebe.“) Daniel Müller-Niebala: Vergessen und Erinnern im Text. Noch einmal Bert Brechts „Erinnerung an die Marie A.“ In: Poetica 29, 1997, Heft 1/2, S. 234–254. Gerhard Neumann: «L’inspiration qui se retire» – Musenanruf, Erinnern und Vergessen in der Poetologie der Moderne. In: Anselm Haverkamp, Renate Lachmann (Hrsg.): Memoria. Erinnern und Vergessen. München 1993, S. 433–455. Marcel Reich-Ranicki: Ungeheuer oben. Über Bertolt Brecht. Aufbau, Berlin 1996, ISBN 3-351-02360-X. Albrecht Schöne: Erinnerung an die Marie A. von Bertolt Brecht. In: Karl Hotz, Gerhard C. Krischker (Hrsg.): Gedichte unserer Zeit, Interpretationen. Bamberg 1990, S. 42–49. Albrecht Schöne: Erinnerung an die Marie A. In: Benno von Wiese (Hrsg.): Die deutsche Lyrik, FORM UND GESCHICHTE, Interpretationen; Von der Spätromantik bis zur Gegenwart. August Bagel, Düsseldorf 1956, (Bd. II), S. 485–494. Klaus Schuhmann: Der Lyriker Bertolt Brecht, 1913–1933. Berlin (DDR) 1964, ISBN 3-423-04075-0. Peter Paul Schwarz: Brechts frühe Lyrik 1914–1922, Nihilismus als Werkzusammenhang der frühen Lyrik Brechts. Bouvier, Bonn 1980 (1971), ISBN 3-416-00772-7. Jochen Vogt: Damnatio memoriae und „Werke von langer Dauer“, Zwei ästhetische Grenzwerte in Brechts Exillyrik. In: Helga Schreckenberger (Hrsg.): Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik, Asthetiken des Exils. S. 301–317. Albrecht Weber: Zu Liebesgedichten Bert Brechts. In: Rupert Hirschenauer, Albrecht Weber (Hrsg.): Interpretationen zur Lyrik Brechts, Beiträge eines Arbeitskreises. Oldenbourg, München 1971, S. 57–87 Weblinks Elisabeth von Thadden: Zum Themenfeld Hirnforschung, Erinnerung. In: Die Zeit, Nr. 5/2005 Aufsatz von Jean-Claude Capèle über Brechts Liebesgedichte (Abschnitt: Marie A. oder die Verneinung der Liebe in einer asozialen Welt: „Das eigentlich zentrale Geschehen des Gedichtes, das heißt die Liebe zum Du, bedarf eines unwichtigen und nebensächlichen Gegenstands, nämlich der Wolke, um überhaupt im Bewußtsein bestehen zu können. Und so stellt sich heraus, daß das Du noch keinen Zugang zur Liebeslyrik Brechts gefunden hat. Die Liebe um der Liebe willen und deren Vergänglichkeit sind das zentrale Moment. Der Mensch bleibt beinahe ganz im Hintergrund.“) Das Verlor’ne Glück als Tonaufnahme für eine Mira-Spieldose Das Gedicht mit Klaviermusik gelesen von Fritz Stavenhagen Einzelnachweise Die Zahlenangaben in Klammern hinter den Gedichtzitaten bezeichnen die Zeilennummern. Literarisches Werk Literatur (20. Jahrhundert) Literatur (Deutsch) Gedicht Werk von Bertolt Brecht Lied (20. Jahrhundert)
1872003
https://de.wikipedia.org/wiki/Illmatic%20%28Album%29
Illmatic (Album)
Illmatic ist das Debütalbum des New Yorker Rappers Nas. Es erschien im April 1994 beim Musiklabel Columbia Records und wird stilistisch dem Eastcoast-Hip-Hop zugeordnet. Bei den Aufnahmen der zehn Stücke wurde Nas von seinem Vater Olu Dara und dem Rapper AZ unterstützt. Trotz seines kommerziell eher geringen Erfolges zählt Illmatic zu den bedeutendsten Werken in der Geschichte des Hip-Hop und etablierte Nas als einen der einflussreichsten Rapper des Genres. Neben der Musikproduktion unter anderem von DJ Premier und Large Professor wurde bei der Rezeption des Albums zumeist Nas’ ungewöhnlich komplexe lyrische Technik hervorgehoben. Seine nachfolgenden Alben wurden immer wieder an Illmatic gemessen. Hintergrund Nas wuchs in der Sozialwohnungssiedlung Queensbridge auf, die größtenteils von aus der sozialen Unterschicht stammenden Afroamerikanern bewohnt wird. Oftmals wurden dort Hip-Hop-Jams abgehalten, an denen bekannte Rapper aus seinem Bezirk teilnahmen, darunter etwa MC Shan und Tragedy Khadafi. Neben deren Auftritten erlebte er unmittelbar die heute legendären Battles zwischen der aus Queensbridge stammenden Juice Crew und Boogie Down Productions aus der Bronx; seine Herkunft verschaffte ihm damit einen direkten Zugang zum Hip-Hop. Ab Mitte der 1980er bestimmten die Auswirkungen von Ronald Reagans Wirtschaftspolitik und der Verschärfung strafrechtlicher Sanktionen infolge der sogenannten „Crack-Epidemie“ das soziale und wirtschaftliche Klima in den Innenstädten der USA. Diese Lebensbedingungen übten einen starken Einfluss auf Nas’ Persönlichkeit aus. Um Geld zu verdienen, dealte er zeitweise mit Drogen; seine Schulausbildung hatte er bereits nach der neunten Klasse abgebrochen. Im Mai 1992 wurde Nas’ Bruder angeschossen und sein DJ und bester Freund Willy „Ill Will“ Graham ermordet. Diese Erfahrungen wirkten sich auf die Arbeit an Illmatic und Nas’ weitere Karriere aus. 1989 lernte Nas den Musikproduzenten Large Professor kennen. Dieser ermöglichte ihm, in dem Studio, in dem auch Eric B. & Rakim produzierten, erste Aufnahmen zu machen, und stellte den Kontakt zu Q-Tip und Pete Rock her. Live at the Barbeque, ein Stück von Large Professors Gruppe Main Source mit einem Gastauftritt von Nas, wurde im Juli 1991 veröffentlicht. Nas begleitete Main Source daraufhin auf ihrer Tournee. Im selben Jahr nahm er unter dem Alias „Nasty Nas“ ein Demotape mit zehn Stücken auf. Eines davon ist der Song Nas Will Prevail, eine Vorgängerversion seiner späteren Single It Ain’t Hard to Tell. Als Gastrapper traten auf dem Tape unter anderem die ebenfalls aus Queens stammenden Rapper MC Serch und Kool G Rap auf. MC Serch wurde kurz darauf zu seinem Manager und verhalf ihm zu einem Plattenvertrag bei Columbia Records, nachdem der Def-Jam-Gründer Russell Simmons zuvor ein Angebot abgelehnt hatte. Zudem stellte er Nas DJ Premier vor. Für Illmatic fungierte Serch schließlich – neben Faith Newman, der A&R-Leiterin von Sony Music Entertainment – als geschäftsführender Produzent. Im August 1992 war Nas auf Serchs Solodebütalbum Return of the Product zu hören. Bereits im Oktober erschien Halftime als erste eigene Single des Rappers, damals noch als Auskopplung aus dem Soundtrack zum Film Zebrahead, für den Serch als Supervisor diente. In der Folge baute sich ein szeneinterner Hype auf, Nas galt als „Wunderkind“, Vergleiche mit lyrisch innovativen Rappern wie Rakim, Big Daddy Kane oder Kool G Rap wurden bereits vor der Veröffentlichung von Illmatic gezogen. Die ersten für das Album produzierten Stücke, namentlich Halftime, One Time 4 Your Mind und It Ain’t Hard to Tell, produzierte allesamt Large Professor; Life’s a Bitch mit einer Strophe des Rappers AZ wurde zuletzt aufgenommen. Abgemischt wurde Illmatic von Diego Garrido. Die Entscheidung, nur zehn Stücke auf dem Album zu verwenden, was im Hip-Hop eher untypisch ist, traf Nas bewusst. Statt in Seite A und Seite B wurde die Vinyl-Veröffentlichung von Illmatic aufgeteilt in 40th Side North und 41st Side South. Dies sind die Namen der beiden Komplexe, in die Queensbridge aufgeteilt ist. Der Titel Illmatic hat für Nas unterschiedliche Bedeutungen. Er erklärt das Wort als Synonym für Ausdrücke wie (sinngemäß „kranker als krank“, krank hat in diesem Fall eine positive Konnotation) oder , die den Klang des Albums widerspiegeln sollen. Daneben ist der Titel an einen zum damaligen Zeitpunkt im Gefängnis sitzenden Freund namens Illmatic Ice angelehnt. Das erste Mal verwendet wurde der Ausdruck 1988 von dem Rapper Tragedy Khadafi: . Titelliste The Genesis – 1:45 N.Y. State of Mind – 4:54 Produziert von DJ Premier Life’s a Bitch (feat. AZ) – 3:30 Produziert von L.E.S. Koproduziert von Nas The World Is Yours – 4:50 Produziert von Pete Rock Halftime – 4:20 Produziert von Large Professor Memory Lane (Sittin’ in da Park) – 4:08 Produziert von DJ Premier One Love – 5:25 Produziert von Q-Tip One Time 4 Your Mind – 3:18 Produziert von Large Professor Represent – 4:12 Produziert von DJ Premier It Ain’t Hard to Tell – 3:22 Produziert von Large Professor Lyrik Texte In den Texten von Illmatic ist das lyrische Ich gleichzusetzen mit der Person Nas. Geprägt von seinem Leben in Queensbridge nimmt der Rapper in ihnen oft die Rolle eines Beobachters ein. Damit macht er sich zum Sprachrohr seiner Nachbarschaft im Speziellen und der medial unterrepräsentierten sozialen Brennpunkte in den Vereinigten Staaten im Allgemeinen. Die Texte behandeln dementsprechend oftmals Gewalt und Kriminalität – der Gangsterfilm Scarface sowie Modellnamen von Schusswaffen werden einige Male erwähnt –, dargestellt als Alltäglichkeit in Nas’ Umgebung und zumeist mit einer im Gangsta-Rap üblichen negativen Grundeinstellung. In seinem Streben, in diesem „Dschungel“ zu überleben, ist vereinzelt die Hoffnung auf ein Leben unter besseren Bedingungen zu erkennen. Besonders deutlich wird dies in The World Is Yours, teilweise auch in Life’s a Bitch: Hier wird deutlich, dass Nas – ebenso wie AZ – ein besseres Leben mit materiellem Wohlstand gleichsetzt. Anstatt dabei auf Gott zu vertrauen, macht er das Erreichen seiner Ziele einzig von sich selbst abhängig und zieht dafür auch kriminelle Wege in Betracht; er träumt von einem Leben als Gangster vergleichbar etwa mit Al Capone. Auf dieses Wunschdenken weist auch der Titel des Stückes The World Is Yours hin, ein Zitat aus Scarface. Dass Kriminalität sowohl zu Reichtum als auch zu einem Gefängnisaufenthalt führen kann, ist Nas dabei stets bewusst. Als Motiv sowohl zur Bewältigung der hoffnungslosen Frustration angesichts der realen Perspektivlosigkeit als auch des Traums von Geld und Wohlstand – mit Hilfe des illegalen Handels – spielen Drogen eine zentrale Rolle auf Illmatic. Stilistisch vermischt Nas in den Texten Elemente des Battle-Rap, des Storytelling und der Repräsentation von sich selbst und seinem Umfeld, die er mit philosophischen Ansätzen versieht. Daneben finden sich gelegentlich kulturhistorische und politische Verweise, zumeist in einem afroamerikanischen Kontext. In Halftime etwa werden einerseits der Film Jungle Fever, die Baseballmannschaft Atlanta Braves, die Musikgruppe The Jackson Five, die Fernsehserie CHiPs und der Radiomoderator Mr. Magic erwähnt und andererseits Verweise auf die militanten Separatisten Marcus Garvey und Malcolm X sowie die frühere Nutzung von Sklavenschiffen gebraucht. In It Ain’t Hard to Tell verbindet Nas seine Selbstbeweihräucherung mit Anspielungen auf die antike Mythologie (Medusa, Leviathan) und den Dichter Äsop. Das einzige Stück, das inhaltlich eine deutliche Konzeption aufweist, ist One Love. Dessen ersten beiden Strophen sind in der Form eines Briefes an einen unbestimmten Freund verfasst, der im Gefängnis sitzt. Nas berichtet ihm von Vorfällen, die sich seit seiner Verhaftung ereignet hätten, etwa dass er Vater geworden sei, seine Freundin ihn hintergehe und eine Bekannte von Nas und ihm erschossen worden sei. Zudem fragt er ihn nach Cormegas Verbleib; dieser saß zu dem Zeitpunkt tatsächlich im Gefängnis. Das Gespräch mit einem illusionierten, kriminellen Zwölfjährigen, über das Nas in der dritten Strophe von One Love rappt, diente dem Videoregisseur Hype Williams als Vorlage für eine Szene seines Filmdebüts Belly (1998), in dem Nas mitspielt. Neben den Verhältnissen in seiner direkten Umwelt kam Nas’ inhaltliche Inspiration aus der Beschäftigung mit Büchern über die Geschichte der Afroamerikaner und die Five Percent Nation, deren Ideologie im Hip-Hop weit verbreitet ist. Daneben beschäftigte er sich mit der Bibel, dem Koran und afrikanischen Sprichwörtern. Kritisch hinterfragt wurde gelegentlich die Authentizität der Texte von Illmatic. So beschuldigte der New Yorker Rapper Jay-Z Nas in dem Song Takeover seine Texte lediglich auf den Erlebnissen seiner Freunde und Bekannten aufzubauen. Konkret behauptete er, Nas seine erste TEC-9 gezeigt zu haben, während dieser auf Illmatic rappte, ein solches Modell in seiner Kommode aufzubewahren. Artikulation Nas benutzt in den Texten von Illmatic eine Vielzahl rhetorischer Stilmittel. Sehr auffällig sind insbesondere die komplexen Reimschemata: Neben vielen Binnenreimen verwendet der Rapper fast durchgängig mehrsilbige assonant klingende Reime, was bis dahin im Hip-Hop eher selten war. Hier ein Beispiel aus dem Song Halftime: Durch die häufige Verwendung von Metaphern und Vergleichen überträgt Nas seine eigenen Erfahrungen bildlich auf den Zuhörer. So beinhaltet etwa der Text von N.Y. State of Mind „eine Darstellung des Ghetto-Lebens so klar wie eine Gordon-Park-Fotografie oder ein Langston-Hughes-Gedicht“. Um die Erfahrungen besser ausdrücken zu können, bedient Nas sich eines im Rap ungewöhnlich großen Wortschatzes, der viele Fremdwörter umfasst, aber auch diverse Slang-Ausdrücke – einige davon Neologismen –, deren Verständnis ein Insiderwissen voraussetzt. Beispiele sind die Begriffe für New York, für einen Bierbehälter, für eine Art Blunt und für die Polizei. Im Vortrag seiner Texte unterscheidet er sich stark von den Rappern der Old-School-Ära, indem seine Stimme meist ruhig und zurückgenommen bleibt, was Kritiker an Rakim erinnerte. Auf Doubletime-Passagen verzichtet Nas, seine Stimme verzeichnet allerdings einen durchgängigen Rhythmus, der durch den regelmäßigen Einsatz von Alliterationen unterstützt und aufgrund einer versierten Atemtechnik nur selten unterbrochen wird. Eine Dopplung seiner Stimme benutzt er nicht. Produktion und Musik Illmatic wurde größtenteils von Large Professor und DJ Premier produziert. Daneben steuerten Pete Rock, Q-Tip und L.E.S. jeweils ein Instrumental bei. Damit arbeiteten einige der angesehensten New Yorker Hip-Hop-Produzenten an dem Album. Bei der Entwicklung neuer Lieder trieben sie sich gegenseitig zu härterer Arbeit an; DJ Premier beschrieb die musikalische Entstehung von Illmatic als Wettstreit. Für die beiden Stücke Memory Lane (Sittin’ in Da Park) und Represent produzierte DJ Premier jeweils zwei unterschiedliche Instrumentals. Während er mit der auf Illmatic zu hörenden ersten Version von Memory Lane unzufrieden war, überredete er Nas für Represent das überarbeitete Instrumental zu verwenden. Auch It Ain’t Hard to Tell und The World Is Yours (durch Q-Tip) wurden später von den Produzenten geremixt. In der Abmischung sind die Stücke auf Illmatic bewusst „roh“ gehalten. Die Basslinie und der Beat prägen das Klangbild, das dadurch sehr grooveorientiert ist. Die Melodien bestehen aus kurzen Loops von etwa drei bis fünf Sekunden Länge. Diese bezogen die Produzenten hauptsächlich aus Ausschnitten älterer Stücke anderer Musiker, überwiegend aus dem Genre des Jazz, aber auch des Soul. So sind auf Illmatic Kompositionen von unter anderem Gary Burton, Ahmad Jamal, der Gap Band, Reuben Wilson und der Average White Band als Samples zu hören. Anstelle eines Schlagzeugs dienen in vielen Stücken ältere Aufnahmen als musikalische Unterlage in Form von Breakbeats. Vereinzelt wurden zudem Stimmsamples bekannter Hip-Hop-Musiker verwendet. N.Y. State of Mind beispielsweise basiert auf einem Pianoriff des Stückes Mind Rain von Joe Chambers, das gelegentlich von einem Loop der E-Gitarre von Donald Byrds Lied Flight Time unterbrochen wird. Im Refrain wird die Stimme von Rakim aus dem Song Mahogany eingescratcht. One Love dagegen verbindet ein Schlagzeugbreak von Clyde McPhatters A Mixed Up Cup mit der auf einer Kalimba und einem Kontrabass beruhenden Melodie von Smilin’ Billy Suite Part 2 der Heath Brothers. Die für das Intro The Genesis verwendeten Samples zeigen die tiefe Verwurzelung von Nas und Illmatic im (Old-School-)Hip-Hop. Es setzt sich zusammen aus dem Anfang von Nas’ Strophe in Live at the Barbeque und Ausschnitten des Hip-Hop-Films Wild Style! sowie dem auf dessen Soundtrack veröffentlichten Subway Theme von Grand Wizard Theodore und Chris Stein. Das bekannteste Sample ist in It Ain’t Hard to Tell zu hören. Large Professor benutzte als Melodie des Stückes unter anderem den Song Human Nature von Michael Jacksons Album Thriller. Das einzige während der Produktion von Illmatic neu aufgenommene Instrument war ein von Nas’ Vater Olu Dara gespieltes Kornett. Nas bat ihn „zu spielen, was immer ihm in den Sinn kommt, wenn er an mich als Kind denkt“. Zu hören ist das Solo im Outro des Stückes Life’s a Bitch. Für Daras Debütsoloalbum In the World: From Natchez to New York sowie seine eigenen Werke God’s Son und Street’s Disciple arbeitete Nas erneut mit seinem Vater zusammen. Gestaltung Für die Gestaltung des Albums zeichnete der Artdirector Jo DiDonato verantwortlich; die Bilder stammen vom Fotografen Danny Clinch und das Coverdesign von der Grafikerin Aimée Macauley. Während das grafisch betont urban gehaltene Booklet schwarzweiß und sepiafarben gestaltet wurde, ist das Cover von Illmatic in Orangebrauntönen gehalten. In der rechten oberen Ecke ist in großen rötlich-braunen Schriftzeichen Nas’ Name zu sehen. Dessen eckige Gestaltung unterscheidet sich stark von dem seit It Was Written von ihm verwendeten Logo. In der linken unteren Ecke steht der Name des Albums geschrieben – „ill“ ist farblich und größenmäßig hervorgehoben –, während unten rechts das Parental-Advisory-Zeichen, das Alben mit tendenziell jugendgefährdenden Inhalten kennzeichnet, platziert ist. Einen Großteil des Covers macht eine Fotografie von Nas als siebenjähriger Junge aus. In diesem Alter habe er begonnen, seine Umwelt bewusster zu betrachten und über seine Zukunft nachzudenken, beides Motive, die sich auch auf der inhaltlichen Ebene von Illmatic wiederfinden. Das Cover umfasst ein Dreiviertelprofil seines Kopfes, der halbtransparent in den Queensbridge zeigenden Hintergrund eingearbeitet ist. Damit wird Nas’ enge Verbundenheit zu seiner damaligen Heimat visualisiert. Der Rapper verwendete sehr ähnliche transparente Porträtdarstellungen seiner Person auch auf den folgenden drei Soloalben. Die Darstellung eines Kindes soll The Notorious B.I.G. zu dem Cover für sein kurz nach Illmatic erschienenes Album Ready to Die beeinflusst haben. Auch Common (One Day It’ll All Make Sense), The Game und Lil Wayne (Tha Carter III) veröffentlichten Alben mit einer ähnlichen Gestaltung. Eine Hommage an das Cover ist in Erykah Badus Video zu dem 2008 erschienenen Song Honey zu sehen. Rezeption Kommerzieller Erfolg Illmatic war kommerziell nicht so erfolgreich wie Nas’ folgende Alben. Es erreichte lediglich in den Vereinigten Staaten die Charts, wo es bei einer Höchstplatzierung auf Rang 12 insgesamt 19 Wochen in den Billboard 200 blieb. Von den Singles war nur It Ain’t Hard to Tell mit Rang 91 in den Billboard Hot 100 vertreten, zusätzlich platzierte der Song sich auf Rang 57 der R&B-/Hip-Hop-Songs. In dieser Rangliste erreichte die dritte Single The World Is Yours Platz 67. Nachdem das Album in den USA Anfang 1996 Gold-Status erreicht hatte, wurde es Ende 2001 mit einer Platin-Schallplatte für die 1 Million verkaufter Alben ausgezeichnet. Im darauffolgenden Jahr erhielt Illmatic eine Goldene Schallplatte in Kanada für 50.000 verkaufte CDs. Rezensionen Illmatic wurde bei seiner Veröffentlichung oft verglichen mit kurz zuvor herausgebrachten und heute allgemein als „Klassiker“ geltenden Alben, vor allem Doggystyle von Snoop Dogg, und schnitt dabei generell positiv ab. Hervorgehoben wurde meist die herausragende Kombination von Nas’ Lyrik und der musikalischen Begleitung. Der Schriftsteller und Journalist Touré vergab als Kritiker der Musikzeitschrift Rolling Stone vier von fünf möglichen Punkten an das Album und deutete an, dass Nas mit Illmatic die damalige Vormachtstellung von Death Row Records und Dr. Dre brechen könne. Insbesondere lobte Touré Nas’ Performance, indem er seine Texte sowie die Stimmlage und Artikulation, mit der er diese vorträgt, hervorhob. Von dem zum damaligen Zeitpunkt sehr renommierten Hip-Hop-Magazin The Source erhielt Illmatic mit fünf Punkten die Höchstwertung. Diese war anderen Klassikern wie The Chronic, Doggystyle, Enter the Wu-Tang (36 Chambers) und kurz darauf Ready to Die verwehrt geblieben. Für die Rezensentin Minya Oh sei nicht Doggystyle das meisterwartete Debütalbum eines Rappers gewesen, sondern Nas’ erstes Album. Illmatic stelle „eines der besten Hip-Hop-Alben“, das sie je gehört habe, dar. Neben der Produktion und Nas’ lyrischer Leistung betonte sie die Fähigkeit des Rappers, einen direkten Kontakt zum Zuhörer herzustellen, der „über den Unterhaltungsaspekt“ hinausgehe. Dabei könne jeder sich von einem anderen Song des Albums angesprochen fühlen. 2002 nahm sich der Schriftsteller und Musikkritiker Matthew Gasteier, der später für die Musikbuchreihe 33 ⅓ einen Band über Illmatic verfasste, des Albums an und bezeichnete es als „Gipfel der größten Ära des Hip-Hop“: Zehn Jahre nach der ursprünglichen Veröffentlichung besprach das E-Zine laut.de die 10 Year Anniversary Illmatic Platinum Series, die mit fünf von fünf Punkten bewertet wurde. Diese Wiederveröffentlichung von Illmatic stelle ein „Re-Release des besten Hip-Hop-Albums aller Zeiten“ dar. Der Rezensent Stefan Johannesberg ging in der Kritik auch auf das ursprüngliche Album ein. Auf Illmatic sei „jeder der zehn Songs ein Hip-Hop-Klassiker“. One Love, N.Y. State Of Mind, It Ain’t Hard To Tell und Life’s a Bitch zählten „auch heute noch zu den besten und wichtigsten Hip-Hop-Tracks der Neunziger“. Des Weiteren hätte die Musik der Produzenten den Begriff „Kopfnicker-Sounds“ erst definiert, während Nas durch seine Raps zum „ungekrönten König der Street Poetry“ avanciert sei. Neben The Source und laut.de vergaben unter anderem auch die Datenbank AllMusic und das Hip-Hop-Portal RapReviews.com im Rückblick Höchstwertungen an das Album. Bestenlisten Illmatic ist regelmäßig in Bestenlisten sowohl der bedeutendsten Hip-Hop-Alben als auch genreübergreifend vertreten. Beispielsweise erreichte das Album in der Jahresendliste für 1994 der deutschen Musikzeitschrift Spex den neunten Rang. Das britische Hip-Hop-Magazin Ego Trip vergab 1999 die Spitzenposition in der Liste der besten Hip-Hop-Alben von 1994. Die deutsche Hip-Hop-Zeitschrift Juice sah das Werk 2002 unter den einflussreichsten Hip-Hop-Alben aller Zeiten auf Platz Nummer 4. Im darauffolgenden Jahr stand Illmatic an 400. Stelle in der vom Magazin Rolling Stone veröffentlichten Liste der 500 besten Alben aller Zeiten. 2005 wählte die Redaktion von MTV das Album auf den zweiten Platz der besten Hip-Hop-Alben aller Zeiten. In einer ähnlichen Liste von About.com belegte es den ersten Platz. Daneben erreichte die Single The World Is Yours in einer ebenfalls von About.com veröffentlichten Liste der besten Rapsongs aller Zeiten die siebte Position. Einer Bewertungsskala von acclaimedmusic.net zufolge, die auf 45 internationalen Bestenlisten und Kritiken beruht, ist Illmatic das zehntbeste Album des Jahres 1994. In Bezug auf die 1990er belegt das Album Platz 55, während es sich auf Rang 296 der besten Alben aller Zeiten befindet. Einfluss Illmatic hat bis heute einen enormen Einfluss auf Hip-Hop-Künstler. Dieser geht vor allem von der lyrischen Ebene des Albums aus, die von vielen – laut Q-Tip von allen Rappern – auf unterschiedliche Weise adaptiert wurde. Der US-amerikanische Rapper Common gab etwa an, sich regelmäßig von Illmatic inspirieren zu lassen. In dem Stück Hustlers von Nas’ Album Hip Hop Is Dead erzählt der Rapper The Game davon, wie er sich Illmatic zusammen mit Dr. Dres The Chronic 1995 gekauft hat und welche Wertschätzung er der Komplexität des Albums entgegenbringt. In seinem eigenen Song Dreams bezieht sich die Zeile auf einen Aphorismus aus N.Y. State of Mind. Das Wu-Tang-Clan-Mitglied Raekwon sieht in Illmatic „ein starkes Album“, das Stück One Love sei für ihn „ein Rieseneinfluss“ gewesen. Auch für den europäischen Hip-Hop war Nas’ erstes Album von besonderer Bedeutung. So setzte der deutsche Rapper Olli Banjo es als qualitativen Maßstab für sein Album Lifeshow an. Die Rapper Curse aus Deutschland und Promoe aus Schweden bezeichneten Illmatic als ihr Lieblingsalbum. Curse wertete das Album und den Einfluss, den Nas auf ihn hatte, in einem Interview: Illmatic hat sich auch auf die Rezeption des Hip-Hop im Allgemeinen ausgewirkt. Der Veröffentlichungszeitpunkt 1994 wird heute in Bezug auf raptechnische und musikalische Innovation, aber auch eine beginnende Zuwendung zum Mainstream als entscheidendes Jahr – eine Art Tipping-Point – für die Hip-Hop-Musik angesehen. Illmatics Rolle wird von Matthew Gasteier als Ende des „ursprünglichen Hip-Hop“ und zugleich als Anfang einer lyrisch und produktionstechnisch moderneren Epoche im Hip-Hop bewertet. Nas habe zudem zu den ersten MCs gehört, die sich selbst absolut in den Vordergrund stellten. Damit habe er den Weg geebnet für Rapper wie The Notorious B.I.G. und Jay-Z. Ähnlich kompakt angelegte Alben – das heißt mit einer Reduktion auf wenige Lieder, eine kurze Spielzeit und wenige bis gar keine Gastbeiträge –, die nach Nas’ Debüt veröffentlicht wurden, würden von Kritikern oft mit Illmatic verglichen. Für AZ bedeutete seine Strophe auf Illmatic den Durchbruch als Rapper. Er bekam einen Vertrag bei EMI und veröffentlichte im darauffolgenden Jahr sein Debütalbum. Sein Beitrag zu Life’s a Bitch (exemplarisch: ) gilt als Blaupause des kapitalistisch geprägten Hip-Hop der Gegenwart und wird oft als bester Gastbeitrag auf einem Rapalbum genannt. Nicht zuletzt hatte Illmatic einen starken Einfluss auf Nas’ eigene Karriere. Trotz der eher niedrigen Verkaufszahlen machte ihn das Album schon mit 20 Jahren zu einem der bekanntesten und einflussreichsten Hip-Hop-Künstler New Yorks. Bereits 1995 folgten Gastauftritte auf angesehenen Alben von Mobb Deep, Raekwon, Kool G Rap und AZ. Auf seinen folgenden Alben integrierte Nas daraufhin teilweise stärker an den Mainstream angelehnte Klänge; seine Texte waren weniger von seiner sozial niedrigen Herkunft beeinflusst, als von seinem neuerdings luxuriösen Lebensstil. Diesen ermöglichten ihm die Spitzenplatzierungen seiner Alben It Was Written und I Am … in den USA und der internationale Erfolg seiner Werke nach Illmatic. Spätestens bei der Veröffentlichung von Nastradamus Ende 1999 wurde allerdings die abnehmende Qualität und zunehmende Kommerzialisierung der Lyrik und Musik kritisiert. Ab Stillmatic, laut Nas eine Wiedergeburt von Illmatic, bekamen seine Alben wieder positivere Bewertungen, trotzdem werden bis heute bei jeder Veröffentlichung von Nas Vergleiche zu Illmatic gezogen, bei denen seine übrigen Werke zumeist schlecht abschneiden. Der Hip-Hop-Musiker und Journalist Falk Schacht beschrieb diesen Sachverhalt in einer Kolumne für die Juice folgendermaßen: Aufnahme in die Library of Congress Im März 2021 wurde das Album in die Kongressbibliothek für die in den Stücken verwendeten "mehrsilbigen Reime, rhythmische Komplexität, düsteren Drums sowie unscharfen Samples" aufgenommen. Weiterverwendung Einige Stücke von Illmatic wurden später von anderen Künstlern gesamplet. Am bekanntesten ist die Wiederverwendung durch Jay-Z auf Reasonable Doubt: Für das Stück Dead Presidents samplete der Produzent Ski einen Ausschnitt von Nas’ Stimme aus dem Remix von The World Is Yours, in dem dieser rappt . Für sein Stück Rap Game/Crack Game verwendete er ein Jahr darauf erneut Nas’ Stimme, diesmal den Vers aus Represent. Anfang der 2000er lieferten Nas und Jay-Z sich einen verbalen Wettstreit, im Hip-Hop-Jargon auch „Beef“ genannt. Dabei diskreditierte Jay-Z 2001 in dem Stück Takeover die Qualität von Nas’ Alben, gab aber gleichzeitig zu, dass Illmatic ein „heißes Album“ gewesen sei. Neben Jay-Z samplete beispielsweise Alicia Keys die Musik von Nas: 2003 verwendete sie Auszüge aus N.Y. State of Mind für ihr Stück Streets of New York, das sie gemeinsam mit Nas und Rakim aufnahm. Auf ihrem 2005 veröffentlichten Unplugged-Album spielte sie das Stück live mit dem in N.Y. State of Mind zu hörenden Riff. Der Rapper Fashawn, während der Veröffentlichung von Illmatic erst fünf Jahre alt, brachte 2010 ein Mixtape namens Ode to Illmatic heraus. Auf diesem verwendete er die originalen Instrumentals und Songtitel – lediglich N.Y. State of Mind änderte er um in C.A. State of Mind – sowie ein an Illmatic angelehntes Artwork. In seinen Raps zitiert er zudem des Öfteren die Texte von Nas. Den Part von AZ in Life’s a Bitch übernahm Talib Kweli. Ein ähnliches Konzept verfolgte der Rapper Elzhi 2011 auf seinem Mixtape Elmatic. Allerdings ließ er die ursprünglichen Instrumentals von der Band Will Sessions neu einspielen. Der Songtitel Detroit State of Mind ist wie bei Fashawn auf die eigene Herkunft übertragen. Life’s a Bitch wiederum entstand gemeinsam mit Royce da 5′9″. Auch der Rapper J. Cole plante 2010 ein Mixtape namens Villematic zu veröffentlichen, dessen Cover deutlich auf Illmatic verweist. Letztlich erschien aber nur ein gleichnamiger Song. Auch Nas selbst verwendete Elemente seines Debüts in späteren Stücken: Im Refrain der Singles The Message von 1996 und Nas Is Like von 1999 sind Vocalsamples aus N.Y. State of Mind beziehungsweise It Ain’t Hard to Tell zu hören. Ebenfalls 1999 veröffentlichte der Rapper das Stück N.Y. State of Mind Pt. II, das sich musikalisch und inhaltlich an dem ersten Part orientiert. Daneben bezieht sich der Refrain des Liedes Thief’s Theme von 2004 auf eine Zeile von The World Is Yours. The World Is Yours fand zusätzlich in anderen Bereichen der Massenmedien weitere Verwendung. Das Stück ist in dem Videospiel Tony Hawk’s Underground und auf dem Soundtrack des Films The Wackness – Verrückt sein ist relativ zu hören. Denzel Washington benutzte den Song 2002 für sein Regiedebüt Antwone Fisher. Wiederveröffentlichung Im Jahr 2004 wurde Illmatic unter dem Titel 10 Year Anniversary Illmatic Platinum Series wiederveröffentlicht. Das Album enthält neben den digital neu gemasterten Stücken von Illmatic eine zweite CD, die vier Remixe und zwei neue Lieder umfasst. Das Stück On the Real war bereits auf dem 1991 veröffentlichten Demotape von Nas enthalten; Nas nahm seine beiden alten Strophen erneut auf und ergänzte zudem eine neue. Das ursprünglich in Brauntönen gehaltene Cover von Illmatic wurde silberfarben überarbeitet. Die Titelliste der zweiten CD lautet wie folgt: Life’s a Bitch (feat. AZ) – 3:00 Produziert von Rockwilder The World Is Yours – 3:56 Produziert von Vibesmen One Love – 5:10 Produziert von Nick „Fury“ It Ain’t Hard to Tell – 3:27 Produziert von Nick „Fury“ On the Real – 3:26 Produziert von Marley Marl Star Wars – 4:08 Produziert von Large Professor Literatur Einzelnachweise Album (Hip-Hop) Album 1994 Nas-Album Mehrfach-Platin-Album (Vereinigte Staaten)
1937686
https://de.wikipedia.org/wiki/Computerwurm
Computerwurm
Ein Computerwurm (im Computerkontext kurz Wurm) ist ein Schadprogramm (Computerprogramm oder Skript) mit der Eigenschaft, sich selbst zu vervielfältigen, nachdem es einmal ausgeführt wurde. In Abgrenzung zum Computervirus verbreitet sich der Wurm, ohne fremde Dateien oder Bootsektoren mit seinem Code zu infizieren. Würmer verbreiten sich häufig per Massen-E-Mailversand, über Netzwerke oder über Wechselmedien wie USB-Sticks. Dafür benötigen sie gewöhnlich (aber nicht zwingend) ein Hilfsprogramm wie einen Netzwerkdienst oder eine Anwendungssoftware als Schnittstelle zum jeweiligen Netz; für Wechselmedien benötigen sie meist einen Dienst, der nach dem Anschluss des belasteten Mediums den automatischen Start des Wurms ermöglicht (wie z. B. Autorun, mitunter auch den aktiven Desktop von Windows). Ein solches Hilfsprogramm könnte beispielsweise ein E-Mail-Programm sein, das der Wurm verwendet, um sich an alle dort eingetragenen E-Mail-Adressen zu verteilen. Je nach Art des Hilfsprogramms kann sich der Wurmcode auf den Zielsystemen manchmal sogar selbst ausführen, weshalb dann keine Interaktion mit dem Benutzer mehr notwendig ist, um sich von dort aus weiter zu verbreiten. Daher ist diese Methode im Vergleich zum Ausbreitungsverfahren eines Virus sowohl effektiver als auch effizienter. Auf Systemen, die dem Wurm keinen Zugriff auf das benötigte Hilfsprogramm ermöglichen, kann sich der Wurm allerdings nicht, oder zumindest nicht automatisiert, reproduzieren. Der Wurm zählt zur Familie unerwünschter bzw. schädlicher Programme, der sogenannten Malware, was Schutzmaßnahmen gegen Würmer notwendig macht. Neben der geheimen Verbreitung, die bereits ungefragt Ressourcen bindet, kann eine mögliche Schadfunktion des Wurms vom Anwender nicht kontrollierbare Veränderungen am System vornehmen. Es besteht die Gefahr, dass zahlreiche miteinander vernetzte Computer kompromittiert werden. Unterschied zwischen Wurm, Virus und Trojaner Einem Virus und einem Wurm gemein ist die Eigenschaft, sich auf Computern zu verbreiten. Ein Virus tut dies, indem er sich in den Bootbereichen eines Datenträgers einträgt (Bootsektorvirus) oder in andere Dateien einbettet (Dateivirus, Makrovirus). Durch Interaktion des Benutzers, der ein infiziertes Wechselmedium an ein anderes System anschließt (und in diesem Zustand rebootet) oder eine infizierte Datei öffnet, gelangt der Virencode auch dort zur Ausführung, wodurch weitere Systeme mit dem Virus infiziert werden. Der Virus wird durch Mithilfe des Anwenders verbreitet. Ein Wurm verbreitet sich auf eine andere Art, ohne Dateien oder Bootbereiche der Datenträger zu infizieren. Er nutzt gewöhnlich eine bestehende Infrastruktur, um sich automatisiert auf andere Systeme zu kopieren. Um bei dem Beispiel der Einleitung zu bleiben, könnte der Wurm sich selbst an alle von einem E-Mail-Programm verwalteten E-Mail-Adressen verschicken. Auf den Zielsystemen braucht es mitunter auch hier eine Interaktion mit dem Benutzer, der den E-Mail-Anhang öffnet und damit den darin erhaltenen Wurm ausführt. Einmal ausgeführt, verschickt sich der Wurm dann wiederum an alle E-Mail-Adressen, die das neue System verwaltet, und gelangt so auf weitere Systeme. Als Trojanisches Pferd, kurz Trojaner, wird ein Computerprogramm oder Skript bezeichnet, das sich als nützliche Anwendung tarnt, im Hintergrund aber ohne Wissen des Anwenders eine andere Funktion erfüllt. Das einfachste Beispiel dafür ist eine schädigende Datei, wie ich_zerstoere_Daten.exe, die einen Dateinamen erhält, der auf eine andere Funktion schließen lässt, wie lustiger_Bildschirmschoner.exe. Dabei ist es unerheblich, ob der „lustige Bildschirmschoner“ tatsächlich auch einen Bildschirmschoner anzeigt, während er die Daten zerstört. Die Nutzung des irreführenden Dateinamens genügt völlig, um das Programm als Trojanisches Pferd zu klassifizieren. Des Weiteren können Trojanische Pferde sich grundsätzlich nicht selbst oder automatisiert verbreiten. In dem oben aufgezeigten Beispiel des Wurms, der als E-Mail-Anhang darauf aus ist, dass der Anwender ihn öffnet, nutzt der Wurm gerne die Verschleierungstechniken des Trojanischen Pferdes. Statt also einen Anhang mit dem Namen „ich bin ein Wurm“ zu verwenden, gibt er sich lieber als „wichtiges Dokument“ (z. B. eine „Rechnung“, wobei es unerheblich ist, ob diese echt ist) aus, damit der Anwender den Wurm auch öffnet. Er bildet dann eine Mischform aus Wurm und Trojaner. Ebenso hält niemand den Entwickler des Wurms davon ab, für die Verbreitung seines Programms einen zweiten Weg, den Weg des Virus, einzuschlagen. Der Wurm kann also zusätzlich auch Dateien des Systems, auf dem er ausgeführt wird, mit seinem Code infizieren. Ein solches Programm bildet dann eine Mischform aus Wurm und Virus. Verbreitung Würmer verbreiten sich über Netzwerke oder über Wechselmedien wie z. B. USB-Sticks. Da der Wurm selbst in Form eines ausführbaren Programms oder Skripts auftritt, ist er darauf angewiesen, auf dem Zielsystem ausgeführt zu werden. Entweder geschieht dies durch den Benutzer, der den Wurm „von Hand“ öffnet, oder er wird im Zusammenhang mit dem Empfang des Wurmcodes automatisch auf dem Zielsystem ausgeführt. Letzteres ist auch durch einen Fehler im Design des Hilfsprogramms, einen technischen Programmierfehler (wie Pufferüberlauf) oder eine andere Sicherheitslücke möglich. Da dem Hersteller bekannte Sicherheitslücken bei funktionierender Unterstützung über kurz oder lang geschlossen werden, kommt der Verbreitung des Wurms durch Bequemlichkeit, Unwissenheit und Fehlverhalten des Benutzers eine große Bedeutung zu, indem er die Software seines Systems nicht aktualisiert oder den Wurm selbst startet. Für den Start des Wurms „von Hand“ siehe das Beispiel zum E-Mail-Wurm mit Ausführung durch den Benutzer. Automatische Ausführung Robert T. Morris schrieb 1988 ein Programm, das unter anderem eine Remote Shell nutzt, um sich auf andere Systeme zu kopieren und dort auszuführen, mit dem Ziel, sich von dort aus auf weitere Systeme zu kopieren und dort auszuführen. Als sein Programm außer Kontrolle geriet, sah sich die Welt mit dem ersten Internetwurm konfrontiert. Sein Programm versuchte, sich der Entdeckung und Analyse auf den befallenen Systemen zu entziehen, enthielt aber keine explizite Schadroutine. Dessen permanent arbeitende Verbreitungsroutine legte dennoch zahlreiche Systeme lahm. Moderne Würmer nutzen mitunter noch immer solche oder ähnliche Automatisierungsmechanismen eines Programms, wie sie beispielsweise die Remote Shell zur Verfügung stellt, um ihren Code auf ein entferntes System zu kopieren und dort auszuführen. Der Morris-Wurm zeigte darüber hinaus einen Weg auf, wie man Programmierfehler ausnutzt, um einen solchen Mechanismus in Programmen zu erschaffen, die normalerweise eine derartige Automatisierung gar nicht vorsehen (Command-Execution-Exploit durch einen Fehler im Netzwerkdienst finger über einen buffer overflow in der Funktion gets()). Als weiteres Beispiel nutzt der Wurm Blaster einen Exploit in der RPC/DCOM-Schnittstelle von Windows 2000 und XP, um Computer über Netzwerke zu suchen und zu infizieren, auf denen die von dem Wurm genutzte Sicherheitslücke existiert. Alternativ dazu können Würmer auch Sicherheitslücken im Design einer Anwendung nutzen, wenn die Anwendung beispielsweise Funktionen vorsieht, die den Komfort der Anwendung erhöhen, dafür aber die üblichen Sicherheitseinschränkungen durchbrechen. Dazu gehört ein Programmcode, der als „Objekt“ in eine Webseite oder eine HTML-E-Mail eingebunden werden kann, und Ähnliches. Bei Letzterem wird der Wurmcode dann bereits beim Lesen der E-Mail gestartet, ohne einen Anhang öffnen zu müssen. Konkret kann die Verwendung von ActiveX-Objekten sowie die Implementierung von JScript und VBScript eine gewisse Benutzerfreundlichkeit ermöglichen, birgt aber die genannten Risiken. Letztlich führte dies dazu, bestimmte vom Entwickler eigentlich gewollte Funktionen wieder zu blockieren; der Anwender muss sie nun explizit in seiner Anwendung freischalten, wenn er sie trotzdem nutzen möchte. Demgegenüber gibt es die Methode, bestimmte Quellen mit Hilfe von digitalen Zertifikaten als vertrauenswürdig einzustufen und ihnen den Zugriff auf sonst blockierte Mechanismen zu erlauben. Bei all diesen Methoden, angefangen von der Softwareimplementierung der Blockade bis hin zum Regelwerk, kommt es hin und wieder zu Fehlern, die bei der Verbreitung von Würmern genutzt werden. Konkret gibt es beispielsweise eine Reihe von Würmern, die einen Fehler einer älteren Version des E-Mail-Programms Microsoft Outlook Express in der folgenden Form ausnutzen: Die Anlagen von HTML-E-Mails werden von Outlook Express üblicherweise inline, also direkt in der Nachricht selbst, dargestellt. Alternativ kann der Quelltext der E-Mail auch eine Referenz enthalten, unter der die betreffende Datei online hinterlegt ist, und dann in einem Inlineframe dargestellt wird. Innerhalb eines HTML-Quelltextes können Dateiformate, die nicht dem Internetstandard entsprechen und deshalb normalerweise nicht direkt in eine HTML-Seite eingebunden werden können, als „Objekte“ definiert werden. Dazu wird dem System mitgeteilt, welcher Art das „Objekt“ ist und wie das System damit zu verfahren hat. Der HTML-Parser mshtml.dll müsste jetzt abfragen, ob diese Art von „Objekt“ bekannt ist und ausgeführt werden darf. Diese Abfrage ist der Schwachpunkt des Systems, da eine bestimmte fehlerhafte Abfrage zu einem Systemfehler und daraufhin zur Ausführung des „Objektes“ führt, obwohl das Gegenteil zu erwarten wäre. Allein das Betrachten des E-Mail-Textes startete also – ohne weiteres Zutun des Anwenders – die Schadsoftware. Dieser Fehler wurde durch eine Aktualisierung der Software behoben. Eine ähnliche Sicherheitslücke existierte auch im E-Mail-Programm „Eudora“. Verbreitungsarten E-Mail-Würmer Viele Würmer benutzen E-Mails, um sich zu verbreiten. Dabei wird entweder die ausführbare Datei oder ein Hyperlink zur ausführbaren Datei versendet. Die E-Mails können entweder durch Fernsteuerung von vorinstallierten Programmen wie Microsoft Outlook oder durch ein eigenes SMTP-Unterprogramm des Wurms verschickt werden. Die E-Mail-Adresse des Empfängers wird häufig in vorinstallierten Adressbüchern gefunden. Es können aber auch andere Dateien auf den Festplatten (wie in temporären Internetdateien) von dem Wurm genutzt oder für die initiale Verteilung E-Mail-Adressen aus speziellen Webseiten (etwa Online-Gästebücher) verwendet werden. Bekannte Vertreter dieser Art sind Loveletter, der sich im Mai 2000 explosionsartig per E-Mail verbreitet hat, oder Netsky. Instant-Messaging-Würmer Instant-Messaging-Programme wie zum Beispiel WhatsApp, ICQ, MSN Messenger oder Skype sind durch ihre Web-Anbindung ebenfalls anfällig für Malware. Ein Wurm dieser Art verbreitet sich, indem an einen Messenger ein Link zu einer Webseite geschickt wird, die den Wurm enthält. Klickt der Benutzer auf den Link, wird der Wurm auf dessen Computer installiert und ausgeführt, da der Instant-Messenger zumeist keinen eigenen HTML-Parser enthält, sondern den Parser des Internet Explorers mitnutzt. Nun sendet der Wurm von diesem Computer den Link an alle eingetragenen Kontakte weiter. IRC-Würmer IRC-Clients sind Programme, mit denen jeder beliebige Benutzer mit anderen Benutzern virtuell in Echtzeit Textnachrichten im Internet Relay Chat austauschen kann. Die meisten IRC-Programme benutzen, um sich am IRC-Server anzumelden, ein spezielles Script, das beim Starten des Programms ausgeführt wird. Dieses Script beinhaltet Befehle, die das IRC-Programm ausführt. Diese Befehle sind zum Beispiel das Anmelden an einem Channel, das Schreiben von Meldungen, aber auch das Versenden von Dateien. Ein IRC-Wurm, der einen Computer infiziert hat, sucht nach IRC-Programmen, die er benutzen kann, um sich weiterzuverbreiten. Wenn er ein solches Programm gefunden hat, modifiziert er das Script, welches automatisch geladen wird. Beim nächsten Start des IRC-Programms wird der Wurm selbständig an alle Benutzer in einem Chatraum verschickt. Wenn ein Benutzer das Herunterladen akzeptiert und die geladene Datei öffnet, wiederholt sich das Ganze. Derzeit gibt es für wenigstens fünf IRC-Programme IRC-Würmer (mIRC, pIRCh, vIRC, dIRC und Xircon). P2P-Würmer Peer-to-Peer ist eine Netzwerkform, die ohne Server Computer im Netz verbindet, d. h. eine Direktverbindung zwischen den einzelnen Benutzern herstellt. Die meisten im Internet bestehenden Tauschbörsen wie Kazaa, Morpheus oder BitTorrent-Systeme nutzen Peer-to-Peer-Technik. Es gibt prinzipiell drei Möglichkeiten, wie sich ein Wurm in einer Tauschbörse verbreitet: Die erste Möglichkeit ist, dass sich der Wurm in den freigegebenen Ordner kopiert, von dem andere Benutzer Dateien herunterladen können. Für diese Art von Würmern ist die richtige Namensgebung wichtig, da mehr Benutzer eine Datei mit einem interessanten Namen herunterladen als eine Datei mit einem zufällig erstellten Namen. Darum gibt es Würmer, die ihre Namen im Internet auf speziellen Seiten suchen, um so glaubwürdig wie möglich zu sein. Diese Art der Verbreitung in Tauschbörsen ist einfach, aber nicht besonders effektiv, da in Tauschbörsen üblicherweise eher große Dateien getauscht werden und fast jedes Filesharing-Programm inzwischen wirksame Filter besitzt, um bestimmte verdächtige Dateiformate auszugrenzen. Bei der zweiten Möglichkeit der Verbreitung bietet der Wurm über ein Peer-to-Peer-Protokoll bei jeder Suchabfrage den anderen Benutzern des P2P-Netzwerkes eine infizierte Datei als Suchergebnis (Hashset oder .torrent-File) an. Der Benutzer kopiert dann den Wurm als vermeintlich gesuchte Datei auf seinen Computer und infiziert ihn beim Öffnen. Diese Art der Verbreitung ist sehr effektiv, sofern die Dateigröße des Wurms annähernd so groß ist wie die gesuchte Datei, aber schwierig zu programmieren und deshalb kaum verbreitet. Die dritte Methode ist ein Angriff des Wurms auf eine Sicherheitslücke seiner Nachbarn im P2P-Netzwerk. Diese Methode kann in seiner Ausbreitungsgeschwindigkeit sehr effizient sein, wenn keine Aktion seitens des Benutzers (wie das Herunterladen einer Datei und deren Start auf dem Computer) benötigt wird. Der Wurm infiziert diese Systeme dann voll automatisiert. Sobald der Wurm zudem in der Lage ist, bei jedem infizierten Client eine Liste seiner Nachbarn im P2P-Netzwerk einzusehen, kann er diese gezielt ansprechen. Dadurch kann der Wurm einer Entdeckung vorbeugen, da er keine übergroße Anzahl an Verbindungen zu anderen Systemen im Internet aufzubauen braucht, was als anormales Verhalten angesehen wird und auffällig wäre. Ein P2P-Netzwerk basiert darauf, dass jeder Nutzer viele Verbindungen zu anderen Teilnehmern aufbaut, was die Erkennung des Wurms anhand des von ihm verursachten Datenverkehrs deutlich erschwert. Würmer für Wechseldatenträger Wechseldatenträger sind austauschbare Datenträger für Computer, wie USB-Sticks. Diese Würmer kopieren sich selbständig auf die Datenträger, um sich von einem Computer zu einem anderen zu verbreiten. Im Unterschied zu den bisher erwähnten Arten benutzt diese Gruppe kein Netzwerk, um sich zu verbreiten. Dabei kann sich das Programm den automatischen Start des Datenträgers zunutze machen. Demgegenüber gibt es auch Würmer, die sich auf Disketten kopieren, ohne irgendeine Form des automatischen Starts zu benutzen. Sie sind die einzigen Würmer, die für ihre Verbreitung kein Hilfsprogramm benötigen, wobei sie darauf angewiesen sind, dass der Anwender sie selbst findet und „von Hand“ startet. Da Disketten nicht mehr weit verbreitet sind, haben solche Würmer heute jedoch keine Chance mehr, sich weit zu verbreiten. Grundlegend ist eine solche Art der Verbreitung aber auch mit aktuellen Medien, etwa eine beschreibbare CD, möglich. Das Kopieren des Schadcodes ist hier jedoch komplizierter. Würmer für USB-Kleingeräte Neben USB-Memory-Sticks können auch andere USB-Kleingeräte zur Verbreitung von Würmern genutzt werden. Solche Angriffe sind nicht auf die Autostart-Fähigkeit eines USB-Speichers angewiesen, sondern bilden mit einem Kleinprozessor eine Tastatur nach. Von dieser gefälschten Tastatur aus schleust das angreifende Gerät Befehle in das System, die scheinbar vom echten Benutzer stammen. Auf diese Weise wird die Schadsoftware gestartet, die sich auf dem ebenfalls eingebauten USB-Massenspeicher befindet. Für diese Methode des Angriffs eignen sich alle Arten von USB-Kleingeräten, die man als scheinbares Werbegeschenk an das Opfer senden kann. Handywürmer Würmer für Mobiltelefone sind zuerst im Juni 2004 aufgetreten. Antivirenhersteller vermuten, dass in diesem Bereich immer mehr Viren und Würmer auftreten werden, ähnlich dem Verlauf im Computersektor. Die derzeitigen Würmer verbreiten sich meist über Bluetooth, eine kabellose Verbindung zwischen Mobiltelefonen, Drucker oder Scanner mit einer Reichweite von ungefähr zehn bis 100 Metern. Handywürmer greifen derzeit überwiegend das Betriebssystem Symbian OS an und versuchen, sich selbst mit Bluetooth an alle erreichbaren Bluetooth-Empfänger zu schicken. Seit dem Jahr 2005 ist es auch möglich, dass sich diese Würmer durch MMS verbreiten. Antivirenhersteller empfehlen ihren Kunden daher, Bluetooth standardmäßig zu deaktivieren. Weitere Verbreitungen sind über GPRS/UMTS sowie über WLAN möglich. Der erste bekannte iOS-Wurm, der nur auf iPhones mit Jailbreak gelang, welcher sich über das UMTS-Netz verbreitet hat (Australien), war der Ikee. Sein Nachfolger hieß iPhone/Privacy.A und sucht seinen Weg über das WLAN. Beispiel: E-Mail-Wurm mit Ausführung durch den Benutzer In diesem Beispiel wird der Wurm als E-Mail-Anhang empfangen. Der Empfänger soll nun veranlasst werden, den Anhang zu öffnen und somit eine weitere Verbreitung des Wurms auslösen. Die im Folgenden verwendeten Methoden zielen daher auf den Benutzer des EDV-Systems und nicht auf das System selbst. Tarnung Der Wurm muss sich vor den Augen des Benutzers tarnen, um unter den beschriebenen Voraussetzungen erfolgreich zu sein. Dies erfolgt unter zwei sich ergänzenden Konstellationen: Der Empfänger der E-Mail muss ein besonderes Interesse daran haben, den Anhang zu öffnen. Der Empfänger darf sich der Gefährlichkeit des Anhangs nicht bewusst werden. Der erste Punkt zielt auf eine Technik, die unter dem Begriff „Social Engineering“ bekannt ist, die mentale Beeinflussung des Empfängers auf sozialer Ebene. Sie bezieht sich hier auf den Text der E-Mail, der auf den Benutzer einen besonderen Eindruck hinterlassen soll und ihn so zu Dingen veranlasst, die er normalerweise (womöglich) nicht täte, wie das Öffnen des Anhangs. Der zweite Punkt greift auf die Technik des „Trojanischen Pferdes“ zurück, die dafür benutzt wird, den E-Mail-Anhang selbst nicht als Wurm, sondern als „ungefährliche, nützliche Datei“ auszugeben. Tarnung bezogen auf den Text der E-Mail Psychische Beeinflussung des Empfängers Das Interesse des Empfängers am Anhang wird geweckt, wenn der Inhalt der dazugehörigen E-Mail auf eine besondere Schockwirkung abzielt, indem beispielsweise mit Rechtsmitteln bis hin zur Strafverfolgung gedroht wird. Andere Begleittexte versuchen Neugier oder Begierden zu erwecken, indem hohe Geldbeträge versprochen oder vermeintlich private Bilddateien mit oder ohne pornographischem Inhalt angeboten werden. In jedem Fall wird der Empfänger auf den Anhang der E-Mail verwiesen, welcher ausführliche Informationen enthalten soll. Das so geweckte Interesse am Dateianhang dämpft naturgemäß auch eventuelle Sicherheitsbedenken. Tarnung bezogen auf den E-Mail-Anhang Doppelte Dateinamenserweiterung Einige (vor allem ältere) E-Mail-Programme für das Betriebssystem Windows halten sich an die Standardeinstellung des Betriebssystems und blenden die Dateiendung bekannter ausführbarer Dateien aus. Dadurch kann ein Wurm als Datei beliebiger Art maskiert sein, sodass eine schädigende Datei „Musik.mp3.exe“ dem Benutzer namentlich nur als „Musik.mp3“ angezeigt wird und somit auf den ersten Blick nicht von einer ungefährlichen MP3-Musikwiedergabedatei zu unterscheiden ist. Der Anwender könnte den wahren Dateityp jedoch erkennen, wenn das angezeigte Dateisymbol (Icon) dem Standardsymbol einer Anwendung entspricht. Ob allerdings dieses Standardsymbol oder das in der Anwendung eingebettete Icon angezeigt wird, hängt von dem verwendeten E-Mail-Programm ab. Besser ist es, die Einstellung des Programms dahingehend zu ändern, dass Endungen bekannter Dateitypen nicht mehr ausgeblendet werden, damit der gesamte Dateiname angezeigt wird. Grundsätzlich sollte man unverlangte Dateien aus externen Quellen nicht öffnen. E-Mail-Anhänge, die man öffnen möchte, sollten nicht einfach über die Option „öffnen“, sondern über die Option „öffnen mit“ geöffnet werden. Das bietet die Möglichkeit, ein Programm auszuwählen, das die entsprechende Datei wiedergeben soll. Eine Anwendung zum Abspielen von Musikdateien kann eine derartig getarnte ausführbare Datei nicht abspielen und reagiert mit einer Fehlermeldung, während die Option „öffnen“ die Datei einfach ausgeführt und den Wurm dadurch gestartet hätte. Vermeintlich ungefährliche Dateitypen mit typfremdem Inhalt Eine weitere Möglichkeit, ausführbaren Code unter einer „harmlosen“ Dateiendung zu verstecken, bieten Programme, die den Dateityp unabhängig von seiner Endung selbst analysieren und sie entsprechend ihrem tatsächlichen Typ behandeln. Als Beispiel ist es zwar theoretisch nicht möglich, in einer RTF-Datei ausführbaren Makrocode zu hinterlegen, da dieses Dateiformat keine Makros unterstützt. Jedoch wird eine Datei namens „gefährlich.doc“, die man in „harmlos.rtf“ umbenennt, von Office anhand des Dateiinhalts als DOC-Datei erkannt, woraufhin der darin hinterlegte Makrocode trotz der Dateiendung .rtf ausgeführt wird. Auch hierfür lässt sich über die Option „öffnen mit“ aus den meisten E-Mail-Programmen heraus ein Programm auswählen, mit dem die Datei geöffnet wird. Um eine Ausführung des Wurms zu verhindern, ist es sinnvoll, statt der installierten Bearbeitungssoftware (Office) besser ein Programm auszuwählen, welches die Datei anzeigen und ausdrucken kann, ohne jedoch die Möglichkeit zu unterstützen, dabei auch Makrocode auszuführen. Der Softwarehersteller Microsoft bietet dafür kostenlose Windows-Anwendungen wie Word-Viewer, Excel-Viewer und PowerPoint-Viewer an. Nicht ausführbare Dateitypen, die über einen Exploit doch ausführbar werden Ein Command-Execution-Exploit nutzt Programmierfehler eines Programms aus, um seinen Code zur Ausführung zu bringen. Der Code kann jedoch nur dann gestartet werden, wenn die belastete Datei tatsächlich mit dem Programm geöffnet wird, für das der Exploit bestimmt ist. Abhängig von dem Programm, auf dessen Schwachstelle der Exploit basiert, kann sich der ausführbare Code in jedem Dateityp verbergen, also auch in Dateien, die normalerweise nicht ausführbar sind. So gibt es beispielsweise Möglichkeiten, ausführbaren Code in einer Grafikdatei zu hinterlegen. Da Programme vorgefertigte Mechanismen (gemeinsam benutzte Bibliotheken) des Betriebssystemherstellers nutzen können, um beispielsweise bestimmte Dateitypen anzuzeigen, sind Fehler in diesen Mechanismen auch für Anwendungen von Fremdherstellern relevant. Das gilt insbesondere für Sicherheitslücken, die für den Internet Explorer bekannt werden. Eine Sicherheits-Aktualisierung des Internet Explorers schließt dann auch gleichzeitig die Sicherheitslücke für diese Programme. Lange Dateinamen Die Verwendung eines unverdächtigen, aber äußerst langen Dateinamens (etwa „private_bilder_meiner_familie_aus_dem_sommercamp_nordsee_2003.exe“) soll über die Dateinamenerweiterung hinwegtäuschen. Sobald der Dateiname in einem relativ kleinen Fenster angezeigt wird, bleibt der letzte Teil des Dateinamens und somit die Erweiterung verborgen (angezeigt etwa als „private_bilder_meiner_familie_aus_dem_sommercamp_nor…“). Diese Taktik ist ausbaufähig, beispielsweise indem als Dateiname zunächst ein kurzer, unverdächtiger Name mit falscher Dateinamenerweiterung verwendet wird, an den eine Vielzahl von Leerzeichen vor der echten Erweiterung eingefügt sind (etwa „lustiger_Elch.jpg            <noch zahlreiche weitere Leerzeichen…>         Checked by Antivirus.exe“). Hierbei kommen zwei Methoden der Verschleierung kombiniert zum Einsatz: Zum einen ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass die tatsächliche Dateiendung aufgrund der Länge des Namens dem Benutzer nicht angezeigt wird und er durch die verwendeten Leerzeichen auch keinen Hinweis auf den erheblich längeren Dateinamen erhält. Wird (abhängig vom E-Mail-Programm) der Dateiname doch vollständig angezeigt, kann der Benutzer zum anderen den weit von dem scheinbar vollständigen Dateinamen entfernten Text „Checked by Antivirus.exe“ auch lediglich als Hinweis deuten, ohne ihn in den direkten Zusammenhang mit dem Dateityp des Anhangs zu bringen. Nutzung wenig verbreiteter Typen von ausführbaren Dateien Da Anwendungen des Typs .exe als ausführbare Dateien relativ bekannt sind, wird mitunter auch auf weniger verbreitete Dateitypen (Dateiformate) zurückgegriffen, wie beispielsweise .com, .bat, .cmd, .vbs, .scr, .scf, .wfs, .jse, .shs, .shb, .lnk oder .pif. Die Dateiendung .com ist zudem geeignet, einen Link auf eine Webseite vorzutäuschen (beispielsweise „www.example.com“). Komprimierung und Verschlüsselung Durch die Verwendung von Komprimierungsformaten, wie beispielsweise das ZIP-Format, wird der Dateityp des darin eingebetteten Wurms so lange verschleiert, bis er ausgepackt wird, was die Anwendung automatischer Schutzvorkehrungen grundsätzlich erschwert. Fehler in der Implementierung von Komprimierungsverfahren können eine Untersuchung der Datei auf Malware sogar verhindern. Zusätzlich kann die Datei verschlüsselt übertragen werden, was eine automatisierte Untersuchung einer solchen Datei zu einem Zeitpunkt, noch bevor der Benutzer sie öffnet, ausschließt. Gefährdung Laut einer Untersuchung von Sophos, einem Hersteller von Anti-Viren-Software, bestand im Jahr 2005 eine 50-prozentige Wahrscheinlichkeit für einen PC mit Windows XP ohne Softwareaktualisierung, im Internet innerhalb von zwölf Minuten mit schädlicher Software infiziert zu werden. Dies ist möglich, da bestimmte Würmer Schwächen und Fehler in Netzwerkdiensten ausnutzten, die auf einem PC ohne entsprechende Updates noch nicht geschlossen sind. Insbesondere durch die in späteren Windowsversionen standardmäßig aktivierte Desktop-Firewall und den vermehrten Einsatz von SoHo-Routern, die beide einen Fernzugriff auf Netzwerkdienste einschränken, hat sich diese Gefahr verringert. Einzelne Programmdateien oder ausführbare Skripte dürfen bei den meisten E-Mailanbietern grundsätzlich nicht mehr als Attachment gesendet werden. Da sich diese Einschränkung aber leicht umgehen lässt, reagieren viele E-Mailanbieter heutzutage durch automatische Sperren und Sicherheitsvorkehrungen deutlich schneller auf Massenversand. Die größte Gefahr liegt in neu entdeckten Sicherheitslücken, insbesondere im Betriebssystem, Browser oder E-Mailclient, für die es noch keinen Hotfix gibt. Nutzt ein Computerwurm ein solches Exploit aus, kann man sich je nach Einzelfall nicht effektiv davor schützen. Wirtschaftlicher Schaden Der finanzielle Schaden, den Computerwürmer anrichten können, ist höher als bei Computerviren. Grund dafür ist der erhebliche Verbrauch an Netzwerkressourcen allein durch die Art, wie sich ein Wurm verbreitet, was zu einem Ausfall von Netzwerkteilnehmern wegen Überlastung führen kann. Wenn beispielsweise ein Server eines Unternehmens ausfällt, kann dies zu einem Arbeitsausfall führen. Anfang Mai 2004 erlitt eine Anzeigetafel des Flughafens Wien-Schwechat durch den Wurm „Sasser“ kurzfristig einen Totalausfall. SQL Slammer belastete stellenweise die Internet-Infrastruktur derart, dass vielerorts die Verbindungen komplett zusammenbrachen. Einen weiteren wirtschaftlichen Schaden können in Zukunft Handywürmer nach sich ziehen, die sich über MMS verbreiten. Wenn ein solcher Wurm dutzende kostenpflichtige MMS verschickt, ist mit einem hohen finanziellen Verlust zu rechnen. Weitere finanzielle Schäden können durch sogenannte Distributed-Denial-of-Service-Attacken entstehen. Wie am Beispiel W32.Blaster ersichtlich ist, können dadurch sogar große Unternehmen wie SCO oder Microsoft in Bedrängnis gebracht werden. Kopfgeld auf Wurmautoren Im November 2003 gründete Microsoft ein sogenanntes Anti-Virus-Reward-Programm, um weltweit die Jagd auf Verantwortliche für die Verbreitung von Würmern und Viren zu unterstützen. Bei der Gründung erhielt die Initiative ein Startkapital von 5 Millionen US-Dollar, wovon bereits ein Teil der Summe für die Ergreifung und Verurteilung aktueller Wurmverbreiter zur Belohnung ausgesetzt wurde. Damit will Microsoft die zuständigen Ermittlungsbehörden bei der Fahndung nach den Verursachern unterstützen. Microsoft arbeitet mit Interpol, dem FBI, dem Secret Service und dem „Internet Fraud Complaint Center“ zusammen, denn „boshafte Würmer und Viren sind kriminelle Attacken auf jedermann, der das Internet benutzt“. Auf dieser „Wanted“-Liste erschienen unter anderem die Autoren der Würmer W32.Blaster, Sasser, Netsky und Sobig. Im Mai 2004 hatte dieses Programm seinen ersten Erfolg, als der Wurmautor von Sasser und Netsky verhaftet und verurteilt wurde. Der zu diesem Zeitpunkt 18-jährige Schüler aus Waffensen im Kreis Rotenburg/Wümme wurde von vormaligen Freunden wegen der ausgesetzten Belohnung angezeigt. Schutzmaßnahmen Im Folgenden werden Teile des Artikels zusammengefasst, die sich auf den Schutz vor Würmern beziehen. Darüber hinaus werden gängige Softwarelösungen aus diesem Bereich behandelt. Schutz vor Social Engineering Vor der psychologischen Beeinflussung des Benutzers (Social Engineering), beispielsweise durch den Text einer E-Mail, kann man sich technisch nicht schützen. Der Benutzer kann aber über die Risiken und Methoden von Schadsoftware aufgeklärt werden (siehe dazu das Beispiel zum E-Mail-Wurm mit Ausführung durch den Benutzer). Aufklärung erhöht die Hemmschwelle und macht es einem Wurm schwerer, den Benutzer zum Öffnen einer belasteten Datei, wie des E-Mail-Anhangs oder Ähnlichem, zu überreden. Umgang mit E-Mail-Anhängen und anderen Dateien aus externen Quellen Es ist ratsam, keine unverlangten Dateien aus E-Mail-Anhängen oder sonstigen anderen Quellen zu öffnen. Auch dann nicht, wenn sie von einem Absender stammen, der dem Empfänger bekannt ist. Denn auch bekannte Absender sind keine Gewährleistung für die Echtheit, da zum einen der Eintrag für den Absender gefälscht sein kann und zum anderen selbst bekannte Absender ebenfalls Opfer von Würmern werden können. Im Zweifelsfall sollte man beim Absender nachfragen. Dateien, die man öffnen möchte, lassen sich zuvor dahingehend untersuchen, ob sie eine allgemein bekannte Schadsoftware enthalten (siehe den Abschnitt zum Virenscanner weiter unten). Für Dateien, die zu einer bestimmten Anwendung gehören (wie beispielsweise .mp3 als Musikdatei oder .jpg als Grafikdatei) gilt, dass man sie nicht einfach über die Option „öffnen“, sondern über die Option „öffnen mit“ unter Auswahl des dazugehörenden Programms öffnen sollte (siehe dazu den Abschnitt Doppelte Dateinamenserweiterung). Speziell Office-Dokumente (darunter .doc, docx, .xls, .ppt und .rtf-Dateien) aus externen Quellen sollten nicht mit dem installierten Officeprogramm geöffnet werden, wenn man sie lediglich einsehen will. Denn das Officeprogramm birgt die für diesen Zweck unnötige Gefahr, dass dabei ein in dem Dokument hinterlegter Makrocode ausgeführt wird. Besser ist es, hierfür eine Anwendung zu verwenden, die solche Datei anzeigen und ausdrucken kann, ohne die Möglichkeit zu bieten, dabei Makrocode auszuführen. Der Abschnitt Vermeintlich ungefährliche Dateitypen mit typfremdem Inhalt geht darauf näher ein mit Hinweis auf eine kostenlose Alternative. Wer sichergehen will, dass kein Schadcode bereits beim Lesen der E-Mail zur Ausführung gelangt (siehe Automatische Ausführung), kann sein E-Mail-Programm dahingehend konfigurieren, dass es keinen HTML-Code darstellt, sondern nur Text anzeigt. Schutz durch Software Virenscanner Ein Virenscanner spürt allgemein bekannte Viren, Würmer und Trojanische Pferde auf und versucht, diese zu blockieren und zu beseitigen. Was für den Einsatz eines Virenscanners spricht Wird eine Schadsoftware von dem Virenscanner erkannt, noch bevor die belastete Datei erstmals auf dem eigenen Computersystem ausgeführt wird, ist der Schutzmechanismus voll wirkungsvoll. Bevor eine auf dem Computer neu hinzugekommene Datei ausgeführt oder in einer Anwendungssoftware eingelesen wird, die aus einer externen Quelle stammt (beispielsweise von einem Wechselmedium, von einer Webseite oder aus einer E-Mail), ist es daher ratsam, sie einer Überprüfung durch eine aktualisierte Antivirensoftware zu unterziehen. Um darüber hinaus weitere Infektionswege auszuschließen, gilt gleiches auch für Dateien, die auf einem gemeinsam genutzten Netzlaufwerk liegen, wenn eine zwischenzeitliche Infektion einer solchen Datei durch eines der anderen Systeme nicht ausgeschlossen werden kann (Mischformen zwischen Wurm und Virus). Speziell zur Abwehr von Computerwürmern, die sich nicht Datei-basiert, sondern über Sicherheitslücken verbreiten, sind verhaltenserkennende Komponenten der Antivirensoftware zwingend notwendig, die sich entsprechend in das Betriebssystem einbetten. Grenzen Ein Virenscanner erkennt mit der Suchmethode „Signaturvergleich“ ausschließlich Schadsoftware, die ihm bekannt ist; ihm (noch) nicht bekannte Schadsoftware kann er so nicht erkennen. Er kann daher auf diese Weise nur feststellen, dass eine Datei, ein Datenträger oder gar das Computersystem frei von ihm bekannter Schadsoftware ist. Der Programmierer eines Computerwurms versucht, den Wurm möglichst versteckt zu halten oder eine bekannte Variante so stark zu verändern, dass sie nicht mehr erkannt wird; der Virenscanner-Hersteller versucht, die Signaturdatenbank möglichst aktuell zu halten – ein „Wettlauf“. Aufgrund dieses prinzipiellen „Hinterherlaufens“ der Antivirensoftware enthält diese auch Komponenten, die laufende Prozesse im Computersystem auf verdächtige Aktivitäten hin überwachen, um eine Schadsoftware selbst dann zu erkennen, wenn sie dem Virenscanner nicht bekannt ist. Auch hier besteht ein Wettlauf mit der Schadsoftware – zwar nicht bzgl. der Bekanntheit der Schadsoftware selbst, dafür bzgl. der verwendeten Methoden und Vorgehensweisen der Schadprogramme. Einmal ausgeführten Schadprogrammen kann es gelingen, die Antivirensoftware zu deaktivieren oder das System derart zu manipulieren, dass die Schadprogramme vom Virenscanner nicht mehr entdeckt werden (siehe Rootkit). Bzgl. Datei-basierter Schadsoftware lässt sich das gesamte Computersystem besser über ein separates Bootmedium auf einen möglichen Befall einer Schadsoftware hin untersuchen, wie sie etwa auf bootfähigen Live-CDs (beispielsweise Desinfec’t, ehemals Knoppicillin) zum Einsatz kommen. Hierbei wird verhindert, dass die eigene Softwareumgebung des Scanners entsprechend belastet ist. Eine bereits ausgeführte (also auf dem System installierte) Schadsoftware lässt sich nur bedingt zuverlässig durch eine Antivirensoftware aus dem System entfernen. Denn der Schädling wird meist anhand einer Signatur erkannt, die manchmal keine genaue Aussage über die Variante des Schädlings und seiner Schadroutine trifft. Manche Schädlinge können auch Komponenten nachladen, meist über das Internet. Bei ihnen ist dann unbekannt, welche andere Schadsoftware sie ggf. nachgeladen haben und welche Änderungen diese am System vorgenommen hat. Diese Änderungen bleiben dann nach der Entfernung des Schädlings erhalten. Im günstigsten Fall kann die AV-Software die Schadsoftware jedoch komplett entfernen und die getätigten Änderungen am System korrigieren. Unter „Alternative Lösungen“ wird ein zuverlässiger Weg gezeigt, wie sich der Schädling ganz entfernen lässt. Was gegen den Einsatz eines Virenscanners spricht Bei einem Virenscanner handelt es sich um eine komplexe Software, die sich mitunter sehr tief in das Computersystem einbettet, um bestimmte Abläufe kontrollieren zu können. Je komplexer eine Software ist, desto eher enthält sie Fehler, die sich auf die Performance, Stabilität und Sicherheit des Computersystems auswirken können. Speziell zur Abwehr von Computerwürmern, die sich nicht Datei-basiert, sondern über Sicherheitslücken verbreiten, sind jedoch verhaltenserkennende Komponenten der Antivirensoftware zwingend notwendig, die sich in das eigene System einbetten. Virenscanner bieten keinen absolut zuverlässigen Schutz vor Schadsoftware, werden jedoch mitunter vollmundig entsprechend beworben. Benutzer könnten nachlässig werden und dann unbedarft handeln. Siehe auch: Überprüfbarkeit des Quelltextes Alternative Lösungen, um eine Schadsoftware aus dem System zu entfernen Die Bereinigung des Systems über die Einspielung des letzten „sauberen“ Abbildes der Festplatte (Image) ist ein zuverlässiger Weg, um eine Schadsoftware recht sicher aus dem Computersystem zu entfernen. Man installiert also das Betriebssystem, richtet seine Software ein, passt das System derart an, dass alle persönlichen Dateien auf ein anderes Laufwerk abgelegt werden (sie dürfen also nicht auf demselben Laufwerk liegen, auf dem das Betriebssystem installiert wurde). Dann legt man eine Kopie des Laufwerks (genauer der Systempartition) an, auf dem das Betriebssystem installiert wurde, und speichert es in eine Imagedatei. Wird das System später mit einer Schadsoftware infiziert, kann man den gespeicherten Softwarestand mithilfe der Imagedatei wiederherstellen und entfernt so üblicherweise die Schadsoftware und alle zwischenzeitlichen Änderungen aus seinem System. Probleme: Um Sicherheitslücken zu schließen, sollten Betriebssystem und Anwendungen mit den aktuellen Updates aufgefrischt sein. Diese sollten nicht über ein Netzwerk bezogen werden, da das System dann mit noch bestehenden Lücken an dieses angeschlossen wird. Das Vorgehen ist deutlich aufwendiger als die üblichen Online-Update-Wege zu verwenden. Manche Anwendungssoftware muss bei der Installation beim Hersteller registriert werden – auch hierzu muss der Computer meist mit dem Internet verbunden werden. Ansonsten kann die Software vor der Imagedatei-Erstellung nicht installiert werden und ist dann nicht in dieser enthalten. Soll der Updatestand in der Imagedatei aktuell gehalten werden, so muss diese regelmäßig neu erstellt werden, was erheblichen Arbeitsaufwand bedeuten kann. Das Behalten der persönlichen Dateien stellt ein Risiko dar, da die Schadsoftware auch in diesen gespeichert sein kann. Eine „sichere Entfernung“ ist so nicht zu garantieren. Eine Antivirensoftware mit aktualisierter Signaturdatenbank sollte dort suchen, bevor mit den persönlichen Dokumenten weitergearbeitet wird. Alle Änderungen und Einstellungen seit Image-Erzeugung, die auf der Systempartition vermerkt wurden, gehen verloren. Siehe auch: Die Systempartition schreibschützen Personal Firewall (auch Desktop-Firewall) Erst ein Netzwerkdienst oder eine gestartete Anwendung mit entsprechender Funktionalität schafft die Möglichkeit, um über das Netzwerk auf Ressourcen des Computers (wie z. B. Dateien und Drucker) zugreifen zu können. Hinzu kommt, dass eine Sicherheitslücke in einem Netzwerkdienst die Basis dafür liefern kann, um über die normalen Zugriffsfunktionen hinaus Aktionen auf dem Computer auszuführen. Als Personal Firewall oder Desktop-Firewall wird eine lokal auf dem Computer installierte Firewall-Software bezeichnet. Zu ihrer Aufgabe gehört es, bösartige und ungewollte Zugriffe von außen auf Netzwerkdienste des Computers zu unterbinden. Abhängig vom Produkt kann sie zudem versuchen, Anwendungen davon abzuhalten, ohne das Einverständnis des Anwenders mit der Außenwelt zu kommunizieren. Was für den Einsatz einer Personal Firewall spricht Würmer, die einen Sicherheitsfehler in einem Netzwerkdienst ausnutzen, um sich zu verbreiten, können den Computer nur dann infizieren, wenn der entsprechende Netzwerkdienst für den Wurm erreichbar ist. Hier kann eine Personal Firewall den Fernzugriff auf den Netzwerkdienst einschränken und somit eine Infektion erschweren oder sogar verhindern. Benötigt wird eine solche Filterung jedoch nur, wenn ein erforderlicher Netzwerkdienst auf dem Computer betrieben wird und der Zugriff darauf auf einige wenige Computer beschränkt werden soll. Manchmal soll auch lediglich das lokale System (localhost, die sogenannte Loopback-Schnittstelle 127.0.0.1) den Dienst nutzen können, ohne dass sich die Software dahingehend konfigurieren lässt. In allen anderen Fällen ist die Deaktivierung der Netzwerkdienste einer Blockade durch eine Personal Firewall vorzuziehen. Darüber hinaus können die Regeln der Personal Firewall im günstigsten Fall unterbinden, dass ein heimlich reaktivierter oder installierter Dienst ungehindert vom Netzwerk aus ansprechbar ist, falls trotz aller Vorsicht eine Schadsoftware beispielsweise per E-Mail-Anhang auf dem System aktiviert wird. Ein solcher Erfolg der Firewall-Software ist allerdings stark von dem Geschick der jeweiligen Schadsoftware abhängig (in Fachartikeln aus Microsofts TechNet Magazine und der c’t wird davor gewarnt, dass die Personal Firewall unerwünschte Netzwerkzugriffe nur unterbinden kann, wenn sich die Schadsoftware keine große Mühe gibt, ihre Aktivitäten zu verbergen). Wenn man die (mögliche) Meldung der Firewall-Software nutzt, um reaktivierte Dienste nebst Schadsoftware gleich wieder zu entfernen, kann der Einsatz der Personal Firewall doch lohnend gewesen sein. Grenzen Personal Firewalls oder andere Programme zur Netzwerküberwachung bieten keinen Schutz vor der Installation einer Schadsoftware, die darauf basiert, dass der Anwender eine belastete Datei öffnet. Sie können unter Umständen aber auf unautorisierte Netzwerkkommunikation und dadurch auf den Wurm aufmerksam machen. Einige Personal-Firewall-Produkte bieten als zusätzliche Maßnahme auch eine Überwachung der Autostarteinträge des Systems an, was dem Anwender unter Umständen einen Hinweis auf eine Installation des Wurms liefert, wenngleich auch die Firewall-Software von zahlreichen Schadprogrammen deaktiviert und überlistet werden kann. Was gegen den Einsatz einer Personal Firewall spricht Es gibt Situationen, die zum Absturz oder sogar zur dauerhaften Deaktivierung der Firewall-Software führen können, wodurch ein uneingeschränkter Zugriff auf die zuvor gefilterten Netzwerkdienste möglich wird, ohne dass der Anwender dies bemerkt. Es ist zudem ein Problem des Konzepts, dass sich die Firewall-Software zwischen die normale Netzwerkimplementierung des Betriebssystems und die Außenwelt stellt, wodurch zwar nicht mehr die ursprüngliche Netzwerkimplementierung, dafür aber die wesentlich komplexere Firewall-Software direkt angreifbar wird. Die Erfahrung zeigt, dass eine Software desto mehr Fehler und Angriffspunkte enthält, je komplexer sie ist. Da ihre Komponenten (zumindest teilweise) mit erweiterten Rechten laufen und in der Regel sogar Kernelkomponenten installiert werden, wirken sich Programmier- und Designfehler hier besonders verheerend auf die Leistung, Sicherheit und Stabilität des Systems aus. Auf diese Weise können Angriffs- und Spionagemöglichkeiten geschaffen werden, die es ohne die installierte Firewall-Software nicht gibt. So können Personal Firewalls selbst Sicherheitslücken enthalten, die einem Wurm erst Ansätze für einen Fernzugriff bieten. Während eine externe Firewall lediglich eine Auswirkung auf den Netzwerk-Datendurchsatz bei der Kommunikation mit dem externen Netz (Internet) hat, beeinflusst eine Personal Firewall die gesamte Netzwerkperformance negativ und verlangsamt zudem die allgemeine Arbeitsgeschwindigkeit des PCs, auf dem sie installiert wurde. Alternative Lösungen, um einen Fernzugriff des Wurms auf Netzwerkdienste zu unterbinden Die Deaktivierung aller nicht benötigten Netzwerkdienste bietet den besten Schutz gegen ungewollte Fernzugriffe. Um einen Zugriff auf verbleibende Netzwerkdienste aus dem Internet heraus zu verhindern, sollten sie nicht an den Netzwerkadapter gebunden sein, der an dem Internet angeschlossen ist. Diese Aufgabe ist für einen Laien nicht ganz trivial, weshalb sich der Einsatz eines vermittelnden Gerätes, wie beispielsweise eines DSL-Routers, anbietet. Dieses Gerät sorgt automatisch dafür, dass kein Netzwerkdienst aus dem internen (privaten) Netz direkt aus dem Internet heraus zugreifbar ist. Statt des eigenen Computers wird in diesem Fall also der DSL-Router an das Internet angeschlossen, wobei die eigenen PCs wiederum mit diesem Gerät vernetzt werden. Das Gerät bildet die einzige Schnittstelle zwischen dem externen Netz (Internet) und dem eigenen (privaten) internen Netz. Die privaten PCs übermitteln ihre Anfragen an das Internet nun an den DSL-Router, welcher stellvertretend für die PCs auf das Internet zugreift. Das Zielsystem sieht daher als Absender nur den DSL-Router, der wiederum die Antwortpakete des Zielsystems an den entsprechenden PC im internen Netz weiterleitet. Mögliche Angriffe aus dem Internet sind nun an den dafür prädestinierten DSL-Router gerichtet und treffen nicht direkt den internen PC. Jemand aus dem Internet, der auf der Netzwerkadresse des DSL-Routers nach einem Netzwerkdienst (wie z. B. die Datei- und Druckerfreigabe) sucht, wird nicht fündig, da der Dienst auf dem PC und nicht auf dem DSL-Router läuft. Auf diesem Level ist der DSL-Router also nicht angreifbar, und die Netzwerkdienste der internen PCs sind aus dem Internet heraus nicht erreichbar. Auch eine Schadsoftware, die womöglich auf dem PC heimlich einen Netzwerkdienst installiert, kann an diesem Zustand nichts ändern. Der Netzwerkdienst ist nur aus dem privaten Netz heraus ansprechbar, nicht jedoch aus dem Internet heraus (die Schadsoftware kann schließlich keinen Dienst auf dem DSL-Router installieren, sondern nur auf dem PC). Allerdings hat dieser Mechanismus auch seine Grenzen: Damit ein DSL-Router ohne permanenten manuellen Konfigurationsaufwand funktioniert, muss er in der Lage sein, dynamische Regeln zu erstellen. Diese Regeln erlauben automatisch alle Kommunikationsverbindungen, die von dem internen Netz (also von den privaten PCs) angefordert wurden. Wenn also die Schadsoftware lediglich einen Netzwerkdienst installiert, der auf eine externe Verbindung wartet, so funktioniert der Schutzmechanismus recht gut. Baut sie jedoch selbst eine Verbindung zum Internet auf, so wird der DSL-Router die Verbindung zulassen, da sie vom internen Netz heraus angefordert wurde. Ein solch konfiguriertes Gerät kann also lediglich externe Verbindungsanfragen effektiv unterbinden. Hier bietet eine Personal Firewall mitunter mehr Möglichkeiten, ist dafür aber auch leichter zu umgehen und beinhaltet die oben genannten Risiken. Eine Personal Firewall ist also kein ebenbürtiger Ersatz für solche Geräte, sie kann aber unter bestimmten Bedingungen als eine entsprechende Ergänzung dienen. Zugriffsbeschränkung auf das Computersystem Beschränkung per Sandbox und Benutzerrechte Auch für Betriebssysteme, die über keine eigene Rechteverwaltung verfügen, gibt es die Möglichkeit, den Systemzugriff einer Anwendung über eine Sandbox einzuschränken. Ein Programm, das aus dieser Sandbox heraus gestartet wird, kann dann zum Beispiel nicht mehr in wichtige Systemverzeichnisse hineinschreiben, zumindest solange es dem Programm nicht gelingt, aus der Sandbox auszubrechen. Betriebssysteme wie Mac OS, Linux, Windows (ab NT, XP – jedoch nicht die Home-Version – und Nachfolgende) bieten von Haus aus eine Umgebung, die eine Zugriffsberechtigung auf sensible Bereiche abhängig von der Benutzerkennung und den dazugehörenden Gruppen verwaltet. Arbeitet also ein Benutzer unter einer Kennung, die nicht über die Zugriffsberechtigung verfügt, Änderungen in wichtigen Systembereichen vorzunehmen, dann hat dies eine ähnliche Auswirkung wie bei der Verwendung einer Sandbox: Eine Schadsoftware, die beispielsweise über einen E-Mail-Anhang geöffnet wird, ist dann in seiner Aktionsfreiheit eingeschränkt, was eine Verbreitung eines Wurms verhindern kann. Arbeiten Benutzer jedoch mit Administratorrechten, setzen sie damit viele Sicherheitsschranken des Betriebssystems außer Kraft. Ein versehentlich oder automatisch gestartetes Wurmprogramm (das Gleiche gilt für Viren) kann sich ungehindert die Kontrolle über viele Systemfunktionen aneignen. Sinnvoller ist der Gebrauch von zwei unterschiedlich konfigurierten Benutzerkonten, eines für die routinemäßige Arbeit mit stark eingeschränkten Benutzerrechten (insbesondere mit eingeschränkten Rechten zur Softwareinstallation), das andere Konto mit Administratorrechten allein für Installations- und Konfigurationsarbeiten. Grenzen Für alle Betriebssysteme gilt, dass das Arbeiten mit eingeschränkten Benutzerrechten die Verbreitung von Computerwürmern zwar einschränken, jedoch nicht in jedem Fall verhindern kann. Grund dafür ist, dass jeder Benutzer zum Beispiel in der Lage sein soll, E-Mails zu verschicken, und eine Schadsoftware unter der Kennung des Benutzers dieselben Rechte besitzt und dies daher auch tun kann. Die Systempartition schreibschützen Frühe Betriebssysteme konnten auch von einer schreibgeschützten Diskette gestartet werden, dagegen mussten nachfolgende Versionen bald auf ein beschreibbares Medium, die Festplatte, installiert werden. Unter anderen war Windows 95 eines dieser Systeme, da es nach dem Start des Betriebssystems permanent versuchte, in eine Registry hineinzuschreiben, was bei einem schreibgeschützten Medium nicht möglich wäre. Dennoch gab es auch für solche Systeme Konzepte, um Veränderungen am Systemlaufwerk zu unterbinden. Das geht jedoch nur über einen Umweg. Der Umweg sah vor, dass das Computersystem von einem schreibgeschützten Medium, wie einem CD-ROM-Laufwerk, bootet. Die Software auf der CD-ROM legt nun eine RAM-Disk an, kopiert sämtliche für den Betrieb notwendigen Dateien dort hinein und startet das Betriebssystem von dort. Die Ramdisk existiert lediglich im Arbeitsspeicher, verhält sich aber wie ein normales Laufwerk. Die Anwendungen können dort hineinschreiben. Auch einer Schadsoftware ist es möglich, sich dort zu installieren. Wird der Computer allerdings neu gestartet, so verschwindet diese Ramdisk und mit ihr sämtliche zwischenzeitlich vorgenommene Anpassungen. Die neue Ramdisk erhält wieder alle ursprünglichen Dateien und Einstellungen von der CD-ROM. Das System wird so bei jedem Start des Computers automatisch auf den vorherigen Stand zurückgesetzt. Einer Schadsoftware, wie beispielsweise einem Wurm, fehlt die Möglichkeit, sich in dieses System dauerhaft einzubetten. Sogenannte „Live-Systeme“, die sich von einem schreibgeschützten Medium booten lassen, funktionieren ähnlich dem zuvor beschriebenen Konzept auch für zahlreiche andere Betriebssysteme. Grenzen Mögliche Dateien des Benutzers müssen naturgemäß auf einem anderen Laufwerk abgelegt werden als auf dem Systemlaufwerk, damit sie nicht ebenfalls zurückgesetzt werden. Schreibt sich eine Schadsoftware auch in diese Dateien (beispielsweise als Makrocode in Office-Dokumente), so wird das System zwar bei jedem Neustart zurückgesetzt, infiziert sich jedoch jedes Mal neu, sobald der Benutzer eine belastete Datei öffnet. Weiterhin hat dieses Konzept den Nebeneffekt, dass man für jede noch so kleine Anpassung am System das Bootmedium neu erstellen muss. Dagegen bieten Virtuelle Betriebsumgebungen ebenfalls Möglichkeiten an, das (virtualisierte) Betriebssystem bei jedem Neustart zurückzusetzen, können darüber hinaus aber veranlasst werden, bestimmte Anpassungen des Systems gezielt zu übernehmen. Ebenso gibt es beispielsweise für Windows XP alternative Konzepte jenseits des Live-Systems, um das Betriebssystem bei jedem Neustart auf einen definierten Stand zurückzusetzen. Mithilfe eines EWF-Filtertreibers ist hier eine Anpassung der Betriebssystemumgebung möglich. Stellt man beispielsweise während der Arbeit am PC fest, dass eine Software-Aktualisierung verfügbar ist, startet man das System neu und macht damit alle bis dahin unkontrollierten Anpassungen am System rückgängig. Nach dem Neustart deaktiviert man über ein Menü den Schreibschutz, installiert die Aktualisierungen, startet das System abermals neu, gibt dem System ein paar Minuten Zeit, um den Vorgang abzuschließen, und schaltet dann den Schreibschutz wieder ein. Danach ist der PC wieder für die normale Arbeit bereit. Sämtliche Änderungen an diesem System werden somit kontrolliert vorgenommen. Nematoden Die Sicherheitsforscher Susan Young und Dave Aitel stellten 2005 mit Nematoden eine weitere Methode vor, um Würmer zu bekämpfen. Ein Nematode verwendet dieselben Sicherheitslücken wie der zu bekämpfende Wurm, um auf die infizierten Systeme zu gelangen. Danach wird der Wurm deaktiviert oder gelöscht. Der Name leitet sich davon ab, dass Nematoden Schnecken und andere Schädlinge bekämpfen können. Die Idee war aber keineswegs neu. Bereits der erste bekannte Netzwerkwurm, Creeper im Arpanet, wurde auf diese Art wieder ausgerottet. Man ließ den Wurm Reaper folgen, der sich auf dieselbe Art verbreitete, Creeper-Infektionen entfernte, und sich nach einiger Zeit selbst löschte. Der Einsatz von Nematoden stellt mittlerweile rechtlich in vielen Ländern wie den USA, dem Vereinigten Königreich und Deutschland ein Eindringen in fremde Computersysteme dar und ist gesetzlich verboten. In der „Ära der Würmer“, dem ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends, tauchten mehrmals derartige hilfreiche Würmer auf. Teilweise bekämpften sie nicht nur andere Würmer, sondern schlossen auch gleich die entsprechenden Sicherheitslücken, die die Verbreitung ermöglichten. In Einzelfällen richteten aber solche Würmer auch Schäden an, da sie fehlerhaft programmiert wurden oder zu viel Netzwerkverkehr verursachten. Im Jahr 2016 wurde ein Nematode zur Bekämpfung des Botnetzes Mirai vorgeschlagen, welches einen großen Teil der Internetinfrastruktur lahmgelegt hatte. Sicherheitslücken in Anwendungen Anwendungen sind anfälliger für Fehler, je komplexer sie sind. Bei komplexen Programmen geht man sogar davon aus, dass sie Fehler enthalten. Bestimmte Fehler lassen sich dazu benutzen, über die normale Funktion der Anwendung hinaus beliebige Befehle in Form von fremdem Programmcode zur Ausführung zu bringen. Beispielsweise könnten geschickt aufgebaute Daten einer .mp3-Datei plötzlich einen fehlerhaften MP3-Player dazu veranlassen, Dinge zu tun, die er normalerweise nicht tun würde. Das kann auch Wurm- oder Viren-Code, das Löschen wichtiger Daten oder andere Schadfunktionen beinhalten. Der fremde Code kann jedoch nur gestartet werden, wenn die belastete Datei tatsächlich mit dem Programm geöffnet wird, für das die Datei bestimmt ist. Bei einem anderen MP3-Player bliebe diese „Erweiterung“ der .mp3-Datei also wirkungslos (siehe auch Nicht ausführbare Dateitypen, die über einen Exploit doch ausführbar werden). Viele Würmer nutzen Sicherheitslücken veralteter Softwareversionen bestimmter Programme aus, um sich zu verbreiten. Für einen wirkungsvollen Schutz gegen solche Sicherheitslücken wird dem Benutzer viel Aufmerksamkeit abverlangt: Die Software des eigenen Systems, angefangen vom Betriebssystem bis hin zum E-Mail-Programm, sollte auf dem aktuellen Stand gehalten werden. Außerdem gilt es sich zu informieren, ob die verwendete Konfiguration der Anwendungen und des Betriebssystems sicherheitskritisch ist und wie man diese Lücken schließen kann. Windows beispielsweise startet schon beim Systemstart in der Standardeinstellung eine Vielzahl von im Einzelfall zumeist unnötigen Netzwerkdiensten. Mehrere Würmer nutzten bereits Sicherheitslücken in diesen Diensten aus. Werden unnötige Netzwerkdienste deaktiviert, so fallen diese Infektionswege weg (siehe auch Alternative Lösungen, um einen Fernzugriff des Wurms auf Netzwerkdienste zu unterbinden). Überprüfbarkeit des Quelltextes Bei Softwareprodukten ist eine freie Einsicht in deren Quellcode ein Aspekt der Computersicherheit. Dabei gilt es unter anderem die Gefahr zu minimieren, dass ein Produkt Funktionalitäten enthalten kann, von denen der Anwender nichts wissen soll. So gibt es beispielsweise einige Closed-Source-Produkte aus dem Bereich der Personal Firewalls, die selbst heimlich Daten zum Hersteller schicken, also genau das tun, was einige Anwender mit dem Produkt eigentlich zu verhindern suchen. Quelloffene Software lässt sich von der Öffentlichkeit dahingehend überprüfen und darüber hinaus mit rechtlich unbedenklichen Mitteln auf Schwachstellen untersuchen, die auf diese Weise schneller geschlossen werden können. Quelloffene Software kann zwar durch jeden mit entsprechender Sachkunde selbst auf heimliche Funktionalitäten und Schwachstellen hin untersucht werden, das bedeutet jedoch nicht, dass die bloße Verfügbarkeit des Quelltextes eine Garantie dafür ist, dass dieser von den Computernutzern hinreichend überprüft wurde. Über einen langen Zeitraum bestehende Sicherheitslücken in quelloffener Software weisen auf diesen Umstand hin. Zudem ist selbst eine geschickt verbaute Hintertür auch mit fundierten Fachkenntnissen mitunter schwer zu erkennen. Der Zeitaufwand für eine Analyse ist bei komplexen Programmen oft beträchtlich. Demgegenüber ist hier aber wenigstens eine Überprüfung des Quelltextes möglich. Ob das von einer externen Quelle bezogene ausführbare Programm tatsächlich mit dem veröffentlichten Quellcode erstellt wurde, ist für den Anwender oft schwer zu erkennen. Auch hierfür gilt, dass mit entsprechender Sachkunde hier wenigstens eine Überprüfung möglich ist. Geschichte Anfänge 1971 gerät der experimentelle Netzwerkwurm Creeper außer Kontrolle und verbreitet sich im ARPANET. Er gilt als erster bekannter Wurm überhaupt sowie als erste Malware In-the-wild. 1972 lässt man einen zweiten Wurm folgen um Creeper zu stoppen. Reaper entfernt ihn wieder von den infizierten Systemen, und löscht sich später selbst. Reaper gilt als erstes Antimalware-Programm der Welt. 1975 wird das Konzept von Internet, Computerviren und Netzwerkwürmern im Science-Fiction-Buch The Shockwave Rider (dt. Der Schockwellenreiter) von John Brunner beschrieben. Die Bezeichnung „Wurm“ für ein sich selbst replizierendes Programm etabliert sich durch das bekannte Buch in der Computerszene. 1987 wird das VNET vom XMAS EXEC kurzfristig völlig lahmgelegt. 1988, genauer am 2. November, wird von Robert Morris der erste Internet-Computerwurm programmiert und freigesetzt. Der sogenannte Morris-Wurm verbreitet sich unter Ausnutzung von einigen Unix-Diensten, wie z. B. sendmail, finger oder rexec sowie der r-Protokolle. Zwar hatte der Wurm keine direkte Schadensroutine, trotzdem machte er wegen seiner aggressiven Weiterverbreitung teilweise 10 % des Datenverkehrs im damals noch sehr kleinen Internet aus. Etwa 6000 Rechner waren betroffen. Die Entwicklung von Computerwürmern bleibt bis Mitte der 1990er Jahre beinahe stehen. Grund dafür ist, dass das Internet noch nicht die Ausdehnung besitzt, die es heute hat. Bis dahin können sich Computerviren schneller verbreiten. Mitte der 90er bis 2000 In diesem Zeitraum nehmen Computerwürmer in ihrer Bedeutung unter der Schadsoftware zu. 1997 verbreitet sich der erste E-Mail-Wurm, bekannt unter dem Namen ShareFun. Er wurde in der Makrosprache WordBasic für Microsoft Word 6/7 geschrieben. Im selben Jahr wird der erste Wurm entdeckt, der sich über IRC verbreiten kann. Er benutzt dafür die script.ini-Datei des Programms mIRC. Homer, ein Wurm, der als Erster für seine Verbreitung das Transferprotokoll FTP benutzt, tritt in Erscheinung. Ab diesem Zeitpunkt wurde klar, dass auch Netzwerkprotokolle von Würmern ausgenutzt werden können. 1999 verbreitet sich über Outlook der oft mit einem E-Mail-Wurm verwechselte Makrovirus Melissa weltweit. Melissa sorgte für große Aufmerksamkeit der Medien. Komplexe Würmer treten in Erscheinung, wie Toadie (der sowohl DOS- als auch Windows-Dateien infiziert und sich über IRC und E-Mail verbreitet) und W32.Babylonia (der sich als erste Malware selbst aktualisieren kann). 2000 geriet ein Wurm besonders ins öffentliche Bewusstsein: Mit seinem massiven Auftreten inspiriert der I-love-you-E-Mail-Wurm viele Nachahmer. 2001 bis heute 2001 erscheinen erste Würmer mit einer eigenen SMTP-Engine. Ab diesem Zeitpunkt sind Würmer nicht mehr auf Microsoft Outlook (Express) angewiesen, können aber auch auf diesem Weg noch Erfolg haben, wie der Anna-Kournikova-Wurm zeigte. Zudem werden die ersten Würmer entdeckt, die sich via ICQ oder Peer-to-Peer-Netzwerken verbreiten können. Der Wurm Code Red erreicht eine große Verbreitung, indem er ein Sicherheitsloch in Microsofts Internet Information Services ausnutzt. Durch das Ausnutzen von Schwachstellen in Netzwerkdiensten können nun auch die ersten dateilosen Würmer in Erscheinung treten. Sie verbreiten sich durch Sicherheitslücken und bleiben nur im RAM, nisten sich also nicht auf die Festplatte ein. Auch Linux-User bleiben nicht verschont, der Wurm Ramen nutzt Sicherheitslücken in Red-Hat-Distributionen. 2002 wird mit dem Wurm Slapper die bis zurzeit am weitesten verbreitete Malware für das Betriebssystem Linux geschrieben. 2003 verbreitet sich der Wurm SQL Slammer zügig durch das Ausnutzen einer Sicherheitslücke im Microsoft SQL Server. Bis dahin wurden Privat-Anwender von dieser Art von Würmern verschont. Das ändert sich im August 2003, als der Wurm W32.Blaster eine Sicherheitslücke im Microsoft-Windows-Betriebssystem ausnutzt. 2004 nutzt der Wurm Sasser ebenfalls eine Sicherheitslücke im Windows-Betriebssystem und greift damit die Computer von Privatanwendern an. Der Wurm Mydoom wird das erste Mal gesichtet. Die schnelle Verbreitung des Wurms führt für ein paar Stunden zu einer durchschnittlich 10-prozentigen Verlangsamung des Internetverkehrs und einer durchschnittlich erhöhten Ladezeit der Webseiten von 50 Prozent. SymbOS.Caribe ist der erste Handywurm, der sich mit der Bluetooth-Netzwerktechnik auf Smartphones mit dem Betriebssystem Symbian OS weiterverbreitet. Er wurde von einem Mitglied der Virenschreibergruppe 29A entwickelt, und sein Quellcode wird veröffentlicht. Daher werden in den darauf folgenden Monaten mehrere Varianten des Wurms entdeckt. Vor allem bei großen Veranstaltungen gibt es immer wieder Masseninfektionen durch Bluetooth-Würmer. 2005 erscheint mit SymbOS.Commwarrior der erste Wurm, der sich selbst als MMS verschicken kann. Die Verbreitung von Handywürmern wird mittlerweile von mehreren Antivirenprogramm-Herstellern gemeldet. 2006, genauer am 13. Februar, wird der erste Wurm für Apples macOS-Betriebssystem über ein Forum einer US-amerikanischen Gerüchteseite veröffentlicht. Bisher ist sich die Applegemeinde noch nicht sicher, ob es sich bei diesem Wurm tatsächlich um einen Wurm (Art der Verbreitung) oder einen Virus (Infizierung von ausführbarem Programmcode und verstecken darin) handelt. Auch die Benennung des Wurmes ist nicht eindeutig. Das Unternehmen Sophos nennt ihn OSX/Leap-A, Andrew Welch (verfasste die erste technische Beschreibung der „Schadensroutinen“) nennt ihn OSX/Oomp-A (nach der Überprüfungsroutine, die den Wurm vor der Reinfektion schützen soll). Im März wird von einer niederländischen Forschergruppe rund um den Universitätsprofessor Andrew Tanenbaum der erste Computerwurm für RFID-Funkchips veröffentlicht. Durch eine SQL-Injection im Datenbankprogramm Oracle kann sich das 127 Byte große Programm selbständig verbreiten. 2008 hat das United States Strategic Command in einer Direktive den Einsatz von persönlichen USB-Sticks und weiterer tragbarer Speichermedien im eigenen Rechnernetz verboten, um es vor Computerwurm-Angriffen zu schützen. Grund hierfür ist die Verbreitung des Wurms Agent.btz. 2010 wurde der Stuxnet-Wurm (auch LNK-Wurm) entdeckt, der gleich vier Zero-Day-Exploits für Windows ausnutzt, um Kontrolle über WinCC, eine SCADA-Software von Siemens, zu übernehmen. Zudem sticht dieser Wurm durch eine ungewohnt hohe Komplexität heraus, die sich auch in der Dateigröße niederschlägt und einen staatlichen Ursprung wahrscheinlich macht. Stuxnet wurde zur Sabotage iranischer Atomanlagen verwendet. Siehe auch Informationssicherheit Dropper Literatur Weblinks – Bibliothek mit Fachliteratur zu Malware, Code-Sammlung etc. (englisch) Journal in Computer Virology – wissenschaftliches Magazin zum Thema Computerviren und Würmer (englisch) Einzelnachweise Schadprogramm Hackertechnik (Computersicherheit)
2031903
https://de.wikipedia.org/wiki/Sudeley%20Castle
Sudeley Castle
Sudeley Castle im englischen Gloucestershire ist ein Landschloss () im Tudorstil, dessen Wurzeln in das 10. Jahrhundert zurückgehen. Das Anwesen liegt rund einen Kilometer südöstlich der Ortschaft Winchcombe und etwa acht Kilometer nordöstlich von Cheltenham, am Westrand der Cotswolds Hills ca. 140 km west-nordwestlich von London sowie 65 km südlich von Birmingham. Mitte des 15. Jahrhunderts legte Ralph Boteler, de iure 7. Baron Sudeley, den Grundstein für das Anwesen, das Richard III. im späten 15. Jahrhundert erweitern ließ. Weitere Veränderungen und Zubauten erfolgten in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts durch Edmund Brydges, 2. Baron Chandos sowie seinen Sohn Giles. Im englischen Bürgerkrieg während des 17. Jahrhunderts stark beschädigt, verfiel das Gebäude zu einer Ruine. Zwei reiche Handschuhmacher aus Worcester erwarben das heruntergekommene Anwesen und ließen es ab 1837 restaurieren und wiederaufbauen. Auch verloren gegangene Gärten wurden wieder angelegt. Die spätere Schlossherrin Emma Dent vollendete die Arbeiten und ließ darüber hinaus einige neue Gärten anlegen. Bei ihrem Tod im Jahr 1900 hatte das Anwesen im Großen und Ganzen seine heutige Gestalt: ein mehrflügeliges Hauptgebäude mit viktorianischem Aussehen, das von einem englischen Landschaftspark und neun Gärten umgeben ist. Emma Dent vererbte das Anwesen ihrem Neffen Henry Dent-Brocklehurst, dessen Familie noch heute Eigentümerin ist und das Schloss bewohnt. Trotzdem ist es seit Anfang der 1970er Jahre für Besucher geöffnet. Neben Schlosspark und -gärten können einige Innenräume und die zur Anlage gehörende Kirche St. Maryʼs mit dem Grab Catherine Parrs, der sechsten Frau Heinrichs VIII., besichtigt werden. Sudeley Castle ist das einzige englische Schloss in Privatbesitz, auf dessen Gelände eine englische Königin begraben liegt. Das Hauptgebäude sowie Gärten, Kirche und diverse Nebengebäude stehen unter Denkmalschutz. Geschichte Mittelalter Sudeley wurde im 10. Jahrhundert schriftlich erwähnt, aber schon zu römischer Zeit standen mehrere Landgüter (Villae rusticae) auf dem heutigen Schlossgrund. Zwei von ihnen wurden im späten 19. Jahrhundert ausgegraben, und ihre Reste erinnern heute an die römische Vergangenheit dieses Ortes. Zur Zeit der Ersterwähnung gehörte Sudeley zu einem größeren Gut in Hawling. Später kam es an den englischen König Æthelred. Zu jener Zeit gehörten zu dem Besitz große Waldvorkommen und ein Hirschpark, von dessen Umfassungsmauer heute noch Reste erhalten sind. Auch ein herrschaftliches Haus aus sächsischer Zeit existierte schon, allerdings ist von ihm heute nichts mehr übrig. Historiker gehen davon aus, dass es östlich des heutigen Schlosses auf einem heute Hopyard Field genannten Areal gestanden hat. Dieses Herrenhaus gab der König samt dem dazugehörigen Landbesitz (Sudeleagh) an seine Tochter Goda (auch Godgifu), die Drogo von Mantes heiratete. Der gemeinsame Sohn Ralph der Furchtsame, Earl of Hereford, erbte den Besitz und hinterließ ihn bei seinem Tod 1057 seinem Sohn Harold. Dieser durfte Sudeley nach der normannischen Eroberung Englands durch Wilhelm den Eroberer behalten, weil er ein entfernter Verwandter der Herzogs der Normandie war. Harolds Sohn John übernahm den Besitz von seinem Vater und ließ das bestehende Haus im Jahr 1139 befestigen, weil er sich im Kampf um den englischen Thron auf die Seite Matildas von England und gegen König Stephan stellte. Stephan besetzte daraufhin Sudeley und stationierte dort vorübergehend königliche Truppen. Über mehrere Generationen vererbte sich Sudeley anschließend über männliche Familienmitglieder weiter, die sich derweil nach ihrem Besitz „de Sudeley“ nannten. Schließlich war es Eigentum von John, 3. Baron Sudeley, der es bei seinem Tod 1367 seinen beiden Schwestern vermachte. Eine von ihnen, Joan de Sudeley, war mit William (le) Boteler of Wem verheiratet. Der gemeinsame Sohn Thomas folgte 1380 als Burgherr und 4. Baron Sudeley nach. Neubau unter Ralph Boteler Im Jahr 1417 gelangte Sudeley Castle an Ralph Boteler, Thomas’ dritten Sohn, nachdem zuvor seine beiden älteren Brüder Titel und Besitz geerbt hatten, aber ohne Nachkommen verstorben waren. Ralph war unter Heinrich VI. Kommandeur der englischen Flotte und wurde von ihm 1441 zum Baron Sudeley erhoben. Im Juli 1443 zum Lord High Treasurer of England ernannt, baute er zwischen 1441 und 1458 einen neuen, komfortableren Landsitz, allerdings ohne die dafür erforderliche Befestigungsgenehmigung eingeholt zu haben. Das Geld für den Neubau stammte zum Teil aus englischer Beute des Hundertjährigen Krieges. Nach Ende der Bauarbeiten bestand Sudeley Castle aus einem bewehrten Gebäudekomplex, dessen Trakte sich um einen Innenhof gruppierten. Die erforderliche Genehmigung für den durch Wassergräben gesicherten Bau wurde ihm im Mai 1458 nachträglich erteilt. In den frühen 1460er Jahren ließ Boteler abschließend östlich des Neubaus eine Kapelle errichten. Gemeinsam mit einem halben Dutzend anderer Besitzungen verkaufte der mittlerweile 73-jährige Ralph Boteler das Anwesen 1469 an König Eduard IV. Die Gründe dafür sind bis heute nicht geklärt. Möglicherweise wurde er als Anhänger der in den Rosenkriegen vorerst unterlegenen Lancaster-Partei von dem Yorkisten Eduard IV. zum Verkauf genötigt. Eine andere plausible Erklärung wäre auch, dass Botelers einziger Sohn vor ihm verstorben und er somit ohne Erben war. Fest steht jedoch, dass Ralph Botelers Neffen nach der Thronbesteigung Heinrichs VII. um die Rückgabe des Besitzes kämpften, damit aber keinen Erfolg hatten. Eigentum der Königsfamilie Eduard IV. schenkte Sudeley im November 1469 seinem 17-jährigen Bruder Richard, Herzog von Gloucester, als Belohnung für seine Unterstützung des Königs gegen dessen anfänglichen Vertrauten und späteren Widersacher Richard Neville, 16. Earl of Warwick. Im Jahr 1478 tauschte Richard Sudeley Castle mit seinem königlichen Neffen Eduard V. gegen Richmond Castle in Yorkshire. Allerdings wurde er mit seiner eigenen Thronbesteigung im Jahr 1483 wieder Eigentümer des Anwesens. In seiner Zeit als Burgherr ließ er dem bestehenden Gebäudekomplex im Süden einen zum Wohnen bestimmten Ostflügel anbauen und ihn – seiner königlichen Abstammung entsprechend – luxuriös ausstatten. In einem von ihm 1484 neu errichteten Südflügel brachte Richard einen großen Saal, die (), unter. Nach Ende der Rosenkriege gab Heinrich VII. die Anlage an seinen Onkel Jasper Tudor, den Herzog von Bedford. Weil dieser aber 1495 kinderlos starb, fiel sie wieder zurück an die Krone. Im Juli 1535 besuchte Heinrich VIII. das Anwesen mit seiner damaligen Frau Anne Boleyn. Heinrichs Sohn und Nachfolger als König, Eduard VI., schenkte den Besitz 1547 seinem Onkel Thomas Seymour anlässlich dessen Hochzeit mit der Witwe Heinrichs VIII., Catherine Parr. Gleichzeitig erhob er ihn zum Baron Seymour of Sudeley. Thomas ließ kleinere Veränderungen an Sudeley Castle vornehmen, um die Gebäude dem Status seiner Frau entsprechend zu gestalten. Das Paar bezog Sudeley im Jahr 1548, und die einstige Königin brachte einen großen Hofstaat mit. Nach ihrem Tod im September desselben Jahres wurde sie gemäß ihrem Wunsch in der Kapelle von Sudeley beerdigt. Baron Chandos Thomas Seymour wurde 1549 wegen Hochverrats verhaftet und enthauptet. Seinen Besitz zog die Krone ein und gab ihn 1552 an den Bruder Catherines, William Parr, 1. Marquess of Northampton. William war aber in ein Komplott verwickelt, das zum Ziel hatte, Lady Jane Grey auf dem Thron zu etablieren, und fiel deshalb bei Königin Maria I. in Ungnade. Er musste Titel und Besitz zurückgeben. Die Königin vergab Sudeley anschließend 1554 an Sir John Brydges und verlieh ihm gleichzeitig den Titel Baron Chandos of Sudeley. Seine Familie blieb die folgenden 100 Jahre Eigentümerin. John Brydges starb 1557 und hinterließ Sudeley Castle seinem Sohn Edmund. Dieser ließ um 1572 umfassende Veränderungen an der Anlage vornehmen und sie zu einem Schloss umgestalten. Besonders die Gebäude um den nördlichen Hof ließ er unter Einbezug vorhandener Bausubstanz verändern. Als die Arbeiten beendet waren, besaß dieser Bereich nunmehr zwei Geschosse und diente als neuer Wohnbereich der Anlage. Allerdings erlebte Edmund das Ende der Umbauten nicht mehr, denn er starb im Jahr 1573. Sein Sohn und Erbe Giles führte die vom Vater begonnenen Arbeiten weiter fort. Während seiner Zeit als Schlossherr stattete die englische Königin Elisabeth I. Sudeley drei Besuche ab: 1574, 1575 und 1592. Während des Englischen Bürgerkriegs diente Sudeley Castle als Stützpunkt der Royalisten, denn der damalige Schlosseigentümer George Brydges, 6. Baron Chandos, hielt zu König Karl I. Im Januar 1643 wurde die Anlage – in Abwesenheit des Schlossherrn – nach dreitägiger Belagerung an Edward Massie und seine Roundheads übergeben. Aber schon wenig später eroberten royalistische Truppen unter Karls Neffen Ruprecht Sudeley zurück, sodass die Schlossanlage ab April 1643 wieder ständig mit royalistischen Soldaten belegt war. Allerdings hatten die Soldaten Oliver Cromwells vor ihrem Abzug die Schlosskapelle entweiht, indem sie sie als Stall und Schlachterei genutzt hatten. 1644 belagerten wieder parlamentarische Truppen Sudeley und bombardierten es, bis die Besatzung die Anlage übergab. Der Angriff hatte das Schloss erheblich beschädigt. Im ist heute noch die Stelle zu sehen, wo er in jenem Jahr von einer Kanonenkugel getroffen wurde. In der Folgezeit diente Sudeley Castle als parlamentarische Garnison und wurde 1648 von den Besatzern geschleift – und das, obwohl der vormalige Besitzer Baron Chandos derweil auf die Seite der Roundheads gewechselt war. Er erhielt zwar eine Entschädigung von 1000 Pfund, kam aber nie mehr nach Sudeley, sondern zog sich auf seine Besitzungen in Middlesex zurück und starb dort 1655. Das Schloss versank in die Bedeutungslosigkeit. George Brydgesʼ zweite Frau Lady Jane Savage heiratete nach seinem Tod in dritter Ehe George Pitt of Stratfield Saye und brachte ihm das Anwesen zu. Wiederaufbau unter der Familie Dent Sudeley Castle wurde die folgenden 130 Jahre vernachlässigt. Nur noch ein Teil der nördlichen Schlossgebäude besaß nach der Schleifung ein Dach, der Rest der großen Anlage verfiel allmählich zu einer Ruine. Dabei verschwanden sowohl die als auch der Nord- und der Westflügel. Die Eigentümer wechselten mehrere Male, ohne dass der Anlage besondere Aufmerksamkeit zukam. Die Bewohner der Umgebung stahlen Steine, um sie als Baumaterial für andere Bauten zu verwenden. Im 18. Jahrhundert wurde die Schlossruine zu einer vielbesuchten Sehenswürdigkeit und beherbergte zeitweise noch ein Gasthaus. Auch König Georg III. stattete der Anlage einen Besuch ab. 1812 verkaufte Lord Rivers of Stratfield Saye Sudeley Castle samt 60 Acres (rund 24 Hektar) Land an Richard Temple-Nugent-Brydges-Chandos-Grenville, den späteren Herzog von Buckingham und Chandos. Er veräußerte das Schloss 1837 an die Brüder John und William Dent, reiche Handschuhmacher aus Worcester. Sie hatten bereits 1829 einen Großteil des zum Schloss gehörigen Landbesitzes aufgekauft. Die neuen Eigentümer begannen mit der Restaurierung und dem Wiederaufbau des Schlosses im Tudorstil. Die Pläne dafür stammten von dem aus Worcester kommenden Architekten Harvey Eginton. Ab etwa 1840 konnten die Gebäude um den nördlichen Schlosshof Sudeleys wieder bewohnt werden, einige andere Partien der Anlage ließen die Brüder als Ruinen erhalten und nur baulich sichern. Die Innenräume statteten die Dents ebenfalls im neugotischen Stil aus. Zahlreiche der Einrichtungsstücke aus der Tudorzeit stammten dabei aus dem Verkauf des Hausrats von Horace Walpoles Herrenhaus Strawberry Hill im Jahr 1842. Nach dem Tod der beiden Schlosseigentümer trat ihr Neffe John Coucher Dent 1855 oder 1856 das Erbe an. Gemeinsam mit seiner Frau Emma, geborene Brocklehurst, die er 1847 geheiratet hatte, führte er den Wiederaufbau des Schlosses und die Wiederherstellung bzw. Neuanlage der Gärten weiter fort. Außerdem sammelte das Paar Kunst und alles, was mit Sudeleys Geschichte zusammenhing, darunter Gemälde, Memorabilia an den Bürgerkrieg, tudorzeitliche Miniaturen und jakobinische Stickereien. Auch die Schlosskapelle wurde unter den beiden restauriert und 1863 neu geweiht. Verantwortlich für die Arbeiten, die ab 1854/1855 oder 1859 liefen, war Sir George Gilbert Scott, der sich auch um den Wiederaufbau der Stallungen kümmerte. Sein Assistent John Drayton Wyatt zeichnete für den Neubau des (deutsch Nordturms) verantwortlich. Das Anwesen gelangte nach Johns Tod 1885 an seine Witwe, welche die Arbeiten an Gebäuden und Gärten bis 1890 vollendete. Als Emma im Jahr 1900 starb, ging der Besitz durch testamentarische Bestimmung ihres verstorbenen Mannes an ihren Neffen Henry Dent-Brocklehurst. Er überließ Sudeley Castle im Jahr 1927 seinem Sohn John Henry, der einen Großteil des Besitzes verkaufen musste, um die hohen Erbschaftssteuern bezahlen zu können. Aus diesem Grund gehören heute nur noch rund 10 Prozent der seinerzeit 12.000 Acres zum Anwesen. In der Zeit von 1930 bis 1936 ließ John Henry unter der Leitung des Architekten Walter H. Godfrey Instandsetzungen und Veränderungen im Inneren des Schlossgebäudes vornehmen. Entwicklung seit dem Zweiten Weltkrieg Während des Zweiten Weltkriegs war auf dem Schlossgrund ein Lager für italienische Kriegsgefangene eingerichtet, die auf den land- und forstwirtschaftlichen Flächen des Anwesens arbeiten mussten. Im Schloss selbst war in jener Zeit ein Großteil der Gemäldesammlung der Londoner Tate Gallery untergebracht. Bei John Henrys Tod im Juli 1949 erbte sein Sohn Mark das Anwesen. Dessen Mutter Mary lebte noch bis 1969 im Schloss, das am 4. Juli 1960 gleichzeitig mit der Schlosskapelle und der Ruine einer Zehntscheune als Listed building der Kategorie I (Grad I) unter Denkmalschutz gestellt worden war. Nach Marys Weggang bezog ihr Sohn Mark mit seiner Frau Elizabeth das Anwesen, nachdem die beiden es zwei Jahre lang renoviert und instand gesetzt hatten. Sie öffneten Sudeley Castle für Besucher, um das wirtschaftliche Überleben der Anlage zu sichern. Nur wenige Monate nach der Öffnung starb Mark Dent-Brocklehurst 1972 und hinterließ Sudeley seiner Witwe und den beiden gemeinsamen Kindern Henry und Mollie. Sie sind heute noch die Eigentümer und bewohnen das Schloss. Trotzdem sind einige der Räume zu besichtigen, was mehr als 90.000 Besucher jährlich wahrnehmen. Außerdem kann ein Teil der Gärten und Räume für Veranstaltungen gemietet werden, darunter die Bibliothek und die Kapelle für Hochzeiten. Die daraus resultierenden Einnahmen konnten aber bis 2009 die jährlichen Unterhaltskosten des Anwesens von 1,5 Millionen Pfund nicht decken. Beschreibung Zum 1.200 Acres (fast 486 Hektar) großen Anwesen gehören das Hauptgebäude und die Schlosskapelle (heute Kirche), ein englischer Landschaftsgarten und mehrere Ziergärten sowie diverse Nebengebäude auf dem Schlossareal. Architektur Hauptgebäude Das Schlossgebäude ist ein mehrflügeliger Bau aus lokal vorkommendem gelbem Sandstein, dem sogenannten Cotswolds-Stein. Am heutigen Grundriss kann immer noch gut die einstige Form der Anlage, deren Trakte zwei geschlossene Innenhöfe umgaben, abgelesen werden. Alle heute noch erhaltenen Flügel sind – mit Ausnahme des schmalen Mitteltrakts – zweigeschossig und werden von niedrigen, schiefergedeckten Walmdächern abgeschlossen. Alle Flügel besitzen zudem einen Zinnenkranz. Im Kern stammt das heutige Gebäude aus der Tudorzeit (15. Jahrhundert), es wurde jedoch in viktorianischer Zeit stark überformt und verändert. Sein heutiges Aussehen und den Großteil seiner Einrichtung erhielt das Schloss im 19. Jahrhundert durch die Brüder John und William Dent sowie Emma Brocklehurst, verheiratete Dent. Von den Schlossflügeln rund um den südlichen Hof, (deutsch Innerer Hof) genannt, ist heute nur noch der Westtrakt erhalten, in dem früher einmal Wirtschaftsräume untergebracht waren. Heute befinden sich dort ein Café und der Schlossshop. Diese beiden Einrichtungen nutzen auch die an der westlichen Seite vorgelagerte 50 Meter lange, kiesbestreute Terrasse. In ihrer Südwestecke findet sich ein Bodenmosaik, das die Kopie eines Mosaiks in einer römischen Villa auf Sudeley-Land ist. Am südlichen Ende des Westflügels steht der dreigeschossige von etwa 1442, dessen Name ins Deutsche übersetzt Verliesturm bedeutet. Er hat jedoch niemals eine Gefängnisfunktion besessen. Sein Name leitet sich vermutlich eher von dem französischen Begriff Donjon her, was auf eine anfängliche Nutzung als Wohnturm hindeutet. Von ihm sind Parterre und erstes Obergeschoss restauriert. Sein Zugang erfolgte ursprünglich von dem nicht erhaltenen Südflügel des . Das nördliche Ende des Westflügels wird von dem unter Ralph Boteler errichteten (deutsch Portmare-Turm) mit seinen fünf Geschossen markiert. Er soll seinen Namen von einem gefangen genommenen, französischen Admiral haben, dessen Lösegeld angeblich ein gutes Stück zur Finanzierung des Schlossneubaus im 15. Jahrhundert beigetragen hat. Während die Nord- und Westseite des Turms noch original aus dem 15. Jahrhundert sind, wurden Süd- und Ostseite 1857 und 1887 stark restauriert. Alle Geschosse werden jeweils von einem einzigen Raum eingenommen, von denen der im Erdgeschoss Schießscharten besitzt. Dem Westflügel gegenüber steht noch die Ruine der aus dem späten 15. Jahrhundert. Sie war trotz ihres Namens eher der Empfangssaal der königlichen Suite denn ein Ort für Festivitäten und damit der wichtigste Raum im einstigen Ostflügel. Ihre Geschosse konnten über die Wendeltreppe in einem achteckigen Treppenturm, dem , an der östlichen Außenseite erreicht werden. Der äußere Hof ist vom inneren Hof getrennt durch einen schmalen, 18 Fuß (ca. 5,5 Meter) breiten Korridor, der den Ostflügel mit dem Westflügel verbindet. Er stammt von 1889 und ersetzte damals noch vorhandene niedrige Mauern. Diese stammten möglicherweise aus dem Jahr 1614 und waren der Rest des ehemals dort stehenden Mitteltrakts. Am Ostende dieses Verbindungsbaus steht der Garderobe Tower mit einem Erker aus dem Jahr 1572. Seine Westseite stammt aus der Mitte des 15. Jahrhunderts, während die Ostseite jünger ist. Die Hälfte seines Erdgeschosses hat Loggia-Charakter. Die Gebäudetrakte rund um den nördlichen, (deutsch Äußerer Hof) genannten Innenhof stammen in Teilen noch aus dem 15. Jahrhundert, erhielten ihr heutiges Aussehen aber mehrheitlich in viktorianischer Zeit. Zur ältesten Bausubstanz zählt dabei der Torbau in der Mitte des Nordflügels, der um 1442 errichtet wurde. Früher führte eine den vorgelagerten Wassergraben überspannende Zugbrücke zu seinem spitzbogigen Tor. Der Ostflügel des nördlichen Hofs diente früher als Wirtschaftstrakt mit Küchen, Ställen und Kutschenhaus, heute wird er – ebenso wie der gegenüberliegende Westflügel – von den Schlosseigentümern zum Wohnen genutzt. Schlosskirche Östlich des Schlossgebäudes steht die um 1460 als Schlosskapelle errichtete Kirche St. Mary’s, die einst durch einen überdachten Gang mit dem Schloss verbunden war und außerhalb des Wassergrabens lag. Der Kirchenbau steht seit dem 4. Juli 1960 als unter Denkmalschutz und dient zugleich als Pfarrkirche, in der regelmäßig Gottesdienste stattfinden. Seine restaurierte Außenfassade präsentiert sich im Stil des 15. Jahrhunderts mit Zinnenkranz, Gargylen und krabbenbesetzten Fialen auf Pfeilern. Am Westende des fünfachsigen Kirchenschiffs steht ein viereckiger Glockenturm, der von einer Wetterfahne bekrönt ist. Das Kircheninnere stammt aus viktorianischer Zeit und ist mit einem schwarz-weißen Marmorfußboden ausgestattet. Geschichtlich und kunsthistorisch wichtigstes Stück der Ausstattung ist das 1859 von John Birnie Philip gestaltete Grabmal Catherine Parrs. Es besteht aus weißem Marmor und wurde im Chor am Ort des 1782 wiederentdeckten Grabs der Königin errichtet. Nebengebäude 150 Meter nördlich des Schlosses steht ein dreigeschossiger Torbau. Er wird genannt und ist ein Gebäude aus Hausteinquadern, das 1886 von John Drayton Wyatt für Emma Dent errichtet wurde. Sein Tordurchgang kann mit einem doppelflügeligen Gittertor verschlossen werden. Die einzelnen Geschosse des Baus sind durch Gesimse voneinander geschieden und durch einen Zinnenkranz abgeschlossen. Die ist seit dem 7. September 1987 als denkmalgeschützt (Grade II). Gleiches gilt für die etwa 680 Meter nordwestlich des Schlossgebäudes stehende West Lodge. Sie wird auch Almsbury Lodge genannt und wurde 1893 gebaut. Früher verlief die von Westen kommende Schlosszufahrt durch sie hindurch, heute führt sie westlich daran vorbei. Etwa 100 Meter nordwestlich des Hauptgebäudes steht die ehemalige Zehntscheune der Abtei Winchcombe. Durch Cromwellsche Truppen während des Bürgerkriegs zerstört, wurde sie wiederaufgebaut und im 18. Jahrhundert als Wohnhaus genutzt. Nachdem dieses durch ein Feuer abbrannte, ist es eine Ruine. Ursprünglich stammt das Gebäude aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und steht seit dem 4. Juli 1960 als unter Denkmalschutz (Grade I). Seine Längsseiten waren durch spitzbogige Öffnungen in 13 Achsen unterteilt, dazwischen befanden sich wuchtige Pfeiler. Früher war das Gebäude im Inneren durch eine Holzwand in zwei Bereiche geteilt: einen Wohnbereich mit drei Achsen und separatem Eingang sowie dem achtachsigen Scheunenbereich. Beide Dreiecksgiebel an den Kurzseiten sind noch in voller Höhe erhalten. Vor der Ruine liegt an ihrer Ostseite ein rechteckiger, fast 50 Meter langer Karpfenteich, der mit großen Kois besetzt ist. Er wurde erst um 1930 angelegt, zuvor stand dort ein unter Emma Dent angelegtes Heckenlabyrinth. Innenräume Die architektonische Innenausstattung des Schlosses stammt mehrheitlich aus dem 19. Jahrhundert, die Zimmer wurden unter der Familie Dent aber auch mit Mobiliar und Einrichtungsgegenständen aus der Tudorzeit bestückt. So stammen viele Möbel und Glasmalereien von William Morris, während zahlreiche Gemälde zur Sammlung Walter Morrison gehören. Sie kam über Mark Dent-Brocklehursts Witwe Mary, der Tochter Walter Morrisons, nach Sudeley. Zu ihr gehören unter anderem Werke alter Meister wie Rubens, van Dyck, Nicolas Poussin, Claude Lorrain, Jacob van Ruisdael, William Turner und John Constable. Ein weiteres Meisterwerk, das in Sudeley Castle besichtigt werden kann, ist Lucas de Heeres Gemälde An Allegory of the Tudor Succession, das schon 1842 durch die Brüder Dent angeschafft wurde. Es stammte – wie viele ältere Einrichtungsstücke – von Strawberry Hill. Daneben gibt es im Hauptgebäude eine Ausstellung zur Schloss- und Familiengeschichte während des Ersten Weltkriegs zu sehen. Sie besteht aus Exponaten und Erinnerungsstücken aus dem Besitz der Familie Dent-Brocklehurst, zum Beispiel Tagebucheinträgen und Fotografien aus jener Zeit. Zu den Schlossräumen, die für Besucher geöffnet sind, gehört der (deutsch Chandoszimmer) mit einem Himmelbett, das aus dem Besitz König Karls I. stammt. Ein weiteres Himmelbett wird im (deutsch Schlafzimmer der Königin) gezeigt. Seine Bezüge und Vorhänge stammen aus einer Tapisserie-Manufaktur in Aubusson und sollen früher einmal Marie Antoinette gehört haben. In diesem Zimmer ist auch das Taufkleid Elisabeths I. ausgestellt. Im sind Bücher und Originaldokumente aus der Tudorzeit zu sehen, darunter Liebesbriefe von Catherine Parr an Thomas Seymore und seltene Kopien von Büchern, welche die Königin verfasst hat. Das Nähzimmer dient als Ausstellungsraum für Textilien aus einem Zeitraum von 400 Jahren, die alle einmal zur Schlossausstattung gehörten, während die Schlossbibliothek eine Tapisserie aus dem späten 16. Jahrhundert präsentiert. Der Wandbehang mit floralem Muster zeigt als Motiv die Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies und hängt über einer reich dekorierten Täfelung. Der Raum ist mit einem großen Kamin ausgestattet, der neben den Initialen des zweiten Baron Chandos (EC) auf dem Kaminaufsatz auch das Motto seiner Familie zeigt: „MAINETEINE LE DROIT“ (deutsch „Behalte das Recht bei“). Der Kamin stammt aus der Zeit um 1572 und stand früher in einem anderen Raum des Schlosses. In einem Erkerzimmer sind verschiedene Wappenscheiben zu sehen. Bemerkenswerterweise findet sich hier auch jenes des Berner Ratsherren Johann Rudolf Tillier (* 1629). Schlosspark und -gärten Schlosspark und Gartenanlagen von Sudeley Castle stehen seit dem 28. Februar 1986 unter Schutz (Grade II*) und sind von Frühjahr bis Oktober täglich für Besucher geöffnet. Vom späten Frühjahr bis zum Spätsommer finden Gartenführungen statt. Die Gartenpflege orientiert sich an dem Ziel, möglichst vielen Wildtieren einen Lebensraum auf dem Anwesen zu bieten. Ein besonderes Augenmerk liegt dabei auf Wildbienen. Das Hauptgebäude liegt inmitten eines englischen Landschaftsgartens, in dem mehrheitlich Linden wachsen. Es gehören aber auch Eichen, Buchen, Atlaszedern und Rosskastanien zum Bestand. Die meisten der heute dort wachsenden Bäume wurden unter den beiden Dent-Brüdern und Emma Dent im 19. Jahrhundert gepflanzt. Dazu zählen auch einige Solitärbäume wie ein alter etwa 200 Jahre alter Walnussbaum rund 30 Meter nördlich des Schlossgebäudes, eine große Libanonzeder nordöstlich der Schlosskirche und ein 1885 gepflanzter Maulbeerbaum an der Südseite des , der dem kleinen, ihn umgebenden Maulbeergarten den Namen gab. Ältester Schlossgarten ist der östlich des Schlosses liegende (deutsch Garten der Königin), ein formaler Garten, der an seiner nördlichen und südlichen Längsseite von 50 Meter langen, doppelten Eibenhecken begrenzt wird. An dieser Stelle gab es schon zu Tudorzeiten ein Gartenparterre, dessen Reste bei den umfassenden Wiederaufbau- und Restaurierungsarbeiten im 19. Jahrhundert wiederentdeckt wurden. Emma Dent ließ diesen rechteckigen Garten nach alten Entwürfen rekonstruieren. Er ist rundherum von etwa ein Meter hohen Buchshecken umgeben und durch zwei geradlinige, sich kreuzende Wege in vier Teile unterteilt. Die Eingänge an der West- und Ostseite des Gartens werden jeweils von zwei großen in Form geschnittenen Eiben flankiert. Auf dem mittig liegenden Kreuzungspunkt steht ein Brunnen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, der von einer Steinbalustrade umgeben ist. Seine Fontäne wurde erst nachträglich installiert und stammt aus der Zeit zwischen 1909 und 1940. Er steht seit dem 7. September 1987 als Einzeldenkmal unter Schutz. Viele der heutigen Pflanzen im , darunter auch über 70 verschiedene Rosenarten, stammen nicht mehr aus dem 19. Jahrhundert, sondern von einer Neubepflanzung in den 1990er Jahren nach den Entwürfen der englischen Landschaftsarchitektin Jane Fearnley-Whittingstall. Nördlich des Gartens der Königin liegt, an die Schlosskirche grenzend, der (deutsch Weißer Garten) aus dem späten 20. Jahrhundert. Auch er ist formal gestaltet und wurde, wie drei weitere Gärten, von der heutigen Schlossbesitzerin, Lady Ashcombe, angelegt. Er ist der Jungfrau Maria gewidmet und als Zeichen ihrer Reinheit mit weißblühenden Blumen und Stauden bepflanzt, zum Beispiel Pfingstrosen, Clematis, Tabak und Tulpen. Die Topiarys in diesem Abschnitt sind von Efeu und Rosen berankt. Vom führt ein Kiesweg an der Südseite der Kirche zu einem westlich davon liegenden Rondell, das von einer Eibenhecke umschlossen ist und ein Buchsbaumbeet in seiner Mitte besitzt. Direkt daran angrenzend liegt der (deutsch Ostgarten), dessen Name daraus resultiert, dass er direkt östlich des Schlosses liegt. Seine Gestaltung wurde von Andrew Marvells Gedicht The Garden inspiriert. Nördlich der Schlosskirche findet der Besucher den (deutsch Geheimer Garten), der Ende der 1970er Jahre einen Rosengarten aus dem 19. Jahrhundert ersetzte. Er ist an seiner Südseite durch eine zwei Meter hohe Eibenhecke von der Kirche getrennt. An seinen drei übrigen Seiten ist er von einer gleichhohen Mauer aus jakobinischer Zeit umgeben und damit ein klassischer (deutsch ummauerter Garten). 1979 beauftragte die Schlosseigentümerin Rosemary Verey mit der Neuanlage dieses Gartens, damit er als Kulisse für ihre Hochzeit mit Henry Cubitt, 4. Baron Ashcombe, dienen konnte. 1998 wurde er für die Hochzeit von Lady Ashcombes Sohn Henry durch Charles Chesshire umgestaltet. Im Frühjahr blühen dort mehr als 2500 Tulpen. Nördlich des liegt die Fasanerie, in der 16 bedrohte Vogelarten gezüchtet und gehalten werden. Direkt westlich davon befindet sich ein (deutsch Der Wassergraben) genannter Teich. Sein rechteckiges Becken hat eine Länge von etwa 100 Metern, ist aber trotz seines Namens wohl kein Überrest des einstigen Burggrabens, sondern eher ein ehemaliger Fischteich. 1995 ließen die Schlossherren im nördlichen Bereich des einen Knotengarten anlegen. 1200 in Form geschnittene Buchsbäumchen bilden ein Muster, dessen Vorbild auf einem Porträt Elisabeths I. im Schloss zu sehen ist. Die Königin trägt auf dem Gemälde ein Kleid mit dieser Musterung. In der Mitte des Gartens steht ein Brunnen im maurischen Stil. Neben dem Buchs gehören ägyptischer Papyrus, Klettererdbeeren, Strahlengriffel und Amerikanische Klettertrompeten zur Bepflanzung. Rund um die Ruine der Zehntscheune wurde das Areal in einen Naturgarten umgewandelt, in dem unter anderem Wild- und Kletterrosen sowie Malven, Hortensien, Glyzinien, wilde Clematis und Farne wachsen. Nordöstlich des Zehntscheunengartens befindet sich der neunte Schlossgarten, der erst kürzlich angelegt wurde. Dabei handelt es sich um einen Medizinalgarten, der genannt wird. Dort finden sich vor allem Pflanzen, die während der Tudorzeit zur Herstellung von Arzneien und Heilmitteln verwendet wurden. Heute werden die Pflanzen in Kosmetikprodukten verarbeitet, die im schlosseigenen Shop verkauft werden. Südwestlich der Zehntscheune, etwa 140 Meter vom Schloss entfernt, gibt es ein großes Areal mit einem Abenteuerspielplatz für Kinder und einem Heckenlabyrinth aus Weiden nebst kleinem Teich. Sudeley Castle in Film und Fernsehen Das Anwesen diente seit den 1970er Jahren immer wieder als Kulisse für TV-Produktionen. Szenen des 1976 erschienenen Films Die Schöne und das Biest mit Trish Van Devere und George C. Scott spielten neben Knebworth House und Salisbury Hall auch in Sudeley Castle. Die Anlage war zudem in diversen Episoden von Fernsehserien zu sehen. So wurden zum Beispiel Szenen der in viktorianischer Zeit spielenden Serie The Pallisers (1974) in Sudeley Castle gedreht. Gleiches gilt für die Verfilmung von Charles Dickensʼ Roman Martin Chuzzlewit, den die BBC 1994 produzierte und in mehreren Teilen sendete. Nachdem Sudeley auch für die 2008 gesendete Mini-Serie Tess of the D’Urbervilles nach dem gleichnamigen Roman von Thomas Hardy als Kulisse gedient hatte, fanden 2016 die bisher letzten Dreharbeiten auf dem Anwesen statt. Seine ausgedehnten Gartenanlagen dienten in The White Princess, einem Sequel der 2013 gesendeten Serie The White Queen, als Kulisse für Szenen, die im Garten von Westminster Abbey spielten. Zuvor war dort im Jahr 2012 auch die Episode Das Auge Apollos der BBC-Serie Father Brown gedreht worden. Über TV-Serien hinaus ist Sudeley Castle auch in diversen Spielfilmen zu sehen. So wurden Teile von Jack Golds TV-Adaption des P.-G.-Wodehouse-Romans Seine Lordschaft und das Schwein; Sein und Schwein (Original: ) dort gedreht, denn das Schloss diente dem Schriftsteller als Vorbild für das im Roman vorkommende Blandings Castle. Auch Diarmuid Lawrence, der Regisseur der 1996 veröffentlichten Literaturverfilmung Emma, für die Jane Austens gleichnamiger Roman die Vorlage war, wählte Sudeley als Kulisse für seinen Film. Schließlich war das Schloss im Jahr 2000 in dem dokumentarischen Historienfilm Elizabeth zu sehen. Neben Fernsehserien und Spielfilmen befassen sich auch einige Dokumentationen und Reportagen mit dem Anwesen. 1995 stellte der englische Schauspieler Robert Hardy Sudeley Castle und seine Geistererscheinungen in der Discovery-Channel-Produktion Castle Ghosts of England vor. Im Dezember 2003 wurde im englischen Fernsehen eine Episode von Our House gezeigt, in der die Eigentümerin Lady Ashcombe einen Blick hinter die Kulissen ihres Schlosses gewährte. Erst drei Monate zuvor hatte die BBC eine Folge ihrer Antiques Roadshow ausgestrahlt, die auf Sudeley Castle gedreht worden war. Ein weiterer TV-Beitrag, der sich in Teilen mit dem Anwesen befasst, ist die 2013 auf Channel 4 ausgestrahlte Dokumentation Richard III: The King in the Car Park. Das Schloss war eine von sieben Stationen dieser Produktion, die sich mit der Suche und dem Fund des königlichen Skeletts befasste. In dem Musikvideo zum Instrumentalstück „Scent of Dark“ von Tony Iommi (Black Sabbath) diente das Schloss 2021 als Hintergrundkulisse. Literatur Elizabeth Ashcombe: Behind Castle Walls at Sudeley Past and Present. 1. Auflage. Amberley, Stroud 2009, ISBN 978-1-84868-801-8 (Auszüge). Jean Bray, Nicholas Hurt: Sudley Castle. A Thousand Years of English History. [o. O. o. J. (nach 2002)]. Anthony Emery: Greater Medieval Houses of England and Wales, 1300–1500. Band 3: Southern England. Cambridge University Press, Cambridge 2006, ISBN 978-0-521-58132-5, S. 170–176. Robin Fedden, John Kenworthy-Browne: The Country House Guide. Introducing over 200 privately owned historic houses in England, Wales and Scotland open to the public. Jonathan Cape, London 1979, ISBN 0-224-01359-9, S. 325–327. Simon Jenkins: England’s thousand best houses. Penguin Books, London 2004, ISBN 0-14-100625-0, S. 271–272. Adrian Pettifer: English Castles. A Guide by Counties. 3. Auflage. Boydell Press, Woodbridge 2002, ISBN 0-85115-782-3, S. 80–81. J. Postance, A. E. Salmon: Sudeley Castle. An illustrated guide. Sudeley Castle Ltd., Winchcombe 1977, ISBN 0-905476-05-0. H. Avray Tipping: Sudeley Castle, Gloucestershire. The Seat of Mr. Henry Dent Brocklehurst. In: Country Life. Jg. 25, Nr. 639, 3. April 1909, , S. 486–495. Geoffrey Tyack, Steven Brindle: Country Houses of England. A & C Black, London 1994, ISBN 0-7136-3780-3, S. 208–210. David Verey, Alan Brooks: Gloucestershire: The Cotswolds (= The Buildings of England. Band 40). 3. Auflage. Penguin, London 1999, ISBN 0-14-071098-1, S. 673–680. Weblinks Website von Sudeley Castle (englisch) Sudeley Castle Gardens (englisch) Informationen zu Sudeley Castle auf pastscape.org (englisch) Luftbildvideo von Sudeley Castle auf vimeo.com Video über die Gärten von Sudeley Castle: Teil1, Teil 2, Teil 3 Fußnoten Schloss in England Grade-I-Bauwerk in Gloucestershire Erbaut im 15. Jahrhundert Grade-II-Bauwerk in Gloucestershire Grade-II*-Bauwerk in Gloucestershire Schloss in Europa Bauwerk im Borough of Tewkesbury