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2909285 | https://de.wikipedia.org/wiki/Segler%20%28V%C3%B6gel%29 | Segler (Vögel) | Die Segler (Apodidae) sind eine Vogelfamilie aus der Ordnung der Seglervögel (Apodiformes). Segler ähneln in Gestalt und Lebensweise den Schwalben, sind aber mit ihnen nicht näher verwandt; es handelt sich dabei um konvergente Evolution.
Keine andere Vogelfamilie ist so konsequent an das Leben in der Luft angepasst wie die der Segler. Alle Arten sind schnelle Dauerflieger, die größeren Arten erreichen dabei im horizontalen Flug Geschwindigkeiten von über 150 km/h. Die Vögel ernähren sich von Insekten und Spinnentieren, die in der Luft gefangen werden. Selbst das Nistmaterial wird fast ausschließlich im Flug gesammelt; manche Arten übernachten auch in der Luft. Die meisten Arten leben in den Tropen; außerhalb der Tropen sind Segler vorwiegend Langstreckenzieher und überqueren den Äquator während des Zuges.
Die Familie mit ihren etwas über 90 Arten wird in zwei Unterfamilien gegliedert, die größere der beiden nochmals in drei Tribus, so dass sich vier wesentliche Gruppen ergeben: Die Unterfamilie Cypseloidinae (ursprüngliche, amerikanische Segler) sowie die Tribus Collocaliini (Salanganen), Chaeturini (Stachelschwanzsegler) und Apodini (typische Segler).
Der Mauersegler (Apus apus) ist der bekannteste und mit Abstand am besten erforschte Segler. Er ist die einzige Art, die in Europa eine flächendeckende Verbreitung hat. In Mitteleuropa nutzt er heutzutage fast ausschließlich vom Menschen geschaffene Nistplätze, meist brütet er in mehrgeschossigen Steinbauten. Im Hochsommer sind die geselligen Mauersegler, wie auch viele andere Segler, im Luftraum über den Städten mit ihren schrillen Rufen sehr auffällig.
Einige Salanganenarten Südostasiens verfügen über die bei Vögeln außergewöhnliche Fähigkeit der Echoortung. Sie können sich damit in den weit verzweigten Höhlensystemen zurechtzufinden, wo ihre Nistplätze liegen. Die Nester einiger dieser Arten werden für die sogenannte Schwalbennestersuppe verwendet, eine Delikatesse der Chinesischen Küche, was Schutzmaßnahmen erforderlich macht, um weitere Bestandsrückgänge zu verhindern.
Merkmale
Morphologie und Anatomie
Das auffälligste Merkmal der Segler ist ihre offenkundig für das Fliegen mit hohen Geschwindigkeiten geeignete Gestalt. Dieser Eindruck entsteht durch ihren länglichen, stromlinienförmigen Körper mit kurzem Hals, den nach vorn gestreckten Kopf und vor allem durch die langen, schlanken, bei den meisten Arten sichelförmigen Flügel. Der Schnabel ist kurz und breit, zweckdienlich bei der Luftjagd nach Kleintieren. Die relativ großen Augen werden bei allen Arten durch eine oberhalb des Auges vorstehende, feine pinselartige Federreihe geschützt.
Das Gefieder ist meist dunkel, häufig schwarz, bei vielen Arten aber auch dunkelgrau oder braun. Häufig finden sich hellere oder weiße Gefiederteile, insbesondere weisen viele Arten einen hellen Kehlfleck oder Bürzel auf. Ein buntes Gefieder zeigt keine der Arten, lediglich die rötlichen Kehlen des Rothals- und Orangekehlseglers – zweier nahe verwandter, südamerikanischer Segler der Gattung Streptoprocne – zeigen eine Tendenz zu auffälliger Färbung. Viele Arten haben ein stark glänzendes Gefieder, manche davon mit einem bläulichen oder grünlichen Schimmer. Die Funktion dieses bei allen Seglern zumindest in frisch vermausertem Gefieder vorhandenen Gefiederglanzes ist unklar, möglicherweise ist die dadurch erhöhte Albedo (Reflexionsvermögen) zum Schutz des Gefieders vorteilhaft, da die Vögel als Luftjäger verhältnismäßig lang der Sonne ausgesetzt sind – auch die meisten Schwalbenarten zeigen einen solchen Glanz.
Der kurze, kräftige Klammerfuß mit seinen scharfen Krallen und der sehr kurze Lauf eignen sich hervorragend, um sich an senkrechten Oberflächen festzuklammern, was durch die steifen Schwanzfedern unterstützt wird. Zur Fortbewegung am Boden dagegen eignen sich die Füße der Segler kaum – auf Zweigen können sie nicht sitzen, nur daran hängen. Fast alle Segler haben vier Zehen, mit Ausnahme der Papuasalangane (Aerodramus papuensis), der die erste Zehe fehlt. Bei vielen Arten sind einige der Zehen wendbar, an glatten Flächen können dabei alle vier Zehen nach vorne gerichtet werden. Diese Stellung der Zehen ist vor allem auch bei Museumsexemplaren zu beobachten – deshalb wurde den Seglern eine pamprodactyle Zehenanordnung unterstellt, funktional ist sie aber eigentlich eher heterodactyl.
Die Form des vergleichsweise kurzen Schwanzes ist bei den verschiedenen Seglerarten recht unterschiedlich. Insbesondere bei den typischen Seglern (Apodini) ist eine Schwanzgabelung weit verbreitet, während die Salanganen nur einen leicht eingekerbten Schwanz zeigen. Bei den Stachelschwanzseglern (Chaeturini) wiederum ragen die Federkiele der Steuerfedern über die Fahnen hinaus. Diese über das Ende der recht kurzen, gerade abgeschnittenen oder gerundeten Schwänze hinausragenden „Schwanzdornen“ unterstützen die Vögel bei der Fortbewegung an glatten Oberflächen. Sowohl die gegabelten Schwänze als auch die Schwanzdornen sind dabei aerodynamisch vorteilhaft, da sie die Luftverwirbelung mindern. Segler haben meist zehn Steuerfedern, eine prominente Ausnahme ist der Mauersegler mit zwölf.
Die Größenunterschiede innerhalb der Familie sind deutlich, die kleinsten Arten wiegen knapp 8 Gramm, die größten Arten übertreffen Amseln und wiegen bis zu 180 Gramm.
Flug
Die bei Vögeln einmalige, lange und schlanke Flügelform erzeugt vor allem während des häufig zu beobachtenden Schlagflugs starken Auf- und Vortrieb. Insofern mag die Bezeichnung „Segler“ etwas übertrieben sein, aber auch der Gleitflug ist höchst effektiv, was der Vergleich der Stoffwechselraten während des Fluges mit anderen Vogelarten zeigt. Die Flügel haben neun oder zehn Handschwingen sowie acht bis elf dicht angeordnete, recht kurze Armschwingen. Die Knochen der Hand leisten bei Seglern einen überproportionalen Beitrag zur Flügellänge, was sich auch am deutlichen Längenunterschied zwischen Hand- und Armschwingen widerspiegelt. Die längste Handschwinge kann dreimal so lang sein wie die kürzeste Armschwinge – im Vergleich zur lediglich doppelten Länge bei den eine ähnliche ökologische Nische besetzenden Schwalben.
Die Flügelform ermöglicht den Seglern hohe Fluggeschwindigkeiten. Als schnellster Segler gilt der Stachelschwanzsegler (Hirunsapus caudacutus) mit 170 km/h im horizontalen Schlagflug, nach derzeitigem Kenntnisstand ist er damit in dieser Disziplin sogar der schnellste Vogel der Welt. Verglichen mit anderen in ähnlicher Weise Luftjagd betreibenden Vögeln wie den Schwalben fehlt es den Seglern allerdings an Manövrierfähigkeit, sie sind nicht in der Lage, mit niedriger Geschwindigkeit zu fliegen.
Mauser
Bei vielen ziehenden Arten beginnt die Jahresmauser bei der Ankunft im Winterquartier. Bei anderen Seglern kann die Mauser schon im Brutgebiet beginnen und wird dann während des Zuges unterbrochen und im Winterquartier vollendet. Andere Arten, insbesondere die der Gattung Chaetura, wechseln ihr Gefieder während der Brutzeit.
Vom Mauersegler kennt man eine Besonderheit, die vermutlich auch für andere in gemäßigten Breiten brütende Seglerarten zutrifft: Nach dem Ausfliegen wechseln die Jungvögel ihr Gefieder nur teilweise, so dass die Schwungfedern erst beim zweiten Aufenthalt im Winterquartier nach eineinhalb Jahren erneuert werden. Da obendrein nicht bei jeder Mauser die äußersten Handschwingen gewechselt werden, kann es sein, dass diese Federn erst nach zweieinhalb Jahren vermausert werden.
Eine genaue Kenntnis der Mauserzyklen ist für die Bestimmung der Seglerarten nicht unbedingt nötig, allerdings kann die dabei auftretende Änderung der Flügelform durchaus Verwirrung stiften. Vertreter der Gattung Apus können beispielsweise während der Mauser eine Flügelform zeigen, die an die Stachelschwanzsegler (Chaeturini) erinnert.
Lautäußerungen
Segler sind sehr ruffreudig, besonders während der Brutzeit. Zu den warmen Sommerabenden vieler mitteleuropäischer Städte gehören die hohen, schrillen Schreie der Mauersegler, die sogar den Verkehrslärm übertönen können. Die Rufe der meisten Seglerarten klingen recht ähnlich, ermöglichen aber – zumindest beim Mauersegler – die Unterscheidung der Geschlechter. Erich Kaiser hat 1997 herausgefunden, dass beim sogenannten „Duettieren“ am Brutplatz, bei dem ein Paar gemeinschaftlich ein swii-rii von sich gibt, das hellere swii vom Weibchen und das etwas tiefere rii vom Männchen stammt. Auf Partnersuche befindlichen Seglern, die den Eingang einer Bruthöhle anfliegen, wird mittels dieses Duetts auch angezeigt, ob sie ein potentieller Kandidat zur Gründung einer Familie sein können. Erich Kaiser vermutet, dass auch die anderen der vielen keinen äußerlichen Geschlechtsdimorphismus zeigenden Seglerarten, die dunkle Nistplätze bevorzugen, ihr Geschlecht auf diese Weise akustisch identifizieren.
Eine weitere sehr außergewöhnliche Anpassung der Segler sind die Klicklaute zur Echoortung, die vor allem bei vielen Salanganenarten zu vernehmen sind. Bei den Vögeln ist diese Fähigkeit sonst nur vom südamerikanischen Fettschwalm (Steatornis caripensis) bekannt. Die Klicklaute der Segler liegen im hörbaren Frequenzbereich des Menschen, sie wurden verglichen mit dem Geräusch, wenn man mit dem Finger über die Zinken eines Kamms fährt. Die Echoortung ermöglicht den Seglern, sich in tiefen, weit verzweigen Höhlensystemen zurechtzufinden. Aufgrund der niedrigeren Frequenz gegenüber den Ultraschall verwendenden Fledermäusen ist die Auflösung nicht ausreichend, um in der Dunkelheit Insekten zu jagen. Möglicherweise können die Segler dadurch aber länger als andere Luftjäger in der Dämmerung aktiv bleiben, bevor sie ihre in den Höhlen befindlichen Brut- und Schlafplätze aufsuchen.
Die Klicklaute werden wie die anderen Lautäußerungen der Vögel von der Syrinx (Stimmkopf) erzeugt und umfassen einen großen Frequenzbereich, die maximale Intensität liegt zwischen 2 und 8 Kilohertz. Die Dauer eines Klicks liegt zwischen einer und rund drei Millisekunden. Bis auf zwei Arten geben alle Salanganen nicht nur einen, sondern zwei Laute in kurzer Folge von sich, typischerweise im Abstand von etwa 17 Millisekunden, der zweite ist dabei lauter. Bei der Länge der Pausen sind artspezifische Unterschiede zu erkennen, es gibt aber auch große intraspezifische Abweichungen.
Verbreitung, Wanderungen und Lebensraum
Verbreitung
Segler kommen weltweit mit Ausnahme der Polarregionen und der hohen Breiten vor. Die meisten Arten sind dabei in den Tropen beheimatet. Außer wenigen Inselgruppen werden alle Gebiete der Welt, die für Segler geeignete Lebensräume bieten, von diesen auch besiedelt.
In der Westpaläarktis, zu der Europa zählt, ist der Mauersegler fast überall verbreitet. Weiterhin kommen in dieser Faunenregion sechs Seglerarten vor, die alle der Tribus Apodini angehören: Der Alpensegler (Tachymarptis melba) besiedelt hauptsächlich einen Gürtel zwischen den Alpen und dem Mittelmeer und kommt gebietsweise häufig vor. Rund um das Mittelmeer, vor allem in Nordafrika, kann der Fahlsegler (Apus pallidus) beobachtet werden. Isolierte Vorkommen auf einzelnen Inseln haben der Alexander- und Einfarbsegler (Apus alexandri und Apus unicolor). Der vorwiegend südlich der Sahara brütende Haussegler (Apus affinis) kommt hauptsächlich als Sommergast nach Nordafrika und auch in die Türkei sowie neuerdings Südspanien. Ebenfalls hauptsächlich Sommergast – teilweise auch Brutvogel – ist der Weißbürzelsegler (Apus caffer) in Nordafrika und auf der Iberischen Halbinsel.
Wanderungen
Die stark saisonale Häufigkeit der Insekten in den gemäßigten Breiten macht den Großteil der außerhalb der Tropen brütenden Segler zu Langstreckenziehern. Innerhalb der Tropen ist eine nachbrutzeitliche Dispersion und saisonale Abwanderung in benachbarte Gebiete häufig zu beobachten, vor allem in andere Höhenlagen. Weiterhin sind tägliche Wanderungen bei der Nahrungssuche für diese Familie typisch, die Bandbreite der dabei zurückgelegten Entfernungen ist recht groß.
Alle über längere Strecken ziehenden Arten bilden normalerweise Schwärme. Dabei können in kurzer Zeit weite Strecken zurückgelegt werden, ein Alpensegler wurde im Abstand von drei Tagen an zwei 1620 Kilometern voneinander entfernten Orten angetroffen. Der Zug erfolgt auf breiter Front und auch nachts. An Meerengen bilden sich kaum Zugtrichter; im Gegenteil, man geht sogar davon aus, dass beispielsweise im Westen Nordamerikas brütende Schwarzsegler (Cypseloides niger) auf ihrem Weg nach Südamerika über den Pazifik abkürzen.
Wanderungen über weite Strecken finden aber nicht nur in jährlichem, saisonalem Rhythmus statt. Insbesondere vom Mauersegler und auch vom Schwarzsegler sind sogenannte Wetterfluchten bekannt. Dabei nutzen die Tiere beim Durchzug eines Tiefdruckgebiets die Zonen mit der besten Nahrungsverfügbarkeit aus und fliegen in möglichst kurzer Zeit durch Gebiete mit sehr schlechten Wetterbedingungen. Bei diesen Wanderungen können sich die Segler bis zu 2000 Kilometer von ihren Brutplätzen entfernen. An diesen Wetterfluchten beteiligen sich hauptsächlich Nichtbrüter, aber auch Brutvögel verlassen ihre Brut abhängig von den Wetterbedingungen; die Jungvögel fallen in dieser Zeit in eine Art Hungerstarre.
Diese große Mobilität der Segler leistet sicher einen Beitrag zu ihrer nahezu weltweiten Verbreitung. In diesem Zusammenhang ist auch das Phänomen der Irrgäste von Bedeutung, für das es bei den Seglern einige Aufsehen erregende Fälle gibt. Beispielsweise gibt es häufig Irrgäste, die den Atlantik überqueren, und dies – im Gegensatz zu fast allen anderen Vogelfamilien – in beiden Richtungen: Mehrere Alpensegler wurden in der Karibik beobachtet; der Schornsteinsegler verirrt sich nicht selten nach Europa.
Lebensraum
Die Ernährungsweise der Segler ist hoch spezialisiert, sie benötigen Gebiete, in denen sich in ausreichender Dichte verwertbare Insekten oder Spinnentiere in der Luft befinden. Andererseits bevorzugen Segler auch artspezifische, gut geschützte Nistplätze; diese beiden Bedürfnisse lassen sich oft nicht an einem Ort befriedigen und zwingen die Segler zu täglichen Wanderungen. Die Distanz ist dabei recht unterschiedlich, wobei kleinere Arten und Arten mit großer Gelegegröße auf eine geringere Distanz zwischen Brutplatz und den Gebieten mit ausreichender Dichte an „Luftplankton“ angewiesen sind. Da Wasser im Lebenszyklus vieler Insekten von besonderer Bedeutung ist, befinden sich auch die Lebensräume der Segler in der Nähe von Wasserflächen. Besonders deutlich wird das bei den Arten, die trockene Lebensräume im Landesinneren nutzen – wie beispielsweise dem Fahlsegler, der in der Sahara in der Umgebung von Oasen anzutreffen ist.
Der Mauersegler gilt als universeller Segler, was die Vielfalt der Lebensräume anbelangt. In seinem riesigen Brutgebiet, das einen Großteil der Paläarktis umfasst, ist er in verschiedenen Lebensräumen wie Wüsten, Dornstrauchsavannen, Steppen, landwirtschaftlichen Flächen, Vorstädten und den Zentren von Großstädten zu finden. Während des Übersommerns in Afrika südlich der Sahara kann er im Luftraum jedes Biotops angetroffen werden, auch über Wäldern, die von vielen Seglerarten gemieden werden. Die Biotopansprüche einiger anderer Seglerarten sind deutlich spezifischer; beispielsweise sind die Arten der Gattungen Cypsiurus und Tachornis fast immer in der Nähe von Palmen zu finden.
Nahrung und Nahrungserwerb
Alle Segler ernähren sich ausschließlich von Insekten und Spinnentieren, die fast ausnahmslos in der Luft gefangen werden. Verschiedenartige Untersuchungen zählen übereinstimmend Bienen, Wespen, fliegende Ameisenstadien, Zweiflügler, Schnabelkerfen und Käfer zu den bedeutendsten Beutetieren.
Von einigen Arten werden stechende Insekten gemieden, wobei Insekten gefressen werden, die die Warnfärbung dieser imitieren. Eine Studie belegte auch, dass in der Nähe von Bienenstöcken jagende Mauersegler nahezu ausschließlich nicht stechende Drohnen verwerteten.
Die Segler zeigen beim Nahrungserwerb opportunistisches Verhalten, beispielsweise verwerten Halsbandsegler in Südamerika gezielt durch Buschfeuer aufgeschreckte Insekten. Segler scheinen nicht wählerisch, was bereits die in Europa für den Mauersegler nachgewiesene Zahl von 500 verschiedenen Arten von Beutetieren belegt, die tatsächliche Zahl dürfte weit höher liegen. Noch mehr verschiedene Beutetiere dürfte es für Segler in den Tropen geben. Eine solche Bandbreite wurde bei keinem anderen vergleichbaren Vogel bisher festgestellt. Anderseits ist die für die Segler gelegentlich gebrauchte Metapher der „fliegenden Staubsauger“ sicher übertrieben, es gibt auch Untersuchungen, die eine deutliche Diskrepanz zwischen dem verwertbaren Angebot und den tatsächlich in den Mägen oder Kotballen der Vögel vorgefundenen Beutetieren zeigen. Größere Vögel sind aufgrund ihres größeren Aktionsradius besser in der Lage, zeitlich begrenzte Massenvermehrungen von Insekten auszunutzen. Dies führt dazu, dass die Vielfalt der verwerteten Beute bei größeren Arten geringer als die der kleineren Arten sein kann.
Tendenziell jagen größere Arten in höheren Luftschichten als kleinere, insbesondere bei der Jagd im selben Gebiet. Dabei befinden sich die Vögel meist in deutlicher Höhe über dem Untergrund, auch wenn die Höhe von hundert Metern aufgrund der abnehmenden Dichte an Beutetieren meist eine Obergrenze darstellt, zumindest außerhalb der Tropen. Obwohl Segler nicht über die Manövrierfähigkeit der Schwalben verfügen, gibt es doch einige Arten, die auch direkt über den Baumwipfeln auf Nahrungssuche gehen. Bei wenigen Arten – beispielsweise beim Schornsteinsegler – wurde auch das für Segler recht ungewöhnliche Ablesen der Nahrung vom Laub der Bäume beobachtet. Die Abgrenzung der Ökologischen Nische beim Nahrungserwerb bei sympatrischen Seglerarten oder im gleichen Gebiet angesiedelten Schwalben erfolgt entweder durch den Höhenbereich oder bei der gemeinschaftlichen Jagd in gleicher Höhe durch die Größe der Beutetiere, die durch Größe und Form des Schnabels bestimmt wird.
Der Nahrungserwerb ist bei den meisten Arten an bestimmte Tageszeiten gebunden; viele Arten gehen hauptsächlich in den Abendstunden auf Nahrungssuche. Nur der Alpensegler und die Malabarsalangane wurden bei nächtlicher Jagd beobachtet, beide in der Nähe von künstlicher Beleuchtung. Beim Alpensegler vermutet man auch die Nahrungssuche in totaler Dunkelheit, möglicherweise ist diese bei den Seglern nicht so unüblich wie bisher angenommen.
Segler trinken regelmäßig, indem sie tief über einer Wasseroberfläche fliegen und den Unterschnabel eintauchen. Überraschenderweise bevorzugen sie dabei kleinere Wasserflächen, Insekten werden dabei auch gelegentlich von der Wasseroberfläche abgelesen.
Fortpflanzung
Bei allen Seglern besteht eine Abhängigkeit zwischen der Brutzeit und der Verfügbarkeit von Insekten. In den Tropen führt das meist zur Brut während der Regenzeit, in den gemäßigten Breiten erfolgt die Aufzucht der Jungen während der Sommermonate. Die kürzere Zeitspanne der ausreichenden Nahrungsverfügbarkeit in den höheren Breiten ermöglicht dort nur eine Jahresbrut, während in den Klimazonen mit längerer Insektenfülle Zweitbruten die Regel sind. An der Aufzucht der Jungen beteiligen sich bei allen Seglern beide Geschlechter gleichermaßen.
Neststandort und Nest
Segler bevorzugen für Nesträuber besonders unzugängliche Nistplätze, da sie sich kaum gegen Feinde verteidigen können. Die meisten Arten bevorzugen dunkle Orte. Dies ist besonders evident bei den zur Echoortung fähigen Salanganen, die oft weite Strecken in Höhlen bei totaler Dunkelheit zurücklegen. Trotz der großen Bandbreite der genutzten Nistplätze innerhalb der Familie haben die meisten Arten sehr spezifische Anforderungen. Bei vielen ist eine große Höhe über dem Boden und die Möglichkeit des freien An- und Abflugs vom Eingang der Bruthöhle ein entscheidender Faktor. Viele Seglerarten brüten in Kolonien, die groß und dicht gedrängt sein können. Von einigen Arten werden auch oder ausschließlich vom Menschen geschaffene Nistplätze verwendet, das heißt geeignete Flächen oder Hohlräume an Bauwerken.
Einige Seglerarten übernehmen auch Nester anderer Arten; besonders flexibel zeigt sich der Horussegler (Apus horus), der hauptsächlich Nester von Bienenfressern, Eisvögeln oder Schwalben übernimmt. Teilweise gibt es auch gewaltsame Übernahmen; hervorzuheben ist hierbei der Weißbürzelsegler (Apus caffer), der die Rotbrustschwalben dazu verleitet hat, Nistplätze in weniger als einem Meter über dem Boden zu bevorzugen. Dies zeigt auch, dass dieser Brutparasitismus entwicklungsgeschichtlich älteren Datums sein muss.
Das typische Seglernest ist eine flache, selbsttragende Schale, oft an einer senkrechten Oberfläche befestigt. Das Nistmaterial – hauptsächlich pflanzliche Bestandteile und Federn – wird meist im Flug mit dem Schnabel gesammelt, weshalb der Nestbau oft recht unstetig erfolgt; bei windigen Verhältnissen ist der Fortschritt am größten. Die meisten Segler verwenden Speichel, um das Nistmaterial zu verkleben, weshalb die Speicheldrüsen der Vögel während der Brutzeit vergrößert sind. Die Verwendung von Speichel erreicht bei den Salanganen ihr Extrem, insbesondere bei der Weißnestsalangane (Aerodramus fuciphagus), deren Nest ausschließlich aus Speichel besteht. Der Palmensegler (Cypsiurus parvus) verwendet Speichel zudem, um die Eier, die in vergleichsweise exponierter Stelle gelegt werden, mit dem Nest zu verkleben.
Es gibt bei einigen Arten deutliche Abweichungen vom klassischen Seglernest. Die Vertreter der Unterfamilie Cypseloidinae und möglicherweise auch die Stachelschwanzsegler (Chaturini) verwenden keinen Speichel beim Nestbau. Manche dieser Arten, die in den Tropen heimisch sind, kommen auch ohne den Bau eines Nests aus und nutzen eine Mulde im Untergrund des Nistplatzes. Vom typischen Seglernest weichen beispielsweise auch die Nester der beiden im tropischen Südamerika heimischen Panyptila-Arten deutlich ab: Deren Nester hängen von der Unterseite eines Zweiges oder eines überhängenden Felsens herab und bestehen aus einer Röhre, die bis zu 60 Zentimeter lang sein kann, wobei sich das Einflugloch am unteren Ende befindet. Die Eier liegen in einer Art Fach im oberen Teil dieses Baus.
Balz und Paarung
Die Paarbindung bei den Seglern ist grundsätzlich sehr stark und die monogamen Partnerbeziehungen überdauern in fast allen untersuchten Fällen mehr als eine Saison. Dies ist in gewissem Umfang vermutlich auch auf die Nistplatztreue der Segler zurückzuführen. Bei den Zugvögeln treffen die Brutpartner des Vorjahres nicht gemeinsam am Nistplatz ein, und die Paarbindungen müssen zu Beginn der Saison erneuert werden. Die dabei von den Partnern gezeigten Verhaltensweisen ähneln anfänglich den Drohgebärden, die sie auch beim Eindringen eines fremden Vogels in die Nisthöhle zeigen.
Die vielfältigen Flugspiele der Segler wurden mehrfach untersucht, ihre Funktion ist häufig unklar und auch, inwieweit sie der Partnerfindung dienen. Insbesondere bei Schornsteinseglern ist direkt nach Ankunft im Brutgebiet häufig zu beobachten, wie sich Paare aus einem größeren Schwarm lösen und gemeinschaftlich einander verfolgend weiterfliegen. Später bilden sich oft Dreigruppen, bei denen zwei Vögel, vermutlich Männchen, einem Weibchen hinterherjagen. Während dieser Balzflüge zeigen die Vögel häufig eine V-Stellung der Flügel, bei der sich die Flügelenden über dem Rücken berühren können, was teilweise auch zu hören ist.
Zumindest für den Mauersegler gilt es als erwiesen, dass Kopulationen in der Luft stattfinden. Dabei landet das Männchen auf dem Rücken des verfolgten Weibchens, was typischerweise erst nach einigen Fehlversuchen gelingt, die möglicherweise zum Ritual gehören. Während des nur wenige Sekunden dauernden Kontakts verliert das Paar im Gleitflug rasch an Höhe, teilweise schlägt einer oder beide Vögel mit den Flügeln. Von anderen Seglerarten werden ähnliche, aber auch andere Abläufe beschrieben, die ebenfalls als Paarungen in der Luft gedeutet werden. Bei vielen Seglern wurden auch Begattungen am Nistplatz beobachtet, bei Salanganen hält man dies für die ausschließliche Möglichkeit. Auch beim Mauersegler finden nachweislich Begattungen in der Bruthöhle statt. Die evolutionäre Bedeutung der Luftbegattungen ist unklar.
Gelege und Brut
Die Eier aller Segler sind übereinstimmend weiß und matt. Sie sind in Relation zur Größe der Vögel klein, haben aber einen hohen Dotteranteil. Die Abmessungen der Eier reichen ungefähr von 15,5 × 10 Millimetern beim Gabelschwanzsegler bis zu 43 × 28,5 Millimetern beim Halsbandsegler. Die Gelegegröße ist sehr unterschiedlich: Nur ein Ei legen beispielsweise einige Salanganen, bis zu sieben oder mehr umfassen die Gelege einiger Chaetura- oder Hirundapus-Arten.
Bei vielen Arten besteht eine starke Abhängigkeit zwischen Gelegegröße und den Wetterbedingungen und damit dem Nahrungsangebot. Auch die bei den verschiedenen Gattungen recht unterschiedliche Brutdauer zeigt eine solche Abhängigkeit. Sie ist bei einigen in gemäßigten Breiten brütenden Seglern äußerst variabel, beispielsweise beim Mauersegler. Dabei sind die Eier bei witterungsbedingten Brutpausen gegen Auskühlung resistent.
Bei verschiedenen Untersuchungen wurde festgestellt, dass Bruten, denen zusätzliche Eier untergeschoben wurden, dadurch keinen größeren Bruterfolg erzielten. Dies zeigt, dass die Gelegegröße recht gut auf die jeweiligen Gegebenheiten abgestimmt ist, und auch, dass die Aufzucht der Brut für die Altvögel einen beträchtlichen Aufwand darstellt. Die australischen Queenslandsalanganen (Aerodramus terraereginae) haben dabei eine besondere Strategie entwickelt, die als Anpassung an stark unkalkulierbare Nahrungsverfügbarkeit und extremen Nahrungsmangel gewertet wird. Die Art hat zwei Jahresbruten mit jeweils einem Ei. Das zweite Ei, das 50 Tage nach dem ersten gelegt wird, wird dabei hauptsächlich vom Nestling der ersten Brut bebrütet. Möglicherweise brütet dieser auch während der Nacht, während die Altvögel anwesend sind. Nach dessen Ausfliegen übernehmen die Altvögel die restliche Bebrütung.
Beim amerikanischen Schornsteinsegler sind Bruthelfer keine Seltenheit. Bei 21 Prozent untersuchter Bruten beteiligten sich drei, bei 6 Prozent vier Vögel an der Jungenaufzucht. Die Bruthelfer sind dabei oft noch nicht brütende Einjährige, aber auch sehr alte Vögel.
Entwicklung der Jungvögel
Geschlüpfte Segler verbringen gegenüber vergleichbar großen anderen Vögeln relativ viel Zeit im Nest, bevor sie ausfliegen. Dieser Umstand wird darauf zurückgeführt, dass die ausfliegenden Vögel vollständig selbstständig sein müssen. Die Nestlingszeit innerhalb der Familie der Segler zeigt dabei keinen Zusammenhang zur Größe. Die längste bei Seglern bekannte Nestlingszeit ist die der Diademsegler (Cypseloides cherriei); die Jungen dieser Art verbringen zwischen 65 und 70 Tagen im Nest.
Die Altvögel sammeln die Nahrung im Kehlsack. Ein solcher mit Speichel verklebter Nahrungsballen wird hervorgewürgt und kann direkt an einen einzelnen Nestling verfüttert oder auch an mehrere verteilt werden. Sowohl Alt- als auch Jungvögel leisten ihren Beitrag, das Nest sauber zu halten. Von den Altvögeln werden Kotballen entweder gefressen oder hinausgetragen. Der Nachwuchs der Weißbürzelsalangane (Aerodramus spodiopygius) kotet bereits am ersten Tag nach dem Schlüpfen über dem Nestrand, die Nestlinge anderer Arten verhalten sich in ähnlicher Weise, allerdings erst, wenn sie etwas älter sind.
Auch die Nestlingszeit kann abhängig von den Wetterbedingungen deutlich variieren. Die Nestlinge der in Gebieten mit schwankendem Nahrungsangebot brütenden Arten können dabei am meisten Fett anlagern und bis zu einer Woche bei Nahrungsmangel überleben, wobei ihr Gewicht sich halbieren kann. Da Segler beim Ausfliegen sofort die vollständige Flugfähigkeit benötigen und Fettreserven bis zu diesem Zeitpunkt abzubauen sind, müssen gut genährte Nestlinge einiger Arten vor dem Ausfliegen von einem Extrem ins andere wechseln; und sie verfügen über ein erstaunliches Gespür, wann sie die Nahrungsaufnahme einstellen müssen, um zum passenden Zeitpunkt das optimale Fluggewicht zu haben.
Bei Nestlingen vieler Seglerarten wurden verschiedene auf das Fliegen vorbereitende Übungen beobachtet. Eine Übung erinnert an den Liegestütz: Dabei wird der Körper mit ausgestreckten, nach unten gerichteten Flügeln vom Untergrund abgehoben. Anfangs können die Jungvögel den Körper nur kurz in der angehobenen Position halten, später wesentlich länger und es wird vermutet, dass diese Übung auch der Bestimmung des Zeitpunkts des Ausfliegens dient.
Die ermittelten Ausfliegeraten, das heißt, das Verhältnis der Zahl der ausgeflogenen Vögel zur Zahl der geschlüpften, lagen zwischen 26 Prozent beim Palmensegler – dessen Nest vergleichsweise gut für Nesträuber zugänglich ist – und 96,1 Prozent beim Schornsteinsegler.
Sonstiges Verhalten
Sozialverhalten
Fast alle Seglerarten sind sehr gesellig, sowohl beim gemeinschaftlichen Brüten als auch in der Luft. Die Bildung größerer Schwärme ermöglicht den Seglern eine lokale, kurzzeitige hohe Verfügbarkeit von Nahrung besser ausnutzen zu können. Oft werden auch gemischte Schwärme mit anderen Seglerarten und auch Schwalben gebildet. Obwohl Segler als schnelle Flieger nicht zur Hauptbeute von Greifvögeln gehören, ist der Schutz vor diesen eine weitere Funktion der Schwarmbildung. Kleinere Greifvögel werden dabei häufig von Seglern gemeinschaftlich gehasst.
Eine sehr auffällige Verhaltensweise der Segler, vor allem an warmen Sommerabenden, sind die sogenannten „screaming parties“. Diese vor allem bei Mauerseglern beobachteten Flugspiele dienen nicht der Nahrungsaufnahme und haben offensichtlich auch nichts mit der Balz zu tun. Die Vögel einer oder mehrerer Brutkolonien lassen sich dabei von den laut rufenden, vorbeifliegenden Artgenossen zum Mitmachen animieren. Auch Brutvögel beteiligen sich daran. Es wird vermutet, dass diese Flugspiele den Zusammenhalt der Gruppe fördern. Auch könnten sie der Vorbereitung des Wegzugs dienen, wobei der Zug nicht in so großen Gruppen erfolgt.
Übernachtung und Ruhe
Die meisten Segler ruhen nachts, auch wenn in großen Brutkolonien einiger Arten die ganze Nacht hindurch ein Schwätzen zu vernehmen ist. Nicht ziehende Vögel schlafen das ganze Jahr über meist im oder in der Nähe des Nests.
Die vieldiskutierte Luftübernachtung der Segler ist nur für den Mauersegler definitiv erwiesen. Man geht aber davon aus, dass auch Fahl- und Alpensegler die Nacht manchmal in der Luft verbringen, da auch bei diesen eine außergewöhnlich effektive Sauerstoffaufnahme festgestellt wurde, die zu einer erhöhten Konzentration von Hämoglobin im Blut führt, wie sie nur bei Kolibris oder in Gebirgsregionen lebenden Vogelarten festzustellen ist. Die Vögel verbringen die Nacht dabei typischerweise in einer Höhe zwischen 1000 und 2000 Metern, aber auch Übernachtungen in bis zu 3000 Metern Höhe wurden beobachtet. Häufig findet die Luftübernachtung im Anschluss an die „screaming parties“ statt, hauptsächlich übernachten nicht brütende Einjährige in der Luft, aber auch Brutvögel. Auch ausfliegende Mauersegler verbringen ihre erste Nacht außerhalb des Nests bereits in der Luft.
Bei besonders kaltem Wetter haben Segler verschiedene Strategien, sich warm zu halten und Energieverluste zu mindern. Bei vielen Seglerarten wurden dicht gedrängte Vögel beobachtet, die sich traubenförmig an Wänden oder Bäumen festklammern, auch tagsüber. Dabei ist für viele Seglerarten nachgewiesen, dass sie dabei torpide werden können, also in eine Art Hungerschlaf fallen.
Parasiten, Feinde und Lebenserwartung
Parasiten
Segler werden stark von Parasiten befallen, vor allem an den Nistplätzen. Dabei handelt es sich vor allem um Lausfliegen, Federlinge, Federmilben oder Zecken. Manche Arten dieser Parasiten sind dabei auf eine einzige Seglerart spezialisiert. Der Grund für die ungewöhnlich hohe Belastung durch Ektoparasiten könnte der unvollkommenen Gefiederpflege geschuldet sein, die aufgrund anatomischer Eigenschaften für die Segler schwierig ist. Einige dieser Ektoparasiten fungieren dabei auch als Vektoren verschiedener Endoparasiten, deren Befall die Vögel oft stärker beeinträchtigt.
Je mehr Nester auf engem Raum beieinander liegen, desto größer ist der Parasitenbefall. Bei einer Untersuchung in England wurden bei Mauerseglern die Zusammenhänge sehr differenziert untersucht und der Befall durch die Mauerseglerlausfliege und einen anderen Parasiten künstlich vergrößert. Es zeigte sich kein Zusammenhang zwischen der Intensität des Befalls und dem Bruterfolg. Dies wird darauf zurückgeführt, dass die Übertragung der Parasiten auf neue Brutkolonien über den Nachwuchs erfolgt – eine sogenannte vertikale Übertragung – und deshalb eine zu starke Beeinträchtigung des Wirts für den Parasit selbst nachteilig wäre. Dennoch kann die Belastung für einzelne Individuen lebensbedrohend sein, besonders bei erschöpften Vögeln auf oder nach dem Zug.
Feinde
Aufgrund ihrer luftgebundenen Lebensweise und ihrer Schnelligkeit haben Segler wenige natürliche Feinde. Dennoch gibt es einige Greifvogel- und Eulenarten, die gelegentlich oder auch häufiger Segler erbeuten; besonders zu nennen sind dabei der Eleonorenfalke und andere größere Falkenarten. Der Fledermausaar stellt eine Bedrohung für einige Salanganenarten dar, denen er am Eingang ihrer Höhle auflauert.
Die Bevorzugung geschützter hoch über dem Boden liegender Nistplätze macht es insbesondere am Boden lebenden Nesträubern nicht leicht, so dass beispielsweise Ratten oder Schlangen kaum zum Zuge kommen. Eine Ausnahme ist das Nest des Palmenseglers (Cypsiurus parvus), das vergleichsweise zugänglich ist – sowohl Eier als auch Nestlinge und Altvögel werden am Nistplatz von verschiedenen Vogelarten erbeutet. In den ausgedehnten Höhlen im Norden Borneos hat sich eine Insektenart darauf spezialisiert, die Eier und Nestlinge der dort nistenden Salanganen zu fressen, und zwar die flügellose Höhlenschrecke Rhaphidophora oophaga.
Lebenserwartung
Segler haben geringe Sterberaten, für den Mauersegler wurde eine jährliche Überlebensrate von 81 bis 85 Prozent ermittelt, beim Schornsteinsegler waren es 71 bis 81 Prozent. Wenn man in Betracht zieht, dass diese Arten jährlich auf dem Zug weite Strecken zurücklegen und zweimal den Äquator überqueren, sind diese Raten erstaunlich hoch. Bei allen Untersuchungen haben die Vögel im ersten Lebensjahr die höchsten Sterberaten, beim Mauersegler wurden 29 Prozent ermittelt, beim Fahlsegler 67 Prozent. Das ermittelte Höchstalter beringter Segler betrug 26 Jahre beim Alpensegler, 21 Jahre beim Mauersegler und 14 Jahre beim Schornsteinsegler.
Systematik und Evolution
Der wissenschaftliche Name der Familie leitet sich ab von der Gattung Apus (altgriechisch ápous hier im Sinne von „die Füße nicht gebrauchend, schlecht zu Fuß“). Aristoteles verwendete den Begriff in seinen Historia animalium; dort erwähnt er in 9,30 „die [Vögel] mit verkümmerten Füßen, von denen sich einige kypselous nennen, insofern sie den Schwalben ähnlich sind […].“ Apus ist die Typgattung der Unterfamilie Apodinae, die wiederum Nominatform der Familie ist.
Externe Systematik
Die Schwestergruppe der Segler bilden die Baumsegler (Hemiprocnidae). Die vier Arten dieser kleinen Familie sind mit keiner Seglerart zu verwechseln, sie haben im Gegensatz zu Seglern buntes Gefieder und die Anatomie ihrer Beine und Füße ermöglicht ihnen das Sitzen auf Ästen und Zweigen. Auch die Kolibris (Trochilidae) sind nahe mit den Seglern verwandt, die größte Gemeinsamkeit besteht im Bau des Flügels mit sehr kurzem Ober- und Unterarm und langer Hand.
Baumsegler, Segler und Kolibris, die zur Ordnung der Seglervögel (Apodiformes) zusammengefasst wurden, bilden ein Monophylum, besitzen also eine gemeinsame Stammform und umfassen alle Untergruppen, die sich von dieser Stammform herleiten. Allerdings machte die so festgelegte Ordnung die Schwalmartigen (Caprimulgiformes) paraphyletisch, wie phylogenetische Untersuchungen zeigten, da die Höhlenschwalme (Aegothelidae) eine Schwestergruppe der bisher als Seglervögel bezeichneten Gruppe bilden, aber zu den Schwalmartigen gezählt wurden. Als Lösung dieses Dilemmas wurden die Seglervögel oft den Schwalmartigen untergeordnet.
2005 wurde vorgeschlagen, für die sich aus den bisherigen Seglervögeln und den Höhlenschwalmen ergebende Klade die Bezeichnung „Daedalornithes“ einzuführen.
Neuerdings werden die Höhlenschwalme nun auch einfach zu den Seglervögeln gestellt.
Die sich daraus ergebenden verwandtschaftlichen Beziehungen verdeutlicht folgendes Kladogramm:
Interne Systematik
Die Familie der Segler (Apodidae) wird in die Unterfamilien Cypseloidinae und Apodinae unterteilt. Die Unterfamilie Cypseloidinae besteht dabei aus zwei rein amerikanischen Gattungen, während die andere Unterfamilie fast weltweit verbreitet ist und nur in den hohen Breiten fehlt. Die größere Unterfamilie Apodinae wird zudem durch drei Tribus unterteilt. Manche Autoren sehen dabei eine dieser Tribus, die Stachelschwanzsegler (Chaturini), auch als dritte Unterfamilie.
Die Vertreter der Unterfamilie Cypseloidinae gelten als die entwicklungsgeschichtlich ursprünglichsten heute noch lebenden Segler. Begründet wird dieser Standpunkt unter anderem mit dem Vorhandensein von zwei Halsschlagadern und der fehlenden Speichelnutzung beim Nestbau bei diesen Arten. Bei den drei Tribus der Unterfamilie Apodinae werden die Salanganen (Collocaliini) als ursprüngliche Form angesehen und die Stachelschwanzsegler (Chaturini) aufgrund ihrer Schwanzdornen und spezialisierteren Nistplätze als Weiterentwicklung. Als modernste Form gelten die typischen Segler (Apodini) mit ihrer pamprodactylen Zehenanordnung und den aufwändigeren Nestern.
Die in dieser Familie häufig schwierige Abgrenzung von Gattungen und Arten wird bei den Salanganen am deutlichsten. Ursprünglich wurden alle Salanganen einer einzigen Gattung zugeordnet, der Gattung Collocalia. In der Folgezeit wurden Aufteilungen auf mehrere Gattungen diskutiert, und die Arten wurden basierend auf äußerlichen Merkmalen und Unterschieden in der Brutbiologie mehrfach umsortiert, bis 1970 eine von R. K. Brooke vorgenommene Aufteilung der Salanganen auf drei Gattungen verhältnismäßig breite Anerkennung fand. Ein wesentliches Kriterium war dabei die Fähigkeit zur Echoortung. Arten, die über diese Fähigkeit verfügen, wurden der Gattung Aerodramus zugeordnet.
Auch diese Aufteilung wurde und wird, obwohl von
molekulargenetischen Untersuchungen bestätigt, von einigen Autoren nicht anerkannt.
Insbesondere seitdem festgestellt wurde, dass die aufgrund ihres glänzenden Gefieders zur Gattung Collocalia zählende Zwergsalangane (C. troglodytes) ebenfalls über die Fähigkeit zur Echolokation verfügt, ist die Gattungsaufteilung wieder umstritten.
Zu den Seglern gehören folgende Gattungen:
Unterfamilie: Cypseloidinae
Gattung: Cypseloides mit 8 Arten
Gattung: Streptoprocne mit 5 Arten
Unterfamilie: Apodinae
Tribus: Salanganen (Collocaliini)
Gattung: Collocalia mit 3 Arten
Gattung: Aerodramus mit 22 Arten, darunter Weiß- und Schwarznestsalangane (A. fuciphagus und A. maximus)
Gattung: Hydrochous mit einziger Art Riesensalangane (H. gigas)
Gattung: Schoutedenapus mit 2 Arten
Tribus: Stachelschwanzsegler (Chaeturini)
Gattung: Mearnsia mit 2 Arten
Gattung: Zoonavena mit 3 Arten
Gattung: Telacanthura mit 2 Arten
Gattung: Rhaphidura mit 2 Arten
Gattung: Neafrapus mit 2 Arten
Gattung: Hirundapus mit 4 Arten, darunter Stachelschwanzsegler (H. caudacutus)
Gattung: Chaetura mit 9 Arten, darunter Schornsteinsegler (C. pelagica)
Tribus: Typische Segler (Apodini)
Gattung: Aeronautes mit 3 Arten
Gattung: Tachornis mit 3 Arten
Gattung: Panyptila mit 2 Arten
Gattung: Cypsiurus mit 2 Arten, darunter Palmensegler (C. parvus)
Gattung: Tachymarptis mit 2 Arten, darunter Alpensegler (T. melba)
Gattung: Apus mit 15 Arten, darunter Mauersegler (A. apus) und Fahlsegler (A. pallidus)
Fossile Segler
Ein sehr bekanntes Fossil eines seglerähnlichen Vogels stammt aus dem Londoner Becken und wird auf das frühe Eozän datiert. Die Art wurde Primapus lacki getauft, zu Ehren David Lacks, eines englischen Ornithologen, der sich ausführlich den Seglern widmete. Das nur durch einen Oberarmknochen bekannte Fossil legt nahe, dass die seglerähnlichen Vögel zur damaligen Zeit viel kleiner waren als heutige Segler.
Das früheste bekannte Fossil, das der Stammgruppe der Segler zugerechnet wird, ist der in Dänemark gefundene Scaniacypselus wardi. Das Fossil wird ebenfalls auf das frühe Eozän datiert. Auch der ausgestorbenen Gattung Scaniacypselus zugerechnet wird Scaniacypselus szarski, von dem mehrere Skelette in der Grube Messel gefunden wurden, die auf das mittlere Eozän datiert werden. Die Proportionen der Flügelknochen mit verkürztem Ober- und Unterarm entsprechen schon stark den heutigen Seglern. Bei einigen Exemplaren sind die Federn sehr gut erhalten und geben einen anschaulichen Eindruck des Aussehens dieser Vögel.
Im Australischen Riversleigh-Gebiet wurde ein der Salanganengattung Collocalia zugerechnetes Fossil gefunden (C. buday). Dieser aus verschiedenen Flügelknochen bestehende Fossilfund stammt aus dem späten Oligozän oder dem frühen Miozän und wäre der Kronengruppe der heutigen Segler zuzurechnen, wenn die Zuordnung zu den Salanganen ihre Richtigkeit hat.
Segler und Mensch
Oft bleiben die in der überlieferten historischen Literatur möglicherweise vorhandenen Anspielungen auf die Segler verborgen, da umgangssprachlich nicht so genau zwischen Schwalben und Seglern unterschieden wird. Ein Beispiel findet sich im Buch Jeremia des Alten Testaments , wo der Zug verschiedener Vögel und vermutlich des Seglers erwähnt wird. In den meisten Bibelübersetzungen wurde daraus eine Schwalbe, obwohl das im Hebräischen verwendete Wort (‚sīs‘) heute im Arabischen für Segler verwendet wird.
Ähnlich verhält es sich mit der „Schwalbennestersuppe“, einer Delikatesse der Chinesischen Küche, da hierbei die Nester von in Südostasien brütenden Salanganen – also Seglern – verwendet werden. Diese Tradition reicht mindestens bis in die späte Ming-Dynastie zurück. Einige gehen von einer wesentlich längeren Tradition aus und erkennen bereits 700 v. Chr. Anzeichen eines Handels mit Salanganennestern in Sarawak.
Hauptsächlich werden die Nester der Weißnestsalangane (Aerodramus fuciphagus) und der Schwarznestsalangane (Aerodramus maximus) verwendet. Die der Weißnestsalangane bestehen ausschließlich aus Speichel, die der Schwarznestsalangane enthalten zu etwa 10 Prozent andere Bestandteile, hauptsächlich Federn. Diese Nester bestehen zu 50 bis 60 Prozent aus Proteinen; die Liste der ihnen nachgesagten gesundheitsfördernden Wirkungen ist lang, in jedem Fall sollen sie eine belebende Wirkung haben. Weitere Beispiele sind die Stärkung des Immunsystems, die Heilung von exzessivem Phlegma sowie von Tuberkulose oder die Steigerung der Libido. In verschiedenen wissenschaftlichen Untersuchungen wurden mögliche Wirkungen dargelegt, allerdings ist die praktische Bedeutung dieser Untersuchungen fraglich, da vielfach nicht berücksichtigt wurde, dass die Nester vor dem Verzehr lange gekocht werden, was die chemische Zusammensetzung ändert. Der Verkaufspreis solcher Nester lag 2003 in Hongkong – dem hauptsächlichen Handelsplatz dieser Nester – bei ungefähr 5000 Euro pro Kilogramm. Die deutliche Zunahme des Handels in den letzten Jahren macht Schutzmaßnahmen für die betroffenen Arten erforderlich.
Status und Schutz
Die Auswirkungen der menschlichen Zivilisation für die Segler sind ambivalent: Einerseits werden Lebensräume zerstört und vor allem durch den Einsatz von Insektiziden die Nahrungsgrundlagen beeinträchtigt, auf der anderen Seite hat die Nutzung vom Menschen geschaffener Nistplätze vielen Seglern das Vordringen in neue Lebensräume ermöglicht. Einige Seglerarten nutzen mittlerweile nahezu ausschließlich Nistplätze in der Nähe des Menschen. Allerdings macht sich der seit Mitte des 20. Jahrhunderts vorherrschende Baustil negativ bemerkbar; heutige Gebäude und modernisierte Fassaden bieten weit weniger als Brutplätze geeignete Nischen als ältere Gebäude. Mehrere Initiativen in verschiedenen Ländern widmen sich diesem Problem und machen Bauherren auf mögliche Maßnahmen aufmerksam, die zu einer seglerfreundlicheren Bauweise führen.
Die lukrative Verwertung der Nester verschiedener Salanganenarten für die Schwalbennestersuppe hat zu dramatischen Bestandseinbrüchen bei den betroffenen Arten geführt. Beispielsweise hat der Bestand der Schwarznestsalangane in den Niah-Höhlen im malaysischen Bundesstaat Sarawak von über 2 Millionen im Jahr 1931 auf noch etwa 300.000 im Jahr 1999 abgenommen. Mittlerweile stehen diese Arten und auch die Nester in den meisten Ländern Südostasiens unter Schutz, teilweise allerdings nur in den Nationalparks. Vor allem in Indonesien, Thailand und auch im Westen Malaysias läuft die Produktion kulinarisch verwerteter Nester erfolgreich auch in speziellen Zuchtbetrieben, die Salanganen in speziellen Gebäuden ansiedeln.
Von den über 90 Seglerarten sind fünf auf der Vorwarnliste und weitere fünf werden von der IUCN als gefährdet eingestuft: Der Glanzrückensegler (Apus acuticauda), die Seychellensalangane (Aerodramus elaphrus), die Polynesiensalangane (Aerodramus leucophaeus), die Atiusalangane (Aerodramus sawtelli) und der Schoutedensegler (Schoutedenapus schoutedeni).
Literatur
Josep del Hoyo, Andrew Elliott, Jordi Sargatal (Hrsg.): Handbook of the Birds of the World. Band 5: Barn-owls to Hummingbirds. Lynx Edicions, 1999, ISBN 84-87334-25-3.
Phil Chantler, Gerald Driessens: Swifts – A Guide to the Swifts and Tree Swifts of the World . Pica Press, Mountfield 2000, ISBN 1-873403-83-6
U. N. Glutz von Blotzheim, K. M. Bauer: Handbuch der Vögel Mitteleuropas. Band 9: Columbiformes – Piciformes. AULA-Verlag, Wiesbaden 1994, ISBN 3-89104-562-X.
David Lack: Swifts in a Tower. Methuen & Co. Ltd., London 1956
Einzelnachweise
Weblinks
Brehms Thierleben. Allgemeine Kunde des Thierreichs, Vierter Band, Zweite Abtheilung: Vögel, Erster Band, 1882 (Auszug) |
3127290 | https://de.wikipedia.org/wiki/Donezbecken-Operation | Donezbecken-Operation | Die Operation Donezbecken oder Donbass-Operation ( ‚Donbasskaja operazija‘, ) war eine Schlacht während des Zweiten Weltkrieges an der deutsch-sowjetischen Front vom 16. August bis zum 22. September 1943. Dabei durchbrachen die sowjetische Südwest- und Südfront zunächst die deutschen Linien am Donez und dem Mius im südlichen Grenzbereich von Russland und der Ukraine. Dies war im Kern eine erfolgreiche Wiederaufnahme der kurz zuvor erfolgten, in ihren Zielen weitgehend gescheiterten Donez-Mius-Offensive. In weiterer Folge eroberte die Rote Armee große Teile des wirtschaftlich bedeutenden Donezbeckens zurück, darunter die Städte Mariupol, Taganrog und Stalino. Große Teile der deutschen Heeresgruppe Süd mussten sich hinter den Dnepr zurückziehen.
Hintergrund
Das Donezbecken war vor allem als Kohleabbaugebiet von Bedeutung. Vor dem Kriegsausbruch lieferte es ca. 60 % der Stein- und 75 % der Kokskohle der UdSSR. Weiterhin waren dort rund die Hälfte aller metallurgischen Betriebe, zwei Drittel der chemischen Industrie und drei Viertel der Wärmekraftwerke angesiedelt. Von der Eisenproduktion entfielen 30 % und von der Stahlerzeugung 20 % auf dieses Industriegebiet. Im Sommer/Herbst 1941 wurde die Industrie fast vollständig evakuiert oder zerstört. Unter Leitung der Berg- und Hüttenwerksgesellschaft Ost (BHO) förderte die deutsche Besatzungsmacht mit täglich 15.000 Tonnen (Juli 1943) noch etwa 5 % der Vorkriegsproduktion an Kohle.
Vom Frühjahr bis zum Sommer 1943 war es an der deutsch-sowjetischen Front kaum zu bedeutenden Kämpfen gekommen. Erst die von der sowjetischen Führung erwartete deutsche Offensive gegen den Kursker Bogen (→ Unternehmen Zitadelle), welche am 5. Juli 1943 begann, löste eine weitere Serie von Operationen entlang der gesamten Frontlänge aus. Um den Druck der deutschen Angriffe im Raum Kursk zu mindern, begann die Rote Armee bereits im Juli 1943 drei Gegenoffensiven nahe Leningrad (→ Dritte Ladoga-Schlacht), gegen den Frontbogen bei Orjol (→ Orjoler Operation) und am Südflügel der Front (→ Donez-Mius-Offensive). Letztere Operation sollte zur Rückeroberung des wirtschaftlich bedeutenden Donezbeckens führen, scheiterte aber nach geringen Anfangserfolgen.
Obwohl letztlich keine dieser Offensiven ihre weitgesteckten Ziele erreichte, banden sie doch die wenigen deutschen Reserven. Als deshalb im Mittelabschnitt der Front Anfang August 1943 weitere sowjetische Offensiven eingeleitet wurden (→ Belgorod-Charkower Operation; → Smolensker Operation), verfügte die Wehrmachtführung kaum noch über nennenswerte Reserveverbände, um sie aufhalten zu können. An mehreren Frontabschnitten gewann das Vordringen der Roten Armee an Boden. Um diesen günstigen Augenblick zu nutzen, beschloss die sowjetische Führung einen weiteren Anlauf zur Rückeroberung des Donezbeckens. Das sowjetische Oberkommando beauftragte Anfang August 1943 die Süd- und Südwestfront mit der Vorbereitung neuer Offensivoperationen, die für die Mitte des Monats vorgesehen waren.
Deutsche Lage
Im südlichen Teil der Ostfront stand die deutsche 6. Armee unter General der Infanterie Karl-Adolf Hollidt am Mius und die 1. Panzerarmee unter Generaloberst Eberhard von Mackensen am Donez. Beide gehörten zum Verband der Heeresgruppe Süd des Generalfeldmarschalls Erich von Manstein. Diese Armeen waren jedoch zugunsten der Kursk-Offensive geschwächt und ausgedünnt worden. So war die Bezeichnung „Panzerarmee“ irreführend, denn sie verfügte über keinerlei Panzertruppen. Stattdessen hatte sie in ihrem Bestand das XXX. Armeekorps (drei Inf.Div.), das XXXX. Panzerkorps (drei Inf.Div.) und das LVII. Panzerkorps (drei Inf.Div.). Die 6. Armee bestand aus dem XXIX. Armeekorps (drei Inf.Div., eine Kampfgruppe), dem XVII. Armeekorps (drei Inf. Div.) und dem Korps Mieth (IV.) (eine Geb.Div., zwei Inf.Div.). Durch die vorangegangenen Kämpfe der zweiten Julihälfte hatten die deutschen Truppen in diesen Abschnitten bereits hohe Verluste erlitten, die noch nicht hatten ersetzt werden können. Allein die 6. Armee hatte 3298 Gefallene, 15.817 Verwundete und 2254 Vermisste zu beklagen. Die 384. Infanterie-Division beispielsweise war so ausgedünnt, dass sie aus der Front herausgelöst werden musste. Für einen gewissen Ausgleich konnten lediglich die 17. Infanterie-Division und die 15. Luftwaffen-Felddivision herangeführt werden.
Bei den Kämpfen war es der sowjetischen Südfront gelungen, einen Brückenkopf am westlichen Ufer des Mius zu errichten. Erst durch den Gegenangriff mehrerer deutscher Panzerdivisionen, die aus dem Raum Kursk abgezogen worden waren, konnte dieser wieder beseitigt werden. Somit konnte sich die Verteidigung wieder auf den Lauf des Flusses stützen. Anders gestaltete sich die Lage am Donez: Hier hatte die sowjetische Südwestfront ebenfalls einen Brückenkopf erobert, den die Deutschen mangels ausreichender Kräfte nicht auch beseitigen konnten. Der Brückenkopf blieb daher, wie Generalfeldmarschall von Manstein sich ausdrückte, eine „schwärende Wunde in der Front der 1. Panzer-Armee.“ Da die deutsche Führung eine Fortsetzung der sowjetischen Offensive aus diesem Brückenkopf erwartete, konzentrierten sie hier mit der 16. Panzer-Grenadier-Division und der 23. Panzer-Division die einzigen schwachen Reserven der Heeresgruppe Süd hinter der Front.
Sowjetische Planungen
Am 6. August 1943, nur zwei Tage nach der gescheiterten Donez-Mius-Offensive, erließ das sowjetische Hauptquartier seine Direktive №30160. Die Südwestfront unter Generaloberst R.J. Malinowski und die Südfront unter Generaloberst F.I. Tolbuchin erhielten den Auftrag neue Operationen vorzubereiten. Wie schon im Juli war ein konzentrisches Vorgehen auf Stalino vorgesehen, welches zwischen dem 13. und 14. August beginnen sollte. Zur Koordination des Vorgehens beider Fronten, aber auch zur besseren Kooperation mit den Nachbarfronten wurde der Chef des sowjetischen Generalstabes Marschall der Sowjetunion A.M. Wassilewski als Vertreter des Hauptquartiers zum südlichen Kriegsschauplatz abkommandiert.
Am 7. August 1943 traf Wassilewski im Hauptquartier der Südwestfront ein und arbeitete dort mit Generaloberst Malinowski und dem Stab der Front einen Operationsplan aus. Dieser sah einen Hauptstoß südlich von Isjum aus dem Brückenkopf jenseits des Donez heraus in Richtung Barwenkowo und Losowaja, Pawlograd und Sinelnikowo vor. Für die Operation waren die 6. Armee (Gen.Lt. I.T. Schljomin), die 12. Armee (Gen.Maj. A.I. Danilow) und die 8. Gardearmee (Gen.Lt. W. I. Tschuikow) vorgesehen. Als besonders bewegliche Kräfte standen das 23. Panzerkorps (Gen. J. G. Puschkin), das 1. mechanisierte Gardekorps (Gen. I.N. Russijanow) sowie das 1. Gardekavalleriekorps zur Verfügung, die von den Kräften der 17. Luftarmee unterstützt werden sollten.
Am 9. August weilte Wassilewski dann im Hauptquartier der Südfront, wo er mit Generaloberst Tolbuchin und dessen Stab die Pläne für die Operationen am Mius entwarf. Die Anstrengungen sollten sich demnach auf einen nur zehn bis zwölf Kilometer breiten Abschnitt nahe Kuibyschewo konzentrieren. An ihm sollten die 5. Stoßarmee (Gen.Lt. W.D. Zwetajew) und die 2. Gardearmee (Gen.Lt. G.F. Sacharow), unterstützt von Teilen der 28. Armee (Gen.Lt. W. F. Gerassimenko), den Übergang über den Mius und den Durchbruch durch die deutsche Verteidigung erzwingen. Zu diesem Zweck wurden 120 Geschütze pro Frontkilometer zum Einsatz gebracht, während die 51. Armee (Gen.Lt. J.G. Kreiser) nahe Sneschnoje einen Unterstützungsangriff führen sollte. Nach einem erfolgreichen Durchbruch standen dann das 2. und 4. mechanisierte Gardekorps sowie das 4. Garde-Kavalleriekorps zur Verfügung, um über Amwrossijewka und Starobeschewo in Richtung Stalino vorzustoßen. Die 8. Luftarmee (General T.T. Chrjukin) hatte dieses Vorgehen zu unterstützen.
Am 10. August 1943 bestätigten Stalin als Oberster Befehlshaber und sein Hauptquartier die Operationspläne, die praktisch nichts anderes waren als eine voraussehbare Wiederaufnahme der Offensiven vom Juli 1943. Allerdings bestand noch immer das Problem, dass die Südfront von den vorangegangenen Kämpfen geschwächt war. Um diesen Nachteil auszugleichen, erhielt Wassilewski die Erlaubnis, diese Front zwei Tage später als die Südwestfront angreifen zu lassen. Als die Vorbereitungen zu den neuerlichen Offensiven abgeschlossen waren, standen den beiden sowjetischen Fronten schließlich 1.053.000 Soldaten, 21.000 Geschütze und Granatwerfer sowie 1257 Panzer und Selbstfahrlafetten zur Verfügung, die von 1400 Flugzeugen unterstützt wurden.
Verlauf
Der Angriff der Südwestfront bis Ende August 1943
Am 13. August 1943 begannen die Truppen der Südwestfront mit einem Angriff über den Donez südlich von Charkow. Dort setzten sie drei Armeen ein, um die nördlich vorgehende Steppenfront bei der Einnahme der Stadt zu unterstützen. Obwohl diese Operation in keinem Zusammenhang mit den Kampfhandlungen im hunderte Kilometer entfernten Donezbecken stand, markiert das Datum in der sowjetischen Geschichtsschreibung den offiziellen Beginn der „Donezbecken-Operation“.
Tatsächlich traten erst am 16. August 1943 die sowjetische 6. und 12. Armee sowie die 8. Gardearmee aus dem Brückenkopf nahe Isjum zum Angriff an. Nach deutschen Angaben sollen dabei am ersten Tag auf sowjetischer Seite elf Schützendivisionen und 130 Batterien zum Einsatz gekommen sein. Der Schwerpunkt des Angriffs lag im Bereich der sowjetischen 12. Armee südlich von Isjum. Bereits in den ersten Stunden der Offensive erzielten die Angriffsverbände hier einen Einbruch in die Stellungen der deutschen 46. Infanterie-Division. Diesen riegelte jedoch schon am Nachmittag ein Gegenangriff der deutschen 23. Panzer-Division ab und eroberte bis zum Abend das verlorene Gelände zurück. In den folgenden Tagen konzentrierten sich die Kämpfe auf den Ort Dolgenkaja. Hier brachte die Südwestfront vom 16. bis zum 27. August 1943 insgesamt neun Schützendivisionen, neun Panzerbrigaden, ein Garde-Panzerregiment und eine motorisierte Schützenbrigade zum Einsatz. Zwar gelangen der Roten Armee immer wieder tiefe Einbrüche in die deutschen Stellungen, doch Gegenangriffe der deutschen 23. Panzer-Division, 16. Panzer-Grenadier-Division und 17. Panzer-Division fügten ihr gleich darauf schwere Verluste zu und warfen sie zurück.
Diese Angriffe und Gegenangriffe erwiesen sich für beide Seiten als verlustreich. Da genaue Angaben zu den Gesamtverlusten fehlen, können nur beispielhaft einige Zahlen angeführt werden. So meldete allein die 23. Panzer-Division, die im Brennpunkt der Kämpfe stand, den Abschuss von 302 feindlichen Panzern. Allerdings hatte sie selbst 71 Offiziere und 1746 Unteroffiziere und Mannschaften verloren. Nach zwölftägigen Gefechten verfügte die Division deshalb kaum mehr über infanteristische Kräfte. Auf sowjetischer Seite führten die verlustreichen und ergebnislosen Angriffe zu einem Umdenken. Marschall Wassilewski und Generaloberst Malinowski beschlossen „das sinnlose Anrennen einzustellen“ und stattdessen an anderer Stelle einen Durchbruch zu versuchen. Dazu sollte die 8. Gardearmee des Generalleutnants Tschuikow weiter nach Osten verschoben werden. Für die Umgruppierung der Truppen wurden mehrere Tage eingeplant. Damit hatte die deutsche 1. Panzerarmee die Offensive der sowjetischen Südwestfront vorerst abgewehrt.
Der Angriff der Südfront bis Ende August 1943
Am 18. August 1943 trat schließlich auch die Südfront des Generaloberst Tolbuchin zum Angriff über den Mius an. Bereits in den vorangehenden Tagen hatten kleinere Vorstöße in Regimentsstärke die sowjetische Ausgangsbasis verbessern sollen. Am Morgen des Hauptangriffstages ließ die Südfront um 5 Uhr das Trommelfeuer von 5000 Geschützen und Granatwerfern auf die deutschen Linien niedergehen. Von diesen waren 2000 in den wenige Kilometer breiten Angriffstreifen der 5. Stoßarmee und 2. Gardearmee zusammengefasst, wo 120–200 Geschütze (die Angaben variieren) auf einen Frontkilometer kamen. Kurz darauf gingen 17 sowjetische Divisionen und vier Panzerbrigaden gegen die Verteidigungspositionen von drei deutschen Divisionen vor. Während die 306. und 336. Infanterie-Division ihre Positionen halten konnten, wurde die Stellung der 294. Infanterie-Division des XVII. Armeekorps förmlich überrannt. Bereits am ersten Angriffstag erzielten die sowjetischen Truppen hier einen zehn Kilometer tiefen Einbruch. Auch schnell herangebrachte Sperrverbände der 111. Infanterie-Division konnten den Durchbruch nicht abriegeln, sodass die sowjetische 5. Stoßarmee bis zum Abend des 19. August weitere zwölf Kilometer nach Westen vorstieß, die Krynka erreichte und einen Brückenkopf auf dem jenseitigen Ufer errichten konnte. Noch am gleichen Abend ließ Generaloberst Tolbuchin das 4. mechanisierte Gardekorps des Generalleutnants Tanaschtschischin durch die Lücke in der deutschen Verteidigung einführen und den Durchbruch erweitern.
Die wenigen Reserven der Heeresgruppe Süd waren bereits in den Kämpfen am Donez gebunden, sodass die 6. Armee mit ihren geringen Verbänden auskommen musste, die jedoch bereits in der Front standen. Den etwa 800 Panzern und Selbstfahrlafetten der Südfront konnte sie zwar kaum etwas entgegenstellen, doch Generaloberst Hollidt sah eine Chance, die Lage zu bereinigen, indem er Gegenangriffe gegen die Basis des sowjetischen Durchbruchs ansetzte. Dieser war südlich Kalinowka nur drei Kilometer breit, was zu der Hoffnung veranlasste, die 5. Stoßarmee hier abschneiden zu können. Unter dem Befehl des Kommandeurs der 3. Gebirgs-Division, Generalmajor Egbert Picker, konnten aus dem Bereich des IV. Armeekorps allerdings nur fünf Bataillone, sechs Batterien, eine Sturmgeschütz-Batterie und zwei Panzerjäger-Kompanien zusammengebracht werden, welche ab dem 20. August die sowjetische Nordflanke angriffen. Der Angriff kam zunächst gut voran, dann jedoch ließ Tolbuchin das 4. mechanisierte Gardekorps wenden und zum Gegenangriff antreten. Obwohl es gelang, 84 sowjetische Panzer abzuschießen, wurde die „Kampfgruppe Picker“ am 21. August wieder zurückgedrängt. In den beiden folgenden Tagen gelang es den sowjetischen Verbänden dann, die Lücke in der deutschen Front auf neun Kilometer zu verbreitern. Von der Krynka aus setzten die mechanisierten Verbände der Roten Armee gleichzeitig zu einem weiteren Vorstoß an und eroberten am 23. August den wichtigen Verkehrsknotenpunkt Amwrossijewka. Nach dem Scheitern der Gegenangriffe stützte sich die Verteidigung der Deutschen nunmehr auf den Lauf der Krynka südostwärts von Kolpakowka, obwohl die sowjetischen Truppen diesen Fluss bereits weiter nördlich überwunden hatten.
Inzwischen trafen auch von der Heeresgruppe A entsandte Verstärkungen ein, darunter die 13. Panzer-Division. Allerdings hatte diese „Division“ nur die Stärke eines Panzergrenadier-Regiments mit sieben Panzern. Dieser Verband kam zunächst am 23. August bei der „Kampfgruppe Picker“ erfolglos zum Einsatz. Danach wurde sie in Eilmärschen in den Bereich des XXIX. Armeekorps südlich des sowjetischen Durchbruchs verlegt, um die Abwehr an der Krynka zu verstärken.
Der 25. und 26. August vergingen auf Seiten der Roten Armee mit Umgruppierungen und der Auffüllung der Munitionsbestände. Am Morgen des 27. August 1943 begann eine weitere Phase der sowjetischen Offensive, welche die Einkesselung eines Teils der deutschen 6. Armee vorsah. Aus dem Raum Amwrossijewka griffen das 4. mechanisierte Gardekorps und das 4. Kavalleriekorps nach Süden an. Die Kavallerie sollte das deutsche XXIX. Armeekorps einschließen, während das 4. mechanisierte Gardekorps diese Operation nach Westen abschirmen sollte. Bereits am 28. August wurden die wichtigsten deutschen Rückzugswege abgeschnitten. Am folgenden Tag erreichten die Kavalleristen über Jekaterinowka den Mius-Liman bei Nataljewka. Die Gegenangriffe der 13. Panzer-Divisionen gegen die Einschließungsbewegung blieben erfolglos. Im Kriegstagebuch der 6. Armee wurde zur Lage des XXIX. Armeekorps des Generals der Panzertruppen Erich Brandenberger notiert:
Tatsächlich nahm der sowjetische Druck von allen Seiten zu. Die 2. Gardearmee und 28. Armee griffen von Norden her an, während die 44. Armee direkt auf Taganrog vorrückte. Den Seeweg blockierte zudem die sowjetische Asow-Flottille unter Konteradmiral S.G. Gorschkow, welche ebenfalls Truppen anlandete. Am 30. August wurde Taganrog schließlich eingenommen.
Als sich am 27. August 1943 die Einschließung des XXIX. Armeekorps abzeichnete, ergriff das Oberkommando der 6. Armee hastig Maßnahmen. Es befahl dem Korps, seine rückwärtigen Dienste nach Mariupol abzuschieben und versammelte unter dem Kommando des Kommandierenden Generals des IV. Armeekorps, General der Infanterie Friedrich Mieth, Truppen für einen Gegenangriff. Diese umfassten die Masse der 3. Gebirgs-Division und der 17. Panzer-Division, welche vom Donez herangeholt worden war. Mit diesen Truppen griff General Mieth wiederholt an, um ein weiteres Vordringen der Roten Armee zu verhindern und erreichte am 30. August den Raum nördlich Kuteinikowo. Zu diesem Zeitpunkt setzten sich die Infanteriedivisionen des XXIX. Armeekorps aus ihren bisherigen Stellungen ab. Die dem Korps unterstellte 13. Panzer-Division führte den Durchbruchsversuch ab dem 30. August an. Am folgenden Tag – die vier Divisionen des XXIX. Armeekorps waren auf eine Fläche von etwa 25 km² zusammengedrängt, die unter sowjetischen Artilleriebeschuss lag – gelang den Truppen des Generals Brandenberger südlich Konkowo der Ausbruch. In der Nacht setzten sich beide Korps nach Westen an den Jelantschik ab. Allerdings hatten die eingeschlossenen Divisionen schwere Verluste erlitten. So zählte zum Beispiel das Luftwaffen-Jäger-Regiment 30 der 15. Luftwaffen-Felddivision nur noch 400 von ursprünglich 2400 Soldaten.
Das Ringen um den Rückzug
Da alle Bemühungen der 6. Armee gescheitert waren das sowjetische Vordringen aufzuhalten, kam Generalfeldmarschall von Manstein zu dem Schluss, dass der Südflügel seiner Heeresgruppenfront nicht mehr zu halten sei. Bereits vor dem sowjetischen Durchbruch hatte er den elf Divisionen der 6. Armee nur mehr einen Kampfwert von vier Divisionen zugebilligt. Er forderte von Hitler deshalb entweder Bewegungsfreiheit oder die Zuführung erheblicher Verstärkungen. In einer Besprechung in Winniza am 27. August sagte Hitler zwar weitere Verbände zu, doch in den folgenden Tagen zeigte sich, dass nirgendwo Divisionen entbehrt werden konnten, um sie der Heeresgruppe Süd zuzuführen. Eine vollständige Räumung des Donezbeckens verbot er jedoch. Nach der vorübergehenden Einschließung des XXIX. Armeekorps erteilte Manstein der 6. Armee jedoch eigenmächtig den Befehl auf die vorbereitete „Schildkröten-Stellung“, eine Verteidigungslinie entlang des Kalmius östlich von Stalino, auszuweichen. Erst am folgenden Tag billigte auch Hitler nachträglich diesen Schritt.
Die Auseinandersetzungen um eine Räumung des Donezbeckens, aber auch um einen Rückzug größeren Ausmaßes erfolgte unter den Eindrücken der Rückschläge entlang der gesamten Front seit dem Abbruch der Schlacht im Kursker Bogen. Schon im Frühjahr hatte der Generalstab die Anlage einer rückwärtigen Verteidigungslinie gefordert, die Hitler jedoch kategorisch ablehnte. Erst am 12. August 1943 gab Hitler endlich nach und genehmigte den Bau entlang des Dnepr (→ Panther-Stellung). Er verbot jedoch vorerst alle Ausweichbewegungen. So erklärte er, dass ohne die Kohle des Donezbeckens der Krieg verloren sei. Als der Generalstabschef General der Infanterie Kurt Zeitzler diese Behauptung im Rüstungsministerium überprüfte, teilte ihm der Rüstungsminister Albert Speer mit, dass dies nicht stimme und die Kohle dieses Gebietes überhaupt nicht in die wirtschaftlichen Berechnungen einbezogen worden sei. Hitler verbot daraufhin auch die Kontaktaufnahme des Generalstabschefs mit anderen Ministerien.
Da die sowjetischen Verbände jedoch weitere Fortschritte erzielten und Hitler auch während einer Besprechung in seinem Hauptquartier in Ostpreußen am 4. September nicht nachgeben wollte, sah sich Manstein veranlasst, ihn zu einer weiteren Unterredung ins Hauptquartier der Heeresgruppe Süd nach Saporoschje zu bitten. Dort erklärte er Hitler am 8. September noch einmal die aussichtslose Lage. Hitler stimmte schließlich einem Rückzug zum Dnepr zu, ordnete allerdings an, dass dieser nur schrittweise und langsam zu erfolgen habe. Noch am gleichen Abend befahl Generalfeldmarschall von Manstein der 6. Armee und der 1. Panzerarmee, zum beweglichen Abwehrkampf überzugehen.
Der Rückzug zum Dnepr
Nachdem am 31. August 1943 der Befehl an die 6. Armee ergangen war, sich in die „Schildkröten-Stellung“ zurückzuziehen, begann sie sich schrittweise nach Westen abzusetzen. Am 4. September erreichten ihre Verbände die neue Verteidigungslinie. Die Truppen der sowjetischen Südfront drängten den Deutschen nach. Um ihre Schlagkraft zu erhöhen, führte das sowjetische Oberkommando dieser Front am 2. September 1943 zusätzlich das 20. Panzerkorps (Generalleutnant I.G. Lasarew) und das 11. Panzerkorps (Generalmajor N.N. Radkewitsch) zu.
Bedingt durch den Rückzug der 6. Armee musste auch die 1. Panzerarmee ihren rechten Flügel zurücknehmen. Die sowjetische Südwestfront versuchte dies auszunutzen und griff bei Isjum am 3./4. September erneut an. Wieder blieb der Angriff der 6. und 8. Gardearmee im deutschen Abwehrfeuer liegen. Doch am östlichen Flügel, wo die Verbände der 1. Panzerarmee der Ausweichbewegung der 6. Armee folgten, konnte die 3. Gardearmee unter General Leljuschenko einen größeren Raumgewinn erzielen. In rascher Folge fielen nun Proletarsk, Popasnaja und Artjomowsk. Generaloberst Malinowski und Marschall Wassilewski beschlossen, aus der übrigen Front das 1. mechanisierte Gardekorps und das 23. Panzerkorps herauszuziehen und damit die Truppen Leljuschenkos zu verstärken. Mithilfe dieser Verstärkungen durchbrachen die sowjetischen Truppen am 6. September 1943 den rechten Flügel der 1. Panzerarmee bei Konstantinowka. Damit öffneten sie eine Lücke zwischen der 6. Armee und 1. Panzerarmee, die sich bald auf 60 Kilometer verbreiterte. In dieser Lücke kämpften nur noch Reste von zwei deutschen Divisionen. So konnten Teile der 5. Stoßarmee und 2. Gardearmee in Straßenkämpfen am 7./8. September 1943 Stalino erobern. Zwei Tage später fielen auch Mariupol und Barwenkowo.
Das General Leljuschenkos 3. Gardearmee unterstellte 1. mechanisierte Gardekorps und 23. Panzerkorps waren nach ihrem Durchbruch bei Konstantinowka weit nach Westen vorgestoßen und standen bereits nahe Pawlograd im Rücken der Heeresgruppe Süd. Die Heeresgruppe reagierte darauf mit hastigen Improvisationen. Sie fasste die Reste der 23. Panzer-Division, 16. Panzer-Grenadier-Division und die neu herangekommene 9. Panzer-Division unter dem Befehl des XXXX. Panzerkorps zusammen, welches von General der Panzertruppe Sigfrid Henrici kommandiert wurde. Dieser setzte die drei Divisionen am 9. September von Norden und Süden gegen die Flanken des sowjetischen Vorstoßes an, welche von Schützendivisionen gehalten wurden. In schweren Kämpfen gelang es ihnen, bis zum 12. September die Lücke zwischen der 1. Panzerarmee und 6. Armee bei Slawjanka wieder zu schließen und dabei die Masse der beiden sowjetischen Korps abzuschneiden.
Ausklingen der Operationen
Nachdem es für den Augenblick gelungen war, die größte Bedrohung der Heeresgruppe Süd abzuwenden, entschloss sich Generalfeldmarschall von Manstein zu einem gewagten Schritt. Da auch der Nordflügel seiner Heeresgruppe unter stetig wachsendem sowjetischen Druck stand, meldete er am 14. September 1943 an das Oberkommando des Heeres, dass er am folgenden Tag eigenmächtig Teilen seiner Heeresgruppe das Absetzen auf den Dnepr befehlen werde. Daraufhin kam es am folgenden Tag zu einer weiteren Unterredung mit Hitler in dessen Hauptquartier. Da Hitler den Argumenten Mansteins nichts mehr entgegensetzen konnte, stimmte er dem allgemeinen Rückzug schließlich zu. Am 16. September 1943 wurde der Heeresgruppe Süd und der Heeresgruppe Mitte der Rückzug in die „Panther-Stellung“ gestattet.
Unterdessen standen die sowjetischen Verbände in der Linie Losowaja–Tschaplino–Guljai-Pole–Ursuf. Doch auch sie hatten schwere Verluste erlitten. Die letzte Reserve der Südwestfront, das 30. Schützenkorps, hatte der 3. Gardearmee zugeführt werden müssen, um die Verluste zu ersetzen, die durch den Gegenangriff des deutschen XXXX. Panzerkorps entstanden waren. Sie folgten den deutschen Truppen auf ihrem Rückzug deshalb nicht mehr so energisch, obwohl es örtlich auch weiterhin zu heftigen Rückzugsgefechten kam. Nach wenigen Tagen erreichten die sowjetischen Verbände der Südwestfront am 22. September 1943 den Dnepr. Die deutsche 1. Panzerarmee hatte sich rechtzeitig auf das jenseitige Ufer zurückziehen können. Nur im Raum Nikopol behauptete das deutsche XVII. Armeekorps noch einen Brückenkopf auf der östlichen Seite. Die anderen beiden Armeekorps der 6. Armee setzten sich in eine Verlängerung der „Panther-Linie“ ab, welche entlang der Molotschna (östlich von Melitopol) verlief und als „Wotan-Stellung“ bezeichnet wurde. Sie unterstand seit dem 16. September 1943 nicht mehr der Heeresgruppe Süd, sondern der Heeresgruppe A. Ihr folgte die sowjetische Südfront, bis auch hier die Front Ende September vorläufig zum Stehen kam.
Folgen
Verluste
Offizielle sowjetische Angaben sprechen für die Donezbecken-Operation von 273.522 Mann an Gesamtverlusten. Von diesen seien 66.166 Soldaten getötet oder als vermisst gemeldet worden. Darüber hinaus waren 886 Panzer und Selbstfahrlafetten, 814 Geschütze und Granatwerfer sowie 327 Flugzeuge verloren gegangen. Die deutschen Verluste in diesem Zeitraum sind nicht nachgewiesen. Allerdings waren die Verluste zumindest der Verbände, die im Brennpunkt der Kämpfe gestanden hatten, sehr hoch. So zum Beispiel bei der 3. Gebirgs-Division: Diese hatte am 18. August insgesamt 2000 Mann an die „Kampfgruppe Picker“ abgegeben, von denen fünf Tage später weniger als 200 zurückkehrten. Auch die 15. Luftwaffen-Felddivision musste kurze Zeit später aufgelöst werden. Besonders schwer wogen auch die materiellen Verluste: Die II. Abteilung des Panzer-Regiments 23 der 23. Panzer-Division war beispielsweise erst wenige Wochen zuvor in Deutschland mit 85 Panzern vom Typ Pz.Kfw. V „Panther“ ausgerüstet worden. Mit diesen war die Abteilung Anfang September 1943 in die Rückzugskämpfe geraten und verlor bis zum 16. September 1943 alle Panzer bis auf fünf.
Die Verluste der Zivilbevölkerung sind nur schwer abzuschätzen, da sich nicht feststellen lässt, wie hoch die Gesamtbevölkerung zum Zeitpunkt der Kämpfe war und sich letztere auf ein weites Gebiet mit zahlreichen Ortschaften ausdehnten. Die deutsche Okkupationspolitik in den Jahren zuvor und die Deportationen im Zuge der Räumung dieser Gebiete stellen ebenfalls einen wichtigen, aber kaum berechenbaren Faktor da. Fest steht, dass Stalino im Jahre 1940 über 507.000 Einwohner hatte. Bei der Rückeroberung der Stadt im September 1943 lebten dort nur noch 175.000 Menschen. Hinzu kamen kurz darauf jedoch weitere Verluste unter der Zivilbevölkerung durch Massenverhaftungen, die vom NKWD durchgeführt wurden. Tausende Sowjetbürger wurden wegen Kollaboration angeklagt und verurteilt. Da genaue Zahlen fehlen, muss als Anhaltspunkt gelten, dass in den 1990er-Jahren nicht weniger als 3364 Menschen allein aus Stalino rehabilitiert wurden. Sowjetische Historiker gehen zudem davon aus, dass mindestens noch einmal so viele Einwohner der Stadt zwar ebenfalls verurteilt, aber nicht rehabilitiert worden waren.
Verbrannte Erde
Da Hitler dem Donezbecken einen großen wirtschaftlichen Wert beimaß, befahl er die Zerstörung aller Industrieanlagen. Zum Verantwortlichen für diese „Evakuierung“ ernannte er noch am 31. August 1943 den General der Infanterie Otto Stapf als Leiter des „Wirtschaftsstabes Ost“. Allerdings erlaubte die sich schnell verändernde Frontlage keine planmäßige Räumung, sodass nunmehr Generalfeldmarschall von Manstein selbständig die weitgehende Zerstörung aller wirtschaftlichen Anlagen befahl:
Insgesamt kamen 284.000 Zivilisten ums Leben und 268.000 Tonnen Getreide, 280.000 Rinder, 209.000 Pferde, 363.000 Schafe, 18.700 Schweine, 800 Traktoren und 820 LKW wurden auf dem Rückzug mitgenommen. Weitere 941.000 Tonnen Getreide, 13.000 Stück Vieh, 635 LKW und 10.800 Traktoren wurden vernichtet. Weiterhin wurden die Industriezentren wie beispielsweise in Stalino oder Mariupol zerstört. Der Beauftragte des Nationalkomitees Freies Deutschland Friedrich Wolf befand sich in diesen Tagen im Donezbecken und berichtete seiner Ehefrau am 2. Oktober 1943:
Die Zerstörungen erwiesen sich jedoch nicht als nachhaltig. Bereits im Februar 1943, als sich das erste Mal eine Rückeroberung der ukrainischen Industriegebiete abzeichnete (→ Woronesch-Charkiwer Operation), hatte die sowjetische Regierung Vorbereitungen für den Wiederaufbau des Donezbeckens getroffen und entsprechende Direktiven erteilt. Diese erwiesen sich nach dem sowjetischen Erfolg als so effektiv, dass Ende 1943 die Kohlegruben des Donezbeckens wieder etwa 20 % der sowjetischen Kohleproduktion deckten. Bis 1945 wurden dort zudem 7500 Betriebe wiederhergestellt.
Literatur
С.С. Бирюзов: Когда гремели пушки. Москва 1961 (dt. S.S. Birjusow: Als Kanonen donnerten).
Владимир Дайнес: Советские ударные армии в бою. Москва 2009 (dt. W. Dajnes: Sowjetische Stoßarmeen im Kampf).
А.Г. Ершов: Освобождение Донбасса. Воениздат, Москва 1973 (dt. A.G. Erschow: Die Befreiung des Donezbeckens).
Karl-Heinz Frieser (Hrsg.): Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Band 8: Die Ostfront 1943/44 – Der Krieg im Osten und an den Nebenfronten. Deutsche Verlags-Anstalt, München 2007, ISBN 978-3-421-06235-2.
Erich von Manstein: Verlorene Siege. Bernard & Graefe Verlag für Wehrwesen, München 1976, ISBN 3-7637-5051-7.
Norbert Müller (Hrsg.): Die faschistische Okkupationspolitik in den zeitweilig besetzten Gebieten der Sowjetunion (1941–1944). Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1991, ISBN 3-326-00300-5.
P.N. Pospelow u. a.: Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges der Sowjetunion. Band 2, Berlin (Ost) 1963.
P.A. Shilin (Hrsg.): Die wichtigsten Operationen des Grossen Vaterländischen Krieges 1941–1945. Berlin (Ost) 1958.
A.M. Wassilewski: Sache des ganzen Lebens. Berlin (Ost) 1977.
Einzelnachweise
Donezbecken
Konflikt 1943
Donbass |
3242898 | https://de.wikipedia.org/wiki/Schlacht%20in%20der%20Bucht%20von%20Bergen | Schlacht in der Bucht von Bergen | Die Schlacht in der Bucht von Bergen (oft auch Schlacht von Vågen) am war eine Seeschlacht während des Englisch-Niederländischen Krieges (1665–1667). Ein englisches Geschwader unter dem Kommando des Rear-Admirals Sir Thomas Teddeman überfiel dabei eine niederländische Handelsflotte im Hafen von Bergen, die unter dem Befehl des Kapitäns Pieter de Bitter Widerstand leistete. Die Schlacht endete mit einer Niederlage des englischen Verbandes und dessen Rückzug.
Vorgeschichte
Allgemeiner Kriegsverlauf
Nach dem Ende des ersten englisch-niederländischen Krieges im Jahre 1654 war es in England zur Rückkehr König Charles II. (1630–1685) gekommen. Dieser benötigte für eine vom Parlament unabhängige Regierung finanzielle Mittel, welche er durch die Beute in einem weiteren Krieg gegen die Vereinigten Niederlande zu gewinnen hoffte. Dabei wurde er von der Royal African Company unterstützt, welche die niederländische Konkurrenz schädigen wollte. Im Frühjahr 1665 kam es schließlich zum offenen Kriegsausbruch.
In dem ersten Treffen der gegnerischen Flotten während des Krieges in der Seeschlacht bei Lowestoft () unterlagen die niederländischen Streitkräfte. Sie waren gezwungen, in ihre Häfen zurückzukehren, womit die englische Flotte die Kontrolle über die wichtigen Handelsrouten in der Nordsee und im Ärmelkanal erlangte. Unter dem Kommando des Earl of Sandwich (1625–1672) bezog sie eine Position an der Doggerbank, um dort die eintreffenden Konvois aus den niederländischen Kolonien zu erwarten. Am berief der Earl einen Kriegsrat ein, da inzwischen Nachrichten eingetroffen waren, dass eine niederländische Flotte unter Vizeadmiral Michiel de Ruyter (1607–1676), aus Amerika kommend, um Schottland herumfuhr und nun versuchte, mit südlichem Kurs in die niederländischen Häfen zu gelangen. Die meisten Offiziere sprachen sich dafür aus, auf direktem Wege zur norwegischen Küste zu fahren, wo sie de Ruyter abzufangen hofften. Bei der folgenden Fahrt verfehlten sie allerdings die niederländische Flotte, welche sich in Küstennähe fortbewegte und am in Delfzijl einlief. Die englische Flotte suchte vergebens nach den niederländischen Schiffen und geriet dabei zusehends in Bedrängnis, da auch ihre eigenen Vorräte zur Neige gingen. Als man von neutralen Schiffen erfuhr, dass sich ein großer und reich beladener niederländischer Konvoi im Hafen von Bergen befand, beschloss man in einem weiteren Kriegsrat am , einen Verband auszusenden und diese Schiffe zu überfallen. Zu diesem Zweck wurde ein Geschwader von 22 Kriegsschiffen und 2 Brandern unter dem Befehl von Rear-Admiral Sir Thomas Teddeman (1620–1668) ausgesandt.
Der Konvoi der Ostindien-Kompanie
Bei dem niederländischen Konvoi handelte es sich um große Handelsschiffe der Niederländischen Ostindien-Kompanie. Zweimal im Jahr entsandte die Kompanie einen Konvoi nach Europa. Da sich der baldige Ausbruch eines Krieges abzeichnete, hatte man das Kommando dem erfahrenen und kampferprobten Offizier Pieter de Bitter (ca. 1620–1666) anvertraut. Die Ladung war so umfangreich wie nie zuvor, weil man nicht wusste, wie lange ein Krieg weitere Lieferungen beeinträchtigen würde. Sie hatte einen Wert von über elf Millionen Gulden – mehr als der Jahreshaushalt des dänischen Königs. Der Konvoi verließ Ostindien am mit der Anweisung, Berührungen mit englischen Verbänden zu vermeiden. Auf die Nachricht vom Ausbruch des Krieges und des englischen Sieges in der Schlacht von Lowestoft nahm De Bitter an, dass der Ärmelkanal nun unpassierbar sei, und er beschloss, den Konvoi nördlich um Schottland herumzuführen, um durch die Nordsee die Niederlande zu erreichen. In der Nordsee geriet der Verband in einen Sturm und wurde zerstreut. Ab dem sammelten sich die meisten seiner Schiffe im Hafen von Bergen. Dort erreichten De Bitter Befehle aus dem Mutterland, die ihn anwiesen, in dem neutralen Hafen die Ankunft eines niederländischen Begleitgeschwaders abzuwarten.
Diplomatische Vorbereitungen
Eine Voraussetzung für einen Angriff auf niederländische Schiffe in den neutralen Häfen von Norwegen war die Kooperation oder zumindest Billigung König Friedrichs III. von Dänemark und Norwegen (1609–1670). Tatsächlich war dieser durch mehrere Verträge mit den Generalstaaten verbunden, doch dies bedeutete nicht, dass es keine Spannungen im dänisch-niederländischen Verhältnis gab. Das niederländische Monopol im Ostindien- und Afrikahandel behinderte auch die Entwicklung des dänischen Handels. Des Weiteren hatte die mangelnde niederländische Unterstützung für Dänemark im Zweiten Nordischen Krieg (1655–1660) zur Verschlechterung der Beziehungen beigetragen. Nach der Schlacht von Lowestoft näherte sich König Friedrich III. der englischen Seite an. Er ging davon aus, dass unter der englischen Seeherrschaft viele niederländische Handelsschiffe in den dänischen Häfen Schutz suchen würden. Um die dänischen Staatsfinanzen zu sanieren, spielte er mit dem Gedanken, diese reich beladenen Schiffe mit ihren Waren zu konfiszieren. Am schlug ihm der englische Gesandte Sir Gilbert Talbot vor, englische Schiffe zu diesem Zweck einzusetzen und die Beute anschließend aufzuteilen. Als der König sich diesem Vorschlag gegenüber nicht abgeneigt zeigte, informierte der Gesandte seine Regierung von der dänischen Kooperationsbereitschaft. Umgehend sandte der Herzog von York (1633–1701) als Oberbefehlshaber der englischen Verbände entsprechende Informationen und Autorisierungen an den Earl of Sandwich. Diese trafen noch vor dem Kriegsrat am 17. Juli bei der Flotte ein und bildeten die Grundlage für die folgenden englischen Operationen in den norwegischen Gewässern. Tatsächlich schreckte Friedrich III. vor einem Bruch mit den Niederlanden zurück. Er ging davon aus, dass er seinen neutralen Status erhalten und dennoch einen Teil der niederländischen Handelsgüter als Gegenleistung für sein Stillhalten erhalten könne. Er gab Befehl an die dänischen Gouverneure, sich nicht an Aktionen gegen niederländische Schiffe zu beteiligen, sich dem englischen Vorgehen jedoch auch nicht zu widersetzen. Über Proteste sollte die dänische Beteiligung nicht hinausgehen. Sir Gilbert Talbot versuchte seiner Regierung mitzuteilen, dass mit einer dänischen Kooperation nicht mehr zu rechnen sei und dass die englischen Kriegsschiffe trotzdem ohne weitere Absprachen niederländische Schiffe in norwegischen Häfen angreifen könnten. Doch diese Briefe erreichten die Flotte nicht mehr.
Verlauf der englischen Operation bei Bergen
Verhandlungen
Als Rear-Admiral Teddeman am Nachmittag des vor Bergen eintraf, hatten starke südliche Stürme sieben seiner Schiffe abgetrieben. Für das Treffen mit dem niederländischen Handelskonvoi standen ihm deshalb nur 15 Kriegsschiffe und 2 Brander zur Verfügung. Vor der Bucht kam ein dänischer Beamter an Bord der HMS Revenge, des englischen Flaggschiffes, und erklärte, dass es ein feindlicher Akt sei, mit mehr als fünf Kriegsschiffen in einen dänischen Hafen einzulaufen. In der Annahme, dass der Gouverneur der Stadt, Johan Caspar von Cicignon, nicht über die Vereinbarungen unterrichtet sei, entsandte Rear-Admiral Teddeman einen Unterhändler zum höchsten örtlichen Beamten, dem Befehlshaber aller dänischen Streitkräfte in Norwegen, General Claus von Ahlefeldt. Dieser Unterhändler war der Cousin des Earl of Sandwich, Edward Montagu. Tatsächlich hatte der General lediglich den Befehl erhalten, die niederländischen Schiffe im Hafen festzuhalten, bis die Kräfte zur Verfügung stünden sie einzunehmen; weitere Befehle würden später eintreffen. General von Ahlefeldt nahm daher an, dass mit den bald bereitstehenden Kräften eine dänische Flotte gemeint sei. Tatsächlich verließ der Kurier mit den weiteren Erklärungen Kopenhagen erst am 24. Juli und da die Reise nach Bergen zehn Tage in Anspruch nahm, konnte er nicht mehr rechtzeitig eintreffen.
Die Verhandlungen zwischen Engländern und Dänen zogen sich die ganze Nacht hin. General von Ahlefeldt versuchte Zeit zu gewinnen, um das Eintreffen weiterer Befehle abzuwarten. Er versicherte Montagu seiner Kooperation, stellte aber zur Bedingung, dass der Angriff nur mit sechs Schiffen und erst am 16. August stattfinden sollte. Rear-Admiral Teddeman wies vor allem letzteres entschieden zurück. Einerseits wären die Niederländer dann auf den Angriff besser vorbereitet, und andererseits konnte dann schon eine niederländische Kriegsflotte vor Bergen auftauchen. Obwohl General Ahlefeldt schließlich nur noch einen zweitägigen Aufschub erbat, wurden die Verhandlungen bei Morgengrauen ergebnislos abgebrochen. Das englische Geschwader traf nun Vorbereitungen zum Angriff.
Niederländische Vorbereitungen
Der Hafen von Bergen lag im Vågen, einer von Nordwesten nach Südosten verlaufenden Bucht. Die Öffnung der Bucht war weniger als 500 Meter breit, ihre Tiefe betrug etwa einen Kilometer. Auf dem östlichen Ufer der Buchtöffnung befand sich die dänische Festung Bergenhus, und auch auf dem westlichen Ufer standen Forts und Küstenbatterien. Um diese Hafenbucht zu verteidigen, brauchte man lediglich wenige Schiffe an der Buchtöffnung zu postieren.
Bei Ankunft des englischen Geschwaders befanden sich im Vågen ungefähr 50 niederländische Handelsschiffe sowie der aus zehn Schiffen bestehende Konvoi der Niederländischen Ostindien-Kompanie (VOC). Die letzteren Schiffe waren mit jeweils etwa 60 Kanonen die kampfstärksten. Zunächst war man sich unter den Niederländern unklar, wie man auf die Bedrohung reagieren sollte. Einige Kapitäne sprachen sich für einen sofortigen Angriff aus. Schließlich setzte sich jedoch der Kommandeur des Konvois Pieter de Bitter mit dem Vorschlag durch, sich in der Bucht zur Verteidigung einzurichten. Zunächst ordnete er die sechs größten Schiffe in einer Linie am Ausgang des Vågen an: im äußersten Westen die Brederode, im Zentrum die Gulden Phenix, Wapen van Hoorn, Jonge Prins, sein Flaggschiff die Walcheren und die Catherina. Am östlichen Ende der Linie, vor dem Bergenhus, lag die Slot Hooningen. Da der zur Verfügung stehende Raum damit aufgebraucht war, mussten die Rijzende Zon und drei weitere kleinere Ostindienfahrer als Reserve in die zweite Linie gelegt werden. Die übrigen Handelsschiffe waren trotz zahlreicher Kanonen weniger kampfstark, sie wurden von ihren Mannschaften an Land gebracht und dort in Feldwerken gegen die englischen Schiffe gerichtet. Außerdem wurden niederländische Geschützbesatzungen in das Bergenhus und in die anderen dänischen Forts geschickt, um die dortigen Besatzungen zu verstärken.
Aufstellung der niederländischen Schiffe unter Pieter de Bitters Kommando
Verlauf der Schlacht
Rear-Admiral Teddeman brachte seine eigenen Vorbereitungen zur Schlacht kurz nach Sonnenaufgang zum Abschluss. Gegenüber der niederländischen Linie brachte er von Osten nach Westen die Prudent Mary, Breda, Foresight, Bendish, Happy Return, Sapphire und die Pembroke in Position. Diese Linie war so eng, dass sich die Schiffe fast berührten. Da sich der Admiral nicht darüber klar war, wie die Dänen reagieren würden, positionierte er seine übrigen Schiffe vor den dänischen Küstenforts. An der Ostküste lag die Norwich vor einer niederländischen Batterie nördlich des Bergenhus. Neben ihr schlossen sich die Golden Lion und die Society an, welche die dänische Sverreborg-Batterie auf dem Hügel nördlich der Festung und ein weiteres dänisches Fort noch weiter nördlich vor sich hatten. Am westlichen Ufer lagen die Guernsey, Revenge, Coast Frigate und die Guinea in einer Nord-Süd-Linie vor der dänischen Festung Nordnes, welche auf überhöhtem Grund den Eingang der Bucht dominierte. Die Martin Galley sicherte die Festung von der Seeseite her ab.
Um fünf Uhr gab Rear-Admiral Teddeman den Befehl zur Eröffnung des Feuers auf die niederländischen Schiffe. Diese erwiderten das Feuer. Die englischen Schiffe vor den dänischen Forts hatten Anweisung, erst dann zu feuern, wenn sie selbst durch die Dänen beschossen würden. Doch die Dänen standen unter keiner einheitlichen Führung mehr, da in den Forts die niederländischen Verstärkungen mit einigen Kanonen das Feuer auf die englischen Schiffe eröffneten. Daraufhin nahmen die Engländer auch die dänischen Befestigungen unter Feuer. Nunmehr waren auch die dänischen Besatzungen gezwungen, sich gegen den englischen Angriff zu wehren. General von Ahlefeldt gab um sechs Uhr Befehl zur Einstellung des Feuers und hisste auf dem Bergenhus die weiße Flagge. Rear-Admiral Teddeman hatte jedoch keine Möglichkeit, sie zu sehen, da sein Flaggschiff, die Revenge, auf der anderen Seite der Bucht lag und von Pulverqualm umgeben war. Außerdem konnte sich General von Ahlefeldt in seinen eigenen Befestigungen nicht durchsetzen. So holte er die Flagge nach 15 Minuten wieder ein.
In dem folgenden stundenlangen Feuergefecht brachten die Niederländer ihre überlegene Feuerkraft zur Geltung. Ihre Schiffe in der Linie hatten fast alle 50 bis 60 Kanonen, während nur eines der ihnen gegenüberliegenden englischen Schiffe mehr als 46 Kanonen zählte. Ihre Brander konnten die Engländer auch nicht zum Einsatz bringen, da der Wind zur offenen See wehte. Um 8:30 Uhr lichteten sie deshalb ihre Anker und ließen sich auf die offene See treiben. Rear-Admiral Teddeman schrieb später:
Die englischen Verluste beliefen sich auf über 400 Gefallene und Verwundete, darunter Edward Montagu und die sechs Kapitäne der Schiffe, welche der niederländischen Linie direkt gegenüberlagen. Nur 41 Opfer waren auf den Kampf gegen die dänischen Forts zurückzuführen. Die Niederländer hatten lediglich 99 Tote und Verwundete zu beklagen. Das einzige ernsthaft beschädigte Schiff war die niederländische Catherina, welche unter der Wasserlinie getroffen worden war und deshalb auf Grund gesetzt werden musste. Die dänischen Verluste beliefen sich auf sieben Gefallene und 26 Verwundete. Doch auch einige Gebäude in der Stadt waren durch englische Kanonenkugeln beschädigt worden. (Eine davon befindet sich noch heute in der Wand der Kathedrale von Bergen; siehe: Bild unten links.)
Aufstellung der Schiffe des englischen Geschwaders und ihrer Verluste im Detail
Folgen der Schlacht
Die englische Flotte zog sich in einen nahen Fjord zurück. Zwei Tage später erreichte sie eine Mitteilung Generals von Ahlefeldt. Dieser hatte inzwischen die Instruktionen Friedrichs III. erhalten und war nun bereit, einem weiteren englischen Angriff auf die niederländischen Schiffe zuzustimmen. Sir Thomas Clifford begab sich in Verkleidung nach Bergen, um erneute Absprachen zu treffen. Doch auch diesmal wollte der General in nichts einwilligen, was die Niederländer als feindlichen Akt ansehen konnten. Dänische Truppen würden nicht an dem Angriff teilnehmen, die Engländer dürften nicht an Land gehen und keine Feuerschiffe einsetzen. Obendrein würde General von Ahlefeldt selbst die Dauer des Angriffs bestimmen. Rear-Admiral Teddeman misstraute den dänischen Versprechungen und erhielt von Clifford zusätzlich Nachrichten davon, dass die Niederländer ihre Verteidigung noch verstärkt hatten. Er setzte daraufhin Segel und stieß wieder zur englischen Flotte. General von Ahlefeldt beschlagnahmte die Kanonen und einige Waren, welche die Niederländer an Land gebracht hatten, als „Bezahlung für seinen Schutz gegen die Engländer.“
Die Niederländer entsandten inzwischen eine Flotte, um die Handelsschiffe von der norwegischen Küste in die heimischen Häfen zu eskortieren. Doch auf dem Rückweg wurde der Konvoi durch heftige Stürme auseinandergetrieben. Einige der Handelsschiffe liefen daraufhin vereinzelt in die englische Flotte und wurden gekapert. Am erlitten zwei große Ostindienfahrer und ihre Eskorte dieses Schicksal. Am fielen noch einmal vier Schiffe (davon eines mit 70 Kanonen) in die Hand der Engländer. Tatsächlich waren dies die größten englischen Erfolge seit der Schlacht von Lowestoft. Trotzdem trug die vorhergehende Niederlage bei Bergen dazu bei, dass der Earl of Sandwich wenig später das Kommando über die englische Flotte verlor. An seine Stelle trat George Monck, 1. Duke of Albemarle (1608–1670).
Weblinks
Vrakrestene etter slaget på Vågen. In: Bergens Tidende, 7. Januar 2005 (norwegisch)
Slag in de Baai van Bergen, 12 augustus 1665. Niederländische Marine (niederländisch)
Literatur
Michael Breet: Strijd om de VOC-miljoenen — Slag in de haven van het Noorse Bergen, 12 augustus 1665. Walburg Pers, Zutphen 2007, ISBN 90-5730-468-6
Charles Ralph Boxer: The Anglo-Dutch Wars of the 17th Century. Her Majesty’s Stationery Office, London 1974.
Frank L. Fox: A distant Storm – The Four Days’ Battle of 1666, the greatest sea fight of the age of sail. Press of Sail Publications, Rotherfield / East Sussex 1996, ISBN 0-948864-29-X
Roger Hainsworth, Christine Churchers: The Anglo-Dutch Naval Wars 1652–1674. Sutton Publishing, Thrupp / Stroud / Gloucestershire 1998, ISBN 0-7509-1787-3
Cyril Hughes Hartmann: Clifford of the Cabal. William Heinemann, London 1937.
James R. Jones: The Anglo-Dutch Wars of the Seventeenth Century. Longman House, London / New York 1996, ISBN 0-582-05631-4
Richard Lawrence Ollard: Cromwell’s Earl – A Life of Edward Mountagu, 1st Earl of Sandwich. HarperCollins, London 1994, ISBN 0-00-255003-2
J.C.M. Warnsinck: De Retourvloot van Pieter de Bitter (Kerstmis 1664 – Najaar 1665). Martinus Nijhoff, ’s-Gravenhage 1929
Einzelnachweise
Bergen, Bucht Von
Bergen, Bucht Von
Bergen
Bergen (Norwegen)
Konflikt 1665
Geschichte (Vestland) |
3371886 | https://de.wikipedia.org/wiki/Essener%20Domschatzkammer%20Hs.%201 | Essener Domschatzkammer Hs. 1 | Die Handschrift Essener Domschatzkammer Hs. 1, häufig als Großes Karolingisches Evangeliar oder Altfrid-Evangeliar bezeichnet, ist eine Pergamenthandschrift des Essener Domschatzes. Sie entstand um das Jahr 800 und befindet sich möglicherweise seit der um 850 erfolgten Gründung des Essener Frauenstifts in Essen. Das Evangeliar enthält über tausend Glossen auf Latein, Altsächsisch und Althochdeutsch.
Beschreibung
Die Handschrift misst 32,5 cm Höhe und 23,0 cm Breite und ist seit der letzten Restaurierung 1987 zwischen mit grauem Wildleder bezogene und mit Stempelprägung verzierte Holzdeckel eingebunden. Sie ist vollständig erhalten und umfasst 188 Blätter aus Kalbspergament in 28 Lagen, beigebunden ist ein kleinerformatiges (17 × 23 cm) Homiliar-Fragment. Die Lagen sind größtenteils Quaternionen, bestehend aus vier gefalzten und ineinandergelegten Pergamentbögen, die acht Blätter (= 16 Seiten) ergeben. Der Schriftraum des Evangeliars misst 26,5 cm in der Höhe und 16 cm in der Breite. Der Text hat bis fol. 12v, dem Ende des Perikopenverzeichnisses, 38 Zeilen, danach 30 Zeilen. Er wurde im 10. Jahrhundert mit zahlreichen Glossen in Latein, Altsächsisch und Althochdeutsch versehen.
Einige Blätter wurden an den Rändern beschnitten, wodurch Teile einzelner Glossen verloren gingen. Auch wurden Glossen durch den Einsatz von Chemikalien, die die Lesbarkeit erhöhen sollten, beschädigt. Bei einer Restaurierung 1958 wurden einzelne Blätter falsch wieder eingebunden: das Doppelblatt 48v/49r wurde in die verkehrte Richtung gefalzt und das Doppelblatt 143v/144r in die 21. anstatt in die 22. Lage eingebunden.
Die Handschrift enthält ein Perikopenverzeichnis, in lateinischer Sprache den Brief Novum opus des Hieronymus an Papst Damasus I., die Vorrede plures fuisse des Hieronymus zu den Evangelien, die vier Vorreden zu den einzelnen Evangelien sowie den Text der Evangelien, außerdem 14 Kanontafeln, sowie von derselben Hand, die die meisten Glossen eintrug, einen unvollständigen Ordo lectorum. Das hinzugebundene Homiliar enthält Auszüge aus verschiedenen Texten des Beda Venerabilis. Der Text des Evangeliars wurde von drei verschiedenen Schreibern mit brauner Tinte angelegt, die Schrift ist eine frühe Fassung der karolingischen Minuskel. Zur Auszeichnung, das heißt: zur Hervorhebung, der verschiedenen Abschnitte wurde als Schrift eine Capitalis quadrata verwendet. Die Unziale wurde nur im Matthäus-Evangelium für die Kapitelanfänge, die Genealogie Christi und das Vaterunser verwendet. Die Überschriften sind in Gelb, Rot und Grün ausgemalt. Der Buchschmuck ist polychrom und umfasst sowohl Zierseiten, Kanontafeln, Incipit- und Initialseiten sowie Initialen von unterschiedlicher Gestaltung und Größe. Die verwendeten Farben sind Mennigerot und Kupfergrün, die gelbe Farbe wurde bisher nicht untersucht.
Buchmalerei
Georg Humann schrieb 1904 in seinem Werk zu den Schätzen des Essener Münsters:
Auch später ist der Buchmalerei der Handschrift ein „barbarischer Geschmack“ oder „barbarische Großartigkeit“ bescheinigt worden.
Der Buchschmuck der Handschrift ist außergewöhnlich vielfältig und von Einflüssen mehrerer Kulturkreise durchsetzt. Auffällig sind die Zierbuchstaben, bei denen Teile durch hunde- und vogelartige Figuren ersetzt wurden. Diese Zierbuchstaben lassen sich auf Fisch-Vogel-Buchstaben der merowingischen Buchkunst des 7. und 8. Jahrhunderts zurückführen. Die Initialen weisen dagegen oft Flechtbandornamente auf, die aus Motiven des irisch-angelsächsischen Raums abgeleitet sind. Bei diesen Ornamenten weist die Essener Handschrift identisches Formengut zum sogenannten Psalter Karls des Großen (Bibliothèque Nationale ms. lat. 13159) auf, das zwischen 795 und 800 datiert werden kann. Gerds nimmt ein Entstehen im selben Skriptorium an. Die Verwendung unterschiedlicher Zierformen in einer Handschrift war in der karolingischen Buchmalerei nicht ungewöhnlich. Der ornamentale Charakter der Darstellung ist unberührt von der karolingischen Renaissance, die einen Rückgriff auf antike Vorbilder beinhaltete und der Darstellung des Menschen mehr Raum gab. Die Kanontafeln der Handschrift gestaltete der Buchmaler unterschiedlich: Arkaden sind mit Rundbögen oder Giebeln aus Bandstreifen oder Bandverschlingungen gebildet, die mit Borten aus Blattmustern versehen sind. Eine der Kanontafeln weist ein identisches Ornament als Säulenfüllung auf wie das Gundohinus-Evangeliar (Autun, Bibliothèque Municipale. Ms 3), zu dem auch Ähnlichkeiten bei den Gestaltungen der Rundbögen besteht. Unter den Zierseiten ist die Kreuzdarstellung mit dem Brustbild Christi im Schnittpunkt der Kreuzarme und den Evangelistensymbolen zwischen den Kreuzarmen besonders markant. Diese Miniatur weist in den Gesichtern besonders deutlich irische Einflüsse auf. Die niedrigen Stirnen, die in einer Linie mit der Nase gezeichneten Augenbrauen, die weit geöffneten Augen wie auch die Münder finden sich ähnlich an dem im 8. Jahrhundert entstandenen Bandkruzifix auf S. 266 des Codex Cal. sang. 51 der Stiftsbibliothek St. Gallen. Die Gestaltung des Kreuzes bei Hs. 1 durch farbige Rechtecke deutet Edelsteine an, die Grundidee der Darstellung ist also eine „crux gemmata“. Die Darstellung meint daher nicht die Kreuzigung als Ereignis, sondern Christus, der durch das Kreuz „in seine Herrlichkeit einging“. Die Darstellung mit dem Brustbild Christi am Schnittpunkt der Kreuzbalken ist dabei im abendländischen Raum selten, die Essener Darstellung ist eine der spätesten Darstellungen dieses Typs. Durch das Buch, das Christus hält, ist er zugleich als Lehrer der Wahrheit charakterisiert.
Die Glossen
Die insgesamt 453 altsächsischen Glossen des Evangeliars stammen aus dem 10. Jahrhundert. Sie überliefern insgesamt über 1050 volkssprachliche Einzelwörter der Zeit, das Evangeliar ist damit die zweitumfangreichste Glossierung des Altsächsischen. Die meisten Glossen wurden von einer Hand, die mit stark wechselndem Duktus schrieb, teils marginal am äußeren Rand, teilweise auch zwischen die Zeilen geschrieben (interlinear). Reichte der Platz nicht aus, benutzte die Schreiberin auch den inneren Rand. Die Glossierung folgt dabei inhaltlich einer unbekannten, verlorenen Vorlage, auf die auch die ebenfalls im Essener Skriptorium entstandene Glossierung eines ursprünglich aus dem Stift Elten stammenden Lindauer Evangeliars (Freiherr M. Lochner von Hüttenbach, Codex L, heutiger Verbleib nicht bekannt) zurückzuführen ist. Die Glossen verteilen sich ungleichmäßig auf alle vier Evangelien: 109 interlineare und 78 marginale Glossen erläutern das Matthäus-Evangelium, wogegen das Markus-Evangelium nur mit 15 interlinearen und 12 marginalen Glossen versehen ist. Von den 148 Glossen zum Evangelium nach Lukas sind 87 interlinear und 61 marginal eingeschrieben, das Johannes-Evangelium ergänzen 34 interlineare und 57 marginale Glossen. Zur Sprache der in das Pergament geritzten Griffelglossen finden sich in der Literatur unterschiedliche Angaben.
Die lateinischen Glossen sind meist Scholien und bestehen aus sprachlich vereinfachten Auszügen aus karolingischen und vorkarolingischen Evangelienkommentaren, besonders aus den Schriften Bedas. Dabei wurden die kommentierten Stellen des Evangeliumstextes mit Unzialbuchstaben versehen, die bei den Glossen wiederkehren und so die Zuordnung der Kommentierung zur kommentierten Stelle sicherstellen. Sobald die Buchstaben des Alphabets verbraucht sind, ist die nächste Kommentierung wieder als „A“ bezeichnet. Gleichzeitig mit dem Eintrag der lateinischen Glossen wurden einzelne deutsche Wörter hinter selten gebrauchten Wörtern eingetragen. In einer zweiten Bearbeitungsphase wurden die lateinischen Glossen korrigiert und teilweise ergänzt, zudem wurden weitere deutsche Ergänzungen zu den Scholien vorgenommen. In diesem Bearbeitungsabschnitt wurden die lateinischen Glossen auch an ihrem Ende ergänzt. Diese Glossierungen nehmen Bezug auf das Ende der lateinischen Glosse, in zahlreichen Fällen handelt es sich um vollständige deutsche Halbsätze, die den Schluss der lateinischen Glosse paraphrasieren und fortführen. Hellgardt kommt zum Eindruck einer Vorform einer deutsch-lateinischen Mischsprache, wie sie als klerikaler Soziolekt bei Notker dem Deutschen oder Williram vorkommt.
Geschichte
Nach der kunsthistorischen Einordnung ist das Evangeliar um 800 entstanden, wo, ist jedoch unsicher. Das Skriptorium, in dem die Handschrift entstand, konnte bisher nicht identifiziert werden. Aufgrund des Schriftbildes und des Zusammentreffens kontinentaler und insularer Einflüsse im Buchschmuck wird der Entstehungsort in Nordwestdeutschland oder Nordostfrankreich vermutet. Unbekannt ist auch, wie und wann die Handschrift nach Essen gelangte. Aufgrund der Lokalisierung der Handschrift in Gebiete, wo der Heilige Altfrid, der spätere Gründer des Stifts Essen, ausgebildet wurde, der hohen Qualität der Handschrift sowohl in textlicher wie künstlerischer Hinsicht und des Umstandes, dass ein Evangeliar zur liturgischen Grundausstattung einer Kirche gehörte, wird angenommen, dass das karolingische Evangeliar von Altfrid selbst seiner Gründung überlassen wurde. Katrinette Bodarwé wies allerdings darauf hin, dass die Handschrift keinen Eintrag der zu Beginn des 10. Jahrhunderts in Essen tätigen Bibliothekarshand „A“ aufweist, möglicherweise also doch nicht als Gründungsgeschenk nach Essen gelangte.
Ein am oberen Rand von fol. 143r stehender Eintrag „Iuntram prb“ („Guntram presbiter“) könnte von einem früheren Besitzer stammen. Die Inhaltsangabe „PLENARIVM“ auf fol. 2r der sogenannten Bibliothekarshand „B“ wurde in Essen um 1200, vielleicht auch erst in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, eingetragen. Davor fehlt jeder direkte Besitznachweis der Handschrift.
Die Glossen des Evangeliars weisen charakteristische Merkmale im Schriftbild auf, die für das Skriptorium des Essener Frauenstifts typisch sind. Die Schreiberin wirkte auch an dem im letzten Drittel des 10. Jahrhunderts in Essen entstandenen Sakramentar Hauptstaatsarchiv Düsseldorf Essen D2 mit, so dass der Aufenthalt der Handschrift Hs. 1 bereits im späten 10. Jahrhundert in Essen sicher ist. Etwa in diesem Zeitraum wurde das Evangeliar erstmals neu gebunden, Georg Humann stellte 1904 fest, dass die vorletzte Lage falsch sortiert war und das als v. 60 ein schmaler Pergamentstreifen mit Notizen in der Handschrift der Glossen mit eingebunden worden war. Möglicherweise war das Evangeliar bereits 946, als die Stiftskirche Essen abbrannte, nicht mehr als liturgisches Buch in Gebrauch, sondern diente bereits als Schulbuch zur Unterrichtung der Sanktimonialen. Während alle aktuellen liturgischen Schriften nach dem Stiftsbrand vom Essener Skriptorium neu erstellt werden mussten, blieben einige Bücher wie das Evangeliar (falls es nicht erst nach dem Brand nach Essen gelangte) oder die Sakramentarshandschrift Hauptstaatsarchiv Düsseldorf D1, die nicht mehr in liturgischem Gebrauch war, erhalten, mutmaßlich, weil sie getrennt von den in Benutzung befindlichen Handschriften aufbewahrt wurden. Die Verwendung als Schulbuch belegen auch die Federproben, die besonders zahlreich auf den Vorsatzblatt vorgenommen wurden, dort finden sich neben Strichen und Schraffuren Versanfänge wie „Scribere qui nescit, nullum putat esse laborem.“ („Wer das Schreiben nicht kennt, glaubt nicht, dass es Arbeit ist“) und Einzelwörter wie „Proba“ („Test“). Diskutiert wird, dass das Evangeliar neben dieser Nutzung noch in liturgischer Benutzung war. Das Theophanu-Evangeliar (Essener Domschatzkammer Hs. 3), das Äbtissin Theophanu um 1040 mutmaßlich zur prunkvollen Inszenierung der Osterliturgie schenkte, weist fast identische Abmessungen wie das Karolingische Evangeliar auf, Gass nimmt daher an, das Theophanu-Evangeliar habe das Karolingische Evangeliar als Prunkevangeliar in der Stiftsliturgie abgelöst.
Gegen Ende des 11. Jahrhunderts schwand das Interesse des Damenkonvents an seinen Kodexbeständen, aus denen die Kanoniker des Stifts eine eigene Bibliothek für Ausbildungszwecke zusammenstellten. In diesem Zusammenhang entstand der Besitzeintrag der Bibliothekarshand „B“. Durch die Aufnahme in die Kanonikerbibliothek blieb die Handschrift erhalten, während andere Essener Bücher zu Pergamentmakulatur verarbeitet wurden. In der nur den maximal zwanzig Kanonikern zugänglichen Bibliothek geriet das Evangeliar in Vergessenheit. Keines der Essener Schatzverzeichnisse der frühen Neuzeit verzeichnet die Handschrift. Als das Stift Essen 1802 aufgelöst und wertvolle Handschriften von den neuen preußischen Herren nach Düsseldorf verbracht wurden, blieb das Karolingische Evangeliar aus unbekannten Gründen in Essen, möglicherweise wurde die Handschrift nicht gefunden.
Erst 1880 wurde das Evangeliar im Pfarrarchiv des Münsters entdeckt. Bereits im folgenden Jahr veröffentlichte Georg Humann einen ersten Aufsatz mit Textauszügen, Zeichnungen und einer kolorierten fotografischen Abbildung des Kreuzes mit den Evangelistensymbolen v. 29v. Beachtung fanden besonders die Glossen, den künstlerischen Wert der Zeichnungen maß man am Zeitgeschmack, auch wenn man sie als charakteristische Beispiele vorkarolingischer Buchmalerei erkannte.
Im August 1942 wurde das Evangeliar, das in der Münsterbibliothek aufbewahrt worden war, nach Marienstatt im Westerwald in das dortige Zisterzienserkloster evakuiert und entging dadurch dem Bombenangriff, bei dem am 5. März 1943 die Münsterbibliothek zerstört wurde. 1949 wurde die Handschrift nach Essen zurückgebracht. Nach der Öffnung der Domschatzkammer 1958 für das Publikum war das Evangeliar im Handschriftenraum der Schatzkammer untergebracht. Da dieser das ehemalige sectarium des Stifts ist, befindet sich die Handschrift an ihrem historischen Aufbewahrungsort. Nach der Neueröffnung der Domschatzkammer am 15. Mai 2009 ist die Handschrift aus konservatorischen Gründen nicht mehr Teil der Dauerausstellung.
Aufgrund ihrer Bedeutung und ihres guten Zustands wurde die Handschrift mehrfach für Ausstellungen ausgeliehen, zuletzt im Jahr 2014 für die Sonderausstellung Karls Kunst zum 1200. Todesjahr Karls des Großen in Aachen.
Restaurierung
Die Handschrift wurde mehrfach restauriert. Nachdem sie bei ihrer Evakuierung im Zweiten Weltkrieg gelitten hatte, beauftragte die Pfarrgemeinde St. Johann Baptist, der die Handschrift nach der Aufhebung des Stiftes gehörte, 1956/57 den Restaurator Johannes Sievers am Hauptstaatsarchiv Düsseldorf mit der Restaurierung. Dieser nahm die Handschrift auseinander und heftete sie neu, teilweise fehlerhaft. Die illuminierten Seiten, die besonders schutzbedürftig erschienen, beklebte Sievers nach dem damaligen Stand der Technik mit Mipo-Folie auf PVC-Basis. Von dieser Maßnahme waren 96 Seiten betroffen.
Die Folgen der Restaurierung waren verheerend. Die Folie verschloss das Pergament luftdicht. Durch den fehlenden Zutritt von Luftfeuchtigkeit begann das Pergament zu verhornen. Zudem verfälschte die hochglänzende Folie die eher matten Farben der Buchmalerei. Langfristig wurde die Folie braun und brüchig. Eine Ablösung der schädigenden Folie ohne Zerstörung der Handschrift galt lange Zeit als unmöglich. Versuche an anderen Handschriften, die vergleichbar beklebt worden waren, ergaben, dass die pastösen Farbschichten der Malerei stärker an der Folie als am Pergament hafteten und wie Abziehbilder abgezogen worden wären. In anderen Fällen gelang zwar das Abziehen der Folien, die Rückstände der Klebeschicht führten jedoch zum Verkleben der Seiten zu einem massiven Buchblock.
1985 fand die Domschatzkammer Essen mit Otto Wächter, dem Leiter des Instituts für Restaurierung an der Österreichischen Nationalbibliothek einen Experten, der eine Ablösung der Folien für möglich hielt. Die Handschrift wurde daher im Januar 1986 nach Wien gebracht, wo Wächter sie zerlegte. Die einzelnen Pergamentblätter legte Wächter dann in ein Bad aus vier Teilen Ethanol und einem Teil Essigsäureamylester, dem er, falls der Lösungseffekt nicht ausreichte, noch einen Teil Butylacetat zusetzte. Nach einem Bad von 20 bis 30 Minuten Dauer konnte Wächter die Folien vorsichtig abziehen. Anschließend ließ er das Pergament trocknen, wodurch Rückstände der Klebeschicht erkennbar wurden. Diese entfernte Wächter durch Betupfen und vorsichtiges Rotieren mit einem in Essigsäureamylester getauchten Baumwolllappen, bis keinerlei klebrige Rückstände mehr wahrnehmbar waren. Dieser Arbeitsschritt zog sich teilweise über mehrere Tage für eine Seite, da die Klebereste nur im trockenen Zustand erkennbar waren. Das zweite restauratorische Problem war Grünspanfraß, der durch das in der Buchmalerei verwendete Kupfergrün verursacht wurde. Grünspanfraß tritt bei Buchmalerei auf, wenn die einzelnen Farbpartikel nur von wenig Bindemitteln der Farbe umschlossen werden. Von der Restaurierung saurer Papiere war zudem bekannt, dass magnesiumverbindungshaltiges Papier nicht von Grünspanfraß betroffen wird. Wächter bestrich daher alle Stellen der Handschrift, bei denen Grünspan als Farbstoff benutzt worden war, von beiden Seiten des Pergamentblattes mit einer Magnesiumbicarbonatlösung, die er trocknen ließ. Anschließend pinselte er eine Lösung von 20 Gramm Methylcellulose auf ein Liter Wasser auf. Dabei machte er sich die auch beim Einsatz von Cellulosen in Waschmitteln ausgenutzte Fähigkeit, sich zwischen Schmutzpartikel und Stoff zu setzen, zu Nutze. Wächter lagerte auf diese Weise die Kupfergrünpartikel in einen Puffer aus Magnesiumsalzen. Anschließend verschloss er die Stellen, an denen sich das Kupfergrün bereits durch das Pergament gefressen hatte, mit Goldschlägerhaut. Erschwert wurde die Restaurierung dadurch, dass die Pergamentblätter der Handschrift weder gepresst noch gespannt werden durften, da dieses zu einer Beschädigung der ins Pergament geritzten Griffelglossen hätte führen können. Nach Abschluss der Restaurierung wurde die Handschrift, die einen Holzdeckel unbekannten Alters hatte, der sicher nicht ursprünglich war, nach dem Vorbild erhaltener karolingischer Bucheinbände neu gebunden, wobei für die Stempelprägung des Einbandes der Einband einer in der Wiener Nationalbibliothek vorhandenen, ursprünglich Salzburger Handschrift als Vorbild diente.
Literatur
Georg Humann: Die Kunstwerke der Münsterkirche zu Essen. Schwann, Düsseldorf 1904, S. 37–81.
Gerhard Köbler: Sammlung aller Glossen des Altsächsischen (= Arbeiten zur Rechts- und Sprachwissenschaft. Bd. 32). Arbeiten zur Rechts- und Sprachwissenschaft Verlags-GmbH, Gießen 1987, ISBN 3-88430-053-9, S. 95–109.
Alfred Pothmann: Das Karolingische Evangeliar. Bericht von der Restaurierung der frühmittelalterlichen Handschrift. In: Münster am Hellweg. Mitteilungsblatt des Vereins für die Erhaltung des Essener Münsters. Bd. 40, 1987, S. 13–15.
Das Essener Evangeliar. Zehn Faksimiles aus der Handschrift Hs 1 der Domschatzkammer zu Essen. Mit einer Einführung von Alfred Pothmann. Verlag Müller und Schindler u. a., Stuttgart u. a. 1991.
Ernst Hellgardt: Philologische Fingerübungen. Bemerkungen zum Erscheinungsbild und zur Funktion der lateinischen und altsächsischen Glossen des Essener Evangeliars (Matthäus-Evangelium). In: Eva Schmitsdorf, Nina Hartl, Barbara Meurer (Hrsg.): Lingua Germanica. Studien zur deutschen Philologie. Jochen Splett zum 60. Geburtstag. Waxmann, Münster u. a. 1998, ISBN 3-89325-632-6, S. 32–69.
Isabel Gerds: Das karolingische Evangeliar Hs. 1 des Essener Domschatzes. Eine Studie zur Ornamentik. Kiel 1999 (Kiel, Christian-Albrechts-Universität, unveröffentlichte Magisterarbeit).
Gerhard Karpp: Die Anfänge einer Büchersammlung im Frauenstift Essen. Ein Blick auf die importierten Handschriften des neunten Jahrhunderts. In: Günter Berghaus, Thomas Schilp, Michael Schlagheck (Hrsg.): Herrschaft, Bildung und Gebet. Gründung und Anfänge des Frauenstifts Essen. Klartext-Verlag, Essen 2000, ISBN 3-88474-907-2, S. 119–133.
Katrinette Bodarwé: Sanctimoniales litteratae. Schriftlichkeit und Bildung in den ottonischen Frauenkommunitäten Gandersheim, Essen und Quedlinburg (= Institut für Kirchengeschichtliche Forschung des Bistums Essen. Quellen und Studien. Bd. 10). Aschendorff'sche Verlagsbuchhandlung, Münster 2004, ISBN 3-402-06249-6.
Rolf Bergmann, Stefanie Stricker: Katalog der althochdeutschen und altsächsischen Glossenhandschriften. Band 1: Teil A. Verzeichnis der Handschriften, Teil B. Einleitung, Teil C. Katalog Nr. 1–200. de Gruyter, Berlin u. a. 2005, ISBN 3-11-018272-6.
Babette Tewes: Essener Evangeliar. In: Peter van den Brink, Sarvenaz Ayooghi (Hrsg.): Karl der Große – Charlemagne. Karls Kunst. Katalog der Sonderausstellung Karls Kunst vom 20. Juni bis 21. September 2014 im Centre Charlemagne, Aachen. Sandstein, Dresden 2014, ISBN 978-3-95498-093-2, S. 246–249 (m. Lit.).
Weblinks
Karolingisches Evangeliar auf den Seiten der Domschatzkammer Essen
Einzelnachweise
Handschrift im Essener Domschatz
Bilderhandschrift (9. Jahrhundert)
Vulgatahandschrift
Polyglotte Handschrift
Evangeliar |
3474059 | https://de.wikipedia.org/wiki/Amundsens%20Fram-Expedition | Amundsens Fram-Expedition | Die Fram-Expedition (1910–1912) unter der Leitung des norwegischen Polarforschers Roald Amundsen war eine Forschungsreise in die Antarktis mit dem Ziel, erstmals den geografischen Südpol zu erreichen. Amundsen fuhr mit der Fram, die bereits zweimal zuvor bei Expeditionen in die Arktis eingesetzt worden war, in die Bucht der Wale, wo er Ausrüstung und Hunde an Land brachte und sein Winterquartier aufschlug. Von dort zog er per Hundeschlitten von seiner Basis Framheim aus zum Südpol, den er am 14. Dezember 1911 35 Tage vor seinem Konkurrenten Robert Falcon Scott von der britischen Terra-Nova-Expedition erreichte. Damit hatte er das „Rennen um den Pol“ gewonnen.
Die Expedition sollte zunächst in die arktischen Gewässer führen, um den Nordpol zu erreichen; als Amundsen jedoch im Herbst 1909 erfuhr, dass sowohl Frederick Cook als auch Robert Edwin Peary beanspruchten, den Pol erreicht zu haben, änderte er das Ziel, worüber Geldgeber und Öffentlichkeit erst nach seiner Abreise informiert wurden.
Hintergrund
Vorgängerexpeditionen
Das Rossmeer war traditionell das Arbeitsgebiet der britischen Antarktisexpeditionen gewesen. Begründet wurde diese Tradition durch James Clark Ross, der zwischen 1839 und 1843 mit den Schiffen HMS Erebus und HMS Terror drei Reisen in die Antarktis unternahm, dabei weiter nach Süden vorstieß als je ein Mensch zuvor, viele topografische Gegebenheiten entdeckte und teilweise auch benannte, darunter das Rossmeer selbst, die Ross-Insel, die Great Ice Barrier sowie die Bucht der Wale, das Ausgangslager der Fram-Expedition. Fortgesetzt wurde Ross’ Tradition durch die Discovery-Expedition von 1901 bis 1904, der ersten britischen Antarktisexpedition seit Ross und damit des sogenannten „Heldenzeitalters der Antarktisforschung“, der Nimrod-Expedition sowie der Terra-Nova-Expedition, die Amundsens Hauptkonkurrenz bei der Ersterreichung des Südpols war.
Ab 1895 gab es in diesem Gebiet jedoch auch norwegische Aktivitäten. In diesem Jahr landete nämlich die Antarctic, ein norwegisches Walfangschiff, kurz am Kap Adare an, dem Nordzipfel Viktorialands. Ein Mitglied dieser Landungsgruppe, der Norweger Carsten Egeberg Borchgrevink, reiste darauf auf eigene Kosten zum Sechsten Internationalen Geografenkongress nach London und bot sich als Leiter einer Expedition an, die als erste auf dem antarktischen Kontinent überwintern sollte. Er überzeugte die Teilnehmer des Kongresses – auch durch mitgebrachte Moosproben, die das Leben unter der antarktischen Eisdecke bewiesen – und erweckte damit das Interesse an einer wissenschaftlichen Erforschung der Antarktis neu. Im Frühjahr 1898 bot ihm der Verleger George Newnes (1851–1910) an, seine Expedition im Gegenzug für einen packenden Erlebnisbericht zu finanzieren. Diese Expedition, die Southern-Cross-Expedition, überwinterte erstmals in der Antarktis und stieß auf dem Ross-Schelfeis 70 Kilometer weit nach Süden vor. Borchgrevink zeigte, dass die Ice Barrier nicht nur als Hindernis, sondern auch als Weg in den Süden betrachtet werden könne, zudem bewies er den Nutzen von Hunden und Skiern auch in der Antarktis. Die Expedition war bereits ganz nach der neuen „norwegischen Schule der Polarforschung“ ausgerüstet.
Diese „neue Schule“ war zehn Jahre zuvor von Fridtjof Nansen begründet worden, als er im Sommer 1888 Grönland von Osten nach Westen durchquerte und dabei nicht nur die norwegische Polarforschung begründete und zur Identifikationsfigur vieler Norweger wurde, sondern auch neue Wege in der Technik eröffnete. Anstelle der herkömmlichen schweren Schlitten setzte er leichtere Modelle ein, die auf Skiern liefen. Ebenso erkannte er die Notwendigkeit, eigene Kleider, Zelte und Kochausrüstungen zu entwickeln und stellte erstmals die Nahrung nach wissenschaftlichen Gesichtspunkten zusammen. Bedeutung hatten auch Hunde, geringes Gewicht der Ausrüstung und Beweglichkeit der Mannschaft im Gelände. Kernstück der Polarforschung aber war nun der Einsatz von Skiern, wofür Norweger beste Voraussetzungen mitbrachten, da das Skifahren als Fortbewegungsmittel seit Jahrtausenden Bestandteil der Kultur der skandinavischen Völker war – das Wort Ski stammt aus dem Altnorwegischen. Auf den jungen Roald Amundsen machte diese Expedition so großen Eindruck, dass er 1903 mit der Gjøa auf eine eigene Expedition aufbrach, die ihn als ersten Menschen durch die gesamte Nordwestpassage führte. Diese Fahrt hatte insofern Einfluss auf die Fram-Expedition, als Amundsen hier die Grundlagen der Polarforschung, die er als Zweiter Steuermann auf der Belgica gelernt hatte, vertiefen und durch Eskimo-Wissen ergänzen konnte. Während der Gjøa-Expedition machte Amundsen erste Erfahrungen im Umgang mit Hunden und Hundeschlitten und studierte die Techniken der Eskimos, etwa Iglubau oder Herstellung von Kleidung.
Fram-Expedition
Zurück in Norwegen begann Amundsen mit der Planung einer Expedition ins Nordpolarbecken, bei der er sich vier oder fünf Jahre lang im Eis eingeschlossen treiben lassen und dabei den noch unentdeckten Nordpol erreichen wollte. Letzteres war, so vermutet Huntford, sein Hauptziel, während die wissenschaftliche Erforschung des Nordpolarbeckens vorgeschoben wurde, um mehr Spendengelder zu erhalten. Zu diesem Zweck erbat er sich von Fridtjof Nansen die Fram. Dieses Schiff war zwar Staatseigentum, da Nansen aber die erste Instanz der Polarforschung in Norwegen war und selbst noch Hoffnungen auf eine letzte Expedition hegte, hielt Amundsen es für nötig, sein Vorbild um die Freigabe zu bitten, die Nansen ihm auch gewährte. Am 10. November 1908 gab er seinen Plan öffentlich bekannt, tags darauf erhielt er vom Königspaar bereits 20.000 Kronen. Nachdem das norwegische Parlament Amundsen eine teilweise Rückzahlung seiner Schulden von der Gjøa-Expedition bewilligt hatte, brach er in die Vereinigten Staaten auf, um durch eine Vortragsreise weitere Geldquellen zu erschließen. Anfang 1909 hatte Amundsen ein Viertel der notwendigen Gelder einwerben können, aber nun versiegten die Spenden. Am 6. Februar 1909 gewährte ihm das Storthing jedoch 75.000 Kronen und gestattete ihm, die Fram für seine Zwecke zu nutzen.
In der ersten Septemberwoche des Jahres 1909 erreichte Amundsen die Nachricht, dass sowohl Cook als auch Peary behaupteten, den Nordpol erreicht zu haben. Diese Behauptungen sind zwar heute umstritten, und nach der ersten Nachricht über Cooks Erfolg, die er am 1. September erhielt, sagte Amundsen noch, diese Nachricht werde seine Pläne in „gar keiner Weise“ beeinflussen. Doch die am 7. September erhaltene Mitteilung über Peary rüttelte ihn auf und veranlasste ihn zum Handeln. Er beschloss, seinen „ursprünglichen Plan um ein oder zwei Jahre zu verschieben, um in der Zwischenzeit zu versuchen, die noch immer fehlenden Gelder [für die anschließende Erforschung des Nordpolarbeckens] zu sammeln.“ Wann Amundsen diesen Entschluss fasste, ist nicht bekannt. Ein Brief, mit dem er Schlittenhunde aus Grönland nach Dänemark bestellte, beweist aber, dass er spätestens am 9. September feststand. Von der prestigeträchtigen Ersterreichung des Südpols versprach sich Amundsen verbesserte Möglichkeiten der Akquisition von Geldern für die „eigentliche“ Expedition zum Nordpol und eine Möglichkeit, einem Reputationsverlust vorzubeugen. „Wenn ich meinen Ruf als Forscher nicht verlieren wollte, musste ich auf die eine oder andere Weise einen spektakulären Sieg erringen.“ Er habe sich daher für ein neues Unternehmen entschieden.
Am 13. September erfuhr Amundsen, dass Robert Falcon Scott plante, im kommenden August zu einer eigenen Antarktisexpedition aufzubrechen. Am Tag darauf teilte Amundsen mit, dass der Start seiner Expedition auf den 1. Juli 1910 verschoben werde. Der vorgeschobene Grund war die angeblich verzögerte Lieferung des Dieselmotors; tatsächlich wurde wegen des geänderten Expeditionsziels Zeit für Sonderarbeiten benötigt.
Amundsens Planänderung wurde noch immer geheim gehalten, denn er wollte den Vorteil des Wissens um Konkurrenz nicht mit Scott teilen. Zum einen war ihm Scott persönlich unsympathisch, zum anderen spielten nationale Interessen eine Rolle, da der Prestigeerfolg gegenüber dem britischen Empire spektakulär gewesen wäre. Amundsen hielt seine Pläne auch deshalb geheim, weil er fürchtete, die norwegische Regierung könnte seine Expedition untersagen. Ein Konkurrenzkampf um prestigeträchtige Ziele mit Großbritannien war politisch nicht opportun. Außerdem fürchtete Amundsen, Nansen könnte ihm den Gebrauch der Fram untersagen. Nansens Frau war inzwischen gestorben und er war nicht mehr norwegischer Konsul in London, somit hätte er seine zurückgestellten Expeditionspläne wieder aufnehmen können. Amundsen nahm auch an, dass das Storthing und private Geldgeber die Expedition verhindern könnten. Ein weiterer, eher taktischer Beweggrund war, dass Scott bei Bekanntwerden eines ausländischen Rivalen wahrscheinlich zusätzliche Geldmittel erhalten hätte. Zweifel an der Fairness seines Vorgehens hatte er nicht. Amundsen schätzte die Terra-Nova-Expedition als von seiner eigenen Expedition völlig verschieden ein, denn ihm selbst gehe es vorrangig um wissenschaftliche Ziele und das Erreichen des Südpols sei nur nebensächlich. Eine öffentliche Bekanntgabe von Amundsens Plänen hätte seiner Darstellung zufolge deshalb kaum Einfluss auf Scotts Planung haben können. Andere Expeditionen, die sich zu dieser Zeit in der Antarktis befanden, hatten ohnehin nicht das Ziel, den Südpol zu erreichen (siehe Liste von Antarktisexpeditionen). Amundsen informierte nur zwei Personen von seinem Entschluss: seinen Bruder, der nach Amundsens Abfahrt von Madeira an die Öffentlichkeit gehen sollte, und Thorvald Nilsen, der als Schiffsmeister und Kapitän der Fram das wahre Ziel der Expedition für seine Vorbereitungen kennen musste.
Personal
Bei der Auswahl der Mannschaftsmitglieder achtete Amundsen auf verschiedene persönliche Aspekte, darunter Einbettung ins soziale Umfeld, Erfolg im Arbeitsbereich, der mit der Polarfahrt zu tun haben musste, Neugier und Tatkraft. Gefühle schaltete er, so Huntford, bei der Auswahl gänzlich aus. Neben fachlichen Qualitäten wie möglichst großer Erfahrung in der Polarforschung, der Beherrschung des Skifahrens und der Führung von Hundeschlitten verlangte er, dass seine Männer an Einsamkeit und harte Arbeit im Freien gewöhnt waren.
Amundsen erhielt viele Bewerbungen. Als stellvertretenden Kommandanten wählte er zunächst Ole Engelstad (1876–1909) aus, einen Fregattenkapitän der norwegischen Marine. Beim Testen eines Ballons wurde Engelstad jedoch von einem Blitz getroffen und kam ums Leben; Thorvald Nilsen (1881–1940) rückte nach. Olav Bjaaland kam an Bord, nachdem er Amundsen zufälligerweise in Lübeck getroffen hatte und im Gespräch über Expeditionen angedeutet hatte, er wolle auch gerne einmal an einer Expedition teilnehmen. Da Bjaaland ein ausgezeichneter Skifahrer sowie Schreiner war, nahm Amundsen ihn mit. Ein weiteres Mitglied der Expedition war Helmer Hanssen, der Amundsen bereits auf der Gjøa-Expedition begleitet hatte und den dieser als Hundeführer schätzte. Um einen guten Koch zu haben, stellte Amundsen auch Adolf Lindstrøm (1866–1939) ein, der ebenfalls auf der Gjøa mitgefahren war. Im Sommer 1909 lernte er Oscar Wisting kennen, einen Marinekanonier, der in der Werft in Horten auf der Fram arbeitete. Wisting war zwar kein allzu guter Skifahrer und hatte keine Erfahrung mit Hunden, doch er war anpassungsfähig, lernwillig und pragmatisch veranlagt – außerdem brauchte Amundsen Männer, die sich ihm ohne Schwierigkeiten unterordneten. Als Eislotsen heuerte er den Seehundefänger Andreas Beck an. Amundsen weigerte sich, einen Arzt mit auf die Expedition zu nehmen. Er hätte gerne seinen Vertrauensmann und Agenten in Tromsø dabei gehabt, den Apotheker Fritz Zapffe, doch da dieser nicht teilnehmen konnte, schickte er den zweiten Steuermann Gjertsen und Wisting zu zahnheilkundlichen und chirurgischen Kurzlehrgängen.
Im Herbst 1908 erhielt Amundsen ein Bewerbungsschreiben von Hjalmar Johansen, der mit Nansen in der Arktis gewesen und ein guter Hundeführer war. Allerdings war er nach der Expedition mit Nansen zum Alkoholiker geworden. Außerdem fürchtete Amundsen, der ältere Johansen, der besser Ski laufen konnte und sehr ehrgeizig war, könnte seine Autorität bedrohen. Da Johansen Nansen aber in der Arktis das Leben gerettet hatte, bestand Letzterer darauf, dass Amundsen ihn mitnehme, und Amundsen musste sich fügen.
Vorbereitungen
Finanzierung und Ausrüstung
Am 9. Februar 1909 beschloss das Storthing, Amundsen für die Expedition die Fram zu leihen und eine Summe von 75.000 Norwegischen Kronen für die nötigen Reparaturen und Verbesserungen bereitzustellen, außerdem hatte es bereits einige der Schulden Amundsens von der Gjøa-Expedition zurückgezahlt. Viele Firmen spendeten Güter, auch die norwegische Marine stellte Ausrüstungsgegenstände zur Verfügung. Weitere Geldmittel wurden vom Königspaar (20.000 Kronen) und von Privatleuten zur Verfügung gestellt, deren prominentester Don Pedro Christophersen war. Der in Argentinien lebende Norweger kam für sämtliche Kosten während des Aufenthalts der Fram in Südamerika auf.
Nach dem Bekanntwerden der Ansprüche Cooks und Pearys auf das Erreichen des Nordpols versiegten die Geldquellen. Auch das Storthing lehnte eine Aufstockung der Mittel Amundsens um weitere 25.000 Kronen ab. Amundsen sah sich einem Defizit von 150.000 Kronen gegenüber. Er kümmerte sich allerdings nicht besonders um einen ausgeglichenen Haushaltsplan, denn er wusste, wenn er den Südpol erreichte, würde alles vergeben sein. So nahm er Kredite auf, wo er sie bekommen konnte und belastete etwa sein eigenes Haus mit einer Hypothek über 25.000 Kronen.
Um eine ausreichende Anzahl an Schlittenhunden zu bekommen, reiste Amundsen nach Kopenhagen, wo er von der Königlichen Grönland-Handelsgesellschaft 100 Grönlandhunde kaufte, die im Juli 1910 nach Dänemark geliefert werden sollten. Amundsen war überzeugt, dass Hunde Ponys (dem Haupttransportmittel Scotts) überlegen seien.
Die mitgenommene Fertigteilhütte, die 7,8 Meter lang und 3,9 Meter breit war, wurde auf Amundsens Grundstück in Norwegen gebaut und später Teil für Teil wieder eingepackt, um in der Antarktis wieder aufgestellt zu werden. Sie hatte zwei Räume, von denen einer als Küche diente und einer als Schlaf-, Ess- und Wohnzimmer. Darüber befand sich ein Dachboden zur Aufbewahrung von Vorräten. Die Schlitten der Küstengruppe waren 3,6 Meter lang und wogen zunächst 165 Pfund, bevor ihr Gewicht im Lauf des Winters auf durchschnittlich 53 Pfund reduziert werden konnte. Die Skier wurden aus Hickoryholz gefertigt, das elastisch und hart ist. Die Länge betrug 1,8 Meter.
Ziele und Plan
Amundsen versuchte, sich sämtliche verfügbare Literatur zu beschaffen, und erarbeitete in Verbindung mit seinen eigenen Polarerfahrungen einen genauen Plan.
Das Hauptziel war das Erreichen des Südpols, die Wissenschaft spielte nur eine Nebenrolle. Dennoch plante Amundsen, unterwegs so viele Messungen wie möglich vorzunehmen, vor allem meteorologischer Natur. Außerdem sollte die Fram im Atlantik ausgedehnte ozeanografische Messungen vornehmen, die Amundsen mit Bjørn Helland-Hansen plante und als Vorwand benutzte, bereits in Norwegen an Bord der Fram gehen zu können anstatt, wie zuvor verlautbart, erst in San Francisco.
Die Fram sollte nach Amundsens Planungen bis Mitte August in Norwegen auslaufen und als einzigen Zwischenhalt Madeira ansteuern. Von dort aus sollte sie ums Kap der Guten Hoffnung fahren und ins Rossmeer zur „Great Ice Barrier“ vorstoßen, die um den 15. Januar erreicht werden sollte. An der Bucht der Wale sollten ungefähr zehn Männer als Küstengruppe abgesetzt werden und eine Basis errichten, während die Fram nach Buenos Aires zurückkehren und Messungen im Atlantik vornehmen sollte. Im Oktober sollte sie nach Süden zurückkehren und die Küstengruppe wieder abholen.
Diese Gruppe sollte in der Zwischenzeit, sobald die Hütte aufgestellt und die Vorräte an Land gebracht worden waren, Lebensmittel und Brennstoff so weit südlich wie möglich in Depots einlagern. Mit dem Ende dieser Tätigkeit wäre der Winter gekommen, der damit verbracht werden sollte, an der Ausrüstung zu arbeiten. Im nächsten Frühling sollte die Basis so früh wie möglich wieder verlassen werden, um vor Scott am Südpol anzukommen. Amundsen wollte von der Bucht der Wale aus direkt nach Süden fahren und nach Möglichkeit immer demselben Meridian folgen.
Die Bucht der Wale wurde aus mehreren Gründen als Lagerort ausgewählt. Einerseits lag sie weiter südlich als jeder andere mit dem Schiff erreichbare Punkt der Barriere, was für die folgende Schlittenfahrt von Bedeutung war, da fast zehn Prozent der Strecke eingespart werden konnten, andererseits konnte Amundsen von hier aus die Bedingungen und die Oberfläche, mit denen er es zu tun haben würde, vorher kennenlernen. Zusätzlich lebten in der Bucht der Wale laut Ross’ und Shackletons vorhergehenden Berichten viele Robben und Pinguine, sodass der Nahrungsnachschub stets gesichert war. Auch für die meteorologischen Beobachtungen auf der Barriere stellte die Bucht einen günstigen Ort dar, da umliegendes Land keinen Einfluss auf die Bedingungen ausüben konnte. Zuletzt war der Ort mit dem Schiff gut zugänglich. Es wurde generell angenommen, dass die Barriere auf dem Wasser schwimme, was auch durch Shackletons Bericht von starken Eisabbrüchen bestätigt wurde. Amundsen kam jedoch zum Schluss, dass sie auf einem Fundament wie kleinen Inseln oder Schären ruhen müsse, da die Umgebung der Bucht der Wale seit Ross’ Expedition von 1843/44 im Großen und Ganzen unverändert geblieben war. Amundsens Ergebnis war zutreffend, auch wenn seine Begründung nicht zutraf. Er sah sich zwar bestätigt, doch ist heute erwiesen, dass die Barriere ein Schelfeis ist und somit auf dem Wasser schwimmt und über einen Gletscher mit dem Land verbunden ist. Die Stabilität der Bucht ist durch die Lage im Windschatten der Roosevelt-Insel bedingt. 1928 war das Lager verschwunden und ist vermutlich mit einem Eisberg von der Schelfeistafel abgebrochen.
Die Fram
Die Fram ( „Vorwärts“) wurde 1892 von Colin Archer als ein Schiff gebaut, das dem arktischen Packeis widerstehen konnte. Der dreimastige Schoner hatte sich bereits mehrfach bewährt; Fridtjof Nansen und Otto Sverdrup hatten das Schiff auf ihren Arktisexpeditionen genutzt. Die Fram ist 39 Meter lang und elf Meter breit und besitzt ein Volumen von 807 Brutto- und 440 Nettoregistertonnen.
Am 9. März 1909 bat Amundsen die Marinewerft in Horten, das Schiff zu reparieren und die nötigen Änderungen auszuführen. Die wichtigste Änderung war, die Dampfmaschine durch einen 180-PS-Dieselmotor zu ersetzen. Damit war die Fram das erste Polarschiff mit Dieselmotor, was einerseits für das Manövrieren zwischen den Eisschollen praktisch, andererseits auch mit einer Personalersparnis verbunden war – ein Mann genügte zur Bedienung.
Expedition
Von Norwegen in die Antarktis
Die Fram lag seit der Beendigung der Reparaturen im Mai 1910 in Christiania vor Anker, um bis Anfang Juni beladen zu werden. Am 3. Juni stach man in See. Das erste Ziel war Amundsens Haus, um die Fertigteilhütte einzuladen. Am 7. Juni lichtete die Fram erneut die Anker. Bevor sie endgültig in Richtung Antarktis aufbrach, sollte sie zuvor eine Fahrt um die britischen Inseln herum und dann zurück nach Norwegen unternehmen. Der vorgebliche Zweck war, ozeanografische Untersuchungen vorzunehmen; es sollten jedoch eher Motor und Mannschaft der Fram geprüft werden. Die geplante Route musste wegen des schlechten Wetters und einer Motorpanne erheblich gekürzt werden; am 10. Juli lief man Bergen an, von wo aus man nach Kristiansand weiterfuhr. Hier wurden die letzten Güter wie Schlitten und Skier verladen, außerdem 97 Grönlandhunde. Jetzt wurden auch die Oberleutnants Gjertsen und Prestrud in den Plan, nach Süden zu fahren, eingeweiht. Sie zeigten sich begeistert. Am 9. August waren alle nötigen Vorbereitungen getroffen und die Fram brach nach Madeira auf. Johansens Tagebuch legt nahe, dass auf der Fahrt bald schlechte Stimmung aufkam, da die Mannschaft spürte, dass die Offiziere ihr etwas verheimlichten, und es auch um die Kameradschaft unter den Männern nicht sehr gut stand.
In Madeira, das das Schiff am 6. September erreichte, wurden die Vorräte ergänzt, namentlich der Vorrat an Frischwasser aufgefüllt. Amundsens Bruder Leon kam an Bord, um die letzten Nachrichten an die Außenwelt entgegenzunehmen; darunter auch Mitteilungen an Nansen, den König von Norwegen, Håkon VII., sowie verschiedene Geldgeber und ein Telegramm an Scott, das Leon am 3. Oktober in Christiania aufgab und das Scott am 12. Oktober erreichte, als er in Melbourne vom Schiff ging. Anfang Oktober ging Leon zudem mit Amundsens Planänderung an die Öffentlichkeit. Am 9. September war alles für die Abfahrt bereit, und die Mannschaft versammelte sich auf Deck, wo Amundsen sie über seine Pläne informierte und jeden Mann einzeln um weitere Unterstützung bat – er erntete einstimmige Zustimmung. Gegen Abend brach man in Richtung Süden auf. Mit dem Ende der Ungewissheit besserte sich auch die Stimmung an Bord.
Der nächste Halt sollte eine norwegische Walfangstation auf den Kerguelen sein, doch aufgrund des schlechten Wetters Ende November konnte die Fram sich den Inseln nicht nähern. Ansonsten verlief die Fahrt ereignislos; die Männer studierten alle Bücher über vorhergehende Antarktisexpeditionen, die sie in der durch Geschenke gut ausgestatteten Bordbibliothek finden konnten. Am 1. Dezember gab Amundsen die Mitglieder der Landungsmannschaft bekannt – Prestrud, Johansen, Hanssen, Hassel, Wisting, Bjaaland, Stubberud und Lindstrøm sollten ihn begleiten. Am 1. Januar kam der erste Eisberg in Sicht, am Folgetag erreichte die Expedition den Drifteisgürtel, der sich um die Antarktis zieht und den die Fram dank Auswertung der Situation bei vergangenen Expeditionen leicht und binnen dreieinhalb Tagen queren konnte. Am 11. Januar wurde das Ross-Schelfeis gesichtet; drei Tage darauf wurde die Bucht der Wale erreicht.
Ankunft und Depotanlage
Nach der Ankunft am 14. Januar 1911 wurde die Fram am Eisfuß der Barriere festgemacht und Amundsen unternahm mit Nilsen, Prestrud und Stubberud einen ersten Erkundungsgang, um die Bedingungen zu erforschen und einen passenden Lagerplatz zu finden. Nachdem sie eine passende Senke gefunden hatten, bauten zwei Männer dort die Fertigteilhütte auf, während die übrigen Mitglieder der Küstengruppe ab dem 15. Januar die Hunde, deren Anzahl sich seit Norwegen durch 20 neu geborene Tiere von 96 auf 116 erhöht hatte, sowie Ausrüstung und Vorräte per Schlitten an Land brachten. Am 27. Januar war die Hütte fertig, gemeinsam mit dem umgebenden Zeltlager wurde sie später „Framheim“ getauft. Die Güter wurden 600 Meter entfernt in ein Depot eingelagert, dazu das Fleisch der erlegten Robben und Pinguine. Am 4. Februar kam die Terra Nova auf ihrem Rückweg zum McMurdo-Sund zu Besuch, nachdem sie ihr Ziel, Edward-VII-Land, nicht hatte anlaufen können. Sie brachte Nachrichten von Scott mit, unter anderem von seinen Motorschlitten. Sie bereiteten Amundsen Sorgen, bis er am Pol war, da er ihre Vorteile schlecht einschätzen konnte.
Am 10. Februar 1911 brachen Amundsen, Prestrud, Johansen und Hanssen mit drei Schlitten auf. Von den Männern lief, wie es üblich war, immer einer vor dem ersten Schlitten her, um die Hunde auf Kurs zu halten. Er wurde vom Fahrer des ersten Schlittens per Kompass gesteuert. Mit 18 Hunden brachen sie nach Süden auf, um die direkte Umgebung zu erkunden, die Ausrüstung und die Geschwindigkeit zu testen und teilweise bereits mit dem Südtransport der Güter zu beginnen. Am 14. Februar erreichten sie 80° S und lagerten die mitgeführten Vorräte – eine halbe Tonne Verpflegung – in ein Depot ein. Zwei Tage später kehrten sie nach Framheim zurück, von wo die Fram bereits abgefahren war. Auf der Fahrt stellte die Gruppe fest, dass die Barriere gut gangbar war und bei den gegebenen Wetterbedingungen mit den winterlichen Gegebenheiten in einigen Regionen Norwegens vergleichbar war. Allerdings wurden auch verschiedene Mängel an der Ausrüstung festgestellt, die die Norweger beheben mussten – die dringlichsten bis zur nächsten Fahrt, die weniger wichtigen über den Winter.
Am 22. Februar brach eine neue Gruppe auf, um weitere Depots anzulegen. Diesmal kamen alle acht Männer der Küstengruppe außer Lindström, dem Koch, mit; sie hatten sieben Schlitten und 42 Hunde. Am 27. Februar wurde das bereits angelegte Depot auf 80° Süd erreicht, am 3. März kam man bei 81° an, wo ein neues Depot mit einer halben Tonne Hundefutter angelegt wurde. Bjaaland, Hassel und Stubberud kehrten hier um. Bei 82° S, die man am 8. März erreichte, wurden weitere 680 Kilogramm Vorräte eingelagert, vor allem Hundefutter. Hier kehrte die Gruppe um, obwohl sie zunächst bis 83° hatte fahren wollen. Die Schlitten waren allerdings überladen und die lange Fahrt, der einbrechende Winter und die schwierige Oberfläche mit Neuschnee und Gletscherspalten erschöpften die Hunde so sehr, dass Amundsen sogar seinen Schlitten zurücklassen musste, als er am 10. März den Rückweg antrat. Insgesamt starben auf dieser Fahrt acht Hunde, wofür nach Amundsen hauptsächlich die Kälte ursächlich war. Unter den Männern herrschte ein gewisser Unfrieden. Am 22. März kehrte die Gruppe zurück nach Framheim.
Am 31. März brachen sieben Männer unter dem Kommando Johansens mit sechs Schlitten und 36 Hunden auf und kehrten am 11. April zurück. Auf dieser letzten Fahrt legten sie mit etwa 1200 Kilogramm Robbenfleisch auf 80° S ein Depot an, das nun über zwei Tonnen Vorräte enthielt.
Winter
Bis zum Wintereinbruch wurden große Mengen von Robben und Pinguinen erlegt, um den Winter gut zu überstehen; die 60 Tonnen Fleisch sollten für die Männer und die 110 Hunde ausreichen. Um möglichst selten ins Freie zu müssen, wurden die meisten Lagerräume durch ein Netz aus unterirdischen Kammern und Tunneln verbunden. In verschiedenen dieser Räume wurden außerdem unter anderem Werkstätten, eine Sauna und ein Observatorium eingerichtet.
Während des Winters passte man die auf den Depotfahrten ausprobierten Ausrüstungsgegenstände an, sowohl Schlitten als auch die persönliche Ausrüstung. Das Gewicht der Schlitten ließ sich von 50 auf 35 Kilogramm verringern. Skier, Schlittenkisten, Stiefel, Zelte und beinahe alle anderen Ausrüstungsgegenstände wurden überholt. In der verbleibenden Freizeit gab es Kurse, man las, spielte Darts oder Whist. Amundsen bezeichnet das Wetter als ausgezeichnet, mit Flauten oder leichten Brisen, während Scott stürmisches Wetter hatte, das ihn von seiner Arbeit abhielt. Ab Mitte August war das Ende der Arbeit abzusehen, ab dem 23. August standen die beladenen Schlitten, je 880 Pfund schwer, am Startplatz bereit.
Die Fahrt zum Südpol
Ein Fehlstart
Amundsen war es wichtig, bald aufzubrechen; weil er die Motorschlitten der Briten fürchtete und einen möglichst großen Vorsprung gewinnen wollte, plante er, Framheim bereits am 24. August zu verlassen. Das war viel zu früh, da der südliche Frühling zu diesem Zeitpunkt kaum begonnen hatte. Bis Anfang September war die Temperatur so weit gestiegen, dass Amundsen beschloss, die Südreise zu beginnen. Am 8. September brachen nach einigen Verschiebungen wegen schlechten Wetters acht Männer mit sieben Schlitten und 90 Hunden auf; sie führten Vorräte für neunzig Tage mit sich. Man bemerkte jedoch bald, dass man zu früh aufgebrochen war – bereits drei Tage später fiel die Temperatur über Nacht um fast 30 °C auf −56 °C, den Hunden ging es zusehends schlechter. Amundsen beschloss, nur bis zum Depot auf 80° zu fahren, dort die mitgeführten Vorräte und Ausrüstungsgegenstände einzulagern und umzukehren. Das Depot wurde am 14. September erreicht. Auf dem Rückweg gingen viele Hunde verloren. Am Morgen des letzten Tages der Rückfahrt, dem 16. September, stieg die Temperatur wieder ein wenig, aber niemand wusste für wie lange; so ordnete Amundsen an, die Strecke ohne Pause zurückzulegen. Der Rückzug war vollkommen ungeordnet, die Schlitten hatten Abstände von bis zu achteinhalb Stunden, als sie zurückkehrten. Amundsen, Wisting und Hanssen kamen als erste an, zwei Stunden später auch Bjaaland und Stubberud. Hassel, der wieder ein wenig später ankam, berichtete, dass Johansen und Prestrud ohne Nahrung und Heizmaterial noch auf der Barriere seien. Prestruds Hunde waren so schwach, dass er weit hinter die anderen zurückfiel. Als Johansen das merkte, wartete er auf ihn und rettete ihm vermutlich das Leben, indem er sich mit ihm nach Framheim zurückkämpfte, da Prestrud bereits sehr schwach war.
Als Amundsen Johansen am nächsten Morgen auf die Verspätung ansprach, konnte Johansen sich nicht mehr beherrschen und machte Amundsen schwere Vorwürfe, weil er die anderen Expeditionsmitglieder zurückgelassen hatte. Das Unternehmen sei „keine Expedition mehr, das ist reine Panik“, und er beschwerte sich offen über Amundsens Führung. Diese Kritik hatte ihre Gründe nicht nur in den Ereignissen des Vortages. Johansen war auch verbittert, weil er als älterer Mann Amundsen untergeordnet war. Zudem machte ihm der Alkoholentzug zu schaffen. Außerdem verglich er Amundsen häufig mit Nansen, mit dem er in der Arktis gewesen war. Johansens Worte und seine Ansprüche waren eine Bedrohung für die Expedition, und so sah Amundsen sich gezwungen, ein Exempel zu statuieren – er isolierte Johansen und Prestrud von den übrigen Expeditionsmitgliedern, indem er seinen zuvor zweifach in einer Abstimmung abgelehnten Plan von einer zusätzlichen Gruppe wieder aufgriff.
Nur noch fünf Männer sollten jetzt in Richtung Süden fahren. Die übrigen drei – neben Johansen und Prestrud auch Stubberud – sollten unter der Führung Prestruds nach Osten nach Edward-VII-Land fahren und das Gebiet um die Bucht der Wale erforschen. Diese zusätzliche Expedition diente nicht nur als Strafe für Johansen, sondern auch als Absicherung – falls das eigentliche Expeditionsziel nicht erreicht wurde, wollte Amundsen dennoch Ergebnisse vorweisen können. Amundsen selbst begründete die Entscheidung damit, dass man mit einer kleineren Gruppe schneller vorankäme und die Depots an Wert steigen würden. Amundsen hatte Glück, dass er auf der Fahrt kein Expeditionsmitglied verlor. Er konnte sogar soweit profitieren, dass er erneut Materialschäden feststellen konnte und die eigentliche Polfahrt nicht mehr vom Konflikt mit Johansen belastet war.
Die Südreise
Erst Mitte Oktober 1911 begann der antarktische Frühling tatsächlich. Robben und Vögel wurden gesichtet, und die Temperatur blieb konstant zwischen −20 und −30 °C (der antarktische Küstenjahresdurchschnitt liegt bei −15 bis −10 °C).
Am 20. Oktober brach Roald Amundsen mit Bjaaland, Hanssen, Hassel und Wisting zu seinem zweiten Versuch auf. Die Männer hatten vier Schlitten und 52 Hunde, die mitgeführten Vorräte reichten nur bis 80° Süd, wo das erste Depot wartete. Auf dem Weg dorthin gerieten sie in ein Feld aus Gletscherspalten, das sie jedoch unbeschadet durchqueren konnten. Das Depot erreichten sie am 23. Oktober; hier legten sie eine zweitägige Pause ein, um die Hunde nicht bereits auf dem ersten Teil der Reise zu überanstrengen. Am 26. Oktober brach die Gruppe wieder auf, von hier an errichtete sie Schneebaken, um auf der Rückreise den Weg zu finden. Diese Baken waren 180 Zentimeter hoch und bestanden aus Schneeblöcken. Im Inneren befand sich ein Stück Papier, das die Nummer und die Position der Bake sowie die Richtung und Entfernung der nächsten Bake im Norden angab. Am 31. Oktober wurde das Depot auf 81° Süd erreicht, wo die Männer erneut einen Tag rasteten, bevor sie am 5. November 82° Süd erreichten, nachdem sie einige Tage zuvor erneut unbeschadet ein Feld von Eisspalten in dichtem Nebel durchquert hatten. Am 7. November brachen sie wieder auf; vor ihnen lag bis dahin unbekanntes Terrain. Das Wetter war gut, und so kamen sie ausgezeichnet voran. Am 9. November wurden 83° erreicht, wo ein Depot angelegt wurde, um das Gewicht der Schlitten zu verringern und die Versorgung auf der Rückfahrt zu gewährleisten. So verfuhren die Männer bei jedem weiteren Breitengrad, solange sie sich noch auf dem Schelfeis befanden. Hunde, die unterwegs getötet wurden, wurden für den Rückweg in den Depots „tiefgekühlt“. 84° wurden am 13. und 85° am 16. November erreicht. Am 11. November sichtete Amundsen die Gebirgskette, die er „Königin-Helena-Kette“ taufte; damit wurde ein Aufstieg unumgänglich. Amundsen musste schnell einen Weg über diese Berge finden, zunächst aber beschloss er, dem Meridian weiter nach Süden zu folgen.
Am 17. November erreichten die Norweger das Ende der Barriere und damit die Ausläufer des Transantarktischen Gebirges, nachdem sie zuvor schon einige Tage lang parallel zum Land gefahren waren. Hier wartete das erste große Problem der Südreise: einen Aufstieg durch die Berge auf das Polarplateau zu finden. Niemand war zuvor an diesem Ort des Übergangs zwischen Barriere und Festland gewesen, und so musste Amundsen sich auf sein Glück verlassen – er schlug eine Route ein, die ihm aus nicht mehr zu klärenden Gründen vielversprechend schien.
Bevor der Aufstieg am folgenden Tag begann, richtete Amundsen ein weiteres Depot ein, in das er ein Drittel der Vorräte einlagerte, die insgesamt für 90 Tage genügen sollten, und erforschte mit Bjaaland, Wisting und Hassel den Beginn der geplanten Strecke. Der erste Tag am sogenannten „Mount Betty“ brachte einen Aufstieg von 600 Metern mit sich, der zunächst über einige Hänge und Gletscher führte. Am Abend des zweiten Tages kampierten die Männer auf einer Höhe von 1390 Metern über dem Meer; das schwerste Stück schienen sie hinter sich zu haben. Am 20. November stießen sie jedoch auf einen „riesigen, mächtigen, absolut fjordähnlichen Gletscher von Ost nach West“, der quer zu ihrer Laufrichtung lag – den Axel-Heiberg-Gletscher. Sie benannten ihn nach Axel Heiberg, einem Mäzen vieler norwegischer Polarexpeditionen. Amundsen stellte fest, dass der erwartete leichte Weg nach oben ein Irrtum gewesen war, denn der Gletscher steigt auf knapp 13 Kilometern um über 2500 Meter und ist voller Gletscherspalten. Um keine Zeit zu verlieren und seine Leute nicht zu demoralisieren, beschloss Amundsen, den Gletscher dennoch in Angriff zu nehmen.
In den folgenden Tagen wurden neben dem Gletscher auch viele Berge benannt, etwa nach Fridtjof Nansen, Don Pedro Christophersen oder Mitgliedern der Südgruppe. Nach insgesamt nur vier Tagen mühsamer Kletterei – Amundsen hatte mit etwa zehn Tagen gerechnet – erreichte die Gruppe das Polarplateau, wo sie an einem Platz lagerte, der „Metzgerei“ getauft wurde, da hier 24 der 42 verbliebenen Hunde getötet wurden. Der Aufstieg, wo oft ein Dutzend Hunde vor einen Schlitten gespannt werden musste, war vollbracht, und die Hunde wurden nicht mehr gebraucht. Sie wurden entweder an ihre Artgenossen verfüttert oder von den Männern gegessen, um durch das frische Fleisch Skorbut zu vermeiden. Von hier aus fuhr man mit den verbliebenen 18 Hunden und drei Schlitten weiter. Die Rationen reichten jetzt wegen der verringerten Anzahl der Hunde für 60 Tage.
Am 25. November brachen die Männer nach vier Tagen Aufenthalts trotz schlechten Wetters wieder auf und sahen sich bereits am folgenden Tag einem Schneesturm ausgesetzt. Trotz der geringen Sicht fuhren sie weiter, bis sie entgegen ihren Erwartungen feststellten, dass sich das Terrain abwärts neigte. Als sich das Wetter am 29. November aufhellte, sahen sie einen großen Gletscher vor sich, der von Süden nach Norden verlief; am Folgetag begann die Gruppe den Aufstieg, nachdem am Fuß bei 86° 21′ ein Depot angelegt worden war, um die Schlitten zu erleichtern. Der Gletscher wurde „Teufelsgletscher“ getauft, da er eine sehr zerklüftete und schwer begehbare Oberfläche hatte. Am 1. Dezember kamen die Norweger nach einem schwierigen Aufstieg im Nebel mit vielen Gletscherspalten an der Spitze des Gletschers an, wo sie ein vereistes Plateau erwartete, das Amundsen wie folgt beschreibt: „Unser Marsch über diesen gefrorenen See war nicht angenehm. Der Boden unter unseren Füßen war offensichtlich hohl, und es klang, als ob wir über leere Fässer gingen. Erst brach ein Mann ein, dann ein paar Hunde; doch sie kamen alle wieder hoch.“ Die Männer nannten diesen Ort „des Teufels Ballsaal“. Am 6. Dezember war der höchste Punkt der Reise erreicht – 3322 Meter über dem Meer. Am selben Tag erreichte man 88° Süd. Von nun an führte die Fahrt über eine Ebene. Auf 88° 25′, kurz hinter Shackletons Südrekord, wurde ein letztes Depot angelegt.
Am 8. Dezember besserte sich das Wetter, das seit der „Metzgerei“ schlecht gewesen war, und blieb bis zum Pol gut. Am Nachmittag des 13. Dezember war das Ziel der Fahrt erreicht, so genau jedenfalls, wie es die Männer zu diesem Zeitpunkt feststellen konnten. Nach der Ankunft pflanzten sie die norwegische Flagge und benannten das Plateau nach dem norwegischen König und Gönner der Expedition „Haakon-VII.-Plateau“. Außerdem wurden Exkursionen in die Umgebung des Lagers gemacht, um möglichst nahe an den Pol zu gelangen, denn abendliche Messungen mit Sextant und künstlichem Horizont hatten eine Position von 89° 55′ ergeben. Um weitere Messungen vorzunehmen und das Ergebnis gegen eventuelle spätere Zweifel zu sichern, legte die Gruppe weitere neun Kilometer in die Richtung zurück, die die Messungen als Süden indiziert hatten, und kampierte am 14. Dezember bei bestem Wetter. Daraufhin wurden 24 Stunden lang in stündlichem Abstand Messungen vorgenommen. Viele Ausrüstungsgegenstände wurden mit dem Wort „Südpol“ und dem Datum versehen, um als Souvenir zu dienen. Bei den Messungen im Laufe des Tages stellte sich heraus, dass man trotzdem noch etwa zweieinhalb Kilometer vom Pol entfernt war – Bjaaland und Hanssen wurden von Amundsen in die entsprechende Richtung geschickt und markierten den Ort mit Fähnchen, den die Norweger letztendlich auf etwa 180 Meter genau bestimmt hatten.
Die Rückfahrt
Vor dem Aufbruch am 18. Dezember stellte die Gruppe ein mittlerweile überflüssig gewordenes Ersatzzelt auf, über dem sie die norwegische Flagge und den Wimpel der Fram pflanzte. Im Zelt ließ Amundsen neben einigen Ausrüstungsgegenständen einen Brief an den norwegischen König Haakon VII. zurück, damit Scott oder spätere Expeditionen ihn im Falle von Amundsens Tod auf dem Rückweg zurück nach Europa bringen konnten. Laut Raymond Priestley wurde Scott dadurch von Amundsen „vom Forscher zum Briefträger degradiert“. Das Lager erhielt den Namen Polheim. Auf dem Weg dorthin hatte die Polargruppe 1400 Kilometer zurückgelegt und damit eine durchschnittliche Tagesstrecke von 25 Kilometern erreicht. Ein Schlitten wurde zurückgelassen und die verbliebenen sechzehn Hunde wurden auf die übrigen zwei Schlitten aufgeteilt. Am 24. Dezember erreichte man das erste Depot auf 88° 25′, zwei Tage darauf wurde der 88. Breitengrad gekreuzt.
Am 2. Januar kamen die Norweger zum Teufelsgletscher; indem sie einen anderen Weg fanden, kamen sie in nur einem Tag und ohne Schwierigkeiten bis zum Fuß des Gletschers. Das dortige Depot wurde zunächst ausgelassen. Amundsen begründet das mit schlechtem Wetter, Huntford jedoch führt an, dass Amundsen auf diesem Teil der Rückreise durch einen Berechnungsfehler die Orientierung verloren habe. Als sich der Nebel wenig später lichtete und ein Mitglied der Gruppe das Depot erkannte, kehrten zwei Mann zurück und holten die dortigen Vorräte. Am 5. Januar sollte die Gruppe das Depot an der „Metzgerei“ erreichen, doch im Nebel fanden sie es nur durch pures Glück, da Wisting einen abgebrochenen Ski in der Nähe in den Schnee gesteckt hatte. Der Ort war nicht nur wegen der Vorräte wichtig, sondern auch, um den Abstieg auf die Barriere wiederzufinden.
Die Norweger nahmen zunächst denselben Weg wie beim Aufstieg und folgten dann dem Axel-Heiberg-Gletscher bis zu seinem Zusammenfluss mit der Schelfeistafel. Die Distanz war zwar länger, sie konnten aber beträchtlich Zeit sparen. Am 7. Januar war der Fuß des Gletschers und damit das Ross-Schelfeis erreicht, nachdem die Gruppe 51 Tage lang auf dem Festland gewesen war. Man sammelte am Mount Betty einige geologische Proben, legte ein Depot mit 17 Litern Brennsprit an, zum Zeichen, dass Menschen da gewesen waren, und wandte sich dann wieder nach Norden. Von nun an mussten die Männer auf der glatten Oberfläche der Barriere keine Kräfte mehr sparen und begannen zu sprinten. Am 13. Januar wurde das Depot auf 83° Süd erreicht, das den letzten kritischen Punkt darstellte, da es im Gegensatz zu allen nördlicheren Lagern nicht senkrecht zur Nord-Süd-Achse markiert war. Am 17. Januar wurde das Depot auf 82° erreicht. Am 26. Januar 1912 kehrte man zurück nach Framheim, elf Hunde hatten die Reise überlebt. Auf der Rückreise waren im Schnitt 36 Kilometer pro Tag zurückgelegt worden, insgesamt war man 99 Tage lang gefahren und hatte über 3000 Kilometer zurückgelegt.
Ostreise
Die Ostreise nach Edward-VII-Land wurde laut Amundsen zusätzlich unternommen, da die Terra-Nova-Expedition die geplante Reise dorthin im vorigen Sommer nicht hatte unternehmen können. Weitere Gründe waren allerdings die Absicherung, falls Amundsen den Pol nicht als Erster erreichen sollte, und die Bestrafung Johansens (siehe oben). Prestrud, der Anführer der Gruppe, schreibt:
Die Gruppe – bestehend aus Prestrud, Johansen und Stubberud – sollte nach Framheim zurückkehren, bevor die Fram realistisch zurückerwartet werden konnte, den Überlegungen Prestruds nach Mitte Januar. Daraufhin beschloss er, die Ostreise bis Weihnachten 1911 hinter sich zu bringen und die Arbeiten um Framheim in der ersten Januarhälfte zu erledigen. Die Dauer der Ostreise wurde auf sechs Wochen beschränkt, da man nur zwei Schlitten und sechzehn Hunde hatte, um die Ausrüstung und Vorräte zu transportieren, und nicht auf Depots zurückgreifen konnte. Am 8. November brach man auf; das erste Ziel war das Depot auf 80° Süd. Dies war zwar ein Umweg, da dort aber im September alle Vorräte, ein Großteil der persönlichen Ausrüstungsgegenstände und verschiedene Instrumente eingelagert worden waren, war er nötig. Das Depot wurde am 12. November erreicht, woraufhin die dort eingelagerten Güter aufgenommen wurden, darunter ein Theodolit, ein Hypsometer, zwei Barometer, zwei Thermometer und eine Kamera, insgesamt etwa 300 Kilogramm pro Schlitten.
Am 16. November wurde der 158. Meridian erreicht. Bis dahin war kein Land gesichtet worden, womit die frühere Vermutung widerlegt war, dass sich Edward-VII-Land so weit nach Süden erstreckte. Um dennoch Land zu erreichen und weil man nicht die Mittel hatte, um es weiter im Osten zu suchen, wandte sich die Gruppe hier nach Norden. Auf der Reise wurden astronomische Beobachtungen gemacht, außerdem wurden täglich der Luftdruck, die Temperatur, die Windstärke und -richtung sowie die Wolkenmenge gemessen und notiert. Am 23. November erreichte man die offene See, wo zur Aufbesserung der Vorräte einige Robben gejagt wurden, deren Fleisch teilweise in ein Depot eingelagert wurde. Die Norweger fuhren weiter nach Nordosten und stießen auf einen Anstieg, der am 28. November auf etwa 300 Metern in ein Plateau überging. Nach einigen weiteren Messungen am Rand der Schelfeistafel wandte sich die Gruppe nach Osten, um die zwei einer Landmasse zugehörigen Gipfel zu untersuchen, die mittlerweile am Horizont aufgetaucht waren und die Scott bereits 1902 von Bord der Discovery aus entdeckt und beschrieben hatte. Im Laufe des 3. Dezembers erreichten die Männer den Fuß des westlicheren dieser Berge. Zunächst wollten sie die Gipfel ersteigen, doch das Wetter war zu schlecht. Nachdem es ein wenig aufgeklart hatte, brachen sie zum näheren dieser Hügel auf, dessen Gipfel 510 Meter über dem Meeresspiegel lag, und bestiegen ihn. An der Nordseite des benachbarten Hügels entdeckten sie schneefreien Fels, nahmen geologische Proben, darunter auch solche, die moosbedeckt waren. Auf dem Rückweg ins Lager geriet die Gruppe beinahe in einen Schneesturm, der sie erreichte, als sie wieder im Zelt war, und verhinderte, dass die Gruppe noch weiter nach Osten fuhr, wie es geplant gewesen war, da sie bis zum 8. Dezember im Zelt festsaß. Da die Vorräte nach dem Schneesturm nur noch für eine Woche ausreichten, mussten die Männer am 9. Dezember umkehren, um Framheim mithilfe des Robbenfleischdepots noch erreichen zu können. Am 16. Dezember kehrten sie in ihre Basis zurück.
Zwei Tage später brach die Gruppe wieder auf, nachdem sie neue Vorräte aufgenommen und einige kleine Reparaturen vorgenommen hatte. Die Männer machten eine fünftägige Fahrt, um den langen östlichen Arm der Bucht der Wale zu erforschen, wo zuvor große Unregelmäßigkeiten in der Eisoberfläche beobachtet worden waren. Am 23. Dezember waren sie zurück in Framheim. Am 1. Januar brachen die Männer zu ihrer letzten Fahrt auf, um die südwestliche Ecke der Bucht der Wale zu erforschen. Als man am 11. Januar wieder heimkehrte, lag die Fram bereits seit zwei Tagen wieder vor Anker. Ein paar Tage wurden noch mit Exploration und Kartierung verbracht, außerdem machten einige Männer einen Besuch auf der Kainan Maru, einem japanischen Forschungsschiff, das unter Nobu Shirase den östlichen Teil des Rossmeers erforschte.
Zwischenzeitliche Fahrten der Fram
Nachdem die Fahrt von Norwegen in die Antarktis (siehe oben) beendet war, ging Amundsen in der Bucht der Wale von Bord und die Fram kam unter das Kommando des Stellvertreters Amundsens, Thorvald Nilsens. Seine Anweisungen lauteten, direkt nach Buenos Aires zu segeln, wo die notwendigen Reparaturen ausgeführt und die Vorräte sowie die Mannschaft ergänzt werden sollten. Daraufhin sollte die Fram im südlichen Atlantik zwischen Afrika und Südamerika ozeanografische Messungen vornehmen und nach Buenos Aires zurückkehren, von wo aus er in die Antarktis zurückkehren sollte, um die Küstengruppe wieder abzuholen. Falls Amundsen etwas zustoßen sollte, war es geplant, dass Nilsen seine Stelle übernehmen und den Originalplan der Expedition, die Erforschung des Nordpolarbeckens, durchführen würde.
Bevor die Fram am 15. Februar die Bucht der Wale endgültig verließ, fuhr sie so weit wie möglich in die Bucht hinein und erreichte 78° 41′ S., die südlichste Breite, die ein Schiff bis dahin erreichen konnte. Am 22. Februar wurde der Drifteisgürtel erreicht, der in nur einem Tag durchquert wurde. Am 14. März wurde der letzte Eisberg gesichtet, am 31. kreuzte man Kap Hoorn. Am 17. April ankerte die Fram nach 62 Tagen Fahrt in Buenos Aires. Dort stellte sich heraus, dass das Geld, das Nilsen zur Verfügung stehen sollte, niemals abgeschickt worden war, aus dem einfachen Grund, dass keines da war. Somit konnte die Überholung der Fram nicht bezahlt werden, die sie dringend benötigte. Der in Buenos Aires ansässige Norweger Don Pedro Christophersen, der ursprünglich die Vorräte und den Treibstoff hatte bezahlen wollen, erklärte sich jedoch bereit, die Überholungskosten zu übernehmen. Er versprach weiterhin, eine Rettungsexpedition zu senden, sollte die Fram bis zu einem gewissen Datum nicht nach Australien zurückkehren. Nachdem einige zusätzliche Seeleute engagiert worden waren, brach die Fram am 8. Juni zu der dreimonatigen Vermessungsfahrt auf, auf der vom Ozeanografen Alexander Kutschin an 60 Stationen Temperatur und Salinität in unterschiedlichen Wassertiefen gemessen wurden. Insgesamt wurden 891 Wasser- und 189 Planktonproben genommen. Am 30. Juni kreuzte das Schiff seinen Kurs von Norwegen in die Antarktis und vollendete damit seine erste Weltumsegelung. Die Inseln St. Helena und Trindade wurden am 29. Juli bzw. am 12. August passiert. Am 19. August waren die Untersuchungen beendet und man fuhr zurück nach Buenos Aires, wo man am 1. September ankerte.
Am 5. Oktober lief das Schiff wieder aus Buenos Aires aus. Am 28. Dezember stießen die Norweger auf den Drifteisgürtel – eineinhalb Breitengrade früher als erwartet. Die Fram erreichte die Barriere schließlich am 8. Januar; damit war eine Reise von 25.000 Seemeilen abgeschlossen.
Ende der Expedition
Die Fram kehrte am 9. Januar 1912 in die Bucht der Wale zurück, am 30. Januar ging Amundsen an Bord und die Expedition brach zur knapp 4500 Kilometer langen Fahrt nach Hobart auf. Man nahm nur die Hunde und wertvolle Ausrüstungsgegenstände mit, da Amundsen annahm, Scott sei noch im Rennen (in Wirklichkeit befand er sich noch auf dem Polarplateau). Es wurde als ein Teilaspekt des Sieges betrachtet, als erster mit den Meldungen an die Öffentlichkeit zu gehen.
Man folgte einem nördlichen Kurs, bis man Kap Adare und die Balleny-Inseln erreicht hatte, und daraufhin einem nordwestlichen Kurs. Drei Tage nach dem Aufbruch stieß die Fram auf den Rand des Drifteisgürtels, der am 6. Februar durchquert war. Drei Tage später hatte sie die Polarregion verlassen, am 7. März kam sie in Hobart an. Von dort sandte Amundsen ein verschlüsseltes Telegramm an seinen Bruder Leon, um die vor der Expedition an ausgewählte Zeitungen verkauften Exklusivrechte zu wahren. Der dekodierte Text lautete „Pol erreicht 14.–17. Dezember. Alle wohlauf.“
Die Fram blieb 13 Tage in Hobart, bevor sie am 20. März wieder in Richtung Osten aufbrach. Am 6. Mai wurde Kap Hoorn zum zweiten Mal gekreuzt, bevor das Schiff am 23. Mai in Buenos Aires vor Anker ging. Am 7. Juni schifften sich alle Mitglieder der Expedition außer Amundsen und Nilsen nach Norwegen ein. Die meisten hatten eingewilligt, Amundsen auf dem zweiten Teil der Expedition erneut zu begleiten, der 1918 realisiert wurde. Amundsen selbst kehrte am 31. Juli inkognito nach Norwegen zurück.
Erfolge, Nachwirkungen und Kritik
Der Haupterfolg der Expedition ist die Ersterreichung des Südpols, die auch explizites Ziel war. Weiterhin wurden die Ausmaße und der Oberflächencharakter des Ross-Schelfeises bestimmt und eine Landverbindung zwischen Viktorialand und Edward-VII-Land bestätigt. Die Ostreise nach Edward-VII-Land bestätigte Scotts Entdeckung von der Discovery-Expedition und brachte Gesteinsproben zurück, mit deren Hilfe und derer der Steine Amundsens die von Scott und Shackleton ermittelte geologische Zusammensetzung der Regionen bestätigt werden konnte. Diese Gruppe erforschte auch die Umgebung der Bucht der Wale und erlangte einige Ergebnisse über die Bildung von Gletscherspalten und den Übergang zwischen Schelf- und Meereis. Die meteorologischen Messdaten waren eine wertvolle Ergänzung zu den gleichzeitigen Aufzeichnungen anderer Expeditionen. Amundsens ozeanografische Daten erwiesen sich als „wertvolles Vergleichsmaterial“ zum Studium des Strömungssystems im Atlantik und der Wärmeverteilung im Wasser.
Weiterhin wurden wichtige Informationen über die Konstruktion des Polarplateaus erlangt.
In einem Brief an König Haakon beschreibt Amundsen kurz die geografischen Entdeckungen: „Majestät, wir haben den südlichen Punkt der großen „Ross-Eisbarriere“ bestimmt sowie die Verbindung von Viktoria-Land und King-Edward-VII-Land. Wir haben eine mächtige Gebirgskette mit Gipfeln bis zu 22.000 Fuß entdeckt […] Wir haben festgestellt, dass das große Inlandplateau […] langsam vom 89. Breitengrad an abfällt […].“ Die Berge, die die Norweger entdeckten, sind allerdings etwa um ein Drittel niedriger.
Amundsen konnte durch seinen Erfolg die Kritik an seinem eigenmächtigen Vorgehen beschwichtigen. Allerdings wurde die Fahrt teilweise auch als politische Dummheit betrachtet, die die Beziehungen zur Schutzmacht Großbritannien hätten verschlechtern können. Das Klima in England verschlechterte sich auch tatsächlich, die Missstimmung war allerdings eher gegen Amundsen persönlich als gegen Norwegen gerichtet. Die Kritik an Amundsen legte sich zunächst wieder. Nachdem jedoch am 11. Februar 1913 die Nachricht von Scotts Tod bekannt wurde, wurde Amundsen aus England beschuldigt, eine Mitverantwortung zu tragen, da Scott die Niederlage das Herz gebrochen habe.
Johansen beging am 4. Januar 1913 in Oslo Selbstmord; seine Freunde warfen Amundsen vor, daran mitschuldig zu sein. Huntford schreibt, dass die Demütigung in der Antarktis der letzte Auslöser gewesen sei, Nansen aber Mitschuld trage, da er Johansen nach dem Ende ihrer gemeinsamen Expedition sich selbst überlassen habe.
Zu seiner langgeplanten siebenjährigen Drift durch die arktischen Gewässer, dem zweiten Teil der Fram-Expedition, brach Amundsen im Juli 1918 auf, wenn auch mit einem anderen Schiff, der Maud.
Siehe auch
Liste von Antarktisexpeditionen
Norwegische Antarktisexpedition
Literatur
Roald Amundsen: The South Pole. An Account of the Norwegian Antarctic Expedition in the „Fram“, 1910–1912. Translated from the Norwegian by A. G. Chater. C. Hurst & Co. Publishers, London 2001, ISBN 1-85065-469-7 (Digitalisiertes Faksimile).
Roland Huntford: Scott & Amundsen. Dramatischer Kampf um den Südpol (= Heyne-Bücher 01, Heyne allgemeine Reihe. Nr. 13247). Aus dem Englischen von Arnold Loos und Ulrike Laszlo. Überarbeitete und erweiterte Ausgabe. Heyne, München 2000, ISBN 3-453-17790-8.
Rainer-K. Langner: Duell im ewigen Eis. Scott und Amundsen oder die Eroberung des Südpols (= Fischer 14908). Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 2001, ISBN 3-596-14908-8.
Andreas Venzke: Scott, Amundsen und der Preis des Ruhms. Die Eroberung des Südpols. Arena-Verlag, Würzburg 2011, ISBN 978-3-401-06539-7.
Trivia
Der tschechische Komponist Miroslav Srnka hat gemeinsam mit dem australischen Schriftsteller Tom Holloway mit South Pole eine Oper rund um die Entdeckung des Südpols geschaffen. Am 31. Januar 2016 fand die Uraufführung des Werks an der Bayerischen Staatsoper unter der musikalischen Leitung von Kirill Petrenko statt.
Weblinks
Kurzbeschreibung der Expedition mit vielen weiteren Bildern auf coolantarctica.com
Filmaufnahmen von der Expedition auf europeanfilmgateway.eu, bereitgestellt durch die Norwegische Nationalbibliothek
Digitalisate der Werke Amundsens und Scotts auf eLib.at
Einzelnachweise
Antarktis-Expedition
Roald Amundsen
1910er |
3590489 | https://de.wikipedia.org/wiki/Chemische%20Fabrik%20Kalk | Chemische Fabrik Kalk | Die Chemische Fabrik Kalk GmbH (CFK) war ein Chemieunternehmen in Köln. Es wurde 1858 als Chemische Fabrik Vorster & Grüneberg, Cöln gegründet und 1892 in Chemische Fabrik Kalk GmbH umbenannt. Die CFK war zeitweise der zweitgrößte Sodaproduzent Deutschlands und mit bis zu 2400 Mitarbeitern einer der größten Arbeitgeber im rechtsrheinischen Kölner Stadtgebiet. Die Fabrikschornsteine des Hauptwerkes prägten jahrzehntelang die Silhouette des Stadtteils Kalk.
Nachdem versäumt worden war, die Fabrik zu modernisieren und neue Produkte einzuführen, beschloss der damalige Hauptgesellschafter BASF, das Werk zum 31. Dezember 1993 wegen Unwirtschaftlichkeit zu schließen. Nach dem Abriss der Produktionsanlagen und der Sanierung des Fabrikgeländes wurden dort das neue Polizeipräsidium Köln und das Einkaufszentrum Köln Arcaden erbaut. Seit der Stilllegung der Produktion existiert die Chemische Fabrik Kalk nur noch als Namensgeber für ein Handelshaus für Chemikalien und Düngemittel der K+S AG (vorherige Kali und Salz AG).
Geschichte
1858 bis 1891
Das Chemiewerk Vorster & Grüneberg, Cöln
Am 1. November 1858 gründeten der Kaufmann Julius Vorster und der Chemiker und Apotheker Hermann Grüneberg die Chemische Fabrik Vorster & Grüneberg, Cöln. Vorster, der schon vorher eine Chemiefabrik besessen hatte, brachte 15.000 Taler in das Unternehmen ein; Grüneberg, der zu diesem Zeitpunkt noch studierte, konnte 5.000 Taler beisteuern. Die beiden Gesellschafter wählten als Standort für das Werk das rechtsrheinische Dorf Kalk, da die dortigen Bauflächen außerhalb der zweiten Kölner Rayonlinie lagen und somit eine Industrieansiedlung möglich war. Sie erwarben das Grundstück der ehemaligen Eisengießerei Biber & Berger. Drei Monate nach der Fertigstellung der Fabrik wurde mit der Produktion von Kalisalpeter begonnen, das als Oxidationsmittel zur Lebensmittelkonservierung sowie zur Herstellung von Schwarzpulver verwendet wurde. Der Kalisalpeter wurde aus russischer Pottasche und Natronsalpeter hergestellt, als Nebenprodukt wurde Soda gewonnen. Beschäftigt wurden in dieser Zeit zehn Mitarbeiter.
Durch die gute Auftragslage konnte das Unternehmen schon 1860 expandieren und kaufte mehrere Grundstücke für die Erweiterung der Fabrikationsanlagen. Dies war notwendig, um die regionale Marktführerschaft als Kalianbieter zu erhalten, nachdem mehrere andere Unternehmen mit gleichem Produktionsschwerpunkt im näheren Umkreis gegründet worden waren. Da die Preise für russische Pottasche extrem stiegen, nutzte man ab 1860 Rübenpottasche, ein kostengünstiges Abfallprodukt der Zuckerherstellung, als Rohstoff für die Herstellung von Kalisalpeter und Soda. Im selben Jahr begann das Unternehmen mit der Produktion von Kaliumchlorid, das aus Steinsalzen auskristallisiert wurde.
Die Unternehmer kauften zur Steinsalzgewinnung eine alte Saline in Staßfurt bei Magdeburg. In diesem Gebiet waren 1856 Bergwerksarbeiter bei Bohrungen nach Steinsalz zufällig auf die weltweit ersten Kalisalzvorkommen gestoßen. Zunächst blieb dieses neue Mineral ungenutzt, doch schon 1857 ergaben chemische Untersuchungen im Auftrag der preußischen Regierung, dass es sich bei diesem Mineral um ein Doppelsalz handelt. Dieses Kalisalz besteht aus einer Verbindung von Kaliumchlorid und Magnesiumchlorid. Das Mineral wurde nach dem preußischen Oberbergrat Rudolf von Carnall, der die Bohrungen veranlasst hatte, Carnallit benannt. Die Vorräte waren schnell verbraucht, da die in Staßfurt ansässigen Bauern das Rohsalz unbearbeitet als Düngemittel nutzten.
In der Saline von Vorster & Grüneberg stieß man ebenfalls auf große Carnallitvorkommen. Grüneberg gelang es, ein neues Verfahren zu entwickeln, das die Düngemittelherstellung revolutionierte. Das Rohsalz wurde zunächst nach Kalk transportiert und dort in Holzbottichen mit Dampf gelöst, um es nach der Abkühlung auskristallisieren zu lassen. Das Zwischenprodukt bearbeiteten die Beschäftigten abermals mit Dampf. So entstand als Endprodukt reines Kaliumchlorid. Dies war die weltweit erste industrielle Verarbeitung roher Kalisalze. Um die Transportkosten zu reduzieren, entschlossen sich Vorster und Grüneberg in Staßfurt und in Leopoldshall, wo sie eine weitere Saline gekauft hatten, zwei weitere Kaliumchloridwerke zu errichten. Die Kaliumchloridgewinnung vor Ort war erheblich wirtschaftlicher als der Rohstofftransport zur Verarbeitung im Hauptwerk Kalk.
1860 schloss Grüneberg sein Studium mit der Promotion ab. Er forschte auf dem Gebiet der Agrikulturchemie und entwarf Tabellen für die Dosierung von Dünger. Diese waren für Landwirte über Jahrzehnte richtungweisend. Das Unternehmen erweiterte 1864 die Produktpalette um Stickstoff- und Phosphatdünger. Vorster & Grüneberg war damit die erste Großfabrik in Deutschland, die drei Hauptnährstoffe für Pflanzen, Stickstoff, Phosphor und Kalium chemisch herstellte. Ein Jahr später wurde für die Gewinnung von Kaliumcarbonat analog zur Soda-Herstellung erstmals das Leblanc-Verfahren angewendet. Zeitgleich errichtete Vorster & Grüneberg in Raderberg bei Cöln ein Zweigwerk für die Herstellung von Ammoniumsulfat. Das Ammoniumsulfat stellte der Betrieb aus Ammoniak unter Zugabe von Schwefelsäure her. Das Ammoniak war in Gaswasser enthalten, das bei der Herstellung von Stadtgas als bis dahin ins Abwasser entsorgtes Nebenprodukt anfiel. Da dieser Produktionszweig mit der bis dahin ungenutzten Rohstoffquelle sehr gewinnbringend war, bauten Vorster & Grüneberg in den Folgejahren weitere Ammoniakfabriken in Nippes bei Cöln, Düsseldorf, Essen, Dortmund, Hamburg, Leipzig, St. Petersburg sowie eine Salmiakfabrik in Moskau.
Umfirmierung zur Kommanditgesellschaft
Im Jahre 1867 erlitt das Unternehmen durch Fehlinvestitionen in England sowie den rückläufigen Absatz von Kaliumsulfat starke Verluste. Julius Vorster jr. wurde zu diesem Zeitpunkt in die Firmenleitung berufen. Auf seine Empfehlung wurde Magnesiumsulfat in die Produktpalette aufgenommen, um die Verluste zu reduzieren. Dieser Stoff war vornehmlich für den Export nach England bestimmt, da Textilhersteller ihn dort in großen Mengen zur Trocknung von Stoffen benötigten. Durch diesen neuen Absatzmarkt und die sich gleichzeitig positiv entwickelnden Absatzzahlen für Kaliumnitrat war die Finanzkrise im Jahre 1870 überstanden. Am 1. Oktober 1875 trat der zweite Sohn Vorsters, der Chemiker Fritz Vorster, als technischer Leiter in das Unternehmen ein. Er sollte sich um die Modernisierung und Erweiterung des Stammwerkes kümmern. Nach dem Tode des Firmengründers Julius Vorster 1876 wandelten die Besitzer das Unternehmen in eine Kommanditgesellschaft um.
Da der Absatz auf dem Düngemittelsektor aufgrund des Misstrauens der Bevölkerung gegenüber den modernen Kunstdüngemitteln weit hinter den Erwartungen zurückblieb, stellte die Unternehmensleitung 1878 Carl Johann Heinrich Scheibler als Leiter der Düngemittelabteilung ein. Scheibler entwickelte das kostengünstige Düngemittel Thomasphosphat, das auf Thomasschlacke basierte. Das Thomasphosphat ermöglichte auch ärmeren Bauern, ihre Felder zu düngen. Da die Städte ihr Gaswasser häufig selber nutzten oder gewinnbringend verkauften, wurden alle dezentralen Ammoniakfabriken ab dem Ende der 1870er-Jahre sukzessive stillgelegt oder verkauft. Das Stammwerk in Kalk hingegen wurde stetig erweitert, beispielsweise errichtete die CFK dort 1881 Produktionsstätten für Schwefel- und Salpetersäure. Carl Scheibler gründete 1885 unter dem Namen Düngerfabrik C. Scheibler & Co eine eigene Kommanditgesellschaft mit den Teilhabern von Vorster & Grünberg als Kommanditisten. Das Unternehmen beteiligte sich im In- und Ausland an der Produktion von Thomasmehl und erschloss damit einen sehr ergiebigen Markt.
1892 bis 1945
Gründung der Chemischen Fabrik Kalk GmbH
Kurz nach Inkrafttreten des GmbH-Gesetzes wurde die Personengesellschaft Vorster & Grüneberg am 1. Juli 1892 in die Chemische Fabrik Kalk GmbH umgewandelt – sie war eine der ersten Gesellschaften mit beschränkter Haftung in Preußen. Nach dem Tod des Unternehmensgründers Hermann Grüneberg am 7. Juni 1894 wurde sein Sohn Richard Grüneberg in die Geschäftsführung berufen – damit war die Leitung endgültig auf die zweite Generation übergegangen.
Kurz vor der Jahrhundertwende wurde die aufgrund des Konkurrenzdrucks defizitär gewordene Produktion von Kaliumcarbonat eingestellt. Als Ersatz wurde die Natriumcarbonatproduktion mittels des Ammoniak-Soda-Verfahrens deutlich erweitert. Im Jahre 1902 wurde die Düngerfabrik C. Scheibler & Co in die CFK eingegliedert, deren Leitung nach Scheiblers Tod im Jahre 1920 von seinem Sohn Hans Carl Scheibler fortgeführt wurde. Nachdem einige Jahre vorher schon das Kaliumchloridwerk in Staßfurt aufgrund des Preisverfalls des Endproduktes aus wirtschaftlichen Gründen geschlossen worden war, verkaufte die CFK nach dem Tode des Werksleiters Kästner auch das Werk Leopoldshall. Um die Wasserversorgung des Hauptwerkes auch bei kurzfristigen Versorgungsengpässen der Stadtwerke sicherstellen zu können, wurde 1904 ein 43,60 Meter hoher Wasserturm mit 270 Kubikmetern Fassungsvermögen gebaut, in den ein Schornstein integriert wurde.
Statusbericht zum 50-jährigen Firmenjubiläum
Zum Zeitpunkt des 50-jährigen Firmenjubiläums am 1. November 1908 wurden folgende chemische Güter produziert:
Neben dem Hauptwerk unterhielt die CFK im Jahre 1907 noch die Ammoniak-Fabrik in Köln-Nippes und Düngerfabriken in Köln-Ehrenfeld und Euskirchen, ferner war sie Hauptgesellschafter der Kohlendestillationsanlage Ammonium GmbH in Weitmar bei Bochum. Zudem unterhielt das Unternehmen zahlreiche nationale und internationale Beteiligungen an Thomasschlackemühlen. Der gesamte Warenausstoß betrug 600.000 Tonnen. Für An- und Abfuhr der Rohstoffe und Güter wurden 67.755 Eisenbahnwaggons benötigt, für die das Unternehmen 1.463.000 Goldmark an Transportkosten an die Eisenbahngesellschaften zahlen musste. Zu diesem Zeitpunkt waren 1200 Mitarbeiter bei der CFK beschäftigt. Damit war die CFK das zweitgrößte Unternehmen in Kalk hinter der Maschinenbauanstalt Humboldt.
Vom Ersten Weltkrieg bis zur Weltwirtschaftskrise
Mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges sank die Anzahl der Beschäftigten auf 70 Mitarbeiter, da die CFK keine kriegswichtigen Güter produzierte. Teile der Fabrikation mussten deshalb stillgelegt werden. Die Unternehmensleitung konzentrierte die Produktion auf Salpeter, da dieser als Grundstoff für die Sprengstoffherstellung benötigt wurde. Infolge der Wichtigkeit dieser Chemikalie stieg die Belegschaftsgröße schon im Dezember 1914 auf 504 Mitarbeiter an. 1916 richtete die CFK ein eigenes Versuchslabor für Sprengstoffforschung ein, in dem sie kurze Zeit später einen eigenen Sprengstoff entwickelte. Obwohl es an Arbeitskräften mangelte, gelang es dem Unternehmen im Bereich der Tierfutterherstellung, mit durch Ätznatron aufgeschlossenem Stroh einen neuen Absatzmarkt zu erschließen.
Nach Kriegsende mussten, bedingt durch den Versailler Vertrag, die Sprengstoffherstellung und -forschung eingestellt werden. In den 1920er-Jahren erhöhte sich die Nachfrage nach Dünger langsam, allerdings stiegen auch die Rohstoffpreise deutlich. Um diese Preissteigerungen zu relativieren, stellte die Chemische Fabrik Kalk die Düngerproduktion auf Kalkammonsalpeter um, einen Stickstoffdünger, der auf Nebenprodukten der sonstigen Fabrikation basierte. 1930 wurde unter dem Markennamen Scheibler’s Kampdünger (Kamp stand für Kalk-Ammon-Phosphor) ein nach aufwändigen Forschungen entwickelter Mineraldünger in das Programm aufgenommen. Der neuartige Zweikomponentendünger wurde von der Landwirtschaft angenommen, sodass der Umsatz stieg. Die Unternehmensleitung dachte darüber nach, das Hauptwerk nach Köln-Godorf zu verlagern, da im dicht besiedelten Industriestandort Kalk die Fabrik nicht mehr erweitert werden konnte. Dieser Plan wurde aber zurückgestellt.
NS-Zeit und Zweiter Weltkrieg
Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten bestimmten kriegsvorbereitende Maßnahmen das Handeln des Unternehmens, beispielsweise wurde die Produktion der Substanzen zur Herstellung von Sprengstoffen verstärkt. Ab 1937 wurden auch Frauen zur Industriearbeit eingesetzt. Nach Beginn des Zweiten Weltkrieges im Jahre 1939, als die männliche Belegschaft zum Kriegsdienst einberufen wurde, wurden die Frauen zwangsverpflichtet. Durch den kriegsbedingten Arbeitskräftemangel setzte die CFK ab 1940 etwa 460 polnische oder sowjetische Zwangsarbeiter im Werk ein, für die als Unterkunft ein Barackenlager auf dem Werksgelände eingerichtet wurde. Die Fabrik stellte die Produktion des Kampdüngers 1940 ein, da kein Phosphor mehr zur Verfügung stand.
Schon 1942, bei den ersten Bomberangriffen der Alliierten auf Köln-Kalk, nahmen die Produktionsanlagen schweren Schaden. 1943 wurde der Schwefelsäurebetrieb komplett zerstört, ein Jahr später kam fast die gesamte Produktion zum Erliegen. Nachdem bei über 20 Bombenangriffen insgesamt 227 Sprengbomben und Luftminen sowie rund 3000 Brand- und Phosphorbomben das Werk zu 80 % zerstört hatten, verkündete Fritz Vorster jr., der Enkel des Firmengründers, am 6. März 1945 die Schließung. Zu diesem Zeitpunkt hatte die CFK nur noch eine Belegschaftsstärke von etwa 100 Mitarbeitern.
1945 bis 1993
Nachkriegsjahre und Wiederaufbau
Im August 1945, nur drei Monate nach Kriegsende, wurde in der Chemischen Fabrik Kalk zu Tauschzwecken Branntkalk produziert. Die aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrenden Arbeiter des Werkes schlachteten zerstörte Betriebsteile aus, um die teilweise erhaltenen auszubessern. Einige Maschinen waren vor den Bombenangriffen in Sicherheit gebracht worden, sodass sie wieder zur Verfügung standen. Da im Jahre 1947 große Teile der Fabrik wieder aufgebaut waren, konnte die Produktion aufgenommen werden. Mit der Volldüngerproduktion wurde 1948 begonnen. Dem Kampdünger wurde Kalisalz zugemischt, er wurde deshalb als KAMPKA-Dünger verkauft.
Bereits 1950 hatte die Chemische Fabrik Kalk ihr altes Produktionsvolumen wieder erreicht. Der Marktanteil an der bundesweiten Sodaproduktion lag bei 20 %, ein Jahr später sank er auf 13 %. Im selben Jahr beteiligte sich ein großer deutscher Montanbetrieb, die Salzdetfurth AG, mit 25 % an der Chemischen Fabrik Kalk. Die Gesellschafter planten abermals eine Verlegung der Volldüngerproduktion in moderne Fabrikanlagen nach Köln-Godorf. Erneut wurde dieses Vorhaben nicht verwirklicht. Eine Studie kam zu dem Ergebnis, dass es günstiger sei, das Werk Kalk weiterhin zu nutzen. 1956 verkaufte die CFK das bereits erworbene Gelände in Godorf. Die Salzdetfurth AG zog ihre Beteiligung allerdings nicht zurück, sondern erhöhte ihre Anteile 1957 auf 75 %.
Zum hundertjährigen Firmenjubiläum am 1. November 1958 waren 1820 gewerbliche Arbeiter und 549 Angestellte im Unternehmen beschäftigt. Der Bedarf der Futtermittelbranche an hochprozentigen Phosphaten im Jahre 1960 konnte durch den Bau einer neuen Fertigungsanlage befriedigt werden, damit konnte ein neuer und Erfolg versprechender Markt erschlossen werden. Die KAMPKA-Dünger-Produktion lag im selben Jahr bei 417.000, die Soda-Produktion bei 170.000 Tonnen.
Die Übernahme durch die Salzdetfurth AG
1960 übernahm die Salzdetfurth AG alle Geschäftsanteile der Chemischen Fabrik Kalk GmbH und modernisierte Teile der Produktionsanlagen; beispielsweise leitete man stark schwefelhaltige Abgase ab 1965 über einen neu errichteten, 120 Meter hohen Schornstein, ab. Diese Höhe war nötig, da es bei Hochdruckwetter vorher oft zu Geruchsbelästigungen der Bevölkerung Kalks gekommen war, indem die stark riechenden Dämpfe auf Bodenhöhe gedrückt wurden. Durch den Bau konnte dieses Problem größtenteils beseitigt werden.
Ab Mitte der 1960er-Jahre wurden die Abfüll- und Verladeanlagen auf vollautomatischen Betrieb umgestellt. Diese Teilmodernisierungen konnten aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Fabrik, insbesondere die Soda-Produktion, technisch veraltet war. Nach dem Krieg war versäumt worden, größere Investitionen für Modernisierungen zu tätigen – auch fehlte es schon längerfristig an neuen Produktideen, sodass das Unternehmen keine neuen Absatzmärkte erschließen konnte. Im Jahre 1971 fusionierte die Salzdetfurth AG mit der BASF-Tochter Wintershall AG und der Burbach-Kaliwerke AG. 1972 wurde die Gesellschaft in die Kali und Salz AG umgewandelt. Anfangs war BASF der Mehrheitsaktionär, später übernahm sie auch noch die restlichen Anteile des Unternehmens.
Der Niedergang
Kurz nach der Übernahme durch die BASF begann die CFK, zusätzlich Blumen- und Gartendüngemittel zu produzieren, die über die COMPO GmbH, die 1967 von Salzdetfurth übernommen wurde, vertrieben wurden. Der Futtermittelhandel konnte nun individuelle Tierfuttermischungen ab Werk bestellen. Die Belegschaft vermutete, dass die BASF die Chemische Fabrik Kalk als Geschäftsfaktor nicht ernst nahm, da der Konzern keinerlei Investitionen in Modernisierungen vornahm.
Die allgemeine Rezession Mitte der 1970er-Jahre führte wegen Absatzschwierigkeiten zu ersten Entlassungswellen im Werk. Anfang der 1980er-Jahre wurde mit der Herstellung von organischen Bromverbindungen versucht, auf dem Gebiet der Feinchemie neue Geschäftsfelder zu erschließen. 1985 stellte die Fabrik diese Produktion nach einem Großbrand der Bromlagerhalle wieder ein, 1988 wurde auch die Düngerproduktion beendet. Fortan kam es jährlich zur Stilllegung weiterer Betriebsteile aus wirtschaftlichen Gründen. Am 23. Dezember 1993 wurde die Produktion von Soda und Kaliumchlorid in den noch verbliebenen Betriebsteilen beendet. Für die letzten 693 Mitarbeiter wurde ein Sozialplan aufgestellt, nach dem die Mitarbeiter, die älter als 55 Jahre alt waren, in den Vorruhestand gehen konnten, jüngere wurden finanziell abgefunden.
Nachnutzung des ehemaligen Werksgeländes
Vom fast 40 Hektar großen Gelände sind inzwischen alle Gebäude abgerissen bis auf den denkmalgeschützten Wasserturm. Zu unterscheiden sind drei Flächenbereiche.
Hauptgelände
Die Abrissmaßnahmen endeten mit der Sprengung des hohen Schornsteins am 25. Oktober 1996. Da das Gelände hochgradig mit chemischen Substanzen wie beispielsweise Schwefel und Schwermetallen verseucht war, musste es vor einer Weiternutzung umfangreich saniert werden.
Nachdem das Terrain im Jahre 2001 endgültig gift- und gebäudefrei war, versah die Stadt Köln es mit einer neuen Straßenstruktur und einem direkten Anschluss zur Zoobrücke. Heute sind dort das Polizeipräsidium Köln (Fertigstellung am 22. Oktober 2001) und das Einkaufszentrum Köln Arcaden (Fertigstellung am 2. März 2005) angesiedelt. Der von einem Parkhaus umbaute hohe Wasserturm ist der architektonische Mittelpunkt der Köln Arcaden. Pläne, in diesem Turm ein CFK-Museum einzurichten, sind bisher nicht realisiert worden. Nach zweijähriger Bauzeit eröffnete im April 2009 im nördlichen Teil des Terrains das Wissenschafts-Erlebnis-Zentrum Odysseum. Im gleichen Jahr wurde die Kapazität des Polizeipräsidiums durch einen Erweiterungsbau annähernd verdoppelt und die Anlage des etwa 2,8 Hektar großen Bürgerparks Kalk abgeschlossen. Zudem errichtete die Baumarktkette Bauhaus im nördlichen Areal eine ihrer größten Filialen in Deutschland. Neben Bauhaus ist der Music Store eingezogen. Pläne auf dem westlichen Gebiet ein Musical-Theater zu bauen, wurden 2009 verworfen, anstatt dessen sollen dort Bürogebäude und Dienstleistungsbetriebe entstehen.
Verwaltungsgebäude
Die ehemaligen Bürogebäude südlich des Werksgeländes auf der gegenüberliegenden Straßenseite der Kalker Hauptstraße wurden verkauft und einer anderen Nutzung zugeführt; in ihnen war das Generalsekretariat des Malteser Hilfsdienstes zu finden, ehe die Gebäude 2019 ebenfalls abgerissen wurden.
Mülldeponie
Die zwei Mülldeponien auf dem Werksgelände mit dem heutigen Namen Kalkberg und Kleiner Kalkberg lassen sich nicht wirtschaftlich abtragen, die Oberfläche wurde versiegelt. Die Nachnutzung der Fläche soll u. a. als öffentliche Grünfläche dienen. Durch für BASF glückliche Umstände fand sich mit der Stadt Köln ein Erwerber für diese Altlast, dem trotz der Setzungen am Alpincenter Bottrop und dem Unglück in Nachterstedt scheinbar nicht klar war, dass es keine gute Idee ist, eine Halde zu bebauen.
Heutige CFK
Nach der Beendigung der eigenen Produktion mit Abriss des alten Werksgelände existiert die Chemische Fabrik Kalk GmbH nur noch als Händler für Chemikalien. Der Sitz der Verwaltung wurde in die Olpener Straße 9–13 in Köln-Kalk verlegt. Der Website-Auftritt ist eigenständig ohne Nennung des Mutterkonzerns K+S, während die Mailadressen der Mitarbeiter alle auf die Domain „@k-plus-s.com“ lauten.
Soziales Engagement der Unternehmer
Die Firmengründer unterstützten schon zu Lebzeiten zahlreiche soziale Projekte und Institutionen. Nach ihrem Tod wurden die Finanzierungen von Stiftungen weitergeführt. Beispielsweise stellten die Stiftungen großzügige Zuschüsse für den Bau der Evangelischen Krankenhäuser Kalk und Weyertal sowie für das Syrische Waisenhaus in Jerusalem zur Verfügung. Zusätzlich überschrieben oder übergaben sie komplette Immobilien zur Einrichtung von Kindergärten oder Schulen und einer Volksbibliothek an die Stadt Kalk. Das letzte Wohnhaus von Hermann Grüneberg am Holzmarkt in der Kölner Altstadt übergab seine Witwe Emilie für die Einrichtung einer Trinkerheilanstalt an die Heilsarmee. Zu Ehren der Unternehmerfamilien benannte die Stadt Kalk zwei Straßen in Vorsterstraße und Grünebergstraße um.
Richard Grüneberg, der Sohn des Firmengründers, überschrieb 1904 einen Erstbeitrag von 30.000 Mark an die Richard-Grüneberg-Stiftung. Diese Stiftung gewährte Beihilfen zur Erholung an die CFK-Mitarbeiter. Später richtete die CFK eine unternehmensseitig finanzierte Unterstützungskasse für die betriebliche Altersvorsorge der Mitarbeiter ein. In den 1950er-Jahren eröffnete die CFK das Erholungsgelände Haus Friede in Köln-Dünnwald, das von den Mitarbeitern und ihren Familien unentgeltlich genutzt werden konnte.
Literatur
Heinrich Bützler: Geschichte von Kalk und Umgebung. Nachdruck nach dem Original von 1910, Edition Kalk der Buchhandlung W. Ohlert, Köln 2001, ISBN 3-935735-00-6.
Walter Greiling: 100 Jahre Chemische Fabrik Kalk 1858–1958. Eigenverlag CFK, Köln 1958.
Fritz Bilz: Veränderung der Industriearbeit in Köln-Kalk. Edition Kalk der Buchhandlung W. Ohlert, Köln 1997, ISBN 3-935735-02-2.
Fritz Bilz: Zwischen Kapelle und Fabrik. Die Sozialgeschichte Kalks von 1850 bis 1910. Köln 2008, ISBN 978-3-89498-190-7.
Stefan Pohl, Georg Möhlich: Das rechtsrheinische Köln. Seine Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart. Wienand, Köln 2000, ISBN 3-87909-391-1.
Georg Roeseling: Zwischen Rhein und Berg – Die Geschichte von Kalk, Vingst, Humboldt/Gremberg, Höhenberg. Bachem-Verlag, Köln 2003, ISBN 3-7616-1623-6.
Artikel zum 150-jährigen Firmenjubiläum der CFK. In: Kölner Stadtanzeiger. 31. Oktober 2008; abgerufen am 4. November 2008.
Weblinks
cfk-gmbh.com – Offizielle Website des Nachfolgers (Handelshaus)
hermann-grueneberg.de – Website über das Lebenswerk und den Nachlass des Firmengründers Hermann Grüneberg
gw-kalk.de – Geschichtswerkstatt Köln-Kalk
Anmerkungen und Einzelnachweise
Produzierendes Unternehmen (Köln)
Ehemaliges Unternehmen (Köln)
Kalk
Kalk (Köln)
Agrochemie
Sprengstoffhersteller
Gegründet 1858 |
4267024 | https://de.wikipedia.org/wiki/Stra%C3%9Fenbahn%20Timi%C8%99oara | Straßenbahn Timișoara | Die Straßenbahn Timișoara ist nach der Straßenbahn Bukarest der zweitgrößte Straßenbahnbetrieb in Rumänien. Die gesamte Netzlänge beträgt 33,1 Kilometer, es werden insgesamt 69 Haltestellen bedient. Aktuell verkehren in Timișoara die sieben Linien 1, 2, 4, 6, 7, 8 und 9, die zusammen sieben der insgesamt zehn Stadtbezirke abdecken. Lediglich Freidorf, Ghiroda Nouă und Plopi haben keinen Straßenbahnanschluss. Allerdings besaß zumindest Freidorf bis 2009 eine Schienenverbindung, wird aber seither im dauerhaften Schienenersatzverkehr bedient. Ebenfalls durch die Autobusse ersetzt wird seit dem 2. September 2017 die Linie 5.
Das Netz ist normalspurig und geht auf die 1869 eröffnete Pferdebahn zurück, die 1899 elektrifiziert und erweitert wurde. Ferner war die Straßenbahn Timișoara der erste Straßenbahnbetrieb auf dem Gebiet des heutigen Rumänien, später die zweite elektrisch betriebene Straßenbahn in Rumänien.
Betreiberin der Straßenbahn ist die Aktiengesellschaft Societatea de Transport Public Timișoara, kurz S.T.P.T. Das städtische Schienennetz bildet traditionell das Rückgrat des lokalen öffentlichen Personennahverkehrs, ergänzt wird es seit 1942 durch den Trolleybus Timișoara sowie von 1894–1899, 1926–1929, 1934–1948 beziehungsweise seit 1954 durchgehend durch diverse Autobuslinien. Jährlich befördern die drei städtischen Verkehrsmittel zusammen 90 Millionen Passagiere, davon entfallen 52 Millionen auf die Straßenbahn.
Besonderheiten des Betriebs sind beziehungsweise waren die verschiedenen Ringlinien seit 1936, der Güterverkehr mit Staatsbahnwagen auf Straßenbahngleisen von 1899 bis 1904 und von 1916 bis 1993, der Einsatz von Zwillingstriebwagen von 1931 bis 1988, die Verwendung von Zweirichtungswagen mit einseitigen Türen von 1966 bis 1980 sowie die Signalisierung mittels roter Liniennummern zwischen 1978 und 1997, außerdem die früher praktizierte Trassierung zweigleisiger Strecken nach Fahrtrichtung getrennt am Straßenrand oder links und rechts eines breiten Mittelstreifens.
Ferner stellten die Werkstätten der Straßenbahn Timișoara von 1914 an auch selbst Straßenbahnwagen für den eigenen Bedarf her. So ist beispielsweise der früher in Rumänien weit verbreitete Typ Timiș 2 eine Eigenentwicklung der Straßenbahn Timișoara. Dessen Fertigung – unter anderem für zahlreiche andere rumänische Straßenbahnbetriebe – übertrug die Verkehrsgesellschaft jedoch 1977 dem Maschinenbau-Unternehmen Electrometal Timișoara, womit die Eigenproduktion endete.
Netzentwicklung und Liniengeschichte
Die Pferdebahnzeit (1869–1899)
Die von der 1867 gegründeten und ursprünglich Temesvári Közúti Vaspálya Társaság (TKVT) genannten privaten Aktiengesellschaft, die deutsche Entsprechung lautete Temesvárer Straßen-Eisenbahn-Gesellschaft, ins Leben gerufene Straßenbahn in Timișoara war bei ihrer Eröffnung am 8. Juli 1869 unter den ersten Pferdestraßenbahnen weltweit. Sie verkehrte zunächst nur zwischen der Piața Sfântul Gheorghe in der Inneren Stadt und der Fabrikstadt, ab dem 25. Oktober gleichen Jahres dann auf einer zweiten Linie auch zwischen der Inneren Stadt und dem linken Bega-Ufer in der Josefstadt. Vollendet wurde sie am 29. September 1871 mit der Verlängerung der etwas jüngeren Linie zum heutigen Nordbahnhof. Betriebliche Besonderheiten waren das Zwei-Klassen-System und der Güterverkehr für die heutige Timișoreana-Brauerei.
Umstellung auf elektrischen Betrieb (1899)
Zum Ende des 19. Jahrhunderts stieg das Verkehrsbedürfnis im damaligen Temesvár stark an und konnte mit der Pferdebahn nur noch bedingt befriedigt werden. So hatte sich die Einwohnerzahl der Stadt während der Betriebszeit der Pferdebahn nahezu verdoppelt. Lebten 1869 noch 32.725 Einwohner in Temesvár, so waren es 1900 bereits 59.229 Einwohner. Damit gehörte die Banater Hauptstadt zu den größten Kommunen der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie. Ferner galt eine pferdebetriebene Straßenbahn gegen Ende des 19. Jahrhunderts als nicht mehr zeitgemäß. In Budapest, der Hauptstadt Transleithaniens, fuhren beispielsweise bereits seit 1887 elektrische Straßenbahnen, in Wien, der Hauptstadt Cisleithaniens, seit 1897. Aber auch vier ungarische Provinzstädte verfügten bereits vor Temesvár über eine Elektrische – dies waren Pozsony (seit 1895) sowie Miskolc, Szabadka und Szombathely (jeweils seit 1897). In der österreichischen Reichshälfte fuhr man damals – außer in der Hauptstadt – sogar schon in über zehn Städten mit Strom.
Auch die Erweiterung des Netzes gewann zunehmend an Dringlichkeit. Insbesondere die Bewohner der damals noch Mayerhöfe genannten Elisabethstadt – welche die Pferdebahn nur am westlichen Rand tangierte – forderten seit längerem einen eigenen Straßenbahnanschluss. Der Stadtbezirk war 1890 nach Temesvár eingemeindet worden. Ebenso dringlich war die verbesserte Anbindung des peripher gelegenen Fabrikstädter Bahnhofs, seit 1876 Temesvárs zweiter Bahnhof. Die heute Gara de Est genannte Station lag in damals noch unbebautem Gelände nördlich des Fabrikstädter Zentrums – von der zentral gelegenen Piața Traian aus über einen Kilometer entfernt – und war seit 1895 durch eine Pferdeomnibuslinie angebunden.
Die Ausbaupläne forcierte vor allem auch die Stadtverwaltung unter Führung des damaligen Bürgermeisters Karl Telbisz. Die Kommune nahm bereits Ende 1895 diesbezügliche Verhandlungen mit der Temesvári Közúti Vaspálya Társaság auf, die schon am 15. November 1895 ein entsprechendes Konzept vorstellte. Infolgedessen beschloss das Unternehmen in der Gesellschafterversammlung vom 20. Juli 1897 die Elektrifizierung und firmierte ab dem 21. Juli 1897 unter der neuen Bezeichnung Temesvári Villamos Városi Vasút Részvénytársaság, kurz TVVV. Die offizielle deutsche Entsprechung, die Protokollierung des Unternehmens war zweisprachig, lautete Temesvárer Elektrische Stadtbahn Actiengesellschaft. Für die Elektrische erteilten die Behörden – ebenfalls 1897 – auch eine neue Konzession, diese war bis zum 31. Dezember 1959 befristet.
Im Juli 1898 begannen schließlich die Bauarbeiten für das neue Liniennetz. Die Finanzierung besorgte die Ungarische Eisenbahn-Verkehrs-Actiengesellschaft aus Budapest, ungarisch Magyar Vasúti Forgalmi Részvénytársaság. Mit der Erstellung der elektrischen Anlage waren die Vereinigte Elektrizitäts AG vorm. B. Egger & Co. (VEAG) aus Wien und die Electricitäts-Gesellschaft Felix Singer & Co. aus Berlin gemeinsam betraut. Das vergleichsweise kleine Unternehmen Singer rüstete damals auch die Straßenbahnen in Bamberg (1897), Liegnitz (1898), Thorn (1899) und Stralsund (1900) elektrisch aus. Zur Anwendung kamen jeweils Stangenstromabnehmer mit Kontaktrolle des Systems Dickinson, die eine seitliche Abweichung von bis zu dreieinhalb Metern erlaubten. Beim Bau der Oberleitung fanden an exponierten Stellen wie vor dem Gara de Nord und auf der Piața Libertății verzierte Stahlrohrmaste von Mannesmann Verwendung, ansonsten gewöhnliche Holzmaste beziehungsweise in engeren Straßen Querdrähte und Oberleitungsrosetten. Der Fahrdraht hatte einen Durchmesser von acht Millimetern und war in einer Höhe von 5,5 Metern über der Schienenoberkante montiert. Die Holzmaste bewährten sich jedoch nicht, weil sie zu schnell verrotteten. Sie mussten deshalb bis 1904 vollständig durch Stahlgittermaste ersetzt werden.
Am 30. Juni 1899 fand die erste Probefahrt statt, bevor am Donnerstag, den 27. Juli 1899 schließlich der reguläre elektrische Betrieb begann. Damit endete – abgesehen von einem nächtlichen Kurs zum Gara de Nord und zurück – der Pferdebahnverkehr in Temesvár. Auch die Pferdeomnibusse stellten damals endgültig ihren Dienst ein. Gleichzeitig wuchs das Schienennetz von zuletzt 6,636 beziehungsweise 6,672 auf 10,315 Kilometer. Statt der beiden Pferdebahn-Radiallinien und der ergänzenden Pferdeomnibuslinie – die alle drei keine Nummern trugen – verkehrten fortan fünf elektrisch betriebene Linien, darunter zwei Durchmesserlinien und drei Radiallinien:
Die Endstelle Dunagőzhajózási ügynökség der Linie II war nach der damaligen Agentur der Ersten Donau-Dampfschiffahrts-Gesellschaft benannt, die sich kurz nach der Einmündung der Strada Mangalia – die damals noch Csillag utcza hieß – in das Splaiul Tudor Vladimirescu befand. Allerdings konnte die circa 250 Meter lange Strecke zwischen der Király hid und der Agentur, wie auch der Abschnitt Piața Traian – Parcul Uzinei, erst einige Tage nach Eröffnung der Elektrischen in Betrieb gehen, weil die Bauarbeiten auf diesen beiden Abschnitten am Tag der Umstellung noch im Gang waren.
Die Linienkennzeichnung mittels römischer Zahlen diente lediglich dem internen Gebrauch. Beschildert wurden die Wagen seitlich mittels am Wagendach angebrachten Wechselsteckschildern mit dem Linienverlauf in ungarischer Sprache und frontal mit einem farbigen Liniensignal mit der jeweiligen Linienkennfarbe. Als Tagessignal existierte hierbei eine kreisrunde weiße Blechscheibe mit einem farbigen Diagonalbalken, die rechts oben am Wagendach angebracht war. Als Nachtsignal für den Betrieb bei Dunkelheit diente hingegen der mittig unterhalb der Windschutzscheibe montierte Frontscheinwerfer, auf den ein durchscheinender farbiger Diagonalbalken aufgesetzt war. Die Kennzeichnung mittels Linienfarben war seinerzeit auch noch in vielen anderen Städten üblich. Sie sollte zum einen Analphabeten und zum anderen Angehörigen nationaler Minderheiten die Unterscheidung der verschiedenen Routen erleichtern, damals gehörte nur ein Drittel der Einwohner Temesvárs der ungarischen Titularnation an.
Der Großteil des elektrisch betriebenen Netzes waren dabei komplett neu errichtete Trassen. Dazu zählte auch die neue Streckenführung in der Inneren Stadt, die quer über die zentrale Piața Libertății führte. Auf der Piața Sfântul Gheorghe, dem bisherigen Betriebsmittelpunkt der Pferdebahn, befand sich eine Haltestelle mit Ausweiche sowie ein Stumpfgleis. Auf Letzterem wurden außerhalb der Hauptverkehrszeiten die nicht benötigten Beiwagen abgestellt. Die insgesamt zehn zur Verfügung stehenden Beiwagen kamen nur auf den am stärksten frequentierten Hauptlinien I und II zum Einsatz. Obwohl die beiden Linien zusammen ebenfalls nur über zehn Umläufe verfügten und alle vier Endstellen mit Umsetzgleisen ausgestattet waren, konnten nicht alle Fahrten mit Anhängern bestückt werden. Ursächlich hierfür waren die kurzen Wendezeiten an den Endpunkten, die ein Umfahren der Anhänger verhinderten und den Einsatz von zusätzlichen Stoßbeiwagen erforderten. Generell benötigte die Straßenbahngesellschaft die Beiwagen vor allem für den seinerzeit stark ausgeprägten Ausflugsverkehr an Sonn- und Feiertagen, insbesondere im Sommerhalbjahr. In der kalten Jahreszeit waren hingegen anfangs gar keine Anhänger in Betrieb, erst für den Winter 1901/1902 verzeichnet die Statistik erstmals zwei ganzjährig eingesetzte Beiwagen.
In der Fabrikstadt entstand 1899 auf der Piața Traian, die die Pferdebahn noch südlich umfahren hatte, ein wichtiger Umsteigeknoten. Zum zweiten zentralen Punkt des Netzes entwickelte sich die Piața Sfânta Maria. Dort hatten die Fahrgäste aus der Elisabethstadt Anschluss in alle Richtungen. In der Josefstadt erreichte die Straßenbahn den Bahnhof fortan auf direktem Wege via Bulevardul Regele Carol I und Strada General Ion Dragalina. Für die Fahrgäste aus der Gegend um die Piața Iuliu Maniu hatte dies allerdings einen Umsteigezwang an der Piața Alexandru Mocioni zur Folge, der dritten Umsteigestelle des neuen Netzes.
Ferner baute die Straßenbahngesellschaft parallel zur Elektrifizierung zwei Streckenabschnitte der Pferdebahn zweigleisig aus. Hierbei handelte es sich um den 1280 Meter langen Abschnitt zwischen der Piața Romanilor – wo sich damals auch eine Haltestelle befand – und der Piața Balaș beim heutigen Hotel Continental sowie um das 1088 Meter lange Teilstück zwischen dem Opernhaus und der Piața Alexandru Mocioni. Hierbei mussten auch die massiven Festungsmauern der Stadt durchbrochen werden, weil die beiden Bahnfestungstore nur für eine eingleisige Trassierung ausgelegt waren. Jedoch war die 1891 begonnene Entfestigung bereits in vollem Gang, das heißt, das bis 1910 gänzlich abgetragene Bollwerk war damals bereits nicht mehr intakt. Die beiden zusammen circa 2,4 Kilometer langen Doppelspurinseln waren dabei auch die einzigen Abschnitte der Pferdebahnstrecke, welche die Gesellschaft direkt umstellte. Von Vorteil war hierbei, dass kein Gleis – die elektrische Straßenbahn benötigte einen stärkeren Unterbau und schwerere Schienen – unter laufendem Betrieb umgebaut werden musste. Dies konnte vermieden werden, indem erst das neue zweite Gleis in Betrieb ging und anschließend das alte Pferdebahngleis ausgetauscht werden konnte. Nicht zuletzt aus diesem Grund verkehrte die elektrische Straßenbahn zwischen Piața Alexandru Mocioni und Strada Iancu Văcărescu auf der anderen Straßenseite als die Pferdebahn.
Beim Doppelspurausbau kam erstmals in Temesvár auch die nach Fahrtrichtungen getrennte Anlage der Gleise in Seitenlage zur Anwendung. Diese Trassierung – eine typisch österreich-ungarische Besonderheit – war zunächst auf zwei Abschnitten auf den breiten Boulevards der Temesvárer Vorstädte anzutreffen. Konkret betraf dies zwischen der Inneren Stadt und der Josefstadt circa 800 Meter zwischen der heutigen Kathedrale und der Piața Alexandru Mocioni sowie in der Fabrikstadt weitere circa 500 Meter zwischen dem Stadtpark und der Piața Romanilor. Die Aufteilung der Gleise ermöglichte es den Fahrgästen vor allem, direkt vom Gehweg aus einzusteigen. Sie mussten sich somit nicht den Gefahren des Straßenverkehrs aussetzen.
Darüber hinaus war auch ein Großteil der eingleisigen Abschnitte in Seitenlage trassiert. Wiederum profitierten die Fahrgäste vom gefahrlosen Fahrgastwechsel, zudem musste beim späteren zweigleisigen Ausbau das vorhandene Gleis nicht mehr verlegt werden. Im Gegenzug hatte diese Lösung Nachteile für den Individualverkehr, in jeweils einer Richtung kamen die Straßenbahnen den übrigen Straßenverkehrsteilnehmern frontal entgegen. Mittig trassiert waren lediglich drei kurze eingleisige Abschnitte rund um die Piața Traian, auch auf diesen ordnete die Gesellschaft das Gleis aber so an, dass es beim späteren Ausbau nicht mehr verrückt werden musste. Im Detail existierte zum Zeitpunkt der Elektrifizierung folgende Trassierung:
Außerdem passte die Stadt im Zuge der Elektrifizierung die Brücke Podul Ștefan cel Mare den neuen Bedingungen an, sie wurde 1899 von fünf auf sieben Bögen erweitert. Ebenso musste die Brücke Podul Traian verstärkt werden, an dieser Maßnahme beteiligte sich die Straßenbahngesellschaft mit einem Viertel der Kosten. Die gesamten Investitionsausgaben für die Elektrifizierung betrugen 2.240.000 Kronen.
Die Stromversorgung der elektrischen Straßenbahn übernahm ein eigens errichtetes Dampfkraftwerk nach dem System von L. & C. Steinmüller. Dieses befand sich südlich des heutigen Bulevardul Take Ionescu, rechts des Verwaltungsgebäudes der Straßenbahngesellschaft. Das von dieser in Eigenregie betriebene Kraftwerk bestand aus einem Kesselhaus und einem Maschinenhaus. Ersteres beherbergte zwei Dampfkessel mit jeweils 181,7 Quadratmetern Heizfläche und einem Druck von zehn Atmosphären. Im Maschinengebäude waren zwei Verbunddampfmaschinen mit einer Leistung von jeweils 250 Pferdestärken installiert, sie trieben zwei elektrische Generatoren mit einer Leistung von 150 Kilowatt an. Die auf diese Weise erzeugte elektrische Spannung betrug anfangs 550 Volt. Um größere Spannungsabfälle zu vermeiden existierten zwei Speisepunkte, einer in der Fabrikstadt und einer in der Josefstadt.
Mit der Umstellung war eine deutliche Steigerung der Transportleistung verbunden. Beförderte die Pferdebahn 1898 noch 874.901 Fahrgäste, so waren es bei der elektrischen Straßenbahn 1900 bereits 2.397.492 Personen, das heißt mehr als zweieinhalbmal so viele. Gemäß Vertrag mit der Stadt musste die Elektrische 18 Stunden täglich betrieben werden, das heißt zwischen 5:00 und 23:00 Uhr. Sie fuhr damit morgens und abends jeweils eine Stunde länger als die Pferdebahn. Zudem verkehrte sie doppelt so häufig: während die Pferdebahn nur fünfmal stündlich eine Verbindung zwischen der Inneren Stadt und den Vorstädten herstellte, waren es bei der Elektrischen bereits zehn Fahrten in 60 Minuten.
Die neu hinzugewonnenen Fahrgäste profitierten außerdem von den etwas kürzeren Reisezeiten. Während die Pferdebahn noch mit durchschnittlich etwa neuneinhalb Kilometern in der Stunde fuhr, war die Elektrische mit einer Reisegeschwindigkeit von durchschnittlich 10,3 (Linie I) respektive 10,4 (Linie II) Kilometern in der Stunde bereits um circa ein Zehntel schneller. Hinzu kam die direktere Trassierung. So war der Abschnitt Piața Alexandru Mocioni–Gara de Nord fortan um fast einen Kilometer kürzer, aber auch im Zulauf auf die Piața Sfântul Gheorghe sowie zwischen Piața Romanilor und Prințul Turcesc ersparten sich die Fahrgäste jeweils den zuvor gefahrenen Umweg. Vor allem aber entfiel für Reisende zwischen den Vorstädten der Umsteigezwang in der Inneren Stadt. Ferner hielt die elektrische Straßenbahn ab der Elektrifizierung nur noch an festen Haltestellen, während bei der Pferdebahn auf Wunsch auch zwischen zwei Stationen ein- und ausgestiegen werden konnte. Parallel dazu stellte die Gesellschaft neue Haltestellenhäuschen auf. Hierbei kamen standardisierte Eisen-Glas-Konstruktionen in Fertigteilbauweise zur Anwendung, die bereits in den 1870er Jahren exklusiv für die Wiener Straßenbahn entwickelt wurden. Diese Unterstände waren 1,60 Meter breit und in der Basisversion 3,00 Meter lang, sie konnten – außer in Temesvár – in exakt gleicher Bauweise auch in anderen Städten der Doppelmonarchie angetroffen werden.
Neues Tarifsystem von 1899
Anlässlich der Elektrifizierung reformierte die Gesellschaft auch den Beförderungstarif. An die Stelle der bei der Pferdebahn üblichen von Einzelfahrkarten für eine Linie beziehungsweise Umsteigefahrkarten für beide Linien trat 1899 ein Teilstreckentarif mit insgesamt vier Zahlgrenzen. Es existierten somit fünf Preisstufen, die alle die bis zu zwei Umstiege erlaubten, die nötig waren, um einen beliebigen Punkt des Netzes zu erreichen. Im Zuge dieser Tarifumstellung sanken die Fahrpreise auf allen Relationen teils deutlich:
Die insgesamt zehn 1899 entstandenen Teilstrecken waren wie folgt definiert, die Piața Sfânta Maria und die Piața Alexandru Mocioni unterlagen einer tariflichen Gleichstellung:
Verlegung der Bahnstrecke nach Caransebeș (1902)
Eine betriebliche Besonderheit der elektrischen Straßenbahn waren – wie bereits bei der Pferdebahn – die niveaugleichen Kreuzungen mit der staatlichen Eisenbahn Magyar Államvasutak. Zwar entfiel 1899 die Kreuzung mit dem Industriegleis auf dem Bahnhofsvorplatz, weil dort ab der Elektrifizierung keine Straßenbahnen mehr fuhren. Jedoch kam infolge der Netzerweiterung von 1899 – neben den beiden Kreuzungen bei der heutigen Kathedrale der Heiligen drei Hierarchen sowie der dritten Kreuzung beim heutigen Liceul Pedagogic Carmen Sylva – eine vierte in der Strada Gheorghe Doja hinzu. Dort kreuzte die neue Straßenbahnlinie in die Elisabethstadt beim heutigen Parcul Carmen Sylva die bestehende Eisenbahnstrecke nach Karasjeszenö, die in diesem Abschnitt auch von den Zügen der Strecke nach Buziás mitbenutzt wurde.
Diese Querungen entwickelten sich zunehmend zum Problem, insbesondere galt dies für den am stärksten belasteten Doppelübergang bei der heutigen Kathedrale. Dort verkehrten auf beiden Strecken zusammen bis zu 40 Züge täglich. Sie verursachten lange Schließzeiten der Schranken, Wartezeiten zwischen drei und 15 Minuten waren an der Tagesordnung. Dies führte zu starken Behinderungen im Straßenbahn- und Straßenverkehr, insbesondere weil mit der Elektrifizierung auch der Straßenbahnverkehr deutlich zugenommen hatte. Die drei bestehenden Kreuzungen wurden seit 1899 von 20 Straßenbahnen stündlich passiert, die neue Kreuzung in der Strada Gheorghe Doja immerhin noch achtmal stündlich. Zudem übertrugen sich die Verspätungen – bedingt durch die zahlreichen eingleisigen Abschnitte – auch auf die entgegenkommenden Straßenbahnkurse. Erschwerend hinzu kamen die fehlenden Pufferzeiten an den Endstellen. Anders als bei der Pferdebahn, bei der an den Streckenenden ausreichende Pausen zur Erholung und Fütterung der Pferde eingeplant waren, fuhren die Wagen der Elektrischen nach dem Fahrgastwechsel sofort zurück. Dadurch kam es zu Pulkbildungen. Unabhängig davon teilten sich die beiden Hauptlinien aber auch regulär einen Teil ihrer Fahrplantrassen, das heißt im sogenannten Folgezugbetrieb. So verkehrte jeder dritte Kurs der Linie I im Bereich der gemeinsamen Stammstrecke zusammen mit einem der Kurs Linie II beziehungsweise jeder zweite Kurs der Linie II zusammen mit einem Kurs der Linie I.
Infolge der fortschreitenden Schleifung der Festungsanlagen konnte die Staatsbahn – nicht zuletzt auf Druck von Stadt und Straßenbahngesellschaft – 1902 ihre Strecke in Richtung Karánsebes nördlich um die Innere Stadt herum verlegen, auf der auch die Züge in Richtung Máriaradna fuhren. Dadurch entspannte sich die Situation spürbar. Die Kreuzung zwischen der Inneren Stadt und der Fabrikstadt entfiel komplett, an der heutigen Kathedrale kreuzten fortan nur noch die Züge in Richtung Karasjeszenö beziehungsweise Buziás die Straßenbahngleise.
Kommunalisierung (1904)
Per Vertrag vom 31. Dezember 1903 kaufte die Stadtverwaltung das private Straßenbahnunternehmen für 2.571.150 Kronen auf, woraufhin dieses sich ab dem 14. Februar 1904 offiziell in Liquidation befand und ab dem 13. April 1904 als Firma gelöscht war. Daraufhin erhielt die Kommune, nach ausgiebiger Prüfung des Ministeriums, am 24. August 1904 auch die Konzession überschrieben. Die buchmäßige Übertragung der Fahrzeuge und der Immobilien folgte am 26. November 1904, bevor am 29. Dezember 1904 die Umwandlung der bisherigen Aktiengesellschaft in einen städtischen Eigenbetrieb den Prozess abschloss. Der – damals noch stellvertretende – Temesvárer Bürgermeister József Geml begründete die Kommunalisierung der Straßenbahn, seinerzeit ein allgemeiner Trend in Europa, wie folgt:
In Folge der Kommunalisierung übernahm die Stadt zum 1. November 1904 auch die Stromversorgung der Straßenbahn. Hierzu diente das bereits 1884 für die Straßenbeleuchtung in Betrieb genommene Elektrizitätswerk in der Fabrikstadt, dieses Kohlekraftwerk befand sich seit 1893 in städtischem Besitz. Temesvár gehörte seinerzeit zu den ersten europäischen Städten mit elektrischer Beleuchtung; von diesem Technologievorsprung profitierte auch die Straßenbahn. 1904 ging auch das erste Gleichrichterwerk in Betrieb. Das alte Kraftwerksgelände von 1899 verkaufte die Gesellschaft hingegen 1905 an die im gleichen Jahr gegründete Wollindustrie AG, die auf dem Areal ihre Hauptverwaltung errichtete.
Anlage der Lloyd-Zeile (1905)
Nur sechs Jahre nach der Elektrifizierung und dem zweigleisigen Ausbau musste die Straßenbahntrasse zwischen dem Staatstheater und dem Bahnübergang bei der heutigen Kathedrale auf einer Länge von etwa 350 Metern erneut umgebaut werden. Nach der Schleifung der Festungswälle ging das Festungsvorland 1905 in städtischen Besitz über. Infolgedessen wurde die Allee in die Josefstadt begradigt und verbreitert. Es entstand die sogenannte Lloyd-Zeile, die heutige Piața Victoriei. Dort verlief die Straßenbahn fortan nicht mehr wie eine Überlandstraßenbahn neben der Straße, sondern in Mittellage des neuen Boulevards, im Bereich der heutigen Grünanlage. Außerdem nutzte die Straßenbahngesellschaft die Gelegenheit zu einer weiteren Trassenkorrektur im benachbarten Abschnitt zwischen der heutigen Kathedrale und dem Podul Traian. Dort verlegte sie die Schienen auf einer Länge von circa 300 Metern aus dem Straßenpflaster heraus auf eine Eigentrasse, stadtauswärts gesehen links der Straße.
Zweigleisiger Ausbau und dritte Durchmesserlinie (1906)
Das kontinuierlich steigende Fahrgastaufkommen erforderte schon wenige Jahre nach der Elektrifizierung weitere Ausbaumaßnahmen. Um mehr Fahrgäste befördern zu können, baute die TVVV bis April 1906 zusätzliche Abschnitte zweigleisig aus. Neben der Passage der Inneren Stadt zwischen der Piața Balaș und dem Opernhaus betraf dies die Strecke von der Piața Alexandru Mocioni zum Gara de Nord und die Strecke der Linie II auf dem heutigen Bulevardul Regele Carol I.
In zweifacher Weise neuartig war dabei die Trassierung im Bereich des Bulevardul Regele Carol I, auf dem die Gleise wiederum nach Fahrtrichtung getrennt verliefen. Zwischen der Piaţa Alexandru Mocioni und der Kreuzung mit der Strada Iancu Văcărescu stand der Straßenbahn dabei ab 1906 auf jeder Straßenseite je ein eigener Gleiskörper zur Verfügung, während sie auf dem Restabschnitt bis zum Bulevardul Iuliu Maniu nicht am Straßenrand, sondern links und rechts eines breiten Mittelstreifens verlief. Dieser wurde als Flaniermeile und zur Abhaltung eines Wochenmarkts genutzt. Diese Anordnung diente in späteren Jahren als Vorbild für den Umbau weiterer Abschnitte, so entstanden beispielsweise auch in der Fabrikstadt und der Inneren Stadt solche Trassen mit dazwischen liegender Nutzfläche.
Kein Bestandteil des Ausbauprogramms war hingegen der circa 500 Meter lange Teilabschnitt der Linie II zwischen dem Bulevardul Regele Carol I und der Agentur der Ersten Donau-Dampfschiffahrts-Gesellschaft. Diese Verbindung diente hauptsächlich der Anbindung des Binnenhafens an der Bega sowie der staatlichen Tabakfabrik am gegenüberliegenden Ufer. Letztere war seinerzeit der größte Arbeitgeber in Temesvár, sie konnte über die Király hid bequem zu Fuß erreicht werden. Die Stilllegung der Strecke erfolgte im April oder Mai 1906, mit nur knapp sieben Betriebsjahren war sie damit die kurzlebigste Straßenbahnstrecke Timișoaras überhaupt. Die noch neuwertigen Schienen der Strecke fanden ganz in der Nähe eine weitere Verwendung. Sie dienten zum Aufbau einer gleichfalls rund 200 Meter langen Neubaustrecke in der benachbarten Strada Ioszef Preyer, auf dieser fuhr ab dem 2. Juni 1906 die Linie II. Sie war ebenfalls eingleisig und führte auf der rechten Straßenseite bis zur Kreuzung mit der heutigen Strada Mangalia. Bis die Schienen neu verlegt waren, endete die Linie II kurzzeitig an der heutigen Haltestelle Bulevardul Iuliu Maniu, am Beginn der Strada Ioszef Preyer.
Eigentlich sollte die eingestellte Strecke zur Agentur der Ersten Donau-Dampfschiffahrts-Gesellschaft durch eine circa einen Kilometer lange eingleisige Neubaustrecke am gegenüberliegenden rechten Begaufer ersetzt werden, die aber nicht mehr realisiert werden konnte. Diese wäre an der Ștefan cel Mare-Brücke von der Strecke zum Bahnhof abgezweigt und hätte an der Tabakfabrik vorbei bis zur Spiritusfabrik geführt, dem späteren Combinatul Petrochimic Solventul. Als Endstelle war die Einmündung der Strada Nufar vorgesehen. Gleichfalls nicht verwirklicht werden konnte eine gleichzeitig geplante kurze Erweiterung am anderen Ende der Stadt. Dort sollte die Linie I über die Piața Sarmisegetuza hinaus dem linken Ufer der Bega folgend bis zum Ștrand führen, benannt nach dem populären Flussschwimmbad dort, alternativ auch als Plajă bezeichnet. Diese Strecke ging schließlich erst 1923 in Betrieb.
Infolge der bis 1906 ausgebauten Abschnitte konnte die TVVV die beiden Radiallinien III und IV zu einer dritten Durchmesserlinie verknüpfen. Diese neue Linie III verkehrte seit 1906 im 15-Minuten-Takt auf der Strecke Gara de Est–Strada Memorandului, das Liniensignal IV entfiel. Die neue Linie bot den Bewohnern der Elisabethstadt erstmals Direktverbindungen in die Innere Stadt und in die Fabrikstadt, auch die Bewohner der nördlichen Fabrikstadt mussten fortan nicht mehr an der Piața Traian umsteigen. Gleichzeitig verbesserte sich das Angebot auf der Linie II vom bisherigen 15-Minuten-Takt auf einen Zehn-Minuten-Takt. Dadurch und durch die neue Streckenführung der Linie III stieg 1906 das Angebot auf der Stammstrecke Piața Traian–Piața Sfânta Maria von zehn auf 16 Fahrten je Stunde und je Richtung. Infolge der Taktverdichtung auf der Linie II und der neuen Durchmesserlinie III erhöhte sich der Wagenauslauf 1906 von 13 auf 17 Wagen, davon je sechs auf den Linien I und II, vier auf der Linie III und weiterhin ein Pendelwagen auf der Linie V. Infolge der Taktverdichtung und dem Einsatz größerer Wagen entfiel ab dem 21. Mai 1906 vorübergehend auch der Beiwagenbetrieb.
Außerdem entstand ebenfalls 1906 auf der Piața Traian die – bis 1915 zunächst eingleisige – direkte Nord-Süd-Verbindung. Sie wurde anfangs für Ein- und Ausrückfahrten der Linie II von und zum Depot benötigt, ab 1915 diente sie schließlich auch dem Güterverkehr. Ebenso erweiterte die Gesellschaft 1906 die Gleisanlagen auf der Piața Sfânta Maria von einer auf drei Weichen, zuvor war die Strecke der Linie III dort nur an das stadtauswärtige Gleis angeschlossen.
Theatergleis (1907)
1907 legte die Straßenbahngesellschaft vor dem Schloss Hunyadi ein neues Stumpfgleis für die Theaterwagen an, dieses war durch einen Gleiswechsel auf dem Theatervorplatz an beide Streckengleise angebunden. Das alte Abstellgleis am Rande der Piața Sfântul Gheorghe sorgte hingegen immer wieder für Beschwerden bei den dortigen Geschäftsinhabern, weshalb es 1911 verkürzt sowie in die Mitte des Platzes verlegt und schließlich 1926 anlässlich einer umfangreichen Gleiserneuerung in der Inneren Stadt ganz aufgelassen wurde.
Weitere Doppelspuren (1908–1915)
In den Jahren 1908 bis 1915 schritt der zweigleisige Ausbau der wichtigsten Strecken weiter voran, die zusätzlichen Doppelspur-Abschnitte gingen wie folgt in Betrieb:
Nach dem Abschluss des Ausbaumaßnahmen der Jahre 1908 bis 1915 waren 8177,60 Meter des damals insgesamt 10.877 Meter langen Netzes zweigleisig angelegt, das heißt 75,2 Prozent. Die gesamte Gleislänge – inklusive aller Depotgleise – betrug 22.348,40 Meter. Als erste Temesvárer Straßenbahnlinie war die Linie I seit 1909 durchgehend zweigleisig geführt. Der tägliche Wagenauslauf wurde in jenen Jahren mehrfach erhöht: 1908 von 17 auf 19, 1910 auf 24, 1911 auf 25 und 1912 schließlich auf 28 Wagen. Durch den zweigleisigen Ausbau jener Jahre konnten mehrere Taktverdichtungen verwirklicht werden. Zunächst verkehrte die Linie III ab 1908 im Zehn-Minuten-Takt, bevor dann ab 1910 alle drei Hauptlinien alle siebeneinhalb Minuten statt zuvor alle zehn Minuten fuhren. Allerdings musste in den Jahren 1910–1911 vorübergehend die kurze Linie V eingestellt werden, weil sonst nicht genügend Reservewagen für die soeben verdichteten Hauptlinien zur Verfügung gestanden hätten.
Kanalisierung der Bega in der Fabrikstadt (1909)
Nachdem die Bega bereits seit dem 19. Jahrhundert – von der Mündung her kommend – bis in die Josefstadt schiffbar war, folgte 1909 auch der Abschnitt durch die Fabrikstadt. Diese Maßnahme wirkte sich an gleich sieben Stellen auf die Straßenbahn aus:
Ab dem 5. August 1909 erreichten die Straßenbahnen die Fabrikstadt aus Richtung Innere Stadt kommend über den neu erbauten Podul Decebal. Zusammen mit der Brücke entstand damals auch eine neue Verbindungsstraße zwischen der Piața Balaș und dem Parcul Poporului. Dieser heutige Bulevardul Revoluției 1989 erleichterte die planmäßige Besiedlung des Festungsvorlands auch in diesem Gebiet. Die neuen Straßenbahnschienen waren wiederum in Seitenlage angeordnet, als Nebeneffekt der circa 700 Meter langen neuen Trasse verkürzte sich der Weg in die Fabrikstadt um gut 100 Meter. Im Gegenzug kamen die Straßenbahnen fortan nicht mehr am Haupteingang des Franz-Joseph-Parks vorbei.
Bei der Synagoge in der Fabrikstadt beziehungsweise der heutigen Haltestelle Bulevardul 3 August 1919 entfiel damals im Gegenzug die kleine Brücke über den Mühlkanal, einem ehemaligen Bega-Seitenarm der 1909 trockengelegt wurde.
Zwischen der Piața Traian und der Piața Badea Cârțan wurde im Zuge der Kanalisierung die neue Brücke Podul Dacilor ihrer Bestimmung übergeben, diese Maßnahme erfolgte zusammen mit dem zweigleisigen Ausbau dieses Abschnitts. Der neue Übergang ersetzte zwei kleinere Brücken über den Mühlkanal und den Holzschwemmkanal.
In der heutigen Strada Ion Mihalache entfiel die Brücke über den dortigen Bega-Seitenarm, sie lag zwischen der Piața Traian und der Strada Constantin Titel Petrescu.
Im Zuge der Strada Andrei Șaguna folgte die Straßenbahn nicht mehr eingleisig der Bega, nachdem dort auf dem ehemaligen Flussbett ebenfalls ein breiter Boulevard mit zweigleisiger Trassierung am Straßenrand entstanden war.
Auf der ebenfalls 1909 fertiggestellten Mihai Viteazul-Brücke waren als Bauvorleistung bereits von Beginn an Schienen verlegt, wenngleich dort letztlich erst ab 1929 Straßenbahnen fuhren.
Im Bereich der ehemaligen Pfarrinsel, heute Piața Alexandru Sterca Șuluțiu, entfiel die doppelte Begaquerung der Linie II gänzlich.
Wiedereinführung der Beiwagen (1909)
Mit Reaktivierung der, zuvor vorübergehend abgestellten, ehemaligen Pferdebahnwagen verkehrten spätestens ab 1909 auch wieder Anhängerzüge auf den – mittlerweile drei – Hauptlinien. Die kurze Linie V verkehrte hingegen nach wie vor ausschließlich mit Solowagen. Für die Wintersaison 1909/1910 verzeichnet die Statistik dabei, nach drei Jahren Unterbrechung, wieder zwei ganzjährig eingesetzte Beiwagen. Ob die Straßenbahngesellschaft zuvor eventuell schon für den Ausflugsverkehr in den Sommermonaten der Jahre 1907 und 1908 wieder auf die Anhänger zurückgriff, ist nicht überliefert. Nachdem die Fahrgastzahlen ab 1912 – erstmals seit der Elektrifizierung – leicht zurückgegangen waren, verkehrten in den Wintern 1914/1915 und 1915/1916 wiederum keine Beiwagen.
Neubau der Hunyadi híd (1912–1918)
Ein Betriebserschwernis jener Zeit stellte die damals noch Hunyadi híd genannte Brücke Podul Traian zwischen der Inneren Stadt und der Josefstadt dar. Weil ab 1912 die alte Stahlfachwerkbrücke durch die bis heute bestehende Betonkonstruktion ersetzt wurde, musste die Straßenbahn die Bega ab November gleichen Jahres auf einem provisorischen eingleisigen Übergang passieren. Da an den Endstellen keine Pufferzeiten zur Verfügung standen, plante die TVVV hierfür auf den drei Hauptlinien jeweils einen zusätzlichen neunten Umlauf ein, wodurch die Verzögerungen durch die Engstelle abgefedert werden konnten.
Die Fertigstellung der neuen Brücke verzögerte sich jedoch kriegsbedingt, es dauerte bis 1917, ehe sie – zunächst nur für Fußgänger – freigegeben wurde. Und erst im November 1918 konnte schließlich auch die Straßenbahn vom Provisorium auf die endgültige Trasse verschwenkt werden. Die alte Brücke ist erhalten geblieben, sie wurde 1915 etwa 500 Meter flussabwärts als Fußgängerbrücke wieder eröffnet. Die 1912 eingeführten zusätzlichen Umläufe auf den drei Hauptlinien blieben jedoch auch nach Abbau der eingleisigen Behelfsbrücke erhalten, um einen pünktlicheren Betrieb mit entsprechenden Zeitreserven zu gewährleisten.
Erweiterung zur Strada Crizantemelor und nicht realisierte Ausbaupläne
Als letzte Netzerweiterung in der ungarischen Zeit ging in den 1910er Jahren die – nur circa 200 Meter lange – Verlängerung von der Strada Mangalia zur Strada Crizantemelor in Betrieb. Ihr genaues Eröffnungsdatum ist nicht überliefert, auf dem Stadtplan von 1913 ist sie jedoch noch nicht verzeichnet. Abgesehen davon existierten damals aber weit umfangreichere Ausbaupläne, die zusammen länger waren als das damals bestehende Netz. Darunter beispielsweise der Anschluss der 1910 eingemeindeten Mehala sowie diverse Querverbindungen und Ringschlüsse. Kriegsbedingt konnten die Vorhaben jedoch teilweise erst Jahrzehnte später realisiert werden oder aber entfielen gänzlich:
Piața Libertății – Strada Macilor – Strada Războieni – Ronaț – Strada Gelu – Gara de Nord
Strada Macilor – Mehala, Kreuzung Strada Munteniei / Strada Martir Cernăianu / Strada Basarabia
Strada Gelu – Strada Crizantemelor – Piața Iuliu Maniu
Oper – Gara de Nord, Direktverbindung via Bulevardul Republicii
Piața Nicolae Bălcescu – Banatim
Parcul Uzinei – Gara de Est
Erster Weltkrieg
Der Erste Weltkrieg wirkte sich auch auf das Straßenbahnpersonal aus. Weil das Militär die Männer im wehrfähigen Alter an die Front einzog, mussten schon in den ersten Kriegsjahren erstmals auch Frauen im Schaffnerdienst aushelfen. Unterstützt wurden sie von Jugendlichen unter 18 Jahren sowie zuvor nicht bei der Straßenbahngesellschaft beschäftigten Männern, die nicht zur Armee mussten. Mit Ende des Krieges kehrten die gewesenen Soldaten wieder an ihre Arbeitsplätze zurück – die Aushilfsschaffner und -schaffnerinnen wurden entlassen. Der Krieg machte sich auch äußerlich an den Straßenbahnwagen erkennbar. So ersetzte die Straßenbahngesellschaft beispielsweise die eisernen Einstiegsgitter durch Holzplatten. Ferner führte sie zur Verbesserung der Einnahmesituation wieder Außenwerbung an ihren Fahrzeugen ein, wie dies bereits bei der Pferdebahn üblich war. Zunächst standen den Werbetreibenden hierfür nur eigens zu diesem Zweck angebrachte seitliche Dachschilder zur Verfügung, bevor in der Zwischenkriegszeit auch Rumpfwerbung unterhalb der Fenster eingeführt wurde. Überlieferte Werbepartner sind Philips, Tungsram, Odol, die örtliche Schuhfabrik Turul Czipőgyár, die Brauerei mit ihrer Biermarke Casino sowie der Einzelhändler Kecskeméti.
Bereits im ersten Kriegsjahr 1914 musste die Straßenbahn – erstmals überhaupt seit ihrer Eröffnung im Jahr 1869 – den täglichen Wagenauslauf reduzieren. So verkehrten Ende 1914 nur 26 statt 28 Kurse, bevor sich die Situation schließlich im Laufe des Jahres 1915 stabilisierte und die Gesellschaft wieder das Standardprogramm aus der Vorkriegszeit anbieten konnte. Dieser Zustand hielt bis ins letzte Kriegsjahr an, als das Elektrizitätswerk unter Kohlemangel litt. Um Strom einzusparen musste deshalb der tägliche Wagenauslauf 1918 wiederum von 28 auf 26 Wagen gekürzt werden. Für die Fahrgäste änderte sich letztlich nichts, es blieb auf allen drei Hauptlinien beim 7,5-Minuten-Takt. Allerdings bedeutete der Abzug des jeweils neunten Umlaufs auf den Linien I und III, dass diese – wie bereits bis 1912 üblich – an den Endstellen keine Pufferzeiten hatten.
Um die Betriebskosten zu decken mussten zum Kriegsende hin außerdem, zum ersten Mal überhaupt seit der Elektrifizierung, gleich zweimal die Fahrpreise angehoben werden. Damit erreichte die Straßenbahn wieder das Preisniveau aus der Pferdebahnzeit:
Um den während des Krieges sprunghaft steigenden Fahrgastzahlen gerecht zu werden, bot die Gesellschaft außerdem ab 1916 – nach zwei Jahren Unterbrechung – auch wieder ganzjährig Anhänger an.
Beginn der rumänischen Zeit (1919)
Am 3. August 1919 fiel die Stadt Temesvár infolge des verlorenen Ersten Weltkriegs und der damit verbundenen Teilung des Banats unter großrumänische Verwaltung. Aus der Temesvári Villamos Városi Vasút wurde seinerzeit die Tramvaiele Comunale Timișoara, abgekürzt T.C.T. Zu den bestehenden vier rumänischen Straßenbahnbetrieben in Bukarest, Galați, Iași und Brăila kamen damals acht neue dazu. Neben dem hier behandelten Netz waren dies Arad, Cernăuți, Chișinău, Lipova, Satu Mare, Sibiu sowie Oradea. Nach dem Friedensvertrag von Trianon gehörte das Banat und somit auch seine Hauptstadt Temesvár, seit 1919 amtlich Timișoara genannt, dann ab dem 4. Juni 1920 auch offiziell zu Rumänien.
Die neuen Machtverhältnisse hatten auch für die Straßenbahn praktische Folgen, sie wurde noch im Laufe des Jahres 1919 vom Linksverkehr auf den in Rumänien traditionell üblichen Rechtsverkehr umgestellt. Bauliche Veränderungen waren hierzu nicht erforderlich – damals existierten noch keine Wendeschleifen und alle Wagen waren Zweirichtungsfahrzeuge mit beidseitigen Einstiegen. Jedoch baute die Gesellschaft den Gleiswechsel auf der Piața Libertății aus Sicherheitsgründen so um, dass im Falle einer falsch gestellten Weiche auch weiterhin keine Frontalkollisionen möglich waren – das heißt, er wurde um 180 Grad gedreht. Außerdem mussten sich die Fahrgäste an die neuen rumänischen Haltestellenbezeichnungen und Zielbeschilderungen sowie die Ausweisung der Fahrpreise in rumänischer Währung gewöhnen. Zuvor waren übergangsweise eigene Notgeldscheine der Straßenbahngesellschaft im Umlauf. Diese trugen bereits rumänische Aufschriften, waren aber noch in ungarischer Währung ausgewiesen.
Wirtschaftliche Probleme in der Nachkriegszeit
In den ersten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg stellten die grassierende Inflation sowie der damals vorherrschende Triebwagenmangel die Straßenbahn vor enorme Probleme. Vor allem aber hatten sich die Fahrgastzahlen innerhalb von nur fünf Jahren mehr als verdoppelt. Während 1914 noch 8.153.695 Personen mit der Straßenbahn fuhren, waren es 1919 bereits 21.040.097, was zunächst nur mit verstärktem Beiwageneinsatz bewältigt werden konnte. Auch die Fahrpreise stiegen damals weiter stark an, wobei die erste Erhöhung nach dem Krieg gleichzeitig auch eine Vereinfachung des Tarifs mit sich brachte. Fortan existierten nur noch zwei statt fünf Preisstufen, zusätzlich entfielen die 1895 eingeführten ermäßigten Rückfahrkarten. Die Innere Stadt fungierte dabei ab 1919 als einzige verbliebene Zahlgrenze:
Um die letztgenannte Erhöhung zumindest teilweise abzufedern, führte die T.C.T. aber nur gut einen Monat nach deren Inkrafttreten eine günstige dritte Preisstufe für Kurzstreckenfahrten ein:
Der Rückbau zahlreicher im Krieg zerschlissener Triebwagen zu Beiwagen führte ferner zu einem eklatanten Fahrzeugmangel. Weiterhin mussten daher auf den Linien I und III jeweils ein (1919, 1922) oder zwei (1920 und 1921) Umläufe ausfallen. Erst im Laufe des Jahres 1923 konnte wieder zum Regelbetrieb mit ausreichenden Pufferzeiten an den Endstellen übergegangen werden.
Erweiterung zum Ștrand (1923)
Die Stabilisierung der wirtschaftlichen Situation erlaubte es der Straßenbahngesellschaft, viereinhalb Jahre nach Kriegsende die erste Neubaustrecke unter rumänischer Regie zu eröffnen. Am 1. Juli 1923 ging – wie bereits 1906 geplant – die Verlängerung der Linie I bis zur neuen Endstation Ștrand in Betrieb. Die Erweiterung im Zuge der Strada Frédéric Chopin war 390 Meter lang und durchgehend eingleisig, sie endete bei der Einmündung der Strada Cezar Bolliac. Die neue Strecke verlief stadtauswärts betrachtet links der Straße auf eigenem Gleiskörper mit Vignolschienen, die Endstelle verfügte über ein 87 Meter langes Umsetzgleis.
Als Besonderheit dieser Route verkehrte die Linie I zunächst jedoch nur in den Sommermonaten zur neuen Endstelle. Außerhalb der Badeperiode endete sie hingegen wie zuvor an der Biserica română, so auch der damalige Name der heutigen Haltestelle Parcul Uzinei. Auf Grund dieses Saisonbetriebs war die Endstelle Ștrand ferner als einzige des Netzes nicht auf den damaligen Fahrscheinen verzeichnet. Zudem galt bis 1925 für Fahrten zum Strandbad ein ermäßigter Sondertarif.
Erweiterung in die Mehala (1923)
Ab 23. November 1923 fand die technische Abnahme einer gänzlich neuen Radiallinie IV zwischen der Piața Libertății und der Piața Avram Iancu in der Mehala statt, bevor diese 2465 Meter lange Verbindung am Samstag, den 24. November 1923 den regulären Betrieb aufnahm. Sie nahm dabei nicht den direkten Weg über die Verbindungsstraße in die Mehala – der heutigen Strada Gheorghe Lazăr – sondern führte durch die Calea Bogdăneștilor und schließlich rechts am damaligen Sumpfgebiet Balta Verde vorbei. Dieser Umweg diente der Anbindung des zuvor entstandenen Wohnquartiers Colonia Blașcovici. Anders als noch in den 1910er Jahren geplant folgte die neue Route nicht der Strada Macilor, sondern führte durch den Bulevardul Cețății sowie die Strada Cloșca und endete am westlichen Rand der Piața Avram Iancu, an der Einmündung der Strada Munteniei – die erst zwischen 1925 und 1937 gebaute Auferstehungskirche existierte damals noch nicht. Die neue Strecke in die Mehala war durchgehend eingleisig und stadtauswärts betrachtet rechtsseitig trassiert. Sie verlief bis zur Piața Timișoara 700 auf Rillenschienen im Straßenraum, ab dort auf eigenem Gleiskörper mit Vignolschienen. Lediglich im Bereich der Eisenbahnunterführung nach der Einmündung der Strada Dr. Iosif Nemoianau musste sich die Straßenbahn ihre Trasse auf einigen Metern mit dem Individualverkehr teilen. Bei der Strecke in die Mehala kamen dabei erstmals Fahrleitungsmasten aus Stahlbeton zum Einsatz.
Allerdings konnte die Linie IV anfangs nur mit reduzierter Geschwindigkeit sowie im 25-Minuten-Takt fahren, wobei zwei Wagen im Sichtabstand hintereinander herfuhren. Ursächlich hierfür war neben dem damaligen Wagenmangel eine fehlende Versorgungsleitung. Erst im Laufe des Jahres 1924 konnte der Vollbetrieb mit einem 7,5-Minuten-Takt und drei Zügen aufgenommen werden. Hierfür standen – neben den beiden Umsetzendstellen – zwei weitere Ausweichen an der Calea Circumvalaţiunii einerseits und an der heutigen Strada Madrid andererseits zur Verfügung, die sich damals aber beide noch auf freiem Feld befanden. Die stadtseitige Kuppelendstelle befand sich in der nordwestlichen Ecke der Piața Libertății, im rechten Winkel zwischen der Strada Coriolan Brediceanu und der Strada Ungureanu, das heißt an Stelle der 1911 abgerissenen barocken Franziskanerkirche. Das Umsetzgleis auf der Piața Avram Iancu war ferner eingezäunt und ermöglichte somit die periphere Abstellung nicht benötigter Beiwagen.
Wie bereits von 1899 bis 1906 verkehrten damit ab 1923 wieder fünf Straßenbahnlinien:
Außerdem veränderte die T.C.T. 1923 die Straßenbahngleise auf der Lloyd-Zeile nach den Umbauten von 1899 und 1905 erneut und setzte damit ein weiteres Vorhaben aus ungarischer Zeit um. Sie verliefen fortan – analog zu den einige Jahre zuvor umgebauten Abschnitten in der Josefstadt und der Fabrikstadt – nach Fahrtrichtung getrennt in einem Abstand von circa 30 Metern zueinander. In ihrer Mitte entstand die bis heute vorhandene Grünanlage. Mit diesem Umbau entfiel außerdem das 1907 eingerichtete Theatergleis beim Schloss Hunyadi sowie der damit zusammenhängende Gleiswechsel beim Palais Lloyd.
Modernisierungs- und Beschleunigungsprogramm (1925)
Als erste Modernisierungsmaßnahme nach dem Krieg begann die Straßenbahngesellschaft bereits im Laufe des Jahres 1922 die Dickinson-Rollenstromabnehmer durch die moderneren Lyrastromabnehmer zu ersetzen. Dies ermöglichte einen flexibleren Betrieb an den Verzweigungen des Netzes, das manuelle Umsetzen der Stromabnehmerstangen entfiel fortan. Zuvor mussten auch die Oberleitungsmasten aus der Anfangszeit umgebaut werden, statt der kunstvoll geschwungenen erhielten sie schlichte gerade Ausleger. Diese waren etwas länger, die Oberleitung verlief nun exakt zwischen den beiden Schienen. Jedoch zog sich die Umstellung eine Weile hin, so besaß der letztgebaute DII-Triebwagen bei seiner Inbetriebnahme im Jahre 1924 noch einen alten Rollenstromabnehmer. Erst die 1925 abgelieferten F-Wagen benutzten von Beginn an Pantographen, womit dieser Teil des Modernisierungsprogramms abgeschlossen war.
Ebenfalls mit der Indienststellung der neuen F-Wagen schaffte die Gesellschaft die bisher verwendeten Liniensymbole sowie die interne Unterscheidung durch römische Zahlen ab. Die Linien waren fortan einheitlich mit arabischen Ziffern bezeichnet. Die Liniennummern waren – wie bis heute üblich – auch außen an den Wagen angeschrieben, hierzu verwendete man vorne und hinten beleuchtbare runde Liniensignale mit weißer Schrift auf schwarzem Grund. Zusätzlich stattete die T.C.T. ihre Wagen nun auch mit Zielschildern unterhalb der Frontscheibe aus, analog zu den sogenannten Brustwandtafeln bei der Wiener Straßenbahn. Diese Steckschilder mit schwarzer Schrift auf weißem Grund wurden nicht gewechselt, das heißt, vorne war das eigentliche Fahrtziel angeschrieben, hinten aber die Endhaltestelle der Gegenrichtung.
Um die Straßenbahn weiter zu beschleunigen, entfielen außerdem 1925 einige weniger stark frequentierte Zwischenhaltestellen aus der Zeit der Elektrifizierung – die Stationsabstände waren ursprünglich wesentlich geringer als heute. So entfiel damals beispielsweise der Halt auf der Piața Romanilor.
Gleichfalls 1925 führte das Unternehmen außerdem auf allen Linien einen speziellen Spätverkehr ein. Endete der Betrieb zuvor ganzjährig um 22:00 Uhr, verkehrte fortan im Sommerhalbjahr circa ein Drittel der Wagen bis gegen 23:30 Uhr. Im Winterhalbjahr endete der reguläre Betrieb ab jenem Jahr bereits um 21:00 Uhr, der Spätverkehr entsprechend um 22:30 Uhr. Für die Benutzung dieser Spätkurse war der doppelte Fahrpreis zu entrichten.
Den Abschluss des Modernisierungsprogramms der 1920er Jahre bildete die Einführung elektrisch gesteuerter Weichen nach dem System der Maschinenfabrik Oerlikon. Die erste solche Anlage ging 1927 an der Piața Sfânta Maria in Betrieb, die zweite noch im gleichen Jahr an der heutigen Haltestelle Bulevardul Regele Carol I, die dritte 1928 bei der Schuhfabrik und weitere drei schließlich 1929 auf der Piața Traian. Durch die Beschleunigungsmßnahmen konnte die Linie 1 ab 1927 von einem Siebeneinhalb-Minuten-Takt auf einen Fünf-Minuten-Takt umgestellt werden, während sich der Wagenauslauf auf den anderen beiden Hauptlinien bei gleichbleibendem Takt etwas reduzierte.
Allein durch die im Jahr 1925 aufgehobenen Haltestellen gelang es die Durchschnittsgeschwindigkeit von zehn auf zwölf Kilometer in der Stunde zu steigern. Insgesamt verbesserte diese sich in jener Epoche von 9,5 Kilometern in der Stunde im Jahr 1920 auf 13 Kilometer in der Stunde im Jahr 1936.
Erweiterung über die Stadtgrenze nach Fratelia (1926)
Am 1. Dezember 1926 folgte die nächste Netzerweiterung, seither fuhr die Linie 5 über die Piața Iuliu Maniu hinaus bis nach Fratelia. Die wiederum eingleisig ausgeführte Neubaustrecke war 1676 Meter lang, traf bei der Piața Veteranilor auf die derzeitige Trasse und endete an der heutigen Haltestelle Strada Chișodei, neben der Kirche des Heiligen Josef. Fratelia – auch als Chișoda Nouă bezeichnet – war damals noch selbstständig, die Eingliederung als VI. Bezirk Timișoaras erfolgte erst 1948. Die Strecke nach Fratelia war von 1926 bis 1948 die bislang einzige Strecke, auf welcher die Straßenbahn Timișoara die Stadt verließ. Die Gemarkungsgrenze verlief auf Höhe der heutigen Strada Gavril Musicescu, das heißt etwa ein halber Streckenkilometer befand sich auf dem Gebiet Fratelias. Für die neue Verbindung nach Fratelia musste damals eigens eine vierte Preisstufe zu 6,00 Lei eingeführt werden. Sie galt für die langen Relationen zwischen der Mehala beziehungsweise der Fabrikstadt und dem neuen Ziel respektive von dort zurück.
Die durchgehend rechtsseitig trassierte Neubaustrecke war bis zur Einmündung der Strada Glad mittels Rillenschienen in den Straßenraum integriert, ab dort stand ihr eine eigene Trasse mit Vignolschienen zur Verfügung. Außerdem musste für die Straßenbahn noch die Betonbrücke an der Stadtgrenze, die über einen Bega-Seitenarm führte, verbreitert werden. Mit der Verlängerung verbesserte sich auch der Takt der Linie 5. Sie verkehrte fortan alle siebeneinhalb Minuten, hierfür wurden drei Umläufe benötigt. Außerdem wurde sie fortan ebenfalls mit Beiwagen betrieben, womit erstmals in der Geschichte der Straßenbahn Timișoara auf allen Linien Anhänger zum Einsatz kamen.
Die erste Ausweiche war 64 Meter lang und lag zwischen der Feuerwehr in der Josefstadt sowie der Piața Iuliu Maniu, das heißt im Bereich der bisherigen Endstelle. Die zweite Begegnungsmöglichkeit war 64,5 Meter lang und befand sich, damals noch auf freiem Feld, zwischen der heutigen Strada Vulturilor und dem damals gleichfalls noch nicht existierenden Bulevardul Dămbovița. Während in Fratelia ein 71 Meter langes Umsetzgleis zur Verfügung stand, musste auf der Piața Alexandru Mocioni – wo keine Anpassung der Infrastruktur erfolgte – ein zusätzlicher Stoßtriebwagen eingeplant werden.
Lückenschluss zwischen der Elisabethstadt und der Fabrikstadt (1928)
In der Zwischenkriegszeit nahm die Straßenbahngesellschaft außerdem die Planungen für eine Direktverbindung zwischen der Piața Nicolae Bălcescu in der Elisabethstadt und der Schuhfabrik Banatim in der Fabrikstadt wieder auf. Anders als noch zu ungarischer Zeit geplant, sollte die neue Route jetzt allerdings nicht mehr den circa 150 Meter langen Umweg durch die Strada Vâlcea, den Bulevardul Eroilor de la Tisa und die Strada Johann Guttenberg nehmen – das heißt am Haupteingang des Schlachthofs vorbei – sondern auf ganzer Länge der Strada 1 Decembrie 1918 folgen. Diese jedoch war damals noch nicht durchgehend gepflastert und die Stadtverwaltung weigerte sich im Jahr 1926 für die nötigen Baumaßnahmen einen Kredit von vier Millionen Lei aufzunehmen. Daraufhin begann die Straßenbahngesellschaft noch im gleichen Jahr alternativ mit dem Bau eines eigenen Gleiskörpers nördlich der Straße.
Zunächst eröffnete die T.C.T. 1927 ein 750 Meter langes Teilstück zwischen der Piața Nicolae Bălcescu – wo Anschluss an die Linie 3 bestand – und der Strada Mitropolit Varlaam, wo sich heute keine Haltestelle mehr befindet, im Vorlaufbetrieb. Diese Erweiterung war – als erste Strecke der Straßenbahn Timișoara überhaupt – von Beginn an zweigleisig und bekam das neue Liniensignal 6 zugeteilt. Damit gab es in Timișoara erstmals seit 1923 wieder eine durchgehend zweigleisige Linie, auf ihr pendelten zunächst zwei Solowagen im Fünf-Minuten-Takt.
Die vollständige Eröffnung der letztlich 2515 Meter langen Neubaustrecke Piața Nicolae Bălcescu–Banatim erfolgte schließlich am 29. Juli 1928. De facto war damals aber nur das 1350 Meter lange und ebenfalls von Beginn an doppelspurige Teilstück zwischen der Strada Mitropolit Varlaam und der Strada Johann Guttenberg neu. Das circa 400 Meter lange östliche Teilstück zwischen der Strada Johann Guttenberg und der Schuhfabrik war hingegen schon ab 1918 als Güterstrecke in Betrieb und musste 1928 lediglich um ein zweites Gleis erweitert werden. Ab Sommer 1928 verkehrte die Linie 6 schließlich mit vier Solowagen im Zehn-Minuten-Takt und fuhr über das östliche Ende der Neubaustrecke hinaus bis zur Piața Traian. Auf letzterem Abschnitt ergänzte sie dabei die bestehende Linie 2.
Die neue Verbindung hatte dabei im Mittelabschnitt ursprünglich den Charakter einer Überlandstrecke, zwischen der Strada Cluj und der Strada Cerna verlief sie durch weitgehend unbebautes Gebiet. Die in diesem Bereich gelegene Haltestelle Sala Olimpia ging beispielsweise erst am 28. Januar 1970 in Betrieb, nicht zuletzt auch um das 1964 eröffnete Dan-Păltinișanu-Stadion und die 1968 fertiggestellte Olympia-Sporthalle besser zu erschließen. 1973 wurde die Trasse ferner aufwändig umgebaut, als das Gleis Richtung Fabrikstadt zum Gegengleis und das alte Gleis Richtung Elisabethstadt zu einem Grünstreifen wurde – während das neue Gleis in Richtung Fabrikstadt seither im Planum der zu einer Einbahnstraße umgewandelten Strada 1 Decembrie 1918 integriert ist.
Neben den teilweise noch nicht verwirklichten Ausbauplänen aus ungarischer Zeit kamen in der Zwischenkriegszeit weitere Vorhaben hinzu. So existierten beispielsweise 1928 konkrete Pläne für eine Direktverbindung zwischen der Elisabethstadt und der Inneren Stadt über den Podul Mitropolit Andrei Șaguna sowie für eine Linie in das Gebiet nördlich des Zentrums. Letztere sollte die Piața Libertății via Strada Vasile Alecsandri, Strada Sergent Constantin Mușat, Calea Alexandru Ioan Cuza, Calea Aradului und Cala Sever Bocu mit dem Heldenfriedhof – rumänisch Cimitirul Eroilor – verbinden. Hiermit hätten erstmals auch auf der zentralen Piața Unirii Schienen gelegen, jedoch kam es nicht mehr zur Realisierung.
Verlängerung zum Stadion (1929)
1929 erfuhr schließlich die Linie 3 in der Fabrikstadt eine 1060 Meter lange und durchgehend zweigleisige Erweiterung über den Gara de Est hinaus in nordöstliche Richtung, auf eigenem Gleiskörper links der Aleea Avram Imbroane trassiert und parallel zur Eisenbahn verlaufend. Die Straßenbahnen verkehrten fortan bis zur heutigen Haltestelle U.M.T. beim Bahnübergang, an der Endstelle befand sich zusätzlich ein 36 Meter langes Umsetzgleis.
Die Verlängerung diente vor allem den Zuschauern des am 20. Oktober 1929 gegründeten ehemaligen Fußballvereins Progresul Timișoara, der am 10. Mai 1930 an der Aleea Avram Imbroane seinen Spielbetrieb aufnahm und auch als Straßenbahnerclub – rumänisch Tramvaiștii – bekannt war. Ein Jahr vor Ausbau der dortigen Spielstätte zum Stadionul Progresul – der späteren Arena Electrica – kam 1934 aus diesem Grund im Bereich der Endstelle noch ein 200 Meter langes Abstellgleis hinzu, auf dem die Zusatzwagen für die Fußballanhänger das Spielende abwarten konnten.
Darüber hinaus sorgte die verlängerte Linie 3 auch für eine verbesserte Anbindung des Naherholungsgebiets Jagdwald, rumänisch Pădurea Verde sowie des Fabrikstädter Wohngebiets Telegrafului. Die Neubaustrecke ersetzte ferner die erste städtische Autobuslinie, die noch keine Liniennummer trug. Diese provisorische Verbindung bestand aus einem zur Personenbeförderung umgebauten Lastkraftwagen, der ab dem 20. Juni 1926 an Sonn- und Feiertagen zwischen dem Ostbahnhof und dem Bahnübergang pendelte. Die heutige Haltestelle U.M.T. besaß über die Jahre zahlreiche Bezeichnungen. Anfangs hieß sie nach der in der Nähe befindlichen Forstschule Casa verde, später alternativ Aleea Dumbravei, Aleea Octavian Goga, Aleea C.F.R. oder Barieră C.F.R. Zeitweise waren die dorthin verkehrenden Züge auch mit Progresul beschildert.
Neubaustrecke zum Spitalul Dr. Victor Babeș (1930)
1930 nahm die T.C.T. eine von der Piața Sarmisegetuza aus in nördliche Richtung führende Neubaustrecke zum 1920 eröffneten Spitalul Dr. Victor Babeș in Betrieb, dies war die letzte Netzerweiterung vor dem Zweiten Weltkrieg. Der neue Abschnitt war 920 Meter lang und von Beginn an überwiegend zweigleisig ausgeführt, lediglich die 60 Meter lange Endstelle selbst war eingleisig. Somit war auch dort der Einsatz eines Stoßbeiwagens erforderlich. Die neue Route führte auch über die Mihai-Viteazul-Brücke, dies ist die jüngste der insgesamt fünf Bega-Querungen der Straßenbahn, und endete ursprünglich an der Kreuzung mit der Strada Lorena. Erst zum 8. März 1980 verlegte die Straßenbahngesellschaft diese Haltestelle in nördliche Richtung – direkt vor den Haupteingang des Krankenhauses – und eröffnete gleichzeitig etwas weiter südlich die Station Piața General Virgil Economu. Die Bedienung der Neubaustrecke übernahm die ebenfalls neue Linie 7, welche fortan den Gara de Nord mit dem Krankenhaus verband. Erstmals bedienten damit zwei Linien den wichtigsten Bahnhof der Stadt.
Außerdem verkehrte die Linie 1 fortan ganzjährig zum Ștrand. Nicht zuletzt deshalb hieß diese Destination etwa ab Mitte der 1930er Jahre allgemeingültiger Uzina Hidroelectrică, benannt nach dem ebenfalls dort befindlichen Wasserkraftwerk von 1910. Durch den Ganzjahresbetrieb verbesserte sich vor allem die Bedienung des Fabrikstädter Wohngebiets Lunei. Damit konnte 1930 auch die alte abseits gelegene Endstelle auf der Piața Sarmisegetuza, die aus dem Jahr der Elektrifizierung stammte und seit 1923 nur noch im Winterhalbjahr in Benutzung war, endgültig aufgelassen werden. Außerdem sparte die Gesellschaft dadurch den dortigen Stoßbeiwagen ein. Somit bestand 1930 folgendes Netz:
Die zahlreichen Neubaustrecken in der Zwischenkriegszeit erforderten ferner auch eine umfangreiche Erneuerung des städtischen Elektrizitätswerks, das noch aus dem 19. Jahrhundert stammte und damals bereits veraltet war. Um den gestiegenen Strombedarf der Straßenbahn weiterhin zuverlässig befriedigen zu können, rüstete die Stadtverwaltung daher ihre Kraftzentrale in den Jahren 1924 bis 1930 mit acht Dampferzeugern von Babcock & Wilcox nach, die eine Rateau-Dampfturbine antrieben.
Doppeltriebwagen, 24-Stunden-Betrieb und Straßenbahnbriefkästen (Erste Hälfte der 1930er Jahre)
Am 19. Januar 1931 nahm die Straßenbahn Timișoara – nach ungarischem Vorbild – den ersten Doppeltriebwagen in Betrieb. Solche Gemene, so die rumänische Übersetzung für Zwillinge, kamen erstmals 1924 bei der Straßenbahn Budapest zum Einsatz. Eine weitere rumänische Bezeichnung war dublă comandă, das heißt doppeltes Kommando. Außerhalb Timișoaras verkehrte hingegen in Rumänien nur in Arad ein einzelner Zwillingstriebwagen. Die Gemene ersparten insbesondere das Rangieren der Beiwagen an den Endstellen. Sie wurden zunächst nur auf den Linien 1 und 7 eingesetzt und verkehrten dabei im Wechsel mit konventionellen Anhängerzügen und Solowagen. Mit den Doppeltriebwagen begann 1931 auch die Ausstattung der Wagen mit Scherenstromabnehmern. Im Gegensatz zu den Lyrastromabnehmern mussten diese an den Endstellen nicht mehr gewendet werden, woraus sich eine weitere Zeitersparnis ergab. Dies ist bei einer festgekuppelten Einheit auch nicht ohne weiteres möglich, weil dem Schaffner an einem Wagenende die Kupplung samt Starkstrom-Verbindungskabel im Weg steht. Bei den Einzeltriebwagen hatte die Umstellung auf solche Pantographen hingegen keine Priorität, sie fand erst in den Jahren 1956 bis 1960 statt.
Des Weiteren erhielt – ebenfalls 1931 – die Linie 2 an ihrem westlichen Streckenende eine neue Umsetzanlage in der Strada Crizantemelor. Damit behinderten die Rangierarbeiten in der engen Strada Ioszef Preyer fortan nicht mehr den übrigen Straßenverkehr. Die beiden neuen, zusammen 160 Meter langen, Gleise in der Strada Crizantemelor reichten dabei bis zur Einmündung der Strada Alexandru Vlahuță – wodurch sich die Linie 2 geringfügig verlängerte. Außerdem verkehrte die Linie 3 ab 1931 im Fünf-Minuten-Takt.
1932 – nach einer anderen Quelle schon 1931 – führte die Gesellschaft auf dem 3,5 Kilometer langen Teilabschnitt Piața Libertății – Spitalul Dr. Victor Babeș der Linie 7 einen 24-Stunden-Betrieb ein. Auf der Piața Libertății wendeten die Wagen dabei über den dortigen Gleiswechsel. Wie lange dieser Nachtverkehr existierte ist nicht überliefert.
Eine weitere in der ersten Hälfte der 1930er Jahre eingeführte Neuerung waren vorne rechts an den Triebwagen angebrachte Straßenbahnbriefkästen der Poșta Română. Sie ermöglichten den Bürgern die Briefaufgabe an beliebigen Haltestellen der Hauptlinien 1, 2, 3 und 7, die alle am Großen Postamt vorbeiführten. Bereits in den 1940er Jahren verschwand dieser Service wieder.
Auflassung der letzten Bahnübergänge (1932)
Der 1. Dezember 1932 war der letzte Betriebstag der Eisenbahntrasse an der Inneren Stadt vorbei und durch die Elisabethstadt, am Tag darauf eröffnete die rumänische Staatsbahn Căile Ferate Române (C.F.R.) die bis heute bestehende Neubautrasse. Seither verlassen die Züge in Richtung Vršac und Buziaș den Gara de Nord in entgegengesetzte Richtung und umgehen das Stadtgebiet südlich. Damit entfielen auch die beiden verbliebenen Niveaukreuzungen mit der Eisenbahn bei der heutigen Kathedrale (Linien 1, 2, 3 und 7) und in der Strada Gheorghe Doja (Linie 3). Dies erleichterte den Straßenbahnverkehr und erlaubte den davon betroffenen Linien – alles wichtige Durchmesserlinien – fortan einen störungsfreieren Betrieb. Außerdem ermöglichte die Auflassung des letztgenannten Bahnübergangs 1933 den doppelspurigen Ausbau auf dem 182 Meter langen Abschnitt zwischen dem Parcul Carmen Sylva und der Piața Nicolae Bălcescu.
Erste Ringlinie und Pünktlichkeitsoffensive (1936)
1936 erfolgte die Aufnahme des Ringverkehrs auf der Linie 6, die entsprechende Zielbeschilderung der Wagen lautete Circuit A für die Kurse gegen den Uhrzeigersinn und Circuit B für diejenigen im Uhrzeigersinn. Sie mutierte damit ebenfalls zur wichtigen Hauptlinie, den Korridor Piața Sfânta Maria–Piața Libertății–Piața Traian bedienten jetzt vier Linien parallel. Gleichzeitig war die fortan 7235 Meter lange Linie 6 die erste, welche im Einrichtungsverkehr verkehrte. Jedoch stand Ende 1936 erst ein einziger entsprechend adaptierter Einrichtungswagen zur Verfügung, der vollständige Abzug der Zweirichtungswagen erfolgte sogar erst in den 1960er Jahren. Als – jetzt nur noch nominelle – Endstelle der Linie 6 fungierte weiterhin die Piața Traian, von wo aus die Kurse aus dem nahen Depot kommend einsetzten beziehungsweise dorthin einrückten. Außerdem konnte fortan auch die Linie 6 mit Beiwagen betrieben werden, womit diese Betriebsform nach acht Jahren Unterbrechung wieder auf allen Linien anzutreffen war.
Mit der Umwandlung der Linie 6 in eine Ringlinie war die ersatzlose Einstellung des 294 Meter langen Streckenabschnitts Piața Nicolae Bălcescu–Strada Memorandului verbunden. Dadurch konnte die Zahl der Linien – wie bereits bis 1930 – wieder von sieben auf sechs reduziert werden, die neue Streckenführung der Linie 2 entsprach dabei exakt der 1936 wieder aufgehobenen Linie 7:
Um die Pünktlichkeit der Straßenbahnen zu erhöhen sowie Anschlüsse an den wichtigsten Knotenpunkten zu gewährleisten, installierte die Gesellschaft – ebenfalls 1936 – an wichtigen Punkten im Netz elektrisch gesteuerte Normaluhren, die einige Jahrzehnte lang in Betrieb waren. Standorte waren das Straßenbahndepot sowie die Haltestellen Piața Badea Cârțan, Piața Traian, Uzina Hidroelectrică, Piața Sfântul Gheorghe, Piața Libertății, Piața Victoriei, Piața Sfânta Maria und Bulevardul Iuliu Maniu. An der Piața Traian handelte es sich dabei um eine Würfeluhr, die an Drähten in der Luft hing und somit von allen vier auf den Platz zulaufenden Strecken her einsehbar war. Alle Uhren wurden von einer aus der Schweiz importierten Zentraluhr im Büro des damaligen Betriebsleiters Corneliu Micloși angesteuert.
Eine weitere Maßnahme im Rahmen der Pünktlichkeitsoffensive des Jahres 1936 war die Anbringung von Aushangfahrplänen an allen Endstationen sowie den fünf wichtigsten Knotenpunkten Piața Traian, Piața Libertății, Piața Sfânta Maria, Piața Alexandru Mocioni und Piața Nicolae Bălcescu. Betriebsleiter Micloși ermittelte damals, dass die Straßenbahnen in Timișoara – bei einer Gangabweichung von zwei Sekunden in 24 Stunden – durchschnittlich 36 Sekunden verspätet waren. Mit diesem Ergebnis zeigte er sich jedoch unzufrieden. Insbesondere da er vom Direktor der Straßenbahn Nürnberg erfuhr, dass die durchschnittliche Verspätung dort damals nur 17 Sekunden betrug. Diese Differenz von fast 20 Sekunden betrachtete er für eine Stadt mit großer technischer Tradition als unbefriedigend und bemühte sich weiter erfolgreich um die Verbesserung der Fahrplanstabilität.
Der Trolleybus in Konkurrenz zur Straßenbahn (1942)
Immer dringlicher wurde in der Zwischenkriegszeit eine Straßenbahn-Direktverbindung zwischen der Elisabethstadt und der Inneren Stadt sowie die schon lange geplante Straßenbahnstrecke zwischen der Inneren Stadt und dem Nordbahnhof. Nachdem auch diese Pläne nicht verwirklicht werden konnten, erhielt Timișoara zu Beginn der 1940er Jahre ergänzend zur Straßenbahn ein zweites elektrisch betriebenes Verkehrsmittel – den Trolleybus. Ende der 1930er Jahre war sogar geplant, die damals veraltete Straßenbahn vollständig durch diesen zu ersetzen. Die erste Trolleybuslinie verband die Innere Stadt direkt mit der Elisabethstadt einerseits und dem Gara de Nord andererseits, das heißt jeweils ohne Umweg über die Piața Sfânta Maria in der Josefstadt. Wichtigstes Argument für den Trolleybus war dessen wesentlich höhere Durchschnittsgeschwindigkeit. Während die Straßenbahn damals nur eine Reisegeschwindigkeit von 13 beziehungsweise 13–15 Kilometern in der Stunde erreichte, konnte das neue Verkehrsmittel bereits 20 Kilometer in der Stunde schnell fahren. Damit wäre etwa auf der, damals circa fünfeinhalb Kilometer langen, Hauptlinie 1 eine Fahrzeitverkürzung von acht Minuten möglich gewesen.
Jedoch konnte die zum 1. April 1938 in Folge der Fusion mit dem Elektrizitätswerk in Întreprinderea Electromecanică Timișoara (I.E.T.) umbenannte Gesellschaft – der Begriff Straßenbahn war somit erstmals seit Gründung der Gesellschaft im Jahr 1867 nicht mehr Bestandteil des Unternehmensnamens – ihre Trolleybus-Pläne kriegsbedingt nur teilweise umsetzen. Zwar ging am 15. November 1942 die Trolleybuslinie 7 – die ihre Bezeichnung im Anschluss an die damals sechs Straßenbahnlinien erhielt – mit einem Jahr Verspätung in Betrieb. Jedoch musste etwa die – sich damals stark ausdehnende – südliche Elisabethstadt auf ihren Trolleybusanschluss verzichten, weil die ursprünglich angedachte Trolleybus-Ringstrecke nur zur Hälfte realisiert werden konnte. Zusammen mit dem 1934 aufgenommenen Autobusverkehr standen den Bürgern fortan erstmals drei städtische Verkehrsmittel zur Verfügung.
Die Einführung des Trolleybusses wirkte sich direkt auf den Straßenbahnverkehr aus. Weil von und zum Gara de Nord jetzt ein Teil der Fahrgäste das neue Verkehrsmittel nutzte, konnten die fassungsstarken Doppeltriebwagen von den Linien 1 und 2 abgezogen werden. Sie wanderten auf die Linie 3 ab, die aber im Gegenzug fortan nur noch alle siebeneinhalb statt zuvor alle fünf Minuten fuhr. Allerdings standen nicht genug Doppeltriebwagen zur Verfügung, so dass einer der – jetzt nur noch neun – Umläufe der Linie 3 weiterhin mit einem Einzelwagen bedient werden musste.
Zweiter Weltkrieg
Den Zweiten Weltkrieg überlebten Stadt und Straßenbahn größtenteils unbeschadet, Timișoara blieb infolge des Königlichen Staatsstreichs vom August 1944 von Kampfhandlungen weitgehend verschont. Dennoch war der Straßenbahnverkehr im Sommer 1944 zehn Tage lang unterbrochen, weil die Betriebsleitung die Straßenbahnen vor Luftangriffen der Alliierten in Sicherheit bringen ließ. Die stillgelegten Wagen standen damals, verteilt im Abstand von 50 Metern, auf der Strecke der Linie 6 zwischen Banatim und der Strada Cluj. Auf diese Weise beugten die Verantwortlichen größeren Verlusten durch Bombardements vor. Jedoch beschädigte der Bombenangriff der Royal Air Force vom 16. Juni 1944 – der besonders dem Nordbahnhof galt und diesen auch weitgehend zerstörte – auch die dorthin führende Straßenbahntrasse. Infolgedessen mussten die Linien 1 und 2 vorübergehend bereits an der Kreuzung mit dem Splaiul Nicolae Titulescu wenden, das heißt circa 300 Meter vor dem Bahnhof. Dort befand sich ein provisorischer Gleiswechsel.
Erweiterung in die Ronaț (1948)
Am 7. Januar 1948 begannen – immer noch auf den Plänen aus ungarischer Zeit basierend – die Bauarbeiten für die erste Neubaustrecke nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie zweigte an der Haltestelle Balta Verde von der Linie 4 Richtung Mehala ab und erschloss die Eisenbahnsiedlung Ronaț. Ursprünglich war eine Bauzeit von neun Monaten vorgesehen. Jedoch beteiligten sich über 4000 Bürger in Form von sogenannten Freiwilligenbrigaden – rumänisch Brigada de Voluntari – an den Arbeiten, dadurch konnte die neue Strecke schon am 15. April fertiggestellt werden. Die Aufnahme des planmäßigen Betriebs in die Ronaț verzögerte sich allerdings noch etwas. Erst nachdem am 28. April wichtige Politiker die neue Strecke inspizierten, konnte am 29. April das Eröffnungsband durchschnitten werden.
Die anfänglich 2,0 Kilometer lange Route in die Ronaț ist bis heute durchgehend eingleisig und folgt auf gesamter Länge der Calea Bogdăneștilor, die damals im hinteren Teil nur ein unbefestigter Feldweg war. Zwischen der Blașcovici-Siedlung und der Ronaț lag seinerzeit noch weitgehend unbebautes Gebiet, so dass die neue Strecke im Mittelabschnitt den Charakter einer Überlandstraßenbahn hatte. Die Endhaltestelle war ursprünglich bei der Kreuzung mit der Strada Războieni – das heißt circa 250 Meter vor der heutigen Wendeschleife. Die Verbindung ist damit bis heute ein Torso geblieben. Die ursprünglich geplante Weiterführung über die Gleisanlagen der Eisenbahn hinweg bis zum Gara de Nord entfiel, auf diese Weise wäre eine weitere Ringstrecke entstanden. Später wurde diese Lücke im Zuge der Strada Gării ebenfalls mit Trolleybussen bedient, lediglich die Eisenbahngleise selbst müssen bis heute zu Fuß überquert werden.
Die Bedienung der Ronaț übernahm zunächst die neue Linie 8, die ihre Liniennummer von der seit 1934 dort verkehrenden Autobuslinie übernahm, mit einem Solowagen im 30-Minuten-Takt. Sie verkehrte ab der Piața Libertății und ergänzte bis Balta Verde die bestehende Linie 4. Weil sich die beiden Linien die weiterhin eingleisige Strecke zwischen der Inneren Stadt und der Blașcovici-Siedlung – mit nur einer Ausweiche an der Calea Circumvalaţiunii – teilten, musste der Triebwagen in die Ronaț den gemeinschaftlich bedienten Abschnitt jeweils zusammen mit einem der drei Kurse der Linie 4 im Sichtabstand zurücklegen. Wie bereits von 1930 bis 1936 verkehrten damit wieder sieben Straßenbahnlinien. Die neue Linie 8 verkehrte, wie die abgelöste Autobuslinie, ebenfalls alle 30 Minuten. Allerdings führte die vormalige Autobuslinie nicht in die Innere Stadt, sondern zum Gara de Nord und hatte auch in der Ronaț eine abweichende Streckenführung zur Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit. Sie war erfolglos geblieben, weil der Autobus aufgrund der langen Schließzeiten des Bahnübergangs am Ende der Calea Bogdăneștilor seinen Fahrplan nicht einhalten konnte.
Die neue Schienenverbindung erwies sich schon bald als wesentlich erfolgreicher als der vormalige Autobus. Deshalb erhielt die Linie 8 bereits im Juni 1948 nachträglich eine Ausweiche zwischen der Strada Banul Mărăcine und der Strada Zalău, womit fortan zwei Solowagen im 15-Minuten-Takt verkehren konnten. Zusätzlich bekam außerdem im Juli 1948 die Endstelle an der Strada Războieni ein Umsetzgleis, dadurch konnte auch die Linie 8 mit Beiwagen betrieben werden. Da auf der Piața Libertății jedoch weiterhin nur ein Umsetzgleis zur Verfügung stand, wechselten die Beiwagen dort fortan permanent zwischen den Linien 4 und 8.
Erste Wendeschleifen und Umwandlung der Linie 1 in eine kurze Pendellinie (1949)
1949 nahm das – im gleichen Jahr in Întreprinderea de Transport, Apă și Salubritate (I.T.A.S.) umbenannte – Unternehmen auf dem Vorplatz des Gara de Nord und beim Spitalul Dr. Victor Babeș die ersten beiden Kehrschleifen der Straßenbahn Timișoara in Betrieb. Damit endete nach 50 Jahren ferner auch der Betrieb von Stoßbeiwagen endgültig. Der Bau der Wendeanlagen erfolgte im Hinblick auf die zum 1. Mai 1949 geplante Inbetriebnahme der ersten Großraumwagen, die sich dann allerdings noch um ein Jahr verzögerte. Für diese Einrichtungsfahrzeuge sollte – unabhängig von der Ringlinie 6 – mit der Linie 2 eine adäquate Einsatzstrecke geschaffen werden. Die Wendeschleife vor dem Empfangsgebäude des Gara de Nord entsprach aber noch nicht dem heutigen Zustand, die Schleife am Rande des ELBA-Werksgeländes wird erst seit dem 9. Juli 1972 befahren.
Bereits 1949 war außerdem geplant, den Gara de Nord zukünftig ausschließlich mit Großraumwagen zu bedienen. Jedoch konnte am Wasserkraftwerk aus Platzgründen keine Wendeschleife errichtet werden, weshalb ein Großteil der bisherigen Kurse der Linie 1 in die Linie 2 integriert wurden und fortan ebenfalls zum Spitalul Dr. Victor Babeș fuhren. Diese verkehrte fortan somit alle fünf statt zuvor alle zehn Minuten. Allerdings blieb die Linie 1 als kurze Pendellinie zwischen Piața Sarmisegetuza und Uzina Hidroelectrică erhalten. Hierfür reichte ein Triebwagen aus, mit einer Streckenlänge von nur circa 350 Metern war sie die kürzeste Linie in der Geschichte der Straßenbahn Timișoara überhaupt.
Mit den Großraumwagen stand neben den Anhängerzügen und den Doppeltriebwagen fortan eine dritte fassungsstarke Variante zur Verfügung. Den Einrichtungsbetrieb auf der Linie 2 nahm die Straßenbahngesellschaft ferner zum Anlass, fortan im gesamten Netz sowohl auf die Brustwandtafeln an Front und Heck als auch auf die seitlichen Linienverlaufsschilder an der Dachkante zu verzichten. Damit sollte der Wechselaufwand für das Personal an den Endstellen in Grenzen gehalten werden. Als Ersatz dienten fortan kleine rechteckige Routentafeln in den Fenstern neben den Einstiegen. Außerdem übernahm – ebenfalls 1950 – der Fahrer die Überwachung des Fahrgastwechsels und fuhr anschließend nach eigenem Ermessen los. Voraussetzung hierfür war die nachträgliche Ausstattung aller Triebwagen mit Rückspiegeln. Die Meldung der Abfahrbereitschaft durch den Schaffner entfiel somit, womit auch die klassischen Klingelleinen beziehungsweise Pfeifsignale ausgedient hatten.
Erweiterung zur Strada Lidia (1951)
1951 ging in der südlichen Elisabethstadt – als zweite Erweiterung nach dem Zweiten Weltkrieg und als Ersatz für die nicht realisierte Trolleybusstrecke von 1941 – eine durchgehend eingleisige und circa 800 Meter lange Neubautrasse durch die Strada Drubeta in Betrieb. Sie begann an der ehemaligen Endstelle Strada Memorandului und führte – auch im weiteren Verlauf rechtsseitig trassiert – bis zur Kreuzung mit der Strada Lidia. Gleichzeitig wurde auch der 1936 aufgelassene Streckenabschnitt Piața Nicolae Bălcescu–Strada Memorandului – der einst von der Linie 3 bedient wurde – nach 15 Jahren Betriebspause reaktiviert. Die Bedienung der neuen Strecke erfolgte durch die neue Linie 7, die mit drei Solowagen im Zehn-Minuten-Takt zwischen der Piața Libertății und der Strada Lidia pendelte. Damit verkehrten erstmals acht Straßenbahnlinien. Die neue Nebenlinie zur Strada Lidia besiegelte nach 52 Jahren auch die strikte Aufteilung in Haupt- und Nebenlinien, da sich zwischen Piața Nicolae Bălcescu und Piața Libertății fortan beide Liniengruppen dieselbe Infrastruktur teilten.
Anschluss der Arbeiterkolonie Besenyei (1953)
Zwei Jahre nach der Erweiterung zur Strada Lidia verlängerte die Gesellschaft ihre neueste Strecke am 7. November 1953 – anlässlich des 36. Jahrestags der Oktoberrevolution von 1917 – um weitere circa 1,5 Kilometer bis zur Strada Progresul. Die verlängerte Linie 7 folgte den Straßen Drubeta und Ivan Petrovici Pavlov in südliche Richtung bis zur Kirche Mariä Himmelfahrt. Dort wandte sich die Neubautrasse scharf nach Westen und erreichte – jetzt stadtauswärts gesehen linksseitig trassiert – über die Strada Aluniș, die damals vorübergehend Strada Kalinin hieß, die neue Endstelle. Damit erhielt damit auch der östliche Teil Fratelias – das aus der ehemaligen Arbeiterkolonie Besenyei hervorgegangene Quartier Fratelia B – seinen Straßenbahnanschluss. Der erst fünf Jahre zuvor eingemeindete Stadtbezirk Fratelia ist seither außerdem zweiseitig mit dem restlichen Stadtgebiet verbunden.
Stilllegung der Strecke zum Wasserkraftwerk (1954)
1954 übernahm die damals neu eingerichtete Autobuslinie in den 1951 eingemeindeten VIII. Stadtbezirk Plopi auch die Bedienung des Wasserkraftwerks. Dies führte – nach 31 Betriebsjahren – zur Aufgabe der kurzen Straßenbahn-Stichstrecke Piața Sarmisegetuza – Uzina Hidroelectrică. Infolgedessen gab es vorübergehend keine Straßenbahnlinie 1, stattdessen übernahm die neue Autobusverbindung diese Linienbezeichnung.
Ringschluss Fratelia (1954)
Zur weiteren Verbesserung der Verkehrssituation in Fratelia verband die Straßenbahngesellschaft zum 21. August 1954 die Endstellen der Linien 5 und 7 mittels einer circa 900 Meter langen und gleichfalls eingleisigen Neubaustrecke im Zuge der Strada Victor Hugo. Durch diese Querverbindung zwischen der Strada Progresul und der seit 1926 bestehenden Endstelle der Linie 5 an der Kirche des Heiligen Josef waren fortan auch die beiden Teilgebiete Fratelia A im Westen und Fratelia B im Osten direkt miteinander verbunden.
Der Lückenschluss von 1954 führte schließlich zur Integration der Linie 7 in die Linie 5, die fortan die hufeisenförmige Strecke Piața Alexandru Mocioni–Strada Chișodei–Strada Memorandului–Piața Nicolae Bălcescu bediente. Auf ihr waren damals sieben Triebwagen, davon zwei Stoßtriebwagen an den beiden Endstellen, und fünf Beiwagen im Einsatz. Diesen standen – inklusive der beiden zweigleisig ausgebauten Endstellen – sechs Ausweichen zur Verfügung. Aufgrund ihrer – abgesehen von den Ausweichen – durchgehend eingleisigen Strecke galt die fortan 5956 Meter lange Linie 5 jedoch als unpünktlich. Zudem verloren die südliche Elisabethstadt sowie die Besenyei-Kolonie nach nur einem Jahr wieder ihre Direktverbindung mit der Inneren Stadt.
Erweiterung nach Freidorf (1954)
Am 30. Dezember 1954 erhielt auch der 1950 eingemeindete Stadtbezirk Freidorf seine Straßenbahnanbindung, zuvor war der Ort allerdings schon seit 1897 durch die Eisenbahn mit Timișoara verbunden. Hierzu errichtete die I.T.A.S. eine 3450 Meter lange eingleisige Neubaustrecke. Sie begann an der Endstelle der Linie 3 – das heißt an der Kreuzung der Strada Ioszef Preyer mit der Strada Crizantemelor – und endete am Freidorfer Ortsausgang Richtung Utvin. Die neue Endstation befand sich an der Strada Răscoala din 1907. Freidorf wurde durch die neue Linie 8 bedient, die an der Strada Crizantemelor Anschluss an die Linie 3 hatte. Im Gegenzug erhielt die bisherige Linie 8 in die Ronaț damals die neue Liniennummer 9 zugeteilt.
Die Freidorfer Strecke war ursprünglich durchgehend eingleisig und rechtsseitig trassiert. Sie verfügte bis zur Strada Căpitan Damșescu über Rillenschienen im Straßenraum, ab dort besaß sie eine eigene Trasse mit Vignolschienen. Für den anfänglichen Zehn-Minuten-Takt mit drei Solowagen standen zwei Ausweichen zur Verfügung, eine bei der Strada Vaslui – die heute Strada Martir Gogu Opre heißt – und eine auf freiem Feld zwischen der später eingerichteten Haltestelle Liceul Auto und dem Freidorfer Ortseingang.
Die Lieferung weiterer Großraumwagen ermöglichte es ferner ab 1954, auch die Linie 6 sukzessive auf längere Einheiten umzustellen. Jedoch zog sich diese Maßnahme noch bis in die erste Hälfte der 1960er Jahre hin.
Neubau der Ștefan-cel-Mare-Brücke (1956–1958)
1956 begann die Stadt mit dem Neubau des baufälligen Podul Ștefan cel Mare, für den Individualverkehr war die marode Brücke bereits seit 1939 gesperrt. Infolgedessen konnte die Linie 2 den Gara de Nord vorübergehend nicht bedienen. Sie verkehrte deshalb bis 1958 zum Bulevardul Iuliu Maniu, der damaligen Strada Reșița. Die Anbindung des Nordbahnhofs erfolgte in dieser Zeit ausschließlich durch Trolleybusse und den einzigen Kurs der eigens eingerichteten Ersatz-Autobuslinie, der zwischen Nordbahnhof und Kathedrale pendelte. Den hierfür benötigten Autobus zog die Gesellschaft von der erst 1954 eröffneten Autobuslinie nach Plopi ab. Aufgrund der Brückensanierung musste Plopi daher vorübergehend ohne öffentliche Verkehrsanbindung auskommen. Für die Umleitung der Linie 2 ging ferner – ebenfalls 1956 – am Bulevardul Iuliu Maniu eine weitere Wendeschleife in Betrieb.
Ab Inbetriebnahme der neuen Schleife verkehrte außerdem auch die Linie 3 nur noch bis zum Bulevardul Iuliu Maniu, seither liegen in der Strada Crizantemelor keine Schienen mehr. Im Gegenzug verlängerte die Straßenbahngesellschaft die aus Freidorf kommende Linie 8 zum Bulevardul Iuliu Maniu. Da die dortige Schleife nur von der Inneren Stadt her kommend angefahren werden konnte, endete letztere stumpf am Ende der Strada Ioszef Preyer. Für diese Verlängerung erhielt die Linie 8 eine zusätzliche dritte Ausweiche an der bisherigen Endstelle Strada Crizantemelor und wurde fortan mit vier Kursen betrieben. Am Fahrzeugeinsatz der Linie 3 – die im Gegenzug fortan mit einem Umlauf weniger auskam – änderte sich vorerst nichts, die Bedienung der anderen Endstelle Aleea C.F.R erforderte zunächst weiterhin Zweirichtungswagen.
Zweite Ringlinie (1959)
Im Oktober 1959 mutierte die Linie 5 zur zweiten Ringlinie Timișoaras. Hierzu ließ die seit 1957 als Întreprinderea Comunală Oraș Timișoara (I.C.O.T.) firmierende Straßenbahngesellschaft zuvor die Verzweigung auf der Piața Sfânta Maria durch den Neubau einer Verbindungskurve zwischen der Strada Gheorghe Doja und dem Bulevardul 16 Decembrie 1989 zu einem Gleisdreieck erweitern. Fortan konnten auch auf der Frateliaer Strecke Einrichtungswagen eingesetzt werden. Gleichzeitig endete damit nach 33 Jahren der Betrieb mit Stoßtriebwagen, woraufhin sich der Wagenauslauf der Linie 5 – trotz Verlängerung von 5956 auf 7300 Meter – nur um einen Kurs erhöhte. Als – jetzt nur noch nominelle – Endstelle der Linie 5 fungierte weiterhin die Piața Nicolae Bălcescu, von wo aus die Kurse aus dem Depot kommend einsetzten beziehungsweise dorthin einrückten.
Ringschluss Fabrikstadt (1959)
Ende 1959 ermöglichte die Eröffnung einer circa 500 Meter langen und durchgehend zweigleisigen Neubaustrecke entlang des Jagdwalds und der Bahnstrecke nach Caransebeș den Lückenschluss zwischen der Endstelle der Linie 2 am Spitalul Dr. Victor Babeș und derjenigen der Linie 3 an der heutigen Haltestelle U.M.T. Auch hierbei handelte es sich um eine verspätete Realisierung eines Vorhabens aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Zwischenzeitlich existierten außerdem Pläne für eine Teilinbetriebnahme. So ist beispielsweise auf einem Stadtplan des Jahres 1941 eine projektierte Verlängerung Spitalul Dr. Victor Babeș–Staţia Meteo verzeichnet, die kriegsbedingt nicht mehr realisiert werden konnte.
Die neue Trasse, deren Bau im Oktober 1959 begann, diente in erster Linie der verbesserten Anbindung des damals im Aufbau befindlichen Schwermaschinenbau-Kombinats Uzinele Mecanice Timișoara (U.M.T.), das am 1. Januar 1960 aus der Fusion zweier metallverarbeitender Betriebe entstand. Auch in der nördlichen Fabrikstadt wurde infolgedessen ein Ringverkehr eingeführt. Die Linie 2 bediente die Schleife fortan – analog zur heutigen Linie 1 – gegen den Uhrzeigersinn, das heißt in der Reihenfolge Piața Traian – Spitalul Dr. Victor Babeș – U.M.T. – Piața Traian. Die Linie 3 wiederum verkehrte – analog zur heutigen Linie 2 – gegenläufig dazu. De facto existiert somit in der Fabrikstadt seit 1959 eine 4,8 Kilometer lange Häuserblockschleife respektive Blockumfahrung, die einzige überhaupt in Timișoara.
Eine Besonderheit dieser Strecke war das bis in die 1990er Jahre betriebene Überhol- beziehungsweise Stapelgleis für die gegen den Uhrzeigersinn verkehrenden Straßenbahnen. Es war circa 250 Meter lang, zweigte direkt nach der ebenfalls 1959 neu eingerichteten Zwischenhaltestelle Staţia Meteo nach rechts ab, um dann unmittelbar vor der Station U.M.T. wieder ins Regelgleis einzumünden. Als nominelle Endhaltestelle der Ringstrecke diente ursprünglich die Station U.M.T., erst seit 2012 wird die Haltestelle Staţia Meteo in den Netz- und Fahrplänen als solche ausgewiesen.
Ab 1959 konnte somit auch die Linie 3 im Einrichtungsverkehr und damit auch mit Großraumwagen betrieben werden, zudem verkehrte sie fortan wieder – wie schon bis 1942 – alle fünf Minuten. Mit der Linie 2 bestand ferner erstmals eine Straßenbahn-Direktverbindung zwischen den wichtigsten beiden Bahnhöfen der Stadt. Die auf der Linie 3 freigesetzten Doppeltriebwagen wiederum fanden ab 1959 auf den Nebenlinien 4, 8 und 9 ein neues Betätigungsfeld, womit auch die letzten drei Kuppelendstellen des Netzes auf der Piața Libertății, an der Strada Războieni und auf der Piața Avram Iancu entfielen. Mit letzterer entfiel auch die seit 1923 praktizierte periphere Abstellung nicht benötigter Beiwagen. Auf der Freidorfer Strecke dienten die Doppeltriebwagen dabei erstmals dazu, eine Endstelle ohne Umsetzmöglichkeit mit längeren Einheiten bedienen zu können. Zuvor halfen sie lediglich dabei, den Rangieraufwand an den Umsetzendstellen zu vermeiden. Somit existierte 1959 folgendes Liniennetz:
Zu einem unbekannten Zeitpunkt zwischen 1956 und 1962 tauschten jedoch die Strecken nach Freidorf und in die Mehala ihre Liniennummern. So fuhr eine Zeit lang die Linie 4 zur Strada Răscoala din 1907 und im Gegenzug die Linie 8 zur Piața Avram Iancu.
Kontinuierliche Kapazitätserhöhung (1960er Jahre)
Die 1960er Jahre waren geprägt von der zunehmenden Industrialisierung der Stadt, diese erforderte die Einführung längerer Züge auf fast allen Linien sowie zusätzliche Fahrten im Berufsverkehr. In jenem Jahrzehnt kostete eine einfache Fahrt 0,25 Lei, Umsteigefahrscheine – sie erlaubten auch einen Wechsel auf den Trolleybus – kosteten 0,50 Lei. Die beiden Fahrscheinsorten wurden von Rollen abgetrennt, die Umsteigefahrscheine zusätzlich gelocht. 1968 ging ferner das erste ferngesteuerte Unterwerk in Betrieb, es wurde aus der Deutschen Demokratischen Republik importiert. Außerdem verschwand in den 1960er Jahren vorübergehend die Außenwerbung auf den Fahrzeugen.
Erste Verstärkerkurse in Spitzenzeiten und erste Dreiwagenzüge (1961–1962)
Das zunehmende Wachstum des Unternehmens U.M.T., zeitweise waren dort 8100 Menschen beschäftigt, brachte die Straßenbahn Timișoara ab den 1960er Jahren – insbesondere in den Hauptverkehrszeiten – wiederholt an die Grenzen ihrer Kapazität. Nachdem alle Linien seit Inbetriebnahme der Straßenbahn im Jahr 1869 den ganzen Tag über stets im gleichen Takt fuhren, führte die Gesellschaft deshalb zum 1. April 1961 erstmals Verstärkerkurse in den Hauptverkehrszeiten ein. Dies war auf den Hauptlinien 2, 3 und 6 der Fall, auf allen drei Linien fuhren morgens und nachmittags je sechs Zusatzkurse. Sie erweiterten das Fahrtenangebot zwischen 4:30 und 8:30 Uhr sowie zwischen 13:00 und 17:00 Uhr um 50 Prozent, das heißt von zwölf auf achtzehn Fahrten stündlich. Im Folgejahr führte das Verkehrsunternehmen außerdem auf der Linie 2 um circa 50 Prozent verlängerte Einheiten ein. Zum einen verkehrten erstmals Dreiwagenzüge, bestehend aus einem zweiachsigen Triebwagen und zwei zweiachsigen Beiwagen. Zum anderen gingen damals die ersten Gespanne aus Großraumwagen und einem zweiachsigen Beiwagen in Betrieb.
Auf den übrigen Linien waren solche Verstärkerkurse infrastrukturbedingt weiterhin nicht möglich. Jedoch wurden in den Monaten Januar bis März 1961 auf der Frateliaer Strecke die vorhandenen Ausweichen verlegt und zwei neue geschaffen. Durch die dadurch mögliche und ebenfalls zum 1. April 1961 umgesetzte Taktverdichtung konnte der Verkehrsbetrieb den – auch auf dieser Route steigenden – Fahrgastzahlen besser gerecht werden. Auf der Linie 5 waren fortan ganztägig zehn Züge im 7,5-Minuten-Takt im Einsatz, die sich wie folgt begegneten:
auf der Piața Nicolae Bălcescu (Ende Doppelspurabschnitt)
in der Strada Drubeta, an der Kreuzung mit der Strada Eneas (Ausweiche, verlegt)
in der Strada Drubeta, an der Kreuzung mit der Strada Mureș (Ausweiche, verlegt)
in der der Strada Aluniș, an der Einmündung der Strada Ivan Petrovici Pavlov (Ausweiche, neu)
in der Strada Victor Hugo, beim Haus Nummer 60 (Ausweiche, verlegt)
in Strada Ana Ipătescu (Ausweiche, neu)
auf dem Bulevardul 16 Decembrie 1989, bei der Textilfabrik Artă Textilă (Ausweiche, verlegt)
auf dem Bulevardul 16 Decembrie 1989, bei der Piața Iuliu Maniu (Ausweiche, verlegt)
auf der Piața Alexandru Mocioni (Beginn Doppelspurabschnitt)
in der Strada Gheorghe Doja (Doppelspurabschnitt)
1963 ermöglichte ferner die Lieferung weiterer Neubauzüge das Ende des Einsatzes von zweiachsigen Solowagen auf der Linie 6, damit kamen auf allen sieben Linien fortan nur noch Zwei- oder Dreiwagenzüge beziehungsweise Großraumwagen zum Einsatz.
Liniennummernreform von 1962
Die im Sommer 1962 aus dem vormaligen kommunalen Mischunternehmen Întreprinderea Comunală Oraș Timișoara hervorgegangene reine Verkehrsgesellschaft Întreprinderea de Transport Timișoara (I.T.T.) führte zum 1. Oktober 1962 eine umfangreiche Liniennummernreform der drei städtischen Verkehrsmittel durch. Letztlich löste ein systematisches Schema ohne Lücken die historisch gewachsenen Bezeichnungen ab. Im Gegenzug waren die einzelnen Nummern fortan fast ein Jahrzehnt lang bis zu dreimal vergeben:
Somit erhielten Anfang Oktober 1962 gleich sechs der damals insgesamt sieben Straßenbahnlinien eine neue Nummer, lediglich die Linie 6 behielt ihre Bezeichnung:
Die Verstärkerlinie 6 barat (1965)
Trotz der 1961 eingeführten Verstärkerkurse auf den drei Hauptlinien sowie der Dreiwagenzüge auf der Linie 1 bereitete der Verkehr von und zum Metallkombinat weiter Probleme. Deshalb führte die I.T.T. 1965 die erste eigenständige Verstärkerlinie Timișoaras ein. Diese neue Linie 6 barat unterschied sich von der regulären Linie 6 durch einen Querbalken und war die erste sogenannte gestrichene Linie – rumänisch linia barat – der Straßenbahn Timișoara überhaupt.
Die neue Linie verkehrte nur morgens zwischen 4:30 und 8:30 Uhr im Zehn-Minuten-Takt mit fünf Kursen auf der Strecke Piața Traian – Piața Sfânta Maria – Piața Nicolae Bălcescu – Piața Traian – U.M.T. – Spitalul Dr. Victor Babeș – Piața Traian. Das heißt, sie hatte die Form einer Acht, die jedoch nur in einer Richtung bedient wurde. Insbesondere erhielt damit auch die Elisabethstadt eine Direktverbindung mit der U.M.T. Ferner erreichte der tägliche Wagenauslauf – mit jetzt maximal 80 Kursen in der Frühspitze – 1965 einen neuen Höchststand.
Gegen Ende des Jahrzehnts entfiel die Verstärkerlinie 6 barat schließlich wieder. Das genaue Datum ihrer Aufgabe ist nicht überliefert – am 31. Dezember 1968 wird sie noch in der Unternehmensstatistik aufgeführt, im Frühjahr 1972 war sie bereits nicht mehr in Betrieb.
Erste Zweirichtungszüge mit einseitigen Türen (1966)
Ab 1964 begann die Stadt Timișoara im Bezirk Mehala mit dem Aufbau der Großwohnsiedlung Circumvalațiunii, wobei als erstes das Teilgebiet Circumvalațiunii I entstand. Dieses wird im Süden von der Calea Bogdăneștilor, im Osten vom Bulevardul Cetăţii, im Norden von der Strada Mircea cel Bătrân und im Westen von der Strada Macilor begrenzt und wird heute als Zona Mircea cel Bătrân bezeichnet.
Die neue Siedlung sorgte bereits von Beginn an für Kapazitätsprobleme auf der Straßenbahnlinie 4. Um diese zu entlasten verlängerte die I.T.T. zum 1. Dezember 1964 die Autobuslinie 4 Săcălaz–Piaţa Avram Iancu zur Piața Unirii in der Inneren Stadt, so dass deren Fahrgäste in der Mehala nicht mehr auf die Straßenbahn umsteigen mussten. Zusätzlich verkehrte ab dem gleichen Datum außerdem in den Hauptverkehrszeiten eine neue Autobuslinie 4 barat zwischen der Piața Unirii und der Kreuzung Strada Grigore Alexandrescu / Strada Ovidiu Balea.
Um auf letztere wieder verzichten zu können, fuhr schließlich ab 1966 auch die Straßenbahnlinie 4 mit Dreiwagenzügen. Mangels Wendemöglichkeiten kamen hier jedoch, im Gegensatz zu den Hauptlinien, Zweirichtungszüge zum Einsatz. Es handelte sich dabei um provisorisch gebildete Gespanne aus je zwei Triebwagen des Typs F mit je einem antriebslosen Mittelbeiwagen des Typs AII beziehungsweise C. Das heißt, die Straßenbahngesellschaft wählte die kürzesten Fahrzeuge aus dem damaligen Bestand aus, um sich die Verlängerung der – auf die Maße der bisher auf der Linie 4 verwendeten Zweiwagenzüge ausgelegten – Ausweichen zu ersparen. Ferner handelte es sich bei den Motorwagen des Typs F um Einrichtungswagen, die damals zu Zweirichtern wurden. Anstatt diesen jedoch zusätzliche Einstiege auf der türlosen Seite einzubauen, entschied sich das Unternehmen alternativ dazu, alle Bahnsteige auf der Strecke in die Mehala – stadtauswärts betrachtet – links anzuordnen. Somit war die Linie 4 die erste, auf welcher Zweirichtungsbetrieb mit einseitigen Türen stattfand.
Verkürzung der Linien 4 und 5 (1969)
1967 verband die Stadtverwaltung die Strada Gheorghe Dima mit der Strada Sfântul Ioan zu einer neuen Umgehungsstraße am westlichen Rand der ehemaligen Festung und legte dort außerdem zwei Jahre später die neue Piața Timișoara 700 an. Jedoch behinderte diese neue Verkehrsführung zunehmend die durchgehend eingleisigen – und daher entsprechend verspätungsanfälligen – Straßenbahnlinien 4 und 5, die zudem fahrplantechnisch miteinander verknüpft waren. Um Wartezeiten an der Kreuzung mit der neuen Straße zu vermeiden, verkürzte die Straßenbahngesellschaft daher ab dem 8. März 1969 die beiden genannten Linien aus verkehrlichen Gründen um circa 200 Meter und eine Haltestelle, das heißt sie endeten aus Richtung Balta Verde kommend bereits an der Piața Timișoara 700. Die umsteigenden Fahrgäste zwischen den Linien 4 und 5 einerseits und den Linien 1, 2 und 6 andererseits mussten die zwei Querstraßen entfernte Piața Libertații fortan zu Fuß erreichen, die Strecke durch die östliche Strada Coriolan Brediceanu diente vorübergehend nur als Betriebsstrecke.
Teileinstellung der Linie 7 (1969)
Gleich drei verschiedene Ursachen führten Ende der 1960er Jahre dazu, dass der eingleisige und in Seitenlage verlegte 2,2 Kilometer lange Streckenabschnitt zwischen der Piața Alexandru Mocioni und der Piața Veteranilor im Stadtteil Fratelia dauerhaft und der circa 350 Meter lange Abschnitt Piața Veteranilor–Strada Chișodei vorübergehend aufgegeben werden mussten. Zum einen beschwerte sich die Direktion der Universitätsklinik für Gynäkologie und Geburtshilfe Dr. Dumitru Popescu über die Geräuschentwicklung der unmittelbar am Spital vorbeiführenden Linie 7, mit negativen Auswirkungen auf die Neugeborenen, deren Mütter sowie das medizinische Personal. Zum anderen spielte die Linie 7 eine wichtige Rolle bei den Planungen zur Erschließung der damals im Aufbau befindlichen Wohngebiete Cartierul Dâmbovița, Șagului Vest I und Șagului Vest II, wozu sie entsprechend verlegt werden musste. Ein dritter Grund für die Streckeneinstellung war der zunehmende Straßenverkehr auf der Ausfallstraße Richtung Șag, die Teil der Nationalstraße 59 und gleichzeitig Teil der Europastraße 70 ist. Sie wurde damals auf Kosten der Straßenbahntrasse auf vier Fahrspuren erweitert. Infolgedessen kam es ab dem 7. April 1969 zur Unterbrechung des Ringverkehrs auf der Linie 7. Sie pendelte fortan zwischen der Kreuzung mit der Strada Iancu Văcărescu und dem Gara de Nord, der somit erstmals direkt mit Fratelia verbunden war.
Jedoch benötigte diese neue Route zwingend Zweirichtungswagen, die damals aber nicht in ausreichender Zahl zur Verfügung standen. Wie schon drei Jahre zuvor bei der Linie 4 mussten daher auch für die modifizierte Linie 7 provisorisch Einrichtungswagen zu Zweirichtungswagen umgebaut werden. Wiederum entschied sich die Straßenbahngesellschaft dafür, nur die Führerstände anzupassen. Aus diesem Grund pendelte die Linie 7 ab dem 1. Dezember 1969 schließlich nur noch zwischen der Piața Nicolae Bălcescu und der heutigen Haltestelle Strada Chișodei, damals als Strada Ana Ipătescu bezeichnet. Hierfür waren fünf Kurse notwendig, denen vier Ausweichen zur Verfügung standen.
Der nördliche Endpunkt auf der Piața Nicolae Bălcescu war somit technisch bedingt, eine Weiterführung auf der zweigleisigen Strecke Richtung Gara de Nord wäre aufgrund der nur einseitig vorhandenen Türen der adaptierten Wagen aus Sicherheitsgründen gar nicht möglich gewesen. In Fahrtrichtung Piața Nicolae Bălcescu betrachtet konnte bei den betreffenden Zügen nur noch auf der linken Seite ein- und ausgestiegen werden. Anders als bei der Linie 4 befanden sich jedoch bei der Linie 7 nicht alle Bahnsteige auf der gleichen Seite. Dies hatte zur Folge, dass die Fahrgäste im Verlauf der Straßen Victor Hugo und Aluniș die Wagen zur Fahrbahn hin verlassen mussten beziehungsweise gezwungen waren direkt von der Straße aus einzusteigen.
Die stillgelegte Strecke im Zuge des Bulevardul 16 Decembrie 1989 und der Calea Șagului bediente fortan die neue Autobuslinie 13, sie verkehrte über die Piața Veteranilor hinaus eine Haltestelle weiter bis zum Unternehmen Dermatina.
Entwicklung zum Massentransportmittel und Ausbau der Nebenlinien (1970er Jahre)
In den 1970er Jahren erfolgte eine massive Aufsiedlung der Stadt Timișoara, an den Stadträndern entstanden zahlreiche neue Trabantenstädte beziehungsweise Hochhaus-Siedlungen nach dem Vorbild der sowjetischen Mikrorajons. So stieg die Zahl der Einwohner der Stadt in dieser Epoche beispielsweise von 174.243 im Jahr 1966 auf 266.353 im Jahr 1977. Und auch die Siedlungsstruktur sowie die Verkehrsströme Timișoaras veränderten sich in jener Zeit stark. Der Straßenbahn kam hierbei eine bedeutende Rolle zu; sie fungierte als Massentransportmittel für die neuen Wohngebiete.
Wagenmangel und vorübergehende Einstellung der Linie 4 (1970)
Die weiter steigenden Fahrgastzahlen brachten Ende der 1960er beziehungsweise Anfang der 1970er Jahre insbesondere die vergleichsweise selten verkehrenden Nebenlinien an die Grenze ihrer Kapazität. Nachdem 1970 außerdem die letzten Beiwagen mit offenen Plattformen aus dem Bestand schieden, verschärfte sich der ohnehin schon bestehende Wagenmagel weiter. Insbesondere Zweirichtungswagen waren damals knapp, eine Folge des im Vorjahr aufgelassenen Ringverkehrs auf der Linie 7. Aus diesem Grund entschied sich die Straßenbahngesellschaft zu einer Notmaßnahme und stellte die Linie 4 in die Mehala ab dem 11. März 1970 vorübergehend ein, um Wagen für die Linien 3, 5 und 7 zu gewinnen. Möglich wurde dies durch die gleichzeitige Verlängerung der Trolleybuslinie 3 zur Piața Avram Iancu, so dass weiterhin alle Haltestellen der Linie 4 vom elektrischen Nahverkehr bedient werden konnten.
Die auf der Linie 4 freigesetzten Fahrzeuge nutzte die Întreprinderea de Transport Timișoara zur Bildung von Dreiwagenzügen auf den Linien 3, 5 und 7. Für jede dieser drei Linien stellte die Straßenbahngesellschaft damals je einen langen Zug zusammen. Hierbei handelte es sich wiederum um eine Notlösung, da die Ausweichen eigentlich nur auf Zweiwagenzüge ausgelegt waren. Auf diese Weise konnte aber wenigstens bei jedem zweiten Kurse der Linie 5, jedem vierten Kurs der Linie 3 beziehungsweise jedem fünften Kurs auf der Linie 7 eine um 50 Prozent höhere Kapazität angeboten werden. Ähnlich wie bei einer Ausweichanschlussstelle wurden dabei die kürzeren Züge in den Ausweichen vom langen Zug eingeschlossen. Da außerdem alle drei Dreiwagenzüge nur einseitige Türen hatten, war diese Betriebsform ab 1970 vorübergehend auf allen Nebenlinien anzutreffen. In Richtung Ronaț befand sich der Ein- und Ausstieg dabei auf der linken Seite, in Richtung Freidorf auf der rechten. Während dies auf der Freidorfer Strecke kein Problem darstellte, befanden sich zwischen Balta Verde und Ronaț damals fast alle Bahnsteige auf der rechten Seite. So mussten die Fahrgäste beispielsweise auch an der Endstation Strada Războieni den Dreiwagenzug direkt vom Erdreich aus betreten. Diese Zustände kritisierte auch die Lokalpresse seinerzeit, sie schlug vor den betreffenden Zug vor seinem Einsatz auf der Linie 5 morgens im Depot zu drehen.
Neubaustrecke durch das Cartierul Dâmbovița (1972)
Am 26. Januar 1972 eröffnete die Straßenbahngesellschaft eine 1550 Meter langen Neubaustrecke durch das Cartierul Dâmbovița, sie verband die Freidorfer Strecke mit der Piața Veteranilor. Gleichzeitig ging auch der circa 300 Meter lange Abschnitt zwischen der Piața Veteranilor und der Strada Chișodei nach über zwei Jahren Unterbrechung wieder in Betrieb. Damit war Fratelia – wie bereits bis 1969 – wieder zweiseitig an das Straßenbahnnetz angeschlossen. Die neue Strecke war bei ihrer Eröffnung zunächst eingleisig und führte querfeldein durch das damals noch im Aufbau befindliche Neubaugebiet im Süden der Stadt. Jedoch war das Planum für das zukünftige zweite Gleis als Bauvorleistung bereits von Beginn an vorhanden. An der Strada Frunzei sowie an der Strada Vasile Lupu standen außerdem zwei neue Ausweichen zur Verfügung. Neben der wiedereröffneten Station Piața Veteranilor gingen damals noch die drei gänzlich neuen Haltestelle Strada Grădini, Strada Frunzei und Strada Dreptatea in Betrieb, die jedoch in späteren Jahren durch die beiden Stationen Strada Banatul und Strada Transilvania ersetzt wurden.
Fortan pendelte die Linie 7 zwischen Piața Nicolae Bălcescu und Bulevardul Iuliu Maniu und bediente den – weiterhin eingleisigen – Abschnitt durch die Strada Ioszef Preyer gemeinsam mit der Linie 3. Diese musste aus diesem Grund damals auf einen – auf der Linie 7 bereits seit 1961 üblichen – Acht-Minuten-Takt verdichtet werden. Hierzu erhielt sie bei der Strada Rahovei, bei der Strada Păcii und in Freidorf kurz nach der Einmündung der Strada Constantin Nottara drei zusätzliche Ausweichen, im Gegenzug konnte auf die bisherige Ausweiche bei der Strada Martir Gogu Opre verzichtet werden.
Das gewählte Fahrplankonstrukt bewährte sich jedoch nicht, weshalb bereits am 17. April 1972 die nächste Umstellung erfolgte. Die Linie 3 erhielt damals ihren gewohnten Zehn-Minuten-Takt zurück, woraufhin wiederum die Linie 7 in eine reguläre und eine gestrichene Linie aufgeteilt werden musste:
Einführung von Großraumbeiwagen (1972)
Nachdem die Behörden am 18. Januar 1972 den Einsatz des – bereits 1970 fertiggestellten – Timiș 2-Prototypzugs im Fahrgastverkehr genehmigten, ging Ende 1972 die erste Einheit in den regulären Betrieb. Die neuen Wagen kamen zunächst nur auf der Linie 2 zum Einsatz, erst ab dem 15. August 1975 gelangten sie auch auf die anderen beiden Hauptlinien 1 und 6. Neuartig für Timișoara waren dabei insbesondere die vierachsigen Großraumbeiwagen, während alle bisher eingesetzten Beiwagen Zweiachser waren. Durch die – im Gegensatz zu den zuvor üblichen Zweiachserzügen – nahezu verdoppelte Beförderungskapazität auf der Linie 2 entspannten sich auch die Kapazitätsprobleme im Verkehr von und zur U.M.T. weiter. Die neuen Großraumzüge lösten letztlich Mitte der 1970er Jahre auch die letzten Dreiwagenzüge auf den Hauptlinien ab.
Um einerseits die Straßenbahn zu entlasten und andererseits den Pendlern aus dem Umland den zeitraubenden Weg durch die Innere Stadt zu ersparen, verkehrte in den 1970er Jahren außerdem einige Jahre lang zusätzlich auch ein C.F.R.-Doppelstockzug morgens gegen 6:30 Uhr vom Gara de Nord direkt bis ins U.M.T.-Werksgelände hinein und nachmittags retour.
Im Gegenzug wurden durch die neuen Großraumzüge auch wieder ältere Zweiachser frei, so dass die Linie 4 – nach über zwei Jahren Unterbrechung – wieder in Betrieb gehen konnte. Anders als bei ihrer Einstellung im Jahr 1970 verkehrte sie jetzt aber wieder – wie schon bis 1966 – mit den gewohnten Zweiwagenzügen, da die Fahrgastnachfrage in Folge der 1970 verlängerten Trolleybuslinie 3 deutlich nachgelassen hatte. Wann genau die Strecke wieder in Betrieb ging ist nicht überliefert, während der Mehalaer Kirchweih im September 1972 verkehrte sie jedenfalls wieder.
Modernisierung der Strecke in die Mehala (1972)
Ab dem 20. November 1972 begann der Verkehrsbetrieb damit, die bis dahin durchgehend eingleisige Linie 4 auszubauen, um das sich weiter nach Norden ausdehnende Großwohngebiet Circumvalațiunii adäquat bedienen zu können. Um den 600 Meter langen Streckenabschnitt zwischen Balta Verde und der Kreuzung Bulevardul Cetății / Strada Cloșca / Strada Gheorghe Lazăr auf zwei Gleise erweitern zu können, musste die Linie 4 daher erneut komplett eingestellt werden. Sie wurde temporär durch die eigens hierfür eingerichtete Autobus-Ringlinie 35 Piața Timișoara 700–Balta Verde–Calea Torontalului–Piața Consiliul Europei–Piața Timișoara 700 ersetzt, die nur im Uhrzeigersinn verkehrte. Im ersten Quartal des Jahres 1974 ging die Linie 4 – nach Abschluss der Baumaßnahmen auf dem Bulevardul Cetății – wieder in Betrieb, wobei die Autobuslinie 35 noch bis zur Verlängerung der Linie 4 zur Calea Torontalului im Jahr 1976 erhalten blieb.
Ausgleichend für die vorübergehend entfallene Linie 4 erhielt außerdem die Linie 5 am 31. März 1973 eine zusätzliche Ausweiche an der Strada Grigore Alexandrescu, womit in den Hauptverkehrszeiten fortan ein dritter Zug in die Ronaț eingesetzt werden konnte. Dadurch entstand im Berufsverkehr ein asymmetrischer 7,5/7,5/15-Minuten-Takt. Spätestens ab 1980 waren dann schon vier Züge im Einsatz.
Neubaustrecke im Zuge der Calea Buziașului (1973)
Im Juli 1973 eröffnete die I.T.T. im Süden der Stadt eine Stadtbahn-ähnlich trassierte zweigleisige Neubaustrecke in Mittellage der Calea Buziașului. Hierbei kamen erstmals Stahlbetonschwellen zum Einsatz, sie entsprachen einer Bauart der Staatsbahn C.F.R. Die 1720 Meter lange Strecke schloss die zahlreichen dort entstandenen Industriebetriebe mittels vier neuer Haltestellen an das Straßenbahnnetz an. Sie knüpft bei der Banatim an das Bestandsnetz an und führt ab dort schnurgerade zur heutigen Piața General Gheorghe Domășnean. Hauptgrund für den Bau dieser Route waren das 1970 gegründete Unternehmen Intreprinderea de Aparate Electrice de Măsurat (I.A.E.M.) beziehungsweise später Aparate Electrice de Măsurat (A.E.M.) und das 1971 gegründete Unternehmen Electrotimiș. Die Bedienung der neuen Strecke übernahm die neu eingeführte Linie 8. Sie verkehrte zunächst nur als provisorische Pendellinie mit einem Dreiwagenzug im Zweirichtungsbetrieb zwischen der neuen Endstation und Banatim, wo zur Linie 6 umgestiegen werden konnte. Am 19. September 1973 nahm sie schließlich den Vollbetrieb auf und verbindet seither im Einrichtungsbetrieb – auf bis heute unveränderter Strecke – die Calea Buziașului mit dem Gara de Nord. Als Besonderheit ist die Wendeschleife am Streckenende in den dortigen Kreisverkehr integriert.
Kurzzeitige Wiedereinführung des Ringverkehrs auf der Linie 7 (1974)
Im Sommer 1974 mutierte die Linie 7 – nach über viereinhalb Jahren im Pendelverkehr – wieder zu einer Ringlinie. Im Unterschied zur alten Route der Jahre 1959 bis 1969 war ihre neue Strecke über den Bulevardul Regele Carol I mit 8,4 Kilometern jedoch um etwas über einen Kilometer länger. Zudem wählte die Straßenbahngesellschaft als nominelle Endstelle jetzt die Haltestelle Bulevardul Dâmbovița aus, die sich unmittelbar neben dem zwischenzeitlich eröffneten neuen Depot befindet. Zunächst verkehrte die Linie 7 ab Mitte Juli 1974 ausschließlich im Uhrzeigersinn, bevor sie am 29. Juli 1974 schließlich den Vollbetrieb in beiden Richtungen aufnahm. Je Fahrtrichtung verkehrte alle acht Minuten ein Zug, wofür zehn Kurse erforderlich waren. Im Gegenzug entfiel damals die 1972 eingeführte Linie 7 barat wieder.
Jedoch bewährte sich auch dieses neue Betriebskonzept nicht, schon zum 26. September 1974 kehrte die Straßenbahngesellschaft daher wieder zum Pendelverkehr auf der Linie 7 zurück. Allerdings führte sie die Linie 7 barat nicht wieder ein, das heißt die Linie 7 bediente fortan – wie schon einmal vorübergehend im Jahr 1972 – die Strecke Bulevardul Iuliu Maniu–Piața Nicolae Bălcescu.
Neubaustrecke zur Strada Matei Basarab (1974)
Ab dem 12. September 1974 erhielt die Linie 4 in der Mehala eine neue Streckenführung. Aus der Inneren Stadt kommend bediente sie fortan ab der Haltestelle Bulevardul Cetății eine etwa 850 Meter lange zweigleisige Neubaustrecke. In deren Verlauf lagen die beiden neuen Haltestellen Strada Amforei und Strada Matei Basarab. Damit erhielt auch das damals im Aufbau befindliche Neubaugebiet Circumvalațiunii III, heute als Zona Bucoviniei beziehungsweise Zona Bucovina bezeichnet, seinen Anschluss an das Straßenbahnnetz. Die vorübergehende Endhaltestelle Strada Matei Basarab hatte jedoch nur einen provisorischen Charakter, die Züge wendeten dort an einem stumpfen Gleiswechsel. Auf der Linie 4 konnten daher auch weiterhin nur Zweirichtungswagen eingesetzt werden, jedoch machte die Neubaustrecke fortan den Einsatz von echten Zweirichtungsfahrzeugen mit beidseitigen Türen erforderlich. Die zuvor auf der Linie 4 teilweise eingesetzten Zweirichtungszüge mit einseitigen Türen konnten nicht mehr verwendet werden. Der etwa 450 Meter lange Streckenabschnitt Bulevardul Cetății–Piața Avram Iancu wurde damals nach fast 51 Betriebsjahren stillgelegt. Als Ersatz diente der Trolleybus, der bereits seit 1970 dort verkehrte.
Einführung des schaffnerlosen Betriebs (1974)
Nachdem die Trolleybusse in Timișoara bereits seit den 1960er Jahren schaffnerlos fuhren, die Fahrgäste mussten ihr Fahrgeld hierbei per Zahlbox beim Fahrer entrichten, führte der zunehmende Rationalisierungdruck in den 1970er Jahren auch bei der Straßenbahn zur Einführung des Einmannbetriebs. Ein erster Versuch mit schaffnerlosen Wagen fand dabei schon ab dem 27. September 1971 statt. Es handelte sich hierbei um einige Dreiwagenzüge auf den Linien 2 und 6, bei denen das jeweils erste Fahrzeug ausschließlich Zeitkarteninhabern vorbehalten war. Hierdurch wurde zumindest einer von drei Schaffnern eingespart.
Die vollständige Selbstabfertigung durch die Fahrgäste, rumänisch als autotaxare oder autoservire bezeichnet, führte die Straßenbahngesellschaft schließlich ab dem 1. Dezember 1974 auf den Nebenlinien 3 und 5 ein. Am 6. März 1975 folgte die Nebenlinie 7, bevor ab dem 1. Oktober 1975 letztlich alle Linien schaffnerlos fuhren. Fahrkarten sind seither im Vorverkauf zu erwerben. Verkaufsstellen existieren jedoch nur an wenigen stark frequentierten Haltestellen. Die Straßenbahnen erhielten damals fünf neunfeldrige Lochentwerter je Wagen, jedem Fahrzeug war ein bestimmtes Entwertungsmuster mit jeweils drei gelochten Feldern zugeordnet. Erstmals seit vielen Jahrzehnten gingen die Fahrgastzahlen ab 1975 wieder etwas zurück, was jedoch mit der zunehmenden Zahl von Schwarzfahrern in Zusammenhang gebracht wurde.
Timișoara war dabei der landesweit erste Straßenbahnbetrieb der dauerhaft ohne Schaffner auskam, zuvor gab es lediglich einen vorübergehenden Versuch auf der Bukarester Linie 5 in den Jahren 1965 und 1966.
Verbesserte Anbindung des Cartierul Dâmbovița (1975)
Ab dem 27. April 1975 baute die Straßenbahngesellschaft schließlich auch die knapp einen Kilometer lange Strecke der Nebenlinien 3 und 7 zwischen dem Bulevardul Iuliu Maniu und dem Bulevardul Dâmbovița zweigleisig aus, um die Hauptlinie 2 bis zur gleichnamigen Endstelle verlängern zu können. Mit Beginn der Bauarbeiten verkürzte das Unternehmen zunächst die Linie 7 auf den Abschnitt Piața Nicolae Bălcescu–Bulevardul Dâmbovița. Mit Beendigung der Baumaßnahmen am 21. August 1975 erhielt das Neubaugebiet Cartierul Dâmbovița schließlich durch die Linie 2 eine häufig verkehrende Direktverbindung mit der Inneren Stadt und der Fabrikstadt. Die verlängerte Linie 2 und die gleichzeitig auf den Abschnitt Bulevardul Dâmbovița–Freidorf verkürzte Linie 3 wendeten fortan in einer neuen Wendeschleife, die an das neue Depot Nummer 2 angrenzte. Die vormalige Stumpfendstelle der Linie 3 in der Strada Ioszef Preyer musste hingegen aufgegeben werden, weil die dort wendenden Kurse sonst die Züge der Linie 2 behindert hätten. Die dortige Wendeschleife wiederum blieb vorerst erhalten, war aber fortan ohne planmäßigen Verkehr.
Umbau der Verzweigung Balta Verde und erster Inselbetrieb (1975)
Als nächste Stufe des Ausbaus der Strecke in die Mehala erfolgte im Sommer 1975 der zweigleisige Ausbau der Verzweigung Balta Verde. Dabei wurden auch die ersten 100 Meter der Strecke in die Ronaț, das heißt bis zur Einmündung der Strada Ion Pop-Reteganul, doppelspurig ausgeführt. Dort können sich seither die Züge der Linie 5 begegnen, ohne den Verkehr auf der Hauptstrecke in die Mehala zu behindern. Im Gegenzug entfiel damals die benachbarte Ausweiche zwischen der Strada Banul Mărăcine und der Strada Zalău. Diese Maßnahme hatte zur Folge, dass die Linie 4 zwischen dem 16. Mai und dem 8. August 1975 nur zwischen der Strada Matei Basarab und der Baustelle an der Haltestelle Balta Verde pendeln konnte. Sie hatte somit keine Verbindung mit einem der beiden Depots, dies war der erste Inselbetrieb in der Geschichte der Straßenbahn Timișoara überhaupt.
Wiedereinführung der Verstärkerlinie 6 barat (1976)
Nachdem sich der Berufsverkehr von und zur U.M.T. in der ersten Hälfte der 1970er Jahre weitgehend normalisiert hatte, stellte ab Mitte der 1970er Jahre die Anbindung des damals stark prosperierenden Industriegebiets entlang der Calea Buziașului die Straßenbahngesellschaft vor neue Herausforderungen. Die 1973 eingeführte Linie 8 konnte die Nachfrage damals bereits nicht mehr allein bewältigen. Da ferner in den Jahren 1975 bis 1977 auch die Linie 6 sukzessive auf die neuen Timiș 2-Großraumzüge mit hohem Fassungsvermögen umgestellt wurde, verloren parallel dazu die 1961 eingeführten Verstärkerkurse auf dieser Route an Bedeutung. Daher nutzte die – seit 1973 als Întreprinderea de Transport și Construcții Vagoane de Tramvai Timișoara, kurz I.T.C.V.T.T. firmierende – Gesellschaft Anfang 1976 die Gelegenheit, diese Zusatzfahrten in eine eigenständige Verstärkerlinie mit der Bezeichnung 6 barat umzuwandeln. Damit wurde dieses Liniensignal zum zweiten Mal nach 1965 eingeführt. Die neue Linie verkehrte ab dem 19. Januar 1976 auf der Strecke Piața General Gheorghe Domășnean – Banatim – Piața Libertații – Piața Sfânta Maria – Piața Nicolae Bălcescu – Banatim – Piața General Gheorghe Domășnean. Damit erhielt, zumindest in den Hauptverkehrszeiten, auch die Innere Stadt ihre Direktverbindung mit der neuen Industriezone im Süden Timișoaras.
Zweigleisiger Ausbau zwischen Piața Libertații und Balta Verde (1976)
Ab dem 29. Januar 1976 baute die Straßenbahngesellschaft schließlich auch den Streckenabschnitt Piața Libertații–Balta Verde zweigleisig aus, wobei er für die nächsten sieben Monate komplett gesperrt war. Die Folge war eine erneute Netzteilung. Für die Dauer der Baumaßnahmen war die Linie 4 eingestellt während die Linie 5 nur zwischen Balta Verde und Strada Războieni verkehrte. Den Schienenersatzverkehr übernahm eine vorübergehend eingerichtete Autobuslinie 24.
Erweiterung der Linie 4 zur Durchmesserlinie (1976)
Am 1. September 1976 ging, zeitgleich mit der Wiederinbetriebnahme des Abschnitts Piața Libertații–Balta Verde, die Neubaustrecke zwischen der zwei Jahre zuvor eröffneten provisorischen Endstelle Strada Matei Basarab und der neuen Wendeschleife an der Calea Torontalului in Betrieb. Damit erhielt auch das jüngste und nördlichste Mehalaer Neubaugebiet Circumvalațiunii IV, heute als Zona Matei Basarab beziehungsweise Zona Torontalului bekannt, seinen Straßenbahnanschluss. Dieser Abschnitt der Linie 4 ist circa 300 Meter lang und aus Platzgründen eingleisig ausgeführt – auch die beiden Bahnsteige der Endhaltestelle liegen im eingleisigen Bereich. Die Strecke verlief ursprünglich stadtauswärts betrachtet am linken Straßenrand, erst Mitte der 1980er Jahre erhielt sie ihre heutige mittige Trassierung zwischen den beiden Richtungsfahrbahnen des Bulevardul Cetăţii. Die Wendeschleife in der Mehala ist ferner die einzige in Timișoara, welche im Uhrzeigersinn befahren wird. Im Schleifeninneren steht außerdem ein Stumpfgleis zur Verfügung. Gleichzeitig konnte auch der zweigleisige Ausbau des Abschnitts Piața Libertății–Balta Verde vollendet werden, der am 29. Januar 1976 begonnen hatte.
Die neue Endstation an der Calea Torontalului sowie die jetzt durchgehend zweigleisige Bestandsstrecke in die Mehala ermöglichten es der I.T.C.V.T.T. schließlich auch die Linie 4 von einer Radiallinie zu einer Durchmesserlinie zu erweitern. Dadurch mutierte auch diese zu einer wichtigen Hauptlinie und verkehrte fortan über die Piața Libertății hinaus bis zur Piața General Gheorghe Domășnean – auf letzterem Streckenabschnitt ergänzte sie dabei die Linie 8 und die wenige Monate zuvor eingeführte Linie 6 barat.
Anlässlich ihrer Verlängerung wurde die Linie 4 außerdem auf Einrichtungsbetrieb umgestellt und fortan von Electroputere-V954-Triebwagen bedient. Diese Altbauwagen durften aber aufgrund ihrer Geräuschentwicklung nicht mehr die zentrale Innenstadtstrecke an der Präfektur vorbei befahren. Deshalb musste die Linie 4 zunächst via Piața Sfânta Maria verkehren, hierzu nutzte sie das bereits 1975 neu entstandene Gleisdreieck auf der Piața Libertății, welches die bisherige diagonale Querung ersetzte. Nachdem aber die vom Gara de Est kommenden Fahrgäste dringend auch eine Direktverbindung zwischen der Piața Traian und der Piața General Gheorghe Domășnean forderten, verkehrte die Linie 4 schon ab dem 12. Dezember 1976 – ungeachtet der oben genannten Vorgabe – über die Fabrikstadt statt über die Elisabethstadt.
Die gleichzeitige Einführung einer neuen Verstärkerlinie 4 barat zwischen Calea Torontalului und U.M.T. ermöglichte ebenfalls ab dem 1. September 1976 eine Direktverbindung zwischen den neuen Wohngebieten im Westen und dem größten Arbeitgeber der Stadt. Sie verkehrte wiederum nur zur morgendlichen Hauptverkehrszeit und bediente die große Schleife in der Fabrikstadt – wie schon die frühere Verstärkerlinie 6 barat von 1965 – im Uhrzeigersinn. Außerdem konnte ab dem gleichen Tag auch die Linie 5 – nach über sieben Jahren Unterbrechung – wieder zur Piața Libertății geführt werden. Dort endete sie fortan auf dem Gleis, welches von 1923 bis 1959 als Umsetzgleis diente und 1976 – jetzt als Stumpfgleis – reaktiviert wurde. Allerdings benötigte jetzt auch die Linie 5 echte Zweirichtungswagen mit beidseitigen Einstiegen, womit nach fünf Jahren auch der Einsatz des einzelnen Dreiwagenzugs in die Ronaț endete.
Modernisierung der Freidorfer Strecke (1976–1978)
Der geplante Aufbau des Chemiekombinats Combinatul Petrochimic Solventul am Freidorfer Ortsrand sorgte in den Jahren 1976 bis 1978 auch für die Modernisierung der Linie 3, wenngleich sich der Betrieb letztlich neben der Spiritusfabrik in der Josefstadt ansiedelte. Sie wurde in dieser Zeit auf gesamter Länge im Schienenersatzverkehr durch die eigens hierfür eingerichtete Autobuslinie 31 bedient. Damals baute die Straßenbahngesellschaft deren Strecke bis zur Haltestelle Liceul Auto am Freidorfer Ortseingang zweigleisig aus. Die Freidorfer Ortsdurchfahrt selbst blieb, abgesehen von der bestehenden Ausweiche an der Strada Constantin Nottara, weiterhin eingleisig. In Freidorf ging außerdem eine Wendeschleife mit integriertem Abstellgleis in Betrieb, wodurch sich die Strecke um circa 150 Meter verlängerte. Die Endhaltestelle selbst verblieb jedoch an der Einmündung der Strada Răscoala din 1907. Um die Linie 3 an ihrem anderen Ende zum Josefstädter Bahnhof durchbinden zu können, entstand in jenen Jahren außerdem eine Verbindungskurve zwischen dem Bulevardul Regele Carol I und der Strada General Ion Dragalina. Mit Beendigung der Bauarbeiten am 13. März 1978 erhielten somit auch Freidorf und das Cartierul Dâmbovița eine Direktverbindung mit dem wichtigsten Bahnhof der Stadt. Außerdem konnte die Linie 3 fortan ebenfalls mit Einrichtungswagen betrieben werden. Damit endete – sechs Jahre nach seiner Einführung – auch der Einsatz des einzelnen Dreiwagenzugs auf der Linie 3. Im Gegenzug verkehrten ab 1978 auch nach Freidorf zusätzliche Verstärkerzüge in den Hauptverkehrszeiten.
Umbau der Unterführung in der Strada Coriolan Brediceanu (1977–1978)
Nachdem im Laufe des Jahres 1977 auch die Linie 6 – als dritte Linie des Netzes – vollständig auf die modernen Timiș 2-Züge umgestellt werden konnte, stand als nächstes die Linie 4 an. Auf ihr konnten die modernen Wagen jedoch damals noch nicht eingesetzt werden, weil die aus dem Jahr 1902 stammende Eisenbahnunterführung im Zuge der Strada Coriolan Brediceanu für deren Einholmstromabnehmer zu niedrig gewesen wäre. Im Gegensatz dazu bereiteten die Scherenstromabnehmer der Altbauwagen dort keine Schwierigkeiten. Zudem bestand dort seit 1976 ein eingleisiges Nadelöhr. Um das Problem zu lösen, nahm die Straßenbahngesellschaft daher ab dem 17. Oktober 1977 den Neubau einer zweigleisigen Eigentrasse neben der bisherigen, gemeinsam von Straßenverkehr und Straßenbahn genutzten, Unterführung in Angriff. Hierzu musste auch das Eisenbahnviadukt entsprechend verlängert werden. Während der Bauarbeiten kam es dabei zu einer vorübergehenden Netzteilung. Die Linien 4 und 5 endeten aus Richtung Balta Verde kommend kurz vor dem Viadukt und hatten somit vorübergehend keine Verbindung zu einem der beiden Depots. Die Linie 4 barat wiederum pendelte zwischen der anderen Seite des Viadukts und der Piața Libertății und stellte somit die Verbindung mit den übrigen Linien her. Als Ersatz für die verkürzte Linie 4 verkehrte außerdem temporär eine Linie 2 barat auf der Strecke Bulevardul Iuliu Maniu–Piața Libertății–Piața General Gheorghe Domășnean.
Preiserhöhung von 1978 und umfangreiche Linienänderungen
Nach Beendigung der Bauarbeiten an der Eisenbahnunterführung in der Strada Coriolan Brediceanu konnte der durchgehende Straßenbahnverkehr in die Mehala am 1. Juni 1978 wieder aufgenommen werden. Die Linien 4 und 5 erhielten ihre regulären Linienwege zurück, die temporären Linien 2 barat und 4 barat wurden nicht mehr benötigt. Damit entfiel nach 22 Betriebsjahren auch die verkehrsungünstig gelegene Wendeschleife auf dem Bulevardul Iuliu Maniu endgültig, sie lag mitten auf der stark befahrenen Kreuzung und wich dem vierspurigen Ausbau des genannten Boulevards.
Außerdem entfiel ab dem 1. Juni 1978 – nach nur etwas über zwei Betriebsjahren – die Linie 6 barat als eigenständige Linie. Ursächlich hierfür war die Tatsache, dass fortan auch die Linie 4 mit den kapazitätsstarken Timiș 2-Zügen bedient werden konnte. Damit bestand im Verkehr von und zur Calea Buziașului auch mit nur zwei Linien ein ausreichendes Angebot. Daraufhin verkehrten die vorübergehend auf der Linie 6 barat eingesetzten Wagen ab Frühjahr 1978 wieder als Verstärkerkurse in den Hauptverkehrszeiten auf der regulären Ringstrecke der Linie 6.
Ebenfalls zum 1. Juni 1978 erhöhte die damalige Întreprinderea de Transport în Comun Timișoara außerdem die Fahrpreise vergleichsweise stark, so stieg beispielsweise der Preis für eine Einzelfahrt mit der Straßenbahn um 30 Prozent von 0,50 auf 0,65 Lei. Vor allem aber führte sie damals getrennte Tarife für Straßenbahn (rote Fahrscheine), Trolleybus (grüne Fahrscheine) und Autobus (blaue Fahrscheine) ein. Hierbei kostete eine Trolleybusfahrt fortan 1,00 Lei und eine Autobusfahrt sogar 1,25 Lei, womit die Straßenbahn jetzt das günstigste der drei städtischen Verkehrsmittel war. Die – seinerzeit auch in anderen rumänischen Städten eingeführten – gestaffelten Fahrpreise für die drei Transportarten führten ferner dazu, dass die Fahrkarten nicht mehr flexibel verwendet werden konnten und insbesondere umsteigende Fahrgäste oft mehrere Fahrscheinsorten bereithalten mussten.
Ähnlich bei den Zeitkarten: Statt zwischen Monatskarten für zwei Linien zu 10,00 Lei, für vier Linien zu 20,00 Lei oder für alle Linien zu 30,00 Lei konnten die Fahrgäste nur noch zwischen Monatskarten für eine Linie zu 20,00 Lei oder für alle Linien zu 60,00 Lei wählen. Um die Auswirkungen der Tariferhöhung zumindest auf die zahlreichen Arbeiter und Angestellten der U.M.T. in Grenzen zu halten, galten Monatskarten für die Linie 1 fortan auch für die Linie 2 und umgekehrt. Andernfalls hätten die U.M.T.-Mitarbeiter ab Juni 1978 eine teure Monatskarte für alle Linien benötigt, um ihre Arbeitsstätte weiterhin flexibel mit beiden dort verkehrenden Linien erreichen und verlassen zu können – was zu einer Versechsfachung des Preises geführt hätte.
Aus diesem Grund wurde die bisherige Linie 2 – ebenfalls zum 1. Juni 1978 – in „1 rot“ (1 roșu) umbenannt, während die bisherige Linie 1 fortan zur besseren Unterscheidung „1 schwarz“ (1 negru) hieß. Umgangssprachlich sprach man meist von der roten 1 und der schwarzen 1. Die Beschilderung an den Haltestellentafeln sowie auf den Fahrzeugen selbst erfolgte entsprechend mit einer roten beziehungsweise einer schwarzen Ziffer auf weißem Grund. Auf schwarz-weißen Linienplänen waren hingegen die Kürzel 1R und 1N anzutreffen. Kurzzeitig wurden auch die alternativen Bezeichnungen Linie 1D („Dâmbovița“) und Linie 1G („Gara de Nord“) verwendet, so beispielsweise auf einem Stadtplan aus dem Jahr 1979. Ferner erhielt damals die zwei Jahre zuvor eingeführte Verstärkerlinie 4 barat das freigewordene Liniensignal 2.
Somit erhielten zum genannten Stichtag gleich sieben der damals elf Linien eine neue Strecke beziehungsweise eine neue Nummer, nur die Linien 3, 6, 7 und 8 blieben unverändert:
Die umfangreichen Änderungen veranlassten die Straßenbahngesellschaft auch bei den Timiș 2-Zügen vorübergehend Routentafeln hinter der Frontscheibe einzuführen, um deren Beachtung in der Tagespresse gebeten wurde.
Modernisierung der Linie 7 (1978–1980)
In den Jahren 1978 bis 1980 wurde auch die Linie 7 zwischen Piața Nicolae Bălcescu und Bulevardul Dâmbovița – und damit durchgehend – zweigleisig ausgebaut. Dabei verlor sie allerdings zwischen der Strada Lidia und der Strada Mureș ihre eigene Trasse am Straßenrand. Die in diesem Bereich sehr enge Strada Drubeta erforderte es, beide Richtungsgleise mittels Rillenschienen in die Fahrbahn zu integrieren. Baustellenbedingt verkehrte die Linie 7 von Juli 1978 an nur zwischen der Piața Nicolae Bălcescu und der Strada Frunzei. Damit konnten im Restabschnitt die – im Vorfeld des Gleisbaus notwendigen – Bauarbeiten am dortigen Sammelkanal beginnen. Anschließend folgte der Ausbau des Abschnitts Strada Izlaz–Strada Chisodei, womit die Linie 7 ab Februar 1979 nur noch zwischen der Piața Nicolae Bălcescu und der Strada Izlaz pendeln konnte. In einer dritten Bauphase ab März 1980 verkehrte die Linie dann wegen der weiter fortschreitenden Ausbauarbeiten vorübergehend zweigeteilt:
Linie 7: Piața Nicolae Bălcescu – Strada Mureș
Linie 7 barat: Bulevardul Dâmbovița – Strada Ivan Petrovici Pavlov
Erst im August 1980 endeten die Bauarbeiten. Infolgedessen mutierte die Linie 7 wiederholt zur Ringlinie via Piața Sfânta Maria, damit konnten außerdem auf dieser Route auch wieder Einrichtungswagen eingesetzt werden. Die Linie 5 war fortan die einzige Zweirichtungslinie in Timișoara. Mit der Umstellung der Linie 7 endete nach 14 Jahren auch der Zweirichtungsbetrieb mit einseitigen Türen endgültig.
Im Zeichen der Energiekrise (1980er Jahre)
In den 1980er Jahren, der Endphase der Ära Ceaușescu, war Rumänien von einer schweren Energiekrise betroffen. Diese wirkte sich auch vollumfänglich auf den Verkehrssektor aus. Weil Strom gespart werden musste, streckte die I.J.T.L. Timiș die Intervalle der Straßenbahn. Lange Wartezeiten und massiv überfüllte Züge waren die Folge, Menschentrauben an den Türen gehörten – wie in allen rumänischen Großstädten – zum Alltagsbild.
Parallel dazu führte die allgemeine Mangelwirtschaft zu permanenten Ersatzteilproblemen. Daraus resultierte eine hohe Ausfallquote, die wenigen einsatzbereiten Fahrzeuge wurden dafür umso stärker beansprucht. Dies galt insbesondere auch für die fabrikneuen, aber qualitativ minderwertigen Timiș 2-Garnituren. Kleinere Reparaturen mussten zurückgestellt werden, weil die Betriebsleitung jeden Wagen benötigte, dadurch verschlechterte sich der Zustand der Fahrzeuge oft noch weiter. Verbeulte, verrostete und mangelhaft lackierte Wagen waren an der Tagesordnung – im Winter minderten kaputte Heizungen den Fahrkomfort. Häufig blockierten havarierte Züge zudem den gesamten Straßenbahnverkehr eines Streckenabschnitts, starke Fahrplanabweichungen waren die Folge.
Weil auch Benzin in jener Epoche stark rationiert war, musste die Straßenbahn gleichzeitig zusätzliche Passagiere aufnehmen. Darunter sowohl Kraftfahrzeugbesitzer, die ihre Personenkraftwagen nicht nutzen konnten, als auch Fahrgäste der damals lediglich sporadisch verkehrenden beziehungsweise gänzlich eingestellten oder verkürzten Autobuslinien.
Weiter wirkte sich die Energiekrise auch auf den Zustand der Infrastruktur aus. Die Gleise wurden nur noch unzureichend gewartet und kaum noch ausgewechselt, Langsamfahrstellen und verlängerte Reisezeiten waren die Folge. Ebenso litten die eingesetzten Fahrzeuge unter dem schlechten Zustand der Gleise. Die Folge war eine stärkere Beanspruchung, dies wiederum verschärfte die oben beschriebenen Instandhaltungsprobleme weiter.
Zusätzlich verstärkte außerdem die Tarifreform vom Juni 1978 den oben erwähnten Verlagerungseffekt auf die Straßenbahn, die ja seither das günstigste Verkehrsmittel war. Allerdings näherten sich die Fahrpreise in Folge zwei weiterer Tarifänderungen in den frühen 1980er Jahren wieder etwas an:
Unabhängig davon gab das Unternehmen schon ab dem 1. Juni 1981 statt Einzelfahrkarten nur noch Mehrfahrtenkarten zu vier oder zehn Fahrten aus, ein Mengenrabatt wurde jedoch nicht gewährt. Trotz der massiven wirtschaftlichen Probleme gelang es noch kurz vor der politischen Wende des Jahres 1989 gleich vier Neubaustrecken in Betrieb zu nehmen.
Bereits ab dem 28. August 1979 war der Straßenbahnverkehr in der Fabrikstadt unterbrochen, weil damals der Neubau des Podul Mihai Viteazul begann. Die Linien 1 schwarz, 1 rot und 2 verkehrten deshalb ab Piața Traian via U.M.T. zur Piața General Virgil Economu, wo ihnen eine provisorische Wendeschleife zur Verfügung stand, und von dort auf gleichem Weg wieder zurück. Zwischen Piața Traian und Piața Sarmisegetuza wiederum pendelte ein Doppeltriebwagen, so dass nur die Haltestelle Strada Laleleor gar nicht bedient werden konnte. Dieser Zustand dauerte bis zum 23. Dezember 1981 an, ab jenem Tag konnten die drei betroffenen Linien die neue Brücke befahren und wieder auf ihre angestammten Routen zurückkehren.
Am 18. Juni 1986 begannen in der Ronaț umfangreiche Straßen- und Kanalbauarbeiten, weshalb die dorthin führende Strecke an jenem Tag zunächst um circa 200 Meter bis zur heutigen Haltestelle Strada Adam Müller-Guttenbrunn verkürzt werden musste, die damals noch – nach der benachbarten Parallelstraße – Strada Belgrad hieß. Der zunehmende Baufortschritt führte schließlich Anfang 1988 zur vorübergehenden Einstellung der gesamten Linie 5. Damit endete die Ära der zweiachsigen Altbauwagen bei der Straßenbahn Timișoara, außerdem gibt es seither keine Zweirichtungslinien mehr.
Auch in der Fabrikstadt war der Straßenbahnverkehr ab dem 14. Februar 1988 über mehrere Monate hinweg beeinträchtigt, dort wurde der alte Podul Dacilor von 1909 abgerissen und durch eine Stahlbetonbrücke ersetzt. Infolgedessen verkehrten die Linien „1 schwarz“ und „1 rot“ aus der Inneren Stadt kommend beide ab Piața Traian via U.M.T. bis Gara de Est und von dort aus auf gleicher Strecke wieder zurück. Auch die ein- und ausrückenden Kurse des Betriebshofs 1 mussten den Umweg über U.M.T. nehmen. Am Ostbahnhof entstand damals für die drei genannten Linien eine – zunächst nur aus östlicher Richtung nutzbare – Wendeschleife. Diese blieb auch nach Fertigstellung der neuen Brücke als Betriebsschleife erhalten. Seit ihrem Umbau Mitte der 2000er Jahre kann sie zudem aus beiden Richtungen kommend angefahren werden.
Verlängerung bis Ciarda Roșie (1987)
Als erste Neubaumaßnahme seit 1976 verlängerte die I.J.T.L. Timiș am 4. November 1987 die Linie 4 über die Piața General Gheorghe Domășnean hinaus um circa 800 Meter in den Stadtbezirk Ciarda Roșie hinein, die neue Endstelle heißt ebenfalls so. Die Trasse folgt der Bezirksstraße DJ592 Richtung Buziaș linksseitig auf einem eigenen Gleiskörper, die Wendeschleife verfügt über ein mittiges Abstellgleis. Außerdem entstanden damals zwei neue Zwischenhaltestellen. Diese hießen ursprünglich Electrotimiș – woraufhin die vormalige Endhaltestelle Electrotimiș in I.A.E.M. umbenannt wurde – und I.O.T. Letzteres Unternehmen, I.O.T steht für Întreprinderea Optica Timișoara, war letztlich auch der Hauptgrund für die Erweiterung. Nicht zuletzt deshalb waren in den 1990er Jahren die bis Ciarda Roșie verkehrenden Straßenbahnen teilweise mit I.O.T. beschildert.
Gleichzeitig mit der Verlängerung benannte die Straßenbahngesellschaft damals die – nur in der morgendlichen Hauptverkehrszeit angebotene – Verstärkerlinie 2 in Linie „4 rot“ (4 roșu) um. Diese verkehrte außerdem von der Calea Torontalului kommend fortan nicht mehr zur U.M.T., sondern ergänzte bis Piața General Gheorghe Domășnean die verlängerte Linie 4. Letztere wurde fortan zur besseren Abgrenzung auch als „4 schwarz“ (4 negru) bezeichnet, damit existierten in Timișoara vorübergehend zwei Liniensignale mit farblicher Differenzierung. Wie bereits bei der Linie 1 konnten die Fahrgäste mit einem Abonnement für die Linie 4 nun ebenfalls beide Farbvarianten benutzen. Zudem verkehrte die Linie 4 rot, im Gegensatz zur Linie 2, auch in der nachmittäglichen Spitzenzeit.
Verlängerung zur Zuckerfabrik und zum Schlachthof (1988)
Am 21. März 1988 erfolgte die Erweiterung der Linie 3 über Freidorf hinaus und an der Zuckerfabrik vorbei bis zur neuen Endstelle Abator, zeitweise auch Platforma Industrială I.M.A.I.A. genannt. Der Probebetrieb dorthin begann schon am 11. Januar 1988. Ermöglicht wurde diese Maßnahme durch den Neubau der Brücke im Zuge der Bezirksstraße DJ591 nach Cenei, die seither niveaufrei die Bahnstrecke nach Cruceni überquert. Erstmals überhaupt überquerte die Straßenbahn Timișoara damit eine Eisenbahntrasse. Außerdem entstanden damals die beiden neuen Zwischenhaltestellen Strada Polonă und Fabrica de Zahăr, erstere lag dabei direkt auf der genannten Brücke. Um sie überhaupt anlegen zu können, musste die Straßenbahn auf der Brücke am Straßenrand statt in der Straßenmitte trassiert werden. Der überwiegend zweigleisige Neubauabschnitt war 1550 Meter lang und endete mit einer Schleife inklusive Abstellgleis. Kurz vor der Endhaltestelle bestand ein circa 100 Meter langes eingleisiges Streckenstück. Die alte Freidorfer Wendeschleife blieb weiterhin an das Gleisnetz angeschlossen, war aber fortan ohne Betrieb.
Umwandlung des Bulevardul 30 Decembrie in eine Fußgängerzone (1989)
In den Jahren 1988 und 1989 wandelte die Stadtverwaltung die heutige Piața Victoriei – damals noch Bulevardul 30 Decembrie genannt – und die enge Strada Alba Iulia in reine Fußgängerzonen um. Nach dem Individualverkehr musste deshalb in der ersten Hälfte des Jahres 1989 auch die Straßenbahn weichen, der stillgelegte Abschnitt zwischen der Kathedrale und der Piața Libertății war insgesamt 600 Meter lang. Ersatzweise errichtete der Verkehrsbetrieb für die Linien 1 schwarz, 1 rot und 6 eine 650 Meter lange Neubaustrecke am westlichen Rand der Inneren Stadt, am 22. Juni 1989 war diese bereits in Betrieb. Die Bahnen verkehren seither von der Josefstadt kommend durch den Bulevardul Regele Ferdinand, am Piaristengymnasium vorbei, um schließlich durch die Strada Dr. Iosif Nemoianu die Bestandsstrecke der Linien 4 und 5 in der Strada Coriolan Brediceanu zu erreichen. Die dortige Einmündung war von Beginn an als Gleisdreieck ausgeführt. Bevor die Straßenbahn durch die Strada Dr. Iosif Nemoianu fahren konnte, musste allerdings noch die 1979 dort eingerichtete Trolleybusstrecke in die parallel verlaufende Strada Sfântul Ioan verlegt werden.
Durch die neue Streckenführung verlängerten sich die drei betroffenen Linien um circa 500 Meter je Fahrtrichtung. Außerdem bedienen sie seither zusätzlich die Piața Timișoara 700, im Gegenzug verlor die Piața Libertății ihre Funktion als traditioneller Umsteigeknoten in der Inneren Stadt. Statt der zentralen Haltestelle auf dem Bulevardul 30 Decembrie entstand circa 200 Meter südlich die neue Haltestelle Catedrala Mitropolitană.
Die neue Tangentiallinie 9 (1989)
Ebenfalls noch im Laufe des Jahres 1989 eröffnete die I.J.T.L. Timiș schließlich im Süden der Stadt eine 2,8 Kilometer lange Querverbindung zwischen der Strada Drubeta und der Piața General Gheorghe Domășnean. Sie verläuft durchgängig auf einem eigenen Gleiskörper und wird von der damals neu eingeführten Tangentiallinie 9 bedient. Diese verkehrte über die Neubaustrecke hinaus zunächst ergänzend zur Linie 7 via Fratelia bis zum Bulevardul Dâmbovița. Im Bereich der Neubaustrecke lagen die vier neuen Haltestellen Strada Salcâmilor, Calea Girocului (heute Calea Martirilor 1989), Spitalul Județean und Bulevardul Sudului.
Nach der Revolution (1990–1995)
Die Rumänische Revolution vom Dezember 1989 – die in Timișoara ihren Ausgang nahm – hatte auch auf die Straßenbahn Timișoara bedeutende Auswirkungen. Neben direkten Einflüssen – Straßenbahnwagen wurden als Barrikaden verwendet und auf der Piața Libertății ging der dortige Fahrkartenkiosk in Flammen auf – waren diese vor allem wirtschaftlicher Natur. Außerdem änderte die Straßenbahngesellschaft wiederum ihre Bezeichnung. Sie firmierte zunächst ab September 1990 vorübergehend unter Întreprinderea de Transport Local Timișoara (I.T.L.), bevor sie zum 1. Januar 1991 die neue Bezeichnung Regia Autonomă de Transport Timișoara (R.A.T.T.) bekam.
Wie überall in den ehemals realsozialistischen Staaten Mittelosteuropas gingen die Fahrgastzahlen nach dem Umbruch stark zurück. Ursächlich hierfür war in erster Linie die Schließung beziehungsweise Verkleinerung zahlreicher Kombinate und sonstiger Großbetriebe. Parallel dazu stieg der motorisierte Individualverkehr stark an, nicht zuletzt weil jetzt Gebrauchtwagen aus Westeuropa erhältlich waren. Damit gehörten auch die überfüllten Straßenbahnzüge der 1980er Jahre der Vergangenheit an. Weitere Probleme waren die starke Inflation jener Jahre, die hohe Schwarzfahrerquote sowie die Tatsache, dass ab 1990 in Rumänien – trotz des großen Erneuerungsbedarfs – keine fabrikneuen Straßenbahnen mehr produziert wurden. Ferner stellte die Straßenbahn nach der Wende wieder verstärkt Männer als Straßenbahnfahrer ein, während dies in den 1980er Jahren – von wenigen Ausnahmen abgesehen – noch eine reine Frauendomäne war.
Aufgrund von Sparmaßnahmen mussten die Linien 6 und 7 ab dem 28. Juni 1990 sogar komplett eingestellt werden. Zwar waren fast alle von ihnen bedienten Haltestellen durch andere Linien abgedeckt, doch war der Abschnitt Strada Drubeta–Piața Nicolae Bălcescu – und damit auch die Zwischenhaltestelle Strada Memorandului – damals ganz ohne Straßenbahnverkehr. Erst am 10. November 1990 ging die Linie 7 wieder in Betrieb, am 1. Dezember 1990 dann auch die Linie 6.
Ferner erhöhte das Unternehmen nach der Revolution – erstmals seit 1980 – auch wieder die Fahrpreise. Letztlich beendete die Hyperinflation jener Jahre auch die tarifliche Differenzierung zwischen den drei Verkehrsmitteln. Im Gegenzug waren – zum ersten Mal überhaupt in der Geschichte der Straßenbahn – ab dem 1. Dezember 1990 auch Tageskarten zu 10,00 Lei im Angebot. Sie galten bereits von Beginn an universell auf allen Linien des Unternehmens, rentierten sich dadurch anfangs tendenziell eher für Trolleybus- oder Autobusfahrten statt für die Straßenbahn. Nach dem Umsturz entwickelten sich die Preise wie folgt:
Auch äußerlich machte sich der Übergang von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft bemerkbar. Wie schon bis in die 1960er Jahre üblich, gab es ab 1991 wieder Außenwerbung auf Straßenbahnen. Darunter ab 1992 erstmals auch auffällige Ganzreklamen, sie warben für westliche Zigarettenmarken. Auch begann nach der Revolution eine zaghafte Modernisierung. So wurden ebenfalls 1991 – als Neuheit für Rumänien – an zahlreichen Haltestellen Flugdächer als Wetterschutz aufgestellt.
In der zweiten Hälfte des Jahres 1991 nahm die damalige R.A.T.T. den zweiten Bauabschnitt der Linie 9 im Verlauf des Bulevardul Dâmbovița in Betrieb. Die neue Strecke zwischen den Haltestellen Strada Transilvania und Strada Drubeta war 2,0 Kilometer lang und erschloss die drei neuen Haltestellen Calea Șagului, Strada Gheorghe Ranetti und Bulevardul Constantin Brâncoveanu – die provisorische Führung der Linie 9 über Fratelia konnte wieder aufgegeben werden. 22 Jahre nach Aufgabe der alten Trasse der Linie 7 durch die Calea Șagului war damit auch die Gegend um die Textilfabrik Artă Textilă wieder an das städtische Schienennetz angeschlossen. Unabhängig davon benannte das Unternehmen, ebenfalls in der zweiten Hälfte des Jahres 1991, die Linie „1 rot“ in Linie 2 zurück, nachdem das Liniensignal 2 seit 1987 wieder frei war.
Im Frühjahr 1992 ging schließlich – nach vier Jahren Unterbrechung und weiterhin eingleisig – auch die Strecke in die Ronaț wieder in Betrieb. Tatsächlich handelte es sich aber um einen Neubau, weil der früher mittig gelegene Schienenstrang um fünf Meter nach rechts rückte – wo zuvor der offene Abwasserkanal verlief – und somit der neuen befestigten Fahrbahn in Mittellage wich. Außerdem fährt die Straßenbahn seither über die frühere Endstation Strada Războieni hinaus bis zur heutigen Endhaltestelle Ronaț. Diese ebenfalls eingleisige Verlängerung ist circa 250 Meter lang, an ihrem Ende befindet sich eine Wendeschleife.
Weil zur Bedienung des Stumpfgleises auf der Piața Libertății keine Zweirichtungswagen mehr zur Verfügung standen, verkehrte die wiedereröffnete Linie 5 fortan als Durchmesserlinie über die Innere Stadt hinaus bis zur Piața General Gheorghe Domășnean. Sie ersetzte gleichzeitig die weitgehend parallel verlaufende Verstärkerlinie „4 rot“. Deren Wagen wurden zudem für die Linie 5 benötigt, weil damals keine neuen Straßenbahnen zur Verfügung standen. Die Strecke in die Ronaț besaß bei ihrer Wiedereröffnung noch zwei Ausweichen: eine mittlerweile aufgelassene an der Haltestelle Strada Alexandru Lăpușneanu und die bis heute bestehende an der Strada Madona. Die bis 1988 betriebene Ausweiche an der Strada Grigore Alexandrescu entfiel hingegen durch den Umbau.
Rekonstruktion der Gleisanlagen und weitere Innovationen (seit 1995)
1995 begann die damalige R.A.T.T. damit, die verschlissenen Gleisanlagen aus der sozialistischen Zeit mit finanzieller Unterstützung der Weltbank sukzessive auszutauschen. Beginnend in den Vorstädten und ab 2004 auch in der Inneren Stadt wurde Abschnitt für Abschnitt nach westlichen Standards total rekonstruiert. De facto handelt es sich um Neubauten mit Austausch des Unterbaus. Hierbei wurden modernste Bauverfahren wie das sogenannte Masse-Feder-System eingesetzt. Wichtigste Vorteile dieser Investitionen sind die Verbesserung der Betriebssicherheit, der gestiegene Fahrkomfort für die Passagiere, sowie die höhere Fahrgeschwindigkeit auf den hergerichteten Abschnitten und die damit verbundene Verkürzung der Reisezeiten.
Ergänzend dazu wurden auch die Unterwerke und Oberleitungsanlagen erneuert, zum Teil ersetzte die damalige R.A.T.T. dabei die Abspannung mittels Oberleitungsrosetten durch zwischen oder neben den Gleisen aufgestellte Oberleitungsmasten. Stellenweise installierte man sogar moderne Hochkettenfahrleitungen. Zusätzlich wurde auf einzelnen modernisierten Abschnitten eine Verkehrsberuhigung vorgenommen, zum Beispiel in der Strada Gheorghe Doja und in der Strada Ioszef Preyer. Rund um die Piața Traian installierte die Stadtverwaltung zum gleichen Zweck spezielle Schranken, sie öffnen sich nur für die Straßenbahn. Außerdem trennen in bestimmten engen Straßenzügen neue stählerne Absperrgitter die Gehwege vom Gleisbereich, so etwa in der Strada 9 Mai und der Strada Coriolan Brediceanu.
Für die Baumaßnahmen wurden die betreffenden Teilstrecken in der Regel total gesperrt, großräumige und langanhaltende Umleitungen waren die Folge. Manche Linien waren zeitweise ganz eingestellt. Nicht immer konnte Schienenersatzverkehr angeboten werden, denn meistens waren die betroffenen Straßenzüge auch für den Individualverkehr gesperrt.
In anderen Fällen bevorzugte die damalige R.A.T.T. eingleisige Provisorien. Teilweise setzte sie dabei, in Ermangelung von Zweirichtungswagen, Heck-an-Heck-gekuppelte Triebwagen im Pendelverkehr ein. Erstmals erfolgte dies ab dem 28. November 2004 auf der – zusätzlich zur regulären Linie 1 – eingerichteten Linie 1 barat, die bis zum 16. September 2005 zwischen Gara de Est und Stația Meteo pendelte. Zwischen Juni und August 2005 verkehrte schließlich auch die Linie 4 auf dem Teilabschnitt Ciarda Roșie–Piața Libertății mit solchen Gespannen. Von April 2006 bis Januar 2007 existierte schließlich zwischen Gara de Est und Bulevardul 3 August 1919 wiederholt eine Linie 1 barat mit Heck-an-Heck-gekuppelten Triebwagen. Zwischen Juni und Oktober 2004 bestand ferner – unter Nutzung eines Klettergleises –
eine provisorische Wendeschleife auf der Piața Romanilor, sie lag auf dem Vorplatz der Millenniumskirche. Bis heute umfasst die Generalsanierung folgende Abschnitte:
Seit 1992 fanden nur noch einige kleinere Neubaumaßnahmen beziehungsweise Trassenkorrekturen statt:
2001 wurden die Gleisanlagen auf der Piața Nicolae Bălcescu im Zuge der Renovierung zu einem Gleisdreieck erweitert. Seither sind direkte Betriebsfahrten zwischen der Strecke der Linien 6 und 8 durch die Strada 1 Decembrie 1918 und der Strecke der Linie 7 durch die Strada Independenției möglich.
2004/05 baute die damalige R.A.T.T. außerdem die Wendeschleife am Gara de Est so um, dass dort seither auch aus Richtung Piața Traian kommende Züge wenden können. Ferner wurde damals die Haltestelle Fabrica de Ciorapi aufgehoben und ausgleichend dafür die Haltestelle Piaţa Badea Cârţan ein Stück nach Norden verschoben.
2009 kam im Bereich der Strada Drubeta eine weitere Verbindungskurve hinzu, sie erlaubt direkte Fahrten aus Richtung Strada Transilvania in Richtung Piața Nicolae Bălcescu und umgekehrt.
Des Weiteren gestaltete man den Knoten am Beginn des Bulevardul Dâmboviţa um, unter anderem entstand dort eine neue Ausfahrt aus dem Betriebshof. Zuvor war dieser nur an die Strecke der Linie 3 angeschlossen.
Ferner wurden abschnittsweise Vignolgleise durch Rillenschienen ersetzt, etwa im Verlauf der Calea Bogdăneștilor oder der Strada Ioan Barac. Ebenso verschwanden fast alle verbliebenen zweigleisigen Abschnitte mit Trassierung in Seitenlage beziehungsweise mit einer Grünanlage zwischen den beiden Richtungsgleisen. So etwa auf der Piața Iosefin, wo stattdessen eine weitgeschwungene S-Kurve entstand.
Darüber hinaus installierte die damalige R.A.T.T. an einigen Haltestellen eine dynamische Fahrgastinformation. Eine weitere Innovation war die 2008 eingeführte bargeldlose Bezahlung. Sie basiert auf dem Prinzip der elektronischen Geldbörse, die konventionellen Entwerter werden seither durch entsprechende Lesegeräte ergänzt. Außerdem stattet die damalige R.A.T.T. ihr Fahrpersonal schon seit Mitte der 1990er Jahre mit einer einheitlichen Unternehmensbekleidung aus. Diese besteht aus einer grauen Hose, einem weißen Hemd, einer roten Krawatte und einem dunkelblauen Blazer – als Vorbild diente die entsprechende Dienstkleidung der Bremer Straßenbahn AG.
Zum 1. März 1998 erfolgte außerdem die Einführung elektronischer Entwerter, diese wurden gebraucht von der Bremer Straßenbahn AG erworben. Die alten Lochentwerter waren fortan überflüssig, die seither üblichen Vier- und Zehnfahrtenkarten ersetzte die Verkehrsgesellschaft aus technischen Gründen, das heißt aufgrund der Funktionsweise der neuen Entwerter, durch Zweifahrtenkarten.
Parallel zu den baustellenbedingten Routenanpassungen erfolgten seit Mitte der 1990er Jahre auch einige dauerhafte Linienänderungen. So erhielt beispielsweise die Linie 5 am 8. Januar 1997 eine neue Route. Statt der Strecke Piața Traian–Piața General Gheorghe Domășnean bediente sie fortan aus der Ronaț kommend einige Jahre lang die Fabrikstädter Schleife analog zur Linie 2 im Uhrzeigersinn. Um den Entfall der Linie 5 im genannten Abschnitt zu kompensieren, belebte die damalige R.A.T.T. die fünf Jahre zuvor eingestellte Verstärkerlinie 4 rot zwischen Calea Torontalului und Piața General Gheorghe Domășnean wieder, während die reguläre Linie 4 weiterhin alle zehn Minuten verkehrte. Jedoch sorgte das wiedereingeführte Liniensignal 4 rot bei den Fahrgästen für Verwirrung, insbesondere weil einige Fahrer ihre Wagen nicht korrekt beschilderten. Schon am 13. Januar 1997 benannte die damalige R.A.T.T. daher die Linie 4 rot in Linie 10 um. Nach 19 Jahren endete damit die farbliche Unterscheidung von Liniensignalen in Timișoara endgültig.
Am 1. Dezember 2000 führte die damalige R.A.T.T. eine neue Linie 11 ein, sie verband die Calea Torontalului mit dem Gara de Nord und ermöglichte fortan direkte Fahrmöglichkeiten zwischen der Josefstadt und der Mehala. Hierzu fand das bereits seit 1989 bestehende Gleisdreieck bei der Piața Timișoara 700 Verwendung. Eine weitere neue Route, die Linie 9 barat, verband ab dem 5. März 2007 den Bulevardul Dâmbovița mit Ciarda Roșie. Sie verkehrte allerdings nur Werktags und nur in den Hauptverkehrszeiten, im Einsatz war nur ein einziger Kurs. Ursprünglich handelte es sich hierbei um einen auf 30 Tage angelegten Versuchslauf, der sich aufgrund ausreichender Fahrgastzahlen letztlich bewährte.
Stagnation in Folge der weltweiten Finanzkrise ab 2007
Bedingt durch die Auswirkungen der weltweiten Finanzkrise ab 2007 geriet auch die weitere Modernisierung der Straßenbahn ins Stocken. 2009 endete die – insbesondere im Hinblick auf den schon damals geplanten Einsatz von Niederflurwagen erforderliche – Erneuerung des Netzes schlagartig. Damals waren noch folgende neun Abschnitte zu sanieren, für die im Dezember 2009 Gesamtkosten von 600 Millionen Rumänischen Lei (RON) ermittelt wurden:
Kanalisationsarbeiten entlang der Freidorfer Strecke führten am 21. Januar 2009 zur Verkürzung der Linie 3 auf den Abschnitt Gara de Nord–Bulevardul Dâmbovița. Aufgrund des schlechten Gleiszustands und der fehlenden finanziellen Mittel für die Modernisierung wurde die Strecke Bulevardul Dâmbovița–Abator nach Abschluss des Kanalbaus jedoch nicht mehr in Betrieb genommen, womit elf Straßenbahnhaltestellen endgültig entfielen. Stattdessen stellte die damalige R.A.T.T. die Linie 3 zum 16. November 2009 gänzlich auf Schienenersatzverkehr um. Die Autobusse der Linie 3 verkehren seither durchgehend von und zum Gara de Nord, der zwischen Januar und November 2009 erforderliche Umstieg am Bulevardul Dâmbovița entfiel. Von den übrigen Teilstrecken konnte bislang lediglich die Maßnahme Nummer 1 im Zuge der Strada Ștefan cel Mare umgesetzt werden, diesen Abschnitt zwischen Fabrica de Bere Timișoreana und Bantim sanierte die Straßenbahngesellschaft im Laufe des Jahres 2014.
Zum 1. Februar 2009 ließ die damalige R.A.T.T. außerdem die Verstärkerlinie 10 auf, gleichzeitig benannte das Unternehmen die ganztägig verkehrende Linie 11 in Linie 10 um.
Am 2. November 2009 erfolgte die vorübergehende Verlängerung der Linie 9 bis Ciarda Roșie, zunächst statt der Linie 4. Die 2007 eingeführte Linie 9 barat entfiel daraufhin. Schon ab Dezember gleichen Jahres verkehrte die Linie 9 allerdings nur noch an Werktagen bis Ciarda Roșie, an arbeitsfreien Tagen endete sie weiterhin an der Piața General Gheorghe Domășnean – während die Linie 4 zunächst mit bestimmten und schließlich ab März 2010 mit allen Kursen wieder auf ihrer alten Strecke fuhr. Die Differenzierung bei der Linie 9 stellte ein Novum für die Straßenbahn Timișoara dar, zuvor bedienten alle Linien unabhängig vom Wochentag stets die gleiche Strecke. Die Verlängerung bewährte sich nicht, schon ab Juni 2010 wendeten wieder alle Kurse der Linie 9 an der Piața General Gheorghe Domășnean. Die Linie 9 barat blieb trotzdem dauerhaft eingestellt.
Ab dem 1. März 2010 modifizierte die damalige R.A.T.T. die Linienführung der Linie 5 im Bereich Fabrikstadt nach 1997 ein weiteres Mal. Aus Richtung Ronaț kommend bog diese fortan an der Piața Traian rechts ab und erreichte über Banatim, Piața Nicolae Bălcescu und Piața Sfânta Maria wieder ihre Stammstrecke in die Ronaț. Im Gegenzug bediente die Ringlinie 6 ihre Strecke aus Rationalisierungsgründen vom 1. März 2010 an vorübergehend – alternierend zur Linie 5 – nur noch gegen den Uhrzeigersinn.
Am 1. Juli 2010 wurde die Linie 10 aufgelassen. Ausgleichend dazu verkehrte die Linie 6 ab diesem Zeitpunkt von und zur Calea Torontalului und war damit vorübergehend keine Ringlinie mehr. Weil die Linien 5 und 6 die Piața Timișoara 700 ab 2010 vorübergehend nur noch in jeweils einer Richtung bedienen konnten, richtete die damalige R.A.T.T. etwas weiter westlich, am Ende der Strada Dr. Iosif Nemoianu ersatzweise eine neue Haltestelle ein. Sie heißt Strada Coriolan Brediceanu/Piața Timișoara 700 und wird von den Linien 1 und 2 ohne Halt durchfahren. In der Strada Dr. Iosif Nemoianu entstand nur circa 100 Meter weiter südlich gleichzeitig eine weitere neue Station, die aber von allen dort verkehrenden Linien bedient wird. Sie befindet sich an der Einmündung der Strada Colonel Ion Enescu und heißt – nach der benachbarten Kinderklinik Louis Țurcanu – Spitalul de Copii. Außerdem erhielt die Linie 5 – ebenfalls 2010 – an der Strada Zalău eine neue Haltestelle.
Linienumstellung 2015
Im Januar 2015 modifizierte die damalige R.A.T.T. ihr Liniennetz erneut in größerem Umfang. Die Linie 6 erhielt damals die Streckenführung einer Acht und verkehrte vorübergehend auf der Route Calea Torontalului – Piața Sfânta Maria – Piața Nicolae Bălcescu – Piața Traian – Gara de Est – Stația Meteo – Piața Traian – Piața Libertății – Calea Torontalului. Die Linie 5 wiederum fuhr fortan aus Richtung Ronaț kommend – wie schon in den 1990er Jahren – ab der Piața Traian ebenfalls zur Stația Meteo, bediente die große Schleife in der Fabrikstadt allerdings gegen den Uhrzeigersinn. Die 2010 eingeführte Führung der Linie 5 über die Elisabethstadt entfiel somit wieder.
Jedoch führte dieses Linienkonzept zu Protesten in der Bevölkerung, weshalb die damalige R.A.T.T. schon zum 1. März 2015 die Linie 6 in Linie 10 umbenannte und gleichzeitig die alte Ringlinie 6 vorübergehend erneut einführte. Diese verkehrt fortan wieder in beiden Fahrtrichtungen, entsprechend ihrer traditionellen Route zwischen 1936 und 2010. Allerdings diente jetzt statt der Piața Traian die Piața Sfânta Maria als nominelle Endstelle, wo die aus dem Depot ausrückenden Kurse ihren regulären Linienweg erreichten beziehungsweise diesen beim Einrücken wieder verließen.
Linienumstellung 2016
Seit dem 1. Oktober 2016 ist die Linie 7 keine Ringlinie mehr und bedient nicht mehr den direkten Weg zwischen Bulevardul Dâmbovița und Piața Sfânta Maria. Stattdessen verkehrt sie jedoch seither zusätzlich auf dem Abschnitt Piața Sfânta Maria–Calea Torontalului und mutierte somit zur Durchmesserlinie. Um zumindest einen Teil der dadurch entfallenen Direktverbindungen zu ersetzen, verkehrt die Linie 9 seit dem 28. November 2011 aus Richtung Piața General Gheorghe Domășnean kommend über den Bulevardul Dâmbovița hinaus bis zum Gara de Nord.
Einstellung der Linien 5, 6 und 10 im Jahr 2017 und weitere Entwicklung
Wegen Personalmangels mussten im April 2017 zunächst die Linie 6 und im Juni 2017 schließlich auch die Linie 10 ersatzlos eingestellt werden, wobei die offizielle Einstellung der Linie 10 erst zum 2. September 2017 erfolgte. Aus dem gleichen Grund ersetzte die S.T.P.T. – ebenfalls zum 2. September 2017 – auch die Linie 5 durch Autobusse mit gleicher Liniennummer, wobei hier zusätzlich noch der schlechte Gleiszustand im Abschnitt Balta Verde–Ronaț eine Rolle spielte. Diese Strecke soll erst nach einer umfassenden Erneuerung samt zweigleisigem Ausbau und Verlängerung bis Bulevardul Dâmbovița wieder in Betrieb gehen. Allerdings ging zumindest die Linie 6 am 1. Juli 2018 wieder in Betrieb.
Seit dem 15. Juni 2019 fahren auch die Linien 8 und 9 über die Piața General Gheorghe Domășnean hinaus bis Ciarda Roșie. Am 15. Juni 2020 ging schließlich die kurze Neubaustrecke zwischen Piața Veteranilor und der Shopping City Timişoara – auch als City Mall bezeichnet – in Betrieb, die von der dorthin verlängerten Linie 2 bedient wird.
Derzeitige Linienführung
2020 verkehrte die Straßenbahn maximal zwischen 4:22 und 23:40 Uhr, Nachtverkehr findet – auch am Wochenende – nicht statt.
Mit Beiwagen betrieben werden nur die Linien 4, 8 und 9, auf den Linien 1, 2, 6 und 7 kommen hingegen ausschließlich Solowagen zum Einsatz.
Geplante Neubaustrecke nach Moșnița Nouă
Mittelfristig plant die Stadtverwaltung Timișoaras eine Straßenbahn-Neubaustrecke in die selbstständige Gemeinde Moșnița Nouă an der Bezirksstraße DJ592 nach Buziaș. Die circa sechs Kilometer lange Strecke soll – Stand 2011 – voraussichtlich 50 Millionen Euro kosten und von der Linie 8 bedient werden.
Umbenannte Haltestellen
Folgende Haltestellen erhielten im Laufe der Jahre neue Bezeichnungen:
Depots
Bulevardul Take Ionescu
Anlässlich der Elektrifizierung gab die Straßenbahngesellschaft 1899 ihr Pferdebahn-Depot an der Piața Aurel Vlaicu auf. Ersatzweise entstand – ebenfalls in der Fabrikstadt – eine neue Remise auf dem Grundstück Bulevardul Take Ionescu Nummer 56, westlich der heutigen Piața Badea Cârțan. Auch ihr neues Verwaltungsgebäude ließ das Unternehmen damals dort errichten. Damals war die Gegend dort noch weitgehend unbebaut, die Wagenhalle befand sich am Stadtrand. Das Depotgrundstück überließ die Stadt der Straßenbahngesellschaft zuvor kostenlos – wie seinerzeit schon das Gelände der ersten Pferdebahnremise. Die fünfgleisige Wagenhalle war auf eine Kapazität von 25 Wagen ausgelegt und wurde über eine kurze Betriebsstrecke im Zuge des Bulevardul Take Ionescu an die Linie III angebunden.
Für die im Zuge des fortschreitenden zweigleisigen Ausbaus neubeschafften Wagen musste das vorhandene Depot 1909 erweitert werden. Es entstand neben der bestehenden Wagenhalle eine zweite, ebenfalls fünfgleisige Remise – das heißt, das bestehende Depot wurde einmal gespiegelt. Der neue Depotteil war jedoch als Depot Nummer 2 organisatorisch von der bestehenden Anlage getrennt. Erstmals seit der Elektrifizierung konnten fortan alle vorhandenen Wagen überdacht abgestellt werden.
Am Abend des 30. Oktober 1920 kam es am Hauptsitz des Unternehmens gegen Mitternacht zu einem Großbrand, infolgedessen mussten die beiden Depots 1 und 2 neu aufgebaut werden. Sie erhielten damals ihre heutige Form.
Die Inbetriebnahme der Wagen vom Typ F (ab 1925) beziehungsweise FII (ab 1927) erforderte in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre eine abermalige Erweiterung der Abstellkapazitäten. Daher projektierte die Straßenbahngesellschaft 1925 – gegenüber den beiden bereits bestehenden hölzernen Wagenhallen von 1899 beziehungsweise 1909, das heißt auf der nördlichen Straßenseite – einen zusätzlichen Stahlbau auf dem 2169 Quadratmeter umfassenden Areal Bulevardul Take Ionescu Nummer 83. Dieser wurde ab 1926 errichtet und ging schließlich 1927 als Depot Nummer 3 in Betrieb, die neue sechsgleisige Remise bot Platz für 36 Wagen. In späteren Jahren waren dann vorübergehend auch die Autobusse (ab 1934) sowie die Trolleybusse (ab 1942) der Gesellschaft auf dem Gelände des Straßenbahndepots Nummer 3 untergebracht. Im Gegensatz dazu war der 1925 gebaute Sprengtriebwagen, der sich im Besitz der Stadt befand, nicht in einem der Straßenbahndepots, sondern in einem speziellen Lokschuppen auf dem benachbarten Gelände der städtischen Wasserver- und -entsorgung an der Strada Enric Baader stationiert.
In den Jahren 1964 bis 1966 fand eine umfangreiche Erweiterung des Depots Nummer 3 statt, als der Trolleybusbetrieb, der Autobusbetrieb sowie die städtische Wasserver- und -entsorgung jeweils neue Gelände an anderen Stellen in der Stadt zugewiesen bekamen. Damals entstanden elf neue Freiluft-Abstellgleise mit einer Gesamtlänge von 1000 Metern. Außerdem ging seinerzeit auch die für Rangierfahrten genutzte Wendeschleife auf dem Bulevardul Take Ionescu sowie die zweite Depotzufahrt durch die Strada Drăgășani in Betrieb. Beide Maßnahmen dienten dem flüssigeren Betriebsablauf. Denn mit Aufnahme des Berufsverkehrs zur U.M.T im Jahre 1961 hatte sich der tägliche Wagenauslauf innerhalb eines Jahres schlagartig von 55 auf 75 Kurse erhöht – womit das Depot an seiner Kapazitätsgrenze operierte.
Zum 31. März 2010 gab die damalige R.A.T.T. das Depot Nummer 1 auf, seither werden alle Kurse vom einzig verbliebenen Depot am Bulevardul Dâmbovița gestellt. Das Areal in der Fabrikstadt soll teilweise mit Wohnungen überbaut werden, im Bereich der früheren Freiluft-Abstellgleise entstand bereits 2009 die orthodoxe Kirche Sfânta Paraschiva. Für die nahe Zukunft befindet sich ein neuer Betriebshof am südöstlichen Stadtrand in Planung.
Bulevardul Dâmbovița
1969 begannen die Vorbereitungen für ein neues Depot auf dem Grundstück Bulevardul Dâmbovița 1–3. Dieses entstand in den Jahren 1971–1972, dort befindet sich seither auch die Hauptwerkstätte der Straßenbahn. Ferner begann am Bulevardul Dâmbovița 1972 auch die Serienproduktion der Timiș 2-Züge, jedoch waren Depot und Produktionsstätten administrativ stets voneinander getrennt. Die bisherigen Depots Nummer 1, 2 und 3 an der Strada Take Ionescu wurden damals unter der Bezeichnung Depot Nummer 1 zusammengefasst, das neue Depot am Bulevardul Dâmbovița wird seither als Depot Nummer 2 bezeichnet.
Güterverkehr
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Güterverkehr der Pferdebahn (1872–1899)
Betriebseigener Transport von Brennstoffen (1899–1904)
Nach der 1899 erfolgten Elektrifizierung nutzte die Temesvári Villamos Városi Vasút Részvénytársaság ihre aus der Pferdebahnzeit stammende Konzession für den Güterverkehr auf Straßenbahngleisen vorübergehend nur für den Eigenbedarf, indem das Unternehmen die für das betriebseigene Dampfkraftwerk benötigten Brennstoffe auf dem letzten Abschnitt in Eigenregie beförderte. Zwecks Verknüpfung zwischen Straßenbahn und Eisenbahn bestand ab 1899 – zusätzlich zu den im Personenverkehr bedienten Strecken – am Gara de Est ein 300 Meter langes Verbindungsgleis zur Staatsbahn. Es war als Spitzkehre angelegt, dort übernahm die Straßenbahngesellschaft die Güterwagen mit dem Heizmaterial. Anschließend nutzte man auf einer Länge von knapp einem halben Kilometer die Strecke der Linie III bis zur Piața Badea Cârțan. Dort zweigte die Betriebsstrecke zum Depotgelände ab, auf dem sich auch das Kraftwerk befand. Diese war direkt in Richtung Gara de Est angeschlossen, so dass die Güterzüge ihr Ziel – anders als die ein- und ausrückenden Personenwagen – ohne weiteren Richtungswechsel erreichen konnten. Ob die Güterwagen mit einem Straßenbahntriebwagen, einer Maschine der Staatsbahn oder auf andere Weise bis ans Ziel gelangten ist nicht überliefert, eigene Lokomotiven besaß die Straßenbahngesellschaft damals noch nicht. Mit der 1904 erfolgten Übernahme der Stromversorgung durch das städtische Elektrizitätswerk entfielen diese Fahrten wieder.
Wiederaufnahme des kommerziellen Güterverkehrs (1916)
Am 8. August 1916 erfolgte – nach 17 Jahren Unterbrechung – schließlich die Wiederaufnahme des kommerziellen Güterstraßenbahn-Betriebs. Als erstes Unternehmen wurde die heutige Timișoreana-Brauerei – lokal meist Bierfabrik genannt – an der Strada Ștefan cel Mare Nummer 28 an das Netz der Straßenbahn angeschlossen. Im Gegensatz zum früheren Güterverkehr bei der Pferdebahn ersparte man sich jedoch das umständliche Umladen der Waren. Stattdessen wurden die brauereieigenen Kühlwagen direkt vor Ort beladen und durchgehend an ihre Zielorte befördert. Hierzu verfügte das Unternehmen über ein eigenes Anschlussgleis von der Strada Ștefan cel Mare aus. Dieses zweigte auf Höhe der Einmündung der Strada Iohan Heinrich Pestalozzi von der Strecke der Linie II ab. Am Gara de Est übergab die Straßenbahn die Güterwagen mittels des bereits seit 1899 vorhandenen Verbindungsgleises an die Staatsbahn, das zwischen 1904 und 1916 ungenutzt war.
Der kommerzielle Betrieb von Eisenbahn-Güterwagen auf städtischen Normalspur-Straßenbahnnetzen war in Österreich-Ungarn damals weit verbreitet, in der ungarischen Reichshälfte war dies sogar bei allen Normalspurbetrieben der Fall. Timișoara war dabei die letzte Stadt in der Doppelmonarchie, die sich für diese Betriebsform entschied. Für den Güterverkehr stand zunächst nur eine kleine zweiachsige Lokomotive ohne Betriebsnummer zur Verfügung, die spätere L1. In den fünf Monaten des ersten Betriebsjahres erreichte die Straßenbahngesellschaft mit ihrem wiederbelebten Betriebszweig bereits eine Beförderungsleistung von 26.973 Tonnenkilometern.
Schuhfabrik, Wollindustrie und Wasserver- und -entsorgung (1917)
1917 weitete die Straßenbahngesellschaft ihren Güterverkehr auf gleich drei weitere Unternehmen aus:
die Schuhfabrik Turul Czipőgyár Részvénytársaság – nach der Verstaatlichung Uzinele Industriale de Stat Nikos Beloiannis beziehungsweise Banatul, seit 1991 Banatim – in der Strada Ștefan cel Mare Nummer 58 erhielt einen als Spitzkehre ausgeführten Gleisanschluss von der Strada 1 Decembrie 1918 her. Das Gleis endete kurz vor der Einmündung der Strada Johann Guttenberg und war damit eine Bauvorleistung für die schon vor dem Ersten Weltkrieg projektierte, letztlich aber erst 1928 eröffnete, Straßenbahndirektverbindung zwischen der Fabrikstadt und der Elisabethstadt. Als einzige Strecke überhaupt diente sie somit zuerst nur dem Güterverkehr und erst später auch dem Personenverkehr.
das Anschlussgleis für die 1905 gegründete Wollindustrie Aktiengesellschaft – ungarisch Gyapjúipari Részvénytársaság, rumänisch Industria Lânii Societate Anonimă beziehungsweise I.L.S.A. – am Bulevardul Take Ionescu Nummer 46B war eine Verlängerung der Betriebsstrecke zum Straßenbahndepot und bog auf Höhe der Strada Înfrățirii nach links auf das Werksgelände ein.
die städtische Wasserver- und -entsorgung, ab 1919 Întreprinderea de Apă și Canal a Orașului Timișoara – A.C.O.T. beziehungsweise in der sozialistischen Zeit Întreprinderea de Gospodărie Orășenească Timișoara – I.G.O.T. hatte ihr Betriebsgelände im Winkel zwischen der Strada Enric Baader und der Strada Drăgășani, dem späteren Erweiterungsgelände des Straßenbahndepots. Ihr Anschluss zweigte auf Höhe der Strada Enric Baader vom Gleis zur Wollindustrie nach rechts ab und führte – innerhalb des Unternehmensareals – bis zur Strada Drăgășani.
Schlachthof und Schokoladenfabrik (1918)
Im Laufe des Jahres 1918 wurden schließlich auch der 1905 eröffnete städtische Schlachthof – später Abatorul Comunal beziehungsweise Întreprinderea regională de industrializarea cărnii (I.R.I.C.) – am Bulevardul Eroilor de la Tisa Nummer 24 sowie die Schokoladenfabrik Kandia an der Strada Iohan Heinrich Pestalozzi Nummer 22 in den Güterverkehr einbezogen. Die Verbindung zum Haupteingang des Schlachthofs war eine Verlängerung des Turul-Anschlusses und führte durch die Strada Johann Guttenberg und den Bulevardul Eroilor de la Tisa. Auch sie war eine Bauvorleistung für die spätere Strecke in Richtung Piața Nicolae Bălcescu, wenngleich diese später abweichend vom ursprünglichen Plan südlich am Schlachthof vorbei führte. Das Schlachthofgleis endete zunächst vor dem Haupteingang, auf Höhe der Einmündung der Strada Daliei. Erst 1931 wurde es anlässlich einer Erweiterung des Schlachtereigeländes um 325 Meter verlängert. Die Verlängerung folgte dem Bulevardul Eroilor de la Tisa bis zur Einmündung der Strada Caraș, um dort nach links in den Schlachthof einzubiegen und schließlich bis an die Strada 1 Decembrie 1918 zu führen. Der Schlachthof war ferner der einzige Güterkunde in der benachbarten Elisabethstadt, während alle anderen Anschlussgleise in der Fabrikstadt lagen.
Im Hinblick auf den Güterverkehr wurden bereits 1915 auf den damals zweigleisig ausgebauten Teilstücken Gara de Est–Piața Badea Cârțan und Piața Traian–Banatim erstmals tragfähigere Schienen verwendet. Diese hatten ein Gewicht von 59,2 Kilogramm je Meter Schiene, während die zuvor verwendeten nur 20 Kilogramm wogen. Die letzten alten Schienen auf dem anfangs noch nicht ausgebauten Mittelabschnitt Piața Badea Cârțan–Piața Traian wurden dann bis zum Frühjahr 1918 ausgetauscht. Außerdem besaßen die im Güterverkehr genutzten Strecken einen größeren Gleisabstand sowie ein abweichendes Schienenprofil, geeignet für die breiteren Radreifen der Eisenbahnwagen. Um dem im Eisenbahnverkehr üblichen Maß zu entsprechen, mussten die Rillen der Rillenschienen 60 Millimeter breit sein.
Zwischen- und Nachkriegszeit
1919 erhielt auch das städtische Elektrizitätswerk an der Strada Iohan Heinrich Pestalozzi Nummer 3–5 einen Anschluss, dieses Nebengleis zweigte vom bestehenden Gleis zur Schokoladenfabrik ab. Siebter Güterkunde der Straßenbahngesellschaft war somit die kommunale Elektrizitätsgesellschaft Temesvári Városi Vízierőmű és Villanytelep, die aufgrund der Angliederung des Banats an Rumänien noch im gleichen Jahr die neue Bezeichnung Uzina Electrică Timișoara – U.Z.E.T. erhielt.
1927 erreichte die Güterbahn bereits eine Leistung von 240.830 Tonnenkilometern, bevor 1928 – als achter Kunde – auch der Erdölraffineriebetrieb OLEA ein 110 Meter langes Anschlussgleis erhielt. Das Unternehmen unterhielt an der Calea Buziașului Nummer 6 – die heute Calea Stan Vidrighin heißt – ein Brennstofflager (rumänisch Combustibil), das die T.C.T. von der Strada Cerna her mit Kesselwagen bediente. Infolge des großen Erfolgs des Gütertransports ging – ebenfalls 1928 – eine zweite Güterlokomotive in Betrieb, mit ihrer Hilfe stieg das Frachtaufkommen 1928 auf 309.698 Tonnenkilometer. Als neunter Anschluss bestand 1929 im Stadtteil Tipografilor noch ein betriebseigenes Gleis, das sich direkt an die zur Übergabe an die C.F.R. genutzte Spitzkehre anschloss und über die Strada Enric Baader hinweg führte. Die Straßenbahngesellschaft unterhielt dort ein Schotterlager für den Gleisbau, rumänisch Depozit de Piatră. Ab wann dieses ans Netz angeschlossen war, ist nicht überliefert.
Unabhängig davon überließ die Firma Kandia ihr Betriebsgelände samt Anschlussgleis bereits 1924 der Farben- und Lackfabrik Leda, weil sie in die Josefstadt umzog. Das Unternehmen Leda wiederum gab sein Areal schon 1936 an die Batteriefabrik Dura ab, die keinen Anschluss benötigte.
1947 folgte außerdem noch der 300 Meter lange Anschluss für die bereits 1937 gegründete Schuhfabrik Guban am Bulevardul Eroilor de la Tisa 30–40, in der sozialistischen Epoche zeitweise Victoria genannt. Dieses Unternehmen wurde von der Strada Johann Guttenberg her angedient. Unabhängig davon vermeldete die Straßenbahngesellschaft im April 1947 eine weitere Steigerung der Gütertransportleistung um sechs Prozent. Nach dem Zweiten Weltkrieg halfen die – im Volksmund Muki genannten – Güterzuglokomotiven ferner, verschiedene Baustellen in der Stadt zu bedienen.
Weitere Anschlüsse an der Calea Buziașului (1964)
Nachdem 1964 das Areal der städtischen Wasserver- und -entsorgung am Bulevardul Take Ionescu der Erweiterung des Straßenbahndepots weichen musste, erhielt die I.G.O.T. damals ein neues Areal im Winkel zwischen der Strada 1 Decembrie 1918 und der Strada Cerna zugeteilt. Dieses besaß von Beginn an einen Gleisanschluss, der zusätzlich auch dem – zeitgleich auf dem Nachbargrundstück eröffneten – Autobusdepot diente. Das heißt der Schienenstrang durchquerte von der Strada Cerna her kommend zunächst das I.G.O.T.-Areal, um schließlich das Gelände des Autobusbetriebshofs an der Calea Buziașului Nummer 2 zu erreichen. Die Weiterführung war erforderlich, um die unternehmenseigene Autobus-Tankstelle auf dem neuen Depotareal mit Dieselkraftstoff versorgen zu können. Analog zur Wasserver- und -entsorgung mussten nämlich 1964 auch die Abstellplätze der Autobusse dem vergrößerten Straßenbahndepot weichen.
In den Folgejahren kamen noch das 1951 gegründete Bauunternehmen T.R.C.B. Timișoara (später Direcţia Regională de Drumuri și Poduri Timișoara, heute Drumco) an der Strada Prof. Dr. Aurel Păunescu Podeanu Nummer 147 sowie das ebenfalls an der Calea Buziașului gelegene Maschinenbauunternehmen Tehnometal hinzu. Letzteres firmierte ab 1985 vorübergehend als Întreprinderea de Autoturisme Timișoara (I.A.T.) und heißt seit 1991 Tehnomet. Damit war in der südlichen Fabrikstadt – unabhängig vom eigentlichen Straßenbahnnetz – ein circa einen Kilometer langes Industriestammgleis im Zuge der Straßen Johann Guttenberg und Cerna entstanden, das durchgängig über einen eigenen Gleiskörper verfügte. Für die nach dem Zweiten Weltkrieg neu hinzugekommenen Unternehmen ging 1956 mit der Lokomotive 3 noch eine weitere Maschine in Betrieb.
Ende der 1960er Jahre waren von den bis dahin 13 im Laufe der Jahre eingerichteten Anschlüssen noch zehn vorhanden. Nachdem der Leda-Anschluss bereits 1936 entfallen war, hatte ab Oktober 1967 auch die Wollindustrie keine Schienenverbindung mehr. Ihr 420 Meter langes Gleis fiel dem seinerzeit erfolgten vierspurigen Ausbau des Bulevardul Take Ionescu zum Opfer. Somit belief sich die Gesamtlänge aller Gütergleise 1969 auf 4,215 Kilometer.
Neue Verbindungsstrecke zur Staatsbahn (1975)
In den Jahren 1970 bis 1971 stellte das Institutul de Proiectare Timiș gravierende Schäden an der Dacilor-Brücke fest, deren baulicher Zustand sich in Folge der schweren Güterwagen zunehmend verschlechterte. Ersatzweise entstand daher bis 1975 im Südosten der Stadt eine neue circa sieben Kilometer lange und nicht elektrifizierte Verbindungsstrecke zwischen dem bestehenden Industriestammgleis in der Strada Cerna und der Bahnstrecke Timișoara–Buziaș. An dieser wurde damals eigens zu diesem Zweck, auf freiem Feld beim Weiler Rudicica, der Trennungsbahnhof Semenic eingerichtet. Ferner kreuzte die neue Strecke bei der Haltestelle Mecatim die zwei Jahre zuvor eröffnete Strecke der Linie 8, die bestehende Güterstrecke der Straßenbahngesellschaft wurde südlich der Strada Prof. Dr. Aurel Păunescu Podeanu erreicht. Dort entstand ein kleiner zweigleisiger Übergabebahnhof, an welchem die I.T.C.V.T.T. die Güterwagen fortan unter Umgehung der Dacilor-Brücke an die C.F.R. übergab. Außerdem erhielt dort 1975 der Vorgänger des heutigen Unternehmens Ecosysteme an der Calea Buziașului ebenfalls einen neuen Anschluss, welchen die C.F.R. direkt vom Übergabebahnhof aus mit Diesellokomotiven bediente.
Unabhängig davon kamen im Bereich der Eisenbahn-Neubaustrecke sowohl östlich als auch westlich der Calea Stan Vidrighin neue Gleisanschlüsse der Staatsbahn hinzu, so zum Beispiel für die Unternehmen Spumotim und Petrom. Das nicht mehr benötigte Verbindungsgleis am Gara de Est ging 1975 außer Betrieb, das mittlerweile einem anderen Unternehmen gehörende Schotterlagergelände behielt jedoch noch bis in die 1990er Jahre seinen direkten Anschluss an das C.F.R.-Netz.
Die ab 1975 nicht mehr benötigte Lokomotive 1 diente anschließend noch bis 1990 der örtlichen Straßenbahnfabrik als Rangierlokomotive, während die beiden verbliebenen Lokomotiven 2 und 3 damals ins Eigentum der Brauerei übergingen. Sie waren fortan auch auf dem Brauereigelände stationiert, weil ihnen der Weg ins Straßenbahndepot ebenfalls durch die marode Podul Dacilor versperrt war.
Gleichfalls 1975 erhielt die Bierfabrik außerdem einen neuen Anschluss aus südlicher Richtung, der die alte Zufahrt von 1916 ersetzte. Die circa 400 Meter lange Neubaustrecke entlang der Strada Nicolinț zweigte auf Höhe des Bulevardul Eroilor de la Tisa vom Schlachthofgleis ab, erreichte nach Querung der Strada Gloriei das Brauereigelände und traf dort auf die bestehenden Rangiergleise. Zum einen behinderte der Güterverkehr von und zur Bierfabrik dadurch nicht mehr die regulären Straßenbahnzüge in der Strada Ștefan cel Mare, zum anderen hätten die Brauereiwagen ohne die neue Verbindung fortan zweimal ihre Fahrtrichtung wechseln müssen um das Eisenbahnnetz zu erreichen.
An der neuen Verbindungsstrecke zur Bierfabrik kam außerdem – als letzter neuer Kunde des Straßenbahn-Güterverkehrs – ein Materialdepot auf dem Eckgrundstück Bulevardul Eroilor de la Tisa 63 hinzu. Die dortige Lagerhalle bediente die Güterbahn von der Strada Nicolinț aus.
Niedergang und Restbetrieb durch die C.F.R.
Nachdem bereits im Laufe des Jahres 1989 der Schlachthof nach Freidorf umgezogen war, wo ein direkter Anschluss an die Bahnstrecke nach Cruceni bestand, endete in Folge des wirtschaftlichen Niedergangs nach der Revolution der Güterverkehr in Verantwortung der Straßenbahngesellschaft bald darauf ganz. Als letzter Anschluss wurde noch bis 1993 die Schuhfabrik Banatim an der Strada 1 Decembrie 1918 bedient. Die circa 100 Meter lange Zufahrt dorthin war der letzte Abschnitt überhaupt, auf dem sich Personen- und Güterverkehr ein gemeinsames Gleis teilten.
Fortan bediente die C.F.R. die Brauerei sowie die Schuhfabrik Guban direkt mit Diesellokomotiven. Die Lokomotiven 2 und 3 dienten fortan nur noch als Rangierlokomotiven auf dem Brauereigelände. Das Industriestammgleis war deshalb auch noch nach 1993 mit Gleichstrom aus dem Straßenbahnnetz elektrifiziert und diente somit als Speiseleitung für den Rangierbetrieb auf dem Brauereiareal. Ebenso blieb die Verbindungskurve zwischen der Güterbahn in der Strada Johann Guttenberg und der Strecke der Linien 6 und 8 erhalten. Zwar fand auf ihr seit 1993 kein planmäßiger Verkehr mehr statt, jedoch diente sie noch im Jahr 2000 der Anlieferung von in Deutschland gebraucht erworbenen Straßenbahnwagen. Diese wurden auf dem Stammgleis entladen und mit Hilfe der Lokomotive 3 ins Straßenbahnnetz überführt.
Als letzten ehemaligen Kunden des Straßenbahngüterverkehrs fuhr die C.F.R. die Bierfabrik zum Schluss noch einmal täglich an, 2003 endete schließlich auch dieser Restbetrieb. Ebenfalls 2003 – als die Straßenbahnstrecke durch die Strada 1 Decembrie 1918 modernisiert wurde – entfiel auch die Verbindungskurve zwischen dem Industriestammgleis und dem Straßenbahnnetz.
Die Wagen der Straßenbahn von 1869 bis heute
Pferdebahn
Von der Elektrifizierung bis zum Ersten Weltkrieg
Anlässlich der 1899 erfolgten Elektrifizierung der Straßenbahn beschaffte die damalige Temesvári Villamos Városi Vasút Részvénytársaság bei der Weitzer János Gép,- Waggongyár és Vasöntöde aus Arad 17 kurze einmotorige Zweiachser, diese Weitzer-Triebwagen wurden ab 1906 auch kleine Wagen genannt. 13 von ihnen wurden für den planmäßigen Betrieb in der Anfangszeit benötigt, vier dienten als Reserve. Ergänzend dazu standen zehn aus Pferdebahnwagen entstandene Beiwagen zur Verfügung.
Mit dem fortschreitenden zweigleisigen Ausbau, der damit verbundenen Taktverdichtung und der Einführung einer dritten Durchmesserlinie ergänzte man den Wagenpark ab 1906 sukzessive um die etwas größeren zweimotorigen Triebwagen des späteren Typs B, zunächst als große Wagen bezeichnet. Die neuen Triebwagen kamen zwar zunächst nur auf der Hauptlinie I zum Einsatz, setzten aber dadurch die zusätzlich benötigten Weitzer-Triebwagen für die Linien II und III frei. Bis 1915 beschaffte die Straßenbahngesellschaft in vier Lieferlosen insgesamt 26 Fahrzeuge des Typs B. Vierzehn von ihnen stellte die Schlick Vasöntő és Gépgyár in Budapest her, die restlichen zwölf kamen von der Magyar Waggon- és Gépgyár aus Győr.
Im Ersten Weltkrieg stellte die Straßenbahngesellschaft schließlich auch ihre ersten eigenen Wagen her, die drei Beiwagen 01–03. Im Gegenzug schieden 1919 die letzten der – ursprünglich zehn – nach 1899 weiterverwendeten Pferdebahnwagen aus dem Bestand.
Zwischenkriegszeit
Der Zerfall Österreich-Ungarns nach dem Ersten Weltkrieg beeinflusste auch den Wagensektor der Straßenbahn Timișoara. Die Weitzer-Triebwagen aus dem Eröffnungsjahr waren kriegsbedingt verschlissen und mussten dringend erneuert werden. Die Hauptlieferanten der letzten Jahre lagen aber plötzlich im Ausland. So entschloss sich die fortan T.C.T. genannte Straßenbahngesellschaft, auch Motorwagen selbst herzustellen. Nachdem zunächst 1921 zwei kleine Weitzer-Triebwagen in größere D-Triebwagen umgebaut wurden, entstanden von 1922 bis 1924 auch sieben gänzlich neu hergestellte Triebwagen des Typs DII. Es wurden aber auch neue Anhänger gebaut, so beispielsweise 1921 die beiden Beiwagen des Typs AII und zwischen 1922 und 1926 die 14 Beiwagen des Typs C. In den Jahren 1928 und 1929 folgten dann noch die vier Beiwagen des Typs CII, wobei aus zwei von ihnen bereits 1931 die Triebwagen des Typs Fa entstanden.
1925 konstruierten die T.C.T.-Ingenieure eine gänzlich neue Triebwagen-Baureihe, den Typ F. Von ihm wurden bis 1927 insgesamt sechs Wagen produziert, anschließend entstanden bis 1943 insgesamt 19 Fahrzeuge des etwas größeren Nachfolgetyps FII. Mit den F- und Fa-Wagen begann Anfang 1931 schließlich auch die Ära der Zwillingstriebwagen in Timișoara. Insgesamt bildete die Werkstatt bis 1969 zusammen 29 Pärchen aus sieben verschiedenen Typen – die aber nie alle gleichzeitig im Einsatz waren.
1925 gingen außerdem gleich zwei spezielle Arbeitswagen der Straßenbahn in Betrieb, dies waren der im Besitz der Stadt befindliche Sprengtriebwagen und der im Eigenbau entstandene Schneepflug- und Gütertriebwagen. Ferner baute die betriebseigene Werkstatt Ende der 1930er Jahre die Zweirichtungswagen des Typs F für den Einsatz im Ringverkehr auf der Linie 6 zu Einrichtungswagen um. Dies waren die ersten Einrichter der Straßenbahn Timișoara.
Moderne Großraumwagen in den 1950er Jahren
Durch die neuen Strecken in die Ronaț, nach Fratelia und nach Freidorf entstand ein Mehrbedarf an Wagen, hierfür wurden in den Jahren 1948 bis 1954 die sieben Vierachser des Typs Gb 2/2 hergestellt. Die modernen Fahrzeuge waren die ersten Großraumstraßenbahnwagen Rumäniens, noch vor der Bukarester Baureihe Festival V951 die erst 1951 in Betrieb ging. Sie boten einige ungewohnte Neuerungen wie beispielsweise gepolsterte Sitze, einen stählernen Wagenkasten, beleuchtbare Zielschildkästen oder das Fahrgastfluss-Verfahren – welches die Fahrgäste allerdings schon vom 1942 eröffneten Trolleybus kannten. Die neuen Einrichtungsfahrzeuge konnten zwar zunächst nur auf den Linien 2 und 6 eingesetzt werden, setzten jedoch ältere Wagen für die neuen Strecken frei.
Es folgten in den Jahren 1955 bis 1959 20 bei Electroputere in Craiova beschaffte Großraumwagen des Typs V954, gleichartige Wagen verkehrten auch in Bukarest und Oradea. Ihre Beschaffung erfolgte hauptsächlich im Hinblick auf die 1959 erfolgte Umstellung der Linie 3 auf Einrichtungsbetrieb. Wie die Gb 2/2 verkehrten auch die V954 zunächst solo.
Umbauwagen und neue Zweiachser in den 1960er Jahren
Statt weitere Neubauten zu produzieren, konzentrierten sich die Verkehrsbetriebe – seit 1957 I.C.O.T. genannt – ab 1958 auf die Rekonstruktion eines Großteils ihrer älteren Holzaufbau-Zweiachser der Baureihen B, C, F, CII und DII, die Baujahre zwischen 1906 und 1928 aufwiesen. Dabei wurden auch fünf Beiwagen in Triebwagen umgewandelt. Lediglich die Typen AII, D, Fa und FII blieben von diesem Programm gänzlich ausgenommen. Insgesamt 44 Wagen der fünf vorgenannten Baureihen erhielten damals neue Stahlaufbauten, mit Hilfe derer gleichzeitig auch die Kapazität erhöht werden konnte. Vorbild waren hierbei in gewisser Weise die Bukarester Verkehrsbetriebe, dort entstanden bereits ab 1954 die ersten dieser sogenannten Umbauwagen des Typs Vo54.
Auf diese Weise entstanden in Timișoara vier neue Typen. Zunächst zwischen 1958 und 1961 die 26 Triebwagen des Typs Pionier T.4 und T.5, sie entsprachen äußerlich dem Gb 2/2. Anschließend in den Jahren 1962 bis 1966 neun Zweiwagenzüge aus Timiș 1-Triebwagen und R.1-Beiwagen, ihre neuen Wagenkästen orientierten sich konstruktiv an den Electroputere-Wagen. Mit der Baureihe Timiș 1 nutzte man erstmals die Gelegenheit mit der Typenbezeichnung auf den Produktionsstandort der Fahrzeuge aufmerksam zu machen. Timiș ist ein Banater Fluss, seine deutsche Bezeichnung lautet Temesch. Gemeint ist in diesem Fall jedoch der nach dem Fluss benannte Kreis Timiș, dessen Hauptstadt Timișoara ist.
In den Jahren 1961 bis 1966 lieferte die betriebseigene Werkstätte der Bukarester Verkehrsgesellschaft Întreprinderea de Transport București (I.T.B.) insgesamt 24 zweiachsige, in Einrichtungsbauweise ausgeführte, Neubau-Stahltriebwagen des Typs V58 und 41 dazu passende Beiwagen des Typs V12 nach Timișoara. Die überzähligen Beiwagen waren für den Einsatz hinter den V954-Großraumwagen von Electroputere vorgesehen. Bereits 1960 gab die I.T.B. außerdem zehn in der Hauptstadt nicht mehr benötigte zweiachsige Beiwagen des Typs V08 mit Holzaufbau nach Timișoara ab, von denen allerdings nur neun wieder in Betrieb gingen. Diese in Timișoara als Typ R.4 bezeichneten Anhänger des Baujahrs 1911 waren die ersten Gebrauchtwagen der Straßenbahn Timișoara.
Die Ära Timiș 2
1970 begann mit der Vorstellung des Timiș 2-Prototyps mit der späteren Nummer 231 eine neue Ära der Straßenbahn Timișoara, die Zulassung für den Fahrgastbetrieb erteilten die Behörden am 18. Januar 1972. Bis 1990 wurden insgesamt 133 Triebwagen und 122 Beiwagen dieser Großraumwagen fabrikneu für Timișoara produziert. Außerdem erhielt die Stadt 1990 noch eine weitere Timiș 2-Garnitur, als Reșița seinen Zug 41–42 mangels eigenen Bedarfs an Timișoara abgab, wo er als Zug 360–130 in den Bestand eingereiht wurde. Nach und nach ersetzten die Neubauzüge alle Altbaufahrzeuge. Darunter neben sämtlichen Zweiachsern auch die vergleichsweise jungen Großraumwagen der Typen Gb 2/2 und Electroputere V954.
Nach Abstellung des Gelenkwagens 230, die 1992 bereits erfolgt war, bestand dann bis 1995 kurzzeitig sogar der gesamte Wagenpark der Straßenbahn Timișoara aus dieser Baureihe. In aller Regel verkehrten die Timiș 2 als Komposition aus Triebwagen und Beiwagen, während der Energiekrise der 1980er Jahre sowie in den letzten Einsatzjahren waren sie auf bestimmten Linien aber auch solo anzutreffen.
Der Timiș 2-Prototyp und die ersten Serienfahrzeuge entstanden dabei noch in Eigenregie der I.T.T (bis 1973) beziehungsweise der I.T.C.V.T.T. (ab 1973). Die spätere Massenfertigung übernahm dann schließlich ab 1977 das 1959 gegründete Maschinenbauunternehmen Electrometal Timișoara, kurz Eltim genannt. Prinzipiell profitierte die Straßenbahn Timișoara bezüglich der Timiș 2-Züge aber auch danach noch stets von der räumlichen und organisatorischen Nähe zur Herstellerfirma. Die Ersatzteilversorgung und das Know-how war somit deutlich besser als in den anderen Einsatzbetrieben dieser Baureihe.
Die Produktion von Gelenkwagen kam hingegen über die Fertigung zweier 1982 und 1985 fertiggestellter Prototypen nie hinaus. Der erste von ihnen, Wagen 230, befand sich im Besitz der I.J.T.L. Timiș und wurde dauerhaft im planmäßigen Fahrgastbetrieb eingesetzt. Dies war die erste Gelenkstraßenbahn der Straßenbahn Timișoara überhaupt. Der zweite Versuchsträger mit der internen Bezeichnung 229 blieb hingegen stets im Besitz von Eltim und führte meist nur Testfahrten ohne Passagiere durch. Im regulären Fahrgastbetrieb war er nur kurzzeitig auf der Linie 7 anzutreffen, seine Ausmusterung erfolgte 1990.
Nach der Revolution – Beschaffung von Gebrauchtwagen aus Deutschland
Der politische Umschwung des Jahres 1989 brachte auch am Fahrzeugsektor neue Perspektiven. Da in Rumänien seither keine fabrikneuen Straßenbahnen erhältlich sind – und Neuwagen aus dem Ausland noch bis in die 2000er Jahre hinein nicht finanzierbar waren – konzentrierten sich die rumänischen Straßenbahnbetriebe ab 1993 auf die Beschaffung gebrauchter Wagen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und den Niederlanden. Angeregt wurde diese Vermittlung durch den mittlerweile verstorbenen Privatmann Günter H. Köhler aus Hofheim am Taunus, unterstützt vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und der Deutschen Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ). Aufgrund seiner Verdienste ernannte die Stadt Timișoara Köhler am 16. April 1996 zum Ehrenbürger.
Nachdem schon ab 1991 ehemals belgische Autobusse in Timișoara eingesetzt worden waren, übernahm die Stadt ab 1995 auch gebrauchte Trolleybusse und Straßenbahnen aus dem Westen. Die ersten beiden Second-Hand-Straßenbahnen trafen dabei im Mai 1995 aus Karlsruhe ein, wohin Timișoara seit 1992 eine Städtepartnerschaft unterhielt. Karlsruhe gab dabei sowohl Wagen der Verkehrsbetriebe Karlsruhe (VBK) als auch solche der Albtal-Verkehrs-Gesellschaft (AVG) ab. Im August 1995 erreichten schließlich auch die ersten Gebrauchtstraßenbahnen aus Bremen Timișoara. Sie wechselten teilweise bereits zum zweiten Mal ihren Besitzer, einige von ihnen hatte die Bremer Straßenbahn AG zuvor bereits gebraucht von der 1982 eingestellten Straßenbahn Bremerhaven übernommen. In späteren Jahren folgten Bahnen von der Münchner Verkehrsgesellschaft, der Stadtwerke Verkehrsgesellschaft Frankfurt am Main und der Düsseldorfer Rheinbahn. Im Einzelnen gelangten diese wie folgt nach Timișoara:
Die Abgabe der ersten alten Fahrzeuge erfolgte als Schenkung, die Ursprungsbetriebe ersparten sich somit die Kosten für die Verschrottung. Die Kosten für den Transport per Eisenbahn-Flachwagen übernahmen anfangs die GTZ beziehungsweise die Bundesrepublik Deutschland sowie die Europäische Union als Beitrag zur Wirtschaftsförderung Rumäniens. In späteren Jahren, so beispielsweise bei den Münchener Wagen, musste schließlich die rumänische Seite selbst für die Beförderung aufkommen. Frankfurt wiederum gab seine Straßenbahnen zu einem symbolischen Kaufpreis von einem Euro ab. Bei den letzten übernommenen Bahnen ersetzte die damalige R.A.T.T. dem Spender zusätzlich den Schrottwert, damals 1700 Euro je Wagen.
Die deutschen Straßenbahnen erfreuten sich bei den Fahrgästen anfangs großer Beliebtheit, nicht zuletzt weil sich darunter – erstmals seit Jahrzehnten – auch wieder Wagen mit bequemen Polstersitzen sowie funktionierenden Heizungen befanden. Weitere Neuerungen der deutschen Wagen waren vom Fahrgast selbst zu bedienende Türen sowie der vergleichsweise hohe Sitzplatzanteil aufgrund der in Westdeutschland üblichen 2+1-Bestuhlung, während zuvor alle seit 1869 beschafften Wagen Längsbänke oder eine 1+1-Bestuhlung aufwiesen. Auf die Herkunft der Straßenbahnen wies die damalige R.A.T.T. anfangs auch äußerlich hin, so verkehrten einige von ihnen mit den Aufschriften Bremen grüßt Timișoara beziehungsweise Karlsruhe grüßt Timișoara durch die Stadt. Abgesehen von den rumänischen Aufschriften im Innenraum, den nachgerüsteten Lochentwertern und den neuen Zielfilmen gelangten die Fahrzeuge weitgehend unverändert in Betrieb, das heißt in alter Lackierung und mit ihren deutschen Werbeaufschriften. Jedoch erhielten alle Triebwagen – entsprechend osteuropäischen Gepflogenheiten – geschlossene Fahrerkabinen. Dies wiederum hatte zur Folge, dass der jeweils vorderste Türflügel nicht mehr dem Fahrgastwechsel dient. Vor dem Einsatz in Rumänien mussten ferner die Radreifen an die örtlichen Verhältnisse angepasst werden, bei den Karlsruher Wagen erfolgte dies noch im Heimatbetrieb.
Sukzessive lösten die Gebrauchtwagen aus Deutschland innerhalb von zehn Jahren die einheimischen Timiș 2-Züge vollständig ab. Die letzten planmäßigen Einsätze dieser Baureihe erfolgten im September 2005. Zwischen April 1995 und Juni 2010 erhielt die damalige R.A.T.T. insgesamt 134 Triebwagen und 101 Beiwagen aus Deutschland, mit Ausnahme eines Düsseldorfer Beiwagens ausschließlich Gelenkwagen. Die Übernahmen führten ferner zu einer Veralterung des Wagenparks – die ältesten Wagen stammten von 1956, die jüngsten waren Baujahr 1976. Dabei behielten alle Fahrzeuge in Timișoara ihre alte Wagennummer aus Deutschland. In ihrer neuen Heimat kamen die ersten deutschen Wagen dabei zunächst nur auf den wichtigen Linien 4 und 9 zum Einsatz, bevor in den Folgejahren sukzessive auch alle anderen Routen entsprechend ausgestattet werden konnten.
Jedoch gelangten nicht alle deutschen Bahnen in den regulären Einsatz. Sechs von ihnen, der Frankfurter Triebwagen 829, der Düsseldorfer Beiwagen 1639 sowie die Münchner Beiwagen 3022, 3023, 3032 und 3038, dienten von Beginn an lediglich als Ersatzteilspender. Zudem dezimierten zahlreiche schwere Verkehrsunfälle den Bestand. Angesichts des geringen Restwerts werden stark beschädigte Straßenbahnen aus zweiter Hand nicht repariert. So besaß die damalige R.A.T.T. beispielsweise im Herbst 2010 nur noch 93 Triebwagen. Um einen weitgehend einheitlichen Wagenpark zu erhalten und hohe Wartungskosten zu vermeiden konzentrierte sich die damalige R.A.T.T. dabei vor allem auf die Erhaltung der Bremer Wagen. Im Gegensatz dazu musterte sie die meisten Wagen aus den anderen Städten schon relativ früh aus. Insbesondere galt dies für die, wegen nicht mehr lieferbarer Ersatzteile schwierig zu wartenden, Karlsruher Wagen mit elektropneumatischer Steuerung. Deren letzte Vertreter schieden schon 2007 (ehemals AVG) beziehungsweise 2012 (ehemals VBK) aus dem Bestand. Als nächstes folgten einige Jahre später die Frankfurter Wagen, seit 2017 sind schließlich auch der letzte Düsseldorfer Wagen sowie die letzten beiden Karlsruher Wagen mit Direktsteuerung außer Betrieb. Damit fahren außer den Bremer Fahrzeugen nur noch welche aus München.
Gescheiterte Beschaffung erster Niederflurwagen (2007–2013)
Ab 2007 beschäftigten sich die Verantwortlichen erstmals mit dem Kauf von Niederflurwagen. Für das Jahr 2011 war die Anschaffung von Citadis-Triebwagen des französischen Herstellers Alstom geplant. Vorgesehen waren 50 Einheiten, die zusammen 175 Millionen Euro gekostet hätten. Die Neubaufahrzeuge sollten – mit Ausnahme einiger Bremer Wegmann-Züge aus den 1970er Jahren – einen Großteil der aus Deutschland übernommenen Altbauwagen ersetzen. Timișoara wäre damals nach Oradea, Bukarest und Cluj-Napoca die vierte rumänische Stadt gewesen, die Niederflurwagen eingesetzt hätte. Bereits im Dezember 2007 waren hierzu zwei Glieder einer Citadis-Straßenbahn aus Nizza zu Vorführzwecken vor dem Timișoaraer Einkaufszentrum Iulius Mall ausgestellt. Aus finanziellen Gründen mussten die Pläne zur Beschaffung neuer Wagen jedoch 2013 aufgegeben werden.
Rekonstruktion deutscher Gebrauchtwagen (2015–2018)
Alternativ zur gescheiterten Beschaffung von Niederflurwagen entschied sich die damalige R.A.T.T. 2013 dazu, deutsche Gebrauchtwagen vollständig rekonstruieren zu lassen. Daraufhin entstanden zwischen 2015 und 2018 die 30 Wagen des Typs Armonia, die konstruktiv auf den Bremer Wegmann-Stadtbahntriebwagen basieren.
Testeinsatz Astra Autentic (seit 2016)
Unabhängig von der Rekonstruktion der deutschen Gebrauchtwagen testet das Arader Unternehmen Astra zwischen März 2016 und Januar 2018, und erneut seit Oktober 2018, einen zweiteiligen, sechsachsigen und durchgängig niederflurigen Triebwagen des Typs Autentic in Timișoara. Dies ist erforderlich, weil am Unternehmensstandort – die Arader Straßenbahn ist meterspurig – keine normalspurigen Fahrzeuge erprobt werden können. Ab dem 11. September 2017 kam das Fahrzeug dabei auch im regulären Betrieb auf der Linie 9 zum Einsatz, erstmals überhaupt in der Geschichte der Straßenbahn Timișoara standen den Fahrgästen dabei niederflurige Einstiege zur Verfügung.
Beschaffung von Niederflurwagen (2019)
Anfang Juli 2019 unterzeichnete die S.T.P.T. mit dem Hersteller Bozankaya aus der türkischen Hauptstadt Ankara einen Vertrag, wonach 16 durchgängig niederflurige Wagen für zusammen 33 Millionen Euro fix und weitere 24 optional geliefert würden. Alle 40 Fahrzeuge sollten nach damaligem Stand zusammen 80 Millionen Euro kosten. Es handelt sich um 32,7 Meter lange, fünfteilige Multigelenkwagen mit sechs Achsen. Sie erreichen eine Höchstgeschwindigkeit von 70 km/h und bieten 170 Fahrgästen Platz. Als Besonderheit können die Fahrzeuge über 60 Kilometer per Batteriespeisung, das heißt ohne Kontakt zur Oberleitung, zurücklegen. Die Beschaffung erfolgte ursprünglich im Zusammenhang mit dem Titel Kulturhauptstadt Europas, den Timișoara im Jahr 2021 tragen sollte, der letztlich wegen der COVID-19-Pandemie aber auf 2023 verschoben wurde. Die Auslieferung der ersten Einheit erfolgte schließlich am 24. Juni 2021.
Fahrzeugtabellen
Personenwagen
Triebwagen
Beiwagen
Typenbezeichnungen ab 1964
1964 führte die damalige I.T.T. vorübergehend eine systematische Typisierung aller damals in Timișoara eingesetzten Baureihen ein. Dabei erhielten Triebwagen den Kennbuchstaben „T“ für tramvai, Beiwagen ein „R“ für remorcă:
Gepäck- und Güterwagen
Sonderfahrzeuge
Außer den regulären Personenwagen existieren beziehungsweise existierten noch diverse Arbeitswagen, Prototypen oder historische Fahrzeuge, teilweise im Besitz des Tramclubs Banat. Diese in der folgenden Tabelle dargestellten Sonderfahrzeuge waren in Timișoara nie im planmäßigen Personenverkehr eingesetzt:
Ferner stand vor dem McDonald’s-Restaurant an der Kreuzung der Strada Arieș mit dem Bulevardul Dr. Iosif Bulbuca in den 1990er und 2000er Jahren ein ehemaliger L-Triebwagen der Straßenbahn Frankfurt am Main als zusätzlicher Gastraum. Dieser war jedoch nie in Timișoara im Einsatz, ursprünglich war er für die Straßenbahn Bukarest bestimmt. Gleichartige Wagen stehen beziehungsweise standen auch vor acht weiteren rumänischen Filialen der Kette.
Gegenwärtiger Fahrzeugbestand
Triebwagen
30 Armonia (3502, 3504, 3509–3521, 3525, 3527, 3529, 3531, 3534, 3536, 3539, 3540, 3543, 3547, 3551–3554, 3559)
22 GT4c aus Bremen (3447–3455, 3457, 3461, 3465, 3466, 3469, 3471, 3472, 3474–3479)
8 P 3.16 aus München (2003, 2013, 2030, 2034, 2039, 2041, 2042, 2044)
6 GT4b aus Bremen (3420, 3426, 3432, 3434, 3435, 3443)
1 GT4f aus Bremen (3523)
Ein weiterer GT4f, Wagen 3546, kommt als rollendes Restaurant ausschließlich bei Sonderfahrten zum Einsatz, zeitweise war er auch schon als sogenannte Bier-Straßenbahn in der Werbelackierung der örtlichen Brauerei im Einsatz.
Beiwagen
15 GB4c aus Bremen (3620, 3623, 3624, 3626, 3627, 3631, 3632, 3635, 3637–3640, 3645, 3646, 3648)
4 p 3.17 aus München (3019, 3021, 3024, 3027)
1 GB4f aus Bremen (3738)
Lackierungsschemata
Im Laufe der Jahrzehnte waren die Fahrzeuge der Straßenbahn Timișoara in verschiedensten Farbgebungen lackiert:
1869: Über die Lackierung der Pferdebahnwagen liegen keine gesicherten Erkenntnisse vor.
1899: Anlässlich der Elektrifizierung führte die Gesellschaft ein neues Farbschema ein, die Wagen waren nun rot und weiß lackiert. Rot waren die Plattformverkleidungen unterhalb der Fensterkante sowie der Rumpf zwischen Fensterunterkante und Zierleiste, weiß gestrichen waren das Fensterband sowie die untere Hälfte des Rumpfes – das heißt zwischen Zierleiste und Fahrgestell. Um ein einheitliches Erscheinungsbild zu gewährleisten, übertrug das Unternehmen dieses Schema auch auf die als Beiwagen weiterverwendeten ehemaligen Pferdebahnwagen.
1925: Mit der neuen Baureihe F ging das Unternehmen dazu über, die weiße Bauchbinde auch auf die untere Hälfte der – bisher einheitlich rot gestrichenen – Plattformverkleidungen auszudehnen. Dadurch ergab sich ein umlaufender weißer Kontraststreifen, der auch die frontale Erkennbarkeit der Fahrzeuge verbesserte. Alle nach 1925 neu gebauten Wagen erhielten diese Lackierung, ältere Fahrzeuge wurden hingegen nur vereinzelt entsprechend adaptiert.
1927: Mit der neuen Baureihe FII führte die Gesellschaft eine gelbe Lackierung ein. Analog zu den bereits vorhandenen Wagen waren Fensterband und Bauchbinde weiß, lediglich der Bereich unterhalb der Fensterkante war gelb statt rot. Teilweise wurden auch ältere Wagen derart umlackiert, nach welchem System dies erfolgte ist nicht überliefert. Letztlich behielt der Großteil des Wagenparks die bewährte rote Lackierung.
1950: Mit der Einführung der ersten neuen Stahlwagen des Typs Gb 2/2 entfiel die weiße Bauchbinde. Auch alle weiteren Fahrzeuge mit stählernem Wagenkasten waren unterhalb der Fensterkante zunächst komplett rot lackiert.
1960: Mit den gebraucht aus Bukarest übernommenen Beiwagen des Typs V08, die in Timișoara aufgearbeitet und neu lackiert wurden, hielt wiederum ein neues Lackierungsschema Einzug. Hierbei waren Fensterband, Dach und Schürzen cremefarben, die große Fläche unterhalb der Fenster war hellblau. Ergänzt wurde das neue Schema durch dünne violette Trennstreifen. Auch die ab 1961 beschafften V58-V12-Züge sowie die ab 1962 produzierten Timiș 1-Züge erhielten dieses Schema von Beginn an. Darüber hinaus lackierte die Gesellschaft auch fast alle anderen Wagen mit Stahlaufbau entsprechend um, ferner auch diejenigen Holzaufbau-Beiwagen der Typen R.2 und R.4, die hinter Stahlaufbau-Trebwagen zum Einsatz kamen. Im Gegenzug verschwand die gelbe Lackierung aus den 1930er Jahren für einige Jahre, die wenigen gelb lackierten Wagen – allesamt Zweiachser mit Holzaufbau – erhielten ebenfalls das traditionelle rot-weiße Design.
1968: Bereits 1968 kam es zu einer abermaligen Änderung der Lackierung. Damals ersetzte die Gesellschaft sowohl die creme-hellblaue Lackierung der Stahlaufbauwagen als auch die immer noch rot-weiße Lackierung der Holzaufbauwagen durch die – erstmals 1927 verwendete – gelb-weiße Variante, ergänzt um weiße Schürzen. Die Zierstreifen waren fortan schwarz statt violett. Erstmals seit 1925 ergab sich dadurch wieder ein einheitliches Erscheinungsbild für alle im regulären Personenverkehr eingesetzten Fahrzeuge.
1986: In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre tauchte vorübergehend eine neue Variante auf, die bis 1990 abgelieferten Timiș 2-Wagen waren im Bereich des Rumpfes senfgelb gestrichen, Fensterband und Schürzen waren lichtgrau, die schwarzen Zierstreifen entfielen. Dieses Schema setzte sich jedoch nicht durch, bereits in der ersten Hälfte der 1990er Jahre wurden die betreffenden Wagen in das seit 1968 übliche Design umlackiert. Als Besonderheit fuhr ferner von 1990 an der aus Reșița übernommene Timiș 2-Zug einige Jahre lang in den Farben der dortigen Straßenbahn durch Timișoara.
2006: Im Frühjahr 2006 führte die damalige R.A.T.T. schließlich das heutige Lackierungsschema violett-weiß ein, es orientiert sich an den Farben des Fußballvereins ACS Poli Timișoara.
Als einziger Straßenbahnbetrieb Rumäniens lackierte die damalige R.A.T.T. ab 1999 auch ihre gebraucht erworbenen Fahrzeuge aus Westeuropa konsequent in ihre Hausfarben um. Allerdings geschah dies erst im Rahmen anstehender Hauptuntersuchungen, so dass auch in Timișoara gebrauchte Straßenbahnwagen in den ersten Einsatzjahren in der Farbgebung ihres Ursprungsbetriebs verkehrten.
Tramclub Banat und Straßenbahnmuseum
Der Tramclub Banat (TCB) ist eine gemeinnützige Organisation, die am 18. Oktober 2000 in Timișoara gegründet wurde. Ziel ist die Erhaltung von Museumswagen und die Durchführung von Sonderfahrten mit historischen Fahrzeugen. Letztere fanden in Timișoara erstmals vierzehntäglich im Sommer 2001 statt. Der TCB ist darüber hinaus – jeweils in enger Kooperation mit den Verkehrsunternehmen – auch in Arad und Reșița aktiv, den anderen beiden Straßenbahnstädten im Banat. Ferner bestehen enge Beziehungen zu ausländischen Straßenbahnvereinen. Der Verband ist der erste seiner Art in Rumänien.
Die Verkehrsbetriebe selbst konservierten bis zur Revolution von 1989 keine geschichtlich bedeutsamen Wagen, die heute vorhandenen Oldtimer überlebten nur in ihrer Funktion als Arbeitswagen. Noch in der ersten Hälfte der 1990er Jahre wurden beispielsweise eine ganze Reihe historisch wertvoller Straßenbahnen verschrottet. 2017 eröffnete die S.T.P.T. schließlich im ehemaligen Depot am Bulevardul Take Ionescu ein Straßenbahnmuseum, das den Namen des früheren Direktors Corneliu Micloși trägt.
Sonstiges
Die rumäniendeutsche Bevölkerung Timișoaras nannte die örtliche Straßenbahn früher auch Elektrische, Tschanga oder Tranka.
Die verschiedenen Kurse einer Linie werden traditionell mit römischen Zahlen unterschieden. Diese Kursnummern werden mittels kleiner Stecktafeln hinter der Frontscheibe angezeigt.
Um den Aufbau der Timiș 2-Fabrikation nach westeuropäischen Standards sicherzustellen, waren ab 1970 für die Dauer von zwei Jahren 40 Facharbeiter, Techniker und Ingenieure aus der Bundesrepublik Deutschland zu Gast in Timișoara. Im Gegenzug wurden ebenfalls Anfang der 1970er Jahre auch Arbeitskräfte der Straßenbahn Timișoara an die Münchner Verkehrsgesellschaft ausgeliehen. Sie halfen die dortigen M-Wagen auf schaffnerlosen Betrieb umzubauen.
Zwischen 1962 und 1971 sowie zwischen 2000 und 2009 war es üblich, Straßenbahn-, Trolleybus- und Autobuslinien teilweise gleiche Liniennummern zuzuweisen, eine Übersicht der Doppelbelegungen findet sich unter Societatea de Transport Public Timișoara#Liniennummern
Die ehemalige Haltestelle Strada Baba Novac an der Linie 3 war die einzige Richtungshaltestelle der Straßenbahn Timișoara. Sie wurde nur stadtauswärts bedient.
Die in einem Industriegebiet gelegene Haltestelle Spumotim ist eine sogenannte fakultative Station, rumänisch staţie facultativă. Sie wird nur in den Hauptverkehrszeiten bedient, das heißt zwischen 5:00 und 8:30 Uhr sowie zwischen 13:00 und 17:30 Uhr. In den 1990er und 2000er Jahren traf dies in ähnlicher Form auch auf die Haltestelle Strada Mangalia zu, wo nur von 5:30 bis 8:30, von 13:30 bis 16:30 sowie von 21:30 bis 23:30 Uhr ein- und ausgestiegen werden konnte. Ansonsten halten die Wagen generell überall, Bedarfshalte kennt die Straßenbahn Timișoara nicht.
Linienchronik
Ab Mitte der 1980er Jahre unterschied die Straßenbahngesellschaft zusätzlich die jeweiligen Fahrtrichtungen der beiden Ringlinien 6 und 7 durch die Farben rot und schwarz. Analog zur Schleifenfahrt der Linien 1 rot und 1 schwarz in der Fabrikstadt stand dabei rot für „im Uhrzeigersinn“ und schwarz für „gegen den Uhrzeigersinn“. Diese Differenzierung entfiel allerdings schon in den frühen 1990er Jahren wieder. In späteren Jahren tauchten in den Fahrplanunterlagen alternativ zusätzliche Kennziffern beziehungsweise Buchstaben auf, die jedoch nicht an den Fahrzeugen angeschrieben waren:
Literatur
Hans Lehnhart: Die Straßenbahnbetriebe in Rumänien. Sonderdruck aus der Zeitschrift Der Stadtverkehr – Heft 11–12/1966 und 3/1967.
Hans Lehnhart: Straßenbahn Timișoara. In: Straßenbahn Magazin Nr. 10, November 1973, S. 285–292.
Weblinks
Offizielle Seite des Betreibers Societatea de Transport Public Timișoara
Tramclub Banat
Bildergalerien öffentlicher Verkehrsmittel in Timișoara auf ratt.stfp.net
Varga Ákos Endre, Die Strassenbahnen von Timișoara/Temesvár/Temeschburg
Unterwegs: Der Nahverkehr in Timișoara (RO)
Einzelnachweise
Timisoara |
4369301 | https://de.wikipedia.org/wiki/Saipem%207000 | Saipem 7000 | Die Saipem 7000 (Kurzform S 7000) ist nach der Sleipnir und der Thialf der drittleistungsfähigste Schwimmkran und eines der größten Arbeitsschiffe der Welt. Sie wurde in den 1980er Jahren gebaut und hieß vor 2006 Micoperi 7000 (Kurzform M 7000).
Der Name des Schiffes leitet sich vom Eigentümer, dem größten italienischen Offshore-Dienstleister Saipem, einem ehemaligen Tochterunternehmen des Energiekonzerns Eni, und der maximalen Tragfähigkeit eines Hauptkrans von 7000 Tonnen her. Die S 7000 fährt unter der Flagge der Bahamas und wird ähnlich wie die Thialf vor allem als Hochsee-/Tiefsee-Arbeitsschiff in der Offshore-Industrie eingesetzt.
Am 14. April 2022 wurde bekannt, dass sie schwer beschädigt ist.
Entstehung und Anfangsgeschichte
Entwicklung und Entwurf
Die Saipem 7000 wurde 1984 als Micoperi 7000 von der niederländischen Firma Gusto Engineering entworfen. Ursprünglich wurde sie vom italienischen Offshore-Dienstleistungsunternehmen Micoperi in der Mitte der 1980er-Jahre als Mehrzweck-Arbeitsschiff für die Installation von Offshorebauwerken konzipiert: Es sollte sowohl in der Lage sein, die großen, komplexen und vorgefertigten Decks oder Module von Ölplattformen (die sogenannten „Integrierten Decks“) zu installieren, als auch die Unterkonstruktionen der Plattformen (auch „Jackets“ genannt) mit seinen zwei großen Kränen als Ganzes handhaben zu können. Auch sollte die M 7000 – als klassisches Hochsee-Arbeitsschiff – Unterkunft und Arbeitsplatz für die Montageteams zur Verfügung stellen.
Das Schiff wurde wie die meisten modernen, großen Offshore-Arbeitsschiffe als Halbtaucher geplant. Es wird daher aufgrund der Bauweise als SSCV (Semi-Submersible Crane Vessel, dt. „halb-tauchendes Kranschiff“) oder wegen des Einsatzzweckes als DCV (Deepwater Construction Vessel, dt. „Tiefsee-Arbeitsschiff“) eingestuft. Die Konzeption von Gusto folgte damit den ersten gebauten SSCVs Balder und Hermod, die sich im Eigentum des niederländischen Offshore-Dienstleisters Heerema Marine Contractors befinden, und 1978 gebaut wurden, sollte sie aber an Leistungsfähigkeit und Größe übertreffen.
Bau des Schiffes und frühe Geschichte
Die S 7000 entstand von 1985 bis 1987 in der Werft von Fincantieri in Monfalcone in der Nähe von Triest (Italien). Der Rumpf, der zuerst in zwei Hälften in einem langen Trockendock gebaut wurde, wurde 1986 aus dem Dock gefahren und war mit Unterstützung von zwei Pontons Anfang 1987 vollständig zusammengefügt. Im April 1987 wurden dann die beiden Kräne vom Kranschiff Castoro Otto, welches sich damals schon im Eigentum von Saipem befand, installiert. Die Seeerprobung begann im September 1987 und dauerte zwei Monate.
Nachdem das Schiff am 15. Dezember 1987 an Micoperi überging, wurden die Kosten des Schiffes nicht veröffentlicht. Die Fachpresse schätzte sie damals auf rund 400 Millionen US-Dollar. Durch die niedrigen Ölpreise Ende der 1980erJahre erhielt das Unternehmen Micoperi weniger Aufträge aus der Ölindustrie und geriet in eine finanzielle Schieflage. So war Micoperi 1991 gezwungen, die Micoperi 7000 und zahlreiche andere große Schiffe nebst weiteren Investitionsgütern zu verkaufen. Das Schiff gelangte so 1995 in das Eigentum des damals kleineren Mitbewerbers Saipem, der das Schiff am 24. März 1996 mit seinem heutigen Namen Saipem 7000 versah. Saipem übernahm mit dem Schiff auch die komplette Mannschaft, Teile der Ausrüstung und das Unterstützungsteam an Land.
Aufbau und Technik
Technik des ursprünglichen Schiffes
Rumpf
Der Rumpf des Arbeitsschiffs besteht aus zwei Schwimmkörpern, die über sechs Säulen mit dem Decksaufbau verbunden sind. Der untere Rumpf, die Säulen und der obere Rumpf haben rechteckige Querschnitte. Eine Ausnahme bilden jeweils die Enden des unteren Rumpfes, die wie ein Schiffsbug beziehungsweise -heck geformt sind. Die Außenseite der Säulen schließt mit dem oberen und unteren Rumpf ab, so dass kein Überstand der Decks vorhanden ist, der die Übersichtlichkeit während des Arbeitseinsatzes herabsetzen würde.
Die vordere und hintere Säule sind vollständig in mehrere Tankabteilungen für die Ballasttanks aufgeteilt, während in der mittleren Säule Aufzüge, Treppenhäuser und Stauraum für die Rammhämmer untergebracht sind. Außerdem sind auch dort weitere Tanks eingebaut. Im unteren Rumpf sind unter der mittleren Säule je ein Pumpen- und ein Antriebsraum untergebracht, ansonsten bestehen die Schwimmkörper zum Großteil aus Ballasttanks. Genau über den vorderen Säulen sind aus Stabilitätsgründen die beiden Kräne installiert, während das Deckshaus mit der Kommandobrücke und den Kabinen am Heck über den hinteren Säulen sitzt. Es dient auch als Unterbau für das Landedeck für Hubschrauber.
Der Tiefgang, der bei der Überführung etwa 10,5 Meter beträgt, wird während des Arbeitseinsatzes durch ein kontrolliertes Fluten der Ballasttanks auf bis zu 27,5 Meter erhöht. Durch diese konstruktive Auslegung als Halbtaucher liegt das Schiff bei rauer See oder Oberflächenströmungen wesentlich ruhiger im Wasser als ein konventionelles Schiff.
Energieversorgung und Antriebsanlage
Das Schiff hatte von Anfang an einen dieselelektrischen Antrieb. Die Energieerzeugung erfolgte ursprünglich durch acht Zwölf-Zylinder-Dieselmotoren mit je 5.600 Kilowatt (kW) oder rund 8.400 PS. Die von Grandi Motori Trieste, einem ehemaligen Unternehmen der Fincantieri-Gruppe, das heute zur finnischen Wärtsilä gehört, gebauten Motoren erzeugten so 44.800 kW und lieferten 10.000 Volt Spannung mit einer Frequenz von 60 Hertz, um die Antriebe und sonstigen Aggregate mit elektrischer Energie zu versorgen. Darüber hinaus standen zwei Sechs-Zylinder-Diesel mit je 3.000 kW (4.200 PS) und ein Notstromaggregat zur Verfügung. So konnten zusammen rund 50.800 kW elektrische Energie erzeugt werden. Die Antriebe wurden aus Brandschutzgründen auf vier voneinander getrennte Räume aufgeteilt.
Der Antrieb des Schiffes erfolgte über zehn Strahlantriebe, die sich auf beide Rümpfe wie folgt verteilten:
je ein Strahlantrieb in einem Tunnel am Bug mit 2.500 kW
je zwei einziehbare und schwenkbare Propellergondeln mit je 3.500 kW
je zwei einziehbare und schwenkbare Propellergondeln des Typs Schottel SRP 4.500 mit je 4.500 kW (Nutzung zur Überführung des Schiffes)
Ankeranlage und Dynamische Positionierung
Zur Verankerung bis zu einer Wassertiefe von 450 m setzte die Saipem 7000 16 Anker ein. Die vier Ankerleinen pro Ecke bestehen aus 96 mm starken Stahlseilen mit einer Länge von 3350 m. An den Stahlseilen sind 50 m 92-mm-Ketten befestigt, die die Verbindung zu den 40 Tonnen schweren Noreshore Mark 3-Ankern herstellen. Die Ankerwinden haben eine Leistung von je 1350 kW. Zusätzlich sind zwei 34,5 Tonnen schwere Anker vorhanden, die an 550 m langen und 130 mm (5,125 Zoll) starken Ankerketten hängen.
Das Schiff ist mit einem System zur dynamischen Positionierung (DPS) der Klasse III ausgerüstet. Mit dem System und den frei drehbaren Propellergondeln wird das Schiff vom Computer mit Unterstützung eines Differential Global Positioning System (DGPS) unabhängig von Wind, Strömung und Last auf seiner Position gehalten. Der Betrieb ist zusammen oder unabhängig vom Einsatz des Ankersystems möglich und kann vollautomatisch, teilautomatisch oder manuell mit einem Steuerknüppel gesteuert werden. Das Computersystem des DPS ist redundant ausgelegt.
Krananlage und Ballastsystem
Die Kräne wurden von Officine Meccaniche Reggiane in Italien nach Plänen der American Hoist & Derrick Company (Amhoist) gebaut. Beide Kräne können um 360 Grad geschwenkt werden und mit ihren 140 m langen Auslegern bei einer Ausladung von 40 m 7.000 t mit dem Haupthaken heben.
Des Weiteren sind die Kräne noch jeweils mit drei weiteren Winden und Haken ausgerüstet. Mit dem ersten Nebenhaken kann eine Last von 2.500 t bei 75 m Ausladung und mit dem zweiten Nebenhaken noch 900 t bei 115 m Ausladung gehoben werden. Der Haken an der Kranspitze besitzt eine Tragfähigkeit von 120 t bei 140 m Ausladung. Mit dem zweiten Nebenhaken kann eine Last auch bis zu einer Wassertiefe von 450 m abgesenkt werden. Jeder Kran wird von 11.630 kW (15.600 PS) starken Motoren angetrieben und ist mit Stahlseilen in verschiedenen Durchmessern und von insgesamt 77 Kilometern (km) Länge ausgerüstet.
Die S 7000 kann unter Einsatz beider Kräne im Tandemhub 14.000 t bei einem Radius von 40 m heben. Dies ist bezüglich der Last nur geringfügig weniger als die Thialf, die 14.200 t bei einem Radius von 31,2 m heben kann. Im Vergleich der Lastmomente – die Saipem 7000 erreicht hier 560.000 Metertonnen (mt) – schlägt sie die Thialf mit ihrem maximalen Lastmoment von 443.040 mt aber deutlich.
Das Trimmen des Schiffes und das Ändern des Tiefganges wird von einem computergestützten System gesteuert, das auch für Simulationen geeignet und redundant ausgelegt ist. Das System kontrolliert zwei verschiedene Ballastsysteme, die kombiniert eingesetzt werden können. Zum einen bestehen die Ballastsysteme aus vier konventionellen Pumpen, die gemeinsam bis zu 24.000 Tonnen pro Stunde (t/h) zwischen den 40 Ballasttanks umpumpen können. Die Gesamtkapazität dieser Ballasttanks liegt bei 83.700 Kubikmetern (m³). Zum anderen besteht die Möglichkeit über 2 m große Ventile Wasser frei in spezielle Ballasttanks strömen zu lassen. Die 14 dafür vorgesehenen Ballasttanks haben ein Volumen von 26.000 m³. Diese Fähigkeit wird beispielsweise genutzt, um eine größere Hubgeschwindigkeit durch den steigenden Gegenballast des Schiffes zu erzeugen.
Weitere Ausrüstung
Zum Rammen von Pfählen oder Errichten von Fundamenten stehen folgende Geräte zur Verfügung:
zwei Menck MHU 3000 Hydraulikhammer (die leistungsstärksten Hydraulikhämmer der Welt)
zwei Menck MHU 1700 Hydraulikhammer
zwei Menck MHU 1000 Hydraulikhammer
zwei Menck MHU 600 Hydraulikhammer
ein Menck MHU 220 Hydraulikhammer
ein Menck MHU 195 Hydraulikhammer
zwei Antriebsaggregate für Unter-/Überwasser-Einsatz
ein Kompensator für Hydraulikhämmer
Zum Bewegen von Material auf dem Arbeitsdeck sind außerdem ein 150-t-Raupenkran (Typ: Amhoist 9299), ein 35-t-Hydraulikkran und zwei 5-t-Gabelstapler vorhanden.
Unterkunft und Helikopter-Deck
Zum Unterbringen der Besatzung und der Arbeitsteams stehen heute 388 Einzel- und Doppelkabinen für bis zu 725 Personen zur Verfügung. Darüber hinaus sind an Bord ein Kino, Fitnesscenter und eine eigene Radio- und Fernsehstation vorhanden. Zur Versorgung stehen zwei Messen mit 400 und 70 Plätzen sowie eine Bar und Cafeteria zur Verfügung. Die Unterkünfte sind für den Einsatz in tropischen (bis +45 °C) und kalten Gebieten (bis −20 °C) ausgelegt.
Das Landedeck für Hubschrauber kann zwei Hubschrauber bis zur Größe der Boeing CH-47 Chinook aufnehmen, wobei für eine Maschine eine Parkposition vorhanden ist. Die Betankungsanlage für das Hubschrauberdeck erfüllt dabei dieselben internationalen Vorschriften, die auch für Ölbohrplattformen gelten.
Großer Umbau und Aufrüstung
Die Saipem 7000 wurde jeweils in den Wintermonaten der Jahre 1999 und 2000 umgerüstet und verschiedene Bauteile wurden erneuert oder ergänzt: Ein neues DPS und eine bessere Energieversorgung, höhere Antriebsleistung und ein sehr großer J-Lay-Turm für das Verlegen von Pipelines in sehr großer Wassertiefe (sogenanntes ultra-deep water) waren dabei die wichtigsten Umbauten. Die Arbeiten erfolgten in der niederländischen Werft Keppel Verolme in zwei Schritten.
Erweiterung der Energieversorgung, des Antriebes
Vier Dieselmotoren von Wärtsilä (Typ: Wärtsilä 16V32) zur Energieerzeugung mit je 5.600 kW (nach anderen Angaben mit 5.920 kW), die sich auf zwei neue, voneinander getrennte Generatorräume des Schiffes verteilen, steigerten die Leistungsfähigkeit der elektrischen Anlage um mehr als 60 Prozent. So stehen heute rund 91.000 kW Leistung zur Verfügung.
Zwei zusätzliche einziehbare und schwenkbare Propellergondeln, die im Bug jeweils in einem der vormaligen vorderen Ballasttanks eingebaut wurden und je 5500 kW leisten, verstärkten den Antrieb. Insgesamt erhöhte der Umbau die zur Verfügung stehende Antriebsleistung damit um mehr als 40 Prozent. Die S 7000 ist dadurch heute mehr als 50 Prozent schneller als die Thialf. Durch die Erhöhung der Antriebsleistung verringert sich die Verlege- beziehungsweise Transferdauer des Schiffes, was eine Kosteneinsparung für den Auftraggeber und damit einen Wettbewerbsvorteil für Saipem bedeutet.
Veränderung am DPS
Die DPS-Computer wurden durch neuere Modelle der norwegischen Firma Kongsberg ersetzt: ein dreifach-redundantes SDPM 31-System und ein SDP 11-System, das als Ersatz bei einem Ausfall vorgesehen ist. Die Systeme sind mit einer unterbrechungsfreien Stromversorgung versehen und werden durch ein gyroskop-basierendes Inertiales Navigationssystem unterstützt.
J-Lay-Turm
Auch Rumpf, Deck und die Struktur des Decks mussten umgebaut werden, um den J-Lay-Turm, ebenfalls eine Entwicklung von Gusto, und seine Zusatzausrüstung aufzunehmen. Der J-Lay-Turm der S 7000, der von Huisman-Itrec in Rotterdam konstruiert wurde, ist mit einer Höhe von 135 m der größte der Welt. Mit ihm ist das Verlegen von Pipelines mit einem Durchmesser von etwa 0,1 m bis 0,8 m (4 bis 32 Zoll) und einer Zugspannung von 5,25 Meganewton (MN) mit drei Spannrollen und bis 20 MN mit Reibungsklammern möglich. Im Turm können auch Spezialbauteile für Pipelines bis zu einem Durchmesser von 1200 mm gehandhabt werden.
Pipelinesegmente werden im Verlegebetrieb automatisch von der horizontalen in die vertikale Position geschwenkt. Im J-Lay-Turm der S 7000 können Pipelines bis zu 48,8 m Länge, die aus vier Standardlängen von 12,2 m (entsprechend 40 Fuß) zusammengesetzt (auch quadruple-joints oder quadjoints genannt) wurden, verarbeitet werden. Die Pipelines können bis zu einem Sektionsgewicht von 50 t bei einer Wellenhöhe von bis zu 4 m verlegt werden. Im Einsatz erreicht das Schiff eine Verlegeleistung von bis zu 3 km pro Tag.
Die Verlegetiefe kann bis 3000 m unter dem Meeresspiegel betragen. Der Verlegewinkel der Pipeline wird zwischen 90 und 110 Grad verstellt. In den Turm sind die Schweiß- und Röntgenstation und Anlagen zum Beschichten der Schweißnaht mit Kunststoffen integriert. Der Turm und die gesamte zugehörige Ausrüstung haben ein Gesamtgewicht von 4500 t. Auf dem Deck besteht die Möglichkeit bis zu 6000 t Pipelines für das Verlegen zwischenzulagern. Der J-Lay-Turm ist selbstaufrichtend und kann mit den eigenen Kränen der S 7000 montiert und demontiert werden. Im Rahmen des Umbaues wurde ein weiteres Schiff von Saipem so modifiziert, dass es den J-Lay-Turm zum Transport aufnehmen kann.
Weitere Umbauten
Im Rahmen des Umbaues wurden auch neue Treibstofftanks eingebaut und eine neue CO2-Löschanlage installiert. Die Dampfkessel, die zum Betrieb der Dampfhämmer notwendig waren, wurden entfernt und dafür an der Stelle der ehemaligen Zimmerei des Schiffes ein neues Kesselhaus gebaut. Die Druckschotts für Taucher wurden komplett entfernt, da der Großteil der Unterwasserarbeiten in der Zwischenzeit von Tauchrobotern durchgeführt wird. Trotzdem kann die S 7000 weiter Tauchereinsätze unterstützen, setzt dafür aber jetzt eine Container-basierende Lösung ein, so dass die alte Infrastruktur obsolet wurde. Um mehr Platz für Ausrüstungsteile zu gewinnen, wurden zwei der 16 Anker an den Ecken und deren Ankerwinden entfernt.
Trockendockphase
Am 11. Dezember 2007 wurde die S 7000 das erste Mal in ihrer 20-jährigen Einsatzdauer ins Trockendock gefahren. Im Dock von Keppel Verolme in Rotterdam wurde der komplette Rumpf gereinigt und mit einer neuen Beschichtung versehen. Außerdem wurden Wartungsarbeiten an den Strahlrudern, den Propellergondeln und den Ventilen des Ballastsystems und Schnellballastsystems vorgenommen. Im März 2008 verließ das Schiff nach Abschluss der Arbeiten wieder das Dock.
Einsatz der Saipem 7000
Einsatz des Schiffes bis zum Umbau
Den ersten Einsatz führte das Schiff für Petrobras aus. Dabei installierte die Mannschaft im Campos-Becken, wo sich die größten Erdölvorkommen Brasiliens befinden, sieben Plattformen. Danach arbeitete die M 7000 für Conoco im Jolliet-Feld im Golf von Mexiko. 1989 kam der Schwimmkran erstmals in die Nordsee, wo er unter anderem die Gyda für BP, Togi für Norsk Hydro und die Veslefrikk für Statoil, die in der Zwischenzeit beide zu StatoilHydro fusionierten, montierte. Die M 7000 arbeitete in den 1990er-Jahren weiter hauptsächlich an Öl- oder Gas-Plattformen in der Nordsee, dem Golf von Mexiko, vor der kanadischen Ostküste und der Westküste von Afrika.
Auch am Zerlegen der Odin-Plattform von Esso war das – schon in Saipem 7000 umbenannte – Schiff beteiligt. Die 13.450-t-Gasplattform wurde auf Weisung der norwegischen Regierung 1996 rückgebaut. Die schwersten Bauteile waren dabei die Technik- und Versorgungsmodule mit dem Deck und einem Gewicht von rund 5200 t. Die 6176 t schwere Unterkonstruktion wurde zuerst mit einem Tauchroboter in fünf Teile zerlegt und dann gehoben. Der Fall erregte, ähnlich wie die geplante Versenkung der Brent Spar, weltweite Aufmerksamkeit, weil mit dem Rückbau der Odin-Plattform deutlich gemacht wurde, dass derart große und schwere Strukturen auch unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten wieder zerlegt werden können, und nicht nur als künstliches Riff versenkt oder mit den enthaltenen Schadstoffen zurückgelassen werden müssen.
Heutige Einsätze, Projekte und Rekorde
Im Jahr 2004 überbot die S 7000 den Rekord der Thialf für die größte Last, die je mit einem Schwimmkran gehoben wurde, als sie ein Deck der Bohrplattform Sabratha im Mittelmeer mit einem Gewicht von 12.100 t hob. Dieser Rekord wurde erst 2019 gebrochen, als die Sleipnir die 15.300-t-Plattform „Leviathan“ hob.
Auch den lokalen Rekord für den Golf von Mexiko hat die S 7000 im April 2007 erhöht, als sie für PEMEX das 9521 t schwere Deck der Plattform PB-KU-A2 im vollen DPS-Betrieb hob. Sie brach damit ihren eigenen Rekord vom 14. Dezember 2006, bei dem sie das 9025 t schwere Deck der PB-KU-S installierte.
Auch bei großen Unterwasser-Pipeline-Projekten konnte die S 7000 mit Höchstleistungen aufwarten: Ab 2002 hielt sie für einige Jahre den Weltrekord für die größte Tiefe, in der je eine Pipeline installiert wurde. Die 24-Zoll-Pipeline wurde für das Blue-Stream-Projekt im Schwarzen Meer in bis zu 2150 m Tiefe verlegt. Der Rekord wurde im Jahr 2005 von der Balder gebrochen, als diese in einer Tiefe von 2200 m Teile einer Pipeline im Rahmen des Mardi-Gras-Projektes im Golf von Mexiko legte.
Seit dem großen Umbau arbeitete die Saipem 7000 – neben der Durchführung des Blue-Stream-Projektes – auch am Diana-Projekt und am Verlegen der Langeled Pipeline, der zweitlängsten Unterwasserpipeline der Welt, zur Erschließung des Ormen-Lange-Gasfeldes in der Nordsee. Obwohl die S 7000 – gerade seit der Erweiterung um den J-Lay-Turm – sehr viele große Pipeline-Projekte ausgeführt hat, bleibt ihr Arbeitsschwerpunkt der Schwerlasteinsatz beim Installieren und Umbau von Plattformen und Modulen sowie beim Zerlegen. Die Haupteinsatzgebiete bilden die Nordsee und der Golf von Mexiko.
Schwere Unfälle an Bord
Am 24. März 2003 starb ein italienischer Saipem-Arbeiter 10 Tage nach einem schweren Unfall, der sich am 14. März 2003 im Inneren eines Containers mit einem Dieselgenerator ereignete. Die Saipem 7000 befand sich zum Unfallzeitpunkt aufgrund des Wetters in der Nordsee auf einer Warteposition, um einen Kraneinsatz für ein Erweiterungsprojekt von Statoil an der Vigdis durchzuführen.
Am 12. August 2007 kam es bei einem Schwerlast-Kraneinsatz für Statoil im Tordis-Feld zu einem tödlichen Unfall, als ein Arbeiter vermutlich durch eine sich plötzlich straffende Hydraulikleitung über Bord geworfen wurde. Die Leiche des philippinischen Arbeiters wurde nach der Suche mit Hubschraubern und Begleitschiffen rund eineinhalb Stunden später von einem Tauchroboter der S 7000 in einer Tiefe von 200 m gefunden. Eine Untersuchung des Unfalls durch die norwegische Petroleum Safety Authority (PSA) brachte zahlreiche Verstöße gegen Regeln und Verfahrensweisen auf Seiten von Statoil und Saipem ans Licht. Dies war der erste tödliche Unfall in der Ölindustrie auf dem norwegischen Schelf seit dem Jahr 2002.
Bei einem Kranunfall an Bord der S 7000 am 16. September 2008 wurden vier Arbeiter getötet und vier weitere verletzt, als ein Pipeline-Segment herabstürzte. Der Unfall ereignete sich im Rahmen des Medgaz-Unterwasserpipeline-Projektes zwischen Algerien und Spanien.
Technische Daten
Abmessungen:
Gesamtlänge: 197,95 m
Breite: 87 m
Decksgröße (obere Plattform): 175 m× 87 m× 8,5 m
Decksgröße (unteres Ponton): 165 m× 33 m× 11,25/15,25 m
Tiefgang: 10,5–27,5 m
Höhe des Decks über Wasserspiegel: 45 m
Ballastsystem:
Ballasttanks: 40 Tanks mit 83.700 m³
Trimmpumpen: 4× 6.000 m³/h
Freiström-Ballasttanks: 14 Tanks mit 26.000 m³
Sonstiges:
Decksfläche: 9.000 m²
Gesamttragfähigkeit des Decks: 15.000 t
Fahrgeschwindigkeit: 9,5 Knoten
Siehe auch
Übersicht über die leistungsfähigsten Schwimmkräne
Weblinks
Saipem 7000. Saipem.it (englisch) abgerufen am 11. April 2010
Download-Link zur Broschüre der Saipem 7000. (PDF; 828 kB) Saipem.it (englisch) abgerufen am 11. April 2010
Einzelnachweise
Schiff (Bahamas)
Schiff (Italien)
Halbtaucherschiff
Schwimmkran
Rohrleger
Schiff mit dieselelektrischem Antrieb
Fincantieri
Eni (Unternehmen) |
4417023 | https://de.wikipedia.org/wiki/Forschungsreaktor%20Haigerloch | Forschungsreaktor Haigerloch | Der Forschungsreaktor Haigerloch war eine deutsche Kernreaktor-Versuchsanlage. Sie wurde während der Endphase des Zweiten Weltkriegs Anfang 1945 in einem Felsenkeller im hohenzollerischen Haigerloch gebaut.
In diesem letzten Großversuch des Uranprojekts mit dem Namen B8 wurde eine nukleare Kettenreaktion durch Neutronenbeschuss von Uran in schwerem Wasser herbeigeführt und beobachtet. Die Kritikalität der Kettenreaktion wurde nicht erreicht; die Anlage war auch nicht für einen Betrieb im kritischen Zustand ausgelegt, und die heute für sie oft verwendete Bezeichnung Reaktor trifft deshalb nur eingeschränkt zu. Spätere Berechnungen ergaben, dass der Reaktor etwa die eineinhalbfache Größe hätte haben müssen, um kritisch zu werden.
Die US-amerikanische Spezialeinheit Alsos fand die Anlage am 23. April 1945 und demontierte sie am folgenden Tag. Die beteiligten Wissenschaftler wurden gefangen genommen und die verwendeten Materialien in die Vereinigten Staaten ausgeflogen. Heute befindet sich am ehemaligen Standort des Reaktors das Atomkeller-Museum.
Vorgeschichte
Vorangegangene Reaktorversuche
Das Hauptziel des deutschen Uranprojekts im Zweiten Weltkrieg war die technische Nutzbarmachung der im Jahr 1938 von Otto Hahn und Fritz Straßmann experimentell erforschten und von Lise Meitner theoretisch erklärten Kernspaltung. In einer Reihe von Reaktorversuchen, genannt „Großversuche“, wollte man die theoretischen Überlegungen zur Energiegewinnung aus Uran praktisch erproben. Hierzu beschoss man Natururan in schwerem Wasser als Moderator mit Neutronen und beobachtete die sich dabei ergebende Vermehrung der Neutronen. Die Forscher des Uranprojekts bezeichneten ihr Entwicklungsziel nicht als Reaktor, sondern als „Uranmaschine“ oder „Uranbrenner“.
Unter Leitung des Nobelpreisträgers Werner Heisenberg wurden am Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik in Berlin-Dahlem von 1941 bis 1944 insgesamt sieben Großversuche mit Namen B1 bis B7 durchgeführt. Dabei untersuchten die Physiker mit wachsendem Erfolg Platten aus Uranmetall verschiedener Dicke auf ihre Reaktivität.
In einer zweiten Versuchsanstalt in Leipzig wurden von Heisenberg und seinen Mitarbeitern in den Jahren 1941 und 1942 vier weitere Versuche L1 bis L4 mit in schwerem Wasser gelösten Uranoxid unternommen. Nach zwei kleineren Unfällen wurde diese Forschungsrichtung abgebrochen und seitdem ausschließlich Gussuran verwendet. Die Unfälle bei diesen Versuchen stellen – sensu lato – die ersten überlieferten „Reaktorunfälle“ der Geschichte dar – Jahre bevor an eine kommerzielle Nutzung der Kernspaltung überhaupt nur zu denken gewesen wäre.
Parallel dazu arbeitete in der Versuchsstelle Gottow bei Berlin unter der Leitung von Kurt Diebner eine weitere Gruppe an ähnlichen Versuchen. In ihren drei Versuchen G1 bis G3 wurden 1942 und 1943 mit guten Resultaten Uranwürfel statt Platten eingesetzt; als Moderator wurde dabei neben schwerem Wasser auch Paraffin verwendet. Die Heisenberg- und die Diebner-Gruppe standen in Konkurrenz um die knappen Materialien. Im Paraffin wirkt sowohl der Wasserstoff als auch der Kohlenstoff der enthaltenen Kohlenwasserstoffe als Moderator. Noch heute werden die Neutronen aus kleineren Neutronenquellen oft mit Paraffin abgebremst. Versuche Kernreaktoren mit organischen Stoffen zu kühlen/moderieren kamen jedoch bisher nicht über das Versuchsstadium hinaus.
Verlagerung der Forschungen
Im Jahr 1943 waren alle größeren deutschen Städte von alliierten Bombenangriffen bedroht. Daher beschloss man, das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik in eine ländlichere Gegend auszulagern. Die Anregung, dafür die Hohenzollerischen Lande zu nutzen, ging wahrscheinlich auf den Leiter der Fachsparte Physik im Reichsforschungsrat Walther Gerlach zurück, der an der Universität Tübingen studiert hatte, dort auch Ende der 1920er Jahre Professor gewesen war und daher die Gegend kannte. Für den süddeutschen Raum sprach auch, dass er bis dahin von Luftangriffen weitgehend verschont geblieben war. Außerdem favorisierten die beteiligten Wissenschaftler Süddeutschland, um im Falle einer Niederlage nicht in sowjetische Gefangenschaft zu geraten.
In der Folge wurde das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik in das von Haigerloch 15 Kilometer entfernte Hechingen ausgelagert und dort in den Textilbetrieben Grotz und Conzelmann sowie im Brauereigebäude des ehemaligen Franziskanerklosters Sankt Luzen untergebracht. Die Verlagerung erfolgte in mehreren Schritten; etwa ein Drittel des Instituts zog bis Ende 1943 nach Hechingen, im Laufe des Jahres 1944 folgten Carl Friedrich von Weizsäcker und Karl-Heinz Höcker aus Straßburg und schließlich Heisenberg selbst. Parallel dazu wurde das Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie mit Otto Hahn und Max von Laue in das nahe gelegene Tailfingen (heute Albstadt-Tailfingen) verlagert.
Im Januar 1945 waren vom Uranverein nur noch Karl Wirtz, Kurt Diebner und einige Techniker in Berlin geblieben. Wirtz war gerade dabei, den bis dahin größten deutschen Reaktorversuch im immer noch intakten Dahlemer Institutsbunker aufzubauen, als die Rote Armee bis auf 80 Kilometer vor Berlin vorstoßen konnte. Daraufhin beschloss Gerlach am 27. Januar 1945, den fast abgeschlossenen Versuchsaufbau abzubrechen. Er fuhr umgehend nach Berlin, um alle Wissenschaftler und Materialien nach Süddeutschland zu evakuieren.
Vorbereitungen
Der Felsenkeller
Bereits am 29. Juli 1944 war der zufällig entdeckte Kartoffel- und Bierkeller des Haigerlocher Schwanenwirts für monatlich 100 Reichsmark als neuer Standort des Berliner Forschungsreaktors angemietet worden. Der Felsenkeller war Anfang des 20. Jahrhunderts für einen Tunnelbau der Hohenzollerischen Landesbahn angelegt worden. Er war im schmalen Eyachtal in den Berg unter der dortigen Schlosskirche getrieben und gegen Bombenangriffe durch eine 20 bis 30 Meter dicke Felsschicht aus Muschelkalk geschützt.
Das etwa 20 Meter lange und etwa drei Meter hohe Tunnelstück besaß einen trapezförmigen Querschnitt, wobei die Decke etwa vier Meter und der Boden etwa fünf Meter breit waren. Der Tunnel war auf seiner gesamten Länge durch hölzerne Stützbalken abgestützt, die in einem Abstand von zwei Metern angebracht waren. Ein kleiner zweiteiliger Vorbau verbarg den Eingang.
Im hinteren Teil des Felsenkellers wurde für den Reaktor eine drei Meter tiefe zylindrische Grube ausgehoben, an der Kellerdecke wurde ein Transportkran installiert und in der verlassenen Bierstube auf der gegenüberliegenden Straßenseite wurde ein Dieselgenerator aufgebaut. Bis Ende 1944 waren die Umbauarbeiten im Felsenkeller, der als „Höhlenforschungsstelle“ getarnt wurde, so weit fortgeschritten, dass dort mit dem Aufbau des Reaktors begonnen werden konnte.
Transport der Materialien
Am 31. Januar 1945 verließen Gerlach, Wirtz und Diebner an der Spitze eines kleinen Konvois die Hauptstadt. Ihnen folgten mehrere Lastwagen, die mit einigen Tonnen schwerem Wasser, Uran, Graphit und technischer Ausrüstung beladen waren. Nach einer nächtlichen Fahrt auf eisglatter Autobahn hielt der Konvoi am folgenden Tag etwa 240 Kilometer südlich von Berlin im thüringischen Stadtilm, wohin Diebners Arbeitsgruppe im vorangegangenen Sommer verlagert worden war. Gerlach glaubte, dass Diebners Laboratorium fortgeschrittener wäre als das von Heisenberg, und beschloss kurzerhand, die Materialien dort abzuladen. Sehr verärgert über die Änderung des Plans kontaktierte Wirtz Heisenberg in Hechingen, der sofort zusammen mit von Weizsäcker nach Stadtilm aufbrach und nach abenteuerlicher Reise mit Fahrrad, Eisenbahn und Auto drei Tage später dort eintraf.
Vor Ort versuchte Heisenberg Gerlach davon zu überzeugen, die Materialien doch nach Haigerloch zu schaffen. Die beiden fuhren am 12. Februar 1945 nach Hohenzollern, um die Lage vor Ort zu inspizieren. Wirtz blieb indessen in Stadtilm, um sicherzustellen, dass die Materialien nicht in Diebners Experimenten verwendet wurden. Nachdem sich Gerlach in Haigerloch vergewissert hatte, dass der Felsenkeller als neuer Standort des Reaktors besser geeignet war, stimmte er der erneuten Verlagerung zu. Wieder wurden Lastwagen beschafft und am 23. Februar 1945 brach der Physiker Erich Bagge mit einem neuen Konvoi von Haigerloch auf, um die Materialien von ihrem Lager in Stadtilm abzuholen.
Vier Wochen nach der Abreise aus Berlin kamen Ende Februar 1945 schließlich 1,5 Tonnen Uran, 1,5 Tonnen schweres Wasser, 10 Tonnen Graphit und eine geringe Menge Cadmium in Haigerloch an. Das Uran war in Sankt Joachimsthal im Sudetenland abgebaut worden und stammte von der deutschen Degussa. Das schwere Wasser war von Norsk Hydro in Norwegen produziert worden. Zudem war von dem Physiker Fritz Bopp aus Berlin eine 500 Milligramm schwere Radium-Beryllium-Probe als Neutronenquelle eingeflogen worden. Bei Diebner in Stadtilm verblieben über zehn Tonnen Uranoxid sowie geringe Mengen an Uranmetall und schwerem Wasser.
Der Forschungsreaktor
Die Anlage
Als die Materialien in Haigerloch eingetroffen waren, wurde umgehend mit dem Wiederaufbau der Versuchsanlage begonnen. An der Konstruktion und an den Experimenten arbeiteten führend von Weizsäcker und Wirtz. Heisenberg selbst leitete das Projekt von Hechingen aus, er fuhr oft mit dem Fahrrad zwischen den beiden Städten hin und her. Weitere vor Ort am Projekt beteiligte Wissenschaftler waren neben Bagge und Bopp unter anderem Horst Korsching und Erich Fischer.
Die äußere Hülle des Reaktors bestand aus einem Betonzylinder, in den ein Kessel aus Aluminium mit 210,8 Zentimetern Durchmesser und 216 Zentimetern Höhe eingesetzt wurde. Der Aluminiumkessel lagerte auf Stützbalken aus Holz, die auf dem Boden lagen, der Zwischenraum wurde mit normalem Wasser aufgefüllt. In den Aluminiumkessel wurde ein weiterer Kessel aus einer sehr leichten Magnesium-Legierung mit einem Durchmesser von 124 Zentimetern und der gleichen Höhe eingesetzt. Der Magnesiumkessel war bereits im Großversuch B6 verwendet worden, der Aluminiumkessel war erstmals im Großversuch B7 zum Einsatz gekommen. Beide Kessel wurden von der Berliner Firma Bamag-Meguin hergestellt.
Zwischen den beiden Kesseln lag eine 43 Zentimeter dicke und 10 Tonnen schwere Graphitschicht, die als Neutronenreflektor und Abschirmung diente. Graphit als Reflektor war erstmals im vorangegangenen Großversuch B7 zum Einsatz gekommen; bei noch früheren Versuchen hatte man ihn nicht verwendet, weil die Neutronen-Absorption in Graphit von Walther Bothe 1941 zu hoch eingeschätzt worden war. Der Deckel des inneren Kessels bestand aus zwei Magnesiumplatten, zwischen denen sich ebenfalls eine Graphitschicht befand.
An diesem Deckel wurden an 78 Aluminiumdrähten insgesamt 664 Würfel aus Natururan mit fünf Zentimetern Kantenlänge und je 2,4 Kilogramm Gewicht befestigt. 40 Drähte hielten jeweils neun Würfel, die übrigen 38 Drähte je acht Würfel. Die Uranwürfel mit einem Gesamtgewicht von 1,58 Tonnen wurden mit Hilfe des Krans in das innere Gefäß eingelassen, durch den Deckel wurde die gesamte Anordnung verschlossen. In dem sich so ergebenden kubisch-flächenzentrierten Gitter waren die Uranwürfel jeweils in den Ecken und in den Flächenmittelpunkten eines gedachten Raumwürfels angeordnet. Die Uranwürfel hatten dabei einen Abstand von 14 Zentimetern.
Das Schema mit den versetzten Uranwürfeln war erstmals 1943 von Diebner im Großversuch G3 in der Versuchsanlage des Heereswaffenamtes in Gottow verwendet worden. In den Berliner Versuchen waren bisher Uranplatten eingesetzt worden, jedoch mit schlechteren Ergebnissen. Ursprünglich wollten die Physiker eine Konstruktion aus hängenden Uranzylindern, vergleichbar heutigen Brennstäben, erproben. Die Zeit reichte aber für eine Herstellung solcher Zylinder nicht mehr aus und die Forscher entschlossen sich daher, Diebners Entwurf zu kopieren. Idealerweise hätten die Würfel eine Kantenlänge zwischen sechs und sieben Zentimetern haben sollen, die Wissenschaftler mussten jedoch die kleineren Würfel aus Diebners letzten Experimenten mitverwenden und schnitten daher die Uranplatten auf die gleiche Größe zu.
In das Zentrum des Reaktors konnte durch einen sogenannten Kamin die Radium-Beryllium-Neutronenquelle eingebracht werden. Ebenfalls durch den Kamin wurde während des folgenden Versuchs das schwere Wasser, das in drei großen Tanks am Ende des Tunnels gelagert war, in das innere Reaktorgefäß eingefüllt. Außerdem befanden sich im Deckel Kanäle, durch die Neutronendetektoren eingeführt wurden. Damit konnte unter Ausnutzung der zylindrischen Symmetrie die räumliche Neutronenverteilung in der gesamten Anordnung gemessen werden. Die Aufbauarbeiten am Reaktor wurden in der ersten Märzwoche 1945 abgeschlossen.
Ziele des Versuchs
Im Großversuch B8 sollte durch Neutronenbeschuss von Uran eine Kernspaltungskettenreaktion herbeigeführt und beobachtet werden. Die Haigerlocher Versuche waren Grundlagenforschung. Ihr Zweck war, aus den Messungen die damit verbundenen kernphysikalischen Kenngrößen, wie zum Beispiel Wirkungsquerschnitte, so weit wie möglich zu bestimmen. Diese Erkenntnisse waren für friedliche Nutzungen der Kernspaltung nötig, aber auch für militärische Nutzungen zumindest hilfreich. Mindestens einige Beteiligte hofften auch, eine Kritikalität der Anlage zu erreichen und so – vermeintlich erstmals – eine selbsterhaltende Spaltungs-Kettenreaktion nachzuweisen. Sie konnten nicht wissen, dass dies bereits im Dezember 1942 Enrico Fermi und seinen Mitarbeitern am Kernreaktor Chicago Pile 1 in den Vereinigten Staaten gelungen war.
Die Anlage hatte aber keine Einrichtungen, einen kritischen Zustand zu regeln und wieder abzuschalten. Es waren weder Kontrollstäbe vorgesehen noch gab es eine Möglichkeit, das einmal eingefüllte schwere Wasser schnell wieder abzulassen. Falls die gemessene Neutronenflussdichte und damit die Kernreaktionsrate zu stark angestiegen wäre, plante man, den Versuch vor Erreichen der Kritikalität durch schnelles Herausziehen der Neutronenquelle und Beenden der Schwerwasserzufuhr abzubrechen. Zur Begrenzung der Leistung im Fall der Kritikalität verließ man sich auf den Dopplerkoeffizienten, der die Neutronenmultiplikation bei steigender Temperatur automatisch verringert hätte. Wäre die Anlage entgegen allen Erwartungen außer Kontrolle geraten, hätte man das Cadmiumstück, das als Neutronenabsorber wirkt, durch den Kamin in den Reaktor eingeworfen und so die Kettenreaktion unterbrochen. Jedoch auch schon bei sehr hoher Neutronenmultiplikation der unterkritischen Anordnung hätten sich die Physiker dabei einer hohen Strahlendosis ausgesetzt, denn die Anlage besaß nach oben hin keine genügende Strahlenabschirmung.
Die Möglichkeit der militärischen Nutzung ihrer Arbeiten war den Beteiligten bewusst, denn Heisenberg hatte dem Heereswaffenamt bereits Ende 1939 mitgeteilt, dass Uran-235 ein starker Atomsprengstoff sein müsse. Auch von Weizsäcker hatte frühzeitig auf die Verwendbarkeit als Waffe hingewiesen, ebenso darauf, dass in Uranreaktoren ein neues spaltbares Element – später als Plutonium bekannt – entstehen müsse. Die Haigerlocher Versuche hätten grundsätzlich zu einer Bestätigung dieser Vermutungen führen können, jedoch war den Wissenschaftlern auch klar, dass zur Entwicklung einsatzbereiter Waffen noch viele Jahre aufwendiger Forschungsarbeit nötig gewesen wären.
Der Großversuch B8
Beim entscheidenden Versuch Anfang März 1945 war auch Heisenberg im Keller anwesend, der „dabeisaß und ständig rechnete“. Nachdem der Reaktor geschlossen und die Neutronenquelle eingelassen worden war, wurde das schwere Wasser vorsichtig in das innere Reaktorgefäß eingefüllt. In regelmäßigen Abständen wurde die Wasserzufuhr unterbrochen und die Vermehrung der Neutronen an den Sonden verfolgt. Durch Antragen des Kehrwerts der gemessenen Neutronenintensität gegen die Menge an eingefülltem schweren Wasser – eine Idee Heisenbergs – konnten die Wissenschaftler den Wasserstand vorhersagen, bei dem der Reaktor kritisch werden würde.
Es trat jedoch keine Kritikalität ein, selbst nachdem das gesamte verfügbare schwere Wasser eingefüllt worden war. Die Neutronendichte war in der gefüllten Anordnung im Vergleich zur Leermessung auf das 6,7-fache angestiegen. Dieser Wert war zwar doppelt so hoch wie beim vorangegangenen Versuch, aber immer noch nicht genug, um eine selbsterhaltende nukleare Kettenreaktion zu erreichen. Der Neutronen-Multiplikationsfaktor lag bei k=0,85; der Kritikalität hätte k=1 entsprochen. Spätere Berechnungen ergaben, dass die Anlage etwa die eineinhalbfache Größe hätte haben müssen, um kritisch zu werden.
Eine Vergrößerung der Anordnung war jedoch unter den gegebenen Umständen nicht möglich, da weder Zeit noch genügend weiteres Uran und schweres Wasser zur Verfügung standen. Bereits im November 1943 war die Schwerwasser-Fabrik von Norsk Hydro in Rjukan durch britische Bomber zerstört worden, im September 1944 waren auch die Degussa-Werke in Frankfurt am Main durch ein Bomberkommando schwer getroffen worden.
In einem letzten Anlauf, den Reaktor doch noch kritisch werden zu lassen, wollte Heisenberg die Reste an schwerem Wasser und Uran, die in Stadtilm verblieben waren, nach Haigerloch schaffen. Zudem wollte er alle Theorie in den Wind schlagen und Uranoxid in den Graphitschild einbringen. Wirtz hatte während der letzten Messungen festgestellt, dass Graphit doch einen besseren Moderator abgeben würde als bisher angenommen. Sie konnten jedoch im mittlerweile zusammenbrechenden deutschen Kommunikationsnetz keinen Kontakt mehr mit Stadtilm herstellen.
Genauere Einzelheiten über die Anlage und den Ablauf des Versuchs können heute nicht mehr festgestellt werden, da der Originalbericht unter den später in die USA gebrachten Dokumenten der Gruppe nicht mehr verfügbar ist. Allerdings existiert eine von Heisenberg und Wirtz nachträglich, vermutlich um 1950, geschriebene gründliche Gesamtdarstellung aller acht Großversuche. Bei einer späteren Analyse zweier Uranwürfelfragmente aus Haigerloch durch das Institut für Transurane am Forschungszentrum Karlsruhe stellte sich heraus, dass das Uran nur mit relativ wenig Neutronen bestrahlt worden war; Plutonium konnte nicht nachgewiesen werden.
Dies weist darauf hin, dass die Forscher nicht kurz vor einer nuklearen Kettenreaktion standen. Von der Möglichkeit, eine Atomwaffe herzustellen, waren sie noch weit entfernt gewesen.
Verfolgung und Zerstörung
Die Alsos-Mission
Die Alliierten hegten schon lange den Verdacht, dass die deutschen Forscher an einer Atombombe arbeiteten. Ziel der 1943 im Rahmen des Manhattan-Projekts unter General Leslie R. Groves gegründeten US-amerikanischen Spezialeinheit Alsos war es, die deutschen kerntechnischen Forschungsanlagen offenzulegen und sicherzustellen sowie die führenden Wissenschaftler gefangen zu nehmen. So sollte nicht nur das eigene Atomwaffenprogramm vorangetrieben werden, sondern auch eine Verwendung des Wissens durch die Sowjetunion und die anderen späteren Besatzungsmächte verhindert werden. Militärischer Leiter der Mission war Oberstleutnant Boris Pash, das wissenschaftliche Team wurde von dem niederländischstämmigen Physiker Samuel Goudsmit geführt.
Den US-Amerikanern war bis Ende 1944 nicht genau bekannt, wie weit die deutsche Forschung vorangeschritten war. Die Alsos-I-Mission im Winter 1943/44 in Italien war weitgehend erfolglos verlaufen. Erst Ende November 1944 wurden während der Alsos-II-Mission in Frankreich in Weizsäckers Büro an der Universität Straßburg Briefe von anderen Mitgliedern des Uranvereins gefunden, aus denen man schließen konnte, dass Deutschland keine Atombombe hatte und auch in absehbarer Zeit keine herstellen würde. Es wurden aber auch Unterlagen entdeckt, die auf ein verdächtiges Forschungslabor in der zukünftigen französischen Besatzungszone in Hechingen hindeuteten. Um den französischen Truppen zuvorzukommen, erwogen Groves und Pash, die Anlage mit Fallschirmjägern aus der Luft anzugreifen oder durch Bombenangriffe zu zerstören. Der Physiker Goudsmit konnte die beiden jedoch überzeugen, dass das Uranprojekt diesen Aufwand nicht wert sei, und so entschloss man sich für eine Landoperation.
Die ersten Spezialeinheiten der Alsos-III-Mission überquerten zusammen mit der 7. US-Armee am 26. März 1945 den Rhein. Sie konnten am 30. März 1945 in Heidelberg die Physiker Walther Bothe und Wolfgang Gentner aufgreifen, die dort an ihrem Zyklotron arbeiteten. Dort erfuhr Goudsmit, dass die Kernforschungsanlagen des Uranprojekts nach Haigerloch bei Hechingen und in die zukünftige sowjetische Besatzungszone nach Stadtilm verlagert worden waren. Pash beschloss, zunächst Stadtilm aufzusuchen, um der sowjetischen Armee zuvorzukommen. Sie schafften es, etwa drei Wochen vor den sowjetischen Streitkräften dort einzutreffen, Diebner war jedoch mit seinen Mitarbeitern und Materialien bereits in Richtung München in die zukünftige amerikanische Besatzungszone geflohen. Nun mussten sie nur noch verhindern, dass der Haigerlocher Reaktor in französische Hände fiel.
Die Zerstörung der Anlage
Die französische Armee kam am 22. April 1945 nach Haigerloch, das unterirdische Atomlabor wurde von ihnen jedoch nicht bemerkt. Die Alsos-Mission traf im Rahmen der Operation Harborage einen Tag später in der französischen Besatzungszone ein, fand die Apparatur und demontierte sie am folgenden Tag. Erst jetzt stellten die US-Amerikaner fest, dass die deutschen Forschungen um mehr als zwei Jahre hinter ihren eigenen zurücklagen. Es wurde ihnen nun auch offenbar, dass das gesamte deutsche Uranprojekt im Vergleich zum Manhattan-Projekt auf einem sehr kleinen Maßstab angesetzt war:
Die deutschen Wissenschaftler hingegen glaubten, dass ihre Arbeiten fortgeschrittener als die der US-Amerikaner seien, und zeigten sich zunächst unkooperativ. Die Uranwürfel und das schwere Wasser waren aus der Anlage entfernt und gut versteckt worden. Nach stundenlangen Verhören konnte man Wirtz und von Weizsäcker jedoch die Nennung der Verstecke mit dem falschen Versprechen entlocken, dass sie ihre Versuche nach dem Krieg unter dem Schutz der Alliierten wieder aufnehmen dürften. 659 der 664 Uranwürfel wurden vergraben in einem Acker neben der Schlosskirche gefunden, das schwere Wasser war in den Keller einer alten Mühle geschafft worden. Die wissenschaftlichen Unterlagen, darunter die streng geheimen Kernphysikalischen Forschungsberichte, hatte von Weizsäcker in einer Senkgrube hinter seinem Haus in Hechingen versteckt.
Die Materialien und wissenschaftlichen Berichte wurden von den US-Amerikanern sichergestellt und über Paris in die Vereinigten Staaten ausgeflogen. Die Teile der Reaktoranlage, die nicht abtransportiert werden konnten, wurden durch mehrere kleine Sprengungen zerstört. Eine größere Sprengung im Felsenkeller hätte vermutlich die darüber liegende barocke Schlosskirche schwer beschädigt. Der damalige Pfarrer konnte dies verhindern, indem er den US-Amerikanern die Kirche zeigte und so Pash überzeugte, lediglich kleinere Sprengungen durchzuführen.
Ein französisches Einsatzkommando unter der Leitung des Physikers Yves Rocard, das auf der Suche nach der Anlage kurz nach den US-amerikanischen Truppen nach Hechingen kam, fand dort nur noch ein Uranstück aus einem Labor in der Größe eines Würfelzuckers vor. Dennoch sollen Teile aus dem Haigerlocher Forschungsreaktor, etwa die hochreinen Graphitziegel, im ersten französischen Kernreaktor ZOÉ wiederverwendet worden sein.
Folgen
Weitere Entwicklungen
Die Wissenschaftler der beiden Kaiser-Wilhelm-Institute wurden von den US-Amerikanern in ihren Büros und Wohnungen in Hechingen und Tailfingen verhaftet. Heisenberg selbst wurde einige Tage später in Urfeld am Walchensee aufgegriffen, wo er ein Haus besaß und die letzten Kriegstage mit seiner Familie verbrachte, Gerlach und Diebner wurden in und bei München aufgefunden. Die zehn führenden Köpfe des Uranprojekts (Bagge, Diebner, Gerlach, Hahn, Heisenberg, Korsching, von Laue, von Weizsäcker und Wirtz, dazu der Physiker Paul Harteck) wurden in der Operation Epsilon von Juli 1945 bis Januar 1946 im britischen Farm Hall interniert. Dort erfuhren sie im August 1945 von den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki und so auch von den Fortschritten der US-Amerikaner in der Nukleartechnik und deren Folgen. Die deutschen Wissenschaftler waren tief erschüttert, aber gleichzeitig auch erleichtert:
Die zehn Forscher kehrten nach der Internierung in ihre Heimat zurück, wo sie – mit Ausnahme Diebners – angesehene Positionen im Wissenschaftsbetrieb einnehmen konnten. Durch das Kontrollratsgesetz Nr. 25 wurde es Deutschland in den Nachkriegsjahren zwar untersagt, weitere Entwicklungen eines Kernreaktors voranzutreiben, Heisenberg dachte aber bereits 1950 wieder über einen deutschen Reaktor nach.
Es sollte bis 1957 dauern, bis der erste Kernreaktor auf deutschem Boden, der Forschungsreaktor München, in Betrieb ging. Im selben Jahr sprachen sich die meisten Mitglieder des Uranprojekts zusammen mit anderen führenden deutschen Kernphysikern im Göttinger Manifest gegen eine militärische Nutzung der Kernenergie in Deutschland aus.
Heute befindet sich im Felsenkeller das 1980 eröffnete Atomkeller-Museum, in dem neben einem Nachbau des Reaktors auch zwei der fünf verbliebenen Uranwürfel ausgestellt sind. Einer der beiden Würfel war von Heisenberg mitgenommen und Anfang der 1960er Jahre von spielenden Kindern am Flüsschen Loisach in der Nähe seines Wohnorts wiedergefunden worden.
Weiterverarbeitung der Ereignisse
In dem zweiteiligen deutschen Fernsehfilm Ende der Unschuld aus dem Jahr 1991 wird die Entwicklung des Uranprojekts von der Entdeckung der Kernspaltung 1938 bis zu den Versuchen in Haigerloch und der folgenden Internierung der Wissenschaftler 1945 dokumentarisch beleuchtet. Einige der Filmszenen wurden am Originalschauplatz im Haigerlocher Felsenkeller gedreht. Für Buch und Regie erhielt Drehbuchautor Wolfgang Menge zusammen mit Regisseur Frank Beyer 1991 den Deutschen Fernsehfilmpreis.
Das Theaterstück Kopenhagen von Michael Frayn aus dem Jahr 1998 handelt von einem fiktiven Treffen von Heisenberg mit Niels Bohr und seiner Frau Margarete zu einem unbestimmten Zeitpunkt nach Ende des Krieges. Zum Ende des ersten Aktes reflektiert Heisenberg über die Arbeiten am Haigerlocher Forschungsreaktor, die fehlenden Sicherheitsmaßnahmen und das Bestreben, erstmals die Kritikalität zu erreichen. Das Drei-Personen-Stück erhielt im Jahr 2000 den Tony Award für das beste Theaterstück. Ein reales Treffen der beiden Männer hatte während des Krieges 1941 in Kopenhagen stattgefunden, jedoch ist aus den heute noch vorhandenen Dokumenten nicht ersichtlich, was damals gesagt wurde und konkret wie es gemeint war und interpretiert wurde. Heisenbergs späterer Erinnerung nach, versuchte er „codiert“ zu sprechen, da er befürchtete, Bohr würde von deutschen Besatzungstruppen überwacht und ausspioniert. Bohr scheint ihn missverstanden zu haben, oder Heisenbergs Behauptungen waren eine nachträgliche Schutzbehauptung.
Der Roman Das Klingsor-Paradox des mexikanischen Autors Jorge Volpi aus dem Jahr 1999 handelt von der Suche zweier Wissenschaftler nach dem mutmaßlichen engsten wissenschaftlichen Berater Hitlers mit Decknamen Klingsor. In einer Rückblende begleitet man einen der beiden Protagonisten dabei, wie er als fiktiver Teil der Alsos-Mission zusammen mit Goudsmit und Pash in Heidelberg, Hechingen und Haigerloch das deutsche Atomprogramm aufdeckt. Letztendlich erweist sich Klingsor – das personifizierte Böse – als nicht greifbar. Der Bestseller erhielt mehrere Auszeichnungen, unter anderem 1999 den spanischen Literaturpreis Premio Biblioteca Breve.
Im Computerspiel Undercover: Operation Wintersonne von dtp entertainment aus dem Jahr 2006 schlüpft der Spieler in die Rolle eines britischen Physikers, der die Aufgabe hat, in einer Geheimoperation das deutsche Atombombenprogramm zu infiltrieren. Im Verlauf des Point-and-Click-Adventures gelangt der Spieler in ein fiktives unterirdisches Forschungslabor in Haigerloch, die Anlage ist jedoch verlassen und der „Bombenprototyp“ ist gestohlen.
Literatur
Weblinks
Einzelnachweise
Haigerloch
Bauwerk in Haigerloch
Wissenschaft im Nationalsozialismus
Militärtechnik (Zweiter Weltkrieg)
Deutschland im Zweiten Weltkrieg
Hohenzollernsche Lande
Endphase des Zweiten Weltkriegs
Erbaut in den 1940er Jahren
Stillgelegte Anlage |
4652491 | https://de.wikipedia.org/wiki/Kastell%20Ala%20Nova | Kastell Ala Nova | Das Kastell Ala Nova ist ein ehemaliges römisches Reiterkastell (Alenkastell für 500 Reiter) im österreichischen Abschnitt des oberpannonischen Limes. Es befand sich auf dem Gemeindegebiet von Schwechat, Niederösterreich, wenige Kilometer östlich von Wien. Die Fläche des einstigen Reiterkastells verteilte sich auf das Areal des heutigen Alanovaplatzes, den Friedhof und das Brauereigelände im Stadtteil Klein-Schwechat. Die Stationierung einer mobilen Reitereinheit war strategisch notwendig, um die weite Ebene zwischen Vindobona und Carnuntum entlang der Donau besser zu sichern und im Ernstfall die rasche Intervention zu ermöglichen.
Ala Nova wurde möglicherweise im späten 2. Jahrhundert mit Befestigungen aus Holz und Erde am derzeitigen Alanovaplatz errichtet. Am Anfang des 3. Jahrhunderts wurde es als rechteckig ummauertes Kastell aufgebaut. In der Belegungszeit bis ins 5. Jahrhundert sind mehrere Umbauphasen bekannt. Im Umfeld des Kastells wird aufgrund von Einzelfunden zumindest eine Zivilsiedlung (vicus) vermutet. Gräberfelder wurden im Bereich des Schwechater Hauptplatzes und südlich des Kastells, am Frauenfeld, entdeckt. Das Bodendenkmal ist seit 2021 Bestandteil des zum UNESCO-Weltkulturerbe erhobenen Donaulimes.
Lage
Schwechat liegt am nordöstlichen Rand des Wiener Beckens an der Mündung des Flusses Schwechat in die Donau und wurde nach diesem Fluss benannt. Im Nordwesten ist die Stadt in den letzten Jahrzehnten mit Wien zusammengewachsen und grenzt direkt an den 11. Wiener Gemeindebezirk (Simmering).
Der Ort liegt in verkehrsgeographisch günstiger Lage am Schnittpunkt zweier bedeutender Verkehrswege: In Schwechat wird der Weg entlang der Donau von einer von der Leitha bei Deutsch Brodersdorf kommenden, über Moosbrunn und Himberg und weiter über die Donau und ihre nördlich angrenzenden Auen nach Groß-Enzersdorf führenden Route gekreuzt. Die Besiedlung der Region ist seit dem Neolithikum nachweisbar. Innerhalb von rund 6000 Jahren entstand auf nur fünf Kilometern Länge ein Ballungsraum mit 16 großflächigen Siedlungsgebieten. Das belegen sich beiderseits der Schwechat-Au hinziehende Fundstellen.
Schwechat wird von insgesamt fünf Bächen,
der hier einmündenden Liesing,
der Schwechat (dem natürlichen Flussbett),
dem Schwechat-Mühlbach bei Schloss Rothmühle, der in den 1950er Jahren zugeschüttet wurde,
dem Mitterbach oder Wildbach oder Wildes Wasser (ein künstliches Entlastungsgerinne der Schwechat, das bei Achau beginnt und die überwiegende Wassermenge aufnimmt) und
dem Kalten Gang
durchflossen, wodurch das Stadtgebiet in zwei Teile geteilt wird, Klein-Schwechat im Westen und Groß-Schwechat am rechten Ufer des Kalten Ganges. Es ist davon auszugehen, dass an dieser Stelle schon in frühen Zeiten Brücken gebaut wurden, die mit dem Einzug der Römer und dem Ausbau der Limesstraße sehr wahrscheinlich als Steinbrücken ausgeführt wurden. Allerdings konnten davon bis jetzt keine Spuren gefunden werden.
Das einstige Auxiliarkastell befand sich in Klein-Schwechat auf dem Areal des heutigen Alanovaplatzes, des Friedhofes und des Brauereigeländes nur wenige hundert Meter südlich des antiken Steilufers der Donau (heute am Grund genannt). Die Stationierung einer mobilen Reitereinheit war notwendig, um die weite und flache Ebene zwischen Vindobona und Carnuntum besser zu sichern und im Ernstfall rasch einschreiten zu können. Die Flussübergänge bzw. die Brücken über die drei Flussläufe in Schwechat hatten ebenfalls eine gewisse strategische Bedeutung, die aus der Häufung von archäologischen Spuren (Spitzgräben) von zwei bis eventuell drei Holz-Erde-Lagern in unmittelbarer Nähe dieser Flüsse abgeleitet werden kann. In der Kastellkette des Limes lag Ala Nova etwa sechs römische Meilen (neun Kilometer) südöstlich des Legionslagers Vindobona und 21 römische Meilen (31,1 km) westlich der Metropole (Ober-)Pannoniens, Carnuntum (Petronell).
Name
Ala Nova bedeutet neu aufgestellte Reiterabteilung (lateinisch ala = Reiterabteilung, nova = neu).
In der antiken Literatur wird Ala Nova zweimal erwähnt: Das Itinerarium Antonini, ein um 300 n. Chr. neu redigiertes Straßenverzeichnis, nennt Ala Nova in der Nähe von Aequinoctio (Fischamend), einem Posten, der ziemlich genau in der Mitte zwischen Vindobona und Carnuntum lag („Aequinoctio et Ala Nova in medio Vindobona“). Das Itinerarium gibt die Entfernung Carnuntum–Vindobona mit 27 römischen Meilen an, die etwa 40,5 km entsprechen.
In der Notitia dignitatum, einem Verwaltungshandbuch aus dem 5. Jahrhundert, wird ebenfalls ein Alanoua bzw. ein Ala nova (mitsamt der wohl dort zuletzt stationierten Einheit, den equites Dalmatae Ala nova) erwähnt.
Im Jahre 98 n. Chr. wurde die Ala I Flavia Britannica in Vindobona/Wien von der Legio XIII Gemina abgelöst. Es könnte das Bestreben gewesenen sein, den neuen Legionsstandort Vindobona zusätzlich an seiner südöstlichen Flanke abzusichern. Für diesen Zweck wurde ein Kastell in Schwechat errichtet. Der römische Ortsname Ala Nova dürfte auf eine (wahrscheinlich vollkommen neu aufgestellte) in Schwechat stationierte Reitereinheit zurückzuführen sein.
Der Name könnte auch davon herrühren, dass das neue Reiterlager nördlich von einem bereits am Westufer des Schwechat-Flusses bestehenden Holz-Erde-Lager errichtet wurde. Laut Hannsjörg Ubl (1980) stellt sich die Frage, ob der antike Name Ala oder Ala Nova nicht bereits auf dieses ältere Holz-Erde-Lager zurückzuführen sei.
Forschungsgeschichte
Frühe Beobachtungen
Erste Hinweise für die römische Vergangenheit Schwechats gab die Antike Reise F. F. Wächters von 1821. Er erwähnt darin „… alte Mauern im Gottesacker von Schwechat“. Aufzeichnungen des Schwechater Notars Franz Schranzhofer zeigen, dass noch in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts Reste römischer Mauern sichtbar waren. In den Jahren 1843 und 1844 wurden in einem Brunnen am westlichen Stadtrand sechs römische Meilensteine gefunden, die ursprünglich 21 römische Meilen vor Carnuntum standen. 1879 wurde bei Feldarbeiten in der Nähe des Schwechater Friedhofs am Frauenfeld ein 60 cm hoher bauchiger Tontopf entdeckt, der einen Münzschatz mit etwa 12.000 versilberten Kupfermünzen aus dem 4. Jahrhundert (306 bis 361 n. Chr.) enthielt.
Grabungen 1910–1937
Im Rahmen der regen Bautätigkeit an der Wende zum 20. Jahrhundert wurden abermals viele Münzen, Mauerwerk und zahlreiche Ziegel mit Stempeln der Legio X Gemina gefunden. In den meisten Fällen gerieten die Funde aber ohne wissenschaftliche Dokumentation in die Hände privater Sammler.
Im Frühjahr 1910 entdeckte Johann Ableidinger, ehemaliger Bürgermeister und Heimatforscher von Schwechat, im Zuge von Erdaushubarbeiten für einen Bierkanal auf dem Grundstück der Brauerei Dreher das Profil des Kastellgrabens und die Fundamente der Umfassungsmauer. Die daraufhin von Josef Nowalski de Lilia durchgeführten Untersuchungen führten zur Rekonstruktion des Wallgangverlaufs, und Reste einer Kaserne konnten bestimmt werden. Im Herbst 1910 gelang dem Archäologen der Limeskommission, Eduard Nowotny, die Aufdeckung und nachfolgende Dokumentation eines beträchtlichen Teils der westlichen Befestigungsanlagen auf dem Brauereigelände. Diese Grabungsergebnisse ließen aber noch keine Feststellung über die Ausdehnung des Lagers zu. 1937 stieß man bei Erdarbeiten in der Umgebung des Friedhofs erneut auf römisches Mauerwerk. Bei der Errichtung eines Ablaufkanals am Alanovaplatz wurde dann die südöstliche Kastellfront angeschnitten, womit war etwa 40 Jahren nach der Entdeckung des Kastells die Dimensionen des Lagers bekannt waren.
Grabungen 1979–2009
In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg fanden einige kleinere Grabungen statt, insbesondere um die Kirche St. Jakob am Schwechater Hauptplatz sowie bei Wiederaufbauarbeiten der zahlreichen kriegsbeschädigten Gebäude im Bereich dieses Platzes und auf dem Gelände der Bezirkshauptmannschaft. Erst 1979 konnte wieder ein bedeutender archäologischer Fund gemacht werden. Beim Bau einer neuen Wohnanlage am Frauenfeld konnte Hannsjörg Ubl vom Bundesdenkmalamt an der Nordostecke der Baugrube angeschnittene Spitzgräben feststellen. Der Fund von Befestigungs- und Balkengräbchen wurde ein Hinweis auf eine mögliche Holz-Erde-Anlage an diesem Standort, etwa 400 Meter südlich des bisher bekannten Kastells Ala Nova. Ubl vermutet, dass diese Holz-Erde-Anlage älter ist als das Kastell. Dies bestätigte Ursula Langenecker vom Bundesdenkmalamt 1994 durch den Nachweis weiterer Spitzgräben in unmittelbarer Nähe der ersten Fundstelle. Unglücklicherweise wurde das Areal, in dem das frühe Holz-Erde-Lager vermutet wird, durch intensive Wohnbebauung weitgehend zerstört.
Eine kleinere archäologische Untersuchung im Bereich des Alanovaplatzes unter Leitung von Krista Süss vom Verein AUSINA im Jahr 2000 lieferte unter anderem Hinweise auf zwei Steinbauphasen des Kastells und eine vermutete frühe Holzbauphase des Lagers.
Untersuchungen ab 2010
Seit der Grabung aus dem Jahre 1910 gab es keine systematische Untersuchung des römischen Kastells in Schwechat. Die Geschichte des Lagers und die damit verbundenen Fragen blieben deshalb lange Zeit weitgehend ungeklärt. Eine neue Wende in der Forschungsgeschichte des römischen Schwechats brachte das Jahr 2010, wo zwei großflächige Ausgrabungen auf dem Areal des ehemaligen Kastells zwischen dem Alanovaplatz und der Wiener Straße sowie im Stadtteil Frauenfeld, im Kreuzungsbereich der Gladbeckstraße und der Klederinger Straße, durchgeführt wurden. Beide Ausgrabungen erfolgten im Auftrag des Bundesdenkmalamts und wurden von der Firma AS-Archäologie Service. durchgeführt.
Am Frauenfeld wurde unter der Leitung von Mag. Igl und Mag. Leingartner neben einigen zum großen Teil geplünderten langobardischen Gräbern ein ausgedehnter ziviler römischer Friedhof entdeckt und untersucht. Zahlreiche Brandgräber mit zum Teil reichen Grabbeigaben und eine Reihe von Körperbestattungen wurden freigelegt. Vorläufige Auswertungen lassen eine Datierung der Funde auf das 2. bis 4. Jahrhundert n. Chr. zu. Die Lage der Gräber ließen den Verlauf einer Gräberstraße vermuten, die allerdings, bedingt durch die relativ seichte Fundlage, nicht mehr nachgewiesen werden konnte.
Die Grabungsarbeiten am Alanovaplatz unter der Leitung von Mag. Scholz lieferten grundlegende neue Erkenntnisse. Zwei Kasernenbauten konnten fast vollkommen erfasst und mehrere Ausbesserungsphasen nachgewiesen werden. Eine erste römische Holzbauphase konnte allerdings nicht bestätigt werden. Dafür gibt es klare Hinweise auf eine frühere Besiedlung des Areals. Von besonderem Interesse waren Funde einer späten Umbauphase aus dem 4./5. Jahrhundert, mit denen die Umwandlung eines militärischen Lagers in ein ziviles Siedlungsareal in Steinbauweise eindeutig belegt werden konnten. Vom nahezu sensationellen Wert ist der erstmalige österreichische Nachweis einer awarenzeitlichen Besiedlung innerhalb eines römischen Lagers. Diese Ausgrabungen, die Anfang November 2010 abgeschlossen wurden, lieferten zahlreiche neue Erkenntnisse, die Größe, Lage und Geschichte von Ala Nova in ein gänzlich neues Licht bringen werden.
Diese beiden stratigraphischen Grabungen sowie deren zahlreichen Funde werden seit 2012 im Rahmen einer Dissertation des Österreichischen Archäologischen Instituts (Projektleitung Stefan Groh) umfassend aufgearbeitet.
Im November 2011 wurde im Auftrag der Stadtgemeinde Schwechat und der Asset One Immobilienentwicklung AG eine geophysikalische Prospektion durch die Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik auf dem ehemaligen Gelände der Brauerei Schwechat westlich des Klein-Schwechater Friedhofs, wo weitere Reste des römischen Reiterkastells vermutet werden, durchgeführt. Insbesondere die Georadar-Messungen zeigen im Tiefenbereich von etwa 0,75 m eine rechteckige Struktur (9 × 35 m) mit scheinbar erhaltenem Steinboden und Innenunterteilungen. Weitere parallele Strukturen sowie einen Graben sind ebenfalls erkennbar. Diese Ergebnisse lassen spannende Grabungen mit mindestens so spannenden Ergebnissen in die nächste Zukunft erwarten.
Holz-Erde-Lager und Kastell
Frühes Holz-Erde-Lager
Die Frage nach ein frühes Holz-Erde-lager in Schwechat konnte bis jetzt nicht eindeutig beantwortet werden. Die jüngsten Ausgrabungen im Jahre 2010 am Alanovaplatz konnten eine ausgedehnte Holzbauphase nicht belegen. Im Südost Bereich des Grabungsareals konnte zwar einige Hinweise auf eine frühe Bauphase identifiziert werden, allerdings ließen sich aus den Befunden keine Strukturen bzw. Bau ableiten. Das Fundmaterial dieser möglichen frühen Lagerphase ist in die zweite Hälfte des 2. Jahrhunderts zu datieren.
Einen weiteren Hinweis auf ein frühes Holz-Erde-Lager, allerdings südlich des Steinkastells an der Kreuzung Gladbeck- und Brauhausstraße, in unmittelbarer Nähe des damals an dieser Stelle verlaufenden Mühlbachs, konnten 1979 H. Ubl und 1994 U. Langenecker Spitzgräben feststellen. In unmittelbarer östlicher Nähe waren auch Balkengräbchen im Mutterboden zu sehen. Hannsjörg Ubl glaubt an dieser Stelle ein frühes Holz-Erde-Lager entdeckt zu haben und vermutet eine Datierung in flavischer Zeit (Hannsjörg Ubl, 1980). Unter anderem konnten auf diesem Areal 1976 römische Gebrauchskeramik und Fragmente von reliefverzierten Terra-Sigillata-Schüsseln geborgen werden.
Im Untersuchungsbericht von 1994 wird der angeschnittene Graben als exakt ausgehobener, spitzförmiger Graben beschrieben. Seine Tiefe betrug 1,8 m (2,6 m unter der Humusoberkante), die maximale Breite 3,8 m. Die Fundstücke aus den untersten Schichten eigneten sich aber wegen ihres schlechten Erhaltungszustandes bzw. starker Abnutzung nicht mehr für eine exakte Datierung. Die Funde aus der oberen Verfüllung des Grabens sind nicht vor der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts anzusetzen. Zur Bestimmung der Ausdehnung, Orientierung sowie Datierung des Lagers wären weitere Grabungen auf den wenigen noch nicht zerstörten Bereichen dieses Areals notwendig.
Im Rahmen einer Grabungskampagne im Juni 1950 im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau der im Krieg beschädigten St.-Jakobs-Kirche in Groß Schwechat wurden am Hauptplatz 21a wiederum die Profile von zwei Spitzgräben angeschnitten, deren römische Herkunft nachgewiesen wurde. Eine genauere Datierung war allerdings nicht möglich. Eigenartigerweise fand dieser Hinweis in der späteren Literatur und der wissenschaftlichen Diskussion keine Beachtung. Ob diese Spitzgräben auf ein frühes Marschlager bzw. Holz-Erde-Lager am Ostufer der Flüsse in Schwechat hindeuten, oder als Einfriedung bzw. Abgrenzungen eines Grabes des an dieser Stelle befindlichen römischen Friedhofs dienten, kann derzeit nicht beantwortet werden.
Kastell Ala Nova
Die Untersuchungen von E. Nowotny und J. Ableidinger zwischen 1910 und 1937 ermöglichten eine genaue Bestimmung der Größe und Position des Steinkastells. Die Grabung im Frühjahr 1910 der k&k-Limeskommission unter der Leitung von E. Nowotny führte zur Aufdeckung eines beträchtlichen Teiles der Lagerbefestigung auf dem damaligen Gelände der Brauerei Dreher. Im Bereich des Alanovaplatzes und des Friedhofs konnte auf einer Linie von 153 Metern das Vorhandensein der von Nordost nach Südwest streichenden Lagerfront (linke Prinzipalseite) bestätigt werden, die im Nordabschnitt von einem 19 Meter breiten Torbau durchbrochen war. An der Nordwestfront schloss sich nach einer abgerundeten Ecke in einem Winkel von 88,5 Grad die südwestliche Kastellfront an, deren Verlauf bis zu einer Länge von 160 Metern beobachtet werden konnte.
Durch zwei Funde von J. Ableidinger (Wasserleitungsgraben im Juni 1928 im Hause Wiener Straße 35 und Kanalarbeiten am Alanovaplatz im Jahre 1937) dachte man die genauen Lagerausmaße bestimmt zu haben. Eine antike Mauer 30 bis 40 m hinter der Mauerflucht der Häuser Wienerstraße 33 und 35 wurde als Lagermauer interpretiert und die Seitenlänge des Lagers mit auf 206 m festgelegt. Die Jüngste Grabung von 2010 am Alanovaplatz konnte den nördlichen Spitzgraben unmittelbar entlang der Wienerstraße identifizieren, sodass die Lagermauer, wenn auch keine Artefakte mehr nachweisbar sind, etwa 20 m nördlicher als bisher angenommen liegen muss. Das Anschneiden der südöstlichen Längsseite im Jahre 1937 erbrachte die Breitenmaße des Lagers: Die Innenbreite betrug 168 Meter, die Mauer war zwei Meter dick. Das Schwechater Lager umfasst eine Fläche von ca. 225 × 170 Metern, also 3,8 Hektar; diese Größe war für eine Auxiliartruppe von 500 Mann durchaus üblich. Die Südwestecke des Kastells war abgerundet und zusätzlich mit einem verhältnismäßig kleinen und nur leicht nach innen versetzten viereckigen Turm mit sechs Meter Seitenlänge verstärkt. In der Mitte der Linie zwischen der südwestlichen Lagerecke und der porta principalis sinistra befand sich noch ein innen angesetzter Zwischenturm. Dieser wies die gleichen Abmessungen wie der Südwest-Eckturm auf, nur die Mauerstärke war etwas geringer.
Beim westlichen Wehrgraben konnten zwei Bauphasen festgestellt werden:
Graben I: An die Umfassungsmauer schloss sich eine 1,65 bis 1,80 Meter breite Berme an, daran ein Graben von etwa sechs Meter Breite, in dessen Sohle mittig ein Wasserabzugsgraben (Künette) von trapezförmigem Querschnitt eingetieft war.
Graben II: Der frühere Graben war durch einen zweiten, größeren überlagert, der eine Breite von 9,55 Meter laut Nowotny, 11,40 Meter laut Ableidinger (1929) hatte und etwa vier Meter unter dem heutigen Bodenniveau lag. Zwischen Mauer und Graben wurde eine Berme von ca. zwei Meter Breite festgestellt. In der Nähe des Tores verbreiterte sich der Wallgraben, der an dieser Stelle etwas ausgebuchtet war.
Die Fundamentgrube der Wallmauer betrug etwa fünf römische Fuß (1,46 bis 1,65 m). Die Grundmauern schienen aus weißem Betonmörtel zu bestehen. Das aufgehende Mauerwerk bestanden wahrscheinlich aus sarmatischem muschelhaltigem Sandstein aus Atzgersdorf. Im Graben wurden Teile einer Mauer gefunden, die offensichtlich bei der Zerstörung des Kastells hineingestürzt waren. Die Mauer muss nach dem Umfang der Schuttmasse mindestens fünf bis sechs Meter hoch gewesen sein (Ableidinger, 1929). Innerhalb der Umfassungsmauer befand sich der Wehrgang, der eine Breite von drei Metern aufwies und anhand von Pfostenlöchern, die den Wallgang nach innen abstützten, erkannt wurde.
Besonders bemerkenswert war die Aufdeckung des Westtores, der porta principalis sinistra, dessen Abmessungen sich wie bei der Kastellmauer nur aus den Fundamentgruben rekonstruieren ließ. Es handelte sich um ein überwölbtes Doppeltor mit einer Breite von 19 Metern, das zwei rechteckige Türme flankierten. Zwischen den Türmen befand sich ein Wehrgang.
Bei der Ausgrabung des Tores fand sich in einer Mauernische ein Hohlziegel, der vermutlich Bestandteil der Heizungsanlage für die oberen Wachräume war. Durch die Lokalisierung des Westtores konnten die relativ grob ausgeführte Pflasterung der via principalis und zwei Mauerreste von etwa 60 cm Höhe aufgedeckt werden. Die Breite der via principalis betrug 17,23 Meter (60 römische Fuß).
An der westlichen Umwehrung konnte das Intervallum (Zwischenraum) durch eine 60 Zentimeter breite Mauergrube und einen sich nach innen anschließenden Estrich auf 9,95 Meter weiterverfolgt werden. An der Dekumanfront (d. h. im hinteren Teil, die nicht dem Feind zugewandte Lagerhälfte) konnte die Pflasterung der Lagerstraße bis auf eine Länge von 16,65 Metern nachgewiesen werden. Ein kleines Stück der betonierten Wallböschung zeigte sich am westlichen Zwischenturm.
Administratives Zentrum jedes größeren Kastells war das Stabsgebäude, die Principia mit dem Lager- oder Fahnenheiligtum. An der Stelle der Principia von Ala Nova steht heute eine Friedhofskapelle. Sie ist der letzte Überrest der Pfarrkirche Maria am Anger, die 1815 wegen Baufälligkeit abgerissen werden musste. Auffällig ist, dass die Fundamente der Kapelle und der einstigen Kirche parallel zu den Umfassungsmauern des Kastells verlaufen und daher höchstwahrscheinlich mit diesen in Zusammenhang stehen (Ableidinger 1929). J. Ableidinger nahm an, dass die Innenbauten des Lagers überwiegend aus Holz waren, wogegen das Stabsgebäude (principia) und das Fahnenheiligtum in Stein errichtet worden waren. Dies lässt auch der Fund von zwei Säulen vermuten, die im 19. Jahrhundert innerhalb des Friedhofes, das heißt auf dem ehemaligen Kastellareal, entdeckt wurden (Ableidinger 1929).
Im Jahr 2000 fand eine Grabung durch den Verein AUSINA (Leitung Krista Süß) statt. Dabei konnte herausgefunden werden, dass sich die mittel-kaiserzeitlichen Baubefunde in zwei Steinperioden manifestierten. Erwähnenswert ist der Fund unter den ältesten Mauerzügen einer stark profilierten Fibel mit gelochtem Nadelhalter, der vermutlich ins 1. Jahrhundert zu datieren ist. Die drei unterschiedlichen Fundhorizonte spiegeln eine intensive Nutzung des Lagerareals wider und werden der Steinbauperiode I und II zugerechnet. Unklar bleibt jedoch, ob die gefundenen Mauerreste Bestandteil einer Kaserne bzw. eines Pferdestalls waren. Beachtung verdient die Entdeckung von Pfostensetzungen unter dem Steinkastell Ala Nova. Überraschend ist die Orientierung dieser Pfostenlinie, die sich vom Steinbau durch eine exakte Nord-Süd-Ausrichtung und auch durch die Höhenlage klar abgrenzte.
Die Grabung von 2010 lieferte gänzlich neue Erkenntnisse. Die ersten Befunde von der Grabung 2000 für das Bestehen eines frühen Holz-Erde-Lagers konnten nicht bestätigt werden. Vielmehr wurde nun erkannt, dass das römische Kastell auf Bereits bewohntes Gebiet entstanden ist. Die aktuellen Befunde zeigen, dass das Reiterlager größer ist als bisher vermutet. Da wo die östliche Kastellmauer und Graben erwartet wurden, wurden Kasernenbaracken festgestellt. Im Norden konnte der Graben identifiziert werden, allerdings deutlich nördlicher als erwartet. Die Feststellung einer zivilen Besiedlung auf dem Areallager im späten 4. bzw. frühen 5. Jahrhundert zeigt, dass auch in Ala Nova eine ähnliche Entwicklung wie bei den benachbarten Lagern bzw. Kastellen stattfand.
Besatzung
Die Besatzung des frühen Holz-Erde-Lagers ist nicht bekannt. Ebenfalls unbekannt ist der Name derjenigen Reitereinheit, die nach Ausbau des Steinkastells I dort stationiert wurde. Für das 2. Jahrhundert stand zunächst die Ala I Thracum Victrix zur Diskussion, allerdings belegen Neufunde von Ziegelstempeln mit großer Sicherheit den Standort der Truppe bei Petronell-Carnuntum. Es wurde ebenfalls bereits postuliert, dass Ala Nova überhaupt keine eigenen Truppen hatte und das Lager möglicherweise nur ein „Außenposten“ einer der benachbarten Legionsfestungen, Vindobona oder Carnuntum, war. Für die Spätantike lässt sich – im Zusammenhang mit den Überlieferungen aus der Notitia dignitatum – allerdings noch eine Reitereinheit der Equites Dalmatae für Ala Nova (ebenso für das benachbarte Kastell Aequinoctium/Fischamend) eindeutig zuordnen.
Vicus
Die genaue Lage der Zivilsiedlung von Ala Nova ist bis dato unbekannt geblieben. Siedlungsbefunde wurden nur an wenigen Stellen in Schwechat dokumentiert. Eine Grube mit Fundmaterial des 2. beziehungsweise 3. Jahrhunderts fand sich südlich des Kastellareals. Die Verfüllung des Kastellgrabens enthielt Artefakte, die im Zusammenhang mit einer Siedlung stehen könnten. In den letzten 200 Jahren wurden zahlreiche Streufunde, vor allem Keramik, innerhalb des Brauereigeländes aufgelesen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist davon auszugehen, dass der vermutlich gleichzeitig mit dem Kastell angelegte Vicus südlich des Lagers gelegen war, die genaue Ausdehnung konnte aber bisher wegen starker Überbauung nicht erfasst werden. Ob dies allerdings jemals zweifelsfrei geklärt werden kann, ist fraglich, weil der Vicus sich wohl größtenteils auf dem Gelände des Brauhauses befand, wo Ende des 19. Jahrhunderts für den Bau großangelegter Bierkeller große Erdbewegungen stattfanden. Dadurch erklären sich auch die vielen kaum dokumentierten Funde in dieser Zeit. Römerzeitliche Funde am rechten Ufer der Schwechat, wo zum Beispiel in der Sendnergasse eine antike Ofenanlage entdeckt wurde, sind weitere römische Siedlungsspuren.
Gräberfelder
Aus den Aufzeichnungen von J. Ableidinger (1929) geht hervor, dass bereits im 19. Jahrhundert auf dem Gelände der Brauerei ein Leichenfeld gefunden und zahlreiche andere Funde gemacht wurden. Allerdings wurden sie von Sammlern entwendet und daher nicht wissenschaftlich erfasst. Südlich des Kastellareals wurden noch weitere Gräber entdeckt. So konnte 1929 unter den völkerwanderungszeitlichen Bestattungen des Gräberfeldes Ried Frauenfeld ein frühkaiserzeitliches Brandgrab identifiziert werden. Rechts der Brauereistraße, Richtung Katastralgemeinde Rannersdorf, wahrscheinlich noch im Bereich des Frauenfelds, wurden im Jahr 1968 drei weitere Körpergräber aus der Römerzeit geborgen.
Ein weiteres Gräberfeld befindet sich im Bereich des Hauptplatzes von Schwechat, da dort eine Reihe spätantiker Bestattungen gesichert werden konnte. Einer der ältesten dokumentierten Funde ist ein römisches Skelettgrab, das 1923 am Hauptplatz 5 aufgefunden wurde. Weitere vier römische Gräber wurden 1927 (ebenfalls am Hauptplatz) durch M. Müllner beschrieben. Im selben Jahr wurde im Hof des damaligen Bezirksgerichts (heute Bezirkshauptmannschaft) ein römerzeitliches Grab mit verschiedenen Gefäßen gefunden. Am 31. März 1933 deckte J. Ableidinger in der südöstlichen Ecke der Hammerbrothütte ein römisches Steinplattengrab auf. Es handelte sich dabei vermutlich um ein Reitergrab aus dem frühen 4. Jahrhundert, zumindest weisen die neben den Skelett eines etwa 35-jährigen Mannes gefundenen Grabbeigaben, ein Hufeisen, eine eiserne Schnalle, ein Messer sowie einige Pferdezähne, darauf hin. Für dieses Grab war ein Grabstein aus der 2. Hälfte des 3. Jahrhunderts als Abdeckung verwendet worden. Das Reitergrab wurde restauriert und konserviert und in der Eingangsaula des Bundesgymnasiums/Bundesrealgymnasiums aufgestellt. E. Neumann berichtete 1950 vom Fund mehrerer Gräber und goldener Ohrgehänge bei einer Grundaushebung im Zuge der Beseitigung von Kriegsschäden am Hauptplatz 21 und 21a. In diesem Zusammenhang wurde am Hauptplatz 23 auch ein spätrömischer Sarkophag geborgen.
Bei der Beseitigung von Kriegsschäden am Hauptplatz 6 wurden drei Sarkophage mit Körperbestattungen und ein Gefäß aufgefunden, daneben zwei Erdbestattungen (ohne Beigaben). An der Eckparzelle Hauptplatz, Bruck-Hainburgerstraße, ehemals Neckam (Hauptplatz 3), konnte trotz der Zerstörung des dortigen Kindergrabes noch ein in sich verdrehter (tordierter) Goldohrring aufgefunden werden. Im Jahr 1958 legte Hans Walter bei Erdarbeiten für eine neue Straße innerhalb des Areals der Schwechater Brauerei zwischen Flaschenhalle und ehemaliger Soma-Anlage ein mit dem Kopf nach Osten ausgerichtetes Skelett frei. Der Oberkörper war in einem Winkel von 70 Grad aufgerichtet. An der linken Hand befand sich eine Bronzemünze (reduzierter Follis des Constantius Chlorus, 293–306, geprägt in Ticinum) gefunden. Das Skelett wurde dem Landesmuseum Niederösterreich (seit 2015: Museum Niederösterreich) übergeben, die Münze befindet sich im Besitz der Brauerei Schwechat. Im Jahr 1963 wurden im Aushub eines 2,50 Meter tiefen Kanalgrabens in der Sendnergasse/Ecke Hauptplatz Skelettteile und römische Keramikscherben festgestellt, offensichtlich waren dort vorher einige Körpergräber zerstört worden. Beim Fundamentaushub für Gebäude der Bezirkshauptmannschaft am Hauptplatz 3 wurde 1964 eine Körperbestattung, die parallel zum Gehsteig ausgerichtet war, zerstört. Die Ausdehnung des Gräberfeldes am Hauptplatz ist unbekannt, man weiß nur, dass es sich im Bereich der Limesstraße befindet, deren Trasse einst dort entlanglief.
Die Grabungen von 2010 am Frauenfeld konnten ein umfangreiches ziviles Gräberfeld südlich des Lagerareals nachweisen. Die Gräber waren weitestgehend ungeplündert. Die Brandgräber und Körperbestattungen waren zum Teil sehr reichhaltig mit Grabbeigaben versehen. Die Position und Häufung der Bestattungen lassen eine Ost-West Gräberstraße vermuten. Bedingt durch die relativ seichte Tiefe der Funde – es konnte kein Begehungshorizont festgestellt werden – konnte diese Gräberstraße nicht mehr nachgewiesen werden.
Limesstraße und Meilensteine bei Ala Nova
Ein Teil der Limesstraße der Strecke Carnuntum–Schwechat befindet sich in der Nähe der Bahn-Haltestelle Mannswörth. Der weitere Verlauf ostwärts konnte auf etwa 1,5 Kilometer an einem Uferabbruch der Donau in der Poigenau und in einigen Schottergruben verfolgt werden. Westlich der Haltestelle Mannswörth verläuft die ehemalige Limesstraße etwa 1,5 Kilometer unter dem heutigen Bahndamm und tritt wieder zutage, wo die heutige, parallel verlaufende Fahrstraße sich wieder von der Bahn abkehrt. Die Limesstraße von Schwechat nach Wien führte vermutlich nicht direkt durch das Lagerareal, sondern wahrscheinlich südwestlich des heutigen Friedhofes auf den Bahnhof Klein-Schwechat zu, machte dort einen Bogen und führte weiter zur Ostmauer des Zentralfriedhofes, unter dessen Verwaltungsgebäuden sie sich weiter fortzusetzen scheint, entlang der Simmeringer Hauptstraße in Richtung des ehemaligen Legionslagers Vindobona.
Die Lage der angenommenen Straßen-Abzweigung zum Lager Ala Nova blieb bisher unbekannt. Es ist davon auszugehen, dass die zu Ala Nova führende Abzweigung der Limesstraße erst nach den Übergängen über die Schwechat-Flüsse angelegt war, wahrscheinlich südwestlich des Kastells; dies deshalb, weil dort auch der Vicus vermutet wird und bisher kein Hinweis darauf gefunden werden konnte, dass die einstige Limesstraße sich an der Stelle der heutigen Wienerstraße befand.
Eine Häufung von Meilensteinen wie die der sechs, die vermutlich ursprünglich am östlichen Ufer der Schwechat standen und die Entfernung von Carnuntum aus angaben, verleitet zu der Schlussfolgerung, dass dieser Punkt auch die Grenze zum Stadt- und Lagerterritorium Carnuntums war. Aus diesem Grunde wurde die Schwechat als Grenze zwischen den Territorien von Carnuntum und Vindobona angenommen. Die Ursache für die Aufstellung von sechs Meilensteinen innerhalb von wenigen Jahren um die Mitte des 3. Jahrhunderts bei Schwechat, also an einer Ost-West-Hauptverkehrsverbindung, mögen aber nicht nur Ausbesserungen an Straßen und Brücken gewesen sein, sondern sicherlich auch politische Propaganda, da auf solchen Meilensteinen üblicherweise die gerade regierenden Kaiser mit ihrer vollständigen Titulatur verewigt wurden, um ihre Leistungen für die jeweilige Provinz gebührend herauszustreichen.
Denkmalschutz und Fundverbleib
Alle hier beschriebenen Anlagen sind Bodendenkmäler im Sinne des Österreichischen Denkmalschutzgesetzes. Nachgrabungen und Sammeln von Artefakten und Funden ohne Genehmigung des Bundesdenkmalamtes stellen eine strafbare Handlung dar. Zufällige Funde archäologischer Objekte (Mauern, Keramik, Münzen, Knochen etc.), sowie alle in den Boden eingreifenden Maßnahmen sind dem Bundesdenkmalamt zu melden.
Viele Funde von J. Ableidinger werden im Museum Niederösterreich in St. Pölten aufbewahrt (Sammlung Ableidinger). Die Funde aus der kleineren Grabung im Jahre 2000 werden derzeit von der Stadtgemeinde Schwechat gelagert. Die Funde aus beiden Grabungen im Jahr 2010 (Kastell und Friedhof) wurden nach ihrer Restaurierung zum Teil im Rahmen einer Ausstellung im Jahre 2011 der Öffentlichkeit gezeigt (Ausstellung „Spuren der Zeit“ in den Räumlichkeiten der städtischen Bücherei von Schwechat). Derzeit sind die Funde der Öffentlichkeit leider nicht mehr zugänglich und werden im Wesentlichen in der Kulturfabrik Hainburg aufgehoben.
Literatur
Ana Zora Maspoli: Schwechat - Ala Nova. Auxiliarkastell - vicus. In: Verena Gassner, Andreas Pülz (Hrsg.): Der römische Limes in Österreich. Führer zu den archäologischen Denkmälern. Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 2015, ISBN 978-3-7001-7787-6, S. 267–270.
Weblinks
Ala Nova
Der römische Limes in Österreich
Liste der Kastelle in Noricum und Oberpannonien
Liste der Limeskastelle in Ungarn
Liste der Kastelle am Obergermanisch-Raetischen Limes
Lage des Kastells auf Vici.org
Anmerkungen
Römische Befestigungsanlage (Pannonia superior)
Römisches Bauwerk in Österreich
Geographie (Schwechat)
Bodendenkmal in Österreich
Römische Befestigungsanlage (Pannonia prima)
Archäologischer Fundplatz in Europa |
4756241 | https://de.wikipedia.org/wiki/Camera%20Work | Camera Work | Camera Work war ein vierteljährlich erscheinendes Magazin für Fotografie. Die unabhängige Künstlerzeitschrift wurde 1903 von dem amerikanischen Fotografen und Galeristen Alfred Stieglitz im Rahmen der Photo-Secession in New York gegründet und als Hauszeitschrift und Ausstellungskatalog seiner Galerie 291 vertrieben. Sie erschien durchgehend bis 1917 mit insgesamt 50 Ausgaben und drei Sonderheften. Das in Buchform aufgemachte Magazin war aufwändig, teilweise von Hand gestaltet; es präsentierte innovative Arbeiten bedeutender Fotografen und Künstler, gepaart mit ausführlichen Bildbesprechungen. Zunächst als Sprachrohr der Piktorialisten konzipiert, entwickelte sich die Zeitschrift innerhalb eines Jahrzehnts zu einem wichtigen, oft kontrovers diskutierten Medium der europäischen und amerikanischen Avantgarde. Neben ihrem fotohistorischen Wert dokumentiert Camera Work dank der von zahlreichen namhaften Autoren verfassten Essays, Kritiken und theoretischen Betrachtungen den Übergang vom Symbolismus des Fin de Siècle zur Moderne des 20. Jahrhunderts.
Geschichte
Vorgeschichte, Photo-Secession, Camera Notes
Der amerikanische Fotograf Alfred Stieglitz zählte bereits vor Beginn des 20. Jahrhunderts zu den einflussreichsten Personen im internationalen Kunstgeschehen. Im Jahr 1896 war er aktiv an der Zusammenlegung der Society of Amateur Photographers und des New Yorker Camera Club zu einem neuen Verein beteiligt. Stieglitz wurde Vizepräsident der neuen Vereinigung, die sich nunmehr Camera Club of New York nannte. Er war zudem für die Publikationen des Vereins verantwortlich. Aus der Clubzeitung gestaltete er die vierteljährlich erscheinende, internationale Zeitschrift Camera Notes, die Mitgliedern und Nicht-Mitgliedern die Veröffentlichung ihrer Fotografien in hochwertigen Reproduktionen ermöglichte. Zusätzlich wurden darin Aufsätze, Ausstellungstermine und -kritiken abgedruckt. In diesem Umfeld stellten renommierte Fotokünstler wie Alvin Langdon Coburn, Fred Holland Day, Frank Eugene, Gertrude Käsebier, Adolphe de Meyer, Clarence Hudson White oder Edward Steichen ihre Arbeiten vor.
Die amerikanischen Fotografen orientierten sich zu dieser Zeit an Europa, vornehmlich an der elitären Brotherhood of the Linked Ring in London, deren Mitgliedschaft nur auf persönliche Einladung erfolgte. Stieglitz, selbst Mitglied des Linked Ring, forderte für die Vereinigten Staaten einen eigenen fotografischen Salon, der zwar nach Londoner Vorbild ausgestaltet, jedoch von diesem – vor allem bei Preisvergaben – unabhängig sein sollte. Am 17. Februar 1902 gründete er in New York die Photo-Secession als eine vom akademischen Establishment unabhängige Gruppe. Der Begriff Secession war dabei eine bewusste Anspielung auf die Secessionisten in Deutschland und Österreich. Unmittelbar nach Gründung der Photo-Secession erhielt Stieglitz eine Einladung des New Yorker National Arts Club, um in dessen Räumen eine Ausstellung mit Werken der amerikanischen Kunstfotografen zu organisieren. Unter dem Titel American Pictorial Photography Arranged by The Photo-Secession kam im März 1902 eine umfangreiche Schau zustande, in der 136 gerahmte Aufnahmen von 32 Fotografen gezeigt wurden. Die Kunstkritiker äußerten sich weitgehend positiv. Negative Stimmen verurteilten die Darbietung von Gemäldeimitationen als Anmaßung und stellten die spöttische Frage, „ob man denn der Natur ein Rußglas vorgehalten habe.“
Gründung
Stieglitz veröffentlichte die Kritiken der National-Arts-Club-Ausstellung, begleitet von einem langen Leitartikel über die Photo-Secession, in der letzten von ihm herausgegebenen Ausgabe von Camera Notes. Darüber kam es zum Streit mit Mitgliedern des Camera Clubs, die ihm Selbstherrlichkeit bei der Auswahl der Beiträge vorwarfen und seine Buchführung anzweifelten. Als Reaktion trat Stieglitz im Juni 1902 als Chefredakteur zurück und beschloss, künftig ausschließlich für sich selbst zu arbeiten. Bald darauf konzipierte er Camera Work, deren Chefredaktion und Herausgabe er nun in Personalunion übernahm. Assistiert wurde er, wie schon zuvor bei Camera Notes, von Dallett Fuguet, Joseph Keiley und John Francis Strauss. Keiley war es auch, der seinen Freund Stieglitz zu der neuen Zeitschrift ermuntert hatte. Die erste Ausgabe von Camera Work erschien im Januar 1903. Der simple Titel war eine bewusste Anspielung auf den Fotografen als „Kamera-Arbeiter“, eine damals gängige Bezeichnung, die hinsichtlich der folgenden avantgardistischen Inhalte vermutlich eine von Stieglitz durchaus beabsichtigte Untertreibung gewesen sein dürfte.
Camera Work sollte sich zu einem unabhängigen Sprachrohr des amerikanischen Piktorialismus, so wie ihn Stieglitz konzipiert und propagiert hatte, entwickeln: „Camera Work ist keiner Organisation oder Gruppe verpflichtet, und obwohl sie Sprachrohr der Photo-Secession ist, wird die Zeitschrift dadurch nicht im geringsten in ihrer Unabhängigkeit eingeschränkt“, so Stieglitz. Diese Aussage erwies sich jedoch als nicht realisierbar. Spätestens mit der Umgestaltung der Zeitschrift zum „inoffiziellen“ Ausstellungskatalog der Galerie 291 ab Ausgabe 14 konnte Stieglitz eine konzeptuelle und inhaltliche Trennung von Galerie und Zeitschrift nicht länger aufrechterhalten.
Aufmachung
Das luxuriös aufgemachte Hochglanzmagazin erschien in vierteljährlichem Abstand von 1903 bis 1917. Die gesamte grafische Gestaltung, wie der sachlich gehaltene Umschlagentwurf – ein Signet mit Jugendstil-Typografie – stammte von Edward Steichen. Der fortan unabhängige Geist des Magazins wurde mit der Unterzeile im Titel A Photographic Quarterly, Edited and Published by Alfred Stieglitz, New York hervorgehoben. Die Rückseiten behielt sich Stieglitz für Anzeigen vor, die er oft selbst gestaltete; so erhielt Eastman Kodak, die auf fast jeder Rückseite inserierten, die gleiche Typografie, die Steichen für den Titel entworfen hatte. Weitere beständige Inserenten waren Bausch & Lomb, Scherings Photochemikalien oder Graflex Kameras. Für den Textsatz des Magazins griff Stieglitz auf eine Gestaltungsweise zurück, die sich sehr an William Morris’ Stil orientierte: Schwerer, schwarzer, mit breiten Rändern abgesetzter Text, der von detailreich verzierten Initialen flankiert wurde, die jeden neuen Artikel einleiteten. Die Gestaltung blieb die gesamten 50 Nummern unverändert.
Eine Einzelausgabe von Camera Work kostete zwei Dollar; der jährliche Abonnementpreis betrug anfangs vier Dollar. Die Postzustellung per Einschreiben kostete 50 Cents extra. In späteren Jahren verdoppelte Stieglitz den Abonnementpreis und verlangte für Archivausgaben, wie beispielsweise das Steichen-Sonderheft von 1906, den Preis eines Jahresabonnements. In den 1920er Jahren kostete das Stieglitz-Heft Nr. 36 aus dem Jahr 1911, 15 Dollar und die Doppelausgabe Nr. 49/50 mit Paul Strand von 1917 den Höchstpreis von 17,50 Dollar. Camera Work hatte anfangs einen Abonnentenstamm von etwa 650 Personen bei 1000 gedruckten Exemplaren. Der sukzessive Wandel von der Foto- zur Kunstzeitschrift kostete Stieglitz zahlreiche Abonnenten, bis 1912 hatte sich die Zahl um über die Hälfte auf 304 reduziert. Als die Zeitschrift 1917 eingestellt wurde, waren es nur 36 Abonnenten bei 500 gedruckten Heften.
Stieglitz finanzierte die Zeitschrift größtenteils aus seinem Privatvermögen und scheute weder Kosten noch Mühen. Er hatte Camera Work ohnehin nicht als kommerzielles Projekt geplant und sogar Verluste einkalkuliert, wobei er in einem wirtschaftlichen Erfolg wiederum einen „Verlust der künstlerischen Freiheit“ fürchtete. Seine oberste Priorität war indes die möglichst exakte Reproduktion der Arbeiten. Es sollten nur die – nach Stieglitz’ Meinung – besten verfügbaren Fotografien gezeigt werden und diese sollten von den besten Kritikern besprochen werden. Diesen Qualitätsanspruch formulierte er in der Einleitung zur ersten Ausgabe:
Die Bildtafeln bestanden aus Heliogravüren (Fotogravuren) auf Japanpapier, um alle Feinheiten der Tonwerte und Strukturen zu erfassen. Die Gravuren wurden von Hand auf Kunstdruckpapier mit Büttenrand abgezogen. Die Farben der Papiere wurden passend zur Tönung der Bilder ausgewählt. Anfangs verwendete Stieglitz zusätzlich Autotypien, die günstiger als die Heliogravüren waren, sein Perfektionsanspruch stand jedoch über wirtschaftlichen Erwägungen. Da die Heliogravüre ein monochromes Verfahren ist, kam das autotypische Verfahren unterdessen bei den späteren Gemälde-Reproduktionen wieder zum Einsatz. Des Weiteren verwendete Stieglitz Mezzotinto-Gravuren, Duoton-Druck, Tönungen per Hand, Drei- und Vierfarbdruck und Collotypien. Da Stieglitz selten Buch führte, ist heute nicht mehr festzustellen, welchen, vermutlich immensen, finanziellen Aufwand er betrieb. Hinzu kam, dass die Abbildungen teilweise maßstabsgerecht auf das Format von Camera Work verkleinert werden mussten.
Die Gravüren wurden anschließend durch ein Pergaminblatt vom Text getrennt. Bei der Auswahl achtete Stieglitz darauf, dass nur fotografische Werke mit Vorbildcharakter und vollendete visuelle Werke aufgenommen wurden. Beim Abdruck der Fotos legte er großen Wert auf Handarbeit und die exakte Beschreibung des angewandten Verfahrens. Falls erforderlich, setzte er sich selbst an die Retusche der Gravüren. Die Fotogravüren stammten hauptsächlich von den Originalnegativen oder -abzügen (Gummi- oder Platindrucke). Stammten die Gravüren direkt vom Negativ, wurde dies unter der Abbildung im Heft vermerkt.
Druck
Die ersten Ausgaben von Camera Work wurden von der Photochrome Engraving Company in New York gedruckt, spätere Nummern übernahmen die Manhattan Photogravure Company, die Druckerei T. & R. Annan & Sons in Glasgow sowie Frederick Goetz über die Verlagsanstalt F. Bruckmann in München. Stieglitz hatte Goetz bei der Heliochrome Company (der späteren Photochrome Engraving Company) in New York kennengelernt und sich mit ihm angefreundet. Zurück in Europa arbeitete Goetz für Bruckmann in München, der damals einzigen europäischen Druckerei außerhalb Englands, die Heliogravüren im Tiefdruckverfahren per Rotation drucken konnte. Die Anfertigung der Fotogravuren war nach Nationalitäten aufgeteilt: So fertigte die Manhattan Photogravure Company Fotogravuren der amerikanischen Fotografen; James Craig Annan kümmerte sich um die britischen Fotografen und insbesondere um die Abzüge, die von den Originalnegativen von David Octavius Hill und Robert Adamson hergestellt wurden; Frederick Goetz lieferte die Gravuren europäischer Künstler wie Frank Eugene oder Heinrich Kühn und druckte 1908 farbige Autochromes für Edward Steichen. Später vertraute Stieglitz die Lieferung der Gravuren fast ausschließlich Goetz an.
Autoren und Fotografen
Jede Ausgabe enthielt genaue Informationen über die abgebildeten Werke, Hintergrundberichte und Ausstellungskritiken. Namhafte Verfasser der Beiträge waren – neben Stieglitz selbst – unter anderem Charles Caffin, Robert Demachy, Sidney Allan (Sadakichi Hartmann), George Bernard Shaw und Edward Steichen.
Bei den Autoren kamen dabei unterschiedliche Standpunkte zum Tragen: Demachy galt als ein überzeugter Verfechter der Retusche, der das malerische Element betonte; Shaw hingegen forderte, die Fotografie als Kunstform zu respektieren, und Steichen lehnte die Idee des perfekten Negativs ab, da jede Fotografie immer wieder veränderbar sei.
Die erste Ausgabe von Camera Work war mit Gertrude Käsebier einer Piktorialistin „der ersten Stunde“ gewidmet; ihr folgte Edward Steichen, dessen Arbeiten mit insgesamt 68 Fotografien am häufigsten abgebildet wurden (fünf Hefte waren allein ihm gewidmet). Überdies schrieb Steichen regelmäßige Kunstkritiken, sowie Kolumnen zur Farbfotografie. Im weiteren Verlauf kamen Monografien der Photo-Secessionisten, derer Freunde und Mitstreiter und der maßgeblichen Fotografen aus Europa hinzu, wie beispielsweise Alvin Langdon Coburn, Frederick H. Evans, Clarence H. White oder das „Trifolium“, die Wiener Fotografengruppe Hugo Henneberg, Heinrich Kühn und Hans Watzek. Eine französische Ausgabe widmete sich Robert Demachy, René Le Bègue und Constant Puyo; eine weitere Ausgabe stellte mit Alice Boughton, Annie W. Brigman und Ema Spencer nunmehr Fotografinnen vor. Der Entdeckung neuer Talente wurde jedoch weniger Aufmerksamkeit geschenkt.
Auch die Geschichte der Fotografie wurde in Camera Work behandelt, und so ließ Stieglitz unter anderem Kalotypien von David Octavius Hill und Robert Adamson oder Porträtfotografien von Julia Margaret Cameron reproduzieren – Fotopioniere, die zu dieser Zeit bereits wieder in Vergessenheit geraten waren. Die Fotogravuren stammten von dem schottischen Piktorialisten James Craig Annan, der im Besitz der Originalnegative war.
Hierzu gesellten sich Aufsätze und Betrachtungen von Kunstkritikern und Mitgliedern der Photo-Secession, die Berichte über die Aktivitäten der Vereinigung verfassten. Camera Work bot somit eine gründliche Dokumentation der kunstfotografischen Bewegung und zugleich eine würdige Repräsentation ihrer Protagonisten.
Erweiterung zur Kunstzeitschrift
In Ausgabe 14 im April 1906 berichtete Stieglitz nicht ohne Stolz von der Eröffnung der Little Galleries of the Photo-Secession an der Fifth Avenue – im Laufe der Zeit entsprechend der Hausnummer besser als 291 bekannt – im November zuvor. Die ersten Ausstellungen waren den Mitgliedern der Photo-Secession vorbehalten, denen die Galerie abseits der üblichen Clubs als zusätzlicher Treffpunkt diente. Die folgenden Ausstellungsperioden konzentrierten sich im Wesentlichen auf die Fotografie. Mit einer Werkschau der Illustratorin Pamela Colman Smith im Jahre 1907 führte Stieglitz jedoch schon bald eine Zäsur herbei, indem er, für die meisten Mitglieder überraschend, andere Ausdrucksformen der Kunst, oder überhaupt „Kunst“, zuließ.
Entsprechend verfolgte Camera Work zunächst nur die künstlerische und technische Entwicklung der Fotografie, obwohl Stieglitz von Anfang an eine redaktionelle Mischung aus Fotografie, Kunst und Literatur geplant hatte. Zudem wollte er die Fotografie auf einer Ebene wie die malerische Avantgarde aus Europa wissen und wies die Auffassung der konservativen Fotografen, die Lichtbildnerei als reines Handwerk zu betrachten, strikt zurück. Unterdessen entfernte er sich immer mehr von der Fotografie; schließlich wurden in der Galerie von 1910 bis zur Schließung 1917 nur noch vier Fotografie-Ausstellungen gezeigt. Begleitet von emotionalen Ausbrüchen verschlechterte sich Stieglitz’ Beziehung zu den anderen Fotografen drastisch, letztlich wurde er als „diktatorisch“ und „despotisch“ gescholten und 1908 unter der Anschuldigung des Vertrauensmissbrauches aus dem Camera Club ausgeschlossen. Tief verletzt revanchierte sich Stieglitz dafür mit bissigen Briefen in Camera Work.
Es folgte eine Phase „fotografischer Schismen“: 1909 löste sich der Linked Ring in London im Streit auf, andere Vereinigungen der Photo-Secessionisten in Europa ebenso. In Amerika brachen schließlich Gertrude Käsebier und Clarence H. White mit der „verhassten Welt des Kommerzes“ und spalteten sich in eigene fotografische Interessengruppen ab. Stieglitz konzentrierte sich derweil ausschließlich auf die Kunst, insbesondere auf die europäische Maleravantgarde.
Mit dem Wandel der Galerie 291 vom reinen Fotosalon zur avantgardistischen Kunstgalerie änderten sich der Inhalt von Camera Work sukzessive von der Foto- zur Kunstzeitschrift und somit die Leserschaft. „Art Work wäre in diesem Entwicklungsstadium eine treffendere Bezeichnung gewesen als Camera Work“, so die Fotohistorikerin Pamela Roberts. Im Januar 1910 veröffentlichte Camera Work erstmals Karikaturen des mexikanischen Künstlers und Intellektuellen Marius de Zayas, der Kontakte zur Pariser Avantgarde unterhielt und für den Ausstellungsmacher Stieglitz zur „rechten Hand“ in Europa wurde. Auf dem neuen Ausstellungskonzept der Galerie aufbauend, wurden in Camera Work, von diesem Zeitpunkt an, im großen Maße kunstphilosophische Texte abgedruckt.
Im Oktober 1910 veröffentlichte Stieglitz Gravuren mit Aktzeichnungen von Henri Matisse, was zu einem Proteststurm und zu Kündigungen bei den Abonnenten führte. Im April 1911 druckte er farbige Collotypien von Rodins Aktzeichnungen. Mittlerweile hatte die Hälfte der verbliebenen Leser ihr Abonnement gekündigt. Fotografien nackter Frauen wurden allgemein akzeptiert, Gemälde von diesen jedoch nicht. Stieglitz reagierte darauf in einem Artikel:
Stieglitz verstärkte inzwischen den interdisziplinären Bildvergleich zwischen Bildhauerei, Malerei und Fotografie, gepaart mit literarischen Texten. 1911 druckte er beispielsweise ein Foto von Steichen ab, das Rodins Skulptur von Balzac zeigte, und stellte Aquarelle von Rodin daneben. Gemälde von John Marin, Henri Matisse und Pablo Picasso versah er mit Kommentaren von Gertrude Stein und zeigte dazu wiederum Ausstellungsfotos von Constantin Brâncuși, Georges Braque und Picasso. In der ihm selbst gewidmeten Ausgabe 36 im Oktober 1911 distanzierte sich Stieglitz mittlerweile deutlich vom Piktorialismus; die darauf folgenden Ausgaben befassten sich immer weniger mit Fotografie, stattdessen wurden Ausstellungskritiken anderer Kunstzeitschriften nachgedruckt.
Sprachrohr der Avantgarde
Mit der Zeit gestaltete sich Camera Work zunehmend zu einem Forum für Literaten, Kulturwissenschaftler und Philosophen, wie beispielsweise Henri Bergson, dessen Essay Le Rire (dt. Das Lachen, 1914) im Januar 1912 in Auszügen abgedruckt, allgemein ästhetische Betrachtungen anstellte und Vergleiche zwischen dem Utilitarismus und der Materialsprache der Kunst zog. Darin stellte er die für Stieglitz programmatische Frage „Was ist der Gegenstand der Kunst?“. Maurice Maeterlinck, der sich mit der „Symbolik des Lichts“ auseinandersetzte, betrachte die künstlerische Fotografie derweil unter okkulten, spiritistischen Gesichtspunkten, für die Stieglitz selbst aufgeschlossen war, und nahm bereits Anschauungen des Surrealismus vorweg. Konsequenterweise erschienen zwei Ausgaben später Exzerpte aus Wassily Kandinskys kunstphilosophischen Aufsatz Über das Geistige in der Kunst.
Die Sonderausgabe im August 1912 zeigte schließlich keine einzige Fotografie mehr und war ein eindeutiger Hinweis, dass sich Stieglitz’ Interessen geändert hatten. In dem Heft wurden Gertrude Steins Kommentare, respektive „Wortportraits“, zu Werken von Matisse und Picasso veröffentlicht. Es war der erste Beitrag der amerikanischen Schriftstellerin, der in ihrem Geburtsland veröffentlicht wurde. Ihre Rezeption der Werke formulierte Stein in den für sie charakteristischen, sich wiederholenden Wortverdrehungen und entsprachen stilistisch ihrem Selbstverständnis als „kubistische Autorin“. Sie reflektierte damit Stieglitz’ Wahrnehmung des Neuen und seine Verpflichtung dem Experimentellen gegenüber. Zu Picasso schrieb sie: „One whom some were certainly following was one who was completely charming. One whom some were certainly following was one who was charming. One whom some were following was one who was completely charming. One whom some were following was one who was certainly completely charming,“ ohne einen Hinweis zu liefern um welchen, beziehungsweise ob es sich überhaupt um einen Maler handelt.
Im Vorwort der Sonderausgabe erklärte Stieglitz:
Stieglitz war Gertrude Stein erstmals 1909 in deren Pariser Salon, einem beliebten Treffpunkt der Avantgarde, begegnet. In einem intensiven Gedankenaustausch wurde beiden bewusst, dass sie ähnliche künstlerische Ziele verfolgten. Stein gefiel die Idee, in einem Bildmedium Texte über einen Maler zu veröffentlichen und verglich dies mit Paul Cézanne, dessen Bilder sie wiederum zum Schreiben inspirierten. Obwohl die meisten Beiträge in Camera Work dem Modernismus verpflichtet waren, zeigten sich die meisten Autoren weniger revolutionär wie die Stein. Eine Ausnahme war der amerikanische Journalist Benjamin De Casseres, der den Modernismus mit Spaß und Lobeshymnen transportierte und zugleich auf den Malerpoeten William Blake und auf die „Freudianer“ verwies. Mit der Sonderausgabe im Juni 1913 erschien Gertrude Stein noch einmal als Autorin. Stieglitz signalisierte mit diesen „weniger gefälligeren“ Artikeln, dass sich die Moderne jetzt auch im Text widerspiegelt.
Ende und Neuanfang der Fotografie
Nach 1913 wurde die Zahl der Abonnenten von Camera Work rückläufig, entsprechend sanken die Einnahmen. Hinzu kam der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der die Lieferung der kostspieligen Gravuren, die von dem in Deutschland ansässigen Goetz gefertigt wurden, verhinderte. Stieglitz kümmerte sich derweil verstärkt um die Galerie 291, außerdem forderte die bevorstehende Armory Show seine Aufmerksamkeit.
Paul Strand in Camera Work 49/50, 1917
(externe Weblinks)
Photograph – New York, 1917
Portrait, Washington Square Park, 1917
The White Fence, 1917
(Drei Beispiele. Insgesamt wurden elf Fotogravuren von Strand gezeigt)
In den folgenden vier Jahren erschienen nur noch sechs Ausgaben von Camera Work. Die Nummer 47 enthielt fast ausschließlich Texte und Leserbriefe auf die Frage „Was ist 291?“, was entweder als letzter Versuch einer „Leserbindung“ oder als Stieglitz’ Suche nach Bestätigung gewertet werden kann. „Er wollte diese Meinungen gedruckt sehen, bevor er aufgeben würde. Möglicherweise zerrten der Ärger, das Arbeitspensum und die Kosten an seinen Nerven. Selbst er war nicht immun gegen die deprimierende Realität des ersten Weltkriegs“, mutmaßte die Fotohistorikerin Pam Roberts. In den Briefen kamen Menschen aus verschiedensten Berufen und Gesellschaftsschichten zu Wort; darunter der Liftboy des Hauses, zahlreiche Designer, Fotografen, Maler oder Schriftsteller. Unter den namhafteren fanden sich Francis Picabia, Man Ray, dessen Freund, der Anarchist und Bildhauer Adolf Wolff und schließlich Edward Steichen, der völlig desillusioniert äußerte, dass er Stieglitz bereits vor Jahren geraten habe, Galerie und Zeitschrift aufzugeben.
Die vorletzte Ausgabe, Nummer 48, zog ein Resümee der vergangenen Jahre und lotete zugleich Zukunftsperspektiven aus. Die Vergangenheit wurde dabei durch piktorialistische Arbeiten von Francis Bruguière, Frank Eugene und Arthur Allen Lewis dargestellt, sowie ein Ausstellungsfoto deutscher und österreichischer Fotografien, die 1906 in der 291 gezeigt wurden; für die Gegenwart standen Stieglitz’ Fotografien der Ausstellungen von Brâncuși, afrikanischer Kunst, Picasso und Braque im Jahr 1914 und die Elie-Nadelmann-Ausstellung 1915. Die Zukunft behielt Stieglitz einzig dem Fotografen Paul Strand vor, der 1916 die letzte Fotoausstellung in der 291 hatte. Und so waren die beiden letzten Ausgaben von Camera Work, die als Doppelheft 49/50 zusammengefasst waren, ausschließlich Strand gewidmet. Sogar in der Machart unterschied sich das Schlussheft von früheren Ausgaben: Das Papier war stärker, die Druckfarben kräftiger. Strands nunmehr harte, kontrastreiche Fotografien symbolisierten das Ende des Piktorialismus und die Hinwendung zur reinen „straight“ Fotografie.
Resümee
Als Alfred Stieglitz 1917 die Galerie 291 schloss, hatte er noch unzählige unverkaufte Ausgaben von Camera Work eingelagert. Nachdem er 1930 den meisten, ihm wichtigen Institutionen einen kompletten Satz hatte zukommen lassen, verbrannte er die restlichen 1000 Exemplare. Weil er „keinen Wert“ mehr darin sah, stiftete er 1933 sein Fotoarchiv mit etwa 600 Fotografien der Photo-Secessionisten dem Metropolitan Museum of Art in New York. Sämtliche Exemplare von Camera Work, die sich heute noch in Antiquariaten oder auf Auktionen finden, stammen aus den Sammlungen der damaligen Abonnenten. Einzelne Ausgaben von Camera Work finden sich unter anderem in den (nicht ständig gezeigten) Sammlungen des Musée d’Orsay in Paris, in der National Gallery of Art in Washington, D.C., im Cleveland Museum of Art, im George Eastman House in Rochester (New York), der National Gallery of Australia in Canberra sowie im Metropolitan Museum of Art.
Rezeption
Jede Ausgabe von Camera Work wurde von der britischen Presse weitgehend wohlwollend rezensiert. Ein Redakteur der zeitgenössischen Zeitschrift Photography befand: „Ausführung und Erfolg der Zeitschrift sind ganz und gar persönlicher Art, und solange wir keinen britischen Stieglitz finden, muß Camera Work einzigartig bleiben.“
Der britische Piktorialist Alfred Horsley Hinton schrieb 1903 in The Amateur Photographer: „Es kann kein anderes Urteil geben. Camera Work schlägt alle früheren Publikationen hinsichtlich des guten Geschmacks, des Ansehens, der tatsächlichen Bedeutung […]. Der Publikumsgeschmack erwartet zu oft, daß Photozeitschriften trivial und oberflächlich sind, doch hier werden diejenigen, die sich für die künstlerischen Aspekte der Photographie interessieren, auf Lesestoff stoßen, der überdauern wird, der sie zum Nachdenken anregen wird, gleichfalls auf Bilder, die heute berühmt sind und es wohl auch in Zukunft sein werden. Man kann Camera Work nicht genug loben, es gibt nichts Vergleichbares. Auf Herrn Alfred Stieglitz können die amerikanischen Photographen zu Recht stolz sein …“
1924 wurde Stieglitz von der Royal Photographic Society mit der Progress Medal die höchste Auszeichnung der Gesellschaft verliehen. Die Ehrung erfolgte „in Anerkennung seiner bedeutenden Leistungen bei der Entstehung und Förderung der amerikanischen piktorialistischen Fotografie und für seine Gründung und Verbreitung der Zeitschrift Camera Work, die über einen Zeitraum von 14 Jahren der künstlerischste Versuch einer Dokumentation der Photographie war, der je unternommen wurde.“
Der französische Fotohistoriker Michel Frizot konstatierte in einem Essay über Camera Work: „Sie war die luxuriöseste Fotozeitschrift der Epoche und war ebenso bedeutend wie Amateur Photographer in Großbritannien, Photographische Rundschau in Deutschland und Revue de photographie in Frankreich. […] Anhand von Camera Work läßt sich die gesamte Theorieentwicklung über 15 Jahre und der zunehmende Einfluß der europäischen Vorbilder nachvollziehen, die Stieglitz bereits in seiner Galerie 291 vorführte und auch in der Zeitschrift selbst zeigte […] Die meisten in Camera Work veröffentlichten Bilder stammen von Steichen, gefolgt von Stieglitz, Craig, Annan, Coburn, White, Eugene, De Meyer, Demachy, Kühn, Seeley und anderen, allesamt fortschrittlichen Fotografen, die in der Anlehnung an die Bildende Kunst versuchten, die Welt zu begreifen.“
Der amerikanische Kulturwissenschaftler Michael North hinterfragt in seinen 2005 veröffentlichten Betrachtungen zur ästhetischen Moderne und zur Fotografie die Multidisziplinarität von Camera Work. North unterstellt, dass Literatur und visuelle Künste durch die Fotografie in ein neues Verhältnis rückten: „Durch die Zeitschrift ist die Fotografie zu einem wichtigen Vehikel für abstrakte Kunst und experimentelle Literatur geworden“. Der Autor macht dies an einer Anekdote aus dem Jahr 1912 fest, als ein Leser von Camera Work erstaunt fragte, was „Picasso & Co“ mit Fotografie zu tun hätten.
Die Fotohistorikerin Pam Roberts resümierte, dass Camera Work „vom Publicity-Organ der Photo-Secession zum Ausstellungskatalog der Galerie 291“ viele Aufgaben erfüllte und „als letzte Bastion des Zusammentreffens von Symbolismus, Photographie und Literatur begann und als Botschafterin der Moderne“ endete. Obwohl die Zeitschrift viele Fotografen inspirierte, war sie für andere, wie Ansel Adams, Walker Evans oder Eliot Porter, ein Anachronismus, da man sich aus der Fülle der piktorialistischen Arbeiten lediglich an Steichen, Stieglitz und Strand erinnert. „Vor allem“, so Roberts, „war Camera Work die Autobiographie eines kreativen Menschen gewesen, […] eines Mannes, den man als Despoten, Diktator, Guru, Propheten und Messias bezeichnete: Alfred Stieglitz.“
Galerie
In Camera Work vorgestellte Fotografen (Auswahl)
Index der Ausgaben
Insgesamt wurden von Camera Work 53 Ausgaben veröffentlicht, darunter drei Sondernummern (die Doppelhefte Nr. 34/35, 42/43 und 49/50). Alle Ausgaben stehen online u. a. in dem Gemeinschaftsprojekt „Modernist Journals Project“ der Brown University & The University of Tulsa.
Nummer 1, Januar 1903
Fotografien: Sechs Arbeiten von Gertrude Käsebier; eine von Alfred Stieglitz; eine von Arthur Radclyffe Dugmore.
Malereien: Ein Werk von Dwight William Tryon; eins von Pierre Puvis de Chavannes.
Texte: Alfred Stieglitz, Charles Caffin, Dallett Fuguet, John Barrett Kerfoot, Sidney Allan (Sadakichi Hartmann), Edward Steichen, Joseph Keiley und andere.
Nummer 2, April 1903
Fotografien: Zwölf Arbeiten von Edward Steichen.
Texte: Artikel von Edward Steichen, Charles Caffin und Sadakichi Hartmann; Vermischtes von R. Child Bayley, Dallett Fuguet, John Barrett Kerfoot und Eva Watson-Schütze.
Nummer 3, Juli 1903
Fotografien: Fünf Arbeiten von Clarence H. White; drei von Ward Muir; je eine von J. C. Strauss, Joseph Keiley, Alfred Stieglitz und Alvin Langdon Coburn.
Malereien: Je ein Werk von Mary Cassatt, Eugène Boudin und Rembrandt.
Texte: Charles Caffin über Clarence H. White; Vermischtes von John Barrett Kerfoot, Dallett Fuguet, Ward Muir und anderen; Zitate von James McNeill Whistler, Peter Henry Emerson.
Beilagen: Faksimile des handgeschriebenen Textes Je Crois von Maurice Maeterlinck; Richtlinien und Mitgliederliste der Photo-Secession.
Nummer 4, Oktober 1903
Fotografien: Sechs Bilder von Frederick H. Evans; eins von Alfred Stieglitz (The Flatiron Building); eins von Arthur E. Becher.
Texte: George Bernard Shaw über Frederick Henry Evans; Vermischtes von Sadakichi Hartmann, Dallett Fuguet, John Barrett Kerfoot, Charles Caffin, Joseph Keiley und Edward Steichen.
Nummer 5, Januar 1904
Fotografien: Sechs Arbeiten von Robert Demachy; eine von Prescott Adamson; eine von Frank Eugene (Smith).
Texte: Joseph Keiley über Robert Demachy; Sadakichi Hartmann über Kritiken; Vermischtes von F. H. Evans, Dallett Fuguet und anderen; Zitate von James McNeill Whistler.
Nummer 6, April 1904
Fotografien: Sechs Arbeiten von Alvin Langdon Coburn; zwei von Will A. Cadby; eine von W. B. Post.
Texte: Charles Caffin über Alvin Langdon Coburn; Sadakichi Hartmann über die Carnegie Ausstellung; Vermischtes von Will A. Cadby, Dallett Fuguet und anderen.
Nummer 7, Juli 1904
Fotografien: Sechs Arbeiten von Theodor und Oscar Hofmeister; zwei von Robert Demachy; eine von Edward Steichen; eine von Mary Devens.
Texte: Ernst Juhl über die Hofmeisters; Robert Demachy über Gummidruck; Vermischtes von A. K. Boursault, F. H. Evans und anderen; Abonnentenwerbung.
Nummer 8, Oktober 1904
Fotografien: Sechs Arbeiten von James Craig Annan; eine von Alvin Langdon Coburn; eine von F. H. Evans; sechs Scherenschnitt-Porträts von John Barrett Kerfoot.
Texte: Joseph Keiley über J. Craig Annan; John Barrett Kerfoot über Silhouetten und Satire; Alfred Stieglitz über ausländische Ausstellungen; Vermischtes.
Nummer 9, Januar 1905
Fotografien: Fünf von Clarence White; eine von Edward Steichen; vier von Eva Watson-Schütze.
Texte: Joseph Keiley über Eva Watson-Schütze; John W. Beatty über Clarence White; F. H. Evans über den photographischen Salon in London 1904; Satire von John Barrett Kerfoot; neue Serie mit Nachdrucken New Yorker Kritiker, diesmal First American Salon in New York; Vermischtes; Zitate von Sebastian Melmoth (Oscar Wilde).
Nummer 10, April 1905
Fotografien: Sieben von Gertrude Käsebier; zwei von C. Yarnall Abbott; eine von E. M. Bane.
Kunstwerke: ein Druck von Kitagawa Utamaro; Gemälde von Thomas W. Dewing und Sandro Botticellis Primavera (in schwarz-weiß).
Texte: Roland Rood über Plagiate; Charles Fitzgerald (ein Kritiker der New York Sun, der öfter in Camera Work abgedruckt wurde); Edward Steichen: Maler und Fotografen; Vermischtes.
Nummer 11, Juli 1905
Fotografien: Sechs Arbeiten von David Octavius Hill; zwei von Edward Steichen; eine von Robert Demachy; zwei von A. Horsley Hinton.
Texte: J. Craig Annan über David Octavius Hill; Dallett Fuguet über Kunst und Originalität; Satire von John Barrett Kerfoot; verschiedene Techniken; Alfred Stieglitz über Camera Works Pläne für 1906.
Nummer 12, Oktober 1905
Fotografien: Zehn Arbeiten von Alfred Stieglitz: Horses (1904), Winter, Fifth Avenue (falsch datiert auf 1892, aufgenommen im Februar 1893), Going to the Post (1904), Spring (1901), Nearing Lund (1904), Katherine (1905), Miss S. R. (1904), Ploughing (1904), Gossip, Katwyck (1894), September (1899); drei Arbeiten von F. Benedict Herzog.
Andere Abbildungen: Nachdrucke von Hieroglyphen und Höhlenmalereien (halbseitig); zwei Werke von Giotto; eine von Botticelli (Detail aus Primavera); eine von Diego Velázquez.
Texte: Charles Caffin, „Wahrheit und Illusion“; Roland Rood über die Entwicklung der Kunst; Ankündigung der Eröffnung der Little Galleries of the Photo-Secession Gallery für den 1. November; Vermischtes; Zitate von Sebastian Melmoth.
Nummer 13, Januar 1906
Fotografien: Drei Arbeiten von Hugo Henneberg; vier von Heinrich Kühn; fünf von Hans Watzek.
Andere Kunstwerke: Edward Steichens Poster für die Photo-Secession.
Texte: F. Mathies-Masuren über Hugo Henneberg, Heinrich Kühn und Hans Watzek; Charles Caffin, „Wahrheiten und Illusionen II“; F. H, Evans über den Londoner Salon 1905 (mit einer Liste der amerikanischen Foto-Ausstellungen); Vermischtes.
Nummer 14, April 1906
Fotografien: Neun von Edward Steichen; vier von Alfred Stieglitz der Ausstellungen in der 291 (Edward Steichen im März, Clarence White und Gertrude Käsebier im Februar und die Ausstellungseröffnung im November—Januar (zwei Bilder)); Cover-Gestaltung von Edward Steichen (Frau mit Globus).
Texte: George Bernard Shaw, „The Unmechanicalness of Photography“ und Rezension der Londoner Ausstellung; Satire von John Barrett Kerfoot; Nachdrucke von Kritiken über die Photo-Secessionisten-Ausstellungen; Ausstellungskalender.
Sonderheft Edward Steichen, April 1906
Fotografien: Sechzehn Arbeiten von Edward Steichen, unter anderem Porträts von Eleonora Duse, Maurice Maeterlinck, J. R. Morgan und Auguste Rodin, sowie zahlreiche handkolorierte Halbtondrucke.
Text: Maurice Maeterlinck, „I Believe.“
Nummer 15, Juli 1906
Fotografien: Fünf Arbeiten von Alvin Langdon Coburn; eine von George Bernard Shaw, Porträt von Alvin Langdon Coburn; eine von Edward Steichen, Experimente mit dreifarbigen Fotografien, unretuschierte Halbton-Platten direkt vom Diapositiv; eine Arbeit von George Henry Seeley.
Texte: Artikel von Charles Caffin und Rolund Rood; George Bernard Shaw über Alvin Langdon Coburn; John Barrett Kerfoot, „The ABC of Photography, A–G“; Vermischtes, mit einem Bericht von der First Pennsylvania Academy Fotoausstellung ausgerichtet von Joseph Keiley, Edward Steichen und Alfred Stieglitz.
Nummer 16, Oktober 1906
Fotografien: Sieben Arbeiten von Robert Demachy; drei von Constant Puyo; zwei von René LeBégue.
Texte: Robert Demachy über Öldruck-Techniken; Charles Caffin über aktuelle Ausstellungen; John Barrett Kerfoot, „The ABC of Photography, H–N“; Vermischtes.
Nummer 17, Januar 1907
Fotografien: Sechs Arbeiten von Joseph Keiley; zwei von F. Benedict Herzog; eine von Harry Cogswell Rubincam; eine von A. Radclyffe Dugmore.
Weitere Abbildungen: Zwei satirische Aquarell-Porträts von James Montgomery Flagg in zwei Farben
Texte: Charles Caffin on F. Benedict Herzog: John Barrett Kerfoot, „The ABC of Photography, O–T“, F. H. Evans über den Londoner Salon 1906; Vermischtes.
Nummer 18, April 1907
Fotografien: Sechs Arbeiten von George Davison; zwei von Sarah Choate Sears; zwei von William B. Dyer.
Texte: Charles Caffin über Symbolismus und Allegorien; R. Child Bayley über piktorialistische Photographie; John Barrett Kerfoot, „The ABC of Photography, U—Z“; Robert Demachy über „modifizierte“ Drucke, beantwortet von George Bernard Shaw; F. H. Evans; Francis Meadow Sutcliffe; Vermischtes.
Nummer 19, Juli 1907
Fotografien: Fünf Arbeiten von James Craig Annan; eine von Edward Steichen.
Texte: Robert Demachy „Straight print“; Vermischtes von Dallett Fuguet, Charles Caffin, John Barrett Kerfoot und andere.
Nummer 20, Oktober 1907
Fotografien: Sechs Arbeiten von George Henry Seeley; drei Schnappschüsse von Alfred Stieglitz – From My Widow, New York (nach 1898), From My Window, Berlin (1888–90), In the New Work Central Yards (1903); eine Arbeit von W. Renwick.
Texte: Alfred Stieglitz, „Die neue Farbfotografie“ (erster Bericht über das Autochromverfahren der Lumière und hierzu angestellte Experimente im Juni 1907); Joseph Keiley über Gertrude Käsebier; C. A. Brasseur über Farbfotografie; Vermischtes.
Nummer 21, Januar 1908
Fotografien: Zwölf Arbeiten von Alvin Langdon Coburn.
Texte: (unsigniert) „Ist Fotografie eine neue Kunst?“; Charles Caffin und andere. Erklärung, warum sich die farbige Ausgabe verzögert.
Nummer 22, April 1908 (farbige Ausgabe)
Fotografien: Drei Arbeiten von Edward Steichen, George Bernard Shaw, On the Houseboat, Lady H. (im Vierfarb-Rasterdruck reproduziert von Bruckmann, München).
Texte: Edward Steichen, „Farbfotografie“; Charles Caffin und J. C. Strauss über den Ausschluss von Alfred Stieglitz aus dem New York Camera Club; Liste mit vierzig Mitgliedern der „Camera Workers“, einer neuen Gruppe von Fotografen, die ebenfalls aus dem Camera Club ausgetreten sind; Vermischtes, mit einem Rückblick der Ausstellung der Rodin-Zeichnungen in der 291 im Januar.
Nummer 23, Juli 1908
Fotografien: Sechzehn Arbeiten von Clarence H. White.
Texte: Charles Caffin über die Ausstellungen von Clarence H. White und George Henry Seeley; Nachdrucke der Kritiken zur Schau von Henri Matisse; Alfred Stieglitz, „Frilling and Autochromes“; Vermischtes.
Nummer 24, Oktober 1908
Fotografien: Sieben Bilder von Adolphe de Meyer; eine von William E. Wilmerding; zwei von Guido Rey.
Texte: George Besson befragt Künstler wie Auguste Rodin und Henri Matisse über piktorialistische Photographie; Charles Caffin, „The Camera Point of View in Painting und Photography“; Vermischtes.
Nummer 25, Januar 1909
Fotografien: Fünf von Annie W. Brigman; eine von Ema Spencer; eine von C. Yarnall Abbott; zwei von Frank Eugene, darunter ein Porträt von Alfred Stieglitz.
Texte: Charles Caffin, „Henri Matisse und Isadora Duncan“; John Barrett Kerfoot über Henri Matisse; John Nilsen Laurvik über Annie W. Brigman; Vermischtes, Mitgliederliste der Photo-Secession.
Nummer 26, April 1909
Fotografien: Sechs Arbeiten von Alice Boughton; eine von James Craig Annan; eine von George Davison.
Texte: Benjamin de Casseres, „Karikaturen und New York“; Sir (Caspar) Purdon Clarke über Kunst und Oscar Wilde über den Künstler; J. Nilsen Laurvik über die Internationale Fotografie-Ausstellung im National Arts Club; Vermischtes.
Nummer 27, Juli 1909
Fotografien: Fünf Arbeiten von Herbert C. French; vier von Clarence White und Alfred Stieglitz (gemeinsame Arbeiten).
Texte: H. G. Wells, „Über die Schönheit“; Benjamin de Casseres über Pamela Colman Smith; Charles Caffin über die Ausstellungen von Adolph de Meyer und Alvin Langdon Coburn; New Yorker Kritiken zu Alfred Maurer und John Marin in der 291; Zitate von Oscar Wilde; Vermischtes.
Nummer 28, Oktober 1909
Fotografien: Sechs Arbeiten von David Octavius Hill; eine von George Davison; eine von Paul Burty Haviland; eine von Marshall R. Kernochan; eine von Alvin Langdon Coburn.
Texte: Unsignierter Text über den Impressionismus; Charles Caffin über Edward Steichens Fotografien von Rodins Balzac sowie über die Internationale Fotoausstellung in Dresden; Zitate von Friedrich Nietzsche; Vermischtes
Nummer 29, Januar 1910
Fotografien: Zehn von George Henry Seeley.
Karikaturen: Vier Arbeiten von Marius de Zayas.
Texte: Sadakichi Hartmann; Julius Meier-Graefe über Lithografien von Henri de Toulouse-Lautrec; Kritiken über die Galerie-Ausstellung der Photo-Secession; Vermischtes.
Nummer 30, April 1910
Fotografien: Zehn Arbeiten von Frank Eugene.
Karikaturen: Marius de Zayas karikiert Alfred Stieglitz.
Texte: William D. MacColl über Kunstkritiken; Sadakichi Hartmann über Komposition; Charles Caffin über Edward Steichen; New Yorker Kritiker über Edward Steichen, John Marin und Henri Matisse; Vermischtes, Ankündigung der Albright-Gallery-Ausstellung in Rochester (NY) im November.
Nummer 31, Juli 1910
Fotografien: Vierzehn Arbeiten von Frank Eugene.
Texte: Max Weber, „The Fourth Dimension from a Plastic Point of View“ und „Chinese Dolls and Modern Colonists“; Paul Burty Haviland verteidigt die Ausstellung anderer Kunstwerke in der Galerie 291 und deren Abbildungen in Camera Work; Sadakichi Hartmann über Marius de Zayas; New Yorker Kritiken über die Ausstellung der Younger American Painters; Vermischtes.
Nummer 32, Oktober 1910
Fotografien: Fünf Arbeiten von J. Craig Annan; eine von Clarence White; Werbeanzeige von Alvin Langdon Coburn.
Zeichnungen: Zwei Aktzeichnungen von Matisse; ein Bühnendesign von Edward Gordon Craig.
Texte: Sadakichi Hartmann über Puritanismus; Annan über die Fotografie als künstlerischer Ausdruck; Benjamin de Casceres über „Dekadenz und Mittelmäßigkeit“; Elie Nadelman, Meine Zeichnungen; Vermischtes.
Nummer 33, Januar 1911
Fotografien: Fünfzehn Arbeiten von Heinrich Kühn (Mezzotinto- und Halbton-Arbeiten).
Texte: Charles Caffin, Joseph Keiley, Alvin Langdon Coburn et al. über die Ausstellung in der Albright-Knox Art Gallery; Sadakichi Hartmann, „Was bleibt?“; Max Weber, Gedichte zu mexikanischer Volkskunst; Vermischtes.
Nummers 34/35, April–Juli 1911
Fotografien: Vier Arbeiten von Edward Steichen, inklusive Rodin und Balzac.
Zeichnungen: Zwei Gravuren und sieben Collotypien von Auguste Rodin.
Texte: Benjamin de Casseres; Agnes E. Meyer; Sadakichi Hartmann über Auguste Rodin; George Bernard Shaw, „Eine Seite von Shaw“; Marius de Zayas über den Pariser Herbstsalon; Charles Caffin über Paul Cézanne; Marius de Zayas über Pablo Picasso; L.F. Hurd, Jr.; Vermischtes.
Nummer 36, Oktober 1911
Fotografien: Sechzehn Arbeiten von Alfred Stieglitz: The City of Ambition (1910), The City Across the River (1910), The Ferry Boat (1910), The Mauretania (1910), Lower Manhattan (1910), Old und New New York (1910), The Aeroplane (1910), A Dirigible (1910), The Steerage (1907), Excavating, New York (1911), The Swimming Lesson (1906), The Pool – Deal (1910), The Hand of Man, (1902), In the New York Central Yards (1903), The Terminal (1892), Spring Showers, New York (1903).
Zeichnungen: Eine von Pablo Picasso.
Texte: Benjamin de Casseres, „Das Unbewusste in der Kunst“; Zitate von Henri Bergson und Platon; Alvin Langdon Coburn, „Die Beziehung der Zeit zur Kunst“; Vermischtes.
Nummer 37, Januar 1912
Fotografien: Arbeiten von David Octavius Hill und Robert Adams.
Texte: Benjamin de Casseres über die „Moderne und die Dekadenz“; Sadakichi Hartmann über Originalität; Henri Bergson über den „Gegenstand der Kunst“: Archibald Henderson über George Bernard Shaw und Fotografie; Maurice Maeterlinck über Fotografie; Charles Caffin über Adolph de Meyer; Gelett Burgess, „Essays in Subjective Symbolism“; Vermischtes
Nummer 38, April 1912
Fotografien: Fünf Arbeiten von Annie W, Brigman; acht von Karl F. Struss.
Texte: Benjamin de Casseres, „Das Ironische in der Kunst“; Sadakichi Hartmann, „Die ästhetische Bedeutung des bewegten Bildes“; Nachdrucke New Yorker Kritiker; Vermischtes.
Nummer 39, Juli 1912
Fotografien: Sechs Arbeiten von Paul Burty Haviland; eine von H. Mortimer Lamb.
Malereien: Zwei Aquarelle von John Marin, dreifarbig gedruckt.
Zeichnungen: Zwei Arbeiten von Manuel Manolo.
Karikaturen: Marius de Zayas karikiert Alfred Stieglitz.
Texte: Marius de Zayas, „Die Sonne ist untergegangen“; Sadakichi Hartmann über Henri Matisse; Auszüge aus Wassily Kandinskys „Über das Geistige in der Kunst“; J. Nilsen Laurvik über John Marin; Sadakichi Hartmann über Kinderzeichnungen; Vermischtes.
Sonderausgabe, August 1912
Malereien: Fünf Werke von Henri Matisse; drei von Pablo Picasso.
Zeichnungen: Zwei von Pablo Picasso.
Skulpturen: Zwei Abbildungen von Henri Matisse; zwei von Pablo Picasso (gerasterte Fotoreproduktionen).
Texte: Leitartikel zum Inhalt; Gertrude Stein, „Henri Matisse“ und „Pablo Picasso“ (erste Veröffentlichung ihrer Schriften in den Vereinigten Staaten).
Nummer 40, Oktober 1912
Fotografien: Vierzehn Arbeiten von Adolphe de Meyer.
Texte: John Galsworthy, „Flüchtige Gedanken zur Kunst“; Hutchins Hapgood, „Eine neue Form der Literatur“; Auszüge aus den Briefen Vincent van Goghs; Vermischtes.
Nummer 41, Januar 1913
Fotografien: Fünf Kalotypien von Julia Margaret Cameron; vier Fotografien von Alfred Stieglitz, A Snapshot, Paris (zwei Bilder, 1911), The Asphalt Paver, New York (1892), Portrait S. R. (1904).
Texte: Marius de Zayas, „Photographie“ und „The Evolution of Form Introduction“; Nachdrucke New Yorker Kritiken; Vermischtes.
Sonderausgabe, Juni 1913
Malereien: Drei Gemälde von Paul Cézanne; eine von Vincent Van Gogh; zwei von Pablo Picasso; eine von Francis Picabia.
Zeichnungen: Eine Fotoreproduktion von Pablo Picasso.
Texte: Gertrude Stein, „Portrait of Mabel Dodge at the Villa Curonia“; Mabel Dodge, „Speculations“; Gabrielle Buffet-Picabia, „Modern Art und the Public“; Francis Picabia, „Vers L’Amorphisme“; Benjamin de Casseres, „The Renaissance of the Irrational“; Vermischtes; „Are You Interested in the Deeper Meaning of Photography?“
Nummern 42/43, April–Juli 1913 (veröffentlicht im November)
Fotografien: Vierzehn Arbeiten von Edward Steichen (mit einigen Duoton-Drucken).
Malereien: drei von Edward Steichen (reproduziert als dreifarbiger Rasterdruck).
Texte: Marius de Zayas, „Fotografie und künstlerische Fotografie“; Gedicht von Mary Steichen; New Yorker Kritiken zu Galerie 291; John Marin, „Erklärung zu seiner Ausstellung“; Francis Picabia, „Geleitworte zur Ausstellung“; Marius de Zayas, „Geleitworte zur Ausstellung“; John Weichsel, „Cosmism or Amorphism?“
Nummer 44, Oktober 1913 (veröffentlicht im März 1914)
Fotografien: Eine von Edward Steichen; eine von Alfred Stieglitz, Two Towers, New York; eine von Annie W. Brigman.
Nummer 45, Januar 1914 (veröffentlicht im Juni)
Fotografien: Acht Arbeiten von J. Craig Annan.
Texte: Mina Loy, „Aphorisms on Futurism“; Marsden Hartley, Vorwort zur Ausstellung; Mabel Dodge über Marsden Hartley; Gertrude Stein, „From a Play by Gertrude Stein on Marsden Hartley“; Nachdrucke New Yorker Kritiken; Hinweis auf die geplante Fotoausstellung in der 291; Vermischtes.
Nummer 46, April 1914 (veröffentlicht im Oktober)
Fotografien: Zwei Arbeiten von Paul Burty Haviland; eine von Frederick H. Pratt.
Karikaturen: Zehn Werke von Marius de Zayas.
Texte: John Weichsel, „Artists und Others“; Gedichte von Katharine Rhoades und Mina Loy; Marius de Zayas über Karikaturen; Paul Burty Haviland über Marius de Zayas; Gedicht von „S.S.S.“ (Alfred Stieglitz’ Schwester Selma); geplante Ausstellungen.
Nummer 47, Juli 1914 (veröffentlicht im Januar 1915)
Keine Abbildungen
Texte: Alfred Stieglitz: „Was ist 291?“ Antworten von: Mabel Dodge, Hutchins Hapgood, Charles E. S. Rasay, Adolf Wolff, Hodge Kirnan, Annie W. Brigman, Clara Steichen, Ward Muir, Abby Hedge Coryell, Frank Pease, Stephen Hawes, Rex Stovel, Alfred Kreymborg, Francis Bruguiére, Ethel Montgomery Andrews, Frances Simpson Stevens, Djuna Barnes, Paul Burty Haviland, Charles Demuth, Konrad Cramer, Charles Daniel, Anna C. Pellew, Helen R. Gibbs, H. Mortimer Lamb, Marsden Hartley, Arthur B. Davies, Arthur G. Dove, John W. Breyfogle, William Zorach, Velida, Max Merz, Eugene Meyer, Arthur B. Carles, Emil Zoler, J. Nilsen Laurvik, S.S.S., Christian Brinton, N. E. Montross, Hugh H. Breckenridge, Helen W. Henderson, Ernest Haskell, Frank Fleming, Lee Simonson, Arthur Hoeber, William F. Gable, A. Walkowitz, F. W. Hunter, Oscar Bluemner, C. Duncan, Katharine Rhoades, Agnes E. Meyer, Marion H. Beckett, Clifford Williams, Samuel Halpert, Man Ray, Marie J. Rapp, Charles Caffin, Dallett Fuguet, Belle Greene, Edward Steichen, Hippolyte Havel, Henry McBride, Torres Palomar, John Weichsel, John Barrett Kerfoot, Francis Picabia, Marius de Zayas, John Marin.
Nummer 48, Oktober 1916
Fotografien: Eine von Frank Eugene; sechs von Paul Strand; eine von Arthur Allen Lewis; eine von Francis Bruguiére; sechs von Alfred Stieglitz von Ausstellungen in der 291: Afrikanische Kunst (November 1914), Deutsche und österreichische Photographen (März 1906), Details der Schauen von Picasso, Braque (Januar 1915), Elie Nadelmann (Dezember 1915).
Texte: Ausstellungen in der 291 von 1914 bis 1916; Marius de Zayas, „Modern Art in Connection with Negro Art“; Agnes E. Meyer über Marion H. Becker und Katharine Rhoades; Elie Nadelman über seine Ausstellung; Abraham Walkowitz über seine Ausstellungen; Marsden Hartley über seine Ausstellungen; C. Duncan und Evelyn Sayer über „Georgia O’Keeffe, C. Duncan und René Lafferty“; Nachdrucke von Kritiken; Annonce „291, a new publication“; Nachdrucke aus der Zeitschrift 291, Juli–August 1915 Arbeit von Marius de Zayas; unsignierter Beitrag, „291 and the Modern Gallery“; Marsden Hartley, „Epitaph for A. S.“
Nummern 49–50, Juni 1917 (letzte Ausgabe)
Fotografien: Elf Arbeiten von Paul Strand, darunter The White Fence, Abstraction Porch Shadows und Abstraction Bowls.
Texte: Paul Strand, „Photographie“; W. Murrell Fisher über Georgia O’Keeffes Zeichnungen und Malereien; Charles Caffin über die 1916/17 Ausstellungssaison der 291; Stanton MacDonald Wright, Vorwort zu seiner Ausstellung; Auszüge aus einem Brief von Frank Eugene; Vermischtes.
Literatur
Sarah Greenough: The Alfred Stieglitz Collection of Photographs at the National Gallery of Art. Washington, Volume I & II. Harry N. Abrams, 2002, ISBN 0-89468-290-3. (englisch)
Marianne Fulton Margolis (Hrsg.), Alfred Stieglitz: Camera Work. Courier Dover Publications, New York 1978, ISBN 0-486-23591-2 (englisch, Auszüge bei Google Bücher)
Beaumont Newhall: Geschichte der Fotografie; amerikanische Originalausgabe History of Photography: From 1839 to the Present. New York 1937; deutsche Übersetzung als Neuauflage bei Schirmer/Mosel, München 2005, ISBN 3-88814-319-5.
Alfred Stieglitz, Richard Whelan (Hrsg.), Sarah Greenough (Hrsg.): Stieglitz on Photography – His Selected Essays and Notes. Aperture, New York 1999, ISBN 0-89381-804-6 (englisch)
Simone Philippi, (Hrsg.), Ute Kieseyer (Hrsg.), Julia Krumhauer et al.: Alfred Stieglitz Camera Work – The Complete Photographs 1903–1917. Taschen, 2008, ISBN 978-3-8228-3784-9 (mehrsprachig; Texte von Pam Roberts, deutsche Übersetzung von Gabriele-Sabine Gugetzer)
Reprint
Camera Work. A Photographic Quarterly. Nendeln: Kraus Reprint, 1969.
Weblinks
Camera Work Alle Ausgaben online auf dem „Modernist Journals Project“ der Brown University
The Art of Photogravure: Camera Work (englisch)
Camera Work in der Zeitschriftendatenbank (ZDB)
Camera Work: A Photographic Quarterly online zur Verfügung gestellt durch die Universitätsbibliothek Heidelberg
Themenportal Camera Work Online auf arthistoricum.net mit Informationen rund um die Zeitschrift
Bettina Gockel: Making a Digital Research Project in the History of Modern Art and Photography – The Art and Photo Magazine 'Camera Work'. In: Maria Effinger et al. (Hrsg.): Von analogen und digitalen Zugängen zur Kunst. Festschrift für Hubertus Kohle zum 60. Geburtstag. Heidelberg: arthistoricum.net, 2019, S. 329–335.
Einzelnachweise
Englischsprachige Vierteljahreszeitschrift
Fotografiezeitschrift
Kunstzeitschrift (Vereinigte Staaten)
Antiquarische Zeitschrift (Vereinigte Staaten)
Zeitschrift (New York City)
Piktorialismus
Ersterscheinung 1903
Erscheinen eingestellt 1917 |
5115061 | https://de.wikipedia.org/wiki/Alfred%20Wegener | Alfred Wegener | Alfred Lothar Wegener (* 1. November 1880 in Berlin; † November 1930 auf Grönland) war ein deutscher Meteorologe sowie Polar- und Geowissenschaftler. Als sein wichtigster Beitrag zur Wissenschaft gilt seine – erst posthum anerkannte – Theorie der Kontinentalverschiebung, die eine wesentliche Grundlage für das heutige Modell der Plattentektonik wurde. Zu seinen Lebzeiten war Wegener vor allem für seine Verdienste in der Meteorologie und als Pionier der Polarforschung bekannt.
Leben
Frühe Jahre
Alfred Lothar Wegener wurde 1880 als das jüngste von fünf Kindern einer Pastorenfamilie geboren. Sein Vater war Richard Wegener (1843–1917), Theologe und Lehrer für Alte Sprachen am Gymnasium zum Grauen Kloster in Berlin. Ein Vetter von Alfred Wegener war der Schauspieler Paul Wegener.
Die Liebe zur Natur wurde in den Kindern wohl geweckt, als man 1886 das Direktorenhaus der alten Glashütte in Zechlinerhütte bei Rheinsberg als Feriendomizil erwarb und später als Wohnsitz der Familie nutzte. Dieses Haus wird bis heute als Wohnhaus genutzt. In der Alten Schule des Ortes sind heute eine Touristeninformation und das Alfred-Wegener-Museum zu finden. Wegener besuchte das ehemalige Köllnische Gymnasium an der Wallstraße, das er als Klassenbester abschloss. Danach studierte er von 1899 bis 1904 Physik, Meteorologie und Astronomie in Berlin, Heidelberg und Innsbruck. 1902 bis 1903 war Wegener während des Studiums Assistent an der Volkssternwarte Urania in Berlin, wo er mit dem Bamberg-Refraktor astronomische Beobachtungen durchführte. Seine Doktorarbeit schrieb er an der Berliner Universität 1905 zwar in Astronomie (unter Betreuung von Julius Bauschinger), wandte sich danach aber mehr der Meteorologie und Physik zu. Seiner Meinung nach gab es in der Astronomie nicht mehr viel zu erforschen, zudem störte ihn, dass ein Astronom stark an seinen Beobachtungsort gebunden ist.
1905 wurde Wegener Assistent am Aeronautischen Observatorium Lindenberg bei Beeskow. Er arbeitete dort mit seinem zwei Jahre älteren Bruder Kurt zusammen, der ebenfalls Naturwissenschaftler war und mit dem er das Interesse für Meteorologie und Polarforschung teilte. Bei einem Ballonaufstieg, der meteorologischen Beobachtungen und der Erprobung der astronomischen Ortsbestimmung mit dem Libellenquadranten diente, stellten die Wegener-Brüder vom 5. bis 7. April 1906 mit 52,5 Stunden einen neuen Dauer-Rekord für Ballonfahrer auf.
Erste Grönlandfahrt
Im selben Jahr nahm Alfred Wegener an der ersten von insgesamt vier Grönland-Expeditionen teil. Wegener selbst hielt diese Entscheidung für einen der bedeutendsten Wendepunkte in seinem Leben. Der Auftrag der Expedition unter Leitung des Dänen Ludvig Mylius-Erichsen war es, das letzte unbekannte Stück der grönländischen Nordostküste zu erforschen. Wegener baute die erste meteorologische Station in Grönland bei Danmarkshavn, wo er Drachen und Fesselballons für meteorologische Messungen im arktischen Klima aufsteigen ließ. Er nahm an Schlittenreisen teil, die ihn bis auf 81° Nord führten. Wegener machte auch die erste Bekanntschaft mit dem Tod im Eis: Bei einer Erkundungsfahrt an die NO-Küste Grönlands mit Hundeschlitten kam der Expeditionsleiter zusammen mit zwei Gefährten ums Leben.
Marburger Jahre
Nach seiner Rückkehr 1908 war Alfred Wegener bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs Privatdozent für Meteorologie, praktische Astronomie und kosmische Physik in Marburg. 1909 war er aktiv an der Gründung des Kurhessischen Vereins für Luftfahrt beteiligt, wo er als Ballonführer meteorologische Messungen, etwa zur Rückstrahlung, durchführte. 1909/10 arbeitete er an seinem Buch Thermodynamik der Atmosphäre, in dem er auch zahlreiche Ergebnisse der Grönlandexpedition verwertete. Wegeners Studenten und Mitarbeiter in Marburg schätzten besonders sein Talent, auch komplizierte Fragen und aktuelle Forschungsergebnisse klar und verständlich zu vermitteln, ohne dabei auf Exaktheit zu verzichten. Diese Jahre gehören zu den wichtigsten Schaffensperioden Wegeners. Am 6. Januar 1912 stellte er bereits seine ersten Gedanken zur Kontinentalverschiebung in der Öffentlichkeit vor. 1911 verlobte er sich mit Else Köppen (1892–1992), die zwei Jahre später seine Frau wurde.
Zweite Grönlandfahrt
Noch vor der Hochzeit nahm Wegener an einer zweiten Grönlandexpedition teil. Nach einem Zwischenstopp auf Island, wo die Ponys für den Lastentransport gekauft und erprobt wurden, gelangte die Expedition wieder nach Danmarkshavn. Bevor man überhaupt mit dem Aufstieg auf das Inlandeis begonnen hatte, wäre die Expedition beinahe durch das Kalben eines Gletschers ausgelöscht worden. Beim Sturz in eine Gletscherspalte brach sich der dänische Expeditionsleiter Johan Peter Koch einen Unterschenkel und musste für Monate das Krankenlager hüten. Ansonsten verlief die erste jemals unternommene Überwinterung auf dem Inlandeis ohne Zwischenfälle. Die Expeditionsteilnehmer führten die ersten Eisbohrungen auf einem bewegten Gletscher in der Arktis durch und machten viele meteorologische Beobachtungen.
Im Sommer 1913 folgte die Durchquerung des Inlandeises, auf der die vier Expeditionsteilnehmer eine doppelt so lange Strecke zurücklegten wie einst Fridtjof Nansen bei seiner Durchquerung Südgrönlands 1888. Nur wenige Kilometer von der westgrönländischen Siedlung Kangersuatsiaq entfernt gingen der kleinen Gruppe in den unwegsamen Gletscherabbrüchen die Nahrungsmittel aus, selbst der geliebte Hund wurde verspeist. Im letzten Moment wurden sie aber an einem Fjord vom Pastor von Upernavik aufgelesen, der gerade eine entlegene Gemeinde besuchte.
Nach seiner Rückkehr fand die Hochzeit mit Else Köppen statt. Sie war die Tochter von Wegeners früherem Lehrer und Mentor, dem Meteorologen Wladimir Köppen. Das junge Paar zog nach Marburg, wo Wegener wieder seine Privatdozentur aufnahm.
Der Ehe entstammten drei Töchter: Hilde (1914–1936) und Sophie Käte (1918–2012) kamen in Marburg zur Welt, Hanna Charlotte (Lotte, 1920–1989) in Hamburg. Lotte heiratete 1938 den bekannten Bergsteiger Heinrich Harrer, von dem sie nach einigen Jahren geschieden wurde. Käte ehelichte 1939 den Gauleiter der Steiermark, Sigfried Uiberreither.
Erster Weltkrieg
Als Reserveoffizier der Infanterie wurde Wegener bei Kriegsbeginn 1914 sofort eingezogen. Sein Kriegseinsatz an der Westfront in Belgien und Frankreich war mit heftigen Kämpfen verbunden, dauerte aber nur wenige Monate, da er nach zwei Verwundungen felddienstuntauglich geschrieben wurde. Danach wurde er dem Heereswetterdienst zugeteilt. Diese Tätigkeit erforderte ständiges Umherreisen zwischen den verschiedenen Wetterwarten in Deutschland, auf dem Balkan, an der Westfront und im Baltikum.
Dennoch erarbeitete er 1915 die erste Fassung seines Hauptwerks Die Entstehung der Kontinente und Ozeane. Wie sein Bruder Kurt dazu anmerkte, ging es Alfred Wegener dabei um die „Wiederherstellung der Verbindung zwischen der Geophysik einerseits und der Geographie und der Geologie andererseits, die durch die spezialisierte Entwicklung dieser Wissenschaftszweige vollständig abgerissen war“.
Das allgemeine Interesse an dem Bändchen war aber, auch wegen der herrschenden Kriegswirren, nur gering. Bis zum Ende des Krieges publizierte Wegener nahezu 20 weitere meteorologische und geophysikalische Arbeiten, in denen er sich immer wieder auf wissenschaftliches Neuland begab.
1917 untersuchte er den Meteoriten von Treysa wissenschaftlich.
Nachkriegszeit
Nach dem Krieg zog Wegener mit seiner Frau und den beiden Töchtern nach Hamburg, wo er bei der Deutschen Seewarte als Meteorologe arbeitete. 1921 wurde er dort zum außerordentlichen Professor an der neu gegründeten Universität Hamburg berufen.
Von 1919 bis 1923 arbeitete Wegener sein Buch Die Klimate der geologischen Vorzeit aus, in dem er versuchte, den neuen Wissenschaftszweig der Paläoklimatologie im Rahmen seiner Kontinentalverschiebungstheorie zu systematisieren, und das er gemeinsam mit seinem Schwiegervater veröffentlichte.
1920 erschien die zweite, 1922 die dritte, völlig neu bearbeitete Auflage seiner Entstehung der Kontinente und Ozeane. In dieser Zeit setzte auch die verstärkte Diskussion um seine Verschiebungstheorie ein, zunächst nur im deutschsprachigen Raum, dann auch international. Die Kritik in der Fachwelt war meist vernichtend. Bemerkenswert ist allerdings, dass Otto Hahn bereits in seiner Monographie Was lehrt uns die Radioaktivität über die Geschichte der Erde?, die 1926 im Springer Verlag veröffentlicht wurde, Wegeners Theorie voll bestätigte.
Wegener hatte gute Aussichten, zum Professor für Meteorologie an der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität berufen zu werden. Damit wäre die Leitung des Preußischen Meteorologischen Instituts verknüpft gewesen – und somit eine Fülle von administrativen Aufgaben, die ihn von der Forschung abgehalten hätten und vor denen es ihm graute: „Er wollte Professor sein, aber kein Professor mit einem Institut.“ 1924 erreichte Wegener dieses Ziel: Er erhielt den Lehrstuhl für Meteorologie und Geophysik in Graz. Hier widmete er sich vor allem der Physik und der Optik der Atmosphäre sowie dem Studium der Tromben (Wirbelstürme). Die wissenschaftliche Auswertung seiner zweiten Grönlandexpedition (Eismessungen, atmosphärische Optik etc.) verzögerte sich bis zum Ende der 1920er Jahre. Im Rahmen der Professur in Graz nahm er auch die österreichische Staatsbürgerschaft an.
Im November 1926 fand in New York ein wichtiges Symposium der American Association of Petroleum Geologists zur Kontinentalverschiebungstheorie statt. Bis auf den Vorsitzenden verwarfen auch hier fast alle Beteiligten Wegeners Verschiebungstheorie. Drei Jahre später erschien die Entstehung der Kontinente und Ozeane in der vierten, erweiterten und letzten Ausgabe.
Letzte Grönlandfahrt
Vorexpedition
1929 unternahm Wegener seine dritte Reise nach Grönland, die als Vorexpedition für die Hauptexpedition 1930 geplant war. Sowohl die Vorexpedition als auch die Hauptexpedition wurden von der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft mit Reisemitteln und Sachbeihilfen finanziert. Begleitet wurde er von Johannes Georgi, Fritz Loewe und Ernst Sorge. Vor Ort rekrutierte Wegener unter anderem den Grönländer Tobias Gabrielsen, den er von der Danmark-Expedition kannte. Ziel der Vorexpedition war es, einen geeigneten Standort für die Basisstation des Folgejahres auszusuchen und Fragen der Ausrüstung zu klären, insbesondere des Transportsystems, für das Hundeschlitten, Pferde und Propellerschlitten in Frage kamen. Wegener nutzte die Gelegenheit auch für erste wissenschaftliche Vorversuche wie Eisbohrungen zur Beurteilung der Eisschmelze und -akkumulation sowie seismische Eisdickemessungen.
Auf der Suche nach einer geeigneten Aufstiegsroute auf das Inlandeis führten die Expeditionsteilnehmer ausgedehnte Reisen mit dem Hundeschlitten durch. Insgesamt wurden dabei 850 km zurückgelegt. Wegener und Georgi drangen mit ihrem grönländischen Schlittenführer 209 km nach Osten vor und erreichten eine Höhe von 2500 m.
Hauptexpedition
Die Hauptexpedition ein Jahr später unter Leitung Wegeners, auf der von drei festen Stationen aus die Mächtigkeit des Festlandeises und das ganzjährige Wetter gemessen werden sollten, stand von Anfang an unter einem schlechten Stern. Der Zeitverlust von 38 Tagen durch ungünstige Eisverhältnisse bei der Landung an der Weststation konnte im Folgenden nicht wieder aufgeholt werden. Die erstmals eingesetzten Propellerschlitten versagten aufgrund zu tiefen Neuschnees und zu geringer Motorenleistung.
Auf dem Rückweg von der Forschungsstation Eismitte (im Wesentlichen einer in das Eis gegrabenen Höhle), die er mit zusätzlichen Lebensmitteln versorgte, kam Wegener vermutlich um den 16. November 1930 ums Leben. Am 12. Mai 1931 fand man Wegeners sorgfältig angelegtes Grab im Eis. Als Todesursache vermutete man Herzversagen infolge von Überanstrengung. Sein grönländischer Begleiter Rasmus Villumsen, der ihn bestattet hatte, blieb verschollen, und mit ihm Wegeners Tagebuch.
Eine Sammlung von Unterlagen zur Vor- und Hauptexpedition befindet sich heute im Archiv für Geographie des Leibniz-Instituts für Länderkunde in Leipzig.
Wegeners Theorie der Kontinentalverschiebung
Wegeners Name hängt eng mit der Theorie der Kontinentalverschiebung zusammen, die zu einer der wichtigsten Grundlagen für die heutige Plattentektonik werden sollte. Wegener war nicht der erste, dem der ähnliche Kurvenverlauf der afrikanischen West- und der südamerikanischen Ostküste auffiel. Als er aber im Herbst 1911 zufällig auf die paläontologischen Zusammenhänge zwischen Südamerika und Afrika aufmerksam wurde, keimte in ihm die Idee von einem Urkontinent, der zerbrochen war und dessen Teile danach auseinanderdrifteten. Bisher hatte man das Vorkommen bestimmter Fossilien auf verschiedenen Kontinenten mit der Landbrücken-Hypothese erklärt. Man ging davon aus, dass die Lebewesen der Vorzeit auf solchen Landbrücken, ähnlich dem heutigen Isthmus von Panama, von einem Kontinent zum anderen gewandert seien.
Tatsächlich scheint diese Hypothese aber auch schon anderswo in der Luft gelegen zu haben. Bereits am 29. Dezember 1908 hatte der nordamerikanische Geologe Frank Bursley Taylor in einem Vortrag vor der Geological Society of America behauptet, die Kontinente seien nicht abgesunken, sondern langsam auseinandergedriftet. Im Gegensatz zu Taylor (der später zu einem von Wegeners ersten Anhängern wurde) gelang es Wegener jedoch, seine Theorie auch durch vielfältige Untersuchungen in den verschiedenen Zweigen der Geowissenschaften zu untermauern.
Argumente gegen die alte Landbrückentheorie
Wegener wies zunächst auf die Unzulänglichkeiten des bisherigen geotektonischen Modells hin, das von der unveränderlichen Lage der Kontinente ausging („Fixismus“). Zum Beispiel erkannte er, dass die erst kürzlich entdeckte natürliche Radioaktivität den bisher angenommenen Wärmehaushalt des Erdkörpers völlig über den Haufen warf. Selbst bei nur mäßigem Vorkommen von radioaktiven Mineralen im Erdinneren würde ihre Wärmeentwicklung den bisher behaupteten unaufhaltsamen Erkaltungs- und Schrumpfungsprozess der Erde, der für die Auffaltung der Gebirgsketten und das Einsinken der Ozeanbecken verantwortlich gemacht wurde, unmöglich machen.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts hatte man erkannt, dass die Kontinente aus vorwiegend granitischem Material (dem sogenannten Sial) spezifisch leichter sind als die vorwiegend basaltischen Ozeanböden (Sima). Vor Wegener hatte aber niemand diese Idee zu Ende gedacht. Wenn die Kontinente (bzw. die bisher postulierten Landbrücken zwischen den Kontinenten) wirklich in einem isostatischen Gleichgewicht auf dem dichteren Material schwammen, dann konnten sie genauso wenig versinken wie ein Eisberg im Meer. Schließlich war ja auch bekannt, dass ganz Skandinavien von den riesigen Eismassen der letzten Eiszeit in den Untergrund gedrückt worden war, und immer noch konnte man an den fallenden Küstenlinien beobachten, wie es ganz von selbst langsam wieder auftauchte.
Ein weiteres Argument gegen die Landbrückentheorie lieferten die Echolot-Messungen des Forschungsschiffes Meteor von 1924 bis 1927 im Atlantik. Diese damals noch sehr junge Technologie erbrachte genauere Informationen über die Topographie des Mittelatlantischen Rückens. Anstatt der erwarteten von Ost nach West verlaufenden und versunkenen Landbrücken zwischen den Kontinenten entdeckte man überraschenderweise einen von Nord nach Süd verlaufenden Gebirgszug in der Mitte des Ozeans.
Beweise für die Kontinentalverschiebung
Geologische Verbindungen über Ozeane hinweg
Zur Stützung seiner Theorie konnte Wegener die Ähnlichkeit von Gesteinsformationen in Indien, Madagaskar und Ostafrika anführen. Darüber hinaus schien ein Gebirgszug in Südafrika seine Verlängerung in einem ähnlich aufgebauten Gebirge in Argentinien zu haben. Präkambrische Gesteine in Schottland entsprachen denen in Labrador (Kanada) auf der anderen Seite des Atlantiks. Auch die Faltengebirge in Norwegen und Schottland schienen sich in den Appalachen in Nordamerika fortzusetzen.
Paläontologie
Im Bereich der Paläontologie wurden Fossilien der Samenfarn-Gattung Glossopteris samt der zugehörigen Flora sowohl in Afrika als auch in Brasilien gefunden. Die fossile Landschnecke Helix pomatia kommt in Europa sowie im Osten Nordamerikas vor, aber nicht im Westen Nordamerikas. Der Mesosaurus wurde in Südafrika und in Brasilien gefunden.
Biologie
Noch heute lebende Arten untermauern die These der Kontinentalverschiebung. So leben beispielsweise Manatis in den tropischen Flüssen Westafrikas und Südamerikas, Beuteltiere kommen nur in Australien und Amerika vor. Barsche gibt es sowohl in den Süßwasserseen Nordamerikas als auch Europas, Flusspferde leben auf dem Afrikanischen Kontinent und in der Vergangenheit auch auf Madagaskar. Feuchtnasenprimaten haben ihre Verbreitung im südlichen Afrika, Madagaskar, Indien, Sri Lanka und Südostasien.
Klimazeugen
Als Meteorologe befasste sich Alfred Wegener besonders mit der Geschichte des Klimas auf der Erde (Paläoklimatologie). Gerade auf diesem Gebiet sammelte er einige seiner wichtigsten Argumente: In der Antarktis hatte man Kohlevorkommen entdeckt, die sich fast nur unter tropischen Bedingungen bilden können. Auf Spitzbergen fanden sich tertiäre Fossilien von Bäumen, die heute im Mittelmeergebiet vorkommen. Im Jura existierten dort sogar tropische Pflanzen. Ein weiterer Beleg für Wegeners Theorie war die Entdeckung, dass die Sahara einst zu großen Teilen von Gletschern bedeckt war (Anden-Sahara-Eiszeit). Wie man heute weiß, geschah das vor etwa 460 Millionen Jahren im Ordovizium, als Nordafrika als Teil des Großkontinents Gondwana in der Nähe des Südpols lag.
Schlussfolgerungen Wegeners
Alle diese verwirrenden Befunde erklärte Wegener mit der Annahme eines ehemaligen Urkontinents, der aufbrach und dessen Teile auseinanderdrifteten. Später wurde für dieses Konzept der Begriff Pangaea eingeführt. Ein besonders klares Beispiel liefert Wegeners Rekonstruktion der Klimazeugen in der Epoche der Permo-karbonen Eiszeit: Während sich die heute über alle Südkontinente verstreuten Vereisungsspuren (wie Moränen, Gletscherschliffe und die kälteliebende Glossopteris-Flora) rund um den damaligen Südpol gruppieren, zeichnen die Salz- und Gipsablagerungen die subtropischen Trockengebiete nach. Die Kohlelagerstätten in Eurasien und Nordamerika gruppieren sich hingegen entlang der damaligen Äquatorialregion.
Die jungen Kettengebirge, wie die amerikanischen Kordilleren oder die Alpen, wären dann durch das Zusammenschieben der Gesteinsschichten an der Stirnseite der wandernden Kontinente entstanden, ähnlich wie eine Bugwelle. Das Auseinanderbrechen dieses Kontinents in einen nördlichen und südlichen Teil schätzte er auf einen Zeitpunkt vor etwa 200 Millionen Jahren.
Selbst die Rolle, welche dem Mittelozeanischen Rücken in der heutigen Plattentektonik zukommt, hatte Wegener in gewisser Weise vorausgeahnt:
Allerdings muss betont werden, dass der Boden des Atlantiks für Wegener im Wesentlichen frisch entblößt war und nicht „frisch gebildet“. Und obwohl Wegener bereits spekulierte, dass es sich bei den großen Grabensystemen wie dem Ostafrikanischen Graben um die ersten Anfänge eines neuen Ozeans handeln könnte, blieb ihm die Bedeutung der vulkanisch aktiven Spaltensysteme auf Island (also auf dem Mittelatlantischen Rücken) für die Kontinentaldrift verborgen.
Ursache der Kontinentalverschiebung
Das Problem an Wegeners Theorie war, dass es ihm nicht gelang, die wirkenden Kräfte plausibel zu machen. Er versuchte die Bewegungen der Erdplatten auf Zentrifugal- und Gezeitenkräfte zurückzuführen, die aber, wie der britische Astronom und Geophysiker Harold Jeffreys 1924 nachwies, dafür viel zu schwach sind. Auch konnten seine Gegner, wie der Leipziger Geologe Franz Kossmat, geltend machen, dass die ozeanische Kruste doch zu fest sei, als dass die Kontinente einfach „hindurchpflügen“ könnten, wie es Wegeners Theorie nahezulegen schien.
In der letzten Ausgabe seiner Entstehung der Kontinente und Ozeane griff Wegener bei der Suche nach den Ursachen der Drift aber bereits auf die Vorstellungen des Geologen und Geophysikers Robert Schwinner über thermisch bedingte Strömungen im Erdinnern zurück. Heute gelten solche Konvektionsströme tatsächlich als der wahrscheinlichste Motor der Plattentektonik. Hierzu entwickelte Otto Ampferer die Unterströmungstheorie.
In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass Wegener erst so spät und so halbherzig auf dieses Konzept einging. Schließlich waren er und Schwinner viele Jahre lang Kollegen an der Universität Graz. Möglicherweise spielten Animositäten gegenüber dem persönlich schwierigen Schwinner mit; vielleicht begann Wegener aber auch schon, die allgemeine Ablehnung seiner Theorie durch die Geologen mit einer Ablehnung „der Geologen“ im Allgemeinen zu erwidern. Jedenfalls machte sich bei ihm eine gewisse Verbitterung darüber breit, dass man ihm als einziges verbleibendes „Gegenargument“ immer wieder vorhielt, er könne die Ursache der Kontinentaldrift nicht erklären. So ist von ihm der Ausspruch überliefert, mit der gleichen Logik könne man die Existenz des Universums in Zweifel ziehen, denn dessen Ursache könne auch niemand erklären.
Weitere Leistungen
Geologie der Einschlagskrater
Wenig bekannt sind Wegeners Arbeiten auf dem Gebiet der Impaktforschung. Ein Meteorit, der am 3. April 1916 bei Rommershausen in der Nähe von Treysa in Hessen (siehe Meteorit von Treysa) auftraf, veranlasste Wegener, sich mit Einschlagkratern zu beschäftigen, und er schrieb Abhandlungen über die Entstehung der Mondkrater. Nach systematischen Experimenten mit Mörtelklumpen, die er auf Zementpulver fallen ließ, vertrat er die Meinung, die Mondkrater seien hauptsächlich von Meteoriten erzeugt worden. Mit dieser Ansicht war er ebenfalls seiner Zeit voraus.
Beim Meteoriten von Treysa suchte Wegener per Zeitungsaufruf Augenzeugen, wobei „außer einer möglichst genauen Zeitangabe […] Beobachtungen über die Farbe und etwaigen Farbenwechsel der Lichterscheinung, über Himmelsrichtung und Winkelhöhe, in der die Explosion oder das Erlöschen des Meteors stattfand“ von besonderem Wert seien. Mit den Augenzeugenberichten erstellte Wegener seine Berechnungen. Er ermittelte so die Bahnlänge und Geschwindigkeit des Meteoriten. Die Masse berechnete er zu etwa 50 Kilogramm und als Einschlagstiefe ging er von rund eineinhalb Metern aus. Als am 6. März 1917 der Meteorit tatsächlich gefunden wurde, erwiesen sich Wegeners Berechnungen bis auf wenige Kilogramm und Zentimeter als richtig. Bei der berechneten Einschlagstelle lag Wegener allerdings nicht richtig.
Schon 1921 prognostizierte er, dass man in Zukunft noch viele Meteoritenkrater auch auf der Erde nachweisen würde. Zu dieser Zeit war nur der Barringer-Krater bei Flagstaff (Arizona) bekannt, und selbst dieser wurde erst 1930 allgemein als Einschlagskrater anerkannt. Wegener selbst identifizierte und beschrieb 1927 den Kaali-Krater auf der Insel Ösel (heute Saaremaa, Estland). Dies war damals der vierte Meteoritenkrater, der weltweit bekannt war.
Meteorologie
Daneben forschte Wegener vor allem auf dem Gebiet der Meteorologie und befasste sich insbesondere mit der Physik der Atmosphäre. Er führte als erster das Konzept der Turbulenz in die Meteorologie ein und entwickelte das Konzept der geschichteten Atmosphäre. Außerdem beschrieb er als erster korrekt das Prinzip der Fata Morgana als Lichtspiegelung an der Grenze zwischen zwei unterschiedlich dichten Luftschichten und untersuchte die Entstehung von Wolken und Tornados sowie die Zusammensetzung der Luft in höheren Atmosphärenschichten.
Schon 1918 beschrieb Wegener die Bildung von Haareis auf nassem Totholz und vermutete einen „schimmelartigen Pilz“ als Auslöser, eine Theorie, die von anderen Wissenschaftlern, die rein physikalische Prozesse als Ursache annahmen, angezweifelt wurde, aber im Jahre 2005 bestätigt werden konnte. 2015 wurde publiziert, dass sich zwar das Eis aus flüssigem Wasser in den Poren toten Holzes selbst herausstemmt, doch Stoffwechselprodukte insbesondere einer Pilzart, die in den Poren lebt, das Eis im filigranen Eishaar vor Umkristallisation zu einer kompakten Kruste bewahrt, die sonst eher unscheinbar dünn auftritt.
Wirkung
Ablehnung
Wegeners Theorie von der Verschiebung der Kontinente blieb zu seinen Lebzeiten immer umstritten und geriet nach seinem Tod rasch in Vergessenheit. Nur wenige Wissenschaftler, wie der Paläogeograph Edgar Dacqué oder der Belgrader Astronom Milutin Milanković, unterstützten Wegener von Anfang an. Andere Kollegen sprachen eher von „Gedankenspielerei“, „Phantasiegebilden“ oder gar von „Fieberfantasien der von Krustendrehkrankheit und Polschubseuche schwer Befallenen“. Einer der wohlmeinenderen Kritiker, der Direktor des französischen Amtes für geologische Landesaufnahme Pierre-Marie Termier, meinte zumindest: „Seine Theorie ist ein wundervoller Traum der Schönheit und Anmut, der Traum eines großen Poeten.“
In Deutschland war besonders die Ablehnung durch die damals maßgeblichen Geologen Hans Stille und Hans Cloos entscheidend. Während Stille bis zu seinem Tod 1966 ein entschiedener Gegner des Wegenerschen „Mobilismus“ blieb, war Cloos zumindest von Wegeners Persönlichkeit beeindruckt und unterstützte ihn nach Kräften bei der Aufarbeitung der geologischen Fachliteratur.
Da Wegener sich stets der Solidität seiner Theorie sicher war, nahm er selbst die teilweise sehr unsachliche Kritik mit derselben erstaunlichen Gelassenheit hin, die ihn auch auf seinen Grönlandexpeditionen ausgezeichnet hatte. Außerdem durchschaute er die Motive seiner Kritiker:
Späte Rehabilitation
Tatkräftige Unterstützung erfuhr Wegener nur von dem südafrikanischen Geologen Alexander Du Toit, der sich intensiv mit der Vereisungsgeschichte der Südkontinente befasst hatte und der bei einem fünfmonatigen Aufenthalt in Südamerika zahlreiche Pflanzen- und Tierfossilien entdeckt hatte, die er aus Südafrika kannte. In seinem 1937 erschienenen Buch Our Wandering Continents (Unsere wandernden Kontinente), das er Wegener widmete, wich er jedoch von der ursprünglichen Theorie ab und postulierte zwei Urkontinente, den Südkontinent Gondwanaland und den Nordkontinent Laurasia.
Der irische Physiker und Geologe John Joly und der britische Geologe Arthur Holmes befassten sich mit den Kräften, die die Kontinentalverschiebung bewirken konnten, und verbesserten, unter Einbeziehung älterer Arbeiten der Österreicher Otto Ampferer und Robert Schwinner, das Modell der Konvektionsströmungen.
Weitere Untersuchungen nach dem Zweiten Weltkrieg, wie die seismische Messung der Mächtigkeit von Meeresbodensedimenten durch den amerikanischen Geophysiker Maurice Ewing, bestätigten Wegeners Annahmen über das junge Alter der Ozeanböden.
Der britische Geophysiker Edward C. Bullard fand zusammen mit seinem amerikanischen Kollegen Arthur Maxwell heraus, dass der Wärmefluss in der ozeanischen Kruste (und besonders an den Mittelozeanischen Rücken) deutlich höher war als in kontinentaler Kruste, so wie Wegener es vorausgesagt hatte.
Nach den Erkenntnissen des Geophysikers Hugo Benioff über die Natur der Tiefseerinnen am Rand des Pazifiks und den paläomagnetischen Messungen von Patrick Blackett und Keith Runcorn, deren Rekonstruktionen der Lage des Nordpols im Lauf der Erdgeschichte nur Sinn ergab, wenn Europa und Nordamerika einstmals zusammenlagen und dann auseinandergedriftet waren, begann der amerikanische Geologe Harry Hess die einzelnen Puzzlesteine zusammenzusetzen. Die von Forschungsschiffen Anfang der 1960er Jahre entdeckten Zonen der Ozeanbodenspreizung, an denen neue ozeanische Kruste zwischen den auseinanderdriftenden Kontinenten gebildet wird, lieferten weitere Hinweise zum Verständnis der tektonischen Vorgänge. Ein wesentlicher Beitrag zu dem nun einsetzenden Paradigmenwechsel waren die von Marie Tharp und Bruce C. Heezen gemeinsam erstellten Karten vom Relief der Ozeanböden. Seit den 1970er Jahren ist die aus diesen Untersuchungen hervorgegangene Plattentektonik in Wissenschaftskreisen allgemein anerkannt.
Der schon von Wegener geforderte direkte Nachweis der Kontinentalverschiebung konnte mittlerweile durch satellitengeodätische Messungen erbracht werden.
Sonstige Rezeption
Bereits 1934 erwähnte der Schriftsteller H. P. Lovecraft im siebenten Kapitel seiner Horror-Erzählung Berge des Wahnsinns Wegeners damals noch allgemein abgelehnte und wenig beachtete Drifthypothese: „Later maps [of the Old Ones], which display the land mass as cracking and drifting, and sending certain detached parts northward, uphold in a striking way the theories of continental drift lately advanced by Taylor, Wegener and Joly.“
Im Jahre 1935, zum 5. Todestag von Wegener, organisierte der Kameramann Walter Riml eine eigene Expedition nach Grönland. Er wiederholte die gesamte Wegener-Expedition von 1930 und nahm diese filmisch auf. In Zusammenschnitten von noch vorhandenem Negativmaterial der letzten Wegener-Grönlandfahrt entstand der Film Das große Eis – Alfred Wegeners letzte Fahrt. Für den 1937 erschienenen Film wurden neben Aufnahmen von Walter Riml auch solche von Johannes Georgi und Kurt Herdemerten verwendet.
2011 veröffentlichte der Schriftsteller Jo Lendle den Roman Alles Land, der Alfred Wegeners Leben literarisch nacherzählt.
Mitgliedschaft
Seit 1899 gehörte er dem Akademischen Verein für Astronomie und Physik (später mathematisch-naturwissenschaftliche Verbindung Albingia im Schwarzburgbund) an.
Ehrungen
In Anerkennung von Wegeners wissenschaftlicher Bedeutung wurden nach ihm benannt:
das 1980 gegründete Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven
das Wegener Center für Klima und Globalen Wandel (WEGC) in Graz
die GeoUnion Alfred-Wegener-Stiftung (Dachverband der geowissenschaftlichen Vereinigungen und Großforschungseinrichtungen in Deutschland)
die Alfred Wegener Medal der European Geosciences Union
In Grönland:
die Wegenerhalbinsel ()
die Wegenerinseln (Wegener Øer)
der Alfred-Wegener-Berg (Alfred Wegener Bjerg) in den Stauning Alper
In der Antarktis:
das Wegenerinlandeis, eine Region im Königin-Maud-Land
das Wegenerisen, ein Teil des Wegenerinlandeises
der Mount Wegener, ein Berg in der Shackleton-Range im Coatsland
der Wegener-Canyon, ein Tiefseegraben vor der Prinzessin-Martha-Küste
die Wegener Range, ein Gebirgszug im Palmerland auf der Antarktischen Halbinsel
In der Astronomie:
der Asteroid (29227) Wegener
der Mondkrater Wegener
ein Marskrater
In Deutschland:
das Alfred-Wegener-Gymnasium in Neuruppin
die Alfred-Wegener-Schule in Kirchhain bei Marburg
eine Gedenktafel am Gebäude seiner früheren Schule (1980).
eine Oberschule in Berlin-Zehlendorf (1985)
die Wegenerstraße in Rheinau (Mannheim)
der Alfred-Wegener-Weg in Hamburg-Neustadt (1935)
Alfred Wegener Museum Zechlinerhütte
die Alfred-Wegener-Straße in Bremerhaven
Werke
Die Alfonsinischen Tafeln für den Gebrauch eines modernen Rechners, Dissertation Berlin 1905
Thermodynamik der Atmosphäre. 1911 und 1924.
Die Entstehung der Kontinente und Ozeane. Vieweg, Braunschweig 1915.
2., umgearbeitete Auflage. 1920.
3., gänzlich umgearbeitete Auflage. 1922.
4., umgearbeitete Auflage. 1929.
Nachdruck [der Ausgabe] Braunschweig, Vieweg, 1915 / mit handschriftlichen Bemerkungen von Alfred Wegener, Notizen und Briefen sowie neu erstelltem Index. Hrsg. vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung. – Nachdruck [der Ausgabe] Braunschweig, Vieweg, 1929, 4., umgearb. Auflage. mit neu erstelltem Index / hrsg. vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung. Borntraeger, Berlin/ Stuttgart 2005, ISBN 3-443-01056-3.
Wind- und Wasserhosen in Europa. 1917. Digitalisat (9 PDFs)
Das detonierende Meteor vom 3. April 1916, 3 1/2 Uhr nachmittags in Kurhessen. 1917 und 1918.
Nachdruck: Elwert, Marburg 2001, ISBN 3-7708-1160-7.
Der Farbenwechsel grosser Meteore. 1918.
Durch die weiße Wüste. 1919.
Theorie der Haupthalos. 1926.
Versuche zur Aufsturztheorie der Mondkrater. 1920.
Die Entstehung der Mondkrater. 1921.
Pilotballonaufstiege auf einer Fahrt nach Mexiko März bis Juni 1922.
Die Klimate der geologischen Vorzeit. 1924, Wladimir Köppen, Alfred Wegener
Faksimile der 1. Auflage 1924 und englische Übersetzung: The climates of the geological past – Klimate der geologischen Vorzeit. Borntraeger, Berlin/ Stuttgart 2015, ISBN 978-3-443-01088-1.
Vertraulicher Bericht über die Grönland-Expedition 1929.
Nachdruck: Akademische Druck- und Verlagsanstalt, Graz 1980, ISBN 3-201-01128-2.
Die Entstehung der Kontinente und Ozeane. 1929
Mit Motorboot und Schlitten in Grönland. 1930.
Vorlesungen über Physik der Atmosphäre. 1935.
Literatur
Bücher
Wolfgang Buchner: Unterströmungen der Erde. Ampferer und Schwinner. Wegener und Grönland. Ausstellungskatalog. Stadtmuseum Graz 2003.
Johannes Georgi: Im Eis vergraben. Erlebnisse auf Station „Eismitte“ der letzten Grönland-Expedition Alfred Wegeners 1930–1931. Brockhaus, Leipzig 1955.
Mott T. Greene: Alfred Wegener. Science, Exploration, and the Theory of Continental Drift. Johns Hopkins University Press, Baltimore, Maryland, USA 2015, ISBN 978-1-4214-1712-7 (, Rezension von Ulf von Rauchhaupt in der F.A.Z., 29. Juli 2016).
Hermann Günzel: Alfred Wegener und sein meteorologisches Tagebuch der Grönland-Expedition 1906–1908. (= Schriften der Universitätsbibliothek Marburg. Band 59). Universitätsbibliothek, Marburg 1991, ISBN 3-8185-0091-6.
Johan Peter Koch: Durch die weiße Wüste. Die dänische Forschungsreise quer durch Nordgrönland 1912–13. Deutsche Ausgabe besorgt von Prof. Dr. Alfred Wegener. Springer, Berlin 1919.
Jo Lendle: Alles Land. Roman. DVA, München 2011, ISBN 978-3-421-04525-6.
Christine Reinke-Kunze: Alfred Wegener, Polarforscher und Entdecker der Kontinentaldrift. Birkhäuser, Basel/ Boston/ Berlin 1994, ISBN 3-7643-2946-7.
Klaus Rohrbach: Alfred Wegener, Erforscher der wandernden Kontinente. Freies Geistesleben, Stuttgart 1993, ISBN 3-7725-1103-1.
Martin Schwarzbach: Alfred Wegener und die Drift der Kontinente. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1980, ISBN 3-8047-0582-0.
Else Wegener: Alfred Wegeners letzte Grönlandfahrt. Die Erlebnisse der Deutschen Grönland-Expedition 1930/1931 geschildert von seinen Reisegefährten und nach Tagebüchern des Forschers. Unter Mitwirkung von Dr. Fritz Loewe herausgegeben von Else Wegener. 8. Auflage. Brockhaus, Leipzig 1937 (1. Auflage 1932, 13. Auflage. 1942).
Else Wegener: Alfred Wegeners letzte Grönlandfahrt. Die Erlebnisse der Deutschen Grönland-Expedition 1930/31 geschildert von seinen Reisegefährten und nach Tagebüchern des Forschers. Neue gekürzte Auflage. der unter Mitwirkung von Dr. Fritz Loewe von Else Wegener besorgten Ausgabe. VEB F. A. Brockhaus Verlag, Leipzig 1953.
Else Wegener: Alfred Wegener, Tagebücher, Briefe, Erinnerungen. Brockhaus, Wiesbaden 1960.
Ulrich Wutzke: Der Forscher von der Friedrichsgracht. Leben und Leistung Alfred Wegeners. VEB Brockhaus, Leipzig 1988, ISBN 3-325-00173-4.
Ulrich Wutzke: Durch die weiße Wüste. Leben und Leistungen des Grönlandforschers und Entdeckers der Kontinentaldrift Alfred Wegener. Perthes, Gotha 1997, ISBN 3-623-00354-9.
Klaus Rohrbach: Abenteuer in Schnee und Eis – Alfred Wegener Polarforscher und Entdecker der wandernden Kontinente. Verlag Freies Geistesleben 2008, ISBN 978-3-7725-1758-7.
Aufsätze
Imre Josef Demhardt: Alfred Wegener’s Hypothesis on Continental Drift and its Discussion in Petermanns Geographische Mitteilungen (1912–1942). In: Polarforschung. 75, 2005, S. 29–35, .
Franz und Diedrich Fritzsche: Die Familie des Polarforschers Alfred Wegener und ihre Wurzeln in Wittstock und Ruppin. In: Kreisverwaltung Ostprignitz-Ruppin: Jahrbuch. 16, 2007, S. 134–140, .
Johannes Georgi: Alfred Wegener zum 80. Geburtstag. In: Polarforschung. 2, 1960, S. 3–102, .
Walter Kertz: Alfred Wegener – Reformator der Geowissenschaften. In: Physikalische Blätter. 36, 1980, S. 347–353, doi:10.1002/phbl.19800361203.
Jo Lendle: Der Weltbildzertrümmerer. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 6. Januar 2012, S. 31.
Cornelia Lüdecke: Der Meteorologe Alfred Wegener. In: Naturwissenschaftliche Rundschau. , 60, Heft 3, 2007, S. 125–128.
Dorit Müller: Eiskalte Grenzgänge. Alfred Wegeners Grönlandexpedition im Kulturfilm von 1936. In: Filmblatt. , 16, H. 45, Sommer 2011, S. 17–33.
Wutzke, Ulrich: Alfred Wegener. Kommentiertes Verzeichnis der schriftlichen Dokumente seines Lebens und Wirkens. In der Reihe: „Berichte zur Polarforschung“, 288. Band, Alfred-Wegener-Institut, Bremerhaven, 1998. Eprint bei AWI.de
Eckart Klaus Roloff: Tod im Klimaarchiv der Erde. Alfred Wegener – vor 125 Jahren geboren, vor 75 Jahren in Grönland umgekommen. In: Rheinischer Merkur. (Bonn), Nr. 43 vom 27. Oktober 2005, S. 10.
Martin Stolzenau: Einer, der Wissens-Kontinente verschob. In: Heimat am Meer, Beilage zur Wilhelmshavener Zeitung, Nr. 25/2020, vom 5. Dezember 2020, S. 100.
Matthias Dorn: Von Alfred Wegeners Verschiebungstheorie zur Theorie der Plattentektonik, Teil I. Die Geowissenschaften, 7(2), S. 44–49, 1989, doi:10.2312/geowissenschaften.1989.7.44.
Matthias Dorn: Von Alfred Wegeners Verschiebungstheorie zur Theorie der Plattentektonik, Teil II. Die Geowissenschaften, 7(3), S. 61–70, 1989, doi:10.2312/geowissenschaften.1989.7.61.
Weblinks
Alfred-Wegener-Institut
Alfred-Wegener-Stiftung
Alfred Wegener Museum
Wegener Zentrum für Klima und globalen Wandel – Graz
Das Puzzle des Herrn Wegener – Feature des Deutschlandradios vom 6. November 2005
Christian Kehrt: The Wegener Diaries: Scientific Expeditions into the Eternal Ice, Digital exhibition, Environment & Society Portal (Rachel Carson Center for Environment and Society, 2013) (englisch)
scinexx.de: Alfred Wegener und der Weg zu einem neuen Bild der Erde 6. Januar 2012
Einzelnachweise
Meteorologe
Geophysiker
Geologe (20. Jahrhundert)
Polarforscher (Arktis)
Klimatologe
Ballonfahrer (Deutschland)
Person als Namensgeber für einen Asteroiden
Person als Namensgeber für einen Marskrater
Person als Namensgeber für einen Mondkrater
Hochschullehrer (Philipps-Universität Marburg)
Hochschullehrer (Universität Graz)
Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
Deutscher
Österreicher
Geboren 1880
Gestorben 1930
Mann
Korporierter im Schwarzburgbund
Absolvent der Humboldt-Universität zu Berlin |
5434633 | https://de.wikipedia.org/wiki/Neue%20Berliner%20Pferdebahn | Neue Berliner Pferdebahn | Die Neue Berliner Pferdebahn-Gesellschaft, abgekürzt NBPfG beziehungsweise NBPf, war ein Berliner Pferdebahnunternehmen. Es betrieb ab 1877 vom Alexanderplatz ausgehend mehrere Linien in Richtung Weißensee und Lichtenberg. Die Gesellschaft versuchte in den ersten zwei Jahren ihres Betriebes den so genannten Perambulatorbetrieb, also einen Mischbetrieb zwischen Straßenbahn und Omnibus, einzuführen. Ab 1894 wurde der Betrieb von der Großen Berliner Pferdeeisenbahn (GBPfE) übernommen. Die NBPfG selbst wurde 1900 aus dem Handelsregister gelöscht.
Geschichte
Vorgeschichte
Ende des 18. Jahrhunderts entstanden zwischen Berlin und Lichtenberg mehrere Kolonien entlang der Frankfurter Allee. Im Einzelnen waren dies Boxhagen an der heutigen Boxhagener Straße, Friedrichsberg auf Höhe des heutigen Bahnhofs Frankfurter Allee, Lichtenberg-Kietz entlang der Lückstraße, Rummelsburg am Rummelsburger See sowie Neue Welt und Klein-Frankfurt auf Höhe des heutigen Frankfurter Tores. Ab 1870 wurden in diesem Gebiet sowie in Lichtenberg die ersten Mietskasernen errichtet. Zur gleichen Zeit erwarb der Hamburger Unternehmer Gustav Adolf Schön das Rittergut Weißensee. Dieser wiederum verkaufte ein etwa 38 Hektar großes Gebiet an Ernst Wilhelm Johannes Gäbler, welcher ebenfalls den Bau von Mietskasernen vorantrieb.
Als erste Verkehrsanbindung stand für beide Gebiete die 1871 in Betrieb genommene Ringbahn zur Verfügung. Der Bahnhof Friedrichsberg (heute Frankfurter Allee) deckte das betroffene Gebiet jedoch nur unzureichend ab, der Bahnhof Weißensee (heute Greifswalder Straße) befand sich außerhalb des Weißenseer Gemeindegebiets in damals noch unbebautem Gebiet. Als Verbindung nach Berlin richtete der Fuhrunternehmer Weigel ab dem 1. November 1873 zunächst eine Pferdeomnibuslinie vom Alexanderplatz nach Weißensee ein.
Anfänge mit Perambulatorbetrieb
Die wachsende Bevölkerung in den beiden Gemeinden ließ kurze Zeit nach Inbetriebnahme der Pferdeomnibuslinie die Anlage von leistungsfähigeren Pferdebahnen gewinnbringend erscheinen. Gäbler trat hierbei als Initiator der Pferdebahn auf und erhielt am 7. Juli sowie am 30. Oktober 1875 von der Ministerial-Bau-Comission die Konzession für zwei Linien vom Alexanderplatz nach Weißensee beziehungsweise Friedrichsberg. Da sowohl die Bahn als auch die Grundstücke in Weißensee in seinem Besitz waren, erhoffte sich Gäbler eine leichtere Vermietung seiner Wohnungen. Die polizeiliche Konzession für die Weißenseer Linie wurde am 22. Dezember 1875 erteilt, etwa ein dreiviertel Jahr später wurde die Neue Berliner Pferdebahn-Gesellschaft zur Finanzierung beider Strecken am 5. August 1876 gegründet. Die Erben des im selben Jahr verstorbenen Gäbler übertrugen am 25. Oktober 1876 ihre Rechte an die Gesellschaft. Wann der Bau der Weißenseer Linie in Angriff genommen wurde, ist unklar; die Abnahme der Strecke fand am 29. Dezember 1876 statt. Die offizielle Eröffnung wurde am 1. Januar 1877 mit einer Fahrt zum Weißenseer Schloss vollzogen. Die rund fünf Kilometer lange Strecke wurde in 25 Minuten zurückgelegt. Der parallel geführte Omnibusbetrieb wurde zum gleichen Zeitpunkt eingestellt.
Große Aufmerksamkeit erregte der bei der Linie durchgeführte Perambulatorbetrieb (von lateinisch per = mit, mittels, durch und ambulare = reisen, wandern; demzufolge in etwa: Auslenkbetrieb), welcher die Vorteile von Schiene (ruhiger Lauf) und Straße (Flexibilität) gleichermaßen nutzen sollte. Zwischen dem Königstor und Weißensee war ein Gleis verlegt, den Abschnitt vom Alexanderplatz zum Königstor legten die Fahrzeuge auf der Straße zurück. Die sechs eingesetzten Wagen besaßen hierfür ein vorne links angebrachtes Führungsrad, welches beim Verlauf auf den Schienen herabgelassen wurde, um die Spur zu halten, während die übrigen Räder auf dem Gleis auflagen. Durch Anheben des Führungsrades konnten die Wagen das Gleis verlassen, auf die Anlage von Ausweichen konnte somit verzichtet werden. Die NBPf dürfte sich nicht zuletzt für dieses System entschieden haben, weil sich der Bau von Schienen in der Innenstadt sowie von Ausweichen entlang der Strecke als teuer erwies.
Der Betrieb mit dem „fünften Rad am Wagen“ erwies sich jedoch nach einiger Zeit als nicht zufriedenstellend. Das Führungsrad neigte des Öfteren dazu, aus der Schiene zu springen. Zudem schlingerte die hintere Wagenachse, wodurch sich auch auf Schienen ein unruhiger Lauf der Fahrzeuge ergab. Die NBPf entschied sich daher noch 1877 zur Umrüstung der Strecke auf herkömmlichen Pferdebahnbetrieb und begann mit dem Verlegen von Gleisen zum Alexanderplatz sowie von Ausweichen entlang der Strecke. Die Auslenkwagen wurden umgebaut und später als Pferdebahnwagen weiterverwendet.
Erweiterung des Netzes
Die zweite Strecke der NBPf wurde vermutlich am 18. Juli 1878 zwischen Alexanderplatz und Frankfurter Tor als Pferdebahn eröffnet. Da beide Linien zunächst nicht durch Gleise miteinander verbunden waren, wurde in der Kleinen Frankfurter Straße ein eigener Betriebshof für diese Linie errichtet. Am 1. Juni 1879 erfolgte die erste Verlängerung der Linie zur Kreuzung Frankfurter Allee/Proskauer Straße. Zu diesem Zeitpunkt liefen bereits Verhandlungen zwischen der NBPf und der Stadt Berlin zur Einrichtung einer Linie in Richtung Wedding, deren Realisierung jedoch noch einige Jahre auf sich warten ließ.
Am 31. Mai 1881 unterzeichneten Stadt und Gesellschaft einen Zustimmungsvertrag über den Bau von zwei Strecken zum neuen Zentralvieh- und Schlachthof nordwestlich von Lichtenberg. Zusätzlich sicherte die Stadt der NBPf den Betrieb auf den bestehenden und sämtlichen neu zu errichtenden Strecken bis zum 31. Dezember 1909 zu. Die eine neue Strecke fädelte aus der Friedrichsberger Strecke Höhe Thaerstraße aus und führte über den Baltenplatz zur Endstelle am Forckenbeckplatz. Die zweite Strecke führte ab Alexanderplatz über die Landsberger Straße und Landsberger Allee bis zur Petersburger Straße und von dort aus weiter über den Baltenplatz ebenfalls zum Viehhof am Forckenbeckplatz. Die Eröffnung der südlichen Zufahrt über die Thaerstraße sowie des ersten Abschnitts der nördlichen Strecke vom Alexanderplatz zum Landsberger Tor fand am 15. Dezember 1881 statt. Die Verlängerung bis zur Kreuzung Landsberger Allee Ecke Petersburger Straße folgte am 8. Juni 1882, die des fehlenden Streckenabschnittes entlang der Petersburger Straße zwischen dem 1. Juli 1882 und dem 31. März 1883. Der Betrieb wurde zu diesem Zeitpunkt auf insgesamt vier Linien durchgeführt. Diese wurden ab dem 24. Oktober 1883 mit der Eröffnung der ersten GBPfE-Linie und der Herstellung einer Gleisverbindung zwischen beiden Streckennetzen weiter in die Innenstadt verlängert, wo sie an wechselnden Punkten endeten. Infolge dieser Streckenerweiterungen nahm die NBPf vor der Berliner Pferde-Eisenbahn die zweite Stelle der Berliner Straßenbahnen ein, der Anteil am Gesamtverkehr betrug allerdings nie mehr als sieben Prozent.
Am 15. August 1885 wurde ein Ergänzungsvertrag zwischen Berlin und der NBPf abgeschlossen, welcher auf dem Abkommen von 1881 basierte. Darin wurde der Gesellschaft der Bau von zwei Strecken gestattet, zum einen vom Alexanderplatz zur Kreuzung Müllerstraße Ecke Gerichtstraße sowie von der Frankfurter Allee durch die Boxhagener Straße nach Rummelsburg. Die Strecken der GBPfE sollten dabei teilweise mit genutzt werden. Als spätester Termin für den Baubeginn wurde der 1. Oktober 1887 festgelegt. Die NBPf nahm jedoch den Bau der Rummelsburger Strecke nicht vor, ebenso kam es beim Bau der Weddinger Strecke zu Verzögerungen. Der erste 2,3 Kilometer lange Abschnitt vom Alexanderplatz über die Münzstraße, Rosenthaler Straße, Brunnenstraße, Invalidenstraße und Ackerstraße zur Gartenstraße wurde am 16. Oktober 1888 eröffnet. Zwischen Rosenthaler Platz und Ecke Invaliden- und Ackerstraße nutzte die Bahn die Gleise der GBPfE mit. Im selben Jahr ging eine Verlängerung der Weißenseer Strecke von der Großen Seestraße über die Heinersdorfer Straße zur Rennbahn in Betrieb. Der kurze Abschnitt wurde von einer Sonderlinie zwischen Bahnhof Weißensee und Rennbahn bei Veranstaltungen bedient. Der Sonderverkehr hielt sich vermutlich bis 1895.
1890 wurde der Bau der Verlängerung vom Viehhof durch die Eldenaer und Scheffelstraße zum Lichtenberger Dorfkern am heutigen Loeperplatz genehmigt. Ab dem 1. Mai 1890 wurde eine neu eingerichtete Linie vom Moritzplatz über Alexanderplatz und Viehhof bis zur Lichtenberger Dorfstraße betrieben.
Die nächste größere Erweiterungsphase des Netzes wurde am 7. April 1892 genehmigt und betraf den Bau dreier Strecken: vom Schönhauser Tor über die Weißenburger Straße zur Danziger Straße, vom Alexanderplatz über die Prenzlauer Allee zum Antonplatz in Weißensee sowie vom Bahnhof Friedrichsberg durch die Lichtenberger Dorfstraße zur Irren-Anstalt Herzberge. Gleichzeitig wurde die NBPf von der Verpflichtung zum Bau der Rummelsburger Strecke entbunden, zumal diese die Wirtschaftlichkeit dieser Verbindung anzweifelte.
Mit Wirkung vom 14. November 1892 unterstellte sich die Neue Berliner Pferdebahn dem am 28. Juli 1892 veröffentlichten Preußischen Kleinbahngesetz. Die preußische Gewerbeordnung traf damit auf den Betrieb nicht mehr zu, neue Konzessionen mussten nun beim preußischen Polizeipräsidium eingeholt werden. Zunächst sah die Gesellschaft vom Bau weiterer Strecken ab, da eine zeitnahe Elektrifizierung des Netzes angedacht war und für diesen Betrieb ohnehin neue Konzessionen notwendig gewesen wären. Die vorerst letzten Neubaustrecken betrafen die erwähnte Verbindung nach Herzberge sowie die Verlängerung der Linie durch die Frankfurter Allee zur Grenze von Friedrichsfelde an der Ecke Hubertusstraße. Zum Ende des Jahres 1893 betrieb die NBPf insgesamt neun Linien.
Übernahme durch die Große Berliner Pferde-Eisenbahn
Ab den 1890er Jahren begann die Große Berliner Pferde-Eisenbahn einen Großteil der anliegenden Betriebe aufzukaufen und sich einzuverleiben. Die NBPf, zu diesem Zeitpunkt das drittgrößte Berliner Straßenbahnunternehmen, stellte dabei den ersten größeren Betrieb dar. Nachdem die GBPfE die Aktienmehrheit der NBPf innehatte, verlegte sie am 1. Februar 1894 die Verwaltung dieser vom Betriebshof in der Kleinen Frankfurter Straße 1 zum Direktionssitz der GBPfE in der Friedrichstraße 218. Die Leitung wurde von den Direktoren der GBPfE übernommen.
In dieser Zeit nahm die NBPf weitere drei Strecken in Betrieb. Am 22. Oktober 1894 wurde der Betrieb auf der Strecke vom Schönhauser Tor durch die Weißenburger Straße zur Kreuzung Prenzlauer Allee Ecke Danziger Straße aufgenommen. Die Verbindung wurde ausschließlich von der GBPfE genutzt, zunächst auf der Linie Hermannplatz – Alexanderplatz – Schönhauser Tor – Danziger Straße Ecke Prenzlauer Allee. Am 22. Dezember 1894 folgte die 1892 genehmigte Verlängerung vom Gartenplatz zur Kreuzung Müllerstraße/Gerichtstraße. Den Abschluss bildete die ebenfalls 1892 genehmigte Linie entlang der Prenzlauer Allee zum Antonplatz am 1. Dezember 1895.
Ab 10. September 1895 betrieb Siemens & Halske die erste auf Berliner Gebiet verkehrende elektrische Straßenbahnlinie. Die GBPfE, welche dem neuen Antriebssystem zunächst skeptisch gegenüberstand und die hohen Investitionskosten für die Elektrifizierung scheute, wurde dadurch zunehmend unter Druck gesetzt, die neue Traktionsart ebenfalls einzuführen. Hinzu kam, dass der Zustimmungsvertrag mit der Stadt Berlin 1911 auslief und daher ohnehin Investitionen getätigt werden mussten. Es kam daher zum Abschluss des so genannten „Elektrifizierungsvertrages“ zwischen der Stadt Berlin einerseits und der GBPfE und der NBPf andererseits. Die Unterzeichnung erfolgte am 2. Juli 1897 sowie am 19. Januar 1898. Neben der Verpflichtung zum Abschluss der vollständigen Elektrifizierung beider Streckennetze bis zum Ende des Jahres 1902 und der Auflage zur Verschmelzung beider Betriebe wurden der Bau einiger Ergänzungsstrecken genehmigt und der Betrieb bis zum 31. Dezember 1919 gewährt.
Die Große Berliner Pferde-Eisenbahn nahm einige Tage später am 25. Januar 1898 den Namen Große Berliner Straßenbahn (GBS) an. Zum 1. Januar 1900 übernahm sie offiziell die Neue Berliner Pferdebahn-Gesellschaft. Deren Name wurde am 13. März 1900 aus dem Handelsregister gelöscht. Das Wagenmaterial einschließlich der Pferde wurde zunächst von der GBS weiterverwendet. Zwischen dem 24. Januar 1900 und dem 3. November 1901 erfolgte die Elektrifizierung der ehemaligen NBPf-Strecken. Eine Ausnahme bildete die Landsberger Straße ab Büschingplatz sowie die Landsberger Allee, auf denen seit dem 21. Oktober 1899 die Straßenbahn Berlin–Hohenschönhausen der Continentalen Gesellschaft für elektrische Unternehmungen fuhr. 1902 erhielten die Linien anstelle der Signaltafeln Liniennummern.
Die Neue Berliner Pferdebahn war zeit ihres Bestehens trotz ihrer Ausmaße ein im Gegensatz zur GBPfE weniger erfolgreiches Unternehmen. Der zunächst überhöhte Tarif verhinderte, dass die vor allem aus Arbeiterfamilien bestehende Lichtenberger und Weißenseer Bevölkerung die Bahn nutzte, und somit lagen die Ausgaben innerhalb der ersten Dekade über den Einnahmen. Erst mit der Verlängerung der Linien in die Innenstadt waren Einnahmen und Ausgaben relativ ausgewogen. Im Zuge der Übergangszeit zur GBS war die Gesellschaft schließlich imstande, eine namhafte Dividende auszuzahlen.
Mit Ausnahme der Weddinger Strecke sowie der Straßenbahn im Zuge der heutigen Karl-Marx-Allee und Frankfurter Allee sind sämtliche Strecken der ehemaligen NBPf mit teilweise abgeändertem Verlauf nach wie vor in Betrieb.
Betrieb
Fahrplan und Tarife
Die Linien der NBPf verkehrten von etwa sechs Uhr morgens bis Mitternacht, wobei die Wagenfolge weitestgehend gleich blieb und lediglich in den Abendstunden vergrößert wurde. Mit dem Ausbau des Netzes verkehrten auf einigen Strecken zwei Linien parallel, so dass sich die Taktzeiten überlagerten. Die Reisegeschwindigkeit lag bei etwa 9–9,5 km/h und wurde erst nach der Elektrifizierung erhöht.
Die NBPf führte auf ihren Strecken zu Beginn einen Teilstreckentarif ein, welcher zu einem Satz von fünf Pfennig pro Kilometer erhoben wurde. Der Preis für eine einfache Fahrt kostete zwischen zehn und 25 Pfennig. Kinder bis zum vollendeten sechsten Lebensjahr wurden unentgeltlich befördert, für zwei Kinder über dem sechsten Lebensjahr wurde der Preis für eine normale Fahrkarte berechnet. Den in Gäblers Wohnungen ansässigen Mietern sollte darüber hinaus eine Fahrpreisermäßigung zugestanden werden, die Umsetzung dieser ist jedoch nicht erwiesen.
Im Sommer 1879 versuchte die NBPf die Abschaffung des Teilstreckentarifs an den Nachmittagen der Sonn- und Feiertage zu bewirken. Sie begründete dies mit der schlechten Wirtschaftslage des Unternehmens und versuchte so ihre Einnahmen zu steigern. Da die GBPfE zu dieser Zeit am Teilstreckentarif festhielt und in der Lage war bis zu 7,5 Prozent Dividende pro Jahr auszuzahlen, verweigerten Polizeipräsidium und Magistrat die Fahrpreiserhöhung.
Pferde und Wagen
Die NBPf beschaffte für den Einsatz auf der Weißenseer Linie zunächst sechs Wagen, welche entsprechend für den Perambulatorbetrieb umgerüstet wurden. Die Wagen glichen mehr Pferdeomnibussen als Pferdebahnwagen, im Unterschied zu diesen waren die Räder vorn und hinten allerdings mit 93 Zentimetern Durchmesser gleich groß ausgeführt. Die Länge betrug 5,45 Meter bei einer Breite von 2,07 Metern, die Innenhöhe des Wagenkastens lag bei 2,17 Metern. Die Wagen hatten eine Leermasse von rund 2,5 Tonnen und wogen damit etwa 650 Kilogramm mehr als herkömmliche Pferdebahnwagen. Das Platzangebot für zehn bis vierzehn Personen war jedoch etwa gleichauf mit diesen. Vorder- und Hinterachse waren durch eiserne Streben miteinander verbunden, so dass ein lenkbares Untergestell entstand. Vor dem rechten Vorderrad war ein Führungsrad mit 42 Zentimetern Durchmesser angebracht. Über einen Hebemechanismus konnte dieses mit einem Spurkranz versehene Führungsrad abgehoben beziehungsweise abgesenkt werden. Da die Radmasse zunächst zu leicht gewählt wurde, sprang das Führungsrad in der Anfangszeit häufig aus dem Gleis, später wurde die Masse heraufgesetzt. Da Bremsen an nur jeweils einem Wagenende vorhanden waren, mussten die Fahrzeuge an den Endstellen gewendet werden. Nach Aufgabe des Perambulatorsystems wurden die zweispännig gefahrenen Wagen in herkömmliche Pferdebahnwagen umgebaut.
Für den konventionellen Pferdebahnbetrieb waren vier Wagentypen im Einsatz: Einspänner, Zweispänner ohne Decksitze vom Typ Metropol, Zweispänner mit Decksitzen sowie ab 1896 auch offene Sommerwagen. Der Wagenpark wurde mit der Erweiterung des Netzes stetig erweitert, wobei auch gebrauchte Fahrzeuge der GBPfE verwendet wurden. Vier Wagen (Nr. 2, 3, 44 und 72) wurden 1882 zudem an die Cöpenicker Pferde-Eisenbahn (CPfE) verkauft, wo sie die Wagennummern 1–4 erhielten.
Ihren größten Fahrzeugbestand besaß die NBPf im Jahre 1896 mit insgesamt 182 Wagen, davon 53 Decksitzwagen, 16 Metropolwagen, 103 Einspänner und zehn Sommerwagen. Im Zuge der Verschmelzung mit der GBPfE wurde der Bestand bis 1899 auf zunächst 158 Wagen reduziert, 41 Wagen wurden letztendlich übernommen und für den elektrischen Betrieb umgerüstet. Mit dem Zusammenschluss der GBS mit den Berliner Elektrischen Straßenbahnen und den Städtischen Straßenbahnen zur Berliner Straßenbahn (BSt) im Jahre 1920 wurden 27 Wagen weiter verwendet und innerhalb der 1920er Jahre ausgemustert. Darunter waren fünf Zweispänner von 1877.
Die Herkunft der Pferde lässt sich nicht mehr genau ermitteln, sie dürften aber wie die Tiere der GBPfE europaweit bezogen worden sein. Die Spanndienste dauerten im Schnitt drei Stunden am Tag. Die einzelnen Tiere wurden nach den jeweiligen Herkunftsgegenden bezeichnet, diese Klassifizierung diente aber vor allem zur Bestimmung der Einsatzmöglichkeiten und Umgangsbedingungen.
Betriebshöfe
Weißensee
Das Depot Weißensee befand sich auf dem Grundstück Heinersdorfer Straße (heute Rennbahnstraße) Ecke Große Seestraße und wurde zwischen 1875 und 1877 errichtet. Der Fachwerkbau maß 7,80×24,80 Meter Grundfläche bei einer Höhe von 5,00 Metern und hatte auf zwei Gleisen ein Fassungsvermögen für sechs Wagen. Vermutlich verfügte die Remise zunächst nicht über einen Gleisanschluss zur Strecke. Zeitweilig wurde angenommen, dass sich der Standort des Depots für den Perambulatorbetrieb direkt am Schloss Weißensee befunden haben soll. Ausschlaggebend hierfür ist ein Bericht aus dem Niederbarnimer Kreisblatt vom 8. April 1877, in dem über die Reparatur von vier Wagen am Schloss berichtet wird. Dies ist jedoch darauf zurückzuführen, dass in der Wagenhalle selbst nicht ausreichend Platz für eine Untersuchung aller Wagen vorhanden war und diese ferner lediglich zur Unterbringung, nicht aber zur Wartung dieser diente. 1883 erweiterte die NBPf das Depot um weitere zehn Stellplätze, die Halle war nun vierständig auf einer Fläche von 14,83×34,90 Metern. 1885 kam es zu einer erneuten Erweiterung. Dabei wurden ein Stall für 104 Pferde, ein Verwaltungs- und Wohngebäude, die Verlängerung des Hallendachs auf 75 Meter Länge sowie die Verlängerung der Halle um zehn Meter für Werkstatt, Schmiede und Beschlaghalle verwirklicht. Bis November 1886 entstanden zwei weitere Ställe, im März 1897 kam ein weiterer hinzu. Die Gesamtfläche der Anlage betrug damit insgesamt 10.161 Quadratmeter. Die GBS verwendete das Depot bis 1901 zunächst weiter für Pferdebahnen und baute es dann für den elektrischen Betrieb um. Es wurden bis 1902 ein neuer Wagenschuppen errichtet und das Verwaltungsgebäude umgebaut, die Pferdeställe wurden in einen Wagenschuppen mit Revisionsgrube und Schlosserwerkstatt umgebaut. Nach dem Umbau hatte das Depot eine Größe von 10.213 Quadratmetern und bot 85 Wagen eine Abstellmöglichkeit. Mit der Eröffnung des Bahnhofs 22 der GBS, dem heutigen Betriebshof Weißensee, in der Bernkasteler Straße wurde der alte Betriebshof an der Großen Seestraße aufgegeben. Auf dem Gelände befinden sich heute Wohnhäuser.
Kleine Frankfurter Straße
Für die zunächst unabhängig von der Weißenseer Linie betriebene Pferdebahn nach Friedrichsberg wurde spätestens 1878 eine Wagenhalle in der Kleinen Frankfurter Straße 1–2 in Betrieb genommen, eine frühere Inbetriebnahme ab Sommer 1877 ist jedoch nicht ausgeschlossen. Auf dem Betriebshof befand sich bis zur Betriebsübernahme durch die GBPfE 1894 auch die Verwaltung der NBPf. Im selben Jahr wird eine Grundfläche von 4.464 Quadratmetern angegeben. Die 1900 aus der GBPfE hervorgegangene GBS richtete den Betriebshof noch für den elektrischen Betrieb her, wobei 55 Wagen auf dem Gelände Platz hatten. Er wurde fortan als Betriebshof 21 der GBS geführt. Nach der Eröffnung des Bahnhof 24, dem heutigen Betriebshof Lichtenberg, in der Siegfriedstraße im Jahr 1913 wurde der Betriebshof in der Kleinen Frankfurter Straße geschlossen. An gleicher Stelle befindet sich heute das Kino International.
Landsberger Allee
Das Depot entstand bis spätestens 1888 an der Landsberger Allee Ecke Danziger Straße. Der Betriebshof wurde bis zur Umstellung auf elektrischen Betrieb im Jahr 1902 noch genutzt und beherbergte zuletzt 167 Pferde sowie 40 Wagen. Bis zur Umstellung führte die GBS das Depot unter der Nummer 23 und verkaufte es anschließend für 350.000 Mark. Heute befindet sich dort das Gebäude des ehemaligen Sport- und Erholungszentrums.
Lichtenberg
Das Lichtenberger Depot entstand 1889 an der Dorfstraße 4 (heute Möllendorffstraße) im Dorfkern der Gemeinde. Es wurde nach der Übernahme durch die GBS für den elektrischen Betrieb bis 1902 umgebaut und unter der Nummer 24 weitergeführt. Auf einer Fläche von 24.932 Quadratmetern konnten insgesamt 80 Straßenbahnwagen abgestellt werden. Der Betriebshof wurde mit der Eröffnung des neuen Lichtenberger Betriebshof in der Siegfriedstraße entbehrlich und am 17. Juli 1913 geschlossen. Er diente danach verschiedenen Zwecken, bevor nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Gelände Wohnhäuser entstanden.
Literatur
Weblinks
Einzelnachweise
Berlin, Neue
Straßenbahn Berlin
Ehemaliges Verkehrsunternehmen (Berlin) |
5568414 | https://de.wikipedia.org/wiki/Mari%C3%A4%20Verk%C3%BCndigung%20%28Mindelheim%29 | Mariä Verkündigung (Mindelheim) | Mariä Verkündigung ist eine ehemalige Klosterkirche in der oberschwäbischen Kreisstadt Mindelheim. Der Bau war vom 13. bis 16. Jahrhundert Klosterkirche der Augustiner, vom 17. bis 18. Jahrhundert Kirche eines Jesuitenkollegiums, nach dessen Auflösung für kurze Zeit Klosterkirche der Malteser, und ist seit dem 19. Jahrhundert Filialkirche der römisch-katholischen Pfarrei St. Stephan von Mindelheim. Ihre heutige Gestalt erhielt das Gebäude im 18. Jahrhundert.
Bekannt ist Mariä Verkündigung durch ihre mit lebensgroßen Figuren bestückte, aus der Barockzeit stammende Weihnachtskrippe, die alljährlich zur Weihnachtszeit im Chor aufgestellt wird.
Lage
Die Kirche steht am westlichen Ende der Altstadt vor dem Unteren Tor an der Maximilianstraße, an der sich auch der Eingang befindet. Die Westfassade grenzt an die ehemalige Stadtmauer. Die an der Südseite angebaute Franz-Xaver-Kapelle ragt in den Bürgersteig hinein. Unter der Sakristei und dem Chorraum verläuft die Mindel.
Geschichte
Zeit der Wilhelmiten und Augustiner
Schwigger II. von Mindelberg gründete 1250 in Bedernau ein Kloster der Wilhelmiten, die 1260 die Regel der Augustiner-Eremiten übernahmen. Am 17. Mai 1263 erlaubte der Augsburger Bischof Hartmann von Dillingen den Brüdern, sich in Mindelheim niederzulassen. Noch im selben Jahr kauften sie mehrere Häuser am westlichen Rand der kleinen Stadt und errichteten Klostergebäude und Kirche. Die Weihe der ersten Kirche fand am 11. Mai 1264 statt. Bereits 1286 vernichtete ein Brand Kloster und Kirche. Heinrich III. von Mindelberg und seine beiden Söhne stifteten für den Wiederaufbau einen Altar und zehn Jahre lang jährlich zehn Pfund Augsburger Heller. Bis in das 15. Jahrhundert war die Kirche Grablege für die Herren von Mindelheim. Um 1460 nahm der Orden die Augustinusregel an. In der Mitte des 15. Jahrhunderts fanden größere Bauarbeiten an Kirche und Kloster statt. Für den Bau des Chores mit Gewölbe verkaufte man ein Jauchert Ackerland. Der Chor, größer, eleganter und fester als das einstige Langhaus, soll von Konrad Murer stammen. Zu dieser Zeit befanden sich elf Altäre in der Kirche. Wegen der Weihe von Altären kam 1482 der Augsburger Weihbischof Ulrich nach Mindelheim. Von der spätgotischen Ausstattung ist nur eine geschnitzte Chorstuhlwange im Heimatmuseum Mindelheim fragmentarisch erhalten geblieben. Die Gebeine von vier Herren von Mindelheim wurden 1515 am Choreingang gehoben. Was mit ihnen geschah, ist nicht überliefert. Kaiser Maximilian I. stiftete der Kirche im selben Jahr eine zwei Ellen hohe Silberstatue des heiligen Georg, die jedoch 1622 eingeschmolzen wurde.
Klosterauflösung und Besitznahme durch die Jesuiten
Nach der Historia Collegii, der Geschichte des Kollegs, soll Martin Luther 1518 das Kloster besucht und in einer Kapelle der Kirche, die bis ins frühe 17. Jahrhundert nach ihm benannt wurde, gepredigt haben. Im Jahre 1522 begannen die Mönche zum Luthertum überzutreten und das Kloster zu verlassen. Mit dem Ende des Klosters 1526 verlor die Kirche den Status einer Klosterkirche. Bereits 1589 plante der Herrschaftsinhaber Christoph Fugger in den leer stehenden Gebäuden Jesuiten anzusiedeln. Am 30. Juni 1618 übergab ihnen Herzog Maximilian I. von Bayern das ehemalige Augustinerkloster. Durch den langen Leerstand waren die Gebäude baufällig geworden. Am 29. April 1625 besichtigte eine Kommission aus München die Anlage und stellte vor allem für das Langhaus der Kirche dringenden Handlungsbedarf fest. Die kurfürstliche Hofkammer von Bayern übernahm den Großteil der Kosten für die Baumaßnahmen an Kirche und Kolleg, die der Jesuitenbruder Johannes Holl leitete. Am 3. Juli 1625 entfernte man mit der Inneneinrichtung der alten Kirche sieben Altäre, Grabsteine und Bänke. Sechs Tage später begann der Abbruch des Langhauses. Die westliche Wand der Kirche, die an die Stadtmauer stieß, wurde mitsamt dem Stadtmauerteil abgebrochen. Die Südwand blieb vorerst stehen. Stadtpfleger Sebastian von Sauerzapf, Stadtpfarrer Sebald Wachfelder und Bürgermeister Hans Knaus legten am 24. August 1625 die Grundsteine für das um zehn Fuß längere Langhaus.
Bis zum Ende des Jahres gelang es, West- und Nordwand des Langhauses fertigzustellen. Die sechs Fenster des Chores vergrößerte man und stuckierte Gewölbe und Wände. Im nächsten Jahr wurde die Südwand ebenfalls abgebrochen und neu aufgebaut. Die Aufrichtung des Langhausdachstuhls war im Juli 1626 abgeschlossen. Als Altäre beschaffte man lediglich drei Provisorien. Weihbischof Georg Rösch von Eichstätt weihte am 10. Oktober 1626 die beiden Nebenaltäre. Bereits am nächsten Tag erfolgte die Weihe der Kirche und des Hochaltars durch den Augsburger Bischof Heinrich V. von Knöringen mit Assistenz des Weihbischofs Rösch und des Fürstabtes des Stiftes Kempten. Während des Dreißigjährigen Krieges fanden am 17. September 1631 Bittandachten und Bußübungen statt. Diese sollten helfen, die Schweden, die auf Mindelheim marschierten, abzuhalten. Nach dem Dreißigjährigen Krieg wurden die provisorischen Altäre durch neue ersetzt. Im Jahre 1649 stellte man einen über 40 Fuß hohen Hauptaltar eines unbekannten Meisters auf, den wahrscheinlich Jakob Staiger aus Ottobeuren 1659 fasste und mit einem Altarblatt versah. Ein Jahr später stiftete der Kemptener Fürstabt einen Schutzengelaltar. Die 1634 gegründete Josefsbruderschaft ließ 1661 den Josefsaltar errichten, für dessen Fassung der Stadtmagistrat die Mittel bereitstellte. Der Augsburger Weihbischof Kaspar Zeiler weihte die Altäre am 29. Juni 1661 neu. Keiner dieser drei Altäre ist erhalten. Nur das Altarblatt des Josefsaltars, von Christoph Storer gemalt, hat die Zeiten überdauert und schmückt den heutigen Seitenaltar. Stadtpfarrer Johann Sutor schenkte der Kirche 1661 eine Kanzel. Im Jahr 1663 stellte man eine neue Orgel eines Orgelbauers aus Halle auf und errichtete ein Kenotaph hinter dem Hochaltar. Zwei Beichtstühle in Kanzelnähe kamen 1669 hinzu.
Der von Herzog Maximilian Philipp von Bayern und seiner Gemahlin Mauritia Febronia gestiftete Anbau der Franz-Xaver-Kapelle an der südlichen Chorwand stammt aus den Jahren 1690 bis 1694. Der Augsburger Fürstbischof Alexander Sigismund Pfalzgraf von Neuburg weihte am Xaveritag, dem 3. Dezember 1704, die Kapelle. Die Portale beiderseits des Chors stammen aus dem Jahr 1690, ein gestiftetes Antependium und zwei Silberbüsten für den Hochaltar aus dem Jahr 1694. Auf dem Dach des Chores installierte man 1706 einen Glockenstuhl.
Umbau 1721/22 bis heute
Der Jesuitenpater, Baumeister und Architekt Joseph Guldimann S. J., der von 1720 bis 1722 im Mindelheimer Kolleg wohnte, ließ 1721/22 die Kirche grundlegend umbauen. Zuerst sorgte er für die Entfernung schadhafter Bauteile wie Dach, Langhausdecke und Empore samt Wendeltreppe. Das Langhaus erhielt um etwa 2,5 Meter höhere Seitenwände; Wandpfeiler wurden neu eingezogen, die Fenster erhöht und an der Westseite neue Fenster eingelassen. Nach Errichtung der Vorhalle und der Treppentürme im Westen erhielt das Langhaus 1722 ein gemauertes Gewölbe mit Stuckdekor und ein neues Dach. An der Westseite zog man zwei neue Galerien ein, die bis 1723 Geländer erhielten. Es folgte der Einbau einer neuen Kanzel und der Orgel. Den Fußboden belegte man mit Solnhofer Platten. Im Jahre 1726 wurden zehn Beichtstühle gefertigt und aufgestellt, ein Jahr später der Stuck bemalt und Kanzel, Orgel und Emporengitter gefasst. Der 1728 beschaffte Hochaltartabernakel ist nicht mehr vorhanden, denn von 1734 bis 1737 entfernte man die Altäre aus dem 17. Jahrhundert und baute neue auf. Die 1736 zum Preis von 150 Gulden bemalten Pfeiler und Wände wurden 1768 von italienischen Malern mit einer neuen Farbgebung versehen und bei späteren Restaurierungen wiederholt übermalt. Bei der Umgestaltung der Franz-Xaver-Kapelle 1743 schuf Matthias Willerotter Stuck und Altar. Nach der Aufhebung des Jesuitenkollegs 1773 nahm der bayerische Staat Kirche und Kolleg in Besitz. Um das ehemalige Jesuitenkolleg und damit auch um die Kirche bewarben sich 1776 die Karmeliter und ein Jahr später die Dominikaner beim Kurfürsten, beide jedoch vergeblich. Die Kirche diente bis 1781 als Filialkirche der Stadtpfarrkirche St. Stephan. Dann übernahm der Malteserorden die Kirche, gab sie aber 1808 an die Stadtpfarrei zurück. Am 25. und 26. April 1849 fanden in der Kirche die Wahlen für die sechs Wahlmänner zur Frankfurter Nationalversammlung statt. Bei einer umfassenden Restaurierung 1904 bis 1907 schmückte Jakob Brandl die Chorraumdecke mit Stuckreliefs. Wegen der Verwendung eines wasserziehenden Putzes für die Wände bei einer weiteren Restaurierung in den 1970er-Jahren ist der Innenraum in einem schlechten Zustand. Die vorgesehene Instandsetzung musste auf unbestimmte Zeit verschoben werden, da das Bistum keine Fördergelder zur Verfügung stellen kann.
Baubeschreibung
Die geostete, turmlose, einschiffige Kirche besitzt ein Langhaus mit einem eingezogenen, vorgesetzten Chor. An der Südseite befindet sich in Höhe der ersten beiden Chorjoche die Franz-Xaver-Kapelle, nördlich des Chores ein Anbau mit einem Durchgangsraum, von dem östlich die Sakristei und westlich der Kanzel- und Emporenaufgang zu erreichen ist. Hinter diesem Durchgangsraum befindet sich der Treppenaufgang zum Oratorium, zur Ignatiuskapelle und zu der zum Kloster gehörenden und über der Ignatiuskapelle liegenden Bibliothek.
Äußeres
Der Chor besitzt drei Joche und einen Fünfachtelschluss. Sein Scheitelfenster ist zugemauert. Die helle Rahmung um die Fenster mit Segment- und Dreiecksgiebeln im Wechsel stammt aus dem Jahr 1625. Am First des Chordaches ist ein neuer eiserner, mit Holz verkleideter Glockenstuhl als Dachreiter aufgesetzt. Die Westseite des Dachreiters stößt an die Ostwand des Langhauses, die das Chordach überragt. Bis etwa zwei Meter unter der Traufe verlaufen Strebepfeiler mit zwei Wasserschlägen. Das Oberteil der Wasserschläge hat abgeschrägte Ecken und geht unter der Pultabdeckung wieder ins Rechteck über. Darüber befinden sich bis zur Traufe barocke Lisenen mit gemaltem Architravband und ein Gesims.
Das Langhaus ist ein verputzter langgestreckter Saalbau. Das Kolleg ist an seine Nordseite angebaut und hat dieselbe Traufhöhe wie die Kirche. Der schräge Strebepfeiler des Chorschlusses ist in diese Konstruktion mit einbezogen. Der verbaute Pfeiler tritt in der Sakristei als Strebepfeiler hervor. Die niedrige einstöckige Franz-Xaver-Kapelle ist südlich an den Chor angebaut. Die südliche Langhauswand ist in den östlichen drei Achsen durch toskanische Pilaster und ein dreiteiliges verkröpftes Gebälk gegliedert. Rechteckblenden befinden sich in den äußeren Achsen unterhalb der Fenster. Die mittleren Rechteckblenden sind höher und reichen bis an das Fenstersohlgesims heran. Darin befindet sich die Rechtecktüre mit in Freskotechnik gemalter Verdachung aus dem zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts. Im Scheitel halten Putten ein Jesusmonogramm. Seitlich schließen sich Füllhörner mit herabhängenden Blumengehängen an. Die Fenster sind von Putzrahmen umgeben. Die Mittelachse schließt ein flacher Dreiecksgiebel ab, die Seitenachsen haben Segmentgiebel. Der Turm des Unteren Tores stößt an die Langhaus-Südseite.
Außen ist die Sakristei ein schlichter Rechteckbau mit Satteldach und überbrückt die Mindel. An diesem liegt der Klostereingang an der Ostseite dieses Gebäudes; er ist mit Pilastern und einem rundbogigen Aufsatz verschönert. Über den Fenstern befinden sich abwechselnd angeordnete stuckierte Segment- und Dreiecksgiebel. Das Dach ist ein. Auf dem westlichen Ende des im Osten gerundeten Satteldaches sitzt ein spitzgiebeliger Satteldachreiter mit drei Glocken.
Inneres
Der Chorraum ist 9,6 Meter breit und 20 Meter lang. Das gotische Stichkappengewölbe ist neobarock dekoriert, die Rippen wurden beseitigt. Die Teilung erfolgt über leicht spitzbogige Gurte, die Schildbögen sind parabelförmig. Die Wand ist durch eine breite, unterhalb der Fenster verlaufende Sockelzone gegliedert. Davor stehen flache Wandvorlagen und vor diesen auf Volutenkonsolen korinthische Pilasterpaare mit gemeinsamen dreiteiligen Gebälkstücken. Neben dem Chorbogen steht jeweils nur ein Pilaster. Die Chorschlussachsen haben hohe Rundbogenfenster, wobei das Fenster im Scheitel eine Nische bildet. Auf der Nordseite befinden sich im ersten Stock drei rundbogige Fenster, die zur Ignatiuskapelle gehören. Darüber sind drei weitere rundbogige Fenster zur Bibliothek hin angeordnet, von denen das mittlere ein Blindfenster ist. Die drei Fenster der Südseite beginnen über dem Dach der angebauten Franz-Xaver-Kapelle und sind ebenfalls rundbogig. Alle Fenster haben klare Sechseckgläser. Unterhalb der Südfenster sind mit Stuckrahmen verzierte Ölbilder in die Wand eingelassen. Direkt am Chorbogen befinden sich reich verzierte Stuckportale zur Franz-Xaver-Kapelle und zum Durchgangsraum, der zur Sakristei und zu der über ihr liegenden Ignatiuskapelle führt. Der Chorbogen ist einspringend und halbrund geschlossen. An der Laibung befinden sich Pilasterpaare; in Kämpferhöhe ist verkröpftes Gebälk angebracht.
Das Langhaus der Kirche ist etwa 27 Meter lang, 16,6 Meter breit und 15 Meter hoch. Das Tonnengewölbe auf zwölf Meter Höhe liegt etwas höher als das im Chor. Im Westen ist eine doppelstöckige Empore eingebaut. Im Langhaus erstreckt sich auf etwa halber Raumhöhe bis zu den Seitenkapellen eine Galerie. Der Saal ist in vier Joche gegliedert und hat ein durch Gurte unterteiltes Stichkappentonnengewölbe. Die Seitenkapellen mit 2,3 Meter Durchmesser am östlichen Ende des Langhauses sind mit schmalen Quertonnen überwölbt. Die Enden der Wandpfeiler schmücken auf drei Seiten stark verjüngte korinthische Pilaster. Darüber ist ein dreiteiliges, verkröpftes Gebälk angebracht. An der Ostwand befinden sich an den Seiten des Chorbogens Gesimsstücke am Gewölbeansatz. Die Pfeiler sind über der Galerie in dem schmalen Abschnitt zwischen Pilaster und Außenwand von rundbogigen Durchgängen durchbrochen. Reich geschweift führt die Galerie im ersten Stock über die drei westlichen Joche. Dadurch, dass im östlichen Joch die Galerie fehlt, haben die Seitenkapellen einen kreuzartigen Grundriss. Auf Kehlen kragt in den mittleren beiden Jochen die Galerie vor, deren Geländer aus rot marmoriertem Holz und schmiedeeisernen Spiralgittern mit vergoldeten Blättern gefertigt ist. An der Westfassade dient eine zweite Galerie in Höhe des Pfeiler-Kranzgesimses als Orgelempore. Über der Galerie befinden sich in den drei östlichen Jochen große, in die Schildbögen reichende Rundbogenfenster. Die Eingangstüre liegt an der Südseite, im zweiten Joch von Osten. Das große Rechteckportal mit eingesetzter, nur bis zur Zweidrittelhöhe zu öffnender Tür ist der einzige direkte Zugang zur Kirche. Die beiden flach geschweiften Flügel sind gefeldert mit balusterförmiger Schlagleiste und Beschlägen. Das Portal wurde bis zum Sturz in neobarocker Form erneuert.
An der Westseite befindet sich unter der Galerie eine rechteckige Mitteltüre zur einstöckigen Vorhalle, die, mit einem Flachdach versehen, an die Fassade angebaut ist. Sie besitzt an der Westwand drei Querovalfenster, an den Schmalseiten befinden sich Eingänge zu den die Vorhalle flankierenden Emporenaufgängen.
Der im Westen des Langhauses im Erdgeschoss vorgelagerte Durchgang führt zu den beiden Emporen.
Ausstattung
Die Ausstattungsgegenstände der Kirche stammen vorwiegend aus dem 18. Jahrhundert. Die Decken sind nicht freskiert, sondern mit figürlichen Stuckreliefs versehen, wobei die im Chorraum erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts geschaffen wurden. Lediglich ein kleiner Rest der ehemaligen Bemalung und des Stucks aus dem 17. oder 18. Jahrhundert hat sich hinter dem Hochaltar in einem Blindfenster erhalten. Es ist dort eine ovale Strahlenglorie auf blauem Grund zu sehen. Der Fußboden der Kirche ist mit Solnhofer Platten in Rosenspitzmuster aus dem Jahr 1723 belegt.
Stuckreliefs
Alle figürlichen Stuckreliefs in den Scheiteln der Gewölbejoche zeigen marianische Motive. Sie sind für den Blick vom Hochaltar konzipiert.
Chorraum
Die neobarocken Stuckreliefs an der Decke des Chorraums fertigte 1907 Jakob Bradl aus München. In den Scheiteln der drei Joche befinden sich quadratische Felder mit gebrochenen, geschweiften Rahmen. Das östliche Deckenrelief zeigt die Beweinung Jesu durch seine Mutter unter dem leeren Kreuz, das mittlere Maria als Rosenkranzkönigin. Das westliche Joch stellt die Krönung Mariens dar. Die Scheitelreliefs sind von jeweils zwei ovalen Medaillons in den Stichkappen flankiert. Während die beiden Medaillons im mittleren Joch das heiligste Herz Jesu und das unbefleckte Herz Mariens zeigen, sind in den übrigen Jochen Kirchenväter mit ihren Attributen dargestellt, an der Nordseite der heilige Hieronymus mit dem Löwen und Augustinus mit einem flammenden Herzen, im Süden der hl. Gregor der Große mit Tiara und Taube und der hl. Ambrosius mit einem Bienenkorb.
Langhaus
Die Stuckreliefs an der Langhausdecke aus dem Jahre 1722 stammen vielleicht von Michael Stiller aus Ettringen. Die vier Hauptreliefs im Gewölbescheitel befinden sich in vierpassförmig geschweiften Feldern. Wie im Chor wird auch dort in jedem Joch das Hauptrelief von zwei ovalen Medaillons mit Halbfiguren von Heiligen in den Stichkappen begleitet. Die Motive sind chronologisch von Westen nach Osten hin angeordnet. Den Anfang macht eine Darstellung der Maria Immaculata. Es folgt Marias Vermählung mit Josef. Im dritten Joch wird die Heimsuchung Mariens dargestellt, die Aufnahme Mariens in den Himmel wird im letzten Langhausjoch thematisiert. Die Medaillons im westlichen Joch über der Orgelempore sind der Musik gewidmet und zeigen nördlich König David an der Harfe und auf der gegenüberliegenden Seite die orgelspielende heilige Cäcilia. In den folgenden Medaillons nach Osten sind Heilige des Jesuitenordens abgebildet, auf der Nordseite die hll. Aloysius, vermutlich Franz Borgia und Ignatius von Loyola, im Süden die hll. Franz Xaver, ein Jesuit mit brennendem Herzen und Stanislaus Kostka.
Altäre
In der Kirche befinden sich drei Altäre: der Hochaltar am östlichen Ende des Chorraumes und zwei Seitenaltäre zu beiden Seiten des Chorbogens. Der nördliche Altar ist ein Schutzengelaltar, der südliche dem heiligen Josef geweiht.
Hochaltar
Der 1737 geschaffene Hochaltar nimmt die gesamte Ostseite des Chorraums ein. Die Zuordnung zu einem Meister ist archivalisch nicht gesichert. Die Literatur nennt meist einen aus der Türkheimer Künstlerfamilie Bergmüller. Das Holz ist in olivgrünen bis roten Tönen marmoriert, das Dekor meist vergoldet. Der Stipes ist blockförmig, das Antependium besitzt eine mit einer vergoldeten Akanthusrahmenschitzerei verzierte Holzmalerei. Die Vorderseite zeigt Christus in der Kelter. Er steht in der Mitte des Bildes in einer Weinpresse. Auf seinem Rücken trägt er in gebückter Haltung ein Kreuz. Von hinten stechen Soldaten in seine Seite und das hervorströmende Blut wird von Engeln aufgefangen. Links und rechts geht die Szene in eine Landschaftsmalerei über, die links die Weinlese und rechts den Höllenrachen zeigt. Die nicht sichtbare Rückseite des Antependiums ist mit der Geißelung Christi bemalt. Links von Christus sitzen Maria und Johannes Evangelist, rechts ist eine Ecce-Homo-Szene abgebildet. Dieses Bild ist allerdings nicht einsehbar.
Den mächtigen Tabernakelaufbau auf dem Altartisch aus Messing mit versilbertem Dekor schuf 1787 der Mindelheimer Gürtler Plazidus Sauter für die Mindelheimer Hauptkirche St. Stephan. Der Entwurf befindet sich im Staatsarchiv Augsburg. Bei der Sanierung und dem Umbau von St. Stephan im Jahre 1865 wurde der Tabernakel in die Filialkirche überführt. Der Aufbau ist zylindrisch. In einer Nische ist ein Kruzifix von ionischen Säulen und konkaven Seitenachsen flankiert. Die Seitenachsen begrenzen Voluten und kniende Engel. Die Gebälkzone ist verkröpft und mit Girlanden behängt. Im Fries befinden sich Triglyphen. An der Volutenspitze hängen ebenfalls Girlanden. Die Inschrift auf einem Schild an der beginnenden Spitze lautet: ECCE AGNUS DEI („Seht das Lamm Gottes“). Das Lamm Gottes auf dem Buch mit sieben Siegeln schließt die Spitze der Volute ab.
Das große, geschweift abschließende Altarbild zeigt die Verkündigung des Herrn. Es wurde 1736 von Franz Anton Germiller aus Mindelheim gemalt und zeigt unten links die Jungfrau Maria kniend vor einem offenen Buch auf einem Betstuhl. Ihre rechte Hand zeigt auf das Wort Ecce. Ihr von zwölf Sternen umkränzter Kopf ist nach links gewendet. Ihr Blick geht nach oben zum Erzengel Gabriel mit geweiteten Flügeln, der in seiner linken Hand eine Lilie hält, die rechte ist wie zum Schwur erhoben. Der obere Teil des Bildes ist mit Gottvater und dem Heiligen Geist als Taube, die einen Lichtstrahl auf Maria sendet, ausgefüllt. Eine mit Blumen und Früchten geschmückte Schrifttafel über dem Bild trägt den Schriftzug AVE MARIA GRATIA PLENA („Gegrüßest seist du Maria, voll der Gnade“). Beiderseits des Bildes sind vorgestaffelte Pfeiler und davor je drei, innen schräg einwärts und außen schräg auswärts gestellte korinthische Säulen angeordnet. Durch Pfeilerflächen und das gemeinsame verkröpfte Gebälksims sind sie miteinander verbunden. Die mittleren Säulen sind höher als die äußeren. Sie stehen auf vorgelagerten zylindrischen Sockeln, die mit Dekor am Schaft und frontalen Gebälkstücken dekoriert sind. Sie überragen die Nebensäulen und sind an der Vorderseite eingerollt. Neben den Säulen befinden sich Konsolen mit neobarocken Figuren des Künstlers H. Kosenbach aus München. Die linke Figur stellt den heiligen Ignatius dar, die rechte den heiligen Franz Xaver. Den Altarauszug flankieren schräg einwärts gerichtete Voluten mit vorne eingerollten Gebälkstücken. In der Mitte befindet sich eine Inschriftenkartusche in einer Wolken- und Strahlenglorie. Auf ihr ist ALTARE PRIVILEGIATUM zu lesen. Von den elf Putten auf dem Auszug halten sieben eine Blumengirlande auf der Bekrönung.
Seitenaltäre
Höchstwahrscheinlich schuf der Meister des Hochaltars 1734/35 auch die beiden fast baugleichen Seitenaltäre. Diese Annahme beruht auf einer vergleichenden Betrachtung der Altäre, archivalische Hinweise gibt es dafür nicht. Sie stehen an den Seiten des Chorbogens an der Langhausostseite. Der Stipes ist jeweils blockförmig gestaltet. Als Antependium dient je ein von Akanthusschnitzerei umgebenes Gemälde aus dem späten 19. Jahrhundert. In der Predella befindet sich ein zwischen den Säulensockeln eingespannter breiter verglaster Schrein, davor ein versilbertes Altarkruzifix und an den flankierenden Säulen ein kleines Wappenschild. Über den Schreinen war bis zur Sanierung in den 70er Jahren je ein kleines Hochovalbild auf Leinwand zu sehen mit Aloisius von Gonzaga auf dem nördlichen und Stanislaus Kostka auf dem südlichen. Die großen Altarbilder sind geschweift. Links und rechts befinden sich jeweils zwei in schräger Achse zueinander gestellte Säulen. Die Altäre besitzen verkröpfte Gebälkstücke und außen frontal angesetztes Bandel- und Gitterwerk. Die Auszüge flankieren Putten mit von Inschriftenschildern besetzten Voluten. Über den äußeren Säulen stehen Blumenvasen. In der Mitte des Auszuges gruppiert sich eine große, prächtige Strahlenglorie mit Wolken und Engelsköpfen um eine zentrale Inschrift. Die Altäre sind durch hüfthohe Brüstungen vom übrigen Kirchenbereich abgegrenzt.
Schutzengelaltar
Der nördliche Altar ist ein Schutzengelaltar. Sein Antependium zeigt die Entschlafung Mariens. Die Gottesmutter liegt in aufrechter Position auf dem Bett, umgeben von zehn Aposteln. Der Reliquienschrein enthält eine in Brokat gekleidete Holzfigur der Muttergottes. Daneben befinden sich zwei in Klosterarbeit gefasste Schädelreliquien der Märtyrer Innocentius und Victor auf Messingsockeln. Die Wappenkartuschen an den Außensäulen enthalten links ein Gemälde mit der Verkündigung des Herrn und der Inschrift CONGREGATIONIS, rechts das Wappen von Mindelheim, eine Glocke und die Inschrift CIVICAE als Zeichen, dass es sich um den Altar der Bürgerkongregation handelt. Auf dem großen Altarbild, 1735 von Franz Anton Germiller gemalt, begleitet der Schutzengel ein kleines weiß gekleidetes Kind, das in seiner linken Hand eine Lilie hält. Der obere Teil ist mit Putten bemalt, von denen die beiden in der Mitte einen Blumenkranz tragen. Ganz oben befindet sich ein mit einem Nimbus umgebenes sehendes Dreieck; das Zeichen der Heiligen Dreifaltigkeit. Die Schrifttafel über dem Hochaltarbild trägt den Satz ALTARE PRIVILEGIATVM PROFERIA II. Die zentrale Inschrift des Auszuges lautet nach Psalm : ANGELIS SVIS die links daneben CVSTODIANT TE und die rechts MANDAVIT („Er hat seinen Engeln befohlen, dich zu behüten auf all deinen Wegen.“)
Josefsaltar
Der südliche Seitenaltar ist dem heiligen Josef geweiht. Er zeigt auf dem Antependium den Tod Josefs. Neben dem liegenden Heiligen stehen links Maria mit einem Heiligenschein und ein Jüngling, rechts ein Priester mit Heiligenschein. Der Reliquienschrein enthält die in Klosterarbeit gefasste Reliquie des Märtyrers Vincentius. Die kleinen Wappenkartuschen zeigen links die Heiligenattribute Lorbeerkranz, Palme und Ölzweig, rechts Schwert und Fackel. Das große Altarbild, 1660 von Johann Christoph Storer aus Konstanz geschaffen, zeigt die Heilige Familie. Der hl. Josef im Vordergrund hält das Jesuskind im Arm, in der linken Hand trägt er eine Lilie. Maria sitzt links vor ihm. Im oberen Teil sieht Gottvater, flankiert von zwei Engeln, auf Josef herab. Unter ihm befindet sich eine Taube als Symbol des Heiligen Geistes, die Lichtstrahlen zu Josef sendet. Über dem Bild steht in der Inschriftenkartusche ALTARE PRIVILEGIATUM PROFERIA IV. Der Auszug trägt in der Mitte die Inschrift ITE AD IOSEPH, links IN VITA und rechts IN MORTE („Kommt zu Josef, im Leben wie im Tode“).
Kanzel
Die Kanzel am östlichen Pfeiler der Langhaus-Nordseite wurde 1722 aus Holz gefertigt und 1727 gefasst. Der großflächige Teil ist in Rot und Grün marmoriert. Das Dekor, vor allem das Bandelwerk, ist vergoldet und versilbert. Der zylindrische Corpus besitzt eine reich verkröpfte Brüstung. Die darunter liegende Schweifkonsole trägt die vier Evangelistensymbole. Im westlichen Teil der Konsole befindet sich ein geflügelter Mensch mit vergoldetem Gewand und versilberten und vergoldeten Flügeln, das Symbol des Evangelisten Matthäus. Daneben sind die vergoldeten Symbole der anderen Evangelisten, Löwe, Stier und Adler, zu sehen. Die Brüstung bildet an der Ostseite eine sich bis zum östlichen Pfeiler erstreckende balkonartige Außenwand. Sie ist durch kräftige Balusterpfeiler mit Blumengehängen gegliedert. Bei den Statuen in den Nischen nimmt man an, dass sie links den heiligen Franziskus, in der Mitte den Propheten Elija und rechts den hl. Johannes den Täufer darstellen. An der Rückwand der Kanzel befindet sich eine Kartusche in einem goldenen Rahmen. Auf dunklem Grund steht EXIVIT SONUS EORVM, aus , „Doch ihre Botschaft geht in die ganze Welt hinaus“.
Den Schalldeckel in Form eines verkröpften Gesimses, auf dem eine Volutenpyramide steht, stützen zwei Putten. Die Pyramide ist unten mit Putten besetzt, die die vier Erdteile symbolisieren und sich hauptsächlich durch ihre Kopfbedeckungen unterscheiden. Westlich ist Afrika durch einen schwarzen Putto mit Pfeilerköcher und Federkrone dargestellt. In der nach oben ausgestreckten linken Hand hält er eine Pfeilspitze. Neben ihm symbolisiert ein Putto mit Lanze und dem Helm der Konquistadoren auf dem Kopf Amerika. Es folgt ein Putto für Europa, der die zu ihm gehörende Herrscherkrone auf einem Schaukissen präsentiert. Der Putto für Asien ist mit einem Turban mit einem Halbmond bekleidet. In seiner rechten Hand hält er eine Lanze. Die Kanzelbekrönung bildet eine Statue des hl. Ignatius von Loyola auf einer Weltkugel. Er trägt eine vergoldete Kasel über einer versilberten Albe. Ein Engel zu seiner Rechten zeigt in einem aufgeschlagenen Buch auf den Wahlspruch der Jesuiten OMNIA AD MAIOREM DEI GLORIAM („Alles zur höheren Ehre Gottes“).
Chorgestühl
Das Chorgestühl wurde um 1626 geschaffen und wird dem Schreiner und Baumeister Johannes Holl zugeschrieben. Als vereinfachte Kopie des Chorgestühls von 1596 der Jesuitenkirche St. Michael in München gehört es zu dessen engsten Nachfolgern und bildet mit ihnen eine klar abgegrenzte Sondergruppe der Chorgestühle der späten Renaissance. Möglicherweise beruht die Vorbildfunktion von St. Michael auch auf dem Umstand, dass die Mindelheimer Kirche und die anderen Jesuitenkirchen der oberdeutschen Ordensprovinz überhaupt ein Chorgestühl hatten. Weil die Jesuiten kein gemeinsames Chorgebet pflegten, kein tägliches Konventamt feierten und meist auch nicht bei der Sonntagsmesse vereint waren, war es eigentlich überflüssig und außerhalb der oberdeutschen Provinz nur in Ausnahmefällen vorhanden.
Das Chorgestühl ist ungefasst mit klaren, strengen Formen. Auf jeder Seite sind zehn Stallen aufgestellt. An der fünften Achse von Osten her ist die Vorderbrüstung für den Zugang unterbrochen. Die Vorderbrüstung ist durch Pilaster mit Volutenkapitellen und Rechteckfelder gegliedert. Die Stühle sind durch Armstützen vor auf Voluten gestellten Balustraden voneinander getrennt. Die Sitze lassen sich nach hinten klappen. Die hohe Rückwand ist durch korinthische Pilaster mit von Blattstäben gesäumten Feldern gegliedert. Dazwischen befinden sich schlanke Blendarkaden mit Kämpfergesims und Scheitelstein. Den Abschluss bildet ein um 1720/30 aufgesetztes dreiteiliges Gebälk mit gebauchtem Fries.
Ölbilder
An den Chorpilastern hängen sechs große Gemälde mit Heiligen, deren Namen jeweils in einem Aufsatz angegeben sind. Zusätzlich sind die Heiligen an ihren Attributen oder an charakteristischen Szenen aus ihrem Leben erkennbar. Die Bilder, die Joseph Anton Dobler aus Mindelheim um 1737 geschaffen hat, sind mit geschweiften Rahmen versehen und schräg nach vorne geneigt angebracht. Mit Wappen beziehungsweise mit symbolischen Hinweisen wird in jedem Bild ein Bezug zu einem Herrschaftsbereich hergestellt. Ein Spruchband mit jeweils einem lateinischen Wort in Imperativform gibt verschiedene Bitten an die Heiligen wieder.
Krippen
Die Weihnachtskrippe der Jesuitenkirche geht zurück auf das Jahr 1618, als erstmals eine Krippe mit Figuren von etwa einem Meter Höhe in der Jesuitenkirche aufgebaut wurde. Sie wurde in den folgenden Jahrzehnten erweitert und immer wieder erneuert. Wie viele Figuren die Krippe ursprünglich umfasste, ist unbekannt. Heute befinden sich noch etwa 80 Figuren im Besitz der Gemeinde und werden alljährlich zur Weihnachtszeit im Chor aufgebaut. In der Szene nähern sich von rechts Hirten, Mindelheimer Bürger und Bauern und von links die Heiligen Drei Könige mit einem großen Gefolge und Kriegselefanten dem Stall in der Mitte. Auf einem Schimmel reitet die Königin von Saba ebenfalls zum Stall von Bethlehem. Ursprünglich dürften die einzelnen Figuren nicht in einer gemeinsamen Szene aufgestellt worden sein. Es könnte sich dabei um die Verkündigung des Engels an Maria, die Herbergssuche und die Verkündigung an die Hirten gehandelt haben. Nur die Szenen der Anbetung der Hirten, der Heiligen Drei Könige an der Krippe und der Hochzeit zu Kana mit großer Tafel und Speisen sind gesichert. Der Hintergrund stammt aus den 1960er Jahren und ist nicht originalgetreu.
Die sogenannte Krippe aus Klosterwald zeigt die Szene der Hochzeit zu Kana und steht heute in einem Schrank im Sakristeivorraum. Sie stammt aus dem ehemaligen Kloster in Klosterwald.
Ausstattung
In der Kirche befinden sich zahlreiche weitere Ausstattungsgegenstände. Das Weihwasserbecken am Chorbogen bei der Sakristeitüre aus Kalkstein trägt die eingemeißelte Inschrift 17 IHS 40. Die Weihwasserkupferkessel an der südlichen Eingangstüre der Kirche sind mit Rocailledekor geschmückt und wurden in der Mitte des 18. Jahrhunderts geschaffen, ebenso der Opferstock am Südeingang, ein aus Holz geschnitzter Balusterfuß mit Volute. Die Ewiglichtampel in der Mitte des Chores, in der Mitte des 18. Jahrhunderts geschaffen, besteht aus Silber mit zum Teil durchbrochenem Rocailleornament.
Sakristei
In der Sakristei befindet sich ein großer, in neun Achsen gegliederter Schrank, der die gesamte Südseite einnimmt und intarsienartig gefasst ist. In der Mitte ist um die trennende Säule eine verbindende Verblendung angebracht. Ein kleiner Betstuhl mit Schweiffüßen und Rocailleschnitzerei stammt aus der Mitte des 18. Jahrhunderts. Die Kommoden sind durch toskanisierende Pilaster getrennt. Die Aufsatzschränke springen zurück und haben gefederte Türen sowie verkröpftes Gebälk mit gebauchtem Fries. In der Osthälfte sind zwischen den Aufsatztüren geohrte, leicht vortretende Felder mit schlichten grotesken Ornamenten geschmückt. Zwischen den Feldern der Westhälfte befinden sich gefelderte Lisenen. Der verkleidete Mittelpfeiler trägt ein Bild der Verspottung Christi, ein stark beschädigtes Holzgemälde eines unbekannten Malers vom Ende des 16. Jahrhunderts. Auf den Schranktüren sind mehrere, zum Teil stark beschädigte Inschriften erkennbar. An der Mitteltüre des östlichen Abschnittes ist ein kleines, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts geschaffenes Elfenbeinkruzifix zu sehen.
Ein weiterer Schrank aus dem Jahre 1722 an der Nordwand der Sakristei hat gefelderte Türen und einen gebauchten Gebälkfries. Ein beschädigtes, halbrundes Gemälde auf Holz aus dem späten 16. Jahrhundert am Ostende der Nordwand zeigt die Abendmahlszene mit den Initialen H. K. Aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts stammt eine schlichte Kommode mit sechs niedrigen Schubladen. Ein Sedile des mittleren 18. Jahrhunderts mit Schweiffüßen und Rocailleschnitzerei ist mit rotem Damast bespannt. Ein Vortragekreuz und ein kleines Kruzifix zwischen den Fenstern stammen aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ein Kruzifix und eine Mater Dolorosa auf einem Schweifsockel wurden in der Zeit von 1720 bis 1730 gefertigt. Ein Kruzifix mit Totenkopf und Schlange am Fuß stammt ebenfalls aus der zweiten Hälfte, ein weiteres mit einem versilberten Bronzekorpus aus dem ersten Viertel, der Auferstehungsheiland aus der Mitte des 18. Jahrhunderts. Ein gefasstes Vortragekreuz mit einem neuen Bronzekorpus, Kleeblattenden und geschnitzten Evangelistensymbolen wurde um 1500 geschaffen. J. Ph. Brunnenmair schreibt ein Gemälde in einem rechteckigen Lorbeerrahmen mit einer Halbfigur der Immaculata Joseph Ruffini aus Meran zu. Weitere Gemälde eines unbekannten Malers aus der Mitte des 18. Jahrhunderts stellen den heiligen Franz-Xaver und vermutlich den heiligen Johannes Nepomuk dar.
Vorraum der Sakristei
Der Vorraum zwischen der Sakristei und dem Chorraum ist ebenfalls mit Kunstwerken ausgestattet. An der Ostwand ist ein Kruzifix aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts angebracht, darunter eine Mater Dolorosa des mittleren 18. Jahrhunderts. Links vom Kreuz steht der heilige Joachim, rechts die heilige Anna mit dem Marienkind. Sie wurden gegen Ende des 17. Jahrhunderts geschaffen. Zwei rundbogig geschlossene Holzbilder aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts zeigen links die Mater Dolorosa, rechts einen Schmerzensmann. Davor steht ein neuer versilberter Volksaltar. In einem nur in der Adventszeit geöffneten Schrank an der Nordseite neben der Durchgangstüre zum Treppenaufgang wird die Klosterwalder Krippe mit der Hochzeit von Kanaa aufbewahrt.
Kapellen
Franz-Xaver-Kapelle
Die aus dem Jahre 1690 stammende Kapelle an der Südseite des Chores wurde 1704 dem hl. Franz Xaver geweiht. Der geostete rechteckige Bau mit zwei Jochen trägt ein mit Blech gedecktes Schrägdach. Die Joche trennen mit kräftigen Doppelpilastern besetzte flache Wandpfeiler. Diese sind verkröpft, das Gebälk ist dreigeteilt. Die Ecken besitzen halbe Pfeiler mit einem Pilaster; in der Nordwestecke ist nur ein Gesimsstück vorhanden, da dort eine von Bündeln umrahmte Stichbogennische der einzige Zugang zur Kapelle durch den Chorraum ist. Die Halbkreistonne besitzt breite, im Scheitel geschliffene Stichkappen, die über einen flachen Schildbogen geführt sind. Lediglich in der südlichen Wand sind zwei querrechteckige Fenster mit eingezogenen rundbogigen Vertikalseiten eingelassen. Den Altarbereich im Osten der Kapelle trennt ein schmiedeeisernes, 1751 von einem unbekannten Künstler angefertigtes Ziergitter vom übrigen Kapellenraum. Es besteht aus senkrechten Stäben mit vergoldeten Blattspitzen, Blüten und kreuzförmigen Blattrosetten. Der giebelförmige Mittelaufsatz trägt ein Monogramm des hl. Franz Xaver.
Der Altar von Matthias Willerotter aus Mindelheim an der Ostseite stammt aus dem Jahr 1743. Er besteht aus rötlichem, gelbem und blaugrauem Stuckmarmor. Der Stipes wird von Voluten begrenzt, das Antependium ist mit einem Bandelwerk und dem Christusmonogramm IHS versehen. Dem eigentlichen Altaraufbau ist auf der Mensa ein vergoldeter tabernakelartiger Reliquienschrein mit versilbertem Rocailledekor vorgesetzt. Der Reliquienschrein hat drei Achsen mit je zwei verglasten Kammern, die übereinander gegliedert sind. In der Mitte liegt eine Armreliquie des heiligen Franz Xaver, darüber ist eine Monstranz mit einer Darstellung des heiligsten Herzens Jesu zu sehen, unter dem ein versilberter Pelikan, ebenfalls ein Christussymbol, sitzt. Das Altarbild schuf ein unbekannter Maler um 1743. Es zeigt den sterbenden heiligen Franz Xaver, mit dem Rücken an einen Felsen gelehnt. Mit den Händen umklammert er ein Kruzifix, auf das er hinunterblickt. Über dem Heiligen schweben Engel im wolkenverhangenen Himmel. Als Altarauszug dient unter verkröpftem Gebälk ein goldenes Medaillon mit einem aus dem Wasser herausragenden und kreuztragenden geschnitzten Krebstier. Das Motiv beruht auf einer Legende, nach der ein Krebs ein von dem hl. Franz Xaver im Meer verlorenes Kreuz zurückbrachte.
Den überwiegend weißen, roten und grünen Stuck schuf 1743 der Mindelheimer Matthias Willerotter. Er gehört bereits in die Phase des Frührokokos. Er besteht aus symmetrischen Kartuschen, Bandelwerk, Gitterwerk, Blumenketten und Zweigen. In der Mitte befindet sich ein geschweifter Profilrahmen mit einem Gemäldefeld. Große Kartuschen mit vollplastischen Blumenvasen und einem Engelskopf befinden sich an den Längsseitenmitten. Die vier Stichkappen der Kapellendecke tragen Stuckreliefs der vier Erdteile. Jeweils am oberen Rand befindet sich eine Wolke mit dem Christusmonogramm IHS, vor dem ein Putto kniet, der den Erdkreis verkörpert, kniet. Nördlich des Altars auf der Ostseite steht ein Putto für Europa, der in der rechten Hand einen Pilgerstab, einen Pontifikalstab und einen Krummstab hält. Seine linke Hand zeigt auf das Christusmonogramm IHS. Eine Krone mit Zepter liegt zur Linken des Puttos auf einem Schaukissen. Südlich des Altars befindet sich die Kartusche mit Asien. Der kniende Putto hält demütig die Hände vor der Brust verschränkt. Vor ihm steht zwischen Palmen eine zweistöckige Pagode. Die nordwestliche Stichkappe zeigt Afrika. Vor einem dunkelhäutigen Putto mit verschränkten Armen ragt ein Elefantenkopf heraus, hinter ihm sind unter einer Palme zwei pyramidenförmige Hütten zu sehen. Dieser Abbildung gegenüber befindet sich in der südwestlichen Stichkappe der vierte Erdteil, Amerika. Ein Putto mit Federrock und Federkrone trägt einen Bogen in der linken Hand, die rechte zeigt auf das Christusmonogramm. Hinter ihm stehen drei Tipis, vor ihm wird hinter einer Palme ein Büffelkopf sichtbar.
Die drei Ölgemälde der Kapelle stiftete Herzogin Mauritia Febronia. Das zentrale Deckengemälde eines unbekannten Künstlers wurde 1691 gemalt. Es zeigt den hl. Franz Xaver bei der Taufe von Heiden. Der Heilige ist im Chorgewand mit Stola abgebildet. Seine rechte Hand hält eine Muschel mit dem Taufwasser für die vor ihm knienden Heiden. Links von Francisco kniet ein weiterer Geistlicher, der eine Taufschale hält. Die dargestellten Heiden sind verschiedener Hautfarbe. Die anderen beiden Wandgemälde schuf vermutlich derselbe Künstler 1694. Das Bild an der Westwand zeigt den hl. Franz Xaver beim Predigen. Hier ist er als zentrale Figur dargestellt, über den zu seinen Füßen sitzenden und knienden Heiden. Er trägt ein Priestergewand, seine Rechte hält ein Kruzifix. Auch dort sind Heiden verschiedener Hautfarben dargestellt.
Die Nordwand zeigt eine in dieser Darstellung nicht häufig vorkommende Szene. Christus und der hl. Franz Xaver sind in dem rechteckigen Gemälde mit seitlichen Ausbuchtungen zu sehen. Christus ist als guter Hirte dargestellt. Er schreitet in der felsigen Landschaft schnell voran und blickt sich nach dem hl. Franz Xaver um. Dieser trägt einen Inder auf den Schultern und folgt Christus. An den oberen Ecken des Bildes sind Putten, die zwei Spruchbänder mit der Aufschrift SEQVERE ME („Folge mir“) und ECCE EGO: MITTE ME („Hier bin ich, sende mich“) halten. Zwischen den Personen sind Serpentinen zu sehen, die einen Berg hinauf führen und darüber eine Taube mit Strahlenkranz als Symbol des Heiligen Geistes.
Das Gestühl, das um 1743 angefertigt wurde, besitzt flache, mit breitem, rocailleartig gekerbtem Bandelwerk und Akanthus geschmückte Wangen aus Eichenholz. Eine Kniebank aus dem dritten Viertel des 18. Jahrhunderts ähnelt den beiden längeren in der Kirche. Der an der Westwand stehende Beichtstuhl mit einem Volutengiebel über der Mittelachse aus dem mittleren 18. Jahrhundert wurde um 1726 gebaut. Eine der wenigen plastischen Figuren der Kirche, die gefasste Mondsichelmadonna, steht auf einem Sockel an der Nordwand und wurde um 1670 geschnitzt. Sie könnte von Thomas Baumhauer oder Martin Döttel aus Mindelheim stammen.
Ignatiuskapelle
Die Ignatiuskapelle im ersten Stock über der Sakristei ist nur über den Klostertrakt zugänglich. An der östlichen Wand befinden sich zwei Rechteckfenster in Stichbogennischen, im Westen ist die Zugangstüre ebenfalls in eine Stichbogennische eingebettet. Der Ignatiusaltar verdeckt das mittlere der drei Fenster in der südlichen Wand zum Chor. Die hell gestrichene Holzkassettendecke wurde etwa 1629 eingebaut. Sie hat eine schräge Kehle und ist in zwei große Quadrate in Kreuzform und ein mittiges geschweiftes ovales Feld gegliedert. Im trennenden Mittelfries befindet sich innerhalb des Ovalfeldes ein Jesusmonogramm. In der Voute haben ovale Kassetten verschiedene Formate. Die Deckenbemalung im Grisaillestil besteht aus Blattstabrahmungen, Hermenpilastern, Engelsköpfen und Rollwerk. Der Fußboden unbekannten Alters trägt ein Rosenspitzmuster.
Der Altar von 1756 aus Holz steht in der Mitte der Südwand. Das Holz ist rosa und blaugrau marmoriert. Das Rocailledekor ist vergoldet, der Stipes gebaucht. Das Tabernakel ist konvex und von Volutenvorlagen gerahmt. An der Schweiftür ist ein eingravierter Kelch mit Hostie zu sehen. Das geschweifte Altarbild zeigt den heiligen Ignatius von Loyola. Er kniet in weißem Ordensgewand, darüber ein rotes, mit Blumen geschmücktes Messgewand. Zu seinen Füßen ist ein weißer Engel mit geöffnetem Buch mit der Inschrift OMNIA AD MAIOREM DEI GLORIAM („Alles zur höheren Ehre Gottes“) dargestellt, der Wahlspruch der Jesuiten. Der Blick des Heiligen geht zum Himmel, wo das Auge Gottes zu sehen ist. Auf dem verkröpften, schwach geschweiften Gesims befinden sich zwei Putten. Der Auszug ist in Form eines geschweiften Flachgiebels gearbeitet. Heute ist dort noch ein Rest des Gewölks zu sehen. Der Rest der Strahlenglorie mit Gewölk befindet sich heute in der Bibliothek.
Orgel
Orgel von 1722
Über die erste Orgel eines Haller Orgelbauers von 1663 ist nichts Näheres bekannt. Quellen sind erst über den neuen Orgelbau von 1722, bei dem die Orgel von 1663 entfernt wurde, vorhanden. Die erste farbliche Fassung bekam der noch heute in der Kirche erhaltene Prospekt 1727. Archivalische Hinweise auf den Orgelbaumeister gibt es nicht. Vergleiche mit Orgeln der näheren Umgebung in Tussenhausen, Kirchhaslach und Steingaden lassen jedoch den Schluss zu, dass es sich um den aus Tussenhausen stammenden Orgelbauer Augustin Simnacher handeln könnte. Die ursprüngliche Disposition der Orgel kann heute anhand von überlieferten Daten ermittelt werden. Sie muss folgendermaßen gewesen sein:
Disposition von 1722
Anmerkungen
Reparatur 1832
Im Jahre 1832 reparierten Meinrad Dreher und sein Sohn Joseph Anton Dreher aus Illereichen die Orgel. Sie erweiterten dabei das Pedalwerk von zwei auf vier Register, fertigten eine neue Windlade für das Pedal und stellten sie vor dem Mittelfenster zwischen den Hauptgehäusen des Prospekts auf. Das Pedal erhielt dadurch mehr Tonfülle. Die ersten drei Bässe standen auf der neuen Windlade, der Quintbaß verblieb als einziger auf der alten Lade. Die Tonhöhen, die noch die seit dem 18. Jahrhundert in Mittelschwaben übliche tiefere Stimmung aufwiesen, den sogenannten mediam-Ton, wurden bei dieser Reparatur angehoben. An Kosten fielen für die Reparatur 150 Gulden an, für den Schreinermeister Ruppert Weißenhorn aus Mindelheim für die neue Pedallade 18,98 Gulden. Nach der Erweiterung verfügte die Orgel über 18 Register. In der Statistischen Beschreibung der Stadt und des Stadtbezirkes Mindelheim 1859 von Trieb und Seybold wurde das Instrument als sehr alte Orgel in ruinösem Zustand beschrieben.
Das Pedalwerk hatte folgende Disposition:
Disposition des Pedalwerks
Anmerkungen
Neubau 1896
Aufgrund des schlechten Zustandes der Orgel entschied man sich 1896 für den Kauf eines neuen Instruments. Die Firma G. F. Steinmeyer & Co. aus Oettingen baute als Opus 577 die neue 24 Register umfassende Orgel zu einem Preis von 11.475,30 Goldmark. Lediglich Teile des Prospekts der alten Orgel wurden übernommen, selbst die Prospektpfeifen wurden neu gefertigt. Die Orgel wurde in die Mitte der zweiten Empore an der Westseite der Kirche eingebaut. Insgesamt wurden vier Laden mit je 190 × 64 Zentimeter eingebaut. In zwei Etagen übereinander wurden die Laden in C- und Cis-Seiten aufgestellt. Die historischen Orgelgehäuse wurden für die Register mit 8′ oder höher verwandt, die kleineren Register wurden in Fußbodenhöhe platziert. Die Prospektpfeifen wurden bis auf die zehn größten nicht benutzt und waren lediglich zur Zierde angebracht. Hinter dem Hauptwerk in Prospekthöhe wurden die Register des II. Manuals auf einer Lade mit den Maßen von 347 × 82 Zentimeter aufgestellt. Das obere, mittlere Kirchenfenster wurde dadurch teilweise verstellt. Deswegen musste das Fenster der Kirchenwestseite verändert werden und eine Verbindung zwischen dem historischen Hauptgehäuse und einem neuen Prospektfeld geschaffen werden. Zwei Pedalladen wurden hinter dem Hauptwerk und Nebenwerk in Fußbodenhöhe aufgestellt. Diese Laden hatten die Maße von 225 × 72 Zentimeter. Die Pedalladen wurden in C- und Cis-Teilung (16′-Höhe) aufgestellt. Die Orgelanlage reichte von der Kirchenwestwand bis zur Emporenbrüstung.
Auf der ersten Empore wurde der Spieltisch aufgebaut. Dieser wurde durch eine Röhrenpneumatik mit der sich auf der zweiten Empore befindlichen Orgel verbunden. Diese Lösung wurde gewählt, damit neben dem Orgelspieler auch Chorsänger Platz fanden. Beide hätten auf der zweiten Empore keinen Platz mehr gefunden. Da der Organist die Orgel nun nicht mehr direkt hören konnte, war diese Lösung äußerst ungünstig. Auch die längere Reaktionszeit der pneumatischen Traktur wirkte sich ungünstig auf die Spielbarkeit aus. Aus diesen Gründen wurde der Chor kaum mehr von der Orgel begleitet; anspruchsvolle Darbietungen auf der Orgel waren kaum mehr möglich. Bei der Restaurierung der Kirche 1907 wurde teilweise versucht, den alten optischen Zustand der Orgel wiederherzustellen.
Die Orgel von 1896 besaß folgende Disposition:
Disposition von 1896
Anmerkungen
Material gemäß Orgelbauvertrag
Koppeln: Octavkoppel für HW (über f3 nicht ausgebaut)
Manualkoppel II/I
Pedalkoppel I/P, II/P
1 freie Kombination
4 feste Kombinationen als Tritte
System: Pneumatische Kegelladen
englisch Zinn = etwa 80 % Zinn
Probzinn = etwa 60 % Zinn
Umbau 1907
Der Orgelbauer Julius Schwarzbauer aus Mindelheim baute 1907 das Orgelwerk von Steinmeyer um. Die Teilwerke Haupt- und Nebenwerk wurden dabei auf der Empore hinter schrankartigen Holzverkleidungen links und rechts aufgestellt. Das Pedalwerk brachte man hinter den Hauptgehäusen an und baute das Nebenwerk durch einen Jalousiekasten zu einem Schwellwerk um. Schwarzbauer machte die Veränderungen am historischen Orgelgehäuse durch Steinmeyer größtenteils wieder rückgängig. Er schob die Gehäuse an die Kirchenwestwand zurück und platzierte die Teilwerksladen nahe dem Fußboden der Orgelempore. Diese neue Konstruktion verursachte allerdings weitere Probleme, da die Teilwerksladen dafür nicht geschaffen waren. Die Wartung an den Ventilen war durch den erschwerten Zugriff zu ihnen fast nicht möglich. In die Mitte der Orgelempore wurde der Spieltisch umgestellt. Damit wurde seine Entfernung zu den Manualwerken auf zehn Meter reduziert. Aber auch diese Weite sorgte für erhebliche Verzögerungen bei der Ansprache der Töne. Auch wenn man die Entstehungsepoche berücksichtigt, fehlten dem umgebauten Werk, bei dem die Disposition unverändert blieb, die Merkmale eines gediegenen Orgelbaus. Das seit 1896 leer stehende Positivgehäuse blieb auch bei diesem Umbau ungenutzt. Die barocken Prospektteile dienten nur noch als Zierde.
Orgel von 1987
Nach der Kirchensanierung von 1976 bis 1981 entschloss man sich 1987 auch die Orgel zu erneuern. Mit dem Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege in München, dem Orgelsachverständigen der Diözese Augsburg und der Gemeinde Mindelheim wurde die Übereinkunft getroffen, eine neue Orgel zu erwerben, anstatt die alte Orgel zu reparieren oder umzubauen. Die Orgelwerkstatt Rudolf Kubak aus Augsburg erhielt den Auftrag für das neue Instrument. Dabei mussten die historischen Orgelgehäuse verändert in die neue Orgel integriert werden, wobei die Bauprinzipien der früheren Orgelbauwerkstätten berücksichtigt und die Auflage der Orgeldenkmalpflege erfüllt werden sollten, die historischen Gehäuse mit den Prospektpfeifen und einen Teil der alten Steinmeyer-Pfeifen von 1896 zu erhalten. In die beiden Hauptgehäusen wurden sogenannte kombinierte Laden in C- und Cis-Teilung für das Hauptwerk und das Pedal eingebaut. Als Brüstungspositiv wurde das II. Manual konzipiert. Die Windladen wurden als Schleifladen ausgeführt und sind durch die Prospektteilung erkennbar. In alter schwäbischer Tradition wurde der Spieltisch freistehend mit dem Blick auf den Hochaltar gebaut. Die Spiel- und Registertraktur sind rein mechanisch. Bei den alten Orgelgehäusen fehlten die für den Klang wichtigen Gehäuse-Rückseiten und die Dächer. Diese waren vermutlich bei den vorhergehenden Neu- und Umbauten entfernt worden. Die Holzkonstruktionen waren darüber hinaus stark vom Holzwurm befallen. Für die Windversorgung wurde ein elektrisch betriebenes Orgelgebläse eingebaut, das komprimierte Luft über einen Holzkanal in die Bälge bläst. Drei Mehrfaltenmagazine halten frischen Orgelwind für die einzelnen Teilwerke der Orgel bereit. Die Stimmung ist gemäßigt mitteltönig. In den Laden, Trakturen, Gehäusen und Pfeifen wurden Hölzer und Legierungen nach der Praxis schwäbischer und oberschwäbischer Barockmeister verbaut. Sie genügen jedoch auch der heutigen Zeit.
Das Hauptwerk verfügt, der süddeutschen Tradition entsprechend, über einen vollständigen Principalchor. Um auch die Art eines süddeutschen Hörnle spielen zu können, wurde die Terz 13/5′ der Principalfamilie zugeführt und dadurch eine Einfärbung aller Klangstufen ermöglicht. Das klangliche Rückgrat der Orgel bildet das Hauptwerk mit seinen Principalregistern. Es bekam aus Platzgründen kein 16′-Register. Dies konnte vor allem durch die barocken Vorgängerorgeln in Oberschwaben und deren Erbauer durchgesetzt werden. Die Orgelbauer Holzhay, Freiwiß, Simnacher und andere verzichteten des Öfteren ebenso auf diese 16′-Register. Das Positiv kann gegenüber dem Hauptwerk als kleines Werk bezeichnet werden. Es übernimmt die Funktion eines Begleit- und Continuo-Instruments und besitzt die charakteristischen sogenannten schwäbischen Flöten, die färbenden Aliquoten, das engmensurierte Register Salicet und die Zungenstimme Cromorne. Die klangliche Selbständigkeit gegenüber dem Hauptwerk garantieren die Principal-4′-Basis und die 4-fache Mixtur.
Das Principal des Pedalwerks wurde auf das Hauptwerk abgestimmt und der Platz durch zwei mechanische Transmissionsvorrichtungen optimal ausgenutzt. Dabei musste man nicht auf die notwendigen Klangmöglichkeiten verzichten. Gravität verleihen dem Pedal die Zungenstimmen und die Cantus-firmus-Möglichkeiten. Das Instrument hat 27 Register und zwei Vorabzüge (1745 Pfeifen) auf zwei Manualwerken und Pedal. Der Winddruck von Hauptwerk und Pedal beträgt 70 mmWS, der Winddruck des Positivs 60 mmWS. Die Disposition lautet:
Koppeln: II/I, I/P, II/P
Glocken
Im Dachreiter über dem Chor hängen drei Glocken. Die älteste wird einem unbekannten Nürnberger Meister zugeschrieben und in das erste Viertel des 15. Jahrhunderts datiert. Sie hat einen Durchmesser von 59 Zentimetern und ist 49,5 Zentimeter hoch. Die Inschrift ist zum Teil schwer leserlich, die einzelnen Wörter sind durch Ankerkreuze und Glöckchensymbole getrennt. Die Inschrift lautet: er vnd gvt vilt dir Iaiden nev die sel von dem leib ... yt. Der Kronenbügel ist an der Vorderseite als Zopf gestaltet, die darauf sitzende Krone wurde zerstört. Die Zuschreibung erfolgte aufgrund von gleichen Schriftzeichen auf einer Glocke in Heidenheim bei Gunzenhausen aus dem Jahre 1422. Die Mindelheimer Glocke bildet damit das letzte Glied einer seit 1398 bestehenden Gruppe von Nürnberger Glocken.
Die zweite Glocke wird Gregor Löffler und Söhne aus Innsbruck zugeschrieben. Die 1555 gegossene Glocke hat einen Durchmesser von 75,5 Zentimetern und ist 62 Zentimeter hoch. Die Schulterinschrift ist zwischen Kordelstegen angebracht. Ein liegendes Weinblatt ist vor der römischen Zahl MCCCCCXXXXXV zu sehen, flankiert von einem Kreuzigungsgruppenrelief und einer Mariendarstellung. Der Schlagring besitzt drei Stege, der Kronenbügel hat einen rechteckigen Querschnitt mit gefassten Kanten. Diese sind glatt, der obere Arm horizontal, der untere eingezogen. Dass die Glocke bei den Gebrüdern Löffler aus Innsbruck gegossen wurde, ergibt sich aus dem Vergleich der Schrift und der Reliefs, die denen auf der Glocke im heutigen Sonthofener Stadtteil Margarethen von 1560 gleichen.
Die dritte Glocke ist mit Hanns Georg Riederer, Mindelheim, 1688 bezeichnet. Die mit einem Durchmesser von 55 Zentimetern und einer Höhe von 48 Zentimetern kleinste Glocke des Geläuts besitzt eine Schulterinschrift zwischen zwei doppelten Stegen. Sie lautet AVS DEM FEIR FLOS ICH HANNS GEORG RIEDERER IN MINDLHAIM GOS MICH 1688. Darunter ist ein Fries aus einem hängenden vegetabilen Ornamentmotiv zu sehen. Die Flanke ziert eine Muttergottes, der Kronenbügel trägt an der Vorderseite einen Löwenkopf.
Literatur
Weblinks
Fachinformationen des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege
Einzelnachweise
Kirchengebäude in Mindelheim
Baudenkmal in Mindelheim
Mindelheim
Mindelheim
Mindelheim
Mindelheim
Kirchengebäude in Europa
Mindelheim Maria Verkundigung |
6021776 | https://de.wikipedia.org/wiki/Eink%C3%BCchenhaus | Einküchenhaus | Das Einküchenhaus war ein Reformmodell städtischer Wohnbebauung, bei dem eine zentral bewirtschaftete Großküche innerhalb eines Mehrparteienhauses die Küchen der einzelnen Wohnungen ersetzte. Das Konzept ging zurück auf Vorstellungen der Frauenrechtlerin und Sozialdemokratin Lily Braun. Mit der Grundidee der Befreiung der Frau von der Hausarbeit war es am Anfang des 20. Jahrhunderts ein ausdrücklicher Gegenentwurf zu der im Massenwohnungsbau angelegten Etablierung der isolierten Kleinfamilie. Einküchenhäuser, manchmal auch Zentralküchenhäuser genannt, fanden bis in die 1950er Jahre vereinzelte und unterschiedlich geprägte Umsetzungen in verschiedenen europäischen Großstädten. Als Schlüsselwerke einer Idee des modernen Wohnens wurden einige dieser Bauten 2009 für die Nominierung zum Europäischen Kulturerbe (European Heritage Label) vorgeschlagen, ausdrücklich als ein über verschiedene Staaten verteiltes Netzwerk gemeinsamer europäischer Architektur.
Das Konzept des Einküchenhauses
Die grundsätzliche Idee hinter den Einküchenhäusern war die Einrichtung einer Zentralküche innerhalb eines Mehrparteienhauses oder Häuserkomplexes bei gleichzeitigem Fehlen von privaten Küchen in den einzelnen Wohnungen. Stattdessen waren diese durch einen Speiseaufzug und ein Haustelefon mit der zumeist im Keller oder Erdgeschoss liegenden Versorgungseinrichtung verbunden. Die Ausstattung bestand in vielen Fällen aus zeitgenössisch modernen Gerätschaften. Die Gemeinschaftsküche wurde durch bezahltes Personal bewirtschaftet, bei dem Mahlzeiten und Speisen bestellt werden konnten. Viele der Häuser verfügten zudem über zentrale Speisesäle, je nach Gestaltungskonzept waren die Wohnungen auch mit Anrichten und einfachen Gaskochern für Notfälle ausgestattet.
In fast allen realisierten Einküchenhäusern gab es zudem weitere Gemeinschafts- und Serviceangebote, wie zum Beispiel Dachterrassen und Wäschekeller, in manchen Fällen auch Läden, Bibliotheken und Kindergärten. Zu der Anfang des 20. Jahrhunderts neuartigen Wohnungseinrichtung gehörten Zentralheizung, Warmwasserversorgung, Müllschlucker und Zentralstaubsaugeranlagen mit häuslichem Rohrsystem, den Bewohnern standen in unterschiedlicher Weise Dienstleistungsangebote zur Verfügung.
Ursprünglich als Reformidee im Arbeiterwohnungsbau gedacht, bei der die Kosten der Gemeinschaftseinrichtungen durch Einsparungen im Wohnungszuschnitt und durch zentrale Bewirtschaftung aufgehoben würden, lagen den verwirklichten Projekten unterschiedliche Eigentums- und Organisationsformen zugrunde. Sowohl auf privatwirtschaftlicher wie auf genossenschaftlicher Basis boten Einküchenhäuser dem besser situierten Bürgertum ein alternatives Lebensmodell inmitten der Stadt. Im Gegensatz zu anderen Reformkonzepten am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, wie zum Beispiel der Gartenstadtbewegung, wurde der Zusammenhalt der Bewohner nicht durch Abschirmung, sondern durch sozialen Austausch mit der sie umgebenden städtischen Umwelt bewirkt.
Die wenigen tatsächlich ausgeführten Einküchenhäuser wurden begleitet von einer intensiven Diskursgeschichte sowohl in der Politik wie in der Architektur, doch in der Praxis scheiterten diese Zentralwirtschaftsprojekte meist schon nach kurzer Zeit. Die Wohnungen wurden dann mit Einzelküchen ausgestattet, Gemeinschaftsräume teilweise anderweitig belegt, einige Einrichtungen, wie zum Beispiel zentrale Waschküchen, aber auch beibehalten und insbesondere vom genossenschaftlichen Wohnungsbau übernommen. Äußerlich unterscheiden sie sich im Stadtbild nicht von anderen Häusern, so dass sie weitgehend als vergessene, gescheiterte Reformexperimente gelten.
Historische Voraussetzungen
Die Wohnungsfrage im 19. Jahrhundert
Während der Industrialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und dem damit einhergehenden massiven Bevölkerungszuwachs in den Städten fand ein radikaler Bruch mit den vorindustriellen Wohnweisen statt. Die in die Industriezentren ziehende Landbevölkerung verließ ihre in Großfamilien angelegten Wohn- und Versorgungsstrukturen. In den Städten stießen sie auf zunehmende räumliche, soziale und gesundheitliche Probleme, die unter dem Begriff Wohnungselend zusammengefasst wurden. Stadterweiterungen und Massenwohnungsbau wurden spekulativ über den Markt geregelt, da die gesellschaftlichen Umbrüche in eine Liberalisierung der Wirtschaftsordnung gebettet waren. Die Wohnungsknappheit und Wohnungsnot betraf fast alle Stadtbewohner, doch nahezu unlösbar schien sie für unständige, also nicht fest angestellte und den Arbeitsort häufig wechselnde, schlecht bezahlte Arbeiter und ihre Familien. Die Probleme waren Gegenstand einer steten Kritik seitens der Organisationen der Arbeiterbewegung, aber auch sozialpolitisch engagierter Verbände, Wissenschaftler und Wohnungsreformer. Die Wohnungsfrage wurde zu einem der zentralen politischen Themen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts.
Das Grundproblem bestand darin, die Diskrepanz zwischen den Wohnkosten und den Einkommen der Arbeiterschaft zu verringern. Reduziert man die Aspekte der Wohnungsfrage auf eine sozialistische und eine bürgerliche Etikettierung, unterschieden sich die Positionen schon im Ansatz. Für die Arbeiterbewegung war die Wohnungsnot eine Klassenfrage, die nicht im Kapitalismus, sondern erst mit der Aneignung der Produktionsmittel durch kollektive Wohnformen zu lösen sei. Dem gegenüber stand die Position der Wohnungs- und Sozialreformer, die ein sittliches, gesundheitliches und moralisches Problem im Wohnungselend sahen. So sollten bezahlbare und in sich abgeschlossene Kleinwohnungen geschaffen werden, in der nach bürgerlichem Vorbild eine familiäre Arbeitsteilung stattfände, nach der der Mann der Erwerbsarbeit nachgehe und die Frau für die Hausarbeit zuständig sei. Dabei kam der Wohnung zusätzlich die Funktion eines Erziehungsprogramms für das Proletariat zu:
Lösungen des Problems wurden in der Subvention von Kapitalkosten beim Wohnungsbau, der Bildung von Genossenschaften bis hin zu Mietkaufstrategien von Eigenheimen gesehen. Die Sozialdemokratie hingegen entwickelte bis weit nach der Jahrhundertwende keine eigenen Wohnkonzepte, die von der Frauenbewegung und insbesondere von Lily Braun eingebrachten Modelle zum Einküchenhaus lehnte sie ab. Nach dem Wandlungsprozess zur demokratisch-sozialistischen Reformpartei schloss sie sich den bereits entwickelten Vorgaben an, modifiziert durch die Forderung nach einer staatlichen Wohnungspolitik. In der Praxis setzte sich die abgeschlossene Wohnung für die Kleinfamilie durch, für die Zuwanderer vom Land und das Proletariat war sie mit der privaten Sphäre und der selbstbestimmten Ausstattung und Organisation die sichtbar bessere Wohnform.
Die Ideale der Utopischen Sozialisten
Eine Vorlage für das Konzept von Einküchenhäusern bot das utopische Ideal einer Gemeinschaft, die der frühsozialistische Gesellschaftstheoretiker Charles Fourier (1772–1837) mit dem Modell der Phalanstère erdacht hatte. Den Begriff schöpfte Fourier aus dem griechischen Wort Phalanx (‚Kampfeinheit‘) und dem lateinischen Monasterium (‚klösterliche Gemeinschaft‘), und ebendiese Wirtschafts- und Lebensgemeinschaften sollten, entgegen dem kapitalistischen Wirtschaftssystem, die Arbeitsteilung und Spaltung zwischen Produktion und Konsum überwinden. Die Familienhaushalte wären in Gemeinschaftshäusern mit kollektiver Infrastruktur aufgelöst, es sollte öffentliche Küchen, Speisesäle, Schulen, Festsäle, Erholungsräume, Geschäfte, Bibliotheken, Musikräume und Bereiche für Kinder und Alte geben. In den Modellen mitgedacht war die Gleichstellung der Frau und eine freie Sexualität.
Der französische Fabrikbesitzer Jean-Baptiste Godin (1817–1889), ebenfalls Anhänger des Frühsozialismus, griff Fouriers Entwurf auf und realisierte ab 1859 mit dem Familistère in der französischen Gemeinde Guise, neben seiner Eisengießerei und Ofenfabrik, eine Gemeinschaftswohnanlage. Sie bot Platz für 1500 Menschen und bestand aus drei Wohnkomplexen, Schulgebäuden, einer Kinderkrippe, einem Badehaus und einem Theater. Hinzu kamen die Gebäude des Économats, einem Wirtschaftshof mit Küchen, Sälen, Restaurants, Schankwirtschaft, Läden, Schweinestall und Hühnerhof. Im Gegensatz zu Fourier strebte Godin nicht die Auflösung der Familie an, wie er schon mit der Namensgebung nachdrücklich betonte. Theoretisch waren Frauen den Männern gleichgestellt, doch, da man ihnen die schwere und schmutzige Arbeit in der Fabrik nicht zutraute, blieben viele von ihnen ohne Arbeit. In der Folge wurden schon bald in die Wohnungen individuelle Küchen eingebaut. 1880 übertrug Godin den Gesamtkomplex einschließlich Fabrik in eine Genossenschaft, die bis 1960 bestand.
Bereits 1816 gründete der britische Unternehmer Robert Owen (1771–1858) bei seiner Baumwollspinnerei in New Lanark, Schottland, eine pädagogische Einrichtung zur Besserung seiner Angestellten, die Institution for the formation of Character. Er entwickelte dabei ein Musterkonzept für Industriedörfer, in denen Wohnungen ohne Küchen gebaut wurden. Statt derer wurde die Zubereitung von Speisen und ebenso das Essen selbst zentral und kollektiv organisiert. 1825 verkaufte Owen die Fabrik in Schottland und ging in die Vereinigten Staaten, um seine Ideen weitreichender umzusetzen. Im Staat Indiana gründete er die Siedlung New Harmony, die Platz für etwa 1000 Bewohner bot. Doch die Umsetzung scheiterte sowohl an ökonomischen Schwierigkeiten wie an personellen Problemen:
Schon drei Jahre später verkaufte Owen die Siedlung wieder. Gegner der frühsozialistischen Utopien sahen die Nicht-Machbarkeit bestätigt. Karl Marx analysierte das Scheitern der frühen sozialistischen Systeme als nicht radikal genug und zugleich zu radikal, weil sie den Sprung in einen idealen Endzustand verlangten, diesen aber inselhaft beschränkt statt gesamtgesellschaftlich dachten, sie „erblicken auf der Seite des Proletariats keine geschichtliche Selbsttätigkeit, keine ihm eigentümliche politische Bewegung.“
Die Kollektivierung der Hauswirtschaft
Trotz ihres Scheiterns hatten die Frühsozialisten erhebliche Wirkung auf die ab Mitte des 19. Jahrhunderts entstehenden Konzepte utopischer Siedlungen mit zentralisierter Hauswirtschaft und den Versuchen ihrer Umsetzung. In den USA und in Europa entwickelte sich ein Netzwerk verschiedener reformerischer und revolutionärer Richtungen, die Neuorientierung der Arbeitsteilung, der Hauswirtschaft und der Wohnformen anstrebten. Darunter waren Vertreter der Arbeiterbewegung, der sozialistischen und bürgerlichen Frauenbewegung in Deutschland, der Anarchisten, der Feministinnen und der Settlement-Bewegung in den USA, Anhänger der Architekturreform und der Gartenstadtbewegung in Großbritannien und Deutschland.
In Boston plante die Feministin Melusina Fay Peirce (1836–1923) ab 1868 eine Hausfrauen- und Produktions-Kooperative. Sie gestaltete dabei sowohl die baulichen wie die konzeptionellen Hintergründe und prägte für ihre Anlage den Begriff cooperative housekeeping. In einer auf Nachbarschaftshilfe aufgebauten Gemeinschaft von 36 um einen Hof gruppierten Häuser sollten in einer zentralen Arbeitsstätte bezahlte Dienstleistungen wie Kochen, Waschen und Nähen angeboten sowie eine kommunale Küche eingerichtet werden. Das Projekt scheiterte binnen kurzem an dem Widerstand der Ehemänner der beteiligten Frauen. Peirce entwickelte ihre Erfahrungen und Erkenntnissen weiter und veröffentlichte 1884 die Schrift Co-operative Housekeeping: How not to do it and How to do it.
Das Konzept der Haushaltskooperative wurde von der feministischen Schriftstellerin Marie Stevens Howland (1836–1921) aufgegriffen und um 1890 von Mary Coleman Stuckert weiterentwickelt, die versuchte, in Denver ein Modell städtebaulicher Reihenhäuser mit zentralen Gemeinschaftsräumen, zentraler Küche und einer kooperativen Kinderbetreuung zu etablieren. Auch die Architektin Alice Constance Austin (1868–unbekannt) orientierte sich an Peirce, als sie ab 1910 in Palmdale, Kalifornien, mit dem Projekt Llano del Rio einen kompletten städtebaulichen Plan auf kooperativer Basis mit zentralisierter Hauswirtschaft entwarf. Die Kommune bestand von 1915 bis 1918. Einfluss auf die europäische Einküchenhausbewegung wird auch der amerikanischen Schriftstellerin Charlotte Perkins Gilman (1860–1935) zugeschrieben, die um 1900 ihre radikalen Konzepte der Neuerung von Geschlechterbeziehungen, Familie und Haushalt sowohl in theoretischen Abhandlungen wie in Romanen ideenreich beschrieb.
Erste deutsche, schriftlich festgehaltene Überlegungen zur kollektiven Hausarbeit finden sich im Werk der Frauenrechtlerin Hedwig Dohm (1831–1919). In ihrer Veröffentlichung Der Jesuitismus im Hausstande von 1873 führte sie aus, dass die Hauswirtschaft aufgrund der historischen Entwicklung von Industrialisierung und Arbeitsteilung immer mehr an Inhalten verliere und die Tendenz auf Zentralisierung weise:
Auch August Bebel skizzierte in seiner als Klassiker der Emanzipationstheorie bezeichneten, 1878 herausgegebenen Schrift Die Frau und der Sozialismus ein Bild von Gesellschaft, in der der Privathaushalt aufgelöst, Essenzubereitung, Besorgung von Kleidung und Erziehung von Kindern in kollektiven Einrichtungen außerhalb von Wohnungen organisiert und der großen Verschwendung an Zeit, Kraft, Heiz- und Beleuchtungsmaterial sowie Nahrungsmitteln ein Ende bereitet werden sollte.
Als weiterer Vater der Idee des Zentralhaushaltes gilt der russische Anarchist Pjotr Alexejewitsch Kropotkin.
In der Diskursgeschichte der Einküchenhäuser wird über Jahrzehnte in verschiedenen Abhandlungen, unter anderem von Lily Braun und Henry van de Velde, auf Kropotkin Bezug genommen. Dennoch wird dieser Hintergrund vielfach nicht benannt, um „jegliche Verbindung mit der unfeinen Vergangenheit der Einküchenhäuser“ zu überspielen. Es ist vor allem Kropotkins einprägsame Kritik am Einzelhaushalt, die weit verbreitet zitiert wird:
Kropotkins Einfluss entstand nicht allein aus seinen theoretischen Ausarbeitungen, sondern auch durch seine Rolle als Mittler in verschiedenen Kreisen. So war er häufiger Gast im Chicagoer Hull House von Jane Addams, hatte Kontakte zu englischen Kunstreformern, dort traf er mit Lilly Braun zusammen, zur Deutschen Gartenstadtgesellschaft und erheblichen Einfluss auf Ebenezer Howard, dem Begründer der Letchworth Garden City.
Der Einfluss des Hull House Chicago
Einen besonderen Einfluss auf die Konzepte des Einküchenhauses hatte das 1889 von Jane Addams (1860–1935) und Ellen Gates Starr (1859–1940) gegründete Hull House in Chicago, das die amerikanische Settlement-Bewegung mitbegründete. Es handelt sich dabei um eine der ersten Einrichtungen der Gemeinwesenarbeit und stand inmitten eines Einwandererviertels. Von hier aus wurde sowohl unmittelbare Hilfe wie auch kulturelle Bildung für die in der Nachbarschaft lebenden Einwanderer und Flüchtlinge angeboten. Gleichzeitig war es ein Forschungszentrum für soziale Belange, auf deren Grundlage insbesondere Frauen sozialpolitische Reformen einforderten. Neben der Sozial- und Gemeinwesenarbeit diente das Haus sowohl Arbeiterinnen wie berufstätigen Intellektuellen, zumeist Immigrantinnen, als Unterkunft. Mit der Zielsetzung, die Lebensbedingungen der Frauen zu verbessern, richtete man eine Zentralküche ein, aus der die etwa 50 Bewohnerinnen wie auch Menschen aus der Nachbarschaft versorgt wurden. Die Frauen hatten die Wahl, das Essen in ihre Wohnungen zu bestellen oder im gemeinschaftlichen Speisesaal einzunehmen. Dieser war zugleich Treffpunkt und Ausgangspunkt für vielfältige kulturelle und politische Aktivitäten.
Das Engagement der Frauen umfasste den Kampf für bessere Arbeitsbedingungen und geregelte Löhne ebenso wie die Forderungen nach Einführung der Schulpflicht für die Kinder, wirksamen Kinderschutz und Einführung des Frauenwahlrechts. Die Hilfsangebote verstanden sich als Hilfe zur Selbsthilfe auf der Grundlage eines gegenseitigen Lernens, das insbesondere durch die verschiedenen Herkünfte und Kulturen der Frauen befruchtet wurde. Als wesentliche Erleichterung des alltäglichen Lebens, nicht nur im Hull House, sondern im gesamten Stadtviertel, konnte die Wasserversorgung über Hausleitungen und die von Jane Addams initiierte Müllabfuhrregelung angesehen werden. Nach dem Tod der Gründerin 1935 wurde das Projekt als Jane Addams Hull House Association weitergeführt, seit 1962 ist es Dachorganisation für mehrere Gemeinwesenhäuser in Chicago. Das Ursprungsgebäude wird als College für Sozialarbeit von der University of Illinois at Chicago genutzt.
Diskursgeschichte – Wohnungsreform und Frauenarbeit
Lily Braun (1865–1916), die als Mittlerin zwischen der sozialistischen und der bürgerlichen Frauenbewegung galt, brachte ab Ende des 19. Jahrhunderts in Referaten und Reden ihre Vorstellungen über die Zentralisierung der Hauswirtschaft und genossenschaftlich organisierte Einküchenhäuser ein. Sie bedachte damit sowohl die Situation der proletarischen Frauen, denen mit der Industrialisierung die außerhäusliche Fabrikarbeit aufgezwungen war, wie die der bürgerlichen Frauen, die den Zugang zur Erwerbstätigkeit anstrebten. Wirtschaftsgenossenschaften seien eine der Grundlagen für die Befreiung der Frauen, denn, schrieb sie, Kropotkin zitierend, „sie von dem Kochherd und dem Waschfaß befreien, heißt solche Einrichtungen treffen, die ihr gestatten, ihre Kinder zu erziehen und am sozialen Leben Theil zu nehmen.“
Lily Brauns Modell des Einküchenhauses
Im Jahr 1901 veröffentlichte Lily Braun die Schrift Frauenarbeit und Hauswirtschaft, in der sie ihr Modell des Einküchenhauses skizzierte. Sie berief sich in ihren Grundannahmen auf August Bebels Ausführungen zur Industrialisierung der Reproduktionsarbeit, auf Kropotkins Kritik am Einzelhaushalt und an dem Beispiel des Hull House in Chicago. Im Konkreten stellte sich Lily Braun einen Häuserkomplex inmitten eines Gartens mit 50 bis 60 Wohnungen vor, die statt einer Küche jeweils nur einen kleinen Raum mit Speiseaufzug und einen Gaskocher für Notfälle haben:
Zur Zentralküche sollten zudem Vorratsräume und Waschküche mit selbsttätigen Waschmaschinen gehören. Je nach Neigung würde das Essen in der eigenen Wohnung oder in einem gemeinsamen Speisesaal eingenommen, der zugleich als Versammlungsraum und Spielzimmer für Kinder dienen könnte. Die Haushaltung sollte unter der Regie einer bezahlten Wirtschafterin stehen, unterstützt von ein bis zwei Küchenmädchen.
Die Organisation und Finanzierung sollte über Genossenschaften und den Fonds der Arbeiterversicherungen gewährleistet werden. Braun rechnete vor, dass der Aufwand auch für Arbeiterfamilien im Bereich des Möglichen läge, da die Ersparnisse durch den Wegfall der Einzelküche, sowohl bei der Miete wie bei der Beköstigung, in die Finanzierung der Zentralküche und Gemeinschaftsräume fließen könne.
Die politische und soziale Wirkung ihres Konzeptes sah Lily Braun in mehrfacher Hinsicht als bedeutend an. Es wäre die Lösung der Wohnungsprobleme der Proletarier, durch die Befreiung der Frau von der Hausarbeit werde allgemein die Frauenemanzipation vorangetrieben und als umfassende Familien- und Lebensreform ermögliche die kollektive Wirtschaftsführung ein von Hausarbeit befreites Familienleben. Zudem wäre mit diesem Modell eine Ernährungsreform möglich, die den „schädlichen Dilettantismus in der Küche“ beende und für eine ausgewogene Ernährung sorge, und schließlich beinhalte es eine Erziehungs- und Bildungsreform, die Kindererziehung werde durch geschultes Personal verbessert:
Aber nicht nur für die proletarischen Frauen, auch für die Familien der bürgerlichen Kreise böte das Modell des Einküchenhauses Lösungen. So könnten durch die Professionalisierung von Haus- und Heimarbeit Hausfrauen- und Dienstbotenfrage gelöst werden.
Die Kritik der Sozialdemokratie
Lily Brauns Essay rief vielfachen Widerspruch hervor, ihr Modell des Einküchenhauses wurde in der Presse als „Zukunftskarnickelstall, Kasernenmassenabfütterung und verstaatlichte Mutterfreuden“ bezeichnet.
Innerhalb der Sozialdemokratie griff der Vorschlag in zwei kontrovers geführte Grundsatzdebatten ein, neben der der Wohnreform auch die des Arbeitsschutzes, die unmittelbar verbunden war mit der Frage nach der Berufstätigkeit von Frauen. In Fortführung von August Bebels Theorien um die Frauenemanzipation hatte Clara Zetkin formuliert, dass Benachteiligung nicht allein als biologisches oder rechtliches, sondern vor allem als wirtschaftliches Problem verstanden werden muss, mit der Konsequenz der Forderung des Rechts auf Arbeit für Frauen. Diese Auffassung wurde innerhalb der SPD nicht unumschränkt geteilt, vor allem männliche Genossen fürchteten die Konkurrenz durch die Vergrößerung der industriellen Reservearmee und einer damit verbundenen Lohndrückerei. Ein weiteres Gegenargument war zudem die Sorge um die zerstörerischen Folgen der Frauenarbeit für die leibliche Gesundheit von Frauen und Familien. Die Lösung dieses strittigen Problems aber war, wie auch die Wohnungsfrage, in eine unbekannte Zukunft verschoben worden, die erst nach der zu erreichenden Vergesellschaftung der Produktionsmittel gefunden werden konnte. Die SPD nahm damit eine deutliche Abgrenzung zu den „Kopfgeburten“ der utopischen Sozialisten vor. Brauns Modell des Einküchenhaus aber hole den „überwundenen Utopismus des 19. Jahrhunderts“ wieder hervor, um „die Rezepte für die Garküche der Zukunft auszuspintisieren“.
Auch die sozialdemokratische Frauenbewegung lehnte die Idee ab. Clara Zetkin unterzog den Vorschlag in mehreren Aufsätzen in der sozialdemokratischen Frauenzeitschrift Die Gleichheit einer umfassenden und vernichtenden Kritik: Die zentralisierte Hauswirtschaft sei sowohl für Massenarbeiter wie für Facharbeiter nicht realisierbar, da sie in ihren Arbeitsbedingungen den kapitalistischen Konjunkturschwankungen unterworfen seien und sich nicht längerfristig finanziell binden können. Wenn überhaupt, dann sei das Modell nur für eine Arbeiteroberschicht materiell möglich, in diesen Familienverhältnissen aber seien die Frauen eben gerade nicht berufstätig. Da für die arbeitenden Frauen der ärmeren Haushalte das Einküchenhaus nicht bezahlbar sei, hebe sich das Modell in seinen Voraussetzungen selber auf. Zudem fände in der Zentralküche die Ausbeutung der dort angestellten Wirtschafterin und Küchenmädchen statt, zumal der Personalbedarf in der Berechnung viel zu niedrig angesetzt sei. Aus alledem werde abermals deutlich, dass eine Haushaltsgenossenschaft erst eine Errungenschaft des realisierten Sozialismus sein könne. Genossin Brauns Vorschlag erwecke falsche Hoffnungen und hieße, „die Arbeiterklasse in ihrer Energie lähmen, statt sie zu stärken.“
Ab 1905 setzte sich innerhalb der Sozialdemokratie eine von Edmund Fischer formulierte Position durch, nach der auch von der Arbeiterbewegung die „Rückführung aller Frauen ins Haus“ zu fordern sei. Staatsküchen und Hauswirtschaftsgenossenschaften blieben ein utopischer Traum: „Die sogenannte Frauenemanzipation widerstrebt der weiblichen Natur und der menschlichen Natur überhaupt, ist Unnatur und daher undurchführbar.“ Diese „patriarchale Lösung“ wird in der Rückschau vielfach als Symptom für den Niedergang der offensiven Frauenbewegung innerhalb der SPD angesehen. Damit verbunden war die endgültige Ablehnung wohnkultureller Alternativen, die die Frauen von der Hausarbeit befreit hätten.
Die Kritik der Frauenbewegung
Die Vereine der Frauenbewegung, ab 1893 vereint im Bund Deutscher Frauenvereine (BDF), befassten sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts im Schwerpunkt vor allem mit Fragen der Bildung und Erwerbstätigkeit. Am Anfang des 20. Jahrhunderts jedoch trug die Diskussion den veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen Rechnung, das Gegensatzpaar Berufstätigkeit und Zölibat einerseits, lebenslängliches Nur-Hausfrauen-Dasein und Ehe andererseits war dem wachsenden Problem der Koordinierung von Haus- und Erwerbsarbeit gewichen. Zur zentralen Fragestellung wurde die Stellung von Frauen in den Familien. In dieser Diskussion griff Maria Lischnewska, die dem radikalen Flügel zugerechnet wurde, Lily Brauns Idee des Einküchenhauses auf, die außerhäusliche Erwerbsarbeit der Frau sah sie als Grundlage einer anzustrebenden partnerschaftlichen Ehe, erst die von Hausarbeit und ökonomischer Abhängigkeit befreite Frau könne Ehefrau und Mutter sein, private Hausarbeit wie auch ineffektive private Haushalte seien abzuschaffen.
Käthe Schirmacher nahm eine Gegenposition zu Lischnewska ein, indem sie die Hausarbeit als gesellschaftlich notwendige, produktive Berufsarbeit ansah und deren ökonomische, rechtliche und soziale Anerkennung sowie deren Entlohnung forderte. Auch Elly Heuss-Knapp lehnte eine „sozialistische Lösung“ der Frauenfrage ab und wandte sich gegen die Einküchenhauslösung, auch wenn sie den technischen Fortschritt und die verbesserte Infrastruktur im Haushalt begrüßte. Diese würden jedoch nicht bei der Reduzierung der Hausarbeit zu Buch schlagen, da die emotionale und geistige Beanspruchung der Hausfrau zunehme. Derartige Leistungen aber wären weder über den Markt, noch genossenschaftlich zu erbringen.
In diesem Sinne lehnte die Mehrheit der BDF-Frauen das Einküchenhaus ab. Erfolgversprechender in der Debatte um die Doppelarbeit der Frau war eine Orientierung an der Systematisierung der Arbeit im Einzelhaushalt und deren Rationalisierung durch technische Neuerungen. Ein Teil der Frauenbewegung wandte sich vor allem der Organisierung und Ausbildung der Hausfrauen zu.
Erste Realisierungsversuche
Trotz der vehementen Kritik und Ablehnung gründete Lily Braun 1903 eine Haushaltungsgenossenschaft GmbH, um damit ihre Einküchenhausidee zu verwirklichen. Der Architekt Kurt Berndt entwarf ein entsprechendes Haus für den Olivaer Platz in Berlin-Wilmersdorf, in dem rund um eine zentrale Küche „helle, luftige, einfache Wohnungen von beliebiger Größe mit Badezimmer, Gaskochgelegenheit, Zentralheizung, Gas- und elektrischer Beleuchtung sowie Personenaufzügen in dem gleichwertig ausgestatteten Vorder- und Gartenhaus“ vorgesehen waren. Doch musste das Projekt bereits 1904 wegen mangelnder Unterstützung und fehlender Finanzierung aufgegeben werden. Keine der Arbeiterorganisationen wollte zu dieser Zeit mit einem Gemeinwirtschaftsmodell experimentieren und sich dem Reformismusvorwurf aussetzen. In der Folgezeit war es die Privatwirtschaft, die die Idee aufgriff und die ersten Einküchenhäuser in Europa realisierte.
Kopenhagen 1903
Als das erste europäische Einküchenhaus gilt Centralbygningen in Frederiksberg (einer eigenen Gemeinde, die eine Enklave in Kopenhagen bildet), das der ehemalige Schuldirektor Otto Fick als Bauherr 1903 im Forchhammersvej 4-8 errichten ließ. Es wurde als „soziale Veranstaltung kleinen Stils“ bezeichnet, war erklärtermaßen für berufstätige, verheiratete Frauen eingerichtet und als Privatunternehmen organisiert, an dem sowohl Mieter wie Personal durch Einlagen und, nach der Jahresbilanz, entsprechend am Gewinn beteiligt waren. Das fünfgeschossige Mietshaus mit Drei- und Vierzimmerwohnungen, jeweils ohne Küchen, verfügte über Zentralheizung, Heißwasserleitungen und Zentralstaubsauger. Von der im Untergeschoss gelegenen Zentralküche führten elektrisch betriebene Speiseaufzüge zu Anrichteräumen in den Wohnungen, dort lagen sie hinter Tapetentüren verborgen. In der Küche angestellt waren ein Küchenleiter, fünf Gehilfinnen und ein Maschinist und Heizer.
Der Bau wurde von der deutschen Fachpresse mit Interesse aufgenommen. Das Zentralblatt der Bauverwaltung gab 1907 eine umfangreiche Beschreibung der Einrichtung und Funktionsweise heraus und stellte dazu nachdrücklich fest: „Die Wohnungen sind vollständig voneinander getrennt, […] so daß die in sich abgeschlossene kleine Welt des Familienlebens unberührt bleibt.“ Die Kulturzeitschrift Die Umschau veröffentlichte im selben Jahr einen begeisterten Bericht:
Die Zentralkücheneinrichtung in Kopenhagen bestand bis 1942.
Stockholm 1906
Nach dem Vorbild des Kopenhagener Centralbygningen errichteten die Architekten Georg Hagström und Fritiof Ekman 1906 den Komplex der Hemgården Centralkök in Stockholm-Östermalm. Es bestand aus sechzig Zwei- bis Fünfzimmerwohnungen und einer Zentralküche und Bäckerei im Erdgeschoss. Die Essensversorgung erfolgte über Speiseaufzüge, zudem bestand eine Verbindung zu den Dienstleistungseinrichtungen über ein Haustelefon. Zum Service gehörten eine Wäscherei, ein Wohnungsreinigungsdienst, eine Schuhputzerei und ein zentraler Postversand. Für das angestellte Personal waren Dienstbotenzimmer eingerichtet. Das Haus galt als eine Einrichtung für gut situierte Familien, die sich die Dienstboten teilten (auf Englisch: „collectivize the maid“). Das Einküchenhaus bestand bis 1918, anschließend wurden in die Wohnungen moderne Küchen eingebaut und die Gemeinschaftsräume in Party- und Hobby-Räume umgewandelt.
Berlin 1908 und 1909
Im Jahr 1907 gründete sich in Berlin die Zentralstelle für Einküchenhäuser G.m.b.H. aus der sich ein Jahr später die Einküchenhaus-Gesellschaft der Berliner Vororte m.b.H. (EKBV) abspaltete. Deren Programm war darauf ausgelegt, die Errichtung häuslicher Zentralwirtschaftssysteme voranzutreiben. Zu diesem Zweck brachte die Gesellschaft 1908 eine Broschüre unter dem Titel Das Einküchenhaus und seine Verwirklichung als Weg zu einer neuen Heimkultur heraus. Darin stellte sie dar, dass diese Gebäudetypen ein neues Wohnverhalten der Mieter ermöglichen und soziale Konflikte lösen sollten. Ausdrücklich griff man die bisherige Debatte um Lily Brauns Idee auf, grenzte sich aber zugleich von genossenschaftlichen Lösungsversuchen ab. Die Technifizierung und Zentralisierung der wirtschaftlich rückständigen Haushalte könne nur über eine formell kapitalistische Organisationsweise verwirklicht werden. Dabei legte die Gesellschaft Berechnungen vor, nach denen das Leben im Einküchenhaus nicht teurer sei als in einem normalen Mietshaus, „nicht gerechnet die großen idealen Werte, die gewonnen werden.“ Angesprochen waren „hauptsächlich die Angehörigen der sog. freien Berufsstände, die sich danach sehnen, aus der Wohnungsunkultur, aus der Dienstbotenkalamität herauszukommen, oder bei denen die Frau für eigene Berufstätigkeit meist auf intellektuellem oder künstlerischem Gebiet frei sein will.“
Mit den Ausbauplänen der Gesellschaft war eine Erweiterung auch auf Arbeiterkreise vorgesehen. Zudem strebte man für das Zentralwirtschaftssystem eine eigene Lebensmittel- und Landwirtschaftsgüterproduktion an, die den Einküchenhäusern trustartig angeschlossen sein sollten.
Ab dem 1. Oktober 1908 konnte das von dem Architekten Curt Jähler errichtete erste Berliner Einküchenhaus am Lietzensee in Charlottenburg an der Kuno-Fischer-Straße 13 bezogen werden. Es war ein fünfgeschossiges Wohnhaus mit einem Vorderhaus und kleinem Vorgarten, zwei Seitenflügeln und einem Quergebäude. Ausgestattet war es mit Zentralheizung und Warmwasserversorgung, die Zwei- bis Fünfzimmerwohnungen verfügten über Bäder, Anrichteräume mit Speiseaufzügen und Haustelefonen. Die Zentralküche befand sich im Untergeschoss und bestand bis 1913. Berichtet wurde, dass das Wohnen in diesem Hause für eine durchschnittliche Familie um 15 Prozent teurer gewesen sei als bei einer konventionellen Bewirtschaftung, die Kreise aber, die sich diese Kosten leisten könnten, würden schon aus Prestigegründen nicht auf ein Dienstmädchen verzichten.
Am 1. April 1909 waren die Einküchenhäuser Lichterfelde-West fertiggestellt, für deren Ausführung der Architekt Hermann Muthesius gewonnen werden konnte. Es handelte sich dabei um zwei freistehende dreigeschossige Miethäuser, ein Eckhaus an der Potsdamer Straße 59 (heute Unter den Eichen Ecke Reichensteiner Weg) mit L-förmigen Grundriss, in dem ausschließlich Dreizimmerwohnungen angelegt waren, und ein rechteckiges Haus quer zur Ziethenstraße (heute Reichensteiner Weg) mit Zwei- bis Vierzimmerwohnungen. Das Konzept war gegenüber dem Haus am Lietzensee mit einem „reicheren kulturellem Programm“ modifiziert worden. Beide Häuser verfügten über je eine Zentralküche im Keller, von der aus Speiseaufzüge die Mahlzeiten in die Wohnungen transportierten. Einen gemeinsamen Speisesaal gab es nicht. Gemeinschaftlich genutzt wurden stattdessen Dachterrassen, ein Kindergarten war angeschlossen. Die Wohnungen hatten Notküchen, eingerichtet mit Gasherden, Warmwasserleitungen und Haustelefonen. Ein großzügiges Grundstück und Vorgärten umgaben die Gesamtanlage. Die Zentralküche musste 1915 aufgegeben werden, die Häuser wurden 1969/1970 im Zuge der Verbreiterung der Straße Unter den Eichen abgerissen.
Ebenfalls zum 1. April 1909 bezugsfertig waren die Einküchenhäuser Friedenau in der Wilhelmshöher Straße 17–20. Es ist ein Gebäudekomplex des Architekten Albert Gessner, der sich aus drei Häusern zusammensetzt, zwei sind symmetrisch um einen Straßenhof mit überdachter Gartenhalle gebaut, das dritte schließt sich von der Straße wegführend an. Es sind Putzbauten mit Walmdächern, Arkaden, Loggien und Balkonen, die sich am Landhausstil anlehnen. Ausgestattet waren die Häuser mit teils offenen, teils überdachten Dachterrassen und angeschlossenen Duschräumen, einem Turnraum mit Geräten, einem Speicher für Möbel, Mottenkammern, Fahrradräumen, Dunkelkammern für Fotoarbeiten, Waschküche, Trockenböden, Bügelräumen und einer Zentralstaubsaugeranlage. Im Kellergeschoss des Hauses Nr. 18/19 lag die Zentralküche, die Essensversorgung war über insgesamt neun Speiseaufzüge vorgesehen, die in den Kellerräumen wiederum mit einer Gleisanlage verbunden waren. Zudem richtete man einen Kindergarten ein, der von einer Reformpädagogin geleitet wurde. 1917/1918 musste die Zentralküche aufgegeben werden.
Die Häuser der Wilhelmshöher Straße stehen unter Denkmalschutz. Sie werden zudem als historische Gebäude genannt, da hier in den 1930er und 1940er Jahren bis zu ihrer Verhaftung vier Mitglieder der Widerstandsgruppe der Roten Kapelle gelebt haben, in der Nr. 17 Erika Brockdorff und ihr Ehemann Cay Brockdorff, in der Nr. 19 Adam Kuckhoff und seine Frau Greta Kuckhoff.
Obwohl die Einküchenhäuser großen Anklang fanden und die Wohnungen schon vor Fertigstellung fest vermietet waren, schlug das Unternehmen fehl. Die Einküchenhaus-Gesellschaft meldete bereits im Mai 1909 Konkurs an. Als Gründe werden Organisationswiderstände und Kapitalmangel angegeben. Die Zentralküchen wurden von den Bewohnern während einer Übergangszeit in kooperativer Selbsthilfe aufrechterhalten. Positive Rezeption fanden die Häuser durch den Architekten Stefan Doernberg, der 1911 einen Aufsatz über das Einküchenhausproblem veröffentlichte. Er stellte fest, dass der Betrieb sich rentierte und der Versuch mit „kinderarmen hochgebildeten Mietern unter fachmännischer interessierter Leitung“ auf kapitalistischer Basis gelungen sei. Er schloss mit der Aufforderung, dass seine Kollegen Architekten die soziale und wirtschaftliche Bedeutung ihres Berufs erkennen und zu ähnlichen Taten schreiten mögen.
Diskursgeschichte – Gemeinwirtschaftlicher Wohnungsbau
Nach dem Ersten Weltkrieg bestimmten Knappheit und Mangel auch die Baupolitik, die Beseitigung des Massenwohnelends wurde als eine vordringliche Aufgabe angesehen. Die Bestrebungen nach Sozialisierung oder Senkung der Bodenpreise, nach Übernahme des Wohnungsbestandes in die kommunalen oder genossenschaftlichen Verwaltungen scheiterten an den brüchigen politischen Verhältnissen der jungen Weimarer Republik. Strategien der Problemlösung zur Wohnungsnot wurden vor allem in der Rationalisierung des Wohnungsbaus gesehen. Dabei stellten sich die avantgardistischen Architekten den reformerischen Programmen entgegen und strebten einen neuen Volkswohnungsbau an. Doch blieb dieser bis etwa 1924 in der Theorie und in zahlreichen Broschüren, Richtlinien und Stellungnahmen stecken, während die alten Institutionen des Wohnungsbaus bereits die zukünftige Politik des Aufbaus in den Schemen Kleinhaus und Wohnung im Grünen festlegten. Dennoch fand das Modell Einküchenhaus punktuell Eingang in die Beiträge von Gesellschaftswissenschaftlern und Architekten, insbesondere unter dem zugespitzten Gesichtspunkt der Sparsamkeit.
Ökonomiat als volkswirtschaftliches Modell
Im Jahr 1919 veröffentlichte die promovierte Volkswirtin Claire Richter eine historisch ausgearbeitete Studie unter dem Titel Das Ökonomiat. Hauswirtschaftlicher Betrieb als Selbstzweck. Mit dem Begriff Ökonomiat bezeichnete sie das Modell des Einküchenhauses, um dessen Bedeutung als Wirtschaftsform hervorzuheben. Nach einer umfassenden Darstellung der Geschichte der Zentralhauswirtschaft, von Fourier bis zur damaligen Gegenwart, befasste sie sich mit dem volkswirtschaftlichen Nutzen der weiblichen Arbeitskraft. Sie dokumentierte die enorme Verschwendung, die die privaten Haushalte aller gesellschaftlichen Schichten verursachten und angesichts wirtschaftlicher Krisen unterbunden werden müssten. Die Zentralisierung der Hauswirtschaft sah sie als gangbaren Weg, Mittel und Ressourcen zu sparen, durch den Charakter des Selbstzwecks unterscheide sie sich so von allen „Anstaltcharakter tragenden Großhaushalten wie Erziehungs- und Krankenanstalten Altersversorgungs- und Armenhäusern“. Mit ihrer Schrift wandte sie sich insbesondere an die Institutionen der Wohnungsreform, um eine „subjektive Einsicht bei den objektiv betroffenen Reformern und Unternehmern“ herzustellen.
1921 gründete Claire Richter gemeinsam mit der sozialdemokratischen Frauenrechtlerin Wally Zepler und dem Architekten Robert Adolph den Lankwitzer Verein für gemeinnützige Einküchenwirtschaft, der sich sowohl auf politischer wie auf praktischer Ebene für die Etablierung von Einküchenhäusern einsetzte. Unterstützung fand das Anliegen unter anderem bei der sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Marie Juchacz. Im Oktober 1921 organisierte der Verein in Berlin eine Kundgebung unter dem Motto Soziale Einküchenwirtschaft – eine Zeitforderung und verabschiedete eine Resolution, mit der der Bau gemeinnütziger Einküchenhäuser im Rahmen des staatlichen Wohnungsbaus gefordert wurde. Darin wurde festgestellt,
Der Verein arbeitete zudem ein Projekt für ein Gelände am Lankwitzer Stadtpark aus, bei dem für 42 Einfamilienhäuser die Einzelküchen durch eine Zentralküche ersetzt werden und eine horizontale Hängetransportanlage die Verbindungen herstellen sollte. Die Organisation sowohl der Verwaltung wie der Führung der Küche war als Genossenschaft gedacht. Dies war das erste Einküchenhaus-Modell in Einfamilienbauweise. Es kam nicht zur Ausführung, Gründe dafür sind nicht dokumentiert.
Reformkonzepte der Architektur
Nur punktuell fand das Modell des Einküchenhauses Eingang in die Strategien der Stadtplanung der 1920er Jahre, während im Siedlungsbau die Einrichtung umfangreicher Infrastrukturen wie Waschhäuser und Läden voranschritt. Die Architekten Peter Behrens und Heinrich de Fries stellten fest, dass neben der Baurationalität die „Rationalität der Organisation des Gemeinschaftslebens“ am besten im System der Einküchenhäuser zu verwirklichen sei, doch fand dieser Gedanke keine Umsetzung von ihnen. Hermann Muthesius, der 1908 für die Einküchenhaus-Gesellschaft der Berliner Vororte das entsprechende Gebäude in Berlin-Lichterfelde errichtet hatte, lehnt die Idee als Notbehelf nunmehr ab. Der österreichische Architekt Oskar Wlach setzte sich für die Realisierung von Einküchenhäusern ein. Er sah darin die Entwicklung einer neuen Wohnform, die zwischen der Einzelwirtschaft in einem Mietshaus und der kommunalen Betreuung in Heimunterkünften liegt: „Diese Mitteltype hat die Individualisierung im Eigenheim mit der Ökonomie einer vereinheitlichten Bewirtschaft und den Annahmlichkeiten gemeinsamer Tagträume zu verbinden.“ Auch Henry van de Velde war ein Befürworter der Zentralküche, architektonisch stände diese ohnehin im typologischen Kontext des städtischen Mietshauses, da dessen Aussehen nicht von der Küche beeinflusst sei. Doch das Einküchenhaus trage den Keim einer vollständigeren Gemeinschaft in sich, „denn wir werden uns nicht lange mit dem Haus begnügen, in dem nur die Küche gemeinschaftlich ist“.
Der Architekt und Stadtplaner Fritz Schumacher, ab 1908 Baudirektor und von 1923 bis 1933 Oberbaudirektor in Hamburg, hatte sich bereits 1909 intensiv mit dem Für und Wider des Einküchenhauses auseinandergesetzt. Er sah darin die Möglichkeit des Fortschritts in der Großstadtkultur und insbesondere für die Emanzipationsbestrebungen der Frauen. Seine fürsprechenden Argumente waren die Einsparmöglichkeiten in der Raumgestaltung, die Förderung geistiger Interessen der von der Kleinarbeit entlasteten Frauen, die Befreiung des Kochberufs vom Dienstbotencharakter und die Verbesserung der Esskultur durch Fachkräfte. Als Gegenargumente führte er den Verlust der Individualität an, den Verlust des materiellen und ideellen Rückhalts im Haushalt, insbesondere wenn die Frau nicht berufstätig ist, und die steigende Entwertung des Eigenheims. Überliefert ist zudem die etwas anekdotenhafte Bemerkung Schumachers, zu bedauern sei „der Wegfall des Privilegs mancher Hausherren, mit der Ehefrau ein kochendes Sondertalent im Hause zu haben“. 1921 versuchte Schumacher seine Vorstellungen von Einküchenhäusern bei Bau der Dulsberg-Siedlung in Hamburg umzusetzen, scheiterte aber an den Widerständen des Senats.
Die Rationalisierung der Hauswirtschaft
Ab Mitte der 1920er Jahre wurde die Diskussion um das Einküchenhaus eingeholt von der Rationalisierung der Einzelhaushalte und insbesondere der Standardisierung der Küchen. Ein großer Erfolg der Frauenbewegung war die direkte Einbeziehung von Frauenorganisationen in Institutionen des Wohnungsbaus. Als eines der wirkungsvollsten Projekte der Zeit galt die Reichsforschungsgesellschaft für Wirtschaftlichkeit im Bau- und Wohnungswesen, initiiert von der Reichstagsabgeordneten Marie-Elisabeth Lüders. Gefördert wurden Versuchssiedlungen der Klassischen Moderne wie Stuttgart-Weißenhof, Dessau-Törten und Frankfurt-Praunheim, die unter den Aspekten von Hauswirtschafts- und Familientauglichkeit von Architekten, Ingenieuren und Vertreterinnen der Hausfrauenverbänden untersucht wurden. Die „Befreiung der Frau vom Küchenmief“ verlagerte sich in die Ausgestaltung der modernen Küchen nach den Grundsätzen einer rationellen Hauswirtschaft. Dabei wurden Grundriss und Einrichtung unter dem Gesichtspunkt der reibungslosen Arbeitsabläufe ausgewählt, als Urtyp gilt die 1926 von der Wiener Architektin Margarete Schütte-Lihotzky entwickelte Frankfurter Küche.
Die Stärken der Rationalisierung der Einzelhaushalte gegenüber der Zentralisierung der Hauswirtschaft führte Schütte-Lihotzky in einem Aufsatz von 1927 aus: Das Konzept des Einküchenhauses kranke daran, dass eine stabile Lebenshaltung der Bewohner die Voraussetzung sei, da die Finanzierungsanteile für Zentralküche, Zentralheizung und weitere gemeinschaftliche Einrichtungen unter allen Umständen aufgebracht werden müsse, aber von denjenigen, die binnen kurzer Zeit arbeitslos werden können, nicht gewährleistet wird.
Die Umorientierung auf das Rationalisierungskonzept geschah umfassend und schnell, die standardisierte Küche hatte nicht nur den Vorteil der optimierten Arbeitsabläufe, die eine Haushaltsführung nach wirtschaftlichen Grundsätzen ermöglichte, sondern konnte im Massenbau kostengünstig umgesetzt werden. Das Modell des Einküchenhauses war diesem Konzept unterlegen und galt sowohl im genossenschaftlichen wie im Massenwohnungsbau als gescheitert. „In den Montageketten des Zeilenbaus und in den Anspruch (übergeordneter) Funktionalität der Form der Standardwohnung, ist verschwunden, was wir als soziales Leben und sozialen Raum in den Höfen, Galerien, Bewohnerversammlungen, Speisen- und Lesesälen der Einküchenhäuser kennengelernt haben. Dieses soziale Leben fällt nun unter Verschwendung.“
Genossenschaftliche Einküchenhäuser
Letchworth 1909
Die Gartenstadtbewegung war zugleich Parallele wie Gegenkonzept zum städtischen Einküchenhaus, in dem sie die „ideale Gemeinschaft“ außerhalb der Städte anstrebte. Gemeinsam ist beiden Reformkonzepten die Sicht auf die Architektur: eine anders gebaute Umwelt werde anderes soziales Verhalten prägen. Doch im Unterschied zum Ziel der Schaffung eines Eigenheims innerhalb der Gartenstadt, stand das Einküchenmodell der Bildung von Individualbesitz am Kleinhaus entgegen. Dennoch plante Ebenezer Howard innerhalb von Letchworth Garden City, der ersten realisierten Gartenstadt in Europa, den Bau eines Einküchenhauskomplexes. Unter der Leitung des Architekten Clapham Lander entstand in den Jahren 1909/1910 die Kooperative Homesgarth (heute Solershot House), ein Komplex zwei- bis dreigeschossiger Häuser mit 24 Wohnungen ohne Einzelküchen, in dessen Mitte ein Gemeinschaftsbereich mit Zentralküche, Esssaal und Aufenthaltsräumen angelegt war. Es sollte ein um einen Hof gelegener geschlossener Block werden, das Projekt wurde jedoch nur zur Hälfte realisiert.
Organisiert war das Haus auf genossenschaftlicher Basis. Der Einkauf von Lebensmitteln und Brennmaterial wurde gemeinschaftlich vorgenommen, die Kosten für die Zentraleinrichtungen so wie für das Küchen- und Dienstpersonal auf die Bewohner umgelegt. Obwohl man sich von den Frühsozialisten abgrenzen wollte und einen Ausgleich zwischen kollektiven und familiären Belangen suchte, wurde Homesgarth vielfach mit den kommunitären Experimenten Fouriers verglichen.
Zürich 1916
Ein als Einküchenhaus geplantes, aber in letzter Konsequenz nicht ausgeführtes Projekt ist das sogenannte Amerikanerhaus in Zürich an der Idastrasse. Der Sozialreformer Oskar Schwank gründete 1915 die Wohn- und Speisehausgenossenschaft und ließ 1916 das Gemeinschaftshaus in Anlehnung an Godins Familistère in Guise bauen. Neben der Zentralküche und dem Speisesaal im Erdgeschoss waren im Innenraum, rund um einen Hof, über die Stockwerke Laubengänge angelegt. Im Laufe des Baugenehmigungsverfahrens aber musste Schwank die Pläne ändern, in den Wohnungen Einzelküchen einrichten lassen und die Zentralküche zu einem Restaurant umfunktionieren. Dennoch galt es aufgrund seiner Bauweise bis in die 1940er Jahre als Kollektivmodell, da die breiten Laubengänge, der Hof und das Restaurant, Ämtlerhalle genannt, für die kommunikativen Aktivitäten der Bewohner genutzt wurden. Das Gemeinschaftsleben in diesem Haus ist 1976 von dem Sozialwissenschaftler Peter Trösch durch Bewohnerbefragungen untersucht und veröffentlicht worden. Dies gilt als beachtenswert, da es eines der wenigen Zeugnisse vom Alltagsleben in kollektiven Einrichtungen der 1920er Jahre ist. Als Thema nur angerissen ist dabei der Aspekt der Wirkung der Architektur: „Wenn das Haus ein Gemeinschafts- und produktives Kommunikationsgefühl unter den Bewohnern aufkommen ließ, […] so lag das sicherlich an der Bauart, die, anders als beim Kopenhagener Haus, dem Typus des Laubengang-Innenhofhauses folgte.“ Das Gebäude selbst blieb nach der Fertigstellung im genossenschaftlichen Besitz der am Bau beteiligten Handwerker. 1946 ging es als Ämtlerhalle AG in das Eigentum der Zürcher Löwenbräu über, seit 1992 steht es unter Denkschutz.
Berlin 1921
Nach dem 1. Weltkrieg baute die Freireligiöse Gemeinde Berlin ein Einküchenhaus in der Pappelallee 15 im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg. Es diente Kriegsversehrten die nicht für sich selbst sorgen konnten, als Heimstatt. Der Sozialbau war zur Straßenfront nicht als Wohnheim erkennbar. Die Küche war als Großküche gebaut; im Wohnheim gab es einen Essensaufzug zur Verteilung des Essens in die Geschosse. Später entwickelten sich die Wohneinheiten in normale Wohnungen.
Hamburg 1921
Der Dulsberg war ehemaliges Ackerland im Nordosten Hamburgs, das ab etwa 1910 für die stadterweiternde Bebauung vorgesehen war. Ab 1919 wurde diese mit einem reformierten Bebauungsplan unter der Leitung des Stadtbaudirektors Fritz Schumacher umgesetzt. Der erste realisierte Wohnblock umfasste die sogenannte Dulsberg-Siedlung, Bauherr war die Stadt, vertreten durch die Baudeputation. Schumacher konzipierte diese zehn Wohnblöcke zunächst als Einküchenhäuser, vorgesehen war in jedem Block „eine kleine Wirtschaft“ für die gemeinsame Versorgung. Diese sollte entweder genossenschaftlich oder als freies Unternehmen geführt werden. Die Senats- und Bürgerschaftskommission für Wohnungsfragen lehnten den Vorschlag jedoch ab:
Schumacher konnte eine ansatzweise Umsetzung der Pläne nur für einen der insgesamt zehn Blöcke umfassenden Siedlung durchsetzen. Im östlichen Abschnitt zwischen Elsässer Straße 8–10 und Memeler Straße wurde 1921 mit einem dreigeschossigen Backsteinbau ein Ledigenheim mit Zentralküche und Wirtschaftsräumen konzipiert. Die Grundidee des Einküchenhauses, die Auflösung des herkömmlichen Haushalts zugunsten einer kollektiven Wirtschaftsform, aber war damit nicht erreicht. Das Haus wurde einige Jahre als Studentenwohnheim genutzt, anschließend zu einem normalen Wohnhaus mit Einzelküchen umgebaut.
Wien 1923
Der Heimhof an der Pilgerimgasse in Wien gilt als eines der bekanntesten Einküchenhäuser. Er wurde in den Jahren 1921 bis 1923, als Projekt des kommunalen Wohnungsbaus des Roten Wiens, nach Plänen des Architekten Otto Polak-Hellwig errichtet. Bauträger war die Gemeinnützigen Bau- und Wohnungsgenossenschaft Heimhof, die auf eine Initiative der Sozialreformerin Auguste Fickerts zurückging und bereits seit 1911 ein Haus für alleinstehende, erwerbstätige Frauen betrieb. Der Kern der Anlage war ein dreigeschossiger Trakt in der Pilgerimgasse, mit 24 Kleinwohnungen für Ehepaare und Familien, in denen beide Partner einem Beruf nachgingen. Die zentrale Küche und ein gemeinsamer Speisesaal bildeten das Herzstück der Anlage. Von hier aus führten Speiseaufzüge zu den Wohnungen, die statt mit Einzelküchen mit sogenannten Wirtschaftsnischen ausgestattet waren, in denen die Zubereitung kleinerer Speisen möglich war. Die Angestellten der Zentralhauswirtschaft waren Gemeindebedienstete, die auch die Säuberung der Wohnungen und die Besorgung der Wäsche übernahmen. Dazu war eine Wäscherei im Untergeschoss eingerichtet. Weitere Kollektiveinrichtungen waren Lesestuben, Warmwasserbäder, Dachgarten und Sonnenterrassen. Die Versorgung und Betreuung der Kinder während der Arbeitszeiten der Eltern wurde als „ausgezeichnet“ beschrieben.
1924 geriet die Genossenschaft in finanzielle Schwierigkeiten, die Gemeinde Wien übernahm das Haus in ihr Eigentum, die Verwaltung blieb bei der Genossenschaft. Nach Plänen des Architekten Carl Witzmann wurde der Heimhof 1925 von einem freistehenden Gebäude zu einem geschlossenen Block mit insgesamt 352 Wohnungen erweitert. Den Kindergarten integrierte man im Blockinneren. Während seiner Bestehenszeit erfuhr der Heimhof sehr unterschiedliche Kritiken, so wurde 1923 auf einer Wiener Gemeinderatssitzung geäußert:
Hingegen begrüßte eine Architekturzeitung aus dem Jahr 1924, nach einer sehr ausführlichen positiven Beschreibung, das Projekt als zukunftsweisend:
Doch auch in Wien blieb das Einküchenhaus ein isoliertes Experiment. Bereits 1934, zu Beginn des Austrofaschismus, wurde die zentrale Küchenbewirtschaftung aufgehoben. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1938 kam es zur endgültigen Auflösung der Genossenschaft und deren Gemeineinrichtungen. Die Wohnungen stattete man nun mit kleinen Küchen und Bädern aus, ohne die Infrastruktur verloren sie ihre Attraktivität, wurden als Notunterkünfte genutzt und verwahrlosten. In den 1990er Jahren fand eine umfassende Renovierung des Heimhofs statt. Geblieben ist von dem Haus ein Stummfilm des österreichischen Regisseurs Leopold Niernberger aus dem Jahr 1922 mit dem Titel Das Einküchenhaus. Er erzählt die Geschichte einer berufstätigen Mutter, die die Vorzüge des Heimhofes kennen und schätzen lernt.
Seit 2021 erforscht das neu gegründete interdisziplinäre Forschungskollektiv „Einküchenhaus. Verein zur Erforschung emanzipatorischer Wohnmodelle“ basierend auf den beiden Wiener Einküchenhäuser die Potenziale und Grenzen (internationaler) historischer, kollektiver Wohnbaukonzepte und stellt Bezüge zum aktuellen Wohnbaudiskurs her.
Amsterdam 1928
Wenig Beachtung im deutschsprachigen Diskurs um gemeinwirtschaftlichen Wohnungsbau oder moderne Architektur fand Het Nieuwe Huis in Amsterdam, das 1927/28 nach einem Entwurf des Architekten Barend van den Nieuwen Amstel (1883–1957) im Stil der expressionistischen Amsterdamer Schule errichtet wurde. Seine Entstehung geht auf die Organisation Amsterdamsche Coöperatieve Keuken (ACK) zurück, die bereits seit 1912 bei der Wohnungsbaugenossenschaft Samenleving den Bau eines Einküchenhauses für Alleinstehende und kleine Familien anregte. Im Zuge einer ab 1917 umgesetzten Stadterweiterung übernahm die von Gemeinde- und Staatsbeamten gegründete Genossenschaft Samenleving die Bebauung von sieben Häuserblöcken am Roelof Hartplein, wo schließlich das in Zusammenarbeit mit der ACK projektierte Het Nieuwe Huis entstand. Während die Vermietung in der Händen von Samenleving blieb, gründete man für den Betrieb des Hauses die heute noch bestehende Coöperatieve Woonvereniging Het Nieuwe Huis.
Neben den ursprünglich 169 Appartements und dem Restaurant verfügte das Gebäude über eine Bibliothek mit Lesesaal, ein Postamt, vier Ladengeschäfte im Erdgeschoss, Dachterrassen, Haustelefonanlage, Speiseaufzüge sowie eine Fahrradstation im Keller. Den Bewohnern standen Dienstleistungsangebote zur Verfügung, darunter die Erledigung von Hausarbeiten und Besorgung von Einkäufen. In den Anfangsjahren waren dafür 35 Mitarbeiter mit eigener Direktion im Haus beschäftigt. Im Gegensatz zu den vorher bestehenden, nach Geschlechtern getrennten, Arbeiter- oder Frauenheimen (niederländisch tehuizen), stellte Het Nieuwe Huis durch seinen gemischten Charakter in Amsterdam ein Novum dar, was dem Haus auch die spöttische Bezeichnung De Laatste Kans (deutsch Die letzte Chance) einbrachte.
Die Kosten für die Zentraleinrichtungen und das Dienstpersonal wurde auf die Bewohner verteilt, dadurch war die Miete letztlich höher als ursprünglich vorgesehen. Auch die Verteilung der Mahlzeiten erwies sich als problematisch. 1937 fanden unter Beteiligung des Architekten van den Nieuwen Amstel einige Umbauten statt, bei denen unter anderem die im Dachgeschoss gelegene Küche durch 19 zusätzliche Wohnungen ersetzt und in das Erdgeschoss verlegt wurde. Seitdem verfügt der weitgehend im Originalzustand erhalten gebliebene Komplex über 188 Appartements. 2004 wurde das Gebäude als Rijksmonument unter Denkmalschutz gestellt.
Diskursgeschichte – Neues Bauen und Funktionalismus
Mit der erfolgreichen Verbreitung des Siedlungsbaus, der Konzipierung von großangelegten Wohnungsbauprogrammen wie das Neue Frankfurt und der Errichtung von Wohnstätten wie die Hufeisensiedlung in Berlin-Britz, die Jarrestadt in Hamburg-Winterhude oder der Karl-Marx-Hof im Wiener Bezirk Döbling, schien die Geschichte des Einküchenhauses als Alternative zur Kleinwohnung beendet. Doch fand das Modell ab Ende der 1920er Jahre Aufnahme in den funktionalistischen Richtungen des Neuen Bauens. Neuartige Wohnformen für den soziologisch beschriebenen Typus des modernen Großstadtmenschen fanden ihre Entsprechung in Wohnbauten mit Apartments und Split-level-Wohnungen, deren Räume auf verschiedenen Ebenen und um halbe Etagen versetzt angeordnet sind. In den dem Einküchenhaus folgenden Formen wurden diese zu Service-Einrichtungen, die Gemeinschaftsflächen ersetzten zentrale Restaurants als Begegnungsbereiche.
Der ideologische Hintergrund unterschied sich weitreichend, sowohl zu seinen Vorgängern wie untereinander. So war das Narkomfin in Moskau als Kommunehaus für eine sozialistische Lebensweise angelegt, das Ledigenheim der Werkbundsiedlung Breslau ein architektonisches Ausstellungsstück, das Boardinghouse des Westens in Hamburg ein gewinnorientiertes Mietshaus, das Kollektivhuset in Stockholm ein soziologisches Projekt und das Londoner Isokon Building ein Experiment für kollektives Wohnen.
Die konzeptionelle Debatte in der Nachfolge um Zentralküchen und Gemeinschaftseinrichtungen nahm Walter Gropius während des Congrès International d’Architecture Moderne (CIAM) in Frankfurt 1929 und nachfolgend in Brüssel 1930 wieder auf. Auf beiden Kongressen stellte er sein Konzept des Wohnhochhauses den Siedlungs- und Kleinhausbauten entgegen und begründete dies damit, dass eine vernünftige Stadtentwicklung nicht denkbar sei, wenn alle Bewohner im Eigenheim mit Garten wohnten:
Neben den städtebaulichen und architektonischen Ausarbeitungen stellte Gropius auch gesellschaftspolitische Grundannahmen vor. Die Entlastung von der Hausarbeit sei die Voraussetzung für persönliche Selbstständigkeit, entsprechend gelte insbesondere für die Frauen nach der Auflösung der Großfamilie der Großhaushalt als erstrebenswertes Ziel. Der Staat übernehme die aus der Familie vertriebenen früheren Funktionen, indem er Kinderheime, Schulen, Altersheime und Krankenhäuser zentral organisiere. Die restlichen Kleinfamilienfunktionen könnten, unter Zuhilfenahme weitgehender Mechanisierung der Wohnungsbewirtschaftung und der Zentralisierung zum Großhaushalt, im Wohnhochhaus beherbergt werden.
1931 legte Walter Gropius seinen Entwurf für die Wohnhochhäuser am Wannsee vor, eine Planung von fünfzehn elfgeschossigen Häusern im Stahlskelettbau mit insgesamt 660 Wohnungen, die einer Vielzahl von Familien auf einem relativ kleinen Streifen Land eine „Wohnung im Grünen“ mit Ausblick über Havel und Wannsee bieten sollten. Die Wohnungen selbst wären mit kleinen Funktionsküchen eingerichtet, die Gemeinschaftseinrichtungen benannte Gropius als Café und Gesellschaftsraum mit Dachterrasse, Bibliothek und Leseraum, Sport- und Baderaum. Eine Verwirklichung des Projekts scheiterte sowohl an der Weltwirtschaftskrise wie an den damaligen deutschen Baugesetzen. Der in den 1960er Jahren in Deutschland betriebene Wohnhochhausbau hingegen wird als leere Formhülse des Gropius-Konzepts bezeichnet.
Umsetzungen durch das Neue Bauen
Moskau 1928
Das Narkomfin ist ein sechsstöckiger Wohnblock in Moskau, gebaut zwischen 1928 und 1932 als Kommunehaus für die Beamten des Finanzministeriums. Die Architekten Moissei Ginsburg und Ingnatij Milinis entwarfen das Gebäude im Rahmen des staatlich geförderten Experimentalbauprogramms. Unterstützt wurde ihr Projekt durch die Farbgestaltung des deutschen Bauhausavangardisten Hinnerk Scheper. Es war ausgerichtet auf eine neue Art des Wohnens der Sowjetbürger, die Gleichberechtigung und Kollektivität fördern sollte und nur einen kleinen Rückzugsraum für persönliche Bedürfnisse vorsah. Entsprechend waren im Haus Wohnungstypen mit „minimaler Individual- und maximaler Gemeinschaftsfläche“ angelegt, zum einen Wohnungen von bis zu 100 m² auf einer Ebene, zum anderen 37 m² große Split-level-Einheiten, die sich über zwei Stockwerke erschlossen. Statt eigener Küchen standen Etagenküchen sowie eine Zentralküche zur Verfügung. Diese lag neben weiteren Gemeinschaftseinrichtungen wie Sportsaal, Waschhaus und Bibliothek in einem Zusatzblock, erschlossen durch eine hausinterne „gläserne Straße“. Auf dem Dach des Komplexes befanden sich ein Garten und Sonnenterrassen, zudem war ein Penthouse aufgesetzt, das der damalige sowjetische Finanzminister Nikolai Miljutin bewohnte.
Das Gebäude gilt als richtungsweisend für den sowjetischen Konstruktivismus. Ein geplanter zugehöriger zweiter Wohnblock und ein Kindergarten kamen jedoch nicht mehr zur Ausführung. 1932 verfügte Stalin den
Zusammenschluss von Architekten in einer Dachorganisation. Die russische Avantgarde, die bis dato als künstlerischer Ausdruck der Revolution galt, wurde nicht zugelassen und mit Bauverboten belegt: visionäre Bauexperimente wurden als Verschwendung angesehen und brächten keinen Gewinn für die Kommunalka. Die Gemeinschaftseinrichtungen des Narkomfin unterlagen einer Umnutzung, das Gebäude zerfällt seither. Im Jahr 2006 nahm es der World Monuments Fund auf die Liste der gefährdeten Bauten, internationale Denkmalschützer setzen sich für seinen Erhalt ein.
Breslau 1929
Das Ledigenheim, Haus 31 der Werkbundsiedlung Breslau, war eines von 37 Projekthäusern, die 1929 im Rahmen der Werkbundausstellung Wohnung und Werkraum errichtet wurden. Geschaffen von dem Architekten Hans Scharoun, umfasste es 66 mit Minimalküchen ausgestattete Split-level-Wohnungen, Gemeinschaftsflächen und ein zentrales Restaurant. Ausgerichtet war es auf den „nomadisierenden Großstadtmenschen“, Ledige oder Ehepaare ohne Kinder, und bot hotelartigen Service für die vorübergehende Bleibe des „Weltbürgertums“. Der Panzerkreuzer Scharoun, wie das Haus auch spöttisch genannt wurde, galt als erster Bau mit Wohnungen über zwei Ebenen, der zudem Einfluss nahm auf Moisei Ginzburgs Ausführungen beim Narkomfin in Moskau. Das Haus wurde später zum Park Hotel Scharoun umgebaut.
Altona 1930
Das Boardinghaus des Westens am Schulterblatt im heutigen Hamburg-Sternschanze entstand 1930 in der damals selbständigen Stadt Altona auf einem Grenzgrundstück zu Hamburg. Es ist ein sechsstöckiges Gebäude mit streng gegliederter Fassade und einem den Gehweg überkragenden turmartigen Erkervorbau und wurde von der Architektengemeinschaft Rudolf Klophaus, August Schoch und Erich zu Putlitz als Einküchenhaus gebaut. Der Eigentümer C. Hinrichsen strebte allerdings nicht das gemeinschaftliche Zusammenleben der Mieter an, sondern das individuelle Wohnen mit dem Service eines Hotels. Die Wohnungen waren verschiedener Größe und ohne Küchen, sie konnten mit und ohne Bedienung oder Reinigung auf längere oder kürzere Zeit gemietet werden. Im Erdgeschoss befanden sich Restaurants und Läden. Die Wohnform galt als mondän und teuer, sie scheiterte binnen weniger Jahre. Bereits 1933 wurden Kleinwohnungen eingerichtet, 1941 erfolgte eine Umwandlung zum Verwaltungsgebäude.
Stockholm 1935
Das Kollektivhuset in Stockholm ist als sechsgeschossiger Bau des Funktionalismus zwischen 1932 und 1935 von dem Architekten Sven Markelius errichtet worden. Die fünfzig Wohnungen waren klein und ohne Küchen, der Schwerpunkt lag auf den Gemeinschaftseinrichtungen von Zentralküche, Speiseraum, Kindergarten und Dachterrasse. Alltagsarbeiten wurden durch Speiseaufzüge, Abwurfkanäle für Schmutzwäsche und Reinigungsservice erleichtert. Das Kollektivleben der berufstätigen Ehepaare und Familien, die der schwedischen intellektuellen Elite angehörten, erfuhr als Pilot-Wohnprojekt des schwedischen Wohlfahrtsstaats verstärkt öffentliche Aufmerksamkeit. Die Kinderbetreuung unterlag dem antiautoritären Erziehungskonzept der Soziologin Alva Myrdal und wurde durch pädagogische Untersuchungen und Studien begleitet. Nach zehn Jahren galt das Projekt als gescheitert, da die Gemeinschaft sich zerstritten hatte.
London 1933
Das Isokon Building des Architekten Wells Coates in London gilt ebenfalls als Experiment des kollektiven Wohnens. Initiiert wurde es durch das Ehepaar Molly und Jack Pritchard, die zugleich Bauherren und Bewohner des Hauses waren. Es umfasste 34 Wohnungen, ausgestattet mit kleinen Teeküchen. Die Versorgung erfolgte in der Hauptsache über eine Zentralküche, die mit einer „stummer Diener“ genannten Transporteinrichtung mit den einzelnen Einheiten verbunden war. Zudem gab es einen organisierten Reinigungs-, Wäsche- und Schuhputzservice. Die Bewohner galten als linke Intellektuelle, unter ihnen waren zeitweise Marcel Breuer, Agatha Christie, Walter Gropius, László Moholy-Nagy, Michael Rachlis und James Stirling. Weiterhin zeitweise Adrian Stokes, Henry Moore sowie die kommunistischen Agenten Arnold Deutsch und Melita Norwood. 1972 wurde das Haus verkauft und verfiel, im Jahr 2003 konnte es als Architekturdenkmal gerettet und als Apartmentanlage restauriert werden. Es wird seither von beruflichen Spezialisten („key workers“) des öffentlichen Dienstes bewohnt.
Weiterentwicklung in den Unités d’Habitation
Ab 1922 arbeitete der französische Architekt Le Corbusier an Konzepten und Plänen von Großwohneinheiten, die er mit Immeubles-Villas als Gebäude-Stadt bezeichnete. Er sah darin ausdrücklich Gegenstücke zum „sklavischen Individualismus“ und der „Zerstörung des Gemeinsinns“ durch die englische und deutsche Gartenstadtbewegung und beschrieb sie als „hundert Villen, in fünf Lagen übereinander geschichtet“. Die einzelnen Einheiten sollten doppelstöckig sein, hätten Gärten, aber keine Küchen. Die gewöhnlichen Dienstleistungen wären wie ein Hotel organisiert, technische Einrichtungen wie Heißwasserleitungen, Zentralheizung, Kühlung, Staubsauger und Trinkwasserreinigung ersetzten die menschliche Arbeitskraft. Die Dienstboten kämen herein wie in eine Fabrik, um ihre Acht-Stunden-Arbeit zu verrichten.
In der Weiterentwicklung entwarf Le Corbusier ab 1930 mit der Ville Radieuse, der vertikalen Stadt, unter Bezugnahme auf das russische Narkomfin-Gebäude. Die Großgebäude enthielten das Konzept eines funktionellen Stadtsystems, gegliedert in Nutzungszonen mit Wohn-, Produktions-, Transport- und Versorgungsbereichen, mit hängenden Gärten begrünt und einer Zentralisierung von Dienstleistung und Hauswirtschaft.
Eine teilweise Umsetzung fanden Le Corbusiers Konzepte in den Unités d’Habitation, die zwischen 1947 und 1964 in den vier französischen Städten Marseille, Nantes, Briey und Firminy sowie in Berlin realisiert wurden. Es handelt sich um 17- bis 18-geschossige Hochhäuser im Stahlbeton-Skelettbau mit jeweils mehr als dreihundert Wohnungen. Geplant waren für alle fünf Projekte umfassende infrastrukturelle und kulturelle Einrichtungen wie Kindergärten, Dachterrassen mit Schwimmbassins, Trainingsbahnen und Aussichtstürme, Sportsäle, Unterrichtsräume, Studiobühnen, Freilichttheater, Restaurants und Bars. Auf halber Höhe der Gebäude, im siebten und achten Stockwerk, waren als „rue intérieure“ bezeichnete interne Straßen mit Ladenzeilen und Dienstleistungseinrichten geplant. In diesem Umfang wurde nur die Cité radieuse 1947 in Marseille verwirklicht. Die weiteren vier Gebäude mussten aufgrund von Finanzierungsproblemen Abstriche machen. So sind im Berliner Corbusierhaus unter anderem die gemeinschaftlichen Dacheinrichtungen den technischen Aufbauten der Fahrstühle und Lüftungsanlagen gewichen, die Dachfläche steht den Bewohnern nicht zur Verfügung.
Im Gegensatz zur Planung waren die Wohneinheiten der Unité d’Habitation mit Küchen ausgestattet. Le Corbusier verließ bei der Realisierung das ursprünglich als Eingriff in die gesellschaftliche Entwicklung gedachte Konzept. Statt neuer sozialer Inhalte in der Wohnform wurden die Großwohnanlagen zu abstrakten Organisationsschemen einer funktionellen Stadt.
Forschungsstand
Im deutschsprachigen Raum gilt die Geschichte der Einküchenhäuser nach den umfangreichen Debatten von Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts als weitgehend vergessen. Eine kurzzeitige Wiederentdeckung gab es Anfang der 1970er Jahre, als die Studentenbewegung die Ideen des kollektiven Wohnens in die Hochschuldiskussionen trug. In dieser Zeit sind einige Veröffentlichungen entstanden, die den historischen Stoff wieder bekannt gemacht haben und zur Argumentation für die eigenen Wohngemeinschaftsexperimente herangezogen wurden. Im Jahr 1981 promovierte der Architekt und Soziologe Günther Uhlig zu dem Thema Kollektivmodell Einküchenhaus. Wohnreform und Architekturdebatte zwischen Frauenbewegung und Funktionalismus und legte mit seiner Promotionsschrift eine Diskursanalyse der die Entwicklung begleitenden zeitgenössischen Veröffentlichungen vor. Er schuf damit zugleich ein Standardwerk, auf das sich die weiteren Veröffentlichungen berufen. Eine darüber hinausgehende Arbeit gaben die Professorin für Stadtplanung Ulla Terlinden und die Soziologin Susanna von Oertzen im Jahr 2006 mit dem Buch Die Wohnungsfrage ist Frauensache! Frauenbewegung und Wohnreform 1870 bis 1933 heraus. Sie erweiterten Uhligs Forschung um die Auswertung von Quellen aus Schriften der Frauenbewegung und stellten die Einküchenhäuser in den Gesamtzusammenhang der Beteiligung von Frauen an der Entwicklung der Wohnungsbaugeschichte.
Die meisten englischsprachigen Veröffentlichungen zum Thema kommen aus Skandinavien. Insbesondere der Architekt Dick Urban Vestbro, Professor an der Universität Stockholm, bearbeitete in vielen Publikationen die gesamteuropäische Geschichte der Einküchenhäuser wie auch deren Einfluss auf heute bestehende alternative Wohnformen mit zentraler Küche, insbesondere in Schweden. Eine entsprechende Forschung zu den Entwicklungen in Deutschland, Österreich oder der Schweiz ist nicht bekannt. Das Thema der Co-housing-Bewegung in den Vereinigten Staaten und deren enge Verknüpfung mit europäischen Modellen ist ausführlich von der amerikanischen Stadthistorikerin Dolores Hayden erforscht worden. Sie hat ihre Ergebnisse in zahlreichen Schriften veröffentlicht.
Anlässlich einer Tagung der International Council on Monuments and Sites (ICOMOS) im November 2009 hat die Architektin Anke Zalivako mit einem Kurzstatement unter dem Titel Vom Kommunehaus zu den Unité d’Habitation – ein europäisches Erbe? ein „Netzwerk von Wohngebäuden mit zentralen Serviceeinrichtungen“ zur Nominierung zum Europäischen Kulturerbe (European Heritage Label) vorgeschlagen und damit die europaweite kulturelle Verbindung einiger Einküchenhauser der Moderne dargelegt. Der vorgeschlagene Verbund umfasst Bauten in sechs Staaten und besteht aus dem Heimhof in Wien, dem Ledigenheim in Breslau, dem Narkomfin in Moskau, dem Isokon Building in London, dem Unité d’Habitation in Marseille und dem Corbusierhaus in Berlin.
Liste der Einküchenhäuser
Die folgende Tabelle gibt eine zusammenfassende Übersicht über die Gebäude, die zwischen 1903 und 1965 in europäischen Städten als Einküchenhäuser konzipiert waren. Die Spalte Bestand führt auf, bis zu welchem Jahr die Einrichtung der zentralen Küche jeweils bestanden hat, die Angabe Planungsstadium besagt, dass ursprüngliche Entwürfe nicht umgesetzt wurden.
Literatur
Architekten- und Ingenieurverein zu Berlin (Hrsg.): Berlin und seine Bauten. Teil IV: Wohnungsbau. Band B: Die Wohngebäude – Mehrfamilienhäuser. Berlin 1974, .
Lily Braun: Frauenarbeit und Hauswirtschaft. Expedition der Buchhandlung Vorwärts, Berlin 1901.
Florentina Freise: Asketischer Komfort. Das Londoner Servicehaus Isokon. Athena-Verlag, Oberhausen 2009, ISBN 978-3-89896-321-3.
Hartmut Häußermann, Walter Siebel: Soziologie des Wohnens. Juventa Verlag, Weinheim/ München 1996, ISBN 3-7799-0395-4.
Dolores Hayden: Redesigning the American Dream: Gender, Housing, and Family Life. W.W. Norton & Company, New York 1984. (Neuauflage 2002, ISBN 0-393-73094-8)
Hermann Hipp: Wohnstadt Hamburg. Mietshäuser zwischen Inflation und Weltwirtschaftskrise. Nicolaische Verlagsbuchhandlung, Berlin 2009, ISBN 978-3-89479-483-5.
Staffan Lamm, Thomas Steinfeld: Das Kollektivhaus. Utopie und Wirklichkeit eines Wohnexperiments. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-10-043924-4.
Claire Richter: Das Ökonomiat. Hauswirtschaftlicher Großbetrieb zum Selbstzweck. Berlin 1919.
Ulla Terlinden, Susanna von Oertzen: Die Wohnungsfrage ist Frauensache! Frauenbewegung und Wohnreform 1870 bis 1933. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2006, ISBN 3-496-01350-8.
Günther Uhlig: Kollektivmodell „Einküchenhaus“. Wohnreform und Architekturdebatte zwischen Frauenbewegung und Funktionalismus 1900–1933. (= Werkbund Archiv. 6). Anabas Verlag, Gießen 1981, ISBN 3-87038-075-6.
Weblinks
Jens Sethmann: 100 Jahre Einküchenhäuser. Gescheitertes Reformexperiment. In: Mieter Magazin des Berliner Mietervereins, Januar/Februar 2008
Hiltraud Schmidt-Waldherr: Emanzipation durch Küchenreform? Einküchenhaus versus Küchenlabor. In: L’Homme. Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft. Heft 1/1999, S. 57–76; online unter Demokratiezentrum Wien (PDF; 181 kB)
Dick Urban Vestbro: November 2008. (PDF; 1,3 MB)
Anke Zalivako: Vom Kommunehaus zu den Unité d’Habitation – ein europäisches Erbe? Kurzstatement anlässlich des ICOMOS-Workshops „European Heritage Label und Weltkulturerbe“ am 20./21. November 2009 in Berlin; in: kunsttexte.de Januar 2010 (PDF; 192 kB)
Einzelnachweise
Stadtbaugeschichte (Deutschland)
Bauform (Wohngebäude)
Wohnprojektform
Städtebau (Neuzeit) |
6365181 | https://de.wikipedia.org/wiki/Bertha%20Lou | Bertha Lou | Bertha Lou ist ein Rockabilly-Song, der 1957 erstmals in der Aufnahme von Johnny Faire veröffentlicht wurde. Eine zuerst eingespielte Version von Dorsey Burnette musste aus vertragsrechtlichen Gründen zurückgehalten werden. Das Stück wurde von Johnny Burnette gemeinsam mit dem Songwriter und Verleger John Marascalco geschrieben. Der inhaltlich sowohl anzügliche als auch parodistische Song basiert auf einem schnell und hart gespielten Blues und ist aufgrund seines markanten Gitarren-Riffs leicht wiederzuerkennen. Nach einigen zeitnahen Coverversionen, von denen jene Clint Millers 1958 die amerikanischen Billboard-Charts erreichte, sowie Umarbeitungen zu Twinkie Lee, Snacky Poo und schließlich Bob Dylans Adaption Rita May wurde der Titel ab etwa 1980 ein viel gespielter Standard der Neo-Rockabilly- und Psychobilly-Szene.
Entstehung
Die Brüder Johnny und Dorsey Burnette waren nach der Auflösung ihrer Band „The Rock ’n’ Roll Trio“ Mitte des Jahres 1957 nach Kalifornien gezogen, wo sie sich zum einen als Songwriter einen Namen zu machen erhofften und zum anderen als Solointerpreten und gemeinsam als „Burnette Brothers“ aktiv wurden. Aus Memphis kannten sie den Mississippi-stämmigen Songwriter John Marascalco, der seit März 1956 mit Kompositionen für Little Richard bei Specialty Records gut im Geschäft war. Die Burnettes besuchten mit ihrem Gitarristen Odell Huff den Songwriter in dessen Wohnung und Johnny stellte ihm die erste Strophe einer neuen Songidee vor, die sie gemeinsam zu Bertha Lou ausarbeiteten. Da Johnny Geld für seine Miete brauchte, verkaufte er Marascalco seinen Anteil an den Autorenrechten. Johnnys Sohn Rocky Burnette bezifferte die Verkaufssumme Jahre später auf 50 Dollar. Solche Cut Ins waren zu dieser Zeit eine übliche Geschäftspraxis in der Musikbranche. Am 27. Oktober 1957 ließ sich Marascalco das volle Copyright an Bertha Lou durch den Eintrag in der Library of Congress sichern und übernahm den Song auf seinen eigenen kürzlich gegründeten Musikverlag Robin Hood Music.
Marascalco arrangierte im November 1957 eine Aufnahmesession im Studio Master Recorders für das kleine Label Surf Records von Kenny Babcock, dessen Sohn Keith sich allerdings an die Goldstar Recording Studios als Aufnahmeort erinnert. Als Band wurden Odell Huff an der Gitarre, Danny Flores am Klavier und H. B. Barnum am Schlagzeug engagiert. Den Bass übernahm wahrscheinlich Dorsey Burnette selbst. Johnny Burnette unterstützte die Percussions durch Handclaps. Der Song wurde unter Marascalcos und Babcocks Leitung in mehreren Takes aufgenommen. Nach der Erinnerung Keith Babcocks stimmte sein Vater während der Aufnahme die Gitarre um, so dass sich deren Tonumfang vergrößerte und Odell Huff seinen Part auf einer einzigen Basssaite spielen konnte. Bereits bei der Vorbereitung der Session war aufgefallen, dass Johnny Burnette noch bei Coral Records unter Vertrag stand und somit keine Aufnahmen als Hauptinterpret für eine andere Plattenfirma einsingen durfte. Von einer ersten Demoaufnahme wurde seine Stimme daher wieder entfernt und Dorsey Burnette sang den Titel erneut ein. Johnny Burnettes Vokalbeitrag blieb aber dennoch erhalten: Zum einen ist seine Gesangsspur noch leise im Hintergrund zu hören, besonders eingangs der zweiten Strophe, als Dorsey Burnette aus dem Takt gerät, zum anderen feuert er Odell Huff lautstark mit den Rufen „Rock! Rock! Rock!“ zum Gitarrensolo an. Zusammen mit dem von Marascalco geschriebenen Rockabilly-Titel Til the Law Says Stop als B-Seite wurde Dorsey Burnettes Version für die Veröffentlichung auf Surf Records unter der Plattennummer SR5019-45 gemastert und in einer ersten Auflage in der hauseigenen Pressmaschine gefertigt.
Kurz darauf räumte Dorsey Burnette zu Marascalcos Unmut ein, dass auch er einen laufenden Vertrag hätte, der ihm Aufnahmen für andere Plattenlabels verbiete. Da eine Veröffentlichung der Platte somit hinfällig war, entschieden sich Marascalco und Babcock dafür, den Song erneut von einem anderen Interpreten übersingen zu lassen. Die Wahl fiel auf den jungen Johnny Faircloth, der die Songs für die am nächsten Tag angesetzte Session über Nacht erlernen musste. Faircloth orientierte sich stark an Dorsey Burnettes Gesang und konnte die Neueinspielung von Bertha Lou unter Anwesenheit der Burnettes nach wenigen Takes abschließen. Für Til The Law Says Stop lagen keine getrennten Tonspuren für die Instrumental- und Vokalarbeit vor, weshalb Faircloth so exakt wie möglich über Dorsey Burnettes Stimme singen musste, was die Session langwierig und mühsam machte. Insbesondere Dorsey Burnettes Südstaaten-Akzent und dessen metrische Freiheit machten dem Mann von der Westküste zu schaffen. Die doppelte Melodiestimme ist daher auf der Aufnahme deutlich zu hören.
Musikalischer Aufbau
Während die Notenausgabe von 1957 als Grundtonart G-Dur vorschlägt, bauten die Musiker der Originalversion Bertha Lou auf einem 12-taktigen Blues im 4/4-Takt in E-Dur auf: Auf vier Takte Tonika folgen zwei Takte Subdominante und wieder zwei Takte Tonika. Über einen Takt Dominante und einen Takt Subdominante führen zwei Takte Tonika das Bluesschema zu Ende. Die achttaktige Bridge variiert ebenfalls nur diese drei funktionalen Harmonien: Auf zwei Takte Subdominante folgen zwei Takte Tonika, sodann wieder zwei Takte Subdominante und schließlich zwei Takte Dominante. Jeder Strophe ist ein 2/4-Takt auf der Tonika vorgeschoben, der den erweiterten Auftakt „Bertha Lou, Bertha Lou“ oder „Hey! Hey! Bertha Lou!“ aufnimmt. Das Gitarrensolo besteht wie die Strophen aus einem 12-Takt-Schema, kommt aber ohne diesen Zwischentakt aus. Intro und Outro eröffnen und beenden den Song auf der Tonika. Der gesamte Ablauf des Songs mit A-A-B-Struktur sieht in den beiden originalen Versionen von Dorsey Burnette und Johnny Faire wie folgt aus:
Intro (4 Takte)
1. Strophe (2/4 Takt + 12 Takte)
2. Strophe (2/4 Takt + 12 Takte)
Bridge (8 Takte)
3. Strophe (2/4 Takt + 12 Takte)
Gitarrensolo (12 Takte)
Bridge (8 Takte)
3. Strophe (2/4 Takt + 1/2 Takte)
Outro (8 Takte) und Fade-Out
Auf allen drei akkordischen Stufen der Strophe wird ein markantes Riff auf den Basssaiten der Gitarre gespielt, welches in aufsteigenden Achteln jeweils doppelt den Grundton, darüber die Moll-Terz und die Quarte anschlägt und schließlich in einzelnen Achteln über die verminderte Quinte auf der Quinte ankommt. Im überschaubaren Tonvorrat der gesungenen Melodie dominieren ebenfalls der Grundton E und die zugehörige kleine Terz G. Durch die Verwendung dieser den Blue Notes nachempfundenen Terzen erhält der Song seinen bluesigen Mollcharakter, insbesondere da die dem Song zugrundeliegende Dur-Tonart nur als Septakkorde vom Piano sehr versteckt im Hintergrund gespielt wird. Auf dem jeweils zehnten Takt einer Strophe – der Subdominante – schweigt die Rhythmusgruppe und die elektrische Gitarre spielt ein absteigendes Fill-In.
Die Strophen bestehen aus je sechs Versen mit dem Reimschema . Der dominierende, stumpfe Endreim (a) ist die Assonanz auf -[u] der mehrfach verwendeten Silben „Lou“, „you“, „do“ und „ooh“, der jeweils in zwei Paaren die Assonanz beziehungsweise die Reime „sand“-„man“, „moan“-„phone“ und „wild“-„child“ in der Mitte der drei Strophen (b) umarmt. Die sechs Endsilben fallen dabei stets auf den ersten Schlag des ersten, dritten, fünften, siebten, neunten und elften Taktes des Bluesschemas. Der eigentliche Liedtext wird also in einer für den Blues typischen rhythmischen Variante etwa in der Funktion mehrsilbiger Auftakte vor dem jeweils ersten Schlag gesungen. Zwischen Vers und Gitarrenriff, welches auf diesem ersten Schlag des Taktes startet, entwickelt sich so ein Dialog, zumal das dem Vers folgende Riff ohne überlagernden Gesang vollständig zu hören ist. Der jeweils nächste Vers beginnt frühestens auf dem zweiten Schlag des folgenden Takts und folgt metrisch den schnellen Achtel des bereits neu begonnenen Gitarrenriffs – zuweilen entzerrt durch Viertelnoten. Nur der fünfte Vers der Strophen endet nicht auf dem ersten Schlag des neunten Taktes, sondern zieht in melismatisch verbundenen Noten einen absteigenden Dur-Dreiklang bis in die Subdominante des zehnten Takts. Diesem stimmlichen Höhepunkt der Melodie antwortet wiederum das absteigende Fill-In der elektrischen Gitarre. Dieses Call and Response ist ein grundlegendes Prinzip afroamerikanisch beeinflusster Popularmusik, wird hier zwischen Stimme und Gitarre dargeboten und findet seine inhaltliche Entsprechung im sexuell aufgeladenen Text und der Aggressivität des verstärkten Gitarrensounds. Die vier-versige Bridge kommt mit den zwei Paarreimen „cut“-„truck“ und „sweet“-„feet“ aus und nutzt die vollen acht Takte ohne wesentliche Pausen.
Einige Coverversionen und Adaptionen ändern Stimmung und Aufbau in Details: So arrangierte Don Costa den Song für Clint Miller ohne den 2/4-Takt, den er nur vor der dritten Strophe einsetzte. In Bertha Lou der Fendermen und in Twinkie Lee wurde das erste Intervall des Gitarrenriffs zur großen Terz E–Gis, was einer Dur-Stimmung entspricht. In verschiedenen Aufnahmen wird das Gitarrenriff auch vom elektrischen Bass übernommen.
Inhalt
Bertha Lou reiht sich in eine Folge von bekannten Songs aus dem Rock ’n’ Roll und Rockabilly ein, deren Titel einem Frauennamen entspricht oder einen solchen enthält. Dabei hat angeblich Dorsey Burnettes Frau Alberta als Namenspatronin der besungenen Bertha Lou herhalten müssen. Viele dieser „Songs about Girls’ Names“ haben eine deutliche sexuelle Konnotation. In der dritten Strophe von Bertha Lou heißt es:
Das ungewöhnlich biologistische Verb to conjugate (deutsch: sich paaren) in der Erstversion des Liedes veranlasste den Promoter Dick Clark zu einem weitgehenden Boykott des Titels in von ihm organisierten Rundfunkprogrammen und Live-Shows. Stuart Colman liest aus diesem Text einen Ausdruck besonderer Manneskraft, die dem Elefanten im Porzellanladen ähnele. John Marascalco wählte für den Druck der Notenausgabe den weniger anzüglichen Begriff to congregate (deutsch: zusammenkommen). Dieser bedachtsamen Entschärfung folgten auch die meisten der nachfolgenden Interpreten.
Richard Aquila erkennt bezugnehmend auf Clint Millers Chartversion das humoristische Potenzial im überspitzten Text des erzählenden Rockabilly-Protagonisten: „Man wusste bereits bei der Veröffentlichung nicht, ob es sich um eine Parodie auf einen Frauennamen-Rockabilly-Song handelt oder ob er als ernstgemeinter Beitrag zum Repertoire des Genres gedacht ist.“ So lautet der Text der Bridge:
Craig Morrison sieht im letzten Vers der Bridge einen „heftigen“ Humor, der vom „Kontrast zwischen skurrilen und unangebrachten Texten und dem ernsthaften Vortrag“ profitiere, und ein genretypisches Merkmal darstelle, da im Rockabilly „beinahe alles heftig“ sei.
Veröffentlichungen
Für die Veröffentlichung der neu eingespielten Version am 9. Dezember 1957 wählte Kenny Babcock Faircloths prägnanteren Künstlernamen „Johnny Faire“ und die gleiche Plattennummer SR5019-45. Am selben Tag wurde die Platte im Billboard Magazin besprochen. Eine Besonderheit war die zugehörige Papierhülle, auf der die Platte durch die Angabe weiterer Kompositionen John Marascalcos beworben wurde. Seiner Zeit voraus war auch der Label-Hinweis auf Marascalco als Produzent, der später bedauerte, dass er sich für diesen Job keinen Anteil an den Verkäufen hat sichern lassen. Die erste Auflage von Surf SR5019-45 von Dorsey Burnette wurde zurückgehalten und vernichtet. Ledigliche eine Kiste soll übriggeblieben sein, so dass vereinzelt Exemplare den Weg in Plattensammlungen fanden. Johnny Faires Surf SR5019-45 erzielte immerhin soviel Aufmerksamkeit, dass sie 1958 als Quality K-1696 für den kanadischen und als London HLU 8569 für den britischen Markt neu aufgelegt werden konnte. In den 1970ern erschien in der ursprünglichen Aufmachung Surf 5019 von Johnny Faire in einer nicht autorisierten Neuauflage, zu erkennen am eingeritzten „Re“-Kürzel im Bereich der Auslaufrille. Die Notenausgabe von Bertha Lou erschien bei Marascalcos Verlag Robin Hood Music in Zusammenarbeit mit Rio Grande Music aus Texas. Den Verkauf der Noten übernahm als alleiniger Handelsvertreter der Verlag Hill & Range.
Mitte der 1960er Jahre entschied sich Marascalco in Absprache mit Dorsey Burnette, dessen ursprünglich zurückgehaltene Version auf seinem eigenen kleinen Label Cee-Jam Records zu veröffentlichen. Dazu nahm Dorsey den Blues-Klassiker Keep A-Knockin’ auf, der als B-Seite von Cee-Jam #6 unter dem Bandnamen „The Brothers“ erschien. Um 1970 wurde mit Cee-Jam #16 die originale Zusammenstellung von Bertha Lou mit Til the Law Says Stop auf Vorschlag Ronny Weisers, des Betreibers des Rockabilly-Labels Rollin’ Rock, in einer kleinen Auflage von 2.000 Stück wiederveröffentlicht. Der Titel erschien nie auf einem der offiziellen Alben Dorsey Burnettes. Erst durch die Aufbereitung des Gesamtwerks der Burnette Brothers mittels Werkausgaben in CD- und CD-Box-Format ab den 1990er Jahren konnte der Titel wieder einer breiteren Käuferschaft zur Verfügung gestellt werden.
1957 – Johnny Burnette (unveröffentlichte Demoaufnahme)
1957 – Dorsey Burnette auf Surf SR5019-45 (unveröffentlicht), sodann 1965 auf Cee-Jam #6 und 1970 auf Cee-Jam #16
1957 – Johnny Faire auf Surf SR5019-45 sowie 1958 auf Quality K-1696 und auf London HLU-8569, letztere auch als 10-Zoll-Schellacksingle sowie als Promo-Ausgabe auf London MSC 2285
Coverversionen
Noch vor der offiziellen Veröffentlichung wurde die Plattenfirma ABC-Paramount auf den Song aufmerksam und machte Babcock ein Angebot für die Masterbänder. Da dieser ablehnte, spielte deren junge Neuverpflichtung Clint Miller am 20. November 1957 unter der Leitung von Don Costa eine erste Coverversion für ABC ein, für deren Einstudierung er auf eine Demoversion zurückgegriffen haben muss. Dadurch ergaben sich einige Abweichungen im Text. Millers Coverversion wurde in derselben Billboard-Ausgabe wie das Original vorgestellt. Zeitnah wurde Bertha Lou außerdem von der Rockabilly-Band The Fendermen auf deren LP Mule Skinner Blues, von Alan Knight und von Bob Harris and the Kings Four aus Michigan gecovert. Mit Los Salvajes aus Mexiko und Los Zodiac aus Peru griffen auch Bands aus dem lateinamerikanischen Raum den Song auf und legten spanischsprachige Versionen mit einem Text von Manuel Callegos vor. Der britische Rock-’n’-Roll-Musiker Marty Wilde legte 1970 ein retrospektives Album über die Zeit seiner größten Erfolge auf und spielte dazu Bertha Lou ebenfalls ein.
1957 – Clint Miller auf ABC-Paramount 78- und 45-9878, in Kanada auf Sparton für 78 Umdrehungen auf 528-R und für 45 Umdrehungen auf 4-528R, in Schweden auf Karusell KFF 223, in den Niederlanden auf Artone AP 22.014
1960 – The Fendermen auf dem Album Mule Skinner Blues, Soma MG-1240, in Kanada 1961 auf Point Records P-213
1960 – Alan Knight auf Tide Records T-0011
1961 – Los Salvajes auf Columbia 5043
1962 – Bob Harris and the Kings Four auf EAI PS-101
1963 – Los Zodiac auf Odeon del Peru 8825
1970 – Marty Wilde auf dem Album Born to Rock ’n’ Roll, Philips 6308 010
1979 nahm sich Johnny Burnettes Sohn Rocky erstmals des Titels seines Vaters und seines Onkels an und startete eine Reihe von Coverversionen im Stile der stärker werdende Neo-Rockabilly- und Psychobilly-Szene, die so auf den Song mit dem treibenden Riff aufmerksam wurde. Seitdem wurde der Titel in mindestens 40 Versionen aufgenommen und veröffentlicht, darunter 2004 von der Rockabilly-Band Los Gatos aus Mexiko und 2009 von Las Ondas Marteles erneut in spanischen Versionen. Von Robert Gordon, Rocky Burnette, Tav Falco’s Panther Burns, den Astro Zombies und den Meteors liegen jeweils mehrere Versionen, darunter von Live-Auftritten vor. Letztere führen Bertha Lou seit ihrer frühen Karriere in ihrem Live-Repertoire, so dass verschiedene Bootlegs kursieren, die aber in folgender Liste nicht aufgeführt sind.
1979 – Rocky Burnette auf dem Album Son of Rock ’n’ Roll, EMI EMC3323
1979 – The Customs auf dem Album Long Gone
1981 – The Urbations auf einer EP von Wild Child Records
1983 – Tav Falco’s Panther Burns auf der EP Blow Your Top, Rough Trade RT-114T
1983 – The Memphis Rockabilly Band mit Jeff Spencer auf dem privaten Label MRB und auf dem Album Bertha Lou
1986 – Die Freie Garage auf dem Album Speedmeat, White Noise 15061
1989 – Tav Falco’s Panther Burns auf dem Live-Album Midnight in Memphis, New Rose Records 185
1991 – The Meteors auf dem Album Madman Roll, Sonovabitch ROTT 90022
1992 – Johnny and the Headhunters auf dem Album Real Rock N Roll
1992 – The Meteors auf dem Live-Album Live 4 … International Wreckers, Sonovabitch ROTT 90062
1993 – Colin Winski auf dem Album Helldorado, Fury FCD-3027
1995 – Los Marauders auf dem Album Every Song We Fuckin’ Know, Teenbeat 122
1996 – Hot Stuff auf dem Album Only For Hep Cats, Tail T-10-1
1997 – Robert Gordon auf dem Album Robert Gordon, Llist LLT 00792
1997 – The Astro Zombies auf dem Album The Astro Zombies Are Coming, Banana Juice Records (erste Version)
1999 – The Meteors auf dem Album John Peel Session, Raucous RAUC 044 (bereits 1985 für die BBC aufgenommen)
1999 – The Bottletones auf dem Album Corn Rampin’, Relay Records
2000 – Junior Marvel auf dem Album Early and Unreleased, Rundell CD/LP 023
2001 – The Rockin’ 8 Balls auf dem Album Eight Balls O’Fire, Goofin’ 6108
2001 – Rudy LaCrioux & The Allstars auf dem Album Let’s Have a Ball, Nervous
2001 – Rocky Burnette, Darrel Higham & The Enforcers auf dem Album Hip Shakin’ Baby, Rockstar Records RSRCD-021
2002 – Robin Sylar unter der Schreibweise Bertha Lu auf dem Album Bust Out, Race Records und TopCat Records
2003 – The Meteors auf dem Live-Album From Beyond, Raucous RAUCLP 124 (bereits in den 1980ern aufgenommen)
2003 – Bell Hops auf dem Album Wild, Wet and Juicy, ROCKCD-9416
2003 – Ratso & Switchblade auf dem Album Playing with Rats, Sphincter 312
2003 – The Astro Zombies auf dem Album Mutilate, Torture and Kill, Nova Express (zweite Version)
2003 – Bloodshot Bill auf dem Album Trash Addict, Fake Records
2004 – Los Plantronics auf dem Album La Orchestra Diabolica, Mariachi Productions 004
2004 – The Hicksville Bombers auf dem Album The Devil Made Us Do It, Raucous CD RAU 153
2004 – Alan Leatherwood auf dem Album Rock, Bop, Folk and Pop Vol. 1 Featuring Remember the Alamo, Ohio Moon
2004 – Los Gatos auf dem Album Lo Que Mata, No Es el Auto, Grabaciones Alicia GACD-018
2004 – Jeff Simmons auf dem Album Blue Universum, Blue Fox Records
2005 – Robert Gordon & Chris Spedding auf dem Live-Album Rockin’ the Paradiso, Last Call CD/DVD 3113142
2005 – Atomic Hi-Tones auf der EP Wolfcat, Twaino Records
2006 – The Astro Zombies auf dem Live-Album Burgundy Livers, Raucous
2007 – R. J. and the Phantoms auf dem Album What’s the Rumor, Red Shoot Records CD RS 100
2007 – Hellcats auf dem Album I’ve Got a Devil Inside, Tedly Serious TED CD-102
2007 – Blue Rockin’ auf dem Album Rockin Boogie Trash, Part CD 660002
2007 – Robert Gordon mit Link Wray und Danny Gatton auf dem Live-Album Lotta Lovin’, Climate Change CD 004 (aufgenommen 1983)
2008 – Mike Mok and the Em-Tones auf der Compilation Worldwide Rockabilly Vol. 1 – Let’s Kill Someone, Louisiana Records LR 5001
2009 – Las Ondas Marteles auf dem Album On Da Rocks, Because
2010 – Homer Henderson auf dem Album Used Without Permission, Lulie 105
2010 – Gru-V-Tones featuring Boppin’ Bettie auf dem Sampler Finnish Rock’ n ’Roll 2010, Talsti EDCD1008
2011 – Bird Doggin’ Daddies auf dem Album Hopped Up, Rhythm Bomb
2011 – Carlos Mejuto auf dem Album Carlos Mejuto, Wild
2011 – The Boothill Stompers auf dem Album Goin’ Our Own Way
2014 – Mike Sanchez auf dem Album So Many Routes
2014 – Junior Marvel auf CAB 7003
2015 – The Dyna Jets auf der limitierten Maxi-Single The Calling, Mandinga Records MNDG 004
2017 – Lucky 13 auf dem Album Trouble & Love, Part Records
2022 – Mark Lee Allen auf dem Album Locked Down!, Bear Family BAF14025
Adaptionen
Twinkie Lee
Im Jahr 1960 war der kalifornische Sänger Julian „Larry“ Bright mit Mojo Workout in den Charts und benötigte für eine Fernsehshow bei Gastgeber Dick Clark einen neuen Anzug und einen Song. Da ihm sein Label Tide Records kurzfristig weder eine Geldzusage noch einen Liedvorschlag machen konnte, unterschrieb Bright einen zweiten Vertrag bei Rendezvous Records. Dorsey Burnette zeigte Bright den Song seines Bruders und arbeitete ihn zu Twinkie Lee um, als er in der folgenden Aufnahmesession im Studio am sechssaitigen Bass der Marke Danelectro aushalf. Verschiedentlich auch Twinkee Lee oder mit Bindestrich Twinkie-Lee geschrieben, war der Songtitel dem Namen einer Katze nachempfunden, die der Tochter des örtlichen DJs Cluck Blore gehörte, damit dieser dem Lied mehr Airplay gebe. Die Veröffentlichung von Twinkie Lee auf Rendezvous R-124 mit Bright als Interpret und angeblich alleinigem Autor verursachte zweifachen Ärger: Zum einen klagte Marascalco seine Autorenrechte am Stück ein, zum anderen ließ sich das Label Tide Records, das auf seinen Vertrag mit Bright pochte, die Masterbänder aushändigen. Während Tide die Aufnahme an Highland Records weiterreichte, veröffentlichte Rendezvous den Song in einer zweiten Auflage, bei der als Interpret anstelle von Larry Bright dessen Pseudonym „Pete Roberts“ angegeben wurde. Zwar wurde auf der Neuausgabe der mit Rendezvous assoziierte Musikverlag Mardon Music durch Marascalcos Robin Hood Music ersetzt, die Autorencredits verblieben auf den Tonträgern aber weiterhin bei Bright, ebenso bei späteren Coverversionen von den Fairviews, von Wayne Stevenson sowie von Alan Clark. 1966 spielte der Schlagzeuger Gary Walker auf dem Höhepunkt der Karriere seiner Band The Walker Brothers zwei Singles als Solo-Künstler ein und wählte dafür unter anderem Twinkie-Lee. Erneut wurde als Autor Larry Bright genannt, der von sich behauptet, er habe den Song den Walker Brothers persönlich vorgestellt. Im Folgejahr wurde Twinkie-Lee auch bei einer Reunion-Tour der Walker Brothers durch Japan für das zugehörige Live-Album berücksichtigt, als die Band Anfang Januar in der Osaka Festival Hall gastierte. Spätere Einspielungen erfolgten durch Gary Walkers japanische Begleitband The Carnabeats und 2004 durch die Band The Young sowie durch die japanische Sängerin Miko, deren Aufnahme nur auf Tonband herauskam. Eine Notenausgabe der Gary-Walker-Version von Twinkie Lee erschien beim Londoner Musikverlag Campbell Connelly & Co. Ltd.
1960 – Larry Bright auf Rendezvous R-124 (Titelschreibweise: Twinkie-Lee), in der zweiten Auflage unter dem Pseudonym „Pete Roberts“ und erneut 1964 auf Highland 1052
1963 – Alan Clark & The Starfires (lange unveröffentlicht), erstmals auf CD CAR 003
1964 – The Fairviews auf SpinIt 120 (Titelschreibweise: Twinkee Lee)
1966 – Gary Walker auf CBS 202081 (Titelschreibweise: Twinkie-Lee)
1968 – Wayne Stevenson auf Tide 2700
1968 – The Walker Brothers auf dem Live-Album The Walker Brothers in Japan, Phonogram SFL 9046/7, 1987 neu aufgelegt von Bam-Caruso Records
1968 – The Carnabeats auf der Compilation Group Sounds World Top Hits
1968 – Miko auf dem Tonband Ah! Soul… Introducing Miko on Stage, Superscope A010-N
2004 – The Young auf dem Album The New World of Youngsoul, P-Vine Records 25008
Snacky Poo
Auch John Marascalco versuchte, das Potential des Songs voll auszuschöpfen, indem er das Lied neu arrangierte und mit anderem Text am 16. Januar 1962 als Snacky Poo registrieren ließ. Chester Pipkin, sein Cousin Gary „Hart“ Pipkin, Billy Mann und Warren Joyner sangen seit 1961 zusammen in der Doo-Wop-Gruppe The Electras, die für die Veröffentlichung von Snacky Poo auf Infinity Records in „The Ring A Dings“ umbenannt wurden. Als Koautoren werden Gary Pipkin und Chesters ehemaliger Gesangspartner John Carson von den Valiants genannt. Als Instrumentalspur verwendete Marascalco die Originalaufnahme aus dem Studio Master Recorders von 1957. Das erweiterte Gesangsarrangement führte aber zu einer Aufteilung des Titels auf beide Seiten der Single, so dass die Rückseite als Snacky Poo Part Two getitelt wurde. Marascalco, der A&R-Manager von Infinity war, lizenzierte die Aufnahme zwei Jahre später an Mercury Records weiter, welche die Interpreten erneut umbenannten zu „The Del-Mars“. Mercury 72244 erschien mit schwarzem und in einer zweiten Auflage mit rotem Aufkleber. 1989 verwendete Angel Records aus Kalifornien Snacky Poo als B-Seite hinter All My Love Belongs to You der Teenqueens. Im Februar 2012 kam eine unautorisierte Neuauflage von Infinity INX-014 aus Großbritannien auf den Markt, die den weiß-roten Aufkleber der Audition-Copy trägt.
1962 – The Ring A Dings auf Infinity INX-014, 1964 als The Del-Mars auf Mercury 72244, erneut 1989 auf Angel #2.
Rita May
Während der Aufnahmen zum Album Desire im Jahr 1975 spielte Bob Dylan den Song Rita May ein, der stark an Bertha Lou angelehnt ist. Die Bob Dylan und dem Koautor Jacques Levy zugeschriebene Hommage an die Feministin Rita Mae Brown kam als B-Seite einer Live-Version von Stuck Inside of Mobile with the Memphis Blues Again auf Columbia Records heraus. Als Komponist wird ausschließlich Dylan geführt, ein Hinweis auf die prominente Vorlage ist nicht zu finden. Der Rockabilly-Kenner Dylan bestätigte auf Nachfrage des Plattensammlers und seines damaligen Bassisten Rob Stoner, dass er Bertha Lou und deren Urheberschaft kenne, kommentierte die deutliche melodiöse Übereinstimmung mit seiner Rita May aber nicht. Jerry Lee Lewis coverte Rita Mae drei Jahre nach Entstehung. Der deutsche Universalkünstler Michel Montecrossa spielte im Zuge seiner umfassenden, über mehrere Jahre andauernden Dylan-Neuinterpretation 2003 auch Rita May ein.
1976 – Bob Dylan auf Columbia 3-10454
1979 – Jerry Lee Lewis auf Elektra 46067
2003 – Michel Montecrossa auf dem Album Michel Montecrossa’s Michel & Bob Dylan Fest 2003, Mira Sound 803007
Das Gitarrenriff als Musikzitat
Das einfache, über Achtelnoten aufsteigende Bertha-Lou-Riff ähnelte einigen Gitarren- und Pianointros aus der Zeit seiner Entstehung: Vince Taylors Brand New Cadillac und Barrett Strongs Money (That’s What I Want) waren von 1959, Henry Mancinis Peter Gunn Theme bereits aus dem Vorjahr 1958. Note für Note zitiert wurde das Riff, als Jack Bedient und Bill Britt 1965 für eine Aufnahmesession ihrer Mersey-Band Jack Bedient and the Chessmen den Song Double Whammy schrieben und nach einem passenden energiereichen Gitarrenintro suchten. Der Gitarrist Kevin Woods schlug das markante Bertha-Lou-Riff vor. Double Whammy wurde mit einem 19. Platz der Charts von KCBN 1230 AM in Reno, Nevada ein regionaler Erfolg. Auf einer 2007 erschienenen Extended Play des britischen Voodoo Trombone Quartets befindet sich das Titelstück The Phantom, welchem das Mollriff von Bertha Lou zugrunde liegt.
Bedeutung, Kritik und Erfolg
Bertha Lou ist einer der meistgecoverten Songs aus dem gemeinsamen Werk und Soloschaffen der Burnette Brothers. Nach Angaben Rocky Burnettes einigten sich die Familien von Johnny und Dorsey Burnette Jahre nach dem Tod der beiden Brüder mit dem Verleger Marascalco über die Rückgabe von Johnnys Anteil an den Autorenrechten. Zwar schlug sich diese Änderung nicht in der Datenbank der amerikanischen Verwertungsgesellschaft BMI nieder, bei der deutschen GEMA wird aber seitdem Johnny Burnette als Co-Autor angeführt. Auf den Tonträgern wurde Johnny Burnette allerdings nie als Autor genannt. Die „Bertha-Lou-Kontroverse“ wird immer wieder in Musiklexika und -zeitschriften aufgegriffen und über Entstehung und Aufnahme des Songs in Blogs und Foren diskutiert. Für Lee Cotten stellt „die Saga von Bertha Lou“ „eine der verworrensten Geschichten des frühen Rock-’n’-Roll“ dar. In Marascalcos Überarbeitung des „Roh-Diamanten“ erkannte Stuart Colman Johns „Talent, eine Grundidee zur Blüte zu führen.“
Durch die vielen Coverversionen und Adaptionen kann der Song als „Standard“ des Rockabilly-Genres gelten. In nationale Charts gelangte der Titel allerdings nur zweimal: Die Version von Clint Miller erreichte 1958 den 79. Platz der amerikanischen Billboard-Charts und den 49. Platz der amerikanischen Chessbox-Charts, Gary Walkers Cover von Twinkie Lee konnte 1966 in den britischen Charts bis auf Platz 26 vordringen. Auch in der Hochphase des Rockabilly zwischen 1956 und 1959 waren in diesem Genre Chartplatzierungen abgesehen von Hits Elvis Presleys, Jerry Lee Lewis’ und Carl Perkins’ selten.
Klaus Kettner vom Münchner Re-Issue-Label Hydra Records stellte zwischen 2007 und 2010 viele der frühen Coverversionen und Adaptionen in der dreiteiligen CD-Reihe Like What We Wrote. The Songs of Johnny and Dorsey Burnette zusammen und hält Bertha Lou im zugehörigen Booklet „immer noch für einen großartigen, rockenden Song“. Billy Poore macht in ihm „explosiven Rockabilly“ aus, alles in allem „Dorseys beste Rockabilly-Platte“, insbesondere dessen „reiche, tiefe Stimme“ in der Enzyklopedia of Rock gelobt wird. Bereits die mit Veröffentlichung des Liedes 1957 erschienenen Besprechungen der Versionen von Johnny Faire und Clint Miller im Billboard-Magazin bescheinigten dem Song ein großes Potenzial. Der „atemlose, hysterische Sound“ mit dem „heruntergehämmerten, starken Rhythmus“ der Begleitband von Faires „aufregender“ Performance passe sehr gut zum Geschmack der Teenager. Clint Miller zeige in seiner soliden Coverversion einen „Rockablues“ im „Presley-Sound“, mit dem er auch im Country-&-Western-Markt punkten könne. Zur zeitgenössischen Rezeption des Titels gehört auch Don Covays Song Believe It or Not von 1959 über eine DJ-Convention, dessen Text aus den Titeln von bekannten Rock-’n’-Roll-Nummern aufgebaut ist. In diesen Reigen ist auch Bertha Lou aufgenommen.
Einzelnachweise
Lied 1957
Rock-’n’-Roll-Song
Rockabilly-Song
Lied von John Marascalco |
7181545 | https://de.wikipedia.org/wiki/Huxley-Wilberforce-Debatte | Huxley-Wilberforce-Debatte | Die Huxley-Wilberforce-Debatte war eine Kontroverse über Charles Darwins Schrift Die Entstehung der Arten. Sie fand am 30. Juni 1860, zwei Tage nach dem Beginn der Hippocampus-Debatte, auf der Jahrestagung der British Association for the Advancement of Science in Oxford statt. Dabei soll es zu einem Wortgefecht zwischen Thomas Henry Huxley, Professor an der Royal School of Mines, und Samuel Wilberforce, Bischof von Oxford, gekommen sein, bei dem Wilberforce fragte, ob Huxley lieber väterlicher- oder mütterlicherseits von Affen abstamme. Huxley soll darauf sinngemäß geantwortet haben, dass er sich für einen Affen als Vorfahren nicht schäme, wohl aber für einen geistreichen Mann, der die Wahrheit zu verschleiern versuche.
Von der zeitgenössischen Öffentlichkeit blieben die Debatte und der mutmaßliche Wortwechsel zwischen Huxley und Wilberforce nahezu unbeachtet. Erst ein paar Jahrzehnte später, in den als Rückschau auf das Lebenswerk ihrer Väter verfassten Biografien, schmückten Francis Darwin und Leonard Huxley das Ereignis mehrfach aus. Leonard Huxley stilisierte den Vorfall zu einem offenen Schlagabtausch zwischen Naturwissenschaft und Religion. In dieser verzerrten Form wird er bis in die Gegenwart häufig rezipiert. Wissenschaftsgeschichtliche Analysen konnten bisher nicht abschließend klären, ob und in welcher Form dieser Wortwechsel tatsächlich stattgefunden hat.
Typische Wiedergabe des „legendären Aufeinandertreffens“
Stephen Jay Gould zitierte in seinem 1986 in der Zeitschrift Natural History erschienenen Essay über die Huxley-Wilberforce-Debatte eine seiner Meinung nach typische Wiedergabe der von John Randolph Lucas als „legendäres Aufeinandertreffen“ bezeichneten Auseinandersetzung. Gould entnahm diese Ruth Moores 1957 im Londoner Hutchinson-Verlag erschienenen Biografie über Charles Darwin:
Vorgeschichte
Am 24. November 1859 wurde Charles Darwins Werk On the Origin of Species im Verlag John Murray veröffentlicht. Thomas Henry Huxley, der seine Lektüre eines Vorabexemplares einen Tag zuvor beendet hatte, schrieb an Darwin: Kurz darauf erschienen im Macmillan’s Magazine und in der Londoner Times erste von Huxley verfasste Besprechungen. Der anfangs Darwins Auffassungen skeptisch gegenüberstehende Charles Lyell berichtete Darwin Mitte Februar 1860 von einer Auseinandersetzung mit Wilberforce, während der Wilberforce Darwins Buch als das , charakterisierte. Wilberforce beendete am 20. Mai 1860 eine lange Besprechung von Darwins Origin, die anonym im Juli-Heft der Zeitschrift Quarterly Review erschien. Nach der Lektüre schrieb Darwin an Hooker: Gegen Ende des Jahres 1860 bemerkte Darwin gegenüber Huxley:
Konstruktion der Legende
Ende des 19. Jahrhunderts veröffentlichten Francis Darwin und Leonard Huxley typische viktorianische Life-and-Letters-Biografien über ihre Väter Charles Darwin und Thomas Henry Huxley, in denen die Auseinandersetzung zwischen Samuel Wilberforce und Thomas Henry Huxley aufgegriffen wurde.
Darwin-Biografien von Francis Darwin
Zuerst erschien 1887 die dreibändige Biografie The Life and Letters of Charles Darwin (deutscher Titel: Leben und Briefe von Charles Darwin) von Francis Darwin. Im zweiten Band zitierte Francis Darwin einen ungenannten Augenzeugen, der seinen kurzen Bericht mit den Worten begann. Da sich der Augenzeuge nicht an den Wortlaut der entscheidenden Frage erinnern konnte, zitierte dieser eine Bemerkung Charles Lyells, die aus einem 1881 veröffentlichten Brief an Charles Bunbury stammte: Lyell kannte den Hergang jedoch nur vom Hörensagen, da er selbst nicht anwesend war. Auch bei Huxleys Antwort blieb der Augenzeuge vage:
Genauer konnte sich der damalige Student John Richard Green erinnern, aus dessen erst 1901 im vollständigen Wortlaut veröffentlichten Brief vom 3. Juli 1860 an William Boyd Dawkins Francis Darwin zitierte:
Der Zoologe Alfred Newton, der Anfang 1888 seine Erinnerungen an die Diskussion veröffentlichte, bezeichnete diese als , trug jedoch zu den Details des Ablaufes nichts Neues bei.
Mit der Darstellung des Vorfalls wohl unzufrieden, trug Francis Darwin für die 1892 veröffentlichte gekürzte, einbändige Biografie Charles Darwin. His life told in an autobiographical chapter, and in a selected series of his published letters (deutscher Titel: Charles Darwin. Sein Leben, dargestellt in einem autobiographischen Capitel und in einer ausgewählten Reihe seiner veröffentlichten Briefe) weitere Berichte zusammen. Vom damals 29-jährigen Oxforder Geistlichen William Henry Fremantle hatte er bereits 1888 einen weiteren Augenzeugenbericht erhalten, in dem mit Richard Greswell, Robert FitzRoy und John Lubbock erstmals weitere Teilnehmer der Debatte genannt wurden und den er zwischen den Bericht des anonymen Augenzeugen und Greens Wortlaut der Erwiderung einfügte. Er nahm außerdem Kontakt zu Huxley auf, der ihm in einem Brief vom 27. Juni 1891 bestätigte, dass die Schilderungen von Fremantle und Green in der Hauptsache korrekt seien, wobei Green seine Rede genauer wiedergebe. Huxley wies in seinem Brief darauf hin, dass er erst durch Robert Chambers überredet werden musste, an der Sitzung teilzunehmen, und beschrieb seinen Eindruck von Wilberforce' Rede:
Im Oktober 1898 erschien Isabel Sidgwicks anonym veröffentlichter Artikel A Grandmother’s Tales, in dem sie kurz auf das einging. Sie erwähnt darin eine am Abend stattgefundene Zusammenkunft bei Charles Daubeny, bei der jedermann eifrig Huxley als dem gratulieren wollte.
Huxley-Biografie von Leonard Huxley
Nachdem Francis Darwins Biografien über Charles Darwin erschienen waren, veröffentlichte Leonard Huxley im Jahr 1900 ebenfalls eine Biografie über seinen Vater (Life and Letters of Thomas Henry Huxley), welche die längste Fassung der Debatte enthält. Er beklagte, dass es über das , keinen Bericht seines Vaters gab. Leonard Huxley verwies in seiner Darstellung der Debatte auf den Athenaeum-Bericht vom Juli 1860, er nutzte die Darstellungen in den Biografien von Lyell und Darwin sowie den Bericht von Sidgwick. Da er das Ereignis als Wendepunkt in der Laufbahn seines Vaters verstand, bemühte Leonard Huxley sich um weitere Augenzeugenberichte. Diese erhielt er im Juli 1899 vom Theologen Adam Storey Farrar sowie vom Chemiker Augustus George Vernon Harcourt. Den Abschluss seiner Darstellung bildete der Wiederabdruck von Fremantles Bericht und Huxleys Brief an Francis Darwin.
Nach Leonard Huxleys Darstellung war die Diskussion ein , deren Bedeutung lag. In dieser universellen Auslegung wurde das Wortgefecht zwischen Thomas Henry Huxley und Samuel Wilberforce im 20. Jahrhundert breit rezipiert.
Augenzeugenberichte
Drei Jahre nach Huxleys Tod enthüllte Francis Darwin gegenüber Leonard Huxley, dass der von ihm zitierte Augenzeugenbericht auf Hooker zurückgehe. Der Öffentlichkeit bekannt gemacht wurde dieser Umstand erst durch Leonard Huxleys 1918 veröffentlichte Biografie über Joseph Dalton Hooker. Durch Francis Darwin auf seinen Brief vom 2. Juli 1860 an Charles Darwin angesprochen, der eine kurze Darstellung des Vorfalls enthielt, antwortete Hooker 1887, dass dieser enthalte. Darin hatte Hooker an Darwin geschrieben: Er fragte jedoch bei Francis Darwin nach: .
Eine knappe Schilderung des Vorgangs durch Thomas Henry Huxley, die sein Sohn Leonard noch vermisst hatte, ist in einem am 9. September 1860 von Huxley an Frederick Daniel Dyster geschriebenen Brief enthalten, der 1953 teilweise veröffentlicht wurde:
In einem in der Bodleian Library aufbewahrten und an Charles Henry John Anderson, 9. Baronet (1804–1891) gerichteten Brief gab Wilberforce drei Tage nach dem Ereignis seinerseits einen kurzen Bericht darüber:
Ein weiterer Augenzeugenbericht befindet sich in der Manuskriptsammlung der University of St Andrews. In einem auf den 5. Juli 1860 datierten Brief schrieb der Physiker Balfour Stewart an James David Forbes:
Darstellung der Debatte in der zeitgenössischen Presse
Die Satirezeitschrift Punch, die sonst gern bissig gegen Wilberforce vorging, ignorierte das Ereignis. Die Ausgabe vom 7. Juli 1860 der Londoner Wochenzeitschrift The Press berichtete: In der einzigen Zeitschrift, die über die Auseinandersetzung berichtete, teilte ihr Reporter mit, dass Der mit über 2000 Worten längste Bericht erschien am 14. Juli 1860 in der Zeitschrift Athenaeum. Federführend bei diesem Bericht war möglicherweise Edwin Lankester, der Sekretär der Sektion D.
Vorträge
Anstatt wie gewöhnlich im Vorlesungsraum fand die Samstagssitzung der Sektion D für Zoologie und Botanik, einschließlich der Physiologie, in den Räumlichkeiten der künftigen Bibliothek des Oxford University Museum of Natural History statt. Als Redner waren George Henry Kinahan, John Obadiah Westwood, Robert MacAndrew, Cuthbert Collingwood, Francis Orpen Morris und John William Draper angekündigt, wobei – wie die Literary Gazette verlauten ließ – die letzten drei Vorträge gegen 12 Uhr beginnen sollten. Gleichzeitig würde die Sitzung der Untersektion Physiologie unterbrochen, damit alle Teilnehmer an der anschließenden Diskussion teilnehmen könnten.
Kinahans Beitrag wurde den Versammelten von MacAndrew verlesen. Aus dem von Morris angekündigten Vortrag mit dem Titel On the Permanence of Species wurden, da Morris ebenfalls nicht anwesend war, bereits am Vormittag nur Teile seiner Arbeit durch Charles Cardale Babington vorgetragen. Die Nachmittagsveranstaltung begann mit Bekanntgaben von Charles Giles Bridle Daubeny, MacAndrew und Edwin Lankester, an die sich der Vortrag von Collingwood On Recurrent Animal Form and its Significance in Systematic Zoology anschloss. Es war jedoch der darauf folgende Vortrag des US-Amerikaners Draper, einem Befürworter der Abstammungstheorie, der laut Athenaeum für den Zustrom einer großen Zuhörerschaft sorgte. Nach Schätzungen des Evening Star waren 400 bis 500 Personen im Auditorium versammelt. Hooker hingegen schätzte die Anzahl der Versammelten auf 700 bis 1000. Drapers Vortrag On the Intellectual Development of Europe, considered with reference to the views of Mr. Darwin and others… (Über die geistige Entwicklung Europas unter dem Gesichtspunkt der Ansichten von Mr. Darwin und anderen…) dauerte zwischen einer und anderthalb Stunden.
Debatte
Die sich an den Vortrag von Draper anschließende Diskussion wurde von John Stevens Henslow geleitet. Der erste Beitrag kam von Richard Greswell, der jeden Vergleich zwischen dem geistigen Fortschritt des Menschen mit der körperlichen Entwicklung der niederen Tiere ablehnte. Benjamin Collins Brodie stellte fest, dass er sich der Hypothese von Darwin nicht anschließen könne. Der Mensch habe die Fähigkeit des Selbstbewusstseins, und diese Fähigkeit des Menschen sei identisch mit der göttlichen Intelligenz. Laut Philip Pearsall Carpenter machte daraufhin ein junger Geistlicher lächerliche Bemerkungen und wurde von Henslow mit der Unterstützung der Zuhörerschaft zum Schweigen gebracht. Als Huxley anschließend von Henslow aufgefordert wurde, sich zu äußern, lehnt dieser mit der Bemerkung ab, dass er etwas erwidern werde, wenn es etwas zu argumentieren gebe.
Dem Bericht des Evening Star zufolge wies anschließend Wilberforce aufs Heftigste auf die Bedeutung jener Einwände hin, die durch Fachleute wie Benjamin Brodie und Richard Owen gegen Darwins Theorie vorgebracht würden. Der Darstellung im Athenaeum zufolge handle es sich um keine richtige induktive Theorie. Alle Versuche zu zeigen, dass es irgendeine Neigung eines Tieres gebe, die Form eines anderen anzunehmen, seien gescheitert. Wilberforce betonte, dass es eine deutliche Grenze zwischen dem Menschen und den niederen Tieren gebe. Es gebe keine Tendenz seitens der niederen Tiere das selbstbewusste intelligente Wesen Mensch zu werden oder beim Menschen eine zu degenerieren und die hohen Eigenschaften seines Geistes und der Intelligenz zu verlieren. Darwins Schlussfolgerungen seien eine Hypothese, einer kausalen Theorie philosophisch höchst unwürdig. Daraufhin verteidigte Huxley Darwins Theorie gegenüber dem Vorwurf, bloß eine Hypothese zu sein. Sie biete eine Erklärung für naturgeschichtliche Phänomene, so wie die Wellentheorie die Phänomene des Lichtes erkläre. Sie erkläre Tatsachen, und sein Buch sei voll von neuen Tatsachen. Ohne behaupten zu wollen, dass jeder Teil der Theorie bestätigt sei, böte sie jedoch die beste Erklärung für den Ursprung der Arten, die bisher vorgelegt worden sei. Im Hinblick auf die psychischen Unterschiede zwischen Mensch und Tier, fuhr Huxley fort, sei der Mensch selbst einst eine Monade gewesen, ein bloßes Atom, und niemand könne sagen, zu welchem Zeitpunkt in der Geschichte seiner Entwicklung er intelligent wurde. Die Frage sei nicht so sehr die einer Transmutation oder eines Übergangs der Arten, sondern jene, wie Formen entständen, die beständig blieben.
Robert FitzRoy, unter dessen Kommando Charles Darwin von 1831 bis 1836 an der zweiten Expedition der HMS Beagle teilgenommen hatte, bedauerte die Veröffentlichung von Darwins Buch und widersprach Huxleys Äußerung, dass es eine logische Abfolge von Tatsachen sei. Lionel Smith Beale, der nach FitzRoy das Wort ergriff, wies auf einige Schwierigkeiten hin, mit denen sich die Darwinsche Theorie auseinandersetzen müsse, insbesondere jene grundsätzliche Neigung verwandter Arten, die unabhängig von allen äußeren Einflüssen zu sein scheinen. John Lubbock drückte seine Bereitschaft aus, die darwinsche Hypothese zu tolerieren, solange es keine bessere gebe.
Zum Abschluss wurde Hooker von Henslow, seinem Schwiegervater, gebeten, sich über den botanischen Gesichtspunkt der Problematik zu äußern. Das Athenaeum räumte Hookers Diskussionsbeitrag in seinem Bericht den breitesten Raum ein und schrieb unter anderem:
Publikum
Einige wichtige Persönlichkeiten waren abwesend. Charles Darwin hielt sich zur Rekonvaleszenz in Richmond auf. Michael Faraday kehrte an diesem Morgen mit starken Kopfschmerzen nach London zurück. William Whewell und David Brewster waren ebenso abwesend wie Charles Lyell und Richard Owen.
Der Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Royal Institution of Great Britain Frank A. J. L. James hat eine Liste derjenigen Personen zusammengestellt, die als Teilnehmer des Treffens identifiziert werden konnten, und die einen Überblick über Alter, Herkunft und Tätigkeit ermöglicht. Das Durchschnittsalter der Anwesenden lag bei 43,3 Jahren. Eine deutliche Mehrheit von ihnen stammte aus Oxford, außerdem waren zahlreiche Mitglieder des Komitees der Sektion D für Zoologie und Botanik, einschließlich der Physiologie darunter. Neben den bereits genannten Teilnehmern waren unter anderem noch der Arzt Henry Wentworth Acland (1815–1900), der Chemiker Benjamin Collins Brodie jr., der Leipziger Zoologe und Übersetzer von Darwins Schriften Julius Victor Carus, der aus Durham stammende Geistliche John Dingle (1812–um 1886), der Londoner Geistliche Thomas Simpson Evans (1797–1880), der Cambridger Politiker Henry Fawcett, der Physiologe Michael Foster, der Philosoph Thomas Hill Green, Vizekanzler Francis Jeune (1806–1868), der Dubliner Naturphilosoph Humphrey Lloyd, der Politiker Richard Monckton Milnes, der Bostoner Mathematiker Benjamin Peirce, der Arzt George Rolleston, der Geologe Wilfred Hudleston Simpson, der Dubliner Naturphilosoph George Johnstone Stoney, der Naturforscher Henry Baker Tristram und der Schuldirektor aus Oxford William Tuckwell anwesend.
Moderne Rezeption
Für Stephen Jay Gould zählt die Huxley-Wilberforce-Debatte zu dem halben Dutzend der bedeutendsten Legenden in der Wissenschaftsgeschichte, wie beispielsweise Archimedes „Heureka“-Ausruf und der „Apfelfall“, der Isaac Newton zu seinem Gravitationsgesetz inspiriert haben soll. Nach Meinung von James Moore, Co-Autor der 1991 mit Adrian Desmond veröffentlichten Biografie über Charles Darwin, ist die Debatte nach der Schlacht bei Waterloo die zweitbekannteste ‚Schlacht‘ des 19. Jahrhunderts.
Am 31. Oktober 1978 begann die BBC mit der Ausstrahlung der siebenteiligen Miniserie The Voyage of Charles Darwin, deren deutsche Erstausstrahlung unter dem Titel Die Reise von Charles Darwin vom 9. Juli 1979 an in der ARD erfolgte. Die Serie beruht auf einem Drehbuch von Robert Reid (1933–1990), Regie führte Martyn Friend (* 1942). In der abschließenden, von der BBC erstmals am 12. Dezember 1978 ausgestrahlten Folge wurde die Debatte zwischen Thomas Henry Huxley, dargestellt von Joseph Blatchley (* 1948), und Samuel Wilberforce, dargestellt von Robert Stephens, nachgespielt und so wieder ins Bewusstsein einer breiten Öffentlichkeit gerückt.
Angeregt durch die Fernsehdarstellung trug der britische Philosoph John Randolph Lucas die tatsächlich nachweisbaren Fakten zusammen und analysierte sie. Er hielt es für unwahrscheinlich, dass sich Wilberforce derart über Huxleys Abstammung geäußert habe, und konstatierte eine Bedeutungsverschiebung in der Auslegung des Ereignisses, die seiner Meinung darauf zurückzuführen ist, dass sich die Befürworter der darwinschen Evolutionstheorie zu dieser Zeit in der Rolle einer unterdrückten Minderheit sahen. John Hedley Brooke (* 1944), ehemaliger Professor für Naturwissenschaft und Religion an der Universität Oxford, sah in der Darstellung der Debatte durch Francis Darwin und Leonard Huxley alle Gesichtspunkte eines „Gründungsmythos“ erfüllt, um einen entscheidenden Moment der sich abzeichnenden Professionalisierung der Wissenschaften nachhaltig hervorzuheben. Joseph L. Altholz (1933–2003) vom Department of History an der University of Minnesota merkte an, dass nicht die Redner, sondern die Zuschauer der Debatte das Nachwirken derselben geschaffen hätten.
Literatur
Ende 1970er/1980er
Janet Browne: The Charles Darwin-Joseph Hooker correspondence: an analysis of manuscript resources and their use in biography. In: Journal of the Society for the Bibliography of Natural History. Band 8, 1978, S. 351–366 (doi:10.3366/jsbnh.1978.8.4.351).
John Randolph Lucas: Wilberforce and Huxley: A Legendary Encounter. In: Historical Journal. Band 22, Cambridge University Press 1979, S. 313–330 ().
John Randolph Lucas: Wilberforce no Ape. In: Nature. Band 287, 9. Oktober 1980, S. 480 ().
Richard W. Wrangham: Bishop Wilberforce: Natural Selection and the Descent of Man. In: Nature. Band 287, 18. September 1980, S. 192 ().
Joseph L. Altholz: The Huxley-Wilberforce Debate Revisited. In: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences. Band 35, 1980, S. 313–316, ().
Sheridan Gilley, Ann Loades: Thomas Henry Huxley: The War Between Science and Religion. In: The Journal of Religion. Band 61, 1981, S. 285–308 ().
Sheridan Gilley: The Huxley-Wilberforce Debate: A Reconstruction. In: Keith Robbins (Hrsg.): Religion and Humanism. Studies in Church History, Band 17, Blackwell, Oxford 1981, ISBN 0-631-19270-0, S. 325–340.
Edmund R. Leach: Men, bishops and apes. In: Nature. Band 293, September 1981, S. 19–21 ()
Stephen Jay Gould: Soapy Sams Logic. A True Scoundrel but with Redeeming Value. In: Natural History. Band 95, Nummer 4, 1986, S. 16–18.
Stephen Jay Gould: Knight takes Bishop? The Facts about the Great Wilberforce-Huxley Debate Don't Always Fit the Legend. In: Natural History. Band 95, Nummer 5, 1986, S. 18–33.
John Vernon Jensen: Return to the Wilberforce-Huxley debate. In: British Journal for the History of Science. Band 21, 1988, S. 161–179 ().
1990er
“Debate” with Bishop Wilberforce, 1860. In: John Vernon Jensen: Thomas Henry Huxley: Communicating for Science. Associated University Presse, 1991, ISBN 0-87413-379-3, S. 63–86.
Edward Caudill: The Bishop-Eaters: the publicity campaign for Darwin and On the Origin of Species. In: Journal of the History of Ideas. Band 55, Nummer 3, 1994, S. 441–460 ().
Edward Caudill: Darwinian Myths: The Legends and Misuses of a Theory. 1. Auflage, University of Tennessee Press, 1997, ISBN 0-87049-984-X.
ab 2000
Keith S. Thomson: Huxley, Wilberforce and the Oxford Museum. In: American Scientist. Band 88, Nummer 5, 2000, S. 210–213 (doi:10.1511/2000.3.210, online)
J. H. Brooke: The Wilberforce-Huxley Debate: Why did it happen?. In: Science & Christian Belief Band 13, 2001, S. 127–141, (online, PDF).
Frank A. J. L. James: An ‚Open Clash between Science and the Church‘?: Wilberforce, Huxley and Hooker on Darwin at the British Association, Oxford, 1860. In: David M. Knight, Matthew Eddy (Hrsg.): Science and Beliefs. From Natural Philosophy to Natural Science, 1700–1900. Hamshire/Burlington 2005, ISBN 0-7546-3996-7, S. 171–193.
„Ape-Theory“ Huxley contra Wilberforce. In: Thomas Gondermann: Evolution und Rasse: Theoretischer und institutioneller Wandel in der viktorianischen Anthropologie. transcript Verlag, 2007, ISBN 978-3-89942-663-2, S. 100–104.
David J. Depew: Darwinian Controversies: An Historiographical Recounting. In: Science & Education. Springer, 2009, S. 323–366 ().
Ian Hesketh: Of Apes and Ancestors: Evolution, Christianity, and the Oxford Debate. University of Toronto Press, 2009, ISBN 978-0-8020-9284-7.
Primärquellen
Zeitgenössische
Tagebucheinträge und Briefe
Samuel Wilberforce, Tagebucheintrag vom 30. Juni 1860 ? Bodleian MS Wilberforce dep. e.327.
Benjamin Peirce: [Tagebucheintrag vom 30. Juni 1860]. In: Nathan Reingold: Science in Nineteenth-Century America. A Documentary history. New York 1964, S. 197–198.
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[Anonym]: The Evening Star. 2. Juli 1860, S. 3, Spalte 2.
[Anonym]: The Guardian. 4. Juli 1860, S. 593.
[Anonym]: The Athenaeum. Nummer 1706, 7. Juli 1860, S. 19, S. 25–26, (S. 18–32).
[Anonym]: The Press. 7. Juli 1860, S. 656.
[Anonym]: The Literary Gazette. A weekly journal of literature, science, and the fine arts. Neue Folge, Band 5, 7. Juli 1860, S. 807, S. 812 (S. 807–813).
[Anonym]: John Bull. 7. Juli 1860, S. 422.
[Anonym]: The Inquirer. 7. Juli 1860, S. 566.
[Anonym]: Oxford University Herald. 7. Juli 1860, S. 8.
[Anonym]: Oxford Chronicle. 7. Juli 1860, S. 2, Spalte 5.
[Anonym]: Jackson’s Oxford Journal. Nummer 5593, 7. Juli 1860, S. 2, Spalte 6.
[Anonym]: Illustrated London News. 7. Juli 1860, S. 3.
[Anonym]: The Athenaeum. Nummer 1707, 14. Juli 1860, S. 64–65, (S. 59–69).
Henry Fawcett: A Popular Exposition of Mr. Darwin on the Origin of Species. In: Macmillan’s Magazine. Band 3, S. 81–92, London Dezember 1860 (online).
Berichte vom Hörensagen
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Charles Lyell an Charles Bunbury, Brief vom 4. Juli 1860. In: Mrs Lyell: Life of Sir Charles Lyell. J. Murray, London 1881, Band 2, S. 334–336 (online).
Mountstuart Elphinstone Grant Duff: [Tagebucheintrag vom 4. Juli 1860]. In: Mountstuart Elphinstone Grant Duff: Notes from a Diary, 1851–1872. 2 Bände, J. Murray, London 1897, Band 1, S. 139 (online).
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Spätere
Wiedergabe der Debatte von 1880 bis 1921
Russell Lant Carpenter (Hrsg.): Memoirs of the Life and Work of Philip Pearsall Carpenter: Chiefly Derived from His Letters. 2. Auflage, C. Kegan Paul & Co., London 1880, S. 243–249 (online).
Reginald Garton Wilberforce: Life of the Right Reverend Samuel Wilberforce: With Selections from his Diaries and Correspondence. Band 2, J. Murray, London 1880, S. 450–451 (online).
Katherine Murray Lyell: Life of Sir Charles Lyell. J. Murray, London 1881, Band 2, S. 334–336 (online).
Edward Burnett Tylor: Life of Dr. Rolleston. In: William Turner (Hrsg.): Scientific Papers and Addresses by George Rolleston. Clarendon Press London 1884, Band 1, S. IX–XV, S. XXXIII–XXXIV.
Leslie Stephen: Life of Henry Fawcett. Smith, Elder & Co., London 1885, S. 99 (online).
Francis Darwin: The Life and Letters of Charles Darwin. 3 Bände, John Murray, London 1887, Band 2, S. 320–323 (online).
Leben und Briefe von Charles Darwin. 3 Bände, Aus dem Englischen übersetzt von J. Victor Carus, Schweizerbart, Stuttgart 1887, Band 2, S. 312–317 (online).
Alfred Newton: Early days of Darwinism. In: Macmillan’s Magazine. Band 57, Februar 1888, S. 241–249 (online).
Francis Darwin: Charles Darwin. His life told in an autobiographical chapter, and in a selected series of his published letters. John Murray, London 1892, S. 236–243 (online).
Charles Darwin. Sein Leben, dargestellt in einem autobiographischen Capitel und in einer ausgewählten Reihe seiner veröffentlichten Briefe. Autorisierte deutsche Ausgabe, Aus dem Englischen übersetzt von J. Victor Carus, Schweizerbart, Stuttgart 1893, S. 269–276 (online)
Edward Bagnall Poulton: Charles Darwin and the theory of natural selection. London 1896, S. 153–156 (online).
John Eyton Bickersteth Mayor: Memorials, journal and botanical correspondence of Charles Cardale Babington. Macmillan & Bowes, Cambridge 1897, S. XX, S. XXXI (online).
[Isabel Sidgwick]: A Grandmother’s Tales. In: Macmillan’s Magazine. Band 78, Nummer 468, Oktober 1898, S. 425–435 (online).
Leonard Huxley: Life and Letters of Thomas Henry Huxley. 2 Bände, Macmillan, London 1900, Band 1, S. 179–189 (online).
William Tuckwell: Reminiscences of Oxford. London 1901, S. 50–54 (online).
Leslie Stephen: Letters of John Richard Green. Macmillan & Co., London/New York 1901, S. 42–45 (online).
James Beresford Atlay: Sir Henry Wentworth Acland, regius professor of medicine in the University of Oxford. A memoir. Smith, Elder & Co., London 1903, S. 302–303 (online).
James Bryce: Personal Reminiscences of Charles Darwin and of the Reception of the “Origin of Species”. In: Proceedings of the American Philosophical Society Band 48, Nummer 193, September 1909, S. III–XIV, XI–XII (online).
Leonard Huxley: Life & Letters of Sir Joseph Dalton Hooker. 2 Bände, J. Murray, London 1918; Band 1, S. 520–527; Band 2, S. 303–304.
Alexander Frederick Richard Wollaston: Life of Alfred Newton. J. Murray, London 1921, S. 118–120 (online).
Reginald Garton Wilberforce: Life of the Right Reverend Samuel Wilberforce: With Selections from his Diaries and Correspondence. Band 2, J. Murray, London 1880, S. 450–451 (online).
Mountstuart Elphinstone Grant Duff: Notes from a Diary, 1851–1872. 2 Bände, J. Murray, London 1897, Band 1, S. 139 (online).
Briefe
Julius Victor Cams an Francis Darwin, Brief [ca. 1886]. In: Francis Darwin: The Life and Letters of Charles Darwin. 3 Bände, John Murray, London 1887, Band 2, S. 322 (online).
Joseph Dalton Hooker an Francis Darwin. Brief vom 30. Oktober 1886. In: Leonard Huxley: Life & Letters of Sir Joseph Dalton Hooker. 2 Bände, J. Murray, London 1918; Band 2, S. 303 (online).
[Joseph Dalton Hooker] an Francis Darwin, Brief ca. 21. November 1886. In: Francis Darwin: The Life and Letters of Charles Darwin. 3 Bände, John Murray, London 1887, Band 2, S. 321–323 (online).
Joseph Dalton Hooker an Francis Darwin, Brief vom 21. November 1886. In: Leonard Huxley: Life & Letters of Sir Joseph Dalton Hooker. 2 Bände, J. Murray, London 1918; Band 2, S. 303 (online).
Joseph Dalton Hooker an Francis Darwin, Brief 1887. In: Leonard Huxley: Life & Letters of Sir Joseph Dalton Hooker. 2 Bände, J. Murray, London 1918; Band 2, S. 303 (online).
Joseph Dalton Hooker an Francis Darwin, Brief vom 10. März 1887. In: Leonard Huxley: Life & Letters of Sir Joseph Dalton Hooker. 2 Bände, J. Murray, London 1918; Band 2, S. 304 (online).
Reginald Wilberforce an The Times, Brief vom 28. November 1887. In: The Times. 29. November 1887, S. 10, Spalte 4.
Thomas Henry Huxley an The Times, Brief vom 30. November 1887. In: The Times. 1. Dezember 1887, S. 8, Spalte 4.
William Henry Fremantle an Francis Darwin, Brief [ca. 1888]. In: Francis Darwin: Charles Darwin. His life told in an autobiographical chapter, and in a selected series of his published letters. John Murray, London 1892, S. 238–239 (online).
William Henry Fremantle an Francis Darwin, Brief vom 28. Juli 1888. CUL MS DAR 107, S. 21–22 (CUL MS DAR = The Darwin Papers, Manuscripts Room, Cambridge University Library).
Thomas Henry Huxley an Francis Darwin, Brief vom 27. Juni 1891. In: Francis Darwin: Charles Darwin. His life told in an autobiographical chapter, and in a selected series of his published letters. John Murray, London 1892, S. 240–241 (online).
George Johnstone Stoney an Francis Darwin, Brief vom 17. Mai 1895. CUL MS DAR 107, S. 36–39.
George Johnstone Stoney an Francis Darwin, Brief vom 18. Mai 1895. CUL MS DAR 107, S. 40–41.
John Lubbock an Francis Darwin, Brief vom 2. Januar 1896. CUL MS DAR 107, S. 30.
Isabel Sidgwick an Leonard Huxley, Brief [späte 1890er]. In: Leonard Huxley: Life and Letters of Thomas Henry Huxley. 1900, Band 1, S. 185, 188–189 (online).
Augustus George Vernon Harcourt an Leonard Huxley, Brief vom 9. Juli 1899. In: Leonard Huxley: Life and Letters of Thomas Henry Huxley. 1900, Band 1, S. 185 (online).
Adam Storey Farrar an Leonard Huxley, Brief vom 12. Juli 1899. In: Leonard Huxley: Life and Letters of Thomas Henry Huxley. 1900, Band 1, S. 182–183, S. 183–184 (online).
Weblinks
British Association meeting 1860 im Darwin Correspondence Project
Einzelnachweise
Wissenschaftliche Kontroverse
Ereignis 1860
Biologiegeschichte
Evolution |
7729808 | https://de.wikipedia.org/wiki/Super%20Mario%203D%20World | Super Mario 3D World | Super Mario 3D World ist ein Videospiel, das zum Genre der 3D-Jump-’n’-Runs gehört. Es wurde im November 2013 vom japanischen Spielekonzern Nintendo für seine Heimkonsole Wii U veröffentlicht. Das Spiel ist der sechste 3D- und der insgesamt 18. Teil der Super-Mario-Reihe und der Nachfolger des Ende 2011 für das Handheld Nintendo 3DS erschienenen Super Mario 3D Land. Unter dem Titel Super Mario 3D World + Bowser’s Fury ist am 12. Februar 2021 eine erweiterte Version des Spiels für die Nintendo Switch erschienen.
Als erstes 3D-Spiel der Super-Mario-Serie bietet 3D World HD-Grafik sowie neben dem Einzelspieler- auch einen simultanen Mehrspieler-Modus für bis zu vier Personen. Dabei kommen neben dem Serienprotagonisten Mario die Charaktere Luigi, Prinzessin Peach, Toad und als geheimer Charakter Rosalina zum Einsatz. Das grundlegende Spielprinzip ähnelt dem des Vorgängers 3D Land und besteht darin, die Spielfigur durch zahlreiche dreidimensionale, lineare Level zum Ziel zu manövrieren. Die Leitthematik des Spiels ist die neue Katzenverwandlung. Das Spielziel besteht darin, die von Bowser entführten Feenprinzessinnen zu befreien.
Ein zuletzt etwa einhundertköpfiges Team des Nintendo-Studios EAD Tokyo entwickelte Super Mario 3D World innerhalb eines Zeitraums von ungefähr anderthalb Jahren. Als Projektleiter fungierten Kōichi Hayashida und Kenta Motokura, die kreativen Köpfe hinter 3D Land. Der zum Teil von einer Big Band sowie einem Orchester eingespielte Soundtrack des Spiels entstammt unter anderem den Federn der Mario-Komponisten Mahito Yokota und Kōji Kondō.
Die Spielepresse rezipierte Super Mario 3D World nach seiner Enthüllung Mitte 2013 zwar positiv, attestierte ihm jedoch zurückhaltend bis enttäuscht einen „scheinbaren Innovationsmangel“. Zu seiner Veröffentlichung hingegen erhielt der Titel sehr positive Kritiken. Insbesondere das ideen- und abwechslungsreiche Leveldesign stieß auf ein äußerst positives Echo. Mit einem Metascore von 93 Punkten zählt Super Mario 3D World zu den bestbewerteten Computerspielen des Jahres 2013. Es ist außerdem mit bis März 2014 über zwei Millionen Verkäufen eines der erfolgreichsten Wii-U-Spiele.
Spielbeschreibung
Hintergrundgeschichte
Als der Klempner Mario eines Abends mit seinem Bruder Luigi und seinen Freunden Prinzessin Peach und Toad durch das Pilzkönigreich spazieren geht, stoßen die vier auf eine durchsichtige Röhre. Aus dieser kommt ihnen eine Feenprinzessin entgegen. Sie berichtet, dass der Bösewicht Bowser ihre befreundeten Feen in Flaschen gesperrt habe und nun gefangen halte. Daraufhin taucht Bowser selbst aus der Röhre auf und fängt auch sie als letzte der Feenprinzessinnen. Mario und seine Freunde machen sich sofort auf und verfolgen Bowser durch die transparente Röhre. Diese führt sie in das von Bowser und seinen Schergen überfallene Feenland.
Spielprinzip
Das Spielprinzip von Super Mario 3D World baut auf das des Vorgängers Super Mario 3D Land (3DS, 2011) auf. Der Spieler übernimmt die Rolle einer der zur Auswahl stehenden Spielfiguren und steuert diese durch Spielabschnitte („Level“) im dreidimensionalen Raum. Die Level sind mit Hindernissen und Gegnern gespickt, die es zu überwinden gilt. Von Beginn an stehen vier Spielfiguren zur Verfügung, die je Eigenarten in der Steuerung aufweisen. Mario ist eine ausgeglichene Spielfigur, Luigi springt höher und weiter, Prinzessin Peach kann für kurze Zeit in der Luft schweben, wodurch sie für Spieleinsteiger geeignet ist, und Toad rennt schneller als die anderen Figuren, sodass er für fortgeschrittene Spieler attraktiv ist. Nach dem Abschluss des Hauptspiels wird ein fünfter spielbarer Charakter freigeschaltet. Dabei handelt es sich um Prinzessin Rosalina aus Super Mario Galaxy (Wii, 2007). Sie steuert sich ähnlich wie Peach und verfügt über eine zusätzliche Drehattacke, mit der sie Gegner angreifen und in der Luft ein zweites Mal springen kann.
Neben dem Einzelspieler-Modus gibt es in Super Mario 3D World auch einen Mehrspielermodus, in welchem bis zu vier Personen simultan lokal spielen können. Ob sie kompetitiv oder kooperativ spielen, bleibt ihnen überlassen. Die zu bewältigenden Level sind dabei identisch zu denen des Einzelspielermodus. Am Ende jedes im Mehrspielermodus bewältigten Levels wird der erfolgreichste Spieler gekürt. Das Spiel unterstützt im Einzel- wie auch im Mehrspieler-Modus als Controller das Wii U GamePad, die Wii-Fernbedienung/Wii-Fernbedienung Plus (beide optional mit Nunchuk), den Wii U Pro Controller sowie den Wii Classic Controller Pro. Einige Features des Spiels sind auf das Wii U GamePad abgestimmt. So lässt sich etwa durch Neigen des Controllers die ansonsten isometrische Kameraperspektive leicht ändern und mithilfe des integrierten Touchscreens kann der Spieler mit der Spielwelt interagieren. Ferner ist es möglich, Super Mario 3D World unabhängig vom Fernseher ausschließlich auf dem Bildschirm des GamePads zu spielen („Off-TV“).
Die einzelnen Level des Spiels sind zu sogenannten Welten zusammengefasst. Jede Welt bietet eine frei begehbare Weltkarte, über die der Spieler den nächsten Level anwählen kann. Der Spielfortschritt gestaltet sich dabei linear: Nach Abschluss eines Levels werden die folgenden Level auf der Karte freigeschaltet. Der letzte Level jeder Welt endet mit einem Bosskampf. Sofern der Spieler diesen besteht, wird die folgende Welt freigeschaltet. Nach insgesamt acht Welten steht der Kampf gegen den Endgegner an. Anschließend hat der Spieler das Hauptspiel abgeschlossen. Darauf folgen noch zusätzliche Welten.
Innerhalb des Spiels kann der Spieler sogenannte Stempel einsammeln. Diese kann er für Beiträge im sozialen Netzwerk Miiverse verwenden. Miiverse-Einträge können direkt über das Spiel verfasst werden. Sofern die entsprechende Option aktiviert ist, kann sich der Spieler zudem Miiverse-Beiträge anderer Spieler zum aktuellen Level anzeigen lassen. Außerdem werden über das Internet Geistdaten ausgetauscht. Dadurch ist es möglich, in einem Level gegen den Geist eines anderen Spielers anzutreten.
Power-ups
In Super Mario 3D World gibt es mehrere nutzbringende Power-ups, die der Spielfigur zusätzliche Fähigkeiten sowie einen dritten Trefferpunkt verleihen. Wird die Spielfigur in diesem Zustand von einem Gegner oder einer Gefahr verletzt, verwandelt sie sich in ihren Normal-Zustand zurück und verliert die Fähigkeiten des Power-ups. Nach einer Verletzung im Normal-Zustand verliert die Spielfigur einen weiteren Trefferpunkt und wird kleiner; verletzt sie sich nun noch einmal, so verliert der Spieler einen Versuch und muss am Beginn oder in der Mitte des Levels neu starten. Sobald alle Versuche aufgebraucht sind, ist das Spiel vorbei.
Zu den neuen Power-ups im Spiel zählt die Superglocke. Sie verwandelt die Spielfigur in eine Katze. In diesem Zustand bewegt sie sich auf allen Vieren fort, kann Gegner im Sprung angreifen und Wände hinaufkraxeln. Ein weiteres neues Power-up ist die Doppelkirsche, die die Spielfigur vervielfältigt. Bis zu fünf Exemplare einer Spielfigur können so entstehen, die alle auf einmal gesteuert werden. Ferner gibt es eine Gumba-Maske, dank der die Spielfigur von Gegnern nicht erkannt wird. Weitere Power-ups im Spiel sind eine aufsetzbare Lampe, eine tragbare Gegner-verschlingende Piranha-Pflanze sowie die aus den Vorgängerspielen bekannten Feuer-, Unbesiegbarkeits- und Bumerang-Verwandlungen. Ebenso wiederkehrend sind der Super-Pilz, der eine Figur im Klein- in ihren Normal-Zustand verwandelt, sowie der Grüne Pilz, der einen Bonusversuch einbringt.
Eine Neuerung im Vergleich zu den Vorgängern stellen die nun transparenten Röhren dar. Wie schon in früheren Super-Mario-Spielen dienen sie auch hier als Fortbewegungsmittel. Diesmal kann der Spieler zusätzlich in sie hinein gucken und die Reise der Spielfigur durch diese Röhren steuern. Auf diese Weise kann der Spieler neue Wege freischalten oder Power-ups erhalten.
Entstehungsgeschichte
Projektdetails
Für die Entwicklung von Super Mario 3D World zeichnete das Nintendo-Studio Entertainment Analysis & Development Tokyo 2 (EAD Tokyo 2) verantwortlich, das bereits die vorherigen 3D-Super-Mario-Spiele hervorgebracht hat. Als Produzenten waren die EAD-Manager und Mario-Erfinder Shigeru Miyamoto und Takashi Tezuka sowie der Abteilungsleiter Yoshiaki Koizumi beteiligt. Die Aufgaben des Projektleiters teilten sich Kōichi Hayashida und Kenta Motokura. Etwa acht Mitarbeiter der Nintendo-Tochter 1-UP Studio leisteten Unterstützung. Das Team hinter Super Mario 3D World war mit zuletzt etwa 100 Mitgliedern das größte in der Geschichte von EAD Tokyo.
Miyamoto war im Gegensatz zu früheren Mario-Produktionen kaum direkt am Spieldesign beteiligt. Stattdessen erfüllte er die Aufgaben eines Supervisors, indem er dem Entwicklerteam Rückmeldungen gab und Vorschläge machte. Er bestand etwa darauf, die Levelenden durch Zielfahnen zu markieren. Koizumi war während der Planungsphase des Spiels an der eigentlichen Entwicklung beteiligt und später damit beschäftigt, das Team um neue Mitarbeiter zu erweitern. Als Direktoren werden in den Credits sowohl Hayashida als auch Motokura gelistet, tatsächlich jedoch war Hayashida, zuvor Projektleiter von Super Mario Galaxy 2 (Wii, 2010) und Super Mario 3D Land, eher als Berater involviert. Er programmierte abseits dessen den Bonusmodus Luigi Bros. (siehe Abschnitt „Luigi Bros. / NES Remix“) und arbeitete an der Miiverse-Integration des Spiels. Die eigentliche Projektleitung oblag somit Motokura, dem zuvor leitenden Designer von 3D Land. Für ihn stellte Super Mario 3D World das Regiedebüt dar.
Hintergrund und Vorproduktion
Nach der Fertigstellung von Super Mario Galaxy 2 im Mai 2010 begann EAD Tokyo die Überlegungen für das nächste 3D-Super-Mario-Spiel. Einen dritten Teil der Galaxy-Serie lehnte das Studio vorerst ab. Stattdessen erdachte Hayashida ein neues Konzept, das die Spielweise der 3D-Super-Mario-Spiele mit jener der zweidimensionalen, linearen und erfolgreicheren New-Super-Mario-Bros.-Titel (DS, 2006) vermengte. Als Zielplattform wählten Hayashida und sein Team das Handheld Nintendo 3DS – aus Interesse an dessen autostereoskopischem 3D-Effekt. Nach anderthalbjähriger Entwicklungsphase erschien das erste Handheld-Projekt von EAD Tokyo im November 2011 als Super Mario 3D Land.
Seit Beginn des Projektes war auch eine Heimkonsolen-Umsetzung des Konzeptes vorgesehen. Der Markterfolg von 3D Land bestärkte das Team in diesen Plänen. Als die eigentlichen Arbeiten an dem Heimkonsolen-Spiel Ende 2011 starteten, stand das Spielkonzept also größtenteils bereits fest. Parallel zu dem neuen Projekt entstand die hauseigene Spiel-Engine von Super Mario 3D World. Die Entwicklung des Spiels lief reibungslos und geradlinig ab.
Entwicklungsprozess
Ähnlich wie bei den Arbeiten an Super Mario Galaxy 2 musste das Entwicklerteam nicht erst das Spielkonzept auf die Beine stellen, sondern konnte sich direkt und während der gesamten Entwicklungszeit neuen Ideen für das Leveldesign widmen. Um dies in möglichst großem und effektivem Ausmaße zu ermöglichen, erlaubte Motokura jedem Teammitglied, eigene Ideen einzubringen. Diese sammelte das Team zentral in Form von Klebezetteln. Nur ein Bruchteil davon schaffte es in das fertige Produkt.
Während das Kernprinzip des Spiels dem Vorgänger entnommen ist, bedient es sich zugleich Elemente weiterer Super-Mario-Spiele. Das Konzept der sammelbaren Grünen Sterne etwa stammt aus Super Mario Galaxy (Wii, 2007) und die vier spielbaren Charaktere mit ihren besonderen Eigenschaften sind Super Mario Bros. 2 (NES, 1988) entnommen. Weitere Referenzen an dieses Spiel, das sich durch viele Unterschiede zum bekannten Super-Mario-Universum auszeichnet, enthält das Konzept von 3D World nicht.
Als das Team zu Beginn der Entwicklung die Aktionen der Spielfigur plante, entstanden die Ideen, dass die Spielfigur auf allen Vieren laufen und Wände hinaufklettern können solle. Von letztgenanntem Aspekt erhoffte sich das Team eine erhöhte Einsteigerfreundlichkeit. Jene zwei Funktionen vereint die Katzen-Verwandlung, die zur zentralen Thematik des Spiels avancierte und sich in dessen Logo widergespiegelt. Die Doppelkirsche fand Eingang in das Spiel, nachdem in Folge eines Programmierfehlers zwei Spielfiguren gleichzeitig in einem Level steuerbar waren. Da das Team die Idee für ansprechend hielt, baute es sie aus und integrierte sie in das Projekt. Die Idee zur Gumba-Maske hingegen bestand schon seit sechs Jahren.
Der Titel Super Mario 3D World stand schon während der frühen Entwicklungsphase fest. Es handelt sich um eine Hommage an Super Mario World (SNES, 1990) – ähnlich wie der Titel des Vorgängers eine Hommage an Super Mario Land (GB, 1989) darstellt. Trotz des Namens bietet das Spiel jedoch kaum Reverenzen an den SNES-Klassiker. Zwar spielte das Team während der Entwicklung mit dem Gedanken, die populäre Spielfigur Yoshi aus Super Mario World einzubinden. Da es in Super Mario 3D World aber bereits Power-ups gibt, die die gleichen Fähigkeiten bieten wie Yoshi, entschied es sich gegen eine Aufnahme des grünen Dinosauriers.
Super Mario 3D World wird in einer nativen Auflösung von 720p bei einer jederzeit konstanten Bildfrequenz von 60 Bildern pro Sekunde („frames per second“, kurz fps) berechnet. Es handelt sich um die erste HD-Produktion von Nintendo EAD Tokyo. Im Vergleich zu früheren Super-Mario-Spielen ist die Licht- und Schattengebung ausgereifter. Im Spiel werden eine dynamische Beleuchtung sowie Kantenbeleuchtung genutzt und Schattierungen werden fehlerfrei dargestellt.
Mehrspieler-Modus
Der Wunsch nach einem simultanen Mehrspieler-Modus in einem Super-Mario-Spiel bestand bereits seit Super Mario Bros. 3 (NES, 1989), konnte jedoch erst mit New Super Mario Bros. Wii (Wii, 2009) realisiert werden. Einen simultanen Mehrspieler-Modus in einem 3D-Spiel wollte das Entwicklerteam schon in Super Mario 64 (N64, 1996) einführen, was damals nicht gelang.
Auch während der Entwicklung von Super Mario 3D Land experimentierte das Team mit einem Mehrspieler-Modus, der es jedoch ebenfalls nicht in das fertige Produkt schaffte. Stattdessen erhoffte sich das Team, einen solchen Modus auf der leistungsstärkeren Wii-U-Konsole umsetzen zu können. Besonders intensiv arbeitete es dabei an der Kameraführung.
Der Mehrspieler-Modus ist ausschließlich lokal; einen Online-Modus gibt es nicht. Nach Auskunft des Produzenten habe das Team zwar bereits seit Super Mario Galaxy mit einem Online-Mehrspieler-Modus experimentiert. Es habe sich für 3D World jedoch dagegen entschieden, da es ein Erlebnis habe schaffen wollen, das von der Kommunikation mit Mitspielern im selben Raum lebt.
Soundtrack
Der Soundtrack von Super Mario 3D World stammt aus der Feder der japanischen Computerspielkomponisten Mahito Yokota, Kōji Kondō, Toru Minegishi und Yasuaki Iwata. Yokota und Kondo hatten unter anderem bereits den Soundtrack zu Super Mario Galaxy verfasst; Kondō ist zudem seit Bestehen der Super-Mario-Reihe für deren Musik verantwortlich. Yokota war als Sounddirector und Hauptkomponist der Verantwortliche des Soundtracks von 3D World. Kondō steuerte zwei Stücke zum Werk bei.
Einige Stücke des Spiels sind von einer Big Band beziehungsweise einem Orchester eingespielt worden. Yokota schrieb Stücke mit „spaßigen, energiegeladenen Themen“ („fun, energetic themes“), welche die Katzenthematik des Spiels unterstreichen sollen. Im Vergleich zum ebenfalls orchestralen Soundtrack der Galaxy-Spiele, der einen epochalen Eindruck erzeugen soll, ist die Musik in 3D World nach Aussage der Komponisten rhythmusbetonter. Die in manchen Stücken verwendeten E-Gitarren beziehungsweise Posaunen sollen das Miauen einer Katze imitieren. Ferner stellen einige Stücke des Soundtracks Arrangements von Stücken älterer Super-Mario-Spiele dar, etwa aus Super Mario Bros. (NES, 1985), Super Mario Bros. 2, Super Mario Galaxy oder Super Mario 3D Land. Arrangements von Stücken aus Super Mario World sind hingegen nicht enthalten.
Ende 2013 erschien in Japan das Original-Soundtrack-Album zu Super Mario 3D World; seit April 2014 ist es auch für europäische und australische Kunden erwerbbar. Erhältlich ist es über den Club Nintendo und umfasst 77 Stücke auf zwei CDs.
Ankündigungen und Präsentationen
Im Juli 2011 bestätigte Koizumi im Interview mit der Website Wired erstmals die Entwicklung eines neuen 3D-Super-Mario-Spiels für die kurz zuvor auf der Spielemesse E3 enthüllte Wii U. Das Projekt befinde sich in einer frühen Phase und solle die speziellen Funktionen der Wii U ausschöpfen, äußerte der Produzent.
Im Januar 2013 kündigte Konzernchef Satoru Iwata an, dass Nintendo auf der E3 2013 ein neues 3D-Super-Mario-Spiel von den Machern von Super Mario Galaxy und Super Mario 3D Land zu enthüllen intendiere. Entsprechend kündigte Nintendo das Spiel während einer Nintendo-Direct-Ausstrahlung am 11. Juni 2013 unter dem Titel Super Mario 3D World an. Iwata präsentierte einen ersten Trailer zum Spiel und versicherte eine globale Markteinführung im Dezember 2013. Anschließend konnten Messebesucher erstmals eine Demo-Version von Super Mario 3D World testen. In den USA war das Spiel darüber hinaus in einigen Filialen der Kette Best Buy anspielbar. Im August 2013 stellte Nintendo das Spiel auf der deutschen Spielemesse Gamescom vor.
Im Rahmen einer Nintendo-Direct-Präsentation am 1. Oktober 2013 veröffentlichte Nintendo den zweiten Trailer zu 3D World. Außerdem teilte der Konzern den finalen Veröffentlichungstermin mit. Nach der ursprünglichen Ankündigung verlegte Nintendo demnach die Markteinführung vor, sodass es im November 2013 erscheinen werde.
Veröffentlichung
Markteinführung
Nintendo brachte Super Mario 3D World in Japan am 21. November 2013 und in Nordamerika einen Tag später heraus. In Europa folgte die Markteinführung des Titels am 29. November, in Australien am Tag darauf. Nintendo vertreibt das Spiel sowohl in physischer Form im Handel als auch als Vollpreis-Download im Nintendo eShop. Als Download belegt Super Mario 3D World einen Speicherplatz von etwa 1,7 GB.
Mitte September 2014 veröffentlichte Nintendo in Nordamerika ein Bundle, das eine Wii U, Super Mario 3D World und Nintendo Land (Wii U, 2012) enthält.
Verkaufszahlen
Während der ersten Verkaufswoche auf dem japanischen Markt gingen von Super Mario 3D World nach Angaben der Famitsu knapp über 100.000 Exemplare über die Ladentheken. Nicht einbezogen in diese Zahl sind digitale Verkäufe. Auf den Wochencharts belegte das Spiel mit diesem Resultat den zweiten Platz. Es handelt sich um das schwächste Marktdebüt eines 3D-Super-Mario-Spiels in Japan. Im Vergleich zur Vorwoche stiegen die Wochenverkaufszahlen der Wii U um etwa 6.000 auf ungefähr 20.000 an. Bis zum 5. Januar 2013 wurde das Spiel in Japan rund 400.000 Mal verkauft.
Der NPD Group zufolge setzte Nintendo auf dem nordamerikanischen Markt im November 2013 etwa 215.000 Exemplare des Spiels ab. Bis Januar 2014 stiegen die dortigen Verkaufszahlen des Spiels auf etwa 655.000 Einheiten an.
Im Vereinigten Königreich debütierte das Spiel auf Platz 14 der von GfK Chart-Track ermittelten Computerspielwochencharts. Bis April 2014 konnte Nintendo das Spiel in Deutschland über 100.000 Mal absetzen. Es ist das erste Wii-U-Spiel in Deutschland, das diesen Verkaufsmeilenstein erreichte.
In Frankreich wurde Super Mario 3D World bis Mai 2014 etwa 125.000 Mal verkauft.
Im März 2014 war Super Mario 3D World mit 2,17 Millionen Verkäufen weltweit nach New Super Mario Bros. U (Wii U, 2012) und Nintendo Land das dritterfolgreichste Wii-U-Spiel. Bis zum 30. September 2019 wurde das Spiel weltweit 5,83 Millionen Mal verkauft, wodurch es zum zweitmeistverkauften der Wii U nach Mario Kart 8 avancierte.
Die folgende Tabelle gibt die weltweiten Auslieferungszahlen wieder, wie Nintendo sie in offiziellen Berichten bekanntgab.
Finanzielle Bedeutung
Wie Satoru Iwata im Oktober 2013 gegenüber Nintendo-Investoren äußerte, wolle Nintendo ab Ende 2013 mit einer Reihe intern entwickelter Wii-U-Spiele die bis dahin unerwartet niedrig ausgefallenen Hardwareverkaufszahlen der Wii U stärken. Als ein eine breite Zielgruppe ansprechendes Spiel sollte Super Mario 3D World entscheidend dazu beitragen.
Ende 2013 stiegen dank der Veröffentlichung von Super Mario 3D World die Verkaufszahlen der Wii U zwar an, jedoch nicht in dem von Nintendo erhofften Ausmaß. Insbesondere in Europa und Nordamerika unterbot die Konsole die an sie gerichteten Erwartungen. Daher musste Nintendo die Prognose für die im Fiskaljahr 2013/2014 weltweit verkauften Wii-U-Konsolen von 9 auf 2,8 Million herabsenken. In Kombination mit den ebenfalls schlechter als erwartet ausgefallenen 3DS- und Softwareverkäufen verzeichnete Nintendo für das Finanzjahr, anders als zunächst angepeilt, erneut einen Verlust.
Rezeption
Vorschauberichte
In einem während der E3 2013 veröffentlichten Vorschaubericht für die englischsprachige Computerspielwebsite IGN erklärte Richard George wenig überschwänglich, dass Super Mario 3D World die Erwartungen an einen 3D-Land-Nachfolger erfülle. Anstatt große Risiken einzugehen, baue das Spiel auf ein bewährtes Fundament auf. Dadurch komme dem Spieler zwar vieles bereits bekannt vor, dies schmälere jedoch kaum den Spielspaß. Insbesondere im Mehrspieler-Modus sei 3D World nämlich sehr spaßig.
Die deutschsprachige Nintendo-Monatszeitschrift N-Zone veröffentlichte nach der E3 einen Vorschaubericht, in dem sich Redakteur Lukas Schmid enttäuscht von dem Umstand zeigte, dass Super Mario 3D World nicht in die Fußstapfen der Galaxy-Spiele tritt, sondern dem lineareren Prinzip von 3D Land folgt. Er attestierte dem Spiel einen „scheinbaren Innovationsmangel“ und eine „unaufgeregte Präsentation“. Zugleich erkannte er viele neue Ideen und lobte den Mehrspieler-Modus, der den Wiederspielwert erhöhe. Die Technik des Spiels konnte Schmid Mitte 2013 nicht überzeugen: Das Spiel biete im Wesentlichen die Grafik des 3DS-Vorgängers, lediglich in hochaufgelösten, besseren Texturen. So behauptet der Redakteur, dass das Spiel trotz von ihm genannter, besonderer grafischer Effekte beinahe wie ein Wii-Spiel wirke und die neue HD-Konsole kaum fordere. Bezüglich des Sounds gab er sich zufrieden und zugleich interessiert, ob das Spiel wieder Orchester-Musik bieten werde.
Rezensionen
Super Mario 3D World erhielt äußerst positive Wertungen. Die Rezensionsaggregator-Website Metacritic hat für den Titel aus 82 Kritiken einen Wertungsdurchschnitt („Metascore“) von 93 von 100 Punkten ermittelt. Bei GameRankings liegt die Durchschnittswertung auf Basis von 51 Rezensionen bei 92,91 %. Es handelt sich hier um das viertbestbewertete Computerspiel des Jahres 2013.
Jose Otero von IGN bescheinigte Super Mario 3D World, sowohl im Einzel- wie auch im Mehrspieler-Modus sehr spaßig zu sein. Dabei überzeuge vor allem der Mehrspieler-Modus, bei dem, anders als im Falle der New-Super-Mario-Bros.-Spiele, kein Frust aufkomme. Einzig die Kameraperspektive erweise sich in manchen Situationen des Vierspieler-Modus als suboptimal. Super Mario 3D World führe zwar weniger Neuerungen in das Genre ein als seine Vorgänger, biete dafür jedoch den besten Mehrspieler-Modus eines Super-Mario-Teiles. Insbesondere lobte Otero das Leveldesign. Jeder Level warte mit einem neuen spaßigen Konzept auf, das im Verlaufe des Spielabschnitts mehrfach variiert werde, und jeder Level ende, bevor jenes Konzept beim Spieler Langeweile aufkommen lassen könne. Daher seien die Level abwechslungsreich, unvorhersehbar und spaßig. Zur Lernkurve des Spiels merkte Otero an, dass die ersten vier Welten erfahrene Spieler unterfordern könnten, während die nach einmaligem Durchspielen freischaltbaren Inhalte auch für diese Spieler eine große Herausforderung darstellen.
Die Redaktion der britischen Computerspielzeitschrift Edge bewertete das Spiel ebenso positiv, kritisierte jedoch, dass der Bildschirmausschnitt im Mehrspieler-Modus stets dem führenden Spieler folge, sodass die übrigen Spieler benachteiligt seien. Außerdem seien die Fähigkeiten der verschiedenen Spielfiguren nicht ausgeglichen, da sich Mario gegenüber den anderen Figuren im Hinblick auf seine Fähigkeiten und Steuerung zu positiv abhebe. Im Einzelspieler-Modus wirke das Spiel repetitiv, sobald bereits absolvierte Level erneut gespielt werden müssen, um Grüne Sterne einzusammeln. Diese schalten dafür umfassende Belohnungen frei, die den Umfang des Spiels nach dem Abschluss der Handlung erweitern.
Marco Cabibbo von der N-Zone lobte die „knackig-genaue Steuerung“ sowie die „abwechslungsreichen Welten“, dank derer jeder Level eine neue, überraschende Idee parat halte. Ebenso „lustig und kreativ“ seien die Power-ups des Spiels. Der Schwierigkeitsgrad sei gerade zu Spielbeginn für fortgeschrittene Spieler sehr niedrig, was durch die für mehr Zugänglichkeit sorgende Katzen-Verwandlung noch verstärkt werde. Zudem erschwere die starr vorgegebene Kameraperspektive manche sehr exakte Sprünge. Level- und Spieldesign, Soundtrack und Mehrspieler-Modus beurteilte Cabibbo allesamt positiv. Das gesamte Produkt sorge für viel Spaß und sei sowohl ein Pflichtkauf für Wii-U-Besitzer als auch ein Kaufgrund für Noch-Nicht-Besitzer.
Carsten Görig schrieb in einer Kurzrezension für Spiegel Online, dass Super Mario 3D World „verschwenderisch mit seinen Ideen“ umgehe. Jeder Level biete mehr Ideen als manch anderes Spiel insgesamt. Im Einzelspieler-Modus kämen diese Ideen besser zur Geltung. Andy Robertson hob in einem Bericht für das Forbes Magazine den Mehrspieler-Modus hervor. Er fördere eine kooperative Spielweise, da langsame Spieler automatisch weiter nach vorne bugsiert werden, die Gesamtanzahl an Versuchen für sämtliche Spieler gilt und die einzelnen Spielfiguren miteinander interagieren.
Den Soundtrack von Super Mario 3D World charakterisierte Jan Wöbbeking von der deutschen Website 4Players als abwechslungsreich und Ohrwurm-haltig. Ähnlich positiv äußerte sich Chris Carter von der englischen Website Destructoid zum Soundtrack. Es handele sich um einen der besten Soundtracks überhaupt. Die altbekannten wie auch neuen Melodien wirkten wie ein „orchestrierter Studio-Ghibli-Film“ („orchestrated [Studio] Ghibli film“). Ebenso „makellos“ („flawless“) seien die Soundeffekte des Spiels.
Technik
Wie das Eurogamer-Format Digital Foundry in einer Analyse der Technik hinter dem Spiel feststellte, biete Super Mario 3D World einen auf den ersten Blick wenig erstaunlichen Grafikstil, der jedoch „moderne Technik mit einem großartigen Grafikdesign vermenge“ („mesh modern technology with great art“). Redakteur John Linneman schrieb, die Bildqualität sei bis auf wenige Ausnahmen scharf und sauber und profitiere von einem intensiv eingesetzten Schärfentiefeeffekt, der Umgebungen, Objekte und Figuren abhängig von ihrem Abstand von der Kamera weichzeichnet. Dass die im Spiel genutzte Kantenglättung sich als mitunter inkonsistent erweist, falle aufgrund des Grafikdesigns nicht stark auf.
Die verschiedenen grafischen Effekte kämen nur dann zum Einsatz, wenn das Spieldesign sie erfordere. Dies trage zur Kohärenz von Grafik und Design bei, schrieb Linneman. Die wenigen technischen Mängel, etwa das Fehlen von anisotropem Filtern, ließen sich durch die Zielsetzung der Entwickler erklären, die auf der im Vergleich zur Konkurrenz leistungsschwächeren Wii U bestmögliche Grafikleistung zu erreichen. Im Vordergrund hätten dabei die Bildrate und die -Qualität gestanden, so Linneman.
Die Edge lobte die Technik des Spiels, die die 3D-Super-Mario-Reihe gekonnt in das HD-Zeitalter befördere. Zum ersten Mal werde die Grafik eines Super-Mario-Spiels dem brillanten Spieldesign gerecht, urteilte die Fachzeitschrift. Auch über die konstante Bildfrequenz von 60 fps, die selbst viele für die im Vergleich zur Wii U leistungsstärkeren Konkurrenzkonsolen PlayStation 4 und Xbox One erhältliche Spiele nicht erreichten, zeigten sich die Tester erfreut. Gemessen am technischen Fortschritt im Kontext der Reihe sei Super Mario 3D World das beste 2013 erschienene Spiel für die achte Konsolengeneration.
Auszeichnungen und Bestenlisten
Super Mario 3D World wurde im Rahmen einiger Preisverleihungen nominiert und teilweise ausgezeichnet. Bei den 10th British Academy Video Games Awards etwa wurde das Spiel in vier Kategorien nominiert, bei den DICE Awards 2013 einmal nominiert und einmal als bestes Familien-Spiel 2013 ausgezeichnet und bei den Game Developers Choice Awards 2014 empfing es zwei Nominierungen, ebenso wie bei Spike's VGX 2013. Einen Überblick über Nominierungen und Auszeichnungen des Spiels gibt die folgende Tabelle.
Darüber hinaus wurde Super Mario 3D World in einigen Bestenlisten gewürdigt.
Computer Bild Spiele, „Die besten Spiele des Jahres 2013“: Platz 6
EGM, „EGM’s Best of 2013“: Platz 9
Entertainment Weekly, „Top 10 (and 3 Worst) Videogames of 2013“: Platz 4
Joystiq, „Top 10 of 2013“: Platz 4
M! Games, „Die Spiele des Jahres 2013“: Platz 3
Super Mario 3D World + Bowser's Fury
Eine Neuveröffentlichung des Spiels für die Nintendo Switch mit dem Titel Super Mario 3D World + Bowser’s Fury wurde erstmals am 3. September 2020 im Rahmen der Nintendo Direct zum 35-jährigen Jubiläum von Super Mario angekündigt. Diese Version enthält im Vergleich zur Wii-U-Version unter anderem einen Online-Multiplayer-Spielmodus sowie Unterstützung der amiibo: "Katzen-Peach" und "Katzen-Mario". Das Spiel wurde am 12. Februar 2021 veröffentlicht.
Im Rahmen der Neuveröffentlichung wurde als weiteres Spiel Bowser's Fury hinzugefügt, das ebenfalls von Anfang an spielbar ist. Dieses Spiel wird durch den Wechsel zwischen einer friedlichen Phase, die sich durch sonniges Wetter auszeichnet, und einer stürmischen Phase bestimmt, in der der Wut-Bowser angreift. Mario kann dabei eine stark vergrößerte Form der Katzenverwandlung nutzen, um sich gegen Bowser zur Wehr zu setzen.
Im Gegensatz zum Originalspiel spielt sich diese Dynamik in einer Open-World-Umgebung im sogenannten Schmusekatzensee statt, in der keine klare Abgrenzung zwischen verschiedenen Leveln besteht. Das Spiel mit mehreren gleichberechtigten Spielern ist dabei nicht möglich, ein zweiter Spieler kann jedoch die Steuerung von Bowser Jr., der Mario im Laufe des Spieles begleitet, übernehmen. Außerdem kann er mit seinem Zauber-Pinsel die an Wänden aufgemalten Power-Ups erscheinen lassen.
Spin-offs
Luigi Bros. / NES Remix
In Super Mario 3D World ist im Rahmen des von Nintendo ausgerufenen „Jahr des Luigi“ eine Adaption von Mario Bros. (Arcade, 1983) enthalten. Anlässlich des 30. Jubiläums dieses Debütspiels der Figur Luigi programmierte Kōichi Hayashida eine Bearbeitung, bei der er die Spielfigur Mario durch Luigi ersetzte. Der Zusatzmodus hört auf den Namen Luigi Bros. und wird nach einmaligem Durchspielen von Super Mario 3D World freigeschaltet. Für Besitzer von New Super Luigi U (Wii U, 2013) ist der Modus von Beginn an zugänglich.
Parallel zu Super Mario 3D World begann Hayashida die Arbeiten an einem auf dem Prinzip von Luigi Bros. aufbauenden, selbstständigen Titel. Nach der Vollendung von 3D World widmete er dem Projekt seine volle Arbeitszeit. Von EAD Tokyo und indieszero entwickelt, erschien es unter dem Titel NES Remix (Wii-U-eShop, 2013). Es enthält Minispiel-artige abgewandelte Ausschnitte aus NES-Klassikern. Auf NES Remix folgten die Spiele NES Remix 2 (Wii-U-eShop, 2014), NES Remix Pack (Wii U, 2014) und Ultimate NES Remix (3DS, 2014).
Captain Toad: Treasure Tracker
Ein in Super Mario 3D World enthaltenes Bonus-Minispiel des Puzzle-Genres hört auf den Namen The Adventures of Captain Toad. Es verlangt von dem Spieler, die Rolle des aus Super Mario Galaxy bekannten Captain Toad zu übernehmen und diesen durch kompakte Level zu steuern. Die Herausforderung besteht darin, innerhalb des Levels verteilte Grüne Sterne einzusammeln. Captain Toad kann weder springen noch angreifen.
Nachdem Hayashida im April 2014 geäußert hatte, dass das Captain-Toad-Minispiel in Zukunft weiter verwendet werden könne, kündigte Nintendo auf der E3 2014 ein entsprechendes Spin-off an. Captain Toad: Treasure Tracker erschien in Nordamerika sowie Japan Ende 2014 und in Europa im Januar 2015 für die Wii U.
Weblinks
Offizielle Website
„Iwata fragt: Super Mario 3D World“ – Entwicklerinterview bei nintendo.de
Übersicht über Material zum Spiel bei IGN (englisch)
Super Mario 3D World im MarioWiki
Anmerkungen
Einzelnachweise
Jump ’n’ Run
Wii-U-Spiel
3D World
Nintendo Entertainment Analysis & Development
Computerspiel 2013
Kooperatives Computerspiel |
8003873 | https://de.wikipedia.org/wiki/Schischyphusch%20oder%20Der%20Kellner%20meines%20Onkels | Schischyphusch oder Der Kellner meines Onkels | Schischyphusch oder Der Kellner meines Onkels ist eine Kurzgeschichte des deutschen Schriftstellers Wolfgang Borchert. Sie zählt zu seinen frühen Prosawerken und wurde erstmals im März 1947 in Benjamin. Zeitschrift für junge Menschen veröffentlicht. Bernhard Meyer-Marwitz nahm sie in die Rubrik Nachgelassene Erzählungen von Borcherts Gesamtwerk auf, das er 1949 im Rowohlt Verlag herausgab.
Die Kurzgeschichte gehört zu den ungewöhnlich heiteren und humorvollen Texten Wolfgang Borcherts und zu seinen bekanntesten Werken. Aus der Sicht eines kleinen Jungen wird die Begegnung zweier ganz unterschiedlicher Menschen geschildert, die lediglich eine Gemeinsamkeit haben: Beide lispeln. Der Sprechfehler führt anfänglich zu Missverständnissen, später jedoch zur Verständigung und Freundschaft der beiden Leidensgenossen. Der Titel nimmt Bezug auf die griechische Mythengestalt Sisyphus, die sowohl den Spitznamen eines Kellners angeregt hat als auch sein Schicksal versinnbildlicht. Die zweite Hauptfigur geht auf Borcherts realen Onkel Hans Salchow zurück.
Inhalt
Ein kleiner Junge besucht ein Gartenlokal mit seiner Mutter und seinem Onkel. Letzterer ist trotz seiner Kriegsverletzungen, einer Beinamputation und einem Kieferdurchschuss, bei dem er einen Teil seiner Zunge verloren hat und seither lispelt, ein imposanter, selbstbewusster Mann, der seine Lebensfreude nicht verloren hat. Von ganz anderer Wesensart ist der kleine, demütige und beflissene Kellner, der sie bedient. Doch auch er lispelt aufgrund eines angeborenen Sprachfehlers.
Als der Onkel die Bestellung aufgibt und der Kellner sie wiederholt, glauben beide, vom anderen nachgeäfft zu werden. Während sich der gekränkte Kellner die Schmähung verbittet, verlangt der amüsierte Onkel lautstark den Wirt zu sprechen. Längst verfolgen alle Gäste des Lokals die Auseinandersetzung, deren zunehmende Heftigkeit den Jungen und seine Mutter mit Scham erfüllt. Erst als der Kellner seinen Sprachfehler durch einen Eintrag in seinem Pass nachweist, löst sich die Anspannung in einem lauten mitleidsvollen Gelächter des Onkels, der seinerseits seinen Kriegsversehrtenausweis vorzeigt. Der Onkel bestellt einige Runden Asbach, und die beiden Leidensgenossen lachen und trinken minutenlang, während der Kellner immer wieder das Wort „Schischyphusch“ ausstößt.
Als Erster wird der Onkel wieder ernst und fragt, was der Ausruf bedeuten soll. Daraufhin entschuldigt sich der Kellner verlegen für sein unangemessenes Verhalten. Er erklärt, dass er seit seiner Schulzeit mit diesem Spitznamen gehänselt wurde, weil sich die Mitschüler über seine Aussprache des Wortes „Sisyphus“ amüsierten. Dem Onkel treten Tränen in die Augen. Wortlos steht er auf und lässt sich aus dem Lokal führen, während der Kellner allein am Tisch zurückbleibt. Erst als der Junge seinem Onkel zuflüstert, der Kellner weine, dreht sich der Onkel noch einmal zu ihm um und ruft ihn bei seinem Spitznamen „Schischyphusch“. Er kündigt an, am nächsten Sonntag wiederzukehren, während der Kellner mit seiner Serviette zum Abschied winkt. Aus der Begegnung entsteht eine langjährige Freundschaft, so dass man in der Familie des Onkels bald nur noch von seinem Kellner spricht.
Hintergrund
Schischyphusch oder Der Kellner meines Onkels liefert laut Bernd M. Kraske einen weiteren Beweis, dass Borcherts Geschichten oft einen autobiografischen Hintergrund haben und auf dem eigenen Erleben des Autors beruhen. Er habe in ihr seinem Onkel Hans Salchow „ein bleibendes literarisches Denkmal gesetzt“. Salchow, der Bruder Hertha Borcherts, hatte im Ersten Weltkrieg ein Bein verloren und von einer Kriegsverletzung einen Sprachfehler davongetragen. Nach dem Krieg arbeitete er sich vom Angestellten zum Inhaber eines Unternehmens hoch, spekulierte mit seinem Vermögen, bis er es verlor, arbeitete sich erneut nach oben und heiratete eine Frau von zweifelhaftem Ruf, mit der er abermals sein Geld durchbrachte. Zum Schluss führte er ein Lokal in der Niendorfer Straße, das in Hamburg als Kommunistentreff bekannt war und den Namen „Rote Burg“ trug.
Laut Claus B. Schröder kam Salchow mit „ungebrochenem Lebensmut“ aus dem Krieg zurück. Er habe zu jenen Naturen gehört, „die sich auch mit nur einem Bein trauen, vielleicht sogar erst recht, die Welt zu erobern“. Gerade erst dem Tode entronnen, habe er sich nichts vom Leben entgehen lassen wollen. Salchow war nicht nur ein früher Besitzer eines Automobils, ein so genannter Herrenfahrer, er wurde sogar einbeinig zum Motorradrennfahrer und verkehrte in bürgerlichen Kreisen ebenso wie in solchen der Halbwelt: „selbstsicher […], umgänglich, trinkfest, fröhlich, ein Unikum. Ein Leben wie erfunden.“ Peter Rühmkorf beschreibt Salchow als „abenteuerliche und farbige Figur“. Der „weltkecke und lebenstolle“ Onkel sei von seinem Neffen grenzenlos verehrt worden. Bogdan Mirtschew sieht im Onkel mütterlicherseits eine Ersatzfigur für den Vater, und er verweist auf eine andere beinamputierte Figur in Borcherts Werk: den Einbeinigen aus Draußen vor der Tür.
Die Geschichte selbst geht laut Gordon Burgess auf eine reale Begebenheit zurück, die im Restaurant Stoltenberg in der Alsterkrugchaussee 459 in Hamburg-Fuhlsbüttel stattgefunden habe. Allerdings ist weder über das genaue Datum noch über den Kellner Näheres bekannt. Den ungewöhnlich heiteren Text verfasste Borchert im Jahr 1946 nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus, wo seine erste längere Prosaerzählung Die Hundeblume entstanden war. Seine Eltern ermunterten den pflegebedürftigen verhinderten Schauspieler zur Schriftstellerei. Die Mutter wollte ihn jedoch immer wieder auf heitere Themen lenken, da sie gesundheitliche Rückfälle fürchtete und Borcherts Gefängniserinnerungen in Die Hundeblume nicht ertragen konnte. Kurz nach einem solchen Gespräch, bei dem Hertha Borchert „etwas Leichtes, etwas Lustiges“ eingefordert hatte, überreichte ihr der Sohn das Manuskript von Schischyphusch mit den Worten: „Hier hast du deine lustige Geschichte.“
Form und Stilmittel
Schischyphusch oder Der Kellner meines Onkels ist – wie viele Kurzgeschichten Wolfgang Borcherts, die Themen der Kindheit behandeln und in denen Familienmitglieder auftreten, so Die Kirschen oder Der Stiftzahn – in der Ich-Form geschrieben. Sie steht überwiegend im erzählenden Tempus des Präteritums. Die Erzählweise erinnert an eine Anekdote und erweckt den Anschein einer tatsächlichen Begebenheit. Dazu dienen auch kurze, verweilende Passagen, nach denen der Erzähler den Faden mit Wendungen wie „also“ oder „wie ich schon sagte“ neu aufgreifen muss, und die das Bild einer mündlichen Erzählung im Zuhörerkreis unterstützen. Die Kurzgeschichte beginnt mit einer der eigentlichen Handlung vorangestellten Einleitung, wobei ungewöhnlich ist, dass bereits der Titel Teil der Geschichte ist, indem der Einstiegssatz direkten Bezug darauf nimmt: „Dabei war mein Onkel natürlich kein Gastwirt.“ Der Schlussabschnitt, als der Onkel sich erklärend seinen Verwandten und damit wieder der Umwelt zuwendet, weist zurück auf die Ausgangslage des gemeinsamen Lokalbesuchs, die Erzählung bildet gewissermaßen einen Ringschluss.
Trotz des unvermittelten Einstiegs, der typisch für die Gattung der Kurzgeschichte ist, erkennt Kåre Eirek Gullvåg in Schischyphusch einige Merkmale einer Novelle mit innerer und äußerer Handlung, die sich zu einer gemeinsamen Erfahrung verbinden. Horst Brustmeier trennt zwischen Vorder- und Hintergrundhandlung. Erstere beschreibt die Begegnung des Onkels mit dem Kellner und ist von Situationskomik geprägt, in der Hintergrundhandlung liegt der tragische Konflikt: die Sehnsucht des Menschen nach Verständnis und Bindung. Der Zungenfehler dient als Leitmotiv, das die Handlung in Gang setzt. Der Dialog zwischen dem Kellner und dem Onkel, der den Hauptteil der Erzählung ausmacht, ist mit den Mitteln des Kontrapunkts gestaltet. Auf dem Höhepunkt ergibt sich ein Gleichklang der unterschiedlichen Stimmen und Stimmungen der Figuren, ehe sie wieder auseinandergeführt werden. Wie viele andere Werke Borcherts fokussiert sich Schischyphusch auf einen einzelnen, einschneidenden Augenblick im Leben seiner Figuren. Der offene Schluss überlässt ihr weiteres Schicksal der Vorstellungskraft des Lesers.
In der Kurzgeschichte lassen sich zahlreiche für Borchert typische Stilmittel ausmachen, so insbesondere die laut Karl Brinkmann „sehr eigenwilligen“ Neologismen sowie die Ketten von Adjektiven und Adverbien. Karl Migner sieht diese Möglichkeit einer kurzen, knappen Charakterisierung von Personen oder Vorgängen in Schischyphusch „bis in ein gewisses Extrem getrieben“. Ähnlich beschreibt Brinkmann die Verwendung von Zischlauten, also genau jenen für die beiden lispelnden Protagonisten unaussprechlichen Lauten, „bis zur grotesken Übertreibung gesteigert“, wobei der Sprachfehler ganz besonders mit dem Hamburger Dialekt, in dem Borchert aufgewachsen war, kontrastiert. Zur Charakterisierung der Figuren und ihrer steigenden Aufregung setzt Borchert wiederholt das Stilmittel der Klimax ein, für den immer kleiner werdenden Kellner auch jenes der Antiklimax. Helmut Gumtau benennt „eine Arno Holzsche Motorik der Wortkaskaden“ und „Lautbilder“. Auffällig sind dabei häufige Alliteration und die mit dem Alkoholkonsum zunehmende Verwendung von Tiermetaphern.
Interpretation
Der Kellner und der Onkel
Die zentralen Figuren der Geschichte, die beiden „Mittelpunktgestalten“, wie Horst Brustmeier sie nennt, werden ganz unterschiedlich ausgestaltet. Der Kellner ist ein Typus. Er symbolisiert den Menschen, der durch seinen Beruf zum Dienen gezwungen ist und fortwährend seine Individualität unterdrücken muss. Er besitzt keinen Namen, und selbst sein Spitzname „Schischyphusch“ steht ganz allgemein für jemanden, der sich mit seinem Schicksal abplagt. Hingegen ist der Onkel durch seine Verwandtschaftsbeziehung ein bestimmter, einzelner Mensch, der aus der Anonymität heraustritt. Während der Onkel ein „großes gutmütiges breites braunes Gesicht“ hat, wird der Kellner „ohne Gesicht“, das heißt ohne jede Individualität beschrieben.
Auch die Wesensart der beiden Figuren ist vollständig unterschiedlich und wird in der Geschichte immer wieder kontrastiert. So heißt es einerseits: „Klein, verbittert, verarbeitet, zerfahren, fahrig, farblos, verängstigt, unterdrückt: der Kellner“, andererseits: „Breit, braun, brummend, basskehlig, laut, lachend, lebendig, reich, riesig, ruhig, sicher, satt, saftig – mein Onkel!“ Zwar sind beide verbunden durch denselben Sprachfehler, doch tritt ihr Gegensatz im Umgang mit ihrem Leiden nur umso stärker zutage. Der Kellner wird durch seinen Geburtsfehler niedergedrückt: „belächelt, belacht, bemitleidet, begrinst, beschrieen“, ist er jeden Tag mehr in sich hineingekrochen. Der Onkel hingegen nimmt seinen Sprachfehler gar nicht zur Kenntnis. Die Gewissheit der eigenen Stärke verbietet ihm jeden Verdacht, er könne von anderen verspottet werden. Gewohnt, durch seine Statur und sein Auftreten Respekt zu erheischen, genießt er die Auseinandersetzung mit dem Kellner als eine Darbietung, in der er sich, laut Paul Riegel, „eine Hauptrolle reserviert“. Für Hansjürgen Verweyen stehen sich in der Geschichte der Koloss von Rhodos und ein Zicklein gegenüber.
Zwischen den beiden gegensätzlichen Figuren, die mit ihrem Sprachfehler nur eine einzige Gemeinsamkeit haben, kommt es laut Horst Brustmeier zu einem Zusammenprall zweier Welten. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung überbrückt der Onkel die Kluft, indem er die Hände des Kellners ergreift. Das Mitleid seines Leidensgenossen erlöst diesen von seinem bisherigen Dasein, er wird ein „neuer Mensch“. Mit dem Lachen tritt er in die Welt des Onkels ein, doch es genügt ein Augenblick der Verärgerung seines imposanten Gegenübers, und der Kellner fühlt sich erneut in seine alte Welt verwiesen und wischt den Moment der Verständigung mit seiner Serviette beiseite wie einen Traum. Als er die Lebensgeschichte seines Gegenübers erfährt, ist es der laute Onkel, der plötzlich still und schweigsam wird. Nun treten ihm jene Tränen in die Augen, die zuvor den Blick des Kellners getrübt haben. Am Ende finden die beiden Leidensgenossen abermals zusammen, der Kellner wischt mit seiner Serviette endgültig sein altes Leben weg, und das Motiv des Lachens löst die Tränen ab. Durch das Vorbild des Onkels findet der Kellner für Gordon Burgess den Mut, in Zukunft „ein Leben mit statt trotz Zungenfehler zu führen.“
Der Erzähler und die Zuschauer
Berichtet wird die Geschichte laut Theo Elm „aus erinnerter Kindersicht“. Häufig setzt Borchert in seinem Werk einen solchen naiven Kinderblick ein, um die Absurdität des Geschehens aufzuzeigen oder die Erwachsenenwelt aus dem Blick von unten zu verfremden. Auch in Schischyphusch ist es die perspektivische Verzerrung der Kindersicht, die den Abstand des gewaltigen Onkels zum kleinen Kellner unüberbrückbar scheinen lässt und damit die Begegnung der beiden umso überraschender und rührender gestaltet. Dabei wird die Mutter in die kindliche Welt einbezogen: „Meine Mutter und ich waren nur als Statisten dabei“. Sowohl der Junge als auch seine Mutter können das Geschehen lediglich verfolgen, ohne in den Ablauf einzugreifen. Stattdessen bringen sie immer wieder das Motiv der Scham in die Geschichte ein.
Tatsächlich jedoch ist insbesondere der kleine Junge für den Ausgang der Geschichte weit mehr als ein Statist, auch wenn er sich dessen nicht bewusst wird. Er ist es, der zur entscheidenden Vermittlerfigur wird und die Begegnung zwischen Onkel und Kellner nicht mit der stummen Geldscheinübergabe enden lässt. Als der Onkel sich verlegen zum Gehen wendet, ist es die kindlich-naive Aufmerksamkeit des Neffen, die ihn auf die Trauer des Kellners aufmerksam macht. Erst durch den abschließenden Gruß manifestiert sich die Freundschaft der beiden Leidensgenossen und die künftige Beschützerrolle des Onkels für seinen schwächeren Bruder. Und auch die Zuschauer, die Besucher des Gartenlokals – laut Verweyen der Chor der Tragikomödie –, deren Augen und Ohren die Auseinandersetzung verfolgen, sind tatsächlich Beteiligte der Geschichte. Sie alle haben über Jahre hinweg ihren Teil dazu beigetragen, den Kellner zu demütigen und aus ihrer Gemeinschaft auszuschließen. In diesem Sinne liest Riegel Schischyphusch wie viele Werke Wolfgang Borcherts als einen „Aufruf zur Menschlichkeit und Brüderlichkeit“.
Sisyphus-Motiv und Sprachnot
Die Sprechübung „Sisyphus“ hat laut Horst Ohde dem Kellner nicht nur seinen Spitznamen eingetragen, der Mythos des Sisyphus versinnbildlicht auch seinen lebenslangen vergeblichen Kampf. Wie die Figur aus der griechischen Mythologie dazu verdammt ist, immer wieder aufs Neue einen Felsbrocken auf einen Berg der Unterwelt hinaufzuschleppen, der jedes Mal am Ende hinabrollt, ist es für den Kellner der „Stein der Sprache“, an den er gebunden ist und den er ein Leben lang nicht zu bewältigen vermag. Auch an anderer Stelle benennt Borchert eine solche vergebliche Sisyphusarbeit: in seinem Prosatext Im Mai, im Mai schrie der Kuckuck beschwört er „diesen tollkühnen sinnlosen Mut zu einem Buch“, den ein Schriftsteller haben müsse, obwohl er letztlich nicht mehr zustande bringe als einen „Kommentar zu den zwanzigtausend unsichtbaren Seiten, zu den Sisyphusseiten, aus denen unser Leben besteht, für die wir Vokabel, Grammatik und Zeichen nicht kennen.“ Denn, wie es weiter heißt, „das Letzte, das Letzte geben die Worte nicht her.“ Borchert steht damit in der Tradition einer gerade in der Nachkriegsliteratur vorherrschenden Sprachnot.
Gerd Neuhaus verweist auf den theologischen Begriff des Fleisches, der durch Borcherts Metaphern der Zunge als „gigantischer unförmiger Fleischlappen“ und „formlose zyklopische Fleischmasse“ assoziiert wird. Bei beiden Figuren „ist die Zunge in einem ganz realen Sinne zu kurz, um das auszudrücken, wozu der Wille sie antreibt.“ So könne sich die Begegnung der beiden Leidensgenossen letztlich nur gebrochen und tragikomisch gestalten. Die Verheißung der menschlichen Einheit, die am Ende zum Scheitern bestimmt sei, lasse sich mit dem Fluch des Sisyphus vergleichen, aus dem Neuhaus nur einen religiösen Ausweg weist. Ähnlich sieht Hansjürgen Verweyen das Theodizee-Problem im Hintergrund von Borcherts gesamtem Werk. Dem „Problem des Sisyphos“ habe sich Borchert „sprechakttheoretisch“ genähert: „Die tiefste Verwundung des Menschen besteht darin, daß er sich nicht angemessen zu Wort bringen kann.“ Und er verweist auf eine Gedichtzeile von Karl Kraus: „Hab ich dein Ohr nur, find’ ich schon mein Wort“. Für Horst Ohde kommt es zwischen den Menschen auf nicht-sprachlichem Wege zum Einander-Erkennen und Verstehen: durch die Tränen in den Augen des Kellners und des Onkels. Der Hinweis des Kindes ist es, der das „bedrückend stumme Bild“ des Abgangs durchbricht und die beschädigte Sprache wieder zurückbringt, die sich in den abschließenden Rufen des Onkels Bahn bricht, begleitet von einer trotzigen Geste seines Krückstocks gen Himmel.
Humor und Leid
Schischyphusch oder Der Kellner meines Onkels ist laut Gordon Burgess eine Ausnahme in Borcherts Werk. Sie präsentiere „eine lustige Episode mit einem durchaus glücklichen Ende ohne dunklen Unterton“, in der „die Lust am Lachen“ im Mittelpunkt stehe. Anna-Maria Darboven fand in der Geschichte „liebenswürdigen Humor“ und „echte Lebensbejahung“. Der „leichte und humorvolle Ton“ der Geschichte, ihre „Unbeschwertheit“ und der versöhnlich gestimmte Schluss sind für Horst Brustmeier zum einen auf die kindliche Perspektive zurückzuführen, die die zugrundeliegende menschliche Tragödie nicht erkennt, zum anderen aber auch auf Borcherts Wesen, der ein viel stärkerer Komiker und Humorist gewesen sei, als es sein durch die Zeitumstände geprägtes Werk erkennen lasse. Nicht zuletzt der positive Ausgang unterscheidet Schischyphusch von anderen Werken Borcherts, in denen der Humor oft in Satire, Groteske oder schwarzen Humor umschlägt.
Helmut Gumtau entdeckt allerdings in der Geschichte neben „freundlichem Humor“ auch Züge einer „dramatische[n] Groteske“ und Horst Ohde einige „Abgründigkeit“. Nur beim oberflächlichen Lesen erscheint Schischyphusch Paul Riegel „umwerfend komisch“. Tatsächlich sieht er die Geschichte vielmehr in einem Zwielicht der Tragikomödie liegen. Und laut Hansjürgen Verweyen treten durch die „klassischen Untertöne“ der Geschichte „das wahrhaft Tragische eines menschlichen Schicksals inmitten des kraß dionysischen Umfeld umso greller ans Licht.“ Zwar lösen sich bei dem „Schwank“ für Kåre Eirek Gullvåg alle Probleme in Gelächter auf. Allerdings lasse der Text auch Tränen des Mitleids in die Augen des Lesers steigen. Die „Kraft des Humors“ überwindet laut Karl Brinkmann das Leiden des von seiner Umwelt gedemütigten Opfers und lasse es am Ende über die eigenen Schwächen mitlachen.
Hermann Wiegmann hält Schischyphusch für eine von Borcherts „rührendsten, aber auch von feinem Humor geprägten kurzen Erzählungen“, die beweise, dass der deutsche Autor „leidenserfahrener und erschütternder in seinen Gestaltungen“ sei als sein amerikanisches Pendant Ernest Hemingway. Peter Rühmkorf spricht von „liebevoller Teilnahme an der erniedrigten und geschundenen Kreatur“ einerseits, andererseits aber auch von Borcherts kühler „Beobachterleidenschaft“, seinem „Vermögen, Schwächen aufzuspüren und seelische Disharmonien zu entdecken“. Der Schriftsteller habe stets eine „Vorliebe für Menschen, die auf groteske Weise aus dem Rahmen der bürgerlichen Ordnung fielen“, bewiesen, sei es, dass sie unter Defekten litten oder als so genannte „schwarze Schafe“ ausgegrenzt wurden. Er benennt unter anderem Beckmann mit seiner Gasmaskenbrille in Draußen vor der Tür, den Homosexuellen Pauline in Unser kleiner Mozart oder die verhaltensgestörten Gefängnisinsassen in Die Hundeblume.
Rezeption
Bereits beim Ersten Deutschen Schriftstellerkongress im Oktober 1947 in Berlin wies Anneliese Wiener auf den jungen Wolfgang Borchert hin, der kurz zuvor die „ausgezeichnete Novelle“ Der Kellner meines Onkels veröffentlicht habe, „die so unglaublich gekonnt“ gewesen sei, dass sie nach einer Buchausgabe verlangte, die Ernst Rowohlt zusagte. 60 Jahre später sprach Michael Töteberg im Nachwort der Neuausgabe des Gesamtwerks von einer inzwischen „klassisch gewordene[n] Erzählung“. Theo Elm zählt Schischyphusch oder Der Kellner meines Onkels neben Die Hundeblume, Die Kirschen und Die Küchenuhr zu „Borcherts besten Kurzgeschichten“, die sich durch typisierte Figuren, kulissenhafte Handlungsorte und einen knappen, lakonischen Stil auszeichnen. Hans Gerd Rötzer hält Schischyphusch und Das Brot für „seine wohl besten Kurzgeschichten“. Hermann Wiegmann zeigt sich unter Borcherts Werken neben Nachts schlafen die Ratten doch von Schischyphusch besonders beeindruckt. In ihrer Klassifizierung der deutschen Kurzgeschichte ordnet Leonie Marx sie als typisches Beispiel der „humorvollen Kurzgeschichte“ ein, bei der sich positive und negative Elemente stets im Gleichgewicht befinden. Ludwig Rohner klassifiziert sie unter dem anekdotischen Typ der Kurzgeschichte.
Wie andere Texte Wolfgang Borcherts wurde auch Schischyphusch zur Schullektüre. Laut Paul Riegel eignet sich die Geschichte besonders zum lauten Vorlesen im Unterricht ohne Scheu vor Übertreibung, wobei die Schüler stark auf die komische Seite der Geschichte, ihr „feucht-wässeriges sch“ und die deftigen Ausdrücke ansprächen. Der Schweizer Schriftsteller Peter Weber beschreibt in seinem Roman Die melodielosen Jahre die Erfahrungen seines Protagonisten Oliver mit einer Lesung von Schischyphusch im Unterricht: „Sie lasen eine Strecke, die von Sprachschöpfungen und rhythmischen Doppelungen überquellen wollte, die Heiterkeit übertrug sich, steigerte sich mit jedem Verstolperer. […] Die Sätze berührten den Sprachnerv. Plötzlich war Deutsch ein Vivarium.“
Im Jahr 1981 produzierte der Bayerische Rundfunk den 25-minütigen Kurzfilm Schischyphusch oder Der Kellner meines Onkels unter der Regie von Guy Kubli. Es spielten unter anderem Herbert Stass und Siegfried Wischnewski. Die Hamburger Theatermanufaktur inszenierte Borcherts Kurzgeschichte als Einpersonenstück. Unter der Regie von Michael Kaller spielte Hans-Christoph Michel. Die Uraufführung fand am 17. März 1999 im Monsun-Theater in Hamburg statt. Verschiedene Schauspieler lasen den Text auf Tonträgern ein, so Will Quadflieg (1959), Rolf Ludwig (1977), Günther Dockerill (1986), Marius Müller-Westernhagen (1988), Peter Striebeck (2001) und Hans Eckardt (2001).
Textausgaben
Wolfgang Borchert: Schischyphusch oder der Kellner meines Onkels. In: Das Gesamtwerk. Rowohlt, Hamburg [u. a.] 1949, S. 285–297.
Wolfgang Borchert: Schischyphusch oder Der Kellner meines Onkels. In: Das Gesamtwerk. Erw. und rev. Neuausg., Rowohlt-Taschenbuch-Verlag, Reinbek 2009, ISBN 978-3-499-24980-8, S. 407–420.
Wolfgang Borchert: Schischyphusch oder Der Kellner meines Onkels. Atlantik Verlag, Hamburg 2016, ISBN 978-3-455-37034-8.
Literatur
Karl Brinkmann: Erläuterungen zu Wolfgang Borcherts Draußen vor der Tür und Die Hundeblume, Die drei dunklen Könige, An diesem Dienstag, Die Küchenuhr, Nachts schlafen die Ratten doch, Schischyphusch. Königs Erläuterungen Band 299. Bange, Hollfeld 1985, ISBN 3-8044-0233-X, S. 74–78.
Horst Brustmeier: Der Durchbruch der Kurzgeschichte in Deutschland. Versuch einer Typologie der Kurzgeschichte, dargestellt am Werk Wolfgang Borcherts. Dissertation, Marburg 1966, S. 190–199.
Horst Ohde: „denn das Letzte, das Letzte geben die Worte nicht her.“ Textkonnotate der Sprachnot im Werk Wolfgang Borcherts. In: Gordon Burgess, Hans-Gerd Winter (Hrsg.): „Pack das Leben bei den Haaren“. Wolfgang Borchert in neuer Sicht. Dölling und Gallitz, Hamburg 1996, ISBN 3-930802-33-3, S. 137–138.
Paul Riegel: Texte im Deutschunterricht. Interpretationen. Buchners, Bamberg 1969, S. 40–43.
Hansjürgen Verweyen: Botschaft eines Toten? Den Glauben rational verantworten. Pustet, Regensburg 1997, ISBN 3-7917-1568-2, S. 34–39.
Einzelnachweise
Werk von Wolfgang Borchert
Literarisches Werk
Kurzgeschichte
Nachkriegsliteratur
Literatur (20. Jahrhundert)
Literatur (Deutsch) |
8932981 | https://de.wikipedia.org/wiki/Paramylodon | Paramylodon | Paramylodon ist eine ausgestorbene Gattung der Faultiere und gehört zur ebenfalls erloschenen Familie der Mylodontidae. Es war ein großes, bodenlebendes Faultier, das hauptsächlich im Pleistozän vor rund 1,8 Millionen Jahren bis vor etwa 11.000 Jahren in Nordamerika lebte. Die Gattung ist über zahlreiche Fossilfunde belegt, ihre Anzahl nahm in der Spätphase des Auftretens sichtlich zu. Sie stammen überwiegend aus dem Süden der heutigen USA, im westlichen Bereich streuen sie aber auch bis in den Süden von Kanada. Einen herausragenden Fundplatz stellen die Asphaltgruben von Rancho La Brea bei Los Angeles in Kalifornien dar, wo die Gattung recht häufig belegt ist. Anhand der Fossilreste lässt sich eine Länge der Tiere von knapp 280 cm und ein Gewicht von gut 1,4 t rekonstruieren.
Aufgrund der teils sehr guten Fossilerhaltung ist bei den Tieren die für die Mylodonten typische Körperpanzerung in Form von Osteodermen überliefert. Zudem lässt sich ein geschlechtsspezifischer Unterschied im Schädelbau nachweisen. Den Funden zufolge lebten die Vertreter von Paramylodon in offenen Landschaften, teilweise auch in gebirgigen Lagen und ernährten sich höchstwahrscheinlich grasfresserisch oder von gemischter Pflanzenkost. Einmalige Spurenfossilien geben darüber hinaus Auskunft über die Fortbewegung der Tiere, die vierfüßig erfolgte. Zudem kann aufgrund der Gestaltung der Vordergliedmaßen auch eine gewisse grabende Lebensweise nicht ausgeschlossen werden.
Innerhalb der Gattung ist mit Paramylodon harlani nur eine Art anerkannt. Die ersten Fossilfunde stammen bereits aus dem Beginn der 1830er Jahre. Sie gehen auf Richard Harlan zurück, zu dessen Ehre die Art benannt wurde. Die Gattung Paramylodon führte Barnum Brown zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein. Insgesamt blickt der Faultiervertreter auf eine wechselvolle Forschungsgeschichte zurück. In deren ersten 150 Jahren wurden die heute Paramylodon zugeschriebenen Funde, später die Gattung selbst, immer wieder mit anderen Formen in Verbindung gebracht, zuerst mit Mylodon, seit den 1950er Jahren aber zunehmend mit Glossotherium. Vor allem mit letzterer Gattung verbindet Paramylodon zahlreiche Merkmale, die für eine enge Verwandtschaft sprechen. Erst seit den 1990er Jahren gelten beide Gattungen als eigenständig, wobei Glossotherium auf Südamerika beschränkt ist, während Paramylodon Nordamerika bewohnte.
Merkmale
Körpergröße
Paramylodon ist vor allem aufgrund der Funde aus Rancho La Brea in Kalifornien in reichhaltiger Zahl überliefert. Das dort geborgene Material von mehreren Dutzend Individuen diente als Basis zahlreicher Untersuchungen, auf die sich die folgenden beschreibenden Angaben weitgehend berufen. Die Faultiergattung war ein mittelgroßer Vertreter der Mylodontidae. Ein vollständig rekonstruiertes Skelett aus Rancho La Brea besitzt eine Gesamtlänge von 279 cm, wovon der Schwanz etwa 118 cm einnimmt. An den Schultern erreicht es eine Höhe von 112 cm, am Becken misst es 122 cm. Das Gewicht für diese späten Angehörigen des Oberen Pleistozäns wird mit rund 1,39 t angegeben, frühere Formen waren aber durchaus kleiner. Insgesamt stellte Paramylodon ein robust gebautes Tier dar. Es zeichnete sich durch einen langgestreckten Schädel, einen kurzen Nacken, einen kurzen und kompakten Körper mit breitem Becken sowie kräftigen Gliedmaßen und Schwanz aus.
Schädel- und Gebissmerkmale
Der Schädel von Paramylodon war langschmal. Er erreichte eine Gesamtlänge vom 42,9 bis 49,8 cm, ermittelt an etwa einem Dutzend Exemplaren. Ein besonders großer Schädel maß 54,0 cm. In der Aufsicht besaß er eine eher rechteckige Form mit einer durchschnittlichen Breite am Hinterhauptsbein von 18,8 cm, hinter den Augen von 12,2 cm und an der Schnauze von 14 cm. Typisch für zahlreiche Mylodonten war die sich nach vorn kontinuierlich verbreiternde Schnauze. Der Schädel zeigte sich aber insgesamt als deutlich schmaler als beim vergleichbar großen Glossotherium, letzteres wies in Seitenansicht an der Stirnlinie eine domartige Aufwölbung auf, die bei Paramylodon nicht auftrat. Allerdings war der Schädel von Paramylodon mit Ausnahme des mittleren Bereichs (der domartigen Aufwölbung bei Glossotherium) durchschnittlich höher, so maß er am Hinterhaupt rund 13,8 cm, an der Schnauze 13 cm. Das Nasenbein befand sich seitlich im Kontakt mit dem Oberkiefer. Dadurch entstand ein seitlich geschlossener und nur nach vorn geöffneter Naseninnenraum, der etwa so hoch wie breit wurde, was dem insgesamt schmaleren Schädel geschuldet war. Der Mittelkieferknochen war, typisch für die Faultiere, nur locker mit dem Oberkiefer verbunden. Am Stirnbein ragte das Nasenbein weit nach hinten, sodass die Naht zwischen den beiden Schädelknochen eher V-förmig verlief. Zudem stellte das Stirnbein den größten Knochen des gesamten Schädels dar. Zwischen den Scheitelbeinen bestand ein kräftiger Scheitelkamm, der jedoch wesentlich schmaler erschien als im Vergleich zu Glossotherium. Die Jochbögen waren abweichend von den meisten Faultieren sekundär wieder geschlossen. Der vordere, vom Jochbein ausgehende und nach hinten zeigende Bogenteil wies drei Fortsätze auf, von denen einer nach oben, einer nach unten und der mittlere horizontal orientiert war. Der hintere, am Schläfenbein ansetzende Bogenabschnitt besaß eine fingerförmige Gestalt und verband sich mit dem mittleren Fortsatz des vorderen Bogenabschnitts. Auf der Schädelunterseite ragte das Gaumenbein bei Paramylodon deutlich weiter nach hinten als bei Glossotherium, was durch die längere Ausdehnung des Knochens hinter dem letzten Backenzahn verursacht wurde. Wie bei vielen Mylodonten waren die beiden Flanken des Flügelbeins deutlich aufgebläht. Bei Paramylodon zeigte sich dies aber nicht ganz so deutlich wie bei Glossotherium, sodass die aufgewölbten Strukturen wesentlich weiter durch das Basisphenoid des Keilbeins auseinanderstanden.
Der Unterkiefer erreichte nach Analyse von gut zwei Dutzend Objekten Längen von 31,5 bis 43,6 cm. Er war massiv gebaut und breit. Der horizontale Knochenkörper nahm kontinuierlich von vorn nach hinten an Höhe zu, unter dem hintersten Zahn betrug seine Höhe bis zu 10,5 cm. Die robuste Symphyse wurde bis zu 11 cm lang und war – typisch für Mylodonten – breit. Sie zog nach vorne aus, was ein Kennzeichen fast aller Faultiere ist. Diese löffelartige Verlängerung der Symphyse kragte bei Paramylodon seitlich nicht so deutlich auseinander wie bei Glossotherium, sodass die Seitenkanten eher gerade verliefen und weniger deutlich geschwungen waren als bei Letzterem. Die Breite der Symphyse im vorderen Bereich betrug bis zu 15 cm. Der Gelenkfortsatz überragte die Kauebene nur unwesentlich, der Kronenfortsatz war deutlich höher. Seine Vorderkante verlief bei Paramylodon in einer geraden Linie, abweichend von der gebogenen Gestaltung bei Glossotherium. Das Gebiss bestand, wie allgemein üblich bei den Faultieren, aus 5 Zähnen je Oberkieferhälfte und 4 Zähnen je Unterkieferhälfte, insgesamt waren also 18 Zähne ausgebildet. Die jeweils vordersten Zähne hatten eine eckzahnartige (caniniforme) Gestalt, die übrigen waren molarenartig (molariform). Die Gebissstruktur gilt als stammesgeschichtlich urtümlich innerhalb der Faultiere. Allerdings waren bei den späteren Vertretern von Paramylodon die oberen caniniformen Zähne häufig reduziert, sodass das Gebiss dann aus nur 16 Zähnen bestand. Eine ähnliche Zahnreduktion ist bei Glossotherium nicht bekannt. Bei Mylodon hingegen waren die vordersten Zähne im Obergebiss ebenfalls nicht mehr ausgebildet, die unteren caniniformen Zähne ähnelten hingegen den hinteren Backenzähnen. Die caniniformen Zähne besaßen bei Paramylodon einen ovalen Querschnitt und waren nach hinten gekrümmt. Sie erreichten aber nicht die Größe wie bei Glossotherium oder gar bei Lestodon. Zur hinteren Zahnreihe bestand ein kurzes Diastema. Die molarenartigen Backenzähne hatten eine flache Gestalt mit einem etwas erhöhtem Rand. Sie besaßen im Umriss eine zweilappige Form mit starker mittlerer Einschnürung, außer dem ersten Oberkieferbackenzahn, der eher rechteckig geformt war und mit einer durchschnittlichen Länge von 3,7 cm den längsten Zahn im Oberkiefer bildete. Beim zweiten oberen Backenzahn zeichnete sich die lappenartige Struktur wesentlich deutlicher ab als bei Glossotherium. Allen Zähnen fehlte typischerweise der Zahnschmelz, vielmehr bestanden sie aus einer härteren Variante des Zahnbeins (Orthodentin), zusätzlich gab es noch eine äußere Schicht Zahnzement. Der Anteil des Orthodentins erreichte bei Paramylodon 28 %. Die obere Zahnreihe wurde durchschnittlich 14,4 cm lang, wovon die hinteren Backenzähne 12,6 cm einnahmen. Aufgrund der sich nach vorn verbreiternden Schnauze verliefen die Zahnreihen divergierend zueinander.
Körperskelett
Vor allem das umfangreiche Fundmaterial aus Rancho La Brea erlaubt eine umfassende Rekonstruktion des Körperskeletts. Die Wirbelsäule setzte sich aus 7 Hals-, 16 Brust- 8 bis 9 Lenden- und Kreuzbein- sowie 21 Schwanzwirbeln zusammen. Der Oberarmknochen war massiv, die Länge betrug 46 cm und der Kopf hob sich nicht sonderlich deutlich ab. Eine markante Knochenleiste (deltopectorale Leiste) saß am Humerusschaft an, war aber im oberen Teil weniger prominent ausgebildet als bei Glossotherium. Das untere Gelenkende kragte seitlich weit aus. Ein Foramen entepicondylaris, das gelegentlich bei einigen Faultieren vorkam, war hier nicht ausgebildet. Die Elle besaß einen stark ausgedehnten oberen Gelenkfortsatz, das Olecranon. Er wurde etwa 20 cm lang, der gesamte Knochen erreichte 40 cm Länge. Der Bau der Elle wirkte kürzer und robuster als bei Glossotherium, der Schaft war breit und oben vorn und hinten verschmälert. Ebenso war die Speiche kurz und massiv bei einer Länge von 29,6 cm. Den längsten Knochen repräsentierte der Oberschenkelknochen mit rund 54,6 cm. Sehr kurze Exemplare aus Rancho La Brea maßen nur 51 cm, sehr lange 58 cm. Markant war die bei den Bodenfaultieren typische, flache und breite Gestaltung, sodass der Knochen fast brettartig wirkte. Der Kopf erhob sich nur wenig von der Oberfläche und hatte eine mehr nach innen gerichtete Lage. Der Schaft war leicht nach innen gedreht, ein dritter Trochanter als Muskelansatzstelle, der bei Lestodon auftrat, war bei Paramylodon nicht sichtbar. Mit einer Länge von 24,6 cm war das Schienbein deutlich kürzer als der Oberschenkelknochen. Dies ist ein typisches Merkmal der Mylodonten, bei deren überwiegend späten Vertretern der untere Abschnitt des Hinterbeins häufig nur etwa die Hälfte der Länge des oberen erreichten. Im Falle von Paramylodon wies die Tibia 45 % der Femurlänge auf. Ihr Schaft war wie der des Oberschenkelknochens abgeplattet und wies ebenso eine leichte Drehung auf. Das obere Gelenkende war seitlich ausladend, die Breite hier erreichte etwa drei Viertel der Länge des Gesamtknochens. Das Wadenbein war nicht mit dem Schienbein verwachsen, es wurde 26,3 cm lang.
Hände und Füße zeigten einen ähnlichen Aufbau wie bei den anderen großen Mylodonten Glossotherium und Lestodon, Abweichungen liegen im Detail vor. Die Hand wies insgesamt fünf Strahlen auf (I bis V), wobei nur die drei inneren Strahlen (I bis III) Krallen ausgebildet hatten. Der Mittelhandknochen des ersten Strahls war mit dem Großen Vieleckbein zu einer Einheit verschmolzen, was bei bodenbewohnenden Faultieren häufig belegt ist (sogenannter Metacarpal Carpal complex oder MCC). Die Mittelhandknochen des dritten bis fünften Strahls waren massiv und über 10 cm lang, der des Strahls IV besaß dabei den kräftigsten Bau. Am Fingerstrahl I waren zusätzlich noch die ersten beiden Phalangen miteinander verwachsen, an den Strahlen II und III bestanden jeweils drei Fingerglieder, wovon die ersten beiden aber deutlich reduzierte Längen aufwiesen. Die jeweiligen Endglieder der drei inneren Strahlen verfügten über ausgedehnte Krallenfortsätze, was auf dementsprechend große Krallen schließen lässt. Die Länge reichte von innen (I) nach außen (III) von 7,5 cm über 15,4 cm bis zu 17,4 cm, die Höhe variierte von 2,9 bis 5,7 cm. Die krallenlosen äußeren Finger besaßen in ihrer Größe stark reduzierte Fingerglieder. Der Fuß von Paramylodon verfügte über insgesamt vier Strahlen (II bis V), der innerste Strahl war vollständig reduziert. Krallen bestanden hier nur an den Zehen II und III, die auch am kräftigsten ausgebildet waren. Allerdings hatten die Mittelfußknochen hier eher kurze Längen von 3,6 beziehungsweise 6,5 cm, an den äußeren Strahlen wurden sie jeweils über 11,0 cm lang und waren sehr massiv. Wie bei den anderen beiden Mylodonten verfügte der zweite Strahl nur über zwei Zehenglieder, da die erste und zweite Phalanx entsprechend der Hand zu einer Einheit verschmolzen waren. Abweichend von Glossotherium und Lestodon bestand bei Paramylodon auch der dritte Strahl häufig nur aus zwei Gliedern. Die jeweiligen Endphalangen mit Krallen wiesen analog der Hand einen äußerst kräftigen Bau auf, allein der Krallenfortsatz maß hier etwa 8,5 cm am zweiten und 11,1 cm am dritten Strahl und wurde jeweils 3,3 beziehungsweise 3,9 cm hoch. Die äußeren Strahlen besaßen dem gegenüber wiederum stark reduzierte Endglieder.
Osteoderme
Die Mylodonten bilden die einzige bekannte Faultierlinie, bei deren Vertretern Knochenplättchen, sogenannte Osteoderme, in der Haut ausgebildet waren, analog den heutigen Gürteltieren. Im Gegensatz zu diesen bildeten sie aber bei den Mylodonten keinen festen Knochenpanzer, sondern waren eher locker verstreut, wie dies Funde von Hautresten von Mylodon zeigen. Von Paramylodon liegen mehrere hundert solcher Osteoderme aus Rancho La Brea vor, zusätzlich unter anderem auch als dichte Lage auf einer Platte aus dem Anza-Borrego State Park in Kalifornien und aus Haile 15A, einer fossilreichen Kalksteinspalte in Florida. Die Knochenplättchen waren rund bis oval, manchmal auch irregulär geformt, und 5 bis 30 mm lang. Sie zeigten eine raue Oberfläche mit unregelmäßigen Eintiefungen, die Unterseite war dagegen glatt und konvex gestaltet. Im Querschnitt besaßen sie einen kompakten Bau bestehend aus zahlreichen Faserbündeln vermischt mit harten Knochenlamellen (Osteome). Prinzipiell waren die Knochenplättchen der Mylodonten einfacher strukturiert als die der Gepanzerten Nebengelenktiere.
Verbreitung und wichtige Fossilfunde
Überblick und frühes Auftreten
Paramylodon war endemisch in Nordamerika und möglicherweise auch in Mittelamerika verbreitet. Die ältesten, eindeutig der Gattung zuweisbaren Funde sind aus dem Unteren Pleistozän bekannt. Ältere Formen von Mylodonten stammen aus dem Oberen Pliozän Mexikos und des US-Bundesstaates Florida. Von letzterem ist das Teilskelett von der Fundstelle Haile 15A hervorzuheben, einer mit Sedimenten gefüllten Spalte im Kalkstein im Alachua County, deren Alter auf 2,1 bis 1,8 Millionen Jahren geschätzt wird. Diese frühen Vertreter werden allgemein als Glossotherium chapadmalensis bezeichnet, die tatsächliche Zugehörigkeit zu der frühen Art der eigentlich auf Südamerika beschränkten Gattung Glossotherium ist aber umstritten. Nur wenig jünger sind die Funde der fossilreichen El Gulfo local fauna aus dem Mündungsgebiet des Colorado River im mexikanischen Bundesstaat Sonora. Sie werden bereits zu Paramylodon gestellt und datieren auf 1,8 bis 1,6 Millionen Jahre. Insgesamt sind Fossilreste aus dem Unteren und Mittleren Pleistozän relativ selten und stammen in Nordamerika von rund 20 Fundstellen. Diese verteilen sich vor allem auf den südlichen und zentralen Bereich der heutigen USA und auf das nördliche Mexiko, streuen im Westen des Kontinents aber auch bis in den südlichen Teil von Alberta in Kanada. Sie befinden sich sowohl im Flachland als auch in Gebirgslagen, der höchste Fundpunkt erreicht in Colorado etwa 2900 m Höhe. Einer der bedeutendsten Fundpunkte jener Zeit ist der Leisey Shell pit im Hillsborough County in Florida, von wo über mehrere Schädel und postcraniale Skelettelemente berichtet wurde, deren Alter bei etwa 1,2 Millionen Jahren liegt. Bereits in den Übergang zum Mittelpleistozän gehört die Lokalität Fairmead Landfill im Madera County in Colorado, die ebenfalls mehrere Teilskelette hervorbrachte.
Funde des Oberpleistozäns
Deutlich umfangreicher ist das Fundmaterial des Oberpleistozäns, dass mehr als 100 Fundstellen entstammt, allein in Kalifornien ist Paramylodon von über 60 Fundpunkten überliefert. Die Verbreitung der Gattung ist ähnlich wie im Unteren Pleistozän, zusätzlich kommt sie aber auch etwas weiter östlich im Mittleren Westen vor, so beispielsweise in Iowa. Ihren nördlichsten Fundpunkt erreicht sie zu jener Zeit mit Sequim in Washington bei 48,1° nördlicher Breite, im Süden ist die Gattung zusätzlich aus Mexiko überliefert, wo bei Valsequillo bei 19° nördlicher Breite ihre südliche Ausbreitungsgrenze bestand, einige Funde weisen aber inzwischen darauf hin, dass Paramylodon eventuell auch aus Guatemala und El Salvador überliefert ist. Unter anderem konnten Funde eines Jungtiers und eines ausgewachsenen Individuums von der Stevenson Bridge in Flussablagerungen des Putah Creek im Yolo County von Kalifornien geborgen werden, die an den Beginn der letzten Kaltzeit gehören. Aus Shonto und Richville in Arizona sind zwei nahezu vollständige Skelette berichtet worden, die zu den wenigen bekannten Funden aus dem Bundesstaat gehören. Allgemein sind Fossilreste von Paramylodon auf dem Colorado-Plateau im Südwesten der heutigen USA und zusätzlich im Nordwesten Mexikos sehr selten, was eventuell mit dem damals trockeneren Klima in diesem Bereich zusammenhängt.
Von weltweit herausragender Bedeutung sind aber die Funde aus den Asphaltgruben von Rancho La Brea im Süden von Kalifornien. Von hier stammt eine umfangreiche Fossilfauna, deren Alter von 45.000 bis 14.000 Jahren vor heute reicht. Die ersten Funde wurden bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entdeckt, das weitaus bedeutendere Material ist aber auf gezielte wissenschaftliche Untersuchungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurückzuführen, die insgesamt über 100 dokumentierte Fundstellen einschließen. Auffallend im Faunenspektrum ist die ungewöhnliche Dominanz von Raubtieren gegenüber Pflanzenfressern. Höchstwahrscheinlich wurden die Beutegreifer in größerer Zahl von im Bitumen feststeckenden Tieren angezogen und fielen den natürlichen Fallen dann selbst zum Opfer. Unter den Faultieren treten mit Paramylodon, Megalonyx und Nothrotheriops drei der vier in Nordamerika nachgewiesenen Gattungen auf (Eremotherium ist nur aus dem östlichen Teil der USA bekannt). Dabei stellt aber Paramylodon mit über 70 Individuen den weitaus häufigsten Vertreter dar, unter den Funden sind allein 30 Schädel hervorzuheben. Ein weiterer sehr umfangreicher Fossilkomplex liegt mit der Diamond Valley Lake Local Fauna im Diamond Valley und im Domenigoni Valley im Riverside County ebenfalls im Süden von Kalifornien vor. Das Material wurde während der Konstruktion des Diamond Valley Lake seit Mitte der 1990er Jahre geborgen und umfasst gegenwärtig mehr als 100.000 Fundobjekte von mehr als 100 Taxa, die von über 2600 verschiedenen Fundlokalitäten stammen. Im Gegensatz zu Rancho La Brea dominieren hier die großen Pflanzenfresser, während der Anteil der großen Beutegreifer gering ausfällt. Dadurch kann auf einen ungestörten Charakter der Faunengemeinschaft geschlossen werden. Paramylodon ist mit rund 280 Einzelfunden belegt, was etwa 8 % der gesamten Säugetierfauna ausmacht. Das Bodenfaultier bildet damit nach den Bisons, den Pferden, dem urtümlichen Rüsseltier Mammut pacificus und dem Kamel Camelops den fünfthäufigsten Vertreter der Säugetiere in der Diamond Valley Lake Local Fauna. Die beiden anderen, auch in Rancho La Brea auftretenden Faultiere Megalonyx und Nothrotheriops spielen dagegen mit zusammen 0,5 % des Fundaufkommens nur eine untergeordnete Rolle. Das Alter der Diamond Valley Lake Local Fauna entspricht Radiocarbondatierungen zufolge dem von Rancho La Brea.
Jüngste Nachweise
Wie die meisten anderen großen, bodenlebenden Faultiere verschwand auch Paramylodon gegen Ende des Pleistozäns im Zuge der Quartären Aussterbewelle. Im Gegensatz zu vielen anderen Gattungen liegen aber von Paramylodon kaum direkt am Fossilmaterial gemessene radiometrische Daten vor. Zu den jüngsten gehört ein Wert aus Rancho La Brea, der bei 20.450 BP liegt. Allerdings sind noch eindeutig jüngere Funde bekannt, wenige davon kamen dabei aus archäologischen Fundstätten zum Vorschein, die im Zusammenhang mit der frühen Besiedlung des nordamerikanischen Kontinents durch den Menschen stehen. Einer der seltenen Nachweise stammt aus El Fin del Mundo („Das Ende der Welt“) in Sonora. Die im Jahr 2007 entdeckte Station konnte mit Hilfe der Radiocarbonmethode unter Verwendung von Holzkohle auf ein Alter von 13.390 Jahren BP datierte werden. Aufgrund des Vorkommens von sechs Clovis-Spitzen gehört sie in einen sehr frühen Abschnitt der Clovis-Kultur, welche eine der frühesten archäologischen Gruppen der ersten Besiedler Nordamerikas repräsentiert. Neben zwei Skeletten von Rüsseltieren, von denen eines eindeutig Cuvieronius vertritt und offensichtlich von den damaligen Jägern und Sammlern zerlegt worden war, kamen auch Reste von Paramylodon zum Vorschein. Darüber hinaus sind mehr als 130 Osteoderme aus der Aubrey Clovis site im nordzentralen Texas belegt. Das die Funde umgebende Bodensubstrat wurde radiometrisch auf ein Alter von 12.860 Jahren BP datiert. Dort ebenfalls dokumentierte Steinartefakte, die etwa 9800 Stücke umfassen, können aufgrund einer Clovis-Spitze ebenfalls zur Clovis-Gruppe verwiesen werden. Die Reste von Paramylodon haben aber keinen unmittelbaren Bezug zu den frühen Siedlern, da sie mit Ausnahme eines einzigen Knochenplättchens in einer nahe gelegenen Wasserstelle gefunden wurden. Es ist aufgrund der bisher wenigen gemeinsamen Funde unklar, ob direkte Bejagung zum Aussterben der Tiere geführt hat.
Dass die frühen Besiedler Nordamerikas mit den großen Bodenfaultieren interagierten, ihnen folgten sowie möglicherweise auch jagten, darauf verweisen Trittsiegel aus White Sands National Monument in New Mexico. Hier sind mehrere hundert Fußspuren größerer Faultiere mit denen von Menschen am Ufer eines ehemaligen Sees assoziiert. Teilweise überschneiden sie sich, in einem Fall liegen die menschlichen Spuren innerhalb der Fährte eines Faultiers. Eine Auffälligkeit bei den sich überkreuzenden Faultier- und Menschenspuren ist ein abrupter Richtungswechsel bei ersteren, was eine direkte Konfrontation durch die Verursacher annehmen lässt. Allerdings liegen von der Fundstelle keine Fossilreste vor und das Alter der Spuren ist bisher nur mittelbar datiert (zwischen 15.560 und 10.000 Jahren vor heute). Zudem sind die Faultierspuren nicht genauer bestimmt. Sie weisen starke Größenvariationen auf, was entweder auf Tiere verschiedenen Alters oder auf unterschiedliche Arten zurückgeführt werden kann. Im fraglichen Zeitraum kamen in der Region neben Paramylodon auch Nothrotheriops, ein kleineres Bodenfaultier aus der Gruppe der Nothrotheriidae, und Megalonyx, eine große Form der Megalonychidae, vor.
Paläobiologie
Körpergrößenveränderung und Geschlechtsdimorphismus
Wie zahlreiche andere Tiergruppen auch durchlief Paramylodon im Laufe seiner Stammesgeschichte eine markante Körpergrößenzunahme. Das Gewicht bei den Angehörigen des Unteren Pleistozäns wird mit etwa 915 kg angegeben, die späten Vertreter aus dem Oberen Pleistozän erreichten dagegen wohl bis zu 1,39 t Körpergewicht. Grundlage für die jeweiligen Gewichtsschätzungen bilden die Oberschenkelknochen, deren entsprechenden Längen bei 48,4 beziehungsweise bei 54,6 cm liegen. Die frühesten Formen aus dem Pliozän, deren Stellung aber innerhalb der Gattung Paramylodon vielfach diskutiert wird, wiesen ein Gesamtgewicht von rund 310 kg bei einer Femurlänge vom 35,5 cm auf. Unter Berücksichtigung dieser frühen Vertreter erhöhte sich das Gewicht von Paramylodon im Laufe von gut 2,5 Millionen Jahren um den Faktor 4,5. Besonders auffällig ist, dass gerade im ausgehenden Pleistozän zur Zeit der letzten Kaltzeit mit ihren extrem ausgeprägten Klimaschwankungen kaum Größenvariationen auftreten, wie Untersuchungen an den zahlreichen Funden von Rancho La Brea aus der Zeit vor 45.000 bis 10.000 Jahren vor heute zeigen. Erklärt wird dies mit einer hohen Flexibilität der Gattung in Bezug auf die Umwelt und damit einer hohen Anpassungsfähigkeit. Die Annahme lässt aber außer Acht, dass zunehmend kühlere Bedingungen laut der Bergmannschen Regel zu einer Körpergrößenzunahme führen müssten.
Anhand der umfangreichen Fossilfunde aus dem späten Pleistozän können bei Paramylodon zwei Morphotypen unterschieden werden, eine grazile und eine robuste Variante. Die Morphotypen spiegeln sich dabei nicht in der allgemeinen Größe der Schädel wider, sondern betreffen hauptsächlich deren Ausprägung, etwa bei den Breitenverhältnissen. Auch lassen sich Unterschiede beispielsweise am Hinterhauptsbein feststellen, das bei der robusten Variante senkrecht steht, bei der grazileren aber schräg nach hinten. Dadurch sind bei letzterer die Gelenkflächen zum Ansetzen der Halswirbelsäule prominenter hervorgehoben als bei ersterer. Weitere Abweichungen finden sich in der Ausbildung der caniniformen Zähne die, sofern vorhanden, bei robusten Individuen spitz, bei grazilen dagegen stumpf enden. Möglicherweise handelt es sich bei den beiden Morphotypen nicht um Art- oder taxonomische Variationen im Sinne von Unterarten, wie es ursprünglich angenommen wurde, da sie häufig an ein und derselben Fundstelle auftreten. Vielmehr sind sie eher Ausdruck eines intraspezifischen Geschlechtsdimorphismus. Es ist allerdings momentan unmöglich, einen Morphotyp einem bestimmten Geschlecht zuzuweisen. Bei den 30 bekannten Schädelfunden von Rancho La Brea liegt das Verhältnis von robust zu grazil bei 3:1, im Americas Fall Reservoir in Idaho mit drei Schädeln bei 2:1 und in Ingleside in Texas mit ebenfalls drei Schädeln bei 3:0. Bemerkenswert ist dabei, dass der Geschlechtsdimorphismus sich nicht im postcranialen Skelett niederschlägt und so, wie beim Schädel bereits bemerkt, kein Größendimorphismus in Form signifikanter Längenunterschiede bei den Extremitätenknochen auftritt. Im Gegensatz dazu ist bei Eremotherium, das zur gleichen Zeit ebenfalls in Nordamerika verbreitet war, aber zu den Megatheriidae gehört, ein ausgeprägter Größenunterschied zwischen den Geschlechtern bekannt.
Fortbewegung
Allgemein wird für die bodenlebenden Faultiere eine vierfüßige Fortbewegung angenommen. Aufgrund des weit nach hinten verlagerten Körperschwerpunktes war es ihnen aber offensichtlich auch möglich, in eine zweifüßige Position zu wechseln, wobei sie sich dabei mit dem kräftigen – im Gegensatz zu den heutigen Baumfaultieren – sehr langen Schwanz abzustützen vermochten. Der Hinterfuß von Paramylodon ist nach innen gedreht, sodass die Hauptlast beim Aufsetzen des Fußes auf dem äußeren Strahl (V) liegt. Dadurch entsteht der für zahlreiche Bodenfaultiere charakteristische pedolaterale Gang, der deutliche Umstrukturierungen in der Form und Lagerung der Fußwurzelknochen zueinander, vor allem beim Sprungbein und beim Fersenbein, erforderte. Bei Paramylodon war die äußere Fußkante wenig aufgewölbt, sodass sie eine mehr oder weniger gerade Kante bildete und das Fersenbein in nahezu voller Länge im Kontakt mit dem Boden stand. Dies ist übereinstimmend mit anderen Mylodonten, weicht aber stark von den nahe verwandten Scelidotheriidae ab, die einen hoch aufgewölbten Fuß besaßen, bei dem nur das hintere Ende des Fersenbeins den Boden berührte. Eine weitere Besonderheit findet sich in den hinteren Gliedmaßen. Hier zeichnet sich der Bewegungsapparat durch einen extrem kurzen unteren Abschnitt aus. Bei Paramylodon erreicht der untere Abschnitt weniger als 50 % des oberen. Ein derartiger Bauplan, den nahezu alle Mylodonten aufweisen, lässt auf eine eher langsame und schwerfällige Bewegung schließen. Im Vergleich dazu hatten die Megatherien deutlich längere untere Gliedmaßenabschnitte.
Spurenfossilien, die Hinweise auf die Fortbewegung der Bodenfaultiere geben, sind nur selten erhalten. Für Paramylodon konnten solche eindeutigen Trittsiegel im Nevada State Prison in der Nähe von Carson City nachgewiesen werden. Die Spuren wurden bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beim Sandsteinabbau entdeckt und anfänglich, 1882, als Hinweise auf riesenhafte Menschen gedeutet. Doch schon im Jahr darauf erkannte Othniel Charles Marsh einen Zusammenhang mit ausgestorbenen Bodenfaultieren und suchte den Verursacher der Trittsiegel unter den Mylodonten, von denen auch Knochenreste von der gleichen Fundstelle vorliegen. Insgesamt sind bei Carson City neben Paramylodon zahlreiche Spuren weiterer Säugetiere – etwa Mammute, Pferde, Elche sowie Raubtiere – und zusätzlich von Vögeln entdeckt worden. Die Trittsiegel verteilen sich auf einer Fläche von rund 8000 m², sie sind zwar heute weitgehend durch den Gefängnisbau überdeckt, aber durch Abgüsse gut dokumentiert. Von Paramylodon konnten insgesamt zehn Fährten beobachtet werden, bestehend aus 15 bis 20 einzelnen, wechselseitig eingedrückten Spuren. Jeder einzelne Fußabdruck ist 47 bis 51 cm lang und rund 20 cm breit, im Umriss ähneln sie tatsächlich menschlichen Fußabdrücken, sie sind aber seitlich deutlich stärker eingedellt. Weitere Studien zeigten, dass die Form der Abdrücke sehr gut mit der Form des Fußes von Paramylodon übereinstimmt und der an Menschen erinnernde Umriss auf den auswärts gedrehten Fuß des Faultiers zurückzuführen ist. Der seitliche Abstand der Spuren zueinander beträgt etwa 60 cm, was in etwa mit dem Abstand der beiden Hüftgelenkspfannen am Becken von Paramylodon übereinstimmt, ebenso die Schrittlänge von rund 146 cm, was wiederum zur bekannten Hinterbeinlänge von 95 cm korrespondiert. Auffälligerweise sind dadurch fast ausschließlich Hinterfußabdrücke überliefert, was anfänglich auch mit einer zweifüßigen Fortbewegung der Tiere interpretiert wurde, analog zu entsprechenden Spurenfossilien von Megatherium in Südamerika. Es konnte aber ermittelt werden, dass die einzelnen Trittsiegel der Hinterfüße die der Vorderfüße überdecken. Da der vordere Fuß deutlich kleiner ist als der hintere und anders aufsetzt, erzeugt er einen wesentlich kleineren Abdruck. In Einzelfällen sind Trittsiegel überliefert, die von der Überdeckung des Vorderfußes durch den Hinterfuß zeugen. Aus anatomischen Gründen, etwa den angewinkelten Beinen beim Laufen, der Lage und Orientierung des Hinterfußes zum Bein und ähnlichen, ist eine dauerhafte Bipedie der großen Bodenfaultiere unwahrscheinlich. Die Schrittlänge von Paramylodon lässt eine durchschnittliche Geschwindigkeit von 1,8 bis 2,2 m/s annehmen, was in etwa der ermittelten Geschwindigkeit von Megatherium entspricht.
Untersuchungen am Schulterblatt von sowohl jungen als auch ausgewachsenen Individuen zeigen eine signifikante Formveränderung, die von einer eher runden bei ersteren zu einer weitgehend ovoiden Form bei letzteren führt. Die ontogenetische Überprägungen sind vergleichbar mit denen der heutigen baumbewohnenden Faultiere. Die Ähnlichkeit der Schulterblätter der jungen Vertreter von Paramylodon und der Jungtiere der heutigen Faultiere lässt auf vergleichbare Verhaltensweisen schließen. Demnach verfügten die Jungen von Paramylodon noch über verschiedene kletternde Fähigkeiten und klammerten sich möglicherweise an ihre Muttertiere beim Transport.
Ernährungsweise
Die Mylodonten gelten in der Regel als stärker an Grasnahrung angepasste Faultiere, die Annahme basiert auf den hochkronigen Zähnen und den abweichend von anderen Faultierlinien flachen Kauoberflächen, die dadurch denen der sich so ernährenden Huftiere ähneln. Der fehlende Zahnschmelz bei den Zähnen der Faultiere macht aber Vergleiche schwierig. Die grasfresserische Ernährung wurde schon sehr früh aufgrund der speziellen Zahnausbildung angenommen, Analysen des Kauapparates von Paramylodon ergaben, dass die Nahrung überwiegend in vor- und rückwärts gerichteten sowie seitlichen Kaubewegungen zerkleinert wurde, was auch durch dementsprechende Schleifspuren angezeigt wird. Dem widersprechen auch nicht die caniniformen vorderen Zähne, die – wenn ausgebildet – eher klein sind. Das Unterkiefergelenk ist bei Paramylodon breit ausgebildet und hat eine unspezialisierte Oberfläche, die zugehörige Glenoid-Grube am Schädel erscheint flach, was typisch für Pflanzenfresser mit ihren rotierenden Kaubewegungen ist. Allerdings tritt an der Innenseite eine zusätzliche, nahezu senkrecht stehende Gelenkfacette auf, die in einer Vertiefung an der Außenwand des Flügelbeins ankert. Dadurch waren allzu starke seitliche Kaubewegungen eher begrenzt. Die Anordnung des Musculus masseter bewirkte, dass Paramylodon sein Maul nur um 22° öffnen konnte, was deutlich weniger ist als bei den Zweifinger-Faultieren, die aber vergleichsweise längere caniniforme Zähne haben. Alles in allem lässt die Struktur des Kauapparates eher eine Bevorzugung gemischter Pflanzenkost (mixed feeder) annehmen. Für eine derartige Ernährungsweise spricht auch der Bau der Schnauze, die nicht ganz so breit ist wie bei Lestodon, für das eine stärker auf Gräsern beruhende Ernährungsweise angenommen wird (grazer, analog dem heutigen Breitmaulnashorn), aber deutlich breiter als bei Megatherium, das eher Blätter bevorzugte (browser, vergleichbar zum Spitzmaulnashorn). Die verlängerte Symphyse des Unterkiefers ragt weit über die Nasenregion hinaus. Da keine Verknöcherung der Nasenscheidewand vorliegt wie bei Mylodon, muss hier eine kräftige Knorpelentwicklung angenommen werden. Möglicherweise hatte zudem die Zunge bei der Nahrungsaufnahme auch eine unterstützende Funktion. Durch die weit im Schädel zurückverlagerte Position des Zungenbeins und dessen robusten Bau mit kräftigen Muskelansatzstellen war beispielsweise der Musculus geniohyoideus besonders kräftig und lang ausgebildet, sodass eine sehr bewegliche Zunge anzunehmen ist.
Da von Paramylodon im Gegensatz zu Mylodon keine Koprolithen bekannt sind, können die Nahrungsüberreste nicht direkt ermittelt werden. Zudem sind aufgrund des fehlenden Zahnschmelzes nur selten detaillierte Isotopenuntersuchungen möglich. Die Durchführung derartige Methoden bedarf daher einer exzellenten Fossilerhaltung, im Falle von Paramylodon gelang sie am Zahnbein einiger Zähne aus der oberpleistozänen Fundstelle von Ingleside in Texas. Die Ergebnisse, die dabei mit Hilfe der Kohlenstoffisotope gewonnen wurden, liegen zwischen den Bereichen von heutigen Herbivoren mit Spezialisierung auf eine harte (grazer) oder weiche (browser) Pflanzenkost und befürworten somit eine gemischte Nahrung, möglicherweise aber mit einer stärkeren Tendenz zu Gräsern. Somit stimmen die bisherigen Ergebnisse gut mit der offenen Landschaft überein, in der Paramylodon lebte. Es wird aber auch angenommen, dass der Faultiervertreter möglicherweise nach Wurzeln grub. Hierfür sprechen etwa die kräftigen Vorderbeine, die über einen robusten, am unteren Gelenkende weit ausladenden Oberarmknochen, eine kurze Speiche mit lang ausgezogenem Olecranon für eine massige Unterarmmuskulatur und etwas abgeplatte Krallen verfügten und so sehr gut zum Graben geeignet waren. Darüber hinaus sind Unterschiede im Gebissaufbau zwischen frühen und späten Angehörigen der Gattung erkennbar. So besaßen die Formen aus dem Unterpleistozän noch weniger hohe Zahnkronen und dementsprechend einen niedrigeren Unterkiefer, während die des Oberpleistozäns deutlich höhere Zähne und einen massigeren Unterkiefer aufwiesen. Möglicherweise spiegelt dies eine zunehmend stärkere Anpassung von Paramylodon im Laufe der Zeit wider.
Sonstiges
Der überwiegende Teil der Funde von Paramylodon umfasst einzelne Individuen, Massenansammlungen wie etwa in Rancho La Brea stellen Akkumulationen über mehrere Jahrtausende dar und haben so einen eher zufälligen Charakter. Es kann daher angenommen werden, dass die Faultiergattung wie die heutigen baumlebenden Vertreter einzelgängerisch auftrat und allenfalls Mutter-Jungtier-Gruppen bildete. Das Verdauungssystem war wahrscheinlich ähnlich strukturiert wie bei den rezenten Arten, womit auch bei Paramylodon ein eher langsamer Stoffwechsel vorherrschte mit langer Passagezeit der Nahrung, die dadurch aber in großem Umfang verwertet wurde. In Verbindung mit der eher langsamen Fortbewegung spricht auch dies gegen größere saisonale Wanderungen – im Gegensatz zu zahlreichen anderen Offenlandschaften bewohnenden Grasfressern. Demnach waren die Tiere relativ standorttreu. Auffällig an zahlreichen Fundstellen mit Paramylodon ist das häufige gemeinsame Auftreten mit dem Präriemammut und dem Bison. Beide Vertreter großer pflanzenfressender Säugetiere zeigten aber mit ihren Herdenbildungen und weiten Wanderungen sowie abweichendem Verdauungssystem eine grundlegend andere Lebensweise. Daher nutzte wohl Paramylodon eine unterschiedliche ökologische Nische zur Vermeidung direkter Konkurrenz mit den anderen Megaherbivoren der nordamerikanischen Steppenlandschaften.
Systematik
Paramylodon ist eine ausgestorbene Gattung aus der ebenfalls erloschenen Familie der Mylodontidae. Die Mylodontidae bilden wiederum einen Teil der Unterordnung der Faultiere (Folivora). In einer klassischen, auf skelettanatomischen Merkmalen beruhenden Systematik repräsentieren die Mylodontidae zusammen mit den Orophodontidae und den Scelidotheriidae die Überfamilie der Mylodontoidea (teilweise werden die Scelidotheriidae und die Orophodontidae aber auch nur als Unterfamilie innerhalb der Mylodontidae geführt), welche wiederum neben den Megatherioidea die zweite große und bedeutende Faultierlinie darstellt. Gemäß molekulargenetischen und proteinbasierten Untersuchungen können neben den Mylodontoidea und den Megatherioidea auch die Megalocnoidea als dritte große Linie herausgestellt werden. Den Mylodontoidea sind dann mit den Zweifinger-Faultieren (Choloepus) auch eine der zwei heute noch bestehenden Faultiergattungen zuzuweisen. Die Mylodontidae formen eine der vielfältigsten Gruppen innerhalb der Faultiere. Zu ihren Charakteristika gehören hochkronige Zähne mit abweichend von den Megatherioidea flacher (lobater) Kaufläche, was als eine Anpassung an stärker grashaltige Nahrung interpretiert wird. Die hinteren Zähne besitzen einen runden oder ovalen Querschnitt, die vordersten sind eckzahnartig gestaltet. Der Hinterfuß zeigt zudem eine deutlich seitlich ausgedrehte Gestalt. Zu den frühesten Nachweise der Mylodonten wird Paroctodontotherium gezählt, welches in Salla-Luribay in Bolivien nachgewiesen ist und in das Oligozän datiert.
Die innere Gliederung der Mylodontidae ist komplex und variiert je nach Bearbeiter. Zumeist anerkannt sind die späten Gruppen der Mylodontinae mit Mylodon als Typusform und der Lestodontinae, deren Charakterform Lestodon darstellt (auf tribaler Ebene als Mylodontini und Lestodontini bezeichnet). Teilweise wurden zahlreiche weitere Unterfamilien aufgestellt, etwa die Nematheriinae für Vertreter aus dem Unteren Miozän oder die Octomylodontinae für alle Basalformen, die aber nicht allgemein anerkannt sind. Mit der Etablierung der Urumacotheriinae für spätmiozäne Gattungen des nördlichen Südamerikas konnte im Jahr 2004 eine weitere Linie innerhalb der Mylodonten herausgearbeitet werden. Prinzipiell wird für die gesamte Familie eine Revision angemahnt, da zahlreiche der höheren taxonomischen Einheiten keine formale Diagnose besitzen.
Die Untergliederung der terminalen Gruppe der Mylodonten in die Lestodontinae und Mylodontinae wurde generell auch in einer der bisher umfangreichsten Studien zur Stammesgeschichte der Faultiere aus dem Jahr 2004 bestätigt. Im Ergebnis dieser auf Schädelmerkmalen basierenden und von Timothy J. Gaudin durchgeführten Analyse steht Paramylodon in der Nähe von Mylodon, das relativ ähnliche Glossotherium bildet aber das Schwestertaxon zu den Lestodontinae. In einigen späteren phylogenetischen Arbeiten ließen sich die Resultate reproduzieren. Eine im Jahr 2019 vorgestellte Untersuchung von Luciano Varela und weiteren beteiligten Wissenschaftlern, die zahlreiche fossile Formen der gesamten Unterordnung der Faultiere einbezieht, sieht dies dagegen kritischer. Hier sind Paramylodon und Glossotherium eng verwandt, Mylodon hingegen formt die Bais der entwickelten Mylodonten und Lestodon gruppiert mit einigen Formen aus dem nördlichen Südamerika. Im gleichen Jahr wurde eine höherauflösende phylogenetische Analyse der Mylodonten durch eine Arbeitsgruppe um Alberto Boscaini veröffentlicht. Diese untermauert die Zweigliederung der terminalen Vertreter und vereint Paramylodon, Glossotherium und Mylodon in einer Klade. Als fundamentaler Unterschied zwischen den Mylodontinae und Lestodontinae kann die Ausprägung der eckzahnartigen vorderen Zähne herangezogen werden. Bei letzteren sind diese groß und durch ein langes Diastema von den hinteren Zähnen getrennt, erstere habe nur kleine caniniforme Zähne, die mitunter auch teilweise reduziert sind, generell aber dichter an den molarenartigen Zähnen anstehen. Der Studie zufolge bilden Paramylodon, Glosstherium und Mylodon eine engere Beziehungsgemeinschaft innerhalb der Mylodontinae. Diese Ansicht findet auch durch die bereits erwähnten biochemischen Daten Unterstützung, ebenfalls vorgelegt 2019. Detaillierte, bereits im Jahr 2009 von Robert K. McAfee publizierte Schädelanalysen legen ebenfalls nahe, dass Paramylodon und Glossotherium sehr eng miteinander verwandt sind und sich höchstwahrscheinlich einen gemeinsamen Vorfahren teilen. Zu den Merkmalen, die die beiden Gattungen verbindet, gehören etwa der Gebissaufbau mit den vorderen caniniformen Zähnen und die Zahnstruktur, etwa des zweiten Backenzahns, oder die Lage der Knochennaht zwischen Gaumenbein und Oberkiefer nahe dem hintersten Zahn. Dagegen ist Mylodon mit seinem reduzierten Gebiss, den einfacher gestalteten Zähnen und der vorverlagerten Knochenverbindung zwischen Gaumenbein und Oberkiefer deutlicher abweichend.
Innerhalb der Gattung Paramylodon ist mit P. harlani nur eine Art anerkannt. Eine weitere Art, P. nebrascensis, wurde 1903 von Barnum Brown anhand eines Teilskelettes aus Hay Spring in Nebraska beschrieben, aber bereits in den 1920er Jahren mit der Nominatform vereint. Nur zehn Jahre später kreierte Glover Morrill Allen unter Zuhilfenahme eines weiteren Teilskelettes vom Niobrara River in Nebraska die Art Mylodon garmani, die aber ebenfalls als synonym zu Paramylodon harlani angesehen wird. Gleiches gilt für mehrere von Edward Drinker Cope bereits in den 1870er und 1890er Jahren benannte Arten wie Mylodon sodalis und Mylodon sulcidens. Die ursprünglich vorgenommene Untergliederung in zwei Unterarten, P. h. harlani für eine robuste und P. h. tenuiceps für eine grazile Form, wie es Chester Stock im Jahr 1917 vorschlug, wird heute nicht mehr befürwortet. Problematisch ist allerdings der Verweis stammesgeschichtlich sehr früher Funde zur Art Glossotherium chapadmalense. Die Art wurde ursprünglich im Jahr 1925 von Lucas Kraglievich anhand eines 39 cm langen, nahezu unbeschädigten Schädels mit Unterkiefer aus Schichten des Pliozän östlich von Miramar in der argentinischen Provinz Buenos Aires aufgestellt. Ihre genaue systematische Stellung war aufgrund der Spärlichkeit der Fossilreste lange Zeit unklar. Sie weist zwar Ähnlichkeiten zu Glossotherium robustum auf, besitzt aber auch einzelne Abweichungen. Teilweise wurde vermutet, dass Glossotherium chapadmalense den gemeinsamen Vorfahren von Glossotherium und Paramylodon repräsentiert, was in diesem Fall aber einen eigenen Gattungsstatus bedingt hätte, als Vorschlag kam Eumylodon in Betracht (die Bezeichnung hatte Kraglievich bereits 1925 für Eumylodon chapadmalense verwendet). Neufunde aus der Typusfundstelle von Glossotherium chapadmalense ergaben nun, dass die Art als eindeutiger Vertreter zu Glossotherium gestellt werden kann. Ob dies allerdings auch für die nordamerikanischen Funde aus dem Pliozän von Florida und Mexiko gilt, die von Jesse S. Robertson erstmals im Jahr 1976 unter dem gleichen Artnamen geführt wurden, oder diese näher zu Paramylodon stehen, ist momentan aufgrund fehlender Vergleichsuntersuchungen unklar. Teilweise werden die frühen Mylodontenreste auch unter der Bezeichnung P. garbanii geführt, eine Artbezeichnung, die 1986 für einige pliozäne Unterkiefer- und Gliedmaßenreste aus Arroyo EI Tanque im mexikanischen Bundesstaat Guanajuato geprägt worden war (unter dem wissenschaftlichen Namen Glossotherium garbanii). Die Art ist aber nicht vollständig anerkannt, andere Autoren sehen sie als synonym zu Glossotherium chapadmalense.
Forschungsgeschichte
Entdeckungen in Nord- und Südamerika
Die Forschungsgeschichte von Paramylodon ist komplex und von einer über mehr als 150 Jahre währenden Verwechslung und Gleichsetzung mit Mylodon und Glossotherium geprägt. Sie beginnt aber mit den ersten Entdeckungen von Richard Harlan (1796–1843) am Big Bone Lick im Boone County im US-Bundesstaat Kentucky im Jahr 1831, die einen rechten Unterkiefer und ein Schlüsselbein umfassen. Harlan erkannte, dass es sich um Reste eines ausgestorbenen Faultiers handelte und verwies sie zu Megalonyx, das damals aus Nordamerika bereits bekannt war, und innerhalb der Gattung zu der von ihm kurz zuvor aufgestellten Art Megalonyx laqueatus. Die Funde wurden ursprünglich in New York aufbewahrt, sind aber heute verschollen.
Zwischen den Jahren 1831 und 1836 unternahm Charles Darwin seine wegweisende Reise mit der HMS Beagle nach Südamerika und brachte von dort eine große Anzahl an Fossilien mit. Diese wurden dann von Richard Owen, einem der bedeutendsten Forscher des Viktorianischen Zeitalters, untersucht und die Ergebnisse veröffentlicht. In einer ersten Publikation zu den Säugetierresten allgemein im Jahr 1840 führte er die Gattung Mylodon mit der Art Mylodon darwinii ein. Gattung und Art basierten auf einem Unterkiefer, den Darwin in Punta Alta in der argentinischen Provinz Buenos Aires gefunden hatte. Als besonderes Kennzeichen hoben sich insgesamt vier molarenartige Zähne je Zahnreihe hervor. Zugleich bemerkte Owen auch Ähnlichkeiten im Zahnbau zwischen Harlans Unterkiefer und dem von Mylodon darwinii. Daraus folgernd verwarf er die von Harlan geprägte Bezeichnung Megalonyx laqueatus und schuf mit Mylodon harlani eine neue Art. Der Gattungsname Mylodon setzt sich aus den griechischen Wörtern μύλη (myle „Molar“) und ὀδούς (odoús „Zahn“) zusammen, bedeutet übersetzt also so viel wie „Molarenzahn“. Harlan äußerte sich zwei Jahre später über die Verwendung des Namens, da dieser seiner Meinung nach kein herausragendes Charakteristikum des Tieres beschreibe und jedes ausgestorbene Säugetier meinen könnte, weil fast alle über die hinteren Backenzähne verfügten.
Im selben Jahr, 1842, legte Owen eine umfassende Beschreibung eines Skeletts eines Mylodonten vor, das aus den Überschwemmungsebenen des Río de la Plata nördlich von Buenos Aires stammte; er etablierte für dieses die neue Art Mylodon robustus. Zu diesem Zeitpunkt bestand also die Gattung Mylodon aus drei Arten, von denen zwei in Südamerika und eine in Nordamerika vorkam. Zudem sollte es sich als problematisch erweisen, dass Owen Mylodon darwinii als Typusart der Gattung auswies, obwohl diese, wie er zugab, nach Mylodon harlani die zweite bekannte und beschriebene Art sei. Demnach hätte eigentlich Mylodon harlani das Anrecht auf den Status als Nominatform. Im weiteren Verlauf wurden Mylodon unterschiedliche Typusarten zugeordnet, so sah Johannes Theodor Reinhardt 1879 diese in Mylodon robustus, Richard Lydekker 1887 dagegen in Mylodon harlani.
Paramylodon und die Mylodon-Glossotherium-Problematik
Im Jahr 1903 führte Barnum Brown (1873–1963) den Gattungsnamen Paramylodon ein. Er verwendete dazu ein Teilskelett aus Hay Spring in Nebraska, das 1897 bei einer Expedition des American Museum of Natural History entdeckt worden war. Der Gattung wies er mit Paramylodon nebrascensis eine Art zu. Als definierende Unterschiede zum nordamerikanischen Mylodon harlani, das Brown als Typusform von Mylodon ansah, gab er die fehlenden vorderen caniniformen Zähne im Oberkiefer an. Dadurch waren zu jener Zeit zwei unterschiedliche Vertreter der Mylodonten im Pleistozän Nordamerikas anerkannt.
Später wies Chester Stock (1892–1950) aufgrund seiner Untersuchungen am Fundmaterial von Rancho La Brea darauf hin, dass das Merkmal der fehlenden oberen Vorderzähne bei Mylodon harlani sehr variabel ausgebildet ist. Daher synonymisierte er 1917 P. nebrascensis mit Mylodon harlani. Im Jahr 1928 beschränkte Lucas Kraglievich allerdings die nordamerikanischen Funde auf Paramylodon und trennte die Gattung somit von den südamerikanischen Vertretern ab, eine Meinung, der sich acht Jahre später auch Ángel Cabrera anschloss; sie fand aber in der Folgezeit bei den meisten Forschern kaum Resonanz. Kraglievich revidierte im gleichen Zug auch Glossotherium als eigenständige, von Mylodon zu unterscheidende Gattung. Glossotherium war ursprünglich ebenfalls von Owen in seiner Schrift über Darwins Entdeckungen aus dem Jahr 1840 anhand eines Schädelbruchstückes vom Arroyo Sarandí im Südwesten des heutigen Uruguay aufgestellt worden, nur zwei Jahre später vereinte er es aber mit Mylodon.
In der Folgezeit nach Kraglievich und Cabrera entwickelte sich Glossotherium aufgrund der Namenspriorität zu einem „Abfalleimer“-Taxon, in das zahlreiche nahe verwandte Formen eingestellt wurden. George Gaylord Simpson gab 1945 in seiner generellen Taxonomie der Säugetiere zum Ausdruck, dass, wenn Paramylodon nicht eindeutig von Glossotherium getrennt werden könne, aufgrund ebendieser Namenspriorität Glossotherium vorzuziehen wäre. Durch die darauffolgende vollständige Eingliederung von Paramylodon in die Gattung, die Robert Hoffstetter im Jahr 1952 vollzog, gehörte Glossotherium zu den wenigen Faultierformen, die in Süd- und Nordamerika auftraten, sie besaß dadurch aber auch eine hohe Variabilität. Zahlreiche Forscher favorisierten im Verlauf des 20. Jahrhunderts die Ansicht der Kongenerität der beiden Faultierformen. Im Jahr 1995 trennte H. Gregory McDonald jedoch das nordamerikanische Paramylodon wieder vom südamerikanischen Glossotherium. Er merkte dabei an, dass bisher keine Untersuchungen vorliegen, in denen nachgewiesen wurde, dass beide Gattungen tatsächlich identisch seien. Vielmehr spräche die Isolierung von Paramylodon in Nordamerika eher für eine Eigenständigkeit der Form. In der darauffolgenden Zeit konnten mehrere Schädelstudien vorgelegt werden, die die beiden Gattungen und zuzüglich auch Mylodon eindeutig voneinander unterschieden.
Literatur
Robert K. McAfee: Reassessment of the cranial characters of Glossotherium and Paramylodon (Mammalia: Xenarthra: Mylodontidae). Zoological Journal of the Linnean Society, 155, 2009, S. 885–903
H. Gregory McDonald und Steve Pelikan: Mammoths and mylodonts: Exotic species from two different continents in North American Pleistocene faunas. Quaternary International 142/143, 2006, S. 229–241
Chester Stock: A mounted skeleton of Mylodon harlani. University of California Publications, Bulletin of the Department of Geology12 (6), 1920, S. 425–430 ()
Chester Stock: Cenozoic gravigrade edentates of western North America with special reference to the Pleistocene Megalonychinae and Mylodontidae of Rancho La Brea. Carnegie. Institute of Washington 331, 1925, S. 1–206
Einzelnachweise
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Weblinks
Zahnarme
Pilosa
Ausgestorbenes Nebengelenktier |
10023025 | https://de.wikipedia.org/wiki/Unimog%20411 | Unimog 411 | Der Unimog 411 ist ein Fahrzeug der Unimog-Reihe von Mercedes-Benz. Die Daimler-Benz AG baute zwischen August 1956 und Oktober 1974 im Mercedes-Benz-Werk Gaggenau 39.581 Stück. Der 411 ist die letzte Baureihe der „Ur-Unimogs“. Konstruktiv basiert der 411 auf dem Unimog 401. Er ist ebenfalls ein auf einem Leiterrahmen aufgebautes Nutzfahrzeug mit vier gleich großen Rädern und als Geräteträger, Ackerschlepper und universell einsetzbare Arbeitsmaschine konzipiert. Wie der 401 hatte er einen Pkw-Motor, zunächst mit 30 PS (22 kW).
Insgesamt gab es zwölf verschiedene Baumuster des 411, die in zahlreichen Modellvarianten mit drei Radständen (1720 mm, 2120 mm und 2570 mm) angeboten und in der herkömmlichen Cabrioversion, als Triebkopf und mit geschlossenem Fahrerhaus, das wie beim Vorgänger von Westfalia gefertigt wurde, geliefert werden konnten. Das geschlossene Fahrerhaus gab es in zwei Versionen, der Typ B ähnelt dem Fahrerhaus des Unimog 401, der Typ DvF ähnelt den Fahrerhäusern der Mercedes-Benz-Lkw der 1950er- und 1960er-Jahre mit Scheinwerfern im Kühlergrill und Chromleisten.
Während seiner langen Produktionsphase wurde der Unimog 411 mehrmals technisch überarbeitet. Wegen der Vielzahl der Veränderungen, die die Baureihe 411 erfuhr, werden zur besseren Differenzierung vier Typen der Baureihe 411 unterschieden: der Ur-411, 411a, 411b und 411c. Obwohl der 411 technisch auf dem 401 basiert, wurden auch Konstruktionsmerkmale anderer Unimogbaureihen für den 411 übernommen, so unter anderem die Achskonstruktion der Baureihe 406, die ab 1963 in modifizierter Form beim 411 verwendet wurde. Als letzter klassischer Unimog hat der 411 keinen direkten Nachfolger, ab 1966 war jedoch der Unimog 421 im Unimogprogramm, der technisch auf dem 411 basiert und im selben Produktsegment platziert war.
Fahrzeuggeschichte
Entwicklung
Der Unimog 411 ist nicht vollständig neu entwickelt, vielmehr leitete Daimler-Benz die Baureihe 411 aus den Vorgängerbaureihen 401 und 402 ab. Neuentwicklungen stand die Unimog-Konstruktionsabteilung unter Leitung von Heinrich Rößler in den 1950er-Jahren abwartend gegenüber, auch wenn in Betracht gezogen wurde, den Unimog 411 mit einem 40 PS (29,5 kW) starken Dieselmotor und einem 80 PS (59 kW) leistenden Ottomotor anzubieten. Diese Ideen wurden jedoch erst mit späteren Baureihen umgesetzt. Die Hoffnungen der Entwickler lagen insbesondere auf dem 411 mit Ganzstahlfahrerhaus. Wichtigstes Augenmerk der Entwicklungsabteilung war primär die Vorführung, Erprobung und Verbesserung des Unimog als solcher. So sind die hauptsächlichen Änderungen des 411 im Vergleich zum Vorgänger eine Erhöhung der Motorleistung um 20 %, verstärkte Stoßdämpfer, verstärkte Traversen für den Motor, ab 1959 Gleitlager statt Rollenlager für das Schaltgetriebe und vergrößerte Reifen mit der Dimension 7,5–18″ (Sonderausstattung: 10–18″), die einen neuen Radkasten erforderlich machten; beim 411 sind die vorderen Radkästen oben etwas länger gezogen als beim 401, sodass die Reifen beim Lenkeinschlag nicht schleifen. Darüber hinaus wurde beim 411 die Frontpartie neu gestaltet, so wurden die Sicken auf der Motorhaube breiter. Des Weiteren wurde der Kühlergrill kleiner, er war nun ein in Fahrzeugfarbe lackiertes viereckiges Gitter statt der Streben des Vorgängers.
Cabrios der Baureihe 401 wurden ab Juni 1955 bereits mit dem Fahrerhaus der späteren Baureihe 411 ausgestattet, sodass es einige Zwitterfahrzeuge gibt. Präsentiert wurde der 411 dann auf der DLG-Ausstellung im September 1956 in Hannover. Da während des Gesamtzeitraumes der Serienproduktion sehr viele Änderungen am Unimog 411 vorgenommen wurden, wird in der Daimler-Benz-Werkliteratur die Baureihe 411 zur besseren Unterscheidung wesentlicher technischer Änderungen in vier Typen eingeteilt, den Urtyp 411 (1956–1961), 411a (1961–1963), 411b (1963–1965) und 411c (1965–1974).
Daimler-Benz setzte sich mit dem Unimog 411 das Ziel, jährlich 4000 Fahrzeuge abzusetzen. Um den Anforderungen an den Unimog 411 gerecht zu werden, wurden bei der Weiterentwicklung der Baureihe Kundenwünsche miteinbezogen und berücksichtigt. Dennoch war der 411 eher ein kleines Fahrzeug mit einem am Ende nur 34 PS (25 kW) starken Dieselmotor, der für einige Einsatzzwecke als zu leistungsschwach erachtet wurde. Analysten bei Daimler-Benz warnten davor, dass die jährliche Produktionsrate des Unimog 411 nach 1960 unter 3000 Fahrzeuge fallen würde. Dieser Punkt war 1964 erreicht. Deshalb führte Daimler-Benz 1963 einen größeren Unimog ein, den 406. Vom ehemaligen Kernprodukt der Unimogpalette wandelte der 411 sich somit zur nur mehr leichten Baureihe. Die Weiterentwicklung des Unimog 411 war dadurch jedoch nicht zu Ende, ab 1963 wurden die Achsen des Unimog 406 in modifizierter Form auch beim 411 eingebaut. Diese Achsen sind standfester, preiswerter und leichter zu warten. Ab 1967 erhielt der 411 die gleiche Stoßstange wie der Unimog 421.
Nach der Einführung des Typs 411c im Jahre 1965 wurde die Baureihe 411 nicht mehr in großem Umfang weiterentwickelt, die Baumuster mit extralangem Radstand kamen als letzte wesentliche Neuerung ab 1969 für den Exportmarkt in das Unimog-Modellprogramm. Im März 1966 wurde mit dem Unimog 421 ein technisch ähnliches Fahrzeug mit deutlich modernerem Erscheinungsbild vorgestellt, das im selben Segment platziert war. Eigentlich war der 421, der die Technik des Unimog 411 und einen 2-Liter-Vorkammermotor des Typs OM 621 mit 40 PS (29,5 kW) hat, als preiswerte Ergänzung der Baureihe 406 konzipiert, doch schon ab 1970 war der Unimog 421 deutlich beliebter als der ähnliche, aber ältere und schwächere 411 und wurde von den Kunden bevorzugt gekauft. Dennoch wurde der Unimog 411 unverändert weitergebaut. Erst im Oktober 1974 wurde die Produktion nach 39.581 Fahrzeugen eingestellt. Vermutlich wurden 1975 nochmals einige Fahrzeuge für einen militärischen Kunden nachproduziert.
Vertrieb
Auf dem westdeutschen Markt kostete der Unimog 411 bei seiner Einführung 1956 in der Grundvariante als Cabrio 12.500 DM. Er hatte zunächst den Motor mit dem Baumuster OM 636.914, der 30 DIN-PS (22 kW) bei 2550 min−1 leistet. Da für einige Kunden der Unimog 411 zu teuer war, wurde von 1957 bis 1959 ein „Sparmodell“ angeboten, der U 25. Der U 25 erhielt die eigenständige Baumusternummer 411.116. Ihm fehlen Windschutzscheibe, Seitenfenster, Scheibenwischer, Verdeck und weitere Kleinteile, Sitze und Motorisierung stammen vom Unimog 2010, auch die Übersetzung der Portalachse wurde geändert. Er war ein Misserfolg, nur 54 Einheiten wurden verkauft. Ende der 1950er-Jahre wurde die Baureihe 411 auch in die USA exportiert, dort vertrieb Curtiss-Wright die Baumuster 411.112 und 411.117; der Markenname Mercedes-Benz wurde beibehalten. 1965 kostete die Grundausführung 15.300 DM. Den größten Umsatz erzielte die Daimler-Benz AG mit dem Unimogvertrieb in Westdeutschland. 1962 betrug der weltweite Umsatz mit dem U 411 ohne Ersatzteilgeschäft 54.870.000 DM.
Prototyp für die französische Armee
Auf Anfrage der französischen Armee baute Daimler-Benz im Jahr 1957 einen Prototyp auf Basis der Baureihe 411 mit Ottomotor. Das Fahrzeug bekam die Fahrgestellnummer 411.114 75 00939 und wurde dem Baumuster 411.114 zugeordnet, das 1969 für die Modelle mit extralangem Radstand neu vergeben wurde. Der Prototyp 411.114 hatte den langen Radstand von 2120 mm, Getriebe und Kupplung des Unimog S und Reifen der Dimension 7,5–18″. Der gewünschte und eingebaute Vierzylinderottomotor war der M 121 mit 1897 cm³ Hubraum und einer Leistung von 65 PS (48 kW) bei 4500 min−1 sowie einem maximalen Drehmoment von 128 N·m bei 2200 min−1, wie er auch im Mercedes 180 eingesetzt wurde. Die Höchstgeschwindigkeit beträgt 90 km/h. Erkennungsmerkmal ist die verstärkte Frontscheibe mit den Scheibenwischern unten. Die französische Armee testete das Fahrzeug über einen Zeitraum von annähernd 9000 Betriebsstunden und entschied, es wegen seines hohen Schwerpunktes nicht zu beschaffen. Auf Basis dieses Prototyps entwickelte Daimler-Benz weitere militärische Fahrzeuge mit einer Nutzlast von einer Tonne.
Westfalia-Fahrerhaus
Wie auch der Unimog 401 und 402 zuvor wurde auch für den Unimog 411 ein geschlossenes Fahrerhaus angeboten, das Westfalia in Wiedenbrück herstellte. Daimler-Benz rüstete die Unimogs ab Werk mit diesem Fahrerhaus aus. Bei Produktionsbeginn der Baureihe 411 im August 1956 wurde das Fahrerhaus des Typs B, das auch schon für den Unimog 401 gebaut wurde, für das neue Unimog-411-Fahrgestell modifiziert und äußerlich beinahe unverändert weitergebaut. Es hat das Baumuster 411.520. Dieses Fahrerhaus trägt den Spitznamen Froschauge und wurde nur 1107-mal gebaut, die Baumuster 411.111 (1720 mm Radstand) und 411.113 (2120 mm Radstand) wurden damit ausgestattet, bis sie im Oktober 1961 eingestellt wurden. Schon 1957 gab es von Westfalia für den Unimog 411 ein neues Fahrerhaus. Es hat das Baumuster 411.521 und wird als Fahrerhaus Typ DvF bezeichnet. Es wurde nur für die Baumuster 411.117 und 411.120 mit 2120 mm Radstand gebaut. DvF steht für Typ D, verbreitertes Fahrerhaus. Wie der Name besagt, wurde es in seinen Abmessungen im Vergleich zum Typ B deutlich vergrößert, es hat ein um 30 % größeres Volumen und ist breiter als die Ladepritsche des Unimog. Die Frontscheibe ist ungeteilt und die Ergonomie wurde deutlich verbessert. Die Form folgt dem Lkw-Design der Marke Mercedes-Benz in den 1950er- und 1960er-Jahren mit elliptischem Kühlergrill mit am äußeren Rand eingefassten Scheinwerfern sowie üppigem Chromzierrat. Anders als bei den Cabriomodellen ist die vordere Stoßstange eher rundlich und an den Enden stärker gebogen. Auf Wunsch stattete Daimler-Benz das DvF-Fahrerhaus mit einer Heizung aus. Als nachteilig erwies sich beim DvF-Fahrerhaus die große Hitzebelastung durch die Motorabwärme. Ursache dafür ist die weit in den Fahrgastraum hineinragende Motorabdeckung, die das Fahrerhaus nicht ausreichend vom Motor isoliert. Die Fertigung des Unimog 411 wurde 1974 eingestellt, Westfalia baute das DvF-Fahrerhaus aber noch bis 1978 weiter.
Darüber hinaus erprobte Westfalia Mitte der 1960er-Jahre ein GFK-Hardtop für die Cabrioversionen des Unimog 411. Es bot besseren Schutz vor der Witterung und bessere Sicht nach den Seiten als das Stoffverdeck. Zwar wurden Prospekte gedruckt und das Hardtop in den offiziellen Unimogkatalog aufgenommen, dennoch wurde es kaum verkauft. Wie viele Exemplare des Hardtops produziert wurden, ist nicht bekannt.
Jährliche Baureihenveränderung
Urtyp 411
1957
Im Jahr 1957 wurde der 411 umfassend modifiziert. So fielen die Winker weg und wurden durch konventionelle Pkw-Blinkleuchten ersetzt. Zu weiteren äußeren Neuerungen zählen die neue Mercedes-Plakette auf der Motorhaube und die geänderten Rückleuchten. Die Motorleistung wurde ab März auf 32 PS (23,5 kW) erhöht und auf Wunsch konnte das Getriebe synchronisiert geliefert werden, im Juli folgten an den Hinterachsen neue Federn mit einem Drahtdurchmesser von 19,5 mm statt 18 mm, ab September wurde eine verstärkte Lenkung mit Dreispeichenlenkrad von Fulmina eingebaut. Bei den Cabriomodellen wurden die aus Cellon hergestellten Seitenscheiben bereits im Mai 1957 durch Polyvinylchloridscheiben ersetzt. Ebenfalls im Mai führte Mercedes-Benz das Sparmodell U 25 ein. Auf der IAA im September wurde das neue Fahrerhaus Westfalia Typ DvF vorgestellt; ab Oktober war eine Anhängerbremsanlage lieferbar.
1958
Ab März oder April 1958 wurde der Unimog 411 serienmäßig mit einem 60 Liter statt nur 40 Liter fassenden Kraftstoffbehälter ausgerüstet. Weitere Änderungen waren eher gering, so wurde unter anderem die Bremsanlage modifiziert, ein kombinierter Vorglüh- und Startschalter eingebaut, der Nebenantrieb verstärkt, und am Westfalia-Fahrerhaus Typ DvF wurden Ausstellfenster eingebaut.
1959
Ab Januar gehörte das zuvor nur als Sonderausstattung angebotene Synchrongetriebe zur Serienausstattung. Das Sparmodell U 25 wurde 1959 ersatzlos eingestellt.
1960
Im Januar 1960 wurde das System der Fahrgestellnummerierung geändert, sodass nicht mehr die ersten beiden Ziffern eine Zahl von 55 bis 95 bilden. Stattdessen begannen die Fahrgestellnummern ab 1960 mit „01“. Die Motorhaubenkonstruktion wurde geändert. Es wurden Schnappverschlüsse eingebaut, die die Außenknebel überflüssig machten. Außerdem wurden die Spiegel weiter unten und nicht mehr an der A-Säule befestigt. Für die Einführung des dreipunktgelagerten Fahrerhauses im Oktober 1961 wurde bereits die hintere Aufhängung des Fahrerhauses im März 1960 angepasst.
411a
1961
Im Oktober 1961 fand eine umfassende Modellpflege beim Unimog 411 statt, die die Baureihe vor allem technisch aufwertete: Der Urtyp 411 wurde durch den Typ 411a ersetzt. Der 411a wurde ab 9. Oktober 1961 in Serie hergestellt und unterscheidet sich vom Ur-411 durch den Leiterrahmen mit höheren Längsträgern: statt 100 nun 120 mm. Darüber hinaus wurde eine neu eingeführte Hydraulikanlage mit Front- und Heckkraftheber angeboten und das Fahrerhaus erhielt eine Dreipunktlagerung, was den Komfort für die Insassen deutlich steigerte. Der Typ 411a ist an den Scheinwerfern zu erkennen, die nicht mehr am Rahmen, sondern am Kühlergrill befestigt sind, wodurch sie leicht nach vorne abstehen, so wie die an den Enden gebogene Frontstoßstange. Die Pritsche hat je Seite vier statt drei seitliche Bretter und hat zum Fahrerhaus einen Abstand von 30 mm. Die Fertigung der Fahrzeuge mit dem Fahrerhaus Westfalia Typ B wurde im Oktober 1961 endgültig eingestellt.
1962
Die Einbuchtungen auf der Motorhaube für die nicht mehr benötigten Knebel entfielen, und alle Fahrzeuge erhielten eine neue Blinkeranlage von Bosch. Das Heckfenster des Cabrioverdeckes wurde vergrößert, und die DvF-Fahrerhäuser erhielten zweiteilige Scheinwerferringe.
411b
1963–1964
Im März wurde die Produktion des 411a wegen des neuen 411b eingestellt. Wichtigste Änderung beim 411b war die Einführung der Achskonstruktion des Unimog 406, die die alte von Erhard & Söhne gefertigte Achse ersetzte. Die Frontscheibe wurde von 410 mm auf 450 mm erhöht, und die Cabriomodelle erhielten ein Dreiecksfenster hinter der A-Säule. Hinten waren die Kotflügel komplett in Schwarz gehalten. Weitere technische Änderungen waren eine modifizierte Abgasanlage, eine als Sonderausstattung angebotene hydraulische Lenkhilfe und ein neuer, nun zweistufiger Hauptbremszylinder.
411c
1965
Bis Februar 1965 wurde der 411b gebaut, ab Februar 1965 wurde der Typ 411c in Serie gefertigt, dessen Hauptunterschied zum 411b die um 2 PS (1471 W) gesteigerte Motorleistung ist. Daimler-Benz baute weiterhin den Motor mit dem Baumuster OM 636.914 ein; die Nenndrehzahl wurde jedoch von 2550 min−1 auf 2750 min−1 erhöht. Darüber hinaus wurden Zylinderkopf, Einspritzpumpe und Drosselklappengehäuse geändert. Daraus resultierte die Leistungsverbesserung auf 34 PS (25 kW). Um die Fahrgeschwindigkeiten bei Motornenndrehzahl gleichzuhalten, wurde das Übersetzungsverhältnis der Achsen von 25:7 auf 35:9 geändert. Die hintere Verdeckaufnahme, der Tachometer im Fahrerhaus, die Keilriemenscheibe für den Kompressor und die Rückleuchten wurden ebenfalls modifiziert. Mit Einführung des Typs 411c 1965 gab es die drei Baumuster 411.118, 411.119 und 411.120 und neun Modelle.
1966
Ab April 1966 wurde die Standardfarbe des Unimog von Unimog-Grün (DB 6286) hin zu Lkw-Grün (DB 6277) geändert. Die Bordwandscharniere des Unimog 421 wurden eingebaut und die Hinterfederböcke waren gegossen. Die Modelle mit Westfalia-DvF-Fahrerhaus erhielten einen Griff an der A-Säule, der den Einstieg erleichtern sollte.
1967
Die wichtigste Änderung ab 1967 war die Einführung der Stoßstange des Unimog 421, die an der Längssicke zu erkennen ist. Ferner wurden Schwenklager an der Vorderachse und ein Türgriffschutz bei den Cabriomodellen eingebaut.
1968
Der Rahmen erhielt eine neue Anbauplattenhalterung und verschweißte Front- und Schlussträger. Das Thermostat wurde modifiziert und die DvF-Fahrerhäuser bekamen neue Außenspiegel.
1969
Die letzte größere Neuerung gab es 1969, als der extralange Radstand von 2570 mm mit dem Baumuster 411.114 für den Export eingeführt wurde. Primär wurde das Baumuster 411.114 an das portugiesische Militär geliefert, das das Fahrzeug im Bürgerkrieg in Angola einsetzte. Die Fulminalenkung wurde durch eine ZF-Gemmerlenkung des Typs 7340 ersetzt. Zusätzlich wurden die Kraftstoffleitungen aus Kunststoff ausgeführt.
1970
1970 wurde die Lochanordnung im Armaturenbrett geändert, um serienmäßig eine Kraftstoffanzeige und einen Glühwächter aufzunehmen.
1971–1974
1971 wurden die runden Blinker durch eckige Blinker ersetzt, eine Scheibenwaschanlage eingeführt sowie der Rahmen der Frontscheibe schwarz lackiert. Alle Fahrzeuge erhielten 1972 ein neues Zweispeichenlenkrad und die Cabriomodelle modernere Außenspiegel. 1973 und 1974 wurde nichts mehr geändert.
Modelle
Der Unimog 411 wurde in vielen Modellvarianten angeboten. Die Modellbezeichnungen repräsentieren die Fahrzeugart und Ausstattungsmerkmale des Unimog, lassen jedoch nur bedingt auf das Baumuster schließen. Die Modellbezeichnung setzt sich beim Unimog 411 aus einem, zwei oder drei die Fahrzeugart bestimmenden Suffixen, der Motorleistung in DIN-PS und gegebenenfalls Ausstattungsmerkmale kennzeichnenden Präfixen zusammen. Ein U 34 L bezeichnet einen serienmäßig ausgestatteten Unimog mit 34 PS (25 kW) Motorleistung und langem Radstand. Folgende Suf- und Präfixe gab es; sofern sie nicht über den gesamten Produktionszeitraum verwendet wurden, ist es gekennzeichnet:
U: Unimog in Grundausführung
A: Ohne Anhängerbremsanlage
B: Mit Anhängerbremsanlage (bis ca. 1961)
C: Mit pneumatischem Kraftheber (bis ca. 1961)
D: Mit Anhängerbremsanlage (ab ca. 1961)
F: Westfaliafahrerhaus Typ DvF
H: Mit hydraulischem Kraftheber (ab ca. 1961)
L: Langer Radstand von 2120 mm
S: Sattelzugmaschine
Folgende Motorleistungen wurden angeboten:
25 PS (18,5 kW)
30 PS (22 kW)
32 PS (23,5 kW)
34 PS (25 kW)
36 PS (26,5 kW)
Baumuster
Baumusterübersicht
Insgesamt 39.581 Unimog 411 sowie 350 Teilsätze in zwölf verschiedenen Baumustern wurden gebaut. 11.604 Exemplare hatten das Fahrerhaus Typ DvF, 1107 das Fahrerhaus Typ B und 26.870 Unimog 411 sind Cabrios. Etwa 57,2 % aller gebauter Unimog 411 hatten den langen Radstand von 2120 mm und 2,9 % den extralangen Radstand von 2570 mm. Folgende Baumuster des Unimog 411 wurden gebaut:
Stückzahlen nach Baumuster und Baujahr
Stückzahlen nach Fahrerhaus
Stückzahlen nach Typ
Stückzahlen nach Radstand
Grundpreise
Die Baureihe 411 wurde in verschiedenen Ausführungen gebaut, nachfolgend die Grundpreise (Listenpreise) für den westdeutschen Markt tabellarisch:
Technische Beschreibung
Der Unimog 411 ist ein kompaktes Mehrzweckfahrzeug mit vier gleich großen Rädern. Er hat einen U-Profil-Leiterrahmen und starre Portalachsen vorne und hinten. Für den Antrieb von Zusatzgeräten sind vorne und hinten je eine Standardzapfwelle eingebaut, deren Drehzahl auf entweder 540 min−1 oder 1000 min−1 eingestellt werden kann. Sie lassen sich unabhängig voneinander einschalten. Der 411 ist ein Fahrzeug mit Hinterradantrieb und zuschaltbarem Vorderradantrieb mit Differenzialsperren an beiden Achsen. Eine Pritsche ist auf dem hinteren Teil des Leiterrahmens aufgebaut.
Fahrerhaus
Den Unimog 411 gab es mit Stoffverdeck („Cabrio“) und geschlossenem Fahrerhaus; die geschlossenen Fahrerhäuser lieferte Westfalia. Alle Fahrerhäuser einschließlich der Cabrioversion haben beim Urtyp 411 eine starre Vierpunktaufhängung, ab dem Typ 411a (Oktober 1961) eine Dreipunktaufhängung. Sowohl Cabrio als auch geschlossenes Fahrerhaus haben zwei Sitze. Beim Urtyp bilden Fahrerhaus und Pritsche eine bauliche Einheit, ab 411a sind beide Teile getrennt.
Motor
Der Unimog 411 wird von einem Reihenvierzylinder-Vorkammer-Saugdieselmotor des Typs OM 636.914 angetrieben. Dieser Motor hat 1767 cm³ Hubraum, eine seitliche Nockenwelle und hängende Ventile. Der wassergekühlte Motor ist vorn mittig und leicht nach hinten geneigt eingebaut. Er wird mit einem elektrischen Anlasser gestartet. Die Leistung betrug anfangs 30 PS (22 kW) bei 2550 min−1, wurde über den Produktionszeitraum jedoch schrittweise auf 32 (23,5 kW) und letztlich 34 PS (25 kW) erhöht; das Sparmodell U 25 erhielt den Motor mit 25 PS (18,5 kW) bei 2350 min−1; es erreichte jedoch nur geringe Stückzahlen. Für einige Exportbaumuster wurde der Motor auch mit 36 PS (26,5 kW) angeboten.
Rahmen
Der Leiterrahmen des Unimog 411 ist ein planebener Rahmen aus gekanteten (später gewalzten) U-Profilen mit 100 mm (Urtyp 411) bzw. 120 mm (411a,b,c) Steghöhe. Die U-Profile sind mit fünf eingenieteten Querträgern verbunden. Je zwei Querträger sitzen dicht beieinander im Front- und Heckbereich, ein Querträger ist unmittelbar hinter dem Fahrerhaus. Der hintere Querträger ist zusätzlich mit zwei Traversen mit den U-Profilen verbunden, die in seiner Mitte angebracht sind, schräg bis zum nächsten Querträger verlaufen und so Dreiecke bilden. Dadurch, dass Fahrerhaus- und Pritschenaufbau beim Urtyp an vier Punkten mit dem Rahmen verbunden sind, können sich die Teile nicht gegeneinander verdrehen, was Brüche, Risse und bleibende Verformungen begünstigt. Ab dem 411a konnten sich die Rahmen besser verwinden, da das Fahrerhaus nun im Heck zwei Punkte für die Aufhängung, vorne jedoch nur mehr einen erhielt. Für den Rahmen wurden verschiedene Zubehörteile wie Halteböcke, zusätzliche Traversen und Platten angeboten, um Zusatzgeräte am Rahmen anbringen zu können.
Fahrwerk und Antriebsstrang
Durch die Portalachsen mit Laufradvorgelege hat der Unimog trotz seiner kleinen Rädern eine verhältnismäßig große Bodenfreiheit. Die Achsen sind an Schubrohren und Panhardstäben geführt. Die Schubrohre sind am Getriebe in Kugelgelenken gelagert und starr mit den Differenzialgetrieben der Achsen verbunden. In den Schubrohren laufen die Antriebswellen, die das Drehmoment vom Getriebe auf die Achsen übertragen. Abgefedert werden die Achsen des Unimog mit je zwei Schraubenfedern (vorne 17 mm bzw. 18 mm, hinten anfangs 18 mm, dann 19,5 mm) mit innenliegenden Zusatzfedern und hydraulischen Teleskopstoßdämpfern. Die Radaufhängung erlaubt besonders lange Federwege und daher eine große Achsverschränkung, daher ist der Unimog sehr geländegängig. Serienmäßig wurde der U 411 mit Reifen der Größe 7,5–18″ geliefert. Als Sonderausstattung waren Reifen der Dimensionen 10–18″, später 10,5–18″ erhältlich.
Der Urtyp und der 411a haben die „Blechachse“ genannte Portalachse, die von Erhard & Söhne hergestellt wurde. Die Blechachse besteht aus zwei U-förmigen, je ca. 1,2 m langen Blechschalen mit einer Kröpfung für das Differenzial in der Mitte; die beiden Blechschalen wurden übereinander zu einer Banjoachse zusammengeschweißt. Innerhalb sitzen das Differenzialgetriebe und die Antriebswellen. Außen ist an den Blechachsen je Seite ein separates Gehäuse für die Laufradvorgelege angeschraubt. In der Radnabe ist eine zentrale Befestigungsschraube angebracht, die von außen deutlich sichtbar ist. Ab 1963, mit dem Typ 411b, baute Daimler-Benz die Achse des Unimog 406 in modifizierter Form auch im 411 ein. Die neuen Achsen sind aus einem Differenzialgehäuse und zwei ca. 0,6 m langen gegossenen Achshälften gebaut, an deren inneren Enden eine halbe Differenzialglocke ausgeformt ist. Mit innenliegenden Sechskantschrauben sind die beiden Achshälften vertikal mit dem Differenzialgehäuse verbunden (Trichterachse). An den äußeren Enden sind die Laufradvorgelege angeschraubt. Äußeres Erkennungsmerkmal der neuen Achse ist die Nabe, aus der keine Radverschlussschraube mehr hervorsteht (siehe Bild rechts). Diese neue Achse war preiswerter in der Herstellung, einfacher zu warten und belastbarer als die Blechachse. Die Achsübersetzung der Unimogachsen ist 25 : 7 (Ur-411, 411a, 411b) beziehungsweise 35 : 9 (411c).
Getriebe
Daimler-Benz baute im Unimog 411 das Getriebe UG1/11 ein, auch F-Getriebe genannt, das für ein Eingangsdrehmoment von 107,9 N·m (11 kp·m) ausgelegt ist. Es hat Klauenschaltung, kugelgelagerte Wellen, sechs Vorwärts- und zwei Rückwärtsgänge. Auf Wunsch gab es ein Zusatzkriechganggetriebe mit zwei Gängen. Mit dem großen oberen Hebel werden die Vorwärtsgänge eingelegt, mit dem mittleren kleinen Hebel die Rückwärtsgänge und dem größeren unteren Hebel die Kriechgänge (siehe Bild rechts). Ab März 1957 konnte das Getriebe auf Wunsch durch Einbau von Kugeln, Steinen, Blattfedern und Synchronringen synchronisiert geliefert werden; ab 1959 war es serienmäßig synchronisiert und mit Gleitlagern ausgestattet. Dasselbe Getriebe wurde in der synchronisierten Variante bereits ab 1955 im Unimog 404 eingebaut. Für den Antrieb der Vorderachse ist ein Verteilergetriebe unmittelbar angeflanscht. Der Geschwindigkeitsbereich reicht von 1–55 km/h.
Pneumatik
Die Pneumatikanlage ist beim Urtyp 411 das Kernstück der Kraftheberanlage, denn die Front- und Heckkraftheber werden wie beim Unimog 401 pneumatisch bewegt. Im Wesentlichen besteht die Pneumatikanlage aus sechs Hauptkomponenten: Einem Kompressor, der vom Motor angetrieben wird, einem Steuerventil, einem quer schräg oben vor der Hinterachse eingebauten Drucklufttank, der Bedieneinheit im Fahrerhaus, der Heckkraftheberanlage mit zwei Pneumatikzylindern sowie der Frontkraftheberanlage mit einem Pneumatikzylinder. Die pneumatische Anlage wurde im Wesentlichen vom Unimog 401 übernommen, jedoch für eine größere Hubkraft verstärkt. Insbesondere der große Drucklufttank benötigte viel Platz. Auf Wunsch war auch ein pneumatischer Hubzylinder für das Abkippen der Pritsche erhältlich, der mit ca. 8 bar Druck betrieben wurde.
Hydraulikanlage
Ab dem Typ 411a wurde eine Hydraulikanlage angeboten, sie war nicht serienmäßig eingebaut. Sie besteht aus sechs Hauptkomponenten: einer Zahnradölpumpe, einem Öltank, zwei Hydraulikzylindern und zwei Steuergeräten mit Bedienhebeln. Die Hydraulikpumpe hat einen maximalen Arbeitsdruck von 150 bar. Der vorn im Unimog untergebrachte Öltank fasst 8,5 Liter. Die Steuergeräte sind hinter dem Motor untergebracht; sie haben je einen Bedienhebel. Die Bedienhebel sind an einer Stange unter dem Lenkrad montiert. Mit dem ersten Hebel kann der Fahrer den Hydraulikzylinder des Heckkrafthebers bedienen. Mit dem zweiten Hebel steuert er die Anbaugeräte.
Lackierung
Die meisten Fahrzeuge sind dem Geschmack der 1950er-Jahre angepasst und wie auch die Vorgängerfahrzeuge in Unimog-Grün lackiert. Unimog-Grün war von Produktionsbeginn bis 1966 die Standardfarbe, die etwa 54 % aller Fahrzeuge haben. Ab Werk ebenfalls lieferbar war Lkw-Grau, die einzige Farbe, die über den gesamten Produktionszeitraum beibehalten wurde. Allerdings wurden nur rund 3 % aller je gebauten Unimog 411 in dieser Farbe lackiert. Von 1966 an wurde als Standardfarbe Lkw-Grün verwendet, diese Farbe gab es bereits seit 1963 beim Unimog 406. Nur 20 % aller je gebauten Fahrzeuge haben diese Farbe; 23 % waren in Sonderfarben lackiert, die über den gesamten Produktionszeitraum angeboten wurden. Aufgrund der Vielzahl der Sonderfarben sind sie hier nicht separat aufgelistet. Wichtigste Kunden, die eine Sonderfarbe bestellten, waren neben Militär die Deutsche Bundesbahn und die Deutsche Bundespost.
Serienmäßige Farben
Rahmen, Tank, Achsen und Federn waren nicht in Wagenfarbe, sondern in Tiefschwarz (RAL 9005) lackiert, die Räder in Karminrot (RAL 3002). Von 1958 bis 1960 verwendete Daimler-Benz für diese Teile (mit Ausnahme der Räder) stattdessen Chassisrot (DB 3575). In den 1970er-Jahren stellte Mercedes-Benz die Farbe der Räder ebenfalls auf Tiefschwarz um.
Zubehör
Zubehör war separat gegen Aufpreis erhältlich. Speziell für den Unimog 411 entwickelte Busatis in Zusammenarbeit mit Daimler-Benz das Mähwerk Typ BM 62 KW. Wie auch schon bei anderen Unimogmodellen gab es eine Frontseilwinde, die über die Zapfwelle angetrieben wurde. Zwei unterschiedliche Seilwindentypen, Typ A und Typ C, mit je ca. 30 kN Zugkraft waren verfügbar. Während der Typ A die „einfache“ Ausführung ist, hat der Typ C ein zusätzliches Reduktionsgetriebe und eine Bandbremse, sodass die Seilwinde des Typs C auch zum Ablassen von Lasten geeignet ist. Beide Seilwinden haben eine Seillänge von 50 m und einen Seildurchmesser von 11 mm bzw. 12 mm. Die Seilgeschwindigkeit ist stufenlos zwischen 48 und 60 m/min einstellbar. Electron baute für den Unimog 411 einen Pressluftgenerator, mit dem externe Pressluftgeräte wie Presslufthämmer oder Bohrer angetrieben werden können. Der Pressluftgenerator wird von der Frontzapfwelle angetrieben und fördert Luft mit bis zu 2200 dm³/min, der Betriebsdruck beträgt 6 bar. Die Donges Stahlbau entwickelte in Kooperation mit Daimler-Benz zwischen 1955 und 1957 den Unikran Typ SU, einen Kranauflieger für den Unimog 411. Der Unikran Typ SU hat eine Tragfähigkeit von 2942 daN (3 Mp) und eine Hakenhöhe von ca. 7 m bis 8 m. Er ist auch ohne Unimog betriebsfähig. Von dem Schweizer Hersteller Haller gab es eine Motorstaubremse für den Unimog 411, die bei einer nennenswerten Anzahl Fahrzeuge nachgerüstet wurde.
Technische Daten 1957
Nachträgliche Bewertung
Mit dem Unimog 411a hatte Daimler-Benz die Ausweitung des Unimogkonzeptes vom Schlepper zum Systemschlepper erstmals erfolgreich vollzogen. Während der ursprüngliche Unimog als rein landwirtschaftliches Fahrzeug konzipiert war, erkannte man, dass der Unimog 411 auch in anderen Bereichen gefragt war. Gerold Lingnau urteilte 1975 in einem Sonderdruck der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Vom Unimog wären freilich bis heute kaum 175.000 Stück gebaut worden, wenn er nur ein Angebot an die Landwirtschaft geblieben wäre. Schon früh begann die Karriere in anderen Bereichen. […] Daß der Unimog so vielseitig ist, verdankt er nicht zuletzt einer rührigen Geräteindustrie. Sie hat ihre Chance schon früh erkannt und – in enger Zusammenarbeit mit Daimler-Benz – hunderte Anbauten für diesen ersten ‚Geräteträger‘ der Fahrzeuggeschichte entwickelt.“ Carl-Heinz Vogler führt die Entwicklung des Unimog hin zum beliebten Fahrzeug bei Kommunen, Bauwirtschaft und Transportgewerbe auf die stetigen Weiterentwicklungen wie den verstärkten Rahmen des 411a und das größere Ganzstahlfahrerhaus des Typs DvF zurück.
Die planebene Leiterrahmenkonstruktion des Unimog 411 ist äußerst robust, Torsions- und Biegesteifigkeit waren seinerzeit unerreicht, was den Unimog 411 zu einem besonders zuverlässigen Fahrzeug machte. Nicht mehr mithalten konnte der U-411-Rahmen jedoch mit dem gekröpften Rahmen des Unimog 404 und 406, der bessere Torsionseigenschaften bietet.
Literatur
Carl-Heinz Vogler: Unimog 411: Typengeschichte und Technik. GeraMond-Verlag, München 2014, ISBN 978-3-86245-605-5.
Gerold Lingnau: Unimog. Des Menschen bester Freund. Die dreißig Jahre alte Idee vom „Universal-Motor-Gerät“ ist heute noch taufrisch / Bisher 175 000 Einheiten gebaut. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. März 1975, S. 29.
Weblinks
Anmerkungen
Einzelnachweise
Unimogbaureihe
U 411
Traktormodell
Lkw-Modell |
10655037 | https://de.wikipedia.org/wiki/L%E2%80%99Orange%20%28Lied%29 | L’Orange (Lied) | L’Orange ist ein knapp drei Minuten langes französischsprachiges Chanson von Gilbert Bécaud, das von La voix de son maître 1964 in Frankreich sowohl auf Single als auch auf EP und ein Jahr später in der Bundesrepublik Deutschland von Electrola als B-Seite der Single Nathalie veröffentlicht wurde. Der Text stammt von Pierre Delanoë, die Musik schrieb Bécaud wie üblich selbst. Begleitet wird er dabei, wie es in dieser Zeit häufig der Fall war, vom Orchester Raymond Bernard; eine besondere Rolle spielt hierin der Wechselgesang zwischen dem Solisten und einem (namenlosen) Chor.
Hinter dem „schlichten, harmlos klingenden Titel“ verbirgt sich „eine starke, zeitlose Botschaft“: Das Lied wendet sich mit künstlerischen Mitteln gegen Vorurteile, Xenophobie und Lynchjustiz, und es appelliert an die Akzeptanz des Andersartigen, Vielfältigen. Jérôme Pintoux nennt das Chanson „ein Psychodrama über Sündenböcke, Hass auf Einzelgänger und Hexenjagd (kollektive Hysterie)“.
Mittlerweile gilt das Lied als eines der prägnantesten Stücke aus Bécauds Karriere und ist auch auf den meisten neueren Zusammenstellungen seiner größten Erfolge enthalten.
Text und Musik
Handlung und Inszenierung
Das Lied beschreibt einen Dialog zwischen einer anonymen Gruppe von Menschen und einem Einzelnen (Motiv des „alle gegen einen“), den diese des Diebstahls einer Orange bei einem Kaufmann bezichtigen.
Wie es für viele Chansons von Gilbert Bécaud typisch ist, wird auch hier eine eher alltägliche Situation mit prägnanten Beteiligten dargestellt. Dabei wird der Hörer aber durch eine dichte Stimmung angesprochen, die der Sänger mit seinem Hang zum theatralischen Vortrag bei seinen Bühnen- und Filmauftritten noch verstärkte. Das Thema von L’Orange war „für eine dramatische Inszenierung wie geschaffen“. Durch den Wechselgesang zwischen einem gemischten Chor – in den ersten beiden Strophen nur die Männer-, danach auch die Frauenstimmen – und dem Solisten wird eine Atmosphäre erzeugt, die beim Zuhörer aufgrund ihrer sich steigernden Aggressivität ein Gefühl der Beklemmung hervorruft. Dieser akustische Eindruck wird in einem französischen Schwarz-Weiß-TV-Videoclip aus den 1960er Jahren auch bildlich unterstrichen und für den Betrachter sichtbar gemacht, denn die anonyme Menschenmenge, in deren Mitte der Sänger sich wie ein Tier in einem Käfig hin und her bewegt, ist lediglich zu hören, wird aber nie von der Kamera erfasst.
Für die Menschengruppe steht von vorneherein fest, dass dieser junge Mann der Dieb ist („Tu as volé l’orange“ – „Du hast die Orange gestohlen“), wobei sich durch das in den ersten beiden Strophen insgesamt 18-malige Wiederholen von as volé (was der textlichen Entsprechung eines Ostinato nahe kommt) schon gleich zu Beginn eine für den Bezichtigten bedrohliche Situation entwickelt, weil er bis auf ein kurzes, gerufenes „Nein!“ zunächst überhaupt nicht zu Wort kommt. Und als er das dann ab der dritten Strophe doch tut, singt er teilweise gegen den Chor an, was als ein Ausdruck des Ignorierens von Seiten der Gruppe beziehungsweise des Aneinander-vorbei-Redens verstanden werden kann.
Auf seine Erwiderung, er habe das Obst nicht gestohlen und selbst viel zu viel Angst vor Dieben („trop peur des voleurs“), hält ihm der Chor entgegen, nur er könne es gewesen sein, denn er sei böse und hässlich („méchant et laid“), außerdem klebe doch Fruchtsaft wie Blut an seinen Langfingern („comme du sang sur tes doigts“ … „avec tes mains crochues“) – und schließlich habe ihn auch noch jemand bei der Tat gesehen. Dabei werden die einzelnen Vorwürfe jeweils im Wechsel von einer Frauen- oder einer Männerstimme vorgebracht; die Sopranstimme steigert sich hier punktuell bis in einen Bereich, der von Tonhöhe und Klangfarbe her den Eindruck einer heulenden Furie oder Rachegöttin hervorruft. Der Beschuldigte entgegnet, er sei gar nicht bei dem Kaufmann gewesen, sondern, die Augen zum Himmel gewandt, auf der Suche nach einem blauen Vogel durch die umliegenden Berge gewandert („je cherchais dans la montagne, les étoiles dans les yeux, l’oiseau bleu“). Der blaue Vogel ist in der französischen Literatur ein der blauen Blume der Romantik verwandtes Symbol für Sehnsucht und Liebe, seit Marie-Catherine d’Aulnoy 1697 ein gleichnamiges Märchen veröffentlichte. Auch in Chansontexten taucht dieser Begriff wiederholt auf, nicht selten sogar ebenfalls in Kombination mit der Redewendung „avoir des étoiles (oder la lumière) dans les yeux“ (auf Deutsch „vor Glück oder Erstaunen strahlende Augen haben“), beispielsweise in Marie Myriams Siegertitel L’oiseau et l’enfant beim Eurovision Song Contest 1977. Damit werden Kinder oder erwachsene Träumer beschrieben.
Diese vergleichsweise Naivität der Replik des Beschuldigten auf einen handfesten Vorwurf trägt ebenfalls zur Dramatik der Handlung bei; hier prallen gleichsam zwei Welten aufeinander. Zudem ändern seine Rechtfertigungsversuche nichts daran, dass alle anderen von seiner Täterschaft überzeugt sind, anscheinend auch unabhängig davon, was immer er noch an Argumenten anführen könnte. Letzteres tut er allerdings nicht, sondern wiederholt lediglich die beiden Strophen mit seiner Erklärung. Stattdessen kulminiert die Situation durch das „Verdikt“ der Menge: Man habe den Mann mit seinen Wolfszähnen schon länger beobachtet, und nun ziehe sich der Strick um seinen Hals zu („longtemps qu’on te guettait avec tes dents de loup … t’auras la corde au cou!“). Dies sei sein letzter Tag, und überhaupt sei er bloß ein dreckiger Dieb, außerdem ein Fremder, der Unglück bringe („tu n’es qu’un sale voleur … D’abord tu n’es qu’un étranger et tu portes malheur“). Die Häufung von Stereotypen beziehungsweise Klischees in den vom Chor vorgetragenen Anschuldigungen und Aussagen unterstreicht die Feststellung, dass der Mann für die Menge von vorneherein als Täter feststand. Zu diesem Eindruck wie zur Bedrohlichkeit des Szenarios trägt auch der Kontrast zwischen dem vermeintlichen Anlass und der möglichen Strafe bei; der Wert einer einzelnen Orange (Mundraub, in Frankreich schon damals aber kein eigenständiger Straftatbestand) steht in keiner vernünftigen Relation zu den übersteigerten Charakterisierungen des möglichen Delinquenten durch Volkes Stimme und den ihm drohenden Konsequenzen.
Das Lied endet, wie es begonnen hat – mit der vielfach wiederholten Feststellung „Tu as volé as volé as volé … l’orange“ durch den Chor, in die der von der Menge Verurteilte ein abschließendes, eher hilfloses „Vous êtes fous!“ („Ihr seid verrückt!“) hineinruft.
Die fehlende Strophe
Der Originaltext von Delanoë enthält noch eine letzte Strophe, die zwar auf der offiziellen Webseite des Texters, aber weder auf der Original-Schallplatte noch in den filmischen Darbietungen des Chansons aus den 1960er Jahren enthalten ist. Darin wird aus der bedrohlichen Andeutung, dass er den Strick um seinen Hals tragen werde, Gewissheit:
Die Frage, wer diese Kürzung veranlasst hat – denkbar wäre beispielsweise die Plattenfirma – und aus welchem Grund dies geschah, lässt sich aus den vorliegenden Quellen nicht beantworten. Ob dies beabsichtigt war oder nicht – im Ergebnis dient auch dieses Nichtaussprechen oder in Unsicherheit schweben lassen hinsichtlich des letzten Schritts der Ereignisse dazu, dass der Zuhörer im Sinne der psychologischen Suspenseforschung zum „teilnehmenden, mitfühlenden Beobachter“ werden kann.
Musik
Musikalisch ist die in g-Moll und im Viervierteltakt gehaltene Melodie durch ein schnelles, straffes, abschnittsweise mitreißendes Tempo geprägt, bei dem der Sänger kaum am Piano sitzen bleiben kann, wie eine etwas spätere Filmaufnahme veranschaulicht. In dieser ist das Lied zudem um ein vierzig Sekunden langes instrumentales Intro ergänzt, in dem Bécaud am Klavier – ausschließlich begleitet von einer Rhythmusgruppe aus Schlagzeug, Standbass und E-Gitarre – einen jazzigen Auftakt präsentiert, der starke Ähnlichkeiten mit Hit the Road Jack von Ray Charles aufweist. Insbesondere am Ende dieser Filmaufnahme bearbeitet Bécaud sein Instrument auf eine höchst aggressive Weise – so schlägt er beispielsweise den Tastaturdeckel mehrfach gegen den Klangkasten, eine Spielweise, der insbesondere Jerry Lee Lewis im Rock ’n’ Roll zur Popularität verholfen hat –, die zugleich deutlich macht, weshalb der Franzose verbreitet als „Monsieur 100.000 Volts“ bezeichnet wurde.Über die Identität der Chorsänger, die hier ja einen unüblich hohen Gesangsanteil aufweisen, keineswegs nur im Hintergrund, sondern gleichberechtigt mit dem Solisten agieren, ist nichts bekannt. Die Namen von Background Vocalists und Studiomusikern wurden Mitte der 1960er Jahre in der Unterhaltungsmusik allerdings auch nur selten dokumentiert.
Entstehung
Die Entstehung dieses Chansons ist für die Arbeitsweise des langjährigen Duos Delanoë/Bécaud nicht untypisch: Bécaud benötigte im September 1963 für einen bevorstehenden Auftritt im Olympia noch etwas neues Material, aber der Texter hatte gerade nichts vorrätig. Darauf forderte der Sänger ihn auf, ihm das erste Wort, das ihm spontan einfiele, mitzuteilen – das war das Wort Orange. Etwas Simples wie das Pflücken, Schälen oder Verkaufen dieser Frucht kam für beide nicht in Frage, stattdessen landeten sie beim Diebstahl, was laut Delanoë „eine dramatische Dimension ergab. Der antirassistische Aspekt kam dann ganz zwangsläufig hinein.“
Die beiden hatte zwischenzeitlich auch die Frage beschäftigt, welchen Titel dieses Lied bekommen sollte. Im Gespräch war anfangs L’étranger (Der Fremde), aber auch Ironischeres wie La belle et douce ville (Die schöne, liebliche Stadt) oder Plein d’hônnetes gens (Voller ehrenwerter Leute), ehe sie sich für L’Orange entschieden.Schon vor dem Entstehen des Texts hatte Bécaud offenbar einen ganz bestimmten Musikstil im Kopf gehabt – es sollte etwas in Richtung Gospel werden. Nachdem er dazu die Musik einschließlich der Chorstimmen komponiert hatte, empfand der Texter das Ergebnis als ein „besonders starkes Stück“.
Rezeption, Erfolge und Coverversionen
Gilles Verlant weist darauf hin, dass L’Orange beileibe nicht das einzige, aber ein ganz wesentliches Beispiel gewesen sei, in dem die humanistische Einstellung Bécauds zum Ausdruck gekommen ist. Dies habe auch einen biographischen Hintergrund, denn der Chansonnier hatte ab Frühjahr 1944 als Jugendlicher während der deutschen Besetzung Frankreichs im savoyardischen Vercors (Venthon nahe Albertville) Botendienste für die dortige Widerstandsbewegung (Maquis) verrichtet. Für Pierre Saka, der nach dem Zweiten Weltkrieg selbst Texte für eine ganze Reihe von Chansons geschrieben und zu diesem Musikgenre mehrere Bücher veröffentlicht hat, betrat Bécaud in Frankreich mit diesem gesellschaftskritischen Inhalt Mitte der 1960er Jahre Neuland. Für den belgischen Fernsehjournalisten Sébastien Ministru ist dies kein Zufall, denn seit dem Ende des Algerienkriegs und der algerischen Unabhängigkeit (1962) waren über 300.000 Menschen aus dieser ehemaligen Kolonie nach Frankreich eingewandert, die zwar die französische Staatsbürgerschaft besaßen, dort aber sehr häufig nicht als gleichwertige Mitbürger betrachtet wurden. Dies habe sich, wie es in L’Orange auf den Punkt gebracht wird, in Angst vor den Fremden bis hin zum Rassismus geäußert. Dazu passen die weiter oben angesprochenen Überlegungen Delanoës und Bécauds bezüglich der Titelgebung für dieses Lied. Ein weiteres Argument sei, dass Bécaud auch in anderen Liedern wie beispielsweise Mustapha Dupont dem Rassismus seine Vorstellung von Integration entgegengesetzt hat.
Zu einer Hitparadenplatzierung hat es für Bécauds Fassung des Liedes damals nicht gereicht. Dennoch wird der Titel zu seinen wichtigsten musikalischen Meilensteinen gerechnet und gilt als „eines der prägnantesten Stücke seiner Karriere“. L’Orange ist auch auf etlichen neueren Best-of-Kompilationen enthalten. Schon als er es Ende 1963 erstmals live im Olympia präsentierte – wobei der renommierte Filmregisseur Henri-Georges Clouzot die Inszenierung dieses Auftritts übernommen hatte –, sollen die Zuhörer langanhaltend applaudiert haben, und auch in der Folgezeit wurde es, egal, wo er auftrat, stets vom Publikum verlangt. Im Soundtrack des Films Ein Leben lang (Toute une vie) von Claude Lelouch aus dem Jahr 1974 kam das Chanson erneut einem breiten Publikum zu Gehör,, ebenso in zwei weiteren Filmen: Léolo von Jean-Claude Lauzon (1992) und Lauzon Lauzone von Louis Bélanger (2001).
2003, zwei Jahre nach dem Tod des Sängers, wurde allerdings eine Coverversion seines Chansons zum internationalen Top-Hit. In der dritten Staffel von Star Academy, dem bei TF1 ausgestrahlten französischen Pendant zu Fame Academy, sangen acht der Kandidaten diesen Song gemeinsam. Die davon produzierte Single belegte in Frankreich und Belgien jeweils Rang eins, in der Schweiz den sechsten Platz, wodurch „dieses schöne, engagierte Lied einer ganz neuen Generation“ näher gebracht wurde. Und vermutlich im Schlepptau dieser Version kam auch das Original dann doch noch zu späten Ehren: EMI veröffentlichte eine CD, die die Studioaufnahme von 1964 sowie zwei Fassungen, die Bécaud 1966 und 1988 jeweils im Olympia vorgetragen hatte, enthielt. Diese Platte stieg im Januar 2004 in die französischen Top 100 ein, verblieb darin für fünf Wochen und erreichte als beste Platzierung Rang 89. Jean-Christophe Averty, ein französischer Pionier der Videoclips, hat das Chanson in einen künstlerischen Kurzfilm eingebettet, den France 3 im Februar 2017 im Rahmen einer Dokumentation über das „Goldene Zeitalter des Varietés“ erneut ausstrahlte. Darin montierte Averty ausschließlich Bécauds Gesicht beim Singen des Liedes mit Orangen zusammen, zeigt zudem in der Schlusssequenz einen Galgen, an dem ein ebenfalls aus Apfelsinen nachgebildeter Mensch hängt.
1966 erschien eine deutschsprachige Fassung des Chansons unter dem Titel Der Orangendieb, übersetzt von Kurt Hertha und gesungen von Dietmar Schönherr, in der auch die bei Bécaud fehlende Schlussstrophe enthalten ist. Bereits ein Jahr zuvor hatte Suzanne Gabriello Delanoës Text umgeschrieben und das Lied L’Orange de l’agent auf einer EP veröffentlicht; in dieser Parodie befragt ein Verkehrspolizist (agent policier) eine Autofahrerin, die das gelbe Blinklicht einer Ampel missachtet haben soll – auf Französisch passer à l’orange. In der DDR brachte Amiga die französischsprachige Originalversion 1980 auf einer Natalie (ohne h) betitelten Bécaud-Langspielplatte heraus. Weitere Mitte der 1960er veröffentlichte Coverfassungen stammen von Gilles Dominique sowie, rein instrumental, von dem Musette-Akkordeonisten Aimable und – auf einer Letkiss-EP – des Trompeters Georges Jouvin.
Literatur
Fabien Lecœuvre: 1001 histoires secrètes de chansons. Éd. du Rocher, Monaco 2017, ISBN 978-2-2680-9672-8
Annie und Bernard Réval: Gilbert Bécaud. Jardins secrets. France-Empire, Paris 2001, ISBN 978-2-70480-930-1
Weblinks
Text des Chansons auf Französisch bei lyricstranslate.com
Bécaud singt L’Orange (Schwarz-Weiß-Video) bei YouTube
Nachweise und Anmerkungen
Lorange
Lied 1964 |
12627367 | https://de.wikipedia.org/wiki/Gro%C3%9Fer%20Tempel%20von%20%E1%B8%AAattu%C5%A1a | Großer Tempel von Ḫattuša | Der Große Tempel, auch als Tempel 1 bezeichnet, ist ein Tempel in Ḫattuša, der Hauptstadt des altorientalischen Großreichs der Hethiter. Die Stadt liegt im nördlichen Zentralanatolien beim Ort Boğazkale, früher Boğazköy, in der Türkei. Tempel 1 war der größte Tempel der Stadt und gleichzeitig nach dem Tempel des Wettergottes in Kuşaklı der zweitgrößte bisher bekannte des Hethiterreichs. Er lag als einziger der 31 bisher bekannten Tempel von Ḫattuša im Norden des Stadtgeländes in der Unterstadt, dem älteren Stadtbezirk. Er entstand in althethitischer Zeit, nach neuesten Erkenntnissen spätestens im frühen 16. Jahrhundert v. Chr. Mit dem Untergang des Hethiterreiches im 12. Jahrhundert v. Chr. wurden die Stadt und damit auch der Tempel aufgegeben. Wie bei allen Gebäuden der Stadt sind nur die bis zu 1,5 Meter hohen Sockel der Mauern erhalten, das aufgehende Mauerwerk aus Holzfachwerk und Lehmziegeln ist vergangen. Diese Sockel lagen in Teilen bereits bei der Entdeckung der Stadt im 19. Jahrhundert frei. Bemerkenswert ist der Tempel außer durch seine Größe durch das Vorhandensein von zwei Adyta (Allerheiligsten), die sonst nur beim Tempel 5 in der Oberstadt vorkommen. Welchen Gottheiten er gewidmet war, ist unsicher.
Forschungsgeschichte
1834 besuchte als erster westlicher Reisender der Franzose Charles Texier den Ort Boğazköy, wo er neben dem Felsheiligtum von Yazılıkaya auch die Ruinen einer Stadt entdeckte, die er für das medische Pteria hielt. Dort sah und zeichnete er auch die nur schwach überwachsenen Reste des Tempels und deutete sie als Tempel der Anaitis. 1836 fertigte William John Hamilton phantasievolle Zeichnungen des Großen Tempels an, er hielt den Ort für Tavium. Die ersten Ausgrabungen unternahm 1893/94 der französische Archäologe Ernest Chantre mit seiner Frau, der den Tempel allerdings als Palast bezeichnete. Er erstellte ebenfalls einen Plan.
Im Jahr 1906 begannen Theodor Makridi vom osmanischen Museum in Istanbul und der deutsche Altorientalist Hugo Winckler mit systematischen Ausgrabungen in Boğazköy. Darauf ordnete Winckler den Ort dem bis dahin nur wenig bekannten Reich der Hethiter zu und identifizierte ihn als dessen Hauptstadt. Im Zuge dieser Arbeiten untersuchten Otto Puchstein und Daniel Krencker ab 1907 im Auftrag des Deutschen Archäologischen Instituts das Tempelareal. Dem Bauforscher Krencker hatte es dabei „nicht darauf ankommen können, das ganze Mauerwerk vollständig von allem Schutte zu säubern, sondern die einzelnen Mauerzüge und die Fußböden nur soweit erforderlich freizulegen.“ Krencker vermaß das Tempelgelände mitsamt den Nebengebäuden und fertigte eine Zeichnung an, nach der laut Puchstein die Pläne von Texier „überholt und, soweit ich sehe, überhaupt nicht mehr zu beachten sind.“ Er begann mit der Beschreibung des Gebäudes, „sie wurde von mir [Puchstein] im Juli vervollständigt.“ Nach einer Unterbrechung durch den Ersten Weltkrieg übernahm 1931 Kurt Bittel die Leitung der Grabungen, die wiederum durch den Zweiten Weltkrieg unterbrochen wurden. In Bittels Grabungszeit wurde eine weitere, umfassendere Zeichnung des Gebiets erstellt, die nun auch die nördlich angrenzenden Wohngebiete bis zur angrenzenden Abschnittsmauer umfasste. Unter dem folgenden Grabungsleiter (1978–1993) Peter Neve wurde der Bereich westlich des Kultraums eingehender untersucht und freigelegt. Dabei bestätigte sich die Annahme, dass der Tempel hier über ein zweites Adyton verfügte, was die Vermutung nahelegte, dass es sich um einen Tempel der zwei hethitischen Hauptgötter, des Wettergottes von Ḫatti und der Sonnengöttin von Arinna handelt. In den folgenden Grabungsjahren hatten Jürgen Seeher zwischen 1994 und 2005 und Andreas Schachner von 2006 bis heute (2023) die Grabungsleitung inne. Unter Schachner wurden durch gezielte Nachgrabungen die Kenntnisse über den Aufbau und die Baugeschichte der Tempelräume und der umgebenden Magazine kontinuierlich erweitert.
Baugeschichte
Über die Entstehung des Großen Tempels gibt es keine schriftlichen Zeugnisse. Nach archäologischen Erkenntnissen war das Gelände am Anfang des 2. Jahrtausends v. Chr. von Südosten her – vom sogenannten Nordwesthang – mit der Vorgängersiedlung bebaut, zu der auch der vorhethitische Regierungssitz auf Büyükkale gehörte. Daran schloss sich im Norden die Niederlassung der assyrischen Kaufleute, das karum, an. Ab dem 17. Jahrhundert v. Chr. wurde die Stadt von Hethitern besiedelt und ein Herrscher mit Namen (oder dem Titel) Labarna machte den Ort zur Hauptstadt seines Reiches und benannte sich danach Ḫattušili, „der von Ḫattuša“. An der Identität von Labarna und Ḫattušili I. gibt es allerdings Zweifel, möglicherweise war Ḫattušili I. der Nachfolger Labarnas. Am Übergang vom 17. zum 16. Jahrhundert v. Chr. wurde der Bereich im Zuge einer kompletten Neukonzipierung der Unterstadt in der bisherigen Form aufgegeben, der Bau des Tempels begann spätestens im frühen 16. Jahrhundert v. Chr. Über mögliche spätere Bautätigkeiten am Tempelkomplex ist nichts bekannt.
Als im frühen 12. Jahrhundert v. Chr. das hethitische Großreich aus verschiedenen, nicht abschließend geklärten Gründen unterging, wurde auch der Tempel einschließlich der umgebenden Gebäude verlassen. Dass nur auffallend wenige Funde in den Räumen geborgen werden konnten, deutet auf ein geplantes Verlassen hin, wobei danach möglicherweise von den zurückgelassenen Bewohnern die Gebäude geräumt beziehungsweise geplündert wurden. Die einzigen zahlreichen Funde waren Keilschrifttafeln, die für die späteren Bewohner ohne Wert waren. In fast allen Räumen der Magazine außer im Südareal wurden Spuren von Bränden gefunden, die jedoch nicht gleichzeitig gewesen sein müssen. Anzeichen für feindliche Aktionen sind nicht nachzuweisen. Durch diesen Brand waren die Keilschrifttafeln gebrannt, die ursprünglich nur luftgetrocknet waren.
Beschreibung
Der Tempelkomplex liegt im Norden des Stadtgebiets von Ḫattuša, in der sogenannten Unterstadt, die den älteren Teil der Hauptstadt darstellt. Für den Bau des Tempelkomplexes wurde eine künstliche Terrasse angelegt, die bis zu acht Meter die Umgebung überragt und das nach Norden leicht abschüssige Gelände begradigt. Der Bereich misst von Südwesten nach Nordosten etwa 200 Meter, von Nordwesten nach Südosten 130 Meter. Eine etwa acht Meter breite Straße, die zum sogenannten Südtor in der nördlich des Tempels liegenden Abschnittsmauer führt, teilt den Komplex in zwei Teile. Den nordöstlichen Teil bildet der Tempel mit den ihn umschließenden Magazintrakten, südwestlich der Straße liegt das als Südareal oder Haus der Arbeitsleistung bezeichnete Gebäude. Das nördliche Gebiet mit Tempel und Magazinen betritt man üblicherweise durch den Haupteingang im Südosten. Dort kam ein von der Herrscherresidenz auf Büyükkale kommender Weg an, der ungefähr der modernen Straße entsprach. Der Torbau bestand aus zwei Wächterkammern und einer Pfeilerhalle an der Innenseite. Von dort führt die Tempelstraße zum Eingang des eigentlichen Tempels. Sie umrundet weiter den gesamten Tempel und trennt ihn damit von den Magazinbauten. Ein weiterer, einfacher Torbau findet sich im Südwesten durch die Südmagazine von der Straße zum Südtor her. Peter Neve beschreibt zwei unverschlossene Nebeneingänge im Nordosten sowie im Nordwesten des Areals. Wegen der Aufschüttung des Geländes waren sie über lange Rampen erreichbar. Sie dienten nach Neve vermutlich für den Transport von Tempelgütern und als Eingang der Tempelbediensteten.
Auf der breiten Straße vom Haupteingang zum Tempel passiert der Besucher auf halbem Weg in einem Knick der Straße ein aus Kalkstein gearbeitetes, monolithes Wasserbecken, das in das Straßenpflaster eingelassen ist. Die Pflasterung weist starke Verwerfungen auf, was daher rührt, dass der darunter verlaufende Abwasserkanal eingebrochen ist.
Tempelgebäude
Der Tempel ist von Südwesten nach Nordosten ausgerichtet und hat Maße von 42 × 65 Metern. Im Gegensatz zu den anderen Gebäuden der Stadt sind die Steinsockel der beiden Allerheiligsten und eines separaten Gebäudes im Hof nicht aus Kalkstein gebaut, sondern aus grünlichem Gabbro. Dieser Stein kommt – im Gegensatz zu Kalkstein – nicht in Boğazköy vor, sondern musste eigens aus Gebieten im Süden hergebracht werden, die mindestens acht bis zehn Kilometer entfernt lagen. Von den Schwierigkeiten der Beschaffung zeugen dort im Gelände gefundene, wohl auf dem Transport zerbrochene Steinblöcke. Dies betont die besondere Bedeutung des Bauwerks, genauso wie die Steinblöcke, von denen hier die bisher größten aus hethitischen Gebäuden bekannten gefunden wurden. Auf der Oberseite von zahlreichen Steinen sind regelmäßig angelegte Bohrlöcher zu sehen. Sie dienten der Anbringung der Balken des aufgehenden Fachwerks.
Da bis auf eine Treppe in einem Raum neben dem Eingang, die zum Dach führte, keine Reste von Treppenhäusern vorhanden sind, scheint der Bau eingeschossig gewesen zu sein. Der Eingang liegt im Südwesten und verfügt wie der Haupteingang zum Gelände über zwei Seitenkammern für die Torwächter. Im Gegensatz zu diesem war er jedoch außen und innen mit einer Pfeilervorhalle ausgestattet. An den Türschwellen sind noch Spuren der Türangeln und die Schleifspuren der Türen erkennbar. An der westlichen Ecke des Gebäudes gibt es einen Nebeneingang mit einer offenen Abflussrinne. Durch beide Eingänge betritt man den 27 × 20 Meter großen, einst gepflasterten und nicht überdachten Innenhof. Von dessen Pflaster sind in der Ostecke noch Reste erhalten. In dem Hof versammelten sich bei besonderen rituellen Anlässen zahlreiche Priester und Bedienstete zu Kulthandlungen mit Musik, Gesängen und Weihrauch. Derartige Handlungen sind in zahlreichen hethitischen Texten detailliert beschrieben. Nordöstlich davon schließt sich der Bereich der Kulträume an. Diesem war eine fünfsäulige Portikus vorgelagert. In der östlichen Ecke des Hofes ist noch der Sockel eines kleinen rechteckigen Bauwerks, ebenfalls aus Gabbro, zu erkennen. Dass seine Türen sich zu den Allerheiligsten hin öffnen, weist auf eine kultische Bedeutung hin, die Archäologen halten es für einen Altarbau. Zu den dahinter liegenden Adyta gehörte eine Reihe kleiner, miteinander verbundener Vorräume, dahinter folgten die eigentlichen Cellae. Diese beiden Räume durften nur König und Königin sowie einige Tempelpriester betreten. Wahrscheinlich waren die beiden Kulträume den obersten Gottheiten des hethitischen Pantheons gewidmet, dem Wettergott von Hatti und der Sonnengöttin von Arinna. Der rechte der beiden Räume misst etwa 8 × 10 Meter, der linke hat ähnliche Maße. Beide Kulträume zeichnen sich durch Pilaster in den Wandmitten aus. Die linke, nordwestliche Cella ist stark zerstört. In der rechten ist in der Mitte der nordöstlichen Schmalseite ein Sockel erhalten, der vermutlich die Statue der dort verehrten Gottheit trug. In dieser Wand und in den anschließenden Ecken befanden sich vier fast bis zum Fußboden reichende Fenster. Sie waren wohl meist mit Holzläden verschlossen, konnten aber bei Bedarf die Gottheit in helles Tageslicht tauchen.
Die Nebenräume des Tempels gliedern sich in vier Gruppen. Zwei davon liegen links und rechts des Eingangsbaus, die anderen beiden an den Längsseiten. Von den zwei Gruppen seitlich des Eingangs hat die linke sechs, die rechte vier unterschiedlich große Räume. Von den Gruppen an den Längsseiten hat die linke sechs in einer Reihe liegende, annähernd gleich große Räume und einen langen Gang an der Innenseite, südlich davon findet sich der Seiteneingang. Die rechte besteht aus sechs ähnlichen Räumen in einer Reihe sowie zwei kleineren im Süden.
Andreas Schachner beschreibt sechs Gruppen von zusammengehörigen Räumen: 1–6 westlich des Eingangs, 17–19 östlich, 20–24 und 25–27 (möglicherweise plus das Hofgebäude 39) im Ostflügel, 32–35 im Westflügel sowie die Gruppe um das rechte Adyton 45–49 (für die Zahlen siehe nebenstehende Zeichnung). Zu jeder dieser Gruppen gehört ein durch Pilaster hervorgehobener Raum (1, 19, 22 und 34, eventuell 39 und das Adyton 47) Diesem kam wohl eine besondere, vielleicht kultische Bedeutung zu, Neve spricht von „Staatszimmern“. Die Räume sind größtenteils untereinander verbunden, von außen aber nicht einzeln zugängig. Schachner sieht darin Gruppen von Kulträumen für verschiedene Götter und hält es für möglich, dass im Großen Tempel das gesamte hethitische Pantheon vertreten war.
Magazine
Die vier Haupt- und Nebeneingänge gliedern die den Tempel umgebenden Magazinräume in vier Trakte. Treppenhäuser zeigen, dass diese im Gegensatz zum Tempel selbst mehrstöckig waren. Dadurch standen mehr als 200 Lagerräume zur Verfügung. Die einzelnen Trakte waren durch wenige Türen von außen zu betreten, innen konnten die Räume über Korridore oder durch Verbindungstüren begangen werden. Besonders im südwestlichen Teil sind noch sehr gut die mächtigen, monolithen Schwellen der Verbindungstüren zu sehen. Die Verwendung als Lagerräume ist bezeugt durch einzelne, in situ befindliche Funde. Dazu gehören vor allem Tongefäße (Pithoi) mit einem Inhalt von bis zu 2000 Litern, die hauptsächlich im Nord- und Südbereich zu Tage kamen. Darin wurden Lebensmittel wie Getreide, Hülsenfrüchte, Öl und Wein gelagert. Da sie in eine dicke Tonpackung auf dem Fußboden eingelassen waren, konnten sie nur im Erdgeschoss aufbewahrt werden. Bei den Gefäßmündungen gaben Zeichen die Menge mit Maßeinheiten, die Inhaltsart sowie den Eigentümer an. In den Jahren ab 2020 wurden einige der Pithoi im nördlichen Magazintrakt restauriert. In anderen Räumen des westlichen und nördlichen Traktes wurden Spuren von Holzregalen gefunden, in denen weitere Gegenstände gelagert wurden. Herabgefallene Steinbasen von Regalstützen zeigen, dass die oberen Stockwerke wahrscheinlich in ähnlicher Weise genutzt wurden. Im Osttrakt wurden mehrere Tausend Keilschrifttafeln gefunden. Daraus kann geschlossen werden, dass dort, vielleicht auch in den Obergeschossen, das Tontafelarchiv des Tempels untergebracht war. Auch im Nordtrakt kamen zahlreiche Tontafeln ans Licht.
In einem der Räume des südlichen Magazintrakts liegt ein etwa würfelförmiger Stein aus grünem nephritartigen Gestein, das in der Umgebung vorkommt. Um ihn ranken sich diverse Legenden, bei Berührung soll er Fruchtbarkeit und Reichtum verleihen. Seine tatsächliche Bedeutung ist allerdings unklar. Er kann im Kult eine Rolle gespielt haben, von den öfter in hethitischen Texten erwähnten heiligen Steinen ist allerdings keiner ausdrücklich als grün bezeichnet. Da er heute tiefer liegt als das Fußbodenniveau, wie an den Türschwellen zu erkennen ist, kann dies nicht sein ursprünglicher Aufstellungsort gewesen sein.
Straße zum Südtor
Südwestlich der Magazine verläuft eine acht Meter breite Pflasterstraße, die zum Südtor in der nördlich verlaufenden Abschnittsmauer führt. Ihr Aufbau gleicht demjenigen der Straßen zwischen den Magazinen im Tempelbezirk. Auf einen Untergrund aus Bruchsteinen wurde zunächst eine 1,5 Meter dicke Lehmschicht aufgebracht, die bis an die Gebäudefundamente heranreichte. Darauf wurde eine Pflasterschicht aus hartem Kalkstein aufgetragen. Auch diese Straße verfügte über ein Entwässerungssystem aus kragsteinüberwölbten Kanälen. Eine starke Abnutzung der Pflasteroberfläche zeugt von einem regen Verkehr. Allerdings sind hier keinerlei Wagenspuren festzustellen.
Am Anfang der Straße, am Südeck des südlichen Magazintraktes, sind zwei stehende Orthostaten zu sehen, die mit eingepunzten, das heißt mit vielen Schlägen eines Spitzhammers aufgebrachten Hieroglyphenzeichen versehen sind. Sie werden als Graffiti bezeichnet, möglicherweise waren sie eine Art Werbeschilder von Schreibern, definitiv lesbar ist allerdings keins der Zeichen. In John David Hawkins’ Zusammenstellung der Steininschriften von Boğazköy werden sie als BOĞAZKÖY 15 bezeichnet. Der erste der beiden Steine wurde 1969 von Bittel und Neve verstürzt entdeckt, als sie den dortigen Platz und die Südecke des Magazins untersuchten. Als 1970 die Werksteine wieder an ihren ursprünglichen Platz gestellt wurden, kamen auf einem zweiten Stein ebenfalls Hieroglyphen zum Vorschein. Ähnliche Graffiti wurden etwa 45 Meter weiter auf Pflastersteinen der Straße entdeckt. Sie liegen am nördlichen Rand der Straße, durch ein Absinken des Pflasters sind die Randsteine in Schräglage geraten. Hier ist als eines der wenigen erkennbaren Zeichen die Hieroglyphe für Schreiber zu entziffern, die üblicherweise mit SCRIBA transkribiert wird. Die Platten wurden 1967/68 bei der Freilegung der Straße zum Tor entdeckt und von Hans Gustav Güterbock besprochen. Die beiden Pflastersteine haben die Bezeichnung BOĞAZKÖY 14. Derartige eingepunzte Inschriften fanden sich im Stadtgebiet an mehreren Stellen, beispielsweise am Südtor, am Sphinxtor, am Löwentor und im Tempelviertel der Oberstadt. Bezeichnenderweise taucht dabei das SCRIBA-Zeichen häufig auf.
Südareal
Das südwestlich der Straße liegende große Gebäude wird als Südareal bezeichnet. Nach einem dort gefundenen Keilschrift-Fragment, auf dem der Text E.GIŠ.KIN.TI zu lesen ist, wird es auch Haus der Arbeitsleistung genannt. Damit wird ein Gebäude bezeichnet, in dem Priester, Tempelbedienstete und Schreiber arbeiteten. Es ist allerdings nicht sicher, ob sich die Bezeichnung tatsächlich auf das Gebäude bezog.
Der Komplex ist von einer 1,2 bis 1,5 Meter, im südlichen Hangbereich sogar bis zu 2,0 Meter starken Mauer umschlossen und hat eine Grundfläche von etwa 5000 Quadratmetern. Der einzige Eingang liegt in der Straße zum Südtor. Vom Eingang führt ein zwei Meter breiter Weg auf einen großen Innenhof. Er hat Trapezform und ist nordwest-südöstlich 30 Meter lang, südwest-nordöstlich bis zu 16 Meter. An seinem südöstlichen Ende setzt sich der Weg als einen Meter breite Sackgasse fort, die direkt vor der Außenmauer endet. Sowohl Hof als auch Wege waren gepflastert und hatten eine Kanalisation, die an die der Hauptstraße angeschlossen war. Der Komplex bestand aus annähernd hundert Räumen, die zu 16 unterschiedlichen Gruppen („Apartments“) zusammengefasst waren. Im Norden und um den Eingang herum lagen die großzügigen und umfassenderen Apartments I und XIII bis XVI, im Süden drängten sich die kleinteiligen und verschachtelten Gruppen II bis XII. Die Apartments XIV und XV, nördlich und südlich des Eingangs, sind nur noch im Kellergeschoss erhalten. Apartment XIV fällt auf durch eine Reihe von sieben gleichförmigen Räumen und einem etwas größeren in der Mitte, der über einen Wandpilaster und ein mächtiges Steinpostament verfügt. Daran schließt sich im Norden die Gruppe XVI an, die nur aus sechs langgestreckten, fast identischen Räumen besteht und über einen langen Korridor mit dem Hof verbunden ist. Fünf der Räume waren voll mit Pithoi. Das größte war Apartment XIII im Westen des Gebäudes, von dem nur Fundamente und keine Türschwellen vorhanden sind. In zwei Räumen der kleineren Gruppen im Süden sind eine Steinbasis und in einem ein Sandsteinkarree in der Mitte vorhanden. In einem Raum ist eine Feuerstelle erkennbar.
Südlich des Areals liegt ein weiteres Gebäude mit den Abmessungen 31,2 × 18,7 Metern, das als Komplex 2 bezeichnet wird. Sein Verwendungszweck ist nicht geklärt. Das als Komplex 3 bezeichnete Gebäude westlich des Südareals wurde nie fertiggestellt.
Umgebung
Wohnviertel
Im Nordwesten schließt an das Tempelgelände ein dicht bebautes Wohngebiet an. Es reicht bis an die nordwestlich verlaufende Abschnittsmauer mit dem restaurierten Abschnitt. Diese verläuft weiter nach Westen zum Südtor und von dort nach Süden, wo sie nordwestlich von Kesikkaya auf die Poternenmauer trifft, die einst die Unterstadt komplett umschloss. Im Süden reicht der ausgegrabene Bereich bis an die Straße, die vom östlichen Vorplatz des Tempels zum Südtor führt, im Norden bis an die moderne Straße, deren Verlauf dort dem einer hethitischen Straße entspricht.
Unter den Grundrissen der hethitischen Wohnhäuser wurden die Reste einer Siedlung aus der Karumzeit gefunden. Ebenso wie deren Häuser folgen die Wohnhäuser der hethitischen Bevölkerung vermutlich altanatolischen Vorbildern. Die hethitische Bebau8ung des Areals schloss sich ohne Unterbrechung an die Nutzung der Karumzeit an. Durch die fließende Entwicklung der Bebauung sind die verschachtelt aneinandergesetzten Grundrisse meist schiefwinklig. Ihr Hauptmerkmal ist ein großer, zentraler Raum, der meistens an einer Seite liegt und nur von anderen Räumen aus zu betreten ist. Ursprünglich nahm man an, dass es sich um einen offenen Hof handelte, weshalb die Bezeichnung „anatolisches Hofhaus“ eingeführt wurde. Der heutige Grabungsleiter Andreas Schachner schließt dies allerdings aus. In den Innenräumen der Karumzeit wurden unter anderem zahlreiche Tontafeln gefunden. Sie waren durch ein Feuer bei der Zerstörung der Siedlung zwar gebrannt, ursprünglich aber waren sie nur luftgetrocknet. Da es sich um für die Bewohner wichtige Urkunden handelte, konnten diese nicht in einem offenen Hof dem Wetter ausgesetzt werden, da sie sich bei Regen aufgelöst hätten. Demnach muss auch dieser Raum überdacht gewesen sein. Schachner schlägt daher die Bezeichnung „Zentralraumhaus“ vor.
Löwenbecken
Östlich des Tempelgeländes, etwa 40 Meter südlich des Haupteingangs, steht das sogenannte Löwenbecken. Es handelt sich um einen Sockel von mindestens 5,5 Metern Länge, der ursprünglich aus einem Kalksteinblock gearbeitet war, mit einer beckenartigen Vertiefung auf der Oberfläche. Alle vier Ecken waren mit Löwenfiguren verziert. Die Köpfe der Tiere waren vollplastisch gearbeitet, die Körper an den Seiten im Relief. In der Art der späteren assyrischen Darstellungen haben die Löwen fünf Beine, damit sie sowohl frontal als auch seitlich betrachtet werden können. Der Erhaltungszustand ist verhältnismäßig schlecht, da die Einzelteile nie unter der Erde lagen. Dass es sich tatsächlich um ein Wasserbecken handelte, wird heute stark angezweifelt. Es ist weder ein Ab- noch ein Zufluss vorhanden und das Wasser hätte in Gefäßen aus relativ großer Entfernung herbeigeschafft werden müssen. Stattdessen wird heute vorgeschlagen, dass es den Sockel einer vor dem Tempel stehenden Kolossalstatue darstellte. Zwar ist nicht sicher, ob es sich noch am originalen Aufstellungsort befindet, aber auf Grund der Größe und des Gewichts der gefundenen Teilstücke können sie nicht allzu weit bewegt worden sein. Werkzeugspuren an den aufgefundenen Teilstücken deuten darauf hin, dass der Block in der römischen Kaiserzeit zur Zweitverwendung in mehrere Teile gespalten wurde. Im Rahmen der Grabungskampagne 2017 wurden die vorhandenen Teile restauriert und auf einem teilweise nachgearbeiteten Sockel aus Bruchsteinen und Zementmörtel wieder zusammengefügt.
Quellgrotte
Westlich oberhalb des Südareals liegt eine kleine, ausgemauerte Grotte, die das Wasser des dahinterliegenden Quellhorizonts sammelt. Auf ihrem Sturz ist die Darstellung einer kleinen menschlichen Figur eingemeißelt. Bei der Grotte wurde 1968 in verstürzter Lage eine Stele gefunden, die die Bezeichnung BOĞAZKÖY 12 hat und sich jetzt im Museum für anatolische Zivilisationen in Ankara befindet. Die Kalksteinstele ist 0,70 Meter hoch, 0,40 Meter breit und 0,30 Meter tief. Die Schriftzeichen nennen einen – nicht namentlich genannten – König des Vasallenstaats Išuwa, der die Quelle dem Gott Nergal geweiht hat. Der Name der Quelle wird mit La/i/uraḥa angegeben.
Nachhethitische Bebauung
Im gesamten Bereich des Tempels, der Magazine und des Südareals wurden Spuren einer eisenzeitlichen Besiedlung gefunden. Sie bestand aus ein- bis zweiräumigen Häusern mit einfachen, einschaligen Wänden. In den Mauern konnten etliche Spolien aus hethitischen Bauwerken festgestellt werden, zum Teil wurden die Häuser auch direkt auf die vorhandenen Fundamente der Hethiterzeit aufgesetzt. In diesem reichlich vorhandenen Baumaterial liegt vielleicht auch der Grund für die intensive Neubebauung an dieser Stelle. Funde aus dieser Periode waren Tongefäße sowie Bronze- und Eisengerätschaften. Zu den Tongefäßen gehörte einfaches Haushaltsgeschirr wie Kleeblattkannen, bauchige Töpfe und große Kratere, darunter ein zweihenkliger Krug mit altphrygischer Bemalung aus geometrischen Mustern. Unter den Bronzefunden sind sechs Bogenfibeln zu erwähnen, von denen drei in einem bronzenen Henkelbecher geborgen wurden. Zu den Eisengegenständen gehören drei Pfeilspitzen, die in einer Wand im Tempelbezirk gefunden wurden. Sie zeugen möglicherweise von einem gewaltsamen Ende dieser Besiedlung.
Ebenfalls verteilt über das gesamte Gelände kamen insgesamt 88 Gräber unterschiedlicher Art aus hellenistischer und römischer Zeit zutage. Dazu gehören Pithosgräber, Skelettbestattungen, Steinkisten mit und ohne Steinkreis, Pithossärge, Ziegelplattengräber und eine Brandbestattung. Sie können etwa vom 3./2. Jahrhundert v. Chr. bis in das 1. Jahrhundert n. Chr. datiert werden.
Kulthandlungen
Durch die zahlreichen Kulttexte auf Keilschrifttafeln sind viele Informationen über die Kulthandlungen bei verschiedenen Gelegenheiten bekannt. Außerdem existieren Abbildungen wie beispielsweise auf den Reliefvasen von Hüseyindede, İnandıktepe und Bitik oder auch den Steinreliefs von Alaca Höyük. Allerdings gibt der größte Teil der Texte und Bilder keinen Hinweis darauf, wo die betreffenden Kulthandlungen stattfanden. Immerhin sind der Innenhof, die Fenster und das Dach als Schauplätze von Ritualen belegt. Auch ist bekannt, dass die allerheiligsten Räume, die Adyta, nur von wenigen Priestern betreten werden durften, zu denen sicherlich der Herrscher gehörte. Die Handlungen umfassten Gesänge, Rezitationen und Anrufungen der Götter sowie Prozessionen, wobei ein Teil davon außerhalb des Tempels stattfand. Auch die Darbringung von Opfern für die Gottheiten war ein wichtiger Teil der heiligen Handlungen. Dazu gehörten die oft abgebildeten Tieropfer wie zum Beispiel von Stieren, Ziegen und Schafen, aber auch Trankopfer in Form von Libationen. In der Reliefreihe von Alaca Höyük ist ein Tempelbediensteter dargestellt, der Opfertiere zum Altar führt, auf dem Felsrelief von Fıraktın sind sowohl der Großkönig Ḫattušili III. als auch seine Gemahlin Puduḫepa zu sehen, die zum Trankopfer vor einem Altar eine Flüssigkeit in ein auf dem Boden stehendes Gefäß gießen. Auch die Opfer fanden vermutlich im Tempel ebenso wie im Freien statt. Die großen rituellen Feste wie das AN.TAḪ.ŠUM-Fest zum Neujahr im März, das Erntefest im Herbst und die monatlichen Rituale bei Vollmond waren mit Prozessionen, aber auch mit Musikanten, Tänzern und Gauklern verbunden. Letztere sind ebenfalls in Alaca Höyük abgebildet ebenso wie auf den Reliefvasen. Auf der Hüseyindedevase sieht man zum Beispiel die artistische Darbietung des Stiersprungs, aber auch Musikanten und Tänzer. Über den Ablauf der Kulthandlungen im Allerheiligsten ist naturgemäß weniger bekannt.
Die zu einheitlichen Terminen über das Jahr verteilten Festakte hatten neben der religiösen Bedeutung auch soziale und politische Funktionen. Zum einen strukturierten sie das Jahr und bildeten Mittelpunkte des gesellschaftlichen Lebens, bei denen sich jeweils große Mengen von Menschen trafen. Außerdem demonstrierte der König damit seine überlegene Stellung, zumal einige davon auch Reisefeste waren, bei denen der Herrscher, meist mit seiner Gemahlin, in festgelegter Reihenfolge verschiedene Städte des Großreichs besuchte und dort entsprechende Zeremonien abhielt.
Literatur
Otto Puchstein unter Mitwirkung von Heinrich Kohl und Daniel Krencker: Boghasköi – die Bauwerke (= Wissenschaftliche Veröffentlichungen der Deutschen Orient-Gesellschaft. Band 19). Hinrichs, Leipzig 1912, S. 93–135.
Kurt Bittel: Boğazköy IV – Funde aus den Grabungen 1967 und 1968 (= Abhandlungen der Deutschen Orient-Gesellschaft. Nummer 14). Gebr. Mann, Berlin 1969, S. 9–53.
Peter Neve: Der Große Tempel in Bogazköy-Hattusa. In: Le Temple et le Culte – Compte Rendu de la vingtième Rencontre Assyriologique Internationale. Nederlands Historisch-Archaeologisch Instituut te Istambul, Istanbul 1975, S. 73–79.
Kurt Bittel: Die Hethiter. Die Kunst Anatoliens vom Ende des 3. bis zum Anfang des 1. Jahrtausends vor Christus (= Universum der Kunst. Band 24). Beck, München 1976, ISBN 3-406-03024-6, S. 124–134.
Volkert Haas: Geschichte der hethitischen Religion (= Handbuch der Orientalistik. Band 1, 15). Brill, Leiden 1994, ISBN 90-04-09799-6, S. 624–626.
Peter Neve: Der Große Tempel (Tempel 1) in Boğazköy-Hattuša. In: Nürnberger Blätter zur Archäologie. Band 12, 1995/1996, S. 41–62.
Jürgen Seeher: Hattuscha-Führer. Ein Tag in der hethitischen Hauptstadt. 4., überarbeitete Auflage. Ege Yayınları, Istanbul 2011, ISBN 978-605-5607-57-9, S. 8–25.
Andreas Schachner: Hattuscha. Auf der Suche nach dem sagenhaften Großreich der Hethiter. Beck, München 2011, ISBN 978-3-406-60504-8, S. 182–202.
Andreas Schachner: The Great Temple at Ḫattuša – Some Preliminary Interpretations. In: Susanne Görke, Charles W. Steitler (Hrsg.): Cult, Temple, Sacred Spaces – Cult Practices and Cult Spaces in Hittite Anatolia and Neighbouring Cultures. Proceedings of the First International HFR Symposium, Mainz, 3–5 June 2019 (= Studien zu den Boǧazköy-Texten. Band 66). Harrassowitz, Wiesbaden 2020, ISBN 978-3-447-11486-8, S. 105–158.
Weblinks
Hittitemonuments.com – Boğazköy (Hattuša)
Einzelnachweise
Ḫattuša
Altorientalischer Fundplatz in der Türkei
Tempel in der Türkei
Geographie (Provinz Çorum)
Archäologischer Fundplatz (Bronzezeit)
Forschungsprojekt des Deutschen Archäologischen Instituts
Archäologischer Fundplatz in Asien |
1408 | https://de.wikipedia.org/wiki/Eiderente | Eiderente | Die Eiderente (Somateria mollissima) ist eine Vogelart, die zur Familie der Entenvögel (Anatidae) gehört. Es ist eine große, massig wirkende Meerente, die an der arktischen Küste des Atlantiks und des Pazifiks lebt. In Europa kommt sie vor allem in Skandinavien vor. Die Brutpopulation der Nordseeküste ist wesentlich kleiner. Im Sommer finden sich im Wattenmeer jedoch große Scharen nichtbrütender Eiderenten ein, denen sich im Spätsommer auch noch große Scharen an Mauservögeln hinzugesellen.
Die deutschsprachige Bezeichnung dieser Ente bürgerte sich durch den Daunenhandel ein. Sowohl die Bezeichnung für den Vogel als auch seine Federn (Eiderdaunen) sind dem isländischen æðr entlehnt. Im deutschen Sprachgebrauch wird sie gelegentlich auch als Eidergans oder St.-Cuthbertsente (s. Wappenvogel von Northumberland) bezeichnet. Die lateinische Artbezeichnung Somateria mollissima weist auf die weichen und wärmenden Daunen dieser Entenart hin. Somateria besteht aus zwei griechischen Wörtern. σόμα soma bedeutet „Körper“ und ἔριον érion bedeutet „Wolle“, während das lateinische Adjektiv mollissima „sehr weich“ bedeutet. Übersetzt bedeutet der wissenschaftliche Name „sehr weicher Wollkörper“.
Beschreibung
Die Eiderente ist mit einer Körperlänge von durchschnittlich 58 Zentimetern etwas größer als eine Stockente und erreicht durchschnittlich ein Körpergewicht von 2,2 Kilogramm. Die Länge kann von 60 bis 70 cm variieren, die Flügelspannweite von 95 bis 105 cm. Männchen werden bei dieser Entenart in der Regel älter, größer und schwerer als Weibchen. An Land wirkt die Ente plump und schwerfällig, sie ist jedoch ein guter Schwimmer und Taucher, der selbst mit starkem Seegang gut zurechtkommt. Aufgrund der hohen Schnabelwurzel, die direkt in die Stirn übergeht, wirkt der Kopf der Eiderente keilförmig. Sie ist dadurch von anderen Entenarten gut zu unterscheiden, da dieses Profil nur bei dieser Entenart vorkommt. Während des Fluges ist die Eiderente an ihrer kräftigen Gestalt, dem dicken und kurzen Hals sowie der auffallenden Kopfform deutlich zu erkennen.
Die Eiderente zeigt in der Gefiederfärbung einen deutlichen Geschlechtsdimorphismus. Das Brutkleid des männlichen Vogels, der wie bei allen Enten als Erpel bezeichnet wird, ist am Rücken und an der Brust überwiegend weiß. An der Brust ist das Gefieder leicht rosafarben überhaucht. Der Bauch, die Flanken, die Bürzelmitte, der Schwanz, die Ober- und Unterschwanzdecke sowie die Kopfoberseite sind schwarz gefiedert. Am Nacken ist das Gefieder dagegen hell moosgrün. Die Nackenfedern sind leicht verlängert, so dass sie eine kleine Holle bilden. Der Schnabel des Erpels ist beim Prachtkleid gelbgrün, ansonsten blaugrau bis grüngrau. Die äußeren Armschwingen sind schwarz, die inneren sind weiß und sichelförmig gebogen. Als Ruhekleid trägt das Männchen dagegen ein dunkelbraunes Gefieder, das stellenweise mit weißen Gefiederpartien durchsetzt ist. Die Bänderung des Gefieders ist allerdings etwas weniger auffällig als bei den Weibchen.
Das Weibchen trägt während des gesamten Jahres ein unauffällig dunkel- bis gelblichbraunes Gefieder, durch das sich am Körper dichte schwarze Gefiederbänder ziehen. Hals und Kopf sind dagegen stärker einfarbig braun. Das Gefieder hat dort nur eine feine, braunschwarze Strichelung. Sie ähnelt damit im Gefieder den Weibchen vieler anderer Entenarten, durch die auffällige Kopfform ist sie jedoch leicht als Eiderente identifizierbar. Der Schnabel der Eiderente ist beim Erpel grünlich gefärbt, der der weiblichen Eiderente ist dunkelgrün. Die Schnabelspitze ist heller und weist eine breite und verhornte Spitze auf. Die Augenfarbe ist bei beiden Geschlechtern braun.
Jungvögel beider Geschlechter gleichen in ihrer Gefiederfärbung den Weibchen. Sie sind jedoch etwas dunkler in ihrer Gefiederfarbe und weniger stark gebändert. Junge Erpel tragen das voll ausgebildete Prachtkleid des Männchens erst im dritten oder vierten Lebensjahr. Bereits im Prachtkleid des zweiten Lebensjahres zeigen sie jedoch deutlich die Schwarz-Weiß-Kontrastierung, wie sie für adulte Erpel typisch ist. Zu diesem Zeitpunkt finden sich im Kopf- und Halsbereich noch Federn mit gelbbraunem Rand. Teile des Rückengefieders sind noch schwarzbraun.
Verbreitung und Bestand
Die Eiderente kommt entlang der nördlichen Küsten von Europa, Nordamerika und Ostsibirien vor. Sie brütet von der Arktis bis in die gemäßigten Klimazonen, in Europa nach Süden etwa bis zum Wattenmeer und ins nordwestliche Frankreich. An der nordamerikanischen Atlantikküste reicht das Brutgebiet bis nach Maine, am Pazifik bis nach Südalaska. Der Schwerpunkt des Brutgebietes der Eiderenten liegt auf Island, wo etwa 450.000 Paare brüten, sowie an der Ostsee, wo sich bis zu 600.000 Paare zur Brut versammeln. Als Brutplätze nutzt die Eiderente kleine vegetationslose Felseninseln und Schären, bewachsene oder bewaldete Inseln, geschützte und ruhige Meeresbuchten mit flachen Ufern. Der nordamerikanische Bestand wird auf 750.000 bis 1 Million Paare geschätzt. Die IUCN schätzt den Gesamtbestand der Eiderente auf 2,5 bis 3,6 Millionen Tiere und stuft die Art als „nicht gefährdet“ (least concern) ein.
Vögel aus den nördlichsten Brutgebieten, etwa aus Spitzbergen, ziehen zum Überwintern in die gemäßigten Breiten, wo sie in geeigneten Küstengewässern große Trupps bilden können. Sie überwintern damit in den südlicheren Regionen des Verbreitungsgebiets dieses Vogels. Die südlichen Populationen sind dagegen weitgehend Standvögel.
Im Winter taucht die Eiderente regelmäßig in geringer Zahl auch in großer Entfernung zum Meer an den größeren Alpenseen auf. Seit den 70er Jahren übersommern hier immer wieder einige Vögel. Am Zeller See im Land Salzburg gelang 1972 sogar ein Brutnachweis. Auch in der Schweiz ist die Eiderente in Ausnahmefällen ein Brutvogel. 1988 brütete die Eiderente erstmals am Zürichsee, in den Folgejahren kam es auch zu weiteren Bruten am Neuenburger-, Vierwaldstätter- und Walensee.
Lebensweise und Ernährung
Die gesellig lebende Eiderente gehört zu den tagaktiven Enten mit ausgeprägter Tauchfähigkeit. Sie lebt überwiegend von Muscheln bis zu einer Größe von 40 Millimetern und frisst außerdem Schnecken, Krebstierchen sowie – im Gegensatz zu anderen Entenarten – Fische. An der Nordseeküste nutzt sie vor allem die Miesmuschelbänke. Im Binnenland frisst die Eiderente außerdem die eingebürgerten Dreikantmuscheln. Pflanzliche Nahrung spielt bei dieser Ente keine große Rolle. Allerdings frisst das Weibchen während der Brutzeit auch Vegetabilien und nimmt dabei besonders die Pflanzen auf, die in der Nähe des Nestes wachsen.
Muscheln erbeutet die Eiderente, indem sie entweder den Wattboden absucht oder sie im Wasser ertaucht. Mit Hilfe ihres kräftigen Schnabels ist sie in der Lage, Muscheln von ihrer Unterlage abzureißen oder nach ihnen im Wattboden zu graben. Angespülter Seetang wird von ihr gleichfalls nach Wasserinsekten, Muscheln und Schnecken abgesucht. Die Eiderente taucht gewöhnlich nach Muscheln bis zu einer Gewässertiefe von sechs Metern und bleibt etwas mehr als eine Minute unter Wasser. Unter Wasser nutzt sie dabei ihre Flügel zur Fortbewegung. Einzelne Beobachtungen sprechen davon, dass die Eiderente auch wesentlich tiefere Meeresböden erreichen kann. Tauchgänge in Tiefen bis zu 50 Meter wurden bereits beobachtet.
Die Muscheln werden mit den Schalen gefressen. Im starken Kaumagen der Eiderente werden sie geknackt; die Schalentrümmer scheidet die Ente anschließend als Speiballen aus. Das mit der Nahrung aufgenommene Salz wird über Salzdrüsen in der Stirn wieder abgegeben. Die Eiderente nutzt die Gezeitenwechsel gezielt aus, um auch solche Meeresregionen nach Nahrung abzusuchen, die für sie bei Flut nicht erreichbar wären.
Fortpflanzung
Balzverhalten
Die Weibchen der Eiderente erreichen ihre Geschlechtsreife bereits in ihrem zweiten Lebensjahr. Nur ein Teil der zweijährigen Weibchen kommt allerdings auch schon zur Brut. Die Erpel dagegen beteiligen sich an der Balz erst in ihrem dritten Lebensjahr. Erst dann ist bei ihnen das Gefieder der erwachsenen Erpel weitgehend ausgebildet. Die Erpel beginnen mit ihrer Balz im Dezember. Erst im Spätwinter beteiligen sich auch die Weibchen daran. Es handelt sich um eine Gesellschaftsbalz, bei der sich bis zu 10 Männchen in der Nähe eines Weibchens versammeln. Junge, noch nicht geschlechtsreife Erpel halten sich häufig in der Nähe solcher balzenden Erpel auf und zeigen auch bereits erstes Balzverhalten.
Während der Balz ruft das Männchen ein weiches, dumpfes zwei- bis dreisilbiges ahoo oder hu-huúuu, das über das Watt oder die Wasserflächen sehr weit zu hören ist. Junge Männchen beherrschen diesen Ruf noch nicht. Ihr Ruf klingt heiserer und ist lautmalerisch mit gro-gro-ó umschrieben. Das Weibchen antwortet auf die Balzrufe des Männchens mit gockelndem goggoggoggog und knarrendem krrr.
Der Erpel zeigt während der Balzrufe eine charakteristische Körperbewegung, die gelegentlich auch als „eine Verbeugung nach hinten“ beschrieben wird.
Dabei legt der Erpel seinen Kopf weit in den Nacken und wölbt die Brust vor. Gewöhnlich umwerben mehrere Männchen ein Weibchen. Zu den typischen Balzhaltungen der Erpel gehören ein Imponierschwimmen, bei dem der Kopf langsam von rechts nach links gedreht wird, sowie das Strecken des Körpers aus dem Wasser, bei dem die Flügel nach hinten weggespreizt werden.
Seine Paarungsbereitschaft signalisiert das Weibchen, indem es sich flach auf das Wasser legt. Zur Paarung schwimmt der Erpel auf die Ente, drückt sie dabei fast völlig unter Wasser und beißt ihr mit dem Schnabel in den Nacken. Die Paarung selbst dauert nur wenige Sekunden.
Bei der Ankunft im Brutgebiet ist die Mehrzahl der Weibchen verpaart. Eine Paarbindung besteht in der Regel nur für ein Jahr. Die ortstreuen Weibchen verpaaren sich aber gelegentlich mit dem gleichen Erpel im nächsten Jahr erneut, wenn dieser in dasselbe Revier zurückkehrt.
Brut
Eiderenten brüten einzeln oder in kleinen Gruppen. Häufig befinden sich in den Brutgebieten aber auch größere Kolonien. Kolonien von bis zu 1.000 Paaren kommen beispielsweise auf Island vor. An geeigneten Plätzen können sich zwei bis drei Nester je Quadratmeter befinden. Eiderenten meiden Steilufer, schroffe Felsen und windexponierte Stellen. Steigt das Ufer sanft an, befinden sich die Kolonien mitunter mehrere hundert Meter von der Küstenlinie entfernt, so dass die Nester auch bei Hochwasser nicht vom Wasser erreicht werden.
Der Neststandort ist abhängig von den jeweiligen örtlichen Gegebenheiten. Auf vegetationslosen Brutplätzen errichtet das Weibchen das Nest zwischen dem Geröll. Das Nest ist dann nicht mehr als eine flache Mulde, die aber windgeschützt liegt. Ist eine krautige Vegetation oder Gebüsch vorhanden, liegen die Nester in ihrem Schutz. Gelegentlich nutzt das Weibchen auch alte Möwennester als Nistplatz. Auf bewaldeten Inseln errichten die Eiderenten ihre Nester auch im Schutz von Bäumen. Eiderenten nutzen regelmäßig ihre alten Brutplätze wieder, was die Vegetation in ihrem Brutgebiet beeinflusst. Bedingt durch den abgesetzten Entenkot sind die Stellen um die Nester krautig oder mit Zwergsträuchern bewachsen.
Die Brutzeit liegt je nach Region und Wetterbedingungen im Zeitraum von Anfang April bis Mitte Mai. Das Weibchen legt in der Regel vier bis sechs grünlich-graue Eier in die mit Bauchdaunen ausgepolsterte Nistmulde. Das Legeintervall beträgt 24 Stunden. Sind mehr als neun Eier im Nest, handelt es sich in der Regel um Mehrfachgelege, die bei Eiderenten wie bei anderen in Kolonien brütenden Enten und Halbgänsen häufig vorkommen. Verlässt das Weibchen während der Brut die Eier, bedeckt es diese mit Daunen, um den Wärmeverlust zu vermindern. Durch Störungen aufgeschreckte Weibchen spritzen beim Auffliegen Kot über die Eier. Die Eier werden 25 bis 26 Tage ausschließlich durch das Weibchen bebrütet, das während dieser Zeit fastet. Das Männchen hält sich unterdessen in der Nähe des Nestes auf. Es schränkt in dieser Zeit sogar die Nahrungsaufnahme ein, so dass die Erpel an Körpergewicht verlieren. Ist die Brut jedoch hinreichend weit fortgeschritten, wandern die Männchen zu den Mauserplätzen ab.
Die Jungvögel werden nach dem Schlüpfen von dem Weibchen geführt. Auf dem Meer schwimmend betreut das Weibchen die Jungvögel bis in den Spätsommer hinein. Diese Führungszeit beträgt etwa 65 bis 75 Tage. Während dieser Führungszeit kommt es häufig zur Vergesellschaftung mit mehreren Familien, die sich wieder auflösen, sobald die Jungvögel flugfähig sind.
Zugverhalten
Eiderenten sind verhältnismäßig standorttreue Tiere, die zum Teil in ihren Brutrevieren auch überwintern. Der überwiegende Teil der Population nutzt allerdings separate Mauser- und Überwinterungsquartiere, wobei überwiegend nur kurze Strecken gezogen werden.
Zur Mauser ziehen die Vögel nach der Brut in ihre Mauserquartiere, viele Vögel sind dann beispielsweise im Wattenmeer anzutreffen. Dabei bevorzugen die dann nur eingeschränkt flugfähigen Eiderenten Gebiete, in denen sie weitgehend ungestört sind. Ein Habitat ist die unbewohnte Insel Trischen vor der Küste von Dithmarschen, wo ca. 9.500 Eiderenten, die von der Ostsee her stammen, eine Vollmauser durchführen. Das bedeutet, dass sie neben dem Körpergefieder auch ihr Großgefieder erneuern. Die Großgefiedermauser setzt nach der Mauser des Körpergefieders ein und umfasst Schwung- und Steuerfedern, was dazu führt, dass die Eiderente zunächst eine Zeitlang flugunfähig ist. In dieser Zeit ist sie möglichen Feinden eine leichte Beute, so dass sie sichere Plätze mit guter Nahrungsgrundlage benötigt, um diese kritische Phase zu überstehen. Dies ist z. B. auf Trischen gegeben. Ihre Fluchtdistanz gegenüber Menschen erhöht sich in dieser Zeit von normalerweise 100 bis 300 Meter auf 500 bis 1.000 Meter. Der Mauserzug ist daher dadurch bedingt, dass sie große Ruhezonen benötigen. Küstenbereiche, in denen sie sich sonst aufhalten, die ihnen aber nicht ausreichend Rückzugsmöglichkeiten bieten, werden während dieser Zeit von den Eiderenten gemieden.
Mittlerweile nutzen die Eiderenten auch einige größere Alpenseen als Quartier für ihre Mauser. So sind Eiderenten während dieser Zeit beispielsweise auch am Bodensee zu beobachten, wo sich bis zu hundert Vögel versammeln. Gelegentlich dienen die Mauserquartiere auch als Überwinterungsort – so beispielsweise im Wattenmeer. Gelegentlich suchen sie aber ab Oktober bis November separate Überwinterungsquartiere auf, von denen sie ab Februar bis März in Richtung ihrer Brutgebiete zurückkehren. Die auf Island und Spitzbergen brütenden Vögel erreichen ihre Brutplätze in den Monaten April bis Mai.
Fressfeinde und andere natürliche Todesursachen
In den nördlichsten Regionen ihres Verbreitungsgebietes zählen die Schneeeule und der Polarfuchs zu den Fressfeinden der Eiderente. In den südlicheren Verbreitungsgebieten gehören der Uhu, der Seeadler und der Rotfuchs zu den Arten, die in der Lage sind, die schwere Ente zu erlegen.
Küken und Eier sind außerdem durch Möwen sowie verschiedene Rabenvögel (beispielsweise Raben- und Nebelkrähe sowie Kolkrabe) bedroht. Gefährdet sind die Jungvögel jedoch auch durch den Befall mit Parasiten, von denen einige sich auf die Eiderente als Zwischenwirt spezialisiert haben. Viele der Jungvögel leiden beispielsweise an Saugwürmern, die zu einer Schwächung der Jungvögel und gelegentlich zu ihrem Tod führen. Zu einem Massensterben von Eiderenten kann es außerdem kommen, wenn in strengen Wintern die Meeresküsten vereisen und die Eiderenten nicht mehr in der Lage sind, die Muscheln auf dem Meeresboden zu erreichen.
Unterarten
In dem großen Verbreitungsgebiet der Eiderente werden sechs Unterarten unterschieden, wobei Übergangs- und Mischpopulationen die genaue Abgrenzung der Unterarten schwierig machen:
Somateria mollissima mollissima ist die Nominatform und hat ihr Brutgebiet in Nordwesteuropa.
S. m. faeroeensis ist die kleinste Unterart der Eiderente und nur auf den Färöer-Inseln zu finden. Das Weibchen dieser Unterart ist etwas dunkler gefärbt.
S. m. borealis ist die Unterart, bei der das Männchen einen orangegelben Schnabel hat und das Gefieder des Weibchens mehr rötlich-braun gefärbt ist. Diese Unterart ist vor allem im arktischen Nordatlantik zu finden.
S. m. dresseri unterscheidet sich von den anderen Unterarten durch eine vorne breite und abgerundete Schnabelspitze. Diese Unterart lebt in der Region von Labrador bis Maine.
S. m. sedentaria lebt in der Hudson Bay; das Weibchen fällt durch ein eher graubraunes Gefieder auf.
S. m. v-nigrum ist in der nordpazifischen Region von den Neusibirischen Inseln bis in das arktische Kanada zu finden. Es handelt sich um die größte Unterart, bei der ausgewachsene Erpel an Kinn und Kehle ein breites, schwarzes V-Abzeichen haben.
Mensch und Eiderente
Jagd und sonstige Beeinflussung durch den Menschen
Die Jagd auf die Eiderente ist in den skandinavischen Ländern bis auf Island sowie in Russland erlaubt. Sie wird dort zum Teil sehr stark bejagt. In Norwegen sind die großen Brutgebiete der Eiderente allerdings inzwischen geschützt. Auf Island wurde sie 1786 teilweise und seit 1847 völlig geschützt.
Neben der Jagd kommt es auch zu Verlusten von Gelegen und Küken, wenn Eiderenten durch Menschen gestört werden. Dies trifft vor allem auf die Küstenabschnitte zu, die stark touristisch genutzt werden. Eiderenten leiden außerdem an der Verschmutzung der Meere durch Pestizide. Die Niederlande wurden beispielsweise ab dem Jahre 1925 von Eiderenten besiedelt. Der Bestand wuchs relativ schnell auf 6.000 Individuen, brach jedoch dann auf Grund von Pestizidbelastungen stark ein. Bei Ölunfällen gehört sie zu den Arten, die aufgrund der Verschmutzung des Gefieders und dem Entzug der Nahrungsgrundlage in großer Anzahl sterben. Im Jahre 1970 kamen im Kattegat beispielsweise nach einem Ölunfall 30.000 Eiderenten ums Leben.
Wappenvogel von Northumberland
Eine der bekanntesten Kolonien von Eiderenten befindet sich auf den Farne-Inseln vor Northumberland, Großbritannien. Die dort brütenden Vögel waren Gegenstand eines der ältesten Vogelschutzgesetze der Welt, das der Heilige Cuthbert im Jahre 676 n. Chr. erließ, daher rührt auch der Name St.-Cuthberts Ente. Heute brüten noch etwa 1.000 Entenpaare auf diesen Inseln. Da der Heilige Cuthbert der Schutzpatron von Northumberland ist, wurde die Eiderente zum Wappentier dieses Landkreises. Eiderenten werden dort gelegentlich auch Cuddy’s ducks genannt, da Cuddy der Kosename für Cuthbert ist.
Wirtschaftliche Nutzung
Die Eiderente ist der Lieferant der Eiderenten-Daune, die eine hohe Wärmespeicherkapazität besitzt. Eiderdaunen galten über lange Zeit als das beste Material, das für die Füllung von Bettdecken verwendet werden konnte. Eine gezielte kommerzielle Ausbeute dieser Eiderdaunen begann bereits vor dem 10. Jahrhundert.
Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts stellten Eiderdaunen eines der wichtigsten Exportartikel Islands dar. Auch heute kommt dort der Eiderente aufgrund dieser Daunen eine größere wirtschaftliche Bedeutung zu. Mit den weichen und warmen Daunen werden Kissen und Bettdecken gefüllt. Die Ernte dieser Daunen ist dabei durchaus mit dem Artenschutz verträglich, da normalerweise die Federn verwendet werden, mit denen Eiderenten ihre Nester auspolstern und diese Federn geerntet werden können, nachdem die jungen Enten das Nest verlassen haben. Ein Daunennest wiegt im Schnitt nur rund 20 Gramm. Die Reinigung der Daunen von Pflanzenteilen ist eine zeitintensive Arbeit, die Stunden in Anspruch nimmt. Nur etwa 1,5 Gramm verwendbarer Daunen pro Nest bleiben nach diesem Reinigungsprozess über, so dass etwa die Ernte von 700 Nestern gebraucht wird, um ein Kilogramm handelbarer Eiderdaunen zu erhalten. In einer Dokumentation des Senders Arte aus dem Jahr 2019 wird jedoch gezeigt, dass die Ernte der Daunennester auf Island bereits während der Brutzeit erfolgt, durch Austausch mit Stroh.
Haltung von Eiderenten
Eiderenten werden aufgrund des attraktiven Brutkleides der Männchen zunehmend in Gehegen gehalten. Es sind friedfertige Vögel, die sich gut mit anderen Wasservögeln vertragen. Für ihr Wohlbefinden brauchen diese Enten jedoch hinreichend tiefe Teiche mit sauberem Wasser.
Weiteres
Der Asteroid des äußeren Hauptgürtels (8756) Mollissima ist nach der Eiderente benannt (wissenschaftlicher Name Somateria mollissima). Zum Zeitpunkt der Benennung des Asteroiden am 2. Februar 1999 befand sich die Eiderente auf der niederländischen Roten Liste gefährdeter Arten.
Literatur
Franz Robiller: Lexikon der Vogelhaltung. Landbuch, Hannover 1986, ISBN 3-7842-0322-1.
Eckart Pott: Vögel am Meer. Landbuch, Hannover 1987. ISBN 3-7842-0364-7
Steve Madge: Wassergeflügel. Ein Bestimmungsbuch der Schwäne, Gänse und Enten der Welt. Paul Parey, Hamburg und Berlin 1989, ISBN 3-490-19018-1.
Tom Bartlett: Ducks and Geese – A Guide to Management. Crowood, Marlborough 1986, 2002. ISBN 1-85223-650-7
John Gooders und Trevor Boyer: Ducks of Britain and the Northern Hemisphere, Dragon’s World Ltd, Surrey 1986, ISBN 1-85028-022-3
Hartmut Kolbe: Die Entenvögel der Welt. Ulmer, Stuttgart 1999. ISBN 3-8001-7442-1
Erich Rutschke: Die Wildenten Europas – Biologie, Ökologie, Verhalten, Aula Verlag, Wiesbaden 1988, ISBN 3-89104-449-6
Richard Sale: A Complete Guide to Arctic Wildlife, Verlag Christopher Helm, London 2006, ISBN 0-7136-7039-8
Weblinks
Federn der Eiderente
Einzelnachweise
Meerenten und Säger
Vogel als Namensgeber für einen Asteroiden |
1609 | https://de.wikipedia.org/wiki/Fr%C3%BChmittelalter | Frühmittelalter | Frühmittelalter oder frühes Mittelalter ist eine moderne Bezeichnung für den ersten der drei großen Abschnitte des Mittelalters, bezogen auf Europa und den Mittelmeerraum für die Zeit von etwa Mitte des 6. Jahrhunderts bis ca. 1050. Dem Frühmittelalter geht die Spätantike (ca. 300 bis 600/700) voran, eine Transformationszeit, die sich teils mit dem beginnenden Frühmittelalter überschneidet. Auf das Frühmittelalter folgen das Hoch- und das Spätmittelalter.
Das Frühmittelalter ist als Übergang von der Antike zum Mittelalter sowie als eigenständige Epoche von Bedeutung. Beginn und Ende werden in der historischen Forschung unterschiedlich datiert, so dass verschieden breite Übergangszeiträume betrachtet werden. Entgegen der älteren Deutung als „dunkle“ oder „rückständige“ Epoche wird das Frühmittelalter in der modernen Forschung wesentlich differenzierter betrachtet. Es ist sowohl von Kontinuitäten als auch vom Wandel im politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Bereich gekennzeichnet, was Auswirkungen bis in die Moderne hat. So begann die fortdauernde Teilung Europas und des Mittelmeerraums in einen christlichen und einen islamischen Teil sowie des christlichen Teils in einen lateinischen und einen orthodoxen, der den Kulturkreis von Byzanz umfasste. Mehrere der im Frühmittelalter entstandenen Reiche bildeten außerdem die Grundlage für heute noch existierende Staaten.
Der Beginn des Frühmittelalters ist mit der sogenannten Völkerwanderung verknüpft, in deren Verlauf das weströmische Kaisertum 476 unterging. Die römischen Verwaltungsstrukturen im Westen verschwanden nur langsam, auf dem Boden des Westreiches entstanden neue germanisch-romanische Reiche. Das von den Merowingern im späten 5. Jahrhundert gegründete Frankenreich entwickelte sich zum bedeutendsten Nachfolgereich im Westen. Im Osten behauptete sich hingegen Ostrom, das im 6. Jahrhundert sogar einige verlorene Territorien im Westen zurückerobern konnte. Allerdings gingen große Teile der eroberten Gebiete bald wieder verloren. Ostrom bzw. Byzanz befand sich zudem bis ins frühe 7. Jahrhundert im Abwehrkampf gegen die persischen Sāsāniden. Im 7./8. Jahrhundert veränderte sich infolge der arabischen Eroberungen die politische Ordnung im Mittelmeerraum grundlegend. Dies bedeutete das endgültige Ende der Antike. Der ehemals byzantinisch kontrollierte Raum im Vorderen Orient und in Nordafrika wurde von den muslimischen Arabern besetzt und langsam islamisiert. Auch auf der Iberischen Halbinsel und auf Sizilien hielten sich längere Zeit islamische Herrschaften. Im Osten eroberten die Araber Persien und drangen bis nach Zentralasien vor.
Im 8. Jahrhundert übernahmen im Frankenreich die Karolinger die Herrschaft. Unter ihnen entwickelte sich das Frankenreich zur Hegemonialmacht im Westen. Damit verbunden war eine Verlagerung des politischen Schwerpunkts vom Mittelmeerraum nach West- und Mitteleuropa und eine neue Phase der „staatlichen Ordnung“ in Europa. Unter Karl dem Großen, der im Jahr 800 an das westliche Kaisertum anknüpfte, umfasste das Frankenreich den Kernteil der lateinischen Christenheit vom Norden Spaniens bis in den rechtsrheinischen Raum und nach Mittelitalien. Aus dem im 9. Jahrhundert zerfallenden Karolingerreich entstanden das Westfrankenreich und das Ostfrankenreich, aus denen sich später Frankreich und Deutschland entwickelten. In Ostfranken stiegen im 10. Jahrhundert die Liudolfinger auf, erlangten die westliche Kaiserwürde und legten die Grundlage für das römisch-deutsche Reich, das auch Reichsitalien umfasste. Frankreich und England entwickelten sich schließlich zu territorial geschlossenen Herrschaftsräumen. Politisch waren das 10. und 11. Jahrhundert in den karolingischen Nachfolgereichen, auf der Iberischen Halbinsel und in England eine Konsolidierungsphase; es vollzog sich der Übergang ins Hochmittelalter. Im Norden begann im 8. Jahrhundert die bis ins 11. Jahrhundert andauernde Wikingerzeit. In Osteuropa entstanden ab dem 7. Jahrhundert Herrschaftsgebiete der Slawen, teils auf Stammesbasis, teils in Form von Reichsbildungen.
Byzanz konnte sich nach schweren Abwehrkämpfen behaupten und überwand auch den Bilderstreit im 8./9. Jahrhundert. Im 10./11. Jahrhundert stieg Byzanz wieder zur Großmacht im östlichen Mittelmeerraum auf. Dagegen wurde das arabische Kalifat wiederholt von inneren Kämpfen geschwächt. Die seit 661 herrschende Dynastie der Umayyaden wurde 750 von den Abbasiden gestürzt. Unter ihnen erlebte das Kalifat eine kulturelle Blüte, musste aber auch die Abspaltung von Teilgebieten hinnehmen. In Bezug auf staatliche Institutionen und die darauf beruhende Organisation komplexerer Aufgaben waren Byzanz und das Kalifat den schwächeren Monarchien im Westen lange Zeit überlegen. Ebenso war die dortige Wirtschaftskraft und vor allem das kulturelle Milieu ausgeprägter, zumal dort mehr vom antiken Kulturgut und der Wissenschaftstradition erhalten blieb.
Im lateinischen Europa etablierte sich im Frühmittelalter eine neue Gesellschaftsordnung mit dem Adel und der hohen Geistlichkeit als den führenden Schichten. Eine wichtige Rolle spielte dabei die Grundherrschaft. Nach einer Phase des Niedergangs blühte die Kultur in Westeuropa im Zuge der karolingischen Bildungsreform im späten 8. und frühen 9. Jahrhundert spürbar auf, bevor es wieder zu einem zeitweiligen Rückgang kam. Bildung blieb ganz überwiegend auf die Geistlichkeit beschränkt. Wirtschaftlich begann nach einem Einbruch im 7./8. Jahrhundert wieder eine Phase des Aufschwungs, an dem die Städte Anteil hatten, wenngleich das Frühmittelalter wirtschaftlich überwiegend agrarisch geprägt war.
Im religiösen Bereich wurde im Inneren Europas die Christianisierung der paganen Gebiete vorangetrieben. Dieser langsame Prozess zog sich teilweise bis ins Hochmittelalter hin, erweiterte den christlichen Kulturkreis aber erheblich nach Nord- und Osteuropa. Das zunächst politisch nicht relevante Papsttum und das Mönchtum gewannen zunehmend an Bedeutung. Die Kirche spielte im kulturellen Bereich ebenfalls eine wichtige Rolle. Mit dem Islam entstand zu Beginn des 7. Jahrhunderts eine neue große monotheistische Religion.
Begriff und zeitliche Abgrenzung
Das Mittelalter wird oft mit dem Jahrtausend von etwa 600 bis etwa 1500 gleichgesetzt. Der Begriff bezieht sich in erster Linie auf Europa sowie den Mittelmeerraum als Kulturbereich und lässt sich daher nur bedingt auf die außereuropäische Geschichte anwenden, wenngleich in der historischen Forschung auch bezüglich der Kulturräume Indien, China und Japan spezifische historische Perioden als das jeweilige Mittelalter bezeichnet werden. Relevant ist der Begriff Mittelalter vor allem für den christlich-lateinisch geprägten Teil Europas, da es dort in der Spätantike zu einem politischen und kulturellen Einschnitt kam. Aber auch der byzantinisch-griechische und islamisch-arabische Raum sind für das Verständnis des Mittelalters wesentlich, da alle drei Räume in einer wechselseitigen Beziehung standen.
Die Geschichtswissenschaft diskutiert noch immer darüber, wie man das Frühmittelalter zeitlich zur Spätantike und zum Hochmittelalter abgrenzt. Mit dem Ende der Antike und dem Anfang des Frühmittelalters setzte eine Zeit ein, die in der älteren Forschung oft als eher „dunkle Periode“ betrachtet wurde. Dies begann bereits mit dem Aufkommen des Begriffs „Mittelalter“ (medium aevum) im Humanismus und festigte sich endgültig mit dem Geschichtsmodell der Aufklärung im 18. Jahrhundert, in der diese Form der Periodisierung vorherrschend wurde und Geschichtsabläufe in einem bestimmten Sinne (einer „mittleren Zeit“ zwischen Antike und Neuzeit) gedeutet wurden. Damit wurde von vornherein eine gewollte Abwertung vorgenommen. Speziell das Frühmittelalter galt im Vergleich zur Antike und der Renaissance als „finstere Epoche“. Dieses Geschichtsbild war noch bis ins 20. Jahrhundert prägend. In der modernen Forschung wird jedoch auf die Problematik solch pauschaler Urteile hingewiesen und für eine differenziertere Betrachtung plädiert.
Für den Beginn des Frühmittelalters sind aus unterschiedlichen Perspektiven verschiedene Zeitpunkte und Ereignisse vorgeschlagen worden:
306–337: Herrschaft Konstantins, konstantinische Wende in der Religionspolitik
um 375: Die Hunnen fallen in Ostmitteleuropa ein; dies gilt als Beginn der Völkerwanderung und der dadurch bedingten Umgestaltung West- und Mitteleuropas.
476: Der letzte weströmische Kaiser, Romulus Augustulus, wird von Odoaker abgesetzt.
486/87: Der merowingische König Chlodwig I. besiegt Syagrius, den letzten Repräsentanten der römischen Herrschaft in Gallien.
529: Benedikt von Nursia gründet die Abtei Montecassino in Süditalien, die zur Wiege des mittelalterlichen Mönchtums wird. Im gleichen Jahr verbietet der oströmische Kaiser Justinian die Platonische Akademie in Athen.
565: Justinian, dessen Truppen weite Gebiete im Westen zurückerobert haben, stirbt.
568: Mit dem Einfall der Langobarden in Italien erfolgt die Gründung des letzten für das Frühmittelalter bedeutenden Nachfolgereiches auf römischem Boden.
632: Die Ausbreitung des Islams beginnt.
Die frühen Datierungen werden in der neueren Forschung nicht mehr vertreten. Vielmehr betrachtet man nun den Zeitraum von ca. 500 bis ca. 700 als fließende Übergangszeit von der Spätantike ins frühe Mittelalter mit Überschneidungen. Dabei wird berücksichtigt, dass dieser Prozess regional sehr unterschiedlich verlief und (unterschiedlich stark ausgeprägt) antike Elemente erhalten blieben. Oft wird von Frühmittelalterhistorikern auch die Entwicklung in der Spätantike ab dem 4. Jahrhundert in die Betrachtung einbezogen, soweit in dieser Phase wichtige Voraussetzungen für die spätere Entwicklung Westeuropas geschaffen wurden. Denn die Spätantike war eine Übergangszeit, die einzelne Wesenszüge des Mittelalters vorwegnahm, so insbesondere die Christianisierung von Staat und Gesellschaft. Während die ältere, am Klassizismus orientierte Forschung einen Bruch zwischen der als vorbildlich geltenden griechisch-römischen Antike und dem vermeintlich „finsteren“ Mittelalter betonte („Katastrophentheorie“), werden in der heutigen Forschung daher die Aspekte der Kontinuität herausgearbeitet und stärker gewichtet. Die Vielzahl von aktuellen Publikationen zeigt den deutlichen Anstieg des Forschungsinteresses an der Übergangszeit von der Spätantike ins Frühmittelalter, wobei die Forschungsansätze stark variieren.
In der neueren Forschung wird das Geschehen im eurasischen Raum im ersten Jahrtausend – die Entstehung des spätrömischen Reiches mit all den damit verbundenen Umbrüchen, die „Völkerwanderung“, die Auseinandersetzungen mit Persien, die Entstehung der islamischen Welt und der romanisch-germanischen Welt im Westen des ehemaligen Imperiums – zunehmend im zeitlichen und räumlichen Zusammenhang betrachtet. In diesem Zusammenhang entstand ein als long Late Antiquity bezeichnetes Modell der Zeit vom 3. bis 9. Jahrhundert, das von einer Minderheit in der Forschung vertreten wird. Unbestritten ist inzwischen, dass Spätantike und Frühmittelalter nicht als starre chronologische Gebilde begriffen werden dürfen und vielmehr regional unterschiedliche Übergangszeiträume zu berücksichtigen sind. In der neueren Forschung wird das frühmittelalterliche Europa verstärkt nicht mehr isoliert betrachtet, sondern ist eingebettet in einen globalgeschichtlichen Kontext.
Auch das Ende des Frühmittelalters und der Beginn des Hochmittelalters wird an keinem einzelnen Datum festgemacht. Als Eckpunkte gelten etwa der endgültige Zerfall des Karolingerreiches und die Bildung der Nachfolgereiche um und nach 900, die Adaptierung der weströmischen Reichsidee durch Kaiser Otto I. 962 (einschließlich der folgenden Entwicklung, die vom Ostfrankenreich zum später so genannten Heiligen Römischen Reich führte), das Ende des ottonischen Kaiserhauses (1024) oder allgemein die Zeit um 1050. Die Gliederungsansätze in der deutschsprachigen Forschung sind vor allem an der mitteleuropäischen Dynastiegeschichte orientiert; in der englischen, französischen und italienischen Forschung stehen andere Gesichtspunkte im Vordergrund. Dies hängt mit den unterschiedlichen Wissenschaftstraditionen zusammen. So gilt zum Beispiel in Großbritannien die Eroberung Englands durch die Normannen im Jahr 1066 als Zäsur. Aus byzantinistischer Sicht sind das Jahr 1054, mit dem das Morgenländische Schisma zwischen Rom und Konstantinopel begann, und die Eroberung Anatoliens durch türkische Nomaden ab 1071 wichtige Einschnitte. Die Datierungsansätze variieren daher in der Fachliteratur, auch in den „europäisch“ ausgerichteten Überblicksdarstellungen, zwischen ca. 900 und der Mitte des 11. Jahrhunderts.
Politische Geschichte
Voraussetzungen: Rom in der Spätantike
Auch nach dem Erlöschen des weströmischen Kaisertums im Jahr 476 war das römische Erbe im Mittelalter weiterhin von Bedeutung. Latein blieb die zentrale Verkehrs- und Gelehrtensprache, römische Ämter existierten noch lange nach dem Ende Westroms in den germanisch-romanischen Nachfolgereichen fort. Viele Zeitgenossen nahmen 476 daher nicht als Einschnitt wahr. Materielle Hinterlassenschaften waren allgegenwärtig und wurden teils ebenfalls weiterhin genutzt. Die in Konstantinopel residierenden Kaiser des Ostreichs wurden in den meisten Regionen des Westens noch das ganze 6. Jahrhundert hindurch als Oberherr anerkannt (wenngleich meist ohne praktische Konsequenzen). Denn die Idee des römischen Imperiums prägte nachhaltig das gelehrte Denken: Da die Kirchenväter gelehrt hatten, das Römische Reich sei das letzte vor dem Weltende, folgerten viele christliche Autoren hieraus im Umkehrschluss, dass das Imperium Romanum weiterhin bestehe. Dieses Reich allerdings wandelte sich bereits lange vor 476 in vielerlei Hinsicht, und diese Tendenzen setzten sich nun nach dem Wegfall der kaiserlichen Zentralgewalt fort.
Das Römische Reich durchlief in der Spätantike einen Transformationsprozess, der lange mit Dekadenz bzw. Verfall gleichgesetzt wurde und erst in der modernen Forschung differenzierter analysiert worden ist. An die Reformen Kaiser Diokletians anknüpfend organisierte Konstantin der Große Verwaltung und Heer zu Beginn des 4. Jahrhunderts weitgehend neu. Noch folgenreicher war die von Konstantin betriebene religionspolitische Wende, die oft als konstantinische Wende bezeichnet wird, vor allem die nach 312 deutliche Privilegierung des Christentums. Die auf Konstantin folgenden Kaiser waren mit Ausnahme Julians alle Christen. Diese Entwicklung gipfelte am Ende des 4. Jahrhunderts in der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion durch Theodosius I. Die paganen (heidnischen) Kulte konnten sich noch bis ins 6. Jahrhundert halten, verloren aber spätestens nach 400 zunehmend an Bedeutung und wurden nur noch von einer schrumpfenden Minderheit praktiziert. Im Gegensatz dazu gewann die christliche Reichskirche immer stärker an Einfluss, wenngleich die verschiedenen innerchristlichen Streitigkeiten (→ Erstes Konzil von Nicäa, Arianismus, Nestorianismus, Monophysitismus) teilweise erhebliche gesellschaftliche und politische Probleme verursachten. Bereits im 3. Jahrhundert entwickelte sich zuerst im Osten des Reiches das Mönchtum, das im Mittelalter von großer Bedeutung war.
Im Gegensatz zur älteren Lehrmeinung wird die Entwicklung des römischen Staates und der römischen Gesellschaft in der Spätantike nicht mehr als ein Niedergangsprozess aufgefasst. Vielmehr zeigten Wirtschaft, Kunst, Literatur und Gesellschaft Zeichen spürbarer Vitalität, wenngleich regional unterschiedlich ausgeprägt. Im Osten des Reiches, der im Inneren weitgehend stabil blieb, war die Lage insgesamt deutlich günstiger als im krisengeschüttelten Westen. In der spätantiken Kultur wurde das „klassische Erbe“ gepflegt, gleichzeitig wuchs aber der christliche Einfluss. Christliche und pagane Autoren schufen bedeutende Schriften verschiedener Couleur (siehe Spätantike#Kulturelles Leben). Rechtsgeschichtlich von großer Bedeutung war das spätantike Werk des Corpus iuris, das ab dem Hochmittelalter umfänglich rezipiert wurde. Der römische Staat war seit Konstantin zentralisierter als zuvor, wobei die nun rein zivilen Prätorianerpräfekten an der Spitze der Verwaltung standen. Es kann aber nicht von einem Zwangsstaat gesprochen werden, zumal die Verwaltung mit ihren rund 30.000 Beamten für die ca. 60 Millionen Einwohner nach modernen Maßstäben personell schwach ausgeprägt war.
Im militärischen Bereich wurden häufig Germanen und andere „Barbaren“ für das Heer rekrutiert; da sie anders als früher nicht mehr in gesonderten Verbänden (Auxiliartruppen), sondern in der regulären Armee dienten, wirkte diese nun offenbar „unrömischer“ als zuvor. Eine Sonderrolle spielten dabei die foederati, reichsfremde Krieger, die als Verbündete galten und nur indirekt römischem Befehl unterstanden. Außenpolitisch verschlechterte sich die Lage des spätantiken Imperiums ab etwa 400. Bereits zuvor hatten Germanen an Rhein und Donau sowie vor allem das neupersische Sāsānidenreich, Roms großer Rivale im Osten, für beständigen Druck gesorgt, doch blieb die Lage bis ins späte 4. Jahrhundert relativ stabil. Die Römer konnten zudem oft selbst die Initiative übernehmen. Nach der faktischen Teilung des Imperiums 395 wurden beide Kaiserhöfe aber wiederholt in Gebietsstreitigkeiten und in Konflikte über den Vorrang im Gesamtreich verwickelt. Das ökonomisch stärkere und bevölkerungsreichere Ostreich konnte die externen und internen Probleme dabei besser lösen, war ab dem 6. Jahrhundert allerdings in einen anhaltenden Konflikt mit den Sāsāniden verwickelt (→ Römisch-Persische Kriege). Westrom hingegen erlebte innere Wirren und eine Kette von Bürgerkriegen. Dort gewannen zudem die Heermeister zunehmend an politischem Einfluss (den sie, anders als im Ostreich, auch behaupten konnten) und kontrollierten am Ende faktisch die Kaiser.
Von der Antike ins Mittelalter: die Völkerwanderung
Die sogenannte Völkerwanderung (ca. 375 bis 568) bildet ein Bindeglied zwischen der Spätantike und dem Beginn des europäischen Frühmittelalters. Die zunehmend schwach verteidigten weströmischen Grenzen wurden nun verstärkt von Plünderern germanischer Stämme aus dem Barbaricum überschritten, während im Inneren des Reiches Kriegerverbände (sehr oft mit Familien) umherzogen. Foederati (aufgrund von Verträgen in römischen Diensten stehende reichsfremde Kriegergruppen mit eigenen Befehlshabern) wurden insbesondere in die internen Kämpfe verwickelt, die in Westrom jahrzehntelang andauerten. Teils im Zusammenspiel und durch Verträge (foedera) mit den römischen Behörden, teils mit militärischer Gewalt gewannen ihre Anführer die Kontrolle über immer größere Teile des westlichen Imperiums, indem sie oft das Machtvakuum füllten, das die fortschreitende Desintegration der kaiserlichen Herrschaft geschaffen hatte. Auf diese Weise trugen sie umgekehrt zu einer Destabilisierung des Weströmischen Reiches bei. Der Auflösungsprozess, verbunden mit dem sukzessiven Verlust der Westprovinzen (vor allem Africa und Gallien), schritt bis zur Mitte des 5. Jahrhunderts rasch voran und endete im Jahr 476 mit der Absetzung des letzten Kaisers in Italien, während sich Ostrom behaupten konnte.
Ihren Anfang nahm diese Entwicklung gemäß traditioneller Ansicht bereits im 4. Jahrhundert: Im Jahr 376 baten Goten an der Donau auf der Flucht vor den Hunnen (ein aus Zentralasien stammendes, heterogen zusammengesetztes Reitervolk unklarer Herkunft) um Aufnahme im Osten des Imperiums. Die Römer warben die Krieger als Söldner an. Bald auftretende Spannungen führten jedoch zu einer Meuterei und 378 zur Schlacht von Adrianopel, in der der oströmische Kaiser Valens und ein Großteil seines Heeres fielen. In den folgenden Jahrzehnten agierten diese gotischen Gruppen im Imperium manchmal als foederati und manchmal als Gegner Roms. Unter ihrem Anführer Alarich forderten gotische foederati vom Westkaiser Flavius Honorius seit 395 zunehmend verzweifelt Versorgung (annona militaris); als es zu keiner Einigung kam, plünderten sie 410 Rom, das längst nicht mehr kaiserliche Residenz, aber doch ein wichtiges Symbol des Imperiums war. In den Jahren 416/18 wurden die Krieger schließlich in Aquitanien angesiedelt. Sie agierten in der folgenden Zeit als römische foederati und kämpften etwa unter dem mächtigen weströmischen Heermeister Flavius Aëtius 451 gegen die Hunnen. Der westgotische rex Eurich (II.) brach bald nach seinem Regierungsantritt 466 den Vertrag mit dem geschwächten Westreich und betrieb eine expansive Politik in Gallien und Hispanien. Aus diesen Eroberungen entstand das neue Westgotenreich, das bis zum Jahr 507 weite Teile Hispaniens und den Südwesten Galliens umfasste.
Für Westrom, das von inneren Machtkämpfen und Usurpationen erschüttert wurde, wurde die Lage durch den Rheinübergang von 406 und die dadurch ausgelöste Entwicklung immer bedrohlicher: Zum Jahreswechsel 406/07 überschritten Vandalen, Sueben und Alanen den Rhein, vermutlich im Raum Mogontiacum (Mainz). Die römische Rheinverteidigung brach vorübergehend zusammen und „barbarische Gruppen“ fielen plündernd in Gallien ein, bevor sie nach Hispanien weiterzogen. Die untereinander verfeindeten Römer warfen einander dabei vor, die fremden Krieger ins Land gerufen zu haben. An den Rhein stießen außerdem die Burgunden vor, die sich kurzzeitig in die römische Politik einmischten, bevor sie in den Dienst der Römer traten und am mittleren Rhein ein bis 436 bestehendes Reich errichteten. Anschließend wurden die Burgunden in das heutige Savoyen umgesiedelt, wo sie ein neues Reich errichteten, das in den 530er Jahren von den Franken erobert wurde. Eine wichtige Rolle im Rahmen der „Völkerwanderung“ und im weiteren Verlauf des Frühmittelalters kommt dem Frankenreich zu. Franken fungierten zu Beginn des 5. Jahrhunderts als römische foederati im Nordosten Galliens. Sie profitierten am meisten vom Zusammenbruch der römischen Herrschaftsordnung in Gallien, wo sie Ende des 5. und Anfang des 6. Jahrhunderts ein neues Reich errichteten (siehe unten).
Der Kriegerverband der Vandalen setzte unter dem rex Geiserich im Jahr 429 von Südspanien nach Nordafrika über, wo die Krieger bis 439 ganz Africa, die reichste weströmische Provinz, eroberten. Die Vandalen wurden mit einer neuen Flotte zu einer ernsten Bedrohung für die weströmische Regierung, die seit Ende 402 statt in Mailand in Ravenna residierte. Geiserich griff in der Folgezeit immer wieder in die weströmischen Machtkämpfe ein. Im Jahr 455 plünderte er Rom, 468 wehrte er eine gesamtrömische Flottenexpedition ab. Im Inneren erwiesen sich die Vandalen dabei, ähnlich wie viele andere foederati nicht als Barbaren, sondern durchaus als Anhänger der römischen Kultur, die weiter in Africa gepflegt wurde. Allerdings kam es zwischen den arianischen Vandalen und den katholischen Romanen zu erheblichen religiösen Spannungen, die nicht überwunden wurden, bis in den Jahren 533/534 oströmische Truppen das Vandalenreich eroberten. In Britannien ging währenddessen die römische Ordnung bereits in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts unter. Um 440 rebellierten hier Sachsen, später auch Jüten und Angeln, die als foederati gedient hatten, und gründeten eigene Kleinreiche, nachdem Westrom die Insel praktisch sich selbst überlassen hatte. Nur vereinzelt gelang es römisch-britannischen Truppen, den Invasoren Widerstand zu leisten, doch ist über die Details wenig bekannt (siehe unten).
Die (später sogenannten) Ostgoten waren nach 375 unter hunnische Herrschaft geraten. Unter Attila erreichte das Hunnenreich an der Donau die größte Machtentfaltung: Sowohl West- wie auch Ostrom bemühten sich um möglichst gute Beziehungen (siehe etwa den ausführlichen Bericht des Priskos über eine oströmische Gesandtschaft 449). Um 450 kam es dann zum Konflikt mit Flavius Aëtius. Nach gescheiterten Vorstößen nach Gallien (451) und Italien (452) zerfiel nach Attilas Tod im Jahr 453 und der Schlacht am Nedao im darauffolgenden Jahr (454) das nur sehr locker organisierte Hunnenreich. Die Ostgoten profitierten davon, nachdem sie in der Schlacht an der Bolia (469) gegen Gepiden und Skiren siegreich geblieben waren. Zunächst in Pannonien, dann in Thrakien lebten sie als römische foederati.
Währenddessen war das immer weiter schrumpfende weströmische Reich, d. h. das vom Hof in Ravenna kontrollierte Gebiet, schließlich auf Italien beschränkt, nachdem Westrom Africa, Hispanien und Gallien faktisch an die verschiedenen Kriegergruppen verloren hatte. Damit waren ganz erhebliche steuerliche Einbußen verbunden, was sich auf die militärischen Ressourcen auswirkte. Nach der Ermordung des durchaus ehrgeizigen Aëtius im Jahr 454 durch Kaiser Valentinian III. (der im folgenden Jahr getötet wurde) beschleunigte sich der staatliche Erosionsprozess im Westreich. Des Weiteren hatten in den letzten Jahrzehnten Westroms nur „Schattenkaiser“ regiert, während die wahre Macht bei den Heermeistern lag und die Armee von den Kaisern nicht mehr effektiv kontrolliert werden konnte. Das nun fast vollkommen „barbarisierte“ weströmische Heer hatte im Jahr 476 Land von der weströmischen Regierung gefordert; als die Forderung nicht erfüllt wurde, meuterten die Truppen. Ihr Anführer Odoaker setzte den letzten römischen Kaiser in Italien, Romulus Augustulus, Anfang September 476 ab.
Damit blieb nur noch (wenngleich sich der im Jahr 475 aus Italien vertriebene Kaiser Julius Nepos bis 480 in Dalmatien hielt) der Kaiser in Konstantinopel als Oberhaupt des auf das Ostreich reduzierten Imperiums übrig. Der oströmische Kaiser Zenon schlug im Jahr 488 dem ostgotischen Heerkönig Theoderich, der ihm immer gefährlicher zu werden erschien, eine Invasion Italiens vor. Ein Jahr später (489) fiel Theoderich in Italien ein und besiegte und tötete Odoaker im Jahr 493. Italien prosperierte unter der Herrschaft Theoderichs, doch begann nach seinem Tod im Jahr 526 eine Krisenzeit. Ostrom nutzte dynastische Kämpfe aus, um im Gotenkrieg (ab 535) das ehemalige Kernland des Imperiums zu erobern. Dies gelang bis zum Jahr 552, doch war Italien anschließend verwüstet. Der Einfall der Langobarden im Jahr 568, die von Pannonien aus aufgebrochen waren und bald schon große Teile Ober- und Mittelitaliens beherrschten, setzte hierbei nur den Schlusspunkt.
Im Gegensatz zur älteren Forschung wird heute auf die Problematik des Begriffs Völkerwanderung und dem damit verbundenen Geschichtsbild hingewiesen. Nicht ganze Völker „wanderten“ demnach, es waren vielmehr unterschiedlich große, heterogen zusammengesetzte Kriegergruppen mit ihrem Anhang, die erst im Laufe der Zeit zu Verbänden zusammenwuchsen und eine eigene Identität beanspruchten. Dieser Vorgang kann nicht anhand von biologischen Kategorien erfasst werden; Identitäten entstanden vielmehr in einem wechselhaften sozialen Prozess, bei dem mehrere Faktoren eine Rolle spielen. Die Mitglieder dieser Gruppen einte nicht zuletzt das Bemühen, am Wohlstand des Imperiums, das sie keineswegs zerstören oder erobern wollten, teilzuhaben. Lange Zeit versuchten sie dieses Ziel zu erreichen, indem sie in die Dienste der Römer traten und für diese gegen äußere und innere Feinde kämpften.
In diesem Kontext spielt der Prozess der Ethnogenese eine wichtige Rolle, also der Entstehung neuer Gruppen, die fiktiv Abstammungsgemeinschaften waren, deren Einheit aber in Wirklichkeit politisch und sozial begründet war. Allerdings wurde dieser einflussreiche Forschungsansatz (den unter anderem Herwig Wolfram und mit Modifizierungen Walter Pohl vertreten haben) in den letzten Jahren durch mehrere anglo-amerikanische Forscher teilweise in Frage gestellt. Wolfram und Pohl verwenden den Ethnogenese-Begriff in ihren neueren Arbeiten allerdings selbst nicht mehr, sondern betonen den Identitätsbegriff, der in der neueren Forschung verstärkt eine Rolle spielt.
Die Völkerwanderung war zudem viel mehr als nur ein Abwehrkampf des Römischen Reiches. Sie war vor allem eine Transformation der bisherigen römischen Mittelmeerwelt hin zu einer germanisch-romanischen Welt im Westen und einer griechisch-römischen Welt im Osten. Die teils dramatischen Veränderungen am Ende der Spätantike dürfen hierbei nicht übersehen, aber auch nicht überschätzt werden, denn es lassen sich ebenso zahlreiche Zeichen der Kontinuität ausmachen. Im Verlauf des sechsten und siebten Jahrhunderts kam es im Westen so zu einer langsamen Transformation hin zu einer germanisch-romanischen Welt, die das europäische Mittelalter prägen sollte. Dieser Prozess verlief aber keineswegs geradlinig oder war zwangsläufig, sondern war vielmehr geprägt von Kontingenzerfahrungen für die damalig handelnden Personen.
Westrom wurde nicht von „Barbaren“ überrannt und vernichtet. Es fiel vielmehr einem politischen Desintegrationsprozess zum Opfer. Spätestens seit dem frühen 5. Jahrhundert nahm der Einfluss der hohen Militärs im Westreich derart zu, dass die Heermeister nun die wahre Macht ausübten. Neben dem Militär entglitten aber auch zusehends wichtige Provinzen (vor allem Africa, bald darauf aber auch große Teile Hispaniens und Galliens) der kaiserlichen Kontrolle. Andere Militärführer oder auch Anführer diverser gentes agierten währenddessen als Warlords auf eigene Rechnung und profitierten so von der politischen Erosion im Westreich. Dies war allerdings kein von Beginn an geplanter Prozess; so entwickelten sich die meisten der neuen Herrschaftsgebiete erst im Verlauf der Auflösung des Westreichs (beschleunigt von internen römischen Machtkämpfen und begünstigt durch äußere Faktoren wie der Bedrohung durch das Hunnenreich unter Attila). Damit handelte es sich in erster Linie um eine Herrschaftsübernahme, wobei die neuen Herren oft bestrebt waren, die vorhandenen römischen Strukturen zu nutzen und die einheimische römische Elite nicht selten kooperierte. Die im Laufe der Völkerwanderung entstandene „post-römische Welt“ war in vielerlei Hinsicht noch immer eng mit der Antike verbunden, wenngleich sie sich immer mehr veränderte. Johannes Fried fasst dies folgendermaßen zusammen:
Nach und nach verschwanden im Westen immer größere Teile der gewohnten römischen Institutionen, zunächst (bereits im 5. Jahrhundert) die Armee, dann die römische Verwaltungsordnung. Römische Bildung und kulturelle Traditionen, die eng mit der spätantiken urbanen Gesellschaft zusammenhingen, befanden sich ebenfalls im Niedergang, aber keineswegs überall (wenn man vom Spezialfall Britannien absieht, wo es recht rasch zu einem Zusammenbruch kam): Vor allem in Nordafrika, im Westgotenreich sowie in Italien und teilweise in Gallien florierte die spätantike Kultur vielmehr noch bis weit ins 6. Jahrhundert hinein. Eine wichtige Vermittlerrolle kam in diesem Zusammenhang der Kirche zu, in deren Klöstern antike Texte aufbewahrt und später kopiert wurden, bereits beginnend mit Cassiodor. Die Bücherverluste in der Spätantike führten allerdings dazu, dass zahlreiche antike Werke nur anhand von Zitaten und Zusammenfassungen rezipiert werden konnten. Ebenso funktionierte die römisch ausgebildete Verwaltung in diesen Gebieten noch längere Zeit. Die ohnehin verschwindend kleine Minderheit der Germanen glich sich außerdem der einheimischen romanischen Bevölkerung mit deren überlegener römischer Zivilisation oft an, war aber religiös von den Romanen weitgehend abgesondert. Die Germanen waren, wenn sie nicht zuvor in paganer religiöser Tradition standen, mehrheitlich arianische Christen, die Bevölkerung hingegen römisch-katholisch, was oft zu Spannungen führte, vor allem im Vandalenreich sowie teils im ostgotischen und langobardischen Italien. Die Franken hingegen vermieden mit der Annahme des katholischen Bekenntnisses unter Chlodwig I. solche Probleme.
Die spätantike Mittelmeerwelt im Wandel: Von Justinian bis zum Einbruch des Islam
Im 6. Jahrhundert wurden die Mittelmeerwelt und der Vordere Orient von zwei rivalisierenden Großmächten dominiert: dem Oströmischen Reich und dem neupersischen Sāsānidenreich, das Ostrom militärisch und kulturell durchaus gewachsen war. Der (ost-)römische Kaiser Justinian (reg. 527–565) betonte im Inneren die christlich-sakrale Komponente seines Kaisertums, nach außen strebte er seit den 530er Jahren die Rückgewinnung von Territorien im Westen an. Wenngleich die Zeit Justinians den Charakter einer Übergangszeit hat, orientierte sich der Kaiser politisch weiterhin an der römischen Tradition. Er kümmerte sich intensiv um die Religionspolitik und ging gegen die Reste der paganen Kulte und gegen häretische christliche Gruppen vor. Eine Lösung der teils schwierigen theologischen Probleme (siehe unter Monophysitismus) und die Durchsetzung eines einheitlichen christlichen Glaubensbekenntnisses für das gesamte Reich gelang ihm allerdings nicht. Außerdem betrieb er eine energische Bau- und Rechtspolitik (siehe Corpus iuris civilis). Außenpolitisch ging das Imperium in seiner Regierungszeit im Westen in die Offensive und konnte auf den ersten Blick beeindruckende Erfolge vorweisen. Dank fähiger Befehlshaber wie Belisar gelang 533/34 die rasche Eroberung des Vandalenreichs in Nordafrika. 535 bis 552 wurde nach harten Kämpfen im Gotenkrieg das Ostgotenreich in Italien erobert. Sogar in Südspanien fasste Ostrom seit 552 vorläufig wieder Fuß. Damit erstreckte sich das Imperium Romanum wieder vom Atlantik bis nach Mesopotamien. Allerdings beanspruchte diese Ausweitung alle Mittel des Reiches, das im Inneren durch Naturkatastrophen und Seuchen (→ Justinianische Pest und die daran anschließenden Pestwellen bis ins 8. Jahrhundert hinein) geschwächt wurde. Im Osten musste Justinian zudem gegen die Sāsāniden Rückschläge hinnehmen und konnte erst nach wechselhaften und verlustreichen Kämpfen 562 mit dem bedeutenden Perserkönig Chosrau I. Frieden schließen. Als Justinian 565 starb, war das Imperium von den langen Kriegen im Westen und im Osten geschwächt, aber zugleich unzweifelhaft die bedeutendste Macht im Mittelmeerraum.
Nachdem es in der Regierungszeit Justins II. 572 wieder zum Krieg mit Persien gekommen war, wobei keiner Seite ein entscheidender Erfolg gelang, konnte Kaiser Maurikios (reg. 582–602) von einem Konflikt um die persische Thronfolge profitieren und mit König Chosrau II. 591 Frieden schließen. Die Ermordung des Kaisers im Jahr 602 nahm Chosrau II. aber zum Vorwand, um in römisches Gebiet einzufallen. Von 603 bis 628 tobte daher der „letzte große Krieg der Antike“. Persische Truppen eroberten bis 619 Syrien und Ägypten, die Kornkammer des Reiches, und belagerten 626 zusammen mit den Awaren (die Ende des 6. Jahrhunderts im Balkanraum ein Reich errichtet hatten) sogar Konstantinopel. Das Reich befand sich in einer äußerst schwierigen Situation, eine vollständige Vernichtung schien nicht ausgeschlossen. Der Gegenschlag des Herakleios (reg. 610–641) in den Jahren 622 bis 628 rettete aber das Reich und zwang die Perser schließlich zum Rückzug. 628 bat Persien angesichts innerer Wirren um Frieden, und Herakleios, der als einer der bedeutendsten Kaiser der oströmisch-byzantinischen Geschichte gilt, stand auf dem Höhepunkt seines Ansehens; sogar aus dem Frankenreich erreichten ihn Glückwünsche zu seinem großen Sieg. Doch das Imperium war von den schweren Kampfhandlungen über die vergangenen Jahrzehnte extrem geschwächt, in den Quellen kommt das Ausmaß der Vernichtung deutlich zum Ausdruck. Im Inneren schloss Herakleios die Gräzisierung des Staates ab, doch es gelang ihm weder die religiösen Streitigkeiten zu beenden (→ Monotheletismus) noch das Reich wieder zu konsolidieren.
Als in den 630er Jahren die islamische Expansion begann, waren Ostrom und Persien nach den langen Kriegen nicht mehr in der Lage, effektiv Widerstand zu leisten, was ein wichtiger Grund für die schnellen arabischen Erfolge war. Die Wüstengrenze war für Ostrom und Persien ohnehin kaum zu kontrollieren (man hatte hier in Gestalt der Lachmiden und Ghassaniden vielmehr auf arabische Verbündete gesetzt) und größere Truppenverbände waren dort nach dem Perserkrieg nicht stationiert; hinzu kam die Mobilität der muslimischen Araber. Das von Bürgerkriegen zusätzlich geschwächte Sāsānidenreich erlitt zwei schwere Niederlagen gegen die Araber (638 in der Schlacht von al-Qādisīya und 642 in der Schlacht bei Nehawand). Zwar leisteten die Perser Widerstand und konnten zu Beginn eine große Schlacht gewinnen sowie einige erfolgreiche kleinere Gegenoffensiven führen, doch schließlich brach ihr Reich 651 zusammen; die Söhne des letzten persischen Großkönigs Yazdegerd III. flohen an den chinesischen Kaiserhof der Tang-Dynastie. Persien konnte seine kulturelle Identität unter der islamischen Herrschaft aber weitgehend bewahren und wurde relativ langsam islamisiert, ähnlich wie die christlichen Gebiete in Ägypten und Syrien. Zu Beginn des 8. Jahrhunderts eroberten die Araber Sogdien (siehe auch Ghurak und Dēwāštič) und stießen weiter nach Zentralasien vor.
Im Westen unterlagen oströmische Truppen 636 in der Schlacht am Jarmuk den Arabern und mussten Syrien vollständig räumen, nachdem Damaskus 635 kapituliert hatte. Syrien diente von nun an als Ausgangsbasis für arabische Angriffe auf Kleinasien, das die Oströmer jedoch halten konnten und das nun zum Kernland des Imperiums wurde. Jerusalem ergab sich 638. Am schmerzhaftesten war der Verlust Ägyptens 640/42 (aufgrund dessen Wirtschaftskraft, des Steueraufkommens und des Getreides). Bald darauf nahmen die Araber Armenien, Zypern (649) und Rhodos (654) ein. Sie stießen die nordafrikanische Küste entlang nach Westen vor und besetzten um 670 das heutige Tunesien, Karthago konnte noch bis 698 gehalten werden. 711–725 folgte die Eroberung des Westgotenreichs in Hispanien und Südwestgallien. Vorstöße ins Frankenreich blieben aber erfolglos. 655 erlitt die oströmische Flotte unter Konstans II. in der Schlacht von Phoinix eine schwere Niederlage gegen die Araber, die nun als Seemacht auftraten und damit den Handel und die maritime Vorherrschaft Ostroms bedrohten. Den Oströmern/Byzantinern gelangen allerdings auch einige wichtige Erfolge: Bei der Verteidigung von Konstantinopel 674 bis 678 vernichteten sie die arabische Flotte; ob es in diesem Zusammenhang zu einer regelrechten Belagerung kam, ist in der neueren Forschung allerdings umstritten. 677/678 konnten die Oströmer trotz beschränkter Ressourcen zu einer Offensive übergehen und vorübergehend sogar Truppen in Syrien landen.
Ostrom-Byzanz konnte den Verlust der orientalischen Provinzen dennoch nicht verhindern oder rückgängig machen und wurde in die Defensive gedrängt. Die antike Einheit des Mittelmeerraums (die sowohl politisch als auch wirtschaftlich von großer Bedeutung für die Stabilität des römischen Staatswesens gewesen ist) war mit den arabischen Eroberungen beendet. 100 Jahre nach Justinians Tod hatte das Römische Reich nun mehr als die Hälfte seines Territoriums und seiner Bevölkerung verloren, während an der Ost- und Südküste des Mittelmeers mit dem arabischen Kalifat ein neues Reich mit einem neuen Glauben entstanden war.
Damit war die alte Weltordnung, die die gesamte Spätantike zwischen Ostrom und Persien bestanden hatte, infolge der arabischen Eroberungen zerbrochen und durch eine neue Ordnung ersetzt, in der Ostrom-Byzanz gegen das Kalifat um die reine Existenz kämpfen musste. Das Oströmische Reich, das um 700 schließlich auf Kleinasien, Griechenland, Konstantinopel samt Umland und einige Gebiete in Italien beschränkt war, wandelte sich nun endgültig zum griechischen Byzanz des Mittelalters. Die Zeit von der Mitte des 7. bis ins 8. Jahrhundert war weiterhin von schweren Abwehrkämpfen geprägt. Die schließlich erfolgreiche Abwehr verhinderte ein weiteres Vordringen der Araber nach Südosteuropa. Die Dynastie des Herakleios regierte noch bis 711. Unter Kaiser Leo III., der 717 an die Macht kam, ging Byzanz gegen die Araber wieder begrenzt in die Offensive (siehe unten).
Für die Geschichte West- und Mitteleuropas war entscheidend, dass die Kaiser ab dem 7. Jahrhundert faktisch gezwungen waren, den einstigen Westen des Imperium Romanum weitestgehend sich selbst zu überlassen: Anders als noch im 6. Jahrhundert war mit militärischen Interventionen nun nicht mehr zu rechnen. Konstantinopel rückte in die Ferne.
Das Frankenreich der Merowinger
Das im späten 5. Jahrhundert entstandene Frankenreich sollte sich zum bedeutendsten der germanisch-romanischen Nachfolgereiche im Westen entwickeln. Der Aufstieg der Franken von einer Regionalmacht im Nordosten Galliens zu einem Großreich begann unter der Führung von Königen aus dem Geschlecht der Merowinger. Der in Tournai residierende salfränkische König (rex) Childerich I. etablierte einen eigenen Machtbereich in Nordgallien, wobei er auf die weiterhin arbeitenden lokalen Waffenschmieden (fabricae) zurückgreifen konnte. Es wird oft angenommen, dass er mit dem gallorömischen Feldherrn Aegidius kooperierte, der sich 461 gegen die weströmische Regierung erhob, doch sind die Details unklar. Aegidius, der nun faktisch als Warlord agierte, errichtete in Nordgallien einen unabhängigen Herrschaftsbereich; nach seinem Tod folgte ihm nach kurzer Zeit sein Sohn Syagrius nach. Childerichs Sohn Chlodwig vernichtete die anderen fränkischen Kleinreiche (unter anderem Ragnachars und Chararichs) und wurde damit zum Gründer des Frankenreichs.
486/487 eroberte Chlodwig das Reich des Syagrius. 507 wurden die Westgoten in der Schlacht von Vouillé besiegt und faktisch aus Gallien verdrängt. Gegen die Alamannen ging Chlodwig ebenfalls vor, während es mit den Burgunden zu einer vorläufigen Annäherung kam. Der ursprünglich pagane Chlodwig trat zu einem nicht näher bestimmten Zeitpunkt (wahrscheinlich eher gegen Ende seiner Herrschaft) zum Christentum über. Entscheidend war, dass er sich für das katholische Bekenntnis entschied und somit Probleme vermied, die sich bisweilen in den anderen germanisch-romanischen Reichen zwischen den Eroberern und der römischen Bevölkerung ergaben. Das geschickte und gleichzeitig skrupellose Vorgehen Chlodwigs sicherte den Franken eine beherrschende Stellung in Gallien.
Das Frankenreich wurde nach dem Tod Chlodwigs im Jahr 511 unter seinen vier Söhnen Theuderich, Chlodomer, Childebert und Chlotar aufgeteilt, wobei jeder einen Anteil an dem fränkischen Stammland in Nordgallien und den eroberten Gebieten im Süden erhielt. Die verbreitete Praxis unter den Franken, den Herrschaftsbesitz nach dem Tod eines Königs unter den Söhnen zu teilen, sorgte für eine Zersplitterung der königlichen Zentralgewalt. Thronstreitigkeiten waren nicht selten, zumal die meisten Merowinger kein hohes Alter erreichten und oft Kinder von mehreren Frauen hatten, was die Nachfolgeregelung erschwerte. Für Verwaltungsaufgaben hatte bereits Chlodwig die gallorömische Oberschicht und hierbei speziell die Bischöfe (wie Gregor von Tours, dessen Geschichtswerk die wichtigste Quelle zur fränkischen Geschichte des 6. Jahrhunderts ist) herangezogen. Er hatte außerdem das System der vor allem in Südgallien verbreiteten römischen civitates genutzt, wo der gallorömisch-senatorische Adel (deren Vorfahren einst römische Staatsämter bekleidet hatten und nun als lokale und vor allem kirchliche Würdenträger fungierten) noch längere Zeit nachweisbar ist. Die Städte spielten eine entscheidende Rolle bei der Herrschaftssicherung und der Verwaltung des Reiches und hatten den größten Anteil an der römischen Kontinuitätslinie in der Merowingerzeit. Die Verwaltung orientierte sich zunächst noch weitgehend an spätrömischen Institutionen, auf der die frühmerowingische Herrschaft im Wesentlichen beruhte. So wurden im 6. Jahrhundert noch Steuerlisten geführt und von königlichen Beamten verwaltet, bevor diese verschwanden und zunehmend Grafen (comites) und Herzöge (duces) an Einfluss gewannen.
Die fränkische Expansion wurde weiter vorangetrieben: 531/534 wurden die Thüringer und 534 die Burgunden unterworfen. Den Gotenkrieg in Italien nutzten die Franken, um Teile des ostgotischen Territoriums zu besetzen. Theuderichs Sohn Theudebert I. sah seine Stellung im Osten des Merowingerreiches als so gefestigt an, dass er angeblich sogar mit dem Gedanken gespielt haben soll, Kaiser Justinian herauszufordern.
Allerdings deuteten sich schon im 6. Jahrhundert Spaltungen des fränkischen Herrschaftsbereichs (Francia) an, die bei späteren Kämpfen zwischen Teilherrschern immer wieder eine Rolle spielten. Der galloromanische Süden mit den Zentren an Rhone und Saône behielt lange seine aus dem gallorömischen Senatsadel hervorgegangene Elite und seine spätantiken städtischen Strukturen mit starker Stellung der Bischöfe und das Römische Recht (droit écrit) bei. Hingegen wechselten im stärker germanisierten Norden die Eliten, die städtische Kultur verfiel zum Teil und das im germanischen Stammesrecht wurzelnde Gewohnheitsrecht (droit coutumier) spielte eine wachsende Rolle. Erst seit dem 15. Jahrhundert näherten sich die Rechtssysteme allmählich an. Im Südwesten Galliens hielten sich westgotische Einflüsse.
Immer wieder flammten im Inneren Kämpfe zwischen den einzelnen merowingischen Teilherrschern auf. Nach dem Tod Chlothars I. 561 entbrannte ein merowingischer Bruderkrieg, der erst 613 mit der Wiedervereinigung des Gesamtreiches unter Chlothar II. endete. Dagobert I., der 623 die Herrschaft im Teilreich Austrasien antrat und von 629 bis 639 über das Gesamtreich herrschte, gilt allgemein als der letzte starke Merowingerkönig, wenngleich auch er dem mächtigen Adel einige Zugeständnisse machen musste.
Nach der gängigen Lehrmeinung verfiel nach Dagoberts Tod die königliche Macht immer mehr und die wahre Macht lag in den Händen der Hausmeier. Diese waren ursprünglich nur Verwalter des Königshofes, doch gewannen sie im Laufe der Zeit immer mehr Einfluss. Da die adeligen Hausmeier (deren Titel schließlich erblich wurden) zudem über großen Landbesitz verfügten, waren sie für den König nur sehr schwer zu kontrollieren. Die Einschätzung der seit Mitte des 7. Jahrhunderts übergroßen Macht der Hausmeier orientiert sich an der Sichtweise der karolingerzeitlichen fränkischen Geschichtsschreibung, etwa den Reichsannalen und Einhards Vita Karoli Magni. In der Darstellung dieser Quellen erscheint die Übertragung der fränkischen Königswürde auf die Karolinger im Jahr 751 als notwendige Konsequenz der Machtlosigkeit der letzten Merowinger, die sich in deren eher lächerlichem Erscheinungsbild gespiegelt habe. Die negative Einstellung der karolingerzeitlichen Autoren zu den späten Merowingern erschwert allerdings eine unvoreingenommene Beurteilung. In der neueren Forschung wird bisweilen bezweifelt, dass die letzten Merowingerkönige wirklich so machtlos waren, wie es die karolingische Geschichtsschreibung unterstellt. Es kann davon ausgegangen werden, dass die parteiischen Quellen zumindest Teile der historischen Erzählung verformt haben. Sicher ist, dass die Karolinger nach dem gescheiterten Versuch Grimoalds des Älteren, schon im 7. Jahrhundert einen Dynastiewechsel herbeizuführen, lange davor zurückschreckten, die Merowinger zu entmachten, sei es aufgrund sakraler Königsvorstellungen oder aufgrund eines verwurzelten dynastischen Denkens.
Tatsächlich scheinen einzelne Merowingerkönige sich noch einmal gegen den übermächtigen Einfluss der Hausmeier gestemmt zu haben. So werden Theuderich III. und Dagobert II. zwar oft als mehr oder weniger hilflose „Schattenkönige“ bezeichnet, doch haben sie nachweislich Gerichte abgehalten, geurkundet, über Hausgüter wohl frei verfügt und Privilegien verteilt, wobei Dagobert in der Kirchenpolitik zudem mehr Spielraum hatte. Des Weiteren haben die letzten Merowinger, die in den karolingischen Quellen lächerlich gemacht werden, zudem an mehr als zehn weit auseinanderliegenden Orten Urkunden ausgestellt. Erst nach der Schlacht bei Tertry 687 und dem Triumph des Hausmeiers Pippins des Mittleren begann der endgültige Aufstieg der Karolinger, deren Bezeichnung auf den mächtigen fränkischen Hausmeier Karl Martell zurückgeht. Karl Martell konnte sich gegen konkurrierende Hausmeier durchsetzen (Schlacht von Vincy 717 und Schlacht bei Soissons 718/19). Er setzte nacheinander Merowinger als Schattenkönige ein, die aber über keine reale Macht verfügten (siehe Chlothar IV., Chilperich II. und Theuderich IV.; nach dem Tod Theuderichs IV. 737 ließ Karl den Königsthron unbesetzt). Karl fungierte nun bis zu seinem Tod 741 als wahre Macht hinter dem Thron, wobei er die Grenzen des Reichs sichern und erweitern konnte (unter anderem durch die Unterwerfung der Friesen). Die Karolinger kontrollierten fortan die Regierungsgeschäfte im Reich und errangen schließlich 751 die fränkische Königswürde, als der letzte Merowingerkönig Childerich III. abgesetzt wurde.
Vom Karolingerreich zu West- und Ostfranken
751 wurde in Absprache mit Papst Zacharias Pippin der Jüngere als erster Karolinger zum fränkischen König erhoben (reg. 751–768). Die Salbung Pippins durch den Papst im Jahr 754 diente offenbar der zusätzlichen Legitimation und legte das Fundament für die Rolle der fränkischen Könige als neue Schutzherren des Papstes in Rom.
Die frühen karolingischen Könige erwiesen sich als fähige Herrscher. Pippin intervenierte in Italien, wo er gegen die Langobarden vorging, führte Feldzüge in Aquitanien und sicherte die Pyrenäengrenze. Er genoss bei seinem Tod im Jahr 768 weit über die Grenzen des Frankenreichs hinaus Ansehen. Das Reich wurde unter seinen beiden Söhnen Karlmann und Karl aufgeteilt. Zwischen den Brüdern bestanden offenbar starke Spannungen; nach dem unerwarteten Tod Karlmanns Ende 771 ignorierte Karl die Erbansprüche der Söhne Karlmanns (die später vermutlich auf Karls Befehl beseitigt wurden) und besetzte dessen Reichsteil.
Karl, später Carolus Magnus („Karl der Große“) genannt, gilt als der bedeutendste Karolinger und als einer der bedeutendsten mittelalterlichen Herrscher (reg. 768–814). Nach Sicherung der Herrschaft im Inneren begann Karl ab dem Sommer 772 Feldzüge gegen die Sachsen. Die daraus resultierenden Sachsenkriege dauerten mit Unterbrechungen bis 804 und wurden mit äußerster Brutalität geführt. Ziel war nicht nur die Eroberung des Landes, sondern auch die gewaltsame Christianisierung der bis dahin paganen Sachsen. Militärisch spielte die fränkische Panzerreiterei eine wichtige Rolle. Zeitgleich dazu intervenierte Karl auf päpstlichen Wunsch hin 774 in Italien und eroberte das Langobardenreich, das er mit dem Frankenreich vereinigte. Weniger erfolgreich verlief der Spanienfeldzug im Jahr 778 gegen die Mauren, wenngleich später zumindest die Spanische Mark errichtet werden konnte. Karls diplomatische Kontakte reichten bis zum Kalifen Hārūn ar-Raschīd. Im Osten seines Reiches beendete er 788 die Selbstständigkeit des Stammesherzogtums Bayern. Es kam außerdem zu Kämpfen mit den Dänen und mehreren Slawenstämmen sowie zum letzten Endes erfolgreichen Reichskrieg gegen die Awaren (791–796). Karl hatte in jahrzehntelangen Kämpfen die Grenzen des Reiches erheblich erweitert und das Frankenreich als neue Großmacht neben Byzanz und dem Kalifat etabliert. Das Karolingerreich umschloss nun weite Teile der lateinischen Christenheit und war das bedeutendste staatliche Gebilde im Westen seit dem Fall Westroms. Karl machte Aachen zu seiner Hauptresidenz. Zur effizienteren Organisation der Herrschaftsordnung nutzte er comites (sogenannte „Grafschaftsverfassung“) und die von ihm geförderte Kirche. Die sogenannte karolingische Renaissance (die besser als „karolingische Bildungsreform“ bezeichnet werden sollte) sorgte für eine kulturelle Neubelebung des christlichen Westeuropas, nachdem es ab dem 7. Jahrhundert zu einem Bildungsverfall im Frankenreich gekommen war. Den Höhepunkt von Karls Regierungszeit stellte seine Kaiserkrönung zu Weihnachten des Jahres 800 durch Papst Leo III. in Rom dar. Die Details dieses Vorgangs und seine Vorgeschichte sind in der Forschung umstritten. Fest steht, dass damit aus Sicht der Zeitgenossen das Kaisertum erneuert worden war, was allerdings zu Konflikten mit Byzanz führte (Zweikaiserproblem). Für die Geschichte des Mittelalters ist dieses Ereignis von großer Bedeutung, da es den Grundstein für das westliche mittelalterliche Kaisertum legte. Karl hinterließ bei den folgenden Generationen einen bleibenden Eindruck. Im anonymen Karlsepos wird der Kaiser sogar als pater Europae, als Vater Europas, gepriesen. Er galt im Mittelalter als Idealkaiser. Damit begann bereits die Mythenbildung um Karl, was bis in die Neuzeit unterschiedliche Geschichtsbilder zur Folge hatte.
Nach Karls Tod im Januar 814 folgte ihm sein Sohn Ludwig der Fromme nach, den Karl bereits 813 zum Mitkaiser gekrönt hatte. Die ersten Regierungsjahre Ludwigs waren vor allem von seinem Reformwillen im kirchlichen und weltlichen Bereich geprägt. Programmatisch verkündete er die Renovatio imperii Francorum, die Erneuerung des fränkischen Reiches. Ludwig bestimmte 817, dass nach seinem Tod eine Reichsteilung erfolgen sollte. Sein ältester Sohn Lothar sollte jedoch eine Vorrangstellung vor seinen anderen Söhnen Ludwig (in Bayern) und Pippin (in Aquitanien) erhalten. Eine schwierige Lage entstand jedoch, als Kaiser Ludwig 829 auch Karl, seinem Sohn aus seiner zweiten Ehe mit der am Hof einflussreichen Judith, einen Anteil am Erbe zusicherte. Bereits zuvor hatte es Gegner der neuen Reichsordnung gegeben; sie leisteten dem Kaiser nun offen Widerstand.
Mit der Erhebung der drei ältesten Söhne gegen Ludwig den Frommen im Jahr 830 begann die Krisenzeit des Karolingerreiches, die schließlich zu dessen Auflösung führte. Die Rebellion richtete sich zunächst vor allem gegen Judith und ihre Berater, doch führte sie 833 zur Gefangennahme des Kaisers auf dem „Lügenfeld bei Colmar“, wobei das Heer Ludwigs zum Gegner überlief. Anschließend musste Ludwig einer demütigenden Bußhandlung zustimmen. Damit war aber der Bogen überspannt und die drei älteren Söhne Ludwigs zerstritten sich wieder. 834 wandten sich mehrere Anhänger von Lothar ab, der sich nach Italien zurückzog. Während das Reich von außen zunehmend von Wikingern, Slawen und Arabern bedrängt wurde, blieben die Spannungen im Inneren bestehen. Ludwig war bestrebt, Karls Erbteil zu sichern. Nach Pippins Tod 839 wurde Karl mit dem westlichen Reichsteil ausgestattet, doch war die Lage bei Ludwigs Tod im Jahr 840 weiterhin ungeklärt. Im Ostteil hatte Ludwig der Deutsche seine Stellung gesichert, ähnlich Karl im Westen, so dass der Druck auf Kaiser Lothar stieg. Karl und Ludwig verbündeten sich gegen Lothar und besiegten ihn in der Schlacht von Fontenoy am 25. Juni 841. Im Februar 842 bekräftigten sie ihr Bündnis mit den Straßburger Eiden. Auf Drängen der fränkischen Adeligen kam es 843 zum Vertrag von Verdun, womit die Teilung des Reiches im Grunde bestätigt wurde: Karl regierte den Westen, Ludwig den Osten, während Lothar ein Mittelreich und Italien erhielt.
Die in diesem Zusammenhang in der Forschung oft diskutierte Frage nach den Anfängen der „deutschen“ Geschichte führt eher in die Irre, da es sich um einen längerfristigen, bis in das 11. Jahrhundert hinziehenden Prozess gehandelt hat; erst ab dem 10. Jahrhundert ist die Bezeichnung Regnum Teutonicorum gesichert nachweisbar. Offenbar grenzten sich jedoch die karolingischen Reichsteile bereits im 9. Jahrhundert immer mehr voneinander ab, die Reichseinheit konnte nur noch vorübergehend wiederhergestellt werden.
Nach Lothars Tod 855 erbte sein ältester Sohn Lothar II. das Mittelreich. Nach dessen Tod 869 kam es zum Konflikt zwischen Karl und Ludwig um das Erbe, was 870 zur Teilung im Vertrag von Meerssen führte. Damit formierten sich endgültig das West- und das Ostfrankenreich, während in Italien von 888 bis 961 separat Könige regierten. Die Idee der Reichseinheit hatte weiterhin einige Anhänger. Unter Karl III., der 881 die Kaiserkrone errang und seit 882 über ganz Ostfranken herrschte, war das gesamte Imperium für wenige Jahre noch einmal vereint, als er 885 auch die westfränkische Königskrone erwarb. Doch blieb diese Reichseinigung eine Episode, zumal Karl die zunehmenden Wikingerangriffe nicht effektiv abwehren konnte (Frieden von Asselt 882 und Belagerung von Paris 885–886) und Ostfranken Ende 887 an seinen Neffen Arnolf verlor (reg. 887–899). In der „Regensburger Fortsetzung“ der Annalen von Fulda ist zum Jahr 888 abschätzig vermerkt, nach dem Tod Karls (im Januar 888) hätten viele reguli (Kleinkönige) in Europa nach der Macht gegriffen. Arnolf bestätigte die Herrschaft der neuen Könige, so in Westfranken, Burgund sowie Italien. Seine Herrschaftsbasis war Bayern. Er beschränkte seine Herrschaft explizit auf Ostfranken, wo er Slawen und Wikinger abwehrte. Einen Italienzug lehnte Arnolf zunächst ab. Erst 894 begab er sich einem päpstlichen Hilferuf folgend nach Italien; 896 erwarb er sogar die Kaiserkrone. Dennoch war der Zusammenbruch des Karolingerreichs unübersehbar.
Auch kulturell trat im späten 9. Jahrhundert ein Niedergang ein, vor allem in Ostfranken, wo es zu einem spürbaren Rückgang der literarischen Produktion kam. Im Osten starb der letzte Karolinger Ludwig das Kind im Jahr 911; ihm folgte Konrad I. nach. Konrad war bemüht, Ostfranken zu stabilisieren, wobei er sich gegen den mächtigen Adel behaupten und gleichzeitig die Ungarn abwehren musste, die wenige Jahre zuvor ein Reich gegründet hatten. Am Ende erwies sich seine Herrschaft, die durchaus an karolingischen Traditionen orientiert war, als bloße Übergangszeit zu den Ottonen, die von 919 bis 1024 die ostfränkischen Könige stellten. In Westfranken regierten die Karolinger mit Unterbrechungen noch bis zum Tod Ludwigs V. 987, hatten jedoch schon zuvor ihre Macht weitgehend verloren. An ihre Stelle traten die Kapetinger, die anschließend bis ins 14. Jahrhundert die französischen Könige stellten. Allerdings war das französische Königtum zunächst weitgehend auf seinen Kernraum in der Île-de-France beschränkt und übte nur eine nominelle Oberherrschaft über die Machtbereiche selbstbewusster Herzöge aus.
Das Reich der Ottonen
Nach dem Tod des ostfränkischen Königs Konrad im Jahr 919 bestieg mit Heinrich I. das erste Mitglied des sächsischen Hauses der Liudolfinger („Ottonen“) den ostfränkischen Königsthron; sie konnten sich in der Folgezeit bis 1024 im Reich behaupten. In der neueren Forschung wird zwar die Bedeutung der Ottonenzeit für die Ausformung Ostfrankens betont, sie gilt aber nicht mehr als Beginn der eigentlichen „deutschen“ Geschichte. Der damit verbundene komplexe Prozess zog sich vielmehr mindestens bis ins 11. Jahrhundert hin.
Heinrich I. sah sich mit zahlreichen Problemen konfrontiert. Die an karolingischen Mustern orientierte Herrschaftsausübung stieß an ihre Grenzen, zumal nun die Schriftlichkeit, ein entscheidender Verwaltungsfaktor, stark zurückging. Gegenüber den Großen des Reiches scheint Heinrich, wie mehrere andere Herrscher nach ihm, eine Form der konsensualen Herrschaftspraxis betrieben zu haben: Während er formal auf seinem höheren Rang bestand, band er die Herzöge in seine Politik durch Freundschaftsbündnisse (amicitia) ein und ließ ihnen in ihren Herzogtümern weitgehenden politischen Spielraum. Schwaben und Bayern wurden dadurch in die Königsherrschaft Heinrichs integriert, blieben jedoch bis um das Jahr 1000 königsferne Regionen, in denen der Einfluss des Königtums schwach ausgeprägt war. Das Reich befand sich weiterhin im Abwehrkampf gegen die Ungarn, mit denen 926 ein Waffenstillstand geschlossen wurde. Heinrich nutzte die Zeit und ließ die Grenzsicherung intensivieren; auch gegen die Elbslawen und gegen Böhmen war der König erfolgreich. 932 verweigerte er die Tributzahlungen an die Ungarn; 933 schlug er sie in der Schlacht bei Riade. Im Westen hatte Heinrich den Anspruch auf das zwischen West- und Ostfranken umstrittene Lothringen zunächst 921 aufgegeben, bevor er es 925 gewinnen konnte. Noch vor seinem Tod im Jahr 936 hatte Heinrich eine Nachfolgeregelung im Rahmen einer „Hausordnung“ getroffen, so dass bereits 929/30 sein Sohn Otto als designierter Nachfolger gelten konnte und das Reich ungeteilt blieb.
In der Regierungszeit Ottos I. (reg. 936–973) sollte das Ostfrankenreich eine hegemoniale Stellung im lateinischen Europa einnehmen. Otto erwies sich als energischer Herrscher. 948 übertrug er das wichtige Herzogtum Bayern seinem Bruder Heinrich. Ottos Herrschaftsausübung war allerdings nicht unproblematisch, denn er wich von der konsensualen Herrschaftspraxis seines Vaters ab. Bisweilen verhielt sich Otto rücksichtslos und geriet mehrfach in Konflikt mit engen Verwandten. So agierte etwa Ottos ältester Sohn Liudolf gegen den König und stand sogar in Verbindung mit den Ungarn. Diese nutzten die Lage im Reich aus und griffen 954 offen an. Liudolfs Lage wurde unhaltbar und er unterwarf sich dem König. Otto gelang es, gegen die Ungarn eine Abwehr zu organisieren und sie 955 in der Schlacht auf dem Lechfeld vernichtend zu schlagen. Sein Ansehen im Reich wurde durch diesen Erfolg erheblich gesteigert und eröffnete ihm neue Optionen. Im Osten errang er Siege über die Slawen, womit die elbslawischen Gebiete (Sclavinia) verstärkt in die ottonische Politik eingebunden wurden. Otto trieb die Errichtung des Erzbistums Magdeburg voran, was ihm 968 endgültig gelang. Ziel war die Slawenmission im Osten und die Ausdehnung des ostfränkischen Herrschaftsbereichs, wozu nach karolingischem Vorbild Grenzmarken errichtet wurden. Die erstarkte Stellung Ottos ermöglichte ein Eingreifen in Italien, das nie ganz aus dem Blickfeld der ostfränkischen Herrscher geraten war. Während des ersten Italienzugs 951 scheiterte sein Versuch, in Rom das westliche Kaisertum zu erneuern, wenngleich ihm italienische Adlige als „König der Langobarden“ huldigten. Er brach 961 wieder nach Italien auf und wurde am 2. Februar 962 in Rom vom Papst zum Kaiser gekrönt, im Gegenzug bestätigte er die Rechte und Besitzungen der Kirche. Das an die antike römische Kaiserwürde angelehnte westliche Kaisertum wurde nun mit dem ostfränkischen (bzw. römisch-deutschen) Königtum verbunden. Außerdem wurden weite Teile Ober- und Mittelitaliens dem ostfränkischen Reich angegliedert (Reichsitalien). Allerdings erforderte eine effektive Beherrschung Reichsitaliens die persönliche Präsenz des Herrschers, eine Regierung aus der Ferne war in dieser Zeit kaum möglich. Dieses Strukturdefizit sollte auch seinen Nachfolgern noch Probleme bereiten. Ein dritter Italienzug (966–972) erfolgte aufgrund eines päpstlichen Hilferufs, diente aber gleichzeitig der Absicherung der ottonischen Herrschaft. Im Inneren stützte sich Otto, wie generell viele frühmittelalterlichen Herrscher, für Verwaltungsaufgaben vor allem auf die Kirche. Beim Tod Ottos am 7. Mai 973 war nach schwierigen Anfängen das Reich konsolidiert und das Kaisertum wieder ein politischer Machtfaktor.
Ottos Sohn Otto II. (reg. 973–983) war bereits sehr jung 961 zum Mitkönig und 967 zum Mitkaiser gekrönt worden. Im April 972 hatte er die gebildete byzantinische Prinzessin Theophanu geheiratet. Otto war selbst gleichfalls gebildet und wie bei seiner Ehefrau Theophanu galt sein Interesse auch geistigen Angelegenheiten. Im Norden wehrte er Angriffe der Dänen ab, während in Bayern Heinrich der Zänker (ein Verwandter des Kaisers) gegen ihn agierte und Unterstützung durch Böhmen und Polen erhielt. Die Verschwörung wurde aufgedeckt, doch erst 976 gelang die (vorläufige) Unterwerfung Heinrichs. Die Ostmark wurde von Bayern abgetrennt und den Babenbergern übertragen. Im Westen kam es zu Kampfhandlungen mit Westfranken (Frankreich), bevor 980 eine Übereinkunft erzielt werden konnte. Otto plante, anders als noch sein Vater, die Eroberung Süditaliens, wo Byzantiner, Langobarden und Araber herrschten. Ende 981 begann der Feldzug, doch erlitt das kaiserliche Heer im Juli 982 eine vernichtende Niederlage gegen die Araber in der Schlacht am Kap Colonna. Otto gelang nur mit Mühe die Flucht. Im Sommer 983 plante er einen erneuten Feldzug nach Süditalien, als sich unter Führung der Lutizen Teile der Elbslawen erhoben (Slawenaufstand von 983) und somit die ottonische Missions- und Besiedlungspolitik einen schweren Rückschlag erlitt. Noch in Rom starb der Kaiser am 7. Dezember 983, wo er auch beigesetzt wurde. In der mittelalterlichen Geschichtsschreibung wurde Otto II. aufgrund der militärischen Rückschläge und kirchenpolitischer Entscheidungen (so die Aufhebung des Bistums Merseburg) stark kritisiert, während in der modernen Forschung seine nicht leichte Ausgangslage berücksichtigt wird, ohne die militärischen Fehlschläge zu übersehen.
Die Nachfolge trat sein gleichnamiger Sohn an, Otto III. (reg. 983–1002), der noch vor dem Tod seines Vaters als nicht ganz Dreijähriger zum Mitkönig gewählt worden war. Aufgrund seines jungen Alters übernahm zunächst seine Mutter Theophanu, nach deren Tod 991 dann seine Großmutter Adelheid von Burgund die Regentschaft. 994 trat Otto III. mit 14 Jahren die Regierung an. Der für seine Zeit hochgebildete Herrscher umgab sich im Laufe der Zeit mit Gelehrten, darunter Gerbert von Aurillac. Otto interessierte sich besonders für Italien. Streitigkeiten in Rom zwischen Papst Johannes XV. und der mächtigen Adelsfamilie der Crescentier waren der Anlass für Ottos Italienzug 996. Papst Johannes war jedoch bereits verstorben, so dass Otto seinen Verwandten Bruno als Gregor V. zum neuen Papst bestimmte, der ihn am 21. Mai 996 zum Kaiser krönte. Anschließend kehrte Otto nach Deutschland zurück. Gregor wurde jedoch aus Rom vertrieben, so dass Otto 997 erneut nach Italien aufbrach und den Aufstand Anfang 998 brutal niederschlug. Der Kaiser hielt sich noch bis 999 in Italien auf und strebte im Zusammenspiel mit dem Papst eine kirchliche Reform an. Während dieser Zeit ist ein Regierungsmotto Ottos belegt: Renovatio imperii Romanorum, die Erneuerung des römischen Reiches, als dessen Fortsetzung man das mittelalterliche römisch-deutsche Reich betrachtete. Die Einzelheiten sind jedoch umstritten; eine geschlossene Konzeption ist eher unwahrscheinlich, weshalb die Bedeutung in der neueren Forschung relativiert wird. Nach Gregors Tod machte der Kaiser Gerbert von Aurillac als Silvester II. zum neuen Papst. Beide Papsternennungen verdeutlichen die Machtverteilung zwischen Kaisertum und Papsttum in dieser Zeit. Otto knüpfte auch Kontakte zum polnischen Herrscher Bolesław I. und begab sich nach Gnesen. Die nächsten Monate verbrachte der Kaiser in Deutschland, bevor er sich wieder nach Italien begab. 1001 brach in Rom ein Aufstand aus. Otto zog sich nach Ravenna zurück, beim erneuten Vormarsch nach Rom starb der Kaiser Ende Januar 1002. In den Quellen wird sein großes Engagement in Italien eher negativ bewertet; in der modernen Forschung wird betont, dass der frühe Tod Ottos eine abschließende Bewertung erschwert, da seine Politik nicht über Anfänge hinauskam.
Nachfolger Ottos III. wurde Heinrich II. (reg. 1002–1024), der aus der bayerischen Nebenlinie der Ottonen stammte und dessen Herrschaftsantritt umstritten war. Heinrich II. setzte andere Schwerpunkte als sein Vorgänger und konzentrierte sich vor allem auf die Herrschaftsausübung im nördlichen Reichsteil, wenngleich er dreimal nach Italien zog. Auf seinem zweiten Italienzug 1014 wurde er in Rom zum Kaiser gekrönt. Im Süden kam es 1021/22 auch zu Auseinandersetzungen mit den Byzantinern, die letzten Endes ergebnislos verliefen und dem Kaiser keinen Gewinn einbrachten. Im Osten führte er vier Feldzüge gegen Bolesław von Polen, wobei es um polnisch beanspruchten Besitz und um Fragen der Ehre und Ehrbezeugung ging, bevor 1018 der Frieden von Bautzen geschlossen wurde. Im Inneren präsentierte sich Heinrich als ein von der sakralen Würde seines Amtes durchdrungener Herrscher. Er gründete das Bistum Bamberg und begünstigte die Reichskirche, auf die er sich im Sinne des „Reichskirchensystems“ stützte, wenngleich in neuerer Zeit dieser Aspekt unterschiedlich bewertet wird. Einige Forscher betrachten Heinrichs diesbezügliches Vorgehen als realpolitisch motiviert; Heinrich habe über die Reichskirche geherrscht, mit ihr regiert und damit versucht, die Königsherrschaft zu intensivieren. Sicher ist die enge Verzahnung von Königsherrschaft mit der Kirche im Reich. Damit erhoffte sich Heinrich wohl auch ein Gegengewicht zur Adelsopposition, die sich wiederholt gegen den König erhob, der seine Führungsrolle gegenüber den Großen im Reich betonte. Seine Regierungszeit wird sehr unterschiedlich bewertet; erst im Rückblick wurde er, von der Bamberger Kirche vorangetrieben, zu einem „heiligen Kaiser“ stilisiert und 1146 heiliggesprochen. Seine Ehe blieb kinderlos, statt der Ottonen traten die Salier die Königsherrschaft an.
Frankreich und Burgund
Wenngleich in Westfranken (Frankreich) die Karolinger formal noch bis 987 die Könige stellten, von der Regierungszeit einiger (durchaus durchsetzungsfähiger) Könige aus anderen Geschlechtern wie Odo abgesehen, hatten sie bereits zuvor den Großteil ihrer Macht eingebüßt. Die Politik wurde im 10. Jahrhundert von den großen Adligen dominiert, wie z. B. von Herzog Hugo Magnus aus dem Hause der Robertiner. Der Gegensatz zwischen Karolingern und Robertinern war in dieser Zeit prägend. In der Spätphase der westlichen Karolinger geriet König Lothar sogar in Abhängigkeit von den mächtigeren Ottonen. Er versuchte sich militärisch davon zu lösen und unternahm Vorstöße nach Ostfranken, die aber erfolglos verliefen. 987 wurde der Robertiner Hugo Capet zum neuen König gewählt. Damit begann die Herrschaft der später nach Hugos Beinamen benannten Kapetinger. Von Hugo Capet stammten alle späteren französischen Könige bis zur endgültigen Abschaffung des Königtums im 19. Jahrhundert in direkter männlicher Linie ab. Hugos Zeitgenossen nahmen seinen Regierungsantritt allerdings nicht als bedeutsame Zäsur wahr, als dauerhafter Dynastiewechsel erwies sich seine Erhebung erst später. Noch im selben Jahr erhob Hugo seinen Sohn Robert zum Mitkönig; er sollte seinem Vater 996 als Robert II. nachfolgen und bis 1031 regieren. Der Dynastiewechsel von 987 verlief aber nicht ohne Konflikte. Herzog Karl von Niederlothringen, ein karolingischer Königssohn, machte seinen Thronanspruch geltend. Er verbuchte einige Erfolge, bevor er durch Verrat in die Hände der Kapetinger fiel. Ein Umsturzversuch der Familie Blois im Jahr 993 scheiterte ebenfalls.
Die Kapetinger betonten die Sakralität ihrer Königswürde und das damit verbundene Ansehen (auctoritas). Den Kern der Königsherrschaft stellte die Krondomäne mit dem Zentrum Paris dar; der königliche Besitz wurde in den folgenden Jahrzehnten systematisch ausgebaut. Außerdem konnten die Kapetinger sich auf eine recht breite kirchliche Unterstützung verlassen. Die Durchsetzung der Königsherrschaft gelang jedoch nicht vollständig, denn die Großen des Reiches verkehrten mit den frühen Kapetingern auf einem relativ gleichen Niveau. Zwar waren sie zur Hof- und Heerfahrt verpflichtet, bisweilen kam es aber zu anti-königlichen Koalitionen. In mehreren Regionen konsolidierte sich die Fürstenherrschaft im frühen 11. Jahrhundert. Versuche Roberts II., die Königsmacht in herrschaftslos gewordenen Gebieten zu vermehren, waren nur im Herzogtum Burgund erfolgreich, während er etwa in den Grafschaften Troyes und Meaux scheiterte. Sein Sohn und Nachfolger Heinrich I. musste sich gegen das Haus Blois durchsetzen und unterhielt recht gute Verbindungen zu den salischen Herrschern. Außenpolitisch konnten die frühen Kapetinger keine Erfolge verbuchen; so scheiterte etwa der Versuch, Lothringen von den Ottonen zurückzugewinnen. Die französischen Könige waren aber bemüht, die Gleichrangigkeit ihres Reiches mit dem Imperium zu betonen. Im 12. Jahrhundert kam es zu Konflikten mit dem mächtigen Haus Plantagenet, das neben umfangreichem Festlandbesitz in Frankreich gleichzeitig bis ins Spätmittelalter die englischen Könige stellte. Erst unter Philipp II. August (reg. 1180–1223) gelang es den Kapetingern, die Oberhand zu gewinnen.
Das Königreich Burgund entstand während des Zerfalls des Karolingerreiches. 879 wurde Boso von Vienne zum König von Niederburgund gewählt, sein Sohn Ludwig der Blinde erweiterte kurzzeitig den burgundischen Herrschaftsraum. Bereits vor Ludwigs Tod 928 zerfiel der niederburgundische Herrschaftsraum, wovon zunächst Hugo von Vienne, letztendlich aber Hochburgund profitierte. Dort war 888 Rudolf I. zum König gekrönt worden. Immer wieder kam es in der Folgezeit zu Spannungen mit dem örtlichen Adel; ein starkes Königtum konnte sich nie entwickeln, die Königsmacht blieb vielmehr regional begrenzt. Rudolf II., dessen Expansion nach Nordosten in den schwäbischen Raum 919 gestoppt worden war, knüpfte Kontakte zu den Ottonen. Er erkannte die ostfränkische Oberhoheit an und leitete die Vereinigung von Hoch- und Niederburgund ein (angeblich 933 vertraglich vereinbart, was allerdings in der Forschung teils bestritten wird), doch starb er bereits 937. Sein Sohn Konrad konnte mit ottonischer Unterstützung seinen Herrschaftsanspruch auch in Niederburgund zur Geltung bringen. Die enge Anlehnung der burgundischen Rudolfinger an die Ottonen drückte sich im Erbfolgevertrag von 1016 aus, wovon die salischen Herrscher profitierten, die 1033 Burgund mit dem Imperium vereinigten.
Italien
Nach dem Ende Westroms 476 war es in Italien zunächst zu keinem kulturellen oder wirtschaftlichen Einbruch gekommen. Unter der Gotenherrschaft Theoderichs (489/93 bis 526) erlebte das Land vielmehr noch einmal ein Aufblühen der spätantiken Kultur, wie an den Philosophen Boethius und Symmachus zu erkennen ist. Theoderich zollte der senatorischen Elite Respekt und bemühte sich, im Einvernehmen mit den Römern zu herrschen. Er nutzte die Kenntnisse der senatorischen Führungsschicht in Italien und zog Römer für die Zivilverwaltung heran, trennte aber zivile und militärische Gewalt nach ethnischen Prinzipien auf. Seine Goten übten die Militärverwaltung aus und erhielten außerdem Land zugewiesen. Es scheint, als habe die Privilegierung der Ostgoten das Verschmelzen des römischen Adels mit der gotischen Führungsgruppe be- oder gar verhindert. Nach Theoderichs Tod 526 kam es zu Thronwirren, wobei Ostrom die günstige Gelegenheit nutzte und in Italien intervenierte. Der anschließende Gotenkrieg (535–552) verwüstete die Halbinsel, die nun vorläufig wieder eine oströmische Provinz wurde.
Die unter ihrem König Alboin 568 nach Italien eingebrochenen Langobarden profitierten vom Zustand des erschöpften Landes und den nur wenigen kaiserlichen Besatzungstruppen. Nur vereinzelt wurde den Eroberern Widerstand geleistet, so dass Mailand schon 569 fiel, Pavia jedoch erst 572. Die langobardische Eroberung von Ober- und Teilen Mittelitaliens erwies sich jedoch als verheerend für die Reste der antiken Kultur und die lokale Wirtschaft. Bereits in Cividale del Friuli hatte Alboin kurz nach Beginn der Invasion ein Dukat (Herzogtum) errichtet; diese Form der Herrschaftsorganisation (eine Zusammenführung spätrömischer Verwaltung und der langobardischen Militärordnung) sollte typisch für die Langobarden werden. Die Königsmacht verfiel nach der Ermordung Alboins 572 und der seines Nachfolgers Cleph 574, die langobardische Herrschaft zersplitterte in relativ selbstständige Dukate. Das Langobardenreich stand weiterhin unter hohem äußeren Druck. Erst angesichts einer Bedrohung durch die Franken wählten die Langobarden nach zehnjähriger Königslosigkeit 584 erstmals wieder Authari in diese Position. Die Oströmer/Byzantiner konnten zudem mehrere der Seestädte halten, außerdem Ravenna, Rom und Süditalien. Innenpolitisch blieben die Spannungen zwischen den zumeist arianischen Langobarden und den katholischen Romanen eine Belastung für das gegenseitige Verhältnis, wenngleich auch katholische Langobardenkönige herrschten. Erwähnenswert unter den Langobardenkönigen des 7. Jahrhunderts sind etwa Agilulf, unter dem die Langobarden wieder einige Erfolge erzielen konnten, und Rothari, der 643 die langobardischen Rechtsgewohnheiten systematisch sammeln und aufzeichnen ließ. Liutprand (reg. 712–744) wirkte ebenfalls als Gesetzgeber und konnte seine Macht sogar gegenüber den Duces von Spoleto und Benevent, den beiden südlichen langobardischen Herrschaften, zur Geltung bringen. Die Langobarden waren zu diesem Zeitpunkt endgültig katholisch geworden und traten wieder expansiv auf, so gegen Byzanz, und intervenierten auch in Rom. 774 schlugen die Franken König Desiderius und eroberten das Langobardenreich.
Italien im Frühmittelalter war ein politisch zersplitterter Raum. Während des Zerfallsprozesses des Karolingerreiches im 9. Jahrhundert stiegen lokale Machthaber auf. Sie regierten von 888 bis 961 als Könige unabhängig in Oberitalien, bis diese Region (außer der Republik Venedig) unter Otto I. in das Ostfrankenreich integriert wurde. Als Reichsitalien blieb es bis zum Ende des Mittelalters Teil des römisch-deutschen Reiches. In diesem Zusammenhang waren die von den Kaisern geförderten Bischöfe ein wichtiger Faktor zur Herrschaftssicherung. Die römisch-deutschen Könige seit Otto I. betrieben jedoch keine stringente Italienpolitik, sondern mussten ihre Herrschaftsrechte (Regalien), vor allem in späterer Zeit, auch militärisch durchsetzen. Realpolitisch relevant war die Beherrschung Oberitaliens vor allem aufgrund der vergleichsweise hohen Wirtschafts- und Finanzkraft der dortigen Städte, die seit dem 11. Jahrhundert wieder aufblühten; eine Sonderrolle spielten die Seerepubliken. Zunächst standen viele Städte in Reichsitalien unter dem Einfluss der Bischöfe, bevor sie nach und nach an politischer Autonomie gewannen. Neben der immer noch relativ starken städtischen Kultur war auch die antike Kultur dort in Teilen bewahrt worden. Das schriftliche Niveau lag höher als im Norden, was für eine effektive Herrschaftsausübung vorteilhaft war, wenngleich die persönliche Präsenz des Herrschers weiterhin ein wichtiger Faktor war. Andererseits profitierte Oberitalien von den nun stabileren politischen Verhältnissen.
Im 8. Jahrhundert hatte sich in Mittelitalien der Kirchenstaat etabliert, wobei dessen Umfang und der Status der Stadt Rom selbst zwischen den Päpsten und Kaisern oft umstritten war. Politisch gewannen die Päpste während des Niedergangs der Karolinger für kurze Zeit Spielraum, andererseits musste man in Rom wiederholt Angriffe der Normannen und Araber auf päpstlichen Besitz abwehren. Schon aus diesem Grund begrüßte man das spätere Eingreifen der Ottonen in Italien. Das Papsttum geriet aber im 10. Jahrhundert außerdem in die Auseinandersetzung einflussreicher stadtrömischer Familien, die es für ihre Zwecke instrumentalisierten, was einen Ansehensverlust für den Bischof von Rom bedeutete. Seit der Ottonenzeit übten, wie zuvor die Karolinger, die römisch-deutschen Herrscher eine Schutzherrschaft über das Papsttum aus, wenngleich es in der Salierzeit zum offenen, auch politisch motivierten Konflikt im Investiturstreit kam.
Byzanz verfügte noch bis ins 11. Jahrhundert über Stützpunkte in Italien. Nachdem Ravenna 751 an die Langobarden verloren gegangen war und man auch nicht mehr in Mittelitalien effektiv eingreifen konnte, konzentrierten sich die Byzantiner auf die Kontrolle ihrer Besitzungen in Süditalien. Diese wurden von arabischen Raubzügen, vor allem seit der von Nordafrika aus erfolgten Eroberung Siziliens im 9. Jahrhundert (Fall von Syrakus 878, Fall Taorminas 902), und seit dem 10. Jahrhundert auch von den römisch-deutschen Herrschern bedroht. Mit dem Fall Baris 1071 endete die byzantinische Herrschaft in Italien endgültig. In Süditalien übernahmen dafür die Normannen eine führende Rolle. Sie waren zu Beginn des 11. Jahrhunderts von dortigen langobardischen Lokalherrschern als Krieger angeworben worden, etablierten aber bald schon eigene Herrschaften. Sie nutzten die komplizierte politische Lage im Raum zwischen Byzanz, Papsttum und lokalen Herrschern aus, wobei die Bündnisse wechselhaft waren. In Aversa, Capua und Salerno entstanden in der Folgezeit normannische Fürstentümer. Die Normannen expandierten ab 1061 auch nach Sizilien, das in der Zwischenzeit partiell und kurzzeitig von den Byzantinern zurückerobert worden war, und gewannen die Insel für sich. Eine führende Rolle spielte die Familie Hauteville. Bereits 1059 war für sie das Herzogtum von Apulien und Kalabrien als päpstliches Lehen geschaffen worden; sie erlangten 1130 die Königswürde für Sizilien und Unteritalien, bis das Königreich Sizilien 1194 an die Staufer fiel.
Iberische Halbinsel
In Hispanien und Südgallien hatte sich Ende des 5. Jahrhunderts das Westgotenreich etabliert. Die Westgoten mussten jedoch nach der schweren Niederlage in der Schlacht von Vouillé gegen die Franken 507 Gallien bis auf die Region um Narbonne räumen. Toledo wurde die neue Hauptstadt der Westgoten (Toledanisches Reich) und im Laufe des 6. Jahrhunderts entwickelte sich eine westgotische Reichsidee. Das Verhältnis zwischen König und einflussreichen Adeligen war nicht selten angespannt und es kam wiederholt zu Auseinandersetzungen. Die Westgoten waren zudem Arianer, was zu Konflikten mit der katholischen Mehrheitsbevölkerung führte. Leovigild war wie sein Sohn und Nachfolger Rekkared I. ein bedeutender Herrscher. Er eroberte 585 das Suebenreich im Nordwesten Hispaniens, scheiterte jedoch bei seinem Versuch, die kirchliche Einheit des Reiches durch einen gemäßigten Arianismus herzustellen. Das Problem löste Rekkared I., der 587 zum katholischen Glauben übertrat, indem er 589 auf dem 3. Konzil von Toledo den Übertritt der Westgoten erreichte. Dies begünstigte den ohnehin recht großen Einfluss der Westgotenkönige auf ihre Reichskirche.
Die Oströmer wurden zu Beginn des 7. Jahrhunderts aus Südspanien vertrieben und die Franken stellten keine unmittelbare Bedrohung mehr dar. Dennoch gelang es den folgenden westgotischen Königen nicht, eine dauerhafte Dynastie zu begründen. Grund dafür waren die internen Machtkämpfe im 7. Jahrhundert. Es kam immer wieder zu Rebellionen und Machtkämpfen zwischen rivalisierenden Adelsgeschlechtern, wobei der Hofadel besonders einflussreich war. Von den westgotischen Königen des 7. Jahrhunderts wurden mehr als die Hälfte abgesetzt oder ermordet. Dennoch gelang es einzelnen Königen durchaus sich zu behaupten, so etwa Chindaswinth (642–653) oder König Rekkeswinth (653–672). Unter Rekkeswinth herrschte im Reich wieder weitgehend Frieden. Er regierte im Einklang mit dem Adel und erließ 654 ein einheitliches Gesetzbuch für Goten und Romanen. Das Reich profitierte von der Anknüpfung an spätrömische Traditionen und erwies sich insgesamt als gefestigt. Der christliche Königsgedanke des Frühmittelalters wiederum war von der westgotischen Idee des sakral legitimierten Königtums beeinflusst. Kulturell erlebte das Reich um 600 eine Blütezeit, deren wichtigster Repräsentant Isidor von Sevilla war. Das Westgotenreich erlangte, nicht zuletzt durch die Tradierung des Wissens in den dortigen Klosterschulen, eine beachtliche kulturelle Strahlkraft. Im frühen 8. Jahrhundert wurde das Reich von den Arabern erobert; sie schlugen 711 König Roderich in der Schlacht am Río Guadalete.
Die politische Lage auf der Iberischen Halbinsel war im weiteren Verlauf des Frühmittelalters recht kompliziert. Nach dem Fall des Westgotenreichs drangen die Mauren zeitweilig sogar in das südliche Frankenreich vor. Alle Teile der Halbinsel kamen zunächst unter islamische Herrschaft, doch schon wenige Jahre nach der Invasion der Muslime formierte sich im Nordwesten Widerstand. Dort wählten christliche Adlige 718 den vornehmen Goten Pelagius zu ihrem König. Damit wurde das Königreich Asturien gegründet. Dies gilt als der Ausgangspunkt der Reconquista, der Rückeroberung durch die Christen, wobei manche christliche Herrscher die Anknüpfung an die Westgoten betonten (Neogotismus). Bis ins späte 15. Jahrhundert standen sich ein christlicher Norden und ein islamisch beherrschter, lange Zeit sehr viel mächtigerer und (allerdings nicht in der Anfangszeit der Eroberung) kulturell höher entwickelter Süden (Al-Andalus) gegenüber. Neben dem bestehenden Königreich Asturien-León, das im 10. Jahrhundert eine Blütezeit erlebte und im 11. Jahrhundert mit Kastilien verbunden wurde, entstanden weitere christliche Reiche in Nordspanien: im 9. Jahrhundert die Grafschaft (seit Ferdinand I. im frühen 11. Jahrhundert: Königreich) Kastilien und das Königreich Navarra; hinzu kamen die ehemalige fränkische Spanische Mark, aus der sich die Grafschaft Barcelona entwickelte, und im 11. Jahrhundert das Königreich Aragon. Die Christen profitierten von den innenpolitischen Krisen im Emirat und dem späteren Kalifat von Córdoba und waren seit dem 9. Jahrhundert offensiver vorgegangen; trotz mancher Rückschläge und maurischer Gegenangriffe drängten sie die islamische Herrschaft Stück für Stück nach Süden zurück.
Daneben gab es aber immer wieder Phasen der Koexistenz. In Al-Andalus lebten Muslime, Christen und Juden weitgehend friedlich zusammen, wenngleich es auch einige Übergriffe von Muslimen auf Christen gab und die Koexistenz nicht idealisiert werden sollte. Die Kultur im islamischen Spanien stand im 10. Jahrhundert in voller Blüte. Córdoba war zu dieser Zeit eine der größten und reichsten Städte des Mittelmeerraums. Es fand auch ein kultureller Austauschprozess statt, der für die christliche Seite sehr vorteilhaft war. Die Mehrheit der Bevölkerung im maurischen Spanien war noch im 10. Jahrhundert christlich (Mozaraber). Es fanden aber Abwanderungen in die christlichen Reiche und Konversionen zum Islam statt, vor allem als sich die tolerante muslimische Religionspolitik später teils änderte. Unter Sancho III. von Navarra, der sein Reich erheblich ausgedehnt hatte, erlebte das christliche Spanien im frühen 11. Jahrhundert eine politische und kulturelle Erstarkung (gestützt durch eine Klosterreform). Sancho teilte sein Reich unter seinen Söhnen auf, doch wurden nun diese Reiche von Nachfahren derselben Dynastie regiert. Nach dem Fall des Kalifats von Córdoba 1031 spaltete sich der islamische Süden in zahlreiche Klein- und Kleinstreiche auf (Taifa-Königreiche), was die christlichen Herrscher ausnutzten. 1085 fiel die ehemalige westgotische Königsstadt Toledo an Alfons VI. von León-Kastilien, woraufhin die muslimischen Herrscher in Sevilla und Granada die Almoraviden aus Nordafrika zu Hilfe riefen, die Alfons 1086 in der Schlacht bei Zallaqa schlugen, bald aber eigene Herrschaften errichteten.
Die britischen Inseln
Über die Vorgänge in Britannien unmittelbar nach dem Abzug der Römer zu Beginn des 5. Jahrhunderts liegen fast keine schriftlichen Zeugnisse vor, weshalb kaum Details bekannt sind. Der grobe Rahmen kann aber anhand der wenigen schriftlichen und archäologischen Quellen zumindest annähernd rekonstruiert werden. Das Feldheer hatte die Insel 407/8 unter dem Gegenkaiser Konstantin III. wohl vollständig geräumt, es ist aber schwer vorstellbar, dass nicht zumindest ein Minimum an Garnisonstruppen zurückgelassen worden ist, da die Insel als Ganzes wohl nicht aufgegeben werden sollte. Die wenigen Verbände dürften sich erst im Laufe der Zeit aufgelöst haben, als die Insel faktisch sich selbst überlassen wurde, weshalb es 409 in Britannien zum Aufstand kam. Die lokale Verwaltung scheint anschließend zumindest teilweise noch längere Zeit funktioniert zu haben, es entstanden schließlich mehrere romano-britische Kleinreiche (Sub-Roman Britain). In dieser Zeit kamen Angelsachsen in relativ geringer Anzahl als Söldner nach Britannien und übernahmen statt römischer Soldaten Verteidigungsaufgaben.
Um die Mitte des 5. Jahrhunderts erhoben sich die Angelsachsen gegen die romano-britischen Herrscher, wobei die Gründe nicht ganz klar sind. Um 500 scheinen die Angelsachsen zu einem vorläufigen Siedlungsstopp gezwungen worden zu sein, nachdem sie von Ambrosius Aurelianus in der nicht genau datierbaren oder lokalisierbaren Schlacht von Mons Badonicus geschlagen worden waren. In der Folgezeit drängten sie jedoch die Romano-Briten zurück. Zwar sind Einzelheiten darüber nicht überliefert, doch gelang es den Angelsachsen bis zum Ende des 7. Jahrhunderts weite Teile des Gebiets südlich des Firth of Forth unter ihre Kontrolle zu bringen, wobei es offenbar wiederholt zu schweren Kampfhandlungen kam. Einzelne britische Gebiete konnten jedoch ihre Unabhängigkeit bewahren, so Wales und das heutige Cornwall. Es kam auch kaum zu massenhaften Vertreibungen der romano-britischen Bevölkerung. Der Christianisierung der Angelsachsen gelang im 7. Jahrhundert der Durchbruch. In dieser Zeit bildete sich auch die sogenannte Heptarchie aus, die sieben bis ins 9. Jahrhundert dominierenden angelsächsischen Königreiche (Essex, Sussex, Wessex, Kent, East Anglia, Mercia und Northumbria), wovon Mercia und Northumbria die mächtigsten waren und immer wieder Kämpfe um die Oberherrschaft ausfochten. Mercia siegte über Northumbria 679 in der Schlacht am Fluss Trent, wodurch Mercias Vormachtstellung begründet wurde; bedroht wurden die angelsächsischen Reiche aber auch von Einfällen der Pikten.
Die südlichen angelsächsischen Reiche gerieten in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts in die Abhängigkeit Mercias, das unter Offa zeitweise zum mächtigsten Reich in England aufstieg, während Northumbria aufgrund des mercischen Widerstands nach Norden expandierte. Die Vorherrschaft Mercias unter den angelsächsischen Reichen war nur von kurzer Dauer. Bereits im frühen 9. Jahrhundert befreiten sich East Anglia und Kent von der mercischen Vorherrschaft. Unter Egbert gewann Wessex wieder zunehmend an Einfluss. Mit dem Sieg über Mercia in der Schlacht von Ellendun 825 wurde die mercische Hegemonie endgültig gebrochen und Wessex annektierte mehrere andere angelsächsische Gebiete. Um die Mitte des 9. Jahrhunderts kontrollierte Wessex ganz England südlich der Themse, als 866 die große Wikingerinvasion begann.
Das angelsächsische England war besonders in der Frühzeit mit Skandinavien verbunden. 865/66 schlossen sich jedoch mehrere Wikingerführer (darunter Ivar Ragnarsson, ein Held der skandinavischen Saga-Literatur) zusammen und fielen von Dänemark aus mit einem großen Heer in Nordostengland ein, wobei sie plünderten und zahlreiche Bewohner töteten. Der Einfall steht wahrscheinlich in Verbindung mit den verstärkten Abwehrbemühungen im Frankenreich, so dass England ein leichteres Ziel darstellte. Das Wikingerheer war offenbar den angelsächsischen Truppen zahlenmäßig überlegen. 871 kontrollierten die Wikinger bereits den Osten Englands, von York im Norden bis in den Raum London. Doch erst in den 870er Jahren begannen sie sich dort anzusiedeln, wenngleich sie teils angelsächsische Schattenkönige einsetzten. Damit zerbrach die bisherige politische Ordnung der angelsächsischen Reiche, nur Wessex blieb zunächst relativ unbeschadet. Mit Alfred von Wessex (reg. 871–899), später „Alfred der Große“ genannt, begann jedoch die Zurückdrängung der Wikinger und eine bedeutende Zeit des angelsächsischen Englands. Nach anfänglichen Rückschlägen besiegte Alfred die Wikinger 878 in der Schlacht von Edington. Sein Gegner Guthrum ließ sich taufen und zog sich aus Wessex zurück; 886 wurde in einem Vertrag die Grenze zwischen Angelsachsen und Danelag festgelegt. Faktisch herrschte Alfred zu diesem Zeitpunkt über alle Angelsachsen, die nicht im dänischen Herrschaftsbereich lebten. Zur weiteren Abwehr gegen die Wikinger, die gegen Ende seiner Regierungszeit wieder angriffen, wurden burhs (befestigte Plätze) eingerichtet und eine Kriegsflotte aufgestellt. Im Inneren betrieb er nach dem karolingischen Vorbild eine wirksame Kulturförderung.
Die Nachfolger Alfreds (wie sein Sohn Eduard der Ältere) drängten die dänische Herrschaft immer weiter zurück, bis nur noch das Königreich York übrig blieb. Eduards Sohn Æthelstan betrieb wie Alfred eine intensive Förderung der Kultur und konnte auch militärische Erfolge verbuchen. Doch fanden einige Könige von Wessex nicht die allgemeine Anerkennung aller Angelsachsen. So versuchte man in Northumbria einige Zeit, mit Hilfe der Dänen die Unabhängigkeit zu bewahren. Im 10. Jahrhundert kam es daher immer wieder zu Kämpfen um die Herrschaft über das gesamte angelsächsische England. Die relativ lange Regierungszeit Edgars wirkte sich stabilisierend aus, doch nach seinem Tod 975 traten Spannungen wieder offen hervor. Darauffolgende Versuche, die Königsmacht weiter zu konsolidieren, hatten kaum Erfolg, vor allem weil es seit 980 wieder zu größeren Wikingereinfällen kam. Der Höhepunkt dieser Entwicklung war unter Knut dem Großen erreicht, der im frühen 11. Jahrhundert kurzzeitig ein maritimes Reich errichtete, das große Teile Westskandinaviens sowie England umfasste. In England bestieg 1042 Eduard der Bekenner den Thron, doch hatte er mit starken innenpolitischen Widerständen zu kämpfen, was ihm nur relativ geringen Handlungsspielraum ließ. Als er 1066 starb, endete damit die westsächsische Dynastie. Im Nachfolgekampf setzte sich schließlich der Normanne Wilhelm der Eroberer durch, der 1066 in der Schlacht bei Hastings siegte. Dies bedeutete das Ende des angelsächsischen Englands.
Im Norden Britanniens entstand Mitte des 9. Jahrhunderts das Königreich Schottland aus Vereinigung der Pikten mit den keltischen Skoten (Dál Riada), wobei das Königtum eher schwach ausgeprägt war. Obwohl eine flächendeckende Herrschaftsdurchdringung nicht oder kaum gelang, wurde Lothian um 950, Cumbria 1018 hinzugewonnen. Unter Malcolm II. (gest. 1034) nahm das Königreich Alba (Schottland) langsam endgültig Gestalt an. Kämpfe mit den Angelsachsen waren relativ selten, dafür mussten wiederholt Wikingerangriffe abgewehrt werden.
In Irland herrschten neben Stammeskönigen vor allem regionale Kleinkönige. Bemerkenswert ist das Fortbestehen irischer Dynastien über lange Zeiträume. Das Hochkönigsamt, das ahistorisch uralt gewesen sein soll, wurde von verschiedenen Gruppen immer wieder beansprucht. Vor allem die Uí Néill, deren Aufstieg bereits im 5. Jahrhundert begann und auf Kosten des Provinzialkönigreichs Ulaid ging, versuchten es zur Legitimation ihres Herrschaftsanspruchs zu nutzen und beanspruchten seit dem 7. Jahrhundert das „Königtum von Tara“. Zwischen den einzelnen Gruppen kam es wiederholt zu Kampfhandlungen. So konnte sich bis ins Hochmittelalter kein starkes, die ganze Insel umfassendes Königtum etablieren. Ende des 8. Jahrhunderts tauchten die Wikinger in Irland auf und errichteten Stützpunkte; im 10. Jahrhundert sind Siedlungen der Wikinger und Kämpfe mit ihnen belegt. Damit war Irland das erste Mal in geschichtlicher Zeit militärischen Angriffen von außen ausgesetzt.
Skandinavien
Mehrere germanische Stämme der Völkerwanderungszeit beanspruchten in ihren Herkunftsgeschichten eine Abstammung aus Skandinavien, doch wird dies in der modernen Forschung in der Regel als Topos betrachtet, der vor allem der Identitätsstiftung diente und zusätzliche Legitimation verschaffen sollte. Das beginnende Frühmittelalter im skandinavischen Raum wird in der modernen Forschung als Vendelzeit (Schweden, nach den reichen Grabfunden in Vendel), Merowingerzeit (Norwegen) oder jüngere germanische Eisenzeit (Dänemark) bezeichnet. Über diesen Zeitraum sind nur wenige Details bekannt, vor allem auf Grundlage archäologischer Funde. In der Forschung wurde oft angenommen, dass sich im späten 6. und im 7. Jahrhundert ein Niedergang vollzogen habe, wobei mehrere Siedlungen verfallen seien. Neuere Untersuchungen zeigen hingegen, dass zahlreiche Siedlungen kontinuierlich bewohnt blieben. Um 600 wurden zusätzliche Flächen kultiviert und Funde deuten auf weiterhin aktive politische Zentren von Häuptlingen und Kleinkönigen hin; allerdings fehlen teilweise noch Studien für einzelne Regionen.
Herrschaftsausübung hing in Skandinavien jedenfalls (wie auch in anderen Teilen des frühmittelalterlichen Europas) eng mit der Fähigkeit des jeweiligen Herrschers zusammen, durch Kämpfe Prestige und Reichtum zu erlangen und seine Anhänger daran teilhaben zu lassen. Dies führte schließlich zu Raubzügen in andere Regionen. Im späten 8. Jahrhundert begann in Skandinavien die Wikingerzeit. 793 überfielen skandinavische Seefahrer, die sogenannten Wikinger, das Kloster Lindisfarne vor der Küste Englands. In den folgenden Jahren fielen sie wiederholt auf der Suche nach Beute in das Frankenreich und in England sowie in Irland ein, wobei sie teilweise befestigte Plätze zum Überwintern bzw. Siedlungen errichteten. Die Wikinger waren sowohl als Räuber als auch als Händler aktiv. Ihre Züge führten sie bis ins Mittelmeer und nach Osteuropa, schließlich in den Nordatlantik. Dort entstanden auf Island wohl Ende des 9. Jahrhunderts erste Siedlungen, Ende des 10. Jahrhunderts wurde Grönland besiedelt; schließlich fanden sogar Fahrten nach Nordamerika statt (Vinland). Im Osten stießen skandinavische Seefahrer, die sogenannten Waräger, über verschiedene Flüsse bis ins Innere Russlands vor, betrieben Handel und waren auch politisch aktiv, wie etwa die Nestorchronik berichtet (siehe Kiewer Rus). Andere Gruppen gelangten bis in den arabischen und byzantinischen Raum. Die zeitgenössischen Quellen, etwa die angelsächsische Chronik oder die fränkischen Reichsannalen und deren spätere Fortsetzungen, beschreiben mehrfach die verheerenden Überfälle der Wikinger. Dem folgten auch Herrschaftsbildungen. Im späten 9. Jahrhundert setzten sie sich im Norden Englands fest, während 911 der Wikinger Rollo vom westfränkischen König mit der Normandie belehnt wurde. Die romanisierten Normannen sollten im 11. Jahrhundert auch in Unteritalien aktiv werden und 1066 England erobern.
Die politische Geschichte Skandinaviens im Frühmittelalter ist recht verworren und die Quellen sind nicht immer zuverlässig. Schweden, wo Ende des 10. Jahrhunderts das Königtum der Svear Gestalt annahm, stand in enger wirtschaftlicher Beziehung zu Osteuropa. Das schwedische Königtum war im Frühmittelalter nur schwach ausgebildet und hatte in paganer Zeit vor allem kultischen Charakter. Vermutlich war Olof Skötkonung (gest. 1022) der erste König, der über ganz Schweden herrschte. Er war Christ und nutzte die Religion anscheinend bei dem Versuch, seiner Herrschaft Autorität zu verschaffen, was aber auf Widerstand stieß. Dafür siegte er 999 oder 1000 im Bündnis mit Dänemark in der Seeschlacht von Svold über den norwegischen König Olav I. Tryggvason. Über die ihm direkt nachfolgenden schwedischen Könige ist kaum etwas bekannt. Anund Jakob stellte sich zusammen mit norwegischer Unterstützung der dänischen Vorherrschaft unter König Knut entgegen.
In Norwegen ist ein Königtum um 900 unter Harald I. in den Quellen belegt. Er scheint weite Teile Südwestnorwegens direkt beherrscht und in anderen Teilen eine eher formale Oberherrschaft ausgeübt zu haben, doch sind Details kaum bekannt (siehe Geschichte Norwegens von Harald Hårfagre bis zur Reichseinigung). Haralds ältester Sohn und Nachfolger Erik musste ins Exil gehen (vermutlich nach England), wo er auch starb. Im frühen 11. Jahrhundert förderte dann Olav II. Haraldsson das Christentum in Norwegen. Er hatte sowohl mit innenpolitischen Gegnern zu kämpfen als auch mit den Ansprüchen des Dänenkönigs Knut. Einen ersten Angriff Knuts konnte Olav abwehren, doch 1028 musste er an den Hof von Jaroslaw von Kiew flüchten und fiel 1030 beim vergeblichen Versuch, den norwegischen Thron zurückzugewinnen. Olavs Sohn Magnus wurde 1035 in jungen Jahren nach Norwegen gerufen, wo er schließlich gegen politische Gegner vorging. Magnus musste sich am Ende seiner Regierungszeit die Herrschaft mit seinem Onkel Harald Hardråde teilen, der ihm 1047 nachfolgte. Harald erlangte die Kontrolle über ganz Norwegen und vollendete die Reichseinigung, starb aber 1066 in England. Norwegen konnte in dieser Zeit die Unabhängigkeit von Dänemark bewahren, Magnus und Harald erhoben sogar Anspruch auf die dänische Königskrone.
In Dänemark sind Könige, die möglicherweise recht früh über eine relativ starke Stellung verfügten, bereits im frühen 9. Jahrhundert belegt, als es zu Kämpfen mit den Franken kam. Allerdings scheint es sich um Kleinkönige gehandelt zu haben, die zunächst keine dynastisch legitimierte Herrschaftsausübung etablieren konnten. Dänemark übte im 9. Jahrhundert, in dem Könige wie Gudfred und Horik I. in den Quellen erwähnt werden, zeitweise eine Oberherrschaft im südlichen Skandinavien aus, die um 900 erschüttert wurde. Im frühen 10. Jahrhundert ist König Gorm belegt, in dessen Regierungszeit die dänische Macht wieder gefestigter war. Über Gorm selbst ist kaum etwas bekannt, aber anders als er, lehnte sein Sohn Harald Blauzahn die Taufe nicht ab. Haralds Sohn Sven Gabelbart versuchte sich als Wikingeranführer und fiel auch in England ein; dort wurde er 1013 als König anerkannt, starb aber 1014. Sein Sohn war der bereits erwähnte Knut (auch Knut der Große genannt), der England und Dänemark für kurze Zeit in einer Art Personalunion verband. Knut fiel 1015 in England ein und errang dort militärische Erfolge. Mit König Edmund II. verständigte er sich und übernahm nach dessen Tod 1016 auch Wessex. Somit herrschte Knut faktisch über ganz England. Seit 1014/1015 bezeichnete er sich als rex Danorum („König der Dänen“), Alleinherrscher in Dänemark war er seit 1019. In Schweden und Norwegen stieß seine Expansion auf harten Widerstand, wobei Knut gegen Norwegen erfolgreicher agierte. Das von ihm errichtete Nordseereich hatte nach seinem Tod 1035 jedoch keinen Bestand.
Ost- und Südosteuropa
Der Osten und Südosten Europas war im Frühmittelalter ein politisch zersplitterter Raum. Noch im Verlauf der endenden Völkerwanderung im 6. Jahrhundert drangen in den von germanischen Stämmen weitgehend aufgegebenen Raum östlich der Elbe und nördlich der Donau Slawen ein. Ihre Herkunft bzw. der Prozess ihrer Ethnogenese ist bis heute umstritten und problematisch. Gesichert ist ihr Auftauchen durch archäologische Befunde sowie literarische Quellen (z. B. Jordanes und Prokopios von Kaisareia) erst für das 6. Jahrhundert. Eine aus dem 9. Jahrhundert stammende Aufzeichnung der Slawenstämme findet sich beim sogenannten Bayerischen Geographen. Einzelheiten über die weitere Ausbreitung der Slawen und ihren ersten Herrschaftsbildungen sind kaum bekannt; nur wenn sie in Kontakt oder Konflikt mit den Nachbarreichen kamen, ändert sich dies.
Im Donauraum tauchten zur Zeit Justinians die Anten auf. In der Folgezeit überschritten offenbar mehrere slawischen Gruppen die Donau, wobei sie zunächst unter der Oberherrschaft der Awaren standen. Diese hatten Ende des 6. Jahrhunderts im Balkanraum ein Steppenreich errichtet, bevor die Macht der Awarenkhagane im 7. Jahrhundert spürbar nachließ. Seit den 580er Jahren geriet die byzantinische Grenzverteidigung im Donauraum unter massiven Druck und gab schließlich zu Beginn des 7. Jahrhunderts nach, zumal die Truppen im Osten im Kampf gegen die Perser benötigt wurden. Slawen fielen daraufhin in die römischen Balkanprovinzen und in Griechenland ein. 626 belagerten Slawen als awarische Untertanen vergeblich Konstantinopel. Nach dem Zusammenbruch der awarischen Vorherrschaft bildeten sich im Balkanraum mehrere slawische Herrschaften, die von den Byzantinern als Sklavinien bezeichnet wurden. Es fand eine faktische Landnahme statt, auch in Teilen Griechenlands siedelten sich Slawen an, wo es aber nach der byzantinischen Rückeroberung zu einer Rehellenisierung kam. Die byzantinischen Städte im Balkanraum schrumpften, wirtschaftlich und demographisch bedeutete dies ebenfalls einen erheblichen Verlust, wenngleich nur wenige Details bekannt sind. Andererseits übte Byzanz in der Folgezeit noch einen großen kulturellen Einfluss auf die Balkanreiche aus.
Erst im 8. Jahrhundert konnte Byzanz in diesem Raum wieder in die Offensive gehen, als mit den (später slawisierten) Protobulgaren bereits ein neuer Gegner auftauchte, der ebenfalls eine Bedrohung für Byzanz darstellte, während die Wolgabulgaren eine eigene Reichsbildung betrieben. Trotz byzantinischer Militäroperationen (dabei unterlag eine byzantinische Armee bereits 679, während im 8. Jahrhundert Operationen teils sehr erfolgreich verliefen), konnte sich das Bulgarenreich in den Kämpfen mit den Byzantinern behaupten, wie etwa die Erfolge Krums belegen. Es kam im bulgarischen Herrschaftsraum zunehmend zu einer Verschmelzung der protobulgarischen und slawischen Gruppen. Unter Omurtag kam es zu einer intensiven Bautätigkeit im Reich, Bulgarien wurde aber ebenso von byzantinischen Einflüssen geprägt. Unter Boris I., der sich 865 auf den Namen Michael taufen ließ, verstärkte sich im 9. Jahrhundert die Christianisierung trotz mancher Widerstände bulgarischer Bojaren. Die stetige Slawisierung Bulgariens gipfelte in der Übernahme der Liturgie in slawischer Sprache und des kyrillischen Alphabets. Höhepunkt der frühmittelalterlichen bulgarischen Geschichte stellte die Regierungszeit Simeons I. im frühen 10. Jahrhundert dar, der gebildet und militärisch erfolgreich war. Er war der erste bulgarische und slawische Herrscher mit dem Titel Zar, der slawischen Entsprechung für einen (regional begrenzten) Kaisertitel. Die Kampfhandlungen mit Byzanz flackerten immer wieder auf, bevor Kaiser Basileios II. nach brutalen Kämpfen die Bulgaren 1014 entscheidend schlug und das Bulgarenreich 1018 eroberte.
Eine slawische Westbewegung in den Raum des heutigen Tschechiens und des Ostalpenraums ist archäologisch für das 6. Jahrhundert belegt, die Ostseeküste wurde wohl im 7. Jahrhundert erreicht. Den Zerfall des Awarenreiches begünstigte die „slawische Expansion“. So nutzte dies ein fränkischer Kaufmann namens Samo aus, der sich an die Spitze eines Slawenaufstands stellte und in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts ein slawisches Reich (wohl im böhmischen Raum) errichtete, das auch einem Angriff der Franken widerstand, nach Samos Tod aber zusammenbrach. Besonders im 9. Jahrhundert entstanden mehrere, auch länger bestehende slawische Herrschaften, so in Böhmen, das bald christianisiert wurde und seit dem 10. Jahrhundert zum römisch-deutschen Reich gehörte. Des Weiteren Kroatien (wobei die Kroaten bereits im 7. Jahrhundert nach Dalmatien eingewandert waren) und Serbien (das bald unter byzantinischen Einfluss geriet). Weiter östlich entstanden in Polen und in der heutigen Ukraine neue Herrschaften, die in der weiteren Geschichte Europas eine bedeutende Rolle spielten. Dazu gehörte etwa der Kiewer Rus, der im 10. Jahrhundert christianisiert wurde und unter Wladimir I. eine erste Blütezeit erlebte.
Um 900 fand auch die Landnahme der (nicht slawischen) Ungarn statt, die wiederholt weitreichende Raubzüge unternahmen und mehrmals in Italien und Ostfranken einfielen, bevor sie 955 geschlagen wurden. Erster ungarischer König wurde 1001 Stephan I., der Begründer der Árpáden-Dynastie. Stephan war Christ und unterstellte sein Reich dem Heiligen Stuhl, wofür er die kirchliche Organisationsoberhoheit erhielt. Er schuf im Inneren eine königliche Verwaltung und stärkte Kirche und Königsgewalt in Ungarn. Außenpolitisch kam es im frühen 11. Jahrhundert zu Konflikten mit dem römisch-deutschen Reich, während Ungarn, das zu einer bedeutenden Macht in Südosteuropa aufstieg, zu Byzanz und Polen recht gute Beziehungen unterhielt.
Im 9. Jahrhundert wurde von den Franken die Grenze im Elberaum gesichert. Hier hatten sich in karolingischer Zeit mehrere Slawenstämme etabliert, darunter die Abodriten und Wilzen. In ottonischer Zeit wurde die Unterwerfung und Christianisierung der paganen Elbslawen versucht, doch erlitt dieses Vorhaben durch den Slawenaufstand von 983 einen erheblichen Rückschlag. Polen, das sich im 8./9. Jahrhundert mit dem Kernraum der Polanen etablierte, erstarkte unter den Piasten im 10. Jahrhundert. Mieszko I. nahm das Christentum an, fortan förderten die polnischen Herrscher die Missionierungen der paganen Gebiete. Mit den ottonischen und salischen Herrschern kam es immer wieder zu Kooperationen (verbunden mit Tributzahlungen) und Konflikten, als Abgrenzung zum römisch-deutschen Reich sind auch die drei Königskrönungen im 11. Jahrhundert zu verstehen. Bolesław I. ließ sich 1024/25 zum König krönen, doch musste Polen schließlich Gebiete an die salischen Herrscher abtreten. Hauptresidenz des verkleinerten Königreichs wurde Krakau.
Byzanz
Das Oströmische Reich hatte sich im Laufe des 7. Jahrhunderts tiefgreifend gewandelt (siehe oben). Das in Armee und Verwaltung noch gesprochene Latein war endgültig dem Griechischen gewichen; aufgrund der arabischen Eroberungen sowie der Bedrohung der Balkangebiete waren um die Mitte des 7. Jahrhunderts an den Grenzen Militärprovinzen entstanden, die sogenannten Themen. Auf dem Fundament römischen Staatswesens, griechischer Kultur und christlich-orthodoxen Glaubens entstand das mittelalterliche Byzanz. Die Abwehrkämpfe gegen die Araber dauerten bis ins 8./9. Jahrhundert an.
Byzanz verlor mit den orientalischen und afrikanischen Provinzen bis Ende des 7. Jahrhunderts mehr als die Hälfte seiner Bevölkerung und des Steueraufkommens an das Kalifat. Der Verlust dieser Provinzen, in denen mehrheitlich christliche Kirchen mit einer abweichenden Haltung zur Reichskirche vertreten waren, sorgte aber auch für eine stärkere religiöse Gleichförmigkeit des Reiches. Die arabische Seemacht und regelmäßige Vorstöße zu Land bedrohten zunächst weiterhin Byzanz, während die Balkangebiete und Griechenland von Bulgaren und Slawen bedrängt wurden. In Griechenland siedelten sich im späten 6. (vielleicht aber auch erst im frühen 7.) Jahrhundert slawische Gruppen an, doch sind die Details in der neueren Forschung umstritten. Mehrere Küstenregionen blieben in byzantinischer Hand. Die von Slawen beherrschten Gebiete in Griechenland (Sklavinien) wurden bis ca. 800 nach und nach zurückerobert und wieder hellenisiert. Auf dem Balkan sowie in Kleinasien, der nun zentralen Reichsregion, entstanden Festungsstädte, Kastra genannt. Diesen Existenzkampf konnte das Reich durch eine militärische Neuorganisation mit fähigen Generalen, begünstigt durch innerarabische Machtkämpfe, überstehen, wonach sich der byzantinische Staat wieder konsolidierte. Ein nicht unwichtiger Verbündeter gegen das Kalifat war das mächtige Chasarenreich an der Nordküste des Schwarzen Meeres.
Justinian II. war der letzte Herrscher der von Herakleios begründeten Dynastie, die das Reich seit 610 regiert hatte. Nach seinem Tod 711 folgten einige Jahre der Anarchie, bevor 717 mit dem Themengeneral Leo wieder ein fähiger Kaiser den Thron bestieg. Leo(n) III. wehrte 717–718 den letzten und ernsthaftesten arabischen Vorstoß auf Konstantinopel ab. Der neue Kaiser ging sogar zu einer begrenzten Offensive über und errang 740 bei Akroinon einen großen Sieg. Leo sicherte die Grenzen und begann im Inneren mit Reformen; so wurde etwa ein neues Gesetzbuch (Ekloge) herausgegeben. 741 folgte ihm sein Sohn Konstantin V. (reg. 741–775) nach, der zunächst eine Usurpation niederschlagen musste. Gegen Araber, Bulgaren und Slawen ging der Kaiser in den folgenden Jahren offensiv vor und errang mehrere Erfolge.
Im Inneren wurde Byzanz im 8. und 9. Jahrhundert durch den sogenannten Bilderstreit erschüttert. In der modernen Forschung wird dieser wichtige Abschnitt der mittelbyzantinischen Zeit allerdings sehr viel differenzierter betrachtet. Verglichen mit der außenpolitischen Bedrohung, scheinen die erhaltenen (bilderfreundlichen) Quellen ein recht verzerrtes Bild von dieser inneren Auseinandersetzung zu vermitteln, das nicht der Realität entspricht. So ist es bereits sehr fraglich, ob es durch die „ikonoklastischen“ (bilderfeindlichen) Kaiser zu einem regelrechten Bilderverbot oder blutigen Verfolgungen aufgrund der Bilderverehrung gekommen ist (siehe unten).
Die von Leo III. begründete Syrische Dynastie hielt sich bis 802 an der Macht; es folgten die Amorische Dynastie (820–867) und die Makedonische Dynastie (867–1057). Außenpolitisch musste das Reich im frühen 9. Jahrhundert einige Rückschläge verkraften. Der Bulgarenkhan Krum schlug 811 ein byzantinisches Heer, tötete den Kaiser und fertigte aus dessen Schädel ein Trinkgefäß an. 813 folgte eine weitere Niederlage gegen die Bulgaren, bevor an der Balkangrenze vorerst Ruhe einkehrte. Mitte des 9. Jahrhunderts begannen die Byzantiner die Missionierung der Balkanslawen und Bulgaren. Dennoch kam es Ende des 9. und zu Beginn des 10. Jahrhunderts wieder zum Konflikt mit Bulgarien, Byzanz musste zeitweise sogar Tributzahlungen leisten. Das ehrgeizige Ziel Simeons I., die byzantinische Kaiserkrone zu erlangen und ein bulgarisch-byzantinisches Großreich zu errichten, wurde nicht erreicht; Bulgarien blieb aber ein für Byzanz bedrohlicher Machtfaktor in der Region. Die Araber wiederum errangen im 9. Jahrhundert ebenfalls weitere Siege gegen die Byzantiner und eroberten 827 Kreta (Emirat von Kreta) und landeten auf Sizilien.
Im 10. Jahrhundert errangen die Byzantiner mehrere Siege. Ihre Flotte beherrschte wieder die Ägäis und in der Regierungszeit der Kaiser Nikephoros II. und Johannes Tzimiskes wurden Kreta, Zypern, Kilikien und Teile Syriens zurückerobert; byzantinische Truppen stießen kurzzeitig sogar bis nach Palästina vor. Gleichzeitig ging allerdings der byzantinische Einfluss im Westen, wo Sizilien um 900 verloren ging, spürbar zurück. Nachdem es Mitte des 7. Jahrhunderts zu einem kulturellen Einbruch gekommen war, wenngleich mehr antike Substanz erhalten blieb als in vielen Regionen des Westens, erholte sich das Reich und es begann im 9. Jahrhundert die sogenannte Makedonische Renaissance. Diese Phase der verstärkten Rückbesinnung auf das antike Erbe in Byzanz wurde von mehreren Kaisern gefördert, darunter Leo VI. und Konstantin VII. Im Inneren bestimmten die Generale und Führer der großen Familien die Politik des 10. Jahrhunderts maßgeblich, bevor 976 ein neuer Kaiser an die Macht kam und sich nach schwierigem Beginn durchsetzen konnte. Basileios II. (reg. 976–1025) eroberte nicht nur das Bulgarenreich, sondern sicherte auch die byzantinische Ostgrenze. Er machte Byzanz wieder endgültig zur Großmacht im östlichen Mittelmeerraum. Seine Nachfolger hatten allerdings weniger Erfolg; die Folgen der Niederlage von Manzikert (1071) waren verheerend, da Byzanz das Innere Kleinasiens an die Türken verlor und von nun an wieder in einen Abwehrkampf gedrängt wurde.
Die islamische Welt
In Arabien entstand im frühen 7. Jahrhundert mit dem Islam eine neue monotheistische Religion. Ihr Prophet und Religionsstifter war Mohammed, der aus einer führenden mekkanischen Familie stammte. Die islamische Überlieferung zu Mohammed (Koran, Hadithliteratur, Biographien und islamische Geschichtsschreibung) ist reichhaltig, doch sind verschiedene Aussagen widersprüchlich; einzelne Aspekte werden daher in der modernen Forschung kritischer betrachtet und sind umstritten. Die Frühgeschichte des Islams, für die die Quellenlage (unter anderem aufgrund zunächst vor allem mündlicher Überlieferung arabischer Berichte) problematisch ist, wird in der neueren Forschung wieder verstärkt diskutiert. Dazu gehört die Feststellung, dass die Entwicklung der neuen Religion im geschichtlichen Kontext der ausgehenden Spätantike erfolgte und von verschiedenen zeitgenössischen Strömungen beeinflusst wurde.
Mohammed war als Kaufmann tätig, als er mit etwa 40 Jahren ein Offenbarungserlebnis hatte. Er trat anschließend für einen strengen Glauben an einen allmächtigen Schöpfungsgott (Allah) ein, der von den Gläubigen eine sittliche Lebensführung verlange. Damit stieß er in Mekka allerdings auf Widerstand. Die Stadt profitierte als paganer Wallfahrtsort mit der Kaaba als Mittelpunkt. Gleichzeitig gab es in Arabien aber auch jüdische und christliche Einflüsse, die monotheistische Strömungen wie den neuen Glauben begünstigten; Mohammed war zudem nicht die einzige Person, die in dieser Zeit als Prophet auftrat. 622 begab sich Mohammed mit seinen Anhängern nach Medina; der Auszug aus Mekka (Hidschra) ist der Beginn der islamischen Zeitrechnung. Allerdings musste er auch in Medina Widerstände überwinden. Es kam anschließend zum Krieg mit Mekka, den Mohammed schließlich 630 endgültig für sich entscheiden konnte. Bekehrte Mekkaner und vor allem Mohammeds eigener Stamm der Quraisch spielten fortan eine wichtige Rolle im neuen islamischen Reich. Sehr früh wurde im Islam, anders als beispielsweise im Christentum, ein Anspruch auf politische Herrschaft formuliert; daran wurde auch später festgehalten. Bis zu seinem Tod 632 konnte Mohammed mehrere Erfolge erringen und den Großteil Arabiens unter seiner Herrschaft und auf Basis des neuen Glaubens vereinen. Die nördlichen Randgebiete standen aber weiterhin unter der Kontrolle Ostroms und des Sāsānidenreichs.
Nach Mohammeds Tod 632 fiel die Führung dem ersten Kalifen (Nachfolger, Stellvertreter) Abū Bakr zu, einem engen Vertrauten Mohammeds. Abū Bakr war der erste der vier sogenannten „rechtgeleiteten“ Kalifen. Unter den muslimischen Arabern kam es zu einer Abfallbewegung (Ridda), da viele Stämme glaubten, nur dem Propheten selbst verpflichtet gewesen zu sein; die Aufständischen wurden schließlich unterworfen (Ridda-Kriege). Unter Abū Bakr begann in den 630er Jahren auch die Islamische Expansion im eigentlichen Sinne: die Eroberung des christlichen Vorderen Orients und Nordafrikas sowie des Perserreichs der Sāsāniden (zu Details siehe oben).
Die religiös und nicht zuletzt durch Aussicht auf reiche Beute motivierten Araber errangen in den folgenden Jahren große Erfolge über die beiden durch lange Kämpfe geschwächten Großmächte; der letzte Krieg zwischen Ostrom und Persien war nach gut 25 Jahren erst 628 beendet worden. Bis 651 war im Osten das Sāsānidenreich, allerdings erst nach schweren Kämpfen, erobert. Im Westen verlor Ostrom/Byzanz seine orientalischen und nordafrikanischen Besitzungen: 636 Syrien, 640/42 Ägypten, bis 698 ganz Nordafrika. 717/18 belagerten die nun auch als Seemacht auftretenden Araber vergeblich Konstantinopel. Die Araber verlagerten sich auf Raubzüge nach Kleinasien, während im Westen die Iberische Halbinsel (711) erobert wurde und im Osten die Grenze Indiens erreicht wurde; ein (wohl begrenzter) Feldzug ins Frankenreich scheiterte 732 in der Schlacht von Tours und Poitiers. Hinzu kam die Bedrohung der christlichen Reiche durch die neue arabische Seemacht. Von 888 bis 972 setzten sich etwa arabische Seeräuber an der Küste der Provence in Fraxinetum fest (das heutige La Garde-Freinet) und unternahmen ausgedehnte Raubüberfälle; im östlichen Mittelmeerraum bedrohten sie byzantinisches Gebiet (siehe etwa Leon von Tripolis). Die Quellenlage zu den frühen Eroberungen ist allerdings problematisch. Die erst später entstandenen arabischen Berichte (Futūh) sind nicht immer zuverlässig, während für das 7. Jahrhundert nur relativ spärliche christliche Berichte darüber vorliegen.
Die Araber errichteten in den eroberten Gebieten neue Städte, wie Kufa, Basra, al-Fustat oder Kairouan, wie generell die Städte als Wirtschaftszentren eine wichtige Rolle im neuen Reich spielten, ebenso wie die Einnahmen aus Plünderungen und den Zwangszahlungen der (lange Zeit) nicht-muslimischen Mehrheitsbevölkerung. Bei der Verwaltung stützten sie sich zunächst weitgehend auf die vorhandene, gut funktionierende Bürokratie. Noch bis Ende des 7. Jahrhunderts war Griechisch (für die ehemaligen oströmischen Gebiete, Verwaltungssitz war Damaskus) und Mittelpersisch (für die ehemaligen persischen Gebiete, Verwaltungssitz war Kufa) in der Finanzverwaltung des Kalifenreichs gängig, die zunächst recht locker organisiert war; die Möglichkeiten einer zentralisierten Reichsverwaltung waren beschränkt. Die Verwaltung Ägyptens wurde von Fustat aus organisiert. In der Verwaltung des Kalifenreichs waren daher noch lange Zeit Christen tätig, die mit der effektiven spätrömischen Verwaltungspraxis vertraut waren. Sie bekleideten auch hochrangige Posten, wie etwa der einflussreiche Sarjun ibn Mansur und sein Sohn, der später als Johannes von Damaskus bekannt wurde. Erst ab 700 wurde damit begonnen, Christen aus der Verwaltung zu verdrängen, doch dies war ein langsamer Prozess, so dass sich die Kalifen noch einige Zeit auf Christen in den ehemaligen byzantinischen Gebiete stützten. Auch in kultureller Hinsicht waren die ehemaligen oströmischen und persischen Gebiete höher entwickelt als das arabische Kernland.
Die Mehrheit der Bevölkerung im Kalifat war lange Zeit nichtmuslimisch und wurde nur relativ langsam islamisiert. Anhänger der Buchreligionen (Christen, Juden und Zoroastrier) mussten eine spezielle Kopfsteuer (Dschizya) zahlen (die wirtschaftlich nicht unbedeutend war), durften ihren Glauben nicht öffentlich verrichten und keine Waffen tragen, blieben ansonsten aber weitgehend unbehelligt. In der Folgezeit kam es allerdings zu Übergriffen etwa gegen Christen, wie der Druck seit dem späten 7. Jahrhundert insgesamt zunahm, so dass es zu Diskriminierungen und unterdrückenden Maßnahmen seitens der Kalifen und Statthalter gegenüber der christlichen Mehrheitsbevölkerung kam (siehe unten). Ebenso kam es später zu Zoroastrierverfolgungen durch muslimische Herrscher.
Trotz der spektakulären außenpolitischen Erfolge kam es im Inneren des Kalifenreichs wiederholt zu Unruhen. Nach Abū Bakrs Tod 634 folgten zwei weitere Kalifen (ʿUmar ibn al-Chattāb und ʿUthmān ibn ʿAffān), bis 656 Mohammeds Schwiegersohn Ali Kalif wurde. Sein Anspruch innerhalb der Gemeinde (Umma) war allerdings umstritten, es kam zum Bürgerkrieg. Ali wurde 661 ermordet; Sieger war schließlich Muawiya (reg. 661–680), der die Dynastie der Umayyaden an die Macht brachte, die bis 750 das Kalifat beherrschen sollte. Die Anhänger Alis hingegen blieben weiterhin aktiv (Schia), was zu einer Spaltung der islamischen Glaubensgemeinde führte.
Die Umayyaden machten Damaskus zur Hauptstadt des Kalifats, trieben die (oben geschilderte) Expansion voran und organisierten die Verwaltung nach dem Vorbild in Byzanz und Persien um. Allerdings war ihr Herrschaftsanspruch auch nach dem Tod Alis nicht unbestritten. In Mekka und Medina erhob sich Widerstand und mit ʿAbdallāh ibn az-Zubair trat ein Gegenkalif auf. Er wurde jedoch während der umayyadischen Eroberung Mekkas 692 getötet, womit der zweite Bürgerkrieg beendet war. Abd al-Malik (reg. 685–705) sicherte die umayyadische Herrschaft und schuf eine neue islamische Gold- und Silberwährung; in der Verwaltung ersetzte Arabisch endgültig Griechisch und Persisch. Allerdings blieb der Kalifenstaat relativ locker aufgebaut, die Kontrollmacht der Umayyaden war alles in allem recht begrenzt. Als letzter bedeutender umayyadischer Kalif gilt der 743 verstorbene Hischām ibn ʿAbd al-Malik. In der Spätphase der Umayyaden nahmen die inneren Spannungen zu; so kam es zwischen arabischen und nicht-arabischen Muslimen zum Konflikt, die ungelöste Steuerproblematik (da es verstärkt zu Konversionen kam und somit Gelder ausblieben) wurde zu einer ernsthaften Belastung und innere Unruhen erschütterten das Reich. 750 wurden die Umayyaden von den Abbasiden gestürzt, die im Osten des Reiches eine erfolgreiche Revolte begonnen hatten. Die meisten Umayyaden wurden ermordet, Abd ar-Rahman I. gelang aber auf abenteuerliche Weise die Flucht nach Spanien, wo er 756 das Emirat von Córdoba begründete und sich faktisch vom Kalifat löste.
Unter den bis 1258 formal regierenden Abbasiden verlor das Kalifenreich zunehmend seinen spezifisch arabischen Charakter. Der politische Schwerpunkt verlagerte sich nach Mesopotamien im Osten, wo mit Bagdad im Jahr 762 eine neue Hauptstadt gegründet wurde (Runde Stadt Bagdad). Ursprünglich unterstützt von der schiitischen Bewegung, bemühten sich die Abbasiden bald um Distanz, was allerdings zu Widerständen führte. Anhänger Alis wurden bekämpft und vor-abbasidische Kalifen als Usurpatoren betrachtet. Die neuen Kalifen bemühten sich um eine religiöse Einigung des Reiches, doch verhinderte dies nicht das Aufkommen regionaler Dynastien in den Randgebieten ab ca. 800, wie beispielsweise der Aghlabiden in Nordafrika oder der Samaniden im Iran.
Die frühe Abbasidenzeit war eine kulturelle Blütezeit in Kunst, Literatur, Philosophie, Theologie und Rechtswissenschaft. Der Kalifenhof in Bagdad entfaltete eine enorme Pracht, orientiert am Vorbild des Sāsānidenreichs, des letzten Großreichs des alten Orients. Das Monopol der Araber auf die hohen Posten im Reich war beendet; Perser spielten fortan eine wichtige Rolle am Hof in politischer und kultureller Hinsicht. Beispielhaft war die Hofhaltung von Hārūn ar-Raschīd (reg. 786–809), dessen Ruf sogar bis ins Frankenreich reichte. Politisch verschlechterte sich die Lage im 9. Jahrhundert jedoch dramatisch, als verschiedene türkische Söldnerführer in den Provinzen die Macht ergriffen. Sie gewannen schließlich auch am Kalifenhof Einfluss, was den politischen Niedergang des Kalifats einleitete. Mitte des 10. Jahrhunderts standen die Abbasiden unter der Kontrolle der Buyiden, die für gut 100 Jahre die wahre Macht in Bagdad ausübten, während der Kalif nur noch geistliches Oberhaupt war. 929 hatte sich in Spanien Abd ar-Rahman III. zum Kalifen proklamiert; dies war der Beginn des bis 1031 bestehenden Kalifats von Córdoba. Im 10. und 11. Jahrhundert bedrohten zudem die Fatimiden in Ägypten die Herrschaft der Abbasiden. Die Macht der Kalifen in Bagdad war bereits zu diesem Zeitpunkt gebrochen und nur noch eine Scheinherrschaft.
Herrschaftsordnung und Herrschaftsausübung
Herrschaftsform
Die „staatliche Entwicklung“ verlief in den verschiedenen frühmittelalterlichen Reichen unterschiedlich. Zentrale Verwaltungsstrukturen aus spätrömischer Zeit hatten in den Königreichen der Völkerwanderungszeit zunächst fortbestanden (so vor allem in den Gotenreichen, aber auch im Vandalen- und im Frankenreich). Bestimmte Elemente (Finanzen, Münz- und Urkundenwesen) blieben im Westen in der Folgezeit noch weitgehend erhalten; allerdings waren die staatlichen Strukturen verglichen mit der römischen Zeit nur rudimentär ausgebaut bzw. brachen schließlich zusammen. Am problematischsten war, dass das römische Steuerwesen im Westen (das etwa im Merowingerreich im 6. Jahrhundert noch zumindest teilweise funktionierte, wenngleich Ausnahmeregelungen und Steuerflucht zunehmend ein Problem waren) schließlich aufhörte zu existieren und nun vor allem Landbesitz entscheidend war, hinzu kam Beute aus Kriegszügen. Die Einkommen der post-römischen Reiche waren daher weitaus geringer als zur Zeit des Imperiums. In diesem Zusammenhang zerfiel auch das an spätrömischen Strukturen orientierte Verwaltungswesen, das über fließende Steuern finanziert werden musste. Die Folge war ein im Vergleich zum spätrömischen Staat wesentlich schwächeres Herrschaftswesen. Eine erfolgreiche Herrschaftsausübung hing nun eng mit der Fähigkeit des jeweiligen Herrschers zusammen, durch Kämpfe Prestige und Reichtum zu erlangen sowie seine Anhänger daran teilhaben zu lassen, diese aber gleichzeitig nicht zu mächtig werden zu lassen.
Im frühmittelalterlichen lateinischen Europa leitete sich die „staatliche Gewalt“ nicht von einer zentralen Autorität ab (wie dem König), sondern von jedem in welcher Form auch immer Herrschenden. Herrschaft war im Frühmittelalter daher ganz wesentlich an einzelne Personen gebunden, es existierten faktisch keine „staatlichen Institutionen“ (und damit kein abstrakter Begriff wie Staatlichkeit) losgelöst von diesen Herrschaftsstrukturen eines Personenverbands. In mehreren der Nachfolgereiche im Westen existierten aber Reste der spätrömischen Verwaltungsordnung. So fungierten etwa im Merowinger-, Vandalen- und im Ostgotenreich referendarii als Leiter der königlichen Kanzleien.
In der Völkerwanderungszeit gewannen vor allem die militärischen Fähigkeiten von Anführern an Bedeutung (Heerkönig), die darauf aufbauend eigene Herrschaften errichteten. Der Trend hin zur Formierung einer Militäraristokratie hatte sich bereits in der spätrömischen Elite abgezeichnet. Allerdings kam es im Laufe der Zeit zu einer „Verdichtung“ der Herrschaft, indem nicht mehr nur das Königtum als zentraler Bezugspunkt existierte, sondern auch das Reich an sich als Idee an Kraft gewann und somit erst eine Stabilisierung der Herrschaftsgebilde, wie das Frankenreich, ermöglichte. Dieses Strukturdefizit betraf fast alle frühmittelalterlichen Herrschaftsgebilde in Europa – in Skandinavien sowie bei den Slawen hatte sich die Königsherrschaft im Vergleich zu den germanisch-romanischen Reichen und dem angelsächsischen England ohnehin relativ spät entwickelt. Nur in Byzanz und im Kalifat waren die staatlichen Strukturen straffer organisiert, so existierte dort unter anderem weiterhin ein effektives Besteuerungssystem und eine lokale, aber der Hauptstadt untergeordnete Verwaltung.
Wenngleich in der neueren Forschung viele Aspekte der mittelalterlichen Herrschaft umstritten sind (zu unterscheiden ist etwa Königsherrschaft, Kirchenherrschaft, Dorf- und Stadtherrschaft usw.), kann generell als wichtiges Merkmal gelten, dass Herrschaft ganz wesentlich auf Gegenseitigkeit beruhte und es sich um einen Herrschaftsverband handelte. Der Herrscher und der Beherrschte waren durch Eide aneinander gebunden: Im Austausch für Schutz und bestimmte Leistungen wurde Unterstützung versprochen. Dies galt vor allem im militärischen Bereich, da die frühmittelalterlichen Reiche (außer Byzanz und Kalifat) keine stehenden Heere wie in römischer Zeit unterhielten, sondern für militärische Aktionen auf Gefolgschaften angewiesen waren. Untertanenloyalitäten galten im Grunde nur dem jeweiligen Herrscher und mussten daher bei einem neuen Herrschaftsantritt erneut gesichert werden. Es handelte sich nicht um ein reines Herrscher-Untertanen-Verhältnis, denn der Adel hatte Anspruch auf Teilhabe an der Herrschaft, was es zu achten galt. Dazu dienten unter anderem Freundschaftsbindungen, weshalb in den Quellen oft von amicitia die Rede ist. Die Bedeutung des römischen Rechts war im Frühmittelalter zwar vergleichsweise gering, die Beschäftigung damit brach aber vor allem in Italien nie völlig ab, zumal auch in den germanisch-romanischen Reichen Rechtssammlungen erstellt wurden. Eine wichtige Rolle spielten die germanischen Volksrechte (Leges), die vom 5. bis ins 8. Jahrhundert bezeugt sind, so bei Goten, Franken, Burgunden, Alamannen, Bajuwaren und Langobarden. Hinzu kam das später verstärkt rezipierte Kirchenrecht.
Die Frage des Lehnswesens
In den germanisch-romanischen Nachfolgereichen Westroms entwickelte sich das germanische Gefolgschaftswesen der Völkerwanderungszeit, in dem der Heerkönig eine wichtige Rolle spielte, weiter und wurde durch den Kontakt mit der römischen Staatlichkeit beeinflusst. Die Herrschaft über ein freies Gefolge weitete sich schließlich zur Herrschaft über Land und Leute aus (Grundherrschaft, siehe unten). Nach traditioneller Ansicht der Forschung entwickelte sich daraus im frühmittelalterlichen lateinischen Europa das Lehnswesen als politische Organisationsform. Beide Seiten konnten vom Lehnsverhältnis profitieren, denn während der Lehnsherr zusätzliche Macht gewann, erhöhte sich auch das Prestige des Lehnsträgers, wenn er einem sozial Höhergestellten den Lehnseid leistete. Solche Eide konnten auch als Belohnung für geleistete Dienste abgelegt werden. In der modernen Forschung ist die traditionelle Vorstellung vom Lehnssystem, die unter anderem François Louis Ganshof maßgeblich geprägt hat, aber stark in Frage gestellt worden.
Lange Zeit wurde angenommen, dass die später verbreitete Praxis von Vasallität und Lehensvergabe bereits in karolingischer Zeit üblich war. Die Wurzeln der Vasallität sind wohl gallorömisch/fränkisch, doch ist die Deutung der einschlägigen Quellen problematisch. So wurde z. B. der dort auftauchende Begriff vassus oft als Vasall gedeutet, ebenso fidelis, während beneficium oft als Lehen interpretiert wurde. Die Begriffe sind aber mehrdeutig, so bedeutet vassus nicht zwangsläufig „Vasall“. Fidelis bedeutet zunächst nur „Getreuer“, beneficium als „Wohltat“ konnte eine Schenkung bezeichnen, die nicht an eine Gegenleistung geknüpft war. In den Quellen des 9. Jahrhunderts wird zudem bislang kein hoher fränkischer Amtsträger auch als vassus bezeichnet, was aber im Rahmen eines voll entwickelten Lehnssystems eigentlich der Fall sein müsste. In der Vergangenheit wurden, so lautet ein zentraler Kritikpunkt der neueren Forschung, oft Termini in den Quellen als Hinweise auf Vasallität gedeutet, deren Zuordnung nicht gesichert ist. Persönliche Bindungen waren demnach im Karolingerreich, das von der älteren Forschung in Bezug auf die Ausbildung des Lehnssystems oft untersucht worden ist, sehr vielfältig und folgten keinem starren Muster. Ein Treueid eines Getreuen war demnach nicht zwangsläufig ein Lehenseid. Aus diesem Grund wird in der neueren Forschung betont, wie unsicher viele ältere Interpretationen sind und sich das System, in dem Lehen und Vasallität eng verbunden waren und aufgrund erblicher Lehen das Treueverhältnis oft weniger respektiert wurde, erst später entwickelte und im Frühmittelalter in dieser Form nicht gängig war. Diese Diskussion ist noch nicht abgeschlossen.
Königs- und Adelsmacht
Ideelle Grundlagen des frühmittelalterlichen Königtums im Westen des alten Imperium Romanum waren das Heerkönigtum der Völkerwanderungszeit, antike römische Herrschaftsvorstellungen und das Christentum. Die Bedeutung eines germanischen Sakralkönigtums in diesem Zusammenhang wird in der neueren Forschung hingegen sehr skeptisch gesehen bzw. abgelehnt. Das Heerkönigtum hingegen spielte offenbar eine entscheidende Rolle, ebenso wie römische Herrschaftsideologie. Denn die politischen Kontakte zwischen den germanisch-romanischen Königen des Frühmittelalters mit dem römischen Kaiser bildeten die Grundlage für die Etablierung zwischenstaatlicher Kontakte im Rahmen römischer Herrschaftsrepräsentation und Inszenierung; dieser Weg führte „vom Heerkönigtum zum vizekaiserlichen königlichen Monarchen“. Hinzu kamen schließlich die Einflüsse aus dem Christentum, das bereits das spätantike römische Kaisertum beeinflusst hatte. Demnach war jede weltliche Herrschaft vom göttlichen Willen abhängig, denn Gott stünde über den Königen dieser Welt. Gleichzeitig repräsentierten die Könige aber auch Gottes Herrschaft auf Erden (Gottesgnadentum); das Königtum wurde somit in den christlichen frühmittelalterlichen Reichen „verchristlicht“.
Eine möglichst große Nähe des Königs zu seinen Untertanen war ein wichtiger Faktor hinsichtlich der Intensivierung der Königsherrschaft. Die frühmittelalterlichen Könige, speziell im Karolingerreich und seinen Nachfolgereichen, waren oft Reisekönige, die von Pfalz zu Pfalz reisten und unterwegs die notwendigen Regierungsgeschäfte regelten. Dies war in einer zunehmend oralen, „archaischen“ Gesellschaft essentiell, in der die Schriftlichkeit im Verwaltungsbereich nach der frühen Karolingerzeit regional unterschiedlich zurückging (speziell im 10. Jahrhundert); es war allerdings nicht sehr effektiv. Zentrum der Königsherrschaft war der königliche Hof mit der angeschlossenen Kanzlei; allerdings sind mehrere im Frühmittelalter ausgestellte Urkunden heute nicht erhalten und können nur teils indirekt erschlossen werden (Deperdita). Die zentrale Problematik in den post-römischen Reichen des Westens bestand darin, dass sie über keine mit dem römischen Staat vergleichbare administrativen Strukturen und über kein diese finanzierende effektives Steuerwesen verfügten. Stattdessen mussten sich die Könige auf Gefolgsleute verlassen, die aber oft auch große Landbesitzer mit eigenem Gefolge waren und somit zumindest potentielle Konkurrenten sein konnten.
Problematisch war die Lage im Ostfrankenreich insofern, als sich dort keine spezifische Residenzstadt entwickelte, anders als etwa zuvor im West- und im Ostgotenreich oder später in England und Frankreich. Die Karolinger stützten sich auf ausgedehnte und wirtschaftlich leistungsfähige Besitzungen, während in der Ottonenzeit das Reisekönigtum bereits stärker ausgeprägt war, wobei die Herrscher aber königsnahe Gebiete in Sachsen und Franken bevorzugten. Es existierten im Karolingerreich und seinen Nachfolgereichen immer königsnahe und königsferne Räume, wo also eine effektive Herrschaftsausübung mal mehr, mal weniger gut gelang. Ebenso standen Adel und hoher Klerus in den jeweiligen Reichen in einer unterschiedlich starken Beziehung zum Königtum.
Das Zusammenspiel zwischen König und Kirche war im Frühmittelalter von besonderer Bedeutung. Bereits die Merowinger und später noch stärker die Karolinger hatten die Kirche in ihre Herrschaftskonzeption eingebunden. Eine wichtige Rolle spielte dabei unter den Karolingern die Hofkapelle. Im Frankenreich waren Ämter bis in die späte Karolingerzeit in der Regel nicht vererbbar, sondern wurden vom König verliehen; dies änderte sich im ausgehenden 9. Jahrhundert, so dass verliehene Ämter zu Erbtiteln wurden (wie bei den Grafen und Herzögen), worunter die Autorität des Königtums litt. Im Inneren stützten sich auch die Ottonen aufgrund der wenig ausgebildeten Strukturen für Verwaltungsaufgaben auf die Reichskirche. Nur die Kirche verfügte über genügend ausgebildetes Personal, das lesen und schreiben konnte; die Bischofskirchen stellten außerdem Truppenkontingente. Im Gegenzug für die Übernahme dieser weltlichen Aufgaben wurden der Kirche zunehmend Herrschaftsrechte übertragen und sie erhielt umfangreiche Schenkungen. In der älteren Forschung wurde dieses Zusammenspiel als Ottonisch-salisches Reichskirchensystem bezeichnet. Die Praxis der Herrschaftsausübung stellt aber im Vergleich zu anderen christlich-lateinischen Herrschern keine Besonderheit dar und erfolgte auch kaum planmäßig. In der neueren Forschung wird darauf hingewiesen, dass es den ottonischen und frühsalischen Königen aufgrund ihrer Machtstellung nur effektiver gelang als anderen Herrschern, die Kirche in die weltliche Herrschaft einzubinden.
Durchsetzungsfähigkeit und Akzeptanz der Königsherrschaft variierten. Im Westgotenreich z. B. kam es immer wieder zu Konflikten zwischen König und dem einflussreichen Adel, doch war das Königtum im Westgotenreich bereits stark sakral legitimiert. Der Aspekt der Sakralität von Herrschaft war auch später noch in den anderen frühmittelalterlichen Reichen bedeutend. Zur Stützung der Königsherrschaft wurde unter anderem die sakrale Salbung genutzt, das „Königtum von Gottes Gnaden“ gewann an Bedeutung. Das Königsideal ist immer wieder in den Quellen greifbar, wo der ideale König gerecht, tugendhaft und religiös ist und das Reich verteidigt. Während die späten Merowinger durch die starke Stellung der vom hohen Adel dominierten Hausmeierposten weniger oder gar nicht frei agieren konnten, konnten die frühen Karolinger ihre Herrschaft besser zur Geltung bringen, wobei sie bezeichnenderweise das Amt des Hausmeiers abschafften. Allerdings erschwerten die verschiedenen Herrschaftsteilungen eine konsolidierte Herrschaft. Der dynastische Bezug war oft durchaus vorhanden, allerdings war etwa im Ostfrankenreich der Wahlcharakter des Königtums stark ausgeprägt. Die Königswahl bzw. Königserhebung war dementsprechend in den jeweiligen Reichen unterschiedlich. In Westfranken verfiel die Königsmacht allerdings schließlich im Kampf mit den einflussreichen Großen, in Ostfranken gelang den Ottonen die Stabilisierung der Königsherrschaft, wenngleich die in spätkarolingischer Zeit (wieder) entstandenen Stammesherzogtümer ihre eigenen Interessen vertraten. Neben der effektiven personalen Bindung sowie dem Zusammenspiel mit der Kirche war auch die Verfügbarkeit über das Krongut von Bedeutung. Im angelsächsischen England hingegen gelang es nach der Zeit Alfreds des Großen nur zeitweise, das gesamte Land unter einem König zu vereinen. In Frankreich konnten die Kapetinger im 11. Jahrhundert nur in engen Grenzen die Königsherrschaft ausüben; sie waren im Wesentlichen auf die eigene Krondomäne beschränkt, die Beziehung zum hohen Adel basierte auf weitgehender Gleichheit.
Zentrum des herrschaftlichen Handelns war der königliche Hof. Gelang es dem Adel bzw. unterschiedlichen Gruppen innerhalb des Adels, die eigene Herrschaftsausübung in den Territorien zu forcieren oder am Hof den König politisch weitgehend auszuschalten, so sank gleichzeitig die Königsmacht. Aber auch der Adel war ausdifferenziert; so existierten lokale Adelsgruppen und, wie in der Karolingerzeit, reichsweit agierender Adel (wie etwa die Robertiner und die Welfen); dementsprechend variierten die verschiedenen Adelsinteressen. Im Fall einer relativ stark ausgeprägten Königsmacht war es für die Großen wiederum von zentraler Bedeutung, einen möglichst guten Zugang zum Hof und damit zum König zu haben. Nur dies garantierte, dass die eigenen Bedürfnisse und Wünsche gezielt artikuliert und somit möglichst durchgesetzt werden konnten. Es war daher wichtig, wer das „Ohr des Königs“ besaß und damit die Möglichkeit hatte, Bitten, Wünsche und Forderungen vorzutragen oder auch als Fürsprecher aufzutreten. Die Bedeutung des Kräftedreiecks (König, Adel und Kirche) wird in der Forschung für das Frankenreich sowie das Ostfrankenreich betont. Auf den Hoftagen kam es immer wieder zu wichtigen Beratungen, in denen es vor allem um Rat und Unterstützung ging. Der Konsens zwischen König und dem hohen Adel spielte bei der effektiven Herrschaftsausübung eine wichtige Rolle („konsensuale Herrschaft“): Der König und die Großen des Reiches, die in einer wechselseitigen Beziehung zueinander standen, achteten den gegenseitigen Rang und versuchten, möglichst nicht konfrontativ zu agieren.
In der modernen Mediävistik wird des Weiteren der Ritualforschung bzw. Herrschaftsrepräsentation ein großer Stellenwert eingeräumt. Es geht um die Beschreibung und Deutung von ritualisierten Abläufen in der mittelalterlichen Politik, die unter dem Begriff „symbolische Kommunikation“ zusammengefasst werden. Dies betrifft unter anderem den zeremoniellen Empfang oder das Konfliktverhalten, wie die Inszenierung der deditio (Unterwerfung) aufständischer Fürsten. Rituale waren in diesem Zusammenhang auch deshalb von Bedeutung, weil sie zumindest teilweise als Ausdruck der jeweiligen Rangordnung zwischen den Großen zu verstehen sind. Folgt man diesem Ansatz, so erforderten z. B. herrschaftliche Ehrverletzungen Genugtuung (satisfactio), etwa in Form der deditio. Konflikte an unterschiedlichen Höfen im Frühmittelalter sind mehrmals belegt. Der gütliche Ausgleich (compositio) gestaltete sich allerdings umso schwerer, je mehr der Konflikt zuvor eskaliert war. In jüngster Zeit ist die Ritualforschung teilweise in die Kritik geraten.
Herrschaftsansprüche und Realität
Eine Sonderrolle fiel dem von Karolingern und Ottonen erneuerten westlichen („römischen“) Kaisertum zu, das in spätantiker Tradition stand und eine neue universale Komponente einbrachte (Reichsidee). Das Zweikaiserproblem mit Byzanz hatte nur bis 812 realpolitische Folgen, als im Frieden von Aachen Venedig als Teil des Byzantinischen Reiches anerkannt wurde. Die karolingischen und ottonischen Kaiser übten eine hegemoniale Stellung im lateinischen Europa aus. Allerdings wirkte sich dies sehr selten in einer tatsächlichen politischen Einflussnahme in anderen Reichen aus, denn begründete Eingriffsrechte existierten für das Kaisertum nicht. Es handelte sich letztendlich in erster Linie um einen formalen Vorranganspruch. Das Verhältnis der Kaiser gegenüber dem Papsttum änderte sich jedoch: Während die frühen Karolinger noch eine „Schwurfreundschaft“ geleistet hatten, leisteten die Kaiser später nur noch Schutzversprechen sowie seit der Ottonenzeit Sicherheitseide.
Im Zusammenhang mit neueren Untersuchungen ist zudem erkennbar, wie verhältnismäßig eingeschränkt die Gestaltungskraft des Kaisertums selbst im Karolingerreich (immerhin das mächtigste Herrschaftsgebilde im lateinischen Europa seit dem Fall Westroms) verglichen mit anderen Großreichen dieser Zeit war. Das wird an einem einfachen Beispiel deutlich: 792 ordnete Karl der Große den Bau eines 3 km langen Kanals in Mittelfranken an, der die Flusssysteme Rhein und Donau verbunden hätte. Die Bauarbeiten blieben jedoch bald stecken, so dass 793 der Bau abgebrochen wurde. 767 waren demgegenüber weitaus umfangreichere Bauvorhaben in Byzanz (wo Wasserleitungen über eine Distanz von mehr als 300 km instand gesetzt wurden) und im Kalifat (Runde Stadt Bagdad, an deren Bau über 100.000 Arbeiter beteiligt waren) ohne größere Probleme gelungen. Im China der Tang-Dynastie wiederum war 742/43 ein Kanal von rund 150 km Länge planmäßig gebaut worden. All diese Reiche hatten universale Herrschaftsansprüche, ähnlich wie das Karolingerreich; die Ressourcen und die darauf basierenden Gestaltungsspielräume waren jedoch im Fall des westlichen Kaisertums wesentlich eingeschränkter. Das änderte sich auch während der Ottonenzeit nicht maßgeblich.
In Byzanz hatte hingegen in stärkerem Maße die spätantike Staatlichkeit überlebt. Der byzantinische Kaiser herrschte weitgehend absolut und konnte sich weiterhin auf einen Beamtenapparat stützen (siehe Ämter und Titel im Byzantinischen Reich), wenngleich sich der byzantinische Staat im 7. und 8. Jahrhundert, verglichen mit dem spätrömischen Reich des 6. Jahrhunderts, auch stark gewandelt hatte. Die Einflussmöglichkeiten des Kaisers waren in Byzanz aufgrund der differenzierteren und eindeutiger in ihren Abläufen geregelten und auf den Kaiser ausgerichteten politischen Infrastruktur höher; er unterlag auch, anders als im Westen (so während des Investiturstreits), nicht so sehr der Gefahr einer kirchlichen Maßregelung.
Im Kalifenreich hatte man die funktionierende byzantinische bzw. persische Bürokratie zunächst weitgehend übernommen, Griechisch und Mittelpersisch blieben bis Ende des 7. Jahrhunderts auch die Verwaltungssprachen. Der Dīwān fungierte als eine zentrale Verwaltungsinstitution, in der Abbasidenzeit mit dem Wesir an der Spitze. Der Kalif selbst wurde nach der Zeit der „rechtgeleiteten Kalifen“ als politischer Führer betrachtet, unterstand aber dem religiösen Recht. Sein weltlicher Herrschaftsanspruch war ebenfalls nicht allumfassend. Nachdem sich im 8./9. Jahrhundert zunehmend lokale Herrschaften gebildet hatten, wurde die politische Theorie vertreten, der Kalif könne seine Macht delegieren, was die Aufgabe eines absoluten Herrschaftsanspruchs bedeutete. Die faktische Macht am Hof ging in der Abbasidenzeit ebenfalls zunehmend auf die hohen Beamten über.
Gesellschaft und Wirtschaft
Menschen und Umwelt
Die modernen Kenntnisse über die frühmittelalterliche Gesellschaft im lateinischen Europa sind recht lückenhaft. Über das Leben der „einfachen Leute“ berichten die erzählenden Quellen nur sehr selten, während die archäologische Forschung bisweilen genauere Einblicke erlaubt. Im Frühmittelalter lebten nach modernen Schätzungen über 90 % der Menschen auf dem Lande und von der Landwirtschaft. Demographische Angaben sind recht spekulativ, für die Zeit um 1000 wird von einer Gesamtbevölkerung in Europa von etwa 40 Millionen ausgegangen, die in der Folgezeit zunahm. Die allgemeine Lebenserwartung war vor allem in der ärmeren Bevölkerung sehr viel geringer als in moderner Zeit.
Manche Gebiete mussten im Laufe der Zeit erst urbar gemacht und kultiviert werden; sogar Gebiete, die in römischer Zeit genutzt wurden, mussten teils erneut gerodet und nutzbar gemacht werden. Die Schwierigkeiten der Lebensbedingungen, die sich aus dem natürlichen Umfeld ergaben, dürfen daher nicht unterschätzt werden. Zudem unterschieden sich die verschiedenen geographischen Räume kulturell und wirtschaftlich voneinander, wie die in spätrömischer Zeit stark urbanisierten und auf das Mittelmeer ausgerichteten Regionen und die weiter nördlichen Regionen. Es gab aber auch weiterhin zusammenhängende urbane Gebiete, so vor allem in Italien und im südlichen Gallien. Diese hatten aufgrund von Kriegen, Seuchen und aus anderen Gründen ebenfalls einen Bevölkerungsrückgang zu verzeichnen, waren aber immer noch relativ dicht besiedelt. Hier sind auch stärkere Kontinuitätslinien von der Spätantike ins Mittelalter zu erkennen. Der östliche Mittelmeerraum ist aufgrund der andersartigen Entwicklung noch einmal ein Sonderfall. Je weiter man sich jedoch von den alten römischen Zentren entfernte, vor allem östlich des Rheins, desto geringer wurde die Bevölkerungsdichte. In der Folgezeit entstanden aber auch neue Siedlungszentren bzw. wurden auf Grundlage älterer Vorläufer Siedlungen und Städte wieder errichtet.
Interkulturelle Kontakte zwischen dem lateinischen sowie dem byzantinischen und arabischen Raum waren zwar teils vorhanden, wurden aber nicht selten durch zahlreiche Faktoren (wie geringe Fremdsprachenkenntnisse und eher mangelhafte Raumvorstellungen) erschwert. Von zentraler gesellschaftlicher Bedeutung war die Kirche, die in den Gemeinden sichtbar vertreten war. Die jeweiligen Lebensgemeinschaften waren zumeist überschaubar. Übergreifendes Gemeinschaftsgefühl ist kaum feststellbar und manifestierte sich über spezielle „Trägerschaften“ (Adel und Klerus). Ethnische Identifikationen, also ein übergreifendes „Wir-Bewusstsein“, fehlten weitgehend und bildeten sich erst im Laufe der Zeit aus. Die Entwicklung in den einzelnen Regionen verlief eher heterogen. Vergleichbare Lebensbedingungen, technische Kenntnisse sowie geistige und religiöse Entwicklungen sorgten jedoch für eine gewisse Einheitlichkeit des nach-römischen Europas.
Gesellschaftsordnung
Die Auflösung der römischen Ordnung im Westen setzte eine Entwicklung in Gang, die zu neuen gesellschaftlichen Verhältnissen führte. Die frühmittelalterliche Gesellschaft im lateinischen Europa war keine religiöse Kasten- oder ökonomische Klassengesellschaft, sondern eine Ständegesellschaft. Sie war hierarchisch geordnet und sozialer Aufstieg war nur relativ selten möglich. Durch Geburt begründete soziale und rechtliche Ungleichheit war nicht die Ausnahme, sondern der Regelfall. Die an der Spitze stehende adlige Führungsschicht war sehr klein. Königsnähe und Besitzumfang spielten für das adelige Standesbewusstsein eine wichtige Rolle, wenngleich sich gerade der jeweilige Territorialbesitz oft in die eine oder andere Richtung verschob und auch geographisch nicht immer konstant war. Adelige memoria, zielgerichtete Erinnerungspflege, und herrschaftliche Schwerpunktbildung hatten daher eine wichtige Funktion. Bereits das römische Recht unterschied grundsätzlich zwei Personengruppen: Freie (liberi) und Unfreie (servi), dies wurde auch im Frühmittelalter getan. Eine Art mittlere Stellung zwischen Adel und Unfreien nahmen dabei die Freien mit Besitz ein, die nicht in der Grundherrschaft eingebunden waren. Eine Schicht darunter waren kleine, zu Abgaben pflichtige selbstständige Bauern oder Landarbeiter und Handwerker am Hofe eines Herren.
Allgemein ist es nach Ansicht der neueren Forschung falsch, eine Tendenz zur Verelendung im Frühmittelalter zu betonen. Es gab durchaus eine Entwicklung hin zu größeren Freiheiten. Sozial niedrig gestellte Personen entzogen sich teils dem Zugriff ihres Herren und wanderten beispielsweise ab. Seit dem 9. Jahrhundert sind im Frankenreich rechtliche Besserstellungen und Abgabemilderungen feststellbar. Der Adel war allerdings oft bestrebt, Abhängigkeitsverhältnisse zu bewahren und zu verstärken. Selbst in der „niedrigen“ Gesellschaftsschicht finden sich aber Parallelen zur adligen Grundherrschaft, wie z. B. der Bauer, der über sein Haus und seine Familie das Verfügungsrecht hat. In der sozialen Hierarchie folgten die besitzlosen Armen (pauperes), die oft auf das Betteln angewiesen waren. Die Kirche griff hierbei oft ein, doch gelang es (auch in der Frühen Neuzeit) nie, dieses soziale Problem befriedigend zu lösen. Ganz unten befanden sich die Sklaven, doch stellt die Frage der frühmittelalterlichen Sklaverei ein Forschungsproblem dar. Dies liegt unter anderem an den unklaren Quellenaussagen zu den Sklaven, so dass man bisweilen versucht, dies mit „Unfreie“ oder „Abhängige“ zu umschreiben.
Ebenso existierten zunächst noch im eigentlichen Sinn Sklaven, wobei es sich in der Regel um „Kriegsbeute“ handelte. Besonders Skandinavier (Wikinger) trieben regen Handel mit Sklaven, die vor allem in den arabischen Raum verschifft wurden. Unter christlichem Einfluss wurde das einfache Tötungsrecht des Hausherrn später aufgehoben, der aber über das „Hausgesinde“ weiter frei verfügen konnte. Unfreie servi konnten aber auch aufsteigen und befreit werden. Es gab jedenfalls unterschiedliche Abstufungen des Abhängigkeitsverhältnisses (siehe auch Leibeigenschaft). In jüngerer Zeit wurde auch die These vertreten, dass in der Forschung die Abhängigkeit der Bauern vom Grundherren im beginnenden Frühmittelalter zu stark betont worden sei und man das regionale Quellenmaterial jeweils genauer prüfen müsse.
Frauen, Kinder und Juden
Im Rahmen der patriarchalischen Gesellschaft des Mittelalters wurde von einer untergeordneten Rolle der Frau ausgegangen. Aus den Quellen, in denen Frauen immer wieder hochachtungsvoll erwähnt werden, ist aber keine regelrechte Frauenfeindlichkeit abzuleiten. Die Rolle der Frauen im Frühmittelalter ist nicht ganz eindeutig. Rechtlich waren sie formal unmündig; Vater, Ehemann oder Vormund waren ihnen übergeordnet, auch die Verfügungsgewalt über den Besitz wird Frauen in mehreren Gesetzen abgesprochen. Es hat in der Praxis aber durchaus Möglichkeiten der Selbstentfaltung gegeben, dies hing allerdings entscheidend von ihrem jeweiligen Stand ab. Vor allem im adeligen Milieu finden sich Beispiele für Frauen, die über nicht geringen Einfluss verfügten und sich teils sogar politisch durchsetzen konnten. Dieser potentielle Einfluss von adeligen Frauen, speziell aber von einigen Königinnen, der in mehreren Quellen greifbar ist, konnte am Hof aber durchaus auf Widerstand stoßen. Dies musste nicht zwingend mit der weiblichen Person zusammenhängen, sondern konnte auch politisch begründet sein, wie das politische Wirken Brunichilds zeigt, während die Regentschaft Theophanus akzeptiert wurde. Denn auch als Frau war ein männliches Verhalten (viriliter) vorbildlich, um Anerkennung in einer herrschenden Position zu erhalten. Eine Frau hatte dann politischen Einfluss, indem sie entsprechend heiratete oder in eine hochrangige Adelsfamilie hineingeboren wurde. Im Gegensatz dazu wurden männliche Bewerber um das Amt des Königs oftmals gewählt oder kamen infolge von Erbschaften an die Macht. Sowohl für Frauen als auch für Männer der oberen Schichten galt, die Herrschaft zu sichern und dadurch die Familie bzw. die Dynastie zu stärken. Daher war es nicht unüblich, dass sich die Rolle der Frau und des Mannes ergänzten.
Die Frauen der gesalbten Könige standen in der Pflicht, im Zeichen der Fruchtbarkeit einen geeigneten Nachfolger zu gebären. Sie hatten demnach eine ähnlich entscheidende Aufgabe als Ehegattin des Königs. Königspaare waren zum Erhalt der Macht in ihrem Herrschaftsraum unterwegs. Bei Anwesenheit von König und Königin am selben Ort wurde erwartet, dass sich die Gattin ihrem Mann ergeben zeigte, wobei die Königin unter Umständen ebenfalls politisch tätig war. Innerhalb der Familie kam es oftmals zu Streitigkeiten, sodass sowohl Frauen als auch Männer in den Machtpositionen vermitteln mussten. Dies taten sie dann gemeinsam am gleichen Ort oder wählten unterschiedliche Präsenzstätten, um zu vermitteln und zu schlichten. Auf Pfalzen oder Burgen hielten der König und die Königin Gericht auf ihren Reisen ab. Diese Auseinandersetzungen, beispielsweise zwischen Vätern und Söhnen, aber auch andere Streitigkeiten, wurden oftmals gewaltsam ausgetragen. Königliche Frauen wurden genauso in Urkunden erwähnt, wie ihre männlichen Gegenspieler. Theophanu wurde durch die Heiratsurkunde in das königliche Machtverhältnis durch die Bezeichnung consortium imperii (Teilhabe an der Herrschaft) aufgenommen. Um 989 führte Theophanu neben weiblichen Titeln die männlichen Beinamen Kaiser und Augustus.
Ebenso ist es falsch, wie bisweilen geschehen, von Kinderfeindlichkeit im Frühmittelalter zu sprechen. Sorge und Liebe um das Wohlergehen der Kinder kommt in verschiedenen Quellen wiederholt zum Ausdruck; dazu wurde im zeitgenössischen Denken körperliche Bestrafung nicht als Gegensatz empfunden. Allerdings endete die Kindheit aufgrund der niedrigeren Lebenserwartung sehr früh.
Eine spezielle Position nahmen die Juden als religiöse Randgruppe in den christlichen Reichen ein. Relativ starke jüdische Minderheiten existierten im Frühmittelalter in Byzanz, Italien, im südlichen Gallien und in Spanien. Im späteren Deutschland gab es in einigen Bischofsstädten jüdische Gemeinden, so unter anderem in Mainz. Bereits im Frankenreich nahmen sie eine durch Privilegien gesicherte Sonderstellung ein. Wirtschaftlich bedeutend war ihre Rolle als Fernhändler, aber auch jüdische Handwerker und Ärzte sind belegt. Rechtlich waren die Juden eingeschränkt und es gab bisweilen judenfeindliche Äußerungen, (im Frühmittelalter relativ seltene) gewaltsame Übergriffe und Versuche von (kirchlich abgelehnten) Zwangstaufen. Auf der Synode von Elvira war es schon um 300 zu einem ersten Eheverbot zwischen Juden und Christen gekommen (canones 16/78), mit dem Codex Theodosianus (III, 7,2; IX, 7,5) galt dieses Verbot im gesamten Reich bei Androhung der Todesstrafe. Außerdem wurden den Juden Kleidungsverbote auferlegt, die Sklavenhaltung (damit der Zugang zum Latifundienbesitz und zur Gutsherrschaft) verwehrt und die Übernahme öffentlicher Ämter verboten. Allerdings wurde ihre Religionsausübung auch nicht permanent und systematisch verhindert, oftmals wurden sie weitgehend toleriert. Über die kulturelle Entwicklung der Juden in der Diaspora im Frühmittelalter ist so gut wie nichts bekannt; anhand der späteren Ausformung lassen sich nur einige Schlussfolgerungen ziehen. Eine größere Rolle im religiösen Leben spielte die Midraschliteratur und der babylonische Talmud.
Wirtschaftsordnung
Die frühmittelalterliche Gesellschaft war vorwiegend agrarisch geprägt. Grundlage der Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung im Westen war die Grundherrschaft, in der die meisten Menschen auf dem Land eingebunden waren (Hörigkeit). Ob die adelige und kirchliche Grundherrschaft auf germanische oder spätrömische Wurzeln zurückging oder auf beide, oder ob sie vielmehr eine originäre frühmittelalterliche Entwicklung darstellt, ist in der Forschung umstritten. In spätrömischer Zeit dominierten die ausgedehnten kaiserlichen und senatorischen Landgüter (Latifundien) mit den entsprechenden villae rusticae. Große Villengüter sind noch bis ins 6. Jahrhundert belegt, bevor das System kollabierte. Der Zusammenbruch der römischen Strukturen hatte somit weitreichende Folgen für die großen senatorischen Landbesitzer, die mit dem römischen Staatswesen eng verbunden waren. Auf die Ressourcen des spätrömischen Staates mit seinem relativ leistungsfähigen Steuersystem, das vor allem die Armee finanzierte, konnten die frühmittelalterlichen Herrscher spätestens im 7. Jahrhundert nicht mehr zurückgreifen.
Größte Landbesitzer waren der König, der Adel und die Kirche. Typisch für das Frühmittelalter wurde die Villikation, die zweigeteilte Grundherrschaft: einerseits der Fronhof des Grundherrn, andererseits die vom Grundherrn abhängigen Bauernhöfe. Dem Bauern wurde vom Grundherrn Boden zur Bearbeitung zur Verfügung gestellt und er wurde unter dessen Schutz gestellt, der Bauer musste dafür unterschiedlich hohe Abgaben leisten. Es bestand folglich ein wechselseitiges Verhältnis, von dem freilich der Grundherr am meisten profitierte. Die Grundherrschaften waren aber keine geschlossenen Wirtschaftsräume, vielmehr wurde reger Handel getrieben. Die Landwirtschaft war der bedeutendste Wirtschaftszweig. Im Karolingerreich wurde versucht, das urbare Land genauer zu erfassen und es möglichst in Parzellen (Hufe) einzuteilen. Die im Frühmittelalter schließlich steigende Bevölkerungszahl war für das System der Grundherrschaft problematisch, zumal eine systematische schriftliche Erfassung nicht dauerhaft gelang. Es fand nun jedoch wirtschaftsbezogenes Rechnen statt. Dieser Prozess der wirtschaftlichen Erfassung ist nicht stringent, sondern mit zahlreichen Brüchen verbunden, vor allem seit dem Niedergang des Karolingerreichs, ist aber seit dieser Zeit sicher feststellbar. In der Landwirtschaft ist zwischen Acker- und Weideland zu trennen, wobei der Ackerbau wohl dominierte, auch der Weinanbau war von Bedeutung. Getreide stellte die wichtigste Nahrungsgrundlage für die breite Bevölkerung dar und wurde in vielfältiger Form genutzt. Fleisch und Fisch wurden regional unterschiedlich aber ebenso als Ergänzung verzehrt (zu Details siehe Esskultur im Mittelalter). Es kam allerdings wiederholt zu regionalen Hungersnöten, besonders bei zunehmender Bevölkerungszahl oder infolge militärischer Auseinandersetzungen. Tiere wurden nicht nur auf den Herrenhöfen, sondern auch auf den Bauernhöfen gehalten. Eine Vielzahl der Alltagsprodukte wurde zu Hause hergestellt.
Die Erträge der Aussaat waren relativ gering, sie betrugen nach einer Quelle nur das 1,6 bis 1,8-fache; es ist allerdings fraglich, wie repräsentativ dies ist. Die Anfänge der Dreifelderwirtschaft scheinen auf das 8. Jahrhundert zurückzugehen, sie war im Frühmittelalter aber nicht flächendeckend verbreitet. Zwar begann bereits im Frühmittelalter auch ein Innovationsprozess, technisch wurden aber zunächst viele antike Vorläufer übernommen, so der bereits bekannte Pflug zur Bodenbearbeitung. Als Zugtiere dienten in der Regel vor allem Ochsen, da Pferde zu kostspielig dafür waren. Das Kummet kam erst im 11./12. Jahrhundert verstärkt zum Einsatz und auch nur in Regionen mit ausreichend vorhandenen Pferden; neueren Untersuchungen zufolge waren die antiken Anspannungssysteme dem Kummet auch nicht prinzipiell unterlegen, der erst im Zusammenspiel mit anderen Neuerungen eine wirkliche Effizienzsteigerung brachte. Bei der Getreideverarbeitung spielten Mühlen eine wichtige Rolle, wobei Wassermühlen bereits in der Spätantike weit verbreitet waren.
Im Handwerk wurde an römische Traditionen angeschlossen, so in der Keramik-, Glas- und Metallverarbeitung. Spezialisierte Handwerker genossen zwar keine besonders hervorgehobene soziale Stellung, wurden aufgrund ihrer Fertigkeiten aber durchaus geachtet. Eine der wenigen diesbezüglichen Quellen, das karolingische Capitulare de villis, verzeichnet unter anderem die Handwerksspezialisten in den königlichen Domänen des Frankenreichs. Eine nicht unwichtige Rolle im Rahmen des Wirtschaftskreislaufs spielten die Klöster. Mehrere verfügten über eigenen, teils sehr erheblichen Besitz und nutzten ihn wirtschaftlich. Die größeren klösterlichen Grundherrschaften konnten über tausend Bauernstellen umfassen.
Wichtigstes Transportmittel war das Schiff, gleich ob Binnen- oder Seeschifffahrt. Entgegen älteren Annahmen spielte im Frühmittelalter die Geldwirtschaft immer noch eine wichtige Rolle; die Bedeutung der naturalen Tauschwirtschaft darf daher nicht überschätzt werden. Münzprägungen wurden fast kontinuierlich von der Spätantike bis ins Mittelalter betrieben, doch ist ihre genaue Kaufkraft heute nur noch schwer einzuschätzen. Teilweise ist aber ein erheblicher Materialmangel feststellbar. Bereits seit spätmerowingischer Zeit ist im Frankenreich Bergbau nachweisbar, im 7. Jahrhundert ging man dort von Gold- zu Silbermünzen über.
Handel
Handel und Verkehr im Frühmittelalter stellen ein viel diskutiertes Forschungsproblem dar, zumal die relativ wenigen Quellen zur frühmittelalterlichen Wirtschaftsgeschichte recht verstreut sind. In der älteren Forschung wurde oft angenommen, dass der Fernhandel infolge der Umbrüche in der ausgehenden Spätantike zum Erliegen gekommen war (siehe Pirenne-These). Neuere Untersuchungen konnten jedoch belegen, dass es zwar zu einer Abnahme, nicht aber zu einem völligen Abreißen des Fernhandels gekommen war.
Das spätantike Handelsnetzwerk hatte den gesamten Mittelmeerraum umfasst, wobei das weitere Handelsnetzwerk über Persien bis nach Zentralasien, China und Indien reichte (siehe die Ausführungen zu Zentralasien im Artikel Spätantike und Indienhandel). Nach dem Zusammenbruch der römischen Staatsordnung im Westen (die Handelskontakte des Ostreichs waren bis ins ausgehende 6. Jahrhundert davon nicht betroffen) kam es zu regionalen Ausgestaltungen; in diesem Zusammenhang war die lokale Aristokratie, außer in der Francia (dem fränkischen Herrschaftsgebiet) und in der Levante, sogar ärmer und politisch regional beschränkter als in römischer Zeit. Die staatliche Gewalt schrumpfte infolge der geringeren Finanzkraft. Die Fiskalstruktur war einfacher gestaltet als zu römischer Zeit und brach im Westen sogar völlig zusammen. In diesem Zusammenhang darf jedoch nichts verallgemeinert werden, sondern die Regionen müssen jeweils einzeln betrachtet werden. Das spätantike Wirtschaftssystem im Mittelmeerraum hatte im 6. Jahrhundert schwere Rückschläge erlitten, nicht zuletzt durch die sogenannte Justinianische Pest und die anschließenden Pestwellen. Die Folgen der Pest sind allerdings im Einzelnen nur schwer einzuschätzen. Der Bevölkerungsrückgang im beginnenden Frühmittelalter ist aufgrund der uneinheitlichen Quellenbefunde nicht zwingend auf die Pest zurückzuführen; es kann sich auch um Folgen politischer Krisen handeln.
Um die Mitte des 7. Jahrhunderts ist wohl ein wirtschaftlicher Tiefpunkt im Mittelmeerhandel festzustellen. Um 700 bildeten sich aber neue Handelsrouten heraus. Die einzelnen Regionen (auch im Westen) waren nicht vollkommen isoliert, sondern standen weiterhin in Handelskontakt zueinander. Entgegen der älteren Lehrmeinung kam es bereits im späten 8. Jahrhundert zu einem nicht unerheblichen wirtschaftlichen Aufschwung. Auch im Mittelmeerraum ist in dieser Zeit ein reger Warenaustausch zwischen den lateinisch-christlichen Reichen, Byzanz und dem Kalifat nachweisbar, von Luxuswaren (wie Pelze und Seide) bis hin zu Salz, Honig und nicht zuletzt Sklaven. In diesem Sinne bildete sich ein neues vernetztes und weitgespanntes Handelssystem heraus. Im Westen kam es in der Merowingerzeit außerdem zu einer Handelsverschiebung in den Norden, wobei fränkische Händler schon im 7. Jahrhundert bis in das Slawenland im Osten vorstießen. Hinzu kamen später Handelsrouten nach Skandinavien. Der wichtigste fränkische Hafen für den Nordhandel war Quentovic. Die nördlichen Regionen waren nach der arabischen Expansion also keineswegs vom Kulturraum des Mittelmeers abgeschnitten, denn es fand ein wechselseitiger Austauschprozess und eine entsprechende Kommunikation statt.
Fernhändler überwanden die engeren Regionengrenzen, einige Jahrmärkte scheinen seit der Spätantike fortlaufend besucht worden zu sein. Dennoch ist es sinnvoll, den westlichen und östlichen Mittelmeerraum hinsichtlich des Warenaustauschs getrennt zu betrachten, da es durchaus Unterschiede gab. Die oftmals geschrumpften Städte waren für den Warenumschlag und Fernhandel auch nach dem 6. Jahrhundert von Bedeutung, besonders in den antiken Kulturlandschaften im Westen, so in Italien und teilweise im südlichen Gallien. Venedig verhandelte mit islamischen Herrschaften wegen Bauholz und trieb Handel mit Salz und vor allem Sklaven, die nach Byzanz und in den islamischen Raum verkauft wurden. Gaeta, Amalfi und Bari profitierten ebenfalls vom Fernhandel. Mailand, das bereits in der Spätantike eine wichtige Rolle gespielt hatte, gewann seit dem späten 10. Jahrhundert wieder an Bedeutung, so im Bereich der Geldwirtschaft. Dagegen brach die antike urbane Kultur im Donauraum und in Britannien faktisch zusammen. Kleinere Städte konnten – wie bereits zuvor und lange danach – nur mit dem Überschuss der lokalen Produktion handeln. Der Handel mit Massenwaren war vor allem für den Binnenhandel von Bedeutung. Der Großteil des Handels dürfte ohnehin innerhalb der Regionen stattgefunden haben, so dass die meisten Waren über relativ kurze Distanz transportiert wurden.
Byzanz
Byzanz durchlief im 7./8. Jahrhundert eine Transformation, wobei wichtige antike Strukturen zwar erhalten blieben, Gesellschaft und Wirtschaft sich aber teils grundlegend wandelten. Aufgrund der angespannten außenpolitischen Lage militarisierte sich die Gesellschaft im 7. Jahrhundert zunehmend. Es formierte sich seit dieser Zeit eine Adelsschicht aus den Reihen der einflussreichen Bürokratie und der großen Landbesitzer und es bildeten sich Familiennamen heraus – Familien, die teils sehr bedeutend wurden. Im späten 9. Jahrhundert rekrutierte sich die Führungsschicht zunehmend aus diesen Geschlechtern. Parallel dazu nahm das freie Bauerntum ab, viele gerieten schließlich in die Abhängigkeit von Großgrundbesitzern. Trotzdem blieb die byzantinische Gesellschaft wesentlich offener als die westeuropäische, auch der Kaiserthron blieb nicht dem hohen Adel vorbehalten. Ein sozialer Aufstieg bis an die Spitze des Staates stand somit grundsätzlich jedem offen, wie das Beispiel von Basileios I. zeigt. Die byzantinische Wirtschaft erholte sich nach der Krisenphase des 6. und 7. Jahrhunderts langsam. In dieser Zeit hatte sie unter den Folgen von Pest und Kriegen gelitten, verbunden mit einem Bevölkerungsrückgang. Die Quellen zur mittelbyzantinischen Wirtschaftsgeschichte, speziell für das 8./9. Jahrhundert, sind jedoch nicht besonders ergiebig.
Manche Städte wurden aufgegeben, andere waren auf ihre Kernzentren reduziert, Konstantinopel blieb aber weiterhin eine bedeutende Metropole im Mittelmeerraum und die wichtigste Stadt des Reiches. Die reichsten Provinzen des Reiches waren nach 700 zwar verloren, Kleinasien konnte aber zumindest in gewissem Maß als Ersatzbasis dienen. Die staatliche Bürokratie blieb im Gegensatz zum Westen voll funktionsfähig, wenngleich die Steuereinnahmen zurückgingen. Die Wirtschaftskraft stieg in der folgenden Zeit wieder an; war der byzantinische Staat im 8. Jahrhundert fast verarmt, verfügte er im 10. Jahrhundert wieder über erhebliche Mittel. Allgemein spielte in Byzanz der ländliche Wirtschaftsraum zwar eine wichtige, aber nicht die dominierende Rolle wie im lateinischen Europa, da die urbane Wirtschaftsproduktion weiterhin ein wichtiger Faktor war. Im Gegensatz zum lateinischen Europa war die Wirtschaft zudem stärker staatlich reglementiert und finanzierte über den Fiskus stärker den Herrschaftsapparat.
Bildung
Bildungssystem und Entwicklung
Die frühmittelalterliche Gesellschaft war eine weitgehend orale Gesellschaft, in der nur wenige Menschen lesen und schreiben konnten. Literarisch gebildet war eine noch kleinere Minderheit, die ganz überwiegend, aber nicht ausschließlich, Geistliche umfasste. Das antike Kulturgut stellte die Grundlage dar. Allerdings war im frühmittelalterlichen westlichen Europa nur ein geringer Teil der antiken Literatur erhalten. Das mittelalterliche Latein (Mittellatein) unterschied sich zudem vom klassischen Latein, die Kenntnis des Griechischen hatte bereits in der Spätantike im Westen abgenommen. Dennoch verband die lateinische Sprache auch nach dem Zerfall Westroms weite Teile Europas miteinander, da eine gemeinsame kommunikative Grundlage vorhanden war.
Das spätantike dreistufige Bildungssystem (Elementarunterricht, Grammatik und Rhetorik) war infolge der politischen Umwälzungen der Völkerwanderungszeit im Westen nach und nach verschwunden. Die ältere Forschung hat den Übergang von der Antike zum Mittelalter oft mit einer „Barbarisierung“ gleichgesetzt. Es handelt sich letztendlich aber um einen Übergang zu einer neuen Kultur, in der auch abweichende Interessen und ein neues Kulturideal feststellbar sind. Für die romanische Oberschicht war Bildung ohnehin noch längere Zeit von Bedeutung. Der Geschichtsschreiber und Bischof Gregor von Tours im späten 6. Jahrhundert entstammte einer vornehmen gallorömisch-senatorischen Familie und legte erkennbar Wert auf Bildung, denn er beklagte ihren Verfall. Schulen im südlichen Gallien und Italien gingen nach und nach unter, in privaten Zirkeln wurde aber teils weiterhin Bildung vermittelt.
Die Entwicklung der schriftlichen Kultur im Frühmittelalter verlief sehr heterogen und wurde durch unterschiedliche Faktoren beeinflusst. Ebenso wenig waren Bildung und geistiges Leben im lateinischen Westen einheitlich. In der frühen Merowingerzeit wurde anscheinend noch Profanunterricht erteilt, denn die Merowinger verfügten über eine rudimentäre Bürokratie, für die Schriftkenntnisse erforderlich waren. In der frühen Merowingerzeit spielten nicht zuletzt die vornehmen gallorömischen Familien eine wichtige Vermittlerrolle im Hinblick auf klassische Lehrinhalte. Die merowingische Kanzlei bestand lange Zeit vorwiegend aus entsprechend gebildeten Laien (siehe Referendarius), nicht aus Klerikern. Von der Königsfamilie und Mitgliedern des hohen Adels wurde erwartet, dass sie über Lese- und Schreibfähigkeiten verfügten. Einige Könige wie Chilperich I. besaßen eine gehobene Bildung und demonstrierten sie. Erst nach der Mitte des 7. Jahrhunderts kam es auch infolge der merowingischen Machtkämpfe mit dem Adel zu einem weiteren Verfall. Die Lese- und Schreibkenntnisse nahmen unter Laien, teils aber auch unter Geistlichen stark ab. Im Westgotenreich finden sich noch im 7. Jahrhundert Spuren der spätantiken Bildung. Ähnliches gilt für Italien auch nach der langobardischen Invasion im späten 6. Jahrhundert; in den italienischen Städten sind schriftkundige Laien weiterhin bezeugt. Auf den britischen Inseln entwickelte sich im 7. und 8. Jahrhundert eine neue Kultur der Schriftlichkeit. Im Merowingerreich brach die literarische Produktion zwar im 7./8. Jahrhundert dramatisch ein, doch entstanden noch einige Werke, wie die merowingischen Heiligenviten.
Für die mittelalterliche Bildungsvermittlung und den Wissenstransfer im lateinischen Westen waren schließlich die Kloster-, Dom- und Stiftsschulen und somit die Kirche von zentraler Bedeutung. Der Großteil der antiken Literatur ist nicht erhalten, doch in den Klöstern wurde das im Westen noch vorhandene antike Wissen gesammelt und tradiert; diese Tradition begann bereits im 6. Jahrhundert mit Cassiodor. Texte wurden nach festen Regeln gelesen und teils auswendig gelernt sowie in den kirchlichen Skriptorien kopiert. Als Beschreibstoff wurde noch teilweise Papyrus verwendet (so in der merowingischen Verwaltung), doch setzte sich verstärkt das Pergament durch; die Schriftrolle wich zunehmend dem Buch (Kodex). Neben Klerikern erhielten auch Nonnen eine lateinische Ausbildung, einige Schulen standen zudem Laien (so aus der adeligen Oberschicht) offen. Die Laien waren aber in der Regel ungelehrt, in kirchlichen Kreisen wurde teilweise auch der Gegensatz zu den illiterati (Leseunkundigen) betont. Rosamond McKitterick vertritt allerdings die umstrittene These, dass in karolingischer Zeit die Schriftlichkeit unter Laien höher gewesen sei, als früher oft angenommen. In den kirchlichen Schulen wurden neben der Bibel und den Texten der Kirchenväter auch profane spätantike Texte für die Lehre herangezogen. Martianus Capella hatte in der Spätantike ein Lehrbuch verfasst, in dem der Kanon der sieben freien Künste (die artes liberales) zusammengefasst war: Trivium und das weiterführende Quadrivium. Daneben spielten vor allem Boethius und Isidor von Sevilla eine wichtige Rolle. Die Schriften des Boethius genossen im Mittelalter ein gewaltiges Ansehen. Er hatte zudem die freien Künste neu bearbeitet und damit eine wichtige Grundlage für den mittelalterlichen Lehrkanon geschaffen. Isidor hatte im 7. Jahrhundert in der Enzyklopädie Etymologiae in 20 Büchern systematisch weite Teile des bekannten spätantiken Wissens gesammelt. Dem Werk kam für die Wissensvermittlung im Frühmittelalter große Bedeutung zu.
Karolingische Bildungsreform
Im Frankenreich war die lateinische Sprache stilistisch zunehmend verwildert, auch die kirchlichen Bildungseinrichtungen verfielen. Dieser Prozess wurde im Karolingerreich seit Ende des 8. Jahrhunderts durch gezielte Maßnahmen der Kulturförderung gestoppt. Diese neue Aufschwungphase wird oft als karolingische Renaissance bezeichnet. Der Begriff „Renaissance“ ist aus methodischen Gründen allerdings sehr problematisch. Dies trifft auch auf die sogenannte Makedonische Renaissance in Byzanz zu, da dort eine Kulturkontinuität zur Antike bestand. Hierbei traten zwar Abschwächungen ein, es kam dort aber nie zu einem vollständigen Bruch. Im Frankenreich handelte es sich ebenfalls nicht um eine „Wiedergeburt“ des klassischen antiken Wissens, sondern vielmehr um eine Reinigung und Vereinheitlichung. Für die Karolingerzeit spricht man aus diesem Grund heute von der karolingischen Bildungsreform. Den Anstoß dafür gab wohl die Reform der fränkischen Kirche durch Bonifatius Mitte des 8. Jahrhunderts. Bereits zuvor fand zudem eine Belebung des geistigen Lebens in England und Irland statt, wo die Schriftkultur zunehmend erstarkte. Die Schriften des sehr belesenen Beda Venerabilis (gest. 735) decken eine große Bandbreite ab, so Kirchengeschichte, Hagiographie, Chronologie sowie die freien Künste und vermitteln das Bild eines lebendigen geistigen Lebens.
Karl der Große selbst war offenbar kulturell durchaus interessiert und versammelte an seinem Hof gezielt mehrere Gelehrte aus dem lateinischen Europa. Der angesehenste von ihnen war der Angelsachse Alkuin (gest. 804). Alkuin war zuvor Leiter der berühmten Kathedralschule in York gewesen; er besaß eine umfangreiche Bibliothek und genoss einen herausragenden Ruf. Er begegnete Karl in Italien und folgte 782 dem Ruf an dessen Hof, wo er nicht nur als ein einflussreicher Berater wirkte, sondern auch zum Leiter der Hofschule aufstieg. Einhard (gest. 840) stammte aus einer vornehmen fränkischen Familie und war zunächst Schüler Alkuins, später Leiter der Hofschule und Vertrauter Karls. Er war zudem als Baumeister Karls tätig und verfasste nach 814 eine an antiken Vorbildern orientierte Biographie des Königs, die als die „reifste Frucht der karolingischen Renaissance“ bezeichnet worden ist. Petrus von Pisa war ein lateinischer Grammatiker, der Karl in lateinischer Sprache unterrichtet hat. Der langobardische Gelehrte Paulus Diaconus hatte in Italien im Königsdienst gestanden und war 782 an den Hof Karls gekommen, wo er vier Jahre blieb und wirkte. Theodulf von Orléans war ein gotischer Theologe und Dichter. Er war überaus belesen und gebildet; für Karl verfasste er auch die Libri Carolini. Der Hof Karls und die Hofschule gaben Impulse für eine kulturelle Erneuerung, wobei auch die karolingische Kirche als zentraler Kulturträger reformiert wurde.
Die Umsetzung der folgenden Bildungsreform war maßgeblich Alkuins Verdienst. Der Schlüsselbegriff dafür lautete correctio, wonach die lateinische Schrift und Sprache sowie der Gottesdienst zu „berichtigen“ waren. Das vorhandene Bildungsgut sollte systematisch gesammelt, gepflegt und verbreitet werden; dazu diente auch die Einrichtung einer Hofbibliothek. In der berühmten Admonitio generalis aus dem Jahr 789 wird auch das Bildungsprogramm angesprochen. Die Klöster wurden ermahnt, Schulen einzurichten. Die Reform der Kloster- und Domschulen war auch aus religiösen Gründen von Bedeutung, da der Klerus auf möglichst genaue Sprach- und Schriftkenntnisse angewiesen war, um die Bibel auslegen und theologische Schriften erstellen zu können. Die lateinische Schriftsprache wurde bereinigt und verbessert. Es wurde sehr auf korrekte Grammatik und Schreibweise Wert gelegt, wodurch das stilistische Niveau angehoben wurde. Als neue Schriftart setzte sich die karolingische Minuskel durch. Im kirchlichen Bereich wurde unter anderem die Liturgie überarbeitet, Homiliensammlungen erstellt und die Beachtung der kirchlichen Regeln eingefordert. Im administrativen Bereich wurden ebenfalls mehrere Änderungen vorgenommen. Die kirchlichen Bildungseinrichtungen wurden verstärkt gefördert, außerdem wurde eine revidierte Fassung der lateinischen Bibelausgabe angefertigt (sogenannte Alkuinbibel). Ältere Schriften wurden durchgesehen und korrigiert, Kopien erstellt und verbreitet. Die Hofschule wurde zum Lehrzentrum, was auf das gesamte Frankenreich ausstrahlte. Im Kloster Fulda beispielsweise entwickelte sich unter Alkuins Schüler Hrabanus Maurus eine ausgeprägte literarische Kultur. Daneben waren unter anderem Corbie und St. Gallen von Bedeutung. Die Forschung hat für die Zeit um 820 neben dem Karlshof 16 „Schriftprovinzen“ identifiziert, jede mit mehreren Skriptorien.
Die Bildungsreform sorgte für eine deutliche Stärkung des geistigen Lebens im Frankenreich. Die literarische Produktion stieg nach dem starken Rückgang seit dem 7. Jahrhundert spürbar an, auch Kunst und Architektur profitierten davon. Antike Texte sowohl von paganen als auch von christlichen Verfassern wurden nun wieder zunehmend herangezogen, gelesen und vor allem kopiert. Besonders nachgefragt waren Ovid und Vergil, daneben wurden unter anderem Sallust, Quintus Curtius Rufus, Sueton und Horaz wieder zunehmend gelesen. Die karolingische Bildungsreform hatte somit für die Überlieferung antiker Texte eine große Bedeutung. Allerdings gab es im Frankenreich regionale Unterschiede. Westfranken war aufgrund des gallorömischen Erbes kulturell weiter entwickelt. Der Hof Karls des Kahlen wirkte als ein kulturelles Zentrum, von Bedeutung war auch die sogenannte Schule von Auxerre. In Ostfranken hingegen stagnierte die literarische Produktion Mitte/Ende des 9. Jahrhunderts zunächst, bevor es im 10. Jahrhundert wieder zu einem erneuten Aufschwung kam. In ottonischer Zeit gewannen die Kathedralschulen zunehmend an Bedeutung. Im 10. Jahrhundert sind Lese- und Schreibkenntnisse im Adel seltener, die adelig-kriegerische Erziehung war dafür bestimmend. Andererseits verfügten sowohl Otto II. als auch Otto III. über eine sehr gute Bildung.
Kultur im östlichen Mittelmeerraum
Ein kulturelles Zentrum bildete vor allem der Osten, Byzanz und die islamische Welt, wo antikes griechisches Wissen bewahrt und gepflegt wurde. In Byzanz riss die Beschäftigung mit antiken Werken nicht einmal in der oft als „dunklen Periode“ bezeichneten Zeit von Mitte des 7. Jahrhunderts bis ins 9. Jahrhundert ganz ab; das beste Beispiel dafür ist Photios. Nicht nur Geistliche, sondern auch Laien, die es sich leisten konnten, genossen dort weiterhin eine Ausbildung, die für den Staatsdienst ohnehin unerlässlich blieb. Der Elementarunterricht in Lesen und Schreiben dauerte zwei bis drei Jahre und stand auch den mittleren Schichten offen. Genauere Einzelheiten über die Erteilung des Unterrichts sind aber kaum bekannt. Die höhere Bildung wurde bisweilen staatlich gefördert und überwacht. Der diesbezügliche Unterricht wurde an kaiserlichen Hochschulen erteilt, in mittelbyzantinischer Zeit also primär in Konstantinopel; in den Provinzen scheint es aber ebenfalls einige Einrichtungen gegeben zu haben. Es existierten mehrere umfangreiche Bibliotheken, die Ausbildung konnte etwa Rechtswissenschaften, Theologie oder Medizin umfassen.
Die arabischen Eroberer profitierten erheblich von der bereits vorhandenen höheren kulturellen Entwicklung in den ehemaligen oströmischen Gebieten und in Persien, woran später muslimische Gelehrte anknüpften. Im islamischen Raum wurde in der Masǧid (Moschee) unterrichtet, zu der eine angegliederter Herberge für die Schüler gehörte. Höhere Bildung (außer in Al-Andalus) wurde in der gildenartig organisierten Madrasa unterrichtet, wo vor allem islamische Theologie und Rechtswissenschaft (auch mit Kenntnis des Koran) gelehrt wurde. Finanziert wurde der Unterricht durch private Zuwendungen. Es entstanden zahlreiche arabische Übersetzungen griechischer Werke (Haus der Weisheit). In Damaskus, Bagdad, später auch auf Sizilien und in Al-Andalus, beschäftigte man sich ausgiebig mit den antiken Schriften, die Impulse für neue Überlegungen gaben. In der Umayyadenzeit erfolgte die kulturelle Orientierung noch stark an den spätantiken Vorbildern. So wurden prächtige Jagdschlösser im spätantiken Baustil errichtet (so Chirbat al Mafdschar nördlich von Jericho und Qasr al-Hair al-Gharbi in Syrien).
Zu erwähnen sind des Weiteren christliche syrische Gelehrte, die unter arabischer Herrschaft lebten, so Jakob von Edessa, Johannes von Damaskus und Theophilos von Edessa. Syrer spielten generell bei der Vermittlung des antiken Wissens an die Araber eine nicht unwichtige Rolle. Ebenso gelangte Wissen aus dem Osten in das lateinische Europa. Indisch-arabische Ziffern sind seit dem späten 10. Jahrhundert belegt. Vor allem Spanien und später Sizilien spielten eine wichtige Vermittlerrolle.
Frühmittelalterliche Literatur
Geschichtsschreibung
Das letzte bedeutende und weitgehend erhaltene spätantike Geschichtswerk in lateinischer Sprache hat Ammianus Marcellinus im späten 4. Jahrhundert verfasst. Die Namen einiger lateinischer Geschichtsschreiber im Westen bis zum Ende der Antike sind zwar bekannt, von ihren Werken ist aber faktisch nichts erhalten. Das trifft auch auf die Gotengeschichte Cassiodors zu (der außerdem eine erhaltene Chronik verfasste), welche die Grundlage für die Getica des Jordanes darstellte. Ende des 6. Jahrhunderts verfasste der gebildete, aus senatorischer gallorömischer Familie stammende Bischof Gregor von Tours sein Hauptwerk, die bis 591 reichenden Historien in 10 Büchern. Es handelt sich um eine bedeutende christliche Universalgeschichte mit dem Frankenreich im Zentrum, wobei die Zeitgeschichte besonders ausführlich beschrieben wurde. Das Niveau Gregors wurde in der Folgezeit lange nicht mehr erreicht. Die Fredegarchronik aus dem 7. Jahrhundert etwa ist in einem verwilderten Latein geschrieben und auch inhaltlich dürftig.
Typisch für die frühmittelalterliche Geschichtsschreibung sind neben der Chronik (Lokalchroniken und christliche Weltchroniken, die spätantiken Ursprungs sind) die Annalen. Sie entstanden in den karolingischen Klöstern und entwickelten sich von sehr kurzen, jahrweisen Einträgen zu teils ausführlichen, chronikartigen Schilderungen. Die bedeutendsten waren die bis 829 reichenden Reichsannalen, an denen sich in West- und Ostfranken verschiedene Fortsetzungen anschlossen (Annalen von St. Bertin, Annalen von Fulda). Inhaltlich standen sie dem karolingischen Herrscherhaus nahe und können bereits in gewisser Weise als Hofgeschichtsschreibung angesehen werden. Hinzu kamen weitere Annalen und Chroniken, die oft auf das eigene Bistums-, Kloster- oder Reichsgebiet ausgerichtet waren. In karolingischer Zeit entstanden auch mehrere erzählende Geschichtswerke. Paulus Diaconus schrieb eine Langobardengeschichte in 6 Büchern (sein Hauptwerk, die Historia Langobardorum), eine römische Geschichte in 16 Büchern und eine Geschichte der Bischöfe von Metz, die die karolingischen Ahnen pries. Nithard, im Gegensatz zu den meisten frühmittelalterlichen Autoren im Westen kein Geistlicher, schrieb vier Bücher Historien über die Geschichte der karolingischen Bruderkämpfe nach dem Tod Karls des Großen. Der karolingische Hofgelehrte Einhard verfasste die erste mittelalterliche Biographie eines weltlichen Herrschers: Inspiriert von den Kaiserbiographien Suetons, verfasste er nach dem Tod Karls des Großen die Vita Karoli Magni. Karls Sohn und Nachfolger Ludwig dem Frommen waren sogar zwei Biographien gewidmet: die Thegans und die eines anonymen Autors, der als Astronomus bezeichnet wird. In der späten Karolingerzeit schrieb Regino von Prüm eine bis 906 reichende Weltchronik. Im frühen 10. Jahrhundert entstanden zunächst keine größeren Geschichtswerke, wie auch die Schriftlichkeit in Ostfranken in dieser Zeit abgenommen hatte. Widukind von Corvey schrieb eine Sachsengeschichte in drei Büchern, die wichtig für die ottonische Geschichte ist. Die Ende des 10. Jahrhunderts verfasste Bischofschronik des Thietmar von Merseburg weitete sich zu einer bedeutenden Reichsgeschichte aus, die eine wichtige Quelle für die Ottonenzeit darstellt. In Westfranken schrieben des Weiteren Flodoard von Reims (Annalen und eine Geschichte der Kirche von Reims) und Richer von Reims (Historien, teils unter Bezugnahme auf Flodoard) Geschichtswerke, die wichtige Informationen für die Vorgänge im spätkarolingischen Westfranken enthalten.
In Britannien entstanden im Frühmittelalter die bedeutende Kirchengeschichte des Beda Venerabilis (frühes 8. Jahrhundert), die auch auf die politische und kulturelle Geschichte Britanniens eingeht, die Angelsächsische Chronik und Assers Biographie Alfreds des Großen; Lokalgeschichten sind für Irland und Wales (Annales Cambriae) belegt. Bereits in der Spätantike entstand in Rom der stetig fortgesetzte Liber Pontificalis, eine fortlaufende Papstgeschichte. Ansonsten stammen aus Italien mehrere, eher lokal ausgerichtete Chroniken. In Hispanien schrieb in westgotischer Zeit der bedeutende Gelehrte Isidor von Sevilla eine Universalchronik und eine Gotengeschichte. Später entstanden in Spanien unter anderem die Mozarabische Chronik und die Crónica Albeldense. Einzelne frühmittelalterliche Werke gingen zudem in der Folgezeit verloren (z. B. die Historiola des Secundus von Trient).
Mehrere der genannten Werke sind aus Sicht der modernen Forschung in mancherlei Hinsicht problematisch. Hervorzuheben ist aber die Vielfältigkeit der frühmittelalterlichen lateinischen Geschichtsschreibung. Diese hatte sich von der spätantiken Geschichtsschreibung zwar entfernt, die antiken Grundlagen waren aber nicht völlig verschwunden. Seit der karolingischen Bildungsreform wurde der Blick wieder stärker der Antike zugewandt, so dienten beispielsweise antike Autoren oft als stilistische Vorbilder oder es wurde Bezug genommen auf vergangene Geschehnisse (exempla). Die frühmittelalterliche Geschichtsschreibung war vor allem von einem festen christlichen Geschichtsdenken durchzogen, z. B. hinsichtlich eines linearen Verlaufs, in dem das Imperium Romanum das Ziel der Geschichte darstellte; ebenso spielte das göttliche Wirken sowie christlich-ethisches Handeln eine wichtige Rolle.
Die byzantinische Geschichtsschreibung in griechischer Sprache war im Frühmittelalter zwar ebenfalls christlich beeinflusst, doch der antike Bezug war weitaus größer als im Westen, zumal das antike Erbe stärker erhalten blieb und Geschichtsschreibung nicht auf Geistliche beschränkt war. Von Georgios Synkellos und Theophanes sind bedeutende byzantinische Chroniken überliefert. Die Tradition der antiken Geschichtsschreibung endete in Byzanz zwar im frühen 7. Jahrhundert, wurde aber im 10. Jahrhundert wieder verstärkt rezipiert. Die Nachahmung (Mimesis) der klassischen Texte wurde in vielen folgenden profangeschichtlichen byzantinischen Werken angestrebt. Unter Konstantin VII. wurden in einem gewaltigen Unterfangen Texte antiker Historiker exzerpiert; davon sind heute nur geringe Reste erhalten, die aber wertvolles Material enthalten, das ansonsten nicht überliefert worden wäre.
Im Orient entstanden weiterhin (christliche) armenische und syrische Geschichtswerke, die teils sehr wertvolle Informationen vermitteln. Zu nennen sind z. B. das Werk des Pseudo-Sebeos im 7. Jahrhundert und die heute verlorene Chronik des Theophilos von Edessa im 8. Jahrhundert, die mehreren späteren Autoren als Quelle gedient hat. Die Anfänge der islamischen Geschichtsschreibung reichen wohl bis ins 8. Jahrhundert zurück, doch sind viele Details umstritten, zumal erhaltene Kompilationen des älteren Materials erst aus dem 9./10. Jahrhundert stammen. Besonders hervorzuheben ist etwa die Universalgeschichte des gelehrten at-Tabarī, die bis ins frühe 10. Jahrhundert reicht.
Hagiographie
Eine Sonderrolle nimmt die Hagiographie ein. Sie wurde auch zur Gattung der historia (Geschichtserzählung) gezählt und war weiter verbreitet als die im engeren Sinne „weltliche Geschichtsschreibung“. Ein wichtiges Vorbild stellte die Vita des heiligen Martin von Tours dar, die Sulpicius Severus verfasst hat. Bereits in der Merowingerzeit entstanden Märtyrergeschichten und Viten als Exempel vorbildlicher Lebensführung sowie Bischofsviten, hinzu kamen Wunderberichte (miracula). Neben Gallien ist vor allem Italien zu nennen: Papst Gregor der Große verfasste im späten 6. Jahrhundert Dialogi, in denen zeitgenössische Heilige dargestellt wurden; später wurde zunehmend in mehreren Städten der Schutzpatrone gedacht. In karolingischer Zeit wurden, beeinflusst von der Bildungsreform, zudem mehrere Viten neu- oder umgeschrieben. Während die hagiographische Überlieferung aus Hispanien relativ dürftig ist, sind aus England seit dem frühen 8. Jahrhundert Viten überliefert. In der byzantinischen Literatur ist die Gattungsgrenze fließend, da die theologische Literatur dort weit ausgeprägt war (Homilien, Briefe, Geschichtswerke etc.). Im slawischen Bereich entstanden nach der Übernahme des Christentums verschiedene hagiographische Werke, so in Bulgarien im 10. Jahrhundert durch die Übersetzung und Bearbeitung byzantinischer Werke.
Lateinische Dichtung
Die mittellateinische Dichtung war recht stark von antiken Werken beeinflusst. Als erster frühmittelalterlicher Dichter kann der im späten 6./frühen 7. Jahrhundert lebende Venantius Fortunatus gelten, der seine Ausbildung in Italien erhielt und am merowingischen Königshof in Austrasien wirkte, wo er gute Kontakte knüpfte und schließlich Bischof wurde. Venantius Fortunatus stand dichterisch in spätantiker Tradition und verfasste über 200 Lobgedichte, Klage- und Trostlieder sowie Nachrufe, was Ausdruck eines um 600 durchaus noch vorhandenen Bedürfnisses traditioneller Bildung im Frankenreich ist. Besonders die frühmittelalterliche Hofdichtung war bedeutend, vor allem am karolingischen Königshof. Von Karls bereits erwähntem gelehrten Berater Alkuin sind mehr als 300 metrische Gedichte überliefert. Angilbert, Hofkaplan Karls des Großen und Vater des Geschichtsschreibers Nithard, verfasste neben Prosaschriften auch Gedichte und wurde Karls „Homerus“ genannt. Paulinus II. von Aquileia verfasste ein Klagegedicht zu Ehren Erichs, des Markgrafen von Friaul; auch andere Dichtungen werden ihm zugeschrieben. Paulus Diaconus, der auch als Geschichtsschreiber tätig war und einige Zeit am Hof Karls wirkte, verfasste mehrere Gedichte, darunter Lobgedichte und Epitaphien. Von Theodulf von Orléans sind ca. 80 Gedichte erhalten, die seine umfassende Bildung bezeugen. Im weiteren Verlauf des 9. Jahrhunderts wirkten in Westfranken noch Ermoldus Nigellus und der sehr gelehrte Johannes Scottus Eriugena. Hinzu kamen klösterliche Dichtungen, die zum Teil sehr bedeutend waren. Dazu zählen unter anderem Dichtungen Walahfrid Strabos und der Liber Ymnorum Notkers (entstanden um 884 und dem einflussreichen Liutward von Vercelli gewidmet). Die kulturelle Wiederbelebung nach dem Ende der Antike wurde durch die karolingischen Bildungsreform begünstigt. Die bedeutendste frühmittelalterliche Dichterin war Hrotsvit im 10. Jahrhundert. Im Bereich der mittellateinischen Epik ist vor allem der Waltharius zu nennen, eine epische Heldendichtung aus dem 9. oder 10. Jahrhundert. Im Übergang vom Früh- zum Hochmittelalter entstand die Dichtung über den Ritter Ruodlieb, die als erster fiktionaler Roman des Mittelalters gilt.
Verbreitet waren Bibeldichtungen, zumal die Bibel als Stoffgrundlage in der mittellateinischen Literatur ohnehin eine zentrale Rolle spielte. Ebenso entstanden geschichtliche Dichtungen, so um 800 das Versepos Karolus Magnus et Leo papa und Ende des 9. Jahrhunderts das Werk des Poeta Saxo. In England wirkten im 7. Jahrhundert Cædmon und Aldhelm von Sherborne, in Italien und im spanischen Westgotenreich entstanden ebenfalls einige bedeutende Dichtungen.
Volkssprachige Literatur
Seit Mitte des 8. Jahrhunderts sind im Westen nicht mehr nur lateinische, sondern auch volkssprachige Werke belegt; allerdings ist die Zahl der jeweils namentlich bekannten Verfasser überschaubar. Die Bandbreite der volkssprachigen frühmittelalterlichen Literatur ist recht beachtlich, sie umfasst unter anderem Zauber- und Segensbücher, Heldenerzählungen, Geschichtsdichtungen und Schlachtengedichte. Kirchliche Gebrauchstexte wurden ebenso übersetzt, vor allem im Hinblick auf die Vermittlung christlicher Glaubensbotschaften. Ein Großteil der volkssprachigen Dichtung war denn auch geistlicher Natur, wie z. B. Bibeldichtungen. Das früheste erhaltene Zeugnis für die althochdeutsche Bibeldichtung stellt das Wessobrunner Schöpfungsgedicht aus dem 9. Jahrhundert dar.
Die karolingischen Bildungsreform hatte nicht nur eine zunehmende Beschäftigung mit lateinischen Texten und der vorhandenen antiken Überlieferung zur Folge, sie stärkte auch die Entwicklung des Althochdeutschen. Zentren altdeutscher Überlieferung waren unter anderem die Klöster Fulda, Reichenau, St. Gallen und Murbach. Fragmentarisch erhalten ist das Hildebrandslied, ein althochdeutsches Heldenlied aus dem frühen 9. Jahrhundert. Karl der Große soll angeordnet haben, alte pagane Heldenlieder aufzuzeichnen, doch ist davon nichts erhalten. Unter Leitung des gelehrten Hrabanus Maurus entstand um 830 mit dem althochdeutschen Tatian eine Evangelienübersetzung. Als erster deutscher Dichter gilt Otfrid von Weißenburg, der in den 860er und 870er Jahren wirkte. Der von ihm um 870 verfasste Liber Evangeliorum ist ein althochdeutsches Bibelepos (im südrheinfränkischen Dialekt) und umfasst 7104 Langzeilen in fünf Büchern, wobei das Leben Jesu Christi im Mittelpunkt steht. Die Straßburger Eide von 842 sind in althochdeutscher und altfranzösischer Fassung überliefert und gelten als frühe Sprachzeugnisse. Das althochdeutsche Ludwigslied entstand im späten 9. Jahrhundert. In ottonischer Zeit endet für einige Zeit die althochdeutsche Literaturproduktion, wofür die Forschung bislang keine befriedigende Erklärung hat. Um 1000 wirkte dann etwa Notker von St. Gallen, der mehrere antike Texte ins Althochdeutsche übertrug und damit eine wichtige Grundlage für wissenschaftliche Texte in dieser Sprache schuf.
Am angelsächsischen Königshof Alfreds des Großen wurden einzelne Werke lateinischer Gelehrter (so Boethius und Orosius) ins Altenglische übersetzt. Die Masse der altenglischen Literatur (die neben altenglischen auch mehrere lateinische Texte umfasst) ist in vier Handschriften überliefert (Junius-Handschrift, auch Cædmonhandschrift genannt, Exeter-Buch, Vercelli-Buch und Beowulfhandschrift). In Irland entwickelte sich im 6./7. Jahrhundert eine lebendige Schriftkultur mit zunächst lateinischen, bald auch altirischen Werken, die Heldenerzählungen, Dichtungen, Annalen, Heiligen- und Königsgenealogien, hagiographische und geistliche Literatur umfasste.
Im Altfranzösischen sind nur wenige frühmittelalterliche Texte belegt, so etwa die Eulaliasequenz (zu Ehren der heiligen Eulalia) im späten 9. Jahrhundert und das Leodegarlied aus dem 10. Jahrhundert. Aus dem 11. Jahrhundert stammt die altfranzösische poetische Verarbeitung einer lateinischen Legende, das sogenannte Alexiuslied. In Italien beginnt die Geschichte der volkssprachigen Literatur erst im 13. Jahrhundert. Auf der Iberischen Halbinsel sind Belege für romanische Werke aus dem Frühmittelalter kaum vorhanden. Aus dem Kloster San Millán de la Cogolla etwa stammen romanische Glossen (10. Jahrhundert), in arabischen und hebräischen Dichtungen (die sogenannten Jarchas, 11. Jahrhundert) sind romanische Schlussstrophen belegt. Vollständig entwickelte volkssprachige Werke wurden aber erst im Hochmittelalter verfasst; dazu zählt unter anderem das Epos Cantar de Mio Cid. In der skandinavischen Literatur ist der Übergang von mündlichen Erzählungen und Gedichten (Skaldendichtung und Vorstufen der Edda im 9. Jahrhundert) zur Schriftsprache auch mit der Christianisierung und der Übernahme des lateinischen Alphabets (anstelle der Runenschrift) verbunden. Mit der Entwicklung des Kirchenslawischen im 9. Jahrhundert entstand im slawischen Kulturraum in der Folgezeit eine reichhaltige Literatur. Nach der Christianisierung Bulgariens wurden mehrere altkirchenslawische Übersetzungen griechischer Werke angefertigt, vor allem theologische Werke (liturgische und biblische Texte), Chroniken und Viten. In Byzanz selbst entstanden neben Schriften in der antiken griechischen Hochsprache auch mehrere volkssprachige (mittelgriechische) Werke. Eines der bedeutendsten ist das Epos Digenis Akritas.
Philosophie
Die Philosophie des Mittelalters baute stark auf antiken Grundlagen auf, allerdings, anders als noch in der Spätantike, nun fest eingebettet in das christliche Weltbild. In diesem Sinne war die theologisch ausgerichtete Patristik von Bedeutung, die im 7./8. Jahrhundert endete. Bereits in der Spätantike wurde der Neuplatonismus von christlichen Gelehrten rezipiert, die die platonische Ideenlehre mit christlichen Überlegungen verbanden, zumal Platons Ideen bereits durch den Neuplatonismus ins Transzendente übertragen wurden. Aussagen der Bibel wurden teilweise mit Hilfe platonischen Gedankenguts gedeutet, unter anderem mit Bezug auf das Gute und das Sein/Seiende. Von den Schriften Platons und des Aristoteles war im Frühmittelalter im Westen allerdings nur sehr wenig bekannt. Einflussreich waren dafür platonisch beeinflusste Philosophen. Augustinus von Hippo und Boethius sind beide historisch noch zur Spätantike zu zählen, stehen aber philosophiegeschichtlich an der Schwelle zum Mittelalter. Beide hatten einen starken nachhaltigen Einfluss auf die mittelalterliche Philosophie, besonders im Frühmittelalter. Dies gilt auch für die Werke des Pseudo-Dionysius Areopagita, eines anonymen spätantiken christlichen Neuplatonikers, die bereits in karolingischer Zeit ins Lateinische übersetzt wurden. Pseudo-Dionysius arbeitete auch das Konzept der negativen Theologie weiter aus.
Um die Mitte des 9. Jahrhunderts ist der aus Irland stammende bedeutende Philosoph Johannes Scottus Eriugena belegbar, der einige Zeit am westfränkischen Königshof verbrachte. Er war dort als gelehrter Berater tätig, erteilte auch Unterricht in den freien Künsten und genoss offenbar großes Ansehen. Eriugena stellt insofern eine Ausnahmeerscheinung dar, als ohne seine Schriften zwischen Boethius und Anselm von Canterbury eine weitgehende Lücke in der lateinischen philosophischen Literatur klaffen würde. Er verfügte, was im Westen zu dieser Zeit sehr ungewöhnlich war, über einige Griechischkenntnisse und trat für ein strikt logisches Denken ein, geriet dabei auch in Konflikt mit kirchlichen Autoritäten. Sein Hauptwerk mit dem griechischen Titel Periphyseon („Über die Naturen“) behandelt in Dialogform eingeteilt in fünf Büchern vor allem die kosmologische Weltordnung und das Verhältnis zwischen Schöpfer und Schöpfung. In logischer und systematischer Form sollte die christliche Offenbarung untersucht und ausgelegt werden, um die darin enthaltene Wahrheit zu erkennen. Das Werk basiert auf einer recht umfangreichen Quellenbasis und ist neuplatonisch geprägt. Eriugena verfasste außerdem einen (nur fragmentarischen) Kommentar zum Johannesevangelium und zu Martianus Capella.
Im byzantinischen Raum gilt als letzter spätantiker Philosoph Stephanos von Alexandria im frühen 7. Jahrhundert. Der damalige militärische Überlebenskampf des Reiches hatte einen spürbaren Rückgang des kulturellen Interessenniveaus zur Folge. Die Überlieferung bezüglich der geistigen Entwicklung in Byzanz ist für das späte 7. und das 8. Jahrhundert nicht günstig, dennoch blieb in Byzanz mehr vom kulturellen antiken Erbe erhalten als im Westen. Im 9./10. Jahrhundert wirkte dann der sehr gelehrte Photios, der über eine große Bibliothek verfügte und heute verlorene philosophische Abhandlungen verfasste. Einer seiner Schüler, Zacharias von Chalkedon, schrieb in den 860er Jahren eine kleine Schrift „Über die Zeit“. Leon der Mathematiker und Arethas von Kaisareia sammelten ebenfalls klassische griechische Texte und gaben sie teils neu heraus. Aus verstreuten Fragmenten lässt sich zudem erschließen, dass auch im 9. Jahrhundert Aristoteles und Platon in Byzanz gelesen und wohl teils auch neu herausgegeben wurden. Infolge des Bilderstreits entstanden zudem Schriften, in denen auch philosophische Argumente vorgebracht wurden.
Die Grundlage der islamischen Philosophie stellte zunächst die systematische Übersetzung griechischer philosophischer oder wissenschaftlicher Texte dar, wobei die weiterhin lebendige christlich-syrische Tradition der Beschäftigung mit griechischer Wissenschaft ebenfalls eine Rolle spielte. Bedeutung erlangte im 9. Jahrhundert al-Kindī, dessen Werke thematisch breit gestreut sind und unter anderem Astronomie, Mathematik, Optik, Medizin und Musik betreffen. Al-Kindī beschäftigte sich mit Platon und Aristoteles und fertigte Übersetzungen griechischer Werke an. Einflussreich war seine Abhandlung über Definitionen und Beschreibungen der Dinge, in der er das griechische philosophische Vokabular aufbereitete. Der jüdische Philosoph Isaak ben Salomon Israeli orientierte sich in seinem Buch über Definitionen eng an al-Kindī. Im 10. Jahrhundert wirkten der persische Philosoph Abu Bakr Muhammad ibn Zakariya ar-Razi und der aus Zentralasien stammende al-Fārābī. Letzterer konnte praktisch auf die gesamte noch erhaltene antike Überlieferung griechischer Philosophen zurückgreifen; er betrachtete die Philosophie als Grundlage jeglicher Wissenschaft und bezog dies auch auf die Religion. Der bedeutende persische Philosoph Avicenna (gest. 1037) stellte grundsätzlich die Frage nach der Aufgabe und der Möglichkeit der Philosophie. Seine sehr einflussreichen Überlegungen betrafen unter anderem die Logik und Intellektlehre. In seinem Kanon der Medizin fasste er außerdem systematisch das damalige medizinische Wissen zusammen. Daneben sind noch andere Gelehrte zu nennen, so z. B. al-Chwarizmi im 9. Jahrhundert.
Kunst
Im Frühmittelalter kam den Fürstenhöfen, vor allem aber dem fränkischen Königshof mit der Hofschule, und der Kirche eine tragende Rolle in der kulturellen und künstlerischen Förderung zu. In den Motiven dominiert die christliche Symbolik. Die frühmittelalterliche Kunst orientierte sich zunächst an spätantiken Vorbildern, bevor sich neue Kunststile entwickelten. Die byzantinische Kunst beeinflusste auch den Westen, wobei in der Forschung der Grad dieses Einflusses umstritten ist. Wurde die frühmittelalterliche Kultur früher als eher rezipierend und weniger als kreativ betrachtet, wird in neuerer Zeit wieder betont, dass es im Westen bereits spätantike Vorbilder gab und die Beeinflussung zwischen Ost und West subtiler war. Die karolingische Bildungsreform und die sogenannte ottonische Renaissance (10./11. Jahrhundert) bewirkten wieder einen kulturellen Aufschwung.
Im mittelalterlichen gelehrten Denken ist die Frage der Schönheit losgelöst von der Kunst und beruht auf platonischen und neuplatonischen Überlegungen. In der Kunsttheorie des frühen Mittelalters waren die Aussagen des Augustinus und des Pseudo-Dionysius Areopagita einflussreich. Ein Kunstwerk und die damit verbundene ästhetische Schönheit galt demnach nicht als Selbstzweck; Schönheit hatte vielmehr auch eine transzendentale Bestimmung. Für Johannes Scottus Eriugena z. B. galt das sinnlich Wahrnehmbare als ein Symbol des Göttlichen.
In der Baukunst bildet die Vorromanik einen Übergang zwischen spätantiken und romanischen Architekturformen. Im Kirchenbau dominierten in Hispanien und England Saalkirchen aus Stein, östlich des Rheins waren zunächst Holzkirchen verbreitet, von denen fast nichts erhalten ist. In Italien wiederum waren Basiliken verbreitet. Es entwickelten sich neue Bautypen, oft aus Italien inspiriert und mit Mosaiken geschmückt, was bereits in der Spätantike üblich war. Die Monumentalarchitektur wurde seit der Zeit Karls des Großen wieder gepflegt, der Massenbau mit mehreren Pfeilern beruhte auf antiken Kenntnissen. In karolingischer Zeit entstanden schließlich mehrere Herrscherpaläste, wie die Aachener Königspfalz, die in der Gesamtkomposition ebenfalls an römischen Vorbildern orientiert waren. Nach 814 gab es im Frankenreich einen gewissen Einbruch in der Monumentalarchitektur. Es wurden zunächst nun eher kleinteilige, aus einzelnen Raumzellen zusammengefügte Kirchenbauten bevorzugt. Zwar entstand später im 9. Jahrhundert auch der Hildebold-Dom, ebenso wurde in Corvey die Lorscher Westwerkform aufgenommen oder etwa in Hersfeld der Zellenquerbau in größere Dimensionen ausgeführt, es war aber nicht der Regelfall. In ottonischer Zeit knüpfte man bewusst an die karolingische Tradition an, es wurden wieder mehrere große Kirchenbauten errichtet. Problematisch bei der Bewertung frühmittelalterlicher Architektur ist allerdings, dass etwa aus dem 10. und 11. Jahrhundert kaum Überreste herrschaftlicher Profanbauten erhalten sind, sondern vor allem kirchliche Bauten. In Italien war aufgrund relativer Kulturkontinuität der Übergang ins Frühmittelalter weniger stark ausgeprägt, neu waren aber quadratische Pfeiler und Hallenkrypten. In Hispanien verschmolzen in der Westgotenzeit antike, frühchristliche und volkstümliche Motive; nach 711 entwickelte sich die mozarabische Architektur. In England entstanden infolge der Christianisierung der Angelsachsen neben mehreren Holzkirchen auch größere Kirchenbauten, von denen aber nur geringe Reste erhalten sind. In den unterschiedlichen angelsächsischen Reichen sind im Kirchenbau abweichende Bautypen anzutreffen.
Die auch byzantinisch beeinflusste karolingische Buchmalerei bedeutete eine Steigerung gegenüber der merowingischen Buchmalerei und ist eines der Resultate der karolingischen Bildungsreform. Beispiele dafür sind unter anderem das Lorscher Evangeliar, das Krönungsevangeliar und das Ada-Evangeliar (siehe auch Ada-Gruppe) aus der Zeit Karls des Großen oder der Codex aureus von St. Emmeram aus dem späten 9. Jahrhundert. Zentren der karolingischen Buchmalerei waren neben der königlichen Hofschule später Reims, St. Martin in Tours und Metz. Bedeutung erlangte im späteren 9. Jahrhundert die Hofschule Karls II. in Westfranken. Es entstanden auch in den großen Reichsklöstern und bedeutenden Bischofsresidenzen Bildhandschriften, teils in Nachahmung der königlichen Hofschulen (so das Fuldaer Evangeliar). Entscheidend hierfür war, dass die geistlichen Einrichtungen über gute Skriptorien verfügten und kulturelle Impulse aufnahmen, was auf weltlicher Seite zunächst kaum der Fall war. In der Ottonenzeit im 10./11. Jahrhundert wurde, nach einem kulturellen Abschwung am Ende der Karolingerzeit, an ältere Vorbilder angeknüpft. So entstand im Ostfrankenreich die ebenfalls bedeutende ottonische Buchmalerei, deren Zentren die Klöster Corvey, Hildesheim, Fulda und Reichenau waren; später gewannen auch Köln, Regensburg und Salzburg an Bedeutung. Zu deren bedeutendsten Produkten gehören das Gebetbuch Ottos III. und das Evangeliar Ottos III. Des Weiteren sind noch aus anderen Regionen Europas Buchmalereien erhalten. Einen Höhepunkt der angelsächsischen Buchmalerei stellt das Aethelwold-Benedictionale aus dem späten 10. Jahrhundert dar, in Westfranken entstand um 1000 die reich verzierte „Erste Bibel“ von St. Martial (Limoges). Aus Spanien stammt der Beatuskommentar zur Offenbarung des Johannes (8. Jahrhundert), während auch in Italien zahlreiche illustrierende Bildhandschriften entstanden, vor allem zum Leben bekannter Heiliger und bedeutender Geistlicher.
Im Frühmittelalter gingen einige antike Kunstkenntnisse verloren. Dies betrifft etwa die Dreidimensionalität und die Darstellung des Menschen in seinen natürlichen Proportionen. Es entwickelte sich ein recht statischer Aufbau und eine gewisse Furcht vor der Leere (horror vacui). Hinzu kamen neue künstlerische Zielsetzungen und andere künstlerische Charakteristika, so keltische und germanische Ornamentik (siehe auch Germanischer Tierstil). Grundlage der frühmittelalterlichen Wandmalerei ist die spätantike Monumentalmalerei, von der im Frühmittelalter mehr als heute erhalten war. Wie stark die konkreten Zusammenhänge zwischen spätantiker und frühmittelalterlicher Wandmalerei sind, ist heute aber kaum noch zu erschließen, da oft jüngere Eingriffe vorliegen. Von verschiedenen frühmittelalterlichen Wandmalereien sind zudem nur Teile erhalten. Ein Bild der Monumentalmalerei in karolingischer Zeit um 800 vermitteln die heute zwar verlorenen, aber durch Beschreibungen und Skizzen bekannten Vorzeichnungen für den ursprünglichen Kuppeldekor der Aachener Pfalzkapelle Karls des Großen. In Kirchen waren Wandmalereien mit Darstellungen aus dem Leben Jesu Christi besonders beliebt, aber auch zahlreiche andere biblische Szenen wurden verwendet. Dies wurde durch eschatologische Erwartungen für die Zeit um 1000 noch verstärkt. In ottonischer Zeit griff man zunächst auf die karolingische Tradition zurück. Das Mittelschiff von St. Georg in Reichenau-Oberzell (10. Jahrhundert) ist wohl das beste Beispiel für die Innenausmalung eines Kirchenraums, die in karolingischer und ottonischer Zeit recht üblich war.
Mehrere Bischöfe traten als Förderer der Kunst auf, so im späten 10. Jahrhundert Gebhard von Konstanz in seiner Eigenkirche in Petershausen oder Egbert von Trier, unter dessen Patronage der Meister des Registrum Gregorii wirkte. Das Kunsthandwerk brachte unter anderem Fibeln, Gürtelschnallen, aber auch Schnitzarbeiten aus Elfenbein, Goldblecharbeiten und reich verzierte Buchdeckelarbeiten hervor. In der Kleinplastik wurde aufgrund des starken religiösen Bedürfnisses viele Reliquienbehältnisse angefertigt. Es entstanden zudem zahlreiche liturgische Geräte; als eines der schönsten gilt das um 1000 angefertigte Lotharkreuz. Das in ottonischer Zeit entstandene Gerokreuz wiederum ist eine der ersten Monumentalskulpturen des Mittelalters.
Die kulturellen Zentren befanden sich daneben vor allem im Osten. In Byzanz zählt die Ikonenmalerei zu den Höhepunkten frühmittelalterlicher Kunst, ebenso brachte die byzantinische Buchmalerei bedeutende Werke hervor. Die sogenannte makedonische Renaissance im 9./10. Jahrhundert führte in Byzanz, nachdem die existenzbedrohenden Abwehrkämpfe gegen die Araber überstanden waren, zu einer stärkeren Besinnung auf antike Motive und die antike Literatur. In Byzanz tobte im 8. und 9. Jahrhundert der Bilderstreit, was Auswirkungen auf die Kunst hatte. Im späten 8. Jahrhundert konnten sich kurzzeitig die Bilderverehrer durchsetzen und sie waren dann im 9. Jahrhundert endgültig siegreich. Im Westen beschäftigte man sich auf der Synode von Frankfurt 794 mit der religiösen Bilderverehrung, die man schließlich ablehnte (Libri Carolini). Im Westen wurden aber byzantinische Kunsteinflüsse durchaus aufgenommen, z. B. in der Buchmalerei oder bezüglich Formen des Zentralbaus bei romanischen Kirchen. In der Architektur sind vom byzantinischen Stil unter anderem der Markusdom in Venedig und die karolingische Pfalzkapelle im Aachener Dom (Oktogonform) inspiriert.
Christentum
Allgemeines
Religion war im Frühmittelalter im lateinischen Europa, in Byzanz und im Kalifat ein bestimmendes Lebensmoment. Es ist jedoch sehr fraglich, ob man für jeden dieser Kulturräume von einer Einheit in Kultur und Religiosität sprechen kann; vielmehr bestand zwischen den gelehrten Denkvorstellungen und der gelebten Volksfrömmigkeit ein Unterschied. Dies betraf auch das lateinische Europa, wenngleich in populären Vorstellungen oft von einem monolithischen Block ausgegangen wird. Die allgemeine Geschichte des lateinischen Europas und des byzantinischen Kulturkreises im Frühmittelalter ist dennoch eng mit der Geschichte des Christentums in dieser Zeit verknüpft.
Bereits in der Spätantike bestand eine enge Bindung von Kirche, Staat und Kultur. Das Christentum war unter Theodosius I. zur Staatsreligion erhoben worden, die paganen („heidnischen“) Kulte verloren immer mehr an Anhängerschaft und versanken schließlich in der Bedeutungslosigkeit, wenngleich kleine pagane Minderheiten in Byzanz noch bis ins 6. Jahrhundert belegt sind. Nach dem Untergang Westroms war zwar die politische Einheit im Mittelmeerraum aufgehoben, dennoch waren die neuen germanischen Reiche christliche Reiche – entweder bereits bei ihrer Gründung oder kurz darauf (wie das Frankenreich).
Neigte die Mehrheit der christlichen Germanen zum Arianismus, so bestand die romanische Mehrheitsbevölkerung aus katholischen Christen, was teilweise zu erheblichen Spannungen führte. Im ostgotischen Italien wirkte sich der konfessionelle Unterschied sogar außenpolitisch im Verhältnis zu Byzanz aus (akakianisches Schisma). Die Langobarden, die 568 in Italien einfielen, waren ebenfalls überwiegend Arianer, doch erfolgte im 7./8. Jahrhundert zunehmend die Hinwendung zum katholischen Bekenntnis. Chlodwig I. ließ sich um 500 katholisch taufen und ihm folgten zahlreiche Franken; im Westgotenreich erfolgte die Konversion 589. Trotz politischer Zersplitterung blieb eine gewisse kulturell-religiöse Einheit bestehen, die erst mit der arabischen Expansion im 7. Jahrhundert endete.
Päpste und weltliche Herrschaft
Das Papsttum spielte im Frühmittelalter politisch keine so entscheidende Rolle wie im weiteren Verlauf des Mittelalters. Der Bischof von Rom genoss als Nachfolger der Apostel Petrus und Paulus zwar großes Ansehen, doch übte er etwa über die byzantinische Kirche keine Oberherrschaft aus. Der Patriarch von Konstantinopel wiederum erhielt nie die Bedeutung wie der Papst im Westen, wo die Päpste schließlich auch eine weltliche Vollgewalt beanspruchten, und bestimmte zu keinem Zeitpunkt die byzantinische Politik. Während des Übergangs von der Antike zum Mittelalter standen die Päpste politisch stark unter byzantinischem Einfluss.
Infolge des byzantinischen Machtverlustes im Westen gewannen die Päpste langsam, aber zunehmend an politischem Spielraum. Gregor der Große beispielsweise, der aus vornehmer römischer Familie stammte, sehr gelehrt und einer der bedeutendsten mittelalterlichen Päpste war, war auch politisch aktiv. Dennoch waren die Päpste formal noch Untertanen des byzantinischen Kaisers, der ihnen sogar den Prozess machen konnte. Mitte des 8. Jahrhunderts waren die Päpste aufgrund der langobardischen Bedrohung gezwungen, sich nach Unterstützung umzusehen. Papst Stephan II. reiste 753/54 zum Frankenkönig Pippin und ging ein Bündnis mit ihm ein. Die Karolinger übernahmen die Rolle als neue päpstliche Schutzmacht, die später die Ottonen und die folgenden römisch-deutschen Könige ebenfalls übernahmen. Durch diese Allianz wurden nicht zuletzt die päpstlichen Ansprüche geschützt, die sich, wie der entstehende Kirchenstaat zeigt, auch in weltlicher Form artikulierten. Die im 8./9. Jahrhundert gefälschte Konstantinische Schenkung sollte für diese Ansprüche eine Grundlage bieten. Seit der Kaiserkrönung Karls des Großen im Jahr 800 waren Papst und Frankenreich noch enger miteinander verquickt.
Die Verbindung war insofern problematisch, als sowohl Papsttum als auch Kaisertum universale Gewalten waren, deren Interessen nicht immer parallel verliefen, wie der Investiturstreit im 11./12. Jahrhundert deutlich zeigt; doch bereits im 9. Jahrhundert kam es zu Konflikten zwischen Papst und den karolingischen Kaisern. Als Gegengewicht zur weltlichen Macht wurde von kirchlicher Seite die Zwei-Schwerter-Theorie entwickelt, wenngleich im Hochmittelalter die Päpste bisweilen selbst die weltliche Oberherrschaft nachdrücklich beanspruchten. Das päpstliche Ansehen stieg zunehmend, so dass verschiedene Herrscher im lateinischen Europa die Unterstützung des Papstes erbaten. Im 9. Jahrhundert erreichte die päpstliche Autorität unter Nikolaus I. einen ersten Höhepunkt, eine „Weltstellung“, bevor sie im späten 9. Jahrhundert verfiel. Das Papsttum wurde im frühen 10. Jahrhundert zu einem Spielball der Interessen stadtrömischer Familien. In ottonischer Zeit spielte es politisch keine entscheidende Rolle. Die Verbindung zwischen westlicher und östlicher Kirche wiederum schwand immer mehr und führte letztendlich zum Schisma von 1054.
Die karolingische Bildungsreform um 800 hatte schon aufgrund der engen Verbindung von christlicher Religion und Kultur im Frühmittelalter auch Auswirkungen auf die Kirche im Frankenreich und förderte deren Erneuerung. Eine überarbeitete Fassung der lateinischen Bibelausgabe wurde erstellt und die kirchlichen Bildungseinrichtungen (Schulen, Skriptorien und Bibliotheken) gefördert, was zu einem kulturellen Aufschwung führte. Die Reichskirche im Frankenreich war politisch eng mit dem Königtum verbunden. Die fränkischen Könige waren seit der Karolingerzeit darauf angewiesen, dass die Kirche weltliche Verwaltungsaufgaben übernahm, nachdem die an spätrömischen Mustern orientierte Verwaltungspraxis der Merowingerzeit zusammengebrochen war. Diese Tradition wurde in West- und Ostfranken bis ins Hochmittelalter beibehalten.
Aufgrund der effektiven Verbindung von Reich und Kirche in der Ottonen- und Salierzeit hat die ältere Forschung von einem Reichskirchensystem im Ostfrankenreich gesprochen. Tatsächlich hatte die Kirche aber ebenfalls in anderen christlichen Reichen des lateinischen Europas Verwaltungsaufgaben übernommen. Die christlichen Könige sowie vor allem die Kaiser übten eine Schutzherrschaft über die Kirche aus und waren oft bestrebt, dem Bild eines gerechten christlichen Idealherrschers wenigstens formal zu entsprechen. Kirchliche Konzile und Synoden wurden oft von den weltlichen Herrschern einberufen, gerade um das enge Zusammenwirken von Herrscher und Kirche zu demonstrieren.
Mitte des 4. Jahrhunderts hatte Martin von Tours die erste Mönchsgemeinschaft im Westen Europas gegründet. Das Mönchtum gewann im Verlauf des Frühmittelalters zunehmend an Bedeutung. Einflussreich wurden die Mönchsregeln des Benedikt von Nursia. In den Klöstern war der Alltag von festen Abläufen geprägt. Die weitgehend von der Außenwelt abgeschirmten Mönche widmeten dabei ihr Leben und ihr Wirken ganz Gott, doch waren die Klöster ebenso ein wichtiger wirtschaftlicher Faktor, da sie über Güter und Besitzungen verfügten. Das Mönchtum ist auch als Korrektiv zu einer Kirche zu verstehen, die sich zunehmend weltlichen Angelegenheiten zuwandte. Die Kirche war hierarchisch aufgebaut und verfügte über eine recht effektive Verwaltung. In der frühmittelalterlichen lateinischen Kirche genossen die einzelnen Bischöfe recht weitreichende Vollmachten. Nach dem Zusammenbruch der römischen Verwaltungsordnung im Westen kam den Bischofssitzen eine wichtige Verwaltungsaufgabe zu. Vor allem im südlichen Gallien, in Italien und auch in Spanien übernahmen Bischöfe politische Aufgaben, was zur Etablierung faktisch autonomer sogenannter „Bischofsrepubliken“ führte.
Frömmigkeit und Gottesdienst
Das geistige und religiöse Leben im lateinischen Europa war im Frühmittelalter äußerst vielfältig und es wirkten zahlreiche christliche Gelehrte. Als Beispiele seien für den lateinischen Westen unter anderem genannt: Gregor von Tours und Gregor der Große im späten 6. Jahrhundert, Alkuin, Einhard, Hrabanus Maurus und Hinkmar von Reims im 9. Jahrhundert sowie Notker von St. Gallen um 1000.
Christliche Frömmigkeit war im Frühmittelalter allgegenwärtig, drückte sich aber recht unterschiedlich aus und veränderte sich von Zeit zu Zeit. Der Glaube an ein Reich Gottes im Jenseits war gängige Vorstellung, wodurch Tod und Teufel überwunden werden sollten. Die Aufnahme in die christliche Gemeinschaft erfolgte durch die Taufe; noch in der Spätantike hatte sie nicht diese Bedeutung gehabt. Dem ging in der Regel das Katechumenat als Schulungszeit voraus. Die freiwillige Annahme war prinzipiell Voraussetzung, Zwangsbekehrung (obwohl teils praktiziert) galt nach dem Kirchenrecht als nicht gestattet und wurde von verschiedenen Päpsten (so von Gregor dem Großen) wiederholt abgelehnt. Die Kraft von Gottes Allmacht sollte durch gutes Handeln in der Gegenwart erlangt werden. Gott galt als gütig und gerecht, der aber durchaus Verfehlungen bestraft. Fehlverhalten erforderte daher eine angemessene Buße.
Der Gottesdienst war von festen Ritualen geprägt, die innerhalb der Liturgie vor allem eine symbolische Bedeutung hatten. Wenngleich das Christentum eine Buchreligion ist, war aufgrund geringer Lesekenntnisse im Frühmittelalter der gesprochene Wortgottesdienst sehr bedeutend. Neben den lateinischen Gottesdiensten entstanden volkssprachige Gebete. Das Glaubensbekenntnis und das Vaterunser waren von zentraler Bedeutung und wurden in mehrere Volkssprachen übertragen. In der Volksfrömmigkeit spielten Aberglauben, Heiligenverehrung und Reliquien eine wichtige Rolle. Sozialtätigkeit wie Armenfürsorge galt als religiöse Pflicht. Infolge der kriegerischen Auseinandersetzungen entstand zunehmend eine Friedenserwartung, deren Realisierung man von kirchlichen Maßnahmen erhoffte und die teilweise erfüllt wurde (Gottesfriedensbewegung). Eschatologische Vorstellungen eines Weltenendes existierten zwar, doch ist in der neueren Forschung umstritten, wie stark die Endzeiterwartungen um 1000 ausgeprägt waren.
Mission und Glaubensverschiedenheit
Während des gesamten Frühmittelalters wurde die von den Päpsten geförderte Christianisierung, wozu die Germanenmission gehörte, in den paganen Gebieten Europas vorangetrieben. Dazu zählten Regionen, wo die germanische Religion in ihrer unterschiedlichen Ausprägung praktiziert wurde. Dies betraf noch nicht christianisierte rechtsrheinische Gebiete (so die Siedlungsgebiete der Bajuwaren und der Thüringer im 6. Jahrhundert sowie Sachsen in Nordwestdeutschland), Skandinavien (mit dem Hauptgott Odin sowie wichtigen Nebengöttern wie Thor und Tyr, siehe nordgermanische Religion) und Teile Britanniens (siehe angelsächsische Religion). Hinzu kamen Kulte im slawischen Raum, wo Perun, Svarog, Svarožić (Dazbog) und Veles wichtige Gottheiten darstellten. Neben älteren antiken Berichten, Runeninschriften und späteren Verarbeitungen (Edda) stammen viele der diesbezüglichen Berichte von christlichen Autoren. Pagane Gottheiten galten den Christen als Kreaturen des Teufels und als Dämonen. Wie bei den paganen Germanen spielte bei den Slawen Naturverehrung eine wichtige Rolle, ebenso war eine Jenseitsvorstellung hinsichtlich eines Lebens nach dem Tod verbreitet. Die slawischen Kulte waren recht stark gentilreligiös geprägt, also auf den jeweiligen Stammesraum bezogen. Die Christianisierung zuvor paganer Gebiete hatte nicht zuletzt Einfluss auf die dortigen Lebensverhältnisse: Totschlag oder Kindesaussetzungen wurden durch die neuen religiösen Regeln erschwert, die somit abmildernd wirkten; die verpflichtende Fürsorgetätigkeit unterschied den christlichen Glauben ebenfalls grundlegend von den paganen Kulten, in denen karitative Maßnahmen außerhalb der Familien nicht üblich waren.
Die noch in der Spätantike begonnene Missionierung Irlands durch Mönche war im 6. Jahrhundert abgeschlossen. Im 7. Jahrhundert war die Christianisierung der Angelsachsen weitgehend abgeschlossen, doch bedeutete der Einfall der Wikinger im 9. Jahrhundert einen Rückschlag und erforderte teils neue Missionierungen. Irland, obwohl selbst nie Teil des römischen Reiches, nahm die antike Kultur auf und trug sie schließlich wieder in den kontinentaleuropäischen Raum zurück. So ist es kein Zufall, dass nicht zuletzt irische Gelehrte in karolingischer Zeit im Frankenreich wirkten. Irische Mönche wie Columban beteiligten sich zudem aktiv an der Christianisierung (Iroschottische Mission), auch in noch paganen Gebieten in der ehemaligen Germania magna.
Bonifatius war im 8. Jahrhundert im rechtsrheinischen Raum sehr aktiv und gründete das später bedeutende Kloster Fulda. Die Sachsen, für die die Irminsul ein wichtiges Heiligtum war, wurden erst durch die blutigen Sachsenkriege Karls des Großen im späten 8./frühen 9. Jahrhundert gewaltsam christianisiert. Um 900 bildete die Elbe die Grenze zum paganen Raum. Die Ottonen betrieben im 10./11. Jahrhundert eine aktive Missionierungspolitik im Slawenland, die aber mit erheblichen Rückschlägen wie dem Slawenaufstand von 983 verbunden war. In vielen Regionen verlief die Christianisierung im Frühmittelalter nicht gewaltsam, sondern friedlich, das heißt, das christliche Bekenntnis wurde freiwillig angenommen. Des Weiteren war die Zwangstaufe kirchlich sehr umstritten; sie wurde wiederholt von päpstlicher Seite abgelehnt und war kirchenrechtlich zudem untersagt, wenngleich nach den gleichen Beschlüssen Zwangsgetaufte dazu angehalten waren, Christen zu bleiben. Die Bulgaren und Serben übernahmen in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts das Christentum, Kiewer Rus wurde im späten 10. Jahrhundert, die Polen und (die nicht slawischen) Ungarn wurden um 1000 christianisiert.
Um die Jahrtausendwende war die Christianisierung auch in Dänemark und Norwegen weitgehend erfolgreich. Die Missionstätigkeit im Norden wurde im 9./10. Jahrhundert maßgeblich vom Erzbistum Hamburg-Bremen übernommen. Die Christianisierung dieser Gebiete erfolgte in der Regel durch Bekehrung der Oberschicht. Dieser Prozess verlief langsam und war nicht immer spannungsfrei. Pagane Bräuche hielten sich zudem noch längere Zeit im Alltag. Die Christianisierung der Slawen, Ungarn und Skandinavier bedeutete eine erhebliche Ausdehnung des christlichen Kulturkreises. Byzantinische Missionare wirkten vor allem im östlichen und südöstlichen Europa, wo im 9. Jahrhundert die Brüder Methodios und Kyrill bei der Slawenmission erfolgreich waren; durch sie wurde außerdem die Grundlage für das Kirchenslawische geschaffen (siehe Glagolitische Schrift).
Im Osten Europas konkurrierten lateinische und griechische Missionare, da die Zuständigkeit der neuen christlichen Gebiete entweder Rom oder Konstantinopel zufiel. So unterstellten sich Serbien und Bulgarien dem Patriarchat von Konstantinopel. In Bulgarien wurde 927 ein eigenes Patriarchat errichtet, das nach der byzantinischen Eroberung im frühen 11. Jahrhundert zum Erzbistum zurückgestuft wurde. In Byzanz bestanden innerhalb des Reichsgebiets bis ins 7. Jahrhundert erhebliche religiöse Spannungen zwischen den Vertretern der orthodoxen Reichskirche sowie den Nestorianern und den Miaphysiten. Mehrere kaiserliche Lösungsversuche schlugen fehl. Diese religionspolitische Problematik wurde faktisch durch die arabische Eroberung der byzantinischen Ostprovinzen im 7. Jahrhundert „gelöst“, denn die verbleibende Reichsbevölkerung (einschließlich nach Kleinasien strömender Flüchtlinge) war ganz überwiegend orthodoxen Glaubens.
Die christliche Kirche in Nordafrika, die bedeutende Denker wie Augustinus von Hippo hervorgebracht hatte, verlor zunehmend an Bedeutung und erlosch schließlich. Dort bereitete ab 645 eine konfessionell bedingte Erhebung die Islamisierung vor. Schon seit etwa 640 betrieb Maximus Confessor seine Polemik gegen den Monotheletismus, der vielfach von Flüchtlingen aus den von Arabern eroberten Gebieten mitgebracht wurde. Er konnte 645 in einer öffentlichen Disputation den ehemaligen Patriarchen von Konstantinopel Pyrrhos I. von seiner dyotheletischen Lehre überzeugen. Ihre Lehren stimmten zwar darin überein, dass Jesus Christus zwei Naturen, nämlich eine göttliche und eine menschliche habe, aber in Konstantinopel herrschte zu dieser Zeit der Glaube an nur einen Willen oder ein Ziel vor, während Karthago und auch Rom an das Wirken zweier getrennter Willen in der Person Christi glaubten.
Die christlichen Kirchen in Ägypten, Syrien und Mesopotamien behielten hingegen längere Zeit ihre Bedeutung (christliche Minderheiten sind noch heute in Ägypten und Syrien vorhanden) und die Mehrheit der Bevölkerung unter arabischer Herrschaft blieb noch lange christlich. Manche Christen waren sogar am Kalifenhof als Gelehrte tätig, wie z. B. Mitte des 8. Jahrhunderts Theophilos von Edessa. Die relativ tolerante arabische Herrschaft stieß anscheinend auf keinen nennenswerten Widerstand. Anhänger der Buchreligionen (Christen, Juden und Zoroastrier) mussten zwar eine spezielle Kopfsteuer (Dschizya) zahlen, durften ihren Glauben nicht öffentlich ausüben und keine Waffen tragen, blieben ansonsten aber zunächst weitgehend unbehelligt. Teils war auch eine besondere Kleidungspflicht für Christen vorgeschrieben. Ende des 7. Jahrhunderts verstärkte sich aber der Druck auf die christliche Mehrheitsbevölkerung: 699 löste im Kalifenreich Arabisch die bisherigen Verwaltungssprachen Griechisch und Mittelpersisch ab und Christen wurden von staatlichen Positionen ausgeschlossen. Das Gesellschaftsleben wurde zunehmend auf den neuen Glauben ausgerichtet und es kam zu verstärkten Diskriminierungen von Nichtmuslimen. Dies hing mit der jeweiligen Religionspolitik des regierenden Kalifen zusammen, die seit dem späten 7. Jahrhundert den Druck auf die nichtsmuslimische Bevölkerung nicht unerheblich verstärkten, sich in innerchristliche Angelegenheiten einmischten und auch Kirchengüter konfiszierten.
Bilderstreit in Byzanz
Mit der Regierungszeit der byzantinischen Kaiser Leo III. und Konstantin V. wird traditionell ein wichtiger Abschnitt der byzantinischen Geschichte verbunden, der Beginn des sogenannten Bilderstreits, der erst Mitte des 9. Jahrhunderts endete. Den Bilderstreit soll Leo entfacht haben, als er 726 die Christus-Ikone über dem Chalketor am Kaiserpalast entfernt und bald darauf ein Gesetz erlassen habe, das angeblich die Verehrung der Ikonen verbot. In der Forschung wurden dazu unterschiedliche mögliche Motive diskutiert. Das Resultat sei ein „Bildersturm“ (Ikonoklasmus) gewesen, verbunden mit Zerstörungen von Heiligenbildern und Verfolgungen. Diese Schilderung entspricht der modernen Forschung zufolge aber keineswegs der Realität.
Äußerst problematisch ist vor allem die Quellenlage, da fast ausschließlich Berichte der letztlich siegreichen Seite, der Bilderfreunde (Ikonodulen), erhalten sind und in ihnen nachweislich Geschichtsumdeutungen vorgenommen wurden. In mehreren dieser Werke wird gegen die militärisch erfolgreichen und durchaus nicht unbeliebten Kaiser Leo und Konstantin polemisiert (so in byzantinischen Geschichtswerken wie der Chronik des Theophanes). Unzweifelhaft ist, dass die byzantinischen Kaiser, aufgrund der vergleichsweise schwachen Stellung des Patriarchen von Konstantinopel, einen starken Einfluss auf die Religionspolitik des Reiches hatten. Es ist aber nicht einmal sicher, ob Leo III. tatsächlich konkrete Maßnahmen gegen die Bilderverehrung ergriff, denn belastbare Belege für ein gesetzliches Verbot fehlen. Konstantin V. wiederum hat zwar theologische Traktate gegen die Bilderverehrung verfasst und 754 das Konzil von Hiereia einberufen, anschließend aber kaum ernsthafte Schritte eingeleitet. Zwar war Konstantin offenbar kein Anhänger der Bilderverehrung, Vorwürfe gegen ihn werden aber nicht in zeitgenössischen, sondern in den später entstandenen ikonodulen Quellen erhoben. Mehrere harte Maßnahmen gegen politische Gegner des Kaisers sind demnach erst im Nachhinein zu Maßnahmen gegen Bilderfreunde umgeschrieben worden. Die Auseinandersetzung um die Bilder fand also Mitte des 8. Jahrhunderts zwar statt, jedoch nicht in der überlieferten Form; dass die Bevölkerung den Ikonoklasmus mehrheitlich abgelehnt hätte, ist ebenfalls nicht gesichert. Generell ist es fraglich, ob der Bilderstreit in Byzanz die Bedeutung hatte, wie es die späteren Quellen suggerieren.
Das zweite Konzil von Nikaia 787 erlaubte die Bilderverehrung nur in bestimmten Grenzen, die Mehrheit der Bischöfe wird wohl noch ikonoklastisch orientiert gewesen sein. Im frühen 9. Jahrhundert flammte der Bilderstreit unter Leo V. (reg. 813–820) wieder auf, wenngleich wohl vor allem das öffentliche Bekenntnis von Bedeutung war. Hintergrund dürfte die Erinnerung an die militärischen Erfolge der „ikonoklastischen Kaiser“ gewesen sein, die bis dahin nicht wiederholt werden konnten. Die neue kaiserliche Politik wurde, wie anscheinend bereits zuvor, von zahlreichen Kirchenführern und Mönchen unterstützt. Kaiser Michael III. (reg. 842–867) gestattete jedoch 843 wieder die Ikonenverehrung und beendete damit den Bilderstreit.
Literatur
Gesamtdarstellungen und Überblickswerke
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Peter Brown: The Rise of Western Christendom. 2., erweiterte Auflage. Blackwell, Oxford 2003, ISBN 0-631-22138-7.(Darstellung der Entwicklung von der Spätantike ins Mittelalter mit dem Schwerpunkt Christentums- und Kulturgeschichte.)
Roger Collins: Early Medieval Europe 300–1000. 3., überarbeitete Auflage. Palgrave, Basingstoke u. a. 2010, ISBN 0-230-00673-6.(Aktuelle und gut lesbare Darstellung mit dem Schwerpunkt politische Geschichte unter Einbeziehung der Religions- und Kulturgeschichte.)
Johannes Fried: Die Formierung Europas 840–1046 (= Oldenbourg Grundriss der Geschichte. Band 6). 3. Auflage. Oldenbourg, München 2008.
Hans-Werner Goetz: Europa im frühen Mittelalter. 500–1050 (= Handbuch der Geschichte Europas. Band 2). Ulmer, Stuttgart 2003, ISBN 3-8001-2790-3.(Überblick mit dem Schwerpunkt Strukturgeschichte.)
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Franz Neiske: Europa im frühen Mittelalter 500–1050: Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte. Primus, Darmstadt 2006.
Johannes Preiser-Kapeller: Jenseits von Rom und Karl dem Großen. Aspekte der globalen Verflechtung in der langen Spätantike, 300–800 n. Chr. Mandelbaum Verlag, Wien 2018.(Globalgeschichtlicher Überblick der Verflechtungen im eurasischen und ostafrikanischen Raum im Rahmen einer „langen Spätantike“. Besprechungen bei H-Soz-Kult von Lutz Berger, Stefan Esders und Marcus Bingenheimer.)
Friedrich Prinz: Von Konstantin zu Karl dem Großen. Entfaltung und Wandel Europas. Artemis und Winkler, Düsseldorf/Zürich 2000, ISBN 3-538-07112-8.(Fundierte und gut lesbare Darstellung, die vor allem die Kontinuitäten und Brüche der Spätantike zum Mittelalter hin herausarbeitet.)
Peter Sarris: Empires of Faith. The Fall of Rome to the Rise of Islam, 500–700. Oxford University Press, Oxford 2011.(Zum Übergang Spätantike/Frühmittelalter mit starker Berücksichtigung der politischen Geschichte.)
Rudolf Schieffer: Christianisierung und Reichsbildung. Europa 700–1200. C.H. Beck, München 2013, ISBN 978-3-406-65375-9.(Knappes, aktuelles Überblickswerk, das zeitlich bis ins Hochmittelalter reicht und den Schwerpunkt auf die politische Geschichte legt.)
Chris Wickham: The Inheritance of Rome. A History of Europe from 400 to 1000. Penguin, London 2009.(Aktuelle und gut lesbare Gesamtdarstellung des Frühmittelalters.)
Literatur zu einzelnen Themenbereichen
Kunibert Bering: Kunst des frühen Mittelalters (= Kunst-Epochen. Band 2). 2. Auflage. Reclam, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-15-018169-0.
Franz Brunhölzl: Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters. Wilhelm Fink Verlag, München 1975 (Band 1); München 1992 (Band 2).(Überblick zur lateinischen Literatur von der ausgehenden Spätantike bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts.)
Jörg W. Busch: Die Herrschaften der Karolinger 714–911. Oldenbourg, München 2011.
Florin Curta: Eastern Europe in the Middle Ages (500–1300). Brill, Leiden/Boston 2019.(Aktuelle Darstellung zu Osteuropa bis ins Hochmittelalter mit einer umfassenden Bibliographie.)
Falko Daim (Hrsg.): Byzanz. Historisch-kulturwissenschaftliches Handbuch (= Der Neue Pauly, Supplemente. Bd. 11). Metzler, Stuttgart 2016, ISBN 978-3-476-02422-0.(Aktuelles Handbuch zur Geschichte von Byzanz.)
Gilbert Dragon, Pierre Riché und André Vauchez (Hrsg.): Die Geschichte des Christentums. Band 4: Bischöfe, Mönche und Kaiser (642–1054). Herder, Freiburg (Breisgau) u. a. 1994.(Umfassende Darstellung des Christentums im Frühmittelalter, einschließlich der Ostkirchen.)
Bonnie Effros, Isabel Moreira (Hrsg.): The Oxford Handbook of the Merovingian World. Oxford University Press, Oxford u. a. 2020.
Stefan Esders, Yaniv Fox, Yitzhak Hen (Hrsg.): East and West in the Early Middle Ages. The Merovingian Kingdoms in Mediterranean Perspective. Cambridge University Press, Cambridge 2019.
Johannes Fried: Der Weg in die Geschichte. Die Ursprünge Deutschlands bis 1024 (= Propyläen Geschichte Deutschlands. Bd. 1). Propyläen, Berlin 1994, ISBN 3-549-05811-X.(Umfassende und gut lesbare, aber recht unkonventionelle Darstellung.)
Hugh N. Kennedy: The Prophet and the Age of the Caliphates. The Islamic Near East from the sixth to the eleventh Century. 2. Auflage. Pearson Longman, Harlow u. a. 2004, ISBN 0-582-40525-4.(Einführung in die frühislamische Geschichte.)
Ralph-Johannes Lilie: Byzanz – Das zweite Rom. Siedler, Berlin 2003, ISBN 3-88680-693-6.(Gut lesbare Gesamtdarstellung der byzantinischen Geschichte.)
Mischa Meier: Geschichte der Völkerwanderung. Europa, Asien und Afrika vom 3. bis zum 8. Jahrhundert. C. H. Beck, München 2019, ISBN 978-3-406-73959-0.(Die derzeit aktuelle und umfassendste Darstellung zur Völkerwanderungszeit.)
Rory Naismith: Early Medieval Britain, c. 500–1000. Cambridge University Press, Cambridge 2021.
Lutz E. von Padberg: Die Christianisierung Europas im Mittelalter. 2. Auflage. Reclam, Stuttgart 2009, ISBN 3-15-017015-X.
Walter Pohl (Hrsg.): Die Suche nach den Ursprüngen – Von der Bedeutung des frühen Mittelalters (= Forschungen zur Geschichte des Mittelalters, Band 8). Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien 2004, ISBN 3-7001-3296-4.
Reinhard Schneider: Das Frankenreich (= Oldenbourg Grundriss der Geschichte, Band 5). 4. Auflage. Oldenbourg, München 2001.(Knappe Darstellung mit Forschungsüberblick und umfassender Bibliographie.)
Klaus von See (Hrsg.), Peter Foote (Mitverf.): Europäisches Frühmittelalter. In: Klaus von See (Hrsg.): Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Bd. 6. Aula-Verlag, Wiesbaden 1985, ISBN 3-89104-054-7.
Julia M. H. Smith: Europe after Rome. A New Cultural History 500–1000. Oxford University Press, Oxford 2005.(Problemorientierter kulturgeschichtlicher Überblick.)
Christoph Stiegemann u. a. (Hrsg.): CREDO. Christianisierung Europas im Mittelalter. 2 Bde., Michael Imhof Verlag, Petersberg 2013.(Katalog und Essayband, in denen die Christianisierung Europas umfassend geschildert wird.)
Chris Wickham: Framing the Early Middle Ages. Europe and the Mediterranean, 400–800. Oxford University Press, Oxford 2005.(Grundlegende wirtschafts- und sozialgeschichtliche Darstellung.)
Weblinks
Internet Medieval Sourcebook (Quellentexte in englischer Übersetzung)
E-Lexikon des Projekts Formulae-Litterae-Chartae. Neuedition der frühmittelalterlichen Formulae der Universität Hamburg.
Anmerkungen
Germanische Altertumskunde
Historisches Zeitalter |
2933 | https://de.wikipedia.org/wiki/Lutetium | Lutetium | Lutetium ist ein chemisches Element mit dem Elementsymbol Lu und der Ordnungszahl 71. Im Periodensystem steht es in der Gruppe der Lanthanoide und zählt damit auch zu den Metallen der Seltenen Erden. Wie die anderen Lanthanoide ist Lutetium ein silberglänzendes Schwermetall. Wegen der Lanthanoidenkontraktion besitzen Lutetiumatome den kleinsten Atomradius, außerdem hat das Element die höchste Dichte und den höchsten Schmelz- und Siedepunkt aller Lanthanoide.
Das Element wurde 1907 nahezu gleichzeitig, aber unabhängig voneinander von Georges Urbain, Carl Auer von Welsbach und Charles James entdeckt. Obwohl 1909 entschieden wurde, dass Urbain die Entdeckung zusteht und damit auch der von ihm vorgeschlagene Name Lutetium festgelegt wurde, war besonders im deutschsprachigen Raum die von Carl Auer von Welsbach vorgeschlagene Bezeichnung Cassiopeium (Cp) lange verbreitet.
Lutetium zählt zu den seltensten Seltenerdmetallen und wird darum und infolge der schwierigen Abtrennung von den anderen Lanthanoiden nur in geringem Umfang wirtschaftlich genutzt. Zu den wichtigsten Anwendungen des Elements zählt die Verwendung von Lutetiumoxyorthosilicat für Szintillationszähler in der Endoradiotherapie.
Geschichte
Lutetium wurde 1907 als vorletztes Lanthanoid (nur das radioaktive und damit instabile Promethium wurde später entdeckt) annähernd gleichzeitig und unabhängig voneinander durch drei Chemiker entdeckt. Sowohl der Franzose Georges Urbain, der Österreicher Carl Auer von Welsbach als auch der Amerikaner Charles James untersuchten das 1878 von Jean Charles Galissard de Marignac entdeckte Ytterbium genauer. Urbain berichtete am 4. November 1907 in der Pariser Académie des sciences, dass er durch 800fache Fraktionierung von Ytterbiumnitraten, die er aus Xenotim gewonnen hatte, aus dem Ytterbium von Marignac zwei Elemente erhalten habe. Diese nannte er Neo-ytterbium und Lutecium nach dem alten Namen von Paris, Lutetia.
Kurze Zeit später, am 19. Dezember 1907, gab Carl Auer von Welsbach als Ergebnis von Forschungen, die er seit 1905 durchführte, bekannt, dass er aus den Funkenspektren verschiedener Proben, die er durch fraktionierte Kristallisation von Ytterbium-Ammoniumoxalat gewonnen hatte, geschlossen habe, dass dieses aus zwei verschiedenen Elementen bestehen müsse. Diese nannte er Cassiopeium (Cp, nach dem Sternbild Cassiopeia, entspricht Lutetium) und Aldebaranium (Ab, nach dem Stern Aldebaran, entspricht Ytterbium). Er konnte jedoch keine Reinstoffe gewinnen.
Auch Charles James arbeitete an der Trennung von Ytterbium mit Hilfe von Ytterbium-Magnesiumnitrat-Salzen und erhielt 1907 größere Mengen der reinen Salze. Nachdem er von der Entdeckung Urbains erfahren hatte, verzichtete er jedoch auf eventuelle Ansprüche auf die Entdeckung des neuen Elements.
In der folgenden Zeit kam es zwischen Urbain und Welsbach zu einigen – durch die politischen Gegensätze zwischen Frankreich und Österreich-Ungarn verstärkten – Auseinandersetzungen um die Anerkennung als rechtmäßiger Entdecker des neuen Elements und damit auch um das Recht, den Namen des Elements festzulegen. Der internationale Atomgewichts-Ausschuss, bestehend aus Frank Wigglesworth Clarke, Wilhelm Ostwald, Thomas Edward Thorpe und Georges Urbain, entschied sich 1909 schließlich für Urbain und seine Elementnamen. Allerdings wurde der Name Neo-ytterbium zu Ytterbium geändert. Endgültig wurde der Name Lutetium für das Element 1949 von der IUPAC festgelegt. Bis dahin hatten vor allem viele deutsche Chemiker an der Bezeichnung Cassiopeium festgehalten.
Das exakte Atomgewicht wurde 1911 von Theodore William Richards anhand Lutetium(III)-bromid bestimmt, das in 15.000 fraktionierten Kristallisationen gereinigt wurde. Metallisches Lutetium wurde erstmals 1953 hergestellt.
Vorkommen
Lutetium ist auf der Erde ein seltenes Element, seine Häufigkeit in der kontinentalen Erdkruste beträgt etwa 0,8 ppm. Es ist das seltenste Lanthanoid nach dem instabilen Promethium und Thulium, aber häufiger als Elemente wie Silber (0,079 ppm), Quecksilber oder Bismut.
Es sind keine Lutetiumminerale bekannt, das Element kommt immer als Beimengung in anderen Seltenerd-Mineralen, vor allem solchen des Yttriums und der schwereren Lanthanoide, wie Xenotim oder Gadolinit, vor. So enthält Xenotim aus Malaysia neben Yttrium, Dysprosium, Erbium und Ytterbium auch 0,4 % Lutetium. Bastnäsit als Mineral der leichteren Ceriterden enthält dagegen nur Spuren des Elements, Monazit bis zu 0,1 %.
Wichtige Quellen für Lutetium sind die Xenotimvorkommen in Malaysia (dort als Begleitmineral von Kassiterit), sowie ionenadsorbierende lateritische Tonminerale in den südchinesischen Provinzen Jiangxi und Guangdong. Aufgrund der schwierigen Gewinnung wird es nur in geringen Mengen hergestellt und eingesetzt und besitzt einen hohen Preis. Aufgrund der geringen Nachfrage wird die Versorgung mit Lutetium nicht als kritisch angesehen.
Gewinnung und Darstellung
Die Gewinnung von Lutetium ist vor allem durch die schwierige Trennung der Lanthanoide kompliziert und langwierig. Die Ausgangsminerale wie Monazit oder Xenotim werden zunächst mit Säuren oder Laugen aufgeschlossen und in Lösung gebracht. Die Trennung des Lutetiums von den anderen Lanthanoiden ist dann durch verschiedene Methoden möglich, wobei die Trennung durch Ionenaustausch die technisch wichtigste Methode für Lutetium darstellt, sowie auch für andere seltene Lanthanoide. Dabei wird die Lösung mit den seltenen Erden auf ein geeignetes Harz aufgetragen, an das die einzelnen Lanthanoid-Ionen unterschiedlich stark binden. Anschließend werden sie in einer Trennsäule mit Hilfe von Komplexbildnern wie EDTA, DTPA oder HEDTA vom Harz gelöst, durch die unterschiedlich starke Bindung an das Harz erzielt man somit die Trennung der einzelnen Lanthanoide.
Eine Gewinnung von Lutetiummetall ist durch Reduktion von Lutetiumfluorid mit Calcium bei 1500 bis 1600 °C möglich.
Eigenschaften
Physikalische Eigenschaften
Lutetium ist ein weiches, silberglänzendes Schwermetall. Die Lanthanoidenkontraktion bewirkt, dass Lutetium als das Lanthanoid mit der höchsten Ordnungszahl mit 175 pm den kleinsten Atomradius besitzt. In der Folge besitzt es auch mit 9,84 g/cm3 die höchste Dichte und den höchsten Schmelz- (1652 °C) und Siedepunkt (3330 °C) aller Lanthanoide.
Unter Standardbedingungen kristallisiert Lutetium in einer hexagonal-dichtesten Kugelpackung mit den Gitterparametern a = 351,6 pm und c = 557,3 pm. Neben dieser Struktur sind auch mehrere Hochdruckmodifikationen bekannt. Ab einem Druck von 32 GPa kristallisiert Lutetium in einer Struktur vom Samarium-Typ, einer kompliziert aufgebauten, trigonalen Kristallstruktur, mit den Gitterparametern a = 317,6 pm und c = 2177 pm. Beim Phasenübergang kommt es zu einem Volumenverlust von 1,6 %. Weitere Phasenübergänge gibt es bei einem Druck von 45 GPa, ab dem eine doppelt-hexagonal-dichteste Struktur am stabilsten ist, und bei 88 GPa mit einem Übergang zu einer verzerrten kubisch-dichtesten Struktur (hR24).
Unterhalb von 0,1 K, bei einem Druck von 18 GPa unterhalb von 1,2 K, wird Lutetium zum Supraleiter.
Chemische Eigenschaften
Lutetium ist ein typisches unedles Metall, das, vor allem bei höheren Temperaturen, mit den meisten Nichtmetallen reagiert. Mit Sauerstoff reagiert es bei Standardbedingungen an trockener Luft langsam, schneller bei Anwesenheit von Feuchtigkeit. Metallisches Lutetium ist wie andere unedle Metalle, vor allem bei großer Oberfläche, brennbar. Die Reaktion von Lutetium und Wasserstoff ist nicht vollständig, der Wasserstoff tritt stattdessen in die Oktaederlücken der Metallstruktur ein, und es bilden sich nicht-stöchiometrische Hydridphasen aus, wobei die genaue Zusammensetzung von der Temperatur und dem Wasserstoffdruck abhängt.
In Wasser löst sich Lutetium nur langsam, in Säuren schneller unter Wasserstoffbildung. In Lösung liegen immer dreiwertige, farblose Lutetiumionen vor.
Isotope
Es sind insgesamt 34 Isotope (150Lu bis 184Lu) und 35 Kernisomere des Lutetiums bekannt. Von diesen ist nur 175Lu stabil, und 176Lu ist mit einer Halbwertszeit von 3,8 · 1010 Jahren das langlebigste. Diese beiden Isotope kommen natürlich vor, wobei 175Lu mit einem Anteil von 97,41 % in der natürlichen Isotopenzusammensetzung überwiegt. Daher hat ein Gramm natürliches Lutetium eine geringe Eigenstrahlung von 51,8 Bq. Alle weiteren Isotope besitzen nur kurze Halbwertszeiten, mit einem Maximum von 3,31 Jahren bei 174Lu.
Der langsame Zerfall von 176Lu zu 176Hf kann zur Altersbestimmung sehr alter Gesteine verwendet werden. Dabei werden die unterschiedlichen Verhältnisse der Isotope 176Hf und 177Hf bestimmt, und mit dem Verhältnis in Gesteinen bekannten Alters verglichen. Mit dieser Methode gelang eine Altersbestimmung des ältesten bekannten Marsmeteoriten ALH84001 auf 4,091 Milliarden Jahre.
Das Radionuklid 177Lu wird – komplexiert mit Liganden wie DOTA – als kurzreichweitiger Betastrahler in der Therapie gegen neuroendokrine Tumoren und Prostatakrebs verwendet.
Verwendung
Metallisches Lutetium hat keine wirtschaftliche Bedeutung, es wird nur in geringen Mengen für wissenschaftliche Zwecke verwendet. Als Legierung ist das Element wie die anderen Lanthanoide Bestandteil von Mischmetall.
In Verbindungen kann Lutetium als Katalysator für das Cracken von Erdöl und für Polymerisationsreaktionen, als Szintillatormaterial in der Positronen-Emissions-Tomographie oder als Dotierungsmittel für Magnetblasenspeicher aus Gadolinium-Gallium-Granat genutzt werden.
Ein aktuelles Experiment zeigt, dass ein Stickstoff-dotiertes Lutetium-Hydrid unter Druck von 10 kbar und einer Temperatur von bis zu 21 °C supraleitend wird. Diese Entdeckung ist noch nicht abschließend bestätigt worden.
Biologische Bedeutung und Toxizität
Lutetium besitzt keine biologische Bedeutung und ist nur in äußerst geringen Mengen im menschlichen Körper enthalten. Es wurde bei Versuchen an Ratten festgestellt, dass aufgenommenes Lutetium vor allem in der Leber, in geringeren Mengen auch in Knochen und Milz gespeichert wird.
Über toxische Effekte von Lutetium und seinen Verbindungen auf Lebewesen ist wenig bekannt. Bei Ratten wurde für Lutetiumchlorid eine akute Toxizität mit einem LD50-Wert von 315 mg/kg bei intraperitonealer Gabe und 7100 mg/kg für orale Gabe über jeweils sieben Tage bestimmt. Eine chronische Toxizität konnte nicht festgestellt werden. Gelöste Lutetiumionen wirken toxisch für Bakterien wie Aliivibrio fischeri. Lu3+-Ionen besitzen einen EC50-Wert von 1,57 μM und sind damit in der Bakterientoxizität toxischer als Zink- oder Cadmiumionen und vergleichbar mit Kupferionen.
Verbindungen
In Verbindungen kommt Lutetium stets in der Oxidationsstufe +3 vor.
Halogenide
Mit den Halogenen Fluor, Chlor, Brom und Iod bildet Lutetium jeweils ein Halogenid mit der Verhältnisformel LuX3. Es handelt sich dabei um typische Salze mit Schmelzpunkten zwischen 892 °C (Lutetium(III)-chlorid) und 1184 °C (Lutetium(III)-fluorid). Mit Ausnahme von Lutetiumfluorid, das in einer Terbium(III)-chlorid-Raumstruktur kristallisiert, bilden die Lutetiumhalogenide eine Aluminiumchlorid-Schichtstruktur.
Metallorganische Verbindungen
Es sind eine Reihe von metallorganischen Verbindungen bekannt. Verbindungen mit einer direkten Bindung zwischen Lutetium und Kohlenstoff sind nur in geringem Umfang bekannt, da es bei diesen wie bei vielen Übergangsmetallen leicht zu Folgereaktionen wie β-Hydrideliminierungen kommt. Sie sind daher mit sterisch anspruchsvollen Resten wie der tert-Butylgruppe oder einer größeren Zahl kleiner Reste wie in einem Hexamethyllutetat-Komplex [Lu(CH3)6]3+ stabil. Die wichtigsten Liganden des Lutetiums sind Cyclopentadienyl (Cp) und dessen Derivate. Ein Sandwichkomplex des Lutetiums ist jedoch nicht bekannt, die wichtigsten Klassen sind solche mit den Formeln CpLuX2, Cp2LuX und Cp3Lu (X kann dabei ein Halogenid, Hydrid, Alkoxid oder weiteres sein). Bei drei Cyclopentadienyl-Liganden werden zwei Liganden η5, einer η1 als Brücke zu einem weiteren Lutetiumatom gebunden.
Weitere Verbindungen
Mit Sauerstoff reagiert Lutetium zu Lutetium(III)-oxid, Lu2O3, das wie die anderen dreiwertigen Oxide der schwereren Lanthanoide in der kubischen Lanthanoid-C-Struktur kristallisiert.
Die technisch wichtigste Lutetiumverbindung ist Lutetiumoxyorthosilicat. Diese ist, mit Cer dotiert, ein Szintillator und wird in Szintillationszählern in der Positronen-Emissions-Tomographie eingesetzt. Aufgrund der sehr kurzen Abklingzeit von 40 ns hat es dort andere Materialien wie Bismutgermanat verdrängt.
Lutetium-Aluminium-Granat (LuAG), beispielsweise mit Europium dotiert, wird unter anderem in Infrarot-Lasern und als Leuchtstoff in weißen Leuchtdioden und Feldemissionsbildschirmen verwendet.
Eine Übersicht über Lutetiumverbindungen bietet die :Kategorie:Lutetiumverbindung.
Literatur
Weblinks
Einzelnachweise
Hexagonales Kristallsystem |
2973 | https://de.wikipedia.org/wiki/Lise%20Meitner | Lise Meitner | Lise Meitner (eigentlich Elise Meitner; geboren am 7. November oder 17. November 1878 in Wien, Österreich-Ungarn; gestorben am 27. Oktober 1968 in Cambridge, Vereinigtes Königreich) war eine österreichische Kernphysikerin. 1906 wurde sie an der Universität Wien promoviert, als zweite Frau im Hauptfach Physik. 1907 begann in Berlin eine jahrzehntelange Zusammenarbeit mit dem Chemiker Otto Hahn. Ab 1912 arbeiteten Meitner und Hahn im neu gegründeten Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie in Berlin-Dahlem. Sie erforschten die Radioaktivität und entdeckten radioaktive Isotope. 1926 wurde Meitner die erste Professorin für Physik in Deutschland.
1938 floh Lise Meitner aus dem nationalsozialistischen Deutschland nach Stockholm, wo sie bis 1946 am Nobel-Institut für Physik und danach an der Königlichen Technischen Hochschule arbeitete. Im schwedischen Exil veröffentlichte sie im Februar 1939 zusammen mit ihrem Neffen Otto Frisch die erste physikalisch-theoretische Erklärung der Kernspaltung, die Otto Hahn und dessen Assistent Fritz Straßmann am 17. Dezember 1938 ausgelöst und mit radiochemischen Methoden nachgewiesen hatten. Die Entdeckung der Kernspaltung war nicht nur in der Wissenschaft folgenreich, sie führte auch zum Bau von Kernwaffen („Atombomben“) und später zum Bau von Kernkraftwerken.
Lise Meitner wurde jahrzehntelang immer wieder für den Chemie-Nobelpreis und den Physik-Nobelpreis nominiert. Sie erhielt zwar keinen Nobelpreis, aber zahlreiche andere Ehrungen.
Leben
Geburtstag, Herkunft, Religion
Elise „Lise“ Meitner wurde 1878 in Wien-Leopoldstadt (2. Wiener Gemeindebezirk) geboren. Im Geburtsregister der Israelitischen Kultusgemeinde Wien sowie im Taufbucheintrag von 1908 wurde der 17. November als ihr Geburtstag eingetragen, in allen anderen Dokumenten aber der 7. November, und an diesem Tag feierte Lise Meitner auch stets ihren Geburtstag. Der 7. November ist zugleich der Geburtstag von Meitners wissenschaftlichem Vorbild Marie Curie, die elf Jahre vor ihr geboren wurde. In der Rowohlt-Monographie (2002) wird behauptet, der 7. November 1878 sei durch ein Versehen zum amtlichen Geburtsdatum geworden, als ein Beamter in Wien etwa zehn Jahre nach Lise Meitners Geburt „vergessen“ hatte, die Ziffer 1 zu schreiben. Diese Erklärung wird in der Biografie von David Rennert und Tanja Traxler (2018) als naheliegende Vermutung eingestuft. Zahlreiche biografische Texte geben den 7. November als Geburtstag an,
zahlreiche andere den 17. November.
Lise Meitners Eltern waren der aus der Gegend von Mährisch Weißkirchen stammende jüdische Rechtsanwalt Philipp Meitner (1839–1910) und seine Frau Hedwig Meitner-Skovran. Sie hatten 1875 geheiratet und wohnten damals in der Kaiser-Joseph-Straße Nr. 27, der heutigen Heinestraße, im heute Volkertviertel genannten Bezirksteil. Ihr Vater betrieb dort, bevor die Familie an „bessere Adressen“ übersiedelte, seine Kanzlei als Hof- und Gerichtsadvokat. Lise wurde 1878 als drittes Kind geboren. Sie hatte zwei ältere Schwestern (* 1876 und * 1877) und fünf jüngere Geschwister. Zwei Jahre nach ihrer Geburt bekam sie einen Bruder, dann folgten zwei weitere Schwestern, schließlich zwei weitere Brüder.
In dem Nachruf ihres Neffen Otto Frisch und in älteren Biografien ist zu lesen, Lise Meitner sei wie alle anderen Kinder der Familie protestantisch getauft und erzogen worden. Ruth Lewin Sime widerspricht in ihrer Biografie. Alle Kinder der Familie waren laut Sime bei Geburt in der jüdischen Gemeinde registriert und wuchsen in einer jüdischen Umgebung Wiens auf. Die Familie versuchte sich aber von der jüdischen Vergangenheit abzugrenzen (der Vater von Lise Meitner galt nach Frisch als Freidenker), assimilierte sich und wandte sich dem Protestantismus zu. Bei Lise Meitners Neffen Otto Frisch entstand so der Eindruck, die Mutter und seine Onkel und Tanten seien protestantisch erzogen worden. Lise Meitners Eltern ließen aber ihre Kinder nicht taufen und ließen sich auch selbst nie taufen, obwohl das gesellschaftliche und berufliche Vorteile gebracht hätte. Erst als Erwachsene trat Lise Meitner zum Christentum über. Sie wurde am 29. September 1908 durch die Taufe in die Evangelische Kirche A.B. aufgenommen. Im selben Jahr konvertierten zwei ihrer Schwestern zur katholischen Konfession.
In der Familie spielte Musik eine große Rolle und die Kinder lernten vor allem durch den Einfluss der Mutter Klavier spielen. Sie interessierte sich früh für Mathematik und lernte auf diesem Gebiet auch von Privatlehrern, die ihr Vater für die Kinder anstellte.
Schulzeit
Ihre Schullaufbahn absolvierte Meitner an einer Bürgerschule, da an den Gymnasien Mädchen nicht zugelassen wurden. Nach dem Schulabschluss legte Lise Meitner das Lehrerinnen-Examen für Französisch ab. Außerdem bereitete sie sich im Selbststudium auf die Matura vor und legte die Reifeprüfung 1901 im Alter von 22 Jahren am Akademischen Gymnasium Wien ab, wo sie als gewählten Beruf die realistischen Studien der Philosophie angab.
Studium und Promotion
Im Jahr 1901 begann sie, Physik, Mathematik und Philosophie an der Universität Wien zu studieren. Ihr wichtigster akademischer Lehrer dort wurde Ludwig Boltzmann. Bereits in den ersten Jahren beschäftigte sie sich mit Radioaktivität. Sie wurde 1906 als zweite Frau im Hauptfach Physik an der Wiener Universität promoviert. Der Titel ihrer Doktorarbeit lautete Prüfung einer Formel Maxwells (veröffentlicht unter dem Titel Wärmeleitung in inhomogenen Körpern). Ihr Doktorvater war Franz Serafin Exner.
Nach ihrer Promotion bewarb sie sich bei Marie Curie in Paris, allerdings erfolglos. Sie arbeitete ein Jahr lang am Institut für Theoretische Physik in Wien.
Chemisches Institut in Berlin
Im Jahr 1907 ging sie zur weiteren wissenschaftlichen Ausbildung nach Berlin, wo sie vor allem Vorlesungen bei Max Planck hören wollte. Dort traf sie erstmals auf den fast gleichaltrigen Chemiker Otto Hahn (er war vier Monate jünger als sie). Mit ihm sollte sie die folgenden 30 Jahre zusammenarbeiten. Zunächst arbeiteten sie als „unbezahlte Gäste“ jahrelang in Plancks Arbeitsraum, einer ehemaligen Holzwerkstatt, im Chemischen Institut der Friedrich-Wilhelms-Universität in der Hessischen Straße. Da im damaligen Preußen Frauen noch nicht studieren durften, musste sie das Gebäude immer durch den Hintereingang betreten und durfte die Vorlesungsräume und Experimentierräume der Studenten nicht betreten. Dieses Verbot fiel erst 1909, nachdem das Frauenstudium in Preußen offiziell eingeführt worden war.
Otto Hahn entdeckte 1909 den radioaktiven Rückstoß. Mit der sich daran anschließenden „Rückstoßmethode“ fanden Hahn und Lise Meitner in den Folgejahren auch diverse radioaktive Nuklide. Durch diese Erfolge machte sich Lise Meitner in der Physik einen Namen und lernte unter anderem Albert Einstein und Marie Curie persönlich kennen. Von 1912 bis 1915 war sie inoffizielle Assistentin bei Max Planck.
Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie und Erster Weltkrieg
1912 verbesserten sich die Arbeitsbedingungen von Hahn und Meitner deutlich, als sie ihre Forschungen in der von Hahn aufgebauten Forschungsabteilung Radioaktivität des neu gegründeten Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie in Berlin-Dahlem fortsetzen konnten. Meitner arbeitete zunächst unentgeltlich weiter, wurde jedoch 1913 als erste Frau Wissenschaftliches Mitglied der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Nach ihr wurden nur zwei weitere Frauen Wissenschaftliche Mitglieder (Cécile Vogt und Isolde Hausser), während es in der Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft mehr als 160 männliche Wissenschaftliche Mitglieder gab.
Zumindest zu Beginn des Ersten Weltkriegs zeigte sie sich ebenso von Kriegsbegeisterung ergriffen wie nahezu alle ihre damaligen Kollegen.
So hatte Hahn zusammen mit James Franck und Gustav Hertz im Auftrag durch Fritz Haber am 22. April 1915 persönlich den erstmaligen Einsatz von Chlorgas in der Zweiten Flandernschlacht überwacht. Die Giftgaswolke überraschte damals noch den Gegner, etwa 5000 Soldaten starben und weitere etwa 10.000 wurden kampfunfähig verletzt. Drei Tage darauf schrieb Meitner an Hahn: „Ich beglückwünsche Sie zu dem schönen Erfolg bei Ypern“. Meitner war allerdings selbst nicht an Forschung oder Entwicklung chemischer Kampfstoffe beteiligt. Sie ließ sich zur Röntgenassistentin und Krankenpflegerin ausbilden und war ab Juli 1915 zunächst als Röntgenschwester der österreichischen Armee in einem Lazarett an der Ostfront eingesetzt.
Bereits im Oktober 1916 kehrte sie nach Berlin in das Institut zurück und arbeitete erneut gemeinsam mit Hahn, der im Dezember 1916 nach Berlin versetzt worden war. 1917 entdeckten Hahn und Meitner das chemische Isotop Protactinium-231, die langlebige Form des Elements mit der Ordnungszahl 91, das mit dem schon 1913 von Kasimir Fajans und Oswald Helmuth Göhring entdeckten kurzlebigen Isotop Protactinium-234 (damals Brevium genannt) in Konkurrenz stand. (Im Jahr 1949 wurde das neue Element Nr. 91 von der IUPAC endgültig Protactinium genannt und Hahn und Meitner als alleinige Entdecker bestätigt).
Abteilungsleitung und Professur
1918 erhielt Lise Meitner die Leitung einer eigenen Abteilung am Kaiser-Wilhelm-Institut für Chemie: Sie wurde Leiterin der radiophysikalischen Abteilung, verbunden mit einem angemessenen Gehalt. Sie war die erste von 14 Abteilungsleiterinnen in der Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft.
1922 entdeckte sie vier Jahre vor Pierre Auger den Auger-Meitner-Effekt.
1922 habilitierte sie sich und bekam dadurch das Recht, als Dozentin zu arbeiten. 1926 wurde sie außerordentliche Professorin für experimentelle Kernphysik an der Berliner Universität. Sie war damit Deutschlands erste Professorin für Physik.
Meitners Forschung wurde in den 1920er Jahren mehrmals durch die Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft gefördert.
Entzug der Lehrbefugnis
Anfang 1933 war Meitner wie viele andere noch zuversichtlich, dass die Folgen der Machtübernahme durch die NSDAP glimpflich bleiben würden. Meitner war der Meinung, dass derartige Zeiten des Umbruchs zunächst unvermeidlich mit allen möglichen Wirren verbunden seien, nun komme es auf vernünftige Zurückhaltung an. Hitlers im Radio übertragene Antrittsrede als Reichskanzler habe doch „sehr moderat geklungen, taktvoll und versöhnlich“. Als Folge des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums von Anfang April 1933 wurde Meitner aufgrund ihrer jüdischen Abstammung die Lehrbefugnis entzogen. Sie konnte ihre Arbeit an Bestrahlungsexperimenten mit Neutronen lediglich am (nicht-staatlichen) Kaiser-Wilhelm-Institut fortsetzen. Hier suchte sie von 1935 bis 1938 mit Otto Hahn und seinem Assistenten Fritz Straßmann nach Transuranen.
Flucht nach Schweden
1938, als Deutschland Österreich annektierte, wurde Lise Meitner deutsche Staatsbürgerin und war dadurch als gebürtige Jüdin in besonderer Weise gefährdet. Otto Hahn hatte große Sorge um ihre Sicherheit und bereitete daher zusammen mit dem niederländischen Chemiker Dirk Coster ihre illegale Ausreise ins Exil vor, die am 13. Juli 1938 gelang. Über die Niederlande und Dänemark kam sie nach Stockholm, wo sie ihre Forschungen bis 1946 am Nobel-Institut fortsetzte. Hahn und Meitner korrespondierten weiter miteinander.
Entdeckung der Kernspaltung
Die Chemikerin Ida Noddack hatte schon 1934 die Vermutung geäußert, dass „bei der Beschießung schwerer Kerne mit Neutronen diese Kerne in mehrere größere Bruchstücke zerfallen“. Diese Vermutung wurde seinerzeit nicht ernst genommen. Ende Dezember 1938 beschrieb Otto Hahn in einem Brief an Meitner einen Vorgang, den er zusammen mit Fritz Straßmann aufgrund äußerst sorgfältiger radiochemischer Methoden entdeckt hatte und den er als „Zerplatzen“ des Urankerns bezeichnete. Er fragte sie:
Hahn hatte die Physiker in seinem Institut nicht informiert. Er unterrichtete Lise Meitner als einzige über alle Experimente und Ergebnisse und hielt sie weiterhin brieflich auf dem Laufenden.
Im Februar 1939 konnte Lise Meitner mit ihrem Neffen, dem Kernphysiker Otto Frisch, in dem Aufsatz Disintegration of Uranium by Neutrons: A New Type of Nuclear Reaction eine erste physikalisch-theoretische Deutung für das von Otto Hahn formulierte „Zerplatzen“ des Uran-Atomkerns geben. Frisch prägte dabei den Begriff nuclear fission (Kernspaltung), der in der Folgezeit international anerkannt wurde.
Die beiden Bruchstücke (Atomkerne), die bei der Spaltung entstehen, haben zusammen eine geringere Masse als der ursprüngliche Uranatomkern. Aus dieser Massendifferenz errechneten Lise Meitner und Otto Frisch mit Einsteins Formel E = mc² die bei der Spaltung freiwerdende Energie von etwa 200 Millionen Elektronenvolt pro gespaltenem Atomkern.
Meitner, inzwischen überzeugte Pazifistin, weigerte sich, Forschungsaufträge für den Bau einer Atombombe anzunehmen, obwohl sie von den USA immer wieder dazu aufgefordert wurde. Sie zog es vor, während des Zweiten Weltkrieges in Schweden zu bleiben.
Nachkriegszeit
In der Nachkriegszeit stellte Lise Meitner die Entwicklung der Kernwaffen in Frage. Bei einer Vorlesungsreise in den USA 1946, ein Jahr nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki, wurde sie zu ihrem Missfallen in der amerikanischen Presse als „jüdische Mutter der Atombombe“ und „Frau des Jahres“ bezeichnet. Für sie war es stets undenkbar, ihre Arbeit in den Dienst einer Massenvernichtungswaffe zu stellen.
Ab 1947 leitete Lise Meitner die kernphysikalische Abteilung des Physikalischen Instituts der Königlichen Technischen Hochschule Stockholm und hatte diverse Gastprofessuren an US-amerikanischen Universitäten inne.
Sie erhielt zahlreiche Ehrungen in aller Welt, in besonderer Weise in der Bundesrepublik Deutschland, so beispielsweise 1955 den ersten „Otto-Hahn-Preis für Chemie und Physik“, 1956 den Orden Pour le mérite für Wissenschaften und Künste und 1962 die Dorothea-Schlözer-Medaille der Georg-August-Universität Göttingen. Für alle drei Ehrungen hatte Otto Hahn sie vorgeschlagen. 1959 wurde in Berlin – in Anwesenheit beider Namensgeber – das Hahn-Meitner-Institut für Kernforschung (HMI) vom Regierenden Bürgermeister Willy Brandt offiziell eingeweiht. Zu allen diesen Anlässen, aber auch zu privaten Besuchen kam Lise Meitner stets gerne nach Deutschland.
Mit Otto Hahn blieb sie lebenslang freundschaftlich verbunden. Ihre Glückwünsche zu seinem 80. Geburtstag am 8. März 1959 schloss sie mit den Worten „In alter Freundschaft, Deine Lise“. Sie ließ es sich nicht nehmen, zu diesem Anlass von Stockholm nach Göttingen zu reisen, um ihm persönlich und öffentlich zu gratulieren.
Umzug nach Cambridge
1960 übersiedelte Lise Meitner zu ihrem Neffen Otto Frisch nach Cambridge, wo sie bis zu ihrem Tod für eine friedliche Nutzung der Kernspaltung eintrat.
Am 27. Oktober 1968, drei Monate nach Otto Hahns Tod, starb Lise Meitner im Alter von 89 Jahren. Sie wurde in Bramley (Hampshire) beigesetzt. Die Inschrift auf dem Grabstein stammt von ihrem Neffen Otto Frisch. Sie lautet:
Persönlichkeit
Einigen Aufschluss über ihre Persönlichkeit erhält man aus den veröffentlichten Briefen an bzw. von Elisabeth Schiemann, Otto Hahn und Max von Laue. Nach Aussagen von Otto Hahn und Max Planck war sie extrem zielgerichtet bei ihren Untersuchungen und arbeitete sehr hart, um Lösungen zu finden und Ergebnisse zu bekommen.
Sie selbst sagte einmal: „Ich liebe Physik, ich kann sie mir schwer aus meinem Leben wegdenken. Es ist so eine Art persönlicher Liebe, wie gegen einen Menschen, dem man sehr viel verdankt. Und ich, die ich so sehr an schlechtem Gewissen leide, bin Physikerin ohne jedes böse Gewissen.“
Über ihr Verständnis der Naturwissenschaft sagte sie: „Das ist in meinen Augen gerade der große moralische Wert der naturwissenschaftlichen Ausbildung, daß wir lernen müssen, Ehrfurcht vor der Wahrheit zu haben, gleichgültig, ob sie mit unseren Wünschen oder vorgefaßten Meinungen übereinstimmt oder nicht.“
Über das Privatleben von Lise Meitner ist wenig bekannt. Sie liebte die Natur und zog sich zum Nachdenken über theoretische Probleme gerne in den Wald zurück.
Neben ihrer Forschung galt ihr persönliches, aber doch sehr zurückhaltendes Engagement vor allem dem Einsatz für den Frieden, der bedachten Nutzung der Kernenergie sowie der Gleichberechtigung der Frauen in den Wissenschaften.
Lise Meitner beobachtete die Verwendung der Kernenergie für Waffensysteme äußerst kritisch. Sie ähnelte darin ihrem langjährigen Partner Otto Hahn und anderen Pionieren der Kernphysik wie etwa Albert Einstein (der jedoch, auf Vorschlag von Leó Szilárd, Präsident Roosevelt dringend zum Bau der US-Atombombe aufforderte). Lise Meitner selbst hat allerdings nie irgendeinen öffentlichen Friedensappell initiiert oder unterzeichnet, obwohl sie mehrfach darum gebeten wurde, und sich mit persönlichen Äußerungen zu den Themen Atombombe, Kernwaffentests, nukleare Verseuchung usw. immer zurückgehalten.
Verdienste
Kernspaltung
Lise Meitners Leistung im Zusammenhang mit der Kernspaltung wird sehr häufig auf die erste physikalisch-theoretische Deutung reduziert, die sie Anfang 1939 im schwedischen Exil zusammen mit Otto Frisch formulierte. Diese war zweifellos von großer Bedeutung für die Entwicklung der militärischen und friedlichen Nutzung der Kernenergie, wurde aber bereits im Herbst 1939 durch eine umfassende Theorie der Kernspaltung (The mechanism of nuclear fission) von Niels Bohr und John Archibald Wheeler ersetzt.
Da Lise Meitner fünf Monate vor der Entdeckung der Kernspaltung aus Deutschland fliehen musste, wird oft übersehen, dass die vier Jahre andauernde gemeinsame Arbeit von Meitner, Hahn und Straßmann an Transuranen diese Entdeckung möglich machte. Aus diesem Grund wurden sie 1966 gemeinsam mit dem Enrico-Fermi-Preis geehrt. Auf einer Gedenktafel in Mainz, wo Straßmann später lehrte und forschte, ehrt auch die Gesellschaft Deutscher Chemiker die drei Forscher als gemeinsame Wegbereiter der epochalen Entdeckung und nennt dabei Meitner an erster Stelle. Der berühmte „Otto-Hahn-Tisch“ im Deutschen Museum – auf ihm sind die bei der Entdeckung der Kernspaltung verwendeten Geräte zu sehen – wurde im Jahr 2013 in „Hahn-Meitner-Straßmann-Tisch“ umbenannt. Der Grund war, dass die Benennung allein nach Otto Hahn als falsch empfunden wurde. Wie Meitners Biografin Charlotte Kerner damals kommentierte, gilt die Entdeckung der Kernspaltung heute als Gemeinschaftsarbeit. Dabei war es Meitners Verdienst, dass die gemeinsame Arbeit in Berlin in Gang kam. Sie überredete Hahn, die Versuche mit Uran fortzusetzen, die Enrico Fermi 1934 begonnen hatte.
Lise Meitner erkannte die Leistung der Chemiker Hahn und Straßmann bei der Entdeckung der Kernspaltung an: „Die Entdeckung der Kernspaltung durch Otto Hahn und Fritz Straßmann hat ein neues Zeitalter in der Geschichte der Menschheit eröffnet. Die dieser Entdeckung zugrunde liegende wissenschaftliche Leistung scheint mir darum so bewundernswert, weil sie ohne jede theoretische Wegweisung auf rein chemischem Weg erreicht worden ist.“
Weitere Leistungen
Neben den allgemein bekannten Arbeiten erweiterte Lise Meitner vor allem die Kenntnis über das Wesen der Radioaktivität. Die meisten ihrer Arbeiten waren Untersuchungen der Radioaktivität, insbesondere der Alpha- und Betastrahlung. Dabei konzentrierte sie sich auf die Wirkung dieser Strahlen auf verschiedene Materialien. Sie entdeckte gemeinsam mit Otto Hahn eine Reihe radioaktiver Isotope, darunter Protactinium 231, Actinium C und Thorium D.
Wesentliche Beiträge lieferte Lise Meitner auch zum Verständnis des Aufbaus der Atomkerne sowie der Energiefreisetzung beim radioaktiven Zerfall. Gemeinsam mit Otto Frisch veröffentlichte sie eine Reihe von Werken, die die physikalischen Grundlagen der Kernphysik erklärten und beleuchteten.
Ausbleiben des Nobelpreises
Obwohl Lise Meitner sehr oft für den Nobelpreis nominiert wurde, blieb ihr diese Auszeichnung versagt.
Nominierungen für den Nobelpreis
Lise Meitner wurde insgesamt 49-mal für den Nobelpreis nominiert. Von 1924 bis 1948 gingen insgesamt 19 Nominierungen für den Chemiepreis ein, in den Jahren 1937 bis 1967 insgesamt 30 Nominierungen für den Physikpreis.
Am häufigsten nominierte sie Max Planck, der sechs Nominierungen für den Chemiepreis und eine für den Physikpreis einsandte. Zu den Unterstützern, die sie mehr als zweimal nominierten, gehörten ferner James Franck (fünf Nominierungen für Physik), Oskar Klein (drei Nominierungen für Physik, eine für Chemie), Max Born (drei Nominierungen für Physik) und Niels Bohr (zwei Nominierungen für Chemie, eine für Physik). Nachdem Otto Hahn den Chemie-Nobelpreis des Jahres 1944 erhalten hatte, nominierte er Lise Meitner 1948 für den Physik-Nobelpreis.
Bewertungen anlässlich des Nobelpreises für Otto Hahn
Für die Entdeckung und den radiochemischen Nachweis der Kernspaltung wurde Otto Hahn 1945 der Nobelpreis für Chemie für das Jahr 1944 verliehen (überreicht wurde er erst 1946). Lise Meitner und Otto Frisch, die zusammen die theoretische Erklärung für das Phänomen verfasst hatten, wurden nicht berücksichtigt. Diese Entscheidung wurde kontrovers beurteilt.
Lise Meitner, die das „Zerplatzen“ des Urankerns exklusiv aus erster Hand von Otto Hahn erfahren hatte und die chemischen Leistungen ihres Kollegen wohl am besten beurteilen konnte, schrieb Ende November 1945 an ihre Freundin Birgit Broomé-Aminoff: „Hahn hat sicher den Nobelpreis für Chemie voll verdient, da ist wirklich kein Zweifel. Aber ich glaube, dass Frisch und ich etwas nicht Unwesentliches zur Aufklärung des Uranspaltungsprozesses beigetragen haben – wie er zustande kommt und daß er mit einer so großen Energieentwicklung verbunden ist, lag Hahn ganz fern.“
Berta Karlik, die Leiterin des Instituts für Radiumforschung in Wien, schrieb an ihre Kollegin Erika Cremer: „Da ich die Berliner Arbeiten seinerzeit eingehend verfolgt habe, und sowohl mit Hahn wie mit Meitner persönlich so gut bekannt, ja befreundet war, bin ich stets der Auffassung gewesen, dass die Entdeckung der Spaltung einzig und allein Hahn zuzuschreiben ist.“
Der polnisch-britische Physiker Józef Rotblat kam zu einer anderen Bewertung. Als er Frisch und Meitner 1961 für den Physik-Nobelpreis nominierte, schrieb er zur Begründung: „Obwohl die Experimente, die zur Separierung und Isolierung der Spaltprodukte geführt haben, von Professor Hahn ausgeführt worden sind, ist es allgemein anerkannt, dass es Frisch und Meitner gewesen sind, die den Prozess als Kernspaltung erkannt und ihn richtig interpretiert haben. Frisch und Meitner sind daher die wahren Entdecker der Kernspaltung.“
Dietrich Hahn, ein Enkel von Otto Hahn und Patenkind von Lise Meitner, der sich für die korrekte biografische Darstellung von Otto Hahn und Meitner engagiert hat, sagte im Jahr 1996: „Vielleicht wäre es am besten gewesen, Otto Hahn und Straßmann hätten den Chemienobelpreis für die Entdeckung der Kernspaltung bekommen, Meitner und Frisch den Physiknobelpreis für die Deutung.“
Auch in jüngerer Zeit wird die Meinung vertreten, dass Lise Meitner den Nobelpreis mindestens so sehr verdient hätte wie Otto Hahn. Beispielsweise sagte Ernst Peter Fischer, Physiker und Wissenschaftshistoriker an der Universität Konstanz, anlässlich des 70-jährigen Jubiläums der Entdeckung der Kernspaltung im Jahr 2008: „Sie hat das Wissen gehabt, Hahn hat nur die Versuche durchgeführt.“ Es sei eine „Dummheit der schwedischen Akademie“ gewesen, Meitner beim Nobelpreis zu übergehen.
Hintergründe
David Rennert und Tanja Traxler beleuchten in ihrer Biografie (2018) die Hintergründe der Nobelpreis-Entscheidung. Sowohl Hahn als auch Meitner waren seit Mitte der 1920er Jahre immer wieder für den Chemie-Nobelpreis nominiert worden, ab 1937 kamen Nominierungen für den Physik-Nobelpreis dazu. Der schwedische Chemiker The Svedberg, selbst Nobelpreisträger, begutachtete die Leistungen von Hahn und Meitner für das Komitee des Chemie-Nobelpreises erstmals im Jahr 1939. In seinem Bericht argumentierte er, Hahn habe die Entdeckung gemacht, als Meitner nicht mehr in Berlin war. 1941 argumentierte er in seinem zweiten Gutachten, nach der Entdeckung der Kernspaltung habe Hahn im Gegensatz zu Meitner weitere wichtige Beiträge geleistet, der Nobelpreis solle somit an ihn gehen. Dabei stellte er Meitners Vertreibung aus Deutschland und ihre Situation im schwedischen Exil nicht in Rechnung. Die Gutachten der folgenden Jahre bauten auf Svedbergs Bewertung auf, so dass 1945 schließlich eine knappe Mehrheit zugunsten von Hahn zustande kam. Danach übergingen die Chemiker Meitner, weil sie schon Hahn den Nobelpreis zuerkannt hatten.
In den folgenden Jahrzehnten wurde Meitner weiterhin immer wieder nominiert, nach 1948 nur noch für den Physik-Nobelpreis. Bei den Physikern war der einflussreiche Nobelpreisträger Manne Siegbahn Vorsitzender des Nobel-Komitees und für die Begutachtung zuständig. Er kannte Meitner sehr gut, weil sie an seinem Institut in Stockholm arbeitete. Er hatte ein schwieriges Verhältnis zu ihr und empfand sie als Konkurrentin. Deshalb aktivierte er erfolgreich sein Netzwerk, um den Physik-Nobelpreis für Meitner zu verhindern – so jedenfalls die Darstellung von Rennert und Traxler. Sie vermuten außerdem, dass Meitner schon deshalb keine guten Karten hatte, weil sie eine Frau war. Frauen wurden als Zuarbeiterinnen gesehen. Meitner wurde immer wieder als „Mitarbeiterin“ Hahns bezeichnet, was sie empörte.
Lise Meitner hatte schon im November 1946 auf einer Karte an Otto Hahn geschrieben: „Die Möglichkeit, dass ich Deine Nobelpreis-Kollegin werden könnte, hat sich schließlich erledigt. Falls Du daran interessiert bist, könnte ich Dir etwas darüber erzählen.“ Hahn antwortete nicht darauf. Was sie zu berichten hatte, ist nicht bekannt.
Ehrungen
Mitgliedschaften und Auszeichnungen
Bis zu ihrem Tod erhielt Lise Meitner 21 wissenschaftliche (darunter 5 Ehrendoktorwürden, 12-mal Mitglied verschiedener Akademien) und öffentliche Auszeichnungen für ihr Werk und ihr Leben.
1926 Mitglied der Leopoldina
1926 Mitglied der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen
1947 Ehrenpreis der Stadt Wien für Wissenschaft
1948 Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, erstes weibliches Mitglied
1949 Max-Planck-Medaille gemeinsam mit Otto Hahn
1955 auswärtiges Mitglied der Royal Society in London, verbunden mit dem Recht, die Abkürzung FMRS (Foreign Member of the Royal Society) hinter ihrem Namen anzufügen
1955 Otto-Hahn-Preis für Chemie und Physik
1956 Ehrendoktorwürde der Freien Universität Berlin (Überreichung der Urkunde 1957)
1956 Orden Pour le Mérite für Wissenschaften und Künste, verliehen von Bundespräsident Theodor Heuss
1960 Mitglied der American Academy of Arts and Sciences
1960 Wilhelm-Exner-Medaille
1962 Dorothea-Schlözer-Medaille der Georg-August-Universität Göttingen
1966 Enrico-Fermi-Preis der amerikanischen Atomenergie-Kommission, zusammen mit Otto Hahn und Fritz Straßmann
1967 Österreichisches Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst
Namensgeberin
1959 Hahn-Meitner-Institut für Kernforschung in Berlin, Namensgeberin zusammen mit Otto Hahn
1970 Mondkrater Meitner
1977 Asteroid (6999) Meitner
1979 Venuskrater Meitner
Das Land Nordrhein-Westfalen vergab seit 1991 das Lise-Meitner-Stipendium für habilitierende Frauen.
Das chemische Element Meitnerium wurde 1997 nach ihr benannt.
Schulen und Straßen in zahlreichen Städten, z. B. 1970 die Meitnerstraße im Stadtteil Roderbruch in Hannover
1999 Lise Meitner Professur der Faculty of Engineering der Lund Universität verliehen an führende Forschende eines unterrepräsentierten Geschlechts, um als Vorbild für Studierende, Lehrende und junge Forschende zu dienen
2003 Lise-Meitner-Haus, Neubau für das Institut für Physik der Humboldt-Universität Berlin
2008 wurde der ABC-Abwehrschule des Österreichischen Bundesheeres der Traditionsname Lise Meitner verliehen.
Seit 2008 alljährliche Lise-Meitner-Lecture der Deutschen Physikalische Gesellschaft und der Österreichischen Physikalischen Gesellschaft
2010 Umbenennung des Otto-Hahn-Baus in Berlin in Hahn-Meitner-Bau (Gebäude des ehemaligen Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie, heute Gebäude des Instituts für Biochemie der FU Berlin)
Lise-Meitner-Preis für Kernphysik der Europäischen Physikalischen Gesellschaft
Lise-Meitner-Literaturpreis
Lise-Meitner-Programm des Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung zur Förderung ausländischer Wissenschaftler in Österreich.
Seit 2018 Lise-Meitner-Exzellenzprogramm der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung von Wissenschaftlerinnen
Gedenktafeln
Gedenktafeln, die an Lise Meitner erinnern, befinden sich an folgenden Gebäuden:
Geburtshaus (siehe Bild oben)
Akademisches Gymnasium in Wien (siehe Bild oben)
Gebäude Hessische Straße 1 in Berlin-Mitte, wo Lise Meitner von 1907 bis 1912 arbeitete. Hier befindet sich eine Gedenktafel ergänzt mit Relief-Porträts von Meitner und Otto Hahn (siehe Bild oben).
An demselben Gebäude wurde am 12. Juli 2010 auch eine Berliner Gedenktafel für Lise Meitner angebracht (siehe Bild rechts).
Gebäude des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie, Thielallee 63 in Berlin-Dahlem, wo Lise Meitner von 1912 bis 1938 arbeitete (heute Hahn-Meitner-Bau des Instituts für Biochemie der FU Berlin). Hier befindet sich eine Gedenktafel für Lise Meitner und ihren Assistenten Max Delbrück (siehe Bild oben).
Ehemaliges Institut für Kernchemie der Universität Mainz. Die Tafel aus der Reihe Historische Stätten der Chemie ehrt Lise Meitner, Otto Hahn und Fritz Straßmann als diejenigen Forscher, deren gemeinsame Arbeiten zur Entdeckung der Kernspaltung führten; 2002 zu Straßmanns 100. Geburtstag enthüllt (siehe oben).
Büsten und Denkmal
1991 wurde Lise Meitner als erste Frau mit einer Büste im Ehrensaal im Deutschen Museum in München geehrt.
Am 10. Juli 2014 wurde das von Anna Franziska Schwarzbach gestaltete Meitner-Denkmal im Ehrenhof der Humboldt-Universität zu Berlin mit einem Festakt enthüllt. Es ist das erste Denkmal für eine Wissenschaftlerin in Deutschland.
Im Juni 2016 wurde sie mit einer Büste im Arkadenhof der Universität Wien geehrt.
Sonstiges
Zu ihren Doktoranden gehörte Rudolf Jaeckel.
Veröffentlichungen (Auswahl)
Der Zusammenhang zwischen β- und γ-Strahlen. In: Ergebnisse der Exakten Naturwissenschaften. Nr. 3, 1924.
Literatur
(Chronologisch)
Otto Hahn: Vom Radiothor zur Uranspaltung. Vieweg, Braunschweig 1962; Neuausgabe: Vieweg-Teubner, Wiesbaden 2013, ISBN 978-3-322-98325-1.
Otto Hahn: Mein Leben. Bruckmann, München 1968. Neuausgabe: Piper, München / Zürich 1986, ISBN 3-492-00838-0.
Otto Robert Frisch: Lise Meitner. In: Biographical Memoirs of the Fellows of the Royal Society. Band 16, November 1970, S. 405–420.
Sabine Ernst (Hrsg.): Lise Meitner an Otto Hahn. Briefe aus den Jahren 1912 bis 1924. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1993, ISBN 3-8047-1254-1 (= Quellen und Studien zur Geschichte der Pharmazie, Band 65, zugleich Dissertation an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz 1992, unter dem Titel: Briefe Lise Meitners an Otto Hahn aus den Jahren 1912 bis 1924).
Jost Lemmerich (Hrsg.): Lise Meitner – Max von Laue: Briefwechsel 1938–1948. ERS, Berlin 1998, ISBN 3-928577-32-8.
Charlotte Kerner: Lise, Atomphysikerin. Beltz, Weinheim 1998, ISBN 3-407-80742-2.
Patricia Rife: Lise Meitner and the Dawn of the Nuclear Age. Birkhäuser, Berlin 1999, ISBN 0-8176-3732-X.
Lore Sexl, Anne Hardy: Lise Meitner. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2002, ISBN 3-499-50439-1.
Dietrich Hahn (Hrsg.): Lise Meitner: Erinnerungen an Otto Hahn. S. Hirzel Verlag, Stuttgart 2005, ISBN 3-7776-1380-0.
Thea Derado: Im Wirbel der Atome. Lise Meitner – Eine Frau geht ihren Weg. Kaufmann, Lahr 2007, ISBN 978-3-7806-3059-9.
Jost Lemmerich (Hrsg.): Bande der Freundschaft: Lise Meitner – Elisabeth Schiemann; kommentierter Briefwechsel 1911–1947. Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Wien 2010, ISBN 978-3-7001-6847-8.
Vera Keiser (Hrsg.): Radiochemie, Fleiß und Intuition. Neue Forschungen zu Otto Hahn. GNT-Verlag, Diepholz und Berlin 2018. ISBN 978-3-86225-113-1.
David Rennert, Tanja Traxler: Lise Meitner. Pionierin des Atomzeitalters. Residenz Verlag, Salzburg 2018, ISBN 978-3-7017-3460-3. Auszug online auf derstandard.at, 29. September 2018. Wurde 2019 in Österreich als Wissenschaftsbuch des Jahres (Kategorie Naturwissenschaft/Technik) ausgezeichnet.
Klaus Ferdinand Gärditz: „Ehrfurcht vor der Wahrheit“: Lise Meitner und der moralische Anspruch naturwissenschaftlichen Denkens. In: Wissenschaftsrecht. Zeitschrift für deutsches und europäisches Wissenschaftsrecht. 51, Nr. 3/4, 2018, S. 370–387.
Andrew Norman: The Amazing Story of Lise Meitner: Escaping the Nazis and Becoming the World's Greatest Physicist. Pen & Sword History, 2021, ISBN 978-1-3990-0629-3.
Audiovisuelle Quellen
Zweiteiliger Fernsehfilm: Ende der Unschuld, Frank Beyer, WDR, Köln 1991 (Darstellerin von Lise Meitners: Hanne Hiob).
Klaus Sander (Hrsg.): Lise Meitner: „Die Frau in der Wissenschaft“. Enthält: Rückschau auf mein Leben, Die Frau in der Wissenschaft, Max Planck als Mensch, Im Gespräch mit Berta Karlik, Zu Besuch in Kiel. supposé, Köln 2003, ISBN 978-3-932513-46-6 (Audio-CD, Originaltonaufnahmen, Hörprobe).
Lise Meitner – Die Mutter der Atombombe (2012).
… Deine Lise – die Physikerin Lise Meitner im Exil (© 2018 Buchfunk/Leipzig); Audiobuch von Stefan Frankenberger (Konzept/Musik) mit Elisabeth Orth, Till Firit, Paul Matic, Manuel Rubey u. a. ISBN 978-3-86847-423-7.
Archivaufnahmen über Lise Meitner im Onlinearchiv der Österreichischen Mediathek (Reden, Diskussionen, Radiobeiträge)
Wolfgang Burgmer: 27.10.1968 - Todestag der Physikerin Lise Meitner WDR ZeitZeichen vom 27. Oktober 2013, mit Annette Vogt. (Podcast)
Weblinks
Biografie Helmholtz-Zentrum Berlin
Einzelnachweise
Kernphysiker
Physiker (20. Jahrhundert)
Absolvent der Universität Wien
Hochschullehrer (Humboldt-Universität zu Berlin)
Wissenschaftliches Mitglied der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft
Wissenschaftliches Mitglied der Max-Planck-Gesellschaft
Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR
Mitglied der Leopoldina (20. Jahrhundert)
Korrespondierendes Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
Mitglied der American Academy of Arts and Sciences
Mitglied der Niedersächsischen Akademie der Wissenschaften zu Göttingen
Ehrendoktor der Freien Universität Berlin
Namensgeber für ein chemisches Element
Person als Namensgeber für einen Mondkrater
Person als Namensgeber für einen Venuskrater
Person als Namensgeber für einen Asteroiden
Entdecker eines chemischen Elements
Träger der Max-Planck-Medaille
Auswärtiges Mitglied der Royal Society
Träger des österreichischen Ehrenzeichens für Wissenschaft und Kunst
Träger des Bundesverdienstkreuzes
Wikipedia:Träger des Bundesverdienstkreuzes (Ausprägung ungeklärt)
Träger des Pour le Mérite (Friedensklasse)
Träger der Wilhelm-Exner-Medaille
Träger der Leibniz-Medaille
Lieben-Preisträger
Österreichischer Emigrant zur Zeit des Nationalsozialismus
Otto Hahn
Fritz Straßmann
Otto Frisch
Person (Cisleithanien)
Österreicher
Schwede
Geboren 1878
Gestorben 1968
Frau |
4226 | https://de.wikipedia.org/wiki/Ruthenium | Ruthenium | Ruthenium (v. „Ruthenien“, „Russland“) ist ein chemisches Element mit dem Elementsymbol Ru und der Ordnungszahl 44. Es zählt zu den Übergangsmetallen, im Periodensystem steht es in der 5. Periode und der Gruppe 8 (früher Teil der 8. Nebengruppe) oder auch Eisengruppe. Es ist ein silberweißes, hartes und sprödes Platinmetall.
Ruthenium wurde 1844 vom deutsch-baltischen Chemiker Karl Ernst Claus in sibirischen Platinerzen entdeckt. Es ist sehr selten und wird nur in geringen Mengen genutzt. Die Hauptanwendungsgebiete des Metalls liegen in der Elektronikindustrie beim Perpendicular Recording, einem Datenspeicherverfahren für Festplatten, und als Katalysator in verschiedenen chemischen Verfahren wie Hydrierungen, Methanisierung oder bei der Ammoniaksynthese. Einige Rutheniumverbindungen, z. B. die Grubbs-Katalysatoren, spielen ebenfalls eine Rolle in chemischen Synthesen.
Ruthenium besitzt keine bekannten biologischen Funktionen, jedoch werden einige Komplexe des Metalls hinsichtlich ihrer Wirkung als Mittel gegen Krebs erforscht.
Geschichte
Nachdem zwischen 1803 und 1804 kurz hintereinander die vier Platinmetalle Palladium, Rhodium, Iridium und Osmium von William Hyde Wollaston und Smithson Tennant in Platinerzen entdeckt wurden, versuchten andere Chemiker ebenfalls, aus derartigen Erzen bislang unbekannte Elemente zu isolieren.
Zunächst meldete der polnische Chemiker Jędrzej Śniadecki 1808, dass er im Jahr zuvor in seltenen südamerikanischen Platinerzen ein neues Element entdeckt habe. Er nannte dieses nach dem kurz zuvor entdeckten Asteroiden Vesta Vestium. Nachdem diese Entdeckung von anderen Chemikern jedoch nicht verifiziert werden konnte, wurde die Entdeckung wieder verworfen.
Nach der Entdeckung großer Platinerzlagerstätten im Ural 1819 begannen Jöns Jakob Berzelius in Stockholm und Gottfried Osann in Tartu, diese zu untersuchen. Dabei erhielt Osann 1828 zunächst ein unbekanntes weißes Oxid, dessen Eigenschaften zu keinem anderen Oxid passten, und nach Reduktion ein unbekanntes goldgelbes Metall. Dieses nannte er nach dem Herkunftsland des Erzes Russland Ruthenium. Nachdem jedoch Berzelius diese Entdeckung nicht bestätigen konnte, wiederholte Osann seine Arbeiten, konnte aber die Isolierung des Rutheniums nicht wiederholen und zog daraufhin seine Entdeckung zurück.
Der deutsch-baltische Chemiker Karl Ernst Claus versuchte seit 1841 an der Universität Kasan, Osanns Experimente zu wiederholen und unbekannte Elemente aus Platinerzen zu extrahieren. Dies gelang ihm schließlich 1844, als er sechs Gramm eines unbekannten hellgrauen Metalls gewinnen konnte. Er nannte das neue Element wie Osann ebenfalls Ruthenium. Ebenso wie Osann bat Claus Berzelius, die Experimente zu überprüfen und das neue Element zu bestätigen. Da dieser 1845 die Ergebnisse bestätigen konnte, gilt seitdem Claus als Entdecker des Rutheniums.
Vorkommen
Ruthenium zählt zu den seltensten nicht-radioaktiven Elementen auf der Erde. Seine Häufigkeit beträgt etwa 1 ppb Masseanteil in der Erdkruste, während es in der Erdhülle (Kruste bis 16 km Tiefe) mit einem Masseanteil von 20 ppb enthalten ist.
Die Häufigkeit ist vergleichbar mit der von Rhodium, Iridium oder Rhenium. Es ist meist mit anderen Platinmetallen vergesellschaftet, so beträgt der Anteil des Rutheniums in der wichtigsten Platinmetalllagerstätte, dem südafrikanischen Bushveld-Komplex, zwischen acht und zwölf Prozent.
Wie andere Platinmetalle kommt es gediegen in der Natur vor und ist darum von der IMA als Mineral mit der System-Nr. 1.AF.05 (Klasse: Elemente, Abteilung: Metalle und intermetallische Verbindungen, Unterabteilung: Platingruppen-Elemente) anerkannt.
Seine Typlokalität, in der das Mineral 1974 erstmals von Y. Urashima, T. Wakabayashi, T. Masaki und Y. Terasaki gefunden wurde, liegt am Fluss Uryū auf der japanischen Insel Hokkaidō. Neben dieser sind weitere 21 Fundorte elementaren Rutheniums bekannt. Zu diesen zählen unter anderem Nischni Tagil und der Miass-Fluss in Russland, der Yuba River in Kalifornien oder der Bushveld-Complex in Südafrika.
Neben elementarem Ruthenium sind auch verschiedene rutheniumhaltige Minerale bekannt. Bei den 13 zurzeit bekannten (Stand: 2010) handelt es sich um Legierungen mit anderen Platinmetallen wie Rutheniridosmin, Sulfide wie Laurit (RuS2) oder Arsenide wie Ruthenarsenit (Ru,Ni)As.
Ruthenium befindet sich auch als Spaltprodukt in abgebrannten Brennelementen von Kernreaktoren. Da die radioaktiven Isotope von Ruthenium verhältnismäßig kurzlebig sind (siehe oben), ist das Ruthenium, welches in Brennstäben nach Entnahme aus dem Abklingbecken enthalten ist, nicht radioaktiv. Problematisch ist jedoch das Vorhandensein von 107Pd, das als Platinmetall Ruthenium chemisch sehr ähnlich ist und langlebige Radioaktivität aufweist. Trotz hoher Ruthenium-Preise unterbleibt Stand 2022 die Gewinnung von Ruthenium aus abgebrannten Kernbrennstoff, es ist jedoch einer von mehreren potentiell nutzbaren Bestandteilen des „Atommülls“, der einige Menschen zu der Forderung bringt, ein potentielles Endlager mit „Rückholbarkeit“ zu planen.
Gewinnung und Darstellung
Durch die Ähnlichkeiten und geringe Reaktivität der Platinmetalle ist eine Trennung dieser Elemente kompliziert. Es existieren mehrere Möglichkeiten, Ruthenium zu isolieren. Enthält ein Erz eine hohe Rutheniumkonzentration, erfolgt die Abtrennung des Rutheniums am besten zuerst und wird durch Destillation erreicht. Dazu wird eine drei- oder sechswertiges Ruthenium enthaltende Lösung mit Oxidationsmitteln wie Chlor, Chloraten oder Kaliumpermanganat versetzt. Durch dieses wird das Ruthenium zum leicht flüchtigen Ruthenium(VIII)-oxid oxidiert. Dieses kann in verdünnter Salzsäure aufgefangen und zu wasserlöslichen Chlororuthenat-Komplexen reduziert werden. Der Grund für dieses Vorgehen sind die Gefahren, die durch die Bildung von Ruthenium(VIII)-oxid während der Trennung bestehen. So können durch Reaktion von Ruthenium(VIII)-oxid mit Ammoniumsalzen explosive Stickstoff-Chlor-Verbindungen entstehen.
Sind nur geringe Mengen Ruthenium im Ausgangsmaterial enthalten, werden zunächst die übrigen Platinmetalle abgetrennt. Dazu gibt es für die verschiedenen Metalle unterschiedliche Verfahren, insbesondere die Extraktion mit geeigneten Lösungsmitteln oder das Ausfällen der schwerlöslichen Salze. Schließlich bleibt das gelöste Ruthenium übrig. Die Lösung wird von vorhandenem Ammonium befreit, das Ruthenium zu Ruthenium(VIII)-oxid oxidiert und durch Destillation abgetrennt.
Um metallisches Ruthenium zu erhalten, wird es entweder als Ammoniumhexachlororuthenat oder als Ruthenium(IV)-oxid ausgefällt und bei 800 °C in einer Wasserstoffatmosphäre reduziert.
Neben Platinerzen ist auch der Anodenschlamm, der bei der Nickelproduktion anfällt, ein wichtiger Rohstoff für die Gewinnung von Ruthenium und den anderen Platinmetallen.
Ein weiteres Vorkommen von Ruthenium sind abgebrannte Brennelemente, da bei der Kernspaltung auch Platinmetalle entstehen. Eine Tonne dieser Brennelemente enthält über zwei Kilogramm Ruthenium, jedoch auch wertvollere Platinmetalle wie Rhodium oder Palladium. Dieses Ruthenium aus abgebrannten Brennelementen enthält knapp 4 % radioaktives 106Ru (weicher Betastrahler, Halbwertszeit ca. 1 Jahr), das zu 106Rh zerfällt. Das Rhodium zerfällt sofort (Halbwertszeit 30 s) unter Aussendung von Gammastrahlung. Eine Nutzung des Rutheniums aus Atomreaktoren ist daher unter derzeitigen Umständen nicht absehbar.
Die Weltproduktion an Ruthenium liegt im Bereich von ca. 20 t pro Jahr (Stand 2008).
Eigenschaften
Physikalische Eigenschaften
Ruthenium ist ein silberweißes, hartes und sprödes Metall. Mit einer Dichte von 12,37 g/cm3 ist es nach Palladium das zweitleichteste Platinmetall. Ruthenium schmilzt bei 2606 K und siedet bei etwa 4423 K. Unterhalb von 0,49 K wird das Element zum Supraleiter.
Ebenso wie Osmium kristallisiert Ruthenium in einer hexagonal-dichtesten Kugelpackung in der mit den Gitterparametern a = 270,6 pm und c = 428,1 pm sowie zwei Formeleinheiten pro Elementarzelle. Mitunter werden vier verschiedene polymorphe Formen des Rutheniums angegeben, in die sich das Metall beim Erhitzen auf Temperaturen von 1308, 1473 und 1770 K umwandelt. Diese beruhen jedoch auf kalorimetrischen Messungen aus dem Jahr 1931, die in der Folgezeit nicht bestätigt werden konnten. Daher ist es wahrscheinlich, dass das Element bis zum Schmelzpunkt lediglich eine Modifikation besitzt. Eine metastabile tetragonale Modifikation wurde in sehr dünnen Filmen auf einer Molybdän-Oberfläche gefunden. Diese zeigt bei Raumtemperatur ferromagnetische Eigenschaften.
Chemische Eigenschaften
Innerhalb der Eisengruppe besitzt Ruthenium ähnliche Eigenschaften wie das Osmium, während es sich von denen des Eisens deutlich unterscheidet. Es ist wie andere Platinmetalle und im Gegensatz zum Eisen ein reaktionsträges Edelmetall. Mit dem Sauerstoff der Luft reagiert es erst bei Temperaturen über 700 °C und bildet dabei Ruthenium(VIII)-oxid. Hierbei unterscheidet es sich auch vom Osmium, das schon bei Raumtemperatur beim Kontakt mit Sauerstoff in Spuren das entsprechende Osmium(VIII)-oxid bildet. Auch mit Fluor und Chlor reagiert Ruthenium erst in der Hitze und bildet dabei Ruthenium(VI)-fluorid beziehungsweise Ruthenium(III)-chlorid.
Das Metall löst sich nicht in Säuren wie z. B. Flusssäure, Schwefelsäure, Salpetersäure oder auch Königswasser. Angegriffen wird es dagegen langsam von wässrigen Chlor- und Bromlösungen, schnell von Cyanidlösungen und von Quecksilber(II)-chlorid. Starke Oxidationsmittel wie Kaliumhydroxid-Kaliumnitrat- oder Natriumhydroxid-Natriumperoxid-Schmelzen oxidieren Ruthenium schnell.
Isotope
Es sind insgesamt 33 Isotope und weitere sechs Kernisomere des Rutheniums zwischen 87Ru und 120Ru bekannt. Von diesen sind sieben stabil und kommen auch in der Natur vor. Am häufigsten ist dabei das Isotop 102Ru mit einem Anteil von 31,6 % an der natürlichen Isotopenzusammensetzung. Vier Isotope, 104Ru, 101Ru, 100Ru und 99Ru sind mit Anteilen zwischen 12 und 19 % ähnlich häufig. Die seltensten der stabilen Isotope sind 96Ru und 98Ru mit Anteilen von 5,52 beziehungsweise 1,88 %. Von den instabilen Isotopen besitzen lediglich 97Ru (2,9 Tage), 103Ru (39,26 Tage) und 106Ru (373,59 Tage) Halbwertszeiten von einigen Tagen; die der anderen liegen im Bereich von Millisekunden (103m1Ru: 1,69 ms) bis Stunden (105Ru: 4,44 h).
Rutheniumisotope, vor allem 101Ru, 102Ru und 104Ru entstehen bei der Kernspaltung und sind daher in abgebrannten Brennelementen vorhanden. Eine Tonne bei der Kernspaltung eingesetztes Uran enthält als Spaltprodukt etwa 1,9 Kilogramm Ruthenium. Dieses kann bei der Wiederaufarbeitung durch Oxidation zu flüchtigem Ruthenium(VIII)-oxid aus dem in Salpetersäure gelösten Gemisch abgetrennt werden. Da dieses Ruthenium aber auch einen Anteil des radioaktiven und mit einer Halbwertszeit von 373 Tagen relativ langlebigen Isotopes 106Ru enthält, kann es nicht direkt für andere Zwecke eingesetzt werden. Nach Durchlauf einer ausreichenden Anzahl Halbwertszeiten wäre aber prinzipiell die Gewinnung nutzbaren Rutheniums aus abgebrannten Brennelementen denkbar. Auch die Transmutation des – sowohl als nuklearmedizinischer Abfall wie auch als Spaltprodukt anfallenden – Technetium-99 durch Neutroneneinfang und anschließenden Betazerfall wird verschiedentlich sowohl zur Produktion von Ruthenium als auch zur sicheren Entsorgung des langlebigen und stark radiotoxischen Technetium diskutiert. Die schweren Ruthenium-Isotope zerfallen hauptsächlich zu Rhodium, das noch höhere Preise erzielt als Ruthenium selbst. Aus kerntechnisch erzeugtem Ruthenium könnte also auch nach Ablauf entsprechender Halbwertszeiten Rhodium gewonnen werden. Problematisch ist hierbei, dass 103Rh das einzige stabile Isotop des Rhodium ist, wobei Rhodium-Isotopen mit Massezahlen größer 103 sämtlich kurzlebig sind und bevorzugt zu Palladium-Isotopen betazerfallen.
Verwendung
Ruthenium wird nur in geringem Maß genutzt. Der größte Teil des Metalls wird dabei in der Elektronikindustrie verwendet. Hier spielt seit dem Jahr 2006 vor allem das Perpendicular Recording eine Rolle, ein Verfahren zur Speicherung von Daten auf Festplatten, bei dem eine dünne Schicht Ruthenium die Speicherschicht aus einer Cobalt-Chrom-Platin-Legierung von einer weichmagnetischen Unterschicht trennt. Der Grund dafür, dass Ruthenium genutzt wird, liegt in seiner hexagonalen Kristallstruktur, die eine ähnliche Gitterkonstante wie die verwendete Speicherschicht-Legierung besitzt. Dünne Rutheniumschichten werden in elektrischen Kontakten wie Schleifringen oder Reed-Relais eingesetzt. Sie sind im Vergleich zu anderen einsetzbaren Metallen wie cobalt-gehärtetem Gold härter und damit beständiger gegen Abrieb.
Wie andere Platinmetalle wirkt auch Ruthenium katalytisch. So kann es etwa zur Hydrierung von Aromaten, Säuren und Ketonen verwendet werden. Ruthenium wirkt auch katalytisch bei der Methanisierung, der Herstellung von Methan aus Wasserstoff und Kohlenstoffmonoxid bzw. Kohlenstoffdioxid. Ruthenium hat bislang jedoch nur geringe Anwendungen für die Methanisierung gefunden, meist werden Nickel-Katalysatoren genutzt. Die zur Methanisierung mit Ruthenium benötigten niedrigeren Temperaturen könnten für Langzeit-Weltraummissionen interessant sein, da das von den Astronauten ausgeatmete Kohlenstoffdioxid umgesetzt und so der Sauerstoffkreislauf geschlossen werden könnte.
Analog zu Eisen und Osmium katalysiert auch Ruthenium die Ammoniak-Synthese aus Stickstoff und Wasserstoff. Es besitzt eine höhere Katalysatoraktivität als Eisen und ermöglicht so eine höhere Ausbeute bei niedrigeren Drücken. Der Einsatz des Metalls ist vor allem durch den Preis limitiert. Industriell eingesetzt wird ein Rutheniumkatalysator, der auf einer Kohlenstoffmatrix geträgert und durch Barium und Caesium als Promotoren verbessert wurde, seit 1998 in zwei Produktionsanlagen von KBR auf Trinidad. Da die langsame Methanisierung des Kohlenstoffträgers beim Prozessablauf stört, wird an kohlenstofffreien Rutheniumkatalysatoren für die Ammoniaksynthese geforscht.
In kleinen Mengen wird Ruthenium in Legierungen von Palladium oder Platin zur Erhöhung der Härte eingesetzt. Rutheniumhaltige Legierungen werden unter anderem für Federspitzen von Füllfederhaltern oder für Zahnfüllungen gebraucht. Titanlegierungen werden durch geringe Mengen an Ruthenium (0,1 %) korrosionsbeständiger, was für Anwendungen in der chemischen Industrie oder der Ölförderung wichtig ist. Es ist dabei eine mögliche Alternative zu Palladium. Auch in Superlegierungen auf Nickelbasis, die für Turbinenschaufeln verwendet werden, kann Ruthenium ein Legierungsbestandteil sein, es bewirkt hier eine erhöhte Phasenstabilität.
Ein großer Teil des Rutheniums wird nicht in Form des Metalls, sondern als Verbindung, vor allem als Ruthenium(IV)-oxid eingesetzt, das unter anderem als Material für Widerstände und Elektroden, beispielsweise für die Beschichtung von Titananoden in der Chloralkali-Elektrolyse.
Der Betastrahler 106Ru wird zur Strahlentherapie des Aderhautmelanoms eingesetzt.
Biologische Bedeutung
Wie andere Platinmetalle besitzt Ruthenium keine biologische Bedeutung und kommt im Körper normalerweise nicht vor. Verschiedene Rutheniumkomplexe haben ein pharmakologisches Potenzial. Es werden verschiedene Anwendungen als Wirkstoff erforscht. Einige Verbindungen werden schon in klinischen Studien erprobt. Am wichtigsten hierfür ist die Wirkung als Zytostatikum, also als Mittel zur Therapie von Krebs. Hier gelten Rutheniumkomplexe als mögliche Alternativen zu Cisplatin beziehungsweise Carboplatin. Neben der tumorhemmenden Wirkung, die die Verbindungen mehrerer Platinmetalle besitzen, begründet sich dies vor allem auf drei Eigenschaften von Rutheniumkomplexen:
Sie besitzen einen langsamen Ligandenaustausch, so dass der Komplex die richtige Stelle im Körper erreichen kann, ohne dass er mit Wasser oder anderen Molekülen reagiert,
mehrere mögliche Oxidationsstufen (+2, +3, +4) unter physiologischen Bedingungen, sowie
eine große Ähnlichkeit zu Eisen, so dass sie dieses in Proteinen wie Transferrin ersetzen können.
Da dreiwertiges Ruthenium relativ inaktiv ist, während zweiwertiges eine starke tumorhemmende Wirkung zeigt, sollte es möglich sein, dreiwertiges Ruthenium in einem Tumor zum zweiwertigen zu reduzieren und so zu aktivieren. Damit wäre eine selektivere Wirkung als bei anderen Zytostatika möglich. Bisher ist noch kein Arzneimittel auf der Basis von Ruthenium zugelassen.
Neben der Verwendung in der antineoplastischen Chemotherapie werden auch Anwendungen von Rutheniumverbindungen als Immunsuppressivum, Antibiotikum und antimikrobielle Substanz, beispielsweise zur Bekämpfung von Malaria oder der Chagas-Krankheit, untersucht.
Vorsichtsmaßnahmen
Ruthenium ist als Metall ungiftig. Im Gegensatz zu Osmium bildet sich auch das giftige und leicht flüchtige Tetraoxid nicht durch Reaktion mit Sauerstoff bei Raumtemperatur, sondern nur bei der Reaktion mit starken Oxidationsmitteln. In Pulverform ist Ruthenium brennbar, bei Bränden darf nicht mit Wasser, sondern nur mit Löschpulver oder Metallbrandlöschern gelöscht werden.
Verbindungen
Ruthenium bildet Verbindungen in den Oxidationsstufen −2 bis +8, die stabilsten und häufigsten sind dabei +3 und +4. Es zählt damit zusammen mit Osmium und Xenon zu den Elementen, bei denen die höchste Oxidationsstufe +8 chemisch erreicht werden kann.
Sauerstoffverbindungen
Ruthenium bildet mit Sauerstoff drei binäre Oxide, Ruthenium(VIII)-oxid, Ruthenium(VI)-oxid und Ruthenium(IV)-oxid. Dazu sind noch Ruthenium(III)-oxid, dieses jedoch nur als Hydrat, und verschiedene Ruthenate, unter anderen orangefarbenes Ruthenat(VI), Salze deren Anion eine Ruthenium-Sauerstoffverbindung ist, bekannt. Ruthenium(VIII)-oxid ist, wie Osmium(VIII)-oxid, eine gelbe, leicht flüchtige und giftige Verbindung, die durch Reaktion von Ruthenium oder dessen Verbindungen mit starken Oxidationsmitteln gewonnen wird und die als starkes Oxidationsmittel und für die Abtrennung von Ruthenium von anderen Platinmetallen von Bedeutung ist. Während Ruthenium(VI)-oxid nur in der Gasphase bekannt ist, ist Ruthenium(IV)-oxid ein stabiles, in der Rutilstruktur kristallisierendes Salz, das unter anderem in Widerständen verwendet wird und zur Beschichtung von Elektroden dient.
Im Gegensatz zu Osmium ist vom Ruthenium kein achtwertiges Ruthenat bekannt, in wässrigen Lösungen entsteht bei Reaktion mit starken Oxidationsmitteln ein siebenwertiges, dem Permanganat entsprechendes gelbgrünes Perruthenat. Dieses wirkt ebenfalls als Oxidationsmittel, ist jedoch milder und damit selektiver als Ruthenium(VIII)-oxid oder Osmium(VIII)-oxid. So werden primäre Alkohole durch Perruthenate nicht zu Carbonsäuren, sondern nur zu Aldehyden oxidiert. Häufig wird es in organischen Synthesen in Form von Tetrapropylammoniumperruthenat (TPAP) eingesetzt. Es wird dabei zu vierwertigem Ruthenium reduziert.
Komplexe
Vom Ruthenium sind zahlreiche Komplexverbindungen sowohl mit anorganischen als auch organischen Liganden bekannt. Diese können in sehr unterschiedlichen Oxidationsstufen von −2 bis +8 vorliegen. In mittleren Stufen, wie +2, +3 und +4, sind auch nichtklassische Komplexe synthetisiert worden, die Metallcluster mit Ruthenium-Ruthenium-Bindungen enthalten.
Einige Rutheniumkomplexe haben Anwendung als Katalysatoren in verschiedenen organischen Synthesen gefunden. So ist Ruthenium das Zentralmetall in den Komplexen der Grubbs-Katalysatoren, die zu den wichtigsten Katalysatoren für die Olefinmetathese zählen. Ein weiterer, in der organischen Synthese bedeutender Komplex ist der Noyori-Katalysator, ein Ruthenium-Chlor-BINAP-Komplex, der eine effiziente asymmetrische Hydrierung von β-Keto-Estern ermöglicht.
Rutheniumkomplexe sind in der Lage, Polymerisationen zu katalysieren. Neben der auf der Metathese beruhenden Ringöffnungspolymerisation (ROMP) können auch lebende freie radikalische Polymerisationen durch Rutheniumkomplexe ermöglicht werden. Ein Beispiel hierfür ist die Polymerisation von Methylmethacrylat mit RuCl2(PPh3)3 als Katalysator.
Zu den bekanntesten Rutheniumkomplexen zählt der Amin-Komplex Rutheniumrot, der in der Histologie als Färbemittel sowie als Redoxindikator und zur Untersuchung von Textilfasern verwendet wird. Ein weiteres Beispiel für einen Rutheniumkomplex ist (1,5-Cyclooctadien)(1,3,5-cyclooctatrien)ruthenium, das erstmals 1963 von Ernst Otto Fischer synthetisiert wurde.
Weitere Rutheniumverbindungen
Mit den Halogenen Fluor, Chlor, Brom und Iod bildet Ruthenium eine Reihe von Verbindungen. Am stabilsten sind dabei die dreiwertigen Rutheniumhalogenide, diese sind auch von allen Halogenen bekannt. In höheren Oxidationsstufen sind lediglich die Fluoride bis zum Ruthenium(VI)-fluorid sowie das instabile Ruthenium(IV)-chlorid bekannt. Die wichtigste dieser Verbindungen ist Ruthenium(III)-chlorid, die ein Ausgangsstoff für die Synthese vieler anderer Rutheniumverbindungen ist.
Einen Überblick über Rutheniumverbindungen bietet die :Kategorie:Rutheniumverbindung.
Freisetzung von 106Ru südlich des Urals 2017
Im Oktober 2017 wurden in mehreren Ländern Europas erhöhte atmosphärische 106Ru-Konzentrationen in der Größenordnung 10 mBq/m3 gemessen, die allerdings weit unterhalb normaler Luftaktivitäten lagen. Die Analyse der Luftströmungen ließ auf eine Quelle südlich des Urals in Russland schließen.
In jenem Zeitraum wurde für das Experiment SOX-Borexino in Gran Sasso, das »sterile« Neutrinos finden soll, eine kompakte, extrem aktive Strahlungsquelle benötigt. Diese bestellte man in einer Wiederaufarbeitungsanlage in Majak.
Das dafür nötige stark angereicherte Cer liefern nur frisch ausgebrannte Kernbrennstäbe. Der Anteil von 103Ru in den Proben legt nahe, dass die abgebrannten Brennelemente nur zwei Jahre nach dem Ende des Kraftwerksbetriebs in Majak aufgearbeitet wurden. Derart stark radioaktive Brennelemente sind schwer zu verarbeiten. Dabei wird Ruthenium ohnehin abgetrennt. Es entweicht als gasförmiges Rutheniumtetroxid.
30 Kilometer entfernt von Majak in der Gemeinde Argajasch wurden hohe Luftkonzentrationen von 106Ru gemessen. Die freigesetzte Aktivität wurde mit 100–300 Terabecquerel abgeschätzt, eine für die lokale Bevölkerung riskante Menge. Die französische Zeitung Le Figaro beschrieb im Februar 2018 den Auftrag französischer und italienischer Forscher. Majak teilte im Dezember 2017 mit, das bestellte Cer-144 sei nicht zu liefern, weil der Prozess das erforderliche Niveau nicht erreichte.
Diese Ursachen-Vermutung wird auch in einer 2019 veröffentlichten Studie erläutert.
Literatur
Hermann Renner u. a.: Platinum Group Metals and Compounds. In: Ullmann’s Encyclopedia of Industrial Chemistry. Wiley-VCH, Weinheim 2001, doi:10.1002/14356007.a21_075.
Weblinks
Abbildung in der Elementansammlung von Pniok.de
Mineralienatlas:Ruthenium (Wiki)
Einzelnachweise
Mineral
Hexagonales Kristallsystem
Elemente (Mineralklasse) |
4951 | https://de.wikipedia.org/wiki/S%C3%BC%C3%9Fgr%C3%A4ser | Süßgräser | Die Süßgräser (Poaceae = Gramineae) sind eine Pflanzenfamilie in der Ordnung der Grasartigen (Poales). Mit etwa 12.000 Arten in rund 780 Gattungen sind sie eine der größten Familien innerhalb der Blütenpflanzen. Sie sind weltweit in allen Klimazonen verbreitet und durch eine typische grasartige Gestalt gekennzeichnet.
Viele Arten der Süßgräser gehören zu den ältesten Nutzpflanzen und sind seit alters für den Menschen von lebenswichtiger Bedeutung. Alle Getreide wie Weizen, Roggen, Gerste, Hafer, Hirse, Mais und Reis zählen zu dieser Pflanzengruppe. Sie stellen in Form von Marktfrüchten oder als Viehfutter in der Veredelung heute die Basis für die Ernährung der Weltbevölkerung dar. Als Gras- oder Grünland wie Wiesen und Weiden, aber auch Steppen und Savannen prägen sie in weiten Teilen der Erde das Landschaftsbild.
Lebenszyklus und Morphologie
Süßgräser umfassen sowohl kurzlebige als auch langlebige Arten. Sie weisen eine charakteristische Morphologie sowohl der vegetativen als auch der generativen Organe auf, mit einem gemeinsamen „grasförmigen“ Grundbauplan der verschiedenen Arten. Gräser sind meist schlankwüchsig und verfügen über lange, dünne, durch Knoten gegliederte Halme, parallelnervige, lange Blätter und oft unauffällige, einfache Blütenstände. Innerhalb der Unterfamilien, Tribus und Gattungen sind dagegen deutliche taxonspezifische Abwandlungen der Merkmale vorhanden.
Lebensformen und Ausdauer
Viele Arten sind einjährig und schließen ihren gesamten Lebenszyklus in einer Vegetationsperiode ab. Sie leben meist nur wenige Monate und überdauern die ungünstige Jahreszeit als Samen im Boden. Diese Formen, zu denen auch viele Getreidesorten gehören, werden Therophyten genannt.
Andere Arten sind mehrjährig und damit Hemikryptophyten. Sie verfügen über bodennahe Erneuerungsknospen und überdauern ungünstige Zeiten geschützt durch den Boden, Laubstreu oder Schnee. Dazu gehören zweijährige Arten, die im Laufe des Sommers oder Herbstes keimen und erst im folgenden Jahr Früchte und Samen bilden, ebenso wie ausdauernde und mehrjährige Arten, die wenige oder viele Jahre leben. Diese besitzen überwinterungsfähige Horste oder Rosetten. Die Individuen einer Generation ausdauernder Arten können bis zu 400 Jahre alt werden, so zum Beispiel der Rot-Schwingel (Festuca rubra). Die Gemeine Quecke (Elymus repens) ist ein Beispiel dafür, dass sich Gräser aus Ausläuferfragmenten erneuern können (Rhizom-Geophyten). Die meisten Hemikryptophyt-Arten sind krautig; deren Halme nach etwa einem Jahr Lebensdauer oberirdisch absterben. Ausnahmen bilden holzige Bambus-Arten (Bambuseae), deren Triebe dickwandig und fest sind und mehrere Jahrzehnte ausdauern können.
Wuchsformen und Wurzeln
Etliche Süßgräser sind zart gebaut und werden nur wenige Zentimeter groß (z. B. Einjähriges Rispengras). Andere Arten haben verholzte Halme und erreichen Wuchshöhen bis zu 40 Metern und mehr, wie beispielsweise die Bambus-Art Dendrocalamus giganteus. Ein- und zweijährige Arten haben gewöhnlich einzelne oder wenige Triebe in lockeren Büscheln mit weicheren Blättern. Bei diesen Süßgräsern tragen alle oder die meisten der Sprossachsen Blütenstände. Die ausdauernden Arten bilden in den meisten Fällen festere Halme und Blattspreiten und neben blühenden Trieben eine größere oder kleinere Anzahl an nicht blühenden Trieben. Sie wachsen in lockeren oder dichten Horsten oder rasenförmig. Letztere Wuchsform ergibt sich, indem sich die Pflanzen entweder über mehr oder weniger lange, oberirdisch kriechende, grünliche oder rötliche Sprossachsen, namentlich Stolonen (z. B. das Weiße Straußgras) oder über unterirdische, weiße oder braune Rhizome ausbreiten (z. B. die Kriech-Quecke). Außer an der Farbe lassen sich die beiden Typen von sich an den Knoten bewurzelnden Ausläufern auch daran unterscheiden, dass Stolonen an jedem Knoten (Nodus) über vollständige Blätter mit Blattscheide und Blattspreite verfügen, Rhizome dagegen an diesen Punkten lediglich kleine, dünne, schuppenförmige Niederblätter entwickeln. Bei horstbildenden Arten bilden sich nur kurze Ausläufer, oder die jungen Seitentriebe entwickeln sich innerhalb der Blattscheiden des Muttertriebes (intravaginal), so beim Schaf-Schwingel (Festuca ovina). Auf diese Weise entsteht durch die gedrängt stehenden Triebe die typische büschelige, dicht horstige Wuchsform vieler Gräser. Wachsen die Triebe die untere Blattscheide durchstoßend (extravaginal), ist der Aufwuchs meist locker-horstig oder rasenförmig (z. B. Rot-Schwingel).
Die meisten Süßgräser sind Flachwurzler; sie bilden keine Haupt- und Pfahlwurzeln. Am Stängelgrund und an den Knoten der Ausläufer werden zahlreiche sprossbürtige Wurzeln gebildet, die ihrerseits Seitenwurzeln 1. und 2. Ordnung entwickeln können. Auf diese Weise können Wurzelsysteme von beachtlicher Länge entstehen. So kann sich eine einzige Pflanze des Rot-Schwingels etwa 250 Meter im Durchmesser ausbreiten.
Halme und Blätter
Die Stängel der Süßgräser werden als Halme (über althochdeutsch halm ableitbar von germanisch halma, „Stroh, Getreidestängel, Grasstängel“) bezeichnet. Sie sind meist hohl und rund. Nur wenige Grasarten besitzen markige Stängel. Sie sind durch feste, mit Gewebe gefüllte Knoten (Nodien) gegliedert. Die Abschnitte zwischen den Knoten werden als Internodien bezeichnet. Unmittelbar oberhalb der Knoten liegen die Wachstumszonen, die Halme wachsen also mit eingelagerten Meristemen. An diesen Stellen setzen die faserigen Verstärkungselemente, die den Halmen zusätzliche Stabilität und Zugfestigkeit verleihen, aus. Die Halme bleiben auf diese Weise beweglich und biegsam. Sie sind so in der Lage, sich nach Wind- und Regeneinwirkung wieder aufzurichten. Sie können entweder senkrecht hochwachsen, von einem gebogenen Grund aufsteigen oder gänzlich am Boden niederliegend wachsen. Grashalme variieren in Größe, Festigkeit und Zahl der Knoten. Sie sind im Querschnitt meist rund, selten etwas zusammengedrückt wie beim Zusammengedrückten Rispengras (Poa compressa). Bei einigen Süßgrasarten sind die untersten Internodien mehr oder weniger angeschwollen und verdickt. Die Halme etlicher Gräser sind unverzweigt, bei einigen Arten bilden sich von den Knospen in den Blattachseln ausgehende Seitenzweige. Die Beblätterung der Halme ist bei Süßgräsern immer wechselständig und fast ausnahmslos zweizeilig (distich) – im Gegensatz zur dreizeiligen Beblätterung der Sauergräser (Cyperaceae).
Die Blätter der Süßgräser bestehen immer aus zwei verschiedenen Abschnitten: der Blattscheide und der Blattspreite. Die Blattscheide entspricht dem Blattgrund, setzt am Knoten an und umschließt das Internodium bis fast zum nächsten Halmknoten. Die Scheiden sind bei der Mehrzahl der Gräser an einer Seite offen. Bei wenigen Grasarten sind die Ränder verwachsen und damit die Blattscheiden röhrig geschlossen, wenngleich sie früh im oberen Bereich aufreißen. Während die basalen Blattscheiden die Wachstumspunkte der jungen Triebe schützen, erfüllen diejenigen an den Halmen diese Schutzfunktion für die dortigen Wachstumszonen oberhalb der Knoten und sorgen außerdem für zusätzliche Stabilität. Der obere Teil der Blattscheiden kann bauchig aufgeblasen sein. Die Vorderseite des Blattscheidenendes kann in mehr oder weniger spitze, meist stängelumfassende „Öhrchen“ ausgezogen sein oder Büschel von Haaren tragen. Die Blattscheide geht am oberen Ende in die vom Halm abstehende Blattspreite über. Diese ist flach, gerollt oder gefaltet; stets länglich und mehr oder weniger spitz zulaufend. Sie zeigt die kennzeichnende Paralleladerung einkeimblättriger Pflanzen. Jede Blattader entspricht einem Leitbündel, der dem Stofftransport und der Aussteifung der Blattfläche dient.
Am plötzlichen Übergang von der Blattscheide zur Blattspreite sitzt bei den meisten Arten ein häutiges Anhängsel, das Blatthäutchen (Ligula). Es erscheint meistens als farbloser, durchscheinender Fortsatz der Oberhaut auf der Innenseite der Blattscheide und stellt eine Verlängerung der inneren Epidermis der Blattscheide dar. Es schützt vor Verletzungen durch Reibung des sich beim Wind hin und her bewegenden Halmgliedes sowie vor dem Eindringen von Schmutz und Parasiten in den Raum zwischen Halm und Scheide. Wegen seiner Gestaltungsvielfalt ist das Blatthäutchen für die Artbestimmung hilfreich. Es ist behaart oder unbehaart, kragenförmig, zugespitzt, langgezogen, sehr kurz oder sehr lang. Teilweise ist das Blatthäutchen durch eine Reihe von Haaren ersetzt, selten fehlt es ganz.
Blütenstände und Blüten
Die Blütenstände (Infloreszenzen) der Süßgräser bestehen aus einer Vielzahl von Teilblütenständen, seltener Einzelblüten, die in Ähren, Rispen und Trauben an einer Blütenstandsachse (Rhachis spicae) angeordnet sind. Die Teilblütenstände werden als Ährchen bezeichnet. Sie bestehen ihrerseits aus ein- bis mehreren, überwiegend zweigeschlechtigen Blüten. Sitzen die Ährchen ungestielt direkt an der Blütenstandsachse, handelt es sich um eine Ähre. Bei Fingergräsern befinden sich mehrere Ähren am Halmende in fingerartiger Anordnung. Sogenannte Kolben entstehen durch Abwandlungen von Ähren durch Vergrößerung des Achsengewebes. In Trauben befinden sich die Ährchen an unverzweigten Stielen. Die Ährchen können alle in die gleiche Richtung weisen (einseitswendig) oder sich in zwei Reihen an gegenüberliegenden Seiten der Achse befinden. Sind die Seitenäste einseits- oder allseitswendig verzweigt, handelt es sich um Rispen. In Ährenrispen oder Scheinähren sind die Seitenäste so kurz, dass die Blütenstände äußerlich wie Ähren erscheinen. Erst beim Umbiegen einer solchen Ährenrispe werden die tatsächlichen Verzweigungsmuster erkennbar.
Süßgräser zeichnen sich durch eine charakteristische Reduzierung der Blüten aus. Die Ährchen werden am Grunde von einer inneren und einer äußeren Hüllspelze (Gluma), die miteinander verwachsen sein können, eingefasst. Oberhalb davon stehen ein oder mehrere Blüten, jede mit einer Deck- sowie Vorspelze. Die Deckspelzen können als Tragblätter der Einzelblüten aufgefasst werden. Die Spelzen variieren in ihrer Form und Größe sehr. Die beiden Hüllspelzen können gleich oder verschieden gestaltet sein. Die Deckspelzen sind vielförmiger gestaltet. Sie können an den Enden spitz, stumpf oder verschiedenartig gezähnt sein. Auf dem Rücken sind sie gerundet, zusammengedrückt oder gekielt. Die Mittelrippe kann in einen Stachel oder eine Granne verlängert sein.
Die Blüten bestehen aus einer Vorspelze und zwei, selten drei, zuweilen an den Rändern verwachsenen Schwellkörperchen (Lodiculae), durch deren Anschwellen die Spelzen geöffnet werden. Es sind ferner meist drei Staubblätter (Stamina) vorhanden (selten sechs, zwei oder nur eines), von denen jedes einen Stiel (Filament) und einen den Pollen tragenden, zweiteiligen Staubbeutel (Anthere) aufweist. In jeder Blüte gibt es schließlich einen runden, aus zwei oder drei Fruchtblättern verwachsenen, oberständigen Fruchtknoten (Ovarium). Dieser verfügt an seiner Spitze über einen Stempel (Pistillum), der seinerseits auf kurzen Stielen ein, zwei oder selten drei fedrige Narbenäste (Stigmae) trägt. Der Fruchtknoten enthält die Samenanlage, die mit Fruchtknotenwänden zu einer Einheit, der Karyopse, verwächst.
Bei manchen Arten enthalten einige Blüten nur männliche Organe oder sind steril. Ferner sind etliche Arten verschiedenährig, das heißt, die Blüten mit nur weiblichen und nur männlichen Organen befinden sich getrennt in verschiedenen Blütenständen desselben Individuums (einhäusig), so beim Mais. Bei anderen Arten wie dem Pampasgras befinden sich die Geschlechter getrennt in den Blütenständen verschiedener Individuen einer Grasart. Sie sind zweihäusig.
Früchte und Samen
Die Frucht ist bei den meisten Grasarten eine trockene Karyopse, eine Sonderform der Nussfrucht. Seltener sind die Früchte Beeren oder Steinfrüchte mit saftigen oder fleischigen Fruchtwänden, so wie bei einigen Bambus-Arten. Während der Reifezeit verwächst die Fruchtwand (Perikarp) mit der Samenschale (Testa) zu einer einsamigen, trockenen Schließfrucht. Die „Samenkörner“ stellen also keine Samen, sondern vielmehr Früchte dar. Unterhalb der Fruchtwand und der Samenschale liegt die eiweißreiche Aleuronschicht. Darunter folgt das den restlichen Samen ausfüllende stärkereiche Nährgewebe, das Endosperm. Gräser sind einkeimblättrig (monokotyl); bei ihnen ist das eine Keimblatt (Kotyledon) zu einem Scutellum (Schildchen) und zu einer Keimscheide (Koleoptile) umgestaltet. Das Scutellum liegt zwischen dem Endosperm und dem Embryo und spielt eine wichtige Rolle für den Stofftransport und die Hormonsynthese. Der Embryo verfügt bereits über deutlich erkennbare Wurzel- und Sprossanlagen. Die Koleoptile ist ein zylinderförmiges Schutzorgan, welches das Primärblatt des auskeimenden Embryos umgibt. Da die Koleoptile ein umgewandeltes Keimblatt darstellt, ist es als Organ ein Blatt. Wie alle Blätter besitzt es zwei Epidermen (außen und innen), Stomata und Leitbündel. Die Stärke und die Proteine dienen dem Embryo als Starthilfe für die Keimung, bevor es sich durch Photosynthese selbst versorgen kann. Die ausgereiften Früchte der Gräser sind in ihrer Gestalt und ihrem Aufbau charakteristisch. Die ehemalige Bauchnaht des Fruchtknotens erscheint auf einer Flanke des Korns als tiefe Furche.
An verschiedenen Stellen des Fruchtstandes bilden sich Zonen eines speziellen Gewebes, entlang dessen ein glatter Bruch entsteht, sobald der Samen reif ist. Bei den meisten Gräsern erfolgt dieser Bruch in der Ährchenachse unterhalb der Deckspelze. Die Karyopse ist in diesen Fällen meistens in Deckspelzen und Vorspelzen fest eingeschlossen und stellt als Gesamtheit die Ausbreitungseinheit (Diaspore) dar. Bei einigen Arten erfolgt der Bruch unterhalb der untersten Deckspelze des Ährchens (z. B. Perlgräser), unter dem einzelnen Ährchen oder in einem Büschel von Ährchen (Gerste), selten in der Hauptachse des Fruchtstandes (Dünnschwanz). Gräser mit nackten Früchten sind in den tropischen Gattungen Sporobolus und Eragrostis häufig. Bei diesen steht das Korn frei und wird ausgestreut, nachdem sich ein Bruch am Grunde der sie haltenden Deckspelze entwickelt hat.
Chemische Merkmale
Die Samen sind reich an Stärke. Diese kann aus einzelnen Stärkekörnern (Roggen, Weizen, Gerste) bestehen oder aus zu mehreren zusammengesetzten (Hafer). Auch in den Rhizomen und anderen vegetativen Organen speichern die Gräser Stärke, Saccharose und/oder Fructane. Bei den Fructanen kommt neben dem unverzweigten „Inulin-Typ“ der verzweigte „Phlein-Typ“ vor. Das Fructanmuster ist wie der Polymerisationsgrad oft kennzeichnend für die Art. Die äußere Endospermschicht (Aleuronschicht) der Karyopsen ist reich an Reserveproteinen. Sie enthält vor allem Albumine, Globuline, Gluteline (nur in verdünnten Säuren und Laugen löslich) und Prolamine (in 70–80%igem Ethanol löslich). Letztere sind beim Roggen- oder Weizenmehl Voraussetzung für die Backfähigkeit.
Einige Triben der Panicoideae bilden ätherische Öle in schlauchförmigen, verkorkten Zellen. Cymbopogon nardus liefert das Aetheroleum Citronella, das hauptsächlich aus Citronellal und Geraniol besteht und bei der Herstellung von Melissengeist oft das echte Melissenöl ersetzt. Weitere Cymbopogon-Arten werden angebaut, da sie Parfümöle wie Palmarosaöl und Lemongrasöl liefern. Diese Öle bestehen überwiegend aus Mono- und Sesqui-Terpenen, während Phenylpropanoide selten sind. Alkaloide sind selten. Es gibt Protoalkaloide und vereinzelt Pyrrolizidin- und β-Carbolintyp-Alkaloide. Cyanogene Glykoside (blausäure-produzierende Verbindungen) sind weit verbreitet, kommen aber immer nur in geringen Mengen vor. Cumarine kommen wahrscheinlich bei allen Vertretern vor, aber nur beim Gewöhnlichen Ruchgras (Anthoxanthum odoratum) und beim Duftenden Mariengras (Hierochloe odorata) in größeren Mengen. Polyphenole sind in geringeren Mengen enthalten.
In den Blattepidermen wird wie bei den Sauergräsern (Cyperaceae) häufig Kieselsäure in Form von Kieselsäurekörpern eingelagert. Oxalatkristalle scheinen vollkommen zu fehlen.
Etliche dieser Inhaltsstoffe zeigen als Bitterstoffe eine fraßhemmende Wirkung oder wirken toxisch auf Bakterien oder Pilze.
Ökologie
Vegetatives Wachstum, Ausbreitung und Regeneration
Bei ausdauernden Arten erfolgt die vegetative Ausbreitung überwiegend über Stolonen und Rhizome, die sich an den Knoten bewurzeln. Etliche Arten bedienen sich zusätzlich der unechten Viviparie, bei der keine Samen gebildet, sondern Brutknospen (Bulbillen), die erbgleiche Tochterpflanzen hervorbringen. Ein bekanntes Beispiel ist das Alpen-Rispengras (Poa alpina). Bei diesem Gras entwickeln sich im Blütenstand anstelle von Blüten grüne Pflänzchen, die an der Mutterpflanze verbleiben oder zu Boden fallen und als Diasporen dienen. Beim Zwiebel-Rispengras (Poa bulbosa) bilden sich basale, zwiebelartige Brutknospen, in denen Reservestoffe eingelagert sind. Jede Brutknospe bildet die Grundlage für eine neue Pflanze.
Gräser sind zur raschen Regeneration nach Verbiss oder Mahd befähigt. Dies liegt in der geschützten Lage ihrer Blattwachstumszonen (Meristeme) und Nebentriebknospen begründet. Die Wachstumszonen befinden sich an der Basis der Graspflanzen nahe der Erdoberfläche. Die Triebe bestehen aus unterschiedlich alten und gegenständig angeordneten Blättern. Junge Blätter wachsen an der Basis der Blattscheide (Interkalarmeristem). Ein erneutes Wachstum der Blätter nach Verlust durch Mahd oder Beweidung wird dadurch ermöglicht. Auch die einzelnen Blätter verfügen wie die Halme am oberen Ende der Blattscheiden im Übergang zu den Blattspreiten über teilungsfähiges Gewebe, das Nebentriebe bilden kann. Ferner sind die Halme durch das unterschiedliche Wachstum der teilungsfähigen Zonen oberhalb der Knoten zu einem Wiederaufrichten des Stängels nach Regen oder Tritt befähigt.
Die beschriebenen Wachstumsbereiche sind in verschiedene Zonen unterteilt: An der Basis findet die Zellteilung und damit eine Zellproduktion statt. Darauf folgt ein Bereich der Zellstreckung. In der folgenden Zone der Zelldifferenzierung erfolgt die Ausbildung der Blattzellen. Die Zellproduktion und Zellstreckung verschieben das ausdifferenzierte Blatt nach oben. Sobald das Blatt aus der Blattscheide ans Licht tritt, ist es photosynthetisch aktiv.
Generative Vermehrung und Ausbreitung
Alle Süßgräser sind windblütig (anemogam). Die Blüten öffnen sich nur wenige Stunden am Tag, um Staubblätter und Narben dem Wind auszusetzen. Eine Selbstbestäubung wird durch die meist frühere Reife der Staubblätter verhindert (Proterandrie). Die starke Reduzierung der Blüten ist eine Anpassung an diese Form der Bestäubung. Gräser können auf auffällige Formen und Farben der Blüten und auf ein Nektarangebot zur Anlockung von Tieren verzichten. Die passive Pollenübertragung über den Wind und Luftströmungen erfolgt dabei weit weniger gezielt als bei der Tierbestäubung. Diesen Mangel gleichen die Windblüher mit der Massenproduktion von Blütenstaub aus. Dies führt während der Blütezeit zu regelrechten Staubwolken, die garantieren, dass zumindest ein kleiner Teil des weniger als einen Tag lebensfähigen Pollens seinen Bestimmungsort, die weiblichen Narben, erreicht. Beispielsweise bildet der Roggen (Secale cereale) pro Ähre etwa vier Millionen Pollenkörner; eine einzelne Blüte bis zu 57.000. Eine große Blütenhülle wäre bei der Pollenverbreitung nur hinderlich. Die Lodiculae schwellen durch Wasseraufnahme an und drängen die Spelzen auseinander – die „Grasblüte“ öffnet sich. Die Filamente sind lang und dünn und lassen die Staubbeutel frei aus der Blüte heraushängen. So kann der Wind ungehindert den trockenen, nicht verklebten und leichten Pollen heraustragen. Die Fruchtknoten haben gefiederte und dadurch mit großer Oberfläche versehene Narben, die den Pollen gewissermaßen wieder aus Luft herauskämmen können. Die Effizienz dieser Form der Pollenverbreitung wird durch das Herausheben der Blütenstände über die Ebene des Blattwerkes sowie durch eine hohe Individuendichte der Graspflanzen verstärkt. Eine Sonderform der geschlechtlichen Ausbreitung ist die echte Viviparie, bei der die Samen schon auf der Mutterpflanze auskeimen. Die Samenausbreitung erfolgt auf vielfältige Weise; überwiegend durch den Wind (Anemochorie), über das Wasser (Hydrochorie) oder durch Tiere (Zoochorie).
Mykorrhiza
Das Wurzelsystem der Wiesengräser bildet arbuskuläre Mykorrhiza (AM), eine Symbiose mit einem Pilz. Diese erleichtert der Graspflanze die Erschließung und Aufnahme von Nährstoffen aus dem Boden. Ein Pilzmycel verbindet mehrere Pflanzen derselben Art und andere Pflanzenarten, wodurch nicht nur das Gras selbst und der Pilz, sondern schließlich Wiese und Pilz eine Lebensgemeinschaft bilden.
Photosynthese
Unter den Gräsern gibt es sowohl C3- (die meisten heimischen Gräser wie Deutsches Weidelgras) als auch C4-Pflanzen (z. B. Mais, Hirse und Zuckerrohr), letztere mit effizienterer Photosynthese bei hohem Wärme- und Lichtangebot. C3-Pflanzen weisen dagegen bei kühleren Temperaturen und weniger Licht eine effizientere Photosynthese auf. Die Forschung hat gezeigt, dass der C4-Mechanismus zuerst bei den Gramineen, wahrscheinlich im Oligozän vor etwa 23 bis 34 Millionen Jahren entwickelt wurde, wobei es Hinweise auf über zehn unabhängige Entwicklungen gibt. Bei der geographischen Verbreitung ergibt sich eine auffällige klimatische Abhängigkeit der Photosynthesetypen. So ist der Anteil der C4-Pflanzen unter den Gräsern in kühlen und humiden Klimaten deutlich niedriger als in trockenen bis extrem ariden Regionen der Erde.
Synökologie, Biotope und Bedeutung
Natürliche und anthropogene Grasländer
Etwa ein Fünftel der Pflanzendecke der Erde wird von Gräsern eingenommen. Savannen und Steppen bilden die großen, natürlichen Grasländer der Erde in Klimazonen, die für Wald nicht geeignet sind. Dem gegenüber stehen die durch menschliche Tätigkeit entstandenen Kulturgrasländer vor allem Mitteleuropas, die in einem langen nacheiszeitlichen Prozess vom Wald zur offenen, durch Wiesen und Weiden geprägten Landschaft entstanden.
Die dauerhaften, mehr oder weniger geschlossenen Grasbestände erfüllen vielfältige ökologische und biologische Aufgaben. Sie verhindern vor allem durch ihr dichtes und eng vernetztes Wurzelsystem die Abtragung der Bodenschicht durch Wind und Wasser (Erosion). Ferner erzeugen sie durch ihr Wurzelwerk einen hohen Gehalt an organischer Substanz im Boden. Etwa zwei Drittel der pflanzlichen Primärproduktion bleiben in Grasländern unterirdisch zurück und führen so zur Humusbildung. Dazu trägt das jährlich absterbende oberirdische Pflanzenmaterial zusätzlich bei, das als Mulch zurückbleibt und nur langsam zersetzt wird. In vielen Grasländern spielen natürliche Feuer eine Rolle. Blitze entzünden am Ende der Vegetationszeit die abgestorbene Pflanzenmasse. Die in der Asche enthaltenen anorganischen Nährstoffe fördern als Dünger den Neuaustrieb der Pflanzen. Darüber hinaus wird der Gehölzaufwuchs zerstört, die Brände tragen so zur Offenhaltung der Graslandschaft bei. Grasländer beherbergen und ernähren eine artenreiche und vielfältige Tierwelt: eine Vielzahl von Insekten (Termiten und Ameisen), Spinnen, Vögel, Kleinsäuger und zahlreiche im Boden lebende Tiere, nicht zuletzt Großsäuger wie jene der großen Tierherden in den afrikanischen Savannen. Letztere tragen wie die regelmäßigen Feuer dazu bei, die Verjüngung der Gehölze zu hemmen. Ihre Exkremente düngen den Boden. Durch den Fraß wird die Regeneration der Gräser so angeregt, dass die Primärproduktion um mehr als zwei Drittel zunimmt. Ferner sind sie für die Verbreitung der Früchte und Samen durch Epi-, Endo- oder Dysochorie von Bedeutung. Naturnahe Grasländer gehen heute weltweit zurück. Die Ursachen liegen in der Umwandlung in Acker- und Siedlungsland, der Aufgabe traditioneller Wiesen- oder Weidenutzungen sowie in der Intensivierung (Düngung) und Degradierung (Überweidung).
Steppen und Prärien
Die baumfreien Steppen finden sich in den semiariden, gemäßigten Zonen vorwiegend auf der Nordhalbkugel. Auf der Südhalbkugel ist die argentinische Pampa eine zu den eurasischen Steppen und den nordamerikanischen Prärien analoge Vegetationsform. Es wird kontrovers diskutiert, ob sie auf natürliche Weise entstanden ist. Steppen unterliegen durch strenge Kälte im Winter und anhaltende Trockenheit im Sommer im Jahresverlauf zwei Perioden der Vegetationsruhe. Die im Frühjahr, Frühsommer und Spätherbst anfallenden Niederschläge reichen für das Wachstum der Steppenvegetation aus. Kennzeichnend für Steppen ist ihre hohe bodenbiologische Aktivität bei einem hohen Humusanteil (bis zu 10 %). Es können sich fruchtbare Schwarzerdeböden mit Humushorizonten bis zu einem Meter Mächtigkeit bilden. Die osteuropäischen Steppen lassen sich grob in etwa vier Vegetationstypen gliedern, die der zunehmenden Kontinentalität in Richtung Südost folgen. In Russland und der Ukraine finden sich Wiesensteppen mit Aufrechter Trespe (Bromus erectus), Flaumigem Wiesenhafer (Avenula pubescens), Schillergräsern (Koeleria) und vielen anderen Grasarten. Sie sind reich an einjährigen, und nicht grasartigen ausdauernde krautige Pflanzen. Darauf folgt die durch Pfriemengräser der Gattung Stipa dominierte Federgrassteppe mit schmalblättrigen „Horstgräsern“ und weniger Stauden, und schließlich die Kurzgrassteppe mit xerophytischen Festuca-Arten. Westliche Vorposten der osteuropäischen Steppen finden sich beispielsweise in der Pannonischen Tiefebene Ungarns. Im gemäßigten Nordamerika entspricht den Steppen die flächenmäßig deutlich kleinere Prärie zwischen Mississippi und den Rocky Mountains. Sie ist im Gegensatz zu den osteuropäischen Steppen weniger kontinental geprägt. Sie erreicht in West-Ost-Ausdehnung 1000 Kilometer, in Nord-Süd-Ausdehnung 2750 Kilometer. Im Osten findet sich die Hochgras-Prärie mit Wiesen-Rispengras (Poa pratensis), dem Pyramiden-Schillergras (Koeleria pyramidata), Prärie-Bartgras (Andropogon scoparius), Rutenhirse (Panicum virgatum) und vielen krautigen Pflanzen. Im Südteil folgt Richtung Westen die Mischgras-Prärie im Übergang zur am Fuße der Rocky-Mountains befindlichen Kurzgras-Prärie mit dem Moskitogras (Bouteloua gracilis) und Buchloe dactyloides. Die Bedeutung geschlossener Grasdecken als Schutz vor Erosion zeigen die verheerenden Sandstürme der 1930er Jahre in der danach benannten „Dust Bowl“ Nordamerikas durch großflächige Bodenzerstörungen im Zuge der Umwandlung in Ackerland. Noch im 17. und 18. Jahrhundert zogen Büffelherden mit einer geschätzten Bestandsgröße von 50 bis 70 Millionen Tieren über die Prärien. Heute sind es über 100 Millionen Hausrinder.
Savannen
Die Savannen umfassen etwa 15 Millionen Quadratkilometer. In den wechselfeuchten Sommerregengebieten der Tropen der Südhalbkugel erreichen sie ihre größte Ausdehnung in Afrika. Analoge Formationen der Savannen sind die Llanos Venezuelas und Kolumbiens, die Cerrados Brasiliens sowie die Eukalyptus-Steppen Nordaustraliens. Savannen sind im Gegensatz zu den Steppen und Prärien mit Bäumen und Sträuchern durchsetzt. Die Savannen Afrikas würden ohne Feuer und den Einfluss der großen Elefanten- und Huftierherden in kurzer Zeit mit Gehölzen zuwachsen. In den Savannen findet sich häufig ein kleinräumiges Oberflächenrelief aus flachen Hügeln und Senken mit Höhenunterschieden unter einem Meter. Dadurch unterscheiden sich die Standorte vor allem hinsichtlich der Wasserverfügbarkeit. Die unterschiedliche Wasserverfügbarkeit bestimmt schließlich die Nährstoffverfügbarkeit und die Vegetation. In Savannen spielen neben den Großtieren Termiten, Ameisen und Heuschrecken eine maßgebliche Rolle als Regulative im Ökosystem. Der Artenreichtum der Pflanzen der Savannen ist vergleichsweise gering. Die Hauptkomponenten sind C4-Gräser wie die Lampenputzergräser (Pennisetum) und Andropogon-Arten in Afrika. In Australien sind die Savannen, das sogenannte Spinifex- oder Hummock-Grasland, durch Igelkopfgräser der Gattungen Triodia und Plectrachne gekennzeichnet. Dagegen ist der Artenreichtum der Tiere ausgesprochen groß. So leben etwa 1,5 Millionen Großtiere in den Savannen der Erde, allein in der Serengeti Ostafrikas sind es 98 große Weidetiere pro Quadratkilometer. Die Zoomasse wird auf 150 bis 250 Kilogramm Trockenmasse pro Hektar geschätzt – jene der Wälder der gemäßigten Zone wird mit nur 10 Kilogramm Trockenmasse pro Hektar angegeben.
Kulturgrasland
In der Naturlandschaft Europas ist natürliches Grasland auf wenige Bereiche beschränkt. Nur in hohen Berglagen oberhalb der Waldgrenze, in Seemarschen, in oft überschwemmten Auenbereichen und im Randbereich von Hochmooren konnten sich kleinräumig natürliche, weitgehend baumfreie Grasländer, sogenannte Urwiesen, entwickeln. Sie sind heute stark vom Menschen überprägt. Kulturgrasland dient dem Menschen wirtschaftlich als Grundlage der Viehzucht. Die durch Gräser dominierten Wiesen- und Weidelandschaften des gemäßigten Europa sind im Wesentlichen das Ergebnis jahrhundertelangen menschlichen Wirkens. Noch vor etwa 10.000 Jahren war Mitteleuropa nahezu reines Waldland. Die Entwicklung bäuerlicher Kulturen, die sich vom Nahen Osten ausgehend vor etwa 6700 bis 6400 Jahren (Neolithikum) nach Mitteleuropa ausbreiteten, ermöglichte das Sesshaftwerden der Menschen und führte zu immer stärkeren Eingriffen in die natürliche Pflanzendecke. Es gab Siedlungen, erste Äcker und Nutztiere, die ihre erste Nahrung im Wald suchten. Der Fraß der Tiere, Brand und Holzeinschlag führten im Laufe längerer Zeit zu Auflichtungen in den Wäldern. Mit Beginn der Eisenzeit wurde die Landnutzung verstärkt, und mit Erfindung der Sense wurde die Gewinnung von Heu und Streu möglich. Auf diese Weise entstanden erste größere Wiesenareale. Im Mittelalter vollendete sich die Landschaftsentwicklung in einer offenen und differenzierten Kulturlandschaft aus Siedlungen, Waldresten, Feldgehölzen, Gebüschen, Äckern sowie artenreichen Wiesen und Weiden. Die typische Landschaft wird in der Literatur vielfach als „Parklandschaft“ oder „europäische Savanne“ beschrieben. Im Zuge der Agrarentwicklung in der Neuzeit wird die Landwirtschaft durch die Technisierung, Flurbereinigungen, Melioration sowie gezielte Ansaat ausgewählter Grasarten immer unabhängiger von natürlichen Gegebenheiten. Die artenreichen, extensiven Wiesen und Weiden wurden weitgehend von artenarmen, monotonen Wirtschaftswiesen und -weiden abgelöst. Zu den wichtigsten angebauten Futtergräsern des Dauergrünlandes gehören heute das Deutsche Weidelgras (Lolium perenne), das Wiesen-Lieschgras (Phleum pratense), das Gewöhnliche Knäuelgras (Dactylis glomerata) sowie Wiesen- und Rohr-Schwingel (Festuca pratensis, Festuca arundinacea).
Küsten- und Hochwasserschutz
Etliche Gräser verhindern durch ihr dünnes Netzwerk aus Wurzeln und die Bedeckung des Bodens mit ihren oberirdischen Pflanzenteilen nicht nur dessen Abtragung durch Wind und Wasser, sondern sorgen zusätzlich für dessen Aufhöhung. Dafür sind besonders solche Arten geeignet, die unter vergleichsweise ungünstigen Standortbedingungen weitreichende Rhizome und Stolonen bilden können. So ist beispielsweise der Gewöhnliche Strandhafer (Ammophila arenaria) maßgeblich an der Festlegung der Treibsande sowie am Aufbau der Weißdünen auf den Inseln und an den Festlandsküsten beteiligt und erfüllt so eine wichtige Funktion im Küstenschutz. Auf regelmäßig überfluteten Schlickflächen der Küsten ist es der Strand-Salzschwaden (Puccinellia maritima), der mit seinen sich bewurzelnden Stolonen allmählich die kurzen dichten Rasen der Salzwiesen bildet und mit seinen kurzen steifen Halmen und Blättern den Schlamm gewissermaßen einfängt und die Oberfläche der Marsch langsam aufhöht. Dort, wo andere Süßgräser nicht mehr gedeihen können, übernimmt das Salz-Schlickgras (Spartina anglica) an ähnlichen Standorten die Funktion der Festlegung und Aufhöhung von Schlick der seewärtigen Seiten im Wattenmeer und entlang der Priele. Die Deiche der Küsten und Ströme werden schließlich mit einer Pflanzendecke ausgestattet, die von bodenhaltenden Süßgräsern dominiert wird.
In den Ebenen entlang der Flussufer des Binnenlands schützen Gräser den Boden vor Erosion und erfüllen eine ebenso wichtige Aufgabe im Hochwasserschutz. Beispielsweise bilden das Rohr-Glanzgras (Phalaris arundinacea) und der Wasser-Schwaden (Glyceria maxima) auf Schlammflächen und an Ufern dichte und hohe Aufwüchse mit kräftigen Rhizomen. Flussauen stellen nicht nur Retentionsflächen für Hochwässer dar, sondern sind aufgrund der Großgräser eine Senke („Falle“) für Sedimente, Nähr- und Schadstoffe.
Nutzung und Bedeutung für den Menschen
Die Familie der Süßgräser bietet ein breites Spektrum an Nutzungsmöglichkeiten. Demgegenüber stehen jedoch nur relativ wenige Gattungen, die schließlich als Nutzpflanzen für den Menschen von Bedeutung sind. So werden lediglich 6 bis 7 Prozent der 600 bis 700 Gattungen als Nahrung oder als Werk- und Baustoffe verwendet. Nur etwa 15 Gattungen, das sind knapp 2 Prozent (ohne Berücksichtigung der Bambus-Gattungen), spielen dabei eine größere Rolle.
Getreide
Von großer weltwirtschaftlicher Bedeutung sind die Getreide. Grasfrüchte, beziehungsweise Getreidekörner, dienen dem Menschen als Grundnahrungsmittel. Sie liefern über 50 % der Welternährungsenergie. Weizen (Triticum-Arten), Mais (Zea mays) und Reis (Oryza sativa) nehmen dabei eine führende Rolle ein. Gerste, Roggen, Hirsen und Hafer decken etwa ein Zehntel ab. Weizen, Gerste und Roggen haben ihren Ursprung im sogenannten Fruchtbaren Halbmond, der sich von Ägypten über Palästina bis zum Persischen Golf erstreckt. Hier wurden die Wildformen in Kultur genommen, die über verschiedene Auslese- und Kreuzungsprozesse zu den heutigen Kulturformen entwickelt wurden. Reis hat seinen Ursprung in China oder Indien; Mais stammt aus Mexiko. Unter Hirsen werden Gräser verschiedener Gattungen mit kleinfrüchtigen Körnern zusammengefasst, wie Digitaria, Echinochloa, Eragrostis, Panicum, Setaria, Sorghum.
Sonstige Nutzungen
Neben den Grasfrüchten werden die Stängel, die Blätter und Wurzeln genutzt. Süßgräser sind eine wichtige Rohstoffquelle zur Gewinnung von Stärke, Zellulose, Zucker sowie Fetten und ätherischen Ölen. Sie können als Werk-, Bau- und Füllstoffe verwendet werden. Vor allem werden die verholzten Halme verschiedener Bambus-Arten in tropischen und subtropischen Gebieten Asiens zur Herstellung von Möbeln, Ess- und Trinkgefäßen oder Zäunen verwendet und nicht zuletzt im Haus- und Gerüstbau eingesetzt. In Nordwesteuropa wird das hier im Überfluss wachsende Schilf zu Eindeckung von Häusern verwendet.
Die Eismumie Ötzi soll einen Mantel aus Süßgräsern getragen haben.
Bambussprosse werden als Gemüse gegessen.
Zitronengräser (Cympopogon) werden als Gewürz- und Heilpflanzen verwendet. Ferner dienen Gräser zur Herstellung von alkoholischen Getränken wie Bier, Rum oder Korn. Als nachwachsende Rohstoffe gewinnen Süßgräser, vor allem Bambus und Zuckerrohr, zunehmende Bedeutung zur Herstellung von Bioalkohol als Treibstoff.
Schließlich sei noch die Verwendung zahlreicher Süßgrasarten mit auffälligen Blütenständen, wie beispielsweise das Pampasgras, als Ziergräser im Garten- und Landschaftsbau genannt.
Die landwirtschaftliche Nutzung umfasst neben dem Getreideanbau die Nutzung zahlreicher Grasarten als Futterpflanzen für Rinder, Schafe oder Pferde in Form von Kulturgrasland wie Wiesen (Mahd zur Heugewinnung, Streunutzung, Silage) oder Weiden. Darüber hinaus werden geeignete Gräser für Rasen in privaten Gärten, in Parks, auf Golf- oder Sportplätzen eingesetzt, mit der Nutzungsart und -intensität angepassten Sortenmischungen.
Gesundheit
Bei empfindlichen Menschen können Pollen von Süßgräsern die Bildung von Antikörpern Immunglobulin E (IgE) auslösen, was als Heuschnupfen bekannt ist. Sogenannte wasserlösliche I-Glykoproteine haften an der Pollenoberfläche, werden leicht an die Schleimhäute abgegeben und können allergische Reaktionen erzeugen. Ferner können in der Aleuronschicht der Getreidekörner enthaltene Prolamine durch eine immunologische Überempfindlichkeitsreaktion die als Zöliakie bezeichnete Krankheit auslösen.
Vorkommen
Süßgräser sind weltweit verbreitet. Sie kommen von den Meeresküsten bis ins Hochgebirge, vom Äquator bis jenseits der Polarkreise in nahezu allen terrestrischen Ökosystemen vor und besiedeln dabei Standorte von großer ökologischer Bandbreite. Sie wachsen sowohl auf dauernassen bis extrem trockenen Böden als auch in sehr heißen bis arktisch kalten Klimaten.
Man findet Süßgräser flutend in Gewässern, bestandsbildend als Röhrichte, als Unterwuchs in Wäldern, auf wechselfeuchten wie auch trockenen Böden, an Straßenrändern, an Böschungen, auf Felsen – selbst Schotterflächen und Mauerkronen werden besiedelt. Die Familie der Süßgräser deckt nahezu alle denkbaren Standorttypen ab, wobei die einzelnen Arten und Populationen im Rahmen des Wettbewerbs um die Ressourcen (Konkurrenz) ihre jeweils eigenen Vorzugs- oder Existenzbereiche besiedeln. Etliche Pflanzenformationen außerhalb der Wälder werden im Wesentlichen durch Gräser aufgebaut. Die nordamerikanische Prärie, die Steppen Osteuropas, die Savannen Afrikas und die Pampa Südamerikas, aber auch die Wirtschaftswiesen und -weiden Europas sind die landschaftsprägenden natürlichen sowie unter menschlichen Einfluss entstandenen Grasländer der Erde, in denen Bäume und Sträucher zurücktreten oder ganz fehlen.
Stammesgeschichte
In der Erdneuzeit (Känozoikum) entstanden die modernen Familien der Blütenpflanzen, so auch die Gräser. Sie waren zunächst auf bewaldete und sumpfige Gebiete beschränkt. Mit der Entwicklung des kontinuierlichen Wachstumsprozesses und der Windbestäubung wurden ab dem Oligozän die offenen Länder erobert. Steppen und Grasländer breiteten sich vor allem im Miozän aus. Man nimmt an, dass die Evolution der Süßgräser mit jener der großen Weidetiere (Wiederkäuer, Pferde, Kamele etc.) parallel ging.
Erkenntnisse indischer Wissenschaftler aus dem Jahr 2005 gehen einem Bericht der Zeitschrift Science zufolge davon aus, dass sich Gräser bereits in der Kreidezeit, dem letzten Abschnitt des Erdmittelalters (Mesozoikum), entwickelt haben. Diese Annahme geht auf Funde von Pflanzenbestandteilen zurück, die im fossilen Dung (Koprolith) von Dinosauriern gefunden wurden und auf reis- und bambusähnliche Gräser deuten.
Süßgräser gehören zu den im Verlauf der Evolution sekundär entstandenen windblütigen Angiospermen. Spuren von Pollenkitt in Gräsern weisen darauf hin, dass die Vorgänger biotisch durch Vögel und Insekten bestäubt wurden. Pollenkitt verklebt die Pollenkörner zu größeren Übertragungseinheiten, was bei der Windbestäubung, die schwebfähige und leichte Pollen verlangt, störend wäre.
Im Zuge des Übergangs zur Windblütigkeit wurden die Blüten reduziert. Entwicklungsgenetische Befunde deuten darauf hin, dass die Vorspelzen ein Verwachsungsprodukt zweier Blütenhüllblätter von ursprünglich drei und die Schwellkörperchen aus inneren Tepalen hervorgegangen sind. Die Gräserblüte lässt sich somit vom Grundtypus der dreizähligen Blüten einkeimblättriger Pflanzen ableiten mit zwei Kreisen à drei Blütenhüllblättern, zwei Kreisen à drei Staubblättern sowie drei Fruchtblättern. Der dreifächrige Fruchtknoten der Süßgräser wurde einfächrig und enthält nur noch eine Samenanlage. Vom äußeren und inneren Staubblattkreis blieb nur der äußere Ring erhalten. Vom inneren Hüllblattkreis blieben nur die zwei als Schwellkörperchen dienenden Schuppen, die dritte Tepale fiel aus. Nur bei einigen tropischen Arten sind noch drei Lodiculae vorhanden. Der äußere Hüllblattkreis besteht nur noch aus der Vorspelze, die aus zwei getrennten Blütenhüllblättern entstanden ist. Bei wenigen tropischen Gräsern sind zwei getrennte Vorspelzen erhalten. Die dritte Tepale fiel wiederum aus.
Etwa 80 % der Grasarten haben mehr als einen Chromosomensatz im Zellkern. Hybride, zum Teil auch fruchtbare, sind bei Süßgräsern selbst zwischen Gattungen nicht selten. Viele der heutigen Gräser waren in der Naturlandschaft vermutlich nicht in der jetzigen Form vorhanden. Es wird angenommen, dass viele Graslandarten ihren Ursprung in diploiden Sippen haben, die während der Eiszeiten in südlichen Rückzugsgebieten überdauerten. In einem langen Prozess der Rückwanderung, der Anpassung an veränderte Standortbedingungen und verschärfter Konkurrenz sowie durch die vom Menschen seit dem Neolithikum neu geschaffenen Lebensräume konnten durch Kreuzungen diploider Elternarten tetra-, bis polyploide Sippen (Allopolyploidie) entstehen. So sind zum Beispiel Anthoxanthum odoratum, Agrostis stolonifera, Dactylis glomerata und Poa pratensis Hybride alter diploider Sippen.
Systematik
Die Typusgattung der Familie der Poaceae ist Poa. Der Gattungsname Poa ist vom griechischen Wort póa abgeleitet und bedeutet Kraut, Gras, Pflanze. Die veraltete Bezeichnung für die Familie lautet Gramineae. Nach dem Internationalen Code der Botanischen Nomenklatur Artikel 14 ist die weitere Verwendung des alten Begriffes als Ausnahme von den strengen Regeln erlaubt und damit legitim: Poaceae = Gramineae Jussieu nom. cons. (nomina conservanda) et nom. alt. (nomen alternativum).
Süßgräser sind Bedecktsamer (Magnoliopsida). Im Gegensatz zu den Nacktsamern (Gymnospermae) ist bei ihnen die Samenanlage im Fruchtknoten eingeschlossen. Die Familie der Süßgräser gehört innerhalb der Einkeimblättrigen Pflanzen (Monokotyledonen) zur Ordnung der Süßgrasartigen (Poales). Die Familie umfasst etwa 10.000 Arten mit je nach verwendeter Systematik 600 bis 700 Gattungen. Die Poaceae sind in 13 Unterfamilien von ungleicher Größe unterteilt, die noch weiter in insgesamt 46 Tribus gegliedert sind. Die Unterfamilien können vom phylogenetischen Standpunkt aus zu zwei Hauptgruppen, „BEP-clade“ und „PACC-clade“ zusammengefasst werden.
Übersicht über die Systematik der Poaceae mit einer Auswahl an Gattungen und Arten
Quellen
Die allgemeinen Informationen dieses Artikels entstammen den unter Literatur und Weblinks aufgeführten Referenzen (Morphologie, Standorte, Verbreitung etc.). Darüber hinaus sind einzelne Aspekte, Spezialthemen, Zahlen usw. den aufgeführten Einzelpublikationen entnommen.
Literatur
Weblinks
R. J. Soreng, G. Davidse, P. M. Peterson, F. O. Zuloaga, E. J. Judziewicz, T. S. Filgueiras, O. Morrone, K. Romaschenko: A World-wide Phylogenetic Classification of Poaceae (Gramineae). Die erste Veröffentlichung erfolgte am 13. Januar 2000 als Classification of New World Grasses (Poaceae/Gramineae). Die Daten werden fortlaufend aktualisiert, zuletzt am 5. April 2014.
Die Familie der Poaceae bei der APWebsite. (Abschnitt Systematik)
Gramineae Juss. bei L. Watson und M. J. Dallwitz: The Families of Flowering Plants, Beschreibung im DELTA-Format. (Abschnitt Beschreibung)
Einzelnachweise |
5135 | https://de.wikipedia.org/wiki/Titus | Titus | Titus (* 30. Dezember 39 in Rom; † 13. September 81 in Aquae Cutiliae, Latium) war als Nachfolger seines Vaters Vespasian der zweite römische Kaiser der flavischen Dynastie. Er regierte vom 24. Juni 79 bis zu seinem Tod. Sein vollständiger Geburtsname war – wie der seines Vaters – Titus Flavius Vespasianus; als Kaiser führte er den Namen Imperator Titus Caesar divi Vespasiani filius Vespasianus Augustus.
Nach dem Herrschaftsantritt seines Vaters im Jahr 69 beendete Titus als militärischer Oberbefehlshaber den Jüdischen Krieg, wobei Jerusalem und sein Tempel zerstört wurden. Für seinen Sieg wurde er in Rom mit einem Triumphzug sowie dem Titusbogen an der Via Sacra und einem zweiten Bogen am Circus Maximus geehrt. Aus der Kriegsbeute finanzierten die Flavier ihre Bautätigkeit in Rom, Titus selbst ließ das Kolosseum vollenden.
Während seiner wenig mehr als zweijährigen Regierungszeit setzte er die Politik seines Vaters Vespasian fort. Von der antiken Geschichtsschreibung wurde Titus als idealer Herrscher gerühmt. Neben dem ausgesprochen guten Verhältnis zwischen Senat und Kaiser, durch das er sich diametral von seinem jüngeren Bruder und Nachfolger Domitian unterschied, waren für dieses günstige Bild auch die Wohltaten des Titus ausschlaggebend. Nachdem im Jahr 79 der Vesuv ausgebrochen war, leitete er die Hilfsmaßnahmen ein, ebenso im darauf folgenden Jahr nach einem Brand in der Stadt Rom. Die moderne Forschung diskutiert insbesondere seine Rolle bei der Zerstörung des Jerusalemer Tempels.
Leben bis zum Herrschaftsantritt
Herkunft und Jugend
Titus wurde am 30. Dezember 39 in Rom als ältester Sohn des Vespasian und der Flavia Domitilla geboren. Er hatte eine Schwester, die ebenfalls Flavia Domitilla hieß, und einen jüngeren Bruder, Domitian, der ihm 81 im Amt des Kaisers folgte.
Die Familie seines Vaters stammte aus dem Sabinerland und war zunächst wenig bedeutend. Dies änderte sich unter Kaiser Claudius, der neben Freigelassenen auch den Ritterstand begünstigte, dem Vespasians Familie angehörte. Unter ihm durchlief Vespasian in schneller Folge die Ämter des Cursus honorum und legte so den Grundstein für den Aufstieg der Flavier zur Kaiserdynastie. Kaiser Claudius zeichnete Vespasian für seine Leistungen als Kommandant der Legio II Augusta mit den Triumphalinsignien (ornamenta triumphalia) aus. Titus Flavius Sabinus, sein älterer Bruder, erreichte 61 das Amt des Stadtpräfekten von Rom. Vespasia Polla, die Großmutter des Titus, drängte ihre Söhne Sabinus und Vespasian, die senatorische Ämterlaufbahn einzuschlagen.
Titus wuchs zunächst in bescheidenen Verhältnissen auf. Der Aufstieg seines Vaters ermöglichte ihm jedoch eine Erziehung am Hof des Kaisers Claudius. Dort wurde er gemeinsam mit Britannicus, dem Sohn des Kaisers, unterrichtet. Ihr gemeinsamer Lehrer war Sosibius, der jedoch 51 wegen angeblicher Beteiligung an einer Verschwörung hingerichtet wurde. Mit Britannicus war Titus freundschaftlich verbunden, bis der Kaisersohn 55 überraschend auf einem Gelage verstarb. Möglicherweise hatte der neue Kaiser Nero die Vergiftung des potenziellen Thronrivalen veranlasst. Titus selbst schadete der Tod des Britannicus keineswegs. Die soziale Herkunft seines Vaters ließ ihn nicht als möglichen Thronrivalen erscheinen. Für seinen Jugendfreund Britannicus ließ Titus später zwei Statuen errichten. Eine davon bestand aus Gold und war im Kaiserpalast aufgestellt. Die Erziehung am kaiserlichen Hof brachte Titus eine sehr gute Ausbildung ein. Durch die hohe Stellung seines Vaters, der 51 ein Suffektkonsulat bekleidet hatte, konnte er auf eine glänzende politische Laufbahn hoffen.
Aufstieg unter Nero
Nach ersten Tätigkeiten in untergeordneten Ämtern, von denen nichts Genaues bekannt ist, diente Titus ab 61 als Militärtribun in Obergermanien und Britannien. In diesen Provinzen hatte sein Vater zwanzig Jahre zuvor als Legat römische Truppen kommandiert. Titus wurde dort laut Sueton durch zahlreiche Statuen geehrt. In Germanien teilte er ein Quartier mit dem älteren Plinius. In Britannien soll Titus seinem Vater einmal das Leben gerettet haben, wie Cassius Dio berichtet. Diese Nachricht könnte jedoch auf die bei späteren Autoren hervortretende Tendenz zur Idealisierung des Titus zurückgehen.
Titus kehrte 64 aus Britannien nach Rom zurück. Dort arbeitete er als Anwalt und übernahm die üblichen Ämter eines jungen Senators. Noch in diesem Jahr, in das auch der Brand Roms fiel, der in der Christenverfolgung unter Nero den frühen hauptstädtischen Christen angelastet wurde, heiratete er Arrecina Tertulla. Über die Herkunft und die Familie seiner ersten Gattin ist nur wenig bekannt. Ihr Vater Marcus Arrecinus Clemens war Prätorianerpräfekt unter Caligula. Sie starb bereits wenige Monate nach der Hochzeit, vielleicht nach der Geburt der Tochter Iulia. Iulia kann jedoch auch die Tochter der zweiten Ehefrau des Titus gewesen sein, der Marcia Furnilla, die aus der reichen Familie eines früheren Prokonsuls von Africa stammte. Marcia war die Nichte des Quintus Marcius Barea Soranus, der als Mitglied der senatorischen Opposition gegen Nero in den Tod getrieben wurde. Möglicherweise fürchtete Titus aufgrund dieser Verwandtschaft um sein eigenes Leben oder zumindest um seine Karriere. Die Ehe wurde bald darauf geschieden. Wahrscheinlich 63 oder 64 bekleidete Titus die Quästur.
Der Jüdische Krieg
In der römischen Provinz Judäa führten verschiedene Faktoren im Jahr 66 zu einem Aufstand der dort ansässigen Juden: Die Steuern waren erdrückend, und die römischen Statthalter nutzten ihre Amtsgewalt aus, um die Provinzialen zu erpressen. Auch verschiedene Provokationen gegenüber der jüdischen Religion, deren Monotheismus mit der römischen Staatsreligion unvereinbar war, trugen zur Eskalation bei. Zur Niederwerfung der Rebellion wurde im Herbst 66 der syrische Legat Gaius Cestius Gallus mit 12.000 Legionären und zahlreichen Hilfstruppen nach Jerusalem geschickt. Gallus musste sich jedoch unter hohen Verlusten zurückziehen; aus dem lokalen Aufstand war der Jüdische Krieg geworden.
Mit der Führung dieses Krieges beauftragte der in Griechenland weilende Kaiser Nero Vespasian, obwohl dieser zeitweise bei ihm in Ungnade gefallen war. Als Gründe für seine Berufung nennt Sueton Vespasians Tüchtigkeit und Erfahrung und vor allem, dass er wegen seiner einfachen Herkunft in den Augen Neros keine Gefahr darstellte. Der sechsundzwanzigjährige Titus begleitete seinen Vater.
Vespasians Heer war erheblich größer als das des Cestius. Es bestand neben drei Legionen aus 23 Auxiliarkohorten, Reiterabteilungen sowie 15.000 Mann Hilfstruppen der verbündeten orientalischen Fürsten. Insgesamt verfügte Vespasian inklusive Hilfstruppen über ein Heer von etwa 60.000 Mann. Die Größe des Heeres und die wichtige Position des noch recht unerfahrenen Titus, der bisher noch nicht einmal Prätor gewesen war, zeigen das Vertrauen, das der Kaiser in die beiden Flavier setzte. Titus befehligte als Legat die legio XV Apollinaris. Er belagerte 67 Iotapata und eroberte Iapha, außerdem war er an den Kampfhandlungen um Gischala, Tiberias, Tarichea und Gamala beteiligt.
Während der Belagerung von Iotapata wurde der jüdische Befehlshaber Iosephus gefangen genommen. In seiner Gefangenschaft prophezeite er Vespasian das Kaiseramt; später, nachdem Vespasian tatsächlich die Kaiserwürde erlangt hatte, wurde er freigelassen. An der späteren Eroberung Jerusalems durch Titus nahm er auf römischer Seite teil, über den Kriegsverlauf verfasste er sein Werk De Bello Iudaico. Das Geschichtswerk des Autors, der später das römische Bürgerrecht erhielt und daher in christlichen Quellen der Spätantike als Flavius Josephus bezeichnet wurde, zählt zu den wichtigsten Quellen für die frühe römische Kaiserzeit und ist die Hauptquelle für den Jüdischen Krieg. Bis zum Mai/Juni 69 waren alle abgefallenen Städte abgesehen von den Festungen Herodeion, Machairos und Masada zurückerobert, damit war Jerusalem isoliert.
Das Vierkaiserjahr
Nach Beginn des Jüdischen Krieges stürzte das Römische Reich in seine schwerste Krise seit der Begründung des Prinzipats. Diese Krise und der Sturz Neros sind auf die katastrophale Lage der römischen Finanzen und die schwindende Akzeptanz des Kaisers beim Heer sowie der plebs urbana zurückzuführen. Nach dem großen Brand Roms und – folgt man der nerofeindlichen Überlieferung – unsinnigen Verschwendungen konnte Nero seine Truppen nicht mehr bezahlen. Unzufriedenheit und Aufruhr breiteten sich im Reich aus. Als Sulpicius Galba, der Statthalter der hispanischen Provinz Tarraconensis, am 4. April 68 in Carthago Nova seinen Abfall von Nero erklärte und Neros erzwungener Suizid wenig später das Ende der julisch-claudischen Dynastie herbeiführte, war ein Präzedenzfall geschaffen: Fortan konnte das Heer den Kaiser „machen“.
Nach dem Tod Neros folgte in Judäa eine Phase der Inaktivität. Für die nächsten zwölf Monate galten sämtliche Aktivitäten dem Kampf um die Kaiserwürde. Als Titus von der Ermordung des neuen Kaisers Galba erfuhr, brach er seine Reise zum Kaiser ab, dem er die Loyalitätserklärung der in Judäa stationierten Truppen überbringen wollte. Während der kurzen Prinzipate Othos (15. Januar bis 16. April 69) und des Vitellius (2. Januar bis 20. Dezember 69) fällt Titus folgenreichste Leistung. In Vespasians Umfeld äußerte er wohl als Erster, dass dessen Zukunft nur durch den Griff nach dem römischen Kaisertum zu sichern sei. Dafür unterstützte er seinen Vater erfolgreich durch Verhandlungen mit dem syrischen Statthalter Gaius Licinius Mucianus über eine Revolte gegen Vitellius. Im Juli 69 riefen die Legionen Syriens, Ägyptens und Judäas Vespasian zum Kaiser aus. Im Herbst sprachen sich auch die Truppen an der Donau für Vespasian aus, dessen Truppen nun in Italien einfallen konnten und Vitellius in der Schlacht von Bedriacum in Oberitalien am 24. Oktober 69 besiegten. Am 21. Dezember, einen Tag nach der Hinrichtung des Vitellius, legte der römische Senat alle Macht in die Hände Vespasians. Titus war damit vom Sohn eines wenig bedeutenden Italikers zum römischen Thronfolger aufgestiegen.
Die Belagerung von Jerusalem
Während Vespasian von Rom aus die Reichsautorität nach den Wirren des Vierkaiserjahres wiederherstellte, blieb Titus im Osten. Er erhielt den Auftrag, den Jüdischen Krieg zu Ende zu führen (ad reliqua Iudaici belli perpetranda), also Jerusalem einzunehmen, das bis zu diesem Zeitpunkt allen Eroberungsversuchen widerstanden hatte. Ob außer der Eroberung auch die völlige Zerstörung der Stadt und des Tempels geplant war, geht aus den Quellen nicht eindeutig hervor.
Mit vier Legionen unter seinem Kommando begann Titus während des Pessachfestes im Frühling die Belagerung Jerusalems. Dort hatte sich fast ein Drittel der Gesamtbevölkerung Iudaeas versammelt, um eines der drei jüdischen Pilgerfeste zu feiern, weshalb die Bevölkerung der Stadt für einige Tage auf das Zehnfache angestiegen war. Gleich zu Beginn der Belagerung soll Titus die aus der Stadt Fliehenden vor den Augen der Belagerten gemartert und gekreuzigt haben. Auf diese Weise sollen, wie Flavius Iosephus berichtet, jeden Tag 500 Juden hingerichtet worden sein. Nach der Erstürmung und Zerstörung der beiden nördlichen Vorstädte ließ Titus den Rest der Stadt, nämlich die Ober- und Unterstadt innerhalb der Ersten Mauer und die nordöstlich angrenzende Tempelesplanade, mit einem Belagerungswall umgeben. Dadurch sollen innerhalb weniger Wochen über 600.000 Juden verhungert sein. Tacitus hingegen schätzte die Gesamtzahl der Belagerten auf 600.000 Menschen. Die Verteidiger hielten die Erste Mauer und den durch seine Umfassungsmauern festungsartigen Tempel noch bis Anfang August. Nachdem Titus’ Soldaten den äußeren Hof des Tempels erreicht hatten, brannten sie das Bauwerk nieder und töteten alle, die nicht schon vorher verhungert waren oder sich das Leben genommen hatten.
Das zentrale Heiligtum aller Juden, der Tempel, wurde dabei zerstört, ob mit Absicht oder aus Zufall ist aufgrund der Überlieferungssituation nicht zu entscheiden. Lediglich die von Herodes errichtete Umfassungsmauer der Tempelesplanade, die heutige Klagemauer ist ein Teil davon, blieb bestehen. Angeblich starben bei der Belagerung von Jerusalem etwa 1.100.000 Menschen, nur 97.000 sollen überlebt haben. Der Tempelschatz und die Kultgeräte, darunter die Menora und der Schaubrottisch, wurde nach Rom gebracht. Die Überlebenden wurden in die Sklaverei verkauft oder in Zirkusspielen umgebracht, das jüdische Land und seine Einkünfte zugunsten der kaiserlichen Kasse beschlagnahmt. Die verbliebenen Juden wurden gezwungen, die Kopfsteuer, die sie jährlich an den Tempel von Jerusalem entrichtet hatten, zukünftig an den kapitolinischen Jupiter zu zahlen (fiscus Iudaicus). Dies war nicht nur eine unerhörte Erniedrigung, sondern auch eine finanzielle Belastung. Zwar betrug ihre Höhe nur zwei Drachmen, jedoch wurden auch Ältere und Kinder herangezogen und damit die Zahl der Zahlungspflichtigen erheblich vermehrt. Nach der Niederschlagung des Aufstands richtete Vespasian Judäa als proprätorische Provinz ein.
Titus blieb den Winter über im Osten des Reiches. Er nutzte die Zeit für Siegesfeierlichkeiten und Inspektionsreisen. Zweimal war er in dieser Zeit im syrischen Antiochia, einer Stadt mit einer großen jüdischen Gemeinde. Nach dem Jüdischen Krieg hofften die Antiochener, dass sie die Vertreibung der Juden aus ihrer Stadt unter den neuen Herrschern erreichen könnten. Titus lehnte dieses Anliegen jedoch beide Male ab. Die flavischen Kaiser orientierten sich im Umgang mit dem jüdischen Volk weiterhin an der iulisch-claudischen Dynastie.
Politische Rolle unter Vespasian
Nach der Eroberung Jerusalems akklamierten die Soldaten Titus zum Imperator, so dass der „Verdacht entstand, er habe von seinem Vater abfallen und sich zum König des Orients (Orientis rex) machen wollen“. Der Titel war in den letzten Jahrzehnten dem Princeps vorbehalten gewesen. Titus hätte dadurch eine Konkurrenz für Vespasian darstellen können. Doch verhielt sich Titus loyal und kehrte nach Rom zurück, um sich seinem Vater für weitere Aufgaben zur Verfügung zu stellen. Ein knappes Jahr nach seiner Rückkehr in die Hauptstadt bewilligte der Senat sowohl Vespasian als auch ihm einen Triumph, der den Krieg trotz der anhaltenden Kämpfe um Masada für beendet erklärte. Der Triumphzug half bei der Legitimierung der flavischen Herrschaft und stärkte Titus’ Position im neuen Regime. Erst über drei Jahre nach der Zerstörung und Eroberung Jerusalems gelang es den Römern im Winter 73/74, mit der abgelegenen Festung Masada den letzten Ort der Aufständischen zu erobern.
In den ersten zwei Jahren der Regierungszeit Vespasians wurden Titus und Domitian gleichrangig als Nachfolger herausgestellt. Dies kam in der Münzprägung zum Ausdruck, wo beide Söhne gleichermaßen hervorgehoben wurden. Ab Mitte des Jahres 71 zeigte keine Münze Vespasians mehr Titus und Domitian nebeneinander. Mit Titus’ siegreicher Rückkehr nach Rom begann Vespasian ihn als seinen Nachfolger aufzubauen und zu präsentieren. Domitian wurde offen zurückgesetzt. Während der folgenden Jahre teilte Vespasian fast jede Ehrung mit Titus, der bereits vor seinem Herrschaftsantritt siebenmal zum Konsul gewählt wurde – eine Zahl von Konsulaten, die vor ihm nur der Heeresreformer Marius und Augustus erreicht bzw. übertroffen hatten. Vierzehnmal wurde er zum Imperator akklamiert. Zudem trug er schon seit 69 den Titel Caesar. Mit seinem Vater übte er im Jahr 73 die Zensur aus, das Amt des römischen Censors, das zuletzt 47/48 Claudius und Lucius Vitellius innegehabt hatten. Die Zensur gab ihnen die rechtliche Grundlage zur Neuordnung der patrizischen, senatorischen und ritterlichen Standesgruppen und dadurch die Möglichkeit, eine neue, loyale Führungsschicht zu formen. Am 1. Juli 71 erhielt er die tribunizische Amtsgewalt und wurde mit dem Imperium Proconsulare ausgestattet, dem Oberbefehl über Heere und Provinzen. Ab 71 kommandierte Titus als Prätorianerpräfekt die 4500 Mann umfassende kaiserliche Leibgarde, was ihm die unmittelbare militärische Gewalt in Rom einbrachte. Diese Entscheidung war ein kluger Schachzug Vespasians, da die Prätorianerpräfekten seit Sejan, der dieses Amt unter Tiberius innegehabt hatte, immer wieder versucht hatten, gegen den Kaiser Politik zu machen, oder ihn sogar, wie im Fall Galbas, gestürzt hatten. Titus war damit berechtigt, gewaltsam gegen politische Gegner vorzugehen, während sein Vater in der Rolle des milden Kaisers auftreten konnte.
Bei der Aburteilung von Verbrechern und Aufrührern ging Titus offenbar so erbarmungslos vor, dass er sich den Ruf eines „Schlächters“ erwarb. Sueton berichtet, dass Titus nicht nur selbst Prozesse führte, sondern sie auch durch Volkes Stimme im Theater entscheiden ließ. Wegen angeblichen Hochverrats ließ er einige hochangesehene Senatoren hinrichten. Allerdings zeigte sich Titus auch als fähiger Verwalter, der Senatssitzungen beiwohnte, den Rat erfahrener Politiker schätzte und mit den meisten wichtigen Fraktionen und Gruppierungen gut auskam.
Kontrovers wird in der Forschung beurteilt, ob die zahlreichen Ehrungen des Titus ihn als Mitregenten Vespasians ausweisen oder er seinem Vater klar untergeordnet war. Bei klarer Unterordnung hätten die Ehrungen nur die Nachfolge vorbereitet.
Eine der zentralen Aufgaben der Herrschaft Vespasians war die Konsolidierung der durch Nero und die Bürgerkriege zerrütteten Finanzen. Durch verschiedene Maßnahmen gelang es ihm, die Einkünfte des Staates zu erhöhen. Landverkäufe, Steuererhöhungen und Einsparungen füllten die Staatskasse. Steuerbefreiungen im griechischsprachigen Osten und in Ägypten wurden aufgehoben. Gegenüber der jüdischen Bevölkerung wurden die Steuern drastisch erhöht. Vespasians minutiöse Steuerpolitik erfasste sogar die öffentlichen Latrinen. Als Titus die Einführung einer Gebühr auf die Latrinen kritisierte, soll Vespasian ihm das Geld aus der ersten Zahlung unter die Nase gehalten und gefragt haben, ob er am Geruch Anstoß nehme. Als jener verneinte, soll er geantwortet haben: Atqui e lotio est („Und doch kommt es vom Urin“). Als Titus die Herrschaft übernahm, waren die staatlichen Finanzen geordnet, die Staatskasse war gefüllt.
Der Prinzipat des Titus
Regierungsantritt, Verhältnis zu Domitian
Beim Tod Vespasians am 23. Juni 79 konnte Titus seinem Vater ohne erkennbare Widerstände im Amt folgen. Vespasian hatte ihm bereits umfassende Kompetenzen verliehen und ihn damit auf die Nachfolge vorbereitet. Gerüchte, nach denen Titus seinen Vater vergiften ließ, werden in der Forschung meist als unglaubwürdig angesehen. Noch in der Woche des Todes Vespasians erschienen Münzen, auf denen Titus mit dem Titel Augustus und pontifex maximus auftrat. Wenige Monate später erhielt er den Ehrentitel pater patriae. Die Politik seines Vaters führte Titus fort.
Bereits im Jahr 79 erschienen Münzen, die ihn mit Domitian auf dem Revers mit umschlossenen Händen zeigen. Domitian wurde von Titus als „Teilhaber und Nachfolger“ (consors et successor) bezeichnet und folgte im Jahr 80 Vespasian als Konsul. Jedoch erhielt Domitian keine verantwortlichen Aufgaben. Weder teilte er die tribunizische Gewalt mit Titus noch erhielt er das Amt des Prätorianerpräfekten oder ein militärisches Kommando. Gerüchten zufolge ging die größte Bedrohung für Titus’ Herrschaft von seinem Bruder aus. Domitian soll teils offen, teils geheim gegen seinen Bruder konspiriert haben. Er soll Titus sogar nach dem Leben getrachtet und Unruhe im Heer gestiftet haben. Trotz dieser Schilderung der domitianfeindlichen Überlieferung geht die Forschung von nicht allzu großen Spannungen zwischen den beiden Brüdern aus.
Verhältnis zum Senat
Da Titus als Prätorianerpräfekt rücksichtslos seine politischen Gegner hatte ermorden oder misshandeln lassen und weil Gerüchte über sexuelle Ausschweifungen nicht nur mit der judäischen Prinzessin Berenike kursierten, soll man in ihm einen „zweiten Nero“ erwartet haben. Doch der nunmehr Titus Caesar Vespasianus Augustus genannte neue Kaiser scheint sein Verhalten wesentlich verändert zu haben: Willkürlichkeiten sind ebenso wenig überliefert wie Majestätsprozesse. Eunuchen und Lustknaben wurden aus dem Palast verbannt und ein offener Umgang mit der Stadtbevölkerung gepflegt. Titus gab sich betont milde und großmütig. Ebenso wie sein Vater war er um ein gutes Verhältnis zum Senat und zum Volk bemüht. Völlig unerwartet schwor er, niemals einen Senator zu töten, womit er den Senat für sich gewann.
Titus setzte sich damit von denjenigen Kaisern des 1. Jahrhunderts ab, unter denen Senatoren in Hochverratsprozessen verurteilt und exekutiert worden waren. Noch in der hohen Kaiserzeit wiederholten einzelne Kaiser den für Titus erstmals überlieferten Eid zu Beginn ihrer Amtszeit. Wichtige Ämter besetzte der Kaiser nicht mit Familienmitgliedern oder Anhängern, sondern nach Rang und Ansehen aus den Reihen der Senatoren. Der Senat spielte zwar realpolitisch bereits seit Augustus keine wesentliche Rolle mehr, doch es wurde von „guten Kaisern“ erwartet, dass sie die auctoritas („Ansehensmacht“) der Senatoren respektierten.
Suetons Titus-Biographie ist aus verschiedenen Quellen kompiliert. Sie zeigt eine deutliche Zweiteilung in der Beurteilung des Titus vor und nach dessen Herrschaftsantritt. Möglicherweise ist diese zweigeteilte Beurteilung durch die unterschiedliche Tendenz der zugrundeliegenden Quellen zu erklären. Die antike Historiographie folgte in der Zweiteilung der Charakterzeichnung mit einem Wandel zum „guten“ Kaiser einem typischen Erzählmuster. Außerdem wurde Titus, der dem Senat auch wegen der Kürze seiner Regierung kaum Anlass zu Kritik gab, in der Überlieferung, speziell in der senatorischen Geschichtsschreibung, als Gegenbild zu früheren Kaisern und seinem Nachfolger Domitian gesehen. Er wurde als Vorbild für künftige Kaiser dargestellt.
Gesetzgebung und Legitimierung der Herrschaft
Als Kaiser umgab sich Titus wie schon in Judäa mit fähigen Beratern und konnte sich mit deren Hilfe in der Öffentlichkeit noch deutlicher als weiser, auf sozialen Ausgleich bedachter Herrscher zeigen. Seine Gesetzgebung beschränkte sich weitgehend auf populäre Sozialmaßnahmen, von denen neben der Armee auch die ärmeren Römer und Provinzbewohner profitierten, sowie administrative Veränderungen im Finanzbereich. So regelte Titus Landbesitz, Hochzeit und Testamentsfreiheit für Veteranen neu und reduzierte die Anzahl der Prätoren für Erbrechtsangelegenheiten.
Für die Flavier war die Legitimierung ihrer Dynastie ein vorrangiges Anliegen, da sie das Manko fehlender Ahnenbilder ausgleichen mussten und nicht auf eine Tradition verweisen konnten, die mit derjenigen der von Augustus gegründeten Dynastie vergleichbar gewesen wäre. Umso wichtiger war es daher, handgreifliche Erfolge vorweisen zu können. Diesem Zweck diente der Sieg im Jüdischen Krieg, in dem sich Vespasian und Titus als Feldherrn ausgezeichnet hatten. Ihren sichtbarsten Ausdruck fand die propagandistische Instrumentalisierung des Sieges in den Siegesmünzen, die im gesamten Reich verbreitet wurden. Die Legenden der Münzen lauteten in den meisten Fällen IVDAEA CAPTA (S C), IVD CAP (S C) oder IVDEA CAPTA, andere Legenden heißen IVDEA DEVICTA, DEVICTA IVDAEA S C, DE IVDAEIS oder nur IVDAE. Mit der Legende IVDEA CAPTA („Judäa eingenommen“), einer Formulierung, mit der man die Übernahme eines Gebietes in die römische Befehlsgewalt zu bezeichnen pflegte, drückten sich Vespasian und Titus so aus, als hätten sie als erste dieses Gebiet unterworfen und unter römische Herrschaft gebracht. In Wirklichkeit war Judäa bereits seit 63 v. Chr. unter römischer Oberhoheit und hatte seit 6 n. Chr. den Status einer prokuratorischen Provinz.
Die Münzen, welche die Eroberung einer neuen Provinz suggerierten, lassen auch den von Vespasian und Titus abgehaltenen Triumphzug über Judäa besser verstehen. Der kultisch gebundene und durch Rituale geprägte Triumph wurde nur für einen Sieg in einem gerechten Krieg, einem bellum iustum, gewährt. Die bloße Niederschlagung des jüdischen Aufstands berechtigte nach römischer Tradition nicht zu einem Triumph. Den Triumph nutzten die Flavier, um ihre Sieghaftigkeit zu inszenieren. Man feierte nicht nur einen Sieg über Feinde, sondern die Flavier verherrlichten ihren Erfolg auch als das „Ende der Bürgerkriegswirren und als Anfang der Hoffnungen auf eine glückliche Zukunft“. Für römische Eroberer war es ehrenvoll, wenn ihnen bei einem Triumph ein Beiname wie Africanus, Germanicus oder Balearicus verliehen wurde. Doch den Titel Iudaicus lehnte Titus ab, da dieses Wort in der Bedeutung „der Jüdische“ missverständlich als Annahme jüdischer Bräuche und Religion hätte aufgefasst werden können.
Die Legitimität des Herrscherhauses versuchte Titus durch mittelbare Anknüpfung an das julisch-claudische zu untermauern. Unter anderem prägte er Gedenkmünzen für Augustus und Claudius, die zur julisch-claudischen Dynastie gehörten. Während sich die Flavier damit entschieden von Nero abgrenzten, stellten sie sich als Erben des ersten Princeps Augustus und Fortsetzer von dessen Vorhaben dar. Nach Sueton hatte schon Augustus geplant, das Amphitheater zu errichten.
Daneben pflegte Titus den kontinuitätsstiftenden Herrscherkult für seinen verstorbenen Vater Vespasian, denn er begann mit der Errichtung des später als Tempel des Vespasian und des Titus bekannten Heiligtums. Nach dem Tod des Titus wurde dieser Familientempel von Domitian vollendet. Zur Legitimitätspolitik der Flavier gehörten darüber hinaus wirtschaftliche Maßnahmen, für die Titus auf den von Vespasian stark vergrößerten Staatsschatz zurückgreifen konnte.
Katastrophenmanagement
Titus’ zweijährige Regierungszeit wurde von drei Katastrophen überschattet. Nur wenige Monate nach seinem Regierungsantritt ereignete sich der Ausbruch des Vesuvs, der die Städte Herculaneum, Pompeji und Stabiae unter Asche und Schlamm begrub und für weite Teile Kampaniens große Not brachte. Eine Kommission (curatores restituendae Campaniae) organisierte den Wiederaufbau. Der Dichter Statius berichtete zehn Jahre später von wiedererstandenen Städten am Vesuv. Noch im selben Jahr wurde Rom von einer Seuche bisher unbekannten Ausmaßes heimgesucht. Genaueres über die Epidemie geht aus den Quellen nicht hervor. Im nächsten Jahr verheerte ein dreitägiges Großfeuer Rom. Nach Cassius Dio wurden dabei sämtliche Gebäude zwischen dem Pantheon und dem Kapitol beschädigt oder zerstört. Titus leitete bei allen Katastrophen umgehend die Hilfsmaßnahmen ein, was einen tiefen Eindruck hinterließ. Cassius Dios Bericht zufolge nahm der Kaiser keine Geldspenden an, obwohl viele Angebote von einzelnen Bürgern, Städten und Königen vorlagen, sondern deckte alle Kosten aus bereits vorhandenen Mitteln. Seine Freizügigkeit demonstrierte er durch sein großzügiges Angebot, zum Aufbau der öffentlichen Gebäude und Tempel den Schmuck des Kaiserpalastes zu verwenden. Möglicherweise sollte durch diese Geste der Gegensatz der Flavier zu Nero verdeutlicht werden.
Bautätigkeit
Titus vollendete das von seinem Vater begonnene Flavische Amphitheater, das wegen einer ursprünglich dort stehenden Kolossalstatue Neros seit dem Mittelalter als Kolosseum bezeichnet wird. Der ursprüngliche Name war jedoch Amphitheatrum Flavium („Amphitheater der Flavier“), was die enge Verbindung des Gebäudes mit der flavischen Dynastie anzeigt. Eingeweiht wurde es im Mai/Juni 80 mit vom Kaiser bezahlten hunderttägigen Spielen. Neben Gladiatorenkämpfen, Tierhetzen und nachgestellten Infanteriegefechten wurden auch Seeschlachten aufgeführt. Eigens dafür konnte die Arena des Kolosseums mit Wasser geflutet werden. Géza Alföldy konnte durch eine Lesung der sogenannten Dübellochfunde im Amphitheater eine Bauinschrift nachweisen, die zeigt, dass Vespasian und Titus das Amphitheater aus der Kriegsbeute finanziert hatten. Sie lautete: I[mp(erator)] Vespasi[anus Aug(ustus)] / amphitheatru[m novum?] / [ex] manubis (vac.) [fieri iussit(?)] („Kaiser Vespasian Augustus ließ das neue Amphitheater aus der Beute [des jüdischen Krieges] errichten“). Zuvor war dies lediglich vermutet worden.
Um sich von ihrem verhassten Vorgänger zu distanzieren, ließen die Flavier Neros Domus Aurea teilweise abreißen und durch das Amphitheater und die sogenannten Titusthermen überbauen. Die Errichtung solcher Bäder gehörte in der Folgezeit zum Programm von Kaisern, die als vorbildlich gelten wollten. Neben der Errichtung und Vollendung von Repräsentations- und Vergnügungsbauten verbesserten Titus und Vespasian die Infrastruktur in Italien und den Provinzen. Titus verbesserte die stadtrömische Wasserversorgung durch Ausbau und Reparatur der Aquädukte Aqua Marcia, Curtia und Caerulea. Eine Thermenanlage für die Bevölkerung auf dem mons Oppius, dem Südteil des im Osten der Stadt gelegenen Esquilin, ist allerdings das einzige eigenständige Bauprojekt in seiner kurzen Regierungszeit. Vor allem forcierte er den Straßenbau. Große Summen flossen auch in den Wiederaufbau der vom Ausbruch des Vesuvs am 24. August 79 zerstörten Städte in Kampanien sowie in die Maßnahmen nach dem Großfeuer und der anschließenden Seuche in Rom. Neben anderen Eigenschaften des Kaisers wurde oftmals seine Großzügigkeit betont. Dennoch blieb Titus sparsam und die Finanzen geordnet.
Außenpolitik
Auch in der Außenpolitik setzte Titus den Kurs seines Vaters fort. Diese Kontinuität zeigt sich in seinen Maßnahmen zur Verstärkung und Sicherung der Reichsgrenzen und in der Fortführung der erfolgreichen Offensive in Britannien unter Gnaeus Iulius Agricola. Domitian brach diese Offensive im Jahr 84 ab und bündelte die römischen Kräfte in Germanien.
Zu einem Besuch der Grenzprovinzen hatte Titus in seiner kurzen Regierungszeit keine Gelegenheit. Er verstärkte dort den Straßenbau und die Grenzsicherung entlang von Donau und Euphrat. Möglicherweise hängt die relative Ruhe, die in den nächsten Jahren an diesen Grenzen herrschte, auch mit diesen Maßnahmen zusammen.
Titus und Berenike
Seit dem Jüdischen Krieg hatte Titus eine Liaison mit der elf Jahre älteren Berenike. Sie war eine Urenkelin Herodes’ des Großen und die Schwester des jüdischen Königs Herodes Agrippa II. Sie wurde als Mitregentin ihres Bruders anerkannt. Berenike setzte sich erfolgreich für ihre Heimat ein, die nach dem von ihrem Lebensgefährten und dessen Vater geführten Jüdischen Krieg darniederlag. Im Jahr 75 erschien Berenike in Rom. Sie erreichte dort eine ähnlich einflussreiche Stellung wie die kaiserlichen Frauen unter Caligula und Claudius. Einen Senator, der sie verführen wollte, ließ Titus noch vor seinem Regierungsantritt hinrichten. Quintilian, zu dieser Zeit ein bedeutender Anwalt, der erste vom Kaiser bezahlte Rhetoriklehrer und spätere Prinzenerzieher unter Domitian, berichtet von einem Verfahren vor dem Kronrat (consilium principis) Vespasians, dessen Gegenstand Berenike betraf. Quintilian zufolge gehörte sie dem Gremium an und war so selbst an der Entscheidung beteiligt, während er als Anwalt vor diesem plädierte. Aus seinem Bericht in der Ausbildung des Redners geht allerdings nicht hervor, worum es in diesem Verfahren ging. Helmut Castritius geht davon aus, dass eine Vermögensangelegenheit verhandelt wurde, da Berenike sehr reich war und in Palästina wertvolle Ländereien besaß, wo die Römer nach dem Jüdischen Aufstand in großem Umfang Grundbesitzer enteignet hatten.
Doch eine Ehe zwischen einer jüdischen Prinzessin und einem römischen Feldherrn bedrohte in den Augen der Römer die politische Stabilität und war deshalb erst recht unmöglich für einen Kaisersohn wie Titus. Nach seinem Herrschaftsantritt im Juni 79 kam es zu einem Bruch in der engen Beziehung der beiden. Titus war aufgrund der enormen öffentlichen Kritik gezwungen, sie gegen seinen und ihren Willen (invito, invitam) zu verlassen. Wann genau dies geschah, ist umstritten. Wahrscheinlich wurde Berenike unmittelbar nach Titus’ Herrschaftsantritt aus Rom verbannt.
Rechtliche Hindernisse für eine eheliche Verbindung gab es indes keine. Berenike war von Geburt an römische Bürgerin, da Gaius Iulius Caesar ihrer Familie in den 40er Jahren des 1. Jahrhunderts v. Chr. für ihre Verdienste im Bürgerkrieg das römische Bürgerrecht verliehen hatte. Möglicherweise wurde die Ehe jedoch dadurch verhindert, dass sie Jüdin war und damit etwaige Kinder ebenfalls Juden gewesen wären. Damit konnten sich Senat und Volk von Rom offenbar so kurz nach dem Jüdischen Aufstand und dem Stadtbrand des Jahres 64, der mit den Christen – nach römischer Auffassung einer jüdischen Sekte – in Verbindung gebracht wurde, nicht anfreunden. Die plebs urbana zeigte, von zwei kynischen Philosophen im Theater aufgewiegelt, offen ihre Ablehnung und beeinflusste so nicht zum ersten Mal die Entscheidungen im Kaiserhaus. Wegen der öffentlichen Proteste und aus Gründen der Staatsräson unterließ es Titus, seine Verbindung mit Berenike zu legalisieren, und entfernte sie zudem aus seinem persönlichen Umfeld. Berenike blieb allerdings in Italien. Sie kam offenbar kurz vor dem frühen Tod des Titus im Jahr 81 noch einmal nach Rom und verließ danach Italien, um in ihre Heimat zurückzukehren.
Tod und Nachfolge
Nachdem er hunderttägige Spiele in Rom gegeben hatte, zog sich Titus im Sommer 81 weitgehend aus der Öffentlichkeit zurück. Er starb nach nur 26 Monaten der Herrschaft am 13. September. Sueton zufolge erkrankte er auf dem Weg in das Sabinerland, die Heimat seiner Vorfahren, an einem Fieber und starb in derselben Villa wie sein Vater Vespasian zwei Jahre zuvor. Nach Plutarch hatte Titus gegen den Rat der Ärzte trotz einer schweren Erkrankung die Thermen besucht und starb an der dadurch verschlimmerten Krankheit. Andere Autoren berichten von Gerüchten, Domitian habe den Tod seines Bruders herbeigeführt, indem er den erkrankten Kaiser Unterkühlungen ausgesetzt habe. Ungeklärte Todesfälle von Herrschern zogen oft Mordgerüchte nach sich. Nach Sueton soll er bitterlich über seinen frühen Tod geklagt haben; seine letzten Worte sollen gewesen sein, dass er keine Tat bis auf eine bereuen müsse. Dazu überliefert Cassius Dio zwei konträre zeitgenössische Vermutungen. Nach der einen hat Titus seine Beziehung zu Domitia, der Ehefrau Domitians, bereut, nach der anderen hat er es sich nicht verzeihen können, seinem Bruder die Thronfolge gesichert zu haben.
Domitian übernahm ohne Schwierigkeiten die Macht und wurde noch am 13. September von den Prätorianern als Imperator akklamiert. Einen Tag später übertrug ihm der Senat die mit dem Herrscheramt verbundenen Vollmachten und den Augustusnamen. Die Domitian feindlich gesinnte Überlieferung behauptet, der neue Kaiser habe seinem Bruder außer der Divinisierung keine weiteren Ehrungen zukommen lassen. Doch ließ Domitian in Rom eine Reihe von Repräsentationsbauten errichten, die Titus und die eigene gens verherrlichen sollten. Der von Titus begonnene Familientempel wurde unter Domitian vollendet, sein Name in Tempel des Vespasian und des Titus geändert. Dort errichtete Domitian eine Kultstatue für seinen Bruder. Auf dem Quirinal an der Stelle, wo sein Geburtshaus stand, baute er ein templum gentis Flaviae und auf dem Campus Martius ließ er ein templum deorum errichten. Mit der Domus Flavia schuf er auf dem Palatin einen repräsentativen Palast. Von 81 bis etwa 84 ließ Domitian Konsekrationsmünzen für Titus prägen.
Für seinen Sieg über Judäa wurde Titus nach seinem Tod auf dem höchsten Punkt der Via Sacra am östlichen Rand des Forum Romanum ein Triumphbogen errichtet, der als Titusbogen bezeichnet wird. Nach Michael Pfanner feiert dieser Bogen jedoch die Konsekration des Titus. Die Inschrift des Bogens lautet: Senatus / populusque Romanus / divo Tito divi Vespasiani f(ilio) / Vespasiano Augusto („Der Senat und das römische Volk dem vergöttlichten Titus, Sohn des vergöttlichten Vespasian, Vespasian dem Erhabenen“). Titus allein wird dabei der Triumph zugestanden, sein Vater Vespasian tritt nicht in Erscheinung. Noch heute erinnert an der Innenseite des Bogens ein Relief an die Belagerung und Zerstörung Jerusalems. Für den Sieg über die Juden und die Zerstörung Jerusalems wurde auch ein zweiter, 2014 und 2015 am Circus Maximus ergrabener Bogen für den Kaiser errichtet.
Wirkungsgeschichte
Antike Meinungen
Die Schriftsteller Tacitus, Cassius Dio und Sueton verfassten ihre Werke erst nach dem Tod des letzten Flaviers. Sie stehen in der Tradition der senatorischen Geschichtsschreibung und konzentrierten sich in ihrer Darstellung auf die Konflikte zwischen dem Senat und dem Princeps. Da Titus angeblich in völliger Harmonie mit dem Senat lebte, prägte dies auch das Urteil der späteren antiken Geschichtsschreibung. Insbesondere galt Titus als Gegenbild zu seinem Bruder und verhassten Nachfolger Domitian, der ermordet wurde und dessen Erinnerung auf Anordnung des Senats ausgelöscht werden sollte. Für die Senatoren war Titus der ideale Herrscher. Nach Sueton sagte der Senat „dem Toten so großen Dank und überhäufte ihn derart mit Ehrungen, wie er es nicht einmal in seinen besten Tagen erlebt hatte“.
Folglich beschrieb die senatorische Überlieferung Titus als körperlich und geistig außergewöhnlich begabt und zumindest in seiner Jugend auch allseits beliebt. Zudem soll er in allen Sportarten erfolgreich und als Redner ebenso wie als Dichter und Sänger fähig gewesen sein. Bewundert wurde auch, dass er aus dem Stegreif dichten, fremde Handschriften täuschend nachahmen und außergewöhnlich schnell „stenografieren“ konnte. Plinius der Ältere, der beim Ausbruch des Vesuvs starb, widmete seinem Freund Titus seine Naturgeschichte. Als Beweis für Titus’ menschenfreundliches Wesen diente der ihm zugeschriebene Ausspruch, er habe einen Tag verloren, weil er niemandem Gutes getan habe.
Der römische Kaiserbiograf Sueton feierte Titus als „Liebling des Menschengeschlechts“ (amor ac deliciae generis humani). Hingegen hielt er die Zerstörung des Jerusalemer Tempels nicht einmal für erwähnenswert. Angesichts des Amphitheaters betonte Martial, dass Titus Rom sich selbst wiedergegeben habe und das Volk unter ihm jetzt genießen könne, was zuvor allein der Tyrann genoss – war das Amphitheater doch da entstanden, wo Neros Goldenes Haus, seine künstlichen Teiche und protzigen Gärten lagen. Für die folgenden Generationen der senatorischen Geschichtsschreibung galt er als mustergültiger Herrscher. Im 4. Jahrhundert bezeichnete ihn Aurelius Victor als „Wonne der Menschheit“; sein Tod habe Rom und die Provinzen mit unbeschreiblichem Schmerz erfüllt. Aber auch an nüchternen Stimmen fehlte es schon in der Antike nicht. Im vierten Jahrhundert bezeichnete Ausonius Titus als „glücklich durch die Kürze seines Regiments“ (felix brevitate regendi).
Der römisch-jüdische Geschichtsschreiber Flavius Josephus, der den Jüdischen Krieg miterlebt hatte, machte in seinem Werk Bellum Iudaicum die jüdischen Splittergruppen für die Erhebung gegen Rom verantwortlich und verherrlichte die flavischen Kaiser. Er betonte mit Nachdruck, dass die Juden an ihrem Untergang selbst schuld seien. Nur die Belagerung Jerusalems durch Titus habe ihrem mörderischen und unverständlichen Treiben ein Ende setzen können. Intensiv glorifizierte Josephus seinen Helden Titus, wobei auch Dankbarkeit eine Rolle spielte, weil dieser maßgeblich an der Rettung seines Lebens beteiligt gewesen war. Der römische Feldherr erscheint bei Josephus als Wohltäter und Retter des jüdischen Volkes, selbst die Zerstörung des Tempels habe er zu verhindern versucht.
Jedoch folgten nicht alle antiken Geschichtsschreiber dem Bericht des jüdischen Gelehrten. Im ausgehenden 4. Jahrhundert schrieb Sulpicius Severus, Titus habe die Auffassung der Mitglieder seines Stabs, die für die Zerstörung des Tempels plädierten, geteilt. Die christliche Überlieferung rühmte die Zerstörung der Stadt als ein Vergeltungswerk an den Juden dafür, dass sie Christus getötet hatten.
Hingegen ist das Titus-Bild in der rabbinischen Literatur äußerst negativ. Hier hat Titus den ständigen Beinamen „der Frevler“ (הרשע). Es handelt sich um Legenden zu drei Themenkreisen: Titus im Tempel; Reise des Titus nach Rom und sein qualvoller vorzeitiger Tod; sein Neffe Onkelos, der zum Judentum konvertiert sei. Die Verfasser des Talmuds betrachteten seinen frühen Tod als gerechte Strafe des Himmels. Titus habe nicht nur Jerusalem eingenommen, sondern sich auch seinen jüdischen Gefangenen gegenüber äußerst grausam verhalten. Die Sibyllinischen Orakel, eine Sammlung von Prophezeiungen verschiedenen Ursprungs, enthalten einen Text, der den Ausbruch des Vesuvs als Strafe für die Zerstörung Jerusalems deutet.
Künstlerische Rezeption
Insbesondere Titus’ Eroberung des Tempels von Jerusalem, die Liebesbeziehung zu Berenike und die ihm zugesprochene Milde haben bildende Künstler zu Werken angeregt. Schon im frühen 8. Jahrhundert nutzte ein angelsächsischer Runenmeister die Eroberung Jerusalems als Motiv. Auf dem Runenkästchen von Auzon – vermutlich ein königliches Schatzkästchen – soll diese Darstellung in Verbindung mit der runischen Inschrift das Kampfesglück und somit den Ruhm des anglischen Kriegerkönigs sichern.
Nicolas Poussin schuf 1625 in Rom zu diesem Thema ein repräsentatives Gemälde für Kardinal Francesco Barberini, das seinen Ruf als Historienmaler bestärkte. Er stellt Titus beritten mit einer an die Reiterstatue Mark Aurels auf dem Kapitol erinnernden Geste dar, mit der er die Plünderung des Tempels durch seine Soldaten noch verhindern will.
Das Monumentalgemälde Zerstörung Jerusalems durch Titus hingegen, das Wilhelm von Kaulbach 1841–1846 im Auftrag König Ludwigs I. von Bayern schuf, erhöht Titus, der in ähnlicher Pose zu Pferd dargestellt ist, zum göttlichen Werkzeug, indem Propheten und Engel die Zerstörung des Tempels als göttliches Strafgericht erscheinen lassen. Das Werk, das in seiner Anlage und in vielen Details zahlreiche antisemitische Klischees der abendländischen Kunst vereint, gehört heute zur Sammlung der Neuen Pinakothek in München. Weitere Gemälde über die Zerstörung des Jerusalemer Tempels schufen die Maler David Roberts (1850) und Francesco Hayez (1867). Der Triumphzug über Judäa inspirierte die Maler Giulio Romano (1540) und Lawrence Alma-Tadema (1885).
Titus taucht schon früh als Figur der Oper auf: Antonio Cestis Oper Il Tito nach einem Libretto von Nicolò Beregan wurde 1666 in Venedig uraufgeführt. Die Oper spielt zur Zeit der Eroberung Jerusalems.
Aber auch seine Milde (clementia) wurde in Kunst und Belletristik oft behandelt. Pietro Metastasios Opernlibretto La clemenza di Tito (1734) wurde von mehr als 40 Opernkomponisten des Barocks und der Klassik vertont. Am bekanntesten ist bis heute die Vertonung von Wolfgang Amadeus Mozart, La clemenza di Tito. Auch andere Komponisten wie Antonio Caldara, Baldassare Galuppi, Johann Adolph Hasse, Niccolò Jommelli, Ignaz Holzbauer und Christoph Willibald von Gluck komponierten Opern zu diesem Text. Titus wird von Metastasio als tugendhafter, der Milde verpflichteter Herrscher dargestellt, der den Fürsten des Absolutismus zum Vorbild dienen sollte. Mit dem historischen Titus hat Metastasios Darstellung allerdings wenig zu tun, vielmehr ist sein Libretto von Pierre Corneilles Drama Cinna beeinflusst, das die Milde des Kaisers Augustus gegenüber dem Verschwörer Gnaeus Cornelius Cinna Magnus darstellte.
Die Liebesbeziehung zwischen Berenike und Titus inspirierte die französischen Klassiker Jean Racine und Pierre Corneille 1670 zu ihren Werken Bérénice und Tite et Bérénice.
In Lion Feuchtwangers Josephus-Trilogie, die Leben und Wirken des Flavius Josephus zum Thema hat und in der die drei Kaiser der Flavier-Dynastie als wichtige Nebenfiguren auftreten, wird Titus als ehrlich, treu und intelligent, allerdings auch als mitunter schwermütig und verzweifelt dargestellt. Feuchtwanger suggeriert in seiner Romantrilogie, Titus habe am Ende seines Lebens psychisch unter seiner Entscheidung gelitten, Jerusalem zerstört zu haben, da diese Entscheidung eine affektive Übersprunghandlung gewesen sei, die den sonst rational denkenden Titus im Nachhinein stark beschämt habe.
Titus in der Forschung
Titus’ enge Kooperation mit Vespasian und die Kürze seiner Herrschaft machen eine adäquate Beurteilung seiner Politik schwierig. Insgesamt wird er als fähiger Herrscher und Verwalter angesehen, der die flavische Dynastie sichern konnte. In der bislang einzigen Biografie des Kaisers sieht Brian W. Jones Titus als einen wohlwollenden, paternalistischen Autokraten, der durch das Festhalten an einem weiterhin faktisch entmachteten Senat – bei voller Ehrung des Gremiums – als ein Vorbild für Trajan und die Adoptivkaiser gelten kann. Als Vorbild für Titus’ Regierungsstil vermutet Jones den ersten römischen Kaiser Augustus.
Darüber hinaus diskutiert die Forschung insbesondere Einzelaspekte wie Titus’ Rolle bei der Zerstörung des Jerusalemer Tempels und sein Verhältnis zu Berenike.
Im ausgehenden 19. Jahrhundert wurde auf Grundlage bürgerlicher Wertvorstellungen und eigener Vorbehalte gegen eine erheblich ältere Gefährtin, sexuelle Freizügigkeit, das Judentum und die sich entwickelnde Emanzipation Berenike hart kritisiert. Sie galt als eine ehrgeizige, alternde, der libido ergebene Frau, die aus selbstsüchtigen Motiven ihren jüngeren Liebhaber an sich fesselte. Die Beurteilung der Liebesbeziehung schwankte dabei zwischen „lächerlicher Leidenschaft“ (Adolf Hausrath) und „weltgeschichtliche(m) Liebesverhältnis“ (Emil Schürer). Die dürftige Quellenlage über die Liebesbeziehung eröffnete nachfolgenden Historikergenerationen wiederholt Raum für Versuche, die näheren Verhältnisse zu rekonstruieren.
Die Frage nach Absicht oder Zufall der Tempelzerstörung wurde in der Geschichtswissenschaft vielfach diskutiert. Der Bericht des Sulpicius Severus schreibt anders als Josephus dem Titus die Verantwortung für die Zerstörung des Tempels zu. Für seine Chronik an der Wende vom vierten zum fünften Jahrhundert könnte er für Informationen auf Tacitus zurückgegriffen haben. Die von Josephus abweichende Version bei Sulpicius Severus wird von einer Mehrheit der Forscher vertreten, darunter Theodor Mommsen, Adalberto Giovannini, Ingomar Weiler oder Helmut Schwier. Doch auch die Darstellung des Josephus hat wiederholt Befürworter gefunden, wie Otto Michel, Otto Bauernfeind, Emil Schürer oder Martin Goodman.
Quellen
Die wichtigsten Quellen zu Titus sind die Titusbiografie Suetons, Cassius Dio und der Jüdische Krieg (De bello Iudaico) des Flavius Josephus.
Ursul Philip Boissevain (Hrsg.): Cassii Dionis Cocceiani historiarum Romanarum quae supersunt, Band 3. Weidmann, Berlin 1901, S. 152–161 (kritische Ausgabe der erhaltenen Auszüge aus Buch 66)
Otto Veh (Hrsg.): Cassius Dio: Römische Geschichte, Band 5, Artemis, Zürich 1987, ISBN 3-7608-3675-5, S. 157–168 (Übersetzung der Epitome des Buches 66)
Otto Michel, Otto Bauernfeind (Hrsg.): Flavius Josephus: De bello Judaico. Der jüdische Krieg. Zweisprachige Ausgabe der sieben Bücher. 3 Bände, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1959–1969 (kritische Ausgabe mit knappem Apparat)
Max Ihm (Hrsg.): C. Suetoni Tranquilli opera, Band 1: De vita Caesarum libri VIII. Teubner, Stuttgart 1973, ISBN 3-519-01827-6, S. 309–316 (Nachdruck der Ausgabe von 1908; kritische Ausgabe, editio minor)
Hans Martinet (Hrsg.): C. Suetonius Tranquillus: Die Kaiserviten. De vita Caesarum. Berühmte Männer. De viris illustribus. Artemis & Winkler, Düsseldorf 1997, ISBN 3-7608-1698-3, S. 866–883 (unkritische Ausgabe des lateinischen Textes mit deutscher Übersetzung)
Literatur
Überblickswerke
Biographien
Darstellungen
Johanna Leithoff: Macht der Vergangenheit. Zur Erringung, Verstetigung und Ausgestaltung des Principats unter Vespasian, Titus und Domitian (= Schriften zur politischen Kommunikation. Bd. 19). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2014, ISBN 3-8471-0289-3.
Christopher Weikert: Von Jerusalem zu Aelia Capitolina. Die römische Politik gegenüber den Juden von Vespasian bis Hadrian. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2016, ISBN 978-3-525-20869-4.
Anne Wolsfeld: Die Bildnisrepräsentation des Titus und des Domitian (= Tübinger Archäologische Forschungen. Band 32). Verlag Marie Leidorf, Rahden (Westfalen) 2021, ISBN 978-3-89646-863-5.
Rezeptionsgeschichte
Weblinks
Albert Ottenbacher: Die Zerstörung Jerusalems – ein „göttliches Strafgericht“? (Interpretation der Titus-Gemälde von Kaulbach und Poussin)
Cassius Dio, Römische Geschichte Buch 66 (englische Übersetzung bei LacusCurtius)
Josephus, Jüdischer Krieg (griechischer Text und englische Übersetzung)
Sueton, Titus: lateinischer Text, englische Übersetzung
Anmerkungen
Kaiser (Rom)
Censor
Augur
Pontifex
Herrscher (1. Jahrhundert)
Flavius Vespasianus, Titus
Flavius Vespasianus, Titus
Vespasian
Flavier
Geboren 39
Gestorben 81
Mann |
5796 | https://de.wikipedia.org/wiki/Zugspitze | Zugspitze | Die Zugspitze ist mit der höchste Gipfel des Wettersteingebirges und gleichzeitig Deutschlands höchster Berg.
Das Zugspitzmassiv liegt südwestlich von Garmisch-Partenkirchen in Bayern und im Norden Tirols. Ein Teil des Zugspitzmassivs liegt auf österreichischem Staatsgebiet, über seinen Westgipfel verläuft die Grenze zwischen Deutschland und Österreich. Südlich des Berges schließt sich das Zugspitzplatt an, eine Karst-Hochfläche mit zahlreichen Höhlen. An den Flanken der Zugspitze befinden sich zwei der insgesamt vier bayerischen Gletscher: der Nördliche Schneeferner, der in seinem Bestand stark gefährdet ist, und der Höllentalferner.
Die erste namentlich nachgewiesene Besteigung der Zugspitze gelang 1820 dem Vermessungsingenieur und damaligen Leutnant des bayerischen Heeres Josef Naus, seinem Messgehilfen Maier und dem Bergführer Johann Georg Tauschl. Heute gibt es drei Normalwege auf den Gipfel: Von Nordosten aus dem Höllental, von Südosten aus dem Reintal und von Westen über das Österreichische Schneekar. Mit dem Jubiläumsgrat führt eine der bekanntesten Gratrouten der Ostalpen auf die Zugspitze.
Der Berg ist heute mit drei Bergbahnen – der Tiroler Zugspitzbahn, der Bayerischen Zugspitzbahn und der Seilbahn Zugspitze – erschlossen. Im Winter bedienen außerdem mehrere Skilifte ein Skigebiet auf dem Zugspitzplatt. Die Tiroler Zugspitzbahn und die Seilbahn Zugspitze sind Seilbahnen. Die Bayerische Zugspitzbahn ist eine Zahnradbahn, die auf Schienen und meistens in Tunneln zum Zugspitzplatt einige hundert Meter unterhalb der Zugspitze fährt, von wo aus eine weitere Luftseilbahn zur Zugspitze führt.
Name
Ab dem frühen 14. Jahrhundert begann die Aufnahme von Namen aus dem Wettersteingebirge in Verträge und Karten, die sich im 15. Jahrhundert intensivierte. 1536 wurde ein Grenzvertrag aus dem Jahr 1500 präzisiert, in dem der Verlauf über eine „Schartten“ festgelegt wurde. Im 17. Jahrhundert bekam die Scharte im Vertrag die Ergänzung „jetzt Zugspüz genant“. Die erwähnte Scharte bezieht sich auf einen Geländeeinschnitt am Gipfel der Zugspitze und wird in weiteren Quellen immer wieder verwendet. Im Mittelalter war „Scharte“ der verbreitete Name für die Zugspitze.
Die Zugspitze wurde erstmals 1590 namentlich erwähnt. In einer Beschreibung der Grenze zwischen der Grafschaft Werdenfels und Österreich heißt es, dass selbige „von dem Zugspitz und über den Derle“ und weiter zu einer Loisach-Brücke verläuft. Ein weiterer Grenzvertrag besagte 1656: „Der höchste Wetterstain oder Zugspitz“. Aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stammt eine Karte, die das Reintal in der Grafschaft Werdenfels zeigt. Sie stellt das Reintal vom Reintaler Hof bis zum Zugspitzplatt dar und enthält markante Punkte in der Umgebung, Details zur Weidenutzung und Wegverläufe, darunter auch den Weg über den damals wesentlich größeren Schneeferner in die Gipfelregionen der Zugspitze. Ein eindeutiger Weg zum Gipfel ist auf der Karte nicht zu erkennen.
Der Name der Zugspitze leitet sich vermutlich von den „Zugbahnen“ der Lawinen ab, die hier im Winter von den oberen Bereichen des Massivs ins Tal abgehen und charakteristische Lawinenüberreste mit Steinen und Geröll hinterlassen. Beim Eibsee gibt es mehrere Flurstücke mit dem gleichen Namensbezug: Zug, Zuggasse, Zugstick, Zugmösel oder Zugwankel. Bis ins 19. Jahrhundert war als Name der Zugspitz gebräuchlich. In einer Karte aus dem Jahr 1836 wurde daraus die Zugspitze.
Geographie
Lage und Umgebung
Die Zugspitze ist mit einer Höhe von 2962 Metern (Ostgipfel) der höchste Berg des Zugspitzmassivs. Dieser Wert nach dem Amsterdamer Pegel wird als offizielle Höhe vom Landesamt für Digitalisierung, Breitband und Vermessung genannt. Nach dem in Österreich verwendeten 27 cm tiefer liegenden Triester Pegel wird dieselbe Höhe angegeben. Ursprünglich hatte die Zugspitze drei Gipfel: Ost-, Mittel- und Westgipfel. Als einziger davon ist der vollständig in Deutschland liegende Ostgipfel in seiner ursprünglichen Form erhalten geblieben. Der Mittelgipfel fiel 1930 einer Seilbahn-Gipfelstation zum Opfer. 1938 wurde der Westgipfel gesprengt, um Bauplatz für eine geplante Flugleitstelle der Wehrmacht zu gewinnen. Diese wurde jedoch nie gebaut. Ursprünglich hatte die Höhe des Westgipfels 2964 m betragen.
Die Zugspitze erhebt sich elf Kilometer südwestlich von Garmisch-Partenkirchen und knapp sechs Kilometer östlich von Ehrwald. Über den Westgipfel verläuft die Grenze zwischen Deutschland und Österreich. Damit gehört das Zugspitzmassiv zum deutschen Bundesland Bayern und zum österreichischen Tirol. Die verwaltenden Gemeinden sind auf bayerischer Seite Grainau und Garmisch-Partenkirchen, auf der Tiroler Seite Ehrwald. Nach Westen fällt das Zugspitzmassiv in das Tal der Loisach ab, die das Massiv nach Nordosten in einem Bogen umfließt, während im Osten die Flüsse Hammersbach und Partnach entspringen. Südlich trennt das Gaistal mit der Leutascher Ache das Wettersteingebirge von der Mieminger Kette. Im Norden befindet sich der Eibsee zu Füßen der Zugspitze. Der nächsthöhere Berg in der Umgebung ist der Zwölferkogel () in den Stubaier Alpen, so dass für die Zugspitze der Dominanz-Wert 25,8 km beträgt. Als Referenzpunkt für die Schartenhöhe dient die Parseierspitze (). Um sie von der Zugspitze zu besteigen, muss bis zum Fernpass () abgestiegen werden, so dass sich eine Schartenhöhe von 1746 m ergibt.
Zugspitzmassiv
Das Massiv der Zugspitze umfasst weitere Gipfel. Nach Süden wird das Zugspitzplatt in einem Bogen vom Zugspitzeck () und Schneefernerkopf (), den Wetterspitzen (), dem Wetterwandeck (), den Plattspitzen () sowie den Gatterlköpfen () umrahmt. Das Massiv endet mit dem Gatterl (), einer Scharte zum Hochwanner hin. Von der Zugspitze nach Osten verläuft der Jubiläumsgrat in Richtung Alpspitze und Hochblassen über die Höllentalspitzen. In nordöstlicher Richtung zieht der kurze Riffelwandkamm über die Riffelwandspitzen () und die Riffelköpfe (), zur Riffelscharte (). Von hier verläuft der Waxensteinkamm über die Riffelspitzen bis hin zum Waxenstein.
Zugspitzplatt
Das Platt (auch Zugspitzplatt) ist eine Hochfläche unterhalb des Zugspitzgipfels in südlicher und südöstlicher Richtung auf einer Höhe zwischen 2000 und 2650 m. Es bildet den Abschluss des Reintals und ist durch Verwitterung, Verkarstung und glaziale Überprägung entstanden. Die Fläche enthält Rundhöcker, Dolinen, Karren oder Schratten als Folge der Eiszeiten. Außerdem sind von verschiedenen Kaltzeiten Moränen zurückgeblieben. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war das Platt zum letzten Mal vollständig vergletschert. Heute besteht es zu 52 % aus Schutt, zu 32 % aus anstehendem Gestein und zu 16 %, vor allem im mittleren und unteren Bereich, aus Böden mit Vegetation.
Die Mariä-Heimsuchung-Kapelle besteht seit 1981.
Naturräumliche Zuordnung
Die Zugspitze gehört in der naturräumlichen Haupteinheitengruppe Nördliche Kalk-Ostalpen (Nr. 93; Teil der Nördlichen Kalkalpen), in der Haupteinheit Inntaler Riffkalkketten (933) und in der Untereinheit Wettersteingebirge (933.0) zum Naturraum Wettersteinketten (933.04).
Angrenzende Naturräume im Uhrzeigersinn sind: Die Landschaft fällt nach Nordosten in den vom Hammersbach durchflossenen Naturraum Höllental (933.01) ab und nach Osten in den von der Partnach durchflossenen Naturraum Reintal (933.02). Nach Süden leitet sie zu den Wetterspitzen über, um von dort in den zum Naturraum Leutasch (930.32) zählenden Teil Obere Leutasch (930.320) abzufallen. Nach Südwesten bis Westen fällt sie direkt in den Naturraum Ehrwalder Becken (Lermooser Becken; 930.22) ab, der in der Haupteinheit Becken und Talboden zwischen den Hauptgruppen der Nördlichen Kalk-Ostalpen (930) zur Untereinheit Fernpaß-Loisachtaler Becken und Talböden (930.2) gehört. Nach Nordwesten fällt die Landschaft in den am Hohen Egg und an den Pollerköpfen liegenden Naturraum Nordwestlicher Wettersteinsockel (Törlenplatte; 933.00) ab. Nach Norden fällt sie zur beim Eibsee gelegenen Eibseeplatte (930.250) ab und nach Nordosten unter anderem über den Waxenstein zum Südlichen Werdenfelser Mittelgebirge (930.251), die beide Teile des Naturraums Werdenfelser Mittelgebirge (930.25) sind.
Klima
Klimatisch gesehen liegt die Zugspitze in der gemäßigten Klimazone und im Bereich der Westwindzone. Als erstes hohes orografisches Hindernis dieser Westwinde in den Alpen ist die Zugspitze Wetterereignissen besonders ausgesetzt. Es kommt zum „Nordstau der Alpen“, der die feuchten Luftmassen staut und für intensive Niederschläge sorgt. Andererseits hat die Zugspitze damit gleichzeitig eine abschirmende Funktion für südlicher gelegene Alpenteile. Dem Nordstau entgegengesetzt wirkt die Föhn-Wetterlage, die an 60 Tagen pro Jahr in der Region auftritt. Dabei strömen trockene und warme Luftmassen von Süd nach Nord. Sie können im Winter für außergewöhnlich hohe Temperaturen sorgen. Allerdings herrscht auf der Zugspitze trotzdem durchschnittlich an 310 Tagen Frost.
Für die Normalperiode zwischen 1961 und 1990 betrug der jährliche Durchschnittsniederschlag auf der Zugspitze 2003,1 mm, niederschlagsreichster Monat war dabei der April mit 199 mm, niederschlagsärmster der Oktober mit 108,8 mm. Die durchschnittliche Temperatur in dieser Normalperiode betrug −4,8 Grad Celsius, wobei der Juli sowie der August mit 2,2 °C am wärmsten und der Februar mit −11,4 °C am kältesten waren. Durchschnittlich schien die Sonne in der Normalperiode an 1846,3 Stunden im Jahr, am sonnenreichsten war der Oktober mit 188,8 Stunden und am sonnenärmsten der Dezember mit 116,1 h. 2009 war gemäß der Wetterbilanz des Deutschen Wetterdienstes die Zugspitze mit −4,2 °C im Jahresmittel der kälteste Ort Deutschlands.
Die tiefste gemessene Temperatur auf der Zugspitze betrug am 14. Februar 1940 −35,6 °C. Der 5. Juli 1957 brachte die höchste; ihr Wert betrug 17,9 °C. Eine Sturmbö vom 12. Juni 1985 erreichte mit 335 km/h die höchste auf der Zugspitze gemessene Windgeschwindigkeit. Die höchste gemessene Schneehöhe war mit 7,80 m am 26. April 1980.
Geologie
Alle gebirgsbildenden Schichten bestehen aus Sedimenten des Mesozoikums, die sich ursprünglich auf dem Meeresboden abgelagert haben. Der Sockel des Berges besteht aus Alpinem Muschelkalk, der obere Bereich wird von Wettersteinkalk gebildet. Mit bis zu 800 m hohen Steilwänden bildet vorwiegend Wettersteinkalk aus der oberen Trias die Wände, Grate, Türme und das Gipfelgestein des Gebirges. Aufgrund des häufigen Vorkommens von marinen Kalkalgen im Wettersteinkalk ist davon auszugehen, dass dieses Gestein einst in einer Lagune entstand. Die Farbe des Gesteins variiert zwischen grauweiß und hellgrau bis gefleckt. An mehreren Stellen sind Blei und Zinkerze enthalten. Diese Bodenschätze wurden zwischen 1827 und 1918 im Höllental durch Bergbau gewonnen. Die dunkelgrauen, fast waagerechten und zum Teil mit Gras bewachsenen Schichten des Muschelkalks ziehen sich vom Fuß der Großen Riffelwandspitze bis zu den Ehrwalder Köpfen hin. Bei einem Blick auf die Zugspitznordwand ist zu erkennen, dass das Bergmassiv aus ursprünglich zwei Gebirgen bestand, die übereinander geschoben wurden.
Bei einem prähistorischen Bergsturz vor rund 3750 Jahren brachen rund 200 Millionen Kubikmeter Fels aus dem Bayerischen Schneekar gegen den Eibseeboden ab. Die dabei im Talgrund abgelagerten Gesteinsmassen enthalten deutlich mehr Material, als an der Ausbruchstelle zu fehlen scheint. Geologen vermuten deshalb, dass bei dem Ereignis auch ein ursprünglicher, höherer Gipfelaufbau zu Tal fuhr. Daher könnte die Zugspitze noch in geologisch junger Zeit ein Dreitausender gewesen sein.
Gletscher
Im Zugspitzmassiv befinden sich zwei der vier verbliebenen deutschen Gletscher, der Höllentalferner und der Nördliche Schneeferner.
Höllentalferner
Der Höllentalferner liegt nordöstlich der Zugspitze in einem Kar unterhalb des Jubiläumsgrates im Süden und den Riffelwandspitzen im Westen und Norden. Er ist nach Nordosten exponiert. Das Nährgebiet wird von einer Mulde gebildet, in der sich große Lawinen-Schneemengen sammeln. Nach Süden hin schottet der Jubiläumsgrat den Gletscher vor Sonneneinstrahlung gut ab. Diese Umstände führten dazu, dass der Gletscher zwischen 1981 und 2006 nur einen relativ geringen Flächenverlust hatte. Seinen neuzeitlichen Höchststand hatte der Höllentalferner um 1820 mit einer Größe von 47 ha. Danach verlor er kontinuierlich an Fläche, bis er sich zwischen 1950 und 1981 wieder um 3,1 ha auf 30,2 ha vergrößerte. Seitdem verlor der Gletscher bis 2006 eine Fläche von 5,5 ha und war nur noch 24,7 ha groß. Sein höchster Punkt befand sich 2006 auf 2569 und sein niedrigster auf 2203 m.
Schneeferner
Nördlicher Schneeferner
Südwestlich der Zugspitze befindet sich zwischen Zugspitzeck und Schneefernerkopf der nach Osten exponierte Nördliche Schneeferner. Er ist mit einer Fläche von 27,9 ha (2013) der größte deutsche Gletscher, der jedoch Ende des 19. Jahrhunderts noch 103 ha umfasste. Um das Jahr 1820 war das komplette Zugspitzplatt vergletschert, von diesem Plattgletscher sind nur noch der Nördliche und der Südliche Schneeferner übrig geblieben. Grund für die relativ konstante Flächenentwicklung des nördlichen Schneeferners in den letzten Jahren ist trotz fehlenden Schattens die günstige Geländebeschaffenheit. Sie führt dazu, dass der Gletscher eher an Mächtigkeit als an Fläche verliert oder gewinnt. In der jüngeren Vergangenheit wurde der Gletscher darüber hinaus von den Skigebietsbetreibern künstlich genährt, indem große Schneemengen mit Pistenraupen auf den Gletscher geschoben wurden, um die Skisaison zu verlängern. 1993 wurde zudem begonnen, den Nördlichen Schneeferner im Sommer mit Kunststoffplanen abzudecken, um ihn vor der Sonneneinstrahlung zu schützen. Dieses Unterfangen wurde von der Bayerischen Zugspitzbahn 2013 jedoch wieder aufgegeben. Seinen letzten Hochstand hatte der Nördliche Schneeferner im Jahr 1979, als er 40,9 ha maß. Bis zum Jahr 2006 verringerte sich seine Fläche auf 30,7 ha. Der höchste Punkt lag dabei auf 2789 und der niedrigste auf 2558 m. Bis 2013 schrumpfte er weiter auf 27,9 ha.
Südlicher Schneeferner
Der Südliche Schneeferner unter den Wetterspitzen und dem Wetterwandeck wird seit September 2022 von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften nicht mehr als Gletscher angesehen. Auch er war ein Überbleibsel des großen Plattgletschers. Seinen letzten Höchststand hatte er 1979 mit einer Fläche von 31,7 ha. Bis 2022 ging das Eis auf weniger als 1 ha zurück. Das vollständige Abschmelzen der Reste des einstigen Gletschers wird bis spätestens 2024 erwartet.
Permafrost
Der Rückgang des Permafrostes ist ein weltweites Problem. Auch die Zugspitze ist davon nicht ausgenommen. Es gibt einen alten Versorgungsstollen an der Zugspitze. Vor 30 Jahren war der Stollen komplett vereist. Ein Forscherteam der Universität Bonn stellte allerdings fest, dass von den meterdicken Eisschichten nicht mehr viel vorhanden ist. Messungen mit Hilfe von Schallwellen und elektrischer Leitfähigkeit ließen Wissenschaftler auf dasselbe Ergebnis kommen: Im Fels der Zugspitze ist nur noch wenig Permafrost vorhanden.
Das Gestein solch mächtiger Berge wird durch das Eis in den Spalten und Klüften zusammengehalten. Schmilzt dieses, können Teile davon abbrechen. Es wird vermutet, dass vor 3700 Jahren aus diesem Grund ein Bergsturz an der Zugspitze stattgefunden hat, der den Eibsee querte.
Im August 2007 wurde deshalb ein Frühwarnsystem installiert. Am Gipfel der Zugspitze wurde dafür in Nordsüdrichtung ein 60 Meter langer Tunnel mit 12 Zentimetern Durchmesser erstellt. Dieser soll regelmäßig darüber Aufschluss geben, wie viel Eis im Gipfelbereich vorhanden ist.
Höhlen
Unterhalb des Zugspitzplatts haben chemische Verwitterungsvorgänge im Wettersteinkalk eine Vielzahl an Höhlen und Schächten geschaffen. In den 1930er Jahren wurde die Anzahl der Höhlen auf 300 geschätzt; erste Forschungen darin gab es 1931. Bis 1955 waren 62 Höhlen bekannt, bis 1960 wurden 47 weitere entdeckt. Größere Erkundungen fanden 1935, 1936 sowie zwischen 1955 und 1968 statt. Während einer Expedition im Jahr 1958 wurde der Finkenschacht entdeckt, die bis dahin tiefste Höhle der Zugspitze. Er ist 131 m tief, 260 m lang und trifft auf einen Wasserlauf.
Natur
Flora
Die Flora ist aufgrund der Bodenverhältnisse nicht besonders vielgestaltig, doch zeigt sich die Pflanzenwelt vor allem am Schachen, an der Tieferen Wies bei Ehrwald, im Höllen-, Gais- und Leutaschtal besonders farbenfroh.
Der schattige und feuchte Norden des Massivs, wie zum Beispiel der Wettersteinwald, gehört zu den artenreichsten Gebieten der Zugspitze. Die Latschenkiefer reicht bis in Höhen von über 1800 m. Die Wälder darunter bestehen vorwiegend aus Fichten und Tannen, aber auch Heckenkirsche, Waldmeister, Einbeere, Wiesenraute und Ehrenpreis kommen hier vor. An weniger stark bewachsenen Plätzen blühen Schwarze Akelei, Alpenrebe, Blauer- und Gelber Eisenhut, Wetterdistel, Alpenmaßliebchen, Gold-Fingerkraut, Rundblättriger Steinbrech, Mauerhabichtskraut, Bergminze und Alpen-Vergissmeinnicht. Auf den felsigen Böden des Bergwaldes gedeihen Fingerkraut, Klebriger Salbei, Pestwurzen, Alpenrose, Türkenbund, Knabenkraut, Fliegen-Ragwurz; vor allem im Höllental, in Grainau und am Eibsee das Maiglöckchen und der Seidelbast.
Nach Süden hin wandelt sich das Bild in Lärchen-(vorwiegend an der Ehrwalder Alm, im Gais- und Leutaschtal) und Kiefernwälder und in einen Mischwald aus Buchen und Berg-Ahorn. Auch dort wachsen Latschenkiefern auf höheren Lagen bis über 2000 Metern.
Relativ selten sind im ganzen Zugspitzgebiet Linde, Birke, Eberesche, Wacholder und Eibe. Die unterschiedlichsten Arten Moose, die in den Wäldern oft freiliegende Kalksteinfelsen ganz überwuchern, kommen dagegen sehr zahlreich vor.
Begrenzt auf Standorte sauren Bodens sind Heidelbeere, Moosbeere und Preiselbeere. An geschützten Standorten steht der Frauenschuh. Unterhalb der Waxensteine sind Felder mit Himbeeren und vereinzelt auch wilde Erdbeeren zu finden. Bis in eine recht große Höhe gedeihen der Alpen-Mohn und der Gegenblättrige Steinbrech. In den Geröllhalden gibt es Heller- und Hornkräuter sowie den Weißen Silberwurz, Alpen-Leinkraut und Moschus-Steinbrech. Nach der Schneeschmelze sprießen Dunkler Mauerpfeffer und Schnee-Enzian als Erste, ihre Samen beginnen bereits im Herbst zu keimen. Auch die bekannten Alpenblumen Edelweiß, Enzian und selten das Alpenveilchen blühen an der Zugspitze.
Fauna
In den Felsen um die Zugspitze befindet sich der Lebensraum der Gämsen. Auf der Südseite des Massivs ist das Murmeltier verbreitet. Am Zugspitzgipfel findet sich hauptsächlich die Alpendohle, die von fütternden Menschen angezogen wird. Etwas tiefer ist der Bereich des Schneehasen und der Haselmaus. Vorkommende alpine Vögel sind außerdem Steinadler, Alpenschneehuhn, Schneesperling, Alpenbraunelle und Bergfink. Auch die Felsenschwalbe, der die Schwalbenwand am Kreuzeck ihren Namen verdankte, ist häufig anzutreffen. Die Senke von Mittenwald und Seefeld, ebenso wie der Fernpass sind Vogelzugstrassen.
In felsigem Gelände leben die Bergeidechse und der schwarze Alpensalamander, auch „Bergmandl“ genannt, der meist nach einem Regenschauer auf Bergsteigen zu sehen ist. Auf der West- und Südseite des Zugspitzmassivs sind vor allem im Juli und August Schmetterlinge wie Apollofalter, alpine Perlmuttfalter, Bläulinge, Spanner, Mohren- und Dickkopffalter zu beobachten. Die Wälder um die Zugspitze beherbergen Rotwild, Eichhörnchen, Wiesel, Auer-, Hasel- und Birkhuhn. Auf den Gletschern leben Gletscherflöhe und Bärtierchen.
Schutzgebiete
Bis auf den Gipfel der Zugspitze reichen Teile des Landschaftsschutzgebiets Wettersteingebiet einschließlich Latschengürtel bei Mittenwald (CDDA-Nr. 395756; 1976 ausgewiesen; 85,8919 km² groß). Bis an die Gipfelregion heran ziehen sich Teile des Fauna-Flora-Habitat-Gebiets Wettersteingebirge (FFH-Nr. 8532-371; 42,5691 km²) und bis lediglich an die Innere Höllentalspitze heran solche des Naturschutzgebiets Schachen und Reintal (CDDA-Nr. 20723; 1970; 39,6502 km²) und des Vogelschutzgebiets Schachen und Reintal (VSG-Nr. 8532-471; 39,6564 km²).
Gipfelkreuz
Seit 1851 steht auf der Zugspitze ein Gipfelkreuz. Die treibende Kraft zur Errichtung eines Kreuzes auf dem Gipfel war der Pfarrer Christoph Ott. In seiner Eigenschaft als meteorologischer Beobachter auf dem Hohen Peißenberg sah er die Zugspitze aus der Ferne und ärgerte sich darüber, dass „der erste Fürst der bayerischen Gebirgswelt sein Haupt kahl und schmucklos in die blauen Lüfte des Himmels emporhebt, wartend, bis patriotisches Hochgefühl und muthvolle Entschlossenheit es über sich nehmen würden, auch sein Haupt würdevoll zu schmücken.“ Daraufhin organisierte er für den 11. bis 13. August 1851 eine Expedition mit dem Ziel, auf der Zugspitze ein Gipfelkreuz zu errichten. Durch die Partnachklamm und das Reintal erreichten 28 Träger unter der Führung von Forstwart Karl Kiendl die Zugspitze. Die 610 Gulden und 37 Kreuzer teure Unternehmung war erfolgreich. Als Ergebnis stand ein 28-teiliges, 14 Fuß (ca. 4,7 m) hohes, vergoldetes Kreuz aus Eisen auf dem Westgipfel. Pfarrer Ott selbst bestieg die Zugspitze jedoch erst 1854. Nach 37 Jahren hatte das Kreuz durch zahlreiche Blitzeinschläge Schaden genommen; überdies waren die Halterungen stark beschädigt. Im Winter 1881/1882 wurde es daher zum ersten Mal ins Tal gebracht und renoviert. Am 25. August 1882 brachten sieben Bergführer und 15 Träger das Kreuz wieder nach oben. Weil inzwischen eine barackenartige Unterkunft auf dem Westgipfel errichtet worden war, platzierten die Männer das Kreuz auf dem Ostgipfel, der damals nur der zweithöchste war.
Diese Verlegung des Gipfelkreuzes ist wohl auch der Hintergrund einer Legende, wonach Kaiser Franz Joseph I. von Österreich im Jahr 1854 anlässlich der Heirat mit Elisabeth von Österreich-Ungarn („Sisi“) den östlichen Teil des Zugspitzgipfels seinem Vetter Ludwig (damals war er noch nicht König und erst 9 Jahre alt) schenkte. Tatsächlich wurde der (Ost-)Gipfel, der sich bereits seit über 500 Jahren auf bayerischem bzw. freisingischem Gebiet befindet, nie verschenkt, sondern lediglich das Gipfelkreuz versetzt. Der im Karwendelvertrag von 1766 festgeschriebene Grenzverlauf zwischen Werdenfels und Tirol auf der Zugspitze wurde durch den Grenzberichtigungsvertrag zwischen Bayern und Tirol 1844 bestätigt und seither nicht mehr verändert.
Das Kreuz verblieb nach der Versetzung knapp 111 Jahre an seinem neuen Platz, bis es am 18. August 1993 erneut demontiert wurde. Die Beschädigungen stammten dieses Mal nicht nur von Wettereinflüssen, sondern auch von amerikanischen Soldaten, die am Kriegsende 1945 auf das Kreuz geschossen hatten. Weil das Gipfelkreuz nicht mehr zu reparieren war, wurde eine originalgetreue Nachbildung angefertigt. Nach zwei Monaten transportierte die Zahnradbahn das neue Kreuz am 12. Oktober zum Zugspitzplatt, von wo es mit dem Helikopter zum Gipfel geflogen wurde. Das originale Gipfelkreuz ist im Werdenfels-Museum in Garmisch-Partenkirchen zu sehen. Das neue Kreuz hat eine Höhe von 4,88 m. Es wurde 2009 für 15.000 Euro renoviert und neu vergoldet und steht seit 22. April 2009 wieder auf dem Ostgipfel. Während der Bauarbeiten zur neuen Eibseeseilbahn (2015–2017) wurde das Gipfelkreuz beim Enteisen des Baukrans beschädigt. Beim Schwenken des Krans schlug eine Kette einen der dreiteiligen goldenen Strahlen ab, welcher von Bergführern jedoch geborgen werden konnte. Am 17. Oktober 2017 wurde das Kreuz abmontiert und mit einer Transportseilbahn zu Tal befördert, um in einer Schlosserei in Eschenlohe repariert zu werden. Im Dezember 2017 wurde es wieder installiert.
In der Nacht zum 7. März 2019 wurde wiederum eines der vier Elemente des Strahlenkranzes von einem Sturm abgerissen. Ein Mitarbeiter der Zugspitzbahn konnte das fehlende Stück bergen.
2012 wurde ein muslimisches Gebetshaus am Gipfel errichtet. Gleichzeitig wurde im neuen Werbeprospekt ein Foto des Gipfels ohne das Gipfelkreuz veröffentlicht. Die Bildauswahl wurde von den bayerischen Kirchen als Verleugnung der religiösen Wurzeln des Landes und deplatzierte Anbiederung an die muslimischen Gäste kritisiert.
Chronik
Für Aufsehen sorgte am 19. März 1922 der Pilot Franz Hailer, der erstmals ein Flugzeug auf der Zugspitze landete. Die mit Kufen ausgestattete Rumpler-C.-I.-Doppeldeckermaschine landete auf dem Schneeferner, 50 m unterhalb des Gipfels. Am 29. April 1927 gelang Ernst Udet der Start auf dem Schneeferner mit einem Segelflugzeug, er erreichte nach 25 min Flug Lermoos. Per Seilbahn war der in Einzelteile zerlegte Flieger auf die Zugspitze transportiert worden. Im Winter 1931/32 wurde eine Poststelle der damaligen Reichspost auf der Zugspitze eingerichtet. Sie existiert noch heute im Restaurant Sonn Alpin mit der Anschrift: 82475 Zugspitze. Vier Jahre nach dem Segelflugstart gelang 1931 der erste Ballonstart von der Zugspitze.
Im April 1933 wurde der Berg von 24 SA-Männern besetzt, die auf dem Turm der Wetterstation eine Hakenkreuz-Fahne hissten. Einen Monat später formierten sich SA- und SS-Männer auf dem Schneeferner in Form eines Hakenkreuzes. Am 20. April 1945 warf die US-Luftwaffe über der Zugspitze Bomben ab, die die Talstation der Tiroler Zugspitzbahn zerstörten und das Kammhotel beschädigten. Nach Kriegsende beschlagnahmten die Alliierten die Zugspitzbahn und das Schneefernerhaus. 1948 nahm die Deutsche Post eine Richtfunkanlage auf dem Gipfel in Betrieb.
Im September 1948 ließ der Artist Hans Zimmer über die 1000 m tief abfallende Schlucht zwischen Ost- und Westgipfel ein 130 m langes Hochseil zum Turmgebäude der Seilschwebebahn spannen. Den Seillauf bei schlechtem Wetter unternahm Siegward Bach, der dieses Wagnis wie Gisela Lenort später wiederholte. Zwei Mitglieder der Artistenfamilie Traber fuhren dieselbe Strecke 1953 auf einem Hochseil mit dem Motorrad.
Seit 1953 findet auf dem Gatterl jährlich die Gatterlmesse statt. Anlass ist das Gedenken an den Lawinentod von vier bayerischen Grenzpolizisten im Jahr 1952 und an alle tödlich Verunglückten im Zugspitzgebiet.
1962 zerstörte ein Brand das Kammhotel bei der Bergstation der Tiroler Zugspitzbahn. Das Erdbeben von Friaul 1976 wirkte auf der Zugspitze besonders stark; der diensthabende Meteorologe befürchtete, der Beobachtungsturm könnte einstürzen. Auf dem Zugspitzplatt wurde 1981 eine Kapelle gestiftet, die der damalige Erzbischof von München und Freising, Joseph Ratzinger, im Oktober Mariä Heimsuchung weihte. Am 25. März wurde in der Gipfelstation ein Geldautomat installiert, der aber mittlerweile wieder demontiert ist. 1995 erfolgte die Eröffnung eines 450 m² großen Ausstellungsraumes auf dem Gipfel, in dem Künstler halbjährlich wechselnd ihre Werke präsentieren. Ebenfalls 1995 wurde der Grenzverkehr zwischen Deutschland und Österreich auf dem Gipfel freigegeben.
Seit dem Jahr 2000 wird alljährlich der Zugspitz-Extremberglauf ausgetragen. Er sorgte im Juli 2008 für großes Medienecho, als nach einem sommerlichen Wettersturz zwei Teilnehmer an Erschöpfung und Unterkühlung starben.
Ende August 2009 balancierte der Schweizer Freddy Nock auf dem Seil der Zugspitz-Gletscherbahn vom Zugspitzplatt zum Gipfel. Die 995 m lange und bis zu 56 % steile Strecke (Höhenunterschied: 348 m) legte er ungesichert in 50 min zurück. Am 20. August 2011 balancierte Nock wieder über das Seil der Zugspitz-Gletscherbahn, jedoch verzichtete er diesmal auf eine Balancierhilfe.
Im Oktober 2013 lief Felix Neureuther, unterstützt durch den Slackline-Profi Alexander Schulz, auf einer Slackline von der Aussichtsplattform zum Gipfelkreuz. Im Juli 2014 balancierten Alexander Schulz und sein Slackline-Kollege Niklas Winter zwischen den Seilbahnkabinen der Zugspitz-Gletscherbahn.
Alpinismus
Erstbesteigung
Die erste nachgewiesene Besteigung der Zugspitze gelang am 27. August 1820 dem Leutnant Josef Naus und dem Bergführer Johann Georg Tauschl zusammen mit Naus’ Messgehilfen und Offiziersburschen Maier. Bereits am 21. Juli hatte Naus den Weg durch das Reintal bis zum Nördlichen Schneeferner erkundet. Der Leutnant befand sich im Rahmen eines Vermessungsauftrags des Königlich Bairischen Topographischen Bureaus für den Atlas von Bayern im Werdenfelser Land. Als Gruppe stiegen die drei zusammen mit Hauptmann Jetze und Leutnant Antlischek am 26. August zur Hirtenunterkunft Angerhütte auf. Am 27. August um vier Uhr morgens brachen die drei Erstbesteiger in Richtung Zugspitzplatt und Zugspitzgipfel auf. Vom Schneeferner aus versuchten sie, den Westgipfel über den Westgrat zu erreichen. Der erste Versuch schlug fehl, der zweite war erfolgreich. Den Westgipfel erreichten sie schließlich um 11:45 Uhr, wo sie als Zeichen ihrer Anwesenheit einen Bergstock mit Tuch hinterließen. Ein Gewitter und Schneefall ließen die Erstbesteiger schnell wieder absteigen. Sie kehrten am 28. August gegen drei Uhr nachts zur Hirtenhütte zurück. Der Bergführer Tauschl erhielt einen Lohn von zwei Gulden und 42 Kreuzer.
Aufgrund eines Kartenfundes im Archiv des Deutschen Alpenvereins (DAV) gibt es neue Vermutungen über die Erstbesteigung der Zugspitze. Im September 2006 wurde eine historische Karte vermutlich aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die schon früh in Büchern über die Zugspitze erwähnt wurde, aber seit 1945 als verschollen galt, im Archiv des DAV wiedergefunden. Dort ist ein Steig über das Zugspitzplatt zum Gipfel und auf der anderen Seite wieder herunter zum Eibsee eingezeichnet. Eine Zeitentabelle in der Legende dieser Karte aus dem 18. Jahrhundert beschreibt den Weg „ybers blath uf Zugspitze“ und gibt eine realistische Dauer von 8,5 h an, so dass angenommen wird, der Gipfel könnte schon vor 1820 bestiegen worden sein. Diese Annahme ist jedoch umstritten. Kurt Brunner und Thomas Horst vom Lehrstuhl für Kartographie und Topographie an der Universität der Bundeswehr in München veröffentlichten in der Fachzeitschrift für Kartengeschichte Cartographica Helvetica (Heft 35, 2007) eine wissenschaftliche Publikation, die zu folgendem Schluss kommt: „Die aufgefundene Karte des Reintals ist somit keinesfalls ein Beleg für eine frühe Erstbesteigung der Zugspitze.“
Der Historiker Thomas Linder glaubt, dass Hirten oder Jäger mindestens bis in die Gipfelregionen vorgestoßen sind. Denkbar ist auch, dass Schmuggler Wege über den Zugspitz-Gipfel benutzt haben. Bereits 1804 haben in der Umgebung kartographische Aufnahmen für die Grafschaft Werdenfels stattgefunden. Es gibt Mutmaßungen, dass im Zuge dieser Arbeiten der kurfürstliche Ingenieur-Geograph Alois von Coulon auch den Gipfel erreicht haben könnte. Da Coulon für das Topographische Bureau arbeitete, ist es aber äußerst unwahrscheinlich, dass die Besteigung dort nicht zur Kenntnis genommen worden wäre.
Erschließungsgeschichte
Im Jahr 1823 erreichten Simon Resch und der „Schaf-Toni“ zum ersten Mal den Ostgipfel. Auch die zweite Besteigung des Ostgipfels am 18. September 1834 gelang Simon Resch mit seinem Sohn Johann und dem Bergführer Johann Barth. Da Reschs erste Besteigung angezweifelt worden war, wurde dieses Mal auf dem Gipfel ein Feuer angezündet. Am 27. September kam es zur dritten Besteigung des Ostgipfels durch die königlichen Forstgehilfen Franz Oberst und Schwepfinger zusammen mit Johann Barth. Oberst errichtete am Gipfel eine Fahnenstange mit Bayern-Flagge, die vom Tal aus sichtbar war.
Die erste Besteigung von Österreich aus gelang im August 1837. Von Ehrwald aus stiegen die Vermesser Joseph Feuerstein und Joseph Sonnweber auf den Westgipfel und hinterließen dort eine Signalstange mit ihren Initialen.
Zum dritten Mal wurde der Westgipfel am 10. September 1843 durch den Schafhirten Peter Pfeifer bestiegen. Er erkundete den Weg für eine Gruppe von acht Bergsteigern, die den Gipfel später im Auftrag von Bayerns Kronprinzessin Marie erreichten. Sie ließ den Weg für eine eigene Besteigung der Zugspitze prüfen.
Weitere Meilensteine:
Am 22. September 1853 stand mit Karoline Pitzner die erste Frau auf der Zugspitze.
Eine erste Überschreitung zwischen West- und Ostgipfel glückte 1857 dem Münchner Härtringer und dem Bergführer Joseph Ostler.
Den irischen Brüdern Trench und dem Engländer Cluster gelang am 8. Juli 1871 unter Führung der Brüder Joseph und Joseph Sonnweber die Besteigung des Westgipfels durch das Österreichische Schneekar.
Der Weg durch das Höllental auf die Zugspitze wurde am 26. September 1876 zum ersten Mal von Franz Tillmetz, Franz Johannes mit den Führern Johann und Joseph Dengg begangen.
Die erste Winterbesteigung des Westgipfels fand am 7. Januar 1882 statt, die Begeher waren Ferdinand Kilger, Heinrich Schwaiger, Josef und Heinrich Zametzer sowie Alois Zott.
Am 29. Juni 1895 stiegen Hans Gazert und Friedrich Voelcker vom Eibsee durch das Bayrische Schneekar auf den Gipfel.
Der Jubiläumsgrat wurde am 2. September 1897 in seiner ganzen Länge erstmals durch Ferdinand Henning begangen.
Die Besteigungszahlen der Zugspitze stiegen jährlich stark an. Wurde der Gipfel 1854 22-mal bestiegen, gab es bis zum Jahr 1899 schon 1600 Besteigungen. Vor dem Bau einer Seilbahn im Jahr 1926 waren es schon über 10.000.
Normalwege
Zugspitzplatt über Reintal oder Gatterl
Der leichteste der Normalwege führt durch das Reintal und ist der Weg der Erstbesteiger. Gleichzeitig ist er auch der längste Anstieg. Ausgangspunkt ist das Skistadion () von Garmisch-Partenkirchen. Durch die Partnachklamm führt der Weg entlang der Partnach zur Bockhütte (), wo das Reintal beginnt. Oberhalb der Partnach, die zwischendurch versickert, führt der Weg bis zur Reintalangerhütte (). Bis dorthin ist der Anstieg relativ flach, wird danach aber steiler. Von der Hütte geht es durchs Brunntal hinauf zur Knorrhütte (), die am Ostrand des Zugspitzplatts steht. Hier trifft auch die Variante von Ehrwald über das Gaistal und das Gatterl auf den Reintalweg. Über das Zugspitzplatt führt die Route nun in Richtung Nördlicher Schneeferner. Oberhalb der Station Sonn-Alpin beginnt am Punkt 2815 der versicherte Teil des Anstieges zum Zugspitzgipfel. Insgesamt sind auf der Tour 2232 Höhenmeter zu überwinden, die reine Gehzeit beträgt zwischen acht und zehn Stunden.
Höllental
In Hammersbach () beginnt der Anstieg über das Höllental, entlang des Hammersbaches. Der Weg durch die Höllentalklamm wurde in den Jahren 1902 bis 1905 gebaut. Dabei wurden in der 1026 m langen Klamm zwölf Tunnel mit einer Länge von 288 Metern geschaffen. Weitere 569 m Weg wurden als Halbprofil aus dem Fels gesprengt, während 120 m auf Stegen und 49 m über Geröll verlaufen. Die Baukosten betrugen insgesamt 57.000 Mark. Jährlich durchqueren rund 60.000 Menschen die Klamm. Auf dem Stangensteig kann die Klamm auch umgangen werden. Nach der Klamm folgt die Höllentalangerhütte (), danach wird der Höllentalanger überquert. Oberhalb davon quert man das Brett mit Stahlstiften in einer Felswand. Über den Grünen Buckel geht es auf den Höllentalferner zu. Der Gletscher ist im Sommer meist aper, sodass für seine Überquerung Steigeisen nötig sind. Noch größere Schwierigkeiten bereitet aber die Randkluft, da sich das Eis durch Abschmelzung immer weiter vom Fels entfernt. Nach dem Ferner führt ein Klettersteig auf den Gipfel der Zugspitze. Auf dieser Tour sind 2204 Höhenmeter zu überwinden, für die zwischen sieben und acht Stunden benötigt werden. Es besteht auch die Möglichkeit, über den Riffelsteig vom Eibsee auf die Höllentalroute zu gelangen. Über die Riffelscharte trifft der Steig vor dem Brett auf den Tourverlauf.
Schneekar
Ein dritter Aufstieg führt über das Tiroler Schneekar. Ausgangspunkte sind der Eibsee () oder Ehrwald () bzw. die Talstation der Ehrwalder Almbahn (). Die beiden Wege treffen oberhalb des Gamskars zusammen. Danach geht es weiter zur Wiener-Neustädter-Hütte () und durch das Schneekar, an dessen Ende wiederum ein Klettersteig beginnt. In dessen Verlauf wird der Stopselzieher, eine natürliche Auswaschungshöhle durchstiegen. Der Weg trifft danach auf die versicherten Passagen des Reintal-Anstieges. In acht Stunden sind dabei mindestens 2012 Höhenmeter zu überwinden.
Jubiläumsgrat
Eine der bekanntesten Gratrouten der Ostalpen ist der Jubiläumsgrat, der von der Zugspitze nach Osten verläuft und über die Innere (), Mittlere () und Äußere Höllentalspitze () sowie die Vollkarspitze () zum Hochblassen () führt. Davor zweigt die Route in Richtung Grießkarscharte () und zur Alpspitze () ab. Der Grat wurde zwischen 1909 und 1915 von der DAV-Sektion München teilweise mit Drahtseilen versichert. Ursprünglich wurde die Tour Jubiläumsweg genannt, nach einer tragischen Rettungsaktion 1979 ersetzte die Bezeichnung Jubiläumsgrat diese irreführende und Einfachheit suggerierende Benennung. Während der Tour, die kein reiner Klettersteig ist, müssen immer wieder unversicherte Passagen bewältigt werden, die dem unteren III. Schwierigkeitsgrad entsprechen. Die klettertechnische Schlüsselstelle ist eine glatte Rinne (III-). Im Bereich der Vollkarspitze befindet sich die klettersteigtechnische Schlüsselstelle (D). Die Schwierigkeiten auf der ungefähr acht Kilometer langen Kletterstrecke liegen um I und II sowie B. Normalerweise kann die Begehung im Sommer an einem Tag bewältigt werden. Zwischen Mittlerer und Äußerer Höllentalspitze steht die Höllengrathütte (), eine Biwakschachtel. Sie wird meist bei Winterbegehungen genutzt, bei denen die Tour in zwei Abschnitte gegliedert wird. Ein Zustieg zur Tour ist auch von der Knorrhütte über den Brunntalgrat möglich und trifft im Bereich der Inneren Höllentalspitze auf die Route.
Unterkünfte
Im Bereich der Zugspitze befinden sich zahlreiche Berghütten. Im Höllental ist die Höllentalangerhütte () mit 60 Betten und 46 Matratzenlagern ein Stützpunkt. Unterkünfte im Reintal sind die Reintalangerhütte () mit 90 Schlafplätzen und am Rand des Zugspitzplatts die Knorrhütte () mit 108 Übernachtungsplätzen. Die Knorrhütte war 1855 die erste Hütte im gesamten Wettersteingebirge. Alle Hütten sind je nach Witterung von Mai bis Oktober geöffnet. Direkt an der Zugspitze befinden sich mit der Wiener-Neustädter-Hütte und dem Münchner Haus zwei weitere Hütten. Das Schneefernerhaus, ein früherer Hotel- und Gastronomiebetrieb, ist heute eine Forschungsstation und bietet keine Übernachtungsmöglichkeit für Gäste mehr an.
Wiener-Neustädter-Hütte
Als erste Hütte an der Zugspitze wurde die Wiener-Neustädter-Hütte () im Jahr 1884 erbaut. Sie dient für den bereits 1879 eröffneten Klettersteig durch das Österreichische Schneekar als Stützpunkt. Die Hütte befindet sich am Westrand des Kars und steht unterhalb der Tiroler Zugspitzbahn. Vom Österreichischen Touristenklub betrieben, bietet sie 34 Bergsteigern in der Zeit von Juli bis Oktober eine Übernachtungsmöglichkeit.
Münchner Haus
Seit 1883 steht knapp unter dem Westgipfel eine Unterkunft. Damals errichtete die Sektion München des DuOeAV eine Holzhütte mit Platz für zwölf Personen. Obwohl eine weitere touristische Erschließung des Gipfels auch kritisiert wurde, forderten in der Folge immer mehr Mitglieder den Bau einer größeren Hütte. So wurde schließlich das Münchner Haus () errichtet. Zunächst wurde 1896 ein 200 Quadratmeter großer Bauplatz in den Fels gesprengt. Die bis zum 19. September 1897 errichtete Berghütte kostete 36.615 Mark. Sie war mit einer 21 Kilometer langen Telefonleitung und einem 5,5 km langen Blitzableiter versehen. In den Jahren 1911 bis 1914 wurde die Hütte erweitert und erhielt ihr heutiges Aussehen. Sie bietet 30 Betten zur Übernachtung und ist von Mai bis Oktober geöffnet. Es übernachten dort durchschnittlich 2000 Personen pro Jahr, hinzu kommen Tagestouristen.
Schneefernerhaus
Das Schneefernerhaus () war ab 1930 zunächst der Bahnhof der Bayerischen Zugspitzbahn. Im Juni 1931 wurde das angebaute Hotel eingeweiht. Nach dem Krieg beschlagnahmten die US-Streitkräfte das Haus als Recreation Facility (Erholungszentrum). Erst 1952 wurde es wieder freigegeben und renoviert, Wiedereröffnung war im Dezember desselben Jahres. Am 15. Mai 1965 ereignete sich ein schweres Lawinenunglück. Die Lawine hatte sich oberhalb des Hauses gelöst und war über die Sonnenterrasse hinweggefegt. Dabei verloren 10 Menschen das Leben und 21 wurden schwer verletzt. Ende der 1980er Jahre wurde der Bahnhof verlegt und der Hotel- und Gastronomiebetrieb im Januar 1992 eingestellt. Zwischen 1993 und 1997 erfolgte der umfangreiche Umbau zu einer Forschungsstation, die bereits 1996 in Betrieb genommen wurde. Während der Arbeiten kam es 1994 zu einem Brand, der den fünften Stock und das Dachgeschoss völlig zerstörte.
Skisport
Seit 1949 gibt es auf dem Zugspitzplatt ein Skigebiet, gegenwärtig betrieben von der Bayerischen Zugspitzbahn Bergbahn AG auf einer Höhe von 2000 bis . Die Skifahrer erreichen es über die Seilbahnen von Ehrwald und Eibsee aus oder mit der Zahnradbahn. Von den Zugspitz-Gipfelstationen der Seilbahnen bringt eine Großkabinenbahn die Wintersportler zur Station Sonnalpin, wo sich auch die einzigen Restaurants des Gebiets befinden.
Über das Platt verteilt werden die Skifahrer von sechs Liften transportiert. Es gibt zwei Sesselbahnen sowie vier Schlepplifte, von denen zwei als Parallelschleppliftanlagen, das heißt mit zwei gleich langen nebeneinander verlaufenden Anlagen betrieben werden. Die sechs Lifte haben zusammen eine mögliche Förderleistung von 9040 Personen pro Stunde. Die größte Kapazität haben dabei die 6er Sesselbahnen mit jeweils 2200 Personen. Insgesamt sind die Beförderungsanlagen 6380 Meter lang und überwinden einen Höhenunterschied von 1545 m. Der Schlepplift Weißes Tal überwindet mit 350 m den größten Höhenunterschied. Das Gebiet besteht aus 12 Skipisten mit mittlerer Schwierigkeit (rot) und leichter Schwierigkeit (blau), die eine Gesamtpistenlänge von ungefähr 20 Kilometern aufweisen, darunter 13 km mit mittlerer Schwierigkeit. Längste Piste ist der Super G mit 2,9 km bei 500 m Höhenunterschied. Darüber hinaus bestand bis in den Winter 2011/12 ein Funpark und die Möglichkeit, den Gebrauch von Lawinenverschüttetensuchgeräten zu trainieren.
Für Skitourengeher ist besonders die Route von Ehrwald über das Gatterl von Bedeutung. Die „Neue Welt“ genannte südseitig exponierte Abfahrt vom Schneefernerkopf nach Ehrwald gilt als extrem schwierige und gefährliche Steilabfahrt, die neben Steigungen bis zu 40 Grad auch eine Abseilstelle aufweist.
Bahnen
Tiroler Zugspitzbahn
Die erste Luftseilbahn ins Zugspitzmassiv war die Tiroler Zugspitzbahn. 1923 wurde in Reutte die Österreichische Zugspitzbahn AG gegründet, die 1924 eine Konzession zum Bau einer Seilbahn von Ehrwald auf das Zugspitzeck erhielt. Nach 14 Monaten Bauzeit war die Bahn bis Juli 1926 fertig gestellt und ein Hotel, genannt Kammhotel errichtet. Die Bahn endete auf 2805 Metern, sodass mit ihr der Gipfel nicht direkt erreicht werden konnte. Um Skifahrer auf das Zugspitzplatt zu befördern, war ein Tunnel nötig. Er wurde zwischen 1927 und 1929 gebaut und war 700 Meter lang. 1937 übernahm die Bayerische Zugspitzbahn AG mit 99 Prozent die Mehrheit an der Österreichischen AG. Im selben Jahr wurde der Tunnel bis zum Schneefernerhaus verlängert. Nach dem Krieg wurde die Seilbahn als Deutscher Besitz im Ausland enteignet und ging wieder in österreichisches Eigentum über. Am 15. Mai 1964 erfolgte die Eröffnung einer Gipfelseilbahn als Verbindung der österreichischen Endstation mit dem Gipfel.
Im Juli 1991 war der Neubau der Seilbahn von Ehrwald auf den Gipfel abgeschlossen. Sie ist 3,6 Kilometer lang und führt von Ehrwald-Obermoos () über drei Stützen auf die Zugspitze (). Im Februar 2003 beschädigte ein Brand in der Talstation die Bahn schwer. Sie konnte im August desselben Jahres wieder eröffnet werden.
Bayerische Zugspitzbahn
Nach dem Beginn des Baus der Jungfraubahn auf das Jungfraujoch 1896 und der Eröffnung der Gornergratbahn 1898 in der Schweiz gab es auch erste Pläne für eine technische Erschließung der Zugspitze. Ein erstes Gesuch lehnte Prinzregent Luitpold von Bayern 1899 ab, weil er „keinerlei Verkehrsbedürftnis“ sah. 1914 wurde erstmals eine Planungsgenehmigung für eine solche Bahn erteilt, die jedoch wegen des Ersten Weltkrieges scheiterte. 1925 wurde eine weitere Konzession erteilt, die allerdings verfiel.
Am 1. April 1928 erhielt ein Konsortium mit einem Kapital von fünf Millionen Reichsmark die Genehmigung für den Bau einer Bahn zwischen Garmisch-Partenkirchen über den Eibsee hinauf zur Zugspitze, genannt Bayerische Zugspitzbahn. Die Fertigstellung war für den Beginn der Oberammergauer Passionsspiele 1930 geplant. Um diese knappe Bauzeit einhalten zu können, wurde der Zugspitztunnel nicht nur von unten herauf gebohrt, sondern auch von oben und mit Hilfe der Fenster I, III, IV und 0 in der Nordwand vorangetrieben. Über diese künstlichen Wandöffnungen wurden die Arbeiter durch Hilfsseilbahnen mit dem nötigen Material versorgt. Insgesamt bewegten teilweise bis zu 2500 Arbeiter 85.000 Kubikmeter Erde und 160.000 Kubikmeter Fels. Sie verbrauchten dabei knapp 198 Tonnen Sprengstoff. Bei den Bauarbeiten verloren zehn Menschen ihr Leben. Am 8. Februar gelang der Tunnel-Durchbruch zum Zugspitzplatt. Die Eröffnung der Bahn war am 8. Juli 1930, das Hotel Schneefernerhaus am Bahnhof Zugspitzplatt wurde wie die Gipfelseilbahn am 20. Januar 1931 eröffnet. Die Seilbahn wurde 1977 zu einer Großkabinenbahn ausgebaut und 1992 erneut modernisiert.
1950 erbaute man eine Verbindungsseilbahn zwischen Schneefernerhaus und Zugspitzplatt, die 1966 erneuert wurde. Zwischen 1985 und 1988 wurde der Endbahnhof nach unten verlegt, so dass er seitdem mitten im Skigebiet liegt. Zwischen Garmisch () und Grainau () verläuft die Bahn als Reibungsbahn und im Anschluss daran bis zur Endstation Gletscher-Bahnhof () als Zahnradbahn. Die Strecke ist insgesamt 19 km lang, wovon 4,4 km durch den Zugspitz-Tunnel verlaufen. Eine Fahrt dauert ungefähr 45 min. Vom Bahnhof führt die Zugspitz-Gletscherbahn auf den Gipfel. Auf der Bahnstrecke kam es jeweils 1999 und 2000 zu Kollisionen, bei denen mehrere Menschen verletzt wurden.
Eibsee-Seilbahn und Seilbahn Zugspitze
Erste Pläne für eine Seilbahn vom Eibsee zur Zugspitze gab es bereits 1909 mit der Genehmigung zur Projektierung, die 1911 verlängert wurde. Das Projekt scheiterte jedoch zunächst an der Finanzierung. 1960 erhielt die Bayerische Zugspitzbahn AG die Konzession für die Eibsee-Seilbahn. Bis zum Dezember 1962 wurde eine 4500 m lange Seilbahn zwischen Eibsee () und Gipfel gebaut. Sie verlief über zwei 65 und 85 Meter hohe Stützen und überwand 2000 Höhenmeter. Die Neigung betrug bis zu 46 Grad. Bei der Jungfernfahrt am 1. Dezember 1962 führte eine Blockade des elektronischen Bremssystems zum Abbruch der Eröffnung. Die Kabine mit den Ehrengästen war mitten auf der Strecke steckengeblieben. Seilprobleme bei Stürmen sorgten dafür, dass die Bahn ihren Betrieb erst am 15. Mai 1963 aufnehmen konnte. 1973 wurde die obere Stütze von einer Lawine schwer beschädigt.
2017 wurde die alte Seilbahn durch die heutige, leistungsfähigere Bahn ersetzt. Die letzte planmäßige Fahrt der bisherigen Bahn erfolgte am 2. April 2017. Am 21. Dezember 2017 wurde die neue Seilbahn Zugspitze in Betrieb genommen.
Forschung
Wetterwarte Zugspitze
Von Juli 1899 bis Juli 1900 wurde am Münchner Haus ein meteorologisches Observatorium, die Königlich Bayerische Meteorologische Hochstation Zugspitze, angebaut und am 19. Juli 1900 eingeweiht. Erster Wetterbeobachter auf der Bergwetterwarte war der spätere Antarktisforscher Josef Enzensperger, der dort oben sieben Monate überwinterte. Das Observatorium wird seit dem 11. November 1952 vom Deutschen Wetterdienst betrieben. Seit der Inbetriebnahme gibt es von der Zugspitze fast lückenlose Wetterbeobachtungen. Die einzige Unterbrechung der Messreihen trat nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen dem 5. Mai und dem 9. August 1945, als die Alliierten den Gipfel besetzten, ein. Die bis 2018 im 24-Stunden-Dienst besetzte und seither automatisch betriebene Station liefert täglich 24 stündliche Wettermeldungen mit Temperatur, Luftdruck, Strahlung, Windgeschwindigkeit sowie Art und Grad der Bewölkung. Alle sechs Stunden erfolgt eine Niederschlagsmessung und alle zwölf Stunden die Aufnahme der Temperatur-Extremwerte, des Erdbodenzustandes und der Schneehöhe. Die tägliche Sonnenscheindauer misst ein Autograf.
Seit 1994 ist die Wetterwarte Teil des Integrierten Mess- und Informationssystems zur Überwachung der Umweltradioaktivität (IMIS) des Deutschen Wetterdienstes. Bei diesen Messungen werden in jedem Winter erhöhte Caesium-137-Werte gemessen, weil vermehrt radioaktiv verseuchtes Holz verbrannt wird. Diese Radioaktivität ist noch die Folge der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl, wobei die Werte aber unbedenklich sind. Als 1998 in einem spanischen Stahlwerk versehentlich eine Kapsel mit Caesium 137 verbrannt wurde, überschritten die Werte mit 0,000022 Becquerel zum bisher einzigen Mal deutlich den Normalwert.
Neben der vom Deutschen Wetterdienst (DWD) betriebenen Wetterwarte werden in einer Beobachtungsanlage auf dem Gipfel auch Daten für Forschungsprojekte am Institut für Meteorologie und Klimaforschung – Atmosphärische Umweltforschung (IMK-IFU) des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) gesammelt. Dort beschäftigt man sich mit dem Einfluss menschlicher Aktivitäten auf die chemische Zusammensetzung der Erdatmosphäre. Außerdem ist die Zugspitze Teil des Global-Atmosphere-Watch-Programms, das weltweit klimarelevante Stoffe in der Atmosphäre misst. Dafür wurde auf dem Dach der Gipfelstation ein Spektrometer eingebaut, das die Dicke der Erdatmosphären-Schichten feststellt.
Schneefernerhaus
Nach der Schließung des Hotels Schneefernerhaus und seinem Umbau (1993–1997) zur Umweltforschungsstation Schneefernerhaus (UFS) haben ab 1996 verschiedene Institutionen mit ihrer Forschung begonnen. Die Station kann ganzjährig mit den Seilbahnen oder mit einer Sonderfahrt bis zum alten Bahnhof mit der Zahnradbahn erreicht werden. Die Grundausstattung stammt aus Mitteln des Bundesforschungsministeriums und der Deutschen Bundesstiftung Umwelt. Als Dauermieter sind in der UFS der Deutsche Wetterdienst mit Meteorologie und radiologischen Messungen und das Umweltbundesamt mit luftchemischen Messungen beschäftigt. Zuletzt (Stand: 2009) fanden folgende Forschungsprojekte statt: Die UFS bearbeitete ein Projekt, in dem atmosphärische Messdaten von Satelliten auf ihre Verwertbarkeit getestet werden. Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt und das Deutsche Fernerkundungsdatenzentrum beteiligten sich an einem globalen Netzwerk, das eine Früherkennung von Klimasignalen in den oberen Luftschichten ermöglichen soll. In 87 Kilometern Höhe, der Mesopause, wird dazu mit Hilfe eines Infrarotspektrometers der sogenannte Airglow gemessen. Ein weiteres Projekt ist die Messung von klimarelevanten Spurenstoffen in der Troposphäre. Das Karlsruher Institut für Technologie befasste sich am Schneefernerhaus mit der vertikalen Verteilung von Wasserdampf in der Atmosphäre, die mit Lidar gemessen wird. Daneben werden regionale Klimaszenarien berechnet, die eine Abschätzung der langfristigen Wasserverfügbarkeit erlauben.
Das Meteorologische Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) beschäftigt sich mit der Analyse von Wolken und Schnee für die Klima- und Wettervorhersage. Mit einem Mikrowellen-Radiometer wird der Flüssigkeitsgehalt von Wolken bestimmt. Mehrere Institute arbeiten an einem Vorhaben, das mit Hilfe von Fernerkundung die mikrophysikalischen Eigenschaften von Schnee bestimmen soll. Die Freie Universität Berlin forscht an den Streueigenschaften von Aerosolen, die hauptsächlich in Luftschichten bis 3000 Meter auftreten, weshalb das Schneefernerhaus ein geeigneter Forschungsstandort ist. Forschungsschwerpunkt des Helmholtz-Zentrums München ist die kosmische Strahlung und deren Auswirkung auf das Klima. An einem Verfahren zur Probeentnahme aus der Troposphäre zum Zweck der Bestimmung darin enthaltener organischer Schadstoffe arbeitet die Masaryk-Universität. Die LMU und das Bayerische Landesamt für Umwelt überwachen Bayern vom Schneefernerhaus aus seismologisch. Die medizinische Abteilung der Technischen Universität München untersucht Auswirkungen des Hochgebirgsklimas auf Allergien. Das rechtsmedizinische Institut der LMU befasst sich mit Auswirkungen von Luftdruck und Klima in der Höhe auf die Atemalkoholbestimmung.
Sendeanlagen Zugspitze
Von der Zugspitze aus werden neben Richtfunk-Verbindungen Radio- und Fernsehprogramme ausgestrahlt.
Auf dem Turm der Wetterwarte des Deutschen Wetterdienstes befindet sich Deutschlands höchstgelegene Amateurfunk-Relaisstation.
Literatur
Bernd Ritschel, Tom Dauer: Faszinierende Zugspitze. Bruckmann, München 2007, ISBN 978-3-7654-4550-7.
Heinrich Schott: Die Zugspitze – Gipfel der Technik, Triumphe und Tragödien. Süddeutscher Verlag, München 1987, ISBN 978-3-7991-6338-5.
Toni Hiebeler: Zugspitze – Von der Erstbesteigung bis heute. Mosaik, München 1985, ISBN 978-3-88199-216-9.
Fritz Schmitt: Alpinmonographie: Wetterstein – Täler, Grate, Wände. Bergverlag Rother, Ottobrunn 1979, ISBN 978-3-7633-7134-1.
Karten
Kompass Wander-, Bike- und Skitourenkarte: Blatt 25 Zugspitze, Mieminger Kette (1:50.000). Rum/Innsbruck 2008, ISBN 978-3-85491-026-8.
Bayerisches Landesvermessungsamt: Topographische Karte Blatt 8531/8631: Zugspitze (1:25.000). 2007, ISBN 978-3-86038-316-2.
Deutscher Alpenverein: Alpenvereinskarte 4/2 – Wetterstein und Mieminger Gebirge Mitte (1:25.000). 5. Auflage. Alpenvereinsverlag, München 2007, ISBN 978-3-928777-20-9.
Filmografie
Die Unverfrorenen – Eine Wintersaison auf der Zugspitze. Birgit Meißner, 2004: Fünfteilige Dokumentation aus verschiedenen Perspektiven über einen Winter auf und an der Zugspitze
Gipfelsturm. Bernd Fischerauer, 2006: Spielfilm über die Erstbesteigung 1820
Die Zugspitze – Berg der Kontraste. Wolfgang Thaler, 2007
Wildes Deutschland: Die Zugspitze – Eine Reise auf Deutschlands höchsten Berg. Jürgen Eichinger, 2015.
Weblinks
Reintal-Route, auf sueddeutsche.de
Jubiläumsgrat, Alpin-Tourenbuch, auf alpin.de
ZUGSPITZE 360°, über die Höllentalroute auf die Zugspitze
Anmerkungen
Einzelnachweise
Berg im Landkreis Garmisch-Partenkirchen
Berg im Wettersteingebirge
Geographie (Garmisch-Partenkirchen)
Wintersportgebiet in Deutschland
Wintersportgebiet in Tirol
Meteorologische Beobachtungseinrichtung
Berg als Namensgeber für einen Asteroiden
Grenze zwischen Deutschland und Österreich
Geographie (Ehrwald)
Geographie (Grainau) |
9405 | https://de.wikipedia.org/wiki/Senftenberg | Senftenberg | Senftenberg, , ist eine Mittelstadt im Süden Brandenburgs. Sie ist die Kreisstadt des Landkreises Oberspreewald-Lausitz und befindet sich an der Schwarzen Elster sowie am Senftenberger See, der einer der größten künstlich angelegten Seen Deutschlands ist. Senftenberg selbst liegt in der Niederlausitz und ist deren viertgrößte Stadt, während sich einige 2001 eingegliederte Ortsteile in der Oberlausitz befinden.
Seit dem 9. September 2016 trägt Senftenberg in den an den Senftenberger See grenzenden Ortsteilen Senftenberg-Kernstadt, Großkoschen (mit dem Gemeindeteil Kleinkoschen) und Niemtsch das Prädikat Staatlich anerkannter Erholungsort.
Die Stadt befindet sich am Westrand des amtlichen Siedlungsgebietes der Sorben/Wenden.
Geografie
Geografische Lage
Senftenberg befindet sich im Süden des Bundeslands Brandenburg in der Grenzregion zu Sachsen. Während die Kernstadt, Brieske, Sedlitz sowie Groß- und Kleinkoschen zur Niederlausitz gezählt werden, befinden sich Niemtsch, Peickwitz und Hosena bereits in der Oberlausitz. Die Stadt liegt an der Schwarzen Elster und am Senftenberger See. Senftenberg bildet mit Hoyerswerda den Kern des Lausitzer Seenlandes. Dabei handelt es sich um die künftig größte künstliche Seenplatte Europas mit einer Gesamtausdehnung von Westen nach Osten von ungefähr 80 Kilometern, von Norden nach Süden (je nach Abgrenzung) zwischen 32 und 40 Kilometern.
Senftenberg liegt etwa 40 Kilometer südwestlich von Cottbus und etwa 60 Kilometer nördlich von Dresden.
Das Stadtgebiet ist Teil der Ruhland-Königsbrücker Heide und gehört damit zur Landschaft des Oberlausitzer Heidelands.
Nachbarstädte und -gemeinden
Die Senftenberger Nachbarstädte und -gemeinden vom Nordosten ausgehend über Westen bis nach Süden gehören zum Landkreis Oberspreewald-Lausitz. Die nördliche Nachbarstadt Senftenbergs ist Großräschen, jedoch getrennt durch den entstehenden Großräschener See. Im Nordosten grenzt die Gemeinde Neu-Seeland des Amts Altdöbern und im Nordwesten die Gemeinde Schipkau an. Die westliche Nachbarstadt ist Schwarzheide, im Südwesten liegen die Stadt Ruhland und das Amt Ruhland. Südlich benachbart ist die Gemeinde Hohenbocka, die ebenfalls zum Amt Ruhland gehört.
In südöstlicher und östlicher Richtung liegen bereits sächsische Städte und Gemeinden des Landkreises Bautzen, so im Osten die Gemeinde Elsterheide mit den Ortsteilen Geierswalde und Klein Partwitz und im Südosten die Stadt Lauta mit ihren Ortsteilen. Geierswalde und Klein Partwitz liegen an den nach ihnen benannten Seen, dem Geierswalder und dem Partwitzer See, die aus ehemaligen Tagebauen entstehen.
Geologie
Das Senftenberger Stadtgebiet befindet sich auf einer sandbedeckten Platte auf dem Grauwackemantel des Lausitzer Granitmassivs. Diese Grauwacke tritt an manchen Stellen direkt zu Tage und bildet mit dem Koschenberg die höchste Erhebung der Elsterniederung.
Senftenberg liegt im Lausitzer Urstromtal der Schwarzen Elster, das ein Teil des Breslau-Magdeburger Urstromtales ist. Tagebautätigkeiten gestalteten seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Landschaft dieses Urstromtals und der angrenzenden Sander vollkommen um. Die ältesten Gesteine entstammen dem jungen Präkambrium und sind etwa 600 bis 700 Millionen Jahre alt. Dabei handelt es sich um metamorphe Grauwacke in 150 bis 200 Metern Tiefe. Darüber gibt es eine Schichtlücke, die das Zeitalter vom Paläozoikum bis zum Mesozoikum umfasst. Diese ist auf fehlende Sedimentation oder auf Erosion zurückzuführen. Darüber lagern tertiäre Sedimente in denen vier Braunkohleflöze eingelagert sind. Das jüngste ist das Lausitzer Oberflöz (1. Lausitzer Flözhorizont), das bereits in den vergangenen 120 Jahren vollständig abgebaut wurde. Dieses Flöz hatte eine durchschnittliche Mächtigkeit von 22 Metern. Das Lausitzer Unterflöz (2. Lausitzer Flözhorizont) ist durch pleistozäne Erosion durch das eiszeitliche Schmelzwasser in eine Vielzahl von Feldern zerschnitten worden. Der 3. Lausitzer Flözhorizont ist in der Senftenberger Gegend nicht stark ausgeprägt; teilweise besteht er nur aus Schluff. Der vierte und älteste Flözhorizont wird aufgrund seiner tiefen Lage nicht abgebaut. Über diesem Flözhorizont lagerten sich die Spremberger Schichten (helle Tone und grobe Sande) ab. Diese bildeten sich durch die Heraushebung und einsetzende Verwitterung des Oberlausitzer Berglandes. Das abgetragene Material wurde nach Norden in das tertiäre Meer transportiert, das die Gegend um Senftenberg bedeckte. Über den Spremberger Schichten lagern der Braunkohleschluff (3. Flözhorizont) und darüber die Briesker Schichten. Dabei handelt es sich um 30 bis 40 Meter hohe Meeressedimente (Glimmersande). Diese Schichten werden vom 2. Flözhorizont bedeckt, der durch die Raunoer Schichten abgeschlossen wird. Die Raunoer Schichten bestehen aus hellem Ton und Quarzsand und entstanden durch erneute Hebungen im weiter südlich gelegenen Oberlausitzer Bergland. Darüber lagerte das jüngste Kohleflöz, das von pleistozänen Sanden mit einer Mächtigkeit von 10 bis 15 Metern bedeckt war.
Stadtgliederung
Zur Stadt Senftenberg gehören folgende Ortsteile, bewohnten Gemeindeteile und Wohnplätze (amtliche niedersorbische Namen in Klammern):
Brieske (Brjazki)
Großkoschen (Kóšyna) mit dem Gemeindeteil Kleinkoschen (Kóšynka)
Hosena (Hóznja)
Niemtsch (Nimješk)
Peickwitz (Tśikojce)
Sedlitz (Sedlišćo)
Hinzu kommen die Wohnplätze Ausbau, Brieske Dorf (Brjazki Wjas), Buchwalde (Bukojna), Hostenmühle (Hozdny Młyn), Koboldmühle (Kobołtowy Młyn) und Wochenendhausgebiete Waldeck.
Mit dem Stadtgebiet verschmolzen sind die bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts eingemeindeten ehemaligen Vororte Buchwalde, Jüttendorf (Wjaska), Thamm (Gat) sowie Neusorge (Nowe Městko). Die früheren Wohnplätze Brieske Ost (Brjazki Pódzajtšo), Laugkfeld (Ług), Peickwitz Flur (Na Tśikojskich) und Siedlung (Sedlišćo) werden ebenfalls nicht mehr amtlich geführt.
Geschichte
Ortsname
Der Name der Stadt leitet sich von mittelhochdeutschen Wort für „sanft am Berg“ ab, da die Stadt von Hügeln und Bergen, wie zum Beispiel dem Koschenberg im Südosten und den Raunoer Bergen im Norden, umgeben war; eine Namensübertragung durch die Siedler ist ebenso denkbar.
Eine ältere, heute aber nicht mehr als gültig angesehene Erklärung für den Namen der Stadt stellt die Ableitung von „sumpftenburg“ dar. Die Teilwörter sumpften und Burg sollten die naturräumlichen Gegebenheiten der Stadtentwicklung erklären. Die Burg, in deren Schutz sich die Stadt entwickelte, war von den Sumpfgebieten Laugk und Haag umgeben. Die Flüsse Schwarze Elster, Storchelster und Wolschinka speisten die Sümpfe, so dass Senftenberg wie eine Insel von Wasser und Sümpfen umgeben war.
Der sorbische Name Senftenbergs lautet Zły Komorow. Dafür gibt es die beiden möglichen Übersetzungen „Schlimmer Mückenort“ und „Schlimme Kammer“. Die erste Variante ist auf die naturräumliche Lage Senftenbergs in Sumpfgebieten und das damit verbundene starke Auftreten von Mücken zurückzuführen (altsorbisch komor, komar = „Mücke“). Variante zwei leitet Komorow von Kammer (sorb. komora, komorkaide) ab und bedeutet in diesem Falle „Gerichtsstand“ oder „Gericht“.
Geschichte
Ur- und Frühgeschichte
Bereits in der Jungsteinzeit siedelten Menschen in der Gegend um Senftenberg und im Elstertal. Darauf weisen Steinwerkzeuge hin, die bei Grabungsarbeiten in der Schmiedestraße gefunden wurden.
Urnen- und Buckelurnenfunde (z. B. am Koschenberg) weisen auf eine Besiedlung während der Bronze- und frühen Eisenzeit (900 bis 500 v. Chr.) hin. Bei Tagebauarbeiten wurde im Laugk 1931 ein Ringwall mit Pfostenhäusern aus der letzten Periode der frühen Eisenzeit entdeckt. Die Siedlungsscherben sind dem Billendorfer Typ zuzuordnen. Diese Siedlung war durchgehend von ungefähr 650 Personen bewohnt. Die Grabungen am Burgwall von Senftenberg leitete Alfred Götze aus Berlin.
Mittelalter
Senftenberg wurde im Zuge der deutschen Ostsiedlung gegründet. Die Siedlung Senftenberg entwickelte sich im Schutze einer Burg (heute das Schloss der Festungsanlage), die deutsche Ritter errichteten. Die Stadt lag westlich der Burganlage und war planmäßig angelegt. Sie besaß einen kreisförmigen Grundriss, die Häuser waren um den trapezförmigen Marktplatz angeordnet. Durch Senftenberg führte von West nach Ost die Via Regia Lusatiae Inferioris (Niederstraße). Da die Stadt im Norden und Osten durch Gewässer (Schwarze Elster und Storchelster) und Sümpfe (z. B. den Laugk) geschützt war, verlief die Stadtmauer südlich und westlich der Stadt mit jeweils einem Stadttor im Osten und Westen. Das Stadttor im Westen hieß Kreuztor und das im Osten Schlosstor. Die Bezeichnung des Kreuztores und der davon zum Markt führenden Kreuzstraße leiten sich von der Kapelle Zum Heiligen Kreuz ab, die unweit im Vorort Jüttendorf stand.
Die älteste nachweisliche Erwähnung Senftenbergs findet sich in einer am 6. Oktober 1279 unterzeichneten Urkunde. Diese befindet sich heute im Brandenburgischen Hauptstaatsarchiv Potsdam. Darin bescheinigte Markgraf Heinrich der Erlauchte dem Kloster Dobrilugk den Erwerb des Dorfes Dobristroh von Otto von Schlieben. Die Lage des Ortes wird mit zwischen civitatem Calowe et Sennftenberc angegeben. Im Jahr 1301 wird Senftenberg erstmals als oppidum et castrum bezeichnet. Die Einwohner lebten vorwiegend vom Acker-, Obst- und Weinbau sowie von der Fischerei. Die Handwerker (Töpfer, Böttcher, Leineweber und Korbmacher) produzierten hauptsächlich für den eigenen Bedarf. Die Niederungen der Schwarzen Elster ermöglichten nur wenig ertragreiche Ernten. Deshalb bewegte sich die Einwohnerzahl im Mittelalter nur zwischen etwa 300 und 400 Einwohnern. Im Jahr 1423 wurden die Senftenberger Ratsherren erstmals genannt. Die Stadt war in Viertel eingeteilt, jedem Viertel stand ein Viertelmeister oder Ratsverwandter vor. Er vertrat die Interessen seines Viertels vor dem Rat, sorgte für die Einhaltung der städtischen Ordnung und übernahm die Organisation seines Viertels bei der Brandbekämpfung oder Stadtverteidigung.
Im Jahr 1290 werden Johann und Konrad von Senftenberg als erste Besitzer der Burg genannt. Nach kurzer brandenburgischer Herrschaft Anfang des 14. Jahrhunderts galt die Stadt Senftenberg wie die gesamte Lausitz ab 1368 als böhmischer Besitz. Unter den Herren von Penzig und von Gorenz war die Burg Senftenberg zu Beginn des 15. Jahrhunderts ein Raubnest. Im Jahr 1413 übernahm der Landvogt und spätere Pfandinhaber (ab 1422) der Niederlausitz, Hans von Polenz, den Ort mit der gesamten Markgrafschaft. Hans von Polenz besaß bereits seit 1406 einen Teil von Senftenberg, er setzte dem Raubrittertum ein Ende. Als die Hussiten auf ihren Kriegszügen in die Niederlausitz eindrangen, blieb der Ort Senftenberg 1431 von Plünderungen verschont. Hans von Polenz' Verwandter, Nickel von Polenz (welcher der Vormund der Söhne des 1437 verstorbenem Landvogtes Hans von Polenz war), verkaufte 1448 die Stadt und Herrschaft Senftenberg an die Wettiner unter Herzog Friedrich II. Hiernach gehörte der Ort fast 400 Jahre zu Sachsen.
Im Jahr 1453 bestätigte die Frau des sächsischen Kurfürsten Friedrich des Sanftmütigen Margaretha von Österreich Senftenberg das Recht, einen Jahrmarkt vor Sankt Galli (16. Oktober) abzuhalten.
Frühe Neuzeit
Die sächsischen Kurfürsten ließen die alte Burg nach italienischem Vorbild unter dem Amtshauptmann Hans von Dehn-Rothfelser und dem Italiener Graf Rochus von Lynar zu einer moderneren Verteidigungsanlage ausbauen.
Die Reformation in Senftenberg begann 1539. Im Jahr 1550 belehnte der Kurfürst den sächsischen Minister Georg von Carlowitz mit dem Amt Senftenberg. Er ließ eine hölzerne Röhrfahrt anlegen, die die Senftenberger Brunnen mit Trinkwasser versorgte. Das Wasser gelangte aus den nördlich von Senftenberg gelegenen Weinbergen aus dem Flurstück Soienza in der Nähe des Ortes Sauo nach Senftenberg. Die Röhrfahrt blieb bis in das 19. Jahrhundert bestehen. Die älteste erhaltene Darstellung Senftenbergs und des Schlosses stammt aus dem Jahr 1628. Dabei handelt es sich um eine vom sächsischen Baumeister Wilhelm Dilich gefertigte Federzeichnung.
Im Jahr 1512 wird erstmals ein Rathaus als Sitz des Amtshauptmanns Dehn-Rothfelser erwähnt. Die Stadtbrände 1641 und 1670 zerstörten dieses Rathaus. Nachdem ein erneuter Stadtbrand das 1680 neu gebaute Rathaus im Jahre 1717 beschädigte, wurden dessen Reste im selben Jahr abgetragen und ein kleines schmuckloses Ratsgebäude errichtet. Während des Dreißigjährigen Krieges mussten das Schlosstor und Teile der Stadtmauer auf Befehl des Kurfürsten 1642 aus strategischen Gründen abgetragen werden.
Im 16., 17. und frühen 18. Jahrhundert hemmten zahlreiche Katastrophen die Entwicklung Senftenbergs. So zerstörten große Brände (1509, 1512, 1525, 1530, 1641, 1670 und 1717) die Stadt mehrfach vollständig. Die Pest, die u. a. in den Jahren 1567 und 1630 ausbrach, dezimierte die Bevölkerung der Stadt. Die Bevölkerung hatte unter den großen Kriegen der damaligen Zeit zu leiden. Im Dreißigjährigen Krieg quartierten sich schwedische Truppen in Senftenberg ein. Im Jahr 1641 kam es zu einem kleinen Gefecht mit den Schweden in der Soienza bei Sauo, dabei starben 15 Senftenberger. In den Jahren 1679 und 1686 hatten die Einwohner unter großen Dürreperioden zu leiden. Im Nordischen Krieg folgten erneute Truppeneinquartierungen, so 1704/1705 russischer und 1706/1707 schwedischer Truppen. Im Siebenjährigen Krieg litt die Stadt erneut unter Kontributionen und Einquartierungen; am schlimmsten war ein dreitägiges preußisches Feldlager mit 46.000 Mann auf der Senftenberger Feldmark.
Während der Befreiungskriege kam es unweit des Alten Friedhofs zu einem Erkundungsgefecht zwischen Husaren des Freikorps Hellwig und Truppen des französischen Marschalls Ney.
Vom Wiener Kongress bis zur Industrialisierung
Im Ergebnis des Wiener Kongresses verloren die Wettiner 1815 das sächsische Amt Senftenberg an Preußen. Ende des 19. Jahrhunderts und während des gesamten 20. Jahrhunderts erlebte die Stadt ein enormes Wachstum durch den Braunkohlebergbau, der zunächst unter, dann über Tage stattfand. Durch den Tagebau wurde die Schwarze Elster mit ihrer Artenvielfalt in den Auen in das nördlich fließende Bett der Sornoer Elster gezwängt; durch die Senkung des Grundwasserspiegels wurden die grundwassernahen und sumpfigen Niederungen trockengelegt.
Während der Separation wurden in Senftenberg die Grundstücke so verteilt, dass jeder Ackerbauer ein Stück Ackerland, Wiese und Wald bekam. Die Separation wurde unter der Amtszeit von Bürgermeister Moritz Blankenberg (Amtszeit: 1845–1889) abgeschlossen. Die Äcker lagen im Nordwesten und Südwesten der Stadt im Viertel an der Windmühle und in der Dubina. Die Wiesen befanden sich östlich und nordöstlich der Stadt in den Sumpfgebieten des Laugk. Die Namen der Flurstücke sind zum Teil sorbischen Ursprungs und weisen auf natürliche Besonderheiten hin, so bezeichnet Dubina einen Ort, an dem Eichen wachsen, und Laugk den Ruf der Frösche. Im Laugk stachen die Bauern Torf. Er war von Kanälen durchzogen. Mit Kähnen (ähnlich den Spreewaldkähnen) konnten die Bauern auf diesen Kanälen ihre Waren zum Markt transportieren. Im Norden der Stadt lagen die Senftenberger Weinberge. Neben den Ackerbauern gab es in Senftenberg auch Handwerker. Das am häufigsten anzutreffende Handwerk war die Gerberei. Dies war bedingt durch die in der Niederlausitz betriebene Schafzucht und wurde zudem durch die vorhandenen großen Mengen sauberen Wassers begünstigt, das für das Gerberhandwerk benötigt wurde. Auf Grund des Wassers gab es zahlreiche Färber.
Um 1860 wurde bei Senftenberg Braunkohle entdeckt. Der Senftenberger Mühlenmeister Heinrich Schönerstedt ließ im April 1866 den Schacht Heinrich teufen. Der Abbau der Braunkohle erfolgte unter Tage im Pfeilerbruchbau. Die Henkelschen Kohlewerke Senftenberg erwarben 1869 den Schacht und weitere Lagerstätten in der Raunoer Hochebene. Im selben Jahr nahm der Förderstollen Emilia der Henkelschen Werke seinen Betrieb auf. In den folgenden Jahren nahmen Gruben und Brikettfabriken ihre Tätigkeit auf. Mit dem Aufschluss von Tagebauen verlor der bis zum Ersten Weltkrieg dominierende Tiefbau an Bedeutung. Im Jahr 1906 schloss die Ilse Bergbau AG den Tagebau Marga bei Brieske auf und begann mit dem Abbau der Braunkohle aus dem Lausitzer Unterflöz.
In den 1870er Jahren wurde Senftenberg aufgrund der Bedürfnisse des Tagebaus an das Eisenbahnnetz angeschlossen. Das Bahnhofsgebäude wurde 1869 im Norden der Stadt gebaut, dadurch dehnte sich die Stadt über den bisherigen Altstadtring in diese Richtung aus. An der von 1852 bis 1856 ausgebauten Kreischaussee der späteren Bahnhofstraße entstanden erste Gärten und in einiger Entfernung Wohnhäuser. Der angrenzende Laugk wurde durch die Verlegung der Schwarzen Elster entwässert; damit wurde weiteres Siedlungsland gewonnen. Die Bahnhofsstraße war zur damaligen Zeit noch von Kanälen umgeben. Im Jahr 1899 wurden diese Gräben aufgrund des zurückgehenden Grundwassers zugeschüttet. In den Jahren 1882/83 wurde an der Bahnhofstraße ein Kaiserliches Postamt gebaut. In den 1920er Jahren entstanden Wohnhäuser an der Bahnhofstraße und verdrängten die Gärten. Die Straße wurde mit Bäumen bepflanzt und zu einer prächtigen Allee ausgebaut. Durch die sich ausbreitende Stadt hatte die alte Stadtbefestigung ihre Bedeutung verloren und wurde allmählich abgetragen; so wurde beispielsweise das Kreuztor 1848 entfernt, da im Jahr zuvor ein Fuhrmann mit seinen Wagen darin stecken blieb.
Unter Bürgermeister Karl Ziehm (Amtszeit: 1896–1913) wurden die Straßen gepflastert; Senftenberg bekam einen Anschluss an das Gasnetz und eine neue Wasserversorgung. Im Mai 1910 wurde das Gerichtsgebäude eingeweiht. Bürgermeister Emil Kieback (Amtszeit: 1913–1917) plante die Kanalisation, dieses Projekt setzte sein Nachfolger Albert Seedorf (Amtszeit: 1918–1930) um. Unter Seedorf wurde gleichfalls der Stadtomnibusverkehr eingerichtet und Senftenberg an die Telefonleitung Berlin–Wien angeschlossen. Das Gebiet um das Senftenberger Schloss wurde ab 1912 zu einem Stadtpark ausgebaut.
Die Industrialisierung und der damit verbundene Zuzug fremder Arbeiter verdrängte das zuvor vorherrschende Sorbische nahezu vollständig.
Im Jahr 1928 fasste die Ratsversammlung den Beschluss, das 1717 gebaute Rathaus durch einen Neubau zu erweitern. Bereits im September 1928 wurde der Turmknopf mit einem Durchmesser von 35 Zentimetern aufgesetzt. Am 1. Januar 1929 wurde der Bau eingeweiht.
Nationalsozialismus und Zweiter Weltkrieg
Am 30. März 1933 musste Bürgermeister Herrmann Lindemann (ehemals SPD) zurücktreten, sein Amt übernahm Erich Beiche kommissarisch.
Nach der Eingemeindung der im Westen und Nordwesten liegenden Vorstädte Jüttendorf und Thamm dehnte sich Senftenberg in den 1930er Jahren Richtung Südwesten aus. Die Vogelsiedlung im Südwesten und die Siedlung Beim Kreuzchen im Westen der Stadt entstanden. Im Nordosten der Stadt baute die Hallesche Pfännerschaft im trockengelegten Laugkfeld Braunkohle ab.
Zu Beginn der Zeit des Nationalsozialismus richtete die SA in der Turnhalle der ehemaligen Realschule in der Schulstraße das Konzentrationslager Senftenberg ein, in dem mehr als 265 Gegner der Nazis aus der KPD, der SPD und den Gewerkschaften interniert und gefoltert wurden. Am 9. November 1938 kam es in Senftenberg wie in vielen anderen deutschen Städten zu Übergriffen auf jüdische Bürger und Plünderungen von Geschäften. Die Menschen wurden zum Teil auf den Marktplatz getrieben und waren körperlichen Übergriffen und Beschimpfungen ausgesetzt. Ein tragisches Beispiel ist der Rechtsanwalt Rudolf Reyersbach. Er wurde von seinem Haus über die Bahnhofstraße bis zum Markt geschleift und am Boden liegend getreten. An den Folgen des Übergriffs starb er auf der Polizeiwache. Im Gedenken an ihn wurde zu DDR-Zeiten die Straße, in der er lebte, nach ihm benannt. Sie trägt noch heute seinen Namen. Andere wurden, wie Saul Rosenzweig, in das Konzentrationslager Buchenwald verschleppt.
Während des Zweiten Weltkrieges wurde im Ortsteil Großkoschen auf dem Gelände des Koschenberges 1944 ein Außenlager des KZ Groß-Rosen errichtet, belegt mit 600 bis 800 Häftlingen, die unter unmenschlichen Bedingungen lebten und abgeschossene Flugzeuge und Flugzeugteile zerlegen mussten. Die Todesrate war hoch. An die Toten erinnert seit 1977 ein Ehrenmal an der Südseite des Senftenberger Sees.
Am 20. April 1945 um 17:00 Uhr lag Senftenberg, das zur Festung erklärt worden war, unter sowjetischem Artilleriebeschuss. Im Morgengrauen des 21. April 1945 rückte die Rote Armee (1. Ukrainische Front unter Marschall Konew) in die Stadt ein. Senftenberg wurde kampflos eingenommen. Bedauerlicherweise verunglückten sowjetische Soldaten in der Dunkelheit des frühen Morgens in den unter Wasser stehenden Tagebauen. Der sowjetische Kommandierende befahl die Unterbrechung des Lebensmittelhandels und der Lebensmittelausgabe für eine Anzahl von Tagen, die der Anzahl der verunglückten Sowjetsoldaten entsprach. Den gefallenen sowjetischen Soldaten wurde an der Westseite des Neuen Friedhofs durch Ernst Sauer ein Ehrenmal geschaffen. Es stellt eine Blume dar, die von Bajonetten geschützt wird. Kriegseinwirkungen zerstörten 53 Gebäude, unter anderem wurde die Turmhaube der Peter-und-Paul-Kirche beschädigt. Am stärksten waren die Kreuzstraße und die Bahnhofstraße von den Kriegsschäden betroffen. Die Häuser der Bahnhofstrasse wurden überwiegend von freigelassenen und nun heimziehenden Kriegsgefangenen aus Zorn über die erlittenen Repressalien in Brand gesteckt. Durch den Zweiten Weltkrieg starben 861 Senftenberger, und 625 kehrten als Invaliden heim.
Zusammen mit der Roten Armee kamen auch Mitglieder einer Initiativgruppe des Nationalkomitees Freies Deutschland (der Initiativgruppe Ackermann) nach Senftenberg. Es waren die deutschen Antifaschisten Hans Weiß und Rudolf Rutzen, die sofort die Leitung der Stadtverwaltung übernahmen und eine antifaschistisch-demokratische Ordnung in Senftenberg errichteten.
Nachkriegszeit bis heute
Sofort nach dem Zweiten Weltkrieg begann durch die Senftenberger der Wiederaufbau der teilweise zerstörten Stadt. Bereits am 1. Juni 1945 öffneten zwei Kindergärten und im Oktober die ersten Schulen. Die Arbeitsfähigkeit der mutwillig gefluteten Tagebaue wurde wiederhergestellt und bereits im Dezember 1945 konnte wieder Braunkohle gefördert werden. Das kulturelle Leben wurde wiederbelebt; so wurde auf Befehl des ersten Kreis- und Stadtkommandanten, des sowjetischen Gardeobersten Iwan Demjanowitsch Soldatow, 1946 in der Turnhalle und Aula der Walther-Rathenau-Schule das Stadttheater Senftenberg (später in „Theater der Bergarbeiter“ umbenannt) gegründet. Besonders der damalige Kulturstadtrat Hans Weiß hat sich um die Gründung und die ersten Schritte des Theaters verdient gemacht. Dabei griff das Theaterensemble auf die ehemalige Senftenberger Laienspielgruppe zurück. Im Jahr 1947 wurde die Bergingenieurschule gegründet, die spätere Ingenieurschule für Bergbau und Energie „Ernst Thälmann“, die noch heute als Brandenburgische Technische Universität Cottbus-Senftenberg besteht. Im Senftenberger Gesellschaftshaus vereinigten sich am 24. März 1946 die beiden Arbeiterparteien KPD und SPD zur SED.
In den 1950er und 1960er Jahren dehnte sich das Senftenberger Stadtgebiet Richtung Westen aus. Um die Ingenieurschule herum entstanden neue Wohngebiete; in Richtung Brieske wurden weitere Wohngebiete um die heutige Bertolt-Brecht-Straße und Johannes-R.-Becher-Straße gebaut.
Im Jahr 1950 wurde Senftenberg Kreisstadt des Landkreises Calau, der in Kreis Senftenberg umbenannt wurde. Mit der Schaffung der Bezirke 1952 und der Neugliederung der Kreise gehörten Senftenberg und der gleichnamige Kreis zum Bezirk Cottbus. Die Braunkohleförderung blieb industrieller Motor. Einige Teile der Stadt im Norden und benachbarte Orte (wie Rauno, Reppist und Sauo) wurden im Zuge des Braunkohlentagebaues abgebaggert. Unweit des ehemaligen Laugkfelds entstanden neue Wohnungen für die Bewohner dieser devastierten Orte. Die ausgekohlten Tagebaue wurden rekultiviert, so wurde 1962 die 1,2 Hektar große Laugkfeldkippe mit Bäumen bepflanzt.
Durch die Förderung der Braunkohle und den damit verbundenen Zuzug von Arbeitskräften erlebte Senftenberg einen starken Bevölkerungsanstieg. In den 1970er und 1980er Jahren entstanden zahlreiche weitere Neubaugebiete, polytechnische Oberschulen, Kindergärten und Kinderkrippen. So wurden zwischen 1980 und 1986 Häuser mit insgesamt 3055 Wohnungen errichtet. Dies waren die Wohngebiete „Am See“ im Südwesten der Stadt und „Süd“ im Süden. Die Ausdehnung in Richtung Süden war allerdings durch den entstehenden Senftenberger See begrenzt. Aufgrund des Bevölkerungsrückgangs nach der politischen Wende sind die Wohnungsgesellschaften jedoch gezwungen, eine Vielzahl dieser Wohnungen rückzubauen oder zu renovieren.
Im Jahr 1976 wurde das alte Rathausgebäude abgerissen, stehen blieb nur der Neubau von 1928. Die Freifläche wurde als Grünfläche genutzt. Die verschiedenen Teile der Stadtverwaltung waren über die ganze Stadt verteilt, bis in den 1990er Jahren ein moderner Rathausneubau diesen Zustand beendete. Am 7. August 1996 fand der erste Spatenstich für den Neubau dieses modernen Rathauses statt.
Die friedlichen Demonstrationen im Herbst des Jahres 1989 begannen am 25. Oktober 1989 auf dem Grundstück der Katholischen Kirche.
Am 18. Juni 1990 trat Klaus-Jürgen Graßhoff als erster frei gewählter Bürgermeister seit 1933 sein Amt an.
Seit der Kreisreform 1993 ist Senftenberg Kreisstadt des Landkreises Oberspreewald-Lausitz.
1999 stellte der Tagebau Meuro als letzter Senftenberger Tagebau die Kohleförderung ein. Die Kreis- und Universitätsstadt Senftenberg versucht gegenwärtig, sich zum touristischen Zentrum des Lausitzer Seenlandes zu entwickeln. Im Jahre 2004 feierte die Stadt ihr 725-jähriges Bestehen.
2009 erhielt die Stadt den von der Bundesregierung verliehenen Titel „Ort der Vielfalt“.
Ende Juli 2018 begann ein Altreifenlager an zwei Stellen zu brennen und entwickelte einen Großbrand auf 5000 m² Fläche.
Eingemeindungen
Mit dem flächenmäßigen Ausbreiten der Stadt Senftenberg im Zuge der Industrialisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die vorgelagerten Orte eingemeindet. Eine zweite Eingemeindungswelle war bedingt durch das erneute Anwachsen Senftenbergs, als sich die Stadt in den 1970er Jahren zur Energiezentrale der DDR entwickelte. Die dritte und bisher letzte Eingemeindungswelle fand Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre statt, da sowohl Senftenberg als auch die umliegenden Orte mit sinkenden Bevölkerungszahlen zu kämpfen hatten. Ziel war unter anderem eine Straffung der Verwaltung.
um 1920: Eingemeindung von Neusorge
1920: Eingemeindung von Thamm
1923: Eingemeindung von Jüttendorf
1. Juli 1950: Eingemeindung von Buchwalde
1. Januar 1974: Eingemeindung von Hörlitz, Rauno und Reppist (6. Mai 1990 Ausgliederung von Hörlitz/Senftenberg-West)
1. März 1997: Eingliederung von Sedlitz
31. Dezember 2001: Eingliederung der Gemeinden des Amtes Am Senftenberger See – Brieske, Großkoschen mit dem Gemeindeteil Kleinkoschen, Hosena, Niemtsch und Peickwitz
Bevölkerung
Bevölkerungsentwicklung
Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kam es zu einem schnellen Bevölkerungswachstum. Ausgelöst wurde dies durch den Zuzug von Arbeitskräften infolge des Braunkohlebergbaus, der Industrialisierung und des damit verbundenen wirtschaftlichen Aufschwungs. Auch die politische Entscheidung der DDR in den 1970er Jahren, die Braunkohle als Hauptenergieträger einzusetzen, führte zu einem weiteren Bevölkerungsschub. Doch seit der deutschen Wiedervereinigung im Jahr 1990 verlor die Braunkohle ihre bisherige Bedeutung. Die Stadt musste sich dadurch einem gewaltigen Strukturwandel stellen. Viele Bewohner verließen ihre Heimat. Durch die Eingliederung umliegender Dörfer im Zuge der Gemeindereform stieg die Einwohnerzahl im Jahre 2001 kurzfristig deutlich an.
Gebietsstand des jeweiligen Jahres, Einwohnerzahl: Stand 31. Dezember (ab 1991), ab 2011 auf Basis des Zensus 2011
Sprache
In Senftenberg wird Niederlausitzer Mundart gesprochen, diese gehört zu den Lausitzischen Dialekten, die wiederum Teil der Ostmitteldeutschen Dialektgruppe sind. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war neben der deutschen Sprache das Sorbische (Senftenberger Dialekt) die Sprache der einfachen Landbevölkerung und der Bewohner der umliegenden Dörfer. Mit dem Fortschreiten der Industrialisierung wurde die Sprache fast vollständig verdrängt. 1880 fand in der Wendischen Kirche die vorerst letzte niedersorbische Predigt statt. Erhalten blieb die Sprache jedoch in Bezeichnungen für Flur- und Ortsnamen (zum Beispiel Sumpfgebiete Laugk, Mutzk und Haag; Flussnamen Schwarze Elster; Ortsnamen Großkoschen, Hosena, Brieske). Bis in die 1980er Jahre war zudem zweisprachige Beschilderung in Senftenberg üblich. 2010 fand der erste niedersorbische Gottesdienst nach 130 Jahren statt. Seit 2013 gibt es in Senftenberg wieder eine Ortsgruppe der Domowina, die sich der Pflege von sorbischer Sprache und Kultur in der Stadt verschrieben hat. Seit 2017 gehört die Stadt erneut zum amtlichen Siedlungsgebiet der Sorben/Wenden in Brandenburg.
Religion und Kirchen
Bis zur Reformation war Senftenberg katholisch. Unter Herzog Heinrich dem Frommen wurde 1539 der protestantische Glaube in Senftenberg wie in allen Teilen des albertinischen Sachsens eingeführt. Die evangelische Hauptkirche war die Peter-Paul-Kirche am Markt, die in Abgrenzung zur Wendischen Kirche als Deutsche Kirche bezeichnet wurde.
Erst mit der Industrialisierung und dem damit verbundenen Zuzug von Industriearbeitern aus anderen Gegenden stieg der Anteil der katholischen Bevölkerung. Der erste katholische Gottesdienst nach der Reformation wurde am 20. November 1887 im damaligen Hotel Baranius unweit des Bahnhofs abgehalten. Bald darauf wurde eine katholische Interimskirche im Norden der Stadt in der Calauer Straße geweiht. Als diese ebenfalls bald zu klein wurde, wurde mit dem Bau einer neuen Kirche begonnen. Durch die Geldentwertung verzögerte sich jedoch der Bau und die Katholische Kirche St. Peter und Paul wurde erst am 25. Mai 1925 durch den Breslauer Weihbischof Valentin Wojciech konsekriert.
Im Jahr 1900 lebten in Senftenberg 4455 Protestanten, 912 Katholiken und sechs Juden.
Neben den beiden großen Kirchen gibt es in Senftenberg eine Evangelische Freie Gemeinde, die Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten, die Landeskirchliche Gemeinschaft und die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche (SELK). Die Kirche der SELK befindet sich unweit des Alten Friedhofs im ehemaligen Vorort Jüttendorf. Sie wurde 1900 als altlutherische Kirche geweiht. Als diese Kirche gebaut wurde, stand sie auf einem freien Feld, heute ist sie von Plattenbauten umgeben.
Heute leben in Senftenberg etwa 2300 Protestanten, dies entspricht ungefähr 8 % der Bevölkerung. Senftenberg gehört zum Dekanat Lübben-Senftenberg des katholischen Bistums Görlitz. Jüdische oder muslimische Gemeinden gibt es in Senftenberg nicht.
Politik
Stadtverordnetenversammlung
Die Stadtverordnetenversammlung von Senftenberg besteht aus 28 Stadtverordneten und dem hauptamtlichen Bürgermeister als stimmberechtigtem Mitglied. Die Kommunalwahl am 26. Mai 2019 führte bei einer Wahlbeteiligung von 53,1 % zu folgendem Ergebnis:
Bürgermeister
1990–2007: Klaus-Jürgen Graßhoff (CDU)
2007–2023: Andreas Fredrich (SPD)
seit 2023: Andreas Pfeiffer (CDU)
Graßhoff schied 2007 mit Erreichen des Rentenalters aus dem Amt. Am 15. Oktober 2006 wurde ein neuer Bürgermeister gewählt. Da keiner der Bewerber die erforderliche Stimmenzahl erreichte, kam es am 12. November 2006 zur Stichwahl zwischen Andreas Fredrich (SPD) und Elke Löwe (Die Linke.PDS). Fredrich, der bisherige erste Beigeordnete der Stadt, wurde mit 73,6 % der gültigen Stimmen gewählt. Er trat sein Amt im Februar 2007 an.
Am 14. September 2014 wurde Fredrich mit 76,6 % der gültigen Stimmen für weitere acht Jahre in seinem Amt bestätigt. Sein einziger Herausforderer René Markgraf (CDU) erreichte 23,4 %. Die Wahlbeteiligung betrug 50,5 %. Bei der Bürgermeisterwahl 2022 trat Fredrich nicht mehr an. Bei der Bürgermeisterstichwahl am 9. Oktober 2022 wurde Andreas Pfeiffer (CDU) mit 54,4 % der gültigen Stimmen zum neuen Bürgermeister gewählt; er trat das Amt am 1. Februar 2023 an.
Wappen
Das Wappen wurde am 21. Januar 2002 genehmigt.
Blasonierung: „Geviert von Silber und Rot; Feld 1: schräggekreuzt ein schwarzer Schlägel und ein schwarzes Eisen, Feld 4: eine nach links wehende rote Fahne.“
Schlägel und Eisen weisen auf Senftenbergs Geschichte als Bergbaustadt hin. Auf alten Wappen ziert eine fünfzinnige rote Krone den Schild. Diese Krone soll die Bergmannskrone darstellen, die ein Teil der Kleidung der Bergarbeiter war. Jedoch entspricht diese Krone nicht den Regeln der Heraldik und ist deshalb entfernt worden.
Das älteste Siegel Senftenbergs ist ein sprechendes Siegel, es zeigt zwei Senfpflanzen, die links und rechts eines Berges oder Hügels wachsen. Im Jahr 1423 durften die Senftenberger Ratsherren erstmals das eigene Siegel verwenden. Nachdem Senftenberg 1449 zu Sachsen kam, wurden neue Siegel eingeführt. Das große Stadtsiegel stellt einen Turm mit geschlossenem Fallgitter dar, im Obergeschoss sitzt ein Löwe. Auf dem Turmdach befindet sich eine Fahne mit den gekreuzten sächsischen Kurschwertern als Symbol für das Amt des Erzmarschalls. Auf dem kleinen Sekretsiegel ist eine Fahne mit Kurschwertern abgebildet. Diese beiden Siegel wurden bis 1947 genutzt. Das heutige Wappen geht auf eine Zeichnung des damaligen 2. Bürgermeisters und Kulturstadtrates Hans Weiß von 1946 zurück. Diese enthielt aber noch die heute nicht mehr im Wappen enthaltene Bergmannskrone.
Flagge
Die Flagge der Stadt zeigt das Wappen der Stadt auf weißem Flaggengrund.
Städtepartnerschaften
Püttlingen in Deutschland (Saarland) seit 1989
Nowa Sól (dt. Neusalz an der Oder) in Polen seit 1992
Senftenberg in Österreich seit 1993
Saint-Michel-sur-Orge in Frankreich seit 1996
in Ungarn seit 1996
Žamberk (dt. Senftenberg in Böhmen) in der Tschechischen Republik seit 1996
Fresagrandinaria in Italien seit 2003
Senftenberg und die saarländische Stadt Püttlingen schlossen bereits zu DDR-Zeiten im Jahr 1989 eine deutsch-deutsche Städtepartnerschaft. Diese Partnerschaft wurde im Mai 1991, nach der Wiedervereinigung Deutschlands, durch nochmals gefasste Beschlüsse des Stadtrates Püttlingen und der Stadtverordnetenversammlung Senftenberg bekräftigt.
Die Städtepartnerschaft mit der polnischen Stadt Nowa Sól wurde 1992 geschlossen. Eine Zusammenarbeit gibt es vor allem in den Bereichen Kultur, Sport und Jugendaustausch.
Zur gleichnamigen Gemeinde Senftenberg in Niederösterreich besteht seit 1993 eine Städtepartnerschaft. Die Marktgemeinde mit etwa 2.000 Einwohnern liegt im unteren Kremstal. Wahrzeichen des in erster Linie für seinen Weinanbau bekannten Ortes ist die Burgruine. Die beiden Städte treten bei Tourismusmessen oft gemeinsam auf.
Im Jahr 1996 gründeten Senftenberg und Püttlingen mit ihren Partnerstädten Nowa Sól, Saint-Michel-sur-Orge, Veszprém und Žamberk ein bis heute einmaliges europäisches Städtebündnis, welches 2003 durch den Beitritt von Fresagrandinaria erweitert wurde.
Der deutsche Name der tschechischen Partnerstadt Žamberk lautet ebenfalls „Senftenberg“. Žamberk wird auch „Tor zum Adlergebirge“ genannt. Die französische Stadt Saint-Michel sur Orge liegt 25 Kilometer südlich von Paris. In Saint-Michel sur Orge leben ungefähr 20.000 Einwohner. Das ungarische Veszprém liegt am Nordufer des Balatons und ist die Hauptstadt des gleichnamigen Komitats. In Veszprém leben ungefähr 65.000 Einwohner. Die italienische Stadt Fresagrandinaria ist mit ungefähr 1.100 Einwohnern die kleinste Partnergemeinde Senftenbergs. Im Jahr 2003 war Fresagrandinaria Gastgeber einer mehrtägigen Konferenz der Bürgermeister des „Europäischen Städtebündnisses für Kultur- und Jugendaustausch“. Bei dieser Zusammenkunft wurde das Bündnis offiziell um Fresagrandinaria erweitert.
Sehenswürdigkeiten und Kultur
Bauwerke, Plätze und Parkanlagen
Um den Markt der Stadt hat sich der historische Altstadtkern der Innenstadt entwickelt. Die angrenzenden Gebäude aus verschiedenen Epochen wurden nach der Wende aufwändig rekonstruiert. Die bis dato mit Grünanlagen gestaltete Südfront des Marktes wurde im September 1998 durch das neue Rathaus mit Ratskeller und Café sowie 1999 durch den Sparkassenkomplex geschlossen. Eine Besonderheit ist das sehr steile Dach des alten Rathausbaus aus dem Jahr 1929, der mit dem modernen Rathausgebäude verbunden ist. Das Dachgefälle beträgt 72,9 Grad. Das neue Rathaus wurde 2001 zusammen mit dem neuen Sparkassengebäude mit dem Architekturpreis des Landes Brandenburg ausgezeichnet.
Eines der dominierenden Gebäude an der Nordseite des Marktes ist die 1902 errichtete Adler-Apotheke. Durch dieses fünfgeschossige Gebäude wird die überwiegend zweigeschossige Bebauung des Marktes aufgebrochen. Die Fassade ist reich geschmückt, unter anderem mit Schlangen und Totenschädeln sowie zwei überlebensgroßen Adlern, die der Apotheke den Namen geben. Im Erdgeschoss befinden sich die Geschäftsräume der Apotheke. Die erste Apotheke Senftenbergs wurde bereits 1680 erwähnt. In dem Gebäude arbeitete von 1949 bis 1951 der Schriftsteller Erwin Strittmatter als Lokalredakteur der Märkischen Volksstimme.
Auf dem Markt wurde am 18. Oktober 2000 eine Nachbildung der kursächsischen Postdistanzsäule aufgestellt. Das Original stand ab 1731 auf dem Markt und wurde 1847 unter preußischer Herrschaft abgebaut. Nur das Originalwappenstück blieb davon bis heute im Schlossmuseum erhalten.
Von 1932 bis 1998 befand sich auf dem Markt ein schlanker Stahlbeton-Lichtmast. Im Volksmund trug er den Namen Langer Herrmann in Anspielung auf Herrmann Lindemann, der zur Bauzeit Bürgermeister war.
Östlich des Marktes schließt sich der Kirchplatz mit der evangelischen Peter-Paul-Kirche (auch als Deutsche Kirche bezeichnet) an. Diese Kirche wurde im 13. Jahrhundert im Stil der Gotik errichtet und verfügt über ein prachtvolles Netzgewölbe.
In unmittelbarer Nähe der Peter-und-Paul-Kirche befindet sich das Bürgerhaus Wendische Kirche. Im Zuge einer Sanierung wurde die Wendische Kirche für rund 400.000 Euro rekonstruiert. Sie wurde in ein soziales und kulturelles Begegnungszentrum umgewandelt und am 28. März 2003 eingeweiht.
Die erste wendische Kirche wurde in Senftenberg nach der Reformation im Jahr 1540 errichtet. Mehrfach musste das Bauwerk nach Bränden erneuert werden. Das heutige Gebäude entstand 1749. Im Jahr 1834 mussten die Gottesdienste wegen Baufälligkeit eingestellt werden. In den folgenden Jahren wurde der Sakralbau mehrfach saniert. Der vorerst letzte sorbische Gottesdienst in wurde 1881 gehalten. Im Jahr 1993 war der Abriss der Kirche vorgesehen, das Bauwerk wurde jedoch unter Denkmalschutz gestellt und zunächst die Fassade saniert. Seit 2010 finden auch wieder Gottesdienste in niedersorbischer Sprache statt. An der östlichen Giebelwand ist ein Sgraffito des Malers Günther Wendt aus dem Jahr 1934 angebracht, es stellt Jesus am Kreuz dar. Das Sgraffito wurde im Zweiten Weltkrieg durch Einschüsse beschädigt, diese bleiben als Mahnung erhalten.
Der Altstadtkern wird durch den historischen Ring begrenzt, der aus der Töpfer-, Salzmarkt-, Bader-, Ritter- und Burglehnstraße gebildet wird. Die ältesten Gebäude Senftenbergs stehen an der Töpferstraße.
Südlich des Altstadtrings liegt der im Jahr 2004 neugestaltete Neumarkt. Er wurde von einem großflächigen Parkplatz in eine kleine Parkanlage mit einem künstlichen Flusslauf, einem kleinen Spielplatz und einem Brunnen mit Bronzeplastiken umgewandelt. Die Plastiken stammen von Ernst Sauer. Sie wurden 1983 der Öffentlichkeit präsentiert und sollten ab 1984 als Brunnen Spiele am Wasser an der Südseite des Neumarkts aufgestellt werden. Durch den Bau einer Trafostation an der geplanten Stelle sollte der Brunnen an der Nordostseite errichtet werden. Die geplante Heiztrasse verhinderte dies. Die Plastiken blieben zunächst auf dem Grundstück der Familie des Künstlers. Im Jahr 2004 wurden sie mit der Umgestaltung des Neumarkts als Brunnenensemble abweichend vom ursprünglichen Entwurf des Künstlers aufgestellt. Die Plastiken wurden in der Kunstgießerei Lauchhammer gegossen.
Ein Teil des Senftenberger Stadtbilds war ab der Mitte des 16. Jahrhunderts bis ins 19. Jahrhundert die seit 1448 zu einer modernen Wehranlage umgebaute Renaissancefestung. Zur Festung gehörten das Schlossgebäude, ein Kommandanten- und Zeughaus (angedeuteter Grundriss), die Wallanlagen mit Poterne und geheimem Wasserausfall, die Kasematten und auf dem Wall das Pulvertürmchen. Der Erdwall mit seinen vier Bastionen ist seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein Bau- und Bodendenkmal. In seiner Form und Anlage ist er einmalig und besitzt damit nationalen Stellenwert. Im Schloss ist das Museum Schloss und Festung Senftenberg untergebracht. An der Außenmauer des Schlosses befindet sich eine Gedenktafel für Hans von Polenz, den ehemaligen Landvogt der Niederlausitz. Die Restaurierung des gesamten Bauwerks wurde 1991 begonnen. Die umfassenden Bau- und Rekonstruktionsmaßnahmen wurden in Einklang mit dem laufenden Museums- und Veranstaltungsbetrieb organisiert. So fanden trotz Umbau verschiedene kulturelle Veranstaltungen, Konzerte, Vorträge, Museumsnächte und -feste sowie große Sonderausstellungen statt. Beim Glück-Auf-Festival des Senftenberger Theaters Neue Bühne in der Spielzeit 2007/2008 wurde die Festung als Spielort der Inszenierung Fäuste genutzt; so wurde hier der Helenaakt aus Faust II dargestellt. Das Schlossgebäude mit seinen Nebengelassen wurde unter preußischer Herrschaft als Schule, Rentamt, Gerichtsgebäude und Gefängnis genutzt.
Heute ist die Festung von einem weitläufigen Park umgeben, dem Schlosspark. Er wurde ab 1912 während der Amtszeit von Bürgermeister Kieback angelegt. Dazu wurden die Reste des ehemaligen Schlossteichs trockengelegt, der die Festung umgab. Der Park verfügt noch heute über seinen ursprünglichen Baumbestand. Im Schlosspark stehen ein Denkmal für Turnvater Jahn, das 1911 vom Turnverein Germania aufgestellt wurde, sowie ein Mahnmal für die Opfer des Faschismus und Militarismus aus dem Jahr 1962 von Ernst Sauer. Der Schlossteich, der durch eine Bogenbrücke optisch in einen großen und kleinen Teich geteilt wird, sowie ein ostasiatisch aussehender Pavillon lassen der Schlosspark romantisch wirken. Die Teiche werden von zum Teil unterirdisch verlaufenden Kanälen gespeist, die von der Schwarzen Elster kommend das Schloss östlich und nördlich umfließen.
Der Senftenberger Tierpark befindet sich ebenfalls im Schlosspark und wird begrenzt durch die Wallanlage der Festung und die Schwarze Elster. Am 12. Juni 1931 wurde er mit einheimischen Tieren, darunter Reh- und Damwild, besetzt. Der Eingang bestand aus einem halbrunden Fachwerkbau mit einem Walmdach, der während und nach dem Zweiten Weltkrieg als Materiallager genutzt wurde. Am 14. Juli 1954 wurde der Tierpark wiedereröffnet. Im Jahr 1957 wurde das Bärengehege mit den beiden Braunbären „Puppi“ und „Moritz“ besetzt. Im Jahr 2012 wurden die Braunbären in einen Wildpark umgesiedelt. Der Bestand der einheimischen Tiere wurde um exotische Exemplaren wie Rhesusaffen, Erdmännchen und Leoparden ergänzt.
Gartenstadt Marga
Aus städtebaulicher Sicht ist die Gartenstadt Marga im Ortsteil Brieske von besonderer Bedeutung. Marga ist eine Werkssiedlung mit Gartenstadtcharakter, die aufgrund der äußeren Erscheinung in Konkurrenz zum Dresdner Stadtteil Hellerau als erste deutsche Gartenstadt bezeichnet wird. Angelegt wurde sie zwischen 1907 und 1915 als qualitätsvolle Werkssiedlung der Ilse Bergbau AG. Geprägt ist Marga in ihrer architektonischen Gestaltung insbesondere von der Dresdner Reformarchitektur und von Elementen des späten Jugendstils. Der Architekt der Siedlung war Georg Heinsius von Mayenburg, errichtet wurden 78 Häuser mit circa 15 verschiedenen Haustypen, in denen Beamte und Arbeiter der Ilse Bergbau AG wohnten.
Die Häuser gruppieren sich auf einem kreisförmigen Siedlungsgrundriss, in dessen Zentrum sich ein rechteckiger Marktplatz befindet, der von Schule, Kirche, Friedhof, Gasthaus und Geschäftshäusern umstanden ist. Die Gebäude am Markt sind an Vorbildern kleinstädtischer Architektur orientiert, während die Siedlungshäuser sich eher an den Motiven bäuerlicher und herrschaftlicher Baukunst ländlicher Prägung ausrichten. Die Siedlung wurde 1985 unter Denkmalschutz gestellt und von 1998 bis 2000 saniert.
Denkmale
Seit 1994 sind unweit des Schlossparks an der Schwarzen Elster Reste der ehemaligen Lehragksmühle aufgestellt. Dabei handelt es sich um die Hirsestampfen und Teile des Ölgangs. Die Mühle stand vom Anfang des 17. Jahrhunderts bis 1955 zwischen Schipkau und Schwarzheide. Ursprünglich befand sich an dieser Stelle die Senftenberger Amts- oder Schlossmühle, die direkt am ehemaligen Schlossteich lag. Die Mühle arbeitete zeitweise mit bis zu zehn Wasserrädern und war eine Öl-, Mahl-, Stampf-, Schneid-, Loh- und Walkmühle. Das Jahr der Errichtung ist unbekannt, bereits 1551 wurde sie in Steinbauweise ausgeführt. Es bestand Mahlzwang an dieser Mühle für die Bewohner Senftenbergs sowie für die Dörfer Brieske, Buchwalde, Bückgen (devastiert), Hörlitz, Jüttendorf, Großkoschen, Kleinräschen (devastiert), Klettwitz, Lauta, Meuro, Rauno (devastiert), Reppist (devastiert), Saalhausen, Sorno (devastiert), Sauo (devastiert), Sedlitz und Thamm.
Auf dem Neuen Friedhof an der Briesker Straße befindet sich ein Gedenkstein für 41 überwiegend polnische Zwangsarbeiter sowie ein Denkmal für den Widerstand gegen den Kapp-Putsch.
An der Turnhalle der ehemaligen Realschule (in der DDR POS I Arthur-Wölk) in der Schulstraße erinnert eine Gedenktafel an den Antifaschisten Arthur Wölk, der mit anderen Genossen in dem damaligen Schutzhaftlager der SA inhaftiert war.
Museen
Im Gebäude des Senftenberger Schlosses ist das Museum Schloss und Festung Senftenberg untergebracht. Die Ausstellung beleuchtet anhand von Funden und Ausstellungsstücken das Leben der Menschen in der Bronzezeit, im Mittelalter bis hin zum Auffinden der Braunkohle und der beginnenden Industrialisierung. Im Museum ist ein Modellbergwerk in Originalgröße dargestellt. Im Jahr 1907 begann der Senftenberger Otto Mingau mit der Sammlung historischer Gegenstände im Pulvertürmchen auf der Festungsanlage des Schlosses. In den 1930er Jahren bekam Mingau durch die Stadt Teile des Schlosses für seine Sammlung zugewiesen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Museum 1950 wiedereröffnet und Otto Mingau wurde erster Museumsdirektor.
Im Innenhof des Museums befindet sich die Plastik „Der Bettler“ von Ernst Barlach. Des Weiteren liegt dort ein bei Arnsdorf gefundener Eichenstamm. Der letzte erkennbare Jahresring ist aus dem Jahr 1163. Als Fälldatum wird das Jahr 1183 (± zehn Jahre) angenommen, damit ist der Eichenstamm der älteste Nachweis von Holzbearbeitung in der Region.
Zum Museum gehört die Galerie am Schloss im Polenzhaus mit wechselnden Ausstellungen. Sie befindet sich unweit des Schlosses im Schlosspark. Das Polenzhaus wurde 1937 anlässlich des 500. Todestages Hans von Polenz' gebaut. Mit seinen schlichten Formen ist das zweigeschossige Gebäude stilistisch an das Senftenberger Schloss angelehnt; mit einem Turm an der Giebelseite, Fenstern, die den Renaissancefenstern nachempfunden sind, und einem Arkadengang. An der Giebelseite wird auf einem Sgraffito von Günther Wendt Hans von Polenz als Lehnsherr der Niederlausitz dargestellt. In der Hand hält er eine Fahne, auf welcher der Niederlausitzer Stier abgebildet ist.
Im Ortsteil Großkoschen befindet sich der Museumshof, ein typischer Senftenberger Vierseitenhof aus dem Jahre 1864. Das Gehöft steht unter Denkmalschutz und ist eines der letzten und zugleich sehr gut erhaltenen Höfe der Region. Es gibt einen Einblick in historische Wirtschaftsformen eines Bauernhofes um 1900. So können neben einer Vielzahl landwirtschaftlicher Geräte ebenso die täglich anfallenden Arbeiten auf dem Hof erlebt und angesehen werden. Der Anbau alter Kulturpflanzen wie Lein, Buchweizen, Waid und Ackerspörgel sowie die Haltung vom Aussterben bedrohter Haustierrassen und deren Nutzung, z. B. die Imkerei, stehen dabei im Mittelpunkt. Zum Hof gehören ein Pferdegöpel, eine bäuerliche Hausmüllerei und eine Backstube. Der Heimatkundler Wilhelm Ratthey bemerkte bei seinen Wanderungen im Umkreis von Senftenberg, dass spezielle Hofformen besonders häufig vorkommen. Er unterschied sechs verschiedene Arten. Der Begriff Senftenberger Vierseitenhof stammt von Ratthey. Die Höfe wurden meist von 1820 bis 1880 errichtet und aus Feldsteinen gebaut. Ihre wuchtige und geschlossene Bauweise ist ebenfalls ein markantes Zeichen. Die Vierseitenform besteht aus Torhaus, Wohnhaus und Stallgebäuden; nach hinten wird sie durch Schuppen oder eine angebaute Scheune geschlossen.
Das private Bergbaumuseum Niemtsch wurde am 1. Juli 1996 anlässlich der 500-Jahr-Feier von Niemtsch eröffnet. Geleitet wurde es von Dieter Müller, der in seiner 45-jährigen Tätigkeit im Braunkohlebergbau zeitgenössische Gegenstände des Bergbaus gesammelt hat. Zur Sammlung gehören etwa 1250 Briketts, vor allem Schmuck-, Sonder- und Zierbriketts. Darunter befinden sich wertvolle Stücke und einmalige Exemplare, beispielsweise das erste Brikett der Firma „Henkel“ aus dem Jahr 1871. Darüber hinaus enthält die Sammlung Bergmannslampen, Steigerhäckel und weitere Bergmannsutensilien sowie grafische Darstellungen von bergmännischen Produktionsabläufen. Zwischenzeitlich wurde das Bergbaumuseum geschlossen. Sobald die Stadt Senftenberg einen geeigneten Ort gefunden hat, wird die Sammlung als Leihgabe dort ausgestellt.
Im ehemaligen Briesker Schulgebäude war bis 2008 die Heimatstube „Gartenstadt Marga“ untergebracht.
Senftenberger See
Mit einer Fläche von etwa 1300 Hektar und einer guten Wasserqualität ist der Senftenberger See ein beliebtes Urlaubs- und Ausflugsziel für Erholungssuchende und Wassersportler. Auf dem See verkehrt das Motorschiff Santa Barbara (Schutzheilige der Bergleute). Der Name des Schiffes erinnert daran, dass der See aus dem ehemaligen Tagebau Niemtsch entstand, in dem Braunkohle gefördert wurde. Der See ist touristisch mit Radwanderwegen erschlossen. Er wird durch die Schwarze Elster gespeist. Seit Juni 2013 existiert mit dem Koschener Kanal eine schiffbare Verbindung zwischen dem Senftenberger und dem Geierswalder See. Im Senftenberger See befindet sich eine Insel, die als Naturschutzreservat nicht betreten werden darf.
Am Großkoschener Ufer des Sees, eingebettet in einen Kiefernwald, befindet sich ein Ferienpark. Er bietet für circa 2600 Urlauber Übernachtungsmöglichkeiten. Durch zahlreiche Investitionen im Ferienpark wurden Verkehrsanbindungen, 40 Ferienhäuser, ein Rezeptionsgebäude und eine Wasserrutsche neu geschaffen. In Höhe des ehemaligen Kinderferienlagers entstand ein Wassersportzentrum. In Niemtsch wurde ein Comfort-Campingplatz angelegt.
Am Südufer des Senftenberger Sees wurde am 31. März 2001 ein 31,5 Meter hoher schiefer Aussichtsturm in der Gemarkung Hosena, direkt am Seeradweg zwischen Großkoschen und Niemtsch, errichtet. Er ermöglicht einen Ausblick über den See, ins Innere der Insel und in die Niederlausitz. Bei guter Sicht sind überdies die Tribünen des Lausitzrings und die Kamenzer Berge zu sehen.
Am 23. April 2013 wurde der Stadthafen am Senftenberger See nach fast zweijähriger Bauzeit eröffnet. Die Baukosten lagen bei 13 Millionen Euro.
Ebenfalls 2013 wurde der Koschener Kanal eröffnet, der den Senftenberger See mit dem Geierswalder See verbindet und die Schwarze Elster und Bundesstraße 96 als Schiffstunnel unterquert.
Theater
Das Senftenberger Theater Neue Bühne Senftenberg wurde am 21. Oktober 1946 als Stadttheater Senftenberg in der Turnhalle der Schule „Walther Rathenau“ auf Befehl des ersten Kreis- und Stadtkommandanten, des sowjetischen Gardeobersten Iwan Demjanowitsch Soldatow, gegründet. Als Bergarbeitertheater erwarb es sich in der Folgezeit einen guten Ruf und war Sprungbrett für viele bekannte Schauspieler. Im Jahr 1990 erhielt es seinen gegenwärtigen Namen; 1993 wurde es in ein Einspartentheater umgewandelt. Die Zeitschrift Theater heute wählte es 2005 zum deutschen Theater des Jahres.
Im Mai 2001 wurde im Ortsteil Großkoschen direkt am Senftenberger See ein Amphitheater eröffnet. Es bietet Platz für 600 Zuschauer und vereint klassische und moderne Elemente. Die halbrunde Spielfläche und die ansteigenden Sitzbänke sind im Stil des griechischen Theaters angelegt. Darüber hinaus verfügt es über moderne Licht-, Ton- und Bühnentechnik. Die 17 mal 30 Meter große Spielfläche sowie der Balkon über der Bühne als weitere Spielebene sind gut geeignet für Sprech- und Musiktheater. Während der Sommersaison werden Theaterstücke, Bühnenshows und Open-Air-Konzerte aufgeführt.
Freizeit
Im Zuge der Begradigung der Schwarzen Elster wurden in den 1920er und 1930er Jahren Badestellen am Fluss eingerichtet. Aufgrund der starken Rotfärbung der Elster wurden diese nicht mehr genutzt. Die Verschmutzung des Flusses wurde häufig hervorgerufen durch die Einleitung von Abwässern der Aluminiumhütte Lauta. Deshalb wurde das Baden im Fluss bereits in den 1930er Jahren zeitweise untersagt. Forderungen nach anderen Schwimmmöglichkeiten wurden laut. Die Grundsteinlegung für die Schwimmhalle fand im Mai 1969 statt. Am 7. Oktober 1970 wurde das heutige Erlebnisbad als Volksschwimmhalle mit 25-Meter-Bahnen im „Hundewäldchen“ eingeweiht. Der Umbau zum Erlebnisbad erfolgte in der Mitte der 1990er Jahre. Das Erlebnisbad mit Außenbecken, Rutschen, Solarien und Sauna wurde am 14. Dezember 1996 eröffnet.
In der Skihalle Snowtropolis ist es im Sommer und Winter möglich, Sport mit Ski und Snowboard zu betreiben. Die Piste ist 130 Meter lang und verfügt über unterschiedliche Gefälle mit bis zu 25 Grad. Daneben befindet sich eine Bowlinganlage auf 2 Ebenen und eine Mehrzweckhalle für Publikumseislauf (November–März) und Tennis, Badminton und Volleyball.
Das Kultur- und Freizeitzentrum Pegasus bietet Kindern und Jugendlichen Möglichkeiten der Freizeitgestaltung. Neben handwerklichen Kursen wie Töpfern werden gleichfalls Computerkurse angeboten. Das Freizeithaus verfügt über einen Fitnessraum und einen Proberaum für junge Bands. Das Gebäude wurde in den 1950er Jahren als Pionierhaus erbaut und von Sportvereinen und Arbeitsgemeinschaften genutzt. Es war nach dem Widerstandskämpfer und älterem Bruder von Lotte Ulbricht Bruno Kühn benannt. An der Stirnseite des Gebäudes ist ein Mosaik angebracht, das einen Pegasus darstellt.
Weiterhin gibt es den Club WK III, in dem der Verein „Der Würfel“ e. V. seinen Sitz hat. Dabei handelt es sich um einen Jugend- und Freizeitverein, der unter anderem die Jugendweihe-Feierlichkeiten in Senftenberg organisiert.
Musik
Im Jahr 1854 wurde in Senftenberg der Jugend-Gesangsverein von 18 jungen Leuten gegründet. Aus diesem Verein entwickelte sich später der Männer-Gesangsverein Frohsinn. Dieser Gesangsverein ist der Vorläufer des 1911 gegründeten Chors der Bergarbeiter. Dieser Chor hat heute etwa 40 Mitglieder. Während der Auftritte tragen die Sänger ihre traditionelle Bergmannskleidung. Neben dem Chor der Bergarbeiter gibt es den gemischten Kammerchor der Musikschule (gegründet 1988) und den ebenfalls gemischt auftretenden Konzertchor Senftenberg (gegründet 1979).
Kulturelles Leben und regelmäßige Veranstaltungen
Jedes Jahr am letzten Juni-Wochenende findet auf dem Marktplatz vor dem Rathaus und in den daran angrenzenden Straßen der Peter-und-Paul-Markt statt. Dafür werden Verkaufsstände verschiedener Händler aus Senftenberg und den Partnerstädten sowie Bühnen für Livedarbietungen aufgebaut. Der Peter-und-Paul-Markt ist der älteste Senftenberger Markt. Er ist den beiden Schutzheiligen der Stadtkirche, Petrus und Paulus, geweiht. Früher wurde er als Mägdemarkt bezeichnet, da während des Marktes die Dienstmägde für das kommende Jahr ausgewählt wurden.
Einmal jährlich findet das Senftenberger Kneipenfest statt. Daran nehmen zahlreiche Senftenberger Gaststätten, Kneipen und Restaurants teil. Zwischen den einzelnen Stationen ist ein Shuttleverkehr eingerichtet, der die Besucher des Festes zu den teilweise weit voneinander entfernten Lokalitäten fährt. In den vergangenen Jahren hatte dieses Fest jedoch unter einem starken Besucherrückgang zu leiden.
Im Dezember wird auf dem Marktplatz und in den angrenzenden Straßen der Weihnachtsmarkt abgehalten.
Wirtschaft und Infrastruktur
Wirtschaft
Die Stadt Senftenberg war ursprünglich eine kleine, wenig bedeutende Ackerbürgerstadt mit regionalem Handwerk (vor allem Gerber und Färber). Im 18. Jahrhundert erlangte Senftenberg Bedeutung als Handelsstation zwischen den Städten im norddeutschen (Magdeburg, Lüneburg und Hamburg) und schlesisch-böhmischen Raum. Der Weinbau war im 18. und 19. Jahrhundert ein regional bedeutender Wirtschaftszweig. Aus der Ackerbürgerstadt wurde ab Mitte des 19. Jahrhunderts eine mittlere Industriestadt. Vor allem durch das Auffinden der Braunkohlelager und den damit verbundenen, 1869 erfolgten Anschluss an das Eisenbahnnetz entwickelte sich die Stadt schnell und erlebte einen großen Strukturwandel im 19. Jahrhundert. Die Ackerbauern wurden zunehmend durch Industriearbeiter verdrängt. Tagebaue und Brikettfabriken wurden wichtige Arbeitgeber. Nach den beiden Weltkriegen hat sich die Industriestruktur der Stadt nicht entscheidend verändert. Die Braunkohleförderung und -verarbeitung ließen Senftenberg zur Energiezentrale der DDR werden. Mit der politischen Wende veränderte sich mit dem Wegbrechen der Braunkohleförderung die gesamte Industriestruktur der Stadt. Im Herbst 2005 wurde Senftenberg gemeinsam mit den Städten Finsterwalde, Großräschen, Lauchhammer und Schwarzheide als Regionaler Wachstumskern (RWK) Westlausitz im Land Brandenburg ausgewiesen. Wirtschaftlich prägend sind die Metall- und Elektroindustrie, der Bereich Medien und Informations- und Kommunikationstechnologie sowie der Dienstleistungssektor.
In den zurückliegenden Jahren konnten sich in der Senftenberger Region neben dem Braunkohlebergbau kleine und mittelständische Unternehmen entwickeln. Durch den Rückgang der Braunkohleförderung und der damit verbundenen Industriezweige ist die Arbeitslosenquote (2008: etwa 22 %) im Vergleich zum deutschen Durchschnitt von unter 10 % jedoch relativ hoch. Die größten Arbeit- und Auftraggeber der Region sind die Vattenfall Europe Mining AG, die Lausitzer Mitteldeutsche Bergbau-Verwaltungsgesellschaft mbH (LMBV) mit Hauptsitz in Senftenberg sowie die Bergbausanierung- und Landschaftsgestaltung Brandenburg GmbH (BUL).
In der Nachfolge und Rekultivierung der Tagebaue wurden Wasserlandschaften mit dem Senftenberger See als Zentrum im Lausitzer Seenland geschaffen, die es Senftenberg ermöglichten, sich als touristisches Zentrum in der Niederlausitz zu profilieren. Als Projekt innerhalb der Internationalen Bauausstellung Fürst-Pückler-Land wurde Senftenberg zur SeeStadt umgebaut, unter anderem wurde ein Hafen am Senftenberger Ufer des Sees angelegt.
Touristisch ist Senftenberg durch regionale und überregionale Radwanderwege erschlossen. Zu den überregionalen gehört die Tour Brandenburg, mit 1111 Kilometern der längste Radfernweg Deutschlands. Der 500 km lange Fürst-Pückler-Weg und die 510 km lange Niederlausitzer Bergbautour führen vorbei an alten Tagebauen, Industriekultur und neuen Landschaften. Um den Senftenberger See führt ein Radwanderweg mit 17,7 km Länge. Der Schwarze-Elster-Radweg, der durch den Süden Brandenburgs sowie Teile Sachsens und Sachsen-Anhalts führt, verbindet Senftenberg und den Senftenberger See mit Industriedenkmälern und Sehenswürdigkeiten entlang der Schwarzen Elster. Senftenberg liegt an der Nordroute der Ferienstraße Fürstenstraße der Wettiner.
Der Weinbau kam um Senftenberg im 18. Jahrhundert durch Starkfröste und aus wirtschaftlichen Gründen zum Erliegen. Anfang der 1980er-Jahre wurden die letzten inzwischen verwilderten Weinberge vom Braunkohleabbau in der Lausitz verschluckt. Die Bergbaufolgelandschaft wurde später teilweise für den Weinbau kultiviert, zum Beispiel für die vom Bergbau 1982 abgebaggerte Gemeinde Rauno.
Direkt am Senftenberger Markt ist die Sparkasse Niederlausitz ansässig. Sie entstand im Zuge der Brandenburgischen Kreisgebietsreform durch Fusion der Kreissparkassen Calau und Senftenberg. Beschäftigt sind derzeit circa 350 Mitarbeiter. Das Sparkassengebäude wurde 1999 eingeweiht. Die erste Sparkasse in Senftenberg wurde am 1. April 1852 eingeweiht.
Die Trinkwasserversorgung und Abwasserentsorgung wird durch den Wasserverband Lausitz (WAL) wahrgenommen. Der 1992 gegründete Verband hat seinen Sitz in Senftenberg in unmittelbarer Nähe des Senftenberger Sees und versorgt mehr als 100.000 Einwohnern in über 20 Gemeinden (Stand 2007). In den Jahren 2007/2008 wurde das Gebäude des WAL neugebaut und dabei eine Cafeteria geschaffen, die auch als Restaurant durch Urlauber und Gäste genutzt werden kann. Das Trinkwasser für Senftenberg wird im Wasserwerk in Tettau in 20 bis 30 Metern Tiefe gefördert.
In Senftenberg wurde im Oktober 2006 die damals größte Biogasanlage Deutschlands mit einer Leistung von 3 Megawatt errichtet, die ausschließlich auf der Basis von nachwachsenden Rohstoffen arbeitet. Die Biogasanlage kann mit Mais beziehungsweise Getreide beschickt werden.
Weitere mittelständische Unternehmen sind, neben kommunalen Unternehmen wie der Kommunalen Wohnungsgesellschaft mbH Senftenberg und der Stadtwerke Senftenberg GmbH, die ECOSOIL Ost GmbH und die Thyssen-Krupp Industrieservice GmbH in Brieske. Die Arvato Direct Services GmbH befindet sich im Gebäude des ehemaligen Kaufhauses Waldschmidt an der Bahnhofstraßenkreuzung. In dem Gebäude war zu DDR-Zeiten das Kaufhaus Magnet und nach der Wende unter anderem Multistore untergebracht. Arvato hat derzeit ungefähr 440 Beschäftigte in Senftenberg.
Verkehr
Senftenberg liegt an den Bundesstraßen 96 und 169. Der Neubau der B 169 wurde am 22. September 2008 eröffnet. Die Straße führt als Umgehungsstraße nordwestlich an Senftenberg vorbei. Planungsbeginn war im Jahre 1993, Baubeginn im September 2003. Die Kosten für den Neubau der 13 Kilometer langen Ortsumfahrung betrugen 76 Millionen Euro. Sie führt zu 87 % über verdichtetes Kippengelände (16 Millionen Kubikmeter), unter anderem führt sie über den Südrandschlauch des ehemaligen Tagebau Meuro. Die nächstgelegene Autobahnanschlussstelle ist Klettwitz an der A 13 Berlin–Dresden. Sie befindet sich etwa 8 Kilometer westlich.
Die Stadt ist Eisenbahnknotenpunkt der Bahnstrecke Lübbenau–Kamenz und der Bahnstrecke Großenhain–Cottbus sowie früher der Bahnstrecke Finsterwalde–Schipkau. Im Personenverkehr ist Senftenberg Regionalbahnhof der Kategorie 5.
Der Bahnhof wird von folgenden Regionalexpress- und Regionalbahnlinien angefahren:
Dessau–Berlin–Senftenberg
Cottbus–Dresden
Falkenberg (Elster)–Cottbus
Die Züge dieser Linien halten auch am Haltepunkt Sedlitz Ost. Der Bahnhof Hosena wird von der Linie Hoyerswerda–Dresden und der Wurzen–Leipzig–Hoyerswerda bedient. Für den Güterverkehr besitzt er einen Rangierbahnhof.
Im Jahr 1869 wurde das erste Bahnhofsgebäude des Bahnhofs Senftenberg gebaut; 1870 fuhr der erste Zug der Strecke Cottbus–Großenhain über Senftenberg. Am 1. Mai 1874 wurde die zweite Strecke Lübbenau–Kamenz in Betrieb genommen, Betreiber war die Berlin-Görlitzer Eisenbahn-Gesellschaft. Diese beiden Privatbahnen betrieben zwei getrennte Bahnhofsgebäude. Wegen des Abtransports der Kohle aus den Tagebauen wurde das Schienennetz in den Folgejahren stärker unter anderem durch die Schipkau-Finsterwalder Eisenbahn-Gesellschaft ausgebaut. Durch diese Erweiterungen und die zweigleisige Streckenführung wurde das Empfangsgebäude des Bahnhofs mehrfach umgebaut und erweitert, letztmals 1927 im Zusammenhang mit dem Hochlegen der Gleise. Durch den Braunkohleabbau im Tagebau wurden einige Bahnstrecken im Stadtgebiet mehrmals verlegt. Im November 1987 erreichte die Streckenelektrifizierung Senftenberg, seit 1990 werden alle von Senftenberg ausgehenden Strecken elektrisch betrieben. Das Empfangsgebäude des Bahnhofs und der davor liegende Busbahnhof wurden nach 1990 saniert und ausgebaut.
Im Stadtgebiet Senftenberg verkehren drei Stadtbuslinien. Die Ortsteile sind über regionale Buslinien der OSL Bus GmbH an das Stadtgebiet angebunden.
Senftenberg ist eine von drei Kommunen im Land Brandenburg, die als Modellstädte für umweltfreundlichen Verkehr ausgewählt wurden. Mehrere Kilometer Straße sind in Senftenberg bereits komplett saniert und das Fahrrad- und Fußgängerwegenetz erneuert und erweitert worden. Die Verkehrsplanung sieht einen komplexen Umweltverbund vor, um im gesamten Stadtgebiet eine Verkehrsberuhigung zu erreichen.
Die Straßen der Stadt sind in der Liste der Straßen in Senftenberg aufgeführt.
Behörden und öffentliche Einrichtungen
Die Leitung des Schutzbereichs Oberspreewald-Lausitz hat ihren Sitz in Senftenberg in der Rudolf-Breitscheid-Straße. Im selben Gebäude ist die Polizeiwache Senftenberg der Brandenburger Polizei untergebracht.
Die Senftenberger Feuerwehr befindet sich in der Briesker Straße. Das rekonstruierte und erweiterte Gebäude wurde Anfang 2008 übergeben. Insgesamt 50 Feuerwehrleute (Stand: Dezember 2007) verrichten hier Dienst, davon 25 hauptamtlich. In den eingemeindeten Ortsteilen sind Löschzüge und -gruppen eingerichtet.
Vor der Gründung der Freiwilligen Feuerwehr waren die Senftenberger Bürger verpflichtet, Brände zu bekämpfen. Dazu musste jeder Hausbesitzer eine Feuerleiter, zwei Feuereimer und eine Handspritze besitzen. Das Leiterhaus für die besonders langen Feuerleitern der Gemeinde stand in der Nähe des ehemaligen Hospitals, später wurde ein neues Gebäude auf dem Wall an der Schwarzen Elster nahe der Ostpromenade errichtet. Die Freiwillige Feuerwehr wurde am 19. April 1878 gegründet, als Stiftungstag wurde der 1. April 1878 festgelegt. Zur Freiwilligen Feuerwehr gehörte überdies eine Turnabteilung. Bis Mitte der 1880er Jahre wurde zur körperlichen Ertüchtigung der Kameraden regelmäßig geturnt. Bei der Trennung von Turnern und Feuerwehr kam es zum Streit über die Vereinsfahne. Gerichtlich wurde die Fahne den Turnern zugesprochen. Im Jahr 1898 stürzte das Steigergerüst ein, daraufhin entschied die Stadt ein neues Feuerwehrdepot zu bauen. Als Standort wurde die Grenze zwischen Jüttendorf und Senftenberg gewählt. Grundsteinlegung war am 20. April 1899. Das neue Depot erhielt eine Schlauchwascheinrichtung sowie einen Steiger- und Trockenturm. Bereits am 11. Juli 1899 konnte das Gebäude mit elf Fahrzeugen bezogen werden. Am 10. Mai 1921 wurde an der Westseite des Gebäudes eine Gedenktafel für 16 im Ersten Weltkrieg gefallene Kameraden angebracht. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges wurde die Feuerwehr überwiegend zur Brandbekämpfung in den Kohlegruben eingesetzt. Das erste Großfeuer wurde vom 4. bis 9. August 1900 bei einem Tagebaubrand in der Grube Ilse in Rauno bekämpft, als ein 25 bis 27 Meter starkes Kohleflöz brannte. Zu DDR-Zeiten wurde das Gebäude um einen Ergänzungsbau erweitert und als Polizeiwache genutzt. Nach der Wende waren hier Teile des Landratsamts, später dann ein Jugendclub untergebracht. Der Ergänzungsbau wurde rückgebaut und das alte, denkmalgeschützte Feuerwehrdepot saniert. Im Gebäude wurde eine Kneipe mit Internetcafé eingerichtet. Heute ist ein Friseur im ehemaligen Depot untergebracht.
Das Amtsgericht Senftenberg befand sich zunächst im Senftenberger Schloss. Im Jahr 1910 zog es in einen Bau mit Mansarddach und aufgesetztem Türmchen unweit der Wendischen Kirche um; zwischen den beiden Gebäuden floss die Storchelster. Im neuen Gebäude befanden sich zusätzlich die Gefängniszellen. Das Senftenberger Arbeitsgericht wurde zum 1. Januar 2012 aufgelöst. Es befand sich im Verwaltungsbau des Schlossparkcenter-Parkhauses. Seine Aufgaben wurden vom Arbeitsgericht Cottbus übernommen.
Am 18. Juli 1930 war Grundsteinlegung für das Senftenberger Arbeitsamt in der damaligen Wiesenstraße (heute Joachim-Gottschalk-Straße). Der nüchterne, klar strukturierte Bau konnte am 5. Februar 1931 bezogen werden. Später war das Gebäude Sitz der Musikschule und des Gesundheitsamts. Nach der politischen Wende zog das Arbeitsamt in die Spremberger Straße. Da diese Unterbringung den Anforderungen nicht mehr entsprach, wurde Ende der 1990er Jahre in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs ein neues Gebäude errichtet.
Das Landratsamt des Oberspreewald-Lausitzkreises hat seinen Sitz in der Kreisstadt Senftenberg im ehemaligen Bergbauhaus des Niederlausitzer Bergbauvereins e. V. Dieses 1924 errichtete Gebäude war nach 1945 Kreishaus, danach Sitz des Rates des Kreises.
Bildung
Heute gibt es in Senftenberg ein Gymnasium (Friedrich-Engels-Gymnasium), zwei Oberschulen (Dr.-Otto-Rindt-Oberschule und Bernhard-Kellermann-Oberschule) und vier Grundschulen (davon eine in Hosena), ein Oberstufenzentrum (Oberstufenzentrum Lausitz) sowie eine Förderschule.
Das älteste Schulgebäude steht südlich des Neumarkts. Es wurde 1899 erbaut und am 1. September 1899 als Volksschule I eingeweiht. In der Zeit der DDR war hier die POS I Artur Wölk, benannt nach dem ersten Bürgermeister Senftenbergs nach dem Zweiten Weltkrieg, und nach der politischen Wende die Realschule untergebracht. Nachdem die Realschulen in Brandenburg aufgelöst und Senftenberger Schulen zusammengelegt worden waren, wird das Gebäude heute von Vereinen und anderen Einrichtungen genutzt. Als die Kapazität der Volksschule I aufgrund des Bevölkerungswachstums nicht mehr ausreichte, wurde 1909 zur Entlastung die Volksschule III im Norden der Stadt in der Calauer Straße gebaut. Im Jahr 1913 wurde sie durch einen Erweiterungsbau um sechs Klassen erweitert. Zu DDR-Zeiten war hier die POS III Anton Saefkow untergebracht. Heute befindet sich hier die Dr.-Otto-Rindt-Oberschule. Als Schule II galt die Schule für die katholischen Kinder, die sich auf dem Gelände der katholischen Kirche befand. Im Jahr 1895 wurde in der Ostpromenade die höhere Mädchenschule eröffnet.
Zu DDR-Zeiten wurden in Senftenberg im Zuge des Bevölkerungsanstiegs und der Stadtentwicklung neun Polytechnische Oberschulen (POS) und eine Erweiterte Oberschule (EOS) errichtet. Nach der Wende wurden in diesen Schulgebäuden das Gymnasium, die Realschule sowie die Gesamt- und Grundschulen eingerichtet. Aufgrund des Schülerrückgangs wurden in den Jahren um 2000 mehrere Schulen zusammengelegt und Schulgebäude (ehemalige POS V Otto Grotewohl und IX Ho Chi Minh) rückgebaut.
Bis zum Schuljahr 2008/2009 war das Senftenberger Gymnasium an zwei Standorten getrennt nach Sekundarstufe I und II untergebracht. Die Klassenstufen 12 und 13 wurden im Gebäude der ehemaligen EOS Friedrich Engels in der Rudolf-Harbig-Straße in direkter Nähe zur Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg unterrichtet; die Sekundarstufe I (Klassenstufe 7 bis 10) sowie die Klassenstufe 11 im Gebäude der ehemaligen POS VII Adolf Hennecke in der Fischreiherstraße. Dieses Gebäude wurde in den 1990er Jahren bei laufendem Schulbetrieb modernisiert und umgebaut. Dabei erhielt es die Form eines Schiffes, das Kellergeschoss wurde freigelegt und in das Erdgeschoss umgewandelt. Im Jahr 2004 wurde zudem eine neue Sporthalle übergeben. Die Schiffsform des Schulgebäudes ist gewählt worden, weil das Gymnasium unmittelbar am Senftenberger See liegt. Das Gymnasium erhielt den Namen Friedrich Engels in Anlehnung an die ehemalige EOS; zur Wahl stand noch der Name Gymnasium Am See.
Von 1913 bis 1932 war das Gymnasium im Schloss untergebracht. Bereits 1922 erhielt es den Namen Walther Rathenau, als erste Schule Deutschlands. Im Jahr 1932 wurde ein neues Gebäude für das Gymnasium gebaut, das im Bauhausstil durch die Berliner Architekten Brüder Taut und Hoffmann (Bruno und Max Taut) ausgeführt wurde. Bei dem Gebäude handelt es sich um einen klar gegliederten Bau aus traditionellen Materialien (Klinker). Es besteht aus zwei rechtwinklig zusammengefügten Gebäudeteilen mit einem tiefer liegenden Schulhof. Die Schule behielt den Namen Walther-Rathenau-Schule bis 1933. Dann wurde sie in Hindenburg-Schule umbenannt. Heute befindet sich die Walther-Rathenau-Grundschule in dem Gebäude. Zu DDR-Zeiten war hier die POS II Hans Beimler untergebracht.
Darüber hinaus gibt es in Senftenberg die Kreisvolkshochschule Oberspreewald-Lausitz sowie zwei Musikschulen. Die Kreisvolkshochschule wurde am 1. Dezember 1919 als Volkshochschule Senftenberg gegründet. Die Schüler haben die Möglichkeit ihr Abitur oder die Sekundarstufe I abzulegen. Neben Fremdsprachen werden Naturwissenschaften und Informatik angeboten. Die Musikschule des Oberspreewald-Lausitz-Kreis bietet sowohl Breiten- als auch Begabtenförderung an.
Senftenberg ist neben Cottbus ein Standort der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg. Die Hochschule Lausitz (HSL) (University of Applied Sciences) wurde 1991 gegründet und fusionierte 2013 mit der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus zur Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg und beendete somit ihre Existenz als eigenständige Hochschule. Sie verfügt über jeweils einen Campus in Senftenberg und Cottbus. Das angebotene Fächerspektrum reicht von zahlreichen ingenieurwissenschaftlichen Disziplinen über sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Fächer bis hin zur Musik. Bereits 1947 wurde in Senftenberg eine Bergingenieurschule gegründet. Aufgrund mangelnder Räumlichkeiten wurde an vielen Stellen in der Stadt unterrichtet, so zum Beispiel in der Gaststätte Zum Löwen. Im Jahr 1954 wurde das Hauptgebäude der Hochschule fertiggestellt. Aus der Bergingenieurschule wurde die Ingenieurschule für Bergbau und Energie „Ernst Thälmann“. Vor dem Hauptgebäude steht eine überlebensgroße Bergmannsplastik aus Steinzeug von Dorothea von Philipsborn. Die Front wird von einem Sgraffito geschmückt, das die Geschichte des Bergbaus zeigt. Dies wurde von Günther Wendt und Hubert Globisch geschaffen. In den 1990er und 2000er Jahren wurde die Hochschule rekonstruiert und neue Laborgebäude fertiggestellt, so 2007 das Biotechnologielabor für 15,4 Millionen Euro und 2008 das Informatiklabor.
Das Senftenberger Planetarium befand sich in unmittelbarer Nähe der Universität. Es wurde am 10. September 1966 eingeweiht und war das erste Planetarium im Bezirk Cottbus. In der Acht-Meter-Kuppel befand sich ein Projektionsgerät ZKP 1 von Carl-Zeiss-Jena, das die Darstellung jedes Breitengrades des Sternenhimmels (inklusive der südlichen Hemisphäre) zu jeder Tageszeit ermöglichte. 2015 schloss das Planetarium auf Grund von fehlenden finanziellen Mitteln.
Im Jahr 1992 wurde in der Krankenhausstraße die Stadtbibliothek, die bis dato an mehreren Standorten verteilt untergebracht war, in einem Gebäude zusammengefasst. Über 50.000 (Stand: 2006) Bücher, Zeitschriften und Datenträger können ausgeliehen werden.
Medizinische Einrichtungen
Seit dem 15. Jahrhundert gibt es in Senftenberg zur Pflege von Kranken Badehäuser und Hospitäler. Im Jahr 1867 wurde in Senftenberg ein Hospital am Stadtgraben gegründet. Da dies im Laufe der Zeit den Ansprüchen nicht mehr genügte, kam es unter Bürgermeister Blankenburg zum Neubau eines Krankenhauses. Grundsteinlegung war am 12. Oktober 1888. Am 3. November 1890 wurde das Krankenhaus an das Elisabeth-Krankenhaus und Diakonissenhaus zu Berlin übergeben. Bereits 1906 wurde ein Seitenflügel angebaut und 1924 ein Erweiterungsbau fertiggestellt, der der gestiegenen Einwohnerzahl Rechnung trug. Zu DDR-Zeiten fanden zahlreiche Modernisierungen statt, so wurde 1978 eine Intensivstation eingerichtet. Am 1. Oktober 1992 wurde die Klinikum Niederlausitz GmbH mit ihren drei Klinikbereichen in Klettwitz, Lauchhammer und Senftenberg gegründet. Da das Krankenhaus den Anforderungen nicht mehr genügte, war ein Teilneubau und Ausbau geplant. Am 4. Juni 1998 erfolgte die Grundsteinlegung für den Krankenhausneubau in Senftenberg durch die damalige Ministerin Regine Hildebrandt. Der Bau wurde mit 53 Millionen DM vom Land Brandenburg gefördert, rund 6 Millionen DM trug der Landkreis Oberspreewald-Lausitz. Neu entstehen die Notfallversorgung, die Endoskopie, die Röntgenabteilung, der OP-Trakt, die Intensivstation, das Labor sowie vier Stationen mit 122 Betten. Zusätzlich wurden Caféterien und ein Kiosk geschaffen. Die Baumaßnahmen waren im Sommer 2008 abgeschlossen. Im Zuge der Bauarbeiten wurde der Haupteingang verlegt, die Außenanlagen wurden in der Form der früheren Parkanlage gestaltet. Die historische Bausubstanz des Altbaus wurde belassen. In der Eingangshalle des Neubaus befindet sich das Kunstwerk von Vinzenz Wanitschke „St. Barbara“, die Schutzheilige der Bergleute. Heute verfügt das Klinikum über zwei Standorte in Senftenberg und Lauchhammer.
Am 3. Januar 1956 wurde die Poliklinik in der Dorothea-Erxleben-Straße eingeweiht und 1979 die Kreispoliklinik im neu errichteten Wohngebiet am See. Seit 1992 sind diese beiden Einrichtungen als Medizinische Einrichtungs-GmbH vereinigt. Neben niedergelassenen Ärzten unterschiedlicher Fachrichtungen gibt es außerdem eine Fachärztliche Praxis für Diagnostische Radiologie sowie Praxen für Physiotherapie und Logopädie.
Auf der „Höhe 304“ befand sich eine Station für Lungenkrankheiten.
Senftenberg ist ADAC-Luftrettungsstützpunkt. Die Rettungshubschrauber Christoph 33 und Christoph Brandenburg sind im Norden der Stadt in der Ackerstraße stationiert.
Medien
Am 1. Juli 1875 erschien die erste Ausgabe des Senftenberger Anzeigers. Herausgeber der Zeitung war Friedrich Pelz. Er wurde unterstützt durch den Landrat aus Calau und durch seinen Onkel, den Bürgermeister Blankenburg. Am 1. Januar 1882 schloss sich Pelz mit dem Buchdrucker Carl Georg Grubann aus Ruhland zusammen. Danach stiegen die Auflagezahlen des Senftenberger Anzeigers. Im Jahr 1924 wurde die neue Betriebsstätte in der Laugkstraße bezogen. Der Betrieb wurde 1945 enteignet und die Besitzer Georg und Edmund Grubann kamen in ein Arbeitslager, in dem Georg Grubann verstarb. Die Zeitung wurde weiter verlegt. Die Bezeichnung Lausitzer Rundschau wurde erstmals 1952 verwendet. Die Lausitzer Rundschau erscheint täglich mit Regionalausgaben in Senftenberg.
Der private Regionalsender seenluft24 ist in Senftenberg über das Kabelnetz zu empfangen. In Senftenberg befindet sich die Geschäftsstelle des Senders.
Für einige Filme diente Senftenberg teilweise als Kulisse:
1969: „Unbekannte Bürger“, DFF, Regie: Ulrich Thein
1996: „Amerika“ (TV), mit Sophie von Kessel, Regie: Ronald Eichhorn
2002: „Theaterlandschaften“, Neue Bühne Senftenberg mit Esther Schweins, Regie: Matthias Schmidt,
2006: „La Isla Bonita – Armee der Stille“, mit Dieter Hallervorden, Regie: Roland Lang
Sport
Am 31. Oktober 1959 wurde die Sporthalle Aktivist als größte freitragende Halle Europas eingeweiht. Die Laufbahnen sind 250 Meter lang. Die ersten Wettkämpfe fanden noch auf Naturboden statt. Erst in den Jahren 1971/72 wurde ein Tartanbelag in der Sporthalle verlegt, des Weiteren wurden bei diesen Baumaßnahmen die Kurven erhöht. Seit den 1970er-Jahren fanden die DDR-Hallenmeisterschaften der Leichtathletik in Senftenberg statt. Seit den 1990er-Jahren heißt die Sporthalle Niederlausitzhalle. Neben Sportveranstaltungen werden dort kulturelle Veranstaltungen und Ausstellungen durchgeführt. Seit 1. Januar 2005 wird die Halle durch den TSV Senftenberg bewirtschaftet. Zuvor wurde aus Kostengründen heftig über eine Schließung der Halle diskutiert. Der derzeitige deutsche Hallenrekord im 60-Meter-Lauf der Frauen wurde am 16. Februar 1985 mit 7,04 Sekunden von Marita Koch in der damaligen Aktivist-Sporthalle aufgestellt.
Die Sportanlage an der Briesker Straße verfügt neben dem Fußballplatz mit Laufbahnen über eine Kegelbahn. Diese wurde 1970 fertiggestellt und ist für internationale Wettkämpfe geeignet.
Ein bekannter Senftenberger Sportverein ist der Fußballverein FSV 'Glück Auf' Brieske/Senftenberg e. V., der als BSG Franz Mehring Marga, BSG Aktivist Brieske-Ost und SC Aktivist Brieske-Senftenberg von 1949 bis 1963 in der DDR-Oberliga und nach 1991 in der NOFV-Oberliga spielte. Die Kegler des SV Senftenberg, die Handballer des HSV Senftenberg sowie die Radballer des RSV Großkoschen sind gleichfalls überregional bekannt. Zum 1. Juli 2008 schlossen sich die Fußballvereine VfB Senftenberg und Fortuna Senftenberg zum Senftenberger FC 08 zusammen. Sitz des neuen Vereins ist die Sportanlage in der Briesker Straße, die der SFC ’08 gemeinsam mit dem SV Senftenberg bewirtschaftet. Außerdem bewirtschaftet der SFC ’08 den „Michael-Bautz-Sportpark“ in der Rudolf-Harbig-Straße, der bis zum 30. Juni 2008 den Namen „Fortuna-Sportpark“ trug. Das Stadion wurde 1963 für die damalige Ingenieurschule erbaut. Der neue Verein ist mit zwei Männermannschaften aktiv, davon je eine in der Landesklasse Süd, und 1. Kreisklasse. Größte Erfolge des jungen Vereins ist der zweimalige Kreispokalsieg Senftenberg, sowie der Kreismeistertitel im Jahr 2010 mit dem Aufstieg in die Landesklasse Süd. Weitere Senftenberger Fußballvereine sind Elastisch Senftenberg 94 sowie Blau-Gelb Hosena.
Persönlichkeiten
Senftenberg verfügt seit 2015 über ein Goldenes Buch.
Ehrenbürger
Der erste Kreis- und Stadtkommandant Senftenbergs nach 1945, der sowjetische Gardeoberst Iwan Demjanowitsch Soldatow, bekam 1978 für seine Verdienste um den Aufbau der Stadt unter anderem Aufbau des Senftenberger Theaters die Ehrenbürgerwürde verliehen.
Am 3. April 2000 wurde der Musikdirektor des Senftenberger Theaters Kurt Natusch Ehrenbürger Senftenbergs. Natusch wurde in Senftenberg geboren. Am 10. Oktober 2000 erhielt Natusch für seine Verdienste das Verdienstkreuz am Bande. Kurt Natusch verstarb am 23. Mai 2008.
Söhne und Töchter der Stadt
Der Schriftsteller Horst Mönnich wurde 1918 in Senftenberg geboren. Er besuchte das städtische Reform-Realgymnasium und studierte nach dem Abitur Germanistik und Theaterwissenschaft in Berlin. Sein literarisches Werk umfasst Romane, Reportagen, Hörspiele und Fernsehspiele. Die deutsche Wirklichkeit und die deutsch-deutsche Geschichte sind darin seine Themen.
Der Maler und Grafiker Günther Wendt wurde 1908 in Senftenberg geboren. Er hat die gewaltigen Landschaftsveränderungen in Senftenberg und der Lausitz mit seinen Werken dokumentiert. Einige seiner Werke sind in Senftenberg zu sehen, so die Sgraffiti an der Galerie am Schloss, an der Universität, an der Wendischen Kirche und eine historische Stadtansicht im Senftenberger Rathaus. Er hat für das Theater Bühnenbilder und Kostüme gefertigt und war ab den 1950er Jahren Museumsleiter. Unter Wendt wurde die frühgeschichtliche Abteilung des Museums aufgebaut.
Die Komponisten Jakob Meiland und Herbert Windt sind in Senftenberg geboren. Meiland lebte im 16. Jahrhundert, war Hofkapellmeister bei Georg Friedrich I. von Brandenburg und starb bereits im Alter von 35 Jahren in Hechingen. Windts Kompositionen wurden vor allem in NS-Propagandafilmen genutzt. Ein Zeitgenosse Meilands war der Rektor der Leipziger Universität und Konrektor der Landesfürstlichen Schule St. Afra in Meißen Peter Thomäus.
Ebenfalls in Senftenberg kam der belgische General Karl Wilhelm von Bormann zur Welt, der seine militärische Laufbahn in Diensten der königlich-sächsischen Armee begann. Bormann erfand in der belgischen Armee den ringförmigen Zeitzünder mit fester Satzdecke für Schrapnells.
Im Jahr 1850 wurde der Augenarzt und Wissenschaftler Hermann Kuhnt in Senftenberg geboren. Er leiste gemeinsam mit Paul Junius richtungsweisendes auf dem Gebiet der Makuladiagnostik.
Der deutsche Professor für physikalische und theoretische Chemie an der Humboldt-Universität zu Berlin, Joachim Sauer, Ehemann der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel, wurde in Hosena geboren (heute Ortsteil von Senftenberg) und besuchte die Polytechnische Oberschule Walther Rathenau in Senftenberg.
Persönlichkeiten, die mit der Stadt in Verbindung stehen
Der Heimathistoriker und Vorsitzende der Niederlausitzer Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde Rudolf Lehmann zog mit seiner Familie in die Senftenberger Bahnhofstraße. Lehmann verfasste zahlreiche Abhandlungen über die Geschichte der Niederlausitz. Der 1877 verstorbene Heimatdichter Friedrich Roch wohnte in der Ritterstraße in einem kleinen Fachwerkhäuschen, dem Dichterhäuschen, das in der Literatur ebenso als Lusthäuschen erwähnt wird. Der Künstler Ernst Sauer lebte viele Jahre in Senftenberg, noch heute zeugen Plastiken von seinem Schaffen in Senftenberg (z. B. Brunnenplastiken auf dem Neumarkt, Denkmal für die antifaschistischen Widerstandskämpfer im Schlosspark, Denkmal für die gefallenen sowjetischen Soldaten, Brunnenanlagen am Theater). Der Schriftsteller Erwin Strittmatter arbeitete nach dem Zweiten Weltkrieg als Zeitungsredakteur in Senftenberg.
Seit Gründung des Senftenberger Theaters 1946 als Theater der Bergarbeiter Senftenberg waren zahlreiche Schauspieler und Regisseure in Senftenberg tätig und erlernten hier zum Teil das Schauspiel. Dazu gehören Armin Mueller-Stahl, Annekathrin Bürger, Klaus-Dieter Klebsch, Erich Petraschk, Rolf Römer, Günter Schubert und Frank Castorf. Nach der politischen Wende und der Umwandlung des Theaters in das Einspartentheater Neue Bühne Senftenberg brachte es ebenso erfolgreiche Darsteller, wie Manfred Möck (Preisträger des Silbernen Bären 1989), Alexander Sternberg (Darsteller in der Sat.1-Telenovela- Verliebt in Berlin) und Julia-Maria Köhler (Darstellerin in der ProSieben-Serie Verrückt nach Clara) hervor. Der Komponist Harald Lorscheider war von 1992 bis 1993 Kapellmeister an der Neuen Bühne.
Der SC Aktivist Brieske-Senftenberg und später der FSV Glückauf Brieske-Senftenberg brachten Fußballnationalspieler wie Horst Franke und Heinz Lemanczyk sowie den DFB-Pokalsieger 1999 Sven Benken hervor.
Senftenberg in den Medien
Literatur
Johann Karl Büttner: Auszug aus der Chronik der Stadt und des Amtes Senftenberg enthaltend die Zeitperiode von 1539 bis 1835. Band 1, Großenhain 1835 (Digitalisat).
Ute Jochinke, Ulf Jacob: Moderne in Senftenberg. Das „Pädagogische Forum“ als Bildungsoase der Weimarer Republik. In: Ulf Jacob, Ute Jochinke: Oasen der Moderne. Stadt- und Landschaftsgestaltungen im Lausitzer Revier. Verlag der Kunst, Dresden in der Verlagsgruppe Husum, Husum 2004, ISBN 3-86530-065-0, S. 62–83.
Georg Christoph Kreyßig u. a.: Annales Senftenbergensis manvscripti, darinnen der Stadt, Vestung und Ambtes Senfftenberg in Meißen denckwürdige Geschichte, sambt dero Geist- und weltlichen Regenten etc. beschrieben. In: Beyträge zur Historie derer Chur- und Fürstlichen Sächsischen Lande. Band 5, Altenburg 1761, S. 32–109 (Digitalisat).
Johann Gottlob Paulitz: Chronik der Stadt Senftenberg und der zum ehemaligen Amte Senftenberg gehörigen Ortschaften. Senftenberg/Großenhain/Dresden 1892–1923 (Digitalisat).
Videolektüre
Weblinks
Offizielle Internetseite der Stadt Senftenberg
Private Homepage mit historischen Ansichten aus Senftenberg und Umgebung
Statistik der Lausitzer Sorben: Gemeinde Senftenberg. (Arnošt Muka, 1884–86)
Einzelnachweise
Ort im Landkreis Oberspreewald-Lausitz
Ort in der Niederlausitz
Ort an der Schwarzen Elster
Kreisstadt in Brandenburg
Staatlich anerkannter Erholungsort in Brandenburg
Deutsche Universitätsstadt
Ersterwähnung 1279
Mittlere kreisangehörige Stadt in Brandenburg |
11018 | https://de.wikipedia.org/wiki/Paul%20C%C3%A9zanne | Paul Cézanne | Paul Cézanne (* 19. Januar 1839 in Aix-en-Provence; † 22. Oktober 1906 ebenda) war ein französischer Maler. Cézannes Werk wird unterschiedlichen Stilrichtungen zugeordnet: Während seine frühen Arbeiten noch von Romantik – wie die Wandbilder im Landhaus Jas de Bouffan – und Realismus geprägt sind, gelangte er durch intensive Auseinandersetzung mit impressionistischen Ausdrucksformen zu einer neuen Bildsprache, die den zerfließenden Bildeindruck impressionistischer Werke zu festigen versucht. Er gab die illusionistische Fernwirkung auf, brach die von den Vertretern der Akademischen Kunst aufgestellten Regeln und strebte eine Erneuerung traditioneller Gestaltungsmethoden auf der Grundlage des impressionistischen Farbraumes und farbmodulatorischer Prinzipien an.
Seine Malerei rief in der zeitgenössischen Kunstkritik Unverständnis und Spott hervor. Bis in die späten 1890er Jahre waren es hauptsächlich Künstlerkollegen wie Pissarro, Monet und Renoir sowie Kunstsammler und der Galerist Ambroise Vollard, denen sich Cézannes Schaffen erschloss und die zu den ersten Käufern seiner Gemälde zählten. Vollard eröffnete im Jahr 1895 in seiner Pariser Galerie die erste Einzelausstellung, die zu einer breiteren Auseinandersetzung mit dem Werk des Künstlers führte.
Aus der Vielzahl der Künstler, die sich nach Cézannes Tod an dessen Werk orientierten, sind im Besonderen Pablo Picasso, Henri Matisse, Georges Braque und André Derain zu nennen. Die gegensätzliche Ausrichtung der malerischen Werke der genannten Künstler lässt die Komplexität des Cézanne’schen Werks erkennen. Cézanne zählt mit seinen Werken aus kunsthistorischer Sicht zu den Wegbereitern der Klassischen Moderne.
Cézannes Bildthemen waren oft Badende, die Landschaft um das Gebirge Montagne Sainte-Victoire, Stillleben und Porträts seines Modells, seiner Geliebten und späteren Frau, Hortense Fiquet.
Leben
Kindheit und Ausbildung
Paul Cézanne wurde als Sohn des Huthändlers und späteren Bankiers Louis-Auguste Cézanne und der Anne-Elisabeth-Honorine Aubert in der Rue de l’Opera 28 in Aix-en-Provence geboren. Seine Eltern heirateten erst nach der Geburt Pauls und seiner Schwester Marie (* 1841) am 29. Januar 1844. Seine jüngste Schwester Rose kam im Juni 1854 zur Welt. In den Jahren von 1844 bis 1849 besuchte er die Grundschule; es schloss sich die Ausbildung an der École de Saint-Joseph an. Mitschüler waren der spätere Bildhauer Philippe Solari und Henri Gasquet, Vater des Schriftstellers Joachim Gasquet, der 1921 sein Buch Cézanne herausbringen sollte.
Ab 1852 besuchte Cézanne das Collège Bourbon (heute Lycée Mignet), wo er Freundschaft mit dem späteren Romancier Émile Zola und dem späteren Ingenieur Jean-Baptistin Baille schloss. Sie wurden im Collège als die „Unzertrennlichen“ bezeichnet. Es war die wohl unbeschwerteste Zeit seines Lebens, als die Freunde an den Ufern des Arc schwammen und fischten. Sie debattierten über Kunst, lasen Homer und Vergil und übten sich im Verfassen eigener Gedichte. Cézanne verfasste seine Verse oft in lateinischer Sprache. Zola forderte ihn auf, die Dichtung mit größerem Ernst zu betreiben, doch Cézanne sah darin nur einen Zeitvertreib. Am 12. November 1858 bestand Cézanne die Prüfung zum Baccalauréat.
Auf Wunsch des autoritären Vaters, der in seinem Sohn traditionell den Erben seiner 1848 gegründeten Bank Cézanne & Cabassol sah, die ihm den Aufstieg vom Händler zum erfolgreichen Bankier gebracht hatte, immatrikulierte sich Paul Cézanne 1859 an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität von Aix-en-Provence und belegte Vorlesungen für das Studium der Jurisprudenz. Er verbrachte zwei Jahre mit dem ungeliebten Studium, vernachlässigte es jedoch zunehmend und widmete sich lieber zeichnerischen Übungen und dem Verfassen von Gedichten. In Abendkursen nahm Cézanne ab 1859 Unterricht an der École de dessin d’Aix-en-Provence, die im Kunstmuseum von Aix, dem Musée Granet, untergebracht war. Sein Lehrer war der akademische Maler Joseph Gibert (1806–1884). Im August 1859 gewann er dort den zweiten Preis im Kurs für Figurenstudien.
Sein Vater kaufte im selben Jahr das Anwesen Jas de Bouffan (Haus des Windes). Diese zum Teil verfallene barocke Residenz des ehemaligen Provinzgouverneurs wurde später für lange Zeit Wohnhaus und Arbeitsplatz des Malers. Das Gebäude und die alten Bäume im Park des Anwesens gehörten zu den Lieblingsmotiven des Künstlers. Im Jahr 1860 erhielt Cézanne die Erlaubnis, die Wände des Salons auszumalen; es entstanden die großformatigen Wandgemälde der vier Jahreszeiten: Frühling, Sommer, Herbst und Winter (heute im Petit Palais in Paris), die Cézanne ironisch mit Ingres signierte, dessen Werke er nicht schätzte. Das Winterbild enthält zusätzlich die Datierung 1811, sie bildet eine Anspielung auf Ingres’ Gemälde Jupiter und Thetis, das zu dieser Zeit gemalt wurde und im Musée Granet ausgestellt ist. Vermutlich entstanden zuerst die Bilder Sommer und Winter, in denen sich noch eine gewisse Unbeholfenheit im Umgang mit der Maltechnik zeigt. Frühling und Herbst erscheinen besser durchgearbeitet. Gemeinsam ist der Jahreszeitenfolge eine romantisierende Ausstrahlung, wie sie später in Cézannes Werken nicht mehr anzutreffen ist.
Studium in Paris
Zola, der im Februar 1858 mit seiner Mutter nach Paris gezogen war, legte Cézanne in Briefwechseln eindringlich nahe, seine zögerliche Haltung aufzugeben und ihm dorthin zu folgen. Unter der Bedingung, ein ordentliches Studium anzutreten, gab Louis-Auguste Cézanne dem Wunsch des Sohnes endlich nach, da er die Hoffnung aufgegeben hatte, in Paul den Nachfolger für das Bankgeschäft zu finden.
Cézanne zog im April 1861 nach Paris. Die großen Hoffnungen, die er in Paris gesetzt hatte, erfüllten sich nicht, da er sich an der École des Beaux-Arts beworben hatte, dort jedoch abgewiesen wurde. Er besuchte die freie Académie Suisse, wo er sich dem Aktzeichnen widmen konnte. Dort traf er den zehn Jahre älteren Camille Pissarro und Achille Emperaire aus seiner Heimatstadt Aix. Er kopierte oft im Louvre nach Werken alter Meister wie Michelangelo, Rubens und Tizian. Doch die Stadt blieb ihm fremd, und er dachte bald an eine Rückkehr nach Aix-en-Provence.
Zolas Glaube an Cézannes Zukunft war erschüttert, so schrieb er schon im Juni an den gemeinsamen Jugendfreund Baille: „Paul ist immer noch der vortreffliche und seltsame Bursche, wie ich ihn in der Schule gekannt habe. Zum Beweis dafür, daß er nichts von seiner Originalität eingebüßt hat, brauche ich dir nur zu sagen, daß er, kaum hier eingetroffen, davon sprach, zurückzukehren.“ Cézanne malte ein Porträt Zolas, das dieser von ihm erbeten hatte, um dem Freund Mut zu machen; doch Cézanne war mit dem Ergebnis nicht zufrieden und zerstörte das Bild. Im September 1861 kehrte Cézanne, enttäuscht durch die Ablehnung an der École, nach Aix-en-Provence zurück und arbeitete erneut in der Bank seines Vaters.
Doch schon im Spätherbst 1862 zog er erneut nach Paris. Sein Vater sicherte sein Existenzminimum mit einem monatlichen Wechsel von über 150 Franc ab. Die traditionsbehaftete École des Beaux-Arts lehnte ihn erneut ab. Er besuchte daher wieder die Académie Suisse, die den Realismus förderte. In dieser Zeit lernte er viele junge Künstler kennen, nach Pissarro auch Claude Monet, Pierre-Auguste Renoir und Alfred Sisley.
Cézanne stand im Gegensatz zum offiziellen Kunstleben Frankreichs unter dem Einfluss Gustave Courbets und Eugène Delacroix’, die nach einer Erneuerung der Kunst strebten und die Darstellung ungeschönter Wirklichkeit forderten. Courbets Anhänger nannten sich „Realisten“ und folgten seinem bereits 1849 formulierten Grundsatz Il faut encanailler l’art („Man muss die Kunst in die Gosse werfen“), was bedeutet, die Kunst müsse von ihrer idealen Höhe heruntergeholt und zu einer Sache des Alltags gemacht werden. Den endgültigen Bruch mit der historischen Malerei vollzog Édouard Manet, dem es nicht auf die analytische Betrachtung, sondern auf die Wiedergabe seiner subjektiven Wahrnehmung ankam und auf die Befreiung des Bildgegenstands von symbolischer Befrachtung.
Der Ausschluss der Werke Manets, Pissarros und Monets vom offiziellen Salon, dem Salon de Paris, im Jahr 1863 rief eine solche Empörung unter den Künstlern hervor, dass Napoleon III. neben dem offiziellen Salon einen „Salon des Refusés“ (Salon der Abgelehnten) einrichten ließ. Dort wurden auch Cézannes Werke ausgestellt, denn wie in den folgenden Jahren wurde er nicht zum offiziellen Salon zugelassen, der weiterhin die klassische Malweise nach Ingres forderte. Diese Sichtweise entsprach dem Geschmack des bürgerlichen Publikums, das die Ausstellung im „Salon des Refusés“ ablehnte.
Im Sommer 1865 kehrte Cézanne nach Aix zurück. Zolas Erstlingsroman La Confession de Claude wurde veröffentlicht. Er ist den Jugendfreunden Cézanne und Baille gewidmet. Im Herbst 1866 führte Cézanne eine ganze Serie von Bildern in Spachteltechnik aus, vor allem Stillleben und Porträts. Das Jahr 1867 verbrachte er überwiegend in Paris, die zweite Hälfte des Jahres 1868 in Aix. Anfang 1869 kehrte er nach Paris zurück und lernte an der Académie Suisse die elf Jahre jüngere Buchbindergehilfin Hortense Fiquet kennen, die als Malermodell arbeitete, um sich einen kleinen Nebenverdienst zu erwerben.
L’Estaque – Auvers-sur-Oise – Pontoise 1870–1874
Am 31. Mai 1870 war Cézanne Trauzeuge auf Zolas Hochzeit in Paris. Cézanne und Hortense Fiquet lebten während des Deutsch-Französischen Krieges im Fischerdorf L’Estaque bei Marseille, das Cézanne später häufig aufsuchen und malen sollte, da ihn die mediterrane Atmosphäre des Ortes faszinierte. Der Einberufung zum Wehrdienst hatte er sich entzogen. Obgleich Cézanne im Januar 1871 als Fahnenflüchtiger denunziert worden war, gelang es ihm sich zu verstecken. Näheres ist nicht bekannt, da Dokumente aus dieser Zeit fehlen.
Nach der Niederschlagung der Pariser Kommune kehrte das Paar im Mai 1871 nach Paris zurück. Paul fils, der Sohn von Paul Cézanne und Hortense Fiquet, wurde am 4. Januar 1872 geboren. Cézanne verbarg seine nicht standesgemäße Familie vor dem Vater, um die finanziellen Zuwendungen nicht zu verlieren, die dieser ihm zum Leben als Künstler zukommen ließ.
Als Cézannes Freund, der verkrüppelte Maler Achille Emperaire, aus finanzieller Not heraus im Jahr 1872 in Paris Unterschlupf bei der Familie suchte, verließ er das Quartier in der Rue Jussieu bald wieder: „[…] es war notwendig, denn sonst wäre ich nicht dem Schicksal der andern entgangen. Ich fand ihn hier von allen verlassen. […] Von Zola, Solari und all den anderen ist nicht mehr die Rede. Er ist der seltsamste Kerl, den man sich vorstellen kann.“
Von Ende 1872 bis 1874 lebte Cézanne mit Frau und Kind in Auvers-sur-Oise, wo er den Arzt und Kunstfreund Paul Gachet kennenlernte, den späteren Arzt des Malers Vincent van Gogh. Gachet war außerdem ein ambitionierter Freizeitmaler und stellte Cézanne sein Atelier zur Verfügung.
Cézanne folgte 1872 einer Einladung des Freundes Pissarro zur Zusammenarbeit nach Pontoise im Tal der Oise. Pissarro als einfühlsamer Künstler wurde für den menschenscheuen, reizbaren Cézanne zum Mentor; er konnte ihn zur Abkehr von den dunklen Farben auf seiner Farbpalette bewegen und gab ihm den Rat: „Malen Sie immer nur mit den drei Grundfarben (Rot, Gelb, Blau) und ihren unmittelbaren Abweichungen.“ Außerdem solle er auf lineare Konturierung verzichten, die Gestalt der Dinge ergebe sich durch die Abstufung der farblichen Tonwerte. Cézanne spürte, dass ihn die impressionistische Technik seinem Ziel näher brachte, und folgte dem Rat des Freundes. Sie malten oft gemeinsam vor dem Motiv. Später berichtete Pissarro: „Wir waren ständig zusammen, aber trotzdem bewahrte sich jeder von uns das, was allein zählt: die eigene Empfindung.“
Ein deutliches Beispiel ist in zwei der hier gezeigten Gemälde zu sehen: Im Gegensatz zu den dunklen Farben und den starken Konturen der Schneeschmelze in L’Estaque zeigt das spätere Werk Blick auf Auvers die von Pissarro erlernte Technik, verbunden mit Cézannes genauer Beobachtung der Landschaft.
Erste impressionistische Gruppenausstellungen ab 1874
Die jungen Maler in Paris sahen im Salon de Paris keine Förderung ihrer Werke und griffen daher Claude Monets bereits im Jahr 1867 gefassten Plan einer eigenen Ausstellung auf. Vom 15. April bis zum 15. Mai 1874 fand die Gruppenausstellung der Société anonyme des artistes, peintres, sculpteurs, graveurs statt, der später so genannten Impressionisten. Dieser Name geht auf den Titel des ausgestellten Gemäldes Impression soleil levant von Monet zurück. Der Kritiker Louis Leroy bezeichnete in der satirischen Zeitschrift Le Charivari die Gruppe als „Impressionisten“ und schuf damit den Begriff dieser neuen Kunstrichtung. Ausstellungsort war das Atelier des Fotografen Nadar am Boulevard des Capucines.
Pissarro setzte Cézannes Teilnahme gegen die Bedenken einiger Mitglieder durch, die befürchteten, Cézannes kühne Bilder könnten der Ausstellung schaden. Neben Cézanne stellten unter anderem Renoir, Monet, Alfred Sisley, Berthe Morisot, Edgar Degas und Pissarro aus. Manet lehnte eine Beteiligung ab, für ihn war Cézanne „ein Maurer, der mit der Kelle malt“. Besonders Cézanne erregte mit seinen Gemälden wie der Landschaft bei Auvers und der Modernen Olympia großes Aufsehen, Entrüstung und Hohngelächter bei den Kritikern. In Eine moderne Olympia, geschaffen als Bildzitat von Manets 1863 entstandenem, vielfach geschmähtem Gemälde Olympia, suchte Cézanne eine noch drastischere Darstellung und zeigte neben Prostituierter und Dienerin auch den Freier, in dessen Gestalt Cézanne persönlich vermutet wird.
Die Ausstellung erwies sich als finanzieller Misserfolg; bei der Schlussabrechnung ergab sich ein Defizit von über 180 Francs für jeden der teilnehmenden Künstler. Cézannes Werk Das Haus des Gehängten gehörte zu den Bildern, die trotz der Verrisse verkauft werden konnten. Der Sammler Graf Doria erwarb es für 300 Francs.
Im Jahr 1875 traf Cézanne den Zollinspektor und Kunstsammler Victor Chocquet, der, vermittelt durch Renoir, drei seiner Arbeiten kaufte und sein treuester Sammler wurde. An der zweiten Ausstellung der Gruppe nahm Cézanne nicht teil, präsentierte dafür im Jahr 1877, in der dritten Ausstellung, gleich 16 seiner Werke, die sich wiederum erhebliche Kritik zuzogen. Es war das letzte Mal, dass er gemeinsam mit den Impressionisten ausstellte. Ein weiterer Förderer war der Farbenhändler Julien „Père“ Tanguy, der die jungen Maler unterstützte, indem er ihnen Farben und Leinwand lieferte und dafür Gemälde erhielt.
Im März 1878 erfuhr Cézannes Vater durch eine unbedachte briefliche Äußerung Victor Chocquets von der lange verborgen gehaltenen Beziehung zu Hortense und dem gemeinsamen unehelichen Sohn Paul. Er kürzte darauf den monatlichen Wechsel um die Hälfte, und für Cézanne begann eine finanziell angespannte Zeit, in der er Zola um Hilfe bitten musste.
1881 arbeitete Cézanne in Pontoise mit Paul Gauguin und Pissarro zusammen; Cézanne kehrte am Ende des Jahres nach Aix zurück. Er warf Gauguin später vor, dass er ihm seine „kleine Empfindung“ gestohlen habe und dieser andererseits jedoch nur Chinoiserien male. Mit Antoine Guillemet wurde 1882 ein Freund Cézannes Mitglied der Jury des Salons. Da jedes Jurymitglied das Privileg hatte, ein Bild eines seiner Schüler zu zeigen, gab er Cézanne als seinen Schüler aus und erreichte dessen erste Teilnahme beim Salon. Das Werk, es war ein Porträt seines Vaters aus den sechziger Jahren, wurde an eine schlecht belichtete Stelle eines abgelegenen Saals in die oberste Reihe gehängt und erfuhr keinerlei Beachtung.
Cézanne arbeitete im Frühjahr 1882 mit Renoir in Aix und – erstmals – in L’Estaque zusammen, einem kleinen Fischerort bei Marseille, den er auch 1883 und 1888 aufsuchte. Bei einem der ersten beiden Aufenthalte entstand Die Bucht von Marseille, von L’Estaque aus gesehen. Im Herbst 1885 und in den folgenden Monaten hielt sich Cézanne in Gardanne auf, einer kleinen, auf einem Hügel gelegenen Stadt in der Nähe von Aix-en-Provence, wo er mehrere Gemälde schuf, deren facettierte Formen bereits den Malstil des Kubismus antizipieren.
Bruch mit Zola, Heirat 1886
Die lange freundschaftliche Beziehung zu Émile Zola war distanzierter geworden. Der weltgewandte, erfolgreiche Schriftsteller hatte sich 1878 ein luxuriöses Sommerhaus in Médan in der Nähe von Auvers eingerichtet, wo ihn Cézanne in den Jahren 1879 bis 1882 sowie 1885 wiederholt besucht hatte; doch der aufwändige Lebensstil des Freundes hatte ihm, der ein anspruchsloses Leben führte, seine eigene Unzulänglichkeit vor Augen geführt und veranlasste ihn zum Selbstzweifel.
Zola, der den Jugendfreund inzwischen als einen Gescheiterten betrachtete, veröffentlichte im März 1886 seinen Schlüsselroman L’Œuvre aus dem Romanzyklus der Rougon-Macquart, dessen Protagonist, der Maler Claude Lantier, die Verwirklichung seiner Ziele nicht erreicht und Selbstmord begeht. Um die Parallelen zwischen Fiktion und Biografie noch zu steigern, stellte Zola in seinem Werk dem Maler Lantier den erfolgreichen Schriftsteller Sandoz zur Seite. Monet und Edmond de Goncourt sahen in der Romanfigur des Malers eher Édouard Manet beschrieben, doch Cézanne fand sich als Person in vielen Einzelheiten widergespiegelt. Er bedankte sich förmlich für die Zusendung des vermeintlich auf ihn bezogenen Werks. Der Kontakt der beiden Jugendfreunde brach daraufhin für immer ab.
Am 28. April 1886 heirateten Paul Cézanne und Hortense Fiquet in Anwesenheit seiner Eltern in Aix. Die Verbindung zu Hortense wurde nicht aus Liebe legalisiert, da ihre Beziehung schon seit längerem zerrüttet war. Cézanne hatte eine Scheu vor Frauen und eine panische Angst vor Berührungen, ein Trauma, das aus seiner Kindheit stammte, als ihm nach eigener Aussage auf der Treppe ein Mitschüler hinterrücks einen Fußtritt von hinten versetzt hatte. Durch die Heirat sollte vielmehr der inzwischen vierzehnjährige Sohn Paul, den Cézanne sehr liebte, als ehelicher Sohn in seinen Rechten gesichert werden.
Trotz der belasteten Beziehung war Hortense die Person, die Cézanne am häufigsten porträtierte. Vom Beginn der siebziger bis zu den frühen neunziger Jahren sind 26 Gemälde von Hortense bekannt. Sie ließ die anstrengenden Sitzungen bewegungslos und geduldig über sich ergehen. Das gezeigte Bild entstand um 1890 in der Wohnung auf der Île Saint-Louis in Paris am Quai d’Anjou 15.
Im Oktober 1886, nach dem Tod des Vaters, erbten Cézanne, seine Mutter und Schwestern dessen Vermögen, zu dem auch das Landgut Jas de Bouffan gehörte, sodass Cézannes finanzielle Lage wesentlich entspannter wurde. „Mein Vater war ein genialer Mann“, sagte er rückblickend, „er hinterließ mir ein Einkommen von 25.000 Francs.“
Ausstellung bei Les Vingt 1890
Cézanne lebte in Paris und zunehmend in Aix ohne seine Familie. Renoir besuchte ihn dort im Januar 1888, und sie arbeiteten gemeinsam im Atelier des Jas de Bouffan. Im Jahr 1890 erkrankte Cézanne an Diabetes; durch die Krankheit wurde er noch schwieriger im Umgang mit seinen Mitmenschen.
In der Hoffnung, die gestörte Beziehung zu Hortense könne sich stabilisieren, verbrachte Cézanne mit ihr und seinem Sohn Paul einige Monate in der Schweiz. Der Versuch missglückte, daher kehrte er in die Provence zurück, Hortense und Paul nach Paris.
Im selben Jahr stellte er drei seiner Werke bei der Gruppe Les Vingt in Brüssel aus. Die Société des Vingt, kurz Les XX oder Les Vingt, deutsch Die XX oder Die Zwanzig, war eine um 1883 gegründete Vereinigung von belgischen oder in Belgien lebenden Künstlern, darunter Fernand Khnopff, Théo van Rysselberghe, James Ensor und das Geschwisterpaar Anna und Eugène Boch.
Cézannes erste Einzelausstellung in Paris 1895
Im Mai 1895 besuchte er zusammen mit Pissarro die Ausstellung Monets in der Galerie Durand-Ruel. Er war begeistert, nannte aber später bezeichnenderweise das Jahr 1868 als Monets stärkste Zeit, als dieser noch mehr unter dem Einfluss Courbets stand.
Mit seinem Studienkameraden aus der Académie Suisse, Achille Emperaire, begab sich Cézanne in das Gebiet um den Ort Le Tholonet, wo er im „Château Noir“ wohnte, das am Sainte-Victoire-Gebirge liegt. Besonders das Gebirge nahm er in seinen Gemälden oft zum Thema. Er mietete sich am nah gelegenen Steinbruch Bibémus eine Hütte; Bibémus wurde ein weiteres Motiv für seine Gemälde.
Ambroise Vollard, ein aufstrebender Galerist, eröffnete im November 1895 Cézannes erste Einzelausstellung. Er zeigte in seiner Galerie eine Auswahl von 50 aus etwa 150 Werken, die ihm Cézanne als Paket zugeschickt hatte. Über die Ausstellung eines Manet-Konvoluts in seinem kleinen Laden hatte Vollard 1894 Degas und Renoir kennengelernt, die bei ihm Manet-Arbeiten gegen eigene Werke eintauschten. Vollard knüpfte ebenfalls Beziehungen zu Pierre Bonnard und Édouard Vuillard, und als im selben Jahr der bekannte Farbenhändler Père Tanguy starb, konnte Vollard aus dessen Nachlass sehr günstig Arbeiten von drei damals noch Unbekannten kaufen: Cézanne, Gauguin und van Gogh. Der erste Käufer eines Cézanne-Gemäldes war Monet, es folgten Kollegen wie Degas, Renoir, Pissarro und später dann Kunstsammler. Die Preise für Werke Cézannes stiegen um das Hundertfache, und Vollard profitierte wie stets von seinen Lagerbeständen.
Im Jahr 1897 wurde zum ersten Mal ein Cézanne-Gemälde von einem Museum angekauft. Hugo von Tschudi erwarb Cézannes Landschaftsmalerei Die Mühle an der Couleuvre bei Pontoise in der Galerie Durand-Ruel für die Berliner Nationalgalerie.
Cézannes Mutter starb am 25. Oktober 1897. Im November 1899 verkaufte er auf Drängen seiner Schwester das nun praktisch verwaiste Anwesen „Jas de Bouffan“ und bezog eine kleine Stadtwohnung in der 23, Rue Boulegon in Aix-en-Provence; der geplante Kauf des Anwesens „Château Noir“ hatte sich nicht realisieren lassen. Er stellte eine Haushälterin ein, Mme Bremond, die ihn bis zu seinem Tod betreuen sollte.
Hommage à Cézanne
Der Kunstmarkt reagierte inzwischen weiterhin positiv auf Cézannes Werke; so schrieb Pissarro im Juni 1899 aus Paris von der Versteigerung der Sammlung Chocquets aus dessen Nachlass: „Dazu gehören zweiunddreißig Cézannes ersten Ranges […]. Die Cézannes werden sehr hohe Preise bringen und sind bereits mit vier- bis fünftausend Francs angesetzt.“ In dieser Auktion wurden erstmals marktgerechte Preise für Bilder Cézannes erzielt, sie lagen jedoch noch „weit unter denen für Gemälde Manets, Monets oder Renoirs.“
Im Jahr 1901 stellte Maurice Denis sein 1900 entstandenes großes Gemälde Hommage à Cézanne in Paris und Brüssel aus. Das Bildthema ist die Galerie von Ambroise Vollard, in der ein Bild – Cézannes Gemälde Stillleben mit Obstschale – präsentiert wird, das früher im Besitz von Paul Gauguin war. Der Schriftsteller André Gide erwarb Hommage à Cézanne und gab es 1928 an das Musée du Luxembourg. Gegenwärtig ist es im Bestand des Musée d’Orsay, Paris. Zu den porträtierten Personen: Odilon Redon steht links im Vordergrund, er hört Paul Sérusier zu, der sich ihm gegenüber befindet. Von links nach rechts sind weiterhin Edouard Vuillard, der Kritiker André Mellerio mit Zylinder, Vollard hinter der Staffelei, Maurice Denis, Paul Ranson, Ker-Xavier Roussel, Pierre Bonnard mit Pfeife, und ganz rechts Marthe Denis, die Ehefrau des Malers, abgebildet.
Die letzten Jahre
1901 erwarb Cézanne ein Grundstück nördlich der Stadt Aix-en-Provence, wo er nach seinen Bedürfnissen 1902 das Atelier des Lauves am Chemin des Lauves bauen ließ. Für großformatige Gemälde wie Die Großen Badenden, die im Atelier des Lauves entstanden, ließ er an der Außenwand einen langen schmalen Mauerspalt errichten, durch den natürliches Licht fließen konnte. In diesem Jahr starb Zola, was Cézanne trotz der Entfremdung in Trauer versetzte.
Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich mit zunehmendem Alter; zu seiner Zuckerkrankheit kamen Altersdepressionen hinzu, die sich in wachsendem Misstrauen gegenüber seinen Mitmenschen bis hin zum Verfolgungswahn äußerten. Allerdings machten es ihm die Aixer Mitbürger und Teile der Presse nicht leicht. Trotz der zunehmenden Anerkennung des Künstlers erschienen gehässige Pressetexte, und er erhielt zahlreiche Drohbriefe. „Ich verstehe die Welt nicht, und die Welt versteht mich nicht, darum habe ich mich von der Welt zurückgezogen“, so äußerte sich der alte Cézanne gegenüber seinem Kutscher.
Als Cézanne im September 1902 sein Testament bei einem Notar hinterlegte, schloss er seine Frau Hortense vom Erbe aus und erklärte darin seinen Sohn Paul zum Alleinerben.
Im Jahr 1903 stellte er zum ersten Mal im neu gegründeten Salon d’Automne (Pariser Herbstsalon) aus. Der Maler und Kunsttheoretiker Émile Bernard besuchte ihn erstmals im Februar 1904 für einen Monat und veröffentlichte im Juli einen Artikel über den Maler in der Zeitschrift L’Occident. Cézanne arbeitete damals an einem Vanitas-Stillleben mit drei Schädeln auf einem orientalischen Teppich. Bernard berichtete, dass während seines Aufenthalts dieses Gemälde jeden Tag seine Farbe und Form wechselte, obgleich es vom ersten Tag an als vollendet erschien. Er sah dieses Werk später als Cézannes Vermächtnis an und resümierte: „Wahrlich, seine Art zu arbeiten war ein Nachdenken mit dem Pinsel in der Hand.“ In den mehrfach geschaffenen Memento-mori-Stillleben zeigte sich Cézannes zunehmende Altersdepression, die in seinen Briefen seit 1896 mit Bemerkungen wie „das Leben beginnt für mich von einer tödlichen Monotonie zu sein“ anklang. Mit Bernard entspann sich ein Briefwechsel bis zu Cézannes Tod; er veröffentlichte seine Erinnerungen Souvenirs sur Paul Cézanne erstmals 1907 im Mercure de France, und 1912 erschienen sie in Buchform.
Vom 15. Oktober bis zum 15. November 1904 war ein ganzer Raum des Salon d’Automne mit den Werken Cézannes ausgestattet. 1905 fand eine Ausstellung in London statt, in der auch seine Arbeiten gezeigt wurden; die Galerie Vollard stellte im Juni seine Werke aus, und der Salon d’Automne schloss sich wiederum vom 19. Oktober bis zum 25. November mit 10 Gemälden an.
Der Kunsthistoriker und Mäzen Karl Ernst Osthaus, der 1902 das Museum Folkwang gegründet hatte, besuchte Cézanne am 13. April des Jahres 1906, in der Hoffnung, ein Gemälde des Künstlers erwerben zu können. Seine Frau Gertrud machte die vermutlich letzte fotografische Aufnahme Cézannes. Osthaus schilderte seinen Besuch in seiner im selben Jahr veröffentlichten Schrift Ein Besuch bei Cézanne.
Trotz der späten Erfolge konnte Cézanne sich seinen Zielvorstellungen immer nur annähern. Am 5. September 1906 schrieb er an seinen Sohn Paul: „Schließlich will ich Dir sagen, daß ich als Maler vor der Natur hellsichtiger werde, doch daß bei mir die Realisierung meiner Empfindungen immer sehr mühselig ist. Ich kann nicht die Intensität erreichen, die sich vor meinen Sinnen entwickelt, ich besitze nicht jenen wundervollen Farbenreichtum, der die Natur belebt.“
Am 15. Oktober geriet Cézanne beim Malen vor dem Motiv in ein Unwetter; er verlor die Besinnung, wurde von den Kutschern eines Wäschekarrens aufgelesen und nach Hause gebracht. Aufgrund der Unterkühlung zog er sich eine schwere Lungenentzündung zu. Am nächsten Tag ging Cézanne noch in den Garten, um an seinem letzten Gemälde, dem Bildnis des Gärtners Vallier, zu arbeiten, und schrieb einen ungehaltenen Brief an seinen Farbenhändler, in dem er die Verzögerung der Farbenlieferung beklagte. Sein Gesundheitszustand verschlechterte sich jedoch zusehends. Seine Frau Hortense und Sohn Paul wurden telegrafisch von der Haushälterin informiert, doch sie kamen zu spät. Am 22. Oktober 1906 starb Cézanne in Aix-en-Provence.
Cézannes Werk
Chronologie
Paris 1861–1871
Cézannes frühe „dunkle“ Periode war beeinflusst von den Werken der französischen Romantik und des beginnenden Realismus; Vorbilder waren Eugène Delacroix und Gustave Courbet. Seine Gemälde sind gekennzeichnet durch einen dicken Farbauftrag, kontrastreiche, dunkle Töne mit ausgeprägten Schatten, die Verwendung von reinem Schwarz und anderen mit Schwarz vermischten Farbtönen, braun, grau sowie preußisch-blau; gelegentlich kommen einige weiße Tupfen oder grüne und rote Pinselstriche zum Aufhellen hinzu, welche die monochrome Eintönigkeit beleben. Themen seiner Bilder aus dieser Zeit sind Porträts der Familienmitglieder oder dämonisch-erotischen Inhalts, in denen eigene traumatische Erlebnisse anklingen. Beispiele sind Die Entführung und Der Mord.
Paris/Provence 1872–1882
In seiner zweiten – der impressionistischen – Periode orientierte er sich an Werken von Camille Pissarro und Édouard Manet, gab seine dunkle Malweise auf und benutzte nun eine rein auf den Grundtönen, Gelb, Rot und Blau, basierende Farbpalette. Dadurch löste er sich von seiner Technik des schweren, oft überladen wirkenden Farbauftrags und übernahm die lockere, aus nebeneinander gesetzten Pinselstrichen bestehende Maltechnik seiner Vorbilder. Porträts und figürliche Kompositionen traten in diesen Jahren zurück. Cézanne schuf in Folge Landschaftsgemälde, in denen der illusionistische Tiefenraum immer deutlicher aufgehoben wurde. Die „Gegenstände“ werden weiterhin als Volumina aufgefasst und auf ihre geometrischen Grundformen zurückgeführt. Diese Gestaltungsmethode wird auf die gesamte Bildfläche übertragen. Der malerische Gestus behandelt die „Ferne“ nun in ähnlicher Weise wie die „Gegenstände“ selbst, sodass sich der Eindruck einer Fernwirkung einstellt. Auf diese Weise verließ Cézanne einerseits den traditionellen Bildraum, arbeitete andererseits jedoch dem zerfließenden Eindruck impressionistischer Bildwerke entgegen. Unter anderem entstanden Gemälde mit Motiven vom Jas de Bouffan und von L’Estaque.
Provence 1883–1895
Es folgte die „Periode der Synthese“, in der sich Cézanne nun gänzlich von der impressionistischen Malweise löste. Er verfestigte die Formen durch flächig-diagonalen Farbauftrag, hob die perspektische Darstellung zur Erzeugung der Bildtiefe auf und richtete sein Augenmerk auf die Ausgewogenheit der Komposition. In dieser Periode schuf er vermehrt Landschafts- und Figurenbilder. In einem Brief an seinen Freund Joachim Gasquet schrieb er: „Die farbigen Flächen, immer die Flächen! Der farbige Ort, wo die Seele der Flächen bebt, die prismatische Wärme, die Begegnung der Flächen im Sonnenlicht. Ich entwerfe meine Flächen mit meinen Farbabstufungen auf der Palette, verstehen Sie mich! […] Die Flächen müssen deutlich in Erscheinung treten. Deutlich […] aber sie müssen richtig verteilt sein, ineinander übergehen. Alles muss zusammenspielen und doch wieder Kontraste bilden. Auf die Volumen allein kommt es an!“
Die Stillleben, die Cézanne schon ab den späten 1880er Jahren malte, sind ein weiterer Schwerpunkt seines Werks. Er verzichtete auf die linearperspektivische Wiedergabe der Motive und stellte sie stattdessen in den für ihn kompositorisch sinnvollen Dimensionen dar; so kann beispielsweise eine Birne überdimensional groß sein, um das innerbildliche Gleichgewicht und eine spannungsreiche Komposition zu erreichen. Er baute seine Arrangements im Atelier auf. Neben den Früchten sind es Krüge, Töpfe und Teller, gelegentlich ein Putto, oft umgeben von einem weißen, gebauschten Tischtuch, das dem Sujet barocke Fülle verleiht. Nicht die Gegenstände sollen Aufmerksamkeit erregen, sondern die Anordnung der Formen und Farben auf der Fläche. Cézanne entwickelte die Komposition aus einzelnen, über die Leinwand verteilten Farbtupfen, aus denen sich allmählich Form und Volumen des Gegenstands aufbauen. Die Erreichung des Gleichgewichts dieser Farbflecken auf der Leinwand erfordert eine langsame Arbeitsweise, sodass Cézanne an einem Gemälde oft lange Zeit arbeitete.
Nachdem Cézanne zunächst nur Familienmitglieder oder Freunde porträtiert hatte, gestattete es ihm seine bessere Finanzlage, für das 1888–1890 geschaffene Porträt Der Knabe mit der roten Weste, das zu seinen bekanntesten Gemälden gehört, ein Berufsmodell zu verpflichten, einen jungen Italiener namens Michelangelo di Rosa. Er wurde insgesamt auf vier Gemälden und zwei Aquarellen dargestellt.
Ein weiteres berühmtes Bild aus dieser Zeit ist Der Raucher mit aufgestütztem Arm (Le fumeur accoudé) von 1890. Fritz Wichert erwarb das Bild 1912 von Paul Cassirer in Berlin gegen den entschiedenen Widerstand der damaligen städtischen Ankauf-Kommission für den von ihm geschaffenen „Franzosensaal“ der Kunsthalle Mannheim.
Cézanne malte in den Jahren 1890 und 1895 fünf Versionen des Bildes Die Kartenspieler (Les Joueurs de cartes), in denen die gleiche Person in verschiedenen Varianten dargestellt ist. Für Die Kartenspieler standen ihm Bauern und Tagelöhner Modell, die auf den Feldern beim Jas de Bouffan arbeiteten. Es sind keine Genrebilder, auch wenn sie Szenen aus dem Alltagsleben zeigen; das Motiv ist nach strengen Farb- und Formgesetzen aufgebaut.
Provence 1896–1906
Eine Hinwendung zu frei erfundenen Figuren in der Landschaft bestimmt viele Werke des Spätwerks, der sogenannten „lyrischen Periode“, wie etwa der Zyklus der Badenden; Cézanne schuf etwa 140 Gemälde und Skizzen zum Thema der Badeszenen. Hier findet sich seine Verehrung für die klassische Malerei wieder, die in arkadischen Idyllen Mensch und Natur in Harmonie zu vereinigen sucht. In den letzten sieben Jahren schuf er drei großformatige Fassungen von Die Großen Badenden (Les Grandes Baigneuses), wobei das in Philadelphia ausgestellte Werk im Format 208 × 249 cm das größte ist. Cézanne ging es um die Komposition und das Zusammenspiel von Formen und Farben, von Natur und Figuren. Für seine Gemälde in dieser Zeit benutzte er als Vorlage Skizzen und Fotografien, da ihm die Gegenwart nackter Modelle nicht behagte.
Die Gegend um das Gebirge Montagne Sainte-Victoire war einer der wichtigsten Themenkreise der späten Jahre. Von einem Aussichtspunkt oberhalb seines Ateliers aus, später Terrain des Paintres genannt, malte er mehrere Ansichten des Berges. Eine genaue Naturbeobachtung war Voraussetzung für Cézannes Malerei: „Um eine Landschaft richtig zu malen, muß ich auch zuerst die geologische Schichtung erkennen.“ Insgesamt malte er mehr als 30 Ölbilder sowie 45 Aquarelle des Gebirges, und er war stets darauf bedacht, „Konstruktionen und Harmonien parallel zur Natur“ zu finden.
Cézanne befasste sich vor allem in seinem Spätwerk mit der Aquarellmalerei, da ihm klar geworden war, dass die spezifische Anwendung seiner Mittel in diesem Medium besonders offenkundig dargelegt werden konnte. Die späten Aquarelle wirkten auch auf seine Ölmalerei zurück, beispielsweise bei der Studie mit Badenden (1902–1906), in der eine Darstellung voller farbig flankierter „Leerstellen“ als vollendet erscheint. So betonte auch der Maler und Kunstkritiker Roger Fry in seiner grundlegenden Cézanne-Publikation Cézanne: A Study of His Development aus dem Jahr 1927, dass nach 1885 die Technik des Aquarells stark auf seine Malerei mit Ölfarben eingewirkt habe. Einem größeren Interessentenkreis sind die Aquarelle in Vollards Cézanne-Monographie 1914 und in Julius Meier-Graefes 1918 edierter Bildmappe mit zehn Faksimiles nach den Aquarellen bekannt geworden. Nur leicht mit Farbe versehene Bleistiftstudien, die vereinzelt in Skizzenalben vorkamen, stehen neben sorgfältig ausgemalten Werken. Viele Aquarelle sind den Realisationen auf der Leinwand ebenbürtig und bilden eine autonome Werkgruppe. In der Themenstellung dominieren die Landschaftsaquarelle, gefolgt von Figurenbildern und Stillleben, während Porträts im Gegensatz zu den Gemälden und Zeichnungen seltener sind.
Methode
Wie für die Antike und die alten Meister ist für Cézanne die Grundlage der Malerei das Zeichnen, die Voraussetzung aller Arbeit aber die Unterordnung unter den Gegenstand, beziehungsweise das Auge oder das reine Schauen: „Das ganze Wollen des Malers muss schweigen. Er soll in sich verstummen lassen alle Stimmen der Voreingenommenheit. Vergessen! Vergessen! Stille schaffen! Ein vollkommenes Echo sein. […] Die Landschaft spiegelt sich, vermenschlicht sich, denkt sich in mir. […] Ich steige mit ihr zu den Wurzeln der Welt. Wir keimen. Eine zärtliche Erregung ergreift mich und aus den Wurzeln dieser Erregung steigt dann der Saft, die Farbe. Ich bin der wirklichen Welt geboren. Ich sehe! […] Um das zu malen muss dann das Handwerk einsetzen, aber ein demütiges Handwerk, das gehorcht und bereit ist, unbewusst zu übertragen.“
Cézanne als Methodiker der Farbe hat neben Ölbildern und Aquarellen ein umfangreiches Werk von mehr als 1200 Zeichnungen hinterlassen, das, zu Lebzeiten in den Schränken und Mappen des Ateliers verborgen, erst in den 1930er Jahren die Sammler zu interessieren begann. Sie bilden das Arbeitsmaterial für seine Werke und zeigen Detailskizzen, Beobachtungsnotizen und Nachzeichnungen auf Cézannes teilweise nur schwer entzifferbaren Stationen auf dem Weg zur Bildrealisation. Ihre an den Entstehungsprozess des jeweiligen Werkes gebundene Aufgabe bestand darin, die Gesamtstruktur und die Objektbezeichnungen innerhalb des Bildorganismus zu geben. Noch im hohen Alter entstanden Porträt- und Figurenzeichnungen nach Vorbildern antiker Bildwerke und Barockgemälde aus dem Louvre, die ihm über die Vereinzelung plastischer Erscheinungen Klarheit verschafften. Daher bildete das Schwarzweiß der Zeichnungen eine wesentliche Voraussetzung für Cézannes Gestaltungen aus der Farbe.
Paul Cézanne war der erste Künstler, der damit begann, Objekte in einfache geometrische Formen zu zerlegen. Er schrieb in seinem häufig zitierten Brief vom 15. April 1904 an den Maler und Kunsttheoretiker Émile Bernard, der Cézanne in dessen letzten Jahren kennengelernt hatte: „Man behandle die Natur gemäß Zylinder, Kugel und Kegel und bringe das Ganze in die richtige Perspektive, so daß jede Seite eines Objektes, einer Fläche nach einem zentralen Punkt führt […]“ In den Werkgruppen Montagne Sainte-Victoire und den Stillleben verwirklichte Cézanne seine Ideen der Malerei. So wird in seiner Bildauffassung selbst ein Berg als eine Übereinanderschichtung von Formen, Räumen und Strukturen aufgefasst, die sich über dem Boden erheben.
Émile Bernard schrieb über Cézannes ungewöhnliche Arbeitsweise: „Er begann mit den Schattenteilen und mit einem Fleck, auf den er einen zweiten, größeren setzte, dann einen dritten, bis alle diese Farbtöne, einander deckend, mit ihrem Kolorit den Gegenstand modellierten. Da begriff ich, dass ein Harmoniegesetz seine Arbeit leitete und dass diese Modulationen eine im voraus in seinem Verstand festgesetzte Richtung hatten.“ In dieser vorherbestimmten Richtung liegt für Cézanne das eigentliche Geheimnis der Malerei im Zusammenhang von Harmonie und der Illusion der Tiefe. Gegenüber dem Sammler Karl Ernst Osthaus betonte Cézanne am 13. April 1906 bei dessen Besuch in Aix, dass die Hauptsache in einem Bild das Treffen der Distanz sei. Die Farbe müsse jeden Sprung ins Tiefe ausdrücken. Daran ist das Können des Malers zu erkennen.
Aller sur le motif, sensation und réalisation
Cézanne verwendete vorzugsweise diese Begriffe, wenn er sein malerisches Verfahren beschrieb. Da ist zunächst das „Motiv“, mit dem er nicht nur den gegenständlichen Begriff des Bildes meinte, sondern ebenfalls die Motivation für seine unermüdliche Arbeit des Beobachtens und Malens. Aller sur le motif, wie er seinen Gang zur Arbeit nannte, bedeutete demnach, in eine Beziehung zu einem äußeren Objekt zu treten, das den Künstler innerlich bewegt und das es bildnerisch umzusetzen gilt.
Sensation (Empfindung) ist ein weiterer Schlüsselbegriff in Cézannes Vokabular. Zunächst meinte er die visuelle Wahrnehmung im Sinne der „Impression“, also einen vom Objekt ausgehenden optischen Sinnesreiz. Zugleich umfasst er die Emotion als psychische Reaktion auf das Wahrgenommene. Ausdrücklich stellte Cézanne nicht das darzustellende Objekt, sondern die sensation in den Mittelpunkt seiner malerischen Bemühungen: „Nach der Natur malen bedeutet nicht den Gegenstand kopieren, es bedeutet seine Empfindungen zu realisieren.“ Das Medium, das zwischen den Dingen und den Empfindungen vermittelte, war die Farbe, wobei Cézanne offenließ, wieweit sie den Dingen entspringt oder aber eine Abstraktion seines Sehens ist.
Mit dem dritten Begriff réalisation bezeichnete Cézanne die eigentliche malerische Aktivität, vor dessen Scheitern er sich bis zuletzt fürchtete. Zu „realisieren“ galt es Mehreres zugleich: zunächst das Motiv in seiner Vielfalt, des Weiteren die Empfindungen, die das Motiv in ihm auslöste, und schließlich das Gemälde selbst, dessen Verwirklichung die anderen „Realisierungen“ ans Licht bringen konnte. „Malen“ hieß demnach, jene gegenläufigen Bewegungen des Aufnehmens und Abgebens, der „Impression“ und der „Expression“ in einer einzigen Geste ineinander aufgehen zu lassen. Die „Realisierung in der Kunst“ wurde zu einem Schlüsselbegriff in Cézannes Denken und Handeln.
Poussin nach der Natur
„Stellen Sie sich Poussin ganz und gar aus der Natur wiedergewonnen vor“, hatte sich Cézanne gegenüber Joachim Gasquet geäußert, „das ist die Klassik, die ich anstrebe.“ Der Kunsthistoriker Ernst Gombrich deutet dieses Zitat anlässlich Cézannes 100. Todestages im Jahr 2006: „Er sah seine Aufgabe darin, nach der Natur zu malen, das heißt sich der Entdeckungen der Impressionisten zu bedienen und dennoch gleichzeitig die innere Gesetzmäßigkeit und Notwendigkeit wiederzugewinnen, die die Kunst Poussins ausgezeichnet hatte.“
Datierung
Die teils längeren Zeitangaben zur Entstehung in den Œuvrekatalogen deuten nicht immer darauf hin, dass die Datierung nicht genau zu klären ist, auch wenn Cézanne seine Bilder kaum datierte, zumal er an manchen Bildern monate- wenn nicht jahrelang arbeitete, bis er mit dem Ergebnis zufrieden war. Der Künstler selbst hat viele seiner Bilder als unvollendet betrachtet, denn Malen war für ihn ein unaufhörlicher Prozess.
Die Katalogisierung von Cézannes Werken gestaltete sich zu einer schwierigen Aufgabe. Lionello Venturi gab 1936 den ersten Katalog heraus. Cézannes Werke wurden mit seinem Namen katalogisiert, so ist beispielsweise das letzte von Cézanne bearbeitete Gemälde des Gärtners Vallier mit „Venturi 718“ versehen. John Rewald setzte nach Venturis Tod dessen Arbeit fort. Rewald bildete eine Arbeitsgemeinschaft, in der beschlossen wurde, den von Venturi geschaffenen Werkkatalog zu trennen; Rewald übernahm die Kataloge für Ölgemälde und Aquarelle, der Historiker Adrien Chappuis widmete sich Cézannes Zeichnungen. Dessen Katalog The Drawings of Paul Cézanne – A Catalogue Raisonné erschien 1973 bei Thames and Hudson in London. Rewalds Paul Cézanne – The Watercolours: A Catalog Raisonné wurde bei Thames and Hudson, London mit 645 Abbildungen im Jahr 1983 veröffentlicht.
Die fehlende Datierung der Gemälde (Rewald fand insgesamt nur eine) und unpräzise Formulierungen des Bildmotivs wie Paysage oder Quelques pommes stifteten Verwirrung. In seiner frühen Bearbeitung des Venturi fertigte Rewald eine Liste an, auf der alle Werke aufgenommen wurden, deren Datierung ohne stilistische Analyse vorgenommen werden konnte, denn eine solche Analyse lehnte Rewald als unwissenschaftlich ab. Er setzte seine Liste fort, indem er den verschiedenen Aufenthaltsorten Cézannes folgte, die durch Dokumente nachgewiesen werden konnten. Ein anderes Schema seiner Vorgehensweise war es, auf die Erinnerungen porträtierter Personen zu vertrauen, besonders, wenn diese Cézannes Zeitgenossen waren. Aufgrund eigener Interviews nahm er zeitliche Zuordnungen vor. Unter den Werken, die mit Sicherheit datiert werden konnten, waren Cézannes Gemälde Porträt des Kritikers Gustave Geffroy, das der Porträtierte mit dem Jahr 1895 bestätigte, und Der See von Annecy, den der Künstler nur einmal, nämlich im Jahr 1896, besucht hatte.
Rewald starb 1994, sein Werk konnte er nicht vollständig abschließen. Gab es irgendwelche Zweifel, war es Rewalds Tendenz, eher ein- als auszuschließen. Diese Methode wurde von seinen engsten Mitarbeitern Walter Feilchenfeldt jr., Sohn des Kunsthändlers Walter Feilchenfeldt, und Jayne Warman übernommen, die den Katalog vollendeten und ihn mit Einleitungen versahen. Der Katalog erschien im Jahr 1996 unter dem Titel The Paintings of Paul Cézanne: A Catalogue Raisonne – Review. Er umfasst die 954 Werke, die Rewald aufnehmen wollte.
Rezeption
Wirkung zu Lebzeiten
Cézannes erste Gemälde in einem deutschen Museum
Im Jahr 1897 erfolgte der erste Ankauf eines Cézanne-Gemäldes für ein Museum durch die Berliner Nationalgalerie unter dessen Direktor Hugo von Tschudi, der die französischen Impressionisten in deutschen Museen bekannt machen wollte. Er erwarb Cézannes Landschaftsmalerei Die Mühle an der Couleuvre bei Pontoise in der Galerie Durand-Ruel. 1904 und 1906 folgten zwei weitere Ankäufe von Cézannes Stillleben. Zurückzuführen war Tschudis Interesse für die aktuelle französische Kunstströmung auf den Maler Max Liebermann, der Tschudi 1896 auf dessen erster Dienstreise nach Paris begleitet hatte, um die neue französische Kunstrichtung zu begutachten. Die französischen Museumsdirektoren dagegen verhielten sich weiterhin zurückhaltend, was zur Folge hatte, dass ihre Bestände später durch Schenkungen und Legate aufgefüllt werden mussten, um ihren Landsmann angemessen vertreten zu können.
Zeugnisse zeitgenössischer Freunde und Maler
Cézannes Jugendfreund, der Schriftsteller Émile Zola, zeigte sich früh skeptisch über Cézannes menschliche und künstlerische Eigenschaften und äußerte bereits im Jahr 1861, dass „Paul das Genie eines großen Malers haben mag, aber nie das Genie besitzen wird, tatsächlich einer zu werden. Das kleinste Hindernis bringt ihn zur Verzweiflung.“ Tatsächlich waren es Cézannes Selbstzweifel und die Weigerung, künstlerische Kompromisse einzugehen, sowie seine Absage an gesellschaftliche Zugeständnisse, die seine Zeitgenossen dazu bewogen, ihn als Sonderling zu betrachten.
Im Kreis der Impressionisten zollte man Cézannes Arbeiten jedoch in besonderem Maße Anerkennung; so sprachen Camille Pissarro, Auguste Renoir, Claude Monet und Edgar Degas begeistert über sein Werk, und Pissarro äußerte: „Ich glaube, es werden noch Jahrhunderte vergehen, bis man sich davon Rechenschaft gibt.“
Ein Porträt von Cézanne malte sein Freund und Mentor Pissarro im Jahr 1874, und 1901 schuf der Mitbegründer der Künstlergruppe Nabis, Maurice Denis, Hommage à Cézanne, das Cézannes Gemälde Stillleben mit Früchten
auf der Staffelei inmitten von Künstlerfreunden in der Galerie Vollard zeigt. Hommage à Cézanne gehörte ursprünglich Paul Gauguin und wurde später von dem französischen Schriftsteller und Freund Denis’, André Gide, erworben, der es bis zum Jahr 1928 in seinem Besitz hatte. Heute ist es im Musée d’Orsay ausgestellt.
Zeitgenössische Kunstkritik
Die erste gemeinsame Impressionistenausstellung in Paris im April/Mai 1874 zog extensive Kritik auf sich. Publikum und Kunstkritiker, für die „das Ideal“ der École de Beaux Arts der Beweis für das Vorliegen von Kunst war, brachen in Gelächter aus. Von Monet behauptete ein Kritiker, er male, indem er seine Farben in ein Gewehr lade und auf die Leinwand schieße. Vor einem Bild Cézannes führte ein Kollege einen Indianertanz auf und rief: „Hugh! […] Ich bin die wandelnde Impression, das rächende Palettenmesser, der ‚Boulevard des Capucines‘ von Monet, ‚Das Haus des Gehängten‘ und ‚Die moderne Olympia‘ von Herrn Cézanne. Hugh! Hugh! Hugh!“
Der französische Schriftsteller Joris-Karl Huysmans antwortete 1883 Pissarro brieflich auf dessen Vorwurf, Cézanne sei in Huysmans Buch L’Art moderne nur kurz erwähnt, indem er die Vermutung äußerte, Cézannes Blick auf die Motive sei durch Astigmatismus verfälscht: „[…] aber es ist bestimmt ein Augenfehler im Spiele, dessen er sich, wie mir versichert wird, auch bewusst ist.“ Fünf Jahre später wurde sein Urteil in der Zeitschrift La Cravache positiver, als er Cézannes Werke als „fremdartig und doch real“ und als „Offenbarung“ bezeichnete.
Der Kunsthändler Ambroise Vollard kam erstmals 1892 durch den Farbenhändler Tanguy mit Werken Cézannes in Berührung, die dieser gegen Lieferung von Malutensilien in seinem Laden in der Rue Clauzel auf dem Montmartre ausgestellt hatte. Vollard erinnerte sich an die mangelnde Resonanz: Der Laden sei selten aufgesucht worden, „da es damals noch nicht Mode war, die ‚Greuelwerke‘ teuer, ja nicht einmal billig zu kaufen.“ Tanguy führte sogar Interessenten in des Malers Atelier, zu dem er einen Schlüssel hatte, wo es zum festen Preis von 40 Francs kleine und 100 Francs große Bilder zu erwerben gab. Das Journal des Artistes gab den allgemeinen Ton von damals wieder, indem es besorgt fragte, ob seine empfindsamen Leserinnen beim Anblick „dieser bedrückenden Abscheulichkeiten, die das Maß des gesetzlich erlaubten Übels übersteigen, nicht von Übelkeit befallen werden“.
Der Kunstkritiker Gustave Geffroy gehörte zu den wenigen Kritikern, die Cézannes Werk zu Lebzeiten gerecht und vorbehaltlos beurteilten. Bereits am 25. März 1894 schrieb er im Journal über das damals aktuelle Verhältnis der Malerei Cézannes zu den Bestrebungen der jüngeren Künstler, dass Cézanne eine Art Vorläufer geworden sei, auf den sich die Symbolisten beriefen, und dass ein direkter Zusammenhang zwischen der Malerei Cézannes und der Gauguins, Bernards und sogar Vincent van Goghs bestehe. Ein Jahr später, nach der erfolgreichen Ausstellung in der Galerie Vollard im Jahr 1895, führte Geffroy wiederum im Journal aus: „Er ist ein großer Wahrheitsfanatiker, feurig und naiv, herb und nuanciert. Er wird in den Louvre kommen.“ Zwischen diesen beiden Chroniken war das von Cézanne gemalte Porträt Geffroys entstanden, das Cézanne jedoch in unvollendetem Zustand beließ, weil er mit ihm nicht zufrieden war.
Postume Wirkung
Retrospektiven nach Cézannes Tod in Paris 1907
Zwei Retrospektiven würdigten postum im Jahr 1907 den Künstler. Vom 17. bis zum 29. Juni zeigte die Pariser Galerie Bernheim-Jeune 79 Aquarelle von Cézanne. Der V. Salon d’Automne widmete ihm anschließend vom 5. Oktober bis zum 15. November eine Hommage und stellte im Grand Palais 49 Gemälde und sieben Aquarelle in zwei Räumen aus. Zu den deutschen Besuchern zählten der Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe, der im Jahr 1910 die erste Cézanne-Biografie schreiben sollte, Harry Graf Kessler und Rainer Maria Rilke. Die beiden Ausstellungen motivierten viele Künstler, wie beispielsweise Georges Braque, André Derain, Wassily Kandinsky, Henri Matisse und Pablo Picasso, zu ihren für die Kunst des 20. Jahrhunderts entscheidenden Einsichten.
Ausstellungen in London und in den Vereinigten Staaten
Im Jahr 1910 wurden einige von Cézannes Gemälden in der Ausstellung Manet and the Post-Impressionists in London gezeigt (eine weitere folgte 1912). Die Ausstellung war vom Maler und Kunstkritiker Roger Fry in den Grafton Galleries initiiert worden, die englische Kunstinteressierte mit dem Werk von Édouard Manet, Georges Seurat, Vincent van Gogh, Paul Gauguin und Cézanne bekannt machen wollte. Fry schuf mit dem Namen die Bezeichnung für den Stil des Post-Impressionismus. Obwohl die Ausstellung von Kritikern und Publikum negativ beurteilt wurde, sollte sie doch bedeutsam für die Geschichte der modernen Kunst werden. Fry erkannte den außergewöhnlichen Wert des Weges, den Künstler wie van Gogh und Cézanne eingeschlagen hatten, indem sie ihre persönlichen Gefühle und ihre Weltsicht durch ihre Gemälde ausdrückten, auch wenn die damaligen Besucher dies noch nicht nachvollziehen konnten. Die erste Ausstellung Cézannes in den Vereinigten Staaten fand 1910/11 in der Galerie 291 in New York statt.
Im Jahr 1913 wurden seine Werke in der Armory Show in New York ausgestellt; sie war eine bahnbrechende Ausstellung von Kunstwerken und Skulpturen der Moderne, obgleich auch hier die Exponate Kritik und Spott ernteten.
Heutzutage werden diese Künstler, die selbst von ihren eigenen Kunstakademien zu Lebzeiten kritisiert und lächerlich gemacht wurden, als die Väter der modernen Kunst angesehen.
Einfluss auf die Moderne und Missdeutungen
In der Rezeption der Werke und der vermeintlichen Absichten Cézannes liegen viele „produktive“ Missverständnisse verborgen, die auf den weiteren Verlauf und die Entwicklung der modernen Kunst erheblichen Einfluss genommen hatten. So zeigt die Liste jener Künstler, die sich mehr oder weniger berechtigt auf ihn beriefen und einzelne Elemente aus der Fülle seiner gestalterischen Ansätze für eigene Bildfindungen ummünzten, eine nahezu lückenlose Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts. Schon Apollinaire stellte 1910 fest, dass „die meisten der neuen Maler behaupten, Nachfolger dieses ernsten, nur an der Kunst interessierten Malers zu sein“.
Unmittelbar nach Cézannes Tod im Jahr 1906 begann, angeregt durch eine umfassende Ausstellung seiner Aquarelle im Frühjahr 1907 in der Galerie Bernheim-Jeune sowie eine Retrospektive im Oktober 1907 auf dem Salon d’Automne in Paris, eine lebhafte Auseinandersetzung mit seinem Werk. Unter den jungen französischen Künstlern wurden zuerst Matisse und Derain von der Leidenschaft für Cézanne ergriffen, es folgten Picasso, Fernand Léger, Georges Braque, Marcel Duchamp und Piet Mondrian. Diese Begeisterung war dauerhaft, so äußerte noch der achtzigjährige Matisse im Jahre 1949, dass er der Kunst Cézannes am meisten verdanke. Ferner bezeichnete Braque den Einfluss Cézannes auf seine Kunst als „Initiation“ und äußerte 1961: „Cézanne war der erste, der sich von der gelehrten mechanisierten Perspektive abwandte.“ Picasso gestand, „er war für mich der einzige Meister …, er war eine Vaterfigur für uns: er war es, der uns Schutz bot.“
Der Cézanne-Experte Götz Adriani merkt jedoch an, dass etwa die kubistische Rezeption Cézannes – im Besonderen der Salonkubisten Albert Gleizes und Jean Metzinger, die in ihrer Abhandlung Du cubisme aus dem Jahre 1912 Cézanne an den Anfang ihrer Art zu malen stellten – insgesamt recht willkürlich war. So ließen sie die aus der Naturbeobachtung gewonnene Motivation weitgehend außer Acht. Er weist in diesem Zusammenhang auf die formalistischen Missdeutungen hin, die sich auf die von Bernard veröffentlichte Schrift des Jahres 1907 beziehen. Hier heißt es unter anderem, „man behandle die Natur gemäß Zylinder, Kugel und Kegel“. Weitere Missdeutungen dieser Art finden sich in dem von Malewitsch 1919 veröffentlichten Text „Von den neuen Systemen in der Kunst“. So bezweckte Cézanne etwa in seinem Zitat keine Umdeutung der Naturerfahrung im Sinne der Orientierung an kubischen Formelementen, ihm ging es vielmehr darum, den Gegenstandsformen und ihrer Farbigkeit unter den verschiedenen Aspekten im Bilde zu entsprechen.
Als eines unter vielen Beispielen der Einflüsse Cézannes auf die Moderne sei das Gemälde Mardi Gras, das Sohn Paul mit seinem Freund Louis Guillaume zeigt und ein Sujet aus der Commedia dell’arte umfasst, genannt. Picasso inspirierte es zu einem Harlekin-Thema in seiner rosa Periode. Matisse wiederum griff das Thema des klassischsten Gemäldes aus der Badenden-Folge, Die Großen Badenden aus dem Philadelphia Museum of Art, zu seinem Gemälde Die Badende aus dem Jahr 1909 auf.
Die eben genannten Künstler bilden erst den Anfang einer Reihe von Inspirierten. Die früh verstorbene Malerin Paula Modersohn-Becker hatte bereits 1900 bei Vollard Cézannes Gemälde gesehen, die sie tief beeindruckt hatten. Sie schrieb kurz vor ihrem Tod in einem Brief vom 21. Oktober 1907 aus Worpswede an Clara Westhoff: „Ich denke und dachte diese Tage stark an Cézanne und wie das einer von den drei oder vier Malerkräften ist, der auf mich gewirkt hat wie ein Gewitter oder ein großes Ereignis.“ Paul Klee notierte 1909 in seinem Tagebuch: „Cézanne ist mir ein Lehrmeister par excellence“, nachdem er in der Münchner Secession mehr als ein Dutzend Gemälde von Cézanne gesehen hatte. Die Künstlergruppe Der Blaue Reiter bezog sich 1912 in ihrem Almanach auf ihn, indem Franz Marc von der Geistesverwandtschaft zwischen El Greco und Cézanne berichtete, deren Werke er jeweils als Eingangspforten einer neuen Epoche der Malerei verstand. Wiederum bezieht sich Kandinsky, der Cézannes Gemälde auf der Retrospektive 1907 im Salon d’Automne gesehen hatte, in seiner 1912 veröffentlichten Schrift „Über das Geistige in der Kunst“ auf Cézanne, in dessen Werk er ein „starkes Mitklingen des Abstrakten“ erkannte und den spirituellen Anteil seiner Überzeugungen bei ihm vorgegeben fand. Max Beckmann sah in seiner 1912 erschienenen Schrift Gedanken über zeitgemäße und unzeitgemäße Kunst in Cézanne ein Genie ebenso wie Franz Marc. El Lissitzky betonte um 1923 seine Bedeutung für die Russische Avantgarde, und Lenin regte 1918 an, für die Heroen der Weltrevolution Denkmäler zu errichten; auf der Ehrenliste standen Courbet und Cézanne.
Neben Matisse beschäftigte sich Alberto Giacometti am eingehendsten mit Cézannes Darstellungsweise. Aristide Maillol arbeitete 1909 an einem Cézanne-Denkmal, das jedoch an der Ablehnung durch die Stadtverwaltung von Aix-en-Provence scheiterte. Auch für Künstler der neueren Generation war Cézanne eine wichtige Instanz. So bezeichnete Jasper Johns ihn neben Duchamp und Leonardo da Vinci als wichtigstes Vorbild. A. R. Penck wiederum wies auf die konzeptionellen Errungenschaften Cézannes hin und betonte: „Mit Cézanne fängt auch das an, was wir heute Untergrund nennen. Die Behauptung eines eigenen Raumes und einer eigenen Zielvorstellung gegen die herrschende Tendenz der Zeit.“ Der Däne Per Kirkeby äußerte 1989 in der Beschäftigung mit Cézannes Werken, dass hier einer sein „Künstlerleben als Pfand gegeben hat für etwas, das das meiste, womit wir uns üblicherweise beschäftigen, als ängstliche Originalitätssucht und Oberflächlichkeit erscheinen läßt“.
Der deutsche Künstler Willi Baumeister, der ursprünglich vom Impressionismus beeinflusste figurative Werke geschaffen hatte, wandte sein Interesse schon um 1910 dem Kubismus und Paul Cézanne zu, dessen Werk er sein Leben lang verbunden blieb. In der Einführung zu einer 1947 erschienenen Bildmappe über Cézanne führte er aus: „Es gibt zwei Beugungswinkel in der Geschichte der neueren Kunst. Der eine Beugungswinkel liegt zwischen Cimabue und Giotto. […] Der zweite Beugungswinkel in der Geschichte der Kunst liegt bei Cézanne. Es beginnt die Abwendung vom ‚naturgetreuen Abbild‘ und die Hinwendung zur unabhängigen Formschöpfung und Farbschöpfung. […] Vergrößert man gewisse Bildteile bei Cézanne, […] so bemerkt man ein rhythmisches Gefüge, das kubistisch zu nennen ist und das der Kubismus übernahm.“
Cézannes Einfluss auf Rainer Maria Rilke
„Wenn ich mich erinnere, wie befremdet und unsicher man die ersten Sachen sah“, schrieb Rainer Maria Rilke an seine Frau nach der Besichtigung der großen Cézanne-Retrospektive im Pariser Salon d’Automne von 1907, auf die ihn Paula Modersohn-Becker aufmerksam gemacht hatte: „[…] lange nichts und plötzlich hat man die richtigen Augen.“ Rilke machte mit dieser Aussage sein großes Interesse an der Malerei deutlich, von der er sich Lösungen für seine schriftstellerischen Probleme erhoffte: „Es ist gar nicht die Malerei, die ich studiere […]. Es ist die Wendung in dieser Malerei, die ich erkannte, weil ich sie selbst eben in meiner Arbeit erreicht hatte.“ Bei Cézanne sah er, wie die „Stimmungsmalerei“ überwunden werden konnte. Dies entsprach seiner Auffassung vom Dichten, die in den Neuen Gedichten schon umgesetzt wurde. Nach der Ausstellung setzte er Der Neuen Gedichte anderer Teil fort, an der die Anwendung des Prinzips vom „sachlichen Sagen“ in dem Gedicht Die Flamingos deutlich wird. Dass Rilke nicht der einzige modernistische Autor war, für den die Frage nach den unterschiedlichen Formen und Funktionen von Bildern und Bildlichkeit in der Literatur zentrale Bedeutung erlangte, wird unter anderem auch in der Auswirkung auf die Literatur um 1900 beispielsweise in den Werken Hugo von Hofmannsthals mit dem „Eindringen der Farbe in die Sprache“ deutlich.
Handkes Die Lehre der Sainte-Victoire
Peter Handke resümiert in seinem im Jahr 1980 erschienenen Buch Die Lehre der Sainte-Victoire: „Ja, dem Maler Paul Cézanne verdanke ich es, dass ich an jener freien Stelle zwischen Aix-en-Provence und dem Dorf Le Tholonet in den Farben stand und sogar die asphaltierte Straße mir als Farbsubstanz erschien […]“ Und er fährt fort: „[…] so habe ich [Bilder] wohl von Anfang an als bloßes Zubehör gesehen und mir von ihnen lange nichts Entscheidendes erwartet.“ Handke gelingt in seinem Buch die Annäherung eines Autors an die bildende Kunst durch die in den Text eingebetteten kunsttheoretischen Hinweise der Sicht Cézannes auf die Wirklichkeit.
Cézanne und die Philosophie
Der französische Philosoph Jean-François Lyotard führt in seinem Werk Das Elend der Philosophie aus, Cézanne habe sozusagen den Sechsten Sinn: Er empfinde die im Entstehen befindliche Realität, bevor sie sich in der normalen Wahrnehmung vervollständigt. Der Maler rührt also ans Erhabene, wenn er das Überwältigende der Gebirgslandschaft erblickt, die man weder mit der normalen Sprache noch mit der gewohnten Maltechnik darstellen könne. Lyotard resümiert: „Man kann auch sagen, daß das Unheimliche der dem Gebirge und den Früchten gewidmeten Ölgemälde und Aquarelle sowohl von einem tiefen Sinn des Verschwindens der Erscheinungen herrührt, als auch von dem Untergang der sichtbaren Welt.“
Filme über Cézanne
Une visite au Louvre, 2004. Film und Regie von Jean-Marie Straub und Danièle Huillet über Cézanne, basierend auf den postum veröffentlichten Konversationen mit dem Maler, die dessen Bewunderer Joachim Gasquet überliefert hat. Der Film beschreibt einen Spaziergang Cézannes im Louvre entlang der Bilder seiner Künstlerkollegen.
Zum 100. Todestag Cézannes im Jahr 2006 sind zwei Dokumentarfilme aus den Jahren 1995 und 2000 über Paul Cézanne beziehungsweise über sein Motiv La Montagne Sainte-Victoire neu veröffentlicht worden. Der Triumph Cézannes wurde für das Jubiläumsjahr 2006 neu gedreht.
Die Gewalt des Motivs, 1995. Ein Film von Alain Jaubert. Ein Berg in der Nähe seiner Heimatstadt Aix-en-Provence wird zu Cézannes Hauptmotiv. Über 80-mal zeigt er La Montagne Sainte-Victoire aus verschiedenen Perspektiven, zu verschiedenen Jahreszeiten. Das Motiv wird zu einer Obsession, der Jaubert mit seinem Film auf den Grund geht.
Cézanne – der Maler, 2000. Ein Film von Elisabeth Kapnist. Die Geschichte einer Passion und einer lebenslangen künstlerischen Suche: Der Maler Cézanne, seine Kindheit, die Freundschaft mit Zola und seine Begegnung mit dem Impressionismus werden geschildert.
Der Triumph Cézannes, 2006. Ein Film von Jacques Deschamps. Deschamps nimmt den 100. Todestag Cézannes im Oktober 2006 zum Anlass, dem Entstehen einer Legende nachzuspüren. Cézanne stieß auf Ablehnung und Unverständnis, bevor er in den Olymp der Kunstgeschichte und des internationalen Kunstmarkts aufsteigen durfte.
Meine Zeit mit Cézanne, 2016. Ein Film von Danièle Thompson über Cézannes Freundschaft mit Émile Zola.
Auf Cézannes Spuren in der Provence
Besucher von Aix-en-Province können vom Stadtzentrum aus die Landschaftsmotive Cézannes auf fünf gekennzeichneten Wegen entdecken. Sie führen nach Le Tholonet, zum Jas de Bouffan, zum Steinbruch von Bibémus, zu den Ufern des Flusses Arc und zum Atelier von Les Lauves.
Das Atelier Les Lauves ist bereits seit dem Jahr 1954 der Öffentlichkeit zugänglich. Eine amerikanische Stiftung, initiiert von James Lord und John Rewald, hatte dies durch von 114 Spendern bereitgestellte Gelder möglich gemacht. Sie kaufte es dem Vorbesitzer Marcel Provence ab und übertrug es an die Universität von Aix. Im Jahr 1969 wurde das Atelier der Stadt Aix übereignet. Der Besucher findet hier Cézannes Möbel, Staffelei und Palette, die Gegenstände, die auf seinen Stillleben erscheinen sowie einige Originalzeichnungen und Aquarelle.
Zu Lebzeiten hatte ein Großteil der Aixer Einwohner ihren Mitbürger Cézanne verspottet. In neuerer Zeit benannten sie nach ihrem weltberühmt gewordenen Künstler sogar eine Universität: Im Jahr 1973 wurde sie in Aix-en-Provence gegründet, die Universität Paul Cézanne Aix-Marseille III mit den Fachbereichen Recht und Politikwissenschaft, Betriebswirtschaftslehre sowie Naturwissenschaft und Technik. Im Jahr 2011 wurde sie aufgelöst und mit den anderen beiden Universitäten in Aix und Marseille zur Universität Aix-Marseille zusammengefasst.
Als Folge der Ablehnung seiner Werke in der Vergangenheit musste das Musée Granet in Aix mit einer Leihgabe von Gemälden aus dem Louvre vorliebnehmen, um den Besuchern Cézanne, den Sohn ihrer Stadt, präsentieren zu können. Das Museum erhielt im Jahr 1984 acht Gemälde und einige Aquarelle, darunter ein Motiv aus der Reihe der Badenden und ein Porträt der Mme Cézanne. Dank einer weiteren Stiftung im Jahr 2000 werden dort jetzt neun Gemälde Cézannes ausgestellt.
Cézannes Werke auf dem Kunstmarkt
Welche Wertsteigerung Cézannes Gemälde auf dem Kunstmarkt erreicht haben, ist aus dem Ergebnis einer Versteigerung am 10. Mai 1999 in New York ersichtlich: Das Stillleben mit Vorhang, Krug und Obstschale wurde für 60,5 Millionen US-Dollar versteigert. Es war damals die höchste Summe, die für ein Bild Cézannes je gezahlt wurde. Das Auktionshaus Sotheby’s hatte den Wert des Gemäldes nur auf 25 bis 35 Millionen Dollar geschätzt.
Für eine ähnliche Entwicklung steht die Versteigerung seines Aquarells Nature morte au melon vert; es hat bei Sotheby’s im Mai 2007 für einen Preis von 25,5 Millionen Dollar den Besitzer gewechselt. Das Stillleben aus der späten Schaffensphase des Künstlers zwischen 1902 und 1906 zeigt eine grüne Melone. Ursprünglich war der Verkaufspreis auf 14 bis 18 Millionen Dollar geschätzt worden.
Im Frühjahr 2011 soll sein Werk Die Kartenspieler – eines von fünf Versionen – für 275 Millionen Dollar verkauft worden sein. Die genaue Summe und der neue Besitzer sind bislang nicht bekannt. Das wäre der höchste Preis, den ein Gemälde zu diesem Zeitpunkt je erzielte.
Ein fast 60 Jahre verschollen geglaubtes Aquarell aus der Kartenspieler-Serie wurde am 1. Mai 2012 an einen ebenfalls anonymen Bieter in New York zum Preis von 19 Millionen Dollar versteigert.
Im Mai 2019 wurde sein Gemälde Bouilloire et fruits (1888–1890) für über 59 Millionen US-Dollar bei Christie’s versteigert.
Am 9. November 2022 kam eine Version von Cézannes Bild La Montagne Sainte-Victoire (1888–1890) aus der Sammlung des Microsoft-Mitgründers Paul Allen bei Christie’s in New York zur Versteigerung. Zuvor war der Wert des Bildes auf etwa 100 Millionen US-Dollar geschätzt worden. Ein anonymer Bieter erwarb das Bild bei dem Auktionator und Europa-Präsidenten von Christie’s, Jussi Pylkannen, für 138 Millionen US-Dollar (mit Steuern). Dieses Ergebnis überbot den bisherigen (gesicherten) Cézanne-Rekord, der im Mai 1999 erreicht worden war.
Postume Ausstellungen (Auswahl)
1907: Galerie Bernheim-Jeune, Paris, Salon d’Automne, Paris, Retrospektiven
1910/1911: Erste Ausstellung in den USA in der Galerie 291, New York
1913: Armory Show, New York. Cézanne war vertreten mit den Bildern Mont Sainte-Victoire und Alte Frau mit Rosenkranz
1936: Jeu de Paume, Paris
1964: documenta III, Kassel
1977: John Rewald zusammen mit William Rubin: Cézanne: The Late Work exhibition im Museum of Modern Art, New York
1995/1996: Grand Palais, Paris
1996: Tate Gallery, London
1996: Philadelphia Museum of Art, Philadelphia
2004: Cézanne – Aufbruch in die Moderne. Museum Folkwang, Essen
2006: Cézanne en Provence. Musée Granet, Aix-en-Provence
2006: Cézanne et Pissarro 1865–1885. Musée d’Orsay, Paris
2008/2009: Philadelphia Museum of Art, Philadelphia
2011/2012: Cézanne Renoir Picasso & Co: 40 Jahre Kunsthalle Tübingen, Kunsthalle Tübingen.
2012/2013: Paul Cézanne and the Past, Szépművészeti Múzeum, Budapest.
2014: Cézanne Site/Non-Site, Museo Thyssen-Bornemisza, Madrid, 4. Februar bis 18. Mai 2014
2017/18: Portraits de Cézanne, Musée d’Orsay, Paris, 13. Juni bis 24. September 2017; anschließend National Portrait Gallery, London, 26. Oktober 2017 bis 11. Februar 2018
2017/2018 Cézanne. Metamorphosen. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, 28. Oktober 2017 bis 11. Februar 2018
2020: Van Gogh, Cézanne, Matisse, Hodler. Die Sammlung Hahnloser. Albertina, Wien, 27. August bis 15. November 2020
2021: Cézanne Drawing. Museum of Modern Art, New York, 6. Juni bis 25. September 2021
2022: Paul Cézanne. Art Institute of Chicago, Chicago, 15. Mai bis 5. September 2022
2022/23: Cezanne. Tate Modern, London, 5. Oktober 2022 bis 12. März 2023
Literatur und neue Medien
Cézanne in Selbstzeugnissen
Paul Cézanne: Über die Kunst, Gespräche mit Gasquet. Herausgegeben von Walter Hess, in: Rowohlts Klassiker der Literatur und der Wissenschaft, hrsg. von Ernesto Grassi, Rowohlt Verlag Hamburg 1957; Mäander Kunstverlag, Mittenwald 1980, ISBN 3-88219-058-2 (Joachim Gasquet: Cézanne. 1921)
Paul Cézanne: Briefe. Herausgegeben von John Rewald, Diogenes Verlag, Zürich, 1962; Taschenbuchausgabe 3. Aufl. 2002, ISBN 3-257-21655-6
Gespräche mit Cézanne. Herausgegeben von Michael Doran, übersetzt von Jürg Bischoff, Diogenes Verlag, Zürich, Neuausgabe 1998, ISBN 3-257-21974-1
Dino Heicker (Hrsg.): Cézanne – Zola. Porträt einer Männerfreundschaft. Vollständiger Briefwechsel und in neuer deutscher Übersetzung von Dino Heicker und Alexandre Pateau. Parthas, Berlin 2015, ISBN 978-3-86964-054-9
Sekundärliteratur
Götz Adriani: Paul Cézanne. Leben und Werk (C. H. Beck Wissen in der Beck’schen Reihe), C. H. Beck Verlag, München 2006, ISBN 978-3-406-54690-7.
Götz Adriani: Cézanne. Gemälde, DuMont Buchverlag, Köln 1993, ISBN 3-7701-3088-X
Götz Adriani: Cézanne. Aquarelle, DuMont Buchverlag, Köln 1982, ISBN 3-7701-1346-2
Kurt Badt: Die Kunst Cézannes, Prestel Verlag, München 1956
Felix A. Baumann, Walter Feilchenfeldt, Hubertus Gaßner: Cézanne. Aufbruch in die Moderne. Hatje Cantz Verlag, Stuttgart 2004, ISBN 3-7757-1487-1
Ulrike Becks-Malorny: Cézanne, 1839–1906. Wegbereiter der Moderne. Taschen Verlag, Köln 2007, ISBN 978-3-8228-5583-6
Kai Buchholz: Die Kunsttheorie Paul Cézannes und ihr Entstehungshintergrund. In: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. 44 (1999), S. 85–102
Paul Cézanne, Felix A. Baumann, Evelyn Benesch, Walter Feilchenfeldt: Cézanne – Vollendet – Unvollendet, Hatje Cantz Verlag, Zürich 2000, ISBN 3-7757-0878-2
Lorenz Dittmann: Die Kunst Cézannes. Farbe – Rhythmus – Symbolik. Böhlau, Köln 2005. ISBN 3-412-11605-X
Hajo Düchting: Cézanne. (Prestel Art Guide). Prestel Verlag, München 2004, ISBN 3-7913-3201-5
Peter Handke: Die Lehre der Sainte-Victoire. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1980, ISBN 3-518-37570-9
Heinz-Georg Held: DuMont Schnellkurs. Cézanne. Die Entstehung der modernen Kunstbetrachtung. DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2006, ISBN 978-3-8321-7677-8
Peter Kropmanns: Cézanne. Eine Biographie. Philipp Reclam jun. Verlag, Stuttgart 2006, ISBN 978-3-15-010610-5
Kurt Leonhard: Cézanne. Rowohlt Verlag, Reinbek, 13. Aufl. 2003, ISBN 3-499-50114-7
Michael Lüthy: Relationale Ästhetik: Über den ‘Fleck’ bei Cézanne und Lacan, in: Blickzähmung und Augentäuschung. Zu Jacques Lacans Bildtheorie, hrsg. von Claudia Blümle und Anne von der Heiden, Zürich/Berlin 2005, S. 265–288, ISBN 3-935300-80-8
Jean-François Lyotard: Das Elend der Philosophie. Passagen-Verlag, Wien 2004, ISBN 3-85165-551-6
Rainer Maria Rilke: Briefe über Cézanne, Insel Verlag, Frankfurt/Main, 7. Aufl. 2005, ISBN 978-3-458-32372-3 Die Auswahl wurde von Rilkes Frau Clara erstmals 1952 zusammengestellt.
Meyer Schapiro: Paul Cézanne (9. Auflage / Originalausgabe New York 1952). DuMont, Köln 2003, ISBN 3-8321-7338-2
Ambroise Vollard: Paul Cézanne. Gespräche und Erinnerungen, übersetzt von Margaretha Reischach-Scheffel. Diogenes Verlag, Zürich, 5. Aufl. 2002, ISBN 3-257-21749-8
Angela Wenzel: Paul Cézanne – Ein Leben für die Malerei. Prestel Verlag, München 2005, ISBN 3-7913-3295-3
Christoph Wetzel: Paul Cézanne. Leben und Werk, Belser-Verlag, Stuttgart/Zürich 1989, ISBN 978-3-7630-1933-5
Werkverzeichnisse:
Adrien Chappuis: The Drawings of Paul Cézanne – A Catalogue Raisonné. Zwei Bände, Thames and Hudson, London 1973, ISBN 0-500-09088-2
John Rewald: Paul Cézanne – The Watercolours: A Catalog Raisonné. Thames and Hudson, London 1983, ISBN 0-500-09164-1
John Rewald: Paintings of Paul Cézanne – A Catalogue Raisonné. Zwei Bände. New York 1996, ISBN 978-0-8109-4044-4. Die Werkverzeichnisse sind eine Erweiterung der Version Lionello Venturis von 1936, dessen Archiv nach seinem Tod John Rewald übergeben wurde.
Cézanne im Kriminalroman:
Peter Mayle: Cézanne gesucht!. Goldmann Verlag, München 2000, ISBN 978-3-442-44568-4
Barbara Pope: Im hellen Licht des Todes. List Verlag, Berlin 2008, ISBN 978-3-548-60832-7
Film
Straub-Huillet: Paul Cézanne, 1989, nach Joachim Gasquet, 35 mm, Farbe, zwei Sprachfassungen, 51/63 min
Janice Sutherland: Three Colours Cézanne, Dokumentation auf CD, 55 Min., Arthaus Musik GmbH 2008 (BBC 1996), ISBN 978-3-939873-05-1
Meine Zeit mit Cézanne (Originaltitel Cézanne et moi), Filmbiografie 2016, 117 Min., Drehbuch und Regie Danièle Thompson
Weblinks
Paul Cézanne auf Kunstaspekte
Webseite der National Gallery of Art, Washington mit Biografie und Gemälden
Einzelnachweise
Landschaftsmaler
Stilllebenmaler
Porträtmaler
Maler des Impressionismus
Maler (Frankreich)
Künstler (documenta)
Person (Aix-en-Provence)
Person als Namensgeber für einen Asteroiden
Person als Namensgeber für einen Merkurkrater
Namensgeber für eine Universität
Franzose
Geboren 1839
Gestorben 1906
Mann |
11387 | https://de.wikipedia.org/wiki/Diego%20Rivera | Diego Rivera | Diego María de la Concepción Juan Nepomuceno Estanislao de la Rivera y Barrientos Acosta y Rodríguez (* 8. Dezember oder 13. Dezember 1886 in Guanajuato; † 24. November 1957 in Mexiko-Stadt) war ein mexikanischer Maler. Er gilt neben David Alfaro Siqueiros und José Clemente Orozco als bedeutendster Maler der Moderne in Mexiko. Gemeinsam wurden sie als Los Tres Grandes (Die großen Drei) bezeichnet.
Von 1907 bis 1921 arbeitete Diego Rivera in Europa, zu Beginn und Ende der 1930er-Jahre in den Vereinigten Staaten. In seinen Tafelbildern adaptierte Rivera in schneller Folge viele verschiedene Stilrichtungen und beschäftigte sich längere Zeit mit dem Kubismus. Während seiner Zeit in Europa stand er in Kontakt mit führenden Vertretern der Modernen Kunst wie Picasso, Braque und Gris. Nach seiner Rückkehr nach Mexiko arbeitete Diego Rivera vor allem an seinen großen Wandbildprojekten, die er etwa im Palacio Nacional, dem Palacio de Bellas Artes, dem Secretaría de Educación Pública und in verschiedenen Institutionen in den Vereinigten Staaten malte. Diese von ihm als Beitrag zur Volksbildung verstandenen Murales trugen einen Großteil zur Bekanntheit und zum Erfolg Riveras bei. Hinter ihnen traten die weiteren Facetten seines Gesamtwerkes zurück.
Die genaue Zahl seiner Tafelbilder ist nicht bekannt, es werden immer noch bisher nicht bekannte Ölgemälde Riveras gefunden. Viele von ihnen waren Porträts und Selbstporträts, eine große Zahl zeigte auch mexikanische Motive. Besonders letztere sowie Variationen seiner Muralesmotive waren bei amerikanischen Touristen beliebt. Darüber hinaus fertigte Rivera aber auch Zeichnungen und Illustrationen an und entwarf für eine Theaterproduktion Kostüme und Bühnenbild. Diese Aspekte seines Gesamtwerkes wurden in der Literatur zu Rivera bisher noch nicht ausführlich behandelt.
Rivera trat 1922 der Kommunistischen Partei Mexikos bei und gehörte eine Zeit lang deren Exekutivkomitee an. Er reiste 1927 anlässlich des Jubiläums der Oktoberrevolution in die Sowjetunion und wollte dort zur künstlerischen Entwicklung beitragen; wegen seiner Kritik an der stalinistischen Politik wurde ihm jedoch die Rückkehr nach Mexiko nahegelegt. Aufgrund seiner kritischen Position zu Josef Stalin und den von Rivera angenommenen Regierungsaufträgen schloss ihn die Kommunistische Partei Mexikos 1929 aus, akzeptierte aber 1954 eines seiner Gesuche um Wiederaufnahme.
In den 1930er Jahren wandte sich Rivera den Ideen des Trotzkismus zu. Er setzte sich dafür ein, dass Leo Trotzki in Mexiko Exil erhielt, und beherbergte ihn kurzzeitig in seinem Haus. Nach politischen und persönlichen Auseinandersetzungen mit Trotzki brach der mexikanische Künstler 1939 die Verbindung ab. Die politischen Überzeugungen Diego Riveras spiegelten sich auch in seinen Werken wider, in denen er kommunistische Ideen propagierte und immer wieder führende Persönlichkeiten des Sozialismus und Kommunismus verewigte. In Zusammenhang mit seinen politischen Aktivitäten publizierte Rivera auch Artikel und war an der Herausgabe linker Zeitschriften beteiligt. Rivera heiratete 1929 die Künstlerin Frida Kahlo, die seine politischen Überzeugungen teilte.
Leben
Kindheit und Ausbildung
Diego Rivera und sein Zwillingsbruder José Carlos María wurden am 8. oder 13. Dezember 1886 als erste Söhne des Lehrerehepaars María del Pilar Barrientos und Diego Rivera in Guanajuato geboren. Der familiäre Hintergrund Diego Riveras bleibt unsicher, da großteils von ihm selbst kolportiert. Der Großvater väterlicherseits, Don Anastasio de Rivera, sei als Sohn des italienischstämmigen Urgroßvaters, der im spanischen diplomatischen Dienst in Russland weilte, dort zur Welt gekommen, die unbekannte russische [?] Mutter sei bei der Geburt gestorben. Don Anastasio wanderte später nach Mexiko aus, erwarb eine Silbermine und heiratete Ynez Acosta. Angeblich habe er für Benito Juárez gegen die französische Intervention gekämpft. Die Großmutter mütterlicherseits, Nemesis Rodriguez Valpuesta, soll halb-indianischer Abstammung gewesen sein. Mit seinen nicht belegbaren Aussagen trug Rivera zur Legendenbildung um seine Person bei und verortete sich selbst in der Geschichte Mexikos, die ein zentraler Aspekt seines Gesamtwerkes ist.
Diego Riveras Zwillingsbruder starb 1888; seine Mutter brachte 1891 eine Tochter namens María zur Welt. Die linksgerichteten Artikel des Vaters, Autor und Mitherausgeber der liberalen Zeitschrift El Demócrata, empörten seine Kollegen und den konservativen Teil der Leser dermaßen, dass sogar seine Familie angefeindet wurde. Nachdem er sich auch im Minengeschäft verspekuliert hatte, übersiedelte man 1892 nach Mexiko-Stadt, wo Diego senior eine Stelle im Staatsdienst bekam. Um die Ausbildung des Sohnes kümmerte der Vater sich jedoch schon früh: Diego junior hatte bereits im Alter von vier Jahren das Lesen erlernt. Ab 1894 besuchte er das Colegio Católico Carpantier. Sein Zeichentalent wurde ab der dritten Klasse durch zusätzliche Abendkurse an der Academia de San Carlos gefördert. 1898 inskribierte er sich dort als regulärer Student, nachdem er ein Stipendium erlangt hatte.
Diego Rivera kam dadurch in Kontakt mit höchst unterschiedlichen Kunstauffassungen. Als seine wesentlichen Lehrer an der Akademie nennt er (in dieser Reihenfolge) Félix Parra, José María Velasco und Santiago Rebull. Rebull, der das Talent des Jungen erkannte und ihn zum Ärger seiner Kommilitonen bevorzugt haben dürfte, war ein Schüler von Jean-Auguste-Dominique Ingres und Anhänger der Nazarener, Parra hingegen ein Naturalist mit Interesse am vorspanischen Mexiko. Das Studium folgte dem europäischen Vorbild mit technischer Ausbildung, rationaler Forschung und positivistischen Idealen.
Rivera arbeitete sowohl im Atelier als auch in der Landschaft, wobei er sich stark an Velasco orientierte, von dessen perspektivischer Lehre er profitierte. Er folgte seinem Lehrer vor allem auch in der Darstellung der speziellen Farbigkeit einer typischen mexikanischen Landschaft. Weiters lernte Rivera an der Akademie den Landschaftsmaler Gerardo Murillo kennen, der kurz zuvor in Europa gewesen war. Murillo beeinflusste den Kunststudenten durch seine Wertschätzung der indianischen Kunst und mexikanischen Kultur, die im späteren Werk Riveras zum Tragen kam. Zudem lehrte Murillo Rivera über die zeitgenössische Kunst in Europa, was in diesem den Wunsch hervorrief, selbst nach Europa zu reisen.
Bewunderung für José Guadalupe Posada, den er zu dieser Zeit kennen und zu schätzen lernte, drückt Rivera in seiner Autobiografie aus. 1905 schied er aus der Akademie aus. Im Jahr 1906 stellt er erstmals 26 seiner Werke, größtenteils Landschaften und Porträts, auf der jährlichen von Murillo organisierten Kunstausstellung der Academia de San Carlos aus und konnte auch erste Arbeiten verkaufen.
Erster Aufenthalt in Europa
Im Januar 1907 konnte Diego Rivera dank eines Stipendiums von Teodoro A. Dehesa, dem Gouverneur des Bundesstaates Veracruz, und seiner Rücklagen aus den Verkäufen nach Spanien reisen. Auf Empfehlung von Murillo trat er in die Werkstatt Eduardo Chicharro y Agüeras, eines der führenden spanischen Realisten, ein. Der Maler riet Rivera zudem, in den Jahren 1907 und 1908 durch Spanien zu reisen, um verschiedene Einflüsse und Strömungen kennenzulernen. In den folgenden Jahren probierte Rivera in seinen Werken verschiedene Stile aus. Im Museo del Prado kopierte und studierte er Gemälde von El Greco, Francisco de Goya, Diego Velázquez und flämischen Malern. Von dem dadaistischen Schriftsteller und Kritiker Ramón Gómez de la Serna wurde Rivera in Madrid in die Kreise der spanischen Avantgarde eingeführt. 1908 stellte Rivera zudem in der zweiten Ausstellung von Chicharro-Schülern aus.
Von seinen avantgardistischen Freunden angeregt, reiste Rivera 1909 nach Frankreich weiter und besuchte Museen und Ausstellungen sowie Vorlesungen. Zudem arbeitete er in den Schulen von Montparnasse und am Ufer der Seine. Im Sommer 1909 reiste er nach Brüssel weiter. Hier lernte er die sechs Jahre ältere russische Malerin Angelina Beloff kennen. Sie wurde seine erste Lebensgefährtin und begleitete ihn nach London. Dort studierte er die Werke William Hogarths, William Blakes und William Turners. Zum Jahresende kehrte Rivera in Begleitung Beloffs nach Paris zurück und präsentierte 1910 erstmals Werke in einer Ausstellung der Société des Artistes Indépendants. Da sein Stipendium auslief, kehrte Rivera zur Jahresmitte über Madrid nach Mexiko zurück, wo er im August 1910 ankam.
In der Academia de San Carlos zeigte er im November einige seiner Werke im Rahmen einer Kunstausstellung anlässlich des hundertjährigen Jubiläums der Unabhängigkeit Mexikos. Während seines Aufenthaltes brach die Mexikanische Revolution aus. Für die von Rivera selbst aufgestellte Behauptung, er habe zu Beginn der Revolution an der Seite Emiliano Zapatas gekämpft, lassen sich keine Belege finden, so dass es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um eine später entstandene Legende handelt. Trotz der politischen Wirren wurde die Ausstellung für Rivera ein künstlerischer und finanzieller Erfolg, sieben der Gemälde wurden durch die mexikanische Regierung angekauft. Mit den Einnahmen konnte er seine Rückreise nach Europa im Juni 1911 antreten.
Zweiter Aufenthalt in Europa
Im Juni des Jahres 1911 kehrte Diego Rivera nach Paris zurück, wo er mit Angelina Beloff eine Wohnung bezog. Im Frühjahr 1912 fuhren die beiden nach Kastilien. Bei einem Aufenthalt in Toledo traf Rivera mehrere in Europa lebende lateinamerikanische Künstler. Besonders engen Kontakt hatte er zu seinem Landsmann Angel Zárraga. In Spanien experimentierte Rivera mit dem Pointillismus. Nach ihrer Rückkehr nach Paris im Herbst 1912 zogen er und Angelina Beloff in die Rue du Départ um. In der Nachbarschaft wohnten die Künstler Piet Mondrian, Lodewijk Schelfhout und der Maler Conrad Kickert – zu dieser Zeit Korrespondent bei der niederländischen Wochenzeitschrift De Groene Amsterdammer –, deren Werk durch Paul Cézanne geprägt worden war. In Riveras Malerei machten sich zu dieser Zeit erste kubistische Einflüsse bemerkbar. Er gelangte zu einem recht eigenen Verständnis des Kubismus, der bei ihm farbiger ausfiel als bei anderen Kubisten. Nachdem er sich 1914 mit Juan Gris angefreundet hatte, wiesen seine Werke auch Einflüsse aus dem Werk des Spaniers auf.
1913 stellte er erste kubistische Gemälde im Salon d’Automne aus. Zudem nahm er in diesem Jahr an Gruppenausstellungen in München und Wien, 1914 in Prag, Amsterdam und Brüssel teil. Zu dieser Zeit beteiligte sich Diego Rivera sehr aktiv an den theoretischen Diskussionen der Kubisten. Einer seiner wichtigsten Gesprächspartner war dabei Pablo Picasso. Im April 1914 organisierte die Galerie Berthe Weill die erste Einzelausstellung Riveras, in der 25 seiner kubistischen Werke zu sehen waren. Einige der Werke konnte er verkaufen, so dass sich seine angespannte finanzielle Situation verbesserte. Rivera und Beloff waren dadurch in der Lage, im Juli gemeinsam mit anderen Künstlern nach Mallorca zu reisen, wo Rivera vom Ausbruch des Ersten Weltkrieges erfuhr. Aufgrund des Krieges dauerte ihr Aufenthalt auf der Insel länger als geplant. Sie reisten über Barcelona weiter nach Madrid, wo Rivera auf verschiedene spanische und lateinamerikanische Intellektuelle traf. Dort nahm er 1915 an der von Gómez de la Serna organisierten Ausstellung Los pintores íntegris teil, in der erstmals kubistische Werke in Spanien ausgestellt wurden und heftige Diskussionen auslösten.
Im Sommer 1915 kehrte Rivera nach Paris zurück, wo ihn seine Mutter besuchte. Von ihr und den mexikanischen Intellektuellen in Spanien erhielt er Informationen über die politische und soziale Lage in seinem Heimatland. Rivera verfolgte die Entwicklung der Revolution in seinem Heimatland mit Wohlwollen und thematisierte diese auch in seinem Werk. 1915 begann Rivera eine Affäre mit der russischen Künstlerin Marevna Vorobev-Stebelska, die bis zu seiner Rückkehr nach Mexiko andauerte. Mit seiner Malerei erzielte er zunehmend Erfolge. Im Jahr 1916 beteiligte sich Diego Rivera in der Modern Gallery von Marius de Zayas in New York an zwei Gruppenausstellungen postimpressionistischer und kubistischer Kunst. Im Oktober dieses Jahres hatte er dort die Einzelausstellung Exhibition of Paintings by Diego M. Rivera and Mexican Pre-Conquest Art. Zudem kam in diesem Jahr aus der Beziehung mit Angelina Beloff sein erster Sohn namens Diego zur Welt.
1917 nahm der Direktor der Galerie L’Effort moderne, Léonce Rosenberg, Diego Rivera für zwei Jahre unter Vertrag. Er wurde von Angelina Beloff in eine von Henri Matisse veranstaltete Diskussionsgruppe von Künstlern und russischen Emigranten eingeführt und beteiligte sich an den dortigen metaphysischen Diskussionen. Diese wirkten sich in Riveras Werk durch einen schmuckloseren Stil und vereinfachte Kompositionen aus. Im Frühjahr geriet Rivera mit dem Kunstkritiker Pierre Reverdy in Konflikt, der zu einem der führenden Theoretiker des Kubismus aufgestiegen war und Diego Riveras Werke sehr schlecht besprochen hatte. Zwischen den beiden kam es zu einem Streit mit Handgreiflichkeiten. Infolgedessen wandte sich Diego Rivera vom Kubismus ab und kehrte zur figurativen Malerei zurück. Zudem brach er mit Rosenberg und Picasso, was dazu führte, dass sich auch Braque, Gris, Léger sowie die ihm freundschaftlich verbundenen Jacques Lipchitz und Gino Severini von ihm abwandten. Im Winter des Jahres 1917 starb sein erster Sohn an den Folgen einer Grippeerkrankung.
Gemeinsam mit Angelina Beloff zog Rivera 1918 in eine Wohnung in der Nähe des Champ de Mars. In seinen Gemälden machte sich der Einfluss Cézannes bemerkbar, in einigen Stillleben und Bildnissen auch der von Ingres. Rivera griff fauvistische Elemente auf, wie auch den Stil und die Farbgestaltung Renoirs. Diese Rückkehr zur figurativen Malerei fand die Unterstützung des Kunstschriftstellers Élie Faure, an dessen Ausstellung Les Constructeurs sich der mexikanische Maler bereits 1917 beteiligt hatte. Faure hatte großen Einfluss auf Riveras weitere Entwicklung, weil er diesen für die Kunst der italienischen Renaissance interessierte und mit ihm über den sozialen Stellenwert der Kunst diskutierte. In der Folge erwog Diego Rivera die Wandmalerei als Darstellungsform.
1919 traf Diego Rivera erstmals David Alfaro Siqueiros. Gemeinsam diskutierten sie notwendige Veränderungen der mexikanischen Kunst. Sie teilten gemeinsame Ansichten über die Aufgabe einer mexikanischen Kunst und welchen Stellenwert diese in der Gesellschaft einnehmen sollte. Am 13. November brachte Riveras Geliebte Marija Bronislawowna Worobjowa-Stebelskaja (genannt Marevna) seine Tochter Marika zur Welt. Rivera malte zwei Porträts des mexikanischen Botschafters in Paris und dessen Frau. Der Botschafter setzte sich bei José Vasconcelos, dem neuen Universitätsdirektor in Mexiko-Stadt, für Diego Rivera ein und bat, dem Maler einen Studienaufenthalt in Italien zu finanzieren. Dieses Stipendium ermöglichte es Diego Rivera, im Februar 1920 nach Italien zu reisen. Während der folgenden 17 Monate studierte er dort etruskische, byzantinische und Renaissance-Kunstwerke. Er fertigte Skizzen von der italienischen Landschaft und Architektur sowie den Meisterwerken der italienischen Kunst an. Die meisten von ihnen sind verschollen.
Rivera studierte die Fresken Giottos und die Wand- und Deckenmalereien Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle. So lernte Rivera die Freskotechnik und die Ausdrucksmöglichkeiten einer monumentalen Malerei kennen. Angezogen von der sozialen und politischen Entwicklung in seiner Heimat reiste Rivera im März 1921 über Paris alleine zurück nach Mexiko.
Rivera als politischer Künstler in Mexiko
Während sich Diego Rivera in Italien aufhielt, wurde 1920 José Vasconcelos von Präsident Alvaro Obregón zum Bildungsminister ernannt. Vasconcelos führte ein umfassendes Programm zur Volksbildung ein, das auch erzieherische und belehrende Wandbilder an und in öffentlichen Gebäuden vorsah. Mit ihnen wollte er im Anschluss an die Revolution die Ideale einer umfassenden kulturellen Reformbewegung verwirklichen, die eine ethnische und soziale Gleichstellung der indigenen Bevölkerung und die Etablierung einer eigenen mexikanischen Nationalkultur vorsah.
Kurz nach Riveras Ankunft in Paris im März 1921 kehrte er nach Mexiko zurück, da ihm die dortige politische und soziale Entwicklung attraktiv erschien. Er nahm Abstand von seiner Zeit in Europa, indem er, anstatt weiterhin den stilistischen Entwicklungen der Moderne zu folgen, seinen ganz eigenen Stil entwickelte, und ließ seine Lebensgefährtin, seine Geliebte und seine Tochter zurück. Lediglich seine Tochter Marika erhielt über Freunde Unterhaltszahlungen, obwohl Rivera die Vaterschaft nie offiziell anerkannte. Bereits kurz nach seiner Rückkehr im Juni 1921 nahm der Bildungsminister Rivera in das kulturelle Programm der Regierung auf. 1921 lud Vasconcelos Diego Rivera und weitere aus Europa zurückgekehrte Künstler und Intellektuelle auf eine Reise nach Yucatán ein. Sie sollten sich mit dem kulturellen und nationalen Erbe Mexikos vertraut machen, um dieses in ihre zukünftigen Arbeiten einfließen zu lassen. Rivera sah auf dieser Reise die archäologischen Stätten Uxmal und Chichén Itzá. Angeregt von den dort gesammelten Eindrücken entwickelte Rivera seine Vorstellungen von einer im Dienst des Volkes stehenden Kunst, die die Geschichte über Wandbilder vermitteln sollte.
Diego Rivera begann im Januar 1922 in der Escuela Nacional Preparatoria damit, sein erstes Wandgemälde zu malen. Dieses Projekt war der Auftakt und die Bewährungsprobe für das Wandbildprogramm der Regierung. Während mehrere Maler im Innenhof arbeiteten, fertigte Rivera in der Aula das Gemälde Die Schöpfung an. Die Arbeiten, bei denen er weitestgehend den traditionellen Methoden der Freskotechnik folgte, dauerten ein Jahr. Sein erstes Wandgemälde griff noch ein traditionell christliches und europäisches Motiv auf, auch wenn er dies mit einer typisch mexikanischen Farbigkeit und eben solchen Figurentypen kontrastierte. In den Tafelbildern nach seiner Rückkehr stand hingegen der mexikanische Alltag im Vordergrund. Rivera heiratete im Juni 1922 Guadelupe Marín, die ihm für eine der Figuren des Wandbildes Modell stand, nachdem er bereits zuvor mit einigen Modellen Verhältnisse gehabt hatte. Die beiden zogen in ein Haus in der Mixcalco-Straße.
Im Herbst 1922 beteiligte sich Diego Rivera an der Gründung des Sindicato Revolucionario de Trabajadores Técnicos, Pintores y Escultores, der revolutionären Gewerkschaft der technischen Arbeiter, Maler und Bildhauer, und lernte dort kommunistische Ideen kennen. In der Gewerkschaft war Rivera mit David Alfaro Siqueiros, Carlos Mérida, Xavier Guerrero, Amado de la Cueva, Fernando Leal, Ramón Alva Guadarrama, Fermín Revueltas, Germán Cueto und José Clemente Orozco verbunden. Ende 1922 trat Diego Rivera der Kommunistischen Partei Mexikos bei. Gemeinsam mit Siqueiros und Xavier Guerrero bildete er deren Exekutivkomitee.
Im März 1922 erhielt Rivera den Auftrag, die Secretaría de Educación Pública mit Fresken auszugestalten. Ab September 1922 arbeitete er an diesem Projekt, das er gleichzeitig leitete. Es handelte sich um den größten Auftrag im ersten Jahrzehnt des Muralismo. Die Arbeiten im Bildungsministerium zogen sich über Jahre hin. Da er nur zwei Dollar pro Tag mit diesen Arbeiten verdiente, verkaufte Diego Rivera Gemälde, Zeichnungen und Aquarelle an Sammler, die vorwiegend aus Nordamerika stammten. 1924 kam Riveras Tochter Guadelupe zur Welt. In diesem Jahr gab es erhebliche Konflikte um das Wandmalereiprojekt im Bildungsministerium. Konservative Gruppen lehnten die Wandmalerei ab, Bildungsminister Vasconcelos trat zurück, und die Arbeiten am Projekt wurden eingestellt. Nach der Entlassung der Mehrzahl der Maler konnte Rivera den neuen Bildungsminister José María Puig Casaurac von der Bedeutung der Murales überzeugen und behielt daraufhin seine Anstellung, um die Gemälde zu vollenden. Ende des Jahres 1924 erhielt er neben seinen Arbeiten im Bildungsministerium den Auftrag, Wandgemälde in der Escuela Nacional de Agricultura in Chapingo zu malen. Dort schuf er dekorative Wandbilder für die Eingangshalle, den Treppenaufgang und die Empfangshalle in der ersten Etage und 1926 die Wände der Aula. Sowohl seine schwangere Frau als auch Tina Modotti standen für Rivera bei diesem Projekt Modell. Mit Modotti ging er ein Verhältnis ein, was zur vorläufigen Trennung von Guadalupe Marín führte. Nach der Geburt seiner Tochter Ruth verließ Diego Rivera 1927 seine Frau.
Reise in die Sowjetunion und Erfolge in Mexiko
Im Herbst 1927, nachdem er die Arbeiten in Chapingo abgeschlossen hatte, reiste Diego Rivera anlässlich des zehnjährigen Jubiläums der Oktoberrevolution als Mitglied der offiziellen Delegation der Kommunistischen Partei Mexikos in die Sowjetunion. Bereits in seinen Pariser Jahren wollte Rivera die UdSSR besuchen, nun hoffte er, von der dortigen Entwicklung der Kunst zu profitieren, und wollte mit einem eigenen Wandgemälde einen Beitrag zur sowjetischen Kunst leisten. Die Reise führte über Berlin, wo er Intellektuelle und Künstler traf, nach Moskau, wo er sich neun Monate lang aufhielt. Dort hielt er Vorträge und unterrichtete Monumentalmalerei an der Schule für bildende Kunst. Rivera hatte Kontakt zur Künstlergruppe Oktober, die für eine den Volkstraditionen folgende öffentliche Kunst eintrat. Bei den Feierlichkeiten zum 1. Mai 1928 fertigte er Skizzen für ein im Club der Roten Armee geplantes Wandgemälde an, das jedoch wegen Intrigen und Unstimmigkeiten nicht zur Ausführung kam. Aufgrund unterschiedlicher politischer und künstlerischer Ansichten legte die stalinistische Regierung Diego Rivera die Rückkehr nach Mexiko nahe.
1928 kehrte er aus der Sowjetunion zurück und trennte sich endgültig von Guadelupe Marín. Er beendete in diesem Jahr die Wandgemälde im Bildungsministerium und in Chapingo. Während er seine Arbeiten im Bildungsministerium fertigstellte, erhielt er Besuch von Frida Kahlo, die ihm ihre ersten Malversuche zeigte und um seine Meinung bat. Aufgrund von Riveras positiver Reaktion entschloss sie sich, sich ganz der Malerei zu widmen. Am 21. August 1929 heiratete Diego Rivera die fast 21 Jahre jüngere Malerin. Kurz zuvor war Rivera von den Schülern der Kunstschule der Academia de San Carlos zum Direktor gewählt worden. Seine Konzepte gerieten jedoch stark in die Kritik seitens der Medien und konservativer Kräfte. Er erarbeitete einen neuen Stundenplan und räumte den Schülern große Mitsprachemöglichkeiten bei der Lehrer-, Personal- und Methodenwahl ein. Riveras Reformen wurden vor allem von Lehrern und Schülern der im selben Gebäude untergebrachten Architekturschule kritisiert, ihnen schlossen sich konservative Künstler und auch Mitglieder der kommunistischen Partei, aus der Diego Rivera im September 1929 ausgeschlossen wurde, an. Schließlich gab die Verwaltung der Akademie den Protesten nach und entließ Diego Rivera Mitte des Jahres 1930. Der Ausschluss aus der Kommunistischen Partei war die Folge von Riveras kritischer Position gegenüber Josef Stalin und dessen Politik sowie der Annahme von Aufträgen der Regierung unter Präsident Plutarco Elías Calles.
Rivera erhielt 1929 den Auftrag, den Treppenaufgang des Palacio Nacional in Mexiko-Stadt auszumalen, zudem malte er ein Wandgemälde für die Secretaría de Salud. Noch während der Arbeiten im Regierungssitz, die Rivera mehrere Jahre beschäftigen sollten, beauftragte der Botschafter der USA in Mexiko, Dwight W. Morrow, Diego Rivera damit, ein Wandgemälde im Palacio de Cortés von Cuernavaca auszuführen. Für diesen Auftrag erhielt er mit 12.000 Dollar sein bisher höchstes Honorar. Nach Beendigung dieses Auftrages im Herbst 1930 nahm Rivera das Angebot an, in den Vereinigten Staaten Wandgemälde anzufertigen. Dieser Entschluss wurde von der kommunistischen Presse in Mexiko scharf kritisiert.
Aufenthalt in den USA
Im Herbst 1930 reiste Diego Rivera gemeinsam mit Frida Kahlo nach San Francisco. In den Vereinigten Staaten war die Kunst der mexikanischen Wandmaler durch Zeitungsartikel und Reiseberichte bereits seit den 1920er-Jahren bekannt. Reisende hatten bereits Tafelbilder Riveras in die USA gebracht, nun sollte er dort ebenfalls Wandbilder ausführen. Der kalifornische Bildhauer Ralph Stackpole kannte Rivera seit seiner Zeit in Paris und sammelte seine Bilder, von denen er eines an William Gerstle, den Präsidenten der San Francisco Art Commission, verschenkte. Gerstle wollte, dass Rivera eine Wand in der California School of Fine Arts bemalte, und dieser nahm den Auftrag an. Als Stackpole 1929 mit anderen Künstlern den Auftrag erhielt, die Dekoration des neuen Gebäudes der San Francisco Pacific Stock Exchange vorzunehmen, gelang es ihm zudem, eine Wand für Diego Rivera zu reservieren. Die Einreise in die Vereinigten Staaten wurde Rivera anfangs aufgrund seiner kommunistischen Gesinnung verweigert. Erst nach der Fürsprache Albert M. Benders, eines einflussreichen Versicherungsagenten und Kunstsammlers, erhielt er ein Visum. Dies wurde sowohl von antikommunistischen Medien als auch von Künstlern aus San Francisco kritisiert, die sich bei der Auftragsvergabe benachteiligt sahen. Ebenfalls auf Kritik stieß, dass 120 Werke Riveras Ende des Jahres 1930 im California Palace of the Legion of Honor ausgestellt wurden. Nach Beendigung der Wandbildprojekte und infolge der persönlichen Erscheinung des Ehepaares änderte sich die Stimmung zum Positiven.
In San Francisco malte Diego Rivera von Dezember 1930 bis Februar 1931 das Wandgemälde Allegorie Kaliforniens im Luncheon Club der San Francisco Pacific Stock Exchange. Zusammen mit dem Börsengebäude wurde auch das Wandbild im März 1931 offiziell eingeweiht. Von April bis Juni 1931 fertigte Diego Rivera dann das Wandgemälde Die Verwirklichung eines Freskos in der California School of Fine Arts an. Direkt nach Vollendung des Projekts kehrte er nach Mexiko zurück, um auf Bitten des Präsidenten das unvollendet zurückgelassene Wandgemälde im Palacio Nacional fertigzustellen. Kurz darauf erhielt Diego Rivera die Einladung, im Museum of Modern Art in New York auszustellen. Es war nach einer Retrospektive von Henri Matisse die zweite große Einzelausstellung im 1929 eröffneten Museum und blieb bis 1986 die wichtigste Ausstellung mit Werken Riveras in den USA. Wegen dieser Einladung brach Rivera die Arbeiten im Palacio Nacional nach der Fertigstellung der Hauptwand erneut ab. Er reiste gemeinsam mit seiner Frau und der Kunsthändlerin Frances Flynn Paine, die ihm den Vorschlag zu dieser Retrospektive unterbreitet hatte, per Schiff nach New York. Im November 1931 kam er an und arbeitete bis zur Ausstellungseröffnung am 23. Dezember an acht transportablen Fresken. Insgesamt zeigte die Retrospektive 150 Werke Riveras und wurde von 57.000 Menschen besucht. Auch die Kritik begleitete die Ausstellung positiv.
Über die Tennis-Weltmeisterin Helen Wills Moody lernte Diego Rivera mit William R. Valentiner und Edgar P. Richardson die beiden Leiter des Detroit Institute of Arts kennen. Sie luden ihn ein, im Februar und März 1931 in Detroit auszustellen, und unterbreiteten der zuständigen Kunstkommission der Stadt den Vorschlag, Diego Rivera für ein Wandgemälde im Garden Court des Museums zu engagieren. Mit der Unterstützung von Edsel B. Ford, dem Vorsitzenden des städtischen Kunstausschusses, konnte Diego Rivera nach seiner New Yorker Ausstellung Anfang des Jahres 1932 beginnen, seine Arbeiten für Detroit vorzubereiten. Ford stellte 10.000 Dollar für die Ausführung der Fresken zur Verfügung, so war ein Honorar von 100 Dollar pro bemaltem Quadratmeter geplant. Als Rivera die Örtlichkeit besichtigte, entschied er sich jedoch, statt der geplanten zwei Gemälde den ganzen Hof für dasselbe Honorar auszumalen. In den Fresken stellte Rivera die Industrie Detroits dar. An seiner Industriemalerei wurde kritisiert, dass die Gemälde pornographische, gotteslästerliche und kommunistische Inhalte zeigen würden, und die Sicherheit der Werke schien zeitweise gefährdet. Edsel B. Ford stellte sich jedoch hinter den Künstler und sein Werk und beruhigte so die Lage.
Noch in Detroit arbeitend erhielt Rivera den Auftrag, ein Wandgemälde in der Lobby des noch im Bau befindlichen Rockefeller Center zu malen. Im Laufe des Jahres 1933 arbeitete er an diesem Bild, dessen Thema Der Mensch am Scheideweg, hoffnungsvoll in eine bessere Zukunft blickend von einer Kommission vorgegeben worden war. Rivera bildete in diesem Bild seine negative Sicht auf den Kapitalismus ab und zeigt Lenin, der in der genehmigten Vorzeichnung noch nicht auftauchte, als einen Vertreter der neuen Gesellschaft. Dies führte zu heftiger Kritik der konservativen Presse, wohingegen progressive Gruppen sich mit dem Künstler solidarisierten. Die Rockefellers als Auftraggeber stellten sich nicht wie Ford hinter den Künstler, sondern baten Rivera darum, Lenin zu übermalen. Als der Künstler dies ablehnte, wurde das Gemälde Anfang Mai abgedeckt sowie Rivera ausgezahlt und entlassen. Infolgedessen kehrte Diego Rivera nach Mexiko zurück. Im Februar 1934 wurde das Wandgemälde im Rockefeller Center endgültig zerstört.
Rückkehr nach Mexiko
Diego Rivera kehrte 1933 enttäuscht nach Mexiko zurück, da er seine politischen Werke in den Vereinigten Staaten nicht frei umsetzen konnte. Er war zu einem der bekanntesten Künstler in den Vereinigten Staaten geworden, von anderen Künstlern und linken Intellektuellen verehrt, von Industriellen und Konservativen angefeindet. Nachdem im Februar 1934 das Fresko im Rockefeller Center zerstört worden war, erhielt Diego Rivera noch im selben Jahr die Chance, sein Werk im Palacio de Bellas Artes in Mexiko-Stadt umzusetzen. In der Folge vergab der Staat wieder vermehrt öffentliche Aufträge an die großen Vertreter des Muralismo.
Nach seiner Rückkehr bezog Rivera zusammen mit Frida Kahlo das Atelier-Wohnhaus in San Angel, das er 1931 bei Juan O’Gorman in Auftrag gegeben hatte. Im kleineren, blauen Kubus des im Bauhausstil errichteten Gebäudes lebte Kahlo, im größeren, rosa Kubus Rivera. Im November 1934 nahm Diego Rivera die Arbeiten im Palacio Nacional wieder auf, die er 1935 abschloss. Er vollendete das aus den Bildern Das vorspanische Mexiko – Die antike indianische Welt von 1929 und Geschichte Mexikos von der Eroberung bis 1930 von 1929 bis 1931 bestehende Ensemble Epos des mexikanischen Volkes mit dem Bild Mexiko heute und morgen. Im November 1935 beendete Rivera dieses Projekt. Da keine weiteren großen Wandmalereiprojekte anstanden, widmete er sich in der folgenden Zeit wieder vermehrt der Tafelmalerei, seine Motive waren oftmals indianische Kinder und Mütter. Die technische Ausführung dieser Bilder in der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre war oftmals nicht besonders gut, da Rivera sie in Serie herstellte und an Touristen verkaufte, um mit den Einnahmen seine Sammlung präkolumbischer Kunst zu finanzieren.
Zu einer vorübergehenden Ehekrise, welche Rivera 1935 hatte, führte eine Affäre mit Frida Kahlos jüngerer Schwester Christina. Aber die gemeinsamen politischen Interessen führten das Ehepaar wieder zusammen. Rivera wurde weiterhin von der Kommunistischen Partei Mexikos angefeindet, die ihm die Unterstützung der konservativen Positionen der Regierung vorwarf. Besonders mit Siqueiros geriet Rivera wiederholt in Konflikt, die beiden standen sich auf einer politischen Versammlung sogar bewaffnet gegenüber. Diego Rivera wandte sich auch infolge seiner 1933 in New York geknüpften Kontakte zur Communist League of America den Trotzkisten zu und wurde 1936 Mitglied der Internationalen Trotzkistisch-Kommunistischen Liga. Gemeinsam mit Frida Kahlo setzte sich Diego Rivera bei Präsident Lázaro Cárdenas del Río dafür ein, dass Leo Trotzki politisches Asyl in Mexiko erhalten sollte. Unter der Voraussetzung, dass sich der Russe nicht politisch betätigen würde, stimmte der Präsident dem Asylgesuch zu. Im Januar 1937 empfingen Diego Rivera und Frida Kahlo Leo Trotzki und dessen Frau Natalja Sedowa in Kahlos blauem Haus in Coyoacán. Im Jahr 1938 beherbergte Rivera zudem den surrealistischen Vordenker André Breton und dessen Frau Jacqueline. Die beiden Künstler unterzeichneten ein von Trotzki verfasstes Manifest für eine revolutionäre Kunst. Die befreundeten Ehepaare reisten gemeinsam durch die mexikanischen Provinzen, und unter dem Einfluss Bretons fertigte Diego Rivera einige wenige surrealistische Bilder an.
Nach persönlichen und politischen Auseinandersetzungen brach Rivera 1939 mit Trotzki. Im Herbst desselben Jahres ließ sich Frida Kahlo von Rivera scheiden. 1940 stellte er in der von André Breton, Wolfgang Paalen und César Moro organisierten Internationalen Surrealismus Ausstellung in der Galería de Arte Mexicano von Inés Amor aus. Außerdem kehrte Rivera in diesem Jahr nach San Francisco zurück, wo er nach längerer Zeit wieder einen Wandbild-Auftrag erhalten hatte. Nachdem die Sowjetunion mit dem Deutschen Reich paktierte, milderte der Künstler seine negative Einstellung zu den Vereinigten Staaten und nahm die Einladung an. Er trat in der Folge für die Solidarität der amerikanischen Länder gegen den Faschismus ein. Unter dem Titel Panamerikanische Einheit malte er zehn Wandtafeln für die Golden Gate International Exposition in San Francisco. Dort heirateten er und Frida Kahlo am 8. Dezember 1940 erneut, da beide unter der Trennung gelitten hatten.
Nach seiner Rückkehr nach Mexiko zog Diego Rivera im Februar 1941 zu Kahlo ins blaue Haus. Das Haus in San Angel Inn nutzte er in der Folgezeit nur noch als Rückzugsort und Atelier. 1941 und 1942 malte Diego Rivera überwiegend an der Staffelei. Er erhielt zudem den Auftrag, die Fresken im Obergeschoss des Innenhofs des Palacio Nacional auszuführen. Weiterhin begann er 1942 mit dem Bau des Anahuacalli, in dem er seine Sammlung präkolonialer Objekte präsentieren wollte. Das Gebäude war zuerst auch als Wohnhaus konzipiert, beherbergte letztendlich aber nur die 60.000 Objekte umfassende Sammlung, der sich Rivera bis zu seinem Lebensende widmete.
Ab Anfang der 1940er wurde Rivera zunehmend nationale Anerkennung zuteil. Das Colegio Nacional wurde 1943 gegründet und Rivera gehörte zu den ersten 15 von Präsident Manuel Ávila Camacho berufenen Mitgliedern. Im selben Jahr berief ihn die im Jahr zuvor gegründete Kunstakademie La Esmeralda zum Professor mit dem Ziel, den Kunstunterricht zu reformieren. Er schickte seine Schüler aufs Land und die Straße, um dort nach der mexikanischen Realität zu malen. Auch Rivera fertigte in diesem Zusammenhang Zeichnungen, Aquarelle und Gemälde an. Nach der Genesung von einer Lungenentzündung malte Rivera 1947 ein großes Wandgemälde im neu gebauten Hotel del Prado am Almeda-Park. Der Traum eines Sonntagnachmittags im Almeda-Park zeigt eine Darstellung der mexikanischen Geschichte durch eine Aufreihung historischer Persönlichkeiten. 1943 wurde er als Ehrenmitglied in die American Academy of Arts and Letters gewählt.
Letzte Lebensjahre und Tod
Gemeinsam mit David Alfaro Siqueiros und José Clemente Orozco bildete Diego Rivera ab 1947 die Kommission für Wandmalerei des Instituto de Bellas Artes. 1949 richtete das Institut eine große Ausstellung anlässlich des 50-jährigen Jubiläums von Riveras Schaffen im Palacio de Bellas Artes aus.
1950, als Frida Kahlo sich wegen mehrerer Operationen an der Wirbelsäule neun Monate im Krankenhaus aufhalten musste, nahm sich Rivera ebenfalls ein Zimmer im Hospital, um bei seiner Frau zu sein. Diego Rivera illustrierte in diesem Jahr gemeinsam mit David Alfaro Siqueiros die limitierte Auflage von Pablo Nerudas Canto General und gestaltete auch die Buchhülle. Des Weiteren entwarf er das Bühnenbild zu El cuadrante de la soledad von José Revueltas und setzte seine Arbeiten im Palacio Nacional fort. Diego Rivera wurde gemeinsam mit Orozco, Siqueiros und Tamayo die Ehre zuteil, Mexiko auf der Biennale des Jahres 1950 in Venedig zu vertreten. Des Weiteren erhielt er den Premio Nacional de Artes Plásticas verliehen. 1951 verwirklichte Rivera im Wasserschacht des Cárcamo del río Lerma im Chapultepec-Park in Mexiko-Stadt ein Unterwasser-Wandgemälde und gestaltete einen Brunnen am Eingang des Gebäudes. Für die Gemälde in dem Becken, in welches das Wasser gepumpt wird, experimentierte er mit Polystyrol in einer Gummilösung, um das Gemälde unter der Wasseroberfläche zu ermöglichen. 1951 und 1952 arbeitete Rivera zudem am Stadion der Universidad Nacional Autónoma de México, wo er in einem Mosaik die Geschichte des Sports in Mexiko darstellen sollte. Von diesem Kunstwerk stellte er jedoch nur das Mittelstück des Frontbildes fertig, da es keine ausreichende Finanzierung gab.
Rivera malte 1952 eine transportable Wandtafel für die in Europa geplante Ausstellung Zwanzig Jahrhunderte mexikanische Kunst. Seine Porträts von Stalin und Mao in diesem Werk führten zum Ausschluss seiner Arbeit. Insgesamt wandte sich Rivera gegen die zunehmend am westlichen Kapitalismus orientierte Politik, die unter der Präsidentschaft Alemans eingesetzt hatte. Ab 1946 bewarb sich Rivera wiederholt vergeblich um die Wiederaufnahme in die Kommunistische Partei, während Frida Kahlo 1949 wieder in die Partei aufgenommen wurde. 1954 nahmen die beiden in Guatemala an einer Unterstützungskundgebung für die Regierung des demokratische gewählten Präsidenten Jacobo Árbenz Guzmán teil. Es war der letzte öffentliche Auftritt Frida Kahlos, die am 13. Juli 1954 starb. Rivera willigte ein, dass bei ihrer Totenwache im Palacio de Bellas Artes die kommunistische Fahne über ihren Sarg gelegt werden durfte. Im Gegenzug nahm ihn die Kommunistische Partei Mexikos wieder als Mitglied auf.
Daraufhin malte Rivera das Tempera-Bild Gloriosa Victoria (Glorreicher Sieg) zum vom CIA initiierten Putsch gegen Präsident. Auf dem Bild sind in karikierender Weise die Anstifter und Förderer des Putsches wie John Foster Dulles, Allen Dulles und der Erzbischof von Guatemala sowie auf einer Bombe das Gesicht Präsident Eisenhowers dargestellt. Ebenfalls im Bild sind die Opfer der Massaker und die Gefangenen des Regimes zu sehen. Rivera schenkte das Bild Russland; es wurde durch verschiedene kommunistische Länder geschickt und galt dann lange als verschollen. Im Jahr 2000 wurde es im Keller des Puschkin-Museums lokalisiert und war seitdem wieder auf Ausstellungen zu sehen, unter anderem 2010 erstmals in Guatemala.
Riveras Alter und Gesundheitszustand erschwerten die Arbeit an monumentalen Wandgemälden, so dass in seinen letzten Lebensjahren das Tafelbild sein bevorzugtes Medium wurde. Er heiratete am 29. Juli 1955 die Verlegerin Emma Hurtado, die bereits seit 1946 seine Galeristin gewesen war. Er vermachte Frida Kahlos blaues Haus und den Anahuacalli mit seiner darin befindlichen Sammlung präkolumbischer Kunst dem mexikanischen Volk. Der an einem Krebsgeschwür leidende Rivera begab sich 1955 zur ärztlichen Behandlung in die Sowjetunion. Seine Rückreise führte ihn über die Tschechoslowakei und Polen in die DDR, wo er in Ostberlin korrespondierendes Mitglied der Akademie der Künste wurde. Zurück in Mexiko, bezog er das Haus seiner Freundin Dolores Olmedo in Acapulco, wo er sich erholen sollte und eine Reihe von Seestücken anfertigte.
Am 24. November 1957 starb Diego Rivera in seinem Atelier in San Angel Inn an einem Herzinfarkt. Hunderte Mexikaner gewährten ihm das letzte Geleit. Anstatt seine Asche mit der von Frida Kahlo in ihrem blauen Haus zu vereinigen, wurde er in der Rotonda de los Hombres Ilustres im Panteón Civil de Dolores beigesetzt.
Werk
Das Gesamtwerk Diego Riveras umfasst Tafelbilder, Wandgemälde, Mosaike und Zeichnungen. Vor allem die Murales sind ein Schlüssel zum Verständnis seines Werkes und prägten seine Rezeption als bedeutendster und einflussreichster mexikanischer Künstler der Gegenwart. Riveras Werke wurden oft mit dem sozialistischen Realismus verbunden, da sie häufig seinen politischen Standpunkt zum Ausdruck brachten. Tatsächlich gab es jedoch kaum stilistische Berührungspunkte. Riveras Stil und seine Ästhetik, die vor allem in den großen Wandgemälden zum Ausdruck kamen, basierten auf den Fresken der italienischen Renaissance, der kubistischen Vorstellung des Raumes, den klassischen Proportionen, der Darstellung der Bewegung im Futurismus und der präkolumbischen Kunst. Seine Themen waren nicht auf die Beobachtung sozialer Gegebenheiten limitiert, er widmete sich auch komplexen historischen und allegorischen Erzählungen. Dabei entwickelte er ganz eigene Ausdrucksweisen.
Tafelbilder
Die genaue Zahl der Tafelbilder von Diego Rivera ist nicht bekannt. Es tauchen immer wieder neue, bisher unbekannte Werke auf. Sie treten oftmals hinter den Wandgemälden zurück, haben jedoch eine große Bedeutung für die Nachverfolgung der künstlerischen Entwicklung Riveras und als Bezugsgröße für seine weiteren Werke. In den Werken der Ausbildungszeit in Mexiko von 1897 bis 1907 und der Zeit in Europa von 1907 bis 1921 lässt sich die Entwicklung eines Künstlers nachvollziehen, der in kurzer Zeit verschiedenste künstlerische Strömungen und Schulen in seinen Werken adaptierte und weiterentwickelte. Diesen Lernprozess setzte Rivera zeit seines Lebens fort.
In seinen ersten Gemälden strebte Diego Rivera danach, den Geschmack des mexikanischen Bürgertums zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu treffen und somit zum erfolgreichsten Maler Mexikos zu werden. Deshalb malte er vor allem gesellschaftliche Themen, wobei er sich am Stil seines Madrider Lehrers Eduardo Chicharro sowie Ignacio Zulaogas’ orientierte. Er nutzte zudem eine ausgreifende Symbolik mit dekadentistischen Motiven aus den von ihm bereisten Landschaften Flanderns.
Kubistische Werke
In Paris hatte Rivera während seines ersten Europaaufenthaltes Kontakt zum Post-Impressionismus gefunden, der zur Referenz für die moderne Malerei geworden war, weshalb er nach kurzem Aufenthalt in Mexiko 1911 in diese Stadt zurückkehrte. Bei seinem zweiten Aufenthalt in Paris schuf er rund 200 kubistische Werke und gehörte zeitweise der Gruppe der Kubisten an, bis er im Streit mit dieser Stilrichtung brach. Zum Kubismus gelangte Diego Rivera über das Studium der manieristischen Malerei und der Landschaftsgemälde El Grecos. Zudem zeigte ihm Ángel Zárraga die kompositorischen und optischen Verzerrungen der Moderne. In der Folge schuf Rivera einige präkubistische Werke, ehe er von 1913 bis 1918 tatsächlich kubistisch malte, wobei er nicht nur die geometrische Erscheinungsform adaptierte, sondern sich des revolutionären Gehalts des Kubismus für die Gestaltung von Zeit und Raum bewusst war. Rivera folgte nicht bloß den Theorien von Georges Braque und Pablo Picasso, sondern entwickelte seinen eigenen Standpunkt. Eines der für Riveras Kubismus typischen Werke ist Matrosen beim Frühstück aus dem Jahr 1914. Bei dem Gemälde wandte Diego Rivera eine Art Kompositionsgitter an, mit dem er versuchte, Simultanität zu erzeugen. Das Bild zeigt einen Mann, dessen blau-weiß gestreiftes Hemd und die Pomponmütze mit dem Wort Patrie ihn als französischen Matrosen ausweisen. Er sitzt hinter einem Tisch und ist in das Kompositionsgitter eingebunden. In der Verwendung dieser Kompositionsmethode folgte Diego Rivera Juan Gris, der in jedem Feld einen anderen Gegenstand in einer konsequent beibehaltenen Perspektive gestaltete, wie dies Rivera hier mit dem Glas und den Fischen tat.
Ein weiteres herausragendes Werk der kubistischen Phase Riveras ist Zapatistische Landschaft – Der Guerrillero, in dem der Künstler seine Sympathie für die revolutionären Entwicklungen in seiner Heimat und seine Bewunderung für Emiliano Zapata zum Ausdruck brachte. Dieses ikonographische Porträt des Revolutionsführers mit seinen auf die Mexikanische Revolution verweisenden Symbolen wie Hut der Zapatisten, Sarape, Gewehr und Patronengurt wurden von einigen orthodoxen Vertretern des Kubismus als zu freizügig angesehen. Der daraus resultierende Streit führte zu Riveras Abkehr vom Kubismus. Er wandte sich einer von Paul Cézanne inspirierten Landschaftsmalerei zu und schuf 1918 die Gemälde Der Mathematiker und Stillleben mit Blumen, die an die akademische Malerei anknüpften.
Bildnisse und Selbstbildnisse
Die überwiegende Mehrheit der Tafelbilder Riveras sind Porträts. In diesen ging er über die einfache Darstellung der Person hinaus und erweiterte dieses klassische Genre durch psychologische und symbolische Bezüge auf die dargestellte Person. Eines der Werke, das beispielhaft für diese Gattung in Riveras Werk steht, ist das Porträt von Lupe Marín aus dem Jahr 1938. Es zeigt Guadalupe Marín, die Rivera schon zuvor in Gemälden und Wandbildern verewigt hatte. Das Gemälde zeigt das Modell zentral in der Komposition auf einem Stuhl sitzend. Ihr Rücken spiegelt sich in einem Spiegel. Farblich dominieren Brauntöne und das Weiß ihres Kleides. Rivera bezieht sich in seiner Darstellung auf verschiedene künstlerische Vorbilder. So sind die übertriebenen Proportionen und Pose bei El Greco entlehnt, die Spiegelung verweist auf Velázquez, Manet und Ingres. Die komplexe Struktur der Komposition zeigt hingegen mit ihren sich überschneidenden und miteinander verbundenen Ebenen und Achsen Parallelen zu Paul Cézanne. In diesem Porträt nahm Diego Rivera aber auch direkten Bezug auf sein Fresko in der Escuela Nacional Preparatoria, wo er das Modell als Tlazolteotl, die Göttin der Reinigung, darstellte. In seinem Porträt von Marín verweist Rivera auf die bekannteste Darstellung dieser Göttin, die sich in Washington D.C. in der Dumbarton-Oaks-Sammlung befindet und sie beim Gebären eines Menschen zeigt. Der Gesichtsausdruck Maríns ist deutlich dieser Statue entlehnt.
Das Spiegelmotiv verwandte Rivera auch im Bildnis Ruth Rivera aus dem Jahr 1949. Es zeigt seine Tochter in Rückenansicht mit dem Betrachter zugewandtem Gesicht. Sie hält einen Spiegel, der ihr Gesicht im Profil zeigt und dabei in sonnigem Gelb umrahmt, trägt Riemensandalen und eine weiße Tunika, womit sie an eine Figur des klassischen Altertums erinnert. Diese Darstellung von Familienangehörigen und Bezugspersonen wie bei seiner Tochter Ruth oder Lupe Marín bildete in Diego Riveras Werk dennoch die Ausnahme. Die meisten Porträts waren Auftragsarbeiten wie etwa das Bildnis Natasha Zakólkowa Gelman aus dem Jahr 1946. Es zeigt die Frau des Filmproduzenten Jacques Gelman in einem weißen Abendkleid auf einer Couch. Hinter ihrem Oberkörper und Haupt und parallel zu ihrem Unterkörper sind weiße Calla drapiert. Die Körperposition der Dargestellten verweist auf die Form der Blume, während die Blume umgekehrt auf das Wesen der vornehmen Frau verweisen soll. In anderen Porträts verwandte Rivera Kleidung, die in ihrer Farbigkeit auf Mexiko anspielte. Neben diesen Auftragsarbeiten fertigte er aber auch zahlreiche Bildnisse von indianischen Kindern an wie etwa Die Söhne meines Gevatters (Bildnis von Modesto und Jesús Sánchez) aus dem Jahr 1930. Diese Gemälde waren vor allem bei Touristen als Andenken beliebt.
Während seines ganzen Schaffens malte Diego Rivera zahlreiche Selbstporträts. Diese zeigten ihn meist als Bruststück, Schulterstück oder Kopfbild. Sein Hauptinteresse galt seinem Gesicht, während der Hintergrund meist nur einfach ausgeführt wurde. Im Gegensatz zu den Auftragsporträts, bei denen er die Dargestellten idealisierte, stellte sich Rivera in seinen Selbstporträts äußerst realistisch dar. Er war sich bewusst, dass er vor allem mit zunehmendem Alter nicht dem Schönheitsideal entsprach. In dem Bild Der Zahn der Zeit aus dem Jahr 1949 präsentierte sich Rivera als graubehaarter Mann mit von Falten zerfurchtem Gesicht. Im Hintergrund des Bildes zeigte er verschiedene Szenen aus seinem Leben. In Karikaturen stellte sich Diego Rivera mehrmals als Frosch oder Kröte dar. Diese verwandte er auch als Attribut in einigen seiner Porträts.
Mexiko
Ein weiteres zentrales Thema von Riveras Gemälden war Mexiko. Bereits während seiner Ausbildungszeit malte Diego Rivera durch seinen Lehrer José María Velasco angeregt etwa die Landschaft Die Tenne von 1904. Sie zeigt einen Bauern und einen von Pferden gezogenen Pflug im zentralen Vordergrund. Am rechten Bildrand befindet sich eine Scheune, nach links und in den Hintergrund öffnet sich das Bild durch ein Tor hin in die Landschaft, die im Hintergrund an dem Vulkan Popocatépetl endet. Velasco folgend bemühte sich Rivera darum, die typische Farbigkeit der mexikanischen Landschaft in dem Bild darzustellen. Auch die Verwendung des Lichts geht auf den Lehrer zurück.
Ein Motiv, das mehrfach im Werk Riveras auftauchte, sind Blumenverkäufer, die er ab 1925 malte und die beim Publikum erfolgreich waren. Die Blumen waren keine dekorativen Elemente, sondern wiesen eine emblematische Bedeutung auf. Diego Rivera kannte die Blumensymbolik aus der Zeit vor den Eroberungen durch die Spanier. Mit einem Gemälde, das Verkäufer von Calla zeigt, erreichte Rivera 1925 auf einer panamerikanischen Ausstellung in Los Angeles einen Akquisitionspreis, das Gemälde wurde vom Los Angeles County Museum of Art erworben. Es zeigte eine religiöse Feier am Kanal von Santa Anita, der zu dem verschwundenen Kanalnetz in und um Mexiko-Stadt gehörte. Darüber hinaus stellte Rivera auf seinen Tafeln Gebräuche dar wie in der Serie Weihnachtsbräuche aus den Jahren 1953 und 1954. Die zweite Tafel trägt den Titel Die Kinder bitten um Unterkunft (Los niños pidiendo posada). Es zeigt indianische Kinder und deren Eltern mit Kerzen bei einem nächtlichen Umzug. Im Hintergrund befindet sich eine Wasserfläche, in der sich der Mond spiegelt und an deren vorderer Grenze Maria und Josef mit dem Esel auf der Reise nach Bethlehem zu sehen sind. Damit widmete sich Diego Rivera dem Thema der Volksfrömmigkeit.
1956 fertigte Diego Rivera während eines Erholungsaufenthaltes an der Küste eine Serie kleinformatiger Seestücke unter dem Titel Abenddämmerung in Acapulco an. Rivera malte die Sonnenuntergänge in leuchtenden, emotionsgeladenen Farben. Diese Farbexperimente stellten eine Ausnahme in Riveras Gesamtwerk dar. Das Meer in diesen Seestücken ist friedlich. Die Bilder stehen für Diego Riveras Bedürfnis nach Harmonie und Frieden am Ende seines Lebens.
Murales
Der mexikanische Muralismo zwischen 1921 und 1974 war der erste eigenständige amerikanische Beitrag zur Kunst des 20. Jahrhunderts. Diego Rivera war nicht der erste Maler von Murales und auch keine unbestrittene Leitfigur oder der wichtigste Theoretiker der Muralisten, er war aber neben David Alfaro Siqueiros und José Clemente Orozco unbestritten einer der wichtigsten Vertreter dieser Gruppe. Seine Wandbilder nehmen auch eine herausgehobene Stellung in Diego Riveras Werk ein und zogen mehr Aufmerksamkeit auf sich als seine Tafelbilder, Zeichnungen und Illustrationen. Nach der Rückkehr aus Frankreich im Jahr 1921 wandte sich Diego Rivera, der noch unter dem Eindruck der Fresken stand, die er zuvor in Italien gesehen hatte, der Wandmalerei zu, die vom Bildungsminister José Vasconcelos als Mittel zur Verbreitung der Ideale der Revolution und zur Bildung des Volkes verstanden wurde. Sein erstes Wandgemälde fertigte er ab Januar 1922 im Amphitheater Bolívar der Escuela Nacional Preparatoria, es war Prüfstein und Auftakt für seine Karriere als Muralist und des Muralismo überhaupt. Für Rivera folgten große und prestigeträchtige Aufträge im Secretaría de Educación Pública, im Palacio Nacional und dem Palacio de Bellas Artes. Er fertigte zudem einige Murales in den Vereinigten Staaten an.
Eines der Hauptmotive, das sich durch die Wandmalereiprojekte im Laufe von Riveras Karriere zieht, ist die Schöpfung. Zudem thematisierte er oftmals seinen politischen Standpunkt, verewigte kommunistische Ideen und Persönlichkeiten, zum Teil drückte er auch die Idee des Panamerikanismus aus. In einer Vielzahl von Darstellungen thematisierte er die mexikanische Geschichte, vor allem mit Blick auf ihre präkolumbische Periode. Zu Beginn seiner Tätigkeit als Wandmaler zeigte sich Diego Rivera noch von der europäischen Kunst stark beeinflusst. Mit der Zeit entwickelte er aber zunehmend seinen eigenen Stil, in den er mexikanische Elemente aufnahm.
Escuela Nacional Preparatoria
Sein erstes Wandgemälde fertigte Diego Rivera in der Escuela Nacional Preparatoria an. Dort befindet sich im Simón-Bolívar-Auditorium das Bild Die Schöpfung. Das Werk blieb aus Sicht des Künstlers unvollendet. Statt der Ausmalung der einzelnen Wand hatte Rivera ursprünglich die Ausgestaltung des gesamten Festsaals mit der Arbeit Die grundlegende Geschichte der Menschheit geplant. Erste Ideen für dieses Kunstwerk entstanden schon früh. Nach der Eröffnung des neuen Festsaals im September 1910 kam die Idee für ein Wandgemälde auf, für dessen Ausführung auch Rivera in Betracht gezogen wurde, dessen Planungen jedoch aufgrund des Verlaufs der mexikanischen Revolution nicht weiter betrieben wurden. Rivera besuchte den Raum wahrscheinlich Ende 1910, während seines zweiten Europaaufenthaltes besaß er Blaupausen der Aula.
Die erste Skizze für dieses Wandbildprojekt entstand noch während Riveras Aufenthalt in Italien. Auf ihr ist ein Verweis auf Perugia vermerkt. Dort konnte er in der Kirche San Severo ein zweiteiliges Fresko sehen, dessen oberer Teil von Raffael und dessen unterer Teil von Perugino gemalt worden war. Die jeweils vertikal dreigeteilten Bilder haben Riveras Wandgemälde in Form und Komposition beeinflusst. Im Ersten Segment zeigte Raffael den Heiligen Geist als Schöpfungsenergie, während Rivera eine kosmische Kraft darstellte. Im mittleren Segment zeigte Raffael Christus als Ecce homo, Rivera den ersten Menschen. Im letzten Segment verweist der mexikanische Künstler in der Gestaltung der Figuren auf Perugino. Sowohl das Fresko in Perugino als auch das Wandgemälde Riveras weisen in der Mitte eine Öffnung auf. Erstere diente als Aufstellungsort einer Heiligenfigur, während in der Aula in ihr eine Orgel aufgestellt wurde. Der Entwurf Riveras basierte auf geometrischen Grundformen und folgte dem Goldenen Schnitt.
Im November 1921 begann Diego Rivera mit den Entwürfen für das 109,64 Quadratmeter große Wandgemälde, das er 1923 vollendete. Er verband in ihm mexikanische und europäische Elemente gemäß seinem Anspruch, die mexikanische Tradition in die moderne Kunst des 20. Jahrhunderts zu überführen. So zeigte er etwa einen typisch mexikanischen Wald mit einem Reiher und einem Ozelot, während er den Figuren den Körperbau und die Hautfarbe der Mestizen verlieh. Die Nische wird von einer großen männlichen Figur mit ausgebreiteten Armen bestimmt. Auf der Bildachse über ihr liegt ein blauer Halbkreis, der von einem Regenbogen und drei Handpaaren umgeben ist, die den Menschen erschaffen und die Urenergie austeilen. In den Figuren, abgesehen von den beiden Figuren des Urpaares am linken und rechten unteren Bildrand, sind die menschlichen Tugenden und Fähigkeiten dargestellt. Der Halbkreis in der oberen Bildmitte ist in vier gleichseitige Dreiecke gegliedert, in denen durch Sterne Zahlen angegeben sind: Im ersten Dreieck ist es die Drei, im zweiten die Vier, im dritten die Zehn und im vierten die Zwei. Dies verweist auf die Zahlensymbolik der Pythagoreer, deren besonderer Stellenwert der Zahl Zehn das dritte Dreieck in seiner Bedeutung hervorhebt. Das erste und das vierte Dreieck verweisen auf das Urpaar, das durch die nackte Frau auf der linken und den nackten Mann auf der rechten Wandseite verkörpert wird. Die Anzahl der Sterne beider Dreiecke entspricht der Fünf, die ebenfalls Teil der pythagoreischen Zahlenmystik war. Die vier Sterne des zweiten Dreiecks verweisen auf die vier mathemata, Geometrie, Arithmetik, Astronomie und Musikwissenschaft. Die Vier wiederholt sich auch in den Händepaaren, von denen drei den Kreis umgeben und eines zu der großen Figur gehört, die die Menschheit als Ganzes repräsentiert. Diese von Rivera verwandte Symbolik verweist auf die Bildung und das Streben nach Tugend, die in diesem Bild propagiert werden sollten.
Für sein Fresko verwendete Rivera die Technik der Enkaustik. Dabei zeichnete er auf dem trockenen Putz vor und trug die Farbpigmente in Wachs gelöst auf. Diese wurden anschließend mit einem Schweißbrenner eingebrannt.
Secretaría de Educación Pública
Diego Rivera erhielt im März 1922 von José Vasconcelos den Auftrag, gemeinsam mit einer Gruppe von jungen Malern die drei Arkadengeschosse der beiden Innenhöfe in der Secretaría de Educación Pública auszumalen, während andere Künstler die Innenräume des Ministeriums ausgestalten sollten. Die beiden Höfe werden nach der thematischen Ausgestaltung durch Riveras Wandbildzyklen als Hof der Arbeit und Hof der Feste bezeichnet und bilden zusammen das Werk Politisches Traumbild des Mexikanischen Volkes. Die Arbeiten Riveras dauerten von 1923 bis 1928 an, das Projekt geriet zeitweise ins Stocken, als Vasconcelos das Amt des Bildungsministers infolge politischer Auseinandersetzungen aufgab. Die Arbeit war ein politisches Kunstwerk. In den Jahren der Entstehung der Gemälde veränderte sich sowohl die Politik Mexikos als auch die politische Position des Künstlers stark. Zu Beginn der Arbeit war Rivera führendes Mitglied der Kommunistischen Partei Mexikos, zum Ende der Arbeiten war er Josef Stalin gegenüber kritisch eingestellt und stieß selbst in der Partei auf immer stärkere Kritik. Ein Jahr nach der Fertigstellung wurde Rivera sogar aus ihr ausgeschlossen. Politisch konnten sich die siegreichen revolutionären Kräfte zu Beginn der 1920er-Jahre nur unter Schwierigkeiten an der Macht halten und wurden von konservativen Kräften attackiert, die Regierung war mit der Kommunistischen Partei verbündet. Im Laufe der Zeit gelang es der Regierung, sich zu stabilisieren, Ende der 1920er-Jahre waren die Kommunisten beinahe in den Untergrund verdrängt. Die Wandbilder sind ein Kunstwerk, in dem diese Entwicklungen zum Ausdruck kommen. Sie vereinen verschiedenste Elemente miteinander, die als realistisch, revolutionär, klassisch, sozialistisch und nationalistisch bezeichnet werden können. Rivera wandte sich Mexiko als Thema zu und entwickelte seinen eigenen Stil, in den er mexikanische Elemente einfließen ließ.
Für die Ausgestaltung der Höfe des Bildungsministeriums fertigte Diego Rivera mehr als 100 Wandgemälde an. In ihnen stellte er viele, teilweise im Widerspruch stehende Ideen dar. Sie lassen sich unter keinem übergreifenden metaphysischen Thema zusammenfassen, Rivera verhandelte in ihnen Unvereinbares, Widerstände und Unterschiede. Er trat selbst hinter dem Werk zurück, indem er, anstatt sich selbst in den Bildern zu verewigen, abstrahierte und eklektisch europäische Malerei, Film, Politik und Anthropologie aufgriff. Dabei bediente er sich einer sehr direkten Form der Wiedergabe seiner Motive und zeigte das Volk auf seinen tatsächlichen Plätzen, wobei die Embleme der Bedeutung der gezeigten Symbole entsprachen. Im Hof der Arbeit entwickelte Diego Rivera eine Allegorie auf das Verständnis der Elite, im Hof der Feste zeigte er die Menschenmassen.
Die Murales im Hof der Arbeit bilden einen zusammengehörenden Zyklus. Das zentrale Bild dieses Zyklus befindet sich im mittleren Wandfeld des zweiten Obergeschosses. Es handelt sich um das 3,93 Meter hohe und 6,48 Meter breite Fresko Die Brüderschaft (La fraternidad), das das Bündnis von Bauern und Arbeitern unter der Obhut eines Sonnengottes zeigt. Die Gottheit, bei der es sich um Apollon handelt, breitet ihre Arme kreuzförmig über den beiden Männern in einer Höhle aus. Diese beiden stehen für die Arbeiter und Bauern als Träger der Revolution. Dieser Bund ist die bolschewistische Idealvorstellung, wenn er auch in Mexiko unter anderen Vorzeichen stand, da Hauptträger der Revolution nicht die Arbeiter waren, sondern diese von den Bauern ausging. Er symbolisiert aber auch die Verbindung von Mann und Frau, die zudem in den Attributen Hammer und Sichel, die auf Demeter und Hephaistos verweisen, zum Ausdruck kommt. Neben Apollon befinden sich rechts die drei Apotheose Der Erhalter, Der Verkünder und Der Verteiler, die sich auf der gegenüberliegenden Wand wiederholen. Es handelt sich um eine allegorische Darstellung der Eucharistie. Damit integrierte Rivera religiöse Symbolik in den Symbolkanon eines säkularen Staates. Es klingt zudem Platons Höhlengleichnis an. Riveras Idealismus kommt in der Gestalt des Apollon zum Ausdruck, denn statt in Martyrium oder Passion liegt die Erlösung in der rationalen, reinen und strahlenden männlichen Figur. Weitere Motive im Hof der Arbeit sind etwa Die Befreiung des unfreien Arbeiters (La liberación del péon) und Die Lehrerin auf dem Land (La maestra rural), die von der Supraporte Landschaft (Paisaje) überkrönt werden, oder verschiedene Tätigkeitsdarstellungen wie Die Gießerei (La fundición), Der Bergbau (La minería), Töpfer (Alfareros), Eingang in die Mine (Entrada a la mina) und Die Zuckerrohrfabrik (La zafara). Zudem gibt es einige Grisaille, die vor allem im Zwischengeschoss angefertigt wurden und esoterische Bedeutungen aufweisen.
Der Hof der Feste thematisiert das Projekt der Einrichtung eines neuen Kalenders. Im Erdgeschoss befinden sich an der Süd-, der Nord- und der Westwand die zentralen Murales Die Vergabe von Gemeindeweiden, Der Straßenmarkt und Versammlung, die weltliche Feste zeigen. Es handelt sich bei ihnen um große türübergreifende Kompositionen, die seitlichen Wandfelder zeigen dagegen religiöse Feierlichkeiten. Die Bilder zeigen die Masse der Menschen und verweisen auf die Realität, während der Hof der Arbeit auch einen metaphysischen Bezug aufweist. Die Vergabe von Gemeindeweiden bezieht sich auf eine der zentralen Forderungen der mexikanischen Revolution. Rivera setzte die Übergabe des enteigneten Grundbesitzes an die Gemeinde als neuen Sozialvertrag ins Bild. Im Zentrum der Murales leitet ein Beamter mit ausgreifender Geste die Versammlung. Während die Männer auf den Straßen stehen, befinden sich die Frauen auf den Hausdächern. Zudem werden auch Verstorbene dargestellt wie etwa Emiliano Zapata, der auf einem Pferd am rechten Bildrand sitzt. In der Darstellungsweise erinnern Diego Riveras Murales an die Darstellungen von Engelschören in der Renaissance wie etwa in Gemälden von Fra Angelico. Diese streng geordnete Komposition spiegelt die starke Ritualisierung der Dorfpolitik wider. Mit Versammlung fertigte Rivera ein doktrinäres Fresko an, in dem er bewusst mit Links und Rechts als Ordnungsprinzip arbeitete. Auf der linken Seite, im Bolschewismus der Seite der fortschrittlichen und revolutionären Klasse, zeigte der Maler die Arbeiter in Gestalt zweier verletzter Figuren, die Kinder unterrichten. Der Arbeiterführer mit erhobener Faust spricht zu den Arbeitern auf der linken Wandhälfte. Auf der rechten Seite werden die Menschen verschattet gezeigt, während sie auf der linken Seite im Licht liegen. Durch diese Lichtführung demonstrierte Rivera den Unterschied zwischen Links und Rechts. Am rechten Bildrand im Vordergrund befinden sich mit Zapta und Felipe Carillo Puerto, dem Gouverneur von Yucatán, zwei der getöteten Helden der Revolution. Der Straßenmarkt setzt den Versuch der Regierung ins Bild, die Landwirtschaft zu stärken und den Volkshandel aus der Zeit vor dem Kapitalismus wiederzubeleben. Rivera bemühte sich in diesem Wandbild nicht so sehr um kompositorische Ordnung, sondern ließ die Vielzahl der Menschen wellenmäßig auftreten und zeigte bewusst das Durcheinander auf dem Marktplatz. Dieses große Wandgemälde knüpft im Gegensatz zu den beiden ersteren an alte Traditionen an, statt mit ihnen zu brechen. Darüber hinaus wurden im Hof weitere Feste und Ereignisse mit Bezug zum Verlauf des Jahres abgebildet wie etwa Tag der Toten, Das Maisfest und Die Ernte. Im ersten Obergeschoss malte Rivera die Wappen der Bundesstaaten, im zweiten Obergeschoss die Ballade von der bäuerlichen Revolution. In einem der zentralen Fresken dieses Zyklus, Im Arsenal (en el arsenal) bildete Rivera die junge Frida Kahlo ab, die er kurz zuvor kennengelernt hatte, wie sie Gewehre an die revoltierenden Arbeiter ausgibt.
Die Murales im Bildungsministerium sollten die neue Realität nach der Revolution darstellen. Infolge der Umwälzungen entstand unter Leitung von Manuel Gamio eine umfangreiche interdisziplinäre Studie, die 1921 als Die Bevölkerung des Teotihuacán-Tals veröffentlicht wurde. Sie griff ältere Rassentheorien über die Mestizen auf und verstand die Evolution als Entwicklung hin zum Komplexen, während die Mestizen als Ideal propagiert wurden. Diego Rivera griff auf Photographien aus der Publikation zurück und stellte Schwarze, gedrungene Bauern und Arbeiter mit spitzen und stumpfen Nasen dar, die weiß gekleidet waren. Damit verlieh er den Untersuchungen und Theorien, die in Die Bevölkerung des Teotihuacán-Tals verbreitet wurden, soziale Legitimität.
Palacio Nacional
Diego Riveras Hauptwerk des Muralismus sind die Wandgemälde im Palacio Nacional, dem Parlamentsgebäude und Regierungssitz Mexikos. Zwischen 1929 und 1935 malte er das Epos des mexikanischen Volkes im Haupttreppenhaus, zwischen 1941 und 1952 folgte Präkoloniales und koloniales Mexiko in einem Gang im ersten Stock.
Das Epos des mexikanischen Volkes umfasst insgesamt 277 Quadratmeter Wandfläche im zentralen Treppenhaus. Die Nordwand zeigt das Mural Das alte Mexiko, auf der Westwand malte Rivera das Fresko Von der Eroberung bis 1930 und auf der Südwand schloss er den Zyklus mit Mexiko heute und morgen ab. Sie bilden kreisförmig ein homogenes Ganzes. Der erste Abschnitt der Arbeiten im Palacio Nacional wurde von Diego Rivera im Mai 1929 begonnen und dauerte 18 Monate, bis er am 15. Oktober 1930 mit dem Malen der Signatur auf dem Fresko Das alte Mexiko abgeschlossen wurde. Noch während dieser Arbeit skizzierte Rivera die weiteren Wandbilder. Im November des Jahres reiste er in die Vereinigten Staaten und ließ das Wandbild unvollendet zurück. Im Juni 1931 kehrte Diego Rivera nach Mexiko-Stadt zurück, um die Hauptwand auszumalen. An ihr arbeitete er die fünf Monate vom 9. Juni bis zum 10. November 1931, bevor er erneut in den USA zum Malen reiste. Seinen Freskenzyklus im Treppenhaus des Palacio Nacional schloss Rivera mit dem zwischen November 1934 und 20. November 1935 gemalten Mexiko heute und morgen ab. Mit der Signatur dieses Freskos wurde der 25. Jahrestag der mexikanischen Revolution zelebriert.
Im Zentrum der Komposition des Freskos Das alte Mexiko befindet sich Quetzalcoatl vor der Sonnen- und Mondpyramide von Teotihuacán, womit der Herr der mesoamerikanischen Kulturen und die größte präkolumbische Metropole in das Bild integriert sind. Die Vulkane verweisen auf das Anáhuac-Tal, von dem aus die Tolteken ihre Herrschaft etabliert hatten. Aus dem Vulkan in der linken oberen Bildecke steigt die gefiederte Schlange als tierische Verkörperung des Quetzalcoatl auf. Sie wiederholt sich in der rechten oberen Bildhälfte, wo sie ihre menschliche Entsprechung trägt. In der rechten Bildhälfte stellte Diego Rivera handwerkliche und landwirtschaftliche Tätigkeiten dar, in der linken Hälfte zeigte er einen Krieger auf einer Pyramide, dem Tribut dargebracht wird. In der linken unteren Ecke ist eine kriegerische Auseinandersetzung zwischen aztekischen Kriegern und den von ihnen beherrschten Völkern zu sehen.
Von der Eroberung bis 1930 zeichnet die Geschichte nach der Eroberung in Episoden nach, die ineinander übergehen. Das Fresko gliedert sich in drei horizontale Zonen. Die untere zeigt die Spanische Eroberung Mexikos, die mittlere Episoden der Kolonisation und die obere, in den Bogenfeldern, die Interventionen des 19. Jahrhunderts sowie verschiedene Akteure der Politik und Geschichte Mexikos des späten 19. Jahrhunderts und der mexikanischen Revolution. In der unteren Mitte des Freskos malte Rivera eine Kampfszene zwischen Spaniern und Azteken, wobei die zentrale Figur Hernán Cortés auf einem Pferd sitzt. Von der rechten Seite feuern spanische Soldaten mit Musketen und einer Kanone, womit Rivera ihre technologische Überlegenheit herausstellte. In der mittleren Bildzone wird die koloniale Periode dargestellt, so dass etwa die Zerstörung der indianischen Kultur und die Christianisierung durch die Darstellung von Geistlichen und Cortéz mit seiner indianischen Frau Malinche gezeigt werden. In der Mitte dieser Zone wird die mexikanische Unabhängigkeit ins Bild gesetzt. In der oberen Zone ist rechts die amerikanische Intervention der Jahre 1846 bis 1848 und die französische Intervention in Mexiko von 1861 bis 1867 zu sehen. In den drei mittleren Bögen sind zahlreiche historische Persönlichkeiten der Regierungszeit von Porfirio Díaz und der mexikanischen Revolution dargestellt. Zentral in der Mitte des Freskos ist das Wappentier Mexikos, der Adler, auf der Opuntie dargestellt, wobei er hier anstelle des Kaktus indianische Feldzeichen in den Krallen hält.
Der Zyklus im Treppenhaus des Regierungssitzes wurde von Diego Rivera mit dem Fresko Mexiko heute und morgen abgeschlossen. In ihm widmete er sich der nachrevolutionären Situation und gab einen utopischen Ausblick. Am rechten Bildrand ist der Kampf der Arbeiter mit den konservativen Kräften dargestellt, wobei Rivera auch einen erhängten Arbeiter und Bauern zeigte. In der rechten oberen Bildecke agitiert ein Arbeiter und ruft zum Kampf auf. Zentral im Fresko sind kastenförmige Raumstrukturen gesetzt, in denen etwa Kapitalisten um einen Börsenticker, Präsident Plutarco Elías Calles mit bösen Beratern und die Kirche im Zustand der Ausschweifung gezeigt sind. Im Bildvordergrund malte Rivera seine Frau Frida Kahlo und deren Schwester Cristina als Dorflehrerinnen und in Richtung des linken Bildrandes Arbeiter. Die zentrale Figur am oberen mittleren Bildrand ist Karl Marx, der ein Blatt mit einem Auszug aus dem Kommunistischen Manifest hält und mit seinem rechten Arm auf die linke obere Bildecke zeigt, wo Rivera die Utopie einer sozialistischen Zukunft malte.
Zwischen 1941 und 1952 malte Diego Rivera in einem Gang in der ersten Etage des Regierungspalastes den Zyklus Präkoloniales und koloniales Mexiko. Die Fresken umfassen insgesamt 198,92 Quadratmeter. Ursprünglich waren 31 transportable Fresken geplant, die auf den vier Seiten des Innenhofes angebracht werden sollten. Letztendlich fertigte Rivera nur elf Fresken an und unterbrach das Projekt mehrfach. Ihr Thema ist eine synthetische Darstellung der Geschichte Mexikos von der präkolumbischen Zeit bis zur Verfassung von 1917. Der Bezug zu den indigenen Kulturen Mexikos, ihren Bräuchen, Aktivitäten, Kunst und Produkten zielte auf die Konsolidierung der nationalen Identität. Als Darstellungsform wählte Rivera bunte und Grisaille-Fresken. Das große Fresko Das große Tenochtitlan (Blick vom Markt von Tlatelolco) zeigt Diego Riveras Vision der alten Hauptstadt der Azteken, Tenochtitlan. Vor dem Panorama der städtischen Architektur um den Templo Mayor sind die Marktaktivitäten wie der Tierhandel, der Handel mit Lebensmitteln und Handwerksprodukten sowie Repräsentanten der verschiedenen Gesellschaftsschichten wie Händler, Beamte, Medizinmänner, Krieger und Kurtisanen abgebildet. In weiteren Wandfeldern sind etwa der Ackerbau mit den Europäern unbekannten Feldpflanzen und einzelne Handwerksaktivitäten dargestellt. Ein weiteres großes Fresko zeigt Feste und Zeremonien der Totonaken und der Kultur von El Tajín wie die Verehrung der Göttin Chicomecoatl. Im Vordergrund ist zu sehen, wie Besucher der Stätte Opfer darbringen. Im letzten Fresko dieses Zyklus widmete sich Rivera der spanischen Eroberung Mexikos und der Kolonialzeit. Er wollte vor allem die Unterwerfung und Ausbeutung der Indianer zeigen und stellte Hernán Cortés in grotesker Weise dar. In diesem letzten Fresko des letztendlich unvollendet gebliebenen Projekts wird deutlich, dass Diego Rivera der idealisierten Pracht der präkolumbischen Zeit sein negatives Urteil über die Konquista und Konquistadoren gegenüberstellen wollte.
Detroit Institute of Arts
Diego Riveras herausragendes Werk aus seiner Zeit in den Vereinigten Staaten sind seine Murales im Detroit Institute of Arts. Sie gelten als das beste Werk der mexikanischen Muralisten in den USA. Das Thema dieser Fresken war die Industrie Detroits. Die Fresken umfassen 433,68 Quadratmeter und haben verschiedene Titel erhalten wie Detroit Industry, Dynamic Detroit und Man and Machine. Rivera besuchte den Ford River Rouge Complex in Dearborn, eine Fabrikanlage, in der die komplette Automobilfertigung erfolgte. Er kam in Detroit an, als sich die Autoindustrie in Michigan in der Krise befand, bildete diese jedoch nicht in seinen Werken ab, sondern erzählte eine Entwicklung der Industrie und verherrlichte den technischen Fortschritt. Während seiner etwa einen Monat dauernden Erkundungen des Ford-Werkes fertigte er zahlreiche Skizzen an. Zudem wurden er und Frida Kahlo von William J. Stettler begleitet, der Photographien, die Rivera bei seinen Arbeiten nutzte, und Filmmaterial anfertigte. Neben diesen Eindrücken der Industriearbeit griff Rivera aber auch auf frühere Werke seines Schaffens zurück. Zudem übte die Industrie eine solche Faszination auf ihn aus, dass er anstatt der zwei bestellten Wandflächen den ganzen Hof ausmalen wollte. Dafür erhielt er am 10. Juni 1932 die Zustimmung der zuständigen Kommission. Am 25. Juli des Jahres begann Rivera dann mit den Malerarbeiten.
Im Hof des Detroit Institute of Arts fertigte Rivera einen geschlossenen Zyklus an, in dem er den gesamten Prozess der Automobilproduktion darstellte. Er zeigte die verschiedenen Schritte der Rohstoffverarbeitung und die verschiedenen Tätigkeiten der Arbeiter im Laufe des Tages. Der Zyklus beginnt an der Ostwand des Hofes mit der Darstellung des Ursprungs des Lebens. Dieser wird durch einen menschlichen Fötus symbolisiert. Links und rechts unter ihm sind Pflugscharen als Symbole der menschlichen industriellen Aktivität zu sehen. Auf der Wand sind zudem Frauen mit Getreide und Früchten abgebildet. An der Westwand sind Luft, Wasser und Energie durch Luftfahrtindustrie, Schifffahrt und Elektrizitätsproduktion symbolisiert. Rivera malte die zivile Luftfahrt im Gegensatz zu deren militärischer Nutzung. Diese Gegenüberstellung wurde in den Symbolen der Taube und des Adlers für Frieden und Krieg wieder aufgegriffen. Zudem bezog sich der Maler mit dieser Darstellung auch auf einen Unternehmenszweig von Ford. Die Nordwand und Südwand werden von je zwei Wächterfiguren überkrönt, die die vier in der amerikanischen Arbeiterschaft vertretenen Rassen darstellten und Kohle, Eisen, Kalk und Sand als Bodenschätze in ihren Händen halten. Diese Elemente waren die Grundstoffe der Automobilproduktion. In den beiden Hauptflächen der Nord- und Südwand malte Rivera die Produktion des Ford V-8. Einige der Arbeiter sind Porträts von Ford-Mitarbeitern und Assistenten Riveras.
Die Murales, die Diego Rivera für das Detroit Institute of Arts malte, waren aus verschiedenen Gründen Kritik ausgesetzt. Zum einen kritisierten amerikanische Maler, denen in den Zeiten der Great Depression keine Aufträge erteilt wurden, dass mit Rivera ein Mexikaner einen lukrativen Auftrag erhielt, zum anderen wurde der Inhalt der Fresken kritisiert, der Werbung für Ford machen sollte. Vor allem in Bezug auf letzteren Vorwurf wurde Diego Rivera vom Direktor des Museums verteidigt. Edsel B. Ford wusste bei seiner Zusage der Unterstützung für das Projekt, was Rivera malen würde. Seine Unterstützung und Riveras Besuche in dem Ford-Werk beruhten zudem darauf, dass Ford der einzige Autoindustrielle mit Interesse an moderner Kunst war. Ein weiterer Kritiker war Paul Cret, Architekt des Detroit Institute of Arts, der in der Ausmalung der Wände einen Affront gegen seine Architektur sah. Außerdem stießen einige von Riveras Motiven auf Kritik von kirchlicher und religiöser Seite und wurden etwa als pornographisch bezeichnet. Die Presse kritisierte die Murales, andere Künstler und Kunstverständige wie Museumsdirektoren, an die sich der Direktor gewandt hatte, verteidigten die Bilder. Letztendlich stellte sich Ford hinter den Künstler und das Werk, die Aufnahme der Fresken durch die Arbeiter war positiv und auch der Tenor der nationalen Berichterstattung veränderte sich zum Positiven.
Palacio de Bellas Artes
Diego Riveras Murales Der Mensch am Scheideweg/Der Mensch kontrolliert das Universum (El hombre en el cruce de caminos/El hombre controlador del universo) für das Rockefeller Center, wo das Bild zerstört wurde, und den Palacio de Bellas Artes, wo es letztendlich ausgeführt wurde, behandeln die sozialen, politischen und ökonomischen Fragen Mitte der 1930er-Jahre. Die Komposition des Wandgemäldes ist sehr dicht und auch visuell eng strukturiert. Die zentrale Figur ist ein Arbeiter, dessen Kopf, Schultern, Arme und behandschuhten Hände dort positioniert sind, wo sich zwei große Ellipsen überschneiden. In der einen Ellipse ist ein Teleskopbild der Sonne, des Mondes und eines Sternennebels zu sehen, in der anderen ein Mikroskopbild einer Zelle. Der Arbeiter steuert mit einem Steuerknüppel und einem Schaltpult eine große Maschine, die das Bewässerungssystem der am unteren Bildrand befindlichen Pflanzen kontrolliert, und steigert somit deren Ertrag. Insgesamt steht er dafür, dass der Mensch mit moderner Technik Wissenschaft, Medizin, Industrie und Landwirtschaft beherrscht. Der Arbeiter hat einen finsteren Gesichtsausdruck, womit Rivera darauf verwies, dass eine fundamentale Entscheidung bevorsteht. Rechts und links von ihm sind die beiden Wahlmöglichkeiten durch Elemente dargestellt, die Rivera als typisch für das sowjetische und amerikanische Gesellschaftssystem ansah. In der linken Bildhälfte, rechts vom Arbeiter, sind oben Kriegsszenen mit Kampfflugzeugen, Panzern sowie Gasmasken tragenden Soldaten mit Gewehren und einem Flammenwerfer zu sehen. Darunter zeigte Rivera, wie berittene Polizisten an der Ecke Wall Street und Second Avenue auf demonstrierende Arbeitslose einprügeln. Daneben stellte er den Finanzmagnaten John D. Rockefeller, Jr. zusammen mit spielenden, flirtenden und trinkenden Personen dar. Links vom Arbeiter, auf der rechten Seite des Freskos, ist hingegen zu sehen, wie sich ein Arbeiter und ein Soldat vor Lenin die Hand reichen. Vor dem Kreml und dem Lenin-Mausoleum versammeln sich männliche und weibliche Arbeiter friedlich auf dem Roten Platz. Zudem sind Sportlerinnen bei einem Lauf zu sehen. Die Entscheidung des Arbeiters in der Mitte der Komposition für eine der beiden Optionen ist noch nicht gefallen. Dies machte Diego Rivera deutlich, indem er beiden die gleiche Fläche einräumte.
Ursprünglich sollte dieses Fresko im neu erbauten Rockefeller Center gemalt werden, wo es den Titel Der Mensch am Scheideweg, unsicher, aber hoffnungsvoll schauend und mit der großen Vision auf eine neue und bessere Zukunft tragen sollte. Rivera war neben Henri Matisse und Pablo Picasso zu einem Wettbewerb eingeladen worden, lehnte diesen aber ab. Letztendlich erhielt er dennoch den Auftrag, weil Picasso auf die Einladung gar nicht reagierte und Matisse in der belebten Eingangshalle keinen angemessenen Ort für seine Kunst sah. Der Berater Rockefellers, Hartley Burr Alexander, schlug ein explizit politisches Motiv für das angedachte Wandgemälde vor. Rockefeller verfolgte zwar eine sozialpolitische Linie, die Betriebsräte und den Ausgleich zwischen Industriellen und Arbeitern vorsah, dennoch überraschte die Berufung eines bekanntermaßen kommunistischen Künstlers wie Rivera. Eine Rolle dabei mag die Unterstützung durch Abby Aldrich Rockefeller gewesen sein, die bereits zuvor Kunstwerke von Diego Rivera gesammelt hatte. Hinzu kam seine hohe internationale Reputation und seine Bekanntheit für Wandbilder in Mexiko und den Vereinigten Staaten.
Ende März 1933 traf Diego Rivera in New York ein, um das Fresko zu beginnen. In dieser Zeit hatte sich die politische Lage durch die Politik Franklin D. Roosevelts im Rahmen des New Deal und durch die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler verschärft. Dies veranlasste Rivera dazu, seinen Entwurf zu verändern. Er stellte nun den einzelnen Arbeiter in das Zentrum seiner Komposition und er wählte drastische Bilder, um die Lage in den USA und der Sowjetunion in Kontrast zu stellen. Zudem fügte er das Porträt Lenins ein. Durch diese ideologische Entwicklung des Bildes fühlten sich die Rockefellers in zunehmendem Maße provoziert. Im Dezember 1933 dachte John D. Rockefeller, Jr. darüber nach, das noch unvollendete Fresko in das Museum of Modern Art zu überführen. Diese Idee wurde jedoch verworfen. Schließlich wurde es am 9. Februar 1934 zerstört. Nach der Zerstörung des Freskos in New York bat Rivera die mexikanische Regierung um eine Fläche, wo er dieses Bild erneut malen könnte. Schließlich erhielt er den Auftrag, dies im Palacio de Bellas Artes zu tun. Noch 1934 vollendete Rivera das Fresko.
Beurteilung und Bedeutung
Diego Rivera gilt neben David Alfaro Siqueiros und José Clemente Orozco als bedeutendster Maler der Moderne in Mexiko. Gemeinsam wurden sie als Los Tres Grandes (Die großen Drei) bezeichnet. Rivera wirkte an der Entwicklung einer eigenständigen mexikanischen Kunst nach der Revolution und an der Etablierung des Muralismo mit, des ersten nichteuropäischen Beitrags zur modernen Kunst. Die Wandbilder Riveras nehmen eine herausragende Stellung in der Kunst Mexikos ein. Sie zogen mehr Aufmerksamkeit auf sich als seine Tafelbilder, Zeichnungen und Illustrationen und haben zum Teil die Wertschätzung für sein weiteres, facettenreiches Werk verdrängt und überlagert. Außerhalb Mexikos war Rivera zwar umstritten, er wurde dennoch der meistzitierte hispano-amerikanische Künstler.
Riveras Gesamtwerk entzieht sich der Zuordnung zu einem einheitlichen Stil. Rivera erhielt eine klassische Ausbildung nach europäischem Vorbild in Mexiko, wobei er von einigen seiner Professoren bereits für typisch mexikanische Elemente sensibilisiert wurde. In Europa durchlief seine Tafelmalerei verschiedene Stile in kurzer Zeit. Zeitweise gehörte er zur Gruppe der Kubisten, in der er nicht nur Mitläufer war, sondern eigene theoretische Positionen entwickelte und ohne Scheu vor Konflikten vertrat. Auch in späterer Zeit antizipierte Diego Rivera in seiner Tafelmalerei verschiedene Stilrichtungen, so griff er in zwei Gemälden Mitte der 1930er-Jahre den Surrealismus auf. In seinen Wandgemälden entwickelte Rivera schließlich seinen ganz eigenen Stil, den er auch in seinen Gemälden aufgriff. Er kombinierte die Freskotechnik, die er in Italien studiert hatte, mit indianischen Elementen, kommunistischen und sozialistischen Aussagen und der Geschichtsdarstellung. Damit wirkte er prägend und erreichte Ruhm und Bekanntheit. Der mexikanische Literaturnobelpreisträger Octavio Paz beschrieb Rivera als Materialisten. Er führte aus: „Rivera verehrt und malt vor allem Materie. Und er begreift sie als Mutter: als großen Mutterleib, großen Mund und großes Grab. Als Mutter, als magna mater, die alles verschlingt und gebiert, ist die Materie eine stets ruhende weibliche Gestalt, schläfrig und insgeheim tätig, ständig Leben spendend wie alle großen Fruchtbarkeitsgöttinnen.“ Das Bild der Fruchtbarkeitsgöttin und der Schöpfung griff Diego Rivera direkt in vielen seiner Werke auf. Paz beschrieb weiterhin die Fülle der Bilder Riveras und ihre „aus Gegensätzen und Versöhnungen bestehende Dynamik einer dialektischen Auffassung der Geschichte. Deshalb gleitet Rivera auch in die Illustration ab, wenn er der Geschichte beizukommen versucht.“ Diese Darstellung der Geschichte entspricht laut Paz einer vom Marxismus geprägten Allegorie, die in allen Werken entweder die Kräfte des Fortschritts oder der Reaktion oder aber beide im Gegensatz zueinander zeige.
Bereits zu Lebzeiten bildeten sich um Rivera zahlreiche Mythen, was auf seine aktive Teilnahme am Zeitgeschehen, seine Freundschaften und Auseinandersetzungen mit herausragenden Persönlichkeiten aus Kultur und Politik und nicht zuletzt auf seinen Beziehungen zu Frauen und vor allem auf der Ehe mit Frida Kahlo beruhte. An dieser Mythenbildung wirkte Diego Rivera selbst aktiv mit. Er stellte sich in seinen Erinnerungen als frühreif, von exotischer Herkunft, Rebell und Visionär dar. Diese Selbstdarstellung wurde durch verschiedene Biographien weiterverbreitet. Rivera konnte dabei selbst zum Teil Phantasie und Realität nur schwer unterscheiden, seine Realität war jedoch wesentlich unspektakulärer. Seine Biographin Gladys March schrieb: „Rivera, der später in seiner Arbeit die mexikanische Geschichte zu einem der großen Mythen unseres Jahrhunderts machen sollte, war nicht fähig, seine ungeheure Phantasie zu zügeln, während er mir sein eigenes Leben schilderte. Gewisse Ereignisse, insbesondere aus seinen ersten Jahren, hatte er in Legenden verwandelt.“ Rivera war sich seines Erfolges und seines Talentes stets bewusst und sich sicher, eine bedeutende Position in der Kunstgeschichte einzunehmen.
Ausstellungen
Diego Rivera stellte während seiner ersten Karrierephase in Europa mehrmals in Gruppenausstellungen gemeinsam mit weiteren wichtigen und berühmten Künstlern wie Pablo Picasso, Paul Cézanne und Juan Gris etwa 1915 in Madrid und 1916 in New York aus. Vom 2. September bis zum 21. Oktober 1916 hatte Rivera zudem mit Exhibition of Paintings by Diego Rivera and Mexican Pre-conquest Art seine erste Einzelausstellung. 1923 waren Werke Riveras Teil der Jahresausstellung der Gesellschaft unabhängiger Künstler in New York. In Berlin erschien 1928 die erste Monografie, die sich mit den Murales Diego Riveras beschäftigte. Am 18. Januar dieses Jahres zeigte die New Yorker Galerie Arts Center, organisiert von Francis Flynn Paine, eine Sammelausstellung mit Gemälden Diego Riveras. Die Schirmherrschaft für diese Ausstellung wurde von der Familie Rockefeller und dem mexikanischen Staat übernommen.
1929 folgte die erste Monographie über Riveras Fresken in den Vereinigten Staaten. Das Buch mit dem Titel The frescos of Diego Rivera wurde von Ernestine Evans verfasst. Zudem erhielt er auf Betreiben von William Spratling vom American Institute of Architects die Fine Arts Medal für seinen künstlerischen Beitrag zur Architektur verliehen. Im folgenden Jahr war ein transportables Wandgemälde Riveras in der von Rene d’Harnoncourt kuratierten Ausstellung Mexican Arts zu sehen, die im Oktober im Metropolitan Museum of Art und danach an 13 weiteren Stationen in den USA gezeigt wurde. Es war das erste Fresko Riveras, das in den Vereinigten Staaten ausgestellt wurde. Am 13. November 1930 reiste der Künstler erstmals in die Vereinigten Staaten, wo am 15. November in San Francisco eine Retrospektive im California Palace of the Legion of Honor eröffnet wurde. Ende dieses Jahres fand als zweite Ausstellung im neuen Museum of Modern Art die von Rivera selbst gestaltete große Retrospektive statt, für die er extra acht transportable Fresken geschaffen hatte. In den USA schuf Rivera auch Freskos in verschiedenen Gebäuden wie der San Francisco Stock Exchange und dem Detroit Institute of Arts und für private Auftraggeber. Im Gegensatz zu den öffentlichen Aufträgen, die Rivera in Mexiko für die Regierung ausführte, waren viele dieser Werke in den USA nur ausgewählten Kreisen zugänglich und wurden von Personen wie Ford und Rockefeller unterstützt, die eigentlich seiner kommunistischen Ideologie entgegenstanden. Rivera wurde in den Vereinigten Staaten Gegenstand heftiger Kontroversen, die in der Presse und Kunstkritik ausgetragen wurden. Konservative kritisierten und verurteilten seine Kunst, während Linke und Künstler diese verteidigten und lobten. Bei seinem Projekt in Detroit wurde er von Ford gegen diese Kritik verteidigt, in New York bezog Rockefeller selbst eine kritische Position und ließ am Ende das unvollendete Werk wegen der darin zum Ausdruck kommenden kommunistischen Haltung zerstören.
Riveras Zeichnungen und Aquarelle wurden 1939 in einer Schau im San Francisco Museum of Modern Art ausgestellt. Zudem war er mit der Gouachemalerei Kommunizierende Gefäße an der von André Breton organisierten Ausstellung Mexique in der Pariser Galerie Renou et Colle beteiligt. Darüber hinaus wurden einige von Riveras Werken von Inés Amor in einer Sammelausstellung mexikanischer Kunst im Rahmen der Golden Gate International Exposition gezeigt. Im folgenden Jahr waren im Rahmen dieser Exposition weitere seiner Werke in der Ausstellung Contemporary Mexican painting and Graphic Arts im Museum von Treasure Islands zu sehen. Zudem organisierte 1940 das Museum of Modern Art die Ausstellung Twenty Centuries of Mexican Art, in der Gemälde Riveras gezeigt wurden. 1941 wählte MacKinley Helm Werke Riveras für seine Ausstellung Modern Mexican Painters im Institute of Modern Arts in Boston aus. Sie war in der Folge auch in der Phillips Collection in Washington D.C., im Cleveland Museum of Art, im Portland Art Museum, im San Francisco Museum of Modern Art und im Santa Barbara Museum of Art zu sehen. 1943 zeigte das Philadelphia Museum of Art zwei der transportablen Fresken, die Rivera für das Museum of Modern Art gemalt hatte, in der Ausstellung Mexican Art Today.
Am 1. August 1949 wurde im Palacio de Bellas Artes die große Retrospektive 50 años de la obra pictória de Diego Rivera von Präsident Miguel Alemán Valdés eröffnet. Für sie hatte Rivera selbst 1196 Werke ausgesucht. Zu diesem Anlass wurde zudem eine große Monographie erarbeitet, die am 25. August 1951 dann veröffentlicht wurde. Eine weitere bedeutende Retrospektive für Riveras Werk richtete vom 11. Februar bis zum 11. März 1951 das Museum of Fine Arts, Houston aus. Für die Ausstellung Art mexicain. Du précolombien à nous jours im Jahr 1952 in Paris gab die mexikanische Regierung bei Diego Rivera ein transportables Fresko in Auftrag, das aufgrund der Darstellung von Mao und Stalin als Friedensstiftern erst zensiert und dann beschlagnahmt wurde. Es wurde zwar Rivera zurückgegeben, war aber nicht Teil der Ausstellung, in der dennoch 24 bedeutende Werke von ihm ausgestellt waren. Zudem war auf dem Titel des Katalogs ein Rivera aus dem Besitz des mexikanischen Präsidenten abgebildet. Das zurückgewiesene Fresko zeigte der Maler am 30. März 1952 auf der Versammlung der Front Revolutionärer Maler und schickte es anschließend auf eine Wanderausstellung in die Volksrepublik China. Dort verliert sich im Zuge der Kulturrevolution die Spur des Gemäldes. In Europa wurde im folgenden Jahr zudem die Ausstellung Mexican Art from Pre-Colombian Times to the Present Day in der Liljevalchs konsthall in Stockholm und der Tate Gallery in London gezeigt, in der Diego Rivera der am besten und ausführlichsten präsentierte Maler war.
Auch nach dem Tod Riveras ließ die Ausstellungstätigkeit um sein Werk kaum nach, weil er als einer der bekanntesten lateinamerikanischen Künstler einen zugkräftigen Namen hat. Dabei wurde er entweder wie etwa in der Ausstellung Wand – Bild – Mexiko der Berliner Nationalgalerie aus dem Jahr 1982 in Zusammenhang mit den anderen großen Namen der mexikanischen Moderne, Orozco und Siquerios, gestellt beziehungsweise sein Werk in einen größeren Kontext gesetzt oder aber wie etwa in Diego Rivera: A Retrospective des Philadelphia Museum of Arts im Jahr 1985 einzeln betrachtet. Die Ausstellung in Philadelphia war die größte und wichtigste mit Riveras Werken in den USA seit seiner Ausstellung im Museum of Modern Art im Jahr 1931. In letzter Zeit rückte vor allem Riveras Tafelmalerei verstärkt in den Fokus wie etwa in der Ausstellung Diego Rivera: The Cubist Portraits, 1913–1917, die 2009 im Meadows Museum in Dallas zu sehen war. Auf diesen Aspekt seines Schaffens entfielen auch vermehrt Publikationen.
Museen
In Mexiko-Stadt gibt es einige Museen, die sich besonders mit dem Schaffen Diego Riveras beschäftigen. Das Museo Diego Rivera Anahuacalli war ursprünglich von Diego Rivera als Wohnhaus und Unterbringungsort seiner präkolumbischen Sammlung geplant. 1942 erwarb er Land in San Pablo Tepetla, das damals noch außerhalb der Stadt lag. Dort ließ er erst ohne Baugenehmigung das Fundament des Hauses errichten, am 30. März 1944 erhielt er dann die Genehmigung für den Bau des Museo Anahuacalli. Das Gebäude rezipiert die präkolumbische Pyramidenarchitektur. Das Museum wurde erst 1963 fertiggestellt und 1964 eröffnet. Es umfasst die 50.000 Objekte große Sammlung, die Rivera zeit seines Lebens zusammengetragen hatte. Im August 1955 beauftragte Diego Rivera die Banco Nacional de México mit der Treuhandschaft seines Werkes und desjenigen von Frida Kahlo, daneben übernahm der Treuhänder auch die Verwaltung des Museo Anahuacalli und des Museo Frida Kahlo.
Das Museo Casa Estudio Diego Rivera y Frida Kahlo wurde am 21. April 1981 gegründet und am 16. Dezember 1986 im Doppelhaus des Künstlerehepaares in San Angel, Mexiko-Stadt, eröffnet. In ihm wird nur eine verhältnismäßig geringe Zahl seiner Kunstwerke präsentiert, jedoch sind viele Alltagsgegenstände sowie Riveras Atelier im ursprünglichen Zustand erhalten geblieben. Das Museo Mural Diego Rivera wurde 1985 nach dem starken Erdbeben in Michoacán, das auch zu großen Zerstörungen in Mexiko-Stadt führte, gegründet. Rivera hatte 1948 im Hotel del Prado ein Mural gemalt, das den umstrittenen Satz Dios no existe (Gott existiert nicht.) enthielt und deshalb kontrovers diskutiert und letztendlich für Jahre verhüllt wurde. Nachdem das Hotel schwer beschädigt war, wurde das 4,75 Meter hohe und 15,67 Meter breite und 35 Tonnen schwere Kunstwerk in das Museum, das auch weitere Gemälde Riveras zeigt, überführt.
Das Museo Dolores Olmedo beherbergt die weltweit größte Privatsammlung von Werken Diego Riveras und Frida Kahlos. Zudem werden dort auch Werke Angelina Beloffs gezeigt, Riveras Lebensgefährtin aus Paris.
Literatur
Gérard de Cortanze, Lorraine Audric: Frida Kahlo und Diego Rivera. Gesehen von Gisèle Freund. Verlagshaus Jacoby & Stuart, Berlin 2014, ISBN 978-3-942787-32-1.
Leah Dickerman, Anna Indych-López: Diego Rivera: Murals for the Museum of Modern Art. Museum of Modern Art, New York 2011, ISBN 978-0-87070-817-6.
Andrea Kettenmann: Diego Rivera. Taschen, Köln 2006, ISBN 3-8228-0953-5.
Luis-Martin Lozano, Augustin Arteaga, William Robinson: Diego Rivera: Art & Revolution. Instituto Nacional de Bellas Artes (INBA) / Landucci Editores, Mexiko-Stadt 1999, ISBN 978-968-7279-36-7.
Luis-Martín Lozano, Juan Rafael Coronel Rivera (Hrsg.): Diego Rivera. Sämtliche Wandgemälde. Taschen, Köln 2008, ISBN 978-3-8228-5176-0.
Patrick Marnham: Diego Rivera – Träumer mit offenen Augen. Lübbe, Bergisch Gladbach 2001, ISBN 3-7857-2071-8.
Sylvia Navarrete: Diego Rivera: The Cubist Portraits, 1913–1917. Philip Wilson Publishers, London 2009, ISBN 978-0-85667-664-2.
Desmond Rochfort: Mexican Muralists – Orozco, Rivera, Siqueiros. Chronical Books, San Francisco 1998, ISBN 0-8118-1928-0.
Judith Ruskin, Esme West (Hrsg.): Diego Rivera: The Detroit Industry Murals. Scala, London 2006, ISBN 1-85759-433-9.
Sven Schlüntzig: Die Kunst Diego Riveras vor dem Hintergrund unstabiler gesellschaftlicher Verhältnisse und sich wandelnder politischer Ziele. In: Raina Zimmering (Hrsg.): Der Revolutionsmythos in Mexiko. Königshausen & Neumann, Würzburg 2005, ISBN 3-8260-3009-5, S. 54–71.
Raquel Tibol: Diego Rivera. Great Illustrator. Editorial RM, Mexiko-Stadt 2008, ISBN 978-968-9345-00-8.
Weblinks
Diego Rivera Web Museum (englisch)
Einzelnachweise
Maler (Mexiko)
Maler des Muralismo
Person der Arbeiterbewegung (Mexiko)
Estridentismus
Mitglied der Akademie der Künste (DDR)
Mitglied der American Academy of Arts and Letters
Mexikaner
Geboren 1886
Gestorben 1957
Mann
Wikipedia:Artikel mit Video |
11767 | https://de.wikipedia.org/wiki/Jan%20Vermeer | Jan Vermeer | Jan Vermeer van Delft, auch genannt Johannes Vermeer (getauft 31. Oktober 1632 in Delft; begraben 15. Dezember 1675 ebenda; zeitgenössisch Joannis ver Meer, Joannis van der Meer), ist einer der bekanntesten holländischen Maler des Barock. Er wirkte in der Epoche des Goldenen Zeitalters der Niederlande, in der das Land eine politische, wirtschaftliche und kulturelle Blütezeit erlebte.
Der Umfang des Gesamtwerkes von Jan Vermeer ist mit heute bekannten 37 Bildern sehr klein, wobei aus alten Auktionsaufzeichnungen weitere Titel überliefert sind. Die ersten Werke Vermeers waren Historienbilder, bekannt geworden ist er jedoch für seine Genreszenen, die einen Großteil seiner Arbeiten ausmachen. Die bekanntesten Werke sind durch die heutige Rezeption die Ansicht von Delft und Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge. Aufgrund der geringen Zahl bekannter Bilder wurden ihm im 19. Jahrhundert, einer Zeit gestiegenen Interesses der Forschung über Jan Vermeer und sein Werk, fälschlicherweise Bilder anderer Künstler zugeschrieben. Heute ist sein Werkumfang jedoch von der Forschung allgemein anerkannt.
Leben
Über das Leben von Jan Vermeer van Delft ist nur wenig bekannt. Er wurde am 31. Oktober 1632 in der Nieuwe Kerk in Delft getauft und war das zweite Kind und der einzige Sohn seiner Eltern. Sein Vater Reynier Jansz kam ursprünglich aus Antwerpen, zog 1611 nach Amsterdam und arbeitete dort als Seidenweber. 1615 heiratete er Digna Baltens und ging unter dem Namen Vos nach Delft, wo er einen Gasthof betrieb. Nebenbei arbeitete er weiter als Weber und trat außerdem der St.-Lukas-Gilde in Delft offiziell als Kunsthändler bei. Dort begegnete Vermeer Malern wie Pieter Steenwyck, Balthasar van der Ast und Pieter Groenewegen.
Ausbildung
Über die Ausbildung Jan Vermeers zum Maler gibt es keine gesicherten Informationen. Er wurde als Freimeister am 29. Dezember 1653 Mitglied der St.-Lukas-Gilde. Dieser Aufnahme muss eine sechs Jahre umfassende Lehrzeit bei einem von der Gilde anerkannten Maler vorausgegangen sein. Es wird vermutet, dass Vermeer Schüler von Leonaert Bramer gewesen sein könnte. Diese Hypothese fand zwar aufgrund großer Unterschiede im Stil wenig Zustimmung, eine Verbindung Vermeers zu ihm ist jedoch urkundlich nachgewiesen. Weiterhin ist der Kontakt zu Gerard ter Borch belegt. Daneben wurde angenommen, Vermeer sei ein Schüler Carel Fabritius’ gewesen, der von Rembrandt ausgebildet worden sei. Diese Hypothese war seit William Thoré-Bürger im 19. Jahrhundert lange allgemein anerkannt und ist noch heute weit verbreitet, wird jedoch von der Kunstwissenschaft inzwischen bezweifelt. Stattdessen wird Pieter de Hooch, der zwischen 1652 und 1661 in Delft lebte, eine prägende Rolle für die Malerei Jan Vermeers zugewiesen, da de Hoochs Stil in der Genremalerei Vermeers ausgemacht und als verfeinert erkannt wurde.
Familienleben und Werk
Jan Vermeer heiratete am 20. April 1653 Catharina Bolnes in Schipluiden, einem Dorf in der Nähe von Delft. Die Ehe stieß zunächst auf den Widerstand der Mutter Catharinas, Maria Thins. Ein Grund dafür kann der Calvinismus Vermeers gewesen sein, während Catharina Bolnes katholisch war. Erst nach Fürsprache des Katholiken Leonaert Bramer gab Maria Thins ihre Vorbehalte gegen eine Eheschließung auf. Ob Vermeer zur katholischen Kirche übertrat, ist umstritten.
1660 zog Vermeer mit seiner Ehefrau in den Haushalt seiner Schwiegermutter am Oude Langendijk. Mit Catharina Bolnes hatte er fünfzehn Kinder, von denen vier bereits im frühen Kindesalter starben. Jan Vermeer scheint zu dieser Zeit relativ viel Geld verdient zu haben, weil er seine Kinder ohne Probleme ernähren konnte. Da er durchschnittlich nur zwei Bilder pro Jahr malte, muss er noch weitere Einkommensquellen gehabt haben. Bekannt ist, dass er seine Mutter beim Führen der Schänke „Mechelen“ am Delfter Großen Markt unterstützte, die sie nach dem Tod ihres Ehemannes geerbt hatte und in der Vermeer aller Wahrscheinlichkeit nach auch seinen Kunsthandel betrieb, eine verbreitete Nebentätigkeit niederländischer Maler des 17. Jahrhunderts. In den Jahren 1662 und 1663 sowie 1670 und 1671 war Vermeer Dekan der St.-Lukas-Gilde. Da im 17. Jahrhundert jeder Handwerker und Künstler zum Ausüben seines Berufes Mitglied einer Gilde sein musste, die die Regeln dafür festlegte, war die Position des Dekans eine einflussreiche und belegt, dass Jan Vermeer eine angesehene Persönlichkeit in Delft war.
Bereits zu seinen Lebzeiten konnte Jan Vermeer gute Preise für seine Bilder erzielen. Vermeer malte nur wenige seiner Bilder für den freien Kunstmarkt. Seine Bilder gingen meist an Mäzene wie den Bäcker Hendrick van Buyten. Dabei ist nicht bekannt, ob Vermeer mit dem Malen der Bilder beauftragt wurde oder die Mäzene nur ein Vorkaufsrecht auf seine Werke besaßen. Neben seiner künstlerischen Tätigkeit arbeitete Jan Vermeer auch als Kunstexperte. So prüfte er beispielsweise die Echtheit einer Sammlung venezianischer und römischer Bilder, die der Kunsthändler Gerard Uylenburgh dem Kurfürsten von Brandenburg Friedrich Wilhelm für eine Summe von 30.000 Gulden verkaufen wollte. Vermeer reiste 1672 nach Den Haag, wo er die Bilder zusammen mit einem anderen Künstler, Hans Jordaens, begutachtete. Er bestritt vor einem Notar deren Echtheit und erklärte, dass sie höchstens ein Zehntel des geforderten Preises wert seien.
Letzte Jahre und Tod
In seinen letzten Lebensjahren verschlechterte sich die wirtschaftliche Situation Vermeers, sodass er Kredite aufnehmen musste. Infolge des 1672 ausgebrochenen und bis 1679 andauernden französisch-niederländischen Krieges konnte er keine weiteren Bilder verkaufen. Daneben gab Catharina Bolnes in einer Bitte um teilweisen Schuldenerlass vom 30. April 1676 an, dass ihr Mann während des Krieges Bilder, mit denen er Handel trieb, unter Wert habe verkaufen müssen. 1675 wurde Vermeer krank und starb innerhalb weniger Tage. Am 15. Dezember 1675 wurde er in der Familiengruft in der Oude Kerk in Delft beigesetzt. Seine Frau musste zur Abtragung der Schulden auf ihr Erbrecht verzichten und übertrug es den Gläubigern.
Werk
Jan Vermeers Gesamtwerk umfasst nach heutiger Kenntnis 37 Gemälde, die durchweg schwer zu datieren sind. Bei den Bildern Junge Frau am Virginal, Mädchen mit Flöte, Diana mit ihren Gefährtinnen und Die heilige Praxedis bestehen jedoch Zweifel an Vermeers Urheberschaft; im Oktober 2022 informierte die National Gallery in Washington, dass ein Expertenteam das Mädchen mit der Flöte nun als Werk eines Vermeer-Schülers einschätzt.
Die relativ geringe Anzahl der erhaltenen eigenhändigen Werke veranlasste die Forschung immer wieder, ihm weitere Werke zuzuschreiben, die heute meist als falsch erkannt sind. Dazu kommen einige weitere Bilder, die nur durch alte Auktionskataloge oder Stiche bekannt sind, so dass die Frage nach ihrer Authentizität nach derzeitigem Wissensstand offenbleiben muss.
Einige der frühesten Bilder von Jan Vermeer lassen sich der Gattung der Historienmalerei zuordnen. Diese nahm im 17. Jahrhundert, vor der Porträt-, Landschafts-, Stillleben- und Tiermalerei, in der Malerei die höchste Stellung ein. Unter die Historienmalerei fielen zur Zeit Vermeers die Darstellung von Ereignissen der Antike, von Mythen und Heiligenlegenden sowie von kirchengeschichtlichen und biblischen Motiven. In der zweiten Hälfte der 50er-Jahre des 17. Jahrhunderts wechselte Jan Vermeer von den Historienbildern zu Stadtansichten und Genreszenen. Der Grund für diesen Wechsel ist nicht bekannt. Es wird jedoch vermutet, dass Vermeer die Historienmalerei nicht in dem Maße zur Wiedergabe der Lichtverhältnisse und Perspektive nutzen konnte, wie dies in den anderen Gattungen der Malerei möglich war. Auch der Einfluss von Pieter de Hooch und Jan Steen, die beide zur Zeit des Stilwechsels in Delft lebten, könnten diesen bewirkt haben. Beide arbeiteten in ihren Bildern mit figürlichen und architektonischen Elementen des alltäglichen Lebens. Weiterhin können de Hooch, Steen und Vermeer von der Atmosphäre in Delft zu dieser Zeit so beeinflusst worden sein, dass sie inhaltliche und stilistische Neuerungen in ihre Kunst einbrachten. Für diese These sprechen Veränderungen im Stil Steens und de Hoochs nach ihrer Ankunft in Delft.
Historienbilder
Im Vergleich zu den späten Werken Vermeers hatten seine drei frühen Historienbilder Christus bei Maria und Martha mit 160 cm × 142 cm, Diana mit ihren Gefährtinnen mit 98,5 cm × 105 cm und Die heilige Praxedis mit 101,6 cm × 82,6 cm ein großes Format. Ein Beispiel für die Größe der späteren Werke ist Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge, das nur 45 cm × 40 cm misst.
In dem Bild Christus bei Maria und Martha, um 1654/1655 entstanden, greift Jan Vermeer eine Stelle aus dem Lukasevangelium auf: Jesus Christus kehrt bei Maria und Martha ein. Während Martha das Essen zubereitet, hört Maria Jesus zu. Martha fragt ihn, warum er Maria nicht dazu auffordere, ihr zu helfen, und erhält die Antwort: „Marta, Marta, du machst dir viele Sorgen und Mühen. Aber nur eines ist notwendig. Maria hat den guten Teil gewählt, der wird ihr nicht genommen werden“ (). Diese Perikope war seit dem 16. Jahrhundert ein häufig in der Malerei behandeltes Sujet, weil sich an ihr das von den Reformatoren aufgezeigte Problem des guten Werkes verdeutlichte, das sie als oberflächliche, äußerliche Handlung betrachteten. Die Komposition ist im Vergleich zu späteren Werken Vermeers schlicht und nach dem Schema der Pyramide angelegt. Martha steht mit einem Brotkorb in der Hand hinter Jesus, der auf einem Stuhl sitzt und dessen Kopf von einem schwachen Heiligenschein umgeben ist. Im Vordergrund sitzt Maria mit aufgestütztem Kopf auf einem Schemel. Diese Geste Marias soll Nachdenklichkeit verdeutlichen. Als Zeichen der Demut trägt sie keine Schuhe. Der ausgestreckte, auf sie zeigende Arm Jesu soll Martha bedeuten, dass ihre Schwester sich für die bessere Tätigkeit entschieden hat. Vermeer setzte kräftige Farbkontraste ein zwischen dem Weiß des Tischtuches und dem Rot von Marias Oberteil sowie dem Blau des Gewandes von Jesus. Vermeer verwendete Smalt für das blaue Gewand von Christus anstelle des üblichen Ultramarins.
Das zweite Historienbild Vermeers, Diana mit ihren Gefährtinnen, entstand um 1655/1656. Diana, auch Artemis genannt, ist die jungfräuliche Göttin der Jagd aus der griechischen Mythologie. Auf dem Bild wird sie auf einem Stein sitzend und von vier Nymphen umgeben dargestellt. Diana wurde mit kurzem Gewand oder auch gern als Badende abgebildet. Vermeer stellt sie bekleidet dar, ein Zugeständnis an den Zeitgeist, der Nacktheit als anstößig empfand. So wendet sich auch eine nur halbbekleidete Nymphe hinter Diana vom Betrachter ab und dreht ihm den Rücken zu. Das Bild ist handlungsarm, zwei Nymphen sitzen mit Diana auf dem Stein, eine steht im Hintergrund und betrachtet, wie die Vierte einen Fuß Dianas wäscht. Diese rituelle Handlung stellt einen Bezug her zum Motiv der Fußwaschung beim letzten Abendmahl. Es dämmert, weshalb die Gesichter der Frauen im Schatten liegen. Die Dunkelheit und das Diadem mit der Mondsichel sind eine Anspielung auf die häufige Gleichsetzung Dianas mit der Mondgöttin Selene. Dem Bild Diana mit ihren Gefährtinnen wurden, vor allem in der Darstellung der Körperhaltungen, Mängel nachgesagt. Deshalb wurden wiederholt stilkritische Zweifel laut, dass es überhaupt ein Werk Vermeers sei. Diese Zweifel lassen sich bis heute weder bestätigen noch entkräften.
Stadtansichten
Vermeer malte zwei Bilder mit Bezug zu seiner Heimatstadt: die Straße in Delft und die Ansicht von Delft. Stadtansichten wurden meist infolge von öffentlichen oder privaten Aufträgen, nur selten für den freien Markt gemalt. Sie erzielten deshalb auch höhere Preise als nicht auftragsgebundene Landschaftsbilder.
Das Bild Ansicht von Delft entstand wohl um 1660/1661. Jan Vermeer gestaltete es wahrscheinlich mit Hilfe einer Camera obscura von einem höheren Stockwerk eines Hauses aus. Der Umstand des erhöhten Standpunktes wird vor allem an der Aufsicht der Figuren am linken unteren Bildrand deutlich. Das Bild zeigt eine Ansicht der Stadt mit dem Fluss Schie im Vordergrund. Jan Vermeer ordnete hier, ähnlich wie in seinen anderen Bildern, die architektonischen Elemente parallel zum Bildrand an, im Gegensatz zu anderen Malern, die mit in die Tiefe führenden Straßen das Innenleben einer Stadt zugänglich machen wollten. Daneben legte Vermeer in der Komposition im Vordergrund einen dreieckigen Uferstreifen an. Dieses Element, das von Pieter Brueghel eingeführt wurde, fand häufig Verwendung, beispielsweise in dem Bild Blick auf Zierikzee von Esaias van de Velde. Vermeer benutzte für die Farbgebung seiner Delfter Ansicht vor allem Braun- und Ockertöne. Auf die im Schatten liegenden Gebäude im Vordergrund und an die Schiffsrümpfe setzte er Farbtupfen, um die Fugenstruktur und die Verkrustungen zu zeigen. Das die Wolken durchbrechende Licht beleuchtet vor allem sich im Hintergrund befindende Gebäude und den Turm der Nieuwe Kerk. Mit dem hell erleuchteten Kirchturm wollte Jan Vermeer vermutlich ein politisches Statement abgeben. In der Nieuwe Kerk befand sich das Grabmal des 1584 bei einem Attentat in Delft gestorbenen Wilhelm I. von Oranien, der als Held des Widerstandes gegen Spanien galt.
Moralisierende Bilder
Bei der Kupplerin aus dem Jahr 1656 ist das früheste Bild Jan Vermeers, das der Genremalerei zuzuordnen ist. Wahrscheinlich ist, dass Vermeer sich von dem gleichnamigen Bild des Malers Dirck van Baburen, das sich im Besitz seiner Schwiegermutter Maria Thins befand, inspirieren ließ. Dieses Bild erscheint weiterhin in einigen Werken Vermeers als Anspielung auf das behandelte Thema. Bei der Kupplerin lässt sich der Kategorie des „Bordeeltje“, des Bordellbildes, zuordnen, die eine Unterkategorie des Genrebildes darstellt. Das Bild zeigt vier Personen, zwei Frauen und zwei Männer. Für eine konkrete Bezeichnung der Figuren fehlt die Klarheit, ob es sich tatsächlich um eine Szene in einem Bordell handelt oder um eine häusliche Szene. Im ersten Fall würde es sich bei der Frau am rechten Bildrand um eine Prostituierte handeln, bei dem Mann, der hinter ihr steht, um einen Freier. Die schwarz gekleidete Frau wäre die Kupplerin, die das Geschäft organisiert hätte. Handelt es sich jedoch um eine häusliche Szene, würde das Bild das Entstehen einer außerehelichen Beziehung darstellen. In diesem Fall wäre die Kupplerin wohl eine Frau aus der Nachbarschaft, welche diese Beziehung organisiert hätte. Bei dem Mann mit dem Wasserglas am linken Rand des Bildes könnte es sich um Vermeer selbst handeln. Es wäre sein einziges Selbstbildnis. Von den abgebildeten Personen sind nur die Oberkörper sichtbar, da sich im Vordergrund ein Tisch befindet. Diese Komposition des Bildes erzeugt beim Betrachter Distanz zu den Figuren. Da Genrebilder auch Werte vermitteln sollten, enthielten sie oft Mahnungen. Durch das Weinmotiv, dargestellt in der Karaffe und dem Weinglas in der Hand der Prostituierten, deren Wangen durch den Alkoholkonsum gerötet sind, sollte vermittelt werden, dass der Mensch trotz der sinnlichen Verführungen bei klarem Verstand bleiben sollte. Der zentrale Aspekt des Bildes, die Käuflichkeit der Liebe, wird nur indirekt dargestellt, indem die Prostituierte ihre Hand öffnet, um eine Münze von dem Freier entgegenzunehmen. Damit ist Vermeer im Vergleich mit anderen Künstlern, die drastischere Anspielungen verwendeten – wie zum Beispiel Frans van Mieris, der im Hintergrund des Bildes Der Soldat und das Mädchen kopulierende Hunde darstellte – relativ zurückhaltend.
Das Bild Schlafendes Mädchen, das um 1657 gemalt wurde, ist ein weiteres Werk Vermeers mit moralisierender Aussage. Die abgebildete junge Frau sitzt an einem Tisch, der mit einem orientalischen Teppich bedeckt ist. Dieser bildet am vorderen Ende des Tisches ein Dreieck und wurde von Vermeer zusammen mit einer Weinkaraffe und einem Obstteller arrangiert. Die Frau schläft und stützt dabei ihren Kopf mit dem Arm ab, was symbolisch den Müßiggang unterstreichen soll. Die Kleidung lässt erkennen, dass es sich nicht um eine Dienstmagd, sondern um eine den Haushalt verwaltende Ehefrau handelt. Jan Vermeer hatte anfangs in dem Bild mehrere erzählerische Elemente verwendet, um die Frau innerhalb des Bildes interagieren zu lassen. So zeigte eine Röntgenuntersuchung, dass sich in der Tür ein Hund und im linken Bildhintergrund ein Mann befanden, die später übermalt wurden. Damit wurde das Bild von der Komposition her für Interpretationen offener. Das Motiv des Weingenusses wird in diesem Bild durch die Karaffe erneut aufgegriffen und bestimmte auch den Titel des Bildes als Ein betrunkenes, schlafendes Mädchen an einem Tisch beim Verkauf am 16. Mai 1696: Infolge des durch den Weinkonsum bedingten Schlafes vernachlässigt die Frau ihre Pflichten im Haushalt.
Frauendarstellungen
Die meisten Darstellungen von Frauen in den Bildern Vermeers legen eine Geschichte nahe, wobei Attribute wie etwa Musikinstrumente oder Haushaltsgegenstände die Vorstellung der Handlung beeinflussen. Nur drei Bilder unterscheiden sich in größerem Maß davon und können als Porträts bezeichnet werden.
Das Bild Briefleserin am offenen Fenster, das um 1657 und damit in Vermeers Frühphase gemalt wurde, zeigt eine Frau mit einem Brief, der hauptsächlich die Handlung des Bildes bestimmt. Das Element des Briefes greift Vermeer auch in anderen Bildern auf. In diesem Bild zeigt der Künstler eine in der Mitte des Bildes positionierte Frau mit einem Brief in der Hand vor einem offenen Fenster. Im Vordergrund steht ein Tisch, davor befindet sich am rechten Bildrand ein Vorhang. Die Frau ist im Profil abgebildet, der Betrachter kann jedoch die Andeutung ihres Gesichts als Spiegelung im Fenster sehen. Dass es sich bei dem Brief wahrscheinlich um einen Liebesbrief handelt, wird an Details deutlich wie der Andeutung des Sündenfalls durch die mit Pfirsichen und Äpfeln gefüllte Obstschale. Der Vorhang, der im Vordergrund zu sehen ist, kann diese Aussage noch verstärken, wenn er als Zeichen der Offenbarung zur Seite geschoben ist. Es kann jedoch auch sein, dass er lediglich eines von Vermeer mehrmals benutzten Elementen der Komposition ist. Rechts neben der Briefleserin wurde bei einer Röntgenaufnahme 1979 ein nackter Amor entdeckt, der mit mehreren Schichten übermalt wurde. Er hat in etwa dieselbe Größe wie das Mädchen. Laboruntersuchungen haben ergeben, dass die Übermalung zweifelsfrei nicht von Vermeer stammt. Im Zuge einer Restaurierung wurden auch diese Übermalungen entfernt. Das Bild ist seit September 2021 wieder im Originalzustand, also mit Cupido, öffentlich zu sehen.
In den meisten Frauendarstellungen von Jan Vermeer spielen moralische Aussagen eine bedeutende Rolle. Auch in den Bildern mit musizierenden Frauen wird dieses Thema aufgegriffen. Ein Beispiel dafür ist das zwischen 1673 und 1675 entstandene Werk Stehende Virginalspielerin. Schon der Name des Instrumentes Virginal ist eine Anspielung auf die Jungfräulichkeit des abgebildeten Mädchens. Sie ist vor allem vor dem Hintergrund zu verstehen, dass im 17. Jahrhundert in den Niederlanden strikt darauf geachtet wurde, dass die Frau bis zur Heirat keinen Geschlechtsverkehr hatte. Das Bild mit der Cupidodarstellung im Bildhintergrund bildet einen Kontrast zu diesem Moralverständnis.
Das populärste Bild von Jan Vermeer ist das um 1665 entstandene Porträt Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge. Diese Bekanntheit beruht vor allem auf der modernen Rezeption und darauf, dass dieses Werk der Aufhänger einer erfolgreichen Vermeer-Ausstellung im Mauritshuis in Den Haag in den Jahren 1995 und 1996 war. Das abgebildete Mädchen ist aus unmittelbarer Nähe und ohne erzählerische Attribute dargestellt, was dieses Bildnis von den anderen Werken Vermeers deutlich abhebt. Es ist nicht bekannt, wer die Abgebildete ist. Es könnte sich um ein Modell handeln, vielleicht war das Bild aber auch eine Auftragsarbeit. Der Hintergrund des Bildes ist neutral und sehr dunkel, durch seine Vielfarbigkeit aber nicht schwarz. Der dunkle Hintergrund verstärkt die Helligkeit des Mädchens, insbesondere die seiner Haut. Es neigt den Kopf, was den Anschein von Gedankenverlorenheit beim Betrachter hervorruft. Das Mädchen interagiert mit dem Betrachter, indem es ihn direkt anblickt und den Mund leicht geöffnet hält, was in der niederländischen Malerei häufig die Andeutung einer Ansprache des Bildbetrachters darstellt. Die Kleidung des Mädchens wurde von Vermeer mit annähernd reinen Farben gemalt, die Anzahl der auf dem Bild vorhandenen Farben ist begrenzt. Die Jacke des Mädchens ist bräunlichgelb und bildet damit einen Kontrast zum blauen Turban und zum weißen Kragen. Der Turban mit dem gelben herabfallenden Tuch ist ein Zeichen für das in der damaligen Zeit vorhandene Interesse an der morgenländischen Kultur in der Folge der Türkenkriege. Im 17. Jahrhundert waren Turbane deshalb ein beliebtes und weit verbreitetes Accessoire in Europa. Daneben fällt besonders die Perle am Ohr des Mädchens auf, die aus der Schattenzone des Halses hervorsticht.
Darstellung der Wissenschaften
In dem Gemälde Der Astronom aus dem Jahr 1668 sowie dem Parallelbild Der Geograph, das in den Jahren 1668 und 1669 entstand, setzt Jan Vermeer Disziplinen der Wissenschaft und deren Vertreter in Szene. Auch in einigen anderen Bildern wie Der Soldat und das lachende Mädchen finden sich Anspielungen, etwa Gerätschaften oder im Bildhintergrund dargestellte Karten. Die Kartografie war eine junge Wissenschaftsdisziplin und befand sich noch in der Entwicklung, insbesondere hinsichtlich der verschiedenen Verfahren von Kartenprojektionen, durch deren Entwurf ein flaches Bild der runden Erde gezeigt werden konnte.
Im 17. Jahrhundert waren Karten ein Luxusgut, sie stehen in Vermeers Bildern nicht nur als ein Zeichen von Reichtum, sondern auch für Bildung. Darüber hinaus verweisen sie auf die Stellung der Niederlande als einer See- und Handelsmacht, die im Fernhandel weltweit aktiv und mit den ertragsreichen Niederländischen Kolonien eine bedeutende Kolonialmacht war. In ihrem Goldenen Zeitalter verstand sich die Republik der Vereinigten Niederlande militärisch, wirtschaftlich und wissenschaftlich als Weltmacht. Ihre Vorherrschaft im Überseehandel konnte sie nach dem Zweiten der Englisch-Niederländischen Kriege im Frieden von Breda 1667 noch behaupten, hatte sich aber aus Nordamerika zurückgezogen und das vormalige Nieuw Amsterdam hieß nun New York. Nach dem Rampjaar Hollands von 1672 bekamen die Sieben Provinzen wieder einen Statthalter, Wilhelm III. (Oranien), der dann in Personalunion nach der britischen Glorious Revolution von 1688 im Vereinigten Königreich auch König von England, Schottland und Irland wurde.
Das Bild Der Geograph zeigt in Bildmitte den Wissenschaftler in einem Zimmer neben dem Fenster stehend als zentrales Motiv. Er trägt eine lange Robe und sein langes Haar hinter die Ohren gestrichen offen. Vor ihm liegt eine entrollte Karte ausgebreitet, die im einfallenden Licht hell aufscheint. Ein die Tischplatte bedeckender Bildteppich ist beiseite geschoben und hängt Falten werfend im Vordergrund über den Tisch bis auf den Boden, sodass die stützende Konstruktion darunter verborgen bleibt. Daneben ist eine niedrige Truhe zu sehen, auf dem Boden dahinter liegen gerollte Kartenblätter. An der Wand im Hintergrund steht ein hoher Schrank, darauf ein Globus. Der Geograph hält in der rechten Hand einen Stechzirkel, mit dem auf einer Karte Entfernungen abgetragen werden, mit der linken stützt er sich auf ein Kantholz, das zum Glattstreichen und Fixieren des Kartenblatts dient. Er ist in einem Augenblick dargestellt, da er den Kopf hebt und sein Blick nach draußen in die Ferne geht. Sein Gesicht leuchtet im Lichteinfall auf, sodass dessen noch jugendlichen Züge im Halbprofil zu erkennen sind. Requisiten, Bekleidung und Erscheinung lassen den Geographen in dieser Szene als geheimnisvollen Charakter wirken.
Mit diesen Darstellungen eines Geographen und eines Astronomen griff Jan Vermeer einen wichtigen Paradigmenwechsel auf. Bis in das 17. Jahrhundert hinein war es verpönt, sich mit der Ausdehnung, Gestalt und Geschichte der Erde sowie mit den Sternen zu beschäftigen. Dies wurde als Zuwiderhandlung gegen den Heilsplan Gottes verstanden und als vermessen betrachtet. Trotzdem entwickelten sich die Wissenschaften, die sich mit der Erde und den Sternen auseinandersetzten, seit dem Ende des 15. Jahrhunderts in großem Umfang weiter. Seit den außereuropäischen Entdeckungen in Amerika, Asien und Afrika benötigten Kaufleute, Seefahrer und Adelige immer mehr geographisches Wissen, das in Büchern, Karten und Globen aufbereitet wurde.
Allegorien
Jan Vermeer malte neben seinen naturalistischen Bildern, die sich meistens mit Themen aus dem Alltag beschäftigten, auch zwei Allegorien, in denen er abstrakte Themen personifizierte und durch Symbole und Verweise persönlich dazu Stellung nahm. Diese beiden Bilder tragen die Titel Allegorie des Glaubens, entstanden zwischen 1671 und 1674, und Die Malkunst (Allegorie der Malerei). Dabei stützte Vermeer sich auf Cesare Ripas Abhandlung über Ikonografie.
Die Allegorie der Malerei hat eine Größe von 130 cm × 110 cm, womit es eines der größten Gemälde Vermeers ist. Das Bild wurde von vielen Kunsthistorikern als Vermeers malerisches Vermächtnis betrachtet. So verwendete Hans Sedlmayr den Titel Der Ruhm der Malkunst. Diese Betitelung ist auf den Namen des Bildes bei der Schuldentilgung nach Vermeers Tod zurückzuführen, als es „Ein Stück Malerei, […], worauf die Malkunst dargestellt ist“ hieß.
Das Bild zeigt ein Atelier, das eventuell von Vermeers eigenem inspiriert war, da ein Eichentisch wie der dargestellte in dessen Inventarliste auftauchte. Auf diesem Tisch befindet sich neben einem Buch, Symbol der Weisheit und der Kontemplation, auch ein Heft, das als Symbol der künstlerischen Eingebung zu verstehen ist. Als zentrale Person in diesem Bild sitzt der Maler in der Mitte des Bildes vor einer fast leeren Leinwand. Er wendet dem Betrachter den Rücken zu, so dass er seine Anonymität wahrt. Im Bildhintergrund befindet sich eine junge Frau, die dem Maler Modell steht. Sie trägt eine blaue Robe aus Seide und einen gelben Rock. In ihrer linken Hand hält sie ein Buch, in ihrer Rechten eine Trompete. Auf ihrem Kopf trägt sie einen Kranz aus Lorbeerblättern, alles ewigen Ruhm darstellend.
Die leere Leinwand galt seit der Renaissance als ein Symbol für die künstlerische Idee, die im Malprozess dann Gestalt annimmt. Dass der Maler an einem Bild arbeitet, während auf dem Tisch eine Maske liegt, wurde als Ergebnis des Wettstreites der Künste, des „Paragone“, gedeutet. Somit hätte die Malerei über die Bildhauerei triumphiert. Nach dem heutigen Stand der Forschung wird angenommen, dass die junge Frau nicht einfach ein Modell ist – oder Fama –, sondern die Muse Klio darstellt. Diese ist in der griechischen Mythologie die Muse der Geschichtsschreibung und Heldendichtung. Damit ist das Thema des Bildes nicht die Malerei, sondern die Geschichte. Dies versinnbildlicht auch die Karte von Nicolaes Visscher an der Wand im Hintergrund, welche die siebzehn Provinzen vor dem Waffenstillstand mit Spanien 1609 zeigt. Die Karte aus dem Jahre 1636 ist an beiden Rändern mit Stadtansichten gesäumt, und Klio steht vor Den Haag mit der Ansicht des königlichen Hofes. Dies kann als Huldigung Vermeers an Wilhelm III. von Oranien gedeutet werden. Das Bild könnte in der Anfangszeit des Französisch-Niederländischen Krieges entstanden sein, der von 1672 bis 1678 dauerte, zu einer Zeit innerer Unruhen in den Niederlanden, in der die Hoffnung auf den Oraniern ruhte. Daneben wird eine positive Einstellung gegenüber dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zum Beispiel durch den Kronleuchter mit dem habsburgischen Doppeladler deutlich. Das Bild ist somit kein Lob der Malerei, sondern vielmehr eine Stellungnahme Vermeers zur aktuellen politischen Situation in den Niederlanden.
Zeichnungen
Es gibt keine Zeichnungen, die Jan Vermeer zweifelsfrei zugeordnet werden können. Ihr Fehlen hat dazu geführt, dass viele Autoren davon ausgehen, dass Vermeer keine Studienzeichnungen für sein Schaffen benötigte. Dem entgegen steht die umstrittene Zeichnung Magd mit Fußwärmer, die von Befürwortern Vermeer zugeschrieben und auf das Jahr 1655 datiert wird. Sie ist 25,5 cm × 16,5 cm groß, mit Kreide auf blauem Papier ausgeführt und befindet sich heute in der Graphischen Sammlung der Klassik Stiftung in Weimar. Befürworter führen die Zuordnung der Zeichnung zu Vermeer vor allem auf stilistische Gemeinsamkeiten und die Ähnlichkeit des Monogramms auf dem Fußwärmer mit den Signaturen auf den Gemälden Briefleserin am offenen Fenster und Ansicht von Delft zurück. Zweifler führen beispielsweise das blaue Zeichenpapier als Begründung für ihre Position an, da sie davon ausgehen, dass dieses Papier erst in späteren Jahrhunderten hergestellt wurde. Dem widerspricht eine Darstellung Karel van Manders, der vor Vermeer lebte und Autor des Schilderboeks war. Van Mander erwähnte einen Schüler des Porträtisten Michiel Miereveld aus Delft: „Er ist eifrig im Untersuchen der reifsten Schönheit der Malkunst, praktiziert im Kolorieren verschiedene selbsterfundene Manieren, zeichnet dazwischen auch auf blauem Papier …“ Das bedeutet, dass es schon lange vor Jan Vermeer im Delfter Gebiet blaues Zeichenpapier gab.
Malmaterialien
Die Wahl der verwendeten Malerfarben war ein wichtiger Aspekt der aufwändigen Maltechnik Vermeers. Er ist vor allem für seine großzügige Verwendung des teuren natürlichen Ultramarins bekannt („Dienstmagd mit Milchkrug“ und „Briefleserin in Blau“). Charakteristisch für ihn waren auch die Pigmente Bleizinngelb („Briefschreiberin in Gelb“), Krapplack („Christus bei Maria und Martha“) und Zinnober. Für seine Stadtansichten und Hintergründe setzte Vermeer auch Erdfarben, Beinschwarz und das billigere blaue Pigment Azurit ein.
Künstlerische Innovation
Jan Vermeer war in der Malerei seiner Zeit ein Vorreiter neuer Gestaltungsprinzipien. Er verwendete eine ausgewogene Aufteilung der Flächen, mit der er auch komplexe Sachverhalte und Strukturen einfach und mit wenigen Elementen darstellte. Dabei spielte die Geometrie eine wichtige Rolle für die Komposition. Vermeer ging in seinen Bildern so mit dem Licht um, dass annähernd der Eindruck von Freilichtmalerei erreicht wurde. Weiterhin verwendete er keine grauen Farbtöne zur Darstellung von Schatten.
Der niederländische Maler Vincent van Gogh schrieb an den französischen Maler Émile Bernard:
Es wird immer wieder behauptet, dass Jan Vermeer beim Malen seiner Bilder eine Camera obscura benutzte. Norbert Schneider zum Beispiel schreibt:
Nicht alle Experten teilen diese Meinung. In einer Vielzahl von Studien ist das Thema untersucht worden. Doch selbst unter jenen Wissenschaftlern, die sich sicher sind, dass Vermeer in der Tat mit einer Camera Obscura gearbeitet habe, werden immer noch große Debatten darüber geführt, in welchem Umfang er dies tat. Die Diskussionen fingen an, als der US-amerikanische Lithograph, Joseph Pennell 1891 bei dem Vermeer-Bild Der Soldat und das lachende Mädchen erstmals auf die fotografischen Perspektiven hingewiesen hat. 1934 machte Paul Claudel erneut die Kunstgeschichte auf die photographischen Qualitäten der Kunst Vermeers aufmerksam. Charles Seymour und Arthur K. Wheelock jr. behaupten unter Verweis auf die zu erkennenden Halo-Lichteffekte, dass Vermeer für seine Ansicht von Delft, Die Malkunst, das Mädchen mit rotem Hut und Die Spitzenklöpplerin eine Camera Obscura benutzt habe. Jørgen Wadum dagegen legt mehr Wert auf Vermeers Entwicklung und seine Qualitäten als Maler von Perspektiven: Dreizehn Gemälde haben ein kleines Loch, das mit einer Nadel in das Leinen gestochen wurde.
Bedeutung
Beachtung und Bekanntheit
Jan Vermeer und sein Werk blieben zu seinen Lebzeiten den meisten unbekannt, da seine Gemälde über einen kleinen Kenner- und Liebhaberkreis hinaus kaum Beachtung fanden. Das lag an seinem kleinen Gesamtwerk und daran, dass nur selten Gemälde von ihm auf Auktionen gehandelt wurden. Zwar wurde die Qualität der Werke Vermeers wahrgenommen, jedoch fand sein Gesamtwerk kaum Beachtung. Im 17. und 18. Jahrhundert geriet Jan Vermeer nicht vollkommen in Vergessenheit, wurde jedoch nur selten in der Literatur erwähnt. Dabei wurde sein Werk meist gelobt. Mit Beginn des 19. Jahrhunderts wuchs das Interesse an Jan Vermeer wieder, auch wenn kaum biographische Informationen über ihn bekannt waren. Vermeers Bilder wurden in Auktionskatalogen besonders angepriesen und erzielten hohe Preise. Daneben wurde Vermeers Werk durch Künstler aufgegriffen, so wie beispielsweise durch Wybrand Hendriks, der die Ansicht von Delft kopierte und Genreszenen im Stile Vermeers malte. 1821 veröffentlichte Christian Josi einen Aufsatz mit dem Titel Discours sur l’état ancien et moderne des arts dans les Pays-Bas, in dem er alle Informationen über Vermeer zusammenzutragen versuchte und dessen Werk rühmte.
Nachdem Vermeers Gemälde Ansicht von Delft in der Literatur besonders gerühmt worden war, entschied sich König Wilhelm I. der Niederlande für den Ankauf dieses Werkes durch das Mauritshuis. In der dortigen Königlichen Galerie wurde der britische Kunstsammler John Smith auf das Werk Jan Vermeers aufmerksam. Smith erwähnte Vermeer in seinem Verzeichnis von Gemälden aus Frankreich, Flandern und den Niederlanden, das acht Bände umfasste. Den niedrigen Bekanntheitsgrad Vermeers erklärte Smith mit dessen kleinem Gesamtwerk. In Anbetracht dessen wunderte sich John Smith über Vermeers Kunstfertigkeit, weshalb er ihn für einen Imitator und Schüler anderer Maler hielt.
Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde Vermeers Malerei breiter rezipiert. Der französische Publizist und Politiker William Thoré-Bürger lernte auf seinen Reisen durch Holland und Belgien die niederländische Malerei aus dem 17. Jahrhundert kennen, darunter auch Werke Vermeers. Thoré-Bürger erkannte dabei, dass der Realismus in der Darstellung des Alltagslebens den Vorstellungen der Ästhetik seiner Zeit entsprach. Er verhalf Vermeer mit drei sehr positiven Zeitschriftenaufsätzen zum Durchbruch. In diesen Aufsätzen katalogisierte William Thoré-Bürger die Werke Vermeers und charakterisierte dessen Malerei. Mit der Arbeit Thoré-Bürgers ging Jan Vermeer erstmals in größerem Ausmaß in die Kunstliteratur ein. Die Impressionisten kamen durch die Beobachtung des Lichts zu ähnlichen Feststellungen wie Vermeer, dessen Bilder die Lichtverhältnisse in ihrer natürlichen Art wiedergaben. So erfuhren Jan Vermeer und sein Werk immer größere Würdigung.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Gemälde Vermeers, wie zum Beispiel das Mädchen mit rotem Hut, in Privatsammlungen wiederentdeckt. Diese Werke waren anderen Künstlern wie Gabriel Metsu und Pieter de Hooch zugeschrieben worden. Jedoch wurden durch Thoré-Bürger und andere Kunstkritiker und Kunsthistoriker auch fälschlicherweise Werke Jan Vermeer zugeordnet, wie etwa die von Jacobus Vrel und Jan Vermeer van Haarlem. So beschäftigte sich die Vermeer-Forschung im 20. Jahrhundert vor allem mit der genauen Feststellung des Gesamtwerkes.
Heute zählt Jan Vermeer zu den populärsten niederländischen Malern. So sahen 1995/1996 in 14 Wochen 460.000 Besucher die Den Haager Ausstellung Johannes Vermeer, in der 22 seiner Werke zu sehen waren. Außergewöhnlich war, dass alle Tickets bereits im Vorverkauf verkauft wurden. Dieselbe Ausstellung in Washington, D.C. hatte 327.551 Besucher. Die 28 Werke umfassende Ausstellung Vermeer im Rijksmuseum Amsterdam im Jahr 2023 war mit rund 650.000 Besuchern die bisher größte Werkschau des Künstlers.
Kunstmarktentwicklung
Jan Vermeer wurde von Mäzenen unterstützt, die einen Großteil seiner Werke erwarben. Eine bedeutende Sammlung seiner Werke befand sich dabei im Besitz des Druckereibesitzers Jacob Dissius und seiner Frau Magdalena van Ruijven, die nach einer 1682 verfassten Inventarliste 19 Gemälde Vermeers besaßen. Einige der Bilder stammten aus dem Besitz ihres Vaters Pieter Claesz. van Ruijven. Andere können aber auch von Magdalena van Ruijven, Jacob Dissius oder dessen Vater, Abraham Jacobsz Dissius, erworben worden sein, als am 15. Mai 1677 im Saal der Lukasgilde 26 Werke Vermeers aus dessen Nachlass verkauft wurden. So haben wahrscheinlich beide Familien bedeutende Stücke aus Vermeers Gesamtwerk erworben.
Kommerziell hatten die Werke Vermeers eine herausgehobene Stellung. So wurden am 16. Mai 1696 bei einer Auktion von Gerard Houet 134 Bilder versteigert, von denen 21 Stücke Gemälde Vermeers gewesen sein sollen. Die geforderten Preise für diese Bilder lagen zwischen 17 und 200 Gulden. Dass seine Bilder so hohe Preise erzielten, ist ein Zeichen dafür, dass Vermeer ein gesuchter Künstler war. In der gleichen Auktion wurde beispielsweise ein Kopfbildnis von Rembrandt für etwas über sieben Gulden und eine Carel Fabritius zugeschriebene Enthauptung Johannes des Täufers für 20 Gulden verkauft, was den Stellenwert Vermeers unterstreicht.
Mit zunehmender Bekanntheit und Beliebtheit Vermeers zu Beginn des 19. Jahrhunderts stiegen auch die Preise. So wurde Der Geograph 1798 für sieben Louis gekauft und 1803 für 36 wieder verkauft. Ein Jahr später erwarb der Staat auf Wunsch des Königs die Ansicht von Delft für die damals extrem hohe Summe von 2900 Gulden und ließ sie dem Mauritshuis zukommen. Ende des 19. Jahrhunderts wurden immer mehr Werke Vermeers zu immer höheren Preisen gehandelt. Amerikanische Millionäre wie John Pierpont Morgan, Henry Clay Frick, Henry Marquand und Isabella Stewart Gardner kauften Vermeers und wurden von den Museen umworben, ihnen diese zu leihen und auch zu übereignen. Ein Beispiel für die Preisentwicklung ist die Allegorie des Glaubens. 1899 erwarb Abraham Bredius dieses Gemälde für rund 700 Gulden und lieh es in der Folge dem Mauritshuis und dem Boymans van Beuningen Museum. Schließlich verkaufte Bredius das Bild für 300.000 Dollar an den Amerikaner Michael Friedsam, der es dem Metropolitan Museum hinterließ. Für 625.000 Gulden erwarb Henri W. A. Deterding 1921 das Bild Straße in Delft aus der nach dem Kunstsammler Jan Six benannten Collectie Six und schenkte es dem holländischen Staat. Auf Deterdings Verfügung hin wird das Bild im Rijksmuseum in Amsterdam gezeigt. Die Preisentwicklung und die große Nachfrage machten Vermeer für Fälscher attraktiv.
1940 erwarb Adolf Hitler Die Malkunst (Allegorie der Malerei) für 1.650.000 Reichsmark von den Österreichern Eugen und Jaromir Czernin. Die Steuern von etwa 500.000 Reichsmark wurden ebenfalls durch Hitler übernommen. Im Vorfeld gab es schon mehrere Kaufangebote, unter anderem über sechs Millionen Dollar vom US-Staatssekretär Andrew W. Mellon, die Ausfuhrgenehmigung wurde aber nicht erteilt. Das Bild war für das geplante Kunstmuseum in Linz vorgesehen und befand sich nach dem Erwerb durch Hitler zunächst in München. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges wurde es im Salzbergwerk Altaussee versteckt und nach Kriegsende von Angehörigen der US-Armee geborgen. Diese übergaben Die Malkunst dem Kunsthistorischen Museum in Wien.
2004 wurde das Bild Junge Frau am Virginal für 30 Millionen Dollar durch Steve Wynn ersteigert. Es war das erste Mal seit 1921, dass ein Werk Vermeers auf einer Auktion angeboten wurde.
Fälschungen
Da die Urheberschaft Vermeers heute nur bei 37 Bildern als gesichert gilt, gab es immer wieder Gerüchte über die Existenz weiterer Bilder, deren Aufbewahrungsort bisher nur nicht bekannt sei. Dieser Umstand führte dazu, dass immer wieder Fälscher angeblich bisher unentdeckte Bilder Vermeers herstellten und auf den Kunstmarkt brachten. Die Nachfrage nach Werken Vermeers war so groß, dass sie nicht durch sein kleines Gesamtwerk abgedeckt werden konnte. Der Niederländer Han van Meegeren stellte so perfekte Fälschungen her, dass selbst der Vermeer-Experte Abraham Bredius Expertisen über die Echtheit dieser Bilder ausstellte. Dieser bestätigte unter anderem die Echtheit des Emmausmahls von van Meegeren, welches das Museum Boijmans Van Beuningen in Rotterdam 1938 erwarb. Daneben kaufte auch der deutsche Reichsmarschall Hermann Göring eine Fälschung von Han van Meegeren, ebenso wie der niederländische Staat. Dieser kaufte das Bild Fußwaschung im Jahre 1943, das sich heute im Rijksmuseum in Amsterdam befindet. Neben Bredius stellten auch Wilhelm von Bode und der Direktor des Mauritshuis, Wilhelm Martin, Expertisen für falsche Vermeers aus. Diese Bilder gehören heute der National Gallery of Art in Washington.
Inzwischen kann mit Untersuchungsmethoden eindeutig bestimmt werden, ob Jan Vermeer zugeschriebene Werke überhaupt zu seinen Lebzeiten gemalt worden sein können. Fälschungen mit Bleipigmenten aus heutigem Blei bzw. Bleiverbindungen weisen eine abweichende Isotopenzusammensetzung auf und können mit Hilfe der Blei-210-Methode erkannt werden. Blei-210 ist ein aus Radium-226 entstehendes Bleiisotop der Uran-238-Zerfallsreihe, das mit einer Halbwertszeit von 22 Jahren weiter zerfällt. Diese kurze Halbwertszeit kann zur Erkennung von Fälschungen aus jüngster Zeit genutzt werden. Zudem wurde das zu Lebzeiten Vermeers in den Niederlanden verwendete Blei aus Lagerstätten in den europäischen Mittelgebirgen gewonnen. Seit dem 19. Jahrhundert werden jedoch Bleierze aus Amerika und Australien eingeführt, so dass sich das moderne Bleiweiß im Gehalt an Spurenelementen und in der Isotopenzusammensetzung des Bleis vom älteren Bleiweiß unterscheidet. Dieses zeichnete sich zusätzlich durch hohe Silber- und Antimongehalte aus, während das moderne Bleiweiß diese Elemente nicht mehr enthält, da diese bei der Verhüttung vom Blei getrennt werden.
Rezeption
Malerei
Malerisch wurde Jan Vermeer durch Salvador Dalí rezipiert. Als Kind faszinierte Dalí eine Reproduktion von Vermeers Die Spitzenklöpplerin, die sich im Arbeitszimmer seines Vaters befand. 1934 malte er einige Bilder mit Bezug zu Werken Jan Vermeers wie The Ghost of Vermeer of Delft Which Can Be Used As a Table, welches Vermeer als eine dunkle, kniende Figur zeigt, die ein Bein weit abspreizt, so dass es eine Tischplatte bildet. Auf diesem Tisch befinden sich eine Flasche und ein kleines Glas. In dem Bild Paysage avec elements enigmatiques aus demselben Jahr wird Jan Vermeer vor der Staffelei sitzend dargestellt. Im Jahr 1936 entstand Apparition de la ville de Delft, welches im Hintergrund einen Teil der Ansicht von Delft zeigt. Salvador Dalí bat den Louvre, eine Kopie der Spitzenklöpplerin anfertigen zu dürfen und erhielt die Erlaubnis. So entstand 1955 die Kopie und das Bild Peintre paranoïaque-critique de la Dentellière de Vermeer (deutsch: Paranoisch-kritisches Gemälde der Spitzenklöpplerin von Vermeer), in dem er das Gemälde in Form von Rhinozeroshörnern explodieren lässt. Diese Form entstand schon in Dalis Kindheit, weil er beim Betrachten der Reproduktion des Gemäldes an diese denken musste.
Salvador Dalí bewunderte Vermeer und verglich die Spitzenklöpplerin mit der Sixtinischen Kapelle. Dazu sagte er wörtlich: „Michelangelo mit dem Jüngsten Gericht ist nicht großartiger als Vermeer van Delft mit seiner Spitzenklöpplerin im Louvre, eine Handspanne im Quadrat groß. Wenn man die plastischen Dimensionen in Betracht zieht, so kann man Vermeers Spitzenklöpplerin der Sixtinischen Kapelle gegenüber als großartig bezeichnen.“
Unter den Gegenwartskünstlern ist es Gerhard Richter, dessen Bewunderung für Vermeer immer wieder genannt wird und diese in seinen „unscharfen“ Foto-Adaptionen zum Ausdruck kommt.
Literatur
Großer Bekanntheit erfreut sich die Rezeption des Bildes Ansicht von Delft durch den französischen Schriftsteller Marcel Proust. Er bereiste im Oktober 1902 die Niederlande und sah dort neben anderen Bildern auch Vermeers Ansicht von Delft, die ihm am besten gefiel. Als im Frühling 1921 im Museum Jeu de Paume in Paris eine Kollektion von Werken niederländischer Meister gezeigt wurde, besuchte Proust diese Ausstellung, obwohl er an Asthma erkrankt war und sich zurückgezogen hatte, da auch die Werke Ansicht von Delft, Dienstmagd mit Milchkrug und Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge von Vermeer ausgestellt wurden. Auf der Treppe zur Ausstellung erlitt er einen Schwächeanfall, den er einem vorher verzehrten Kartoffelgericht zuschrieb. Marcel Proust griff die Delfter Ansicht ebenso wie den Schwächeanfall in seinem Monumentalwerk A la recherche du temps perdu (entstanden zwischen 1913 und 1927, dt.: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit) auf, und zwar im fünften Teil, La Prisonnière (1923, Die Gefangene) mit seiner Romanfigur Bergotte. Diese wird durch eine Kritik auf ein „gelbes Mauerstück“ in der Ansicht von Delft aufmerksam. Dieses Mauerstück gibt noch heute Rätsel auf, da es auf dem Gemälde nicht zu finden ist. Die Lage wird im französischen Original mit Le petit pan de mur jaune avec un auvent und du tout petit pan de mur jaune (deutsch etwa: „eine kleine Fläche gelben Mauerwerks mit einem Vordach“) angegeben. Da diese Stelle auf dem Bild nicht vorhanden ist, geht man heute davon aus, dass Proust entweder diese Mauerstelle für seinen Roman erfunden hat oder, möglicherweise aufgrund seiner Krankheit, beim Schreiben dieser Passage einem Erinnerungsfehler zum Opfer gefallen ist.
In jüngerer Vergangenheit erlangte Jan Vermeer durch den 1999 erschienenen Roman Das Mädchen mit dem Perlenohrring von Tracy Chevalier größere Popularität, der von Peter Webber 2003 verfilmt wurde. Er befasst sich mit der Frage, wer die Frau auf dem Bild Das Mädchen mit dem Perlenohrgehänge ist, und entwickelt eine fiktive Geschichte um die Magd Griet, die für das Bild Modell sitzt. Ebenfalls fiktiv ist die Geschichte, die Susan Vreeland in dem Buch Das Mädchen in Hyazinthblau erzählt. Das von ihr erfundene Gemälde Vermeers Mädchen mit Nähkorb, das seine Tochter zeigt, wird durch die Geschichte zurückverfolgt und damit die Beschreibung der verschiedenen Besitzer verknüpft. Vermeer selbst wird nur am Ende des Buches direkt behandelt, ansonsten stellt sein Bild das einzige verbindende Element der verschiedenen Episoden dar.
Mit Das Pentomino-Orakel greift auch ein Kinderbuch Jan Vermeer auf. Das Buch der Autorin Blue Balliett bezieht sich vor allem auf die Bilder Der Geograph und Die Briefschreiberin in Gelb. Letzteres wird gestohlen, um darauf aufmerksam zu machen, dass einige Bilder fälschlicherweise Vermeer zugeschrieben wurden. Weiterhin schrieb Luigi Guarnieri 2005 den Roman Das Doppelleben des Vermeer, der die Geschichte des Kunstfälschers Han van Meegeren erzählt, der durch die Fälschung von angeblichen Vermeer-Gemälden berühmt wurde.
Film
Unter der Regie von Jean Oser entstand 1952 der Oscar-prämierte Kurzfilm Light in the Window, der sich mit dem Leben und Wirken von Vermeer beschäftigt.
Peter Greenaway versuchte 1985 in seinem Film Ein Z und zwei Nullen die Werke von Jan Vermeer in der Realität nachzustellen. Im Film All the Vermeers in New York von Jon Jost aus dem Jahr 1990 wird Jan Vermeer beiläufig erwähnt, als sich eine französische Schauspielerin vor den Vermeer-Bildern im Metropolitan Museum mit einem Makler trifft.
2003 wurde das Buch Das Mädchen mit dem Perlenohrring von dem britischen Filmregisseur Peter Webber verfilmt. Die Hauptrolle der Magd spielte Scarlett Johansson, Vermeer wurde von Colin Firth verkörpert. Das Mädchen mit dem Perlenohrring erhielt mehrere Preise und wurde für drei Oscars nominiert.
Neben seiner malerischen Rezeption griff Salvador Dalí Jan Vermeer auch filmisch auf. 1954 begannen er und Robert Descharnes mit Dreharbeiten für einen Film namens L’Histoire prodigieuse de la Dentelliere et du Rhinoceros, auch L’aventure prodigieuse de la Dentelliere et du Rhinoceros. Dieser Film, der thematisch mit der Spitzenklöpplerin und dem Rhinozeros zu tun hatte, wurde jedoch nicht fertiggestellt. Auch in dem surrealistischen Film Ein andalusischer Hund aus dem Jahr 1929, an dem Dali ebenfalls beteiligt war, taucht kurz das Bild Die Spitzenklöpplerin als Abbildung in einem Buch auf.
Im Jahr 2013 erschien eine Dokumentation über den Erfinder Tim Jenison, Tim’s Vermeer. Er folgte einer Theorie, dass Vermeer beim Malen optische Instrumente verwendet hat. So baute er einen Raum nach Vorbild des Gemäldes Die Musikstunde nach und malte nach, was er durch seine Instrumente sah. Eine Ausbildung zum Malen hatte er nicht. Nach vier Monaten beendete er seine Arbeit. Er selbst sieht die Theorie bestätigt, während Kunsthistoriker daran zweifeln, dass Vermeer tatsächlich optische Instrumente auf diese Weise verwendet hat.
2015 entstand unter der Regie von Jean-Pierre Cottet und Guillaume Cottet die Dokumentation Vermeer – Die Revanche. Sie ist ein Lebenslauf anhand von Vermeers Bildern (Frankreich 2015, 95 Min.).
Liste der heute bekannten und Vermeer zugeschriebenen Bilder
Die zeitliche Einordnung der Gemälde von Vermeer ist ein grundsätzliches Problem für die Kunstgeschichtsschreibung, weil der Maler selbst nur drei seiner Gemälde datiert hat: Bei der Kupplerin, Der Astronom und Der Geograph. Die Datierungen aller übrigen Bilder können nur vermutet werden, da die wenigen vorhandenen Angaben keine ausreichenden Anhaltspunkte für eine zeitliche Einordnung bieten.
Literatur
Ludwig Goldscheider (Hrsg.): Johannes Vermeer: Gemälde. Phaidon, Köln 1958.
Piero Bianconi, István Schlégl: Das Gesamtwerk von Vermeer. Kunstkreis, Luzern 1967.
Ernst Günther Grimme: Jan Vermeer van Delft. DuMont/Schauberg, Köln 1974, ISBN 3-7701-0743-8.
Heinz Althöfer (Hrsg.): Fälschung und Forschung. Ausstellungskatalog. Museum Folkwang, Essen 1979, ISBN 3-7759-0201-5.
Ben Broos, Arthur K. Wheelock (Hrsg.): Vermeer. Das Gesamtwerk. Belser, Stuttgart 1995, ISBN 3-7630-2322-4.
Philip Steadman: Vermeer’s camera. Uncovering the truth behind the masterpieces. University Press, Oxford 2001, ISBN 0-19-280302-6.
Anthony Bailey: Vermeer. Siedler, Berlin 2002, ISBN 3-88680-745-2.
Thorsten Smidt: Johannes Vermeer, der Geograph. Die Wissenschaft der Malerei. Staatliche Museen, Kassel 2003, ISBN 3-931787-23-0.
Sara Hornäk: Spinoza und Vermeer. Immanenz in Philosophie und Malerei. Königshausen & Neumann, Würzburg 2004, ISBN 3-8260-2745-0.
Norbert Schneider: Vermeer. Sämtliche Gemälde. Taschen, Köln 2004, ISBN 3-8228-6377-7.
Ariana Rüßeler: Die Entdeckung einer Camera Obscura in Jan Vermeer van Delfts Gemälde „Die Malkunst“. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte. Jg. 69, Heft 4 (2006), S. 541–547.
Nils Büttner: Vermeer. C.H. Beck, München 2010, ISBN 978-3-406-59792-3.
Hajo Düchting: Jan Vermeer und seine Zeit. Belser, Stuttgart 2011, ISBN 978-3-7630-2583-1.
Karl Schütz: Jan Vermeer. Das vollständige Werk. Taschen, Köln 2015, ISBN 978-3-8365-3640-0.
Andreas Prater: Vermeer und Epikur. Lebenslust in der Kunst der Frühaufklärung. De Gruyter, Berlin 2021, ISBN 9783110682892.
Hubertus Schlenke: Vermeer mit Spinoza gesehen. Gebr. Mann Verlag, Berlin 1998, ISBN 3-7861-2273-3.
Pieter Roelofs, Gregor J. M. Weber (Hrsg.): Vermeer. Offizieller deutschsprachiger Begleitband zur großen Ausstellung im Rijksmuseum. Belser, Stuttgart 2023, ISBN 978-3-7630-2904-4.
Weblinks
Jan Vermeer in Swisscovery, dem schweizerischen Suchportal der wissenschaftlichen Bibliotheken
(Informationen: )
Essential Vermeer
Vermeer Zentrum Delft
johannesvermeer.org – Die Werke von Johannes Vermeer (englisch)
Vermeer, Delfter Kuenstler, Digitales Vermeer-Haus
Einzelnachweise
Maler (Niederlande)
Person als Namensgeber für einen Asteroiden
Geboren 1632
Gestorben 1675
Mann |
15067 | https://de.wikipedia.org/wiki/Bessarabien | Bessarabien | Bessarabien (IPA: [], , , selten auch , ) ist eine historische Landschaft, die geografisch zu Südost- und Osteuropa gehört und vom Schwarzen Meer im Süden sowie den Flüssen Pruth im Westen und Dnister/Dnjestr im Osten begrenzt wird. Das frühere Bessarabien deckt sich heute weitgehend mit dem westlich des Dnister liegenden Teil der Republik Moldau, nur der Süden (Budschak) sowie der äußerste Norden (um Chotyn) gehören zur Ukraine. Jahrhundertelang war das Land Pufferregion zwischen den Großmächten Österreich, Russland und dem Osmanischen Reich. 1812 trat das Fürstentum Moldau die Herrschaft an Russland ab. Danach war der mehrheitlich von Rumänen bewohnte Landstrich bis 1917 als Gouvernement Bessarabien Teil des Russischen Kaiserreichs. 1918 war Bessarabien kurzzeitig unabhängig. In der Zwischenkriegszeit war es östliche Provinz Rumäniens, nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es der Sowjetunion angeschlossen.
Name
Die Bezeichnung „Bessarabien“ (rumänisch Basarabia, gagausisch Basarabiya) leitet sich vom walachischen Fürstengeschlecht Basarab ab, das dort im 13. und 14. Jahrhundert herrschte. Ursprünglich galt nur das südliche Drittel des Landes als Terra Bassarabum (lat.). Mit der russischen Übernahme von 1812 dehnte Russland die Bezeichnung „Bessarabien“ auf das gesamte Gebiet zwischen den Flüssen Pruth und Dnister/Dnjestr aus.
Wappen
Das Wappen Bessarabiens ist der Auerochse, der oben von einem fünfzackigen Stern, links (heraldisch: rechts) von einer Rose und rechts (heraldisch: links) von einem Halbmond umgeben ist. Die Wappendarstellung (Zeichnung links) entstammt einem Dokument, in dem die nationale Vollversammlung Bessarabiens (Sfatul Țării) am 9. April 1918 den Anschluss des Gebietes an Rumänien für ewige Zeiten erklärte.
Der Auerochse ist das Symbol des Fürstentums Moldau, zu dem Bessarabien bis zu seiner Abtrennung 1812 gehörte.
Land und Landwirtschaft
Geografie
Bessarabien war ein Landstrich am Schwarzen Meer zwischen den Flüssen Pruth im Westen und Dnister im Osten und im Übergang von den Karpaten zur osteuropäischen Steppe. Die Fläche betrug bei einer Ausdehnung von ca. 450 km × 100 km rund 45.000 km². Das südliche Drittel (Budschak), sowie der nordwestliche Zipfel um die Stadt Chotyn gehören heute zur Ukraine (im Osten der Oblast Tscherniwzi). Der Rest der nördlichen zwei Drittel und der zentrale Teil sind heute Teil der Republik Moldau und machen den Hauptteil des Staatsgebietes aus.
Bessarabien lässt sich landschaftlich in drei Zonen unterteilen. Nordbessarabien ist als Karpatenausläufer eine leicht bewaldete Hochebene von etwa 400 m über dem Meeresspiegel. Dieser Landesteil ist mit Eichen- und Buchenwäldern bedeckt und von tiefen Schluchten durchschnitten. Mittelbessarabien ist ebenfalls von Wäldern bedeckt (wovon es auch den Namen Codrii, also „Wälder“ trägt) und geht ab Tighina allmählich in das steppenähnliche Gebiet des Budschak in Südbessarabien über, ein flachwelliges Hügelland mit einer baumfreien Landschaft etwa 100 m über dem Meeresspiegel. Unter mannshohem Steppengras liegt fruchtbarer Schwarzerdeboden. Alle Flüsse fließen bei geringem Gefälle in südöstliche Richtung und münden ins Schwarze Meer. Im Sommer fallen die kleinen Steppenflüsse fast trocken.
Klima
Das Klima des Gebietes ist kontinental mit trockenheißen Sommern und kalten Wintern. Im Süden herrscht ein trockenes Steppenklima mit geringen durchschnittlichen Niederschlagsmengen (300 mm), was in regenarmen Jahren ohne künstliche Bewässerung zu Missernten in der Landwirtschaft führt. Gleichzeitig kann es bei Wolkenbrüchen zu schwerwiegenden Überschwemmungen kommen, wenn die kleinen Flüsse überlaufen. Im waldreicheren Norden sind 600 mm jährlicher Niederschlag üblich.
Landwirtschaft
Bessarabiens Reichtum war die humusreiche, fruchtbare Schwarzerde mit einer Mächtigkeit von bis zu 1,5 m, die einen ertragreichen Anbau von Wein, Weizen, Hirse, Mais und Obst ermöglichte. Als reines Agrarland exportierte Bessarabien vor allem Wein, Früchte (Melonen und Kürbisse), Gemüse, Tabak, Getreide und Wolle, die aus der weit verbreiteten Schafzucht stammte, vor allem des feinwolligen Karakulschafes (das Lammfell ist als „Bessaraber“ im Rauchwarenhandel bekannt). Auch heute noch sind die landwirtschaftlichen Produkte von hoher Bedeutung. Diese machen z. B. für Moldau im Jahr 2000 etwa 40 % des Bruttoinlandsproduktes und zwei Drittel aller Exporte aus.
Die Exportprodukte transportierten die Landwirte zum Schwarzmeerhafen Odessa (Ukraine). Nach dem Anschluss an Rumänien (1918) ging jedoch der Absatz über das dann sowjetische Odessa verloren und auch der Verkauf in die Sowjetunion litt stark. Ein kleiner Ausgleich dafür war in den 1930er Jahren der Absatz von Ölfrüchten und Sojabohnen zu festen Preisen ins Deutsche Reich. Bei der Nutztierhaltung waren Rinder weiter verbreitet als Pferde. Die moldauischen Landwirte setzten beim Bestellen ihrer Ackerflächen vor allem Ochsen als Zugtiere ein, die bessarabiendeutschen Bauern aber nur Pferde.
Eine gewerbliche, industrielle Produktion gab es infolge der Armut an Energiequellen nur für den lokalen Bedarf, wobei es sich hauptsächlich um landwirtschaftliches Gerät handelte. Bodenschätze des Landes waren Salpeter und Marmor. Eine Gewinnung von Meersalz gab es in lagunenartigen Limanen des Schwarzen Meeres.
Verkehr
Vom 13. bis zum 14. Jahrhundert wetteiferten die Republik Genua und die Republik Venedig um die Vormacht im Handel am Schwarzen Meer. Ein wesentliches Ziel war der Import von Nahrungsmittel von dort nach Oberitalien, aber die Route durchs Schwarze Meer war bis zur Eroberung der Krim durch das Osmanische Reich im Jahr 1475 auch der westliche Abschnitt der Seidenstraße. Es entstanden Handelsposten an der Schwarzmeerküste, wie die Festung in Bilhorod-Dnistrowskyj mit dem Namen Mauro Castro, und an den Strömen. So unterhielten die Genuesen einen unbefestigten Handelsposten tief im Landesinneren in Tighina (Bender) am Dnister. Auch in den späteren Jahrhunderten, als Bender zum Fürstentum Moldau gehörte, behielt die Stadt ihre Rolle für den Schwarzmeerhandel.
Das Straßennetz im Land war stets unterentwickelt und behinderte die wirtschaftliche Entwicklung. 1930 gab es 800 Kilometer befestigte Straßen und 7000 km Naturwege, die nur bei trockenem Wetter befahrbar waren. Die erste Eisenbahnverbindung verband 1871 die Landeshauptstadt Kischinjow mit dem russischen Reich. Als Bessarabien 1918 von Russland nach Rumänien wechselte, wurde das 1300 km lange Gesamteisenbahnnetz von der russischen Breitspur auf die mitteleuropäische Normalspur umgestellt. Dieser Schritt wurde mit der Eingliederung in die Sowjetunion rückgängig gemacht. Der Schiffsverkehr lag größtenteils darnieder, obwohl das Land von den Gewässern Pruth, Dnister und Donau umgeben war sowie Anteil am Schwarzen Meer hatte. Den auf 200 km schiffbaren Pruth befuhren 1920 26 Frachtkähne. Der Schiffsverkehr auf dem 700 km schiffbaren Dnister war nach 1918 wegen der Grenzlage zwischen Rumänien und der Sowjetunion lahmgelegt.
Siedlungen und Städte
Außer der bessarabischen Hauptstadt Kischinau, russisch Kischinjow, rumänisch Chișinău, gab es keine bedeutenden Städte. Kischinjow am Rande des russischen Imperiums genoss jedoch in den ersten Jahrzehnten nach der Eroberung durch Russland keinen guten Ruf im Kaiserreich, sondern galt als Strafversetzungslager für Unzufriedene und Aufmüpfige. Der junge russische Nationaldichter Alexander Puschkin war von 1820 bis 1823 als Übersetzer nach Kischinjow verbannt worden und schrieb über die Stadt:
Ab 1834 entstand in Kischinjow durch einen großzügigen Stadtentwicklungsplan ein imperiales Stadtbild mit breiten und langen Straßen. Dennoch war Bessarabien ein Agrargebiet mit einer mehrheitlich auf dem Lande lebenden Bevölkerung. Die größeren Orte wiesen als Marktgemeinden nur halbstädtischen Charakter auf. Die Kolonistendörfer (siehe Foto oben) waren jeweils als Straßendorf angelegt und mehrere Kilometer lang. Im Gefolge jahrhundertelanger osmanischer Herrschaft gelangte der Typ der orientalischen Basarstadt ins Land. Viele Orte hatten deshalb großangelegte Marktflächen. Einige Ortsnamen im Süden deuten auf die frühere osmanische Herrschaft und tatarische Besiedlung hin, z. B. Akkerman (türk. für weiße Festung), Bender (türk. für das Tor, heute Tighina), Tatarbunar, Ismail, Tuzla, Kubey, Manuk-Bey.
Orte mit städtischem Charakter waren 1937 (mit Einwohnerzahl):
Chișinău (russ. Kischinjow, dt. Kischinau) 117.000, heute die Hauptstadt Moldaus
Cetatea Albă (Akkerman) 55.000, heute Bilhorod-Dnistrowskyj in der Ukraine
Tighina (Bender) 50.000, heute in Moldau, aber von Transnistrien verwaltet
Ismail 45.000, heute Ismajil in der Ukraine
Bălți (dt. Belz), 40.000, heute in Moldau
Hotin 35.000, heute Chotyn in der Ukraine
Soroca 35.000, heute in Moldau
Die übrigen größeren Orte wie Orhei, Chilia, Comrat, Tuzla, Cahul, Leova, Bolgrad und Vâlcov waren nur Marktflecken mit bis zu 15.000 Einwohnern.
Bevölkerung
Volkszählungen
Wie von der Obrigkeit anfangs vorgegeben, bewohnten die Volksgruppen im 19. Jahrhundert zunächst jeweils eigene Dörfer. Unter den deutschen Kolonisten gab es ursprünglich sogar eine Trennung in evangelisch-lutherische und katholische Siedlungen. Im 20. Jahrhundert bestand die reine ethnische oder sprachliche Einheit in den Dörfern nicht mehr. Die meisten Dörfer waren noch immer mehrheitlich von einer einzelnen Volksgruppe bewohnt, in den größeren Städten lebte allerdings nun eine gemischte, multikulturelle Bevölkerung. Zwischen den verschiedenen Ethnien etablierte sich ein friedliches Nachbarschaftsverhältnis, wobei jedoch Mischehen aufgrund der unterschiedlichen Sprach- und Religionszugehörigkeiten eher selten waren.
Anmerkungen:
¹ Die Ergebnisse des Zensus von 1897 wurden wiederholt angezweifelt. Mehrere Historiker sind der Meinung, dass der Anteil der Moldauer bzw. Rumänen höher war und über 50 % betrug. Als sicher gilt, dass eine rumänische Mehrheit mindestens bis Mitte des 19. Jahrhunderts existierte.
² Gagausen hatten bei der Volkszählung 1897 nur die Möglichkeit, Türkisch als Muttersprache anzugeben. 2,9 % (knapp 56.000 Menschen) gaben Türkisch als Muttersprache an, ein signifikanter Teil der Gagausen gab aber Bulgarisch als Muttersprache an, so dass diese Zahl nicht unbedingt der tatsächlichen Zahl der Gagausen entsprach.
Jüdische Bevölkerung
Katharina die Große hatte 1791 fast alle russischen Juden gezwungen, in westliche Provinzen umzusiedeln, und so das „Schtetl“ geschaffen. Ihre Politik wurde von den späteren Zaren im Wesentlichen fortgesetzt, wodurch Bessarabien nach der russischen Übernahme von 1812 Bestandteil des Ansiedlungsrayons wurde. Allerdings galt bis 1835 ein Autonomiestatus, so dass dort die normalen russischen gesetzlichen Diskriminierungen nicht gültig waren (wie das Verbot von Landkauf). Eine weitere Gruppe von Zuzüglern waren Juden aus Deutschland und Polen, die genauso wie die Juden aus anderen Gebieten meist Jiddisch sprachen. Infolgedessen gab es in den größeren Orten bald einen Anteil von nahezu 40 % jüdischer Bevölkerung.
In den folgenden Jahrzehnten wurden die gesetzlichen Begünstigungen nach und nach geringer. Dennoch gab es bis zur vollständigen Abschaffung der Diskriminierung nach der Oktoberrevolution von 1917 einige Vorteile, die auf die günstige Lage am Rande des russischen Reichs zurückzuführen sind.
Nach der Ermordung des reformorientierten Zaren Alexander II. im Jahre 1881 führte Zar Alexander III. mit den Maigesetzen die alten Beschränkungen wieder ein. Bis auf Bessarabien, wo die Mehrheitsbevölkerung eine Minderheit in Russland war, gab es nun im gesamten russischen Süden Judenpogrome, was zu einer vermehrten Auswanderung von Juden führte. Beim Pogrom von Kischinjow am 6. April 1903, das vom Herausgeber der einzigen Zeitung Bessarabez (Бессарабецъ) bewusst geschürt worden war und Anzeichen einer organisierten Tat aufwies, starben 47 Menschen. Die Reaktion auf eine Dokumentation dieses Vorfalls in der Weltpresse war heftig, selbst innerhalb Russlands. So wurde dem Zaren im Juli 1905 eine US-amerikanische Petition übergeben, die allerdings keine Wirkung auf seine Politik hatte. Unter dem Eindruck des Ereignisses schrieb Chaim Nachman Bialik mehrere Gedichte, darunter das 1904 entstandene berühmte Gedicht Be-Ir ha-Haregah („In der Stadt des Schlachtens“). Im Jahre 1905 gab es ein weiteres Pogrom mit 19 Toten. Während des Zweiten Weltkrieges wurden unter deutsch-rumänischer Besatzung zuerst Massaker unter der jüdischen Bevölkerung verübt; später die Überlebenden in Todesmärschen in das rumänisch okkupierte Transnistrien deportiert und mehrheitlich ermordet.
Bulgarische Bevölkerung
Einzelne bulgarische Familien kamen schon Ende des 18. Jahrhunderts als Emigranten nach Südbessarabien, in den Budschak, um Schutz vor den Übergriffen des Paschas Osman Pazvantoğlu zu finden. Größere Gruppen wanderten nach der russischen Übernahme von 1812 ein und ließen sich im Westen bei der Stadt Bolgrad und auf den von den Tataren verlassenen Gebieten im Süden nieder. 1819 erhielten die 24.000 im Land lebenden Bulgaren eine Selbstverwaltung und den Kolonistenstatus. Eine größere Flüchtlingswelle ließ sich im Zuge des Russisch-Türkischen Krieges (1828–1829) in Bessarabien nieder, als ganze Landstriche Thrakiens, westlich und südlich der heutigen Stadt Burgas, entvölkert wurden und die Bevölkerung mit den russischen Truppen vor den anrückenden Osmanen flüchtete.
Die an der südwestlichen Grenze Bessarabiens angrenzende Dobrudscha war zwischen Bulgarien und Rumänien umstritten, da sowohl Bulgaren als auch Rumänen dort lebten, und Rumänien einen Zugang zum Schwarzen Meer wollte. Die bessarabischen Bulgaren waren von diesem Konflikt, aber auch von der Unabhängigkeitsbewegung Bulgariens von den Osmanen, seit dem Bulgarischen Aprilaufstand 1876, erfasst. Während des Aufstandes kaperte Christo Botew, ein in Bessarabien lebender Bulgare, ein Dampfschiff auf der Donau und griff mit 200 anderen Exil-Bulgaren in die Kämpfe gegen die Osmanen ein. Des Weiteren erklärte im April 1877 Zar Alexander II. dem Osmanischen Reich den Krieg mit dem Ziel, „die Bulgaren und andere Balkanvölker zu befreien“, was letztendlich die Unabhängigkeit Rumäniens zur Folge hatte.
Deutsche Bevölkerung
Deutsche Auswanderer, die der Zar 1813 als Kolonisten ins Land rief, lebten in Bessarabien zwischen 1814 und 1940. Sie lebten als selbstständige Landwirte auf eigener Scholle. In 125-jähriger Siedlungszeit hatten sie die ursprüngliche Zahl von 24 Mutterkolonien auf über 150 bessarabiendeutsche Siedlungen erweitert. Die Zahl von etwa 9.000 eingewanderten Personen hatte sich auf 93.000 Personen mehr als verzehnfacht. Die anfänglich gewährten Privilegien, darunter die Selbstverwaltung durch das Fürsorgekomitee mit Sitz in Odessa, wurden um 1870 mit der Aufhebung des Kolonistenstatus zurückgenommen. Vor allem wegen der Einführung des Militärdienstes wanderten in der Folge viele Kolonisten nach Nord- und Südamerika (mit Schwerpunkten in Nord- und Süd-Dakota, Kanada, Argentinien, Brasilien) aus.
Nach der Besetzung Bessarabiens durch die Sowjetunion als Folge des Hitler-Stalin-Paktes im Juni 1940 wurden fast alle dort lebenden „Volksdeutschen“ durch die Heinrich Himmler unterstellte „Volksdeutsche Mittelstelle“ in das Deutsche Reich umgesiedelt. Im September 1940 wurde mit der Sowjetunion dazu ein spezieller Umsiedlungsvertrag geschlossen.
Organisator dieser Kampagne unter der Devise Heim ins Reich war das Hauptamt Volksdeutsche Mittelstelle. Nach einem bis zu zweijährigen Aufenthalt in Lagern erhielten die Umsiedler ab 1941/42 Bauernhöfe im besetzten Polen, deren polnische Besitzer von deutschem Militär vertrieben wurden. Als 1944 die Rote Armee anrückte, flohen die Bessarabiendeutschen nach Westen. Unter den bessarabiendeutschen Umsiedlern waren auch die Eltern des späteren deutschen Bundespräsidenten Horst Köhler.
Gagausische Bevölkerung
Heute leben im südlichen Moldau auf dem Boden des früheren Bessarabien etwa 175.000 christlich-orthodoxe Gagausen in der autonomen Republik Gagausien mit der Hauptstadt Comrat.
Die Vorfahren der Gagausen waren wahrscheinlich Kumanen, der westliche Teil der Kyptschaken, die im Osten der Balkanhalbinsel lebten. Im 13. Jahrhundert wurden diese vorübergehend katholisch (siehe auch: Codex Cumanicus). Kurz danach gingen die Kumanen nördlich der Donau in den Rumänen auf. Zwischen 1812 und 1845 wanderten gagausische Nomaden aus der Dobrudscha und dem heutigen Osten Bulgariens in den Budschak, in Ortschaften wie Avdarma, Comrat, Congaz, Tomai und Cismichioi und teilweise weiter auf die Krim. Im Jahr 1906 gründeten die Gagausen eine eigene Republik, die allerdings nur wenige Tage Bestand hatte.
Kulturdenkmäler
In Bessarabien finden sich einige bedeutende Kulturdenkmäler, obwohl das Land über Jahrhunderte Durchzugsgebiet vieler Völkerschaften war und infolge kleinbäuerlicher Landwirtschaft kaum wirtschaftliche Ressourcen besaß.
Bauhistorisch bedeutend ist die an der Dnister-Mündung zum Schwarzen Meer gelegene mittelalterliche Festung in Akkerman (türk. für weiße Stadt), heute Bilhorod-Dnistrowskyj in der Ukraine, in rumänischer Zeit Cetatea Alba (rumän. für weiße Burg). Weitere Befestigungen errichteten die Fürsten der Moldau gegen Tatareneinfälle am Dnister in Chotyn, Soroca, Orhei und Tighina sowie gegen die Türken in Kilija an der Donau.
Archäologisch erwähnenswert sind die in Südbessarabien vorkommenden Kurgane. In den bis zu 30 m hoch aufgeschütteten Grabhügeln bestatteten die Träger der Kurgankultur, deren ethnische Zuordnung umstritten ist, ihre Anführer zusammen mit einigen reich geschmückten Pferden. Von den beiden 120 km langen und den Römern zugeschriebenen Trajanswällen (Unterer und Oberer) sind noch heute stellenweise fünf Meter hohe Wälle vorhanden. Bedeutende Höhlenkirchen und -klöster entstanden zwischen dem 12. und 17. Jahrhundert und sind an den Ufern der Flüsse Dnister und Răut in Fels gehauen. In einem etwa 100 m hohen Fels in Țipova (Rajon Rezina) sind 19 Höhlen miteinander verbunden und bilden ein Ensemble aus Eremitenzellen, Glockenturm und einer Kirche. In Saharna (Rajon Rezina) finden sich auf einem Felsen Bebauungsspuren, die bis ins 2. Jahrhundert v. Chr. reichen. Weitere historische Bauten sind Ruinen in Orheiul Vechi (Rajon Orhei) aus der tatarischen Zeit im 14. Jahrhundert, die mit der Goldenen Horde in Verbindung gebracht werden. Man nimmt an, dass hier die westlichste tatarische Hauptstadt Schehr al-Jadid war.
Geschichte
Urgeschichte
2010 wurden am unteren Dnister bei Dubăsari (Transnistrien) Artefakte des Acheuléen entdeckt, die auf bis zu 800.000 Jahre datiert wurden. Die beiden Sandstein-Chopper und die vier Flintstücke galten damit als älteste menschliche Spuren Moldaviens und der Ukraine sowie Westrusslands.
In Bessarabien finden sich wenige mittelpaläolithische Fundorte, zu deren ältesten lange die Höhle von Duruitoarea Veche zählte. Die dortigen Artefakte wurden inzwischen auf etwa 70.000 Jahre datiert. Als älter gilt inzwischen die Fundstätte Ofatinti, die bis zu 125.000 Jahre zurückreicht.
Antike und Mittelalter
Das älteste historisch bezeugte Volk auf bessarabischem Gebiet waren die Skythen, die als nomadisierende Reiterkrieger im 6. Jahrhundert v. Chr. aus östlichen Steppengebieten einwanderten. Noch in vorchristlicher Zeit gründeten Griechen (siehe auch: Tyras, antike griechische Stadt) Kolonien an der Schwarzmeerküste und erwähnten den im zentralen Bessarabien siedelnden germanischen Stamm der Bastarnen. Hier wurden auch Daker (Geten) erwähnt (Tyragetae). Ab dem 1. Jahrhundert v. Chr. war Bessarabien Teil des Reiches Dacia. Im 1. Jahrhundert eroberte das Römische Reich Teile des Landes. Ihm wird die Sicherung des Landes durch den Trajanswall zugeschrieben.
In der Völkerwanderungszeit zwischen dem 3. und dem 11. Jahrhundert war Bessarabien Durchzugsgebiet von Wandervölkern, darunter Goten, Hunnen, Awaren, Madjaren. Im 7. Jahrhundert ließen sich die Bulgaren im Süden Bessarabiens nieder, im Deltaraum der Donau, und gründeten das Bulgarische Reich. Im 13. Jahrhundert besiedelten Tataren der Goldenen Horde Gebiete am nördlichen Schwarzmeer, doch verschwanden ihre Spuren in Bessarabien bald danach.
Gegen Ende des 13. Jahrhunderts gehörte der südliche Landstrich zur Walachei. Seit dem 14. Jahrhundert gehört das Gebiet zwischen dem Pruth und Dnister/Dnjestr dem Fürstentum Moldau. Zwischen dem 15. und dem 19. Jahrhundert war die Moldau Einflussbereich des Osmanischen Reichs, dem Vorläuferstaat der Türkei. Der Süden Bessarabiens (der Budschak) stand seit dem Ende des 15. Jahrhunderts unter direkter osmanischen Herrschaft.
Im Mittelalter waren verschiedene walachische und moldauische Fürsten, darunter Neagoe Basarab (1512–21), Negru Vodă Basarab und Ladislas Basarab, hier einflussreich. Sie beherrschten im 13. und 14. Jahrhundert rund 150 Jahre lang das Gebiet. Kontakte unterhielten sie mit der Kiewer Rus, mit Ungarn und Polen.
Osmanische Zeit
Nachdem die Osmanen das von Fürst Stephan dem Großen erbaute Kastell in Akkerman (siehe auch Oblast Odessa) am 14. Juli 1484 erobert hatten, begann die osmanische Zeit. Etwa ab 1511 war ganz Südbessarabien von Sultan Bayezid II. erobert und wurde mit tatarischen Hirten der Nogaier-Horde bevölkert. Sie nannten den Südteil des Landes Budschak, was Winkel bedeutet, und für die dreieckige Form des Landstücks zwischen Pruth, Dnister und Schwarzem Meer steht. 1538 wurde auch Tighina (Bendery) osmanisch.
Das Fürstentum Moldau, zu dem das spätere Bessarabien gehörte, war seit Beginn des 16. Jahrhunderts bis 1859 ein Vasallenstaat des Osmanischen Reichs. Getreidelieferungen nach Konstantinopel sicherten die innere Autonomie. Dafür baute der Sultan keine Moscheen in dem Donaufürstentum und gewährte ihm Schutz vor äußerer Bedrohung, wie dem russischen und habsburgischen Expansionsdrang im 18. und 19. Jahrhundert.
Russische Zeit
Konsequenz des russischen Expansionsdrangs gegenüber Konstantinopel war der 1806 begonnene 6. russische Türkenkrieg. Während des Krieges siedelten um 1810 russische Truppen Teile der im Budschak nomadisierenden Turkvölker auf die Krim um, ein Großteil war bereits mit den Osmanen geflohen und in die Dobrudscha evakuiert worden. Nach von Karl Marx für die New York Tribune verfassten Berichten gingen die russischen Truppen bei der Eroberung mit brutaler Gewalt gegen die einheimische Zivilbevölkerung vor: »Es gab grausame Exzesse, Zwangsabgaben aller Art, Frondienste, Diebstahl, Mord.« Der Verleger Horace Greeley veröffentlichte die Texte jedoch nicht, weil er sie für übertrieben hielt. 1812 drängte der russische Zar Alexander I. zum Friedensschluss, um sich auf den bevorstehenden Krieg mit Napoleon zu konzentrieren. Im Frieden von Bukarest bekam Russland die östliche Hälfte des Fürstentums Moldau zugesprochen, die westliche blieb weiterhin im Einflussbereich des Osmanischen Reichs. Die Grenze zwischen dem Osmanischen Reich und Russland verlief ab 1812 nicht mehr am Dnister, sondern 100 km bis 125 km weiter westlich, am Pruth. Im zugesprochenen Gebiet errichtete Russland das Gouvernement Bessarabien, das kleinste des Kaiserreichs. Hauptstadt wurde das mittelbessarabische Kischinew (Chișinău). Generalgouverneur von Neurussland und Bessarabien wurde 1823 Michail Semjonowitsch Woronzow.
Als Russland 1812 das Land zwischen den Flüssen Pruth und Dnister mit einer Fläche von etwa 45.000 km² übernahm, dehnte es den ursprünglich nur für den Südteil geltenden Begriff Bessarabien auf das gesamte Gebiet aus. Das Zarenreich wollte eine neue bessarabische Identität stiften, um die eigenen Machtansprüche auf die darin lebenden Rumänen historisch abzusichern. Russland gelangte in den Besitz von fünf Festungen, 17 Städten, 685 Dörfern und 482.000 Menschen. Nach der ersten russischen Volkszählung von 1817 bestand die Bevölkerung aus:
83.848 rumänischen Familien (86 % der Gesamtbevölkerung),
6000 ruthenischen Familien (6,5 %),
3826 jüdischen Familien (1,5 %),
1200 lipowanischen Familien (1,5 %),
640 griechischen Familien (0,7 %),
530 armenischen Familien (0,6 %),
241 bulgarischen Familien (0,25 %),
241 gagausischen Familien (0,25 %).
Die russischen Machthaber gewährten anfangs Autonomie und griffen nicht in das innere Gesellschaftsgefüge ein, erhöhten aber später den Russifizierungsdruck durch Einführung von Russisch als alleinige Amtssprache, nachdem 1828 der Autonomiestatus der Region aufgehoben worden war. Das Land war hauptsächlich in der Hand von Großgrundbesitzern, den Bojaren. Der Großteil der Bevölkerung waren kleine Bauern, die für den Eigenbedarf produzierten. Viele flüchteten nach der Eroberung Bessarabiens nach Westen über den Pruth-Fluss aus Angst vor der kommenden Einführung der russischen Leibeigenschaft, die zu diesem Zeitpunkt in Bessarabien nur noch bei den Roma praktiziert wurde, aber im restlichen Russland noch alle ethnischen Gruppen umfasste und sehr verbreitet war.
Zwischen 1856 und 1878 kam der südwestliche Teil Bessarabiens (Cahul, Bolgrad und Ismail) infolge des Krimkrieges wieder zur Moldau beziehungsweise zu Rumänien (ab 1859).
Kolonisierung
Nach der russischen Vertreibung und Umsiedlung der Tataren um 1810 aus dem südlichen Landesteil, dem Budschak, setzte ab 1812 die russische Kolonisation der bis dahin dünn besiedelten Region ein. Die russische Krone warb in Russland, der heutigen Ukraine und mittels Werbern im Ausland gezielt Kolonisten mit zugesicherten Privilegien an wie Landschenkungen, zinslosen Krediten, Steuerfreiheit für zehn Jahre, Selbstverwaltung, Religionsfreiheit und Befreiung vom Militärdienst.
Ab 1814 wanderten insgesamt etwa 9000 deutsche Auswanderer ein, die später die Volksgruppe der Bessarabiendeutschen bildeten. Sie gründeten insgesamt 150 deutsche Siedlungen, hauptsächlich im Steppengebiet des Budschak (siehe auch Geschichte der Russlanddeutschen). Hinzu kamen zahlreiche Bulgaren, die vor den osmanischen Truppen in den Herrschaftsbereich der russischen Krone geflohen waren. Da in Bessarabien nicht die sonst üblichen Verbote für Juden in der Landwirtschaft galten, entstanden im Norden 17 jüdische Dörfer, wo 1858 mehr als 10.000 Menschen vom Ackerbau lebten und damit im gesamten Russland eine geduldete Ausnahme darstellten.
Neben der Urbarmachung führte die Kolonisierung auch zur Veränderung der demografischen Verhältnisse in Bessarabien; der Anteil der rumänischen Mehrheitsbevölkerung sank stark.
Russifizierung und Sprachwandel
1812 versprach Russland bei den Verhandlungen in Bukarest die weitgehende Autonomie Bessarabiens, das Land sollte weiterhin von moldawischen Bojaren regiert werden. 1829 wurde die Region in ein russisches Gouvernement umgewandelt und die rumänische Sprache wurde zuerst aus der Verwaltung entfernt. Ab 1842 wurde die rumänische Sprache in den Gymnasien durch Russisch ersetzt und ab 1860 wurde auch der rumänische Unterricht in den Grundschulen eingestellt.
Die Russifizierung richtete sich gegen die Mehrheitsbevölkerung. Während der zaristischen Herrschaft verringerte sich der Anteil der Rumänen bzw. Moldauer in Bessarabien. Rumänen wurden angeregt, sich in anderen Regionen des Russischen Reiches niederzulassen (vor allem in Sibirien und in der Kuban-Region) und im Gegenzug wurden andere Ethnien angeworben. Die restriktive Sprachpolitik führte zur Assimilation des aufstrebenden Bürgertums in die russische Kultur.
Gebietsabtretungen
Die russische Niederlage im Krimkrieg 1853–1856 führte zum Pariser Frieden von 1856. Als Folge dessen ging ein Teil des 1812 von Russland gewonnenen südlichen Bessarabiens im Bereich der Donaumündung (etwa ein Viertel der Gesamtfläche) mit den Kreisen Cahul, Bolgrad und Ismail wieder zurück ans Fürstentum Moldau. Sieben europäische Staaten übernahmen die Schutzherrschaft über dieses Gebiet, durch das Russland den strategisch wichtigen Zugang zur Donaumündung verlor. Allerdings musste Rumänien diesen Teil Bessarabiens im Vertrag von Berlin 1878 wieder an Russland abtreten.
Rumänische Zwischenkriegszeit (1918 bis 1940)
Auch im russischen Gouvernement Bessarabien kündigte sich durch Revolten Anfang des 20. Jahrhunderts ein Sturz des Zarenregimes an. Am und , dem ersten Osterfeiertag, kam es in Chișinău, dem Zentrum jüdischen Lebens, zu einem größeren antisemitischen Pogrom, der 47 bis 49 jüdische Einwohner das Leben kostete. Schätzungsweise 400 wurden verletzt. Hunderte Haushalte und Geschäfte wurden geplündert und zerstört. Am 22. August 1905 kam es in der Stadt erneut zu einer blutigen Eskalation, als die Polizei das Feuer auf zirka 3.000 demonstrierende Landarbeiter eröffnete. Vergleichbar ist diese Tragödie mit dem Petersburger Blutsonntag, der sich am in Sankt Petersburg ereignete; dort wurden etwa 1.000 demonstrierende Arbeiter getötet.
Nach Ausbruch der russischen Revolutionswirren übernahm im November 1917 eine nationale Vollversammlung mit der Bezeichnung Landesrat (Sfatul Țării) mit Sitz in Kischinew die Regierung. Der Landesrat bestand Ende 1917 aus 156 Abgeordneten, von denen 67,3 %, also 105 Personen, ethnische Moldauer/Rumänen waren. Dies war deutlich höher als ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung, der nur bei knapp 50 % lag.
Am rief der Landesrat Bessarabien die Moldauische Demokratische Republik aus, die zu diesem Zeitpunkt aber noch keine volle Unabhängigkeit anstrebte, sondern Teil eines neuen, reformierten russischen Staates bleiben und dafür über weitgehende Autonomie verfügen sollte. Auch andere Teile des Russischen Reichs forderten nun mehr Autonomie oder drängten in die Unabhängigkeit.
Die Verhältnisse in Bessarabien waren chaotisch, denn die russische Front des Ersten Weltkrieges hatte sich aufgelöst, in Russland selbst tobte ein Bürgerkrieg zwischen Bolschewiki und Weißer Armee und die Macht des moldauischen Landesrats war zunächst eher beschränkt. Kommunistische Truppen des Rumtscherod besetzten am 5. Januar 1918 Kischinew, sodass Bessarabien unter Kontrolle der Bolschewiki kam. Am wurde aus Bessarabien und Teilen des Gouvernements Cherson die kurzlebige Sowjetrepublik Odessa mit Zentrum in Odessa gegründet. Der Landesrat (Sfatul Țării) rief am die vollständige Unabhängigkeit des Landes aus und bat Rumänien um militärischen Beistand. Rumänische Truppen marschierten daraufhin in ganz Bessarabien ein und brachten es nach kurzen, intensiven Gefechten unter ihre Kontrolle. Nach Ende der Kampfhandlungen zogen die rumänischen Truppen nicht mehr ab, sondern verblieben im Land, was von den meisten Bewohnern Bessarabians als Zeichen für einen baldigen Anschluss an Rumänien gesehen wurde.
Am 27. März stimmte der Landesrat, der zu diesem Zeitpunkt aus 135 Abgeordneten bestand, offiziell über eine Vereinigung mit Rumänien ab. Der Rat formulierte dazu elf Bedingungen, die im Falle einer Vereinigung gewährleistet werden sollten, darunter eine Agrarreform, lokale Autonomie und Minderheitenschutz. 86 Abgeordnete stimmten für die Vereinigung unter diesen Bedingungen, drei stimmten dagegen und 49 gaben keine Stimme ab. Die meisten Abgeordneten, die sich enthielten, taten dies aus Boykott, da rumänische Truppen ohnehin bereits im Land waren und sie die Vereinigung mit Rumänien daher als bereits entschieden ansahen. Unter den 86 "Für"-Stimmen waren nur zwei Abgeordnete nicht-rumänischer Herkunft.
Am 9. April 1918 erklärte Bessarabien unter Zustimmung weiter Teile der Bevölkerung den Anschluss an Rumänien für ewige Zeiten. Im November 1918 stimmte der bei nur 44 anwesenden Abgeordneten für eine bedingungslose Vereinigung mit Rumänien, sodass, bis auf die Agrarreform, alle 10 der 11 Bedingungen Bessarabiens an Rumänien aufgegeben wurden, darunter auch die Forderung nach Autonomie. Da weit weniger als die Hälfte der Abgeordneten überhaupt anwesend waren, wird diese Abstimmung heute als illegitim angesehen. Im selben Monat wurde die Vereinigung mit Rumänien offiziell vollzogen und der Landesrat löste sich auf. Aus Sicht der Sowjetunion, die den Anschluss an Rumänien nicht anerkannte, handelte es sich dabei jedoch um eine inszenierte Abspaltung von Russland und eine planmäßige Annexion durch Rumänien.
1920 wurde der Anschluss Bessarabiens an Rumänien im Pariser Vertrag von Frankreich, Großbritannien, Italien und Japan als rechtmäßig anerkannt. Die Vereinigten Staaten hingegen erkannten dies nicht an, kritisierten die Nicht-Einbindung der Sowjetunion in die Verhandlungen und bezeichneten Bessarabien als ein Territorium unter rumänischer Besatzung. Auch die Sowjetunion gab ihren Anspruch auf Bessarabien nicht auf. Sie forderte 1924 die Durchführung einer Volksabstimmung in Bessarabien über künftige staatliche Zugehörigkeit. Als Rumänien dies 1924 ablehnte, nannte die Sowjetunion Bessarabien „sowjetisches Territorium unter Fremdbesatzung“.
Am Ostufer des Dnjestr, auf dem Gebiet der Ukrainischen SSR wurde daher 1924 die „Moldauische Autonome Sozialistische Sowjetrepublik“ (MASSR) gegründet, um die Ansprüche auf Bessarabien zu untermauern. In dieser Region lebte eine signifikante rumänischsprachige (moldauische) Minderheit, die Mehrheit der Bevölkerung waren jedoch Ukrainer.
Rumänien setzte auf eine zentralistische Verwaltung und teilte Bessarabien in neun Kreise (Județ) auf. In der Zwischenkriegszeit von 1918 bis 1940 gab es eine wirtschaftliche Entwicklung und Rumänen setzte sich stark für den Ausbau der Infrastruktur in Bessarabien ein. Durch eine Agrarreform von 1920 mit der Enteignung von Großgrundbesitzern (mit mehr als 100 Hektar) konnten viele besitzlose Bauern zu eigenem Land gelangen. Die Durchführung dieser Reform dauerte allerdings bis in die 1930er Jahre an und wurde durch Korruption gehemmt.
In Bessarabien war jetzt erstmals nach 1812 für die rumänischsprachige Mehrheit der Bevölkerung wieder ihre Muttersprache Amts- und Schulsprache. Andererseits waren die ethnischen und sprachlichen Minderheiten, die über 40 % der Bevölkerung ausmachten, nun einer starken Rumänisierungspolitik ausgesetzt, die vielerorts auf Widerstand stieß. In weiten Teilen Bessarabiens waren Rumänen bzw. Moldauer nur eine Minderheit. In der mehrheitlich russischsprachigen Stadt Tighina etwa gab es mehrere bewaffnete Aufstände, die auf einen Anschluss an die benachbarte Sowjetunion abzielten.
Die lange Zugehörigkeit zum Russischen Reich hatte Spuren hinterlassen und nicht alle Rumänischsprachigen Bessarabiens sahen sich auch als Rumänen. Ein signifikanter Teil von ihnen hielt an einer von den Rumänen separaten, eigenen moldauischen Identität fest. In vielen Teilen Bessarabiens war eine pro-sowjetische Stimmung weit verbreitet, so dass die lokale Verwaltung häufig mit Rumänen aus anderen Teilen des Landes besetzt wurde, da viele Einheimische als potentielle Sympathisanten oder Spione der Sowjetunion angesehen wurden. Viele Einheimische sahen sich nach wie vor als Bürger zweiter Klasse. Probleme bereiteten auch die innenpolitisch schwierigen Verhältnisse in Rumänien, wie etwa der Aufstieg der ultranationalistischen, antisemitischen und faschistischen Eisernen Garde, die 1937 drittstärkste Partei bei den rumänischen Parlamentswahlen wurde. Seit 1937 bestand für Juden ein Verbot, Land zu erwerben.
Anders als im Russischen Reich gab es zwar Schulen, in denen auch andere Sprachen als die Amtssprache zugelassen waren, deren Zahl war jedoch weitaus niedriger als der Anteil der nicht-rumänischen Bevölkerung und eine Rumänisierung der Gesellschaft wurde forciert. Während viele Angehörige der ethnischen Minderheiten negativ gegenüber Rumänien eingestellt und schlecht integriert waren, assimilierten sich andere in die rumänische Gesellschaft. Beispiele hierfür sind der Politiker Iosif Chișinevschi oder der Schriftsteller Leonid Dimov, die beide aus einem russischsprachigen Umfeld stammten.
Sowjetische Besetzung 1940
Nach dem Ende des deutschen Westfeldzugs mit der Unterzeichnung des Waffenstillstands von Compiègne am 22. Juni 1940 sah die Sowjetunion den Zeitpunkt gekommen, die Rückgabe Bessarabiens nach 22 Jahren (aus ihrer Sicht widerrechtlicher) Zugehörigkeit zu Rumänien zu erreichen. Mit dem besiegten Frankreich hatte Rumänien seinen engsten Bündnispartner verloren. Am 28. Juni 1940 besetzte die sowjetische Rote Armee das Territorium Bessarabiens. Rumänien bekam zuvor ein 48-stündiges Ultimatum zur Abtretung gestellt, dem es kampflos nachkam. Wie im Geheimen Zusatzprotokoll des Deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakts von 1939 verabredet, duldete das Deutsche Reich die Besetzung. Gegenüber der Sowjetunion bekundete es sein Desinteresse an der Bessarabischen Frage, forderte aber die Rücksiedlung unter dem Motto „Heim ins Reich“ der etwa 93.000 Bessarabiendeutschen. Deren Umsiedlung ins Deutsche Reich im Herbst 1940 ermöglichte der am 5. September 1940 geschlossene Umsiedlungsvertrag.
Moldauische Sozialistische Sowjetrepublik (Moldauische SSR)
Am 2. August 1940 teilte die Sowjetunion Bessarabien und gründete für den größten Teil des Nordens und der Mitte des Landes die Moldauische Sozialistische Sowjetrepublik (MSSR) und schlug ihr die östlich des Dnisters gelegene Moldauische Autonome Sozialistische Sowjetrepublik (MASSR) zu. Der Süden und das Gebiet im Norden um die Stadt Chotyn (Oblast Tscherniwzi) ging an die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik; in diesen Gebieten stellten Ukrainer auch eine Bevölkerungsmehrheit.
Unmittelbar nach der Besetzung kollektivierte die Sowjetunion die Landwirtschaft, enteignete Großgrundbesitz, verteilte Land an landlose Bauern und gründete Sowchosen sowie Kolchosen. Gleichzeitig setzte eine Welle der Repression gegen nationalistisch oder anti-sowjetisch eingestellte Rumänen bzw. Moldauer ein, welche in der Deportation von bis zu 250.000 Personen gipfelte. Diese Politik richtete sich gegen die vermeintlich politische Opposition, wie Gutsbesitzer, Kulaken (Großbauern), Großkaufleute, frühere Weißgardisten und rumänische Nationalisten. Von der Verfolgung waren nur die Bessarabiendeutschen ausgenommen, die unter dem Schutz des Deutschen Reichs standen und bis November 1940 ausgesiedelt wurden, auch nach Österreich, damals als Ostmark Teil des Deutschen Reiches. Nach Bessarabien benannte Straßen in deutschen und österreichischen Städten erinnern an die Herkunft der dortigen Einwohner.
Zweiter Weltkrieg (1941 bis 1944)
Am 22. Juni 1941 begann mit dem Unternehmen Barbarossa der deutsche Angriff auf die Sowjetunion, an dem sich im Südbereich der Front etwa eine Million rumänische Soldaten der Armata Română beteiligten. Beim kriegsbedingten Rückzug hinterließ die Rote Armee in Bessarabien verbrannte Erde und transportierte die beweglichen Güter per Bahn nach Russland. Ende Juli 1941 stand das Land wieder unter rumänischer Verwaltung.
Bereits während der militärischen Rückeroberung begingen rumänische Soldaten unter Beteiligung der Bevölkerung Pogrome gegen bessarabische Juden mit Tausenden von Toten. Am Anfang stand das Massaker nahe Sculeni, bei dem am 27. Juni 311 Juden ermordet wurden. Der Hass beruhte teilweise darauf, dass man den Juden ein Paktieren mit der Sowjetmacht vorwarf, die sie 1940 wegen Hitlers antisemitischer Vernichtungspolitik als Befreier ansahen. Gleichzeitig gab es Tötungsaktionen der SS-Einsatzgruppen (hier die Einsatzgruppe D) an Juden unter dem Vorwand, sie seien Spione, Saboteure oder Kommunisten. Die politische Lösung der Judenfrage war vom rumänischen Diktator Marschall Ion Antonescu jedoch eher durch Vertreibung als durch Vernichtung gewollt. Die jüdische Bevölkerung (ca. 200.000 Personen) kam zunächst in Ghettos oder Auffanglager, um sie 1941/42 bei Todesmärschen in Lager, wie beispielsweise Bogdanowka, im rumänisch okkupierten Transnistrien zu deportieren, das, anders als das rumänische Mutterland, teilweise von der SS kontrolliert wurde. Die Roma waren eine weitere bessarabische Bevölkerungsgruppe, bezeichnet als Porajmos, die in der Zeit des Nationalsozialismus Opfer von Verfolgung und Vernichtung wurde.
Nach dreijähriger Zugehörigkeit zu Rumänien war 1944 die deutsch-sowjetische Front wieder bis an die östliche Landesgrenze am Dnister herangekommen. Am 20. August 1944 begann die Rote Armee mit etwa 900.000 Soldaten eine groß angelegte Sommeroffensive unter der Bezeichnung Operation Jassy-Kischinew. Mit einer Zangenoperation gelang es der Roten Armee, das Gebiet des historischen Bessarabiens in fünf Tagen einzunehmen. In Kesselschlachten bei Kischinew und Sarata wurde die nach der Schlacht von Stalingrad neu gebildete 6. deutsche Armee mit ca. 650.000 Soldaten aufgerieben. Gleichzeitig mit dem erfolgreichen sowjetischen Vorstoß kündigte Rumänien das Waffenbündnis mit Hitler und wechselte die Fronten. Am 23. August 1944 wurde in Rumänien Marschall Ion Antonescu abgesetzt und König Michael I. wieder eingesetzt.
Erneute Besetzung und Eingliederung in die Sowjetunion (1944 bis 1991)
Nach der Rückeroberung Bessarabiens durch Truppen der UdSSR wurde die Moldauische SSR als politische Entität wiederhergestellt und blieb bis zum Zerfall der Sowjetunion im Jahr 1991 eine sowjetische Teilrepublik.
Im unabhängigen Moldau (1991)
Der Zerfall der Sowjetunion hatte auch Auswirkungen auf die staatliche Organisation in Bessarabien: die Moldauische SSR zerfiel in zwei Teile. Der Großteil des ehemaligen Bessarabien bildete die Republik Moldau. Die Stadt Bender und ihre Nachbardörfer wurden Teil der international nicht anerkannten Transnistrischen Moldauischen Republik („Transnistrien“) – der Großteil des Territoriums Transnistriens liegt jedoch östlich des Flusses Dnister und war nie Teil des historischen Bessarabiens, wenngleich es dort bis heute eine signifikante rumänischsprachige Minderheit gibt.
Museum
Heimatmuseum der Deutschen aus Bessarabien und der Dobrudscha e. V.
Siehe auch
Geschichte
Fürstentum Moldau
Liste der historischen Regionen in Rumänien und der Republik Moldau
Liste deutscher Bezeichnungen ukrainischer Orte
Geschichte der Republik Moldau
Geschichte der Ukraine
Geschichte Rumäniens
Geschichte der Russlanddeutschen
Bessarabiendeutsche
Gebiete
Budschak
Südbessarabien
Cahul, Bolgrad und Ismail
Orte
Hannowka
Tarutino
Klöstitz
Sarata
Leipzig
Angrenzende historische Regionen
Dobrudscha
Bukowina
Podolien
Literatur
Ion Țurcanu: Istoria Basarabiei, Bd. 1: Preludii. Din paleolitic până la sfârşitul Antichităţii, Chișinău 2016. (das 868 S. starke Werk Geschichte Bessarabiens reicht vom Altpaläolithikum bis zur Spätantike)
George Ciorănescu: Bessarabia – Disputed land between east and west. Jon Dumitru Verlag, München, 1985. Neudruck: Editura Fundației Culturale Române, București, 1993, ISBN 973-9155-17-0
Hannes Hofbauer, Viorel Roman: Bukowina, Bessarabien, Moldawien – Vergessenes Land zwischen Westeuropa, Russland und der Türkei. Promedia, Wien 1993, ISBN 3-900478-71-6
Ion Alexandrescu: A short history of Bessarabia and northern Bucovina. in: Romanian civilization. Romanian Cultural Foundation, Iași 1994,
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Axel Hindemith: Bessarabien im 2. Weltkrieg. in: Jahrbuch der Deutschen aus Bessarabien. Heimatkalender. Hilfskomitee, Hannover 2004, ISBN 3-9807392-5-2
Ion Mardari: Miclești din Ținutul Orheiului: Monografie istorisită în 2001, Editura Universității din Pitești, 2003, ISBN 973-690-140-8
Svetlana Suveica: Post-imperial Encounters. Transnational Designs of Bessarabia in Paris and Elsewhere 1917-1922, De Gruyter Oldenbourg, 2022, Südosteuropäische Arbeiten 167, ISBN 978-3-11-116633-9
Weblinks
Geschichte Bessarabiens
Geschichte Bessarabiens (englisch)
Cornelia Schlarb: Bessarabien im „Online-Lexikon zur Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa“ der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und des Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa
Genealogischer Suchdienst Bessarabien mit historischen Karten (englisch)
Einzelnachweise
Ukrainische Geschichte
Rumänische Geschichte
Geschichte (Republik Moldau)
Historische Landschaft oder Region in Europa
Landschaft in der Ukraine |
17015 | https://de.wikipedia.org/wiki/Streuobstwiese | Streuobstwiese | Die Streuobstwiese, regional auch Obstwiese, Obstgarten, Bitz, Bangert, Bongert oder Bungert (Baumgarten) genannt, ist eine traditionelle Form des Obstbaus. Auf Streuobstwiesen stehen verstreute hochstämmige Obstbäume meist unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Arten und Sorten. Der moderne, intensive Obstanbau ist dagegen von niederstämmigen Obstsorten in Monokultur geprägt (Obstplantagen).
Begriffsentwicklung
Die übliche Bezeichnung war früher Obstwiese, sie ist in manchen Regionen bis heute gebräuchlich. In den neuen Bundesländern sagte man bis zur Wende Obstgarten oder Grasgarten.
Die Bezeichnungen Streuobstbau und Streuobstwiese haben sich aus dem Begriff Obstbau in Streulage entwickelt. Nach derzeitigen Erkenntnissen wurde der Begriff Obstbäume und Weiden in Streulage erstmals 1924 von Rinaldini für Rumänien/Siebenbürgen verwendet, dann allerdings erst wieder 1940 durch Knauer für den hochstämmigen Obstbau in Schleswig-Holstein sowie 1941 durch Spreng in der Schweiz.
Der Begriff Streuobstbau wurde erstmals ab 1953 durch Zeller verwendet, dann in den 1950er-Jahren häufig und in negativer Abgrenzung zum dann auch in Deutschland zunehmend verbreiteten Halb- und Niederstamm-Obstbau. Erst aus dem Jahr 1975 stammt der Begriff der Streuobstwiese. Geprägt hat ihn der Ornithologe Ullrich, der in einer Publikation auf die besondere Bedeutung der Streuobstwiesen im Albvorland für den Vogelschutz hinwies.
Mit den nassen, säurereichen Streuwiesen und der Einstreu in die Ställe haben die Begriffe Streuobstwiese und Streuobst nichts zu tun. Vielmehr beziehen sie sich auf den weiten Abstand der verstreut stehenden Bäume.
Das deutsche Bundesnaturschutzgesetz listet Streuobstwiese seit der Neufassung von 2009 als gesetzlich geschütztes Biotop.
Definition
Streuobstwiesen sind die bekannteste Form des Streuobstbaus (auch Streuobstanbau genannt). Für diesen ist die Mehrfachnutzung kennzeichnend: Die Bäume dienen der Obsterzeugung („Obernutzung“); da die Bäume locker stehen, dienen die Flächen zugleich als Grünland („Unternutzung“), entweder als Mähwiese zur Heugewinnung oder direkt als Viehweide. Streuobstäcker sind eine in Deutschland noch in Franken, Südbaden, Sachsen-Anhalt, dem südlichen Brandenburg und im Lallinger Winkel verbreitete Sonderform, die bis weit ins 20. Jahrhundert in ganz Mitteleuropa verbreitet war. Darüber hinaus gehören auch Obstalleen und Einzelbäume zum Streuobstbau. Das im Streuobstbau angebaute Obst nennt man Streuobst.
Der Streuobstanbau hatte im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine große kulturelle, soziale, landschaftsprägende und ökologische Bedeutung. Durch die Intensivierung der Landwirtschaft sowie durch das Bau- und Siedlungswesen wurden jedoch Streuobstwiesen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark dezimiert. Heute gehören sie zu den am stärksten gefährdeten Biotopen Mitteleuropas (siehe auch Rote Liste der Biotoptypen). Die Imkerei spielt bei der Bestäubung eine wichtige Rolle.
Größere, landschaftsprägende Streuobstwiesen finden sich heute noch in Österreich, in Süddeutschland, am Nordhang des Kyffhäusers und in der Schweiz. Die größten Bestände finden sich am Fuß der Schwäbischen Alb. Dort sind auch großflächige Streuobstbestände von BirdLife International als Important Bird Areas benannt sowie vom Land Baden-Württemberg laut EU-Vogelschutzrichtlinie als Vogelschutzgebiete bei der EU gemeldet. Die großen Streuobstflächen des niederösterreichischen Mostviertels liegen rund um die weitverstreuten Gehöfte. Sie sind das Kerngebiet zur Erzeugung von Apfel- und Birnenmost.
Auf Initiative des Verbandes der Gartenbauvereine in Deutschland (VGiD) hat das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz mit den Referenten der Bundesländer eine vom VGiD vorgeschlagene Definition des Begriffs Streuobstanbau abgestimmt. Auf dieser Grundlage wurde im Jahr 2008 folgende Definition verabschiedet:
Der Einsatz synthetischer Pestizide ist unüblich. Auf den bundesweiten Treffen der Streuobst-Aufpreisvermarkter wurde daher erstmals 1996 und wiederholt 2001, 2007 und 2014 das Kriterium des Verzichts auf Pestizide in die Definition von Streuobst aufgenommen. Brockhaus übernahm dies 2004 in die lexikalische Definition Hochstamm-Obstbau ohne Einsatz synthetischer Behandlungsmittel.
Geschichte des Obstanbaus
Altertum und Mittelalter
Großfrüchtige Rosengewächse wie die Schlehe wurden in Mitteleuropa bereits in der Steinzeit genutzt, wobei nicht gesagt werden kann, ob es sich um Kulturpflanzen oder Kulturfolger handelt (siehe auch Pionierpflanzen). Ihre Verbreitungsgebiete lagen in der Nähe menschlicher Siedlungen. Für diese Zeit wurden auch die Kerne der Pflaumensorte Zibarte in den Siedlungen nachgewiesen.
Vor allem die Römer brachten die nicht heimischen Apfelbäume, die Birnbäume, Zwetschgen und Süßkirschen, aber auch Walnuss und Edelkastanie nach Mitteleuropa. Hier konnten diese bereits im antiken Griechenland kultivierten Obstsorten nur in klimatisch begünstigten Gebieten gedeihen. Aus Kernen dieser Birn- und Apfelbäume gezogene Bäume hatten unterschiedliche Eigenschaften; einige konnten auch noch in den raueren Gebirgslagen angebaut werden. Im Gebiet der Mosel wird der Obstanbau etwa seit dem 2. Jahrhundert betrieben, im Lallinger Winkel seit dem 8. Jahrhundert. Als Alternative konnten die auf die Zibarte aufgepfropfte Pflaumen auch noch in den raueren Gebirgslagen gedeihen, wuchsen aber nur zu kleineren Bäumen heran.
Die Züchtung robusterer und weniger anspruchsvoller Sorten wurde von den mittelalterlichen Klöstern betrieben, wie zum Beispiel im Kloster Niederaltaich. Selektiert wurden spätblühende und frostunempfindliche Sorten für raue Gebirgslagen, Dörrobst, lange lagerbare Früchte, Ertrag und Geschmack. In Württemberg auch in den Schloßgärtnereien. Die Anlage von Obstwiesen und Weinbergen wurde durch zahlreiche Edikte gefördert, in der Nähe der Klöster entstanden die ersten größeren Obstwiesen. Techniken und Sorten wurden aus Tirol, Oberösterreich und Böhmen übernommen. Streuobstäcker als Sonderform, bei der der Boden nicht als Grünland genutzt, sondern beackert wird, haben sich vor allem in Franken ausgebildet.
16. bis 18. Jahrhundert
Die in der Neuzeit voranschreitende Züchtung ermöglichte die Ausweitung des Obstanbaues in ganz Mitteleuropa, vor allem in Österreich, Tschechien, in Süddeutschland und in der Schweiz, auch auf ertragsschwachen und flachgründigen Böden der Hänge. Auf diese Weise wurde auch die Grünlandwirtschaft durch Bodenfestlegung nachhaltig durchführbar.
Im 17., vor allem aber im 18. Jahrhundert, wurde der Obstanbau außerhalb der Gärten und der Dörfer politisch durch die absolutistischen Staaten stark gefördert und zum Teil erzwungen. Diese Epoche kann als die eigentliche Entstehungszeit des Streuobstanbaus betrachtet werden, der also keineswegs eine besonders alte Wirtschaftsform ist. Der Obstanbau spielte etwa ab dem 18. Jahrhundert eine größere Rolle für die Versorgung der Bevölkerung.
Mit zunehmendem Ausbau des Straßennetzes wurden auch Alleen zwischen den Siedlungen angepflanzt, um die Transportmöglichkeiten zu nutzen. Auch Gemeinschaftsflächen wie Hofflächen mit Obstbäumen wurden angelegt und gemeinsam abgeerntet.
Streuobstwiesen umgaben und verbanden landschaftlich prägend die Dörfer und Städte, wie eine Vielzahl von Quellen zeitgenössischer Autoren belegt. Sie wurden für die Versorgung der Bevölkerung unverzichtbar; das Wissen um ihre Pflege und um die Verarbeitung des Obstes war fester Bestandteil der Lehre der Landwirtschaft und der Hauswirtschaft.
19. und 20. Jahrhundert
Die Aufgabe des Weinbaus in weiten Gebieten um das Jahr 1800 führte vielerorts dazu, dass auf den ehemaligen Weinbergen Obstbäume gepflanzt wurden. Zur weiteren Ausweitung des Obstanbaus außerhalb der Siedlungen kam es ab der Mitte des 19. Jahrhunderts, als infolge der nun möglichen künstlichen Düngung Ackerbau auf nährstoffarmen Böden möglich wurde und im Gegenzug schwer zu bearbeitende Hänge mit Obstbäumen bepflanzt wurden.
Die Wiesen- und Weidenutzung in den Obsthainen erhielt (statt der Ackernutzung) zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen großen Aufschwung, als das Molkereiwesen entstand und die Grünlandwirtschaft dadurch lohnender wurde. Ihren Höhepunkt hatte die Streuobstkultur etwa in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, zu einer Zeit, als schon die Obstplantagenwirtschaft begonnen hatte.
Durch fortschreitende wissenschaftliche Entwicklung entstanden bis zum 20. Jahrhundert über 6000 Obstsorten, darunter mindestens 2700 Apfel-, 800 Birnen-, 400 Süßkirschensorten und 400 Pflaumenartige, die den Obstanbau selbst in Höhenlagen der Mittelgebirge ermöglichten. Spezielle Sorten für die Nutzung als Tafelobst, Saft, Most und Brand bis hin zum Backobst wurden regional verfeinert.
Zur weiteren Entwicklung des Streuobstanbaus siehe unten: Rückgang im 20. Jahrhundert sowie Marketing und Pflege.
Obstsorten der Streuobstwiesen
Die alten Sorten, die auch heute noch traditionell im Streuobstanbau verwendet werden, wurden zu einer Zeit entwickelt, als Pflanzenschutzmittel gar nicht oder nur sehr eingeschränkt zur Verfügung standen. Sie sind daher gegenüber Krankheiten und Schaderregern als besonders robust einzustufen. Die einzelnen Sorten entstanden dabei regionsspezifisch wie beispielsweise der Mostviertler Holzapfel oder der Erbachhofer, der norddeutsche Boikenapfel, der Rheinische Krummstiel und der Rheinische Bohnapfel. Die Verbreitung mancher Sorten ist gar auf wenige Dörfer beschränkt gewesen; es entstanden sogenannte Lokalsorten. Während die heutigen Kultursorten, die im Intensivobstbau verwendet werden, auf weitgehend identische Elternsorten zurückgehen, stellen die typischen alten Obstsorten der Streuobstwiese, die über Jahrhunderte ortsspezifisch entwickelt wurden, damit ein großes genetisches Potential dar.
Die Karcherbirne eignet sich auch für klimatisch ungünstige Lagen, die Blutbirne ist wegen ihres rot marmorierten Fruchtfleisches eine pomologische Besonderheit. Dattelzwetschgen eignen sich, wenn sie wurzelecht (unveredelt) gepflanzt werden, als Heckenpflanzung. Von den Kirschen eignet sich Dolleseppler besonders für Obstbrand (Kirschwasser) hervorragend.
Siehe auch: Liste von Apfelsorten
Siehe auch: Liste der häufigsten Mostbirnensorten
Ökologie der Streuobstwiesen
Für die Streuobstwiese eignen sich nur robuste veredelte Hochstämme mit geringen Ansprüchen an Pflege und Standort. Die Wildformen stellten auf Grund ihrer Herkunft jedoch meist hohe Ansprüche an Boden und Klima, daher wurden spezielle, widerstandsfähige Sorten gezüchtet, die den jeweiligen Gegebenheiten nahezu perfekt angepasst sind. Die Sortenvielfalt hat daher stets einen regionalen Bezug; traditionelle Artenzusammensetzung und Sortenauswahl weisen einen sehr hohen Spezialisierungsgrad für unterschiedliche Standorte und Nutzungen auf. Von den über 3000 Apfelsorten Mitteleuropas sind nur etwa 60 im deutschen Handel. Auf Streuobstwiesen finden sich jedoch noch viele alte Regionalsorten. Sie stellen daher ein wichtiges Reservoir für den Genpool der Kulturäpfel dar. Die typische Streuobstwiese gibt es nicht.
Die vielfältigen Ausprägungen sind auch Ausdruck landschaftsschützerischer Aspekte: Obstbäume können den Boden an Hängen vor Abtragung schützen, sodass eine Weidewirtschaft nachhaltig durchführbar ist. Die im 18. Jahrhundert typischen Streuobstgürtel der Siedlungen wirkten auch als Windschutz. Extreme Temperaturen werden abgeschwächt und die Windgeschwindigkeit vermindert. Mit ihren unterschiedlichen Wuchsformen, Blühzeiten und und Herbstfärbungen nehmen sie auch eine gestalterische Funktion wahr. Die richtige Auswahl für die lokalen Variationen der Streuobstwiesen kann ein Pomologe leisten, ebenso sollten zu den jeweiligen Anpflanzungen von Ausgleichsmaßnahmen eine Qualitätssicherung von diesen Spezialisten durchgeführt werden, um die Zusammensetzung aus angepassten Sorten für den jeweiligen Standort zu sichern.
Auf extensiv bewirtschafteten Streuobstwiesen komplettiert je nach Artenzusammensetzung, Standortfaktoren und Zweitnutzung (Weide, Wiese, Acker) eine artenreiche Tierwelt (Fauna) die Lebensgemeinschaft (Biozönose). Insbesondere ist die Streuobstwiese ein wichtiger Lebensraum für Vögel und Gliederfüßer wie Insekten oder Spinnen. Streuobstwiesen weisen nur zwei deutliche „Stockwerke“ auf: die Kronenschicht der Obstbäume und die aus Gräsern, Kräutern und teilweise niederen Stauden bestehende Krautschicht. Durch den weiten Stand der lichtkronigen Bäume ist die Krautschicht besonnt und sehr vital. Im Unterschied zu Obstplantagen, selbst wenn dort auf Insektizide und Herbizide verzichtet wird, sind Streuobstwiesen wesentlich artenreicher. Dies gilt auch für den Vergleich von biologisch bewirtschafteten Niederstamm-Anlagen, deren Ökologie konventionell oder integriert bewirtschafteten Niederstammanlagen mehr gleicht als Streuobstwiesen („Ökologiegradient“).
Die Baumdichte auf Streuobstwiesen beträgt in Abhängigkeit von den Obstarten 60 bis 120 Bäume pro Hektar. Das ist wenig im Vergleich zu Obstplantagen, wo bis zu 3000 Bäume pro Hektar üblich sind. Für einen ausgewachsenen Hochstamm werden in der Regel Fläche eingeplant, während im Intensivanbau für eine Schlanke Spindel nur 1–2 m² benötigt werden.
Krautschicht
Die von Gräsern dominierte Krautschicht einer Streuobstwiese weist oft auch eine große Anzahl blühender Wiesenkräuter auf, die je nach Standortbedingungen verschieden zusammengesetzt sind. Eine artenreiche Flora wurde bei der klassischen Nutzungsweise vor allem durch eine extensive Beweidung mit Rindern oder Schafen begünstigt. Einige Pflanzenarten, die zum Biotop Streuobstwiese zählen, sind:
Gewöhnlicher Frauenmantel (Alchemilla vulgaris)
Großer Wiesenknopf (Sanguisorba officinalis)
Gelber Hohlzahn (Galeopsis segetum)
Heilziest (Betonica officinalis)
Herbstzeitlose (Colchicum autumnale)
Löwenzahn (Taraxacum officinale)
Schafgarbe (Achillea millefolium)
Wiesenschaumkraut (Cardamine pratensis)
Wilde Möhre (Daucus carota)
Wiesen-Gelbstern (Gagea pratensis)
Fauna
In Streuobstwiesen können zwischen 2000 und 5000 Tierarten beheimatet sein beziehungsweise dort ihre Nahrung finden. Den größten Anteil nehmen dabei Insekten wie Käfer, Wespen, Hummeln und Bienen ein. Auch die Vielfalt der Spinnentiere und Tausendfüßer ist groß.
Insekten
Die Honigbiene spielt für die Bestäubung der Obstbäume die herausragende Rolle. Durch die Überwinterung als komplettes Bienenvolk mit mehr als 10.000 Einzelbienen sind sie in der Lage, den größten Teil der Bestäubungsleistung zu erbringen.
Ackerhummel (Bombus pascuorum)
Admiral (Vanessa atalanta)
Echte Wespen (Vespinae), insbesondere die Deutsche Wespe (Paravespula germanica)
Großer Fuchs (Nymphalis polychloros)
Schachbrett (Melanargia galathea)
Schwalbenschwanz (Papilio machaon)
verschiedene Kurzfühlerschrecken
Wildbienen, zum Beispiel Mauerbienen.
Spinnentiere
Spinnen sind wegen des günstigen Kleinklimas in Streuobstwiesen sehr häufig. Sie finden hier einen idealen Lebensraum.
Häufig sind:
Kürbisspinne Araniella cucurbitina (Clerk 1775)
Streckerspinne (Tetragnatha obtusa), Anyphaena accentuata, Veränderliche Krabbenspinne (Misumena vatia), Xysticus ulmi, Philodromus aureolus, Enoplognatha ovata
Hauptsächlich in der Krautschicht finden sich:
Labyrinthspinne (Agelena labyrinthica)
Schwarze Glücksspinne
Als Indikatorarten können folgende Arten gelten:
Webspinne
die Gartenkreuzspinne
die Kürbisspinne (Araniella opisthographa)
Amphibien und Reptilien
Mit ihrem kleinräumigen Wechsel aus besonnten und (halb-)schattigen, trockenen und feuchten Stellen, Holz- und Schnittgutlagerplätzen, Gras-/Staudenfluren und Gehölzen sind Streuobstwiesen auch wertvolle Sommer- und Überwinterungshabitate für verschiedene Amphibien- und Reptilienarten, darunter je nach Region:
Laubfrosch (Hyla arborea)
Erdkröte (Bufo bufo)
Grasfrosch (Rana temporaria)
Moorfrosch (Rana arvalis; zumindest in Nordostdeutschland)
Von den Reptilien sind beispielsweise zu nennen:
Blindschleiche (Anguis fragilis)
Waldeidechse (Zootoca vivipara).
Vögel
Für viele mitteleuropäische Vogelarten sind alte Streuobstbestände durch ihren Höhlen- und Totholzreichtum die idealen Brutstätten. Ihre Nahrungsgrundlage sind die Gliederfüßer (Arthropoda) wie etwa Spinnen, Insekten oder Tausendfüßer, die im Biotop Streuobstwiese häufig sind.
Untersuchungen zur Frequenz von Vogelüberflügen und Vogeleinflügen zwischen Streuobstwiesen und Intensivobstanbau haben die ökologische Stellung der Streuobstwiesen verdeutlicht:
In einer gegebenen Zeitspanne überfliegen durchschnittlich 326 Vögel eine Streuobstwiese (Intensivobstanbau: 180 Vögel), von denen sich 209 in der Streuobstwiese (Intensivobstanbau: 22) auf Nahrungssuche begeben.
Indikatorarten für die ökologische Wertigkeit sind beispielsweise der Steinkauz (Athene noctua) und der Wendehals (Jynx torquilla). Weitere Vogelarten sind:
Halsbandschnäpper (Ficedula albicollis)
Gartenbaumläufer (Certhia brachydactyla)
Gartenrotschwanz (Phoenicurus phoenicurus)
Gimpel (Pyrrhula pyrrhula)
Ortolan (Emberiza hortulana) (vor allem auf den sehr seltenen Streuobstäckern)
Sumpfmeise (Palus palustris)
Stieglitz (Carduelis carduelis)
Wiedehopf (Upupa epops)
Neuntöter (Lanius collurio)
Rotkopfwürger (Lanius senator)
Pirol (Oriolus oriolus)
Feldsperling (Passer montanus)
verschiedene Spechtarten.
Säugetiere
Von der reichhaltigen Flora und Fauna und den allgemein guten Bedingungen zur Aufzucht von Jungtieren in brüchigen, mit Höhlen durchsetzten Altbäumen profitieren auch zahlreiche Säugerarten:
Fledermäuse (Microchiroptera)
Gartenschläfer (Eliomys quercinus)
Mauswiesel (Mustela nivalis)
Siebenschläfer (Glis glis)
Typische Kulturfolger einer strukturreichen, halboffenen Landschaft sind:
Igel (Erinaceus europaeus),
Feldmaus (Microtus arvalis)und
Feldhase (Lepus europaeus).
Rückgang im 20. Jahrhundert und bis heute
Zahlreiche lokale und regionale Erhebungen belegen einen Rückgang der Streuobstwiesen in Deutschland und Mitteleuropa zwischen 1965 und 2010 um 70–75 Prozent. Dies gilt sowohl für die Fläche als auch für die Anzahl der Obstbäume. In Deutschland gibt es nach Schätzungen des NABU nur noch rund 400.000 ha Streuobstwiesen.
Die verbliebenen Bestände sind in Teilen lückig und vergreist, da bestehende Bestände immer seltener gepflegt werden. Darüber hinaus hat sich die Artenzusammensetzung mit der Nutzung verändert. Die seit den 1980er Jahren wieder zunehmenden Neupflanzungen (1981 begann der Kreis Ludwigsburg als erste Einrichtung der öffentlichen Hand in Europa damit, Gelder für die Neuanlage von Hochstamm-Obstbäumen auszubezahlen) waren und sind insbesondere bei Pflanzungen im Rahmen von Ausgleichsmaßnahmen häufig von schlechter Qualität. In Einzelfällen sind nach einigen Jahren selbst bei großen Ausgleichspflanzungen deutlich mehr als die Hälfte der Bäume abgestorben. Besser sieht es bei Förderprogrammen der Länder im Rahmen von Agrarumweltmaßnahmen (in Österreich ÖPUL, in Deutschland Kulturlandschaftsprogramme, in der Schweiz von Bund und Kantonen geförderte Pflanzungen) sowie bei kommunalen Förderprogrammen aus, die eine Eigenbeteiligung der Bewirtschafter einfordern. Die zunehmenden Neupflanzungen haben dazu geführt, dass im 21. Jahrhundert der bloße Rückgang der Bestände in vielen Regionen gestoppt werden konnte. Allerdings droht sowohl aus der Sicht der Rohwaresicherung als auch aus der Sicht des Naturschutzes derzeit eine Bestandslücke: Aufgrund der rund 30-jährigen Pflanzlücke mit Hochstämmen zwischen 1950/1960 (meist vor dem Zweiten Weltkrieg) und 1985/1990 sterben die alten Bäume allmählich ab, während gleichzeitig die Jungbäume erst langsam in den Vollertrag kommen und erst danach für den Naturschutz besonderes Interesse bekommen. Der Rückgang hält auch weiter an, wie z. B. eine Untersuchung 2013 in vier streuobstreichen Gemeinden im Rhein-Sieg-Kreis zeigte. Dort ging von 1990 bis 2013 die Fläche der Streuobstwiesen um 48 % Prozent, von etwa 520 auf 270 Hektar und Anzahl der Obstbäume um 43 Prozent zurück. Als neues Problem tritt zudem bei einem Drittel der Flächen in diesem Kreis Mistelbefall auf, der konsequent bekämpft werden müsste.
Ursachen des Rückgangs
Agrarpolitik
In den 1920er Jahren begann in Europa die Trendwende zur Obstplantage. Das unüberschaubare Sortiment an Kernobst sollte im Erwerbsbau auf je drei Apfel- und Birnensorten beschränkt und durch das Prädikat „Reichsobstsorte“ gefördert werden. Der Zweite Weltkrieg machte diese Pläne zunichte.
Einen starken Rückgang der westdeutschen Streuobstwiesen besiegelte am 15. Oktober 1953 der Emser Beschluss des Bundesernährungsministeriums: „für Hoch- und Halbstämme (wird) kein Platz mehr sein. Streuanbau, Straßenanbau und Mischkultur sind zu verwerfen“. Der Trend zum Plantagenanbau erfasste die gesamte Europäische Gemeinschaft (EG). Um die Obstplantagen zu fördern, hat die EG bis 1974 Rodungsprämien für jeden Hochstammobstbaum bezahlt. Streuobstwiesen auf fruchtbareren Böden wurden durch diese Subventionen häufig in Obstplantagen umgewandelt. Eine drastische Reduktion der Streuobstflächen war die Folge. Ähnliches gilt für Österreich. Lediglich in der DDR sowie in der Schweiz vollzog sich dieser Wandel langsamer. In der DDR wurden Streuobstbestände nach der Zusammenlegung der landwirtschaftlichen Flächen zu LPGen oft in Obstplantagen umgewandelt. Kleinere, privatwirtschaftlich bewirtschaftete Streuobstwiesen blieben erhalten, die Unternutzung erfolgte oft durch Rinder oder Schafe der Genossenschaft. In der Schweiz sorgten und sorgen die bis heute existierenden staatlichen Preisstützungen für einen gemäßigten Rückgang der Streuobstbestände (dort meist Feldobstbau genannt), 2007 gab es zudem umstrittene, aber doch starke Rodungen im Zusammenhang mit Feuerbrandbefall. Generell förderte die öffentliche Agrarpolitik über Jahrzehnte hinweg in Forschung, Anbauförderung, Vermarktung und Werbung einseitig den Niederstamm-Obstbau. Nach Schätzungen des NABU-Bundesfachausschuss Streuobst gingen daher die deutschen Streuobstbestände von ca. 1,5 Mio ha um 1950 auf rund 300.000–400.000 ha im Jahr 2008 zurück.
Streuobstwiesen erfordern einen deutlich höheren Arbeitseinsatz bei der Ernte als in Niederstammanlagen. Zudem kommen Hochstämme in der Regel erst nach 10 Jahren in den Vollertrag, Niederstämme bereits im dritten oder fünften Jahr nach ihrer Pflanzung. Allerdings bewirtschaften insbesondere Haupt- und Nebenerwerbslandwirte seit den 1990er Jahren – ausgehend von der Ostschweiz – auf immer größeren Flächen ihre Flächen mit speziellen Ernte- und Schüttelmaschinen. Im Gebiet von Passau stieg der Pachtpreis durch eine geschickte Kombination von Direktvermarktung von Streuobstapfelsaft nach klaren Kriterien (keine synthetischen Behandlungsmittel, Nachpflanzgebot, nur Hochstämme …) und Obstlesemaschinen auf rund 750 Euro/ha und damit höher als der Pachtpreis für Getreide oder Mais. Dies zeigt, dass der Streuobstbau auch heute rentabel sein kann.
Besonders erfolgreich und europaweit als Vorbild für eine gute Kooperation zwischen Naturschutz und Landwirtschaft gilt die Streuobst-Aufpreisvermarktung.
Streuobstwiesen auf Grenzertragsstandorten wurden häufig aufgegeben, als reines Grünland genutzt oder aufgeforstet. Die Alleen an Wegen und Baumreihen an Feldrändern wurden häufig im Zuge der Flurbereinigung gerodet. Manche Restbestände in den östlichen Bundesländern Deutschlands sterben noch heute durch die negativen Randeinflüsse der durch Großbetriebe bewirtschafteten Äcker.
Im Jahr 2019 kam es in Bayern im Vorgriff eines Volksbegehrens Rettet die Bienen mit dem Ziel der Umwandlung von Streuobstwiesen mit einer Größe von mehr als 2.500 m² in gesetzlich geschützte Biotope zu verstärkten Baumfällungen auf Streuobstwiesen durch die betroffenen Obstbauern, um auf diese Weise sicherzustellen, dass die betroffenen landwirtschaftlich genutzten Flächen weiter bewirtschaftet werden können.
Bau- und Siedlungswesen
Die Streuobstbestände, die sich vorwiegend im Siedlungsbereich befanden, waren häufig neuen Wohn- und Gewerbegebieten im Weg. Der Raumordnungsgrundsatz, durch nachträgliche bauliche Verdichtung Fläche sparen zu wollen, führte und führt trotz naturschutzfachlicher Bedenken zu einer nachrangigen Einstufung der Streuobstbestände. Dasselbe galt für den Straßenausbau. Schon als Unterhaltungsmaßnahme wurden im Rahmen der Verkehrssicherungspflicht etliche Obstbäume entfernt.
Marketing und Pflege
Aus den Bemühungen, diese im Sinne des Natur- und Landschaftsschutzes (sowie heute auch Tourismus) hochwertige Kulturlandschaft zu erhalten, entstand der Slogan „Mosttrinker sind Naturschützer“, den die DBV-Jugend (heute Naturschutzjugend im NABU) ab 1982 als Synonym für eine Kooperation zwischen Landwirtschaft und Naturschutz verbreitete. 1987 begann ein weiterer Paradigmenwechsel durch den Beginn der Streuobst-Aufpreisvermarktung durch BUND-Gruppen in Oberschwaben und am Bodensee. 1988 folgte die Einführung des NABU-Qualitätszeichens für Streuobstprodukte. Aus dieser Entwicklung resultierte die Forderung des Naturschutzes „Faire Preise auch Streuobstbewirtschafter“.
Über 100 Keltereien oder Streuobstfördervereine, häufig unterstützt von Naturschutzbund Deutschland (NABU) und Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), organisieren einen höheren, „fairen“ Preis für das Streuobst – meist zwischen 1,4 € und 2 €. Dafür werden Standards eingehalten, welche die Streuobst-Aufpreisvermarkter bei ihren bundesweiten Treffen 1996, 2001 und 2007 festlegten. Dazu gehört die getrennte Erfassung des Hochstamm-Obstes, das ohne synthetische Behandlungsmittel erzeugt wurde, sowie ein Pflege- und Nachpflanzgebot für die Hochstamm-Obstbäume.
Regional existieren zahlreiche zusätzliche Auflagen beispielsweise zu Wiesennutzung, Gülleeinsatz oder Erhaltung und Förderung von Landschaftselementen in den Streuobstbeständen.
Das Endprodukt – zu über 90 % Apfelsaft, aber zunehmend innovativ auch moussierende Getränke (Apfelschaumwein) sowie Kombinationen mit Birnen, Kirschen und Zwetschgen – kostet entsprechend 100 bis 200 Prozent mehr je Liter.
2013 gab es rund 120 Streuobst-Aufpreisvermarkter in Deutschland sowie einige gute Ansätze in Österreich, der Schweiz und Luxemburg. Der Marktwert der so verkauften Produkte liegt bei 20 bis 30 Mio. Euro. Parallel dazu existiert insbesondere im süddeutschen Raum eine hohe Nachfrage nach Bio-Streuobst, das von Großkeltereien angenommen und dann teils international vermarktet wird.
Aber noch ist der entschieden größere Anteil der Streuobstwiesen aufgrund mangelnder Rentabilität, wegen der mangelnden Bereitschaft vieler Verbraucher, einen Aufpreis für Streuobst zu zahlen, und wegen der einseitigen Förderpolitik der Agrarministerien (insbesondere für den sogenannten integrierten Obstbau) gefährdet.
In Österreich hat die Direktvermarktung von Most, manchmal professionell mit dem Tourismusmarketing verknüpft wie im niederösterreichischen Mostviertel mit seiner Mostgalerie, zu einer starken Renaissance des Streuobstbaus geführt. In der Schweiz existieren bis heute staatlich garantierte Abnahmepreise sowie im Vergleich mit den EU-Ländern hohe Pflegeförderungen für Hochstämme.
Eine Marktnische für Streuobstwiesen liegt bei Gaststätten mit Apfelweinausschank. Man greift dort normalerweise nicht auf die modernen Apfelsorten zurück, sondern auf die säurehaltigeren älteren Sorten aus dem Streuobstanbau.
Neben dem NABU-Bundesfachausschuss Streuobst, der Arbeitsgemeinschaft Streuobst Österreich sowie Hochstamm Schweiz und Hochstamm Suisse als ausschließlich auf Streuobst und Vielfalt der Obstsorten ausgerichtete Organisationen je auf der nationalen Ebene gibt es zahlreiche lokale und regionale Fördervereine sowie Umweltinitiativen, die sich die Erhaltung von Streuobstwiesen unter anderem mit umweltpädagogischen Veranstaltungen sowie Vermarktungsaktivitäten zum Ziel gesetzt haben.
Mit der Streuobstsorte des Jahres werden gefährdete oder besonders erhaltenswerte Kulturpflanzen ins Interesse gerückt.
Neuerlich versuchen Kommunen im Rahmen von Hochzeitswiesen neue Streuobstwiesen zu schaffen.
Streuobstwiesen bzw. Streuobstwiese als Namensgeber
Streuobstwiesen von Darmstadt-Eberstadt /Prinzenberg und Eichwäldchen, Hessen
Geschützter Landschaftsbestandteil Streuobstwiese im Aspe, Niedersachsen
Streuobstwiese Liebenhain, Niedersachsen
Geschützter Landschaftsbestandteil Streuobstwiese (westlich Herhagen), Hochsauerlandkreis, Nordrhein-Westfalen
Streuobstwiesen bei Wehlen, Rheinland-Pfalz
Streuobstwiesen und Hecken am Münchensberg bei Hüttingen, Eifelkreis Bitburg-Prüm, Rheinland-Pfalz
Streuobstwiesen-Radweg, Burgenland, Österreich
Dokumentarfilme
Karussell des Lebens – Die Streuobstwiese. 44 Min. Buch: Annette Scheurich, Mi-Yong Brehm, Moritz Mayerle, Regie: Annette und Klaus Scheurich, Sprecher: Udo Wachtveitl, Produktion: Marco Polo Film, Bayerischer Rundfunk, arte, WDR. Deutschland 2014.
Literatur
Lydia Bünger, Doris Kölbach: Streuobst – Bindeglied zwischen Naturschutz und Landwirtschaft. Hrsg. Bundesamt für Naturschutz, Dokumentation Natur und Landschaft, Bibliographie Nr. 69, 1995.
Corinna Dierichs & Klaus Weddeling: Streuobstwiesen: Weiter auf dem absteigenden Ast? Bestandsentwicklung in vier Gemeinden im Rhein-Sieg-Kreis zwischen 1990 und 2013. Natur in NRW 2/2018, S. 12–16. Volltext als pdf
Dieter Grill, Herbert Keppel: Alte Apfel- und Birnensorten für den Streuobstbau. Leopold Stocker Verlag, Graz 2005, ISBN 3-7020-1087-4.
Ambros Hänggi, Edi Stöckli, Wolfgang Nentwig: Lebensräume Mitteleuropäischer Spinnen. (= Miscellanea Faunistica Helvetiae. 4). Centre suisse de cartographie de la faune, Neuchatel 1995, ISBN 2-88414-008-5.
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Weblinks
Streuobstwiese – Wertvoller Lebensraum für Tiere und Pflanzen. In: NABU.de
ARGE Streuobst – österreichische Plattform für den Streuobstbau
Streuobstanbau im Bundesweiten Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes (UNESCO.de)
Einzelnachweise
Wiese
Obstbau
Kulturlandschaft
Wikipedia:Artikel mit Video |
21787 | https://de.wikipedia.org/wiki/VfB%20Stuttgart | VfB Stuttgart | Der VfB Stuttgart, offiziell Verein für Bewegungsspiele Stuttgart 1893 e. V., ist ein Sportverein aus der baden-württembergischen Landeshauptstadt Stuttgart. Der im Stadtbezirk Bad Cannstatt beheimatete Verein hat 80.000 Mitglieder (Stand: 12. Mai 2023), womit er der größte Verein in Baden-Württemberg ist. In der Liste der mitgliederstärksten Sportvereine Deutschlands liegt er auf Platz 10 und weltweit auf Rang 22. Bekannt ist vor allem seine Fußballabteilung, die 2017 in die VfB Stuttgart 1893 AG ausgegliedert wurde, welche mehrheitlich dem Verein gehört. Die erste Mannschaft wurde fünfmal Deutscher Meister (1950, 1952, 1984, 1992 und 2007), außerdem gewann sie dreimal den DFB-Pokal (1954, 1958, 1997). In der Ewigen Tabelle der Bundesliga belegt der VfB den vierten Platz. In der Saison 2023/24 spielt der Verein in der Bundesliga.
Daneben unterhält der VfB Stuttgart verschiedene Amateursport-Abteilungen. Sportler der Leichtathletik-Abteilung gewannen zahlreiche Titel und Medaillen. Hockey bildet die zweitgrößte Abteilung des Vereins. Im Faustball errang der VfB um das Jahr 2005 mehrfach deutsche Meisterschaften im Seniorenbereich. Zudem existieren die Abteilungen für Fußballschiedsrichter und Tischtennis. Darüber hinaus gibt es mit der VfB-Garde eine nicht-sportliche Traditionsabteilung.
Die erste Fußballmannschaft des VfB bestreitet ihre Heimspiele in der MHPArena im Neckarpark. Direkt neben dem Stadion, hinter der Untertürkheimer Kurve auf der gegenüberliegenden Seite des Fritz-Walter-Wegs, befindet sich das Vereinsgelände mit dem Robert-Schlienz-Stadion, Trainingsplätzen und dem Clubhaus.
Geschichte
Um das Jahr 1865, als Fußball noch Rugby glich, trafen sich englische Schüler, unter ihnen William Cail, wöchentlich zu einem Spiel in Cannstatt, wo wegen der internationalen Beliebtheit als Heilbad auch Internate entstanden waren. Einheimische Schüler lebten die „englische Krankheit“ in den 1880er Jahren zum Ärger mancher Lehrer und Anwohner auf einer Wiese aus, wo später die Straßenbahnwelt Stuttgart entstand. Es entstanden viele Fußballvereine in Stuttgart, darunter im Jahr 1890 der Nordstern von Anwohnern der Alexanderstraße in Stuttgart-Mitte und der Cannstatter Fußballclub. Im Jahr 1912 entstand aus dem Cannstatter FC Krone und dem Fußballverein Stuttgart 1893 der VfB Stuttgart.
1893 bis 1912: Von den Anfängen zur Fusion
Beide Vereine wurden hauptsächlich von Schülern, die zumeist ihre Wurzeln im kaufmännischen Bürgertum hatten, gegründet.
FV Stuttgart
Der Fußballverein Stuttgart wurde am 9. September 1893 im Gasthaus Zum Becher in der Kernerstraße (heute Urbanstraße) gegründet und hatte 20 Gründungsmitglieder.
Der Stuttgarter FV trug regelmäßig Trainingsspiele gegen den Cannstatter Fußball-Club aus. Noch im Jahr 1893 wechselte Philipp Heineken, damals Sportler und Autor von Büchern über den Sport, später auch Vizepräsident des Deutschen Fußball-Bunds und Funktionär im Reichsausschuss zur Vorbereitung auf Olympische Spiele, vom Cannstatter Fußballclub zum Stuttgarter Fußballverein und wurde dessen Mannschaftskapitän. Der FV hatte seine Heimstätte auf der Stöckach-Eisbahn und zog 1894 auf den Cannstatter Wasen um. Schon im Jahr 1895 spielte der FV Stuttgart in der Schweiz. Die Mannschaft setzte sich hauptsächlich aus Schülern der Stuttgarter Realschulen und Gymnasien zusammen und errang schnell erste Erfolge: 1909 wurde der FV deutscher Vizemeister im Rugby, als die Mannschaft erst im Endspiel Hannover 1897 mit 3:6 Punkten unterlag. Verschiedene Spieler kamen zu internationalen Einsätzen; so gewann Hugo Betting mit der ansonsten ausschließlich aus Frankfurter Spielern bestehenden deutschen Rugby-Auswahl bei den Olympischen Spielen 1900 die Silbermedaille. Dennoch verlor Rugby gegenüber Fußball, damals Rugby Football gegenüber Association Football, zusehends an Boden. Das Spiel war vielen Zuschauern zu kompliziert. Nachdem die Militärverwaltung immer seltener dem FV Benutzungszeiten auf dem Cannstatter Wasen zugestanden hatte, mussten die Spieler immer öfter auf den Stöckachplatz ausweichen, bis dem Verein die Benutzung des Wasens schließlich endgültig untersagt wurde. Der FV warf deshalb dem Militärgouvernement vor, die Turnvereine, deren Sportart damals als disziplinierter bekannt war, zu bevorzugen. Nun konnten die Spieler nur noch auf dem schiefen Stöckachplatz spielen, der nach der Aussage vieler Spieler des FV damals offenbar völlig untauglich war. So pachtete der Verein von der Stadt ein Feld auf dem Adelsberg, welches beim FV als Rugbyfeld bekannt war.
Nach einer Initiative junger Spieler im Jahr 1907 trat der Verein dem Süddeutschen Fußball-Verband bei. Die Mannschaft wurde gleich der süddeutschen B-Klasse zugeteilt, obwohl inzwischen auch eine C-Klasse existierte. Schon im zweiten Jahr wurde der FV ausgerechnet gegen den punktgleichen späteren Fusionspartner, den Kronen-Club Cannstatt, in einem Endspiel Bezirksmeister. Den Aufstieg erreichten die Fußballer nach einer Niederlage im Spiel um die Gaumeisterschaft gegen den FV Zuffenhausen nicht. Erst im folgenden Jahr gelang schließlich nach geltenden Bestimmungen der Aufstieg, da die Mannschaft Gaumeister und B-Südkreismeister wurde. Da der Verbandstag die Bestimmungen änderte und die Gründung einer neuen Südkreisliga als oberste Spielklasse Süddeutschlands beschloss, war der Aufstieg nicht gesichert. Die entscheidenden Spiele entschied der FV nicht mehr allein für sich, denn vor den Aufstiegsrundenspielen gegen den FV Germania Beiertheim und den FC Mühlburg war die Fusion mit dem Kronen-Club Cannstatt bereits vollzogen.
Kronenclub Cannstatt
Im Cannstatter Fußballclub verlor der Fußball nach wenigen Jahren an Bedeutung, und so bildete sich 1897 aus ehemaligen Mitgliedern dieses Vereins der FC Krone, der bald allgemein Kronenclub genannt wurde. Dort spezialisierte man sich zunächst auf den Fußball und trieb später auch Leichtathletik.
Nachdem der Süddeutsche Fußballbund den Kronenclub 1903 der unteren von zwei bestehenden süddeutschen Spielklassen zugeordnet hatte, spielte die Fußballmannschaft bereits 1904 um den Aufstieg in die erste süddeutsche Spielklasse, wo die Fußballer gegen die zweite Mannschaft der Stuttgarter Kickers antraten. Der vorgesehene Schiedsrichter erschien zu diesem Spiel nicht, sodass sich der Verbandsschriftführer Scivessy bereit erklärte, das Spiel zu leiten. Der Kronenclub gewann, doch wurde anschließend ein Wiederholungsspiel angeordnet, welches verloren wurde.
In den kommenden Jahren spielte die Mannschaft in der B-Klasse oben mit, ohne je wieder ein Entscheidungsspiel um den Aufstieg zu erreichen. Der Kronenclub Cannstatt besaß in Stuttgart-Münster einen eigenen Fußballplatz, der bis heute besteht. Inzwischen spielt dort die TSVgg Stuttgart-Münster 1875/99.
Fusion und Sieg im Entscheidungsspiel
Für Ligaspiele war das Rugbyfeld auf dem Adelsberg wenig geeignet, sodass beim FV die Idee einer Fusion mit dem 1897 gegründeten Kronen-Klub Cannstatt aufkam. Da der Kronen-Klub sportlich nur begrenzte Aussichten hatte und der FV Stuttgart, der gerade gute Chancen hatte, den Aufstieg in die süddeutsche A-Klasse zu schaffen, über eine Mannschaft mit guter Perspektive verfügte, kamen sich die Verantwortlichen schließlich näher. Am 2. April 1912 vereinigten sich beide Klubs zum Verein für Bewegungsspiele Stuttgart 1893 e. V. der dank der B-Südkreismeisterschaft des Stuttgarter FV gleich um die Qualifikation für die neue Südkreisliga antrat. Die Fusionsversammlung fand im Cannstatter Hotel Concordia statt. Erster Vorsitzender wurde Wilhelm Hinzmann. Die ersten Pflichtspiele nach der Fusion bestritt der VfB Stuttgart in der Aufstiegsrunde zur Südkreisliga, für die sich der Verein als FV Stuttgart qualifiziert hatte. Am 25. August 1912 besiegte der VfB in seinem ersten Pflichtspiel nach der Fusion den FV Germania Beiertheim mit 4:3 und erreichte somit ein entscheidendes Spiel um den Aufstieg gegen den FC Mühlburg. In diesem Entscheidungsspiel um den Aufstieg am 1. September 1912 in Karlsruhe-Durlach siegte der VfB gegen Mühlburg mit 1:0 durch einen entscheidenden Kopfballtreffer in den letzten Minuten von Copé Wendling. Somit war der VfB von Anfang an erstklassig und spielte in der Südkreisliga, der damals höchsten deutschen Spielklasse.
1912 bis 1933: Erster Weltkrieg und erste Titel
In den kommenden beiden Jahren spielte der VfB in der Südkreisliga nur um die unteren Plätze und war der Gefahr ausgesetzt, wieder abzusteigen. Der Erste Weltkrieg brachte das Vereinsleben fast zum Erliegen. Am 1. August 1914 traf man sich zum letzten Mal zu einem Freundschaftsspiel. Nachdem die meisten Spieler und Verantwortlichen bereits ihre Einberufung erhalten hatten, gab es in der Altdeutschen Bierstube eine Abschiedsfeier. Der Rugby-Platz am Karl-Olga-Krankenhaus wurde dem Roten Kreuz zur Verfügung gestellt, das dort gleich ein Lazarett errichtete. Danach trafen sich vor allem Jugendliche am Münster-Platz. Nachdem der Präsident Wilhelm Hinzmann eingezogen worden war, kümmerten sich vor allem die nun Verantwortlichen Julius Lintz, der Hinzmann als Präsident vertrat und Ernst Grimm um die Jugendspieler. Erst im Oktober 1914 bekam der Verein wieder eine Elf zusammen. Nach einer Woche waren nur noch sieben Spieler verblieben. Der Verband schaffte nun die Pflichtrunde ab und führte Spiele um den Eisernen Fußball ein.
Für diese durfte man sich mit anderen Vereinen zu Kriegsmannschaften zusammenschließen, und so bildete der VfB kurzfristig mit dem FV Die Blauen Elf eine Mannschaft. Ein Jahr später stellte der Verein, nach der Rückkehr von Verwundeten und Genesenden, schon wieder drei eigene Kriegsmannschaften. Am Ende des Jahres 1917 hatte der Klub sogar wieder fünf Mannschaften beisammen. Ernst Grimm stellte einen Kriegsausschuss zusammen, der den Verein am Leben hielt, obwohl drei Viertel der Mitglieder eingezogen waren. So verhinderte der Ausschuss die Umwandlung des Münster-Platzes, des einzigen verbliebenen Fußballplatzes, in ein Kartoffelfeld. Wilhelm Hinzmann übernahm nach seiner Rückkehr einen intakten Verein; wenig später, 1918, übergab er seinen Posten an Gustav Schumm. Noch heute würdigt eine Ehrentafel, die 1925 enthüllt wurde, 90 Gefallene aus den Reihen des VfB.
1923 wurde Karl-Adolf Deubler Präsident des Vereins, er hatte das Amt bis 1931 inne.
In den 1920ern stieg die Mitgliederzahl schnell über 1000 – vor allem Jugendliche waren im Verein aktiv. Allerdings erwies sich der Platz in Münster als ungeeignet für den VfB, da er fernab der Anhängerschaft gelegen war. Da das Rugbyfeld im Ersten Weltkrieg landwirtschaftlich genutzt wurde und ebenfalls als Spielfeld ausfiel, benötigte der Verein dringend einen Platz. Als der Exerzierplatz auf dem Cannstatter Wasen nach dem Krieg nicht mehr benötigt wurde, entstand die Idee einer Rückkehr nach Bad Cannstatt. 1919 wurde der Platz bei den drei Pappeln auf dem Cannstatter Wasen eröffnet. Er blieb bis zur Eröffnung der heutigen MHPArena 1936 Heimspielstätte des VfB. Nach Kriegsende versuchte der Verband sofort, den Spielverkehr wieder in geregelte Bahnen zu führen. So beschloss der Verbandstag die Gründung einer Württembergischen Liga mit acht Vereinen. Der VfB gehörte dieser Liga an, da er vor dem Krieg in der Südkreisliga ebenfalls erstklassig war. Bis 1922 spielte die Fußballmannschaft in dieser Liga immer oben mit, wurde allerdings nie Meister. 1923 wurde dann vom Verbandstag ein neues Spielsystem eingeführt, welches eine neue Bezirksliga Württemberg/Baden als höchste Spielklasse vorsah. Um sich für die höchste Spielklasse zu qualifizieren, hätte der VfB in der Saison 1922/23 unter den ersten vier Vereinen der Württembergischen Liga landen müssen. Dies gelang nicht, sodass die Mannschaft in der darauffolgenden Saison 1923/24 in der IL Klasse der neu gegründeten Kreisliga antreten musste, wo der VfB sofort Kreismeister Cannstatts wurde und sich somit für die Aufstiegsspiele qualifizierte. Dort erreichte man im ersten Anlauf den Aufstieg in die Württemberg-badische Bezirksliga und damit die sofortige Rückkehr in die Erstklassigkeit. Im entscheidenden Spiel besiegten die Fußballer am 1. Juni 1924 den bereits qualifizierten SC Freiburg mit 5:3.
Durch die gute Jugendarbeit gelang dem VfB in der Zwischenkriegszeit der Aufbau einer erfolgreichen ersten Mannschaft, die mit Spielern wie Richard „Molly“ Schauffele (später u. a. Präsident der Stuttgarter Kickers) 1927 württembergisch-badischer Meister wurde. Die Endrunde um die deutsche Meisterschaft erreichte die Mannschaft nicht. Im selben Jahr beschloss der Verbandstag in Mainz eine Aufteilung der jungen Bezirksliga in die Abteilungen Württemberg und Baden. Ernst Blum wurde 1928 der erste deutsche Nationalspieler des VfB, als er unter Reichstrainer Otto Nerz gegen Dänemark debütierte. Sowohl 1928 als auch 1929 erreichte der Verein die Trostrunde der Zweiten und Dritten der Bezirksligen. 1929 kam es zu einem Eklat: Durch Zuwendungen an die Spieler hatte der VfB gegen die Amateurstatuten verstoßen. Den Spielern war schon damals bewusst, dass sie die Zuschauereinnahmen positiv beeinflussen konnten und waren der Meinung, dass ihnen ein Anteil daran zusteht. So war der Verein vorerst bereit, die Forderungen der Spieler zu erfüllen, doch mit der Zeit konnte es sich der Klub nicht mehr leisten, Spieler unter der Hand zusätzlich zu bezahlen. Nach einer Selbstanzeige wurde der Verein vom Verband mit einer hohen Strafe belegt. Die betreffenden Spieler wurden vom VfB nicht mehr berücksichtigt, weshalb der VfB als Abstiegskandidat galt. Dennoch gelang einer tiefgreifend verjüngten Mannschaft unter dem damaligen Trainer Lajos Kovács 1929/30 die Württembergische Meisterschaft, und sie erreichte erstmals die süddeutsche Meisterrunde, an der das Team 1932 allerdings erfolglos teilnahm.
1933 bis 1945: Unterstützung des Nationalsozialismus
Die Zeit des Nationalsozialismus gehört zu den dunklen Kapiteln der Vereinsgeschichte. Auch beim VfB konnten einige der Verantwortlichen die sogenannten „Demütigungen“ durch den Versailler Vertrag nur schwer akzeptieren. Im Jahr 1919 kurz nach dem Ende des Ersten Weltkriegs geschriebenen Vereinslied erklang der Wunsch nach einem starken Deutschland; so steht im Text des Liedes in Bezug auf das deutsche Vaterland: … dass es neu und stark ersteh, dafür spielt der VfB! Der ehemalige Präsident Egon Reichsgraf von Beroldingen legte Wert auf die Feststellung: „Der VfB hatte schon von jeher Deutschland auf dem Panier!“ Zudem pflegte der Verein schon immer gute Beziehungen zu militärischen Kreisen.
Vom aufkommenden Nationalsozialismus versprachen sich viele beim VfB einen Neubeginn. Willig stellten die Vereinsoberen 1932 ihren damaligen Platz an den drei Pappeln für NSDAP-Kundgebungen zur Verfügung. Die Stadt kündigte dem VfB daraufhin sofort den Platz. Nach der Machtergreifung der NSDAP in Stuttgart wurde diese Entscheidung wieder rückgängig gemacht. Der neue, von der NSDAP eingesetzte Oberbürgermeister lobte den VfB als „schon vor dem Umbruch dem Nationalsozialismus wohlgesonnenen Verein“. Die offiziellen Verlautbarungen der Vereinsführung ließen keinen Dissens zu den Zielen der NSDAP erkennen, diese Ziele wurden offenbar mitgetragen.
Der damalige Vereinspräsident Hans Kiener war schon 1932 der NSDAP beigetreten und erklärte, der VfB sei ein „Hort nationaler Gesinnung“ und eine „Trutzburg gegen alles Undeutsche“. Kiener wurde von nun an Vereinsführer genannt und „von oben“ mit kommissarischen Vollmachten ausgestattet. Auf Drängen des Reichssportführers und des Verbandes Wehrsport gab es im VfB nun auch einen SA-Sturm. Bereits 1933 nahm der VfB als einer der ersten Vereine des Deutschen Reichs die Arisierung vorweg und schloss sämtliche jüdischen Mitglieder aus, selbst diejenigen, die große Verdienste um den Verein vorzuweisen hatten.
Neue Möglichkeiten eröffnete zusätzlich die 1933 zum Deutschen Turnfest errichtete Adolf-Hitler-Kampfbahn. Da die Stadt das alte VfB-Gelände für das Cannstatter Volksfest benötigte, musste der Verein sich wieder eine neue Heimspielstätte suchen. Die weitgehende Identifikation mit den neuen Machthabern ermöglichte dem VfB nun eine kontinuierliche Fortentwicklung auf sportlichem Gebiet. Damals wurden Gauligen eingeführt, in denen die jeweiligen Gaumeister ermittelt wurden.
1933 wurde der Verein Süddeutscher Pokalmeister, 1935 wieder Württembergischer Meister. Somit waren die Fußballer erstmals für die Endrunde um die deutsche Meisterschaft qualifiziert. Nachdem die Mannschaft die ersten beiden Gruppenspiele verloren hatte, schien die Situation aussichtslos zu sein. Im letzten und entscheidenden Gruppenspiel gegen den direkten Konkurrenten SpVgg Fürth erreichte der VfB noch das Halbfinale, wo der VfL Benrath bezwungen wurde. Und so drang die Mannschaft zum ersten Mal bis ins Endspiel um die deutsche Meisterschaft vor, in dem der Finalist in Köln den überlegenen Schalkern mit 4:6 unterlag. Doch auch als Vizemeister wurden die Spieler bei der Rückkehr nach Stuttgart von tausenden Fans gefeiert.
Spieldaten des Endspiels um die deutsche Meisterschaft 1935
1937 folgte die dritte württembergische Meisterschaft und die Mannschaft qualifizierte sich erneut für die Endrunde um die deutsche Meisterschaft. Nachdem die Fußballer die Gruppenphase souverän als Gruppensieger überstanden hatten, unterlag der Klub im Halbfinale wieder dem FC Schalke 04 und siegte im Spiel um Platz 3 gegen den Hamburger SV. 1938 verteidigte der VfB den württembergischen Meistertitel, schied jedoch diesmal in der Gruppenphase der Meisterschaftsendrunde als Gruppendritter aus. 1939 wurde die Mannschaft Württembergischer Vizemeister. Der Zweite Weltkrieg hatte gravierende Auswirkungen auf das Vereinsleben. Sehr häufig war Stuttgart Ziel von Bombenangriffen. Auch das Vereinsgelände das VfB wurde schwer getroffen, nachdem viele Sprengladungen militärische Ziele wie die anvisierte Eisenbahnlinie oder das Daimler-Benz-Werk verfehlt hatten. Doch trotz der Kraterlandschaft, in die sich die Heimat des VfB verwandelte, und obwohl Spieler und Vereinsfunktionäre immer öfter durch die Kriegshandlungen starben, konnten die Verantwortlichen das Vereinsleben erhalten. 1939/40 wurde lediglich eine Kriegsmeisterschaft im engsten Rahmen ausgetragen, in der die Fußballer die Qualifikation für die Meisterschaftsendrunde am Ende nicht schafften. In der wieder regelmäßig laufenden Gauliga erreichte der VfB 1941 und 1942 die Vizemeisterschaft, wurde 1943 zum letzten Mal Gaumeister und schied in der Vorrunde der deutschen Meisterschaft im K.-o.-System gegen TSV 1860 München aus, ehe im März 1945 die Gauliga Württemberg durch den Krieg endgültig zum Erliegen kam. Dem VfB verblieben immer genug Spieler, um ohne die Hilfe anderer Vereine Kriegsmannschaften zu stellen. Allerdings nutzte der Verein viele „Gastspieler“ sowohl aus dem Inland, als auch aus dem Ausland. Auch Spieler aus besetzten Ländern kamen freiwillig, da sie als Fußballer leichter Akzeptanz finden konnten. Unter ihnen waren prominente Spieler wie zum Beispiel Rudolf Gellesch.
Als der „Vereinsführer“ Hans Kiener 1944 durch einen Bombenangriff schwer verletzt wurde, übernahm nach dessen Evakuierung der zweite Vorsitzende Fritz Walter die Verantwortung. Am 2. April 1945 bestritt der VfB das letzte Spiel vor Kriegsende, welches zwischenzeitlich wegen Fliegerangriffen unterbrochen werden musste.
Später versuchte Walter die offenkundige Nähe des Vereins zum NS-Regime zu relativieren und die Arisierung zu rechtfertigen, indem er erklärte: „Das hat man halt machen müssen, sonst wäre vielleicht der Verein am Ende gewesen.“ Offenkundig ist jedoch, dass der VfB dem Regime weit mehr als üblich und weit schneller als nötig entgegenkam, wodurch der Verein eine aktive Rolle in der Durchsetzung der nationalsozialistischen Agenda erlangte. So rechnete der Stuttgarter Historiker Nils Havemann, der sich intensiv mit der Rolle der Fußballvereine im Dritten Reich beschäftigte, den VfB neben dem FC Schalke 04, Werder Bremen und dem TSV 1860 München zu den vier nationalsozialistischen Vorzeigevereinen.
1945 bis 1963: Wiederaufbau und Erfolge
Der Zweite Weltkrieg stellte eine Zäsur für den Verein dar. Die eigenen Sportanlagen waren weitestgehend zerstört, viele Vereinsmitglieder waren im Krieg gefallen. Dem VfB-Torwart Ernst Schnaitmann gelang es, den Stadtkommandanten davon zu überzeugen, dem VfB eine Spielgenehmigung zu erteilen. Gegen eine Cannstatter Auswahl trug der VfB Stuttgart am 15. Juli 1945 sein erstes Spiel nach Kriegsende aus. Bereits am 13. Oktober 1945 wurde im Gasthaus Krone in Fellbach unter entscheidender Mitwirkung von VfB-Präsident Fritz Walter die süddeutsche Oberliga gegründet. Auf dem Kohlenwagen musste der VfB-Verantwortliche Gustav Sackmann reisen, um über vorige Gaugrenzen und damalige Zonengrenzen hinweg für die Gründung der neuen Liga in Süddeutschland zu werben. Es gelang dem VfB, in der am 4. November 1945 unter dem Vorsitz von Walter gestarteten Oberliga gleich die erste süddeutsche Meisterschaft der Nachkriegszeit und damit auch die Amerikanische Zonenmeisterschaft zu gewinnen. Robert Schlienz war mit 42 Treffern zugleich erster Torschützenkönig der neuen Liga. Eine deutsche Meisterschaft wurde damals aufgrund der unterschiedlichen Bestimmungen in den verschiedenen Besatzungszonen nicht ausgetragen.
Die Oberliga wurde bei den Fans schnell populär und so kam Geld in die Kassen des Vereins, der so die zerstörte Infrastruktur wieder aufbaute. Der VfB erlangte nun eine wichtige regionale Bedeutung, und für den VfB spielen zu können, wurde das Ziel von vielen Jugendlichen. Auch nach der Einführung des Vertragsspielerstatuts 1948 konnten die Spieler des VfB von den Bezügen, die ihnen ihre Spielerverträge bescherten, nicht leben, und so förderte der Klub bei den Spielern die Selbständigkeit. So führte Robert Schlienz nebenbei ein Sportartikelgeschäft, Karl Barufka ein Spirituosengeschäft und Erich Retter eine Tankstelle. Beim VfB versuchten die Verantwortlichen immer, den Spielern dabei zu helfen, Fußball und Beruf vereinbaren zu können.
In den folgenden Jahren tummelten sich die Fußballer zunächst nur im Mittelfeld der Oberliga und landete erst 1950 als Zweiter wieder weit oben in der Tabelle. Damals begann die erfolgreichste Ära des Vereins, der nun den Stadtkonkurrenten Stuttgarter Kickers endgültig als Nummer 1 in der Stadt ablöste. Die süddeutsche Vizemeisterschaft berechtigte den VfB, an der K.-o.-Runde zur deutschen Meisterschaft teilzunehmen. Dort zog der VfB zum zweiten Mal in ein Endspiel um die deutsche Meisterschaft ein, das er in Berlin gegen Kickers Offenbach mit 2:1 gewann. Die erste deutsche Meisterschaft des VfB war erreicht. Danach wurde dem VfB als erstem Fußballverein überhaupt von Bundespräsident Theodor Heuss das Silberne Lorbeerblatt verliehen. Bei ihrer Ankunft am Stuttgarter Bahnhof wurde die Mannschaft euphorisch gefeiert und unter anderem von der Endspielelf von 1935 empfangen.
Spieldaten des Endspiels um die deutsche Meisterschaft 1950
Als der Deutsche Fußball-Bund 1950 wieder Länderspiele austragen durfte, wurden schließlich Spieler vom damaligen deutschen Meister, wie zum Beispiel Karl Barufka, berufen. 1951 verpasste der amtierende Meister die Endrunde der Meisterschaft als Vierter der Oberliga Süd knapp. Doch 1952 wurde der VfB wieder Süddeutscher Meister, nachdem die Mannschaft den 1. FC Nürnberg noch im letzten Spiel durch einen Sieg im direkten Duell abgefangen hatte. Durch den Sieg in der Gruppenphase erreichte der VfB zum dritten Mal das Endspiel um die deutsche Meisterschaft, das der Klub in Ludwigshafen gegen den 1. FC Saarbrücken gewann. Die Mannschaft entsprach in weiten Teilen der Meistermannschaft von 1950. Mercedes-Benz stellte dem VfB damals Wagen zur Verfügung, mit denen die Mannschaft eine Rundfahrt durch die Region machte, wobei sie wieder euphorisch gefeiert wurde.
Spieldaten des Endspiels um die deutsche Meisterschaft 1952
In der kommenden Saison erreichte der VfB nach einem schwachen Saisonstart doch noch die süddeutsche Vizemeisterschaft und bekam so die Chance, den Meistertitel zu verteidigen. Inzwischen war Erich Retter Nationalspieler geworden. Nachdem die Mannschaft diesmal nur knapp aufgrund des direkten Vergleichs in der Vorrunde nach einem Sieg im letzten Spiel gegen Borussia Dortmund den Gruppensieg geholt hatte, erreichte der Fußballmeister zum zweiten Mal in Folge das Endspiel. Karl Barufka war nach seiner Verletzung aus dem Spiel gegen Dortmund im Finale gegen den 1. FC Kaiserslautern nicht einsatzfähig. Nach der blutigen Niederschlagung des Arbeiteraufstandes am 17. Juni 1953 in Berlin wurde schon über eine Verschiebung des Spielorts nachgedacht. Der DFB hielt trotzdem am Berliner Olympiastadion als Austragungsort fest. Die Titelverteidigung gelang nicht, die Mannschaft unterlag gegen den mit Stars aus der späteren Weltmeistermannschaft von 1954 gespickten 1. FC Kaiserslautern mit 1:4. Ein Positiverlebnis hatte lediglich Karl Bögelein, der zu Beginn einen Elfmeter gegen die spätere Fußballlegende Fritz Walter hielt. Letzterer führte den FCK trotzdem zum deutlichen Sieg.
Spieldaten des Endspiels um die deutsche Meisterschaft 1953
In der folgenden Saison wurde der VfB wieder Süddeutscher Meister. Jedoch schied der VfB diesmal in der Vorrunde der deutschen Meisterschaft als Gruppenzweiter nach einer 1:3-Niederlage gegen Hannover 96 aus. Der Saisonhöhepunkt des Jahres 1954 war das Endspiel eines anderen Wettbewerbs. Zum ersten Mal erreichten die Fußballer das Finale des DFB-Pokals und trafen auf den 1. FC Köln. Erwin Waldner erzielte damals nach einer Vorlage von Robert Schlienz das entscheidende Tor an diesem Karsamstag. So wurde der VfB in dem Jahr zum ersten Mal DFB-Pokalsieger, in dem Deutschland zum ersten Mal Fußballweltmeister wurde.
Spieldaten des Endspiels um den DFB-Pokal 1954
1955 rutschte der amtierende Pokalsieger in der Oberliga auf einen enttäuschenden dreizehnten Platz ab. Doch 1956 wurde der VfB süddeutscher Vizemeister und erreichte wieder die Meisterschaftsendrunde, nachdem die Mannschaft in der Qualifikation zur Endrunde TuS Neuendorf bezwungen hatte. Diesmal schied der VfB als Gruppendritter in der Gruppenphase aus. Es war die letzte Teilnahme an der Meisterschaftsendrunde. 1956/57 begann der VfB die Saison mit guter Frühform, Schweinfurt 05 wurde 7:0, der Wiederaufsteiger Bayern München mit 5:0 besiegt, und Erwin Waldner war bis zu seinem Platzverweis gegen Augsburg der Garant des Erfolges. Danach kam die Tormaschine ins Stottern, und der VfB beendete die Saison auf Platz 4 der Oberliga. 1957 wurde die Einführung der Bundesliga und des Profifußballs beschlossen, und der VfB gehörte zu den Befürwortern. Er hatte nämlich zwei talentierte junge Nationalspieler verpflichtet, Rolf Geiger von den Stuttgarter Kickers und Rudolf Hoffmann von Aschaffenburg, die wegen Verstoßes gegen die Amateurregeln erst einmal gesperrt wurden. Am Ende des Jahres 1958 erreichte der VfB zum zweiten Mal das Endspiel des DFB-Pokal, diesmal gegen Fortuna Düsseldorf. Gegen die Mannschaft um den späteren Bundestrainer Jupp Derwall gewann der Klub mit den beiden Neuzugängen, aber wieder erst in der Verlängerung durch den entscheidenden Treffer von Lothar Weise.
Spieldaten des Endspiels um den DFB-Pokal 1958
In den kommenden Jahren spielte der VfB keine bedeutende Rolle im süddeutschen Fußball und landete bis zur Gründung der Bundesliga immer zwischen Platz fünf und Platz sieben. 1959/60 sah es zwar bis zum Sieg gegen den amtierenden Meister Eintracht Frankfurt so aus, als ob die Endrunde um die Meisterschaft erreicht werden könnte, aber dann begann der Absturz. Es war das Jahr, in dem Schlienz erstmals nicht mehr zum Einsatz kam. Georg Wurzer wollte die Mannschaft mit Talenten aus der eigenen Jugend verjüngen, mit der Folge von Leistungsschwankungen. 1959/60 gingen dann Trainer Wurzer, Erwin Waldner wechselte nach Zürich, und der neue Trainer Baluses versuchte es mit Kampffußball statt spielerischer Finesse. Als Ergebnis blieben die Fans aus, und es war fraglich, ob der VfB mit diesen Leistungen die Qualifikation zur Bundesliga erreichen würde. Vor der letzten Oberligasaison 1962/63 wechselte auch noch Rolf Geiger nach Italien, dafür besaß man mit Entenmann, Sieloff und Pfisterer eine namenlose, aber talentierte Läuferreihe. Die Saison wurde zur Zitterpartie, in der man zwischenzeitlich bis auf Platz 14 abrutschte und die Bundesligaqualifikation in weite Ferne geriet. Am Ende erreichten die Stuttgarter den sechsten Platz. Wegen der Zwölfjahreswertung war lange ungewiss, ob der VfB der neuen Bundesliga angehören würde. Erst ein Telegramm bestätigte am 6. Mai 1963 endgültig die Zugehörigkeit des VfB zur Bundesliga. Zuvor wurde von der Presse vermeldet: Karlsruhe (419 Qualifikationspunkte), Stuttgart (408) und Offenbach (382) sind als gleichwertig anzusehen, weswegen der diesjährige Tabellenstand ausschlaggebend ist. Somit war es möglicherweise entscheidend, dass der VfB punktgleich aufgrund der besseren Tordifferenz 1962/63 in der Oberliga Süd einen Platz vor den Kickers Offenbach lag.
1963 bis 1976: Vom Gründungsmitglied zum Absteiger
1963 zählte der VfB zu den 16 Gründungsmitgliedern der Bundesliga. Mit Fritz Walter hatte der Verein damals einen Präsidenten, der keine finanziellen Risiken eingehen wollte und lieber auf ehrenamtliche Arbeitskräfte setzte als auf ein bezahltes professionelles Management und eine Mannschaft, die nur aus Vollprofis besteht. Dennoch konnte sich die Mannschaft, nachdem nun Profifußball erlaubt war, mit den Heimkehrern Rolf Geiger und Erwin Waldner verstärken. Dazu kam noch Hans Arnold aus Mannheim. In der ersten Bundesligasaison konnte so ein fünfter Platz erreicht werden. Doch nachdem die Fußballmannschaft sich bis 1968 nur noch im Mittelfeld befunden hatte, forderten immer mehr ein modernes Management beim VfB, welches sich bei den erfolgreichen Vereinen der Liga bereits bewährt hatte. Walter war dazu nicht bereit und so trat Hans Weitpert, der an der Spitze derer stand, die eine neue Einkaufspolitik forderten, dessen Nachfolge an. Es dauerte nicht mehr lange, bis mit Günter Sawitzki 1971 der letzte Spieler des VfB, der nebenbei einen Beruf ausübte, seine Karriere beendete.
Prominente Trainer in den ersten Bundesligajahren waren Rudi Gutendorf, Albert Sing und Branko Zebec. Nachdem die Fußballer 1969 wieder Fünfter geworden waren, verloren die Stuttgarter in den folgenden Jahren den Anschluss zur Spitze und spielten die kommenden Jahre hauptsächlich im Mittelfeld der Liga. Nur 1973 erreichte die Mannschaft den UEFA-Pokal und konnte 1974 erstmals das Halbfinale erreichen. Dort schied der VfB gegen Feyenoord Rotterdam aus. Im April 1975 räumte Weitpert, der mit seiner offensiven Einkaufspolitik gescheitert war, seinen Präsidentenposten. Gerhard Mayer-Vorfelder wurde zum neuen Präsidenten des Vereins gewählt. Mayer-Vorfelders vorige Aufgabe als Vorsitzender des Verwaltungsrats übernahm das bisherige Vorstandsmitglied Heinz Bandke. Der VfB befand sich zu dieser Zeit auf einem Abstiegsplatz. Am Ende der Saison stieg der VfB aus der Bundesliga ab. Zuvor war der VfB nur 1923/24 für eine einzige Saison zweitklassig gewesen.
Die folgende Saison wurde zu einem der schwächsten sportlichen Kapitel der VfB-Geschichte – der Verein belegte in der 2. Liga lediglich Platz 11. Den Tiefpunkt bildete das Heimspiel gegen den SSV Reutlingen 05 vor 1.200 Zuschauern, das mit 2:3 verloren ging.
1976 bis 1992: Aufstieg und Rückkehr an die Spitze
Zur Saison 1976/77 verpflichteten Gerhard Mayer-Vorfelder und sein neuer Geschäftsführer Ulrich Schäfer Jürgen Sundermann als VfB-Trainer. Aus finanziellen Zwängen musste der VfB vor allem auf junge Spieler setzen. Mit dem damaligen Hundert-Tore-Sturm gelang dem VfB die Rückkehr ins Fußball-Oberhaus. Dabei erzielte Ottmar Hitzfeld im Heimspiel gegen den SSV Jahn Regensburg sechs Treffer (Endstand 8:0). Dieser Rekord hat bis heute Bestand.
In der Saison 1977/78, der ersten Saison nach der Rückkehr in die Bundesliga, erreichte der VfB den vierten Tabellenplatz. Dabei stellte er mit einem Zuschauerschnitt von fast 54.000 einen fast 20 Jahre gültigen Bundesliga-Rekord auf. In den Folgejahren konnte sich der VfB in der Bundesligaspitze etablieren.
Spieler in dieser Zeit waren u. a. Hansi Müller, Karlheinz und Bernd Förster, Karl Allgöwer, Dieter Hoeneß, Hermann Ohlicher und Helmut Roleder. Bis 1980 qualifizierte sich die Mannschaft in jeder Saison nach dem Aufstieg für den UEFA-Pokal. 1979/80 erreichte das Team zum zweiten Mal das Halbfinale des UEFA-Pokals, als der VfB gegen Borussia Mönchengladbach nach einem 2:1-Heimsieg und einer 0:2-Niederlage auswärts knapp ausschied.
Die Infrastruktur wurde zu Beginn der 1980er Jahre angepasst: 1981 bezog der VfB nach knapp zweijähriger Bauzeit sein neues Clubzentrum (Kostenaufwand damals: ca. 5,2 Millionen Euro). Nachdem der Verein 1982 auf den neunten Platz abgerutscht war, qualifizierten sich die Fußballer 1983 mit einem dritten Platz für den UEFA-Pokal. Im Sommer desselben Jahres nahm der VfB Stuttgart an dem Turnier der Hundertjahrfeier von Girondins Bordeaux teil und besiegte dort nach einem Halbfinalsieg gegen den FC Nantes den Gastgeber aus Bordeaux, der sich im Halbfinale gegen den FC Barcelona durchgesetzt hatte. 1984 erreichte der Verein unter Trainer Helmut Benthaus seine dritte deutsche Meisterschaft. Als die Mannschaft am 32. Spieltag punktgleich mit dem Hamburger SV an der Spitze lag, drohte ein Endspiel am 34. Spieltag im Neckarstadion gegen den HSV. Doch da der VfB selbst gegen Werder Bremen siegte und der HSV gegen Eintracht Frankfurt gleichzeitig unterlag, stand fest, dass der HSV mit 5 Toren Vorsprung im direkten Duell in Stuttgart hätte gewinnen müssen, um deutscher Meister zu werden. Der HSV erzielte lediglich in den letzten Minuten, als die VfB-Fans schon die Meisterschaft feierten, den 1:0-Siegtreffer. Erstmals im Europapokal der Landesmeister vertreten, scheiterte der VfB in der ersten Runde gegen Levski Spartak Sofia.
1985 erreichte der VfB den 10. Platz. 1986 erreichte der Verein unter den Trainern Barić und Entenmann zum dritten Mal ein DFB-Pokal-Finale, das der FC Bayern München mit 5:2 gewann. Trotzdem trat der VfB als Fünfter der Bundesliga-Saison in der folgenden Saison nicht im UEFA-Pokal, sondern im Europapokal der Pokalsieger an, weil der FC Bayern als Meister bereits im Europapokal der Landesmeister spielte.
Spieldaten des Endspiels um den DFB-Pokal 1986
1986/87 schied der VfB bei der ersten Teilnahme im Europapokal der Pokalsieger im Achtelfinale gegen Torpedo Moskau aus. Ende der 80er Jahre qualifizierte sich der VfB mit Spielern wie Buchwald, Jürgen Klinsmann, Sigurvinsson oder Immel und Trainer Arie Haan 1988 und 1989 wieder für den UEFA-Pokal. In die Chronik des Vereins eingegangen ist dabei vor allem das UEFA-Pokal-Finale von 1989 gegen den SSC Neapel. Auf Klinsmann musste die Mannschaft wegen einer Gelbsperre aus dem Halbfinale im Hinspiel verzichten. Nach einer fragwürdigen Schiedsrichterleistung hatte der VfB das Hinspiel in Neapel mit 1:2 gegen Napoli verloren. Beim 1:1 nahm Diego Maradona den Ball mit der Hand mit und der Handelfmeter zum 1:2 war ebenfalls nach einstimmiger Meinung der Fußballexperten nicht berechtigt. Zudem wurde Kapitän Guido Buchwald durch eine gelbe Karte für das Rückspiel in Stuttgart gesperrt. Der griechische Schiedsrichter Gerassimos Germanakos aus dem Hinspiel wurde danach von der UEFA gesperrt, was keine Auswirkungen hatte, da der Schiedsrichter ohnehin zurückgetreten war. Stefano Bizzotto und Roberto Beccantini berichteten, dass sie den Schiedsrichter und die Linienrichter in der Nacht nach dem Spiel in Neapel mit weiblichen Begleitungen auf dem Weg zum Hotel Excelsior gesehen hätten. Dadurch kam es in Italien zu Spekulationen darüber, ob ein Zusammenhang mit Methoden des damaligen Neapel-Managers Luciano Moggi bestehen könnte. Ein 3:3 im Rückspiel reichte dann nicht mehr zum Titelgewinn.
Spieldaten der Endspiele um den UEFA-Cup 1989
1990 kamen Christoph Daum als Trainer und Dieter Hoeneß, der von Ulrich Schäfer die Aufgaben des Sportmanagers übernahm, zum VfB. 1992 wurde der VfB unter Daum unter anderem mit Guido Buchwald, Fritz Walter und Matthias Sammer zum vierten Mal Deutscher Meister. In einem Herzschlag-Finale setzten sich die Stuttgarter durch einen Treffer in der 86. Minute des letzten Spieltags (2:1-Sieg in Leverkusen) im Fernduell gegen Eintracht Frankfurt (1:2 bei Hansa Rostock) und Borussia Dortmund (1:0 beim MSV Duisburg) durch; Fritz Walter wurde Torschützenkönig. Der VfB war damals vor dem letzten Spieltag lediglich zweimal Tabellenführer gewesen.
1992 bis 2001: Von der Spitze in den Abstiegskampf
In der Folgesaison unterlief Trainer Daum in der ersten Runde des Europacups gegen Leeds United am 30. September 1992 ein folgenschwerer Fehler: Er wechselte mit Jovica Simanić einen damals nicht gestatteten vierten Ausländer ein. Das Spiel wurde gegen den VfB gewertet und der Verein schied, nach einem Entscheidungsspiel in Barcelona vor gerade einmal 15.000 Fans, bereits zum zweiten Mal in seiner Geschichte in der ersten Runde des Europacups der Landesmeister aus. Damit verpasste der VfB die Teilnahme an der Champions League. In den kommenden drei Jahren qualifizierte sich die Mannschaft nicht mehr für den Europacup und schaffte es wie schon 1984 zunächst nicht, sich als Meister an der Spitze zu halten. Nachdem der Verein sich im Dezember 1993 vom Meistertrainer Daum getrennt hatte, entließ Gerhard Mayer-Vorfelder zusammen mit dem Daum-Nachfolger Jürgen Röber im April 1995 auch den Manager Dieter Hoeneß.
Unter Rolf Fringer spielte in der Saison 1995/96 erstmals das so genannte Magische Dreieck zusammen, das aus den Spielern Krassimir Balakow, Giovane Élber und Fredi Bobic bestand. Dennoch wurde der VfB nur Zehnter, und so legte der VfB Fringer keine Steine in den Weg, Schweizer Nationaltrainer zu werden. Erst unter Joachim Löw, der von Fringers Co-Trainer zum Interimstrainer und schließlich zum Cheftrainer wurde, knüpfte der VfB wieder an frühere Erfolge an. Das Magische Dreieck sorgte in der Bundesliga für Furore und gewann 1997 durch einen 2:0-Sieg im Finale in Berlin gegen den damaligen Regionalligisten Energie Cottbus den DFB-Pokal. Dabei hatte die Mannschaft im Viertelfinale nur durch ein Elfmeterschießen gegen den SC Freiburg das Halbfinale erreicht, in dem die Mannschaft den Hamburger SV mit 2:1 bezwang. Von den 78 Bundesliga-Saisontoren 1996/97 schossen Bobic, Élber und Balakow alleine 49, nur 10 weniger als die gesamte Mannschaft in der Vorsaison erzielte. Doch so schnell das Magische Dreieck sich einspielte, so schnell trennten sich die Wege der drei auch wieder: Die zwei entscheidenden Tore von Giovane Élber im Pokalfinale waren seine beiden letzten für den VfB, dann wechselte er zum FC Bayern München.
Spieldaten des Endspiels um den DFB-Pokal 1997
Ein Jahr später stand der VfB im Finale des Europapokals der Pokalsieger, das er in Stockholm unglücklich mit 0:1 gegen Chelsea London verlor, nachdem der eingewechselte Gianfranco Zola mit seinem ersten Ballkontakt das entscheidende Tor erzielt hatte. Danach ging mit Fredi Bobic der zweite Spieler des magischen Dreiecks, er wechselte zu Borussia Dortmund. Nur Krassimir Balakow blieb bis zu seinem Karriereende beim VfB.
Spieldaten des Endspiels um den Europapokal der Pokalsieger 1998
Doch trotz der Erfolge verlängerte der Verein unter der Leitung von Gerhard Mayer-Vorfelder, der im März 1998 Karlheinz Förster als neuen Sportdirektor eingestellt hatte, den am Saisonende 1998 auslaufenden Vertrag mit Löw nicht. Stattdessen wurde nun Winfried Schäfer verpflichtet. Vor allem bei den Fans war diese Entscheidung sehr unpopulär, da Schäfer vom Erzrivalen Karlsruher SC kam, wo er sich einen Namen gemacht hatte. Der Trainerwechsel erwies sich schnell als Fehler, und so wurde Schäfer noch im selben Jahr wieder entlassen. Innerhalb eines Kalenderjahres wurden fünf Trainer beschäftigt (Joachim Löw, Winfried Schäfer, Wolfgang Rolff, Rainer Adrion und Ralf Rangnick).
Die folgenden Jahre brachten mehr sportlichen Misserfolg als Erfolg. Finanzielle Probleme, die vor allem auf die riskante Transferstrategie unter Gerhard Mayer-Vorfelder und seinem geschäftsführenden Vorstandsmitglied Ulrich Schäfer zurückzuführen waren, wurden gegen Ende des 20. Jahrhunderts auch vereinsintern kritisch gesehen. Schon allein der von Mayer-Vorfelder mit Dušan Bukovac ausgehandelte Rentenvertrag von Krassimir Balakow belastete den VfB. Dieser hoch dotierte Vertrag (geschätzte 3 Mio. Euro Jahresgehalt) konnte durch das Ziehen einer Option von Balakow fristlos verlängert werden und wurde nach harten Verhandlungsrunden zwischen Mayer-Vorfelders Nachfolger Manfred Haas und Bukovac erst 2003 beendet. Zudem litt der Verein unter einigen teuren Einkäufen von Spielern, die gar nicht oder kaum für den Verein aufliefen. Beispiele sind Didi, Srgjan Zaharievski, Mitko Stojkovski oder Saša Marković. Im Juni 1999 sprach der Aufsichtsrat des VfB Gerhard Mayer-Vorfelder das Misstrauen aus und kündigte an, eine Wiederwahl des Präsidenten im folgenden Jahr nicht mitzutragen. Der Aufsichtsratsvorsitzende Heinz Bandke, der seit Beginn der Präsidentschaft Mayer-Vorfelders dessen Entscheidungen meist mitgetragen hatte, etablierte im September 1999 mit Hansi Müller im Vorstand ein Gegengewicht zum Vereinspräsidenten. Als Mayer-Vorfelder, kurz bevor er den Verein im Oktober 2000 wegen seiner anstehenden Aufgabe als Präsident des DFB freiwillig verließ, den Verein weiter finanziell ins Risiko stürzen wollte, setzten sich Hansi Müller und sein Vorstandskollege Karlheinz Förster, die stattdessen auf junge Spieler setzen wollten, gegen den scheidenden Präsidenten durch. Manfred Haas wurde im Oktober 2000 zum Nachfolger von Gerhard Mayer-Vorfelder gewählt.
Unter Trainer Ralf Rangnick wurde ein sportlicher Konsolidierungsprozess eingeleitet. Wegen Kompetenzstreitigkeiten untereinander traten der Sportdirektor Karlheinz Förster und sein Vorstandskollege Hansi Müller im Januar 2001 innerhalb von einer Woche zurück. Das Erreichen des UEFA-Pokals durch den erstmaligen Gewinn des UI-Cups 2000 war nun eher ein Hindernis im Abstiegskampf. Nachdem der Verein im Februar 2001 auf den 17. Tabellenplatz abgestürzt war, überzeugte Försters Nachfolger Rolf Rüssmann Trainer Ralf Rangnick davon, das Traineramt zur Verfügung zu stellen. Rangnicks Nachfolger wurde Felix Magath. Unter Magath schaffte der VfB am vorletzten Spieltag gegen Schalke 04 durch ein Tor von Balakow kurz vor dem Spielende den Klassenerhalt.
2001 bis 2009: „Junge Wilde“, Meisterschaft 2007 und mehrere Champions-League-Teilnahmen
Aufgrund der finanziellen Engpässe musste der VfB wie Mitte der 1970er Jahre auf die eigene Jugend setzen – Spieler wie Andreas Hinkel, Kevin Kurányi, Timo Hildebrand oder Aljaksandr Hleb bildeten ein Team, das sich hervorragend entwickelte und in den Medien den Beinamen „die jungen Wilden“ erhielt. Der VfB qualifizierte sich 2002 über den UI-Cup für den UEFA-Pokal 2002/03. Im Oktober 2002 wurde der Aufsichtsratsvorsitzende Heinz Bandke nach 27 Jahren in diesem Amt von Dieter Hundt abgelöst. Am Ende der Saison 2002/03 war die Mannschaft überraschend Vizemeister hinter Bayern München und qualifizierte sich damit erstmals für die Champions League. Der Verein wurde wegen seiner für die Region wichtigen Bedeutung mit dem Hans-Peter-Stihl-Preis ausgezeichnet. In der Champions League Saison 2003/04 zeigte die Mannschaft ihre Klasse u. a. durch einen 2:1-Sieg gegen Manchester United sowie durch das Erreichen des Achtelfinals. Dort war erneut der FC Chelsea Endstation, nachdem sich der VfB durch ein Eigentor von Fernando Meira im Hinspiel selbst um die Chance auf den Einzug ins Viertelfinale gebracht hatte (0:1 zuhause, 0:0 auswärts).
2003 wurde Erwin Staudt neuer Präsident. Er wurde der erste hauptamtliche Präsident des VfB Stuttgart und trug mit seiner Mitglieder-Kampagne mit dem Titel „Wir packen Schalke“ entscheidend dazu bei, die Mitgliederzahl innerhalb von zwei Jahren mehr als zu verdreifachen. Zudem überzeugte er Rudi Häussler, direkt neben dem Gottlieb-Daimler-Stadion mit dem Carl Benz Center einen Multifunktionskomplex zu errichten. Vom Bau des Gebäudes profitiert der VfB als Hauptmieter am meisten. Im Sommer 2004 wechselte Trainer Magath zum FC Bayern München, sein Nachfolger in Stuttgart wurde Matthias Sammer. Magaths Aufgaben in der sportlichen Leitung übernahmen Jochen Schneider und Herbert Briem. Zwar erreichte der VfB in der Saison 2004/05 einen UEFA-Cup-Platz, allerdings verspielten die Fußballer mit einem schwachen Saisonfinale eine bessere Platzierung. Daher trennte sich der Verein nach Saisonende von Sammer. Sein Nachfolger wurde im Sommer 2005 Giovanni Trapattoni.
Vor der Saison 2005/06 kam es zu großen personellen Wechseln beim VfB; Leistungsträger wie Kevin Kurányi (für etwa 7 Mio. zu Schalke 04), Philipp Lahm (war ausgeliehen von Bayern München) und Aljaksandr Hleb (wechselte für geschätzte 15 Millionen zum FC Arsenal) verließen den VfB, neu verpflichtet wurden u. a. Thomas Hitzlsperger (Aston Villa) und Jon Dahl Tomasson (AC Mailand). Durch die hohen Transfererlöse konnte der Verein zwar seine Verbindlichkeiten (die vor der Saison noch 8,21 Millionen Euro betrugen) deutlich reduzieren, doch hinkte die Mannschaft ihren eigenen sportlichen Ansprüchen hinterher. Anfang Februar 2006 trennte sich der VfB von Giovanni Trapattoni, dessen Taktik und Spielweise bei Fans und Spielern immer mehr in die Kritik geraten war.
Die Schwaben verpflichteten daraufhin Armin Veh als neuen Cheftrainer, der zu Beginn vom Aufsichtsratsvorsitzenden Dieter Hundt als Übergangslösung bis zur Sommerpause bezeichnet wurde. Der Wunschkandidat des zur Winterpause als Manager verpflichteten Ex-Spielers Horst Heldt konnte sich dennoch als Trainer für die kommende Saison durchsetzen. Nach der sportlich enttäuschenden Saison 2005/06 gab es vor der Saison 2006/07 wieder einige tiefgreifende personelle Änderungen. Nach zehn Jahren beim VfB beendete Kapitän Zvonimir Soldo seine Karriere und nach 14 Jahren verließ Andreas Hinkel den Verein.
Wie schon in früheren Jahren macht der VfB teils aus der Not eine Tugend und setzte zur Saison 2006/07 wieder auf junge Spieler. Der Verein hat mit Mario Gómez, Serdar Tasci und Sami Khedira einige Talente aus der eigenen Jugend in der Mannschaft. Da der VfB inzwischen zu den reicheren Vereinen der Liga gehört, konnte der Klub sich mit neuen Spielern wie z. B. Pável Pardo, Ricardo Osorio oder Antônio da Silva verstärken. Nach einem eher schwachen Saisonstart 2006/07 wurde Armin Veh vom Aufsichtsratsvorsitzenden Hundt erneut kritisiert, worauf in den Medien Veh zunächst als Favorit auf die nächste Trainerentlassung gehandelt wurde. Jedoch gelang es dem VfB, mit einer sehr jungen Mannschaft wieder an die Erfolge der Jahre 2002 bis 2004 anzuschließen. Am 12. November 2006 übernahm der VfB mit einem 2:1-Sieg bei Hannover 96 erstmals seit fast zwei Jahren wieder die Tabellenspitze. Über den kompletten weiteren Verlauf der Saison hielt sich der Verein unter den ersten vier Vereinen der Bundesliga. Von den Medien bekam die Mannschaft aufgrund ihrer offensiven und erfolgreichen Spielweise den Beinamen „die jungen Wilden II“. Am vorletzten Spieltag der Saison übernahm der VfB zum zweiten Mal die Tabellenspitze und ging als Tabellenführer mit zwei Punkten Vorsprung vor FC Schalke 04 in den letzten Spieltag. Der VfB gewann das letzte Heimspiel gegen Energie Cottbus mit 2:1 und wurde damit Deutscher Meister 2007.
Nach Siegen gegen Alemannia Aachen II, den SV Babelsberg 03, den VfL Bochum, Hertha BSC und den VfL Wolfsburg stand die Mannschaft um Armin Veh nach genau zehn Jahren wieder im Endspiel um den DFB-Pokal im Berliner Olympiastadion. Dort verlor man am 26. Mai 2007 gegen den 1. FC Nürnberg mit 3:2 nach Verlängerung.
Spieldaten des Endspiels um den DFB-Pokal 2007
In der Champions League 2007/08 spielte der VfB gegen die Glasgow Rangers, gegen den FC Barcelona und gegen Olympique Lyon. Von den sechs Spielen in der Champions-League-Vorrunde gewann der VfB eines (3:2 im Heimspiel gegen die Glasgow Rangers). Aufgrund der weiteren fünf Niederlagen schied die Mannschaft als Gruppenletzter aus dem Europapokal aus. Parallel dazu durchschritt der VfB in der Bundesliga-Saison 2007/08 eine Talsohle. Als amtierender Deutscher Meister rutschte man nach einigen Niederlagen zu Saisonbeginn tief in die untere Tabellenhälfte und rangierte nach zehn Spieltagen mit lediglich 10 Punkten auf Platz 14 der Tabelle. Ab dem elften Spieltag arbeitete der VfB sich in der Tabelle weiter nach oben. Die Saison schloss der VfB als Sechster ab und konnte sich über den UI-Pokal für den UEFA-Pokal 2008/09 qualifizieren. Im DFB-Pokal schied der VfB im Viertelfinale zu Hause gegen den Vorletzten der 2. Bundesliga Carl Zeiss Jena durch ein 6:7 nach Elfmeterschießen aus.
Nachdem der VfB in der Saison 2008/09 nach dem vierzehnten Spieltag mit 18 Punkten auf dem elften Tabellenplatz gestanden war, wurde der Trainer Armin Veh entlassen und durch Markus Babbel ersetzt. Unter Babbels Leitung belegte die Mannschaft in der Abschlusstabelle den 3. Platz, der zur Teilnahme an der Qualifikation für die Champions League 2009/10 berechtigte. Im DFB-Pokal schied man im Achtelfinale durch eine deutliche 1:5-Heimniederlage gegen Bayern München aus. Im UEFA-Cup kam nach überstandener Gruppenphase das Aus gegen den Titelverteidiger Zenit St. Petersburg.
2009 bis 2019: Niedergang, Ausgliederung und zwei Abstiege
Der Abgang von Mario Gomez im Juni 2009 bedeutete den Verlust des besten Stuttgarter Torjägers der letzten Jahre. Um ihn zu ersetzen, wurde der russische Nationalstürmer Pawel Pogrebnjak verpflichtet. Zudem gelang es dem VfB, Aliaksandr Hleb nach vier Jahren, die er bei Arsenal London und dem FC Barcelona verbracht hatte, auf Leihbasis nach Stuttgart zurückzuholen. In der Europapokal-Saison 2009/10 setzte sich der VfB zunächst im August 2009 in der Playoff-Runde der Champions-League-Qualifikation gegen den rumänischen Vertreter FC Timișoara durch und zog dadurch zum dritten Mal innerhalb von sechs Jahren in die Gruppenphase der Königsklasse ein. Dort bekam man den FC Sevilla, die Glasgow Rangers und Unirea Urziceni als Gruppengegner zugelost. Der VfB Stuttgart wurde Gruppenzweiter und erreichte das Achtelfinale, in dem er Titelverteidiger FC Barcelona mit 1:1 und 0:4 unterlag. Der Pokalwettbewerb 2009/10 war für den VfB bereits im Achtelfinale beendet, als man gegen die SpVgg Greuther Fürth ausschied. Die Bundesliga-Saison 2009/10 verlief ähnlich wie die vorangegangene Saison 2008/09: Die Hinrunde war weitestgehend von enttäuschenden Leistungen geprägt. Nach dem 15. Spieltag, als der VfB fast auf einem Abstiegsrang stand, wurde Markus Babbel entlassen; sein Nachfolger wurde der erfahrenere Schweizer Christian Gross. In der Winterpause verließen Thomas Hitzlsperger, Ludovic Magnin und Jan Šimák den Verein, Cristian Molinaro wurde von Juventus Turin ausgeliehen. Als beste Rückrundenmannschaft konnte der VfB noch das obere Tabellendrittel erreichen und sich für die Teilnahme an der Europa League 2010/11 qualifizieren.
Zum Beginn der Bundesliga-Saison 2010/11 wechselte der Vorstand Sport Horst Heldt zum FC Schalke 04. Als Ersatz wurde der frühere VfB-Stürmer Fredi Bobic als Sportdirektor verpflichtet. Auch auf dem Platz kam es zu einem größeren personellen Umbruch: Den Abgängen Jens Lehmann, Sami Khedira, Aljaksandr Hleb, Ricardo Osorio und Roberto Hilbert standen als Neuverpflichtungen Christian Gentner, Mauro Camoranesi, Philipp Degen, Martin Harnik und Johan Audel gegenüber. Nach Angaben der Vereinsführung konnten die laufenden Personalkosten so um 15 Mio. Euro gesenkt werden. Nachdem der VfB nach den ersten 7 Spieltagen nur 3 Punkte hatte einfahren können und somit den 18. Tabellenplatz belegt hatte, wurde der Cheftrainer Christian Gross am 13. Oktober 2010 von seinen Aufgaben entbunden. Der bisherige Co-Trainer Jens Keller wurde danach neuer Cheftrainer. Auch unter Jens Keller blieb der Erfolg aus, so dass er im Dezember 2010 ebenfalls von seinen Aufgaben entbunden wurde. Neuer Cheftrainer wurde am 12. Dezember 2010 Bruno Labbadia, der die Mannschaft auf Platz 17 übernahm und mit ihr die Saison auf Platz 12 beendete.
Am 20. Mai 2011 gab Erwin Staudt bekannt, er stünde für eine weitere Amtszeit als Vereinspräsident nicht zur Verfügung. Darauf schlug der Aufsichtsrat Gerd E. Mäuser als einzigen Kandidaten für die Nachfolge Staudts vor. Zwei Tage später kündigte Helmut Roleder seine Gegenkandidatur an. Ohne eine Satzungsänderung mit einer Mehrheit von 75 Prozent war es jedoch nicht möglich, gegen den Kandidaten des Aufsichtsrats anzutreten. Nachdem die entsprechenden Satzungsänderungsanträge abgelehnt worden waren, wurde Gerd E. Mäuser auf der Mitgliederversammlung am 17. Juli 2011 mit einer Mehrheit von 58,7 Prozent zum neuen Vereinspräsidenten gewählt. Auf derselben Mitgliederversammlung wurde ein Antrag auf die Abberufung des Aufsichtsratsvorsitzenden Dieter Hundt durch eine Mehrheit von 65,3 Prozent der stimmberechtigten Mitglieder auf die Tagesordnung gesetzt und scheiterte bei einer Befürwortung durch 50,7 Prozent an der erforderlichen Mehrheit von 75 Prozent.
In der zum reinen Fußballstadion umgebauten Mercedes-Benz-Arena, deren Betrieb der Verein zum Beginn der Saison 2011/12 gegen eine Pacht von über 5 Millionen Euro jährlich komplett übernahm, und mit Neuzugängen wie William Kvist, Maza und Ibrahima Traoré erreichte der VfB zur Winterpause im Dezember 2011 22 Punkte. Nachdem der Verein im Januar 2012 Vedad Ibišević und Gōtoku Sakai verpflichtet hatte, qualifizierte sich der VfB Stuttgart am Saisonende mit insgesamt 53 Punkten als Tabellensechster für die Playoffs der UEFA Europa League 2012/13.
Durch Siege gegen den SV Falkensee-Finkenkrug, den FC St. Pauli, den 1. FC Köln, den VfL Bochum und den SC Freiburg qualifizierte sich der VfB für das Endspiel des DFB-Pokals 2013, in dem man dem FC Bayern München mit 2:3 unterlag. Durch die Meisterschaft und damit verbundene Qualifikation für die UEFA Champions League des Finalgegners FC Bayern München stand dadurch auch die Teilnahme an der UEFA Europa League 2013/14 fest. In der Bundesliga belegten die Stuttgarter am Ende Platz zwölf. In der Europa League überstand man die Gruppenphase, schaltete dann den KRC Genk aus und schied im Achtelfinale gegen Lazio Rom aus.
Am 10. April 2013 erklärte der Präsident Gerd E. Mäuser nach weniger als zwei Jahren im Amt seinen Rücktritt zum 3. Juni 2013. Zugleich wurde Fredi Bobic als Vorstand Sport in den Vereinsvorstand berufen. Am 17. Juni 2013 legte der bisherige Aufsichtsratsvorsitzende Dieter Hundt sein Mandat als Mitglied des Aufsichtsrats mit sofortiger Wirkung nieder. Am folgenden Tag wurde Hundts bisheriger Stellvertreter Joachim Schmidt von den verbliebenen Aufsichtsratsmitgliedern zum neuen Vorsitzenden des Gremiums gewählt.
Spieldaten des Endspiels um den DFB-Pokal 2013
Am 2. Juli 2013 schlug der Aufsichtsrat des VfB Stuttgart Bernd Wahler den Mitgliedern zur Wahl zum Vereinspräsidenten bei der Mitgliederversammlung am 22. Juli 2013 vor. Dort wurde dieser mit 97,4 % der Stimmen zum neuen Vereinspräsidenten gewählt. Außerdem wurde beschlossen, dass das sogenannte Traditionswappen, das bereits von 1949 bis 1994 offizielles Vereinswappen war, zur Saison 2014/15 erneut zum offiziellen Vereinsemblem wird. Darüber hinaus wurde entschieden, dass dies auch in der Vereinssatzung verankert wird. Nach einem Fehlstart mit drei Niederlagen an den ersten drei Spieltagen der Bundesligasaison 2013/14 trennte sich der VfB am 26. August 2013 von seinem Cheftrainer Bruno Labbadia und ernannte noch am selben Tag Thomas Schneider, den bisherigen U-17-Trainer, zu seinem Nachfolger. Im DFB-Pokal schied der VfB in der zweiten Runde mit einem 1:2 gegen den SC Freiburg aus, nachdem man in der ersten Runde den BFC Dynamo ausgeschaltet hatte. Auch in der Europa League lief es nicht besser. Nach dem Überstehen der dritten Qualifikationsrunde gegen Botev Plovdiv, kam das Aus in den Playoffs gegen den HNK Rijeka. Am 9. März 2014 wurde Trainer Thomas Schneider einen Tag nach dem 2:2-Unentschieden gegen den Tabellenletzten Eintracht Braunschweig entlassen und durch Huub Stevens ersetzt. Zuvor war der VfB durch eine Serie von acht Niederlagen in Folge in Abstiegsgefahr geraten. Unter Stevens setzte sich der VfB von den Konkurrenten um den Abstieg ab, wodurch der Klassenerhalt und der 15. Tabellenplatz am vorletzten Spieltag feststand.
Für Stevens, der nur einen Vertrag bis Saisonende besaß und diesen nicht verlängern wollte, wurde zur neuen Saison Armin Veh verpflichtet, der den Verein bereits von Februar 2006 bis November 2008 trainiert hatte und mit ihm 2007 Deutscher Meister geworden war. Nach vier Spieltagen stand die Mannschaft mit einem Punkt auf dem letzten Tabellenplatz, woraufhin sich der Verein von Sportvorstand Fredi Bobic trennte. Zwei Monate später zog Armin Veh nach neun Punkten aus zwölf Spielen persönliche Konsequenzen und trat als Cheftrainer des VfB zurück. Am 25. November 2014 kehrte Vehs Vorgänger Huub Stevens zu den Schwaben zurück. Robin Dutt wurde am 6. Januar 2015 als neuer Vorstand Sport des Vereins vorgestellt. Nachdem die Mannschaft sich die gesamte Rückrunde auf Abstiegsplätzen befunden hatte, konnte sie sich mit dem dritten Sieg in Folge beim Mitkonkurrenten SC Paderborn am letzten Spieltag noch auf Rang 14 retten.
Zur Saison 2015/16 verpflichtete der VfB Alexander Zorniger als neuen Cheftrainer. Am 13. Spieltag stand man nach einer 0:4-Heimniederlage gegen den Abstiegskonkurrenten FC Augsburg mit 10 Punkten auf Platz 16 der Tabelle. Daraufhin wurden Alexander Zorniger und sein gesamter Trainerstab beurlaubt, und der bisherige U-23-Trainer Jürgen Kramny zum Interims- und später zum Cheftrainer ernannt. Obwohl der VfB nach einer Siegesserie zwischenzeitlich den 10. Platz erreicht hatte, stürzte die Mannschaft auf den 17. Platz ab und stieg somit zum zweiten Mal in seiner Vereinsgeschichte ab. Gleichzeitig konnte auch die zweite Mannschaft des VfB in der 3. Liga die Klasse nicht halten.
Mit dem Abstieg endete der Cheftrainervertrag von Kramny automatisch. Präsident Bernd Wahler trat zurück, zudem trennte sich der Verein von Sportvorstand Robin Dutt. Am 17. Mai 2016 nahm der VfB Stuttgart Jos Luhukay als Cheftrainer zur Saison 2016/17 unter Vertrag. Am 8. Juli wurde mit Jan Schindelmeiser ein neuer Sportvorstand verpflichtet. Nach Meinungsverschiedenheiten mit Schindelmeiser bezüglich Spielerverpflichtungen trat Luhukay am 15. September 2016 zurück. Sein Nachfolger wurde Hannes Wolf, nachdem zuvor Olaf Janßen die Mannschaft als Interimstrainer für zwei Spiele betreut hatte.
Nach Ende der Hinrunde befand sich der VfB Stuttgart auf dem dritten Rang, der zu den Relegationsspielen für den Aufstieg berechtigt. Die Saison beendete der VfB schließlich auf dem ersten Tabellenplatz und stieg am 21. Mai 2017 nach einem 4:1-Erfolg über die Würzburger Kickers wieder direkt in die Bundesliga auf.
Bei einer außerordentlichen Mitgliederversammlung am 1. Juni 2017 in der Mercedes-Benz-Arena stimmten die Mitglieder mit 84,2 % für eine Ausgliederung der Fußballsparte vom Hauptverein in eine Aktiengesellschaft. Erforderlich war eine Dreiviertel-Mehrheit. Bereits im Vorfeld hatte die Daimler AG zugesagt, 11,75 Prozent der Anteile für den Preis von 41,5 Millionen Euro zu übernehmen.
Nach dem Aufstieg spielte der VfB in der Saison 2017/18 wieder in der Bundesliga. Am 4. August 2017 wurde Sportvorstand Jan Schindelmeiser von seinen Aufgaben entbunden. Nachfolger wurde Michael Reschke, der zuvor Technischer Direktor beim FC Bayern München gewesen war. Am 28. Januar 2018, nach zuvor acht Niederlagen in neun Pflichtspielen, wurde Trainer Hannes Wolf entlassen. Einen Tag später verpflichtete der Verein Tayfun Korkut als Cheftrainer mit einem Vertrag bis 2019. Auf Grund der mäßigen Erfolge von Tayfun Korkut bei seinen früheren Trainerstationen, wurde er bei seinem Amtsantritt von den Anhängern des VfB Stuttgart überwiegend kritisch betrachtet. Am 31. Spieltag gelang der vorzeitige Klassenerhalt. Mit einem 4:1-Auswärtssieg beim FC Bayern München im letzten Saisonspiel beendete der VfB Stuttgart die Saison nach dem Wiederaufstieg mit 51 Punkten auf dem siebten Tabellenplatz und verfehlte damit die Qualifikation für die Europa League wegen der anschließenden Niederlage des FC Bayern im DFB-Pokalfinale nur knapp.
Im ersten Pflichtspiel der Saison 2018/19 schied der VfB in der 1. Runde des DFB-Pokals 2018/19 gegen den Drittligisten Hansa Rostock nach einem 0:2 aus. Nach dem siebten Spieltag, als die Mannschaft mit fünf Punkten auf dem letzten Tabellenplatz stand, trennte sich der Verein von Trainer Tayfun Korkut. Nachfolger wurde Markus Weinzierl. Am 12. Februar 2019 wurde Michael Reschke als Sportvorstand abberufen und durch Thomas Hitzlsperger ersetzt. Im Mai 2019 wurde Sven Mislintat als Sportdirektor verpflichtet. Nach der 0:6-Niederlage beim FC Augsburg wurden Weinzierl sowie die Co-Trainer am 20. April 2019 freigestellt. Bis zum Saisonende übernahm der seitherige Jugendtrainer Nico Willig die Mannschaft. Die Punkterunde beendete der VfB auf dem 16. und damit dem Relegationsplatz, den man seit dem 16. Spieltag ununterbrochen belegt hatte. In der Relegation stieg der VfB Stuttgart gegen den 1. FC Union Berlin nach einem 2:2 im Heimspiel und einem 0:0 im Auswärtsspiel wegen der Auswärtstorregel zum dritten Mal nach 1975 und 2016 aus der Bundesliga ab. Neuer Trainer wurde Tim Walter.
Seit 2019: Erneuter Wiederaufstieg und Gegenwart in der Bundesliga
Auf der Mitgliederversammlung am 14. Juli 2019 stand ein Antrag zur Abwahl von Präsident Wolfgang Dietrich auf der Tagesordnung. Nach der Aussprache konnte die Abstimmung wegen technischer Probleme nicht stattfinden, woraufhin die Versammlung abgebrochen wurde. Am folgenden Tag trat Dietrich zurück. Am 15. Dezember 2019 wurde Claus Vogt zum neuen Präsidenten des VfB Stuttgart gewählt. Nachdem die Vorrunde mit dem höchsten Etat aller Zweitligisten auf dem dritten Platz abgeschlossen worden war, trennte sich der Verein von Trainer Walter. Neuer Cheftrainer wurde ab Dezember 2019 Pellegrino Matarazzo.
Nach einem 6:0-Auswärtssieg gegen den 1. FC Nürnberg am vorletzten Spieltag der Zweitligasaison 2019/20 war der VfB Stuttgart mit drei Punkten Vorsprung vor dem 1. FC Heidenheim und einer deutlich besseren Tordifferenz nur noch theoretisch einholbar. Daher erreichte die Mannschaft auf dem zweiten Platz trotz einer Niederlage zum Saisonabschluss gegen den SV Darmstadt 98 den direkten Wiederaufstieg.
Im September 2020 veröffentlichte das Sportmagazin kicker einen Artikel unter dem Titel VfB: E-Mails mit Mitgliederdaten an Dritte. Demnach sollen VfB-Kommunikationschef Oliver Schraft und weitere leitende Mitarbeiter dem PR-Unternehmer Andreas K. Schlittenhardt bzw. dessen Agentur Mitgliederdaten zur Verfügung gestellt haben, um mit Hilfe dieser und ohne Wissen der Mitglieder „Guerilla-Marketing“ zu betreiben und die Bemühungen der Club-Führung um eine erfolgreiche Ausgliederung der Lizenzspieler-Abteilung in eine AG zu unterstützen. Begonnen hätten diese Aktivitäten im Frühjahr 2016 unter dem damaligen VfB-Präsidenten Bernd Wahler und dessen Projektleiter für die Ausgliederung Rainer Mutschler. Sowohl der Verein unter Präsident Claus Vogt als auch die AG unter dem Vorstandsvorsitzenden Thomas Hitzlsperger beauftragten in separaten Mandaten die Berliner Kanzlei esecon mit der Aufklärung der Affäre. Im Zuge dieser kam es zu massiven Differenzen zwischen Vogt und Hitzlsperger. Diese mündeten in einer Kandidatur von Hitzlsperger für das Amt des Präsidenten. Zur Begründung für seine Kandidatur warf Hitzlsperger dem amtierenden Präsidenten in einem offenen Brief zahlreiche Versäumnisse vor, denen dieser, ebenfalls in einem offenen Brief, widersprach. Hitzlsperger entschuldigte sich später für den Ton seiner Vorwürfe und zog seine Kandidatur in der Folge zurück. Der Vereinsbeirat, der zwei Kandidaten für die Präsidentenwahl vorschlagen muss, informierte Mitte Januar die Mitglieder darüber, dass er selbst nach weiteren Kandidaten für das Amt suche. Die Stuttgarter Zeitung veröffentlichte Teile des Zwischenberichts von esecon, aus denen hervorging, dass die Führung der AG um Hitzlsperger, Marketingvorstand Jochen Röttgerman und Finanzvorstand Stefan Heim die Ermittlungen behindert und verzögert hätten. Die Mitgliederversammlung des VfB Stuttgart e. V. wurde zunächst für den 28. März 2021 terminiert, nachdem Vogt versucht hatte, den ursprünglichen Termin vom 18. März auf einen deutlich späteren Zeitpunkt zu verschieben. Am 13. Februar 2021 wurden Heim und Röttgermann von ihren Vorstandsämtern abberufen. Einen Tag später wurde Vogt vom Vereinsbeirat als Präsidentschaftskandidat für die Mitgliederversammlung nominiert. Nach dieser Entscheidung legten die beiden weiteren Präsidiumsmitglieder Rainer Mutschler und Bernd Gaiser ihre Mandate nieder. Zur Sicherung der rechtlichen Handlungsfähigkeit des Vereins wurde daraufhin das Aufsichtsratsmitglied Rainer Adrion vom Vereinsbeirat in das Präsidium entsandt. Um eine Mitgliederversammlung als Präsenzveranstaltung zu ermöglichen, verschob das Präsidium schließlich die Mitgliederversammlung auf den 18. Juli 2021. Bei dieser Mitgliederversammlung wurde Vogt schließlich für weitere vier Jahre wiedergewählt.
Die Bundesligasaison 2020/21 verlief für den VfB Stuttgart sportlich ruhig. Die Mannschaft erreichte in der ersten Saison nach dem Wiederaufstieg den neunten Rang.
Am 15. September 2021 gab der VfB ohne Nennung von Gründen bekannt, dass Thomas Hitzlsperger seinen Vertrag als Vorstandsvorsitzender und Sportvorstand nicht verlängern wird. Am 21. März 2022 übernahm Alexander Wehrle diese Ämter von Hitzlsperger.
In der Bundesligasaison 2021/22 startete der VfB nach einem 5:1-Sieg gegen Greuther Fürth am 1. Spieltag als Tabellenführer, fand sich aber im Laufe der Saison im Tabellenkeller wieder und kämpfte bis zum letzten Spieltag um die Relegation bzw. den direkten Klassenerhalt. Letzterer gelang am 34. Spieltag mit einem 2:1-Sieg gegen den 1. FC Köln durch ein Tor von Kapitän Wataru Endō in der 92. Minute. Zeitgleich gewann Borussia Dortmund mit 2:1 gegen Hertha BSC. Aufgrund des besseren Torverhältnisses sicherte sich der VfB den direkten Klassenerhalt als Tabellenfünfzehnter, während Hertha BSC als Sechzehnter in die Relegation musste.
Nachdem von den ersten neun Spielen der Saison 2022/23 kein einziges gewonnen worden war, wurde Matarazzo am 10. Oktober 2022 als VfB-Trainer entlassen. Michael Wimmer übernahm als Interimstrainer. Am 30. November 2022 wurde der bis Juni 2023 laufende Vertrag von Sportdirektor Sven Mislintat vorzeitig aufgelöst. Am 3. Dezember 2022 wurde Fabian Wohlgemuth neuer Sportdirektor. Als neuen Cheftrainer verpflichtete man am 5. Dezember 2022 zum zweiten Mal in der VfB-Geschichte Bruno Labbadia. Nachdem unter ihm nur eines von elf Bundesligaspielen gewonnen werden konnte, wurde er am 3. April 2023 entlassen und durch Sebastian Hoeneß ersetzt. Am Ende der Saison musste der VfB als Tabellensechzehnter in die Relegationsspiele gegen den Tabellendritten der 2. Bundesliga, den Hamburger SV, die der VfB nach Hin- und Rückspiel insgesamt mit 6:1 für sich entschied.
Ligazugehörigkeit
Vereinswappenhistorie
Geschichte der Spielbekleidung bis 2013
Heim
Auswärts und Alternativ
VfB Stuttgart 1893 e. V.
Organe des e. V.
(Stand: 30. August 2021)
Abteilungen des Vereins
Junge Wilde (U11–U16)
Im Rahmen der Ausgliederung der Profiabteilung wurden die Fußball-Jugendmannschaften U11–U16 an den e. V. übertragen.
E-Sport
Ab Juli 2017 gab es erstmals ein E-Sport-Team beim VfB Stuttgart. Die Spieler traten in Wettbewerben der Fußballsimulation FIFA-Serie an. Die Spieler Marcel „Marlut“ Lutz und „Dr. Erhano“ Kayman nahmen auch an internationalen Turnieren teil, sowie an der Virtual Bundesliga. Im Juli 2020 gab der VfB bekannt, die Aktivitäten im professionellen E-Sport bis auf Weiteres einzustellen. Seit der Virtual-Bundesliga-Saison 2022/23 stellt der VfB wieder ein E-Sport-Team. Für den VfB treten die Spieler Burak May, Deni Mutic und Simon Zügel an.
Faustballabteilung
Die Faustballabteilung wurde 1937 gegründet. Die Wurzeln gehen sogar in die 1920er Jahre zurück. Schon damals nutzten Fußballer des VfB diese Sportart zum Ausgleich, die teilweise noch bei den Vorgängern des VfB, dem Kronen-Club und dem Stuttgarter FV spielten. Die Faustballabteilung des VfB stellt heute bei den Männern eine Herrenmannschaft und drei Seniorenmannschaften in den Altersklassen M35, M55 und M60. Außerdem existieren eine Damenmannschaft und sowohl eine weibliche als auch eine männliche U16-Jugendmannschaft. Die Seniorenmannschaften spielen in den Verbandsligen und sind bei erfolgreichem Abschneiden in diesen Spielrunden für weitere Runden qualifiziert, wie die Süddeutsche und die deutsche Meisterschaftsrunde der Altersklassen. Die M50-Mannschaft (Männer ab 50 Jahren) holte in den Jahren 2004, 2005 und 2006 auf dem Feld und 2005 in der Halle die Titel bei den deutschen Meisterschaften.
Fußballschiedsrichterabteilung
Die Schiedsrichterabteilung des VfB wurde bereits 1923 gegründet, wodurch der VfB zum ersten Verein in Deutschland mit einer eigenen Schiedsrichterabteilung wurde. Und so gehörten dem VfB in den 1920er Jahren in Süddeutschland am meisten Schiedsrichter an. Auch heute ist die Abteilung die zahlenmäßig größte, vereinseigene Schiedsrichterabteilung in Deutschland. Es existiert sogar eine Schiedsrichtermannschaft, die bei Freundschaftsspielen und Turnieren antritt. Aktueller Abteilungsleiter ist Kai Engler. Es gibt momentan über 150 aktive Schiedsrichter in der Abteilung.
Hockeyabteilung
Auch die Geschichte der Hockeyabteilung reicht weit zurück. Sie wurde bereits 1919 gegründet. Der VfB stellt momentan zwei Herrenmannschaften und zwei Damenmannschaften. Die erste Mannschaft der Damen wurden in der Hallensaison 2017/18 Meister und stieg in die Oberliga auf. Auf dem Feld spielen sie ebenfalls in der Oberliga Baden-Württemberg, der vierthöchsten deutschen Spielklasse im Hockey. Die erste Herrenmannschaft spielt im Hallenhockey in der 1. Verbandsliga, auf dem Feld seit dem Aufstieg 2021/2022 in der 2. Regionalliga Süd. Diese Abteilung verfügt über einen zahlenmäßig starken Unterbau bis hinunter zu den Minis.
Leichtathletikabteilung
Die Leichtathletikabteilung war bereits bei der Fusionierung Bestandteil des VfB. Früher wurde die Abteilung oft von Fußballern zum Ausgleich genutzt. So war Max Buffle, der 1912 das Tor der ersten Fußballmannschaft hütete, auch als Diskuswerfer erfolgreich. Mit Helmar Müller hatte die Abteilung 1968 sogar einen olympischen Medaillengewinner in den eigenen Reihen. Die größten Erfolge der Leichtathletikabteilung waren:
Medaille bei den Olympischen Spielen 1968 in Mexiko-Stadt: Helmar Müller (Bronze 4 × 400-m-Staffel)
Medaillen bei Europameisterschaften (Freiluft): Karl Honz (Europameister 400 m 1974, 2. Platz 4 × 400-m-Staffel 1974), 1978 Martin Weppler (Europameister 4 × 400-m-Staffel), Yvonne Buschbaum (1998 und 2002 3. Platz Stabhochsprung)
Medaillen bei Halleneuropameisterschaften: Helmar Müller (1970 3. Platz 4 × 400-m-Staffel), Ulrich Strohhäcker (1970 3. Platz 4 × 400-m-Staffel), Dieter Hübner (1970 3. Platz 4 × 400-m-Staffel), Karl Honz (1973 2. Platz 4 × 400-m-Staffel, 1975 Europameister 4 × 400-m-Staffel), Falko Geiger (1973 2. Platz 4 × 400-m-Staffel), Herbert Wursthorn (1980 3. Platz 800 m, 1981 Europameister 800 m), Martin Weppler (1981 2. Platz 400 m), Sabine Zwiener (1990 2. Platz 800 m), Yvonne Buschbaum (1998 2. Platz Stabhochsprung)
Deutsche Meisterschaften: Neben zahlreichen Medaillen in Einzelwettbewerben waren die Staffeln des VfB Stuttgart erfolgreich. Die 4-mal-400-Meter-Staffel der Männer war 1973 und 1974 Deutscher Meister, in der Halle war die Staffel 1969, 1970 und 1975 Meister. Noch erfolgreicher war die 4-mal-800-Meter-Staffel, die von 1982 bis 1986 Deutscher Meister war. In der Halle gewann die 3-mal-1000-Meter-Staffel 1981 und 1983–1985.
Mit Hilfe von Sponsoren konnten 2015 die deutschen Spitzenathleten Marie-Laurence Jungfleisch und Fabian Heinle verpflichtet werden. Zudem wurde Alina Rotaru-Kottmann unter Vertrag genommen. 2020 wurde Niko Kappel, Goldmedaillengewinner bei den Paralympics 2016, unter Vertrag genommen. 2021 verpflichtete der VfB die Sprinterin Anna-Lena Freese, den Diskuswerfer David Wrobel und den Kugelstoßer Yannis Fischer.
Tischtennisabteilung
Die Tischtennisabteilung wurde erst 1949 gegründet und ist somit die jüngste sportliche Abteilung beim VfB. Der Verein startete mit zwei Mannschaften in der Kreisklasse und schon 1952 schaffte die erste Mannschaft den Aufstieg in die Oberliga und somit die höchste deutsche Spielklasse zu dieser Zeit. 1957 gelang abermals der Aufstieg in die Oberliga. Doch mit der Zeit verlor die Tischtennisabteilung immer mehr an Bedeutung und musste zwischenzeitlich sogar ihre Mannschaften zurückziehen. In den letzten zwei Jahren konnte die Tischtennisabteilung allerdings einige Neuzugänge gewinnen, so dass man in der Saison 2008/09 wieder vier Mannschaften melden kann. Die erste Mannschaft spielt in der Bezirksklasse, die anderen drei Mannschaften starten in den Kreisklassen A, B und C. Zudem tritt die Seniorenmannschaft in der Bezirksklasse an.
VfB-Garde
Die VfB-Garde, ehemals Alte Garde, ist keine Sportabteilung. Sie wurde 1953 anlässlich des 60-jährigen Jubiläums des VfB gegründet. Es geht in dieser Abteilung hauptsächlich um Geselligkeit unter den Mitgliedern, die sich zum größten Teil aus ehemaligen Aktiven des VfB zusammensetzt. Gelegentlich gibt es auch repräsentative Aufgaben. Inzwischen ist die Garde, deren Mitglieder, die Gardisten, als Traditionsträger des Vereins gelten, eine feste Größe beim VfB.
Ehemalige Abteilungen des Vereins
Handballabteilung
Die Handballabteilung des VfB stellte einst mehrere Männer- und Frauenmannschaften, die vorzeigbare Erfolge wie die Württembergische Meisterschaft feierten und teilweise in der Bezirksklasse antraten. Ebenso wie die Hockeyabteilung wurde sie 1919 gegründet. In den achtziger Jahren brach die Abteilung ein, weil die meisten Spieler keine Perspektive mehr sahen, und so musste trotz aller Bemühungen die letzte Mannschaft 1985 aus dem Spielbetrieb zurückgezogen werden.
VfB Stuttgart 1893 AG
Organe Profifußball AG
(Stand: 28. September 2022)
Profimannschaft
Profikader 2023/24
Stand: 27. August 2023
Für eine komplette Auflistung aller Spieler der ersten Mannschaft des VfB Stuttgart seit Vereinsgründung siehe Liste der Spieler des VfB Stuttgart.
Transfers der Saison 2023/24
Stand: 27. August 2023
Trainer- und Betreuerstab 2023/24
(Stand: 18. August 2023)
Erfolge
Meisterschaftserfolge
Deutscher Meister 1950, 1952, 1984, 1992, 2007
Deutscher Vizemeister 1935, 1953, 1979, 2003
Meister der 2. Bundesliga: 1977, 2017
Süddeutscher Meister 1946 (zugleich Amerikanischer Zonenmeister), 1952, 1954
Württembergisch-badischer Meister 1927
Württembergischer Meister 1930, 1935, 1937, 1938, 1943 (zusammen mit den Stuttgarter Kickers)
Pokalerfolge
DFB-Pokalsieger: 1954, 1958, 1997
DFB-Pokalfinalist 1986, 2007, 2013
Deutscher Supercupsieger 1992
Süddeutscher Pokalsieger 1933, 1958
DFB-Hallenpokal Finalist 1989, 1993
DFB-Ligapokalfinalist 1997, 1998, 2005
Internationale Erfolge
UEFA-Pokal-Finalist 1989
UEFA-Pokal-Halbfinalist 1974, 1980
Finalist im Europapokal der Pokalsieger 1998
UI-Cup-Sieger 2000, 2002, 2008
Die Jahrhundert-Elf
Zum 100-jährigen Jubiläum der Fusion des FV Stuttgart und des Kronen-Klubs Cannstatt im Jahr 2012 wurde eine „Jahrhundert-Elf“ gewählt. Fans konnten dazu ihre Favoriten wählen.
Zweite Mannschaft
Geschichte
Die zweite Mannschaft des VfB Stuttgart wurde bereits 1951 als Amateurmannschaft gegründet. Schon damals wollte der Verein einen Unterbau für die Lizenzspielermannschaft zum behutsamen Aufbau junger Spieler schaffen. Dieser Unterbau zählt mit für eine Amateurabteilung überdurchschnittlich vielen Titeln zu den erfolgreichsten Amateurabteilungen im deutschen Fußball.
Die Anfänge der zweiten Mannschaft des VfB waren alles andere als einfach; der Württembergische Fußball-Verband misstraute dem VfB, da damals viele Vereine versuchten, mit Hilfe von Amateurmannschaften Spielern Geld unter der Hand zukommen zu lassen. Und so durfte die Amateurmannschaft zunächst nur in der A-Klasse Stuttgart antreten, ohne die Chance aufzusteigen. Nachdem die Amateure in den Spielzeiten 1951/52, 1952/53 (damals mit 55:1 Punkten) und 1953/54 außer Konkurrenz überlegen Meister wurden, hatte der Verband ein Einsehen und ließ die Mannschaft in die zweite Amateurliga aufsteigen.
Nach fünf Jahren in der zweithöchsten Fußballamateur-Spielklasse Deutschlands stiegen die VfB-Amateure schließlich in die erste Amateurliga auf. Unter Trainer Franz Seybold erreichte die Mannschaft 1960 überraschend den Titel „Württembergischer Amateurmeister“, obwohl der Kader mehrheitlich aus Spielern bestand, die frisch aus der Juniorenelf (einer damals bestehenden Brücke zwischen A-Jugend und Amateurmannschaft) oder der dritten Mannschaft kamen. Sowohl die Juniorenmannschaft als auch das dritte Team wurden kurze Zeit später abgeschafft.
Viele Spieler wechselten aufgrund des Erfolges in die Lizenzspielermannschaft, so dass Seybold einen Neuaufbau starten musste. Dennoch wurden die VfB-Amateure in der Saison 1962/63 im Endspiel gegen den VfL Wolfsburg deutscher Amateurmeister. Nach diesem Triumph wurden die VfB-Amateure in Stuttgart euphorisch empfangen.
In der folgenden Saison kam mit Willi Entenmann ein Spieler zu den Amateuren, der in der Zukunft noch viele wichtige Funktionen beim VfB und bei seinen Amateuren ausübte. Entenmann war es, der die Amateure 1980, 17 Jahre nach dem ersten Titel, als Trainer erneut zum deutschen Amateurmeister machte. Zuvor hatte die Mannschaft 1974 mit dem Erreichen des Viertelfinales des DFB-Pokals einen weiteren Achtungserfolg erzielt.
Aufgrund der zunehmenden Beachtung der Bundesliga rückten die Amateure in den Folgejahren in der öffentlichen Wahrnehmung zusehends in den Hintergrund. Dennoch spielte die Mannschaft fast durchgehend in der obersten Amateurliga. Allerdings stiegen die Amateure 1988 von der Oberliga in die Verbandsliga ab. Doch Jochen Rücker führte die Mannschaft in die Oberliga zurück. Dort schaffte man zunächst nicht die Qualifikation für die neue Regionalliga, die 1994/95 startete. In der Saison 1997/98 gelang dann schließlich der Aufstieg in die Regionalliga. In der Saison 1999/2000 schafften es die VfB-Amateure mit Platz sechs, sich bei der Reduzierung der Regionalliga-Staffeln von vier auf zwei, für die neue Süd-Staffel zu qualifizieren.
In der Saison 2000/01 schlugen die Amateure die erste Mannschaft des damaligen Bundesligisten Eintracht Frankfurt in der ersten Runde des DFB-Pokals im Gottlieb-Daimler-Stadion mit 6:1. Bis heute ist dies der höchste Sieg einer Amateurmannschaft gegen einen Bundesligisten im DFB-Pokal. Darauf wurde dem Amateurteam in der 2. Runde des DFB-Pokals die eigene Lizenzspielermannschaft zugelost, gegen die man mit 0:3 unterlag. Mittlerweile dürfen zweite Mannschaften von Proficlubs nicht mehr am DFB-Pokal teilnehmen. In der damaligen VfB-Amateurelf schlug die Geburtsstunde der jungen Wilden, einem Begriff, der zunächst durch eine Schlagzeile der Stuttgarter Zeitung („Die jungen Wilden schießen die Eintracht aus dem Pokal“) nach dem Triumph im DFB-Pokal geprägt, und später als Slogan auf den Mannschaftsbus der Amateure übernommen wurde. Die Mannschaft um Spieler wie Aljaksandr Hleb, Andreas Hinkel, Ioannis Amanatidis und Kevin Kurányi, die später mit der ersten Mannschaft des VfB in der Champions League spielten, erreichte in dieser Saison in der neuen Regionalliga Süd mit dem zweiten Platz eine Position, die ersten Mannschaften zum Aufstieg in die 2. Bundesliga berechtigt hätten. Der Weggang der „jungen Wilden“ in die Profimannschaft führte in der Folgesaison zu Platz 16 und somit zum Abstieg in die Oberliga Baden-Württemberg.
Mit einer neuen, jungen Mannschaft erreichten die VfB-Amateure den sofortigen Wiederaufstieg in der Saison 2002/03. In den Folgejahren schafften mit Mario Gómez, Serdar Tasci, Sami Khedira und Andreas Beck wieder Spieler den Sprung in die erste Mannschaft. Diesmal verkraftete die zweite Mannschaft dies besser und spielte bis zum Ende der Saison 2007/08 in der obersten Amateurspielklasse, der Regionalliga. Ab der Saison 2008/09 spielte die zweite Mannschaft im Gazi-Stadion auf der Waldau, da die Spielstätten für die neue eingleisige 3. Profi-Liga höheren Anforderungen entsprechen müssen, die das vormals genutzte Robert-Schlienz-Stadion nicht erfüllte. Von der Saison 2011/12 an bis zu seinem Aufrücken zur Bundesligamannschaft im November 2015 war Jürgen Kramny der Trainer der Mannschaft. In den Spielzeiten 2010/11 bis 2012/13 sowie in der Saison 2014/15 war der VfB Stuttgart II jeweils die bestplatzierte zweite Mannschaft in Deutschland. (In der Saison 2013/2014 hatte die zweite Mannschaft von Borussia Dortmund bei gleicher Punktzahl lediglich eine um ein Tor bessere Tordifferenz.) Die Saison 2015/16 verlief wesentlich schlechter, sodass die Mannschaft bereits zwei Spieltage vor Saisonende als Absteiger aus der 3. Liga feststand. Mit dem Abstieg in die Regionalliga kehrte die Mannschaft in das Robert-Schlienz-Stadion zurück. In der Saison 2018/19 folgte der Gang in die Oberliga. In der Saison darauf gelang der direkte Wiederaufstieg in die Regionalliga Südwest. In den Regionalligasaisons 2020/21 und 2021/22 konnte die Mannschaft den Klassenerhalt sichern und landete im Mittelfeld der Tabelle.
Kader in der Saison 2023/24
Stand: 31. August 2023
Laut der Spielordnung des DFB dürfen in zweiten Mannschaften von Lizenzvereinen grundsätzlich nur Spieler eingesetzt werden, die während des gesamten Spieljahres (1. Juli bis 30. Juni) nicht älter als 23 Jahre sind (U23). Somit sind in der Saison 2023/24 grundsätzlich nur Spieler spielberechtigt, die am oder nach dem 1. Juli 2000 geboren wurden. Darüber hinaus dürfen sich drei ältere Spieler gleichzeitig im Spiel befinden. Deren Geburtstag ist im Kader fett gekennzeichnet. A-Junioren (U19) sind spielberechtigt, wenn sie dem älteren U19-Jahrgang (2005) angehören oder 18 Jahre alt sind. Aus Gründen der Talentförderung sind in Ausnahmefällen auch Spieler des jüngeren U19-Jahrgangs (2006) spielberechtigt.
Trainerstab
(Stand: 26. Juli 2023)
Erfolge
Württembergischer Amateurmeister: 1960, 1964, 1965, 1971
Württembergischer Pokalsieger: 1970, 1980, 1981, 2000
Deutscher Amateurmeister: 1963, 1980, Finalist 1971
DFB-Nachwuchsrunde: Vizemeister 1979, 1986
Süddeutscher Amateurmeister: 1963
Frauenfußballabteilung
Am 1. Juni 2021 wurde zum ersten Mal in der Vereinsgeschichte eine Frauenfußballabteilung gegründet. Seit dem 1. Juli 2022 ist die erste Frauenmannschaft Teil der AG. Der Spielbetrieb startete zur Saison 2022/23. Geplant ist der Aufbau mehrerer Teams im Aktiven- und Nachwuchsbereich, der durch eine Kooperation mit dem VfB Obertürkheim, von dem man das Spielrecht für die Mannschaften übernahm, realisiert werden soll. Die erste Frauenmannschaft des VfB trat in ihrer Premierensaison in der viertklassigen Oberliga Baden-Württemberg an, die zweite Frauenmannschaft startete in der Landesliga 1 Württemberg.
Jugendarbeit der Fußballabteilung
Die A- und die B-Jugend des Vereins spielen in der A-Junioren- bzw. der B-Junioren-Bundesliga und somit in der jeweils höchsten deutschen Spielklasse. Beide Mannschaften sind in ihrer Altersklasse jeweils deutscher Rekordmeister. Spieler wie Horst Köppel, Thomas Schneider, Andreas Hinkel, Thomas Brdarić, Michael Fink, Albert Streit, Mario Gómez, Hansi Müller, Karlheinz Förster, Gerhard Poschner und viele andere haben den Wechsel vom Amateur- oder Jugendfußball in den Profibereich beim VfB geschafft.
Geschichte
Die Jugendarbeit beim VfB begann bereits im Jahre 1918 mit dem damaligen VfB-Präsidenten Gustav Schumm. Er entwarf ein Konzept, das von den Grundsätzen her noch heute Bestand hat; er legte die Einteilung in A-, B- und C-Jugend fest und sah erzieherische Maßnahmen vor. Diese neue Einteilung und die systematische Betreuung beim VfB wurden schon schnell belohnt, als die Zeitung Stuttgarter Tagblatt einen Pokal für eine A-Jugend-Runde stiftete, welche man als Vorreiter der Jugendstaffel bezeichnen könnte und die der VfB schließlich gewann.
Nach der Einführung der deutschen Meisterschaft der A-Jugend 1969 gewann die Mannschaft des VfB bereits 1973 die erste Meisterschaft. 1980 unterstrich der VfB seine Vorreiterrolle mit dem Bau des nach dem ehemaligen Präsidenten Fritz Walter benannten VfB-Jugendhauses in Cannstatt. Dieses Fußball-Internat, welches die Voraussetzungen für Talente mitbringt, um Schule und Fußball unter einen Hut zu bringen, kann man als bundesweites Pilotprojekt bezeichnen, welches viele Nachahmer fand. 1984 wurde man nach dem Gewinn der vierten A-Jugendmeisterschaft zum alleinigen Rekordmeister in dieser Altersklasse. In der B-Jugend konnte man 1986 die 1977 eingeführte deutsche Meisterschaft erstmals gewinnen. In der Saison 2001/02 stand der VfB in allen drei Endspielen (deutsche A-Jugendmeisterschaft, deutsche B-Jugendmeisterschaft und DFB-Jugend-Kicker-Pokal), verlor aber jeweils das Finale.
Einen medienwirksamen Sieg hat die B-Jugend des VfB in einem Spiel gegen die deutsche Fußballnationalmannschaft der Frauen errungen, die mit 3:0 bezwungen wurde. Durch den Bau des Carl Benz Center hat der Verein eine nahe dem Vereinsgelände gelegene Unterbringung der VfB-Jugendakademie ermöglicht.
Strategie
Kernelemente der Stuttgarter Nachwuchsförderung sind klare Strukturen, Kontinuität bei den Jugendtrainern, die Möglichkeit unabhängige Entscheidungen zu treffen und Verhaltensregeln – das so genannte „ABC der VfB-Jugend“. Noch heute wird im Grunde ein Konzept verwendet, welches um 1990 von Helmut Groß und Ralf Rangnick entworfen wurde und von der E-Jugend bis zur Profimannschaft führt. Alle vier Wochen gibt es spezielle Schulungen für den Trainerstab und dreimal im Jahr werden die Jugendspieler bei einer Bewertung an den hohen Anforderungen gemessen, um Spieler individuell nach Stärken und Schwächen fördern zu können. Ziel ist, bei den Spielern einen starken Charakter zu fördern. Von der E- bis zur B-Jugend tritt der VfB mit zwei Mannschaften in den jeweiligen Verbandsrunden an. In der A-Jugend tritt der Verein nur mit einer Mannschaft an, um den Leistungsgedanken in den Vordergrund zu stellen. Dieser wird in der F-Jugend hingegen nicht so hoch angesiedelt, weshalb der VfB dort keine Mannschaft stellt und in diesem Bereich mit dem MTV Stuttgart kooperiert, der eine Kinderfußball-Akademie führt, in der VfB-Trainer mehrere Schulungen durchführen.
Der VfB kooperiert zudem mit kommerziellen Fußballschulen, anderen regionalen Fußballvereinen und dem offiziellen Kooperationspartner FC St. Gallen. Verbindungen mit dem Olympiastützpunkt Stuttgart und den Eliteschulen des Sports in der Umgebung, bei denen Schüler dreimal pro Woche zum Training freigestellt werden, macht der Verein sich zunutze. Für die besten Talente bietet der VfB sogar Ausbildungen zum Sport- und Fitnesskaufmann an. Es sind zwei Scouts fest angestellt, die neben den vielen Kontaktpersonen Talente möglichst früh melden. Die jährlichen VfB-Jugend- und -Talenttage dienen ebenfalls der Talentsichtung. Der Verein konzentriert sich zwar immer auf regionale Talente, aber nimmt vor allem ab der B-Jugend auch gerne Talente aus dem Ausland auf, die wie zum Beispiel Kevin Kurányi (der zwar deutscher Staatsbürger ist, aber mit 15 noch nicht Deutsch sprechen konnte) erfolgreich eingebunden werden können. 20 Prozent der Jugendspieler des VfB sind im Besitz einer ausländischen Staatsbürgerschaft.
Größte Erfolge
A-Junioren
Deutsche Fußballmeisterschaft der A-Junioren
Meister 1973, 1975, 1981, 1984, 1988, 1989, 1990, 1991, 2003, 2005
Vize-Meister 1972, 1977, 1982, 1999, 2002, 2019
DFB-Pokal-der-Junioren-Sieger 1997, 2001, 2019, 2022
Meister der A-Junioren-Bundesliga Süd/Südwest 2005, 2008, 2010, 2019
Meister der A-Junioren-Regionalliga 1997, 1999, 2000
B-Junioren
Deutsche Fußballmeisterschaft der B-Junioren
Meister 1986, 1994, 1995, 1999, 2004, 2009, 2013
Vize-Meister 1988, 1990, 1998, 2002, 2003, 2012, 2015
Meister der B-Junioren-Bundesliga Süd/Südwest 2011, 2013, 2015, 2016, 2022
Meister der B-Junioren-Regionalliga 2002, 2003, 2004, 2005
C-Junioren
Süddeutscher C-Junioren-Meister 1981, 1984, 1986, 1992, 1996, 1997, 1998, 2000, 2001, 2007, 2008
Meister der C-Junioren-Regionalliga Süd 2010
Bekannte ehemalige Jugendspieler
Im Folgenden eine Auswahl von Spielern, die vor ihrem Profidebüt mindestens ein Jahr in der Jugendabteilung des VfB Stuttgart aktiv waren und mindestens 50 Spiele in einer der fünf „großen“ Ligen Bundesliga (beziehungsweise vor 1963 in der Oberliga), Premier League, Primera División, Serie A und Ligue 1 absolviert haben (in der Klammer ist das Geburtsjahr des Spielers angegeben). Fettgedruckte Spieler stehen im aktuellen Profikader.
Stand: 11. Dezember 2020
Organisationsstruktur
Seit 2017 ist die Lizenzspielerabteilung des Klubs in die VfB Stuttgart 1893 AG, die mehrheitlich dem Verein gehört, ausgegliedert.
Derzeit verfügt der Verein über eine Beteiligungsgesellschaft (die hundertprozentige Tochter VfB Stuttgart Beteiligungs-GmbH). Diese wurde vom damaligen Präsidenten Manfred Haas im Jahr 2000 gegründet. Ziel der Beteiligungs-GmbH war es, dem Verein über ein Eigenkapitalmodell liquide Mittel zur Verfügung zu stellen. Dazu zahlte eine Reihe von stillen Gesellschaftern Kapital in die Beteiligungsgesellschaft ein, welches dann wiederum dem Verein zur Verfügung gestellt wurde (über dieses Konzept erwarb der Verein beispielsweise den Spieler Fernando Meira). Geschäftsführer der GmbH waren Stefan Heim und Jochen Röttgermann, bevor Thomas Hitzlsperger im März 2021 diese Aufgabe übernahm. Dieser wiederum wurde im März 2022 von Alexander Wehrle abgelöst.
Als Anreiz für die stillen Gesellschafter wurde ein Großteil der Anteile eines zweiten Tochterunternehmens, der VfB Stuttgart Marketing GmbH, auf die Beteiligungsgesellschaft übertragen. Letztere hält derzeit 75,5 Prozent der Anteile an der Marketing GmbH, 24,5 Prozent liegen beim Stammverein. De jure gehört der VfB damit zu den wenigen Bundesligisten, die ihre Marketingrechte nicht an externe Unternehmen veräußert haben. De facto fließen große Teile der Marketing-Einnahmen nicht an den Verein; zwischen Marketinggesellschaft und Beteiligungs-GmbH besteht ein Ergebnisabführungsvertrag, so dass ein großer Teil der Einnahmen aus dem Marketing-Bereich direkt an die stillen Gesellschafter fließt. Rainer Mutschler und Jochen Röttgermann waren Geschäftsführer der Marketing GmbH, bis sie durch Thomas Hitzlsperger im März 2021 abgelöst wurden. Im März 2022 übernahm Alexander Wehrle diese Aufgabe.
Mit der „VfB-Shop“ Vertriebs- und Werbe-GmbH verfügte der VfB noch über ein weiteres Tochterunternehmen. Die Shop-GmbH war eine hundertprozentige Tochter des Vereins. Sie wurde 1978 gegründet und später zur VfB Stuttgart Merchandising GmbH umbenannt. Ihr Geschäftszweck bestand im Vertrieb von Fan- und Merchandising-Artikeln. Im März 2010 haben Rainer Mutschler und Jochen Röttgermann Ulrich Ruf als Geschäftsführer abgelöst. 2015 wurde die Merchandising GmbH vollständig liquidiert.
2006 gründete der VfB mit der VfB Reha-Welt GmbH eine weitere Tochtergesellschaft, deren Geschäftszweck in der medizinischen Versorgung und dabei insbesondere in Rehabilitations- und Präventionsmaßnahmen besteht. Diese Dienste bietet das Unternehmen nicht nur den VfB-Spielern, sondern auch Dritten an. Der VfB hält an der Reha-Welt 60 Prozent der Anteile, die restlichen Anteile liegen zu gleichen Teilen bei den Ärzten Thomas Frölich und Udo Buchholzer. Geschäftsführer der Reha-Welt waren Markus Schmidt und Stefan Heim, der im März 2021 von Thomas Hitzlsperger abgelöst wurde. Hitzlsperger wiederum wurde im März 2022 von Alexander Wehrle abgelöst.
Stadion und Infrastruktur
Die MHPArena (2008–2023: Mercedes-Benz Arena, 1993–2008: Gottlieb-Daimler-Stadion, 1949–1993: Neckarstadion, zuvor Adolf-Hitler-Kampfbahn, nach dem Zweiten Weltkrieg für vier Jahre Century Stadium) wurde 1933 erbaut. Sie liegt an der Mercedesstraße im Stadtbezirk Bad Cannstatt am Kreuzungspunkt zwischen der B 10 von Stuttgart nach Ulm und der B 14 von Stuttgart nach Nürnberg.
Die Vereinsführung einigte sich mit der Stadt Stuttgart auf einen Umbau des Stadions in eine reine Fußballarena. Der VfB Stuttgart ist als stiller Teilhaber an den Umbaukosten beteiligt und steuerte 26 Mio. Euro bei. Der Umbau begann im Mai 2009 und wurde mit der Einweihungsfeier am 4. August 2011 abgeschlossen. Dabei wurde das Spielfeld tiefergelegt, zwei neue Tribünen hinter den Toren gebaut sowie die Haupt- und Gegentribüne erweitert. Unterhalb der Tribüne der Untertürkheimer Kurve wurde die Sporthalle SCHARRena errichtet. Die Arena fasste vor Beginn der Umbauarbeiten 54.000, bei Nutzung mit Stehplätzen ca. 57.000 Zuschauer. Seit dem Umbau fasst sie 60.449 Zuschauer. Ab Sommer 2022 erfolgen in der Arena im Vorfeld der Fußball-Europameisterschaft 2024 verschiedene Baumaßnahmen. Dadurch sank die Kapazität des Stadions in der Saison 2022/23 auf 47.500 Plätze. Für die Hinrunde der Spielzeit 2023/24 wurde die Kapazität auf 56.589 Plätze begrenzt, bevor in der Rückrunde nach der endgültigen Fertigstellung der Haupttribüne wieder die volle Kapazität ausgeschöpft werden soll.
Ebenfalls in der Mercedesstraße befindet sich das VfB-Clubzentrum – ein Gelände mit 3500 m² Nutzfläche, in dem Geschäftsstelle/Verwaltung, Restaurant mit Nebenzimmer und Kegelbahn sowie der gesamte Sportbereich untergebracht sind. Auf dem Gelände des Clubzentrums liegt auch das Robert-Schlienz-Stadion, der Austragungsort von Spielen der Jugend- und Amateurmannschaften des VfB.
Zur Fußball-Weltmeisterschaft 2006 wurde zudem im Carl Benz Center die VfB-Welt gebaut. Darin ist ein großes Dienstleistungscenter (Ticketing, Sport Shop, VfB Marketing), die VfB-Jugendakademie, das Rehazentrum der VfB Reha-Welt, mehrere Restaurants sowie Veranstaltungsräume für Sport- und Freizeitevents beheimatet. Auch ein VfB-Museum soll dort einziehen.
Auf der Stuttgarter Einkaufsmeile, der Königstraße und im Breuningerland in Ludwigsburg betreibt der Verein Shops, in dem Tickets sowie Merchandising-Produkte verkauft werden.
Zuschauer und Fans des VfB
Nachdem der VfB 1975 zum ersten Mal in die Zweite Liga abgestiegen war, begann der Verein, Dauerkarten zu verkaufen. Dieses Angebot nahmen viele Anhänger wahr, und so zog der Kern in die heutige Cannstatter Kurve um den A-Block herum um.
Nachdem die Fußballmannschaft 1977 in die Bundesliga zurückgekehrt war, bedeutete der in der Bundesliga-Saison 1977/78 aufgestellte Rekord von durchschnittlich über 53.000 Zuschauern pro Heimspiel bis zur Saison 1998/99 den höchsten je in der Bundesliga gemessenen Zuschauerschnitt. Der VfB zählte nun schon 120 offizielle Fan-Clubs. Doch wie bei anderen Vereinen auch, machten kleine, zahlenmäßig unbedeutend erscheinende rechtsradikale Gruppierungen der Vereinsführung Probleme, und so begann der Verein, in einer mit den Fan-Clubs gegründeten Interessensgemeinschaft Karteikarten über Fan-Club-Mitglieder anzulegen. Als nach der Aufstiegseuphorie Ende der 1970er Jahre der Erfolg ausblieb, sanken die Zuschauerzahlen wieder. Dadurch fielen die Interessensgemeinschaft und die meisten Fan-Clubs auseinander und nur die treusten Fans blieben.
Erst als die FIFA ankündigte, bis zum Jahr 2000 alle Stehplätze abschaffen zu wollen, und die Dauerkarteninhaber der Stehplätze bei ihrem Hilferuf gegen diese Entscheidung vom Verein unterstützt wurden, kamen sich der VfB und die Fans wieder näher. Am 11. Juli 1990 wurde schließlich die Organisation Offizieller Fan-Club (OFC) geschaffen, die bis heute Bestand hat. Fan-Clubs, die sich der Organisation anschließen, bekommen sowohl Vergünstigungen und Privilegien, als auch Pflichten wie eine Clubsatzung mit einem deutlichen Bekenntnis zur Gewaltfreiheit, einer demokratischen Struktur, einer Mindestanzahl von zehn Mitgliedern und einem aktiven Clubleben.
So gewann der VfB noch im Jahr 1990 70 OFCs mit insgesamt rund 2.000 Mitgliedern für sich, und beim folgenden Umbau des Stadions blieb der A-Block mit seinen Stehplätzen erhalten. Seither gingen Gewaltaktionen bei den Fans auf ein Minimum zurück.
Erfolgsphasen wie die deutsche Meisterschaft 1992 oder die Erfolge zu Zeiten des „magischen Dreiecks“ mit dem DFB-Pokal-Gewinn 1997 führten kurzfristig zu einem Anstieg der Zuschauerzahlen. Anfang 1997 begann die Fanszene, sich neu zu organisieren, als mit dem „Commando Cannstatt 1997“ (CC) die erste Ultras-Gruppierung entstand, die heute ein einflussreicher Bestandteil der Szene ist. Das Commando setzt auf eine Unterstützung der Mannschaft unter anderem mit Choreographien und Leuchteffekten und orientiert sich an italienischen Vorbildern. Anfangs gab es sowohl von Seiten anderer Fans, als auch vom Verein Berührungsängste. Der VfB warf dem Commando Cannstatt wegen des fünfzackigen Sterns auf dem Logo, der im Sommer 1997 verboten wurde, einerseits Nähe zur Rote Armee Fraktion und andererseits wegen der Frakturschrift im Logo Rechtsradikalismus vor. Das Commando bekräftigte jedoch, dass diese Symbole für die Ultras-Gruppierung keine hintergründige Bedeutung hätten und die Gruppe zugleich keine politische Ausrichtung verfolge. Das Commando Cannstatt gilt als größte Ultras-Gruppierung in der Cannstatter Kurve.
Den größten Zuschauerboom nach der Wiederaufstiegseuphorie 1977–79 erlebte der VfB zu Zeiten der „jungen Wilden“, als in der Saison 2003/04 ein Schnitt von 41.728 erreicht wurde – zwei Jahre zuvor hatte der Zuschauerschnitt noch 26.097 betragen. Zurückzuführen war der Zuschauerboom auf die rasante sportliche Verbesserung der Mannschaft; hatten die Fußballer in der Saison 2000/01 erst am vorletzten Spieltag den Klassenerhalt gesichert, so erreichte der VfB zwei Jahre später die Vizemeisterschaft und die Champions League.
Die Karten für die Champions-League-Vorrunde mit Gegnern wie Manchester United waren in Rekordzeit vergriffen, und so erkannte die Vereinsführung des VfB mit dem neuen Präsidenten Erwin Staudt ein bisher noch nicht ausgeschöpftes Potential an Fans in der Region. Der VfB initiierte eine Mitgliederkampagne, welche unter dem Motto „Wir packen Schalke“ den VfB zum zweitgrößten deutschen Verein machen sollte. In der Rangliste der größten deutschen Sportvereine erreichte der VfB zwar zeitweilig Platz 3, holte den FC Schalke 04 jedoch nie ein. Dennoch vervierfachte sich die Mitgliederzahl des VfB zwischen 2000 und 2005 von 7.000 auf 30.000 Mitglieder, weswegen die Mitgliederkampagne vom VfB als erfolgreich angesehen wird.
Der enorme Anstieg der Mitgliederzahl lässt sich unter anderem mit den Erfolgen des VfB in der Champions League erklären; wer 2004 beispielsweise eine Karte für das Achtelfinalspiel der Champions League gegen den FC Chelsea haben wollte, musste entweder Vereinsmitglied, OFC-Mitglied oder Dauerkarteninhaber sein.
Die Anzahl der offiziellen Fan-Clubs stieg rapide auf 265 an. Diese befinden sich hauptsächlich in der Umgebung, aber es gibt auch im restlichen Bundesgebiet und sogar im Ausland (z. B. Taiwan, Latri Kunda/Gambia und Südtirol) OFC. Zur besseren Koordination unter den VfB-Fans institutionalisierte sich 2001 auf Anregung des Vereinsvorstandes der Fan-Ausschuss als offizielles, in der Vereinssatzung legitimiertes Gremium des VfB. Der Fan-Ausschuss wird vom Vorstand eingesetzt und trifft sich alle fünf oder sechs Wochen. Er besteht aus 15 Mitgliedern und setzt sich aus allen Fanschichten des VfB zusammen; von Vereinsseite gehören dem Ausschuss die beiden Fanbeauftragten sowie Direktor Jochen Schneider an. Das Gremium soll im Dialog fanspezifische Themen ansprechen und helfen Lösungen zu finden. Erste Erfolge waren zum Beispiel die Gründung der VfB-Fan-Treffs mit Hilfe des Ausschusses.
Zur weiteren Verbesserung der Fankoordination wurde der VfB Anhängerverband Stuttgart e. V. gegründet. Der Fan-Ausschuss des VfB setzte sich mit der Gründung das Ziel, die 265 offiziellen Fan-Clubs in einer Struktur zusammenzufassen. Auch einzelne Personen können dem Anhängerverband beitreten. Sowohl eingetragenen und somit rechtsfähigen, als auch nicht rechtsfähigen Fan-Clubs, die nur durch protokollierte Vertreter und eine Satzung legitimiert sind, ist der Beitritt möglich. Die OFCs bleiben dabei zwar autark, die Vergünstigungen gehen jedoch auf den Anhängerverband über. Dieser Verband ist das erste auf demokratischem Wege gewählte Organ, welches die OFCs beim VfB vertritt, und soll für den VfB die einzige anerkannte Fanvertretung werden. Momentan sind 171 offizielle Fanklubs sowie 74 Einzelmitglieder im Anhängerverband zusammengeschlossen.
Durch die Werbung des Vereins für neue Vereins- und Fanclub-Mitglieder erweiterte sich der Kern der VfB-Fans, vom A-Block zum B-Block und in weitere Bereiche der Cannstatter Kurve. Kurz nach dem Gewinn des Meistertitels 2007 konnte das 40.000. Mitglied vermeldet werden. Am 17. Dezember 2017 gab der VfB bekannt, dass dem Verein mittlerweile über 60.000 Mitglieder angehören. Vor dem Eröffnungsspiel der 2. Fußball-Bundesliga 2019/20 gegen Hannover 96 wurde das 70.000 Mitglied geehrt. Am 12. Mai 2023 gab der Verein bekannt, die Marke von 80.000 Mitgliedern überschritten zu haben. Seit Beendigung des Stadionumbaus 2011 beträgt der Zuschauerschnitt (mit Ausnahme der Spielzeiten 2020/21 und 2021/22, in denen aufgrund der COVID-19-Pandemie die erlaubte Stadionkapazität teilweise erheblich reduziert war, und der Spielzeit 2022/23, in der aufgrund des Umbaus der Haupttribüne die Kapazität verringert war) konstant über 50.000.
Maskottchen
Für Kinder und Jugendliche gibt es den VfB-Fritzle-Club, der 4- bis 16-jährigen VfB-Fans verschiedene Vergünstigungen bringt. Fritzle ist seit 1992 das Maskottchen des VfB Stuttgart und ist damit eines der ältesten Maskottchen in der Fußball-Bundesliga. Das Maskottchen stellt einen Alligator dar. Im Jahre 1992 hatte Dieter Hoeneß, zu diesem Zeitpunkt Manager des VfB, die Idee, einen Sympathieträger außerhalb der Mannschaft zu erschaffen. Daraufhin konnten VfB-Fans zunächst Vorschläge einsenden, wie dieses neue Maskottchen aussehen soll. In der SDR-Sendung Sport im Dritten wurden letztlich sechs Vorschläge vorgestellt und den Zuschauern zur Abstimmung gestellt. Bei der Abstimmung darüber votierten etwa ein Drittel der VfB-Fans für einen Alligator im VfB-Trikot. Auf dem Mannschaftsfoto des VfB Stuttgart in der Saison 1992/93 wurde ein großes Ei mit roten Fünfecken ähnlich einem Fußball neben der vorderen Sitzreihe platziert. zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert wurde das Maskottchen dann am 26. August 1992 vor dem ersten Heimspiel gegen den 1. FC Nürnberg. Zunächst wurde es „VfB Alligator“ genannt. Am 6. Juni 1993, also kurz vor seinem ersten Geburtstag, wurde in der TV-Sendung Sport im Dritten wiederum mit einer Ted-Abstimmung über den Namen entschieden. Zur Auswahl standen Fetz, Julius, Alwin, Joschi und Fritzle. 43,3 Prozent der Anrufer entschieden sich für den Namen Fritzle. 2015 wurde Fritzle von Zuschauern des Fernsehsenders Sport1 zum schönsten Maskottchen der Bundesliga gewählt.
Derbys, Rivalitäten und Freundschaften
Das Stuttgarter Stadtderby
Vor allem in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts herrschte ein harter Kampf zwischen dem in Bad Cannstatt ansässigen VfB und den Stuttgarter Kickers aus Degerloch. Aber es war keine Konkurrenz zwischen sozialen Schichten. Die Basis bildete auf beiden Seiten hauptsächlich das ortsansässige Bürgertum. Schon bei den Vorgängern des VfB, dem Kronen-Club und dem Stuttgarter FV liegen die Wurzeln der Rivalität zwischen dem VfB und den Kickers. Als die Kickers sich schon früh gegen Rugby entschieden, wechselten viele Rugby-Interessierte zum Stuttgarter FV. Dies könnte man die Geburt der Rivalität nennen. Zu den Kindheitszeiten des Fußballs lagen die Kickers noch klar vor den Vorgängern des VfB und so musste der Kronen-Club in einem entscheidenden Spiel um den Aufstieg in die oberste süddeutsche Spielklasse gegen die zweite Mannschaft der Kickers antreten. Zwar gewann der Kronen-Klub, doch wenige Tage später wurde das Spiel annulliert, da der eigentlich bestellte Schiedsrichter nicht anwesend war und der Verbandsschriftführer das Spiel leitete. Da der Kronen-Club von der Annullierung erst wenige Stunden vor der Neuansetzung bei einer Weihnachtsfeier erfuhr und dementsprechend viele Spieler nicht einsatzfähig waren, verlor der Klub das Wiederholungsspiel und fühlte sich dort gegenüber den Kickers ungerecht behandelt.
Auch nach der Fusionierung zum VfB dominierten zunächst die Kickers. Schon 1909 wurden die Blauen Vizemeister und waren dem VfB zumeist voraus. 1922/23 schienen sich die Kickers sogar vom VfB abzusetzen, als sie als Tabellenerster der Kreisliga Württemberg die Qualifikation für die neue Bezirksliga problemlos schafften, während der VfB als Sechster scheiterte und sogar in die Zweitklassigkeit abrutschte. Doch der VfB kam nach diesem einen Jahr Zweitklassigkeit wieder zurück und so blieb dieses eine Jahr das einzige nach der Fusion des VfB, in dem die Kickers eine Klasse über dem VfB standen. Der VfB bot nun den Kickers Paroli und so konkurrierten beide Vereine immer wieder um die Württembergische Meisterschaft. Nach der deutschen Vizemeisterschaft des VfB 1935 war der Verein dann endgültig auf Augenhöhe. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs wurden beide Mannschaften noch mehrmals Württembergischer Meister und blieben auf dem gleichen Level. Daher stimmt es nicht, dass das Überholmanöver des VfB in Verbindung mit dem Nationalsozialismus steht. Obwohl der VfB schon von jeher bessere Verbindungen zum Militär hatte und den Kickers schon vor der NS-Zeit jüdische Wurzeln zugeschrieben wurden, wurden die Kickers später ebenso wie der VfB mit dem NS-Regime in Verbindung gebracht. So stellte zum Beispiel der Sozialdemokrat Paul Keller fest, dass sich beide Vereine sofort als erste der nationalsozialistischen Bewegung voll und ganz anschlossen. Vor 1933 gab es beim VfB ebenso wie bei den Kickers jüdische Mitglieder, die in der NS-Zeit ausgeschlossen wurden.
Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg stiftete der Stuttgarter Oberbürgermeister Arnulf Klett einen Bronzenen Löwen als Trophäe für ein Stadtturnier. Im Endspiel des Turniers besiegte der VfB die Kickers im ersten Kräftemessen nach Kriegsende. Die Entscheidung um die Vormachtstellung in Stuttgart fiel erst in der Oberliga Süd. Zu Beginn spielten die Kickers genauso wie der VfB oben mit. Doch das Jahr 1950 war entscheidend für die Zukunft beider Vereine. Die Stuttgarter Kickers stürzten in die Zweite Oberliga Süd ab und standen somit zum ersten Mal eine Klasse unter dem VfB. Und eben in diesem Jahr, in dem die Kickers den ersten großen Rückschlag erlitten, holte der VfB mit der deutschen Meisterschaft den ersten großen Titel. Die Kickers erholten sich noch einmal und kamen zurück, doch fast jede Saison, die die Degerlocher in der Oberliga Süd bestritten, war für die Kickers ein Abstiegskampf, während der VfB seine erfolgreichste Zeit erlebte. Und so absolvierten die Kickers 1960 ihr letztes Spiel in der Oberliga Süd und spielten im Mittelfeld der Zweiten Oberliga, während sich der VfB 1963 für die erste Bundesligasaison qualifizierte. Nur 1988 und 1992 spielten die Kickers noch jeweils eine Saison in der Bundesliga, in der sie nie die Klasse hielten.
So war es keine Seltenheit, dass einer von den Blauen zum VfB, zu den Roten, wechselte. Ein solcher „Überläufer“ hatte es nicht immer einfach – von beiden Seiten hatten Spieler und Funktionäre nach einem solchen Wechsel etwas zu befürchten. Früher war die Rivalität bedeutend härter als heute. Als zum Beispiel 1956 Rolf Geiger, der talentierte Stürmer der Kickers, zum VfB wechselte, erstattete der damalige Präsident der Kickers Philipp Metzler Selbstanzeige und behauptete, die Kickers hätten Geiger unter der Hand bezahlt. Die Rache war es ihm offenbar wert, eine Strafe für die Kickers hinzunehmen, um gleichzeitig Geiger vom DFB bestrafen zu lassen. Allerdings wurde Metzler für zwei Jahre gesperrt, während Geiger nur für neun Monate gesperrt wurde.
Das Verhältnis zwischen beiden Vereinen wurde mit der Zeit zwar besser, doch immer wieder gab es Spannungen. So fand der ehemalige Kickers-Spieler Albert Sing an seinem ersten Arbeitstag als VfB-Trainer ein Kickers-Trikot in der Umkleide vor, welches ihm wohl deutlich machen sollte, dass er als Blauer nicht erwünscht ist.
Der damalige Kickers-Stürmer Jürgen Klinsmann erklärte nach einem harten Jugend-Derby gegenüber seinem damaligen Kickers-Präsidenten Axel Dünnwald-Metzler: „Eines schwöre ich: Zu denen geh ich nie!“ Einige Jahre später ließ er sich von diesem Schwur entbinden.
Nicht nur in der Jugend waren diese Derbys hitzig. „Wenn wir heute nicht gewonnen hätten, hätte ich mich nicht mehr aus dem Haus getraut“, erklärte der ehemalige VfB-Direktor Ulrich Schäfer einmal. Das letzte große Stadtderby in der Bundesliga war grundlegend für die weitere sportliche Entwicklung beider Vereine: In der Saison 91/92 ging es für den VfB um die Meisterschaft und für die Kickers um den Klassenerhalt. Nach 75 Minuten führten die Kickers mit 1:0, der VfB-Stürmer Fritz Walter brach wegen starker Magenschmerzen zusammen, weswegen der VfB sogar die Kickers einer Vergiftung bezichtigte. Trotz des Ausfalls von Walter drehte der VfB das Spiel in den letzten Minuten zu einem 3:1-Sieg; der VfB wurde am Ende der Saison Deutscher Meister und die Kickers stiegen ab. Die Rivalität zwischen dem VfB und den Kickers ging oft über den Fußball hinaus. So gab es zwischen den beiden Leichtathletikabteilungen immer wieder Differenzen. Trotzdem bildeten die beiden Vereine in dieser Sportart eine gemeinsame Startgemeinschaft.
Das Baden-Württemberg-Derby
Das zwischen Württembergern und Badenern bestehende starke Konkurrenzdenken findet sich auch auf der Ebene des Fußballs wieder: Die beiden erfolgreichsten Vereine der beiden baden-württembergischen Landesteile, der VfB und der Karlsruher SC, blicken auf eine lange Rivalität zurück. Bereits 1912, im wohl ersten Endspiel des frisch fusionierten VfB Stuttgart, bezwang der Verein den FC Mühlburg, den Vorläufer des VfB Mühlburg, der später mit Phönix Karlsruhe zum KSC fusionierte, und qualifizierte sich somit für die höchste deutsche Spielklasse.
Vielfach forderte der KSC den VfB als erfolgreichsten Fußballverein Baden-Württembergs heraus – zumeist ohne Erfolg. Zu einer Verstärkung der Rivalität kam es durch den langjährigen KSC-Trainer Winfried Schäfer: mehrmals zeigte er öffentlich seinen Ärger, als er beispielsweise 1992 zum Ausdruck brachte, dass die guten Leistungen des KSC im Schatten der Meisterschaft des VfB nicht genug gewürdigt würden. Er beschuldigte den damaligen VfB-Trainer Christoph Daum sogar, dass dieser sich über den Aufwärtstrend des KSC lustig machen würde. Nachdem der VfB wenig später im Europapokal der Landesmeister gegen Leeds United unglücklich durch einen Wechselfehler von Christoph Daum ausgeschieden war, erklärte Schäfer höhnisch: „Der Daum tönt aus Stuttgart, wir seien wie der Hund, der halt zwischendurch mal mit dem Schwanz wedelt. Warum hat er uns dann nicht als Blindenhund mit nach Leeds genommen?“ Schäfer kritisierte auch Sponsoren: Daimler-Benz warf er vor, den KSC-Spielern höhere Leasingraten als den VfB-Spielern abzuverlangen („Wir haben keinen Daimler, der uns das Stadion ausbaut.“). In der Kritik standen auch Medienvertreter, wie jene des SDR, denen er vorwarf, VfB-Lobbyisten zu sein („Die sind rot angehaucht.“).
Als Winfried Schäfer nach all diesen Vorfällen VfB-Trainer wurde, kam es zu großen Spannungen sowohl zwischen Fans und VfB als auch innerhalb der Fanszene. Einige VfB-Fans reagierten auf die Verpflichtung Schäfers, indem sie ihre Dauerkarte zurückgaben.
Nach dem Bundesliga-Abstieg des KSC in der Saison 1997/98 kam es erstmals in der Saison 2007/08 wieder zu einem Derby in der Bundesliga. In der Saison 2016/17 fand das Derby erstmals in der 2. Bundesliga statt, auch in der Spielzeit 2019/20 duellierten sich beide in der Zweitklassigkeit.
Auch der VfB II war gegen den KSC erfolgreich: Am dritten Spieltag der 3. Liga in der Saison 2012/13 siegte er vor 19.970 Zuschauern in der Mercedes-Benz Arena mit 2:0.
Andere Rivalitäten
Auch zu anderen Vereinen pflegen die Anhänger des VfB Rivalitäten; typische Beispiele sind der SC Freiburg, Hertha BSC, der FC Bayern München und der FC Schalke 04.
Die Rivalität zu den Berlinern ist durch deren Freundschaft mit dem KSC begründet. Diejenige mit dem ebenfalls badischen SC Freiburg ist vergleichsweise jung und wesentlich weniger intensiv als jene mit dem KSC und wird von VfB-Fans auch nicht als Derby bezeichnet. Zurückzuführen ist sie unter anderem auf das Fehlen anderer regionaler Derbys, nachdem der KSC in der Saison 1997/98 aus der Bundesliga abstieg.
Eine traditionsreichere Rivalität ist jene mit dem FC Bayern. Ein Bundesligaspiel zwischen den beiden Vereinen, die in jüngerer Vergangenheit als die beiden erfolgreichsten Süddeutschlands gelten, ist das so genannte Südderby. Spielerwechsel nach München gelten als unpopulär, so wollte Jürgen Klinsmann erst die Erlaubnis seines Vaters holen, ehe er beim FC Bayern einen Vertrag unterschrieb. Die Wechsel von Giovane Élber, Felix Magath (als Trainer), Mario Gómez und zuletzt Sven Ulreich waren bei Teilen der Fans ebenfalls umstritten.
Als der FC Schalke 04 Felix Magath nach Gelsenkirchen holen wollte, nachdem er mit dem VfB 2003 gerade Vizemeister geworden war, entwickelten sich Spannungen mit dem FC Schalke 04. Vor allem der damalige Schalke-Manager Rudi Assauer und Magath, der noch eine Saison beim VfB blieb, setzten sich damals in der Öffentlichkeit auseinander. Zudem wurde es in Fankreisen negativ aufgenommen, dass auch der Manager Horst Heldt sowie Spieler wie Kevin Kurányi oder Marcelo Bordon zu Schalke 04 wechselten.
Kooperationen
2005 unterzeichneten Erwin Staudt und Dieter Fröhlich, der Präsident des FC St. Gallen einen Kooperationsvertrag zwischen dem VfB und St. Gallen. In dieser Kooperation sollten sich die Vereine gegenseitig bei der Ausbildung von Spielern unterstützen und zum beiderseitigen Nutzen Spieler austauschen. So wurden zum Beispiel einige Spieler des VfB, die noch keine Chance auf einen Stammplatz hatten, nach St. Gallen ausgeliehen. Seit 2014 sind der MTV Stuttgart und die Sportagentur SchwabenSport Management Kooperationspartner des Vereins. Im Jahr 2019 wurde eine Kooperation mit der SG Sonnenhof Großaspach vereinbart. Im darauffolgenden Jahr wurden Jugendkooperationen mit dem SC Pfullendorf, dem VfR Heilbronn, dem VfB Friedrichshafen, dem SV Kickers Pforzheim, dem 1. FC Eislingen und dem FSV Hollenbach bekanntgegeben. Im Jahr 2021 wurden Kooperationen mit dem VfR Aalen, der TSG Balingen und dem Champions-Park Freudenstadt geschlossen. Im Jahr 2022 wurde eine Kooperation mit Eintracht Trier geschlossen.
Sponsoren und Freundeskreis
Sponsoren
Die Geburt des Sponsorings beim VfB geht auf das Jahr 1976 zurück, als der VfB sich in der 2. Bundesliga am Abgrund befand. Damals wurde der Freundeskreis des VfB Stuttgart gegründet, welcher den Verein nicht nur finanziell unterstützte, sondern Tipps für die eigene Vermarktung des VfB gab und den Verkauf von Souvenirs startete. Zur Saison 1976/77 wurde dann das Textilunternehmen Frottesana zum ersten Trikotsponsor des VfB. Die Nachfolger dieses Unternehmens wurden Canon, Dinkelacker, Sanwald Extra, Südmilch, die Göttinger Gruppe, debitel und schließlich EnBW. Mit Beginn der Saison 2010/11 wurde Garmo mit seiner Molkereiproduktemarke GAZi für zwei Jahre Trikotsponsor des VfB. Zur Saison 2012/13 wurde die Mercedes-Benz Bank neuer Haupt- und Trikotsponsor des VfB. Die Laufzeit des Kontrakts betrug zwei Jahre und wurde durch Ziehung einer Option bis 2019 weitergeführt. Im Mai 2019 wurde der Vertrag erneut verlängert und lief 2023 aus.
Im August 2023 wurde Winamax, ein französischer Anbieter von Onlinepoker und Sportwetten, als neuer Trikotsponsor bis 2026 bekanntgeben.
Mit der Zeit wurde schließlich ein Sponsoren-Pool geschaffen, dessen Mitglieder sich als Offizieller Partner des VfB Stuttgart bezeichnen konnten. Erwin Staudt schuf dann schließlich die neu geordnete Sponsorenpyramide, in der Sponsoren als Premium Partner über den normalen Team Partnern und den in der Pyramide noch weiter unten befindlichen Servicepartnern steht. Bei Heimspielen werden derzeit 336 Laufmeter Bandenwerbung präsentiert. Ausrüster beim VfB war bis zum Ende der Saison 2018/19 Puma, nachdem die lange Partnerschaft mit Adidas 2002 beendet wurde. Seit der Spielzeit 2019/20 ist Jako Ausrüster des VfB Stuttgart.
Freundeskreis
Der Freundeskreis wurde 1976 gegründet und unterstützte den Verein damals finanziell, gab Tipps für die Vermarktung des VfB und der Verkauf von Souvenirs startete. Der VfB Freundeskreis verfolgt den Zweck, den Fußballsport im Allgemeinen und die Interessen des VfB Stuttgart im Besonderen, speziell dessen Jugendarbeit, zu fördern und zu unterstützen. Die Jugendarbeit wird unter anderem durch eine regelmäßige Jahresspende sowie zusätzlichen Spendenzahlungen für Weihnachts- und Meisterfeiern gefördert.
Der Freundeskreis wird geführt von einem ehrenamtlichen Vorstand. Dieter Hundt leitete den Freundeskreis während seiner 15-jährigen Tätigkeit als 1. Vorsitzender von 1988 bis 2003, welche mit seinem Wechsel in den VfB-Aufsichtsrat endete. Auf ihn folgte Arnulf Oberascher, Vorstandsvorsitzender der Metallux AG mit Sitz in Leutenbach bei Stuttgart. Am 23. Februar 2015 wurde der Freundeskreis als Freundeskreis des VfB Stuttgart e. V. in das Vereinsregister eingetragen. Am 9. November 2015 stellte sich Arnulf Oberascher nicht mehr zur Wahl. Auf ihn folgte Klaus-Dieter Feld. Ab dem 27. November 2017 war Jürgen Schlensog Vorsitzender. Am 16. November 2021 wurde Markus Scheurer zum Vorsitzenden gewählt.
Literatur
Oskar Beck, Hans Reski: Der VfB Stuttgart – Schwabenstreiche. Kiepenheuer & Witsch, Köln 1989, ISBN 3-462-01976-7.
Stefan Radomski: Deutschlands große Fußballmannschaften Teil 2: VfB Stuttgart 1920–1992. AGON-Sportverlag, Kassel 1993, ISBN 3-928562-27-4.
Thomas Haid, Thomas Plaßmann: VfB Stuttgart-Fan. Tomus Verlag, München 1997, ISBN 3-8231-1103-5.
Oskar Beck, Martin Hägele, Ludger Schulze: Stuttgart kommt, Der VfB. Wero Press, 1997, ISBN 3-9805310-6-6.
Deutscher Pokalsieger 1997. AGON-Sportverlag, 2000, ISBN 3-89784-117-7.
Klaus Schlütter: Lächeln mit dem VfB. Wero Press, Pfaffenweiler 2003, ISBN 3-9808049-7-6.
Harald Jordan: Mythos VfB. DMZG Druck- und Medienzentrum Gerlingen, 2005, ISBN 3-927286-59-1.
Volker Jäger: Fußball-Junkie. Aus dem Leben eines Anhängers. Books on Demand, 2005, ISBN 3-8334-2842-2.
Oliver Böhnisch: Eine Zeitreise in Weiß und Rot. Books on Demand, Norderstedt 2006, ISBN 3-8334-5020-7.
Gregor Hofmann: Der VfB Stuttgart und der Nationalsozialismus. Hofmann, Schorndorf 2018, ISBN 978-3-7780-3133-9.
Weblinks
Website der VfB Stuttgart 1893 AG
Anmerkungen
Einzelnachweise
Fußballverein aus Stuttgart
Stuttgart Vfb
Stuttgart Vfb
Stuttgart VfB
Stuttgart Vfb
Handballverein aus Stuttgart
Leichtathletikverein aus Baden-Württemberg
Träger des Silbernen Lorbeerblattes
Gegründet 1893
Leichtathletik (Stuttgart) |
28717 | https://de.wikipedia.org/wiki/Neon%20Genesis%20Evangelion | Neon Genesis Evangelion | Neon Genesis Evangelion (, auch kurz NGE oder EVA) ist eine international erfolgreiche Anime-Fernsehserie aus dem Jahr 1995. Sie bildet die Grundlage für mehrere später erschienene Filme, Mangas und Videospiele und gilt als eine der bisher bedeutendsten Anime-Produktionen. Das Werk nimmt Bezug auf viele ältere Filme, Serien und Bücher und hatte großen Einfluss auf nachfolgende Produktionen. NGE erschloss dem Medium Anime in Japan und international ein neues Publikum.
Die Serie handelt vom Kampf gegen Engel genannte Kreaturen unbekannter Herkunft, die die Menschheit angreifen. Ihnen werden von Jugendlichen gesteuerte Kampfmaschinen entgegengesetzt, die Evangelions. Mit fortschreitender Handlung werden zunehmend auch die psychischen Probleme der Charaktere thematisiert. Der Anime ist in die Genres Science-Fiction, Action und Mecha einzuordnen und enthält verschiedene Elemente aus Philosophie und Psychologie.
Handlung
Im Laufe der Serie werden nach und nach die Ereignisse erklärt, die vor der von der Serie erzählten Handlung stattfanden. Diese werden im Abschnitt „Vorgeschichte“ erläutert; die eigentliche Handlung der Serie beginnt im Abschnitt „Haupthandlung“.
Vorgeschichte
Am 13. September 2000 ereignet sich am Südpol eine kataklysmische Explosion, die zum vollständigen Abschmelzen des Polareises in der Antarktis und zum Kippen der Erdachse führt. Der darauf folgende Anstieg des Meeresspiegels, massive Klimaveränderungen und weltweit ausbrechende Konflikte um die verbleibenden Ressourcen führen zum Tod von drei Milliarden Menschen, was der Hälfte der Weltbevölkerung entspricht. Offiziell gilt der mit annähernd Lichtgeschwindigkeit erfolgte Einschlag eines Mini-Meteoriten als Auslöser dieser Katastrophe, die als Second Impact bezeichnet wird. Die wahre Ursache der Katastrophe ist jedoch ein „Kontaktexperiment“, das von den Mitgliedern einer Expedition mit einem kurz zuvor in der Antarktis entdeckten humanoiden Wesen, das man als den ersten Engel Adam bezeichnet, durchgeführt wird. Hinter dieser von Dr. Katsuragi geleiteten Expedition und dem Experiment steht die mysteriöse Organisation SEELE. Diese handelt nach einem Szenario, das aus den Schriftrollen von Qumran, die sich in SEELEs Besitz befinden, entwickelt wurde. SEELE beabsichtigt, die Menschheit im Rahmen der für die nähere Zukunft vorausgesagten Apokalypse auf eine höhere, gottgleiche Stufe der Evolution zu stellen.
Zur Durchführung dieses Plans zur Vollendung der Menschheit wird die Geheimorganisation GEHIRN gegründet, deren Aufgabe die Erforschung und Entwicklung geeigneter Abwehrmaßnahmen gegen die laut Szenario noch zu erwartenden Engel ist. Das Hauptquartier der Organisation wird in einem riesigen unterirdischen Hohlraum am Ufer des Ashi-Sees beim Vulkan Hakone errichtet. An der Erdoberfläche über dieser Höhle entsteht die Stadt Neo Tokyo-3.
Unter dem Deckmantel des Forschungslabors für künstliche Evolution in Hakone, das von Gendō Ikari geleitet wird, entwickelt GEHIRN auf Grundlage der Arbeiten von Yui Ikari, Gendōs Ehefrau, die sogenannten Evangelions (EVAs). Dabei handelt es sich um riesige, künstliche Humanoide, die aus Adam oder dem zweiten Engel Lilith geklont wurden und von einem Menschen gesteuert gegen die Engel kämpfen sollen. Im Jahr 2004 löst sich Yui Ikari beim Testlauf eines Evangelion-Prototypen spurlos in dessen Pilotenkapsel auf. Im folgenden Jahr verliert Kyōko Zeppelin Sōryū, die Mutter von Asuka Langley Sōryū, bei einem ähnlichen Experiment einen Teil ihrer Seele und erhängt sich kurze Zeit später. Im Jahr 2010 wird der Bau der MAGI, der drei Supercomputer der Organisation, abgeschlossen. Naoko Akagi, die Konstrukteurin der MAGI, fühlt sich von Gendō Ikari, mit dem sie ein Verhältnis hat, ausgenutzt und hintergangen. Im Zorn erwürgt sie dessen vorgebliches Mündel Rei Ayanami, bei der es sich in Wahrheit um einen Klon aus Bestandteilen von Gendōs Ehefrau Yui und des Engels Lilith handelt, und begeht im Anschluss Selbstmord. Kurz darauf wird die Geheimorganisation GEHIRN, deren Forschungs- und Entwicklungsaufgaben erfüllt sind, aufgelöst und unter dem Namen NERV als Exekutivorgan für SEELEs Pläne neu gegründet. Rei wird von einem neuen Klon ersetzt.
Haupthandlung
Im Jahr 2015 kommt der 14-jährige Schüler Shinji Ikari, der nach dem Tod seiner Mutter Yui bei einem Lehrer aufgewachsen ist, auf Wunsch seines Vaters Gendō nach Neo Tokyo-3. Er soll hier als sogenanntes die Steuerung der Evangelion-Einheit 01 übernehmen und gegen die Engel kämpfen, die die Menschheit bedrohen. Aufgrund des sehr distanzierten Verhältnisses zu seinem Vater wird Shinji der NERV-Offizierin Misato Katsuragi anvertraut, bei der er auch wohnt. Die Eingewöhnung in seine neue Umgebung ist für Shinji mühsam. Rei Ayanami, die Pilotin des Evangelion-Prototypen Einheit 00, mit der er zusammen die Schule besucht, scheint nur zu seinem Vater eine engere Beziehung zu haben und ist allen anderen Menschen gegenüber sehr verschlossen. Auch zu anderen Schülern und Schülerinnen kann Shinji nur schwer Kontakte knüpfen. Als er, ohnehin an seiner Befähigung zum Piloten zweifelnd, von seinem Mitschüler Tōji Suzuhara geschlagen wird, weil dessen kleine Schwester bei Shinjis erstem Einsatz schwer verletzt wurde, will er NERV und Neo Tokyo-3 verlassen. Kurz vor seiner Abreise kann er jedoch von Tōji und dessen Freund Kensuke Aida von der Wichtigkeit seiner Aufgabe als EVA-Pilot überzeugt werden und bleibt.
Bald darauf kommt das Asuka Langley Sōryū zusammen mit EVA-02 aus Deutschland an und zieht ebenfalls bei Misato ein. Ihr selbstbewusstes Auftreten und ihr aufbrausendes Temperament sorgen für häufige Reibereien mit Misato, Shinji und dessen neuen Freunden Tōji und Kensuke. Im Kampf gelingt es den drei Asuka, Rei und Shinji hingegen trotz diverser Unstimmigkeiten, ein Team zu bilden und die Angriffe der Engel erfolgreich abzuwehren. Zusammen mit Asuka kommt auch Misatos Exfreund Kaji Ryōji nach Japan. Er schmuggelt im Auftrag von NERV den auf die Größe eines Embryos geschrumpften Engel Adam nach Neo Tokyo-3 und übergibt ihn an Gendō Ikari. Offiziell ist Kaji NERV-Mitarbeiter und wird ins Hauptquartier versetzt, inoffiziell ist er jedoch als Spion für die japanische Regierung und für SEELE tätig. Er findet heraus, dass das Marduk-Institut, das vorgeblich für die Suche nach geeigneten Evangelion-Piloten zuständig ist, eine Scheinfirma ist. Tatsächlich werden die von NERV und SEELE unter Shinjis Mitschülern ausgewählt, bei denen es sich ausnahmslos um potenzielle EVA-Piloten handelt.
Als bei einem missglückten Experiment EVA-04 und eine NERV-Außenstelle in den USA vollständig ausgelöscht werden, soll der ebenfalls in den USA gebaute Evangelion Einheit 03 nach Japan gebracht werden. Dort stellt sich bei der ersten Aktivierung heraus, dass die Einheit von einem Engel übernommen wurde. Shinji erhält den Befehl, den außer Kontrolle geratenen EVA-03 zu zerstören, weigert sich jedoch, da er dessen Piloten nicht gefährden will. Daraufhin lässt sein Vater Gendō das sogenannte Dummy-Plug-System aktivieren, mit dem Shinjis Evangelion vom NERV-Hauptquartier ferngesteuert werden kann. EVA-01 zerfetzt den übernommenen Evangelion-03 und zerquetscht dessen Pilotenkapsel. Der Pilot, Shinjis Freund Tōji, überlebt schwer verletzt. Nach diesem Erlebnis will Shinji NERV und Neo Tokyo-3 endgültig verlassen und nie wieder einen Evangelion steuern. Er ändert seine Meinung jedoch, als der 14. Engel die Stadt angreift und Reis und Asukas Evangelions praktisch mühelos besiegt und kampfunfähig macht. Als auch Shinji mit EVA-01 dem Engel zu unterliegen droht, kommt es erneut zu einem Amoklauf des Evangelion, der den Engel schließlich besiegt und auffrisst. Shinji wird dabei, wie seine Mutter mehrere Jahre zuvor, vom Evangelion absorbiert, kann jedoch später gerettet werden. Bei SEELE mehren sich die Zweifel an Gendō Ikaris Zuverlässigkeit bei der Umsetzung des Szenarios, sodass sie Gendōs Stellvertreter Fuyutsuki durch Kaji entführen lassen, um ihn über Gendōs Absichten zu befragen. Fuyutsuki wird jedoch vorzeitig von Kaji aus der Gefangenschaft von SEELE befreit. Kurz darauf wird Kaji von einer unbekannten Person erschossen.
Asukas Selbstwertgefühl leidet unter der Niederlage gegen den letzten Engel und der Tatsache, dass Shinji sie mit seinen Leistungen als Pilot überflügelt hat. Als sich der 15. Engel nähert, sieht Asuka die Chance, sich den anderen zu beweisen. Durch eine Psychoattacke des Engels, die sie mit ihrer eigenen Unzulänglichkeit konfrontiert, verliert Asuka jedoch den Lebensmut und ist daraufhin nicht mehr in der Lage, EVA-02 zu steuern. Besiegt wird der Engel, der sich im Erdorbit außerhalb der Reichweite konventioneller Waffen befindet, schließlich mithilfe der Longinuslanze, die von Rei in EVA-00 auf ihn geschleudert wird und dann in eine Mondumlaufbahn eintritt. Bei der Longinuslanze handelt es sich um einen riesigen Speer, der bis dahin der unter dem NERV-Hauptquartier ans Kreuz geschlagenen Lilith in der Brust steckte und für SEELEs Pläne von großer Bedeutung ist. Der Angriff des 16. Engels wird von Rei vereitelt, indem sie sich selbst zusammen mit ihm und EVA-00 in die Luft sprengt. Als sie kurz darauf jedoch wieder auftaucht, offenbart die NERV-Wissenschaftlerin Ritsuko Akagi Misato und Shinji, dass Rei ein Klon aus Lilith und Shinjis Mutter Yui ist. Zahlreiche Rei-Klone ohne Seele und Bewusstsein bilden das Herz des Dummy-Plug-Systems oder dienen als Ersatzkörper für das Bewusstsein der einen wahren Rei. Weil sie sich von Gendō Ikari, mit dem sie ein Verhältnis hat, ausgenutzt fühlt, zerstört Ritsuko die verbliebenen Klone.
Bald darauf wird von SEELE das fünfte Kaworu Nagisa als Ersatz für Asuka zu NERV geschickt. Der freundliche, unbefangene und naiv wirkende Kaworu schließt schnell Freundschaft mit Shinji, entpuppt sich jedoch schließlich als der 17. Engel. Er bringt EVA-02 unter seine Kontrolle und dringt mit diesem in die unterste Ebene des NERV-Hauptquartiers ein, wo sich der erste Engel Adam befinden soll, mit dem Kaworu sich vereinigen will. Im sogenannten Terminaldogma angekommen erkennt er jedoch, dass nicht Adam, sondern Lilith dort gefangen gehalten wird. Shinji, der Kaworu mit EVA-01 gefolgt ist, tötet diesen nach langem Zögern auf dessen ausdrücklichen Wunsch, macht sich danach aber schwere Vorwürfe, da er glaubt, Kaworu sei ein besserer Mensch gewesen als er selbst und hätte deshalb überleben sollen. Nach dem Tod des letzten Engels beginnt die Vollendung der Menschheit mit einer Reise durch die Gedankenwelt der unterschiedlichen Charaktere, wobei deren Ängste und psychische Probleme dargestellt werden. Die eigentliche Vollendung wird exemplarisch an Shinjis Geist gezeigt, dem es schließlich gelingt, seine Ängste zu überwinden.
Charaktere
Children
Als Children (dt.: Kinder) werden die Piloten der Evangelion-Einheiten bezeichnet. Der Begriff ist dabei als dem Plural des englischen (dt.: Kind) entlehnter Eigenname zu verstehen, weshalb in der japanischen Originalfassung auch ein einzelner Pilot als Children bezeichnet wird. In der deutschen Synchronisation wird im Gegensatz hierzu die zwar grammatisch korrekte, jedoch nicht originalgetreue Bezeichnung Child verwendet. Im Anime werden auch die Kanji für Children angegeben. Diese bedeuten „qualifizierte Person“. Allen Children ist gemeinsam, dass sie nach dem Second Impact geboren wurden und keine Mutter mehr haben. Des Weiteren werden alle Children und potenziellen Children in einer gemeinsamen Schulklasse unterrichtet.
Shinji Ikari ()
Shinji kapselt sich immer mehr von der Außenwelt ab, seit er nach dem Tod seiner Mutter von einem Lehrer statt von seinem Vater erzogen wird. Mit 14 Jahren ist er ein schüchterner, introvertierter Einzelgänger, der praktisch über keinerlei Selbstvertrauen verfügt und sich im Umgang mit anderen Menschen und sich selbst schwer tut.
Er ist das dritte Child und steuert die EVA-Einheit 01. Hierfür ist er als einziger wirklich geeignet, da sich die Seele seiner Mutter Yui Ikari in dem Evangelion befindet. Obwohl ihm dies zunächst nicht bewusst ist, übernimmt Shinji die Steuerung des EVA, da er um die Anerkennung und Liebe seines Vaters ringt, zu dem er ein zerrüttetes Verhältnis hat. Misato Katsuragi, die die Vormundschaft für Shinji übernimmt, wird ihm bald zur Ersatzmutter und durch den Kampf gegen die Engel gewinnt er zunehmend an Selbstvertrauen. Shinjis Nachname Ikari bedeutet Anker, aber – in anderer Schreibweise – auch Wut oder Hass. Der Vorname stammt von Shinji Higuchi, einem der Gründer von GAINAX.
Rei Ayanami ()
Rei Ayanami ist das erste Child und Pilotin von EVA-Einheit 00. Ihre biographischen Daten wurden gelöscht. Sie ist ein Klon aus Komponenten von Shinjis Mutter Yui Ikari und dem zweiten Engel Lilith und wächst in einem technokratisch kalten Laborraum im GEHIRN-Hauptquartier auf. Zum Zeitpunkt der Handlung lebt sie in einer kahlen und düsteren Wohnung in einem abgelegenen und heruntergekommenen Stadtteil von Neo Tokyo-3. Rei ist noch verschlossener als Shinji. Sie zeigt nur in den seltensten Fällen Emotionen und ihr Gesichtsausdruck wirkt wie versteinert. Wenn sie doch einmal spricht, sind es kurze, lakonische Phrasen mit monotoner und roboterhafter Stimme. Allein Shinjis Vater Gendō gegenüber vermag sie sich zu öffnen.
Ihr Körper ist austauschbar, da weitere Klone als Ersatz zur „Beseelung“ bereitstehen; Rei ist sich dieser Tatsache auch bewusst. Der erste Rei-Klon wird im Alter von vier Jahren von Ritsukos Mutter Naoko Akagi erwürgt, der zweite stirbt bei der Selbstzerstörung von EVA-00.
Der Vorname Rei, der nur in Lautschrift angegeben wird, kann verschiedenes bedeuten: unter anderem Geist (霊), Dankbarkeit (礼), Befehl (令), Kälte (冷) oder auch Null (零). Anno entlieh ihn der Figur Rei Hino aus Sailor Moon mit dem vergeblichen Ziel Kunihiko Ikuhara, der bei dieser Serie als Regisseur mitwirkte, als Mitarbeiter zu gewinnen. Der Nachname Ayanami stammt von einem Zerstörer der japanischen Marine. Ein Charakter wie Rei Ayanami, der seiner ganzen Umwelt gegenüber verschlossen ist und scheinbar keine Gefühle besitzt, ist vor NGE noch in keinem Werk aufgetreten und stellt somit eine völlige Neuschöpfung dar. Nach der Veröffentlichung von Evangelion traten Charaktere mit ähnlichem Aussehen (hellblauen Haaren und roten Augen) und einem zurückgezogenen, unnahbaren und geheimnisvollen Wesen auch in anderen Serien auf, wie Kidō Senkan Nadeshiko (Ruri Hoshino), Gasaraki (Miharu) oder Blue Submarine No.6. Diese Figuren, die nach Rei Ayanami entstanden, werden von Patrick Drazen als impassive waifs (deutsch etwa ungerührte Heimatlose) bezeichnet. Thomas Lamarre nennt Rei die Quintessenz eines „soulful body“.
Asuka Langley Sōryū () / Asuka Langley Shikinami ()
Asuka Langley Sōryū ist gebürtige Deutsche japanischer Abstammung. Ihre Mutter, Kyōko Zeppelin-Sōryū, arbeitet bei der NERV-Zweigstelle 3 in Deutschland. Nach einem fehlgeschlagenen Synchrontest, bei dem sie den Verstand verliert, erkennt sie Asuka nicht mehr und hält eine Puppe für ihre Tochter. Als sie sich bald darauf erhängt, schwört sich Asuka, wegen nichts mehr eine einzige Träne zu vergießen oder sonst eine Schwäche zu zeigen. Stets muss sie sich selbst und allen anderen beweisen, dass sie die Beste ist. Shinji und seine beiden Freunde Tōji und Kensuke werden von ihr gehänselt, wo es nur geht. Asuka verfügt über eine überdurchschnittlich hohe Intelligenz und besitzt im Alter von 14 Jahren bereits einen Hochschulabschluss.
Sōryū und USS Langley sind ein japanischer beziehungsweise US-amerikanischer Flugzeugträger. Langley ist unter anderem der Name mehrerer US-amerikanischer Städte, beispielsweise von Langley (Virginia), wo sich der Sitz der Central Intelligence Agency (CIA) befindet. Der Name Asuka, zurückgehend auf Asuka-kyō, die japanische Hauptstadt des Altertums, wurde der Protagonistin des Manga Chōshōjo Asuka von Shinji Wada entliehen. In der Kinotetralogie Rebuild of Evangelion wurde ihr Nachname in Shikinami geändert, welches der Name eines japanischen Zerstörers – eines Schwesterschiffs der Ayanami – war. Auch Asukas Charakter wurde teilweise verändert.
Weitere Hauptcharaktere
Misato Katsuragi ()
Die 1986 geborene Misato Katsuragi ist die Tochter des Metabiologen Dr. Katsuragi, unter dessen Leitung im Jahr 2000 die Expedition in die Antarktis stattfindet. Die damals 14-jährige Misato, die die Expedition begleitet, überlebt den Second Impact nur, weil ihr Vater sie in eine Rettungskapsel setzt. Zunächst hasst sie ihren Vater, der seine Familie oft allein lässt und nur für seine Arbeit zu leben scheint. Doch nachdem er sein Leben für sie opfert, weiß sie nicht, ob sie ihn nun hassen oder lieben soll. Der Second Impact löst bei ihr eine Psychose aus, sodass sie sich von der Außenwelt abschottet. Erst später öffnet sie sich wieder, besonders gegenüber Ritsuko. Während ihres Studiums hat sie eine stürmische Beziehung mit Kaji, die sie jedoch bald wieder auflöst, da sie in ihm ihren Vater wiederzuerkennen glaubt.
In ihr erwächst ein Hass auf die Engel, der sie dazu veranlasst, taktische Offizierin bei NERV zu werden. Sie ist dabei unmittelbar für die Einsätze der Children und der Evangelions verantwortlich. Misato ist nicht in die wahren Pläne von SEELE und NERV eingeweiht und glaubt, nach dem erfolgreichen Kampf gegen die Engel solle das Leben weitergehen wie vor den Angriffen. Sie übernimmt die Vormundschaft für Shinji und Asuka, die beide bei ihr einziehen. Dies führt aufgrund der sehr unterschiedlichen Mentalitäten zu häufigen Reibereien untereinander. In ihrer Freizeit trinkt Misato viel Alkohol, ist unordentlich und zu Hause ungeniert. Ihren Beruf verrichtet sie dagegen mit feurigem Eifer und höchster Professionalität. Misato trägt häufig recht knappe Bekleidung. Das erfreut zwar Shinjis Mitschüler, ihm selbst ist es jedoch peinlich.
Misato hat ein besonderes Haustier: Den Warmwasserpinguin Pen-Pen (oder Pen²), ein Versuchstier, das sie bei sich aufgenommen hat, als es nicht mehr gebraucht wurde und entsorgt werden sollte. Ihr Nachname stammt von der Katsuragi, einem japanischen Flugzeugträger. Ihr Vorname geht, ebenso wie der von Ryōji Kaji, auf Protagonisten eines Manga von Minako Narita zurück.
Gendō Ikari ()
Gendō Ikari, der vor seiner Heirat mit Yui Ikari den Namen Rokubungi trägt, ist der Vater des dritten Child, Shinji Ikari, und Kommandant von NERV. Nach dem Tod seiner Frau will er zu keinem Menschen mehr, seinen Sohn inbegriffen, tiefer gehende Beziehungen aufbauen und verbirgt deshalb seine Gefühle. Wenn er Entscheidungen trifft, steht dabei allein die Effektivität im Kampf im Vordergrund – selbst Menschenleben haben dahinter zurückzustehen. Er handelt oft nach den Befehlen des SEELE-Komitees, im Laufe der Handlung entstehen jedoch zunehmend Differenzen zwischen ihm und der Organisation. Der Charakter Gendō Ikari ist in Japan nicht sehr beliebt, da er als zu streng empfunden wird. Der Charakter wurde jedoch mit Absicht so gestaltet, da die modernen japanischen Väter „verweichlicht“ seien. Gendōs Geburtsname Rokubungi bedeutet auf Deutsch Sextant.
Evangelions
Die Evangelions, oder kurz EVAs, sind etwa 40 Meter große künstliche Lebensformen von menschlicher Gestalt, die in Neon Genesis Evangelion als Hauptwaffe gegen die Engel eingesetzt werden. Der Name Evangelion für die Kampfeinheiten wurde laut Hideaki Anno gewählt, weil er „kompliziert klingt“.
Bis auf Einheit 01, die aus Lilith geklont wurde, sind alle weiteren EVAs Klone des Engels Adam. Schöpferin der EVAs ist Shinjis Mutter Yui Ikari. Evangelions verfügen über einen schnellen Stoffwechsel und können sich so in kurzer Zeit selbst heilen, wenn nicht mehr als 50 % der Einheit beschädigt sind. Die EVAs sind äußerlich nahezu vollständig von einer schützenden Rüstung aus Titanstahl umgeben, was ihnen ein roboterähnliches Aussehen verleiht. In der Rüstung befindet sich diverse Bewaffnung wie ein Positronengewehr oder das Progressivmesser, dessen Klinge in hochfrequente Schwingungen versetzt wird. Die Titanrüstung dient neben ihrer Schutzfunktion auch dazu, den EVA kontrollieren zu können. Das wichtigste Verteidigungssystem eines Evangelion ist das AT-Feld, das er durch seinen Piloten erhält. „AT-Feld“ (Absolute Terrorfield) ist der technische Begriff für die Kraft der Seele oder Aura, einen starken energetischen Schutzschild, der von EVAs und Engeln gleichermaßen eingesetzt wird.
Der EVA wird über ein Umbilikalkabel, das mit dem Rückenmark verbunden ist, mit elektrischer Energie versorgt. Wegen der Angreifbarkeit dieses Kabels wird versucht, ein S²-Organ in die Evangelions zu integrieren. Ein entsprechender Versuch mit Einheit 04 schlägt jedoch fehl und führt zur Auslöschung der gesamten Forschungseinrichtung. EVA-01 gelangt im Laufe der Serie an ein S²-Organ, indem er während eines Amoklaufs die Energiequelle eines Engels verspeist. Auch bei den Massenproduktionsmodellen 05 bis 13 gelingt der Einbau schließlich. Die Organe basieren auf der Supersolenoid-Theorie (S²-Theorie).
Die Evangelions werden von den Children gesteuert, die sich im befinden, einer länglichen Kapsel, die in den Nacken des EVAs eingeführt wird und deren unteres Ende sich in Herznähe befindet. Das Child trägt einen zum Schutz vor Verletzungen und ein Headset mit zwei Nervenkoppeln, die der Gedankensynchronisation mit dem EVA dienen. Das wichtigste Medium im ist das (dt. etwa „Verbindungskoppelflüssigkeit“), kurz LCL, das der Versorgung des Piloten mit Sauerstoff und der Dämpfung mechanischer Stöße sowie der telepathischen Verbindung zwischen Pilot und Evangelion dient. Es wird aus dem Blut von Lilith gewonnen und auch als Wasser des Lebens bezeichnet. Das LCL ist eine Art Ursuppe, aus der Körper und Seele bestehen. Bei der Aktivierung eines Evangelion nimmt das Child in voller Montur im Platz, das danach mit LCL geflutet wird, um die Synchronisation zu starten. Ein Evangelion kann auch mithilfe eines gesteuert werden. Dabei handelt es sich um ein System, das die Gedankenmuster eines Piloten gespeichert hat und dem EVA damit die Anwesenheit eines menschlichen Piloten vortäuscht. Auf diese Weise kann der EVA ferngesteuert werden, verfügt dabei jedoch nicht über ein AT-Feld.
Evangelion Einheit 00 (, Zerogōki) Bei dem in Japan gebauten Evangelion-Prototyp Einheit 00 handelt es sich um die erste erfolgreich „zum Leben erweckte“ EVA-Einheit, die aus Adam geklont wurde. EVA-00 weist hinsichtlich seiner Funktionstüchtigkeit erhebliche technische Mängel auf. Bei mehreren Testläufen gerät er außer Kontrolle und attackiert dabei Gendō Ikari, Ritsuko Akagi oder seine Pilotin Rei Ayanami.
Evangelion Einheit 01 (, Shogōki) Einheit 01 wurde als Testmodell gebaut und wird von Shinji Ikari gesteuert. Der Evangelion wurde als einziger aus Lilith geklont und ist deshalb von besonderer Bedeutung. Nachdem er sich ein S²-Organ einverleibt hat und damit über eine eigene, unabhängige Energiequelle verfügt, wird er zum zentralen Bestandteil des Plans zur Vollendung der Menschheit im Kinofilm The End of Evangelion. Die Synchronisationsfähigkeit der Einheit mit Shinji wird durch die Seele seiner Mutter Yui Ikari gewährleistet, die während eines missglückten Testlaufs mit dem Evangelion verschmolzen ist.
Evangelion Einheit 02 (, Nigōki) Im Gegensatz zu den Einheiten 00 und 01 ist EVA-02 die erste richtige Produktionseinheit und explizit auf den Kampf mit den Engeln ausgerichtet. Entsprechend ist der Evangelion in der Lage, mit dem gesamten Waffenarsenal umzugehen, was seine Vorgänger noch nicht vermochten. Aufgrund der Mentalität seiner Pilotin und der Tatsache, dass die Einheit für den Plan zur Vollendung der Menschheit nur von untergeordneter Bedeutung ist, kommt EVA-02 bei Kämpfen meist an vorderster Front zum Einsatz. Die Kompatibilität der Einheit mit Asuka Langley Sōryū rührt aus einem missglückten Synchrontest, bei dem ein Teil der Seele ihrer Mutter mit dem Evangelion verschmolzen ist.
Engel
Die im Anime vorkommenden Engel, deren Namen und Eigenschaften teilweise der jüdischen Mythologie entlehnt sind, werden zumeist als riesenhafte Wesen von bis zu mehreren Hundert Metern Länge dargestellt, treten jedoch auch mit geringen Größen bis hinab in den Nanobereich in Erscheinung. Sie bestehen aus einer Materie, die sowohl die Charakteristika von Wellen als auch von Teilchen aufweist und wie „erstarrtes Licht“ wirkt. Diese Materie enthält Strukturen, die zu 99,98 % mit der menschlichen DNS übereinstimmen, womit die Menschen mit den Engeln näher verwandt sind als mit den Schimpansen. Sie sind bis auf Tabris, den 17. Engel, immer von abstrakter Gestalt, bis hin zu bloßen geometrischen Formen. Die Herkunft der Engel wird in der Serie nicht geklärt.
Der erste Engel ist Adam, nach dem biblischen ersten Menschen Adam und dem kabbalistischen Begriff des Adam Kadmon, der Erscheinung Gottes als Schöpfer und Urbild des Menschen, der in Evangelion den Second Impact verursacht. Ihm folgt als zweiter Engel Lilith, nach der jüdischen Mythologie die erste Frau Adams, die in einer Höhle unterhalb Japans gefunden wird. Die weiteren Engel, gegen die gekämpft wird, sind nach ihrem Auftreten durchnummeriert. Der letzte Engel ist Lilim, die Menschheit selbst. Im Talmud sind Lilim die Dämonen, die Lilith gebiert, nachdem sie aus dem Paradies verstoßen wurde. Der im Japanischen für diese Wesen verwendete Begriff Shito () bedeutet auf Deutsch eigentlich Apostel. Die Übersetzung mit dem englischen Begriff , also Engel, war jedoch von Hideaki Anno selbst so gewollt.
Entstehung und Produktion
Produktion
Die Planungen an der Anime-Fernsehserie bei Studio Gainax begannen im Juli 1993, die Produktion dauerte bis 1996. Neben Hideaki Anno als Regisseur, Co-Produzent, Co-Charakterdesigner und Co-Musikschreiber waren Yoshiyuki Sadamoto als Charakterdesigner und Hiroshi Katō als künstlerischer Leiter beteiligt. Regieassistent war Kazuya Tsurumaki, zweiter Drehbuchautor Akio Satsugawa. Ikuto Yamashita war zusammen mit Hideaki Anno für das Mecha-Design verantwortlich. Die Produzenten waren Noriko Kobayashi und Yutaka Sugiyama. Die Animationen wurden teilweise auch vom Studio Production I.G und in Folge 11 vom Studio Ghibli erstellt. An der Produktion waren außerdem Tatsunoko und TV Tokyo beteiligt.
Motivation und Entstehung
Vor der Produktion der Serie war das Studio Gainax in eine schwere Krise geraten. Für das im März 1992 begonnene Projekt Aoki Uru, das als Fortsetzung des Films Wings of Honneamise geplant war, konnten kaum Sponsoren gefunden werden, und das Studio geriet in Geldnot. Als das Projekt im Juli 1992 eingestellt wurde, verließen auch viele Mitarbeiter das Studio, und die Leitung begann, die Ausgaben so weit wie möglich zu kürzen. Im gleichen Monat begann Gainax mit den Planungen zu Neon Genesis Evangelion. Noch während der Produktion von Evangelion spaltete sich im September 1994 die Gruppe von Mitarbeitern um Takami Akai, die am Computerspiel Princess Maker 2 arbeiteten, vom Studio ab und gründete die Firma AKAI.
Hideaki Anno litt in der Zeit bis vor der Produktion der Serie an einer schweren Depression, die auch die Inhalte von NGE beeinflusste. Mit der Idee der neuen Serie fasste er wieder Lebensmut. Aus dem Grundthema von Aoki Uru, „nicht wegzurennen“, entwickelte er das Konzept von Evangelion. Zu Beginn stand bei der Produktion Annos Idee im Vordergrund, durch die Serie die Zahl der Anime-Fans, der Otakus, zu vervielfachen. So wollte er die zu dieser Zeit vorherrschende Isolation der Fans aufbrechen. Die Handlung sollte einen Kampf zwischen den Menschen und Göttern darstellen. Als Hauptcharakter war zunächst ein Mädchen geplant, wie es in vorherigen Produktionen des Studios, zum Beispiel Gunbuster oder Die Macht des Zaubersteins, der Fall war. Dieser Entwurf war der späteren Asuka ähnlich, wurde jedoch verworfen, weil man das Konzept der anderen Serien nicht wiederholen wollte und sich einen Jungen eher als Piloten einer Kampfmaschine vorstellen konnte. Die Idee, dass die toten Mütter der Piloten in den EVAs weiterleben würden, hatte Yoshiyuki Sadamoto nach einer Fernseh-Dokumentation über den A10-Nerv. Durch den frühen Tod der Mütter hätten die Piloten außerdem eine besondere Entwicklung erfahren. Das Verhältnis von Asuka zu Shinji wurde dem von Nadia zu Jean aus Die Macht des Zaubersteins nachempfunden. Rei wurde als Gegensatz zu Asuka entworfen.
Der Handlungsverlauf der Serie war ursprünglich anders geplant, als er später realisiert wurde. In der ersten Folge sollte bereits ein Kampf zwischen Rei und einem Engel gezeigt werden; Shinji sollte erst nach dem Sieg des Engels über Rei eingesetzt werden. Die meisten anderen frühen Folgen entsprechen jedoch in etwa dem zu Beginn geplanten Konzept. Ab Folge 13 wurde die Handlung aber immer weiter abgeändert. Nur Folge 16 entspricht im ersten Teil noch dem ursprünglichen Plan. In der ersten Version des Endes sollte ein Engel vom Mond die Menschheit bedrohen, die UN sich vom Projekt zur Vollendung der Menschheit abwenden und Ritsuko und Gendō als Verteidiger des Projekts verbleiben. Ein Endkampf in einer antiken Ruine „Aluka“ würde die Entscheidung gegen das Projekt bringen, wodurch auch NERV zerstört würde. Das Drehbuch wurde allerdings erst während der Produktion der Serie geschrieben, und deren Ausstrahlung hatte begonnen, als erst einige Folgen fertig produziert waren. So wurde der spätere Handlungsverlauf auch von den Reaktionen der Fans und dem Umdenken Hideaki Annos beeinflusst sowie der Zeitknappheit, die gegen Ende der Serie eintrat. Außerdem wurde das Szenario wegen des Giftgasanschlags der Aum-Sekte verändert, da das ursprünglich Geplante zu dicht an den tatsächlichen Ereignissen war. Anno wollte aber der Serie nicht ihren fiktiven Charakter und damit das Interpretationspotenzial nehmen und änderte die Handlung so, dass die Parallelen zur Realität weniger offensichtlich waren. Jedoch sagte Anno auch, dass hinter den Vorfällen mit der Aum-Sekte und NGE das gleiche gesellschaftliche Problem der Abgrenzung von der Gesellschaft und der Entfremdung stehe.
Ab der 16. Folge, Zwischen Leben und Tod ( / ), veränderte sich die Konzeption der Serie, und die Handlung entfernte sich mehr und mehr vom Originalentwurf. Dies lag darin begründet, dass Hideaki Anno mit den Reaktionen auf die Serie unzufrieden war. Daraufhin änderte sich die Serie in eine kritischere Richtung; es wurden besonders Anime-Fans und ihre Lebensweise kritisiert. Anno wollte zudem durch Gewalt- und Sexszenen ein Verständnis für das wahre Leben vermitteln und die Geschichte so weiterentwickeln. Außerdem sollten die Zuschauer, darunter besonders Kinder, abgehärtet und auf das Leben vorbereitet werden. Dazu kam, dass Hideaki Anno in dieser Zeit begann, Bücher über Psychologie und psychische Krankheiten zu lesen. Davon fasziniert, wollte er zeigen, was im menschlichen Geist vorgeht. Nun wollte Anno mit der Serie auch etwas Neues schaffen und den Anime weiterentwickeln. Laut Regisseur Kazuya Tsurumaki bildet die 16. Folge die Grenze zwischen den beiden Teilen von NGE – der erste, actionreiche Teil der Episode gehöre zum ersten Teil der Serie, der zweite Teil mit Shinjis Selbstgesprächen im Engel sei dem zweiten Teil der Serie zuzuordnen. In der zweiten Hälfte der Produktion nahm auch die Anspannung im Team zu, da man die ursprüngliche Planung ignorierte und dadurch auch Zeit und Geld knapper wurden. So zeigt die weitere Entwicklung der Serie den Zustand des Produktionsteams. Einige der Mitarbeiter wollten aufhören, da es ihnen nicht möglich schien, den Anime in ausreichender Qualität fertigzustellen. Die letzten beiden Folgen wurden dann nicht nach dem ursprünglichen Drehbuch produziert, obwohl einige Szenen der 25. Folge schon fertiggestellt und in der Vorschau gezeigt worden waren. Stattdessen wurden beide Folgen in der verbliebenen Zeit neu konzipiert und produziert.
Hideaki Anno wollte mit der Serie auch das Mecha-Genre und den Anime an sich neu beleben und in eine neue Richtung führen. Seiner Meinung nach wurden in den zehn Jahren zuvor im Bereich der Science-Fiction immer wieder die gleichen Geschichten erzählt. Der Charakter Shinji stellt Annos Aussage nach sein eigenes Ich dar. Jedoch ist dies vor allem symbolisch zu sehen, nicht wörtlich. Hideaki Anno hat, besonders im zweiten Teil, viel von sich selbst eingebracht. Jedoch sagt er auch, dass ihm gerade diese Stellen nicht gefallen.
Konzeption und Stil
Grafischer Stil und Animationstechnik
Rein äußerlich ist die Serie stark beeinflusst von den Mecha-Anime der 70er-Jahre, deren leidenschaftlicher Liebhaber Anno war und ist. In der zweiten Hälfte der Serie wird zunehmend mit Einblendungen von weißem Text vor schwarzem Hintergrund gearbeitet. Dieser Text kommuniziert dabei auch mit den Charakteren, vor allem mit Shinji. Besonders häufig wird diese Technik in den letzten beiden Folgen verwendet. Sie lässt sich auf Jean-Luc Godard zurückführen, der diese Technik ebenfalls verwendete. Im Gegensatz zu den Anime-Filmen Akira und Ghost in the Shell, die ebenfalls zu dieser Zeit herauskamen und den Anime weiterentwickelten, werden in NGE nicht die Bilder detaillierter, um mehr Informationen zu vermitteln. Stattdessen werden schnelle Schnitte verwendet. Jedoch werden in anderen Szenen lange Standbilder verwendet oder nur wenige langsame Bewegungen in eine Richtung gezeigt. Die von Yoshiyuki Sadamoto entworfenen Figuren sind sehr schlank und spitz gezeichnet, weniger rund und niedlich, und verfügen jede schon über leicht unterscheidbare Silhouetten.
Die Serie wurde wie alle Produktionen von Studio Gainax als Limited Animation produziert. Dabei entsteht die Illusion der Bewegung weniger durch die Abfolge vieler verschiedener Einzelbilder, als durch besondere Einstellungen der simulierten Kamera und Rhythmus und Geschwindigkeit der Schnitte. Die Technik ist dabei die Cel-Animation. Dabei verwendet Hideaki Anno häufig die Folientechnik, bei der die Folie mit dem zu bewegenden Teil des Bilds gegen den Hintergrund gekippt wird, um so eine Tiefenwirkung zu erzielen. Im späteren Teil der Serie, insbesondere in den letzten beiden Folgen, werden auch häufig Montagen verwendet, das heißt Abfolgen einfacher Bilder, Texte und übereinander gestapelter Bildfolien (Cels). Die Schnitte sind dabei bewusst zu schnell oder zu langsam gesetzt.
In der Serie werden in einigen Traumsequenzen auch Techniken des abstrakten Animators Norman McLaren verwendet, so das Erzeugen von Bildern durch Kratzen auf dem Filmmaterial oder das Malen der Bilder direkt auf den Film.
Anmerkungen zum Titel
Der japanische Titel Shin Seiki Evangelion besteht aus einem japanischen und einem griechischen Teil. „Shin Seiki“ () bedeutet Neue Ära oder Neues Jahrhundert. Das altgriechische Evangelion (εὐαγγέλιον) heißt gute/frohe Nachricht. Die Entscheidung, die internationale Version Neon Genesis Evangelion (νέον γένεσις εὐαγγέλιον) zu nennen, wurde von Gainax selbst getroffen. Der Titel entspricht dabei nicht gänzlich der altgriechischen Grammatik. Neon bedeutet neu, Genesis Ursprung/Quelle oder Geburt/Herkunft. Es bezeichnet auch das erste Buch der Bibel und der Tora, in dem die Erschaffung der Welt geschildert wird. Euangelion (latinisiert Evangelium) setzt sich aus eu (ευ), gut, und angelos (άγγελος), Botschafter, zusammen. Als Titel war zunächst Alcion (jap. Arushion) vorgesehen, Yoshiyuki Sadamoto setzte aber Evangelion durch. Laut Jonathan Clements wurde damit auch Bezug genommen auf die Verkündung eines neuen Jahrhunderts (Shinseiki sengon) durch die erste Generation von Anime-Fans im Fandom der Serie Gundam 1981, womit Evangelion auch in die Nachfolge der als Klassiker geltenden Serie gestellt wird.
Inhaltliche Einflüsse
Neben der Psychoanalyse haben verschiedene Religionen die Arbeit an Neon Genesis Evangelion beeinflusst. Religiöse Anspielungen, vor allem Begriffe aus dem für Japaner eher exotischen Judentum und Christentum spielen eine zentrale Rolle. Diese sollten aber vor allem dazu dienen, die Serie exotischer und so interessanter zu machen. So beruft sich die Organisation SEELE auf die Schriftrollen von Qumran. In der Verwendung der Sephiroth des Etz Chayyim (Baum des Lebens) und Liliths wird auf Elemente der Kabbalah zurückgegriffen. Die Lanze des Longinus erinnert an den Speer, mit dem ein römischer Soldat die Brust des gekreuzigten Jesus durchstieß. Doch erinnert diese Lanze in ihren Ausmaßen eher an die der japanischen Schöpfungsgötter Izanagi und Izanami, die nach dem shintoistischen Schöpfungsmythos mit diesem Speer das Land erschufen. Laut Patrick Drazen können Shinji, Asuka und Rei auch als Verkörperung der japanischen Gottheiten Susanoo, Uzume und Amaterasu gesehen werden. So handelt Shinji wie Susanoo auf eine Weise, die von seinem Umfeld nicht akzeptiert wird, Asuka ist wie Uzume stolz auf ihren Körper und Rei wird, ähnlich Amaterasu, „wiedergeboren“. Auch andere Religionen finden Verwendung. So besteht die Scheinfirma Marduk-Institut aus 108 Zweigstellen, der Zahl der buddhistischen Verfehlungen. Marduk selbst war die Hauptgottheit der babylonischen Religion. Die Gestalt der Evangelion-Einheiten sei auch einer Gestalt der japanischen Mythologie, dem Oni nachempfunden, der ebenfalls Hörner auf dem Kopf trägt. Doch wurden alle religiösen Zitate nicht wahrheitsgetreu wiedergegeben, sondern verfremdet, wie es die Handlung erforderte.
Des Weiteren wird auf aktuelle und historische Ereignisse Bezug genommen. Der Begriff Second Impact bezieht sich auf den Einschlag eines anderen Himmelskörpers bei der Entstehung des Mondes als First Impact. Zudem bewirkt dieser Einschlag das Abschmelzen der Südpolkappe und eine Erwärmung der Nordhalbkugel, was den Folgen des Treibhauseffekts ähnelt. Die Impacts und die Bedrohung durch die Engel können auch als Abstrahierung der Bedrohung durch die Atombombe verstanden werden. Der Angriff der Engel wiederholt die Ereignisse des Pazifikkriegs aus japanischer Sicht.
Es gibt auch verschiedene Hommagen an Science-Fiction-Klassiker, wie zum Beispiel den Titel der letzten Folge, „“. Das in Katakana geschriebene I wird oft als englisches „I“ interpretiert. Gelesen als „ai“, japanisch für „Liebe“, ist es eine Hommage an „“ (1969) von Harlan Ellison. Die Uniform von Gendō Ikari ist eine Anspielung auf Space Battleship Yamato, eine Animeserie von 1974. Der in der Serie zentrale Begriff Human Instrumentality Project geht auf die Reihe Instrumentality of Man von Cordwainer Smith zurück. Zudem waren Anno und Sadamoto stark beeinflusst vom Mangaka Go Nagai und dessen Serie Devilman sowie Densetsu Kyojin Ideon, aus dem unter anderem das Konzept für NERV und die von Kindern gesteuerten Roboter herrührt. Die Figur Gendō Ikari und sein Untergebener Fuyutsuki basieren auf Commander Ed Straker und Col. Alec Freeman aus der Fernsehserie UFO. Nach Patrick Drazen sind außerdem Einflüsse aus anderen Serien zu erkennen, wie Giant Robo, Jugendliche und Roboter retten die Welt, Three Days of the Condor, politische Intrigen, und Ordinary People, wegen der Darstellung von Shinjis Psyche und der sozialen Probleme. Außerdem habe The Prisoner zur spezifischen Erzählstruktur beigetragen. Die Serie wiederholt mit der psychologischen Handlung zu Ende teilweise auch Elemente der früheren Gainax-Produktion Gunbuster.
Themen
Neben dem vordergründig die Handlung beherrschenden Kampf der Children gegen die Engel werden in der Serie die Angst vor Veränderung und Technologie beziehungsweise die Beziehung zwischen Mensch und Technik, aber auch der Missbrauch von Technik behandelt. Außerdem geht es um das Erwachsenwerden Shinjis und die Identitätssuche, bei dem die EVAs und die Engel für die Aspekte seiner selbst und der Anderen stehen, denen er sich stellen muss. Zudem wird die Eigenschaft von Menschen beleuchtet, sich mit ihrem Charakter von Anderen abzuschotten und sich so selbst Schmerz zuzufügen. Dies wird durch die EVAs dargestellt, die als Rüstungen schützen sollen, die Charaktere aber nicht vor Schaden bewahren können. Dabei werden gescheiterte Erwachsene und durch diese geschädigte Jugendliche gezeigt. Thematisch weist die Serie große Ähnlichkeiten zu Die Macht des Zaubersteins auf, die das Studio und Hideaki Anno zuvor produziert hatten.
Aufbau der Handlung
Der Erzählfluss der Serie wechselt zwischen epischer Erzählung vom Kampf um das Ende der Welt und persönlichen Betrachtungen der Charaktere. Dieses Schema war vermutlich beeinflusst durch Otaku no Video, eine Produktion des Studios in den Jahren zuvor, in der sich eine Geschichte über Fans abwechselte mit Porträts von Fans. Es erlaubt noch intensiver als in Annos Vorgängerserie Die Macht des Zaubersteins die großen Fragen der Menschheit mit kleinen, alltäglichen Konflikten zu verweben.
Da es während der Produktion zu einer Änderung der geplanten Handlung kommt, lässt sich die Serie in zwei Teilen betrachten. Die Erzählgeschwindigkeit der ersten sieben Folgen ist recht hoch, aber gleichbleibend. Während dieser werden die Charaktere von Shinji und Rei sowie auch philosophische Aspekte betrachtet, wie das Stachelschwein-Dilemma Schopenhauers in Folge 4, die auch diesen Namen trägt. Dabei geht es um den Konflikt zwischen dem Bedürfnis der Menschen nach Nähe und den Schmerzen, die diese Nähe verursacht. Darauf folgen einige Episoden mit mehr Humor und Action. Der erste Teil beinhaltet viele humoristische und actionbetonte Szenen, beschäftigt sich aber auch bereits mit den Problemen der vier Charaktere Shinji, Asuka, Rei und Misato, die aufgrund von psychischen Traumata nur schwer Kontakt mit ihrer Außenwelt knüpfen können. Die Folgen vermitteln dennoch eine Botschaft der Erlösung, es wird eine langsame Öffnung der Figuren zu ihrer Umgebung und somit eine Lösung der Probleme vermittelt. Zudem ist der erste Teil der Serie sehr an vorherigen Produktionen orientiert und zitiert viele Anime- und Science-Fiction-Serien. Dabei beinhaltet er damals als typisch angesehene Elemente des Animes, wie viele schöne Mädchen und hochtechnisierte Maschinen, konzentriert diese aber zusätzlich noch und übersteigert sie.
Ab der 16. Folge, Zwischen Leben und Tod, in der Shinji in seiner Pilotenkapsel gefangen ist, ändert Anno die Entwicklung der Handlung. Die folgenden Episoden werden gewalttätiger als die vorherigen, der Humor und besonders die Hoffnung auf Erlösung verschwinden. Die Serie wendet sich von den typischen Elementen des Animes ab und kritisiert zunehmend die Lebensweise insbesondere der Fans. Dabei werden die Erzählformen und Stilmittel der vorherigen Produktionen nicht verworfen, sondern konzentriert und bis an ihre Grenzen getrieben. Dadurch sollte die Identifikation des Publikums mit dem Hauptcharakter unterbunden werden, um so die Fans anzugreifen, die Werke nur dann schätzen können, wenn sie durch Identifikation ihre Gefühle auf die Charaktere projizieren können. Zudem wird im zweiten Teil die Handlung beschleunigt. So stirbt Rei in Folge 23, Rei III – Tränen, innerhalb von nur zwei Minuten. Auch wird nun die Reihenfolge der Ereignisse weniger chronologisch, wenn Rätsel auftauchen, die in der ersten Hälfte bereits gelöst wurden. Zugleich werden viele Ereignisse, wie der Wurf der Longinuslanze und dessen Wirkung, überhaupt nicht mehr erklärt. Zu deren Verständnis ist Wissen nötig, das die Serie nicht vermittelt.
Die letzten beiden Folgen fallen aus der Erscheinung der Serie heraus. Die japanischen Kritiker Eiji Otsuka und Tetsuya Miyazaki beschreiben diese wie eine Gehirnwäsche oder Psychotherapie. Eine fortschreitende Handlung fällt dabei völlig weg. Die Folgen bestehen gänzlich aus Traumsequenzen, in denen Shinji oder andere Charaktere mit sich selbst oder mit anderen sprechen. Dies geschieht häufig vor schwarzem Hintergrund oder auch mit Standbildern früherer Episoden. Ähnlich waren schon kurze Traumszenen in vorherigen Folgen gestaltet. Häufig sitzt einer der Charaktere auf einem Klappstuhl, sieht sich mit einem jüngeren Ich oder vergangenen Begebenheiten konfrontiert. Die Auseinandersetzungen Shinjis, die in der letzten Folge eine tragende Rolle spielen, finden teilweise in einem leeren Theaterraum statt. Die Folgen bieten eine Analyse des Charakters von Shinji Ikari.
Veröffentlichung
Eine Rohfassung der ersten beiden Folgen wurde bereits im Juli 1995 vor 200 Besuchern des Gainax-Festivals gezeigt. Die Erstausstrahlung der 26-teiligen Serie erfolgte in Japan vom 4. Oktober 1995 bis 27. März 1996 auf TV Tokyo. Später folgten Ausstrahlungen auf den Sendern Animax und WOWOW.
In englischer Sprache wurde der Anime in den USA und Großbritannien durch ADV Films und in Australien durch Madman Entertainment veröffentlicht. Die Ausstrahlung dieser Sprachfassung erfolgte unter anderem auf den Sendern Cartoon Network, SciFi-Channel und Special Broadcasting Service. Eine französische Fassung wurde von Dybex veröffentlicht und von den Sendern Canal+ und Mangas ausgestrahlt. Die spanische Übersetzung wurde in Spanien und Lateinamerika im Fernsehen gesendet, MTV Italia zeigte den Anime in italienischer Sprache. Des Weiteren wurde die Serie auf Arabisch, Koreanisch, Polnisch, Portugiesisch, Russisch, Schwedisch und Tagalog übersetzt.
In Deutschland wurde Neon Genesis Evangelion erstmals von OVA Films in japanischer Sprache mit deutschen Untertiteln auf VHS-Kassette veröffentlicht. Im Fernsehen war der Anime zwischen 27. November 2000 und 1. Januar 2001 im Rahmen des dctp-Nachtprogramms auf VOX zum ersten Mal zu sehen. Die Ausstrahlung erfolgte wöchentlich, wobei die 26 Episoden inhaltlich ungekürzt zu sechs Filmen zusammengefasst in Originalsprache mit deutschen Untertiteln gezeigt wurden. Ebenfalls in japanischer Sprache mit Untertiteln erschien die Serie im Mai 2001 bei OVA Films auf drei DVDs in zwei Sammlerboxen. Diese auf jeweils 2999 Exemplare limitierten Boxen unterscheiden sich lediglich durch die abweichende Gestaltung des Covers; der Inhalt ist identisch. Von Dezember 2004 bis Februar 2006 wurde Neon Genesis Evangelion von ADV Films mit deutscher Synchronisation als Platinum Edition auf sieben DVDs herausgebracht. Im Fernsehen wurde diese Fassung ab 10. Juni 2008 durch den Sender Animax zum ersten Mal ausgestrahlt.
Synchronisation
Die Sprecherinnen von Rei und Misato, Megumi Hayashibara und Kotono Mitsuishi, waren bereits vor Evangelion in Japan berühmt, spielten in der Serie jedoch für sie ungewöhnliche Rollen. Die deutsche Synchronisation wurde 2005 für die Veröffentlichung der Platinum Edition von der Deutschen Synchron auf Grundlage der englischen Übersetzung erstellt. 2019 wurde eine zweite deutsche Synchronfassung für Netflix erstellt. Diese zweite Synchronfassung wurde von der postperfect Berlin GmbH produziert. Regie führte Olaf Mierau, die Dialogbücher stammten hierbei aus den Federn von Lydia Hibbeln, Corinna Dorenkamp und Kaze Uzumaki.
Musik
Die Musik besitzt meist klassischen Charakter, was darauf zurückzuführen ist, dass Hideaki Anno Liebhaber klassischer Musik ist. In Episode 24 werden Ausschnitte aus Beethovens 9. Sinfonie gespielt, wobei die Handlung teilweise in Anlehnung an deren Text verläuft. Beispielsweise singt der Chor, als Kaworu das Terminaldogma erreicht: „Und der Cherub steht vor Gott“.
Der Vorspanntitel Zankoku na Tenshi no These (, dt. „These vom grausamen Engel“) wurde von Yōko Takahashi gesungen. Der Abspann ist unterlegt mit Interpretationen des Titels Fly Me to the Moon von Bart Howard. In der Fernsehfassung wurden 14 verschiedene Versionen von Swing bis Techno verwendet, die von Claire Littley, Megumi Hayashibara oder Yōko Takahashi gesungen wurden oder rein instrumental sind. Für die DVD-Fassung der Platinum Edition wurden zusätzlich Interpretationen von Kotono Mitsuishi und Yuko Miyamura verwendet.
Die Version, die auf Netflix ausgestrahlt wird, hat hingegen einen rein instrumentalen Abspann in allen Episoden.
Kinofilme
Filme 1997
Aufgrund zahlreicher Proteste von Fans, die mit dem Ende der Serie unzufrieden waren, wurden unter der Leitung von Hideaki Anno zwei Kinofilme produziert, die ein alternatives Ende der Handlung präsentieren:
Neon Genesis Evangelion: Death & Rebirth
Neon Genesis Evangelion: The End of Evangelion
Daneben existiert noch der Film Revival of Evangelion, bei dem es sich um eine Kombination der beiden vorherigen Kinofilme handelt. Hierfür wurde unter dem Namen Death (true)² eine neue Schnittfassung des ersten Teils von Death & Rebirth erstellt, bei der einige für die ursprüngliche Kinoauswertung neu erstellte Szenen wieder entfernt wurden. Im Anschluss daran folgt das unveränderte The End of Evangelion. Der überarbeitete Film wurde 1998 veröffentlicht und gilt als die endgültige Version der Kinofilme.
Rebuild of Evangelion
Bei Rebuild of Evangelion handelt es sich um eine Neuverfilmung der Fernsehserie in Form von vier Filmen, die unter der Leitung von Hideaki Anno produziert werden. Dabei will man sich nicht zu eng an die bereits etablierte Serie halten, sondern die Handlung zum Teil neu interpretieren und aktualisieren. Dazu zählt auch die Einführung neuer Charaktere oder der vermehrte Einsatz von Computergrafik, der 1995 in dieser Form noch nicht möglich war. Laut Hideaki Anno ist „Evangelion alt, aber seitdem gab es keinen neueren Anime.“ Er will Evangelion einem neuen Publikum nahebringen und eine neue Sicht auf die Welt hervorrufen. Die Drehbücher der Filme schrieb Anno selbst; bei der Regiearbeit assistierten ihm Kazuya Tsurumaki und Masayuki sowie für den dritten Teil zusätzlich noch Mahiro Maeda.
Der erste Film der Reihe war ab 1. September 2007 in den japanischen Kinos zu sehen, der zweite ab 27. Juni 2009 und der dritte ab 17. November 2012.
Evangelion: 1.11 – You Are (Not) Alone. (Evangelion Shin Gekijōban: Jo)
Evangelion: 2.22 – You Can (Not) Advance. (Evangelion Shin Gekijōban: Ha)
Evangelion: 3.33 – You Can (Not) Redo. (Evangelion Shin Gekijōban: Q Quickening)
Evangelion: 3.0+1.01 – Thrice Upon a Time (Shin Evangelion Gekijōban 𝄇)
Das Erscheinungsdatum des vierten und letzten Films wurde mehrfach verschoben. 2012 wurde der Titel als Evangelion 3.0 + 1.0 𝄇 geändert. Das im Titel verwendete Zeichen, 𝄇 (:||), ist ein Wiederholungszeichen in der Musiknotation.
Bis zum 14. Januar 2021 gab die offizielle Website den 23. Januar 2021 für die Veröffentlichung von Evangelion 3.0+1.0 an. Dann wurde in einer Bekanntmachung der Erscheinungstermin auf unbestimmte Zeit verschoben. Am 8. März 2021 kam der Film schließlich in die japanischen Kinos. Am Ende des japanischen Kinodurchgangs dazu in einer überarbeiten Fassung. International ist die verbesserte Fassung am 13. August 2021 auf Prime Video in über 240 Ländern und Territorien erschienen.
Adaptionen
Manga
Basierend auf der Fernsehserie erscheint seit 1995 ein Manga von Yoshiyuki Sadamoto, der die Handlung neu interpretiert. In Deutschland erschien dieser unter dem Titel Neon Genesis Evangelion im Carlsen Verlag. Des Weiteren erschien eine sechsbändige Spin-off-Reihe unter dem Titel Neon Genesis Evangelion – Iron Maiden, die auf dem gleichnamigen Computerspiel basiert und in Deutschland ebenfalls im Carlsen Verlag veröffentlicht wurde.
Auf Grundlage des Computerspiels Shin Seiki Evangerion: Ikari Shinji Ikusei Keikaku () wird in Japan seit 2005 ein gleichnamiger Manga von Osamu Takahashi im Magazin Shōnen Ace veröffentlicht, der bislang zehn Bände umfasst. Seit Dezember 2006 erscheint im Magazin Shōnen Ace ein Manga zum Spiel Meitantei Evangelion. Unter dem Titel Petit Eva: Evangelion@School erschien in Japan von Mai 2007 bis September 2009 ein Manga, der auf der gleichnamigen SD-Figurenreihe basiert. Von Oktober 2007 bis 2009 erschien das Spin-off Petit Eva: Bokura Tanken Dōkōkai. Von August 2007 bis August 2009 erschien in Japan der Manga Shin Seiki Evangelion: Gakuen Datenroku () des Zeichners Min Min im Magazin Asuka (Ausgaben 10/2007 bis 10/2009) des Verlags Kadokawa Shoten. Vom 26. März 2008 bis 26. Dezember 2009 wurden die Kapitel in vier Sammelbänden zusammengefasst.
Realfilm
Auf den Internationalen Filmfestspielen von Cannes 2003 wurden Pläne für einen Realfilm auf Basis der Serie bekannt gegeben, mit einem ursprünglich geplanten Erscheinungsdatum im Jahr 2007. Es handelte sich um eine Kooperation von GAINAX und ADV Films und Weta Workshop. Das Projekt verzögerte sich jedoch immer weiter, bis die ursprünglich vereinbarte Option im Jahr 2010 verfiel. Daraufhin initiierte ADV einen Gerichtsprozess gegen GAINAX.
Bücher
Als Begleitmaterial zu den beiden Kinofilmen wurden in geringer Auflage zwei Hefte veröffentlicht, die Hintergrundinformationen enthalten, die in den Filmen nicht gegeben werden. Das zweite Begleitheft, das bei Aufführungen von The End of Evangelion verkauft wurde, ist aufgrund seines Titelbildes auch als Red Cross Book bekannt. Des Weiteren wurden zwei Artbooks mit den Titeln Der Mond und Die Sterne herausgegeben. Diese tragen auch im Japanischen die deutschsprachigen Titel.
Tonveröffentlichungen
Der Vorspanntitel Zankoku na Tenshi no These von Yōko Takahashi und der Abspanntitel Fly Me to the Moon sind als Singles auf den Markt gekommen. Des Weiteren erschienen 15 Alben mit Hintergrundmusik und fünf Audio-DVDs. 1996 erschien außerdem ein Hörspiel zur Fernsehserie.
Videospiele
Zu Neon Genesis Evangelion erschienen über 20 Spiele für Konsole und PC. Außerdem gibt es zur Serie über 20 von Fans programmierte Computerspiele.
Merchandise
Neben den weiteren Umsetzungen in verschiedenen Medien wurden und werden in Japan verschiedenste Lizenzartikel zu Evangelion veröffentlicht. Dies sind neben Postkarten, Spielzeug, Postern, Schreibwaren und Modellen der Charaktere auch Waschzubehör, Besteck, Geschirr und Kleidung mit Abbildungen aus der Serie oder Kleidungsstücke einzelner Figuren. Darunter zum Beispiel auch ein wie das Prog-Knife der Evangelions geformtes Messer. In verschiedenen Restaurants in Japan wurde für einige Zeit speziell zur Serie konzipiertes Essen angeboten. So gibt es im Cure Maid Café in Tokio LCL-Drinks und Sachiel-Pasta. Zuletzt kam eine von Evangelion inspirierte Modekollektion auf den Markt.
Rezeption und Bedeutung
In Japan
Erfolg und Reaktionen
Der Serie wurde in Japan von Seiten der Zuschauer große Aufmerksamkeit zuteil, mehr als der ebenfalls zu dieser Zeit laufenden erfolgreichen Serie Gundam Wing von Bandai. Dōjinshis zu NGE waren zu der Zeit die beliebtesten auf dem japanischen Markt. Allein in Japan wurden mit Verkäufen der Videos über 800 Millionen und mit Merchandising-Artikeln über 400 Millionen US-Dollar Gewinn gemacht. Die letzte Folge der Serie wurde von über 10 Millionen Menschen gesehen und die Videokassetten verkauften sich jeweils zu 110.000 Stück. Charakterdesigner Yoshiyuki Sadamoto erklärt den Erfolg damit, dass NGE das war, wonach die Menschen suchten. Laut Lawrence Eng lag dies auch an der gut durchdachten Mischung von Genres, die dem Anime eine große Zielgruppe erschloss.
Hideaki Anno wurde nach dem Ende der Serie von Fans angegriffen. Ihm und dem Studio wurde vorgeworfen, die Serie verdorben zu haben. Anno verteidigte das Ende aber und bedauerte, dass die Arbeit des Studios von den Fans nicht anerkannt werde. Es gab zudem Vermutungen, er sei nach dem Ende der Serie selbstmordgefährdet. Infolgedessen war Anno gestresst und lehnte weitere Diskussionen über das Ende ab. Zudem war er enttäuscht, da er die gewünschte Revolutionierung des Animes nicht eintreten sah. Es gab außerdem Vermutungen, dass das Ende zensiert worden sei, was jedoch vom Produktionsteam abgestritten wurde und von Kritikern für unwahrscheinlich gehalten wird.
Nach Ausstrahlung der ersten Hälfte wurde Neon Genesis Evangelion bereits als beste Serie seit Mobile Suit Gundam bezeichnet. Später wurde die Serie von einer Gruppe japanischer Kritiker, darunter Noburo Ishiguro, zu einer der vier Revolutionen des Animes gekürt. Dabei wurde nach den Kriterien Innovation, Einfluss auf das Medium und Erfolg der Serie bewertet. 2006 wurde die Serie in einer Umfrage zum zehnten Japan Media Arts Festival, an der über 80.000 Fans teilnahmen, zum beliebtesten Anime gewählt. Bei einer Umfrage von TV Asahi im Jahr 2006 wurde die Serie zur zweitbeliebtesten Animeserie gewählt.
Interpretationen
Der japanische Kulturkritiker Hiroki Azuma hebt besonders die Gestalten der Engel als Materialisierungen von Angst ohne Ursache hervor, sowie Rei als Verkörperung der Sterilität, Ungeschöntheit und Kälte der modernen Wissenschaft, insbesondere der Labore. Beides bringt er insbesondere mit den Vorfällen um die Aum-Sekte in Zusammenhang, da auch hier die Angst ohne Ursache und Kälte der Wissenschaft eine Rolle spielten. So lege die Serie die verschiedenen sozialen Probleme des damaligen Japans offen. Nach Azuma beinhaltet die zweite Hälfte ein zweites Ereignis, das eine Wiederbelebung des Animes bedeute. Anno habe hier die im ersten Teil geschaffenen Standards bei weitem übertroffen, habe sich dabei jedoch in eine völlig andere Richtung gewandt. In der Serie würde Anno den Anime zugleich zu einem Ende bringen und ihn neu beleben.
Andere Kritiker sehen unter anderem den Konflikt zwischen dem patriarchalischen System von NERV und dem femininen Charakter der EVAs, deren es sich bedient. Ebenso werden die Engel als Vaterfiguren interpretiert, an denen Shinji den Hass auf seinen Vater auslebt. Neben die Identifikation der Evangelions als „Mutter und Selbst“ tritt die Identifikation der Engel als „Vater und Selbst“. Das Schwimmen der Piloten im LCL im Inneren der EVAs wird häufig als Sinnbild für Schwangerschaft und Geburt gesehen; die EVAs werden somit auch als „Mütter“ der Children dargestellt. NGE zeigt zudem die Pilotinnen als stärkere Figuren als den Piloten Shinji und fügt sich damit in einen Trend im Mecha-Anime, der bereits zuvor immer mehr attraktive, weibliche statt männlichen Piloten zeigte.
Die letzten beiden Episoden werden auch sinnbildlich für die Weltflucht gesehen, die oft von Otakus vollzogen wird, zurückgezogenen Animefans oder überhaupt Menschen, die sich von ihrer Umwelt entfremden. Es ist jedoch nicht sicher, ob Anno diese Abgeschiedenheit kritisieren oder unterstützen wollte. Laut Thomas Lamarre sei die Serie insgesamt Annos Versuch einer Kritik an der Otaku-Kultur aus der Innensicht heraus – und eine Kritik an der japanischen Gesellschaft allgemein, die Anno als kindisch und unreif charakterisiert. Ein wichtiges Mittel dabei sei sein ungewöhnlicher und extremer Einsatz von Limited Animation, die in der Fanszene von Animes große Beachtung erfährt. Dies zusammen mit dem unerwarteten Ende breche mit den Erwartungen der Zuschauer und solle ihnen Annos Bild von Otakus vorhalten. Auch sieht Lamarre in der Vielgestalt der inhaltlichen Bezüge zu anderen Werken und Kulturräumen von Shintō bis Kabbala eine narrative Strategie: Die Handlung biete eine so große Zahl an Bezugsrahmen, dass für den Rezipienten völlig unklar werden kann, welcher der wirkliche, gemeinte und tiefere Bedeutung tragende Bezugsrahmen ist. Lamarre sieht dies in Verbindung mit der Animation, die intensiven Gebrauch der Schichtung und Wiederverwendung von Zeichnungsebenen („Layer“ bzw. Cels) macht, sodass sowohl formal als auch inhaltlich ein „superplanar image“ entstehe. Eine ähnliche Art des Zusammenwirkens von Inhalt und Animation sieht Lamarre in den letzten Folgen, die nicht nur eine Demontage der Psyche der Charaktere darstellten, sondern zugleich eine Demontage der Bilder. Den von Anno zunehmend eingesetzten Umgang mit Animation, der die Mittel einfacher Animation immer weiter ausreizt und damit eine eigene Formensprache entwickelt, nennt Lamarre „hyperlimited Animation“. Eine andere Verbindung – auch zu Die Macht des Zaubersteins – sei die Reduzierung der Menschen zu einem Gegenstand der technischen Optimierung bzw. einer Vervollkommnung selbst, Menschen als Ressource oder als Teil eines „Menschenparks“. Lamarre sieht dies symbolisch verkörpert in der Wiederverwendung der Animationsfolien und deren Aufbewahrung in einer Cel-Datenbank, die zugleich dem nach Effizienz ausgerichteten Umgang mit Menschen durch die Informationstechnologie vorgreift. In der Gesamtbetrachtung optimiere Hideaki Anno die Technik der Limited Animation und ihre Aussagekraft immer weiter bis an ihre Grenzen und erforsche auf diese Weise mit der Animation selbst die Beziehung von Mensch und Technik. Dabei werde die Lösung für das Konfliktfeld zwischen Mensch und Technik in der immer weitergehenden Optimierung gesucht. In seiner theoretischen Begründung zu seiner Analyse nimmt er Bezug zu Gilles Deleuzes Theorien zum Film, dem Bewegungs- und dem Zeitbild. Einen anderen wichtigen Aspekt der Serie in Hinsicht auf Deleuze sieht Lamarre in Yoshiyuki Sadamotos Charakterdesign, das den Figuren eine leicht unterscheidbare, eindrucksvolle Persönlichkeit schon von ihrer Erscheinung her gibt, ohne die Geschichte der Figuren zu kennen. Dies gebe den Charakteren auch in Standbildern große Ausdruckskraft, unterstütze so die oft bewegungsarme Animation, und sei eine perfekte Umsetzung von Deleuzes Zeit-Bild. Auch zeige sich im Design und dem Umgang damit der Wandel von Handlung-basierten Franchises zu Charakter-basierten Franchises, wie er von Hiroki Azuma für die vergangenen Jahrzehnte festgestellt wurde.
Auswirkungen und Bedeutung
Einige sehen die Serie als bedeutendsten Wendepunkt in der Geschichte der Anime- und Otaku-Kultur, jedoch ist diese Einschätzung nicht unumstritten. So sieht Tsugata Nobuyuki die Serie zusammen mit Prinzessin Mononoke als wesentliches Werk zu Beginn einer dritten Expansionswelle des Anime in Japan in den 1990er Jahren. Darüber hinaus wird sie als bedeutendstes Werk des Studios Gainax angesehen.
Hideaki Anno wendete verschiedene Techniken aus Neon Genesis Evangelion, wie Montagen mit Bildern und Text, auch in seinen nächsten Werken an. So etwa in der Fernsehserie Kareshi Kanojo no Jijo, bei der er 1998 Regie führte. Dabei fügte er aber auch Bilder aus dem Manga und Super-Deformed-Zeichnungen in seine Montagen ein. Außerdem brachte er diese Techniken in den Realfilm Love and Pop von 1999 mit ein. Der Komponist Shiro Sagisu verwendete Teile seiner Arbeit an Evangelion in der Serie Bayside Shakedown wieder. Für das Studio Gainax, das zuvor in finanziellen Schwierigkeiten und auf Sponsoren angewiesen war, brachte der Erfolg von Evangelion ein stetiges Einkommen aus den Merchandising-Produkten. In Japan wurden verschiedene Bücher veröffentlicht, die Hintergrundinformationen zur Serie liefern, sich mit Architektur und Technik in der Serie befassen oder die Gestaltung und die psychologischen Hintergründe von Neon Genesis Evangelion betrachten. Weiterhin erschienen eine Zahl von offiziellen und inoffiziellen Dōjinshis und Adaptionen anderer Künstler.
Hiroki Azuma beschreibt die Wirkung von NGE als Schock für Animefans wie auch für andere Zuschauer. Dieser stellte sich umso mehr ein, da die Serie nur in begrenztem Umfang beworben wurde und nur eine gewöhnliche Animeserie des Mecha-Genres erwartet wurde. Doch Neon Genesis Evangelion ging über die vorherigen Serien hinaus und wurde mit seinem Ende zu einem großen Ereignis. Hiroki Azuma führte den Erfolg zum einen auf eine qualitativ hochwertige und detailreiche Animation zurück und zum anderen darauf, dass die Serie die verschiedenen sozialen Probleme des damaligen Japans offenlege. Anno verwende in der Serie neue erzählerische Techniken und produziere bleibende Bilder, wie es in Japan seit den frühen 1980er Jahren nicht mehr geschehen sei. Zudem gebe er dem Anime, der laut Azuma in einer inhaltlichen Unergiebigkeit stecke, neue Impulse. Dies gelinge ihm durch die Konzentration dessen, was Animes der vorherigen zehn Jahre ausgemacht habe. Daher bezeichnet er bereits den ersten Teil der Serie als ein Ereignis. Die Qualität des Handlungsaufbaus spreche für eine hohe Geschicktheit Annos als Autor. Laut Azuma kam es mit Neon Genesis Evangelion 1995 zu einer Spaltung der Anime-Industrie. Dabei orientiere sich die eine Richtung an der Realität, die andere produziere mehr fantastische Werke. Auch sei NGE in den zehn Jahren danach nie übertroffen worden. Die Serie führte des Weiteren zu einem größeren Interesse des erwachsenen Publikums an Animes. Die Serie hat viele Zuschauer, die sich zu Beginn der 1990er Jahre vom Medium abgewandt haben, wieder zurückgebracht. Neon Genesis Evangelion führte sowohl zu einem Anime-Boom in Japan, wie auch zum Erfolg späterer, anspruchsvoller und ebenso düster gehaltener Serien wie Serial Experiments Lain, Cowboy Bebop, Blue Submarine No. 6, Kidō Senkan Nadeshiko und Gasaraki. Mit Evangelion wurden die Fernsehserien zum Wachstumsbereich der Anime-Industrie. Außerdem zählte es zu den ersten Serien mit einer bedeutenden Online-Fangemeinschaft, die bereits parallel zu Ausstrahlung aktiv kommentierte und so zum Erfolg von Evangelion beitrug.
Im Jahr 2003 kam es in Japan zu einem Mordfall, bei dem ein 22-Jähriger seine Mutter erschlug. Er begründete dies damit, dass er durch die Serie Neon Genesis Evangelion überzeugt sei, dass „das Ende der Evolution der Untergang“ sei und die Menschen unnütz und für die Zerstörung der Erde verantwortlich wären. Er wollte später weitere Menschen umbringen und wurde 2004 verurteilt.
Zwischen 23. April und 17. Mai 2010 sollte eine Filiale der Convenience-Shop-Handelskette Lawson in Hakone Werbung für die bevorstehende Blu-ray-Veröffentlichung des Films Evangelion:2.22 – You can (not) advance. machen. Das Geschäft wurde hierfür mit einer thematisch zur Serie passenden Dekoration versehen. Bereits im Vorfeld hatte sich diese Meldung weit verbreitet, sodass der an einem abgelegenen Ort in Hakone stehende Laden kurz nach der Öffnung derart belagert wurde, dass es zu zahlreichen Problemen wegen Überfüllung kam. Dies betraf auch den Ort selbst, da die Parkplätze knapp wurden. Die Lawson-Niederlassung musste deshalb zeitweise geschlossen werden.
International
Die Serie war in Nordamerika sehr erfolgreich und ist bis heute in Fankreisen sehr bekannt. Für den Videoverlag AD Vision war sie die erste erfolgreiche Publikation in den USA und ermöglichte weitere Lizenzierungen, für die dann ähnliche Serien ausgewählt wurden. Laut Marvin Gleicher von Manga Entertainment hat die Serie mit der Tradition der Nacherzählung bereits bestehender Geschichten in der Animation gebrochen und so dem Medium neue Möglichkeiten eröffnet. Hideaki Anno hätte so besonders das Mecha-Genre neu belebt und ein eindringliches Bild einer psychologischen Lähmung gezeichnet. Die große Zahl von Fans in Japan und in Amerika belege die Bedeutung des Werkes.
Thomas Lamarre sieht insbesondere in den letzten beiden Folgen der Serie einen avantgardistischen und experimentellen Gebrauch der Möglichkeiten von Limited Animation, die diese auch als eine Kunstbewegung zeigen. Zuvor wurde Limited Animation meist als Ergebnis wirtschaftlicher Zwänge und als billigere Produktionsvariante gesehen. Laut Lamarre führt Anno die Limited Animation an einen Punkt, an der der häufig aufgestellte Gegensatz zwischen Bewegungsbild der Full Animation und Standbild der Limited Animation nicht mehr haltbar ist. Anno besetze so die Animationen anders, sodass sie die räumlichen und zeitlichen Eigenschaften der Bewegung als bildlich-inhaltliche Montage darstellen. Laut Patrick Drazen ist Evangelion die kontroverseste Fernsehserie der 1990er Jahre, die neue Impulse für den Animationsfilm brachte. Die Serie, insbesondere die letzten beiden Folgen, sei auch Ausdruck der Unsicherheit, die in Japan 1995 während der Wirtschaftskrise und nach den Anschlägen der Aum-Sekte herrschte. Der Anime zeige aber auch Hideaki Annos Selbstfindung. Evangelion habe aber für jeden eine andere Bedeutung und biete viel Stoff zum Nachdenken.
Susan J. Napier zählt Neon Genesis Evangelion neben Prinzessin Mononoke und Ghost in the Shell zu den Werken, die nicht nur in Japan ein Bild des intellektuellen Animes prägten und Thema vieler wissenschaftlicher Arbeiten wurden. Die Serie stehe mit anderen Werken für ein Erwachsenwerden des Animes in den 1990er Jahren. Sie bezeichnet Evangelion als außergewöhnlich komplexes Werk, das sich als Dekonstruktion des Mecha-Genres betrachten lasse. Dabei würden die zunächst eingeführten genretypischen Merkmale wie der junge Held, ein böser Feind und eine hochtechnisierte nahe Zukunft im Laufe der Handlung umgekehrt und ließen so den Zuschauer verwirrt zurück. So sei bereits in Shinjis erstem Kampf gegen einen Engel sein Verhältnis zu seinem Mecha ein ungewöhnliches, furchtsames. Der Kampf sei kein visuelles Spektakel, sondern einfach gestaltet, und die Musik dränge sich in den Vordergrund. Shinji verwendet als Waffe keine Hochtechnologie, sondern ein großes Messer. Die letzte Folge habe viele Zuschauer wegen der fehlenden Action und Effekte enttäuscht, biete jedoch eine klassische Psychoanalyse der Hauptfigur Shinji Ikari und eine persönliche, psychische Form der Apokalypse. Während der Serie nähmen die bewegungslosen Szenen eine besondere Bedeutung ein, da sie den psychologischen Teil der Handlung unterstützten. Szenen mit physischer Gewalt seien brutaler als im üblichen Fernseh-Anime.
Laut der Anime Encyclopedia gehört die Serie zu den einflussreichsten und bedeutendsten Animes, erzeugt aber auch die Illusion einer tiefergehenden Bedeutung, die sie unter Umständen gar nicht hat. Der Anime habe wesentlich dazu beigetragen, dass auch in den USA mehr längere Serien veröffentlicht werden und ein Angebot für das Publikum geschaffen wurde, die nach Pokémon nach weiteren Serien verlangte. Bilder und Musikthemen der Serie wurden von der britischen Band Fightstar in ihrem Album Grand Unification von 2005 verwendet.
In Deutschland
In Deutschland gilt Evangelion in Fankreisen als Kultserie und Klassiker, ist darüber hinaus jedoch kaum bekannt. Jedoch konnte die Nachtausstrahlung im Fernsehen von Neon Genesis Evangelion gute Erfolge mit überdurchschnittlich hohen Quoten erzielen. Kritisiert wird häufig die schwankende Bildqualität, die sich zwischen sehr guter Animation und extensivem Einsatz von Standbildern bewege. Das Wichtigste sei jedoch die Handlung, die ein aktives Mitdenken des Zuschauers erfordere, vieles nur andeuten würde und sehr komplex sei. Das Ende ist umstritten; teils wird gelobt, dass es ohne Action auskomme, die Serie abrunde und Raum für Interpretationen lasse. Andere kritisieren, dass Evangelion überfrachtet sei, die Überraschungen und psychologischen Szenen auf Dauer abschreckten und nervten. Für viele Zuschauer sei das Ende unverständlich und ungewöhnlich. Übereinstimmend werden der Serie aber gut ausgearbeitete Charaktere und gute Musik bescheinigt. Auch der Humor käme nicht zu kurz. Die Fachzeitschrift Animania bezeichnet den Anime als „Mischung aus ergreifender Sci-Fi-Story, wegweisenden Animationen und philosophischen Untertönen“.
Einzelnachweise
Literatur
Patrick Drazen: Evangelion; in Anime Explosion! – The What? Why? & Wow! of Japanese Animation. Stone Bridge Press, 2014. (englisch, Überarbeitete und aktualisierte Ausgabe), ISBN 978-1611720136
Susan J. Napier: Anime from Akira to Princess Mononoke: Experiencing Contemporary Japanese Animation. Palgrave, 2001. (englisch)
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Weblinks
Offizielle Seite (japanisch)
Anime News Network über die Serie (englisch)
Evapedia – Fan-Wiki zu Neon Genesis Evangelion
Dystopie im Film
Anime-Fernsehserie
Zeichentrickserie
Science-Fiction-Fernsehserie
Actionfernsehserie
Manga (Werk)
Fernsehserie der 1990er Jahre |
31631 | https://de.wikipedia.org/wiki/Europ%C3%A4ischer%20Maulwurf | Europäischer Maulwurf | Der Europäische Maulwurf (Talpa europaea), häufig auch nur Maulwurf genannt, ist eine Säugetierart aus der Familie der Maulwürfe (Talpidae) innerhalb der Ordnung der Insektenfresser (Eulipotyphla). Er kommt als einziger Vertreter der Gruppe in Mitteleuropa vor, ist darüber hinaus aber auch in Westeuropa und in Osteuropa anzutreffen. In seinem großen Verbreitungsgebiet nutzt er zahlreiche verschiedene Lebensräume, von Waldlandschaften über offene Gebiete bis hin zu Weiden und Parks und teilweise auch städtische Areale. Die Anwesenheit des Europäischen Maulwurfs in einer bestimmten Region ist stark von der Menge seiner genutzten Nahrungsressourcen abhängig. Äußerlich ähnelt der Europäische Maulwurf anderen nahe verwandten Arten. Die Tiere besitzen einen zylindrischen Körper mit kurzem Hals, spitz zulaufendem Kopf und kurzem Schwanz. Markant sind die breiten, schaufelartigen Vordergliedmaßen, die kräftige Krallen tragen. Das Fell hat überwiegend einen dunkelgrauen bis schwarzen Farbton, es kommen aber verschiedene Farbvarianten vor.
Überwiegend lebt der Europäische Maulwurf unterirdisch in selbst gegrabenen Tunneln und Gängen. Sie bilden ein komplexes Netzwerk aus oberflächennahen Bereichen, die zumeist der Nahrungssuche dienen, und tiefer in den Untergrund reichenden Abschnitten. In letzteren befinden sich auch die Schlafnester. An der Oberfläche werden die Ein- und Ausgänge zu den Tunnelsystemen durch charakteristische Auswurfhügel angezeigt, die sogenannten Maulwurfshügel. In Gebieten mit hohem Grundwasserspiegel baut der Europäische Maulwurf große „Burgen“. Die Hauptnahrung der Tiere besteht aus Regenwürmern, darüber hinaus auch aus anderen Wirbellosen bis hin zu kleinen Wirbeltieren. Dabei gibt es gewisse jahreszeitliche Schwankungen, was die Zusammensetzung der Nahrung betrifft. Für den Winter legen sie Vorräte an. Die einzelnen Individuen leben strikt einzelgängerisch, nutzen Reviere und sind innerhalb eines Tages in mehreren Phasen aktiv. Lediglich zur Paarungszeit finden Männchen und Weibchen zusammen. Dafür unternehmen die Männchen teils längere Wanderungen. Der Nachwuchs kommt nach kurzer Tragzeit im Frühjahr zur Welt und wird rund fünf bis sechs Wochen lang aufgezogen. Jungtiere sind aber zumeist erst im Folgejahr fortpflanzungsfähig.
Die wissenschaftliche Einführung des Europäischen Maulwurfs als Art erfolgte im Jahr 1758. Teilweise wurden ihm mehrere weitere Vertreter beigeordnet, die heute als eigenständig angesehen werden. Ungeklärt ist, ob mehrere Unterarten bestehen. Als Fossil ist er seit dem älteren Pleistozän bekannt und tritt, wenn auch in geringer Anzahl, an den verschiedensten Fundstellen auf. Der heutige Gesamtbestand gilt als nicht gefährdet. Lokal steht der Europäische Maulwurf aber teilweise unter Schutz. Durch seine Grabungstätigkeiten übt er einen gewissen Einfluss auf seine unmittelbare Umgebung aus, was Folgen für die Zusammensetzung der Pflanzen- und Tiergemeinschaft haben kann. Er wird dadurch vor allem unter wirtschaftlichen und gärtnerischen Aspekten teilweise als „Schädling“ angesehen.
Merkmale
Habitus
Der Europäische Maulwurf ist ein mittelgroßer Vertreter der Eurasischen Maulwürfe (Talpa). Er erreicht eine Kopf-Rumpf-Länge von 11,3 bis 15,9 cm, der Schwanz wird 2,5 bis 4,0 cm lang. Das Gewicht variiert von 72 bis 128 g. Männchen sind zwischen 26 und 33 % größer als Weibchen. Generell gibt es eine starke regionale Variationsbreite bezüglich der Körpermaße. Tiere in nördlicheren Breitengraden und höheren Berglagen tendieren zu einer geringeren Größe, außerdem führen extrem kalte Winter zu einer stärkeren Selektion kleinerer Individuen. Regional ist die Größe abhängig vom Ertragsreichtum der besiedelten Landschaftsräume sowie jahreszeitlich bedingt. Häufig kommt es im trockenen Sommer zu einer starken Körpergewichtsabnahme, die sich im Herbst und Winter wieder ausgleicht. Wie alle Eurasischen Maulwürfe ist auch der Europäische Maulwurf gut an die unterirdisch grabende Lebensweise angepasst. Der Körper zeigt eine zylindrische Gestalt, der Hals ist kurz und der konisch geformte Kopf mündet in einer spitzen Schnauze. Der kurze Schwanz zieht an der Basis ein, meist wird er aufrecht gehalten. Die breiten Vordergliedmaßen sind kurz, breit und seitwärts orientiert. Alle fünf Finger tragen außerordentliche Krallen, ein zusätzliches sichelförmiges Sesambein vergrößert die Fläche der Hände. Die Hände sind nach außen gedreht und bilden so ein effektives Grabewerkzeug. Dem gegenüber wirken die Hintergliedmaßen, die 1,7 bis 2,8 cm lang werden, eher grazil, die Krallen an den jeweils fünf Zehen zeigen sich deutlich schwächer ausgebildet.
Äußerlich sichtbare Ohren sind nicht vorhanden. Die Augen liegen in einer Lidspalte. Ihre Größe ist stark reduziert, sie haben aber ihre Funktion nicht vollständig eingebüßt. Das weiche Fell, das keinen Strich besitzt und so bei der Fortbewegung in den Gängen und Tunneln keinen Widerstand bietet, ist üblicherweise dunkelgrau bis schwarz gefärbt mit einem leicht helleren Ton auf der Bauchseite. Es treten jedoch bei einzelnen Tieren Farbanomalien auf, die von weißgrau silber über scheckig, creme- und gelbfarben bis hin zu orangefarben und kaffeebraun reichen. Die Haarlänge ist uniform, im Sommer liegt sie bei 7 bis 8 mm, im Winter bei 9 bis 12 mm. Nur am Kopf kommen kürzere Haare vor, wobei das Rhinarium nackt ist. Die Gliedmaßen sind bis auf einzelne steife Vibrissen haarlos, ebenso der Schwanz. Durch Sekretausscheidungen aus Drüsen in der Haut erscheint das Fell in der Brustmitte oft fleckig gelblich-braun. Weibchen haben vier Zitzenpaare, von denen je zwei in der Brust- und in der Lendenregion liegen.
Schädel- und Gebissmerkmale
Der Schädel des Europäischen Maulwurfs wird zwischen 34,0 und 37,3 mm lang sowie am Hirnschädel zwischen 16,4 und 17,8 mm breit. Er ist wie bei den meisten Insektenfressern langgestreckt und flach. In Ansicht von oben verschmälert er sich kontinuierlich nach vorn, in Seitenansicht besitzt er eine Kegelform mit einem abgerundeten Hinterhauptsbereich. Die Jochbögen sind nur schwach entwickelt und verlaufen parallel zueinander. Allgemein ist der Schädel groß, im Vergleich etwa mit dem Iberischen Maulwurf (Talpa occidentalis), dem Römischen Maulwurf (Talpa romana) oder dem Balkan-Maulwurf (Talpa stankovici) zeigt sich das Rostrum eher schmal gestaltet. Seine Breite auf Höhe der Mahlzähne beläuft sich auf 8,7 bis 10,5 mm. Bei ausgewachsenen Individuen bilden das Jochbein und das Tränenbein mit dem Oberkiefer eine Einheit, pränatal können die Knochen noch einzeln identifiziert werden. Eine Besonderheit in der Ontogenese des Europäischen Maulwurfs stellt die verzögerte Verknöcherung der Schädelbasis auf die Zeit nach der Geburt dar.
Der Unterkiefer ist lang und schlank gestaltet, seine Unterkante wölbt sich etwa auf der Mitte des horizontalen Knochenkörpers nach unten aus. Der Kronenfortsatz ragt hoch auf und ist breit. Das Gebiss setzt sich aus 44 Zähnen zusammen, die folgende Zahnformel bilden: . Es hat somit wie bei einigen anderen Maulwürfen die vollständige Zahnanzahl der Plazentatiere bewahrt. Gelegentlich kommt aber Oligodontie vor, so dass überzählige, unterzählige oder miteinander verschmolzene Prämolaren ausgebildet sind. Im Vergleich zum Römischen Maulwurf ist das aber weitaus seltener. Die Position der Zahnanomalie ist nicht genau festgelegt. Bei Tieren aus Brandenburg ließ sich eine häufige Zahnunterzahl im Oberkiefer und eine Zahnüberzahl im Unterkiefer feststellen. Außerdem variiert die Häufigkeit zwischen einzelnen Populationen. In Flandern und Holland betrifft dies fast 8 % aller Individuen, im westlichen Deutschland rund 2,3 % und im östlichen rund 1,5 %. Im westlichen Russland ist Oligodontie hingegen kaum belegt. Die Zähne sind moderat groß. Der obere Eckzahn ist lang und besitzt zwei Wurzeln, der untere hingegen wirkt klein und ähnelt den Schneidezähnen. Dagegen erinnert der vordere untere Prämolar an einen Eckzahn. Bis auf diesen weisen alle anderen Vormahlzähne ebenfalls zwei bis drei Wurzeln auf. Die oberen Molaren haben einen dreieckigen Umriss. An den unteren Mahlzähnen lassen sich ein gut entwickeltes Trigonid und Talonid unterscheiden. Allgemein besitzen die hinteren Backenzähne spitze Höcker und scharfe Schmelzleisten auf den Kauflächen. Charakteristisch am oberen ersten Molar ist das Mesostyl, ein kleiner Höcker zwischen den beiden lippenseitigen Haupthöckern (Paraconus und Metaconus). Es weist nur eine Spitze auf, was mit dem Aquitanien-Maulwurf (Talpa aquitania) übereinstimmt, aber vom Iberischen und Römischen Maulwurf abweicht, bei denen immer zwei Spitzen auftreten. Die obere Zahnreihe wird zwischen 12,3 und 13,8 mm lang, was weniger als 38,6 % der Länge des Schädels entspricht.
Genetische Merkmale
Der diploide Chromosomensatz lautet 2n = 34. Er besteht aus 14 kleinen und großen metazentrischen bis submetazentrischen und zwei subtelozentrischen Autosomenpaaren. Das X-Chromosom ist mittelgroß und metazentrisch. Das vollständige Mitogenom des Europäischen Maulwurfs umfasst 16.884 Basenpaare. Es ist somit etwas geringer als beim Iberischen Maulwurf und etwas umfangreicher als beim Aquitanien-Maulwurf. Alle drei Arten stimmen in ihrem Genom bezüglich Anordnung und Orientierung stark überein.
Verbreitung und Lebensraum
Das Verbreitungsgebiet des Europäischen Maulwurfs umfasst den größten Teil Europas. Es reicht im Westen von Großbritannien (nicht aber Irland) und dem Nordwesten Frankreichs ostwärts über gesamt Mitteleuropa und weite Abschnitte Osteuropas. Im Norden schließt es die südlichen Bereiche von Schweden, Finnland und Karelien mit ein. Die Südgrenze wird im nördlichen Italien und auf der Balkanhalbinsel erreicht. In Asien tritt die Art im nordwestlichsten Kasachstan auf. Die Nord- und Ostgrenze fällt mit den Ausläufern der Taiga und der Steppenwald-Steppen-Übergangszone zusammen. Der nördlichste Nachweis stammt von der Petschora bei etwa 68 Grad nördlicher Breite. Zusätzlich sind die Tiere auf einzelnen Inseln der Ostsee rund um Dänemark (Öland, Fünen, Seeland, Bjørnø, Tåsinge, Tunø, Langeland) und vor der deutschen und polnischen Küste (Rügen, Usedom, Wolin) präsent, ebenso wie auf Inseln rund um Großbritannien (Skye, Mull, Anglesey, Wight und Jersey) und vor der nordfranzösischen Küste (Ouessant, Ré). Die einzige Mittelmeerinsel mit einem Bestand des Europäischen Maulwurfs ist Cres vor der Küste Kroatiens.
Die Tiere bevorzugen gemäßigte Regionen und fehlen in den kaltklimatischen Gebieten Eurasiens ebenso wie in der Kaukasusregion und im Mittelmeerraum (dort kommen allerdings einige nahe verwandte Vertreter der Gattung der Eurasischen Maulwürfe vor). Sie besiedeln eine Vielzahl an unterschiedlichen Lebensräumen, die aber eine mächtige Bodenschicht, tief genug um Gänge und Tunnel anzulegen, mit einem reichhaltigen Nahrungsangebot gemein haben. Generell ist die Anwesenheit des Europäischen Maulwurfs positiv an die regionale Häufigkeit der Regenwürmern gekoppelt. Dadurch meidet er saure Böden, der Grenzwert wird ab einem pH-Wert von 4,5 erreicht, da hier die Dichte an Regenwürmern rapide zurückgeht. Auch stark industrialisierte Regionen mit teils erheblicher Umweltverschmutzung verbunden mit einem Rückgang der Bodengüte werden nicht genutzt. Die Höhenverbreitung umfasst die Bereiche vom Meeresspiegelniveau bis hinauf auf rund 2700 m Höhenlage. Ursprünglich besiedelte der Europäische Maulwurf Laubwaldlandschaften, heute kann er auch auf Weiden, Brachland, in Parks und in Gärten angetroffen werden. Ebenso dringt er in städtische Gebiete vor, wobei hier für eine dauerhafte Ansiedlung Grünflächen mit einem Mindestgebiet von rund 10 ha benötigt werden, während die Dichte der urbanen Besiedlung herum nur eine eher geringe Rolle spielt. Entsprechend verhindern aber zu kleine Grüninseln mit armer Vegetation eine Ansiedlung des Maulwurfs, da einerseits die Dichte an Beutetieren zu gering ist, andererseits Teile der städtischen Infrastruktur wie Straßen und Bordsteinkanten oft unüberwindliche Barrieren darstellen. Seltener kommen die Tiere in Dünengebieten, Nadelwäldern, Birken-Waldgebieten, in Arealen mit geringmächtigen Böden oder steinigem bis felsigem Untergrund und in alpinen Landschaften vor. Die Populationsdichte variiert von 0,2 bis 8,5 Individuen je Hektar.
Lebensweise
Territorial- und Sozialverhalten
Grabetätigkeit und Gangsysteme
Der Europäische Maulwurf verbringt wie alle Eigentlichen Maulwürfe den Großteil seines Lebens in einem selbst gegrabenen, unterirdischen Gangsystem, dessen Tunnel sich sowohl knapp unter der Erdoberfläche als auch bis zu einer Tiefe von 1 m erstrecken können. Für ein umfangreiches Gangsystem sind auf rund einem Quadratmeter Wiesenfläche bis etwa 6 m Tunnellänge dokumentiert. Die Intensität der Grabungsaktivitäten ist abhängig von der Bodenqualität und der Menge der Beutetiere. In ärmeren Böden muss ein Tier mehr graben als in ertragreicheren Untergründen. Die durch die Grabungen äußerlich sichtbaren Auswurfhügel (Maulwurfshügel) spiegeln dadurch nicht unbedingt die Dichte einer Population wider, sondern vielmehr die Güte des Bodens. Unter Umständen können auf einem Hektar Land zwischen 4107 und 21.063 Maulwurfshügel bestehen, die rund 4,3 bis 11,2 % der Erdoberfläche bedecken und 23 bis 63 t an Bodenmaterial enthalten. Innerhalb einer Nacht kann ein Tier in lockerem Boden rund 30 m an Tunneln ausgraben. Der Höhepunkt der Grabungsaktivitäten wird zumeist im Frühjahr und im Herbst erreicht, was teilweise mit der Bodenfeuchtigkeit korreliert. Ansonsten bevorzugt der Europäische Maulwurf die Fortbewegung in existierenden Gangsystemen. In den Tunneln herrschen weitgehend konstante Temperatur- und Feuchtigkeitsbedingungen vor. Die Luftfeuchtigkeit liegt bei 94 bis 100 %, die Temperatur schwankt im Sommer zwischen 10 und 17 °C bei Außentemperaturen von 5,5 bis 31,2 °C. Im Winter betragen die entsprechenden Werte innen −2 bis +1 °C und außen −13 bis +2,5 °C (untersucht im Raum Tübingen). Für das gesamte Jahr ließen sich so Temperaturschwankungen in den Bauen um 20 °C feststellen, während sich die der Außentemperatur auf über 40 °C belaufen.
Die oberflächennahen Gänge dienen hauptsächlich der Nahrungssuche. In Mischwäldern mit blattreichem Untergrund oder bei Schneebedeckung kommt es sogar vor, dass die Gänge durch die Grasnarbe oder oberhalb dieser entlangführen. Der Durchmesser der Tunnel liegt bei 5 cm, was der Körperbreite der Tiere entspricht. In der Regel setzt der Europäische Maulwurf nur eine Hand zum Graben ein und führt zwei bis drei Grabbewegungen durch, bevor er zu der anderen Hand wechselt. Die jeweils nicht zum Graben eingesetzte Hand dient dann als Haken, der den Körper am Boden stabilisiert und die Vorwärtsbewegung ermöglicht. Eine vergleichbare Funktion haben die Hintergliedmaßen, deren Krallen ebenfalls in den Boden gerammt sind. Der Schwanz liegt zumeist auf dem Körper auf, der Kopf blickt in der Regel in die entgegengesetzte Richtung zur Grabhand. Das gelockerte Erdreich wird weitgehend an den Wänden der Tunnel gepresst, so dass hierbei notwendigerweise kein Aushub an die Erdoberfläche gebracht werden muss. Hierfür quetscht ein Tier seinen Körper durch die Gänge, wodurch dieser maßgeblich für die Form der Röhren verantwortlich ist. Bei sehr dicht unter der Grasnarbe liegenden Tunneln können solche Grabungsarbeiten manchmal durch eine leichte Erhöhung des Erdbodens beobachtet werden.
Bei tieferen Gangsystemen handelt es sich zumeist um Wohn-, Schlaf- und Ruheplätze. Ihre Tiefe im Boden hängt unter anderem vom Grundwasserstand und von der Witterung ab, da sie bei Frost deutlich weiter in den Untergrund reichen. Hier befindet sich auch die erweiterte Nestkammer, die mit einem kugelförmigen, zwischen 16 und 20 cm durchmessenden Nest aus trockenem Pflanzenmaterial wie Laub und Gras gepolstert ist. Im Nest herrscht weitgehend eine konstante Temperatur von über 20 °C vor und bietet somit optimale Bedingungen für die Ruhezeit. Meist nutzt ein Tier je einen Nestplatz, Weibchen können aber in der Fortpflanzungsphase mehrere Kammern anlegen. Das oberflächennahe und das tiefere Gangsystem sind durch ein Netzwerk aus Tunneln und Röhren miteinander verbunden. Bei der Anlage der tieferen Gänge ist es einem Tier nicht möglich, das gelockerte Erdreich an den Wänden zu verfestigen. Es muss demnach an die Erdoberfläche gebracht werden, wodurch die charakteristischen Auswurfhügel entstehen. Zum Graben setzt der Europäische Maulwurf die Hände wie bei den oberflächennahen Tunneln alternierend in bis zu fünf Grabbewegungen ein, während die nicht-grabende Vordergliedmaße als Widerhaken fungiert. Das lockere Erdreich wird allerdings mit kräftigen Schlägen nach hinten befördert und mit den Hinterbeinen weggestoßen, wobei der jeweils auf der gleichen Körperseite liegende Fuß wie die aktuelle Grabhand zum Einsatz kommt. Der andere Fuß unterstützt wiederum die Körperstabilität. Nachdem eine gewisse Menge an Erdreich hinter einem Tier angesammelt ist, wechselt es durch seitliches oder überschlagendes Rollen die Richtung und drückt abwechselnd mit den Vorderbeinen die Erde portionsweise den Gang nach oben. Hier kann unterstützend auch der Kopf eingesetzt werden, wodurch ein Individuum als eine Art Planierraupe wirkt. Zuletzt befördert der Europäische Maulwurf das Aushubmaterial an die Erdoberfläche, wofür er zuvor einen Ausgang angelegt haben muss. Typische Maulwurfshügel haben Durchmesser von 30 bis 50 cm, sind bis zu 15 cm hoch und umfassen 1,5 bis hin zu 7,5 kg an Erdmaterial. Innerhalb von eineinhalb Stunden kann ein einzelnes Individuum bis zu vier solcher Hügel anlegen. In frischem Zustand bestehen sie aus einzelnen Erdsäulen, die durch den Transport durch die Gänge entstehen. Solche Säulen können bei einem Durchmesser von 5 bis 6 cm zwischen 10 und 40 cm lang sein, was wiederum einem Gewicht von 200 bis 800 g entspricht. Demnach presst ein einzelnes Tier beim Graben das zehn- bis zwölffache seines eigenen Körpergewichts durch die Gänge und an die Erdoberfläche.
Eine Besonderheit stellen extrem große Maulwurfshügel dar, die „Burgen“ oder „Sumpf-“ beziehungsweise „Winterburgen“ genannt werden. Sie entstehen in sumpfigem Gelände oder in Gebieten, die stärker von Überflutungen heimgesucht werden und wo es dem Europäischen Maulwurf nicht möglich ist, unterirdische Gänge anzulegen. Die „Burgen“ haben Durchmesser von bis zu 140 cm, sind rund 70 cm hoch und bestehen aus bis zu 50 kg Erdmaterial. Im Innern besteht ein komplexes Gangsystem, das auch Nestkammern enthält. Die große Menge an bewegtem Bodenmaterial sorgt hierbei für die notwendige Wärmeisolierung.
Aktivitäten
Wie viele andere unterirdisch lebende Säugetiere hat der Europäische Maulwurf keinen ausgeprägten Tag-Nacht-Rhythmus. Die Aktivität ist in drei Wach- und Schlafphasen aufgeteilt, die Wachphasen sind meist vormittags, nachmittags und gegen Mitternacht mit einer Dauer von jeweils etwa vier bis fünf Stunden. Nach Untersuchungen der Aktivitäten des Europäischen Maulwurfs im Frühjahr und bezogen auf einen 24-Stunden-Tag verbringt ein Tier zwischen 46 und 50 % seiner Zeit ruhend im Nest oder in den Gängen. Die aktive Phase wird gefüllt mit Grabungstätigkeiten (10 bis 23 %) und Umherwandern beziehungsweise Nahrungssuche (29 bis 40 %). Männliche Individuen graben dabei aber in einem wesentlich geringeren Umfang und sind länger unterwegs als die Weibchen. Während eines Acht-Stunden anhaltenden Schlaf-Wach-Zyklus nutzt ein Tier rund ein Drittel seines Gangsystems und sucht regelmäßig sein Nest auf. Bei Muttertieren erfolgt dies bis zu sechs Mal täglich. Männchen in der Paarungszeit hingegen kehren dann auch über mehrere Tage nicht zurück. Die überwundenen Distanzen belaufen sich auf 27 bis 171 m. Jungtiere auf der Suche nach eigenen Aktionsräumen legen aber mit bis 760 m deutlich größere Entfernungen zurück.
Die Wanderungen und Nahrungssuche erfolgen sowohl unterirdisch als auch oberirdisch. Intensität und Dauer werden von der Verteilung der Nahrungsbeute im Boden bestimmt. Oberirdische Aktivitäten sind abseits der Nahrungssuche eher sporadischer Natur und lassen sich am häufigsten bei Jungtieren beobachten, die das mütterliche Nest verlassen, oder können auf extreme Bodenverhältnisse wie Dürrephasen zurückgeführt werden. Allerdings ist der Europäische Maulwurf auch ein guter Kletterer und vermag zu schwimmen, letzteres auch im Winter. Generell hält der Europäische Maulwurf keinen Winterschlaf, sondern ist auch während der kälteren Jahreszeit aktiv. Er verlegt dann bei stärkerem Frost seine Tätigkeiten in tiefer gelegene Bodenschichten. Bei Überschwemmungen sucht er höher gelegenes Terrain auf und beginnt unmittelbar erneut zu graben.
Bei seinen Wanderungen und Aktivitäten vermag der Europäische Maulwurf auf erlernte Erfahrungen zurückzugreifen. Experimenten zufolge sind Erinnerungen über den Verlauf bestimmter Gangsysteme auch nach rund sechs Wochen noch abrufbar. Unterstützend zur Orientierung im Raum kommt die Befähigung, hell und dunkel zu unterscheiden, womit der Europäische Maulwurf nicht vollständig blind ist.
Soziale Organisation
Wie die meisten Insektenfresser ist der Europäische Maulwurf ein Einzelgänger, der außerhalb der Paarungszeit den Kontakt zu Artgenossen meidet. Zudem lebt er streng territorial. Gemäß Untersuchungen an Tieren aus Schottland beansprucht ein Tier ein Territorium von durchschnittlich 2060 m² bei Männchen und 2072 m² bei Weibchen. Das Revier der weiblichen Tiere bleibt über das Jahr stabil, bei männlichen kann dieses in der Fortpflanzungsphase auf bis zu 6040 m² anwachsen. Randlich kommt es dabei zu Überschneidungen, die jedoch bei Individuen gleichen Geschlechts geringer ausfallen. Im Schnitt beträgt die Überlappung 12,8 %. Die Gänge und die Nester werden mit Sekreten aus den Afterdrüsen markiert, um eindringende Artgenossen aufmerksam zu machen. In der Regel wird ein anderes Individuum bis zu einer Entfernung von 6 m toleriert. Zur Vermeidung von Konfrontationen gehen die Tiere unter anderem bei sich überlappenden Revierbereichen zu unterschiedlichen Zeiten auf Nahrungssuche. Kämpfe sind allgemein von eher seltener Natur und finden manchmal während der Paarungszeit zwischen den Männchen statt. Diese werden dann beißend und mit den Vorderbeinen schlagend ausgetragen, begleitet von einem lauten Zwitschern. Ausgewachsene Individuen mit einem etablierten Revier gehen zumeist nicht auf umfangreiche Wanderschaft. Ausnahmen bilden hierbei Männchen in der Paarungszeit auf der Suche nach einer Partnerin, worin sich der Europäische Maulwurf beispielsweise vom Römischen Maulwurf unterscheidet, bei dem männliche Individuen überwiegend mit unmittelbar benachbarten weiblichen kopulieren. Aufgelassene Territorien werden in der Regel relativ schnell neu besetzt.
Ernährung
Die Hauptnahrung des Europäischen Maulwurfs besteht aus Regenwürmern und deren Kokons. In verschiedenen Studien im Schottland und im südlichen Polen wurden in 85 bis 100 % der analysierten Magenreste Hinweise auf Regenwürmer gefunden. Andere Bestandteile der Nahrung umfassen verschiedenste Insekten wie Blatthornkäfer, Schnellkäfer, Langbeinfliegen, Schnaken, Haarmücken, Tanzfliegen, Eulenfalter und Laufkäfer. Hierbei fressen die Tiere bevorzugt die Larven. Hinzu kommen auch die ausgewachsenen Individuen von Hundertfüßern und Weichtieren. Tiere in menschlicher Gefangenschaft fraßen neben Regenwürmern zusätzlich Mehlwürmer, Maden und junge Mäuse. Die Zusammensetzung der Nahrung ist weder von Alter noch Geschlecht abhängig. Dagegen gibt es leichte jahreszeitliche Schwankungen im Anteil der Regenwürmer, der im Winter höher und im Sommer niedriger ist. Dementsprechend fällt und steigt der Anteil der Insekten, hier besonders der der Schnaken. Häufig vertilgt der Europäische Maulwurf kleinere Regenwürmer zuerst, was vor allem an Tieren in Gefangenschaft beobachtet wurde. Hierbei verschlingt er Regenwürmer bis 8 cm Körperlänge vollständig, nur größere zerbeißt er. Die Regenwürmer werden überwiegend mit dem Kopfende zuerst verspeist und der Mageninhalt vor allem bei den größeren Individuen ausgedrückt.
Hauptsächlich vor den Wintermonaten lagert der Europäische Maulwurf Regenwürmer in seinem Tunnelsystem an. Einige derartiger Vorratskammern können aus bis zu 790 Regenwürmern mit einem Gesamtgewicht von 1,5 kg bestehen, was einer Nahrungsmenge für mehr als drei Wochen entspricht. Der Anteil an Insektenlarven ist dem gegenüber sehr gering. Bei der Lagerung beißt der Europäische Maulwurf den Regenwürmern die vorderen drei bis fünf Körpersegmente ab, wodurch diese betäubt werden. Teilweise enthalten die Nahrungslager verhältnismäßig häufiger Individuen größerer Regenwurmarten aus den Gattungen Octolasium und Lumbricus als sie prozentual in der Umgebung vorkommen, was für eine Nahrungsselektion spricht und die Bevorzugung kleinerer Regenwürmer reflektiert. Die Lager werden im Herbst angelegt und sind mit den Nestkammern und mitunter auch mit den „Burgen“ verbunden. Sie befinden sich sowohl an den Tunnelwänden als auch in einzelnen speziell gegrabenen Kammern.
Ein männlicher Europäischer Maulwurf von rund 108 g Körpergewicht benötigt täglich zwischen 75 und 91 g Nahrung, ein weiblicher von 85 g Körpergewicht zum Vergleich 67 bis 89 g. Im Verhältnis nimmt so ein männliches Individuum täglich rund 73,5 % seines eigenen Körpergewichts an Nahrung auf, ein weibliches rund 88,6 %. Dabei können bei einem Fressvorgang bis zu 50 g Nahrung vertilgt werden. Im Durchschnitt fasst der Magen aber nur rund 5,4 bis 6,7 g an Speiseresten. Wasser trinkt der Europäische Maulwurf regelmäßig. Ausnahmen kommen bei einem hauptsächlichen Verzehr von Regenwürmern vor, da diese zu 85 % Wasser enthalten.
Fortpflanzung
Die Paarungszeit fällt beim Europäischen Maulwurf in den Frühling (meist in die Monate Februar bis April). Sie kann in südlicheren Breiten früher beginnen als in nördlicheren. In einigen Regionen wie im Ural wurden auch zwei Würfe im Jahr verzeichnet, wobei der zweite dann im Sommer oder Herbst erfolgt. Der Östrus der Weibchen währt nur kurz, insgesamt 24 Stunden. Während der sexuell aktiven Phase vergrößern sich die Hoden der Männchen deutlich von durchschnittlich 116 mg auf rund 280 bis 320 mg. Ebenfalls erhöht sich der Testosterongehalt, der aber teilweise auch nach der frühjährlichen Fortpflanzungsphase auf einem höheren Niveau bleibt und so möglicherweise der zweiten Paarungsperiode dient. Ein auffälliges Merkmal der Weibchen sind ihre als Zwitterdrüsen ausgebildeten Geschlechtsorgane, wodurch sie funktional Hermaphroditen darstellen, vergleichbar wie es beim Iberischen Maulwurf (Talpa occidentalis) bekannt ist. Ihre Eierstöcke schwellen ebenfalls während der Fortpflanzungsphase an, in der sexuell inaktiven Periode nimmt der Hodenanteil erheblich zu bei einem gleichzeitigen Anstieg des Testosterongehaltes.
Weibchen tragen zwischen einem und neun Embryonen aus, je nach Population können es zwischen zwei und fünf (Deutschland) oder durchschnittlich sechs (Belarus) sein. Teilweise werden aber 6 bis 25 % der Embryonen resorbiert. Die Wachstumsrate der Embryonen ist relativ konstant, ihre Länge beträgt nach rund 13 Tagen etwa 3,6 mm, nach 15 Tagen etwa 6,6 mm. Nach rund 18 Tagen werden 10 mm Länge überschritten, dann bilden sich auch die ersten Haarfollikel aus. Eine Verknöcherung setzt mit 20 Tagen ein, während zwei Tage später bei einer durchschnittlichen Länge von 20,4 mm die Augenlider verwachsen. Eine Länge von 31 mm ist nach rund 26 Tagen erreicht, es bilden sich nun taktile Haare an den Lippen aus. Die Embryonalentwicklung ist vergleichbar zum Iberischen Maulwurf, verläuft beim Europäischen Maulwurf aber vor allem in der Endphase schneller, was möglicherweise mit seinen durchschnittlich größeren Körperausmaßen zusammenhängt.
Nach einer rund vierwöchigen Tragzeit bringt das Weibchen in der Zeit von Ende April bis Anfang Juni den Nachwuchs zur Welt. Die Wurfgröße liegt bei zwei bis sieben, häufig drei bis fünf Individuen. Die Jungen sind anfangs nackt und blind. Sie wiegen 3,2 bis 3,5 g und sind rund 4 cm lang. Sie verbleiben die erste Zeit im Nest. Nach rund 22 Tagen öffnen sich die Augen, die Jungtiere sind dann durchschnittlich 11,9 cm lang. Die Saugphase nimmt vier bis fünf Wochen in Anspruch. Während dieser Zeit frisst das Weibchen deutlich mehr Nahrung. Im Alter von rund 33 Tagen verlässt der Nachwuchs erstmals das Nest, sucht sich aber spätestens nach sechs Wochen ein eigenes Revier. Die Geschlechtsreife tritt erst im Folgejahr ein.
Die Mortalität der Jungtiere ist relativ hoch. In den Niederlanden überleben nur rund ein Drittel die ersten anderthalb Jahre, in Russland nur ein Siebentel. In stabilen Populationen bleibt die jährliche Todesrate mit 50 bis 60 % relativ konstant. Problematisch sind kalte Winter, während der die Mortalität stark ansteigen kann. In einer Population in Schottland betrug der Anteil an Jungtieren rund 39 %, 31 % aller Fälle stellten Individuen dar, die gerade ihre Geschlechtsreife erreicht hatten, während 22 % der Tiere rund 28 Monate alt waren. Individuen älter als 40 Monate traten hingegen selten auf, ihr Anteil betrug rund 7 %. Als relativ vergleichbar erwies sich eine Population aus dem südlichen Polen mit rund 46 % Jungtieren, 27 % Individuen in der beginnenden Geschlechtsreife, 14 % ausgewachsenen Tieren und 13 % älter als 36 Monate. Die maximale Lebenserwartung liegt bei sieben Jahren.
Fressfeinde und Parasiten
Zu den Fressfeinden zählen Vögel, darunter Eulen wie der Waldkauz und Greifvögel wie der Mäusebussard, des Weiteren auch Rabenvögel und Weißstörche sowie Raubtiere, etwa der Rotfuchs und Marderarten, wie zum Beispiel der Hermelin. Untergeordnet treten auch Wildschweine in Erscheinung. Haushunde beißen Maulwürfe gelegentlich tot, fressen sie aber nicht. Manchmal werden Maulwürfe zudem von Hauskatzen erbeutet. Die größte Gefahr, Opfer eines Prädatoren zu werden, besteht für den Europäischen Maulwurf bei seinen Ausflügen an die Erdoberfläche. Häufig betroffen sind hier Jungtiere, die gerade ihr mütterliches Nest verlassen haben. Nach einer Studie aus Cornwall starben fast 82 % aller untersuchten Maulwürfe durch traumatische Ereignisse infolge des Einwirkens von Beutegreifern.
Es sind zahlreiche Parasiten bekannt, die den Europäischen Maulwurf als Wirt nutzen. Hierzu gehören vor allem innere Parasiten wie Saugwürmer, Bandwürmer, Fadenwürmer und Kratzwürmer. Insgesamt sind Vertreter von gut drei Dutzend Gattungen dokumentiert. Unter den Saugwürmern kommen Formen wie Ityogonimus und Combesia exklusiv an Maulwürfen vor. Die umfangreichste Gruppe bilden die Fadenwürmer. Auch hier sind einige Angehörige belegt, die speziell nur an Maulwürfen parasitieren, so Capillaria, Tricholinstowia und Trichuris, sie bewohnen hauptsächlich den Darmtrakt. Andere Fadenwürmer wie Soboliphyme und Spirura befallen den Magen. Ältere Individuen fungieren teilweise als Träger von Protozoen, so etwa Toxoplasma und Eimeria. Die Nachweise sind meist aber sehr gering. An äußeren Parasiten konnten unter anderem Flöhe festgestellt werden. Recht häufig sind Gattungen wie Hystrichopsylla, Palaeopsylla und Ctenophthalmus, seltener wiederum Rhadinopsylla, Megabothris und Paraceras. Milben können regelmäßig in den Nestern angetroffen werden. Eine Studie an 210 Nestern des Europäischen Maulwurfs aus verschiedenen Regionen Polens dokumentierte Milben in insgesamt 174 Fällen. Besonders zahlreich tritt hier die Gattung Phaulodiaspis auf, daneben ließen sich auch Olodiscus, Oodinychus, Nenteria und Uropoda belegen. Die Anwesenheit der Milben wird stark von der Materialbeschaffenheit der Nester und ihrer Tiefe im Erdreich beeinflusst. So suchen Milben durchschnittlich häufiger Nester aus Gräsern auf als solche aus Blättern oder gemischtem Material, ebenso sind tiefer liegende Nester stärker betroffen. Hinzu kommen Zecken, beispielsweise Ixodes, Hirstionyssus und Demodex.
Ökologische Bedeutung
Insbesondere durch seine Grabungsaktivitäten hat der Europäische Maulwurf einen großen Einfluss auf die lokalen Landschaftsgebiete. Seine bodenwühlenden Aktivitäten verursachen Veränderungen in der Bodenstruktur, die sich wiederum auf die örtliche Pflanzen- und Tiergemeinschaft auswirken. Die Anlage von Maulwurfshügeln und Ähnlichem durchbricht beispielsweise in offenen Graslandgebieten wie Wiesen und Weiden die meist einheitliche Pflanzendecke und ermöglicht so konkurrenzschwachen und stärker lichtabhängigen Pflanzenarten eine Entfaltung, wodurch sich wiederum die Heterogenität und Diversität sowie die Produktivität eines Biotops erhöhen kann. Unter landwirtschaftlichen Aspekten bedeutet dies allerdings oft eine Qualitätsminderung, die mit Problemen bei der Mahd, Ausbreitung von „Unkräutern“ und einer schlechteren Heu- und Silagebildung einhergeht. Die durch die Maulwurfshügel bedingte höhere Vielfältigkeit in der Vegetationsgemeinschaft zieht wiederum Änderungen in der Faunenzusammensetzung nach sich. So bevorzugt unter anderem der Kleine Feuerfalter Bereiche mit Offenboden und hoher Präsenz von Wiesen-Sauerampfer zur Eiablage. Der Wiesen-Sauerampfer, eine der Hauptnahrungspflanzen der Raupe des Schmetterlings, gedeiht wiederum häufig in der Umgebung von Störstellen in der Vegetationsdecke, wie sie Maulwurfshügel darstellen. Ein vergleichbarer Zusammenhang wurde zwischen Maulwurfshügeln, dem Kleinen Odermennig und dem Kleinen Würfel-Dickkopffalter festgestellt. Mitunter zeigen in waldreichen Landschaften Pilze aus der Gattung der Fälblinge Gangsysteme des Europäischen Maulwurfs an, da diese bevorzugt auf den nahe gelegenen Latrinen gedeihen. Aufgelassene Baue werden zudem von zahlreichen anderen Tieren nachgenutzt. Hierbei suchen sie etwa Schutz vor Fressfeinden, profitieren von den besonderen klimatischen Bedingungen oder gehen auf Nahrungssuche beziehungsweise versorgen den eigenen Nachwuchs. Neben Säugetieren wie der Wald- und Zwergspitzmaus oder der Rötelmaus gehören Amphibien wie die Erd- und Knoblauchkröte sowie der Moorfrosch zu den Nutznießern, ebenso wie zahlreiche Wirbellose. Aufgrund dieses Einflusses, den die Aktivitäten des Europäischen Maulwurfs hervorrufen, wird er teilweise als ecosystem engineer („Ökosystem-Ingenieur“) eingestuft.
Systematik
Für Talpa streetorum liegen bisher keine genetischen Daten vor
Der Europäische Maulwurf ist eine Art aus der Gattung der Eurasischen Maulwürfe (Talpa), die rund 15 weitere Formen enthält. Es handelt sich um den prominentesten Vertreter der Gattung mit einem der größten bekannten Verbreitungsgebiete, das einen Großteil Europas umspannt. Die übrigen Vertreter kommen weitgehend im Mittelmeerraum sowie im nördlichen und westlichen Asien vor. Die Eurasischen Maulwürfe werden zusammen mit einigen anderen Gattungen ost- und südostasiatische Herkunft zur Tribus der Eigentlichen Maulwürfe (Talpini) gezählt. Diese ist wiederum Teil der Familie der Maulwürfe (Talpidae). Die Tribus vereint die zumeist grabenden Vertreter der Maulwürfe. Andere Angehörige der Familie leben dem gegenüber nur teilweise unterirdisch, bewegen sich oberirdisch fort oder sind an eine semi-aquatische Lebensweise angepasst.
Die wissenschaftliche Erstbeschreibung des Europäischen Maulwurfs erfolgte im Jahr 1758 durch Carl von Linné im Rahmen der zehnten Auflage seines Werkes Systema Naturae. Als Quellen gab er neben dem Thesaurus von Albert Seba aus dem Jahr 1734 auch seine eigene, zwölf Jahre später verlegte Abhandlung Fauna Svecica an. Das typische Vorkommen wies Linné lediglich mit „Europa“ aus. Oldfield Thomas begrenzte dies im Jahr 1911 auf Uppsala in Südschweden. Spätere Autoren wie John R. Ellerman und Terence C. S. Morrison-Scott korrigierten dies 1951 zu Ängelholm bei Kristianstad, ebenfalls im südlichen Schweden. Letztere Angabe wird heute häufig übernommen. In seinem Systema Naturae stellte Linné den Europäischen Maulwurf unter der Bezeichnung Talpa europaea einem Talpa asiatica gegenüber, dessen Verbreitungsgebiet er mit „Sibirien“ angab. Beide Arten trennte er unter anderem anhand der Anzahl der Fingerstrahlen und der Ausprägung des Schwanzes voneinander. Bei „Talpa asiatica“ handelt es sich um den Kap-Goldmull (Chrysochloris asiatica) aus der Gruppe der Goldmulle, eine gleichfalls unterirdisch lebende, aber mit den Maulwürfen nicht verwandte Säugetiergruppe, die in Afrika heimisch ist.
Der Europäische Maulwurf bildet die Nominatform der Gattung der Eurasischen Maulwürfe. In ihm wurden im Laufe der Forschungsgeschichte zahlreiche andere Gattungsvertreter eingeschlossen, so etwa der Römische Maulwurf (Talpa romana), der Balkan-Maulwurf (Talpa stankovici), der Kaukasische Maulwurf (Talpa caucasica) oder der Ognev-Maulwurf (Talpa ognevi). Die meisten dieser Formen weisen abweichend vom Europäischen Maulwurf eine die Augen überdeckende Hautfalte auf und besitzen zudem ein typisch caecoidal aufgebautes Kreuzbein (die Öffnung des Foramens am vierten Kreuzbeinwirbel ist nach hinten gerichtet). Letzteres ist beim Europäischen Maulwurf hingegen europaeoidal gestaltet (die Öffnung des Foramens am vierten Kreuzbeinwirbel ist durch eine Knochenbrücke überdeckt). In diesem Merkmal finden sich stärkere Übereinstimmungen zum Iberischen Maulwurf (Talpa occidentalis). Auch hinsichtlich der Allozyme ergaben sich Unterschiede zwischen den einzelnen Formen, so dass bereits im Jahr 1987 Zweifel an diesen Zuweisungen bestanden. Studien am Schädel des Europäischen Maulwurfs von Individuen aus dem gesamten Verbreitungsgebiet, durchgeführt in den 1990er Jahren, zeigten eine hohe Variationsbreite mit klinalen Veränderungen, die zumeist geographisch und klimatisch erklärt wurden. Diese starke Variabilität konnte später auch durch molekulargenetische Untersuchungen bestätigt werden. So deckten genetische Studien aus den Jahren 2014 und 2015 innerhalb der Art des Europäischen Maulwurfs drei jeweils monophyletische Linien auf. Von diesen umfasste eine den eigentlichen Europäischen Maulwurf in West-, Zentral-, Ost- und Südeuropa. Eine weitere Linie bestand aus der Population im Norden der Apenninen-Halbinsel, während die dritte Tiere im Norden der Iberischen Halbinsel einschloss. Die letztgenannte Gruppe wurde im Jahr 2015 vom Europäischen Maulwurf abgetrennt und mit dem Aquitanien-Maulwurf (Talpa aquitania) als eigenständige Art erstbeschrieben. Für erstere besteht die Möglichkeit, dass es sich ebenfalls um eine eigenständige Art handelt.
Weitergehende genetische Untersuchungen konnten vor allem in den 2010er Jahren die Verwandtschaftsverhältnisse der Eurasischen Maulwürfe zueinander stärker klären. Hierbei ist innerhalb der Gattung Talpa eine westliche Klade um den Europäischen Maulwurf, den Blindmaulwurf (Talpa caeca) und den Levantinischen Maulwurf (Talpa levantis) von einer östlichen Gruppe um den Kaukasischen Maulwurf abzutrennen. Beide Linien haben sich wenigstens seit dem Übergang vom Miozän zum Pliozän vor rund 6 bis 5 Millionen Jahren eigenständig entwickelt. Die westliche Klade zeigt wiederum verschiedene Entwicklungslinien, innerhalb derer eine nähere Verwandtschaft zwischen dem Europäischen und dem Iberischen Maulwurf besteht, zuzüglich des Aquitanien-Maulwurfs. Die Trennung der beiden erstgenannten datiert in den Übergang vom Pliozän zum Unterpleistozän vor etwa 2,8 Millionen Jahren zurück, ihr genetischer Abstand beträgt über 8 %. Der Aquitanien-Maulwurf dagegen setzte sich vor rund 2,4 Millionen Jahren von der Linie des Iberischen Maulwurfs ab. In das unmittelbare Verwandtschaftsumfeld des Europäischen Maulwurfs gehört auch der seit dem Jahr 2018 als eigenständige Art geführte Martino-Maulwurf (Talpa martinorum) vom südöstlichen Balkan-Gebiet.
Bezüglich der Variabilität des Europäischen Maulwurfs bestehen Unklarheiten einer weiteren Differenzierung in Unterarten. Im Laufe der Forschungsgeschichte wurden zahlreiche Formvarianten eingeführt, von denen eine unterschiedliche Anzahl als Unterarten anerkannt wurden. Georg H. W. Stein beispielsweise unterschied im Jahr 1960 bis zu sieben Unterarten, wobei hier auch Vertreter eingeschlossen waren, die heute als eigenständig gelten wie der Kaukasische Maulwurf. Den eigentlichen Europäischen Maulwurf differenzierte er anhand der Breite des Rostrums stärker. Dadurch trennte er die breitschnauzige Form T. e. frisius aus dem östlichen von der schmalschnauzigen Form T. e. cinerea aus dem westlichen Europa ab. Die Nominatform T. e. europaea beschränkte er auf Südschweden. Nach Don E. Wilson und DeeAnn M. Reeder ist jedoch T. e. frisius als synonym zu T. e. europaea aufzufassen. Beide Autoren führten im Jahr 2005 in ihren Übersichtswerk Mammal Species of the World insgesamt drei Unterarten:
T. e. cinerea Gmelin, 1788
T. e. europaea Linnaeus, 1756
T. e. velessiensis Petrov, 1941
Da in Hinsicht der Aufteilung des Europäischen Maulwurfs in Unterarten noch Forschungsbedarf besteht, stufte Boris Kryštufek im Jahr 2018 im achten Band des Standardwerkes Handbook of the Mammals of the World, das sich mit insektenfressenden Säugetieren beschäftigt, die Art als monotypisch ein.
Stammesgeschichte
Die heutigen Vertreter der Eurasischen Maulwürfe sind eher selten im Fossilbericht nachweisbar. Im Vergleich dazu tritt der Europäische Maulwurf jedoch relativ regelmäßig an pleistozänen und frühholozänen Fundstellen auf. Unter Umständen täuscht die gute Erkennbarkeit der robusten Knochen der Art ein verhältnismäßig häufiges Vorkommen gegenüber anderen wühlenden Kleinsäugetieren vor. Im älteren Pleistozän finden sich zwei Größenvariationen an Maulwürfen. Von denen wird die kleinere mit Talpa minor bezeichnet und teilweise mit dem Blindmaulwurf (Talpa caeca) in Verbindung gebracht. Anhand der Zahnmerkmale zweifeln aber einige Autoren diese Verwandtschaftsbeziehung an. Die Art verschwand im Mittelpleistozän aus der Fossilgemeinschaft. Die größere Form wird wahlweise mit Talpa fossilis und Talpa europaea assoziiert. Erstere Bezeichnung stammt als Talpa vulgaris fossilis von Salamon János Petényi aus dem Jahr 1864 und wurde von ihm anhand von Funden aus Beremend im heutigen Ungarn geprägt. Petényi fand dabei nur wenige Unterschiede zum heutigen Europäischen Maulwurf und wies sie daher als Unterart aus (Talpa vulgaris ist ein Synonym von Talpa europaea). Allerdings hatte bereits 1848 Auguste Pomel den Namen für verschiedene Fossilreste aus Höhlenfundstellen des Pleistozäns in Europa verwendet, die ihn stark an den Europäischen Maulwurf erinnerten. Nachfolgende Autoren sahen vor allem im 20. Jahrhundert Talpa fossilis als zeitlich von Talpa europaea abzusetzende Art an (Chronospecies). Dies führte dazu, dass hauptsächlich mittelpleistozäne Funde wahlweise einer der beiden Formen zugewiesen wurden, so etwa aus Hundsheim in Österreich, aber auch an Fundstellen aus Ungarn oder von der Apenninen-Halbinsel. Andere Lokalitäten, von denen Reste von Talpa europaea berichtet wurden, sind unter anderem mit Schöningen in Niedersachsen und Petersbuch in Bayern belegt. Eine Analyse aus dem Jahr 2015, die mehr als 110 Oberarmknochen von Talpa fossilis und Talpa europaea aus verschiedenen Fundstellen in Ungarn und Deutschland einbezog, kommt zu dem Schluss, dass beide als eigenständige Arten aufgefasst werden können.
Im ausgehenden Mittelpleistozän im Übergang zum Jungpleistozän kam in Europa dann weitgehend nur der Europäische Maulwurf vor. Genannt werden können unter anderem Neumark-Nord im Geiseltal in Sachsen-Anhalt und der Travertin von Weimar-Ehringsdorf in Thüringen. Stellvertretend für den Beginn des Jungpleistozäns steht hier die Kleinsäugerfauna aus einer Schlottenfüllung des Travertins von Bad Cannstatt in Stuttgart. Die Funde jener Zeit stimmen in den Ausmaßen weitgehend mit dem heutigen Europäischen Maulwurf überein. Im Ausklang der letzten Kaltzeit kam es zu einer bemerkenswerten Größenzunahme beim Europäischen Maulwurf. Ersichtlich wird dies unter anderem an den Fundstellen Gönnersdorf und Kettig, beide liegen im Neuwieder Becken in Rheinland-Pfalz und datieren in die Alleröd-Wärmeschwankung. Die hier aufgefundenen Maulwurfsreste bestehend aus Zähnen und Gliedmaßenknochen übertreffen in ihren Maßen jene des Europäischen Maulwurfs deutlich. Mitunter werden sie der Unterart T. e. magna zugewiesen, die einige Wissenschaftler in der Vergangenheit auch als eigenständige Art einstuften. Die Artabtrennung stieß weitgehend auf Ablehnung, da vermittelnde Übergangsformen dokumentiert sind. Die Tiere jener Zeit waren ausgesprochene Offenlandbewohner. Unklar ist, was die Größenveränderung verursachte. Zu Beginn des Holozäns tritt dann wieder der Europäische Maulwurf in seiner heutigen Größe auf, der Übergang erfolgte jedoch räumlich in unterschiedlichen Zeitphasen. Auch aus dieser Zeit liegen (sub-)fossile Reste des Europäischen Maulwurfs vor, so etwa aus der mesolithischen Siedlung von Bedburg-Königshoven in Nordrhein-Westfalen, hier mit verschiedenen Unterkiefern, von denen einzelne oligodonte Merkmale tragen.
Europäischer Maulwurf und Mensch
Konflikte
Konflikte zwischen dem Menschen und dem Europäischen Maulwurf basieren vorwiegend auf der Grabetätigkeit der Tiere. Obwohl sie reine Fleischfresser sind und keine pflanzliche Nahrung verzehren, kann ihre grabende Lebensweise Pflanzenwurzeln beeinträchtigen. Die Hügel und Tunnel führen manchmal zur Beschädigung von Mäh- und Erntegeräten. In anderen Fällen ist der Europäische Maulwurf nur indirekt beteiligt, da seine Gänge und Tunnel anderen, Schäden verursachenden Tieren einen leichteren Zugang ermöglichen, so beispielsweise der Ostschermaus oder der Feldmaus. Vielfach sind es jedoch rein optische Gründe, die den Europäischen Maulwurf als „störend“ wirken lassen, wie etwa bei Garten-, Park- und Sport- beziehungsweise Vergnügungsanlagen.
Auch kam es wegen der unterschiedlichen Beurteilung der Nahrungsart und -menge des Europäischen Maulwurfs in früheren Jahrzehnten zu heftigen Kontroversen über seine vermeintliche „Schädlichkeit“ (Regenwurmvernichter) oder „Nützlichkeit“ (Drahtwurmvertilger). Unter anderem hat Alfred Brehm in seinem Werk Brehms Tierleben in der Ausgabe von 1927 mit einzelnen Aussagen zum Europäischen Maulwurf als „im Verhältnis zu seiner Größe […] wahrhaft furchtbares Raubtier“ zu seinem schlechten Ruf beigetragen. Johann Peter Hebel dagegen erklärte bereits 1811 den Lesern des Rheinländischen Hausfreundes: „Wenn ihr also den Maulwurf recht fleißig verfolgt, und mit Stumpf und Stiel vertilgen wollt, so thut ihr euch selbst den grösten Schaden und den Engerlingen den grösten Gefallen.“
Aufgrund der weitläufigen Einschätzung des Europäischen Maulwurfs als „Schädling“ wurde und wird er vielfach bekämpft. In der Vergangenheit kamen Gifte wie Strychnin zum Einsatz, heute erfolgt dies überwiegend mittels Tierfallen (meist Klapp- oder Springfallen). Hierbei sterben die Tiere Untersuchungen zufolge aber häufig an Blutungen, was nicht mit dem Übereinkommen über internationale humane Fangnormen (Agreement on International Humane Trapping Standards – AIHTS) übereinstimmt. Neben diesen tödlichen Methoden gibt es auch verschiedene Ansätze einer Vergrämung mit ökologischen Mitteln. Hierzu gehören unter anderem eine olfaktorische oder akustische Abwehr. Weitere Ansätze bestehen in einer künstlichen Versauerung der Böden, die zu einer Abwanderung der Regenwürmer und somit einer lokalen Bestandsreduzierung des Europäischen Maulwurfs führen.
Kulturelle Einflüsse
Innerhalb der menschlichen Kultur hinterließ der Europäische Maulwurf verschiedentlich Spuren. Bereits im Jahr 1874 verfasste Wilhelm Busch sein Bildergedicht Der Maulwurf, das innerhalb der Sammlung Dideldum! erschien. In diesem ließ er den Gärtner Knoll einen Kampf mit einem Maulwurf austragen. Dabei zerstört Knoll einen Teil seines Gartens, bevor er das Tier letztendlich tötet. Internationale Bekanntheit erlangte auch die Zeichentrickserie Der kleine Maulwurf (Krteček). Die Figur wurde im Jahr 1956 vom tschechischen Zeichner Zdeněk Miler ersonnen. Sie erlebte kurz darauf ihr erstes Abenteuer, dem in den folgenden fast fünf Dekaden zahlreiche weitere folgen sollten. Auch das Kinderbuch Vom kleinen Maulwurf, der wissen wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat von Werner Holzwarth und Wolf Erlbruch von 1989 wurde ein internationaler Bestseller.
Darüber hinaus ist die Bezeichnung „Maulwurf“ in der Alltagssprache teils negativ konnotiert. Der Europäische Maulwurf findet sich als Wappentier einiger europäischer Ortschaften, etwa der französischen Gemeinde Gonnehem.
Bedrohung und Schutz
Der Europäische Maulwurf als Art ist weit verbreitet und in begünstigten Lebensräumen relativ häufig mit einer stabilen Population anzutreffen. Die IUCN listet ihn daher in seinem Gesamtbestand als „nicht gefährdet“ (least concern). Größere Bedrohungen sind nicht bekannt. Lokal kann der Europäische Maulwurf durch seine Kategorisierung als „Schädling“ aber in Bedrängnis geraten. Früher wurden die Tiere zudem wegen ihres Felles gejagt, was hauptsächlich in den nördlichen Bereichen seines Verbreitungsgebietes vorkam. Allein im Jahr 1906 wurden rund eine Million Maulwurfsfelle in London gehandelt und in den 1920er Jahren jährlich rund zwei Millionen in die USA exportiert. In der ehemaligen Sowjetunion gelangten in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre jährlich zwischen zwanzig und dreißig Millionen Felle auf den Markt. Die Zahlen gingen in den 1970er Jahren zurück, heute ist diese Praxis weitgehend nicht mehr üblich. Die Art ist in zahlreichen Schutzgebieten präsent. Darüber hinausgehende Schutzmaßnahmen werden von der Umweltschutzorganisation nicht für erforderlich erachtet.
Lokal bestehen andere Einstufungen. In Deutschland sind generell (mit Ausnahmen) alle heimischen Arten der Säugetiere nach Anlage 1 der Bundesartenschutzverordnung besonders geschützt – und somit auch der Europäische Maulwurf. Daher verbietet es § 44 des Bundesnaturschutzgesetzes (BNatschG) diesen Tieren nachzustellen, sie zu fangen, zu verletzen oder zu töten. Einzig die Vergrämung ist erlaubt. In der Roten Liste des Bundesamtes für Naturschutz geht die Behörde gegenwärtig (Stand 2020) davon aus, dass der Europäische Maulwurf ungefährdet ist, wenn auch ein Bestandsrückgang zu verzeichnen ist. In Österreich untersagen § 6 des Bundesgesetzes über den Schutz der Tiere (Tierschutzgesetz – TSchG) Abs. 1 und § 222 Abs. 3 des Strafgesetzbuches das Töten von Wirbeltieren ohne vernünftigen Grund, so dass hier nur in besonderen Fällen eine Tötung erlaubt ist. Auch nach § 5 des Tierschutzgesetzes ist es nicht gestattet, „einem Tier ungerechtfertigt Schmerzen, Leiden oder Schäden zuzufügen oder es in schwere Angst zu versetzen“. In der Schweiz verbietet das Tierschutzgesetz (TSchG) grundsätzlich das Zufügen von Schmerzen und Leiden bei einem Tier.
Im Jahr 2020 wurde der Europäische Maulwurf sowohl in Deutschland durch die Deutsche Wildtier Stiftung als auch in Österreich vom Naturschutzbund Österreich als Tier des Jahres ausgewählt.
Haltung in Zoos
Der Europäische Maulwurf wird selten in Zoos gehalten. Europaweit gab es in rund einem halben Dutzend Ländern Zoobestände. Ehemalige deutsche Halter sind Zoos in Osnabrück, Dresden und Köthen.
Literatur
Boris Kryštufek und Masaharu Motokawa: Talpidae (Moles, Desmans, Star-nosed Moles and Shrew Moles). In: Don E. Wilson und Russell A. Mittermeier (Hrsg.): Handbook of the Mammals of the World. Volume 8: Insectivores, Sloths, Colugos. Lynx Edicions, Barcelona 2018, S. 552–620 (S. 613–614) ISBN 978-84-16728-08-4
Ronald M. Nowak: Walker’s Mammals of the World. 2 Bände. 6. Auflage. The Johns Hopkins University Press, Baltimore MD 1999, ISBN 0-8018-5789-9.
Don E. Wilson und DeeAnn M. Reeder (Hrsg.): Mammal Species of the World. A taxonomic and geographic Reference. 2 Bände. 3. Auflage. The Johns Hopkins University Press, Baltimore MD 2005, ISBN 0-8018-8221-4
Günter R. Witte: Der Maulwurf. Talpa europaea. Die Neue Brehm-Bücherei Band 637, Westarp Wissenschaften, Magdeburg 1997, ISBN 3-89432-870-3
Einzelnachweise
Weblinks
Maulwürfe |
32284 | https://de.wikipedia.org/wiki/Atari%20400 | Atari 400 | Der Atari 400 ist ein auf dem 6502-Mikroprozessor basierender Heimcomputer des US-amerikanischen Herstellers Atari, Inc.
Der Atari 400 wurde ab Ende 1979 in Nordamerika zunächst nur im Versandhandel angeboten und massiv als preiswertes Einsteigergerät zum Spielen und Lernen beworben. Durch diverse von Atari angestoßene Kooperationen im Bildungssektor, die Veröffentlichung von Spiele-Kassenschlagern wie Star Raiders und den Ausbau des Atari-Händlernetzes gelang es, die Bekanntheit kontinuierlich zu steigern. Verkaufsfördernd hinzu kam die ab Mitte 1981 vollzogene Expansion nach Europa, die schließlich in der bis Ende 1982 währenden internationalen Marktführerschaft Ataris gipfelte.
Durch den Misserfolg seines Anfang 1983 parallel eingeführten Computermodells Atari 1200XL und den seinen Höhepunkt erreichenden Preiskrieg mit anderen Herstellern verlor Atari binnen eines Jahres wieder viele seiner Marktanteile hauptsächlich an Commodore. Etwa zeitgleich mit Ankündigung des Nachfolgemodells Atari 600XL stellte man Mitte 1983 die Produktion des Atari 400 ein. Bis etwa Anfang 1985 währende Lagerverkäufe miteingerechnet, wurden von den beiden Computermodellen Atari 400 und 800 insgesamt etwa zwei Millionen Einheiten verkauft.
Bereits kurz nach der Markteinführung galt der Atari 400 als wegweisend in der Heimcomputergeschichte: Er habe durch seine auf Benutzerfreundlichkeit ausgelegte Konstruktion und die robuste Verarbeitung auch völlig unerfahrenen Benutzern einen leichten Einstieg in die bis dahin eher Spezialisten vorbehaltene Computertechnik eröffnet.
Geschichte
Noch während der letzten Entwicklungsphase für die Videospielekonsole Atari 2600 begann Atari Anfang 1977 mit den Planungsarbeiten für ein Nachfolgemodell. Die Bemühungen der Ingenieure konzentrierten sich dabei hauptsächlich auf die Erweiterung der Grafikfähigkeiten des im Atari 2600 verbauten hochintegrierten Spezialschaltkreises Television Interface Adapter (TIA). Die Verbesserungen versprachen komplexere und grafisch ausgereiftere Spiele bei gleichzeitig verringertem Entwicklungsaufwand.
Entwicklung und Prototypen
Ein früher, noch handverdrahteter Prototyp des Alphanumeric Television Interface Controller (ANTIC) wurde der Firmenleitung von Atari kurz darauf vorgestellt. Anschließende Machbarkeitsstudien zu möglichen Kombinationen des neuen Spezialbausteins mit weiteren elektronischen Baugruppen zeigten rasch über den Einsatz in einer reinen Spielkonsole hinausgehende Potentiale auf. So schien eine integrierte Tastatur für Programmierzwecke und die Ansteuerung externer Geräte beispielsweise zum Datentransfer sowohl technisch als auch ökonomisch möglich.
Ein modularer Aufbau und die Fähigkeit zur Programmierung waren zum damaligen Zeitpunkt lediglich den in Wirtschaft und Forschung eingesetzten teuren Computern von IBM oder DEC und mit deutlichen Abstrichen den wesentlich günstigeren Heimcomputern wie Altair 8800, TRS-80, PET 2001 und Apple II vorbehalten. Insbesondere letztere krankten jedoch an der Umständlichkeit ihrer Bedienung, der Unzuverlässigkeit der Technik und im Vergleich zu Spielkonsolen der damals neuesten Generation immer noch an der Höhe der Anschaffungskosten. Technisch wenig versierte, jedoch elektronischer Datenverarbeitung gegenüber aufgeschlossene Interessengruppen mit schmalem Geldbeutel blieben so außen vor. Diese Zielgruppe im Auge, verwarfen die Verantwortlichen von Atari rasch die ursprünglichen Pläne für eine auf dem ANTIC basierende neue Spielekonsole zugunsten eines eigenen, preisgünstigen und konzeptionell neuartigen Heimcomputers. Die Benutzung hatte einfach und sicher auch für Anfänger zu sein und das Gerät musste ohne technische Detailkenntnisse des Anwenders mit handelsüblichen Fernsehern betrieben werden können. Daneben sollte die Möglichkeit zum schnellen und bequemen Laden von Spielen und Anwendungsprogrammen ähnlich den von Spielekonsolen bekannten Steckmodulen vorhanden sein.
Neben der angestrebten leichten Bedienbarkeit spielten insbesondere niedrige Herstellungskosten des zu entwickelnden Gerätes eine große Rolle; die zunächst geforderte Kompatibilität mit Spielen der Atari-VCS-2600-Konsole verwarfen die Verantwortlichen bereits nach kurzer Zeit. Die daraufhin von den Hauptentwicklern vorgelegten technischen Eckpunkte des neuen Systems wurden von der Firmenleitung im August 1977 für gut befunden und weitere finanzielle Mittel auch zur Aufstockung des Entwicklungspersonals zur Verfügung gestellt. Damit einhergehend erhielt das Heimcomputerprojekt den firmeninternen Codenamen Colleen.
Mit fortschreitendem Stand der Arbeiten entschieden sich die Verantwortlichen, die Entwicklung zweier unterschiedlicher Ausbaustufen des Heimcomputers zu verfolgen: ein anwendungsorientiertes Gerät mit Schreibmaschinentastatur und Möglichkeiten zur Erweiterung und eine stark abgerüstete Variante hauptsächlich für Zwecke der Unterhaltung. Die Entwicklungsarbeiten für die zweite Variante, die Entertainment Machine, wurde im November in ein separates Projekt mit dem Namen Candy ausgegliedert.
Projekt Candy
Erste Entwürfe beschränkten die Technik des Geräts auf das Ausführen von steckmodulbasierten Spielen mithilfe von Joysticks und griffen damit die ursprüngliche Idee einer reinen Spielekonsole wieder auf. Eine Realisierungsstudie vom November 1977 sah keinerlei Schnittstellen für Peripheriegeräte und Erweiterungsmöglichkeiten wie beim Projekt Colleen vor. Selbst der Einbau einer Tastatur wurde zunächst in Frage gestellt. Erst als letzte Arbeiten am ANTIC bis Januar 1978 abgeschlossen worden waren und sich die weiteren Bemühungen auf die Fertigstellung der Spezialbausteine Color Television Interface Adapter (CTIA) und Potentiometer and Keyboard Integrated Circuit (POKEY) konzentrierten, einigte man sich schließlich auf die Integration einer seriellen Schnittstelle für externe Peripherie sowie einer Tastatur. Der Einbau dieser Bestandteile war unter anderem der Bedienbarkeit komplexer Spiele und dem zwischenzeitlich angepeilten zusätzlichen Einsatzgebiet als Lerncomputer geschuldet. Insbesondere in Hinblick auf die dabei anvisierte Zielgruppe der Kinder sollte die interne Tastatur spritzwassergeschützt und ohne verschluckbare Tasten sein – eine zudem günstige Folienflachtastatur erwies sich dabei als Mittel der Wahl. Letzte Arbeiten an den Spezialbausteinen, den Custom Chips, und deren Abstimmung auf den zwischenzeitlich ausgewählten Hauptprozessor 6502 von MOS zogen sich bis Ende März hin. Die gesamten Entwicklungskosten beliefen sich auf mehr als zehn Millionen US-Dollar.
Parallel zu den noch verbliebenen Arbeiten am Gehäuse begann die Sondierung des Marktes für höhere Programmiersprachen. Die Verantwortlichen entschieden sich dabei für BASIC, eine einsteigerfreundliche Sprache, mit der das neue Computersystem durch den Benutzer für eigene Zwecke programmiert und eingesetzt werden kann. Eine Eigenentwicklung durch Atari schied wegen fehlender Kapazitäten bei einer nur kurz zur Verfügung stehenden Frist von sechs Monaten aus. Nachdem der Einsatz des damals marktbeherrschenden Microsoft BASIC an den Atari-Erfordernissen zur Integration in einem Steckmodul mit nur 8 KB ROM gescheitert war, wurde am 6. Oktober 1978 die externe Firma Shepardson Microsystems mit der Erstellung eines eigenen, speziell auf die Atari Computer zugeschnittenen BASIC-Dialektes betraut.
Umbenennung in Atari 400
Nach Festsetzung der Konfiguration des Arbeitsspeichers auf marktübliche 4 KB änderte Atari im November 1978 den inoffiziellen Namen Candy in den direkt an die Speichergröße angelehnten offiziellen Produktnamen Atari 400. Die der Ziffer 4 nachgestellte Doppelnull klassifiziert dabei den Computer als Basisgerät der ihm zugehörigen Peripheriegeräte. Kurz darauf, am 6. Dezember 1978, erfolgte die Verkündung des Heimcomputerprojektes mit seinen beiden Geräten Atari 400 und Atari 800 publikumswirksam in einem Artikel der auflagenstarken New York Times.
Einen ersten Blick auf seine neue, teilweise noch unfertige Produktlinie gewährte Atari Interessenten erstmals im Januar 1979 auf der Winter CES in Las Vegas. Der Atari 400 war dabei als Prototyp mit provisorischem Gehäuse zusammen mit dem dazu passenden Programmrekorder Atari 410 zu sehen. Ein serienreifer Atari 400 war kurz darauf im Mai im Rahmen der 4th West Coast Computer Faire in San Francisco einem größeren Publikum zugänglich. Auf der Summer CES in Chicago schließlich gab man die unverbindliche Preisempfehlung in Höhe von 550 US-Dollar bekannt.
Im Juni wurden letzte technische Arbeiten abgeschlossen und der Abnahmetest zur elektromagnetischen Verträglichkeit durch die US-amerikanische Federal Communications Commission erfolgreich absolviert – eine maßgebliche Voraussetzung zur Verkaufbarkeit des Gerätes in Nordamerika. Kurz darauf ermöglichten allgemein gesunkene Bauteilekosten eine Vergrößerung des ab Werk verbauten Arbeitsspeichers von 4 auf 8 KB, wovon der Produktname des Geräts jedoch unberührt blieb. Die Fertigung der Computer, deren Entwicklung bislang etwa 100 Millionen US-Dollar gekostet hatte, wurde Ataris Fabrik im kalifornischen Sunnyvale übertragen. Die Produktion konnte jedoch erst im Oktober 1979 aufgenommen werden, da die rasch wachsende Heimcomputerbranche ab Spätsommer 1979 unter einer anhaltenden Teileknappheit litt.
Vermarktung
Bereits geraume Zeit vor dem Verkaufsstart pries der Hersteller seinen Atari 400 als Allzweckgerät („general purpose home computer“) insbesondere für die junge und finanziell weniger gut aufgestellte Einsteigergeneration an, da keinerlei Computerkenntnisse oder sonstiges technisches Vorwissen notwendig sei („The affordable home computer that’s easy to use even for people who’ve never used a computer before“).
Markteinführung
Die erste Serie von Geräten wurde ab November 1979 im Rahmen einer Testvermarktung sowohl in der Weihnachtsausgabe des Versandkatalogs als auch in den Fotoabteilungen einiger Ladengeschäfte der Handelskette Sears Roebuck angeboten. Neben dem Computer mit Netzteil, Anschluss- und Anleitungsmaterial erhielt der Käufer für 549,99 US-Dollar die Programmiersprache BASIC in Form eines Steckmoduls nebst Programmierhandbuch.
Kurz nach dem Verkaufsstart begann Atari seine Geräte und dazugehörige Unterhaltungssoftware wie das Spiel Star Raiders auf Fachmessen vorzustellen. Neben allgemeiner Produktwerbung gelang es damit, auch neue Vertriebskanäle zu erschließen. Begleitet wurden die Präsentationen ab dem zweiten Quartal 1980 durch weitere umfangreiche und langfristig geplante Werbeoffensiven. Ab Mitte 1980 war die Bekanntheit der Atari-Computer so gestiegen, dass auch Dritthersteller vielversprechende Absatzpotentiale sowohl für Hard- als auch Software sahen und ihrerseits Produkte auf den Markt brachten.
Erschließung des Bildungssektors
Ergänzend zur Herstellung und zum Vertrieb von Unterhaltungssoftware verstärkte Atari die Bemühungen zur Platzierung seiner Heimcomputer in nordamerikanischen Bildungseinrichtungen, einem bislang von Apple II und Commodore PET dominierten Bereich. Dem lag das Kalkül zugrunde, dass Schüler und Studenten im Rahmen von späteren Privatanschaffungen auf das bereits aus der Schule Bekannte und Vertraute – einen Atari-Computer – zurückgreifen würden. Neben speziellen Verkaufskonditionen für das Bildungswesen war mit der Programmreihe Talk & Teach Cassette Courseware bereits frühzeitig auch die passende Software aufgelegt worden. Zudem setzte Atari ab Mitte 1980 verstärkt auf die Zusammenarbeit mit der zu IBM gehörigen Organisation Science Research Associates, die sich der Förderung des computergestützten Unterrichts verschrieben hatte und den Vertrieb für Atari im Bildungssektor übernahm. Im Rahmen dieser Kooperation finanzierte IBM einen Rabatt, der Bildungseinrichtungen von der Grundschule bis hin zur Universität beim Kauf eines Atari-800-Computers einen zusätzlichen kostenfreien Atari 400 gewährte. Atari selbst legte für Schulen wenig später eine ähnliche Preisaktion in Form des 3 for 2 deal auf: Beim Kauf zweier Atari-800- oder Atari-400-Computer erhielt der Käufer einen weiteren Atari 400 gratis dazu.
Die für die Jahre 1979 und 1980 angegebenen Verkaufszahlen für die Modelle Atari 400 und Atari 800 zusammengenommen schwanken zwischen 50.000 und 300.000 Geräten. Die Umsätze allein für 1980 beliefen sich auf etwa 20 Millionen US-Dollar.
Massenvermarktung
Nach einer zwischenzeitlichen Preiserhöhung auf 629,95 US-Dollar senkte Atari im Rahmen seiner mittlerweile offensiv ausgerichteten Vermarktungskampagne Anfang 1981 den Preis für den Atari 400 mit 8 KB RAM auf 499,95 US-Dollar. Neben dem stets währenden Kampf um Marktanteile mit den direkten Konkurrenzmodellen Apple II+ (16 KB RAM, 1195 US-Dollar), Tandy Color Computer (Versionen mit 4 und 16 KB RAM für 399 bzw. 599 US-Dollar) und Texas Instruments TI-99/4 (16 KB RAM, 1150 US-Dollar) war hierfür insbesondere der aufkommende günstige Commodore VIC 20 (5 KB RAM, 299 US-Dollar) ursächlich. Gleichzeitig fand eine erweiterte Variante des Atari 400 mit 16 KB RAM ab Werk für 630 US-Dollar Aufnahme ins Verkaufsprogramm, um mit den höherwertigen Konkurrenzmodellen in puncto Arbeitsspeicherausstattung gleichzuziehen. Da der Atari 400, im Gegensatz zum Atari 800, über keine dem Benutzer zugänglichen Erweiterungsschächte verfügt und daher zur nachträglichen Aufrüstung vollständig zerlegt werden muss, ermöglichte Atari den Käufern der alten Version eine Aufrüstung ihrer Geräte in zertifizierten Fachwerkstätten.
Bereits im Laufe des ersten Halbjahres 1981 konnten sich die Atari-Computer trotz permanenter Lieferschwierigkeiten und einiger technischer Probleme bei Zubehörteilen als feste Größen auf dem bislang hauptsächlich von Tandy, Apple und Commodore beherrschten Heimcomputermarkt etablieren. Die von Ataris Computersparte erzielten Umsätze lagen Mitte des Jahres 1981 bei zehn Millionen US-Dollar – die Summe der durch die laufende Produktion verursachten Verluste belief sich jedoch auf einen ähnlich hohen Betrag. Zur Bewältigung der zunehmenden Nachfrage und zur zügigen Umsetzung der geplanten weltweiten Vermarktung nahm Atari im April personelle Erweiterungen im Firmenmanagement vor und änderte daraufhin im Mai 1981 auch seine Vermarktungsstrategie: Der bislang ausschließlich zusammen mit BASIC und Anleitungsbuch verkaufte Atari 400 war ab sofort nur noch einzeln, dafür aber zum deutlich geringeren Preis von 399 US-Dollar erhältlich. Ergänzt werden konnte das Grundgerät vom Käufer unter anderem mit Ataris neu eingeführten, individuell auswählbaren und speziell auf Techniklaien zugeschnittenen Erweiterungspaketen. Diese „Starter Kits“ enthielten jeweils aufeinander abgestimmte, anschlussfertige Hard- und Software für die Einsatzbereiche Programmieren (Atari Programmer), Unterhaltung (Atari Entertainer), Bildung (Atari Educator) und Datenfernübertragung (Atari Communicator). Bis August 1981 war es gelungen, den Umsatz auf 13 Millionen US-Dollar zu steigern. Damit konnte erstmals die Gewinnzone erreicht werden.
Außer in den Ausbau des Hardwaresektors investierte Atari auch in die Fortbildung seines Kundendienstes und der Vertragshändler sowie in die Softwareunterstützung für die Heimcomputer. Dazu zählten die beinahe monatlich erfolgenden Veröffentlichungen neuer hauseigener Programme und Spiele, die von Drittherstellern langerwartete Publikation technischer Dokumentationen und die Unterstützung unabhängiger Programmautoren. Letzteres umfasste die Ausrichtung von offenen Programmierwettbewerben mit entsprechend hoch dotierten Preisen, technische Schulungen in Ataris Acquisition Centers und die Gründung der Publikationsplattform Atari Program Exchange (Kürzel APX). Durch die Gründung von APX ermöglichte Atari den betriebswirtschaftlich häufig gänzlich unerfahrenen Softwareherstellern den Vertrieb ihrer Programme durch das mittlerweile in Nordamerika voll ausgebaute Atari-Händlernetz.
Internationaler Vertrieb
Im Fahrwasser der amerikanischen Verkaufserfolge startete Atari im Sommer 1981 die Erschließung des lukrativen europäischen Marktes. Wie in den USA auch wurde die Veröffentlichung in Großbritannien (345 £), Frankreich, Italien (985.000 ₤) und den Benelux-Staaten von umfangreichen Werbemaßnahmen im Printbereich und von Präsentationen auf speziellen Ausstellungen begleitet.
In Westdeutschland übernahm ab August 1981 die bereits seit 1980 für die Atari-2600-Vermarktung zuständige Atari Elektronik Vertriebsgesellschaft mbH den Vertrieb und den Kundendienst. Die Vermarktung der „Privatcomputer“, so die offizielle Bezeichnung von Atari Deutschland, erforderte erhebliche Investitionen insbesondere für die Werbung, Verkäuferschulungen und Serviceaktivitäten. Analog den Promotionsbemühungen im Videospielebereich schaltete Atari entsprechende Werbung in Printmedien. Neben dem Verkauf im Versandhandel und in Fachgeschäften waren die Rechner auch in größeren Kaufhausketten wie Horten und Karstadt erhältlich. Die unverbindliche Preisempfehlung des Atari 400 lag bei 1495 DM, der Datenrekorder Atari 410 kostete 289 DM und das BASIC-Steckmodul konnte für 272 DM erworben werden.
Während der internationalen Expansionsphase reagierte Atari auf die sich immer weiter zuspitzende Konkurrenzsituation vor allem in Nordamerika u. a. mit technischen Überarbeitungen seiner Computer in Form eines revisionierten Betriebssystems für Neugeräte (OS-Version B) und einer fehlerbereinigten Version der BASIC-Programmiersprache. Im Geschäftsjahr 1981 konnte Atari so nach eigenen Angaben etwa 300.000 Heimcomputer absetzen, womit sich Atari 400 und 800 endgültig als Massenware etabliert hatten und Atari zum US-amerikanischen Marktführer aufsteigen ließen.
Preiskriege
Die Einführung diverser Billigcomputer wie Sinclair ZX81 brachte auch Atari in Zugzwang. Das Unternehmen senkte den Preis für den Atari 400 zunächst im Juni 1982 um 50 US-Dollar und schon im Juli folgte ein weiterer Nachlass des unverbindlichen Verkaufspreises auf 299 US-Dollar. Auch in Westdeutschland führte die aggressive Preispolitik von Commodore zu einer ersten, aber drastischen Senkung des unverbindlichen Verkaufspreises von 1495 auf 995 DM durch Atari Deutschland im August 1982.
Ab Frühherbst 1982 sah Atari von weiteren direkten Preisnachlässen ab und schwenkte vielmehr auf kaufbegleitende Rabattaktionen um: Beim Erwerb von Atari Hard- und Software wurden den Käufern durch „Softwarecoupons“ Ersparnisse von bis zu 60 US-Dollar auf Produkte aus Ataris Programmsortiment ermöglicht. Daneben baute Atari im Laufe des Jahres 1982 vor allem in Nordamerika den Kundendienst massiv aus. Die in den USA landesweit eingerichteten Atari Service Center übernahmen fortan Beratungs- und Reparaturdienstleistungen, aber auch die Umrüstung älterer Computer auf den neuen GTIA-Grafikbaustein und das revisionierte Betriebssystem. Sie ermöglichten zudem die durch Ataris Firmenleitung angestrebten profitträchtigen Verkäufe durch große Handelsketten wie J. C. Penney, Kmart und Toys “R” Us, die aufgrund fehlenden qualifizierten Personals keinerlei Beratung oder Garantiedienstleistungen anzubieten in der Lage waren. Diese mittlerweile hauptsächlich auf Massenvermarktung ausgerichtete Verkaufspolitik bescherte Atari im Laufe des Jahres 1982 annähernd 600.000 Heimcomputerverkäufe, wovon auf den Atari 400 allein etwa 400.000 Einheiten entfielen. Mit insgesamt etwa 1,2 Millionen verkauften Geräten der Modelle 400 und 800 gelang es Atari, seine Marktführerschaft erfolgreich zu verteidigen.
Trotz Ataris weltmarktbeherrschender Stellung konnten in Westdeutschland im Laufe des Jahres 1982 nur etwa 6000 Atari-400-Computer verkauft werden – Commodore setzte im selben Zeitraum rund 10.000 VC-20-Heimcomputer ab. Die Verantwortlichen bei Atari Deutschland legten daraufhin ab Mitte 1983 eine verkaufsfördernde Maßnahme in Form des Bündelangebots Computer Compact Paket auf. Damit erwarb der Käufer neben dem Computer ein BASIC-Modul, den Atari 410 Datenrekorder, einen von Dagmar Berghoff eingesprochenen Programmierkurs sowie eine Spielesammlung auf Kassette für insgesamt unter 1000 DM. Aufgrund des permanenten Preisdrucks amortisierten sich die hohen Investitionen von Atari Deutschland jedoch nur schleppend und die Heimcomputersparte entwickelte sich allmählich zum ungeliebten Stiefkind des nationalen Videospiele-Marktführers.
Ankündigung der Nachfolger und Ausverkäufe
Im zweiten Quartal des Jahres 1983 stellte Atari ein Nachfolgemodell der neu aufgelegten XL-Reihe mit zeitgemäßen 64 KB RAM und neuem Gehäusedesign vor. Aufgrund mangelnder Kompatibilität zu seinen Vorgängern war dem Atari 1200XL jedoch kein großer Erfolg beschieden, sodass er über eine nur sehr kurzzeitige Veröffentlichungsphase in den USA nicht hinauskam. Um so mehr schnellten die Verkäufe der alten Modelle 400 und 800 in unerwartete Höhen, da diese mit Einführung des neuen Gerätes durch Rabattaktionen weiter im Preis gesenkt worden waren und zudem keine Programminkompatibilitäten befürchten ließen. Im Mai 1983 schließlich war mit einer unverbindlichen Preisempfehlung von weniger als 200 US-Dollar der Ausverkauf des Atari 400 eingeleitet worden, der sich mit der Ankündigung des offiziellen Nachfolgers Atari 600XL auf der Summer CES in Chicago noch weiter beschleunigte. Im August 1983 wurde die Produktion des Atari 400 eingestellt und Räumungsverkäufe zugunsten des Atari 600XL wurden eingeleitet. Die Modelle 400 und 800 zusammengenommen verkaufte Atari insgesamt etwa zwei Millionen Geräte.
Moderne Nachbauten
Die überschaubare Architektur des Systems und umfangreiche Dokumentationen des Herstellers ermöglichen den miniaturisierten Nachbau der Elektronik des Atari 400 und dazu kompatibler Modelle mit heutigen technischen Mitteln bei gleichzeitig überschaubarem Aufwand. Eine solche moderne Realisierung erfolgte erstmals 2014 – wie bei anderen Heimcomputersystemen auch – als Implementierung auf einem programmierbaren Logikschaltkreis (FPGA) nebst Einbettungssystem. Die Nachbildung mittels FPGA-Technologie war zunächst lediglich als technische Machbarkeitsstudie gedacht, stellte jedoch im Nachhinein auch ihren praktischen Nutzen unter Beweis: Durch die Miniaturisierung und die Möglichkeit des Batteriebetriebs ist sie eine leicht verstaubare, zuverlässig arbeitende und transportable Alternative zur originalen schonenswerten Technik.
Technische Details
Das Gehäuse des Atari 400 enthält insgesamt vier Leiterplatten und ein stabiles Aluminiumgussgehäuse zur Abschirmung der vom Computer verursachten elektromagnetischen Störfelder. Die Hauptbestandteile der größten Platine bilden der Spezialbaustein POKEY, der Festwertspeicher (ROM) sowie die Ein-/Ausgabebaugruppen nebst Peripherieanschlüssen. Daneben stellt sie als Bauelementeträger Steckplätze für die kleineren Platinen bereit. Diese enthalten die Prozessor-Baugruppe mit 6502-CPU (englisch Central Processing Unit) nebst den Spezialbausteinen GTIA sowie ANTIC, die Speicher-Karte mit Arbeitsspeicher (RAM) und die Baugruppen zur Spannungsregelung und zur Fernsehsignalerzeugung. Zur Grundausstattung gehörte neben dem Computer ein externes Netzteil und die Bedienungsanleitung für das Gerät.
Haupt- und Nebenplatine eines Atari-400-Computers (PAL-Version). Zum Identifizieren der einzelnen Bauteile diese mit dem Mauszeiger überfahren und für weitere Informationen ggf. anklicken.
CPU- und 16-KB-RAM-Karte eines Atari 400 (PAL-Version). Zum Identifizieren der einzelnen Bauteile diese mit dem Mauszeiger überfahren und für weitere Informationen ggf. anklicken.
Hauptprozessor
Der Atari 400 basiert auf dem 8-Bit-Mikroprozessor MOS 6502, der häufig in zeitgenössischen Computern eingesetzt wurde. Die CPU kann auf einen Adressraum von 65536 Byte zugreifen, was auch die theoretisch mögliche Obergrenze des Arbeitsspeichers von 64 Kilobyte (KB) festlegt. Der Systemtakt beträgt bei PAL-Geräten 1,77 MHz, für solche mit NTSC-Ausgabe dagegen 1,79 MHz.
Spezialbausteine zur Erzeugung von Grafik und Ton
Wesentlicher Bestandteil der Rechnerarchitektur sind die drei von Atari entwickelten Spezialbausteine Alphanumeric Television Interface Controller (ANTIC), Graphic Television Interface Adapter (GTIA) mit seinem Vorläufer Color Television Interface Adapter (CTIA) und Potentiometer And Keyboard Integrated Circuit (POKEY). Sie sind funktionell derart konzipiert, dass sie innerhalb ihres Aufgabenbereiches flexibel einsetzbar sind und gleichzeitig die CPU entlasten.
Die beiden Grafikbausteine ANTIC und CTIA/GTIA erzeugen das am Fernseher oder Monitor angezeigte Bild. Dazu sind zuvor vom Betriebssystem oder den Benutzer im Arbeitsspeicher entsprechende Daten in der Form der „Display List“ zu hinterlegen. Der CTIA/GTIA erlaubt unter anderem das Integrieren von maximal acht unabhängigen aber jeweils einfarbigen Grafikobjekten, den Sprites. Diese im Atari-Jargon auch „Player“ und „Missiles“ genannten Objekte werden gemäß benutzerdefinierbaren Überlappungsregeln in das vom ANTIC erzeugte Hintergrundbild kopiert und einer Kollisionsprüfung unterzogen. Dabei wird festgestellt, ob sich die Sprites untereinander oder bestimmte Teile des Hintergrundbildes („Playfield“) berühren. Diese Fähigkeiten wurden – wie sich bereits anhand der Namensgebung „Playfield“, „Player“ und „Missiles“ abzeichnet – zur vereinfachten Erstellung von Spielen mit interagierenden Grafikobjekten und schnellem Spielgeschehen entwickelt. Die Fähigkeiten der beiden Spezialbausteine ANTIC und CTIA/GTIA zusammengenommen, verleihen den Darstellungsmöglichkeiten der Atari-Rechner eine von anderen damaligen Heimcomputern unerreichte Flexibilität. Im dritten Spezialbaustein POKEY sind weitere elektronische Komponenten zusammengefasst. Diese betreffen im Wesentlichen die Tonerzeugung für jeden der vier Tonkanäle, die Tastaturabfrage und den Betrieb der seriellen Schnittstelle Serial Input Output (SIO) zur Kommunikation des Rechners mit entsprechenden Peripheriegeräten.
Durch die hochintegrierte Ausführung (LSI) vereinen die Spezialbausteine viele elektronische Komponenten in sich und senken dadurch die Anzahl der im Rechner benötigten Bauteile, was wiederum eine nicht unerhebliche Kosten- und Platzersparnis mit sich bringt. Nicht zuletzt weil ihre Konstruktionspläne nie veröffentlicht wurden, waren sie mit damaliger Technik nicht wirtschaftlich zu kopieren, womit der in der Heimcomputerbranche durchaus übliche illegale Nachbau von Computern für den Atari 400 ausgeschlossen werden konnte.
Die Bildschirmnormen PAL, NTSC und SECAM werden durch unterschiedliche externe elektronische Beschaltungen der CPU, entsprechend modifizierte Spezialbausteine ANTIC (NTSC-Version mit Teilenummer C012296, PAL-Version mit C014887) und GTIA (NTSC-Version mit Teilenummer C014805, PAL-Version mit C014889, SECAM-Version mit C020120) sowie verschiedene darauf abgestimmte Versionen des Betriebssystems realisiert.
Speicher und Speicheraufteilung
Der von der CPU und ANTIC ansprechbare Adressraum segmentiert sich beim Atari 400 in verschiedene Abschnitte unterschiedlicher Größe. Aus praktischen Gründen ist es üblich, für deren Adressen anstelle der dezimalen Notation die hexadezimale zu verwenden. Ihr wird zur besseren Unterscheidbarkeit üblicherweise ein $-Symbol vorangestellt. Den Adressen von 0 bis 65535 in dezimaler Notation entsprechen im hexadezimalen System die Adressen $0000 bis $FFFF.
Der Bereich von $0000 bis $7FFF ist ausschließlich für Arbeitsspeicher vorgesehen. Der Bereich von $0000 bis $3FFF entspricht mit seiner Größe von 16 KB der größten im Atari 400 werkseitig verbauten RAM-Konfiguration. Darüber hinaus sind jedoch auch Erweiterungen bis beispielsweise 48 KB möglich, wobei die belegten Speicheradressen dann bis $BFFF reichen. Nach dem Einfügen eines Steckmoduls wird der 8 KB große, inmitten des Arbeitsspeichersegments gelegene Bereich von $A000 bis $BFFF (left-hand cartridge slot) abgeschaltet und dort die im Steckmodul befindlichen ROMs eingeblendet. Damit stehen bei der Verwendung steckmodulbasierter Programme wie beispielsweise von Atari-BASIC etwa 8 KB Arbeitsspeicher weniger zur Verfügung. Die Adressen der Spezialbausteine und anderer Hardwarebestandteile befinden sich innerhalb eines von $D000 bis $D7FF reichenden Segmentes, unmittelbar gefolgt von den mathematischen Fließkommaroutinen ($D800 bis $DFFF) und dem Betriebssystem ($E000 bis $FFFF). Der Bereich von $C000 bis $CFFF ist für später durch Atari zu ergänzende Systemsoftware vorgesehen, kann aber auch durch Arbeitsspeicher oder alternative Betriebssystemkomponenten genutzt werden.
Nach dem Einschalten des Rechners liest die CPU zunächst die Inhalte der ROM-Bausteine mit dem Betriebssystem aus, womit der Atari 400 nebst angeschlossenen Peripheriegeräten initialisiert wird. Sind keine Steckmodule oder Massenspeicher mit ausführbaren Inhalten vorhanden, wird vom Betriebssystem das sogenannte Atari Memo Pad (auch OS Blackboard Mode genannt) gestartet. Es handelt sich dabei um ein rudimentäres Texteingabeprogramm ohne weitere Möglichkeiten wie etwa die des Speicherns.
Schnittstellen für Ein- und Ausgabe
Als Verbindungen zur Außenwelt stehen vier Kontrollerbuchsen an der Vorderseite des Gehäuses, ein koaxialer HF-Antennenanschluss für den Fernseher, ein Schacht zur ausschließlichen Verwendung von ROM-Steckmodulen sowie eine Buchse der proprietären seriellen Schnittstelle (Serial Input Output, kurz SIO) zur Verfügung. Letztere dient dem Betrieb von entsprechend ausgestatteten „intelligenten“ Peripheriegeräten mit Identifikationsnummern. Dabei kommt ein von Atari speziell für diesen Zweck entwickeltes Übertragungsprotokoll und Steckersystem zum Einsatz. Drucker, Diskettenlaufwerke und andere Geräte mit zwei SIO-Buchsen können so mit nur einem einzigen Kabeltyp „verkettet“ angeschlossen werden. Dabei dient jeweils eine der beiden Buchsen zur Kommunikation des Geräts mit dem Computer (serial bus input) und die verbleibende zum Anschluss und Verwalten eines weiteren Geräts (serial bus extender). Die in vielen anderen zeitgenössischen Computersystemen verwendeten Standardschnittstellen RS-232C (seriell) und Centronics (parallel) werden durch die extra zu erwerbende Schnittstelleneinheit Atari 850 zur Verfügung gestellt.
Ein- und Ausgänge des Atari 400. Zum Identifizieren der einzelnen Bauteile diese mit dem Mauszeiger überfahren und für weitere Informationen ggf. anklicken.
Peripheriegeräte
Der Atari 400 ist grundsätzlich mit allen von Atari auch später veröffentlichten Peripheriegeräten für die XL- und XE-Reihe betreibbar, die zum Anschluss nicht den bei XL- und XE-Computern herausgeführten Systembus benötigen. Im Folgenden wird ausschließlich auf die von Ende 1979 bis Ende 1983 erhältlichen eingegangen. Zum Gebrauch einiger Peripheriegeräte werden mindestens 16 KB RAM vorausgesetzt, da entsprechend speicherintensive Ansteuerungssoftware zum Betrieb vonnöten ist.
Massenspeicher
In Zusammenhang mit vor allem westlichen Heimcomputern der 1980er-Jahre kamen zur Datensicherung hauptsächlich Kassettenrekorder und Diskettenlaufwerke, im professionellen Umfeld bei den Personalcomputern zunehmend auch Fest- und Wechselplattenlaufwerke zum Einsatz. Die günstigste Variante der Datenaufzeichnung durch Kompaktkassetten hat im Allgemeinen den Nachteil niedriger Datenübertragungsraten und damit langer Ladezeiten, wohingegen die wesentlich schnelleren und verlässlicheren Disketten- und Plattenlaufwerke sehr viel teurer in der Anschaffung waren. Bei Veröffentlichung des Atari 400 standen ihm Kassetten- und wenig später auch Diskettensysteme als Massenspeicher zur Verfügung.
Kassettensysteme
Im Gegensatz zu anderen zeitgenössischen Heimcomputern wie beispielsweise dem TRS-80 oder dem Sinclair ZX81 kann der Atari 400 zum Speichern von Daten nicht mit handelsüblichen Kassettenrekordern betrieben werden. Vielmehr benötigt er ein auf seine serielle Schnittstelle abgestimmtes Gerät – den Atari 410 Programmrekorder. Die durchschnittliche Datenübertragungsrate beträgt dabei 600 Bit/s; auf einer 30-Minuten-Kassette finden 50 KB an Daten Platz. Daneben verfügt der Atari 410 noch über die Besonderheit eines Stereo-Tonkopfes, wodurch parallel zum Lesevorgang das Abspielen von Musik oder gesprochenen Benutzungsanweisungen möglich ist. Aus Gründen der Kosten- und Platzersparnis ist im Gerät kein Lautsprecher verbaut, die Audiosignale werden vielmehr über das SIO-Kabel via POKEY am Fernsehgerät ausgegeben. Auch ist keine SIO-Buchse im Atari-410-Programmrekorder verbaut, so dass er stets als letztes Glied in der Kette von Peripheriegeräten anzuschließen ist.
Diskettensysteme
Zusammen mit dem Atari 410 Programmrekorder war kurz nach Markteinführung von Atari 400 und 800 auch ein auf Ataris SIO-Schnittstelle abgestimmtes Diskettenlaufwerk erhältlich, die Floppystation Atari 810. Mit dem Atari-810-Diskettenlaufwerk können 5,25″-Disketten einseitig in einfacher Schreibdichte mit 720 Sektoren à 128 Bytes beschrieben werden, womit sich pro Diskettenseite 90 KB Daten abspeichern lassen. Die mittlere Datenübertragungsrate beträgt etwa 6000 Bit/s, das Zehnfache dessen, was der Datenrekorder Atari 410 in derselben Zeit zu übertragen in der Lage ist. Während des gesamten Produktionszeitraumes wurden vom Hersteller an den Laufwerken mehrfach Änderungen vorgenommen. So existieren beispielsweise Ausführungen mit teilweise fehlerhafter Systemsoftware und solche mit verschiedenen Laufwerksmechaniken.
Neben der Diskettenstation 810 war für kurze Zeit in Nordamerika ein weiteres Gerät in Form des wesentlich leistungsfähigeren Atari-815-Diskettenlaufwerks erhältlich. Es verfügt über zwei Laufwerksmechaniken, wobei jede zudem mit doppelter Schreibdichte operiert und so pro 5,25″-Diskettenseite 180 KB Daten gespeichert werden können. Aufgrund der damit verbundenen komplizierten Konstruktion war lediglich eine manuelle Herstellung möglich. Durch den daraus resultierenden hohen Preis von 1500 US-Dollar bei gleichzeitig großer Fehleranfälligkeit wurde das Gerät nach Auslieferung nur geringer Stückzahlen in Höhe von etwa 60 Exemplaren von Atari aus dem Sortiment genommen.
Ab Mitte 1982 erschien eine Vielzahl von Atari-kompatiblen Diskettenlaufwerken diverser Dritthersteller. Dazu zählen unterschiedlich leistungsstarke Geräte von Percom, Laufwerke mit zusätzlicher Datenspuranzeige von Rana und auch Doppellaufwerke von Astra.
Vorder- und Rückansicht des Diskettenlaufwerks Atari 810 in der „Garagentor“-Ausführung, d. h. mit einer Laufwerksmechanik des Herstellers Tandon. Zum Identifizieren der einzelnen Bauteile diese mit dem Mauszeiger überfahren und für weitere Informationen ggf. anklicken.
Ausgabegeräte
Die Bildausgabe an einen Monitor ist dem Atari 400 im Unterschied zum Atari 800 aufgrund einer standardmäßig fehlenden Anschlussbuchse nicht möglich; es kann via eingebautem HF-Modulator lediglich ein handelsübliches Farb- oder Schwarz-Weiß-Fernsehgerät angesteuert werden.
Zur schriftlichen Fixierung von Text und Grafik dienen der Thermodrucker Atari 822 und die nadelbasierten Modelle Atari 820 und Atari 825. Drucker von Fremdherstellern können nur mithilfe von Zusatzgeräten betrieben werden, da der Atari 400 nicht über entsprechende Standardschnittstellen verfügt. Abhilfe lässt sich durch die Zwischenschaltung eines Atari-850-Schnittstellenmoduls schaffen, womit RS-232- und Centronics-Drucker von Epson, Mannesmann und weiteren betrieben werden können.
Daneben existieren von Fremdherstellern eine Fülle von Ausgabezusätzen: Angefangen bei der zur Sprachausgabe gedachten The Voicebox von The Alien Group über eine selbstzubauende 3D-Brille zum Betrachten von stereografischen Inhalten am Fernseher bis hin zum programmierbaren Robotergreifarm werden alle damals interessierenden Teilbereiche abgedeckt.
Eingabegeräte
Die Tastatur des Atari 400 besteht aus drei übereinandergeklebten Kunststofffolien. An der oberen und unteren Folie befinden sich unter den Tasten metallische Kontakte, die nach einem vorgegebenen Schema miteinander verschaltet sind. Die mittlere dicke und elastische Folie dient als elektrische Trennschicht und Rückstellfeder. An der Position der Tasten weist sie Löcher auf, deren Abmessungen groß genug sind, um bei Tastendruck einen Stromfluss zwischen oberer und unterer Folie zu erwirken. Da die als Schließer arbeitenden Tasten unergonomisch sind und über keinerlei Druckpunkt verfügen, ist ein effizientes und längeres Arbeiten mit der Tastatur nahezu unmöglich. Sie enthält insgesamt 56 Einzeltasten, eine Leer- und vier Funktionstasten.
Sämtliche weitere Eingabegeräte werden an eine oder mehrere der vier an der Vorderseite des Computergehäuses vorhandenen Kontrollerbuchsen angeschlossen. Dazu zählen Joysticks verschiedener Hersteller, Drehregler, spezielle Kleintastaturen, der Trackball-Controller von TG Products und Grafiktabletts von Kurta Corporation und Koala Technologies Corp.
Atari 400 (PAL-Version) mit geöffneter Modulschachtklappe. Zum Identifizieren der einzelnen Bauteile diese mit dem Mauszeiger überfahren und für weitere Informationen ggf. anklicken.
Erweiterungen
Der Anschluss von externen, nicht auf der SIO-Schnittstelle basierenden Erweiterungen war von vornherein vom Hersteller nicht vorgesehen. Der Atari 400 lässt sich dennoch durch interne Modifikationen, beispielsweise durch Austausch der ab Werk verbauten 8-KB- und 16-KB-RAM-Karten, erweitern. Zum Installieren der Zusatzhardware muss der Computer geöffnet und im Inneren müssen häufig Lötverbindungen hergestellt werden, was mit etwas technischem Geschick jedoch leicht zu bewerkstelligen ist, zur damaligen Zeit aber auch den Garantieverlust für den Computer zur Folge hatte. Die nachfolgenden Ausführungen beschränken sich ausschließlich auf kommerzielle Produkte der beiden wichtigsten Erweiterungsgebiete der Tastatur und des Arbeitsspeichers.
Tastatur
Für den Gebrauch durch die ursprünglich gedachte Gruppe der Kinder und Jugendlichen erfüllt die strapazierfähige und spritzwassergeschützte Flachtastatur durchaus ihren Zweck – für über Spiele hinausgehende Anwendungen war sie dagegen vollkommen ungeeignet. Dass ergonomische Eigenschaften und ein Druckpunkt fehlten, erschwerte die effiziente Eingabe von Daten. Aus diesem Grunde entwickelte sich ab 1982 ein rege wachsender Markt für Austauschtastaturen mit mechanischen Tasten. Modelle wie B Key 400 von Inhome Software und KB 400 von Atto-Soft konnten anstelle der Folientastatur im Rechner fest montiert oder aber wie der Joytyper 400 von Microtronics und der Sidewriter von Screen Sonics zum Aufsetzen beziehungsweise äußeren Beistellen angeschlossen werden; ihr Komfort entsprach in vielen Fällen dem der Schreibmaschinentastatur des Atari 800.
Speicher
Mit dem anfänglich verbauten 8-KB-Arbeitsspeicher war kaum mehr als Spielen möglich, denn bei der Benutzung von BASIC reichte der Speicherplatz nicht einmal für die Einbindung der höchstaufgelösten Grafikstufe. Selbst die größte von Atari angebotene Ausbaustufe von 16 KB führte den Anwender schnell an seine Grenzen. Insbesondere dann, wenn zum Laden und Abspeichern der erstellten BASIC-Programme ein Diskettenlaufwerk benutzt werden sollte. Ursächlich hierfür ist das speicherintensive Diskettenoperationssystem (DOS), das neben dem BASIC-Programm des Anwenders einen großen Teil des Arbeitsspeichers für sich beansprucht. Beim Atari 800 kann mithilfe der leicht zugänglichen Erweiterungsschächte und den von Atari erhältlichen, mit maximal 16 KB RAM bestückten Karten problemlos auf komfortable 48 KB Arbeitsspeicher aufgerüstet werden. Beim Atari 400 hingegen steht lediglich ein einzelner und tief im Gehäuseinneren verborgener Steckplatz für eine RAM-Karte zur Verfügung, weswegen seine Aufrüstung zwangsläufig Steckkarten mit mehr als 16 KB RAM erfordert. Aus diesem Grunde brachten Anfang 1981 Dritthersteller wie Mosaic und Axlon erste 32-KB-RAM-Karten auf den Markt. Später kamen Modelle hinzu, die mithilfe technischer Raffinessen wie Speicherbankumschaltung bis zu 64 KB RAM bereitstellten. Mit solchen und weiteren Aufrüstungen für die Tastatur und mit zusätzlicher Monitorbuchse versehen, unterschieden sich die möglichen Anwendungsgebiete des Atari 400 – bis auf den fehlenden rechten Modulschacht – nicht mehr von denen des Atari 800. Diese Verwischung der Anwendungsgrenzen zugunsten des wesentlich günstigeren Atari 400 widerstrebte jedoch Ataris Vermarktungskonzept zweier komplementärer Geräte, weswegen offizielle Produktbeschreibungen als maximale Ausbaustufe des Atari 400 stets die Grenze von 16 KB angaben und vor einem Einbau von mehr als 16 KB RAM unter anderem mit dem Erlöschen der Garantie für den Computer warnten. Höhere Aufrüstungen von Atari selbst wurden mit dem Atari 400 Home Computer 48K RAM Expansion Kit erst nach dem Produktionsende des Atari 400 ab Herbst 1983 angeboten.
Software
Wie bei anderen Heimcomputern der 1980er-Jahre auch erfolgte der Vertrieb kommerzieller Software auf verschiedenen Datenträgern. Die insbesondere bei Spieleherstellern beliebten preiswerten Kompaktkassetten waren durch die starke mechanische Beanspruchung des Magnetbandes allerdings sehr anfällig für Fehler und ihr Einsatz war oft mit langen Ladezeiten verbunden. Zudem sind mit Datasetten bestimmte Betriebsarten wie die beispielsweise zum Betrieb von Datenbanken vorteilhafte relative Adressierung nicht möglich. Bei den in der Herstellung vielfach teureren Steckmodulen dagegen standen die darin enthaltenen Programme sofort nach dem Einschalten des Computers zur Verfügung, was insbesondere bei Systemsoftware und oft genutzten Anwendungen von großem Vorteil war. Den besten Kompromiss zwischen Ladezeit, möglichen Betriebsarten, Verlässlichkeit und Speicherkapazität erzielten die Disketten, deren Verwendung bei Veröffentlichung des Atari 400 durch das 810-Diskettenlaufwerk unterstützt wurde.
Die Programmpalette für den Atari-400-Computer umfasste neben der von Atari und APX vertriebenen Auswahl kommerzieller Programme auch von Drittherstellern entwickelte und in Zeitschriften und Büchern publizierte Software (Listings) zum Abtippen. Die kommerziellen Programme wurden auf Steckmodul, Diskette und Kassette angeboten.
Von der in Umlauf befindlichen Software machten illegale Kopien („Raubkopien“) stets einen großen Teil aus und stellten damit kleinere Softwareentwickler häufig vor existentielle wirtschaftliche Schwierigkeiten.
Daraufhin wurden zunehmend Kopierschutzsysteme insbesondere bei Spielen als der meistverkauften Software eingesetzt.
Systemprogramme
Die Konfiguration und Initialisierung der Atari-400-Hardware nach dem Einschalten bzw. nach einem Reset fällt in den Aufgabenbereich des im Festwertspeicher untergebrachten Betriebssystems (englisch Operating System, kurz OS). Nachdem zahlreiche Fehler in der ersten OS-Version bekannt geworden waren, veröffentlichte Atari mit OS-B im Jahr 1982 eine fehlerbereinigte Version. Die Unterprogramme des 10 KB umfassenden Betriebssystems steuern verschiedene Systemprozesse, die auch vom Benutzer angestoßen werden können. Dazu gehören die Durchführung von Ein- und Ausgabeoperationen wie etwa die Tastatur- und Joystickabfrage, Fließkommaberechnungen, die Abarbeitung von Systemprogrammen nach Unterbrechungen (Interrupts) und die Bereitstellung eines Bildschirmtreibers zum Erzeugen der verschiedenen Grafikmodi. Die Startadressen der einzelnen Unterprogramme sind in einer Sprungtabelle zusammengefasst, um die Kompatibilität mit späteren Betriebssystem-Revisionen oder neuen Versionen zu wahren. Zur Abgrenzung vom Betriebssystem der später erschienenen XL- und XE-Modelle wird das OS des Atari 400 häufig auch als Oldrunner bezeichnet.
Programmiersprachen und Anwendungsprogramme
Aufbauend auf der Systemsoftware kam dem benutzerspezifischen Einsatz des Atari 400 in unterschiedlichsten Anwendungsgebieten große Bedeutung zu. War dabei die Bearbeitung einer Aufgabenstellung mit z. B. käuflich zu erwerbenden Programmen aus technischen oder wirtschaftlichen Gründen nicht möglich oder sollte beispielsweise neuartige Unterhaltungssoftware produziert werden, so musste dies mithilfe von entsprechenden Programmiersprachen in Eigenregie geschehen.
Assemblersprache
Die Erstellung zeitkritischer Actionspiele und Anwendungen in der Regelungstechnik erforderte Anfang der 1980er-Jahre eine optimale Nutzung der Hardware insbesondere des Arbeitsspeichers. Im Heimcomputerbereich war dies ausschließlich durch die Verwendung von Assemblersprache mit entsprechenden Übersetzerprogrammen, den Assemblern, möglich. Die Auslieferung von Assemblern erfolgte in vielen Fällen mit einem zugehörigen Editor zur Eingabe der Programmanweisungen („Sourcecode“), häufig auch als Programmpaket mit Debugger und Disassembler zur Fehleranalyse. Im professionellen Entwicklerumfeld kamen vielfach Cross-Assembler zum Einsatz. Damit war es möglich, ausführbare Programme für Heimcomputer auf leistungsfähigeren und komfortabler zu bedienenden Fremdcomputerplattformen zu erzeugen.
Kurz nach Veröffentlichung der Atari-Computer war lediglich der auf Steckmodul ausgelieferte langsame Assembler Editor von Atari erhältlich. Er bot wenig Komfort und konnte daher nur für kleinere Projekte sinnvoll eingesetzt werden. Im Gegensatz zu anderen Assemblern erlaubte er jedoch das Abspeichern der erstellten Quelldateien und ausführbaren Programme auf Kassette, was insbesondere für viele Atari-400-Benutzer ohne Diskettenstation von Vorteil war und sie so über die Nachteile leicht hinwegsehen ließ. Die für professionelle Programmentwicklung benötigten Assembler standen erst später mit Synassembler (Synapse Software), Atari Macro Assembler (Atari), Macro Assembler Editor (Eastern Software House), Edit 6502 (LJK Enterprises) und dem leistungsfähigen MAC 65 (Optimized Systems Software) zur Verfügung.
Programmiereinsteiger zogen in vielen Fällen die übersichtlichen und einfach zu bedienenden, dafür aber weniger leistungsfähigen Programmier-Hochsprachen vor.
Interpreter-Hochsprachen
Dem von Atari veröffentlichten BASIC standen zwei weitere zur Seite: Das den damaligen Quasi-Standard bildende Microsoft BASIC (als Adaption von Atari) und ein zu Ataris BASIC abwärtskompatibles Produkt mit dem Namen BASIC A+ von Optimized System Software. Beide Interpreter setzen mindestens 32 KB RAM und ein Diskettenlaufwerk zum Betrieb voraus. Insbesondere BASIC A+ enthält erweiterte Editiermöglichkeiten, Vereinfachungen in der Befehlsstruktur und es ergänzt viele im Atari- und Microsoft-BASIC nicht implementierte Leistungsmerkmale. Dazu zählt beispielsweise eine bequeme Benutzung der Atari-Sprites („Player“ und „Missiles“) durch eigens dafür bereitgestellte Befehlswörter.
Nachteilig auf die Einsetzbarkeit von BASIC-Programmen wirkten sich die in der Natur des Interpreters liegenden prinzipiellen Beschränkungen wie etwa die geringe Ausführungsgeschwindigkeit und der große Arbeitsspeicherbedarf aus. Diese Nachteile können durch spezielle Programme, BASIC-Compiler, abgemildert werden. Dabei werden ausführbare Maschinenprogramme erzeugt, die ohne BASIC-Interpreter lauffähig sind und damit häufig eine schnellere Ausführung erlauben. Für das Atari BASIC stehen mit ABC BASIC Compiler (Monarch Systems), Datasoft BASIC Compiler (Datasoft) und BASM (Computer Alliance) verschiedene Compiler zur Verfügung.
Neben der Programmiersprache BASIC in ihren verschiedenen Dialekten war mit Verkaufsstart des Atari 400 die Interpretersprache Logo erhältlich. Unterstützt durch Elemente wie die turtle graphics (Schildkrötengrafik) ist damit eine kindgerechte und interaktive Einführung in die Grundlagen der Programmierung möglich. Ähnlich gelagert in ihren Eigenschaften ist die später in den Handel gebrachte Programmiersprache Atari PILOT. Mit QS-Forth (Quality Software), Extended fig-Forth (APX) und Data-Soft Lisp (Datasoft) reihen sich weitere Programmiersprachen in die Produktpalette für den Atari 400 ein.
Compiler-Hochsprachen
Interpreter-Hochsprachen sind langsam in der Ausführung, dafür ist ihr Quelltext gut lesbar und somit die Fehleranalyse einfach. Die Assemblersprache dagegen ist schwer zu erlernen und zu beherrschen, war aber Anfang der 1980er-Jahre zur Erzeugung schneller und speichereffizienter Programme unumgänglich. Als Mittelweg etablierten sich daraufhin im Laufe der 1980er im Heimcomputerbereich die Compiler-Hochsprachen. Die Ausführungsgeschwindigkeit der damit erzeugten Maschinenprogramme war im Vergleich zu interpretierten Programmen wie beim Atari BASIC sehr viel höher, reichte aber nicht ganz an die von Assemblern erzielte heran. Diese Geschwindigkeitsnachteile wurden jedoch vielfach zugunsten eines leichter zu wartenden Quelltextes in Kauf genommen.
Im Laufe der Produktlebenszeit bis Ende 1983 war für die Atari-400-Anwender mit aufgerüsteten Geräten als Compilersprache lediglich APX Pascal erhältlich.
Anwendungssoftware
Die Programmpalette für die Atari Computer umfasst neben den Programmiersprachen zum Erstellen eigener Applikationen eine im Vergleich zum zeitgenössischen Konkurrenten Apple II lediglich kleine Auswahl an vorgefertigter kommerzieller Anwendungssoftware. Zu den bekanntesten Anwendungsprogrammen zählen Visicalc (Visicorp, Tabellenkalkulation), The Home Accountant (Continental Software, Buchführung), Atari Writer (Atari, Textverarbeitung), Bank Street Writer (Broderbund, Textverarbeitung) und Letter Perfect (LJK Enterprises, Textverarbeitung).
Einen weiteren Teil der Anwendungen bilden von Benutzern in Eigenregie erstellte Anwendungsprogramme für die unterschiedlichsten Einsatzorte wie etwa in Arztpraxen, Fotostudios, Bekleidungsgeschäften und Museen.
Lernprogramme
Entsprechend der Ausrichtung des Atari 400 als Spiel- und Lerncomputer existiert eine Vielzahl an Programmen, die dem computergestützten Vermitteln von Lehrinhalten und seiner anschließenden interaktiven Abfrage dienen. Das zu vermittelnde Wissen wird in spielerischer Form mit ständig steigendem Schwierigkeitsgrad präsentiert, um den Lernenden anhaltend zu motivieren. Dabei wird großer Wert auf eine altersgerechte Darbietung gelegt, die von Kleinkindern bis hin zu Studenten reicht. Bei den Jüngsten kommen häufig animierte Geschichten mit comicartigen Charakteren als begleitende Tutoren zum Einsatz, bei Jugendlichen werden abzufragende Lehrinhalte in Abenteuerspiele oder actionsreiche Weltraumabenteuer gekleidet, bei den höherstufigen Lehrinhalten für Studenten und Erwachsene überwiegt hingegen meist lexikalisch präsentiertes Wissen mit anschließender Abfrage nebst Erfolgsbilanzierung. Die von der Software abgedeckten Lerngebiete erstrecken sich auf Lesen und Schreiben, Fremdsprachen, Mathematik, Technik, Musik, Geographie, Demografie, Tippschulen und Informatik. Zu den bekanntesten Herstellern zählen Atari, APX, Dorsett Educational Systems, Edufun, PDI und Spinnaker Software.
Spiele
Den mit Abstand größten Teil der sowohl kommerziellen als auch frei erhältlichen Atari-Software stellen die Spiele dar. Zu den frühen Shoot-’em-up-Spielen wie etwa Star Raiders oder der Brettspieleumsetzung 3-D Tic-Tac-Toe kamen bereits ein Jahr später weitere Actionspiele, Adventures und Arcade-Umsetzungen hinzu. Sowohl professionelle Hersteller als auch Hobbyprogrammierer profitierten dabei von der Veröffentlichung technischer Dokumentationen seitens Atari, den Programmieranleitungen in den Computermagazinen und -büchern sowie von den mittlerweile aufgekommenen leistungsfähigen Entwicklungswerkzeugen. Unter den publizierten Titeln befanden sich jedoch auch viele schlechte Portierungen von beispielsweise Apple-II-Spielen ohne den unverwechselbaren „Atari-Look“, nämlich eine Mischung verschiedener „farbenprächtiger“ und weichverschobener Grafiken, ergänzt um die typische POKEY-Musik nebst Geräuscheffekten.
Unter den für die Atari-Computer veröffentlichten Spielen befinden sich viele, die bereits in den frühen 1980er-Jahren als Videospieleklassiker galten: Star Raiders (vermutlich 1979), Asteroids (1981) und Pac-Man (1982). Insbesondere das 3D-Spiel Star Raiders galt vielen Spieledesignern der damaligen Zeit als prägendes Erlebnis und Grund, sich für einen Atari-Computer und nicht etwa einen Apple II oder Commodore PET zu entscheiden. In der Folge entstandene Werke wie Miner 2049er (Bill Hogue, Big Five Software, 1982), Eastern Front (1941) (Chris Crawford, APX, 1982), Capture the Flag (Paul Edelstein, Sirius Software, 1983), Archon (John Freemann, Electronic Arts, 1983) und M.U.L.E. (Daniel Bunten, Electronic Arts, 1983) zählen zu den herausragenden Titeln ihrer Zeit und ermöglichten Softwarehäusern wie beispielsweise MicroProse und Electronic Arts den raschen Aufstieg zu Branchenriesen.
Zu den beliebtesten Spielen für die Atari-Computer gehören neben den Infocom-Abenteuern großteils Shoot-’em-up-Spiele wie Crossfire (Sierra On-Line, 1981) und Blue Max (Synapse Software, 1983), Rennspiele wie Pole Position (Atari, 1983), Kriegssimulationen wie Combat Leader (SSI, 1983), aber auch Grafik-Adventures wie Excalibur (APX, 1983) und Murder on the Zinderneuf (Electronic Arts, 1983).
Zeitschriften
In den 1980er-Jahren spielten neben den Fachbüchern die Computerzeitschriften für viele Heimcomputerbesitzer eine große Rolle. Die häufig monatlich erschienenen Ausgaben enthielten Testberichte zu Neuheiten, Programmieranleitungen und Software zum Abtippen. Sie dienten weiterhin als Werbe- und Informationsplattform sowie zur Kontaktaufnahme mit Gleichgesinnten.
Speziell mit den Atari-Heimcomputern befassten sich die englischsprachigen Magazine Antic, Analog Computing, Atari Connection und Atari Age; gelegentliche Berichte und Programme für die Atari-Rechner veröffentlichten unter anderem auch die auflagenstarken Byte Magazine, Compute! und Creative Computing. Während der Atari 400 in Deutschland verkauft wurde, waren Informationen und Programme unter anderen in den Zeitschriften Chip, P.M. Computermagazin, Computer Persönlich und Mein Home-Computer zu finden.
Emulation
Nach dem Ende der Heimcomputerära Anfang der 1990er-Jahre und mit dem Aufkommen leistungsfähiger und erschwinglicher Rechentechnik Ende der 1990er-Jahre wurden von engagierten Enthusiasten verstärkt Programme zum Emulieren von Heimcomputern und deren Peripheriegeräten entwickelt. Zum Spielen alter Klassiker verschiedener Heimcomputersysteme reichte mithilfe der Emulatoren ein einzelnes modernes System mit Datenabbildern („Images“) der entsprechenden Heimcomputerprogramme. Das Aufkommen der Emulatoren setzte damit u. a. ein verstärktes Transferieren von sonst möglicherweise verloren gegangener Software auf moderne Speichermedien in Gang, womit ein wichtiger Beitrag zur Bewahrung digitaler Kultur geleistet wird.
Als leistungsfähigste Emulatoren für Windows und Linux-Systeme gelten Atari++, Atari800Win Plus, Mess32 und Altirra.
Rezeption
Zeitgenössisch
Nordamerika
Das Erscheinen des Atari 400 und 800 wurde durchweg positiv aufgenommen. Die auflagenstarke Zeitschrift Compute! schrieb von einer neuen Generation von Computern:
Von denselben Rezensenten wird zudem ausgeführt, dass die Einordnung der neuen Geräte am ehesten mit der eines Hybriden zwischen Videospiel und Computer zu umschreiben sei. Sie enthielten das Beste beider Welten, was sie damit zu einem Personalcomputer und Heimgerät gleichermaßen mache. Diese Eigenschaften prädestinierten den Atari 400 geradezu für Lern- und Unterhaltungszwecke. Da die beste Hardware ohne entsprechende Software zu ihrem Gebrauch jedoch nutzlos sei, habe Atari aus den Fehlern der Konkurrenz gelernt und dem Benutzer mit der Programmiersprache Atari BASIC einen ausgesprochen leichten Zugang zu den farbenprächtigen Grafik- und Toneigenschaften seiner Geräte zur Seite gestellt. Diese Vermarktung von aufeinander abgestimmter Hard- und Software – auch beim direkt auf die Atari 8-Bit-Computer zugeschnittenen äußerst populären Spiel Star Raiders – stelle ein Novum dar.
Kritisch beurteilt wurde der Mangel an Erweiterbarkeit des Atari 400, insbesondere die ursprünglich ausgelieferten 8 KB RAM würden zur Programmierung des hochgelobten Atari BASIC bei weitem nicht ausreichen. Durch das modulare Konzept wären mehr Anschlusskabel als etwa beim kompakten Commodore PET vonnöten, was unter Umständen von Nachteil sein könne ebenso wie das nicht-validierende Abspeichern von Programmen auf Kassette. Ab Sommer 1980 wurden vor allem Lieferschwierigkeiten und das Ausbleiben von anwendungsorientierter Software bemängelt und den Rechnern von Adam Osborne keine große Zukunft vorausgesagt.
Als sich die Atari-Computer entgegen den Voraussagen Osbornes dennoch etablieren konnten und sogar zum Marktführer aufgestiegen waren, wurden von der Fachpresse weiterhin Empfehlungen hauptsächlich für preisbewusste Haushalte ausgesprochen:
Übereinstimmend mit der Fachpresse sahen auch Spieleautoren wie David Fox (Programmierer bei Lucasfilm-Games) und Scott Adams (Gründer von Adventure International) in den Ataris die grafisch und tontechnisch leistungsfähigsten Geräte des gesamten Heimcomputermarktes:
Im Laufe der Zeit geriet Ataris Vermarktungskonzept aber auch in die Kritik, da die Fähigkeiten als Anwendungscomputer nicht klar genug herausgestellt und unterstützt würden. Obwohl die Atari-Computer seit ihrer Einführung einen guten Ruf auch als leistungsfähige Personal Computer genossen hätten, sei spätestens mit der Produktionseinstellung des leistungsfähigen Diskettenlaufwerks Atari 815 der Einsatzschwerpunkt der Geräte auf den Heimbereich mit besonderem Augenmerk auf den Unterhaltungs- und Bildungssektor verschoben worden. Dazu kämen Fehler bei der Wahl der Vertriebswege. Die Verlagerung des Verkaufs durch große Ladenketten hätte kleinere Fachgeschäfte mit entsprechender Kompetenz und Serviceleistungen bewogen, mangels Konkurrenzfähigkeit die Atari-Rechner aus dem Angebot zu nehmen. Damit wäre ein weiteres wichtiges Standbein zur Versorgung der Rechner mit leistungsfähiger Anwendungssoftware entfallen, so dass der Atari 400 letztlich nur noch als reine Spielekonsole wahrgenommen und gekauft wurde. Hinzu sei gekommen, dass Atari selbst nichts unternommen habe, diesen Umstand zu ändern und beispielsweise den Atari 400 mit mehr als 16 KB RAM ab Werk anzubieten.
Deutschsprachiger Raum
Kurz nach seinem Erscheinen in Deutschland wurde der Atari 400 vom damals auflagenstärksten Computermagazin Chip als einsteigerfreundliches Anfängergerät charakterisiert. Positiv hervorgehoben wurden zudem die stabile Geräteausführung, die grafischen Möglichkeiten, die Farbausgabe, eine ausführliche Dokumentation, die bereits vorhandene große Programmbibliothek nebst verschiedenen Programmiersprachen wie Atari PILOT und Atari Assembler und nicht zuletzt der günstige Preis. Kurz darauf wurde der Atari 400 durch dasselbe Computer-Magazin mit weitem Abstand vor dem Commodore VC 20 und Sinclair ZX81 zum „Computer des Jahres 1981“ gewählt:
Neben der auch von anderen Rezensenten gelobten Einsteigerfreundlichkeit bildeten die mangelnde Erweiterbarkeit und die einfach gehaltene Tastatur die häufigsten Kritikpunkte:
Retrospektiv
Bereits kurz nach der Ablösung durch die technisch kaum veränderten Nachfolgemodelle 600XL und 800XL wird dem Atari 400 eine „exzellente Konstruktion“ bescheinigt, die einen neuen Standard auf dem Heimcomputermarkt gesetzt habe. Die „phantastische Grafik“ spiegele sich vor allem in den guten Spielen wider, einer der Stärken des Atari 400. Einer der wenigen Kritikpunkte bildete nach Meinung von Michael S. Tomczyk und Dietmar Eirich der bei Einführung zu hohe Preis:
Rückblickend verstand es Atari laut Bill Loguidice und Matt Barton erstmals, die Eigenschaften einer reinen Spielemaschine mit den Fähigkeiten damaliger Heimcomputer bei gleichzeitig leichter Bedienbarkeit zu kombinieren. Als einer der Hauptgründe für das Gelingen dieser anspruchsvollen Aufgabe gelten den beiden Autoren die in die Entwicklung einfließenden Erfahrungen der bereits am Bau der erfolgreichen VCS-2600-Spielekonsole beteiligten Atari-Ingenieure. Als Ergebnis waren erstmals in einem Heimcomputer elektronische Spezialbausteine zur Entlastung des Hauptprozessors zur Anwendung gekommen. Deren grafische Raffinessen in Form von beispielsweise der Player/Missile-Grafik seien wegweisend für spätere Geräte gewesen. Auch die Soundeigenschaften hätten durch Verwendung eines Spezialbausteins zur damals obersten Qualitätskategorie gehört und der Atari 400 habe den Apple II damit als besten Spiele-Computer abgelöst.
Als entscheidenden Grund für die innerhalb kürzester Zeit ansteigende Popularität der Atari-Computer sehen die Autoren der Internetplattform Gamasutra die Veröffentlichung des Spiels Star Raiders:
Für den permanenten Mangel an leistungsfähiger Anwendungssoftware macht Tomczyk Ataris ursprüngliche und umstrittene Praktiken bezüglich der Veröffentlichung technischer Dokumentationen verantwortlich:
Eine spätere Änderung der restriktiven Informationenspolitik hätte den bereits entstandenen Rückstand nicht mehr aufholen helfen können. So seien mit fortschreitender Zeit hauptsächlich Spiele für die Atari-Heimcomputer erschienen, womit diese nun mehr und mehr als reine Spielemaschinen wahrgenommen wurden:
Durch die damit von Atari selbstgeschaffene Konkurrenz zur hauseigenen Spielekonsole VCS 2600 und hauptsächlich infolge aufkommender Konkurrenz durch Texas Instruments und Commodore mit ihren umfangreichen Programmbibliotheken im Anwendungsbereich hätten die Verkaufserfolge nicht weitergeführt werden können. Entscheidende Marktanteile wären damit ab 1983 wieder dem Apple II und vor allem dem neu erschienenen Commodore 64 zugefallen.
Der Atari 400 ist ständiges Ausstellungsstück im Computerspielemuseum Berlin.
Literatur
Atari Inc.: Technical Reference Notes. 1982 ().
Atari Inc.: Field Service Manual. ().
Jeffrey Stanton, Robert P. Wells, Sandra Rochowansky, Michael Mellin: Atari Software 1984. The Book Company, 1984, ISBN 0-201-16454-X.
Julian Reschke, Andreas Wiethoff: Das Atari Profibuch. Sybex-Verlag GmbH, Düsseldorf, 1986, ISBN 3-88745-605-X.
Eichler, Grohmann: Atari 600XL/800XL Intern. Data Becker GmbH, 1984, ISBN 3-89011-053-3.
Marty Goldberg, Curt Vendel: Atari Inc. – Business is Fun. Syzygy Company Press, 2012, ISBN 978-0-9855974-0-5.
Weblinks
Atari++ Emulator für UNIX/Linux-Systeme (englisch)
Altirra Emulator für Windows-Systeme (englisch)
Xformer 10 Emulator für Windows 10 (englisch)
AtariAge Internationales Forum für Atari-8-Bit-Freunde (englisch)
Michael Currents Webseite mit vielen Ressourcen, u. a. den häufig gestellten Fragen zum Thema Atari (F.A.Q., englisch)
Anmerkungen und Einzelnachweise
400
Heimcomputer |
34788 | https://de.wikipedia.org/wiki/Ardipithecus%20ramidus | Ardipithecus ramidus | Ardipithecus ramidus ist der Name einer 4,4 Millionen Jahre alten Art der Menschenaffen aus der Gattung Ardipithecus, deren Fossilien bisher nur in Äthiopien gefunden wurden. Sie zählt zu den ältesten bekannten Arten in der Entwicklungslinie der Hominini. Ardipithecus ramidus gehört möglicherweise zu den direkten Vorfahren der Gattungen Australopithecus und Homo oder steht ihnen zumindest sehr nahe.
Die besondere Bedeutung der Fossilienfunde von Ardipithecus ramidus besteht darin, dass jahrzehntealte Hypothesen zur Stammesgeschichte des Menschen, denen zufolge der Knöchelgang von Schimpansen und Gorillas ein ursprüngliches Merkmal sei, in Frage gestellt wurden.
Namensgebung
Die Bezeichnung der Gattung Ardipithecus wurde 1995 teils aus der Afar-Sprache abgeleitet (von ardi, „Erdboden“), teils aus dem Griechischen (von „πίθηκος“, altgriechisch ausgesprochen píthēkos, „Affe“). Das Epitheton ramid, „Wurzel“ ist ebenfalls der Afar-Sprache entlehnt. Ardipithecus ramidus bedeutet dem Sinne nach folglich „Bodenaffe an der Wurzel des Menschen“. Ardipithecus ramidus ist die Typusart der Gattung Ardipithecus.
Erstbeschreibung
Als Holotypus von Ardipithecus ramidus wurden im September 1994 in der Erstbeschreibung durch Forschende des Middle Awash Research Project zehn zusammengehörige Zähne aus einem Oberkiefer und einem Unterkiefer benannt (Archiv-Nummer ARA-VP-6/1; ARA-VP = Aramis Vertebrate Paleontology). Als Paratypen wurden zahlreiche weitere Zähne und einige andere Skelettfragmente von 17 Individuen ausgewiesen. Verwahrort der Fossilien ist das Nationalmuseum von Äthiopien in Addis Abeba.
Die Funde wurden 1994 als Belege für die bis dahin urtümlichste Art der Gattung Australopithecus interpretiert und Australopithecus ramidus genannt. Schon zwischen November 1994 und Januar 1995 wurden jedoch im gleichen Fundhorizont – 50 Meter vom Fundort der Holotypus-Zähne entfernt – weitere aussagekräftige Knochen entdeckt. Darunter waren ein Unterkiefer sowie zahlreiche, einem einzigen Individuum zugehörige Knochen des Oberkörpers und der Gliedmaßen: jenes Individuums, das 15 Jahre später als „Ardi“ bekannt wurde. Insbesondere die zusätzlich geborgenen, in Relation zu den Knochen relativ kleinen Zähne wichen stark von der Bezahnung aller bis dahin bekannten Australopithecus-Funde ab; daher sah sich die Forschergruppe im Mai 1995 veranlasst, die Fossilien der neuen Gattung Ardipithecus zuzuordnen und sie somit neben (aber zeitlich vor) die Gattung Australopithecus zu stellen.
Als kennzeichnend wurden 1995 u. a. die im Vergleich zu den Backenzähnen relativ langen Eckzähne erwähnt; 2009 wurde auf Basis von nunmehr 145 Zähnen von 21 Individuen die Deutung der Eckzähne revidiert und – im Gegenteil – eine bereits früh einsetzende Tendenz zur Reduzierung der Größe von Eckzähnen bei den Hominini beschrieben; hieraus wurden weitreichende Schlussfolgerungen zum Sozialverhalten von Ardipithecus abgeleitet.
Entdeckung
Am 17. Dezember 1992 hatte der japanische Paläoanthropologe Gen Suwa (Universität Tokio) ein erstes Fragment entdeckt: die Wurzel eines oberen hinteren Backenzahns M3 (ARA-VP-1/1). Kurz darauf, Ende 1992 / Anfang 1993, wurde dann die Gruppe von zehn zusammengehörigen Zähnen entdeckt, ferner wurden die später als Paratypen ausgewiesenen Funde weiterer Individuen geborgen.
Bisher einzige Fundstellen sind Aramis, ca. 100 km südlich von Hadar, westlich des Flusses Awash im Afar-Dreieck, sowie Gona, 60 km nördlich von Aramis. Die überwiegende Mehrzahl der Funde stammt aus Aramis; sie traten infolge von Regenerosion an den Abhängen hervor, die den Awash in diesem Gebiet heute beidseits flankieren. Die Datierung der Funde gilt als äußerst zuverlässig, da sowohl unmittelbar über als auch unmittelbar unter der Fossilien führenden Schicht von Aramis vulkanisches Material abgelagert wurde. Dessen Altersbestimmung mit Hilfe der Kalium-Argon-Datierung (39Ar-40Ar-Methode) ergab jeweils 4,42 Millionen Jahre. 2005 wurden vom „Gona Paleoanthropological Research Project“ für Gona 4,51 bis 4,32 Millionen Jahre ausgewiesen; diese Funde waren zwischen 1999 und 2003 geborgen worden und stammten von mindestens neun Individuen. 2009 wurden in der Fachzeitschrift Science schließlich unter Beteiligung von 47 Wissenschaftlern elf Studien veröffentlicht. In ihnen wurden 110 Fundstücke aus Aramis, die von mindestens 36 Individuen stammen, analysiert. Ihnen wurde erneut ein Alter von 4,4 Mio. Jahren zugeschrieben.
Alle Funde von Ardipithecus ramidus aus Aramis stammen aus einem drei bis sechs Meter mächtigen, feinkörnigen fossilen Alluvialboden, der in einer relativ kurzen Zeitspanne von nur 100 bis maximal 10.000 Jahren entstand. Sowohl die Feinkörnigkeit der Sedimentschicht als auch der Zustand der fossilen Knochen (das Fehlen von Abriebspuren) deuten darauf hin, dass sie nicht oder nur unwesentlich durch Wasser verdriftet wurden. Auch die Analyse der geologischen Gegebenheiten wurde dahingehend interpretiert, dass die Fossilien in einer flachen Flussaue – weit abseits des seinerzeitigen Hauptflussbetts – abgelagert wurden.
Das Fossil „Ardi“
Mit dem Spitznamen Ardi bezeichneten seine Entdecker den im Oktober 2009 publizierten Fund eines besonders vollständigen weiblichen Skeletts. Seine ersten Überreste waren bereits 1994 entdeckt worden; für Ardi, „das älteste hominine Skelett“, das bisher bekannt ist (Tim White), wurde ein Gewicht von 51 kg und eine Körpergröße von ungefähr 120 cm berechnet. Wichtige Erkenntnisse zur Anatomie von Ardipithecus ramidus und – daraus abgeleitet – zur Lebensweise dieser Art und zur Evolution der frühen Hominini wurden aus der Analyse dieses Skeletts gewonnen. Die Redaktion des Fachmagazins Science erkor dessen umfassende und interdisziplinäre Bearbeitung im Dezember zur wichtigsten wissenschaftlichen Veröffentlichung des Jahres 2009.
Körperbau
Die Untersuchung des Körperbaus von Ardipithecus ramidus lieferte zahlreiche Hinweise darauf, dass sich die Schimpansen weit weniger als Modell für den Körperbau der frühen Hominini eignen, als zuvor von vielen Forschern angenommen worden war. Insbesondere aus der Gestalt der Schädelfragmente wurde auf eine verwandtschaftliche Nähe zu Australopithecus und Homo geschlossen.
Hand und Fuß
Ardipithecus ramidus besaß der 1994 publizierten Erstbeschreibung zufolge relativ lange, leicht gebogene, affenähnliche Fingerglieder, die ihn als Baumbewohner ausweisen. Unklar blieb zunächst aber, ob Ardipithecus ramidus bereits aufrecht gehen konnte. In den 2005 und 2019 veröffentlichten Beschreibungen der Funde aus Gona wurde aus der Form aufgefundener Knochen von Zehen und des teilweise erhaltenen Skeletts GWM67/P2 dann aber die Fähigkeit zum aufrechten Gang abgeleitet. Da von „Ardi“ große Teile des Kopfes, der Hände und Füße sowie des Beckens erhalten sind, gilt es dem Autorenteam der 2009 veröffentlichten Studien zufolge nunmehr als gesichert, dass Ardipithecus ramidus zwar noch überwiegend ein Baumbewohner war, sich jedoch auch am Boden aufrecht fortbewegen konnte, wenngleich in einer stammesgeschichtlich ursprünglicheren Weise als Australopithecus afarensis.
Einer 2021 publizierten Studie zufolge soll Ardipithecus ramidus sich im Geäst der Bäume möglicherweise überwiegend „hängend“ fortbewegt haben.
Gebiss
Die Analyse der Knochenfunde ergab zudem, dass die männlichen und weiblichen Individuen von Ardipithecus ramidus einander wesentlich stärker ähnelten als man dies von den späteren Australopithecus-Arten kennt; offenbar sei der Sexualdimorphismus bei Ardipithecus nur schwach ausgeprägt gewesen. Zu dieser Schlussfolgerung kamen die Forscher 2009, da sie aufgrund der zahlreichen Zahnfunde sicher sein konnten, dass darunter Zähne beider Geschlechter waren. Demnach sind die Oberkiefer-Eckzähne von Ardipithecus ramidus ungefähr gleich groß wie die Eckzähne der heute lebenden weiblichen Schimpansen (Pan troglodytes) und der männlichen Bonobos (Pan paniscus), jedoch fehlt allen bisher entdeckten fossilen Eckzähnen die lange, dolchartige Krone der Schimpansen-Eckzähne. Entsprechend sind im Unterkiefer keine Vorderbackenzähne (Prämolaren P₃) und keine Zahnlücken (Diastemata) nachweisbar, in die die langen oberen Eckzähne anderer Arten hineinpassen und sich an den benachbarten Unterkieferzähnen durch stetigen Abrieb (so genanntes Honen) schärfen.
Die markante, längliche Krone der oberen Eckzähne ist von vielen fossilen und heute lebenden männlichen Affen bekannt und gilt als ein Merkmal, das die gemeinsamen Vorfahren aller heute lebenden Affen besaßen. Dieses Merkmal ist demnach bei Ardipithecus ramidus verloren gegangen und später bei den Vertretern der Gattung Australopithecus und Homo weiter reduziert worden. Die Forscher leiten aus dieser Veränderung Rückschlüsse auf das Sozialverhalten ab. Die dolchartigen Eckzähne des Oberkiefers dienen bei den heute lebenden männlichen Affen regelmäßig u. a. als ‚Waffe‘ bei Rangordnungskämpfen innerhalb der eigenen Gruppe und bei Kämpfen mit Individuen anderer Gruppen. Die „dramatische Feminisierung“ der männlichen Eckzähne lege nahe, dass sich aufgrund sexueller Selektion auch das Sozialverhalten, insbesondere das agonistische Verhalten und das Imponierverhalten, verändert habe, „lange bevor die Hominini ein vergrößertes Gehirn hatten und Steinwerkzeuge benutzten.“
Der Zahnschmelz der hinteren Backenzähne von Ardipithecus ramidus ist dünner als der von Australopithecus, aber etwas dicker als der Zahnschmelz beider Schimpansenarten. Daraus wurde abgeleitet, dass Ardipithecus ramidus vermutlich omnivor war, also – anders als die Schimpansen – nicht auf Früchte als Nahrungsquelle spezialisiert war, aber auch – anders als die Gorillas und die Australopithecinen – nicht auf stark faserhaltige Kost. Dies wiederum führt den Forschern zufolge zu dem Schluss, dass die Nahrungsgewohnheiten der Schimpansen und Gorillas sich erst nach der Trennung ihrer Entwicklungslinien von jener der Hominini entwickelt haben.
Habitat
Aus fossilen Knochenfunden anderer Tierarten hatten schon die Autoren der Erstbeschreibung geschlossen, dass das Habitat von Ardipithecus ramidus bewaldet und wasserreich gewesen sein muss. Die 2005 beschriebenen Funde des „Gona Paleoanthropological Research Project“ bestätigten diese Darstellung. Diese Funde stammten unter anderem von baumbewohnenden Schlank- und Stummelaffen, laubfressenden Kudus, Schweinen, Pferden und Nashörnern sowie – relativ selten – von grasfressenden Antilopen und pavianartigen Affen.
Die 2009 veröffentlichten Befunde verfeinerten die Kenntnisse über den Lebensraum von Ardipithecus ramidus erheblich, da insgesamt mehr als 150.000 Pflanzen- und Tierfossilien aufgesammelt worden waren. Mehr als 6000 Funde konnten Wirbeltieren mindestens auf der Ebene ihrer Familie zugeordnet werden – darunter sowohl Spitzmäuse, Gerbils und Fledermäuse als auch Hyänen (Ikelohyaena abronia), Bären (Agriotherium) und Elefanten. Eine Besonderheit sind zudem die 370 gefundenen Überreste von mindestens 29 zumeist landbewohnenden Vogelarten aus 16 Familien, da Vögel in Schichten, die Hominiden-Fossilien führen, andernorts sehr selten sind; deren Überreste stammen den Forschern zufolge zumeist aus Gewöllen von Eulen. Zahlreiche größere Knochen weisen Bissspuren von Fleischfressern auf, auch fehlen oft die Enden der großen Röhrenknochen, und nur wenige Schädel wurden gefunden; daher sind vollständig erhaltene Skelette äußerst selten. Daraus wird geschlossen, dass es im Habitat von Ardipithecus ramidus einen vergleichbaren Wettbewerb um Kadaver gab wie heute im Ngorongoro-Krater. Insgesamt dominieren jedoch die Pflanzenfresser unter den identifizierten Arten, speziell solche, die sich überwiegend von Blättern und Früchten ernähren.
Auch die Pflanzenreste ließen bereits aufgrund der 2005 publizierten Daten auf eine abwechslungsreiche Landschaft aus Wäldern, Gebüschen, Feuchtgebieten und Savannen-ähnlichen Bereichen schließen, wie sie auch aus den Begleitfunden von Sahelanthropus abgeleitet worden war. 2009 wurde ergänzend mitgeteilt, dass man versteinertes Holz von Zürgelbäumen (Celtis sp.), Feigen (Ficoxylon) und Palmen nachgewiesen habe, die allerdings das Biotop nicht dominiert hätten, sondern bekanntermaßen besonders gut fossilisieren. Der Nachweis von Pollen gelang u. a. für diverse Gräser (darunter sowohl Süßgräser als auch Sauergrasgewächse) sowie für Vertreter der Gattung Myrica. Aus dem Verhältnis der Pollen von einerseits Gräsern, andererseits Palmen und zweikeimblättrigen Bäumen wurde abgeleitet, dass maximal 40 bis 65 Prozent der Fläche von Bäumen bedeckt war. Da das Gelände zu Lebzeiten von Ardipithecus ramidus zeitweise von dem benachbarten Flusssystem überflutet wurde, fand man auch einige Fische (am häufigsten Raubwelse und Vertreter der Gattung Barbus) sowie zahlreiche Krokodilzähne. Den Autoren zufolge fanden sich weder Anzeichen für eine Regenwald-Vegetation noch für eine steppenartige Trockenvegetation oder für reines Grasland.
Als Ergebnis der Zusammenschau ihrer geologischen und botanischen Analysen schrieben die Forscher, „dass Ardipithecus ramidus nicht in einer offenen Savanne lebte, die man einstmals als das vorherrschende Habitat der frühesten Hominini angesehen hatte, sondern in einer Umwelt, die feuchter und kühler war als heute [im heutigen Afar-Dreieck] und Habitate aus geschlossenem Waldland und aufgelockertem Baumbestand umfasste.“ Zu gleichartigen Schlussfolgerungen kamen jene Studien, in denen die Vögel sowie die kleinen und die großen Wirbeltiere untersucht worden waren.
Die 2009 publizierten Befunde, aber auch schon die 2005 veröffentlichten Analysen trugen dazu bei, dass die sogenannte Savannen-Hypothese – ein Versuch, das Entstehen des aufrechten Ganges bei den Hominini aus dem Leben in einer Savannen-Landschaft zu erklären – als widerlegt gilt.
Nahrung
Schon aus der äußerlich erkennbaren Beschaffenheit der Zähne und aus der Dicke ihrer Zahnschmelz-Schicht konnte abgeleitet werden, dass Ardipithecus ramidus weder an besonders harte, abrasive noch an besonders weiche, vorwiegend aus Früchten bestehende Kost angepasst war und somit am wahrscheinlichsten als omnivor gelten kann. Zusätzlich wurde mit Hilfe einer Isotopenuntersuchung das Verhältnis der beiden stabilen Kohlenstoff-Isotope 12C und 13C im Zahnschmelz von fünf Individuen analysiert, aus dessen Differenz (δ13C-Wert) – ebenso wie aus dem Verhältnis der beiden stabilen Sauerstoff-Isotope 18O/16O (δ18O-Wert) – auf die Ernährungsgewohnheiten zurückgeschlossen werden kann: C3-Pflanzen (zum Beispiel Gräser) nehmen weniger 13C auf als C4-Pflanzen, und aus dem δ18O-Wert sind zusätzlich Rückschlüsse auf Temperatur und Feuchtigkeit eines Biotops möglich. Die Messergebnisse von Ardipithecus ramidus wurden anschließend verglichen mit den Befunden aus gleichartigen Untersuchungen des Zahnschmelzes anderer fossiler Tierarten aus der gleichen Fundschicht, deren Lebens- und Ernährungsgewohnheiten als unzweifelhaft bekannt gelten: u. a. Otter (Enhydriodon), Bär (Agriotherium), Giraffen (Giraffa und Sivatherium) und Pferd (Eurygnathohippus). Im Ergebnis bestätigten diese Messungen und Vergleiche, dass Ardipithecus ramidus sich seine Nahrung regelmäßig in Laubwäldern suchte und nur zu einem weit geringeren Teil in Grasland; dies unterscheidet ihn deutlich sowohl von Australopithecus africanus und Australopithecus robustus als auch von den frühesten Vertretern der Gattung Homo.
Wissenschaftliche Bedeutung
Seit der Entdeckung von „Lucy“ im Jahr 1974 war bekannt, dass die Individuen von Australopithecus afarensis vor rund 3,2 Millionen Jahren zwar nur ein Gehirn besaßen, das ungefähr so groß war wie das eines Schimpansen, aber „bereits aufrecht wie wir gehen“ konnten. Über welche Zwischenstufen sich der aufrechte Gang entwickelt hatte, blieb mangels aussagekräftiger fossiler Belege jedoch mehr als 30 Jahre lang rätselhaft. Erst die 2009 publizierten Analysen der Fossilien von Ardipithecus ramidus erbrachten solide Erkenntnisse über die Entwicklung der Hominini im Übergang vom vierfüßigen Baumbewohner zum zweifüßigen Bewohner offener Savannen.
Als „größte Überraschung“ gilt die Erkenntnis, dass Ardipithecus „keine Übergangsform zwischen Australopithecus und einem Vorfahren ist, der den heute lebenden Schimpansen und Gorillas ähnelte.“ Es fanden sich weder Anhaltspunkte für den Knöchelgang der Schimpansen und Gorillas noch für deren vorspringende Schnauzen und für ihre dolchartig verlängerten Eckzähne. Auch das relativ unbewegliche Handgelenk der Schimpansen und Gorillas erwies sich als Folge einer speziellen evolutionären Anpassung in den zu diesen beiden Arten führenden Entwicklungslinien, das heißt als „abgeleitetes“ („fortschrittliches“) Merkmal. Umgekehrt können nunmehr die relativ kleinen Eckzähne des Menschen sowie seine hochgradig beweglichen Hände als stammesgeschichtlich ursprünglichere („primitivere“) Merkmale im Vergleich zu den entsprechenden Anpassungen der Schimpansen und Gorillas bezeichnet werden. Zuvor hatten viele Paläoanthropologen den Körperbau der beiden afrikanischen Menschenaffen-Arten als Modell für den letzten gemeinsamen Vorfahren des Menschen und der Schimpansen – auch in Bezug auf agonistisches Verhalten – herangezogen.
Der Bau der Füße, deren große Zehen weit abgespreizt und daher zum Umklammern von Ästen eingesetzt werden konnten, widerlegte nicht bloß die Savannen-Hypothese; die Anordnung der Fußknochen unterstützt zugleich die Hypothese von der Entwicklung des aufrechten Gangs auf Bäumen als Anpassung an den Nahrungserwerb.
Einer der Hauptautoren der im Oktober 2009 in Science veröffentlichten Studien, C. Owen Lovejoy, der schon an der Rekonstruktion des Skeletts von Lucy mitgewirkt hatte, fasste die Ergebnisse dieser Studien wie folgt zusammen:
„Seit der Zeit Darwins standen zumeist die heute lebenden afrikanischen Menschenaffen Pate, wenn die frühe Evolution des Menschen rekonstruiert wurde. Diese Modelle veranschaulichen grundlegende menschliche Verhaltensweisen als Steigerung von Verhaltensweisen, die man bei Schimpansen und/oder Gorillas beobachten kann (zum Beispiel aufrechte Haltung bei der Nahrungsaufnahme, männliches Dominanzverhalten, Werkzeuggebrauch, Kultur, Jagd und Kriegsführung). Ardipithecus falsifiziert im wesentlichen solche Modelle, denn die heute lebenden afrikanischen Menschenaffen sind hochgradig abgeleitete Verwandte unseres letzten gemeinsamen Vorfahren.“
An anderer Stelle sagte C. Owen Lovejoy über die Konsequenzen aus den Analysen von Ardipithecus:
„Die Leute denken oft, dass wir von Menschenaffen abstammen, aber dem ist nicht so; die Menschaffen stammen in mancherlei Hinsicht von uns ab.“
Verwandte Arten
Nachdem 2001 in der äthiopischen Afar-Senke mehrere ähnlich alte Fossilien gefunden worden waren, wurden diese zunächst als Unterart Ardipithecus ramidus kadabba und Ardipithecus ramidus als Ardipithecus ramidus ramidus bezeichnet. Bereits 2004 wurde Ardipithecus ramidus kadabba jedoch als eigene Art (Ardipithecus kadabba) neben Ardipithecus ramidus gestellt. Zugleich wurde allerdings angemerkt, dass Sahelanthropus und Orrorin zum gleichen Formenkreis wie Ardipithecus gehören und – nach dem Auffinden weiterer Fundstücke – möglicherweise einer einzigen Gattung zugeordnet werden könnten.
Im Februar 2005 hatten österreichische Forscher um Horst Seidler in der südäthiopischen Steinwüste von Galili zudem das gut erhaltene Oberteil eines homininen Oberschenkelknochens entdeckt, dessen Kopf und Hals auf ein aufrechtgehendes Individuum schließen lassen. Das Alter dieses Fossils wurde auf 4,38 bis 3,92 Millionen Jahre datiert; ob es zu Ardipithecus ramidus gehört oder zu einer verwandten Art, ist unklar.
Kontroversen
Bereits unmittelbar nach der Fundbeschreibung war „diese seltsame Art des Ganges“ von Ardi als „verblüffend“ bezeichnet worden: „die Konstruktion dieses Fußes, mit dem Ardi auf Baumästen herumstolziert sein soll – da ist mir noch nicht ganz klar, wie das gehen soll“, wurde beispielsweise der deutsche Paläoanthropologe Friedemann Schrenk zitiert. Zuvor hatte bereits Teamchef Tim White darauf hingewiesen, „dass man schon in die Weltraumbar von Star Wars gehen müsse, wenn man ein Wesen finden wolle, das sich ähnlich eigenwillig bewege wie Ardi es getan hat“. Allerdings hatte auch der wesentlich ältere Oreopithecus bambolii eine ähnlich markant abstehende Große Zehe.
Im Mai 2010 publizierte Science dann zwei als Technische Kommentare ausgewiesene kurze Stellungnahmen, die Zweifel an der Korrektheit der Interpretation der fossilen Knochen und der Fundumstände anmeldeten. So argumentierte der Anatom und Primatologe Esteban Sarmiento, die den Ardipithecus-Fossilien zugeschriebenen Merkmale seien nicht geeignet, sie eindeutig als direkte Vorfahren der späteren Hominini auszuweisen; vielmehr legten die anatomischen Merkmale sowie genetische Berechnungen anhand der molekularen Uhr seiner Meinung nach nahe, dass Ardipithecus ramidus vor 4,4 Millionen Jahren bereits vor der Trennung der beiden Entwicklungslinien lebte, die einerseits zu den afrikanischen Menschenaffen und andererseits zu den Menschen führte. Falls Ardipithecus nach der Trennung beider Entwicklungslinien lebte, sei er möglicherweise an die Basis der afrikanischen Menschenaffen zu stellen. Tim White wies die Kritik umgehend zurück und verwies insbesondere darauf, dass die Trennung der Entwicklungslinien von Schimpansen und Hominini nach überwiegender Meinung der Paläoanthropologen wesentlich früher (vor 7 bis 5 Millionen Jahren) erfolgte. Zudem wiesen die Merkmale des Beckens, der Bezahnung und des Unterkiefers Ardipithecus als engen Verwandten von Australopithecus aus, da sie nur mit ihm diese Merkmale teilten und es unwahrscheinlich sei, dass diese Merkmalskombination sich mehrfach unabhängig voneinander entwickelt habe.
Im zweiten technischen Kommentar argumentierte eine Gruppe von Forschern mehrerer US-amerikanischer Universitäten, dass Ardis Habitat keineswegs so waldreich gewesen sei, wie von White und Mitarbeitern behauptet. Aus den Begleitfunden könne man vielmehr ableiten, dass es sich um eine typische, offene Savannenlandschaft (Baum- oder Buschsavanne) mit 25 Prozent oder weniger Fläche unter Baumkronen sowie vereinzelten Auwäldern und bewaldeten Flussufern handelte. Zu diesem Ergebnis kamen die Kritiker zum einen aufgrund des Überwiegens von C4-Pflanzen im Vergleich zu C3-Pflanzen in Bodenproben der Fundregion, was ihrer Meinung nach für ein Überwiegen offener Graslandschaften spricht. Zum anderen verwiesen sie darauf, dass – anders als von White und Mitarbeitern behauptet – mehr Fossilien von grasfressenden Huftieren als von blätter- und früchtefressenden Arten entdeckt worden seien. Insbesondere das völlige Fehlen von Duckern wurde als Indiz für eine waldarme Umgebung gewertet; die Vielzahl baumbewohnender Affen sowie der Nachweis einer fossilen Kudu-Art (Tragelaphus cf. moroitu) könne hingegen durch die Existenz von Galeriewäldern erklärt werden. Auch diese Kritik wurde umgehend zurückgewiesen. So sei die Vielzahl der entdeckten Fossilien von baumlebenden Affen nicht allein durch die Existenz schmaler Zonen von bewaldeten Ufern zu erklären. Zudem habe man zwar tatsächlich viele grasfressende Tierarten nachgewiesen; die Anzahl der nachgewiesenen Individuen dieser Arten sei jedoch wesentlich geringer als die Anzahl der Individuen jener Arten, deren Bezahnung an Laub und Früchte als Nahrung angepasst gewesen sei.
Im Februar 2011 kritisierten auch Bernard Wood und Terry Harrison in einem Review-Artikel die Zuordnung von Ardipithecus ramidus sowie von Orrorin tugenensis und Sahelanthropus tchadensis zum Taxon Hominini als voreilig. Zwar seien insbesondere die relativ kleinen Schneide- und oberen Eckzähne, das Fehlen des Diastemas, die Position des Foramen magnum, die relativ kurze Schnauze und der Bau des Beckens ein Hinweis auf eine mögliche Zugehörigkeit zu den frühen Hominini; jedoch seien diese Merkmale keineswegs ausschließliche Merkmale der Hominini, sondern beispielsweise auch für Oreopithecus bambolii belegt, der – wie auch Ramapithecus punjabicus – zunächst an die Basis der Hominini gestellt, später aber aufgrund anderer Merkmale zweifelsfrei abseits der Hominini eingeordnet wurde. Nicht auszuschließen sei daher, dass die Ähnlichkeit der Merkmale von Ardipithecus, Orrorin und Sahelanthropus mit denen der ältesten als unzweifelhaft hominin geltenden Art Australopithecus anamensis als Synapomorphie zu bewerten ist und auf konvergente Entwicklungen verweise. Diese Möglichkeit war allerdings auch von der Arbeitsgruppe um Tim White als „Hypothese 3“ offengelassen worden; sie wurde jedoch – nach Gegenüberstellung mit der Hypothese, dass Ardipithecus ramidus ein direkter Vorfahre von Australopithecus anamensis / Australopithecus afarensis sei – als weniger wahrscheinlich ausgewiesen. 2019 wurde Ardipithecus ramidus erneut lediglich als „Schwester-Taxon“ aller späteren Hominini interpretiert.
Weblinks
Im Original veröffentlicht auf archaeologyinfo.com (englisch).
Roland Knauer: Ardi, unsere älteste bekannte Vorfahrin. Auf: zeit.de vom 1. Oktober 2009.
Belege
Menschenaffen
Hominidae
Ausgestorbener Menschenaffe
Paläoanthropologie |
39509 | https://de.wikipedia.org/wiki/Alte%20Br%C3%BCcke%20%28Heidelberg%29 | Alte Brücke (Heidelberg) | Die Karl-Theodor-Brücke in Heidelberg, besser bekannt als die Alte Brücke, ist eine Brücke über den Neckar. Sie verbindet die Altstadt mit dem gegenüberliegenden Neckarufer am östlichen Ende des Stadtteils Neuenheim. Die Alte Brücke wurde 1788 unter Kurfürst Karl Theodor als insgesamt neunte Brücke an dieser Stelle nun aus regionalem roten Sandstein errichtet. Die großräumige Bedeutung dieser Brücke liegt in der Ermöglichung einer sicheren Nord-Süd-Passage am rechten Rheinufer in Deutschland. Sie war über Jahrhunderte die erste Brücke über den in Mannheim in den Rhein mündenden Neckar, das Fahrzeugen ganzjährig eine sichere Querung des Neckars im Nord-Süd-Warenverkehr ermöglichte.
Heute gehört sie neben der Ruine des Heidelberger Schlosses zu den Sehenswürdigkeiten im Stadtbild Heidelbergs. Im modernen dreiteiligen Logo der Stadt aus Mauerkrone-Fluss-Brücke ist sie ebenfalls präsent.
Geschichte
Mit einem Alter von etwas unter 250 Jahren ist die 1788 fertiggestellte Alte Brücke bautechnisch noch jung. Ihren (inoffiziellen) Namen erhielt die Alte Brücke, nachdem 1877 mit der weiter westlich gelegenen Friedrichsbrücke (heute Theodor-Heuss-Brücke) in der Stadt eine zweite Brücke gebaut worden war. An der Stelle der Alten Brücke hatten sich seit dem 13. Jahrhundert bereits acht Vorgängerbrücken, meistens aus Holz, befunden, auf deren Fundamenten die Brücke gebaut ist. Auch das Brückentor mit den zwei Türmen am Südende der Brücke existiert schon seit dem Mittelalter. Bereits früher gab es in Heidelberg ganz in der Nähe eine römische Neckarbrücke.
Ihre Relevanz für den Nord-Süd-Verkehr heute: Sie kann von Fußgänger- und Radverkehr genutzt werden und ist mon- bis freitags vor 11:00 Uhr und nach 16:00 Uhr auch für den Autoverkehr von Anliegern zugelassen. Meist ist sie der vielbesuchte „Selfie-Point“ für Kurzzeit-Touristen in Richtung Schlossruine. Als Brücke hat sie nur noch untergeordnete Bedeutung, da sich im Stadtgebiet östlich zwei Fußgängerquerungen und eine Straßenbrücke und nach Westen drei breite Straßenbrücken befinden.
Eine Dauerbaustelle zur Sanierung der Pfeiler-Fundamente schränkt derzeit (ab 2022) die Straßenbreite der Brücke stark ein.
Vorgängerbauten
Die ersten Brücken im Gebiet des heutigen Heidelberg waren bereits in römischer Zeit gebaut worden: Im 1. Jahrhundert n. Chr. errichteten die Römer eine Holzbrücke über den Neckar, die um das Jahr 200 durch eine Steinpfeilerbrücke ersetzt wurde. Diese befand sich aber weiter westlich zwischen den heutigen Stadtteilen Neuenheim und Bergheim. Nachdem die Römerbrücke verfallen war, blieb Heidelberg für fast ein Jahrtausend brückenlos. Der Neckar konnte im Sommerhalbjahr nur durch Furten überquert werden.
Erst nach der planmäßigen Stadtgründung Heidelbergs, die Ende des 12. oder Anfang des 13. Jahrhunderts stattfand, entstand wieder eine Brücke über den Neckar. Wann genau diese Brücke gebaut wurde, ist unbekannt, erstmals urkundlich erwähnt wird sie im Jahr 1284. Diese Brücke befand sich an der Stelle der heutigen Alten Brücke. Ihre Lage war genau auf den Stadtgrundriss Heidelbergs mit dem Marktplatz angepasst. Gründe für den Brückenbau dürften die Verbindung zum rechts des Neckars gelegenen Kloster Schönau sowie wirtschaftliche Interessen gewesen sein, denn man hoffte den bislang an Heidelberg vorbeigegangenen Nord-Süd-Verkehr durch die Stadt umleiten zu können. Es handelte sich bei der Brücke um eine sogenannte Außenbrücke, weil sie nicht zwei Stadtteile miteinander verband, sondern aus der Stadt heraus- bzw. hineinführte. Tatsächlich stellte die Brücke sogar lange die Außengrenze der Kurpfalz dar, denn bis 1460 gehörte das nördliche Neckarufer zu Kurmainz. Dementsprechend war die Brücke im Rahmen der Stadtbefestigung Heidelbergs durch ein Brückentor gesichert.
1288 wurde die erste bekannte Brücke durch Eisgang zerstört. Auch den nächsten Brücken, die allesamt keine allzu lange Lebensdauer erreichten, war das gleiche Schicksal beschieden: Die zweite Brücke wurde 1308, die dritte Brücke 1340, die vierte Brücke um 1400 und die fünfte Brücke 1470 jeweils durch Eisgang zerstört. Von den fünf ersten Brücken sind keine bildlichen Darstellungen überliefert. Anders bei der sechsten: Von dieser kennen wir zwei Darstellungen aus der Feder Sebastian Münsters, weshalb man sie auch als „Münster-Brücke“ bezeichnet. Ein kleiner, runder Holzschnitt in Münsters Calendarium Hebraicum aus dem Jahr 1527 zeigt eine einfache Ansicht von Heidelberg samt der Brücke. Detaillierter ist die Darstellung im Heidelberg-Panorama aus Münsters Cosmographia (1550). Aus diesen bildlichen Überlieferungen wird ersichtlich, dass es sich um eine Brücke mit acht steinernen Pfeilern und einer gedeckten, an den Seiten offenen hölzernen Brückenbahn handelte. Am Südende der Brücke befand sich bereits das Brückentor mit seinen doppelten Türmen, auf dem siebten Pfeiler stand am Nordende der Affenturm mit dem berühmten Brückenaffen.
Ein Eisgang zerstörte am 2. Februar 1565 den hölzernen Oberbau der Brücke. Auf den erhaltenen Steinpfeilern wurde die siebte Brücke gebaut, die man, weil sie von Matthäus Merian in seiner großen Heidelberger Stadtansicht von 1620 verewigt wurde, auch als „Merian-Brücke“ kennt. Ihr Aussehen entsprach dem ihrer Vorgängerin, außer dass zusätzlich die Brückenbahn zwischen dem Affenturm und dem neu geschaffenen Renaissancetor auf dem letzten Brückenpfeiler am Neuenheimer Ufer überdacht war. Die Eroberung Heidelbergs 1622 durch Tilly im Dreißigjährigen Krieg überstand die Brücke noch unbeschadet, am 2. März 1689 wurde sie aber im Pfälzischen Erbfolgekrieg bei der ersten Verwüstung der Stadt von den Franzosen unter Mélac gesprengt.
Zunächst behalf man sich fast zwanzig Jahre mit Schiffsbrücken und Fähren. 1706–1708 wurde schließlich die achte Brücke errichtet. Hierzu setzte man die Pfeiler der Vorgängerbrücke wieder instand und baute auf sie eine gedeckte und seitlich geschlossene Konstruktion, wiederum aus Holz. Der Affenturm wurde ebenso wenig wiedererrichtet wie das Tor am nördlichen Ende. Dafür trugen der zweite und siebte Pfeiler, auf denen heute die Denkmäler Karl Theodors und der Minerva stehen, jeweils ein Wachhäuschen. Der Raum zwischen den Ufern und den Wachhäusern wurde von zwei steinernen Bögen überspannt, die später in die Karl-Theodor-Brücke integriert wurden und so heute noch erhalten sind. Die Türme des Brückentors, das die Zerstörung der Stadt von 1689 überstanden hatte, wurden 1714 mit welschen Hauben gedeckt. Am Neuenheimer Ufer stellte man 1738 eine Statue des Heiligen Johannes von Nepomuk auf, dem die achte Brücke auch die Bezeichnung als „Nepomuk-Brücke“ verdankt.
Eishochwasser 1784 und Bau der Karl-Theodor-Brücke
Den Unmut Kurfürst Karl Philipps, der 1719 im Zerwürfnis mit den Heidelberger Bürgern drohte, die Brücke abzureißen, um die Stadt der Verarmung zu überlassen, überstand die achte Brücke ebenso wie einen Eisgang im Jahr 1724. Sie wurde aber schließlich im katastrophalen Eishochwasser vom 27. Februar 1784 zerstört. Der Winter 1783/1784 war außergewöhnlich kalt und schneereich gewesen. Als Ende Februar schließlich Tauwetter einsetzte, führte dies zum schwersten Hochwasser, das Heidelberg in historischer Zeit erlebt hat. Die Folgen der Flut wurden durch den Eisgang verschärft. Weil die Heidelberger Bürger auf das Hochwasser vorbereitet waren und die Katastrophe tagsüber eintrat, hatte die Stadt keine Todesopfer zu beklagen, der Sachschaden war aber enorm: Neben der Brücke wurden 39 Gebäude zerstört und 290 beschädigt.
Gerade einmal zwei Wochen nach dem Hochwasser begannen die Planungen für den Wiederaufbau der Brücke. An diesen beteiligten sich alle führenden kurpfälzischen Beamten: Der Heidelberger Baudirektor Johann Andreas von Traitteur schlug in seinem Gutachten vor, die Brücke in Stein zu bauen und die vorhandenen Pfeiler zu erhöhen, um sie weniger anfällig für Hochwasser zu machen. Der kurfürstliche Oberbaudirektor Nicolas de Pigage legte Pläne für eine hölzerne Bogenbrücke auf Steinpfeilern vor. Zwischenzeitlich hatte man sich bereits für den Vorschlag des württembergischen Obristlieutenants von Mylius, der eine hölzerne Brücke auf Steinpfeilern vorsah, festgelegt. Uneinigkeit herrschte noch darüber, ob die Brücke an ihrem alten Ort oder weiter westlich auf Höhe der Haspelgasse wieder aufzubauen sei. Letztlich erteilte der Bauherr und Namensgeber der Brücke, Kurfürst Karl Theodor, am 1. Juli 1785 aber überraschend dem bis dahin eher unbekannten Bauinspektor Mathias Mayer für seinen nachträglich eingereichten Vorschlag, die Brücke auf den vorhandenen Pfeilern aus Stein zu bauen, den Zuschlag.
Die Bauarbeiten begannen 1786 unter Aufsicht Mayers und wurden im Oktober oder November 1788 zum Abschluss gebracht. Insgesamt kostete der Brückenbau 165.282 Gulden. Damit war die Brücke nach dem Mannheimer Schloss das teuerste Bauwerk in der damaligen Kurpfalz. Das Geld hatte die Stadt Heidelberg aufbringen müssen. Hierzu verschuldete sie sich beim Hoffaktor Aron Elias Seligmann und legte ihren Bürgern eine Sondersteuer auf.
Kämpfe im 19. Jahrhundert
Zweimal war die Alte Brücke im 19. Jahrhundert Schauplatz von Kämpfen. Das erste Gefecht fand während der Koalitionskriege nach der Französischen Revolution statt: Am 16. Oktober 1799 versuchten die französischen Revolutionstruppen mit mehreren tausend Mann Heidelberg über die Alte Brücke zu erobern. Verteidigt wurde die Brücke von österreichischen Ulanen unter Fürst Schwarzenberg und Tiroler Infanteristen. Nachdem sieben Angriffe fehlgeschlagen waren, zogen sich die Franzosen nach Handschuhsheim zurück. Die österreichischen Verteidiger, nur 300 Mann an der Zahl und mit einer einzigen Kanone ausgestattet, erkannten aber die Aussichtslosigkeit ihrer Lage im Fall, dass die Franzosen mit Verstärkung erneut angreifen sollten, und zogen in der Nacht heimlich ab. Am nächsten Tag rückten die Franzosen kampflos in Heidelberg ein.
Zum zweiten Mal wurde die Alte Brücke während der Badischen Revolution von 1848/1849 in Kriegshandlungen verwickelt. Die revolutionären Freischärler hatten sich auf dem Heiligenberg verschanzt, zogen sich aber beim Herannahen der preußischen Truppen nach Heidelberg zurück. Am 21. Juni 1849 bezog eine preußische Abteilung am gegenüberliegenden Neckarufer Stellung. Um deren Einzug nach Heidelberg zu verhindern, verminten die Freischärler die Brücke. Die Heidelberger versuchten, in der Ansicht, der Kampf gegen die Preußen sei aussichtslos, die Revolutionäre dazu zu bewegen, die Brücke zu verschonen. Es gelang sogar einigen Bürgern unter Führung des Feuerwehrhauptmanns Carl Metz, das in die Brücke eingesetzte Sprengfässchen auszugraben und in den Neckar zu werfen, was aber postwendend von den Freischärlern rückgängig gemacht wurde. Schließlich sahen diese aber doch ein, dass Widerstand gegen die preußische Übermacht zwecklos war, und zogen kampflos ab. Am nächsten Morgen zogen die Preußen ungehindert in die Stadt ein.
Zerstörung im Zweiten Weltkrieg und Wiederaufbau
Von den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs blieb Heidelberg weitgehend verschont. Gegen Ende des Krieges wurde aber die Alte Brücke schwer in Mitleidenschaft gezogen: Am 29. März 1945 sprengten Pioniereinheiten der deutschen Wehrmacht bei ihrem Rückzug vor den heranrückenden Amerikanern die Heidelberger Neckarbrücken. Bei der Alten Brücke wurden der fünfte und sechste Pfeiler gesprengt, die drei von ihnen getragenen Bögen stürzten ein. Die Sprengung war sinnlos: Schon am nächsten Tag konnte die 63. US-Infanteriedivision problemlos in Heidelberg einmarschieren.
Sofort nach Kriegsende entschieden die Heidelberger zur Überraschung der amerikanischen Besatzer, die Alte Brücke wieder aufzubauen – vor der verkehrstechnisch zentraleren Friedrichsbrücke (heute Theodor-Heuss-Brücke). Es wurde eine Spendenaktion eingeleitet, durch die insgesamt 1.580.882,31 Reichsmark zusammenkamen. Am 14. März 1946 begann der Wiederaufbau und am 26. Juli 1947 konnte die rekonstruierte Brücke erneut feierlich eingeweiht werden.
Umbau 1969/1970
In den 1960er Jahren entwickelte sich durch den zunehmenden Autoverkehr die Alte Brücke immer mehr zu einem Nadelöhr der Bundesstraße 37, die am Neckarufer entlang unter den beiden Landbögen am südlichen Ende der Brücke hindurchführt. Die noch von der 1708 erbauten Vorgängerbrücke stammenden Bögen waren so niedrig, dass sie nur jeweils einspurig durchfahren werden konnten. Daher entschied der Heidelberger Stadtrat 1966, die Brücke umzubauen, um ein günstigeres Durchfahrtsprofil zu gewährleisten. Die Notwendigkeit des Umbaus wurde 1967 noch einmal deutlich, als ein leerer Tanklastzug mit dem zweiten Landbogen kollidierte. Im Frühjahr 1969 begannen die Bauarbeiten. Die beiden Landbögen wurden mitsamt dem Pfeiler komplett abgetragen und mit einem um 1,70 Meter erhöhten Scheitel wiederaufgebaut. Zugleich wurde die Ufermauer erhöht, um die Hochwassergefahr an der tief gelegenen Brückenunterführung zu mindern. Im Frühsommer 1970 war der Umbau abgeschlossen. Trotz des kritischen Eingriffes in die historische Bausubstanz gilt der Umbau nicht nur für den Verkehr als Gewinn: Durch die höhere Wölbung reichen die beiden Landbögen nun ebenso wie die übrigen Bögen der Brücke bis knapp unter die Fahrbahnhöhe und passen sich so harmonischer in das Bild der Alten Brücke ein.
Liste der Brückenbauten
Baubeschreibung
Brücke
Die barocke Alte Brücke führt als Verlängerung der Steingasse aus der Heidelberger Altstadt zur Neuenheimer Landstraße, die am gegenüberliegenden, zum Stadtteil Heidelberg-Neuenheim gehörenden Ufer am Fuße des Heiligenbergs parallel zum Neckar verläuft. Vom Neuenheimer Brückenkopf besteht über den Schlangenweg eine Verbindung zum Philosophenweg. Werktags von 6 bis 10 Uhr ist die Alte Brücke für den Autoverkehr geöffnet, ansonsten dient sie als Fußgängerbrücke. Auf der Altstädter Seite unterquert die Straße Am Hackteufel (Bundesstraße 37) die Landbögen der Alten Brücke.
Das Bauwerk hat eine Länge von 200 und eine mittlere Breite von 7 Metern. Es besteht bei einer Höhe von 4,4 bis 10,4 Metern aus neun Tonnengewölben mit Stützweiten von 12,20, 18,80, 5×22,00, 11,72 und 7,98 Metern. Hergestellt ist die Brücke aus Bruchsteinmauerwerk mit einer Werksteinverkleidung aus rotem Sandstein. Der zweite und siebte von acht Pfeilern sind verbreitert und tragen die Standbilder des Karl Theodor und der Minerva. Die mittleren Brückenjoche sind deutlich erhöht, was der Brücke eine geschwungene Silhouette verleiht. Hintergrund dieser Konstruktionsweise war, dass durch den größeren Öffnungsquerschnitt im Falle von Eisgang oder eines Hochwassers die Wassermassen besser fließen können. Die Brüstung bildet in den mittleren drei Brückenjochen eine Horizontale, dadurch wird die Brücke in drei Kompartimente, einen ansteigenden, einen waagerechten, und einen absteigenden Teil gegliedert. Sie ist durch klassizistische Balkone über den Pfeilern geschmückt.
Die Alte Brücke ist eines der letzten großen Beispiele für die klassische Brückenbaukunst, ehe im 19. Jahrhundert der neue Baustoff Gusseisen vorherrschend und der Brückenbau zu einer reinen Ingenieursaufgabe wurde. Ihre ästhetische Wirkung beruht neben ihrem Wert als Baudenkmal vor allem auf ihrer landschaftlichen Lage im Neckartal und dem Panorama, das sie mit der Altstadt und dem Schloss im Hintergrund bietet. Im Jahr 2002 wurde die Brücke in die damalige Liste der am meisten gefährdeten Denkmäler der Welt des World Monuments Fund aufgenommen.
Brückentor
Am Südende der Alten Brücke steht das in seiner Bausubstanz mittelalterliche Brückentor mit seinen 28 Meter hohen flankierenden Doppeltürmen. Ursprünglich war es in die Stadtbefestigung integriert. Am Tor mussten Auswärtige den Brückenzoll entrichten, im Verteidigungsfall konnte es durch ein Falltor verschlossen werden. Der Brückenzoll wurde 1878 aufgehoben, nachdem 1877 die „Neue Brücke“, heute Theodor-Heuss-Brücke, eröffnet war.
Die ältesten Bauteile des Brückentores bilden die beiden schlanken Rundtürme, die ursprünglich Bestandteile der spätgotischen Stadtmauer aus dem 15. Jahrhundert waren. 1709/11 wurde die Toranlage barockisiert. Bei der Errichtung der Carl-Theodor-Brücke verlieh Bauinspektor Mathias Maier auch dem Brückentor seine heutige Gestalt, unter anderem setzte er den Türmen die spätbarocken Helme auf. Eine Renovierung des Tores wurde 2019 abgeschlossen.
Der westliche Turm (Schuldturm) birgt drei niedrige Kerkerräume, im östlichen Turm führt eine Wendeltreppe hinauf zur über dem Torbogen gelegenen kleinen Wohnung des Brückenwächters. In diese zog nach dem Zweiten Weltkrieg der am Wiederaufbau der Brücke beteiligte Architekt und Kunsthistoriker Rudolf Steinbach ein. Ab 1956 bewohnte der Schriftsteller Gert Kalow die Torwohnung.
Brückenfiguren
Auf dem zweiten und siebten Pfeiler der Alten Brücke stehen zwei von dem Bildhauer Franz Conrad Linck entworfene Statuen. Beide Denkmäler sind mittlerweile durch Kopien ersetzt, die Originale werden im Kurpfälzischen Museum aufbewahrt. Am südlichen Ende der Brücke ist es ein Standbild des Bauherren Kurfürst Carl Theodor, die Statue auf der nördlichen Brückenseite stellt Minerva bzw. Athene dar. Die Statue des Kurfürsten wurde im Jahr der Einweihung der Brücke 1788 errichtet. Als Carl Theodor im selben Jahr die Brücke in Augenschein nahm, befand er, dass als Gegenstück auf die andere Seite ebenfalls eine Statue gesetzt werden sollte. So wurde 1790 das Standbild der Minerva geschaffen und auf der Brücke installiert.
Das Carl-Theodor-Denkmal zeigt den Kurfürsten überlebensgroß in imposanter Pose mit Rüstung, Hermelinmantel und Allongeperücke, den Blick über das Brückentor zum Schloss gerichtet. Die Statue steht auf einem Piedestal, das mit Reliefs geschmückt ist. Das Relief auf der Vorderseite zeigt das Wappen von Pfalz-Bayern (seit 1777 wurden diese beiden Wittelsbacher Lande von ihm in Personalunion regiert). Die anderen drei Seiten sind mit 1792 nachträglich hinzugefügten Puttenreliefs ausgestattet. Das linke Relief stellt allegorisch die Vereinigung Bayerns und der Pfalz dar, auf dem rechten Relief ist die Minerva als Patronin der Heidelberger Universität dargestellt, das Relief auf der Rückseite schließlich thematisiert das 50-jährige Regierungsjubiläum Carl Theodors. Umkränzt wird das Piedestal durch vier Figuren von Flussgöttern, welche allegorisch die vier Hauptströme Pfalz-Bayerns darstellen. Oft findet man die Angabe, es handle sich um Rhein, Donau, Neckar und Mosel. Weil aber von den Figuren zwei männlich und zwei weiblich sind und von den vier Flüssen nur die Mosel in weiblicher Form dargestellt wird, scheint es wahrscheinlicher, dass statt des Neckars die Isar dargestellt ist.
Das Minerva-Denkmal ist eindeutig als Pendant zur Statue des Kurfürsten entworfen. Die Göttin der Weisheit ist antikisierend samt ihren üblichen Attributen – Helm, Lanze, Schild und Eule – dargestellt. Die Minerva spielt im klassizistischen Bilderprogramm Karl Theodors eine große Rolle. So ließ er ihr auch im Schlosspark Schwetzingen einen Tempel errichten. Die Puttenreliefs des Piedestals zeigen allegorisch die Künste und Wissenschaften, als deren Förderer der Kurfürst sich verstand. Ebenso wie das Carl-Theodor-Denkmal ist auch das Minerva-Denkmal von vier allegorischen Figuren umgeben. Diese stellen die Verkörperungen der Gerechtigkeit (Iustitia), der Frömmigkeit (Pietas), des Ackerbaus (Ceres) und des Handels (Mercurius) dar.
Brückenaffe
Am ehemaligen nördlichen Brückenturm war ab dem frühen 17. Jahrhundert das Relief eines Affen angebracht, der sich ans Hinterteil fasste und sich gleichzeitig einen Spiegel vorhielt. Dieses Motiv geht ikonografisch vermutlich auf einen älteren Stadtaffen zurück, der sich an anderer Stelle der Stadt befunden hatte. Martin Zeiller dichtete über den Affen 1632 in seinem Werk Itinerarium Germaniae.
Was thustu mich hie angaffen?
Hastu nicht gesehen den alten Affen
Zu Heydelberg / sich dich hin unnd her /
Da findestu wol meines gleichen mehr.
Bei der Zerstörung von 1689 wurde der Affenturm gesprengt und der Brückenaffe ging verloren. 1977 schrieb der Verein Alt-Heidelberg einen Wettbewerb für eine moderne Neugestaltung des Brückenaffen aus, der zugunsten eines Entwurfs des Bildhauers Gernot Rumpf entschieden wurde. Die 1979 geschaffene Bronzeskulptur am Südufer greift das Motiv der Selbstreflexion auf, indem sie dem Betrachter einen metaphorisch zu deutenden Spiegel vorhält. Neben dem Affen ist das besagte Spottgedicht angebracht. Zwei kleine Mausfiguren erinnern an das kurfürstliche Kornhaus, das sich ehemals an dieser Stelle neben dem Brückentor befand. Der Kopf des Affen ist hohl gestaltet, so dass man den eigenen Kopf in ihn hineinstecken kann – ein Motiv das gerne von Heidelberg-Touristen als Motiv für Erinnerungsfotos genutzt wird.
Nepomuk-Statue
Die Statue des Johannes Nepomuk stand, wie bei Bildnissen dieses Heiligen der Fall, ursprünglich auf der Brücke, genauer auf dem achten Pfeiler am Neuenheimer Ufer. Sie wurde 1738, gerade neun Jahre nach der Heiligsprechung Nepomuks, aufgestellt. Der Bildhauer der Statue ist unbekannt, es könnte sich aber um Pieter van den Branden, den Schöpfer der Kornmarkt-Madonna, gehandelt haben. Im 18. Jahrhundert war der Nepomuk-Kult in den deutschsprachigen katholischen Ländern sehr verbreitet. Somit ist seine Statue ebenso wie die Kornmarkt-Madonna ein sichtbares Zeichen der Gegenreformation in der kurz vorher katholisch gewordenen Kurpfalz. Dies wird auch an der lateinischsprachigen Sockelinschrift deutlich, die den Betrachter mit „Bleib stehen, Wanderer!“ (Siste viator!) direkt anspricht und ihm den Heiligen als leuchtendes Vorbild des rechten Glaubens preist, ehe er mit „Gehe, Wanderer!“ (Ito viator!) wieder entlassen wird. Beim Hochwasser von 1784 stürzte die Nepomuk-Statue in den Fluss. Sie konnte geborgen werden, wurde aber, da sie nicht ins antikisierende Bilderprogramm Karl Theodors passte, nicht wieder auf der Brücke aufgestellt. Heute steht sie etwas abseits am nördlichen Ufer auf einer Terrasse an der Neuenheimer Landstraße. Ebenso wie bei den Brückenfiguren ist die Nepomuk-Statue mittlerweile durch eine Kopie ersetzt worden. Das Original befindet sich im Kurpfälzischen Museum.
Die Nepomuk-Statue zeigt den Heiligen auf einem Himmelsglobus, der auf einer Wolkensäule ruht und von zwei Engeln gestützt wird. Dadurch wird die Apotheose des Heiligen vorgeführt. Diese Darstellungsweise ist bei Außenplastiken Nepomuks eine Seltenheit.
Die Alte Brücke in der Dichtung
Im Zusammenspiel des Flusstals, der Altstadt und des Schlosses prägt die Alte Brücke seit jeher das klassische Heidelberg-Panorama. So nimmt es auch nicht wunder, dass sie zusammen mit dem Schloss zu den am meisten gezeichneten und fotografierten Motiven Heidelbergs gehört. Die Wirkung der Alten Brücke liegt dabei vor allem in der Einbettung in die Landschaft. So beschrieb Johann Wolfgang von Goethe, der insgesamt achtmal Heidelberg besuchte, und sowohl den 1784 zerstörten Vorgängerbau als auch die Karl-Theodor-Brücke kannte, in seinem Tagebucheintrag von 26. August 1797 den Blick vom Karlstor flussabwärts zur Alten Brücke
Zu den bekanntesten Erwähnungen Heidelbergs in der Dichtung gehört Friedrich Hölderlins Ode Heidelberg (1800). Deren zweite Strophe schildert die Alte Brücke:
Wie der Vogel des Walds über die Gipfel fliegt,
Schwingt sich über den Strom, wo er vorbei dir glänzt,
Leicht und kräftig die Brüke,
Die vor Wagen und Menschen tönt.
Das bekannteste, explizit der Alte Brücke gewidmete Gedicht wurde indes 1849 von Gottfried Keller, der zwischen Herbst 1848 und Frühjahr 1850 in Heidelberg studierte, verfasst und trägt den Namen Die Brücke. Keller wohnte auf der Altstadtseite, nur wenige Häuser flussabwärts vom Brückenturm. Auf der anderen Seite des Flusses lebte in der Villa Zum Waldhorn die junge Johanna Kapp, die Tochter des Philosophiegelehrten Christian Kapp. Sie war schon 1841 – damals war sie 16 Jahre alt – eine Liebesbeziehung mit Ludwig Feuerbach eingegangen. Feuerbach allerdings war verheiratet und hatte sich 1846 offiziell für seine Familie entschieden. Johanna Kapp sollte Feuerbach aber bis zu ihrem frühen Tod treu bleiben, lehnte so 1847 einen Heiratsantrag des Dichters Hoffmann von Fallersleben ab, und auch Gottfried Keller, der regelmäßig im Kappschen Hause verkehrte, wurde trotz inniger Freundschaft nicht von ihr erhört. Von dieser unerwiderten Liebe handelt das Gedicht.
Schöne Brücke, hast mich oft getragen,
Wenn mein Herz erwartungsvoll geschlagen
Und mit dir den Strom ich überschritt.
Und mich dünkte, deine stolzen Bogen
Sind in kühnerm Schwunge mitgezogen,
Und sie fühlten meine Freude mit.
Weh der Täuschung, da ich jetzo sehe,
Wenn ich schweren Leids hinübergehe,
Daß der Last kein Joch sich fühlend biegt;
Soll ich einsam in die Berge gehen
Und nach einem schwachen Stege spähen,
Der sich meinem Kummer zitternd fügt?
Aber sie, mit anderm Weh und Leiden
Und im Herzen andre Seligkeiten:
Trage leicht die blühende Gestalt!
Schöne Brücke, magst du ewig stehen,
Ewig aber wird es nie geschehen,
Daß ein bessres Weib hinüber wallt!
Quellen und weiterführende Informationen
Die Brücke (rotes Symbol) nun auch als modernes Logo (Erwin Poell):
Literatur
Herbert Fritz: Die Baugeschichte der alten Brücke über den Neckar bei Heidelberg. In: Mein Heimatländ, Badische Blätter für Volkskunde, 15. Jahrgang, Heft 5/6, Karlsruhe Juni/Juli 1928, S. 150–163.
J. Ph. A. Kintz: Feste Brücken im Heidelberger Stadtgebiet, Heidelberg 1928.
Helmut Prückner (Hrsg. mit Wilm Weber): Die alte Brücke in Heidelberg – 1788–1988. Braus, Heidelberg 1988. Mit Beiträgen von 23 Autorinnen, -en. 167 Seiten. ISBN 3-925835-19-9.
Helmut Prückner: Die Alte Brücke. In: Elmar Mittler (Hrsg.): Heidelberg. Geschichte und Gestalt. Universitätsverlag C. Winter, Heidelberg 1996, ISBN 3-921524-46-6. S. 162–171.
Rudolf Steinbach: Die Alte Brücke in Heidelberg und die Problematik des Wiederaufbaus. In: Ulrich Conrads (Hrsg.): Die Städte himmeloffen. Reden und Reflexionen über den Wiederaufbau des Untergegangenen und die Wiederkehr des Neuen Bauens 1948/49. Birkhäuser Architektur, Stuttgart 2002, S. 171 ff.
Weblinks
Alte Brücke 1956 leo bw
Informationen der Stadt Heidelberg über die Alte Brücke
H. Maier: Beschreibung der Neckarbrücke bei Heidelberg – Karl-Theodor-Brücke (bei www.baufachinformation.de)
Heidelberg im Bild – Fotografien der Alten Brücke, Stefan Oldenburg (edition-oldenburg.de im Portfolio-Stadt, Aufn. ohne Datum)
Anordnung von Karl Theodor Kurfürst v. Pfalz-Bayern zum Bau der Heidelberger Neckar-Brücke. In Journal von und für Deutschland 1785, S. 428–430 (Digitalisat der ub.uni-bielefeld)
Einzelnachweise
Bogenbrücke
Steinbrücke
Neckarbrücke
Barockbauwerk in Heidelberg
Erbaut in den 1780er Jahren
Rekonstruiertes Bauwerk in Baden-Württemberg
Brücke in Europa
Brücke in Heidelberg
Heidelberger Altstadt
Neuenheim
Heidelberg |
42371 | https://de.wikipedia.org/wiki/Schloss%20Neuschwanstein | Schloss Neuschwanstein | Das Schloss Neuschwanstein steht oberhalb von Hohenschwangau bei Füssen im südöstlichen bayerischen Allgäu. Der Bau wurde ab 1869 für den bayerischen König Ludwig II. als idealisierte Vorstellung einer Ritterburg aus der Zeit des Mittelalters errichtet. Die Entwürfe stammen von Christian Jank, die Ausführung übernahmen Eduard Riedel und Georg von Dollmann. Der König lebte nur wenige Monate im Schloss. Er starb noch vor der Fertigstellung der Anlage. Neuschwanstein wurde ursprünglich als Neue Burg Hohenschwangau bezeichnet, seinen heutigen Namen trägt es seit 1886. Eigentümer des Schlosses ist der Freistaat Bayern; es wird von der Bayerischen Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen betreut und bewirtschaftet.
Neuschwanstein ist das berühmteste der Schlösser Ludwigs II. und eine der bekanntesten Sehenswürdigkeiten Deutschlands. Es wird jährlich von etwa 1,5 Millionen Touristen besucht. Das oftmals als „Märchenschloss“ bezeichnete Neuschwanstein ist nahezu ganzjährig für Besucher geöffnet. Die Architektur und Innenausstattung sind vom romantischen Eklektizismus des 19. Jahrhunderts geprägt; das Schloss gilt als ein Hauptwerk des Historismus.
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Geschichtlicher Überblick
Vorgängerbauten, Vorgeschichte und Entwürfe
Erstmals urkundlich erwähnt wurde ein „Castrum Swangowe“ im Jahre 1090. Damit gemeint waren die im Mittelalter an der Stelle des heutigen Schlosses Neuschwanstein stehenden zwei kleinen Burgen: die aus einem Palas und einem Bergfried bestehende Burg Vorderhohenschwangau, an der Stelle des heutigen Palas und, nur durch einen Halsgraben getrennt, ein befestigter Wohnturm namens Hinterhohenschwangau, der sich dort befand, wo zwischen dem heutigen Ritterhaus und der Kemenate auch Ludwig II. einen hohen Bergfried geplant hatte, zu dessen Errichtung er nicht mehr kam. Beide Gebäude gingen auf die Herren von Schwangau zurück, die in der Region als Lehensnehmer der Welfen (bis 1191) und der Staufer (bis 1268), danach als reichsunmittelbare Ritter ansässig waren bis zu ihrem Aussterben im Jahre 1536. Der Minnesänger Hiltbolt von Schwangau stammte aus diesem Geschlecht. Hinterhohenschwangau war wahrscheinlich der Geburtsort von Margareta von Schwangau, der Ehefrau des Minnesängers Oswald von Wolkenstein. Als 1363 Herzog Rudolf IV. von Österreich Tirol unter habsburgische Herrschaft brachte, verpflichteten sich Stephan von Schwangau und seine Brüder, ihre Festen Vorder- und Hinterschwangau, die Burg Frauenstein und den Sinwellenturm dem österreichischen Herzog offenzuhalten.
Eine Urkunde von 1397 nennt zum ersten Mal den „Schwanstein“, das heutige Schloss Hohenschwangau, das um diese Zeit unterhalb der älteren Doppelburg auf einer Anhöhe zwischen Alpsee und Schwansee errichtet worden war. Ab dem 16. Jahrhundert befand sich die reichsunmittelbare Herrschaft Schwangau unter der Oberhoheit der Wittelsbacher, welche die Burg Schwanstein zur Bärenjagd sowie als Sitz für jüngere Söhne und später für ein Pfleggericht nutzten. Sie hatten den gesamten Besitz 1567 aus dem Nachlass der bankrotten Augsburger Patrizierfamilie Baumgartner erworben.
Im 19. Jahrhundert waren die beiden oberen Burgen zu Ruinen verfallen, die Überreste Hinterhohenschwangaus zu einem „Sylphenturm“ genannten Aussichtsplatz umgestaltet. Ludwig II. verbrachte einen Teil seiner Kindheit in der Nähe der Burgruinen auf dem benachbarten Schloss Hohenschwangau, das sein Vater König Maximilian II. um 1837 von einer spätmittelalterlichen Burg zu einem wohnlichen Schloss im Sinne der Romantik hatte umgestalten lassen. Hohenschwangau war ursprünglich als Schloss Schwanstein bekannt, seine neue Bezeichnung erhielt es erst während des Wiederaufbaus. Damit wurden die Namen der Burg Schwanstein und der älteren Doppelburg Vorder- und Hinterhohenschwangau vertauscht. Max II. hatte 1855 Baurat Eduard Riedel beauftragt, für den Turm von Hinterhohenschwangau zunächst einen Aussichtspavillon in Glas-Eisen-Konstruktion zu entwerfen, im Jahr darauf einen Plan für die Reparatur des Turms und die Herstellung eines Zimmers mit einem Zeltdach darüber. Beides wurde zurückgestellt.
Die oberhalb des Wohnschlosses gelegenen Ruinen waren dem Kronprinzen – wie auch der Frauenstein und der Falkenstein – häufiges Wanderziel und deshalb gut bekannt. 1859 zeichnete er die Überreste der Vorderhohenschwangauer Burg erstmals in sein Tagebuch. 1837 pries ein anonymer Verfasser das wiederaufgebaute Schloss Hohenschwangau als „die Wiege einer neuen Romantik“ und schwärmte von dem Gedanken, dass „auch die Ruinen von dem vorderen Schlosse Schwangau (gemeint war die Doppelburg Vorder- und Hinterhohenschwangau), die mit Falkenstein und Hohen-Freyberg ein langgezogenes Dreieck bilden, zu einem großen einfachen Fest- und Sängersaal wiederaufgerichtet werden …“. Damit war die Idee eines Wiederaufbaus der Ruinen im Sinne einer Wiedergeburt des Austragungsortes des Sängerkriegs auf der Wartburg geboren; 20 Jahre bevor die thüringische Wartburg durch Hugo von Ritgen wiederaufgebaut wurde und 30 Jahre bevor Ludwig II. die Idee in die Tat umsetzte, indem er auf dem „Jugend“ genannten Burgfelsen von Vorder- und Hinterhohenschwangau ein neues „Sängerschloss“ nach dem Vorbild der Wartburg errichten ließ.
Nach der Regierungsübernahme durch den jungen König 1864 war der Wiederaufbau der Vorderhohenschwangauer Burgruine – des späteren Neuschwansteins – das erste größere Schlossbauprojekt Ludwigs II. Er plante damit nichts Außergewöhnliches: In ganz Europa bauten sich zur gleichen Zeit gekrönte Häupter und Adelsfamilien Schlösser und Burgen in historischen Stilen oder ließen bedeutende mittelalterliche Monumente rekonstruieren. Kurz nach dem väterlichen Hohenschwangau hatte Ludwigs Onkel, der vom Mittelalter begeisterte König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, im Zuge der zeitgenössischen Burgenrenaissance das Schloss Stolzenfels und von 1850 bis 1867 die Burg Hohenzollern wiedererrichten lassen. Der hannoversche König hatte von 1858 bis 1869 das Schloss Marienburg gebaut. Die britische Königin Victoria ließ ab 1845 Osborne House und kurz darauf Balmoral Castle umbauen, nachdem ihr Onkel Georg IV. schon zwischen 1820 und 1830 Windsor Castle bedeutend erweitert hatte. Ein weiteres Beispiel aus Europa war ab 1840 der Bau des Palácio Nacional da Pena durch den portugiesischen König Ferdinand II. Zur gleichen Zeit ließen die Fürsten zu Schwarzenberg das böhmische Schloss Frauenberg errichten und die Fürsten von Urach das Schloss Lichtenstein bauen. Auch die umfangreiche Restaurierung der Hohkönigsburg im Elsass durch den deutschen Kaiser, die allerdings erst im frühen 20. Jahrhundert stattfand, gehört dazu.
Dem als Sinnbild einer Ritterburg gedachten Neuschwanstein folgten mit Linderhof noch ein Lustschloss aus der Epoche des Rokoko und mit Schloss Herrenchiemsee ein barocker Palast, der als Denkmal für die Zeit des Absolutismus stand. Angeregt zum Bau Neuschwansteins wurde Ludwig II. durch zwei Reisen: Im Mai 1867 besuchte er mit seinem Bruder Otto die wieder aufgebaute Wartburg bei Eisenach, im Juli desselben Jahres besichtigte er in Frankreich Schloss Pierrefonds, das damals von Eugène Viollet-le-Duc für Kaiser Napoleon III. von einer Burgruine zu einem historistischen Schloss umgestaltet wurde. Im Verständnis des Königs entsprachen beide Bauten einer romantischen Darstellung des Mittelalters, ebenso wie die musikalischen Sagenwelten Richard Wagners. Dessen Werke Tannhäuser und Lohengrin hatten den König nachhaltig beeindruckt. Am 15. Mai 1868 teilte er dem befreundeten Komponisten in einem Brief mit:
Durch den Tod seines 1848 abgedankten Großvaters Ludwig I. konnte der junge König ab 1868 dessen Apanage einbehalten, wodurch ihm umfangreiche finanzielle Mittel zur Verfügung standen. Der König wollte mit dem entstehenden Bauprojekt in der ihm aus Kindertagen vertrauten Landschaft ein privates Refugium abseits der Hauptstadt München schaffen, in dem er seine Vorstellung des Mittelalters erleben konnte, zumal das von ihm gern genutzte Schloss Hohenschwangau jeweils während der Sommermonate von seiner ungeliebten Mutter, der Königin Marie, besetzt war. Die Entwürfe für das neue Schloss lieferte der Münchner Theatermaler Christian Jank, umgesetzt wurden sie durch den Architekten Eduard Riedel. Überlegungen, die Burgruinen in den Bau zu integrieren, wurden wegen der damit verbundenen technischen Schwierigkeiten nicht weiter verfolgt. Erste Pläne für das Schloss, die sich stilistisch an der Nürnberger Burg orientierten und einen schlichten Neubau anstelle der alten Burg Vorderhohenschwangau vorsahen, wurden wieder verworfen und von zunehmend umfangreicheren Entwürfen ersetzt, die zu einem größeren Schloss nach dem Vorbild der Wartburg führten. Der König bestand auf einer detaillierten Planung und ließ sich jeden Entwurf zur Genehmigung vorlegen. Sein Einfluss auf die Entwürfe reichte so weit, dass das Schloss vor allem als seine eigene Schöpfung und weniger als die seiner beteiligten Architekten gelten kann.
Das Schloss unter Ludwig II.
Mit dem Bau des Schlosses wurde 1869 begonnen. Die Wünsche und Ansprüche Ludwigs II. wuchsen mit dem Bau ebenso wie die Ausgaben, und die Entwürfe und Kostenvoranschläge mussten mehrfach überarbeitet werden. So war anstelle des großen Thronsaales ursprünglich nur ein bescheidenes Arbeitszimmer geplant, und vorgesehene Gästezimmer wurden aus den Entwürfen wieder gestrichen, um Platz für einen Maurischen Saal zu schaffen, der aufgrund der ständigen Geldknappheit nicht realisiert werden konnte. Die ursprünglich schon für 1872 vorgesehene Fertigstellung des Schlosses verzögerte sich wiederholt. Ludwig II. erhielt ab 1871 als Dank für den Kaiserbrief von Bismarck Zuwendungen aus dem Welfenfonds; seine Finanzlage wurde aber durch seine weiteren Bauprojekte immer schlechter. Der Palas und das Torhaus Neuschwansteins waren bis 1886 im Außenbau weitgehend fertiggestellt; ab 1884 konnte der König den Palas erstmals bewohnen. Ludwig II. lebte bis zu seinem Tod 1886 insgesamt nur 172 Tage im Schloss, das bis dahin noch einer Großbaustelle glich. 1885 empfing er dort anlässlich ihres 60. Geburtstags seine auf dem unteren Hohenschwangau residierende Mutter, die vormalige Königin Marie.
Neuschwanstein sollte Ludwig II. gewissermaßen als bewohnbare Theaterkulisse dienen. Es war als „Freundschaftstempel“ dem Leben und Werk Richard Wagners gewidmet, der es jedoch nie betreten hat. Trotz seiner Größe war das Schloss nicht für die Aufnahme eines Hofstaats vorgesehen; es bot lediglich der Privatwohnung des Königs und Zimmern für die Dienerschaft Raum. Die Hofgebäude dienten weniger Wohn- als vielmehr dekorativen Zwecken. So war zum Beispiel der Bau der Kemenate – die erst nach Ludwigs Tod vollendet wurde – eine direkte Reminiszenz an den zweiten Akt von Lohengrin; dort ist eine Kemenate Schauplatz einiger Szenen.
Ludwig II. bezahlte seine Bauprojekte aus seinem Privatvermögen und dem Einkommen seiner Zivilliste. Die Staatskasse wurde (anders als oft kolportiert) für seine Bauten nicht belastet. Die Baukosten Neuschwansteins betrugen bis zum Tod des Königs 6.180.047 Mark, ursprünglich veranschlagt waren 3,2 Millionen Mark. Seine privaten Mittel reichten für die ausufernden Bauprojekte jedoch nicht mehr aus, daher musste der König oft neue Kredite aufnehmen. 1883 war er bereits mit über 7 Millionen Mark verschuldet; 1885 drohte ihm erstmals eine Pfändung.
Die Streitigkeiten um die Verschuldung des Staatsoberhaupts veranlassten die bayerische Regierung 1886, den König zu entmündigen und für regierungsunfähig erklären zu lassen. Ludwig II. hielt sich zur Zeit seiner Entmündigung am 9. Juni 1886 in Neuschwanstein auf; es war das letzte seiner selbst in Auftrag gegebenen Schlösser, das er bewohnte. Ludwig ließ die wegen seiner bevorstehenden Absetzung am 10. Juni 1886 nach Neuschwanstein gereiste Regierungskommission im Torhaus festsetzen. Nach einigen Stunden wurde sie freigelassen. Am 11. Juni erschien eine zweite Kommission unter der Leitung Bernhard von Guddens. Der König musste Neuschwanstein daraufhin am 12. Juni 1886 verlassen und wurde nach Schloss Berg verbracht, wo er am nächsten Tag im Würmsee, heute Starnberger See, ertrank.
Vom Ende des 19. Jahrhunderts zur Gegenwart
Beim Tode des Königs im Starnberger See am 13. Juni 1886 war Neuschwanstein noch nicht fertiggestellt. Ludwig II. wollte das Schloss niemals der Öffentlichkeit zugänglich machen, aber schon sechs Wochen nach seinem Tod wurde es für Besucher geöffnet. Mit den Eintrittsgeldern in Höhe von zwei Mark pro Person wurde ein Teil der Kredite bezahlt. Die Schlösser fielen als Erbe an Ludwigs Bruder Otto, der schon 1872 für geisteskrank und damit nicht regierungsfähig erklärt worden war. Ludwigs Onkel Luitpold übernahm die Regierungsgeschäfte; die „Administration des Vermögens seiner Majestät des Königs Otto von Bayern“ war für die Nachlassverwaltung zuständig. Ihr gelang es, die Bauschulden bis 1899 abzubezahlen. Um einen reibungslosen Besichtigungsverlauf des Schlosses zu gewährleisten, wurden einige bis dahin unvollendete Räume fertiggestellt und die Kemenate sowie das Ritterhaus zumindest als Außenbau errichtet. Zunächst durften sich die Besucher frei im Schloss bewegen, was zur Folge hatte, dass das Mobiliar sehr schnell verschliss. 1886 erschien ein erster gemeinsamer Schlossführer für Herrenchiemsee, Linderhof und Neuschwanstein. Die nicht sehr umfangreiche Publikation beschrieb nur einzelne Kunstgegenstände und erwähnte die am Bau beteiligten Architekten und Künstler.
Nach Ausrufung der Republik am 9. November 1918 ging Luitpolds Nachfolger Ludwig III. ins Exil nach Ungarn.
Die bayerische Regierung erklärte am 11. November 1918 die bayerische Zivilliste (den ehemaligen Besitz des Hauses Wittelsbach) zu Staatsbesitz.
Langwierige Auseinandersetzungen zwischen Bayern und dem Haus Wittelsbach folgten. Die ehemalige Königsfamilie hatte ihr privates Vermögen zu Beginn des 19. Jahrhunderts in diese Zivilliste eingebracht und damit den fast zahlungsunfähigen bayerischen Staat vor dem Bankrott bewahrt. Im Gegenzug hatte dieser sich dazu verpflichtet, für den Unterhalt der königlichen Familie zu sorgen. Die Verhandlungen endeten im Januar 1923 mit einem Kompromiss: Die Zivilliste wurde zwischen Bayern und dem Haus Wittelsbach geteilt. Schloss Neuschwanstein kam dabei in staatlichen Besitz; aus dem familiären Teil ging der noch heute bestehende Wittelsbacher Ausgleichsfond (WAF) hervor.
Das Schloss überstand beide Weltkriege ohne Zerstörungen. Der Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg, eine Unterorganisation der NSDAP, ließ bis 1944 im Schloss in Frankreich geraubte Beutekunst deponieren. Der Einsatzstab fotografierte und katalogisierte die Kunstgegenstände, darunter Teile des Genter Altars und des Abendmahlsaltars von Dirk Bouts. Nach Kriegsende wurden im Schloss 39 Fotoalben gefunden, die den Umfang des Raubes dokumentierten und die heute im Amerikanischen Nationalarchiv aufbewahrt werden. Am Ende des Zweiten Weltkrieges wurden auf dem Schloss Goldschätze der Deutschen Reichsbank gelagert; sie wurden in den letzten Kriegstagen an einen bis heute unbekannten Ort verschleppt. Dem Schloss drohte im April 1945 kurzzeitig eine Sprengung durch die SS, die verhindern wollte, dass die dort gelagerten Kunstschätze in Feindeshand übergingen. Das Vorhaben wurde vom damit beauftragten SS-Gruppenführer nicht in die Tat umgesetzt; Soldaten vom US-Kunstschutz erreichten das Schloss am 28. April 1945.
Nach dem Zweiten Weltkrieg nutzte die Bayerische Archivverwaltung einige Räume im Schloss Neuschwanstein als provisorisches Bergungslager für Archivalien, weil viele Räumlichkeiten in München ausgebombt waren.
Seit 2015 ist Schloss Neuschwanstein zusammen mit drei weiteren Bauwerken König Ludwigs II., Schloss Linderhof, dem Königshaus am Schachen und Schloss Herrenchiemsee, beim Welterbezentrum in Paris auf der deutschen Vorschlagsliste zur Ernennung zum UNESCO-Welterbe eingetragen, über die voraussichtlich im Sommer 2025 vom Welterbekomitee entschieden werden soll.
Bauwerk
Schloss Neuschwanstein besteht aus mehreren einzelnen Baukörpern, die über eine Länge von rund 150 Metern auf der Spitze eines früher Jugend genannten Felsenrückens errichtet wurden. Das langgezogene Bauwerk hat zahlreiche Türme, Ziertürmchen, Giebel, Balkone, Zinnen und Skulpturen. Die Fensteröffnungen haben in Anlehnung an den romanischen Stil meist die Form von Bi- und Triforien. Die Kombination der Einzelbauten vor dem Hintergrund des Tegelbergs und der Pöllatschlucht im Süden und der seenreichen Hügellandschaft des Voralpenlands im Norden bietet aus allen Himmelsrichtungen unterschiedliche pittoreske Ansichten des Schlosses. Es wurde als romantisches Ideal einer Ritterburg entworfen. Anders als „echte“ Burgen, deren Gebäudebestände meist das Ergebnis mehrerer Bautätigkeiten sind, wurde Neuschwanstein als gewollt asymmetrischer Bau in einem Zug geplant und in Abschnitten errichtet. Für eine Burg typische Merkmale wurden zitiert; echte Verteidigungsanlagen – das wichtigste Merkmal eines mittelalterlichen Adelssitzes – wurden nicht gebaut.
Außenbau
Man betritt die Schlossanlage durch das symmetrische, von zwei Treppentürmen flankierte Torhaus. Das nach Osten gerichtete Torgebäude ist der einzige Bau des Schlosses, dessen Wandflächen in kontrastreichen Farben gestaltet sind; die Außenmauern sind mit roten Ziegeln, die Hoffassaden mit gelbem Kalkstein verkleidet. Das Dachgesims ist mit umlaufenden Zinnen abgeschlossen. In dem von einem Staffelgiebel überragten Obergeschoss der Toranlage befand sich die erste Wohnung Ludwigs II. auf Neuschwanstein, der von dort vor der Fertigstellung des Palas gelegentlich die Bauarbeiten verfolgte. Die ebenerdigen Geschosse des Torhauses sollten als Wirtschaftsbauten die Stallungen des Schlosses aufnehmen. Der vom bayerischen Königswappen bekrönte Durchgang des Torhauses führt direkt in den Hof; dieser hat zwei Ebenen. Die untere Hofebene wird vom Torgebäude im Osten und dem Sockel des sogenannten Viereckturms und des Galeriebaus im Norden begrenzt, die südliche Seite des Hofs ist offen gelassen und gewährt einen Blick auf die umgebende Berglandschaft. Die westliche Seite des Hofs ist durch eine gemauerte Böschung begrenzt, deren polygonal hervorspringende Ausbuchtung den Chor der nicht realisierten Kapelle samt Bergfried markiert. Daneben führt eine Freitreppe zur oberen Ebene.
Das auffälligste Gebäude der Hofebene ist der 45 Meter hohe Viereckturm. Er wurde, wie die meisten der Hofgebäude, zu dekorativen Zwecken errichtet. Von seiner umlaufenden Aussichtsplattform hat man einen weiten Blick über das Voralpenland. Die obere Ebene des Hofs wird im Norden durch das Ritterhaus begrenzt. Der dreigeschossige Bau ist über eine durchlaufende, mit Blendarkaden gestaltete Galerie mit dem Viereckturm und dem Torhaus verbunden. Im Verständnis der Burgenromantik war das Ritterhaus der Aufenthaltsort der Männergesellschaft auf einer Festung; auf Neuschwanstein waren dort Dienst- und Hauswirtschaftsräume vorgesehen. An der südlichen Seite des oberen Hofs befindet sich die ebenfalls dreigeschossige Kemenate, die als Damenhaus das Gegenstück zum Ritterbau war. Die links gelegene Kemenate (mit überdachtem Balkon für Elsa von Brabant), der mittige Palas und die geplante Kapelle folgen somit genau den Regieanweisungen Richard Wagners für die Kulisse der Burg zu Antwerpen im zweiten Aufzug von Lohengrin. Im Pflaster der Hoffläche ist der Grundriss der ursprünglich geplanten Schlosskapelle integriert.
Die westliche Seite des Hofs wird vom Palas begrenzt. Er ist Haupt- und Wohngebäude des Schlosses; dort sind die Prunkzimmer des Königs und die Räume der Dienerschaft. Der Palas ist ein mächtiger, fünfgeschossiger Baukörper in der Form zweier großer, im flachen Winkel verbundener Quader, die von zwei aufeinander folgenden hohen Satteldächern bedeckt sind. Die Gestalt des Gebäudes folgt dem Verlauf des Felsenrückens. In seinen Winkeln sind zwei Treppentürme eingefügt, von denen der nördliche mit 65 Metern Höhe das Dach des Schlosses um mehrere Stockwerke überragt. Beide Türme erinnern mit ihren vielgestaltigen Dächern an das Vorbild des Schlosses von Pierrefonds. Die nach Westen gerichtete Fassade des Palas trägt einen zweistöckigen Söller mit Blick auf den Alpsee, nach Norden ragen ein niedriger Treppenturm und die Anlage des Wintergartens aus dem Baukörper. Der gesamte Palas ist mit einer Vielzahl dekorativer Schornsteine und Ziertürmchen geschmückt, die Hoffassaden mit farbigen Fresken versehen. Der hofseitige Giebel wird von einem kupfergetriebenen Löwen, der westwärts gerichtete Außengiebel von einer Ritterfigur bekrönt.
Baugeschichte
Die Ruinen der Burg Vorderhohenschwangau und der Sylphenturm wurden 1868 komplett abgebrochen, die Reste des alten Bergfrieds gesprengt. Die Bauarbeiten am Torhaus begannen im Februar 1869, die Grundsteinlegung für den Palas erfolgte am 5. September 1869. In den Jahren 1869 bis 1873 wurde der Torbau fertiggestellt und vollständig eingerichtet, so dass Ludwig hier zeitweilig wohnen und die Bauarbeiten beobachten konnte. 1874 übernahm Georg von Dollmann die Leitung der Baumaßnahmen von Eduard Riedel. Im Jahr 1880 war Richtfest für den Palas, der 1884 bezogen werden konnte, im selben Jahr ging die Bauleitung an Julius Hofmann über, der den in Ungnade gefallenen Dollmann ablöste.
Das Schloss wurde in konventioneller Backsteinbauweise errichtet und später mit anderen Gesteinsarten verkleidet. Der weiße Kalkstein der Fassadenflächen stammt aus dem nahe gelegenen Steinbruch Alter Schrofen. Die Sandsteinquader für die Portale und Erker stammen aus Schlaitdorf am Schönbuchrand in Württemberg. Für die Fenster, die Gewölbebogenrippen, Säulen und Kapitelle wurde Untersberger Marmor aus der Gegend von Salzburg verwendet. Für den nachträglich in die Pläne eingearbeiteten Thronsaal musste ein Stahlgerüst eingezogen werden. Um den Transport der Baumaterialien zu erleichtern, wurden ein Gerüst errichtet und ein Dampfkran aufgestellt, der das Material zur Baustelle heraufzog. Ein weiterer Kran sorgte für Erleichterung auf der Baustelle selbst. Der damals neu gegründete Dampfkessel-Revisionsverein, der spätere Technische Überwachungsverein TÜV, überprüfte regelmäßig diese beiden Kessel auf ihre Sicherheit.
Die Großbaustelle war etwa zwei Jahrzehnte lang der größte Arbeitgeber der Region. 1880 arbeiteten täglich rund 200 Handwerker auf der Baustelle, nicht berücksichtigt Lieferanten und andere indirekt am Bau beteiligte Personen. Zu Zeiten, als der König besonders enge Termine und dringende Änderungen forderte, sollen es bis zu 300 Arbeiter pro Tag gewesen sein, die auch in der Nacht beim Schein von Öllampen ihren Dienst taten. Statistiken aus den beiden Jahren 1879/1880 belegen eine immense Menge an Baumaterialien: 465 Tonnen Salzburger Marmor, 1550 Tonnen Sandstein, 400.000 Ziegelsteine und 2050 Kubikmeter Holz für das Baugerüst.
Sehr modern war die am 3. April 1870 gegründete soziale Einrichtung „Verein der Handwerker am königlichen Schlossbau zu Hohenschwangau“. Der Zweck des Vereins war, bei geringen eigenen Monatsbeiträgen und verstärkt durch erhebliche Zuschüsse des Königs, für erkrankte oder verletzte Bauarbeiter eine Lohnfortzahlung zu garantieren. Die Baufirma bürgte, ähnlich einer heutigen Sozialversicherung oder Berufsgenossenschaft, für das Gehalt über 15 Wochen gegen einen Betrag von 0,70 Mark. Für die Nachkommen der beim Bau tödlich Verunglückten gab es eine Rente – zwar niedrig, aber zur damaligen Zeit nicht üblich. Statistiken berichten von 39 Familien, denen diese Rente zugesprochen wurde, was für damalige Bauten und deren Arbeitsbedingungen auffällig wenige sind.
Unvollendetes Schloss
Zum Zeitpunkt des Todes Ludwigs II. 1886 war das Schloss unvollendet. Der Torbau und der Palas waren im Außenbau weitgehend fertiggestellt, der Viereckturm noch eingerüstet. Die bis 1886 noch nicht begonnene Kemenate wurde bis 1892 errichtet, aber – ebenso wie das Ritterhaus – nur vereinfacht ausgeführt. Die Galerie des Ritterhauses sollte ursprünglich in naturalistischen Formen gestaltet werden. Die Säulen waren als Baumstämme und die Kapitelle als deren Kronen geplant. Die Kemenate sollte mit weiblichen Heiligenfiguren geschmückt werden. Für das Kernstück der Schlossanlage, den im oberen Hof geplanten 90 Meter hohen runden Bergfried mit der dreischiffigen Schlosskapelle im Unterbau, waren bis dahin nur die Fundamente gelegt, der weitere Bau schließlich eingestellt. Ein südlicher Verbindungsflügel zwischen Torhaus und Kemenate kam nicht mehr zur Ausführung. Auf die Anlage des geplanten Burggartens mit Terrassen und Springbrunnen, der seinen Platz westlich des Palas finden sollte, wurde nach dem Tod des Königs ebenfalls verzichtet. Im Jahr 2008 verbreitete Meldungen, dass die Bayerische Schlösserverwaltung bis 2011 eine Vollendung des Schlosses nach den ursprünglichen Plänen anstrebe, entpuppten sich als Aprilscherz.
Die Ausstattung der königlichen Wohnräume im Inneren des Schlosses konnte bis 1886 größtenteils abgeschlossen werden, die Vorhallen und die Gänge wurden bis 1888 vereinfacht ausgemalt. Der vom König gewünschte Maurische Saal, der seinen Platz unterhalb des Thronsaals gefunden hätte, wurde nicht mehr realisiert, ebenso wenig das sogenannte Ritterbad, das nach dem Vorbild des Ritterbads der Wartburg als mittelalterliches Taufbad dem Ritterkult huldigen sollte. Ein für die Kemenate geplantes Brautgemach (nach einem entsprechenden Schauplatz in Lohengrin) blieb unausgeführt, ebenso die ursprünglich für das erste und das zweite Geschoss des Palas angedachten Gästezimmer und ein großer Bankettsaal. Ein vollständiger Ausbau des als „Privathaus“ gedachten Neuschwansteins war jedoch von vornherein nicht geplant, und so gab es bis zum Tode des Königs für zahlreiche Räume nicht einmal ein Nutzungskonzept. Erst die Eingangsfront der Kapelle mit dem Kirchenportal hätte dem oberen Burghof den vom König von Anfang an gewünschten szenischen Effekt aus dem 2. Akt von Richard Wagners Oper Lohengrin verliehen, und erst die Masse des 90 Meter hohen Bergfrieds hätte den Baukörpern von Palas, Kemenate und Ritterbau den architektonischen Zusammenhang gegeben, für den sie entworfen wurden. So blieb Neuschwanstein ein vielbewunderter, aber missverständlicher Torso.
Stilistische Einordnung
Im 19. Jahrhundert gab es die Burgenromantik. Dem Schloss Neuschwanstein verwandte Projekte wurden in deutschen Teilstaaten mit dem benachbarten Schloss Hohenschwangau, dem Schloss Lichtenstein, der Burg Hohenzollern oder den zahlreichen Werken der Rheinromantik realisiert, zum Beispiel dem Schloss Stolzenfels. Ein weiteres von Ludwig II. geplantes, Neuschwanstein ähnliches Projekt – die in Sichtweite ca. 20 km entfernte Burg Falkenstein – kam mangels Geld nicht über das Planungsstadium hinaus. Architekturkritiker haben Neuschwanstein, das zu den letzten großen Schlossbauprojekten des 19. Jahrhunderts gehört, häufig als kitschig bewertet; heute zählen die Bauten Ludwigs II. und insbesondere Neuschwanstein zu den Hauptwerken des europäischen Historismus.
Das Schloss gilt als typisch für die Architektur des 19. Jahrhunderts. Auf eklektizistische Weise werden Formen der Romanik (einfache geometrische Figuren wie Quader und Rundbögen), der Gotik (emporstrebende Linien, schlanke Türme, filigraner Bauschmuck) und der byzantinischen Kunst (Ausstattung des Thronsaales) vermengt und mit technischen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts ergänzt. Die im Stil der Lüftlmalerei dargestellten Figuren der Patrona Bavariae und des Heiligen Georg befinden sich auf der Hoffassade des Palas; die nicht ausgeführten Entwürfe für die Galerie des Ritterhauses deuteten bereits Formen des Jugendstils an. Bezeichnend für die Gestalt Neuschwansteins sind Motive aus der Welt des Theaters: Christian Jank, der die Entwürfe für das Schloss lieferte, arbeitete zuvor als Bühnenmaler; für Neuschwanstein verwendete er frühere Kulissenentwürfe.
Innenräume
Nach seiner Vollendung hätte das Schloss über 200 verschiedene Innenräume besessen, inklusive der Räumlichkeiten für Gäste und Bedienstete sowie für die Erschließung und Versorgung. Fertiggestellt und ausgestattet wurden rund 15 Zimmer und Säle. Der Palas beherbergt in seinen unteren Stockwerken Wirtschaftsräume und Dienerzimmer sowie die Räume der heutigen Schlossverwaltung. Die oberen Geschosse beherbergen die Prunkräume des Königs: Der vordere Baukörper nimmt im dritten Obergeschoss die Wohnräume auf, darüber folgt der Sängersaal. Der nach Westen gerichtete hintere Baukörper ist in den oberen Geschossen fast vollständig durch den Thronsaal ausgefüllt. Die Grundfläche der verschiedenen Stockwerke beträgt insgesamt fast 6.000 m2.
Obwohl das Schloss in der Gesamtanlage nicht vollendet wurde, beherbergt es zahlreiche bedeutsame Innenräume des deutschen Historismus. Neuschwanstein wurde außerdem mit etlichen technischen Raffinessen ausgestattet, die dem neusten Stand des späten 19. Jahrhunderts entsprachen. So verfügte es unter anderem über eine batteriebetriebene Klingelanlage für die Dienerschaft und Telefonleitungen. Die Küchenausstattung enthielt einen Rumfordherd, der den Spieß durch Eigenwärme in Bewegung setzte und somit seine Umdrehungen der Hitze anpassen konnte. Die produzierte warme Luft wurde einer Calorifère-Heizung zugeführt. Auch eine eigene Warmwasseraufbereitung für das fließende Wasser war bereits eingebaut, für damalige Zeiten ebenso ein Novum wie die Toiletten mit automatischer Spülung.
Thronsaal und Sängersaal
Die beiden größten Räume des Schlosses sind der Thron- und der Sängersaal. Der größte Raum des Schlosses ist der 27 mal 10 Meter messende Sängersaal, der sich im nach Osten gerichteten Trakt des Palas im vierten Obergeschoss über der Wohnung des Königs befindet. Der Neuschwansteiner Sängersaal vereinigt in sich die Vorbilder des Sänger- und des Festsaals der Wartburg und war eines der Lieblingsprojekte des Königs für sein Schloss. Eine Seite des Raums wurde mit Themen aus Lohengrin und Parzival ausgeschmückt. Die andere Seite wird durch eine tribünenartige Galerie erschlossen, die dem Vorbild aus der Wartburg entstammt. Den Abschluss der östlichen Stirnseite bildet eine durch Arkaden gegliederte Bühne, die als Sängerlaube bezeichnet wird. Der Sängersaal war nie für Hoffeste des menschenscheuen Königs vorgesehen. Er diente vielmehr, ähnlich wie der Thronsaal, als begehbares Denkmal, in dem die Ritter- und Minnekultur des Mittelalters dargestellt wurde. Die erste Aufführung, ein Konzert anlässlich des 50. Todestages von Richard Wagner, fand 1933 statt.
Der 20 mal 12 Meter große Thronsaal befindet sich im nach Westen ausgerichteten Trakt des Palas und belegt dort mit 13 Metern Höhe das dritte und vierte Obergeschoss. Er wurde nach dem Vorbild der Allerheiligen-Hofkirche in der Münchner Residenz gestaltet und von Julius Hofmann entworfen. Der zweigeschossige, zweitgrößte Saal des Schlosses wird an drei Seiten von farbigen Arkadenstellungen umgeben und endet in einer Apsis, die den – nie fertiggestellten – Thron Ludwigs aufnehmen sollte. Mittlerweile ist an der Stelle ein Pappaufsteller angebracht, welcher ein mögliches Aussehen des Thrones zeigen soll. Die Wandmalereien schuf Wilhelm Hauschild. Ein nach dem Tod des Königs vollendetes Mosaik ziert den Boden des Saals, der Leuchter ist einer byzantinischen Krone nachempfunden. Der sakral anmutende Thronsaal vereinte, dem Wunsch des Königs folgend, den Schauplatz der Gralshalle aus Parzival mit einem Sinnbild des Gottesgnadentums, einer Verkörperung der uneingeschränkten Herrschergewalt, über die Ludwig als Staatsoberhaupt einer konstitutionellen Monarchie nicht mehr verfügte. Den Boden ziert das wohl aufwendigste Mosaikwerk Deutschlands. Es besteht aus mehr als 1,5 Mio. ca. 1 cm2 großen Natursteinbruchstücken. Aufgrund der starken Abnutzung der Oberfläche wurde der Boden durch eine fotorealistische Kopie auf Basis eines Fotobodens geschützt. Dieser besteht aus über 100 Mrd. Bildpunkten.
Wohn- und Dienerschaftsräume
Für Ludwig II. wurden auch kleinere Wohnräume geschaffen; sie wurden noch zu seinen Lebzeiten weitgehend fertiggestellt. Die königliche Wohnung befindet sich im dritten Obergeschoss des Schlosses im ostwärts gerichteten Trakt des Palas. Sie besteht aus acht Wohnräumen und mehreren kleineren Räumen. Ungeachtet der prunkhaften Ausstattung mögen die Wohnräume durch ihre bescheidene Größe und ihre Möblierung mit Sofas und Sitzgruppen für heutige Besucher verhältnismäßig modern erscheinen. Auf repräsentative Bedürfnisse vergangener Zeiten, als sich das Leben eines Monarchen noch weitgehend öffentlich abspielte, legte Ludwig II. keinen Wert. Die Ausstattung mit Wandgemälden, Gobelins, Möbeln und anderem Kunsthandwerk nimmt immer wieder Bezug auf die Lieblingsthemen des Königs: die Gralslegende, die Werke Wolframs von Eschenbach und deren Interpretation durch Richard Wagner.
Das nach Osten ausgerichtete Wohnzimmer ist mit Themen aus der Lohengrin-Sage ausgeschmückt. Die Möblierung mit einem Sofa, Tisch und Sesseln sowie Sitzgelegenheiten in einem nach Norden gerichteten Alkoven wirken intim und wohnlich. Dem Wohnzimmer benachbart ist eine kleine Grotte, die den Übergang zum Arbeitszimmer bildet. Der ungewöhnliche, ursprünglich mit einem künstlichen Wasserfall und einer 'Regenbogenmaschine' ausgestattete Raum ist mit einem kleinen Wintergarten verbunden. Er nimmt als Darstellung der Grotte im Hörselberg Bezug auf Wagners Tannhäuser, ebenso das Dekor des Arbeitszimmers. Sie ähnelt der (größeren) Venusgrotte im Schlosspark von Linderhof. Dem Arbeitszimmer gegenüber ist das mit Themen aus der Welt des Minnesangs ausgeschmückte Esszimmer. Da sich die Küche in Neuschwanstein drei Stockwerke tiefer befindet, konnte dort kein „Tischlein-deck-Dich“ (ein über eine Mechanik im Boden versenkbarer Speisetisch) wie im Schloss Linderhof und auf Schloss Herrenchiemsee installiert werden.
Zwischen der Küche und dem Esszimmer gibt es stattdessen einen Speisenaufzug.
Das dem Esszimmer benachbarte Schlafzimmer und die daran anschließende Hauskapelle sind die einzigen neugotisch gestalteten Räume des Schlosses. Im Schlafzimmer des Königs dominiert ein mächtiges, mit Schnitzwerk verziertes Bett. An dem mit zahlreichen Fialen dekorierten Betthimmel und den Wandverkleidungen aus Eichenholz arbeiteten 14 Schnitzer über vier Jahre. In diesem Raum wurde Ludwig in der Nacht vom 11. zum 12. Juni 1886 festgenommen. Dem Schlafzimmer benachbart ist eine kleine, dem Heiligen Ludwig – dem Namenspatron des Bauherren – geweihte Hauskapelle.
Die Dienerschaftsräume im Untergeschoss des Palas sind spärlich mit Mobiliar aus massiver Eiche eingerichtet. Neben je einem Tisch und einem Schrank gibt es noch je zwei 1,80 m lange Betten. Die Räume waren mit Fenstern aus undurchsichtigem Glas vom Gang, der von der Freitreppe zur Haupttreppe führte, abgegrenzt, so dass der König ungesehen ein und aus gehen konnte. Den Dienern war es verboten, die Haupttreppe zu benutzen; sie mussten die schmalere und steilere Dienerschaftstreppe nutzen.
Tourismus
Ludwig II. errichtete Schloss Neuschwanstein nicht als Repräsentationsbau oder zur Machtdemonstration, sondern ausschließlich als seinen privaten Rückzugsort. Im Gegensatz dazu steht die heutige Bedeutung des Schlosses als eines der wichtigsten Touristenziele Deutschlands. Der Deutsche Tourismusverband macht auf internationaler Ebene mit Neuschwanstein Werbung für Bayern als ein Land der Märchenschlösser. So nimmt es nicht Wunder, dass bei einer Umfrage der Deutschen Zentrale für Tourismus (DZT) unter 15.000 ausländischen Gästen über deren liebstes Besucherziel das Schloss Neuschwanstein Platz 1 erreichte. Im nationalen Vergleich wählten 350.000 Teilnehmer die Schlossanlage in der ZDF-Show Unsere Besten – die Lieblingsorte der Deutschen indes nur auf Rang 19. Bei der Abstimmung über die neuen Weltwunder im Jahr 2007 war Schloss Neuschwanstein auf dem achten Platz zu finden.
Seit ihrer Öffnung für den Besucherverkehr im Todesjahr Ludwigs zählt die Anlage beständig steigende Gästezahlen. Allein in den ersten acht Wochen besuchten rund 18.000 Menschen das Schloss. 1913 zählte es über 28.000 Gäste, 1939 waren es bereits 290.000. Bis 2001 war die Zahl auf rund 1,3 Millionen Besucher angewachsen, darunter 560.000 Deutsche und 385.000 Amerikaner sowie Engländer. Drittstärkste Gruppe waren in jenem Jahr die 149.000 Japaner. Bis 2005 wurden insgesamt über 50 Millionen Besucher gezählt. 2013 wurde mit 1,52 Millionen Besuchern ein neuer Rekord aufgestellt, das waren 31 Prozent der gesamten Besucher in den staatlichen Schlössern, Burgen und Residenzen. Damit ist Schloss Neuschwanstein der unangefochtene Besuchermagnet der Bayerischen Schlösserverwaltung und deren einzige Anlage, die mehr Gewinn einbringt als Kosten verursacht. 2004 wurden über 6,5 Millionen Euro an Einnahmen verbucht. Die Anlage zählt in der Hochsaison von Juni bis August durchschnittlich mehr als 6000 Besucher am Tag, in Stoßzeiten bis zu 10.000. Aufgrund des hohen Andrangs müssen Gäste ohne Voranmeldung zum Teil mit mehreren Stunden Wartezeit rechnen. Der Ticketverkauf erfolgt – vor Ort und online – ausschließlich über das Ticketcenter in Hohenschwangau. Aus Gründen der Sicherheit ist es nur im Rahmen einer etwa 35-minütigen Führung möglich, das Schloss zu besichtigen. Daneben gibt es noch sogenannte Themenführungen, die sich beispielsweise mit den Sagenwelten der jeweiligen Bilder befassen.
Der mit Neuschwanstein verbundene Massentourismus ist für die Region jedoch nicht nur ein lukratives Geschäft, sondern bringt auch Probleme mit sich. Vor allem in den Sommermonaten ist die Verkehrssituation rund um die Königsschlösser Hohenschwangau und Neuschwanstein extrem angespannt. Der ausufernde Parksuchverkehr in Schwangau wirkt belastend auf die Bewohner, und der sich stauende Verkehr in der Augsburger Straße in Füssen ist zu einem Drittel auf den An- und Abreiseverkehr der Schlosstouristen zurückzuführen. Seit über 20 Jahren stehen die Stadt Füssen und die Gemeinde Schwangau in Verhandlung zur Beseitigung ihrer Verkehrsprobleme, doch die verschiedenen Interessenlagen und gegensätzliche Positionen der Beteiligten führten bislang zu keiner Lösung. Trotz langer Parkplatzsuche sowie Schlangestehen vor dem Ticketcenter und dem Schlossportal reißt der Besucherstrom nach Schloss Neuschwanstein nicht ab, denn
Die bayerische Regierung investiert regelmäßig Summen in Millionenhöhe in die Erhaltung des Schlosses und in die touristische Erschließung der Anlage. 1977 musste der Felsberg unter der Kemenate für 500.000 DM saniert werden. Mit rund 640.000 DM schlug noch einmal die damalige Sanierung der Marienbrücke zu Buche, während für die Erneuerung der Schlossdächer 2,1 Millionen Mark aufgewendet werden mussten. In den 1980er Jahren war das Abtäufen eines Treppenhauses und die Anlage eines weiteren Besucheraufgangs nötig geworden. Sie kosteten insgesamt 4,2 Millionen Mark. In der Zeit von 1990 bis 2008 gab der Freistaat weitere 14,5 Millionen Euro für Instandhaltungsmaßnahmen – darunter die Instandsetzung der einzigen Zufahrtsstraße sowie eine jahrelange Fassadensanierung – und die Verbesserung der Besucherbetreuung aus. Auch die Innenräume müssen regelmäßig instand gesetzt und restauriert werden. So wurden 2009 und 2011 für über 425.000 Euro die original erhaltenen Textilien im Schlaf- sowie Wohnzimmer Ludwigs II. restauriert und durch Licht- sowie Tastschutz vor weiterem Verfall bewahrt.
Die Schlossverwaltung warnt davor, dass mit jährlich etwa 1,5 Millionen Besuchern das Schloss an die Grenzen seiner Kapazität gelangt sei. Die Besuchermassen würden – zusammen mit dem alpinen Klima und dem Licht – die wertvollen Möbel und Textilien stark belasten. Eine besondere Rolle scheint dabei die von den Besuchern ausgeatmete Feuchtigkeit zu spielen. Wissenschaftler sollen untersuchen, inwiefern die Schlossverwaltung diese Belastung verringern kann.
Neuschwanstein in Kunst und Kultur
Neuschwanstein gilt als Sinnbild für die Zeit der Romantik und ist weltweit bekannt. In amerikanischer Werbung ist es das meistgenutzte Schlossmotiv. Schon im Mai 1954 zeigte die amerikanische Illustrierte Life in einer Sonderausgabe über das deutsche Wirtschaftswunder Schloss Neuschwanstein auf seiner Titelseite.
Das Schloss inspirierte Künstler wie Andy Warhol, der es zum Thema einer seiner Pop-Art-Sequenzen machte, nachdem er es 1971 besucht hatte.
2002 stürzten in der Nähe Neuschwansteins Trümmerstücke eines Meteoriten auf die Erde, die seitdem unter dem Namen des Schlosses katalogisiert sind.
Die historischen Tatsachen, dass der Bauführer Heinrich Herold durch einen Schuss ins Herz ums Leben kam und dass ein Anbau des Torgebäudes bei einem Bergrutsch in die Tiefe stürzte, nutzt der ehemalige Neuschwanstein-Kastellan Markus Richter für historische Romane.
Vorbild für Gebäude auf der ganzen Welt
Die Anlage war Vorbild für mehrere Bauten auf der ganzen Welt, allen voran für das Sleeping-Beauty-Schloss im Disneyland Resort im kalifornischen Anaheim. Auch das Dornröschen-Schloss im Disneyland Paris wurde dem bayerischen „Märchenschloss“ nachempfunden und folgt der internationalen Einordnung, die den Anblick von Neuschwanstein mit Disney’s Cinderella bzw. mit Aschenputtel in Verbindung bringt. Ähnliches gilt für das Excalibur Hotel & Casino in Las Vegas. Der 1990 eröffnete, 290 Millionen Dollar teure Komplex zeigt starke Anlehnungen an Neuschwanstein. In Deutschland ließ der Kommerzienrat Friedrich Hoepfner in der Karlsruher Haid-und-Neu-Straße von 1896 bis 1898 seine „Hoepfner-Burg“ nach Plänen von Johann Hantschel errichten. Der als Betriebsgebäude für Hoepfners Brauerei errichtete Bau zeigt ebenfalls Reminiszenzen an Schloss Neuschwanstein.
Filmkulisse
Schloss Neuschwanstein diente unzählige Male als Kulisse für Verfilmungen über das Leben Ludwigs II. Es war zum Beispiel Drehort für Filme wie Helmut Käutners Ludwig II. von 1955 und Luchino Viscontis Ludwig II. von 1973. Auch die Filmbiografie Ludwig II. von Peter Sehr und Marie Noëlle aus dem Jahr 2012 wurde an Originalschauplätzen gedreht.
Die Anlage kam aber nicht nur bei Verfilmungen des Lebens Ludwigs II. zum Einsatz. Zum Beispiel inszenierte Erich Kobler 1955 seine beiden Grimm’schen Märchenverfilmungen Schneeweißchen und Rosenrot und Schneewittchen, bei denen das Schloss als Königsschloss fungierte. Daneben fanden Teile der Dreharbeiten zu Ken Hughes’ Fantasy-Komödie Tschitti Tschitti Bäng Bäng aus dem Jahr 1968 dort statt, und in Mel Brooks’ 1987 veröffentlichter Star-Wars-Parodie Spaceballs stellte Schloss Neuschwanstein das Zuhause von Prinzessin Vespa auf dem Planeten Druidia dar. Auch für Peter Zadeks Die wilden Fünfziger von 1983 und in dem 2008 erstmals ausgestrahlten TV-Spielfilm Die Jagd nach dem Schatz der Nibelungen diente Neuschwanstein als Kulisse. Auch im Film The King’s Man: The Beginning von 2021 ist das Schloss zu sehen.
In dem DEFA-Märchenfilm Die vertauschte Königin von Dieter Scharfenberg findet in der Anfangssequenz ein Schlossmodell Verwendung, das eine Adaption Neuschwansteins ist.
Die in dem Film Sherlock Holmes: Spiel im Schatten aus dem Jahr 2011 gezeigte Festung in den Schweizer Alpen wurde digital gestaltet, als Vorlage diente neben der Festung Hohenwerfen auch Schloss Neuschwanstein.
Das Schloss ist einer der Hauptschauplätze für das interaktive PC-Spiel Gabriel Knight: The Beast Within.
Briefmarken und Münzen
Neuschwanstein war mehrmals Motiv auf Briefmarken der Deutschen Bundespost, zum ersten Mal auf der 50-Pfennig-Marke der von 1977 bis 1982 erschienenen Dauermarkenserie Burgen und Schlösser (Michel-Nummer Bund 916 und Berlin 536). Als Nächstes war es 1986 auf der Sondermarke zum 100. Todestag von König Ludwig II. im Hintergrund zu sehen (Michel-Nummer 1281). 1994 wurde das Schloss auf der Sondermarke mit der Beschreibung „Schloss Neuschwanstein und Blick auf die Alpen“ (Michel-Nummer 1742) aus der Serie Bilder aus Deutschland ein drittes Mal abgebildet.
Anlässlich des Jubiläums von 150 Jahren deutsch-japanischen Beziehungen gab die Japanische Post einen Briefmarkenblock heraus. Auf der 80-Yen-Briefmarke dieses 10er-Blocks ist das Schloss Neuschwanstein abgebildet.
Die 2006 begonnene „Bundesländer-Serie“ stellt jedes Jahr ein Bauwerk des Bundeslandes auf einer 2-Euro-Gedenkmünze dar, das die Bundesratspräsidentschaft innehat. Im Jahr 2012 stellte Bayern den Präsidenten und somit auch das Motiv, in diesem Fall das Schloss Neuschwanstein. Im selben Jahr gab ein Münzhandelshaus eine weitere Gedenkmünze mit Farbveredelung in limitierter Auflage heraus. Schon zwei Jahre zuvor hatte der Pazifikstaat Palau 2010 eine 5-Dollar-Farbmünze aus Silber mit dem Schloss Neuschwanstein prägen lassen. Die Sammlermünzenserie „World of Wonders“ zeigt Bauwerke aus der ganzen Welt.
Mit dem Erstausgabetag 1. September 2022 wurde Neuschwanstein zum vierten Mal auf einer Briefmarke der Deutschen Post abgebildet: Ein Luftbild des Schlosses bildete den Auftakt der neuen Sondermarken-Serie Sehenswürdigkeiten in Deutschland mit einem Nennwert von 85 Eurocent. Der Entwurf stammt von dem Grafiker Jan-Niklas Kröger vom Grafik-Team der Deutsche Post Zentrale in Bonn.
Souvenirs
Mit dem schnell einsetzenden Besucherinteresse nach Öffnung des Schlosses begann auch der Handel mit Erinnerungsstücken zur Anlage. 1886 wurden gleich zwei Schlossführer veröffentlicht. Einer war wahrscheinlich von der Administration des Vermögens von König Otto herausgegeben worden, der zweite wurde unter der Federführung von Nepomuk Zwickh privat in Augsburg publiziert. Zu den frühen Andenken gehört auch ein silberner Löffel aus einer Löffel-Serie vom späten 19. Jahrhundert, der eine Email-Abbildung Neuschwansteins auf der Laffe zeigt. Er befindet sich heute im Metropolitan Museum of Art in New York.
Heute gibt es unzählige Andenken rund um Neuschwanstein und seinen Erbauer, vom Würfelzucker über Seidentücher und 3D-Puzzles bis hin zu Marzipanfiguren. Die bayerische Schlösserverwaltung ließ 2005 „Neuschwanstein“ als Wortmarke für eine Vielzahl von Waren- und Dienstleistungen registrieren, um mehr Einfluss auf Souvenire und Dienstleistungen in Zusammenhang mit dem Schloss zu haben. Der Deutsche Bundesverband Souvenir Geschenke Ehrenpreise e.V. ging jedoch 2007 gegen diesen Eintrag juristisch an und hatte damit Erfolg: Das deutsche Bundespatentgericht ordnete 2010 die Löschung der Marke an. Die von der Schlösserverwaltung dagegen eingelegte Rechtsbeschwerde vor dem Bundesgerichtshof war nur zum Teil erfolgreich, sodass Reiseandenken und -bedarf weiterhin mit „Neuschwanstein“ beworben werden dürfen.
Literatur
Wilfried Blunt: Ludwig II. Heyne, München 1990, ISBN 3-453-55006-4.
Hans Gerhard Evers: Ludwig II.von Bayern, Theaterfürst – König – Bauherr, Gedanken zum Selbstverständnis. Hirmer Verlag, München 1986, ISBN 3-7774-4150-3. (Info zum Buch und Bezugsquelle)
Rolf Linnenkamp: Die Schlösser und Projekte Ludwigs II. Heyne, München 1986, ISBN 3-453-02269-6.
Michael Petzet: Gebaute Träume. Die Schlösser Ludwigs II. von Bayern. Hirmer, München 1995, ISBN 3-7774-6600-X, S. 46–123.
Michael Petzet, Gerhard Hojer: Schloss Neuschwanstein. Amtlicher Führer. 771.–830. Tausend. Bayerische Verwaltung der staatlichen Schlösser, Gärten und Seen, München 1991.
Alexander Rauch: Neuschwanstein. Atlantis, Herrsching 1991, ISBN 3-88199-874-8.
Sigrid Russ: Neuschwanstein. Der Traum eines Königs. Süddeutscher Verlag, München 1983, ISBN 3-7991-6176-7.
Klaus Reichold/Thomas Endl: Die phantastische Welt des Märchenkönigs: Ludwig II. Biographie. Edition Luftschiffer, München 2017. ISBN 978-3-944936-25-3.
Jean Louis Schlim: Ludwig II. – Traum und Technik. MünchenVerlag, München 2010, ISBN 978-3-937090-43-6, Schloss Neuschwanstein, mit 3D-Simulationen.
Marcus Spangenberg: Der Thronsaal von Schloss Neuschwanstein. Ludwig II. und sein Verständnis vom Gottesgnadentum (= Große Kunstführer. Nr. 206). Schnell & Steiner, Regensburg 1999, ISBN 3-7954-1225-0.
Marcus Spangenberg: Ludwig II. – Der andere König (Kleine bayerische Biografien). Friedrich Pustet, Regensburg 2011, ISBN 978-3-7917-2308-2.
Marcus Spangenberg, Sacha Wiedenmann (Hrsg.): 1886. Bayern und die Schlösser König Ludwigs II. aus der Sicht von Hugues Krafft. Schnell & Steiner, Regensburg 2011, ISBN 3-7954-2470-4.
Marcus Spangenberg, Bernhard Lübbers (Hrsg.): Traumschlösser? Die Bauten Ludwigs II. als Tourismus- und Werbeobjekte. Dr. Peter Morsbach, Regensburg 2015, ISBN 978-3-937527-83-3.
Weblinks
Offizielle Website des Schlosses Neuschwanstein
Schloss Neuschwanstein bei burgenarchiv.de
Daniela Wakonigg: 05.09.1869 - Grundstein für Schloss Neuschwanstein WDR – ZeitZeichen (Podcast).
Einzelnachweise
Schloss im Landkreis Ostallgäu
Bauwerk des Historismus in Bayern
Bauwerk in Schwangau
Baudenkmal in Schwangau
Nach der Haager Konvention geschütztes Kulturgut in Bayern
Ludwig II. (Bayern)
Nationales Symbol (Deutschland)
Neuschwanstein |
43105 | https://de.wikipedia.org/wiki/Reihe%20%28Mathematik%29 | Reihe (Mathematik) | Eine Reihe, selten Summenfolge oder unendliche Summe und vor allem in älteren Darstellungen auch unendliche Reihe genannt, ist ein Objekt aus dem mathematischen Teilgebiet der Analysis. Anschaulich ist eine Reihe eine Summe mit unendlich vielen Summanden, wie etwa
Man kann Reihen als rein formale Objekte studieren, jedoch sind Mathematiker in vielen Fällen an der Frage interessiert, ob eine Reihe konvergiert, sich die unendlich lange Summe also langfristig einem festen Wert immer weiter annähert. So konvergiert etwa die obere Beispielreihe gegen den Wert (siehe Bild). Allgemein wird eine Reihe mit bezeichnet, und dies ist, falls existent, gleichzeitig die Bezeichnung für den Grenzwert.
Präzise wird eine Reihe als eine Folge definiert, deren Glieder die Partialsummen einer anderen Folge sind. Wenn man die Zahl 0 zur Indexmenge zählt, ist die -te Partialsumme die Summe der ersten (von den unendlich vielen) Summanden. Falls die Folge dieser Partialsummen einen Grenzwert besitzt, so wird dieser der Wert oder die Summe der Reihe genannt.
Eine systematische Theorie der Reihen findet ihren Ursprung im 17. Jahrhundert, wo sie besonders durch Gottfried Wilhelm Leibniz und Isaac Newton vorangetrieben wurde. Dabei stand sie in enger Verbindung zu anschaulichen Problemen aus der Geometrie, wie der Integration von Kurven. Als formale Objekte wurden Reihen im 18. Jahrhundert von Mathematikern wie Leonhard Euler studiert, der ihnen drei Bände seines Gesamtwerkes, der Opera Omnia, widmete. Erst im 19. Jahrhundert stieß dieser Umgang, der Fragen nach Konvergenz oder Divergenz außen vor ließ, auf Kritik. In einer wegweisenden Schrift aus dem Jahr 1821 legte Augustin-Louis Cauchy das Fundament der bis heute gebräuchlichen „quantitativen“ Theorie unendlicher Reihen und bereitete der rigorosen Aufarbeitung der Analysis, etwa durch Karl Weierstraß, den Weg. Von zentraler Bedeutung in diesem Kontext war das Cauchy-Kriterium für die Charakterisierung des Konvergenzbegriffs. Bis in die heutige Zeit sind Reihen, etwa im Kontext der Zahlentheorie, ein Objekt intensiver mathematischer Forschung.
Für die Untersuchung einer unendlichen Reihe sind vor allen Dingen die Fragen nach ihrer Konvergenz und, wenn diese vorliegt, nach dem Grenzwert von Bedeutung. Für beides existieren keine brauchbaren allgemeinen Methoden. Allerdings wurden Kriterien entwickelt, die in einigen Spezialfällen Antworten liefern.
Besonders bedeutende Anwendungen haben Reihen in der Analysis (zum Beispiel über Taylorreihen zu analytischen Funktionen), den Ingenieurwissenschaften (etwa in der Elektrotechnik und Signalverarbeitung über Fourierreihen), aber auch in der Wirtschaftswissenschaft und Finanzmathematik. Einige bedeutende mathematische Konstanten, etwa die Kreiszahl oder die Eulersche Zahl , konnten mit Hilfe von Algorithmen, die auf unendlichen Reihen fußen, auf viele Milliarden Nachkommastellen angenähert werden.
Einführung: Unendliche Summierbarkeit und erste Beispiele
Unter einer Reihe versteht man, veranschaulicht, eine niemals endende Summe von Zahlen. Die Dezimalschreibweise einer reellen Zahl kann zum Beispiel als Reihe aufgefasst werden, etwa
oder auch mit der Kreiszahl :
Die durch die Punkte angedeuteten Summen enden niemals, da die Dezimalentwicklung von periodisch und die Kreiszahl irrational ist. Es gibt Reihen, denen kein Wert zugeordnet werden kann, etwa
aber auch solche, die gegen einen Grenzwert konvergieren (wie die obigen Beispiele mit Grenzwerten bzw. ).
Darüber hinaus treten Reihen in vielen Bereichen der Mathematik auf und besitzen zahlreiche Anwendungsmöglichkeiten. Klassischerweise treten sie dann in Erscheinung, wenn mathematische Terme beliebig gut angenähert werden sollen oder die Entwicklung (theoretisch) nicht endender Prozesse analysiert wird. Auch in der Physik spielen Reihen eine wichtige Rolle. Eine einfache „Anwendung“ kann über das klassische Paradoxon von Achilles und der Schildkröte gegeben werden:
Der für seine Schnelligkeit bekannte Heros Achilles liefert sich einen Wettkampf mit einer Schildkröte. Beide starten von der gleichen Position aus. Jedoch gewährt Achilles, der einhundert Mal schneller als die Schildkröte ist, dieser 100 Meter Vorsprung. Das Paradoxon besagt nun, dass Achilles die Schildkröte niemals einholen wird: Hat nämlich Achilles 100 Meter zurückgelegt, so hat sich die Schildkröte in der Zwischenzeit einen Meter von ihrer bisherigen Position weiter bewegt. Und läuft Achilles nun auch diesen weiteren Meter, so ist ihm die Schildkröte einen weiteren Zentimeter voraus. Und bewegt sich Achilles diesen Zentimeter, so hat die Schildkröte einen Zehntel Millimeter Vorsprung usw.
Das scheinbare Paradoxon entsteht dadurch, dass die Zeit nicht berücksichtigt wurde. Genau genommen ist die Aussage, dass Achilles die Schildkröte niemals aufholen wird, nicht korrekt. Die in dem Paradoxon aufgeführten Zwischenschritte, in denen die Schildkröte stets einen rasch abnehmenden Vorsprung vor Achilles hat, sind allesamt mit Zeitabschnitten verbunden, die jedoch ebenso rasant abnehmen (zum Beispiel dann, wenn Achilles nur noch einen Zentimeter läuft). Brauchte Achilles für die ersten 100 Meter noch „eine Zeiteinheit“, so wird er für einen Meter nur noch „ Zeiteinheiten“ brauchen. Im nächsten Schritt braucht er für einen Zentimeter nur noch „ Zeiteinheiten“. Der Zeitpunkt, an dem Achilles und Schildkröte schließlich die gleiche Position haben werden, ist also, da deren Abstände immer weiter abnehmen, gegeben durch die unendliche Reihe
Obwohl also unendlich viele Terme addiert bzw. Zeitabschnitte betrachtet wurden, entsteht im Grenzwert eine endliche Zahl bzw. wird Achilles nach endlicher Zeit, nämlich nach Zeiteinheiten, die Schildkröte einholen.
Definition und Grundlagen
Begriff
Eine Reihe wird selten Summenfolge oder unendliche Summe und vor allem in älteren Darstellungen auch unendliche Reihe genannt.
Für reelle und komplexe Folgen
Ist eine beliebige reelle (oder komplexe) Folge gegeben ( ist die Menge der nichtnegativen ganzen Zahlen und bezeichnet die „ist-Element-von“-Relation), kann man aus ihr eine neue Folge der Partialsummen bilden. Die -te Partialsumme ist die Summe der ersten Glieder von , ihre Definition lautet:
Die Folge der -ten Partialsummen heißt Reihe.
Zu bemerken ist, dass aus der Definition folgt, dass andersherum jede Zahlenfolge zu einer Reihe wird, wenn man diese als Partialsummen der Folge auffasst. Eine Reihe ist also nichts anderes als eine Folge spezieller „Bauart“, deren Glieder rekursiv durch und definiert sind. Allerdings führt die einfache rekursive Struktur der Reihen zu vergleichsweise sehr handlichen Konvergenzkriterien, siehe unten.
Konvergenz
Obwohl Reihen auch als formale Objekte studiert werden können, also „ohne Wert“, sind in der Mathematik die Fälle von besonderem Interesse, in welchen sich die Reihe langfristig einem ganz bestimmten Wert annähert. Falls die Reihe , also die Folge der Partialsummen
( ist das Summenzeichen)
konvergiert, so nennt man ihren Grenzwert
den Wert der Reihe oder die Summe der Reihe. Dieser ist eindeutig bestimmt und wird meistens als notiert. Reihen, die nicht konvergieren, nennt man divergent.
Anschaulich bedeutet Konvergenz, dass sich eine Folge auf Dauer einer reellen oder komplexen Zahl beliebig nah annähert. Da der Umgang mit „dem Unendlichen“ zunächst nicht sinnvoll ist, umgeht man diese Schwierigkeit, indem man den Konvergenzbegriff mit endlichen Mitteln erklärt. Die Reihe nennt man dann konvergent gegen den Grenzwert , wenn es zu jeder noch so kleinen Zahl einen Index gibt, so dass für alle noch größeren Indizes
erfüllt ist. Hat eine Reihe etwa den Grenzwert , so besagt die Wahl , dass alle bis auf endlich viele Partialsummen
zwischen und liegen. Ebenso lässt sich mit – ab einem gewissen Index liegen also alle Partialsummen zwischen und – usw. verfahren. In den meisten Fällen ist dieses Kriterium für Konvergenz jedoch nicht brauchbar, da bereits ein Grenzwert bekannt sein muss, um es überhaupt anwenden zu können. Es ist im Allgemeinen jedoch überaus schwierig, den Grenzwert einer konvergenten Reihe anzugeben. Dies kann aber leicht umgangen werden, denn es kann gezeigt werden, dass eine Reihe genau dann konvergiert, wenn es für jede Zahl einen Index gibt, so dass für alle größeren Indizes bereits
gilt. Man bezeichnet dies als das Cauchy-Kriterium, und es kommt ohne Verwendung eines expliziten Grenzwertes aus.
In manchen Fällen müssen auch Reihen der Form untersucht werden. Diese heißen konvergent genau dann, wenn die beiden Reihen
konvergieren.
Das Themenfeld der Reihenkonvergenz ist bis heute ein schwieriges Gebiet, und es gibt kein allgemeingültiges und zugleich brauchbares Kriterium, um schnell zu entscheiden, ob eine vorgelegte Reihe konvergiert oder divergiert. Ein Grund hierfür ist, dass es keinen „klaren Übergang“ zwischen Konvergenz und Divergenz gibt. So existiert etwa keine „am langsamsten konvergierende Reihe“, und ebenso keine „am langsamsten divergierende Reihe“. Ist etwa mit einer Nullfolge konvergent, so auch , und letztere Reihe konvergiert langsamer als die vorherige. Darüber hinaus zeigte Alfred Pringsheim, dass die Glieder einer konvergenten Reihe keinesfalls mit einer „Mindestgeschwindigkeit“ gegen streben müssen. Es kann sogar jede konvergente Reihe für einen Beweis dieser Behauptung herangezogen werden.
Bedingte und absolute Konvergenz
Es gibt unterschiedliche Arten der Konvergenz. Dies betrifft nicht die Konvergenzdefinition, die stets dieselbe ist, sondern die „Güte“ der Konvergenz. So kann man zwei Typen konvergenter Reihen angeben: Jene, die gewissermaßen „stabil“ konvergieren, und solche, bei denen größere Vorsicht zum Nachweis einer Konvergenz geboten ist, etwa bei der Umordnung von Summanden innerhalb der Reihe.
Eine Reihe heißt absolut konvergent, wenn auch die zugehörige Reihe der Absolutbeträge konvergiert. Darin ist die Betragsfunktion.
Durch das Summieren der Beträge werden alle möglichen Vorzeichen bzw. Ausrichtungen der quasi „ignoriert“, was den Nachweis einer Konvergenz erschwert, da dann kein „Wegkürzen“ mehr möglich ist. Etwa ist die alternierende Reihe
konvergent, nicht aber die harmonische Reihe
Es ist ein erstes Beispiel einer bedingt konvergenten Reihe, also einer, die nicht absolut konvergiert.
Aus mathematischer Sicht ist absolute Konvergenz ein Vorteil, da dies das Rechnen mit Reihen vereinfacht. Etwa ist es im Falle bedingter Konvergenz nicht ohne Weiteres erlaubt, die Reihenfolge der Summanden zu ändern, ohne dabei möglicherweise den Grenzwert zu verändern. Damit entfällt bei bedingt konvergenten Reihen das noch für endliche Summen gültige Kommutativgesetz. Im Gegensatz dazu ist es bei absolut konvergenten Reihen unerheblich, in welcher Reihenfolge summiert wird, da der Grenzwert stets derselbe bleibt.
Die absolute Konvergenz kann auch auf Multireihen ausgedehnt werden. Konvergiert für jedes , und konvergiert , dann konvergieren die Reihen
für jedes ,
für jedes ,
und es gilt
.
Überblick zu den Anwendungen
Das Konzept der Reihe spielt disziplinübergreifend eine zentrale Rolle in der Mathematik. Hauptanwendungsgebiet ist zunächst die Analysis, jedoch auch alle durch diese Sparte beeinflussten Bereiche, nicht zuletzt angewandte Gebiete wie die Ingenieurswissenschaften. Dabei entfalten Reihen ihre Nützlichkeit zum Beispiel dann, wenn es darum geht, bestimmte Funktionen annähernd auszurechnen, die für Anwendungen zwar nützlich, aber dennoch kompliziert sind. Ein Beispiel sind die Winkelfunktionen, etwa der Sinus. Es gibt kein einfaches, „geschlossenes“ Verfahren, für Eingabewerte den Ausgabewert zu berechnen, aber mittels Reihen können gute Näherungswerte relativ schnell berechnet werden, die in der Praxis ausreichen. Es gilt die Reihenentwicklung
kurz:
Etwa ist und, wegen für alle , als Näherung bis zum -Term
Geschichte
Anfänge im 17. Jahrhundert
Reihen wurden in der Mathematik hauptsächlich eingeführt, um geometrische Probleme zu lösen. Ihre zunächst eher sporadische Verwendung gewann um 1650 an Bedeutung und war zum Beispiel entscheidend für die Entstehung der Infinitesimalrechnung. Besonders zu Zeiten von Isaac Newton und Gottfried Wilhelm Leibniz wurden viele Ergebnisse erzielt, und ein großer Teil des frühen Wissens um die Reihen geht auf sie zurück.
Obwohl Reihen schon früher gelegentlich vorkamen, wurden sie in der Mathematik erst ab dem 17. Jahrhundert wirklich bedeutsam. Ihre Verwendung erfolgte vor allem im Zusammenhang mit dem Problem der Quadratur und der Abmessung von Kurven durch Einteilung in lineare Segmente (siehe auch Rektifizierbarkeit). Im 17. Jahrhundert versuchten die Mathematiker, neue Methoden für die Quadratur gekrümmter Linien zu finden, die die Schwierigkeiten der sogenannten Exhaustionsmethode vermeiden.
Der Geistliche und Mathematiker Pietro Mengoli veröffentlichte 1650 in seinem Werk Novae quadraturae arithmeticae, seu de additione fractionum Resultate bezüglich unendlicher Reihen und baute seine Argumente auf zwei Axiomen auf. Unter anderem fand er die Grenzwerte:
Ferner fragte er nach dem Grenzwert der Reihe
blieb bei dessen Suche aber erfolglos. Dieses Problem wurde später von Jakob Bernoulli aufgegriffen, und schließlich als Basler Problem bekannt. Erst Leonhard Euler fand den korrekten Grenzwert mit der Kreiszahl im Jahr 1735 und veröffentlichte ihn in seinem Werk De Summis Serierum Reciprocarum.
Im Jahr 1666 verfasste Newton eine Schrift De Analysi per Aequationes Numero Terminorum Infinitas, die zwar erst 1711 publiziert wurde, aber zuvor in Manuskriptform Wellen schlug. In dieser entwickelte er das heute als Newtonverfahren bekannte Prinzip, Nullstellen einer Funktion numerisch anzunähern. Er betrachtete den Spezialfall analytischer Funktionen, und es gibt nirgends einen Hinweis darauf, dass er das Verfahren auf geometrische Weise erhalten hat. Er wandte diese Technik auf die Umkehrung von Reihen an und gewann unter anderem dadurch die Reihenentwicklungen für Sinus und Kosinus. Durch Inspiration über das von John Wallis verfasste Werk Arithmetica infinitorum entdeckte er zudem die allgemeine Binomialreihe, in heutiger Notation
die sich zur numerischen Annäherung von Wurzeln eignet. Dies geht aus einem Brief von Newton an Leibniz aus dem Jahre 1676 hervor. Newton hat für sein Theorem jedoch nie einen Beweis geliefert, denn für ihn gab es genug numerische und experimentelle Evidenz.
Fast zur gleichen Zeit, ab 1672, befasste sich Gottfried Wilhelm Leibniz mit der Theorie der unendlichen Reihen. Diese spielte eine wichtige Rolle bei seinen späteren Beiträgen zum Aufbau der Infinitesimalrechnung. Leibniz untersuchte Reihen oft mit einer geometrischen Fragestellung oder Anschauung; Beispiele hierfür sind seine Behandlung der geometrischen Reihe und der berühmten Leibniz-Reihe
die er über die Geometrie des Kreises erklärte.
18. Jahrhundert
Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde die hauptsächlich von den gegenseitigen Widersachern Newton und Leibniz initiierte Theorie der unendlichen Reihen systematisch ausgebaut. Einen ersten Höhepunkt erlebte sie durch das Werk Methodus incrementorum von Brook Taylor, das 1715 veröffentlicht wurde. In diesem entwickelte Taylor die heute nach ihm benannte Taylorreihe
systematisch, also die Möglichkeit, eine hinreichend gute Funktion anhand all ihrer Ableitungen in einem Punkt in Umgebung dieses Punktes zu rekonstruieren. Dabei bezeichnet die -te Ableitung der Funktion im Punkt und die Fakultät von . Dieser Ansatz war bereits Newton bekannt gewesen, jedoch hatte er diesbezüglich nur kurze Ausführungen geliefert und es bleibt unklar, ob er die Wichtigkeit der Potenzreihen richtig einschätzte. Diese wurde in den folgenden Jahren jedoch zunehmend erfasst. Abraham de Moivre bewies einen Satz über Potenzreihen zu rekursiven Folgen und erkannte, wie andere Mathematiker dieser Zeit, dass diese eng mit sogenannten charakteristischen Polynomen der entsprechenden Rekursion zusammenhingen. Etwa gab Daniel Bernoulli 1728 mit deren Hilfe eine geschlossene Formel für die sonst nur über eine Rekursion definierte Fibonacci-Folge an.
James Stirling argumentierte in seiner 1730 publizierten Methodus differentialis, dass langsam konvergente Reihen „ebenso unnütz“ wie divergente Reihen seien, und präsentierte Verfahren, um die Konvergenz gewisser Reihen zu beschleunigen. Diese sollten auch dazu dienen, die Werte gewisser endlicher Summen schnell ausrechnen oder zumindest approximieren zu können. Unter seinen Entdeckungen fand sich auch die nach ihm benannte Stirlingformel, welche die Fakultät einer natürlichen Zahl über einen asymptotischen Reihenausdruck sehr schnell für große annähert. Die 1742 von Colin Maclaurin veröffentlichte und zeitgleich auch von Euler entdeckte und genutzte Euler-Maclaurin-Formel, die die Arbeiten von Newton zur geometry of fluxions aufgriff, ging in eine ähnliche Richtung. Mit ihrer Hilfe konnte Maclaurin neue Beweise zu Aussagen von Newton und Stirling über Taylorreihen anfertigen und die Reihenkonvergenz durch seinen neuartigen Zugang in einigen Fällen beschleunigen.
Besonders wichtige Beiträge zur Theorie der Reihen lieferte jedoch Leonhard Euler. Sie galten als eines seiner Lieblingsthemenfelder, und alleine drei Bände seiner Opera Omnia sind ihnen gewidmet. Zahlreiche bedeutende Entdeckungen Eulers fußen letztlich auf seiner Intuition. Darunter fallen seine Verallgemeinerung der Fakultät über die Gammafunktion, die Lösung des Basler Problems und zahlreiche weitere gefundene Grenzwerte bestimmter Reihen, wie etwa
(die Nenner sind „perfekte Quadrate minus 1, die selbst auch andere Potenzen sind“, etwa usw.)
sowie seine Entdeckung der Euler-Maclaurin-Formel im Jahr 1732 (Beweis 1736). Euler zog praktischen Nutzen aus dieser Formel, um unendliche Reihen, die langsam konvergieren, schnell numerisch anzunähern. So gab er gute Näherungen für die Werte und , wobei die Riemannsche Zeta-Funktion bezeichnet, und fand auf 20 Stellen genau:
Erwiesenermaßen etablierte Eulers ursprüngliche Methode der Berechnung von für höhere Werte von die numerische Mathematik als ein neues Forschungsgebiet. Neuartig war auch sein Zugang zur Zahlentheorie über unendliche Reihen. Mit dem sog. Satz von Euler zeigte er, dass
gilt und deutete sein Resultat dahingehend, dass Primzahlen dichter in den natürlichen Zahlen liegen müssten als Quadratzahlen. Es war zudem Euler, der als erster divergente Reihen systematisch untersuchte. Dabei entging Euler jedoch keinesfalls die Problematik, welche die Zuweisung eines Summenwertes zu einer divergenten Reihe mit sich bringen konnte. So hatte schon Guido Grandi aus
„“
die Gleichheit abgeleitet, und damit die Möglichkeit der Erschaffung der Welt aus dem Nichts „bewiesen“. Später bemerkte man weitere Widersprüche, die durch das unbedarfte Rechnen mit divergenten Reihen entstehen können. Obwohl Euler für seinen Umgang mit divergenten Reihen kritisiert wurde, wird ihm bis heute ein sehr intuitiver Zugang zugestanden. So konnte er einige korrekte Resultate mit dessen Hilfe entdecken, und seine Intuition nahm Ideen aus der Theorie der Limitierungsverfahren, die den Umgang mit divergenten Reihen ab dem 19. Jahrhundert systematisch formalisierte, vorweg.
Nach 1760 entwickelte sich die Theorie der unendlichen Reihen schließlich maßgeblich in die Richtung, die Euler vorgegeben hatte. Der formale Zugang (es wurden etwa Fragen der Konvergenz oft ignoriert, und Terme wurden abstrakt umgeformt) bereitete vielen bemerkenswerten Resultaten den Boden, etwa der Lagrangeschen Inversionsformel, 1768 gezeigt von Joseph-Louis Lagrange in seiner Nouvelle méthode pour résoudre les équations littérales par le moyen des séries, und der Theorie erzeugender Funktionen von Pierre-Simon Laplace. Im Jahr 1797 konnte Lagrange schließlich die Theorie der analytischen Funktionen konstruieren mit dem Ziel, die Differentialrechnung rein durch formale Betrachtungen aufzubauen.
19. Jahrhundert
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts fand die formale Herangehensweise an die Theorie der unendlichen Reihen, also etwa jenseits von Fragen der Konvergenz, zunehmend Ablehnung. Ziel war es, zu einem „quantitativen Verständnis“ von Reihen zu gelangen. Die erste Arbeit in diese Richtung stammt von Carl Friedrich Gauß aus dem Jahr 1813. Zuvor hatte Joseph Fourier bereits Reihen trigonometrischer Funktionen untersucht, dabei aber einen anderen Ansatz gewählt als vorher Euler und Lagrange. Schließlich gab Augustin-Louis Cauchy die erste systematische Abhandlung eines rein quantitativen Zugangs zur Theorie der Reihen im Jahr 1821. Ein wesentlicher Grund, weshalb die formale Herangehensweise nicht mehr breite Akzeptanz fand, war, dass sie an einen Punkt gelangt war, an der die Analysis nicht weiter wachsen konnte. Cauchy erklärte dazu:
Im weiteren Verlauf verlagerte sich der Forschungsschwerpunkt entsprechend auf den „quantitativen Umgang“ mit Reihen, der sich in vielerlei Hinsicht als schwieriger und gleichzeitig fruchtbarer erwies. So kam die Frage nach Kriterien auf, wie man entscheiden könnte, ob eine unendliche Reihe überhaupt konvergiert. Beiträge in diese Richtung stammen unter anderem von Niels Henrik Abel, Augustin-Louis Cauchy, Peter Gustav Lejeune Dirichlet und Carl Friedrich Gauß. In dieser Zeit machten sich auch Cauchy und Karl Weierstraß um den Aufbau der modernen Funktionentheorie verdient. Besonders Weierstraß verwendete dafür systematisch eine moderne, bis heute gebräuchliche Theorie der Potenzreihen. In seinem 1859 verfassten Artikel Über die Anzahl der Primzahlen unter einer gegebenen Grösse. nutzte Bernhard Riemann diese „strenge“ Funktionentheorie, um Primzahlen zu untersuchen. Die Schwierigkeit lag darin, der Reihe
auch außerhalb ihren Konvergenzbereichs einen „quantitativen Sinn“ zu geben. Zuvor hatte Euler ebenfalls diese sogenannte Zeta-Funktion studiert, jedoch nur als formales Objekt und nicht über den komplexen Zahlen, weshalb ihm strenge Beweise, etwa für ihre Funktionalgleichung, verwehrt geblieben waren. Auch wurden die Unterschiede zwischen bedingter und absoluter Konvergenz herausgearbeitet. So zeigte Riemann im Jahr 1866 den Riemannschen Umordnungssatz. Auch konnten mit Hilfe der Reihen pathologische Beispiele in der Analysis konstruiert werden. Karl Weierstraß zeigte 1872, dass die Weierstraß-Funktion
, mit und mit
in zwar überall stetig, aber nirgends differenzierbar ist.
Die Theorie der divergenten Reihen wurde jedoch nicht gänzlich verworfen. War sie von Cauchy und Abel noch als „Erfindung des Teufels“ gebrandmarkt worden, lieferte ironischerweise der Abelsche Grenzwertsatz einen Grundstein für eine moderne und widerspruchsfreie Theorie der Limitierungsverfahren divergenter Reihen, die ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Émile Borel und Ferdinand Georg Frobenius vorangetrieben wurde.
20. Jahrhundert bis heute
Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde unter anderem eine „strenge“ Theorie der divergenten Reihen, unter Vorbehalt gewisser Voraussetzungen, aufgebaut. Bei diesen Limitierungsverfahren wird, unter Berücksichtigung des quantitativen Verständnisses von Reihen, durch Limesbildung der Konvergenzbegriff verallgemeinert, so dass die Klasse „konvergenter Reihen“ ausgedehnt wird. Der Autodidakt Srinivasa Ramanujan hatte 1910 unter anderem durch die Behauptung
„“
für Aufmerksamkeit gesorgt, wobei neben weitestgehender Ablehnung (wegen der offensichtlichen Divergenz der Reihe zur linken Seite) der Brite Godfrey Harold Hardy darin eine korrekte „Auswertung“ des Funktionswertes mit der Riemannschen Zeta-Funktion wiedererkannte. Ramanujan hatte, ähnlich wie Leonhard Euler, eine gute Intuition für Limitierungsverfahren gehabt, und damit einige tiefe Resultate vorhergesagt, ohne dafür strenge Beweise anzugeben. Zu seinen zahlreichen Entdeckungen gehörten Reihenformeln wie
und auch
und bezeichnen respektive den Sinus hyperbolicus, Cosinus hyperbolicus, Kotangens und den Kotangens hyperbolicus, bezeichnet die Eulersche Zahl.
Der Ramanujanexperte Bruce Berndt wies darauf hin, dass unter den Veröffentlichungen im 20. Jahrhundert, die durch Ramanujan vorhergesagte Formeln im Nachhinein bewiesen, ein Großteil zum Thema der unendlichen Reihen gehörte.
Konvergenzklassen in der Theorie der Limitierungsverfahren wurden als unterschiedlich groß erkannt. Zum Beispiel wurde bereits von Abel gezeigt, dass, falls konvergiert, auch der Grenzwert
existieren muss. Die Umkehrung dieses Resultats ist jedoch nicht richtig: Es existieren Reihen, die sich im obigen Sinne limitieren lassen mit divergenter Reihe . Das Resultat Abels, das also eine Konvergenzklasse, nämlich die „klassische Konvergenz“, in eine größere Klasse einbettet, ist Spezialfall eines Abelschen Theorems. Sätze, die hinreichende Bedingungen für Umkehrungen von Abelschen Sätzen herausarbeiten, wurden durch Arbeiten von Alfred Tauber initiiert. Tauber zeigte, dass, falls existiert und , die Reihe konvergieren muss. Die sogenannten Tauber-Theoreme spielen bis heute in der Zahlentheorie, etwa beim Beweis des Primzahlsatzes, eine bedeutende Rolle. Besonders Godfrey Harold Hardy und John Edensor Littlewood griffen die Ideen Taubers auf und verallgemeinerten sie. Im Jahr 1949 erschien Hardys Buch mit dem Titel Divergent Series.
Auch in der Theorie der Fourierreihen wurden weitere Erfolge erzielt. 1923 konstruierte Andrei Nikolajewitsch Kolmogorow eine -integrable Funktion, deren Fourierreihe fast überall divergiert. Dies widersprach Vermutungen seines Lehrers Nikolai Nikolajewitsch Lusin, der die punktweise Konvergenz solcher Fourierreihen vermutete. Für quadratintegrable Funktionen (Klasse ) vermutete man ebenfalls lange, dass sich Gegenbeispiele finden lassen würden, bis Lennart Carleson 1966 Lusins Vermutung für diese Klasse bewies.
Im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts wurden Reihen verstärkt auch in formalen algebraischen Rahmen, also jenseits von Konvergenzfragen, als abstrakte Strukturen untersucht. So formen etwa die formalen Potenzreihen mit Koeffizienten in einem Ring zusammen mit komponentenweiser Addition und dem Cauchyprodukt einen Ring . Häufig wird die Wahl getroffen. In diesem Fall ist sogar faktoriell. Im Jahr 1959 konnten E. D. Cashwell und C. J. Everett zeigen, dass der Ring der formalen Dirichletreihen isomorph zu einem Potenzreihenring mit abzählbar vielen Veränderlichen, und damit insbesondere faktoriell, ist. Ferner erwies sich der „algebraische“ Umgang mit Reihen auch für die Kombinatorik von großem Nutzen. Diese Initiative wurde unter anderem von George Andrews seit den 1970er Jahren vorangetrieben, der zahlreiche kombinatorische Fragen, etwa zu den Partitionen, durch Reihenumformungen beantworten konnte, und an einem systematischen Ausbau der Theorie sogenannter „-Reihen“ maßgeblich beteiligt war. Allerdings waren derartige Ansätze bereits zu den Zeiten Leonhard Eulers bekannt, der unter anderem den Pentagonalzahlensatz bewies.
Bis zum heutigen Tage sind Konvergenzfragen von Reihen von höchster Bedeutung und keinesfalls gelöst. So wird etwa die Riemannsche Vermutung, eines der sieben Millennium-Probleme, auf dessen Lösung der Preis von 1 Million US-Dollar ausgesetzt ist, von der Konvergenz der Reihe
für alle Werte impliziert. Dabei hängt die Möbiusfunktion eng mit der Verteilung der Primzahlen zusammen. Bis dato ist lediglich Konvergenz für und die Tatsache
bekannt, was äquivalent zum Primzahlsatz ist.
Rechnen mit Reihen
Im Gegensatz zu gewöhnlichen (endlichen) Summen gelten für Reihen einige übliche Regeln der Addition nur bedingt. Man kann also nicht bzw. nur unter bestimmten Voraussetzungen mit ihnen wie mit endlichen Summenausdrücken rechnen. Es stellen sich grundsätzlich die Fragen:
Wie kann man Reihen addieren, und wie wirkt sich das auf Konvergenz und Grenzwerte aus?
Wie kann man Reihen multiplizieren, und wie wirkt sich das auf Konvergenz und Grenzwerte aus?
Summen und Vielfache
Man kann konvergente Reihen gliedweise addieren, subtrahieren oder mit einem festen Faktor (aber nicht einer anderen Reihe) multiplizieren (vervielfachen). Die resultierenden Reihen sind ebenfalls konvergent, und ihr Grenzwert ist die Summe bzw. Differenz der Grenzwerte der Ausgangsreihen bzw. das Vielfache des Grenzwertes der Ausgangsreihe. D. h.:
,
wenn und .
Produkte
Man kann absolut konvergente Reihen gliedweise miteinander multiplizieren. Die Produktreihe ist ebenfalls absolut konvergent und ihr Grenzwert ist das Produkt der Grenzwerte der Ausgangsreihen. D. h.:
Da die Schreibweise (auf der linken Seite der Gleichung) der Produktreihe mit zwei Indizes in bestimmten Zusammenhängen „unhandlich“ ist, wird die Produktreihe auch in Form des Cauchyprodukts geschrieben. Der Name ergibt sich daraus, dass die Glieder der Produktreihe mit Hilfe des Cauchyschen Diagonalverfahrens gebildet werden, dabei werden die Glieder der Ausgangsfolgen in einem quadratischen Schema paarweise angeordnet, und die (durchnummerierten) Diagonalen dieses Schemas bilden die Produktglieder. Für die Produktreihe braucht man dann nur noch einen einzelnen Index. Die Produktreihe hat dann die folgende Form:
Der Satz von Mertens besagt, dass das Produkt beider Reihen und auch noch dann gegen das Produkt der Grenzwerte konvergiert, wenn mindestens eine der beiden Reihen absolut konvergiert.
Anwendungen haben Reihenprodukte zum Beispiel beim Nachweis von Funktionalgleichungen. Setzt man etwa
so konvergiert die betroffene Reihe für alle absolut. Mit dem binomischen Lehrsatz erhält man für und :
Damit folgt mit dem Cauchyprodukt für alle
was die Funktionalgleichung der Exponentialfunktion ist.
Rechnen innerhalb der Reihe
Klammerung (Assoziativität)
Man kann innerhalb einer konvergenten Reihe die Glieder beliebig durch Klammern zusammenfassen. Man kann also beliebig viele Klammern in den „unendlichen Summenausdruck“ einfügen, man darf sie nur nicht innerhalb eines (aus mehreren Termen zusammengesetzten) Gliedes setzen. Der Wert der Reihe ändert sich durch die zusätzlich eingefügte Klammerung dann nicht.
Dies gilt für divergente Reihen im Allgemeinen nicht, was man leicht am folgenden Beispiel erkennt: Die Reihe
divergiert, während die beklammerte Reihe
gegen Null konvergiert und die anders beklammerte Reihe
gegen noch eine andere Zahl konvergiert.
Andererseits kann man aber keine Klammern ohne Weiteres weglassen. Man kann das aber immer dann, wenn die resultierende Reihe wieder konvergent ist. In diesem Falle bleibt auch der Reihenwert unverändert: Sind die Glieder einer konvergenten Reihe selbst in Summenform (mit und ), so „darf“ man die sie umschließenden Klammern genau dann weglassen, wenn die dadurch entstehende neue Reihe wieder konvergiert.
Umordnung (Kommutativität)
Eine Umordnung einer Reihe wird durch eine Permutation ihrer Indexmenge dargestellt. Ist die Indexmenge zum Beispiel die Menge der natürlichen Zahlen mit Null und eine bijektive Abbildung der natürlichen Zahlen auf sich, so heißt
eine Umordnung der Reihe
Man kann konvergente Reihen unter Beibehaltung ihres Wertes dann und nur dann beliebig umordnen, wenn sie unbedingt bzw. absolut konvergent sind. Es gilt für unbedingt (oder absolut) konvergente Reihen:
für alle bijektiven .
Bedingt konvergente Reihen dürfen zur Erhaltung des Grenzwerts nur endlich umgeordnet werden, d. h. ab einem gewissen Index muss für die Umordnung gelten. Der Riemannsche Umordnungssatz sagt aus, dass durch geeignete Umordnung einer fixierten, bedingt konvergenten Reihe reeller Zahlen jeder reelle Grenzwert erreicht werden kann.
Reihen von Funktionen
Allgemeines
Ein zentrales Problem der Analysis besteht darin, „komplizierte“ Funktionen zu studieren. Dabei bedeutet „kompliziert“ zum Beispiel, dass die Rechenvorschrift nicht aus einer endlichen Abfolge aus Anwendungen der vier Grundrechenarten besteht. Eine in diesem Sinne „einfache“ Vorschrift wäre: Nimm die Eingangszahl mal Zwei, dann das Ergebnis plus Eins, multipliziere dies mit sich selbst, teile dann alles durch die Drei. In Kurzform: .
Jedoch lassen sich sehr viele Phänomene in der Natur nicht so einfach beschreiben. Die Mathematik ist demnach bestrebt, Analyseverfahren nichttrivialer Funktionen zu entwickeln. Solche Verfahren kommen in den unterschiedlichsten Bereichen innerhalb der Mathematik und auch ihrer Anwendungen zum Einsatz.
Eine naheliegende Möglichkeit, „komplizierte“ Funktionen zu konstruieren und untersuchen, ist, sie als Reihe von Funktionen zu schreiben, wobei jeder einzelne Summand in der Praxis „einfache Eigenschaften“ besitzt.
Anstatt also Folgen von Zahlen kann man auch Folgen von Funktionen betrachten und entsprechend Reihen definieren. Zudem ist zu beachten, dass im Darstellungsbereich alle notwendigerweise an allen Stellen aus dem Definitionsbereich von definiert sein müssen. Ferner muss im Zielbereich der Funktionen die Addition von Termen definiert sein, da sonst keine sinnvolle Reihe gebildet werden kann.
Zudem kommt zur Frage der Konvergenz noch die nach den Eigenschaften der Grenzfunktion hinzu. Meistens wird gefragt: „Falls die einzeln betrachtet alle stetig/differenzierbar/integrierbar sind, ist es auch die Funktion ?“ Antworten bzw. hinreichende Entscheidungskriterien auf diese Fragen, liefern Sätze aus der Analysis. Häufig nützt es zum Beispiel, wenn die Funktionenreihe nicht nur in jedem Punkt gegen die Grenzfunktion konvergiert, sondern im Definitionsbereich sogar gleichmäßige Konvergenz vorliegt. In einem solchen Fall ist, falls die alle stetige Funktionen waren, auch die Grenzfunktion stetig. Ähnliche Voraussetzungen gelten für Beschränktheit (falls alle Partialsummen beschränkt sind), Differenzierbarkeit und Integrierbarkeit der Grenzfunktion, falls alle Summanden die entsprechenden Eigenschaften haben. Im Gebiet der gleichmäßigen Konvergenz darf eine Reihe gliedweise integriert werden; ebenso darf sie gliedweise differenziert werden, sofern die entstehende Reihe gleichmäßig konvergiert:
Es gibt auch hinreichende Kriterien für die Holomorphie der Grenzfunktion. Genauer lässt sich der Weierstraßsche Konvergenzsatz auf unendliche Reihen anwenden: Ist eine Folge holomorpher Funktionen, so konvergiert gegen eine holomorphe Funktion , falls sie in normal konvergiert, d. h. für jeden Punkt gibt es eine Umgebung , so dass
Umgekehrt kann man fragen, durch welche Reihe sich eine Funktion darstellen lässt. So eine Darstellung nennt sich Reihenentwicklung. Es existieren je nach Kontext verschiedene relevante Reihenentwicklungen für gewisse Klassen von Funktionen.
Potenzreihen, Taylorreihen und analytische Funktionen
Bei analytischen Funktionen wird eine Funktion um einen „Definitionspunkt“ herum über Polynome angenähert. Eine Möglichkeit, dies zu realisieren und zu verstehen, besteht darin, die Funktion zunächst sehr stark einzuschränken, also nur Eingabewerte aus einem sehr „kleinen“ Vorrat einzusetzen. Klein bedeutet in diesem Kontext, dass die betrachteten Eingabewerte sehr nahe beieinander liegen. Soll eine Funktion etwa um 0 herum studiert werden, würden Werte wie 0,000001 vielleicht noch in Betracht gezogen, möglicherweise aber nicht mehr 1, geschweige denn 100. In diesem Kontext nennt man die 0 auch den Entwicklungspunkt.
Es gibt gewisse Funktionen, die analytischen Funktionen, die aus ihren Eigenschaften in diesem Entwicklungspunkt lokal vollständig konstruiert werden können. Phänomene wie die Analytizität besagen also, dass betroffene Funktionen in sehr kleinen Bereichen deutlich verständlicheren Funktionen sehr stark ähneln. Diese verständlicheren Funktionen sind Vorschriften, die sich nur aus den vier Grundrechenarten zusammensetzen. Hinter diesem Prinzip steckt eine gewisse Form der „Stetigkeit“: Wurde eine analytische Funktion im Punkt 0 gut verstanden, so lässt sich daraus schon auf ihr Verhalten in zum Beispiel 0,000001 schließen, und das nur anhand der vier Grundrechenarten. Präziser wird die Annäherung über Polynome realisiert, also Ausdrücke wie , und ganz allgemein
Eine analytische Funktion kann also um jeden Wert ihres Definitionsbereichs durch Anwendung der Grundrechenarten entwickelt werden. Dabei ist zu beachten, dass es sich bei hinreichend „komplizierten“ Funktionen nur um eine Näherung handelt. Eine zentrale Eigenschaft der Analytizität ist aber, dass für solche komplizierten Funktionen beliebig lange Polynomketten, also addierte -Terme, zur Annäherung gefunden werden können. Je länger diese Terme sind, desto besser. Lässt man diesen Prozess gegen Unendlich streben, ist die Annäherung in den umliegenden Punkten perfekt, es herrscht also Gleichheit. In diesem Sinne sind also analytische Funktionen, zumindest lokal, gerade „unendlich lange Polynome“. Diese werden auch als Potenzreihen bezeichnet. Obwohl dabei unendlich viele Terme addiert werden, kann Konvergenz vorliegen, wenn das Funktionsargument nahe genug am Entwicklungspunkt liegt. Wählt man zum Beispiel den Entwicklungspunkt 0 und für die Koeffizienten die Dezimalstellen der Kreiszahl , also
so gilt
Für Werte wird dann „erst recht“ endlich sein. Diesem Gedanken folgend kann man etwa über das Majorantenkriterium (siehe unten) zeigen, dass Potenzreihen entweder überall oder innerhalb von Intervallen (für komplexe Zahlen Kreisscheiben) mit dem Entwicklungspunkt als Zentrum konvergieren.
Beispiel: Eine in der Schule behandelte Funktion, die sich im Allgemeinen nicht durch nur endlichfache Anwendung der vier Grundrechenarten berechnen lässt, ist der Sinus, also die Vorschrift . Hier wird die Vorschrift zunächst nicht über eine Zahlenrechnung, sondern geometrisch erklärt. Zur Länge eines Kreisbogens soll die zugehörige gerade Strecke gefunden werden, die den Endpunkt des Bogens mit der Grundachse verbindet, analog beim Kosinus (siehe Bild). Alle betrachteten Strecken haben Längen, im Verhältnis zur Einheit dimensionslos, also entspricht dies einer Abbildung von Zahlen auf Zahlen. Krumme Kreislinien („komplizierte Strecken“) werden auf ungleich lange gerade Linien („einfache Strecken“) abgebildet, was vermuten lässt, dass sich diese Umrechnung nicht in einfacher Weise mit den vier Grundrechenarten darstellen lässt. Es zeigt sich jedoch, dass der Sinus eine analytische Funktion ist, weshalb eine Annäherung durch einfache Terme möglich ist. Es gilt zum Beispiel für sehr kleine Werte von
Dies entspricht einem „Studium“ der Sinusfunktion in oben erklärtem Sinne, da die komplizierte Sinusfunktion durch eine einfache Abbildung angenähert wurde. Dabei war der Entwicklungspunkt 0, in der Tat ist wegen die Annäherung hier perfekt, doch auch für umliegende Werte ist sie brauchbar. Es gilt zum Beispiel und . Zur exakten Berechnung erhält man für den Sinus
wobei die Fakultät bezeichnet. Die Formel erweitert sich auch auf alle komplexen Zahlen und setzt den Sinus dort als holomorphe Funktion fort, wobei dort keine geometrische Interpretation über Dreiecke mehr zur Verfügung steht, aber im Gegenzug die enge Verbindung zur komplexen Exponentialfunktion deutlicher wird.
Über das Beispiel des Sinus erklärt sich auch das allgemeine Verfahren zum Aufstellen einer Taylorreihe zu einer analytischen Funktion . Wird als Entwicklungspunkt gewählt, so gilt die Formel
mit -te Ableitung von an der Stelle ,
für alle , die nahe genug an liegen. Dabei bezeichnet die -te Ableitung von an der Stelle . Genau genommen muss gelten, wobei die Zahl den Konvergenzradius der Taylorreihe bezeichnet. Ist der Entwicklungspunkt , spricht man gelegentlich auch von einer Maclaurinschen Reihe. Sind auch negative ganzzahlige Exponenten von vorhanden, verallgemeinert sich das Konzept zu Laurent-Reihen.
Die Theorie der analytischen Funktionen wird erst über den komplexen Zahlen vollständig erfassbar. Hier spricht man synonym von holomorphen Funktionen und es gilt der Cauchysche Entwicklungssatz: Ist mit offenem , die größte Kreisscheibe um in und holomorph, so ist um in eine Taylorreihe entwickelbar, die in auf kompakten Teilmengen absolut und gleichmäßig konvergiert. Die Koeffizienten sind gegeben durch
, wobei
Dabei wird der Integrationsweg in mathematisch positiver Richtung einfach durchlaufen. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass für den Beweis des Entwicklungssatzes lediglich die Reihenentwicklungen der Funktionen benötigt werden (siehe auch geometrische Reihe) sowie Vertauschbarkeit von Summation und Integration. Für den Fall wurde dies bereits 1831 von Cauchy durchgeführt.
Da jede holomorphe Funktion analytisch ist und umgekehrt, lassen sich Eigenschaften von Potenzreihen direkt auf holomorphe Funktionen übertragen. Dies stellt gleichzeitig den Weierstraßschen Zugang zur Funktionentheorie dar, der die Darstellbarkeit von Funktionen als Potenzreihen zum Ausgangspunkt hat.
Potenzreihen können auch als sog. Lambertreihen geschrieben werden.
Fourierreihen
Als Fourierreihe einer Funktion bezeichnet man ihre Entwicklung nach trigonometrischen Funktionen. Dies betrifft vornehmlich periodische Funktionen, also Funktionen, die sich intervallweise immer wieder in ihrem Abbildungsverhalten wiederholen. Da eine Normierung der Periode durch entsprechende Skalierung im Funktionsargument erreicht werden kann, genügt es, sich -periodische Funktionen anzuschauen, also solche mit der Eigenschaft .
Fourierreihen spielen eine Rolle bei der Überlagerung von Wellen, zum Beispiel bei der Erzeugung von Klängen. Erklingen mehrere Töne gleichzeitig, etwa bei einem Musikstück, so entspricht dies physikalisch einer Überlagerung verschiedener Schallwellen. Um die Gesamtsituation zu erfassen, ist die Addition der entsprechenden (nach Phase und Amplitude skalierten) Sinuskurven erforderlich. Gewisse periodische Signale, zum Beispiel in der Elektrotechnik, haben jedoch ein derart komplexes Muster, dass eine unendliche Anzahl verschiedener Sinuswellen benötigt wird, um sie exakt darzustellen.
Ist eine -periodische Funktion, etwa ein Signal, gegeben, so ist eine Entwicklung in eine Fourierreihe (zumindest formal) dann möglich, wenn auf dem Interval integrierbar ist. In diesem Fall macht es Sinn, den -ten Fourierkoeffizienten über die Formel
zu definieren. Es ist dabei die Eulersche Identität zu beachten, die den entscheidenden Zusammenhang zwischen der komplexen Exponentialfunktion und den trigonometrischen Funktionen herstellt. Da -periodisch ist, sollten diese Integrale „alle Daten“ von beinhalten. Die Aussage ist nun, dass die Kollektion der Koeffizienten mit unter Umständen ausreicht, das gesamte Signal vollständig zu rekonstruieren. Dies wird über die Konvergenz der zunächst nur formalen Fourierreihe
realisiert. Ist zum Beispiel stetig differenzierbar, so wird die zugehörige Fourierreihe gleichmäßig gegen konvergieren. Allgemein bezeichnet man Kriterien, die Konvergenz(arten) von Fourierreihen festlegen, auch als Dirichlet-Bedingungen. Zum Beispiel verrät das Verhalten der Funktion einiges über die Fourierkoeffizienten: Wenn eine 1-periodische Funktion mit ihren Ableitungen bis zur -ten Ordnung stetig ist, dann streben für die Terme gegen Null. Ist umgekehrt stetig und konvergiert , so ist bereits stetig differenzierbar und es gilt .
Es kann die Fourierreihe zu auch ausschließlich in Termen von Sinus und Kosinus ohne komplexe Zahlen statt der Exponentialfunktion ausgedrückt werden, wobei die Wellenüberlagerung ersichtlicher wird. Allerdings ist die Nutzung komplexer Zahlen in der Elektrotechnik, auch im Kontext von Wellen, durchaus üblich.
Fourierreihen können auch im Komplexen betrachtet werden. Ist auf dem offenen Streifen
holomorph und -periodisch, gilt also stets , so besitzt eine Fourier-Entwicklung
Dies ist auf ganz absolut und lokal gleichmäßig konvergent. Eine Berechnung der Koeffizienten ist für jedes durch
möglich. Entscheidend für die Herleitung der Existenz einer Fourierreihe auf horizontalen Streifen ist das Abbildungsverhalten der komplexen Exponentialfunktion sowie die Existenz der Laurent-Reihe. Die Entwicklung holomorpher Funktionen in Fourierreihen spielt zum Beispiel eine große Rolle in der Theorie der Modulformen.
Dirichletreihen
Dirichletreihen kommen vor allen Dingen in der Zahlentheorie zum Einsatz. Damit ist die Teildisziplin der Mathematik gemeint, die sich mit den Eigenschaften ganzer und auch rationaler Zahlen befasst. Viele Fragestellungen, etwa aus der multiplikativen Zahlentheorie, hängen dabei mit Primfaktorzerlegungen zusammen. An diesem Punkt kommen Dirichletreihen ins Spiel. Diese ahmen in manchen Fällen Primfaktorzerlegungen nach und übertragen dieses zahlentheoretische Element damit direkt in die Funktionentheorie.
Als Dirichletreihe bezeichnet man eine Entwicklung
mit
In gewisser Weise handelt es sich um eine „Potenzreihe unter Vertauschung der Rollen“: Bei Dirichletreihen wird über die Basis der Potenz summiert und nicht über den Exponenten, wie es bei in Potenzreihen noch der Fall war. Während Potenzreihen im Komplexen auf Kreisscheiben konvergieren, konvergieren Dirichletreihen im Komplexen auf rechten Halbebenen. Ist eine Dirichletreihe zudem in einem Punkt konvergent, so ist sie in jedem Punkt mit absolut konvergent. Der Bereich der absoluten Konvergenz ist wieder eine Halbebene, die von der Halbebene der Konvergenz umschlossen wird.
Die sich aus den Potenzgesetzen ergebende Rechenregel macht Dirichletreihen für die Zahlentheorie interessant. Sind nämlich die Koeffizienten ebenfalls (stark) multiplikativ, gilt also so existiert im Bereich der absoluten Konvergenz das Euler-Produkt
Kann die Funktion , ähnlich wie ein Polynom, auch über ihre Nullstellen in ein Produkt faktorisiert werden, können damit Verbindungen zwischen Primzahlen und Eigenschaften von Nullstellen spezieller Funktionen aufgebaut werden. Dies betrifft zum Beispiel die Riemannsche Zeta-Funktion
deren Nullstellen in Dualität zur Folge der Primzahlen steht. Die Lage der Nullstellen in der komplexen Ebene ist Gegenstand der Riemannschen Vermutung. Eine ähnlich tiefe Vermutung, die Vermutung von Birch und Swinnerton-Dyer, befasst sich ebenfalls mit Nullstellen von Dirichletreihen, die ein Euler-Produkt besitzen. Eine sehr weitreichende Verallgemeinerung findet die Riemannsche Zeta-Funktion in den L-Funktionen.
Partialbruchzerlegungen und elliptische Funktionen
In der komplexen Ebene können manche Funktionen durch „Interpolation ihrer Singularitäten“ generiert werden. Dies trifft auf rationale Funktionen zu, kann aber in einigen Fällen durch unendliche Reihen ausgedehnt werden. Ist eine ganze Funktion, die für Konstanten stets die Ungleichung
erfüllt, so gilt bereits
Ist zusätzlich eine ungerade Funktion, ist also stets , gilt
Für führt dies, nach einem Shift im Argument, zur Partialbruchzerlegung des Kotangens:
Dieses Konzept lässt sich auf Gitter ausweiten. Seien zwei komplexe Zahlen, die über linear unabhängig sind und sei das Gitter, das von und erzeugt wird. Dann ist die Weierstraßsche -Funktion zum Gitter wie folgt definiert:
Die Reihe konvergiert lokal gleichmäßig absolut in . Es handelt sich um eine doppelperiodische, also elliptische Funktion. Eng verwandt zu den elliptischen Funktionen sind die sog. Eisensteinreihen.
Konvergenzkriterien
Zwar gibt es kein brauchbares, allgemeingültiges Kriterium, um zu entscheiden, ob eine Reihe konvergiert, aber in manchen Spezialfällen lassen sich unter zusätzlichen Annahmen Kriterien angeben, die auf ganz unterschiedlichen mathematischen Techniken basieren.
Allgemeine Kriterien
Nullfolgenkriterium
Wenn die Reihe konvergiert, dann konvergiert die Folge der Summanden für gegen 0. Kontraponiert: Ist keine Nullfolge, so divergiert die entsprechende Reihe. Ist zudem monoton fallend und konvergent, so folgt bereits .
Die Umkehrung ist nicht allgemeingültig (ein Gegenbeispiel ist die harmonische Reihe). Das Nullfolgenkriterium wird daher in erster Linie zum Nachweis der Divergenz einer Reihe verwendet.
Teleskopreihen
Die Teleskopreihe konvergiert genau dann, wenn die Folge gegen eine Zahl konvergiert. Der Wert der Reihe ist dann .
Majorantenkriterium
Wenn alle Glieder der Reihe nichtnegative reelle Zahlen sind, konvergiert und für alle zudem gilt, dann konvergiert auch die Reihe absolut, und es ist
.
Minorantenkriterium
Wenn alle Glieder der Reihe nichtnegative reelle Zahlen sind, divergiert und für alle zudem
mit nichtnegativen reellen Zahlen gilt, dann divergiert auch die Reihe .
Quotientenkriterium
Es wird die Reihe mit für alle betrachtet. Dann gilt:
Falls , so ist die Reihe absolut konvergent (dabei steht für den Limes superior).
Falls , so ist die Reihe divergent (dabei steht für den Limes inferior).
In den verbleibenden Fällen kann keine Aussage getroffen werden, d. h., sowohl bedingte oder absolute Konvergenz, aber auch Divergenz sind möglich.
Wurzelkriterium
Zu einer Reihe wird die Größe betrachtet (dabei steht für den Limes superior). Dann gelten folgende Aussagen:
Ist , so konvergiert die Reihe absolut.
Ist , so ist die Reihe divergent.
Ist , so kann keine Aussage getroffen werden, d. h., sowohl bedingte oder absolute Konvergenz, aber auch Divergenz sind möglich.
Im Falle von Potenzreihen dient das Wurzelkriterium beim Beweis der Formel von Cauchy-Hadamard für deren Konvergenzradius.
Kriterium von du Bois-Reymond und Dedekind
Dieses Kriterium kann in zwei Unterkriterien unterteilt werden.
Es ist die Reihe konvergent, falls absolut und wenigstens bedingt konvergiert.
Es ist die Reihe konvergent, falls außer der absoluten Konvergenz von lediglich die Beschränktheit der Partialsummen von und vorausgesetzt wird.
Gaußsches und Weierstraßsches Kriterium
Kann man den Quotienten in der Form mit einer beschränkten Folge und schreiben, so ist die Reihe im Falle konvergent, und im Falle divergent.
Dieses Kriterium von Gauß kann für komplexe Folgen ausgeweitet werden, wo es als Kriterium von Weierstraß benannt ist. Erfüllen die komplexen Glieder
mit und beschränkten , so konvergiert die zugehörige Reihe genau dann absolut, wenn . Ist , so sind wenigstens die Reihen und konvergent.
Kriterien unter Monotoniebedingungen
Monotoniekriterium
Gilt für alle , so konvergiert genau dann, wenn die Folge beschränkt ist, und der Grenzwert ist . In diesem Fall gilt auch .
Integralkriterium
Ist eine monoton fallende Funktion mit
für alle ,
dann konvergiert genau dann, wenn das uneigentliche Integral
existiert.
Leibniz-Kriterium
Eine Reihe der Form
mit nichtnegativen wird alternierende Reihe genannt. Eine solche Reihe konvergiert, wenn die Folge monoton gegen 0 konvergiert. Die Umkehrung ist nicht allgemeingültig.
Kriterium von Abel
Es ist die Reihe konvergent, falls die Reihe konvergiert, und die Folge monoton und beschränkt ist.
Kriterium von Dirichlet
Es ist die Reihe konvergent, falls
also die Partialsummen der beschränkt sind, und wenn eine monoton fallende Nullfolge ist. Dabei steht für das Supremum.
Cauchysches Verdichtungskriterium
Ist eine monoton fallende Nullfolge, so konvergiert die Reihe genau dann, wenn die Reihe konvergiert.
Multiplikative Funktionen
Es ist eine multiplikative Funktion, falls für alle teilerfremden und gilt.
Es konnte Peter D. T. A. Elliott Folgendes zeigen: Es sei multiplikativ, so dass
existiert, und ferner
Dann gilt bereits, dass die Reihen
sämtlich konvergieren.
Funktionentheoretische Mittel
Sätze von Tauber und Littlewood
Der Satz von Tauber, bewiesen von Alfred Tauber im Jahr 1897, nutzt das Randverhalten einer Potenzreihe, um ein hinreichendes Kriterium für dortige Konvergenz zu geben. Ist
für alle konvergent, existiert und gilt für , so konvergiert gegen . John Edensor Littlewood konnte dieses Resultat verbessern, indem er zeigte, dass bereits die abgeschwächte Bedingung für alle mit einer Konstante für die Aussage des Satzes hinreichend ist. Es konnte auch gezeigt werden, dass diese Bedingung im allgemeinen Fall nicht weiter verbessert werden kann. Wird allerdings gefordert, dass die fast alle nichtnegativ sind, kann die Bedingung der Beschränktheit von gänzlich weggelassen werden.
Es kann gezeigt werden, dass genau dann, wenn .
Kriterien von Fatou und Korevaar
Wieder habe einen Konvergenzradius von mindestens 1. Gibt es sogar eine Konstante , so dass mit , so folgt bereits
Ist um holomorph fortsetzbar und gibt es eine nicht-fallende Funktion , sodass für und für mit einer Konstanten . Gilt zudem für alle , dann konvergiert gegen , und zudem gilt
Abel-Summierbarkeit
Man nennt eine formale Reihe Abel-summierbar gegen , falls
wobei die Reihe zur Linken für alle konvergiere. Es ist eine Abel-summierbare Reihe genau dann konvergent, wenn
Satz von Fatou
Der Satz Fatou besagt, dass, wenn die Potenzreihe
für alle konvergiert, und sich die Funktion in einer Umgebung des Randpunkts holomorph fortsetzen lässt, aus bereits folgt, dass konvergiert, und den Wert annimmt.
Der Satz von Fatou kann, unter Umgehung der Bedingung der Holomorphie in , ausgeweitet werden. Dafür wird das Konzept des Hardy-Raums eines Gebietes benötigt. Erfüllt im Randpunkt die lokale -Bedingung, so existiert eine Zahl , sodass für in gegen eine (integrierbare) Funktion konvergiert (siehe auch Lp-Raum), also
Ist die Menge der Randpunkte , mit , an der singulär ist in dem Sinne, dass sie dort nicht die lokale -Bedingung erfüllt, eine Nullmenge, und gilt
dann konvergiert in jedem Punkt gegen , an dem der Differenzenquotient
die lokale -Bedingung in erfüllt. Dabei steht für das Supremum.
Satz von Ingham
Ein im Jahr 1935 gegebener Satz von Albert Ingham war Ausgangspunkt für weitere Untersuchungen von Donald Newman, der diesen mit einfachen funktionentheoretischen Mitteln beweisen konnte. Sei eine Dirichletreihe
für alle mit konvergent (d. h., sie stellt in dieser offenen Halbebene eine holomorphe Funktion dar). Lässt sich nun holomorph auf eine offene Menge fortsetzen, die vollständig enthält, und sind die beschränkt, so gilt bereits für alle
Für unbeschränkte ist die obere Aussage bekanntlich falsch.
Methoden zur Grenzwertbestimmung
Es existiert kein allgemein brauchbares Verfahren, den Grenzwert einer konvergenten Reihe explizit auszurechnen. In einigen Fällen lassen sich Grenzwerte auch nicht auf „elementare“ mathematische Konstanten zurückführen, etwa im Fall der Apéry-Konstante
Allerdings gibt es einige Techniken, die in speziellen Situationen die geschlossene Berechnung eines konvergenten Reihenausdrucks ermöglichen.
Teleskopreihen
Hat eine Reihe die Gestalt mit einer Folge , die gegen einen Grenzwert konvergiert, so konvergiert jene ebenfalls und hat den Grenzwert . Dieses Resultat lässt sich weiter verallgemeinern. Sind die Glieder der Reihe gegeben durch
mit ,
wobei gegen den Grenzwert konvergiert und , so konvergiert und der Grenzwert ist explizit gegeben durch
.
Abelscher Grenzwertsatz
Es sei eine konvergente Reihe. Eine Möglichkeit, ihren Grenzwert zu bestimmen, geht über die von den erzeugte Funktion. Niels Henrik Abel konnte beweisen, dass sich die Funktion
stetig nach fortsetzen lässt. Ferner gilt
Mit diesem Ansatz können manche klassischen Reihengrenzwerte berechnet werden. Beispielsweise gilt für alle mit gilt die Reihendarstellung
Mit dem Leibniz-Kriterium und der Abel-Summierbarkeit folgt damit die Leibniz-Reihe:
Ähnlich verhält es sich mit der Taylorreihe des natürlichen Logarithmus:
Damit folgt, dass die alternierende harmonische Reihe den Grenzwert besitzt:
Beide Reihen zeigen zwar ein klares „Bildungsgesetz“, sind jedoch für numerische Berechnungen unbrauchbar.
Integrale
In einigen Fällen können Reihen direkt auf gewisse Integrale zurückgeführt werden, wobei Letztere dann mit Methoden der Analysis, zum Beispiel durch Auswertung mit Angabe einer Stammfunktion, gelegentlich geschlossen berechnet werden können. Die Umwandlung von Integral in Reihe ergibt sich dabei im Falle von Funktionenreihen oft durch gliedweise Integration. Ein Beispiel ist die Leibniz-Reihe:
David Bailey, Peter Borwein und Simon Plouffe benutzten die Integralformel
für den Beweis der Bailey-Borwein-Plouffe-Formel für die Kreiszahl .
Ein anderes Beispiel betrifft eine Lösung des Basler Problems über den Ansatz
,
wobei den Areatangens Hyperbolicus bezeichnet.
Fourieranalysis
Darstellung bekannter Funktionen durch eine Fourierreihe
Die Grenzwertbestimmung über Fourierreihen ähnelt dem Grenzwertsatz von Abel insofern, als dass die Reihe auch hier als Wert einer zu bestimmenden Funktion interpretiert wird. Weiß man, dass absolut konvergiert, so kann man diesen Wert als mit
auffassen. Dann ist eine 1-periodische Funktion und die rechte Seite ihre Darstellung als Fourierreihe. Über die Umrechungsformel
können die Koeffizienten der Reihe aus zurückgewonnen werden. Es muss also ein „passendes“ zu den gefunden werden. Zum Beispiel findet man mit partieller Integration schnell
womit durch Einsetzen von die Antwort auf das Basler Problem folgt. Ist lediglich als auf dem Intervall integrierbar vorausgesetzt, und hat die assoziierte Fourierreihe , so gilt außerdem die Parsevalsche Identität
Poisson-Summation
Gelten für geeignete Wachstumsbedingungen, ist es zum Beispiel eine Schwartz-Funktion, so gilt ferner die Poissonsche Summenformel:
Diese ermöglicht es, eine Reihe über Funktionswerte an ganzen Stellen in jene bezüglich der Fourier-Transformierten
umzuwandeln, und umgekehrt. Benutzt wird diese Summenformel unter anderem für den Nachweis der Transformationsformel für die Jacobische Theta-Reihe.
Verwandt dazu ist der folgende Satz. Ist mit , und stetig mit endlicher Variation auf , die über integrierbar ist, so gilt für
bereits
Residuensatz
In manchen Fällen, besonders bei unendlichen Reihen über rationale Funktionen, kann der Residuensatz aus der Funktionentheorie verwendet werden. Ist eine meromorphe Funktion mit endlichen vielen, nicht ganzzahligen Polstellen , so gilt, falls zusätzlich mit und , die Formel
Ähnlich gilt
Dabei bezeichnet den Kotangens und den Kosekans. Diese Aussage beinhaltet folgenden Spezialfall: Sind und Polynome, so dass und für alle , so folgt
Mit diesem Verfahren lässt sich zum Beispiel und zeigen.
Ist eine ganze Funktion, so dass es eine Folge gibt, so dass
,
dann gilt
Wird durch ersetzt, gilt unter sonst gleichen Bedingungen
Ungleichungen
Ungleichungen für Reihen verwenden oft spezielle analytische Methoden, etwa aus der Fourier-Analysis.
Dreiecksungleichungen
Es gilt stets
Dies ist die Dreiecksungleichung für Reihen. Im Laufe der Zeit wurden zahlreiche Varianten solcher „Dreiecksungleichungen“ gefunden. Sind zum Beispiel positive Zahlen mit , so gilt stets
Allgemeiner gilt für irgendwelche positiven Zahlen und sogar stets
Auch umgekehrte Dreiecksungleichungen wurden gefunden. Ist und eine reelle Zahl, so dass , mit dem Hauptwert des Arguments der komplexen Zahlen , gilt stets
Unter den abgewandelten Bedingungen gilt ferner
Sind allgemein komplexe Zahlen, so existiert stets eine (von diesen Zahlen abhängige) Teilmenge so dass
Integralvergleich
Ist monoton fallend, so gilt
Daraus folgt direkt das Integralkriterium, also dass unter obigen Voraussetzungen die Reihe genau dann konvergiert, falls existiert.
Fehler- und Restgliedabschätzung
Alternierende Reihen
Ist eine monoton fallende Nullfolge, so konvergiert nach dem Leibnizkriterium gegen einen Grenzwert und es gilt
Ferner gilt stets .
Abelsche Ungleichung
Sei eine monoton fallende Nullfolge und eine Folge mit beschränkten Partialsummen, also
Dann konvergiert und es gilt für alle die Ungleichung
.
Taylorreihen
Es können auch Restglieder in Taylorreihen abgeschätzt werden. Ist innerhalb einer offenen Menge, die die Kreisscheibe enthält, holomorph bzw. analytisch, so gilt für alle
Damit folgt für die Restgliedabschätzung
.
Ist insbesondere hinreichend klein, etwa , so kann dies vereinfacht durch
ausgedrückt werden, wobei die implizite Konstante von und , aber nicht von und abhängt.
Symmetrische Ungleichungen
Eine Funktion auf einem Intervall gehört der Klasse an, falls für alle sowie die Ungleichung
erfüllt ist. Unter diesen Voraussetzungen gilt für , , und beliebige positive die Ungleichung
Eine direkte Folgerung ist im Falle von sowie :
Besselsche Ungleichung
Bezeichnet eine 1-periodische Funktion mit , so gilt die Besselsche Ungleichung
Hausdorff-Young-Ungleichung
Sei 1-periodisch, auf integrierbar mit assoziierter Fourierreihe . Sind und so gewählt, dass , so gilt die Hausdorff-Young-Ungleichung
und ihre „Duale“
.
Cauchy-Schwarzsche Ungleichung und Höldersche Ungleichung
Für beliebige komplexe Zahlen gilt die folgende Ungleichung für Partialsummen
Diese wird als Cauchy-Schwarzsche Ungleichung bezeichnet. Konvergieren beide Reihen für zur Rechten, kann auch auf die Konvergenz der linken Seite geschlossen werden, und es gilt die entsprechende Ungleichung für die Grenzwerte. Eine unter Zusatzbedingungen verbesserte Version stammt von Nicolaas Govert de Bruijn: Sind reell und komplex, dann gilt
.
Hat man allgemein mit , so gilt allgemeiner die Höldersche Ungleichung
Es kann aus der Konvergenz des rechten Ausdrucks auf die Konvergenz der linken Reihe rückgeschlossen werden. Im Grenzfall entspricht dies
.
Minkowski-Ungleichung
Wenn ist und und beliebige komplexe Zahlen sind, so gilt bereits die Minkowski-Ungleichung
Gutzmersche Ungleichung
Ist eine in einer Umgebung von holomorphe Funktion mit Potenzreihe mit dem Konvergenzradius , dann gilt für jedes mit die Ungleichung
Die Ungleichung geht auf August Gutzmer aus dem Jahr 1888 zurück.
Hilbert-Ungleichung
Ist auf der abgeschlossenen Einheitskreisscheibe holomorph, so gilt bereits die Hilbert-Ungleichung
Bohr-Ungleichung
Im Jahr 1914 konnte Harald Bohr zeigen, dass falls die Potenzreihe in der Einheitskreisscheibe konvergiert und die holomorphe Funktion in erfüllt, bereits
gilt. Dass sogar gilt und der größtmögliche Bohr-Radius ist, konnte unabhängig von Friedrich Wilhelm Wiener, Marcel Riesz und Issai Schur gezeigt werden.
Duality Principle
Für Einträge einer -Matrix und eine reelle Zahl sind die folgenden Aussagen äquivalent:
, für alle komplexen Zahlen ,
, für alle komplexen Zahlen ,
, für alle komplexen Zahlen .
Dies wird auch als Duality principle bezeichnet. Eine Folgerung dessen ist die Existenz einer von den abhängigen Konstanten , so dass für alle
wobei . Dabei steht für das Supremum.
Weitere Ungleichungen
Don Zagier zeigte die Ungleichung
mit positiven Zahlen , und .
Spezielle Reihen
Neben der Konvergenz und dem numerischen Wert einer Reihe ist auch der symbolische Wert einer Reihe von Bedeutung. Beispielsweise lassen sich so mathematische Konstanten darstellen und numerisch berechnen. Für wichtige Reihendarstellungen existieren zudem Tabellierungen in Reihentafeln.
Geometrische Reihe
Es gilt für alle Werte und die Formel
Daraus ergibt sich für die geometrische Reihe
Eine sehr weitreichende Verallgemeinerung der geometrischen Reihe sind die hypergeometrischen Reihen.
Harmonische Reihe
Die harmonische Reihe
ist divergent. Dies ist ein Beispiel dafür, dass das Nullfolgenkriterium für Konvergenz nur notwendig, aber nicht hinreichend ist. Die Divergenz ist von „logarithmischer Geschwindigkeit“, dies sieht man zum Beispiel durch
Es wurde jedoch die Frage untersucht, was passiert, wenn man die harmonische Reihe „ausdünnt“. Man spricht dann von subharmonischen Reihen. Leonhard Euler zeigte, dass auch, wenn man sich nur auf die Menge der Primzahlen beschränkt, immer noch Divergenz vorliegt. Viggo Brun gelang zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Durchbruch, indem er zeigte, dass bei erneuter Einschränkung auf die Komponenten und von Primzahlzwillingen , die Reihe konvergent ist:
Der Grenzwert dieser Reihe ist auch als Brunsche Konstante bekannt. Die Frage, ob Konvergenz nach Wegstreichen von Zahlen mit bestimmten Ziffern in ihrer Dezimalschreibweise vorliegt, ist Gegenstand der Kempner-Reihen. Es kann damit Konvergenz erreicht werden.
Darstellung mathematischer Konstanten
Kreiszahl
Von historischer Bedeutung ist etwa das Basler Problem, das nach dem Grenzwert der Reihe aller reziproken Quadratzahlen fragte. Leonhard Euler publizierte 1735 in seiner De Summis Serierum Reciprocarum die Lösung:
Dabei ist die Kreiszahl. Euler konnte allgemein für sogar
mit den Bernoulli-Zahlen zeigen. Der Fall ungerader Exponenten ist deutlich schwieriger, und es existieren hier keine geschlossenen Analoga. Allerdings konnte Matyáš Lerch im Jahr 1900 folgende Reihenidentität aufzeigen:
Während all diese Reihen vergleichsweise langsam konvergieren, ist die 1914 von Srinivasa Ramanujan veröffentlichte, auf Untersuchungen von elliptischen Funktionen und Modulfunktionen basierende Gleichung zur Berechnung der Kreiszahl gut geeignet:
Die Brüder David und Gregory Chudnovsky berechneten mit ihrer Hilfe 2 Milliarden Nachkommastellen von in den frühen neunziger Jahren. Der davon inspirierte Chudnovsky-Algorithmus basiert auf der folgenden verwandten Reihendarstellung:
1995 entdeckte Simon Plouffe zusammen mit Peter Borwein und David Harold Bailey die Bailey-Borwein-Plouffe-Formel:
Diese Reihe ermöglicht es, die -te Stelle einer binären, hexadezimalen oder einer zu einer beliebigen anderen Zweierpotenz als Basis gehörenden Darstellung von zu berechnen, ohne dass zuvor die vorherigen Ziffernstellen berechnet werden müssen.
Eulersche Zahl
Die Eulersche Zahl ist die Basis des natürlichen Logarithmus. Ihre bekannteste Reihendarstellung ergibt sich aus der Taylor-Entwicklung der natürlichen Exponentialfunktion:
Aufgrund ihrer schnellen Konvergenz ist diese Reihe nicht nur zur Berechnung von Dezimalstellen der Eulerschen Zahl geeignet. Es kann mit ihrer Hilfe auch ein elementarer Beweis erbracht werden, dass eine irrationale Zahl ist.
Weitere Konstanten
Für zahlreiche weitere mathematische Konstanten existieren diverse Reihendarstellungen. Zum Beispiel geht die Reihendarstellung
mit den zentralen Binomialkoeffizienten auf Isaac Newton zurück.
Roger Apéry nutzte im Jahr 1979 die Reihe
um die Irrationalität von , der Apéry-Konstante, zu zeigen. Es gilt hingegen auch
Reihen dieser Art werden auch als Apéry-Reihen bezeichnet. In dem Wunsche, Apérys Beweismethode gegebenenfalls auch auf andere Zeta-Werte anwenden zu können, sind diese bis heute Gegenstand intensiver Forschung. Beiträge lieferten unter anderem Ablinger, Bailey, Borwein, Sun und Zucker. Beim Versuch einer Verallgemeinerung stößt man natürlicherweise auf Verbindungen zu allgemeinen harmonischen Summen und multiplen Polylogarithmen. Doch trotz Formeln wie zum Beispiel
steht der Durchbruch bis heute aus. In diesem Kontext ist auch die Reihe
mit dem natürlichen Logarithmus des Goldenen Schnittes bemerkenswert.
Reihen mit rationalen Gliedern sind für die Euler-Mascheroni-Konstante vergleichsweise schwer zu finden. Ein berühmtes Beispiel ist eine von Giovanni Enrico Eugenio Vacca gegebene Reihe
aus dem Jahr 1910. Es bedeutet die Gaußklammer.
Summenformeln und Transformationen
Euler-Maclaurin-Formel
Eine Möglichkeit, eine Reihe auszuwerten oder anzunähern, bietet die Euler-Maclaurin-Summenformel. Diese drückt Summen explizit in der Sprache der Integralrechnung aus und ist allgemein gegeben durch:
Hierbei ist eine auf dem Intervall mindestens -mal differenzierbare Funktion und eine natürliche Zahl. Es bezeichnen zudem die Bernoulli-Zahlen, die Bernoulli-Polynome und den ganzzahligen Anteil von .
Abel-Plana-Summenformel
Ähnlichkeit zur Euler-Maclaurin-Summenformel hat die Abel-Plana-Summenformel. Sei holomorph für mit und . Man nehme an, dass
gleichmäßig für . Dann gilt
Asymptotik von Reihen mit holomorphen Gliedern
In manchen Anwendungen ist es vonnöten, Reihen der Gestalt für (in einem Winkelbereich) zu verstehen. Erfüllt gewisse Eigenschaften, darunter Holomorphie, kann dies bewerkstelligt werden. Im Folgenden sei stets mit einem .
Es sei nun eine Funktion, die in einer Umgebung von holomorph ist, insbesondere im Ursprung. Ferner gebe es für jedes ein , so dass wenn in . Dann gilt für alle und :
gleichmäßig, sofern in . Dabei bezeichnen die Bernoulli-Polynome und das Landau-Symbol (die Konstante hängt nur von der Wahl von ab). Die Aussage lässt sich sogar auf den Fall verallgemeinern, dass einen einfachen Pol im Ursprung mit Residuum hat. Gelten sonst alle Voraussetzungen wie oben, so gilt in dieser Situation für
gleichmäßig, sofern in .
Integraltransformationen
Srinivasa Ramanujan, der für seine starke analytische Intuition bekannt ist, machte laut Godfrey Harold Hardy „intensiven Gebrauch“ von der Formel
Eine äquivalente Form ist
Dabei bezeichnet die Gammafunktion. Diese Identitäten sind jedoch nur formal zu verstehen, und Konvergenz liegt nur unter bestimmten Voraussetzungen vor. Hardy gab schließlich strenge Kriterien: Es sei und , wobei fest gewählt ist. Man nehme an, dass holomorph im Bereich ist, und es Konstanten und gibt mit
für alle . Für und definiere man
Im Fall gilt die Reihendarstellung
Dann gilt für
Allgemeiner ist die Mellintransformation in der Lage, Potenzreihen in Dirichletreihen überzuführen.
Weitere Anwendungen
Unendliche Produkte
Ein unendliches Produkt wird, analog zur unendlichen Reihe, als Folge der Partialprodukte
definiert. Allerdings ist der Konvergenzbegriff für unendliche Produkte subtiler; es ist als Grenzwert nur zugelassen, falls ab einem gewissen die Partialprodukte für gegen einen Grenzwert konvergieren. Durch Logarithmusbildung bzw. Exponenzierung besteht ein Zusammenhang zwischen unendlichen Produkten und Reihen. So ist ein unendliches Produkt
genau dann absolut konvergent, falls die Reihe absolut konvergiert.
Wahrscheinlichkeitstheorie
In der Wahrscheinlichkeitstheorie sind unendliche Reihen unter anderem im Kontext mit stochastischen Prozessen von Bedeutung. Ein Resultat in dieser Richtung ist etwa der kolmogoroffsche Dreireihensatz. Das asymptotische Verhalten der Partialsummen der unendlichen Reihe mit gewissen identisch verteilten Zufallsvariablen ist Gegenstand des Gesetzes der großen Zahlen und des zentralen Grenzwertsatzes. In Kontexten der probabilistischen Zahlentheorie untersuchte unter anderem Emmanuel Kowalski Zufallsreihen.
Finanzmathematik
Annuitätendarlehen sind das gängigste Modell zur Finanzierung privater Immobilien. Zwischen Kreditgeber und -nehmer werden ein Zinssatz, eine monatlich zu zahlende Rate und eine Laufzeit vereinbart. Am Ende der Laufzeit bleibt eine Restschuld, für die dann ein neuer Kreditvertrag abgeschlossen wird, wobei die Zinsrate an die aktuelle Geldmarktsituation angepasst wird. Um das Risiko zu kennen, ist es ergo für jeden Hausbauer wichtig, die Restschuld zu bestimmen.
Es bezeichnen die Kreditsumme, die monatliche Rate und die jährliche Zinsrate. Die nach Monaten noch verbleibende Restschuld sei . Die im -ten Monat zu entrichtenden Zinsen werden im Bankwesen zu bestimmt. Die folgen mit der Rekursion
Unter Betrachtung der erzeugenden Funktion der kann unter Ausnutzung dieser Rekursion
gezeigt werden, und durch einige Umformungen erhält man
Durch Koeffizientenvergleich erhält man damit die geschlossene Formel
Zahlentheorie
Reihen haben auch bedeutende Anwendung in der analytischen Zahlentheorie. So kann es in vielen Fällen helfen, einer zu untersuchenden zahlentheoretischen Funktion die erzeugenden Funktionen
oder
zuzuordnen. Mit Hilfe von Tauber-Sätzen, Integraltransformationen (wie der Perronschen Formel) oder der Kreismethode können dann gegebenenfalls detaillierte Aussagen über das langfristige Verhalten der getroffen werden. Handelt es sich bei sogar (im Wesentlichen) um eine Modulfunktion, kann in bestimmten Fällen eine exakte Formel in Form einer unendlichen Reihe für die hergeleitet werden. Dies ist etwa bei der Partitionsfunktion der Fall.
Auch bei Dichteresultaten, etwa im Umfeld der Duffin-Schaeffer-Vermutung oder des Satzes von Green-Tao, spielen unendliche Reihen eine zentrale Rolle. Die Duffin-Schaeffer-Vermutung besagt, dass für jede Funktion die Ungleichung
für fast alle (im Sinne des Lebesgue-Maßes) für unendlich viele teilerfremde lösbar ist, genau dann, wenn
Dabei ist die Eulersche Phi-Funktion. Gilt hingegen , so ist die entsprechende Ungleichung fast sicher nicht unendlich oft erfüllt. Aus probabilistischer Sicht handelt es sich um ein Null-Eins-Gesetz. Während diese letzte Richtung über Argumente des Borel-Cantelli-Lemmas recht schnell ersichtlich sind, galt die andere Richtung, also aus der Reihendivergenz die fast sichere unendlich frequentierte Lösbarkeit zu folgern, lange als extrem schwieriges zahlentheoretisches Problem. Ein vollständiger Beweis der Vermutung konnte erst 2019 durch Dimitris Koukoulopoulos und James Maynard erbracht werden. Eine Abschwächung der Vermutung war bereits als Satz von Chintschin bekannt, wobei die Beweise hier vergleichsweise elementar sind. Darüber hinaus „messen“ Reihen in gewisser Weise „ab“, wie dicht gewisse arithmetische Objekte, etwa Primzahlen, in anderen Objekten verteilt sind. Verwandt zum Satz von Green-Tao, der besagt, dass die Folge der Primzahlen beliebig lange arithmetische Progressionen enthält, ist eine Vermutung von Paul Erdős. Sie sagt aus, dass eine Folge natürlicher Zahlen mit der Eigenschaft
bereits beliebig lange arithmetische Progressionen enthalten muss. Diese weit offene Vermutung würde zusammen mit dem Satz von Euler, , den Satz von Green-Tao implizieren.
Bereits der im 19. Jahrhundert bewiesene Dirichletsche Primzahlsatz kann über die Divergenz bestimmter unendlicher Reihen formuliert werden. Dirichlet konnte nachweisen, dass für teilerfremde und
und verifizierte sogar das noch stärkere Resultat
für zu teilerfremde und . Trivialerweise implizieren diese Resultate die Aussage, dass es unendlich viele Primzahlen in der entsprechenden arithmetischen Progression gibt, wobei letzteres Resultat sogar auf eine Form der „Gleichverteilung“ hinweist.
Anmerkungen
Literatur (Auswahl)
Tilo Arens, Frank Hettich, Christian Karpfinger, Ulrich Kockelhorn, Klaus Lichtenegger, Hellmuth Stachel: Mathematik. 5. Auflage, Springer Spektrum, Berlin/ Heidelberg 2022, ISBN 978-3-662-64388-4.
Ludmila Bourchtein, Andrei Bourchtein: Theory of Infinite Sequences and Series. Birkhäuser, Cham 2022, ISBN 978-3-030-79430-9.
Giovanni Ferraro: The Rise and Development of the Theory of Series up to the Early 1820s (= Sources and Studies in the History of Mathematics and Physical Sciences.). Springer, New York (NY) 2008, ISBN 978-0-387-73467-5.
Eberhard Freitag, Rolf Busam: Funktionentheorie 1. Springer-Verlag, 1993/ 4., korrigierte und erweiterte Auflage, Springer Spektrum, Berlin 2006, ISBN 3-540-31764-3.
Reinhold Remmert, Georg Schumacher: Funktionentheorie 1 (= Springer-Lehrbuch.). 5., neu bearbeitete Auflage, Springer-Verlag, Berlin Heidelberg 2002, ISBN 3-540-41855-5.
Konrad Knopp: Theorie und Anwendung der unendlichen Reihen. 6. Auflage, Springer-Verlag, Berlin u. a. 1996, ISBN 3-540-59111-7 (Die Grundlehren der mathematischen Wissenschaften in Einzeldarstellungen 2).
Jacob Korevaar: Tauberian Theory. A century of developments (= Grundlehren der mathematischen Wissenschaften.). Springer-Verlag, Berlin/ Heidelberg/ New York 2004, ISBN 3-540-21058-X.
Izrail Solomonovic Gradshteyn, Iosif Mojseevic Ryzhik: Table of Integrals, Series and Products. Herausgegeben von Alan Jeffrey und Daniel Zwillinger. 7. Ausgabe. Elsevier Academic Press, Amsterdam u. a. 2007, ISBN 978-0-12-373637-6.
Thomas Sonar: 3000 Jahre Analysis. Geschichte – Kulturen – Menschen. 2. Auflage. Springer, Berlin 2016, ISBN 978-3-662-48917-8.
Terence Tao: Analysis I (= Text and Readings in Mathematics.). Third Edition, Hindustan Book Agency, New Delhi 2006, ISBN 81-85931-62-3.
Terence Tao: Analysis II (= Texts and readings in mathematics.) Hindustan Book Agency, New Delhi 2006, ISBN 81-85931-62-3.
K. Zeller, W. Beekmann: Theorie der Limitierungsverfahren (= Ergebnisse der Mathematik und ihrer Grenzgebiete. Band 15). Springer-Verlag, Berlin/ Heidelberg/ New York 1970.
Weblinks
Einzelnachweise
!Reihe |
47538 | https://de.wikipedia.org/wiki/L%C3%B6we | Löwe | Der Löwe (Panthera leo) ist neben dem Tiger eine der beiden größten Arten aus der Familie der Katzen. Er ist heute nur noch in Teilen Afrikas südlich der Sahara sowie im indischen Bundesstaat Gujarat beheimatet; in Afrika ist er das größte Landraubtier. Charakteristisches Merkmal erwachsener Männchen ist eine Mähne. Löwen leben im Unterschied zu anderen Katzen in Rudeln. Eine veraltete, poetische Bezeichnung ist Leu.
Merkmale
Körperbau und Fellfarbe
Löwen weisen unter anderem hinsichtlich ihrer Körpergröße einen deutlichen Sexualdimorphismus auf: Männchen sind durchschnittlich größer und schwerer, sie erreichen Kopf-Rumpf-Längen von durchschnittlich etwa 170 bis 190 Zentimetern und Gewichte von 150 bis 250 Kilogramm. Weibchen erreichen Kopf-Rumpf-Längen von etwa 122 bis 192 Zentimeter und wiegen zumeist 110 bis 192 Kilogramm (siehe Tabelle). Im Schnitt überragen Löwen Tiger in der Schulterhöhe, Löwen haben aber eine durchschnittlich etwas geringere Kopf-Rumpf-Länge. Die größten Löwen leben heute im südlichen Afrika, die kleinsten in Asien. Die größten Löwenformen des Pleistozän, zum Beispiel der Amerikanische Löwe oder der Höhlenlöwe, waren deutlich größer, werden heute aber meist zu eigenständigen Arten gerechnet.
Nach Mazák beträgt die durchschnittliche Gesamtlänge, also die Länge einschließlich des Schwanzes, bei heutigen Löwenmännchen etwa 260 bis 270 Zentimeter, selten über 285 Zentimeter. Die größten glaubwürdig überlieferten Längenmaße für Löwen liegen bei etwa 305 bis 310 Zentimeter Gesamtlänge, gemessen in direkter Linie von der Nasen- bis zur Schwanzspitze an einem Tier aus dem Gebiet nördlich des Viktoriasees. Die Schwanzlänge macht etwa ein Drittel der Gesamtlänge aus.
Heutige Wissenschaftler messen Großkatzen meistens „entlang der Kurven“. Im Durchschnitt weicht die Messmethode bei Löwen und Tiger ca. zehn cm von einer „geraden“ Messung ab. Die in der Tabelle angegebenen Werte sind gerade Messungen.
Löwen haben ein kurzes, sandfarben oder gelblich bis dunkelocker oder lohfarben (hell rotbraun) gefärbtes Fell. Die Unterseite und die Beininnenseiten sind heller beziehungsweise weiß. Auffällig ist die schwarze Schwanzquaste, die häufig einen als Hornstachel bezeichneten keratinösen Sporn umgibt. Junge Löwen haben dunkle Flecken, die während des ersten Lebensjahres verblassen. Selten bleiben diese Flecken auch bei erwachsenen Löwen sichtbar, aber stets undeutlich und nur aus der Nähe erkennbar.
Wie bei Tigern gibt es bei Löwen gelegentlichen Leuzismus: Löwen mit nahezu weißem Fell. Diese Tiere sind keine Albinos, was äußerlich daran erkennbar ist, dass sie keine roten Augen haben; im Gegensatz zu Albinos bilden leuzistische Tiere das Pigment Melanin. Bei Leuzismus wird die weiße Fellfarbe über ein rezessives Gen vererbt. Weiße Löwen treten heute nur in der südafrikanischen (in ihrem taxonomischen Status umstrittenen; siehe unten) Unterart Transvaal-Löwe (Panthera leo krugeri) auf. Seit 1995 (Stand: 2015) wurden keine adulten weißen Löwen in freier Natur beobachtet, obwohl gelegentlich weiße Jungtiere geboren wurden. Dies hängt jedoch offenbar nicht damit zusammen, dass weiße Löwen einen geringeren Jagderfolg hätten, weil sie für potenzielle Beutetiere leichter zu entdecken wären: Ausgewilderte weiße Löwen hatten unter naturnahen Bedingungen in umzäunten Freilandgebieten keinen signifikant geringeren Jagderfolg als normale lohfarbene (tawny) Löwen. Der Jagderfolg weißer Löwen basiert offenbar darauf, dass Löwen häufig nachts jagen und tagsüber bei der Jagd Deckung bietende Vegetation nutzen. Die Autoren dieser Untersuchung schließen aus den Ergebnissen, dass die Überlebensbedingungen weißer Löwen von Natur aus nicht schlechter sind als die normal gefärbter und dass heute deswegen keine erwachsenen weißen Löwen mehr in freier Natur beobachtet werden, weil diese von Trophäenjägern ausgerottet werden. Eine weitere, allerdings selten auftretende Färbungsvariante sind schwärzliche, melanistische Löwen.
Mähne
Adulte Männchen haben eine lange Mähne, die oft dunkelbraun ist, aber auch schwarz, hellbraun oder rotbraun sein kann. Diese Mähne breitet sich von Kopf und Hals bis über Brust und Schultern aus, seltener über den Bauch. Form und Farbe der Mähne variieren nicht nur zwischen Individuen, sondern auch beim selben Individuum im Laufe des Lebens in Abhängigkeit von der körperlichen Verfassung.
Besonders lange und dunkle Mähnen sind ein Zeichen guter Verfassung und Kampfeskraft, da Hormonstatus und Ernährungszustand Auswirkungen auf Dichte und Länge der Mähne haben. Experimentelle Untersuchungen mit ausgestopften Löwenmännchen haben gezeigt, dass Weibchen positiv auf Modelle mit längeren und dunklen Mähnen reagieren, während Männchen Modelle mit ausgeprägten Mähnen eher meiden. Praktischen Nutzen könnte die Mähne als Schutz gegen Prankenhiebe und Bisse bei Kämpfen rivalisierender Männchen haben. Deshalb haben Männchen durch eine Mähne einen Selektionsvorteil, nicht aber Weibchen, die nicht auf Kämpfe spezialisiert sind: Bei der Jagd ist eine Mähne, anders als bei Kämpfen, nicht von Vorteil. Andererseits haben Forschungen gezeigt, dass auch die Temperatur einen wichtigen Einfluss auf die Größe der Mähne hat und Löwenmännchen in kälteren Gebieten auch unabhängig von ihrer Unterart stärkere Mähnen ausbilden als solche, die in sehr warmen Gebieten leben. So bilden Löwenmännchen in Zoos kühler Regionen meist stärkere Mähnen aus als ihre Artgenossen in wärmeren Gefilden. Bei asiatischen Löwen ist die Mähne weniger deutlich ausgeprägt als bei ihren afrikanischen Artgenossen.
Bereits bei zwölf Monate alten Männchen sind Anzeichen einer sich entwickelnden Mähne erkennbar. Es dauert mehr als fünf Jahre, bis ein Löwenmännchen eine voll ausgebildete Mähne hat. In einigen Gebieten Afrikas, etwa im Tsavo-Nationalpark in Kenia, sind zahlreiche Männchen mähnenlos oder besitzen nur schwache Mähnen. Auch im Pendjari- und W-Nationalpark-Gebiet in Westafrika tragen nahezu alle Männchen keine oder wenig entwickelte Mähnen.
In seltenen Fällen kommt es auch vor, dass weibliche Löwen eine Mähne ausbilden. Im Okavangodelta in Botswana wurden mehrfach Löwinnen gesichtet, die wie männliche Tiere aussehen und sich auch so verhalten. Grund könnte entweder ein Gendefekt bei der Entwicklung des Embryos oder eventuell ein besonders hoher Testosteronspiegel beim Muttertier während der Trächtigkeit sein. Die prähistorischen Löwen der Spelaea-Gruppe (siehe unten) hatten vermutlich keine Mähnen.
Verbreitungsgebiet und Lebensraum
Während der letzten Eiszeiten hatten Löwen (die je nach systematischer Einordnung verschiedene Arten repräsentierten oder als Unterarten nur einer Art eingestuft werden) ein großes Verbreitungsgebiet. Es reichte in der letzten Kaltzeit von Peru über Alaska, wo der Amerikanische Löwe vorkam, erstreckte sich über Sibirien und weite Teile Nordasiens und Europas, wo der Höhlenlöwe vorkam, bis Indien, Arabien und Afrika im Süden. Einen Großteil dieses Verbreitungsgebietes büßten die Löwen allerdings schon am Ende des Eiszeitalters ein.
Das geschichtliche Verbreitungsgebiet des rezenten Löwen umfasste nicht nur große Teile Afrikas, sondern auch das südöstliche Europa sowie Vorderasien und Indien. Eurasien wurde während des Letzteiszeitlichen Maximums vor etwa 21.000 Jahren von Afrika aus besiedelt. Nordafrika war zu dieser Zeit etwas kühler als heute und extrem trocken; Südeuropa war großenteils von halbwüstenartiger Steppe bedeckt, in feuchteren Regionen gab es eingestreute Baumgruppen.
Ob von der Iberischen Halbinsel bis Italien Löwen lebten, ist unklar. Fossilfunde aus dem frühen Holozän im Norden Spaniens lassen sich nicht eindeutig dem Löwen zuordnen, es könnte sich auch um Überreste des Höhlenlöwen gehandelt haben. Ein eisenzeitlicher Löwenfund aus dem Süden Spaniens könnte auf Tiere zurückzuführen sein, die von Römern für Zirkusspiele eingeführt wurden. Umstritten ist auch, ob in Italien gefundene etwa 7000 bis 9000 Jahre alte Zähne vom Löwen oder vom Höhlenlöwen stammen.
Aus Ungarn, Bulgarien und der ukrainischen Schwarzmeerregion ist der Löwe um 2500 bis 3500 v. Chr. durch Knochenfunde nachgewiesen. In diesen drei Ländern erreichte die Verbreitung des Löwen im Norden Breitenlagen von 45 bis 48 Grad. In Ungarn und in der Ukraine starb der Löwe etwa im dritten Jahrtausend v. Chr. aus. Die jüngsten europäischen Fossilien, die in die Periode der Archaik (800 bis 500 v. Chr.) datiert werden, stammen von verschiedenen Fundorten in Griechenland. Dass auf dem Balkan noch in der Antike Löwen lebten, berichten auch zeitgenössische Gelehrte wie Herodot, Aristoteles, Plutarch und Xenophon. Der Löwe starb in Griechenland und damit in Europa im Zeitraum vom 4. vorchristlichen bis zum 1. nachchristlichen Jahrhundert aus. Im Nahen Osten und im Südkaukasus überlebte der Löwe bis ins 12. oder 13. Jahrhundert. In Nordafrika wurden die letzten Löwen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgerottet; die letzten nordafrikanischen Nachweise stammen aus dem Tschad (1940) und aus Marokko (1942). Heute ist die Verbreitung weitestgehend auf das Afrika südlich der Sahara beschränkt. Auch die asiatischen Löwenpopulationen wurden im 20. Jahrhundert nahezu vollständig vernichtet. Im Iran wurden die letzten Löwen 1957 beobachtet. Ein kleiner, in neuer Zeit zunehmender Restbestand hat sich in Indien unter anderem im Gir-Nationalpark in Gujarat gehalten.
Löwen sind anpassungsfähig und kommen in einer Vielzahl von Habitaten vor. Der bevorzugte Lebensraum des Löwen ist die Savanne, doch besiedelt er auch Trockenwälder und Halbwüsten. Niemals findet man ihn in dichten, feuchten Wäldern und in extrem trockenen Wüsten. Deshalb fehlt die Art in den zentralafrikanischen Regenwäldern und im Innern der Sahara. Im Gebirge kommt der Löwe bis in Höhen von mehr als 4000 Metern vor.
Bestand und Gefährdung
Wie bei fast allen Großtieren Afrikas geht die Hauptgefährdung der Löwen durch den Menschen von Lebensraumzerstörungen und direkten Nachstellungen aus. Nach Einschätzung der IUCN ist der weltweite Löwenbestand von 1993 bis 2014 um 43 Prozent zurückgegangen. In stichprobenartig ausgewählten Subpopulationen nahmen die Bestände in vier südafrikanischen Ländern (Botswana, Namibia, Südafrika, Zimbabwe) sowie in Indien in dieser Zeit um durchschnittlich zwölf Prozent zu, in den weitaus meisten Ländern des heutigen Verbreitungsgebiets, und zwar in solchen mit hoher Bevölkerungsdichte, jedoch um 60 Prozent ab; in zwölf afrikanischen Ländern ist der Löwe in neuerer Zeit (recently) ausgestorben, in sieben weiteren, vorwiegend westafrikanischen Ländern möglicherweise ausgestorben.
Hauptursachen für den Rückgang sind neben Lebensraumzerstörungen direkte Verfolgung, insbesondere durch Viehhalter, die giftkontaminierte Kadaver auslegen, sowie der Verlust der Nahrungsbasis aufgrund von Wilderei für den zunehmend kommerzialisierten Handel mit „Buschfleisch“. Eine weitere wachsende Bedrohung für Löwen ist die Gewinnung von Körperteilen für die traditionelle Medizin in Afrika und Asien. Hinzu kommt eine teilweise unzureichend reglementierte Trophäenjagd. Ein weiteres Problem sind Krankheiten wie Staupe, die in extremen Klimaperioden aufgrund von Co-Infektionen mit einzelligen Babesien für erhebliche Teile eines Löwenbestands tödlich verlaufen kann, sowie Rinder-Tuberkulose, für die insbesondere kleine, isolierte und deshalb zur Inzucht neigende Löwenpopulationen anfällig sind.
Das derzeit vom Löwen besiedelte Gebiet macht etwa acht Prozent seines historischen Verbreitungsgebiets aus. Die IUCN schätzte die Anzahl geschlechtsreifer Löwen (mature individuals) für 2014 auf 23.000 bis 39.000 Individuen. Der Löwe wird von der IUCN in die Gefährdungskategorie Vulnerable (gefährdet) eingestuft, müsste jedoch ohne die oben genannten fünf Länder mit positiver Bestandsentwicklung als Endangered (stark gefährdet) gelten. Die Löwenpopulation in Westafrika, die 2011 als genetisch von südostafrikanischen Löwen abweichend beschrieben wurde, gilt als vom Aussterben bedroht (Critically Endangered). Der Asiatische Löwe, dessen aus einigen hundert Tieren bestehender Bestand auf den Gir-Nationalpark und angrenzende Gebiete in Indien beschränkt ist, gilt trotz wachsender Individuenzahlen als stark gefährdet. In einigen großen Schutzgebieten Ost- und Südafrikas scheint die Zukunft der großen Katze jedoch bislang gesichert.
Lebensweise
Sozialverhalten
Im Gegensatz zu anderen, eher einzelgängerischen Großkatzen leben Löwen im Rudel. Ein solches Rudel besteht zumeist aus drei bis zehn, ausnahmsweise bis zu 21 untereinander verwandten Weibchen und deren Nachkommen, die von einer sogenannten „Koalition“ aus einigen erwachsenen Männchen gegen rudelfremde Männchen verteidigt werden. Für gewöhnlich gibt es in einem Rudel drei oder vier erwachsene Männchen, ausnahmsweise bis zu neun, selten nur eines. Diese Männchen sind in der Regel (aber nicht immer) miteinander verwandt, sie stehen in der Rangordnung über den Weibchen.
Die Größe von Streifgebieten, die sich entweder mit Gebieten anderer Rudel überlappen oder gegen andere Rudel verteidigt werden – im letzteren Fall sind es Territorien, auch Reviere genannt – variiert in Abhängigkeit von der Rudelgröße und der Häufigkeit von Beutetieren. Sie umfasst zumeist etwa 100 bis 200 Quadratkilometer, kann jedoch auch bis zu viereinhalbtausend Quadratkilometer betragen. Reviergrenzen werden mit Kot, Urin und Kratzspuren markiert, auch das weithin hörbare Gebrüll demonstriert den Anspruch der Revierinhaber.
Die jungen Männchen bleiben etwa zwei bis drei Jahre im Rudel, bis sie ihre Geschlechtsreife erreicht haben; danach werden sie vertrieben. Sie streifen dann mitunter über Jahre umher und schließen sich meist mit anderen nomadisierenden Männchen zusammen. Diese Bindung zwischen miteinander verwandten oder auch fremden Löwen kann dabei sehr stark werden. Die Nomaden legen in dieser Zeit sehr große Strecken zurück, respektieren keine Reviergrenzen, gründen aber auch keine eigenen Reviere. Um ein eigenes Rudel zu erobern, müssen sie die alten Revierbesitzer vertreiben oder im Kampf besiegen. Solche Kämpfe sind in der Regel blutig, und nicht selten können sie tödlich enden. Geschlagene Rudelführer werden vertrieben und führen dann meist ein Leben als Einzelgänger. Oft sterben sie jedoch an den Folgen der Kampfverletzungen.
Nach der Eroberung eines Rudels durch neue Männchen kommt es häufig zum Infantizid, das heißt, die neuen Rudelführer töten die Jungen ihrer Vorgänger. Die ultimate Ursache dieses Verhaltens besteht entsprechend der Theorie des egoistischen Gens darin, dass die Weibchen als Folge des Infantizids nach kurzer Zeit wieder paarungsbereit sind und die neuen Männchen eigenen Nachwuchs zeugen und so ihre Gene verbreiten können. Die führenden Männchen des Rudels können sich meist nur für wenige Jahre gegen Konkurrenten durchsetzen, bis sie von jüngeren, stärkeren Artgenossen vertrieben oder getötet werden. Im Durchschnitt wechseln die dominanten Männchen eines Rudels alle zwei bis drei Jahre. Im Gegensatz zu den Männchen verbringen die Weibchen in der Regel ihr gesamtes Leben in dem Rudel, in dem sie geboren wurden.
Löwen sind weniger reinlich als beispielsweise Hauskatzen; in der Regel wird nur der Nasenrücken gereinigt. Gegenseitige Fellpflege gibt es bei groben Verschmutzungen wie zum Beispiel durch Blut der Beutetiere.
Ernährung
Löwen jagen meist bei Dunkelheit oder in den kühlen Morgenstunden. Sie sind opportunistische Jäger, die zumeist diejenigen Tiere erbeuten, die gerade verfügbar sind. Zu den Beutetieren gehören vor allem mittelgroße und große Huftiere wie Antilopen, Gazellen, Gnus, Büffel, Zebras und Warzenschweine, auch domestizierte Huftiere wie Hausrinder und Esel, aber auch Raubtiere wie Hyänen und Schakale sowie kleinere Säugetiere wie Hasen und Nagetiere, außerdem Vögel wie Geier und Strauße und manchmal Reptilien wie Schildkröten und Krokodile sowie Fische und sogar Insekten. In manchen Gegenden spezialisieren sich Löwen auch auf eher untypische Beutetiere. So schlagen Löwen in großen Rudeln mit Gruppenstärken von etwa 30 Tieren am Savuti bisweilen halbwüchsige Elefanten und am Linyanti Flusspferde (beides im Chobe-Nationalpark, Botswana) oder auch Giraffen (meist Jungtiere). In Teilen dieses Nationalparks und im benachbarten Hwange-Nationalpark machen Elefanten etwa 20 Prozent der Löwennahrung aus, wobei vor allem Jungtiere und insbesondere Halbwüchsige im Alter von vier bis elf Jahren erlegt werden. In Namibia zählen bei den Wüstenlöwen auch Seebären zu den Beutetieren. Selbst große Rudel sind aber nicht in der Lage, ausgewachsene Nashörner zu erlegen.
Männliche Löwen sind erfolgreiche Jäger, nehmen jedoch nur an drei bis vier Prozent der Jagden teil; häufiger als Weibchen fressen sie Aas. Eine Studie im Kruger-Nationalpark ergab allerdings, dass selbst territoriale männliche Löwen, die ein Rudel besitzen, regelmäßige Jäger sind. Besonders in dicht bewachsenen und unübersichtlichen Lebensräumen scheinen rudelführende Männchen sich weniger von der Beute ihrer Weibchen zu ernähren als in offenen Lebensräumen. Nicht-territoriale Löwenmännchen, die noch kein Rudel erobern konnten, müssen sich ohnehin ihre Beute selbst beschaffen und regelmäßig jagen. Im Gegensatz zu den weiblichen Tieren, die im untersuchten Gebiet vor allem Zebras und Gnus bevorzugten, jagten die Löwenmännchen vor allem Kaffernbüffel. Junglöwen gehen im Alter von drei Monaten zum ersten Mal mit der Mutter zur Jagd. Erst im Alter von zwei Jahren haben sie die Jagdkunst so weit erlernt, dass sie nicht mehr von Alttieren abhängig sind.
Löwen sind keine ausdauernden Läufer und können ihre Höchstgeschwindigkeit von etwa 60 Kilometer pro Stunde nicht lange durchhalten. Viele der wesentlichen Beutetiere erreichen außerdem eine höhere Höchstgeschwindigkeit als Löwen. Auf Grund des Körperbaus kann ein Löwe jedoch schnell beschleunigen und ist daher auf kurzer Distanz in der Lage, beispielsweise ein Zebra einzuholen, das ihm aufgrund seiner Höchstgeschwindigkeit von 65 Kilometer pro Stunde auf längeren Strecken entkommen könnte. Löwen müssen sich deshalb im Normalfall bis auf wenige Dutzend Meter an die Beute heranpirschen. Sie schleichen sich geduckt oft über mehrere hundert Meter an die Beute heran, wobei jede Deckung ausgenutzt wird. Je näher sie der Beute kommen, desto mehr achten sie auf Deckung. Ist eine Distanz von zirka 30 Metern erreicht, wird die Beute in mehreren Sätzen angesprungen; jeder Sprung ist dabei etwa sechs Meter weit. Durch die Wucht des Aufpralls kann selbst ein Beutetier, das wie beispielsweise ein Zebra doppelt so schwer ist wie der jagende Löwe, aus dem Gleichgewicht gebracht werden. Kleinen Beutetieren wie etwa einer Thomsongazelle durchbeißen Löwen anschließend das Genick. Größere Beutetiere wie ein Gnu oder Zebra werden durch einen Kehlbiss getötet. Da die Eckzähne des Löwen zu kurz sind, um größere Blutgefäße zu erreichen, töten Löwen diese größeren Beutetiere, indem sie die Luftröhre einklemmen und so die Sauerstoffversorgung des Gehirns unterbrechen. Nach dem Jagderfolg kommt die Rangfolge im Rudel zum Tragen. Die adulten Männchen dürfen zuerst fressen, es folgen die ranghöchsten Weibchen, zuletzt die Jungen. Am Kadaver kommt es nicht selten zu Rangkämpfen, bei denen Rudelmitglieder verletzt werden.
Der Jagderfolg ist abhängig vom Geschick der jagenden Tiere, von der Tageszeit, den lokalen Gegebenheiten und der bejagten Tierart. In der Serengeti sind 14 Prozent aller Jagden auf Riedböcke und 32 Prozent aller Angriffe auf Gnus erfolgreich. Der Jagderfolg von Löwen ist damit dort deutlich geringer als der von Afrikanischen Wildhunden oder Geparden. Da Löwen in offenen Landschaften jagen, erhöht die gemeinsame Jagd die Chance, erfolgreich Beute zu schlagen. Nach einer Untersuchung in der Serengeti verdoppelt sich der Jagderfolg, wenn zwei Löwinnen gemeinsam jagen. Der Jagderfolg stieg in dieser Untersuchung jedoch nicht wesentlich an, wenn mehr als zwei Löwinnen an der Jagd beteiligt waren. Eine Studie in einer halbwüstenähnlichen Region in Namibia kam dagegen zu dem Ergebnis, dass diejenigen Rudel den höchsten Jagderfolg haben, bei denen mehrere Löwinnen ihre Jagdtechnik eng koordinieren. In dieser weitgehend deckungslosen Landschaft kreisten einige Löwinnen die Beute ein, während andere sich in einem Hinterhalt auf die Lauer legten. Ein weiterer Vorteil der gemeinschaftlichen Jagd liegt darin, dass die Beute im Rudel leichter gegen andere Räuber wie Wildhunde und Hyänen verteidigt werden kann.
Oft fressen Löwen auch Aas. Dabei vertreiben sie häufig andere Raubtiere wie Tüpfelhyänen von ihrer Beute – weit häufiger als umgekehrt. In einigen Gebieten Ostafrikas jagen Löwen Hyänen 70 Prozent ihrer Jagdbeute ab. Löwen finden die Beute anderer Raubtiere, indem sie auf kreisende Geier achten, die Beute von Hyänen aber auch, indem sie Streitereien von Hyänenrudeln um erlegte Beute akustisch lokalisieren. Löwen trinken, wenn Wasser verfügbar ist, sie können jedoch auch durch den Wassergehalt ihrer Beute oder von Pflanzen überleben, in der Kalahari etwa von Tsamma-Melonen.
Fortpflanzung und Entwicklung
Weibchen werden, unter anderem in Abhängigkeit von den Umweltbedingungen, im Alter von zwei bis drei Jahren geschlechtsreif, erstmals trächtig werden sie mit durchschnittlich dreieinhalb Jahren. Männchen sind mit gut zwei Jahren geschlechtsreif, können aber frühestens mit fünf Jahren ein Rudel übernehmen und Junge zeugen. Das Männchen überprüft die Paarungsbereitschaft eines Weibchens geruchlich mit dem Jacobson-Organ, das sich im harten Gaumen befindet. Dazu zieht der Löwe die Oberlippe zurück und öffnet leicht das Maul; dies wird als Flehmen bezeichnet.
Auch wenn ein Männchen die Spitze der Rangordnung einnimmt, kann es sich mit einem Weibchen nur mit dessen Zustimmung paaren. Hierzu legt sich die Löwin auf den Bauch und erlaubt dem Männchen, sie zu besteigen. Während der Kopulation beißt der Kater der Löwin in den Nacken; dadurch hält diese instinktiv still. Eine Kopulation findet etwa alle 15 Minuten statt, über drei bis vier Tage zirka 40 Mal am Tag; ein Kopulationsakt dauert etwa 30 Sekunden.
Nach einer Tragzeit von etwa vier Monaten bringt die Löwin in einem Versteck abseits vom Rudel zumeist ein bis vier, maximal sechs Junge zur Welt. Neugeborene wiegen etwa 1,5 Kilogramm, ihre Augen öffnen sich bei der Geburt oder kurz danach. Sie werden im Versteck etwa sechs bis acht Wochen von der Mutter gesäugt. Ist dieses weit vom Rudel entfernt, geht die Mutter allein auf Jagd. Dabei kann es vorkommen, dass die Jungen bis zu 48 Stunden allein im Versteck bleiben; dies ist besonders wegen Hyänen und anderer Raubtiere gefährlich. Nach maximal acht Wochen führt die Löwin ihre Jungen zum Rudel, wo sie sich zusammen mit anderen Jungen zu einer Crèche, einem „Hort“, zusammenschließen. Die jungen Löwen saugen ab diesem Zeitpunkt nicht nur bei der Mutter, sondern auch bei den anderen Weibchen, womit die Aufzucht allen weiblichen Mitgliedern des Rudels obliegt. Im Alter von vier bis sechs Wochen beginnen die Jungen, auch Fleisch zu fressen. Mit acht Monaten werden Löwenjunge entwöhnt, sie bleiben aber noch bis zum Alter von 21 bis 30 Monaten bei der Mutter.
Etwa 60 Prozent der Löwen sterben bereits in ihrem ersten Lebensjahr. Männchen können im Freiland elf bis 13, selten 16 Jahre alt werden; häufig werden sie von jüngeren Konkurrenten getötet oder verletzt vertrieben. Weibchen können 17 bis 18 Jahre erreichen. Das Rekordalter von Löwen im Zoo beträgt etwa 27 Jahre.
Externe Systematik
Der Löwe zählt innerhalb der Großkatzen zur Gattung Panthera, deren Arten unter anderem durch ein unvollständig verknöchertes Zungenbein charakterisiert sind. Früher wurde dieses Merkmal mit der Fähigkeit zu brüllen in Verbindung gebracht. Neuere Studien zeigen jedoch, dass das charakteristische laute Brüllen des Löwen (und anderer Großkatzen der Gattung Panthera) vor allem durch eine spezielle Morphologie des Kehlkopfes bedingt ist. Der Löwe schnurrt, wie andere Großkatzen auch, nur beim Ausatmen. Das Schnurren klingt dabei nicht wie das einer Kleinkatze, sondern eher wie ein Knurren oder Brummen.
Stammesgeschichte
Die Verwandtschaftsgruppe der Löwen war einst in Afrika, Europa, Asien und Amerika weit verbreitet. Der älteste Fossilnachweis einer Katze, die stark einem Löwen ähnelt, stammt aus Laetoli in Tansania und ist etwa 3,5 Millionen Jahre alt. Von einigen Wissenschaftlern werden diese Funde, die nur aus Kieferbruchstücken und wenigen postcranialen (nicht zum Schädel gehörenden) Knochen bestehen, als Panthera leo angesehen, andere Forscher bestreiten diese Gleichsetzung. Die wenigen Funde erlauben kaum eine genaue Bestimmung der Artzugehörigkeit, auch sind die ältesten sicher bestätigten Funde von Löwen in Afrika rund zwei Millionen Jahre jünger.
Vor etwa 700.000 Jahren taucht mit dem Mosbacher Löwen (Panthera fossilis) am italienischen Fundort von Isernia zum ersten Mal ein Löwe in Europa auf. Ein 1,75 Millionen Jahre alter Löwen-Unterkiefer aus der Olduvai-Schlucht in Tansania zeigt eine frappierende Ähnlichkeit mit den Mosbacher Löwen. Diese gelten als die größten Löwen Europas und jagten während der Cromer-Warmzeit vor mehr als 500.000 Jahren bei Wiesbaden in Hessen und bei Heidelberg in Baden-Württemberg. Einige Exemplare waren fast so lang wie die größten Löwen der Erdgeschichte, die Amerikanischen Löwen (Panthera atrox) aus Kalifornien, die eine Rekordlänge von 3,6 Metern (Kopf-Rumpf-Länge circa 2,4 Meter) erreichten.
Die meisten Löwenfunde in Europa stammen vom eiszeitlichen Höhlenlöwen (Panthera spelaea), der sich aus dem Mosbacher Löwen entwickelt hat. In Nordostasien und Beringia lebte der Beringia-Höhlenlöwe (Panthera leo vereshchagini), eine Unterart des Höhlenlöwen. In Mitteleuropa, Nordasien und Amerika waren Löwen bis zum Ende des Pleistozäns ein häufiges Element der Fauna, starben dort aber am Ende der letzten Eiszeit aus.
Unterarten
Im Laufe der Zeit wurden zahlreiche Unterarten des Löwen beschrieben, von denen im 2009 erschienenen Raubtierband des Handbook of the Mammals of the World, einem Standardwerk zur Säugetierkunde, noch sechs anerkannt wurden:
Der Kongo-Löwe (Panthera leo azandica), im Nordosten der Demokratischen Republik Kongo
Der Angola-Löwe oder Katanga-Löwe (Panthera leo bleyenberghi), in Angola, Sambia und im Süden der Demokratischen Republik Kongo
Der Transvaal-Löwe (Panthera leo krugeri), im nordöstlichen und östlichen Südafrika und im Kalahari-Gebiet
Panthera leo nubica, in Nordost- und Ostafrika
Der Asiatische Löwe (Panthera leo persica), im Gir-Nationalpark im westlichen Indien
Der Westafrikanische Löwe oder Senegal-Löwe (Panthera leo senegalensis), im Westen Afrikas
In einer 2017 veröffentlichten Revision der Katzensystematik durch die Cat Specialist Group der IUCN werden dagegen nur noch zwei Unterarten des Löwen anerkannt.
Panthera leo leo umfasst die westafrikanischen Löwen, die Löwen, die in Zentralafrika nördlich des Regenwaldgürtels leben, die indischen Löwen sowie die ausgerotteten Löwen Nordafrikas, des Nahen und Mittleren Ostens und des Balkans.
Panthera leo melanochaita umfasst die Löwen des östlichen und südlichen Afrikas.
Genetische Analysen ergaben, dass sich Westafrikanische Löwen deutlich von denen im Süden und Osten des Kontinents unterscheiden und die nordafrikanischen Berberlöwen die nächsten Verwandten der indischen Löwen sind. Nordafrikanisch-asiatische Löwen spalteten sich nach molekularbiologischen Untersuchungen vor etwa 70.000 bis 200.000 Jahren von den afrikanischen Löwen südlich der Sahara ab. Auch ein 2016 veröffentlichter Genvergleich und eine 2020 veröffentlichte Studie über die Evolutionsgeschichte der Löwen zeigen, dass die rezenten Löwen aus zwei Kladen bestehen, die den Unterarten Panthera leo leo und Panthera leo melanochaita entsprechen. Die von beiden gebildete Klade ist die Schwestergruppe der ausgestorbenen Höhlenlöwen.
Bei den vom Menschen ausgerotteten Berber- und Kaplöwen handelt es sich damit nicht um eigenständige Unterarten, sondern um Populationen von Panthera leo leo bzw. Panthera leo melanochaita. Bis vor 37.000 Jahren kamen Löwen auf Sri Lanka vor; sie wurden als eigenständige Unterart Panthera leo sinhaleyus beschrieben.
Spelaea-Gruppe
Die ausgestorbenen prähistorischen Löwen Amerikas und Nordeurasiens bilden die sogenannte Spelaea-Gruppe, die sich genetisch von den Löwen Afrikas und Südasiens (Leo-Gruppe) unterscheidet. Dazu zählen:
Mosbacher Löwe (Panthera fossilis)
Höhlenlöwe (Panthera spelaea)
Amerikanischer Löwe (Panthera atrox)
Kryptozoologische Art
Die Kryptozoologie beschäftigt sich mit dem Marozi, einem angeblich gefleckten Löwen mit kurzer Mähne, der im Hochland von Kenia leben soll. Das Fell eines derartigen Löwen wird noch heute im Naturhistorischen Museum in London aufbewahrt. Seit Ende der 1930er-Jahre gab es keine Sichtung mehr. Behauptungen, solche Löwen seien Hybride aus Löwen und Leoparden, sind mehr als unwahrscheinlich, da sich diese Tiere in der Natur normalerweise feindlich gesinnt sind. In Gefangenschaft konnten dagegen schon mehrfach Hybriden aus Löwen und Leoparden dokumentiert werden, allerdings weist deren Fell ein anderes Muster als das vermeintliche Marozi-Fell in London auf.
Löwen und Menschen
Wortherkunft
Im Deutschen gibt es zwei Varianten desselben Wortes, einmal das gängige Löwe, das aus dem norddeutschen Raum übernommen wurde, sowie das altertümlich-poetische Leu. Entlehnt hat das Deutsche die Bezeichnung aus lat. leo, das seinerseits dem gr. leōn entstammt. Vermutet wird weiterhin, dass das Wort im semitischen Raum (assyr. labbu, hebr. leva „die Löwen“) seinen Ursprung hat.
Jagd auf Löwen
Löwen wurden bereits in der Antike intensiv bejagt, so waren sie in Ägypten um 1100 v. Chr. weitgehend ausgerottet. Im 19. und 20. Jahrhundert wurden Löwen im großen Maßstab systematisch verfolgt, insbesondere auch als Folge der Besiedlung Afrikas durch Europäer. Einerseits galten Löwen als Schädlinge, andererseits wurden Zigtausende Löwen, die für Großwildjäger zu den begehrten „Big Five“ gehören, den fünf prominenten Großwildarten Afrikas, als „sportliches Freizeitvergnügen“ erschossen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts töteten Teilnehmer mancher Safaris Löwen in dreistelliger Zahl; 1911 wurden in der Serengeti während einer einzigen Safari mindestens 700 Löwen erschossen.
Die Zahl der zu Beginn des 21. Jahrhunderts von Trophäenjägern erschossenen Löwen schätzte die IUCN 2009 auf 600 pro Jahr; Körperteile von etwa 60 Prozent dieser Löwen wurden als Trophäen in die USA importiert. Vorrangiges Ziel von Trophäenjägern sind männliche Löwen; der Verlust von Rudelführern führt dann oftmals dazu, dass weitere Rudelmitglieder sterben, unter anderem weil neue Rudelführer nach der Übernahme des Rudels die Jungen ihrer Vorgänger töten. Die lokale Bevölkerung profitiert entgegen anders lautenden Behauptungen finanziell nur minimal von der Trophäenjagd. Zudem werden vor allem in Südafrika Löwen in Gefangenschaft aufgezogen, um sie dann in Gehegen von zahlungskräftigen Trophäenjägern bei sogenannten canned hunts erschießen zu lassen.
Nachdem 2015 in Zimbabwe ein im Rahmen eines langjährigen Forschungsprojekts besenderter und unter Touristen besonders beliebter Löwe („Cecil“) von einem US-amerikanischen Jäger erschossen worden war, was auch in politischen Kreisen internationale Proteste nach sich zog, listete der United States Fish and Wildlife Service Löwen als gefährdete Art, womit die Jagd auf Löwen für US-amerikanische Trophäenjäger schwieriger, aber nicht unmöglich wurde. Frankreich verbot im selben Jahr als erstes Land der Europäischen Union den Import der Körperteile von Löwen, ebenso Australien. Das deutsche Bundesamt für Naturschutz erteilt dagegen weiterhin Genehmigungen für die Einfuhr von Jagdtrophäen aus Körperteilen gefährdeter Tiere wie Löwen.
Löwen in Haltung
Löwen wurden von assyrischen Herrschern bereits 850 v. Chr. in Gefangenschaft gezüchtet. Zur Zeit des Römischen Reichs wurden Löwen zu Tausenden aus Afrika importiert, in Menagerien zur Schau gestellt und bei Zirkusspielen gegen Menschen und Tiere gehetzt. Im europäischen Mittelalter wurden Löwen als Statussymbole und für Schaukämpfe in königlichen Menagerien, unter anderem im Tower of London, sowie auf den Anwesen Adeliger in Käfigen gehalten. Berühmte frühneuzeitliche Menagerien, in denen Löwen und andere exotische Tiere zur Schau gestellt wurden, ließ Ludwig XIV. in Versailles und Vincennes errichten. Insbesondere im 18. und 19. Jahrhundert wurden Löwen in Europa und in den USA auch in Wandermenagerien durch das Land gekarrt.
In heutigen Zoos versucht man, die genetische Vielfalt von Löwen durch Zuchtprogramme zu bewahren, indem man mit Tieren aus unterschiedlichen Regionen des Verbreitungsgebiets züchtet – unter anderem mit indischen Löwen sowie mit Löwen, zu deren Vorfahren wahrscheinlich die nordafrikanischen Berberlöwen gehören.
Die Haltung von dressierten Großraubtieren wie Löwen in Zirkussen, die in der Manege Kunststücke aufführen, gilt als kontrovers und ist in einigen Ländern verboten. In manchen afrikanischen Wildreservaten wird ein sogenannter „Catwalk“ angeboten; dabei werden die Besucher mit zahmen Löwen durch die Wildnis geführt.
Löwen in Religion, Kultur und Mythologie
Bereits die eiszeitlichen Jäger in der Kulturstufe des Aurignacien haben vor mehr als 30.000 Jahren Löwen dargestellt. Zu den eindrucksvollsten Kunstwerken aus jener Zeit, das zugleich zu den ältesten überlieferten Skulpturen der Menschheit zählt, gehört die aus Mammutelfenbein geschnitzte, fast 30 Zentimeter hohe Figur des sogenannten Löwenmenschen mit dem Körper eines Menschen und dem Kopf eines Höhlenlöwen; sie wurde in der Höhle Hohlenstein-Stadel in Baden-Württemberg entdeckt und verkörperte vielleicht eine Gottheit. Aus altbabylonischer Zeit stammt die Bronzeskulptur des Löwen von Mari.
In vielen Kulturen hat der Löwe eine Stellung als „König der Tiere“ eingenommen, die auf den Einfluss des Physiologus zurückzuführen ist, eines frühchristlichen Buches über Tiersymbolik von allgemein großem Einfluss auf die westliche Kultur. Die vom Löwen ausgehende Faszination wird durch die Vielzahl von Wappen deutlich, auf denen er abgebildet ist. So findet man den Löwen als Wappentier beispielsweise auf den Wappen von Hessen, Husum, Luxemburg, Zürich, Aquitanien und Montenegro. Dass Löwen den Europäern bereits im Altertum bekannt wurden, liegt daran, dass sie einst rund um das Mittelmeer verbreitet waren. In der griechischen Mythologie erscheinen Löwen in verschiedener Funktion: Der Nemeische Löwe wurde als eine menschenfressende Bestie dargestellt, den zu töten eine der zwölf Aufgaben des Herakles war. In der Geschichte von Androklus zieht der Held, ein entlaufener Sklave, einem Löwen einen Dorn aus der Tatze; als er später zur Strafe für seine Flucht den Löwen zum Fraß vorgeworfen werden soll, erkennt ihn das Tier wieder und weigert sich, den Mann zu töten.
Das Wappen Indiens zeigt die Darstellung einer Ashoka-Säule, auf deren Kapitell vier Löwen Rücken an Rücken sitzend in die vier Himmelsrichtungen schauen. Auf der Flagge von Sri Lanka wurde der Löwe als Symbol der Singhalesen verewigt. Der Name des Volkes der Singhalesen entstammt dem Wort siṁha aus dem Sanskrit, was „Löwe“ bedeutet.
In zahlreichen antiken Kulturen spielte der Löwe eine Rolle. Im alten Ägypten wurden Pharaonen als Sphingen mit Löwenkörper und Menschenkopf dargestellt. Die berühmteste derartige Darstellung ist die Große Sphinx von Gizeh. Neben der Löwengestalt des Pharao wurde Sachmet als Göttin mit weiblichem Löwenkopf verehrt. Weiter kannte die ägyptische Mythologie sowohl Dedun, den oberägyptischen Gott des Reichtums, der in späterer Zeit ebenfalls löwenköpfig dargestellt wurde, als auch die Löwengöttinnen Repit, Mehit, Menhit, Mestjet und den Löwengott Mahes. Das Wort M3ḥs selbst ist außerdem die Bezeichnung für Löwe. Der ägyptische Erdgott Aker wird dargestellt mit einer Bildkomposition, in der zwei Löwen Rücken an Rücken sitzen und zwischen sich eine Darstellung des Horizonts mit Sonne halten. Der Markuslöwe ist das Symbol für den Evangelisten Markus.
Im Mittelalter fungieren Löwenfiguren manchmal als unheilabwehrende (apotropäische) Wächter von Eingängen (z. B. an St-Trophime in Arles). Bei Grabmalen (gisants) ruhen oft die Füße von Rittern oder Adligen auf Löwenfiguren.
Am nördlichen Sternenhimmel gibt es gleich zwei nach diesem Tier benannte Sternbilder: den Löwen und den Kleinen Löwen. Bei Ersterem soll es sich um eine Inkarnation des Nemeischen Löwen handeln, während Letzterer eine Neuschöpfung des 17. Jahrhunderts war.
Dass der Löwe ein Image als mächtiges, stolzes, mutiges, starkes Tier hat, zeigt sich daran, dass sich bis in die Gegenwart Menschen nach ihm benennen. Bedeutendste Beispiele aus dem Mittelalter sind Heinrich der Löwe und – weniger positiv besetzt – Richard Löwenherz. In der Frühen Neuzeit wurde der schwedische König Gustav II. Adolf wegen seines Eingreifens im Dreißigjährigen Krieg „Löwe aus Mitternacht“ genannt. Der afghanische Kriegsherr Ahmad Schah Massoud wurde von seinen Anhängern „der Löwe von Pandschir“ genannt, der äthiopische Kaiser Haile Selassie nannte sich „Löwe von Juda“. In Tierfabeln wird der Löwe auch als Nobel bezeichnet.
Der Löwe in Sprache und Werbung
Löwenanteil bedeutet Großteil in dem Sinn, dass der mächtige Löwe das meiste für sich selbst beansprucht. Baulöwe und Salonlöwe stehen für manche einflussreichen, wohlhabenden Menschen der High Society. Einige Wirtschaftsunternehmen verwenden Löwenfiguren als Logos und für Werbeauftritte, unter anderem Löwenbräu (München), Kastner & Öhler (Graz) und Hartlauer (Steyr). Der körperlich große österreichische Politiker Josef Wenzl machte mit einer Löwenfigur Image- und Wahlwerbung. Im Vorspann von Filmen der Metro-Goldwyn-Mayer brüllt ein Löwe, der aus einer Rahmenkulisse herausschaut. Der Braunschweiger Löwe wurde Markenzeichen des Lkw-Herstellers Büssing und dessen Nachfolger MAN.
Ein Halleiner Steinmetz wurde 1941 vom NS-Regime beauftragt, vier Löwen mit Wappen für die (heutige) Salzburger Staatsbrücke zu fertigen; nur zwei wurden fertig und ab etwa 1949 vor dem Hauptbahnhof Linz aufgestellt. Auch als Name oder Bestandteil von Namen wurde der Löwe verwendet, wie zum Beispiel bei den mittelalterlichen Königen Richard Löwenherz (1157–1199) und Heinrich der Löwe (1130–1195) oder auch bei dem Nachnamen Löwenthal. Von den lateinischen beziehungsweise griechischen Bezeichnungen für Löwe abgeleitet sind unter anderem die Namen Leo, Leon und Leonardo.
Seine Symbolik als eines der größten, stärksten und edelsten Raubtiere führt auch dazu, dass zahlreiche Sport-Teams Löwen als Wappentier und Namenspatron verwenden, bekannte Beispiele sind die Detroit Lions im American Football, die Löwen Frankfurt und ZSC Lions im Eishockey, die British and Irish Lions im Rugby oder die Rhein-Neckar-Löwen im Handball. Der englische Fußball-Verband hat drei Löwen in seinem Wappen, was dazu führt, dass die englische Nationalmannschaft unter dem Spitznamen Three Lions bekannt ist.
Menschenfressende Löwen
Löwen haben wahrscheinlich seit jeher Menschen und Vorfahren des heutigen Menschen erbeutet. Menschen zu jagen geht für Löwen allerdings mit Risiken einher, die den Nutzen der Nahrungsgewinnung in der Regel übersteigen; deshalb gehören Menschen nicht zum allgemeinen Beutespektrum von Löwen. Wird jedoch der Lebensraum von Löwen so gestört, dass die Bestände ihrer üblichen Beutetiere zusammenbrechen, können Löwen zur Menschenjagd übergehen. Letzteres gilt auch für einzelne Löwen, die unter schweren Verletzungen wie gebrochenen Gliedmaßen leiden. Ein weiterer Risikofaktor für Menschen besteht darin, dass Aas fressende Löwen in die Nähe menschlicher Siedlungen oder Camps gelockt werden, wenn Verstorbene nicht bestattet werden oder wenn Essensabfälle oder tote Tiere offen liegen gelassen werden; auch Vieh kann Löwen in Menschennähe locken. Löwen und Hyänen folgten außerdem Karawanen, unter anderem denen der Sklavenhändler, die sterbende und gestorbene Sklaven zurückließen.
Die schwerste bekannte Angriffsserie ereignete sich von 1932 bis 1947 im südlichen Tansania, wo in einem 150 Quadratmeilen großen Gebiet etwa 1500 Menschen von Löwen getötet wurden. Man hatte dort einen „wildfreien Korridor“ geschaffen, um einer Rinderpest-Epidemie Herr zu werden. Löwen mehrerer Generationen fixierten sich in der Folge so sehr auf die Menschenjagd, dass sie sogar in Dörfer eindrangen und schließlich selbst bei der unmittelbaren Verfügbarkeit von Vieh stattdessen Menschen erbeuteten. Eine weitere Angriffsserie ereignete sich ab 1924 in Uganda, wo allein in diesem Jahr 161 Menschen von Löwen getötet wurden, nachdem man, ebenfalls zur Bekämpfung einer Rinderpest-Epidemie, die wildlebenden Huftiere ausgerottet hatte.
Der bekannteste Fall von Löwenangriffen betraf das damalige Britisch-Ostafrika, das heutige Kenia: 1898 töteten dort zwei Löwen (je nach Quelle) 28 bis 135 indische und afrikanische Arbeiter, die mit dem Bau einer Eisenbahnbrücke über den Tsavo-Fluss beschäftigt waren. Die Bauarbeiten an der Brücke kamen zum Erliegen, als die Löwen auch in Camps eindrangen, die mit hohen Dornenwällen umfriedet waren, und dort Menschen erbeuteten. Dem Leiter des Bauprojekts, dem britischen Oberstleutnant John Henry Patterson, gelang es erst nach neun Monaten, die beiden Löwen zu erlegen. Beide waren männlich, mähnenlos und ungewöhnlich groß: Sie hatten Gesamtlängen von 2,95 beziehungsweise 2,90 Metern und Schulterhöhen von 1,12 beziehungsweise 1,22 Metern.
Nach Pattersons Angabe wurden 135 Menschen Opfer dieser Löwen. Von Yeakel et al. durchgeführte Untersuchungen des Isotopenverhältnisses von Kohlenstoff und Stickstoff aus Knochen und Haaren zeigten, dass einer der beiden im Field Museum of Natural History in Chicago als Dermoplastiken ausgestellten Löwen gelegentlich, der zweite hauptsächlich Menschenfleisch fraß. Vermutlich war der Letztere aufgrund seiner Kieferverletzung auf leicht zu erjagende Beute angewiesen. Indem die Forscher die üblicherweise von Löwen verzehrte Fleischmenge zugrunde legten, schlossen sie rechnerisch, dass den beiden Löwen etwa 35 Menschen zum Opfer gefallen waren.
Die Tsavo-Angriffe folgten ebenfalls auf eine Rinderpest-Epidemie: Diese nach Afrika eingeschleppte Seuche ließ die Bestände von Hausrindern und Büffeln zusammenbrechen. Aufgrund der Jagd nach Elfenbein waren zudem Elefanten im Osten Kenias weitgehend ausgerottet; dies hatte zur Folge, dass sich Strauchvegetation, insbesondere auch Dorngebüsche, ausgebreitet hatten, die den Lebensraum grasender Huftiere, einer wichtigen Beute von Löwen, überwucherten. Es gab bereits vor den berüchtigten Ereignissen Löwenangriffe in der Tsavo-Region, und selbst ein Jahrhundert später wurde noch über Löwenangriffe in der Region berichtet: Kerbis Peterhans & Gnoske vermuten deshalb, dass sich unter den dortigen Löwen eine lokale Verhaltenstradition der Menschenjagd herausgebildet hatte.
Die Vorkommnisse während des Brückenbaus am Tsavo-Fluss inspirierten zwei Hollywood-Produktionen: Der erste kommerzielle 3D-Film, der im Jahre 1952 gedreht und in Deutschland unter dem Titel Bwana, der Teufel veröffentlicht wurde, und Der Geist und die Dunkelheit von 1996 griffen dieses Ereignis auf.
Literatur
P. Caputa: Der kahle König. In: National Geographic. Gruner und Jahr, Hamburg 2002, .
Richard Despard Estes: The Behavior Guide to African mammals. University of California Press, Berkeley 1991, ISBN 0-520-05831-3, S. 369.
Günter Kloss: Der Löwe in der Kunst in Deutschland. Skulptur vom Mittelalter bis heute. Imhof, Petersberg 2005, ISBN 3-86568-054-2.
Gus Mills, Martin Harvey: African Predators. Struik, Cape Town 2001, ISBN 1-86872-569-3.
Bruce D. Patterson: The Lions of Tsavo. Exploring the Legacy of Africa’s Notorious Man-eaters. McGraw Hill, New York 2004, ISBN 0-07-136333-5.
Alan Turner, Mauricio Anton: The Big Cats and Their Fossil Relatives. An Illustrated Guide to Their Evolution and Natural History. Columbia University Press, New York 1997, ISBN 0-231-10229-1.
Wighart von Koenigswald: Lebendige Eiszeit. Theiss, Stuttgart 2002, ISBN 3-8062-1734-3.
Joachim Burger u. a.: Molecular phylogeny of the extinct cave lion. Panthera leo spelea. (PDF; 201 kB) In: Molecular Phylogenetics and Evolution. 30, 2004, , S. 841–849.
Mustafa Haikal: Die Löwenfabrik. Lebensläufe und Legenden. Pro Leipzig, Leipzig 2006, ISBN 3-936508-15-1.
Filmdokumentationen
Geheimnisse der Steppe (Original: The African Lion). Dokumentarfilm von James Algar, USA 1955, Walt Disney, 75 Minuten.
Vanishing Kings – Lions of the Namib. Dokumentarfilm zu den Wüstenlöwen in Namibia, Namibia 2015, ORF/Into Nature Productions/Smithsonian Channel/Arte, 50 Minuten.
Weblinks
Artenprofil Löwe; IUCN/SSC Cat Specialist Group in Englisch
Einzelnachweise
Katzen
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51245 | https://de.wikipedia.org/wiki/Winterkrieg | Winterkrieg | Der Winterkrieg ( , , Simnjaja woina) wurde vom 30. November 1939 bis zum 13. März 1940 zwischen der Sowjetunion und Finnland ausgetragen. Er wird auch als sowjetisch-finnischer Krieg (russisch Sowetsko-finskaja woina) oder „sowjetisch-finnländischer Krieg“ (russisch Sowetsko-finljandskaja woina) bezeichnet.
Im Herbst 1939 hatte die Sowjetunion Finnland mit Gebietsforderungen in der Karelischen Landenge konfrontiert und sie mit unabdingbaren Sicherheitsinteressen für die Stadt Leningrad begründet. Nachdem Finnland die Forderungen abgelehnt hatte, griff die Rote Armee am 30. November 1939 das Nachbarland an.
Ursprüngliches Kriegsziel der Sowjetunion war vermutlich die Besetzung des gesamten finnischen Staatsgebiets gemäß dem Ribbentrop-Molotow-Pakt. Der Angriff wurde aber von den zahlen- wie materialmäßig erheblich unterlegenen finnischen Streitkräften zunächst gestoppt. Erst nach umfassenden Umgruppierungen und Verstärkungen konnte die Rote Armee im Februar 1940 eine entscheidende Offensive beginnen und die finnischen Stellungen durchbrechen. Am 13. März 1940 beendeten die Parteien den Krieg mit dem Friedensvertrag von Moskau. Finnland konnte seine Unabhängigkeit wahren, musste aber erhebliche territoriale Zugeständnisse machen, insbesondere große Teile Kareliens abtreten.
Rund 70.000 Finnen wurden in dem Konflikt verwundet oder getötet. Die Größenordnung der sowjetischen Verluste ist umstritten; sie wird auf ein Vielfaches geschätzt. Der Kriegsverlauf offenbarte Schwächen in der Roten Armee, die einerseits die sowjetische Führung zu umfassenden Reformen veranlassten und andererseits im Deutschen Reich zu einer folgenreichen Unterschätzung der militärischen Stärke der Sowjetunion beitrugen. In Finnland halfen die militärischen Abwehrerfolge, die im Finnischen Bürgerkrieg zu Tage getretene gesellschaftliche Spaltung abzumildern.
Ursachen und Ausgangslage
Vorgeschichte aus finnischer Sicht
Finnland war seit 1809 als Großfürstentum in das Russische Kaiserreich integriert. Die Finnen bewahrten sich gegenüber mehreren Versuchen der Russifizierung ihre kulturelle Eigenständigkeit und gewisse politische Autonomie innerhalb des autokratischen Systems. Die finnische Unabhängigkeitsbewegung erstarkte nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Als das Russische Reich nach der Oktoberrevolution und der Machtübernahme der Bolschewiki im Russischen Bürgerkrieg versank, erklärte Finnland im Dezember 1917 seine Unabhängigkeit. Da Lenin die finnische Selbstständigkeit im Gegensatz zu den Weißen Armeen in Russland nicht als Bedrohung für die sowjetische Herrschaft sah, erkannte er Finnland im Januar 1918 als souveränen Staat an.
Das unabhängige Finnland wurde kurz darauf von einem Bürgerkrieg erschüttert, ausgelöst durch einen Umsturzversuch sozialistischer Kräfte mit Unterstützung der russischen Bolschewiki. Bürgerlichen Kräften unter Führung von Carl Gustaf Emil Mannerheim gelang es mit deutscher Hilfe, den Krieg für sich zu entscheiden. Der größte Teil der sozialistischen Führung floh nach Russland. Das bürgerliche Finnland interpretierte den Bürgerkrieg in erster Linie als Freiheitskrieg gegen Russland. Die Beziehungen der beiden Staaten blieben in der Folge weiter angespannt. Besonders trugen hierzu Bestrebungen zur Schaffung eines Großfinnland und damit verbundene Gebietsansprüche gegenüber dem östlichen Nachbarn bei. In mehreren Ostkriegszügen zwischen 1918 und 1920 versuchten irreguläre finnische Militärverbände erfolglos, die sowjetischen Teile Kareliens Finnland einzugliedern. 1920 besiegelten beide Staaten im Frieden von Dorpat das Ende der Feindseligkeiten. Der großfinnische Gedanke lebte jedoch weiter. Die 1922 gegründete Akademische Kareliengesellschaft (Akateeminen Karjala-Seura), der zahlreiche prominente Personen aus Politik und Wissenschaft angehörten, betrieb offen Propaganda für den Anschluss Ostkareliens.
Die Beziehungen der beiden Länder in der Folgezeit waren „korrekt, aber kühl“. Anfang 1932 schlossen die Nachbarn einen Nichtangriffspakt. Das gegenseitige Misstrauen konnte dadurch aber kaum abgebaut werden. Im sich zuspitzenden Interessengegensatz zwischen der Sowjetunion und Deutschland versuchte Stalin vergeblich, Finnland durch weitere Verträge enger an sich zu binden. Die Zuordnung Finnlands zum kapitalistischen Lager, die Propaganda der Akademischen Kareliengesellschaft sowie die betont deutschfreundlichen Aktivitäten der faschistischen Lapua-Bewegung trugen zum Wachsen der Spannungen bei.
In Finnland hatten der Bürgerkrieg und der gegenseitige Terror zwischen „Roten“ und „Weißen“ eine tiefe Spaltung der Gesellschaft hinterlassen. Erst in den 1930er Jahren, besonders nach der Wahl von Kyösti Kallio zum Präsidenten 1937, begann eine Versöhnungspolitik im Land zu greifen. Im selben Jahr wurde die Sozialdemokratische Partei Finnlands unter Ministerpräsident Aimo Kaarlo Cajander erstmals seit dem Bürgerkrieg an einer Regierung beteiligt. Auch der ehemalige „weiße General“ Mannerheim warb für die Überwindung der Gräben. Zum Jahrestag der Beendigung des Bürgerkriegs im Mai 1933 erklärte er:
Die Ausgangslage aus Sicht der Sowjetunion
Aus Sicht der Sowjetunion war die Beziehung zu Finnland 1939 angespannt und von Misstrauen geprägt. Die Wirtschaftsbeziehungen zwischen den beiden Ländern waren trotz der langen gemeinsamen Grenze minimal, und die sowjetische Regierung nahm großen Anstoß an der Unterdrückung der finnischen Kommunisten. Inspiriert von der Großfinnland-Ideologie hatten Tausende finnische Freiwillige zwischen 1918 und 1922 an gleich mehreren Kriegsschauplätzen aktiv gegen Sowjetrussland gekämpft. So griffen zahlreiche finnische Freiwillige in den estnischen Unabhängigkeitskrieg ein und unternahmen an anderer Stelle drei Militärexpeditionen in das sowjetrussische Karelien, die teilweise erst nach Monaten niedergeschlagen werden konnten. Des Weiteren unterstützten finnische Freiwillige separatistische Aufstände in Ostkarelien und Nordingermanland. Mit Nordingermanland hatten 1920 für einige Monate pro-finnische Separatisten ein Gebiet in geringer Entfernung von Leningrad kontrolliert. Die Sowjetunion sah die Stadt im Falle eines Kriegsausbruchs daher als unmittelbar gefährdet an. Zudem nahmen in den späten 1930er Jahren unter Stalin irredentistische und revisionistische Tendenzen stark zu, die darauf abzielten, nach 1918 verlorenes Territorium des Russischen Reichs zurückzugewinnen.
Seit der Mitte der 1930er-Jahre war die sowjetische Führung durch das Wiedererstarken Japans und den Aufstieg Hitlers in Deutschland vom Kommen eines neuen Krieges zwischen den Großmächten überzeugt. Die militärische und politische Führung der Sowjetunion sah das Baltikum und Finnland als strategisch wichtig an. Der Finnische Meerbusen und die Küste der baltischen Staaten wurden als potenzielles Einfallstor fremder Mächte in die zweitgrößte Stadt Leningrad betrachtet. Ebenso war Stalin davon überzeugt, dass etwaige Küstenbefestigungen Finnlands und der baltischen Staaten die Aktionsfähigkeit der sowjetischen Baltischen Flotte in der Ostsee im Kriegsfall empfindlich einschränken könnten. Im Falle eines Landkrieges sah die Führung der Sowjetunion die baltischen Staaten als notwendiges Durchmarschgebiet für einen Einsatz ihrer Truppen gegen potenzielle Gegner in Mitteleuropa und den finnischen Teil Kareliens als ein mögliches Aufmarschgebiet für fremde Mächte gegen Leningrad. Ebenso vermutete Stalin Finnland als mögliche Basis für Luftangriffe einer fremden Macht gegen sowjetisches Territorium.
Bis zum Abschluss des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes im August 1939 und dessen Ausführung im Überfall auf Polen versuchte die sowjetische Führung, die Neutralisierung des strategisch wichtigen Gebiets durch Nichtangriffspakte mit den Anrainerstaaten, unter anderem mit Finnland, zu verwirklichen. Durch die Zerschlagung Polens als Staat hatte sich das Gleichgewicht in Osteuropa allerdings geändert. Stalin versuchte nun, Estland, Lettland und Litauen durch Bündnisse und die Stationierung sowjetischer Truppen in das Verteidigungssystem der Sowjetunion einzugliedern. Die kleinen Nachbarn stimmten diesen Bündnissen nach kurzen, von militärischen Drohungen begleiteten Verhandlungen im Herbst 1939 zu.
Verhandlungen mit Finnland und Kriegsbeginn
Am 11. September 1939 begann die Sowjetunion eine neue Verhandlungsrunde mit Finnland. Stalin begründete seine Forderungen mit der drohenden Kriegsgefahr und der Notwendigkeit der Sicherung Leningrads durch strategische Neuregelungen. Zu diesem Zweck sollte Finnland den Südteil der befestigten Karelischen Landenge im Austausch gegen andere karelische Gebiete abtreten. Die zukünftige finnisch-sowjetische Grenze sollte bis auf etwa dreißig Kilometer vor die Stadt Wiborg (Viipuri), Finnlands zweitgrößte Stadt, vorgeschoben werden. Dies hätte die Aufgabe sämtlicher finnischer Verteidigungsanlagen entlang der sogenannten Mannerheim-Linie bedeutet. Ebenso forderte Stalin die Verpachtung der Halbinsel Hankoniemi um die Stadt Hanko, die Überlassung von Inseln im finnischen Meerbusen und die Fischerhalbinsel an der Küste des Nördlichen Eismeeres. Als Ausgleich bot die Sowjetunion Finnland die Abtretung von Gebieten in Karelien an, die flächenmäßig etwa doppelt so groß waren. Die finnische Regierung unter Ministerpräsident Cajander war zunächst bezüglich der Annahme der sowjetischen Forderungen gespalten, lehnte sie jedoch letztendlich ab. Als Konzession bot die finnische Regierung der Sowjetunion die Abtretung des Gebietes um den Ort Terijoki an, was von der Sowjetunion als ganz ungenügend abgelehnt wurde. Finnland leitete daraufhin eine Teilmobilmachung der Armee ein und versuchte erfolglos, sich mit Schweden zu verbünden. Auch eine Anfrage zwecks diplomatischer Unterstützung an Deutschland brachte keinen Erfolg. Die Verhandlungen dauerten noch bis zum 13. November an, ohne dass eine Einigung erzielt werden konnte.
Da der finnische Nachrichtendienst die Rote Armee als nicht einsatzbereit bezeichnete, ging der finnische Außenminister Eljas Erkko davon aus, die Sowjetunion werde keinen Krieg beginnen. Auch die Einschätzung der Regierung, dass das Parlament keinen Gebietsabtretungen zustimmen würde, trugen zur ablehnenden Haltung Finnlands bei.
Die sowjetische Seite hatte allerdings schon vor dem Ende der Verhandlungen eine militärische Option ins Auge gefasst. Im September 1939 begann eine Mobilmachung für einen Feldzug gegen Finnland, die im November abgeschlossen war. Am 3. November 1939 unterstellte der sowjetische Außenminister Molotow in der Prawda Finnland kriegerische Absichten gegenüber dem Sowjetstaat. Am selben Tag erhielt die Baltische Flotte den Befehl, in Bereitschaft zu gehen und endgültige Pläne für eine Invasion Finnlands auszuarbeiten. Das Gleiche befahl Stalin dem Leningrader Militärbezirk der Roten Armee am 15. November. Am 26. November inszenierte die Rote Armee im Dorf Mainila () einen Grenzzwischenfall, bei dem angeblich sowjetische Truppen von finnischer Artillerie beschossen worden seien (Mainila-Zwischenfall). Als die finnische Regierung diese Vorwürfe zurückwies, brach Molotow die Beziehungen zu Finnland ab und kündigte den bestehenden Nichtangriffspakt.
Ohne dass die Sowjetunion eine formelle Kriegserklärung abgegeben hätte, überschritt die Rote Armee am frühen Morgen des 30. November 1939 die Grenze. Am Nachmittag stellte Präsident Kallio formell fest, dass sich das Land im Kriegszustand befinde. Cajanders Regierung, deren Einschätzung der Kriegsgefahr sich als unzutreffend erwiesen hatte, trat noch am selben Abend zurück; ihr folgte am folgenden Tag eine auf breiterer parlamentarischer Grundlage stehende neue Regierung unter Risto Ryti, dem bisherigen Chef der Finnischen Zentralbank.
Finnische Verteidigung
Die finnische Armee war zu Kriegsbeginn nicht nur wegen der geringen Bevölkerung zahlenmäßig unterlegen, sondern auch in materieller Hinsicht schlecht auf den Krieg vorbereitet. In den Vorkriegsjahren hatten sich die militärische und die politische Führung in dauerndem Streit um das aus Sicht der ersteren völlig unzureichende Militärbudget befunden. Insbesondere die beiden stärksten Parteien, die antimilitaristisch eingestellten Sozialdemokraten und der auf Sparsamkeit bedachte Landbund, blockierten eine Steigerung der Rüstungsausgaben selbst unter dem Eindruck der sich zuspitzenden internationalen Lage. Noch im August 1939 drückte Ministerpräsident Cajander, der einer Koalition beider Parteien vorstand, seine Freude darüber aus, dass Finnland seine Mittel statt für schnell veraltendes Kriegsmaterial für nützlichere Dinge verwendet habe. Außerdem bevorzugte die Regierung die im Aufbau befindliche heimische Rüstungsindustrie gegenüber ausländischen Herstellern. Dies verlangsamte zusätzlich zum Geldmangel die Modernisierung der Bestände der Streitkräfte.
Die finnische Armee umfasste bei Kriegsbeginn 250.000 Soldaten, aufgeteilt auf neun Infanteriedivisionen und einige selbstständige Bataillone, von denen 130.000 die Karelische Landenge und 120.000 die übrige Ostgrenze verteidigten. Wegen des Mangels an Waffen verringerte sich die tatsächliche Einsatzstärke jedoch um 50.000. Schwere Bewaffnung war noch knapper. So hatte die finnische Armee nur dreißig Panzer zur Verfügung, die auch erst einige Wochen in Dienst waren. Ebenso herrschte Mangel an automatischen Waffen. Die ganze Armee besaß insgesamt nur einhundert Panzerabwehrkanonen, importiert aus Schweden. Die Soldaten mussten daher in der Panzerabwehr oft auf improvisierte Lösungen zurückgreifen, so etwa auf aus Flaschen gefertigte Wurfbrandsätze, denen sie den Namen Molotowcocktail gaben. Die Artillerie stammte in vielen Einheiten noch aus Zeiten des Ersten Weltkriegs und hatte eine geringe Reichweite. Pro Division waren nur 36 Geschütze vorhanden; zudem herrschte Mangel an Artilleriemunition. Die finnische Luftwaffe umfasste nur hundert Flugzeuge. An die Kampftruppen selbst konnten keine Flugabwehrkanonen (Flak) ausgegeben werden, da die verfügbaren einhundert Stück für die Verteidigung der Städte gegen Bombenangriffe verwendet wurden. Während des Krieges wurden drei weitere Reserve-Infanteriedivisionen aufgestellt, deren Ausrüstungsstand noch hinter dem der regulären Divisionen zurückstand. Die Zahl der finnischen Kombattanten erreichte damit rund 340.000.
Das finnische Oberkommando hatte in der Vorkriegszeit die Sowjetunion als einzig realistischen Kriegsgegner betrachtet. Deshalb war die Karelische Landenge durch die von der Presse später so genannte Mannerheim-Linie befestigt worden. Dort sah das Kommando unter Carl Gustaf Emil Mannerheim, der 1939 erneut die Führung der Armee übernommen hatte, die entscheidende Front des Krieges, da hier der schnellste Weg nach Viipuri und Helsinki ins finnische Kernland führte. Die seit den 1920er Jahren errichtete Linie bestand aus rund hundert Betonbunkern. Sie waren strukturell allerdings oft schwach; nur die neuesten bestanden aus festem Stahlbeton. Am dichtesten waren die Bunker im Bereich um Summa, das sich zum einen gefährlich nahe bei Viipuri befand und in dem außerdem das baumlose Heideland einen Panzerangriff begünstigte. Außerdem wurde die Linie durch von den Truppen angelegte Feldbefestigungen verstärkt. Bereits im Frieden wurde die Grenze durch vier Deckungsgruppen abgeschirmt. Mannerheim verstärkte sie noch durch fünf Divisionen, gegliedert im 2. und 3. Korps der Armee. Insgesamt hatte der Befehlshaber an der Landenge, Hugo Österman, rund 92.000 Soldaten unter seinem Kommando.
Auch am nördlichen Ufer des Ladogasees war genug Infrastruktur vorhanden, um eine Offensive einer modernen Armee zu ermöglichen. Um diese Flanke der Mannerheim-Linie zu verteidigen, postierten die Finnen dort das 4. Korps unter Woldemar Hägglund. Dem 4. Korps standen zwei Divisionen mit insgesamt rund 28.000 Soldaten zur Verfügung. Nach Einschätzung des finnischen Oberkommandos war der übrige Teil der ungefähr tausend Kilometer langen Grenze mit der UdSSR aufgrund der dichten Bewaldung und mangelnder Straßen für eine Armee unpassierbar. Deshalb wurden dort nur improvisierte kleinere Verbände eingesetzt, welche die wenigen Verkehrsachsen blockieren sollten. Diese Gruppe Nordfinnland stand unter dem Befehl von General Viljo Tuompo. Mannerheim selbst hielt als Oberbefehlshaber der Armee zwei Divisionen als Reserve zurück. Zum Teil wurde für diese Region die Ausnutzung von Gelände und Klima im Sinn einer Kriegsführung unter arktischen Bedingungen geplant. So verfügten die Finnen anders als die sowjetische Seite über beheizbare Zelte und es wurden schnell bewegliche Schützeneinheiten auf Skiern aufgestellt. Die große Bedeutung dieser Kampfesweise erkannte jedoch auch die finnische Seite erst im weiteren Verlauf des Konflikts.
Die finnische Strategie war insgesamt defensiv ausgelegt. Die Mannerheim-Linie sollte unter allen Umständen gehalten, die sowjetischen Truppen abgenutzt werden. Die Planung war allerdings davon ausgegangen, dass sich die Sowjetunion parallel in weiteren Kriegshandlungen befinden würde, was im Winterkrieg jedoch nicht zutraf.
Im Sommer 1939 erfolgte eine weitere Kampagne zum Festungsbau in der Karelischen Landenge, an der zivile Freiwillige mitwirkten. Im frühen Oktober berief Finnland seine komplette Reserve zu Übungen ein, was einer verdeckten Generalmobilmachung gleichkam. Zum Ende des Monats waren Militär und unterstützende Organisationen des Landes vollständig einsatzbereit. In den folgenden Wochen bis zum Kriegsbeginn konnten sich die neu aufgestellten Einheiten koordinieren und die Soldaten an die Klimabedingungen im Feld gewöhnen.
Sowjetischer Invasionsplan
Während der laufenden Verhandlungen beauftragte Stalin den Chef des Generalstabs der Roten Armee, Schaposchnikow, mit der Ausarbeitung eines Plans zur Invasion Finnlands. Schaposchnikow skizzierte eine mehrmonatige Operation, welche einen Großteil der Armee benötigt hätte. Dies lehnte Stalin ab und delegierte die Arbeit an den Befehlshaber des Leningrader Militärbezirks Merezkow. Dieser General stellte eine Operation in Aussicht, die nur auf wenige Wochen angelegt war und bezüglich der Landstreitkräfte nur den Einsatz der Truppen des Leningrader Militärverwaltungsgebiets vorsah.
Merezkows Plan legte das Hauptaugenmerk auf die Karelische Landenge und damit auf die Mannerheim-Linie. Dieses Nadelöhr stellte den kürzesten Weg zur finnischen Hauptstadt Helsinki dar. Des Weiteren waren die Straßen- und Eisenbahnverbindungen dort am besten ausgebaut. Die 7. Armee unter Wsewolod Jakowlew sollte mit Hilfe von 200.000 Soldaten und 1.500 Panzern direkt durch die finnische Befestigungslinie brechen. Die 8. Armee unter Chabarow sollte nördlich des Ladogasees die finnischen Befestigungen umgehen und den Verteidigern der Linie in den Rücken fallen. Dazu standen 130.000 Soldaten und 400 Panzer zur Verfügung. Weiter nördlich sollten zwei weitere Armeen an der fast unbewohnten und kaum durch Straßen erschlossenen Grenze der beiden Länder Angriffe durchführen, um die Verkehrsverbindungen abzuschneiden und finnische Truppen zu binden. Dazu stand die 9. Armee unter Duchanow nördlich der sowjetischen 8. Armee. Sie stellte das Bindeglied zur 14. Armee unter Frolow dar, welche nach Petsamo vorrücken sollte. Den beiden Armeen an dieser Nebenfront standen insgesamt 140.000 Mann und 150 Panzer zur Verfügung. Ihr Ziel war die Besetzung des gesamten finnischen Staatsgebietes. Erstes geografisches Ziel war die Stadt Oulu, die innerhalb von drei Wochen hätte erreicht werden sollen. Mit ihrer Eroberung hätte die Rote Armee Finnland in zwei Hälften geteilt.
Die Baltische Flotte sollte in diesem Plan mehrere Aufträge erfüllen. Durch U-Boote sollten die Nachbarländer beobachtet und die Seeverbindungen Finnlands abgeschnitten werden. Marineinfanterie sollte die kleinen Inseln im Finnischen Meerbusen einnehmen; die Marineflieger sollten die Landstreitkräfte an der Hauptfront unterstützen. Zusätzlich sollte ein sowjetischer Flottenverband mit drei Schlachtschiffen auf dem Ladogasee den Bodentruppen Artillerieunterstützung liefern. Insgesamt hatte die Rote Armee eine Überlegenheit an Soldaten von drei zu eins, an Artillerie von fünf zu eins und an Panzern von achtzig zu eins.
Die Flugzeugflotte auf sowjetischer Seite wuchs während des Kriegsverlaufs von rund 1000 auf 4000 Maschinen an.
Insgesamt standen der Roten Armee zu Beginn des Krieges 22 Divisionen zur Verfügung. Bis zum Ende des Krieges wurden 59 Divisionen mit rund einer Million Soldaten zur Verfügung gestellt. Die Einheiten entstammten zunächst drei Militärbezirken, in erster Linie Leningrad, mit Unterstützung aus den Bezirken Kalinen und Moskau, am Ende des Krieges neun Militärbezirken. Mit durchschnittlich 72 meist modernen Geschützen je Division war die sowjetische Artillerie der finnischen deutlich überlegen. Allgemein war der Ausbildungsstand der sowjetischen Truppen schlecht. Sie hatten nur kurze Ausbildungen absolviert und waren auf eine Kriegsführung in offenem Gelände ausgerichtet, nicht in bewaldeter Umgebung. Wegen der schleppend verlaufenden Mobilmachung hatten die Soldaten wenig Gelegenheit, sich zu akklimatisieren, was insbesondere Einheiten aus weiter südlich gelegenen Landesteilen in ihrer Kampfkraft schwächte.
Verlauf
Der erste sowjetische Angriff 1939
In den frühen Morgenstunden des 30. November setzte die Rote Armee ihre Divisionen entlang der Front von Petsamo bis Karelien in Marsch. Nachdem um 9:20 Uhr ein sowjetisches Flugzeug Flugblätter über Helsinki abgeworfen hatte, griffen um 10:30 Uhr neun sowjetische Bomber Helsinki an. Im Verlaufe des Tages erfolgten weitere Luftangriffe auf Helsinki mit insgesamt 91 Toten unter der Zivilbevölkerung, Wyborg, den Hafen von Turku, das Wasserkraftwerk in Imatra und eine Gasmaskenfabrik in Lahti. Insgesamt griff die sowjetische Luftwaffe an diesem Tag 14 Ziele an.
Gegen die sowjetischen Bodentruppen setzten die Finnen entlang der gesamten Länge der Grenze rund 13.000 Mann im Verzögerungsgefecht ein. Es dauerte bis zum 6. Dezember, bis die 7. Armee unter Jakowlew das Vorfeld von 25 bis 65 Kilometern vor den finnischen Befestigungen überwunden hatte und zur Mannerheim-Linie an der Karelischen Landenge aufschließen konnte. Währenddessen war im finnischen Oberkommando eine Kontroverse entbrannt. Mannerheim wollte gegen den Widerstand des Befehlshabers der Landenge Österman die im Vorfeld eingesetzten Deckungsgruppen offensiv vorgehen lassen, anstatt sie sich unter hinhaltendem Widerstand auf die Befestigungen zurückziehen zu lassen. Österman setzte sich in dieser Frage durch.
Noch vor den ersten großen Offensiven ließ Stalin den Oberbefehlshaber der 7. Armee Jakowlew durch Merezkow ersetzen, da er mit dem langsamen Vormarsch an der Landenge unzufrieden war. Merezkow plante Offensiven an zwei verschiedenen Abschnitten der Linie. Am 14. Dezember wurde die Sowjetunion anlässlich des Angriffs auf Finnland aus dem Völkerbund ausgeschlossen. Dies hielt die Rote Armee aber nicht davon ab, ihre Offensive fortzuführen. Meist versuchten die Verbände aus dem Marsch heraus, nach kurzer Artillerievorbereitung, die Befestigungen zu durchbrechen. Am 16. Dezember startete sie den Angriff am östlichen Rand der finnischen Befestigungen bei Taipale. Der finnischen 10. Division gelang es allerdings, diese Angriffe ohne Zuhilfenahme ihrer Reserven abzuwehren. Ein erneuter sowjetischer Versuch vom 25. bis zum 27. Dezember führte ebenso zu keinem Durchbruch der Linie. Als eigentlichen Durchbruchsort hatte Merezkow den Abschnitt bei Summa ausersehen. Zeitgleich zur Offensive bei Taipale versuchten hier die sowjetischen Truppen nach einer langen Artillerievorbereitung, die Linie zu durchbrechen. Der Versuch wurde aber ähnlich wie bei Taipale von der finnischen 3. Division ohne den Ruf nach Verstärkungen abgeschlagen. Die sowjetische Übermacht kam nicht zur Auswirkung, da das Waldgelände und der tiefe Schnee die Rote Armee an die wenigen Straßen banden und jeweils nur ein Regiment an der Spitze kämpfen konnte.
Sowohl Mannerheim als auch Österman sahen Mitte Dezember die Chance, einen Gegenangriff zu starten. Zu diesem Zweck setzten sie am 23. Dezember zusammen mit den bereits im Kampf stehenden Einheiten die in Reserve gehaltene 6. Division ein. Diese Operation wurde aber nach acht Stunden abgebrochen. Den hohen finnischen Verlusten von 1500 Mann standen keine relevanten Geländegewinne gegenüber. Der Sowjetunion war es nicht gelungen, an der Hauptfront des Krieges eine Entscheidung herbeizuführen, die Finnen vermochten aber auch nicht die sowjetischen Kräfte an der Landenge zu zerschlagen. Nachdem beide Seiten dies erkannt hatten, folgte eine Phase relativer Ruhe, während der das sowjetische Militär die Gründe für sein Scheitern analysierte.
Nach dem Plan des sowjetischen Oberkommandos sollte die 8. Armee den Ladogasee binnen zehn bis fünfzehn Tagen umgangen haben, um den Verteidigern der Mannerheim-Linie in den Rücken zu fallen. Auch an dieser Front verlief der sowjetische Vormarsch schleppend. Infolgedessen wurde der Befehlshaber der Armee, Generalmajor I. N. Chabarow am 13. Dezember durch den Korpskommandeur G. M. Schtern ersetzt. Die finnische Armee nutzte abseits des Stellungskrieges an der Karelischen Landenge ihre Beweglichkeit auf Skiern zu erfolgreichen Angriffsoperationen gegen die eingedrungenen sowjetischen Verbände. Der sowjetische Vormarsch konnte in der Schlacht von Kollaa zum 9. Dezember aufgehalten werden. Ab dem 27. Dezember konnte das finnische IV. Korps unter Hägglund die ihr gegenüberstehenden zwei sowjetischen Divisionen in die Defensive zwingen. Dabei wurden zwei Divisionen in sogenannten Mottis, durch schnelle Umkreisungsbewegungen kleiner, beweglicher Verbände entstandene Einkesselungen, gefangen. Die eingekesselte 18. Division wurde am 29. Februar 1940 zerschlagen, die 168. Division konnte sich bis Kriegsende halten.
Weiter nördlich standen der finnischen Gruppe Talvela unter Paavo Talvela drei sowjetische Divisionen gegenüber. Diese Einheiten sollten dem IV. Korps in die Flanke fallen und dadurch die Bewegung zur Umgehung der Mannerheim-Linie unterstützen. Den finnischen Truppen gelang es in diesem Sektor, die sowjetische 139. Division und die 75. Division bis zum 23. Dezember in der Schlacht bei Tolvajärvi zurückzutreiben. Ebenso gelang es den finnischen Truppen, die 155. Division aufzuhalten und in die Defensive zu drängen. Die geplante Umgehung der Mannerheim-Linie scheiterte somit für die Sowjetunion unter großen Verlusten. Die Kämpfe in dieser Region spielten sich bei Temperaturen von bis zu −40 °C ab. Die eingekesselten sowjetischen Kräfte banden aber bis Kriegsende finnische Truppenteile, die Mannerheim eigentlich so schnell wie möglich an die Landenge hatte verlegen wollen.
Die sowjetischen Offensiven in Nordfinnland stießen anfangs auf geringen Widerstand, da der finnische Generalstab nicht mit einem Angriff in diesem Landesteil gerechnet hatte. Der sowjetischen 104. Division gelang es nach wenigen Kriegstagen, den Hafen Petsamo einzunehmen. Die Einheit sollte sich mit der 88. und 122. Division zum Vormarsch auf Rovaniemi, der Hauptstadt der Region Lappland vereinigen. Die beiden letzteren Divisionen wurden in der Schlacht von Salla von improvisierten finnischen Verbänden in die Defensive gedrängt und am weiteren Vormarsch gehindert. Der 104. Division selbst erging es nach dem Erfolg in Petsamo genauso. In der Schlacht von Suomussalmi schafften es die Finnen durch das Aufbieten einer Reservedivision, die 163. sowjetische Division und die 44. Motorisierte Schützendivision in Mottis einzuschließen und zu zerschlagen. Damit hatte die Rote Armee auch das Ziel verfehlt, Oulu zu erobern und damit Finnland von Schweden zu isolieren. Die Kesselbildung gelang den Finnen, weil die Rote Armee sich an die wenigen Straßen der Region band. Dies erlaubte den Finnen, ohne den Schutz der eigenen Flanken zwischen die sowjetischen Kolonnen vorzustoßen und deren langgezogene rückwärtigen Verbindungen zu unterbrechen. Dabei war alleine der Kessel von Kitilä am Nordufer des Ladogasees von der finnischen Führung geplant. Die übrigen ergaben sich daraus, dass die sowjetischen Truppen zwar von ihren rückwärtigen Verbindungen abgeschnitten worden waren, sich aber wirkungsvoll zur stationären Verteidigung einrichteten und nicht oder nur langsam zerschlagen werden konnten. Die Kämpfe an und in dem Motti nahmen teilweise den Charakter des Stellungskriegs im Ersten Weltkrieg an.
Die finnischen Truppen nahmen danach an der Schlacht von Kuhmo teil. Dort kesselten sie die sowjetische 54. Division zwar ein, sie verteidigte aber bis zum Kriegsende ihre Position. Bis auf die Eroberung von Petsamo erreichte die sowjetische Führung im finnischen Norden keines ihrer strategischen Ziele. Da die Finnen die sowjetischen Einheiten aber auch nicht vollständig von ihrem Territorium vertreiben konnten, banden diese Gefechte finnische Reserven, die an der Landenge fehlten.
Die finnische Heimatfront
Die neue finnische Regierung unter Risto Ryti strebte zunächst eine baldige Wiederherstellung des Friedens durch Verhandlungen mit Moskau an. Es stellte sich jedoch heraus, dass die Sowjetunion die Regierung in Helsinki nicht mehr anerkannte. Stattdessen installierte Stalin mit Kriegsbeginn eine kommunistische Gegenregierung, bestehend aus finnischen Bürgerkriegsemigranten unter der Führung von Otto Wille Kuusinen. Nachdem die Rote Armee die ersten Geländegewinne erzielt hatte, trat Kuusinens „Volksregierung Finnlands“ im finnischen Grenzort Terijoki zusammen. Am 2. Dezember 1939 schloss sie mit der Sowjetunion einen Bündnisvertrag, in dem sie die in den Verhandlungen von Moskau geforderten Gebiete abtrat. Im Gegenzug sagte die sowjetische Regierung die Abtretung der Hälfte Ostkareliens zu.
Die Einsetzung der Regierung von Terijoki und deren Ankündigung volksdemokratischer Reformen in Finnland erfolgten in der Erwartung, dass Kuusinen unter den sozialistisch gesinnten Finnen Unterstützung gewinnen werde. Damit wäre die finnische Heimatfront geschwächt und die Besetzung des Landes legitimiert worden. Die erwartete Reaktion blieb aber aus. Vielmehr demonstrierten die finnischen Bevölkerungsgruppen in ihrer Verteidigungsbereitschaft eine Einmütigkeit, die auch inländische Beobachter überraschte. Das bedingungslose Zusammenrücken der Finnen im Kampf gegen den übermächtigen Angreifer, das noch lange nach dem Krieg unter der Bezeichnung „der Geist des Winterkrieges“ beschworen wurde, löste das Schisma des Bürgerkrieges auf und bildete in der Folge eine neue Grundlage für das finnische Selbstverständnis.
Sinnbildlich für die Überbrückung bestehender Feindbilder war das sogenannte „Januarverlöbnis“: Am 23. Januar 1940 erkannte der Arbeitgeberzentralverband (Suomen työnantajain keskusliitto) in einer gemeinsamen öffentlichen Stellungnahme erstmals den Gewerkschaftsbund (Suomen Ammattiyhdistysten Keskusliitto) als Vertreter der Arbeitnehmer und gleichwertigen Verhandlungspartner an. Der Vorsitzende des Gewerkschaftsbundes, Eero Vuori, stellte im Anschluss fest:
Gleichwohl waren die Erwartungen in der finnischen Öffentlichkeit zunächst düster. Der Finanzminister der Regierung Ryti, Rainer von Fieandt, schrieb in seinen Memoiren:
Die in der Anfangsphase des Krieges erzielten Erfolge, als das Vorrücken des Feindes gestoppt und diesem schwere Verluste zugefügt worden waren, führten sodann zu einem völligen Umschwung in der Stimmungslage. In Politik, Militär und Presse schaffte sich die Auffassung Raum, der Krieg sei zu gewinnen. Da nur die wenigsten über die genaue Lage an den Fronten informiert waren, hielt diese Stimmung bis zum Ende des Krieges an.
Reform der sowjetischen Kräfte
Probleme der sowjetischen Streitkräfte
Ende Dezember zeigte sich für das sowjetische Oberkommando, dass sein Plan einer schnellen Niederringung Finnlands gescheitert war. Stalin äußerte sich in einer Konferenz mit Merezkow und seinem Stab:
Die sowjetische Führung hatte zu Kriegsbeginn die eigenen Kräfte überschätzt und hatte nur wenige Kenntnisse über die Stärken der finnischen Armee. Die Befestigungen der Mannerheim-Linie waren im Vorhinein nicht ausreichend durch Aufklärung kartographiert worden. Die sowjetischen Truppen hatten sich hierbei fast ausschließlich auf Luftaufklärung verlassen, und so waren ihnen getarnte Stellungen vor dem Angriff kaum bekannt. Merezkow war sich zwar darüber im Klaren, dass Betonbefestigungen das Rückgrat der Linie bildeten, dennoch wurden die Truppen vor dem Krieg nicht im Kampf gegen solche Bunker trainiert. Die Aufklärung durch die Bodeneinheiten selbst wurde vernachlässigt, so dass die sowjetischen Truppen, insbesondere im Norden Finnlands, kein treffendes Bild der gegnerischen Einheiten hatten.
Die klimatischen Bedingungen des finnischen Kriegsschauplatzes wurden von der Sowjetunion ebenso missachtet. Starke Schneefälle machten das Gelände fast nur per Ski oder Schneeschuh begehbar. Fahrzeugen war das Terrain querfeldein kaum zugänglich. Die tiefen Temperaturen von −35 °C beanspruchten Maschinen und Menschen gleichermaßen. Dazu kam, dass insbesondere im finnischen Norden kaum Straßen und Wege vorhanden waren. Während der ersten Phase des Krieges stand der Roten Armee keinerlei Wintertarnkleidung zur Verfügung. Zu allem Überfluss war selbst warme Winterkleidung in einigen Einheiten aufgrund von Logistikproblemen knapp. Da die sowjetischen Truppen fast keine Skier erhalten hatten und im Umgang mit ihnen auch nie trainiert worden waren, blieb die Beweglichkeit der Armee auf dem Gefechtsfeld sehr beschränkt. Dies hatte besonders im unwegsamen Gelände Nordfinnlands katastrophale Auswirkungen. Ferner beschwerten sich sowjetische Offiziere über die mangelnden Fähigkeiten der Soldaten im Umgang mit feindlichen Minen. Die finnischen Deckungsgruppen legten beim Rückzug intensiv Minen und Sprengfallen, die unter den sowjetischen Soldaten große Verluste forderten und durch den psychologischen Effekt die Beweglichkeit der Soldaten noch weiter einschränkten.
Die Sowjetunion scheiterte aber nicht nur an den Eigenheiten des finnischen Kriegsschauplatzes, sondern auch an der eigenen Kriegsführung. Die sowjetische Militärdoktrin und Merezkows Plan sahen eine enge Kooperation zwischen Luftwaffe, Panzern, Infanterie, Artillerie und gegebenenfalls Marineeinheiten vor. Dies verwirklichte sich aber nicht auf dem Gefechtsfeld, meist gingen Panzer oder Fußsoldaten getrennt voneinander ohne entsprechende Artillerieunterstützung vor. Die Koordination zwischen den verschiedenen Truppenteilen war zu schwach. Offiziere gaben Befehle, die ein sinnvolles Zusammenwirken der verschiedenen Elemente unmöglich machten, und die Kommunikation zwischen den Einheiten sowie den übergeordneten Stellen brach oft zusammen. Verschlimmert wurden diese Probleme noch durch Materialausfälle von Funkgeräten, sowohl an der Front als auch in den Stäben. Der Grund dafür, dass die Rote Armee ihrem Standard nicht gerecht wurde, lag in einer mangelhaften Ausbildung vor dem Krieg begründet. Das Offizierskorps war nicht groß genug, um alle Rekruten entsprechend zu schulen. Ein leistungsfähiges Unteroffizierkorps fehlte durch den inneren Aufbau der sowjetischen Armee vollkommen. Infolgedessen wurde die Armee in Einheiten minderer und höherer Ausbildungsqualität unterteilt. Diese Einheiten wurden ohne Berücksichtigung ihrer tatsächlichen Fähigkeiten in Finnland zusammengewürfelt.
Große Teile des Offizierskorps waren während der Stalinschen Säuberungen der Jahre 1937/1938 politischen Verfolgungen zum Opfer gefallen. Sie mussten durch unerfahrene Nachrücker ersetzt werden. Die nachwirkende Atmosphäre der Bedrohung hemmte die Initiative der verbleibenden Befehlshaber. So beschwerte sich Merezkow nach dem Krieg darüber, dass Soldaten wie Offiziere zögerten, ihren Vorgesetzten offen die Wahrheit zu sagen. In einem internen Bericht an Stalin schilderte dessen enger Mitarbeiter Lew Mechlis, dass eine große Zahl der einfachen Soldaten den Krieg für ungerecht halte.
Dieselben Probleme betrafen die sowjetische Luftwaffe. Sie blieb stark hinter den Erwartungen zurück. Schlechtes Wetter, technische Probleme, geringer Ausbildungsstand und schlechte Kommunikation mit den Bodentruppen ließen ihr Eingreifen auf dem Schlachtfeld marginal werden. Die sowjetische Luftkampagne zielte darauf ab, die Mobilisierung der finnischen Armee in ihrem rückwärtigen Gebiet zu stören. Da die Armee aber zwei Wochen vor Kriegsausbruch mobilisiert worden war und sich zu Kriegsausbruch bereits in ihren Stellungen befand, lief diese Operation ins Leere. Auch parallel dazu unternommene Versuche, durch die Bombardierung von Städten und Eisenbahnlinien den finnischen Nachschub zu behindern, zeigten keine maßgebliche Wirkung. Hauptziele der sowjetischen Bombardements waren Helsinki, Tampere, Turku und im späteren Kriegsverlauf Viipuri. Finnische Quellen sprechen insgesamt von 2075 Luftangriffen auf zivile Ziele. Der Ausfall an Arbeitsstunden in den Industriezentren des Landes betrug aber weniger als fünf Prozent. Aufgrund des finnischen Zivilschutzsystems, das Verdunkelungsmaßnahmen und Rettungseinsätze regelte, hielten sich die zivilen Opfer in Grenzen. Die finnische Luftwaffe, die durch ausländische Lieferungen auf rund 200 Flugzeuge anwuchs, erzielte 240 Abschüsse bei 26 eigenen Verlusten. Schläge gegen das sowjetische Hinterland konnte sie aufgrund ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit jedoch kaum durchführen. Insgesamt verlor die Rote Armee rund 800 Maschinen während des gesamten Krieges.
Weitgehend folgenlos blieb auch die Unterstützung durch Flotteneinheiten. Die Ladogaflottille hatte stark mit technischen Problemen und Navigationsfehlern zu kämpfen. Unter anderem lief ein Schlachtschiff wenige Tage nach Kriegsbeginn auf Grund. Auch die Einheiten der Baltischen Flotte griffen in den Krieg ein. Ihre Anstrengungen hatten aber wegen Nachschubproblemen, technischer Unzulänglichkeiten, schlechtem Ausbildungsniveau und mangelnder Aufklärung keinen Einfluss auf den Verlauf der Kämpfe. So warfen Flugzeuge der Flotte rund 64,5 Tonnen Bomben auf finnische Inseln im Finnischen Meerbusen ab. Die Inseln waren jedoch größtenteils evakuiert worden, und die einzige Küstenbatterie der Finnen auf den Inseln wurde durch diese Angriffe nicht ausgeschaltet. Ende Dezember kamen die Flottenoperationen durch Packeis weitgehend zum Stillstand.
Neue Planungen der sowjetischen Führung
Schon am 26. Dezember ließ Stalin die Einheiten an der Karelischen Landenge neu organisieren. Das Kommando der 7. Armee wurde von Merezkow selbst übernommen. Dazu wurde noch eine neue Armee aufgebaut, die 13. unter Wladimir Gröndahl. Am 7. Januar berief er Semjon Timoschenko zum Oberbefehlshaber über die Nordwestfront. In diesem Großverband wurden die Einheiten des finnischen Kriegsschauplatzes nun zusammengefasst, analog zur weißrussischen Front und ukrainischen Front, die 1939 Ostpolen besetzt hatten. Damit hatte Stalin die Hoffnung, Finnland nur mit begrenzten Kräften aus dem Leningrader Militärbezirk zu besiegen, endgültig verworfen. Neue Einheiten wurden aus anderen Militärbezirken herangeschafft, und der neue Offensivplan unter Timoschenkos Ägide sah nun eine alleinige Offensive an der karelischen Landenge vor. Im Grunde genommen ähnelte sein Plan dem von Stalin vor dem Krieg abgelehnten Vorschlag Schaposchnikows.
Timoschenkos Grundidee war es, die Mannerheim-Linie durch zahlenmäßige Überlegenheit zu brechen und die Truppen besser für die Erfordernisse des Schauplatzes auszubilden. Als Hauptfaktor sah er eine starke Überlegenheit der Artillerie vor. Diese sollte zuerst in einem langen Bombardement die feindlichen Stellungen schwächen. Sobald die Bodentruppen angriffen, sollten die Geschützbesatzungen den Vormarsch eng mit ihnen abstimmen und die Angriffe in Form einer Feuerwalze unterstützen. Im Gegensatz zu den Planungen der ersten Offensive sollten Kommandeure kleinerer Einheiten bis zum Zugführer Geschützfeuer anfordern können. Insgesamt gruppierte die Rote Armee rund 48 Geschütze pro Frontkilometer. Ebenso sollte Langstreckenartillerie Bewegungen hinter der Front der Finnen niederhalten. Die Bodentruppen wurden im Umgang mit Betonbefestigungen eigens an Modellen im Hinterland ausgebildet und spezielle Sturmgruppen wurden geschaffen. Diese Einheiten umfassten Gruppen aus normaler Infanterie, Panzern, Pionieren und Panzerabwehrgeschützen. Sie sollten die stärksten Punkte der feindlichen Linie brechen.
Des Weiteren wurde der Infanterie befohlen, Gräben und Feldbefestigungen möglichst nah an die finnischen Stellungen heranzutreiben, um das zu überquerende Niemandsland möglichst klein zu halten. Auch wurden neue Waffen an die Front geschafft, unter anderem Panzer vom Typ KW-1 und T-34. Manche dieser Fahrzeuge wurden zur Bekämpfung der Betonbunker mit Flammenwerfern ausgerüstet. Für den Schutz der Infanterie wurden gepanzerte Schlitten bereitgestellt, die von Panzern gezogen wurden. Um die Kampfmoral zu heben, wurden Auszeichnungen im Gefecht nicht nur durch Orden honoriert, sondern auch durch materielle Geschenke wie Uhren und Fahrräder. Um den Mangel an erfahrenen Offizieren zu mindern, wurden rund 4000 Inhaftierte aus den Lagern des Gulag entlassen und an die Front geschickt.
Zweite sowjetische Offensive Anfang 1940
Mit den Verstärkungen verfügte die Rote Armee an der karelischen Landenge kurz nach Jahresbeginn 1940 über rund 600.000 Soldaten, 2000 Panzer und 3137 Geschütze. Die finnische Armee war zahlenmäßig am Ende ihrer Ressourcen. Die sowjetischen Truppen konnten vor und während der Offensive ihre Fronttruppen rotieren. Die finnischen Einheiten standen seit Kriegsbeginn im Feld. Nur im am stärksten umkämpften Sektor von Summa wurde die dortige Division durch eine Reservedivision ersetzt. Das finnische Oberkommando hob zwei neue Divisionen aus, die aber nur aus älteren Reservisten bestanden und mangelhaft ausgerüstet waren. Einen Eindruck über die psychische Belastung der Soldaten gibt das Schicksal eines finnischen Zugführers. Dieser halluzinierte, seine Ehefrau sei auf dem Weg, ihnen mehr Waffen zu bringen. Daraufhin verließ er den schützenden Bunker und fiel dem sowjetischen Artilleriefeuer zum Opfer.
Die sowjetische Armee begann am 15. Januar den kontinuierlichen Artilleriebeschuss der finnischen Linien, gleichzeitig erkundete sie systematisch durch Luftaufklärung und Aufklärung der Fronttruppen den Befestigungsapparat. Am 1. Februar leitete Timoschenko den ersten Angriff von Bodentruppen ein. Fünf Divisionen griffen im Zentrum der Mannerheim-Linie an. Dieser Angriff sollte laut Timoschenko nur eine Art Demonstration sein. Das sowjetische Kommando experimentierte dabei mit der Doktrin der Auftragstaktik, welche die deutsche Wehrmacht verwendete. Die untergeordneten Befehlshaber konnten dabei frei ihre Zwischenziele und den Einsatz ihrer Truppen zum Erreichen ihres Ziels planen. Die Angriffe brachten limitierte Gebietsgewinne und wurden von den sowjetischen Befehlshabern positiv bewertet. Zwischen diesen Angriffen und der eigentlichen Offensive auf breiter Front war eigentlich eine Pause vorgesehen. Timoschenko ließ die Demonstrationsangriffe aufgrund ihres Erfolges dann aber nahtlos in die Großoffensive übergehen. Am 11. Februar ließ der sowjetische Befehlshaber die ganze Front angreifen. Am selben Tag durchbrachen die Divisionen, die seit dem 1. Februar kämpften, die vorderste Befestigungslinie der Mannerheim-Linie. Darüber hinaus setzte die Rote Armee massiv Großwaffen ein. Im Sektor Summa, der weiterhin den Schwerpunkt bildete, wurden je Kilometer Frontbreite 72 Artilleriegeschütze und 40 Panzer verwendet.
Mannerheim führte mit seiner einzigen kampferfahrenen Reservedivision einen Gegenangriff. Dieses Vorhaben derjenigen Einheit, die noch im Vorjahr Summa erfolgreich verteidigt hatte, schlug allerdings fehl. Als mögliche Gründe werden Munitionsmangel und ein Zögern Mannerheims zum Gegenangriff diskutiert. Infolgedessen zogen sich die finnischen Truppen vom 15. Februar an auf die mittlere Linie ihrer Befestigungen zurück. Dies gelang weitgehend geordnet, weil eine aktive Verfolgung durch die sowjetische Seite ausblieb. Der Durchbruch wird generell als der militärische Wendepunkt des Krieges gesehen. Trotzdem kritisierte Timoschenko den Mangel an Koordination, der noch in der Truppe geherrscht habe. Er führte dies auf den Mangel an ausgebildeten Offizieren zurück. Um dieses Problem zu mildern, wurden die Regimentskommandeure angewiesen, das Kommando von mobilen Befehlsposten aus zu führen.
Am 19. Februar gelang es den sowjetischen Truppen, auch die mittleren Stellungen der Finnen zu durchbrechen. Ein Gegenangriff einer Reservedivision wurde durch die Bombardierung von deren Verkehrswegen verhindert. Zudem waren die Finnen auch strategisch durch das Vorrücken eines sowjetischen Korps auf Viipuri über die dortige zugefrorene Bucht bedroht. Daraufhin zogen sich die Finnen am 20. Februar auf die rückwärtigen Befestigungen der Mannerheim-Linie zurück. Am 25. Februar brachen die sowjetischen Truppen auch durch diese kaum ausgebauten Stellungen. Tags darauf setzte das finnische Oberkommando erstmals 15 Panzer zu einem Gegenangriff ein. Die Fahrzeuge britischer Fertigung vom Typ Vickers waren aber den sowjetischen Modellen technisch unterlegen. Ihr Einsatz wurde zur Katastrophe, denn die Geräusche der Fahrzeuge lösten in den eigenen Reihen Panik aus, da sie für sowjetische Panzer gehalten wurden. Nachdem Timoschenko seine Frontdivision durch frische Einheiten ersetzt hatte, befahl er die Fortsetzung des Angriffs auf breiter Front am 28. Februar.
Während der zweiten sowjetischen Großoffensive offenbarten sich die Schwächen der finnischen Verteidigung an der Landenge. Die starke Konzentrierung auf die Mannerheim-Linie machte die Truppen unbeweglich. Da sich hinter der Linie kaum noch Befestigungen befanden, bestand kein Spielraum für ein Zurückweichen. So war den finnischen Offizieren in der Ausbildung eingeschärft worden, dass verlorene Stellungen durch Gegenangriffe zurückzuerobern seien. Diese Strategie wurde später dafür kritisiert, die Verluste unnötig erhöht zu haben.
Timoschenko bemerkte allerdings, dass ein Hauptziel der Offensive gegen die Befestigungen nicht erreicht worden war: Der Roten Armee war es nicht gelungen, größere finnische Truppenteile einzuschließen und somit die finnische Armee im Feld zu vernichten. Nachdem sie die Mannerheim-Linie überwunden hatte, verstärkte die Rote Armee ihren Angriff auf das eigentliche Ziel der Offensive: die Stadt Viipuri. Sie wurde von den sowjetischen Truppen sowohl von Land als auch von der See her am 1. März eingeschlossen.
Am 2. März 1940 erfolgte ein schwerer Luftangriff auf Tampere mit über 100 Flugzeugen, ebenso ein Großangriff auf Lahti, bei dem 70 Häuser vollständig zerstört wurden.
Den sowjetischen Truppen gelang es, ein ganzes Schützenkorps, eine Panzerbrigade und Kavallerie über den gefrorenen Finnischen Meerbusen an die Stadt heranzubringen. Ebenso führte die Baltische Flotte zahlreiche kleinere amphibische Landungsunternehmen an der finnischen Küste durch. Diese Angriffe erfüllten ihr Ziel, nämlich finnische Reserven von der Front um Viipuri abzuziehen.
Die vollständige Eroberung Viipuris gelang den sowjetischen Truppen allerdings nicht. Am Tag des Friedensschlusses, dem 13. März 1940, waren sowjetische Einheiten bis ins Zentrum der Stadt vorgedrungen, doch konnten sie den finnischen Widerstand in der Stadt nicht brechen. Den eigentlichen Plan, eine schnelle Eroberung von Viipuri bis zum 7. März, konnten sie nicht erfüllen. Die militärische Situation der Finnen war aber nach dem Durchbruch so prekär, dass sich die finnische Regierung mehr und mehr gezwungen sah, Friedensverhandlungen aufzunehmen.
Unterstützung durch das Ausland
Die öffentliche Meinung bekannte sich in vielen Staaten zur Unterstützung Finnlands. In den Vereinigten Staaten wurden Demonstrationen als Ausdruck der Solidarität mit Finnland gehalten und Benefizkonzerte gegeben. Der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt rief ein „moralisches Embargo“ auf den Handel mit der Sowjetunion aus, so dass der Handel von Januar 1940 bis zum 21. Januar 1941 eingestellt wurde. Die diplomatische Brandmarkung der Sowjetunion durch den Ausschluss aus dem Völkerbund stellte dabei die Spitze der diplomatischen Bemühungen dar. Dies blieb für den Kriegsverlauf aber folgenlos, da die Frage von Sanktionen der Mitgliedsstaaten gegen die UdSSR nicht einmal zur Sprache kam. Die Wirkungskraft des Beschlusses wurde auch dadurch geschwächt, dass die Mehrheit der Mitgliedsstaaten der Sitzung ferngeblieben waren. So wurde der Beschluss nur durch sieben von insgesamt fünfzehn Mitgliedern gefasst. Die Sowjetunion selbst ließ der Ausschluss unbeeindruckt. Sie war dem Völkerbund erst 1934 in erster Linie mit dem Ziel beigetreten, sich vor dem erstarkenden Deutschland zu schützen; dieser Zweck war jedoch mit dem Hitler-Stalin-Pakt scheinbar obsolet geworden. Für den Niedergang des politischen Einflusses des Völkerbunds war die Entscheidung bezüglich des Krieges nicht maßgeblich: Er war durch den Mitgliederschwund in den dreißiger Jahren, unter anderem den Austritt Deutschlands, Japans und Italiens, bereits entscheidend geschwächt. Im Hinblick auf das Versagen des Völkerbundes, die aggressive Politik dieser drei Staaten einzudämmen, konnte das Vorgehen gegen die Sowjetunion sein Prestige auch nicht wiederherstellen.
Zahlreiche Nationen unterstützten Finnland aber in gewissem Maß materiell. Der größte Beitrag wurde hierbei von Schweden geleistet. Zwar konnte Finnland die schwedische Regierung, die auf der Neutralität bestand, nicht zu einem aktiven Eingreifen in den Krieg bewegen, jedoch gestattete Schweden es, dass 8000 schwedische Freiwillige in der finnischen Armee dienten. Diese Einheiten griffen zum Ende des Krieges in die Gefechte ein. 33 schwedische Staatsangehörige fanden dabei den Tod, 185 wurden verletzt. Insbesondere ein Kontingent an schwedischen Piloten erwies sich für die finnischen Streitkräfte als besonders wertvoll. Entscheidender war aber die Lieferung von Waffen und Ausrüstung: Das Nachbarland lieferte an die Finnen unter anderem 77.000 Gewehre, große Mengen an Munition und auch Flugabwehrgeschütze.
Andere Kontingente umfassten 1000 Dänen und 800 Norweger, 230 US-Amerikaner und 150 Italiener. Diese Einheiten kamen aber zu spät in Finnland an, als dass sie noch an den Kämpfen beteiligt gewesen wären. Ungarn stellte noch eine vergleichsweise große Zahl von 5000 Mann in Aussicht, aber davon kamen nur 450 vor dem Friedensschluss in Finnland an und auch sie kamen nicht mehr zum Einsatz. Die Vereinigten Staaten stellten Finnland darüber hinaus einen Kredit von zehn Millionen US-Dollar zur Verfügung. Sie weigerten sich allerdings unter Berufung auf die Cash-and-carry-Klausel, direkt Waffen nach Finnland zu liefern. Die finnische Regierung konnte aber über den Ankauf von Nahrungsmitteln das Geld für Waffenkäufe einsetzen. Auch diese Lieferungen trafen nicht mehr vor Kriegsende an der Front ein.
Ebenso wurde die finnische Luftwaffe durch Flugzeuge aus dem Ausland verstärkt. Die bedeutendste Lieferung kam aus Frankreich in Form von 30 Morane-Saulnier-MS.406-Jagdflugzeugen. Das Vereinigte Königreich schickte 30 veraltete Gloster-Gladiator-Doppeldecker. Italien stellte 17 moderne Bomber des Typs Fiat BR.20 zur Verfügung. Diese Lieferungen stockten die kleine finnische Luftwaffe zwar auf, sie blieben aber in ihrer Wirkung marginal und änderten wenig an der materiellen Überlegenheit der sowjetischen Luftwaffe. Die Mehrzahl der 800 verlorenen Flugzeuge der sowjetischen Streitkräfte wurde durch finnische Flugabwehrgeschütze abgeschossen.
Die französischen Materiallieferungen begannen am 20. Dezember 1939. Am 19. März 1940 sprach Édouard Daladier in der französischen Abgeordnetenkammer von 175 Flugzeugen, 430 Kanonen, 700.000 Granaten, 5.000 MG und 20 Millionen Stück Gewehrmunition die geliefert wurden. Es gibt Historiker, die diese für die öffentliche Meinung bestimmten Angaben für übertrieben halten.
Große Hoffnungen setzte die finnische Seite in den Erhalt unmittelbarer militärischer Unterstützung aus Westeuropa. Frankreich und Großbritannien signalisierten bereits am 19. Dezember 1939 die Möglichkeit, starke Hilfsverbände nach Finnland zu entsenden. Die Bedeutung und die Verfügbarkeit solcher Hilfe blieb für Finnland jedoch beständig im Dunkeln. Schweden und Norwegen hatten sehr deutlich gemacht, dass sie den Durchmarsch fremder Armeen nicht erlauben würden. Es hätte außerdem rund drei Monate gedauert, die Truppen über Norwegen und Schweden heranzubringen und die notwendige Infrastruktur für ihre Versorgung aufzubauen. Die Westalliierten hatten ein erkennbares Interesse an der Fortsetzung der Kriegsaktivitäten im Norden. Durch eine Intervention in Skandinavien erhofften sie sich, den militärischen Druck auf den Kriegsgegner Deutschland zu erhöhen. Besonders verlockend erschien ein mögliches Abschneiden der Erzgebiete im nordschwedischen Kiruna von den deutschen Nachschubwegen. Als der französische Außenminister Édouard Daladier den Finnen im Februar 1940 ein Expeditionskorps von 50.000 Soldaten versprach, fasste der britische General Henry Royds Pownall diese Offerten wie folgt zusammen:
Am 3. März 1940 stellte die britische Regierung den Finnen eine Eingreiftruppe von rund 12.500 Mann in Aussicht, die aber bestenfalls erst im April hätte ankommen können. Die finnische Regierung fühlte sich durch das dauernde Taktieren getäuscht und verlor auch vor dem Hintergrund der Ereignisse in der Tschechoslowakei und in Polen das Vertrauen in ein Eingreifen der Westmächte. Schließlich stellte sich die militärische Lage Anfang März für Finnland bereits so dramatisch dar, dass westliche Hilfe nach Einschätzung des finnischen Oberkommandos jedenfalls zu spät gekommen wäre.
Der finnische Militärhistoriker Pasi Tuunainen geht hingegen davon aus, dass der drohende Einsatz eines britisch-französischen Korps der entscheidende Beweggrund für Stalin war, sich auf Friedensverhandlungen einzulassen. Eine Rolle habe auch die bevorstehende Schlammsaison gespielt, in der sowohl das sowjetische Korps bei Wyborg als auch die Invasionsstreitmacht insgesamt hätte abgeschnitten werden können.
Der Weg zum Frieden
Nachdem die Vorkriegsverhandlungen abgebrochen worden waren, bestanden zwischen den beiden kriegführenden Staaten keine offiziellen diplomatischen Verbindungen mehr. Die finnische Regierung war hinsichtlich der Notwendigkeit eines schnellen Friedensschlusses gespalten. Die Siege an der nördlichen Front und das Halten der Mannerheim-Linie verführten weite Teile der Politik, des Militärs und der Medien zu der Vorstellung, der Krieg sei zu gewinnen. Eine treibende Kraft hinter den Friedensbemühungen war der ehemalige Chefunterhändler Juho Kusti Paasikivi, der sich keinen Illusionen hingab:
Am 10. Januar öffnete die finnische Regierung unter Ministerpräsident Risto Ryti über die sowjetische Botschafterin in Stockholm, Alexandra Kollontai, einen ersten Kanal zu sowjetischen Stellen. Ende des Monats signalisierte Moskau die Bereitschaft, mit der Regierung Rytis einen Frieden zu schließen. Damit wurde gleichzeitig die von Moskau installierte Gegenregierung unter Kuusinen fallengelassen. Am 12. Februar erhielt die finnische Seite erstmals Kenntnis von den von der sowjetischen Regierung aufgestellten Bedingungen. Sie beinhalteten Gebietsabtretungen, die deutlich über die von den Finnen vor dem Krieg abgelehnten Forderungen hinausgingen. Zwar wurden die Bedingungen zunächst mit Bestürzung aufgenommen, jedoch zwang die sich rasch verschlechternde militärische Lage zum Handeln. Am 28. Februar beriet Ryti mit Mannerheim, der feststellte, der Frieden müsse sehr bald, zur Not auch unter harten Bedingungen, geschlossen werden.
Am 8. März traf eine offizielle finnische Delegation unter Führung von Ryti und Paasikivi in Moskau ein. Auf sowjetischer Seite führte Molotow die Gespräche, Stalin selbst nahm an ihnen nicht teil. Zu Zugeständnissen zeigte sich die sowjetische Seite nicht bereit, stattdessen wurden noch einmal leicht verschärfte Bedingungen gestellt. Die finnische Seite zögerte noch, jedoch teilte die militärische Führung am 9. März mit, dass die Stärke der erschöpften Bataillone an der Landenge meist kaum noch 250 Mann betrug und an der Front der völlige Zusammenbruch drohte. Dieser Situationsbericht gab den Ausschlag. Am 13. März unterzeichnete die Delegation den Friedensvertrag von Moskau, der am selben Tag um 12:00 Uhr die Kampfhandlungen zwischen beiden Staaten beendete.
Folgen
Gebietsabtretungen
Durch den Friedensvertrag verlor Finnland große Teile Kareliens, darunter die gesamte Landenge und große Gebiete nördlich des Ladogasees. Die neue finnische Südostgrenze folgte im Wesentlichen der Grenze des Friedens von Nystad von 1721. Es handelte sich bei dem abgetretenen Gebiet also weitgehend um dieselben Gebiete, die 1721 von Schweden an Russland abgetreten und 1812 als Teil des sogenannten Altfinnlands durch Zar Alexander I. wieder an das Großfürstentum Finnland angegliedert worden waren. Die abgetretenen Gebiete waren deutlich größer als die ursprünglich von der Sowjetunion vor dem Krieg geforderten.
Die finnische Wirtschaft und Gesellschaft wurden durch diesen Verlust hart getroffen. Rund 420.000 Finnen flohen aus den verlorenen Gebieten und mussten von staatlicher Seite bei einer Neuansiedlung unterstützt werden. Mit den abgetretenen Gebieten verlor das Land rund zehn Prozent seiner Agrarwirtschaft und Industrie.
Weiterhin abgetreten werden mussten zahlreiche strategisch wichtige Inseln im Finnischen Meerbusen sowie die Fischerhalbinsel am Nordmeer. Hanko in Südwestfinnland wurde für dreißig Jahre an die Sowjetunion als Flottenstützpunkt verpachtet. Außerdem musste Finnland sich bereit erklären, eine Eisenbahnverbindung zwischen der schwedischen Grenze bei Tornio und Murmansk zu bauen und zu betreiben. Ein militärisches Bündnis verlangten die sowjetischen Unterhändler im Gegensatz zu 1939 nicht mehr. Damit war die ursprünglich beabsichtigte militärische und gegebenenfalls auch politische Integration der Finnen in das kommunistische System gegenstandslos geworden.
Der Friedensvertrag löste in der finnischen Bevölkerung und weiten politischen Kreisen, die nicht im Detail über die verheerende militärische Lage informiert gewesen waren, Entsetzen aus. Am 13. März wurde im ganzen Land Trauerbeflaggung gehisst. Der finnische Präsident Kyösti Kallio erklärte, unmittelbar nachdem er die Ratifizierung des Friedensvertrages unterzeichnet und damit in Kraft gesetzt hatte, verbittert:
Die Sowjetunion integrierte die abgetretenen Gebiete in die neugegründete Karelo-Finnische SSR, deren Vorsitz der einstige Chef der kommunistischen Gegenregierung Kuusinen übernahm. Die Annexionen verstärkten die sowjetische Verteidigungsposition gegenüber Finnland und gegenüber Seeangriffen aus der Ostsee. Als Deutschland im Juni 1941 die Sowjetunion angriff, erfolgte der deutsche Hauptstoß von Westen und nicht über Skandinavien, so dass die Annexionen aus der militärischen Perspektive keinen Vorteil für die Verteidigung der Sowjetunion bedeuteten.
Kriegsopfer
Die Verluste der Roten Armee wurden in den offiziellen Zahlen nach dem Krieg mit rund 48.000 Toten und rund 159.000 Verwundeten und Kranken angegeben. Diese Zahlen sind sowohl in der westlichen wie in der russischen Literatur umstritten. Russische Quellen gehen heute von rund 127.000 Toten und Vermissten sowie 265.000 Verwundeten und Kranken aus. Finnische Historiker nehmen noch höhere Zahlen an: rund 230.000–270.000 Tote und 200.000–300.000 Verwundete und Kranke, ein großer Teil davon durch Erfrierungen und mangelnde Versorgung mit Kleidung und Nahrungsmitteln. Ungewiss ist das Schicksal von rund 5.000 repatriierten sowjetischen Kriegsgefangenen. In westlichen Quellen wird der Verdacht geäußert, sie seien nach dem Kriege größtenteils in Lagern des NKWD ermordet worden.
Ein sowjetischer Offizier äußerte sich über das Kampfgebiet in Karelien nach dem Krieg:
Die Verluste der finnischen Streitkräfte wurden von finnischer Seite nach dem Krieg mit rund 25.000 Toten und rund 43.500 Verwundeten angegeben. Die Führung der Roten Armee gab an, die Finnen hätten zwischen 60.000 und 85.000 Todesopfer und 250.000 Verwundete zu beklagen. Die finnische Geschichtswissenschaft zählt heute 26.662 gefallene Soldaten. Die sowjetischen Bombenangriffe auf zivile Ziele forderten rund 900 Todesopfer und rund 1.800 Verwundete unter der Zivilbevölkerung. Die wirtschaftlichen Schäden durch die Luftoffensive behinderten aber die Kriegsanstrengungen der finnischen Seite nur marginal.
Reform der sowjetischen Streitkräfte
Infolge der geringen Leistung und hohen Verluste der Roten Armee wurde deren Ruf bei den Großmächten desavouiert, infolgedessen wurde sie unterschätzt. Ein interner Bericht der deutschen Wehrmacht konstatierte, dass die sowjetischen Streitkräfte gegen eine moderne und gut geführte Armee chancenlos seien. Es wird angenommen, dass diese Umstände die Bereitschaft Hitlers zum Angriff auf die UdSSR weiter steigerten. Auch im westlichen Lager litt der Ruf der Roten Armee. Als die Sowjetunion 1941 von Deutschland überfallen wurde, schätzte der US-General George C. Marshall in einem Bericht an den Präsidenten Roosevelt, die Sowjetunion werde binnen drei Monaten zusammenbrechen. Britische Schätzungen aus dieser Zeit sprachen sogar von nur zwei Monaten.
Die sowjetische Militärführung reagierte auf den Krieg mit Versuchen, die Leistungsfähigkeit der Armee zu erhöhen. Es kam auch zu einem personellen Wechsel an der Spitze, als Stalin Woroschilow als Volkskommissar für Verteidigung durch Timoschenko ersetzte. In diesem Zuge wurden die letzten Überbleibsel der Idee einer sozialistischen Armee getilgt und der Schaffung der Disziplin durch Drill und autoritäre Führung mehr Raum gegeben. Um das Offizierskorps weiter zu stärken, wurde der Einfluss der Politoffiziere zurückgefahren und ein neues Beförderungssystem eingeführt, das Leistung mehr entlohnen sollte. Die Autorität der Offiziere im Feld sollte in den neuen Dienstvorschriften durch größere Privilegien wie einen eigenen Unterstand und bessere Kost gegenüber den Mannschaften gestärkt werden. Die Offiziere erhielten außerdem das Recht, über ihre Untergebenen selbstständig Strafmaßnahmen zu verhängen. Um die Autorität der Truppenführer noch weiter zu stärken, führte die Rote Armee nach dem Winterkrieg Generals- und Admiralsränge ein.
Im Bereich von Strategie und Taktik sprachen sich Stalin und sein neuer Volkskommissar für eine Abkehr vom Bewegungskrieg des Russischen Bürgerkriegs aus und proklamierten eine eher statische Kriegsführung. Stalin war trotz der Fortschritte der kombinierten Waffen und des deutschen „Blitzkriegs“ davon überzeugt, dass ein kommender Krieg zwischen den Großmächten sich als Stellungskrieg abspielen werde. Ob der Winterkrieg die Kampffähigkeit der Roten Armee bis zum Angriff der deutschen Armee insgesamt durch die Reformen gestärkt oder durch die Verluste geschwächt hat, ist unter Historikern bisher umstritten.
Auswirkungen in Finnland
Nach dem Krieg hatte Finnland mit massiven Problemen zu kämpfen. Die Flüchtlingsströme aus den abgetretenen Gebieten führten zu inneren Spannungen und wirtschaftlichen Engpässen. Die durch Waffenkäufe und Kredite gestiegene Auslandsverschuldung hatte einen negativen Effekt auf den finnischen Staatshaushalt und dessen Möglichkeiten, die Krise zu kompensieren. Die territorialen Verluste verschlimmerten auch die militärische Lage. Eine Verteidigung des Landes gegen einen neuerlichen sowjetischen Angriff wäre weitaus schwieriger geworden. Infolgedessen leitete die finnische Regierung eine Politik der Aufrüstung ein. Die Armee wurde auf 400.000 Mann in etwa verdoppelt und auf eine schnellere Mobilisierung und höhere Bereitschaft ausgelegt.
Andererseits half das Erlebnis der gemeinsamen Bedrohung und das während des Krieges immer wieder beschworene Thema der nationalen Einheit, die inneren Zerwürfnisse infolge des Bürgerkrieges von 1918 zu überwinden. Die Verwundbarkeit des Landes war den Finnen ebenso deutlich vor Augen geführt worden wie die Tatsache, dass Finnland sich gegen einen sowjetischen Angriff nicht dauerhaft allein verteidigen konnte. Die diplomatischen Geplänkel um eine alliierte Intervention waren nicht geeignet, Vertrauen in eine Zusammenarbeit mit den Westmächten zu schaffen. So versuchten die Finnen, sich einerseits in Skandinavien Verbündete zu suchen und sich andererseits wieder an Deutschland anzunähern. Ersteres wurde nach der Intervention deutscher Truppen in Skandinavien („Unternehmen Weserübung“) mit der Besetzung Dänemarks und Norwegens unmöglich. Die Zusammenarbeit mit Deutschland wurde dagegen schon bald Realität und mündete im Juni 1941 in der Beteiligung Finnlands am deutschen Angriff auf die Sowjetunion und dem Beginn des finnisch-sowjetischen Fortsetzungskrieges.
Bewertungen
Der Winterkrieg hat in der Geschichtsschreibung zwei vollkommen gegensätzliche Bewertungen erfahren. In der Sowjetunion und den mit ihr verbündeten Staaten wurde das sowjetische Vorgehen als legitime Wahrnehmung der geostrategischen Interessen und als Sicherung der militärstrategischen Lage Leningrads betrachtet. Leningrad, das nur 50 Kilometer von der alten finnischen Grenze entfernt lag, sei einem Angriff von finnischem Boden aus schutzlos ausgeliefert gewesen. Finnland habe unter dem Einfluss sowohl der westlichen Mächte als auch des nationalsozialistischen deutschen Imperialismus gestanden und hätte daher einen wichtigen Aufmarschraum im Falle eines Krieges gegen die Sowjetunion dargestellt. Nach dieser Bewertung hätte der Krieg durch angemessene Zugeständnisse der finnischen Regierung vermieden werden können. Auch finnische Historiker mit prosowjetischer Einstellung haben sich in der Nachkriegszeit dieser Bewertung angeschlossen.
Die finnische und westliche Geschichtsschreibung hält den Angriff der Sowjetunion dagegen für den Ausdruck einer imperialistischen Politik Stalins und Molotows. Ein Einlenken in den Verhandlungen des Herbstes 1939 hätte nach dieser Ansicht die Stellung Finnlands entscheidend geschwächt und das Land neuen Gefahren ausgesetzt. Hier wird insbesondere darauf verwiesen, dass, nachdem der Krieg begonnen hatte, Stalin nachweislich zunächst das Ziel der vollständigen Besetzung Finnlands verfolgt habe.
Literatur
Richard W. Condon: Winterkrieg Russland–Finnland. Moewig-Verlag, München 1980, ISBN 3-8118-4302-8.
Max Jakobson: The Diplomacy of the Winter War: An Account of the Russo-Finnish War, 1939–1940. Cambridge 1961.
Allan Sandström: Krieg unter der Mitternachtssonne – Finnlands Freiheitskampf 1939–1945. Leopold Stocker Verlag, Graz 1996, ISBN 3-7020-0747-4.
William R. Trotter: A Frozen Hell. Algonquin Books, Chapell Hill 1991, ISBN 978-0-945575-22-1.
Anthony Upton: Finland 1939–40. Newark 1974.
Carl van Dyke: The Soviet Invasion of Finland 1939–40. Frank Cass Publishers, London, Portland 1997, ISBN 0-7146-4753-5.
Pentti Virrankoski: Suomen historia 2. SKS, Helsinki 2001, ISBN 951-746-342-1.
Weblinks
Webseite des Finnischen Verteidigungsministeriums zum Winterkrieg (englisch)
Die Sonderstellung Finnlands während des Zweiten Weltkriegs (eKritik.de, archivierte Version)
Einzelnachweise
Finnische Militärgeschichte
Sowjetische Militärgeschichte
Krieg (20. Jahrhundert)
Krieg (Europa)
Konflikt 1939
Konflikt 1940
Finnisch-sowjetische Beziehungen |
51907 | https://de.wikipedia.org/wiki/Boethius | Boethius | Anicius Manlius Severinus Boethius ([], auch Boëthius geschrieben; * um 480/485; † im Zeitraum von 524 bis 526 entweder in Pavia oder in Calvenzano in der heutigen Provinz Bergamo) war ein spätantiker römischer Gelehrter, Politiker, neuplatonischer Philosoph und Theologe. Seine Tätigkeit fiel in die Zeit der Herrschaft des Ostgotenkönigs Theoderich, unter dem er hohe Ämter bekleidete. Er geriet in den Verdacht, eine gegen die Ostgotenherrschaft gerichtete Verschwörung von Anhängern des oströmischen Kaisers zu begünstigen. Daher wurde er verhaftet, als Hochverräter verurteilt und hingerichtet.
Boethius bemühte sich, ein ehrgeiziges Bildungsprogramm zu verwirklichen. Er beabsichtigte, sämtliche Werke Platons und des Aristoteles als Grundtexte der griechischen philosophischen und wissenschaftlichen Literatur in lateinischer Übersetzung zugänglich zu machen und zu kommentieren. Daneben verfasste er Lehrbücher. Damit wollte er den Kernbestand der überlieferten Bildungsgüter für die Zukunft sichern, da die Griechischkenntnisse im lateinischsprachigen Westen Europas stark abgenommen hatten. Überdies hatte er vor, anschließend die Übereinstimmung zwischen Platon und Aristoteles aufzuzeigen, die er gemäß der damals vorherrschenden Auffassung annahm. Wegen seines vorzeitigen Todes blieb das gewaltige Vorhaben zwar unvollendet, doch wurde er zum wichtigsten Vermittler der griechischen Logik, Mathematik und Musiktheorie an die lateinischsprachige Welt des Mittelalters bis ins 12. Jahrhundert. Die stärkste Nachwirkung erzielte seine während der Haftzeit entstandene Schrift Consolatio philosophiae („Der Trost der Philosophie“), in der er seine Vorstellungen zur Ethik und Metaphysik darlegte. Außerdem verfasste er theologische Traktate.
Leben
Herkunft, Jugend und Aufstieg
Die vier Namen des Boethius und ihre Reihenfolge sind gut bezeugt. Der angebliche weitere Name Torquatus ist nicht authentisch. Mütterlicherseits entstammte Boethius, wie sein Name Anicius zeigt, dem seit dem 4. Jahrhundert christlichen Geschlecht der Anicier, das in der Spätantike zu den einflussreichsten Senatorenfamilien zählte.
Wahrscheinlich wurde Boethius in den frühen achtziger Jahren des 5. Jahrhunderts geboren; ein abweichender Datierungsvorschlag (zwischen 475 und 477) hat sich nicht durchgesetzt. Der Geburtsort ist unbekannt; die Vermutung, dass es Rom ist, entbehrt einer guten Begründung. Sein Großvater (oder Urgroßvater?) war unter Valentinian III. Prätorianerpräfekt gewesen und wurde im September 454 im Zusammenhang mit dem Mord an Flavius Aëtius getötet. Sein Vater Manlius Boethius wurde später ebenfalls Prätorianerpräfekt, Stadtpräfekt von Rom und im Jahre 487 Konsul ohne Kollegen; er muss bald nach seinem Konsulat gestorben sein, denn Boethius ist vaterlos aufgewachsen. Nach dem Tod des Vaters fand Boethius Aufnahme im Haus des Quintus Aurelius Memmius Symmachus, des Konsuls von 485, der dem berühmten senatorischen Geschlecht der Symmachi angehörte und als Philologe und Geschichtsschreiber tätig war.
Boethius erhielt eine vorzügliche Ausbildung. Wegen der damals vielleicht bereits begrenzten Bildungsmöglichkeiten in Rom wird in der Forschung die Vermutung erörtert, dass er sich zu Studienzwecken im Oströmischen Reich aufgehalten hat. Dabei wird Athen als Studienort in Betracht gezogen, doch fehlt es dafür an überzeugenden Anhaltspunkten. Parallelen zwischen Boethius’ Kommentierweise und Argumentation und derjenigen der neuplatonischen Schule von Alexandria sollen alternativ die Vermutung stützen, dass er dort studiert habe, doch ist diese von Pierre Courcelle vorgetragene Hypothese kaum zu belegen, und die Nähe zur alexandrinischen Tradition wird von anderen Forschern bestritten. Nach seiner Studienzeit heiratete Boethius Symmachus’ Tochter Rusticiana. Er verehrte seinen Schwiegervater, der – einer Familientradition folgend – die herkömmliche römische Bildung intensiv pflegte. Schon früh begann Boethius mit der Abfassung seiner wissenschaftlichen Werke und erlangte Ruhm als Gelehrter.
Auch in der Politik spielte Boethius eine wichtige Rolle; er stieg zu höchsten Staatsämtern auf. Spätestens 507 erhielt er den hohen Ehrentitel patricius, 510 war er Konsul ohne Kollegen. Für das Jahr 522 wurden seine beiden Söhne Symmachus und Flavius Boethius, obwohl sie noch nicht erwachsen waren, von König Theoderich zu Konsuln bestimmt. Dies setzt zwingend das Einverständnis des oströmischen Kaisers Justin I. voraus, dem die Besetzung einer der beiden Konsulstellen zustand und der überdies nicht nur den östlichen, sondern auch den westlichen Konsul formal einzusetzen hatte. Boethius hielt anlässlich des Konsulatsantritts seiner Söhne im Senat eine Lobrede auf den Gotenkönig. Im selben Jahr stellte ihn Theoderich an die Spitze der Reichsverwaltung, indem er ihn zum magister officiorum ernannte. Damit erreichte Boethius den Höhepunkt seiner politischen Macht. In seiner eigenen Darstellung erscheint seine Tätigkeit in der öffentlichen Verwaltung als vorbildlich. Er behauptet, sich ausschließlich für das Gemeinwohl aller Guten eingesetzt zu haben; als Kämpfer gegen das Unrecht habe er sich die Feindschaft unredlicher Mächtiger zugezogen. Jedenfalls ist davon auszugehen, dass ihm sein energisches Vorgehen und selbstbewusstes Auftreten einflussreiche Gegner einbrachte.
Sturz und Tod
Wichtige Einzelheiten der Umstände, die zur Amtsenthebung, Verhaftung und Hinrichtung des Boethius führten, sind nicht überliefert, nur aus seiner eigenen Darstellung bekannt oder gehen aus den Quellen nicht eindeutig hervor. Die Hintergründe, die juristische Beurteilung und die politische Einschätzung des Gerichtsverfahrens sind seit langem ein kontrovers diskutiertes Thema der Forschung. Der Hauptfaktor war jedenfalls die Spannung zwischen dem oströmischen Kaisertum und dem in Ravenna residierenden Ostgotenkönig. Dieser Gegensatz spiegelte sich in der Bildung zweier rivalisierender Richtungen unter den politisch aktiven Römern (oder Italikern, wie die romanische Bevölkerung Italiens nach dem Ende des Weströmischen Reichs auch genannt wird).
Vorgeschichte
Theoderich war mit seinen ostgotischen foederati 489 im Auftrag des oströmischen Kaisers Zenon nach Italien gekommen, um dort die Herrschaft Odoakers zu beenden, der 476 das Ende des weströmischen Kaisertums herbeigeführt hatte. Nach Zenons Tod war es zu Konflikten mit seinem Nachfolger Anastasius gekommen, und obwohl dieser 497/8 Theoderichs Machtstellung formell anerkannte, musste der Gote stets einen Versuch der Oströmer befürchten, ihn zu beseitigen und Italien wieder unter ihre direkte Kontrolle zu bringen, denn sie hielten immer am Fortbestand des Römischen Reichs auch im Westen und an ihrem Anspruch auf Oberherrschaft in Italien fest.
Zu dieser machtpolitischen Rivalität kam der religiöse Gegensatz hinzu. Die Römer Italiens waren ebenso wie die Mehrheit der Oströmer Anhänger des Nicäno-Konstantinopolitanums, während sich die Ostgoten zum Arianismus bekannten. Für traditionsbewusste Römer kam außer ihrer politischen Gesinnung und persönlichen Gründen auch ihre religiöse Überzeugung als Motiv für eine Opposition gegen Theoderich in Betracht. Somit konnte am Königshof leicht der Verdacht entstehen, dass diese Kreise eine Vernichtung des Ostgotenreichs durch den Kaiser erhofften und mit ihm konspirierten. Daher befanden sich politisch exponierte Römer, die als kaiserfreundlich galten, in einer potenziell heiklen Lage. Bei einer Zuspitzung des latenten Gegensatzes zwischen den Höfen von Ravenna und Konstantinopel konnten sie in einen Loyalitätskonflikt oder zumindest in den Verdacht mangelnder Loyalität zum König geraten.
Als es 484 zwischen der östlichen und der westlichen Kirche zu einer Spaltung kam (Akakianisches Schisma), führte diese Entfremdung zwischen dem Westen und dem Osten zu einer Verminderung des Konfliktpotenzials zwischen den römischen und den germanischen Untertanen Theoderichs. 498 traten die Bruchlinien aber wieder deutlich hervor, als sich nach einer zwiespältigen Papstwahl der von Theoderich unterstützte Kandidat Symmachus gegen seinen von den Oströmern favorisierten Gegner Laurentius durchsetzen konnte. Im römischen Senat hatten kaiserlich gesinnte Politiker für Laurentius Partei ergriffen. Die ostromfreundliche Richtung bestand vor allem aus Angehörigen alter, konservativer Senatorengeschlechter. Dies war das Milieu, dem die Familie des Boethius und die mit ihr befreundeten und verschwägerten Sippen angehörten.
Nach dem Regierungsantritt des oströmischen Kaisers Justin I. wurde im Jahr 519 das Akakianische Schisma beendet und die Kirchengemeinschaft zwischen Konstantinopel und Rom wiederhergestellt. Damit war Theoderich zunächst einverstanden; er wünschte ein gutes Verhältnis zum Kaiser, auch unter dem Gesichtspunkt der oströmischen Anerkennung für eine Regelung seiner Nachfolge, denn er hatte keinen Sohn und der Fortbestand der Dynastie hing von seiner Tochter Amalasuntha und deren Nachkommen ab. Noch 519 erreichte er, dass der Kaiser seinen Schwiegersohn Eutharich als "Waffensohn" annahm und so als designierten Nachfolger anerkannte. Kirchenpolitisch verstärkte die in diesem Jahr erzielte Einigung jedoch die Isolation der arianischen Ostgoten in Italien, was sich für sie im Fall eines oströmischen Angriffs nachteilig auswirken konnte. Eine wichtige Rolle spielte in der oströmischen Politik schon damals der künftige Nachfolger Justins, Justinian, der dann weniger als ein Jahrzehnt nach Theoderichs Tod tatsächlich die Invasion Italiens beginnen sollte. Von Justinian ging mutmaßlich die Initiative zur Besetzung beider Konsulstellen mit den Söhnen des Boethius im Jahr 522 aus; damit konnte er sich in ostromfreundlichen Senatskreisen Italiens zusätzliche Sympathien verschaffen.
Die Gegner dieser ostromfreundlichen Richtung, die den Sturz des Boethius herbeiführten, waren nicht etwa Goten, sondern progotische Römer. Sie waren dem Gotenkönig ergeben, da sie ihm ihre Karriere verdankten; Theoderich hatte solchen Römern Schlüsselstellungen anvertraut, um ein Gegengewicht zu den kaiserfreundlichen Senatskreisen zu schaffen. Sie hatten von einem Regimewechsel in Italien nichts zu erhoffen und betrachteten das Oströmische Reich als feindliche Macht. Schon im weströmischen Reich des 5. Jahrhunderts war die Spaltung des Senats und des Hofes in zwei verfeindete, miteinander um die Macht ringende Gruppierungen ein typisches Merkmal der politischen Verhältnisse gewesen, sie war nicht erst mit der Errichtung der gotischen Herrschaft eingetreten. Allerdings verschärfte sich die Polarisierung, als sich Theoderichs Verhältnis zu Ostrom in den letzten Jahren seiner Herrschaft verschlechterte.
Ablauf der Ereignisse
Als Eutharich starb (wohl 522 oder 523), schwächte dies die Stellung Theoderichs, der nun keinen erwachsenen Nachfolger mehr hatte, und verstärkte die politische Unruhe. In diese Phase fiel der Beginn der Ereigniskette, die zum Tod des Boethius führte: Ein Parteigänger der königstreuen Römer fing Briefe ab, die der Senator Flavius Albinus iunior an den Kaiser gerichtet hatte. Der Inhalt der Briefe ist unbekannt, doch ist nicht zu bezweifeln, dass er für den Absender kompromittierend war. Vermutlich wurden Themen wie die nun wieder überaus heikle ostgotische Nachfolgefrage aus der Sicht der ostromfreundlichen Senatoren erörtert. Der Ablauf der anschließenden Vorgänge ist umstritten. Einer Interpretation zufolge versuchte Boethius, dem die königliche Verwaltung unterstand, das Beweismaterial zu unterdrücken und so die Angelegenheit zu vertuschen, um Albinus zu decken. Diese Absicht wurde aber von einem seiner Untergebenen, dem referendarius Cyprianus, der auf der Gegenseite stand, vereitelt. Nach einer anderen Deutung hat Boethius das Belastungsmaterial zwar dem König verschwiegen, aber auch nicht versucht, Cyprianus an einer Vorsprache bei Theoderich zu hindern. Jedenfalls legte Cyprianus die Briefe dem König, der sich zu dieser Zeit in Verona aufhielt, vor. Die ostromfeindlichen Kreise am Hof sahen darin Belege für hochverräterische Beziehungen des Albinus und seiner Gesinnungsgenossen zum Kaiser. Der König ließ Albinus verhaften. Nun solidarisierte sich Boethius öffentlich vor dem König mit dem Beschuldigten, indem er erklärte, wenn Albinus etwas getan haben sollte, dann hätten er – Boethius – und der ganze Senat es ebenfalls getan. Damit aber hatte Boethius die Lage und seinen Einfluss falsch eingeschätzt. Cyprianus sah sich gezwungen, auch Boethius in die Anklage einzubeziehen, schon um seine eigene Stellung nicht zu gefährden. Boethius verlor seine Stellung am Hof und wurde in Verona unter Hausarrest gestellt.
Der König ließ die Vorgänge in Abwesenheit des Boethius untersuchen. Dabei wurde der Angeklagte durch die Aussagen mehrerer seiner Untergebenen belastet. Außerdem wurden Briefe vorgelegt, in denen er sich für die Freiheit Roms – also gegen die gotische Herrschaft – aussprach; nach seiner Darstellung handelte es sich um Fälschungen. Der Senat lehnte es ab, offiziell zu seinen Gunsten Stellung zu nehmen; nur eine kleine Gruppe von Freunden, darunter sein Schwiegervater, trat für ihn ein. Er wurde nach Pavia gebracht, wohl weil er unter seinen Standesgenossen in Rom noch einigen Rückhalt hatte, während Norditalien eine Hochburg seiner Gegner war. Für ein gewöhnliches Hochverratsverfahren wäre das Gericht des Königs unter dessen Vorsitz zuständig gewesen. Theoderich zog es aber angesichts des hohen Ranges des Angeklagten vor, den Fall dem Senatsgericht zu übergeben, das für Kapitalprozesse gegen Senatoren zuständig war. Den Vorsitz in diesem Standesgericht aus fünf Senatoren (iudicium quinquevirale) hatte der Stadtpräfekt Eusebius. Der Ostgotenkönig ließ vermutlich keinen Zweifel daran, dass er einen Schuldspruch wünschte, hielt sich aber offiziell zurück. Das Gericht verurteilte Boethius in Abwesenheit zum Tode und ordnete die Konfiskation seiner Güter an.
Die Chronologie ist umstritten. Nach der traditionellen Datierung, die weiterhin Befürworter hat, wurde Boethius bereits 523 verhaftet und 524 oder spätestens 525 hingerichtet. Manche Forscher folgen aber einem abweichenden Ansatz, den Charles H. Coster vorgeschlagen hat, wonach die Verhaftung 525 und die Vollstreckung des Todesurteils erst 526, kurz vor Theoderichs Tod, erfolgte. Die Hinrichtung wurde standesgemäß mit dem Schwert vollzogen, entweder in Pavia (was wahrscheinlicher ist) oder in Calvenzano östlich von Mailand (Provinz Bergamo). Der Sarkophag befindet sich in der Kirche San Pietro in Ciel d’Oro (Pavia). Bei der vom Anonymus Valesianus überlieferten Behauptung, Boethius sei erst gefoltert und dann mit einem Knüppel erschlagen worden, handelt es sich um eine Erfindung; sie stammt aus einer unbekannten Schrift eines Gegners Theoderichs, auf die sich der Anonymus im zweiten Teil seiner Darstellung der Regierungszeit des Königs stützt. Auch Symmachus, der Schwiegervater des Boethius, wurde hingerichtet.
Der Sturz des Boethius führte zu einem Umschwung in Theoderichs Personalpolitik; am Hof wurde der Ankläger Cyprianus zum Leiter der Finanzverwaltung befördert. An die Spitze der Reichsverwaltung berief der König Cassiodor, der wie Boethius ein bedeutender römischer Gelehrter, aber politisch unverdächtig war.
Später gab Theoderichs Tochter Amalasuntha, die nach dem Tod ihres Vaters die Regentschaft übernommen hatte, der Familie des Boethius das konfiszierte Vermögen zurück. Nach der oströmischen Invasion Italiens soll Boethius’ Witwe Rusticiana dafür gesorgt haben, dass die oströmischen Feldherren die bildlichen Darstellungen Theoderichs beseitigten.
Werke
Sein überliefertes Werk besteht aus den Schriften seines Bildungsprogramms (Übersetzungen, Kommentare und Lehrbücher), der Consolatio philosophiae und theologischen Traktaten. Einige Werke, darunter die Gedichte, die er in seiner Jugend verfasste, sind heute verloren.
In den wissenschaftlichen Werken schreibt Boethius anfangs ein klassisches, am Vorbild Ciceros orientiertes Latein, später entscheidet er sich für einen technischen Stil und verwendet die spätlateinische philosophische Terminologie seiner Zeit, wobei er auch neue Begriffe einführt. Als Übersetzer hält er sich an den Grundsatz einer genauen, wörtlichen Wiedergabe. In der Consolatio philosophiae entspricht seine Ausdrucksweise meist dem klassischen Sprachgebrauch, zeigt aber auch Merkmale des Spätlateins.
Logik
Übersetzungen
Die Übersetzung der Isagoge des Porphyrios.
Die Übersetzung der Kategorien des Aristoteles in zwei Fassungen, die beide vom Autor stammen und beide nur etwa zwei Drittel des griechischen Textes wiedergeben.
Die Übersetzung von Aristoteles’ Schrift De interpretatione. Die handschriftliche Überlieferung lässt erkennen, dass Boethius die erste Fassung dieser Übersetzung später überarbeitet hat.
Die Übersetzung von Aristoteles’ Analytica priora, von der zwei Fassungen vorliegen, eine Rohfassung und eine geglättete Überarbeitung, die auch ein Bemühen um größere Genauigkeit erkennen lässt. Die Überlieferung ist anonym, aber die Verfasserschaft des Boethius konnte durch eine terminologische Analyse gezeigt werden.
Die Übersetzung von Aristoteles’ Analytica posteriora, die Boethius erwähnt, ist nicht erhalten bzw. nicht identifiziert.
Die Übersetzung von Aristoteles’ Topik, ein sorgfältig ausgearbeitetes Spätwerk, das in zwei Versionen überliefert ist.
Die Übersetzung der Sophistici elenchi des Aristoteles, ein Spätwerk. Die Autorschaft des Boethius ist nirgends bezeugt, sie ist durch eine philologische Analyse erschlossen worden.
Die Übersetzung der Elemente Euklids wird von Cassiodor im Jahr 507 erwähnt, gehört also zu den frühen Werken. Sie ist bis auf Fragmente verloren. Möglicherweise ist sie mit Boethius’ Geometrie-Lehrbuch zu identifizieren. Menso Folkerts hat die vermutlich aus ihr stammenden lateinischen Euklid-Exzerpte herausgegeben.
Kommentare
Zwei Kommentare zur Isagoge des Porphyrios. Bei der Abfassung des ersten Kommentars ging Boethius von der lateinischen Übersetzung der Isagoge aus, die Marius Victorinus im 4. Jahrhundert angefertigt hatte. Nach der Erstellung seiner eigenen Übersetzung schrieb er den zweiten Kommentar. Als Vorlage diente ihm ein unbekannter griechischer Kommentar, der teilweise Übereinstimmungen mit dem des Neuplatonikers Ammonios Hermeiou aufwies.
Zwei Kommentare zu den Kategorien des Aristoteles. Einer von ihnen ist erhalten; er fußt hauptsächlich auf der Kategorien-Kommentierung des Porphyrios. Der andere ist nur anonym und fragmentarisch überliefert.
Zwei Kommentare zu Aristoteles’ Schrift De interpretatione. Der erste Kommentar in zwei Büchern entstand frühestens 513, der zweite in sechs Büchern um 515/516. Während der erste Kommentar eine allgemeine Einführung bietet, soll der zweite ein vertieftes Verständnis ermöglichen. Zu den behandelten Themen gehört die von Aristoteles erörterte Frage, ob alle künftigen Ereignisse aus einem rein logischen Grund determiniert sind (logischer Determinismus). Mit diesem Problem setzt sich Boethius intensiv auseinander.
Ein Kommentar oder Kommentarentwurf zu Aristoteles’ Analytica priora, der in Gestalt von anonym überlieferten Scholien erhalten ist; die Zuschreibung der Scholien an Boethius ist nicht gesichert, aber wahrscheinlich.
Ein Kommentar zu Ciceros Topica in sieben Büchern; davon sind nur die ersten fünf Bücher und ein Teil des sechsten erhalten. Das umfangreiche Werk ist zugleich eine Einführung in die Topik.
Ein heute verlorener Kommentar zu Aristoteles’ Topik.
Möglicherweise ein heute verlorener Kommentar zu den Sophistici elenchi.
Lehrschriften
De syllogismo categorico („Über den kategorischen Syllogismus“) lautet der gängige, aber nicht vom Autor stammende Titel einer Abhandlung in zwei Büchern, die vermutlich zu den Frühwerken des Boethius gehört. Das erste Buch führt in die Lehre vom Urteil ein, das zweite stellt die Systematik der Syllogismen nach Aristoteles zusammenfassend dar. Als kategorisch werden Syllogismen bezeichnet, deren Prämissen ausschließlich kategorische Aussagen sind. Boethius geht hier von den einschlägigen Ausführungen des Porphyrios aus.
Die Introductio ad syllogismos categoricos („Einführung in die kategorischen Syllogismen“), auch mit dem handschriftlich überlieferten Titel Antepraedicamenta bezeichnet, stellt die Lehre vom Urteil dar. Diese Schrift kann als eine unvollständige Überarbeitung von De syllogismo categorico betrachtet werden, denn der behandelte Stoff ist der des ersten Buches der älteren Abhandlung.
De divisione („Über das Einteilen“) behandelt die verschiedenen Arten der Einteilung, darunter die Einteilung von Gattungen in Arten und von Wörtern in Bedeutungen. Boethius gibt dazu an, die Grundlage seien einschlägige Ausführungen des Porphyrios.
De hypotheticis syllogismis in drei Büchern behandelt das hypothetische Schließen. Als hypothetisch werden Schlüsse bezeichnet, bei denen mindestens eine Prämisse keine kategorische Aussage ist, sondern eine hypothetische. Boethius klassifiziert die Arten der hypothetischen Aussagen und Schlüsse. Das erste Buch scheint eine Kompilation aus verschiedenen Quellen zu sein. Eine griechische Hauptvorlage ist verloren.
De topicis differentiis („Über die topischen Differenzen“) in vier Büchern, eine Klassifizierung der „Örter“ (tópoi) in der Topik. Unter einem Ort wird der „Sitz“ eines Arguments verstanden, also dasjenige, dem ein zu einer gestellten Frage passendes Argument entnommen wird. Ein solcher Ort kann beispielsweise die Definition eines Begriffs sein, dann spricht man von einem „Ort aus der Definition“, oder eine Wirkursache. Die Kenntnis der Örter soll beim Finden von Argumenten helfen. Die konzise Darstellung des Boethius ist keine Einführung für Anfänger, sondern setzt beim Leser Vorkenntnisse voraus.
Lehrbücher der Mathematik, Naturwissenschaft und Musik
Boethius verfasste Lehrbücher aller vier Fächer des Quadriviums (Arithmetik, Musik, Geometrie und Astronomie), von denen die zur Arithmetik und zur Musik erhalten sind. Das Studium dieser Fächer wurde als Propädeutik für die Philosophie betrachtet.
De institutione arithmetica („Einführung in die Zahlenlehre“) ist, wie Boethius in der Vorrede mitteilt, sein erstes Werk; es wurde vor 507 vollendet. Er widmete es seinem Schwiegervater Symmachus. Die Arithmetik bildet das Thema seines ersten Lehrbuchs, weil sie das Fach war, mit dem jede philosophische Ausbildung zu beginnen hatte. Es handelt sich um eine teils verkürzende, teils erweiternde Bearbeitung der „Einführung in die Arithmetik“ des Mittelplatonikers Nikomachos von Gerasa. In De institutione arithmetica findet sich erstmals der Begriff quadruvium („vierfacher Weg“) zur Bezeichnung der vier „mathematischen“ Fächer (quattuor matheseos disciplinae); die Einteilung der Sieben Freien Künste in das Trivium und das Quadrivium wurde später für den mittelalterlichen Unterrichtsbetrieb maßgeblich. Gemäß der neuplatonischen Zahlenlehre betrachtet Boethius eine Zahl nicht als etwas rein Quantitatives, sondern fragt nach ihren Eigenschaften, die ihr eine Binnenstruktur und damit eine bestimmte Beschaffenheit verleihen.
De institutione musica („Einführung in die Musik“), ein Lehrbuch der Musiktheorie, ist in fünf Büchern unvollständig überliefert. Von den dreißig angekündigten Kapiteln des fünften Buches sind nur die ersten achtzehn und ein Teil des neunzehnten erhalten; vermutlich existierten ursprünglich noch ein sechstes und siebtes Buch oder waren zumindest geplant. Die Hauptquellen, die Boethius heranzog, waren musiktheoretische Schriften des Nikomachos von Gerasa und des Ptolemaios.
Boethius unterscheidet drei Musikarten: die hörbare Musik (musica instrumentalis), die „in bestimmten Instrumenten eingerichtet ist“, die „menschliche“ Musik (musica humana), womit er die „musikalische“ Harmonie in Seele und Körper des Menschen meint, und die „Weltmusik“ (musica mundana), worunter er die von den Himmelskörpern erzeugte, für den Menschen unhörbare Sphärenmusik versteht. Allen drei Musikarten soll eine mathematisch ausdrückbare Harmonie zugrunde liegen.
Das Thema von Boethius’ Lehrbuch ist nicht die liturgische, einstimmige Musikpraxis seiner eigenen Zeit, sondern hauptsächlich die mathematische Darstellung und daraus resultierende Klassifizierung der Verhältnisse der Töne zueinander. Bei der Darstellung der musikalisch relevanten Zahlenverhältnisse geht es Boethius nicht um die rein äußerliche Relation der Zahlen, die er zueinander in Bezug bringt, sondern um ihr Verhältnis zueinander unter dem Gesichtspunkt ihrer jeweiligen inneren Struktur, die sich aus seiner Zahlentheorie ergibt. Dieser Binnenstruktur weist er eine konstitutive Rolle für das Verhältnis zwischen den Zahlen und damit auch für dessen musiktheoretische Konsequenzen zu. Die erklingenden Intervalle sind gleichsam „Verkörperungen“ der Zahlenverhältnisse, sie verhalten sich zu ihnen wie Materie zu Form. Das Zahlenverhältnis ist die Formursache des hörbaren Intervalls. Nicht nur den Verhältnissen zwischen Tönen, sondern auch jedem einzelnen Ton spricht Boethius eine bestimmte Zahlhaftigkeit (numerositas) zu. Jeder Ton weist eine Komplexität und damit eine mathematische Binnenstruktur auf. Die Autorität schlechthin auf dem Gebiet der Musiktheorie ist für Boethius Pythagoras, der einer Legende zufolge die mathematische Grundlage der musikalischen Konsonanz entdeckt hat. Bei der Wiedergabe dieser Legende („Pythagoras in der Schmiede“) legt Boethius besonderen Wert auf den Erkenntnisfortschritt, den die Abwendung vom sinnlich Wahrnehmbaren und Hinwendung zu einer unkörperlichen Realität hinter den Phänomenen ermöglichen soll. In seiner Darstellung der Notation gibt er die herkömmlichen griechischen Tonsymbole zur Bezeichnung relativer Tonhöhen an, wobei er jeweils das Zeichen der Gesangsnotenschrift über dem der Instrumentalnotation anordnet. Bei der Erklärung des Tonsystems und der Teilung des Monochords bedient er sich lateinischer Tonbuchstaben. Dabei nennt er den tiefsten Ton A und schreitet aufwärts bis Z fort, statt – wie heute üblich – den nächsthöheren Oktavraum wieder mit dem gleichen Buchstaben zu beginnen; nach Z fährt er mit den Zeichen AA bis LL fort.
De institutione geometrica („Einführung in die Geometrie“), ein Lehrbuch der Geometrie auf der Grundlage der „Elemente“ Euklids, ist heute verloren. Vielleicht ist es mit der von Cassiodor erwähnten Euklid-Übersetzung des Boethius, aus der Fragmente erhalten sind, zu identifizieren.
De institutione astronomica („Einführung in die Astronomie“) war wohl der Titel von Boethius’ heute verlorenem Lehrbuch der Astronomie. Aus einer Angabe Cassiodors geht hervor, dass Boethius die Astronomie auf der Grundlage von Ptolemaios’ Almagest dargestellt hat.
Ein heute verlorenes Werk über Physik (physica) erwähnt Boethius in seinem zweiten Kommentar zu De interpretatione. Es dürfte auf der Grundlage von Aristoteles’ Physik verfasst worden sein. Cassiodor bemerkt, Boethius habe auch Wissen des Archimedes in lateinischer Übersetzung zugänglich gemacht.
Die Consolatio philosophiae
Das Hauptwerk des Boethius ist die Consolatio philosophiae („Trost der Philosophie“) in fünf Büchern. Außer diesem Titel kommt auch die Form De consolatione philosophiae („Über den Trost der Philosophie“) in den Handschriften vor. Das Werk entstand nach Boethius’ Verhaftung. Mit der Gestaltung als Prosimetrum (Prosa mit eingefügten Gedichten) greift Boethius eine in der Spätantike beliebte Form auf. Er verwendet 28 verschiedene Versmaße. Die Consolatio philosophiae besteht aus 39 Prosatexten und 39 Gedichten, die abwechselnd aufeinander folgen. Das dargelegte philosophische Gedankengut stammt vor allem aus den Werken Platons, des Aristoteles und der Neuplatoniker, aber auch stoische Vorstellungen sind eingeflossen. Auf die Lehren Platons wird immer wieder zustimmend Bezug genommen. Das Werk reiht sich in die Tradition der antiken Trostliteratur ein und ist zugleich ein Protreptikos, eine zur Philosophie ermunternde Schrift.
Dargestellt wird die Heilung des in seiner Not seelisch erkrankten Gefangenen. Das Werk zerfällt in zwei Hälften, wobei das berühmte, ungefähr in die Mitte gestellte neunte Gedicht des dritten Buches (Anfang: O qui perpetua) den Übergang und Wendepunkt bildet. Im ersten, negativen Teil wird dem Leser die Nichtigkeit der irdischen Güter und die Sinnlosigkeit des Strebens nach ihnen vor Augen gestellt. Im zweiten, positiven Teil richtet sich das Augenmerk auf die Alternative zu diesen vergeblichen Bemühungen: die zum Erfolg führende Suche nach dem einzig wahren Gut, dem Guten schlechthin. Ob der abrupt wirkende Schluss stimmig und das Werk somit als abgeschlossen zu betrachten ist, ist in der Forschung umstritten. Unklar ist auch, ob die Schrift schon vor dem Abschluss des Gerichtsverfahrens oder erst nach der Verhängung des Todesurteils entstanden ist und ob Boethius sich im Kerker oder in einem relativ komfortablen Hausarrest mit Bibliothekszugang befand. Da es sich um ein literarisches Werk handelt, ist mit der Möglichkeit fiktionaler Elemente zu rechnen; die Situation des Ich-Erzählers ist nicht notwendigerweise in jeder Hinsicht mit der des Autors identisch.
Inhalt
Das erste Buch beginnt mit einem elegischen Gedicht, in dem der Autor sein trauriges Schicksal und die Treulosigkeit des Glücks beklagt; ihm ist das Leben verhasst, doch hofft er vergebens auf den erlösenden Tod. Da erscheint ihm die Philosophie als ehrwürdige Frauengestalt. Sie übernimmt die Aufgabe, ihn durch Belehrung zu heilen. Das Werk erhält somit den Charakter eines Dialogs zwischen dem Autor und der allegorischen Gestalt Philosophia. Zunächst vertreibt die Philosophie die Dichtermusen, denen sie vorwirft, Huren zu sein, die unfruchtbare Leidenschaften nähren und dem Philosophen ihre „süßen Gifte“ einflößen. Dann wendet sie sich dem Leidenden zu. Sie erinnert ihn daran, dass seit jeher Philosophen verfolgt worden sind, wobei sie unter anderem auf das Schicksal des zum Tode verurteilten Sokrates hinweist. Der Gefangene schildert ausführlich, wie er durch Verleumdungen bösartiger Feinde ins Unglück gestürzt worden sei; der Senat habe ihn im Stich gelassen und die Öffentlichkeit halte ihn nun für schuldig, was der Gipfel seines Elends sei. Die Philosophie weist ihn zurecht. Fern von seiner Heimat sei er nicht, weil er seinen Wohnsitz eingebüßt hat und sich in Haft befindet, sondern weil er aus eigenem Antrieb sein wirkliches Vaterland (im geistigen Sinne) verlassen habe. Er habe nämlich vergessen, was er ist, und ihm fehle auch die Kenntnis des Endzwecks der Dinge und Einsicht in das Walten der Vorsehung.
Im zweiten Buch steht die Auseinandersetzung mit Fortuna, der Glücks- und Schicksalsgöttin der römischen Mythologie, im Mittelpunkt. Boethius leidet unter dem Verlust der irdischen Güter, die Fortuna ihm früher reichlich geschenkt hat, nun aber verweigert. Die Philosophie erinnert ihn daran, dass er selbst sich der Herrschaft Fortunas anvertraut hat; er hat sich die treulose Göttin freiwillig als seine Gebieterin ausgesucht und muss daher nun ihre Sitten ertragen. Der ins Unglück Gestürzte wird darüber belehrt, dass Fortunas Verdienst gerade in ihrer beklagten Unbeständigkeit liegt, die das einzige Zuverlässige an ihr ist. Indem sie sich von ihren Günstlingen abwendet, bietet Fortuna ihnen die Gelegenheit zu erkennen, dass vergängliche Güter ihrer Natur nach unbefriedigend und nicht erstrebenswert sind. Damit sieht sich der Mensch auf das höchste Gut und eigentliche Glück verwiesen, das sich jenseits von Fortunas Zuständigkeitsbereich befindet. Es ist nur in ihm selbst zu finden.
Im dritten Buch geht es um den Weg zum wahren Glück, das keine Wünsche übrig lässt und das alle eigentlich suchen, wenn auch meist auf Irrwegen. Diese Irrwege – Streben nach Reichtum, Ansehen, Macht, Ruhm und körperlichen Lüsten – werden nun einzeln entlarvt. Dann führt die Philosophie im Dialog ihren Gesprächspartner zu dem Punkt, wo sich herausstellt, dass Gott mit dem höchsten Gut (summum bonum) gleichzusetzen ist. Dies ergibt sich daraus, dass Gott der Ursprung aller Dinge ist und nichts besser sein kann als der Ursprung, dem es sein Dasein verdankt. Wenn das vollkommene Gute anderswo wäre als in Gott, so wäre er nicht der Ursprung von allem; vielmehr müsste er dann seinerseits in etwas Höherem seinen Ursprung haben, womit ein infiniter Regress einträte. Da es nur ein einziges höchstes Gut geben kann, ist Gott mit der Glückseligkeit (beatitudo) zu identifizieren, die der Mensch mit Recht als höchstes Gut betrachtet und erstrebt. Glückseligkeit erlangen heißt somit Gott erlangen. Durch das Erlangen (adeptio) der Gottheit wird der Mensch glücklich; „also ist jeder Glückselige Gott“ (Omnis igitur beatus deus). Dabei handelt es sich, da Gott eine Einheit ist, nicht um eine Mehrzahl von Göttern, sondern um Gottheit der glücklichen Menschen durch Teilhabe (participatio) an dem einen Gott.
In dem berühmten neunten Gedicht des dritten Buches (O qui perpetua) preist die Philosophie Gott als ausschließlich wohlwollenden Schöpfer, der die Welt nach einem Urbild geschaffen hat, das er in seinem Geist trägt. Gott hat den Kosmos nach dem Muster seiner eigenen vollkommenen Schönheit als schöne Welt eingerichtet. Er hat dem Universum und dessen einzelnen Teilen eine vollendete mathematische Ordnung verliehen und dafür gesorgt, dass die gegensätzlichen Einflüsse von Hitze und Kälte, Trockenheit und Nässe das rechte Maß einhalten.
Im vierten Buch setzen sich die beiden Gesprächspartner mit der Frage der Theodizee auseinander. Boethius fragt, wie es möglich ist, dass der vollkommen gute Gott das Böse nicht nur zulässt, sondern es auch blühen und herrschen lässt, während Tugend nicht nur unbelohnt bleibt, sondern sogar bestraft wird. Die Philosophie erklärt ihm, dass alle Menschen, gute und böse gleichermaßen, das gleiche Ziel haben, denn sie streben alle nach dem Guten. Erreichen können das Ziel aber nur diejenigen, die selbst gut sind. Die Bösen hindert daran ihre eigene Schlechtigkeit, die definitionsgemäß dem Guten entgegengesetzt ist. Daher sind ihre Bemühungen notwendigerweise vergeblich; sie müssen das Ziel verfehlen und scheitern. Somit wird jedem unweigerlich das zuteil, was seiner ethischen Qualifikation entspricht. Das Gute trägt seine Belohnung allein in sich selbst, ebenso wie die Schlechtigkeit ihre eigene Strafe ist. Diese Erkenntnisse führen zur Folgerung, dass jedes Schicksal ganz und gar gut ist. Außerdem fehlt den Menschen die Fähigkeit zu umfassender Einsicht, die sie benötigen würden, um alle Einzelheiten der Schicksalsordnung zu verstehen und kompetent beurteilen zu können, was für sie zuträglich oder schädlich ist.
Im fünften Buch wird die Problematik des Zufalls und des Verhältnisses zwischen göttlichem Vorauswissen und menschlicher Willensfreiheit erörtert. Dabei stellt sich heraus, dass es einen Zufall im Sinne einer Ursachlosigkeit nicht gibt; was aus menschlicher Sicht als Zufall erscheint, ist in Wirklichkeit nur eine Lücke im Wissen des Menschen. Die scheinbar zufälligen Ereignisse sind Bestandteile unbekannter bzw. nicht durchschauter Ursachenreihen. Alles ist von der Vorsehung genau geordnet und vollzieht sich nach Gottes Willen. Damit stellt sich die Frage, wie ein solches Konzept mit der menschlichen Willensfreiheit vereinbar ist, auf welche die Philosophie großen Wert legt. Die Lösung dieses Problems besteht darin, zwar die Festlegung aller Ereignisse durch die Kausalketten, die den Plan der Vorsehung umsetzen, anzunehmen, aber die Willensakte davon auszunehmen. Somit sind die Willensakte als solche nicht determiniert, aber ihre Umsetzung in physische Ereignisse ist determiniert. Ein weiteres Argument lautet, es handle sich um ein Scheinproblem, das sich daraus ergebe, dass Gottes Wissen in der Art eines menschlichen Vorauswissens aufgefasst werde; damit gerate man auf einen Irrweg, da Gottes Wissen im Gegensatz zu einem Vorauswissen überzeitlich sei.
Philosophischer und religiöser Hintergrund
In diesem philosophischen Werk, das von metaphysischen und ethischen Fragen handelt, gibt sich Boethius nirgends als Christ zu erkennen. Er erwähnt den christlichen Glauben überhaupt nicht. Nur vereinzelte Anspielungen und manche Wörter und Redewendungen, die an den Sprachgebrauch der lateinischen Bibel erinnern, lassen erkennen, dass er in einem christlichen Milieu lebt. Dies ist umso auffälliger, als der Autor hier seine eigene hoffnungslose Lage zum Ausgangs- und Angelpunkt seiner Ausführungen macht. Für einen antiken Christen wäre es unter solchen Umständen eigentlich selbstverständlich, sich auf die biblische Verheißung zu konzentrieren. Stattdessen erörtert Boethius sein Schicksal ausschließlich aus der Perspektive und in der Terminologie der antiken philosophischen Tradition. Dabei erweist er sich als Anhänger des Neuplatonismus, der in der spätantiken Philosophie dominierenden Richtung. Seine Metaphysik ist mehr neuplatonisch als christlich, was beispielsweise daraus zu ersehen ist, dass er von der Existenz einer Weltseele ausgeht. Als Platoniker ist er der Überzeugung, dass die Einzelseelen nicht zusammen mit ihren Leibern geschaffen wurden; sie sind nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt entstanden, sondern existieren ewig und steigen in ihre Körper hinab, was für sie eine Gefangenschaft bedeutet. Boethius scheint sogar eine zeitliche Ewigkeit der materiellen Welt anzunehmen, die er der überzeitlichen Ewigkeit Gottes gegenüberstellt; jedenfalls lässt er die belehrende Philosophie auf entsprechende Äußerungen von Platon und Aristoteles hinweisen, denen sie implizit zustimmt. Seine Vorstellung eines Kosmos ohne Anfang und Ende in der Zeit ist mit dem damaligen Verständnis der biblischen Schöpfungsgeschichte und Eschatologie kaum vereinbar. Es steht aber außer Zweifel, dass Boethius Christ war, da zumindest ein Teil seiner theologischen Werke sicher echt ist und da ein Nichtchrist damals keine Staatsämter übernehmen konnte. Im Unterschied zu den paganen Neuplatonikern trennt er nicht das Eine als oberste Gottheit vom Guten und Seienden, sondern setzt wie die christlichen Theologen und die Mittelplatoniker das Gute mit der höchsten Wirklichkeit gleich.
Die mutmaßlichen Gründe für diese erklärungsbedürftige Einstellung des Philosophen angesichts seiner Inhaftierung und drohenden Hinrichtung werden in der Forschung seit langem intensiv diskutiert. Dabei stehen zwei Deutungsmöglichkeiten zur Auswahl. Die eine besagt, dass er eine religiöse Entwicklung durchgemacht hat, wobei er sich schließlich – vielleicht erst in der Gefangenschaft – dem Glauben und der Kirche innerlich entfremdete. Daher habe er in seiner letzten Lebensphase auf den Neuplatonismus zurückgegriffen, die einzige im frühen 6. Jahrhundert noch lebendige religiös-philosophische Tradition, die eine Alternative zum Christentum bot. Die andere Interpretation geht davon aus, dass er zwar weiterhin überzeugter Christ war, aber in diesem Werk aus einem didaktischen Grund bewusst auf alle christlichen Bezüge verzichtete. Er habe zeigen wollen, dass man mittels rein philosophischer Erwägungen, ohne eine Glaubenslehre vorauszusetzen oder zu berücksichtigen, im Elend und angesichts des Todes zu einer Haltung gelangen kann, die mit der christlichen in den Grundzügen übereinstimmt.
Theologie
Die fünf theologischen Traktate sind unter der Bezeichnung Opuscula sacra („Theologische Kleinschriften“) bekannt. Sie behandeln Themen, die damals kirchenpolitisch aktuell waren (Streit um die Frage, wie viele Personen und Naturen in Christus vorhanden sind, sowie die Auseinandersetzung mit dem Arianismus). Ihre Echtheit wurde früher zu Unrecht bestritten; seit 1877 ist sie für vier Traktate nachgewiesen, nur hinsichtlich De fide catholica wird sie noch gelegentlich bezweifelt.
De fide catholica („Über den katholischen Glauben“) ist wohl der älteste der theologischen Traktate; er dürfte vor 512 entstanden sein. Der gängige Titel ist nicht authentisch, sondern neuzeitlich. Der Autor grenzt seinen Glauben von verschiedenen Häresien wie Arianismus, Nestorianismus und Monophysitismus sowie vom Manichäismus ab. Das Werk war wohl als Einführung in die kirchliche Dogmatik für Laien konzipiert.
Contra Eutychen et Nestorium („Gegen Eutyches und Nestorius“), anscheinend der zweite Traktat, ist wohl zwischen 513 und 519 entstanden. Hier wendet sich Boethius gegen zwei berühmte Theologen: Nestorius, nach dem der Nestorianismus benannt ist, und den Monophysiten Eutyches. Er stellt die katholische Christologie als Mittelweg zwischen den beiden Extremen des Nestorianismus und des Monophysitismus dar. Bekannt ist seine hier vorgelegte Definition des Begriffs Person, wonach eine Person eine individuelle Substanz von vernunftbegabter Natur ist (naturae rationabilis individua substantia).
Quomodo substantiae in eo quod sint bonae sint, cum non sint substantialia bona („Wie die Substanzen in dem, was sie sind, gut sind, obwohl sie keine substantialen Güter sind“), gewöhnlich mit dem nicht authentischen Kurztitel De hebdomadibus zitiert, ist wohl gegen 519 entstanden. Die darin dargelegte Theologie ist stark von neuplatonischem Gedankengut geprägt; untersucht wird die Frage der Teilhabe der guten Dinge am Guten (Gott).
Utrum Pater et Filius et Spiritus Sanctus de divinitate substantialiter praedicentur („Ob ‚Vater’, ‚Sohn’ und ‚Heiliger Geist’ von der Gottheit substantial ausgesagt werden“) stammt aus der Zeit um 519. Die Argumentation basiert auf der des Kirchenvaters Augustinus. Die im Titel des Werks gestellte Frage wird verneint; ‚Vater’, ‚Sohn’ und ‚Heiliger Geist’ seien relative Aussagen ohne Auswirkung auf die Substanz.
Quomodo Trinitas unus deus ac non tres dii („Wie die Trinität ein Gott und nicht drei Götter ist“), gewöhnlich mit dem Kurztitel De Trinitate zitiert, ist als letztes theologisches Werk des Boethius zwischen 519 und 523 entstanden. Es ist für Symmachus, den Schwiegervater des Autors, bestimmt. Boethius stützt sich in erster Linie auf Ausführungen des Augustinus.
Unechte Werke
Im Mittelalter kursierten eine Reihe von unechten Werken, die Boethius angeblich verfasst hatte oder als deren Übersetzer aus dem Griechischen er ausgegeben wurde. Darunter sind:
Zwei mittelalterliche Versionen einer Abhandlung über Geometrie (Pseudo-Boethius, Geometrie I und Geometrie II). Sie enthalten Auszüge aus Euklids Elementen, die wohl aus einem verlorenen Werk des Boethius – seinem Geometrie-Lehrbuch oder seiner Euklid-Übersetzung – stammen.
De disciplina scolarium, eine stark verbreitete, im 13. Jahrhundert entstandene Schrift, deren Verfasser sich als Boethius ausgibt. Behandelt werden der Unterrichtsbetrieb, die Pflichten der Schüler oder Studenten und der Umgang der Lehrer mit ihnen. Im Spätmittelalter wurde nicht an der Authentizität gezweifelt. Erst im 15. Jahrhundert erkannte der Humanist Alexander Hegius die Unechtheit.
De disciplina scholarium cum notabili commento Thomas de Aquino [Komm.] Heinrich Quentell, Köln 16. April 1489 Digitalisat.
Rezeption
Spätantike und Mittelalter
Zeitgenossen wie Ennodius und Cassiodor drückten ihre hohe Wertschätzung für die Bildung des Boethius aus, Cassiodor pries seine Leistungen als Vermittler griechischer Wissenschaft an die lateinischsprachige Welt. Diese Vermittlerrolle trat im Mittelalter noch markanter hervor, da Griechischkenntnisse und griechische Originaltexte im Westen seit dem Ende der Antike fast nirgends mehr vorhanden waren. Es war das Verdienst des Boethius, einen Teil der antiken griechischen Philosophie dem lateinischen Mittelalter erhalten zu haben.
Einschätzung der Hinrichtung
Alle antiken Autoren, die sich zur Hinrichtung des Boethius äußerten, auch der bedeutende oströmische Historiker Prokopios, waren von seiner Unschuld überzeugt. Prokopios überliefert eine Legende, der zufolge Theoderich seinen Entschluss so heftig bereute, dass diese Gemütsbewegung seinen plötzlichen Tod herbeiführte. Da Theoderich Arianer, also aus katholischer Sicht irrgläubig war, wurde Boethius im Mittelalter in manchen Kreisen als Märtyrer betrachtet; man unterstellte, er sei von dem häretischen Ostgotenkönig wegen seines Glaubens verfolgt und hingerichtet worden. Dies behauptete schon im 9. Jahrhundert der Chronist Ado von Vienne. Im Raum Pavia entstand ein Boethius-Kult. Über die Todesumstände wurden unterschiedliche Legenden, darunter auch Wundergeschichten, in Umlauf gesetzt. Es gab sogar Darstellungen, in denen Boethius als Freiheitskämpfer beschrieben wurde, der seine Heimat mit oströmischer Hilfe von der gotischen Tyrannei befreien wollte. Im 12. Jahrhundert reihte der äußerst einflussreiche Theologe Petrus Lombardus Boethius unter die Heiligen ein.
Consolatio philosophiae
Die Consolatio philosophiae war im Mittelalter außerordentlich stark verbreitet. Sie zählte zur Schullektüre und war einer der meistkommentierten Texte des Mittelalters. Vor dem 9. Jahrhundert lässt sich ihr Einfluss nur vereinzelt nachweisen, doch im Lauf des 9. Jahrhunderts nahm das Interesse an ihr stark zu; Schriftsteller und Dichter zeigten sich nun mit dem Werk vertraut, der bedeutende Gelehrte Lupus von Ferrières schrieb eine Abhandlung über die Versmaße der Consolatio.
Auch zahlreiche Übersetzungen der Consolatio zeugen von dem großen Interesse an ihr. Es handelt sich um folgende Sprachen und Übersetzer:
Deutsch: althochdeutsche Übersetzung des Mönchs Notker III. von St. Gallen aus dem späten 10. oder frühen 11. Jahrhundert; fünf deutsche Übersetzungen aus dem Zeitraum 1400–1480, darunter von Peter von Kastl und Niklas von Wyle.
Englisch: Es sind zwei Fassungen der altenglischen Übersetzung überliefert, die ältere in Prosa und die jüngere als Prosimetrum. In den Vorreden beider Fassungen wird als Übersetzer König Alfred der Große genannt, doch wird diese Zuschreibung in der neueren Forschung bezweifelt. Jedenfalls entstanden beide Fassungen im späten 9. Jahrhundert oder in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts. Aus dem Spätmittelalter stammen die mittelenglischen Übersetzungen von Geoffrey Chaucer (14. Jahrhundert) und John Walton (in Versen, 1410).
Französisch (altfranzösisch und mittelfranzösisch): zwölf teils anonym überlieferte Übersetzungen, darunter die besonders bekannte von Jean de Meung (Li livres de confort de philosophie, spätes 13. Jahrhundert).
Hebräisch: Im 15. Jahrhundert entstanden zwei hebräische Übersetzungen. Eine von ihnen fertigte Samuel Benveniste 1412 an, die andere Bonafoux Bonfil Astruc 1423 in Italien.
Italienisch: 14 teils anonym überlieferte Übersetzungen, darunter die von Alberto della Piagentina (Della filosofica consolazione, 1322/1332), Grazia di Meo (Il libro di Boeçio de chonsolazione, 1343) und Giovanni da Foligno (Consolazione di Boezio, 14. Jahrhundert).
Katalanisch: zwei spätmittelalterliche Übersetzungen, die eine von Pere Saplana (1358/1362), die andere von Pere Borró (14. Jahrhundert, nicht erhalten).
Griechisch: Der als Übersetzer lateinischer Literatur hervorgetretene byzantinische Gelehrte Maximos Planudes übertrug in den neunziger Jahren des 13. Jahrhunderts die Consolatio ins Mittelgriechische. Die relativ hohe Zahl der Handschriften – 35 sind erhalten geblieben, sechs weitere sind vernichtet oder verschwunden – zeugt von der Wertschätzung in der griechischsprachigen Welt des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit.
Niederländisch: zwei spätmittelalterliche mittelniederländische Übersetzungen; die eine wurde 1466 von Jacob Vilt angefertigt, die andere stammt von einem anonymen Übersetzer der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts und wurde zusammen mit einem umfangreichen Kommentar 1485 in Gent gedruckt. Diese berühmte Inkunabel ist als „Genter Boethius-Druck“ bekannt.
Spanisch: mehrere anonym überlieferte spätmittelalterliche Übersetzungen.
Schon in der Karolingerzeit setzte die reichhaltige mittelalterliche Auslegungsliteratur ein. Consolatio-Handschriften wurden ab dem 9. Jahrhundert mit meist anonym überlieferten Glossen (Erläuterungen zu einzelnen Textstellen) ausgestattet, von denen manche dem Gelehrten Remigius von Auxerre zugeschrieben werden. Zu den Verfassern von Kommentaren gehörten Wilhelm von Conches (12. Jahrhundert), Nikolaus Triveth (oder Trevet, um 1300), Renier von Saint-Trond (spätes 14. Jahrhundert) und Dionysius der Kartäuser (15. Jahrhundert). Das Gedicht O qui perpetua, das in der Consolatio eine zentrale Stellung einnimmt, war oft das Thema separater Kommentare (Bovo von Corvey, Anonymus Einsidlensis, Adalbold von Utrecht u. a.; die Kommentare sind meist anonym überliefert). Die Kommentatoren pflegten die Philosophie des Boethius christlich zu interpretieren, doch wurde auch vereinzelt auf die Unvereinbarkeit eines Teils seiner Gedanken mit der damaligen Theologie hingewiesen (Bovo von Corvey). Petrus von Ailly schrieb im späten 14. Jahrhundert eine Abhandlung in Quaestionenform über die Consolatio.
Zahlreiche Autoren ließen sich in formaler oder inhaltlicher Hinsicht von der Consolatio inspirieren. Besonders stark von ihr beeinflusst sind Sedulius Scottus (Liber de rectoribus Christianis, 9. Jahrhundert), Liutprand von Cremona (Antapodosis, 2. Hälfte des 10. Jahrhunderts), Adelard von Bath (De eodem et diverso, frühes 12. Jahrhundert), Hildebert von Lavardin (Liber de querimonia et conflictu carnis et anime, frühes 12. Jahrhundert), Laurentius von Durham (Consolatio de morte amici, wohl 1141/1143), Alanus ab Insulis (De planctu Naturae, zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts), Petrus von Compostela (De consolatione Rationis, 14. Jahrhundert) und Johannes Gerson (De consolatione theologiae, frühes 15. Jahrhundert).
Dante schätzte Boethius als Verfasser der Consolatio außerordentlich. Im Convivio schildert er, wie er sich nach dem Verlust Beatrices der Lektüre der Consolatio zuwandte, um Trost zu finden. In seiner Divina commedia versetzt er Boethius in den vierten Himmel unter die Vertreter der Weisheit.
Die Gedichte der Consolatio wurden vertont, wie Musiknoten in einer Handschrift des 9. Jahrhunderts (Psalter Ludwigs des Deutschen) zeigen. Szenen aus der Consolatio waren häufige Sujets der mittelalterlichen Buchmalerei. Im Spätmittelalter wurden zahlreiche Prachthandschriften mit kostbaren Miniaturen hergestellt.
Logik
Von Boethius bezogen die mittelalterlichen Logiker ihr methodisches und terminologisches Rüstzeug; für die lateinischsprachige Welt war die aristotelische Terminologie durch seine Übersetzungen dauerhaft fixiert. Zu den von ihm eingeführten Begriffen zählen beispielsweise „Akt“ und „Potenz“ (lateinisch actus und potentia), „Akzidens“ (lateinisch accidens) und „kontingent“ (lateinisch contingens).
Vor der Karolingerzeit ist keine Kenntnis der logischen Werke des Boethius nachweisbar. Der erste mittelalterliche Autor, dem nachweislich ein Teil der Übersetzungen aus dem Griechischen zur Verfügung stand, war Alkuin; er verwendete die Übersetzungen der Isagoge und von De interpretatione. Im späten 10. Jahrhundert studierte der Gelehrte Gerbert von Aurillac, der sich als Papst Silvester II. nannte, Übersetzungen, Kommentare und Abhandlungen des Boethius auf dem Gebiet der Logik, und Abbo von Fleury schrieb eine Abhandlung über Syllogismen, in der er von Boethius’ Darstellung ausging. Nach der Jahrtausendwende nahm die Verbreitung des damals schon bekannten Teils der logischen Werke des Boethius zu. Bis ins 12. Jahrhundert war die Logik des Aristoteles, die im Organon, der Gruppe seiner logischen Schriften, dargelegt ist, der lateinischsprachigen Welt nur teilweise und nur durch Boethius bekannt. Vorhanden waren Boethius’ Übersetzungen der Kategorien sowie von De interpretatione und der Isagoge des Porphyrios sowie seine Kommentare zu diesen drei Werken. Sie bildeten ein Corpus, das später, nachdem im 12. Jahrhundert weitere Texte bekannt geworden waren, den Namen Logica vetus („Alte Logik“) erhielt.
Notker III. von St. Gallen übertrug im späten 10. oder frühen 11. Jahrhundert Boethius’ Übersetzungen der Kategorien und der Schrift De interpretatione ins Althochdeutsche.
Im 12. Jahrhundert wurden Boethius’ Übersetzungen der Topik, der Sophistici elenchi und der Analytica priora bekannt. Man nannte diese neu entdeckten Werke des Aristoteles, zu denen noch die Analytica posteriora hinzukamen, Logica nova („Neue Logik“).
Der berühmte Philosoph und Theologe Petrus Abaelardus hielt Boethius für den bedeutendsten römischen Philosophen. Er schrieb einen Kommentar zu De topicis differentiis. Noch im 13. Jahrhundert wurde die Topik von dem maßgeblichen Lehrbuchautor Petrus Hispanus auf der Grundlage von De topicis differentiis erörtert. Auch im 14. Jahrhundert waren die logischen Schriften des Boethius noch aktuell; Wilhelm von Ockham zitierte sie oft und bei Albert von Sachsen ist ihr Einfluss deutlich erkennbar.
Im Byzantinischen Reich übertrug im 13. Jahrhundert der Gelehrte Manuel (Maximos) Holobolos die Abhandlung De topicis differentiis ins Griechische und stattete seine Übersetzung mit Scholien aus. Eine weitere griechische Übersetzung fertigte im 14. Jahrhundert Prochoros Kydones an. Ob eine byzantinische Abhandlung über dieses Werk von dem Gelehrten Georgios Pachymeres (13. Jahrhundert) stammt, dem sie zugeschrieben wird, ist zweifelhaft. Eine byzantinische Übersetzung von De hypotheticis syllogismis ist in zwei Handschriften überliefert; sie ist wohl Manuel (Maximos) Holobolos zuzuschreiben.
Quadrivium
De institutione musica war eines der wichtigsten Lehrbücher der Musiktheorie. Die Rezeption setzte im 9. Jahrhundert ein. Das Werk des Boethius trug maßgeblich dazu bei, dass die griechische Musiktheorie – insbesondere pythagoreisches Gedankengut – die mittelalterliche Musikauffassung prägte. Die Handschriften des Lehrbuchs wurden schon im 9. Jahrhundert glossiert (mit Erläuterungen in Form von Glossen ausgestattet). Dieser rezeptionsgeschichtlich wichtige anonyme Glossenkommentar ist als Glossa maior bekannt. Er wurde im Lauf der Jahrhunderte oft überarbeitet. Daneben gab es noch andere, eigenständige Glossierungen. Im 14. Jahrhundert entstand der umfangreiche „Oxforder Kommentar“ zu De institutione musica, der offenbar im Lehrbetrieb der Universität Oxford verwendet wurde. Der praxisorientierte Autor Guido von Arezzo (11. Jahrhundert) wies allerdings darauf hin, dass das Buch des Boethius wegen seines spekulativen Charakters „nicht für Sänger, sondern nur für Philosophen nützlich ist“.
De institutione arithmetica war im Mittelalter ein grundlegendes Lehrbuch der Arithmetik, von dessen verbreiteter Verwendung die 188 ganz oder teilweise erhaltenen Handschriften sowie zahlreiche Kommentare und einführende Schriften zeugen.
Theologie
Das Verfahren des Boethius, christliche Dogmen mit den Methoden des Aristoteles philosophisch zu deuten, diente der scholastischen Theologie des Mittelalters als Modell. Seine Definition des Begriffs „Person“ wurde im Mittelalter oft zitiert.
Die Schrift über die Dreifaltigkeit wurde schon von Theologen des 9. Jahrhunderts wie Hinkmar von Reims und Paschasius Radbertus herangezogen; Paschasius verwendete auch die Abhandlung über die Substanzen, Ratramnus von Corbie setzte sich eingehend mit der Schrift gegen Nestorius und Eutyches auseinander, Gottschalk von Orbais zitierte ausführlich die Abhandlungen gegen Nestorius und Eutyches und Utrum Pater. Aus der Karolingerzeit stammen Glossen zu den Opuscula sacra, die wohl Remigius von Auxerre verfasst bzw. zusammengestellt hat. Im 12. Jahrhundert kommentierte Gilbert von Poitiers vier Opuscula sacra. Besonders in der Schule des Philosophen Thierry von Chartres war das Interesse an Boethius’ theologischen Werken groß. Thierrys Schüler Clarembald von Arras schrieb Kommentare zu den Schriften über die Dreifaltigkeit und über die Substanzen. Diese beiden Schriften kommentierte später auch Thomas von Aquin, der Boethius als bedeutende Autorität betrachtete.
Frührenaissance und Frühe Neuzeit
Humanisten der Frührenaissance (Francesco Petrarca, Giovanni Boccaccio, Coluccio Salutati) fanden die negative Beurteilung der Dichtermusen im ersten Buch der Consolatio problematisch; sie argumentierten, diese aus humanistischer Sicht anstößig wirkende Kritik beziehe sich nicht auf die gesamte Dichtkunst. Lorenzo Valla fällte ein zwiespältiges Urteil über Boethius. Er hielt ihn für den letzten Gelehrten der Antike und bewunderte seine Bildung und seinen Fleiß. Andererseits bemängelte er mancherlei in den Werken des spätantiken Philosophen. Vor allem kritisierte er ihn wegen der unklassischen Sprache seiner logischen Schriften; er habe sich so dem Griechischen angepasst, dass ihm das Gefühl für seine eigene Muttersprache abhandengekommen sei, und seine sprachlichen Unzulänglichkeiten hätten auch inhaltliche Konsequenzen. Unter den Humanisten waren aber auch begeisterte Verehrer des Boethius wie Julius Caesar Scaliger und Angelo Poliziano, der fragte: Wer ist scharfsinniger in der Dialektik als Boethius oder detailgenauer in der Mathematik oder reicher in der Philosophie oder erhabener in der Theologie?
Die Consolatio gehörte in Italien im 15. Jahrhundert weiterhin zum Kernbestand der Schullektüre. Schon 1471 erschien der Erstdruck; 1473 brachte Anton Koberger in Nürnberg die erste Ausgabe mit deutscher Übersetzung heraus, der Dutzende von weiteren Inkunabeln folgten. 1498 veröffentlichte der Humanist Jodocus Badius einen für den Schulbetrieb bestimmten Kommentar zur Consolatio, in dem er nicht wie bisher üblich die Philosophie, sondern philologische Aspekte in den Vordergrund stellte.
Die Erstausgabe von De topicis differentiis sowie des Kommentars zu Ciceros Topica erschien 1484 in Rom, De institutione arithmetica wurde erstmals 1488 in Augsburg gedruckt. 1491–92 wurde in Venedig die erste Gesamtausgabe veröffentlicht; sie enthielt auch unechte Werke.
Königin Elisabeth I. von England übersetzte die Consolatio philosophiae 1593 ins Englische.
Im 18. Jahrhundert prägte Edward Gibbon das später populäre Schlagwort von Boethius als „letztem Römer“, womit er meinte: der letzte, den Cicero und Cato als Landsmann betrachtet hätten.
Moderne
Einschätzung der kulturellen und wissenschaftlichen Leistungen
Im 19. Jahrhundert fällte der einflussreiche Philosophiehistoriker Carl von Prantl ein vernichtendes Urteil über Boethius’ Leistung auf dem Gebiet der Logik; er sei zusammen mit Martianus Capella und Cassiodor „die hauptsächliche Brücke zu dem Unverstande der mittelalterlichen Logik“, seine Darstellung zeige „die widerlichste Breite und Geschwätzigkeit“, denn sie sei „ausdrücklich darauf berechnet (…), selbst den dümmsten Köpfen eine gewisse Anzahl von Regeln einzubläuen“.
Die Frage, inwieweit Boethius ein eigenständiger Philosoph und nicht nur ein übersetzender und Handbuchwissen zusammenstellender Vermittler älteren Gedankenguts ist, wird in der Forschung kontrovers diskutiert. Für seine Originalität plädiert insbesondere John Marenbon. Hinsichtlich der Logik bestreiten Jonathan Barnes und James Shiel eine philosophische Eigenleistung.
Im 19. und 20. Jahrhundert wurde Gibbons Schlagwort vom „letzten Römer“ Boethius aufgegriffen. Zur Begründung hieß es, er habe als letzter die seit Ciceros Zeit als typisch römisch betrachteten politischen Tugenden in sich vereint und mit seinem Werk das Vermächtnis der Antike dem Mittelalter übergeben. In diesem Sinne setzte Franz Brunhölzl zwischen Boethius als traditionsbewusstem letztem antikem Römer und Cassiodor als erstem mittelalterlichem Schriftsteller die Epochengrenze zwischen Spätantike und Frühmittelalter.
Mitunter wird Boethius als „erster Scholastiker“ bezeichnet, da seine logischen Schriften für die mittelalterliche Logik und ihre Terminologie wegweisend waren und weil er die Logik auf theologische Fragen anwendet. Diese Bezeichnung ist allerdings problematisch und irreführend, denn die Scholastik ist erst im Hochmittelalter entstanden.
Einschätzung des Gerichtsverfahrens
Die seit dem Mittelalter verbreitete Sichtweise kirchlicher Kreise, wonach Boethius als Katholik von einem arianischen Herrscher verfolgt wurde und somit als Märtyrer für seinen Glauben litt, hat auch in der Moderne nachgewirkt. Seine traditionelle lokale Verehrung als Seliger in der Diözese Pavia wurde von Papst Leo XIII. 1883 bestätigt. Der Papst legte den 23. Oktober, den angeblichen Todestag, als seinen Gedenktag fest. Erst 1931 zeigte Giovanni B. Picotti in einer Untersuchung des Prozesses, dass es sich um ein rein politisch motiviertes Verfahren und sicher nicht um religiöse Verfolgung handelte.
In der Forschung werden unterschiedliche Hypothesen zur Einschätzung des Gerichtsverfahrens und der Rolle und Motivation Theoderichs diskutiert. Die Aussagen der Quellen sind eindeutig: Boethius beteuert seine völlige Unschuld, und die antiken Autoren, die sich dazu äußern, teilen einhellig diese Auffassung. Auch in der modernen Forschung besteht weitgehend Konsens darüber, dass es eine Verschwörung zur Beseitigung der Ostgotenherrschaft in Italien nicht gegeben hat. Die Verratsbeschuldigung, die zur Hinrichtung führte, wird von den weitaus meisten Historikern als unbegründet betrachtet. Nur vereinzelt ist vermutet worden, dass Boethius auf den Sturz Theoderichs hingearbeitet hat. Tatsache ist aber auch, dass sich Boethius durch seine demonstrative, pauschale öffentliche Solidarisierung mit Albinus vorbehaltlos mit dessen suspektem Verhalten identifizierte, womit er sich den Verdacht mangelnder Loyalität zuzog. In der Forschungsliteratur wird betont, dass er sich in der Krise ungeschickt verhielt. Indem er vor dem König schroff und provozierend auftrat, ließ er es auf eine aussichtslose Machtprobe ankommen. Daraus ist seine Verkennung der Lage ersichtlich. Daher und auch aufgrund anderer Indizien wird er von manchen Historikern als politisch unbegabter Gelehrter eingeschätzt. Kritische Beurteilungen seiner Rolle werden vor allem von Historikern vorgetragen, während bei Forschern, welche die Vorgänge aus philologischer oder philosophiegeschichtlicher Perspektive betrachten, eher die Neigung verbreitet ist, Boethius’ Selbsteinschätzung Glauben zu schenken.
Hinsichtlich der juristischen Aspekte fällt auf, dass dem Angeklagten ein Verfahren vor dem eigentlich zuständigen Königsgericht verweigert wurde und dass die Gerichtsverhandlung in seiner Abwesenheit geführt wurde. Somit erhielt er keine Gelegenheit, sich zu den Ermittlungsergebnissen zu äußern und sich zu verteidigen; eine Gegenüberstellung von Zeugen und Angeklagtem fand nicht statt. Diese Vorgehensweise lässt das Verfahren als politisch motivierte Willkürjustiz erscheinen.
Dass Theoderich der Überzeugung war, er müsse sich gegen eine reale Bedrohung seiner Herrschaft zur Wehr setzen und verräterisch gesinnte Kräfte durch Härte abschrecken, billigen ihm moderne Beurteiler zu. Die Vollstreckung des Todesurteils wird aber als schwerer politischer Fehler eingeschätzt. Einschränkend weist Andreas Goltz allerdings darauf hin, dass die Nachwelt unter dem Eindruck der seit dem Mittelalter intensiven Boethius-Rezeption die Wirkung der Hinrichtung auf die Zeitgenossen überschätze und dabei zu wenig beachte, dass Boethius in den italischen Eliten sehr umstritten war.
Ehrungen
Der 1971 entdeckte Asteroid (6617) Boethius, der Mondkrater Boethius und der Merkurkrater Boethius sind nach dem Gelehrten benannt.
Textausgaben und Übersetzungen
Sammlungen
Claudio Moreschini (Hrsg.): Boethius: De consolatione philosophiae, opuscula theologica. 2. Auflage, Saur, München 2005, ISBN 3-598-71278-2 (kritische Ausgabe der Consolatio philosophiae und der fünf theologischen Abhandlungen).
Gottfried Friedlein (Hrsg.): Anicii Manlii Torquati Severini Boetii de institutione arithmetica libri duo, de institutione musica libri quinque. Minerva, Frankfurt am Main 1966 (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1867; für De institutione musica noch zu verwenden, für De institutione arithmetica überholt).
Hans-Ulrich Wöhler: Texte zum Universalienstreit. Band 1: Vom Ausgang der Antike bis zur Frühscholastik. Akademie Verlag, Berlin 1992, ISBN 3-05-001792-9 (enthält Teilübersetzungen von sechs logischen und theologischen Werken des Boethius).
Consolatio philosophiae
Ludwig Bieler (Hrsg.): Anicii Manlii Severini Boethii Philosophiae Consolatio. 2. Auflage, Brepols, Turnhout 1984, ISBN 978-2-503-00941-4 (Corpus Christianorum. Series Latina. Band 94) (kritische Ausgabe).
Ernst Gegenschatz, Olof Gigon (Hrsg.): Boethius: Trost der Philosophie. Consolatio philosophiae. 6. Auflage, Artemis & Winkler, Düsseldorf u. a. 2002, ISBN 3-7608-1662-2 (unkritische Ausgabe mit deutscher Übersetzung)
Ernst Neitzke (Hrsg.): Boethius: Trost der Philosophie. Insel Verlag, Frankfurt am Main 1997, ISBN 3-458-32915-3 (unkritische Ausgabe mit deutscher Übersetzung).
Althochdeutsche Übersetzung
Evelyn Scherabon Firchow (Hrsg.): Notker der Deutsche von St. Gallen: Lateinischer Text und althochdeutsche Übersetzung der Tröstung der Philosophie (De consolatione Philosophiae) von Anicius Manlius Severinus Boethius. 3 Bände, Olms, Hildesheim 2003, ISBN 3-487-11811-4.
Mittelalterliche englische Übersetzungen
Malcolm Godden, Susan Irvine (Hrsg.): The Old English Boethius. An Edition of the Old English Versions of Boethius’s De Consolatione Philosophiae. 2 Bände, Oxford University Press, Oxford 2009, ISBN 978-0-19-925966-3.
Tim William Machan (Hrsg.): Chaucer’s Boece. A Critical Edition Based on Cambridge University Library, MS Ii.3.21, ff. 9r–180v. Winter, Heidelberg 2008, ISBN 978-3-8253-5432-9.
Mittelalterliche französische Übersetzungen
Isabelle Bétemps u. a. (Hrsg.): La Consolation de la Philosophie de Boèce dans une traduction attribuée à Jean de Meun d’après le manuscrit Leber 817 de la Bibliothèque Municipale de Rouen. Université de Rouen, Rouen 2004, ISBN 2-87775-380-8.
Glynnis M. Cropp (Hrsg.): Le Livre de Boece de Consolacion. Droz, Genf 2006, ISBN 2-600-01028-9 (kritische Ausgabe).
Rolf Schroth (Hrsg.): Eine altfranzösische Übersetzung der consolatio philosophiae des Boethius (Handschrift Troyes Nr. 898). Edition und Kommentar. Peter Lang, Frankfurt am Main 1976, ISBN 3-261-01845-3.
Mittelalterliche griechische Übersetzung
Manolis Papathomopoulos (Hrsg.): Anicii Manlii Severini Boethii De consolatione philosophiae. Traduction grecque de Maxime Planude. The Academy of Athens, Athen 1999, ISBN 2-7116-8333-8 (kritische Ausgabe).
Mittelalterliche hebräische Übersetzung
Sergio Joseph Sierra (Hrsg.): Boezio: De Consolatione Philosophiae. Traduzione ebraica di ʿAzaria ben R. Joseph Ibn Abba Mari detto Bonafoux Bonfil Astruc 5183–1423. Turin u. a. 1967.
Mittelalterliche italienische Übersetzung
Helmuth-Wilhelm Heinz (Hrsg.): Grazia di Meo, Il libro di Boeçio de chonsolazione (1343). Peter Lang, Frankfurt am Main 1984, ISBN 3-8204-7325-4.
Logik
Übersetzungen des Boethius
Lorenzo Minio-Paluello (Hrsg.): Aristoteles Latinus. Band I 1–5: Categoriae vel praedicamenta. Desclée de Brouwer, Brügge u. a. 1961 (enthält die Kategorien-Übersetzung des Boethius).
Lorenzo Minio-Paluello (Hrsg.): Aristoteles Latinus. Band I 6–7: Categoriarum supplementa: Porphyrii isagoge, translatio Boethii, et anonymi fragmentum vulgo vocatum „Liber sex principiorum“. Desclée de Brouwer, Brügge u. a. 1966 (enthält die Isagoge-Übersetzung des Boethius).
Lorenzo Minio-Paluello (Hrsg.): Aristoteles Latinus. Band II 1–2: De interpretatione vel periermenias: translatio Boethii, specimina translationum recentiorum. Desclée de Brouwer, Brügge und Paris 1965 (enthält Boethius’ Übersetzung von De interpretatione).
Lorenzo Minio-Paluello (Hrsg.): Aristoteles Latinus. Band III 1–4: Analytica priora: translatio Boethii (recensiones duae), translatio anonyma, Pseudo-Philoponi aliorumque scholia, specimina translationum recentiorum. Desclée de Brouwer, Brügge u. a. 1962 (enthält S. 1–191 die beiden Fassungen von Boethius’ Übersetzung der Analytica priora; auch die S. 293–372 edierten Scholien stammen von Boethius).
Lorenzo Minio-Paluello (Hrsg.): Aristoteles Latinus. Band V 1–3: Topica: translatio Boethii, fragmentum recensionis alterius, et translatio anonyma. Brill, Leiden 1969 (enthält Boethius’ Übersetzung der Topik).
Bernard G. Dod (Hrsg.): Aristoteles Latinus. Band VI 1–3: De sophisticis elenchis: translatio Boethii, fragmenta translationis Iacobi, et recensio Guillelmi de Moerbeke. Brill, Leiden 1975 (enthält Boethius’ Übersetzung der Sophistici elenchi).
Kommentare
Samuel Brandt (Hrsg.): Anicii Manlii Severini Boethii in isagogen Porphyrii commenta. Johnson Reprint Corporation, New York 1966 (Nachdruck der Ausgabe Wien 1906; kritische Edition beider Isagoge-Kommentare).
Karl Meiser (Hrsg.): Anicii Manlii Severini Boethii commentarii in librum Aristotelis ΠΕΡΙ ΕΡΜΗΝΕΙΑΣ. Teile 1 und 2, Teubner, Leipzig 1877–1880 (Nachdruck Garland Publishing, New York 1987, ISBN 0-8240-6904-8; kritische Ausgabe beider Kommentare zu De interpretatione).
Andrew Smith: Boethius: On Aristotle, On Interpretation 1–3. Bloomsbury, London 2014, ISBN 978-1-4725-5789-6 (englische Übersetzung)
David Blank, Norman Kretzmann (Hrsg.): Ammonius: On Aristotle On Interpretation 9, with Boethius: On Aristotle On Interpretation 9, first and second commentaries. Duckworth, London 1998, ISBN 0-7156-2691-4 (enthält S. 129–191 eine englische Übersetzung von Auszügen der beiden Kommentare zu De interpretatione über den logischen Determinismus).
Jacques Paul Migne (Hrsg.): Anicii Manlii Severini Boetii in categorias Aristotelis libri quatuor. In: Patrologia Latina. Band 64, Paris 1891, Sp. 159–294 (unkritische Ausgabe).
Pierre Hadot (Hrsg.): Un fragment du commentaire perdu de Boèce sur les Catégories d’Aristote dans le Codex Bernensis 363. In: Archives d’Histoire Doctrinale et Littéraire du Moyen Age. Bd. 26 (= année 34), 1959, , S. 11–27 (kritische Ausgabe des Kommentarfragments S. 12–14).
Johann Caspar von Orelli, Johann Georg Baiter (Hrsg.): Anicii Manlii Severini Boethii commentarii in Ciceronis topica. In: Johann Caspar von Orelli, Johann Georg Baiter (Hrsg.): M. Tullii Ciceronis opera quae supersunt omnia ac deperditorum fragmenta. Bd. 5, Teil 1: M. Tullii Ciceronis scholiastae. Orell Füssli, Zürich 1833, S. 269–395 (noch heute maßgebliche kritische Ausgabe des Kommentars zu Ciceros Topica).
Jacques Paul Migne (Hrsg.): Anicii Manlii Severini Boetii in topica Ciceronis commentariorum libri sex. In: Patrologia Latina. Band 64, Paris 1891, Sp. 1039–1174 (unkritische Ausgabe).
Alfredo Severiano Quevedo Perdomo (Hrsg.): A Critical Edition of Boethius’ Commentary on Cicero’s Topica, Book I. Dissertation Saint Louis 1963.
Eleonore Stump: Boethius’s In Ciceronis Topica. Cornell University Press, Ithaca und London 1988, ISBN 0-8014-2017-2 (englische Übersetzung).
Lehrschriften
John Magee (Hrsg.): Anicii Manlii Severini Boethii De divisione liber. Brill, Leiden 1998, ISBN 90-04-10873-4 (kritische Edition mit englischer Übersetzung und Kommentar).
Dimitrios Z. Nikitas (Hrsg.): Boethius’ De topicis differentiis und die byzantinische Rezeption dieses Werkes. The Academy of Athens, Athen 1990, ISBN 2-7116-9701-0 (kritische Edition von Boethius’ De topicis differentiis und zweier byzantinischer Übersetzungen dieses Werks).
Luca Obertello (Hrsg.): A. M. Severino Boezio: De hypotheticis syllogismis. Paideia, Brescia 1969 (kritische Ausgabe mit Einführung, Kommentar und italienischer Übersetzung)
Eleonore Stump: Boethius’s De topicis differentiis. Cornell University Press, Ithaca u. a. 1978, ISBN 0-8014-1067-3 (englische Übersetzung).
Christina Thomsen Thörnqvist (Hrsg.): Anicii Manlii Severini Boethii De syllogismo categorico. Acta Universitatis Gothoburgensis, Gothenburg 2008, ISBN 978-91-7346-611-0 (kritische Ausgabe mit englischer Übersetzung).
Christina Thomsen Thörnqvist (Hrsg.): Anicii Manlii Severini Boethii Introductio ad syllogismos categoricos. Acta Universitatis Gothoburgensis, Gothenburg 2008, ISBN 978-91-7346-612-7 (kritische Ausgabe mit Kommentar).
Mittelalterliche Übersetzungen
James C. King (Hrsg.): Notker der Deutsche: Boethius’ Bearbeitung der „Categoriae“ des Aristoteles. Niemeyer, Tübingen 1972, ISBN 3-484-20057-X.
James C. King (Hrsg.): Notker der Deutsche: Boethius’ Bearbeitung von Aristoteles’ Schrift “De Interpretatione”. Niemeyer, Tübingen 1975, ISBN 3-484-20089-8.
Dimitrios Z. Nikitas (Hrsg.): Eine byzantinische Übersetzung von Boethius’ „De hypotheticis syllogismis“. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1982, ISBN 3-525-25165-3 (kritische Ausgabe).
Musiktheorie
Calvin M. Bower, Claude V. Palisca: Anicius Manlius Severinus Boethius: Fundamentals of Music. Yale University Press, New Haven 1989, ISBN 0-300-03943-3 (englische Übersetzung von De institutione musica).
Christian Meyer (Hrsg.): Boèce: Traité de la musique. Brepols, Turnhout 2004, ISBN 2-503-51741-2 (unkritische Ausgabe von De institutione musica mit französischer Übersetzung).
Mathematik
Henri Oosthout, Jean Schilling (Hrsg.): Anicii Manlii Severini Boethii De arithmetica. Brepols, Turnhout 1999, ISBN 2-503-00943-3 (kritische Ausgabe).
Jean-Yves Guillaumin (Hrsg.): Boèce: Institution Arithmétique. Les Belles Lettres, Paris 1995, ISBN 2-251-01390-3 (kritische Ausgabe mit französischer Übersetzung).
Michael Masi: Boethian Number Theory. A translation of the De Institutione Arithmetica. Rodopi, Amsterdam 1983, ISBN 90-6203-785-2.
Menso Folkerts (Hrsg.): „Boethius“ Geometrie II. Ein mathematisches Lehrbuch des Mittelalters. Franz Steiner Verlag, Wiesbaden 1970, S. 69–82, 173–217 (lateinische Auszüge aus Euklids Elementen, die vermutlich aus einem verlorenen Werk des Boethius stammen).
Kai Brodersen: Boethius, Arithmetik. Zweisprachige Ausgabe lateinisch-deutsch. Edition Antike, Wissenschaftliche Buchgesellschaft wbg Darmstadt, 2022, ISBN 978-3-534-27426-0.
Theologie
Michael Elsässer (Hrsg.): Anicius Manlius Severinus Boethius: Die Theologischen Traktate. Meiner, Hamburg 1988, ISBN 3-7873-0724-9 (unkritische Ausgabe mit deutscher Übersetzung).
Literatur und Hilfsmittel
Übersichtsdarstellungen
Michael von Albrecht: Geschichte der römischen Literatur von Andronicus bis Boethius und ihr Fortwirken. Band 2. 3., verbesserte und erweiterte Auflage. De Gruyter, Berlin 2012, ISBN 978-3-11-026525-5, S. 1468–1495
Axel Bühler, Christoph Kann, Dieter Gutknecht: Anicius Manlius Severinus Boethius (ca. 480–524/526 n. Chr.). In: Wolfram Ax (Hrsg.): Lateinische Lehrer Europas. Fünfzehn Portraits von Varro bis Erasmus von Rotterdam. Böhlau, Köln 2005, ISBN 3-412-14505-X, S. 165–215
Siegmar Döpp: Boethius. In: Christoph Riedweg u. a. (Hrsg.): Philosophie der Kaiserzeit und der Spätantike (= Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike. Band 5/3). Schwabe, Basel 2018, ISBN 978-3-7965-3700-4, S. 2345–2382, 2401–2422
Gesamtdarstellungen
Henry Chadwick: Boethius: The Consolations of Music, Logic, Theology, and Philosophy. Clarendon Press, Oxford 1981, ISBN 0-19-826447-X.
John Marenbon: Boethius. Oxford University Press, Oxford 2003, ISBN 0-19-513407-9 (Rezension von Jeffrey Hause online).
Luca Obertello: Severino Boezio. 2 Bände, Accademia Ligure di Scienze e Lettere, Genova 1974 (der zweite Band ist eine umfangreiche Bibliographie mit knappen Inhaltszusammenfassungen)
Aufsatzsammlungen zu mehreren Themenbereichen
Manfred Fuhrmann, Joachim Gruber (Hrsg.): Boethius. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1984, ISBN 3-534-07059-3 (Aufsätze zu Biographie, Werk und Rezeption).
Alain Galonnier (Hrsg.): Boèce ou la chaîne des savoirs. Peeters, Louvain-la-Neuve 2003, ISBN 90-429-1250-2 (Aufsätze zu Biographie, Werk und Rezeption)
John Marenbon (Hrsg.): The Cambridge Companion to Boethius. Cambridge University Press, Cambridge 2009, ISBN 978-0-521-69425-4
Consolatio philosophiae
Joachim Gruber: Kommentar zu Boethius, De consolatione philosophiae. 2., erweiterte Auflage, de Gruyter, Berlin und New York 2006, ISBN 978-3-11-017740-4.
Helga Scheible: Die Gedichte in der Consolatio Philosophiae des Boethius. Winter, Heidelberg 1972, ISBN 3-533-02246-3.
Logik
Karel Berka: Die Aussagenlogik bei Boethius. In: Philologus. Bd. 126, 1982, S. 90–98.
Musiktheorie
Anja Heilmann: Boethius’ Musiktheorie und das Quadrivium. Eine Einführung in den neuplatonischen Hintergrund von „De institutione musica“. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2007, ISBN 978-3-525-25268-0 (behandelt auch eingehend Boethius’ Mathematikverständnis).
Mathematik
Wolfgang Bernard: Zur Begründung der mathematischen Wissenschaften bei Boethius. In: Antike und Abendland. Bd. 43, 1997, S. 63–89.
Detlef Illmer: Die Zahlenlehre des Boethius. In: Frieder Zaminer (Hrsg.): Geschichte der Musiktheorie. Band 3: Rezeption des antiken Fachs im Mittelalter. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1990, ISBN 3-534-01203-8, S. 219–252.
Rezeption
Pierre Courcelle: La Consolation de Philosophie dans la tradition littéraire. Antécédents et Postérité de Boèce. Études Augustiniennes, Paris 1967
Reinhold F. Glei, Nicola Kaminski, Franz Lebsanft (Hrsg.): Boethius Christianus? Transformationen der Consolatio Philosophiae in Mittelalter und Früher Neuzeit. De Gruyter, Berlin 2010, ISBN 978-3-11-021415-4.
Maarten J.F.M. Hoenen, Lodi Nauta (Hrsg.): Boethius in the Middle Ages. Latin and vernacular traditions of the Consolatio philosophiae. Brill, Leiden 1997, ISBN 90-04-10831-9.
Noel Harold Kaylor, Philip Edward Phillips (Hrsg.): A Companion to Boethius in the Middle Ages. Brill, Leiden 2012, ISBN 978-90-04-18354-4
Konkordanzen
Lane Cooper: . The Medieval Academy of America, Cambridge (Massachusetts) 1928.
Michael Bernhard: Wortkonkordanz zu Anicius Manlius Severinus Boethius, De institutione musica. Beck, München 1979, ISBN 3-7696-9994-7.
Weblinks
International Center for Boethian Studies Freiburg – Forschungszentrum zu Boethius und zur Spätantike
Textausgaben und Übersetzungen
Consolatio philosophiae, Ausgabe von Wilhelm Weinberger (1935)
Werke (lateinisch) in der Bibliotheca Augustana: De institutione musica (Ausgabe von Gottfried Friedlein, 1867); Consolatio (Ausgabe von Gegenschatz und Gigon, 1969); theologische Traktate
Utrum Pater et Filius et Spiritus Sanctus de divinitate substantialiter praedicentur, englische Übersetzung von Erik C. Kenyon, 2004 (PDF-Datei; 24 kB)
Consolatio philosophiae in deutscher Übersetzung bei Zeno.org
De institutione musica, deutsche Übersetzung von Oscar Paul, Leipzig 1872
Quomodo substantiae in eo quod sint bonae sint, cum non sint substantialia bona (deutsch und lateinisch)
Boethius, lateinische Übersetzung der Isagoge (Minio-Paluello, 1966)
Literatur
Paul Vincent Spade: Boethius against Universals. The Arguments in the Second Commentary on Porphyry (PDF; 156 kB)
The Philosophical Works of Boethius. Editions and Translations
Boethius' Logic and Metaphysics. An Annotated Bibliography
Agnieszka Kijewska: Boethius im Lexikon des Cusanus-Portals, 2009
Anmerkungen
Philosoph (Antike)
Neuplatoniker
Philosoph (6. Jahrhundert)
Seliger
Konsul (Römische Kaiserzeit)
Patricius (Westrom)
Logiker
Christlicher Theologe (6. Jahrhundert)
Musiktheoretiker
Person der Spätantike
Autor
Übersetzer aus dem Altgriechischen
Übersetzer ins Latein
Literatur des Mittelalters
Literatur (Latein)
Person als Namensgeber für einen Asteroiden
Person als Namensgeber für einen Merkurkrater
Person als Namensgeber für einen Mondkrater
Historische Person (Italien)
Ostgotenreich (Italien)
Römer
Hingerichtete Person (Römisches Reich)
Hingerichtete Person (6. Jahrhundert)
Geboren im 5. Jahrhundert
Gestorben im 6. Jahrhundert
Mann |
61055 | https://de.wikipedia.org/wiki/John%20Adams | John Adams | John Adams (* in Braintree, Suffolk County, Province of Massachusetts Bay; † 4. Juli 1826 in Quincy, Suffolk County, Massachusetts) war einer der Gründerväter der Vereinigten Staaten und von 1789 bis 1797 der erste Vizepräsident sowie nach George Washington von 1797 bis 1801 der zweite Präsident der Vereinigten Staaten.
Adams entstammte einem puritanischen Elternhaus und erlernte nach einem Studium am Harvard College den Anwaltsberuf. In Boston kam er während der frühen Amerikanischen Revolution in Kontakt mit seinem Cousin Samuel Adams und den Sons of Liberty. Anfangs noch loyal zur britischen Verfassung stehend, näherte er sich den nach einer Loslösung vom Mutterland strebenden Kolonisten zunehmend an. Als Mitglied des Kontinentalkongresses von 1774 bis 1778 trieb er die Unabhängigkeit der Dreizehn Kolonien vom Königreich Großbritannien voran. Zusammen mit Thomas Jefferson, Benjamin Franklin und anderen war er an der Konzeption der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten beteiligt.
Zwischen zwei diplomatischen Missionen im Königreich Frankreich arbeitete Adams in der Heimat die Verfassung von Massachusetts aus. Danach führte er in Europa Verhandlungen mit dem Königreich Großbritannien, die im Jahr 1783 in den Frieden von Paris mündeten. Anschließend war Adams als Repräsentant für die junge Republik in unterschiedlichen Staaten tätig und ab 1782 der erste Botschafter der Vereinigten Staaten in den Niederlanden, und ab 1785 erster Botschafter Amerikas in London.
Bei der ersten amerikanischen Präsidentschaftswahl im Jahr 1789 wurde Adams als Zweitplatzierter im Electoral College Vizepräsident unter George Washington. Bei den Wahlen 1792 konnte er dieses Amt gegen George Clinton verteidigen. Im entstehenden First Party System gehörte Adams zu den wichtigsten Vertretern der Föderalistischen Partei. Als deren Kandidat besiegte er bei den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1796 knapp Thomas Jefferson von der Demokratisch-Republikanischen Partei. Die Amtszeit von Adams wurde vom Quasi-Krieg mit dem revolutionären Frankreich und den Intrigen von Jefferson und Alexander Hamilton gegen ihn überschattet. Die bedeutsamste Gesetzgebung seiner Präsidentschaft waren die Alien and Sedition Acts. In einem stark polarisierenden Wahlkampf unterlag Adams 1800 Jefferson. Er zog sich danach ins Privatleben zurück und erlebte noch kurz vor seinem Lebensende, wie sein ältester Sohn John Quincy Adams im Jahr 1824 zum Präsidenten gewählt wurde.
Leben
Elternhaus und Bildung
Adams wurde am 19. Oktober 1735 als ältester von drei Söhnen in Braintree geboren, dem heutigen Quincy. Er stammte von Henry Adams ab, der um 1636 in die Massachusetts Bay Colony ausgewandert war. John Adams gehörte zur vierten Generation der Familie Adams, die in den Dreizehn Kolonien zur Welt kam. Adams’ Vater John (1691–1761) war ein Schuster und Farmer ohne formale Bildung, der knapp 20 Hektar Land bewirtschaftete und 14 Amtszeiten lang als Dekan in der kongregationalistischen Ortskirche diente. Im Jahr 1734 heiratete er Susanna Boylston (1708–1797), die einer Medizinerfamilie aus Brookline entstammte. Adams wuchs in einfachen und häuslich beengten Verhältnissen auf. Sein Vater legte auf Bildung Wert und schickte ihn nach der Grundschule auf eine Lateinschule, die Mutter brachte den Söhnen jeweils im fünften Lebensjahr das Lesen bei. Die Erziehung insgesamt war vom Puritanismus geprägt, wobei Adams sein Leben lang den Vater als Vorbild betrachtete. Die Eltern förderten Adams als Erstgeborenen besonders und hielten ihn von der Mitarbeit auf der Farm frei.
Im Jahr 1751 besuchte er das Harvard College, wo er Griechisch, Latein, Logik, Rhetorik und Physik studierte. Als Senior belegte er die Fächer Moralphilosophie und Metaphysik. Nach dem Abschluss des Studiums kehrte er im Jahr 1755 nach Braintree zurück, trat dort aber kein Pfarramt an, wie es sein Vater gewünscht hatte und es der damals übliche Berufsweg für Harvard-Absolventen war. Möglicherweise wurde Adams durch die Angriffe abgeschreckt, denen sich der liberale Theologe Jonathan Mayhew zu dieser Zeit ausgesetzt sah. Nach einer kurzfristigen Tätigkeit als Lateinlehrer an einer Grammar School in Worcester entschied er sich im Sommer 1756, beim führenden Anwalt von Worcester, James Putnam, in die Lehre zu gehen. Während dieser Zeit begann Adams Tagebuch zu führen, was er bis zu seinem Lebensende fortsetzte.
Anwaltspraxis
In den nächsten zwei Jahren arbeitete Adams weiter als Lateinlehrer und bildete sich nebenberuflich im Rechtswesen fort. Nachdem er die Anwaltszulassung im August 1758 erhalten hatte, kehrte Adams nach Braintree zurück, das im Justizdistrikt von Boston lag, um dort zu praktizieren und sich einen Namen zu machen. Als Förderer konnte er unter anderem James Otis Jr. und Jeremiah Gridley gewinnen, während sich Robert Treat Paine zu seinem stärksten Konkurrenten als Anwalt entwickelte.
Ab dem Jahr 1759 war Adams regelmäßig in Massachusetts unterwegs und nahm ein breites Spektrum von Rechtsfällen an. In Braintree führte Adams für die Abstinenzbewegung eine erfolgreiche Kampagne gegen Tavernen und erreichte die Beschränkung auf drei Schanklizenzen im Ort. Mit großem Interesse verfolgte er im Winter des Jahres 1761 einen Fall von Otis, der Bostoner Händler vertrat, die sich gegen die Durchsuchung ihrer Lager und Schiffe durch Zollbeamte des Königreichs Großbritannien wehrten. Adams erkannte, dass der Ausgang dieses Prozesses weitreichende Konsequenzen für die Autorität der Krone in den Dreizehn Kolonien hatte. Später sah er in der mitreißenden Rede von Otis gegen britische Willkür während dieses Verfahrens die Geburtsstunde der amerikanischen Unabhängigkeit.
Nach ersten Erfolgen vor Gericht erhielt Adams die Zulassung für den Superior Court of Judicature. Der Biograph John E. Ferling nennt als Gründe für Adams’ Aufstieg neben puritanisch geprägter Leistungsorientierung eine sehr gute Beobachtungsgabe, mittels der er das Verhalten von Zeitgenossen studierte und zum Teil imitierte. So orientierte er seinen Schreibstil an Otis und dem kongregationalen Prediger Peter Thacher.
Im Frühjahr und Sommer des Jahres 1763 erschienen sieben Essays von Adams unter dem Pseudonym Humphrey Ploughjogger in der Boston Gazette, die lokalpolitische Streitigkeiten um die Ernennung eines Repräsentanten für die Province of Massachusetts Bay in London spöttisch kommentierten. Weitere von ihm anonym veröffentlichte Artikel in diesem Jahr gingen der Frage nach, wie eine Regierung die schädlichen Triebe der Menschen kontrollieren könne, vor allem wenn sich diese in Machtpositionen befänden. Adams spricht sich für eine Balance aus Monarchie, Aristokratie und Parlamentarismus aus, womit er sich politisch an den Whigs orientiert. Im Januar 1765 schloss sich Adams einer Studiengruppe von Anwälten um Gridley an, die regelmäßig über Klassiker der Rechtsliteratur diskutierte. Aus seinen dortigen Redebeiträgen entstanden weitere Zeitungsartikel.
Wegen einer Variolation etwas später als geplant heiratete Adams am 25. Oktober 1764 Abigail Smith. Nach seiner Hochzeit zog das Ehepaar in die direkt neben seinem Geburtshaus gelegene Saltbox, die Adams von seinem 1761 verstorbenen Vater geerbt hatte. Der Brautvater war ein Pastor und die Familie Smith insgesamt relativ wohlhabend, da sie Einkünfte aus zwei Bauernhöfen bezog und vier Sklaven besaß. So war die Mutter Abigails gegen die Heirat, da Adams in ihren Augen kein standesgerechter Gatte für ihre Tochter war. Adams und Abigail Smith, schon damals eine willensstarke und belesene Persönlichkeit, waren 1759 einander vorgestellt worden und seit dem Jahr 1761 miteinander befreundet. Aus der Ehe, die erst der Tod schied, gingen fünf Kinder hervor, darunter der spätere Präsident John Quincy Adams. Für die damalige Zeit im ländlichen Milieu Neuenglands ungewöhnlich führten sie eine gleichberechtigte Ehe, wie sie eher unter den wohlhabenden Pflanzern der Südstaaten anzutreffen war.
Beginn der Amerikanischen Revolution
Als das britische Parlament im April 1764 den Sugar Act beschloss, erhoben sich in den Dreizehn Kolonien einige Stimmen dagegen. Als eine der besten Abhandlungen gegen dieses Zollgesetz gilt die von James Otis, dessen Aktionen Adams später als besonders prägend für sein Denken zu dieser Zeit bezeichnete. Der 1765 folgende Stamp Act war der erste Versuch der Krone, die Dreizehn Kolonien direkt zu besteuern. Er führte nach seinem Bekanntwerden zu Gewaltausbrüchen in Boston und der Brandschatzung des Hauses von Gouverneur Thomas Hutchinson im August des gleichen Jahres. Adams reagierte auf diese Straßenproteste unter der Führung der Sons of Liberty irritiert und besorgt. Als bekanntester Gegner des Stempelsteuergesetzes außerhalb der Assembly, in der die konservativen Tories ihre Mehrheit an die Country party der Händler und Bauern verloren hatten, profilierte sich Samuel Adams. Dieser Cousin Adams’ vereinte verschiedenste Gruppen in einer Protestbewegung, aus der die Patrioten hervorgingen, und inspirierte Adams dazu, sich aktiv in den Widerstand einzubringen.
Adams’ Rolle im Kampf gegen den Stamp Act in den Jahren 1765 und 1766 blieb gering und unauffällig, wohl auch, um den geschäftlichen Erfolg seiner Anwaltstätigkeit, der sich eingestellt hatte, nicht zu riskieren. Für die Grundbesitzer seines Wohnorts Braintree fertigte Adams eine im Oktober 1765 in der Boston Gazette veröffentlichte Instruktion ihres Delegierten in der Assembly an, die das Stempelsteuergesetz als verfassungswidrig und sicherheitsgefährdend verurteilte. In diesem Text erhob er erstmals die zentrale Forderung „No taxation without representation“. In kurzer Zeit wurde dieser Forderungskatalog von 40 weiteren Städten übernommen. Adams nahm an regelmäßigen Treffen der Sodalitas teil, bei der führende Bürger der Stadt über Gesetzes- und Ordnungsfragen und ihre Bedeutung für eine freiheitliche Gesellschaft debattierten. Daraus entstand eine Serie von vier Artikeln in der Boston Gazette, die Adams zwischen Ende August und dem 21. Oktober 1765 erneut unter dem Pseudonym Humphrey Ploughjogger und ohne Titel veröffentlichte.
Später wurden sie als Eine Dissertation über das kanonische und feudale Recht in London herausgegeben. Dieser Essay gilt als eine der hervorragendsten Schriften Adams. In der Artikelserie entwickelte Adams einige Ideen, auf die er sich während der Amerikanischen Revolution immer wieder bezog. Die Kernthese ist, dass die Vorfahren der amerikanischen Siedler freiheitsliebende Verfolgte gewesen seien, die in der Neuen Welt eine Gesellschaftsordnung entwarfen, die sich von Feudalismus und Kirchenrecht befreie. Für die Absicht Londons, die Bewohner der Dreizehn Kolonien zu verknechten, führt er als Beispiel Pläne der Krone an, einen Bischof der Church of England in Amerika einzusetzen. Nur wenige Sätze widmen sich dem Stamp Act, den er als weniger gefährlich beurteilt. In der Dissertation nennt er das Widerstandsrecht der Kolonien als ein Mittel, aus der zeitgenössischen Dekadenz zur Tugendhaftigkeit des alten Neuengland zurückzukehren.
Mit dem Inkrafttreten des Stamp Acts am 1. November 1765 waren die Gerichte für längere Zeit geschlossen und Adams vorerst erwerbslos. Als im Mai 1766 die Aufhebung des Stempelsteuergesetzes bekannt wurde, konnte er seine Anwaltstätigkeit fortsetzen. Adams schloss aus diesem Ereignis, dass sich der intensive Protest in den Dreizehn Kolonien gegen den Stamp Act ausbezahlt habe und sich die Zukunftsperspektiven der Kolonisten verbessert hätten. So verloren im Massachusetts General Court des Jahres 1766 in großer Zahl diejenigen ihre Sitze, die den Stamp Act unterstützt hatten, während Gegner wie zum Beispiel Thomas Cushing und Samuel Adams in die Assembly einzogen. Adams erlebte eine große Enttäuschung, als er zwar erfolgreich für den Stadtrat kandidierte, aber bei der Wahl zum Assembly-Delegierten für Braintree dem probritischen Ebenezer Thayer unterlag. Im Januar und Februar 1767 veröffentlichte Adams eine Serie von fünf Essays in der Boston Gazette, in denen er die Widerstandsbewegung der Kolonisten gegen den Stamp Act verteidigte, die zuvor von seinem Freund Jonathan Sewall kritisiert worden war.
Als nach dem Bekanntwerden der Townshend Acts das Schiff des Kaufmannes John Hancock wegen Verdachts auf Schmuggel im Jahr 1768 beschlagnahmt wurde, fungierte Adams als dessen Verteidiger im folgenden Prozess, der im Dezember 1768 fallen gelassen wurde. Durch die anschließende harte Politik des Kolonialministers für Amerika, Wills Hill, 1. Marquess of Downshire, der unter anderem General Thomas Gage anwies, drei Regimenter der British Army nach Boston zu beordern, spitzte sich die Lage weiter zu. Abgesehen von kleineren Unterstützungsleistungen im Geheimen für die Sons of Liberty hielt sich Adams in dieser Zeit im Hintergrund. Ein Angebot von Sewall, ihm als Generalanwalt der Province of Massachusetts Bay nachzufolgen, lehnte er daher sofort ab.
Die Anwesenheit der britischen Rotröcke in Boston mündete am 5. März 1770 im Massaker von Boston. Im Prozess gegen die Soldaten fungierte Adams gemeinsam mit Josiah Quincy II als deren Verteidiger. Seine Motive, diesen riskanten Auftrag anzunehmen, mit dem er seinen Ruf und seine persönliche Sicherheit aufs Spiel setzte, sind bis heute nicht vollkommen geklärt. Bei der Auswahl der Geschworenen nutzte er gekonnt seine Rechte als Verteidiger aus und sicherte laut dem Rechtshistoriker Hiller Zober somit seinen späteren Erfolg bereits in dieser Phase. Nach fünf Verhandlungstagen wurde der kommandierende Offizier Thomas Preston freigesprochen, nachdem die Zeugen der Anklage sich im Kreuzverhör in Widersprüche verwickelt hatten, ein Feuerbefehl nicht hatte nachgewiesen werden können und die Zeugen der Verteidigung belegt hatten, wie unübersichtlich und bedrohlich die Situation für die Rotröcke gewesen sei. Im anschließenden Prozess gegen die Soldaten im November 1770 gelang es Adams erneut, die damalige Bedrohungslage für die Soldaten sowie erste Übergriffe auf diese aus der Menge herauszustellen, wobei er beim dunkelhäutigen Opfer Crispus Attucks eine frühe Form des Racial Profiling anwandte. Am Ende wurden sechs der Angeklagten freigesprochen und lediglich zwei zur Brandmarkung eines Fingers verurteilt. Zwar verlor Adams nach dem Prozess viele seiner Klienten, langfristig jedoch gewann er dadurch an Ansehen.
Noch im Jahr 1770 war Adams mit überwältigender Mehrheit in die Assembly gewählt worden, wo er sich der Fraktion der Whigs anschloss. Er war nun mit über 450 Fällen pro Jahr und Mandanten wie zum Beispiel den Gouverneuren John Wentworth oder Francis Bernard, 1. Baronet einer der gefragtesten Anwälte der Province of Massachusetts Bay. Zu seinen Mandanten gehörten um ihre Freilassung bemühte Sklaven, die seinen Rat einholten. Während der vier Sitzungen der Assembly von 1770 bis 1771 beteiligte Adams sich an der schmähkritischen Kampagne gegen Gouverneur Hutchinson, gegen den er eine tiefe Abneigung empfand. Adams war von der britischen Verfassung und einer Lösbarkeit des Konflikts innerhalb dieses Ordnungsrahmens überzeugt, weshalb er die Forderung nach einer amerikanischen Unabhängigkeit noch nicht teilte. Ein Kollaps anfangs des Jahres 1771 bewog Adams dazu, nicht wieder für die Assembly zu kandidieren.
Adams zog sich für die nächsten knapp zwei Jahre aus der Politik zurück. Im Januar und Februar 1773 veröffentlichte er eine Serie von sieben Artikeln zu der Entscheidung Londons, Gouverneure selbst zu entlohnen, und gab zu bedenken, dass die fragliche Maßnahme die Unabhängigkeit der Gerichte gefährde. Zur gleichen Zeit entwarf er auf eine Anfrage der Assembly zusammen mit Samuel Adams und Joseph Hawley eine Replik auf die Forderung Gouverneur Hutchinsons, alle Dreizehn Kolonien hätten dem absoluten Machtanspruch Westminsters Folge zu leisten. Als Alternative dazu führten sie die Unabhängigkeit vom Mutterland an.
Laut dem Biographen Ferling kam Adams, der bis dahin die Kolonien als eine Miniaturausgabe Englands gesehen hatte, ausweislich seiner Tagebucheinträge im Jahr 1773 endgültig zu der Überzeugung, dass das Mutterland eine zutiefst korrupte, despotische und sittenlose Nation sei. Diesem stellte er ein idealisiertes Selbstbild im Sinne des Amerikanischen Exzeptionalismus gegenüber. Damit verknüpft hatte Adams ein zyklisches Geschichtsverständnis, demzufolge junge Nationen rein und tugendhaft seien und im Alter moralisch verfielen. Das Bild vom dekadenten und korrupten Mutterland war von zentraler Bedeutung für das Eintreten Adams für die Unabhängigkeit. Andere Historiker nennen für Adams’ Transformation zum amerikanischen Revolutionär frühere, aber auch spätere Ereignisse, wobei die Mehrheit das Jahr 1765 als entscheidend ansieht. Sein Enkel Charles Francis Adams, Sr. charakterisierte diese Wandlung als sehr widerwillig, während Howard Zinn, noch drastischer, Adams als einen mit der Revolution sympathisierenden Aristokraten beschreibt, der verhindern wollte, dass diese zu sehr in Richtung Demokratie ging.
Adams wurde in den Jahren 1773 und 1774 in den Governor’s Council gewählt, jedoch die Ernennung in beiden Fällen durch den Gouverneur verweigert. Als Adams am 17. Dezember 1773 von der Boston Tea Party erfuhr, erkannte er sofort die epochale Bedeutung und befürwortete die Aktion als alternativlos. Nach den Intolerable Acts Londons, die sich anfangs ausschließlich gegen Massachusetts richteten, verständigten sich die Kolonien auf eine gemeinsame Versammlung. Am 17. Juni 1774 bestimmte die Assembly eine vierköpfige Delegation für diesen Ersten Kontinentalkongress, in die neben Adams, James Bowdoin, Robert Treat Paine und Samuel Adams gewählt wurden.
Kontinentalkongress
Auf dem Weg nach Philadelphia im August 1774 verließ Adams erstmals Neuengland. In der Delegation hatte Thomas Cushing den kurzfristig ausgefallenen Bowdoin ersetzt. In den Tagen vor der ersten Kongressversammlung begegnete Adams erstmals George Washington und stellte fest, dass unter den Delegierten zwar Konsens über die den Amerikanern zustehenden Rechte herrschte, aber knapp die Hälfte von ihnen sehr ängstlich war, der Krone die Stirn zu bieten. Diese konservative, vorwiegend aus den Mittelatlantikstaaten stammende Fraktion gruppierte sich um Joseph Galloway, John Jay, James Duane und William Livingston. Die zuverlässigsten und couragiertesten Verbündeten außerhalb Neuenglands fand Adams in den Delegationen der Province of South Carolina und Kolonie Virginia. Um Konsens zwischen den zwölf teilnehmenden Kolonien erreichen zu können, hielt sich das wegen seiner Radikalität verrufene Massachusetts zu Anfang des Kontinentalkongresses zurück. Die in der Carpenters Hall tagende Versammlung richtete ein 24-köpfiges Grand Committee ein, dem Adams angehörte. Diese Kommission hatte den Auftrag, eine Stellungnahme zu den Rechten Amerikas zu verfassen.
Adams tat sich nicht als Fraktionsführer hervor, konnte aber in einigen kontroversen Diskussionen Kompromisslösungen vermitteln. Am 14. Oktober 1774 verabschiedete die Versammlung als Ergebnis des Grand Committees die zehn Artikel lange Declaration of Rights and Grievances. Adams’ Beitrag zu dieser Erklärung ist in der Präambel und dem vierten Artikel erkennbar, der das Recht der Kolonien auf eigene Steuergesetzgebung betont, solange sie nicht im britischen Parlament repräsentiert sind.
Im Dezember 1774 wurde er durch den Massachusetts Provincial Congress, der die durch die Krone aufgelöste Assembly ersetzt hatte, in die Delegation für den Zweiten Kontinentalkongress gewählt. Nach zehn Jahren war Adams wieder im Stadtrat von Braintree, wo er für die Aufstellung von drei Minutemen-Kompanien sorgte. Als Antwort auf die Essays des Torys Massachusettensis, hinter dem sich der die Beschlüsse des Ersten Kontinentalkongresses scharf verurteilende Anwalt Daniel Leonard verbarg, antwortete Adams als Novanglus in zwölf Briefen, die zwischen Januar und April 1775 veröffentlicht wurden. Mit diesen Essays präsentierte er sich landesweit als die kommende Führungsfigur des Kontinentalkongresses.
Adams, der sich ab dem Jahr 1773 intensiv mit Staatstheorien und insbesondere der Republiktheorie von James Harrington beschäftigt hatte, entwickelte als Novanglus eine radikale neue Grundlage für die Autonomie der Kolonien. Diese sollten als Republiken mit Zweikammersystem und Mehrpersonenexekutive freiwillig eine Bindung an die britische Krone eingehen. Die Novanglus-Briefe fanden zur Zeit ihrer Veröffentlichung nur geringe Beachtung, bestimmten aber vier Jahre später wesentlich die Konzeption der Verfassung von Massachusetts. Der Biograph John P. Diggins streicht im Gegensatz zu Richard Alan Ryerson den polemischen Charakter der Briefe und die Tatsache heraus, dass von allen referenzierten Philosophen nur John Locke ein Recht auf Revolution kennt.
Vor der Veröffentlichung des letzten Briefes kam es am 19. April 1775 zum Ausbruch des Amerikanischen Unabhängigkeitskriegs. Adams beobachtete eine tiefe Spaltung innerhalb der Bevölkerung, die er auf jeweils ein Drittel Patrioten, Loyalisten und Neutrale schätzte. Ihm war klar, dass die Beziehung zu England irreversibel zerbrochen war und ein langer Krieg bevorstand. Auf dem Zweiten Kontinentalkongress ab Mai 1775 beendete die Delegation aus Massachusetts wegen des Kriegsausbruches die selbst auferlegte Zurückhaltung. Noch im ersten Monat kristallisierten sich zwei Fraktionen heraus, von denen die eine unter der Führung von John Dickinson einen Ausgleich mit London anstrebte, während die andere unter der Führung von Adams für ein Fortführen des Krieges und Unabhängigkeit eintrat. Er entfaltete in den nächsten zwei Jahren extremen Arbeitseifer und saß in 90 Ausschüssen, wobei er in 25 den Vorsitz führte. Aufgrund des Einflusses und des allgemeinen Respekts, den er sich erworben hatte, wurde er vom Kontinentalkongress in die wichtigsten Kommissionen gewählt. Ab Juni 1776 leitete Adams das wichtige fünfköpfige Board of War, das die Kriegsführung der Kontinentalarmee bis ins Detail organisierte und aus Roger Sherman, Benjamin Harrison V, James Wilson sowie Edward Rutledge bestand. So war dieser Ausschuss unter anderem für Rekrutierung, Nachschub, Bewaffnung, Fortifikation und Besetzung von Offiziersdienstposten zuständig. Mit großer Sorge verfolgte er den Ausbruch einer Pockenepidemie im Juli 1776 in Boston und hoffte, die Kontinentalarmee mit strengeren Hygienevorschriften davor schützen zu können. Im Urteil mancher Historiker wurde Adams mit dem Vorsitz im Board of War de facto zum Secretary of War.
Zwar behauptete Adams später, Hauptverantwortlicher für die Ernennung von Washington zum Commanding General of the United States Army am 15. Juni 1775 gewesen zu sein, der Historiker Joseph J. Ellis sieht darin aber eine Übertreibung des eigenen Einflusses. Im Herbst 1775 überzeugte Adams den Kontinentalkongress anlässlich einer Anfrage der New Hampshire Colony davon, die kolonialen Rechtsordnungen zu verlassen und jeweils eigene Verfassungen mit entsprechenden Organen zu bilden. Er setzte sich energisch für das Aufstellen der United States Navy ein, die der Kongress am 13. Oktober 1775 verabschiedete, und war am Entwurf ihrer Bordvorschriften maßgeblich beteiligt. Die Mitarbeit im Marineausschuss, bei der er Stephen Hopkins kennen und schätzen lernte, bezeichnete Adams später als die angenehmste dieser Jahre.
Noch Anfang Februar 1776 hatten die Delegationen aus sechs Kolonien die Order, keiner Unabhängigkeit zuzustimmen. Die Stimmung im Kontinentalkongress kippte erst in Richtung Unabhängigkeit, als am 27. Februar die Proclamation of Rebellion von Georg III. bekannt wurde, welche die Kolonisten als Verräter brandmarkte, und, noch folgenreicher, im Januar die Streitschrift Common Sense von Thomas Paine erschienen war. Adams begrüßte zwar das Pamphlet, befürchtete aber, dass dessen radikaler Egalitarismus für einen postkolonialen Staatsaufbau schädlich sei. Daher veröffentlichte Adams die Schrift Thoughts on government, die er zuerst für William Hooper festgehalten hatte, als dieser ihn um Anregungen für die Neukonzeption der Verfassung der Province of North Carolina angefragt hatte. In dieser Schrift kritisiert er Paines Konzept von Volkssouveränität, das ein Einkammersystem sowie deutlich eingeschränkte Exekutivgewalt vorsieht, und betont, dass gesellschaftliches Glück nicht aus einem unregulierten Volkswillen entstehe, sondern durch Herrschaft von Gesetzen und Institutionen. Diese seien ein Schutzmechanismus gegen die destruktiven Triebe der menschlichen Natur, von der Adams ein eher pessimistisches Bild hatte. Er spricht sich für eine Balance zwischen Exekutive und Legislative aus, die durch ein Vetorecht des Staatsoberhaupts, jährliche Wahlen und eine auf Lebenszeit ernannte Richterschaft gewährleistet werden solle. Von allen Werken Adams wurden die Thoughts on government das einflussreichste.
Am 10. Mai 1776 brachte Adams mit Richard Henry Lee einen Gesetzesentwurf ein, der die Dreizehn Kolonien dazu aufforderte, neue Regierungen zu bilden, und wider Erwarten einstimmig angenommen wurde. Dies richtete sich gegen die Assembly der Province of Pennsylvania, in der immer noch eine Mehrheit gegen die Unabhängigkeit und für eine Verständigung mit Großbritannien war. Am 15. Mai verabschiedete der Kontinentalkongress nach einer dreitägigen intensiv geführten Debatte die von Adams konzipierte Präambel zum Gesetzesentwurf vom 10. Mai, welche die Kolonien zur vollständigen Selbstverwaltung ermächtigte und sie dazu verpflichtete, jegliche Staatsgewalt der Krone zu beseitigen. Für Adams war diese Resolution gleichbedeutend mit der Unabhängigkeit der Dreizehn Kolonien. In Pennsylvania bewirkte dieses Ereignis einen unmittelbaren patriotischen Stimmungsumschwung. Nachdem am 20. Mai die Assembly von Pennsylvania in Anwesenheit von Adams durch eine Volksversammlung von 4000 Bürgern ihrer Delegation grünes Licht gegeben hatte, für die Unabhängigkeit zu stimmen, knickten die letzten der noch widerstrebenden Kolonien ein. Am 7. Juni 1776 sekundierte er Lee beim Einbringen der sogenannten Lee Resolution, die erklärte, dass die Kolonien freie und unabhängige Staaten seien, dies laut Naturrecht sein sollten, und gemeinsam eine Konföderation bilden sollten. Als der Kontinentalkongress in der Debatte dazu keine Einigung erzielen konnte, wurde vier Tage später Adams zusammen mit Thomas Jefferson, Benjamin Franklin, Robert R. Livingston und Sherman in das Komitee der Fünf berufen, um zu dieser Resolution eine Präambel zu erarbeiten, die spätere Unabhängigkeitserklärung. In der ersten Ausschusssitzung wurde Adams angeboten, die Federführung für den Entwurf zu übernehmen, was er aufgrund seiner hohen Arbeitsbelastung ablehnte, weshalb Jefferson diese Aufgabe übernahm. Er legte Adams nach zwei Wochen eine an der Virginia Declaration of Rights orientierte Skizze zur Prüfung vor, an der Adams nur geringfügige stilistische Änderungen vornahm. Am 28. Juni präsentierte das Komitee der Fünf dem Kontinentalkongress den Entwurf. Drei Tage später fand die Debatte zur Wiedervorlage der Lee Resolution statt, in der Adams in einer zweistündigen, unvorbereiteten Rede auf die Einwände von Dickinson gegen die Unabhängigkeit einging. Diese Rede war nicht nur die bis dahin bedeutsamste im Kontinentalkongress, sondern auch die beste in Adams’ politischem Leben. Am nächsten Tag blieben die Delegation der Provinz New York sowie Dickinson und Robert Morris als Gegner der Unabhängigkeit der Abstimmung fern, so dass die Lee-Resolution von den anwesenden zwölf Kolonien einstimmig angenommen wurde. Am 3. und 4. Juli debattierte der Kontinentalkongress über die Unabhängigkeitserklärung des Komitees der Fünf und verabschiedete diese nach redaktionellen Änderungen und einer Kürzung des Texts um ein Viertel, wobei die Passage zur Ächtung des Sklavenhandels komplett gestrichen wurde.
Noch im Monat der Unabhängigkeitserklärung begann der Kontinentalkongress über die zukünftige Verfassung zu debattieren. Im September 1776 erschien General John Sullivan, der in der Schlacht von Long Island von den Briten gefangen genommen worden war, vor dem Kontinentalkongress und überbrachte ein Verhandlungsangebot der Befehlshaber und Brüder Admiral Richard Howe, 1. Earl Howe und General William Howe, 5. Viscount Howe. Adams sprach sich gegen Gespräche mit dem Gegner aus, da er eine erneute Polarisierung der Bevölkerung befürchtete. Er wurde überstimmt und gemeinsam mit Franklin und Rutledge als Abgesandter nach Staten Island beordert, wo sie am 11. September die Howes trafen. Da diese als Bedingung für den Frieden nur die Unterwerfung unter die Krone akzeptierten, wofür sie im Gegenzug Straferlass für einen Teil der Rebellen anboten, endeten die Unterhandlungen noch am gleichen Tag. Noch im September erhöhte Adams die Anreize für eine längere Verpflichtungszeit und brachte mit Jefferson ein Gesetz durch den Kontinentalkongress, das die Strafen bei Dienstvergehen drastisch verschärfte. Außerdem schlug er vergeblich die Gründung einer Militärakademie vor. Der unerfreuliche Kriegsverlauf führte dazu, dass er seine Ablehnung von Militärallianzen mit europäischen Mächten überdachte.
Nach einigen Wochen bei der Familie in Braintree kehrte Adams im Januar 1777 zum Kontinentalkongress zurück, der aufgrund des Kriegsgeschehens für einige Zeit nach Baltimore auswich und ab Februar wieder in Philadelphia tagte. Adams arbeitete in 26 Ausschüssen mit, von denen der Board of War der zeitintensivste war und ihm keine Gelegenheit bot, sich in die Konzeption der Konföderationsartikel einzubringen. Er blickte optimistisch in die Zukunft, da er angesichts des Unvermögens der Briten, in den ersten beiden Kriegsjahren einen Sieg herbeizuführen, eine Niederlage der Kontinentalarmee im dritten Jahr für noch unwahrscheinlicher erachtete. Zudem war Adams zuversichtlich, dass bald das Königreich Frankreich oder Spanien den Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg ausnutzte, um das Vereinigte Königreich in Europa in einen Krieg zu ziehen. Nach der amerikanischen Niederlage in der Schlacht von Brandywine floh Adams mit dem Kontinentalkongress vor der anrückenden britischen Armee aus Philadelphia über Lancaster nach York. Als General Horatio Gates kurz darauf die British Army in der Schlacht von Saratoga besiegte, erkannte Adams darin sofort den entscheidenden Wendepunkt im Unabhängigkeitskrieg.
Diplomatische Missionen
Ende November 1777 wählte der Kontinentalkongress Adams in Abwesenheit zum Diplomaten Amerikas im Königreich Frankreich. Dort sollte er mit Franklin und Arthur Lee als Delegationsmitgliedern am französischen Hof mögliche Allianzen und finanzielle Unterstützung aushandeln und den bisherigen amerikanischen Vertreter Silas Deane ersetzen. Die Wahl von Adams erfolgte deshalb, weil er einer der ersten Delegierten des Kontinentalkongresses gewesen war, der Ideen zur Außenpolitik der Dreizehn Kolonien entwickelt hatte. So hatte er das Recht auf Bildung auswärtiger Allianzen in die Lee Declaration vom Juni 1776 eingebracht. Ein von Adams als Vorsitzendem des Committee of Treaties () entworfener Modellvertrag für die bilateralen Beziehungen zum Königreich Frankreich war im September 1776 vom Kontinentalkongress verabschiedet worden und wurde für die nächsten 25 Jahre das Muster für zwischenstaatliche Abkommen Amerikas. Auf seiner Reise nach Paris wurde Adams von seinem zehnjährigen Sohn John Quincy begleitet, mit dem er sich am 15. Februar 1778 auf der USS Boston einschiffte. Dies geschah aus Sorge vor britischen Spionen unter größter Geheimhaltung in der Morgendämmerung und außerhalb des Hafens von Boston. Bereits nach kurzer Fahrt verfolgte sie eine britische Fregatte, die sie erst nach drei Tagen abhängen konnten. Beim Aufbringen des englischen Handelsschiffes Martha verfehlte eine gegnerische Kugel Adams nur knapp und traf den Besanmast hinter ihm. Ende März erreichten sie Bordeaux und zogen weiter nach Paris.
Noch bevor er von Bord gegangen war, erfuhr Adams, dass Lee, Franklin und Deane am 6. Februar in Versailles mit Ludwig XVI. bereits einen Allianz- und Handelsvertrag abgeschlossen hatten und sich somit seine Hauptaufgabe erledigt hatte. Enttäuscht übernahm Adams, der mit Franklin das Hôtel de Valentinois bewohnte, die Dokumente- und Finanzverwaltung der amerikanischen Kommission und lernte Französisch. Oberste Priorität hatte für ihn, mehr Unterstützung durch die französische Marine im Unabhängigkeitskrieg zu gewinnen, da er wie Washington die Seemacht als einen möglicherweise kriegsentscheidenden Faktor ansah. Vorerst blieb ihm in dieser Sache ein Erfolg versagt, da Frankreich zu dieser Zeit eine Invasion Englands plante. Trotz seiner klassischen republikanischen Ideale war er neben der Betriebsamkeit von der Opulenz des Pariser Lebens beeindruckt und lernte unter anderem den Philosophen Marie Jean Antoine Nicolas Caritat, Marquis de Condorcet und den Ökonom Anne Robert Jacques Turgot kennen. Dem König wurde Adams am 8. Mai 1778 offiziell vorgestellt.
Der wichtigste Kontaktmann für die amerikanische Delegation war der in Geheimdiplomatie und Intrigen versierte Charles Gravier, comte de Vergennes. De Vergennes stieß von Beginn an auf großes Misstrauen bei Adams und bevorzugte den geselligeren und weniger bestimmten Franklin als Gesprächspartner. Adams, anfangs ein großer Bewunderer von Franklin, sah dessen sorglosen Umgang mit Geld und potenziellen Spionen in seinem persönlichen Umfeld sowie den Mangel an Dienstbeflissenheit zunehmend kritisch. Am 14. September 1778 bestimmte der Kontinentalkongress die Auflösung der Kommission und ernannte Franklin zum alleinigen Botschafter am französischen Hof. Die offizielle Meldung erreichte Adams am 12. Februar 1779. Die Abberufung ohne Zuweisung eines neuen Dienstpostens oder Bitte um Rückkehr erlebte er als schwere Demütigung und tiefe Kränkung. Am 22. April ging er mit seinem Sohn in Nantes an Bord der USS Alliance. Ihr Auslauf verzögerte sich jedoch, da sie als Teil einer amerikanisch-französischen Expeditionsflotte unter dem Kommando von Marie-Joseph Motier, Marquis de La Fayette und John Paul Jones die englische Westküste attackieren sollte. Zum Ärger von Adams, der aus Gründen der Geheimhaltung über die Hintergründe nicht informiert worden war, konnte er die Heimfahrt erst am 17. Juni an Bord der Sensible antreten, einer Fregatte der französischen Marine. Mit an Bord war Anne César de la Luzerne, der neue französische Botschafter in den Vereinigten Staaten.
Zurück in Amerika berichtete er dem Kontinentalkongress über die noch zu klärenden Sachfragen mit Paris. Adams erstellte ab Mitte September 1779 innerhalb von knapp sechs Wochen einen Entwurf der Verfassung von Massachusetts, der sich an seinen Thoughts on Government und der Virginia Declaration of Rights orientierte und ein Zweikammersystem aus Checks and Balances vorsah. Die Rechtsprechung war unabhängig und dazu ermächtigt, die Handlungen der beiden anderen Staatsgewalten einer Normenkontrolle zu unterziehen. Eine historische Neuerung war die im Verfassungsentwurf formulierte Pflicht des Staates, die Erziehung und kulturelle und wissenschaftliche Bildung seiner Bürger sicherzustellen. Für die meisten der späteren bundesstaatlichen Verfassungen, auch in den Mittelatlantik- und Südstaaten, fungierte der Entwurf von Adams als Muster, wobei die auf Lebenszeit ernannten obersten Bundesrichter als größte Errungenschaft gelten. Auf einem Bankett zu Ehren des französischen Botschafters im August 1779 in Harvard regte Adams an, als Gegenstück zur American Philosophical Society in Philadelphia in Boston die American Academy of Arts and Sciences zu gründen, was ein Jahr später umgesetzt wurde. Im Oktober 1779 ernannte ihn der Kontinentalkongress einstimmig zum Gesandten mit der Vollmacht, einen Friedensvertrag mit dem Königreich Großbritannien auszuhandeln. Bei der erneuten Überfahrt nach Europa, die ab dem 15. November auf der Sensible begann, begleiteten ihn die beiden ältesten Söhne sowie Francis Dana als offizieller Sekretär.
Wegen einer Schiffsleckage ab Ferrol den Landweg nutzend, erreichte Adams Paris erst am 9. Februar 1780. Dort hielt ihn der um seine diplomatische Entscheidungsautonomie fürchtende und insgesamt missgünstig gesinnte de Vergennes hin und bestand darauf, dass Adams seine Vollmacht, einen Friedensvertrag mit London auszuhandeln, nicht publik machte, obwohl seine Mission ein offenes Geheimnis war. Daher betrieb Adams vorerst Pressearbeit für die amerikanische Sache und veröffentlichte anonym Artikel im Mercure de France und in britischen Zeitungen. Das Verhältnis zu de Vergennes verschlechterte sich bis zum Sommer 1780 so sehr, dass dieser ab dem 29. Juli nur noch Franklin als Gesprächspartner akzeptierte. Ausgelöst hatte dies ein von de Vergennes wahrscheinlich als Vorwand bewusst initiierter Streit um die Abwertung des US-Dollars und Adams’ Weigerung, sich für Ausnahmeregelungen für französische Händler einzusetzen.
Bereits am 27. Juli 1780 hatte sich Adams mit beiden Söhnen auf den Weg in die Republik der Sieben Vereinigten Provinzen gemacht, um dort an Stelle von Henry Laurens, der von den Briten festgesetzt worden war, einen Freundschafts- und Handelsvertrag auszuhandeln. Dazu hielt er sich weniger in der Hauptstadt Den Haag als in Amsterdam auf, wo die eigentliche Macht lag. Viele der dortigen Intellektuellen erkannten Parallelen zwischen dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und dem eigenen Freiheitskampf im Achtzigjährigen Krieg, weshalb sie wie die Mehrheit der Niederländer mit der Amerikanischen Revolution sympathisierten. Nachdem er von offizieller Seite monatelang nicht empfangen wurde, nicht zuletzt da die Republik der Sieben Vereinigten Provinzen vom britischen Schutz ihrer Seehandelswege abhängig waren, wandte sich Adams im April 1781 entgegen der diplomatischen Gepflogenheiten in einem bald europaweit veröffentlichtem Schreiben direkt an die Generalstaaten. Im Sommer schickte er seinen gesundheitlich angeschlagenen Sohn Charles zurück nach Amerika, während Quincy in das Russische Kaiserreich aufbrach, wohin Dana als Botschafter berufen worden war. Die Generalstaaten warteten noch bis zum Bekanntwerden der Kapitulation von Charles Cornwallis, 1. Marquess Cornwallis in Yorktown im November 1781, bevor ein verbindlicher Handelsvertrag geschlossen und Amerika von Den Haag am 19. April 1782 diplomatisch anerkannt wurde. Adams’ offizieller Empfang als Botschafter durch den Statthalter Wilhelm V. fand drei Tage später statt. Im Juni handelte er mit drei niederländischen Banken einen Kredit über 5 Mio. Gulden aus und im Oktober einen Handelsvertrag mit der Republik der Sieben Vereinigten Provinzen. Später bezeichnete Adams den Erfolg seiner Mission in den Vereinigten Niederlande als seine größte politische Leistung.
Ende Oktober 1782 kehrte Adams nach Paris zurück, um gemeinsam mit Franklin und John Jay einen Friedensvertrag mit Großbritannien auszuhandeln. Die Order des Konföderationskongresses, sich de Vergennes unterzuordnen und die Frage der Unabhängigkeit hintan zu stellen, erboste sowohl Adams als auch Jay. Entgegen dieser Instruktion und mit dem Einverständnis von Franklin begannen sie ab dem 30. Oktober Verhandlungen mit dem Königreich Großbritannien, ohne vorher de Vergennes zu konsultieren. Dabei bestanden sie auf die Anerkennung der amerikanischen Unabhängigkeit durch London im Vertragstext. Weitere offene Fragen waren die Entschädigungsforderungen von geflohenen Loyalisten, amerikanische Privatschulden bei britischen Händlern und, für Adams besonders wichtig, die Fischereirechte in der Neufundlandbank. Der Grenzdisput wurde schnell beigelegt, als Großbritannien den Vereinigten Staaten das Territorium zwischen Appalachen und Mississippi überließ und Amerika die Schifffahrtsrechte auf diesem Fluss einräumte. Auf Drängen Adams’ wurden die Schulden nicht einfach gegen die erlittenen Kriegsschäden aufgerechnet, wie von Franklin und Jay vorgeschlagen, sondern ein Passus zur Zahlung eingefügt, der sich später jedoch als nicht praktikabel erwies. Nachdem Ende November die Entschädigung der Loyalisten in die Zuständigkeit der Bundesstaaten verwiesen wurde, blieben die Fischereirechte als letzte offene Frage, die die Verhandlungen fast zum Scheitern brachte. Als die Briten Amerika zwar nicht das „Recht“ aber die „Freiheit“ zugestanden, auch in der Neufundlandbank zu fischen, kam es am 30. November 1782 zum Abschluss eines Vorvertrags. Am 3. September 1783 schließlich unterzeichneten Adams, Franklin und Jay als Vertreter der Vereinigten Staaten den endgültigen Frieden von Paris.
Während dieser Phase bat Adams Abigail vergeblich, zu ihm und Quincy zu kommen, der mittlerweile aus Sankt Petersburg zurückgekehrt war. Sie hatte große Angst vor der Überfahrt und dem Verlassen ihrer Heimat und erst als ihr Vater gestorben war und sie erfuhr, dass Adams im Oktober 1783 in Paris schwer erkrankt war, reiste sie im Juni 1784 mit ihrer ältesten Tochter „Nabby“ nach Europa. Adams hatte unterdessen zur Genesung eine Residenz außerhalb von Paris in Auteuil bezogen, wohin er Abigail und „Nabby“ unmittelbar nach ihrem Wiedersehen in London am 7. August 1784 mitnahm. Jefferson, der Franklin als Botschafter in Frankreich nachfolgte, war ein regelmäßiger Gast im Hause der Adams’. Zwischen ihm und Adams aber auch Abigail entwickelte sich eine enge Freundschaft. Ihre diplomatische Mission, gemeinsam mit Franklin mit großen europäischen Nationen Handelsverträge abzuschließen, gestaltete sich zäh; dies gelang nur im Juli 1785 mit Preußen.
Ende April 1785 erfuhr Adams von seiner Ernennung zum ersten Botschafter Amerikas in London. Im Monat darauf zog er mit Abigail und „Nabby“ nach London, während Quincy nach Amerika zurückkehrte, um in Harvard zu studieren. Am 1. Juni stellte sich Adams während einer Privataudienz im St James’s Palace König Georg III. vor. Das Treffen verlief erfreulich und war von gegenseitigem Respekt geprägt. Adams mietete eine Residenz am Grosvenor Square an, aus der in der Folge die amerikanische Botschaft wurde. Bis auf regelmäßige Teilnahmen am Hofzeremoniell und einige wenige Kontakte zu britischen Regierungsoffiziellen wurde Adams von der Londoner Gesellschaft ignoriert und in der englischen Presse Opfer einer Hetzkampagne. Insgesamt war die antiamerikanische Stimmung im Königreich Großbritannien ähnlich hoch wie während des Unabhängigkeitskriegs. Er konnte weder von Premier William Pitt dem Jüngeren noch Außenminister Francis Osborne, 5. Duke of Leeds Zusicherungen erreichen, die verbliebenen Truppen aus Amerika zurückzuziehen, privilegierte Handelsbeziehungen zu schaffen oder Entschädigung für Sklaven und Eigentum zu zahlen, die britische Offiziere aus Amerika verbracht hatten.
Im Juli 1785 kam es zum ersten Konflikt mit dem Barbareskenstaat, als im Mittelmeer zwei amerikanische Schiffe von Barbaresken-Korsaren gekapert und die Besatzung versklavt worden war. Auf Order des Konföderationskongress hin zahlte Adams an einen Boten des Sultans ein Lösegeld. Im Januar 1787 vereinbarten Adams und Jefferson mit Marokko jährliche Schutzgeldzahlungen. Parallel traten im amerikanischen Staatenbund soziale Unruhen auf, die in der Shays’ Rebellion im Westen von Massachusetts ihren Höhepunkt fanden. Adams war ob dieser Entwicklung besorgt und befürchtete zum einen, dass die europäischen Mächte die Bundesstaaten gegeneinander ausspielten, zum anderen, dass, wie in Rhode Island und North Carolina geschehen, die Schuldner mit einer legislativen Mehrheit ihre Gläubiger mit wertlosem Papiergeld ausbezahlten und die Gerichtsbarkeit außer Kraft setzten. Wie von ihm vorhergesehen, reagierte die Zentralgewalt darauf mit einer deutlichen Stärkung ihrer Autorität, die die Philadelphia Convention im September 1787 mit Verabschieden der Verfassung der Vereinigten Staaten herstellte. Als Botschafter in London schrieb Adams die dreibändige A defence of the constitutions of government of the United States of America. Diese umfangreiche, in den Jahren 1787–1788 veröffentlichte Monographie behandelt politische Philosophie und ist zu einem großen Teil eine historisch gelehrte Wiedergabe seiner Thoughts on government von 1776. Adams untersucht unterschiedliche Arten von Republiken und identifiziert das Westminster-System als ideale Regierungsform, die in der Tradition von Cicero stehe und in Amerika erfolgreich von der Macht des Adels befreit worden sei. Die Forderung nach Gleichheit aller Menschen bewertet er als illusorisch, da Individuen sich in der Realität immer hinsichtlich ihrer Fähigkeiten, Mittel und Motive unterscheiden werden. A defence of the constitutions of government of the United States of America wurde anfangs wohlwollend rezipiert, aber in Amerika von einigen Kritikern als Beweis dafür gesehen, dass Adams ein Monarchist sei. Im März 1788 verließ Adams mit Frau und Tochter England und kehrte in die Heimat zurück, nachdem er über ein Jahr zuvor Jay um seine Abberufung als Botschafter gebeten hatte.
Vizepräsidentschaft
Am 17. Juni 1788 erreichte Adams Boston, wo er nach knapp neun Jahren Abwesenheit von mehreren tausend Bürgern triumphal als Revolutionsheld und derjenige Diplomat empfangen wurde, der den Frieden von Paris und die Anerkennung der amerikanischen Unabhängigkeit erreicht hatte. Er galt sofort als der aussichtsreichste Kandidat für die Vizepräsidentschaft unter Washington, aber strebte dieses Amt nicht offen an, da dies in jener Zeit als ungebührliches Verhalten galt. Ab Januar 1789 signalisierte Washington sein Einverständnis für diese Konstellation und rechnete fest mit Adams’ Wahl. Bei der ersten Präsidentschaftswahl 1788–1789 bestimmten die Bundesstaaten 69 Wahlmänner für das Electoral College, von denen jeder pro Wahlgang zwei Stimmen hatte, wobei der Zweitplatzierte automatisch Vizepräsident wurde. John Adams galt unbestritten als zweiter Mann nach Washington, jedoch intrigierte Alexander Hamilton hinter den Kulissen gegen ihn. Möglicherweise wollte er dadurch seine eigene Position als potenzieller Nachfolger Washingtons stärken oder verhindern, dass seinem einstimmig gewähltem Idol ein Rivale entstehen könnte, der in Neuengland als Volksheld verehrt wurde. Am 6. April 1789 wurde Adams, der von Hamiltons verdeckter Operation nichts mitbekommen hatte, mit 34 Stimmen Vizepräsident, ein Ergebnis, das ihn tief in seinem Stolz verletzte. Am 13. April 1789 verließ er, begleitet von einer militärischen Eskorte und einem Festzug, Braintree und begab sich in die damalige Hauptstadt New York City, um hier acht Tage später sein Amt anzutreten, indem er den Vorsitz im Senat einnahm.
Im Senat zum Schweigen verurteilt und ohne den institutionellen Rahmen, Reden an die Öffentlichkeit zu halten, war er schnell ernüchtert von der Vizepräsidentschaft. Er konstatierte, diese Position sei „das unbedeutendste Amt“, das „in der Menschheitsgeschichte jemals ersonnen worden“ sei. Zum Kabinett Washington hatte Adams eine unkomplizierte Beziehung, auch wenn sich hier die Polarisierung zwischen Außenminister Jefferson, der als Leitbild ein ländliches Amerika der besitzenden Pflanzer hatte, und dem an städtischer Bank- und Geldwirtschaft orientiertem Finanzminister Hamilton schnell abzeichnete. Bei Adams dominierte keine derartige regionale Prägung; seine Vertrauensbasis bildeten die staatlichen Institutionen, die für ihn entscheidender waren als die Herkunft. Noch stärker als die von Hamilton durchgesetzte Gründung der First Bank of the United States spaltete die Französische Revolution die junge Republik. Während das Lager um Jefferson und Paine sie als Ausdruck des Volkswillens begrüßten, hatte Adams schon vor diesem Ereignis in den Thoughts on Government vor radikalem Egalitarismus und absoluter Volksherrschaft durch ein Einkammersystem gewarnt, was Edmund Burke 1790 in den Reflections on the Revolution in France aufnahm. Früher und klarer als jeder andere amerikanische Politiker sah Adams voraus, dass die Revolution in eine Gewaltherrschaft münden werde.
Anfangs war Adams unsicher in der Amtsführung und beschäftigte sich intensiv mit Etikette und Protokollfragen, zum Beispiel wie er als Senatspräsident Washington anzureden habe, wenn er seine State of the Union Address ankündigte. Dies brachte ihn in Verbindung mit seiner kritischen Haltung der Französischen Revolution gegenüber schnell den Vorwurf durch politische Gegner ein, ein majestätisches Selbstverständnis zu haben und während seiner Zeit als Botschafter in London zum Monarchisten geworden zu sein. Insgesamt beschädigte diese Episode Adams’ Ansehen erheblich. Hinzu kam, dass sich Washington zunehmend von Adams distanzierte, wodurch die Vizepräsidentschaft weiter an Bedeutung verlor. Noch im Sommer 1789 debattierte der Senat intensiv über einen Gesetzesvorschlag, der vorsah, dass der Präsident Kabinettsmitglieder nur mit Zustimmung des Senats entlassen konnte. Bei der Abstimmung wurde dieses Gesetz knapp abgelehnt, wobei die Stimme von Adams als Senatspräsident den Ausschlag gab. Insgesamt gab Adams in seiner Funktion als Vizepräsident bei 31 Abstimmungen das entscheidende Votum ab, was bis heute in dieser Höhe von keinem seiner Nachfolger erreicht wurde. Darunter waren wegweisende Entscheidungen wie zum Beispiel der die Hauptstadtfrage klärende Residence Act.
Ab April 1790 erschien von Adams eine Artikelserie in der Gazette of the United States, die über ein Jahr andauerte und bald unter dem Titel Discourses on Davila als Buch veröffentlicht wurde. Den Kern des Buchs bildete eine Übersetzung der historischen Abhandlung von Enrico Caterino Davila über die Hugenottenkriege. In seinen Kommentaren führte Adams unter anderem aus, dass Republiken so wenig vor Geltungssucht und Anbetung der Reichen und Mächtigen gefeit seien wie Monarchien. Eine Republiken abhebende Tugend habe daher historisch nie existiert. Diesen Text griffen Adams’ Kritiker schnell als vermeintlichen Beweis seiner monarchistischen Gesinnung auf. Da Washington als Präsident niemand zu attackieren wagte, konzentrierte sich die Opposition gegen die Föderalistische Partei zusehends auf Adams. Anfangs noch verdeckt, opponierte Jefferson zunehmend gegen Adams, in dem er wie im Führer der Föderalistischen Partei Hamilton einen Verräter an den Ideen der Amerikanischen Revolution sah. Dazu setzte er schädliche Gerüchte in Umlauf und heuerte Journalisten, aber auch den Dichter Philip Freneau an, der in der National Gazette ein Gegengewicht zur föderalistischen Gazette of the United States zu schuf. Zu dieser Zeit begann die Öffentlichkeit Adams und Jefferson zumeist als politische Erzrivalen wahrzunehmen. Wie Washington und viele andere betrachtete er die zunehmende Fraktionsbildung mit großer Verzweiflung, da er die Entstehung von politischen Parteien für eine große Gefahr für die junge Republik erachtete.
Bei den Wahlen 1792 kooperierten die antiföderalistischen Virginier um Jefferson und James Madison mit New York und Pennsylvania. Dabei suchten sie durch Unterstützung des New Yorker Gouverneurs George Clinton die Wiederwahl Adams’ zum Vizepräsidenten zu verhindern. Er verteidigte jedoch seine Vizepräsidentschaft mit 77 zu 50 Stimmen gegen den Anti-Föderalisten Clinton, wobei er dieses Mal von Hamilton unterstützt wurde.
Mit dem Ausbruch der Koalitionskriege wuchs die Befürchtung der Anti-Föderalisten um Jefferson, Adams könne Washington zu einem Krieg mit der Ersten Französischen Republik drängen. Angesichts der Beschlagnahme amerikanischer Schiffe sowohl durch Frankreich als auch das Vereinigte Königreich schlugen Washington und Adams einen Kurs strikter Neutralität ein, durch den der Allianzvertrag mit dem Königreich Frankreich von 1778 hinfällig wurde. Um gegen diese Neutralitätsproklamation vorzugehen, entsandte die Erste Französische Republik im April 1793 Edmond-Charles Genêt nach Amerika. Als dieser über die Köpfe von Washington, Adams und Jefferson hinweg eine Ansprache an den Kongress hielt und begann, Kaperschiffe gegen die Briten in amerikanischen Häfen anzuwerben, verlor er selbst die Unterstützung der Republicans, die mit der französischen Revolution sympathisierten. Die starke militärische Antwort von Washington und Hamilton auf die Whiskey-Rebellion im Jahr 1794, die sich gegen die Besteuerung eines der wichtigsten Handelsgüter der damaligen Zeit im westlichen Pennsylvania richtete, erfreute Adams äußerst, andererseits war er besorgt, solche Aufstände könnten sich in einer jungen Republik, die noch keine klare politische Identität habe, wiederholen. Als im Jahr darauf die von vielen als unbefriedigend wahrgenommenen Bedingungen des Jay-Vertrags mit London bekannt wurden, sorgten sie für landesweite Empörung. Obwohl Adams wie Washington mit dem Abkommen alles andere als zufrieden war, stand er loyal zum Präsidenten, der den Vertrag im Sommer 1795 unterzeichnete. Zum einen kannte er aus eigener Erfahrung die Hartnäckigkeit der britischen Verhandlungspartner, zum anderen war ihm ein nachteiliger Vertrag lieber als ein erneuter Krieg mit dem Königreich Großbritannien. Diese Affäre verfolgte Adams bis in seine Präsidentschaft.
Nach dem Bekanntwerden von Washingtons Verzicht auf eine dritte Amtszeit verschärfte sich das politische Klima erheblich und hatte stellenweise die Form einer Hetze. Bald kristallisierten sich Adams und Jefferson als die Hauptkonkurrenten heraus, ohne dass einer von beiden selbst aktiv eine Wahlkampagne für dieses Amt betrieb. Jeffersons Anhänger, die Adams wegen seines vermeintlichen Monarchismus „His Rotundity“ („Seine Rundheit“) nannten, warfen ihm zuvorderst die Ablehnung der Französischen Revolution vor und daneben die Befürwortung des Jay-Vertrags sowie die militärische Reaktion auf die Whiskey-Rebellion vor. So trugen einige Republicans aus Sympathie mit der Ersten Französischen Republik im Wahlkampf Jakobinermützen. Die Wahlen 1796 sahen im Electoral College immer noch einen einzigen Wahlgang mit jeweils zwei Stimmen für Präsident als auch Vizepräsident vor, wobei Kandidaten aus zwei unterschiedlichen Bundesstaaten gewählt werden mussten. Hamilton als Führer der Föderalisten bat die Wahlmänner aus Neuengland, ihre zweite Stimme nicht zu verschenken, sondern diese zwischen Adams und Thomas Pinckney aufzuteilen, um so Jefferson in jedem Fall als Präsident und möglichst auch als Vizepräsident zu verhindern. Des Weiteren hoffte er somit, dem Außenseiter Pinckney überraschend zur Präsidentschaft zu verhelfen, den er leichter zu kontrollieren können meinte. Da sich ein Teil der Wahlmänner nicht an seine Bitte hielt, siegte Adams am 7. Dezember 1796 mit 71 Stimmen nur knapp über Jefferson (68 Stimmen), der dadurch neuer Vizepräsident wurde. Adams und seine Frau Abigail vergaben Hamilton, der sich immer als geeignetster Nachfolger von Washington verstand, diese Einmischung in das Electoral College niemals und waren seitdem verfeindet. Außerdem sah Adams in Hamilton einen Proponenten für eine Plutokratie und militärische Abenteuer.
Präsidentschaft
Anders als beim ersten Auftritt als Vizepräsident vor dem Senat verzichtete Adams bei der von Oliver Ellsworth durchgeführten Amtseinführung am 4. März 1797 auf ein pomphaftes Zeremoniell. In der Antrittsrede vor dem 5. Kongress der Vereinigten Staaten kam er auf den amerikanischen Unabhängigkeitskrieg und die Unterdrückung durch die britische Krone zu sprechen. Er lobte die Vernunft und Rechtschaffenheit des Volkes und betonte seine Ablehnung des europäischen Feudalismus. Adams rief, wie viele andere Präsidenten nach ihm zu diesem Anlass, zur Verständigung zwischen den Parteien auf. Zur Verärgerung der anglophilen Föderalisten führte er seine durch den dortigen Aufenthalt erworbene Bewunderung für die französische Nation an und sprach sich außenpolitisch für eine Fortsetzung des Friedenskurses aus. Das Kabinett John Adams wies gegenüber dem Kabinett Washington nur wenig Änderungen auf, da Adams daran gelegen war, die Harmonie unter den Föderalisten zu wahren. Einige Tage später bezog er das Präsidentenhaus in Philadelphia und war schockiert über dessen desaströse Verfassung, zumal er dafür Miete zahlen musste. Anfangs war Adams wie sein Amtsvorgänger vor allem damit beschäftigt, auf Briefe, zumeist von Veteranen des Unabhängigkeitskrieges, zu antworten, die um eine Stelle in der Verwaltung baten.
Die Präsidentschaft begann mit einer großen Hypothek persönlicher Natur: Zum einen war Vizepräsident Jefferson als Leitfigur der Republicans sein politischer Gegner, zum anderen war Hamilton, als Anführer der Föderalisten eigentlich Adams’ natürlicher Verbündeter, seit der Wahl 1796 mit ihm verfeindet. Beide versuchten die Wiederwahl von Adams als Präsidenten zu verhindern. Zudem standen die drei wichtigsten Kabinettsmitglieder, Timothy Pickering, Oliver Wolcott junior und James McHenry, unter der Kontrolle Hamiltons. Sie gehörten zum radikalen Flügel der Föderalisten, den „High Federalists“, und waren ausgesprochen frankophob. So arbeiteten sie gegen die Vorgaben des Präsidenten, ohne von ihren Ämtern zurückzutreten. Bis heute ist nicht geklärt, inwieweit Adams die Illoyalität seiner Minister bewusst war. Möglicherweise war seine Entscheidung, sie zu behalten, dem Willen geschuldet, durch personelle Kontinuität im Mitarbeiterstab und der öffentlichen Verwaltung insgesamt für mehr Professionalität zu sorgen. Zudem forderte Adams bei wichtigen Fragen zwar eine schriftliche Stellungnahme der Minister an, entschied aber am Ende allein, da er in ihre Fähigkeiten, wichtige Probleme unparteiisch zu analysieren, wenig Vertrauen hatte. Trotzdem gehört Adams zu den sieben Präsidenten Amerikas, die während ihrer Amtszeit kein einziges Mal von ihrem Vetorecht Gebrauch machten. Er unterzeichnete sämtliche ihm zugeleiteten Gesetzesentwürfe des Kongresses.
Eine weitere Schwierigkeit für die Präsidentschaft Adams und die Bundesregierung insgesamt war die politische Geographie. Die Verkehrsinfrastruktur Amerikas war rudimentär und im Vergleich zu Europa herrschte technologische Rückständigkeit. So betrug die Reisedauer von Virginia nach Neuengland immer noch wie in der frühen Kolonialzeit Wochen, es existierten landesweit nur drei für Planwagen geeignete Straßen und die meisten Flüsse, insbesondere in den Südstaaten, hatten keine Brücken. Dies alles förderte den Regionalismus und erschwerte das Entstehen eines nationalen Zusammengehörigkeitsgefühls. Auch die meisten Politiker identifizierten sich mehr mit ihrem Bundesstaat als mit den Vereinigten Staaten.
Während der Präsidentschaft erlebte Adams im Familienleben einige Schicksalsschläge. Im Frühsommer 1798 reiste er mit Abigail nach Quincy, die dort schwer erkrankte. Als Adams im November nach Philadelphia zurückkehrte, musste er seine immer noch nicht genesene Frau zurücklassen. Die Hauptstadt selbst litt unter einer Gelbfieberepidemie, die 3000 Todesopfer forderte. Daher wurde Philadelphia größtenteils evakuiert und die Regierungsgeschäfte übergangsweise nach Trenton verlegt. Bis zur vollständigen Gesundung von Abigail im November 1799 und ihrer Rückkehr nach Philadelphia hielt sich Adams mehrfach für längere Zeit in Quincy auf, darunter durchgängig von März bis September 1799, und führte sein Amt von dort aus. Wegen des bevorstehenden Umzugs der Hauptstadt in das Sumpfgebiet Washington, D.C. und der dort herrschenden primitiven Lebensverhältnisse machte sich Adams große Sorgen um die Gesundheit seiner Frau. Unmittelbar nach Bekanntgabe des Ergebnisses der Präsidentschaftswahl 1800 erfuhr Adams, dass sein zweitältester Sohn Charles, der an Alkoholproblemen litt, am 30. November an einer Leberzirrhose gestorben war.
XYZ-Affäre und Quasi-Krieg
Außenpolitisch begann Adams’ Präsidentschaft unmittelbar mit einer Krise, da das französische Direktorium aus Verärgerung über den Jay-Vertrag, den sie als anglo-amerikanische Allianz interpretierten, die Legitimation von Pinckney als Botschafter in Paris im November 1796 abgelehnt und ihn des Landes verwiesen hatte. Davon wie auch vom unerklärten Seekrieg Frankreichs gegen amerikanische Handelsschiffe erfuhr Adams nur wenige Tage nach der Amtseinführung. Um diesen Konflikt zu lösen und Paris um Entschädigung für gekaperte Handelsschiffe in der Karibik zu ersuchen, entsandte der Präsident eine Delegation aus Pinckney, John Marshall und Elbridge Gerry nach Frankreich, die Anfang Oktober 1797 in Paris eintraf. Später berichteten sie in verschlüsselten Nachrichten über ihre Unterredungen mit Außenminister Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord und drei seiner Agenten, die der amerikanischen Öffentlichkeit gegenüber nur als X, Y und Z benannt wurden, weshalb dieser Vorfall als XYZ-Affäre bekannt wurde. Diese forderten zur Beilegung der Streitigkeiten nicht nur einen amerikanischen Kredit über 22 Mio. niederländische Gulden sowie freundlichere Töne Adams in Richtung Frankreich, sondern auch eine persönliche Bestechungssumme für Talleyrand. Der Außenminister drohte der Delegation, dass jede Nation als feindlich betrachtet werde, die der Ersten Französischen Republik die Unterstützung versagte, und Amerika in diesem Fall das Schicksal der vernichteten Republik Venedig teilen werde. Als XYZ schließlich die amerikanischen Gesandten darüber informierten, dass Talleyrand ihr unkooperatives Verhalten an Adams melden werde, wurden die Verhandlungen abgebrochen; Pinckney und Marshall verließen Frankreich.
Noch bevor der Präsident über diesen Eklat im März 1798 informiert wurde, hatte sich die Konfrontation mit der Ersten Französischen Republik zur See weiter zugespitzt. So war unter anderem ein französischer Freibeuter in den Hafen von Charleston eingedrungen und hatte dort ein britisches Schiff versenkt, während in der Karibik mehr als 60 weitere Kaperfahrer den amerikanischen Außenhandel blockierten. Als die XYZ-Affäre der Regierung bekannt wurde, forderten zwei Minister den Präsidenten auf, den Kongress um eine Kriegserklärung zu ersuchen. Adams hielt einen Krieg mit Frankreich für unausweichlich, sah jedoch Amerika für ein derartiges Unternehmen zu schlecht gerüstet. Zudem war er sich der innenpolitischen Widerstände dagegen durch die Republicans bewusst. Als Adams den Kongress am 3. April 1798 in einer relativ zurückhaltenden, die prinzipiellen Unterschiede zwischen amerikanischer und französischer Revolution betonenden Rede über die XYZ-Affäre informierte, führte dies landesweit zu einem Aufschrei der Empörung. Die Bevölkerung solidarisierte sich mit dem Präsidenten, der augenblicklich zu einem Nationalhelden wurde und auf dem Höhepunkt seiner Beliebtheit stand, stellte Milizen auf und sammelte Geld für den Bau einer Marine. Allgemein rechnete man im Sommer 1798 fest mit einer Kriegserklärung des Präsidenten an Frankreich und selbst Abigail sah dies als unausweichlich an. Das erste und einzige Mal während seiner Amtszeit war Adams in dieser Phase in der Föderalistischen Partei populär und unumstritten.
In dieser kurzen Blütezeit seiner Präsidentschaft brachte Adams zwei Bundesgesetze erfolgreich durch den Kongress: Am 30. April 1798 wurde die Gründung des United States Department of the Navy beschlossen, bei dessen Leitung sich Benjamin Stoddert als sehr erfolgreich und einziges loyales Kabinettsmitglied erwies, und am 9. Juli folgte der Act Further to Protect the Commerce of the United States, der Schiffen der United States Navy den Angriff auf alle französischen Seeeinheiten erlaubte, die den amerikanischen Handel bedrohten. Die Republicans sahen in Frankreich weiterhin eine Schwesterrepublik und warfen der Regierung vor, die Angelegenheit verzerrt darzustellen, um das Direktorium zu einer Kriegserklärung zu provozieren. Ihrer Meinung nach beabsichtigte Adams mit diesem Krieg, Amerika in die Arme der britischen Monarchie zu treiben. Den konträren Positionen von Föderalisten und Republicans in dieser Frage lagen auch ökonomische Interessen zugrunde: Während die neuenglischen Föderalisten enge Geschäfts- und Handelsbeziehungen zum Königreich Großbritannien hatte, waren die Pflanzer in den Südstaaten traditionell bei den Handelsbanken Londons hoch verschuldet.
Eine Gesetzesinitiative von Adams, Handelsschiffen Bewaffnung zu gestatten, scheiterte an der Opposition von Jefferson. Erfolgreich hingegen war der Präsident, als er im Kongress 1797 erst die Fertigstellung und im Jahr darauf die volle Ausrüstung und Besatzung der USS United States sowie zwei weiterer Fregatten erreichte und die Erweiterung des Naval Act of 1794 auf insgesamt zwölf Kriegsschiffe durchsetzen konnte. Vor allem die USS Constitution und USS Constellation erzielten überraschende Erfolge, wie zum Beispiel im Februar 1799 das siegreiche Gefecht gegen die L’Insurgente. Adams’ Vorhaben, eine reguläre Armee von 25.000 Mann aufzustellen, wurde vom Kongress auf 10.000 abgeschwächt. Die amerikanische Aufrüstung und die fortgesetzte französische Aggression führten dazu, dass der Konflikt bald allgemein als Quasi-Krieg bezeichnet wurde. Neben der Opposition durch die Republicans entstand nun innerhalb der Föderalisten eine Fraktion von Hardlinern gegen Adams, die sogenannten Erzföderalisten, die eine Kriegserklärung an die Erste Französische Republik und ein Ende der Diplomatie forderten. Prominente Wortführer dieser Gruppe waren Außenminister Pickering, Senator George Cabot und der ehemalige Repräsentant Fisher Ames. Sie störten sich unter anderem daran, dass Gerry trotz der XYZ-Affäre in Paris ausharrte, um die abgebrochenen Verhandlungen gegebenenfalls fortführen zu können. Als dieser am 1. Oktober 1798 nach Amerika zurückkehrte, um Adams Bericht zu erstatten, sah er sich durch die Föderalisten großen Anfeindungen ausgesetzt. Da der Präsident zögerte, sich von Gerry zu trennen und bis in den Winter 1798–1799 seine Handlungsoptionen abwog, wurde ihm das von der eigenen Partei zunehmend als Entscheidungsschwäche ausgelegt.
Am 18. Februar 1799 informierte Adams den Senat darüber, dass er William Vans Murray zum Gesandten in Paris ernannte habe, um mit Frankreich wieder Verhandlungen aufzunehmen. Diese selbst für Außenminister Pickering überraschende Nachricht nahmen insbesondere die Föderalisten mit Empörung auf; dennoch bemühten sie sich im Senat nicht um eine Gegenresolution. Letztendlich einigten sie sich mit Adams darauf, Murray nicht alleine mit der Verhandlung zu betrauen, sondern ihm Patrick Henry und den Obersten Bundesrichter Oliver Ellsworth zur Seite zu stellen. Viele Zeitgenossen und spätere Historiker sahen in der langen Entscheidungsphase und deren unerwartetem Ergebnis ein Zeichen dafür, dass Adams die Kontrolle entglitten war. Andere Geschichtswissenschaftler wie zum Beispiel Stephen G. Kurtz machen geltend, dass sich der Präsident bewusst für ein längeres Abwarten entschied. Zum einen wollte Adams die durch die John Fries Rebellion und die Alien and Sedition Acts ausgelösten inneren Spannungen sich beruhigen lassen und die Entwicklung der militärischen Schlagkraft der United States Navy beobachten. Zum anderen wurde im November 1799 das Direktorium gestürzt und durch das Französische Konsulat ersetzt. Dieses signalisierte Adams bald, dass eine amerikanische Gesandtschaft willkommen sei. Im Herbst 1800 erreichten die Abgesandten Murray, Ellsworth und William Richardson Davie, der den verstorbenen Henry ersetzt hatte, Frankreich und handelten noch im gleichen Jahr den Vertrag von Mortefontaine aus, der den Quasi-Krieg beendete. Da die Nachricht von diesem Abkommen Amerika erst nach der Präsidentschaftswahl 1800 erreichte, konnte Adams davon politisch nicht mehr profitieren. Trotzdem zählte er, sich mehr als Staatsmann denn als Politiker definierend, den Vertrag von Mortefontaine neben dem Friedensschluss mit dem Königreich Großbritannien und dem Darlehen durch die Vereinigten Niederlande zu den drei großen Erfolgen seiner Karriere.
Als ein moralischer Sieg für Amerika auf einem Nebenschauplatz im Quasi-Krieg stellte sich die französische Kolonie Saint-Domingue heraus. Dort hatte die Haitianische Revolution unter Führung von Toussaint Louverture zur Befreiung der Sklaven geführt, die Adams, in dieser Frage ähnlich wie später Abraham Lincoln denkend, begrüßte, und bis 1796 spanische und britische Truppen von der ganzen Insel Hispaniola vertreiben können. Pickering und Adams sahen in Toussaint Louverture einen Verbündeten für Amerika und konnten im Kongress im Juni 1799 auf seine Zusage hin, alle Kaperfahrten gegen amerikanische Schiffe von Haiti aus zu unterbinden, eine Aufhebung der gegen Frankreich geltenden Handelsbeschränkungen im Falle Saint-Domingues erreichen. Zusätzlich wurde der Marineoffizier John Barry mit einer Flotte nach Haiti beordert, um dort mit einer Flaggenparade Toussaint Louverture den Respekt des amerikanischen Volkes zu zollen. Jefferson war wie die meisten Pflanzer in den Südstaaten von dieser Solidarisierung mit „rebellischen Negern“ entsetzt und unterstützte später als Präsident Napoleon Bonaparte bei der Wiedereinführung der Sklaverei in Santo Domingo.
Alien and Sedition Acts
Im Sommer 1798, als Adams auf dem Höhepunkt seiner Macht stand und sich der Quasi-Krieg intensivierte, kam es zur Verabschiedung der Alien and Sedition Acts, an deren Entwurf er keinen Anteil hatte. Insbesondere der Sedition Act wurde zu der umstrittensten und seinen Ruf als Präsidenten, auch im Urteil vieler späterer Historiker, am meisten schädigenden Entscheidung. Die Alien and Sedition Acts richteten sich vor allem gegen politische Flüchtlinge aus Europa wie zum Beispiel Royalisten, Jakobiner oder irische Republikaner und bestanden aus vier Gesetzen: Der Naturalization Act verlängerte die Mindestaufenthaltsdauer für die amerikanische Staatsbürgerschaft von fünf auf 14 Jahre. Der Alien Act erlaubte dem Präsidenten Ausländer, die seinem Urteil nach die Sicherheit gefährdeten, des Landes zu verweisen. Der Alien Enemies Act gab dem Präsidenten im Kriegsfall die Vollmacht, in Amerika lebende Staatsbürger der feindlichen Nation abzuschieben oder zu internieren. Der Sedition Act, das kontroverseste der vier Gesetze, erklärte es zur Straftat, falsche oder skandalträchtige Texte zu veröffentlichen, die den Präsidenten oder andere Staatsorgane angriffen. Weniger Adams selbst als seine Frau Abigail, die bereits zuvor Kampagnen gegen Presseangriffe auf ihren Mann initiiert hatte, war von den Alien and Sedition Acts begeistert. Adams befahl in seiner Amtszeit lediglich zwei Abschiebungen, die jedoch nie zur Ausführung kamen. Allerdings kam es nach einem ersten aufsehenerregenden Gerichtsprozess gegen den Republican Matthew Lyon, der in eine mehrmonatige Haftstrafe mündete, zu zwölf weiteren Verurteilungen nach dem Sedition Act. Das Verfahren gegen den Journalisten James T. Callender im Jahr 1800 wurde von Jefferson, der diesen Pamphletisten finanziell unterstützte, bewusst provoziert, um damit dem Präsidenten im Wahlkampf zu schaden. Nach der föderalistischen Wahlniederlage im Jahr 1800 liefen die auf zwei Jahre terminierten Alien and Sedition Acts wieder aus. Anders als der Präsident sahen die Republicans in den Alien and Sedition Acts keine gerechtfertigten, auswärtige Beziehungen des Bundes betreffende Kriegsgesetze, sondern eine verfassungswidrige Einschränkung der Redefreiheit, die in der Zuständigkeit der Bundesstaaten liege. Ihrer Ansicht nach sollten damit Kriegsängste ausgenutzt und in einem ersten Schritt Freiheitsrechte ausgehöhlt werden, um die Republik in eine Monarchie umzuwandeln. Ihre Urheberschaft verbergend entwarfen Jefferson und Madison für Virginia und Kentucky Resolutionen, die im Jahr 1799 verabschiedet wurden und das Recht von Bundesstaaten erklärten, verfassungswidrige Bundesgesetze in ihrem Hoheitsgebiet aufzuheben.
John-Fries-Rebellion
Angesichts des Quasi-Kriegs und der für notwendig erachteten Aufrüstung verständigten sich Adams und der Kongress im Sommer 1798 auf die Einführung von direkten Steuern. Schon bald erreichten den Präsidenten erste Meldungen von regierungsfeindlichen Stimmen unter den Pennsylvania Dutch im Südosten Pennsylvanias mit Schwerpunkt im Bucks County. Auf besonderen Widerstand stieß die Haussteuer, die sich nach Anzahl und Größe der Fenster richtete. Ab Januar 1799 kam es zu gewaltsamen Übergriffen auf Steuerschätzer des Bundes, woraufhin dieser U.S. Marshals in die Region entsandte. Als diese am 7. März mehrere gefangene Steuergegner zum Abtransport nach Philadelphia vorbereiteten, wurden sie in Bethlehem von einer 150 Mann starken Miliz umzingelt, die unter dem Kommando von John Fries stand. Diese verlangte unter Berufung auf den 6. Zusatzartikel die Herausgabe der Gefangenen, dem die Marshals angesichts der Übermacht nachkamen. Danach löste sich die Menge sofort auf und als Fries einige Tage später verhaftet wurde, ging er gerade seiner Arbeit als Auktionator nach. Aus diesem eher unbedeutenden Vorfall fabrizierten Adams’ Gegner, aber laut Diggins auch spätere Historiker ein unverhältnismäßig bedeutsames Ereignis, das zur Abwahl des Präsidenten im Jahr 1800 beitrug. Während die Republicans in der John-Fries-Rebellion einen Freiheitskampf gegen Unterdrückung und Enteignung der Landbevölkerung im Stile des feudalistischen Europas erblickten, interpretierten sie die Erzföderalisten als einen Bauernaufstand und den Auftakt zu Klassenkampf und Bürgerkrieg. Eine unmittelbare Folge des Ereignisses war zum einen, dass sich die Bevölkerung Pennsylvanias, das traditionell eine Hochburg der Föderalisten gewesen war, in großen Teilen mit John Fries und seinen Gefährten solidarisierte. Neben den Irischamerikanern, die traditionell den anglophoben Republicans zuneigten, wendeten sich nun immer mehr Deutschamerikaner von den Föderalisten ab. Zum anderen brachte noch im März 1799 Adams den Eventual Army Act erfolgreich durch den Kongress, der es dem Bund gestattete gegen jegliche „französisch inspirierte“ Erhebung mit Truppen vorzugehen, wozu in aller Schnelle eine provisorische Armee ausgehoben wurde. Das Kabinett konnte Adams zudem davon überzeugen, Fries und weitere Personen des Hochverrats anzuklagen. Ab April begannen in Philadelphia die Prozesse gegen 60 an der Rebellion Beteiligte. Nachdem das erste Verfahren gegen Fries geplatzt war, führte im zweiten der stramme Föderalist Samuel Chase den Vorsitz, so dass das Ergebnis vorherbestimmt war und das Todesurteil gefällt sowie für den 23. Mai 1800 festgesetzt wurde. Adams richtete vor dessen Vollstreckung einen Katalog von 14 Fragen an sein Kabinett, um zu klären, ob es sich bei der John-Fries-Rebellion lediglich um eine Auflehnung oder tatsächlich um einen Aufstand gehandelt habe. Obwohl ihm die Minister einstimmig antworteten, dass hier ihrer Ansicht nach Hochverrat vorliege, entschied der Präsident im April 1800 anders. Er begnadigte Fries und zwei weitere zum Tode Verurteilten sowie alle anderen, gegen die geringeren Strafen ausgesprochen worden waren.
Präsidentschaftswahl von 1800
Als Washington im Dezember 1799 starb, befürchteten viele Republicans, sein Nachfolger als Commanding General of the United States Army, Hamilton, könne die reguläre Armee gegen sie politisch instrumentalisieren. Erschwerend kam hinzu, dass Kriegsminister McHenry weniger Adams als Hamilton gegenüber loyal war. Bei den Präsidentschaftswahlen 1800 war Adams chancenlos. Die Begnadigung von John Fries und die Gesandtschaft von Murray nach Paris hatte ihn der eigenen Partei entfremdet, während die Alien and Sedition Acts und die Rekrutierung einer regulären Armee mit Hamilton als oberstem Kommandeur die Republicans empört hatte. Einige Minister wie zum Beispiel Finanzminister Wolcott wollten Adams als Präsidenten verhindern und durch Pinckney ersetzen. Kriegsminister McHenry ermutigte Hamilton dazu, eine Analyse von Adams’ vermeintlicher präsidialer Unfähigkeit der Presse zuzuspielen, die auf Anspielungen und Gerüchten beruhte, die Hamilton seit 1796 zur Rufschädigung Adams’ im Führungszirkel der Föderalisten gestreut hatte. Dieser Text schmähte Adams nicht nur als Politiker, sondern auch als kapriziösen und emotional instabilen Charakter, der unwürdig sei, den Status eines Gründervaters zu haben. Der Wahlkampf, bei dem zum ersten und bisher einzigen Mal in der amerikanischen Geschichte der amtierende Präsident und sein Vizepräsident gegeneinander antraten, wurde erbittert geführt. Während Jefferson von seinen Gegnern als ein gottloser, nach Terrorherrschaft strebender Jakobiner dargestellt wurde, wurde Adams als verschwörerischer Monarchist verunglimpft, der einen seiner Söhne mit einer Tochter Georgs III. zu verheiraten beabsichtigt habe, um das Vereinigte Königreich und Amerika erneut zu vereinigen.
Wie bei den letzten Wahlen wurden die Wahlmänner durch die Assemblies der Bundesstaaten bestimmt. Da diese ihre Wahltage selbst terminierten, dauerte der Popular Vote von April bis Oktober des Jahres 1800, wodurch die Auszählung der Stimmen erst im Dezember abgeschlossen war. In der ersten Dezemberwoche führten die Föderalisten und hatten ihre Hochburgen in Neuengland halten können, während die Südstaaten traditionell für die Republicans gestimmt hatten. Ausschlaggebend für die spätere Niederlage Adams’ war der Verlust von New York und Pennsylvania an Jefferson, dem als zweiter Kandidat Aaron Burr zur Seite stand. Am Ende lag Adams bei 65 Stimmen im Electoral College und Jefferson bei 73. Während die Niederlage in Pennsylvania mit der John-Fries-Rebellion zusammenhing, war diejenige in New York Hamilton zuzuschreiben, der dort seine Klientelverbindungen eingesetzt hatte, um Adams’ Wiederwahl zu verhindern.
Bis zur Amtseinführung von Jefferson, dessen Wahl nach einem Patt mit Burr im Electoral College erst nach 35 Wahlgängen im föderalistisch dominierten Repräsentantenhaus erfolgt war, überprüfte Adams die Vertragsbedingungen von Mortefontaine und forderte die illoyalen Kabinettsmitglieder zum Rücktritt auf. Er brachte ein Justizgesetz durch den Kongress, den sogenannten Midnight Judges Act, mit dem neue Gerichte geschaffen wurden. Adams wurde deswegen vorgeworfen, in letzter Minute die Judikative mit Föderalisten zu besetzen, um den Machtwechsel zu behindern. Dagegen spricht, dass er mit Marshall einen ausgesprochenen Gegner der Alien and Sedition Acts zum Chief Justice of the United States ernannte. Am 4. März 1801 verließ er am frühen Morgen das Weiße Haus, ohne seinem Nachfolger zu begegnen. Dies war nicht als Affront gegen Jefferson gemeint, da Adams Jefferson gegenüber keine feindseligen Gefühle hatte und ihn noch einige Tage zuvor zu einem gemeinsamen Abendessen mit Abigail empfangen hatte.
Nach der Präsidentschaft
Adams zog sich nach seiner Wahlniederlage ins Privatleben zurück. Er lebte in Peacefield, einem größeren Anwesen nahe seinem Geburtshaus, das er im Jahr 1787 gekauft hatte. Da er nach einer Fehlinvestition bei der Bank of London über wenig finanzielle Mittel verfügte, lebte er wie viele seiner Landsleute zu dieser Zeit von seinem Grundbesitz. Aufgrund des fortgeschrittenen Alters führte Adams seine Anwaltstätigkeit nicht mehr fort und widmete sich dem Familienleben sowie den vielen Besuchern, die nach Peacefield kamen. Da er seine Papiere und Aufzeichnungen zeit seines Lebens kaum geordnet hatte, sah er vom Verfassen einer Autobiographie aufgrund des damit verbundenen Arbeitsaufwandes ab. Zwar nicht mehr aktiv am politischen Leben teilnehmend, beschäftigte er sich geistig weiterhin stark mit der Politikgeschichte. Ähnlich später Arthur M. Schlesinger sah er ihren Verlauf als zyklisch an und prognostizierte für Amerika ungefähr alle zwölf Jahre ein „Bockspringen“ der einen Partei über die andere. Am 10. November 1818 starb nach 54 Jahren Ehe Abigail an einem Schlaganfall und ließ einen am Boden zerstörten Adams zurück. Jefferson, mit dem Adams zu diesem Zeitpunkt auf Anregung des beidseitigen Freundes Benjamin Rush seit sechs Jahren in Briefkontakt stand, schickte ihm eine Kondolenz, die ihn tief bewegte. Dieser Briefwechsel, der sich wie ein endloses Streitgespräch auf der Suche nach einem einigenden Prinzip liest, dauerte bis zu ihrem Tod an und umfasste neben Politik ein sehr weites Spektrum an Themen, das Religion, Wissenschaft, Geschichte, Philosophie, Archäologie und vieles mehr umfasste. Laut Diggins handelt es sich bei dieser Korrespondenz um eines der reichhaltigsten Dokumente der amerikanischen Geistesgeschichte.
Ende 1820 war Adams Delegierter auf einem Konvent zur Überarbeitung der Verfassung von Massachusetts. Er setzte sich dort vergeblich für einen Verfassungszusatz ein, der die vollständige Religionsfreiheit garantieren sollte, wobei es ihm insbesondere um die Gleichberechtigung der amerikanischen Juden ging.
Gesundheitlich in Annäherung des 90. Geburtstages immer weiter eingeschränkt, blühte Adams Ende des Jahres 1824 noch einmal auf, als er die erfolgreiche Präsidentschaftswahl seines Sohnes John Quincy gegen Andrew Jackson erlebte. Nichtsdestotrotz schätzte er Jackson sehr, nicht zuletzt wegen ihrer gemeinsamen Abneigung gegen Bankunternehmer. Erfreut nahm er Jeffersons Glückwünsche zur Wahl seines Sohnes zum Präsidenten entgegen und bat ihn, John Quincy als ihren gemeinsamen Sohn und Erben zu betrachten. Am 1. Juli 1826 fiel er in ein Koma und starb drei Tage später wie auch Jefferson am amerikanischen Unabhängigkeitstag. Am 7. Juli wurde Adams in Quincy im Beisein einer Menge von 4000 Menschen beigesetzt.
Im Jahr 1826 stiftete John Quincy Adams den Bau der United First Parish Church in Quincy, deren Gestaltung durch den bekannten Architekten Alexander Parris erfolgte. Noch bevor die Kirche im November 1828 eingeweiht wurde, wurden die sterblichen Überreste von John und Abigail Adams am 1. April 1828 in der Krypta beigesetzt. Im Dezember 1852 fanden hier John Quincy und seine Frau Louisa Catherine Adams ihre letzte Ruhestätte.
Überzeugungen und Ansichten
Adams’ Staatsphilosophie war in vielen Punkten konträr zu den Ansichten Jeffersons. Dieser Konflikt bestimmte das nach der Präsidentschaft Washingtons entstehende First Party System und war richtungsweisend für die amerikanische Politikgeschichte. Der freie Wille des Volkes, den Jefferson und Paine als ein Ideal verehrten, das durch jede Regierung nur getrübt, wenn nicht gar gefährdet werde, war für Adams kein Garant für die Wahrung der natürlichen Menschenrechte. Er sah im Staat nicht nur ein Mittel, um die individuelle Freiheit zu sichern, sondern auch um die Wahrung der Menschenrechte zu gewährleisten. Adams war von der Bedeutung der Institutionen überzeugt, in die er mehr Vertrauen hatte als in die menschliche Natur, weshalb er konstatierte: “Laws are intended not to trust what men will do, but to guard against what they might do.” („Gesetze dienen nicht dazu, dem zu vertrauen, was die Menschen tun werden, sondern davor zu schützen, was sie tun könnten.“). Aus diesen unterschiedlichen Prioritäten heraus erklärt sich, dass Jefferson die Französische Revolution selbst nach ihrem Radikalisierungsprozess im Jahr 1793 feierte, während Adams betonte, dass sie nichts mit dem Geist von 1776 gemein habe. Diese wesentlichen Differenzen im philosophischen Staatsverständnis führten in der weiteren amerikanischen Geschichte zu gegensätzlichen Positionen in der immer bedeutsamer werdenden Sklavereifrage. Der Dualismus kulminierte in den Lincoln-Douglas-Debatten von 1858 und führte in letzter Konsequenz als radikale Gegenbewegung zum Föderalismus Adamsscher Prägung in den Amerikanischen Bürgerkrieg.
Durch historische Studien über die Polis der griechischen Antike bis hin zu den italienischen Städterepubliken der Renaissance gelangte Adams zu der Erkenntnis, dass jede Regierung in der Menschheitsgeschichte unabhängig von ihrer Form drei universelle Bestandteile habe: der Herrscher („der Eine“), die Aristokratie („die Wenigen“) und das Volk („die Vielen“). Demnach werde die Freiheit einer Gesellschaft dadurch bestimmt, inwieweit Gesetze jedes der drei Elemente auf seine zweckmäßige Funktion beschränkten, es also nicht zur Entstehung von monarchischer Tyrannei, aristokratischer Oligarchie oder anarchistischer Volksherrschaft komme. Mit Blick auf die junge Republik sah Adams im obersten Vertreter der Exekutive den Herrscher verwirklicht und definierte die Aristokratie, für die damalige Zeit in Amerika ungewöhnlich, nicht als eine herausgehobene feudale Oberschicht, sondern als eine Klasse mit besonderem politischen und wirtschaftlichen Ehrgeiz, die die Oberhäuser, also den Senat, kontrollierte. Zu den Vielen zählte Adams alle Wahlberechtigten, die nicht zu den Wenigen gehörten oder so arm waren, dass sie keine unabhängigen Entscheidungen treffen konnten. Das Volk sei in den Unterhäusern, also im Repräsentantenhaus, und in der Judikative dominierend. Nach diesem Muster können laut Adams’ Biographen Diggins die Konfliktlinien, welche das First Party System prägten, zugeordnet werden: Demnach legte Hamilton seinen Schwerpunkt auf die Stärkung der Wenigen, was auf eine Plutokratie hinauslief, während Jefferson die Volksherrschaft, idealerweise in einem Einkammersystem verwirklicht, akzentuierte. Adams hingegen betonte die Bedeutung des Einen, der unabdingbar sei, um die Interessen der Aristokratie und des Volkes auszugleichen. Im Vorgriff auf die Erkenntnisse der modernen Soziologie war ihm bewusst, dass ohne einen Herrscher die Staatsorgane feudal dominiert seien, da das Volk dazu tendierte, den Lebensstil und die Auffassungen der Elite zu imitieren und sich daran normativ zu orientieren. Diggins sieht in Adams insgesamt denjenigen Präsidenten der amerikanischen Geschichte, dessen politische Philosophie am meisten um die Frage kreiste, wie Regierungshandeln krisenhafte Konflikte zwischen den sozialen Klassen verhindern könne. Ähnlich später Otto von Bismarck in seiner Außenpolitik des Mächtegleichgewichts sah Adams die Notwendigkeit einer dritten Macht, um bipolare Spannungen vermitteln und lösen zu können.
Sowohl John Adams als auch seine Ehefrau Abigail lehnten die Sklaverei entschieden ab und beschäftigten später zur Bewirtschaftung ihres Landguts stets freie Arbeiter. Adams sah jedoch – wie auch Benjamin Franklin, ein anderer Gegner der Sklaverei – das enorme innenpolitische Konfliktpotenzial dieser Frage: Hätte die Unabhängigkeitserklärung eine klare Verurteilung der Sklaverei enthalten, dann hätten die sklavenhaltenden Südstaaten dieser nie zugestimmt. Nach Heinrich August Winkler war Adams „nicht gewillt, die Unabhängigkeitserklärung am unüberbrückbaren Gegensatz in dieser Frage scheitern zu lassen.“ Politische Initiative zur Unterstützung des Abolitionismus entfaltete Adams daher nie.
Obschon Adams in einem puritanisch-kongregationalistischen Umfeld aufwuchs, bezeichnete er sich später (wie seine Frau) als Unitarier und lehnte die Göttlichkeit Jesu ab.
Nachleben
Historische Bewertungen
Im herkömmlichen Geschichtsverständnis war Adams bis in die 1990er Jahre einer der am wenigsten verstandenen Gründerväter und stand im Schatten von Washington, Franklin und Jefferson. Teilweise wurde er als ein aufgeblasener und selbstgefälliger Wichtigtuer und Verlierer karikaturhaft überzeichnet, der als erster Präsident abgewählt wurde und die Föderalistische Partei in den Untergang geführt habe. Für das 20. Jahrhundert nennt Ferling drei wesentliche Biographen, die über Adams geschrieben haben: Gilbert Chinard, Page Smith und Peter Shaw. Chinard, der sein Werk kurz nach dem Ersten Weltkrieg verfasste, sah Adams zwar in gewisser Weise als engstirnig an, betrachtete ihn aber als den realistischsten amerikanischen Politiker seiner Generation. Die Leistungen Adams’, den er mit Georges Clemenceau verglich, veranschlagte er höher als die von Jefferson. Knapp 30 Jahre später, während der Hochphase des Kalten Kriegs, verfocht Smith den zweiten Präsidenten als einen Lehrmeister für das zeitgenössische Amerika, der die junge Republik vor radikalen Jakobinern wie Paine beschützt habe. Shaw schließlich konzentrierte sich in seiner Biographie auf die psychologischen Handlungsmotive von Adams. Dabei reduzierte er ihn auf eine Person, die, von enormen Ehrgeiz getrieben, daran scheitert, ihre Ruhmsucht in den Griff zu bekommen und am Ende den Respekt der sozialen Umwelt verliert.
Das lange Zeit vorherrschende negative Bild Adams’ liegt teilweise in seiner umfangreichen Korrespondenz samt Tagebuch begründet, was beides zwar bei Washington, Franklin und Jefferson ebenfalls voluminös erhalten ist, allerdings nicht von derart persönlicher und offener Natur in der Kommunikation zeugt. Ein weiterer Aspekt in diesem Zusammenhang ist Adams’ Verbitterung nach dem Verlust der Präsidentschaft, der er in sehr vielen Briefen freien Lauf ließ. Ferling sieht in seiner 1992 erschienenen Adams-Biographie eine weitere Ursache für dessen schwache Reputation in seinen letzten bedeutenden Werken zur Staatstheorie, da diese außerhalb der Richtung lagen, die das politische Denken der nächsten Generationen bestimmen sollte. Ähnlich urteilt Jürgen Heideking in dem 1995 erstmals erschienenem Sammelwerk Die amerikanischen Präsidenten: 44 historische Portraits von George Washington bis Barack Obama: Adams sei zwar einer der begabtesten und moralisch integersten Männer der Gründergeneration gewesen, doch habe er als intellektueller Gegenpol zum allgemeinen Drang nach mehr Gleichheit und Demokratie fungiert. Zudem habe er durch seine Persönlichkeit polarisierend gewirkt, was ihn deutlich vom „präsidiablen“ Washington unterschieden habe. Laut Heideking sei Adams als ein großer Staatsmann anzusehen, was aber weniger in seiner Präsidentschaft als seiner Lebensleistung insgesamt begründet liege.
In seiner im Jahr 1993 erschienenen Adams-Biographie wies Joseph J. Ellis darauf hin, dass in der Geschichtswissenschaft die Beschäftigung mit Adams aufgrund der Erforschung seiner umfangreichen Korrespondenzen einen Neuanfang erlebe. Er sieht in Adams den am meisten missverstandenen und verkannten großen Mann in der amerikanischen Geschichte. Im Zeitraum zwischen 1998 und 2007 gab es kaum einen Präsidenten, zu dem so viel Fachliteratur veröffentlicht wurde wie zu Adams, wobei insbesondere die Biographie von David McCullough aus dem Jahr 2001 zu nennen ist, die mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet und Grundlage für die Miniserie John Adams – Freiheit für Amerika wurde. Diese und die Werke von Richard Alan Ryerson, Bradley C. Thompson, Michael Burgan, Stuart A. Kallen und Bonnie L. Lukes führten zu einer Neubewertung seiner Präsidentschaft, die allmählich aus dem Schatten von Washington und Jefferson herauszutreten beginnt. Der Ansehensgewinn für Adams beschränke sich nicht nur auf die Fachwelt, sondern habe bereits die Öffentlichkeit erreicht, urteilt Ellis bereits im Jahr 2000. Er führt dafür drei Gründe an: Die endlosen politischen Skandale und der weitverbreitete Zynismus gegenüber den Akteuren in Washington in der Gegenwart ließen Adams als einen moralisch unzweifelhaften Staatsmann hervorstechen, dem es weniger um persönliche Macht als um Recht gegangen sei. In die Kontroversen um die Rolle des Staates, wie sie die jüngere Geschichte Amerikas dominieren, sei die Überzeugung des Gründervaters Adams von der Bedeutung einer starken Regierung vernünftiger und problemloser zu integrieren als der Anti-Establishment-Ethos von Jefferson. Als letzten Aspekt führt Ellis die unprätentiöse Aufrichtigkeit der Briefe und Tagebucheinträge von Adams an. Einerseits habe dies verhindert, dass er für die Nachwelt von einer mythischen Aura umgeben sei wie Franklin, Jefferson und Washington, andererseits stellten diese Aufzeichnungen wegen ihrer Ehrlichkeit das beste Zeitfenster dar, um die persönlichen Handlungsmotive der Gründerväter unverstellt zu beobachten. Zudem ist seine Biographie wegen der Fülle persönlicher Schriften die am besten dokumentierte für die Jahre um die Amerikanische Unabhängigkeitserklärung.
In der amerikanischen Geschichte wurde bisher keine Amtszeit eines Präsidenten derart von einem einzigen außenpolitischen Konflikt dominiert wie diejenige von Adams durch den Quasi-Krieg mit Frankreich. Adams fehlten die Möglichkeiten, dieses Problem, das bereits unter Washington entstanden war, in seiner Amtszeit zu lösen. Zum einen mangelte es Paris an Bereitschaft und Autorität, eine Einigung herbeizuführen, zum anderen dem Präsidenten an politischer Unterstützung und Rückhalt in der öffentlichen Meinung. Adams hatte ein überragendes strategisches Verständnis und erkannte bereits im Frühjahr 1797, dass sowohl die probritische Fraktion um Hamilton als auch die profranzösischen Republikaner Amerika in einen auswärtigen Krieg zögen, sollten sie sich durchsetzen. Er ordnete sein politisches Überleben dem nationalen Interesse unter, die Vereinigten Staaten aus einem europäischen Konflikt herauszuhalten, was bis zum Ersten Weltkrieg der isolationistische Kurs der amerikanischen Außenpolitik gegenüber Europa blieb. Um in diesem Zusammenhang die heimischen Küsten schützen zu können, priorisierte Adams das Aufstellen der United States Navy gegenüber der Rekrutierung eines stehenden Heers, zumal er hier Hamilton als obersten Kommandanten fürchtete. Adams hatte kein Verständnis von Parteien im modernen Sinn und bemühte sich nach seiner Wahl um Kooperation mit Vizepräsident Jefferson. Die angestrebte Zusammenarbeit wurde jedoch einerseits von Madison und andererseits von der Führung der Föderalisten von Anfang an verhindert, so dass sich der konsensorientierte Präsident bereits in der frühen Amtszeit isoliert hatte. Während er den Respekt gegenüber Jefferson nie verlor, entstand zu Hamilton bald eine tief empfundene Feindschaft.
Obwohl Adams keine kirchliche Laufbahn einschlug, bestimmte die puritanische Erziehung sein Denken und Handeln. Bewusst suchte er Situationen, die ihn einem Konflikt zwischen öffentlichem und persönlichem Interesse aussetzten, um seine moralische Integrität unter Beweis zu stellen. Ein häufig wiederkehrendes Motiv in den Tagebuchaufzeichnungen sind Selbstzweifel und -vorwürfe Adams’, inwieweit seine Ambitionen eine Sünde seien und er sie unter Kontrolle habe.
Ehrungen
Das Geburtshaus von John Adams, in dem er bis zu seiner Heirat wohnte und ab dem Jahr 1720 mehrere Generationen der Adams-Familie bis 1885 lebten, befindet sich heute im Adams National Historical Park. In diesem National Historical Park liegt des Weiteren Peacefield, in dem Adams und seine Gattin ab dem Jahr 1788 residierten, und das Geburtshaus von John Quincy Adams. Die United First Parish Church, in der John und John Quincy Adams mit ihren Ehefrauen bestattet sind, hat seit 1970 den Status einer National Historic Landmark.
Insgesamt sind sieben Countys nach Adams benannt. Jackson in New Hampshire war bei seiner Gründung im Jahr 1800 zunächst nach Adams benannt worden; 1829 wurde der Ortsname jedoch zu Ehren seines Nachfolgers Jackson geändert. Eines der drei Gebäude der Library of Congress ist das im Jahr 1939 erbaute John Adams Building. Des Weiteren ist er Namensgeber des Vulkans Mount Adams. Im Jahr 2007 startete die Serie der Präsidentendollars mit den Porträts von Washington, Adams, Jefferson und Madison.
Filme
Life Portrait of John Adams. auf C-SPAN, 22. März 1999, 150 Min (Dokumentation und Diskussion mit David McCullough und Abigail Brown).
John Adams – Freiheit für Amerika. USA 2008, 7-teilige Miniserie (HBO) von Tom Hooper.
Werke
Zu Lebzeiten veröffentlicht
Dissertation on the canon and feudal law. In: The true sentiments of America. (1768) .
Thoughts on Government. (1776) .
History of the dispute with America, from its origin in 1754. (1784) .
A defence of the constitutions of government of the United States of America. (1787) .
Discourses on Davila. (1805) .
Novanglus, and Massachusettensis. (1819 als Buch; Ersterscheinung als Essaysammlung 1774–1775 in der Boston Gazette). ; .
Werkausgaben
George A. Peek, Jr. (Hrsg.): The Political Writings of John Adams: Representative Selections. Neuauflage. Indianapolis 2003, ISBN 0-87220-699-8.
Lester J. Cappon (Hrsg.): The Adams-Jefferson Letters: The complete correspondence between Thomas Jefferson and Abigail and John Adams. Erneuerte Auflage. University of North Carolina, Chapel Hill 1987, ISBN 978-0-8078-1807-7.
Gregg L. Lint, Robert J. Taylor et al. (Hrsg.): Papers of John Adams. Bisher 17 Ausgaben. Harvard University Press, Cambridge 1980–.
Charles Francis Adams, Sr. (Hrsg.): The works of John Adams, second President of the United States: with a life of the author, notes and illustrations. 10 Bände. Little, Brown and Company, Boston 1850–1856, .
Literatur
Richard B. Bernstein: The Education of John Adams. Oxford University Press, New York 2020, ISBN 978-0-19-974023-9.
Nancy Isenberg, Andrew Burstein: The Problem of Democracy: The Presidents Adams Confront the Cult of Personality. Penguin, New York 2020, ISBN 978-0-525-55752-4.
Richard Alan Ryerson: John Adams’s Republic: The One, the Few, and the Many. Johns Hopkins University Press, Baltimore 2016, ISBN 978-1-4214-1923-7.
Jürgen Heideking: John Adams (1797–1801): Der Präsident als Garant des gesellschaftlichen Gleichgewichts. In: Christof Mauch (Hrsg.): Die amerikanischen Präsidenten: 44 historische Portraits von George Washington bis Barack Obama. 6., fortgeführte und aktualisierte Auflage. Beck, München 2013, ISBN 978-3-406-58742-9, S. 65–72.
Joseph J. Ellis: First Family: Abigail and John Adams. Vintage, New York 2011, ISBN 978-0-307-38999-2.
John E. Ferling: John Adams: A Life. Taschenbuchausgabe. Oxford University Press, New York 2010, ISBN 978-0-19-539866-3.
Richard Alan Ryerson (Hrsg.): John Adams and the Founding of the Republic. Northeastern University Press, Boston 2005, ISBN 978-0-934909-78-5.
David McCullough: John Adams. Taschenbuchausgabe. Simon & Schuster, New York 2004, ISBN 0-7432-2313-6.
John P. Diggins: John Adams. (= The American Presidents Series. Hrsg. von Arthur M. Schlesinger, Sean Wilentz. The 2nd President). Times Books, New York 2003, ISBN 0-8050-6937-2.
Joseph J. Ellis: Passionate Sage: The Character and Legacy of John Adams. 2. Auflage. W.W. Norton, New York 2001, ISBN 0-393-31133-3.
Peter Shaw: The Character of John Adams. University of North Carolina, Williamsburg 1976, ISBN 0-8078-1254-4.
Ralph Adams Brown: The Presidency of John Adams. University Press of Kansas, Lawrence 1975, ISBN 0-7006-0134-1.
Page Smith: John Adams. 2 Bände. Doubleday, Garden City 1962,
Gilbert Chinard: Honest John Adams. Little, Brown, and Company, Boston 1933,
Weblinks
John Adams: A Resource Guide. Library of Congress
American President: John Adams (1735–1826). In: Miller Center of Public Affairs der University of Virginia (englisch, Redakteur: C. James Taylor)
The American Presidency Project: John Adams. Datenbank der University of California, Santa Barbara mit Reden und anderen Dokumenten aller amerikanischen Präsidenten (englisch)
Anmerkungen
John
Präsident der Vereinigten Staaten
Vizepräsident der Vereinigten Staaten
Mitglied des Kontinentalkongresses
Mitglied der Föderalistischen Partei
Mitglied der American Philosophical Society
Mitglied der American Academy of Arts and Sciences
Botschafter der Vereinigten Staaten im Vereinigten Königreich
Botschafter der Vereinigten Staaten in den Niederlanden
Absolvent der Harvard University
Person (Unitarismus)
Aufklärer
US-Amerikaner
Geboren 1735
Gestorben 1826
Mann |
78913 | https://de.wikipedia.org/wiki/Vestalin | Vestalin | Als Vestalin (lat. virgo Vestalis „vestalische Jungfrau“; ursprünglicher amtlicher Titel: sacerdos Vestalis „vestalische Priesterin“) bezeichnet man eine römische Priesterin der Göttin Vesta.
Die Priesterschaft der Vestalinnen bestand aus sechs (in der Spätantike sieben) Priesterinnen, die im Alter von sechs bis zehn Jahren für eine mindestens dreißigjährige Dienstzeit berufen wurden. Ihre Hauptaufgabe war es, das Herdfeuer im Tempel der Vesta zu hüten, das niemals erlöschen durfte, und das Wasser aus der heiligen Quelle der Nymphe Egeria zu holen, das zur Reinigung des Tempels verwendet wurde. Daneben stellten sie die mola salsa (eine Mischung aus Salzwasser und Getreideschrot) sowie das suffimen (Asche ungeborener Kälber) her, die bei bestimmten Kulthandlungen benötigt wurden.
Im Bereich des Kultes unterstanden die Vestalinnen dem Kollegium der Pontifices und insbesondere dem Pontifex maximus als Disziplinarvorgesetztem. Ihr persönlicher sozialer Status entsprach in vielerlei Hinsicht dem eines römischen Mannes, doch verfügten sie darüber hinaus über zahlreiche Sonderrechte.
Während ihrer Dienstzeit waren die Vestalinnen zur Keuschheit verpflichtet. Der Verlust der Jungfräulichkeit einer Vestalin galt als unheilverkündendes Vorzeichen für das römische Gemeinwesen. Eine unkeusche Vestalin wurde aus der Priesterschaft entfernt und konnte lebendig begraben werden.
Geschichte der Priesterschaft
Die Umstände, die zur Entstehung der Priesterschaft der Vestalinnen geführt hatten, waren schon in der Antike Gegenstand sagenhafter Spekulationen und konnten auch durch die neuzeitliche Geschichtswissenschaft nicht definitiv geklärt werden. Gelegentlich wurde in der Forschung angenommen, dass die Vestalinnen ursprünglich für Menschenopfer bereitgehaltene Jungfrauen waren oder dass sie in republikanischer Zeit die kultischen Pflichten übernahmen, die zuvor die Töchter des Königs ausgeübt hatten. Diese Hypothesen werden heute jedoch als unbegründete Spekulationen abgelehnt.
Der römischen Sage zufolge bestand der Vestakult bereits vor der Gründung Roms in Lavinium und wurde von dort nach Alba Longa und nach Rom übertragen. Jedenfalls existierte in Alba Longa eine Gemeinschaft von Vestalinnen schon zur Zeit der römischen Könige; sie ist noch im späten 4. Jahrhundert n. Chr. bezeugt. In Tibur sind Vestalinnen erst kaiserzeitlich durch Inschriften belegt. Da keine Parallelen außerhalb der Region Latium bekannt sind, wird davon ausgegangen, dass die Priesterschaft der Vestalinnen dort entstanden ist und keine fremden Vorbilder hatte.
Die Kultaufgaben der Vestalinnen waren der Sage nach von König Numa Pompilius festgelegt worden. Der fünfte König Tarquinius Priscus soll später die Disziplinargewalt des Pontifex maximus eingeführt haben, während die Festlegung der Anzahl von sechs Priesterinnen seinem Nachfolger Servius Tullius zugeschrieben wurde; vorher sollen es vier gewesen sein. Die Angaben der Quellen weichen teilweise voneinander ab und sind in der Forschung umstritten, müssen aber nicht in ihrer Gesamtheit als unglaubwürdig betrachtet werden; jedenfalls geht die Einrichtung tatsächlich auf die Königszeit zurück.
Die Gemeinschaftsorganisation der Priesterschaft und die kultischen Aufgaben der Vestalinnen blieben von der Zeit der ersten zuverlässigen Belege im 3. Jahrhundert v. Chr. bis in die Spätantike weitgehend unverändert. Für die Spätantike ist eine Erhöhung der Anzahl der Vestalinnen auf sieben zuverlässig bezeugt.
Zwar erhielten die Vestalinnen noch im Jahre 370 n. Chr. eine kaiserliche Bestätigung ihrer Sonderrechte, doch lassen sich in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts n. Chr. Auflösungstendenzen feststellen. In einem Fall ist bezeugt, dass eine Vestalin zum Christentum konvertierte. Im Zuge seiner Bestrebungen, das Christentum zur alleinigen Religion des Römischen Reiches zu machen, löste Kaiser Theodosius I. im Jahre 391 n. Chr. die Priesterschaft offiziell auf. Die letzte Virgo Vestalis maxima war Coelia Concordia, die im Jahr 394 von ihrem Amt zurück- und zum Christentum übertrat.
Eignungskriterien, Berufung und sozialer Status der Vestalinnen
Eignungskriterien
Beim Tod oder beim Ausscheiden einer Vestalin aus der Priesterschaft wurde durch den Pontifex maximus eine Nachfolgerin berufen. Details dazu gehen hauptsächlich auf die Darstellung bei Aulus Gellius aus dem 2. nachchristlichen Jahrhundert zurück, der aus mittlerweile verlorenen Schriften der Juristen Marcus Antistius Labeo († ca. 10 n. Chr.) und Gaius Ateius Capito († 22 n. Chr.) zitiert:
Das Mädchen durfte nicht jünger als sechs und nicht älter als zehn Jahre alt sein.
Sie durfte keinen Sprachfehler und keine körperliche Behinderung haben.
Beide Elternteile mussten noch leben.
Weder sie selbst noch ihr Vater durften freigelassene Sklaven, d. h. emanzipiert worden sein, selbst wenn sie dann in der Gewalt ihres Großvaters verbliebe.
Kein Elternteil durfte Sklave gewesen sein oder seinen Lebensunterhalt mit negotia sordida („schmutzigen Geschäften“, d. h. mit Handwerk oder Kleinhandel) verdienen.
Gellius führt allerdings auch Entschuldigungsgründe an, ein Mädchen der Berufung zur Vestalin zu entziehen:
Eine Schwester ist bereits Vestalin.
Der Vater hat bereits eine kultische Funktion in Rom.
Der Vater hat seinen Wohnsitz außerhalb Italiens.
Der Vater hat drei Kinder.
Berufung der Vestalin
Über das Berufungsverfahren selbst ist wenig bekannt. Gellius gibt an, zu diesem Thema lediglich ein älteres Gesetz unbestimmten Datums gefunden zu haben, das hierüber Auskunft gibt. Demnach wählte der Pontifex maximus zunächst aus dem Volk 20 geeignete Kandidatinnen aus, aus denen die neue Vestalin durch Losverfahren ermittelt wurde.
Zu Gellius’ Lebzeiten wurde dieses Verfahren jedoch nicht mehr angewendet, sondern es war nun üblich, dass Angehörige der Oberschicht dem Pontifex maximus von sich aus ihre Töchter für das Priesteramt anboten. Allerdings gab es in der Kaiserzeit häufig Schwierigkeiten, eine vakante Vestalinnenstelle neu zu besetzen, da sich nur wenige Familien tatsächlich bereit erklärten, eine Tochter für dieses Amt herzugeben.
Die Berufung führte der Pontifex maximus durch, indem er der Kandidatin die Hand auflegte, sie durch die Berufungsformel in den Dienst aufnahm und sie ins Atrium Vestae, den Wohn- und Dienstsitz der Vestalinnen, wegführte. Gellius überliefert folgende Berufungsformel:
Dich, Amata, ergreife ich als vestalische Priesterin, die die heiligen Handlungen ausführen soll, wie sie die Vestalin nach Recht und Gesetz zum Wohle des römischen Volkes und der Quiriten auszuführen hat (Sacerdotem Vestalem, quae sacra faciat, quae ius sciet sacerdotem Vestalem facere pro populo Romano Quiritibus, uti quae optima lege fuit, ita te, amata capio).
Die Bezeichnung der eigentlichen Berufung durch den Begriff capere, „ergreifen“, „festnehmen“ bzw. „jemanden als Kriegsgefangenen festnehmen“ sowie die Ansprache der Vestalin als amata wurden bereits in der Antike diskutiert, da ihr Sinn nicht mehr unmittelbar einleuchtete.
Nach Gellius sprach man von capere, weil die Vestalin von ihrem Vater wie eine Kriegsgefangene weggeführt wurde. Allerdings wurde dieser Begriff auch bei der Berufung der Pontifices, Auguren und des Flamen Dialis verwendet, bei denen keine Analogien zu einer Gefangennahme erkennbar sind. Möglicherweise hatte capere in diesem Zusammenhang ursprünglich die Bedeutung „jemanden zu einem Amt bestimmen, ohne dass er sich diesem Beschluss widersetzen kann“. Diese Frage konnte bisher nicht plausibel geklärt werden.
Ebenfalls unklar ist der Kultname Amata, mit dem die Kandidatin angesprochen wird. Gellius begründet dies damit, dass dies der Name der ersten Vestalin gewesen sei, gibt aber dafür keinen Beleg an. Tatsächlich steht dies im Widerspruch zu anderen Überlieferungen, da etwa Plutarch die Namen der ersten Vestalinnen mit Getania und Verenia angibt. Einige Forscher vermuteten einen Zusammenhang zu Amata, der Mutter Lavinias, andere dachten an Ableitung von der Grundbedeutung von lat. amata als „Geliebte“ (in diesem Fall: Geliebte der Götter) oder an griechisch ádmetos oder adámatos („jungfräulich“).
Der Name Amata wurde nur in der Berufungsformel angewendet und spielte offenbar im Kult keine Rolle.
Sozialer Status der Vestalin
Durch die Berufung zur Vestalin schied das Mädchen aus der Patria potestas ihres Vaters oder Großvaters aus und erhielt die volle rechtliche Selbständigkeit. Die in der älteren Forschung gelegentlich geäußerte Annahme, dass sie unter der Patria potestas des Pontifex maximus als eines symbolischen Vaters oder Ehemanns stand, hat sich als irrig erwiesen.
Damit besaß die Vestalin uneingeschränkte Verfügungsgewalt über ihr Vermögen, hatte also einen außerordentlichen Status, da andere Frauen bis wenigstens in die frühe Kaiserzeit hinein stets die Zustimmung eines männlichen Tutors benötigten, um rechtsgültige Geschäfte abschließen zu können.
Mit dem Ausscheiden aus dem Familienverband hatte die Vestalin in juristischer Hinsicht keine Verwandten mehr. Nach Antistius Labeo schied sie daher aus der natürlichen Erbfolge aus und konnte Besitz nur aufgrund testamentarischer Willenserklärung erben oder vererben. Damit fiel ihr Besitz, falls sie kein Testament hinterließ, nach ihrem Tod an die öffentliche Hand. Die Rechtsgrundlage dieser Verhältnisse war jedoch bereits zu Labeos Zeiten nicht sicher.
In der Forschung wird gelegentlich angenommen, dass die Vestalin deshalb keinem Familienverband angehörte, weil sie als symbolische beziehungsweise ideelle Verwandte der gesamten römischen Bürgerschaft angesehen wurde und somit keine familiären Beziehungen zu bestimmten Einzelpersonen haben konnte. In diesem Sinne könnte die Versorgung des Feuers im Tempel der Vesta eine Analogie zum Hüten des Herdfeuers in einem Privathaus darstellen, so dass man die Vestalinnen gleichsam als die symbolischen Matres familiae des römischen Volkes beziehungsweise des römischen Staates ansehen könnte. Diese Vermutung könnte auch durch die Aussage Plinius des Jüngeren gestützt werden, der angab, dass kranke Vestalinnen weder von ihren Kolleginnen noch von Verwandten gepflegt wurden, sondern der Obhut einer vom Pontifex maximus ausgewählten Frau anvertraut wurden.
Solche Hypothesen sind freilich sehr spekulativ, da einerseits die wahre Bedeutung des Feuers im Tempel der Vesta unbekannt ist, andererseits aber auch die von Plinius erwähnte Vestalin Iunia ausgerechnet von ihrer Schwägerin Fannia gepflegt wurde.
Ungeachtet ihrer rechtlichen Stellung konnten Vestalinnen dieselben familiären Bindungen wie andere Römer pflegen. Daher wurde etwa das Verhalten der Vestalin Claudia, die im Jahre 143 v. Chr. ihren Vater durch ihren sakralen Status vor den Übergriffen eines Volkstribunen schützte, als Vorbild für die Pflichterfüllung einer Tochter an ihren Eltern angesehen. Ebenso war für die zeitgenössischen Römer die Argumentation Ciceros einleuchtend, der in seiner Verteidigungsrede für Fonteius (69 v. Chr.) die Richter bat, den Angeklagten um seiner Schwester willen milde zu behandeln, da sie bei seiner Verurteilung als ehe- und kinderlose Vestalin ansonsten völlig alleine sei. Auf der anderen Seite setzte sich die Vestalin Iunia Torquata für bessere Bedingungen für ihren in die Verbannung geschickten Bruder ein. So wurden auch Ehreninschriften für prominente Vestalinnen gefunden, auf denen der Name des Vaters (die sogenannte Filiation) angegeben war, der offiziell zur vollständigen Namensbezeichnung einer Person gehörte.
Der Großteil der Vestalinnen gehörte offensichtlich der senatorischen Oberschicht an, wie an den überlieferten Namen zu erkennen ist, die auf Zugehörigkeit zu Familien der Nobilität hinweisen (zum Beispiel Aemilia, Claudia, Cornelia, Licinia). Ebenso spricht für diese Annahme, dass Vestalinnen oft über ein großes Vermögen verfügten. Auch der politische Einfluss, den manche Vestalinnen ausübten (zum Beispiel Licinia, die 63 v. Chr. ihren Verwandten Murena im Wahlkampf unterstützte), setzte die Zugehörigkeit zu einer gehobenen Gesellschaftsschicht voraus.
Erscheinungsbild und Privilegien
Über eine mögliche Amtstracht der Vestalinnen lassen sich nur Spekulationen anstellen. Lediglich eine einzige Quelle erwähnt eine besondere Frisur mit sechs Zöpfen, die auch von der Braut zur Hochzeit getragen wurde und anscheinend im Zusammenhang mit der Jungfräulichkeit steht. Genaue Aussagen lassen sich daraus jedoch nicht ableiten, da der Text nur sehr lückenhaft überliefert und daher kaum verständlich ist.
Noch weniger ist über die Kleidung der Vestalinnen bekannt. Plinius der Jüngere erwähnt zwar die Stola einer Vestalin, beschreibt aber nicht deren Aussehen. Daher ist die Annahme, die Vestalinnen hätten die gleiche Stola getragen wie eine verheiratete Frau, bisher nicht belegt. Die Deutung der auf Bildwerken dargestellten Kleidung einzelner Vestalinnen ist in der Forschung umstritten.
In der Öffentlichkeit wurde eine Vestalin stets von einem Liktor begleitet, der ansonsten nur Magistraten mit Imperium und dem Flamen Dialis zustand.
Darüber hinaus hatten die Vestalinnen das Recht, im Zirkus und im Theater auf den für die Senatoren reservierten Ehrenplätzen zu sitzen. Sie durften zu Opferhandlungen in der Stadt mit dem Wagen fahren, was ansonsten nur zeitweise den verheirateten Frauen erlaubt war. Unter Augustus erhielten sie das ius trium liberorum („Dreikindrecht“), das ihnen besondere Vorrechte einräumte.
Anders als gelegentlich in der Literatur erwähnt, hatten die Vestalinnen jedoch nicht das Recht, zum Tode Verurteilte zu begnadigen. Allerdings wurde Gefangenen, die auf dem Weg zur Hinrichtung zufällig einer Vestalin begegneten, die Vollstreckung erlassen, sofern die Priesterin eidlich versicherte, dass sie diese Begegnung nicht absichtlich herbeigeführt hatte. Die Hintergründe dieser Verhältnisse sind ebenso unklar wie der von Plutarch im gleichen Zusammenhang erwähnte Glaube, dass jeder, der unter der Sänfte einer Vestalin hindurchgehe, sterben müsse.
Organisation und Dienst
Die Gemeinschaft der Vestalinnen lebte im sogenannten Atrium Vestae („Haus“ bzw. „Halle der Vesta“), einem Gebäude in der Nachbarschaft des Tempels der Vesta.
Über die innere Organisation der Priesterschaft ist fast nichts bekannt. Es ist umstritten, ob die Vestalinnen lediglich gemeinsam tätige Einzelpriesterinnen waren oder ob sie, wie etwa die Pontifices und die Auguren, ein Kollegium bildeten. Eine besondere Ehrenstellung hatte die Virgo Vestalis maxima, die (dienst-)älteste vestalische Jungfrau, doch ist nicht bekannt, ob sie auch eine Vorrangstellung im Sinne einer Vorsitzenden besaß. Ebenso unbekannt ist, ob sich die Disziplinargewalt des Pontifex maximus, die dieser in kultischen Fragen ausübte, auch auf die Organisation des Gemeinschaftslebens und das Privatleben der einzelnen Priesterinnen erstreckte.
Nach Plutarch verbrachten sie die ersten zehn Jahre ihrer Dienstzeit als Schülerin, weitere zehn Jahre verrichteten sie als Priesterinnen ihren Dienst und die letzten zehn Jahre fungierten sie als Lehrerinnen der jungen Vestalinnen. Wie diese schematische Karriere in der Praxis ablief, ist jedoch unbekannt.
Nach Ablauf ihrer dreißigjährigen Dienstpflicht durfte die Vestalin ihren Dienst beenden, heiraten und ein normales bürgerliches Leben führen. Allerdings sollen nur wenige Vestalinnen diese Option genutzt haben. Die wenigen, die es taten, seien nicht glücklich mit diesem Entschluss geworden, da sie die Umstellung auf eine vollkommen andere Lebensform nicht ertrugen. Es gibt keinen sicheren Beleg für die erfolgreiche Rückkehr einer ehemaligen Vestalin ins bürgerliche Leben.
Pflichten und Aufgaben der Vestalinnen
Als Hauptaufgabe und Grund für die Einrichtung der Priesterschaft nennen die antiken Quellen das Hüten des Herdfeuers der Vesta im Vesta-Tempel, das niemals ausgehen durfte und nur am 1. März, dem alten Jahresanfang, rituell gelöscht und neu entfacht wurde. In historischer Zeit wurde dieses Feuer als Symbol politischer Stabilität verstanden, so dass sein Verlöschen als unheilvolles Vorzeichen beziehungsweise als Ursache kommenden Unheils empfunden wurde. Die diensthabende Vestalin, die für das Verlöschen verantwortlich war, konnte vom Pontifex maximus persönlich ausgepeitscht werden.
Da Feuer als Symbol der Reinheit galt, hielten einige antike Autoren Jungfrauen aufgrund ihrer sexuellen Reinheit für besonders geeignet, das Herdfeuer der Vesta zu betreuen, doch lässt sich nicht mehr erkennen, ob diese Vorstellung die Grundlage für die Einrichtung des Priesterkollegiums darstellte oder ob es sich um einen Erklärungsversuch aus späterer Zeit handelte. Verfehlt ist die Ansicht, dass das Verlöschen des Feuers als Zeichen für den Verlust der Jungfräulichkeit einer Vestalin angesehen wurde, da beide Ereignisse in keiner antiken Quelle miteinander in Beziehung gesetzt werden.
Zur Reinigung des Tempels der Vesta holten die Vestalinnen täglich Wasser von der Quelle der Egeria, was von den antiken Autoren neben dem Hüten des Feuers als eine der Hauptaufgaben der Priesterinnen gesehen wurde. Die Quelle lag außerhalb der Stadtmauern im Hain der Camenae und galt als heiliger Ort, da sich dort König Numa Pompilius, der sagenhafte Stifter des Vestalinnenkollegiums, mit der Quellnymphe Egeria getroffen und von ihr Ratschläge eingeholt haben soll. Darüber hinaus war dort zu seiner Regierungszeit das Ancile vom Himmel geschwebt, ein heiliger Schild, der als Garant politischer Stabilität und Unversehrtheit des römischen Gemeinwesens galt.
Ob zwischen diesen mythischen Ereignissen und dem Wasserholen der Vestalinnen ein Zusammenhang besteht, ist umstritten. Reine Spekulation ist die gelegentlich in der Forschungsliteratur geäußerte Annahme, diese Tätigkeit als Analogie zum Wasserholen römischer Frauen an einem Brunnen oder Wasserverteiler anzusehen und die Vestalinnen dadurch gleichsam als symbolische Matres familiae des gesamten römischen Staates beziehungsweise Volkes anzusehen. Eher denkbar wäre, dass sie lediglich an einer Tradition festhielten, die zu einer Zeit entstanden war, als es noch keine Wasserversorgung in der Stadt selbst gab. Möglicherweise messen die antiken Autoren dem Wasserholen auch lediglich deshalb so große Bedeutung bei, da das Wasser als das Gegenelement des im Vesta-Kult zentralen Feuers angesehen wurde.
Neben diesen Aufgaben stellten die Vestalinnen auch Materialien für Kult- und Opferhandlungen her. Dies ist einerseits die mola salsa, eine Mischung aus Salzwasser und Getreideschrot, die bei allen römischen Opfern verwendet wurde. Andererseits fertigte die Virgo Vestalis maxima, die (dienst-)älteste Vestalin, bei den Fordicidien, einem Opfer trächtiger Kühe zu Ehren der Göttin Tellus, das suffimen an. Das ist die dabei gewonnene Asche ungeborener Kälber, die bei den Parilia, einem Fest zur Gründung Roms, ins Opferfeuer gestreut wurde.
Die Jungfräulichkeit der Vestalinnen
Die Jungfräulichkeit der Vestalinnen ist ein in der gesamten antiken Mittelmeerwelt singuläres Phänomen, das nicht anhand bekannter römischer kultureller Vorstellungen zu erklären ist, da die Römer keine besondere Wertschätzung des ehelosen Standes oder der sexuellen Askese kannten. Die Vestalinnen lassen sich daher weder als Analogien zu den geweihten Jungfrauen erklären, noch können sie als deren paganes Vorbild angesehen werden. Vielmehr haben die Kirchenväter vom 3. bis zum 5. Jahrhundert ein negatives Bild der Vestalinnen gezeichnet. Ein Grund dafür war, dass die Vestalinnen ein jungfräuliches Leben auf Zeit versprachen.
Antike Begründungen für die Keuschheit sind zumeist rein spekulativ und versuchen, das Phänomen sekundär zu erklären. So sieht Livius den Grund darin, dass sie als Jungfrauen besonders „verehrungswürdig und unantastbar“ seien. Plutarch referiert Annahmen, dass zur Bewahrung des als Symbol der Reinheit verstandenen Feuers Jungfrauen aufgrund ihrer sexuellen Reinheit besonders geeignet seien, doch lassen sich entsprechende Ansichten nicht für die zu vermutende Entstehungszeit der Priesterschaft nachweisen. Möglicherweise standen ursprünglich rein praktische Erwägungen im Vordergrund, wie Plutarch ebenfalls erwägt, indem er auf vergleichbare heilige Feuer in Griechenland verweist. Diese wurden von Frauen betreut, die das fruchtbare Alter überschritten hatten und daher nicht mehr durch die Lasten der Schwangerschaft und Kindererziehung in ihrem Dienst beeinträchtigt wurden. Ähnliche Gründe könnten der Jungfräulichkeit der Vestalinnen zugrunde gelegen haben, aber in historischer Zeit in Vergessenheit geraten sein, so dass die nun nicht mehr verstandene Jungfräulichkeit Raum für allerlei spekulative Deutungen bot.
Der Volksglaube schrieb den Vestalinnen Wundertaten zu. So sollen sie in der Lage gewesen sein, einen entflohenen Sklaven zum Stehen zu bringen, sofern er die Stadt Rom noch nicht verlassen hatte. Darin drückt sich die Vorstellung einer örtlichen Begrenzung des Machtbereichs der Gottheit und des Aufgabenbereichs der Vestalinnen aus. Die der Unkeuschheit verdächtigten Vestalinnen Aemilia und Tuccia konnten ihre Unschuld angeblich dadurch beweisen, dass sie Wasser mit einem Sieb aus dem Tiber schöpften und zur Stadt trugen, ohne dabei einen Tropfen zu verschütten.
Der Verlust der Jungfräulichkeit
Der Verlust der Jungfräulichkeit einer Vestalin galt als unheilvolles Ereignis, durch das das Wohl des Gemeinwesens in große Gefahr gebracht wurde. Dies geht besonders deutlich aus den Worten der im Jahre 91 n. Chr. von Kaiser Domitian vermutlich zu Unrecht wegen Unkeuschheit verurteilten Vestalin Cornelia hervor:
Mich hält der Kaiser für unkeusch, obwohl er während meiner Amtszeit als Priesterin Siege errungen und Triumphe gefeiert hat! (Me Caesar incestam putat, qua sacra faciente vicit triumphavit)
Cornelia verknüpft damit ihre Pflichttreue mit dem militärischen Erfolg der Römer.
Die Unkeuschheit (incestus) einer oder mehrerer Vestalinnen wurde zumeist in Not- und Krisenzeiten festgestellt. So wurden nach der verheerenden Niederlage bei Cannae im Jahre 216 v. Chr. Opimia und Floronia wegen dieses Vergehens verurteilt; Aemilia wurde 114 v. Chr., Licinia und Marcia wurden nach einem zweiten Prozess 113 v. Chr. hingerichtet.
Das Bekanntwerden der Unkeuschheit erinnert daher an die Wahrnehmung von Prodigien (unheilvollen Wunderzeichen), die sich meist in Form abnormer Naturereignisse (zum Beispiel Steinregen, Missgeburten, mysteriöse Himmelserscheinungen) äußerten, die in guten Zeiten nur selten beachtet wurden. Dies legt die Vermutung nahe, dass man auch die Vergehen der Vestalinnen lediglich dann als solche wahrnahm, wenn man aufgrund starker emotionaler Anspannung und allgemeiner Panik besonders ängstlich auf unheilvolle Zeichen achtete. Auffällig ist dabei, dass oft mehrere Vestalinnen des Crimen incesti überführt wurden, obwohl jeweils eine einzige genügt hätte, um das Gemeinwesen in Gefahr zu bringen. Dagegen wurden in guten Zeiten verdächtigte Vestalinnen fast immer freigesprochen.
Darüber hinaus sind viele Anklagen gegen Vestalinnen womöglich politisch motiviert gewesen:
Die Anklage gegen die Vestalin Postumia im Jahre 420 v. Chr. steht anscheinend im Zusammenhang politischer Angriffe auf prominente Verwandte und diente womöglich dem Zweck, den Einfluss ihrer gesamten Familie zu schwächen.
Der Verdacht gegen die politisch einflussreiche Licinia im Jahre 73 v. Chr. sollte entweder ihren eigenen politischen Einfluss brechen oder galt womöglich indirekt dem Marcus Licinius Crassus, mit dem sie in engen geschäftlichen und politischen Beziehungen stand und dem man ein sexuelles Verhältnis mit ihr nachsagte.
Die Hinrichtung der Cornelia im Jahre 91 n. Chr. erfolgte anscheinend im Zusammenhang einer restaurativen Kultur- und Religionspolitik des Kaisers Domitian, der mit einem Akt der Härte seinen Willen zur Durchsetzung dieser Politik demonstrieren wollte.
Häufig gerieten einzelne Vestalinnen allein aufgrund allzu freizügiger Kleidung oder einer besonders anzüglichen Art zu sprechen in den Verdacht der Unkeuschheit. Da solche Fälle aber meist mit einem Freispruch endeten, liegt die Annahme nahe, dass auch hier lediglich nach einem Vorwand gesucht wurde, um die Priesterin in Verruf zu bringen.
Jeder Bewohner Roms, auch Frauen, Freigelassene und Sklaven, konnte eine unkeusche Vestalin anzeigen. Anschließend erfolgte ein Untersuchungsverfahren, das von den Pontifices gemeinsam durchgeführt und vom Pontifex maximus geleitet wurde. Im Falle eines Schuldspruchs wurde die Hinrichtung angesetzt. Der Liebhaber der überführten Vestalin wurde öffentlich zu Tode gepeitscht und erlitt damit eine der nach römischen Vorstellungen entehrendsten Todesarten.
Offen bleibt die Frage, wie mit Vestalinnen verfahren wurde, die Opfer einer Vergewaltigung geworden waren. Die Kaiser Nero und Caracalla wurden von gegnerischen Geschichtsschreibern beschuldigt, Vestalinnen vergewaltigt zu haben.
Elagabal
Ein aus römischer Sicht ungeheuerlicher Vorgang war die Heirat des aus Syrien stammenden, damals sechzehnjährigen Kaisers Elagabal mit der wohl ebenfalls jugendlichen Vestalin Aquilia Severa im Jahre 220. Dieser Kaiser missachtete damit nach traditionellem römischem Religionsverständnis auf schändliche Weise seine Amtspflicht als Pontifex maximus und machte sich eines todeswürdigen Verbrechens schuldig. Nach seinem eigenen Verständnis hingegen war diese „Priesterhochzeit“ ein religiöser Akt, von dem er sich gottähnliche Nachkommenschaft erhoffte.
Letzte Anzeige wegen Unkeuschheit
Im späten 4. Jahrhundert kam es noch einmal zu einer Anzeige wegen Unkeuschheit, welche eine Vestalin in Alba Longa namens Primigenia betraf. Das Priesterkollegium, dem damals der berühmte Politiker und Redner Quintus Aurelius Symmachus angehörte, führte die Untersuchung durch und stellte die Schuld fest. Damals war das Kollegium aber bereits führungslos, da der christliche Kaiser das Amt des Pontifex maximus nicht mehr ausübte, und war nicht mehr befugt, ein rechtskräftiges Urteil zu fällen und vollstrecken zu lassen. Die Bemühungen des Symmachus, die Behörden zu einer Bestrafung der Vestalin zu bewegen, verliefen offenbar im Sande.
Die Hinrichtung der unkeuschen Vestalin
Eine verurteilte Vestalin wurde gefesselt und geknebelt in einer verschlossenen Sänfte unter großer Beteiligung der Bevölkerung zur Porta Collina getragen, wo innerhalb der Stadt ein unterirdisches Verlies hergerichtet worden war. Dort befand sich „eine Liege mit einer Decke, eine brennende Lampe sowie kleine Mengen der notwendigen Lebensmittel: Brot, Wasser in einem Gefäß, Milch und Öl, als wollte man es vermeiden, den Körper einer für den höchsten Dienst geweihten Person durch Hunger zu töten“. Nachdem man der Vestalin die Fesseln gelöst hatte, ließ man sie in das Verlies hinabsteigen, verschloss den Eingang und deckte Erde darüber, um die Stelle unkenntlich zu machen.
Gewisse Elemente dieses Verfahrens zeigen, dass die Hinrichtung einer unkeuschen Vestalin nicht als normale Bestrafung für ein kriminelles Vergehen angesehen wurde. So handelte es sich nicht um eine Strafe im Sinne des römischen Strafrechts, da das Urteil nicht von einem Gericht, sondern von einem Priesterkollegium gefällt wurde. Auch besaß die Vestalin in einem solchen Fall nicht das jedem römischen Bürger zustehende Provokationsrecht.
Auffällig ist auch, dass die Verurteilte durch die Bereitstellung von Bett, Lampe und Nahrungsmitteln gleichsam eine symbolische Lebensgrundlage in ihrem Verlies erhält. Bereits Plutarch vermutet darin eine rituelle Fiktion, die vorgeben sollte, dass die Priesterin nicht wirklich getötet wurde. Dies könnte darauf hindeuten, dass man eher daran interessiert war, sie aus der Öffentlichkeit der römischen Welt zu verbannen als sie zu töten. In gewisser Weise erinnert die Hinrichtung der Vestalin somit an den Umgang mit Prodigien, da etwa Missgeburten oder unheilvolle Tiere verbrannt oder in überseeische Gebiete verbracht und damit ebenfalls dauerhaft aus Rom entfernt wurden. Inwiefern zwischen dem Umgang mit Prodigien und dem Keuschheitsbruch einer Vestalin Zusammenhänge bestanden, ist in der Forschung jedoch umstritten.
Ungeklärt ist bisher auch die Aussage Plutarchs, dass gewisse nicht näher beschriebene Priester am Ort der Hinrichtung einer Vestalin Totenopfer abhielten. Möglicherweise handelt es sich hier um einen postumen Diensterweis von Freunden oder Verwandten, oder Plutarch hat die zu seinen Lebzeiten in Rom nachweisbare Sitte, spontan Blumen am Sterbeort eines Menschen zu hinterlegen, als rituelle Handlung missverstanden. Von einem offiziellen Totenkult für hingerichtete Vestalinnen ist zumindest bisher nichts bekannt.
In der älteren Forschung wurde gelegentlich angenommen, dass unkeusche Vestalinnen auch durch den Sturz vom Tarpejischen Felsen getötet wurden, doch handelt es sich dabei um ein Missverständnis, da in den entsprechenden Belegen bei Quintilian und Seneca dem Älteren nicht von tatsächlichen Verhältnissen berichtet wird. Stattdessen handelt es sich um fiktive Situationen, die im Rhetorikunterricht als Ausgangssituationen für Übungsreden dienten. Zudem wird lediglich von unkeuschen „Frauen“ bzw. „Priesterinnen“ gesprochen, ohne dass ein Bezug auf die Vestalinnen erkennbar wäre.
Zeitgenössische Bewertungen der Hinrichtungen
In römischen Quellen wird die Härte der Strafe für die unkeusche Vestalin nicht grundsätzlich problematisiert, während ansonsten besonders harte Strafen meist kritisch bewertet werden. So bezeichnet Livius die Hinrichtung des von zwei Viergespannen in Stücke gerissenen Mettius Fufetius als „grausames Spektakel“, das in der Geschichte des römischen Volkes einmalig sei, da die Römer sich ansonsten rühmen könnten, mildere Strafen als alle anderen Völker zu verhängen. Weniger schwere Vergehen, zum Beispiel das Verlöschenlassen des Feuers im Tempel der Vesta, werden in den Quellen oft entschuldigt, etwa bei Livius, der darin nur eine menschliche Nachlässigkeit sieht und damit die Schwere des Vergehens sowie die Bedeutung des Ereignisses herunterspielt.
Es fällt auf, dass es in der gesamten Kaiserzeit nur zweimal zu Hinrichtungen von Vestalinnen gekommen ist, nämlich unter Domitian und unter Caracalla. Die meisten Liebhaber der Vestalinnen kamen unter Domitian mit Verbannung davon; von den vier verurteilten Vestalinnen durften drei ihre Todesart selbst wählen, nur die Obervestalin wurde auf traditionelle Art hingerichtet. Bei dem Prozess unter Caracalla ist von einer Verurteilung von beschuldigten Männern nichts überliefert (eine der Vestalinnen, Clodia Laeta, soll der Kaiser selbst vergewaltigt haben). Die relative Milde Domitians zeigt, dass die traditionelle Strafe damals bereits als hart empfunden wurde. Das Vorgehen Caracallas wurde von dem durchaus konservativ gesinnten zeitgenössischen Geschichtsschreiber Cassius Dio als tyrannische Willkür verurteilt. Dabei konnte Cassius Dio vermuten, dass seine Leser das auch so sähen.
Vestalinnen als Motiv späterer Kunstwerke
Insbesondere im 19. Jahrhundert faszinierte das Schicksal der Vestalinnen Historienmaler und Schriftsteller. Die Oper La vestale von Gaspare Spontini nach einem Libretto von Victor-Joseph Étienne de Jouy wurde 1807 in Paris uraufgeführt und wird heute noch bisweilen gespielt.
Auch die Handlung von Christoph Willibald Glucks einaktiger Oper L’innocenza giustificata (Wien 1755) dreht sich um eine Vestalin. Der Textdichter Giacano Durazzo setzte dafür Szenen aus mehreren Libretti von Pietro Metastasio neu zusammen.
Literatur
Alexander Bätz: Sacrae virgines. Studien zum religiösen und gesellschaftlichen Status der Vestalinnen. Ferdinand Schöningh, Paderborn 2012, ISBN 978-3-506-77354-8.
Mary Beard: The Sexual Status of the Vestal Virgins. In: The Journal of Roman Studies. Band 70, 1980, , S. 13–27.(Teilweise überholter Forschungsstand.)
Mary Beard: Re-reading (Vestal) virginity. In: Richard Hawley, Barbara Levick (Hrsg.): Women in Antiquity. New Assessments. Routledge, London-New York 1995, ISBN 0-415-11368-7, S. 166–177.(Korrekturen und Ergänzungen zum Aufsatz von 1980.)
Jane F. Gardner: Frauen im antiken Rom. Familie, Alltag, Recht. C.H.Beck, München 1995, ISBN 3-406-39114-1. (Englische Originalausgabe: Women in Roman law and society. Croom Helm, London 1986, ISBN 0-7099-3893-4.)
Christine Korten: Ovid, Augustus und der Kult der Vestalinnen. Eine religionspolitische These zur Verbannung Ovids. Lang, Frankfurt am Main u. a. 1992, ISBN 3-631-44856-2 (Studien zur klassischen Philologie. Bd. 72).
Nina Mekacher: Die vestalischen Jungfrauen in der römischen Kaiserzeit. Reichert, Wiesbaden 2006, ISBN 3-89500-499-5.
Christiane Schalles: Die Vestalin als ideale Frauengestalt. Priesterinnen der Göttin Vesta in der bildenden Kunst von der Renaissance bis zum Klassizismus. 2 Bände. Cuvillier, Göttingen 2002, 2003, ISBN 3-89873-624-5 (Diss. Marburg).
Ariadne Staples: From Good Goddess to Vestal Virgins. Sex and Category in Roman Religion. Routledge, London/New York 1998, ISBN 0-415-13233-9.(Umfangreiche Darstellung des Phänomens der Vestalinnen und des Vesta-Kultes vor dem Hintergrund römischer Vorstellungen über soziale Kategorien und Geschlechtsrollen; zum Teil spekulative Folgerungen.)
Weblinks
Haus der Vestalinnen auf roma-antiqua.de
Vesta und Vestalinnen auf info-antike.de
Vestalinnen auf ImperiumRomanum.com
Rekonstruktion der Haartracht einer Vestalin auf YouTube
Anmerkungen
Kult der Vesta
Römisches Amt
Amtsbezeichnung (Religion)
Personenbezeichnung (römische Religion)
Frauentitel |
88691 | https://de.wikipedia.org/wiki/Westwall | Westwall | Der Westwall, von den Westalliierten auch Siegfried-Linie genannt (, ), war ein über etwa 630 km verteiltes militärisches Verteidigungssystem entlang der Westgrenze des Deutschen Reiches im Zweiten Weltkrieg, das aus über 18.000 Bunkern, Stollen sowie zahllosen Gräben und Panzersperren bestand. Er verlief von Kleve an der niederländischen Grenze in Richtung Süden bis Grenzach-Wyhlen an der Schweizer Grenze.
Hitler ließ die Anlage, die militärischen und auch propagandistischen Wert hatte, ab 1936 planen und zwischen 1936 und 1940 errichten. Kurz zuvor hatte er in der Rheinlandbesetzung am 7. März 1936 entgegen den Auflagen aus dem Friedensvertrag von Versailles die durch die Folgen des Ersten Weltkriegs vom Reich demilitarisierten Gebiete beiderseits des Rheins von Wehrmachttruppen besetzen lassen.
Herkunft des Begriffs „Westwall“
Vermutlich bürgerte sich die Bezeichnung Westwall ab Ende des Jahres 1938 zunehmend ein, ohne dass zunächst die nationalsozialistische Propaganda den Begriff in besonderem Maße benutzte. Er stammt wahrscheinlich aus dem Kreis der am Bau beteiligten Arbeiter. Im zweiten Halbjahr 1938 wurden noch Begriffe wie „Todt-Linie“ (offenbar die üblichste Bezeichnung, s. u.), „Schutzwall“ oder „Limes-Programm“ verwendet, während Militärkreise Namen wie „Führer-Linie“ oder „Hitler-Linie“ populär machen wollten.
Noch im Oktober und Dezember 1938 war von der „nach ihrem Schöpfer allgemein genannt[en]“ Todt-Linie die Rede.
Parallel dazu tauchte die Bezeichnung Westwall auf, und zwar in der Presse erstmals spätestens am 28. Oktober 1938, als das Neue Wiener Tagblatt unter der Überschrift „Männer vom Westwall auf Urlaub“ über einen Arbeiter berichtete, der seinen Koffer für die Rückfahrt packte und erzählte, sein Sohn sei „ordentlich stolz darauf, daß sein Vater mit am Westwall arbeitet“. Der Name Westwall tauchte ebenfalls am 19. November 1938 in einem Artikel der Tageszeitung „NSZ-Rheinfront“ auf, der den „Männern vom Westwall“ gewidmet war.
Hitler verwendete den Begriff erstmals öffentlich während seiner Besichtigungsreise zu den Westbefestigungen vom 14. bis zum 19. Mai 1939 und erließ am 19. Mai 1939 einen Tagesbefehl an die Soldaten und Arbeiter des Westwalls. Der offizielle Sprachgebrauch orientierte sich zuvor mehr an den nachfolgend beschriebenen Programmen, wobei mit „Limes-Programm“ ein Name gewählt wurde, der an den ehemaligen römischen Grenzwall in Germanien erinnern sollte.
Entwicklung 1936 bis 1940
Die Entwicklung des Westwalls war keinesfalls homogen und wurde durch die politische Führung stark beeinflusst. Die heutige Sicht wird stark geprägt durch die Standardwerke von Groß (1982) und Bettinger & Büren (1990). Groß arbeitete als einer der ersten dieses Thema wissenschaftlich auf und beschrieb die Entwicklung für Nordrhein-Westfalen; Bettinger & Büren veröffentlichten zehn Jahre später Erkenntnisse über den gesamten Bereich des Westwalls.
Groß unterscheidet folgende Entwicklungsschritte:
Grenzwacht-Programm (Pionier-Programm) für die vordersten Stellungen aus dem Jahre 1938,
Limes-Programm, ebenfalls aus dem Jahre 1938,
Aachen-Saar-Programm aus dem darauf folgenden Jahr 1939,
Die Geldern-Stellung Brüggen-Kleve von 1939 und 1940,
Luftverteidigungszone (LVZ) West 1938 (siehe auch Kommando der Luftverteidigungszone West)
Bettinger & Büren stellten diese Entwicklungen in einen breiteren Kontext:
1936: Nach der Wiederbesetzung des Rheinlandes wurden meist vereinzelt und verstreut Bunker gebaut:
Zwischen Mosel und Rhein an wichtigen Straßen, Brücken über die Saar oder als Vorbereitung zum Bau späterer Stellungen.
Am Oberrhein wurden die wichtigsten Übergangsstellen brückenkopfartig mit Bunkern versehen.
Zudem wurden die Übergänge vom Oberrheingraben in die Täler des Schwarzwaldes mit jeweils kleinen Stützpunkten inklusive Bunker versehen.
Die einzige größere Stellung mit Bunkern entstand südlich von Karlsruhe – Ettlinger Riegel.
1937: Die Planungen für die Befestigungssysteme Befestigungen zwischen Mosel und Rhein und die Befestigungen am Oberrhein, darunter der Isteiner Klotz, sahen die Implementierung von drei Befestigungskonzepten vor. Befestigungslinien im Festungsausbau sollten unter anderem die historischen Einfallspforten durch das Rheintal westlich Karlsruhe (die sogenannte Weißenburger Senke bei Bad Bergzabern; dort war der Bau von zwei A-Werken geplant) und durch das Moseltal bei Trier schließen. Ihr Bau dauerte Jahre. Dazwischen wurden Befestigungslinien in Stellungsausbau angefangen. Vorgelagerte Befestigungslinien im Sperrausbau entlang der Saar und grenznah in der Pfalz waren nur zum vorübergehenden Schutz der dahinter zu bauenden Stellungen gedacht, die mit Absicht etwas weiter abgesetzt von der Grenze geplant wurden.
1938: Ein viertes Befestigungssystem, die Befestigungen Niederrhein und Eifel sollte die Kette mit Befestigungsanlagen bis in Höhe der Nordgrenze Belgiens an der niederländischen Grenze (Dreiländereck Vaals bei Aachen) verlängern. Groß (1982) nannte diesen Entwicklungsschritt Pionierbauprogramm 1938.
Ab Mai 1938 wurden die ursprünglichen Planungen, die nur noch den Bau von Befestigungslinien im Stellungsausbau unter dem Namen Limesprogramm vorsahen, drastisch verändert. Zudem wurden die verwendeten Bunkertypen – Regelbauten genannt – vereinfacht bzw. standardisiert, damit sie von der Organisation Todt schneller gebaut werden konnten. Grund für die Veränderung und Beschleunigung war die Teilmobilmachung der Tschechoslowakei als Reaktion auf die aggressive deutsche Außenpolitik und das Risiko, dass Frankreich in einen militärischen Konflikt mit der Tschechoslowakei eingreifen würde. Zu diesem kam es nach dem Einmarsch am 15./16. März 1939 aber nicht.
Parallel dazu baute die Luftwaffe die LVZ-West hinter dem Westwall zwischen Mosel und Rhein, eine Kette von Flugabwehrstellungen mit eigenen Bunkern.
Ab Oktober 1938 kündigte Hitler an, die Städte Aachen und Saarbrücken besser zu schützen, und forderte den Ausbau der diesen Städten vorgelagerten Befestigungslinien im Sperrausbau zu einer richtigen Stellung. Dieser Schritt wurde unter dem Namen Aachen-Saar-Programm bekannt; er wird oft mit der Einführung neuer Regelbauten im Februar 1939 verwechselt, die besonders in diesen auszubauenden Stellungen Verwendung fanden.
1939: Der Bau der Bunker aus dem Limesprogramm war noch längst nicht abgeschlossen, als die im Bau befindlichen Stellungen mit neuen Regelbauten erweitert wurden. Zudem wurde die LVZ-West nach Norden bis nach Mönchengladbach und nach Süden zum Bodensee verlängert. Nach dem Kriegsbeginn wurden sogar nochmal neue Stellungen angefangen:
Die Geldernstellung, die eine Verlängerung nach Norden bis zum Rhein vorsah.
Der Orscholzriegel zwischen dem Westwall bei Mettlach und Luxemburg.
Die Spichern-Stellung auf den Höhen südlich Saarbrückens, teilweise auf französischem Hoheitsgebiet.
1940: Der Ausbau verlangsamte sich und wurde nach dem Westfeldzug (Mai/Juni 1940) eingestellt.
1944: Die erneute Bedrohung der deutschen Westgrenze durch die herannahende Front führte zur Reaktivierung der technisch oft veralteten Befestigungsanlagen. Der Bau von modernen Bunkern konnte nur in bescheidenem Umfang vorangetrieben werden. Im Herbst/Winter 1944/1945 wurde die Maas-Rur-Stellung gebaut, eine zur Verstärkung des Westwalles erstellte feldmäßige Grabenstellung zwischen der Maas bei Venlo und der Rur bei Wassenberg (sie wurde im Februar 1945 kampflos geräumt).
Auswirkungen des Westwallbaus
Alle diese Programme wurden fortan unter höchster Priorität und der Nutzung aller verfügbaren Ressourcen vorangetrieben. Da bereits Rohstoffknappheit herrschte und auch sehr viele Bauarbeiter am Westwall benötigt wurden, kam insbesondere die öffentliche und private Bauwirtschaft völlig zum Erliegen, obwohl damals der Bedarf an Wohnraum groß war. Zu dieser Zeit fehlten in Deutschland etwa 1,5 Millionen Wohnungen (siehe auch Kriegsökonomie#Rohstoffe).
Zu Gunsten des Westwalls wurde der Ausbau der Festungsfront Oder-Warthe-Bogen (sogenannter „Ostwall“) eingestellt. Ausrüstung und Bewaffnung wurde vom Oder-Warthe-Bogen an den Westwall gebracht.
Auswirkungen hatte der Bau auch auf die Landwirtschaft des Reiches. So mussten für den Westwallbau im Zeitraum von 1937 bis 1939 über 30.000 Bauern mit ihren Familien die eigenen rund 5.600 Betriebe mit einer Fläche von 120.000 Hektar verlassen, was zusammen mit anderen Baumaßnahmen der Wehrmacht eine nicht unerhebliche Verminderung der landwirtschaftlichen Nutzfläche bedeutete.
Kosten
Der Bau des Westwalls kostete knapp 3,5 Mrd. Reichsmark (Zum Vergleich: Das Deutsche Reich hatte 1933 zivile Ausgaben von 6,2 Mrd. RM).
Der Bau und andere Ausgaben (z. B. Aufrüstung der Wehrmacht) konnten nur mittels staatlicher Kreditaufnahme und mit Mefo-Wechseln finanziert werden. Ausländische Devisen waren knapp; 1938 stand Deutschland vor dem Bankrott. Auch die deutlich steigende Inflation hatte ihre Ursache insbesondere im Bau des Westwalls. Durch hohe Stundenzahlen, zahlreiche Zulagen und ständigen Bedarf an Arbeitskräften wurde das landesweite Lohngefüge erheblich gestört. Beispielsweise konnten beim Bau des Westwalls eingesetzte Hilfsarbeiter aus der Landwirtschaft einen bis zu dreifach höheren Stundenlohn erzielen als mit ihrer bisherigen Arbeit. Das Reichswirtschaftsministerium kritisierte eine verschwenderische Überbezahlung in der Größenordnung von mehreren hundert Millionen RM.
Beispielhafte Regelbauten
Zu Beginn der jeweiligen Programme wurden Regelbauten am Reißbrett konstruiert, von denen dann zum Teil viele tausend nach dem vorher festgelegten Schema gebaut wurden.
Pionierprogramm
Für das Pionierprogramm wurden in erster Linie kleine Bunker mit drei frontal ausgerichteten Scharten errichtet. Die Anlagen hatten nur eine Wandstärke von 30 cm und waren nicht gegen Giftgas gesichert. Die dort stationierten Soldaten hatten keine eigenen Betten, sondern mussten sich mit Hängematten behelfen. An exponierten Stellen wurden ähnlich kleine Anlagen mit kleinen Panzerkuppeln aufgestellt. Alle diese Bauwerke galten schon während ihres Baus als veraltet und boten bestenfalls Schutz gegen Bomben- oder Granatsplitter. Betrieben wurde das Programm von der Grenzwacht, einer kleinen militärischen Truppe, die unmittelbar nach der Besetzung des Rheinlandes dort ihre Tätigkeit aufnahm. Errichtet wurden die Anlagen in der Nähe der Grenze. Das Westwallmuseum Konz ist ein als Museum eingerichteter Bunker dieser Baureihe.
Limesprogramm
Adolf Hitler befahl am 28. Mai 1938 das Limesprogramm: die deutsche Westgrenze sollte von der Schweizer Grenze bis nach Brüggen (bei Venlo) durch den Bau von 11.800 Bunkeranlagen befestigt werden.
Diese sollten bis zum 1. Oktober 1938 fertiggestellt werden; dieser Termin hing zusammen mit dem von Hitler geplanten Angriff auf die Tschechoslowakei (der durch das Münchner Abkommen bis zur Zerschlagung der Rest-Tschechei ausgesetzt wurde).
Die 1938 errichteten Bunker waren massiver konstruiert als die zuvor im Pionierprogramm errichteten. Sie hatten eine Decken- und Wandstärke von 1,5 m. Vom Regelbau 10 wurden beispielsweise insgesamt 3.471 Anlagen am gesamten Westwall gebaut. Diese Anlage besaß einen Aufenthalts- und Schutzraum für zehn bis zwölf Mann mit einem Eingang und nach rückwärts ausgerichteter Treppenscharte und einen 0,5 m höher angelegten Kampfraum mit jeweils einer flankierenden und frontalen Scharte für ein Maschinengewehr mit einem separaten Eingang. Weitere Scharten waren für Karabiner vorgesehen; die ganze Anlage war aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges heraus sicher gegen Giftgas ausgelegt. Der Bunker war mit einem gassicheren Ofen beheizbar, der nach außen führende Kamin mit einem massiven Gitter verschlossen. Jedem Soldaten standen eine Schlafstelle und ein Hocker zu, der kommandierende Offizier erhielt einen Stuhl. Das Platzangebot war sehr gering: Etwa 1 m² Fläche konnten einem Soldaten innerhalb der Bunker zur Verfügung gestellt werden, damit war eine drangvolle Enge in den Aufenthaltsräumen vorgezeichnet. Im Inneren der heute noch erhaltenen Bunker dieses Typs befinden sich noch die Aufschriften, mit denen die einrückenden Mannschaften auf ihre Aufgabe vorbereitet wurden: „Achtung, Feind hört mit!“ oder auch: „Licht machen nur bei geschlossener Scharte!“.
Aachen-Saar-Programm
Ähnlich typische Bauwerke waren die Doppel-MG-Kasematten vom Typ 107 und der Regelbau Typ 106a (MG-Kasematte mit Gruppenunterstand) des Aachen-Saar-Programms mit Betonstärken zwischen 2 m und 3,5 m. Allerdings verzichtete man in diesen Bunkern meist auf frontal wirkende Scharten und ordnete sie seitwärts an. Frontalscharten wurden nur in Ausnahmefällen eingebaut und dann mit einem massiven Panzerschutz versehen. Das veränderte Konzept der Bunker trug den Erfahrungen aus den vorher errichteten Regelbauten Rechnung. Das Platzangebot pro Soldat wurde so von 1 m² auf 1,3 bis 1,4 m² erhöht. Der Platzmangel für Verpflegung und Munition in den Bunkern des Pionier- und des Limesprogramms wurde behoben, indem spezielle Räume für Lebensmittel und Munition angelegt wurden.
Das am 9. Oktober 1938 beschlossene und Anfang 1939 begonnene Programm schloss die beiden Städte Aachen und Saarbrücken wegen ihrer wirtschaftlichen Bedeutung mit ein. Diese lagen zunächst westlich der Verteidigungslinie des Limesprogramms.
Im Saarland wurde in diesem Zuge die Saarufer-Stellung ausgebaut, wobei die Hauptkampflinie (HKL) von der Hilgenbachstellung bis zur Saar vorgeschoben wurde. Somit wurde, im Bereich von Beckingen bis Saarbrücken, die Hilgenbachstellung zu einer zweiten Linie, die bis dahin HKL gewesen war.
Luftverteidigungszone West
Im Jahr 1938 befasste sich die Luftwaffe erstmals mit der Planung einer Zone, die den Namen Luftschutzzone West erhalten sollte. Diese sollte aus 60 leichten und schweren Flakbatterien bestehen und von Jülich bis Speyer verlaufen. Ein Schwerpunkt sollte auf dem Bereich Mosel–Rhein liegen. Mit den ersten Bauarbeiten wurde im Bereich des erwähnten Schwerpunktes begonnen. Am 12. November 1938 wurde per Verfügung die Erweiterung der nun Luftverteidigungszone West genannten Flakzone beschlossen. Als Termin für den Baubeginn dieser erweiterten Zone wurde in der Verfügung der 1. März 1939 festgehalten.
Die Luftverteidigungszone West (LVZ-West) schloss sich parallel zu den bereits beschriebenen Linien in Richtung Osten an. Die Entfernung zwischen der LVZ-West und der Hauptkampflinie betrug rund 40 Kilometer. Die LVZ-West bestand im Wesentlichen aus betonierten Stellungen der Flugabwehr. Die dort eingesetzten Waffen sollten einen anfliegenden Gegner in eine größere Höhe zwingen, wodurch sie seinen Treibstoffverbrauch vergrößern und seinen Aktionsradius gleichzeitig verringern sollten. Die verwendeten Regelbauten waren denen des zeitgleich begonnenen Limesprogramms sehr ähnlich und wurden auch noch gebaut, als das Heer ab 1939 auf modernere Regelbauten umstieg.
Zur Nahverteidigung besaßen diese Stellungen eigene Bunker für Maschinengewehre oder zur Unterbringung von Mannschaften oder eines Panzerabwehrgeschützes. Nur zwischen Mosel und Rhein wurde den Flakstellungen eine eigene Stellung mit LVZ-West-Regelbauten zur Bodenabwehr vorgelagert.
Die LVZ-West konnte zu keinem Zeitpunkt vollständig realisiert werden. Es war nicht möglich, eine Zone von mehr als 600 km Länge durchgehend mit Flak-Geschützen auszustatten. Bis zum 1. März 1940 waren im Ausbaubereich der LVZ-West von Düren bis Basel 1544 Anlagen gebaut worden. Nach dem erfolgreichen Frankreichfeldzug wurde auch die LVZ-West in die Desarmierung der Westwallanlagen eingeschlossen.
Zu Beginn des Westfeldzuges ließ Hitler eine zuvor durch Angehörige der Organisation Todt umgebaute ehemalige LVZ-Stellung in Münstereifel-Rodert als Führerhauptquartier unter dem Namen Felsennest errichten, nachdem er zuvor den „Adlerhorst“ als zu feudal abgelehnt hatte.
Geldern-Stellung
Die Geldern-Stellung verlängerte den Westwall bis nach Kleve am Niederrhein und wurde erst nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges gebaut. Ursprünglich endete der Westwall im Norden in der Nähe von Brüggen im Kreis Viersen. Errichtet wurden in erster Linie unbewaffnete Unterstände in allerdings massivster Bauweise aus Beton. Diese Regelbauten vom Typ 102V wurden aus Gründen der Tarnung gern in der Nähe von landwirtschaftlichen Gehöften errichtet. Die ebenfalls hier errichteten Doppel-MG-Kasematten des Regelbautyps 107 sind restlos beseitigt worden.
Panzersperren
Außerdem wurden auf vielen Kilometern entlang des Westwalls Panzersperren gebaut. Es gibt verschiedene Arten dieser Sperren, darunter Höckerlinien, Hemmkurven, Panzermauern und auch Straßensperren. Die Höckerlinie wurde ihrer Form wegen so genannt, die Höcker wurden auch als Drachenzähne bezeichnet. Die Höcker aus Stahlbeton stehen in mehreren Reihen auf einem gemeinsamen Fundament. Regulär lassen sich zwei Hindernistypen nachweisen: Das Hindernis vom Typ 1938 mit vier von vorn nach hinten ansteigenden Zähnen und das Hindernis 1939 mit fünf dieser Zähne. Es wurden aber ebenfalls sehr viele unregelmäßige Höckerlinien gebaut. Auch Hemmkurven-Hindernisse sollten Panzer aufhalten. Die 36 Tonnen schweren, aus Stahlträgern gebauten Hindernisse steigen in Fahrtrichtung der gegnerischen Panzer kurvenförmig an. Panzermauern bestanden aus Hangmauern und einer senkrechten, drei Meter hohen Stahlbetonmauer. Panzer würden an dieser Stelle abstürzen. Sofern es die Topografie des Geländes zuließ, wurden wassergefüllte Gräben ausgehoben, genannt nasse Panzergräben. Derartige Anlagen finden sich beispielsweise nördlich von Aachen bei Geilenkirchen.
Ebenfalls in der Nähe von Geilenkirchen gibt es Überreste einer Panzersperre, die aus Beutematerial des Tschechoslowakischen Walles stammt. Zwei durchgehenden Schwellen aus Stahlbeton mit der Höhe von etwa einem Meter wurden im unregelmäßigen Abstand zwei gegeneinander gesetzte U-Profile aufgesetzt. Der Zwischenraum der beiden etwa zwei Meter hohen Stahlträger wurde mit Beton ausgegossen.
Nach dem Krieg wurden die Stahlträger mit einem Schneidbrenner entfernt und verschrottet. Die Schwellen sind dagegen noch vorhanden.
Die Arbeitsbedingungen beim Bau
Die Bauleistungen des Pionier-Programms wurden größtenteils von Privatfirmen erbracht, dagegen war man innerhalb der privaten Wirtschaft nicht in der Lage, für die darauf folgenden Programme die notwendigen Arbeitskräfte zu stellen. Diese Lücke füllte die Organisation Todt, benannt nach ihrem Gründer Fritz Todt. Durch Ausnutzung der ersten Dienstverpflichtung am 22. Juni 1938 durch Hermann Göring als Beauftragten für den Vierjahresplan waren zeitweise bis zu einer halben Million Menschen mit den Bauarbeiten am Westwall beschäftigt. Die Arbeitskräfte wurden äußerst kurzfristig abkommandiert, zum Teil in weniger als 24 Stunden. Die Verpflegung und Unterbringung der Arbeiter wurde von der Deutschen Arbeitsfront organisiert, die mit großen logistischen Schwierigkeiten zu kämpfen hatte. Als Wohnraum wurden nicht nur eigens errichtete Baracken, sondern auch Turnhallen, Privathäuser und Tanzsäle genutzt; mangelnde sanitäre Einrichtungen führten zu erheblichen hygienischen Defiziten.
Den Transport der Bauarbeiter aus ganz Deutschland und des notwendigen Materiales übernahm die Deutsche Reichsbahn, die auf ein gut ausgebautes Netz von strategischen Eisenbahnen an der Westgrenze aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückgreifen konnte.
Die Arbeitsbedingungen auf den Baustellen waren äußerst schlecht, es kam häufig zu Unfällen, denn es mussten beispielsweise mit einfachen Mitteln Panzerteile mit bis zu 60 Tonnen Gewicht bewegt und montiert werden. Bis zu 36 Stunden dauernde Schichten (Gießen eines Bunkers), anfangs ohne Urlaub an bis zu sieben Tagen in der Woche, belasteten die Arbeiter bis an ihre Grenzen oder darüber hinaus. Die durchschnittliche Arbeitszeit betrug zehn bis zwölf Stunden; Überstunden wurden obligatorisch.
Bedingt durch harte Arbeitsbedingungen, unzureichende Versorgung, erzwungene Trennung von den Familien und Verlängerungen der eigentlich zeitlich begrenzten Dienstverpflichtungen wurde häufig versucht, durch eigenmächtig verlängerten Urlaub, „Bummelschichten“ oder Flucht zu entkommen. Es kam auch zu ersten kollektiven Streiks. Im Saarland legten 1938 über 1.000 Arbeiter ihre Arbeit nieder und verlangten bessere Entlohnung und Verpflegung, was ihnen auch gewährt wurde. Eine zweite Streikwelle führte zur Rücknahme von im Juni 1939 vorgenommenen Lohnkürzungen. Ab Kriegsbeginn (1. September 1939) praktizierte die Regierung harte Sanktionen: SS-Sonderlager und Polizeihaftlager wurden auf Drängen Todts für unkooperative Arbeitskräfte eingerichtet, von denen aus die Arbeiter zur Arbeit gefahren und „ideologisch unterwiesen“ wurden. Das SS-Sonderlager Hinzert wurde nach der Niederlage Frankreichs (Juni 1940) Durchgangslager für Juden (Näheres hier) und andere Häftlinge, die aus Frankreich in Konzentrationslager oder Vernichtungslager deportiert wurden. Das SS-Sonderlager Hinzert wurde 1945 dem KZ Buchenwald direkt unterstellt.
Todt selbst sagte zur Rolle dieses Lagers, es habe die Westwallbauten erst ermöglicht.
Panzerteile und Bewaffnung
Die notwendigen stählernen Panzerteile für die Aufstellung von Waffen in den Bunkern konnte die Industrie weder in der benötigten Menge noch in der notwendigen Qualität liefern, sodass der militärische Wert der Anlagen nicht sonderlich hoch war. Zu den Panzerteilen gehörten die Scharten und ihre Verschlüsse sowie Panzerkuppeln für die Rundumverteidigung. Hinsichtlich der Legierungsmetalle für die Herstellung dieser Panzerteile (in erster Linie Nickel und Molybdän) war man vom Ausland abhängig, so dass man entweder überhaupt keine Panzerteile einbaute oder diese aus minderwertigem Ersatzmaterial herstellte. Dieser Mangel war selbst auf offiziellen Fotografien zu erkennen.
Weiterhin waren die Bunker für Geschütze ausgelegt, die sich bereits in den ersten Kriegsjahren als unterdimensioniert herausstellten und deshalb wieder ausgebaut wurden. Die für eine wirksame Verteidigung notwendigen großkalibrigen Waffen ließen sich jedoch nicht in die vorhandenen Bunker einbauen.
Die Rolle des Westwalls zu Beginn des Krieges
Trotz der zu Beginn des Zweiten Weltkrieges am 3. September 1939 erfolgten Kriegserklärung Frankreichs an das Deutsche Reich kam es bis zum Beginn des Westfeldzuges zu keinen größeren Kämpfen am Westwall, dessen deutsches Vorfeld als Rote Zone 1939 evakuiert wurde. Stattdessen verharrten beide Gegner im sogenannten Sitzkrieg, wobei keine Seite die andere angreifen wollte und stattdessen in ihren sicheren Stellungen verharrte. Nach dem Abschluss des Westfeldzugs wurden alle beweglichen Waffen aus den Bunkern des Westwalls entfernt und an anderen Stellen verwendet. Die betonierten Teile ließ man in der Landschaft stehen, wodurch die Anlage innerhalb kürzester Zeit völlig unbrauchbar für die Verteidigung wurde. Stattdessen nutzte man die Bunker als Lagerräume, beispielsweise für landwirtschaftliche Geräte. Auch andere Einrichtungsgegenstände wie zum Beispiel die nicht mehr benötigten Betten wurden aus den Bunkern entfernt und in neu errichtete zivile Luftschutzbunker eingebaut. Die Betten wurden aufgrund ihrer Herkunft oft als „Westwall-Betten“ bezeichnet.
Reaktivierung des Westwalls 1944
Eine neue Situation entstand mit der Landung der Alliierten in der Normandie am 6. Juni 1944, als der Krieg auch im Westen wieder voll losbrach. Am 24. August 1944 erließ Hitler einen Führererlass zum erneuten Ausbau des Westwalls. 20.000 Zwangsarbeiter und Mitglieder des Reichsarbeitsdienstes (kurz RAD) versuchten mit improvisierten Mitteln die Verteidigungsbereitschaft wiederherzustellen, was aber wegen der alliierten Luftüberlegenheit nicht gelang. Schon während dieser Arbeiten stellte sich heraus, dass die Bunker den weiterentwickelten panzerbrechenden Waffen in keiner Weise mehr gewachsen waren. Auch die ortsansässige Bevölkerung wurde für Arbeiten herangezogen, meist zum Bau von Gräben für die Panzerabwehr. Parallel zur Reaktivierung des eigentlichen Westwalls wurden entlang der Grenzen zum besetzten Ausland kleine Ringstände aus Beton errichtet, sogenannte Tobruks. Diese Stände waren im Wesentlichen kleine Schützenlöcher für einen einzelnen Soldaten, wie sie auch in der Maas-Rur-Stellung zum Einsatz kamen.
Kampfhandlungen am Westwall
Die im September 1944 durchgeführte Operation Market Garden der Westalliierten ist im Zusammenhang mit dem Westwall zu sehen. Mit dieser Operation versuchte das alliierte Oberkommando vergeblich, Rheinübergänge in den Niederlanden zu gewinnen, um den Westwall nördlich zu umgehen.
Im Oktober 1944 begannen erste Kriegshandlungen vor dem Westwall. Der am stärksten umkämpfte Bereich des Westwalls war die Gegend des Hürtgenwaldes in der Nordeifel, ca. 20 km südöstlich von Aachen gelegen. In dem unübersichtlichen Waldgebiet fielen bis Februar 1945 12.000 Wehrmacht-Soldaten sowie ebenfalls 12.000 US-Soldaten bei der Schlacht im Hürtgenwald.
Weiter nördlich gelang es US-Truppen im Oktober 1944 in der Schlacht um Aachen, in die erste Verteidigungslinie des Westwalls einzubrechen und Aachen als erste deutsche Großstadt einzunehmen. Der Durchbruch im Raum Aachen führte zu einem Einbruch in die zweite Stellung des Westwalls auf einer Breite von 40 Kilometern, der im Zuge der Operation Queen im November und Anfang Dezember bis an die Rur vorgetrieben wurde. Eine Überschreitung des Flusses gelang indes nicht, stattdessen bildete sich die lange umkämpfte Rurfront.
Erst am 23. Februar 1945 überquerte die 9. US-Armee die Rur (Operation Grenade).
Elsass/Saarland/Pfalz
Weiter südlich war die Lage wie folgt: im August und September 1944 hatten die alliierten Truppen die Wehrmacht aus großen Teilen Frankreichs herausgedrängt; ihnen war ein blitzkriegartiger Vormarsch gelungen. Dieser kam Mitte September an der belgisch-niederländischen und belgisch-deutschen Grenze sowie an der Mosel und deren Nebenflüssen zum Stehen. Das hatte verschiedene Gründe; unter anderem waren durch den Vormarsch die alliierten Nachschublinien immer länger geworden. Alliierte Truppen standen nun also vor Teilen des südlichen Westwalls.
Da SHAEF zunächst mit dem Rheindelta und mit Aachen andere Schwerpunkte verfolgte, gab es im September und Oktober 1944 nur örtliche Kampfhandlungen.
Auf Drängen Frankreichs und aufgrund der Hoffnung, hier aus der Bewegung in den Westwall einzubrechen und hohe Verluste wie in den vorangegangenen Kämpfen zu vermeiden, entschloss sich SHAEF dennoch zu einer Offensive in diesem Abschnitt. Von Mitte November bis Mitte Dezember 1944 konnten alliierte Truppen große Teile des Elsasses und Lothringens unter ihre Kontrolle bringen. Am 12. November 1944 trat die 6. US-Heeresgruppe im Zusammenwirken mit der 3. US-Armee zur Offensive beiderseits der Vogesen an. Die alliierten Armeen durchbrachen die Zaberner Steige und die Burgundische Pforte und erreichten den Oberrhein am 19. November bei Mülhausen und am 23. November bei Straßburg.
Am 16. Dezember 1944 begann die Wehrmacht aus der Deckung des Westwalls heraus die Ardennenoffensive, und zwar in der Gegend zwischen Monschau und dem luxemburgischen Echternach. Diese – die Alliierten überraschende – Offensive brachte nur kurzfristige deutsche Geländegewinne, kostete viele Menschenleben und hatte keinen Einfluss auf den Kriegsausgang. Sie wird oft als letzte Offensive an der Westfront bezeichnet; tatsächlich war sie die vorletzte und das Unternehmen Nordwind (siehe unten) die letzte.
Auch an anderen Stellen wurde am Westwall schwer gekämpft. Die Besatzungen vieler Bunker verweigerten aus Angst vor den deutschen Standgerichten die kampflose Übergabe. Viele deutsche Soldaten bezahlten diese Entscheidung mit ihrem Leben, da vor allem die Gruppenunterstände keinerlei Schutz vor den Waffen der Angreifer boten.
Vom 31. Dezember 1944 bis 25. Januar 1945 versuchte die Wehrmacht im Unternehmen Nordwind eine Offensive. Ein wesentlicher Teil der Kampfhandlungen fand vom 8. bis 20. Januar 1945 im Raum zwischen Hagenau und Weißenburg statt; Kämpfe am Vogesenkamm und um einen neugebildeten Brückenkopf am Oberrhein bestimmten die Ereignisse deutlich stärker. Die Schlacht endete nach dem Rückzug der amerikanischen Truppen auf die Moder-Linie nahe Hagenau und ihrem Abwehrerfolg gegen die letzten deutschen Angriffe am 25. Januar.
Im Frühjahr 1945 fielen die letzten Westwallbunker an der Saar und im vorderen Hunsrück, wie beispielsweise die Bunkerkette von Osburg-Neuhaus.
Der propagandistische Wert des Westwalls
Der Bau des Westwalls wurde von der deutschen Propaganda deutlich über die Notwendigkeit hinaus als unbezwingbares Bollwerk dargestellt, und zwar sowohl im Inland als auch im Ausland. Das Reich sei von außen bedroht und baue daher eine rein defensive Anlage, was wiederum die Nachbarn beschwichtigen sollte. Diese Strategie erwies sich aus der Sicht der Nationalsozialisten zu Beginn wie zum Ende des Zweiten Weltkrieges als überaus erfolgreich. Zu Beginn des Krieges verblieben die gegnerischen Truppen hinter ihren eigenen Grenzbefestigungen, der Westwall stellte für sie nicht nur eine reale, sondern auch eine psychologische Grenze dar.
Darüber hinaus wurde der Westwall, insbesondere unter der Bezeichnung „Siegfried-Linie“, Gegenstand von Parodien in Soldatenliedern beider Kriegsparteien.
Für Propagandazwecke wurde auch ein Dokumentarfilm über den Bau gedreht. Da zum Zeitpunkt des Drehs noch kaum vorzeigbare Baustellen am Westwall vorhanden waren, wurden Baustellen des Oder-Warthe-Bogens als Baustellen des Westwalls ausgegeben und gefilmt.
Nachkriegszeit
In der Nachkriegszeit wurden viele der Westwallanlagen durch Sprengungen geschleift. Bei diesen Arbeiten sowie bei der Beseitigung der vielen Minen verloren nochmals Menschen ihr Leben.
„Denkmalwert des Unerfreulichen“
In Nordrhein-Westfalen sind noch etwa 30 Bunker unzerstört vorhanden; der große Rest wurde entweder gesprengt oder mit Erde zugeschüttet. Von den Panzersperren sind noch große Teile an Ort und Stelle zu sehen, in der Eifel zum Beispiel auf vielen Kilometern Länge. Dort ist auch das Westwallmuseum Irrel zu finden. Unter dem Stichwort Der Denkmalwert des Unerfreulichen wird heute versucht, die verbliebenen Reste des Westwalls unter Denkmalschutz zu stellen, da nur so den nachfolgenden Generationen anschaulich Geschichte präsentiert werden kann. Wie bei anderen Bauten aus der NS-Zeit war auch dies einige Male Anlass für Kontroversen.
Es werden immer noch öffentliche Gelder zur Beseitigung von Resten des Westwalls bereitgestellt. Da die Bunker aus den vergangenen Kriegen aber mittlerweile zum archäologischen Fundus gehören, werden beispielsweise in Nordrhein-Westfalen Notgrabungen durchgeführt, wenn wieder einmal ein Stück des Westwalls – beispielsweise für eine Straßenverbreiterung – beseitigt werden muss. Diese Notgrabungen können zwar nicht die vollständige Zerstörung des zugehörigen Abschnittes verhindern, bringen aber neue wissenschaftliche Erkenntnisse und bislang unbekannte Details über das jeweilige Bauwerk zu Tage. In diesem Zusammenhang wird von manchen Menschen, ob Zeitzeuge oder nachfolgender Generation, die Frage nach der Rechtfertigung des Denkmalschutzes derartiger Befestigungen gestellt. Soll und will man diese Zeitzeugen aus Beton für die Nachwelt erhalten – ähnlich wie beispielsweise den römischen Befestigungswall Limes?
2007 veranstaltete die Rheinische Bodendenkmalpflege in Bonn eine Fachtagung von 135 Historikern und Fachleuten aus der Arbeit an Gedenkstätten zum Thema Westwall, die im Wesentlichen beklagten, dass die Erinnerungskultur hierzu eher geschichtslos, in der Art von Kriegserzählungen betrieben werde, ohne die NS-Geschichte, die NS-Propaganda und die mit dem Bau verbundenen Verbrechen kritisch zu hinterfragen. Dazu sollte eine behutsame Umwandlung der bestehenden Museumsanlagen erfolgen und eine alternative Musealisierungsstrategie entwickelt werden.
In Rheinland-Pfalz stehen sämtliche vollständig, teilweise oder zerstört erhaltenen, zum Westwall und zur Luftverteidigungszone West gehörenden Anlagen unter Denkmalschutz; betroffen sind unter anderem „Bunker, Minengänge, Stellungen, Höckerlinien, sonstige Sperranlangen, (…), künstliche Hindernisse, (…), umgestaltende Eingriffe in die natürliche Oberflächengestalt und natürliche Oberflächengewässer (wie insbesondere aufgeschüttete Rampen oder aufgestaute natürliche Bäche)“. Sie bilden das „Strecken- und Flächendenkmal ‚Westbefestigung‘“, das aus geschichtlichen Gründen Denkmalwert hat. Es erstreckt sich über acht Landkreise und vier kreisfreie Städte.
Im Saarland wurde 2005 das B-Werk Besseringen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Von den ehemals 32 Panzerwerken der Baustärke „B“ ist es eines der wenigen erhaltenen. Das Panzerwerk Katzenkopf (seit 1979 Westwallmuseum Irrel) hat ebenfalls Wandstärke B.
Viele Bunkerruinen sind mittlerweile beliebte Ziele für Geocacher. Wegen Naturschutzbestimmungen in einigen Bundesländern, insbesondere zum Fledermausschutz, sind die Caches, soweit sie sich in Innenräumen ehemaliger Bunker befinden, nur im Sommerhalbjahr geöffnet.
Naturschutz am Westwall
In der Auseinandersetzung um die Reste des Westwalls haben sich auch Naturschützer zu Wort gemeldet. Große Reste des Westwalls sind heute wertvolle Biotopketten, in die sich selten gewordene Tier- und Pflanzenarten zurückgezogen haben. Sie sind hier ungestört, da die Betonruinen nicht land- oder forstwirtschaftlich genutzt werden können.
Im August 2006 hat der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland für sein Projekt Grüner Wall im Westen erstmals von der Bundesvermögensverwaltung einen Westwallbunker bei Hellenthal übernommen. Die Initiative sieht dies als Initialzündung für Kommunen und Vereine, in ähnlicher Weise aktiv zu werden, um andere Teile dieses Grünen Korridors zu retten und dem Naturschutz zuzuführen. Das Bundesfinanzministerium stellte dem BUND für die Sicherung der Anlage 7.000.000 Euro zur Verfügung, das sind 70 % der sonst notwendigen Abrisskosten.
Die Bunkerruinen haben sich im Laufe der Jahrzehnte zu wertvollen Lebensräumen unter anderem für Wildkatzen und Fledermäuse entwickelt und stellen in der dicht besiedelten und intensiv genutzten Kulturlandschaft wertvolle Rückzugsräume für Tiere und Pflanzen dar. Ihre besondere Bedeutung für den Naturschutz erhalten die Anlagen aufgrund ihrer bandförmigen Anordnung in der Landschaft. Der ehemalige Westwall kann so die verschiedenen Landschaftsräume als „Grüner Wall im Westen“ zu einem großen Biotopverbund zusammenführen.
Die Bunkerruinen dienen mit ihren Hohlräumen als Rückzugsfläche für Klein- und Großsäuger wie Wildkatze, Dachs, Spitzmaus und andere. Die Spalten in den Ruinen sowie Stollen sind ideale Sommer- und Winterquartiere für Fledermäuse. Reptilien wie die Mauer- oder Zauneidechse sind immer wieder zu finden.
Im Juni 2010 hat der Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) Landesverband Rheinland-Pfalz e. V. das Projekt „Grüner Wall im Westen“ gestartet. Mit diesem Projekt soll der ehemalige Westwall als erlebbares Zeitzeugnis der jüngeren Geschichte, architektonisches Denkmal sowie als wichtiger Lebensraum und Verbundachse für seltene und gefährdete Arten vor der Zerstörung bewahrt werden. Diese Verbundachse soll im Sinne eines „Denkmalschutzes durch Naturschutz“ dauerhaft gesichert werden. Die Stiftung Natur und Umwelt Rheinland-Pfalz fördert das Projekt. Naturschützer aus unterschiedlichen Verbänden arbeiten Hand in Hand mit Denkmalschützern, Historikern, Vertretern des Tourismus, des Forstes und Flurbereinigungsbehörden sowie der Landeszentrale für politische Bildung zusammen. Das Projekt zielt auf eine starke Zusammenarbeit mit den angrenzenden Bundesländern Nordrhein-Westfalen, Saarland und Baden-Württemberg und soll damit künftig auf den gesamten ehemaligen Westwall ausgedehnt werden.
Naturschutz bei Planung und Bau des Westwalls zur Zeit des Nationalsozialismus
Der Naturschutz war an Planung und Bau dieser Angriffs- und Verteidigungslinie zur Zeit des Nationalsozialismus beteiligt: Seine Aufgabe bestand damals in der Einfügung der militärischen Anlagen in die Landschaft. Er nahm die Grüntarnung für die Wehrmacht vor.
Wichtigste Akteure in diesem Zusammenhang waren die sogenannten Landschaftsanwälte unter der Führung von Alwin Seifert. Diese Gruppe von Spezialisten arbeitete ursprünglich mit der Organisation Todt beim nationalsozialistischen Reichsautobahnbau zusammen. Sie sorgten z. B. dafür, dass der Streckenverlauf mit dem Landschaftsbild harmonierte oder die Bepflanzung entlang der neuen Fahrtstraßen mit heimischer Vegetation erfolgte.
Als 1938 Fritz Todt auch mit dem beschleunigten Ausbau des Westwalls beauftragt wurde, gelang es den Landschaftsanwälten ihr Aufgabenspektrum auf die entsprechenden militärischen Bauten auszuweiten. A. Seifert übergab diese Aufgabe dem „Landschaftsanwalt“ Wilhelm Hirsch (1887–1957), der seinerseits wiederum mindestens sieben weitere dieser Spezialisten einbezog. Jeder von ihnen bekam einen Abschnitt des Westwalls zugeteilt. Während die Wehrmacht über Stärke und Position der Bauten entschied, übernahmen die Landschaftsanwälte die Aufgabe, sie so in die Landschaft einzubetten, dass sie der Gegner weder aus der Luft noch vom Boden aus erkennen konnte. Sie entwickelten die entsprechenden Pläne, die Ausführung übernahmen privatwirtschaftliche Garten- und Landschaftsbaufirmen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass dabei auch Zwangsarbeiter eingesetzt wurden.
Neben dem militärischen Zweck der Grünplanung bestand auch ein theoretischer Hintergrund.
Entsprechend der Blut- und Bodenideologie des Nationalsozialismus versuchten die Landschaftsanwälte den immensen Eingriff im Zuge des Westwallbaus dazu zu nutzen, die Landschaft zu „heilen“ bzw. sie „aufzuwerten“.
W. Hirsch vermerkte: „Der Westwall ist und bleibt für alle Zeiten geschichtlicher Boden. Er wird zur geschichtlichen Größe deutschen Schaffens, wenn nach der technisch-militärischen Großtat in gleicher Größe die kulturelle Tat des Wiederaufbaus der wund gewordenen Landschaft folgt.“
Es sei zu vermeiden, dass sie nach dem Eingriff versteppe, verbusche oder der Nutzwert verloren gehe, denn. „Die darin lebenden Menschen können zu keinen willensstarken Menschen heranwachsen.“
Dieser ideologische Zusammenhang zwischen der Landschaft und den darin lebenden Menschen war ein Kriterium für die Erarbeitung der Pflanzpläne. Nur einheimische, deutsche Pflanzen sollten für die Grüntarnung benutzt werden. Zum Beispiel Bluthartriegel, Liguster, Schlehdorn, Weinrose oder Wildbrombeere.
Der Naturschutz sah in diesem Zusammenhang seine Rolle darin, an der Entstehung der „nationalsozialistischen Volksgemeinschaft“ mit seinen Mittel mitzuwirken.
Die Landschaftsanwälte verfolgten insbesondere das Ziel mit Heckenstrukturen, Pflanzungen, Aufschüttungen usw. die Einzelbauwerke über „Grünbrücken“ miteinander zu verbinden und sie so als scheinbar organischer Bestandteil der Landschaft den Blicken des Feindes zu entziehen.
Ziel war eine sogenannte nationalsozialistische Wehrlandschaft, in der die Bauwerke „verschwanden.“
Die entsprechenden Arbeiten dauerten in jedem Fall bis Oktober 1941.
Der Westwallbau hatte die Landschaftsanwälte in Kontakt mit der deutschen Wehrmacht und der SS gebracht. Das hier gewonnene Fachwissen wurde in der Folge auch beim Bau des sogenannten Atlantikwalles und in den eroberten Gebieten in Osteuropa angewandt, darunter auch im Umfeld des Konzentrationslagers Auschwitz.
Aber nicht nur die Landschaftsanwälte waren als Naturschützer bei Planung und Bau des Westwalls tätig. In der Pfalz wurde zum Beispiel auch der bayerische Regierungsbeauftragte für Naturschutz beteiligt. Und der Bund Naturschutz in Bayern vermerkte u. a. in den von ihm herausgegebenen „Blätter für Naturschutz“ im Mai 1940: „Im Kriegsgebiet freilich hat der Naturschutz keinen Platz, denn wo Menschenleben und Menschengut vernichtet werden, kann nicht lange Rücksicht genommen werden auf die Natur, die aber auch hier für sich selbst sorgt und sogar über die Verwüstungen des Kriegsschauplatzes ihre Wunder ausgießt. Aber schon im Hinterland des Krieges, im Gebiet des Westwalls, sind überall die Forderungen des Naturschutzes erfüllt, wenn auch größtenteils aus anderen Gründen, wegen der Tarnung. Doch nicht nur die Tarnung, die naturfreundliche Organisation Todt hilft mit in die Landschaft möglichst wenig und kleine Wunden zu reißen und die unbedingt nötigen größeren Eingriffe wieder baldigst der umgebenden Landschaft anzugleichen – oft in rührender Kleinarbeit.“
Der Reichsbund für Vogelschutz, die Vorläuferorganisation des heutigen NABU, sorgte dafür, dass im Sinne des Artenschutzes an den Westwallbunkern Nistkästen aufgehängt wurden.
Adaptionen
Der Westwall, im Englischen meist als „Siegfriedlinie“ bezeichnet, wurde in einem Soldatenlied der während des Sitzkrieges in Frankreich stationierten British Expeditionary Force erwähnt. We’re Going to Hang out the Washing on the Siegfried Line parodierte die Schwäche des Westwalls.
Siehe auch
Liste von erhaltenen Bauten des Westwalles
Atlantikwall (Bau 1942–1944)
Literatur
DAWA-Nachrichten. Hrsg. v. Deutschen Atlantikwall-Archiv. Lippmann, Köln 1983 ff. (halbjährlich erscheinende Zeitschrift mit Artikeln zum Festungsbau, darunter viele Begehungshinweise zum Westwall).
Harry Lippmann: Die gebräuchlichsten Sperranlagen des West- und Atlantikwalls in Wort, Skizze und Bild. In: Panzersperren und andere Hindernisse. DAWA-Nachrichten, Sonderband 13. Hrsg. v. Deutschen Atlantikwall-Archiv. Lippmann, Köln 1997, ISBN 3-931032-13-2, .
Harry Lippmann: Militärmuseen in Deutschland. DAWA-Nachrichten. Sonderband 16. Hrsg. vom Deutschen Atlantikwall-Archiv. Lippmann, Köln 2005, ISBN 3-931032-16-7, (mit vielen Begehungshinweisen für Westwall-Bunker sowie allen Westwallmuseen).
Rheinisches Landesamt für Bodendenkmalpflege (Hrsg.): Der Westwall. Vom Denkmalswert des Unerfreulichen. Führer zu den archäologischen Denkmälern im Rheinland. Text und Karten 1:50.000. Rheinland-Verlag, Köln 1997, 1998. ISBN 3-7927-1668-2 (eine ausführliche Beschreibung der Reste des Westwalls in Nordrhein-Westfalen mit Zusammenfassungen in englischer und französischer Sprache. Im Anhang 6 Topografische Karten im Maßstab 1:50.000).
Manfred Groß: Der Westwall zwischen Niederrhein und Schnee-Eifel. Rheinland-Verlag, Köln 1989. ISBN 3-7927-0644-X (Ausführliche Beschreibung des Westwalls auf dem Gebiet von Nordrhein-Westfalen mit sehr vielen technischen Zeichnungen der einzelnen Anlagen sowie exaktem Kartenmaterial, in denen jeder einzelne Bunker eingezeichnet ist).
Dieter Robert Bettinger, Hans-Josef Hansen, Daniel Lois: Der Westwall von Kleve bis Basel. Auf den Spuren deutscher Geschichte. Podzun-Pallas, Wölfersheim-Berstadt 2002, ISBN 3-7909-0754-5 (Ein Tourenplaner mit ausgiebigen Beschreibungen erhaltener Westwallbauwerke, -museen und Ansprechpartner), aktualisierte Neuauflage 2008 im Nebel Verlag, Eggolsheim, ISBN 978-3-89555-414-8.
Dieter Bettinger, Martin Büren: Der Westwall. Die Geschichte der deutschen Westbefestigung im Dritten Reich. Bd. 1. Der Bau des Westwalls 1936–1945, Bd. 2. Die technische Ausführung des Westwalls. Biblio, Osnabrück 1990, ISBN 3-7648-1458-6 (beide Bände sind extrem ausführlich und decken auch die politischen, organisatorischen und finanziellen Aspekte des Westwalls ab).
Hans-Josef Hansen: Felsennest – Das vergessene Führerhauptquartier in der Eifel. Bau, Nutzung, Zerstörung. Helios Verlag, 2., erweiterte Auflage, Aachen 2008 (u. a. Informationen über die Luftverteidigungszone West), ISBN 3-938208-21-X.
Hans-Josef Hansen (Hrsg.): Auf den Spuren des Westwalls. Entdeckungen entlang einer fast vergessenen Wehranlage. Helios, Aachen 2009, ISBN 3-925087-76-1 (Bildband über zahlreiche interessante/kuriose Entdeckungen entlang der ehemaligen Befestigungszone).
Wolfgang Franz Werner: Bleib übrig! Deutsche Arbeiter in der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft. Schwann, Düsseldorf 1983, ISBN 3-590-18121-4.
Helmut Lauer: Der Westwall. Zweibrücken 1979, 1989.
Jörg Fuhrmeister: Der Westwall: Geschichte und Gegenwart. Motorbuch, Stuttgart 2004, ISBN 3-613-02291-5.
Wolfgang Wegener: Der Westwall. Denkmal und Mythos. In: Rheinische Heimatpflege. Rheinland-Verlag, Pulheim 2006, , S. 279 ff.
Beiträge zur Geschichte des Bitburger Landes. Bd. 14. Geschichtlicher Arbeitskreis Bitburger Land, Bitburg 1994, .
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Frank Möller, Karola Fings (Hrsg.): Zukunftsprojekt Westwall. Wege zu einem verantwortungsbewussten Umgang mit den Überresten der NS-Anlage (Materialien zur Bodendenkmalpflege im Rheinland Bd. 20). Verlag Ralf Liebe, Weilerswist 2008, ISBN 978-3-941037-05-2.
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Ernst-Rainer Hönes: Die NS-Großanlage „Westwall“ als Denkmal. In: Verwaltungsrundschau (VR), 7/2016, S. 223–238.
Ernst-Rainer Hönes: Der ehemalige Westwall als Denkmal? Zugänge des Denkmalschutzes zu einer ehemaligen NS-Anlage. In: Nils Franke, Klaus Werk (Hrsg.): Naturschutz am ehemaligen Westwall. NS-Großanlagen im Diskurs = Geisenheimer Beiträge zur Kulturlandschaft 1. 2016, S. 110–151.
Weblinks
Foerdergruppe Bunker WH 316
Westwall InteressenGemeinschaft e. V.
Der Westwall bei Deep Darkness – Bilder und Berichte
Das Westwallmuseum Bad-Bergzabern
Westwallmuseum bei Pirmasens
Panzerwerk Katzenkopf in Irrel
Westwallmuseum Sinz
Denkschrift des BUND zum ökologischen Wert des Westwalls
Westwall im Saarland
Grüner Wall im Westen
Projekt Grüner Wall im Westen Rheinland-Pfalz
Die Westwallbunker von 1997 bis 2002. Westwall bei jinxed
Westwall-Forum
Nachrichtliches Verzeichnis der Kulturdenkmäler Rheinland-Pfalz: Strecken- und Flächendenkmäler, Westwall und Luftverteidigungszone West. (PDF; 1,7 MB) Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz
Westwallinformationen in der Umgebung von Saarlautern des RODENA Heimatkunde-Verein Roden e. V. u. a.
A westwall site – Der Buhlert
Westwallmuseum Wiltingen
Bunkermuseum Dettenheim e. V., Dettenheim
Einzelnachweise
Befestigungsanlage in Deutschland
Festung in Europa
Befestigungsanlage im Zweiten Weltkrieg
Grenzbefestigung
Erbaut in den 1930er Jahren
Militärische Einrichtung (Wehrmacht)
Kulturdenkmal (Rheinland-Pfalz)
NS-Zwangsarbeit
Befestigungsanlage im Nationalsozialismus |
93017 | https://de.wikipedia.org/wiki/Klippschliefer | Klippschliefer | Der Klippschliefer (Procavia capensis), mitunter auch Wüstenschliefer oder Klippdachs genannt, ist eine Art in der Ordnung der Schliefer (Hyracoidea). Sein Körperbau erinnert an Meerschweinchen. Die Gliedmaßen sind kurz und kräftig, ein Schwanz fehlt. Am Rücken besteht ein auffallender farbiger Fleck, der eine Drüse umgibt. Markant sind auch die zahlreichen Tasthaare, die das Fell durchsetzen. Von allen heutigen Schliefern hat der Klippschliefer das größte Verbreitungsgebiet. Es ist nicht geschlossen; ein Verbreitungsschwerpunkt findet sich im südlichen Afrika, ein weiterer nördlich des Kongobeckens und südlich der Sahara. Von hier aus zieht sich das Vorkommen über den nordöstlichen Teil des Kontinents bis hin nach Vorderasien. Die bewohnten Lebensräume bestehen aus Wüsten und felsigen Landschaften, zudem aus Offenlandgebieten und Wäldern. Die Tiere sind sowohl im Flachland wie auch in hohen Gebirgslagen anzutreffen. In weiten Teilen Afrikas tritt der Klippschliefer gemeinsam mit dem Buschschliefer auf.
Die Lebensweise des Klippschliefers ist gut erforscht. Er bewohnt Felsspalten und Höhlen und tritt vorwiegend tagaktiv auf. Als Hauptnahrung dienen Pflanzen, ihre Zusammensetzung ist abhängig von Jahreszeit und Angebot: in der Trockenzeit bevorzugen die Tiere weiche Pflanzennahrung, in der Regenzeit dagegen härtere. Sie leben gesellig in Kolonien, das Sozialgefüge ist komplex. Eine Gruppe besteht meist aus einem dominanten Männchen, den fortpflanzungsfähigen Weibchen und dem Nachwuchs. Daneben treten noch einzeln lebende Männchen auf. Die Gruppe geht gemeinsam auf Nahrungssuche. Den Großteil des Tages verbringt der Klippschliefer vor allem einzeln oder in Gruppen ruhend, was auf die wenig beständige Körpertemperatur und den niedrigen Stoffwechsel zurückzuführen ist. Das besetzte Territorium wird gegen Eindringlinge verteidigt. Das dominante Männchen stößt zudem markante Rufe aus, die sehr komplex sind. Daneben verfügt der Klippschliefer über eine vielfältige Sozialkommunikation. Nachwuchs kommt einmal jährlich zur Welt, die Weibchen einer Gruppe gebären häufig in kurzen Zeitabständen. Die Jungen sind bei der Geburt weit entwickelt und nach 16 bis 29 Monaten geschlechtsreif. Die jungen Männchen verlassen dann die Kolonie. Bedeutendste Fressfeinde stellen verschiedene Greifvögel und Raubtiere dar.
Zu den frühesten Erwähnungen des Klippschliefers gehören jene aus dem Alten Testament. Modernere Berichte reichen bis in das 17. Jahrhundert zurück. Die wissenschaftliche Erstbeschreibung datiert in das Jahr 1766, vor allem im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde der Klippschliefer in der Gattung Hyrax geführt. Anfänglich galten die Tiere als nahe verwandt mit den Nagetieren, später sah man sie eher in einer engeren Beziehung mit anderen Huftieren. Bis in die 1970er Jahre waren zudem mehrere Arten anerkannt. Daneben bestehen noch einige fossile Vertreter, der älteste Nachweis datiert in das Pliozän vor etwa 5 Millionen Jahren. Der heutige Bestand des Klippschliefers wird als ungefährdet eingestuft.
Merkmale
Habitus
Der Klippschliefer ist der bekannteste Vertreter der Schliefer. In der Körpergröße entspricht er einem Kaninchen. Mehr als 60 untersuchte Individuen aus der Serengeti wiesen eine Gesamtlänge von 39,5 bis 57,8 cm und ein Körpergewicht von 1,8 bis 5,4 kg auf. Weitere 30 vermessene Exemplare aus Südafrika variierten in ihrer Körperlänge von 37,6 bis 62,8 cm bei einem Körpergewicht von 1,5 bis 4,3 kg. Einzelne Individuen werden bis 76,2 cm lang. Männliche und weibliche Tiere sind etwa gleich groß gebaut. Bezüglich der Körpergröße lassen sich Variationen im gesamten Verbreitungsgebiet feststellen. Diese hängen teilweise von der Umgebungstemperatur ab, so dass der Klippschliefer offensichtlich der Bergmannschen Regel unterliegt. Es gibt niederschlagsbezogene Unterschiede in der Körpergröße. So nehmen in der Regel die Körpermaße in Gegenden mit bis zu 700 mm Jahresniederschlag kontinuierlich zu und fallen dann bei höheren Niederschlägen wieder ab.
Allgemein handelt es sich um äußerlich dem Meerschweinchen oder dem Pfeifhasen ähnelnde Tiere mit einem kompakten Körperbau. Die Beine sind kurz, der Schwanz fehlt. Das Fell ist dicht und besteht aus rund 25 mm langen Haaren, die Unterwolle hat eine dichte, weiche Textur und ist kurz. Die Rückenfärbung reicht von gelblich-bräunlich bis dunkel bräunlich. Häufig wirkt das Fell gesprenkelt, was durch die Einzelhaare mit dunklen Basen und Spitzen sowie einem helleren, unterschiedlich breiten Band am Schaft hervorgerufen wird. Am hinteren Rücken markiert ein abweichend gefärbter Fleck eine etwa 15 mm lange Drüse. Die Färbung des Flecks unterscheidet sich geographisch und kann cremig-gelblich bis bräunlich oder schwärzlich sein. Die Haare des Flecks sind aufrichtbar. Zumeist erscheint die Körperunterseite heller als die Oberseite, die Haare hier werden länger und weisen keine zusätzlichen Schaftbänder auf. Gelegentlich wurden albinotische Tiere beobachtet. Das Fell ist darüber hinaus von 60 bis 70 mm langen, dunklen Tasthaaren durchsetzt. Weitere Vibrissen treten im Gesicht auf, so oberhalb der Augen, an der Oberlippe und am Kinn, ihre Länge beträgt bis zu 100 mm. Die Stirn ist häufig dunkler als der restliche Körper, während über den Augen und am Kinn auch hellere Flecken auftreten. Die Ohrlänge beträgt 27 bis 38 mm, die Pupille des Auges weist eine eiförmige Gestalt auf. Bei starker Sonneneinstrahlung schiebt sich vom oberen Teil der Iris ein zusätzliches Schild hervor, das umbraculum („Schirm“) genannt wird und der Pupille damit eine nierenartige Form verleiht. Die Hände verfügen über vier, die Füße über drei Strahlen. Lediglich an der inneren Zehe des Hinterfußes ist eine gebogene Kralle ausgebildet, alle anderen Zehen und Finger tragen platte, hufartige Nägel. Die Sohlen sind dunkel und nackt sowie mit einem ledrigen Hautpolster überzogen, das von zahlreichen Drüsen durchsetzt ist.
Bei Männchen befindet sich der Penis etwa 35 mm vor dem Anus, was eine doppelt so große Distanz gegenüber den Baumschliefern (Dendrohyrax) ist, aber etwa nur der Hälfte des Zwischenraumes beim Buschschliefer (Heterohyrax) entspricht. Der Penis ist einfach gebaut mit einem ovalen Querschnitt. Weibchen verfügen über drei Zitzenpaare, von denen zwei in der Leistengegend liegen, das dritte sich aber im Brustbereich befindet.
Schädel- und Gebissmerkmale
Die größte Länge des Schädels variiert von 80 bis 104,2 mm, die größte Breite von 41,7 bis 64,9 mm. Bezüglich der Schädellänge treten nur wenige Unterschiede zwischen den Geschlechtern auf, die Schädelbreite ist bei Männchen aber deutlich größer, da diese einen stärkeren Jochbogen mit einer massiveren Kaumuskulatur entwickeln. Das Rostrum ist allgemein relativ kurz, die Stirnlinie verläuft gerade, das Hinterhauptsbein steht senkrecht und ist breit. Die Orbita liegen weit auseinander und sind nach vorn gerichtet, sie haben eine ovale Form. Das Os interparietale (ein Schädelknochen zwischen dem Hinterhauptsbein und den Scheitelbeinen) wird zumeist von den Scheitelbeinen überwachsen. Die Temporalleisten liegen eng beieinander und formen teilweise einen Scheitelkamm. Der Postorbitalbogen ist zumeist nicht geschlossen. An der Schädelbasis fällt der lange und spitze Processus paroccipitalis auf, der tiefer reicht als die nur flache Paukenblase. Der Unterkiefer wirkt massiv, der aufsteigende Ast ist sehr breit. Der Winkelfortsatz verbreitert sich nach hinten in eine kleine Platte. Der Kronenfortsatz ragt nur wenig über den Gelenkfortsatz auf. Er ist kurz und leicht nach hinten gebogen. Das Foramen mentale öffnet sich unterhalb des dritten Prämolaren.
Das Gebiss besteht aus 32 Zähnen und bildet folgende Zahnformel: . Dadurch ist die Zahnanzahl gegenüber den anderen Schlieferarten leicht reduziert. Der vorderste untere Prämolar fehlt vor allem bei den südlichen Populationen, was als sicheres Unterscheidungsmerkmal zum Buschschliefer gilt. Bei den Tieren in den nördlichen Verbreitungsarealen kommt der Zahn jedoch häufig vor, ist aber eher klein. Der obere Schneidezahn ähnelt einem Eckzahn (caniniform). Es tritt ein deutlicher Geschlechtsdimorphismus auf, der ausgeprägter ist als bei den anderen Schliefern. Männchen verfügen über einen großen, massiven Oberkieferschneidezahn, der einen dreieckigen Querschnitt aufweist. Er schließt mit dem äußeren unteren Schneidezahn. Bei Weibchen ist er kleiner und rund im Querschnitt, außerdem steht er mittig den beiden unteren Schneidezähnen gegenüber. Die Schneidezähne des Unterkiefers sind flach, Jungtiere weisen häufig noch die für Schliefer typische Aufteilung in drei Höckerchen auf (tricuspid oder trifid), diese geht bei älteren Individuen aber durch Abnutzung verloren. Sowohl die oberen wie auch die unteren inneren Schneidezähne stehen nicht geschlossen. Das Diastema, welches die Schneidezähne vom hinteren Gebiss trennt, ist kurz, im oberen Gebiss aber länger als im unteren. Die Backenzähne haben allgemein hohe Zahnkronen (hypsodont). Im Oberkiefer wird die Mahlzahnreihe länger als die Reihe der Vormahlzähne.
Verbreitung
Der Klippschliefer kommt in weiten Teilen Afrikas und in Westasien vor, sein Verbreitungsgebiet ist aber nicht geschlossen. Ein nördlicher Verbreitungsschwerpunkt beschränkt sich auf das Afrika südlich der Sahara und nördlich des Kongobeckens. Es reicht im Westen vom Senegal und dem Süden von Mauretanien nach Osten bis nach Uganda, Kenia und dem Norden von Tansania. Nach Norden zieht es sich dann entlang der östlichen Nilseite über den Sinai nach Israel und den Libanon weiter über die gebirgige Westküste der Arabischen Halbinsel mit Saudi-Arabien, Jemen und Oman. Das Auftreten der Tiere in Syrien und in der Türkei ist unbestätigt. Die Nordgrenze in Afrika ist nicht genau bekannt, es sind einzelne Inselpopulationen aus Algerien und Libyen belegt, so im Akkakus-Gebirge, auf dem Ahaggar-Plateau und im Tibesti. Das südliche Verbreitungsgebiet umfasst das südliche Afrika und schließt weiter nördlich den Osten von Botswana, den Süden von Simbabwe und den Südosten von Sambia ein ebenso wie die Küstenregionen von Namibia und Angola.
Die Tiere bewohnen eine Vielzahl von Landschaften bestehend aus Wüsten, Savannen und tropischen Regenwäldern. Sie bevorzugen Habitate mit Kopjes, Geröllfeldern oder steilen Kliffs, die zahlreiche Hohlräume und Verstecke als Unterschlupf bieten. Teilweise hat der Klippschliefer Erosionsflächen wie die Karoo erschlossen. In Gebieten mit einer starken Überpopulation weicht er auch in Erdhöhlen des Erdferkels oder von Erdmännchen aus. Die Tiere dringen unter Umständen bis in die Bereiche menschlicher Siedlungen vor, wenn dort zum Beispiel durch städtebauliche Begleitumstände geeignete Unterschlüpfe entstanden sind. Die Höhenverbreitung reicht vom Meeresspiegelniveau bis auf etwa 4300 m wie am Mount Kenya oder 4130 m wie in den Bale Mountains in Äthiopien. In vielen Gebieten Afrikas kommt der Klippschliefer sympatrisch mit dem Buschschliefer vor, beide Arten bewohnen mitunter die gleichen Kopjes. In der Serengeti variiert die Populationsdichte zwischen 5 und 56 Tieren je Hektar Kopje. Die Gruppendichte schwankt über die Zeit wie eine 17-jährige Untersuchung aufzeigt. Dabei nahm an einem 3600 m² großen Kopje die Individuenanzahl kontinuierlich von 2 Tieren im Jahr 1971 auf 18 Tiere im Jahr 1988 zu. An einem weiteren, 2000 m² großen Kopje stieg sie zwischen 1971 und 1976 von 5 auf zunächst 21 Tiere an, fiel dann bis 1984 auf 10 ab und betrug 1988 wieder 11. Lokale Ereignisse können auch zum Aussterben einzelner Gruppen führen, wie 1975 an einem 2500 m² großen Kopje beobachtet. Vergleichbare Schwankungen ließen sich während einer 13-jährigen Forschung im Matobo-Nationalpark in Simbabwe ermitteln. Zwischen 1992 und 1996 betrug die Individuendichte 0,73 bis 0,94 Tiere je Hektar, was einer Gesamtpopulation im Schutzgebiet von etwa 31.100 bis 40.000 Tieren entsprach. Bis 1998 stieg die Dichte auf rund 1,4 Individuen je Hektar an mit entsprechend geschätzten 59.200 Einzeltieren, reduzierte sich aber bis 2005 wieder auf rund 0,8 Individuen je Hektar. Allerdings gab es im Jahr 2003 noch einmal ein Hoch, das fast bei dem Wert von 1998 lag. Allein von 2003 auf 2004 schrumpfte die Population um 43 %. Die an 28 untersuchten Fundstellen tatsächlich beobachtete Individuenanzahl der beiden Jahre belief sich auf 663 beziehungsweise 378 Tiere. Dabei korrelierte ein jeweiliger Anstieg der Population im Untersuchungszeitraum mit regenreichen Perioden und einer erhöhten Anzahl an Nachwuchs. Offensichtlich stellt der Niederschlag einen beeinflussenden Faktor dar. Vergleichbare Zahlen sind auch für die Bale Mountains dokumentiert. Hier wurden in einem Untersuchungszeitraum von 2010 bis 2013 an neun Lokalitäten auf rund 50,3 km² Fläche durchschnittlich bis zu 30.000 Individuen gezählt. Die Populationsdichte reichte gebietsweise von 25 bis 1700 Tieren je Quadratkilometer. Die Anzahl und Dichte der Individuen zeigte signifikante Unterschiede zwischen der Regen- und Trockenzeit, mit jeweils höheren Werten im feuchten Jahresabschnitt.
Lebensweise
Territorialverhalten
Soziale Organisation
Der Klippschliefer lebt in Kolonien von bis zu 80 Tieren in zerklüfteten, felsigen Landstrichen oder in Regionen mit Kopjes. Hierbei handelt es sich um mehrere Tausend Quadratmeter große Felsformationen, die als „Inselberge“ bis zu 40 m hoch aufragen. Die Kolonien bestehen aus einem dominanten Männchen und mehreren miteinander verwandten Weibchen sowie den Jungtieren. Je nach Ausdehnung der Kopjes sind die Kolonien unterschiedlich groß. In der Serengeti bestand eine in den 1970er Jahren untersuchte Gruppe an einem 2500 m² großen Kopje aus durchschnittlich 9,9 und maximal 15 Individuen. Eine weitere Gruppe auf einem 10.050 m² großen Kopje umfasste durchschnittlich 26 Individuen, sie kam hier gemeinsam mit einer Kolonie von Buschschliefern vor. Im En-Gedi-Nationalpark in Israel variierte die Gruppengröße während einer zehnjährigen Dokumentation zwischen 5 und 18, 6 und 10 sowie 7 und 21 Individuen. Entsprechende Zahlen für die Bale Mountains in Äthiopien schwanken zwischen 4 und 86 Individuen je Kolonie bei insgesamt 63 dokumentierten Kolonien. In der Regenzeit besteht hier die Gruppe aus durchschnittlich 49, in der Trockenzeit aus durchschnittlich 38 Individuen. Auch die Anzahl der Kolonien ist jahreszeitabhängig. Kleinere Kopjes werden zumeist von einer Gruppe bewohnt, die das gesamte Areal nutzt. Auf größeren sind auch mehrere Kolonien ansässig, jede der Gruppe besetzt dann ein eigenes Territorium.
Innerhalb einer Klippschliefer-Population treten verschiedene Rangstufen von Männchen auf. Das dominante oder territoriale Männchen okkupiert eine weibliche Gruppe und verteidigt diese gegen Rivalen. Es verpaart sich mit den geschlechtsbereiten, ausgewachsenen Weibchen der Gruppe. Auf größeren Kopjes mit mehreren Kolonien treten zusätzlich noch „Randmännchen“ auf. Diese haben keine eigene Gruppe, sondern besiedeln einzelgängerisch die Randgebiete von Kolonien, wo sie eher mit jüngeren Weibchen kopulieren. Unter den einzelnen „Randmännchen“ liegt eine Hierarchie vor, so dass das ranghöchste beim Verschwinden eines territorialen Männchens die Gruppe übernimmt. Darüber hinaus kommen frühe und späte Auswanderer vor. Hierbei handelt es sich überwiegend um junge, ausgewachsene Männchen, die ihre angestammte Familiengruppe verlassen haben und umherwandern. Sie werden zu „Randmännchen“ oder wechseln die Kopjes und gründen neue Familiengruppen. Ob unter den Weibchen innerhalb einer Gruppe Rangunterschiede bestehen, ist nicht eindeutig. Häufig führen aber ausgewachsene Weibchen die Gruppe auf ihren Wanderungen zu den Nahrungsplätzen an. Sie verhalten sich auch anfänglich aggressiv gegen fremde Weibchen. Studien an Tieren aus Israel zeigen, dass sich Weibchen einer Gruppe offensichtlich im Testosteron-Spiegel unterscheiden, der unter Umständen den des Männchens erreichen kann. Es ist bisher unklar, ob dieser tatsächlich eine soziale Rangstufe anzeigt. Im südlichen Afrika wurde beobachtet, dass die ausgewachsenen Weibchen und das territoriale Männchen eher die zentralen Bereiche eines Kopjes einnehmen, die Jungtiere sich dagegen mehr peripher verteilen.
Neben den jungen Männchen verlassen auch vereinzelt Weibchen die ursprüngliche Familiengruppe und schließen sich einer neuen an. Sowohl die wandernden Männchen als auch die wandernden Weibchen bilden wohl die Basis der neuen Kolonien. Die dabei zurückgelegten Distanzen variieren je nach Landschaft und liegen in der Serengeti bei rund 2 km und mehr, im südwestlichen Afrika bei 250 bis 500 m. Das Überwinden größere Entfernungen in den entsprechenden Gebieten ist mit dem Durchqueren offener Landschaften und daher mit der Gefahr verbunden, durch Fressfeinde erbeutet zu werden oder erhöhtem Stress durch Witterung beziehungsweise Nahrungsmangel ausgesetzt zu sein. Auch würden weiter entfernte Kopjes den Genfluss zwischen den einzelnen Kolonien erschweren. Allerdings zeigen genetische Untersuchungen, dass die Variabilität beim Klippschliefer sehr gering ist und in einzelnen Familiengruppen eine gewisse Inzucht vorliegt.
Unterschlupf und Energiehaushalt
Der Klippschliefer ist tagaktiv. Er bewegt sich in dem felsigen Habitat behände fort. Seine Füße sind nicht an das Graben angepasst, dafür an das Klettern an Steilstufen, glatten Felsoberflächen und auf Bäumen. Dies bewirken unter anderem die stark zusammenziehbaren, ledrigen Fußsohlen. Die dort ausgebildeten Drüsen sondern ein Sekret ab, das die Grifffestigkeit erhöht. In den Felslandschaften und Kopjes nutzt der Klippschliefer Höhlen und Felsspalten als Unterschlupf. Die Eingangshöhen liegen bei rund 14 bis 15 cm, dies entspricht etwa der doppelten Schädelhöhe. Dadurch kann der Klippschliefer sicher in die Höhlen kriechen, mögliche größere Beutegreifer werden aber ferngehalten. Die Höhlen müssen außerdem eine Familiengruppe beherbergen können, was rund 1 m² Grundfläche bedingt. In der Regel siedelt sich der Klippschliefer in Felsformationen mit mehreren Höhlen in unmittelbarer Nähe zueinander an. Die einzelnen Eingänge sind oberirdisch mit Pfaden verbunden. Die Höhlen weisen ein ausgeglicheneres Klima auf, als es die unmittelbare Umgebung bietet. In den ostafrikanischen Tieflandgebieten schwankt die Temperatur innerhalb der Unterschlüpfe je nach Region zwischen 14 und 32 °C, während sie in der Umgebung auch auf bis über 40 °C ansteigen kann. In den Hochgebirgsregionen bewahren sie zusätzlich vor frostigen Bedingungen. Gleiches trifft auf die Luftfeuchtigkeit zu, die in den Höhlen und Felsspalten eine geringere Spanne aufweist als in der unmittelbaren Umgebung. Die Körpertemperatur des Klippschliefers ist instabil und variiert, zumeist fällt sie nachts um mehrere Grad ab. Die Maximalwerte reichen von 33,5 am frühen Morgen bis 40,5 °C am späten Nachmittag. In den wärmeren Jahreszeiten liegt die durchschnittliche Körpertemperatur höher als in der kühleren, sie schwankt im Sommer auch signifikanter als im Winter. Ähnlich verhält es sich mit Tag und Nacht. So sind die Schwankungsbereiche der Körpertemperatur im Sommer tagsüber doppelt so hoch wie nachts, im Winter nähern sie sich stärker an. Auffallend ist, dass die Änderungen der Körpertemperatur nicht unbedingt mit den täglichen Änderungen der Umgebungstemperatur einhergehen. Die thermoneutrale Zone liegt bei 20 bis 30 °C, der Wert wird in der warmen Jahreszeit meist von den Außentemperaturen überschritten, in der kühlen Jahreszeit nicht immer erreicht. Verbunden mit der variierenden Körpertemperatur ist auch eine niedrige Stoffwechselrate, die 30 % niedriger liegt als bei einem gleich großen Tier zu erwarten wäre. Beides ist gewichtsbezogen und nimmt bei steigendem Körpergewicht zu. Der Klippschliefer spart durch die labile Körpertemperatur und den niedrigen Metabolismus Energie, ist aber von ausgleichenden Unterschlüpfen abhängig.
Tagesaktivität
Der niedrige Metabolismus und die labile Körpertemperatur wirken sich auch auf die Tagesaktivität des Klippschliefers aus. Die Schlafphase dauert durchschnittlich 6 Stunden und 50 Minuten, was mehr als ein Viertel des Tages entspricht. Mit Ausnahme der täglichen Fressphasen oder die Paarungszeit verbringen ungestörte Tiere den Tag überwiegend ruhend. Dies findet innerhalb oder außerhalb der Unterschlüpfe statt und nimmt mehr als 90 % der täglich verfügbaren Zeit ein. Die Tiere formieren dabei häufig während kühlerer Tages- und Jahreszeiten Gruppen, in denen sie entweder dicht beieinander oder teilweise auch übereinander liegen, die Köpfe der einzelnen Individuen zeigen dabei immer nach außen. Bei letzterem erklimmen meist Jungtiere die oberen Positionen. Derartige Gruppenbildungen sind vorwiegend am frühen Morgen anzutreffen, wenn die Tiere ihre Verstecke verlassen, Teile der Kopjes sich aber noch im Schatten befinden. Bei höherem Stand der Sonne zerfallen die Gruppen und die Tiere ruhen dann einzeln. Sie liegen parallel gegenständig oder in einer gleichgerichteten, leicht radialen Position zueinander mit den Köpfen etwas weiter voneinander entfernt. In der Regel werden die Beine abgewinkelt und nach hinten gestreckt, die Sohlen sind nach oben gerichtet. Je nach Sonnenintensität wechseln sie häufig ihre Position, um andere Körperteile bescheinen zu lassen. Das frühmorgendliche Gruppenbilden beeinflusst die Körpertemperatur und dient dem Aufwärmen nach der kühlen Nächten, das einzelne Sonnenbaden unterstützt vor allem tagsüber die Energiespeicherung. In den heißen Tagesphasen zieht sich der Klippschliefer in den Schatten zurück, möglicherweise um einem stärkeren Wasserverlust durch Transpiration zu entgehen. Einen Teil der Ruhephasen beansprucht die Körper- und Fellpflege. Für beides werden sowohl die Kralle des Hinterfußes als auch die unteren Schneidezähne eingesetzt. Neben den Sonnenbädern kommen auch Sand- oder Staubbäder vor, die wohl eher der Beseitigung von äußeren Parasiten dienlich sind.
Soziale Interaktionen
Als sozial lebendes Tier besitzt der Klippschliefer verschiedene Kommunikationsformen. Das Zusammenhäufen bei kühleren Temperaturen hat nicht nur den Effekt der Stabilisierung der Körpertemperatur, es bewirkt auch eine bessere Erkennung von Fressfeinden. Außerdem unterstützt es eine stärkere soziale Verbundenheit und mindert das Aggressionspotential. Ähnliches gilt wahrscheinlich für die fächerförmige oder gegenständige Position verschiedener Tiere beim einzelnen Sonnenbaden. Generell sind Kopf-zu-Kopf-Begegnungen als antagonistisches Verhalten beim Klippschliefer aufzufassen. Aggressives Verhalten findet hauptsächlich zwischen männlichen Tieren in der Paarungszeit statt. Bei Erregung richtet ein Tier die Haare des Rückenflecks auf. Der Winkel, in dem die Haare aufstehen, gibt Aufschluss über die Art der Erregung. So wird ein Winkel von 45° als Alarmzeichen interpretiert, ein senkrechtes Aufrichten aber als Bedrohung. Zusätzlich zieht das Tier dann die Oberlippe zurück und präsentiert die langen oberen Schneidezähne. Dem gegenüber zeigt ein Männchen in der Paarungszeit einem Weibchen mit voll aufgestellten Haaren seine Erregung an. Neben diesen eindeutigen visuellen Zeichen hat auch der Geruchssinn eine hohe Bedeutung. Hier kommen unter anderem die Sekrete der Rückendrüse zum Einsatz, die etwa zur Etablierung von Mutter-Jungtier-Beziehungen dienen. Sie werden aber nicht zur Markierung des Territoriums eingesetzt. Eine wichtige Rolle spielen die Latrinen, in die die Tiere einer Kolonie defäzieren. Während der Paarungszeit suchen Männchen Latrinen auf, um empfangsbereite Weibchen aufzuspüren. In den Latrinen verbinden sich der Kot und der mit Salz angereicherte Urin miteinander und bilden eine zähe Masse, die teilweise den Felsen hinabfließt. Die Masse verfestigt sich im Laufe der Zeit und bleicht aus. Sie wird als „Hyraceum“ bezeichnet.
Lautgebung und Kommunikation
Vor allem die Lautkommunikation ist sehr variantenreich beim Klippschliefer. Es sind wenigstens 21 verschiedene Laute dokumentiert. Es überwiegen dabei verschiedene Grunz-, Brumm-, Quiek-, Knurr-, Schnaub- und Belllaute, die in unterschiedlichen Situationen ausgestoßen werden und zumeist Aggression, Befriedung oder Rückzug ausdrücken. So grunzt das dominante Männchen, wenn beim Fressen ein anderes Individuum zu nahe kommt, bei fortwährender Konfrontation knurrt es und geht in eine Beißattacke über. Einer zeitlich länger anhaltenden Bedrohung begegnet der Klippschliefer mit einem jammer- oder raspelartigen Laut oder mit einem kurzen Aufschrei. Markant ist ein bellender Warnruf, den ein Wächtertier bei einer eventuellen Bedrohung von sich gibt. Typisch für Weibchen sind weinende oder gurrende Töne nach der Geburt des Nachwuchses, die auch teilweise als Rufe nach den Jungen eingesetzt werden. Jungtiere, die Milch saugen wollen, lassen einen Zwitscherlaut ertönen. Ein Pfeifen und Zwitschern markiert eine friedliche Begegnung, erklingt aber auch bei Jungen bei Zufriedenheit, etwa nach dem Saugen. Allerdings bedeutet ein hartes Zwitschern zusätzlich Aggression. Die verschiedenen bekannten Lautäußerungen des Klippschliefers können auch mit steigender Intensität ineinander übergehen. Daneben sind einige nicht-vokale Laute bekannt, hierzu gehört das Zähneknirschen, Hecheln, Schnaufen und Niesen, deren Funktion teilweise unklar ist. Ersteres tritt häufig in Gefahren- oder Stresssituationen auf, bei denen ein Tier mit ihm unbekannten Faktoren konfrontiert ist. Die dabei mit dem Maul ausgeführten mahlenden Bewegungen erzeugen das Geräusch. Sie erinnern optisch an das Wiederkäuen bei verschiedenen Paarhufern und wurden ursprünglich auch als solches fehlinterpretiert, allerdings verarbeitet der Klippschliefer hierbei keine Nahrung.
Herausragend ist der territoriale Ruf des Männchens, der eine hohe Lautstärke erreicht und über weite Strecken, bis hin zu 500 m, getragen wird. In der Regel werden die Rufe von den dominanten Männchen getätigt, seltener von „Randmännchen“. Dies zeigen auch Analysen zum Hormonhaushalt, bei denen dominante Rufer zumeist auch einen höheren Cortisol-Spiegel haben. Der Ruf besteht aus einer Folge von Bell- oder Klacklauten, die zum Ende hin lauter und länger anhaltend werden und in eine Aneinanderreihung von Gurrlauten übergehen. Der Abschluss wirkt durch die beständige Steigerung Crescendo-artig. Die Serie wird nach kurzer Pause mehrfach wiederholt, so dass der Ruf insgesamt bis zu fünf Minuten anhalten kann. Der territoriale Ruf ertönt das ganze Jahr über, die Intensität nimmt zur Paarungszeit hin zu. Häufig animiert ein Männchen damit benachbarte Männchen ebenfalls zu rufen. Dominante Männchen starten dann in der Regel ein „Gegenrufen“ unabhängig vom Rang des Erstrufers, „Randmännchen“ dagegen antworten selten und akzeptieren das Territorium des dominanten Tiers. Allerdings lassen gelegentlich sehr niederrangige „Randmännchen“ ein „Gegenrufen“ vernehmen, was sich in der allgemeinen Toleranz der hochrangigen Individuen gegenüber jungen, nicht direkt konkurrierenden Männchen begründet. Außerdem antworten Männchen auf die Rufe bekannter Nachbarn häufiger als auf solche von unbekannten Individuen. Die Komplexität der Rufe der Männchen kann mit fortschreitendem Lebensalter zu- oder abnehmen. In der Regel erhöht sich diese bei „Randmännchen“, die in ihrem Sozialstatus aufsteigen. Bei dominanten Männchen zeichnet sich dagegen teilweise ein Rückgang ab. Dies kann mit gesteigerter Konkurrenz sowie Einbindung in Territorialkämpfe zusammenhängen und allgemein eine Schwächung der Wettbewerbsfähigkeit ausdrücken. Daneben ist aber auch ein strategischer Wechsel im Konkurrenzverhalten denkbar.
In ihrer individuellen Abfolge sind die Rufe recht unterschiedlich und lassen sich einzelnen Tieren zuordnen. Untersuchungen an Klippschliefern aus Israel zeigen, dass zudem zwischen einzelnen geographischen Regionen markante Variationen bestehen. Diese Unterschiede könnten als „syntaktische Dialekte“ aufgefasst werden, wobei ihre regionale Ausprägung auf die nur kurzen Ausbreitungsdistanzen der Tiere zurückzuführen sind; demnach werden die „syntaktische Dialekte“ von den lokalen Populationen erlernt. Innerhalb des individuell variablen Rufes überträgt der Rufer offenbar wichtige Informationen, die das Körpergewicht, die Größe, den allgemeinen Zustand sowie den Sozial- und den Hormonstatus betreffen. Dies erfolgt durch unterschiedliche Lautstärken und Ruflängen, über die Anzahl der Wiederholungen beziehungsweise über die Hinzufügung oder Auslassung einzelner Rufelemente sowie über die Frequenz. Für das Körpergewicht und den Sozialstatus dienen dabei Schnaublaute als Informationsträger. Diese werden zumeist von höherrangigen Tieren genutzt und sind, da eher selten, ein möglicherweise schwer zu erzeugendes Lautelement. Dadurch treten sie meist relativ spät im Ruf auf. Häufig haben Schnaublaute schwerer Tiere einen weichen Ton, die von sozial hochgestellten hingegen einen harten Klang, letzteres ist wahrscheinlich auf soziale Konkurrenz und damit verbundene Aggressivität zurückzuführen. Zudem kommt es teilweise während des Rufens zu einer Zunahme der Härte der Schnaublaute. Auch hier kann einerseits eine sich aufbauende Aggressivität oder Erregung des Rufers eine Rolle spielen, denkbar ist andererseits auch, dass die Steigerung auf die Befähigung hinweisen soll, schwierige Laute modulieren zu können. Dass die Schnaublaute mit ihrer komplexen Erzeugung zu den wichtigsten Rufelementen gehören, wird durch die verhältnismäßig häufige Stimulierung anderer Männchen zu Gegenrufen unterstrichen.
Der typische Aufbau eines Rufs mit seinem Crescendo-artigen Ausklang dient möglicherweise dazu, die Aufmerksamkeit eines potentiellen Zuhörers zu erlangen. Dadurch kann angenommen werden, dass sich die wichtigsten Informationen am Ende eines Rufes befinden. Die Intensität und Komplexität der Rufe nimmt außerdem bei bestimmten Ereignissen zu, etwa nach Alarmrufen, Rivalenkämpfen zwischen Männchen oder in Anwesenheit von Beutegreifern. Hierbei werden die Rufe länger, ihr Rhythmus steigert sich, ebenso wie sich die Anzahl der Klack- und Schnaublaute erhöht. Längere und schnellere Rufe mit einem hohen Wechsel an Lautelementen erfordern eine stärkere Muskelkontrolle des rufenden Tiers. Offensichtlich investiert ein Individuum in den Situationen mehr Energie in seine Rufe, in denen durch aufmerksamkeitsbindende Ereignisse eine größere Anzahl an Zuhörerschaft zur Verfügung steht. Übereinstimmend hiermit ist der Effekt, dass dominante Initialrufer häufig härter modulieren als ihre Gegenrufer. Dadurch sind sozial hochstehende männliche Klippschliefer durchaus befähigt, in unterschiedlichen Varianten zu rufen, wählen einen melodischeren und weicheren Ruf aber nur bei erkennbarem Vorteil.
Ernährung
Der Klippschliefer ist ein Pflanzenfresser. Er vertilgt unter anderem Gräser, Kräuter, Knospen, Sprossen, Früchte und Beeren. Nach Untersuchungen in der Serengeti ernähren sich die Tiere dort von insgesamt 79 verschiedenen Pflanzenarten. Abweichend von Buschschliefer zeigt der Klippschliefer eine starke jahreszeitliche Variabilität bezüglich der aufgenommenen Nahrung. In der Trockenzeit überwiegen weichere Pflanzenteile mit 57 %, spezielle Nahrungspflanzen stellen etwa Kordien, Hibiskus, Feigen, Nachtschatten und Sternbüsche sowie Vachellia, Iboza und Hoslundia dar. Dagegen steigt der Grasanteil in der Regenzeit auf 78 % an. Hier bevorzugt der Klippschliefer zwei Dutzend verschiedene Grasarten, so unter anderem Rispenhirsen, Lampenputzergräser und Themeda-Süßgräser. Die einzelnen Familiengruppen zeigen eine jeweilige Spezialisierung auf die Pflanzen in der direkten Umgebung der Kopjes, die Zusammensetzung der Nahrung unterscheidet sich daher zwischen den Kolonien. Ein ähnliches Verhalten konnte auch in der Kapregion im südlichen Afrika beobachtet werden. Auch hier ist ein weites Spektrum an Nahrungspflanzen dokumentiert, jedoch überwiegen dabei etwa zehn Pflanzenarten, die rund 80 % der Nahrung ausmachen. Von hoher Bedeutung sind die Schwarzdorn-Akazie und die Gattung Ziziphus, aber auch Vertreter der Ölbäume, Kapastern, Waldreben und Bocksdorne. Im Übergang von der heißen Trockenzeit zur Regenzeit steigt dann der Grasanteil erheblich an und erreicht mehr als die Hälfte der aufgenommenen Pflanzen. Hier stellen Süßgräser wie Enneapogon oder Aristida, aber auch Hundszahngräser, Liebesgräser beziehungsweise Federgräser wichtige Nahrungsquellen dar. Vor allem die verschiedenen Arten von Enneapogon machen dann bis zu 40 % der Nahrungsmenge aus. In Hochgebirgslagen wie am Mount Kenya wird das Angebot an Nahrungspflanzen durch die spärliche Vegetation stärker eingeschränkt. Hier bilden Lobelien und Tussock-Gräser einen wichtigen Nahrungsbestandteil, darüber hinaus auch Fetthennen und Baldriane. Nach Analysen von Mageninhalten setzt sich die Nahrung teilweise zu über 90 % aus Gräsern zusammen. Von einer Kolonie aus dem westlichen Kenia am Ostwall des Ostafrikanischen Grabens wurde der Verzehr der giftigen Kermesbeeren berichtet, andere Pflanzen wie Ruchgräser meiden die Tiere aber häufig. Der Klippschliefer nimmt seinen Flüssigkeitsbedarf über die Nahrung auf, er verfügt über effiziente Nieren und kann Urin hoch konzentrieren. Bei Vorhandensein von Wasser trinkt er dieses aber regelmäßig.
Überwiegend geht der Klippschliefer am frühen Morgen zwischen 08:00 und 11:00 Uhr und am späten Nachmittag zwischen 15:00 und 19:00 Uhr auf Nahrungssuche. Gelegentlich sieht man den Klippschliefer auch nachts fressen. In kalten Perioden beschränkt sich die Nahrungsaufnahme auch auf nur eine Aktivitätsperiode. Prinzipiell ist aber die Zeit der Nahrungsaufnahme nicht temperaturabhängig, sondern wird vom Tageslicht gesteuert. Die Nahrungsaufnahme ist in einzelne Fressperioden unterteilt, die im Durchschnitt 20 Minuten andauern und selten länger als 35 Minuten währen. In dieser kurzen Zeit kann ein Tier große Mengen an Pflanzen aufnehmen. Dadurch beträgt die tägliche Fresszeit insgesamt nur eins bis zwei Stunden, was außerordentlich gering ist für einen Pflanzenfresser. Die gesamte tägliche aufgenommene Nahrung beläuft sich auf rund 111 g Trockenmasse für ein rund 3,3 kg schweres Tier, was gut 33,6 g je Kilogramm Körpergewicht entspricht. Bei der Nahrungsaufnahme hält der Klippschliefer den Kopf seitlich im 90°-Winkel zum Körper und beißt die Pflanze mit den Mahlzähnen ab, die Vorderfüße oder die Schneidezähne werden nicht eingesetzt. Auch transportiert der Klippschliefer seine Nahrung nicht in seinen Unterschlupf. Vielmehr wird die Nahrung vor Ort mit seitlichen Kaubewegungen zerkleinert. Wasser nimmt der Klippschliefer mit den Lippen auf, die er ausgestreckt an die Wasseroberfläche führt und dann die Flüssigkeit einschlürft. In der Regel geht die Gruppe gemeinsam auf Nahrungssuche, die Tiere verteilen sich dabei fächerförmig mit dem Rücken zum Kopje. Teilweise beobachtet ein Individuum die Gruppe von einer erhöhten Position und gibt gegebenenfalls Warnrufe ab. Die Gruppe entfernt sich meist nur 15 bis 20 m vom Kopje. Im Karoo-Nationalpark wurden täglich zurückgelegte Entfernungen bei der Nahrungssuche von 169 bis 572 m festgestellt. Nur sporadisch gehen einzelne Tiere allein auf Nahrungssuche. In Gebieten mit dem gleichzeitigen Auftreten des Buschschliefers sieht man häufig beide Gruppen gemischt fressen. Dies beschränkt sich auf die Trockenzeit, wenn beide Arten sich von weichen Pflanzen ernähren. In der Regenzeit sind beide Arten getrennt, da der Klippschliefer größere Distanzen zu den Grasgebieten überwinden muss. Die abgegrasten Flächen sind zwischen 83 und 180 m² ausgedehnt, ihre Größe ist abhängig von der Niederschlagsmenge.
Fortpflanzung
Die Paarung findet einmal im Jahr statt, während der sowohl Männchen als auch Weibchen kurzfristig sexuell aktiv werden. Im Mountain-Zebra-Nationalpark im südlichen Afrika liegt die Hauptsaison im Zeitraum vom Februar bis zum Mai mit einem Höhepunkt im April. Nach Norden hin in wärmere Klimazonen verschiebt sich die Paarungszeit etwas und dehnt sich zeitlich aus, sie kann dann auch erst im Juni/Juli stattfinden, was auch für das eher äquatoriale Serengeti-Gebiet festgestellt wurde. Der Östrus der Weibchen dauert etwa 13 Tage und wiederholt sich in einem Zeitraum von sieben Wochen mehrmals. Bei Männchen schwellen die Hoden extrem an, teilweise um mehr als das Zehnfache an Gewicht (von durchschnittlich 6,2 auf 80,7 g). Während der Paarungszeit sind Männchen sehr lautgeberisch, außerdem nutzen sie ihre Rückendrüse zur Abgabe von Duftmarken. Weibchen signalisieren ihre Bereitschaft, indem sie die Haare ihres Rückenfells aufstellen, den Geschlechtsbereich der Männchen beschnüffeln und ihr Hinterteil präsentieren. Eine bemerkenswerte Eigenschaft während der Paarung findet sich in einem gegensätzlichen Testosteronhaushalt zwischen Männchen und Weibchen. Während der Testosteronspiegel bei ersteren ansteigt, fällt er bei letzteren merklich ab. Außerdem begleiten männliche Tiere mit hohem Hormonspiegel häufiger weibliche mit niedrigem. Es kann sich hierbei um eine Antiaggressionsstrategie bei der Paarung handeln, auch nehmen Weibchen mit niedrigem Testosteronspiegel einen höheren Rang ein und sind dadurch erfolgreicher in der Fortpflanzung als solche mit hohem Testosteronanteil. Zur Einleitung des Geschlechtsaktes gibt das Männchen einen Ruf von sich und das Weibchen presst sich an dessen Seite. Die Begattung selbst erfolgt relativ schnell.
Die Tragzeit beträgt 210 bis 240 Tage oder 7 bis 8 Monate, was ausgesprochen lang ist für ein Tier dieser Größe. Entsprechend liegt die Geburt des Nachwuchses im Zeitraum vom September bis Mai. Die Weibchen einer Kolonie gebären dabei ihre Jungen synchronisiert in einem Zeitraum von drei Wochen. Etwa rund die Hälfte aller Weibchen ist daran beteiligt. Die Wurfgröße variiert regional, liegt aber insgesamt zwischen einem und fünf Jungen. In der Serengeti beträgt sie durchschnittlich 2,4, im Mountain-Zebra-Nationalpark 2,7 und im Matobo-Nationalpark ebenfalls 2,4. Bemerkenswert ist, dass die Größe eines Wurfes mit dem Lebensalter eines Weibchens zunimmt. So brachten nach Untersuchungen im Mountain-Zebra-Nationalpark junge Weibchen durchschnittlich 2,0 bis 2,1 Jungen zur Welt, bei drei bis achtjährigen Tieren waren es durchschnittlich 3,0 bis 3,4 Jungen. Im weiteren Alter nahm die Wurfgröße dann wieder ab. Die Jungen wiegen zwischen 110 und 310 g mit einem Durchschnitt von 195 g. Das Gesamtgewicht eines Wurfes kann dadurch zwischen 560 und 875 g variieren, was einem signifikanten Teil des Normalgewichts des Muttertiers ausmacht (2500 bis 3600 g).
Die Neugeborenen werden im Unterschlupf zur Welt gebracht. Sie sind sehr weit entwickelt und kommen mit offenen Augen sowie vollständig behaart zur Welt. Ebenso können sie sofort umherlaufen. Bereits gut eine Stunde nach der Geburt saugt ein Junges erstmals, was etwa sieben Minuten in Anspruch nimmt und nach gut anderthalb Stunden wiederholt wird. Später reduziert sich die Saugzeit auf etwa drei Minuten. Häufig wird das Saugen von einem zwitschernden Geräusch begleitet. Nach zwei bis vier Tagen knabbert das Jungtier erstmals an pflanzlicher Nahrung. Zu diesem Zeitpunkt kann es auch schon rund 40 bis 50 cm hoch springen. In der zweiten Lebenswoche nimmt das Junge dann regelmäßig feste Nahrung zu sich. Die Entwöhnung findet nach einem bis vier Monaten statt. Die Jungtiere kommen in Gruppen zusammen und spielen intensiv miteinander, die gemeinsamen Aktivitäten bestehen aus Kneifen und Beißen, Klettern, Verfolgen, Kämpfen oder Drücken. Beim gemeinsamen Auftreten mit dem Buschschliefer sind auch gemischte Jungengruppen zu beobachten. Nach rund 16 Monaten tritt bei Weibchen die sexuelle Reife ein, bei Männchen dauert dies bis 29 Monate. Das Gewicht ausgewachsener Individuen wird aber erst nach rund drei Jahren erreicht. Die Lebensdauer von Weibchen in freier Wildbahn kann bis zu elf Jahren betragen, die der Männchen in isolierten Kolonien bis zu 8,5. In Gefangenschaft wurden einzelne Individuen bis zu 14 Jahre alt.
Fressfeinde und Parasiten
Der bedeutendste Fressfeind des Klippschliefers ist der Klippenadler. Nach Untersuchungen von 73 Nistplätzen in drei unterschiedlichen Biotopen in der Kapregion des südlichen Afrikas bildet der Klippschliefer den Hauptbestandteil der Nahrung des Greifvogels. Von 5748 Beuteindividuen gehörten allein 4.429 zur Schlieferart. Darunter befanden sich, abhängig vom Biotop, zwischen 11 und 33 % Jungtiere. Zu einem ähnlichen Ergebnis kam eine Studie im Matobo-Nationalpark an 40 Nestern. Hier konnten von rund 1550 Beuteresten des Klippenadlers etwas über 600 dem Klippschliefer zugewiesen werden. Weitere Studien zeigten, dass etwa 68 % der erbeuteten Individuen ausgewachsene Tiere repräsentieren. Der Klipp- und der hier ebenfalls vorkommende Buschschliefer stellen insgesamt 98 % der Beute des Klippenadlers. Dadurch besteht ein hoher Jagddruck auf den Klippschliefer, es wird geschätzt, dass rund 60 bis 76 % der Jungtiere das erste Lebensjahr nicht erreichen. Als weiterer wichtiger Jäger tritt der Kronenadler in Erscheinung. Nach Studien von rund 1600 erbeuteten Individuen im südöstlichen Afrika gehörten mehr als 780 zum Klippschliefer. Ebenso sind der Kampfadler und der Raubadler zu nennen. Unter den Säugetieren können vor allem der Leopard, der Löwe, der Karakal, die Tüpfelhyäne und verschiedene Schakale als einflussreiche Prädatoren hervorgehoben werden, allein ersterer bezieht im Matobo-Nationalpark zwischen 32 und 50 % seiner Beute von Schliefern. In der Regel versucht ein bedrohtes Tier in das nächste Versteck zu fliehen.
Für den Klippschliefer ist eine hohe Bandbreite an inneren und äußeren Parasiten dokumentiert. Äußere finden sich in Form von Zecken, darunter unter anderem die Gattungen Amblysomma, Haemaphysalis, Ixodes und Rhipicephalus. Des Weiteren sind rund zwei Dutzend verschiedene Arten an Läusen bekannt, die am Klippschliefer parasitieren. Zu den nachgewiesenen Gattungen gehören Dasyonyx, Procavicola, Procaviphilus und Prolinognathus. Darüber hinaus kommen Milben und Flöhe vor, bei letzteren etwa Procaviopsylla. Einige der äußeren Parasiten sind auch auf Haustiere übertragbar. Auffällig ist, dass Weibchen durchschnittlich häufiger von Ektoparasiten befallen werden als Männchen, was besonders auf die warme Jahreszeit zutrifft. Dies wird mit dem stärkeren sozialen Zusammenhalt der Weibchen und der dadurch kürzeren Übertragungswege erklärt. Zudem tragen Weibchen dann auch ihren Nachwuchs aus und zeigen allgemein eine schlechtere Kondition. Innere Parasiten stellen unter anderem Fadenwürmer wie Crossophorus, Trichuris beziehungsweise Theileria und Bandwürmer wie Inermicapsifer dar. In der Serengeti wurde das lokale Aussterben eine Kolonie durch Räude beobachtet, infizierte Tiere traten auch am Mount Kenya auf. Außerdem ist der Klippschliefer Träger der Leishmaniose.
Systematik
Der Klippschliefer ist eine Art aus der Gattung Procavia, er stellt den einzigen rezenten Vertreter der Gattung dar. Art und Gattung bilden wiederum einen Teil der Familie der Schliefer (Procaviidae) innerhalb der im Deutschen gleichnamigen Ordnung der Schliefer (Hyracoidea). Die Ordnung umfasst heute insgesamt drei Gattungen. In ihrer stammesgeschichtlichen Vergangenheit, vor allem im Paläogen und im frühen Neogen, waren die Schliefer noch äußerst formenreich und schlossen sowohl kleine als auch riesige Tiere ein. Diese besetzten die unterschiedlichsten ökologischen Nischen, die Verbreitung reichte über weite Teile Eurasiens und Afrikas. Heute sind die Schliefer auf meerschweinchenartige Formen beschränkt, die hauptsächlich in Afrika vorkommen. Lediglich der Klippschliefer ist als einzige Form zusätzlich noch in Vorderasien belegt. In seiner sozialen Lebensweise und seiner Tagesaktivität ähnelt der Klippschliefer dem Buschschliefer. Zwischen beiden Arten gibt es neben einzelnen anatomischen Unterschieden auch serologische Abweichungen wie etwa in der Mobilität der Amylasen. Zu den Baumschliefern bestehen größere Unterschiede.
Meistens werden heute alle Klippschliefer zu einer Art mit einem großen Verbreitungsgebiet zusammengefasst. Innerhalb der Art sind bis zu 17 Unterarten anerkannt:
P. c. bamendae Brauer, 1913; Kamerun und Zentralafrikanische Republik
P. c. capensis (Pallas, 1766); Südafrika, Lesotho und Eswatini
P. c. capillosa Brauer, 1917; südliches Äthiopien
P. c. erlangeri Neumann, 1901; südliches Somalia
P. c. habessinica (Hemprich & Ehrenberg, 1832); Ägypten, nördliches Sudan, Israel, Saudi-Arabien und Jemen
P. c. jacksoni Thomas, 1900; südliches Kenia
P. c. jayakari Thomas, 1892; Oman
P. c. johnstoni Thomas, 1894; südwestliches Tansania, Malawi, Mosambik und Simbabwe
P. c. kerstingi Matschie, 1899; Togo und Benin
P. c. mackinderi Thomas, 1900; westliches Kenia
P. c. matschiei Neumann, 1900; Demokratische Republik Kongo und Tansania
P. c. pallida Thomas, 1891; nördliches Somalia
P. c. ruficeps (Hemprich & Ehrenberg, 1832); nördliches und westliches Afrika
P. c. scioana (Giglioli, 1888); nördliches Äthiopien
P. c. sharica Thomas & Wroughton, 1907; Tschad
P. c. syriaca (Schreber, 1784); Syrien, Libanon, Jordanien und Israel
P. c. welwitschii (Gray, 1868); südwestliches Angola und Namibia
Insgesamt werden für den Klippschliefer 65 Synonyme aufgelistet. Im Jahr 1932 beschrieben Henri Heim de Balsac und Max Bégouen mit Procavia (Heterohyrax) antineae eine Form aus Algerien, die sie dem Buschschliefer zuwiesen. Ihre Stellung innerhalb der Form war lange Zeit unsicher, im Jahr 2008 wurde sie dann dem Klippschliefer zugeordnet und als synonym zu P. c. ruficeps betrachtet.
Inwiefern alle aufgelisteten Unterarten tatsächlich bestehen, ist nicht geklärt. Der Klippschliefer zeigt starke morphologische Schwankungen über das Verbreitungsgebiet. Dadurch waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts deutlich mehr eigenständige Arten anerkannt. So entwarf August Brauer in einem unveröffentlichten Entwurf eine Gliederung der Gattung Procavia in 38 Arten und 14 Unterarten. Herbert Hahn überarbeitete 1934 in seiner umfassenden Revision der Schliefer diese Systematik gründlich und reduzierte die Zahl der Arten auf vier. Später wurde noch eine weitere Art hinzugefügt, so dass in den 1960er Jahren folgende Gliederung bestand:
Procavia capensis (Pallas, 1766); Kapscher Klippschliefer; südliches und südöstliches Afrika
Procavia welwitschii (J. E. Gray, 1868); südwestliches Afrika
Procavia johnstoni Thomas, 1894; Johnstons Klippschliefer; Zentralafrika
Procavia ruficeps (Hemprich & Ehrenberg, 1832); Sudan- oder Sahara-Klippschliefer; westliches und nordwestliches Afrika
Procavia habessinica (Hemprich & Ehrenberg, 1832); Abessinischer Klippschliefer; östliches und nördliches Afrika, westliches Asien
In den 1970er Jahren wurde erstmals vorgeschlagen, alle Arten des Klippschliefers in einer zu vereinigen. Die Idee setzte sich Anfang der 1980er Jahre durch und ist heute allgemein akzeptiert. Allen Klippschliefern gemein ist ein Chromosomensatz mit der Formel 2n=54. Er setzt sich aus 21 acrozentrischen, 2 submetazentrischen und 3 metazentrischen Chromosomenpaaren zusammen. Das X-Chromosom ist das größte Chromosom und besitzt ein submetazentrisches Zentromer, das Y-Chromosom stellt ein kleines acrozentrischs Chromosom dar. Molekulargenetische Studien an südafrikanischen Tieren zeigen aber, dass sich dort wenigstens eine südliche und eine nördliche Klade unterscheiden lassen. Zwischen diesen besteht ein geringer Genfluss, die Trennung voneinander vollzog sich aber bereits im Miozän. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass nach intensiveren DNA-Untersuchungen die Gattung Procavia wahrscheinlich wieder in mehrere Arten aufgespalten werden muss.
Neben dem heutigen Klippschliefer sind noch mehrere ausgestorbene Arten bekannt:
Procavia pliocenica Pickford, 2005
Procavia antiqua Broom, 1934
Procavia transvaalensis Shaw, 1937
Zwei weitere Formen, Procavia obermeyerae und Procavia robertsi, wurden ebenfalls von Robert Broom in den Jahren 1937 beziehungsweise 1948 eingeführt. Erstere gilt heute als synonym zu Procavia transvaalensis, letztere als zu Procavia antiqua. Gelegentlich wird auch Procavia antiqua als identisch mit Procavia capensis aufgefasst. Eine als Procavia tertiaria angesprochene Form stammt aus dem Unteren Miozän von Namibia und gehört heute zu Prohyrax, einer älteren Entwicklungslinie der Schliefer.
Forschungsgeschichte
Frühe Erwähnungen
In Vorderasien und Afrika war der Klippschliefer den Menschen schon seit mehreren tausend Jahren bekannt. Im Hebräischen heißt er šāfān (), was soviel wie „der sich Verbergende“ bedeutet. Der šāfān fand auch Einzug in das Alte Testament, wo er insgesamt viermal erwähnt wird. So beschreibt Psalm 104 im Buch der Psalmen ihn als Tier, das in den Felsen Zuflucht sucht. In den Zahlensprüchen schildert das Buch der Sprichwörter den šāfān als machtloses, schwaches Tier, das aber aufgrund seiner Weisheit trotzdem seine Wohnungen im Felsen baut. Des Weiteren wird im Buch Levitikus und im Buch Deuteronomium ausgesagt, dass der šāfān wiederkäue, aber keine gespaltenen Hufe habe, weshalb er als unrein anzusehen sei. Frühe Bibelübersetzungen interpretierten šāfān unterschiedlich. So übersetzten einige griechische Versionen das Tier mit (eigentlich „kleines Stachelschwein“, abgeleitet von „Stachelschwein“, wobei „Schwein“ oder „junges Schwein, Ferkel“ und „Ferkel“ bedeutet) einige lateinische wiederum als („Igel“). Notker Labeo vom Kloster St. Gallen sah um das Jahr 1000 die größte Ähnlichkeit mit einem Murmeltier. In seiner Gesamtausgabe der Bibel von 1534 hatte Martin Luther den hebräischen Begriff šāfān mit „Caninchen“ übersetzt. Es wird angenommen, dass die jeweiligen Bearbeiter einschließlich Luther für das unbekannte šāfān ein allgemein vertrautes Tier wählten; entsprechend lautet die Übersetzung auch in der englischen Ausgabe der Bibel coney, was ebenfalls „Kaninchen“ bedeutet.
Die häufige Gleichsetzung des šāfān mit einem Kaninchen wurde in der Folgezeit kritisch beurteilt. So vermutete Samuel Bochart im Jahr 1663 in seinem Werk Hierozoicon, dass der saphan mit den dreizehigen Springmäusen oder Jerboas gleichzusetzen sei. Dem widersprach aber der englische Kleriker und Reisende Thomas Shaw 1738. Er berichtete ausführlich vom daman Israel aus der Levante, einem harmlosen, in Felsenklüften lebenden Tier von der Größe eines Kaninchens, aber dunkler gefärbt. Shaw bezog den daman auf den biblischen šāfān. Dabei berief er sich auf ein Werk zur ägyptischen Naturgeschichte von Prospero Alpini aus dem Ende des 16. Jahrhunderts, das erst 1735 veröffentlicht wurde und in dem von kleinen Tieren die Rede ist, die Alpinus mit agnus filiorum Israel bezeichnete („Lamm der Kinder Israels“). Auch Peter Simon Pallas beschäftigte sich 1778 in einer Abhandlung über die Nager (Glires) mit dem Klippschliefer. Wie zuvor bei Shaw entsprach der šāfān seiner Meinung nach dem Klippschliefer. Die gleiche Ansicht wurde im Jahr 1790 von James Bruce geteilt, der auf seinen Reisen durch das damalige Abessinien auf Schliefer traf und den Buschschliefer so erstmals erwähnte. Bruce vermerkte in seinen Beschreibungen auch das Auftreten ähnlicher Tiere in Vorderasien, außerdem behauptete er, der Schliefer würde wiederkäuen, eine Meinung, die (wie in der Bibelpassage) teilweise bis in das 20. Jahrhundert vertreten wurde (das Wiederkäuen lässt der einfacher gebaute Magen der Schliefer nicht zu). Nur wenig später pflichtete Johann Christian von Schreber in seinem Werk Die Säugthiere in Abbildungen nach der Natur mit Beschreibungen der Interpretation des Klippschliefers als šāfān bei. Heute wird dies kaum noch abgelehnt, in modernen deutschsprachigen Bibelübersetzungen ab 1912 wurde das „Kaninchen“ daher durch den „Klippdachs“ ausgetauscht (im Englischen entsprechend durch badger). „Klippdachs“ wird teilweise ebenso als unpassend erachtet, da der Name anderweitige Verwandtschaftsverhältnisse annehmen lässt.
Ebenfalls im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts erreichten erste Berichte von Klippschliefern aus der südafrikanischen Region Europa. Reisende wie Jodocus Hondius 1652 oder Augustin de Beaulieu 1664 hoben verschiedentlich die dassen oder marmots hervor. Auch Simon van der Stel, der ab 1790 der erste Gouverneur der niederländischen Kapkolonie wurde, notierte in seinem Tagebuch vom 14. September 1685 das häufige Auftreten von dassen am Heerenlogementsberg im südwestlichen Kapgebiet. Peter Kolb wiederum beschrieb auf seiner Afrikareise 1719 „Murmeltiere“, die die Einwohner seiner Meinung nach fälschlicherweise als „Dachse“ bezeichneten. In der Regel werden diese Erwähnungen mit dem Klippschliefer assoziiert. Im heutigen Afrikaans bezeichnet dassie einen Schliefer allgemein. Der Name ist eine Ableitung vom niederländischen Wort das, welches „Dachs“ bedeutet. Ähnlich wie bei den Beschreibungen der Tiere aus Vorderasien und den unterschiedlichen Bibelübersetzern neigten demnach auch die Autoren der Berichte aus dem südlichen Afrika dazu, die ihnen unbekannten Lebewesen mit solchen aus ihrer Heimat in Beziehung zu setzen. Zu diesem Zeitpunkt kam es auch noch nicht zu einem Vergleich der vorderasiatischen und der südafrikanischen Tiere.
Wissenschaftliche Namensgebung
Die ersten Klippschliefer wurden Mitte des 18. Jahrhunderts nach Europa gebracht, häufig stammten sie ursprünglich aus den niederländischen Kolonien des südlichen Afrika. So sandte in den 1760er Jahren der damalige Gouverneur der Kapkolonie Ryk Tulbagh ein weibliches Tier in Alkohol eingelegt an Wilhelm V., Statthalter der Niederlande. Ein weiteres männliches Tier gelangte in die Menagerie Blauw-Jan in Amsterdam, später, in den 1770er Jahren, beherbergte diese auch lebende Individuen. Die beiden erstgenannten Exemplare wurden von Arnout Vosmaer aus Den Haag eingesehen und von ihm 1767 in einen kurzen Aufsatz als „Bastard-Murmeltier“ vorgestellt. Eines der Tiere hatte Vosmaer zuvor an Peter Simon Pallas übergeben, der sich zu diesem Zeitpunkt auf seiner Reise durch die Niederlande befand. Pallas veröffentlichte dann 1766 in seinem Werk Miscellanea zoologica die ausführliche wissenschaftliche Erstbeschreibung des Klippschliefers. Darin wählte er den Namen Cavia capensis und gab die Kapregion als Typusgebiet aus. Mit der Gattungsbezeichnung Cavia verwies Pallas den Klippschliefer zu den südamerikanischen Meerschweinchen, er selbst verglich den Klippschliefer in seiner Miscellanea zoologica mit den Agutis und den Capybaras. Übergeordnet stellte er sie in die damalige Gruppe der Nager (die im Sinne von Linnaeus auch die Nashörner und Fledermäuse einschlossen). Den Namen Cavia hatte Pallas von Jacob Theodor Klein übernommen, der die Gattungsbezeichnung bereits 1751 für die südamerikanischen Meerschweinchen gebrauchte (seinerseits jedoch wiederum ein Werk zur Naturgeschichte Brasiliens von Georg Marggraf aus dem Jahr 1648 als Quelle angab). Allerdings lehnte Georges-Louis Leclerc de Buffon im Jahr 1776 in dem von ihm herausgegebenen mehrbändigen Werk Histoire naturelle, générale et particulière den Verweis zu Cavia ab und argumentierte unter anderem mit Unterschieden in der geographischen Verbreitung und mit der abweichenden Lebensweise des Klippschliefers und der Meerschweinchen. Vor allem die afrikanische Verbreitung bewog Gottlieb Conrad Christian Storr im Jahr 1780 den Namen Procavia für den Klippschliefer einzuführen. Die lateinische Vorsilbe pro- („vor“ oder „für“) stellte dabei einen unmittelbaren Bezug zu Cavia her, da auch Storr den Klippschliefer systematisch in der Nähe der Meerschweinchen sah. Somit behielt auch Storr die Einordnung in die Nager bei (die er allerdings unter der Bezeichnung Rosores führte).
Procavia und Hyrax
Drei Jahre nach Storr vertrat Johann Hermann eine andere Meinung. In seiner Tabula affinitatum animalium kreierte er in Anbetracht einer abweichenden Zahnmorphologie die Gattungsbezeichnung Hyrax für den Klippschliefer. Der Name ist griechischen Ursprungs () und bedeutet so viel wie „Spitzmaus“. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts fand der Gattungsname Hyrax fast ausschließlich Verwendung, während Procavia meist ignoriert wurde. Hyrax wurde dabei auf alle Vertreter der Schliefer bezogen, erst 1868 führte John Edward Gray die Bezeichnungen Heterohyrax für den Buschschliefer und Dendrohyrax für die Baumschliefer ein und untergliederte so die Gruppe stärker. Dies betrifft auch die heute nicht mehr anerkannte Gattung Euhyrax, mit der Gray die Formen aus dem nordöstlichen Afrika belegte. Zur Unterscheidung von Hyrax hob er einige abweichende Schädelmerkmale hervor, etwa einen eher durchlaufenden Scheitelkamm und ein längeres Nasenbein. Im Jahr 1886 wies Fernand Lataste auf die drei Jahre ältere Urheberschaft von Storrs Procavia gegenüber Hermanns Hyrax hin. Dies führte Oldfield Thomas 1892 weiter aus und bestätigte so die Priorität des älteren Namens als Gattungsbezeichnung. Teilweise wurde dies bedauert und Hyrax gegenüber Procavia als der geeigneterer Name empfunden, heute gelten beide aufgrund abweichender Verwandtschaftsverhältnisse als unpassend. Ungeachtet dessen hat sich „Hyrax“ vor allem im englischen Sprachraum als Trivialname für die Schliefer durchgesetzt.
Unklare Verwandtschaftsverhältnisse
Pallas und Storr sahen den Klippschliefer als Vertreter der Nagetiere an. Die genaue Stellung war aber lange Zeit umstritten. Buffons ablehnende Haltung zu Cavia capensis wurde etwa im Jahr 1780 auch von August Wilhelm von Mellin in seiner Schrift Der Klipdas wiedergegeben. In dieser stellte Mellin den Klippschliefer ausführlich in deutscher Sprache vor. Félix Vicq d’Azyr verschob den Klippschliefer 1792 zu den Spitzmäusen und begründete dies mit dem Bau des vorderen Gebisses, speziell der oberen Schneidezähne. Auch Christian Rudolph Wilhelm Wiedemann widersprach bei einer ausführlichen Beschreibung eines Schädels der Stellung des Klippschliefers innerhalb der Nagetiere, gab aber keine genaue alternative Position an. Von Bedeutung ist hier ein Schädel eines Klippschliefers aus dem Libanon, der sich im Cabinet du roi von Paris befand, dem späteren Muséum national d’histoire naturelle. Der Schädel wurde bereits 1767 von Louis Jean-Marie Daubenton in einem Band über lebendgebärende Tiere innerhalb von Buffons Histoire naturelle vorgestellt. Dabei erkannte Daubenton die wahre Natur des Schädels nicht, sein nur wenige Zeilen umfassender Aufsatz ist aber relativ exakt und gibt die anatomischen Merkmale ausdrücklich wieder. Pallas verwies 1776 Daubentons Schädel zum Klippschliefer. Trotz dieser Erkenntnis zeichnete ihn eine Abbildungstafel im siebenten Zusatzband der Histoire naturelle aus dem Jahr 1789 als Bengalischen Plumplori aus (unabhängig von der Schädelbeschreibung enthält die Histoire naturelle mehrere weitere Vermerke auf den Klippschliefer: Im dritten Zusatzband aus dem Jahr 1776 ist die bereits erwähnte kritische Auseinandersetzung Buffons mit Pallas' Cavia capensis abgedruckt, in Anlehnung an Vosmaers „Bastard-Murmeltier“ nennt Buffon hier den südafrikanischen Klippschliefer marmotte du Cap, im sechsten Zusatzband aus dem Jahr 1782 findet sich eine Gegenüberstellung des südafrikanischen Klippschliefers als daman du Cap und des vorderasiatischen Klippschliefers als daman Israel). Fünfzehn Jahre später nutzte Georges Cuvier den gleichen Schädel, um den Klippschliefer in seine Gruppe der Pachydermata (Dickhäuter) einzugliedern. In dem heute nicht mehr gültigen Taxon gruppierte er die Gattung Hyrax zusammen mit anderen Huftieren wie den Nashörnern, Tapiren, Elefanten, Flusspferden, Echten Schweinen und den Pekaris. Den Klippschliefer sah Cuvier aufgrund des Zahnbaus in einer Vermittlerrolle zwischen Nashörnern und Tapiren. Der Ausschluss aus den Nagetieren und der Verweis zu anderen Huftieren hatte weitreichende Folgen. Bis weit in das 20. Jahrhundert wurde dem Klippschliefer zusammen mit den anderen Schliefern aus anatomischen Erwägungen wahlweise eine Nahverwandtschaft mit den Unpaarhufern oder mit den Paenungulata („Fast-Huftiere“) zugesprochen. Der Konflikt löste sich erst im Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert mit der Einführung von biochemischen und molekulargenetischen Untersuchungsmethoden zugunsten der Paenungulata auf.
Stammesgeschichte
Fossil treten die Vorfahren der heutigen Schliefer erstmals im Miozän auf. Der erste Nachweis der Gattung Procavia datiert aber in das Untere Pliozän vor rund 5 Millionen Jahren. Es handelt sich um die Reste der Art Procavia pliocenica, sie wurden an der Fundstelle Langebaanweg im südwestlichen Südafrika gefunden. Die Funde umfassen zahlreiche Gebissteile und einzelne isolierte Zähne. Sie lassen auf ein Tier schließen, das den heutigen Klippschliefer um etwa 20 % an Körpergröße übertraf. Der Unterkiefer teilt die relative Robustizität mit dem der rezenten Vertreter des Klippschliefers, die Mahlzähne sind aber eher niederkronig gebaut. als Besonderheit kann die Ausbildung des ersten unteren Prämolaren genannt werden, der bei den heutigen südafrikanischen Populationen generell fehlt. Dadurch wirkt Procavia pliocenica deutlich ursprünglicher als der heutige Klippschliefer.
Im Pliozän und im Übergang zum Pleistozän erschien dann Procavia antiqua, das etwa die Größe des heutigen Klippschliefers erreichte, allerdings einen leichter gebauten Schädel und weniger hochkronige Zähne besaß. Zuerst aus der bedeutenden Fundstelle von Taung im zentralen Südafrika anhand eines heute verschollenen Schädels beschrieben, ist die Art darüber hinaus auch aus Sterkfontein im nordöstlichen Südafrika bekannt. Aus zeitgleichen Schichten liegen Reste von Procavia transvaalensis vor. Die Art wurde etwa anderthalb mal größer als ein heutiger Klippschliefer und besaß eine Schädellänge von 125 mm. Sie stellt damit den größten Vertreter der Gattung dar. In ihren Körperausmaßen übertraf sie unter allen procaviiden Schliefern nur noch Gigantohyrax. Die Erstbeschreibung erfolgte anhand eines Unterkiefers und eines zerquetschten Schädels aus Sterkfontein. Weitere Funde kamen unter anderem aus den nahe gelegenen Fundstellen von Swartkrans und Kromdraai sowie aus Makapansgat und Taung zu Tage. Sterkfontein barg auch einige Reste der Vorderbeine. Es wird angenommen, dass Procavia transvaalensis stärker an steppenartige Landschafte angepasst war.
Vor allem im Pleistozän ist dann der heutige Klippschliefer belegbar, etwa aus der Sibudu-Höhle im Südosten Südafrikas. Exzeptionell sind die Funde aus der Blombos-Höhle in der Kapregion Südafrika. Die mehrere Tausend Fossilfunde, die in den Beginn der letzten Kaltzeit datieren, setzen sich zu mehr als ein Viertel aus Resten des Klippschliefers zusammen, darunter zum größeren Teil Jungtiere. Taphonomische Untersuchungen lassen an eine Erbeutung durch Jäger-Sammler-Gruppen des frühen Menschen denken. Ebenfalls in der gleichen geologischen Serie erscheint der Klippschliefer in Vorderasien. So sind Funde aus dem frühen Mittelpleistozän von Gesher Benot Ya’aqov und im Übergang zum Jungpleistozän aus der Höhle Rantis dokumentiert, beide liegen in Israel.
Mensch und Klippschliefer
Bedrohung und Schutz
Größere Bedrohungen für den Bestand des Klippschliefers sind nicht bekannt. In einigen afrikanischen Ländern werden die Tiere wegen ihres Fleisches und Felles gejagt, in Saudi-Arabien auch zu Sportzwecken. Des Weiteren gibt es die Ansicht, das Blut und das Fleisch des Klippschliefers hätten eine potenzsteigernde Wirkung. Im Jemen zähmen Familien aus ärmlichen Verhältnissen manchmal einzelne Tiere und verkaufen sie auf lokalen Märkten. Das kann teilweise einen großen Einfluss auf lokale Populationen haben. In KwaZulu-Natal ist der Klippschliefer Anfang des 21. Jahrhunderts lokal ausgestorben, Wiedereinführungen sind bisher gescheitert. Mitunter wurde der Klippschliefer als Schädling angesehen, so unter anderem in den Kapprovinzen Südafrikas. In Israel, wo die Art nur wenige natürliche Feinde hat, richten die Tiere teilweise beträchtlichen Schaden in kultivierten Flächen an. Die IUCN stuft den Gesamtbestand des Klippschliefers als „nicht gefährdet“ (least concern) ein und erwartet keinen signifikanten Populationsrückgang. Er kommt in zahlreichen Naturschutzgebieten vor. Vor allem sind aber Untersuchungen zu seiner tatsächlichen Verbreitung notwendig.
Bedeutung für den Menschen
Die als „Hyraceum“ bezeichneten Ausscheidungen des Klippschliefers finden teils pulverisiert Anwendung in der traditionellen Afrikanischen Medizin, so unter anderem zur Behandlung von Infektionen der Atem- oder Harnwege, aber auch bei Masern und Diabetes. Als Tee verabreicht soll es Frauenkrankheiten lindern, kann in größeren Dosen angeblich aber auch zum Schwangerschaftsabbruch führen. Des Weiteren wird die Substanz teilweise Giften beigefügt und dient als Fixativ in der Parfümindustrie.
Literatur
Angela Gaylard: Procavia capensis (Pallas, 1766) – Rock hyrax. In: John D. Skinner und Christian T. Chimimba (Hrsg.): The Mammals of the Southern African Subregion. Cambridge University Press, 2005, S. 42–46.
Hendrik Hoeck: Family Procaviidae (Hyraxes). In: Don E. Wilson und Russell A. Mittermeier (Hrsg.): Handbook of the Mammals of the World. Volume 2: Hooved Mammals. Lynx Edicions, Barcelona 2011, S. 28–47 (S. 43–45) ISBN 978-84-96553-77-4.
Hendrik N. Hoeck und Paulette Bloomer: Procavia capensis Rock Hyrax (Klipdassie). In: Jonathan Kingdon, David Happold, Michael Hoffmann, Thomas Butynski, Meredith Happold und Jan Kalina (Hrsg.): Mammals of Africa Volume I. Introductory Chapters and Afrotheria. Bloomsbury, London, 2013, S. 166–171.
Ronald M. Nowak: Walker’s Mammals of the World. Johns Hopkins University Press, 1999, ISBN 0-8018-5789-9.
Nancy Olds und Jeheskel Shoshani: Procavia capensis. Mammalian Species 171, 1982, S. 1–7.
Videos
Hendrik N. Hoeck: Heterohyrax brucei (Procaviidae) – Spiel der Jungen miteinander und mit Jungen von Procavia johnstoni (Freilandaufnahmen). Film E-2473 des Instituts für den Wissenschaftlichen Film, Publikation von H. N. Hoeck, Publikationen zu Wissenschaftlichen Filmen, Sektion Biologie, Serie 11, Nr. 29/E 2473, 1978, Begleitheft 8 Seiten.
Hendrik N. Hoeck: Ethologie von Busch- und Klippschliefer. Film D-1338 des Instituts für den Wissenschaftlichen Film, Publikation von H. N. Hoeck, Publikationen zu Wissenschaftlichen Filmen, Sektion Biologie, Serie 15, Nr. 31/D 1338, 1982, Begleitheft 24 Seiten.
Hendrik N. Hoeck: Nahrungsökologie bei Busch- und Klippschliefer – Sympatrische Lebensweise. Film D-1371 des Instituts für den Wissenschaftlichen Film, Publikation von H. N. Hoeck, Publikationen zu Wissenschaftlichen Filmen, Sektion Biologie, Serie 15, Nr. 32/D 1371, 1982.
Einzelnachweise
Weblinks
Informationen über das Klippschliefergenom bei Ensembl (englisch)
Hyrax vocalizations Rufe der Schliefer, aufgenommen im Rahmen des Eastern Africa Primate Diversity and Conservation Program, zuletzt abgerufen am 15. Dezember 2017
Schliefer |
94970 | https://de.wikipedia.org/wiki/Woodstock-Festival | Woodstock-Festival | Das Woodstock Music & Art Fair presents An Aquarian Exposition – 3 Days of Peace & Music, kurz Woodstock, war ein vor allem auf Folkmusik und Rockmusik ausgerichtetes Open-Air-Musikfestival. Es gilt als Höhe- und gleichzeitig Endpunkt der im Mainstream angekommenen Hippiebewegung in den USA.
Das Festival fand planmäßig vom 15. bis 17. August 1969 statt, endete jedoch erst am Morgen des 18. August. Als Austragungsort dienten Weidefelder eines Milchbauern in White Lake nahe der Kleinstadt Bethel im US-Bundesstaat New York, etwa 70 Kilometer südwestlich vom namensgebenden und ursprünglich angedachten Veranstaltungsort in Woodstock.
Vor geschätzten 400.000 Besuchern traten 32 Bands und Solokünstler der Musikrichtungen Folk, Rock, Psychedelic Rock, Blues und Country auf, darunter Stars wie Jimi Hendrix, Janis Joplin und The Who. Die erwarteten Zuschauerzahlen wurden um mehr als das Doppelte übertroffen. Unzählige potenzielle Zuschauer blieben zudem in Verkehrsstaus rund um das Festivalgelände stecken. Während der Veranstaltung herrschten aufgrund schlechten Wetters und organisatorischer Missstände teils katastrophale Zustände. Trotz dieser widrigen Umstände ist Woodstock für seine friedliche Stimmung bekannt geworden. Zahlreiche Musiker, Mitarbeiter und Besucher verbrachten die Festivaltage unter dem Einfluss von Drogen wie LSD (das etwa hinter der Bühne den Getränken und Eiswürfeln der Band The Who zugesetzt wurde), Mescalin, Haschisch und Marihuana.
Obwohl von kommerziellen Interessen der Veranstalter, Bandmanager und vieler Musiker geleitet, verkörpert Woodstock den Mythos eines friedliebenden, künstlerischen und „anderen“ Amerikas. Im Gegensatz dazu befand sich ein gespaltenes Amerika im Vietnamkrieg, war schockiert durch politische Morde an John F. Kennedy, Malcolm X, Martin Luther King und Robert F. Kennedy und stand unter dem Eindruck der durch die Gegenkultur thematisierten gesellschaftlichen Konflikte.
Der auf dem Festival entstandene Oscar-prämierte Film Woodstock gilt als einer der erfolgreichsten Dokumentarfilme und war mitverantwortlich dafür, dass der Mythos von Woodstock in die Welt transportiert wurde.
Historie
Vorgeschichte
Entgegen dem weit verbreiteten Mythos war das Woodstock-Festival eine durchweg kommerzielle Veranstaltung. Die jungen New Yorker Rockmanager, Festival-Promoter und Musikproduzenten Artie Kornfeld und Michael Lang waren mit den Risikokapital-Investoren Joel Rosenman und John P. Roberts die Initiatoren, Veranstalter und treibenden Hintergrundkräfte des Woodstock-Festivals.
Ursprünglich wollte das 24 und 26 Jahre alte Duo Lang/Kornfeld lediglich ein Konzert veranstalten, um die Eröffnung ihres geplanten Ton- und Aufnahmestudios medienwirksam zu promoten, das sie am Wohnort von Michael Lang in Woodstock gemeinsam errichten wollten. Lang und Kornfeld versprachen sich ein gutes Geschäft davon, die Tonstudioinfrastruktur quasi frei Haus und vor Ort für die zahlreichen populären und umsatzstarken Künstler der Folk- und Rockmusikszene zu liefern, die sich damals ebenfalls in und um Woodstock niedergelassen hatten. In die rund 160 Kilometer nördlich von New York City gelegene Kleinstadt hatte sich Bob Dylan 1966 nach seinem Motorradunfall zurückgezogen. Ihm waren Stars jener Zeit wie Janis Joplin, Jimi Hendrix, Blood, Sweat & Tears und The Band gefolgt.
Zur Finanzierung des Tonstudios traf das Hippie-Duo Lang/Kornfeld die gleichaltrigen Finanzunternehmer Joel Rosenman und John P. Roberts. Die aus der New Yorker Oberschicht stammenden Rosenman und Roberts hatten zuvor im Wall Street Journal eine Anzeige aufgegeben, in der sie sich auf der Suche nach Investitionsmöglichkeiten als „young men with unlimited capital“ anpriesen.
Auf Vermittlung des Anwalts Miles Lourie trafen sich die vier am 6. Februar 1969 erstmals im gemeinsamen Appartement von Rosenman und Roberts in der 85. Straße östlich des New Yorker Central Parks, um die Finanzierung des Woodstocker Aufnahmestudios zu besprechen. Nach den Plänen von Lang und Kornfeld sollte zur Eröffnung des Studios ein Konzert gegeben werden, damit die eingeladenen Medienvertreter das Projekt promoten könnten. Roberts und Rosenman waren jedoch nicht mehr an der Finanzierung eines weiteren Tonstudios interessiert, da sie selber gerade in den Aufbau des in einer ehemaligen Kirche in der 57. Straße eingerichteten Tonstudiokomplexes Media Sound investiert hatten.
Stattdessen schlugen sie Lang und Kornfeld vor, das Konzert auf ein zweitägiges Musik- und Kunstfestival auszudehnen. Den daraus fließenden Gewinn könnten Lang und Kornfeld dann zur Finanzierung des Tonstudios verwenden. Als Budget wurden zunächst 250.000 US-Dollar (: ca. Millionen US-Dollar) veranschlagt – zur Kostendeckung von Auftrittshonoraren für die Musiker, für die Organisation sowie die Bühneninfrastruktur. Bei zu erwartenden 100.000 Besuchern an beiden Tagen wurde bei durchschnittlichen Ticketpreisen von 5 US-Dollar ein Reingewinn zwischen 250.000 und 300.000 US-Dollar kalkuliert. Jedoch verlängerte man das Festival um einen weiteren Tag und kalkulierte fortan mit 200.000 Besuchern. Als Termin wurde der 15. bis 17. August 1969 anberaumt.
Vorplanung
Am 28. Februar 1969 wurde die Firma Woodstock Ventures Inc. mit Büroräumen in der 57. Straße gegründet, an der die vier Protagonisten zu jeweils 25 % beteiligt waren. Entsprechend der Fähigkeiten übernahm Michael Lang alle für die Produktion notwendigen Arbeiten, wie Engagements der Künstler, den Bühnenaufbau, die Tonanlage und die Beleuchtung. Lang, der einige Monate zuvor das Miami Pop Festival veranstaltet hatte und dabei ein finanzielles Desaster hinterließ, engagierte zur Unterstützung den Chefkoordinator Stanley Goldstein.
Kornfeld übernahm die Öffentlichkeitsarbeit und holte die PR-Profis Jane Friedman, Danny Goldberg, Mike Forman und Bert Cohen zu Woodstock Ventures. Kornfelds Werbestrategen sorgten dafür, dass das Festival in jedem Radiosender, in großen und kleinen Zeitungen nicht nur USA-weit, sondern auch in Kanada und Europa beworben wurde – und damit maßgeblich für den Besucheransturm verantwortlich war.
Joel Rosenman und John Roberts waren für die Finanzierung, Administration, Versicherung, Ticket- und Programmherstellung, Vorverkauf und Abendkasse zuständig. Für jegliche juristischen und gesetzlichen Belange wurden zur Unterstützung mehrere Anwälte hinzugezogen.
Die Veranstaltung sollte ursprünglich auf der 300 Hektar großen Winston Farm in der Kleinstadt Saugerties, etwa 15 Kilometer östlich von Woodstock, im US-Bundesstaat New York stattfinden. Die Bewohner des Städtchens opponierten allerdings erfolgreich gegen den zu erwartenden Hippie-Ansturm, und so erhielten die Veranstalter die unerwartete Absage des angedachten Festivalspielortes. Ebenso erging es den Veranstaltern mit einem zwischenzeitlich als Veranstaltungsort gewählten Industriegelände im Städtchen Wallkill. Am 2. Juli 1969 erwirkte eine Bürgerinitiative, dass die Ausrichtung des Festivals in Wallkill per lokalem Gesetzeserlass verboten wurde.
Veranstaltungsort
Erst am 15. Juli wurde mit Unterstützung von Elliot Teichberg die 70 Kilometer südwestlich von Woodstock in den Catskill Mountains gelegene Dorfgemeinde White Lake nahe der Kleinstadt Bethel im US-Bundesstaat New York als Veranstaltungsort gefunden. Teichberg verfügte als Einziger in der Gemeinde über eine Lizenz zur Ausrichtung musikalischer Veranstaltungen, die er sich als Vorsitzender der örtlichen Handelskammer selbst ausgestellt hatte. Er vermietete Lang und Kornfeld das El Monaco Motel seiner Eltern, das zum Produktions- und Veranstaltungsbüro umfunktioniert wurde. Während des Festivals diente das Motel zudem als „Notaufnahme für schlechte LSD-Trips“. Regisseur Ang Lee verfilmte später die Geschichte um Teichbergs Beteiligung unter dem Titel Taking Woodstock.
Laut Teichberg war er den Veranstaltern zudem bei der Vermittlung eines weitläufigen etwa 240 Hektar großen Areals behilflich, auf dem das Festival für die zu erwartenden Menschenmassen ausgerichtet werden konnte. Teichberg stellte über den Mittelsmann Morris Abraham den Kontakt zwischen Michael Lang, dem Chefkoordinator Stanley Goldstein und dem in Bethel ansässigen Milchbauern Max Yasgur her, der über entsprechende Grundstücke verfügte. Lang und Goldstein waren begeistert von einer leicht ansteigenden 150.000 m² großen Weide, die wie ein Amphitheater in die Landschaft eingebettet war und sich damit perfekt für eine Konzertveranstaltung eignete. Zudem umgaben diese Weide weitere Felder zur Nutzung als Campingmöglichkeit und Parkplätzen. Yasgur erhielt 50.000 US-$ ( ca. US-$) für die von ihm zur Verfügung gestellten Kuhweiden. Für eventuelle Schadensersatzforderungen ließ sich Yasgur von den Veranstaltern mit zusätzlichen 75.000 US-$ Kaution absichern. Yasgur wurde später mit Schadensersatzklagen in Höhe von 35.000 US-$ konfrontiert. Zusätzlich wurde für 5000 US-Dollar vom Geflügelbauern William Filippini dessen Seeanlage Filippini Pond gepachtet, die unmittelbar ans Festivalgelände angrenzte und im Laufe der Festivaltage als Trinkwasserreservoir und Badegelegenheit für Crew und Besucher diente.
Den lokalen Gastronomen und dem Präsidenten des Betheler Wirtschaftsverbandes war die Veranstaltung sehr willkommen. 800 Bürger der Kleinstadt hingegen unterschrieben eine Petition gegen die Ausrichtung des Festivals und den zu erwartenden Massenansturm. Sie konnten nur mit Schecks in ungenannter Höhe von Joel Rosenman beruhigt werden. Eine weitere Verbannung vom Festivalort mittels eines erneuten Bürgeraufstandes hätte das sichere Ende für die Veranstaltung bedeutet.
Innerhalb von drei verbleibenden Wochen musste der als technischer Direktor engagierte Ingenieur Chris Langhart mit Hilfe von 400 Handwerkern eine festivaltaugliche Infrastruktur inklusive neuer Straßen, Stromleitungen, Telefonleitungen, Brunnen, Wasserleitungen und die Festivalbühne mit Licht- und Lautsprechertürmen errichten. Musiker mussten für den neuen Veranstaltungsort gewonnen werden, was teilweise kostspielige Vertragsnachverhandlungen nach sich zog. Zudem musste ein Verkehrs- und Sicherheitskonzept erarbeitet werden. Den Eintrittskarteninhabern und potenziellen Festivalbesuchern musste mitgeteilt werden, dass sich der Veranstaltungsort von Wallkill nach White Lake/Bethel verschoben hatte, da das Festival in Promotionanzeigen bereits lange Zeit mit dem Veranstaltungsort Wallkill beworben wurde. Zusätzlich ließ Artie Kornfeld in 250 Untergrundzeitungen Werbeanzeigen für das nun in White Lake/Bethel veranstaltete Festival for Peace and Music schalten.
Tickets und der Weg zum Free Concert
Der Ticketverkauf für das Festival wurde beworben unter dem Motto Woodstock Music & Art Fair presents An Aquarian Exposition – 3 Days of Peace & Music (dt.: Die Woodstock Musik- und Kunstmesse präsentiert Eine Wassermann-Ausstellung – 3 Tage voller Frieden und Musik). Dieser Leitgedanke thematisierte den Aufbruch des Wassermannzeitalters – eine unter Hippies weit verbreitete, auf Astrologie beruhende Annahme, dass ein neues Zeitalter voller Liebe und Frieden begonnen habe.
Die Kosten für das Drei-Tage-Ticket beliefen sich im Vorverkauf auf 18 US-$ (: US-$). Für ein Tagesticket mussten 7 US-$ (: US-$) bezahlt werden. Im Vorverkauf konnten bereits 186.000 Tickets abgesetzt werden, die Erlöse in Höhe von 1,8 Millionen US-$ (: Millionen US-$) erzielten. Vor Ort sollten 8 US-$/Tagesticket bzw. 24 US-$/Drei-Tage-Ticket von den Veranstaltern verlangt werden.
Bereits zwei Wochen vor Festivalbeginn kamen die ersten Besucher auf das Gelände, die sich vor Ort in Zelten und Wohnwagen häuslich niederließen. Dies geschah zu einem Zeitpunkt, als noch kein Zaun bzw. Zugangskontrollen errichtet waren. Der Besucherzustrom riss nicht mehr ab und schwoll täglich an. Zwei Tage vor Festivalstart kampierten bereits 30.000 Menschen neben der Zufahrtsstraße 17B, die wegen der fehlenden Polizeikräfte bis zur 15 Kilometer entfernten Abfahrt vom Highway 17 in Monticello zugestaut war. Kurz darauf waren alle fünf Zufahrtsstraßen blockiert, und der Verkehr staute sich auf bis zu 27 Kilometern Länge.
Da mit dem Aufstellen der Kassenhäuschen bis zuletzt gewartet worden war und Umzäunungen niedergetrampelt wurden, betrat am Samstagmorgen der auch als Ansager fungierende Oberbeleuchter Chip Monck die Hauptbühne und verkündete unter tosendem Beifall: „Von jetzt an ist das Konzert eintrittsfrei!“ Veranstalter Michael Lang antwortete auf die Frage, warum man sich dazu entschied, dass aus Woodstock ein Gratiskonzert wurde: „Es war keine Entscheidung. Wir haben die Fakten anerkannt. Es heißt immer, wir hätten die Tore zum Festivalgelände geöffnet. Aber da waren keine Tore. Am Freitagmorgen saßen 150.000 Leute auf dem Gelände, die Tickethäuschen waren noch gar nicht aufgestellt.“ Angesichts der verwaisten Tickethäuschen drohte der mächtige Musik- und Bandmanager Bill Graham den Veranstaltern, seine Band Grateful Dead nicht auftreten zu lassen, wenn nicht umgehend die Gagen ausgezahlt würden. Dieser Forderung schlossen sich The Who an. Sie befürchteten, dass die Veranstalter ihren Gagenverpflichtungen nicht nachkommen konnten. Um diese Absagen zu verhindern, wurde der örtliche Bankdirektor aus dem Wochenende geholt, um beglaubigte Barschecks mit dem Hubschrauber heranzuschaffen.
Finanzen und Bilanzen
Die Organisation und Durchführung des Woodstock-Festivals verschlang letztlich 2,7 Millionen US-$ (: Millionen US-$), von dem der große Hauptteil durch Rosenman und Roberts finanziert wurde. Rosenman und Roberts finanzierten und organisierten auch die größtenteils kostenlose Versorgung der knapp 400.000 Besucher. Zusätzlich mussten weitere Verpflegung und medizinische Betreuung für die Besucher sowie die Musiker selbst wegen der verstopften Zugangswege mit Hubschraubern eingeflogen werden. Das Festival wurde zunächst zu einem finanziellen Misserfolg. Nach Aussage der Veranstalter hatte man am Ende des Festivals ein Minus von 1,3 Millionen US-$ zu verkraften. Die Bank erwog die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens über das Unternehmen Woodstock Ventures, wodurch viele Musiker um ihre Gagen und Lieferanten um den Großteil ihrer Forderungen gebracht worden wären. Um dies von ihrem Sohn abzuwenden, sprangen die vermögenden Eltern von John Roberts mit einem Blitzkredit ein, der von ihm und Rosenman über Jahre hinweg abgezahlt werden musste.
Kurz nach dem Festival wurde auf Druck der kreditgebenden Roberts-Familie das Duo Lang/Kornfeld aus der Woodstock Ventures gedrängt und mit jeweils 31.750 US-$ (: US-$) abgefunden. Nach Auszahlung ihrer Geschäftsanteile waren Lang/Kornfeld somit nicht mehr an Rechte- und Lizenzeinnahmen beteiligt. Der Tantiemenanteil am später Oscar-prämierten und als eine der erfolgreichsten Dokumentationen aller Zeiten geltende Woodstock-Film betrug für die beiden verbleibenden Gesellschafter Rosenman/Roberts lediglich 20 %. Die verbliebenen 80 % gingen an die Warner Bros., den Produzenten Bob Maurice sowie den Regisseur Michael Wadleigh. Für die Verwertung des Film-Soundtrack standen Rosenman/Roberts lediglich 0,5 % zu, da sich der Geschäftsführer von Atlantic Records, Ahmet Ertegün, im Vorfeld die Rechte für 25.000 US-$ gesichert hatte.
Noch 1974 standen Einnahmen durch Ticketverkäufe und Rechteverwertung in Höhe von 3,3 Millionen US-$ weiterhin Ausgaben in Höhe von 3,4 Millionen US-$ gegenüber. Mithilfe der Lizenzeinnahmen aus dem Film wie auch des Soundtracks und dem Woodstock-Live-Album konnte der Schuldenberg bis 1980 endgültig abgetragen werden. Seitdem erwirtschaften Rosenman/Roberts und der anlässlich eines Jubiläumskonzertes mit einer Minderheitenbeteilligung wieder eingestiegene Michael Lang mit Woodstock Ventures über Lizenzvergaben für Merchandising und Bild- und Tonrechte millionenschwere Gewinne aus Woodstock. Allein der weltgrößte Fanartikel-Lizenznehmer Live Nation Merchandise generiert in manchen Jahren zwischen 50 und 100 Millionen US-$ mit Woodstock-Produkten.
Festivalverlauf
Freitag und Nacht auf Samstag
Nach dem Plan von Veranstalter Michael Lang stand der erste Festivaltag ganz im Zeichen von Folk- und Countrymusik. Um 17:07 Uhr eröffnete der bis dahin recht unbekannte schwarze Folk-Musiker Richie Havens das Festival. Er sprang für Sweetwater ein, die noch nicht eingetroffen waren. Havens sang und spielte Akustikgitarre. Er spielte unter anderem umarrangierte Beatles-Coverversionen, erhielt viel Beifall und spielte als Zugaben einige Blues-Standard, bis sein Songrepertoire erschöpft war. Anschließend improvisierte er eine Version des Spirituals Motherless Child („Kind ohne Mutter“), dem er eine Strophe mit dem ständig wiederholten Ruf Freedom („Freiheit“) hinzufügte. Der Song wurde ein internationaler Hit. Die Darstellung im Woodstock-Film, Havens habe insgesamt drei Stunden gespielt, ist falsch. Tatsächlich spielte er elf Songs in etwa 45 Minuten.
Inzwischen waren Sweetwater per Hubschrauber zusammen mit Swami Satchidananda eingeflogen worden. Sie hielten Woodstock für ein weiteres simples Festival und waren von der Menschenmenge überrascht. Ihre Instrumente waren bereits vor Havens Auftritt aufgebaut worden, jedoch hatte nie ein Soundcheck stattgefunden. Nach der Eröffnungsrede von Swami Satchidananda spielten sie ihr 45-minütiges Set und waren mit ihrem Auftritt sehr unzufrieden. Anschließend begann es zu regnen, und Bert Sommer hatte seinen Auftritt zusammen mit seinem Studiogitarristen Ira Stone. Sie spielten zehn Lieder, darunter den Jennifer Warnes gewidmeten Song Jennifer und das Simon-&-Garfunkel-Cover America. Mit dem Einbruch der Dämmerung folgte der Auftritt des Folksängers Tim Hardin, der zu dieser Zeit in Woodstock lebte und dessen Karriere sich bereits dem Ende zuneigte. Er und seine Band spielten Songs wie Misty Roses und seinen Klassiker If I Were a Carpenter. Bei letzterem brach an mehreren Stellen seine Stimme, was wahrscheinlich an Lampenfieber und Heroineinfluss lag.
Anschließend kam der erste große Regen und der indische Sitarspieler Ravi Shankar kam auf die Bühne, der vor Woodstock bereits beim Monterey Pop Festival aufgetreten war. Woodstock war das letzte Konzert des Mentors von George Harrison auf Festivals dieser Art, da er den offenen Drogenkonsum der Hippies und ihre Einstellung gegenüber Indien, die sich z. B. in Kamasutra-Partys mit Haschisch ausdrückte, immer stärker missbilligte. Gegen 22:30 Uhr sah er sich genötigt, den Auftritt wegen des einsetzenden starken Regens abzubrechen.
Nach Ravi Shankar hätte gemäß dem Spielplan des Stagemanagers John Morris die Incredible String Band auftreten sollen. Sie weigerte sich aber im Regen aufzutreten und so wurde der Auftritt auf den nächsten Tag verschoben. An ihrer Stelle trat die 22-jährige Folk-Sängerin Melanie auf, die nach eigener Aussage den Eindruck hatte, dass sie anscheinend die einzige war, die nicht unter Drogeneinfluss stand. Sie kannte zwar alle Künstler aus den Medien, hatte aber keinen davon jemals aus der Nähe gesehen. Nicht nur deshalb trat sie mit starkem Lampenfieber auf. Melanie spielte ihre beiden Lieder Beautiful People und Birthday of the Sun, während das Publikum in der Dunkelheit Kerzen, die zuvor ausgeteilt worden waren, im Takt der Musik bewegte. Diesen Moment hielt sie später im Lied Lay Down (Candles in the Rain) („Kerzen im Regen“) fest, das im folgenden Jahr bis auf Platz vier der US-amerikanischen Charts kam.
Danach trat der ebenfalls aus dem Folk-Bereich stammende Künstler Arlo Guthrie, der Sohn von Woody Guthrie, auf. Er spielte Bob Dylans Walking Down the Line, Amazing Grace und seinen Song Coming into Los Angeles, bei dem er kurz von einer Ansage durch Jerry García unterbrochen wurde. Der Auftritt des offensichtlich auch unter Drogeneinfluss stehenden Arlo Guthrie enthielt unter anderem einen Monolog über etwas, das mit einem Pharao zu tun hatte, wie sich ein Zuschauer erinnert. Außerdem prägte er mit seinem Statement „New York State Thruway is Closed, Man“ einen der wichtigen Sätze des Festivals.
Höhepunkt und Headliner des ersten Abends war Joan Baez. Die im sechsten Monat schwangere Sängerin nutzte die Gelegenheit, um dem Publikum von ihrem inhaftierten Ehemann David Harris zu erzählen und den Song Joe Hill zu präsentieren. Anschließend legte sie ihre Gitarre beiseite und sang Swing Low, Sweet Chariot. Als sie ihren Auftritt mit We Shall Overcome beendete, begann ein Wärmegewitter, bei dem innerhalb von ungefähr drei Stunden über 120 mm Niederschlag fiel.
Samstag bis Sonntag morgen
Die folgenden beiden Festivaltage wurden von Rockmusik geprägt. Das erste Konzert am Samstag begann um 12:15 Uhr mit einem 40-minütigen Auftritt der relativ unbekannten Band Quill. Der Auftritt erschien nicht im Woodstock-Film, da die Aufnahme der Tonspur nicht mit dem Film synchronisiert war.
Es folgte ein spontaner Auftritt von Country Joe McDonald, der an diesem Tage als Zuschauer gekommen war und erst am Folgetag mit seiner Band Country Joe and the Fish auftreten sollte. Er zeigte sich über die Menschenmasse ziemlich überrascht. Nachdem er den Organisatoren gesagt hatte, dass er keine Gitarre dabei habe, besorgte man ihm eine Yamaha FG 150 und schickte ihn damit auf die Bühne. McDonald stellte während der ersten vier Lieder fest, dass ihm die Menge nicht zuhörte. Daraufhin reagierte er mit einer öffentlichen F-Stimmprobe. Dazu rief er dem Publikum zu: „Gimme an F“ (gebt mir ein „F“), woraufhin sämtliche Unterhaltungen verstummten und die Menge ihm ein lautes „F“ entgegenschrie. Als er mit den restlichen Buchstaben „U“, „C“ und „K“ fertig war, fragte er mehrfach: „What’s that spell?“ Anschließend spielte er seinen Hit I-Feel-Like-I’m-Fixin’-to-Die Rag und beendete so seinen Auftritt erfolgreich.
Die vielköpfige, von Carlos Santana geleitete Band Santana, die als Nächstes die Bühne erklomm, hatte gerade ihr erstes Album aufgenommen. Obwohl die Menge im Chor „No Rain“ („kein Regen“) rief und, um dies zu untermauern, auf diverse Objekte klopfte, gehörte der Auftritt mit dem Song Soul Sacrifice und dem energetischen Schlagzeugsolo des erst 20-jährigen Drummers Michael Shrieve zu den Höhepunkten des Festivals. Die Bühnenmannschaft hatte zudem Lattenreste verteilt, die die Fans im Takt zu diesem Song gegeneinander schlugen. Das bald nach dem Festival erschienene Debütalbum der Afro- und Latin-Elemente mit Blues, Rock und Jazz verbindenden Band schaffte es hauptsächlich wegen des 45-minütigen Festival-Auftrittes in die Top 5 der Albumcharts in den USA.
Der folgende Auftritt von John Sebastian war improvisiert. Sebastian wurde zuvor von Wavy Gravy hinter der Bühne entdeckt, obwohl er überhaupt nicht für das Festival gebucht worden war. Sebastian trug wilde Bindebatik-Kleidung und stand laut eigener Aussage so unter Drogeneinfluss, dass er nicht in der Lage war, die Aufforderung abzulehnen. Als er die Bühne nur mit einer akustischen Gitarre ausgestattet betrat, bat er das Publikum: „Liebt einfach jeden Menschen neben euch und nehmt auf dem Rückweg etwas Müll mit.“ Sein kurzer Auftritt mit einer Art Rap, der infolge seines psychedelischen Zustands beinahe eine Parodie einer Hippie-Unterhaltung darstellte, wurde von der Menge begeistert aufgenommen. Als er plötzlich Textaussetzer hatte, hörte er auf, Gitarre zu spielen, und rief der riesigen Menschenmenge „Help me!“ zu. Das Publikum entsprach seinem Wunsch, sodass er sein Stück korrekt beenden konnte.
Es folgte die Keef Hartley Band, die sich gerade in ihrem Wandel zum Jazz-Rock befand. Abgesehen von ihrem wie immer in Indianerkleidung auftretenden Schlagzeuger Keef Hartley war es für die gesamte britische Band der erste Auftritt in den USA. Da die Band weder im Film noch auf der Schallplatte zu hören ist, gelang es Keef Hartley erst 2004, durch einen Fan eine Aufnahme des Konzertes zu erhalten.
Anschließend fand der vom Vortag verlegte Auftritt der Incredible String Band statt. Sie hatte nach eigenen Angaben den Auftritt am Freitag abgesagt, da sie für sämtliche Instrumente elektrische Verstärker benutzte, was im Regen zu gefährlich war. Das Publikum war nach Santana auf „harte Musik“ eingestellt und bekam mit der String Band stattdessen Psychedelic Folk in glühendheißer Sonne. Die Begeisterung hielt sich in Grenzen, und die Band wurde die einzige des Festivals, von der keine Zugabe verlangt wurde. Dies führte dazu, dass der Auftritt weder in der ersten Version des Films noch der des Albums zu finden ist. Der Bandmanager Joe Boyd betrachtete die Verlegung des Auftritts deshalb als verpasste Gelegenheit.
Dem anschließenden Headliner-Auftritt der Blues-Formation Canned Heat, die etwa mit On The Road Again eine Mischung aus Blues-Rock und psychedelischen Elementen vortrug, war ein Streit zwischen dem Gitarristen Henry „Sunflower“ Vestine und dem Bassisten Larry „The Mole“ Taylor zwei Tage zuvor auf der Bühne des Fillmore West vorausgegangen, in dessen Folge Vestine die Band verlassen hatte. Diese sah sich genötigt, umgehend Harvey Mandel zu engagieren, um die Tournee fortsetzen zu können. Da sie nicht einmal in der Lage gewesen waren, zusammen zu proben, weigerte sich der damalige Schlagzeuger und spätere Bandleader Adolfo „Fito“ de la Parra zunächst, auf dem Festival aufzutreten, konnte dann aber überredet werden. Die Band traf gleichzeitig mit den Roadies ein, denen es gelungen war, sich im LKW mit der Ausrüstung durch das Chaos zu bewegen, wobei sie für den Weg zwischen den Catskills und New York über 13 Stunden benötigten (normalerweise zwei bis drei Stunden). Die Band spielte während des Sonnenuntergangs und wurde vom Publikum gefeiert wie kaum eine andere während des Festivals. Der depressive Frontmann Alan „Blind Owl“ Wilson teilte mit auf die Bühne gekletterten Fans seine Zigarette. Der Canned-Heat-Song Going Up the Country () erreichte in dieser Woche die Spitze der amerikanischen Charts und wurde später zur inoffiziellen Hymne des Festivals.
Der nachfolgende Auftritt von Leslie Wests Band Mountain, bei dem West mit Southbound Train stark verzerrte Gitarrensoli darbrachte, war erst der vierte gemeinsame Live-Auftritt der kurz zuvor gegründeten Band. Unzufrieden war Jerry García mit dem mehrstündigen Auftritt von Grateful Dead, der mit St. Stephen begann und bald von der kalifornischen, Rock, Blues, Folk, Pop und Country vermengenden Band wegen angeblicher Monitorprobleme auf der Bühne unterbrochen wurde. Durch den Regen während des Auftritts soll die Band einige Stromstöße durch ihre elektrischen Instrumente erlitten haben. Rückblickend betrachtet waren viele Fans der Meinung, dass die Band zuvor bereits bessere Auftritte gehabt hatte. Da der Auftritt, der auch den das gitarristische Können von García und Bob Weir zeigenden Klassiker Dark Star zur Aufführung brachte, bewusst weder in den Film noch in das Album mit aufgenommen wurde, wussten viele Menschen lange Zeit überhaupt nichts davon. Auch der nachfolgende Auftritt der Co-Headliner Creedence Clearwater Revival, etwa mit der Mischung aus Folk- und Country-Rock I Put A Spell On You oder mit Suzie Q. (von Dale Hawkins), erschien weder im Film noch im ursprünglichen Album, da John Fogerty und die Plattenfirma Fantasy dies ablehnten. Fogerty betrachtete den Auftritt als zu schlecht, um veröffentlicht zu werden. Es war nur ein kleiner Teil des Publikums wach, und die Band hatte angeblich mit technischen Schwierigkeiten zu kämpfen.
Janis Joplin trat danach auf, aber auch ihr Auftritt wird von Fans als einer ihrer schlechtesten bewertet, auch wenn Joplin viele Fans mit ihrer Version von Piece Of My Heart von Erma Franklin begeisterte. Viele meinten, das Engagement der Band fehlte, wodurch die zudem unter Einfluss von Heroin und Alkohol stehende Joplin nicht in der Lage war, ihre gewohnte Explosivität auszuleben. Ihre Stimme brach häufig. Allerdings machte sie eine Bemerkung über die Hippiebewegung, die später oft zitiert wurde: „Früher waren wir nur wenige, jetzt gibt es Massen und Massen und Massen von uns.“ Der Auftritt wurde ebenfalls nicht veröffentlicht. In den frühen Morgenstunden folgte dann der Auftritt von Sly & the Family Stone, der als einer der besten des Festivals und Höhepunkt von Sly Stones Karriere bezeichnet wird, obwohl er im Regen stattfand.
Um 5 Uhr morgens folgte die britische Band The Who. Deren Manager weigerte sich zuerst, die Band ohne Vorkasse auftreten zu lassen. Erst als Organisator Mike Lang drohte, diesen Umstand per Durchsage an die Menge zu verbreiten, konnte er von diesem Vorhaben abgebracht werden. Ihr durch den späteren Film bekannt gewordener Auftritt enthielt einige Songs von ihrem im Juni erschienenen Doppelalbum Tommy. Der Aktivist Abbie Hoffman unterbrach die Aufführung, indem er versuchte, eine Protestrede gegen die Gefangennahme von John Sinclair von der White Panther Party zu halten. Pete Townshend verscheuchte ihn durch einen gezielten Schlag mit seiner Gibson SG von der Bühne; er sagte später, dass er bezüglich Sinclairs Gefangennahme eigentlich mit Hoffman einer Meinung war. Townshend beendete den auch Pinball Wizard darbietenden Auftritt mit dem rituellen Zertrümmern seiner Gitarre, die er anschließend ins Publikum warf.
Beendet wurde das Festival an diesem Tag, der durch die regenbedingten Wartezeiten sehr lang geworden war, durch Jefferson Airplane, bekannt durch psychedelischen Rock wie in White Rabbit. Die Band begann kurz nach Sonnenaufgang zu spielen. Sängerin Grace Slick kündigte an, dass die Band ein wenig „Morning maniac music“ (etwa: „Musik für die Morgenverrückten“) spielen würde. Unter anderem wurde erstmals der Song Volunteers präsentiert, der sechs Monate später zusammen mit dem gleichnamigen Album erschien.
Sonntag und Montag morgen
Der letzte Tag von Woodstock begann mit dem Auftritt von Joe Cocker, der mit seiner bereits im Vorjahr erschienenen Coverversion des Beatles-Klassikers With a Little Help from My Friends den ersten großen Durchbruch in seiner Karriere erreichte. Nach dessen Auftritt setzte ein heftiges Gewitter ein. Als das Unwetter aufgehört hatte, betrat der Farmer Max Yasgur die Bühne, auf dessen Feldern das Festival stattfand. Er dankte den Zuschauern dafür, dass sie ihm halfen, der Welt etwas zu beweisen. Die Festivalbesucher hatten seiner Meinung nach zusammen bewiesen, dass eine halbe Million Menschen zusammenkommen und nichts als Spaß und Musik haben könnten. Yasgur behauptete, dass dies die größte Ansammlung von Leuten an einem Ort überhaupt wäre.
Danach folgte der Auftritt von Country Joe and the Fish, die in letzter Minute als Ersatz für Jethro Tull gebucht worden waren. Auch wenn die Band bereits 1967 beim Monterey Pop Festival aufgetreten war, war Woodstock der Höhepunkt ihrer Karriere. Wieder wurde der I-Feel-Like-I’m-Fixin’-to-Die Rag gespielt. Gegen 20:15 Uhr gab es mit dem 90-minütigen Auftritt von Ten Years After einen weiteren Höhepunkt. Da der Regen die Luftfeuchtigkeit verändert hatte, musste die Band während ihres ersten Songs Good Morning Little School Girl nach etwa einer Minute unterbrechen, um die Gitarren erneut zu stimmen. Nach dem regulären Set folgte die Zugabe I’m Going Home, bei welcher der Gitarrenvirtuose Alvin Lee ein fast zehnminütiges Solo spielte. Dies war der einzige Song des Auftritts, der von der Filmcrew aufgenommen wurde. Sie hatte mit drei Kameras zu filmen begonnen, von denen eine nach der Hälfte des Auftritts ausfiel. Für die Dreifach-Split-Screen-Version des Films wurde deshalb gegen Ende das gespiegelte Filmmaterial der rechten Kamera benutzt, um die Lücke zu füllen.
Der Auftritt von The Band um 22:00 Uhr wurde begleitet von starken Lampenfieberanfällen der Bandmitglieder und spielten unter anderem das von Bob Dylan mitkomponierte Stück Tears Of Rage. Die Musiker von The Band waren derartige Menschenmengen nicht gewöhnt. Die Erlebnisse von Woodstock und dem zwei Wochen später stattfindenden Auftritt beim Isle of Wight Festival, wo die Musiker zusammen mit Bob Dylan spielten, wurden anschließend im Song Stage Fright („Lampenfieber“) verarbeitet. Um 01:30 Uhr folgten Blood, Sweat & Tears, die als einer der Headliner galten. Nach Meinung des Managers der Band hätte der Auftritt nicht im Film erscheinen sollen, da die 7.500 Dollar, die die Band für den Auftritt erhalten hatte, angeblich zu wenig gewesen seien, um den Auftritt für die Zukunft zu erhalten. Allerdings schaffte es die Filmcrew, das Eröffnungsstück More and More aufzuzeichnen, bevor sie der Bühne verwiesen wurde.
Obwohl der nachfolgende Auftritt des texanischen Blues-Gitarristen Johnny Winter, der sogar eine zwölfsaitige E-Gitarre virtuos spielte, gefilmt wurde, erschien er nicht im Dokumentarfilm. Sein Manager hatte sich mit der Filmcrew zerstritten, welche die Veröffentlichung des Auftritts – gespielt wurde etwa Mean Town Blues – anschließend mit der Begründung, dass er „zu merkwürdig“ gewesen sei, verhinderte. Gegen 3:00 Uhr folgten Crosby, Stills and Nash. Dieser Auftritt, während dessen das neue Bandmitglied Neil Young auf die Bühne kam, war der zweite Liveauftritt der Formation in der neuen Besetzung. Die Bandmitglieder waren entsprechend nervös und spielten zwei Sets. Den Anfang machte Suite: Judy Blue Eyes, eine Suite von acht Minuten, die vom Ende der Liebesbeziehung zwischen Stephen Stills und Judy Collins handelt. Außerdem spielten sie mit 4 + 20 einen Song, der erst auf dem 1970er Album Déjà Vu erschien.
Danach trat die Butterfield Blues Band auf, die sich kurz zuvor nach einer Studiopause neu formiert hatte. Beim Auftritt der Band um Paul Butterfield war Buzz Feiten dabei. Für ihn war es der erste professionelle Auftritt. Mit ihrem 40-minütigen Auftritt wurde Sha Na Na einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Die Band begann sich in der US-amerikanischen Rock-’n’-Roll-Landschaft zu etablieren. Sha-Na-Na waren die einzigen Interpreten des Woodstock-Festivals, die noch ohne Plattenvertrag waren.
Um 9:00 Uhr morgens betraten der als Festivalhighlight engagierte Jimi Hendrix und seine Begleitband die Bühne. Hendrix hatte für das Festival eine neue Band zusammengestellt: Gypsy Sun & Rainbows mit Mitch Mitchell (Schlagzeug), seinem alten Armee-Freund Billy Cox (Bass), Larry Lee (Rhythmusgitarre) und zwei Perkussionisten. Hendrix spielte unter anderem den Titel The Star-Spangled Banner, seine Interpretation der US-amerikanischen Nationalhymne, als einen Friedensappell vor dem Hintergrund des Vietnamkriegs, in der er das Geräusch einschlagender Raketen und das Sterben der Soldaten musikalisch wiederzugeben versuchte. Mit Hendrix’ Darbietung von Purple Haze, Villanova Junction und Hey Joe endete das Festival am Montagmorgen um 11:10 Uhr vor noch etwa verbliebenen 35.000 Besuchern.
Buchung der Bands
Verantwortlich für das Line-Up waren Michael Lang und sein Booker John Morris. Morris war ein Schützling von Bill Graham, einem der einflussreichsten Musikmanager, der sich unter Graham selbst zu einem sehr wichtigen Mann im Musikgeschäft hochgearbeitet hatte. John Morris war maßgeblich am Zustandekommen des Woodstock-Festivals beteiligt. Sehr früh schon wurde er in den Staff aufgenommen und verpflichtete die Künstler, die er alle persönlich kannte, für ihre Auftritte.
Aufgrund mangelnder Reputation und Erfahrung der Veranstalter war es im Vorfeld selbst für Morris schwierig, Bands zu bekommen. Die Künstleragenturen und Bandmanager legten auf eine Zusammenarbeit mit derartig unerfahrenen Veranstaltern keinen Wert und wollten kein Risiko eingehen. Dies ist sicherlich der Hauptgrund, dass die Avantgarde der damaligen Rock- und Popkultur – The Beatles, Bob Dylan, The Rolling Stones, Blind Faith, The Doors sowie schwarze Musiker wie James Brown oder Aretha Franklin – durch Abwesenheit glänzten. Außer The Who, Janis Joplin und Jimi Hendrix konnten keine Top-Acts gebucht werden. Um die Skepsis der Manager und Agenten auszugleichen, zahlte Woodstock Ventures in Person von Michael Lang zum Teil doppelte Gagen.
Für das Festival wurden schließlich 38 Bands gebucht. Im Vorfeld gab es einige Absagen – beispielsweise von der Jeff Beck Group, die sich kurz vor dem Festival getrennt hatten. Manche Bands schafften es nicht, durch den Verkehrsstau zum Festivalgelände zu gelangen. Iron Butterfly saßen in einem New Yorker Hotel und warteten darauf, abgeholt zu werden, doch der Hubschrauber kam nicht. Geplant war außerdem ein Auftritt von The Moody Blues, die auf frühen Plakaten des Festivals noch aufgeführt waren. Da sie auch für die gleichzeitig stattfindende politische Veranstaltung Socialist Rally in Paris engagiert worden waren, entschied sich die Band per Münzwurf. Die dadurch getroffene Entscheidung, in Paris aufzutreten, bereute die Band im Nachhinein. Joni Mitchell gelang es nicht, wie geplant am Festival teilzunehmen, weswegen sie zu Hause vor dem Fernseher mit Woodstock eine Hymne auf das Festival schrieb. Dieser Song wurde durch Crosby, Stills, Nash & Young und Ian Matthews’ Band Matthews Southern Comfort ein Welthit.
Technik
Bühne
Die nach dem Design von Steve Cohen vollständig aus Holz gefertigte Hauptbühne wurde in ostwestlicher Richtung aufgebaut, so dass die Musiker die aufgehende Sonne im Rücken hatten. Als stimmungsvoller Hintergrund diente die Seeanlage des Filippini Pond. Die Bühne wurde direkt an der West Shore Road aufgebaut, um die Anfahrtswege für die benötigten Baustoffe zur Errichtung der Bühne möglichst kurz und unkompliziert zu halten. Die auf 5 Meter erhöhte Bühnenplattform maß 20 Meter × 15 Meter und besaß in der Mitte eine drehbare Rundbühne, die auf Rollen gelagert war. Während auf der vorderen Hälfte die jeweils aktuelle Band spielen sollte, war die rückwärtige Hälfte für Auf- und Abbau vorgesehen. Es war geplant, die Umbaupausen so auf ein Minimum zu reduzieren und am Ende eines Konzertes die Bühne für die nächste Band lediglich um 180 Grad zu rotieren. Da man das Gewicht des Musikequipments unterschätzt hatte, brachen die Rollen schon am ersten Tag und man kehrte zum herkömmlichen System mit Umbaupausen zurück. Hinter der Bühne wurde ein Backstagebereich als Aufenthaltsort für die Musiker und das Veranstaltungsteam eingerichtet. Zwischen der Bühne und dem Publikum wurde für die Medienvertreter eine drei Meter hohe Holzwand errichtet. Die Bühne sowie die Dächer der weiteren Gebäude waren mit großen Segeltüchern überspannt. Der Aufbau der Bühne und die Installation der Beleuchtungstechnik wurde vom Lichtdesigner und technischen Direktor E.H. Beresford „Chip“ Monck geleitet. Monck war zuvor bereits für die Bühnen- und Beleuchtungstechnik des Monterey Pop Festivals und den meisten großen Konzertveranstaltungen der USA verantwortlich und hatte ein eingespieltes Team sowie zahlreiche Hilfskräfte unter sich.
Neben der großen Hauptbühne gab es noch eine kleinere offene und freie Bühne, die Alternative Stage. Sie war von den Mitgliedern der Hog Farm errichtet worden und stand der breiten Masse zur Verfügung. Joan Baez spielte 40 Minuten lang auf dieser Nebenbühne, bevor sie ihren Auftritt auf der Hauptbühne hatte.
Licht- und Tontechnik
Die Hauptbühne wurde auf beiden Seiten von aus Metallgerüsten gefertigten Lautsprechertürmen à 21 Meter Höhe flankiert, um weiter hinten gelegene Gebiete beschallen zu können. Neben den Lautsprechertürmen an der Bühne stand jeweils ein Beleuchtungsturm ausgestattet mit zwei 1300-Watt-Hochleistungs-Kohlebogen-Verfolger-Spotscheinwerfern vom Typ Super Trouper. Zudem bestückte Lichtdesigner „Chip“ Monck links und rechts in etwa 40 Meter Entfernung zur Bühne inmitten des Publikums zwei weitere 21 Meter hohe Lichttürme mit jeweils vier weiteren Super Trouper. Die ungesicherten jeweils 300 kg schweren Lampen wurden manuell von Followspot-Operateuren bedient, die sich zu diesem Zwecke ebenfalls auf der obersten Plattform der Lichttürme befanden.
Das für 200.000 Zuschauer konzipierte Beschallungssystem wurde von Bill Hanley und seiner Firma Hanley Sound entwickelt, gebaut und betrieben. Hanley gilt als Pionier und „Vater“ des Festival-Sounds. Für Woodstock entwarf und baute Hanley aus Bootsbausperrholz mannshohe Lautsprecherboxen. Jede dieser Boxen wog 500 kg, war 180 cm hoch, 90 cm breit und 100 cm tief. Ein Lautsprecher bestand jeweils aus zwei mittig platzierten Bassboxen, die unter einem Paar von selbst konstruierten Hochfrequenz-Horn-Systemen installiert wurden. Jedes dieser Hochfrequenz-Horn-Systeme bestand aus einem Altec-Lansing-Modell 1003B mit 5×2-Multi-Cellular-Hörnern oder speziell von Hanley angefertigten 2×2-Hörnern aus Altec-290-Kompressionstreibern. Zusätzlich zu dieser Kombination wurden vier 15-Zoll-JBL-D130-Treiber mit Loudness Maximizer eingebaut, unterhalb vier weitere 15-Zoll-JBL-D140-Treiber, um den Bass und die Reichweite zu maximieren. Das gesamte Soundsystem wurde als Woodstock Bins bekannt.
Angetrieben wurden die Lautsprecherboxen von 20 McIntosh MC3500 Hi-Fi-Röhrenendstufen mit jeweils 350 Watt RMS-Leistung, die unter der Bühne standen. 16 der Endstufen waren für die PA-Anlage in Verwendung, zwei für die seitlich aufgestellten Bühnenmonitore, zwei herkömmliche Altec-Lansing Voice of the Theatre-Boxen und zwei weitere wurden als Havariereserve vorgehalten. Als Mikrofone dienten für alle Zwecke das Modell Shure SD 565, insgesamt ca. 20 Exemplare.
In etwa 20 Meter Entfernung gegenüber der Hauptbühne stand inmitten der Zuschauermenge eine notdürftig errichtete Plattform, die als improvisiertes FoH mit Tontechnik, Mischpult und einem entsprechend versierten Techniker diente. Zum Einsatz kamen dort vier modifizierte Shure M67 Mikrofon-Mischer mit Eingangsdämpfung, zwei Shure M63 Audio Master als Equalizer, ein Altec 1567A Röhren-Mischer und vier Teletronix LA2A Röhren-Limiter zwischen den Mischern und den Endstufen.
Hinter der Bühne befanden sich zwei 8-Spur Scully-Mehrspurrekorder, die im Anhänger eines Sattelzuges untergebracht waren. Für die Aufnahmen standen zwei dieser Ein-Zoll-Tonbandgeräte zur Verfügung, die jeweils zeitversetzt liefen. So war es möglich, immer eine Tonbandmaschine aufnehmen zu lassen, während auf der anderen das Tonband gewechselt wurde. Ein Wechsel der Spulen war aus Sicherheitsgründen alle 20 bis 25 Minuten fällig, da diese maximal 30 Minuten Musik aufnehmen konnten. Da durchgängig eine Tonspur benutzt wurde, um für den Film eine Synchronisationsspur der Kameras aufzuzeichnen, sowie eine zweite den Applaus des Publikums festhielt, blieben dem Tontechniker Eddie Kramer mit seinen Assistenten lediglich sechs Tonspuren, um die Musik aufzunehmen. Konnten die Tontechniker Solokünstler, die lediglich mit Gesang und Akustikgitarre arbeiteten, noch adäquat auf zwei getrennten Spuren aufzeichnen, wurden bei Bands mit mehr als sechs Tonquellen ähnlich klingende Instrumente auf einer Spur zusammengefasst. Bei Jimi Hendrix’ Auftritt verwendete Kramer eine Spur für das Schlagzeug, eine für weitere Perkussion, eine für Hendrix’ E-Gitarre, eine für Hendrix’ Stimme sowie eine weitere für den E-Bass.
Während der Auftritte wurde teilweise ein neues Mikrofonsystem eingesetzt, das von den Technikern der Band Grateful Dead für deren Wall of Sound entwickelt worden war: ein Sänger bekam pro Mikrofonständer zwei Mikrofone, die phasenverdreht nebeneinandergeschaltet wurden. Sinn dieser Konstruktion war die Unterdrückung von Rückkopplungen bei hohen Lautstärken. Da diese Schaltung jedoch auch eine reduzierte Klangqualität mit sich brachte, wurde sie nicht bei allen Künstlern eingesetzt. Bei späteren Konzerten rückte man von dieser Technik ganz ab.
Die Kosten für die Ton- und Lichtanlage beliefen sich auf 200.000 US-$ (: Millionen US-$).
Elektrizität
Die komplette Stromversorgung wurde durch die Pantel Electric Company aus South Fallsburg bereitgestellt, nachdem diese 14 Tage vor dem Festival das Monopol dazu erhalten hatte. Zu ihrer Arbeit, die zu Beginn des Festivals noch auf Hochtouren lief, gehörte unter anderem der Anschluss der 40 Verpflegungsstände, eine Art Freilichtkino, Außensteckdosen für den Campingbereich sowie die Wegbeleuchtung im gesamten Gelände. Firmenchef Pantel zog mit seinem Wohnwagen direkt neben die Bühne, um dort seine Kommandozentrale zu errichten und direkt vor Ort zu sein. Es wurde in zwei Schichten mit jeweils 25 Mann gearbeitet. Immer wieder kam es zu Engpässen in Sachen Material, das oft direkt aus New York City beschafft werden musste. Eine Verteileranlage mit 1200 Ampere Dreiphasenwechselstrom für die Hauptbühne erhielt Pantel von einem Freund, der die Ausstattung einiger Gebäude der New Yorker Weltausstellung aus den Jahren 1964 und 1965 erworben hatte. Die komplette Stromversorgung kostete die Woodstock Ventures 150.000 US-Dollar.
Versorgung
In jeglichen Bereichen der Versorgung hatten die Veranstalter mit Missständen zu kämpfen. Die nach den Unwettern teils katastrophale Situation vor Ort veranlasste am Sonntagmorgen Nelson Rockefeller, seinerzeit Gouverneur des Staates New York, das Gespräch mit Veranstalter Michael Lang zu suchen. Rockefeller plante eine 10.000 Mann starke Militärdivision zum Festival zu senden. Lang redete dem Politiker diese Maßnahme zwar aus, konnte aber nicht verhindern, dass der Landkreis Sullivan County den Notstand ausrief. Am Ende musste die US Army Notverpflegung und Notärzte von der nahegelegenen Stewart Air Force Base einfliegen und Behandlungsbedürftige aus dem Gebiet ausfliegen, um sie in Krankenhäuser zu transportieren.
Verpflegung
Ursprünglich war das Catering-Unternehmen Food for Love (Essen für Liebe) mit der alleinigen Essensausgabe betraut gewesen, die in Verbindung mit den Eintrittskarten hätte erfolgen sollen. Da allerdings der Großteil der Leute keine Eintrittskarten besaß, die Straßen für Nachlieferungen verstopft waren und die Mitarbeiter der Firma im Geiste des Festivals begannen, die Ware auch an Menschen ohne Ticket zu vergeben, reichte dies bei weitem nicht aus. Allein am ersten Tag wurden 500.000 Hamburger und Hot Dogs verzehrt.
Der Nachschub an Lebensmitteln und Trinkwasser war durch die Staus zum Erliegen gekommen. Die Betreiber der Hot-Dog-Buden reagierten mit hohen Preisen, was wiederum die Besucher empörte. Am Sonntagmorgen waren auch die letzten Hot-Dog- und Hamburgerbestände vertilgt. Mitglieder der Hippiekommune Hog Farm und zweier weiterer Hippie-Kommunen hatten die Freiküchen eingerichtet. Neben der Bevölkerung Bethels und der umgebenden Gemeinden, die teilweise zu horrenden Preisen ihre Agrarprodukte an die Zuschauer verkauften oder sehr preiswert riesige Mengen Hühnersuppe und Sandwiches verteilten, gab es noch die Hog Farm mit ihrem Leiter Wavy Gravy, die ebenfalls massenhaft Nahrung zubereitete und an die Menschen verteilte.
Medizinische Versorgung
Die Bewohner der Hog Farm betreuten zudem viele Drogenkonsumenten, die durch Mescalin und LSD psychische oder physische Probleme bekamen. Auch bei kleineren Verletzungen wie die häufigen Schnittwunden durch herumliegende Flaschen unterstützten sie die etwa 50 Ärzte, die nachträglich eingeflogen worden waren und die teilweise ohne Bezahlung arbeiteten. Man musste sich außerdem mit Sonnenbränden und Hitzschlägen befassen. Insgesamt wurden 5162 medizinische Maßnahmen vorgenommen, davon 797 nach Drogenmissbrauch. Bei dem Festival kam ein Mann durch eine Überdosis Heroin ums Leben. Ein 17-jähriger starb, als er in seinem Schlafsack von einem Traktor überrollt wurde. Außerdem wurden zwei Kinder geboren, eines schon während der Anfahrt, ein weiteres im örtlichen Krankenhaus, nachdem auf Yasgurs Farm die Wehen einsetzten.
Sanitäre Anlagen
Die 600 aufgestellten mobilen Toilettenkabinen waren sehr schnell überfüllt und verströmten einen beißenden Gestank. Für ihre Benutzung mussten die Konzertbesucher oft mehrere Stunden anstehen, was viele dazu brachte, die umliegenden Büsche oder einfach die Wiese zur Verrichtung ihrer Notdurft zu nutzen. Bald wurden von den Leuten selbst Schilder aufgestellt, die anzeigten, wo das Urinieren wegen des Trinkwassers verboten war.
Rezeption
In der Rückschau wird das Woodstock-Festival insbesondere wegen des begleitenden Mythos häufig kritisch rezipiert. Einer besonderen Rolle zur Mythen- und Legendenbildung wird dabei dem 1971 mit einem Oscar prämierten Dokumentarfilm Woodstock zugemessen. So hält der Journalist Alan Posener das Festival für „einen großen Medienschwindel. Der unglaubliche Nachhall von Woodstock ist der Sieg des Mythos, der Bilder, der Vermarktung über die Realität. (…) Woodstock war weit davon entfernt, die Ideale des Hippietums zu verkörpern.“ Vielmehr „manifestierte das Festival die Widersprüche der Hippie-Ideologie. Mit John Roberts und Joel Rosenman fand Lang zwei junge Venture-Kapitalisten, die laut Anzeige im Wall Street Journal, jener Bastion des Kapitalismus und Konservatismus, eine Investitionsmöglichkeit suchten: die Geburt der Hippie-Legende aus dem Geist des Profits.“
Der Fotograf Elliot Landy, damals offizieller Festivalfotograf und Autor des Buches Woodstock Vision - The Spirit of a Generation, meint auch noch: „Woodstock war Nahrung für die Seele“. Der Popkultur-Experte Michael Behrendt urteilt: „Unvorhergesehenes, das auf schier magische Weise überwunden wurde. Eigentlich hätte Woodstock scheitern müssen, - es grenzt an ein Wunder, dass niemand ernsthaft zu Schaden kam.“
Der Kritiker Frank Schäfer, Autor des Buches Woodstock ’69. Die Legende. und der Journalist Christian Schachinger von der Tageszeitung Der Standard schreiben einvernehmlich, „dass Woodstock der musikalische Höhepunkt und gleichzeitig Endpunkt der Hippie-Bewegung war.“ Schäfer ergänzt, dass sich politisches Engagement zunehmend in Eskapismus und Drogenkonsum verlor.
Fred Weintraub, damaliger Vize-Präsident von Warner Bros., der in Zusammenarbeit mit dem Veranstalter und PR-Fachmann Artie Kornfeld die Finanzierung des Dokumentarfilms sicherstellte, sagte: „Es waren nur 400.000 Leute bei dem Festival. Aber wen immer du aus dieser Zeit fragst, sie alle sagen, dass sie dabei waren. Und sie alle denken wegen des Films, dass sie dabei waren. Letztlich wurde die von Woodstock weltweit ausgehende Peace-and-Love-Kultur erst durch den Dokumentarfilm wichtig.“
Der Filmkritiker Roger Ebert schreibt: „Es war erst der Film, der einer ganzen Generation eine Stimme gab – und der Woodstock zu einem Teil des amerikanischen Mythos machte.“ Tobias Rapp vom Nachrichtenmagazin Der Spiegel hält die Dokumentation für einen Propaganda-Film.
Nachwirkung
Woodstock, die globale Berichterstattung und vor allem der ebenfalls weltweit zu sehende Dokumentarfilm änderten das Image und die Wahrnehmung der Rockmusik und ihrer Protagonisten explosionsartig von der Subkultur zur Popkultur.
Während der Soundtrack und der Film millionenfach Verbreitung fanden, etablierte sich in vielen Ländern die Idee, kleine Woodstocks zu organisieren. Ob auf der Isle of Wight, auf Fehmarn, in Roskilde oder anderswo.
In Deutschland wurden und werden einige Musikfestivals von Journalisten als „Deutsches Woodstock“ bezeichnet, darunter das Love-and-Peace-Festival (1970) mit etwa 25.000 Besuchern auf der Ostseeinsel Fehmarn sowie das Anti-WAAhnsinns-Festival (1986) mit über 100.000 Besuchern zur Unterstützung der Proteste gegen die geplante Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf.
In Polen wird seit 1995 das alljährlich im August stattfindende Pol’and’Rock Festival, ehemals Przystanek Woodstock (Haltestelle Woodstock), mit bis zu 750.000 Zuschauern veranstaltet.
1996 kaufte der amerikanische Milliardär Alan Gerry mithilfe seiner Gerry Foundation das nahezu unveränderte Festivalgelände. Mit dem Ziel, den originalen Veranstaltungsort zu schützen, spendierte Gerry insgesamt 150 Millionen US-Dollar und ließ zunächst das 2006 eröffnete Bethel Woods Center for the Arts samt Amphitheater errichten. 2008 folgte die Eröffnung von The Museum at Bethel Woods, das umfangreiche Ausstellungen zum Woodstock-Festival beherbergt. Das gesamte ehemalige Festivalgelände wird seit dem 28. Februar 2017 im National Register of Historic Places als offizielles Kulturdenkmal der Vereinigten Staaten geführt.
Jahrestage
1979 wurde anlässlich des zehnten Jahrestages ein Konzert im Madison Square Garden in New York City veranstaltet bei dem unter anderen Richie Havens, Taj Mahal, Country Joe and the Fish, Canned Heat, Jeff „Skunk“ Baxter und Elliott Randall (beide ehemalige Mitglieder der Band Steely Dan) auftraten. Dieses Ereignis wurde auch unter dem Titel The Celebration Continues – Woodstock ’79 auf VHS veröffentlicht.
1979 tourte außerdem zum 10. Jahrestag das „Woodstock Revival on Tour“ durch die Bundesrepublik. Zum Abschluss dieser vier bundesweiten Auftritte traten am 23. September 1979 in Düsseldorf Joe Cocker, Richie Havens, Arlo Guthrie und Country Joe McDonald in der Philipshalle auf.
1984 wurde am ehemaligen Festivalgelände ein Gedenkstein aufgestellt, der an das Festival und seine Teilnehmer erinnert.
1989 fand im August ein spontanes Konzert statt, das mit einem einzelnen Folk-Gitarristen begann, der zum einstigen Festivalgelände gekommen war. Das Publikum des Konzerts, auf dem hauptsächlich unbekannte Bands wie The Fugs spielten, wuchs schnell auf 30.000 Menschen an. Anwesend waren außerdem Wavy Gravy und Al Hendrix, der Vater von Jimi Hendrix.
1994 fand zum 25-jährigen Jubiläum in Saugerties im Bundesstaat New York das Konzert Woodstock II statt, auf dem neben vielen Alternative-Interpreten wie den Red Hot Chili Peppers, Green Day oder Nine Inch Nails Interpreten wie Joe Cocker und The Band auftraten, die schon bei dem Woodstock-Festival 1969 aufgetreten waren. Der Headliner war Peter Gabriel. Als Höhepunkt des Woodstock II zählt der Auftritt von Bob Dylan, welcher den ungefähr 350.000 Zuschauern in Anspielung auf seine Abwesenheit beim 1969er-Festival mit den Worten „We have waited 25 years to hear this …“ angekündigt wurde. Im selben Jahr erschien mit Woodstock Two die CD-Version des zweiten Albums zum Woodstock-Festival von 1969.
1999 fand zum 30-jährigen Jubiläum das Festival Woodstock III statt, das allerdings von gewalttätigen Auseinandersetzungen überschattet wurde.
2009: Zum 40. Jahrestag des Festivals war ein Jubiläumskonzert in New York geplant.
2017 wurde das 15 Hektar große Gelände zum Kulturdenkmal erklärt.
Zum 50-jährigen Jubiläum 2019 kündigt das Bethel Woods Center for the Arts das Anlegen von Pfaden über das Festivalgelände an, auf dem die Geschichte von Woodstock nacherzählt wird. Die Stätte sei „historisch höchst bedeutend“. Im Hinblick auf das Jubiläum erfolgten 2017 und 2018 auf dem Gelände gegenwartsarchäologische Ausgrabungen durch die Binghamton University. Dabei legten die Archäologen frühere Verkaufsbereiche frei und wollen anhand der Untersuchungen die exakte Lage der Bühne bestimmen.
Michael Lang, einer der ursprünglichen Organisatoren, plante mit Woodstock 50 eine Neuauflage vom 16. bis 18. August 2019 in Watkins Glen im Norden des Bundesstaates New York, etwa 200 Kilometer vom Originalschauplatz entfernt. Nachdem sich weder dort noch woanders eine geeignete Fläche finden ließ und sowohl von finanzieller Seite als auch von mehreren Künstlern gemachte Zusagen zurückgezogen worden waren, wurde die Veranstaltung zwei Wochen vor dem geplanten Termin abgesagt.
Veröffentlichungen
Fotografie
Offizieller Woodstock-Fotograf war Elliott Landy, der zuvor vor allem durch seine Bob-Dylan-Fotos bekannt geworden war. Er hat nach eigenen Angaben aber nicht bei allen Konzerten fotografiert. Da das Geschäft seiner damaligen Freundin in Woodstock abbrannte und er deshalb in die Stadt gefahren war, verpasste er die Auftritte von The Who, Sly & The Family Stone und Crosby, Stills & Nash. Auch den Auftritt von Grateful Dead hat er nicht fotografiert.
Filme
Woodstock (1970), Dokumentarfilm, 186 min
Woodstock – The Lost Performances (1990), Konzertdokumentation, 69 min
Woodstock – The Directors Cut (1994), Dokumentarfilm, 225 min
Woodstock Diary (1994), Dokumentarfilm, 165 min
Taking Woodstock (2009), Spielfilm, 110 min
Woodstock – Drei Tage, die eine Generation prägten (2019), Dokumentarfilm, D/F/USA
Tonträger
Woodstock: Music from the Original Soundtrack and More (1970, Cotillion)
Woodstock 2 (1971, Cotillion)
Ravi Shankar – At the Woodstock Festival (1972, World Pacific)
Woodstock Diary (1994, Atlantic Records)
Woodstock: Three Days of Peace and Music (1994, Atlantic Records)
Woodstock 40 (2009, Rhino Records)
Jimi Hendrix – Live at Woodstock (1999, MCA)
Santana – The Woodstock Experience (2009, Sony BMG)
Janis Joplin – The Woodstock Experience (2009, Sony BMG)
Johnny Winter – The Woodstock Experience (2009, Sony BMG)
Jefferson Airplane – The Woodstock Experience (2009, Sony BMG)
Sly & the Family Stone – The Woodstock Experience (2009, Sony BMG)
Joe Cocker – Live at Woodstock (2009, A&M Records)
The Band - Woodstock - The Full 1969 Festival Performance, 17th August 1969. (2018, LeftFieldMedia)
Creedence Clearwater Revival – Live at Woodstock 17.8.1969 (2019, Concord)
The Who – Woodstock Festival 1969 (2018, LeftFieldMedia, 1CD; 2019; Detonade Records, 2 LPs)
Woodstock – Back To The Garden: The Definitive 50th Anniversary Archiv (2019, Rhino Records/Cotillion 38 CDs)
The Paul Butterfield Bluesband - Live At Woodstock, 1969, 08. 15. Main Stage. (2020, Elektra Records, 2LPs; 2020, Black Cat Records, 1CD)
Literatur
Elliott Landy: Woodstock Vision. Rowohlt, Reinbek 1984, ISBN 3-498-03829-X.
Wolfgang Tilgner: Open Air. Monterey – Woodstock – Altamont. Lied der Zeit Musikverlag, Berlin 1988, ISBN 3-7332-0038-1
Jan Feddersen: Woodstock. Ein Festival überlebt seine Jünger. Ullstein, Berlin 1999, ISBN 3-548-35834-9
Elliott Landy: Woodstock Dream. Teneues Buchverlag, Kempen 2000, ISBN 3-8238-5452-6
Joel Rosenman, John Roberts, Robert Pilpel: Making Woodstock – Ein legendäres Festival und seine Geschichte (erzählt von denen, die es bezahlt haben) orange-press, Freiburg 2009, ISBN 978-3-936086-42-3.
Michael Lang: The Road to Woodstock. Ecco/Harper Collins Publishers, New York, 2009, ISBN 978-0-06-157655-3.
Mike Evans, Paul Kingsbury (Hrsg.): Woodstock – Die Chronik. Collection Rolf Heyne, München, 2009, ISBN 978-3-89910-419-6.
Michael Rensen: Töne, Steine, Scherben – ein Wochenende voller Gitarrenmagie. Woodstock. In: guitar. Band 112, Nr. 9, 2009, S. 36–53.
Elliot Tiber, Tom Monte: Taking Woodstock. Befreiung, Aufruhr und ein Festival. Edel, Hamburg, 2009, ISBN 978-3-941376-02-1.
Frank Schäfer: Woodstock ’69 – Die Legende. Residenz Verlag, St.Pölten-Salzburg 2009, ISBN 978-3-7017-3138-1
Jörg Gülden: Woodstock – Wunder oder Waterloo? Eine Abrechnung von Jörg Gülden. Hannibal-Verlag, Höfen 2009, ISBN 978-3-85445-299-7.
Weblinks
Woodstock.com, Offizielle Website der Veranstalter
ABC-News vom 18. August 1969, Bericht und Kommentar über das Woodstock-Festival
CBS-News vom 18. August 1969, Bericht und Kommentar über das Woodstock-Festival
Woodstock 1969, Woodstock-Fotoserie vom US-Fotografen Elliott Landy
Woodstock 1969, Woodstock-Fotoserie vom US-Fotografen Baron Wolman
Woodstock '69/'89 Kritische ARD-Dokumentation von Ulli Pfau aus dem Jahre 1989 mit Interviews vom Veranstalter Michael Lang, dem Fotografen Elliott Landy, den Künstlern Richie Havens, Joan Baez und Joe Cocker, sowie einem Besuch an der originalen Festivalstätte in White Lake, NY
40 Jahre Woodstock – Wirtschaftsdebakel und Mythos
bethelwoodscenter.org, Offizielle Website des Bethel Woods Center for the Arts und dem Woodstock-Museum
Einzelnachweise
Hippiebewegung
Historisches Konzert
Musikfestival in den Vereinigten Staaten
Musikalische Veranstaltung 1969
Bethel (New York)
Veranstaltung in New York
Kultur (New York) |
97822 | https://de.wikipedia.org/wiki/Flagge%20Argentiniens | Flagge Argentiniens | Die Flagge Argentiniens zeigt drei gleich breite horizontale Streifen: hellblau (, „himmelblau“) oben und unten, weiß dazwischen.
Über dem weißen Streifen in der Mitte der Flagge ist eine Sonne mit abwechselnd 16 geraden und 16 geflammten Sonnenstrahlen abgebildet. Überliefert ist, dass der General und Politiker Manuel Belgrano zu diesem Symbol inspiriert wurde, als er während der Schlacht von Paraná in den Himmel schaute. In früheren Flaggen Argentiniens und als Landeswappen wurde mit der Sol de Mayo (Maisonne, auch Inkasonne genannt) bereits ein ähnliches Sonnensymbol verwendet. Die Darstellung der Sonne ist identisch mit der Sonne auf den ersten argentinischen Münzen. Die Sonnenscheibe mit einem Gesicht, umgeben von Sonnenstrahlen, symbolisierte in der Inka-Mythologie den Sohn Inti des göttlichen Schöpfers Viracocha.
Früher wurde die Flagge ohne Sonne in Friedenszeiten, die Flagge mit Sonne in Kriegszeiten verwendet. Später unterschied man zwischen der in offizieller Funktion verwendeten Flagge (mit Sonne) und Flaggen des privaten Gebrauchs (ohne Sonne). Heute können beide Versionen nach Belieben verwendet werden.
Geschichte
Am 25. Mai 1810 beginnt mit den ersten Bestrebungen, durch einen Aufstand in Buenos Aires die Unabhängigkeit von Spanien zu erlangen, die Geschichte der argentinischen Flagge. Zunächst wurden zweifarbige Flaggen verwendet, die die Farben der Stadt Buenos Aires, weiß und rot, zeigten, die seit der britischen Besetzungen 1806/1807 geführt wurden. Rot symbolisierte für die Vertreter der Unabhängigkeitsbemühungen die Freiheit und weiß die Einheit.
Im August 1810 bildete José de Moldes, ein Vertreter der Fraktion, die bedingungslos mit Spanien brechen wollte, zwei Militäreinheiten, die er als Erkennungszeichen mit einer hellblau und weißen Kokarde ausstattete. Hellblau stand für die Provinzen des Río de la Plata und weiß für die Tyrannei durch Spanien. Im Dezember des gleichen Jahres beantragte er auch die Schaffung einer nationalen Kokarde in diesen Farben durch die provisorische Regierung.
Nach dem Verbot der hellblau-weißen Kokarden durch Cornelio Saavedra, der nicht gänzlich mit Spanien brechen und einen graduellen Übergang zu mehr Selbstständigkeit wollte, wurden diese im April 1811 durch einfarbig rote Kokarden, wie sie die Spanier verwendeten, ausgetauscht und mit weißen Bändern versehen.
Am 18. Februar 1812 legte die Junta, die erste provisorische Regierung, deren Mitglieder Feliciano Antonio Chiclana, Manuel de Sarratea Altoguirre und Juan José Paso waren, fest, dass statt der roten Kokarde wieder eine mit den Farben hellblau und weiß verwendet werden sollte:
Manuel Belgrano, der Sprecher der Junta, ließ sich hiervon zu einer Flagge inspirieren. Am 27. Februar 1812 wurde zum ersten Mal eine hellblau-weiße Flagge nahe der Stadt Rosario gehisst, als dort zwei Festungen eingeweiht wurden. Er teilte der Junta mit:
Die Regierung missbilligte diese Tat als politisch unvorsichtig und empfahl Belgrano, die Flagge zu entfernen und die rot-gelbe Flagge der Festung in Buenos Aires zu benutzen, also die Farben Spaniens. Allerdings erreichte Belgrano nie der Befehl vom 3. März, diese Flagge nicht zu verwenden, und so ließ er eine Flagge anfertigen, die am zweiten Jahrestag der Mairevolution (25. Mai 1812) in der Stadt San Salvador de Jujuy gehisst wurde. Die Regierung interpretierte dies als Befehlsverweigerung und forderte ihn am 27. Juni abermals auf, diese Flagge nicht zu verwenden. Am 18. Juli 1812 antwortete Belgrano, dass er bereit sei, die Flagge einzuholen und sie bis zum Tag der letzten Schlacht nicht verwenden werde.
Zum zweiten Jahrestag der Mairevolution von Buenos Aires am 25. Mai 1812 ließ Belgrano eine weiße Fahne mit dem Siegel der Souveränen Versammlung anfertigen und am Jahrestag in der Hauptkirche von San Salvador de Jujuy von Domherr Juan Ignacio de Gorriti segnen. Diese Bandera Nacional de Nuestra Libertad Civil genannte Fahne schenkte er dem jujenischen Volk im Jahre 1813 als Dank für die Unterstützung im Unabhängigkeitskampf, besonders in der Schlacht von Salta. Die Fahne wird heute im Flaggensaal des Gouverneurspalasts von Jujuy aufbewahrt und ist heute die Flagge der Provinz Jujuy. Das auf der Fahne abgebildete Siegel zeigt in seiner Mitte zwei sich schüttelnde Hände, die die Einigkeit und Brüderlichkeit der argentinischen Provinzen symbolisieren sollen. Die beiden Hände halten gleichzeitig einen Stab, auf dem eine phrygische Mütze liegt. Der Stab soll die Bereitschaft zur Verteidigung der Freiheit darstellen. Die Mütze soll in Anlehnung an die Jakobiner während der Französischen Revolution die republikanische Gesinnung der Argentinier symbolisieren. Die Hände stehen vor einem zweigeteilten Hintergrund, mit den Farben hellblau und weiß, den Farben des Himmels. Am oberen Rand der Ellipse sieht man eine aufgehende Sonne, ein Symbol, welches sich auch auf der Flagge Argentiniens wiederfindet. Die aufgehende Sonne symbolisiert den Aufstieg Argentiniens. Um die Ellipse herum rankt sich Lorbeer, welcher den Sieg im Unabhängigkeitskampf darstellt.
Im Januar 1813 ließ Belgrano eine dritte Fahne anfertigen, die er nach Abstimmung mit der Regierung nicht als Staatsflagge, sondern als Fahne seiner Streitkräfte mit sich führte. Das Volk aber sah diese Fahne als die Nationalflagge an, auch wenn sie nur zwei Streifen hatte und nicht, wie in Buenos Aires vereinzelt im Gebrauch, drei Streifen. Belgrano vereidigte am 13. Februar seine Truppen auf diese Fahne und führte sie erstmals am 20. Februar 1813 in die Schlacht. Diese Fahne wurde am 13. November 1813 in der Schlacht von Ayohuma zum letzten Mal verwendet.
Ab April 1813 ist die Verwendung der Inkasonne/Maisonne auf Münzen nachgewiesen. Die Sonnenscheibe mit einem Gesicht, umgeben von Sonnenstrahlen, symbolisierte in der Inkamythologie den Sohn Inti des göttlichen Schöpfers Viracocha. Die erste argentinische Münzen dienten später als Vorlage für die Sonne in der Flagge.
Am 9. Juli 1816 erklärte der Kongress von Tucumán die Unabhängigkeit der Provincias Unidas del Río de la Plata (Name Argentiniens um 1816) von Spanien, welches nach der französischen Fremdherrschaft durch Napoleons Bruder Joseph Bonaparte und dem Spanischen Unabhängigkeitskrieg stark geschwächt war. Der Kongress akzeptierte die hellblau-weiß-hellblaue Flagge am 20. Juli 1816 als die Nationalflagge. Der Text des Beschlusses lautet wie folgt:
Die Anden-Armee (Ejército de los Andes) des südamerikanischen Freiheitskämpfers José de San Martín benutzte 1817 und 1818 eine hellblau-weiße Fahne, die aber keinen dritten hellblauen Streifen aufwies, obwohl 1816 die hellblau-weiß-hellblaue Flagge vom Kongress verabschiedet worden war. Sie war mit dem Siegel der Regierung versehen und ist heute die Flagge der Provinz Mendoza.
Am 9. Januar 1818 bat der Oberste Direktor der Regierung Pueyrredón den Kongress zu bestimmen, wie die Flagge zu verwenden sei. Der Kongress antwortete am 25. Februar 1818, dass die Nationalflagge zwei Farben haben solle, weiß und blau, wie bisher, und dass die Kriegsflagge eine Sonne in der Mitte haben solle.
Originaltext: „… en orden a las diferencias de las banderas nacionales y a la divisa de los generales en campaña, el que expuso sobre lo primero, que era del parecer que sirviendo para toda bandera nacional los dos colores blanco y azul en el modo y forma acostumbrada fuese distintivo peculiar de la bandera de guerra un sol pintado en medio de ella, cuyo proyecto, adoptado por la sala después de algunas reflexiones, quedó aprobado.“
Auch wenn hier von blau gesprochen wird, so war weiterhin hellblau gemeint und nicht das dunkelblau, welches in der Zeit von 1830 bis 1878 verwendet wurde.
Besonders in der Anfangszeit bis 1830 waren viele offizielle und inoffizielle Varianten der Nationalflagge im Gebrauch. Häufige, aber falsche Varianten waren hierbei, dass die Sonne etwas nach links von der Mitte verschoben war oder, dass die Sonne über den weißen Streifen hinaus in die hellblauen Streifen hineinragte. 1826 tauchte zum ersten Mal der Name República Argentina (Republik Argentinien) auf; vorher wurde ausschließlich von den Provincias Unidas del Rio de la Plata (Vereinigten Provinzen des Río de la Plata) gesprochen.
Seit 1828 trat Juan Manuel de Rosas als Befehlshaber der Landbevölkerung und Führer der Föderalisten im Kampf gegen die Fraktion der sogenannten Unitarier auf. Im Dezember 1829 wurde er Gouverneur von Buenos Aires. Im März 1835 wurde er abermals zum Gouverneur und Generalkapitän gewählt. Zeitweilig ließ sich Rosas außerordentliche Gewalt übertragen und erhielt damit faktisch die Gewalt eines Diktators. Rosas hasste die hellblaue Farbe, weil sie von den Unitariern verwendet wurde, und deshalb wurde seit seiner Machtübernahme ein dunklerer Farbton verwendet. 1836 wurde die Flagge durch vier Jakobinermützen auf Stäben in den Ecken ergänzt. Wenig später wurden die Stäbe durch Pfeile ersetzt und rote Sonnenstrahlen der Sonne hinzugefügt. Ab 1840 wurde die Sonne vollständig rot dargestellt. Weil Rosas die Unabhängigkeit Uruguays nicht anerkennen wollte, erklärten Frankreich, Großbritannien, Paraguay, Uruguay und Brasilien den Krieg gegen Rosas’ Argentinien. Nach dem verlorenen Krieg konnte sich Rosas nicht lange an der Macht halten, und so wurde seine Herrschaft durch den Unitarier Justo José de Urquiza 1853 beendet.
Die Argentinische Konföderation (Confederación Argentina ), die von Buenos Aires abgelehnt wurde, gab sich wieder die traditionelle hellblau-weiß-hellblaue Flagge. Aber auch das eigenständige Buenos Aires nutze diese Flagge. 1862 schloss sich Buenos Aires den anderen Provinzen wieder an. Um 1862 verschwanden dann mit dem Entstehen einer stärkeren Zentralgewalt in Argentinien nach und nach auch die Provinzflaggen.
Durch ein Dekret des Präsidenten Julio Argentino Roca wurde ab 1884 die Flagge mit der Sonne auch an öffentlichen Gebäuden verwendet, sie war jetzt keine Kriegsflagge mehr. 1943 wurde dies durch ein Dekret bestätigt. Die Flagge ohne Sonne war jetzt für den Gebrauch durch die Bürger vorgesehen. Staatsflagge war ab jetzt die Flagge mit der Sonne. Seit 1985 dürfen auch die Bürger die Flagge mit der Sonne verwenden:
Beziehung der argentinischen Bevölkerung zu ihrer Flagge
Wie in vielen anderen ehemaligen Kolonien europäischer Staaten hat die argentinische Flagge eine besondere Bedeutung für die Bevölkerung. Die Vorfahren der großen Mehrheit der Argentinier stammen nicht ursprünglich von den Ureinwohnern ab, sondern kamen aus meist europäischen Staaten (nach offiziellen Statistiken etwa 90 % der heutigen Bevölkerung). In Argentinien sind besonders stark die Ursprungsländer Spanien (29 %) und Italien (36 %) vertreten, aber auch Einwanderer aus Frankreich, Großbritannien und Deutschland stellen einen relativ großen Anteil.
Dadurch, dass die Einwohner unterschiedliche kulturelle Hintergründe haben, spielen die nationale Symbole eine besonders starke Rolle für die Identifikation mit der Heimat Argentinien. Besonders die Hymne und die Flagge sprechen die nationalen Gefühle der meisten Argentinier an.
In der Schule zeigt sich besonders, wie stark die Flagge als einigendes Band für diese noch relativ junge Nation wirkt. So ist die Flagge bei jedem schulischen Akt präsent. Sie wird vom so genannten „Abanderado“ (Fahnenträger) getragen. Dieser ist meist der beste Schüler der jeweiligen Schule, und dieses Amt gilt nicht nur deswegen als besondere Auszeichnung. An allen privaten und staatlichen Schulen wird jeden Morgen die Flagge unter Beisein aller Schüler gehisst und abends wieder eingeholt.
Am 20. Juni eines jeden Jahres, dem „Tag der Flagge“, geloben die Schüler der vierten Klasse Loyalität gegenüber der Flagge und der argentinischen Nation mit den Worten:
Dem Versprechen schließt sich das Singen der Nationalhymne Himno Nacional Argentino an.
So wird jedem Argentinier schon von Kindesbeinen an beigebracht, die Flagge und das Vaterland, das sie repräsentiert, zu ehren und zu lieben.
Einfluss der argentinischen Flagge auf die Flaggen anderer Staaten
Nach den Marineeinsätzen unter dem französischstämmigen, argentinischen Kommandanten Louis Michel Aury (andere Schreibweise: Luis Aury) wurde die argentinische Flagge zum Vorbild für die blau-weiß-blaue Flagge des ersten unabhängigen Staates in Zentralamerika, der 1818 gegründet wurde und sich auf der Insel Providencia vor der Ostküste des heutigen Nicaraguas befand. Dieser Staat existierte bis etwa 1821, bevor Großkolumbien die Kontrolle über diese Inseln übernahm. Etwas später (1823) war diese Flagge wiederum das Vorbild für die Flagge der Zentralamerikanischen Konföderation (Provincias Unidas del Centro de América), einen Staatenbund der mittelamerikanischen Staaten Guatemala, Honduras, El Salvador, Nicaragua und Costa Rica, der von 1823 bis 1838 bestand. Daher wirkt die argentinische Flagge auch heute noch in der Flagge Guatemalas, der Flagge von Honduras, der Flagge El Salvadors, der Flagge Nicaraguas und der Flagge Costa Ricas weiter.
Auch in Chile wurde die argentinische Flagge während des Unabhängigkeitskrieges verwendet, so zum Beispiel in der Schlacht von Chacabuco.
Die erste Flagge der Republik Östlich des Uruguay (kurz Uruguay; República Oriental del Uruguay) war der heutigen Flagge der Provinz Entre Ríos sehr ähnlich, nur das Blau war, um sich von Argentinien zu unterscheiden, etwas dunkler. Diese Flagge wird Flagge Artigas’ genannt. Die heutige Flagge ist zwar etwas anders gestaltet, die blauen und weißen Streifen und die Maisonne weisen aber noch auf die gemeinsame Geschichte mit Argentinien hin.
Tag der argentinischen Flagge
Seit einem am 8. Juni 1938 von Präsident Roberto María Ortiz verabschiedeten Gesetz ist der 20. Juni (Todestag von Manuel Belgrano) eines jeden Jahres der Tag der Flagge (Día de la Bandera). An diesem Tag finden im ganzen Land Feierlichkeiten zu Ehren der Flagge und Manuel Belgranos statt. Viele Argentinier heften sich kleine Schleifen in den Farben der Flagge an, hängen die Flagge aus dem Fenster und in den Schulen schwören die Schüler Loyalität zur Flagge.
Am Tag der Flagge im Jahre 1957 wurde das Nationale Denkmal der Argentinischen Flagge (Monumento Nacional a la Bandera) in Rosario vom damaligen De-facto-Präsidenten Pedro Eugenio Aramburu eingeweiht. Seitdem finden an diesem Monument die zentralen Feierlichkeiten zu Ehren der argentinischen Flagge statt.
Der Tag der argentinischen Kokarde ist der 18. Mai.
Trivia
Ein Gesetz legt fest, dass die Sonne bei Flaggen für besonders repräsentative Zwecke gestickt sein muss und dass Vorder- und Rückseite nicht spiegelverkehrt sein dürfen, d. h., die geflammten Strahlen müssen auf beiden Seiten auf die gleiche Weise gebogen sein.
Die wahrscheinlich teuerste Flagge Argentiniens ist nur wenige Quadratzentimeter groß und besteht aus Diamanten, Saphiren und Platin. (Bild: ) Diese wertvolle Brosche gehörte der Ehefrau des früheren Präsidenten Argentiniens Juan Domingo Peróns, Eva Perón oder kurz Evita, die durch ihr Engagement für niedrige soziale Schichten geliebt wurde. Die Brosche wurde 1998 für 900.000 US-Dollar bei Christie’s versteigert.
Am Tag der argentinischen Flagge 2001 wurde eine 3.500 Meter lange Flagge von den anwesenden Menschen getragen. 2005 hat die Alta en el Cielo (Hoch im Himmel) genannte Flagge eine Länge von 10.000 Metern erreicht und ist damit die längste Flagge der Welt.
Argentiniens Flagge in der Musik
Es gibt auch Lieder und Märsche, die der argentinischen Flagge gewidmet sind. Am bekanntesten ist der Marsch Mi Bandera:
Mi Bandera
Musik: Juan Imbroisi
(Bitte Urheberrechte beachten)
Erstaufführung: 1906, Text: 1859 von Juan Chassaing (1838–1864), Musik: Juan Imbroisi (1866–1942).
Weitere Musikstücke, die der Flagge gewidmet sind, sind der Marsch La Bandera von G.J. García, das Lied Saludo a la Bandera von Leopoldo Corretjer, Canción a la Bandera aus der Oper Aurora von Hector Panizza (Text von H. C. Quesada und L. Illica) sowie Bandera de mi Nación von Julio C. Navarro.
Darüber hinaus gibt es Gedichte, die der Flagge gewidmet sind und das traditionelle Versprechen der argentinischen Schüler am Tag der Flagge.
Offizielle Farben der Flagge
Die offiziellen Farben der argentinische Flagge sind:
Flaggen der argentinischen Provinzen
In Argentinien gibt es keine durchgängige Tradition der Provinzen eine Flagge zu führen. Die meisten Provinzen haben erst seit kurzem eine Flagge. Ein Wappen besitzt hingegen jede Provinz.
* Hiermit ist der Gebrauch in der aktuellen Form gemeint. Viele Provinzen hatten auch schon sehr viel früher Flaggen, die dann aber oft über Jahrzehnte nicht im Gebrauch waren.
Siehe auch
Flaggen und Wappen der Provinzen Argentiniens
Wappen Argentiniens
Einzelnachweise
Literatur
Carlos A. Ferro: Historia de la Bandera Argentina. Ediciones Depalma, Buenos Aires 1991, ISBN 950-14-0610-5
Pedro Ignacio Galarza: Historia de la bandera nacional según el Archivo Capitular de Jujuy. in: Instituto Nacional Belgraniano – Segundo Congreso Nacional Belgraniano, 1994. El Instituto, Buenos Aires 1995,
Dardo Corvalán Mendilaharsu: Los símbolos patrios. in: Academia Nacional de la Historia – Historia de la Nación Argentina (desde sus orígenes hasta la organización definitiva en 1862). El Ateneo, Buenos Aires, 1962.
Guillermo Palombo und Valentín A. Espinosa, Documentos para la historia de la bandera argentina, Buenos Aires, 2001, ISBN 987-98761-0-5.
Weblinks
Informationen des argentinischen Bildungsministeriums über die Flagge
Instituto Nacional Belgraniano
Das Nationale Denkmal der Argentinischen Flagge
unter Argentinien findet sich eine ausführliche Sammlung von historischen und aktuellen Flaggen Argentiniens und seiner Provinzen
Flags of the World: Argentina
Argentinien
! |
100822 | https://de.wikipedia.org/wiki/Streitkr%C3%A4fte%20der%20Vereinigten%20Staaten | Streitkräfte der Vereinigten Staaten | Die Streitkräfte der Vereinigten Staaten (offizielle englische Bezeichnung: United States Armed Forces, inoffiziell meist US Military) sind das Militär der Vereinigten Staaten von Amerika, ein zentrales Instrument der Außenpolitik der Vereinigten Staaten und für die Hegemonialstellung des Landes von entscheidender Bedeutung. Sie bestehen aus den sechs Teilstreitkräften: US Army, US Air Force, US Navy, US Marine Corps, US Coast Guard und US Space Force. Insgesamt sind sie seit Jahrzehnten die bestausgestattete und personell die drittgrößte Militärmacht der Welt (Stand: 2022).
Die sechs Teilstreitkräfte bestehen aus ca. 1,4 Millionen aktiven Soldaten und knapp 860.000 Reservisten, die im Kriegsfall um die paramilitärisch ausgerichtete Küstenwache (US Coast Guard) und Nationalgarde ergänzt werden. Zusätzlich verfügen sie über etwa 750.000 zivile Mitarbeiter (Stand: September 2019). Oberbefehlshaber ist der Präsident der Vereinigten Staaten, während die zwei Kammern im Kongress die demokratische Kontrolle ausüben. Die älteste Teilstreitkraft ist das Heer, welches 1775 gegründet wurde, die jüngste sind die 2019 gegründeten Weltraumstreitkräfte. Neben diesen Streitkräften haben einige Bundesstaaten auch eigene Militäreinheiten gegründet, die sogenannten Staatsgarden, die dem jeweiligen Gouverneur unterstellt sind.
Nach weitläufiger Fremdeinschätzung, amerikanischer Eigendarstellung und politikwissenschaftlichem Konsens sind die Streitkräfte der USA die schlagkräftigsten der Welt. Diese Schlagkraft fußt auf dem mit Abstand und anhaltend größten Militärbudget der Welt, aus dem die umfangreichsten Anteile in Aufklärung, Informationsfluss, Vernetzung, Ausrüstung und Forschung fließen. Der Etat liegt im Haushaltsjahr 2022 bei 768,2 Milliarden US-Dollar für Kernaufgaben, die Wartung der Kernwaffen und weitere Ausgaben. Hinzu kommen 284,5 Milliarden US-Dollar für die Betreuung von Veteranen. Technische Innovationen und Personalentwicklungsmaßnahmen im Militär der Vereinigten Staaten sind für die Partner in der NATO, deren führendes Mitglied die Vereinigten Staaten sind, und andere Verbündete wegweisend.
Organisatorisch durchliefen die Streitkräfte eine Wandlung von einem lokalisierten Milizwesen nach englischem Vorbild, das sich über wiederkehrende Instanzen der Wehrpflicht zu einer Berufsarmee zentralisierte, und weisen heute Merkmale all dieser drei Rekrutierungsmethoden auf. Die Stärke des Militärs der Vereinigten Staaten orientiert sich seit jeher an der Bedeutung, die sich die Vereinigten Staaten außenpolitisch beimessen, sodass Streitkräfte und Diplomatie eine parallele Entwicklung durchliefen. So war das Militär sowohl durch Dutzende Interventionen im Ausland als auch durch seine abschreckende Wirkung nach außen hin für den Aufstieg des Landes zur Supermacht und für den Erhalt dieses Status über den Kalten Krieg hinaus mitverantwortlich. Neben dem weltweiten Zerfall staatlicher Strukturen hat der militärische Vorsprung der Vereinigten Staaten das Auftreten asymmetrischer Kampfformen begünstigt, die die US-Streitkräfte vor strategische Herausforderungen stellen.
Geschichte
Vor und während der Gründung der Vereinigten Staaten entstanden quasi-militärische Gruppierungen aus schlecht ausgebildeten Milizen unter dem Kommando der Bundesstaaten. Ein Beschluss des Kontinentalkongresses sah die Gründung einer Kontinentalarmee vor, in der diese zusammengefasst werden sollten. Diese Streitkraft gewann, mit erheblicher Unterstützung Frankreichs, den Unabhängigkeitskrieg unter dem Kommando von George Washington, wurde jedoch in Anlehnung an die Ideale der Revolution danach wieder aufgelöst.
Mit der Zeit wurde die Notwendigkeit eines stehenden Heeres sowie einer Marine offensichtlich. Die Bestellung mehrerer Fregatten im Jahr 1794 war die faktische Geburtsstunde der US-Marine. Das Heer fasste ein weiteres Mal die desorganisierten und schlecht ausgebildeten Kontingente der State militias zusammen, um ihre Stärken zu bündeln und ihre Schwächen zu bereinigen.
Zwischen der Gründung der Vereinigten Staaten und dem Bürgerkrieg siegten amerikanische Streitkräfte im Amerikanisch-Tripolitanischen Krieg an der nordafrikanischen Küste, konnten sich im Britisch-Amerikanischen Krieg nicht durchsetzen, ermöglichten aber die territoriale Ausdehnung der Vereinigten Staaten zum Südwesten hin. Zu Beginn des Bürgerkrieges wurden mehrere Einheiten Teil des konföderierten Militärs, darunter einige der fähigsten Generäle. Der Krieg kostete 600.000 Menschen das Leben und dauerte vier Jahre, bis die Unionsarmee den endgültigen Sieg errang.
In der Zeit zwischen dem Bürgerkrieg und den 1890er Jahren nahm die Bedeutung des Militärs ab, auch wenn im Zuge der stetigen West-Erweiterung der Vereinigten Staaten Einheiten der Army gegen Indianer kämpften. Zur Zeit des Jahrhundertwechsels kehrte sich dieser Trend jedoch wieder um, als die Machtfülle der Vereinigten Staaten zuzunehmen begann, was die endgültige juristische Trennung von polizeilichen und militärischen Kompetenzen erforderlich machte. Die Armee kämpfte 1898 im Spanisch-Amerikanischen Krieg und auf den Philippinen. Hinzuzurechnen sind ebenfalls Dutzende Interventionen nach der Monroe-Doktrin in Lateinamerika und die Entsendung der Great White Fleet durch den Präsidenten Theodore Roosevelt zur Demonstration des neuen nationalen Selbstbewusstseins. Mit dem Militia Act von 1903 wurde die Nationalgarde gegründet.
Im April 1917 traten die Vereinigten Staaten als Reaktion auf den ausufernden uneingeschränkten U-Boot-Krieg des Deutschen Kaiserreiches als assoziierte Macht an der Seite der Entente in den Ersten Weltkrieg ein. Die USA unterstützten ihre Verbündeten durch gewaltige Mengen an Nachschub, entlasteten sie mit der Entsendung eines millionenstarken Expeditionsheeres nach Europa und leisteten so einen entscheidenden Beitrag zur Niederlage der Mittelmächte. Aufgrund des in der Zwischenkriegszeit vorherrschenden Isolationismus wurde das US-Militär, vor allem die Landstreitkräfte, stark reduziert, jedoch zum Teil bereits im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges wieder ausgebaut.
Aufgrund des japanischen Angriffs auf Pearl Harbor traten die Vereinigten Staaten im Dezember 1941 zunächst gegen Japan in den Krieg ein, wenig später erklärten die beiden Achsenmächte Deutschland und Italien den Vereinigten Staaten den Krieg. In der Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Deutschland nahmen die Streitkräfte an der Rückeroberung weiter Teile Nordafrikas, Italiens und Westeuropas teil und stellten wie im Ersten Weltkrieg eine Überlegenheit an Waffen, Truppen und Nachschub her, die den Alliierten das Niederringen des Deutschen Reiches ermöglichten. Nur so war zum Beispiel den Westalliierten die Eröffnung einer zweiten Front in der großangelegten, erfolgreich begangenen Landung in der Normandie möglich. Im Pazifik drängten sie fast ohne fremde Unterstützung die Truppen des japanischen Kaiserreiches in einem mühevollen so genannten „Island Hopping“ (deutsch: „Inselspringen“) zurück. Die japanische Kapitulation erzwangen die Vereinigten Staaten durch den Einsatz zweier Atombomben, in deren Besitz sie sich als erste Nation der Welt seit 1945 befanden (Manhattan-Projekt), um eine verlustreiche Invasion der japanischen Hauptinseln zu vermeiden.
Bereits in der Endphase des Zweiten Weltkrieges bahnten sich die bevorstehenden Spannungen des Kalten Krieges an. Die staatskritische Tendenz der Gesellschaft der Vereinigten Staaten, die eine Verkleinerung des Militärs nach dem Ende großer Kriege selbstverständlich gemacht hatte, wich der Furcht vor der Ausbreitung des Kommunismus, sodass amerikanische Truppen in großer Zahl im Ausland stationiert wurden.
Über 40 Jahre hinweg sollte der 1947 beschlossene National Security Act die tiefgreifendste Militärreform darstellen. Viele Behörden und Einheiten, die im gerade abgeschlossenen globalen Konflikt mit der Maßgabe ein möglichst zügiges Funktionieren gegründet worden waren, wurden schließlich zusammengefasst oder reformiert. Waren die Lufteinheiten im Zweiten Weltkrieg Bestandteil des Heeres, so stellte das Gesetz sie den anderen Streitkräften unter dem Dach der United States Air Force gleich. Wichtigste Neuerung war darüber hinaus die Schaffung eines zentralen Auslandsgeheimdienstes, dem im Laufe des Kalten Krieges ein ganzes Netzwerk an Geheimdiensten mit speziellen Kompetenzen zuarbeiten sollte. Ebenso beinhaltete das Gesetz die Schaffung streitkräfteübergreifender Generalstäbe und Ministerien.
Mit dem Aufkommen des Kalten Krieges entzündete sich eine Debatte um die Strategie der Streitkräfte. Führende Offiziere der Air Force vertrauten auf Kernwaffen als konventionelle Offensivmittel und verlangten massive Ausgaben im Bereich der strategischen Bomber. Demgegenüber verwies die Marine auf die Erfolge der Dominanz zur See im Zweiten Weltkrieg. Die Stornierung eines bestellten Flugzeugträgers durch Verteidigungsminister Louis A. Johnson, der die Luftstreitkräfte bevorzugte, führte zum Aufstand der Admirale.
Tatsächlich blieben beide Teilstreitkräfte während des Kalten Krieges überwiegend gleichberechtigt, obwohl die strategische Initiative in der Luft zu einem immer wichtigeren Moment der amerikanischen und westlichen Militärdoktrin wurde. Die United States Air Forces in Europe (USAFE) leisteten einen großen Beitrag zur Abschreckung der Sowjetunion und wurden aufgrund der geostrategischen Lage Europas zu einem zentralen Drehkreuz amerikanischer Militäroperationen in aller Welt. Auf dem Höhepunkt ihrer Stärke unterstanden 60.000 Luftwaffenangehörige den USAFE.
Obwohl es zu keiner direkten Konfrontation mit der Sowjetunion kam, kämpften amerikanische Soldaten in mehreren Stellvertreterkriegen zwischen den beiden Machtblöcken. Während der drei Jahre dauernde Koreakrieg, in dessen Folge ein bedeutender Anteil der US-Streitkräfte in Südkorea stationiert wurde, mangels eines erfolgreichen Abschlusses fast in kollektive Vergessenheit geriet, verursachte der letztendlich verlorene Vietnamkrieg weitreichende militärische und soziale Veränderungen. Den USA war es nicht gelungen, die Republik Südvietnam gegen die Angriffe des nördlichen Landesteiles, der kommunistisch geprägt war, zu verteidigen. Einschneidendstes Beispiel war die Aussetzung der Wehrpflicht im Jahr 1973. Für knapp zwei Jahrzehnte verhinderte das Trauma des Krieges in Südostasien größere Operationen des US-Militärs.
In den 1980er Jahren kämpften amerikanische Truppen in den Operationen Just Cause in Panama und Urgent Fury auf Grenada. Im Libanon begründete der Tod von 239 Marines und der darauffolgende Abzug ausländischer Truppen den Beginn des dortigen Bürgerkriegs. Der Goldwater-Nichols Act von 1986 reorganisierte das Militär und beendete erfolgreich die ausufernden Rivalitäten zwischen den Streitkräften. Nach dem Zerfall der Sowjetunion setzten Kürzungen, Rationalisierungen und Standortschließungen ein. Dennoch bestritt das US-Militär Einsätze. Die Befreiung Kuwaits im Verbund mit knapp 30 anderen Ländern, die innerhalb von vier Tagen zur völligen Zerschlagung der Streitkräfte des Irak bei minimalen Verlusten der Koalition führte, demonstrierte die militärische Vormachtstellung der Vereinigten Staaten. Die US-Streitkräfte zermürbten die irakischen Einheiten zunächst durch wochenlange Luftangriffe, ein Einsatz von Bodentruppen erfolgte erst, als kein starker Widerstand mehr zu erwarten war. Der Einsatz in Somalia experimentierte mit der Nutzung von Militäreinheiten zur Stabilisierung schwacher bzw. zur Errichtung handlungsfähiger Nationalstaaten. Er endete jedoch mit der Niederlage in der Schlacht von Mogadischu, die das US-Militär in urbanem Gebiet mit den Taktiken von Guerilleros konfrontierte. Daneben intervenierte das US-Militär in mehreren kleineren Einsätzen wie im Kosovo und in Haiti.
Die Terroranschläge vom 11. September 2001 gaben eine strategische Neuorientierung vor, die sich zum Beispiel in der Transformation der US Army und der Kündigung des Comanche-Programms niederschlugen. Das Verteidigungsbudget stieg auf ein nach dem Kalten Krieg bisher ungekanntes Niveau. Noch im Jahre 2001 marschierten die Vereinigten Staaten in Afghanistan ein und im März 2003 in den Irak. Der Krieg gegen den Irak wurde ebenfalls unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung geführt, später stellte sich aber heraus, dass das Regime von Saddam Hussein weder Verbindungen zu Osama bin Laden unterhielt noch wurden chemische Kampfstoffe gefunden, die für die Region eine Bedrohung dargestellt hätten. Während die Feldzüge militärisch erfolgreich verliefen, erweist sich die Befriedung der Einsatzgebiete als schwierig. Das Kampfgeschehen hatte sich seit Ende 2008 vom Irak wieder nach Afghanistan verlagert, der wie der Koreakrieg als „Vergessener Krieg“ bezeichnet wurde. Die einst im Irak erfolgreich angewandte Strategie der Zusammenarbeit mit Einheimischen und die planmäßige Vertreibung von Aufständischen aus deren Rückzugsgebieten hatten in der strategisch schwer zu beherrschenden Bergwelt von Afghanistan bislang noch zu keinem Erfolg geführt. Vielmehr hatte sich das Kampfgebiet auch auf Grenzregionen in Pakistan erweitert, wo die US-Streitkräfte mehrere Operationen, unter anderem mit ferngesteuerten Drohnen, durchführten. Durch die schwere Unterscheidung von Taliban, Aufständischen und lokalen Gruppen kam es immer wieder zu Zwischenfällen, denen unbeteiligte Zivilisten zum Opfer fielen. Beide Einsätze dauerten länger als das amerikanische Engagement im Zweiten Weltkrieg.
Kriegsopfer
Gefallene
In absoluten Zahlen waren der Zweite Weltkrieg, der Sezessionskrieg, der Erste Weltkrieg, und der Vietnamkrieg die verlustreichsten Kriege der Vereinigten Staaten. In diesen Kriegen fielen durch direkte Feindeinwirkung 292.131, 184.594 (beide Bürgerkriegsparteien zusammengenommen), 53.513 respektive 47.369 amerikanische Soldaten.
Wenn andere Todesursachen wie Seuchen, Verwundungen mit Todesfolge, Erfrierungen oder friendly fire hinzugerechnet werden, war die größte Todesrate im Sezessionskrieg zu verzeichnen, in dem mit 600.000 insgesamt mehr amerikanische Soldaten ums Leben kamen als in allen anderen Kriegen der USA zusammengenommen. Etwa 4,8 % der insgesamt eingesetzten Soldaten überlebten den Krieg nicht.
Gemessen an der Gefallenenquote waren der Unabhängigkeitskrieg und der Krieg gegen Mexiko von ähnlicher Härte geprägt, bei denen mit 4.435 respektive 1.733 Soldaten jeweils 2,2 % der Truppe im Gefecht getötet wurden. Anteilig war dies zwar mehr als die 1,8 % der Truppe, die im Zweiten Weltkrieg fielen, aber die absoluten Zahlen waren mit durchschnittlich 6.700 Mann pro Monat dort erheblich höher.
Verwundete
Bei den Verwundeten der Kriege mit amerikanischer Beteiligung seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ist prozentual ein Rückgang zu verzeichnen. Im Mexikanisch-Amerikanischen Krieg und im Bürgerkrieg fiel ein Viertel, bei den Südstaaten fast ein Drittel der Truppe wegen Verwundungen aus. Alle anderen großen Kriege einschließlich des Zweiten Weltkrieges verursachten Verwundungsquoten zwischen 5 % und 7 %. Danach verringerte sich in Korea und Vietnam die Quote auf 2,4 %. Nach dem Vietnamkrieg fiel die Verwundungsquote auf bisher unbekannte Werte. Diese Tendenz lässt sich mit der allgemeinen medizintechnischen Entwicklungen und dem bewusst erhöhten Aufwand der US-Streitkräfte hinsichtlich der Truppenfürsorge erklären, die wiederum in der Professionalisierung des Militärs begründet liegt.
Das Risiko eines amerikanischen Soldaten, im Kampf getötet zu werden oder an im Kampf zugezogenen Verletzungen zu sterben, verringerte sich während der Besetzung des Irak auf einen Tiefstand, obwohl das vorwiegend urban geprägte Schlachtfeld die medizinische Evakuierung der Soldaten erschwerte. Grund für diese Entwicklung ist die Einführung sogenannter Forward Surgical Teams (deutsch, ungefähr: „vorgelagerte chirurgische Behandlungsgruppe“). Dies sind mobile und umfassend ausgerüstete Ärzteteams in Alarmbereitschaft, die eine vollwertige ambulante medizinische Versorgung bis zu einer stationären Unterbringung des Verwundeten gewährleisten können. Durch diese Behandlungsteams, die auch vor Ort operieren, konnte die Wahrscheinlichkeit, eine Verwundung zu überleben, von 75 % im Vietnamkrieg auf 90 % zum Jahresende 2004 gesteigert werden.
Vermisste
Die Suche nach vermissten Soldaten aller Teilstreitkräfte ist Auftrag des Joint POW/MIA Accounting Command, einer Arbeitsgruppe des Defense Prisoner of War/Missing Personnel Office innerhalb des Verteidigungsministeriums. Diese kooperiert seit März 2011 mit der Russischen Föderation in deren Rolle als Nachfolgestaat der Sowjetunion in einem Komitee.
Seit 1945 gelten ungefähr 83.900 amerikanische Soldaten weltweit als vermisst, davon knapp 74.000 durch den Zweiten Weltkrieg. Mit der zunehmenden Verkleinerung und Professionalisierung der Streitkräfte, einhergehend mit steigenden Erwartungen an die Truppenfürsorge sowie der erweiterten diplomatischen, logistischen und technischen Möglichkeiten, den Verbleib sogenannter MIAs (Missing in Action) zu klären, sanken diese Zahlen für die Konflikte nach dem Zweiten Weltkrieg auf jeweils wenige Tausende: für den Koreakrieg auf 8.000 und für den Vietnamkrieg auf 1.600. Obwohl Einzelfälle aus dem Zweiten Golfkrieg, beispielsweise der des Piloten Scott Speicher, eine rege öffentliche Anteilnahme erfuhren, verbleiben laut offizieller Statistik keine Vermissten aus diesem Krieg.
Kriegsverbrechen
Soldaten der Vereinigten Staaten haben in mehreren bewaffneten Auseinandersetzungen Kriegsverbrechen begangen, die durch die zunehmende mediale Behandlung des Krieges sowie gegen den verkündeten Anspruch der US-Streitkräfte, möglichst „saubere“ Kriege zu führen, öffentlich wurden. In dieser Hinsicht stach der Vietnamkrieg mit dem Massaker von Mỹ Lai heraus. Aus dem Koreakrieg wurde das Massaker von Nogeun-ri bekannt. Auch während des Irakkrieges bzw. während der Besetzung des Irak wurden immer stärkere Vorwürfe gegen US-Soldaten laut. Von den bestätigten Vorfällen erlangten der Abu-Ghuraib-Folterskandal sowie das Massaker von Haditha traurige Berühmtheit.
Siehe auch:
Kriegsverbrechen der Vereinigten Staaten im Zweiten Weltkrieg
Kriegsverbrechen der Vereinigten Staaten während der Besetzung des Iraks
Kriegskosten
Eine Bestimmung der Kosten, die die Kriegsführung für die Vereinigten Staaten außerhalb des gewöhnlichen Verteidigungsbudgets verursacht hat, gestaltet sich aufgrund vielfach verlorengegangener Dokumente, veränderter Buchhaltungsmechanismen und der oft nicht zu rekonstruierenden Inflation als schwierig und kann daher nicht allgemein zuverlässig angegangen werden. Dennoch stellt ein Kongressbericht aus dem Jahre 2008 fest, dass der Zweite Weltkrieg inflationsbereinigt 4,1 Billionen US-Dollar (Dollar-Stand vom 30. Juni 2008) gekostet hat und das damalige Bruttonationaleinkommen der USA mit 37,5 % belastete. Die nächstgrößten fiskalischen Belastungen für die USA waren vor dem 21. Jahrhundert der Vietnamkrieg, der 686 Milliarden Dollar und 1968 nahezu 9,5 % des Bruttonationaleinkommens verschlang, sowie der Koreakrieg, dessen Finanzierung sich auf 320 Milliarden Dollar belief und 1952 etwa 14,1 % des BNE beanspruchte. Die weltweiten Kriegsführungs- und Sicherungsmaßnahmen der Vereinigten Staaten seit 2001 haben bis zum Haushaltsjahr 2008 demgegenüber 859 Milliarden Dollar gekostet, fallen aber im Jahr 2008 mit insgesamt 4,2 % verhältnismäßig gering ins Gewicht.
Auftrag
Juristische Auftragsdefinition
Der Auftrag der Streitkräfte der Vereinigten Staaten ist der Schutz der Verfassung der Vereinigten Staaten, deren zentrale Werte republikanisch-demokratische Prinzipien sind. Abgegrenzt wird der Inhalt dieses Schutzauftrags über die Verfassung hinaus durch die War Powers Resolution, ein Bundesgesetz. Im politischen System der Vereinigten Staaten, in dem sich vor allem die Exekutivlastigkeit der Verfassung ausdrückt, sind zahlreiche Institutionen verankert, die den Präsidenten bei der Ausübung des Oberbefehls beraten.
Verfassungsrechtliche Grundlage
Laut Artikel II, Abschnitt 2, Absatz I, Satz 1 der Verfassung ist der Präsident „[…] Oberbefehlshaber der Armee und der Flotte der Vereinigten Staaten und der Miliz der Einzelstaaten, wenn diese zur aktiven Dienstleistung für die Vereinigten Staaten auf gerufen wird[…]“. „Das Recht, [anderen Nationen] den Krieg zu erklären“, hat gemäß Artikel I, Abschnitt 8, Satz 11 jedoch nur der Kongress, der einen Krieg mit einer Zweidrittelmehrheit beider Häuser absegnen muss. Diesem Satz folgen Bestimmungen, die seine Finanzhoheit gerade in militärischen Fragen verdeutlichen: Ihnen zufolge bestimmt der Kongress allein darüber, „Armeen aufzustellen und zu unterhalten; die Bewilligung von Geldmitteln hierfür soll jedoch nicht für länger als auf zwei Jahre erteilt werden;“ (Satz 12) „eine Flotte zu bauen und zu unterhalten;“ (Satz 13), „Reglements für Führung und Dienst der Land- und Seestreitkräfte zu erlassen;“ (Satz 14).
Obwohl die Philadelphia Convention die Verfassung der Vereinigten Staaten im Geiste einer friedlichen Entwicklung des Menschen entwickelte, ist das Militär der Vereinigten Staaten nicht per Definition dem internationalen Frieden und weltweiter Stabilität verpflichtet.
Bundesgesetze
Die Verfassung ist nach den Gewohnheiten des Common Law, der angelsächsischen Rechtstradition, allgemein gehalten, sodass das Bundesrecht die Verantwortung für die Landesverteidigung ausdifferenziert. Grundlage amerikanischer Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist der National Security Act aus dem Jahr 1947. Nach dem Koreakrieg gingen Präsidenten dazu über, Einsätze der Streitkräfte als Polizeiaktionen zu deklarieren, was die unbedingte Kriegserklärungskompetenz der Legislative aushöhlte. Daher beschloss der Kongress 1973 durch Überstimmung des Vetos des damaligen Präsidenten Richard Nixon die War Powers Resolution. Sie legte fest, dass der Präsident den Kongress binnen 48 Stunden über die Aufnahme jeglicher kriegerischer Handlungen zu informieren hat. Der Einsatz muss nach 60 Tagen beendet sein, bevor der Präsident eine Verlängerung um weitere 30 Tage beantragen muss. Diese kann der Kongress in dringenden Ausnahmefällen gewähren, bevor er zu einer formalen Kriegserklärung übergehen muss.
Die Aufträge der Teilstreitkräfte sind in Einzelgesetzen im 10. Buch des United States Code festgelegt.
Das Posse Comitatus-Gesetz schließt Einsätze des Bundesmilitärs im Inland prinzipiell aus, nicht aber Einsätze der Küstenwache und der mit Heer und Luftwaffe eng verbundenen Nationalgarden.
Vereidigung
Alle Mitglieder der Streitkräfte werden auf die Verfassung vereidigt. Der Gelöbnistext für Offiziere, die ihr Patent erhalten haben, unterscheidet sich vom Eid aller anderen einberufenen Soldaten. Die heutige Fassung des Einberufungseides wurde am 5. Mai 1960 verabschiedet und lautet:
zu deutsch:
Zivile Kontrolle
Durch die Aufteilung des Oberbefehls über die Streitkräfte einerseits sowie die Budgethoheit und das Kriegserklärungsrecht andererseits auf die Exekutive respektive Legislative konnte sich eine lang anhaltende Tradition der zivilen Kontrolle über die Armee etablieren. Eine verlässliche zivile Kontrolle setzte jedoch erst im 19. Jahrhundert nach häufig wiederkehrenden Spannungen zwischen Politik und Militär ein.
Als vorbildlicher Präzedenzfall für die absolute Unterordnung der Streitkräfte unter den Willen der Politik gilt das Selbstverständnis George Washingtons als citizen-soldier (deutsch ungefähr: „Bürgersoldat“), das in seinen Grundzügen auf das angloamerikanische Milizsystem zurückgeht. Washington entschärfte die drohende Newburgh-Verschwörung gegen Ende des Revolutionskrieges und trat unmittelbar nach Ende der Kriegshandlungen von seinem Offizierspatent zurück.
Nach mehreren kleineren Umsturzversuchen gefährdete der Ruf breiter Bevölkerungsschichten nach einer Militärdiktatur angesichts der drohenden Unionsniederlage erneut das vorherrschende Verhältnis zwischen den beiden Institutionen. Die Demokraten versuchten darüber hinaus 1863, den noch dienenden General Ulysses S. Grant als Präsidentschaftskandidaten aufzustellen. Der populäre Grant verweigerte sich jedoch der Kandidatur und wurde erst als Pensionär im Jahre 1868 zum Präsidenten gewählt. Diese prekären Konflikte führten neben einer tendenziellen Staatskritik bis zum Zweiten Weltkrieg immer zu einer Verkleinerung des Militärs nach Kriegseinsätzen.
Im 20. Jahrhundert verfestigte sich die Tradition der zivilen Kontrolle. Vor allem Kritiker aus dem liberalen bis linksgerichteten Spektrum weisen jedoch auf die zeitweilig vorherrschende Parteibindung höherer Offiziere an die Republikaner von bis zu 70 % sowie die Warnung Dwight D. Eisenhowers auf das mögliche Erstarken eines militärisch-industriellen Komplexes hin.
Die zivile Kontrolle wurde durch folgende Regelungen normiert:
Der Führung der Teilstreitkräfte durch zivile Beamte im Rang eines Staatssektärs. Während der Kommandeur der Teilstreitkraft gegenüber dem Joint Chief of Staff für die Stellung von einsatzbereiten Truppen und damit im Schwerpunkt Ausbildung verantwortlich ist, hat der Staatssekretär die Federführung im Bereich Administration. Jedoch ist für jede Maßnahme auch des militärischen Kommandeurs, insoweit sie grundlegende Regelungen betrifft, wie Organisationsänderungen oder Vorschlagslisten für Beförderungen, die Unterschrift des Staatssekretärs erforderlich.
Dem Verbot, dass aktive Offiziere nach dem Ausscheiden direkt Verteidigungsminister werden können. Hier ist grundsätzlich eine Karenzzeit von sieben Jahren erforderlich. Nur durch eine Mehrheitsbeschluss von Representantenhaus und Senat kann hier eine Ausnahme erteilt werden. Ausnahmen wurden im 21. Jahrhundert für James N. Mattis und Lloyd Austin erteilt.
Dem Posse Comitatus Act, der den Polizeieinsatz von Bundestreitkräften im Inneren mit Ausnahme der Küstenwache generell verbietet und unter Strafe stellt. Ausnahmen könnte nur vom Kongress gewährt werden oder vom Präsidenten im Rahmen der Aufstandsbekämpfung unter strengen rechtlichen Rahmenbedingungen.
Dienstgrade ab Generalleutnant oder Vizeadmiral werden nicht dauerhaft verliehen. Diese Dienstgrade oder höheren Dienstgrade können nur durch eine Nominierung für einen Dienstposten erreicht werden. Sie müssen für einen bestimmten Dienstposten vom Präsidenten nominiert und vom Senat mit einfacher Mehrheit bestätigt werden. Die Verwendung auf dem Dienstposten ist zeitlich beschränkt und verlängert sich nicht automatisch.
Verteidigungspolitische Institutionen und Gewohnheiten
Die überwiegend allgemeinen Bestimmungen der Verfassung in der Tradition des Common Law haben zur Folge, dass in ihr im Gegensatz zum deutschen Grundgesetz kein einziges Ministerium erwähnt ist. Bis auf die Beschränkung, dass völkerrechtliche Abkommen der Ratifizierung durch den Kongress bedürfen, ist der Präsident in der Gestaltung der Außenpolitik frei. Dennoch gilt der Verteidigungsminister als eines der wichtigsten Kabinettsmitglieder, welches bisher noch von keinem Präsidenten ausgelassen wurde.
Seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich jedoch ein immer verzweigteres Netzwerk an Gremien herauskristallisiert, aus deren Sachkompetenz Präsident, Verteidigungsminister und hohe Offiziere schöpfen können. Die wichtigsten Einrichtungen, wie zum Beispiel der Nationale Sicherheitsrat der Vereinigten Staaten entstanden überwiegend aufgrund der beiden großen Reformgesetze von 1947 oder 1986. Die politische Opposition versucht meist, über die Ausschüsse der Parlamentskammern Einfluss auf die Meinungsbildung in verteidigungspolitischen Fragen zu nehmen. Daneben hat sich in den Vereinigten Staaten in den letzten Jahrzehnten ein mit Militär, Politik, Medien, Firmen und Universitäten verknüpftes Netzwerk an Analysten und Denkfabriken herausgebildet, das fester Bestandteil der amerikanischen Politik geworden ist.
Tagespolitisch betrachtet leitet sich aus den beiden übergeordneten Gesetzestexten Verfassung und War Powers Resolution die wegweisende Nationale Sicherheitsstrategie der Vereinigten Staaten ab, eine Doktrin an der Schnittstelle zwischen Militär und Politik. Ihre strategischen Anweisungen beziehen die Streitkräfte dann aus der ihr untergeordneten, rein militärischen Nationalen Verteidigungsstrategie. Deren Bedeutung ist daran messbar, dass jeder Präsident zu Beginn seiner Amtszeit eine aktualisierte Fassung ausarbeiten muss, die in der Öffentlichkeit unter seinem Namen bekannt wird, zum Beispiel die sogenannte Bush-Doktrin. Die Schwerpunkte der aktuellen Nationalen Verteidigungsstrategie liegen zurzeit auf dem Kampf gegen den globalen Terrorismus, die Sicherung nationaler Interessen sowie für die Vereinigten Staaten existenzieller Ressourcen.
Der Verteidigungsminister hat über die National Command Authority in seinem Ministerium Teil am Oberbefehl des Präsidenten.
Strategie und Militärdoktrin
Geostrategische Ausgangslage
Das Territorium der Vereinigten Staaten ist im Wesentlichen zweigeteilt. Während die sogenannten Continental United States oder lower 48 Sitz der Hauptstadt Washington, D.C. sind, wird Alaska durch die Beringstraße von Russland getrennt. In geostrategischer Hinsicht grenzen die Vereinigten Staaten an zwei Verbündete, Kanada im Norden und Mexiko im Süden. Im Westen grenzen die USA an den Pazifik, in dem auch der amerikanische Archipel Hawaii liegt, und im Osten an den Atlantik. Die Sicherung dieser Weltmeere unter Wasser, auf der Wasseroberfläche sowie aus und in der Luft ist für den Geltungsanspruch der Vereinigten Staaten von zentraler Bedeutung. Als gesichert fassen die Vereinigten Staaten diese Transportwege dann auf, wenn Bedrohungen wie potentielle Angreifer oder Piraten verhindert oder bekämpft werden können, um den uneingeschränkten Zugang zu ihren Verbündeten zu sichern. Diese befinden sich jenseits der beiden Ozeane in Europa, Ostasien und Ozeanien und umfassen das Vereinigte Königreich und andere NATO-Mitglieder respektive Japan und die Republik Korea sowie Australien. Daraus ergeben sich die strategischen Prioritäten der Streitkräfte untereinander. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist daher die Luftüberlegenheit für jede militärische Intervention der Vereinigten Staaten entscheidend. Die US Navy operiert in Trägerverbänden, welche die Weltmeere überwachen. Das Marine Corps kann dadurch ungehindert intervenieren, sollte es nötig sein. Für längere Operationen am Boden kann dann die Army mobilisiert werden. Dieser kaskadenartige Aufbau militärischer Stärke an jedem Punkt der Erde soll zügiger als bei möglichen Gegnern ablaufen. Daher ist auch Geschwindigkeit ein entscheidendes Moment in diesem Prozess.
Verteidigungspolitische Dokumente
Die Militärdoktrin der Vereinigten Staaten ist allein aufgrund der Vielzahl an strategischen Veröffentlichungen eine der vielschichtigsten überhaupt. Gesetzlich vorgeschrieben ist ein im Vierjahrestakt herausgegebener Bericht namens Quadrennial Defense Review (QDR), der meist mit der Jahreszahl seiner Veröffentlichung angegeben wird. Sein Zweck besteht darin, dem Kongress die kurzfristigen verteidigungspolitischen Erwartungen und Prognosen des militärischen Apparates darzulegen, die vor allem mit Fragen der Budgetvergabe im Zusammenhang stehen.
Das wichtigste verteidigungspolitische Dokument innerhalb der Exekutive ist die allgemeine Militärdoktrin Doctrine for the Armed Forces of the United States in ihrer ergänzten Fassung vom Mai 2007. Alle strategischen Dokumente unterliegen einer systematischen, hierarchisch geordneten Nummerierung, sodass die Doctrine for the Armed Forces of the United States die Bezeichnungen Joint Publication 1 oder JM-1 erhält. Die Joint Publication 1 stellt eine „allumfassende Anleitung für den Einsatz der Streitkräfte der Vereinigten Staaten“ dar. Der Krieg wird als „komplexes, menschliches Unterfangen“ begriffen, das keinen vorgegebenen Regeln folgt. Damit stehen die Streitkräfte der USA in der Tradition des preußischen Militärtheoretikers Carl von Clausewitz, auf den das Dokument ausdrücklich Bezug nimmt. Darüber hinaus versteht sich das Militär als gleichberechtigtes politisches Instrument neben anderen politischen Instrumenten wie der Diplomatie, der Wirtschaft und der Informationstechnik.
Alleinstellungsmerkmale
Seit dem Kalten Krieg weist der politikwissenschaftliche Zweig der Strategischen Studien den Vereinigten Staaten, wie auch anderen aktuellen und historischen politischen Gemeinschaften, Alleinstellungsmerkmale in der Kriegsführung zu, die auf politische, geographische und kulturelle Gegebenheiten zurückgehen. Zusammengefasst ergeben diese einen American Way of War, der sich in einer Ungeduld gegenüber langanhaltenden Militäroperationen manifestiert und daher eine frühe Entscheidung der Auseinandersetzung zu erzwingen versucht. Verschiedene Elemente des American Way of War, wie der Einsatz von Spezialeinheiten oder von Satelliten, sind als prägend für diesen umstritten. Konsens besteht jedoch hinsichtlich der Beobachtung, dass die politisch-militärische Führung der Vereinigten Staaten auf strategische Effekte der Luftkriegsführung vertraut, also der Überzeugung ist, dass unter geeigneten Bedingungen überlegene Feuerkraft in und aus der Luft die politische Beilegung eines Konflikts herbeiführen kann. Diese Überzeugung liegt ebenso dem Konzept des strategischen Bombardements (strategic bombing) und den einflussreichen Luftkriegsthesen John Wardens und John Boyds zugrunde. Colin Gray weist dem American Way of War die Attribute „apolitisch, astrategisch, ahistorisch, optimistisch lösungsorientiert, kulturell ignorant, technikabhängig, feuerkraftorientiert, großangelegt, hochgradig konventionell, logistisch exzellent [und] ausfallversiert“ zu.
Gliederung
Anzahl aktiver Soldaten (ohne US-Küstenwache), 1954–2021 (Stand 30. September 2021)
Teilstreitkräfte
Die sechs Teilstreitkräfte des Militärs sind juristisch betrachtet Behörden, deren Auftrag das zehnte Buch des United States Code definiert. Drei von ihnen, nämlich die Luftstreitkräfte (US Air Force), das Heer (US Army) und die Marine (US Navy), verfügen mit dem Department of the Army, dem Department of the Navy und dem Department of the Air Force über ein eigenes Ressort im Pentagon, dem Sitz des Verteidigungsministeriums der Vereinigten Staaten. Die Marineinfanterie untersteht aufgrund ihrer besonderen Abhängigkeit von der US Navy ebenfalls dem Department of the Navy.
Die Küstenwache untersteht aufgrund ihrer überwiegend nichtmilitärischen Aufgabenstellung in Friedenszeiten dem zivilen Ministerium für Innere Sicherheit, auch wenn sie per Gesetz als Teilstreitkraft gilt. Im Falle einer Kriegserklärung oder eines Präsidentenerlasses wird sie dem Department of the Navy des Pentagon unterstellt, bis der Präsident ihr diese Oberaufsicht wieder entzieht. Trotz der Funktionsweise als Streitkraft insgesamt sind die amerikanischen Teilstreitkräfte ungewöhnlich autark. In ihren Strukturen ähneln sich die einzelnen Teilstreitkräfte sehr, was die Kompatibilität untereinander erhöht.
Im September 2021 hatten die US-Streitkräfte die folgende Truppenstärke:
Im Jahr 2006 erfolgte die erste Truppenverstärkung seit Ende des Kalten Krieges. Seit dem Vietnamkrieg war die Anzahl der aktiven Soldaten rückläufig. Befanden sich 1970 unter Richard Nixon 3.064.760 Soldaten im Dienst, so waren es zehn Jahre später unter Jimmy Carter noch 2.050.627. Diese Zahl blieb bis zum Ende des Ost-West-Konflikts stabil, ab 1990 setzte jedoch ein starker Rückgang ein, der sich bis zu den Anschlägen des 11. September 2001 hielt.
Heer
Das Heer der Vereinigten Staaten ist die United States Army. Sie hat eine Mannstärke von rund 482.000 (Stand: November 2021). Charakteristisch für die Army sind die rein rechnerisch vollständige Durchmotorisierung, die Betonung von Kommandomissionen und Spezialeinheiten sowie das Gefecht der verbundenen Waffen bereits innerhalb der Streitkraft. Die Heeresfliegerei besteht nur aus Hubschraubern. Durch ihre Wurzeln in der Amerikanischen Revolution ist sie die älteste der nationalen Teilstreitkräfte.
Luftstreitkräfte
Die United States Air Force (USAF) ist mit rund 333.000 Soldaten (Stand: November 2021) und rund 14.100 Fluggeräten die stärkste Luftstreitkraft der Welt und strategisches Kernstück der US-Streitkräfte. Sowohl offensive als auch defensive Großoperationen gehen meist von der Air Force aus.
Ihr Anteil am gesamten Verteidigungsbudget ist mit etwa 30 % der größte. Auch die Weltallstrategie war ihr bis zur Gründung der Streitkräfte in der Raumfahrt übertragen. Die Geschichte der militärischen Luftfahrt begann in den Vereinigten Staaten im Jahre 1907. Erst 1947 wurde die Air Force eine eigenständige, den anderen gleichgestellte Teilstreitkraft und entwickelte im Laufe des Kalten Krieges ihre herausragende Rolle. Neben der Air Force hat die National Guard, die Army, das Marine Corps, die Coast Guard und die Navy zahlreiche Luftfahrzeuge.
Marine
Die Marine der Vereinigten Staaten, die United States Navy (USN), verfügt über rund 347.000 Mann (Stand: November 2021) und ist damit zahlenmäßig die größte Kriegsmarine der Welt. Sie umfasst darüber hinaus 289 Schiffe und 3700 Fluggeräte in fünf Flotten. Aufgrund der geographischen Lage der Vereinigten Staaten, die von zwei Ozeanen umgeben sind, ergibt sich für die zweitälteste Streitmacht eine besondere strategische Bedeutung. Große Anerkennung wurde ihr während des Zweiten Weltkrieges zuteil und Präsident Ronald Reagan wollte sie in den 1980er Jahren auf über 600 Schiffe vergrößern.
Marineinfanterie
Militärisches, mediales und populärkulturelles Aushängeschild der Vereinigten Staaten ist die Marineinfanterie, das United States Marine Corps (USMC). Ihre rund 179.000 Soldaten (Stand: November 2021) sind in Expeditionsstreitkräfte, sogenannte Marine Expeditionary Forces, eingeteilt und kommen in der Offensive oft als erste zum Einsatz. Die Marines sind von der Navy abhängig, verfügen aber im Gegensatz zu den anderen Teilstreitkräften über fast alle Waffengattungen. Bereits ihre Gründung in dem Gasthaus Tun Tavern in Philadelphia war ungewöhnlich und wurde Teil ihres Ethos, ihre Bedeutung wuchs vor allem durch den Pazifik- und Koreakrieg.
Küstenwache
Die United States Coast Guard (USCG) ist die Küstenwache der Vereinigten Staaten. Sie untersteht in Friedenszeiten nicht dem Verteidigungsministerium, sondern dem Ministerium für Innere Sicherheit. Ihre rund 41.000 Mann (Stand: November 2021) sind unter anderem mit den Aufgaben Küstenschutz, Katastrophenschutz, Kriminalitätsbekämpfung zur See sowie Umweltschutz betraut. Sie arbeitet eng mit den Teilstreitkräften zusammen und verfügt über begrenzte militärische Kapazitäten und entstand 1915 aus verschiedenen küstenschützenden Behörden. Aufgrund der Furcht vor Terroranschlägen und der Nähe der Vereinigten Staaten zu südamerikanischen Drogenanbaugebieten ist die Belastung der Küstenwache in den letzten Jahren stetig gestiegen.
Streitkräfte in der Raumfahrt
Durch Direktive von US-Präsident Trump wurde das US Air Force Space Command am 20. Dezember 2019 in die sechste und damit jüngste Teilstreitkraft, der US Space Force (USSF), umgewandelt.
Unterstützungseinheiten
Ein Großteil des US-Militärs ist mit Aufgaben betraut, die nicht oder ausschließlich indirekt zur Beeinflussung des Kampfgeschehens beitragen. Insofern ist eine breite Streitkräftebasis vorhanden, die aber nicht im Sinne des Begriffs bei der deutschen Bundeswehr in einer einzigen Behörde institutionalisiert und von dieser verkörpert wird.
Ein zentraler Sanitätsdienst wie bei der Bundeswehr existiert nicht. Die medizinische Versorgung obliegt den Teilstreitkräften, wobei das Marine Corps und die Küstenwache hier wie bei anderen Angelegenheiten Zugang zu den Einrichtungen der Navy haben. Die Oberaufsicht über die Sanitätsdienste der Streitkräfte der Vereinigten Staaten haben die Surgeons General (zu deutsch ungefähr: „Generalchirurg“), deren Rang jeweils der eines Drei-Sterne-Generals ist.
Um mögliche feindliche Verbände zu simulieren, werden bestimmte Einheiten zu Opposing Forces ernannt.
Informationsbeschaffung
Viele Regierungsbehörden der Vereinigten Staaten arbeiten mit den Streitkräften zusammen oder sind Teil von ihnen. Alle Streitkräfte verfügen über einen eigenen Geheimdienst. Beim Heer ist dies die United States Army Intelligence, bei der Marine das Office of Naval Intelligence. Die Luftstreitkräfte verfügen über die Air Intelligence Agency, die Streitkräfte in der Raumfahrt über die Space Force Intelligence, Surveillance, and Reconnaissance Enterprise, das Marine Corps über die Marine Corps Intelligence Activity und die Küstenwache über die Coast Guard Intelligence. Ihnen übergeordnet ist die Defense Intelligence Agency, bei der das gesammelte Nachrichtenmaterial zentral verarbeitet und aufbereitet wird, um von den militärischen Entscheidungsträgern genutzt zu werden. Die ehemals zentral koordinierende Funktion des Auslandsgeheimdienstes Central Intelligence Agency wurde an den Director of National Intelligence abgegeben, der sämtliches Nachrichtenmaterial aller US-Nachrichtendienste, der United States Intelligence Community, bündelt und den politischen Entscheidungsträgern vorträgt. Der vormals nicht selten vorkommenden Parallelarbeit und immer wieder auftretenden Kompetenzstreitigkeiten einzelner Geheimdienste der Vereinigten Staaten sollte so Abhilfe geschaffen werden.
Um den Anspruch der geltenden Militärdoktrin auf ein möglichst großes Informationsangebot erfüllen zu können, unterhält das Verteidigungsministerium zusätzlich zu den Geheimdiensten der Teilstreitkräfte weitere Dienste, die sich einzelnen Aspekten der Informationsbeschaffung widmen. Dabei bedienen sie sich sowohl offen zugänglicher als auch geheim beschaffter Informationen. Die National Geospatial-Intelligence Agency ist im Bereich der geographischen Aufklärung tätig. Das National Reconnaissance Office ist für sämtliche Aspekte der weltraumgestützten Informationsbeschaffung zuständig und Betreiber der US-Spionagesatelliten.
Der bekannteste militärische Nachrichtendienst der Vereinigten Staaten ist die National Security Agency, die zwar administrativ und technisch dem Verteidigungsministerium unterstellt ist, operativ aber direkt dem National Security Advisor. Sie fokussiert sich auf die weltweite Überwachung von Telekommunikation. Täglich wertet die Behörde zehntausende von E-Mails, Telefonaten und anderen Übermittlungen in Bezug auf die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten aus. Sie unterhält selbst mehrere Unterbehörden.
Fürsorge
Traditionell nimmt die Truppenfürsorge einen hohen Stellenwert ein. Dies beruht auf der Überzeugung, dass eine gute Versorgung die Motivation der Soldaten stärkt. Zur Unterhaltung der weltweit stationierten Soldaten (siehe unten) betreibt das Department of Defense eine eigene Unterbehörde, Armed Forces Entertainment (AFE) genannt. Diese veranstaltet Vorführungen aller Art und arbeitet mittlerweile mit den United Service Organizations, einer Freiwilligenorganisation zusammen, die sich ebenfalls für die Stärkung der Moral amerikanischer Soldaten im Ausland einsetzt.
Mit American Forces Network wird ein Medienzusammenschluss bezeichnet, der Soldaten im Ausland primär mit Nachrichten versorgen soll. Durch die jahrzehntelange Verankerung an ihren Standorten hat sich das Angebot mittlerweile zu einer vielfältigen Informations- und Unterhaltungsplattform ausgeweitet.
Handelskette der US-Streitkräfte, ebenfalls weltweit präsent, ist der Army & Air Force Exchange Service. Sie beliefern die PX Stores, die in vielen Stationierungsländern über die Grenzen der Militärbasen hinaus bekannt sind, auch wenn nur Militärangehörige und deren Familien dort einkaufen dürfen. Die PX Stores sollen den amerikanischen Militärangehörigen und ihren Familien von der Produktpalette her weltweit den gleichen Versorgungsstandard bieten wie CONUS. Gleichzeitig sind die angebotenen Produkte in der Regel steuerfrei, was neben der heimischen Produktauswahl einen besonderen Kaufanreiz bietet. Ursache für diese Befreiung ist der Umstand, dass der AAFES keine Erträge erwirtschaften darf, da er vom Militärbudget der Vereinigten Staaten, also von Steuergeldern, mitfinanziert wird. Das Konzept des PX Stores wurde von mehreren anderen global aktiven Militärs übernommen, zum Beispiel von den Streitkräften des Vereinigten Königreichs oder der Bundeswehr.
Reserve
Die Reserve (englisch: Reserve components of the United States Armed Forces) umfasst alle militärischen Organisationen und Personal in den Vereinigten Staaten, auf die die Bundesregierung bei Bedarf zur Ergänzung ihrer Streitkräfte zurückgreifen kann. Im Wesentlichen besteht sie aus drei Komponenten: einzelne Reservisten, die direkt aktiven Truppenteile der Streitkräfte und Bundesbehörden als Ergänzung zugeteilt sind (), den Reservetruppenteile der Teilstreitkräfte (), die unmittelbar dem Verteidigungsministerium untersteht, und den Bundesstaaten unterstehenden Truppenteile der Nationalgarde, die dem Verteidigungsministerium unterstellt werden können (). Dieses System geht auf die geschichtliche Entwicklung zurück, bei der den Bundesstaaten in der Verfassung zwar das Recht auf eigene Milizen zugesprochen wurde, jedoch auch die Notwendigkeit besteht, den Aufwuchs der Streitkräfte des Bundes im Kriegsfall zentral zu koordinieren und dies in Friedenszeiten vorzubereiten. Die Reserven in den USA bestehen heute, wie die aktiven Soldaten, grundsätzlichen aus Freiwilligen. Reservisten leisten in der Regel Dienst in einer dieser beiden Reserveorganisationen oder sind direkt einer aktiven Einheit der Teilstreitkräfte als Ergänzung zugeordnet. Sie leisten minimal 38 Tage Dienst im Jahr als Soldat oder sind von der Inübunghaltung befreit.
Das Militärgesetzbuch der USA, Title 10 des Bundesrechts, definiert den Auftrag der Reservekomponenten folgendermaßen:
Eine allgemeinen Reservestatus wie in Deutschland mit der Allgemeinen Reserve ehemaliger Soldaten oder Ersatzreserve ungedienter Wehrpflichtiger gibt es in den Vereinigten Staaten nicht. Ein ehemaliger Soldat oder Reservist, der nicht Angehöriger der Reservestreitkräfte ist, ist kein Reservist. Er ist nicht mehr berechtigt seinen letzten Dienstgrad zu führen oder Privilegien aus dem Soldatenstatus wahrzunehmen. Ausnahmen sind Pensionäre, die direkt aus dem aktiven Dienst oder nach langen Dienst in der Reserve in den Ruhestand entlassen werden. Junge Männer, die im Selective Service System registriert sind, sind ebenfalls keine Reservisten.
Auxiliartruppe
Die Streitkräfte in den Vereinigten Staaten arbeiten mit Hilfskräften zusammen. Diese sind freiwillig tätig, rechtlich selbstständig organisiert und führen Unterstützungsaufgaben für die staatliche Partnerorganisation durch. Die Angehörigen arbeiten ehrenamtlich und haben im Gegensatz zu der Reserve keinen Kombatantenstatus und können nicht für Kampfaufgaben eingesetzt werden. Folgende Organisationen stehen in Bezug zu den Streitkräften:
Civil Air Patrol
Marine Corps Cyber Auxiliary
Military Auxiliary Radio System
United States Coast Guard Auxiliary
United States Merchant Marine
Stärke
Das Militär der Vereinigten Staaten ist einzigartig hinsichtlich der konventionellen Kampfkraft, die es weltweit in einer sehr hohen Geschwindigkeit aufbauen und wenn notwendig langfristig aufrechterhalten kann. Auch wenn es Partnern innerhalb der NATO sowie den Streitkräften Russlands, Chinas und Indiens möglich ist, militärische Übersee-Expeditionen zu unternehmen, so sind die Vereinigten Staaten als einzige Nation in der Lage, kurzfristig einen größeren regionalen Krieg außerhalb ihres Heimatterritoriums auf einem anderen Kontinent zu führen. Entsprechend wird daraus ein doktrinaler Anspruch abgeleitet. Die Vereinigten Staaten sind darüber hinaus eine der wenigen Nationen, die sofort einsetzbare nuklearbestückte Interkontinentalraketen in ständiger Alarmbereitschaft halten. Die USA verfügen derzeit über das weltweit größte Arsenal an strategischen Waffen.
Um weltweit einsetzbar zu sein, investieren die Vereinigten Staaten einen beträchtlichen Teil ihres Militärbudgets in logistische Kapazitäten. Dadurch soll die bedarfsgerechte Entfaltung der Kampfkraft garantiert sein. Die US Air Force unterhält eine große Flotte von C-5-Galaxy-, C-17-Globemaster-III- und C-130-Hercules-Transportflugzeugen. Das US Marine Corps verfügt über sieben sogenannte Marine Expeditionary Units (MEU) zur See. Diese Marineexpeditionseinheiten, die jeweils etwa 2200 Mann stark sind, werden transportiert von den Atlantik- und Pazifikflotten der US Navy im Rahmen der Fleet Marine Force, einem verbundenen Kommando der beiden Teilstreitkräfte. Die Flotte der Vereinigten Staaten verfügt über elf Flugzeugträger und entsprechende Trägerkampfgruppen.
Die US Army ist nicht so mobil wie das US Marine Corps. Im Hinblick auf die zu erwartenden Aufgaben der Army im 21. Jahrhundert hat der ehemalige Stabschef der US Army, General Schoomaker eine Umstrukturierung angekündigt von gegenwärtig 37 auf 48 Brigaden mit einer stärkeren Betonung der Möglichkeit, die Kampfkraft zu konzentrieren und umzulenken. Dennoch bleiben die Aufgaben von Army und Marine Corps zum Teil höchst unterschiedlich.
Die weltweit mobilisierbaren Kräfte sind die Basis für die historisch bisher einmalige militärische Machtfülle. Der linksliberale Publizist Gregg Easterbrook, dessen Schriften regelmäßig in mehreren Tageszeitungen und landesweiten Zeitschriften erscheinen, umschreibt das folgendermaßen:
Die heutzutage übliche asymmetrische Kriegführung – die neue Antithese der konventionellen Kriegsführung – erschwert die Bedingungen nicht nur für die US-Streitkräfte, sondern für die Militärkräfte aller Staaten. Allerdings hat das US-Militär aufgrund zahlreicher praktischer Einsätze (zum Beispiel in Panama, in Afghanistan und während der Besetzung des Irak) im Vergleich zu allen anderen konventionellen Streitkräften die bisher umfangreichsten Erfahrungen mit dieser Kriegsform gesammelt. Die bisher wichtigsten verteidigungspolitischen Konsequenzen, die die Vereinigten Staaten daraus gezogen haben, sind die Rückkehr zur Präsenz am Boden (s. u.), der Wettstreit mit der Guerillabewegung um deren politische Legitimation in der Bevölkerung („Winning Hearts and Minds“) und ein verstärkter Einsatz von Spezialeinheiten als De-facto-Teilstreitkraft.
Budget
Die jährlichen Ausgaben für den Unterhalt der Streitkräfte lagen im Jahr 2020 bei rund 778 Milliarden US-Dollar. Im internationalen Vergleich liegen sie nach Angaben des Stockholm International Peace Research Institute (SIPRI) damit auf dem ersten Platz, gefolgt von der Volksrepublik China (252 Mrd. US-Dollar) und Indien (72,6 Mrd. US-Dollar). Der Anteil der Vereinigten Staaten an den weltweiten Militärausgaben liegt damit bei rund 40 Prozent. Zwischen 2001 und 2004 verzeichnete der Wehretat eine Zunahme um 30 % von 324 auf 455 Milliarden Dollar.
Obwohl der Präsident dem Kongress jährlich ein öffentlich einsichtiges Budget vorschlägt, ist die Finanzierung des Militärs intransparent, da viele als zivil deklarierte Ausgaben auch militärisch genutzt werden. So bezieht die Begrifflichkeit military budget die Ausgaben des Energieministeriums für die Lagerung und Instandhaltung der nationalen Atomwaffen mit ein, während der Begriff defense budget dies nicht tut. Zudem werden viele Operationen und Beschaffungen mit den Nachrichtendiensten kofinanziert. Im defense budget enthalten sind ebenso wenig die Kosten für aktuelle Großeinsätze, die gesondert aufgeführt werden.
Vor dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Zweiten Weltkrieg bewegten sich die Militärausgaben traditionell auf sehr niedrigem Niveau. Trotz eines vorangehenden Modernisierungsprogramms lagen sie noch 1940 bei 1,7 %. Seit dem Ende des Kalten Krieges hat das Militärbudget der Vereinigten Staaten nicht mehr die Marke von 5 % des Bruttoinlandsprodukts überschritten und gilt somit als volkswirtschaftlich tragbar. Seinen prozentualen historischen Höchststand erreichte es im Haushaltsjahr 1944 mit 37,8 % des BIP. Im Koreakrieg erreichte der Etat nicht einmal 15 % und während der Dauer des Vietnamkriegs wurde zu keinem Zeitpunkt mehr als ein Zehntel des BIP für das Militär aufgewendet. Nach immer weitergehenden Kürzungen mit einem Nachkriegstiefstand von 3 % in den Jahren 1999–2001 hob die Bush-Regierung das Budget auf 3,9 % des BIP im Jahr 2006 an.
Die Wehrausgaben der Vereinigten Staaten überschritten 2004, inflationsbereinigt und gemessen am Stand des US-Dollars wieder die Ausgaben von 1989 und die Ausgaben von 2005 die von 1988.
Diese Relationen führen vor allem Befürworter des Militärbudgets an. Gegner, wie beispielsweise einige Quäkervereinigungen, messen die von ihnen kritisierte Maßlosigkeit des US-Militärhaushalts meist an seinem Anteil an den Gesamtausgaben der Regierung. Den Betrieb der Atomstreitkräfte sowie die Kosten für die Kriegseinsätze mit eingerechnet, beträgt der Anteil an militärischen Aufwendungen über 40 % des Regierungsetats. Darüber hinaus wird die absolute Höhe des Verteidigungsetats, der den der gesamten restlichen Welt übersteigt, als kontraproduktiv oder maßlos verworfen.
Die Betriebskosten für die Streitkräfte verschlingen 2022 einen Großteil des Militärbudgets. Mit knapp 291,4 Mrd. Dollar beanspruchen diese knapp 40 Prozent des Etats, während die Personalkosten mit rund 169,3 Mrd. ein weiteres Viertel des Jahresbudgets in Anspruch nehmen. Der Rest verteilt sich vor allem auf die Ausrüstungsbeschaffung mit 133,9 Mrd. und die Forschung mit 113,3 Mrd. Dollar sowie auf das Bauwesen.
Eine zunehmende Sorge der Streitkräfte ist die stetige Kostenexplosion in allen Bereichen der Budgetierung. Eine Untersuchung des Congressional Research Service, dem wissenschaftlichen Dienst des Kongresses, macht sowohl interne Handlungen als auch externe Entwicklungen dafür verantwortlich. Zu der selbstverursachten Kostenentwicklung trügen nicht nur die objektiven Kosten der Ausrüstungsentwicklung und -beschaffung, sondern auch das selbstgesteckte Tempo der Forschung bei, ebenso wie die ständige Verbreiterung der sozialen Absicherung, Ausbildungsfinanzierung und Immobilienzuschüsse für angeworbene Soldaten und deren Familien, während das verbreitete Aufgabenspektrum, das erhöhte Operationstempo und die schnell anwachsenden Kosten in der Gesundheitsversorgung von außen hinzuträten. Insgesamt sind die laufenden Kosten der US-Streitkräfte pro Soldat von knapp 30.000 US$ im Jahre 1955 auf fast 120.000 US$ gestiegen.
Der damalige US-Verteidigungsminister Robert Gates wollte in den Jahren 2011 bis 2016 zusätzliche 78 Milliarden Dollar (59,6 Mrd. Euro) einsparen. Dazu sollte auch eine Truppenreduzierung um 47.000 Soldaten ab 2015 beitragen.
Im „Wetteifern“ teilstreitkraftspezifischer Interessengruppen spiegelt sich die Rivalität zwischen den Direktempfängern des Verteidigungsbudgets (Army, Navy, Air Force) wider. Insbesondere die Navy League, die Air Force Association und die Association of the U.S. Army versuchen das jährliche Budget nicht ausschließlich gegen drohende Kürzungen zu verteidigen, sondern zielen auch auf den Etat der anderen Teilstreitkräfte ab. Sie genießen dabei häufig die Unterstützung voraussichtlicher Auftragnehmer.
Organisation
Im Folgenden werden die vertikale Führung, das heißt die Befehlskette, in absteigender Reihenfolge, sowie die horizontale Führung, das heißt die ministeriale, die geographische und die funktionale Struktur des US-Militärs erläutert.
Vertikale Befehlskette
Zivile Führung
Gemäß der Verfassung der Vereinigten Staaten ist der Präsident der Oberbefehlshaber der US-Streitkräfte. Der Verteidigungsminister, der selbst über keinerlei Befehlsgewalt über konventionelle Militäreinsätze verfügt, bildet mit ihm zusammen die „National Command Authority“, deren alleinige und ausschließliche Kompetenz der Einsatz von Kernwaffen ist. Der Präsident entscheidet in der Praxis vor allem über den Einsatz von Soldaten, die verteidigungspolitische Ausgestaltung dieses Kommandos übernimmt der Verteidigungsminister, der traditionell keinen gegenwärtigen militärischen Rang innehat.
An der Schnittstelle militärischer Aktionen mit der amerikanischen Diplomatie berät der Nationale Sicherheitsrat den Präsidenten. Dieses Gremium dient des Weiteren der Koordination und Umsetzung der amerikanischen Sicherheitspolitik.
Der Präsident wird in der tagespolitischen Führung der US-Streitkräfte durch den Verteidigungsminister unterstützt. Diesem obliegen die Umsetzung der Anordnungen des Präsidenten und die Führung des US-Verteidigungsministeriums, vor allem in Bezug auf Struktur, Aus- und Weiterbildung, Beschaffungspolitik und die Truppenfürsorge. Ihm selbst unterstehen Ressorts für die einzelnen Streitkräfte.
Sowohl der Präsident als auch der Verteidigungsminister werden in Fragen der Verteidigung und der Nationalen Sicherheit vom Vereinigten Generalstab (Joint Chiefs of Staff) beraten.
Militärische Führung
In Übereinstimmung mit dem Goldwater-Nichols Act, der 1986 erlassen wurde und die Organisationsstruktur der gesamten Streitkräfte und des Verteidigungsministeriums nachhaltig veränderte, bilden die vier Befehlshaber der einzelnen Teilstreitkräfte zusammen mit seinem Vorsitzenden und dessen Stellvertreter den Vereinigten Generalstab. Die Befehlskette hingegen verläuft vom Präsidenten über den Verteidigungsminister zu den einzelnen Kommandeuren der Unified Combatant Commands (UCC).
Gegenwärtig bestehen insgesamt neun derartige UCCs: Fünf haben regionale, vier funktionale Aufgabenbereiche. Jede Teilstreitkraft ist dafür verantwortlich, den Befehlshabern dieser Kommanden eine ausreichende Zahl von Truppen für den Einsatz zur Verfügung zu stellen.
Im Groben reicht die Befehlskette weiter absteigend vom Offizierskorps (Officers) über die Unteroffiziere (Non-commissioned officers) zu den Mannschaftsgraden (Enlisted ranks).
Generalstab
Die vier Stabschefs der Teilstreitkräfte, der Vorsitzende sowie sein Stellvertreter bilden den Vereinigten Generalstab der Streitkräfte der Vereinigten Staaten (Joint Chiefs of Staff).
Rangstruktur
Die Rangstruktur der Streitkräfte der Vereinigten Staaten ist vollständig in die der NATO integriert. Trotz unterschiedlicher Bezeichnungen ist jeder Rang anhand seiner Soldstufe eindeutig zuzuordnen und mit dem entsprechenden NATO-Rangcode mit anderen Streitkräften vergleichbar.
Offiziere
Offizierspatente vergibt der US-Senat nach eingehender Prüfung. Im Gegensatz zu anderen Ländern entscheiden keine anderen Faktoren als Fähigkeiten und erbrachte Leistungen über die Aufnahme in das Offizierskorps. Bei der jährlichen Beförderungsrunde darf die dafür eingesetzte Kommission nach Bedarf jedoch Schwerpunkte auf bestimmte Bereiche legen, in denen dann überproportional viele Soldaten befördert werden.
Die US-Streitkräfte rekrutieren ihre Offiziere aus vielfältigen Quellen. Der meistgenutzte Weg ist der über eine von mehreren dafür eingerichteten Militärakademien, darunter die US Military Academy, die US Naval Academy, sowie die US Air Force Academy. Darüber hinaus besteht für Absolventen eines College die Möglichkeit am Reserve Officer Training Corps-Programm (ROTC) teilzunehmen und nach dem Abschluss in den aktiven Dienst einzutreten. Hierbei ist zwischen der Einweisung als aktiver und als Reserveoffizier zu unterscheiden, daher dauert die Officer Candidate School (zu deutsch etwa: „Offizieranwärterschule“) wesentlich länger als die Kurse des ROTC-Programms. Aus dem ROTC gehen 60 % aller Offiziere der US-Streitkräfte und 75 % aller Offiziere der US Army hervor, diese stellten aber bisher erst zwei der insgesamt 17 Vorsitzenden der Vereinigten Stabschefs (CJCS). Personen, die im zivilen Leben bereits bestimmte Berufe ausüben, können in ihrem Berufsfeld ohne Weiteres zu Offizieren ernannt werden, sind wegen ihrer fachorientierten Ernennung von einem Kommando ausgeschlossen. Dies betrifft zumeist die Verwendungen als Anwalt, Ingenieur oder Arzt. Die Air Force hat prozentual den höchsten Anteil an Offizieren.
Eine Feldbeförderung, battlefield commission genannt, ist vergleichsweise selten. Über eine solche Beförderung müssen sich mehrere Offiziere einig sein.
Regelungen zur Generalität
Das Dienstrecht der Streitkräfte (US Code Title 10 Section 525 und 526) limitiert die absolute Anzahl von aktiven Offizieren im Dienstgrad Lieutenant General und General. Insgesamt ist die Anzahl der Generale auf 302 Offiziere für die US Army, 216 für die US Navy, 279 für die US Air Force, 80 für das US Marine Corps, sowie zwei für den United States Public Health Service (Assistant Secretary for Health und den Surgeon General of the United States) begrenzt. Für die Army, Navy und Air Force gilt dabei, dass nicht mehr als 16,3 Prozent der aktiven Generalität höherrangig als ein Major General sein und nicht mehr als 25 % den Dienstgrad General führen dürfen. Dies entspricht elf Generälen für das Heer, acht Admirälen für die Marine, zehn Generälen für die Air Force und drei Generälen für die Marineinfanterie.
Viele dieser Vier-Sterne-Ränge sind dabei für bestimmte Posten reserviert. So sind in der Army und in der Air Force jeweils der Chief of Staff und der Vice Chief of Staff Generale, in der Marine sind der Chief of Naval Operations und der Vice Chief of Naval Operations jeweils Admirale. Im Marine Corps tragen der Commandant of the Marine Corps und der Assistant Commandant den Dienstgrad eines Generals. Zudem sind der Commandant of the Coast Guard und der Assistant Secretary for Health ein Admiral.
Das Gesetz lässt jedoch zahlreiche Ausnahmen zu. So fallen Offiziere, die als Vorsitzende des Generalstabs oder als deren Stellvertreter dienen, aus der Prozentregelung für ihre Teilstreitkraft heraus. Zusätzlich gesondert behandelt werden die Offiziere, die in teilstreitkräfteübergreifenden Positionen dienen. So fallen die Unified Combatant Commanders und der Kommandierende General der US-Streitkräfte in Korea aus der Begrenzung für Generäle heraus, zählen jedoch für die Prozentregelung für Generalleutnants. Außerdem kann der Präsident die Begrenzungen für einzelne Teilstreitkräfte verändern, wenn er bei einer anderen Teilstreitkraft jene Änderungen kompensiert. Schlussendlich hat der Präsident auch die Möglichkeit, die genannten Begrenzungen in Kriegszeiten oder in Zeiten des nationalen Notstandes zu ignorieren.
Ruhestandsregelungen
Offiziere müssen entweder nach fünf Jahren im Dienstgrad General/Admiral oder nach 40 Dienstjahren in den Ruhestand gehen, je nachdem, was später zutrifft. Zudem kann die Dienstzeit vom Präsidenten um fünf Jahre, bis maximal zum 62. Lebensjahr des Offiziers verlängert werden. Alle Offiziere müssen im Monat nach ihrem 62. Geburtstag in den Ruhestand gehen, jedoch kann der Präsident bis zu zehn eigentlich pensionsfähige Offiziere bis zu ihrem 64. Geburtstag im Dienst belassen.
Da die Dienstgrade „Lieutenant General“ und „General“ nur temporär vergeben werden, muss der Offizier einen angemessenen Posten bekleiden. Tut er dies nicht, muss er innerhalb von 60 Tagen in den Ruhestand gehen oder er wird in einen niedrigeren Dienstgrad überführt. Wenn die Regierung einen Offizier für eine Position vorgesehen hat, die noch nicht frei ist, muss sie ihn auf einem angemessenen Posten „parken“. Zu diesen Posten gehören zum Beispiel für Lieutenant Generals, die zur Beförderung zum General vorgesehen sind der Direktor des Joint Staff, sowie die Direktoren J-3 und J-5 des Joint Staff. Für spätere Verwendungen „geparkte“ Generäle werden als Vizegeneralstabschef ihrer Teilstreitkraft oder als Kommandierender General des US Southern Command eingesetzt. Einige kurzzeitige Ernennungen weg von diesem Posten deuten dabei an, dass das Southern Command ein häufig genutzter Dienstweg in diesem Verfahren zu sein scheint. (Wesley Clark, nach 12 Monaten zum Supreme Allied Commander Europe (SACEUR) ernannt; Peter Pace, nach 12 Monaten zum Vice Chairman of the Joint Chiefs of Staff; Bantz J. Craddock, nach 20 Monaten zum SACEUR ernannt).
Warrant Officer
Bis auf die Air Force, in der es diese Laufbahn nicht gibt, sind in den US-Streitkräften Warrant Officer mit dem Erreichen des Dienstgrads Chief Warrant Officer technisch gesehen Offiziere, bilden jedoch eine eigene Laufbahn. Sie werden, genauso wie Offiziere, durch den US-Präsidenten vereidigt. Sie erhalten ähnliche Privilegien und Verantwortung wie die Offiziere. Jedoch sind sie Spezialisten ihres Aufgabenbereichs und können in Kampfeinsätzen, im Gegensatz zu Offizieren, keine Truppen befehligen, sondern üben nur Befehlsgewalt in ihrem Spezialgebiet aus. Sie sind mit Offizieren des militärfachlichen Dienstes der Bundeswehr zu vergleichen.
Unteroffiziere
Unterhalb des Offizierskorps wird im englischen Sprachraum zunächst nicht differenziert und alle Ränge als enlisted zusammengefasst. Jedoch wird ab einem bestimmten Dienstgrad nicht mehr von enlisted personnel, sondern von den non-commissioned officers (NCO, deutsch: „Offizier ohne Patent“) gesprochen.
Nach ihrer Verpflichtung durchlaufen die Rekruten ihre Grundausbildung, gefolgt von der technischen Spezialausbildung, die die Rekruten in einem Pendant zur deutschen Spezialisierung auf einen Dienstposten in einer Dienstposten- oder Lehrgangsausbildung weiterbildet.
In der Frage der Unteroffiziere, den non-commissioned officers, weichen die Teilstreitkräfte voneinander ab. Army und Marine Corps klassifizieren im Gegensatz zu den anderen Streitkräften bereits den Rang des Korporal als Unteroffiziersdienstgrad. Die Petty-Officer-Dienstgrade 3. bis 1. Klasse der Navy und der Coast Guard reichen in den Bereich der Feldwebel (Staff/Senior Non-commissioned officer) hinein.
Horizontale Führungsstruktur
Wehrressorts
Unterhalb der Ministerialebene ist das Verteidigungsministerium geteilt. Eine Vielzahl von Behörden verfügt über spezielle Kompetenzen wie den Satellitenbau für die militärische Aufklärung oder für die Aufbau des geplanten Raketenabwehrsystems der Vereinigten Staaten. Für die Kommandostruktur relevant sind jedoch allein drei streitkräftespezifische Ressorts, die von Zivilisten geführt werden. Bis zu ihrer Subordination unter ein neues Hauptquartier im Zuge der Reform der US-Sicherheitspolitik 1947 genossen die Teilstreitkräfteressorts Kabinettsrang. Seither sind die Secretaries dieser Ressorts wie ein deutscher Staatssekretär einzustufen, und nicht, wie ihre amerikanische Amtsbezeichnung sonst suggerieren könnte, als Minister.
Das Department of the Army ist das für das Heer zuständige Ressort. Der Secretary of the Army (offizielle Abkürzung: SECARM) hat die Aufgabe, seine Vorgesetzten wie auch die Öffentlichkeit über heeresspezifische Fähigkeiten und Anforderungen zu unterrichten. Ihm beratend zur Seite steht der ranghöchste Offizier des Heeres, der Chief of Staff of the Army. Derzeitiger Amtsinhaber ist Pete Geren.
Eine Besonderheit bildet das Department of the Navy, dessen Staatssekretär (Secretary of the Navy) zusätzlich zu seinem Navyverantwortungsbereich noch der des Marine Corps organisatorisch zugeordnet ist. Im Falle einer Präsidentenverfügung, die die Küstenwache zur Kriegsstreitkraft erhebt, wird ihm ebenfalls die Verantwortung über diese zugeschlagen. Der Secretary of the Navy (abgekürzt: SECNAV) überblickt die Organisation, Ausbildung, Ausstattung und die (De)mobilisierung der ihm zugeteilten Streitkräfte. Auch bei der Ausarbeitung neuer Doktrinen und Richtlinien wirkt er mit. Derzeitiger Amtsinhaber ist Ray Mabus.
Der dritte Staatssekretär ist der Secretary of the Air Force (SECAF) im Department of the Air Force. Auch ihm ist die alltägliche Verwaltung seiner Streitkraft zugewiesen. Aktueller SECAF ist Michael B. Donley.
Regionale Kommandos
Um dem Anspruch aller amerikanischen Teilstreitkräfte gerecht zu werden, „jederzeit und überall“ einsatzbereit zu sein, der sich aus ihrer herausragenden militärischen Stärke entwickelte, existiert eine geografische Einteilung in sechs Regionalkommandos, so genannte Unified Combatant Commands (UCC), die überall auf der Welt in ihrem Zuständigkeitsbereich agieren und von denen die meisten in Übersee stationiert sind. Ihnen sind die Regionalkommanden der einzelnen Teilstreitkräfte untergeordnet, die sich immer am selben Standort befinden. So sind dem USCENTCOM z. B. ARCENT (Army Forces Central Command), CENTAF (Central Command Air Forces), MARCENT (Marine Forces Central Command), NAVCENT (Naval Forces Central Command) und SOCCENT (Special Operations Command Central) unterstellt.
Die Namensgebung der UCCs kann für Außenstehende irreführend sein, denn die hinter den Akronymen zu vermutende befohlene Region entspricht nicht genau der genannten geographischen Region. Die territoriale Einteilung wurde stark nach Verfügbarkeit von Truppen für einen Krisenfall und nach Logistikgesichtspunkten gewählt.
Das derzeit aktivste und daher in Medien stark vertretene Regionalkommando ist das United States Central Command (USCENTCOM). Es steuert sowohl die Operationen im Irak wie in Afghanistan. Das Kommandogebiet von CENTCOM reicht von Ägypten bis Pakistan und in Nord-Süd-Ausdehnung von Kasachstan bis Äthiopien und umfasst somit auch den Nahen Osten. Eine vorgeschobene Kommandobasis für das CENTCOM wurde nach dem 11. September 2001 in der Nähe Dohas in Katar, eingerichtet, während sich das Hauptquartier weiterhin auf der MacDill Air Force Base bei Tampa in Florida befindet.
Das United States Northern Command (USNORTHCOM) hat seinen Sitz auf der Peterson Air Force Base bei Colorado Springs im Bundesstaat Colorado. Die territoriale Zuständigkeit des NORTHCOM dehnt sich von Alaska, über das es zusammen mit dem Pacific Command verfügt, bis nach Puerto Rico in der nördlichen Karibik aus und umfasst neben dem Staatsgebiet der Vereinigten Staaten noch Kanada und Mexiko. Damit verfügt es über dasselbe Kommandogebiet wie das North American Aerospace Defense Command, einem in amerikanisch-kanadischer Kooperation betriebenes Luftraumverteidigungskommando für Nordamerika. Dieses ist am selben Standort beheimatet wie das NORTHCOM und de facto mit ihm zusammengefasst, da es zudem denselben Kommandeur hat. Derzeit ist NORTHCOM mit der Unterstützung diverser Aufträge des US-Heimatschutzministeriums betraut, beispielsweise den Aufbauarbeiten infolge des Hurrikans Katrina oder der Operation Noble Eagle, die einen breiten Objektschutz zum Inhalt hat.
Das restliche Lateinamerika ist dem United States Southern Command (USSOUTHCOM) unterstellt, das in Miami (Florida) aufgestellt wurde, nachdem es zuvor in Panama beheimatet war. Hauptaufgabe des Kommandos ist die Koordinierung des Kampfes gegen die Drogen.
Über eins der größten zu überwachenden Territorien verfügt das United States European Command (USEUCOM), welches sich in Nord-Süd-Richtung von Spitzbergen bis zur afrikanischen Küste und in West-Ost-Richtung von Grönland bis zur Beringstraße erstreckt. Hierbei bleiben der Nahe Osten sowie weite Teile Asiens ausgespart. Sitz des Kommandos sind die Patch Barracks in Stuttgart-Vaihingen.
Am 6. Februar 2007 gab US-Präsident George W. Bush bekannt, dass ein weiteres Regionalkommando, das United States Africa Command, für den afrikanischen Kontinent aufgestellt und im Jahr 2008 seine volle Operationsfähigkeit erreicht haben werde. Dies geschehe in Abstimmung mit zahlreichen afrikanischen Regierungen und werde die militärische, aber auch die entwicklungspolitische Hilfe seitens der Vereinigten Staaten stärker zur Geltung bringen. Im Oktober 2008 erreichte das AFRICOM schließlich seine volle Einsatzfähigkeit.
Das United States Indo-Pacific Command (USINDOPACOM) ist bei Honolulu auf Hawaii stationiert. Von dort aus erstreckt sich das Kontrollgebiet des Pazifikkommandos bis nach China und Indien und überblickt neben Ozeanien die Antarktis, im Westen reicht sein Kontrollgebiet bis nach Madagaskar.
Funktionale Kommandos
Neben den regional definierten Kommandos gibt es drei Kommandos mit funktional definierten Aufgabenbereichen, die ebenfalls als Unified Combatant Commands bezeichnet werden.
Das US Special Operations Command (USSOCOM) wurde 1987 entsprechend dem Nunn-Cohen Amendment, einer Ergänzung des Goldwater Nichols-Gesetzes aufgestellt. Das Verteidigungsministerium wurde dadurch zur Bereitstellung eines eigenen Etats für das SOCOM gezwungen. Durch diese Unabhängigkeit von den zuständigen Teilstreitkräften wurden die Spezialeinsatzkräfte de facto zu einer eigenen Teilstreitkraft. Auslöser für diese Maßnahme waren die negativen Erfahrungen eines übersteigerten Konkurrenzdenkens zwischen den Spezialeinheiten der einzelnen Teilstreitkräfte, das ein koordiniertes, auf den strategischen Gesamterfolg ausgerichtetes Vorgehen während der amerikanischen Landung in Grenada 1983 erschwerte. Das SOCOM ist zuständig für die Ausbildung, Ausrüstung und Bereitstellung sämtlicher Spezialeinsatzkräfte aller Teilstreitkräfte, um sie bei Anforderung den Regionalkommandanten zur Verfügung zu stellen. Gleichzeitig fungiert es aber nicht nur als Funktionalkommando, sondern führt auch eigene Verbände weltweit, zum Beispiel im Rahmen der Terrorismusbekämpfung. Damit ist es das derzeit einzige Verbundkommando, das Truppen ausbildet, versorgt und ausrüstet und trotzdem auch selbst in Einsätzen führt (partiell).
Die Bedeutung einer reibungslos ablaufenden Logistik wird in der Existenz eines Logistikkommandos deutlich. Das US Transportation Command (USTRANSCOM) überwacht Kapazitäten, Engpässe und Bedürfnisse über die gesamte Bandbreite des Einsatzspektrums hinweg. Auch diese Aufgabe wurde der Obhut einer zentralen Koordinationsstelle übergeben, als das Militär zum Ende des Kalten Krieges hin eine immer stärker verzweigte globale Präsenz aufwies und die Streitkräfte nicht mehr in der Lage waren, die Logistik effizient zu verwalten.
Mit der Verwaltung und Überwachung der strategischen Kapazitäten der Vereinigten Staaten (der Atomstreitkräfte und der Weltraumeinheiten) ist das US Strategic Command (USSTRATCOM) beauftragt. Darüber hinaus koordiniert es die Geheimdienste und die Raketenabwehr.
Das ehemalige US Joint Forces Command (USJFCOM) bewertete und erprobte militärische Wandlungsprozesse und Veränderungen, zum Beispiel die Auswirkungen neuer Waffen, Taktiken und Führungsstrukturen und gab dementsprechende Empfehlungen ab. Das USJFCOM hatte, obwohl originär ein Funktionalkommando, dennoch daneben regionale Kompetenzen, da es aus dem früheren US Atlantic Command entstand. Am 9. August 2010 kündigte US-Verteidigungsminister Robert Gates an, dass das JFCOM aufgrund von Sparzwängen innerhalb eines Jahres aufgelöst und die Aufgaben an den Joint Staff abgegeben werden sollen. Zum 31. August 2011 wurde es offiziell aufgelöst.
Alle regionalen und funktionalen Kommanden werden untereinander und mit dem Pentagon durch ein global vernetztes Kommunikationssystem verbunden, dem sogenannten Global Information Grid.
Ausrüstung
Die Beschaffungspolitik der Regierung steht im Vergleich zu anderen Nationen stärker im Fokus öffentlicher Aufmerksamkeit und löst häufiger Diskussionen und Skandale aus. Bei den Neubeschaffungen von Großgeräten, die im Zentrum stehen, verhandeln die zuständigen Stellen der Streitkräfte mit dem Präsidenten, dem Verteidigungsminister sowie mit dem Kongress intensiv um deren Finanzierung.
Standard-Sturmgewehr der US-Streitkräfte ist das M16 der vierten Generation. Seit 2007 verfügen alle Streitkräfte über Tarnkleidung in digitalen Tarnmustern. Die beiden zu Lande agierenden Streitkräfte Heer und Marineinfanterie verfügen weitgehend über die gleichen gepanzerten Fahrzeugtypen. Ähnliches gilt für die Flugzeugeinheiten, deren Fluggerät von der Standardversion an die Bedürfnisse der Streitkraft angepasst ist.
Seit der strategischen Neuorientierung nach dem 11. September 2001 herrschen zwei Debatten um die fortschreitende Technisierung des Militärs vor. Die erste Debatte setzt sich mit der Notwendigkeit auseinander, an Zukunftstechnologien zu forschen, wie die Bush-Regierung es hat ausführen lassen. Kritiker des immensen Forschungsetats im Verteidigungsbudget bezweifeln diese Notwendigkeit oder beklagen den zu geringen Grenznutzen der breit gefächerten Forschung. Sie verlangen vielmehr eine zügigere Umsetzung bestehender Waffenkäufe und eine Erhöhung der Mannstärke. Die zweite Auseinandersetzung unter Offizieren, Verteidigungsexperten und Publizisten dreht sich um die Frage, in welcher Absicht die Rüstung betrieben werden soll. Einige von ihnen befürchten, dass die Rüstung hin zu kleineren und beweglichen Verbänden, die den Kampf gegen den Terror ausfechten sollen, fehlgeleitet ist, und befürworten eine Verteidigungspolitik, die sich gegen aufkommende staatliche Konkurrenten der Vereinigten Staaten wappnet, vor allem die Volksrepublik China. Die Vertreter der Gegenseite argumentieren, dass diese Denkweise die aktuell vorherrschende militärische Situation nicht würdige, und befürchten, dass China gerade auf eine in die Zukunft gerichtete Rüstung reagieren könnte.
Traditionell bekommt militärisches Gerät einen Populärnamen, unter dem es besser der Öffentlichkeit präsentiert werden kann. Diese sind von anerkennenden oder spöttischen Namen zu unterscheiden, die die Truppe oft auswählt. Die Populärnamen werden zur Huldigung bestimmter Momente, Gruppen oder Personen der amerikanischen Geschichte vergeben. Hubschrauber werden meist nach Indianerstämmen, Schiffe nach Präsidenten, Kriegshelden oder Schlachtorten benannt.
Individuelle Ausrüstung der Soldaten
Neben dem M16, für das nach knapp 40 Jahren im Dienst derzeit ein Nachfolger gesucht wird, verfügen die Soldaten der Vereinigten Staaten über eine große Vielfalt an Infanteriewaffen. Vielfach verwenden Mannschaften in beengten Umgebungen wie Land- und Luftfahrzeugen sowie im Häuserkampf die Kurzversion des M16, das M4. Beide Versionen können mit unterschiedlichen Zusätzen wie Nachtsicht- und Wärmebildmodulen am Zielfernrohr ausgestattet werden. Ebenso wird der Granatwerfer M203 am Gewehrlauf befestigt. Die meistverwendete Pistole der US-Streitkräfte ist seit Ende der 1980er Jahre die M9, die sich bei der Truppe jedoch nur langsam gegen ihre Vorgängerin M1911 durchsetzen konnte. Ab 2017 wird sie nach und nach durch das Modell M17 ersetzt.
Waffenspezialisten wie Maschinengewehr- und Scharfschützen verfügen über mehrere Bewaffnungsmöglichkeiten, abhängig von Einsatztyp und Schussweite. Diese beinhalten die Maschinengewehre M240, M249 Squad Automatic Weapon und M60-Maschinengewehr sowie die Scharfschützengewehre M24, M107 und trotz seines Alters das M14. Dieses wird als Designated Marksman Rifle eingesetzt und soll einzelnen Infanterieeinheiten die Möglichkeit geben, Feindeinheiten auch über große Distanzen bekämpfen zu können. Als Schrotflinte händigen die Streitkräfte die Mossberg 590 und die M1014 aus. Von den vielfältigen Handgranaten-Versionen sind die Handgranate M67 sowie die Rauchgranate M18 am stärksten verbreitet.
Mitglieder von Spezialeinheiten haben darüber hinaus neben dem normalen Beschaffungssystem Zugriff auf andere Waffen, effektiv gibt es hierbei keine Beschränkungen. Die Waffen werden hier nach den persönlichen Vorlieben der Soldaten ausgewählt. Vor allem bei geheimen Einsätzen hinter feindlichen Linien ist dies auch von großer Wichtigkeit, um bei feindlichen Truppen Verwirrung zu stiften und nicht als US-Einheiten identifiziert zu werden.
Vor allem die kostenintensive Ausstattung jedes einzelnen Soldaten macht neben der Ausbildung die militärische Dominanz der Vereinigten Staaten aus. So verfügt jeder Soldat im Kampfeinsatz über ein GPS-Navigationsgerät. Zurzeit befindet sich ein Projekt namens Future Force Warrior (FFW, bei der Bundeswehr „Infanterist der Zukunft“) in der Entwicklung, das mehrere technische Apparate, beispielsweise individuelle Kommunikationsfunktionen, einen multimedialen Helm oder lenkbare Geschosse, am Infanteristen zusammenfasst. Diese Hochrüstung des einzelnen Soldaten ist in ein strategisch-ganzheitliches Konzept namens Future Combat Systems eingebunden, welches alle Landsysteme umfasst.
Im Jahr 2002 gaben die US-Streitkräfte $28.000 im Vergleich zum europäischen Durchschnitt von US$ 7.000 für Forschung und Entwicklung pro Soldat aus.
Uniform
Alle Teilstreitkräfte erhalten derzeit Feld-/Dienstuniformen, die alle ein teilstreitkräfteübergreifendes Entwicklungsprogramm durchlaufen haben, und basieren auf dem Prinzip des gepixelten Tarnmusters. Beim Heer löste die Army Combat Uniform (ACU) die Battle Dress Uniform (BDU) ab. Während der Entwicklung der Marines-Uniform MARPAT gab hinsichtlich patentrechtlicher Bestimmungen mit den kanadischen Streitkräften Auseinandersetzungen darüber, ob die amerikanische Version ein Plagiat der kanadischen sei. Anlass war die frappierende Ähnlichkeit der beiden Feldanzüge, wobei Kanada bereits 1995 mit der Entwicklung begonnen hatte. Das United States Marine Corps gab später zu, gewisse Anleihen bei den kanadischen Verbündeten gemacht zu haben.
Bis 2011 will die Air Force die Airman Battle Uniform (ABU) eingeführt haben. Auch die Navy, führt ab 2008 neue Uniformen ein, sowohl für Personal an Deck, wie auch die Tarnuniform Naval Work Uniform (NWU).
Über die Felduniformen hinaus erhalten alle Soldaten eine Dienstuniform, die außerhalb des Kampfeinsatzes getragen wird, sowie eine Ausgehuniform.
Barette
Das Tragen von Baretten entwickelte sich bei den US-Streitkräften ab ihrer ersten Verwendung im Zweiten Weltkrieg anhand des Vorbilds der britischen Kameraden zu einer unkontrollierten Mode. Die Marines verwarfen einen Testlauf zu Beginn der 1950er Jahre und haben bis dato das Tragen eines Baretts nicht autorisiert, während die Navy bei ihren traditionellen Kappen verbleibt. Seit den siebziger Jahren ist Verbindungsoffizieren der Air Force das Tragen von Baretts gestattet. Mit dieser Form der militärischen Kopfbedeckung tat sich vor allem die Army schwer. In den Siebzigern untersagte der skeptische Stab des Heeres allen konventionellen Verbänden das Tragen eines Baretts. Daher galten sie als ein Privileg der Green Berets und der Fallschirmjäger. Der Beschluss vom 14. Juni 2001, für alle regulären Angehörigen der Army ein schwarzes Barett mit ihrem Einheitenabzeichen einzuführen, löste bei den Spezialeinheiten Widerstand aus, die sich als entehrt ansahen. Das Verteidigungsministerium verwarf diese Haltung als Standesdünkel und beschleunigte die Einführung, um die Debatte zu beenden. Darüber hinaus stellte es die Spezialeinheiten als „Kalte Krieger“ dar und erhob das „Barett für alle“ zum Symbol für Transformation und Modernität der Streitkräfte.
Gepanzerte Fahrzeuge
In Bezug auf die gepanzerten Fahrzeuge sind die Streitkräfte der Vereinigten Staaten stark durch den Kalten Krieg geprägt. Knapp 8000 schwere Abrams-Kampfpanzer bilden sowohl bei Army als auch beim Marine Corps das Rückgrat der Panzerbrigaden, die Ursprungsbeschaffung des relativ schweren Bradley-Schützenpanzers ist noch nicht abgeschlossen und wird durch den veralteten M113 ergänzt. Allerdings haben sich die Panzerspezifikationen des Kalten Krieges als problematisch für den Krieg gegen den Terror herausgestellt: Aufgrund des hohen Gewichts schwerer Panzerfahrzeuge ist deren Mobilität, insbesondere die Luftverlegbarkeit, stark eingeschränkt – so passen in das schwerste Transportflugzeug der Luftwaffe, die C-5, zurzeit höchstens zwei Abrams, während die üblichen taktischen Transporter vom Typ C-130 nicht einmal das Gewicht des Bradley aufnehmen können. Weiterhin wurden bis zum April 2005 trotz geringer Personenschäden im Irak 80 Abrams so schwer beschädigt, dass die Reparatur in den Vereinigten Staaten stattfinden musste. Dabei nutzten die irakischen Rebellen vor allem den Umstand aus, dass Panzer in Erwartung ihrer ähnlich gepanzerten und bewaffneten Gegenüber vor allem an der Frontseite geschützt sind, während an den anderen Abschnitten Zugeständnisse an das Gesamtgewicht gemacht wurden. Insgesamt verfügen die Vereinigten Staaten über 29.920 gepanzerte Fahrzeuge und 5.178 Artilleriegeschütze.
Luftfahrzeuge
Die US-Streitkräfte operieren mit einer weltweit einzigartigen Bandbreite an Fluggeräten, um ihre strategisch essentielle Luftüberlegenheit zu wahren. Aufgrund bestimmter historischer Entwicklungen ist die Fliegerei in den Streitkräften jedoch nicht allein in der Luftwaffe konzentriert: Da die Air Force im Zweiten Weltkrieg eine zunehmend eigenständige Entwicklung verzeichnete, sollte sie nicht mehr als Heeresfliegerei der Army unterstellt bleiben. Zu diesem Zeitpunkt war die militärische Nutzung von Hubschraubern nicht abzusehen, da in der Key-West-Vereinbarung, die das Verhältnis und die Trennung zwischen den beiden Streitkräften regelte, stets von „Starrflügelflugzeugen“ die Rede war. So ist es heute insbesondere die Army, die eine Vielzahl von Aufklärungs- und Kampfhubschraubern in eigenen Korps unterhält. Diese sind vor allem der OH-58 Kiowa beziehungsweise der AH-64 Apache. Wichtigster Transport- und Multifunktionshubschrauber in teilweise sehr unterschiedlichen Ausführungen ist der UH-60 Black Hawk. Über den älteren Angriffshubschrauber AH-1 Cobra verfügt seit 2005 nur noch die Reserve. Seit Jahrzehnten als Schwerlasttransporter ist der CH-47 Chinook im Dienst.
Über die erwähnten Starrflügelflugzeuge verfügen heute Air Force, Navy und Marine Corps. Im Kalten Krieg bauten amerikanische Rüstungskonzerne Kampfflugzeuge mit bestimmten Einsatzprofilen, die dann den Anforderungen und Sonderwünschen der Teilstreitkräfte angepasst wurden. Von diesen wurden die F-Reihen bekannt, die überwiegend noch heute im Dienst sind, so etwa F-15 Eagle, F-16 Fighting Falcon und F/A-18 Hornet. Über Langstrecken- und Stealth-, also auf dem Radar meist unentdeckbare Flugzeuge, verfügt nur die Air Force mit den Modellen B-1 Lancer und B-2 Spirit sowie die nicht mehr im aktiven Dienst stehende F-117 Nighthawk. Überwachungsdienste leistet vor allem das AWACS, die Logistik bestreiten vor allem die C-5 Galaxy und die C-130 Hercules. Zusammengenommen verfügt das Militär der Vereinigten Staaten über 18.169 Luftfahrzeuge und 35.324 Flugkörper.
Schiffe
Insgesamt verfügt die Navy über 289 Schiffe unterschiedlicher Typen. Die zehn Flugzeugträger bilden Verbände, die als Carrier battle group bezeichnet werden. Ein solcher Verband besteht neben dem Flugzeugträger als dessen Kernstück aus einem Lenkwaffenkreuzer, zwei Lenkwaffenzerstörern, einer Fregatte, ein bis zwei Jagd-U-Booten sowie einem Versorgungsschiff. Die Alternative zu einer solchen Flugzeugträgerkampfgruppe ist die Expeditionary Strike Group, die neben den Eskorten aus amphibischen Angriffsschiffen und Docklandungsschiffen besteht.
Heute besitzt die Navy von jeder Gattung im Wesentlichen eine Klasse, die den Großteil dieses Typs stellt, bei den Flugzeugträgern ist dies die Nimitz-Klasse. Die modernsten Einheiten für die amphibische Kriegführung sind die Typen Wasp und San Antonio. Zerstörer sind überwiegend vom Typ Arleigh Burke und werden durch die Zumwalt-Klasse ergänzt. Kreuzer sind ausschließlich in der Ticonderoga-Klasse vorhanden. Fregatten sind seit der Außerdienststellung der Oliver-Hazard-Perry-Klasse im Jahre 2015 nicht mehr vorhanden. Die Jagd-U-Boote gehören überwiegend der Los-Angeles-Klasse an, strategische Raketen-U-Boote finden sich in der Ohio-Klasse wieder.
Die Hauptkomponenten der Marine-Streitmacht für die kommenden Jahrzehnte sind derzeit im Bau oder in der Entwicklung. Als neue Klasse Flugzeugträger wird die Gerald-R.-Ford-Klasse eingeführt werden, für amphibische Kriegführung ist die America-Klasse eingeplant. Die nächsten Zerstörer werden zur Zumwalt-Klasse gehören, Fregatten werden durch kleinere und wendigere Littoral Combat Ships der Klassen Freedom und Independence ersetzt. Weniger fortgeschritten ist die Planung der Kreuzer; mit CG(X) gibt es dort lediglich vage Planungen. Ganz anders bei den Jagd-U-Booten, wo von der Virginia-Klasse bereits drei Einheiten aktiv sind.
Die Navy verfügt über insgesamt 1866 Schiffseinheiten.
Ausblick
Zurzeit (2007) erproben mehrere Firmen im Auftrag der infanteristisch geprägten Streitkräfte Army und Marine Corps Technologien und Geräte, welche die Dominanz des US-Militärs zu Lande auf lange Sicht verfestigen könnten, trotz des Herannahens aufstrebender Konkurrenten wie China oder Russland. Diese werden in einem einzigen Programm, dem Future Combat Systems koordiniert. Grundkonzept dieses aufwendigen Projekts ist eine Beschleunigung des Kampfgeschehens, zum Beispiel durch beschleunigte Kommunikation und verbesserten Informationsfluss. Darüber hinaus soll eine zunehmende Technisierung auf dem Gebiet der Robotik und der Nanotechnologie stattfinden, um den Kampf von menschlichen Beschränkungen unabhängig zu machen und die Möglichkeiten in der Offensive zu stärken. Kämpfende Kleinroboter könnten zum Beispiel mehrere Monate auf ihren Einsatzbefehl warten. Im Irak und in Afghanistan kommen bereits erste Modelle, hauptsächlich zur Bombenentschärfung zum Einsatz. Im Bereich der Luftaufklärung sind ferngesteuerte Aufklärungsdrohnen bereits weit verbreitet und können inzwischen sogar auch Ziele bekämpfen, so z. B. die MQ-1 Predator. Die oben erwähnten neuen Panzermodelle werden ebenfalls weniger wartungs- und personalintensiv sein. Experten wie das Cato Institute sehen den F-35 Joint Strike Fighter als letztes bemanntes Flugzeug der amerikanischen Militärgeschichte, aber bereits dieses Modell könnte laut Angaben des Herstellers Lockheed Martin ohne Piloten auskommen. Bei der Marine geht die Entwicklung hin zu kleineren Verbänden mit kleineren und wendigeren Schiffen neben den weiter bestehenden großen Trägerkampfgruppen. Das MRAP-System bietet den Soldaten einen besseren Schutz als der HMMWV und soll diesen mittelfristig vollständig ersetzen.
Stationierungen
Seit dem Zweiten Weltkrieg hat sich das Ausmaß der Stationierung amerikanischer Truppen stetig gesteigert. Amerikanische Truppen sind auf allen Kontinenten der Welt in über 163 Ländern stationiert. In Zeiten des Kalten Krieges diente dies der Eindämmung möglicher Gefahren durch die Sowjetunion sowie ihrer kommunistischen Partner. Im Gegensatz zur Truppenstärke haben die Auslandseinsätze seit dem Ende des Kalten Krieges zugenommen. Standortschließungen wurden von der Eröffnung neuer Basen aufgefangen oder waren in diesem Sinne strategisch begründet: auf die Schließung und Rationalisierung amerikanischer Basen in Europa, Ostasien und auf dem Territorium der Vereinigten Staaten selbst entstanden neue Basen wie zum Beispiel in Osteuropa, Zentralasien, dem Nahen Osten und Afrika. Von den knapp 1,4 Millionen Mann sind derzeit ungefähr 285.000 ständig im Ausland stationiert. 121.500 Soldaten leisten ihre Dienstrunde (englisch: tour of duty) auf See ab, wo sich Schiffsverbände der Vereinigten Staaten in Alarmbereitschaft befinden. Bis auf etwa 2100 Marines gehören sie der Navy an. Insgesamt beschäftigt das Pentagon knapp 451.000 Soldaten und Zivilisten in Übersee. Größter Stützpunkt ist Norfolk im Bundesstaat Virginia mit ungefähr 78.000 Beschäftigten.
Ein strategisches Konzept für diese Umschichtungen stellte Präsident George W. Bush im August 2004 der Öffentlichkeit vor. Es sieht einen Abzug von US-Truppen insbesondere aus Westeuropa und eine Verlegung in die USA und in geringerem Maß in andere Staaten vor. Bis 2014 sollen 70.000 Angehörige der Streitkräfte sowie rund 100.000 Familienangehörige zurück in die USA verlegt werden. Die Zahl der Stützpunkte im Ausland soll in dieser Zeit von 850 auf 550 sinken.
Trotz der allgemeinen Verringerung sollen bestimmte Schwerpunkte gebildet werden: In Asien sollten Marine- und Luftwaffeneinheiten verstärkt werden. Aus Europa sollen die schweren gepanzerten Einheiten weitgehend abgezogen und durch leichte, luftverlegbare Verbände und Spezialeinheiten ersetzt werden. Zudem sollen in Europa in großem Umfang Ausbildungseinrichtungen beibehalten werden. Im Nahen Osten soll eine vergleichsweise hohe Zahl militärischer Einheiten mit hohem Bereitschaftsgrad stationiert, in Afrika vor allem kleinere US-Militäreinrichtungen in größerer Zahl betrieben werden.
Zentrale Elemente dieses neuen Stationierungskonzepts sind Main Operating Bases (MOBs), Forward Operating Sites (FOSs) und Cooperative Security Locations (CSLs).
Kampfeinsätze
Im Rahmen offizieller Kampfeinsätze operieren weltweit folgende Truppenstärken:
Irak, Operation Iraqi Freedom: 2.500
Stationierungen nach Weltregion
siehe auch: Liste von Militärbasen der Vereinigten Staaten im Ausland
In Europa haben die Vereinigten Staaten 62.753 Soldaten (Stand 30. September 2015) stationiert. Diese entfallen mit 35.800 (Stand 2016) mehrheitlich auf Deutschland. 11.799 entfallen auf Italien und 8920 auf das Vereinigte Königreich (Stand 30. September 2015). Die Stationierung in Europa dient nach Zerfall der Sowjetunion als Brückenkopf und logistisches Drehkreuz in die Krisenregionen in geostrategischer Nähe zu Europa.
Die amerikanischen Einheiten, die in Ostasien stationiert sind, sind kampfbereite Verbände in Armeengröße. Sie haben dementsprechend ihre eigenen Bezeichnungen als Großverband. Die United States Forces Korea und United States Forces Japan dienen der Abschreckung Nordkoreas, langfristig auch der Chinas. Nach Japan sind 33.500, nach Südkorea 29.000 Mann entsandt. 11.100 befinden sich auf See, neben den beiden erwähnten Brennpunkten kreuzt ein Flugzeugträgerverband in der Straße von Formosa.
In „Nordafrika, im Nahen Osten und in Südasien“ ist außerhalb der Kampfeinsätze ein Kontingent von weiteren 5500 Soldaten in 24 Ländern stationiert. Hervorzuheben sind dabei 1350 Soldaten in Bahrain und 2500 auf See.
Südlich der Sahara sind 1700 Soldaten stationiert, davon 1400 in Dschibuti.
Auf den beiden amerikanischen Kontinenten sind außerhalb der Vereinigten Staaten 2100 Soldaten stationiert, davon 950 in der Guantanamo Bay Naval Base auf Kuba und 400 in Honduras.
Liegenschaften und Standorte
In allen 50 US-Bundesstaaten sowie in sieben Überseegebieten unterhält das Militär Stützpunkte. Bei den Basen im Ausland rangiert Deutschland an 37 Standorten mit 293 Einrichtungen vor Japan mit 111 und Südkorea mit 105 sowie Großbritannien mit 50.
Laut dem Base Structure Report 2006 des Verteidigungsministeriums ist das Militär der Vereinigten Staaten im Besitz von knapp 577.000 Liegenschaften rund um den Globus mit einer Fläche von ungefähr 29,7 Mio. Acres. Diese Fläche, umgerechnet knapp 12 Mio. ha, entspricht der halben Fläche Großbritanniens. Den Wert dieser Immobilien, die beispielsweise Wohnraum und militärische Einrichtungen umfasst, beziffert das Pentagon auf insgesamt 653,4 Mrd. US-Dollar.
Kritiker der weltweiten amerikanischen Militärpräsenz wie zum Beispiel der libertäre Japanologe Chalmers Johnson oder der religiös inspirierte Pazifist Laurence Vance kritisieren den Bericht allerdings als absichtlich verwirrend und undurchsichtig.
Der nach Fläche größte Stützpunkt ist eine Raketentest- und -abschussbasis des Heeres in New Mexico. Die White Sands Missile Range ist 3,6 Mio. Acres groß, was ungefähr 14.569 Quadratkilometern entspricht.
Standortschließungen
Seit 1988 hat das Verteidigungsministerium fünf große Standortschließungswellen initiiert, die unter dem Namen Base Realignment and Closure („Basis-Neuanordnung und -schließungen“) oder unter ihrem Kürzel BRAC sowie dem angehängten Jahrgang der amerikanischen Öffentlichkeit bekannt wurden. Vor dem Hintergrund, dass die Infrastruktur in den Vereinigten Staaten nicht wie in Europa flächendeckend ausgeweitet werden kann und das Militär in vielen entlegenen Gegenden den wichtigsten Arbeitgeber darstellt, sorgen die Schließungsrunden für Kontroversen in der Öffentlichkeit und im Senat, in dem die Abgeordneten der Bundesstaaten vertreten sind. Klassischerweise wird gegen die meisten Standortschließungen mit eben jener wirtschaftlichen Abhängigkeit, manchmal mit der nationalen Sicherheit argumentiert. Juristisch bindend ist der Vorschlag, den die parlamentarisch besetzte BRAC Commission dem Kongress vorlegt. Repräsentantenhaus und Senat müssen binnen anderthalb Monaten eine gemeinsame Gegenresolution einbringen, um Änderungen zu erwirken.
Zuletzt wartete das Pentagon im Mai 2005, zum ersten Mal nach zehn Jahren, mit Details zu einer massiven Standortaufgabe auf. Vom Schließungsplan waren 33 Garnisonen betroffen, 29 weitere sollten mehrere Tausend sowohl militärische als auch zivile Stellen streichen. Darüber hinaus wurden 150 kleinere Standorte genannt. Vereinzelt sollten Standorte Truppenkontingente aufnehmen und so Synergien erzeugen. Fiskalisches Ziel des Schließungsplans von 2005 war es, knapp 50 Mrd. Dollar über 20 Jahre hinweg einzusparen.
Dienst in den Streitkräften und innenpolitische Dimensionen
Die Streitkräfte der Vereinigten Staaten sind seit 1973 eine Berufsarmee. Zum Dienst in den Streitkräften ist jeder amerikanische Staatsbürger, ob männlich oder weiblich, sowie jeder Nichtamerikaner mit einer Green Card zugelassen, Letztere aber nicht für Offiziersränge. Eine große Vielfalt an militärischen Auszeichnungen soll die Leistungen und Qualifikationen des militärischen Personals würdigen und langfristig die Kampfmoral der Truppe stärken.
Rolle des Militärs als Ausbilder und Arbeitgeber
Von Beamten und Angestellten der Regierung der Vereinigten Staaten abgesehen ist das Verteidigungsministerium mit über drei Millionen Beschäftigten der größte Arbeitgeber des Landes und der Welt, noch vor Wal-Mart mit 1,3 Millionen Angestellten.
Allgemein wird der Dienst in den Streitkräften in der Gesellschaft der Vereinigten Staaten als vorteilhaft angesehen. Auch kurze Dienstzeiten von weniger als fünf Jahren werden allgemein als „Dienst an der Gemeinschaft“ anerkannt. Von hochrangigen Politikern wird allerdings erwartet, dass sie gerade in Kriegszeiten aktiven Dienst geleistet haben.
Das Militär ist eine anerkannte Karriere- und Aufstiegsgelegenheit. Vor allem die Möglichkeit, sich weiterzubilden, wird von der Gesellschaft größtenteils geschätzt. Dennoch trifft das im In- und Ausland verbreitete Vorurteil, dass das Militär ein Sammelbecken der Unterschicht sei, die sich mangels Alternativen zum Dienst als Kanonenfutter genötigt sieht, nicht zu: Abgesehen von den weltweit fast kaum erreichten Ausbildungskosten für den einzelnen Soldaten verfügt das Militär mit 95 Prozent überdurchschnittlich viele Highschool-Absolventen (In der arbeitsfähigen Gesamtbevölkerung sind es 79 Prozent). Auch der Anteil an Master-Absolventen übertrifft leicht den der Gesamtbevölkerung.
Als problematisch gilt im 21. Jahrhundert die Rekrutierung von Hochschulabsolventen mit technischen Qualifikationen. Die Streitkräfte können mit den großen Technologie-Konzernen weder nach der Bezahlung noch nach dem Prestige mithalten. Während in der Vergangenheit eine Intrinsische Motivation der potentiellen Rekruten durch das Versprechen von Sinn vermittelt werden konnte, stellen Rekrutierungsoffiziere fest, dass die Arbeit an Sensorik und Steuerung zur Vermeidung von Verkehrsunfällen für junge Ingenieure attraktiver als eine Militärkarriere ist. Im Bereich der Computersicherheit argumentieren Offiziere deshalb inzwischen mit dem Argument, dass junge Hacker in den Streitkräfte eine Medaille für Aktivitäten bekommen, die ihnen ansonsten eine Haftstrafe einbringen könnte.
Berechtigung zum Wehrdienst
Als eine Folge des Vietnamkrieges setzen sich die US-Streitkräfte aus Freiwilligen zusammen, dennoch werden im Selective Service System alle männlichen Staatsbürger über 18 Jahren registriert. Die Professionalisierung der Streitkräfte der Vereinigten Staaten ist seit dem Vietnamkrieg so weit vorangeschritten, dass eine wiedereingesetzte Wehrpflicht enormer struktureller, strategischer, finanzieller und personeller Vorbereitung bedürfte.
Die Altersgrenzen für den Wehrdienst in den US-Streitkräften richten sich je nach Teilstreitkraft, sowie nach aktivem oder Reservistendienst. Jede Teilstreitkraft verlangt das schriftliche Einverständnis der Eltern, wenn der Rekrut zwar das Mindestalter von 17 Jahren erreicht hat, das 18. Lebensjahr aber noch nicht vollendet hat.
Wehrpflicht
Die Wiedereinführung der Wehrpflicht ist in der Gesellschaft der Vereinigten Staaten ein Tabuthema. Seit ihrer Aussetzung wird die Freiwilligenarmee von beiden dominierenden Parteien in den Vereinigten Staaten, den Demokraten und den Republikanern hochgehalten, was sich im Schlagwort All-Volunteer Force (deutsch so viel wie „vollkommen freiwillige Streitkraft“) ausdrückt. Im Präsidentschaftswahlkampf 2004 versuchten die Demokraten, diese Tabuisierung und die damit verbundene Angst der jungen Wähler vor einer Wehrpflicht angesichts der Verwicklungen der US-Streitkräfte im Irak für sich zu nutzen, indem sie Gerüchte über deren Wiedereinführung verbreiteten. In einer offiziellen Proklamation am 1. Juli hatte Präsident George W. Bush das amerikanische Volk aufgefordert, den 30. Jahrestag der All-Volunteer Force zu begehen.
Ausbildung
Nach der Anwerbung eines Rekruten wird dieser der Grundausbildung seiner Teilstreitkraft zugeführt. Bis auf das Heer unterhalten alle Streitkräfte zentrale Ausbildungslager. Laut Uniform Code of Military Justice, dem amerikanischen Wehrrecht, ist auch die Ausbildung bei der Coast Guard als militärisch anzusehen. Bei Army, Navy und Küstenwache dauert die Ausbildung acht Wochen, bei der Air Force 45 Tage. Die Marines durchlaufen die mit Abstand längste Ausbildung, die 13 Wochen dauert.
Nach der Grundausbildung besuchen die nun dienstgradführenden Soldaten eine der weiterführenden Ausbildungseinrichtungen, auf der sie in ihrer weitergehenden Qualifikation (Military Occupational Specialty, MOS; etwa: „militärberufliche Spezialisierung“) unterwiesen werden, für die sie sich bereits bei ihrer Anwerbung entschieden haben müssen. Bei der Army entscheidet diese Wahl auch über den Ort der Grundausbildung mit. Verschiedene MOS-Kurse sind den fünf Ausbildungsorten dezentral zugeordnet. Die MOS-Kurse sind bei der Anwerbung ein maßgebliches Mittel der Rekrutierer, den möglichen Soldaten den Wehrdienst schmackhaft zu machen.
Minderheiten
Ethnische Minderheiten
In Geschichte und Zusammensetzung der US-Streitkräfte spiegelt sich eine lange Tradition der Integration ethnischer und religiöser Minderheiten wider. Vor allem im Kriegseinsatz erwerben sich Minderheiten bis heute die Anerkennung durch den Wehrdienst. Generell vermied das Militär die Aushebung ethnisch geprägter Verbände, um eine Ausprägung politischer Bruchlinien zu verhindern.
Die Möglichkeit, die Staatsbürgerschaft durch den Militärdienst zu erwerben, von der viele Einwanderer vor allem während des Zweiten Weltkrieges und viele Hispanics danach Gebrauch machten, prägte die Vorstellung des „American Dream“ mit. Das Heer widmet den gedienten Soldaten lateinamerikanischer, afrikanischer/afroamerikanischer, asiatischer und indigener Abstammung jeweils eigene Internetportale.
Am 26. Juli 1948 hob der damalige US-Präsident Truman die Rassentrennung mit der Executive Order 9981 auf und begründete damit die allgemeine Anerkennung des Militärs als integrative Kraft. Trotz des Fortbestands der Rassentrennung bis zum Zweiten Weltkrieg war der Einsatz Nicht-Weißer eine unverzichtbare kulturelle und informationelle Ressource, was die Duldung der Minderheiten immer stärker einer tatsächlichen Wertschätzung näherbrachte.
Die ethnische und religiöse Integration im US-Militär gilt überwiegend als Erfolg und – eingeschränkt – als mögliches Vorbild für die Zivilgesellschaft. Eine Studie des Palm Center kommt zum Schluss, dass sich hierfür drei Gründe herauskristallisieren lassen: Erstens führe die Bürokratie des Militärs zur Blindheit gegenüber ethnischer und religiöser Vielfalt, das heißt, eine mögliche Diskriminierung führe zu Ineffizienz, Verschwendung öffentlicher Mittel und strukturellen Problemen. Zweitens verfüge das Militär über Zwangsmittel, die nicht mit dem Stil der zivilen amerikanischen Politik vereinbar seien. Drittens würden diese Zwangsmittel zu einem erzwungenen Miteinander führen, die gerade angesichts gemeinsamer Erfahrungen im Grenzbereich vorhandene Vorurteile sehr schnell dahinschmelzen lassen würden.
Am 30. November 2007 hob der damalige Chief of Staff of the Army, General George Casey, die Diversity Task Force (deutsch ungefähr: „Arbeitsgruppe Vielfalt“) aus der Taufe, um die Bemühungen um ethnische Konzentration zu zentralisieren.
Geschichte
Im Sezessionskrieg waren von 2,2 Millionen Unionssoldaten 400.000 keine geborenen Amerikaner. Die Union ergriff Maßnahmen, um Einwanderer so schnell wie möglich für den Kriegsdienst verpflichten zu können. Einige wurden sofort nach ihrer Ankunft angeworben. Darüber hinaus entsandte die Union Rekrutierungsbeamte nach Irland, um vor Ort anwerben zu können, während die Konföderation dies durch die Verbreitung von demoralisierenden Gerüchten aktiv zu verhindern suchte. Außerdem dienten fast 216.000 Deutschstämmige auf Seiten der Union, sodass in über 30 Regimentern fast ausschließlich deutsch gesprochen wurde.
Im Vorfeld des Ersten Weltkrieges hatten die italienischen und irischen Einwanderer mit dem damals in den Vereinigten Staaten verbreiteten reformatorischen, antikatholischen Affekt zu kämpfen, der sich durch ihren erkennbaren Einsatz mit knapp fünf Millionen Mann legte, obwohl knapp drei Viertel von ihnen unzureichend Englisch sprachen. Bei Kriegsausbruch richtete sich der allgemeine Nativismus gegen die Deutschen, die einem Generalverdacht der Spionage unterlagen.
Der Antisemitismus wurde in den Vereinigten Staaten wie in allen westlichen Ländern zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend salonfähig. Angesichts der allgemeinen Empörung über den nationalsozialistischen Völkermord an den europäischen Juden nahm seine Verbreitung jedoch wieder ab und die Anerkennung für die jüdischen Soldaten nahm zu. In den letzten Jahren ist der Einsatz junger jüdischer Einwanderer in einer geheimen Einheit als Informationsbeschaffer hinter den deutschen Linien bekannt geworden („Ritchie Boys“). Diese militärischen Leistungen förderten die Integration jüdischer Immigranten und trugen zur Herausbildung eines jüdischen Selbstwertgefühls einer spezifisch amerikanischen Prägung bei.
Von einer offiziellen Rassentrennung war zu allen Zeiten nur die schwarze Minderheit betroffen. Als einzige ethnisch definierte Gruppe wurde sie von der offiziellen Verfahrensweise ausgenommen, dass die Streitkräfte keine ethnisch oder religiösen dominierten Verbände gründeten, um das Aufkommen politischer Bruchlinien zu verhindern. Als Tuskegee Airmen wurde die erste schwarze experimentelle Luftwaffeneinheit bekannt.
Trotz der blutigen Indianerkriege meldeten sich viele Native Americans im 20. Jahrhundert zu den Streitkräften. Berühmt wurde ihr Einsatz als Funker im Zweiten Weltkrieg, als es den Japanern unmöglich war, die Sprache der Navajo zu entschlüsseln.
Mit dem Truman-Dekret wurde die Rassentrennung formell aufgehoben. Vor allem während des Vietnamkrieges gründete das Militär mehrere Behörden, die die faktische Gleichberechtigung aller Soldaten erwirken sollten.
Anteile ethnischer Gruppen
Der Anteil der hispanischen Bewohner der Vereinigten Staaten überstieg ab den 2000er Jahren den der schwarzen. Trotzdem bilden Schwarze weiterhin, auch aufgrund einer allgemeinen Rekrutierungskrise infolge des Irakkriegs, die größte Minderheit unter den Soldaten. Im Haushaltsjahr 2004 übertraf ihr Anteil mit 15 Prozent den der lateinamerikanischen Abkömmlinge um einen Prozentpunkt. Die Anteile von Natives und Asiaten betragen je sieben Prozent.
Einbürgerung durch Wehrdienst
Zwischen März 2003 und März 2007 ließen sich ungefähr 26.000 Nichtamerikaner im Dienste der Streitkräfte einbürgern. Weitere 40.000 waren im März 2007 dazu berechtigt.
Die Zulassung ausländischer Green-Card-Inhaber zu den Streitkräften gibt häufiger Anlass zu politischen Auseinandersetzungen. Green-Card-Inhaber sind vom Reservedienst ausgeschlossen und dürfen keine Offiziersränge bekleiden.
Frauen im Militär
Grundsätzlich steht Frauen das Militär offen. 2009 lag der Frauenanteil bei 13,4 %. Sie müssen genauso wie alle männlichen Kameraden ihre Kampfbereitschaft unter Beweis stellen können, dürfen de jure jedoch nicht ins Kampfgeschehen eingreifen. Mit Blick auf die asymmetrische Kriegführung ist dies in manchen Fällen demgegenüber kaum zu verhindern, weil hier keine klare Trennung von Front- und Unterstützungseinheiten möglich ist.
In den letzten Jahren hat es im US-Militär die weitreichende Tendenz gegeben, Frauen immer mehr Einsatzfelder und Laufbahnen zu öffnen.
Frauen wurden offiziell mit der Gründung der Krankenschwesterkorps des Heeres im Jahre 1901 zum Dienst zugelassen. Eine wesensgleiche Institution gründete die Marine im Jahre 1908. Das gängige Verfahren davor war es, Frauen einzeln als Krankenschwestern, Küchenhilfen, Sekretärinnen und in ähnlichen Einsatzfeldern anzustellen. Allerdings war es mehreren hundert Frauen vor allem im Sezessionskrieg (auf beiden Seiten) gelungen, sich als Männer zu tarnen und einzuschreiben. Erst die Einführung der körperlichen Eignungsprüfung zu Beginn des 20. Jahrhunderts schloss diese Vorgehensweise endgültig aus.
Die bislang einzige Medal of Honor, welche die höchste militärische Auszeichnung der Vereinigten Staaten darstellt, bekam Mary E. Walker wegen ihrer herausragenden medizinischen Leistungen im Dienst 1865 verliehen, bei dem sie an die Grenzen ihrer eigenen Gesundheit geriet. Diese wurde bei der Verschärfung der Vergabebedingungen im Jahre 1917 zusammen mit knapp 900 anderen Auszeichnungen wieder zurückgenommen. Die Nachkommen Walkers bemühten sich bis zu ihrem Erfolg 1977 um die erneute Anerkennung ihrer Leistungen.
Der erste weibliche Offizier im Generalsrang war Anna Mae Hays, die das Army Nurse Corps leitete. Am 11. Juni 1970 wurde sie in den Rang des Brigadegenerals erhoben. Nur wenige Minuten später folgte ihr Elizabeth P. Hoisington. Hoisington hatte das im Zweiten Weltkrieg geschaffene Women’s Army Corps kommandiert, in dem alle Frauen Dienst taten. Bis 1978 waren der Army alle vier bewaffneten Streitkräfte bei der Ernennung eines weiblichen Generals gefolgt. Die Küstenwache ernannte 2000 zum ersten Mal eine Frau zum Konteradmiral.
Laut einer Studie des US-Veteranenkrankenhauses in Iowa City an 558 weiblichen Veteranen der Streitkräfte wurden rund 30 Prozent während ihrer Dienstzeit Opfer einer Vergewaltigung durch Kameraden.
1986 hatte die Anzahl der weiblichen Veteranen die Millionenmarke durchbrochen. Im Februar 2010 fiel eine der bekanntesten Beschränkungen, als das Verteidigungsministerium Frauen auf U-Booten zuließ.
Umgang mit homosexuellen Menschen
Im Gegensatz zum Verhältnis zu den ethnischen Minderheiten blieb das Militär homosexuellen Menschen gegenüber in der Vergangenheit reserviert. Bekennenden homosexuellen Menschen wurde der Dienst an der Waffe bis Ende 2010 untersagt. Eine Notlösung stellte für sie die sogenannte „Don’t ask, don’t tell“-Politik dar, welche sie auf dem offiziellen Dienstweg vor Fragen zur sexuellen Orientierung sowie möglichen Repressalien schützte. Im Gegenzug war es ihnen nicht gestattet, jene von sich aus zu offenbaren oder allgemein für die Belange von Homosexuellen einzutreten. Bei Verstoß gegen diesen Erlass drohte die Entlassung ehrenhalber.
Im Dezember 2010 verabschiedeten Repräsentantenhaus und Senat der Vereinigten Staaten ein Gesetz zur Aufhebung der Don’t-ask-don’t-tell-Politik im Militär. Zukünftig können homosexuelle amerikanische Soldaten den Dienst offen ausüben.
Übergriffe
Eine intern und öffentlich immer wiederkehrende Thematik sind Übergriffe von Soldaten auf andere Personen, ob Mitglieder des Militärs oder Zivilisten. Auch wenn vor allem sexuell motivierte Übergriffe wie der Tailhook-Skandal, bei dem 1991 ein militärfachliches Symposium zu einem Offiziersgelage ausartete, oder der Aberdeen-Proving-Ground-Skandal, bei dem 1996 Ausbilder des Heeres die Unerfahrenheit weiblicher Rekruten ausbeuteten, hohe Wellen schlagen und stets ein großes Interesse an der Aufklärung besteht, deuten meist anonyme Befragungen und Erhebungen darauf hin, dass Gewalt und Nötigung innerhalb der Truppe von noch größerer Aktualität sind. Meist widersprechen sich dabei die Interessen von Politik, Vorgesetzten, Untergebenen und gleichrangigen Kameraden.
In Stationierungsländern erregen wiederholt Vergewaltigungen Aufmerksamkeit. Auf Okinawa, dessen Bevölkerung wie die meisten Japaner überwiegend den Verbleib der ehemaligen Besatzungsmacht ablehnt, ist vor allem die Vergewaltigung eines 12-jährigen Mädchens durch drei Soldaten präsent.
Veteranenangelegenheiten
Traditionell räumen die Streitkräfte der Vereinigten Staaten der Veteranenfürsorge einen hohen Stellenwert ein. Dies spiegelt sich in der Existenz eines eigens für ihre Angelegenheiten eingerichteten Ministeriums mit Kabinettsrang wider, dem sogenannten United States Department of Veterans Affairs, welches im Haushaltsjahr 2006 über ein Budget von knapp 70 Mrd. Dollar verfügte. Dieses verteilt sich auf die drei Unterabteilungen des Ministeriums, die mit der medizinischen und finanziellen Versorgung sowie mit der Betreuung des militärischen Bestattungswesens beauftragt sind.
Demographie
Derzeit beträgt die Anzahl der lebenden Personen, die jemals in den Streitkräften der Vereinigten Staaten gedient haben, 25 Millionen. Trotz der steigenden Lebenserwartung wird diese Zahl in den nächsten 20 Jahren auf knapp 17 Millionen sinken. In diesem Rückgang spiegelt sich demographisch der Übergang von der Wehrpflicht zur Freiwilligenarmee wider. Die Ausgaben pro Veteran werden laut Einschätzung des Ministeriums steigen, was ebenfalls mit der steigenden Lebenserwartung sowie mit dem Zugang zu moderner medizinischer Versorgung zusammenhängt.
Bestattungswesen
Unter der Ägide des Veteranenministeriums betreibt das Militär 125 Friedhöfe in den ganzen Vereinigten Staaten, sechs weitere befinden sich im Bau. Der bekannteste von ihnen ist der Arlington National Cemetery in Virginia.
Medizinische Versorgung
Die meisten Ausgaben tätigt das Ministerium für Veteranenangelegenheiten für die medizinische Betreuung anspruchsberechtigter Personen. Im Jahr 2005 betrieb es 156 Krankenhäuser, 135 Altenheime, 43 Rehabilitationsstätten und 711 ambulante Kliniken. Letztere werden mit dem Anspruch betrieben, für jeden Veteranen von jedem Punkt der Vereinigten Staaten aus unter zumutbaren Umständen erreichbar zu sein.
Einen schweren Vertrauensverlust erlitt das Versorgungssystem des Veteranenministeriums durch investigativ recherchierte Missstände im Februar 2007. Die Washington Post druckte über mehrere Wochen hinweg ihre Erkenntnisse über die im Walter-Reed-Militärkrankenhaus, einem zentralen Krankenhaus der Streitkräfte ermittelten Missstände ab. Patienten der Einrichtungen klagten über unzumutbare hygienische Zustände, eine bürokratische Verwaltung und über ein überlastetes Personal. Als sich herausstellte, dass führende Offiziere der Army schon seit 2004 im Vorfeld eines geplanten Umzugs die sich verschlechternden Zustände zu vertuschen versucht hatten, entließ Verteidigungsminister Robert Gates den diensthabenden Generalmajor der Einrichtung, George Weightman. Francis J. Harvey, der Armeestaatssekretär, trat ebenfalls zurück, wahrscheinlich unter dem Druck von Gates. Zahlreiche Regierungsbehörden stellen infolge der Entdeckungen Ermittlungen an.
Energieverbrauch
Das US-Militär ist der größte Käufer und Verbraucher von Erdöl weltweit. Im Oktober 2006 verbrauchte es knapp 365.000 Barrel Öl am Tag, was ungefähr dem Energieverbrauch Griechenlands entspricht. Darüber hinaus ist die Marine als größter Verbraucher von Diesel und Biodiesel weltweit zu benennen. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass für das Pentagon aufgrund von Mengenrabatten und Vorkaufsrechten nicht der Weltmarktpreis des Öls gilt.
Im streitkräfteinternen Vergleich war die Air Force mit knapp 53 % im Haushaltsjahr 2005 mit Abstand der größte Energieverbraucher, gefolgt von der Navy mit 32 % und der Army mit 12 %. Dies ist dem Umstand geschuldet, dass 89 % der Energie für den Flugbetrieb eingesetzt werden. Insgesamt wendete das Verteidigungsministerium in diesem Zeitraum 8,6 Mrd. Dollar für den Kauf von 133 Mio. Barrel Erdöl auf. Zwei Jahre zuvor hatte es noch 5,4 Mrd. Dollar für 142 Mio. Barrel ausgegeben. Bei der Army sind knapp 40.000 Mann mit der Abwicklung des Öltransports befasst.
Die Sicherstellung der Energieversorgung für das Militär ist von größter Bedeutung und hat unter US-Präsident George W. Bush Eingang in das wichtigste strategische Dokument des Landes, die Nationale Sicherheitsstrategie gefunden. Vizepräsident Dick Cheney konstatierte schon 2001 in einem Weißbuch die Bedeutung des Öls für die Vereinigten Staaten und empfahl eine zunehmende Investition in Afrika bei gleichzeitiger Loslösung vom instabilen Nahen Osten.
Verwendung von Amphetaminen
Eine umstrittene Praxis der US-Streitkräfte ist der Einsatz von Amphetaminen zur kurzfristigen Steigerung der Leistungsfähigkeit der Soldaten. Die als „go pills“ bekannten Substanzen werden an ausgesuchte Einheitentypen wie infanteristische Spezialeinheiten oder Piloten ausgegeben, zur schnellen Entspannung werden als „no-go pills“ bezeichnete Barbiturate verabreicht. Das Programm findet laut Angaben des Militärs „unter strenger ärztlicher Aufsicht“ statt.
Gerade die Nebenwirkungen der Amphetamine beim Nachlassen der Wirkung haben in der Vergangenheit zu kontroversen Unfällen geführt. Der bekannteste Vorfall ereignete sich am 17. April 2002 in Tarnak bei Kandahar in Afghanistan. Zwei Piloten der Air National Guard warfen eine Bombe auf eine kanadische Einheit ab, was den Tod vierer und die Verletzung von acht Soldaten zur Folge hatte. Die beiden Piloten brachten zu ihrer Verteidigung vor, unter dem Einfluss von Aufputschmitteln gestanden zu haben, sodass sie das Mündungsfeuer von Sturmgewehren und Panzerabwehrwaffen mit Boden-Luft-Raketen verwechselt hätten.
Die Streitkräfte begründen den Einsatz von Amphetaminen mit militärischen Notwendigkeiten wie Langstreckenflügen, Nachteinsätzen oder verlängerten Einsatzzeiten und weisen auf die Freiwilligkeit der Einnahme hin. Tatsächlich müssen Piloten schriftlich ihr Einverständnis erklären, Kritiker verweisen jedoch auf den hohen sozialen und beruflichen Druck, unter dem diese Vereinbarungen in der Regel zustande kämen, da Piloten, die keine Aufputschmittel einnehmen, jederzeit von der Einsatzbereitschaft suspendiert werden können.
Besoldung
Die Besoldung amerikanischer Soldaten orientiert sich an westlichen Standards und beginnt für Rekruten (Private E-1) bei 1.516,20 Dollar (Stand: Januar 2013), kann in den ersten 4 Monaten jedoch beim Private E-1 geringer ausfallen. Die Höhe des Soldes richtet sich nach dem Rang des Soldaten und nach den Dienstjahren, die er in Folge abgeleistet hat. Einen Grundsold von über 5.000 Dollar kann ein Sergeant Major nach 14 Dienstjahren erreichen, maximal können Mannschaften 2.403,30 Dollar verdienen. Für Unteroffiziere reicht die Spanne vom Corporal mit mindestens 1.979,70 Dollar, ab dem 2. Dienstjahr dann 2.081,10 Dollar (E-4) und maximal 2.403,30 Dollar, bis hin zum Sergeant Major der als höchster Unteroffizier ab dem 38. Dienstjahr mit 7.435,22 Dollar besoldet wird. Die Besoldung für Warrant Officer beginnt bei 2.811,60 Dollar für Warrant Officer (O-1) unter 2 Dienstjahren und erreicht als Chief Warrant Officer 5 höchstens 9.222,90 Dollar. Ein Offizier, z. B. Second Lieutenant (O-1), verdient mindestens 2.876,40 Dollar und maximal 19.566,90 Dollar als „Vier-Sterne-General“ (O-10). Die Besoldung wird in der Regel jährlich neu festgesetzt, so zuletzt zum 1. Januar 2013. So verdiente ein Private E-1 im Jahr 2008 nur 1.273,50 Dollar verglichen mit 1.516,20 Dollar im Jahr 2013.
Für die Trennung von seiner Familie erhält jeder Soldat, unabhängig von Rang und Dienstalter, US$ 250 pro Monat. Bei der Gefahrenzulage wird zwischen der Anwesenheit in einer Krisenregion und zwischen einem Kampfeinsatz unterschieden, die pauschal mit US$ 150 respektive US$ 225 pro Monat vergütet werden. Daneben sind besondere Einsatzarten wie Taucheinsätze und Fallschirmabsprünge zulageberechtigt. Auf Antrag erhalten Mannschaften zivile oder militärische Bekleidungsgelder. Bis auf die im medizinischen Bereich Tätigen wird nicht zwischen Tätigkeiten unterschieden. Besondere Vergütungen gibt es für Fremdsprachenkenntnisse auf akademischem Niveau, Dienst zur See, an Bord von Flugzeugen, besondere Umstände oder Aufgaben.
Außenwirkung
Mediale Rezeption
Die Streitkräfte der Vereinigten Staaten spielen sowohl für Darstellung als auch Wahrnehmung nach außen hin eine gewichtige Rolle. Die Bandbreite der Meinungen reicht dabei von der Verehrung der militärischen Tradition des Landes bis zur Verurteilung des US-Militärs als Negativbeispiel eines gewalttätigen, unkontrollierbaren Apparats, und ist häufig ein Spiegel der Meinung über die Vereinigten Staaten als Ganzes.
Das Militär der Vereinigten Staaten ist von allen Militärs weltweit am stärksten präsent. Maßgeblich hierfür sind die häufigen Einsätze der Streitkräfte sowie die Dominanz der Filmstätte Hollywood.
Die verschiedenen Teilstreitkräfte verfügen alle über große Etats für die Außendarstellung, die gerade bei der Rekrutenanwerbung eine Rolle spielen, und versuchen, sich in speziellen Formen von den anderen abzuheben. Aufgrund ihrer oft legendär verklärten Geschichte ragen dabei vor allem die Marines hervor. Demgegenüber pflegt das Heer als ebenso infanteristisch geprägte Teilstreitkraft, sich als älteste und volksnächste Teilstreitkraft zu präsentieren. Air Force und Marine präsentieren sich gleichermaßen als strategischen Sockel der US-Streitkräfte. Die Küstenwache pflegt ihr Image als Heimstätte anspruchslos dienender Retter.
Film und Fernsehen
Die Militärgeschichte der Vereinigten Staaten bietet Hollywood seit Jahrzehnten Stoff zur Verarbeitung. Von den 1940er Jahren bis in die 1970er Jahre entstand eine Vielzahl von Filmen zum Zweiten Weltkrieg in verschiedenen Genres, zu denen Filmklassiker wie „Der längste Tag“,„Die Brücke von Arnheim“,„Das dreckige Dutzend“ oder „Tora! Tora! Tora!“ zählen.
Der Koreakrieg wurde filmisch, dem in den Vereinigten Staaten geläufigen Terminus The Forgotten War („Der vergessene Krieg“) entsprechend, weitgehend übergangen und von der Flut der Weltkriegsfilme verdrängt. Die bekannteste Ausnahme dieses Umstandes ist die international erfolgreich rezipierte Fernsehserie M*A*S*H sowie der ihr vorausgegangene Film. Aufgrund ihrer Erscheinungsdaten waren sie jedoch eher auf den damals aktuellen Vietnamkrieg gemünzt.
Die filmische Aufarbeitung des Vietnamkriegs gestaltete sich in den Vereinigten Staaten bis zur Mitte der 1980er Jahre schwierig, sodass Francis Ford Coppola z. B. für die Produktion seines Films „Apocalypse Now“ aus dem Jahre 1979 auf die Unterstützung der philippinischen Luftstreitkräfte zurückgreifen musste. Grund dafür war meist das militärtechnologische Monopol des Verteidigungsministeriums, das eine Unterstützung kritischer Filme ablehnte und bis heute die Inhalte technisch aufwendiger Produktionen mitgestaltet. Dennoch gelang einigen Regisseuren kritische Meisterwerke unter größten technischen Anstrengungen und Modifikationen, so zum Beispiel „Platoon“ von Oliver Stone oder „Full Metal Jacket“ unter der Federführung von Stanley Kubrick. Einen Ansturm auf die Rekrutierungsbüros der Air Force löste der Film „Top Gun“ aufgrund seiner Flugszenen aus.
Nach dem Ende des Kalten Krieges und dem Sieg im Zweiten Golfkrieg zur Jahreswende 1990/91 wich der kritische Unterton der Vietnamkriegsfilme einer meist nachdenklichen Würdigung kriegerischer Umstände vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges sowie des Golfkriegs, dies vor allem in Filmen wie „Der Soldat James Ryan“ oder „Der schmale Grat“. Auffällig ist dabei die Zunahme von Filmen und Serien mit einem kriminalistischen oder militärjuristischen Hintergrund. Zu nennen sind hierbei vor allem die Filme „Mut zur Wahrheit“ und „Eine Frage der Ehre“ sowie die Serie „JAG – Im Auftrag der Ehre“ und deren Ableger „Navy CIS“.
Presse
Aufgrund einer stets kritischen Medienberichterstattung ist das Pentagon seit jeher um gute Medienbeziehungen bemüht, wobei es auch immer wieder Instrumentalisierungsversuche gestartet hat. International bekannt wurden die im Jahre 2003 in die Kampfhandlungen des Irakkrieges eingebetteten Journalisten. Vor allem seit dem Zerfall der Sowjetunion ist das Verteidigungsministerium der Vereinigten Staaten um die Darstellung ihrer Kriegführung als „verhältnismäßig“ und „chirurgisch durchdacht“ bemüht. Aufgrund zahlreicher Fehlschläge seit Einführung der sogenannten Smart bombs („intelligente Bomben“) ziehen Analysten wie Fred Kaplan und Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch die tatsächliche Präzision dieser Smart bombs in Zweifel und verurteilen die US Air Force für vielfache vermeidbare Opfer. Ähnlich verhält es sich mit dem Einsatz von Streubomben.
Presse und Fernsehen ist es zu verdanken, dass einige Kriegsverbrechen der Streitkräfte der Vereinigten Staaten aufgedeckt wurden, zum Beispiel das Massaker von Mỹ Lai und der Abu-Ghuraib-Folterskandal.
World Wide Web
Die US-Streitkräfte sind bezüglich ihrer Außendarstellung im World Wide Web führend. Früh sicherte sich das Militär der Vereinigten Staaten die .mil-Top-Level-Domain. Alle militärischen Behörden, Stützpunkte, Waffengattungen, Einheiten ab mittlerer Größe und andere Institutionen betreiben eine Webpräsenz. Im englischsprachigen Web hat sich eine vielfältige Militär-Subkultur gebildet, die vom Pentagon zusammen mit Veteranen und Enthusiasten sowie zukünftigen Rekruten mitgestaltet wird. So gibt es zum Beispiel zahlreiche Soldaten-Communitys, in der Veteranen ehemalige Kameraden oder nach Lebenspartnern aus dem Militär suchen können. Daneben unterstützt das Verteidigungsministerium das mittlerweile unüberschaubar gewordene Netzwerk an Analysten, Denkfabriken und Bloggern. Allerdings existiert eine ebenso große Community, die das aktuelle Verteidigungsgeschehen kritisch begleitet.
Computerspiele
In den letzten Jahren hat vor allem seitens des Heeres ein stetig steigendes Interesse am Computer- und Videospielmarkt eingesetzt. Die Streitkräfte stehen Entwicklern zur Seite oder entwickeln selbst Spiele. Bekanntestes Beispiel ist die Produktion America’s Army. Die Army veröffentlichte den Ego-Shooter im Jahr 2002 und verbreitet ihn kostenlos als Anwerbespiel. Auf den Internet-Servern sprechen Rekrutierer die besten Spieler an.
Öffentliches Ansehen
Die Streitkräfte genießen in den Vereinigten Staaten hohes Ansehen. Einer Gallup-Umfrage vom Juli 2006 zufolge hatten 73 % der Befragten ein mindestens geringfügiges Vertrauen in das Militär. In dieser Umfrage überflügelte es damit die Polizei und religiöse Vereinigungen um knapp 15 Prozent.
Die höchsten Zustimmungsraten in der jüngeren Geschichte verzeichnete das Militär in der Folgezeit der Anschläge vom 11. September 2001. 79 % der Befragten hatten laut Umfrage im Jahre 2002 ein „hohes“ bis „sehr hohes“ Vertrauen in militärische Institutionen. Durch den Irakkrieg litt das Präsidentenamt wesentlich stärker als das Militär, das trotz des Vertrauensverlustes in dieser Periode weiterhin die höchsten Vertrauenswerte erhielt. Eine ähnliche Rangfolge wurde bei einer Harris-Umfrage im März 2006 ermittelt, die für alle Institutionen niedrige Werte registrierte und die Zustimmung enger definierte. Die erste Harris-Umfrage zur Glaubwürdigkeit gesellschaftlicher Institutionen im Jahre 1966 hatte 61 Prozent Zustimmung ergeben. Infolge des Vietnamkriegs sank dieser Wert auf 23 Prozent im Jahre 1971.
Siehe auch
Liste von Kontraktoren der Streitkräfte der Vereinigten Staaten
Einzelnachweise
Weblinks
Offizielle Internetpräsenz des amerikanischen Verteidigungsministeriums (englisch)
Militär International – USA
American War and Military Operations Casualties: Lists and Statistics Congressional Research Service
Wehrpflicht
Verfassungsrecht (Vereinigte Staaten)
Gegründet 1784 |
101688 | https://de.wikipedia.org/wiki/Victoria%20%28British%20Columbia%29 | Victoria (British Columbia) | Victoria ist die Hauptstadt der kanadischen Provinz British Columbia. Sie liegt am Südzipfel von Vancouver Island und hat ihren Ursprung in einem im Jahre 1843 errichteten Handelsposten der Hudson’s Bay Company. Der Name geht auf die britische Königin Victoria zurück.
Unter dem Namen Fort Victoria wurde die Stadt zum Zentrum des Pelzhandels in den westlichen Gebieten Kanadas. Sie entstand in einem Gebiet, das von den Küsten-Salish bewohnt war, einer großen Gruppe indianischer Ethnien, die im Nordwesten der USA und in British Columbia lebt. Die Stadt steht, abgesehen vom Parlamentsgebäude, dessen Grund 2006 von der Stadt gekauft wurde, bis heute auf Indianergebiet.
Aus dem zentralen Handelsposten entwickelte sich die Hauptstadt der britischen Kronkolonie Vancouver Island, dann der Vereinigten Kolonien von Vancouver Island und British Columbia und schließlich der gleichnamigen kanadischen Provinz. Ihre wirtschaftliche Basis war anfangs der Handel, zu dem sich Verwaltung, Militär und Polizei, dann die Marine gesellten. Die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen, vor allem von Holz, Kohle und der fischreichen Gewässer, besonders aber die Goldfunde auf dem Festland machten die Ansiedlung zu einer vergleichsweise großen Stadt. Sie wurde jedoch von Vancouver überflügelt. Starke Zuwanderung aus Großbritannien und politische Dominanz gaben ihr einen ausgesprochen „englischen“ Charakter.
Der Ballungsraum Capital Regional District umfasst neben der eigentlichen Stadt Victoria (85.792 Einwohner im Jahr 2016) noch zwölf weitere Gemeinden, die zusammen 367.770 Einwohner zählen. Gleichzeitig ist die Stadt Teil und Kern der Metropolregion Greater Victoria.
Geografie
Die Kernstadt Victorias (Downtown) liegt an einer kleinen Bucht auf der dem Pazifik abgewandten Südostseite von Vancouver Island, die der westkanadischen Provinz British Columbia vorgelagert ist. Dazu kommen die umgebenden sogenannten Nachbarschaften (neighbourhoods), die zusammen das Stadtgebiet ausmachen. Die Stadt wiederum bildet den Kern des Capital Regional District, zu dem der Ballungsraum zusammengefasst wurde. Der überwiegende Teil der Bewohner von Vancouver Island lebt hier.
Die Juan-de-Fuca-Straße trennt die Insel von den Vereinigten Staaten, deren Olympic Mountains von Victoria aus im Süden zu sehen sind. Östlich liegt die Straße von Georgia, in der sich Hunderte von Inseln befinden, die unter dem Namen Gulf Islands bekannt sind. Die umgebende Hügellandschaft schützt das Stadtgebiet vor den ergiebigen Regenfällen an der Westküste der Insel. Zugleich liegt der Ort so günstig, dass er von Stürmen nur selten erreicht wird.
Die Stadt liegt südlich des 49. Breitengrades, der ansonsten ostwärts bis zu den Großen Seen die Grenze zwischen den USA und Kanada darstellt.
Flora und Fauna
Die Gärten und Parks der Stadt gehen auf viktorianische Einflüsse zurück, aber auch auf indianische. Die Briten waren anfangs überrascht, eine Landschaft anzutreffen, die ihren Idealen so nahekam. George Simpson, Gouverneur der Hudson’s Bay Company (HBC), der diese Stelle als Standort für den Haupthandelsposten aussuchte, sah in der Landschaft mit ihrer parkartigen Erscheinung . Die Wahl des Ortes wurde also maßgeblich vom Landschaftsbild, allerdings auch vom milden Klima und dem natürlichen Hafen beeinflusst.
Die Schöpfer dieser Kulturlandschaft um Victoria waren die Songhees, eine zu den Küsten-Salish zählende ethnische Gruppe, die heute als „Stamm“ anerkannt ist. Sie pflanzten Camassia quamash an, meist vereinfachend als Camas bezeichnet, eine früher für ein Liliengewächs gehaltene Agavenart mit blauen Blüten. Ihre Zwiebeln schmecken wie sehr süße, gebackene Tomaten, manche auch wie Birnen. Sie haben einen Durchmesser von 4–8 cm und wiegen bis über 100 g. Besonders dieser Anbau und die Pflege des Bodens verwandelten die Landschaft im Laufe der Jahrhunderte und gaben ihr den parkartigen Charakter. Zudem war die Pflanze ein begehrtes Handelsobjekt.
Die baumarmen Zonen wurden durch den gezielten Einsatz von Feuer geschaffen. Besonders wichtig war für die Songhees eine bestimmte Eichenart, die Oregon-Eiche (Quercus garryana), die einem der Nachbarorte ihren Namen gab. Neben dem Grasland bildeten sie ein ganz eigenes Ökosystem, neben von Douglasien oder Sümpfen dominierten küstennahen Gebieten. Die Oregon-Eiche ist zwischen British Columbia und Kalifornien verbreitet, wächst aber am besten um Victoria. Sie ist nach Nicholas Garry (ca. 1782–1856) von der Hudson’s Bay Company benannt und wird bis über vierhundert Jahre alt. Um 1800 umfasste dieses System noch rund 15 km² im Gebiet von Victoria, heute sind davon nur noch 21 ha übrig. Die großen Parks im heutigen Stadtgebiet speisen ihr Erscheinungsbild bis heute aus der englischen und der indigenen Kultur.
Die von den Einwanderern vorgefundene Vegetation entsprach also schon lange nicht mehr dem sonst an der Westküste vorherrschenden gemäßigten Regenwald, der überwiegend aus Sitka-Fichten, Riesenlebensbäumen, Westamerikanischen Hemlocktannen, Douglasien und Pazifischen Eiben bestand. In diesem doppelten Sinn nennt sich die Stadt gern Great Victoria – The City of Gardens.
Lachs war die Hauptnahrung der Küsten-Salish und spielt für die Ernährung der Stadt bis heute eine wichtige Rolle. Vor allem San Juan Island wurde häufig mit Kanus angefahren. Auch andere Fische wie Hering und Heilbutt, aber auch Vögel – Victoria hat seit 1931 im Hafenbereich ein 134 ha großes Schutzgebiet für Zugvögel – standen und stehen auf der Speisekarte, dazu Muschelarten wie Tresus nuttallii, die im Englischen horse clam (Pferdemuschel) genannt wird.
Der Tourismus profitiert in hohem Maße von der Fauna der Umgebung. Das gilt vor allem für die Wale, die allerdings zunehmend durch schnelle Boote der Walbeobachter (Whale watching) belästigt werden. Das betrifft vor allem die Orcas der southern resident population, eine ortsfeste Population, die aus etwa 80 Tieren besteht.
Klima
Wie vor der gesamten Westküste macht sich der Einfluss der Kuroshio-Strömung stark bemerkbar. Das Klima ist sehr mild; selten steigen die Temperaturen über 30 °C oder fallen unter 0 °C. An durchschnittlich zwei Tagen pro Jahr fällt die Nachttemperatur unter −5 °C. Die Sommer sind trocken und die Winter feucht, aber sie sind auch die mildesten in ganz Kanada. Im Jahr fallen durchschnittlich 883 mm Niederschlag, während in Vancouver fast die eineinhalbfache Regenmenge fällt. An der Westküste der Insel hingegen herrschen ergiebige Regenfälle vor, die bis zu achtmal so umfangreich sind wie in Victoria. Im Schnitt fallen 43,79 cm Schnee pro Jahr, nur selten fallen über 100 cm. Jeder dritte Winter ist praktisch ohne Schnee. Dabei erhält die Stadt über 2200 Sonnenscheinstunden pro Jahr.
Stadtbild und -gliederung
Downtown
Die Innenstadt (Downtown) mit Fußgängerzone, Lokalen und Geschäften befindet sich östlich des Upper Harbour und des Inner Harbour, an dem sich die Sehenswürdigkeiten wie die Parlamentsgebäude und das Fairmont Empress Hotel befinden. Downtown steht überwiegend unter Denkmalschutz, vor allem die vor 1945 errichteten Gebäude. Aus den ehemaligen Lagerhäusern, Büros, Bars, Bordellen und Hotels sind, ebenso wie aus den Barackensiedlungen der Frühzeit Restaurants, Geschäfte, Pubs und Kunstgalerien geworden. Im ehemaligen Gebäude des Provinzgerichts war lange das Maritime Museum of British Columbia untergebracht. Der Gerichtssaal von 1889 ist vollständig erhalten und das Gebäude wurde 1981 zur National Historic Site of Canada erklärt.
Im Inner Harbour legen Fähren an, wenn auch nur noch die kleinen Schiffe nach Port Angeles in Washington. Dabei macht ihm der eigentliche Stadthafen Fisherman's Wharf erhebliche Konkurrenz.
Neighbourhoods
12 Neighbourhoods bilden die City of Victoria:
Downtown-Harris Green, Downtown der älteste Siedlungskern, Chinatown (dort siedelten sich die ersten Chinesen in der Stadt an, von denen Chinatown bis heute stark geprägt ist),
Burnside Gorge (Burnside und Rock Bay),
Fairfield-Gonzales,
Fernwood,
Hillside Quadra,
James Bay
Jubilee (North J. und South J.),
North Park
Oaklands,
Rockland,
Victoria West.
Ortsteile wie Fairfield (zwischen Beacon Hill Park und Oak Bay) haben kleinstädtischen Charakter mit niedriger, meist viktorianischer Bebauung und Alleen. Der Ort geht auf James Douglas’ Fairfield Farm zurück. Ähnlich beruht Fernwood, das bis in die 1850er Jahre nur den Verbindungsweg von dem Songhee-Dorf in der Cadboro Bay zum Fort in Downtown bildete, auf der Hillside Farm. Fernwood Manor, das der Neighbourhood den Namen gab, entstand 1860. Oak Bay (‚Eichenbucht‘) mit ähnlichen Eigenheiten geht ebenfalls auf die Songhees zurück. Der Name leitet sich von den Garry-Eichen ab. Hier residieren zahlreiche vermögende Ruheständler. Bereits im 19. Jahrhundert wehrten sich seine Bewohner gegen jede Industrialisierung. Ursprünglich hatte die Hudson’s Bay Company hier eine Viehfarm errichtet, die der Versorgung des Forts diente, die Cadboro Bay Farm.
Zu James Bay gehören mehrere Parks. Von Downtown südostwärts, vorbei am Royal British Columbia Museum, mit Thunderbird Park und Helmcken House, trifft man auf den bekanntesten, den Beacon Hill Park, der sich auf 75 ha bis an die Küste, also an die Juan-de-Fuca-Straße, erstreckt, die einen Teil der Salish Sea bildet, die Vancouver Island vom Festland trennt. Der nach einem kleinen Hügel im Kernbereich benannte Park (dort befand sich als beacon oder Bake, bzw. Leuchtfeuer, ein Fass auf einem Knüppel, um vor dem Felsen von Brotchie Ledge zu warnen) wurde bereits 1882 eingerichtet, war jedoch schon seit 1858 ein geschütztes Gebiet. Es war eine Begräbnisstätte der lokalen Indianer, zu deren Ehren Mungo Martin, der auch federführend den Thunderbird Park gestaltete, 1956 einen 38,8 m hohen Totempfahl errichtete. Dies war die Gegend, von der James Douglas bei seiner ersten Exploration 1842 so begeistert war: „The place itself appears a perfect ‘Eden’ in the midst of the dreary wilderness of the North …“ („Der Ort selbst erscheint als perfekter Eden inmitten der trübseligen Wildnis des Nordens …“). Zu dieser Zeit lebten die rund 1.600 Songhees in zwei Dörfern am Esquimalt Harbour und in der Cadboro Bay. Zwar bestanden im Beacon Hill Park keine Siedlungen, doch kurze Zeit davor stand vor Beacon Hill eine Verteidigungsanlage am Finlayson Point (erbaut um 950), dazu am Holland Point im Südwesten und am Clover Point im Nordwesten des Parks. James Deans, der als erster Archäologe der Stadt gilt, entdeckte 1871 allein im Parkgebiet 23 Begräbnisstätten (cairns). Die meisten wurden zerstört, doch 1986 wurden vier von ihnen restauriert. Schon die Indianer spielten im Park ein hockeyartiges Ballspiel namens qoqwialls, das mit Eichenstöcken gespielt wurde.
Einer der ältesten Arbeitgeber der Stadt, die Brauerei Vancouver Island Brewery, befindet sich im nördlich von Downtown gelegenen Rock Bay. Insgesamt macht sich hier die Industrialisierung viel stärker bemerkbar, und erst langsam beginnt die Beseitigung ihrer negativen Auswirkungen.
Capital Regional District
Nachbarorte im Capital Regional District sind Esquimalt, Oak Bay und Saanich, wobei letzteres wieder in North, Central Saanich, South Saanich und East Saanich aufgeteilt ist. Eine eigene Gemeinde bildet das im Norden gelegene Sidney, von wo Fähren zum Festland (nach Anacortes) ablegen. Der internationale Flughafen und Fähranleger nach Vancouver liegen ebenfalls nahe beim 11.000-Einwohner-Ort, der auch „Sidney by the Sea“ genannt wird. Oak Bay, nach der charakteristischen Garry-Eiche benannt, hat über 18.000 Einwohner, liegt an der Ostküste und wird als „Tweed Curtain“ bezeichnet, um seine besonders englischen Eigenarten – Teehäuser, britische Süßigkeiten usw. – zu betonen.
Mit knapp 110.000 Einwohnern ist Saanich nicht nur erheblich größer, wenn auch ähnlich britisch, sondern auch weniger ländlich. Es beherbergt die Universität von Victoria mit über 18.000 Studenten, das Dominion Astrophysical Observatory, das bis 1918 das größte Teleskop der Welt besaß, und das renommierte Horticulture Centre of the Pacific. Der Ortsname geht auf die dort ansässigen Küsten-Salish zurück, die Saanich.
Zum Regional District gehören auch ländliche Bezirke wie der District of Highlands. Hier ist es bereits kühler und erheblich feuchter als in Victoria. Der Lone Tree Regional Park ist Höhepunkt eines Ökosystems, das seit 1966 zunehmenden Schutz genießt, obwohl dies immer wieder mit Grundstücksspekulationen kollidiert. Es besteht aus insgesamt 30 Parks und Wanderpfaden. Der District of Langford mit 18.000 Einwohnern wurde erst 1992 eingegliedert. Zu ihm gehören der Glen Lake, das Happy Valley, der Florence Lake, der Ort Langford selbst, die Thetis Heights und das Goldstream-Gebiet. Wie in vielen ländlichen Gebieten stellt auch hier die Royal Canadian Mounted Police die Polizei. Die Bewohner haben meist eigene Brunnen, und ähnlich wie die Highlands trägt auch dieses Gebiet zur Trinkwasserversorgung Victorias bei. Südlich bis zur Küste schließt sich der District of Metchosin an, der kaum 4.800 Einwohner zählt und 1984 eingegliedert wurde. Zu ihm gehören Albert Head, William Head, Rocky Point, das Happy Valley und das Gebiet um die Kangaroo Road. Hier hat das Pearson College seinen Sitz. In den letzten Jahren kam es in diesen ländlichen Gebieten häufig zu Auseinandersetzungen wegen des Baus von Golfplätzen, Straßen und neuer Siedlungen, die das Ballungsgebiet immer weiter ausdehnen.
Westlich schließt sich der 1999 eingegliederte District of Sooke mit knapp 10.000 Einwohnern an. Hier ballen sich Parks wie der Galloping Goose Linear Park, der East Sooke Park (mit 1.422 ha Fläche der größte Park im Ballungsraum), Sooke Pot Holes, dazu kommt der Sooke Harbour. Der bekannteste Wanderweg der Westküste, der West Coast Trail, hat hier Richtung Renfrew seinen Zugang. Dazu kommt der Juan de Fuca Marine Park bis Jordan River.
Die westlich des Ballungsraums Victoria vorgelagerten Bezirke von Malahat, dem der gleichnamige Stamm seine Bezeichnung verdankt, Shawnigan Lake und Mill Bay sind infrastrukturell noch kaum mit Victoria verbunden und sehr ländlich.
Nach der Volkszählung von 2011 hatten die Orte und Distrikte im Capital Regional District folgende Einwohnerzahlen:
Geschichte
→ Siehe auch: Geschichte der Küsten-Salish, Geschichte British Columbias
Frühgeschichte der Region
Die regionalen Indianerkulturen lassen sich mindestens 4000 Jahre zurückverfolgen, die Besiedlung dürfte früher eingesetzt haben. Zwischen etwa 500 und 1000 n. Chr. ist ein Kennzeichen dieser südlichen Küsten-Salish-Gruppen um Victoria eine große Zahl von Steinhaufengräbern (cairns), auch burial mounds (Begräbnis-Mounds) genannt. Allein in der Rocky Point Area westlich von Victoria finden sich heute rund 400 dieser cairns. Sie sind in der Landschaft nicht immer leicht zu erkennen und bieten häufig Anlass zu Auseinandersetzungen (auch gerichtlichen), da sie eine städtebauliche Tabuzone darstellen, ähnlich wie die Reservate und die Provinzparks.
Die Gesellschaften, die diese Monumente hervorgebracht haben, basierten auf Sammeln und Jagd, die in saisonalen Wanderzyklen erfolgten. Dabei bestand – ähnlich wie im zeitgenössischen Europa – eine Dreiteilung der Gesellschaft in einen ökonomisch, kultisch und politisch vorherrschenden „Adel“, dann die einfachen Stammesangehörigen und schließlich Sklaven. Die Winterdörfer bestanden aus großen Langhäusern, die meist aus dem Holz des Riesenlebensbaums erbaut wurden. Große, oft stammesübergreifende Zeremonien wie das Potlatch befestigten die soziale Stellung der Stammesmitglieder und dienten zugleich dem Reichtumsausgleich durch Verschenken. Prinzipiell steht die Stadt, abgesehen vom Parlamentsgebäude, dessen Grund 2006 von der Stadt gekauft wurde, bis heute auf Indianergebiet. Die Entschädigungsverhandlungen sind noch in einem frühen Stadium.
Am Finlayson Point fand man ein befestigtes Winterdorf der Songhees aus der Zeit vor 1800, das überwiegend aus Langhäusern bestand. Ihre Siedlungen reichten von Songhees Point bis zur heutigen Johnsons Street Bridge. Da wo heute das Delta Hotel steht, stand das Langhaus des Häuptlings Cheetlam George. Songhees Point, am Eingang zum Inner Harbour, hieß Pallatsis, also „Wiegenplatz“, denn dort ließen die Kinder, die laufen gelernt hatten, ihre Wiegen zurück, was ihnen ein langes Leben sichern sollte.
Das heutige Stadtgebiet war also von den Songhees oder Lekwungen bewohnt, die eine vielschichtige Kulturlandschaft geschaffen hatten, als James Cook 1778 als erster Brite den Boden des späteren Britisch Columbia betrat. Nur vier Jahre zuvor hatte Spanien das Gebiet offiziell in Besitz genommen, musste es jedoch 1794 endgültig aufgeben. Am 30. Juni 1790 erreichte der Spanier Don Manuel Quimper das heutige Esquimalt, beanspruchte es für Spanien und nannte es Puerto de Cordova. Erst die Teilnehmer der Expedition George Vancouvers betraten als erste Europäer das Gebiet des heutigen Victoria.
Fort Camosun
1842 suchte der spätere Gouverneur James Douglas einen geeigneten Ort für einen größeren Handelsposten und besuchte daher Sooke, Beecher Bay, Metchosin, Esquimalt und den späteren Hafen von Victoria. Ihm schien der letztere Platz optimal zu sein.
1843 begann die europäische Besiedlung. In diesem Jahr wurde am 4. Juni der Bau von Fort Camosun, einem Handelsposten der Hudson’s Bay Company begonnen, der später als Fort Victoria bezeichnet wurde. Camosack bzw. Camosun ist die anglisierte Form des Songhee-Wortes Kuo-sing-el-as, das die starken Fasern des Pazifischen Weidenbaums (Salix lucida, Unterart lasiandra), einer nur zwischen Alaska und Kalifornien vorkommenden Art, bezeichnete. Netze aus diesen Fasern dienten vorrangig dem Fischfang. Das Indianerdorf neben dem Fort wurde bereits 1844 umgesiedelt – erstmals erfahren wir, dass die Bewohner entgegneten, das Land sei ihres –, 1853 erhielt der Stamm ein Reservat. 1.200 von ihnen halfen beim Setzen der Schanzpfähle. Ihre Gesamtzahl wird auf 1.600 geschätzt. Um dem Fort näher zu sein, das Arbeits- und Handelsmöglichkeiten bot, zogen die Indianer zunächst in ein Dorf namens Skosappsom, das dort stand, wo sich heute das Gebäude der Legislativversammlung befindet. Viele zogen aus der Cadboro Bay fort und bauten Häuser an der Johnson Street, wo heute das Empress Hotel steht. Ihr Hauptdorf lag jedoch auf der dem Fort gegenüberliegenden Hafenseite, in Schussweite der Kanonen. Vergebens versuchten die Indianer 1845 den Zwischenhandel zu monopolisieren, indem sie anderen Händlern ihre gegen Pelze eingetauschten Waren raubten.
Anfangs brauchten die 40 Briten nur wenig Land, doch bereits 1855 waren im heutigen Beacon Park rund 160 Acre unter den Pflug genommen worden. Derweil verzehrten die Schweine und Schafe die Camas-Pflanzen der Songhees. Außerdem verloren die Songhees im Park zahlreiche Begräbnisstätten, in einem Gebiet, das James Douglas bereits 1849 als Park Reserve betrachtete. Als die Songhees einige Tiere töteten, richtete Roderick Finlayson, Leiter des Forts, eine Kanone auf das Haus des Häuptlings, warnte die Bewohner, und ließ das Haus zusammenschießen.
Kronkolonie, Goldsucher
Nach der Gründung der Kronkolonie Vancouver Island im Jahr 1849 wurde die Siedlung weiter ausgebaut und zur Hauptstadt erhoben. Die Hudson’s Bay Company hatte die Insel unter der Maßgabe übernommen, für die Besiedlung zu sorgen. Bereits 1846 war am Mill Stream nördlich des Stadtkerns eine erste Sägemühle entstanden. Die Hudson’s Bay Company bemühte sich zugleich, den ausschließlich auf Handel basierenden Aktivitäten neue hinzuzufügen und gründete die Puget Sound Agricultural Company. Diese Landwirtschaftsgesellschaft erhielt von der Hudson’s Bay Company am 17. Mai 1854 Land auf dem Gebiet der Kosapsom, der heutigen Esquimalt Nation. Damit entstand die erste Farm auf Vancouver Island, die Craigflower-Farm, die bis heute besteht und als historisches Erbe unter Schutz steht.
Ab 1852 setzte sich eine anfangs schwache, dann anschwellende Besiedlungswelle nach Norden in Bewegung, nachdem London der Kolonie den Verkauf unbewohnten Landes gestattet hatte. Nach Goldfunden auf dem Festland (Fraser-Canyon-Goldrausch ab 1858) wurde Victoria zur Versorgungsbasis der Schürfer. Die 300-Einwohner-Stadt wuchs binnen weniger Monate auf über 5.000 an, so dass sich hier erstmals eine Tageszeitung halten konnte, die bezeichnenderweise The British Colonist hieß. Weitere 10.000 bis 20.000 Menschen nahmen hier nur kurzzeitig Aufenthalt, um weiter nordwärts Richtung Yale zu ziehen. Allein im Sommer 1858 entstanden in Victoria 225 Gebäude. 1859 baute die Hudson’s Bay Company ein neues Warenhaus, erstmals aus Ziegeln, wo die Goldschürfer Mehl, Pfannen, Stiefel, Decken und Munition kauften. Dahinter entstand die Commercial Row, eine Reihe von Läden. Um die stark angewachsene Investitionsbereitschaft weiter zu verstärken, wurde die Stadt 1860 zum Freihafen erklärt. Gleichzeitig entstanden Polizeibaracken und ein großes Gefängnis, mit dessen Hilfe man versuchte, die gesetzlosen Männer unter Kontrolle zu halten. Dazu kamen 1859 und 1860 drei Feuerwehrbrigaden. Die Goldsucher fanden sich bei James Yates ein, der bereits 1853 die erste Gastwirtschaft, The Ship Inn, in Victoria eröffnet hatte. Weiter nordwärts, am Stadtrand, befanden sich die Spelunken der Johnson Street, die meisten gehörten Alfred Waddington. Bis zum Klondike-Goldrausch waren die Bürgersteige und Häuser aus Holz. Die Nachfolgebauten aus der Zeit um 1900 stehen überwiegend noch heute. Vierzig Jahre lang prägte der Goldrausch durch Funde an verschiedenen Stellen die Stadt.
1862 wählte die nun als Stadt anerkannte Siedlung ihren ersten Bürgermeister Thomas Harris. Land wurde in Auktionen versteigert. Erste Gaslichter wurden installiert, die die Eingänge von Saloons beleuchteten und bald an jeder Straßenkreuzung standen. Den Mangel an Frauen versuchte man durch Anwerbung von Heiratswilligen zu mildern, wie im September 1862, als die Tynemouth 61 junge Frauen am Hafen absetzte. 1864 konnte man, da die katastrophale Pockenepidemie von 1862 die kriegerischen Stämme des Nordens stark dezimiert hatte, das alte Fort abreißen und die Grundstücke verkaufen.
Die meisten Zuwanderer kamen aus Kalifornien. Der Einfluss der USA wuchs – obwohl diese bereits 1846 auf ihre Ansprüche verzichtet hatten – und in gleichem Maße die Sorge, dass dies auch politische Folgen haben könnte. Die Ansiedlung der Flotte im nahe gelegenen Esquimalt dürfte damit in Zusammenhang gestanden haben. Darüber hinaus kam es wegen amerikanischer Sklaven, die geflohen waren, zu Auseinandersetzungen. So setzte der Sheriff von Victoria im September 1860 unter Androhung von Gewalt durch, dass ein geflohener „negro“ namens „Charlie“ nicht wieder in die USA zurückgebracht wurde.
Doch gelang es der Hudson’s Bay Company unter Führung des Gouverneurs James Douglas während des folgenden Cariboo-Goldrauschs (ab 1861), den Goldsucherstrom über Vancouver und das Fraser-Tal abzulenken und politisch unter Kontrolle zu halten. Zugleich förderte er die Zuwanderung aus Europa, besonders aus England. Zusätzlich brachte ein kurzer Goldrausch am nahe gelegenen Leech River (1864) Goldschürfer nach Victoria, die Richtung Sooke zogen, und für die eine erste Straße gebaut wurde. Dort entstand Leechtown, wo noch heute in bescheidenem Ausmaß Gold gefunden wird. Mit dem Wachstum verlor die Hudson’s Bay Company nach und nach ihren Einfluss. Aus dem Handelsposten war binnen 25 Jahren die wichtigste Stadt an der Westküste des britischen Nordamerika geworden.
Songhees
1853 wurde das Siedlungsgebiet der Songhees verkleinert, doch sicherte ihnen Gouverneur James Douglas vertraglich zahlreiche Nutzungs- und Schutzrechte zu – eine der wenigen vertraglichen Abmachungen mit den First Nations in der Provinz. Hingegen wurden im übrigen Kanada Verträge wie die Numbered Treaties geschlossen.
Von Anfang an entwickelte sich eine enge Kooperation zwischen der Siedlung und den Songhees, die beim Aufbau des Forts geholfen hatten, sowie den anderen Stämmen der Küsten-Salish, auch jenseits der Salish Sea. Viele brachten Otter- und Biberfelle, Tran und Fett zum Handeln mit und versorgten die Stadt mit Baumaterial, Arbeitskraft und Lebensmitteln. Ihre Kanus beförderten die Post. 1859 kampierten über 2.800 Indianer nahe der Stadt, davon vielleicht 600 Songhees. Die übrigen waren Haida (405), Tsimshian (574), Stikine River Tlingit aus Südalaska (223), Duncan Cowichan (111), Heiltsuk (126), Pacheedaht (62) und Kwakwaka'wakw (44). Doch diese Art der Kooperation brach 1862 binnen weniger Wochen durch eine katastrophale Pockenepidemie zusammen, die fast alle Stämme zwischen Washington und Alaska traf. James Douglas schätzte schon die Masern von 1848 als für die Songhees schlimmer ein als die Pockenepidemie von 1836. Im Jahr 1853 starben abermals 10 % der Songhees, doch ist unklar, ob es Masern oder Pocken waren. Die Songhees wurden von der Epidemie von 1862 jedoch weitgehend verschont, da John Sebastian Helmcken mehrere hundert von ihnen impfen konnte.
Die dezimierten Indianer wurden ab 1876 in Reservaten zusammengefasst – um Victoria gehörten sie zur Cowichan Indian Agency, die große Teile der Insel umfasste –, und unterlagen fortan wie in ganz Kanada einer eigenen Gesetzgebung, dem Indian Act. 1911 siedelten die Songhees auf der Basis eines noch heute gültigen Vertrags in die Gegend von Esquimalt um.
Esquimalt wurde 1865 zum Stützpunkt der kanadischen Flotte im Pazifik. Die wachsende Handelsflotte Victorias, immerhin 59 Schoner, basierte selbst 1894 noch zu erheblichen Teilen auf indianischer Arbeitskraft. 518 der 1.336 Beschäftigten waren Indianer. Allein bei der Robbenjagd im Jahr 1901, bei der 39 Schiffe beteiligt waren, die insgesamt über 23.000 Tiere im Nordpazifik erbeuteten (weniger als ein Drittel vor British Columbia), waren zahlreiche Kanus beteiligt. In ihnen arbeiteten 236 Männer – wohl ausschließlich Indianer, die 1.268 Tiere erlegten. „Weiße“ waren rund 440 beschäftigt.
Politischer Aufstieg und vorenthaltene Industrialisierung
Ab 1862 war Victoria eine Stadt mit gewähltem Bürgermeister. Nach der politischen Vereinigung der Kronkolonie Vancouver Island mit der 1858 geschaffenen Kronkolonie British Columbia wurde Victoria 1868 Hauptstadt der Vereinigten Kolonien von Vancouver Island und British Columbia, aus der drei Jahre später die kanadische Provinz British Columbia hervorging.
James Douglas wurde der zweite Gouverneur der Kolonie (bereits 1851 von Vancouver Island, 1858 der Kronkolonie British Columbia). Ihm folgte Arthur Edward Kennedy bis 1864. Zunächst wehrten sich die politischen Vertreter gegen den Beitritt zur Kanadischen Konföderation. Doch vor allem John Sebastian Helmcken, der die Bahnverbindung zur Vorbedingung für den Beitritt zu Kanada gemacht hatte, und Joseph William Trutch setzten sich schließlich erfolgreich dafür ein. Endpunkt der Eisenbahn war das schnell wachsende Vancouver, das Victoria bald den Rang als Wirtschaftszentrum des Westens ablief.
Die erste Tagung der Legislativversammlung von Vancouver Island fand 1856 in Fort Victoria statt. Drei Jahre später entstanden erste Regierungsgebäude an der James Bay, South Fork, die als „Vogelkäfige“ bezeichnet und erst 1897 durch das heutige Parlamentsgebäude ersetzt wurden. Außer von 1866 bis 1868, als für kurze Zeit New Westminster Hauptstadt war, tagte hier die Provinzregierung. Das heutige Gebäude wurde 1898 eingeweiht. Bereits 1890 war das seit 1875 von John Teague entworfene Rathaus, die City Hall, im Stil des Second Empire fertiggestellt worden. Das Rathaus wurde am 17. November 1977 von der kanadischen Regierung als Victoria City Hall National Historic Site of Canada zum nationalen Denkmal von historischer Bedeutung erklärt.
Der erste Zensus wurde 1871 in Victoria durchgeführt, 1881 auf ganz Vancouver Island, erneut 1891 und 1901. British Columbia hatte demnach 176.546 Einwohner, davon knapp 21.000 in Victoria, von denen 333 angaben, „Indians“ zu sein. Zählt man alle Menschen zusammen, die als „rot“ bezeichnet wurden, so ergibt sich eine Gesamtzahl von 532.
Ab 1861 erlebte Vancouver Island einen erneuten Zuwanderungsschub, als der Cariboo-Goldrausch ausbrach. Über die Cariboo Road (auch Cariboo Wagon Road oder Great North Road genannt) wanderten in den nächsten Jahren über 100.000 Männer Richtung Barkerville, doch der überwiegende Teil von ihnen landete zunächst in Vancouver, nicht in Victoria. Nicht nur Goldfunde (wie bei Sooke), auch Kohlefunde lockten zahlreiche Menschen an, dazu Holzeinschlag, Fischfang und Landwirtschaft. Später kamen zu diesen sich schnell entwickelnden Industrien weitere hinzu, zunächst vor allem der Eisenbahnbau. Die Baustellen der Canadian Pacific Railway und der Esquimalt and Nanaimo Railway zogen Tausende an. Dazu kam eine beginnende Urbanisierung um Victoria, das 1901 bereits 20.919 Einwohner hatte.
Mit dieser wachsenden Einwohnerzahl erhielten die Industriezweige Transport und Kommunikation wiederum starke Impulse. 1880 installierte die Victoria and Esquimalt Telephone Company eine erste Telefonleitung zwischen der Hauptstadt und Esquimalt, 1886 wurde die Esquimalt and Nanaimo Railway nach Nanaimo fertiggestellt. Die R.P. Rithet, ein Dampfboot, fuhr den Fraser River aufwärts bis nach Yale. Aber auch die Bauindustrie wuchs und schließlich mit ihr zusammenhängende Zweige wie die Möbelindustrie. Pionier war hierbei John J. Sehl, der ein Möbelgeschäft in der Government Street betrieb. Geboren 1832 in Deutschland, kam er mit zwölf Jahren nach New York, war 1849 in Kalifornien, später am Fraser und bei Sooke als Goldsucher tätig, heiratete eine Indianerin namens Elizabeth (Van Allman) aus Iowa. In Victoria betrieb er bis zu seinem Tod am 18. Juni 1904 die Sehl Furniture Company, die sein Sohn John L. Sehl fortführte, der ebenfalls eine Indianerin heiratete (Celia Tiber aus North Dakota). Ein zweiter Deutscher, John Weiler aus Nassau (geb. 1824), hatte einen ähnlichen Weg hinter sich und gründete nach 1861 ebenfalls ein Möbelunternehmen, das schließlich zum größten in der Provinz aufstieg.
Zunehmend beherrschten jedoch Industrielle, allen voran Robert Dunsmuir mit seinen Beteiligungen an Kohlegruben und Eisenbahnbauten, die Hauptstadt. Sein Sohn James Dunsmuir wurde sogar Premierminister und Vizegouverneur der Provinz. Der Bauboom dieser bis zum Ersten Weltkrieg andauernden Prosperitätsphase prägt bis heute das Stadtbild, das ausgesprochen viktorianisch wirkt. Dabei dominierten beim privaten Hausbau Holzhäuser und im öffentlichen Bereich Ziegelbauten. Die umliegenden Städte wuchsen zunehmend mit der Metropole zusammen, wie etwa Esquimalt, der Oak Bay District und weitere Orte auf der Saanich-Halbinsel, der Heimat der namengebenden Saanich, denen man 1877 ein Reservat zuwies. Postverbindungen bestanden nach San Francisco (dreimal monatlich per Dampfboot) und Portland, eine Telegrafenleitung via Nanaimo verband die Stadt ebenfalls mit dem Festland. Die Wasserversorgung erfolgte vom Elk Lake her. 1884 installierte man die ersten elektrischen Leuchten.
Es entwickelte sich eine industrielle Struktur mit den Schwerpunkten Brauerei (die erste war die Lion Brewery, die bis nach San Francisco exportierte, 1858 entstand die Brauerei für Lager- und Bockbier von Joseph Loewen and L. E. Erb), Eisen- und Blechverarbeitung, Seifenproduktion, Schuhe (die erste Schuhfabrikation begann Maurice Carey in der Yates Street), Handschuhe und Stiefel, Streichhölzer und Zigarren (John Kurtz' White Labor Cigar Factory produzierte Havanna-Zigarren). Auch der Tourismus setzte bereits ein, Hotels entstanden, auch als Ziegelbauten, und sogar Kutschenverleihe waren profitabel. Der gehobene Lebensstil machte die Stadt bald zu einem wichtigen Konsumzentrum, nicht nur für Rohmaterialien, sondern zunehmend auch für Importwaren, wie etwa Tee.
Dabei war die Fluktuation in der Stadt, die um 1882 ca. 7.000 Einwohner zählte, hoch. Dazu kam, dass in jedem Winter rund 1.000 Fischer, Minenarbeiter und Straßenbauer in die Stadt zurückkehrten, eine Zahl, die sich seit 1877 verdoppelt hatte. Trotz Kohlefunden, Eisenbahnverbindung usw. auf Vancouver Island entwickelte sich die Stadt nicht zur Industriemetropole, sondern blieb ein Regierungs- und Verwaltungszentrum, das eher im regionalen Handel eine gewisse Rolle spielen konnte, aber wirtschaftlich immer mehr im Schatten von Vancouver und Seattle stand.
Zuwanderer aus dem pazifischen Raum
Die Mehrheit der Zuwanderer waren Briten (also Engländer, Schotten, Waliser) und Iren. Sie kamen zunächst mit der Hudson’s Bay Company, wurden aber auch gezielt für die Kolonisierung um Victoria angeworben und dienten so als Gegengewicht gegen die starke Zuwanderung aus den USA, vor allem aus Kalifornien.
Die erste größere Gruppe Chinesen kam 1858 im Zuge des Cariboo-Goldrauschs, nachdem schon einige der Entdecker Chinesen an Bord gehabt hatten. Viele stammten aus der chinesischen Provinz Guangdong. Die meisten wohnten entlang der heutigen Johnson Street in Zelten oder Holzhütten an der Nordseite eines Baches, der zu jener Zeit dort noch floss, und betrieben den Anbau von Gemüse, das sie bald in der Stadt verkauften. Ling Sing gilt als erster Chinese, der Bürger von British Columbia wurde (1872). Um 1875 nahm die Zuwanderung rapide zu und schon um 1880 war Chinatown die größte Ansiedlung ihrer Art in ganz Kanada. Die Holzhäuser wurden bald durch Ziegelbauten ersetzt, die überwiegend noch heute bestehen. Auslöser war wohl ein Großbrand im Jahr 1883, der das Quartier weitgehend zerstörte und die Gemeinde zeitweise verarmen ließ. 1884 wohnten rund 3.000 Chinesen in der Stadt, von denen nur noch jeder vierte Steuern zahlen konnte. 1885 zählte man in ganz British Columbia genau 9.629 chinesische Arbeiter. 1901 waren 3.004, 1911 bereits 3.458 Chinesen in der Stadt. Viele hatten längst ihre Familien nachgeholt, und es entstanden Geschäfte, Theater und Schulen. Die Chinese Consolidated Benevolent Association (nicht mit der Hoy Sun Ning Yung Benevolent Association zu verwechseln, die eher eine Selbsthilfeorganisation war) versuchte Konflikte mit Nichtchinesen beizulegen und repräsentierte die Gemeinschaft. Die Stadt fasste sie als eine Art Regierung der chinesischen Minderheit auf. In der 1713 Government Street entstand der älteste chinesische Tempel, 1909 die erste chinesische öffentliche Schule mit Unterricht in Chinesisch.
Fan Tan, das in der gleichnamigen Straße veranstaltete Glücksspiel, verursachte immer wieder Konflikte, und nach 1908, als Opium in Kanada verboten wurde, führte die Polizei auch aus diesem Grund immer wieder Razzien durch. Lange Zeit hatte die Regierung das Geschäft mit Opium geduldet, das in die USA geschmuggelt wurde, wo es schon früher verboten war. In Victoria selbst war der Konsum nur wenig verbreitet, urteilte John Sebastian Helmcken noch 1884. Im Hart Block (531 Herald Street), einem ausgedehnten Bordell, erschien die Polizei häufig wegen Anklagen der Zwangsprostitution und Sklaverei. 1884 schätzte man die Zahl der chinesischen Prostituierten auf rund hundert, wobei sie wohl die Indianerinnen verdrängt hatten. Gegenüber der chinesischen Schule erbaute man ein Polizeipräsidium. Die Chinesen trafen in Victoria zwar auf weniger gewalttätige rassistische Ausschreitungen als in Vancouver, doch wirkte die Gesetzgebung nicht besonders mäßigend. So durften sie erst ab 1947 wählen. Einer der häufigsten Auslöser für rassistische Übergriffe war die Tatsache, dass Chinesen immer wieder als Lohndrücker eingesetzt wurden.
Während die Chinesen am Nordrand der Kernstadt lebten, bevorzugten die Hawaiianer den Süden. Ihre Wohnstraße hieß Kanaka Row. 1901 lebten im District of Victoria 338 Japaner, die im Gegensatz zu den Chinesen nicht als industrielle Hilfsarbeiter oder in der Gastronomie, sondern überwiegend als Fischer tätig waren. Die Mitglieder ihrer Gemeinde wurden während des Zweiten Weltkriegs interniert. Sie wurden, vor allem auf Initiative Ian Mackenzies, enteignet und teilweise nach Japan deportiert.
Verkehr, Tourismus, Ausdehnung des Ballungsraums
Die Verkehrsanbindung wurde für Victoria immer wichtiger. So verband ab 1903 ein regelmäßiger Fährdienst der Victoria Terminal Railway and Ferry Company Sidney mit den Städten an der Fraser-Mündung, vor allem dem schnell wachsenden Vancouver. 1932 fuhr die erste Fähre von Sidney nach Anacortes. Aus diesen Fährbetrieben gingen 1961 auf Regierungsinitiative die BC Ferries hervor. Zu Anfang des Ersten Weltkriegs errichtete die kanadische Regierung einen Militärflugplatz (Patricia Bay Airport), den Vorgänger des heutigen Internationalen Flughafens.
Der Tourismus, der heute am schnellsten wachsende Erwerbszweig, spielte schon im 19. Jahrhundert eine bedeutende Rolle. Hierfür baute die Canadian Pacific Railway 1905 das Empress Hotel. 1994 war die Stadt Gastgeberin der 15. Commonwealth-Spiele, bei denen weit über dreitausend Athleten aus über 60 Staaten antraten, und 1998 setzte die Tourismusbranche erstmals mehr als eine Milliarde Dollar um. Daneben baute die Stadt ihre Bildungseinrichtungen aus. So entstand aus dem Victoria College 1963 die heutige Universität.
Der private Autoverkehr erreichte Victoria relativ spät. Das erste Auto fuhr 1899. Nur Unternehmen nahmen die Erfindung an. In einer kurzen Phase um 1900 gab es nur Elektroautos und dampfgetriebene Fahrzeuge. Doch gegen 1906 setzte sich auch hier der Verbrennungsmotor durch und die Zunahme des Verkehrs erforderte erste Geschwindigkeitsbegrenzungen. Der Automobilclub hatte bereits 50 Mitglieder.
Nach und nach wurden die Neighbourhoods in die Stadtentwicklung mit einbezogen. Das bedeutete zunächst Ausbau des Straßennetzes, aber auch Trinkwasserversorgung aus den umgebenden Seen; Naherholungsgebiete wurden erschlossen. Dabei kam es zu Auseinandersetzungen um Immobilienspekulationen. Davon war und ist besonders der Küstenstreifen betroffen. Ein weiterer Grund, warum es immer wieder zu Auseinandersetzungen kommt, sind die Begräbnisstätten und archäologisch bedeutsamen Stellen, die erst in jüngster Zeit dokumentiert worden sind. Richtung Westen endet allerdings schnell der Bereich, in dem das Klima Victorias noch so mild ist, wie in Downtown. Zudem ist die politische Selbstständigkeit der 13 Neighborhoods recht groß, und deren Bewohner bevorzugen das ländliche Ambiente. Die zersplitterten Besitzverhältnisse und die Mentalität im Osten der Stadt mit einem ländlichen Wohnstil begrenzen ebenfalls eine Ausweitung der Grundstücksspekulation.
Es entstand als übergreifende Organisation der Capital Regional District (CRD), zu dem auch die südlichen Gulf Islands (Saltspring, Galiano, Pender, Saturna, Mayne) gehören. Er umfasst rund 2340 km² und unterhält zahlreiche Büros. Inzwischen ist der CRD zuständig für Müll und Wiederverwertung, Landgewinnung, Brunnenbau und Wasserreinigung sowie -versorgung, für die Unterstützung von Künstlergruppen, Regionalplanung, Gesundheitswesen, die rund 30 Regionalparks, Wanderwege usw. Außerdem ist er der einzige Anteilseigner der Capital Region Housing Corporation, dem 1200 Wohneinheiten gehören. Übergeordnete Gesetze können von ihm auch in den Teilgemeinden durchgesetzt werden, wie das Rauchverbot seit 1996. Für den Ausgleich der gegensätzlichen Interessen bei der Nutzung des Gebiets spielt er inzwischen eine wichtige Rolle, stellt jedoch keineswegs eine Art übergeordnete Verwaltungsinstanz dar.
Die Konflikte in diesem Bereich gründen auf Konstellationen, die für kanadische Städte spezifisch sind, da sie über Kronland verfügen. 2001 verkaufte die Stadt Victoria Kronland (Crown Land), das seit der britischen Kolonialzeit bestimmten Nutzungsrechten und vor allem -begrenzungen unterliegt. Dieses Gebiet lag an der Mündung des Goldstream River, am Ende eines als Saanich Inlet bekannten langen Fjords. Der Goldstream River und der Spaet-Berg (gespr. spa-eth) sind aber zugleich Teil des Goldstream-River-Wasserschutzgebietes. Hier befand sich zudem ein altes Indianerdorf und eine Begräbnisstätte. 1913 wurden dort 12 Acre als Goldstream Indian Reserve No. 13 ausgewiesen, was wiederum nur auf Kronland möglich war. Die fünf Songhee-Nations teilen sich hier noch heute ein Reservat. Doch Holzeinschlag, wie er in Kanada noch häufig in Gebrauch ist, also der großflächige Kahlschlag, schädigten die Trinkwasser- und Energieversorgung der Stadt. 1998 wurde dieses Verfahren gestoppt. Der Goldstream Provincial Park wurde nach Stilllegung eines Wasserkraftwerks eingerichtet.
Noch 2007 gab Forstminister Rich Coleman 28.000 ha Waldland zur privaten Nutzung frei (Tree Farm Licenses 6, 19 und 25). Der neue Besitzer, Western Forest Products, veräußerte einen Teil des Landes an den Entwickler Ender Ilkay, darunter die Sooke Potholes, ein ökologisch wertvolles Gebiet, von knapp 7,3 ha Fläche. Die Bebauungsdichte hängt in Kanada letztlich von der Größe der Parzellen ab, in die das Land aufgeteilt werden darf. Der Streit ist noch in vollem Gange, wobei sich der CRD auf die Seite der Bürgerschaft stellt, die nicht befragt wurde, und deren Anspruch auf Naherholungsgebiete durch zu kleine Parzellierung gefährdet wird.
Bevölkerung
Der Zensus im Jahr 2016 ergab für die City eine Bevölkerungszahl von 85.792 Einwohnern. Die Bevölkerung hat dabei im Vergleich zum letzten Zensus im Jahr 2011 um 7,2 % zugenommen, während die Bevölkerung in der Provinz Britisch Columbia gleichzeitig um 5,6 % anwuchs. Für den Großraum ergab der Zensus 2016 eine Einwohnerzahl von 367.770 Einwohnern und einen überdurchschnittlichen Zuwachs von 6,7 %.
Die Volkszählung von 2011 ergab, dass die Stadt mit den 13 Vororten 344.615 Einwohner hatte. 2006 waren es 330.088 gewesen. Der eigentliche Kern der Stadt hatte allerdings 2011 nur 80.017, 2006 nur 78.659 Einwohner. 2001 hatte die Stadt nur 311.902 Einwohner gezählt, 1996 sogar erst 304.287.
Dabei ist der Anteil der alten Menschen relativ hoch: 17,8 % der Bevölkerung waren 2006 über 65 Jahre alt, 10.215 waren sogar über 85, der Median war in den zehn Jahren zuvor von 38,7 auf 43,1 gestiegen, die Zahl der Haushalte von 129.350 auf 145.430. Der Anteil der Mietwohnungen war dabei von 37,8 auf 35,2 % gefallen, dementsprechend der Anteil der Eigentumswohnungen und -häuser gestiegen.
Multikulturelle Gesellschaft, First Nations und (nicht) sichtbare Minderheiten
129.580 Einwohner British Columbias rechneten sich 2006 der Aboriginal Population zu. In Victoria waren dies 10.905 Menschen, von denen sich 6.800 einer der First Nations zuordneten (5.410 waren registrierte Indians), 3.620 den Métis, 135 den Inuit. 130 machten Mehrfachangaben, stammten dementsprechend wohl aus verschiedenen dieser Gruppen.
Die Zahl der Zuwanderer aus dem Ausland war von 3,0 auf 3,4 % gestiegen, die aus Kanada von 9,4 auf 6,4 % gesunken. Der Anteil der Immigranten (landed immigrants) liegt bei 19,1 %. 8.935 Immigranten kamen aus Amerika (davon 6.125 aus den USA), 34.030 aus Europa (davon 19.395 aus Großbritannien), 2.225 aus Afrika und 15.290 aus Asien. Dabei kamen 5.555 aus China und Hongkong, 2.810 aus Indien, 1.775 von den Philippinen. Aus „Ozeanien“ (was Grönland und Saint-Pierre und Miquelon einschließt) kamen 1.585. Als non-permanent residents, also als Flüchtlinge oder Inhaber von Studien- oder Arbeitserlaubnissen galten 3.575 Menschen. Allein in den letzten fünf Jahren sind 5.975 Menschen zugewandert, wobei der Anteil Ost- und Südostasiens stärker angestiegen ist. Während aber 1961–1970 noch 11.595 Menschen einwanderten, kamen 1991–2000 nur 10.070, im Zeitraum 2001–2006 kamen wieder 5.975, was einen starken Anstieg darstellt.
2001 zählten sich zu den „visible minority group“ (sichtbare Minderheit, d. h. alle Nicht-Weiße bzw. Nicht-Kaukasier mit Ausnahme von First Nations, Inuit und Métis): Chinesen (11.240), Südasiaten (5.775), Philippinos (1.815), Südostasiaten (1.245), Araber (280), Westasiaten (410), Koreaner (680), Japaner (1.740), Schwarze (2.175), Lateinamerikaner (1.165), sonstige (210), gemischt (460). Dies macht deutlich, dass der bei weitem überwiegende Teil dieser sichtbaren Minderheit aus Asien, und dort besonders aus Ostasien stammt. In ganz Kanada hat ihr Anteil die eine Million bei weitem überschritten.
Die Ureinwohner zählen hingegen zu den nicht sichtbaren Minderheiten und umfassten drei Gruppen (First Nations, Métis und Inuit) von insgesamt 8.700 Menschen (2001), bzw. fast 11.000 (2006, s. o.). Sie können in Downtown beispielsweise auf die Inner City Aboriginal Society zurückgreifen, die soziale Dienste und Rechtsvertretung anbietet.
Die Stadt zählt 24 Landsmannschaften, von der Alliance Française bis zum Edelweiss Club, vom Native Friendship Center bis zu den Sons of Norway oder der Vietnamese Association. Der Erforschung ihrer Geschichte widmen sich mehrere Vereinigungen, unter denen sich die Association Historique Francophone de Victoria und die B.C. Jewish Historical Society auf französische bzw. jüdische Geschichte konzentrieren.
Zu den sichtbaren sozialen Problemen zählt vor allem die Obdachlosigkeit. Daher wurde im Januar 2008 beschlossen, die 55 Schlafmöglichkeiten der Hilfsorganisation Streetlink in ein städtisches Gebäude in der Ellice Street zu verlegen und diese auf 80 Betten aufzustocken. Dazu kommen 24 Stellen für betreutes Wohnen. Die noch von Streetlink genutzte Stätte in der Store Street wird zu 15 Wohnungen im gleichen Sinne umgewandelt, dazu 26 weitere Einheiten in der angrenzenden Swift Street. Auch das in Provinzeigentum befindliche Haus in der Humboldt Street wird entsprechend zu 53 Einheiten umgewandelt.
Bevölkerungsentwicklung
Der Victoria Municipal Census vom April 1871 (im Juli erfolgte der Anschluss an Kanada), die erste Volkszählung, zählte 1054 Haushaltsvorstände, davon waren 61 „natives“ und 10 Chinesen. Die Einwohnerzahl lag bei 3.630. 1881 hatte die Stadt bereits 18.623 Einwohner. Victoria hatte 1901 genau 20.919 Einwohner, dazu kamen 2.947 im ländlichen Umland, davon waren 3.000 Chinesen, 338 Japaner und 333 Indianer. Auf 14.304 Männer kamen nur 9.359 Frauen.
Seither wächst die Stadt kontinuierlich, doch lebt nur noch rund ein Viertel der Bewohner des CRD in Victoria selbst.
Der CRD wies 1996 304.287, fünf Jahre später 311.902 und 2006 330.088 Einwohner auf.
Religionen und Konfessionen
Die vorherrschende Religion ist das Christentum, wobei die protestantischen Bekenntnisse die bei weitem größte Gruppe darstellen. Abgesehen davon, dass über 11.000 Bewohner ihr Bekenntnis nicht spezifizierten, rechneten sich den Protestanten rund 115.000, den Katholiken rund 48.000 (dazu zählen Römische und „östliche“ Katholiken, Angehörige der Polish National Catholic Church und Alt-Katholiken), den Orthodoxen knapp 1.700 zu. 3.470 Menschen zählten sich zu den Sikhs, 3.315 waren Buddhisten, 1.550 Juden, 1.230 Muslime, 765 Hindus. Über 3.000 rechneten sich anderen Religionen zu. Die stärkste Gruppe waren mit 116.000 Menschen erstmals diejenigen, die sich keiner Religion zurechneten.
Das katholische Bistum Victoria hat seinen Sitz in der Hauptstadt und vertritt rund 94.000 Katholiken auf Vancouver Island. Es betreut im Raum Victoria zwölf Gemeinden. Kathedrale des Bistums ist die St. Andrews Cathedral. Seit 2014 ist Gary M. Gordon der 17. Bischof von Victoria.
Die jüdische Gemeinde Victorias umfasst weit über tausend Mitglieder. Die meisten zählen sich zum konservativen Judentum, gefolgt vom Reformjudentum und dem orthodoxen Judentum. Der jüdische Friedhof Cedar Hill ist der älteste in Westkanada, die Synagoge die älteste Kanadas. Historische Quellen liegen in den Jewish History Archives in Vancouver, in W. 41st Avenue und in Granville.
Sikhs, Hindus und Muslime kamen und kommen vor allem durch die britische Kolonialherrschaft und durch die weiterhin bestehenden engen Kontakte, z. B. in Form des Commonwealth, nach Victoria – auch dies ein Aspekt des britischen Charakters der Stadt. So bauten etwa die indischen Sikhs einen Tempel in der 1210 Topaz Avenue, der wohl vor 1912 entstand, Buddhisten errichteten 1905 den ältesten Tempel Kanadas und die Muslime versammeln sich in der Masjid al-Imam, der Moschee in der Quadra Street.
Politik und Gemeinwesen
Von 1999 bis 2008 war der Bürgermeister Alan Lowe, womit er Anspruch auf die Anrede His Worship hat. Er hatte Umweltstudien in Manitoba und in Oregon Architektur studiert. Er hat nicht nur chinesische Vorfahren, sondern war mit 38 Jahren auch der jüngste Mayor des Landes. 1999 errang er über 43 % der Stimmen, 2002 sogar über 61 %, gewann die Wahl von 2005 aber nur mit knappem Vorsprung. 2008 folgte ihm Dean Fortin im Amt.
Im Provinzparlament, der Legislativversammlung von British Columbia ist die Stadt Victoria mit zwei Sitzen vertreten. Seit den Wahlen im Mai 2005 werden die Wahlkreise Victoria-Beacon Hill und Victoria-Hillside von Abgeordneten der British Columbia New Democratic Party gehalten, die in Opposition zur regierenden British Columbia Liberal Party steht.
Abgeordnete Victorias im kanadischen Unterhaus ist Denise Savoie von der New Democratic Party.
Polizei
Während im größten Teil der Provinz die Division „E“ der Royal Canadian Mounted Police (RCMP) für die Sicherheit zuständig ist, besitzt Victoria als eine von nur elf Gemeinden in British Columbia eine eigene Polizeibehörde, das Victoria Police Department. Diese wurde 1858 gegründet ist damit die älteste kanadische Polizeibehörde westlich der großen Seen und seit dem Jahr 2003 mit der Polizei des benachbarten Esquimalt verschmolzen. Im Jahr 2021 hatte das Department etwa 345 Mitarbeiter und ein Budget von etwa 59,6 Millionen C $.
Bildung
Neben der Universität (UVic oder University of Victoria) ist das Royal British Columbia Museum eine der wichtigsten Bildungsstätten, die auch für den Tourismus von großer Bedeutung ist. Dazu kommen das Lester B. Pearson United World College of the Pacific in Metchosin, das sich, entsprechend dem namengebenden Friedensnobelpreisträger, dem Ziel einer friedlichen Koexistenz verschrieben hat, und als jüngste Einrichtung die Royal Roads University sowie das Camosun College von 1971. Dazu kommt die umstrittene private University Canada West, die bis 2009 unter Leitung des ehemaligen UVic-Präsidenten stand. Sie besitzt zwei Campus, einen in Vancouver und einen in Victoria, 950 Kings Road.
Das Dominion Astrophysical Observatory und das Centre of the Universe-Planetarium stellen herausragende naturwissenschaftliche Institute dar. Neben dem Royal BC Museum ist das Maritime Museum of British Columbia für Erforschung und Dokumentation sowie Präsentation der Geschichte der Seefahrt von Bedeutung.
Die einzige Highschool im Stadtkern ist die Victoria High School von 1876. Daneben gibt es noch Schulen dieses Typs in Oak Bay und in Esquimalt, weitere, als Secondary Schools bezeichnete Einrichtungen, wie die Lambrick Park, die Mount Douglas und die Reynolds Secondary sowie die Spectrum Community School bieten eine ähnliche Ausbildung. Für die frankophone Minderheit steht die École Victor Brodeur zur Verfügung, für die Chinesen die Chinese School in Chinatown. Dazu kommt eine Reihe, z. T. christlich ausgerichteter Privatschulen. Die erste Schule entstand auf Initiative des Gouverneurs James Douglas 1852, der erste Lehrer war Charles Bailey. Er unterrichtete 18 Schüler. 1855 folgte eine zweite beim heutigen Craigflower unter Leitung von Charles Clark. 1865 wurde die Schulpflicht für alle ab sechs Jahren eingeführt, doch 1872 mussten die Schulen mangels Geld geschlossen werden. Im nächsten Jahr erfolgte ein weiterer Anlauf, doch wurde die Schulpflicht auf die 6- bis 14-Jährigen begrenzt (vorher bis 18). 1876 wurde die erste High School gegründet, alle anderen waren Elementary Schools, eine Art Grundschulen. Die erste Normal School eröffnete 1915, 15 Jahre nach der ersten in Vancouver. Dies hing mit einem regelrechten Schulboom zusammen, denn von 1908 bis 1914 entstanden zwölf neue Schulen.
Kultur und Sehenswürdigkeiten
Victoria gilt zum einen als britischste Stadt Nordamerikas; Bau- und Lebensstil sind sehr von England geprägt, schon auf den ersten Blick erkennbar an den roten Doppeldeckerbussen. Weit über tausend Gebäude sind in einem Inventar des historischen Erbes erfasst. Ähnlich wie die Gärten, Landhäuser und Parks sind sie überwiegend vom britischen Baustil inspiriert. Das zeigt sich vor allem in Downtown. Zum anderen ziehen Musik und Theater zahlreiche Besucher in die Stadt, wobei dies überwiegend Kanadier und US-Amerikaner sind.
Im Umkreis des Inner Harbour
Neben dem Parlamentsgebäude der Provinz British Columbia ist das direkt am Hafen gelegene Fairmont Empress Hotel eines der bekanntesten Gebäude in Victoria. Das Parlamentsgebäude und seine Umgebung gehören mit ihren 4 Hektar zu den wertvollsten Grundstücken in der gesamten Provinz. 2006 schätzte man seinen Wert auf 40 Millionen Dollar. Doch es stellte rechtlich betrachtet bis 2006 Indianergebiet dar. Die Regierung einigte sich am 25. November 2006 mit den Besitzern, den Songhees und Esquimalt auf eine Kompensation in Höhe von 31,5 Millionen Dollar. Dabei sollen jeweils pro Mitglied der Songhees nie mehr als 2.000 Dollar aus einem Fonds ausgezahlt werden dürfen. Bei zusammen 700 Stammesmitgliedern der beiden Stämme ergibt dies 1,4 Millionen. Weitere 8,5 Millionen Dollar sollen zum Kauf von Ersatzgrundstücken aus dem staatlichen Besitz eingesetzt werden. Sie müssen in Victoria oder in Esquimalt, Langford, Colwood oder View Royal liegen und maximal die gleiche Fläche umfassen, wie das alte Grundstück. Schließlich sollen 3 Millionen zur Deckung der Anwaltskosten aufgebracht werden sowie in die Umsetzung der vertraglichen Vereinbarungen. Ähnliche Regelungen wurden für die Esquimalt vereinbart.
Unweit des Parlamentsgebäudes befindet sich das wichtigste Museum in Westkanada, neben dem Museum of Anthropology in Vancouver. Mit seinen Ausstellungsschwerpunkten Naturgeschichte, Stadtgeschichte und Geschichte der First Nations zieht das Royal British Columbia Museum jedes Jahr Hunderttausende an. Im Gebäude befindet sich das Hauptarchiv der Provinz, die British Columbia Archives. Zum Komplex gehört auch das älteste Gebäude der Stadt, das nach John Sebastian Helmcken benannte Helmcken House. Diesem gegenüber steht die älteste Schule der Stadt, das St Ann's Schoolhouse von 1858.
Die Art Gallery of Greater Victoria in 1040 Moss Street ist eine Mischung aus Kunstgalerie und -museum. Zahlreiche Werke von Emily Carr sind hier zu finden, die im konservativen Victoria lange um Anerkennung ringen musste. Das Swans Suite Hotel bietet als Teil der Williams Collection, einer der größten Sammlungen Westkanadas, Möbel, Gemälde und Skulpturen vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Darüber hinaus liegt ein Schwerpunkt auf der Kunst der First Nations.
Die Kernstadt selbst, mit ihrem europäischen Erscheinungsbild, ihren farbenfrohen Häusern und ihrer Kleinräumigkeit, ist besonders leicht für Fußgänger zu erschließen. Der alte Stadtkern von Victoria zieht sich rechts und links der Government Street vom Inner Harbour nach Norden. Dazu kommt, dass jedes Quartier eine ganz eigene Atmosphäre bietet. Das gilt vor allem für die Chinatown, die das älteste und besterhaltene Chinesenquartier Kanadas ist (in Amerika ist nur die in San Francisco älter). Sie reicht bis 1858 zurück. Dort befindet sich auch der älteste buddhistische Tempel Kanadas, der der Seegöttin Tam Kung gewidmet ist, ein Bau, der 1905 begonnen wurde (1713 Government Street). Außerdem findet sich hier die Fan Tan Alley, eine der schmalsten Straßen der Welt. An ihrer engsten Stelle ist diese Straße nur 90 Zentimeter breit und war schon wiederholt Drehort für Filme.
Landhäuser und Gärten
Das von 1887 bis 1890 im Auftrag des Industriellen Robert Dunsmuir errichtete viktorianische Landhaus Craigdarroch Castle (gälisch für ‚felsiger Eichenplatz‘) liegt auf einem Hügel im Osten der Stadt. Das von seinem Auftraggeber nie bezogene Objekt (Dunsmuir starb 1889), beherbergte nach dem Ersten Weltkrieg ein Militärkrankenhaus, von 1921 bis 1946 das Victoria College und anschließend eine Musikhochschule. 1979 wurde das Landhaus mit seinen 39 Zimmern in ein Museum umgewandelt. Es wird jährlich von etwa 150.000 Besuchern frequentiert.
Ähnliches gilt für Hatley Park National Historic Site, einen Park mit alten Baumbeständen und einem ebenfalls von Dunsmuir beauftragten schlossartigen Gebäude, das Hatley Castle von 1908. Sieben der elf dicksten Douglasien Kanadas sollen dort stehen. Außerdem residieren hier seit 1995 die Royal Roads University und ein Museum. Ausgeführt wurde das Anwesen von dem für die Baugeschichte Victorias überaus wichtigen Architekten Samuel Maclure, der 1892 in die Stadt kam.
Auf der Saanich-Halbinsel im Norden, bei Brentwood Bay, finden sich zwei ausgedehnte, parkähnliche Anlagen. Zum einen die Butchart Gardens (22 ha), deren Anlage 1904 von Jennie Butchart begonnen wurde, zum anderen die Victoria Butterfly Gardens, die an der West Saanich und Benvenuto Road liegen und ca. 70 Schmetterlingsarten (dazu 250 tropischen Pflanzen) einen Lebensraum bieten. Die Butchart Gardens bestehen, wie der Plural andeutet, aus mehreren Gärten, unter ihnen ein japanischer (seit 1908), ein italienischer, dazu ein Rosengarten (seit 1929) mit 250 Rosenarten. Die Gärten beschäftigen mehr als 50 Gärtner. Zwei indianische Künstler haben 2004 je einen Totempfahl aufgestellt. Ursprünglich hatte der erfolgreiche Baustoffhändler Robert Pim Butchart hier eine Kalkgrube ausgebeutet, die seine Frau in einen riesigen Garten verwandelte, in dem sich bis heute die kanadische Gartenbaukunst mit über 700 Pflanzenarten widerspiegelt. Ähnliches gilt für die Abkhazi Gardens, die von Prinz und Prinzessin Abkhazi ab 1946 über vier Jahrzehnte geschaffen wurden. Marjorie (Peggy) Pemberton-Carter, die 1945 aus Shanghai nach Kanada geflohen war, heiratete den georgischen bzw. abchasischen Exil-Prinzen Nicholas Abkhazi aus Tiflis, der seinerseits 1919 nach Kanada geflohen war. Nach ihrem Tod 1987 bzw. 1994 kaufte die Land Conservancy of British Columbia im Jahr 2000 das Land, um seine Bebauung durch eine Siedlung zu verhindern.
Kirchen
Victoria war durch die britischen Bewohner von Anfang an anglikanisch. So entstand hier bereits in den 1850er Jahren eine anglikanische Kathedrale, die jedoch abbrannte. Ihre Nachfolgerin wurde durch die heutige Kirche ab 1929 ersetzt. Daneben ist die Church of Our Lord, erbaut 1876, seit 1998 restauriert und unter Denkmalschutz, an der Blanshard Street, zu nennen. Sie gehört der Reformed Episcopal Church, geht auf John Teague zurück, und repräsentiert im Rahmen des historischen Erbes den Stil des so genannten Carpenter Gothic oder Rural Gothic. Gouverneur James Douglas war 1874 eines der Gründungsmitglieder der Gemeinde und spendete ihr das Grundstück. In der Kirche befindet sich eine Bostoner Orgel (Appleton Organ) von 1827, die 1875 nach Victoria kam. Die benachbarte Cridge Hall stammt von Samuel Maclure.
Das katholische Pendant ist die St Andrews Cathedral. Sie ist die dritte Kathedrale, denn die erste war von 1858 bis 1884 die heutige Kapelle des St. Ann's Convent in der Humboldt Street; die zweite war von 1884 bis 1892 das heutige St. Andrew's Square Building, nahe der heutigen Kathedrale. Die heutige Kathedrale entstand nach dem Vorbild einer Kirche bei Québec. Dieser als High Victorian Gothic Style bezeichnete Baustil übernahm auch zahlreiche Elemente aus dem mittelalterlichen Kirchenbau Europas. In der Krypta liegt der erste Bischof von Victoria Modeste Demers begraben, im Amt von 1847 bis 1877.
Für die St. Andrew's Presbyterian Church lieferte Alexander Linnemann aus Frankfurt 1890 Glasfenster, Unterlagen befinden sich Im Linnemann-Archiv.
Musik und Theater
Beim Jazzfest International, das am letzten Juni-Wochenende stattfindet, ziehen über 300 Musikgruppen in zehn Tagen weit mehr als 35.000 Zuschauer an. Das Festival wurde von der Victoria Jazz Society 1985 ins Leben gerufen. 2002 trat hier etwa Dave Brubeck auf. 1995 entstand das jährlich zum Labour Day stattfindende Vancouver Island Blues Bash. Mit 150.000 Besuchern pro Jahr ist allerdings das von der Inter-Cultural Association (ICA) organisierte Folkfest das größte Open-Air-Festival auf Vancouver Island.
Noch stärker den historischen Wurzeln, in diesem Fall den schottischen, ist das Victoria Highland Games and Celtic Festival verpflichtet, das 2016 zum 153. Mal stattfand. Es geht auf die um 1860 entstandene St. Andrew’s and Caledonian Society und die Sir William Wallace Society zurück, die die Veranstaltung erstmals 1864 abhielten. Dudelsack- und Tanzaufführungen finden im Bullen Park in Esquimalt statt.
Das Gleiche gilt für die andere kulturelle Hauptwurzel Victorias neben der europäischen, die indianische Kultur. Jährlich Ende Juli/Anfang August findet das dreitägige First People's Festival statt. Es wird vom Victoria Native Friendship Centre und dem Royal British Columbia Museum organisiert.
Das seit 1941 bestehende Victoria Symphony (-Orchester) tritt im Royal Theatre und im Farquhar-Auditorium der Universität zwischen September und Mai auf. Freiluftkonzerte geben die Symphoniker an allen zehn Feiertagen – die Veranstaltung heißt Symphony Splash und findet im Inneren Hafen statt. Die 1980 begründete Pacific Opera Victoria (POV), der erst wenige Jahre bestehende Philharmonic Choir und Ballet Victoria (gegründet 2002) treten im Macpherson oder im Royal Theatre auf, der Chor auch in Kirchen. Daneben existiert noch seit 1864 die Royal Canadian Artillery Band.
Mehrere Theater prägen die Stadt mit. Zum einen sind dies das von der Royal & McPherson Theatres Society unterhaltene Royal Theatre in 805 Broughton Street (1913 gegründet) und das McPherson Playhouse (1914) in 3 Centennial Square. Das Bastion Theatre musste 1988 seinen Bankrott erklären, und auch das New Bastion Theatre war ohne Fortune (1992 Pleite). Hingegen überlebt das Belfry Theatre seit 1974 bzw. 1976. Daneben gibt es ein universitäres Theater, das Phoenix Theatre, dann das Kaleidoscope Theatre und das Intrepid Theatre.
Wirtschaft und Infrastruktur
Wirtschaft
Hauptbeschäftigungszweige sind Tourismus, Bildung, die Regierung und die Behörden, sowie Dienstleistungen. Zahlreiche Banken und zunehmend Technologie-Unternehmen prägen außerdem das Bild. Dementsprechend hoch sind die Löhne, und vor allem die Immobilienpreise.
Die Stadt ist zudem Sitz des Dominion Astrophysical Observatory und der University of Victoria, zwei bedeutenden Arbeitgebern. Eine wichtige Rolle spielt nach wie vor der Hafen, der eigentlich aus drei Häfen besteht, dem Outer Harbour für Hochseeschiffe, dann dem Inner und der Upper Harbour, dazu kommt noch der von Esquimalt. Die Verschiffung von Rohstoffen leidet allerdings unter dem Verfall des US-Dollars, der Holz, Lachs und inzwischen auch Mineralien für den südlichen Nachbarn stark verteuert hat.
In den Nachkriegsjahren erlebte Victoria einen beachtlichen Wirtschaftsboom. Dabei spielte der Druck, den die British Columbia Social Credit Party (die 1952 über 30 % der Wähler mobilisierte) auf die konservativen und liberalen Kräfte ausübte, eine erhebliche Rolle. Sie bildete, von jenen anfangs gestützt, eine Minderheitsregierung. In den Wahlen von 1956 gewann sie sogar 38 %. W. A. C. Bennett wurde für die nächsten 20 Jahre Premierminister. Er startete ein ehrgeiziges Infrastrukturprogramm, das auf den Einnahmen der damaligen Wachstumsindustrien Holz, Rohstoffe und Energie basierte. British Columbia Electric Railway und British Columbia Power Company wurden verstaatlicht und zusammen mit kleineren Elektrizitätsunternehmen zu BC Hydro zusammengefasst. Mehrere Dämme wurden gebaut, ein Abkommen über Stromlieferungen mit den USA geschlossen. Im Nordosten der Provinz erschloss man Öl und Gas.
Außerdem richtete die Regierung BC Ferries ein, ein Fährennetz, das das ebenfalls im Provinzbesitz befindliche Straßennetz ergänzte. Die wirtschaftlichen Möglichkeiten zogen wiederum zahlreiche Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler in die als angenehm wahrgenommene und beworbene Stadt. Dazu kam der Wirtschaftsboom in Ostasien, allen voran Japan. Da Victoria stark von der Politik seines größten Arbeitgebers abhing, hing vom Staat vieles ab. Als BC Hydro die ersten Verluste bekanntgab, verlor die British Columbia Social Credit Party die Wahl von 1972, doch kehrte sie bereits 1975 zurück und verlor erst nach Korruptionsskandalen 1991 endgültig die Macht.
Glen Clark, früherer Präsident der BC Federation of Labour, wurde neuer Parteiführer der British Columbia New Democratic Party (NDP) und gewann 1996 die Wahl. Mit dem Regierungswechsel setzte man stärker auf Tourismus. So wurden zahlreiche Parks eingerichtet. Arbeitslosigkeit und Steuern stiegen jedoch. Der Plan, eine Schiffbauindustrie neu aufzubauen, scheiterte. 2001 wurde auch die NDP abgewählt. Sieger war Gordon Campbells British Columbia Liberal Party mit 77 von 79 Sitzen. Er ließ die Einkommensteuer senken und verkaufte die Eisenbahngesellschaft British Columbia Railway an die Canadian National Railway. Ab 2002 wurden große Teile der Energieproduktion für private Unternehmen geöffnet, die dazu übergingen, neue Staudämme zu bauen. Neben gravierenden ökologischen Folgen untergräbt dies vielfach die Förderung des Tourismus. Viel entscheidender war aber die Übernahme Hongkongs durch die Volksrepublik China, was zahlreiche vermögende Chinesen nach British Columbia brachte, vor allem nach Vancouver. Ihr Kapital, dazu der schnell wachsende pazifische Wirtschaftsraum, machte Victoria zu einer vermögenden Stadt. Dennoch zeichnet sich seit Sommer 2006 ein Rückgang der Immobilienpreise ab, der die Finanzkrise in den USA ankündigte.
Dies bremste auch das Wachstum der bis 2006 wichtigsten Industrie in Victoria, des Tourismus. Zwischen 1998 und 2007 stieg die Zahl der Touristen von rund 2,2 Millionen auf über 3,6 Millionen an, ihre Aufenthaltsdauer schwankte zwischen 2,0 und 3,5 Tagen. Sie gaben jährlich zwischen 1,0 und 1,2 Milliarden Dollar aus. Lange Zeit überwogen dabei Touristen aus den USA – sie machten um 2000 noch fast 40 % der Touristen aus, seither hat sich ihr Anteil halbiert –, doch inzwischen nimmt die Zahl der Touristen aus Asien und Europa zu. Große Hoffnungen macht man sich auf Touristen aus China. Dazu kommen zahlreiche Kurzzeitbesucher, wie etwa Reisende der Kreuzfahrtschiffe, die am Ogden Point Terminal anlegen. Ihre Zahl belief sich im Jahr 2007 auf weit über 300.000. Von diesen Kurzzeittouristen übernachteten 2009 rund drei Viertel in der Stadt, insgesamt 87 % aller Touristen. Die Tagesausgaben fielen allerdings von 273 Dollar (2007) auf 247 Dollar (2009). 77 % der Besucher des Jahres 2009 waren schon vorher mindestens einmal in Victoria, 18 % kamen jährlich mindestens sechsmal. 47 % gaben an, zum Vergnügen zu kommen, 24 % besuchten Verwandte und Freunde, 6 % kamen zur Hochzeit oder Beerdigung, in Krankenhäuser und vor allem zu Bildungsinstituten. Rund 42 % der Besucher kamen aus der Provinz, 13 % aus dem benachbarten US-Bundesstaat Washington.
Inzwischen setzen aber Hightech-Unternehmen mehr als 1,6 Milliarden Dollar um, und lassen die bisher größte Industrie damit hinter sich. Das betrifft auch die Zahl der Arbeitsplätze. Unternehmen wie GenoLogics Life Sciences Software in der Softwareindustrie, aber auch solche wie Triton Logging – die Umweltpreise gewannen, obwohl sie zur Holzindustrie gehören, sich jedoch von den vorherrschenden Praktiken der Industrie absetzte – oder Etraffic Solutions, Contech Electronics, Archipelago Marine Research usw. beschäftigen inzwischen immer mehr Mitarbeiter. Insgesamt ist Victoria eine Stadt, ähnlich wie die ganze Provinz, deren Arbeitsmarkt auf zahllosen Klein- und Mittelbetrieben basiert.
Trotz dieser widerstandsfähigen Strukturen stieg die Arbeitslosenquote in Greater Victoria von kaum mehr als 3 % im Mai 2008 auf 6,4 % im Mai 2009. Besonders stark litten die Bereiche Lebensmittel und Gastgewerbe, wo innerhalb eines Jahres 6.700 Stellen verschwanden. Aber auch der technisch-wissenschaftliche Bereich verzeichnete einen Rückgang von 3.200 Stellen, ähnlich wie der öffentliche Sektor mit 3.000 Stellen. Dennoch lag die Arbeitslosenquote unter der in der Provinz (7,4 %) oder der in Kanada (8,4 %). Im Juli 2009 lagen die entsprechenden Werte bei 6,1 bzw. 7,8 und 8,7 %.
Verkehr
Victoria liegt am Trans Canada Highway, der genau an der Ecke Douglas Street/Dallas Road beginnt und als Highway 1 durch die Stadt führt. Die ersten Pkws kamen 1899, die ersten Busse kamen 1923 zum Einsatz. Zwar wurden 1945 Trolleybusse eingesetzt, doch 1948 stellte man den Betrieb der seit 1890 mit 6 Street Cars eröffneten Straßenbahnen ein. 1961 wurde BC Electric von BC Hydro (eigentlich BC Hydro and Power Authority) übernommen. Derzeitiger Eigner ist BC Transit, eine Crown Corporation, also ein staatlich kontrolliertes Unternehmen. Im Jahr 2000 führte Victoria als erste Stadt in Nordamerika den regulären Busbetrieb mit Doppeldeckern ein, 1992 hatte die Stadt als erste in der Provinz Niederflurfahrzeuge eingeführt.
Die Stadt verfügt über einen internationalen Flughafen, den Flughafen Victoria International (IATA-Code: YYJ, ICAO-Code: CYYJ, englisch Victoria International Airport). Der Flughafen liegt außerhalb von Victoria in der Gemeinde Sidney, wo auch ein Flughafen für Wasserflugzeuge ist. Viele Wasserflugzeuge verkehren jedoch vom Flughafen im Inneren Hafen (IATA-Code: YWH, ICAO-Code: CYWH, englisch Victoria Inner Harbour Airport oder auch Victoria Harbour Water Airport), sowohl nach Seattle als auch zum Flughafen und Hafen von Vancouver. Der Flughafen im Inneren Hafen ist auch einer der wichtigen Orte, von denen aus die anderen Wasserflugplätze der Insel angeflogen werden.
Ablegestelle der Fähren von BC Ferries zum Tsawwassen Ferry Terminal südlich von Vancouver und zu mehreren Gulf Islands ist der Swartz Bay Ferry Terminal knapp 30 km nördlich des Ortskerns von Victoria. Washington State Ferries hingegen hat ihre Anlegestelle in Sidney, von wo sie nach Friday Harbor, Orcas Island und nach Anacortes im US-Bundesstaat Washington fährt. Vom Inneren Hafen fährt weiterhin noch eine Autofähre nach Port Angeles, dazu verkehren von dort Hochgeschwindigkeits-Fähren nach Seattle und Vancouver.
Rückgrat des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) bildet das umfangreiche Stadtbussystem des Victoria Regional Transit System, das wiederum zu BC Transit gehört. Die Gesellschaft ist mit Ausnahme von Vancouver für den gesamten ÖPNV in British Columbia zuständig und hat ihren Hauptsitz in Victoria. Ihre Entstehung geht auf das Jahr 1890 und die National Electric Tramway and Light Company zurück. Diese wurde als Folge eines 55 Opfer fordernden Verkehrsunfalls an der Point Ellice Bridge von der British Columbia Electric Railway übernommen. BC Transit hat im Mai 2011 eine Machbarkeitsstudie veröffentlicht, nach der ein schienengebundenes System mit auf eigener Trasse fahrenden Straßenbahnen („light rail“) künftige Anforderungen wirtschaftlicher und ökologischer erfüllen könne als das bestehende Bussystem.
Diese Einschätzung gilt als Neuorientierung, da mit gleichlautender Argumentation das bis in die 1950er Jahre bestehende Straßenbahnsystem abgeschafft wurde – ebenso wie die Bahnlinie der Esquimalt and Nanaimo Railway, die nach Nanaimo, Port Alberni und Courtenay verkehrte und ebenfalls reaktiviert werden soll.
Ein Radwegenetz wurde in den letzten Jahren unter Einbeziehung bestehender Routen wie Galloping Goose und Lochside Regional Trail entwickelt.
Medien
Die älteste Tageszeitung ist der Times-Colonist, der 1980 aus der Verbindung zweier Zeitungen hervorging, nämlich der Victoria Daily Times (gegr. 1884) und dem British Colonist bzw. Daily Colonist, wie er später hieß (gegr. 1858). Die Zeitung zirkuliert mit einer Auflage von über 70.000 Exemplaren und gehört dem Konzern CanWest Global Communications mit Sitz in Winnipeg.
CFCL, den ersten Radiosender in der Stadt, gründete 1923 Clem Davies von der Centennial Methodist Church, der jedoch 1925 aus der Kirche austrat. Der Betrieb wurde dennoch fortgesetzt. 1941 kaufte der Victoria Colonist den Sender und er hieß nun CJVI, 1951 übernahmen Taylor, Pearson & Carson Ltd. die Mehrheit, 1971 hielten die Selkirk Holdings alle Anteile. Der Präsident des Senders John Ansell (bis 1987) wurde 1981 Präsident der Canadian Association of Broadcasters. CVJI unterstützte 1990 die Camosun College Foundation finanziell, die einen Radiosender gründen wollte, und beendete seine Affiliation zur CBC. Am 2. September 2000 stellte CVJI seinen Betrieb ein, doch setzte die Station mit JACK FM ihre Sendungen ab 2004 fort. 1947 entstand als zweiter Radiosender CJZN-FM.
Der erste private Fernsehsender, neben der staatlichen CBC, die bereits 1955 rund zwei Drittel der Haushalte erreichte, nahm am 1. Dezember 1956 seinen Betrieb auf. Damit war CHECK-TV, das David Armstrong gehörte, der von der Radiostation CFCL kam, der zweite Fernsehsender in der Provinz. Das Aufnahmestudio befand sich in 3963 Epsom Drive in Saanich. 1982 ging der Sender an die Western Broadcasting Co. Ltd. Heute gehört der Sender CanWest Global Communications.
Sport
Professionell Eishockey wurde von 2004 bis 2011 von den Victoria Salmon Kings in der ECHL gespielt. Zur Saison 2011/12 wird nach 17 Jahren wieder ein Team aus Victoria am Spielbetrieb der Western Hockey League teilnehmen. Die Mannschaft Victoria Cougars, die von 1911 bis 1926 existierte, gewann 1925 den Stanley Cup. Der lokale Fußballclub ist Victoria United. Für das Eishockey wurde 2005 eine Hallen-Arena, das Save-On-Foods Memorial Centre (SOFMC) errichtet, das den „Lachskönigen“ gehört. Victoria war Austragungsort der Commonwealth Games 1994.
In der zweiten kanadischen Nationalsportart, Lacrosse, war Victoria wesentlich erfolgreicher. Die Victoria Shamrocks gewannen den Mann Cup, den kanadischen Pokal, 1955, 1957, 1979, 1983 (1983–1994 nach ihrem Sponsor Victoria Payless genannt), 1997, 1999, 2003 und 2005.
Victoria hatte, mit vielfachen Unterbrechungen, bis 2010 ein professionelles Baseball-Team. Doch nur von 2009 bis 2010 spielten dort die Victoria Seals im Royal Athletic Park und nahmen am Ligabetrieb der Golden Baseball League teil.
Für den Segelsport ist das jährlich im Mai stattfindende Rennen Swiftsure International Yacht Race von größter Bedeutung, das im Jahr 2008 zum 65. Mal stattfand. Die Routen führen u. a. zur Clallam Bay, zur Pedder Bay und zum Cape Flattery im äußersten Nordwesten Washingtons.
Städtepartnerschaften
Napier, Neuseeland
Suzhou, China
Chabarowsk, Russland
Morioka, Japan
Persönlichkeiten
Literatur
David Chuen-Yan Lai, Pamela Madoff: Building and Rebuilding Harmony. The Gateway to Victoria's Chinatown. (= Canadian Western Geographical Series, Bd. 32.) Department of Geography, University of Victoria, 1997, ISBN 0-919838-22-7.
Gregory Edwards: Hidden Cities. Art and Design in Architectural Details of Vancouver and Victoria. Talonbooks, Vancouver 1991, ISBN 0-88922-287-8.
Terry Reksten: More English than the English. A Very Social History of Victoria. Orca Book Publishers, Victoria 1986, ISBN 978-0-920501-03-0,
Robin Ward: Echoes of Empire. Victoria & Its Remarkable Buildings. Harbour Publishing, Madeira Park 1996, ISBN 1-55017-122-4.
Weblinks
Offizielle Seite der Stadtverwaltung
Capital Regional District
Victoria Heritage Foundation
Tourismusinformation zu Victoria
Historische Filmsequenz aus dem Victoria der 1930er Jahre
Anmerkungen
Ort auf Vancouver Island
Ort mit Seehafen
Kanadische Provinzhauptstadt
Victoria (Vereinigtes Königreich) als Namensgeber
Hochschul- oder Universitätsstadt in Kanada |
111271 | https://de.wikipedia.org/wiki/Schneeleopard | Schneeleopard | Der Schneeleopard, Irbis oder Unze (Panthera uncia) ist eine Großkatze (Pantherinae) der zentralasiatischen Hochgebirge. Man findet ihn vom Himalaya Nepals und Indiens im Süden bis zum Altai- und Sajangebirge Russlands im Norden sowie vom tibetischen Hochland im Osten bis zum Pamir, Hindukusch und Tianshan-Gebirge im Westen. Er sieht einem Leoparden ähnlich, hat aber ein längeres, meist graues Fell, das in der kalten Jahreszeit besonders dick ist. Im Gegensatz zu anderen Großkatzen brüllt der Schneeleopard nie. Durch die relativ kurze Schnauze und den extrem langen Schwanz unterscheidet sich der Schneeleopard auch äußerlich von anderen Großkatzenarten. Der Schneeleopard lebt als Einzelgänger und ernährt sich in erster Linie von mittelgroßen Huftieren sowie Nagetieren des Gebirges. Er bewohnt felsige und zerklüftete Bergregionen in bis zu 6000 Meter Höhe. Obwohl Schutzgebiete eingerichtet wurden, ist der Bestand der Art durch Wilderei und Rückgang der Beutetiere stark gefährdet.
Merkmale
Körperbau
Der Schneeleopard wirkt mit seinem dicken Fell sehr massig, ist jedoch kleiner und leichter als ein durchschnittlicher Leopard (Panthera pardus). Die Kopf-Rumpf-Länge beträgt 80 bis 130 Zentimeter, zuzüglich 80 bis 100 Zentimeter Schwanzlänge. Die Schulterhöhe beträgt um die 60 Zentimeter und das Gewicht variiert zwischen 25 und 75 Kilogramm. Männliche Tiere sind mit durchschnittlich 45 bis 55 Kilogramm deutlich schwerer und größer als Weibchen, die meist zwischen 35 und 40 Kilogramm wiegen.
Der dicht behaarte Schwanz hat eine dicke Fettschicht. Er ist länger als beim Leoparden und misst mehr als drei Viertel der Kopf-Rumpf-Länge. Er übernimmt beim Springen die Funktion eines Steuerruders und hilft dem Schneeleoparden, das Gleichgewicht zu halten. Beim Ruhen dient der Schwanz dem Raubtier als Kälteschutz, indem es sich darin einrollt und das Ende über die Nase schlägt. Der Schneeleopard bewegt sich äußerst sicher in schwierigem Gelände und zeichnet sich durch ein großes Sprungvermögen aus, obwohl sich angebliche Rekordweiten von bis zu 15 Metern kaum belegen lassen. Es sind jedoch Stürze aus größeren Höhen dokumentiert, die überlebt wurden. Dabei kommt Schneeleoparden der Stellreflex der Katze zugute.
Der Kopf ist relativ klein und durch eine kurze Schnauze sowie vergrößerte Nasenhöhlen gekennzeichnet, die vermutlich die Aufgabe haben, kalte Atemluft zu erwärmen. Die sehr großen Pfoten ähneln denen des Luchses und haben eine Art Schneeschuheffekt. Sie sind an den Sohlen mit einem Haarpolster bedeckt, das die Oberfläche zusätzlich vergrößert und so zur besseren Verteilung des Körpergewichtes beiträgt. Das verringert ein Einsinken in Schneefeldern und schützt die Fußsohlen besser vor Kälte.
Fell
Die Grundfarbe des Schneeleopardfells ist ein helles Grau, das im Kontrast zu den schwarzen Flecken fast weiß aussehen kann. Die Variationsbreite der Färbung reicht von blassgrau bis cremefarben oder rauchgrau; die Unterseite ist heller, oft beinahe weiß. Die dunkelbraunen bis schwarzen Flecken auf Rücken, Flanken und Schwanz haben die Form von Ringen oder Rosetten, deren Inneres oft dunkler ist. Nur an Kopf, Hals und Gliedmaßen werden die Rosetten durch Tupfen abgelöst. Das Fell ist zum Schutz vor extremer Kälte sehr dicht und besteht stellenweise aus 4000 Haaren pro Quadratzentimeter. Im Winter erreicht das Fell am Rücken eine Länge von fünf Zentimetern, am Bauch sogar eine Länge von bis zu zwölf Zentimetern. Im Sommer ist es allerdings wesentlich kürzer. Beim Sommerfell tritt die Fellzeichnung deutlicher hervor, die im Winter deutlich verwaschener ist.
Lebensweise
Lebensraum
Der Schneeleopard ist ein typischer Bewohner des Gebirges. Hier findet man ihn in verschiedenen Lebensräumen wie Felsgebieten, Gebirgssteppen, Buschland und lichten Nadelwäldern. Dichte Wälder scheint er zu meiden. Im Sommer hält er sich bevorzugt oberhalb der Baumgrenze auf Bergwiesen und in felsigen Regionen auf, wobei er etwa im Himalaya in Höhenlagen bis 6000 Meter aufsteigt. Selbst im Winter, wenn er seinen Beutetieren in niedrigere Lagen folgt, findet man ihn in dieser Region kaum unterhalb von 2000 bis 2500 Meter, im Sommer hält er sich meist oberhalb von 4000 bis 4500 Meter auf. In Nepal etwa bewohnt der Schneeleopard in der Regel die offenen Gebiete oberhalb von etwa 3500 Meter, während der Leopard vor allem in den bewaldeten Gebieten darunter vorkommt. Im Pamirgebirge findet man seine Spuren selbst im Winter auf 4500 bis 5000 Meter. Dabei bewegt sich die Katze allerdings in der Regel auf Gebirgsgraten, die der Wind von einer allzu dicken Schneedecke befreit hat. Vor allem in den nördlichen Teilen des Verbreitungsgebietes findet man den Schneeleoparden auch in weitaus geringeren Höhenlagen. So findet man ihn im Dsungarischen Alatau das ganze Jahr über auf 600 bis 1000 Meter Höhe. Auch in den Gebirgen des Aktau findet man ihn in recht niedrigen Höhen von 1000 bis 1500 Meter. Nur selten werden Schneeleoparden weitab von Gebirgen gesichtet. Ein Tier wurde etwa im Winter 1957/58 am Nordufer des Balchaschsees gesichtet. Es muss also 600 Kilometer durch Flach- oder Hügelland zurückgelegt haben. In der Mongolei existieren Berichte über Schneeleoparden in Felsformationen des Flachlands auf nur 100 Meter Höhe. Generell bevorzugt der Schneeleopard überall felsige und steile Gebiete. In der Südwest-Mongolei bevorzugt er beispielsweise zerklüftete Bereiche und Hänge mit Steigungen von über 20°, während er weniger zerklüftete und eher hügelige Geländeformationen seltener aufsucht. Als Ruhelager sucht der Schneeleopard Felshöhlen oder unzugängliche Felsspalten auf, gelegentlich aufgegebene Nester von Geiern.
Ernährung
Zu den wichtigsten Beutetieren des Schneeleoparden gehören je nach Region Blauschafe, Argalis, Steppenschafe, Steinböcke, Schraubenziegen, Tahre, Murmeltiere, Pfeifhasen und verschiedene Vögel. In einigen Gebieten zählen auch Arten, die nicht explizit mit Hochgebirgslebensräumen assoziiert sind, zu den Beutetieren, etwa Halbesel, Moschustiere, Wildschweine, Hirsche und Gazellen. Schneeleoparden reißen auch Haustiere wie Schafe, Ziegen, Yaks, Rinder, Esel und Pferde. Anscheinend frisst der Schneeleopard mit Vorliebe auch bestimmte Pflanzen. So finden sich im Kot des Schneeleoparden immer wieder größere Mengen an pflanzlichem Material, darunter vor allem Zweige von Rispelsträuchern und Tamarisken.
Eine Studie, die zwischen 2007 und 2009 im Himalaya- und Karakorumgebiet im Norden Pakistans (Baltistan) durchgeführt wurde, kam zum Ergebnis, dass hier 70 Prozent der Gesamtbeutetiermasse aus Haustieren, vorwiegend Schafen, Ziegen, Rindern und Yaks, besteht. Nur etwa 30 Prozent der Nahrung machen Wildtiere, vor allem Sibirische Steinböcke, Schraubenziegen und Vögel aus. Eine Orientierung der Ernährung hin zu menschlichen Nutztieren kann man in vielen anderen Lebensräumen des Schneeleoparden beobachten, Ursache sind die rückläufigen Bestände an natürlichen Beutetieren. Im Pin Valley-Nationalpark in Himachal Pradesh (Nordindien), der über relativ gute Bestände an Sibirischen Steinböcken verfügt, machen natürliche Beutetiere etwa 58 Prozent der Nahrung aus. Dagegen bestehen im benachbarten Kibber-Wildreservat, in dem natürliche Beutetiere seltener, Haustiere dagegen häufiger vorkommen, nur 42 Prozent der Nahrung aus natürlichen Beutetieren, vorwiegend Blauschafen. In beiden Reservaten fehlt zudem das Murmeltier, das in anderen Gebieten einen großen Teil der Nahrung des Schneeleoparden ausmachen kann. Insgesamt scheinen Schneeleoparden in Gebieten, in denen Murmeltiere ausgerottet wurden, besonders stark auf Haustiere als Nahrung zurückzugreifen.
Im nepalesischen Annapurna-Gebiet ist das Blauschaf das Hauptbeutetier, während im Everest-Gebiet Nepals der Himalaya-Tahr und Moschustiere die wichtigsten natürlichen Beutetiere darstellen. Aber auch hier machen Nutztiere einen relativ großen Anteil der Nahrung aus. In der Mongolei stellen vor allem Sibirische Steinböcke eine wichtige Beute dar. So findet man die Katze hier meist in Gebieten, die von Steinböcken bewohnt sind. Daneben zählen in der Mongolei Halbesel, Kropfgazellen, Argalis, Tolai-Hasen, Altai-Königshühner und Chukar-Steinhühner zu den nachgewiesenen Beutetieren. Steinböcke bilden neben Argalis auch im Tienshangebirge die wichtigsten Beutetiere. Im Sommer werden dort häufig Rehe erlegt. Im Pamir sind Rehe offenbar sogar die wichtigste Beute.
Auf der Jagd wandert der Schneeleopard häufig über Gebirgsgrate und folgt Flussläufen oder den Wanderrouten seiner Beute. Ansonsten lauert er ihr aus einem Hinterhalt an Wildwechseln, Salzlecken oder Wasserstellen auf. Sobald er potentielle Beutetiere ausgemacht hat, versucht er den Abstand zwischen sich und seinem Opfer auf wenige zehn Meter zu reduzieren. Oft werden erhöhte Felsen als Ansitz genutzt, so dass er seine Opfer von oben überraschen kann. Ansonsten sucht er beim Anschleichen Deckung zwischen Felsen und Geröll. Der Angriff erfolgt in großen etwa sechs bis sieben Meter langen Sätzen, wird aber häufig nach wenigen Sätzen erfolglos abgebrochen. Die Verfolgung kann sich aber auch über 200 bis 300 Meter einen Hang hinab erstrecken. Wenn das Opfer erreicht ist, wird es niedergerissen, mit den Vorderbeinen zu Boden gedrückt und meist durch einen Biss in Kehle oder Hals getötet. Um die Beute vor Geiern und Krähen zu verbergen, schleift der Schneeleopard sie meist in ein Versteck, etwa unter Felsen oder Büsche. Die Katze hält sich häufig einige Tage in der Nähe eines größeren Risses auf und kehrt dabei immer wieder zur Beute zurück. Oft werden die Reste der Mahlzeit aber auch von anderen Räubern, wie Wölfen oder Bären verzehrt. In Gefangenschaft benötigt ein Schneeleopard etwa 1,5 Kilogramm Fleisch pro Tag.
Territorialität und Populationsdichte
Die Größe des Streifgebietes richtet sich nach der Anzahl der verfügbaren Beutetiere. Da die Beutetiere im Hochgebirge meist nur in sehr geringen Populationsdichten vorkommen, nutzen Schneeleoparden in vielen Regionen riesige Flächen. Ein Revier umfasst in einem guten Jagdgebiet 20 bis 40 Quadratkilometer und in beutearmen Regionen wie der Mongolei bis zu 1000 Quadratkilometer. Die Territorien von Männchen und Weibchen überlappen einander oft beträchtlich.
Bis in die 1980er Jahre war über das Leben des Schneeleoparden in freier Wildbahn, insbesondere die Größe der Reviere und die Aktivitätszeiten, so gut wie nichts bekannt. Das wenige vorhandene Wissen stammte vor allem aus den Interpretationen von Spuren und den Berichten von Jägern. Die erste umfassende Studie, die detailliertere Informationen zur Lebensweise lieferte, wurde in den Jahren 1982 bis 1985 im Shey-Phoksundo-Nationalpark im westlichen Nepal durchgeführt. Dabei wurde mittels Radiotelemetrie gearbeitet und insgesamt fünf Schneeleoparden mit Sendern markiert. Die Größe der Streifgebiete variierte hier zwischen 12 und 39 Quadratkilometer, wobei teilweise große Überlappungen auftraten. In der Regel hielten die Individuen aber mindestens zwei Kilometer Abstand zueinander. Es gab keine Hinweise auf ein Patrouillieren an den Reviergrenzen. Die meiste Zeit brachten die Tiere in den Kernzonen der Streifgebiete zu. Eine saisonale Verschiebung der Streifgebiete konnte in diesem Gebiet ebenfalls nicht beobachtet werden.
Eine weitere recht umfassende Studie mit Hilfe von Radiotelemetrie wurde in den Jahren 1994 bis 1997 im Mongolischen Altai, nordöstlich des Großen Gobi-B-Schutzgebietes durchgeführt. Die Streifgebiete lagen dabei zwischen 14 und 142 Quadratkilometer. Die meisten Positionen wurden in konventioneller Weise vom Boden aus ermittelt, wodurch die Tiere bisweilen nicht geortet werden konnten, weil sie sich außerhalb des Empfangsbereiches aufhielten. Dies führte letztendlich zu einer Unterschätzung der tatsächlichen Reviergröße. Ergänzend wurde in dieser Studie daher zusätzlich Satellitentelemetrie eingesetzt, bei der die Reichweite oder störende Bergketten unproblematisch sind. Mit dieser Methode ergab sich für ein Weibchen, das nach den vom Boden aus durchgeführten Messungen ein Streifgebiet von 58 Quadratkilometer hatte, ein Streifgebiet von etwa 1600 Quadratkilometer. Bei Hinzunahme der äußersten Ausreißer ergäbe sich sogar ein Areal von etwa 4500 Quadratkilometer, was aber wohl über dem regelmäßig aufgesuchten Streifgebiet liegt. Reviere in der Größenordnung von mehreren hundert Quadratkilometern decken sich besser mit dem, was nach den recht niedrigen Beutetierbeständen zu erwarten ist. Die Schneeleoparden leben in dem Gebiet vor allem von Sibirischen Steinböcken, deren Bestandsdichte hier bei etwa einem Tier pro Quadratkilometer liegt. Berechnet man die potentiell benötigte Reviergröße bei dieser Beutetierdichte, ergibt sich ein durchschnittliches Streifgebiet von etwa 130 bis 260 Quadratkilometer, bei überlappenden Revieren von durchschnittlich jeweils drei Tieren etwa 380 bis 770 Quadratkilometer, was mit den über Satellitentelemetrie ermittelten Daten recht gut übereinstimmt.
An häufig begangenen Wegen markiert der Schneeleopard sein Revier mit Kratzspuren, Kot und einem Duftsekret. Meist hält er sich etwa sieben bis zehn Tage in einem begrenzten Gebiet auf, um dann in einen anderen Teil des Reviers zu wechseln. Der Schneeleopard galt gemeinhin eher als Nachttier, ist jedoch oft auch am Tage und vor allem in der Dämmerung aktiv. Als Unterschlupf sucht er häufig in Grotten oder Felshöhlen Schutz, deren Boden nach einer gewissen Zeit mit einer dicken Schicht aus Haaren gepolstert ist.
Fortpflanzung und Lebensdauer
Schneeleoparden sind Einzelgänger und kommen nur zur Paarungszeit zwischen Januar und März zusammen. Dabei setzen die Tiere vermehrt Duftmarken und stoßen Paarungsrufe aus. Diese jahreszeitlich festgelegte Paarungszeit ist für Großkatzen einmalig. Der Paarungsruf ist ein langgezogenes Heulen.
Beobachtungen in Gefangenschaft zeigen, dass der Östrus des Weibchens in der Regel fünf bis acht Tage dauert. Die Paarungen finden in einer kurzen Zeitspanne von drei bis sechs Tagen statt, wobei die Partner etwa 12 bis 36 mal pro Tag kopulieren. Ein Geschlechtsakt dauert dabei jeweils 15 bis 45 Sekunden. Die Jungen werden nach einer Tragzeit von rund 94 bis 103 Tagen geboren. Im Wurf befinden sich ein bis fünf, meist zwei bis drei Junge, die zwischen April und Juni, in der Wildnis meist im Schutz einer Felshöhle, zur Welt kommen. Diese ist mit den Haaren des Muttertieres ausgepolstert. Die Jungen sind bei der Geburt sehr dunkel behaart, blind und wiegen etwa 450 Gramm. Nach etwa sieben Tagen öffnen sie die Augen, und nach etwa zwei Monaten nehmen sie erstmals feste Nahrung zu sich. Sie bleiben 18 bis 22 Monate bei der Mutter, wodurch zwischen zwei Würfen mindestens zwei Jahre liegen.
Im Alter von zwei bis vier Monaten beginnen die Jungen, ihre Mutter auf die Jagd zu begleiten. Anfangs sind sie allerdings eher ein Hindernis als eine Hilfe für das Muttertier. In Gefangenschaft sind Schneeleoparden mit etwa zwei bis drei Jahren geschlechtsreif, vermehren sich allerdings selten vor dem vierten Lebensjahr. Angaben zum durchschnittlichen oder maximalen Alter wildlebender Individuen liegen nicht vor; in Gefangenschaft wurde der älteste bekannte Schneeleopard, der Kater Shynghyz in Japan, 25 Jahre alt.
Natürliche Feinde, Krankheiten und Parasiten
Der wichtigste natürliche Feind und gleichzeitig größter Konkurrent ist der Wolf, in den südlichen Teilen des Verbreitungsgebietes ist darüber hinaus auch der Leopard ein großer Konkurrent.
Wie stark Schneeleoparden in freier Wildbahn unter Krankheiten und Parasiten leiden, ist nicht genau untersucht. Fälle von Tollwut wurden bekannt. In Gefangenschaft sterben Jungtiere häufig an Magen-Darm-Entzündungen. In einem Zoo in Japan wurde im Jahr 2003 erstmals ein Herzwurm nachgewiesen.
Verbreitungsgebiet und Bestand
Der Schneeleopard bewohnt die Hochgebirge Zentralasiens. Im Himalaya ist er ebenso zu Hause wie im Hindukusch, Pamir, Kunlun, Tianshan, Altai und benachbarten Gebirgszügen.
Die nördlichsten Vorkommen liegen im Gebiet des Baikalsees, im Osten reicht das Verbreitungsgebiet bis Osttibet, im Süden bildet der Himalaya die Verbreitungsgrenze und im Westen der Hindukusch. Der größte Teil des Verbreitungsgebietes liegt in Tibet und anderen Teilen der Volksrepublik China.
Schneeleoparden leben in zwölf Ländern. Unklar ist, ob die Katze auch in Myanmar an der Grenze zu China vorkommt, wo zumindest potentielle Lebensräume existieren.
Schätzungen gehen von insgesamt 4000 bis 6600 wild lebenden Individuen aus, die sich auf eine Fläche von 1,8 Millionen Quadratkilometern verteilen. Davon gelten 550.000 Quadratkilometer als sehr gutes Habitat. Das potentielle Verbreitungsgebiet wird auf drei Millionen Quadratkilometer geschätzt.
Bedrohung
Die illegale, aber lukrative Pelzjagd hat die Bestände dieser Raubkatze erheblich reduziert. Auch die Knochen des Schneeleoparden sind in der Traditionellen Chinesischen Medizin begehrt und erzielen hohe Preise. Außerdem wird er verfolgt, weil er gelegentlich Haustiere schlägt. In allen Staaten seines Verbreitungsgebiets steht der Schneeleopard unter Schutz, doch Wilderei ist ein Problem, das ihn weiter gefährdet. Die Bejagung seiner natürlichen Beutetiere durch den Menschen stellt ebenfalls eine ernste Bedrohung für die Katze dar. In weiten Teilen seines Verbreitungsgebietes ist der Schneeleopard heute sehr selten geworden. Die Art wurde von der IUCN bis 2017 als endangered (stark gefährdet) geführt, dann wurde ihr Bedrohungsstatus als vulnerable (gefährdet) eingestuft, da die geschätzte Anzahl der ausgewachsenen Individuen größer als 2500 ist und angenommen wird, dass der Bestand in 22,6 Jahren sich um höchstens 10 % verringert.
Der Schneeleopard wurde bereits 1985 auf Vorschlag Deutschlands auf den Anhang I der UN-Konvention zum Schutz der wandernden Tierarten gesetzt. Mit Ausnahme des tibetischen Plateaus befinden sich alle Schneeleopardenpopulationen genau in den Hochgebirgszügen, die sowohl die natürlichen als auch die nationalstaatlichen Grenzen zwischen den zwölf Herkunftsländern bilden: Himalaja, Hindukusch/Karakorum, Tianshan und Altai. Im gesamten Verbreitungsgebiet der Schneeleoparden fehlt es eklatant an transnationaler Kooperation. Gerade in den Grenzregionen sind Schneeleoparden durch Wilderei und den Mangel an Beutetieren bedroht. Darüber hinaus häufen sich die Hinweise, dass in den Grenzregionen Angehörige des Militärs und Grenzposten sowohl Beutetieren als auch Schneeleoparden nachstellen. Der NABU fordert daher grenzüberschreitende Schutzmaßnahmen für den bedrohten Schneeleoparden und begrüßt die Initiative Tadschikistans, im Rahmen der Vertragsstaatenkonferenz konkrete grenzüberschreitende Schutzmaßnahmen in einem Abkommen festzuschreiben.
Eine große Gefahr für den Schneeleoparden liegt darin, dass er bei den Viehzüchtern seiner Heimatregionen als Viehdieb ungeliebt ist und vielerorts auch verfolgt wird. Strategien zur Vermeidung von Angriffen auf Haustiere sind ein Schlüssel zum Schutz der bedrohten Katze. Besonders in Gebieten mit niedrigen Beständen an natürlichen Beutetieren greift der Schneeleopard häufig auf Haustiere als Nahrungsgrundlage zurück. Daher sind der Schutz von wilden Huftieren und Ausgleichszahlungen für geschädigte Viehzüchter entscheidend für den Erhalt des Schneeleoparden.
Vorkommen nach Staaten
Für Afghanistan, wo der Schneeleopard im Pamir und Hindukusch vorkommt, liegen kaum Angaben zur Population vor. Die Katzen dürften ebenso wie ihre Beutetiere durch den jahrzehntelangen Krieg starke Einbußen erfahren haben. Zum Verbreitungsgebiet gehören der Wakhan-Korridor und die südlichen Teile Badakhshans, wo er etwa aus Zebak nachgewiesen ist. Angebliche Vorkommen im Ajar-Tal sind dagegen unbestätigt.
In Bhutan befinden sich etwa 15.000 Quadratkilometer Lebensraum für Schneeleoparden. Es dürfte demzufolge etwa 100 Tiere beherbergen. Der wichtigste Nationalpark für den Schneeleoparden ist der Jigme-Dorji-Nationalpark.
China ist das Land mit der größten Zahl an Schneeleoparden und verfügt über 300.000 Quadratkilometer potentiell gutes Schneeleopardenhabitat. Insgesamt werden über eine Million Quadratkilometer als geeignet eingeschätzt. Die Gesamtpopulation wurde für das Jahr 1994 auf 2000 bis 2500 Tiere geschätzt. Der Schneeleopard kommt innerhalb Chinas in den Provinzen beziehungsweise Autonomen Gebieten Tibet, Xinjiang, Qinghai, Gansu, Sichuan und Yunnan vor. In der Inneren Mongolei steht er kurz vor dem Aussterben. In Gansu sind die meisten Populationen ebenfalls drastisch gesunken. Einige Teilpopulationen, etwa jene im Mazong Shan und weiteren nördlichen Gebirgen der Provinz, sind völlig ausgestorben. Kleinere Restbestände halten sich in Gansu noch im Yanchiwan-Naturreservat und im Qilian Shan-Naturreservat. Über die Vorkommen in Sichuan und Yunnan am südöstlichen Rand des Schneeleoparden-Verbreitungsgebietes liegen kaum Daten vor. Kürzlich konnte die Art allerdings durch Kamerafallen im Wolong-Naturschutzgebiet nachgewiesen werden. In den gewaltigen Schutzgebieten der zentralen tibetischen Hochländer, etwa im Changtang-Naturreservat und im Arjinshan-Naturreservat, sind Schneeleoparden relativ selten, was auf die geringen Blauschafbestände und die wenigen Steilhänge in diesem Gebiet zurückzuführen sein dürfte. Im Autonomen Gebiet Tibet scheinen vor allem im Westteil und an der Grenze zu Nepal und Indien größere Bestände vorzukommen. So verfügt das Qomolangma-Naturreservat über eine recht gute Population. Im Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang wurde die Gesamtpopulation in drei Reservaten in den 1980er Jahren auf etwa 750 Tiere geschätzt, von denen etwa 15 im Tomur-Naturreservat im Tian Shan lebten. In diesem Schutzgebiet, das eines der größten Schneeleopardenreservate Nordwestchinas darstellt, konnte sich die Population mittlerweile erholen. Zwei Untersuchungen der Jahre 2004 und 2005 kamen auf schätzungsweise 40 bis 65 beziehungsweise 80 bis 130 Tiere im Reservat. Im Tian Shan erstreckt sich das Verbreitungsgebiet bis zur mongolischen Grenze. Daneben kommen Schneeleoparden in Xinjiang auch im Altai, im Arjin Shan und Kunlun, die die Nordgrenze des Tibetischen Plateaus bilden, und außerdem im Pamir und Karakorum an den westlichen Grenzgebieten zu Tadschikistan, Afghanistan und Pakistan vor. Eines der wichtigsten Reservate im Karakorum ist das Taxkorgan-Reservat, wo 1987 noch 50 bis 57 Schneeleoparden vermutet wurden. Hier ist die Zahl aufgrund der sinkenden Beutetierbestände allerdings inzwischen gesunken. In Qinghai wurde die Gesamtpopulation in den 1980er Jahren auf etwa 650 Tiere geschätzt.
In Indien kommt der Schneeleopard nur in den Hochgebirgszonen im Norden des Landes vor. Das Land beherbergte in den 1980er Jahren vermutlich etwa 500 Schneeleoparden auf etwa 95.000 Quadratkilometer Fläche. Davon lebt der weitaus größte Teil in Ladakh, wo etwa im Hemis-Nationalpark eine große Population lebt. Im Gebiet des Spiti-Flusses im Norden der Provinz Himachal Pradesh ernähren sich Schneeleoparden zu großen Teilen von Haustieren. Dennoch wird die Katze hier, vor allem aus religiösen und kulturellen Gründen, kaum verfolgt.
In Kasachstan bewohnt der Schneeleopard nur die Gebirge am Südost- und Ostrand des Landes. Kleinere Populationen existieren etwa im Dsungarischen Alatau. Die meisten Tiere leben im Grenzgebiet zu Kirgistan in verschiedenen Ketten des Tienshan. Die einzigen stabilen Populationen in Kasachstan befinden sich offenbar im Almaty-Naturreservat und im Aksu-Jabagly-Naturreservat.
In Kirgistan bewohnt der Schneeleopard den Talas-Alatau, die Ferghanaberge und die Ketten Tienshan. Das gebirgige Land verfügt über 65.800 Quadratkilometer Schneeleopardenhabitat und könnte Schätzungen zufolge etwa 800 dieser Großkatzen beherbergen. Schutzgebiete, in denen Schneeleoparden vorkommen, sind das Issyk-Kul-Reservat, das Sarychat-Ertash-Naturreservat und der Ala-Artscha-Nationalpark.
In der Mongolei, wo der Schneeleopard nur in den Gebirgen der Westhälfte des Landes vorkommt, ist er immer noch recht weit verbreitet. Der Gesamtbestand des Schneeleoparden in der Mongolei wird auf etwa 1000 Tiere geschätzt, womit das Land etwa 13–22 % des Weltbestands beherbergt. Das gesamte Verbreitungsgebiet im Land umfasst etwa 130.000 Quadratkilometer. Die wichtigsten Gebirgsketten der Mongolei mit Vorkommen von Schneeleoparden sind der Altai, das Khangai-Gebirge, die Chöwsgöl-Berge, die Berge der Transaltai-Gobi sowie Kharkhyral und Turgen Uul. Aus dem mongolischen Teil des Sajan und dem Baikalseegebiet ist der Schneeleopard mittlerweile verschwunden. In den Khangai- und Chöwsgöl-Bergen ist er sehr selten, möglicherweise schon verschwunden. In den gebirgigen Teilen der Transaltai-Gobi ist er ebenfalls nicht häufig, dürfte aber auf den meisten größeren Bergen noch vorkommen. Insgesamt deckt sich sein Vorkommen stark mit dem Sibirischen Steinbock, seinem wichtigsten Beutetier in der Mongolei. Vermutlich war der Schneeleopard in der Mongolei ebenso wie in Russland seit jeher relativ selten. Dies gilt insbesondere für die nördlichen Randgebiete des Verbreitungsgebietes. Die Katze wird in der Mongolei vor allem wegen ihres Pelzes gejagt. Gelegentlich stellt man ihr auch als Viehräuber nach. Der Schneeleopard kommt in einigen Schutzgebieten des Landes wie dem Khokh-Serkh-Reservat im Altai vor. Weitere Reservate, in denen der Schneeleopard vorkommt, sind das Große Gobi B Schutzgebiet und der Nationalpark Gobi Gurwan Saichan.
In Nepal bewohnt der Schneeleopard die Gebirgsketten im Norden an der Grenze zu Tibet. Relativ hohe Bestandsdichten von mindestens fünf bis zehn Tieren pro 100 Quadratkilometer wurden in den 1980er Jahren im Gebiet des Shey-Phoksundo-Nationalparks im Nordwesten Nepals ermittelt. Im Humla-Distrikt (Karnali) im Westen des Landes wird der Schneeleopard als Viehräuber verfolgt. Ähnliches gilt für das Gebiet der Annapurna Conservation Area, wo um das Jahr 1990 Untersuchungen zufolge die Mehrzahl der Viehhalter eine Ausrottung des Schneeleoparden befürwortete. Im Everest-Gebiet wurde der Schneeleopard auf nepalesischer Seite in den 1960er Jahren ausgerottet. Mittlerweile scheint er den Sagarmatha-Nationalpark wieder besiedelt zu haben. Dies war vor allem durch die Erholung der Bestände von Himalaya-Tahren und Gelbbauch-Moschustieren (Moschus chrysogaster) möglich. Weitere Großschutzgebiete mit Schneeleopardenpopulationen sind der Makalu-Barun-Nationalpark, das Kangchendzönga-Schutzgebiet, der Langtang-Nationalpark, das Manaslu-Schutzgebiet und das Dhorpatan-Jagdreservat.
In Pakistan bewohnt der Schneeleopard ausschließlich die Gebirgsketten der nördlichen Landesteile. Die Katze kommt hier in den Distrikten Chitral, Dir, Swat und Kohistan, in Gilgit-Baltistan sowie im Muzaffarabad-Distrikt vor. Pakistan besitzt etwa 80.000 Quadratkilometer potentielles Schneeleopardenhabitat, wovon etwa 40.000 Quadratkilometer als sehr guter Lebensraum gelten. Die Art kommt in einigen Schutzgebieten des Landes, etwa im Chitral-Nationalpark und im Khunjerab-Nationalpark vor. George B. Schaller schätzte die Population in Pakistan im Jahr 1976 vorsichtig auf 100 bis 250 Tiere. Eine jüngere Schätzung aus dem Jahr 2003 geht von insgesamt etwa 320 bis 400 Schneeleoparden in ganz Pakistan aus. Sie basiert im Wesentlichen auf der Hochrechnung einer Schneeleoparden-Zählung der Jahre 1998 bis 2001 in der Region Baltistan, wo alleine etwa 90 bis 120 Schneeleoparden leben sollen. In dieser Region bilden Schraubenziege und Sibirischer Steinbock die wichtigsten natürlichen Beutetiere. Die Bestandsdichten dieser Huftiere liegen zum Teil bei 0,5 pro Quadratkilometer. Die größte Bedrohung in Pakistan ist die Bejagung des Schneeleoparden als Viehdieb und zur Pelzgewinnung. Derzeit scheint der Druck auf die Katze allerdings noch mäßig zu sein, da die Viehhalter der Gegend arm und schlecht organisiert sind. Ob die zunehmende Trophäenjagd, von der die lokale Bevölkerung teilweise profitiert, eine Gefahr oder eine Chance für den Schneeleoparden darstellt, ist unklar und hängt vermutlich von den entsprechenden Bedingungen ab. Hohe Bestände von natürlichen Beutetieren nützen zwar erst einmal dem Schneeleoparden, doch könnte der Jagddruck auf die Katze zunehmen, wenn die lokale Bevölkerung sie als Feind dieser Einnahmen betrachtet.
Russland beherbergt die nördlichsten Randpopulationen des Schneeleoparden. Ursprünglich erstreckte sich das Verbreitungsgebiet vom Altaigebirge im Westen bis zum Oberlauf der Lena im Baikalgebiet. Das Verbreitungsgebiet erstreckte sich im Nordosten mindestens bis ins Gebiet von Balagansk, im Südosten des großen Bratsker Stausees. Am Beginn des 20. Jahrhunderts verschwand die Art aus den nördlichen und westlichen Teilen des Areals. Der Rückzug aus dem Baikal- und Transbaikalgebiet erfolgte wohl mit dem Verschwinden von Wildziegen und Wildschafen in dieser Region. Heute ist das Vorkommen auf das Altai- und Sajangebirge, einschließlich Tuwa und Tunkaberge, beschränkt. Unbestätigte Berichte deuten darauf hin, dass er noch im Süden der Tschita-Region östlich des Baikalsees vorkommt. In den 1980er Jahren wurde er darüber hinaus im Kusnezker Alatau und in den Kanskoe Belogor'e, einem nördlichen Ausläufer des Sajan südlich von Kansk, nachgewiesen. Zu den Bestandszahlen des Schneeleoparden in Russland liegen kaum handfeste Daten vor. Alle Angaben basieren lediglich auf groben Schätzungen. Man vermutet, dass etwa 150 bis 200 Schneeleoparden in Russland leben, von denen etwa 30 bis 40 Tiere im Tschuja- und Katungebiet vorkommen. Eine Studie, die mit Hilfe von Kamerafallen und Spuren-Analysen im westlichen Sajangebirge zwischen Januar und März 2008 durchgeführt wurde, kam zum Ergebnis, dass ein etwa 120 Quadratkilometer großes Areal im Bereich des Sajano-Schuschensker Reservates von insgesamt sechs Schneeleoparden aufgesucht wurde. Zu dieser Jahreszeit bewohnen die Tiere hier vor allem steile Süd- und Osthänge zwischen 540 und 1200 Meter über dem Meeresspiegel. Das Schutzgebiet beherbergt etwa 15 Schneeleoparden und ist eines der Schlüssel-Schutzgebiete für den Schneeleoparden im Sajangebirge. Die Lebensräume im russischen Altai werden durch das Altai-Schutzgebiet und das Katun-Schutzgebiet geschützt.
Über die Bestandsverhältnisse in Tadschikistan ist wenig bekannt. Unterschiedliche Schätzungen gehen von 200 bis 300 beziehungsweise 80 bis 100 Exemplaren aus. Zum Verbreitungsgebiet sollen das Pamir-Gebiet in Berg-Badachschan sowie das Serafschan-, Gissar- und Karategin-Gebiet im Nordwesten des Landes zählen.
Die Vorkommen in Usbekistan liegen an der Westgrenze des Gesamtverbreitungsgebietes und befinden sich im westlichen Tienshan und Pamir-Alai, etwa dem Gissar-Naturschutzgebiet. Man geht von nur etwa 20 bis 50 Tieren in Usbekistan aus.
Bestand in Gefangenschaft
Etwa 580 Schneeleoparden leben in Zoologischen Gärten und ähnlichen Einrichtungen (Stand 1994). In Gefangenschaft wird regelmäßig Nachwuchs großgezogen. Statt der durchschnittlichen Wurfgröße von zwei bis drei sind hier vereinzelt bis zu sieben Jungtiere zur Welt gekommen.
Evolution und Systematik
Der Schneeleopard zählt zu den Großkatzen (Pantherinae), hat aber in einigen Merkmalen eine Sonderstellung inne. Obwohl er wie Löwe, Jaguar, Leopard und Tiger ein unverknöchertes, elastisches Zungenbein besitzt, das früher mit der Fähigkeit zum Brüllen in Verbindung gebracht wurde, brüllt der Schneeleopard nicht. Neuere Studien zeigen, dass die Fähigkeit zum Brüllen vor allem mit der speziellen Morphologie des Kehlkopfs zusammenhängt. Der Schneeleopard besitzt diese Kehlkopf-Morphologie genauso wenig wie Kleinkatzen. Aufgrund dieser anatomischen Besonderheit ist er die einzige Großkatze, die in der Lage ist, wie Hauskatzen zu schnurren. Eine weitere Eigenschaft unterscheidet ihn von den vier genannten Arten: Er verzehrt seine Beute in Hockstellung, wie Kleinkatzen es tun, und nicht wie typische Großkatzen im Liegen. Darüber hinaus ist der Schädel durch eine kurze Schnauze und eine hohe Stirn gekennzeichnet.
Ursprünglich wurde der Schneeleopard bereits zur Gattung Panthera gestellt, zwischenzeitlich aber aufgrund der genannten Besonderheiten der separaten Gattung Uncia zugeordnet. Neuere molekulargenetische Untersuchungen zeigen jedoch, dass er tatsächlich zur Gattung Panthera gehört. Innerhalb der Gattung Panthera ist die systematische Stellung allerdings noch nicht völlig geklärt. Genetische Analysen lieferten lange keine einheitlichen Interpretationen, da die Gattung Panthera sich erst vor wenigen Millionen Jahren, und offenbar in relativ kurzer Zeit, in verschiedene Arten aufgespalten hat. Analysen von mehreren mitochondrialen Genen in verschiedenen Studien deuteten zuerst darauf hin, dass der Schneeleopard an der Basis der Gattung steht, sich die anderen Arten also erst nach Abspaltung des Schneeleoparden auseinander entwickelten. Andere Studien mitochondrialer DNA stellten den Schneeleoparden dagegen als Schwesterart neben den Tiger. Unter Hinzunahme weiterer mitochondrialer Gene sowie Zellkern-DNA wurde als Schwesterart eher der Leopard vermutet. Eine weitere Studie, bei der das gesamte mitochondriale Genom des Schneeleoparden entschlüsselt wurde, kam schließlich zum Ergebnis, dass er am wahrscheinlichsten eine Schwesterart des Löwen darstellt. Dieses Ergebnis wurde von einer weiteren jüngeren Studie bestätigt, in welcher die gesamte mitochondriale DNA-Sequenz bei der Analyse des Verwandtschaftsgrads berücksichtigt wurde.
Ein Kladogramm der rezenten Großkatzen sähe demnach folgendermaßen aus:
Die genetischen Befunde deuten darauf hin, dass sich die Linie des Schneeleoparden vor etwa vier bis fünf Millionen Jahren von der Löwen-Linie getrennt hat. Um diese Zeit fand eine starke Hebung des nordwestlichen Hochlands von Tibet statt. Vermutlich erreichten die Vorfahren des Schneeleoparden damals erstmals diese alpinen Gebiete und passten sich langsam den Gegebenheiten an. Die wichtigsten Schritte zur Artbildung des Schneeleoparden dürften aber vor etwa 1,7 Millionen Jahren stattgefunden haben, als das tibetische Hochland sein heutiges Niveau nahezu erreicht hatte.
Bis vor kurzem waren vom Schneeleoparden nur wenige Fossilfunde aus dem späten Pleistozän bekannt, die aus dem Altai-Gebirge an der Westgrenze der Mongolei stammen. Doch neuere Funde aus den Siwaliks in Nordpakistan zeigen, dass die Katze hier wahrscheinlich vor 1,2 bis 1,4 Millionen Jahren verbreitet war. Allerdings scheint der Schneeleopard schon immer auf den asiatischen Kontinent beschränkt gewesen zu sein. Angebliche Funde aus dem Jungpleistozän Europas stammen von Leoparden oder großen Luchsen.
Schneeleoparden sehen sich in ihrem gesamten Verbreitungsgebiet sehr ähnlich. Tiere des Himalaya unterscheiden sich optisch kaum von Tieren des Altaigebirges. Auf der Grundlage der aberranten Fellfärbung weniger Einzelindividuen wurden dennoch bis zu drei Unterarten vorgeschlagen. Panthera uncia schneideri (Exemplar aus Sikkim), Panthera uncia uncioides (Fell aus Nepal) und Panthera uncia uncia. Das Handbook of the Mammals of the World unterscheidet P. u. uncia aus Russland, der Mongolei und Zentralasien sowie P. u. uncioides aus West-China und dem Himalayagebiet. Genetische Untersuchungen zu den umstrittenen Unterarten wurden bisher nicht durchgeführt.
Der Schneeleopard in der Kultur
Siehe auch: Der Schneeleopard in der Kunst (Commons-Kategorie)
Dem Schneeleoparden wird als charismatischem Tier in der Regel weltweit große Sympathie entgegengebracht. Seine Scheu und Seltenheit tragen zu einer gewissen Mystifizierung bei. Sein kirgisischer Titel „Geist der Berge“ wird beispielsweise von westlichen Naturschutzorganisationen gebraucht. Bei den Viehzüchtern seiner Heimatländer gilt er dagegen häufig als Schädling.
Der Schneeleopard ist ein nationales Symbol für Tataren und Kasachen. Im Wappen der Städte Almaty (Kasachstan), Samarkand (Usbekistan) und Bischkek (Kirgistan) befindet sich jeweils ein Schneeleopard, der manchmal geflügelt ist. Die ehemalige 10.000-Tenge-Banknote (kasachische Währung) war von einem Schneeleoparden geziert. Das Staatswappen Tatarstans und Chakassiens zeigt einen stilisierten, geflügelten Schneeleoparden. Daneben ziert der Schneeleopard das Logo der Eishockeyklubs Ak Bars Kasan und Barys Astana, da die Namen dieser Klubs als „Schneeleopard Kasan“ und „Schneeleopard Astana“ übersetzt werden können.
Der Schneeleopard-Orden stammt aus Sowjet-Zeiten und wird heute noch durch die GUS-Staaten an Bergsteiger verliehen, die alle fünf Siebentausendergipfel in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion erfolgreich bestiegen haben.
Eine Version des Betriebssystems der Firma Apple trägt die Bezeichnung Snow Leopard, die englische Bezeichnung für Schneeleopard: Mac OS X Snow Leopard 10.6.
Angriffe auf Menschen
Angriffe auf Menschen wurden bisher kaum bekannt. Die einzigen zwei in der Literatur angegebenen Fälle ereigneten sich in der Nähe von Almaty. Ein tollwütiges Tier griff hier am 12. Juli 1940 zwei Männer an und verletzte sie schwer, bevor es getötet wurde. Ein anderes, sehr altes Tier griff ebenfalls im Raum Almaty einen Menschen an, wurde aber mit einem Knüppel außer Gefecht gesetzt und getötet.
Literatur
Thomas Bauer: Nurbu – Im Reich des Schneeleoparden. Wiesenburg Verlag, Schweinfurt 2012, ISBN 978-3-942063-89-0
Peter Matthiessen: Auf der Spur des Schneeleoparden. Malik / National Geographic, München 2000, ISBN 978-3492400893 (orig. The Snow Leopard, Viking Books, New York 1978, ISBN 978-0099771111)
Eckard Gehm: Schneeleopard (Uncia uncia). Geist der Berge. Verlag Wildpark Lüneburger Heide, Hanstedt-Nindorf 2002, ISBN 3-00-009603-5 (deutsch/englisch)
Ronald M. Nowak: Walker’s Mammals of the World. Johns Hopkins University Press, 1999, ISBN 0-8018-5789-9
M. E. Sunquist & F. C. Sunquist (2009): Family Felidae (Cats). (S. 128–130). In: D. E. Wilson, R. A. Mittermeier (Hrsg.): Handbook of the Mammals of the World. Bd. 1: Carnivores. Lynx Edicions, 2009. ISBN 978-84-96553-49-1
Film
Der Schneeleopard (Originaltitel: La panthère des neiges), französischer Dokumentarfilm der Regisseurin Marie Amiguet über die Suche nach dem Schneeleoparden, Filmstart in den deutschen Kinos am 10. März 2022.
Weblinks
Artenprofil Schneeleopard; IUCN/SSC Cat Specialist Group in Englisch
Seite des NABU über ein Artenschutzprogramm für den Schneeleoparden
BBC-Reportage (englisch) über eine Schneeleopardin und ihr Jungtier in der Region Chitral/ Pakistan.
Snow Leopard Conservancy (englisch)
Dissertation mit ausführlichen Informationen zum Schneeleopard (PDF-Datei; 1,32 MB)
Der Schneeleopard
Animal info (englisch)
Einzelnachweise
Katzen
Wikipedia:Artikel mit Video |
112043 | https://de.wikipedia.org/wiki/Hammerhaie | Hammerhaie | Hammerhaie (Sphyrnidae) sind eine Familie der Haie, die besonders durch die starke Verbreiterung ihres Kopfes zu einem sogenannten Cephalofoil gekennzeichnet sind; bei einigen Arten führt diese zur Bildung des namensgebenden „Hammers“. Die Familie umfasst zwei Gattungen mit insgesamt acht Arten, die sich vor allem in ihrer Größe sowie Form und Breite des Kopfes unterscheiden. Die größte Art ist der Große Hammerhai (Sphyrna mokarran) mit einer Maximallänge von 5,50 bis 6,10 Metern, während der Korona-Hammerhai (Sphyrna corona) als kleinste Art nur eine maximale Gesamtlänge von unter einem Meter erreicht.
Hammerhaie leben weltweit vor allem in tropischen und subtropischen Küstengebieten. Sie sind in der Regel Einzelgänger, wobei einige Arten jedoch auch Gruppen von mehreren hundert bis mehreren tausend Individuen bilden können. Als Jäger erbeuten sie eine Vielzahl wirbelloser Tiere sowie Knochen- und Knorpelfische. Größere Individuen erbeuten auch andere Haie einschließlich kleinerer Vertreter der eigenen Art (Kannibalismus). Vor allem bodenlebende Beutetiere, wie verschiedene Rochen, werden durch die am Cephalofoil befindlichen Sinnesorgane aufgespürt. Alle Hammerhaie sind lebendgebärend und bilden eine Plazenta zur Versorgung der Jungtiere durch das Muttertier aus. Die großen Arten werden als potenziell gefährlich eingestuft, Haiunfälle mit Hammerhaien sind allerdings sehr selten dokumentiert. Vor allem aufgrund der Flossen werden einige Arten kommerziell bejagt, einzelne Arten werden aufgrund des starken Fischereidrucks von der International Union for Conservation of Nature (IUCN) als „gefährdet“ bis „stark gefährdet“ eingestuft.
Merkmale
Hammerhaie haben einen stromlinienförmigen Körper. Der längste bekannte Vertreter ist der Große Hammerhai (Sphyrna mokarran) mit einer maximalen Gesamtlänge von 5,50 bis 6,10 Metern, während der Korona-Hammerhai als kleinste Art nur maximal 92 Zentimeter erreicht. Die Färbung der Arten ist in der Regel bräunlich bis grau mit weißem Bauch, eine Zeichnung ist nur beim Schaufelnasen-Hammerhai in Form einer unregelmäßigen Fleckung und bei einigen Arten in Form von dunklen Flossenspitzen oder -rändern vorhanden. Eine Besonderheit stellt die goldgelbe bis orange Färbung des Kleinaugen-Hammerhais dar, die sich wahrscheinlich auf seine Hauptnahrung zurückführen lässt. Sie besteht bei Jungtieren aus stark carotinoidreichen Garnelen sowie bei den geschlechtsreifen Haien aus Fischen und Fischrogen, die ebenfalls diese Farbstoffe enthalten.
Besonders auffällig ist die starke Verbreiterung des Kopfes direkt vor den Kiemen (präbranchial); er ist zudem bei einigen Arten stark abgeflacht. Die dadurch entstehende Kopfform stellt durch ihre arttypische Ausprägung zu einem verbreiterten bis hammerförmigen Kopf (Cephalofoil) das wichtigste Unterscheidungsmerkmal der Arten dar. Die Kopfverbreiterung beträgt bei den Arten der Gattung Sphyrna zwischen 17 und 33 Prozent der Gesamtlänge, beim Flügelkopf-Hammerhai (Eusphyra blochii) sogar 40 bis 50 Prozent. Die Augen befinden sich seitlich am Ende des Cephalofoils, sind rund oder fast rund ausgebildet und besitzen eine innere Nickhaut. Die Nasenlöcher besitzen kurze, lappige Nasenklappen; der Abstand zwischen den Nasenlöchern an der Vorderkante des Cephalofoils entspricht dem 7- bis 14-fachen Nasenlochdurchmesser; eine Ausnahme bildet hier der Flügelkopf-Hammerhai mit seinen sehr stark vergrößerten Nasenlöchern, bei denen der Abstand nur den 1,1- bis 1,3-fachen Nasenlochdurchmesser ausmacht. Das Maul liegt unterhalb des Cephalofoils und ist im Regelfall parabolisch geformt. Die Labialfurchen sind nur undeutlich ausgebildet oder fehlen vollständig. Die Zähne im Ober- und im Unterkiefer der Hammerhaie unterscheiden sich nur sehr wenig voneinander: Sie sind vergleichsweise klein bis mäßig groß, sind mehr oder weniger klingenförmig ausgebildet und besitzen nur eine schmale Zentralspitze ohne Nebenspitzen; basale Leisten und Furchen können ausgebildet sein oder auch fehlen. Im Oberkiefer befinden sich auf einer Kieferhälfte 25 bis 37 und im Unterkiefer 24 bis 37 Zähne, hinter denen weitere Zahnreihen angelegt sind.
Hammerhaie besitzen fünf Kiemenspalten, das Spritzloch ist bei allen Arten reduziert. Die erste Rückenflosse beginnt etwa mittig zwischen den Brust- und Bauchflossen, bei einigen Arten auch näher am Ende der Brustflossen; dabei liegt die Mitte der Rückenflosse immer vor dem Ansatz der Bauchflossen. Sie ist mäßig bis sehr groß ausgebildet und sichelförmig, die zweite Rückenflosse und die Afterflosse sind deutlich kleiner. Vor dem Ansatz der Schwanzflosse sind Gruben vorhanden. Sie ist asymmetrisch mit einem sehr großen oberen und einem deutlich kleineren, aber ebenfalls kräftig ausgebildeten unteren Lobus. Der obere Schwanzlobus ist dabei immer deutlich größer als die erste Rückenflosse.
Neben diesen äußeren Merkmalen gibt es einige Merkmale des Kopfskeletts und der Wirbelsäule, die für Hammerhaie typisch sind. So besitzt das Neurocranium keine primären supraorbitalen Kämme; stattdessen verschmelzen Ausläufer der prä- und postorbitalen Knochen zu unter Haien einzigartigen sekundären supraorbitalen Kämmen. Die Zentren der Wirbelkörper bilden starke, keilförmige und wirbelübergreifende Verkalkungen aus.
Funktion der Kopfverbreiterung
Die Funktion und damit die evolutive Entstehung und Entwicklung des Cephalofoils der Hammerhaie ist nicht abschließend geklärt. Es wird unter anderem angenommen, dass die Verbreiterung des Kopfes vor allem der besseren Manövrierfähigkeit des Hais dient, außerdem vergrößert sie sein Wahrnehmungsfeld. Ersteres führte auch zu der Bezeichnung „Cephalofoil“ („Kopfruderfläche“), die von der englischen Bezeichnung „Airfoil“ für Tragflächenprofil im Flugzeugbau abgeleitet wurde. In der Funktionsweise entspricht das Cephalofoil dabei dem Canardflügel, der beim Flugzeugbau zum Einsatz kommt und die Höhensteuerung durch zusätzliche Tragflächen an der Flugzeugnase ermöglicht. Dabei sollen vor allem die Manövrierfähigkeiten und der Auftrieb in sehr engen Kurven verbessert werden. Durch die zusätzliche Auftriebshilfe können die Brustflossen im Vergleich zu anderen Haien verhältnismäßig klein ausgebildet sein.
Die Augen und die stark vergrößerten Nasengruben liegen bei diesen Haien am Ende der Verbreiterung, sodass das Feld, das diese Sinnesorgane wahrnehmen, stark erweitert wird. Dies trifft auch auf die an der Vorderseite des Cephalofoils zu findenden Lorenzinischen Ampullen zu, die bei Hammerhaien neben elektrischen Impulsen potenzieller Beutefische möglicherweise auch das Erdmagnetfeld wahrnehmen und so bei den Wanderungen, die für einige Hammerhaie typisch sind, als Orientierungshilfe dienen würden.
2002 bestätigte eine vergleichende mathematische Modellierung der Wahrnehmung elektromagnetischer Felder durch die Lorenzinischen Ampullen die optimierte Erkennung von Beutetieren eines hammerköpfigen Hais gegenüber einem rundköpfigen Hai. Während bei anderen Haien wie etwa dem Blauhai (Prionace glauca) die Wahrnehmungskanäle der Lorenzinischen Ampullen im Wesentlichen kreisförmig auf ein Zentrum in der Kopfmitte ausgerichtet sind, zentrieren sich diese bei einem hammerköpfigen Hai auf drei Zentren. Es konnte ermittelt werden, dass sich dadurch sowohl die Intensität der Wahrnehmung als auch die Richtungszuordnung der elektromagnetischen Felder, die durch das potenzielle Beutetier verursacht werden, deutlich verbessern. McComb et al. konnten 2009 experimentell nachweisen, dass durch die besonders starke Verbreiterung des Kopfes beim Flügelkopf-Hammerhai und beim Bogenstirn-Hammerhai zudem die visuelle Wahrnehmung deutlich verbessert wird. Nach ihren Untersuchungen besitzen Haie mit einem breiten Cephalofoil ein deutlich größeres Gesichtsfeld sowie einen ebenfalls stark vergrößerten Überschneidungsbereich, in dem beidäugiges und damit dreidimensionales (binokulares Sehen) möglich ist.
Andere Hypothesen gehen davon aus, dass der breite Kopf dem Fixieren von Beutetieren, vor allem Stechrochen und anderen Rochen, auf dem Meeresboden dient, wie es vor allem beim Großen Hammerhai beobachtet wurde. Dies wurde unter anderem aus einer Beobachtung eines Großen Hammerhais abgeleitet, der im Bereich der Bahamas einen Amerikanischen Stechrochen (Dasyatis americana) erbeutete. Der Hai stieß den Rochen zuerst mit einem Angriff von oben auf den Meeresboden und hielt ihn dann dort mit seinem breiten Kopf fest, während er sich drehte und jeweils kräftig in beide Seiten der vergrößerten Brustflossen biss. Der somit bewegungsunfähige Rochen wurde mit dem Maul abgehoben und mit schnellen Kopfbewegungen des Hais zerlegt. Bei einer weiteren Sichtung wurde ein Großer Hammerhai (Sphyrna mokarran) beobachtet, der einen Gefleckten Adlerrochen (Aetobatus narinari) im Freiwasser attackierte, indem er ein großes Stück aus einer der beiden Brustflossen biss und ihn dann ebenfalls mit dem Kopf auf den Boden drückte, wo er den Rochen mit dem Kopf voran ins Maul nahm. Aufgrund dieser Beobachtungen wird angenommen, dass Hammerhaie bei der Jagd auf Rochen zunächst versuchen, diese mit dem ersten Biss fluchtunfähig zu machen und anschließend den verbreiterten Kopf (Cephalofoil) einsetzen, um die Beutetiere unter Kontrolle zu bringen und am Boden festzuhalten.
Verbreitung
Hammerhaie sind weltweit vor allem in tropischen und subtropischen Küstengebieten der Ozeane anzutreffen. Dabei kommen einige Arten in sehr großen Gebieten vor, beispielsweise sind der Große und der Bogenstirn-Hammerhai weltweit in wärmeren Klimazonen verbreitet, während der Glatte Hammerhai auch in gemäßigten Gebieten anzutreffen ist und im Sommer gar in polnähere und kühlere Gebiete zieht. Die kleineren Arten sind alle auf kleinere Verbreitungsgebiete beschränkt; so findet sich der Flügelkopf-Hammerhai im Roten Meer sowie an den asiatischen Küsten des Indischen Ozeans bis nach Nordaustralien, der Weißflossen-Hammerhai nur an den Atlantikküsten Europas und Nordwestafrikas und der Schaufelnasen-Hammerhai nur an den tropischen Küsten Nord- und Südamerikas. Das kleinste Verbreitungsgebiet hat der Korona-Hammerhai, der an der Pazifikküste Amerikas vom Golf von Kalifornien bis nach Peru verbreitet ist.
Hammerhaie leben vor allem im Bereich der Küstengebiete sowie des Kontinentalschelfs und im Bereich von Inselgruppen und sind nur sehr selten auch in Regionen mit größeren Wassertiefen anzutreffen. Die größten Meerestiefen erreicht dabei der Bogenstirn-Hammerhai, der auch in Tiefen von mehr als 270 Metern vorkommen kann, während unter den anderen großen Hammerhaien der Große Hammerhai selten unter 80 Metern und der Glatte Hammerhai als ausgesprochener Oberflächenbewohner in der Regel nicht unter 20 Metern Meerestiefe lebt. Die kleineren Arten sowie die Jungtiere der großen Arten leben fast ausschließlich im Flachwasserbereich, wobei sich insbesondere der Kleinaugen-Hammerhai durch die Rückbildung seiner Augen an trübe und schlammige Buchten und Ästuare angepasst hat.
Lebensweise
Hammerhaie sind in der Regel Einzelgänger, können jedoch auch kleinere bis sehr große Gruppen (Schulen) bilden. Dabei bilden vor allem der Glatte und der Bogenstirn-Hammerhai regelmäßig Gruppen von mehreren Hundert bis mehreren Tausend Individuen.
Die ausgewachsenen Individuen der großen Hammerhai-Arten haben in der Regel keine Fressfeinde, mit Ausnahme von Großen Schwertwalen (Orcinus orca). Die kleineren Arten sowie die Jungtiere der größeren Arten werden vor allem von anderen Haiarten wie etwa den Bullenhaien (Carcharhinus leucas) erbeutet. Gelegentlich begleiten Schwärme von Pilotfischen (Naucrates ductor) größere Haie, darunter auch den Großen Hammerhai. Stachelmakrelen wurden beobachtet, wie sie sich mit den Flanken an der Haut von Großen und Glatten Hammerhaien rieben, wahrscheinlich um sich selbst Hautparasiten abzureiben. Als Parasiten der Hammerhaie sind vor allem Copepoda als Hautparasiten sowie einige Fadenwürmer als Darmparasiten bekannt.
Ernährung
Die Nahrung der größeren und freischwimmenden Hammerhaie besteht vorwiegend aus Knochenfischen wie Sardinen, Heringen und Makrelen, aber auch Barrakudas und andere größere Fische werden von großen Individuen als Beute angenommen. Außerdem ernähren sich die Haie von Wirbellosen, vor allem Kopffüßern wie Tintenfischen und Kalmaren sowie von Krebstieren. Daneben jagen sie aber auch kleine Haie wie die Scharfnasenhaie, Ammenhaie oder Schwarzspitzen-Riffhaie sowie Rochen.
Vor allem der Große und der Glatte Hammerhai erbeuten hauptsächlich Rochen, insbesondere Stechrochen. Die Giftstachel der Stechrochen werden regelmäßig im Maul der Hammerhaie eingestochen gefunden und scheinen diese nicht zu stören. Ein Großer Hammerhai, der vor der Küste Floridas gefangen wurde, hatte 96 Stacheln im und um das Maul stecken. Diese Haie jagen vor allem nachts oder während der Dämmerung, wobei sie ihren Kopf in großen Bögen über den Meeresboden schwingen und mit Hilfe ihrer am Cephalofoil lokalisierten Lorenzinischen Ampullen elektrischen Signalen möglicher Beutetiere nachspüren. Zugleich wirkt der Kopf als Tragflügel, der es den Haien erlaubt, sich rasch umzuwenden und eine gerade entdeckte Beute zu fangen.
Vor allem die kleineren Arten ernähren sich zu einem großen Teil von wirbellosen Tieren, hauptsächlich von Krebstieren. Insbesondere der Schaufelnasen-Hammerhai hat sich dabei auf hartschalige Krebstiere wie Krabben, Garnelen und Seepocken sowie Muscheln spezialisiert (Durophagie): Die hinteren Zähne, die bei den anderen Arten eine hohe Spitze aufweisen, sind deutlich abgeflacht (molariform) und ermöglichen es dem Hai, die harten Schalen zu zerbrechen. Bei dieser Art ist zudem die Kiefermuskulatur und damit die Funktionsweise der Kiefer der harten Nahrung angepasst. Der Kleinaugen-Hammerhai ernährt sich in seiner Jugend vor allem von Garnelen, die einen hohen Anteil an Carotinoiden enthalten und so eine Gelbfärbung der Haie verursachen; später jagt er größere Wirbellose und Fische und ernährt sich zusätzlich von Fischrogen.
Fortpflanzung
Alle Hammerhaie sind lebendgebärend (ovovivipar), wobei die ungeborenen Junghaie im Uterus über eine Dottersack-Plazenta ernährt werden. Dabei wird der Dottersack, nachdem er von den Junghaien verbraucht wurde, in eine Plazenta umgebildet, die der der Säugetiere analog ist und im Laufe der weiteren Entwicklung die Ernährung über den mütterlichen Blutkreislauf sicherstellt. Die Anzahl der Junghaie ist art- und größenabhängig. Sie reicht von wahrscheinlich nur 2 Jungtieren beim Korona-Hammerhai bis zu über 30 Jungtieren beim Großen, dem Glatten und dem Bogenstirn-Hammerhai. Bogenstirn-Hammerhaie begeben sich für die Geburt meist in flachere Meeresregionen, in denen die Junghaie auch die ersten Lebensjahre verbringen. Beim Flügelkopf-Hammerhai, der sich bereits als Jungtier durch einen extrem breiten Kopf auszeichnet, liegen die beiden Kopfflügel vorgeburtlich dem Körper an und entfalten sich erst nach der Geburt.
Am 14. Dezember 2001 gebar ein Schaufelnasen-Hammerhaiweibchen ohne Befruchtung durch ein Männchen im Henry-Doorly-Zoo in Omaha im US-amerikanischen Bundesstaat Nebraska ein Junges. Eine DNA-Untersuchung stellte das Fehlen von Erbgut eines männlichen Partners fest, wodurch zum ersten Mal eine Parthenogenese bei Haien bestätigt werden konnte. Mittlerweile wurde eine asexuelle Fortpflanzung auch vom Weißgepunkteten Bambushai (Chiloscyllium punctatum), vom Weißspitzen-Riffhai (Triaenodon obesus) und vom Kleinen Schwarzspitzenhai (Carcharhinus limbatus) berichtet.
Evolution und Systematik
Fossilbericht
Wie bei anderen Haien liegen Fossilien der Hammerhaie vor allem in Form von Zähnen vor, wobei alle Funde der auch heute noch existierenden Gattung Sphyrna zugeordnet wurden. Die ältesten Fossilfunde von Hammerhaien stammen aus dem Paläozän Nordamerikas (Charles County, Maryland) und sind etwa 60 Millionen Jahre alt, eine genaue Artzuordnung wurde nicht vorgenommen. Seitdem wurden weltweit Fossilien von Hammerhaien, in der Regel Zähne, entdeckt. Als nur fossil beschriebene und heute nicht mehr existierende Arten spielen vor allem S. americana, S. gilmorei, S. laevissima, S. magna und S. prisca eine Rolle. So stammen die ältesten Funde von S. prisca aus dem Ypresium Saudi-Arabiens (55,8 bis 48,6 Millionen Jahre). Weitere Funde, die dieser Art zugeordnet werden, stammen aus Nordamerika, Europa und Afrika und reichen bis in das Pliozän (5,3 bis 2,6 Millionen Jahre).
Die ältesten Funde einer heute noch existierenden, rezenten Art stammen vom Bogenstirn-Hammerhai und werden in das späte Eozän (37,2 bis 33,2 Millionen Jahre) eingeordnet. Der Löffelkopf-Hammerhai taucht fossil erstmals im Chattium (28,4 bis 23,03 Millionen Jahre) auf, der Große Hammerhai im frühen Miozän (23 bis 16 Millionen Jahre).
Systematik
Die Familie der Hammerhaie enthält nach aktuellem Kenntnisstand neun Arten, die in zwei Gattungen aufgeteilt werden. Dabei handelt es sich um eine monotypische Art der Gattung Eusphyra sowie acht Arten der Gattung Sphyrna:
Der in älterer Literatur als eigenständige Art aufgeführte Weißflossen-Hammerhai (Sphyrna couardi) wird seit 1986 dem Bogenstirn-Hammerhai zugerechnet, der wissenschaftliche Name wird entsprechend als Synonym für diese Art betrachtet.
Ursprünglich wurde angenommen, dass sich die Verbreiterung des Kopfes schrittweise entwickelte, wobei der Spatennasenhai (Scoliodon laticaudus) innerhalb der Requiemhaie als Schwesterart zu den Hammerhaien betrachtet wurde. Nach dieser Vorstellung stellte der Schaufelnasen-Hammerhai die ursprünglichste Art der Hammerhaie dar, während der Flügelkopf-Hammerhai mit seinem sehr stark ausladenden Cephalofoil als stark abgeleitete Art betrachtet wurde.
Auf der Basis phylogenetischer Untersuchungen von morphologischen sowie molekularbiologischen Merkmalen (Isoenzyme und mitochondriale DNA) konnte jedoch nachgewiesen werden, dass der Flügelkopf-Hammerhai die ursprünglichste Art innerhalb der Hammerhaie darstellt und innerhalb der Gattung Sphyrna die Arten mit einem sehr groß ausgebildeten Cephalofoil (Großer Hammerhai, Glatter Hammerhai und Bogenstirn-Hammerhai) als besonders ursprünglich anzusehen sind. Dies deutet darauf hin, dass innerhalb der Hammerhaie die großen Arten mit einem großen Cephalofoil den ursprünglichen Zustand darstellen und sich die kleineren Arten mit den schmaleren Köpfen von diesen ableiten. Die Position der großen Arten mit besonders ausladendem Cephalofoil konnte auch durch weitere Untersuchungen im Jahr 2010 bestätigt werden, wobei sich die Ergebnisse bezüglich der Verwandtschaftsverhältnisse der Arten untereinander leicht von den Ergebnissen von 2007 unterscheiden. Damit verbunden wird eine Funktionsveränderung des Cephalofoils angenommen, die sich in der Lebensweise der Hammerhaie widerspiegelt: Während ein breites Cephalofoil vor allem bei freischwimmenden Arten des Pelagials vorkommt und hier vor allem die Rolle als Tragflügel wahrnimmt, leben die kleineren Arten mit kleinerem Cephalofoil vor allem in Bodennähe sowie in schlammigen Küstengebieten und nutzen die Ausstattung der Sinnesorgane, insbesondere der Lorenzinischen Ampullen, zur Lokalisierung von Beutetieren. Bezüglich der Körpergröße schließen Lim et al. 2010 aufgrund ihrer Verwandtschaftshypothese und der Verbreitung der Arten, dass die ursprünglichsten Hammerhaie große Arten waren, von denen sich sowohl der kleine Flügelkopf-Hammerhai als auch die kleineren Sphyrna-Arten ableiten. Im August 2013 wurde die neue Hammerhai-Art Sphyrna gilberti beschrieben. Dieses 1967 in den Gewässern vor South Carolina entdeckte Taxon ist morphologisch nahezu identisch mit dem Bogenstirn-Hammerhai. Erst eine DNA-Analyse erbrachte den Beleg, dass es sich hierbei um eine neue Art handelt.
Beziehung zum Menschen
Die großen Hammerhaie wie der Große Hammerhai, der Bogenstirn-Hammerhai und der Glatte Hammerhai werden als dem Menschen potenziell gefährlich eingestuft. Begegnungen mit Tauchern und Schwimmern sind wegen seiner küstennahen Lebensweise vergleichsweise häufig. Die Zahl der unprovozierten Angriffe ist allerdings sehr gering. Insgesamt sind für alle Hammerhaiarten der Gattung Sphyrna nur 21 Haiunfälle dokumentiert, zwei davon mit tödlichem Ausgang. Eine genaue Zuordnung zu bestimmten Arten wird in der Regel nicht getroffen, vor allem zwischen dem Bogenstirn-Hammerhai und dem Großen Hammerhai (Sphyrna zygaena) kommt es häufig zu Verwechslungen. Tauchern gegenüber verhalten sich die großen Hammerhaie in der Regel nicht aggressiv, und sie sind meist eher scheu; für den Großen und den Glatten Hammerhai wurde jedoch auch schon aggressives Verhalten beobachtet. Alle kleineren Hammerhaie gelten als ungefährlich für den Menschen, Unfälle mit diesen Arten sind nicht bekannt.
Nutzung und Fang
Hammerhaie, vor allem die größeren Arten, werden sowohl kommerziell als auch in der Sportfischerei befischt. Sie können sowohl im Küstenbereich als auch auf hoher See gefangen werden, wobei Langleinen sowie Grund- und Schleppnetze zum Einsatz kommen. Wie bei anderen Großhaien sind vor allem in Asien die großen Flossen als Basis der bekannten Haifischflossensuppe begehrt; der meist noch lebende Torso wird nach der Entfernung der Flossen sehr häufig zurück ins Meer geworfen, wo er verendet (Shark-Finning). Allerdings werden auch das Fleisch der Tiere und vor allem die Haut (Haileder) regelmäßig verwendet, das Leberöl dient der Vitamingewinnung und die Überreste werden zur Fischmehlherstellung genutzt.
Hinzu kommen auch in Regionen, in denen die Hammerhaie nicht selbst bejagt werden, regelmäßig hohe Beifangzahlen, da die Tiere in Küstennähe in der Regel mit kommerziell sehr begehrten und stark befischten Arten vergesellschaftet sind. Aufgrund der sehr ungenauen Daten zur Hochseefischerei liegen allerdings keine konkreten Fangzahlen oder Angaben zu Populationsgrößen und -veränderungen der verschiedenen Arten vor. Auch in Hainetzen, die zum Schutz von Badestränden vor allem vor den Küsten Australiens und Südafrikas gespannt werden, verfangen sich regelmäßig Hammerhaie.
Bedrohung und Schutz
Die großen Hammerhaie sind aufgrund ihrer eher geringen Individuenzahl sowie der langen Entwicklungsdauer sehr empfindlich gegenüber Überfischung. Eine zuverlässige Erfassung der Bestände ist allerdings sehr schwierig, da nur wenige Fischereibehörden in ihren Statistiken die Arten der Hammerhaie trennen. So werden der Große und der Bogenstirn-Hammerhai von der International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (IUCN) weltweit als „stark gefährdet“ („endangered“) und der Glatte Hammerhai als „gefährdet“ („vulnerable“) eingestuft. Ebenfalls als gefährdet gilt der Kleinaugen-Hammerhai, da er unter einem intensiven Fischereidruck steht und durch seine geringe Reproduktionsrate sehr anfällig auf Populationsrückgänge reagiert. Es gibt Hinweise, dass die Fangzahlen des Kleinaugen-Hammerhais vor Trinidad im karibischen Meer und dem nördlichen Brasilien bereits signifikant zurückgegangen sind und dies als Indiz für einen Populationsrückgang in seinem gesamten Verbreitungsgebiet gewertet werden kann. Die weiteren kleinen Arten werden als nicht oder noch nicht gefährdet betrachtet (siehe Tabelle).
Kulturelle Bedeutung
Unter Torres-Strait-Insulanern ist der Hammerhai ein weit verbreitetes Familientotem und findet sich oft in traditioneller Kunst und zeremonieller Kleidung wieder.
Literatur
Leonard J. V. Compagno: Sharks of the world. An annotated and illustrated catalogue of shark species known to date. Part 2. Carcharhiniformes. FAO Species Catalogue for Fishery Purposes. Band 4, FAO, Rom 1984, ISBN 92-5-101383-7, S. 538–547 (Family Sphyrnidae Gill, 1872)
Leonard Compagno, Marc Dando, Sarah Fowler: Sharks of the World. Princeton University Press, Princeton 2005, ISBN 0-691-12072-2, S. 322–326.
Alessandro de Maddalena, Harald Bänsch: Haie im Mittelmeer. Franckh-Kosmos, Stuttgart 2005, ISBN 3-440-10458-3, S. 213–223.
Ralf M. Hennemann: Haie & Rochen weltweit. Jahr Verlag, Hamburg 2001, ISBN 3-86132-584-5, S. 178–188.
Einzelnachweise
Weblinks
John F. Morrissey: Fact Sheet: Hammerhaie. In: Shark Info. 1. September 1997 |
116846 | https://de.wikipedia.org/wiki/Apollo%208 | Apollo 8 | Apollo 8 war der zweite bemannte Raumflug des US-amerikanischen Apollo-Programms und der erste bemannte Flug zum Mond und damit zu einem anderen Himmelskörper. Die drei Astronauten Frank Borman, William Anders und James „Jim“ Lovell waren die ersten Menschen, die mit eigenen Augen die Rückseite des Mondes sahen.
Apollo 8 startete am Morgen des 21. Dezember 1968 um 7:51:00 Ortszeit (EST), (12:51 UTC) vom Kennedy Space Center in Florida und erreichte drei Tage später, am Heiligabend 1968, die Mondumlaufbahn. Große Bekanntheit erlangte die Fernsehübertragung aus dem Mondorbit, während der die drei Astronauten die ersten Zeilen der biblischen Schöpfungsgeschichte als Weihnachtsbotschaft verlasen, und das auf dieser Mission entstandene Earthrise-Foto.
Nach zehn Umkreisungen des Mondes leiteten die Astronauten am 25. Dezember (06:10 UTC) die Rückkehr zur Erde ein, wo Apollo 8 am 27. Dezember (15:51 UTC) im Pazifischen Ozean wasserte. Das Kommandomodul (auch als Apollo-Kapsel oder englisch Command Module bezeichnet) wurde von der USS Yorktown (CV-10) geborgen.
Planungen
Am 22. Dezember 1966 stellte die NASA Frank Borman, Michael Collins und William Anders der Öffentlichkeit als Besatzung für den dritten bemannten Flug des Apollo-Programms vor. Ihre Mission E sollte die Mondlandefähre (Lunar Module, LM) in einer hohen Erdumlaufbahn erproben und war für Frühjahr 1969 angesetzt. Collins musste sich im Juli 1968 einer Operation wegen eines Bandscheibenvorfalls unterziehen, weshalb sein Ersatzmann James Lovell in die Crew aufrückte.
Im Juni 1968 wurde klar, dass Grumman die Mondlandefähre nicht bis zum geplanten Flugtermin Ende des Jahres fertigstellen konnte, da noch über 100 verschiedene Fehler und Probleme einen Einsatz verhinderten. Der früheste Fertigstellungstermin wurde von den Grumman-Ingenieuren mit Februar 1969 angegeben, was die NASA vor Probleme bei der Missionsplanung stellte. Ohne das Lunar Module wäre die nächste Mission eine reine Wiederholung des Fluges von Apollo 7, eine Verschiebung des Fluges ins Jahr 1969 hätte möglicherweise das gesamte Mondflugprogramm aufgeschoben und das Ziel einer Mondlandung bis zum Ende des Jahrzehnts unmöglich gemacht.
George Michael Low, Manager des Apollo Spacecraft Program Office, schlug daher Anfang August vor, die Mission von Apollo 8 neu zu strukturieren und die Astronauten mit der Saturn V zum Mond zu schicken. Die Mission D, die Erprobung des Lunar Module, sollte verschoben, Mission E gestrichen werden. Die Besatzung der Mission E sollte den Mondflug übernehmen. Unterstützung erhielt Low hierbei von Wernher von Braun, der, nach anfänglichen Problemen mit der Rakete, diese nun bereit für einen bemannten Flug sah.
Vor einer endgültigen Entscheidung sprach Deke Slayton, der Direktor des NASA-Astronautenbüros, mit den Astronauten über die geplante Mission. Alle drei stimmten den Planänderungen sofort zu, lediglich Anders war enttäuscht darüber, dass sein 18-monatiges Training für das Lunar Module umsonst gewesen war. James Webb, Direktor der NASA, war zunächst nicht besonders angetan von der Idee (), da er, wie einige andere hochrangige NASA-Mitglieder, Sicherheitsbedenken hatte. Zum einen stand der Besatzung von Apollo 8 mit dem Service Propulsion System (SPS) nur ein Triebwerk zur Verfügung, ein Versagen konnte nicht durch ein weiteres Triebwerk des LM kompensiert werden. (Allerdings war für Apollo 8 ohnehin eine freie Rückkehrbahn zum Mond vorgesehen, im Gegensatz z. B. zu Apollo 13, wo erst das Triebwerk des LM die Rückkehr zur Erde ermöglichte.) Vor allem aber hätte es bei einem Ausfall der Lebenserhaltungssysteme des Kommandomoduls, wie es sich später bei Apollo 13 ereignen sollte, ohne die Energie- und Sauerstoff-Ressourcen des LM keine Rettungsmöglichkeit für die Astronauten gegeben. Letztendlich ließ Webb sich jedoch überzeugen, auch, weil die CIA Erkenntnisse über sowjetische Vorbereitungen für den Start einer eigenen Mondrakete lieferte. Die NASA begann am 19. August mit der Planung für die jetzt C’ (C prime) genannte Mission, die erstmals Menschen zum Mond bringen sollte. Webb entschied, die Öffentlichkeit über das genaue Ziel des Fluges erst nach dem Abschluss der vorherigen Apollo-7-Mission zu informieren; bis dahin wurden die genauen Flugpläne nicht veröffentlicht. Am 8. September begann die Besatzung mit dem Training für den Raumflug. Im Simulator übte Borman die Steuerung des Raumschiffs während der Wiedereintrittsphase, Lovell trainierte die Navigation des Raumschiffs mittels Fixsternen, um im Fall eines Funkverbindungsabbruchs zur Erde die Flugbahn weiterhin berechnen zu können. Anders oblag die Kontrolle der Funktionen des Raumschiffs.
Nach dem erfolgreichen Jungfernflug des Apollo-Raumschiffs vom 11. bis zum 22. Oktober 1968 und zwei Starts sowjetischer Zond-Raumschiffe im September und November verkündete die NASA am 12. November, dass Apollo 8 an der Spitze der Saturn V zum Mond fliegen würde. Die endgültige Entscheidung dazu war zwei Tage früher während eines Treffens aller Verantwortlichen gefallen und sollte einem bemannten sowjetischen Start zum Mond, der ebenfalls für Dezember 1968 erwartet war, zuvorkommen.
Mannschaft
Kommandant von Apollo 8 war Frank Borman, Colonel der Air Force. Er war Mitglied der zweiten Astronautengruppe, die am 17. September 1962 ausgewählt wurde. Zuvor hatte er 1957 einen Master of Science in Luft- und Raumfahrttechnik erhalten und bis 1960 als Assistenzprofessor für Thermodynamik und Fluidmechanik an der Militärakademie in West Point gelehrt. Borman hatte 1965 bereits mit Gemini 7 einen 14-tägigen Langzeitraumflug unternommen.
Pilot des Kommandomoduls war James Lovell, Captain der US Navy und ebenfalls Astronaut der zweiten Auswahlgruppe. Er hatte 1952 an der United States Naval Academy den Grad des Bachelor of Science erworben. Lovell war bereits während des Rekordfluges von Gemini 7 zusammen mit Frank Borman geflogen und hatte als Kommandant von Gemini 12 einen zweiten Raumflug absolviert. Lovell galt als einer der erfahrensten Astronauten der NASA.
William Anders, das dritte Mitglied der Besatzung, Major der Air Force und Astronaut der dritten Auswahlgruppe vom 17. Oktober 1963, war Weltraumneuling. Ursprünglich als Pilot des Lunar Module eingeteilt, übernahm er nun die Aufgabe des Bordingenieurs und Fotografen. Er war neben Borman ein Besatzungsmitglied mit einer gut fundierten wissenschaftlichen Ausbildung, Anders hatte einen Bachelor in Elektrotechnik sowie einen Master of Science in Nukleartechnik, zudem hatte er bei der NASA mehrere Kurse zur Geologie besucht.
Ersatz- und Unterstützungsmannschaft, Personal im Kontrollzentrum
Die Ersatzmannschaft, die die reguläre Besatzung im Falle von Krankheit oder anderweitig bedingtem Ausfall ersetzen sollte, wurde von Neil Armstrong als Kommandant geleitet. Ursprünglich waren Jim Lovell der Command Module Pilot und Edwin Aldrin der Lunar Module Pilot. Als Lovell Collins in der Hauptmannschaft als Command Module Pilot ersetzte, nahm Aldrin seinen Posten ein, und neuer Lunar Module Pilot wurde Fred Haise.
Als Support Crew, welche die Astronauten beim Training unterstützte, waren Vance Brand, Gerald Carr und Ken Mattingly tätig.
Flight Director (Leiter der Flugkontrolle) im Kontrollzentrum in Houston während des Fluges waren Clifford E. Charlesworth (Grünes Team), Glynn S. Lunney (Schwarzes Team) und Milton L. Windler (Braunes Team). Jedem Team war ein Astronaut als CapCom (Verbindungssprecher Kontrollzentrum-Raumschiff) zugeordnet. Für das Grüne Team war dies Michael Collins; mit Lunney arbeitete Gerald Carr; dem Braunen Team war Ken Mattingly zugeteilt.
Missionsabzeichen
Die dreieckig-runde Form des Abzeichens zeigt die Kontur der Kegelform des Kommandomoduls von Apollo. Es trägt eine rote Achterschleife, die sich um die Erde (blau, grün) und den Mond (gelb) schlingt und die Nummer des Fluges, die Flugbahn und zugleich die Unendlichkeit des Alls symbolisiert. Auf dem Band der Acht stehen unten die Namen der drei Astronauten. Das Abzeichen war von James Lovell entworfen worden, kurz nachdem er von der Änderung des Missionsplanes erfahren hatte.
Saturn V
Die Saturn-V-Rakete der Apollo-8-Mission trug die Seriennummer SA-503 (manchmal als AS-503 bezeichnet). SA war die Abkürzung für Saturn-Apollo; die Nummer setzte sich aus der 5 für die Saturn V und die 03 für den dritten Flug des Raketenmodells zusammen. Die Aufrichtung der Saturn V begann am 27. Dezember 1967 in der High Bay 1 des Vertical Assembly Building mit Eintreffen der S-IC-Stufe und war im Januar 1968 abgeschlossen. Ursprünglich war sie für Mission D vorgesehen, die erste Erprobung der Mondfähre. Ende April 1968 wurde die Rakete noch einmal demontiert und die S-II-Stufe im Mississippi Test Facility einer gründlichen Prüfung unterzogen, um ihre Tauglichkeit für einen bemannten Flug zu gewährleisten. Im Mai musste ein F-1-Triebwerk der ersten Stufe ausgetauscht werden, weil es ein Leck hatte. Das erneute Zusammensetzen der Rakete war am 15. August abgeschlossen.
Am 19. August 1968 wurde die Änderung des Missionsplans beschlossen und die Rakete dem ersten bemannten Mondflug zugeteilt. Sie sollte das Kommandomodul CM-103, das zugehörige Servicemodul SM-103 sowie das „Lunar module test article“ LTA-B (Masse ca. 9 t) in eine Mondumlaufbahn bringen. Das Kommando- und Servicemodul wurde am 7. Oktober auf die Spitze der Saturn V montiert; nach abschließenden Überprüfungen wurde die Rakete am 9. Oktober mit dem Crawler zum 5 km entfernten Launch Pad 39A gebracht.
Missionsverlauf
Startvorbereitungen
Am 2. Dezember 1968 wurden die Tanks der ersten Stufe der Saturn-Rakete zum ersten Mal mit RP-1, einem hochdestillierten Kerosin, und flüssigem Sauerstoff befüllt und unter Druck gesetzt. Am 5. Dezember begann der fünftägige Count Down Demonstration Test (CDDT), der den Ablauf des Starts simulierte. Im Anschluss an den Test wurden die Tanks wieder geleert.
Der Startcountdown begann am 15. Dezember 1968 um 19 Uhr Ortszeit, Eastern Standard Time, (EST), bei T−103 Stunden. Bei T−9 Stunden wurde der Countdown für 6 Stunden angehalten, um kleinere Probleme beheben zu können. 8 Stunden vor dem geplanten Starttermin, kurz vor Mitternacht am 20. Dezember, begann die Befüllung der Raketenstufen mit flüssigem Sauerstoff, Kerosin und Flüssigwasserstoff. Diese Arbeiten dauerten etwa bis dreieinhalb Stunden vor dem Start. Die Arbeiten wurden von der Ersatzmannschaft (Armstrong, Aldrin und Haise) überwacht, die auch am Abend zuvor die Funktionsfähigkeit des Raumschiffs überprüft hatte.
Die drei Astronauten wurden um 2:36 Uhr geweckt. Nach einer gründlichen medizinischen Untersuchung folgte um halb vier morgens ein gemeinsames Frühstück mit den Leitern und Offiziellen der NASA. Um kurz nach 4 Uhr begannen die drei Astronauten, unterstützt von mehreren Technikern, ihre Raumanzüge anzulegen, um 4:32 Uhr verließen sie das Manned Spacecraft Operations Building und wurden mit einem Transporter zur Startplattform gebracht. Nachdem die Besatzung mit dem Aufzug zur Spitze der Rakete gebracht worden war, begann um 4:58 Uhr die Einstiegsprozedur. Es dauerte etwa zehn Minuten, bis alle drei Astronauten in der Apollo-Kapsel festgeschnallt waren und die Luke hermetisch verschlossen werden konnte.
Start und Trans Lunar Injection
25 Minuten vor dem Start wurde die Stromversorgung des Kommandomoduls von externer auf interne Versorgung umgestellt; die Energie wurde nun von drei Brennstoffzellen geliefert. Bei T−5 Minuten wurde der oberste der neun Verbindungsarme zur Seite geschwenkt, der der Besatzung im Notfall eine Flucht ermöglicht hätte. Zwei Minuten vor dem Start wurden die Sauerstofftanks der ersten Stufe mittels Helium, das von außen zugeführt wurde, unter Druck gesetzt, eine Minute später auch die Tanks der anderen beiden Stufen. Weitere zehn Sekunden darauf übernahmen bordeigene Batterien die elektrische Versorgung der Raketensysteme. Die Zündungssequenz wurde um 7:50:52 Ortszeit (12:50:52 UTC) eingeleitet, die Saturn V wurde, während die fünf F-1-Triebwerke Schub aufbauten, von Halterungen festgehalten. 8 Sekunden später, um 7:51 (EST), hob die Rakete ab – (Bordzeit: 000:00:00 in hhh:mm:ss).
Nach 13 Sekunden hatte die Saturn V den Kabelturm passiert und wandte sich leicht in nordöstliche Richtung, Kurs 72°. Nach 2 Minuten, 36 Sekunden war die erste Stufe ausgebrannt und wurde abgetrennt. Sie hatte Apollo 8 auf 6.818,4 km/h beschleunigt und fiel aus einer Höhe von 65,7 km in den Atlantik (). Eine Sekunde später zündeten die fünf J-2-Triebwerke der zweiten Stufe und beschleunigten die Rakete weiter. 3 Minuten und 25 Sekunden nach dem Start wurde der Rettungsturm der Apollo-Kapsel abgesprengt. Etwa 8 Minuten nach dem Start, kurz vor Ende der Brennphase der zweiten Stufe, traten leichte Pogoschwingungen auf. 8 Minuten und 44 Sekunden nach dem Abheben war auch die zweite Stufe ausgebrannt, wurde abgetrennt und fiel zurück zur Erde (). 4 Sekunden nach der Trennung zündete die S-IVB-Stufe, die Apollo 8 auf einen Erdorbit mit 190,7 km Höhe bringen sollte. Der Brennschluss der S-IVB erfolgte 11 Minuten und 30 Sekunden nach dem Abheben bei einer Geschwindigkeit von 28.065,6 km/h (7.796 m/s). Der Orbit war nicht – wie geplant – exakt kreisförmig, sondern leicht elliptisch, mit einem Perigäum von 179,2 km und einem Apogäum von 190 km.
Während der nun folgenden zwei Erdumkreisungen wurden alle Systeme des Raumschiffs geprüft, ob sie für den Flug zum Mond bereit waren. Ein kleiner Zwischenfall passierte, als Jim Lovell durch eine unglückliche Bewegung die Rettungsweste seines Raumanzugs auslöste. Da diese mit reinem Kohlendioxid gefüllt war, durfte der Inhalt nicht in die Kapsel entlassen werden, da das CO2 die Lithiumhydroxid-Filter der Apollo-Kapsel gesättigt hätte. Lovell behalf sich, indem er die Weste in den „urine dump“, also die Toilette des Raumschiffs und damit in den Weltraum abließ. 2 Stunden und 27 Minuten nach dem Start, während der zweiten Umkreisung, erhielt Apollo 8 dann die Freigabe zum Einschuss in die Bahn zum Mond (Trans Lunar Injection, TLI).
2 Stunden, 50 Minuten und 40 Sekunden nach dem Start wurde die S-IVB-Stufe hoch über dem Pazifik, nördlich von Hawaii, zum zweiten Mal gezündet. Für 5 Minuten und 17 Sekunden beschleunigte sie das Raumschiff weiter, bis es bei Brennschluss eine Geschwindigkeit von 38.959,2 km/h (10.822 m/s) hatte, in einer Höhe von 346,7 km. Apollo 8 befand sich auf dem Weg zum Mond.
Flug zum Mond
Die erste Aufgabe auf dem Flug war die Abtrennung der S-IVB-Stufe, die das Raumschiff auf Kurs zum Mond gebracht hatte. Drei Stunden und 21 Minuten nach dem Abheben, um 11:14 (EST) wurden die Bolzen gesprengt, die die dritte Stufe mit dem Servicemodul verbunden hatten. Kommandant Frank Borman nutzte das Lageregelungssystem, um das Raumschiff um 180 Grad zu drehen und etwa 300 m von der Stufe wegzubewegen. Als Nächstes wurde die Richtantenne am Servicemodul ausgefahren, die eine bessere Funkverbindung im Mikrowellenbereich zur Erde ermöglichte. 40 Minuten nach dem Einschuss zum Mond war das Raumschiff bereits 12.000 km von der Erde entfernt, und die Besatzung sah zum ersten Mal die gesamte Erde als Kugel.
Erste Positionsbestimmungen des Raumschiffs durch Jim Lovell wurden durch den aus der S-IVB-Stufe austretenden und in der Kälte des Raums gefrierenden Treibstoff erschwert, da die Kristalle das Sonnenlicht reflektierten und als „Pseudosterne“ die Sicht auf die zur Navigation benötigten Fixsterne behinderten. Um die dritte Stufe der Saturn V, die sich immer noch auf dem gleichen Kurs wie das Apollo-Raumschiff befand, auf eine andere Flugbahn zu bringen und damit auch eine Gefährdung des Raumschiffs und seiner Besatzung auszuschließen, wurde etwa eineinhalb Stunden nach der Stufentrennung (Flugzeit fünf Stunden, acht Minuten) der in der Stufe verbliebene Sauerstoff schlagartig abgelassen. Durch dieses Manöver verringerte sich die Geschwindigkeit der Stufe um etwa 30 Meter pro Sekunde bei einer Fluggeschwindigkeit von etwa 11 km/s, diese kleine Änderung reichte aber aus, um die S-IVB auf einen Sonnenorbit einzusteuern, den sie nach einem Swing-by-Manöver über der Ostseite des Mondes – die seiner Bahnrichtung abgewandt ist – erreichen würde.
Etwa zeitgleich begann die Besatzung von Apollo 8 mit den ersten Vorbereitungen für die erste Zündung des Service-Propulsion-Systems, des Triebwerks des Servicemoduls. Die Kurskorrektur, die etwa elf Stunden nach dem Abheben erfolgen sollte, war der entscheidende Test für die Funktionstüchtigkeit des Triebwerks, das für die Abbremsung und die Wiederbeschleunigung des Raumschiffs in der Mondumlaufbahn benötigt wurde. Elf Stunden und eine Minute nach Beginn des Fluges wurde das Triebwerk gezündet; die Brenndauer betrug lediglich zweieinhalb Sekunden. Diese kurze Zündung war aber dennoch ausreichend, um den Kurs des Raumschiffs so zu verändern, dass bis zum Eintritt in die Mondumlaufbahn keine weiteren Korrekturen notwendig waren. Hätte die Zündung versagt, wäre Apollo 8 auf seiner freien Rückkehrbahn verblieben, die es nach einer halben Umkreisung des Mondes wieder zurück zur Erde geführt hätte.
Etwa 20 Stunden nach dem Start erlitt Frank Borman einen Übelkeitsanfall und erbrach sich zweimal. Er hatte kurz zuvor eine Seconal-Schlaftablette genommen, weil er in der Schwerelosigkeit nicht einschlafen konnte. Erste Befürchtungen, Borman hätte sich eine Magen-Darm-Entzündung eingehandelt oder wäre durch die Strahlung des Van-Allen-Gürtels erkrankt, zerstreuten sich, als sich der Zustand des Kommandanten einige Stunden später wieder besserte. Aufgrund der möglichen Gefährdung der Besatzung durch eine Magen-Darm-Grippe wurde kurzzeitig über einen Abbruch des Fluges zum Mond diskutiert. Lovell und Anders litten die ersten Stunden des Fluges ebenfalls unter leichter Übelkeit; bei ihnen handelte es sich aber um eine leichte Raumkrankheit, die sich nach der Akklimatisierung in der Schwerelosigkeit legte.
31 Stunden und 11 Minuten nach dem Abheben, um 15:03 Uhr Floridazeit am 22. Dezember 1968, absolvierte die Besatzung von Apollo 8 aus einer Entfernung von 221.940 km zur Erde ihre erste von sechs geplanten Live-Fernsehübertragungen. Bill Anders fungierte als Kameramann; er filmte Borman und Lovell, wie sie den Zuschauern die Auswirkung der Schwerelosigkeit im Kommandomodul demonstrierten. Versuche, die Erde zu zeigen, scheiterten am Teleobjektiv der Fernsehkamera, das sich nicht montieren ließ. Mit dem Weitwinkelobjektiv aufgenommen, erschien die Erde nur als heller Lichtfleck auf den Bildschirmen. Die Liveschaltung dauerte 15 Minuten und endete um 15:18 (EST).
Die 24 Stunden bis zur nächsten Fernsehübertragung verbrachten die drei Astronauten abwechselnd mit der Überwachung der Bordsysteme und der Ausrichtung des Raumschiffs. Mit der Flugkontrolle in Houston wurde eine Lockerung des Flugplans ausgehandelt, um den Astronauten mehr Ruhephasen zu verschaffen. Am Morgen des dritten Flugtages befand sich die Besatzung in einer besseren körperlichen Verfassung und war auch ausgeruhter als die Tage zuvor. Um 14:58 (EST) (Bordzeit: 055:07:36) begann die zweite Fernsehübertragung von Apollo 8. Kommandant Borman hatte die Kamera im linken Rendezvous-Fenster montiert und das Raumschiff auf die Erde ausgerichtet. Nach einigen Korrekturmanövern befand sich die Erde im Zentrum des Fensters – Apollo 8 übertrug die ersten klaren Live-Bilder der gesamten Erde aus 325.000 km Entfernung. Jim Lovell beschrieb den Anblick:
Nach einer kurzen Unterbrechung durch CapCom Mike Collins fuhr er fort:
Nach einigen Minuten fügte Jim Lovell hinzu:
Mondumlaufbahn
Nach 23 Minuten endete die zweite Fernsehübertragung von Bord. Knapp zehn Minuten später (Bordzeit: 055:39) überquerte das Apollo-Raumschiff den Punkt gleicher Anziehung zwischen Mond und Erde. In einer Entfernung von 326.400 km zur Erde betrug die Geschwindigkeit des Raumschiffs nur noch knapp 3565 km/h, den niedrigsten Wert während der gesamten Reise. Apollo 8 wurde durch die Anziehungskraft der Erde immer weiter verlangsamt, ab diesem Punkt, in einer Entfernung von 62.000 km zum Mond, stieg die Geschwindigkeit durch die Gravitation des Mondes wieder an. Ein Korrekturmanöver mit den Lageregelungstriebwerken des Servicemoduls brachte 61 Stunden nach dem Start Apollo 8 auf den gewünschten Kurs um den Mond.
Gegen 2 Uhr morgens am 24. Dezember begann die Mannschaft mit den Vorbereitungen für die „Lunar Orbit Insertion“, den Einschuss in die Mondumlaufbahn. Die Daten für die Triebwerkszündung und die Raumlage wurden in den Bordcomputer eingegeben, das Raumschiff wurde für die Zündung des Triebwerks im Raum ausgerichtet (Bordzeit: 066:02:40). Damit das Raumschiff durch die Zündung abgebremst wurde, musste das Triebwerk in Flugrichtung zeigen, das Kommandomodul und damit der Blick der Besatzung war auf die Erde gerichtet. Anders verglich den Flug mit einem U-Boot, da die Besatzung vom Ziel, dem Mond, bisher nichts sehen konnte. Die Zündung des Triebwerks musste aus himmelsmechanischen Gründen auf der Rückseite des Mondes erfolgen – im Funkschatten des Mondes und außerhalb des Einflusses der Flugkontrolle in Houston. Aus diesem Grund wurden alle Systeme gründlich geprüft; eine Fehlfunktion hätte schwere Folgen haben und eventuell sogar das Leben der Besatzung gefährden können.
Lunar Orbit Insertion
Um 3:52 (EST) (Bordzeit: 068:04) übermittelte CapCom Gerald Carr der Besatzung die Freigabe für die Zündung.
(Lunar Orbit Insertion)
In der folgenden Stunde bis zum Signalverlust des Raumschiffs hinter dem Mond intensivierte sich der Funkverkehr zwischen Apollo und Houston. Statusmeldungen über Entfernung, Geschwindigkeit und Zustand des Raumschiffs werden ausgetauscht. Der Verlust des Kontakts zum Raumschiff war für 4:49 Uhr (EST) vorausgesagt.
Am 24. Dezember 1968 um 4:49:02 (EST) (Bordzeit: 068:58:02) verschwand Apollo 8 hinter dem Mond und der Funkkontakt brach ab.
Der geplante Zeitpunkt für die Zündung des Triebwerks war zur Bordzeit: 069:08:52 angesetzt, also zehn Minuten und 50 Sekunden nach der Unterbrechung der Funkverbindung. Bei normalem Ablauf war davon auszugehen, dass die Flugkontrolle in Houston erst 24 Minuten später von diesem Manöver in Kenntnis gesetzt würde, wenn Apollo 8 wieder aus dem Funkschatten des Mondes auftauchte. Wäre Acquisition of Signal (AOS), die Wiederherstellung des Funkkontakts, zehn Minuten früher erfolgt, hätte das Triebwerk nicht gezündet und das Raumschiff sich nicht im Mondorbit befunden.
Als dann um 5:19 (Bordzeit: 069:34:07) Jim Lovell auf die Anrufe der Bodenkontrolle antwortete, brach im Kontrollraum Jubel aus. Das Raumschiff hatte auf einen elliptischen Orbit eingeschwenkt, das Pericynthion (mondnaher Punkt) lag bei 112 km, das Apocynthium (mondferner Punkt) bei 312 km. Die Umlaufbahn war um zwei Grad gegen den Mondäquator geneigt, um alle geplanten Landeplätze späterer Missionen fotografieren zu können. Die übermittelten Telemetriedaten zeigten, dass das Triebwerk wie geplant vier Minuten und sechseinhalb Sekunden gefeuert hatte. Kommandant Borman richtete das Raumschiff mit der Spitze zum Mond hin aus, um durch die vorderen Fenster des Kommandomoduls eine gute Sicht auf die Mondoberfläche zu haben.
Jim Lovell lieferte einige Zeit später eine erste Beschreibung der Mondoberfläche:
Gleichzeitig begannen Anders und Borman mit der fotografischen Erfassung der Mondoberfläche. Sie setzten mehrere Kameras ein, darunter unter anderem eine Reihenbildkamera, die kontinuierlich die überflogene Mondoberfläche abfotografierte sowie diverse Filmkameras. Nach der Übermittlung verschiedener telemetrischer und technischer Daten machte sich die Besatzung für den zweiten Loss of Signal (Kontaktabbruch) bereit, der bei Bordzeit: 070:56:35 erfolgen soll. Nach dem Abbruch des Funkkontakts bereitete sich die Besatzung dann auf der Rückseite des Mondes auf die dritte Live-Übertragung während des Fluges und die erste von zweien aus der Mondumlaufbahn vor. Zwischenzeitlich fotografierte die Besatzung weiter die Mondoberfläche und schoss auch eine große Anzahl von Bildern von der bisher weitestgehend unbekannten Rückseite des Mondes. Um 7:31 (EST) (Bordzeit: 071:40) tauchte Apollo 8 wieder aus dem Funkschatten auf und übermittelte die ersten Live-Fernsehbilder der Mondoberfläche, die unter dem Raumschiff vorbeizog. Die drei Astronauten beschrieben während der 13-minütigen Übertragung ihre Eindrücke von der Oberfläche und verglichen sie mit Mondkarten. Zudem wurde mit der Programmierung des Bordcomputers für eine weitere Zündung des Haupttriebwerks begonnen, die den Orbit in eine Kreisbahn abändern sollte.
Die Zündung erfolgte bei Bordzeit: 073:35:06 auf der Rückseite des Mondes; die elfsekündige Zündung brachte das Apollo-Raumschiff auf eine kreisförmige Umlaufbahn in 111,7 km Höhe über der Mondoberfläche. Im nun kreisförmigen Orbit setzte Anders eine stereoskopische Kamera in Gang, die dreidimensionale Bilder der Oberfläche lieferte. Die Kamera lief während der gesamten dritten Umkreisung des Mondes und fotografierte einen breiten Streifen der Mondoberfläche.
Earthrise
Die Entstehung des „Earthrise-Fotos“ war im ursprünglichen Flugplan nicht vorgesehen. Während der vorhergehenden Mondumkreisungen hatte Kommandant Frank Borman das Apollo-Raumschiff stets mit der Spitze zur Mondoberfläche ausgerichtet, um Fotos der Oberfläche für spätere Landungen zu machen. Kurz bevor das Raumschiff hinter dem Mond hervorkam und wieder Funkkontakt zur Erde erlangte, ließ Borman das Raumschiff um seine Längsachse rotieren, als die Erde plötzlich im Seitenfenster auftauchte.
Als Bill Anders nach der Kamera griff, um den Anblick festzuhalten, witzelte Borman: Wurde ursprünglich noch davon ausgegangen, dass Borman als erstes ein Schwarzweiß-Bild der aufgehenden Erde aufnahm, die sich noch knapp über dem Mondhorizont befand, ist mittlerweile bewiesen, dass auch dieses Bild nur von Anders aufgenommen werden konnte. Nach dem Foto legte Anders einen Farbfilm ein und machte das berühmte Bild sowie eine weitere Aufnahme der Erde. Für das Farbfoto wurde 70 mm Kodak Ektachrome-Film verwendet. Das Earthrise-Foto war ursprünglich mit dem Mondhorizont in der Vertikalen aufgenommen worden, das Bild wird jedoch meistens um 90 Grad gedreht abgebildet.
Während der folgenden zwei Umkreisungen des Mondes widmete sich die Besatzung weiter der fotografischen und kartografischen Erfassung des Mondes. Radarmessungen der Flugbahn von Apollo 8 erlaubten auch genauere Rückschlüsse auf die Mascons unterhalb der Mondoberfläche, die den Orbit des Raumschiffs beeinflussten. Während der siebten Umrundung des Mondes entschied Kommandant Borman dann, den Flugplan abzuändern, die geplanten Experimente ausfallen zu lassen und seiner Besatzung nach den Strapazen der letzten Tage etwas Entspannung und Schlaf zu ermöglichen. Borman selbst blieb wach, um die Position des Raumschiffs zu steuern; Lovell und Anders schickte er mit nachdrücklicher Stimme schlafen. ()
In den folgenden zwei Umrundungen ruhten sich Anders und Lovell in ihren Schlafsäcken im unteren Teil des Kommandomoduls aus, während Borman an der Steuerung blieb. Als sich das Raumschiff zum achten Mal auf der Rückseite des Mondes befand, begann die Besatzung mit den Vorbereitungen für die vierte Fernsehübertragung, die gegen 21:30 Ostküstenzeit beginnen sollte.
Weihnachtsbotschaft
Am 24. Dezember um 21:31 (EST) (Bordzeit: 085:43) tauchte das Raumschiff hinter dem Mond auf und übermittelte erste Fernsehbilder zur Erde. Die Besatzung hatte die Kamera und das Raumschiff in Flugrichtung ausgerichtet und übertrug das Bild der langsam über dem Mondhorizont aufgehenden Erde. Eine Minute später wechselte das Bild und zeigte die karge Mondoberfläche, die langsam unter dem Raumschiff vorbeizog. Kommandant Frank Borman schilderte seine Eindrücke:
Jim Lovell fuhr fort:
Bill Anders Eindrücke waren etwas positiver:
Während des weiteren Fluges beschrieb die Besatzung die Oberfläche des Mondes, die Krater und die Maria. Als sich das Raumschiff dem Terminator, der Grenze zwischen Tag und Nacht auf dem Mond, näherte, fuhr Bill Anders fort:
Rückkehr zur Erde
Mit dem Abschluss der 29-minütigen Live-Übertragung um 10 Uhr abends begann die Besatzung mit der Vorbereitung für die zehnte und letzte Umkreisung des Mondes. Nachdem das Raumschiff aus dem Schatten des Mondes getreten war, begannen Anders und Borman mit der Programmierung des Bordcomputers für die Zündung des Triebwerks, die das Schiff auf Kurs Richtung Erde bringen sollte. Die Zündung musste, wie schon die beiden zuvor, auf der Rückseite des Mondes und damit ohne Funkkontakt zur Erde erfolgen. Ein Funktionieren des Triebwerks war unerlässlich, da die Astronauten sonst ohne Rettungsmöglichkeit in der Mondumlaufbahn gestrandet wären.
88 Stunden und 51 Minuten nach dem Start, kurz nach Mitternacht am 25. Dezember, verschwand das Raumschiff zum letzten Mal hinter dem Mond. Die Zündung des Triebwerks erfolgte 28 Minuten später. Die 198 Sekunden Brenndauer beschleunigte das Apollo-Raumschiff um 1 km/s und brachte es damit aus der Anziehungskraft des Mondes auf Kurs zur Erde. 15 Minuten nach der Triebwerkszündung kam das Raumschiff hinter dem Mond hervor und Jim Lovell übermittelte mit den Worten die erfolgreiche Zündung. Kurz darauf jagte er dem Kontrollzentrum allerdings einen Schrecken ein, als er eine um eine Minute zu kurze Brenndauer durchgab, was bedeuten würde, dass die Geschwindigkeit des Raumschiffs zu niedrig wäre. Lovell bemerkte seinen Fehler aber und korrigierte sich.
In den folgenden Minuten und Stunden war die Stimmung gelöst. Zum ersten Mal witzelten die Bodenkontrolle und die Besatzung über Funk und Weihnachtsgrüße wurden übermittelt. Einige Stunden später verlor die Bodenkontrolle jedoch den Funkkontakt zu Apollo 8, was sich jedoch nach einer dreiviertel Stunde als loser Kontakt eines Steckers herausstellte und schnell behoben werden konnte. Die folgenden Stunden vergingen ohne weitere Zwischenfälle. Elf Stunden und 28 Minuten nach dem Mondfluchtmanöver verließ Apollo 8 das Gravitationsfeld des Mondes. Die Geschwindigkeit, die in den letzten Stunden auf 4480 km/h abgefallen war, stieg jetzt wieder an. Zwei Stunden und 13 Minuten später führte Kommandant Borman mit dem Lageregelungssystem des Servicemodul eine kleine Kurskorrektur durch, die das Raumschiff so exakt auf Kurs brachte, dass bis zum Wiedereintritt keine weiteren Korrekturen notwendig waren. Direkt im Anschluss begann die Besatzung die fünfte Fernsehübertragung von Bord, die um 16:15 (EST) (Bordzeit: 104:24:54) beginnen sollte, vorzubereiten. Während der zehnminütigen Live-Übertragung zeigte die Besatzung den Zuschauern das Innere des Kommandomoduls, in dem sie die letzten vier Tage gelebt hatten. Nach Abschluss der Übertragung stellte die Besatzung erfreut fest, dass es als Weihnachtsmahl keine gefriergetrocknete Nahrung gab wie die Tage zuvor, sondern Pute mit Soße und Preiselbeeren.
Drei Stunden später geschah Jim Lovell ein Missgeschick. Als er das Kommandomodul zur regelmäßigen Positionsbestimmung mittels Sextant ausrichtete, löschte er versehentlich einen Teil des Bordcomputerspeichers. Durch die fehlenden Bezugsdaten nahm dieser nun an, das Raumschiff befände sich wieder auf dem Launch Pad und richtete es dementsprechend durch Steuerschübe aus. Lovell gelang es aber, durch manuelles Anpeilen einiger Fixsterne und Neuprogrammierung des Computers das Raumschiff wieder korrekt auszurichten. Am Nachmittag des 26. Dezembers, gegen 14:51 (EST) (Bordzeit: 127:00) hatte das Raumschiff die Hälfte der Strecke zwischen Mond und Erde zurückgelegt; die Geschwindigkeit lag bei 6400 km pro Stunde und nahm weiter zu. Eine Stunde später, um 15:52 (EST) startete die sechste und letzte Fernsehübertragung von Bord. Die Mannschaft von Apollo 8 zeigte den Zuschauern aus etwa 180.000 km Entfernung die Erde und schilderte ihre Eindrücke des immer größer werdenden Heimatplaneten. Am Ende der vierminütigen Übertragung bedankte sich Kommandant Borman bei den Zuschauern für das rege Interesse.
In den folgenden Stunden bereiteten sich sowohl die Mannschaft an Bord des Raumschiffs als auch die Bodenkontrolle auf den Wiedereintritt am nächsten Morgen vor. Die Bergungsflotte um den Flugzeugträger USS Yorktown lief in das Seegebiet etwa 1000 km südlich von Hawaii, wo für den nächsten Morgen die Wasserung des Kommandomoduls erwartet wurde.
Wiedereintritt, Wasserung und Bergung
Am Morgen des siebten Flugtages, am 27. Dezember gegen 9 (EST), begann sich die Besatzung in ihren Sitzen anzuschnallen und für den Wiedereintritt vorzubereiten, nachdem alle losen Gegenstände an Bord verstaut worden waren. Bei Bordzeit: 146:27 erhielt die Besatzung die Erlaubnis, die Sprengladungen, die das Kommandomodul vom Servicemodul trennen sollen, scharf zu machen. Die Trennung erfolgte fünf Minuten später in einer Höhe von 2985 km und bei 32.900 km/h. Das Kommandomodul wurde nun nur noch über Batterien und interne Sauerstofftanks versorgt, die die Besatzung während des Abstiegs versorgten. Sollte das Raumschiff in einem zu flachen Winkel auftreffen und wieder ins All zurückgeschleudert werden, würden die Vorräte für ein Überleben der drei Astronauten nicht lange ausreichen.
14 Minuten nach der Trennung traf das Kommandomodul in einer Höhe von 122 km auf die obersten Schichten der Atmosphäre; die Geschwindigkeit betrug 39.200 km/h (11 km pro Sekunde). In den folgenden Minuten stieg die Temperatur des Hitzeschilds auf bis zu 2800 °C an. Die maximale Bremsverzögerung erreichte Apollo 8 zwei Minuten nach dem Eintritt in die Atmosphäre; sie betrug 6,8g. Auch stieg die Flugbahn der Kapsel zu diesem Zeitpunkt von 57 km Höhe auf 64 km an, bedingt durch den höheren Auftrieb in den dichteren Luftschichten. Dieses Flugprofil reduzierte die maximale Belastung für die Astronauten.
Der Wiedereintritt des Raumschiffs wurde von einer KC-135 der US-Luftwaffe fotografiert, auch zwei Linienmaschinen der PanAm, die sich zu diesem Zeitpunkt über dem Pazifik befanden, konnten den kometenähnlichen Schweif am Himmel verfolgen.
Vier Minuten nach Beginn des Blackouts, der durch die ionisierten Gase hervorgerufen wurde, konnte die Flugkontrolle wieder Kontakt zum Raumschiff aufnehmen. In einer Höhe von 7 km (Bordzeit: 146:56) öffnete sich der Stabilisierungsschirm, der das Kommandomodul abbremste und stabilisierte. Eine Minute später, nachdem die Geschwindigkeit unter Mach 1 abgefallen war, wurde der Stabilisierungsschirm abgeworfen und die drei Hauptschirme wurden ausgelöst. Zwei Minuten später entdeckten die Besatzungen der Bergungsschiffe und der Bergungshubschrauber das Blinklicht an der Spitze der Kapsel, die langsam herabsank. Um 5:51 (Ortszeit) (Bordzeit: 147:00) wasserte Apollo 8 im Pazifik (). Der Wellengang und die Fallschirme, die einen Sekundenbruchteil zu spät abgeworfen wurden, warfen die Kapsel um, so dass sie mit der Spitze nach unten im Wasser schwamm. Das automatische Aufrichtsystem, bestehend aus drei druckluftgefüllten Ballons an der Spitze, richtete die Kapsel jedoch innerhalb von drei Minuten wieder auf. Neun Minuten nach der Wasserung setzte ein Hubschrauber erste Kampfschwimmer am Kommandomodul ab. Da das Raumschiff allerdings im Dunkeln, etwa eine Stunde vor Sonnenaufgang, gewassert war, wurde mit der Bergung bis nach Sonnenaufgang gewartet.
Zwei Stunden nach der Wasserung öffnete Jim Lovell die Luke des Kommandomoduls und stieg aus. Ihm folgen Kommandant Borman und LM-Pilot Anders, die ebenso wie Lovell an Bord eines wartenden SH-3-Hubschraubers (Helicopter 66) gehievt wurden. Vierzig Minuten später, um 7:44 Ortszeit (12:44 EST), betraten die drei Astronauten das Deck der Yorktown, wo sie vom Kapitän begrüßt wurden. Nach einem ausgiebigen Dinner an Bord des Flugzeugträgers wurden die drei Astronauten zuerst nach Honolulu geflogen, wo sie begeistert empfangen wurden. Auch bei der Ankunft auf dem Ellington Airport südlich von Houston in der Nacht des 28. Dezembers wurden sie von Tausenden von Schaulustigen begeistert empfangen.
Am 10. Januar 1969 wurden die drei Astronauten auf dem Broadway in New York City mit einer Konfettiparade von Zehntausenden von Schaulustigen empfangen und bejubelt.
Verbleib des Raumfahrzeugs
Das Kommandomodul von Apollo 8 ist zusammen mit Ausrüstungsgegenständen des Fluges im Chicago Museum of Science and Industry ausgestellt.
Historische Bedeutung
Obwohl im ursprünglichen Flugplan für das Apollo-Programm gar nicht vorgesehen, war die Mission von Apollo 8 ein voller Erfolg für die NASA und das amerikanische Raumfahrtprogramm. Der Aufbruch zu einem anderen Himmelskörper wird in der historischen Bedeutung mit dem Aufbruch Christoph Columbus nach Amerika verglichen. Nach der Eskalation des Vietnamkriegs, der Ermordung Martin Luther Kings und Robert F. Kennedys, den Studenten- und Rassenunruhen war der erfolgreiche Flug von Apollo 8 ein positiver Abschluss des Jahres 1968 für Amerika. Dies wird deutlich in einem Glückwunschtelegramm, das Kommandant Borman nach Abschluss des Fluges erhielt: Die Redaktion des Time-Magazins wählte die drei Astronauten zu den Men of the Year 1968, den bedeutendsten Persönlichkeiten des Jahres.
Auch für die NASA und das amerikanische Mondflugprogramm war Apollo 8 von großer Bedeutung. Zuvor war kein Weltraumflug weiter als 1500 km von der Erdoberfläche entfernt gewesen. Der Flug zum Mond war ein wichtiger Schritt zur Mondlandung von Apollo 11 sechs Monate später. Für das sowjetische Mondprogramm war Apollo 8 hingegen ein herber Rückschlag – es wurde in der Folgezeit drastisch gekürzt und zusammengestrichen. Nach der erfolgreichen Landung von Apollo 11 gab die Sowjetunion dann alle Pläne auf, Kosmonauten zum Mond zu schicken.
Die Lesung aus der Schöpfungsgeschichte in der Mondumlaufbahn wurde von etwa einer Milliarde Menschen weltweit gesehen, insgesamt waren während des gesamten Fluges etwa 1200 Journalisten im Flugkontrollzentrum anwesend, die rund um die Uhr in alle Welt berichteten. Die Übertragung aus der Mondumlaufbahn wurde von der Academy of Television Arts and Sciences in New York mit einem Emmy ausgezeichnet. Die Atheistin Madalyn Murray O’Hair protestierte gegen die Lesung; im August 1969 reichte sie Klage vor dem Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten ein, in der sie den Astronauten als Regierungsangestellten das Vorlesen von religiösen Texten im Weltraum untersagen wollte. Die Klage wurde zwar abgewiesen, dennoch hielt die NASA ihre Astronauten bei der Ausübung von Religiosität im All von nun an zurück. Als Edwin Aldrin nach der Mondlandung am 20. Juli 1969 die heilige Kommunion auf dem Mond feierte, tat er dies heimlich; erst Jahre später erfuhr die Öffentlichkeit davon.
Das Bild, das Bill Anders von der über dem Mondhorizont aufgehenden Erde aufgenommen hat, wurde 1969 vom US Postal Service als Motiv für eine Briefmarke gewählt, als Bildunterschrift wurden die ersten vier Worte der Schöpfungsgeschichte „In the beginning God…“ gewählt. Das Bild, eines der bekanntesten des 20. Jahrhunderts, gilt zudem auch als Auslöser erster Umweltschutzbewegungen, da den Menschen erstmals gezeigt und bewusst wurde, wie klein und zerbrechlich die Erde ist. 1970 wurde der erste Tag der Erde gefeiert.
Trivia
Der britische Musiker Mike Oldfield verwendete 1994 die Lesung aus der Schöpfungsgeschichte in der Mondumlaufbahn von William Anders für den Titel In the Beginning, der die Einleitung des Albums The Songs of Distant Earth bildet. Gleichfalls sind im Titel Genesis der englisch-irischen Musikgruppe VNV Nation Auszüge aus dieser Lesung der Schöpfungsgeschichte zu hören. Bruchstücke der Kommunikation wurden auch in dem Titel High Roller des US-amerikanischen Duos The Crystal Method verwendet.
Die Worte von Jim Lovell kurz vor dem Rückflug "Es gibt einen Weihnachtsmann" sind in den USA eine bekannte Redensart (Gibt es einen Weihnachtsmann?). Die britische Band Public Service Broadcasting verarbeitet in ihrem Song The other Side ebenfalls Bruchstücke der Funksprüche zwischen Apollo 8 und Mission Control.
Weiterführende Informationen
Literatur
Jesco von Puttkamer: Apollo 8, Aufbruch ins All. Heyne-Verlag, München, 1969.
Robert Zimmermann: Genesis. The Story of Apollo 8. Four Walls Eight Windows, New York City, 2001, ISBN 1-56858-118-1.
Robert Godwin: Apollo 8: The NASA Mission Reports. Apogee Books, Burlington, 2000, ISBN 978-1-896522-66-1.
Weblinks
David Woods und Frank O'Brian: The Apollo 8 Flight Journal – Komplette Beschreibung des Apollo-8-Flugs, (englisch)
NASA: Apollo 8 Mission Report (englisch, PDF, 252 Seiten, 7,8 MB)
scinexx.de: Apollo 8: Der erste Flug zum Mond 14. Dezember 2018
Einzelnachweise
Apollo-Mission
NASA
Raumfahrtmission 1968 |
120406 | https://de.wikipedia.org/wiki/Johannes%20Duns%20Scotus | Johannes Duns Scotus | Johannes Duns Scotus, im Vereinigten Königreich auch John Duns Scotus und weiter latinisiert auch Ioannes Duns Scotus, (* um 1266 in Duns, Schottland; † 8. November 1308 in Köln) war ein schottischer Theologe, Franziskaner und Philosoph der Scholastik.
Nachdem er in Northampton die Priesterweihe erhalten hatte, studierte und lehrte er in Cambridge, Oxford, Paris und Köln. Als einer der bedeutendsten franziskanischen Theologen begründete er die nach ihm benannte scholastische Richtung des Scotismus. Er verband darin u. a. Lehren des Aristoteles, des Augustinus und der Franziskaner auf feinsinnige Art miteinander, so dass Zeitgenossen ihn auch Doctor subtilis nannten.
Duns Scotus untersuchte die philosophischen Kategorien der Möglichkeit und Notwendigkeit mit den Formen der Modallogik, wobei er diese in nichtformaler Weise anwandte. Diese Fragestellung spielt auch heute noch in der Philosophie eine große Rolle. Ferner bewertete er Glauben, Wille und Liebe höher als Wissen und Vernunft. Als einer der ersten mittelalterlichen Denker betrachtete er Philosophie und Theologie als unterschiedliche Disziplinen mit unterschiedlichen Aussagegehalten.
Scotus wurde am 6. Juli 1991 seliggesprochen und am 20. März 1993 feierte Papst Johannes Paul II. im Petersdom die Vesper zu seinen Ehren.
Leben
Über das Leben von Johannes Duns Scotus gibt es nur wenige belegte Informationen. Er wurde nach seinem vermutlichen Geburtsort Duns in Schottland, nahe der englischen Grenze bei Berwick-upon-Tweed, benannt. Andere Überlieferungen weisen auf Maxton in Roxburghshire als Geburtsort hin. Sein genaues Geburtsdatum ist ebenso unbekannt. Das erste sichere Datum in seiner Biographie ist die Ordination bei den Franziskanern im Kloster Saint Andrews in Northampton am 17. März 1291.
Bei der Bestimmung seines Geburtsjahres 1266 geht man davon aus, dass er mit 25 Jahren, so früh wie zu seiner Zeit möglich, ordiniert wurde. Eine entsprechende Rückrechnung anhand der üblichen Ausbildungszeiten ergibt, dass er ca. 1280 in den Franziskanerorden eingetreten ist, danach etwa 6 Jahre Philosophie, die Septem artes, studierte und schließlich von 1288 bis etwa 1293 in Oxford seine theologische Ausbildung erhielt. Dort, sowie vermutlich auch in Cambridge, lehrte er als Baccalaureus und hat wohl im Jahre 1299 einen ersten Kommentar zu den Sentenzen von Petrus Lombardus, die Lectura, sowie bis etwa 1300 eine Reihe von Aristoteles-Kommentaren verfasst. 1300 wurde er auf einer Vorschlagsliste für Beichtväter in Oxford aufgeführt und nahm dort nachweislich im selben Jahr an einer Disputation teil.
Im Jahr 1302 lehrte er über die Sentenzen in Paris, an der zu seiner Zeit führenden Universität. Über seine Vorlesungen gibt es verschiedene Mitschriften von Studenten – reportationes oder reportata Parisienses –, die Scotus in einem Fall wohl auch überprüft hat.
Im Juni 1303 musste er Paris verlassen, weil er sich als einer von etwa 80 Mönchen auf die Seite des Papstes Bonifatius VIII. stellte, indem er die vom französischen König Philipp IV. geforderte Unterschrift verweigerte. Der König verlangte Unterstützung für einen Appell an ein geplantes Konzil, weil er den Klerus besteuern wollte, was der Papst strikt ablehnte.
Im April 1304 kehrte Scotus nach Paris zurück. Am 17. November 1304 wurde er zum Magister und 1306 oder 1307 zum Magister regens, d. h. Lehrstuhlinhaber der Theologischen Fakultät der Franziskaner in Paris ernannt. Aus dieser Zeit stammt eine Reihe von Disputationen sowie die dritte, vermutlich zur Veröffentlichung vorgesehene unvollendete Fassung seiner Sentenzenkommentare, die Ordinatio, die allgemein als sein Hauptwerk angesehen wird.
1307 wechselte er als Lektor an die franziskanische Ordensschule nach Köln, wo er am 8. November 1308 starb. Sein Grab befindet sich in der Minoritenkirche in Köln, in der auch Adolph Kolping beigesetzt ist.
Schriften
Aufgrund seines relativ frühen Todes hinterließ Scotus kein geordnetes Werk, sondern eine Vielzahl von Manuskripten für Vorlesungen, Quaestionen und Disputationen, von denen nur ein unvollständig gebliebener Text (die Ordinatio, s. u.) für eine Veröffentlichung vorbereitet war. Die vorgefundenen Schriften wurden – den zeitgenössischen Methoden folgend – durch Einfügung ergänzender Notizen oder durch Weglassen von Unstimmigkeiten geglättet, nicht, wie es heute üblich wäre, textkritisch mit allen Randnotizen, Streichungen und Einklammerungen veröffentlicht. Darüber hinaus wurden Mitschriften der Studenten als Quelle für Verbesserungen und Ergänzungen genutzt.
Die so entstandenen Texte wurden zunächst als Abschriften verbreitet und aufgrund der relativ großen Bedeutung des Scotismus im 17. Jahrhundert gedruckt. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Ausgabe der gesammelten Werke von Lucas Wadding (Lyon 1639), die bis zu einer kritischen Auseinandersetzung im 20. Jahrhundert die maßgebliche Quelle für Duns Scotus war. Das Problem dieser Ausgabe liegt darin, dass sie nur die nachträglich bearbeiteten Texte sowie eine Reihe ergänzender, Scotus zugeschriebener Texte enthält, die jedoch aufgrund neuerer Forschungen eindeutig nicht Scotus zuzurechnen sind. Andererseits wurden in den 1990er Jahren zwei Aristoteles-Kommentare entdeckt, die man Scotus nachträglich zuschreibt. Da die Werke von Scotus selbst keine entsprechenden Hinweise enthalten, sind zudem weder der Zeitpunkt der Entstehung noch die genaue Reihenfolge der Texte tatsächlich bekannt, so dass man auf Rekonstruktionen und Vermutungen der Scotus-Forschung angewiesen ist.
Die ersten Arbeiten stammen ungefähr aus dem Jahr 1295 und befassen sich unter dem Titel Parva Logicalia mit Aristoteles, und zwar als Quaestiones zu den Kategorien, zu De Interpretatione und den Sophistischen Widerlegungen. Auch die Quaestiones zur Isagoge des Porphyrius sind aus dieser Zeit. Nicht völlig geklärt ist, ob die Quaestiones super De Anima tatsächlich Scotus zuzuordnen sind. Die wichtige Schrift Quaestiones subtilissimae de metaphysicam Aristotelis hat Scotus über einen längeren Zeitraum erarbeitet.
Das Hauptwerk befasst sich mit der Kommentierung der Sentenzen des Petrus Lombardus. Solche Kommentare gehörten zu den üblichen Tätigkeiten eines Baccalaureus. Entsprechend gibt es von sehr vielen Philosophen dieser Zeit aufgrund ihrer theologischen Lehrtätigkeit derartige Kommentare. Die Gliederung war durch die Vorlage weitgehend vorgegeben. Es hatte sich aber eingebürgert, dass der jeweilige Verfasser im Prolog seine einleitenden Gedanken frei formulierte.
Die Kommentierungen von Scotus zeichnen sich dadurch aus, dass sie sowohl im Prolog als auch in den einzelnen Kommentarteilen besonders umfangreich sind. Es gibt insgesamt drei Sentenzenkommentare. Der erste heißt Lectura und stammt aus den Jahren 1289 bis 1299 in Oxford. Er enthält Anmerkungen zum 1. und 2. Buch der Sentenzen. Weiterhin existiert eine Reportatio, d. h. eine studentische Mitschrift, die auf Vorlesungen um 1300 in Cambridge hinweist.
Die wichtigste Schrift ist die Ordinatio, an der Scotus über einen langen Zeitraum gearbeitet hat und die wohl zur Veröffentlichung vorgesehen war. Sie enthält Passagen aus der Lectura, aber auch Inhalte, die mit den Pariser Vorlesungen übereinstimmen. Besonders bei diesem Text ist die Rekonstruktion aufgrund ergänzender Notizen schwierig. Das handschriftliche Original ist verloren gegangen. Jedoch gibt es eine in Assisi gefundene Abschrift, bei der die Textkritik eine gute Originaltreue annimmt. Hilfreich für die Rekonstruktion sind auch die Additiones magnae von Wilhelm von Alnwick, einem Schüler des Scotus.
In Paris hielt er Vorlesungen zu den einzelnen Büchern der Sentenzen über einen Zeitraum von mehreren Jahren. Hierüber gibt es etliche Reportationes, von denen Scotus wahrscheinlich eine, nämlich die über das erste Buch der Sentenzen, eigenhändig korrigiert hat.
Aus der Oxforder und der Pariser Zeit stammen die Collationes, eine Sammlung von 46 kurzen Disputationen. Als Spätwerk werden die Schriften De primo principio, eine Darstellung der metaphysischen Gotteslehre mit einem sehr ausführlichen Gottesbeweis, sowie die Theoremata, eine Zusammenstellung von Notizen und Traktaten, eingestuft. Bei letzteren ist die Authentizität nicht gesichert. In den letzten beiden Pariser Jahren entstanden die Quaestiones Quodlibetales mit ausführlichen Disputationen zu allgemeinen Fragen, die Scotus als Magister regens gehalten hat.
Aufgrund der unsicheren Quellenlage wurde im Jahr 1950 in Rom eine Kommission zur neuen kritischen Herausgabe der theologischen Schriften des Scotus gebildet, deren Arbeiten auch nach über 50 Jahren bei weitem noch nicht abgeschlossen sind. Dies hängt zum einen mit dem Umfang der Schriften zusammen. Der Nachdruck der Wadding-Ausgabe umfasst 26 Bände (ed. Vivès). Vor allem aber liegt das Problem in der sehr aufwändigen Rekonstruktion. 1997 hat das Bonaventura-Institut der Franziskaner in New York ergänzend begonnen, eine kritische Ausgabe der philosophischen Schriften herauszugeben. Bedeutende Übersetzungen von wichtigen Teilen der lateinischen Texte in die modernen Verkehrssprachen erfolgten erst im 20. Jahrhundert.
Lehre
Das philosophische Umfeld
Duns Scotus gilt als einer der ersten Vertreter der Spätscholastik, in der sich Philosophie und Theologie schrittweise trennten. Dazu gab er einen maßgeblichen Anstoß.
Im 13. Jahrhundert dominierte die Rezeption des Aristoteles in der Philosophie, besonders seit dessen Schriften um 1200 aus arabischen Quellen vollständig übersetzt worden waren. Sie stand im Zeichen der Dominikaner Albertus Magnus und besonders des Thomas von Aquin. Thomas hatte die Philosophie des Aristoteles mit der Theologie harmonisch verbunden, um so theologische Fragen präzisieren und die Antworten klarer darauf beziehen zu können.
Doch damit gaben sich einige Denker wie Boetius von Dacien oder Siger von Brabant nicht zufrieden. Ausgehend von Aristoteles und Averroes, betrachteten sie die philosophische Vernunfterkenntnis unabhängig von der Theologie, auch wenn sie im Konfliktfall den auf biblische Offenbarungen und die Kirchenväter gestützten Glaubenswahrheiten den Vorrang gaben. Auf der anderen Seite standen konservative Lehrer wie Heinrich von Gent, die Augustiner oder der Franziskaner Bonaventura, die die Lehren des Augustinus bewahren wollten.
Das Jahr 1277 brachte einen Wendepunkt in dieser Debatte: Der Pariser Bischof Étienne Tempier verbot 219 Thesen, darunter auch einige Sätze des Thomas von Aquin. Dieses Verdikt drängte zumindest vorübergehend den aristotelischen Averroismus zurück. In dieser Situation suchten eine Reihe wichtiger Denker neue Ansätze, darunter Raimundus Lullus, Dietrich von Freiberg, Meister Eckhart und Duns Scotus. Dieser kannte Aristoteles hervorragend und bezog sich mit allen seinen philosophischen Themen auf ihn. In der augustinisch-neuplatonischen Tradition der Franziskaner stehend, setzte er sich zugleich – wie auch Petrus Johannes Olivi – kritisch mit den Aristotelikern und den Schriften des Averroes auseinander. Diese philosophische Kritik betraf vor allem seine Zeitgenossen. Dabei brach er zum Teil mit der auf Augustinus zurückgehenden Lehre Bonaventuras, die auch Heinrich von Gent und Gottfried von Fontaine vertraten: Allgemeine Erkenntnis der Wirklichkeit sei nicht ohne Erleuchtung durch Gott möglich.
Die Lehre von Scotus wird oft als kritischer Gegensatz zu Thomas von Aquin dargestellt, um Scotus’ neue Gedankengänge herauszustellen. Doch Scotus verfolgte keine Schulbildung, sondern analysierte die bestehenden philosophischen Traditionen immer mit der Absicht, eine verbesserte, höhere Erkenntnis zu gewinnen. Dabei beurteilte er das Verhältnis von Philosophie und Theologie anders als Thomas. Während dieser beide als einander ergänzende Disziplinen ansah, lehrte Scotus ihre klare Unterscheidung. Von der Philosophie angenommene Wahrheiten können demnach in der Theologie falsch sein. Philosophie hat Grenzen, die Gottes Offenbarung überschreitet. Gegenstand der Metaphysik kann deshalb nicht Gott sein, sondern nur das Seiende.
Weiterhin ordnete Scotus den Willen nicht wie Thomas dem Verstand nach, sondern vertrat die Auffassung, dass der Verstand dem Willen dient, um diesem das notwendige Wissen über die Objekte bereitzustellen. Allerdings betonte er auch, dass seine philosophischen Fragestellungen immer theologisch bedingt seien (quaestio de methodo). Die Philosophie führt zu Neutralität und Skepsis und ist daher für das praktische Leben nicht geeignet. Die Theologie ist hingegen praktische Wissenschaft, die sich an Gottes Liebe und Willen orientiert und dem Menschen hilft, seinen Weg zu finden.
Erkenntnistheorie
Zum Thema Erkenntnis liegt keine geschlossene Darstellung vor, sondern Scotus erläuterte verschiedene Aspekte jeweils bei Bedarf. Grundsätzlich teilte er die Auffassungen des Aristoteles bzw. des Thomas von Aquin, modifizierte diese jedoch erheblich.
Erkenntnis beginnt, wie bei Aristoteles und Thomas, mit der sinnlichen Wahrnehmung der Gegenstände. Daneben war für Scotus auch der immaterielle Verstand (intellectus) eine eigenständige Teilursache des Erkenntnisvermögens. Beide wirken zusammen wie Vater und Mutter bei der Zeugung des Kindes. Jedoch erkennt der Mensch nach Scotus nicht nur den Gegenstand als solchen, sondern er erfasst auch das, was darin wesenhaft enthalten ist. Der Verstand beschränkt sich nicht auf rein materielle Gegebenheiten, sondern sucht nach den über Materie und Form, Akt und Potenz hinausgehenden Prinzipien. Erkenntnis ist damit nicht beschränkt auf die Übereinstimmung von Gegenstand und Gedachtem (adaequatio rei et intellectus). Eine Reduktion auf das rein Materielle ist nicht möglich.
Auf diesem Hintergrund unterschied Scotus zwei grundsätzliche Erkenntnisweisen: die abstraktive Erkenntnis als Prozess, in dem aus dem wahrgenommenen Gegenstand ein Begriff des Gegenstandes im Intellekt entsteht, und die intuitive Erkenntnis, die durch gesamtheitliche, holistische Erfassung eines Sachverhaltes über das rein Sagbare hinausgeht. Diese Art der Erkenntnis hat Elemente der Wesensschau, wie sie viel später von Husserl in der Phänomenologie entwickelt wurde und in Heideggers Begriff des „In-der-Welt-Seins“ wiederkehrt.
Abstraktive Erkenntnis
Am Anfang des Erkenntnisprozesses steht ein einfacher Erkenntnisakt, in welchem ein Gegenstand auf die Sinne einwirkt, so dass im Verstand ein Bild (phantasma) erzeugt wird. Dieses wird von der Vorstellungskraft (virtus phantastica) im Verstand repräsentiert. Die Erkenntnis ist noch konfus. Durch die unabhängige, aktive Tätigkeit des Verstandes (intellectus agens) wird dann das Universelle (natura communis) im Abbild bestimmt. Das heißt, das im Bild enthaltene Allgemeine wird von den speziellen und stofflichen Bedingungen des individuellen Gegenstandes abstrahiert. Es entsteht die deutlich abgegrenzte (distinktive) Erkenntnis, die den Gegenstand begrifflich in allen seinen Momenten erfasst. Scotus nannte sie die „species intelligibilis“. Es ist die begriffliche Beschreibung eines einfachen oder auch zusammengesetzten Gegenstandes einschließlich der Bedeutung des Wahrgenommenen.
So erfasst man eine Blume in ihrer Körperlichkeit, ihrer Ausgedehntheit, mit ihrem Duft, die Blüte, das Weiße der Blüte, den Stängel und auch ihre Symbolik als Frühlingsboten oder Liebesgruß. Die Erkenntnis wird erst abgeschlossen, wenn die species intelligibilis vom passiven Verstand (intellectus possibilis) aufgenommen und im Gedächtnisvermögen verankert ist. Erst durch die (passive) Verinnerlichung wird ein Gegenstand für den Verstand begreifbar (intelligibel) und kann als Möglichkeit in der Vergegenwärtigung aufleuchten, das heißt wieder in das Bewusstsein gerufen werden.
Der Verstand war dabei für Scotus nicht zweigeteilt in intellectus agens und intellectus possibilis, sondern es handelt sich um zwei verschiedene Funktionen des einen Verstandes, die im Erkenntnisakt wirksam werden. Erkenntnis ohne einen Ursprung in der sinnlichen Wahrnehmung war für Scotus nicht möglich, da es eines phantasmas bedarf, um eine Vorstellung zu entwickeln. Der einmal gewonnene Begriff eines Gegenstandes kann jedoch durch einen anderen Begriff ersetzt werden, wie auch Vorstellungen durch Kombination verändert oder neu erzeugt werden können. Diese Auffassung zur abstraktiven Erkenntnis erinnert an die spätere Lehre Kants von den zwei Erkenntnisstämmen, auch wenn das konstruktivistische Element fehlt.
Intuitive Erkenntnis
Das Individuelle ist begrifflich nicht definierbar und nicht beweisbar. Jeder Begriff, den man von einem Gegenstand bildet, hat notwendig die Eigenschaft, dass er auch auf andere Gegenstände anwendbar ist. Selbst die detaillierteste Beschreibung einer Sache schließt nicht aus, dass mit ihr auch ein anderer Gegenstand erfasst werden kann. Das besondere Wesen eines Gegenstandes, seine individuelle Einheit, erkennt man nur durch eigene, unmittelbare Anschauung und nicht durch Beschreibung eines Dritten. Intuitive Erkenntnis ist vor allem auf der Gefühls- bzw. Wahrnehmungsebene angesiedelte, unmittelbare Grundlage zum Erkennen der Singularitäten (der Einzigartigkeiten), die im Individuum jeweils kontingent (als zufällige Eigenschaften angeordnet) sind. Kontingenz war für Scotus nicht eine Frage des Seins, sondern der nicht-notwendigen Verursachung, des Übergangs von der Möglichkeit zur Wirklichkeit aufgrund eines freien Willensaktes, das heißt, wenn etwas, das nur möglich ist, trotzdem existiert, muss es aus dem freien Willen eines Handelnden hervorgegangen sein. Dass Dinge zufällige Eigenschaften haben, ist eine Folge der Schöpfung. Das Singuläre wird schon aufgenommen, bevor der Verstand in der abstrahierten Erkenntnis das universelle im Gegenstand erfassen kann. Die begriffliche Beschreibung ist auf die Teile des Gegenstandes gerichtet und damit sekundär.
Intuitive Erkenntnis ist ein Vorgang der unmittelbaren Anschauung, die einerseits die sinnliche Präsenz des Wahrgenommenen enthält und andererseits das „hier und jetzt“ eines Gegenstandes im Verstand widerspiegelt. Insbesondere das Wissen um das Sein eines Gegenstandes zählt zu dieser Erkenntnisweise. Die intuitive Erkenntnis macht die Existenz eines Gegenstandes evident. Ohne intuitive Erkenntnis wüsste der Mensch nichts über sein Innenleben. Erst intuitive Erkenntnis ermöglicht Reflexion und Selbsterkenntnis.
Laut Scotus sind einige Methoden und Prozesse der Erkenntnis in ihrem Ursprung nicht zu beweisen (vgl. Evidenz). Hierzu zählt er:
die Prinzipien der Logik, also die Sätze von der Identität, des Widerspruchs und vom Ausgeschlossenen Dritten;
die Gegenstände der unmittelbaren, im Einzelfall gegebenen Erfahrung durch die Sinne;
die Intentionalität des eigenen, empraktischen Handelns, z. B. der künstlerische Akt oder der Willensakt.
Dies ist eine Gedankenführung der Neuzeit, die im Mittelalter äußerst selten zu finden war.
Wissen
Intuitive Erkenntnis ist das gesamtheitliche Erfassen eines kontingenten Gegenstandes. Abstraktion löst hieraus das Bleibende und Allgemeine heraus. Sie ist Voraussetzung für das Entstehen von Wissen über die Gegenwärtigkeit des aktuellen Erkenntnisgegenstandes hinaus. Sie erfasst die Seinsweise des Objektes, auch wenn der in der abstraktiven Erkenntnis gebildete Begriff davon nicht seine Individualität umreißt: Der Baum ist z. B. nie identisch mit diesem Baum.
Scotus bestimmte Wissen wie Aristoteles als einen Habitus, d. h. eine Angewohnheit oder Haltung der Vernunft in Bezug auf einen Sachverhalt: Man weiß, was man durch eine Schlussfolgerung begründen kann. Die Begründung ist zur Disposition geworden, d. h. sie wird nicht ständig wiederholt, sondern als gegeben vorausgesetzt. Die Schlussweise erfolgt dabei aus einem Syllogismus, der entweder deduktiv oder induktiv sein kann.
Deduktive Schlüsse können das „Warum“ eines Sachverhaltes erklären (scientia propter quid). Dazu müssen dessen Ursachen bekannt sein. Die Ursachen der Ursachen beruhen auf Voraussetzungen, die ihrerseits deduktiv gewonnen wurden oder evident (unmittelbar einsichtig) sind. Insofern gehen alle Aussagen in einer deduktiven Wissenschaft auf einige wenige erste wahren Sätze zurück. Daher ist Deduktion nur innerhalb eines Systems von Axiomen, beispielsweise in der Mathematik oder in der Logik möglich. Deduktive Schlüsse über die Wirklichkeit könnte es nach Scotus nur geben, wenn der Verstand in seiner Erkenntnisleistung nicht begrenzt wäre. Dieses Ideal einer Wissenschaft bezeichnete er auch als „scientia in se“. Es ist die Wissenschaft schlechthin (scientia simpliciter).
Wenn nur die Wirkungen eines Sachverhalts bekannt sind, nicht jedoch seine Ursachen, dann ist nur ein induktiver Schluss möglich. Dieser erklärt das „Dass“ einer Sache (scienta quia).
Da der Mensch endlich und begrenzt und auf die sinnliche Erfahrung angewiesen ist, kann er in der empirischen Wissenschaft keine deduktiven Erkenntnisse erlangen. Seine Schlussfolgerungen sind vielmehr induktiv gewonnen. Diese Form der Feststellung von Tatsachen a posteriori ist bestimmt durch die begrenzte Erkenntnisfähigkeit des Menschen und damit eine „doctrina nobis“ (Lehre durch uns), also eine auch von der Subjektivität abhängige Wissenschaft.
Damit bezweifelte Scotus nicht, dass der Mensch sicheres Wissen und damit Wahrheit erreichen kann. Sein Hinweis auf die Abhängigkeit allen Wissens von sinnlicher Wahrnehmung und den Grenzen des Verstandes wandte sich besonders gegen die Lehren Heinrich von Gents und Gottfried von Fontaines über die göttliche Erleuchtung des Wissens (Illuminationslehre). Dieser Glaube war für ihn nicht beweisbar, sondern nur auf die Offenbarung oder die Annahme der Lehren der Bibel und der Kirche zurückzuführen.
Auf der Ebene der Vernunft gibt es nach Scotus rationale Argumente für sicheres Wissen und gegen die Skeptiker, weil es Dinge gibt, die unmittelbar einsichtig (evident) sind:
Die Vernunft kann erste Prinzipien bestimmen. Von diesen können gültige Syllogismen ausgehen, so dass man Wahrheit erhält.
Gemäß der Erfahrung besteht Sicherheit über eine Vielzahl kausaler Urteile.
Es gibt unmittelbar gültige Einsichten als Grundlage des Handelns.
Es gibt sichere Aussagen über gegenwärtige Wahrnehmung.
Innere Akte sind aufgrund ihrer Unmittelbarkeit und Gegenwärtigkeit durch intuitive Erkenntnis per se evident.
Man kann Scotus’ Auffassung über sicheres Wissen als eine Evidenztheorie der Wahrheit bezeichnen, wie sie noch Edmund Husserl vertreten hat. Eine solche Theorie wurde im logischen Positivismus im Falle von Wahrnehmungsurteilen akzeptiert. Sie wird in der heutigen erkenntnistheoretischen Debatte jedoch überwiegend als logisch unhaltbar eingestuft, weil die als evident angenommenen Axiome dem unendlichen Regress nicht entgehen: Jede als erstes Prinzip aufgefasste Aussage kann noch einmal daraufhin hinterfragt werden, ob sie denn wahr ist. Deduktiv gewonnene Erkenntnis kann also nur innerhalb eines Systems von Axiomen als gültig ausgewiesen und nicht als allgemeingültig bewiesen werden.
Metaphysik
Gegenstand der Metaphysik
Bei Aristoteles behandelte die Erste Philosophie u. a. die Frage, was der Mensch als Erstes zu erfassen vermag bzw. was aller Erkenntnis – als Erstes – voraus geht. Was ist jenseits aller Physik gültig? Scotus interpretierte den Begriff der Metaphysik etymologisch durch das für die eigentliche Bedeutung des Begriffs ungewöhnliche Aufspalten in „Meta“ (jenseits) und „Ycos“ (Wissenschaft – aus dem Frühgriechischen) und kam so nicht nur zu der Frage, was die erste Ursache ist, sondern auch dazu, nach den Grenzen des Erkennbaren zu fragen.
Insbesondere in der Aristoteles-Interpretation von Averroes wurde Metaphysik mit Theologie gleichgesetzt, die das erste göttliche Seiende zum Gegenstand hat, Gott also zum Erkenntnisobjekt macht. Eine Offenbarungstheologie würde so – mindestens großteils – überflüssig. Gegen diese Lehre hatte sich schon Thomas deutlich gewandt. Für Scotus war es ein wesentliches Ziel zu zeigen, dass der Mensch aus der Vernunft heraus zwar erkennen kann, dass es Gott gibt, aber keineswegs in der Lage ist, etwas über das Sosein Gottes, seine Eigenschaften oder seinen Willen auszusagen. Hierzu ist der Mensch nach Scotus’ Lehre auf die Offenbarung angewiesen.
Die Metaphysik als höchste Wissenschaft (maxima scientia) befasst sich einerseits mit dem, was in höchstem Maße möglich ist zu wissen (maxime scibilia), andererseits mit den Prinzipien und Ursachen, die mit größter Sicherheit (certissime scibilia) erkennbar sind.
Als höchsten Sachverhalt bezeichnete Scotus die Gegenstände, die über die Wissenschaft hinausgehen (scientia transcedens) und gab so dem Begriff des Transzendentalen eine erkenntnistheoretische Bedeutung. Das Transzendentale ist von höchster Allgemeinheit und auf nichts anderes mehr zurückführbar. Dies ist der Gegenstand der Metaphysik, die sich von den Einzelwissenschaften dadurch unterscheidet, dass sie sich mit unbegrenzten Inhalten befasst. Der Gegenstand der Einzelwissenschaften ist hingegen auf bestimmte Erkenntnisinhalte beschränkt, wie z. B. die Physik die Bewegung (ens mobile) oder die Mathematik das Abzählbare (ens quantum) erforschen. Transzendentale Prädikationen (Satzaussagen) sind transkategorial, das heißt auf einer Ebene vor den aristotelischen Kategorien, weil letztere sich immer auf konkrete Gegenstände (Distinktes) beziehen, in denen Substanz und Akzidens (das Zufällige bzw. eine nicht notwendige Eigenschaft) unterschieden sind.
Das höchste Seiende
Das höchste abstrakt Erkennbare war für Scotus das Seiende als Seiendes (ens inquantum ens), das allen Dingen zukommt. Erkenntnis ist die begriffliche Bestimmung des Wesensgehaltes eines Gegenstandes (cognitio distincta) aus einem konfusen Bild heraus. Erkenntnis ist aber nicht nur bestimmt durch das Erkennbare, sondern auch durch die Erkenntnisfähigkeit des Menschen. Am Anfang steht die sinnliche Erkenntnis des Einzelnen, die mit seinen Merkmalen im Verstand unterschieden wird. Umfang (extensio) und Inhalt (intensio) eines Begriffes vom Gegenstand gibt es zunächst noch nicht. Erst durch die Unterscheidung der Wesensmerkmale, die Distinktion, entsteht der Begriff. Das Erste in der distinktiven Erkenntnis ist aber das Seiende als Seiendes, das in allen Wesensbegriffen enthalten ist. Es ist der Begriff, mit dem über einen Gegenstand gesprochen wird, ohne dass er irgendeine Bestimmtheit enthält. Bedingung der Erkenntnis ist, dass das Erkannte der Einsicht (intellectio) adäquat ist. Dies ist wiederum das Seiende als solches, weil Nichtseiendes nicht erkannt werden kann. Das Seiende als Seiendes ist in sich widerspruchsfrei und beinhaltet auch die Möglichkeit zu sein. Damit ist es als Erkennbares kontingent. Scotus entwickelte nicht wie Thomas eine metaphysische Ordnung der Dinge (ordo rerum), sondern fasste das Seiende erkenntnistheoretisch als das Transzendentale auf. Kontingenz entsteht nicht als Eigenursache aus den Dingen selbst. Das Kontingente kann es nur geben, weil es Gottes Willen als Erstursache gibt. Alle Zweitursachen sind hierdurch bestimmt. Hier entwickelte sich bei Scotus die ontologische Auffassung über die Möglichkeit, wie sie später bei Descartes oder Leibniz und in der Modallogik wiederzufinden ist.
Er wandte sich gegen die begriffliche Analogie des Seinsbegriffs (Analogia entis), wie sie Thomas lehrte, in der Gott mit Begriffen wie Schöpfer oder Allmächtiger beschrieben wird. Solche Begriffe hätten höchstens den Charakter von Metaphern: sie sind nicht univok, sondern äquivok (mehrdeutig), weil es zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf eine Distinktion gibt. Der Begriff Strauß kann sich auf die Blumen, aber auch auf den Vogel beziehen. Ebenfalls nicht eindeutig sind Begriffe, die eine Relation kennzeichnen, wie sich im folgenden (falschen) Syllogismus zeigt:
Alles Seiende ist geschaffen.
Gott ist Seiendes. (Genau genommen ist Gott tatsächlich aber wie das Sein in seinen Eigenschaften nicht vorstellbar.)
Also ist Gott geschaffen.
Univok ist ein Begriff, wenn er den Widerspruch und den Trugschluss ausschließt und in einem Syllogismus als eindeutiges Mittelglied fungieren kann. Solche Begriffe sind konsistent (widerspruchsfrei) und haben logisch eine eindeutige Bedeutung. Diese Anforderung an einen Begriff ist die idealsprachliche Bedeutung, wie sie in der Moderne bei Frege, Russell, Carnap bis hin zu Quine zu finden ist. Solche transzendentalen Begriffe, die univok vom Seienden gesagt werden können, sind die mit dem Seienden austauschbaren Begriffe (extensional identisch) wie das Eine, das Wahre oder das Gute (passiones convertibiles). Univok in diesem Sinne sind auch die disjunktiven (einander ausschließenden) Bestimmungen (passiones disjunctae) endlich und unendlich sowie kontingent und notwendig in dem Sinne, dass jedes Seiende entweder das eine oder das andere ist.
Natürliche Theologie
Die Hauptfrage der Natürlichen Theologie lautet: Kann der Mensch die Existenz Gottes aus der Vernunft ohne Offenbarung begründen? Da Gott ein rein unkörperlich Seiendes ist, kann er nach Auffassung von Scotus im Wege der gewöhnlichen Erkenntnis nicht erfasst werden und damit auch nicht Gegenstand der Metaphysik sein. Diese muss sich auf die Betrachtung des Seienden als Seiendem beschränken. Dennoch war für Scotus ein Nachweis Gottes durch die Vernunft möglich. Allerdings nicht deduktiv durch ein Argument „propter quid“, d. h. eine Begründung mit einem Schluss von der Regel auf den Sachverhalt, sondern nur durch ein Argument „propter quia“, d. h. durch einen induktiven Schluss von der Wirkung auf die Ursache.
Um Gott mit einem Begriff zu fassen, muss ein solcher Begriff die Unbegrenztheit Gottes ausdrücken (perfectiones simpliciter). Dies aber leisten gerade die univoken Begriffe. Während Thomas alle Begriffe als Teil der Schöpfung ansah, also Aussagen über Gott als Analogien betrachtete, fragte Scotus, woher denn die Analogien bzw. der Begriff der Analogie ihren Ursprung haben. Sein Einwand lautete, dass ohne die Ursprünglichkeit der univoken Begriffe alles nur in Relationen aussagbar und damit auch eine Aussage über Gott ohne Sinn sei. Eindeutige Begriffe könnten aber Gott nicht beschreiben. Dies wäre nämlich eine Einschränkung, die auch Gott zu einem eingeschränkten Seienden machen würde, denn er wäre unterscheidbar von anderem Seienden. Im Umkehrschluss zeigt die Univozität der Begriffe die Existenz Gottes, ohne etwas über sein Wesen inhaltlich auszusagen.
Die Eigenschaften Gottes können nach der Lehre Scotus’ nicht durch Sprache beschrieben werden. Wie kann man sich aber dennoch vorstellen, dass Gott unendlich ist? Unendlichkeit bedeutet Unbegrenztheit. „Gott ist nämlich ein Meer unendlicher und folglich ununterschiedener Substanz.“ Man kann Gott nicht als Differenz zu etwas anderem aussagen. Scotus entwickelte seine Vorstellung von der Unendlichkeit Gottes ausgehend von der Bestimmung einer unendlichen Menge bei Aristoteles, indem man einer gedachten Menge zu jeder Zeit ein weiteres Element hinzufügen kann. Diese Bestimmung ist quantitativ, und die Unendlichkeit ist potentiell. Da man Gott aber nicht quantitativ auffassen kann, muss man sich das Göttliche qualitativ vorstellen als ein Seiendes, das alle denkbaren Qualitäten in sich birgt. Diese Unendlichkeit ist zudem nicht potentiell, sondern jederzeit wirksam, also aktuell. Sie ist das Sein an bzw. aus sich (ens a se), das man nicht durch irgendwelche akzidentiellen (nicht notwendigen) Eigenschaften ergänzen kann.
Gott ist unbegrenzt, auch in seiner Erkenntnisfähigkeit und seinem Willen. Daher kann es Dinge geben, die er zwar erkannte, aber während der Schöpfung in gewisser Weise nicht wollte. Entsprechend ist die Schöpfung als Ergebnis von Gottes freiem und autonomen Willen nicht notwendig, sondern eine mögliche Wirklichkeit. Die Realität wird damit zu einer möglichen Welt – ein Gedanke, der von Leibniz ausgearbeitet bis in die Philosophie der Gegenwart (Carnap, Kripke, Kuhn) reicht. Wenn Gott es will, kann er die Dinge mit seiner Allmacht (potentia absoluta) ändern und eine andere Wirklichkeit schaffen. Daraus folgt aber auch, dass außerhalb Gottes alles gut ist, weil er es gewollt und geschaffen hat. Es gibt also nichts Gutes außer Gott, das heißt Gott wird nicht durch irgendwelche Normen bestimmt. Das einzige Gesetz, dem er ‚unterliegt‘, ist das Gesetz vom Widerspruch, weil er nicht zugleich etwas wollen und nicht wollen ‚kann‘. Erkennen kann der endliche Mensch diese Allmacht Gottes aus Sicht Scotus’ nicht, sondern nur als theologischen Glaubensartikel annehmen, auch wenn sie vernünftig und sinnvoll (evident) zu sein scheint.
Universalien, Artnatur und Individuum
Thomas von Aquin lehrte mit Aristoteles, dass das Individuelle sich aus einer spezifischen substanziellen Form ergibt, die ihre Form durch die Materie erhält. Das Individuelle ist damit ein Spezialfall des Allgemeinen, das Akzidens der substanziellen Form. Scotus hob hiergegen die Frage auf die erkenntniskritische (sprachkritische) Ebene und wandte ein, dass Begriffe jeweils nur etwas Allgemeines bezeichnen. Die Singularität könne durch einen Begriff nicht erfasst werden. Das, was ein Individuum konstituiert, kann durch Sprache nicht ausgedrückt werden, so sehr man sich auch bemüht, durch Differenzierungen und Untergliederungen dem Individuellen nahezukommen.
Scotus war davon überzeugt, dass es Allgemeines oder Universalien gibt und war damit Universalienrealist wie Aristoteles und Thomas. Doch wie entsteht die Realität des Allgemeinen? Es gibt Materie und Form. Doch jedes für sich kann nicht Ursache des Individuellen sein. Ebenso kann man das Individuelle nicht durch eine Negation des Allgemeinen bestimmen. Das Individuelle ist etwas Positives, Eigenständiges in der Natur, das gesondert neben der species steht. Mehr noch, der einzelne Gegenstand ist die letzte vollendete Wirklichkeit eines Seienden.
Indem er den individuellen Menschen (das Einzelding) und das Menschsein (seine Artnatur) als zwei formal verschiedene Gegenstände auffasste, die in der Natur noch vor der Wahrnehmung enthalten sind, schuf Scotus den Begriff der distinctio formalis. Schon Avicenna hatte zwischen dem Individuum und seinem Wesen unterschieden, die Vorstellung vom Wesen aber an die Erkenntnis in der Seele gebunden. Für Scotus hingegen gab es bereits im wahren Sein außerhalb der Seele eine Gemeinsamkeit zwischen den verschiedenen Individualitäten, die nicht von den ‚Operationen‘ des Intellekts abhängen. Das Menschsein beispielsweise gehört zu Sokrates unabhängig davon, wie er erkannt wird. Die Wahrnehmung richtet sich auf das Einzelding. Dieses enthält bereits die Artnatur (natura communis) als reales Fundament der Abstraktion von Allgemeinbegriffen (fundamentum in re).
Erst im Intellekt wird die natura communis durch Reflexion zu Universalien umgewandelt, indem das Allgemeine aus mehreren Akten der Sinneswahrnehmung gebildet wird. Der tätige abstraktive Intellekt bildet dabei spontan Begriffe aufgrund der Gelegenheit (Okkasion) der Wahrnehmung, auch wenn die Wahrnehmung falsch ist oder wenn ein Ding in der Wahrnehmung erstmals auftaucht. Der Übergang von der erfassenden Empfindung zur Erkenntnis findet dadurch statt, dass der Intellekt die Wahrheit des Verhältnisses zweier Individuen erfasst, die beide vereint. Universalien sind einerseits konzeptualistisch (nur im Intellekt), weil sie Begriffe auf mehrere Dinge beziehen, z. B. Mensch. Sie sind andererseits realistisch (in re), wenn es sich um Allgemeinbegriffe handelt, die sozusagen absolut gelten, die also nicht auf etwas Einzelnes beziehbar sind, z. B. Menschheit.
Die Artnatur ist vor den Dingen, weil sie von Gott geschaffen ist. Sie ist in den Dingen als formaler Rahmen der Dinge. Das Individuum in seiner Diesheit (haecceitas) ist das Vollkommenere, weil es vom Begriff, vom Allgemeinen nicht in seiner Ganzheit, sondern nur durch die Anschauung in der intuitiven Erkenntnis erfasst werden kann. Universalien sind die reflektierte Abbildung der natura communis und damit Realitäten zweiten Grades ohne körperliche Existenz. Der Mensch erkennt das Allgemeine (qua natura communis) durch die abstraktive Erkenntnis, zu der er durch den Sündenfall gekommen ist, indem er die entsprechenden Begriffe für Arten und Gattungen (Universalien) bildet. Allerdings sind solche Begriffe, die reale Begriffe (z. B. Pflanzen und Säugetiere) miteinander vergleichen wie beispielsweise die fünf Prädikabilien des Porphyrios (Gattung, Art, spezifische Differenz, Proprium (wesentliches Merkmal) und Akzidenz (unwesentliches Merkmal)) keine Realitäten. Solche logischen Begriffe zweiter Ordnung sind vollkommen allgemein (complete universale) und daher nur im Verstand (nominalistisch). Scotus’ differenzierte Position im Universalienstreit kann als konzeptualistischer Kompromiss angesehen werden, der den Weg zu Ockhams Nominalismus vorbereitete. Dominik Perler spricht von einem „moderaten oder immanenten Realismus“.
Scotus selbst schloss die Möglichkeit eines reinen Nominalismus, wie ihn später Ockham lehrte, entschieden aus und lieferte eine Reihe von Argumenten dagegen. Die Grundthese des Nominalismus lautet, dass alle Begriffe Namen für Gegenstände (Substanzen) und Eigenschaften (Qualitäten) sind. Dies ist nur möglich, wenn die ontologische Grundannahme stimmt, dass alles Seiende voneinander unterschieden werden kann. Jede Substanz besteht aus einer individuellen Materie und individueller Form. Alle Entitäten, die es gibt, haben eine Differenz zueinander und sind damit numerisch unterscheidbar. Allgemeines entsteht nur im Verstand durch die Bildung von Begriffen mit entsprechender Bedeutung.
Vor allem wehrte sich Scotus gegen die Auffassung, dass es keine andere denkbare Einheit als den einzelnen Gegenstand und keine anderen Unterschiede als einen numerischen Unterschied gebe. Die Grundthesen des Nominalismus stehen im unmittelbaren Gegensatz zu seiner Auffassung über die intuitive Erkenntnis und gegen sein Verständnis der natura communis.
Seine Hauptthesen hierzu lauten:
Wenn alles nur numerisch unterschieden wäre, wie kann man dann zwei weiße Entitäten von zwei anderen unterscheiden, von denen eine weiß und eine schwarz ist? Ohne die Artnatur ist dies nicht möglich. (Warum sind zwei weiße Schwäne ebenso zwei Schwäne wie ein weißer und ein schwarzer Schwan? Nach Scotus: weil sie die Artnatur des „Schwanseins“ haben.)
Wenn es die numerische Unterscheidbarkeit für alle Gegenstände gäbe, hätten alle diese Gegenstände teil an dem Phänomen der Unterscheidbarkeit. Das Phänomen der Teilhabe aller Elemente ist aber ein Widerspruch zur numerischen Unterscheidbarkeit.
Das Einzelne ist unsagbar (individuum ineffabile), weil jeder Begriff bereits Allgemeinheit umfasst. Das Einzelne ist sogar stumm, weil der Begriff nicht in der realen Welt entsteht, sondern im Intellekt. Die Gegenstände sind, was sie sind, – ohne logos.
Die Einheit der Gattung ist keine numerische Einheit, wie schon Aristoteles betonte. Wenn alles nur numerisch unterschieden wäre, könnte man keine realen Ähnlichkeiten oder Gegensätze zwischen den Einzeldingen feststellen.
Leib und Seele
Materie ist die Grundlage allen sinnlich wahrnehmbaren Seins. Aus der Materie entsteht etwas Individuelles, die Substanz. Substanzen sind vergänglich und können sich in Eigenschaften (Akzidenzien) während ihres Bestehens verändern. Die individuelle Bestimmung der Substanz ergibt sich aus ihrer Form. Ausgehend von dieser aristotelischen Lehre entwickelte Scotus zur Bestimmung des Wesens der Seele einen eigenständigen Begriff von Materie und Form. Seine Hauptaussagen hierzu waren (vgl. SEP 3.2):
Es gibt Materie ohne Form. Hierbei bezog er sich auf den Begriff der ersten Materie (prima materia). Ein derartiger Begriff zur Bezeichnung eines völlig unbestimmten Ausgangsmaterials findet sich bei Aristoteles. Dieser aber gebraucht ihn vermutlich nur in einem Gedankenexperiment mit dem Ergebnis, dass Derartiges nicht existieren könne. Auch Thomas hatte die Existenz einer solchen ersten Materie abgelehnt, die reine Möglichkeit (Potentialität) sei. Scotus dagegen hielt Materie ohne Form für den Ausgangspunkt aller Veränderung von Substanz.
Es gibt keinen Hylemorphismus, zumindest nicht in der extremen Form, nach der alles Geschaffene aus Materie und Form besteht. Die älteren Franziskaner wie Bonaventura waren der Auffassung, dass Engel als rein geistige Wesen dennoch eine Art geistige Materie haben müssen, weil Materie Möglichkeit ist und Engel sonst nicht existieren könnten. Scotus hielt die Gleichsetzung von Materie und Möglichkeit für falsch und vertrat die Möglichkeit der Existenz von Engeln auch ohne Materie.
Eine Substanz kann mehrere Formen haben. Für viele Denker des Mittelalters – so auch Thomas – war die Seele die einzige, das Individuelle des Menschen ausmachende, Form des Leibes. Nach dem Tod, wenn die Seele den Körper verlassen hatte, war für sie der Körper nicht mehr die gleiche Substanz wie vor dem Tod. Scotus vertrat hingegen die Auffassung, dass der Körper vor und nach dem Tod dieselbe Substanz mit einer eigenständigen Form ist. Ebenso sei die Seele eine eigenständige Form, die den Körper belebt und im Tod als etwas Selbständiges den Körper verlässt. Dabei entziehe sich allerdings die Frage der Unsterblichkeit der Seele dem menschlichen Erkenntnisvermögen, so dass man in dieser Frage auf den Glauben angewiesen sei.
Auch mit seiner Lehre zum Leib-Seele-Problem hat Scotus einen Schritt zur Trennung von philosophischer Erkenntnis und theologischem Glauben getan.
Ethik
Der freie Wille
Während für Thomas in Anlehnung an Aristoteles der Wille das intellektuelle Streben nach der Vervollkommnung der menschlichen Natur war, entwickelte Scotus eine deutlich davon abweichende Vorstellung eines vom Intellekt unabhängigen Willens. Wie bei der Erkenntnis lehrte er das Konzept von zwei Teilursachen, hier für das menschliche Handeln, den Intellekt und den Willen. Dass der Wille frei ist, sei keine logische Wahrheit, sondern eine innerliche unmittelbare Erfahrung des Menschen. Der Willensakt ist damit nicht notwendig, sondern möglich bzw. zufällig (kontingent).
Mit der Unterscheidung des menschlichen Willens in eine Neigung zur Gerechtigkeit (affectio iustitiae) und eine Neigung zum Angenehmen (affectio commodi) lehnte Scotus sich an die Lehre des Anselm von Canterbury an. Aus diesen beiden unterschiedlichen Neigungen resultierte für Scotus die Vorstellung der Freiheit, denn das Angenehme und die Gerechtigkeit können ein unterschiedliches Handeln fordern, so dass der Mensch sich entscheiden muss. Ein unfreier Wille würde nur nach dem Angenehmen streben. Die Neigung zum Angenehmen strebt nach dem höchsten Glück, die Neigung zur Gerechtigkeit nach dem absoluten Guten. Da aber das höchste Glück nur für eine endliche, irdische Person ein gültiger Maßstab ist, während das absolut Gute unbegrenzt Gültigkeit hat, ist die Neigung zur Gerechtigkeit höherwertig. Wer nur der Neigung zum Angenehmen folgt und dabei die Gebote der Neigung zur Gerechtigkeit verletzt, sündigt. Daher ist es Aufgabe des Willens, mit Hilfe der Vernunft, die Widersprüche der beiden Neigungen zu erkennen und die Neigung zum Angenehmen zu zügeln. Nur Handlungen aus Neigungen zur Gerechtigkeit, zum unendlich Guten, und damit zu Gott können verdienstvoll sein.
Rationalität
Auch wenn die Handlungen durch den freien Willen kontingent sind, sind sie nicht irrational. Der Wille allein ist ein blindes Vermögen. Sinnvolle Urteile fällen und Entscheidungen treffen kann nur derjenige, der sich der Vernunft bedient. Der Wille richtet sich auf einen Gegenstand, doch bedarf er zu dessen Erkenntnis des Intellektes. Der Intellekt seinerseits kann nur die Befindlichkeit des Gegenstandes aufzeigen. Er ist in diesem Vorgang passiv und kann dem Willen nichts vorschreiben. Der aktive Wille ist autonom und fällt seine Entscheidung unabhängig vom Intellekt. Ursache des Handelns ist demnach der Wille. Damit liegt die Verantwortung für das Handeln allein beim Menschen.
Das höchste Gute
Gott ist zu lieben (deus est diligendus). Dieses fundamentale Prinzip ist für Scotus selbstevidente (nota per se) Grundlage aller Moral, die keiner besonderen Begründung bedarf. Alle moralischen Handlungen haben sich danach zu richten. Welche Handlungen aus diesem Prinzip folgen sollen, muss mit Hilfe der rechten Vernunft (ratio recta), über die jeder verfügt, festgestellt werden. Die Rationalität beschreibt das moralisch Gute und der Wille, der an sich frei ist, muss das als moralisch richtig Erkannte ausführen, wenn er dem Gebot der Liebe folgen will.
Als uneingeschränkt gültige moralische Aussagen betrachtete Scotus analytisch wahre Aussagen (ex terminis). Dieses sind solche Sätze, deren Wahrheit nicht von einem göttlichen Willen abhängt. Als solche Aussagen sah Scotus die ersten drei der zehn Gebote an. Diese beziehen sich auf Gott selbst und stellen deshalb natürliches Recht dar. Das natürliche Gesetz kann so formuliert werden: Wenn Gott existiert, muss der Mensch Gott lieben, darf keinem anderen Ehre erweisen und Gott nicht leugnen.
Die übrigen Gebote betreffen das Verhältnis der Menschen untereinander und sind eine Festlegung nach Gottes Willen. Dies zeigt sich darin, dass er die Gebote auch anders hätte festlegen können. So kann man sich vorstellen, dass das Verbot des Tötens bzw. Mordens oder das des Ehebruchs unter Umständen aufgehoben werden könnte. Scotus diskutierte das am Beispiel des Gebotes Gottes, Isaak zu töten. Wenn Gott dieses will, so hat er hierzu aufgrund seiner absoluten Macht (potentia absoluta) die Möglichkeit. Er verstößt dabei nicht gegen eine bestehende Ordnung, sondern schafft eine neue Ordnung, in der das Gebot sinnvoll ist.
Der Mensch kann durch die Vernunft nicht erkennen, warum die Gebote so sind, wie sie sind. Denn Gottes Wille ist frei. Die Gebote sind insofern kontingent, jedoch nicht willkürlich, als Gott mit seiner geordneten Macht (potentia ordinata) eine in sich sinnvolle, geordnete Welt geschaffen hat. Die geschaffene Welt ist höchst vernünftig, so dass die Verhältnisse in der Welt mit den Fähigkeiten seiner Geschöpfe in Einklang stehen (valde consonant). In diesem Sinne muss der Mensch in seinen praktischen Überlegungen zwischen der allgemeinen Norm des Naturrechts (ordo naturalis) und der konkret gegebenen Situation (ordo particularis) abwägen. Im Sinne einer solchen Abwägung kann beispielsweise der Schutz des Eigentums aufgehoben, also das Gebot „Du sollst nicht stehlen“ relativiert werden.
Frei übertragen bedeutet dies im Sinne des Überlegungsgleichgewichts nach John Rawls, dass Lücken oder Widersprüche aufgrund gegebener Verhältnisse in den natürlichen Gesetzen (Gottes Geboten) durch sinngemäße Ersatzregelungen kompensiert werden müssen, auch wenn diese einen Gesetzesverstoß darzustellen scheinen.
Gerade weil der Mensch mit Vernunft ausgestattet ist, kann er die richtigen moralischen Werte erkennen. Der franziskanischen Tradition folgend, unterschied Scotus wie schon Alexander von Hales Gebrauchsgüter (bonum utile) wie z. B. das Geld, die sowohl positiv als auch negativ eingesetzt werden können, von Wertegütern (bonum honestum) wie z. B. der gute Ruf oder die persönliche Unversehrtheit. Wie später Kant forderte Scotus, dass solche Werte nicht als Mittel eingesetzt werden dürfen.
Als Ergebnis vernünftiger Überlegungen entwickelte Scotus eine stufenweise Ordnung, die als Hierarchie zur Erreichung der moralischen Vollkommenheit anzusehen ist:
Aristoteles und mit ihm Thomas hatten ein eudämonisches Verständnis von Ethik, weil in ihrer Vorstellung die affectio iustitiae fehlte und allein das höchste Glück als Maßstab des absolut Guten diente. Moralisch richtiges Handeln umfasste für Scotus hingegen die Pflicht, der recta ratio zu folgen. Er ging sogar so weit, dass eine Handlung nicht gut sei, wenn man dem als richtig angesehenen Urteil nicht folgt, selbst wenn das Ergebnis als gut bewertet wird. Auch hier findet sich bei Kant in der Pflichtethik eine ähnliche Auffassung.
Tugend und moralische Klugheit
Bei Aristoteles und bei Thomas war der Besitz der Tugend Voraussetzung zur Erreichung des höchsten Glücks. Für Scotus hingegen besaßen die Tugenden, ähnlich wie in der Tugendethik Kants, nur eine unterstützende Funktion. Die rational begründete Entscheidung des autonomen Willens kann auch ohne Tugend getroffen werden. Selbst ein im Grunde böser Mensch hat immer die Möglichkeit, sich im konkreten Einzelfall für das moralisch Gute zu entscheiden. Tugenden sind auch der Liebe als dem höchsten moralischen Gebot unterzuordnen. Tugenden werden eingeübt, sind wichtig für das praktische Leben, begründen moralische Werte aber nicht. Moralische Weisheit drückt sich vor allem in der Gründlichkeit der rationalen Abwägung aus. Von den Kardinaltugenden ist nur die Klugheit von besonderer Bedeutung, während Gerechtigkeit, Tapferkeit und Besonnenheit kein so hohes Gewicht zukommt. Klugheit ist die Fähigkeit des Intellektes, die für eine Handlung richtige und angemessene Form zu beurteilen.
Klugheit spielt ebenso eine wichtige Rolle, wenn theoretische Prinzipien und die praktische Lebenssituation aufeinanderstoßen, wie im Falle von Wertkonflikten. Dies kann man wieder am Beispiel der Wahrheit verdeutlichen. Das Prinzip der Ehrlichkeit wird im Wege der abstraktiven Erkenntnis zu einem moralischen Gebot. Aber wie schonungslos informiert der Arzt einen Todkranken über seine Krankheit? Muss man die Wahrheit sagen, wenn man weiß, dass man jemanden bloßstellt, ohne jemandem anderen zu nutzen? Drastisch ist das von Kant konstruierte Beispiel, in dem ein Mörder sein Opfer sucht und nach dessen Aufenthalt fragt, den man kennt und auch von der Mordabsicht weiß. Scotus hätte die Lösung Kants, wonach die Wahrheit auch in diesem Fall die einzige richtige Lösung ist, nicht akzeptiert.
Er unterschied grundsätzlich als Entscheidungsmöglichkeit für den freien Willen das positive Wollen (velle), die Ablehnung (nolle) sowie die Unterlassung (non velle). Nach den Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf die Ehrlichkeit bedeutet dies, die Wahrheit zu sagen, zu lügen oder zu schweigen. Die Klugheit gebietet, die Handlung aufgrund von Erfahrung und der konkret gegebenen Umstände. Dabei ist neben dem abstrakten auch das intuitive Urteilsvermögen in Rechnung zu stellen. Moralische Urteile müssen die kontingenten Situationen ganzheitlich erfassen. In diesem Sinne hat Scotus moralische Urteile auch mit ästhetischen Urteilen verglichen. Das Urteil hat dabei durchaus objektiven Charakter, da es eine rationale Beurteilung erfordert und auch die Forderung einschließt, das nach der rechten Vernunft als richtig Erkannte umzusetzen.
Theologische Themen
In der Rezeption des Duns Scotus steht die Philosophie im Vordergrund, wenn diese auch immer aus der Perspektive der theologischen Fragestellung zu sehen ist. Rein theologische Themen findet man fast ausschließlich in der Spezialliteratur. Eine wichtige Ursache ist, dass es von Scotus auch zur Theologie keine geschlossene Lehre, sondern nur Stellungnahmen zu einzelnen Aspekten gibt.
Unbefleckte Empfängnis
Die im Mittelalter neu aufkeimende Marienverehrung veranlasste Scotus, sich auch mit der Frage der unbefleckten Empfängnis Mariens eingehender auseinanderzusetzen. Die theologische Frage bestand darin, ob Maria bei der Empfängnis des Sohnes Gottes noch belastet von der Erbsünde gewesen sei, da die Befreiung von den Sünden erst durch den Erlösertod Christi bewirkt wurde. Scotus argumentierte hiergegen, dass Maria aufgrund der Erwählung durch Gott im Wege der Vorauserlösung (Praeredemptio) bereits bei ihrer Geburt von der Erbsünde befreit gewesen sei. Seine Beweisführung folgte einem Dreierschritt. Von Gott sagt Duns Scotus aus, er konnte es („potuit)“, es geziemte sich („decuit“), also hat er es gemacht („ergo fecit“). Diese Auffassung, deretwegen Scotus auch den Beinamen Doctor Marianus erhielt, führte in der Folgezeit immer wieder zu theologischen Auseinandersetzungen, vor allem mit den Dominikanern, die in dieser Lehre eine Herabstufung der Göttlichkeit Jesu sahen. Die Lehre von der unbefleckten Empfängnis wurde am 8. Dezember 1854 von Papst Pius IX. in der Bulle Ineffabilis Deus („Der unaussprechliche Gott“) zum Dogma erhoben.
Zwangstaufe der jüdischen und andersgläubigen Kindern
Ein Fürst hat laut Scotus das Recht, die Kinder der jüdischen und andersgläubigen Eltern wegzunehmen, um sie taufen zu lassen und sie christlich zu erziehen. Dabei soll der Fürst umsichtig handeln, damit die Kinder von ihren Eltern nicht deswegen umgebracht werden. Die Zwangstaufe ist in diesem Fall nur deshalb erlaubt, weil man nach Scotus hier dem höchsten Herrscher, das heißt Gott, folgt, der größeres Herrschaftsrecht über die Kinder als die Eltern hat. Wegen des Einflusses der andersgläubigen Eltern werden die Kinder innerlich vielleicht nicht ganz überzeugte Christen, aber in der dritten und vierten Generation wird es durchaus möglich sein.
Zum Einwand vom Römerbrief 9, 27: „der Rest von Israel wird sich am Ende bekehren“, meint Scotus, es genüge an einige wenige Juden, die sich am Ende bekehren sollen, ihr Gesetz halten zu lassen und sie auf einer Insel abzusondern. Es ist nicht nötig zu diesem Zweck (d. h. Bekehrung vom Rest Israel am Ende der Zeiten), vielen Juden weltweit ihr Gesetz einhalten zu lassen und sie dabei zu unterstützen.
Glaube
Scotus beschäftigte sich mit dem Unterschied zwischen offenbartem und erworbenem Glauben. Da Gottes Wille nicht durch Vernunft erkannt werden kann, müssen die Texte der Bibel und die Lehraussagen der christlichen Kirche angenommen werden. Erworbener Glaube entsteht durch die intensive Auseinandersetzung mit diesen Quellen, die dazu führt, dass man ohne Zweifel darauf vertraut, dass diese Quellen wahr sind. Die Glaubwürdigkeit der Kirche als Zeuge dieser Wahrheiten ergibt sich aus ihrer stabilitas (Beständigkeit, Festigkeit). Erworbener Glaube unterscheidet sich vom bloßen „Meinen“ durch die „Gewissheit“, d. h. durch den fehlenden Zweifel.
Scotus war davon überzeugt, dass es neben dem erworbenen auch einen offenbarten Glauben (fides infusa) gibt, der einen anderen Aspekt des Glaubensaktes darstellt, wobei – anders als in der Philosophie mit den verschiedenen Teilgebieten der Erkenntnis – der erworbene Glaube allein ausreicht, um die göttliche Wahrheit zu erfassen. Der offenbarte Glaube ist eine Ergänzung, die die Seele vervollkommnet und den Glaubensakt verstärkt.
Glaubensirrtümer kann es sowohl beim erworbenen als auch beim Glauben aufgrund von Offenbarung geben, wenn sich das Glaubensobjekt falsch darstellt. Die Wahrheit des Objektes besteht unabhängig vom Habitus (von der angeeigneten Gewohnheit) des Glaubens. Der Wille verändert nichts am Inhalt des Glaubens. Er kann aber als Quelle der Sünde verhindern, dass der Mensch nach seinem Glauben handelt.
Absolute Prädestination
Gottes Sohn wäre nach Scotus auch dann Mensch geworden, wenn Adam nicht gesündigt hätte. Gott will, dass der Mensch ihn liebt. Das ist der Grund für die Inkarnation. Wäre die Vorherbestimmung (Prädestination) Christi abhängig von der Sünde Adams, hätte sich Gott abhängig von den Handlungen eines Menschen gemacht. Dies aber widerspricht der absoluten Willensfreiheit Gottes. Scotus steht mit dieser Auffassung in der Nachfolge zu Robert Grosseteste, aber im Gegensatz zu Thomas von Aquin, Bonaventura und der Mehrzahl der späteren Theologen.
Taufe
Eine der ersten vollständigen Definitionen für die Sakramente stammt von Scotus. Diese sind sinnlich wahrnehmbare Geschehen, Wirklichkeiten oder Riten, die von Christus eingesetzt wurden, um die von ihm verdienten Heilsgnaden zu bezeichnen, zu erhalten und sie den Menschen durch Menschen im Pilgerstand, im Vollzug des Sakraments durch Spender und Empfänger zu vermitteln.
Während nach Thomas die sakramentale Handlung des Taufens als Instrument ursächlich die Gnade Gottes vermittelt, war Scotus der Auffassung, dass dieser Akt der Taufe nur Anlass dafür ist, dass Gott aufgrund entsprechender Anordnung (institutio divina) seine Gnade mitteilt. Die Einsetzung der Taufe erfolgte nach Scotus nicht mit der Taufe Jesu im Jordan, sondern erst später. Darüber liege allerdings kein Bericht vor.
Die Unverfügbarkeit Gottes
Die Handlungen Gottes, aber auch die Gnade Gottes sind unabhängig vom menschlichen Willen. Daraus folgt, dass der Mensch sich die Gnade Gottes nicht verdienen kann. Gnade und Verdienst stehen sich gegenüber. Aus der Offenbarung aber ergibt sich, dass Gott dem Menschen, den er gnädig annimmt, das ewige Leben schenkt.
Nach Petrus Lombardus ist der durch die Taufe im Menschen wohnende Heilige Geist die Ursache der Gnade. Thomas von Aquin betrachtete die Gnade als einen Habitus, eine der Seele innewohnende Qualität. Scotus setzte nun diese Qualität mit der Fähigkeit des Menschen zur Caritas, der Liebe als dem höchsten Guten gleich. Das Verdienst der menschlichen Vernunft (ratio meriti) liegt in der Übereinstimmung von göttlichem und menschlichem Willen. Die Fähigkeit zur Caritas entspringt der übernatürlichen Gnade Gottes. Der Mensch kann diese Gnade nicht durch konkretes Handeln erwerben. Er kann aber die Caritas wie eine Tugend durch Einübung zum Habitus, zur erworbenen Geneigtheit machen.
Wenn der Mensch sich entsprechend verhält, wird er gemäß der Offenbarung von Gott akzeptiert. Dies ist so, weil Gott die Bedingungen der Welt genauso geschaffen hat wie sie sind (potentia dei ordinata), auch wenn er sie anders hätte erschaffen können (potentia dei absoluta). Diese Akzeptationslehre führte in der Rezeption, zum Beispiel durch Petrus Aureoli dazu, dass häufig zu Unrecht behauptet wurde, Scotus habe gelehrt, der Mensch könne durch sein Verhalten Einfluss auf Gott nehmen. Er habe damit eine pelagianische Position eingenommen, nach der der Mensch von sich aus ohne Sünde sein könne. Doch laut Scotus war Gott niemals für den Menschen verfügbar. Inhaltlich schloss sich die Debatte stärker an Scotus’ Schüler an, die diese Lehre weniger klar vertraten.
Rezeption
Auch wenn Scotus keine Summa geschrieben hat, sondern sich vorrangig mit der detaillierten (subtilen) Analyse und Ausarbeitung einzelner Themen und der Kommentierung vorhandener Texte befasste, so kann man seine Lehre dennoch als ein geschlossenes, von der Erkenntnis über die Metaphysik bis hin zur Ethik reichendes Konzept ansehen, das auf Aristoteles und Avicenna basiert, aber in Hinblick auf die Bedeutung des Willens und der Offenbarung an die franziskanisch-augustinische Tradition anknüpft. Eine besondere Bedeutung haben auch heute noch die kritizistische Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis, die Grundannahme der intuitiven Erkenntnis sowie die Verantwortung des Einzelnen aufgrund des freien Willen. Scotus war einer der Ersten, der die Individualität betonte und den Wandel von der Ontologie zur Erkenntnistheorie als wichtigstem Thema der Philosophie begründete. Insofern trug er nicht nur zur Vorbereitung der Renaissance bei, sondern wirkte weit darüber hinaus. Mit seiner Philosophie überwand er eine Reihe von metaphysischen Vorurteilen. Indem er Glaubenswahrheiten wie die Trinität oder die Jungfrauengeburt in den Bereich der Theologie verwies, hat er sie der rationalen Diskussion in der Philosophie entzogen. Theologie und Philosophie haben ein eigenes Reich, wobei die Philosophie immer aus der Perspektive der Theologie betrachtet wird und nicht zu ihr in Konkurrenz steht. Etienne Gilson und Wolfgang Kluxen sehen hier einen wichtigen Anstoß für den Übergang vom mittelalterlichen zum neuzeitlichen Denken.
Obwohl die Franziskaner die Lehren des Scotus nicht als verbindlich für ihren Orden erklärten, wie das bei Thomas und den Dominikanern geschehen war, entwickelte sich eine Schule, die auf dem Scotismus beruhte und sich von Paris ausgehend weiter verbreitete. Einer der ersten, der sich mit Scotus auseinandersetzte, war Wilhelm von Ockham, der das Konzept des „Seienden als Seienden“ übernahm, sich in der Ethik Scotus anschloss und insbesondere die Freiheit des Willens betonte, der andererseits die Logik und Semantik weiter entwickelte und einen eindeutigen Nominalismus vertrat.
Der Scotismus hatte im 17. Jahrhundert, in dem Lucas Wadding für die gedruckte Gesamtausgabe sorgte (1639), seinen Höhepunkt und war zu der Zeit sogar die dominierende scholastische Lehre. Über Francisco Suárez wurden die Grundelemente der scotischen Lehre in die deutsche Philosophie hineingetragen und bildeten bei Leibniz den Ausgangspunkt für die Idee der „möglichen Welten“ sowie bei Christian Wolff die Grundlagen für dessen Ontologie.
Über die rationalistische Philosophie wurde auch Immanuel Kant in erheblichem Umfang beeinflusst. Dies findet sich zum Beispiel in der Frage nach den „Grenzen der Erkenntnis“ oder der Lehre von den „zwei Erkenntnisstämmen“. Auch Kant vertrat in Bezug auf die Universalien eine konzeptualistische Position. Kants Grundannahmen in der Ethik könnten direkt von Scotus abgeleitet sein. Dies gilt für die postulierte „Willensfreiheit“ ebenso wie für die alles bestimmende Aussage, dass moralisch gut allein ein guter Wille ist. Auch der Vorrang der moralischen Absicht vor der Wirkung einer Handlung und die Bedeutung der Tugend als unterstützend, aber nicht maßgebend für die Moral sah Kant ähnlich wie Scotus.
Vor diesem Hintergrund ist auch verständlich, dass Charles S. Peirce von Scotus mit Bewunderung sprach und sich – mit dem Begriff der mittelalterlichen Debatte – gegen die „Necesseritarier“ wandte sowie auf die „Kontingenz“ und die „Haecceitas“ bei Scotus Bezug nahm. Elemente der scotischen Philosophie findet man bei Edmund Husserls Wesenschau, die in der Grundidee der intuitiven Erkenntnis ähnelt und bei Martin Heideggers Sein, das in dem Seienden als Seiendem seine Entsprechung hat. Auch wenn Heidegger, wie vorher schon Peirce, sich in seiner Habilitation Die Bedeutungs- und Kategorienlehre des Duns Scotus sehr stark auf die Schrift Grammatica Speculativa bezog, die erst später Thomas von Erfurt zugeordnet wurde, so bleibt doch die Grundthematik erhalten. Auch Hannah Arendt setzte sich explizit mit Scotus auseinander und griff beispielsweise seine These der intuitiven Erkenntnis auf, indem sie den Einzeldingen Singularität zusprach. Außerdem betonte sie den freien Willen des Menschen, die Entscheidungsfreiheit für das Gute oder Böse und die Verantwortung für seine Taten.
Die Scotus-Rezeption wird heute in besonderem Maße von den Franziskanern (OFM), zum Beispiel von der Johannes-Duns-Skotus-Akademie für franziskanische Geistesgeschichte und Spiritualität in Mönchengladbach, dem Bonaventura-Institute in New York oder der Philosophisch-Theologischen Hochschule der Franziskaner in Schwaz/Tirol, fortgeführt, während in der Neuscholastik der Thomismus dominiert. Dennoch kann man feststellen, dass Scotus in der Rezeption einen eigenständigen bedeutenden Platz einnimmt und sogar noch die philosophische Diskussion der Gegenwart befruchtet.
Ehrungen
Im Rahmen der Neukonzeption des Skulpturenprogramms des Kölner Rathausturms in den 1980er Jahren wurde Johannes Duns Scotus durch eine Figur von Andreas Dilthey im vierten Obergeschoss auf der Westseite des Turmes geehrt.
Werke
Schriften
Parva logicalia (über die Isagoge des Porphyrios und verschiedene Themen bei Aristoteles ca. 1295)
Quaestiones super de anima
Quaestiones subtilissimae de metaphysicam Aristotelis (über einen längeren Zeitraum erarbeitet)
Lectura (erste Fassung des Sentenzenkommentars ca. 1299 in Oxford)
Ordinatio (ca. 1300, auch als Opus Oxoniense bezeichnet, mehrfach überarbeitetes Konzept des Sentenzenkommentars)
Reportata parisiensia (studentische Mitschriften ca. 1300)
Reportatio parisiensis examinata I.A. (vermutlich von Scotus durchgesehene Mitschrift der Pariser Vorlesungen ca. 1302–1305)
Collationes (46 Disputationen aus den Jahren 1300 bis 1305)
Tractatus de Primo Principio (mit umfangreichem Gottesbeweis ca. 1305)
Theoremata (Autorschaft fraglich)
Quaestiones Quodlibetales (Sammlung von Disputationen als magister regens ca. 1306)
Nicht zu den Schriften gehört die oftmals Duns Scotus zugeschriebene „Grammatica speculativa“, auf die sich Charles S. Peirce und Martin Heidegger bezogen. Diese stammt nach heutiger Kenntnis von Thomas von Erfurt.
Werkausgaben
Opera Omnia. („Wadding-Ausgabe“) Lyon, 1639, Nachdruck Hildesheim, Olms 1968, 12 Bde., in 26 Bänden neu aufgelegt in modernem Typensatz bei L. Vivès 1891–1895; enthält – allerdings vielfach durchmischt mit unechten Textteilen – an echten Schriften:
Bd. 1: Super universalia Porphyrii quaestiones (S. 87–123), In librum Praedicamentorum quaestiones (S. 124–185), Quaestiones in I et II librum Perihermeneias Aristotelis (S. 186–210), In duos libros Perihermeneias, operis secundi … quaestiones (S. 211–223), In libros Elenchorum quaestiones (S. 224–272)
Bd. 2: Quaestiones super libros Aristotelis De Anima (S. 485–582).
Bd. 3: De primo rerum omnium principio (S. 209–259), Theoremata (S. 263–338), Collationes Parisienses (S. 345–430).
Bd. 4: Quaestiones super libros Metaphysicorum Aristotelis libri I–IX (S. 505–848).
Bd. 5–10: Opus Oxoniense.
Bd. 11: Reportata Parisiensa.
Bd. 12: Quodlibet
Opera Omnia. („Vatican-Ausgabe“) Civitas Vaticana 1950ff, bisher Bände I-XIV und XVI-XXI
Opera Philosophica. St. Bonaventure, NY, The Franciscan Institute, 1997 (5 Bände)
Übersetzungen
Abhandlung über das erste Prinzip. (Lat.-Dt.) Hrsg. von Wolfgang Kluxen, 3. Aufl. Wiss. Buchgesellschaft, Darmstadt 1994, ISBN 3-534-00532-5
Die Univozität des Seienden. Texte zur Metaphysik. Mit Studienkommentar und 2 Registern. Hrsg. von Tobias Hoffmann, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2002, ISBN 3-525-30600-8
Über die Erkennbarkeit Gottes. (Lat.-Dt.), hrsg. von Hans Kraml, Meiner, Hamburg 2000, ISBN 978-3-7873-1617-5
Über das Individuationsprinzip. Ordinatio II, distinctio 3, pars 1. Hrsg. mit einer ausführlichen Einleitung von Thamar Rossi Leidi, Meiner, Hamburg 2015, ISBN 978-3-7873-2520-7
Pariser Vorlesungen über Wissen und Kontingenz. (Lat.-Dt.) Herders Bibliothek der Philosophie des Mittelalters Band 4, hrsg. und kommentiert von Joachim R. Söder, Herder, München und Freiburg 2005, ISBN 3-451-28686-6
Contingency and Freedom. Lectura I 39 (übers. und kommentiert u. a. von Antonie Vos), Kluwer, Dordrecht 1994, ISBN 0-7923-2707-1 (The New Synthese Historical Library; Bd. 4)
Literatur
Basisliteratur im Artikel „Philosophie des Mittelalters“
Andreas J. Beck und Henri Veldhuis (Hrsg.): Geloof geeft te denken: Opstellen over de theologie van Johannes Duns Scotus. Assen, Van Gorcum, 2005, ISBN 90-232-4154-1 (Scripta franciscana; Bd. 8)
Johann Jakob Brucker: Historia critica philosophiae. A Christo nato ad repurgatas usque literas. Tomus III. Leipzig 1766, hier: S. 825–829 (Die negative Bewertung Scotus durch Brucker ist im Kontext der Zeit zu sehen und aus heutiger Sicht nicht nachvollziehbar.)
Maria Burger: Personalität im Horizont absoluter Prädestination - Untersuchungen zur Christologie des Johannes Duns Scotus und ihrer Rezeption in modernen theologischen Ansätzen. Aschendorff, Münster 1994, ISBN 3-402-03935-4
Michal Chabada: Cognitio intuitiva et abstractiva. Die ontologischen Implikationen der Erkenntnislehre des Johannes Duns Skotus mit der Gegenüberstellung zu Aristoteles und Immanuel Kant. Verlag Kühlen, Mönchengladbach 2005, ISBN 3-87448-250-2
Werner Dettloff: Johannes Duns Scotus. Die Unverfügbarkeit Gottes. In: Ulrich Köpf (Hrsg.): Theologen des Mittelalters. Eine Einführung. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2002, ISBN 3-534-14815-0, S. 168–181.
Werner Dettloff: Johannes Duns Scotus. In: Heinrich Fries und Georg Kretschmar (Hrsg.): Klassiker der Theologie. Band 1: Von Irenäus bis Martin Luther Beck, München 1981, 226–237 (online; PDF-Datei; 6,3 MB).
Mechthild Dreyer, Mary B. Ingham: Johannes Duns Scotus zur Einführung. Junius Verlag, Hamburg 2003, ISBN 3-88506-388-3.
Charles R. S. Harris: Duns Scotus. Vol I. The place of Duns Scotus in medieval thought. Oxford University Press, 1927.
Walter Hoeres: Der Wille als reine Vollkommenheit nach Duns Scotus. Pustet, München 1962.
Walter Hoeres: Die Sehnsucht nach der Anschauung Gottes. Thomas von Aquin und Duns Scotus im Gespräch über Natur und Gnade. Patrimonium, Aachen 2015, ISBN 978-3-86417046-1.
Roberto Hofmeister Pich: Der Begriff der wissenschaftlichen Erkenntnis nach Johannes Duns Scotus. Diss. Bonn 2001.
Ludger Honnefelder: Johannes Duns Scotus. Beck, München 2005, ISBN 3-406-51116-3
Ludger Honnefelder: Scientia transcendens. Die formale Bestimmung der Seiendheit und Realität in der Metaphysik des Mittelalters und der Neuzeit (Duns Scotus, Suárez, Wolff, Kant, Peirce). Meiner, Hamburg 1990, ISBN 3-7873-0726-5 (Paradeigmata; Bd. 9)
Mary B. Ingham: Duns Scotus. Aschendorff, Münster 2006, ISBN 3-402-04632-6 (Zugänge zum Denken des Mittelalters; Bd. 3)
Wilhelm Kahl: Die Lehre vom Primat des Willens bei Augustinus, Duns Scotus und Descartes. Trübner, Straßburg 1886.
Dominik Perler: Zweifel und Gewissheit. Skeptische Debatten im Mittelalter. Frankfurt am Main 2006, ISBN 978-3-465-03496-4.
Cesar Ribas Cezar: Das natürliche Gesetz und das konkrete praktische Urteil nach der Lehre des Johannes Duns Scotus. Diss. Bonn 2003.
Waltram Roggisch: Johannes Duns Scotus. Der Theologe der Immaculata. Christiana-Verlag, Stein am Rhein 1995, ISBN 3-7171-0839-5
Axel Schmidt: Natur und Geheimnis. Kritik des Naturalismus durch moderne Physik und scotische Metaphysik. Alber, München 2003, ISBN 3-495-48078-1
Siegfried Staudinger: Das Problem der Analyse des Glaubensaktes bei Johannes Duns Scotus. Kühlen, Mönchengladbach 2006, ISBN 3-87448-269-3
Antonie Vos u. a. (Hrsg.): Duns Scotus on Divine Love: Texts and Commentary on Goodness and Freedom, God and Humans. Aldershot, Ashgate 2003, ISBN 0-7546-3590-2
Antonie Vos: The Philosophy of John Duns Scotus. Edinburgh, Edinburgh University Press, 2006, ISBN 0-7486-2462-7
Friedrich Wetter: Die Trinitätslehre des Johannes Duns Scotus. Aschendorff, Münster, 1967 (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters; 41,5)
Thomas Williams (Hrsg.): The Cambridge Companion to Duns Scotus. Cambridge University Press 2002, ISBN 978-0-521-63563-9
Weblinks
Primärtexte
Werke im Franciscan Archive (englisch)
Ordinatio: Prolog, Teil 2 (lat. und jap.), Weiteres im Franciscan Archive
Whether a material substance is individual or singular from itself or from its nature (PDF; 124 kB), Ordinatio II d. 3 p. 1 q. 1 (Peter King 1987)
On Bigamy (PDF; 141 kB), Ordinatio IV distinction 33 q. 1, Latin text and English translation
Quaestiones in Isag., subt. in Met., in Praed. (lat.) bei Peter King
Sekundärliteratur
Commissio Scotistica Internationalis (ital.)
Research Group John Duns Scotus (englisch)
Duns Scotus im Franciscan Archive (englisch)
Digitalisate bei Internet Archive
Iohannes Duns Scotus OFM in: Alcuin, der Regensburger Infothek der Scholastik
Werner Dettloff: Johannes Duns Scotus. (PDF; 6,3 MB) In: Heinrich Fries, Georg Kretschmar (Hrsg.): Klassiker der Theologie. Band 1. Beck, München 1981, 226–237
Tobias Hoffmann: Duns Scotus Bibliography from 1950 to the Present
Peter King: Verschiedene Fachartikel (englisch)
Amy Lapisardi: Duns Scotus and The Memento Problem (Download hier)
Dominik Perler: Duns Scotus on Signification. (PDF; 2,3 MB)
Giorgio Pini: Univocity in Scotus’s Quaestiones super Metaphysicam: The Solution to a Riddle. (PDF; 359 kB)
Lars Reuke: To p or not to p. Scotus, Leibniz und die Kontingenz. In: Philosophia (Online-Zeitschrift für Philosophie), 23. Oktober 2012
Jean-Luc Solère: Scotus Geometres. The Longevity of Duns Scotus’s geometric arguments against indivisibilism. (PDF)
James B. South: Duns Scotus and the Knowledge of the Singular. In: History of Philosophy Quarterly, Volume 19, No. 2, April 2002
Henri Veldhuis: Ordained and Absolute Power in Scotus’ Ordinatio I 44.
Karl Werner: Die Psychologie und Erkenntnislehre des Johannes Duns Scotus.
Allan B. Wolter, O.F.M.: Scotus’ Ethics. In: Essays in Medieval Studies, 5
Einzelnachweise
Scholastiker
Philosoph des Mittelalters
Logiker
Sprachphilosoph
Katholischer Theologe (13. Jahrhundert)
Seliger
Franziskaner
Hochschullehrer (University of Cambridge)
Hochschullehrer (University of Oxford)
Hochschullehrer (Sorbonne)
Schotte
Geboren im 13. Jahrhundert
Gestorben 1308
Mann
Römisch-katholischer Geistlicher (Köln) |
121151 | https://de.wikipedia.org/wiki/Indochinakrieg | Indochinakrieg | Der Indochinakrieg (1946 bis 1954), auch als Erster Indochinakrieg oder Französischer Indochinakrieg bezeichnet, war ein Krieg in Französisch-Indochina zwischen Frankreich und der Liga für die Unabhängigkeit Vietnams (Việt Minh), die unter der Führung der vietnamesischen Kommunisten stand. Die französische Seite versuchte, ihre politische Herrschaft in der Kolonie wieder herzustellen. Die Viet Minh verfolgten das Ziel eines unabhängigen und kommunistischen Vietnams. Die französische Kolonialmacht war durch die japanische Einflussnahme und Besetzung der Kolonie im Zweiten Weltkrieg, welche die Viet Minh für die Machtübernahme im Nordteil des Landes im Rahmen der Augustrevolution nutzten, vorübergehend entmachtet worden. Nach einer kurzen Phase der Koexistenz zwischen den Viet Minh und den wiedererstarkenden Franzosen kam es 1946 zum Ausbruch gewalttätiger Auseinandersetzungen.
Bis 1949 war der Konflikt vor allem ein Guerillakrieg der Viet Minh gegen die Kolonialmacht. Ab 1949 entwickelte sich der Konflikt durch die Aufrüstung der Viet Minh durch die im Chinesischen Bürgerkrieg siegreiche Volksrepublik China und die Unterstützung der USA für Frankreich zu einem Stellvertreterkrieg innerhalb des Kalten Krieges. Die militärisch zunehmend unter Druck geratene Kolonialmacht willigte nach der Niederlage von Dien Bien Phu auf der Indochinakonferenz 1954 in Genf in eine Verhandlungslösung ein, die maßgeblich von China bestimmt war und die durch die Intervention der USA in die Teilung Vietnams mündete. Diese Teilung des Landes führte schließlich zum Vietnamkrieg. Die von den Viet Minh unterstützten kommunistischen Bewegungen des Pathet Lao und der Khmer Issarak legten auch in den nichtvietnamesischen Teilen Indochinas den Grundstein für spätere kommunistische Guerillabewegungen. Der Krieg war Teil einer Kette von militärischen Auseinandersetzungen, die in den Ländern Indochinas von 1941 bis 1979 stattfanden.
Hintergrund
Französische Kolonie in Indochina
Während seiner kolonialen Bestrebungen in Südostasien traf Frankreich auf das Kaiserreich Vietnam, das auf eine eineinhalbtausendjährige staatliche Tradition als chinesische Provinz und ab dem 10. Jahrhundert als eigenständige Monarchie zurückblicken konnte. Die französische Landnahme erfolgte ab 1858 im Süden Indochinas unter Einsatz von militärischer Gewalt, 1887 war die Kolonisierung der Region abgeschlossen worden. Die französische Kolonialpolitik teilte das Land anschließend in die zwei Protektorate Annam und Tonkin sowie das direkt als Kolonie verwaltete Cochinchina auf. Der Kaiser blieb an der Spitze des Kolonialstaates, die politische und militärische Macht lag jedoch bei den Kolonialbehörden und ihren Vertretern. Die Eliten des vietnamesischen Kaiserreichs empfanden die Unterwerfung durch eine fremde Macht als traumatisch. Die Bevölkerung geriet durch die folgende ausbeuterische Politik rasch in wirtschaftliche Bedrängnis.
Zur Wiederherstellung der unabhängigen Monarchie erhob sich kurz darauf die militante Helft-dem-König-Bewegung, deren Guerillakrieg die Kolonialmacht jedoch bis 1897 zu ihren Gunsten entscheiden konnte. Unter der anhaltenden französischen Kolonialherrschaft konzentrierten sich die Ländereien zunehmend auf immer weniger Besitzer. Die neuen Großgrundbesitzer, europäische Siedler und ein Teil der einheimischen Elite, verpachteten ihr Land wiederum an die wachsende Gruppe der landlosen Bauern. So bildete sich binnen kurzer Zeit in der vietnamesischen Gesellschaft eine wohlhabende Schicht, die von der Kolonialherrschaft profitierte und ihr loyal gegenüberstand. Unter den Einheimischen, die in diese Elite aufstiegen, waren viele Katholiken. In Cochinchina waren in manchen Landstrichen mittlerweile rund 70 Prozent des Bodens in die Hände von Großgrundbesitzern übergegangen. Der Anteil des einheimischen kommunalen Landaufteilungssystems in Cochinchina war auf 3 Prozent der Fläche zusammengeschrumpft. Im mittleren Teil des Landes Annam und im Nordteil Tonkin verblieb rund ein Fünftel bis ein Viertel des Landes in kommunaler Hand; der ökonomische Druck zu dessen Aufgabe wurde jedoch immer größer. In den 1930er Jahren waren rund 90 Prozent der etwa 18 Millionen Vietnamesen Bauern, die Hälfte davon ohne Landbesitz. 0,3 Prozent der Landbesitzer kontrollierten 45 Prozent der gesamten bewirtschafteten Fläche; 97,5 Prozent der Landbesitzer hatten nur kleine Parzellen unter fünf Hektar. Die Bauern gerieten durch das Pachtsystem und Ernteausfälle häufig unter finanziellen Druck und mussten Kredite aufnehmen. Dies führte zu einem Aufblühen von Kleinkreditgebern unter der chinesischen Minderheit im Land und den aus der französischen Kolonie in Indien gekommenen Einwanderern. Die Ungleichheit der Besitzverhältnisse wurde durch ein hohes Bevölkerungswachstum der Landbevölkerung weiter verschärft.
Während des Ersten Weltkriegs setzte die französische Kolonialregierung den bereits politisch kaltgestellten Kaiser Duy Tân endgültig ab, nachdem dieser unter für Europa bestimmten Kolonialsoldaten zur Meuterei aufgerufen hatte. In der Zwischenkriegszeit kam es zu einer Ausweitung der publizistischen und politischen Tätigkeit der einheimischen Bildungselite, die aus einigen tausend Menschen bestand. Die neue Generation setzte sich vom traditionellen konfuzianischen Credo ihrer Vorväter ab und propagierte stattdessen eine radikale kulturelle und soziale Modernisierung des Landes. Die oppositionelle Bewegung fand innerhalb der Bevölkerung breite Zustimmung und konnte Mitte der 1920er Jahre bei Demonstrationen rund 25.000 Menschen mobilisieren. Zur selben Zeit bildete sich aus einer kleinen, oft im Exil agierenden protokommunistischen Bewegung die Kommunistische Partei Indochinas (KPI). Die etwa fünfzig führenden Vertreter der KPI wurden in Moskau an der Fernosthochschule ausgebildet. Anfang der 1930er Jahre gelang es der KPI während der Aufstände von Nghe-Tinh, mehrere tausend militante Anhänger innerhalb der Landbevölkerung zu mobilisieren. Neben der kommunistischen Unabhängigkeitsbewegung entwickelten sich auch mehrere nationalistische Organisationen. Die prominenteste von ihnen, die VNQDD, konnte sich eine breite Unterstützerbasis in Tonkin aufbauen und versuchte 1930, durch die kurzlebige Meuterei zweier Kompanien Kolonial-Infanterie in Yen Bai einen bewaffneten Widerstand gegen die Kolonialmacht zu beginnen. Infolge der Geschehnisse kam es zu mehreren Bombenattentaten auf französische Ziele in den Städten von Indochina. Durch die politischen und wirtschaftlichen Spannungen im Land bildeten sich zudem die an den Buddhismus angelehnten Sekten der Cao Dai (1926) und der Hoa Hao (1939). Ihren Einfluss im Machtgefüge der Kolonie erhielten diese Gruppierungen durch ihre überregionale Struktur und durch eigene Milizen.
Machtverlust des Kolonialstaats als Folge des Zweiten Weltkriegs
Während des Zweiten Weltkriegs wurde Frankreich als Kolonialmacht durch die Niederlage von 1940 geschwächt. Die Kolonie geriet mehr und mehr in die Einflusssphäre Japans, was die Kontrolle der Kolonialmacht weiter schwächte. Im Hinterland Tonkins konstituierte sich die Organisation der Viet Minh, die als Guerillaorganisation unter Kontrolle der Kommunistischen Partei Indochinas die Unabhängigkeit anstrebte. Diese setzte sich in Nordvietnam an der Grenze zu China in schwer zugänglichen Gebirgsregionen fest, die von Minderheiten mit geringer Bindung an den Kolonialstaat bewohnt wurden. Die Offiziere Võ Nguyên Giáp und Chu Văn Tấn formulierten den Plan, mit einer an der Peripherie aufgebauten Guerillaarmee die Macht in der Kolonie zu übernehmen. Im Rahmen der Hungersnot in Vietnam 1945 erwarben sich die Viet Minh die Loyalität von Millionen Bauern durch Requirierung und Verteilung von Reis.
Im März 1945 übernahmen japanische Truppen die direkte Kontrolle in der ehemaligen Kolonie. Nach der Kapitulation Japans gelang es den Viet Minh, in der Augustrevolution die Städte Hanoi, Saigon und Huế unter ihre Kontrolle zu bringen. Am Tag der japanischen Kapitulation, dem 2. September 1945, rief Ho Chi Minh die Unabhängigkeit der Demokratischen Republik Vietnam aus. Die Führung des japanischen Marionettenstaats in Indochina um Kaiser Bảo Đại leistete keinen Widerstand. Die bestimmende Herausforderung für die DRV bestand in der Sicherung der Ernährungslage der Bevölkerung. In der ersten Jahreshälfte 1946 war die Mehrheit der Bevölkerung in Tonkin auf eine Mahlzeit pro Tag beschränkt. Die kommunistische Regierung konnte durch Rationierung und Kommandowirtschaft sowie den zusätzlichen Anbau von Mais, Yams und Hülsenfrüchten ab der Mitte des Jahres eine Besserung der Ernährungslage erzielen.
Wiedererstarken der Kolonialmacht nach dem Zweiten Weltkrieg
Die politische Führung des Freien Frankreich hatte stets die Wiederherstellung der Souveränität über all seine Kolonialgebiete beansprucht. Anlässlich der japanischen Machtübernahme hatte de Gaulle nochmals den territorialen Status quo der Kolonie sowie die französische Oberhoheit über deren Verteidigungs- und Außenpolitik bekräftigt. Im August 1945 landeten britische Truppen unter dem Kommando von General Douglas Gracey in Saigon. Die ersten Truppen des französischen Expeditionskorps CEFEO erreichten Cochinchina im September 1945. Bis zum November konnten die Kolonialtruppen die Kontrolle über die neuralgischen Punkte in Cochinchina wiederherstellen. Kurz nach der Machtübernahme der Alliierten in Saigon kam es am 23. September zu Gewaltakten ehemals von den Japanern internierter Franzosen an der vietnamesischen Zivilbevölkerung der Stadt. Zwei Nächte später wurden im Massaker in der Cité Heraud mehrere Hundert Europäer und Mischlinge als Geiseln genommen. Rund vierzig wurden getötet, die Geiseln wurden Opfer von Gewaltakten und sexuellen Übergriffen. Internationale Untersuchungen machten das kriminelle Syndikat der Bình Xuyên für die Übergriffe auf die Europäer verantwortlich. Ebenso eskalierten während der französischen Militäroperationen in Teilen des Deltas die bestehenden ethnischen Spannungen zwischen Khmer Krom und Vietnamesen in wechselseitigen Massakern und Plünderungen. Die Spannungen wurden dadurch verstärkt, dass die Franzosen in Ermangelung einer ausreichenden Zahl an vietnamesischen Kollaborateuren Angehörige der Khmer Krom als Hilfstruppen bewaffneten.
Im März 1946 übergaben die Briten formell das Kommando an den Befehlshaber des Expeditionskorps, Generalmajor Leclerc. Der Nordteil des Landes wurde gemäß der Potsdamer Konferenz nördlich des 16. Breitengrads von Truppen der Republik China besetzt. Diese ließen die Viet Minh gewähren. Ein Abkommen, bei dem Frankreich gegenüber der Republik China alle kolonialen Rechte in China aufgab, regelte den Abzug der Chinesen. Im März 1946 gelang Frankreich ein Kompromiss mit Ho Chi Minh, indem es zunächst die Unabhängigkeit Vietnams im Rahmen der Union française akzeptierte. Dieser Kompromiss war durch die chinesische Weigerung zustande gekommen, ohne ein Abkommen französische Truppen in Tonkin landen zu lassen. Der Kompromiss zwischen Frankreich und der kommunistischen Führung in Hanoi erlaubte die Stationierung von zwei Divisionen der Franzosen in Tonkin. Im Oktober 1946 versuchten die französischen Truppen, entgegen dem vereinbarten Kompromiss in der Hafenstadt Haiphong die französische Zollhoheit wiederherzustellen. Als sie auf Widerstand stießen, reagierte das französische Militär mit einem Bombardement der Stadt, das zu mehreren tausend Opfern der vietnamesischen Zivilbevölkerung führte. Im Dezember 1946 entschloss sich die französische Seite, die Viet Minh militärisch zu bekämpfen und den alten Status der Kolonie wiederherzustellen. Die eigentlichen Kämpfe begannen am 19. Dezember mit der Sprengung des Elektrizitätswerks und Angriffen auf Hanoi durch die Truppen des Oberbefehlshabers des vietnamesischen Militärs, General Giap. Dies wurde in der zeitgenössischen französischen Presse als Kriegsbeginn dargestellt. Die vietnamesische Seite sah die Bombardierung Haiphongs am 20. November 1946 als eigentlichen Kriegsbeginn an.
Militärische Kräfteverhältnisse
Der militärische Apparat der Viet Minh wurde 1944 in den Rückzugsräumen innerhalb Vietnams gegründet. Der wichtigste Basisraum war dabei der Viet Bac im Norden Tonkins nahe der Grenze zu China. Weitere Basengebiete befanden sich im südlichen Tonkin und in Annam südlich von Hue. In Cochinchina verfügten die Viet Minh nur über eine kleine Operationsbasis im Süden des Mekongdeltas. Die Führung der Viet Minh propagierte auf der Basis der Doktrinen Mao Zedongs einen dreiphasigen Kriegsverlauf mit dem Ziel, die Unabhängigkeit Vietnams durch einen militärischen Sieg zu erringen. In der ersten Phase sollten die Streitkräfte der Viet Minh vorwiegend defensiv agieren und nur durch Guerillaaktionen ihr Einflussgebiet erweitern. Nachdem genug reguläre Truppen aufgestellt und die notwendige Logistik für diese geschaffen waren, sollte der Krieg in eine Phase der „Parität“ übergehen, in der die Viet Minh in lokal begrenzten konventionellen Operationen das von ihr kontrollierte Gebiet weiter ausdehnen sollten. In der finalen Phase sollten überlegen agierende Viet-Minh-Kräfte in überregional mobilen Operationen der Kolonialmacht die militärische Kontrolle über das Land entreißen.
Der Oberkommandierende Võ Nguyên Giáp fasste die Strategie in einer Publikation nach dem Krieg folgendermaßen zusammen:
Die Organisation der Viet Minh wurde analog dieser Doktrin gebildet und umfasste drei getrennte Truppenorganisationen. Die Guerillakräfte waren vorwiegend Teilzeitsoldaten, die in der Nähe ihres Wohn- und Arbeitsortes operierten. Die Gruppen rekrutierten sich aus einem oder mehreren Dörfern und führten Guerillaaktionen, Sabotageaktionen und Nachrichtenaufgaben durch. Die nächste Stufe bildeten regional organisierte, konventionell ausgerüstete Vollzeitsoldaten, die innerhalb eines Territoriums in Bataillons- bis Regimentsstärke eng mit den Guerillas zusammenarbeiteten. Die Spitze bildeten als leichte Infanterie ausgerüstete reguläre Kräfte, welche dem Generalstab unterstellt waren und in ganz Indochina zum Einsatz kommen sollten. Die Viet Minh begannen im September 1945 mit rund 31.000 regulären Soldaten. Zur Jahreswende 1948/49 waren die regulären Truppen auf 75.000 angewachsen, die Regional- und Guerillatruppen stellten 175.000 Mann. Ende 1954 erreichten die Viet Minh 161.000 reguläre Soldaten, 68.000 Regionaltruppen und 110.000 Guerillas.
Die Kräfte der Viet Minh wurden durch ein ausgeklügeltes Logistiksystem unterstützt, welches Nahrungsmittel- und Materialversorgung zumeist durch Träger sicherstellte. Die Stärke des zivilen Logistikpersonals variierte während des Krieges von rund 30.000 bis 300.000 Personen.
Dabei diente als Finanzierungsquelle die Abschöpfung der Reisernte und der Arbeitskraft der politisch vom Viet Minh kontrollierten Gebiete. Die Versorgung der rund 300.000 Soldaten der Viet Minh erforderte die Heranbringung und Verteilung von rund 110.000 Tonnen Nahrungsmitteln, vorwiegend Reis. Um den Bedarf im Kampfgebiet des Nordens zu decken, führten die Viet Minh in größerem Umfang Reis aus dem überwiegend pro-französischen Südteil des Landes ein. Die Viet Minh konnten sich durch Tarnung, enge Vernetzung mit der Bevölkerung und hohe Mobilität ihrer Einheiten und Lager meist dem Zugriff der Kolonialstreitkräfte entziehen.
Im Sommer 1945 zog sich ein kommunistisches chinesisches Regiment aufgrund militärischen Drucks der Nationalisten im Chinesischen Bürgerkrieg nach Tonkin zurück. Sie wurden dort von den Viet Minh unterstützt und versteckt. Die Viet Minh erhielten im Gegenzug Ausbildungshilfe von den chinesischen Exilanten. Dabei wurden bis 1947 rund 830 Soldaten und Offiziere durch chinesische Kader ausgebildet. Nach dem Sieg der chinesischen Kommunisten im Bürgerkrieg erhielten die Viet Minh ab 1949 direkte Lieferungen mit Militär- und Zivilmaterial aus der Volksrepublik China. Schätzungen gehen von mehr als hunderttausend Infanteriewaffen und mehr als viertausend Geschützen aus. Dabei waren mehr als neun Zehntel des Materials US-amerikanischer Herstellung und im Bürgerkrieg oder im Koreakrieg erbeutet worden.
Um eine reibungslose Lieferung der Waffen- und Versorgungsgüter zu gewährleisten, bauten auf der chinesischen Seite der Grenze rund 100.000 Zwangsarbeiter vier Fernstraßen in Richtung Tonkin. Rund 15.000 bis 20.000 Rekruten der Viet Minh wurden ab 1950 pro Quartal in den chinesischen Provinzen Yunnan und Guangxi mit Hilfe des chinesischen Militärs ausgebildet. Ebenso entsandte die Volksrepublik im August eine Militärmission aus mehreren hundert meist hohen Offizieren unter dem Kommando von General Wei Guoqing nach Nordvietnam. Diese standen der Viet Minh auf Divisions- und Oberkommandoebene als Militärberater zur Seite. Die Sowjetunion hielt sich mit der Unterstützung der Viet Minh zurück. In geringem Umfang erfolgten Hilfslieferungen aus der DDR und aus der Tschechoslowakei.
Die französischen Bodentruppen in Indochina bestanden im Dezember 1945 fast ausschließlich aus dem 47.000 Soldaten starken Expeditionskorps CEFEO. Im Dezember 1946 war dieses auf rund 89.000 Soldaten angewachsen und wurde von 14.000 einheimischen Soldaten unterstützt. Ende 1950 kämpften 87.000 Soldaten des Expeditionskorps und 85.000 indigene Truppen gegen die Viet Minh. Im Juli 1954 umfassten die französischen Truppen 313.000 einheimische Soldaten und 183.000 Mitglieder des Expeditionskorps.
Keine französische Regierung zog während des Krieges den mehrmals von verschiedenen Militärs geforderten Einsatz von Wehrpflichtigen in Indochina jemals ernsthaft in Betracht. Infolgedessen diente die Fremdenlegion als unverzichtbare Reserve zur Führung des Indochinakriegs, die zumeist die kampfkräftigsten Verbände des Expeditionskorps stellte. Während des Krieges dienten insgesamt 78.833 Legionäre in Indochina. Um den Personalbedarf des CEFEO zu decken, wurden massiv Kolonialtruppen aus Nordafrika zum Dienst in Indochina abgestellt. Ab 1948 versuchte das französische Militär durch Anwerbung von Einheimischen unter dem Schlagwort des jaunissement (deutsch „Gelbfärbung“) ihren Personalbedarf aus der Kolonie selbst zu decken. Zu jeder Zeit waren rund 60 % der eingesetzten Kombattanten keine französischen Staatsangehörigen. Im selben Jahr ermöglichte die französische Regierung den aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu Verbänden des Regimes von Vichy oder der Waffen-SS Verurteilten Straferlass im Gegenzug zum Einsatz im Fernen Osten. Ab 1948 meldeten sich rund 4000 inhaftierte Franzosen.
Um die Personalstärke der Fremdenlegion von knapp 20.000 Soldaten, die im CEFEO dienten, zu halten, griff die Legion auf vorwiegend deutsche Freiwillige zurück. Deren Anteil an den eingesetzten Legionären stieg von rund 35 % in den 1940er Jahren auf rund 55 % im Jahre 1954 an. In vielen in Indochina stehenden Einheiten der Legion wurde Deutsch zu einer Lingua franca der Legionäre. In den Jahren 1945 und 1946 schlossen sich bis zu 5000 deutsche Kriegsgefangene der Legion an, die damals knapp ein Drittel der Rekruten der Legion stellten. Offiziellen Befehlen nach sollte Angehörigen der Waffen-SS oder Kriegsverbrechern der Dienst verwehrt bleiben, was jedoch häufig von den Rekrutierungsstellen nicht beachtet wurde. Die Rekrutierung deutscher Gefangener war sowohl in Deutschland als auch in Frankreich kontrovers und führte in Frankreich zu öffentlichen Unmutsäußerungen gegenüber der Truppe. Das Ausmaß der Gefangenenrekrutierung wurde jedoch in beiden Öffentlichkeiten überschätzt. Pierre Thoumelin wirft sogar die Frage auf, ob deutsche Kriegsverbrecher aus den Reihen von ehemaligen Elitetruppen (z. B. Fallschirmjäger) gezielt rekrutiert wurden, um ihre Erfahrungen aus dem Kampf gegen die Partisanen auf dem Balkan zu nutzen.
In der ersten Phase des Krieges herrschte bei den französischen Kräften ein relativer Mangel an Material und modernen Fahr- und Flugzeugen. Vor dem Hintergrund des sich zuspitzenden Kalten Krieges schwenkte die US-Regierung ab 1949 nach anfänglicher Zurückhaltung zu direkter materieller Unterstützung der französischen Kriegsführung um. Dies führte dazu, dass sowohl die französischen Kräfte in Indochina wie auch die 1949 gebildeten Nationalarmeen der von Frankreich abhängigen Staaten Vietnam, Laos und Kambodscha vollständig mit modernem US-Material ausgerüstet wurden. Von 1950 bis 1954 lieferten die USA rund 30.000 Kraftfahrzeuge, rund 360.000 Schusswaffen, 1880 Panzer und gepanzerte Fahrzeuge sowie rund 5000 Artilleriegeschütze. Die französischen Kräfte erhielten ebenso 305 Flugzeuge und 106 Schiffe. Unter diesen befanden sich zwei Leichte Flugzeugträger. Im Verlauf des Krieges deckten US-amerikanische Materiallieferungen rund 70 % des Bedarfs der französischen Streitkräfte. Unter anderem wurden mehr als 500 Millionen Schuss für Infanteriewaffen und mindestens zehn Millionen für Geschütze ausgeliefert. Das französische Logistiksystem basierte auf während der Kolonialzeit entstandenen fixen Depots zumeist in den Bevölkerungszentren. Die Hauptlast der Transporte wurde von Lastwagen getragen. Daneben wurden auch Transporte über Flussschifffahrt und Eisenbahn durchgeführt. Transporte durch Träger und Packtiere nahmen eine nebensächliche Rolle ein. Auf allen Ebenen waren die Nachschubtransporte der Franzosen Guerillaangriffen und Sabotage der Viet Minh ausgesetzt. Dies führte zu einer Verlagerung hin zum Lufttransport via Flugplatz oder Fallschirmabwurf. In begrenztem Umfang wurden auch Hubschrauber eingesetzt. Dabei entwickelten sich zwei getrennte Logistiksysteme. Neben dem statischen System, mit dem die Truppen an den Bevölkerungszentren versorgt wurden, war ein schnell reagierendes System für die Unterstützung von Kampftruppen in schwierigem und abgelegenem Gelände notwendig.
Beide Seiten hatten mit hohen Desertionszahlen zu kämpfen. Für die Viet Minh liegen weder von französischer noch von vietnamesischer Seite vollständige Zahlen vor, Schätzungen belaufen sich auf mehrere Zehntausend. Auf französischer Seite kam es zu rund 16.000 Desertionen unter den Truppen der CEFEO, vorwiegend in aus Einheimischen zusammengesetzten Kolonialeinheiten. Grund für die Desertionen waren meist Verstöße gegen die Disziplin oder andere Konflikte mit dem Gesetz. Politische Motive waren in der Minderheit. Die formal unabhängigen Einheiten der Armeen der mit Frankreich assoziierten Staaten hatten eine höhere Desertionsrate, hier entfernten sich rund 38.000 Mann von der Truppe. Mehr als vier Fünftel der Desertionen gab es während der letzten beiden Kriegsjahre 1953 bis 1954. Einige wenige hundert Soldaten liefen zu den Viet Minh über.
Kriegsverlauf
Kolonialkrieg
Die französischen Truppen benötigten bis Februar 1947, um die Viet Minh aus Hanoi, Haiphong und Hue zu verdrängen. Bis dahin hatten sie rund 1800 Tote zu verzeichnen, die Verluste der Viet Minh sind nicht bekannt. In Hanoi kam es zu umfangreichen Schäden an Gebäuden und Zivilbevölkerung. Die vietnamesische Führung und ihre Kader wichen auf ihre Basen in den unzugänglichen Gebieten des Viet Bac aus. Daraus resultierte ein Guerillakrieg, bei dem die französischen Kolonialtruppen die Städte kontrollierten, während sie im ländlichen Raum ständig gefährdet waren. Dabei waren die französischen Einheiten an die wenigen Straßen gebunden, während die Viet Minh zwar nicht offen auftreten konnten, aber die Bevölkerung für Aufklärung und Nachschub einsetzten. Die Viet Minh konnten in weiten Teilen des Landes eine parallele, verdeckt arbeitende Staatsmacht erhalten, welche Abgaben einzog, Propaganda machte, Alphabetisierungsprogramme durchführte und die Bevölkerung militärisch organisierte. Der Einfluss reichte so weit, dass Frauen die traditionelle Mutterrolle für junge Soldaten im Sinne einer Adoption für die Dauer des Krieges übernahmen und oft ganze Dorfgemeinschaften eingebunden waren. Ebenso gingen die Viet Minh mittels Terrorakten gegen als Kollaborateure wahrgenommene Einheimische vor. Die Kolonialbehörden setzten sämtliche ihnen verfügbaren nachrichtendienstlichen Mittel inklusive Folter ein, um in die Netzwerke der Viet Minh einzudringen, konnten diese jedoch nicht signifikant schwächen. Die französische Militärführung erkannte, dass die Guerilla nicht unter Kontrolle gebracht war, sondern dass nur ein instabiles Patt zwischen beiden Kräften bestand. So forderte Generalmajor Leclerc nach einer Inspektionstour Anfang 1947 die Aufstockung von rund 100.000 auf rund 500.000 Soldaten. Der französische Druck reichte, um die Viet Minh daran zu hindern, größere und dicht bevölkerte Gebiete als Befreite Zonen direkt zu beherrschen, und zwang die Guerilla, ständig in Bewegung zu bleiben. Eine Zerschlagung der Guerilla war den französischen Truppen jedoch nicht möglich. Der Versuch, die Führung und die logistische Basis durch einen Angriff mit Fallschirmtruppen im Viet Bac auszuschalten, ging im November 1947 mit dem erfolgreichen Ausweichen der Viet Minh zu Ende. Die Viet Minh steigerten innerhalb Tonkins ihre Guerillaaktivitäten insbesondere entlang der spärlichen Verkehrswege, so dass die französischen Truppen ab 1949 Nachschubkonvois nur noch als bewaffnete Gefechtsoperationen mit Luftunterstützung durchführten. Die Viet Minh stellten im Januar 1947 mit der 308. Infanteriedivision ihren ersten in Divisionsstärke operierenden Verband auf. Die Guerilla im Süden kam während des Jahres immer mehr in Konflikt mit den Sekten der Cao Dai und Hoa Hao. Diese wandten sich nach der Ermordung des Hoa-Hao-Führers Huỳnh Phú Sổ durch die Viet Minh den Franzosen zu.
Die Kolonialmacht versuchte 1949 durch die formale Unabhängigkeit der Staaten Vietnam, Laos und Kambodscha in enger Assoziation mit Frankreich der antikolonialen Bewegung eine nicht-kommunistische Alternative zu bieten. Dabei waren die indochinesischen Staaten innerhalb der Union française formal unabhängig, jedoch blieben französische koloniale Institutionen bestehen, und Frankreich sicherte sich die Kontrolle über Militär, Wirtschaft und Außenpolitik. Der Staat Vietnam war auf die Person des Kaisers Bảo Đại zugeschnitten, der als Symbol der Kollaboration mit der Kolonialmacht galt. Dabei konnte Bao Dai jedoch die Einheit des vietnamesischen Staats durch die Auflösung der unabhängigen Republik Cochinchina als nationalistisches Ziel gegenüber den Franzosen durchsetzen. Der Ostblock unter der Führung der Sowjetunion verwahrte sich gegen eine diplomatische Anerkennung der assoziierten Staaten und verhinderte per Veto deren Vollmitgliedschaft in den Vereinten Nationen. Der von Bao Dai ernannte Premierminister Nguyen Phan Long versuchte durch eine konziliatorische Politik gegenüber den Viet Minh die Basis des Regimes zu erweitern. Der Führer des Untergrunds der Viet Minh im Süden, Nguyễn Bình, setzte der Politik der Regierung in Saigon eine politische und militärische Guerillabewegung im Winter 1949/50 entgegen. Dabei kam es zu Angriffen der Guerilla auf Provinzhauptstädte und zu Protesten und zivilem Ungehorsam in Saigon. Nguyen Phan Long wurde durch den ehemaligen Polizeioffizier Nguyen Phan Tam ersetzt, welcher unter Führung der französischen Militärs die Guerilla im Süden unterdrückte. Hierbei verloren die Viet Minh fast ihren gesamten Apparat im Süden und durch von ihnen verursachte zivile Opfer an Zulauf im Süden. Durch die Bildung von Nationalarmeen der drei Klientelstaaten unter dem Kommando der Franzosen erhoffte die französische Führung zusätzliche Soldaten gegen die Viet Minh zu gewinnen. Damit erfüllten sie auch eine Kernforderung der Vereinigten Staaten, die ihre Militärhilfe für die französische Seite deutlich aufstockte.
Wendung zum Stellvertreterkrieg
Der Sieg der Volksrepublik China im Chinesischen Bürgerkrieg erwies sich für die Viet Minh als Wendepunkt des Krieges, da sie von nun an Militärhilfe von ihrem nördlichen Nachbarn erhielten. Im Januar 1950 erfolgte die diplomatische Anerkennung sowohl durch die VR China als auch durch die Sowjetunion. Die Militärführung der Viet Minh um Vo Nguyen Giap versuchte, die Militärhilfe vor allem in eine Regularisierung ihrer Einheiten zu übersetzen. So wurden noch im selben Jahr vier regulär operierende Divisionen der Viet Minh aufgestellt, denen 1951 die Aufstellung einer weiteren folgte. 1950 rief die Viet-Minh-Führung eine Offensive im gebirgigen Gelände an der Nordwestgrenze aus und griff in Regimentsstärke operierend französische Posten und Fahrzeugkolonnen an. Die Gefechte kulminierten in der Schlacht an der Route Coloniale 4 und stellten für die französische Führung und Öffentlichkeit einen Schock dar. Aufgrund der Verluste von rund 6000 Toten, Gefangenen oder Vermissten gab die französische Führung die Grenzregion auf, um ihre Kräfte auf das bevölkerungsreiche Delta zu konzentrieren.
Ein in seine Heimat zurückgekehrter Fremdenlegionär schilderte 1951 die Regularisierung der Viet-Minh-Kräfte folgendermaßen:
Die politische und militärische Führung der Viet Minh gelangte Anfang 1951 zu der Ansicht, dass die Voraussetzungen zum Übergang in die dritte und letzte Kriegsphase gegeben seien. Dazu sollten die regulären Divisionen in konventionellen Operationen das Delta um Hanoi erobern. Die Losung, bis zum Tet-Fest 1951 Hanoi wiedererobert zu haben, wurde öffentlich ausgegeben. Die französischen Streitkräfte konnten die Versuche der Viet Minh, in das Delta einzubrechen, jedoch bei Vinh Yen, Mao Khe und am Song Day zurückschlagen. Dabei sah der Oberbefehlshaber des CEFEO Jean de Lattre de Tassigny die Materiallieferungen der USA als entscheidend dafür an, die französische Kampfkraft – insbesondere der Luftwaffe – zu erhalten. Die Viet Minh mussten aufgrund der hohen Verluste die Offensiven einstellen und wandten sich nun wieder der Doktrin eines Abnutzungskrieges mit Guerillakräften zu. Die Niederlagen von 1951 führten zu einer Führungskrise innerhalb der Viet Minh. Die Verantwortung für das Scheitern des Übergangs in die letzte Kriegsphase wurde dem Führer der Viet Minh im Süden, Nguyễn Bình, angelastet, der die Offensive im Norden nicht ausreichend durch Guerillaaktionen unterstützt habe. Nguyễn Bình wurde auf der Rückreise aus dem Viet Bac nach Cochinchina von einer französischen Patrouille erschossen. Die Parteiführung kam 1952 zu dem Schluss, dass die Strategie, Aufstände in den Städten zu organisieren, am Repressionsapparat des Kolonialstaats und an der mangelnden Mobilisierung gescheitert sei. Als Reaktion darauf beschleunigte die Partei ihr Vorhaben einer Landreform in den von ihr kontrollierten Gebieten, um die bäuerliche Bevölkerung stärker zu mobilisieren.
Die Viet Minh wandten sich dem Nordwesten Indochinas zu mit dem Ziel, ihre Infrastruktur im Nordwesten Tonkins und in Laos auszubauen. Die Viet Minh versuchten damit, die französischen Truppen in für sie ungünstiges Terrain zu locken. Sie konnten Ende 1952 Nghia Lo im zentralen Hochland besetzen und ein Fallschirmbataillon fast vollständig aufreiben. Als Antwort auf die Niederlage veranlasste der französische Oberbefehlshaber Raoul Salan die Opération Lorraine. Diese sollte Rückzugsgebiete der Viet Minh in Tonkin aufrollen, blieb aber weitgehend erfolglos. Bei der Schlacht um Nà Sản gelang es jedoch Salan, einen isolierten, luftversorgten Stützpunkt gegen eine Übermacht der Viet Minh erfolgreich zu verteidigen. Damit war ein erneuter Versuch der Viet Minh, die Kolonialtruppen in einer konventionellen Feldschlacht zu schlagen, gescheitert. Allerdings stieg die Fähigkeit der Viet Minh, gestützt auf ein von der Arbeitskraft der lokalen Bevölkerung abhängiges Logistiksystem, konventionell operierende Verbände ins Gefecht zu führen. Im Frühjahr 1953 überraschten die Viet Minh die französische Führung und Öffentlichkeit durch eine Invasion in Laos. Die Hauptstadt Luang Prabang konnte nur mit Mühe von den Kolonialtruppen gehalten werden.
Im Mai 1953 ernannte die Regierung unter Premierminister René Mayer Henri Navarre zum neuen Oberbefehlshaber der CEFEO. In internen Debatten hatte die französische politische Führung keinen Glauben mehr an einen militärischen Sieg im Indochinakonflikt, jedoch versprachen sich viele durch eine stärkere Einmischung der USA eine politische Wende. So äußerte sich René Mayer im privaten Kreis folgendermaßen:
Navarre erhielt den Auftrag, eine für eine Verhandlungslösung des Krieges günstige militärische Ausgangsposition zu schaffen. Der sogenannte Navarre-Plan sah vor, zunächst bis 1954 größere Offensiven zu vermeiden, um dann nach einer Umgruppierung und Vorgehen gegen die Guerillainfrastruktur im Süden den Viet Minh ab 1954 eine militärisch entscheidende Niederlage beizubringen. Ebenso unterstützte Navarre den Aufbau einer antikommunistischen Guerilla innerhalb des Viet-Minh-Gebiets durch die GCMA, eine formell dem Geheimdienst unterstehende Militäreinheit. Diese konnte unter Führung von Roger Trinquier mehrere tausend Partisanen aus dem Bergvolk der Hmong rekrutieren. Die Einheit arbeitete eng mit Opiumproduzenten innerhalb dieses Bevölkerungsteils zusammen und übernahm den Transport und Weiterverkauf an das kriminelle Syndikat der Bình Xuyên in Saigon.
In den USA plädierte Omar Bradley für eine Unterstützung des Navarre-Plans, während sein Nachfolger im Amt des Vorsitzenden der Joint Chiefs of Staff, Admiral Arthur W. Radford, aufgrund der bereits früher vorgetragenen Einwände von US-Militärs Ende August 1953 dagegen votierte. Diese Meinung setzte sich auch im US-Verteidigungsministerium durch, obwohl John Foster Dulles den Plan unterstützte.
Die Viet Minh setzten inzwischen in den von ihr kontrollierten Gebieten die Landreform mit der Verteilung von Boden an arme Bauern fort. Dadurch konnten sie ihre Unterstützung innerhalb der Landbevölkerung weiter ausbauen. Ende 1953 waren die Viet Minh durch nachrichtendienstliche Mittel über die französischen Planungen vollkommen im Bilde. Als Reaktion auf die französischen Planungen formulierte die militärische und politische Führung der Viet Minh eigene Ziele. Die Viet Minh wollten einerseits durch konstante Guerillaaktivität möglichst viele französische Truppen binden. Andererseits sollten die konventionellen Operationen in den Nordwesten Richtung Laos verlagert werden, da dort die Franzosen logistisch im Nachteil waren. Wiederum als Reaktion auf diese Verlagerung ließ Navarre einen grenznahen Stützpunkt besetzen, der aus der Luft versorgt wurde. Dies führte beide Seiten schließlich dazu, dort eine konventionelle Feldschlacht zu schlagen. Für die französische Seite entwickelte sich die Schlacht um Điện Biên Phủ zu einer epocheschaffenden Niederlage. Die Viet Minh schafften es ab dem 13. März 1954 entgegen der Erwartungen der französischen Führung, im unwegsamen Terrain des Grenzgebiets konventionell kämpfende Einheiten mit Artillerie einzusetzen, welche den luftversorgten französischen Stützpunkt in mehrwöchigen Gefechten bis zum 8. Mai 1954 eroberten. Die Niederlage in Dien Bien Phu leitete in der öffentlichen französischen Meinung eine Trendwende ein. Der vormals nur gering wahrgenommene Kolonialkrieg auf einem anderen Kontinent rückte dadurch schlagartig in den Mittelpunkt. Hatte sich zu Beginn des Krieges noch eine geringe Mehrheit von Befragten in Frankreich für dessen Fortführung ausgesprochen, so waren nach der Niederlage nur noch 7 % für eine Fortführung des Krieges, 60 % votierten für eine Verhandlungslösung.
Indochinakonferenz 1954
Ab dem 26. April 1954 tagte die Indochina-Konferenz in Genf. An der Konferenz nahmen die beiden Kriegsparteien Frankreich und die Demokratische Republik Vietnam sowie die USA, China, Großbritannien, die Sowjetunion, Vietnam, Laos und Kambodscha teil. Die französische Delegation wurde zu Beginn von Georges Bidault geleitet, der ein Verbleiben der französischen Kolonialmacht am Verhandlungstisch sichern wollte. Infolgedessen unterbreitete er den Vorschlag eines Waffenstillstands entlang der Grenzen der tatsächlichen militärischen Kontrolle. Somit wären die Bevölkerungszentren der Kolonie weiterhin in französischer Hand verblieben. Die Viet Minh um ihren Verhandlungsführer Pham Van Dong forderten die Unabhängigkeit der drei Staaten in Indochina und freie, geheime Wahlen binnen sechs Monaten. Die Niederlage von Dien Bien Phu brachte jedoch die französische Regierung um Laniel zu Fall. Als Nachfolger wurde Pierre Mendès France gewählt, der bereits jahrelang ein erklärter Gegner des Krieges war. Mendès France setzte sich selbst öffentlich das Ziel, den Krieg diplomatisch zu beenden oder zurückzutreten. Unter der Vermittlung des chinesischen Delegationsführers Zhou Enlai vereinbarten die Viet Minh und Frankreich die provisorische Teilung Vietnams entlang des 17. Breitengrades; die freien Wahlen sollten spätestens zwei Jahre nach dem Kriegsende durchgeführt werden. Dies wurde von US-amerikanischer Seite als essentiell angesehen, um in Südvietnam eine antikommunistische Regierung aufzubauen. Die Führung der Viet Minh rückte unter dem Druck ihrer chinesischen und sowjetischen Verbündeten vom Ziel der Unabhängigkeit eines einzigen vietnamesischen Staates unter ihrer Führung ab. Die kommunistischen Staaten befürchteten ein Eingreifen der USA in den Konflikt, sollte es zu keiner Verhandlungslösung kommen. Die Sowjetunion sah Zugeständnisse an die Regierung Mendès France als Mittel, Frankreich aus der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft herauszuhalten, und räumte der Situation in Europa gegenüber Asien eine höhere Priorität ein. Darüber hinaus sicherten die Viet Minh ihre Nichtintervention in Laos und Kambodscha zu, wenn im Gegenzug keine US-amerikanischen Basen in diesen Ländern errichtet würden. Die Vereinigten Staaten zogen tatsächlich ein Eingreifen in den Konflikt in Betracht (die sogenannte Operation Vulture, die auch den Einsatz taktischer Atomwaffen einschließen sollte). Der kurz nach Beendigung des Koreakriegs kriegsmüde US-Kongress stellte jedoch der eigenen Regierung die Bedingung, dass dies nur als Teil einer multinationalen Koalition möglich sei. Dies scheiterte an der mangelnden Unterstützung Großbritanniens und der Commonwealthstaaten, die eine Intervention an der Seite Frankreichs für militärisch aussichtslos hielten.
Bezüglich Laos und Kambodscha einigten sich die Konfliktparteien, die bereits bestehenden profranzösischen und monarchistischen Regierungen als die einzig legitimen Volksvertretungen anzuerkennen. Der kommunistischen Widerstandsbewegung Pathet Lao wurden jedoch zwei nördliche Provinzen als Umgruppierungszonen zugestanden in der Hoffnung, dass die Regierung mit den Kommunisten eine Verhandlungslösung ausarbeiten werde. Die zahlenmäßig sehr kleine kommunistische Guerillagruppe der Khmer Issarak, die in Kambodscha operierte, erhielt auf der Konferenz keine Anerkennung.
Folgen
Kriegsopfer, Flüchtlinge und Kriegskosten
Gesamtschätzungen gehen von rund einer halben Million Todesopfern des Konfliktes aus. Auf Seiten Frankreichs starben insgesamt rund 130.000 Kombattanten. Davon waren 59.745 Angehörige der französischen Armee, 20.700 von ihnen waren französische Staatsangehörige aus dem Mutterland. Die Todesraten der französischen Streitkräfte waren bei nordafrikanischen Kolonialtruppen mit 9,2 % am höchsten. Die Fremdenlegion folgte mit 8,2 %. Das höchste Risiko, im Krieg zu sterben, betraf jedoch die regulären und irregulären Hilfsverbände, die aus Vietnamesen gebildet wurden. Hier starb rund ein Viertel der eingesetzten Soldaten, insgesamt rund 71.000 Todesopfer. Neben den Gefallenen wurden rund 88.000 Menschen verwundet, die auf französischer Seite kämpften. Die Viet Minh zählten zwischen 1946 und 1954 rund 200.000 Todesopfer in den eigenen Reihen. Die Mehrzahl der zivilen Todesopfer fand sich in Tonkin. Die Einschätzung der Zahl der getöteten Zivilisten reicht von 125.000 bis rund 800.000. Der Zeitzeuge, Kriegsberichterstatter und Politikwissenschaftler Bernard B. Fall ging von rund einer Million Todesopfer insgesamt auf vietnamesischer Seite aus. Der Historiker Christopher Goscha verortet die Mehrheit der vietnamesischen Todesopfer unter der ländlichen Zivilbevölkerung, deren Anzahl die von den Franzosen getöteten Viet Minh und der von den Viet Minh getöteten profranzösischen Einheimischen deutlich übersteige. Eine offizielle Aufstellung von Toten und Verwundeten wurde weder von Seiten der Viet Minh noch der ihr nachfolgenden Staaten veröffentlicht.
Beide Seiten setzten in unterschiedlichem Umfang Folter ein. Die französischen Geheimdienstbehörden hatten umfangreiche Erfahrung mit Folter als Mittel der Repression und des Verhörs gegenüber Einheimischen aus der Kolonialzeit. Dabei gab es in der in Indochina zuständigen Sûreté Fédérale persönliche Kontinuitäten zur Vorkriegszeit mit der Übernahme derer Methoden. Bei der Rückeroberung Südvietnams 1946 setzte die Armee massiv Foltermethoden ein, so dass der damalige Oberbefehlshaber der CEFEO General Valluy im Sommer 1946 dem Militär Folter per se verbot. Ebenso versuchte der Verteidigungsminister Paul Ramadier, die Folter durch das Militär per Geheimbefehl zu verbieten. Nach französischen Presseberichten und vietnamesischen Memoiren und Geschichtswerken blieb Folter aber auf französischer Seite weiterhin ein Mittel des Krieges. Eine systematische Quantifizierung der Gewalt ist bis dato noch nicht verfügbar, so dass das genaue Ausmaß unklar bleibt. Ebenso fehlt eine systematische Aufarbeitung der Folter von Seiten der Viet Minh. Diese sei zumeist durch den Nachrichtendienst der Organisation im Rahmen der Gegenspionage gegen vermutete Agenten der Franzosen innerhalb der vietnamesischen Bevölkerung und ihrer eigenen Organisationen geführt worden. 1951 verboten die internen Sicherheitsorgane der Viet Minh Folter als Mittel des Verhörs. Im Zuge des Beginns der noch im Krieg eingeleiteten Landreform 1953 in Tonkin kam es zur Anwendung von Folterpraktiken gegenüber Landbesitzern und wohlhabenden Bauern.
Beide Seiten setzten Kinder für ihre Zwecke im Krieg ein. Die Viet Minh setzten Kinder routinemäßig innerhalb der Guerillaeinheiten für Aufklärung, Nachrichtenbeschaffung und als Meldegänger ein. Seltener wurden Kinder als Kombattanten eingesetzt. In Hanoi wurde 1946 eine spezielle Einheit aus 175 Kindern zwischen acht und vierzehn Jahren – meist Waisen der Hungersnot – gebildet, die dem Hauptstadtregiment der Viet Minh unterstellt wurde. Zahlreiche Rekruten der Viet Minh waren jugendlichen Alters. Der französische Militärgeheimdienst Deuxième Bureau betrieb in Vung Tau eine paramilitärische Ausbildungsakademie für französische und einheimische Kinder, die von mehreren Hundert durchlaufen wurde. Der französische Nachrichtendienst setzte Kinder für Geheimdienstaufgaben ein.
In weiten Teilen des Landes, insbesondere in Nordvietnam, waren weite Teile der Infrastruktur zerstört. Die Nahrungsmittelproduktion in Tonkin nahm nach der kurzen Friedensperiode zunehmend ab. Der Krieg, der sich vor allem in den ländlichen Gegenden abspielte, führte zu einem Urbanisierungsschub. Die Population der Region Chợ Lớn vervierfachte sich von 500.000 zum Ende des Zweiten Weltkriegs auf zwei Millionen Menschen zum Ende des Indochinakriegs. Nach dem Kriegsende wanderten rund eine Million Menschen, vor allem katholische Vietnamesen aus Nordvietnam, in den Süden aus. Die rund 6500 im Norden Vietnams lebenden französischen Staatsangehörigen flohen entweder in den Süden oder kehrten nach Europa zurück.
Auf französischer Seite verschlang der Krieg bis 1952 rund die Hälfte der von den Vereinigten Staaten geleisteten Wirtschafts- und Militärhilfe, insgesamt rund 4,5 Milliarden US-Dollar. Die letzten beiden Kriegsjahre verursachten vergleichbare Kosten von 3,6 Milliarden, die zur Hälfte durch US-Zahlungen gedeckt waren. Ohne die US-Zuwendungen hätte Frankreich, um einen Bankrott abzuwenden, den Krieg 1952 beenden müssen.
Politische Folgen für Frankreich
Die öffentliche Meinung in Frankreich nahm den Krieg insbesondere bis zu seiner Eskalation durch das Erstarken der Viet Minh eher als Marginalie wahr. Aufgrund der nur wenigen Zehntausend europäischen Einwohner der Kolonie und der von Freiwilligen und oft Nichtfranzosen geführten Kämpfe gab es für in Frankreich lebende Franzosen kaum Berührungspunkte mit dem Konflikt. Ab 1948 begann die französische Presse über die Parteiengrenzen hinweg unter dem Schlagwort des „dreckigen Krieges“ (französisch sale guerre) den Krieg in Indochina zu kritisieren. Die Kommunistische Partei Frankreichs erhob ab 1949 die Beendigung des Krieges zu ihrer drängendsten innenpolitischen Forderung. Dabei konnte die PCF eine Streikbewegung unter den Hafenarbeitern in Frankreich in Gang bringen, die 1950 ihren Höhepunkt erreichte.
Nach dem Ende des Krieges wurde Mendès France von der katholischen Rechten und der Poujadistischen Bewegung massiv kritisiert, weil er die vietnamesischen Katholiken im Stich gelassen habe. Der in katholischen Kreisen einflussreiche François Mauriac versuchte daraufhin eine neue kolonisierungskritische Christliche Demokratie zur Unterstützung von Mendès France zu gründen, scheiterte jedoch mit diesem Vorhaben. Jean-Marie Le Pen, der als Fallschirmjäger in Vietnam eingesetzt wurde, bekämpfte aktiv die Dekolonisierungspolitik und verband dies mit antisemitischen Schmähungen gegenüber Mendès France. 1956 zog Le Pen als poujadistischer Abgeordneter in die Nationalversammlung ein. In der öffentlichen Meinung Frankreichs wurde nach dem Krieg die These vertreten, die US-Regierung habe die Franzosen im Indochinakrieg bewusst nur mangelhaft unterstützt, mit dem Ziel, Südvietnam auf Kosten Frankreichs der eigenen Einflusssphäre zuzuschlagen. Als Hauptmotivation wurde die Aneignung ökonomischer Vorteile unterstellt. Einer der Hauptvertreter dieser These war de Gaulle selbst. Der französische Historiker Pierre Brocheux verweist diese Ansicht aufgrund der militärtechnischen Hilfeleistung und der Wahrung der Interessen französischer Unternehmen in Südvietnam nach dem Krieg ins Reich der Legenden. Vielmehr habe dieser Antiamerikanismus es zugelassen, die Widersprüche und Probleme in der eigenen Politik zu verschleiern.
Innerhalb des noch bestehenden französischen Kolonialreichs wirkte der Rückzug aus Indochina als eine Ermutigung nationalistischer Gruppen, die Unabhängigkeit durch bewaffneten Kampf zu verfolgen. Wenige Monate nach dem Frieden von Genf eröffnete die FLN durch Terroranschläge in Algier den Algerienkrieg. Deren Vertreter übernahmen sowohl rhetorisch als auch organisatorisch Konzepte der Viet Minh. Innerhalb der Militärelite Frankreichs sorgte die Niederlage in Indochina nach der Niederlage von 1940 für eine weitere Ernüchterung und förderte die Bereitschaft, den Krieg in Nordafrika um jeden Preis zu führen. Zahlreiche Offiziere, die maßgeblich an der Aufstandsbekämpfung in Algerien beteiligt waren, hatten vormals in Indochina gedient. Sie brachten ihre Vorstellungen und Methoden aus Südostasien mit. Ein Teil dieser Offiziere, unter anderem der ehemalige Oberbefehlshaber der CEFEO Raoul Salan, fanden sich als führende Mitglieder in den Reihen der OAS wieder, welche den Friedensschluss mit terroristischen Mitteln zu hintertreiben suchte.
Die Anwerbung Deutscher zur Legion in der französischen Besatzungszone belastete das deutsch-französische Verhältnis. In der Tagespresse und den Publikationen von gesellschaftlichen Organisationen kursierten in der Bundesrepublik übertriebene Angaben über die Zahl der angeworbenen und im Krieg gefallenen Legionäre deutscher Herkunft. Die Beteiligung deutscher Staatsbürger am Krieg wurde zeitweise bis um das Zehnfache überschätzt. Die SPD und auch die Presse in Ostdeutschland hoben diese Praxis medial hervor, um damit die Westbindung der Regierung unter Konrad Adenauer zu kritisieren. Im Mai 1955 stellte das französische Militär die Werbung in der Bundesrepublik ein.
Gegen Ende des Kalten Krieges rückten die Angelegenheiten der Veteranen in Frankreich nochmals in den Fokus. Veteranenorganisationen konnten 1989 durchsetzen, dass die Gefangenschaft französischer Soldaten bei den Viet Minh als Kriegsgefangenschaft anerkannt und entsprechend entschädigt wurde. 1991 kam es zur Boudarel-Affäre, bei der Veteranenorganisationen dem Hochschullehrer Georges Boudarel, der 1950 zu den Viet Minh übergelaufen und 1968 amnestiert worden war, Beteiligung an Folter und Misshandlung französischer Kriegsgefangener vorwarfen. Boudarel wurde vor Gericht freigesprochen, musste jedoch seine Stellung an der Universität Paris VII aufgeben.
Kommunistischer Staat in Nordvietnam
Mit der chinesischen Militärhilfe kam auch eine formal übergeordnete politische Mission unter Führung des KP-Funktionärs Luo Guibo in die DRV. Diese waren beratend tätig und instruierten die vietnamesischen Kommunisten zu Übernahme maoistischer Konzepte der Massenorganisation, politischer Repression, Kaderauswahl und Landreformpolitik. Die Entwicklung begann mit Selbstkritikkampagnen und Säuberungen unter den Funktionären der Viet Minh. Diese Personalpolitik führte zur Repression von Kadern mit einer nichtkommunistischen Vergangenheit oder angenommener politischer Unzuverlässigkeit. Ab 1950 wurden auch Propagandakampagnen im von der DRV kontrollierten Territorium nach chinesischem Vorbild durchgeführt. Ab 1952 begannen in diesem Rahmen mit planmäßiger Repression gegen unerwünschte Bevölkerungsschichten wie Landbesitzer und vormalige Kolonialkollaborateure, unabhängig von etwaiger Unterstützung der Unabhängigkeitsbewegung. Ebenso wurde der bereits vorher bestehende Personenkult um Ho Chi Minh deutlich verstärkt und wurde wie in China um Mao staatstragendes Element in der DRV.
Nach dem Kriegsende sah sich die kommunistische Führung in der nun international anerkannten DRV (Demokratische Republik Vietnam) sehr schwierigen ökonomischen Verhältnissen gegenüber. Durch den Wegfall der Reislieferungen aus dem Mekongdelta drohte eine erneute Hungersnot, die nur durch von der Sowjetunion vermittelte Lieferungen aus Burma abgewendet werden konnte. Die Parteiführung forcierte das bereits während des Krieges 1953 begonnene Landreformprogramm. Unter der Führung des Chefideologen Trường Chinh wurde die Landbevölkerung nach chinesischem Vorbild in soziale Klassen unterteilt, um eine planmäßige soziale Umwälzung zu ermöglichen. Dabei griff die Kommunistische Partei Vietnams zu Zwangsmaßnahmen, die zur Exekution von rund 3000 bis 50.000 Bauern führten. Dabei waren auch zahlreiche Menschen betroffen, welche die Việt Minh aktiv unterstützt hatten. Die Landreform führte zu einem Einbruch der Produktivität und zu Unruhen. Nachdem es in der Heimatprovinz von Ho Chi Minh, Nghệ An, zu bewaffneten Aufständen gegen die DRV gekommen war, wurde das Programm vorerst gestoppt und Truong Chinh seiner führenden Rolle als Generalsekretär der Partei enthoben. Der Staat bediente sich jedoch auch danach der Einkerkerung, Hinrichtung und umfassender Pressezensur als Mittel seiner Innenpolitik. Die Umwälzungen im Norden führten zu einer Massenflucht der gebildeten Schichten sowie der Katholiken Richtung Südvietnam. Diese Bewegung wurde durch Schiffe der US-Marine und Bemühungen der CIA im Rahmen der unmittelbar nach dem Kriegsende begonnenen Operation Passage to Freedom massiv unterstützt.
Teilung Vietnams und Intervention der USA
Die US-Regierung betrachtete die Ergebnisse der Indochinakonferenz als Niederlage im Kalten Krieg und befürchtete, dass eine Vereinigung Vietnams mit politischem Übergewicht des kommunistischen Staates im Norden eine weitere Ausbreitung kommunistischer Systeme in Südostasien zur Folge haben werde (Domino-Theorie). Infolgedessen entschlossen sie sich, die Bildung und Unterstützung eines antikommunistischen Staats in Südvietnam voranzutreiben. Hierzu installierten die USA den Katholiken Ngô Đình Diệm als Premierminister im Süden. Dieser wurde durch massive Wirtschafts- und Militärhilfe gestützt. Ein Beraterstab der CIA um den US-Offizier Edward Lansdale nahm vor Ort auf politische Entscheidungen maßgeblichen Einfluss.
Im Zuge der Teilung Vietnams verließen rund eine halbe Million Katholiken, rund 200.000 Buddhisten sowie rund 20.000 Mitglieder des Bergvolks der Nung Nordvietnam in Richtung Süden, um sich dem Zugriff des kommunistischen Staates zu entziehen. Ebenso verließen rund 45.000 Angehörige der chinesischen Minderheit, von denen viele später nach Taiwan auswanderten, den Norden. Im Gegenzug zur Flüchtlingsbewegung aus dem Norden verließen rund 50.000 bis 90.000 Viet Minh und deren Sympathisanten den Süden in Richtung der DRV. Zwischen 10.000 und 15.000 kommunistische Kader verblieben in Südvietnam. Die Parteiführung in Hanoi verordnete zunächst eine gewaltlose Strategie im Süden und unterstützte eine Friedensbewegung von sympathisierenden Intellektuellen in Saigon-Cholon. Diem hintertrieb die in Genf vereinbarten freien gesamtvietnamesischen Wahlen und ließ sich 1955 durch gefälschte Wahlen im Süden als Präsident der nun unabhängigen „Việt Nam Cong Hoa“ (Republik Vietnam, „Südvietnam“) bestätigen. Diem führte ein diktatorisches Regime, das sich maßgeblich auf seine Familienmitglieder und die christliche Minderheit im Land stützte. Er führte eine aggressive Repressionskampagne gegen Funktionäre und Anhänger der kommunistischen Partei, der neben etlichen tatsächlichen auch viele vermeintliche Regimegegner zum Opfer fielen. Ebenso sorgte die Neuansiedlung von christlichen Flüchtlingen aus dem Norden oft zu Spannungen mit der buddhistischen Mehrheitsbevölkerung, die sich übervorteilt sah. Die Schwäche und mangelnde Popularität des Diem-Regimes führten ab 1956/1957 in Südvietnam zur Entstehung einer Guerilla gegen das Regime. Ein Hauptmittel der Guerilla war die gezielte Ermordung mehrerer hundert Beamter und Würdenträger des Diem-Regimes. Ab 1959 begann der Norden, diese Aufstandsbewegung durch die Entsendung von Guerillakämpfern zu unterstützen. Der Konflikt eskalierte schließlich mit der Intervention der Vereinigten Staaten in den Vietnamkrieg.
Die beiden Königreiche Laos und Kambodscha wurden mit dem Genfer Abkommen von 1954 wieder zu souveränen Staaten. Die USA führten mittels der CIA und der Generäle Phoumi Nosavan und Vang Pao einen geheimen Krieg um die Macht im Königreich Laos. Einzig in Kambodscha wurden die im Genfer Abkommen vereinbarten freien Wahlen auch tatsächlich durchgeführt. Kambodscha blieb von 1954 bis zum Lon-Nol-Putsch im April 1971 eine konstitutionelle Monarchie mit dem König Norodom Suramarit, dem Vater von Prinz Sihanouk.
Erinnerungskultur und künstlerische Verarbeitung
Auf vietnamesischer Seite lieferte der Indochinakrieg als Sieg der kommunistischen Unabhängigkeitsbewegung den Gründungsmythos des modernen, vietnamesischen Staates. Die Regierung förderte ab den 1950er Jahren den Aufbau von vielen verteilten Heldenfriedhöfen als Orte des Gedenkens an die Gefallenen. Seit den 1990er Jahren arbeitet die vietnamesische Regierung an einer DNA-Datenbank zur Identifikation unbekannter Gefallener in Zusammenarbeit mit deren Hinterbliebenen. Eine Auseinandersetzung abseits der Parteilinie, welche die Opferbereitschaft der Soldaten und die Führungsrolle der Partei in den Vordergrund stellt, ist kaum möglich. Anfang der 1990er Jahre wurden der 1955 verbotene Roman von Tran Dan Mann um Mann, Welle um Welle sowie der von Bao Ninh verfasste Roman Die Leiden des Krieges wieder veröffentlicht. Während des Krieges drehten die Viet Minh mehrere Propagandafilme, sie wurden dabei von einer Gruppe um den sowjetischen Regisseur Roman Karmen unterstützt.
Auf französischer Seite schuf die Regierung 1986 mit der Nekropole von Fréjus eine zentrale Gedenkstätte, in der die sterblichen Überreste von 25.000 französischen Zivilisten und Soldaten beerdigt sind. Französische Filmwerke und Literatur zum Krieg schildern meist die Situation der französischen Soldaten und werten ihr Schicksal zumeist als die Tragödie tapferer Soldaten, die von ihrer politischen Führung aufgegeben worden seien. Besonders einflussreich war der Filmemacher und Autor Pierre Schœndœrffer, der nach seiner Tätigkeit als Fotograf für die französische Armee in Indochina sein filmisches und literarisches Wirken seinem Kriegserlebnis widmete. Jean Lartéguy verfasste mehrere Romane über den Krieg, von denen vor allem Les Centurions prägend für das Selbstverständnis der französischen Streitkräfte in Zeiten der Dekolonialisierung wurde. Der 1957 von Marcel Camus veröffentlichte Film Mort en fraude schilderte die Brutalität beider Seiten und wurde in den französischen Kolonien verboten. International bekannt wurde Graham Greene mit seinem Buch Der stille Amerikaner, in dem er ein Sittengemälde der Kolonialgesellschaft zeichnete.
Literatur
Literatur in englischer Sprache
Christopher E. Goscha: Historical Dictionary of the Indochina War (1945–1954) – An International and Interdisciplinary Approach. Kopenhagen 2011. ISBN 978-87-7694-063-8.
Christopher E. Goscha: The Road to Dien Bien Phu: A History of the First War for Vietnam. Princeton University Press, Princeton 2022, ISBN 978-0-691-18016-8.
Geoffrey C. Gunn: Rice Wars in Colonial Vietnam – The Great Famine and the Viet Minh Road to Power. Lanham 2014. ISBN 978-1-4422-2302-8.
Frederik Logevall: Embers of War – The Fall of an Empire and the Making of America’s Vietnam. New York 2012. ISBN 978-0-375-50442-6.
Shawn F. McHale: The First Vietnam War – Violence, Sovereignty and the Fracture of the South, 1946–1965. Cambridge, 2021. ISBN 978-1-108-83744-6
Charles R. Shrader: A War of Logistics – Parachutes and Porters in Indochina, 1945–1954. Lexington 2015. ISBN 978-0-8131-6576-9.
Literatur in französischer Sprache
Michel Bodin: Dictionnaire de la Guerre d’Indochine 1945–1954. Economica, Hautes Etudes Militaires, ISC, Paris 2004. ISBN 2-7178-4846-0.
Michel Bodin: La France et ses soldats, Indochine 1945–1954. L’Harmattan, Paris 2000. ISBN 2-7384-4092-4.
Jacques Dalloz: La guerre d’Indochine 1945–1954. Paris 1987. ISBN 2-02-009483-5.
Delphine Robic-Diaz: La guerre d’Indochine dans le cinéma français. Images d’un trou de mémoire, Rennes (Presses Universitaires de Rennes) 2014. ISBN 978-2-7535-3476-6
Maurice Vaïsse, Alain Bizard: L’armée Française Dans La Guerre D’indochine (1946–1954) : Adaptation Ou Inadaptation ? Brüssel 2000. ISBN 2-87027-810-1.
Jacques Valette: La Guerre d’Indochine, 1945–1954. Paris 1994. ISBN 2-200-21537-1.
Weblinks
(französisches Video)
(französisches Video)
Einzelnachweise
Guerillakrieg
Kolonialkrieg
Unabhängigkeitskrieg
Stellvertreterkrieg
Krieg (20. Jahrhundert)
Krieg (Asien)
Außenpolitik (Vereinigte Staaten)
Krieg (Frankreich)
Französisch-vietnamesische Beziehungen
1940er
1950er |
139514 | https://de.wikipedia.org/wiki/Georg%20Forster | Georg Forster | Johann Georg Adam Forster (* 27. November 1754 in Nassenhuben, Preußen; † 10. Januar 1794 in Paris) war ein deutscher Naturforscher, Ethnologe, Reiseschriftsteller und Revolutionär in der Zeit der Aufklärung. Forster gilt als einer der ersten Vertreter der wissenschaftlichen Reiseliteratur. Daneben trat er auch als Übersetzer, Journalist und Essayist hervor.
Forster nahm an der zweiten Weltumsegelung James Cooks teil und lieferte wichtige Beiträge zur vergleichenden Länder- und Völkerkunde der Südsee. An Hochschulen in Kassel und Wilna lehrte er Naturgeschichte. Als deutscher Jakobiner und Mitglied des Mainzer Jakobinerklubs gehörte er zu den Protagonisten der kurzlebigen Mainzer Republik.
Leben
Das Leben Georg Forsters war kurz, aber reich an Erfahrungen und Erlebnissen, wie sie im 18. Jahrhundert nur wenigen Menschen vergönnt waren. Von allen deutschen Aufklärern dürfte Georg Forster am meisten von der Welt gesehen haben.
Frühe Russlandreise und Übersetzertätigkeit
Georg Forster war der Sohn des Naturforschers und reformierten Pastors Johann Reinhold Forster und dessen Frau Justina Elisabeth, geb. Nicolai. Der Vater, stärker an Philosophie und Naturwissenschaften als an Theologie interessiert, nahm seinen erst zehnjährigen Erstgeborenen im Jahr 1765 mit auf eine Studienreise an den Unterlauf der Wolga. Dort siedelten seit kurzem deutsche Auswanderer, die dem Ruf Katharinas der Großen gefolgt waren. Im Auftrag der russischen Regierung sollte Johann Reinhold Forster die Verwaltung und Lebensverhältnisse der Wolgadeutschen untersuchen. Die Reise führte ihn von Mai bis August 1765 bis zum Eltonsee in der Kaspischen Senke, etwa 160 km östlich des heutigen Wolgograd. Bereits damals war der junge Forster an kartografischen Studien und an Bodenuntersuchungen beteiligt. Vater und Sohn verlebten das folgende Jahr in Sankt Petersburg, wo Johann seine Berichte redigierte. Georg besuchte in dieser Zeit die Petrischule und lernte fließend Russisch.
Im August 1766 siedelte Johann Reinhold Forster von St. Petersburg nach London über, um im Land seiner Vorfahren eine seinen Neigungen entsprechende Existenz als Lehrer und Übersetzer aufzubauen. Georg begleitete ihn dorthin und lernte auf der langen Schiffsreise Englisch. Schon als 13-Jähriger gab er in England sein erstes Buch heraus: eine Übersetzung von Lomonossows Werk über russische Geschichte (A chronological abridgment of the Russian history; translated from the original Russian… and continued to the present time by the translator. T. Snelling, London 1767) vom Russischen ins Englische, die in wissenschaftlichen Kreisen lobende Anerkennung fand.
Forster nutzte seine Sprachbegabung nicht nur für seine späteren ethnologischen Forschungen, sondern auch zum Broterwerb als Übersetzer. Im Laufe seines Lebens übertrug er vorwiegend Texte aus dem Englischen und dem Französischen ins Deutsche, vereinzelt auch aus anderen europäischen Sprachen wie Russisch, Niederländisch und Schwedisch sowie umgekehrt aus dem Deutschen, Russischen oder Französischen ins Englische. Dabei handelte es sich vor allem um Reiseberichte, etwa den des Kapitäns William Bligh über dessen Fahrt mit der Bounty und die bekannte Meuterei. Darüber hinaus übersetzte Forster Fachtexte aus verschiedenen Wissensgebieten.
Weltumsegelung mit Captain Cook
Da der Botaniker Joseph Banks, der wissenschaftliche Begleiter Captain James Cooks auf seiner ersten Reise, es ablehnte, Cook auch auf seiner zweiten Reise in die Südsee zu begleiten, unterbreitete die britische Admiralität 1772 Reinhold Forster das Angebot, an der Expedition teilzunehmen, einen wissenschaftlichen Bericht über die Reise zu erstellen und nach der Rückkehr zu veröffentlichen. Er stimmte unter der Bedingung zu, dass sein erst siebzehnjähriger Sohn Georg als Zeichner und wissenschaftlicher Assistent mitkommen durfte. Die Forsters leiteten damit eine Phase der intensiven Beteiligung deutschsprachiger Experten an Pazifikexpeditionen der imperialen Mächte ein.
Am 13. Juli 1772 stachen Vater und Sohn Forster an Bord der Resolution in Plymouth in See. Die Reise führte zunächst in den Südatlantik, dann durch den Indischen Ozean und antarktische Gewässer in den Südpazifik und zu den Inseln Polynesiens und schließlich um Kap Hoorn herum wieder zurück nach England, wo die Expedition am 30. Juli 1775 eintraf. Auf ihrer dreijährigen Reise hatten die Forsters mit Cook unter anderem Neuseeland, die Tonga-Inseln, Neukaledonien, Tahiti, die Marquesas-Inseln und die Osterinsel erkundet und waren weiter nach Süden vorgedrungen als jemals Menschen vor ihnen. Cooks zweite Reise widerlegte endgültig die Theorie von einem großen, bewohnbaren Südkontinent.
Georg Forster beteiligte sich – zumeist als Zeichner und zunächst noch unter Anleitung seines Vaters – an Studien zur Tier- und Pflanzenwelt der Südsee. Beide haben auf dem Gebiet der Botanik viele neue Erkenntnisse gewonnen und eine Vielzahl bis dahin in Europa unbekannter Pflanzen beschrieben, darunter eine Gattung aus der Familie der Phyllanthaceae. Die Pflanzengattung der Forstera aus der Familie der Stylidiaceae wurde nach ihnen benannt. Georg Forsters offizielles botanisches Autorenkürzel lautet „G.Forst.“.
Seine eigentlichen Interessengebiete aber, auf denen er bald selbständige Forschungen anstellte, waren die vergleichende Länder- und Völkerkunde. Er lernte schnell die Sprachen der polynesischen Inseln. Seine Berichte über die Polynesier sind bis heute anerkannt, da sie Forsters Bestreben widerspiegeln, den Bewohnern der Südsee-Inseln mit Einfühlung, Sympathie und weitgehend ohne christlich-abendländische Vorurteile zu begegnen. Mit dieser Art der einfühlenden Beobachtung war Forster anderen Völkerkundlern seiner Zeit weit voraus. Zugleich hütete er sich vor einer Idealisierung der „edlen Wilden“. Anders als etwa Louis Antoine de Bougainville, der mit seinem Reisebericht über Tahiti wenige Jahre zuvor die eher unkritische, idealisierende Südseeromantik begründete, nahm Forster die Gesellschaften der südpazifischen Inseln sehr differenziert wahr. Im Unterschied zur damals gebräuchlichen Klassifizierung von Menschen nach „Rassen“, wie sie auch Kant verwendete, betonte Forster,
Er beschrieb die unterschiedlichen Sozialordnungen und Religionen, die er beispielsweise auf den Gesellschaftsinseln, den Freundschaftsinseln, in Neuseeland und auf der Osterinsel vorfand, und führte sie auf die jeweils unterschiedlichen Lebensbedingungen zurück. Zugleich registrierte er, dass die Sprachen auf diesen weit verstreut liegenden Inseln relativ eng miteinander verwandt waren. So schrieb er etwa über die Bewohner der Tonga benachbarten Nomuka-Inselgruppe:
Die Ethnographica, die Forster in der Südsee gemeinsam mit seinem Vater gesammelt hat, sind heute als Cook-Forster-Sammlung im Völkerkundlichen Museum Göttingen ausgestellt. Einen Teil der Sammlung hatten Vater und Sohn Fürst Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt-Dessau geschenkt, der sie im Südseepavillon des Wörlitzer Parks ausstellte.
Begründung der modernen Reiseliteratur
Während sein Vater nach der Rückkehr den von der Admiralität gewünschten wissenschaftlichen Bericht schrieb, veröffentlichte Georg Forster 1777 in London die für das allgemeine Publikum gedachte Reisebeschreibung A Voyage Round The World. Zusammen mit Rudolf Erich Raspe besorgte er in London dann die Übersetzung für die deutsche Ausgabe Reise um die Welt, die 1778/80 in Berlin erschien und aus der das obige Zitat stammt. Das Werk, das den Beginn der modernen deutschen Reiseliteratur markiert, machte den jungen Autor sofort berühmt und gilt bis heute als eine der bedeutendsten Reisebeschreibungen, die je geschrieben wurden. Es wurde von Christoph Martin Wieland als das bemerkenswerteste Buch seiner Zeit gepriesen und übte starken Einfluss auf Alexander von Humboldt aus, der Forster als sein Vorbild bezeichnete und ihn auf mehreren Reisen begleitete. Darüber hinaus prägte es viele Ethnologen späterer Zeiten.
Forster schrieb eine geschliffene deutsche Prosa. Wissenschaftlich exakt und sachlich fundiert, verstand er es, zugleich spannend und gut lesbar zu formulieren. Seine Werke zeichnet vor der bis dahin üblichen Reiseliteratur aus, dass sie nicht bloß Daten aneinanderreihen, sondern – auf der Grundlage eingehender und teilnehmender Beobachtungen – zusammenhängende, anschauliche und verlässliche ethnografische Fakten bieten. Immer wieder unterbricht Forster die reine Beschreibung, um seine Beobachtungen philosophisch zu reflektieren.
Dabei gilt sein Hauptaugenmerk immer den Menschen, denen er begegnete, ihrem Verhalten, ihren Bräuchen, Sitten und Religionen sowie ihren Gesellschaftsformen. In Reise um die Welt gibt er sogar Liedtexte der Polynesier samt Notation wieder. Das Buch ist eine der wichtigsten Quellen für die Erforschung der Gesellschaften in der Südsee aus der Zeit, bevor sich dort der europäische Einfluss geltend machte.
Anfänge der akademischen Karriere
Seine Veröffentlichung brachte Forster wissenschaftliche Ehrungen aus ganz Europa ein. Die angesehene Royal Society in London nahm den noch nicht 23-Jährigen 1777 als Mitglied auf. Ebenso verfuhren wissenschaftliche Akademien von Berlin bis Madrid. Ab 1777 war er Mitglied der Göttinger Akademie der Wissenschaften. Da die Ehrungen aber kein Geld einbrachten, kehrte er 1778 nach Deutschland zurück. Im Jahr 1780 wurde er zum Mitglied der Gelehrtengesellschaft Leopoldina gewählt.
Zunächst lehrte Forster von 1778 bis 1784 am Collegium Carolinum in Kassel Naturgeschichte. Seit dieser Zeit stand er außerdem in regem Austausch mit den wichtigsten Vertretern der Aufklärung in Deutschland, u. a. mit Lichtenberg, Lessing, Kant, Herder, Wieland und Goethe. Er veröffentlichte regelmäßig Aufsätze über Forschungs- und Entdeckungsreisen seiner Zeit, etwa über Cooks dritte Reise in die Südsee, an der er selbst nicht teilnahm, und über die spätere Bounty-Expedition. Mit deren Initiator, dem Privatgelehrten Sir Joseph Banks, der Cook auf dessen erster Weltumsegelung begleitet hatte, stand Forster seit den Londoner Jahren in Kontakt.
In Kassel wurde er Mitglied der Freimaurerloge Zum gekrönten Löwen und des örtlichen Gold-und-Rosenkreuzer-Zirkels. Wahrscheinlich 1776 war er bereits in Paris Mitglied der bekannten Loge Les Neuf Sœurs geworden. 1784 trat er der Loge Zur wahren Eintracht der Freimaurer in Wien bei, die er insbesondere wegen ihrer Aufklärungs- und Reformtätigkeit schätzte und die ihm zu Ehren eine Festloge veranstaltete.
Von 1784 bis 1787 lehrte Forster als Professor für Naturgeschichte an der Schola Principis Magni Ducatus Lithuaniae im polnisch-litauischen Wilna, der heutigen Universität Vilnius. Er war damals noch nicht promoviert und verfasste daher eine Dissertationsschrift (De plantis esculentis insularum oceani australis commentatio botanica) über essbare Pflanzen der Südseeinseln. Die Tätigkeit sagte Forster allerdings wenig zu. Ein Grund war, dass er seine Vorlesungen auf Latein halten sollte, was ihm schwerfiel: „Das wenige Latein, was ich weiß, verdanke ich bloß meiner Lektüre; allein Lektüre ist zum Schreiben nicht hinreichend, zudem ist es lange her, dass ich lateinische Autoren las.“ Außerdem hatte er mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu kämpfen und fühlte sich in Wilna nicht wohl: „ich und mein Weib, wir genießen außer einander, keine Freude, kein Vergnügen, keine Gemächlichkeit – in einem unwirtbaren und häßlichen Lande, – und da muß es mich drei- und zehnfach schmerzen, daß ich nicht einmal auskomme.“
Privatleben
Am 3. September 1785 heiratete Forster Therese Heyne, die Tochter des Altertumswissenschaftlers Christian Gottlob Heyne. Sie war ihm in seiner Zeit in Göttingen begegnet und wurde später eine der ersten selbständigen Schriftstellerinnen Deutschlands. Georg Christoph Lichtenberg kommentierte die geplante Hochzeit kritisch: „Ich wünsche dem guten Forster viel Glück dazu, glaube aber nicht, dass er es finden wird. Forster ist für die Liebe im eigentlichen Verstand; Therese für die à la Grenadière […].“ Weitere Äußerungen von ihm und anderen Zeitgenossen lassen sich als Hinweise auf eine gleichgeschlechtliche Veranlagung Forsters interpretieren. Tatsächlich pflegte er enge Freundschaften zu zahlreichen homosexuellen Männern und heiratete relativ spät, nach eigener Aussage auch aus ökonomischen Gründen. Eindeutige Belege für eine homosexuelle Veranlagung Forsters gibt es nicht. Er selbst hat sie stets bestritten. Möglicherweise waren seine Beziehungen zu Männern ein Ausdruck des für das 18. Jahrhundert typischen Freundschaftskults.
Die Ehe verlief, wie von Lichtenberg vermutet, ausgesprochen unglücklich. Beide Partner hatten unterschiedliche Einstellungen zur Sexualität: Die Tagebuch-Eintragungen des Pfarrerssohns Forster lassen vermuten, dass er nicht zuletzt aus religiösen Überzeugungen unter seinem Sexualtrieb litt. Forster hatte vier Kinder mit Therese. Bei den zwei jüngsten, die in Mainz geboren wurden, ist die Vaterschaft allerdings umstritten. Therese verliebte sich zweimal in andere Männer, erst in Friedrich Ludwig Wilhelm Meyer, um 1791/92 in Ludwig Ferdinand Huber, den sie später heiratete. Forster hatte beide Male eine ménage à trois vorgeschlagen, die Therese jedoch ablehnte. Sie verließ ihn im Dezember 1792, kurz nach der Besetzung von Mainz durch französische Revolutionstruppen, um sich und die Kinder nach Straßburg in Sicherheit zu bringen. Forster blieb ihr bis zu seinem Tod brieflich eng verbunden. Ein Brief, den Forster an seine Frau Therese im Jahr 1793 schrieb, wurde von Walter Benjamin in seine Briefsammlung Deutsche Menschen aufgenommen. Über ihren verstorbenen Ex-Mann verfasste Huber für das Conversations-Lexicon von Brockhaus (1817) eine Kurz-Biografie, in der es heißt, auch nachdem er sich von ihr getrennt habe, habe er sie „bis auf sein Sterbebett“ mit „exaltierter Liebe“ geehrt. Nach Ansicht von Huber war Forsters Leben demnach von einer ständigen „Dissonanz“ geprägt zwischen der „Größe seiner Ansichten und der Kleinheit seines Wirkungskreises“ bzw. der „Bewunderung der Menge und der Nichtsbedeutendheit seiner häuslichen Umstände“.
Gescheiterte Expeditionspläne und Übersiedelung nach Mainz
Wegen der unbefriedigenden Situation in Wilna war Forster hocherfreut, als er im Juni 1787 erfuhr, dass er als Leiter einer großen russischen Pazifik-Expedition ausersehen war, die Zarin Katharina die Große zu finanzieren gedachte. Die Reise war auf vier Jahre angelegt und sollte mit fünf Schiffen von England aus über Madeira, Brasilien, das Kap der Guten Hoffnung, Australien, Neuseeland, die Freundschafts-, Gesellschafts- und Sandwichinseln zur pazifischen Küste Amerikas, zu den Kurilen sowie nach Japan und China führen. Während der Expedition sollte Forster ein Jahresgehalt von 2000 Rubeln und seine Frau eine jährliche Zuwendung von 1000 Rubeln erhalten. Nach seiner Rückkehr sollte er – im Fall seines Todes seine Frau – auf Lebenszeit in den Genuss einer Jahresrente von 1500 Rubeln kommen. Zudem beglich die russische Regierung seine Schulden in Wilna. Forster ließ sich von seinen dortigen Verpflichtungen entbinden und kehrte im August mit seiner Frau nach Göttingen zurück. Die Expedition kam jedoch nicht zustande, da 1787 der Russisch-Türkische Krieg ausbrach. Daher nahm Forster 1788 die Stellung des Oberbibliothekars der Universität Mainz an, die ihm auf Vermittlung des Historikers Johannes von Müller (1752–1809) angeboten worden war.
Ansichten vom Niederrhein
Von Mainz aus unternahm Forster im Frühjahr 1790 gemeinsam mit dem jungen Alexander von Humboldt, den er schon im Vorjahr bei dessen erster Rheinexkursion kennengelernt hatte, eine ausgedehnte Reise, die ihn ins Rheinland, in die Österreichischen Niederlande sowie nach Holland, England und Paris führte. Seine Eindrücke schilderte er in dem zwischen 1791 und 1794 erschienenen dreibändigen Werk Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich im April, Mai und Juni 1790. Johann Wolfgang von Goethe lobte es in einem Brief an den Autor als „so angenehm als unterrichtend, man mag, wenn man geendigt hat, gerne wieder von vorne anfangen und wünscht sich, mit einem so guten, so unterrichteten Beobachter zu reisen“. Das Buch enthält neben vielen ökonomischen auch ausführliche kunsthistorische Betrachtungen, die für die wissenschaftliche Kunstgeschichte ebenso stilbildend wurden wie A Voyage round the world für die Ethnologie. Forster gehörte beispielsweise zu den Ersten, die zu einer gerechten Beurteilung der damals noch weitgehend als „barbarisch“ abgetanen gotischen Kunst gelangten, und nahm Ideen der Romantik vorweg.
Wie 15 Jahre zuvor in der Südsee galt auf dieser neuen Reise sein Hauptinteresse wieder dem sozialen Verhalten der Menschen. Volksaufstände in Flandern und Brabant und natürlich die Revolution in Frankreich hatten Forsters Interesse geweckt. Seine Reise in diese Gebiete sowie in die Niederlande und England, wo die bürgerlichen Freiheiten vergleichsweise weit entwickelt waren, sollte ihm nicht zuletzt dazu dienen, sich seines eigenen politischen Urteils zu vergewissern. Denn er war damals bereits ein überzeugter Gegner des Ancien Régime. Wie viele andere deutsche Gelehrte hatte er den Ausbruch der Revolution im Jahr zuvor als konsequente Folge der Aufklärung begrüßt. Bereits am 30. Juli 1789, kurz nach Bekanntwerden des Sturms auf die Bastille, hatte er seinem Schwiegervater, dem Göttinger Philologen Christian Gottlob Heyne, geschrieben:
Jakobinerclub und Mainzer Republik
Am 21. Oktober 1792 besetzte die französische Revolutionsarmee unter General Custine Mainz. Zwei Tage später wurde auf Initiative von Georg Wilhelm Böhmer der Mainzer Jakobinerklub gegründet, dem Forster nach anfänglichem Zögern Anfang November beitrat. Ab Anfang 1793 war er aktiv an der Gründung der Mainzer Republik beteiligt. Die erste auf bürgerlich-demokratischen Grundsätzen aufgebaute Republik auf deutschem Boden umfasste in etwa das linksrheinische Gebiet zwischen Landau und Bingen. Forster wurde Vize-Präsident der provisorischen Verwaltung und ließ sich als Abgeordneter in den Rheinisch-Deutschen Nationalkonvent wählen. Nach dem Beschluss des Pariser Nationalkonvents zur Einführung der Demokratie in den besetzten Gebieten gehörte Forster zu den Initiatoren einer „Verfassungsumfrage“ in Mainz und 40 Dörfern, bei der 10 % der Mainzer Zunftbürger und 29 Dörfer für die „fränkische Konstitution“ stimmten.
Von Januar bis März 1793 war er Redakteur von Die neue Mainzer Zeitung oder Der Volksfreund. In seinem ersten Artikel schrieb er: „Die Pressefreiheit herrscht endlich innerhalb dieser Mauern, wo die Buchdruckerpresse erfunden ward.“ Die Freiheit währte allerdings nicht lange, denn die Mainzer Republik existierte nur bis zum Abzug der Franzosen im Juli 1793.
Tod im revolutionären Paris
Forster hielt sich damals schon nicht mehr in Mainz auf. Als Abgeordneter des Nationalkonvents, des ersten demokratischen Parlaments in Deutschland, war er nach Paris entsandt worden, um die Angliederung der allein nicht lebensfähigen Mainzer Republik an Frankreich zu beantragen. Der Antrag wurde zwar angenommen, hatte sich aber durch die Rückeroberung von Mainz durch die Truppen der anti-französischen Koalition erledigt.
Aufgrund eines Dekrets Kaiser Franz’ II., das die Zusammenarbeit deutscher „Untertanen“ mit der französischen Revolutionsregierung unter Strafe stellte, verfiel Forster der Reichsacht und konnte nicht mehr nach Deutschland zurückkehren. Völlig mittellos und ohne seine Frau, die ihn zusammen mit den Kindern schon in Mainz verlassen hatte, blieb er in Paris. Dort trat die Revolution gerade in die Phase der Schreckensherrschaft, der Terreur des Wohlfahrtsausschusses unter Maximilien de Robespierre.
Forster wurde sich nun des Widerspruchs bewusst zwischen dem Anspruch der Revolution, das Glück der Menschheit zu befördern, und der revolutionären Praxis, die über das Glück und das Leben des einzelnen Menschen grausam hinweggehen konnte. Im Gegensatz zu vielen anderen deutschen Befürwortern der Revolution, wie etwa Friedrich Schiller, wandte sich Forster aber selbst unter dem Eindruck des Terrorregimes nicht von den revolutionären Idealen ab. Er verglich die Ereignisse in Frankreich mit einem Naturereignis, das man nicht aufhalten könne. Kurz vor seinem Tod schrieb er:
Bevor die Terrorherrschaft ihren Höhepunkt erreichte, starb Georg Forster im Januar 1794, noch nicht vierzigjährig, an einer Lungenentzündung in einer kleinen Dachwohnung in der Rue des Moulins in Paris.
Nachleben
Bald nach Forsters Tod geriet sein Werk außerhalb der Fachwelt fast vollständig in Vergessenheit, nicht zuletzt als Folge seines Engagements während der Französischen Revolution. Je nach politischer Zeitströmung wurde Forster bis in die Gegenwart hinein jeweils unterschiedlich beurteilt.
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts schrieb der Philosoph Friedrich Schlegel über ihn: „Unter allen eigentlichen Prosaisten atmet keiner so sehr den Geist freier Fortschreitung wie Georg Forster.“ Auch im Vormärz wurde Forster eher positiv beurteilt. So gab seine Tochter Marie Therese Forster 1843 die erste Gesamtausgabe seiner Werke heraus und sicherte damit Forsters Nachwirken; für die Biographie des Vaters konnte sie den Literaturhistoriker Georg Gottfried Gervinus gewinnen.
Generell aber verdeckte in der Zeit des aufkeimenden Nationalismus im nachnapoleonischen Deutschland das Bild des angeblichen „Vaterlandsverräters“ Forster zusehends das des Forschers und Schriftstellers. Während des Deutschen Kaiserreichs und erst recht zur Zeit des Nationalsozialismus blieb das Andenken Forsters verfemt. Eine Ausnahme davon bildete 1850 die Benennung der Buntmetallerz-Grube Georg Forster im Bensberger Erzrevier in Bergisch Gladbach.
Die DDR dagegen bezog die Erinnerung an den Forscher und Revolutionär in ihre eigene Traditionsbildung ein. So wurde beispielsweise die erste deutsche Forschungsstation in der Antarktis, die 1976 von der DDR eingerichtet wurde, Georg-Forster-Station benannt. Eine Oberschule, heute Gymnasium, in Berlin-Friedrichsfelde trägt Forsters Namen.
Auf der Suche nach demokratischen Traditionen der deutschen Geschichte setzte seit den 1970er Jahren in der Bundesrepublik ebenfalls eine differenzierte Auseinandersetzung mit Forster ein. So stiftete die Universitätsgesellschaft Kassel in den 1980er Jahren den Georg-Forster-Preis für herausragende Leistungen an der Universität Kassel. Die Alexander von Humboldt-Stiftung vergibt einen Georg-Forster-Forschungspreis. Und seit 2015 ehrt der rheinland-pfälzische Landtag seine ehemaligen Mitglieder mit der Georg-Forster-Medaille.
Auf dem Campus der Johannes Gutenberg-Universität Mainz gibt es seit 2013 das „Georg-Forster-Gebäude“, das unter anderem die Sozialwissenschaften und das Institut für Kunstgeschichte und Musikwissenschaft beherbergt. Am Gebäude der Neue Universitätsstraße 2 in Mainz befindet sich eine Gedenktafel für Forster, ebenso in Göttingen am Haus Papendiek 16. Mittlerweile tragen in ganz Deutschland Straßen und Schulen Forsters Namen, seit 2007 beispielsweise die Integrierte Gesamtschule Wörrstadt, die auf dem Gebiet der einstigen Mainzer Republik liegt, und seit 2012 das Georg-Forster-Gymnasium von Kamp-Lintfort am Niederrhein. Darüber hinaus sind die Forsterseeschwalbe und ein Mega-Containerschiff des französischen Schifffahrts- und Logistikunternehmens CMA CGM nach ihm benannt.
Forsters Ruf als einer der ersten und bedeutendsten deutschen Ethnologen ist heute unbestritten. Sein Werk trug wesentlich dazu bei, die Ethnologie als eigenständigen Wissenschaftszweig in Deutschland zu etablieren.
Werke
Werkausgaben
Georg Forster’s sämmtliche Schriften. Hrsg. von dessen Tochter und begleitet mit einer Charakteristik Forster’s von G.G. Gervinus in 9 Bänden (= erste Gesamtausgabe). Brockhaus, Leipzig 1843.
Entdeckungsreisen nach Tahiti und in die Südsee. Hrsg. Hermann Homann. Auszug (Band 1 und 2) aus der Gesamtausgabe in 9 Bänden von 1843. Reprint Edition Erdmann, 1988, ISBN 3-522-60160-2.
Georg Forsters Werke, Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe. Hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, G. Steiner, H. Fiedler u. a. Akademie, Berlin 1958 ff. (bisher Bd. 1–18 ohne 6.3 und 10.2; 19 und 20 geplant).
Werke in vier Bänden. Hrsg. Gerhard Steiner, Leipzig 1971
Forsters Werke in zwei Bänden. Ausgewählt und eingeleitet von Gerhard Steiner. 3. Auflage, Berlin und Weimar 1983 (Bibliothek deutscher Klassiker)
Forster. Lesebuch für unsere Zeit. Hgg. Gerhard Steiner, Manfred Häckel & Lu Märten. Reihe: Lesebücher für unsere Zeit. Thüringer Volksverlag, Weimar 1952 u. ö.
Schriften
Reise um die Welt
Englische Erstausgabe: A Voyage round the World in His Britannic Majesty’s Sloop Resolution, Commanded by Capt. James Cook, during the Years, 1772, 3, 4, and 5, London 1777
Deutsche Erstausgabe: Johann Reinhold Forster’s […] Reise um die Welt während den Jahren 1772 bis 1775 (Übersetzung von Georg Forster)
Bd. 1. Haude und Spener, Berlin, 1778. (), E-Book (Faksimilie) vom Original, ISBN 978-3-941919-43-3.
Bd. 2. Haude und Spener, Berlin, 1780. (), E-Book (Faksimilie) vom Original, Becker, Potsdam 2009, ISBN 978-3-941919-44-0.
Reise um die Welt. Hrsg. Gerhard Steiner. Insel, Frankfurt am Main 1983, ISBN 3-458-32457-7
Reise um die Welt. Illustriert von eigener Hand; Mit einem biographischen Essay von Klaus Harpprecht und einem Nachwort von Frank Vorpahl. Eichborn Verlag, Reihe Die Andere Bibliothek, 2007 ISBN 978-3-8218-6203-3
Reise um die Welt: Auf der Suche nach dem Südkontinent 1771–1775. Einl. Herrmann Homann. Edition Erdmann
Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich, im April, Mai und Junius 1790
Erstausgabe:
Bd. 1. Voss, Berlin 1791. ()
Bd. 2. Voss, Berlin 1791. ()
Bd. 3. Voss, Berlin 1794. ()
Hrsg. Gerhard Steiner. Insel, Frankfurt 1989, ISBN 3-458-32836-X.
mit einem Vorwort von Jürgen Goldstein: Die Andere Bibliothek, Berlin 2016, ISBN 978-3-8477-0018-0.
Über die Beziehung der Staatskunst auf das Glück der Menschheit und andere Schriften. Hrsg. Wolfgang Rödel. Insel, Frankfurt am Main 1966. Sammlung von politischen Aufsätzen, Aufzeichnungen und Reden.
Über Leckereyen und andere Essays. Hrsg. Tanja van Hoorn. Wehrhahn, Laatzen 2004, ISBN 3-932324-95-1.
James Cook, der Entdecker. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Frank Vorpahl und mit acht Farbtafeln von Forsters eigener Hand. Eichborn, 2008, ISBN 978-3-8218-5840-1 (darin auch: Fragmente über Captain Cooks letzte Reise und sein Ende).
Briefe
Georg Forster, Briefe an Ernst Friedrich Hector Falcke. Neu aufgefundene Forsteriana aus der Gold- und Rosenkreuzerzeit. Hrsg. und mit einer Einleitung versehen von Michael Ewert und Hermann Schüttler. Kassel University Press, Kassel 2009, ISBN 978-3-89958-485-1.
Übersetzungen
Übersetzung des eigenen Hauptwerks A Voyage round the World ins Deutsche (siehe oben)
William Forsyth: Über die Krankheiten und Schäden der Obst- und Forstbäume. Nebst der Beschreibung eines von ihm erfundenen und bewährten Heilmittels. Fischer, Mainz 1791 (Digitalisat)
Mikhail V. Lomonosov: A chronological abridgment of the Russian history; translated from the original Russian…and continued to the present time by the translator., printed for T. Snelling, London 1767. Faksimile: Reihe Eighteenth Century Collections Online Print Editions. Gale Ecco, Independence, KY 2010 ISBN 1-171-48444-5
George Keate: Nachrichten von den Pelew-Inseln in der Westgegend des Stillen Oceans. Nachwort Harald Eggebrecht. Süddeutsche Zeitung, Reihe: Bibliotheca Anna Amalia, München 2007 ISBN 978-3-86615-413-1
Literatur
Georg-Forster-Studien. Hrsg. im Auftrag der Georg-Forster-Gesellschaft von Horst Dippel und Helmut Scheuer, seit 2007 von Stefan Greif und Michael Ewert. Kassel University Press, Kassel 1997 ff.
Forster, Johann Georg(e) Adam. In: Bio-bibliographisches Handbuch zur Sprachwissenschaft des 18. Jahrhunderts, Band 3. Tübingen 1994, ISBN 3-484-73023-4, S. 109‒114.
Hanno Beck: Georg Forster – Geograph, Weltumsegler und Revolutionär (1754–1794). In: Hanno Beck: Große Geographen. Pioniere – Außenseiter – Gelehrte. Dietrich Reimer Verlag, Berlin 1982, ISBN 3-496-00507-6, S. 54–82
Ulrike Bergmann: Die Mesalliance. Georg Forster: Weltumsegler – Therese Forster: Schriftstellerin. Frankfurt am Main 2008, ISBN 978-3-940111-54-8.
Andreas W. Daum: German Naturalists in the Pacific around 1800: Entanglement, Autonomy, and a Transnational Culture of Expertise. In: Explorations and Entanglements: Germans in Pacific Worlds from the Early Modern Period to World War I, hg. von Hartmut Berghoff et al. New York, Berghahn Books, 2019, S. 70‒102.
Ulrich Enzensberger: Georg Forster. Weltumsegler und Revolutionär. Wagenbach, Berlin 1979, ISBN 3-8031-2057-8.
Ulrich Enzensberger: Georg Forster. Ein Leben in Scherben. Eichborn, Frankfurt am Main 1996. dtv, München 2004, ISBN 3-423-13248-5.
Michael Ewert: „Vernunft, Gefühl und Phantasie, im schönsten Tanze vereint“. Die Essayistik Georg Forsters. Königshausen & Neumann, Würzburg 1993, ISBN 3-88479-769-7.
Michael Ewert: Georg Forster im Licht neu entdeckter Quellen. In: Georg-Forster-Studien XI/1 (2006), S. 31–62.
Rotraut Fischer: Reisen als Erfahrungskunst. Georg Forsters „Ansichten vom Niederrhein“. Die „Wahrheit“ in den „Bildern des Wirklichen“. Hain, Frankfurt am Main 1990, ISBN 3-445-08944-2.
Jörn Garber (Hrsg.): Wahrnehmung – Konstruktion – Text. Bilder des Wirklichen im Werk Georg Forsters. Niemeyer, Tübingen 2000, ISBN 3-484-81012-2.
Jörn Garber, Tanja van Hoorn: Natur-Mensch-Kultur. Georg Forster im Wissenschaftsfeld seiner Zeit. Wehrhahn, Hannover 2006, ISBN 3-86525-017-3.
Jürgen Goldstein: Georg Forster. Zwischen Freiheit und Naturgewalt. Matthes & Seitz, Berlin 2015, ISBN 978-3-95757-090-1.
Jürgen Goldstein: Georg Forster (1754-1794): Weltumsegler und Kopf der Mainzer Republik, in: Frank-Walter Steinmeier (Hrsg.), Wegbereiter der deutschen Demokratie. 30 mutige Frauen und Männer 1789–1918, München (C.H.Beck), 2021, S. 39–52
Klaus Harpprecht: Georg Forster oder Die Liebe zur Welt. Eine Biographie. Rowohlt, Reinbek 1990, ISBN 978-3-499-12634-5.
Dieter Heintze: Georg Forster (1754–1794), in: Klassiker der Kulturanthropologie, Wolfgang Marshall (Hrsg.), C. H. Beck, München 1990, S. 69–87, 323–327.
Carola Hilmes: Georg Forster und Therese Huber – Eine Ehe in Briefen. In: Gislinde Seybert (Hrsg.): Das literarische Paar. Le couple littéraire. Intertextualität der Geschlechterdiskurse. Intertextualité et discours des sexes. Aisthesis, Bielefeld 2003, ISBN 3-89528-324-X, S. 111–135.(Volltext, PDF, 0,2 MB)
Tanja van Hoorn: Dem Leibe abgelesen. Georg Forster im Kontext der physischen Anthropologie des 18. Jahrhunderts. (= Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 23). Niemeyer, Tübingen 2004, ISBN 3-484-81023-8. (Rezension Meike Steiger, IASL)
Kurt Kersten: Der Weltumsegler. Johann Georg Adam Forster 1754–1794. Francke, Bern 1957.
Claus-Volker Klenke, Jörn Garber, Dieter Heintze: Georg Forster in interdisziplinärer Perspektive. Beiträge des Internationalen Georg Forster Symposions in Kassel, 1.–4. April 1993. Akademie, Berlin 1994, ISBN 3-05-002614-6
Todd Kontje: Georg Forster: German cosmopolitan, University Park, Pennsylvania: The Pennsylvania State University Press, 2022, ISBN 978-0-271-09326-0
Christian Graf von Krockow: Der große Traum von Bildung. Auf den Spuren der großen Entdeckungsreisenden James Cook und Georg Forster. List, Berlin 2005, ISBN 3-548-60518-4.
Gundolf Krüger: Früheste Kulturdokumente aus Polynesien: Die Göttinger Cook/Forster-Sammlung. In: Gundolf Krüger, Ulrich Menter, Jutta Steffen-Schrade (Hrsg.): TABU?! Verborgene Kräfte – Geheimes Wissen. Imhof Verlag, 2012, ISBN 3-86568-864-0, S. 128–131 und zahlreiche Abbildungen aus dem Museumsbestand.
Wolf Lepenies: Eine vergessene Tradition der deutschen Anthropologie, in: Saeculum, 24, 1973, S. 50–78.
Helmut Mathy: Georg Forster in Mainz. Von der geistigen Aufklärung zur konkreten Revolution. in: Die Mainzer Republik. Der Rheinisch-Deutsche Nationalkonvent. Hrsg. Landtag Rheinland-Pfalz, Mainz 1990, ISBN 3-7758-1284-9, S. 185–190.
Jakob Moleschott: Georg Forster, der Naturforscher des Volks. Frankfurt am Main 1854
Johannes Paul: Georg Forster: Empfindsame Weltumseglung. In: Abenteuerliche Lebensreise – Sieben biographische Essays. Wilhelm Köhler, Minden 1954, S. 67–112
Christine-Kai Pommer: Heinrich Friedrich Link – Die Reise eines Naturforschers und Mediziners nach Frankreich, Spanien und Portugal, Dissertation, 2008, Digitalisat
Alois Prinz: Das Paradies ist nirgendwo. Die Lebensgeschichte des Georg Forster. Frankfurt 2008, ISBN 978-3-458-35053-8
Charlotte Thomas: Eine Reise um die Welt. Erzählung um Kindheit und Jugend Georg Forsters. Knabes Jugendbücherei, Weimar 1967
Gerhard Steiner: Freimaurer und Rosenkreuzer. Georg Forsters Weg durch Geheimbünde. Akademie, Berlin 1987, ISBN 3-05-000448-7
Gerhard Steiner: Georg Forster und die Französische Revolution. in: Erik Neutsch: Forster in Paris. Erzählung. Mitteldeutscher Verlag, Leipzig 1981; wieder in Eine Erzählung, drei Essays. Dingsda, Querfurt 1994, ISBN 3-928498-36-3
Gerhard Steiner: Georg Forster. Metzler, Stuttgart 1977
Ruth Stummann-Bowert: Georg Forster: Übersetzer, Herausgeber und Rezensent am Beispiel der „Nachrichten von den Pelew-Inseln in der Westgegend des stillen Oceans“ 1789, in: Georg-Forster-Studien, 9, 2004, S. 181–223
Tilman Spreckelsen: Der Zeichner des Captain Cook. Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 23. September 2007, S. 72–73
Ludwig Uhlig: Georg Forster. Lebensabenteuer eines gelehrten Weltbürgers (1754–1794). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2004, ISBN 3-525-36731-7
Frank Vorpahl: Der Welterkunder. Auf der Suche nach Georg Forster. Galiani, Berlin 2018, ISBN 3-86971-149-3.
Eva Waniek: Verortung und Überschreitung – Die „Inselgruppen“ des Weiblichen in Georg Forsters Reise um die Welt. In: Mit Eroberungen leben. Reflexionen zu einem neuzeitlichen Syndrom, Mitteilungen des Instituts für Wissenschaft und Kunst, 48. Jhg., 1993 / Nr. 1 und 2, S. 53–60.
Georg Forster. Die Südsee in Wörlitz. Hg. von Frank Vorpahl und der Kulturstiftung Dessau-Wörlitz. München: Hirmer 2019. ISBN 978-3-7774-3179-6 [dt. Ausg.], ISBN 978-3-7774-3314-1 [engl. Ausg.].
Elisabeth Décultot, Jana Kittelmann, Andrea Thiele, Ingo Uhlig (Hrsg.): Weltensammeln. Johann Reinhold Forster und Georg Forster. Wallstein-Verlag, Göttingen 2020.
Ralph Erbar: Georg Forster und die doppelte Kapitulation der Mainzer Republik in Vergangenheit und Geschichte. In: Andreas Frings, Heidrun Ochs (Hgg.): Bankrott-Erklärungen. Konzepte des Eingeständnisses und der Rechtfertigung. Frankfurt/M. 2023, S. 115–136.
Fiktive Darstellungen
Romane
Ina Seidel: Das Labyrinth. Lebensroman des George Forster. Roman. Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1922. Mehrere Neuauflagen; Ullstein, Frankfurt 1983
Andreas Kollender: Teori. dtv, München 2000, ISBN 3-423-24194-2 (romanhafte Beschreibung der Reise mit James Cook).
Hans Jürgen Geerdts: Rheinische Ouvertüre. Historischer Roman. Verlag der Nation, Berlin(DDR), 1978.
Andrew Wilson: Resolution. A novel of the boy who sailed with Captain Cook. Atlantic Books, London 2016. ISBN 9781782398271
Filme
Expedition in die Südsee – Georg Forster, Doku-Drama des ZDF, Deutschland 2012, 43:26 Min., Buch: Frank Vorpahl, Moderator: Robert Atzorn, Kamera: Hans Jakobi, Produktion: CineCentrum, Erstausstrahlung: 19. Februar 2012 im ZDF.
Treffen in Travers, DEFA-Spielfilm, DDR 1989, Regie: Michael Gwisdek. Der Film nach der gleichnamigen Erzählung von Fritz Hofmann handelt von einem fiktiven Treffen Forsters mit seiner Frau Therese und ihrem Geliebten.
Ausstellung
Dauerausstellung „Georg Forster“. Schloss Wörlitz, zwei Teile seit 2018; 3. Teil ab Mai 2019
Weblinks
(Ulrich Goerdten)
Schriftenreihe Georg-Forster-Studien
Johannes Paul: Georg Forster: Empfindsame Weltumseglung
Seite der Georg-Forster-Gesellschaft
Text von Forster zur Revolution
Christine Haug: Georg Forster im Beziehungsgeflecht seiner Verleger um 1800 (PDF; 193 kB)
Einzelnachweise
Ethnologe
Naturforscher
Bibliothekar (Deutschland)
Autor
Seefahrer
Weltumsegler
Revolutionär
Aufklärer
Freimaurer (18. Jahrhundert)
Freimaurer (Frankreich)
Freimaurer (Deutschland)
Rosenkreuzer
Literatur (18. Jahrhundert)
Literatur (Deutsch)
Reiseliteratur
Sachliteratur
Übersetzer aus dem Deutschen
Übersetzer aus dem Englischen
Übersetzer aus dem Französischen
Übersetzer aus dem Niederländischen
Übersetzer aus dem Russischen
Übersetzer aus dem Schwedischen
Übersetzer ins Deutsche
Übersetzer ins Englische
Mitglied der Royal Society
Mitglied der Leopoldina (18. Jahrhundert)
Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften
Hochschullehrer (Collegium Carolinum Kassel)
Person (Königlich-Preußen)
Mitglied des Rheinisch-Deutschen Nationalkonvents
Mitglied der Niedersächsischen Akademie der Wissenschaften zu Göttingen
Mainzer Republik
Deutscher
Geboren 1754
Gestorben 1794
Mann |
141444 | https://de.wikipedia.org/wiki/Pepi%20II. | Pepi II. | Pepi II. (griechisch Phiops II.) war der fünfte König (Pharao) der altägyptischen 6. Dynastie im Alten Reich. Er regierte etwa innerhalb des Zeitraums von 2245 bis 2180 v. Chr. und kam bereits als Kind auf den Thron. Mit wahrscheinlich mehr als 60 Regierungsjahren war seine Herrschaft eine der längsten in der Geschichte des alten Ägypten.
In der Landesverwaltung ist unter Pepi II. eine Fortsetzung der bereits länger anhaltenden Dezentralisierung sowie ein Wachstum der Beamtenschaft festzustellen. In einem komplexen Zusammenspiel mit ungünstigen klimatischen Veränderungen scheint dieses Anwachsen der Beamtenschaft im fortgeschrittenen Verlauf seiner Regierung zu einer Ressourcenverknappung beigetragen zu haben, die schließlich unter seinen Nachfolgern zum Zusammenbruch des Alten Reiches führte. Durch Grabinschriften und archäologische Funde sind intensive Handelskontakte nach Byblos sowie nach Nubien und Punt überliefert. Die Kontakte nach Süden wurden allerdings durch Feindseligkeiten mit Beduinenstämmen und erstarkten nubischen Fürstentümern zunehmend erschwert. Wichtigstes Bauprojekt Pepis II. stellt seine Pyramidenanlage im Süden von Sakkara dar.
Herkunft und Familie
Pepi II. war der Sohn von Pharao Pepi I. und dessen Gemahlin Anchenespepi II. (auch Anchenesmerire II. genannt). Seine Halbbrüder waren sein Amtsvorgänger Merenre und die beiden Prinzen Tetianch und Hornetjerichet. Als Ehefrauen sind seine Halbschwestern Neith und Iput II., seine Nichte Anchenespepi III. sowie zwei weitere Frauen namens Anchenespepi IV. und Wedjebten bekannt. Aus der Ehe mit Neith ging Pepis Thronfolger Nemtiemsaef II. (Antiemsaef II.) hervor, aus der Ehe mit Anchenespepi IV. der spätere König Neferkare Nebi. Bei Nebkauhor-Idu und Ptahschepses handelt es sich möglicherweise um weitere Söhne Pepis II. Abgesehen von Neferkare Nebi ist das familiäre Verhältnis zu den zahlreichen nur sehr kurz regierenden Königen der 8. Dynastie völlig unklar.
Herrschaft
Regierungsdauer
Obwohl unter Ägyptologen Einigkeit darüber herrscht, dass die Herrschaft Pepis II. sehr lang war, ist ihre genaue Dauer nach wie vor umstritten. Im Königspapyrus Turin aus dem Neuen Reich werden in seinem stark beschädigten Eintrag 90 Jahre angegeben (eventuell auch 93 oder 94). Der im 3. Jahrhundert v. Chr. lebende ägyptische Priester Manetho berief sich offenbar hierauf und gab an, Pepi II. sei mit sechs Jahren auf den Thron gekommen und im Alter von 100 Jahren gestorben, woraus sich 94 Regierungsjahre ergeben.
Trotz dieser außerordentlichen Länge (zum Vergleich: die Herrschaft von Sobhuza II. von Eswatini, die längste sicher belegte Amtszeit eines Staatsoberhaupts, dauerte „nur“ 82 Jahre) wurden die Angaben Manethos und des Turiner Papyrus auch in jüngerer Zeit von einigen Forschern als plausibel angesehen, so etwa von Wolfgang Helck oder Erik Hornung.
Zweifel hieran äußerte Hans Goedicke, der die Angabe im Turiner Papyrus als Verschreibung von „60“ zu „90“ ansah. Die zeitgenössischen Datumsangaben scheinen diese Interpretation zu stützen. Ein Graffito im Totentempel der Pepi-II.-Pyramide sah Goedicke als Hinweis auf Pepis Todesjahr an. Es handelte sich um die Angabe eines „Jahrs des 31. Mals der Zählung“. Hiermit ist die ursprünglich als Horusgeleit eingeführte landesweite Zählung des Viehs zum Zwecke der Steuererhebung gemeint. Diese Zählung fand ursprünglich alle zwei Jahre statt (das heißt, auf ein „x-tes Jahr der Zählung“ folgte ein „Jahr nach dem x-ten Mal der Zählung“), später aber zum Teil auch jährlich (auf ein „x-tes Jahr der Zählung“ folgte das „y-te Jahr der Zählung“). Diese Interpretation wird aber von anderen, höheren Datumsangaben nicht gestützt. So gibt es noch eine Felsinschrift aus dem „Jahr nach dem 31. Mal der Zählung“ und eine nicht ganz sicher zu lesende Angabe, die wohl auf das „Jahr des 33. Mals der Zählung“ verweist. Unklar ist bislang, ob die Zählung unter Pepi II. regelmäßig alle zwei Jahre oder unregelmäßig stattfand, da insgesamt sechs Jahre der Zählung (2, 11, 12, 14, 31 und evtl. 33) aber nur drei oder vier Angaben von „Jahren nach der Zählung“ (11, 22 und 31 sowie evtl. 1) überliefert sind. Es ergibt sich für ihn daher eine minimale Regierungsdauer von 34 Jahren und eine maximal belegte von 62 bis 66 Jahren.
Letzteres wird heute von der Mehrzahl der Forscher als plausibel angesehen, auch weil für Pepis Herrschaft zwei Sedfeste belegt sind. So geht etwa Jürgen von Beckerath von 60 Jahren und Thomas Schneider von 65 Jahren aus.
Landesverwaltung
Zu Beginn von Pepis Herrschaft fungierte seine Mutter Anchenespepi II. als Regentin, aber auch sein Onkel Djau spielte eine bedeutende Rolle. Dieser bekleidete das Provinz-Wesirat in Abydos. Ihm folgten später Idi und Pepinacht. Als Wesire in Meir sind Anch-Pepi-Heriib und Anch-Pepi-Henikem bekannt. Residenz-Wesire in Memphis waren Ihichenet und Chenu, Ima-Pepi und Schenai, Chabauchnum/Biu und Nihabsedneferkare sowie Teti.
Das wichtige Amt des Wesirs erfuhr unter Pepi II. eine Umstrukturierung seiner Kompetenzen. Der Titel des „Vorstehers aller Arbeiten des Königs“ war nun direkt an den Residenz-Wesir gebunden. Ihm fiel somit die direkte Zuständigkeit für die königlichen Bauprojekte und für die Rekrutierung von Arbeitskräften zu. Im Gegenzug wurden aber die Ämter des Scheunen- und des Schatzhausvorstehers, die zuvor sehr eng mit den Wesiren verbunden waren, jetzt zunehmend mit Nicht-Wesiren besetzt. In der Provinzverwaltung lässt sich für Pepis Regierungszeit feststellen, dass zumindest gelegentlich das Amt des Scheunenvorstehers auch von Wesiren getragen wurde. Beim Amt des Schatzhausvorstehers war dies jedoch so gut wie nie der Fall. Die Verteilung der Titel legt nahe, dass Pepi ursprünglich beabsichtigte, die Provinz- der Residenzverwaltung gleichzustellen oder sie sogar von dieser unabhängig zu machen. Dies wurde aber für das Scheunenressort nur zum Teil und für das Schatzhausressort praktisch gar nicht umgesetzt. Stattdessen verblieb die Kontrolle über beide Ressorts durch die Besetzung mit rangniederen Beamten in der Provinz faktisch bei der Residenzverwaltung.
Außenbeziehungen und Expeditionswesen
Zahlreiche Expeditionen aus Pepis Regierungszeit sind durch Inschriften belegt, darunter eine in die Kupfer- und Türkis-Minen des Wadi Maghara auf der Sinai-Halbinsel im 2. Jahr der Zählung sowie zwei Expeditionen in die Alabaster-Steinbrüche von Hatnub in Mittelägypten, die im 14. Jahr der Zählung und im Jahr nach dem 31. Mal der Zählung stattfanden. Auch Handelskontakte mit der Stadt Byblos im heutigen Libanon sind durch zahlreiche Fundstücke (vor allem Alabaster-Gefäße) mit Pepis Namenszug belegt, die im dortigen Tempel gefunden wurden.
Wie schon unter seinem Vorgänger Merenre spielte aber auch der Handel mit Nubien eine zentrale Rolle. Die Beziehungen nach Süden waren allerdings unter Pepis Herrschaft von zunehmenden Feindseligkeiten beherrscht. Bereits in Pepis zweitem Regierungsjahr unternahm der aus Elephantine stammende Beamte Harchuf eine Reise in das Land Jam. Er hatte bereits unter Merenre dreimal Nubien bereist und diese Reisen in seiner Grabanlage auf der Qubbet el-Hawa ausführlich beschrieben. Aus diesen Berichten geht hervor, dass eine veränderte politische Situation ihm die Heimreise bei seiner dritten Expedition sichtlich erschwerte und er nur dank eines starken Truppenkontingents des Fürsten von Jam sicher zurück nach Ägypten gelangte. Über seine vierte und letzte Reise existiert kein Bericht. Stattdessen ließ Harchuf an seinem Grab die Kopie eines Briefs des jungen Pepi II. anbringen, in dem dieser seine große Freude darüber ausdrückt, dass Harchuf ihm einen „Tanzzwerg“ (wohl ein Pygmäe) aus Jam mitbringt und ihn ermahnt, sehr gut auf diesen aufzupassen.
Weitgehend friedlich scheinen die Reisen gewesen zu sein, die im Grab des Chui auf der Qubbet el-Hawa genannt werden. Dort berichtet ein Diener namens Chnumhotep, dass er zusammen mit seinem Herrn Chui und einem weiteren hohen Beamten namens Tjetji insgesamt elf Reisen nach Nubien und nach Punt im heutigen Eritrea oder Somalia unternommen hat.
Von feindseligen Auseinandersetzungen berichtet hingegen Sabni in seinem Grab auf der Qubbet el-Hawa. Sein Vater Mechu I. hatte eine Expedition nach Nubien geleitet und war dort gestorben. Offenbar war er ermordet worden, denn sein Leichnam verblieb zunächst in Nubien und Sabni musste mit einem größeren Aufgebot an Soldaten nach Nubien marschieren, um ihn heim zu holen. Sabni selbst starb offenbar unmittelbar nach seiner Rückkehr von einer Nubien-Expedition in Elephantine. Sein Sohn Mechu II. weilte zu dieser Zeit selbst in Nubien und erhielt nach seiner Rückkehr die Unterstützung der königlichen Residenz für die Ausstattung des Grabes seines Vaters.
Eine weitere Inschrift auf der Qubbet el-Hawa stammt von Pepinacht, genannt Heqaib. Dieser berichtet von zwei militärischen Unternehmungen in Nubien. Der König hatte ihn ausgesandt, um die beiden Länder Wawat und Irtjet zu „zerhacken“. Pepinacht berichtet, dass er auf seiner ersten Kampagne mehrere Fürstenkinder und militärische Führer tötete und eine große Anzahl an Kriegsgefangenen nach Ägypten führte. Auf seiner zweiten Kampagne nahm er schließlich die beiden Fürsten von Wawat und Irtjet sowie deren Kinder und zwei hohe Kommandeure gefangen und brachte sie zusammen mit zahlreichen Rindern und Ziegen nach Ägypten. Eine dritte Militärexpedition führte Pepinacht in die Ostwüste. Dort waren der Kommandant Aaenanch und sein Begleittrupp von Beduinen (von den Ägyptern „Sandbewohner“ genannt) ermordet worden, als sie gerade ein Schiff bauten, das eine Reise nach Punt unternehmen sollte. Pepinacht führte eine Strafexpedition gegen die Beduinen und brachte den Leichnam Aaemanchs zurück in die Residenz.
Nach dem Tod Pepis II. fanden die Expeditionen in die außerhalb Ägyptens gelegenen Gebiete ein vorläufiges Ende. Das Wadi Maghara wurde erst rund 200 Jahre später in der 12. Dynastie wieder aufgesucht. Auch Handelskontakte mit Byblos sind erst zu dieser Zeit wieder belegt. Expeditionen nach Punt fanden erst wieder unter Mentuhotep III. (11. Dynastie) statt, während Nubien erst in der 12. Dynastie wieder verstärkt unter ägyptische Kontrolle geriet.
Regierungsende und Zusammenbruch des Alten Reichs
Nach Pepi bestieg zunächst sein Sohn Nemtiemsaef II. den Thron. Er regierte aber nur etwa ein Jahr. Auf ihn folgte eine große Zahl weiterer Herrscher, die ebenfalls nur kurz regierten. Ihnen entglitt zunehmend die Kontrolle über die Landesverwaltung, bis Ägypten schließlich in zwei Machtbereiche zerfiel: Herakleopolis im Norden und Theben im Süden.
Die Ursachen für diesen Verfall des ägyptischen Zentralstaats sind sicherlich in der Amtszeit Pepis II zu suchen. Sie sind aber bislang nicht abschließend geklärt und waren wahrscheinlich komplexer Natur. Wurde in älteren Arbeiten noch vorwiegend die Ansicht vertreten, der Hauptgrund hätte in einem immer stärkeren Autonomiebestreben und einer zunehmenden Machtfülle der Gaufürsten gelegen (so etwa James Henry Breasted aber auch noch Wolfgang Helck), so haben systematische Untersuchungen zu den Beamtentiteln und ihren Trägern hingegen ergeben, dass zwar eine Dezentralisierung der Verwaltung und ein allgemeines Wachstum der Beamtenschaft stattfand. Zentrale Schlüsselressorts wie das des Scheunen- und Schatzhausvorstehers, aber auch das des Vorstehers aller Arbeiten des Königs blieben hingegen sehr eng an die Residenzverwaltung und damit direkt an den König gebunden. Eine starke Machtzunahme der Gaufürsten lässt sich nach Petra Andrássy weder im wirtschaftlichen noch im militärischen Bereich nachweisen. Nach ihr scheint das allgemeine Anwachsen der Beamtenschaft zu einem Krisenfaktor geworden zu sein, da deren Versorgung immer mehr zum Problem wurde. So deute etwa eine immer weiter abnehmende Größe von Privatgräbern auf eine Verknappung von Ressourcen hin. Auch die verstärkte Befreiung der Tempel von Abgaben scheint die Handlungsmöglichkeiten der Residenz-Verwaltung geschwächt zu haben. Klimatische Faktoren, vor allem sinkende Niederschlagsmengen verbunden mit gering ausfallenden Nilfluten verstärkten die wirtschaftlichen Probleme Ägyptens offenbar noch.
Nach einem neueren Vorschlag von Karl Jansen-Winkeln ist als Hauptfaktor für den Untergang des Alten Reiches hingegen weder eine Verwaltungskrise noch ein ungünstiger Klimawandel verantwortlich, sondern vor allem eine Invasion des Nildeltas durch vorderasiatischer Stämme. Jansen-Winkeln stützt seine Argumentation hauptsächlich auf Schriftquellen wie etwa die Lehre für Merikare. Aber auch neuere Grabungen im Delta scheinen seine Hypothese zu untermauern. So wurde die Stadt Mendes offenbar am Ende der 6. Dynastie zerstört und ihre Einwohner ermordet.
Bautätigkeit
Die Pepi-II.-Pyramide in Sakkara-Süd
Für seine Pyramidenanlage mit dem Namen Men-Anch-Neferkare („Von Dauer ist das Leben des Neferkare“) wählte Pepi II. einen Standort in Sakkara-Süd, unmittelbar nordwestlich der Mastabat al-Firʿaun des Schepseskaf aus der 4. Dynastie. Die Anlage wurde zwischen 1926 und 1932 von Gustave Jéquier freigelegt. In ihren Maßen und ihrem Aufbau folgt die Pyramide einem seit Djedkare etablierten Standard-Programm und ist damit in weiten Teilen identisch mit ihren Vorgängerbauten. Sie hat eine Seitenlänge von 78,75 m und eine ursprüngliche Höhe von 52,5 m. Damit stellt sie das letzte große Bauwerk des Alten Reichs dar. Der Kern des Bauwerks besteht aus Kalkstein-Stücken, die mit Tonmörtel verbunden sind; die Verkleidungsblöcke bestehen aus Turakalkstein. Im Zuge einer nachträglichen Erweiterung wurde um die fertige Pyramide ein 7 m breiter Mauergürtel um den gesamten Bau gelegt. Hierbei wurde die Nordkapelle abgerissen und die bereits gebaute Umfassungsmauer musste um mehrere Meter versetzt werden.
Der Eingang zum unterirdischen Kammersystem befindet sich an der Nordseite. Von hier aus führt ein Gang schräg nach unten. Er mündet zunächst in eine Kammer und führt dann horizontal weiter. Der Gang weist eine Blockiervorrichtung aus drei mächtigen Granit-Fallsteinen auf. Seine Wände sind mit Pyramidentexten dekoriert. Direkt unter dem Zentrum der Pyramide befindet sich die Vorkammer. Von ihr zweigen östlich der Serdab und westlich die Grabkammer ab. Der Serdab besteht nur aus einem Raum und weist keine Nischen auf. Die Vor- und die Grabkammer weisen ein Giebeldach auf, das mit Sternen dekoriert ist. Die Wände der Kammern weisen Pyramidentexte auf, die Westwand der Grabkammer ist allerdings als Palastfassade gestaltet. In der Grabkammer wurden der Sarkophag aus Granit und der Deckel eines Kanopen-Schränkchens gefunden. Die Mumie Pepis II. war nicht erhalten.
Dem Taltempel war eine breite, nordwest-südöstlich orientierte Terrasse vorgelagert, die an einem Kanal entlang lief. An beiden Enden ermöglichten Rampen den Zugang zur Terrasse vom Wasser aus. In der Mitte der Terrasse lag der Zugang zum Taltempel. Der Tempel besteht aus einer Pfeilerhalle, einem dahinter liegenden Vestibül und mehreren Magazinräumen. Von der Wanddekoration des Tempels haben sich mehrere Szenen erhalten. Der in südwestliche Richtung verlaufende Aufweg verbindet den Tal- mit dem Totentempel.
Der Totentempel weist zunächst drei Kapellen auf, in denen die drei religiösen Zentren Heliopolis, Sais und Buto repräsentiert sind. Hieran schließen sich die Eingangshalle und ein pfeilerumstandener Hof an. Nördlich und südlich davon liegen Magazine. Hinter dem Hof folgt ein Querkorridor, der den öffentlichen vom intimen Bereich des Tempels trennt. Im Korridor haben sich zahlreiche Reste des Reliefdekors erhalten, darunter Darstellungen des Sed-Festes, des Min-Festes und der Hinrichtung eines libyschen Fürsten. Letztere ist allerdings die Kopie einer Darstellung aus dem Totentempel der Sahure-Pyramide und verweist daher wohl nicht auf ein reales Ereignis. Der innere Tempel-Teil besteht aus einer Kultkapelle mit fünf Nischen, einer antichambre carrée und einer Opferhalle. Nördlich und südlich dieser Räume liegen weitere Magazinräume. Die anitchambre carrée weist Darstellungen des Hofstaates auf, der dem König huldigt; in der Opferhalle ist der König in Umarmung mit Göttern dargestellt. Südöstlich der königlichen Pyramide wurde eine kleine Kultpyramide errichtet.
Der Pyramidenkomplex
Südlich und nordwestlich seiner eigenen Pyramidenanlage ließ Pepi außerhalb der Umfassungsmauer drei Pyramidenanlagen für seine Gemahlinnen Wedjebten, Neith und Iput II. errichten. Die Pyramiden der Neith und der Iput II. liegen an der Nordwest-Ecke des königlichen Grabkomplexes. Die Neith-Pyramide ist die älteste der drei Anlagen. Das Kammersystem besteht aus einem absteigenden Gang mit Blockierstein, einer Grabkammer und einem Serdab. Die Decke der Grabkammer ist mit Sternen verziert, die Wände mit Pyramidentexten bzw. im Westen mit einer Palastfassade. Von der Grabausstattung waren zahlreiche zerbrochene Steingefäße erhalten. Der Totentempel liegt südlich der Pyramide. Er besteht aus einem Vestibül, einem pfeilerumstandenen Hof, Magazinräumen, einer Opferhalle und einem Raum mit drei Nischen, in denen ursprünglich die Statuen der Königin standen. Südöstlich der Königinnenpyramide steht eine kleine Kultpyramide. Zwischen beiden Bauwerken wurden in einer Grube 16 Schiffsmodelle aus Holz gefunden. Die gesamte Anlage ist von einer eigenen Umfassungsmauer umgeben.
Die Pyramide der Iput II. liegt südwestlich der Neith-Pyramide und ist etwas kleiner als diese. Das Kammersystem und der Totentempel weisen den gleichen Aufbau wie bei der Neith-Pyramide auf, auch eine kleine Kultpyramide ist vorhanden. In einem der Magazinräume wurde vermutlich nach Pepis Tod Anchenespepi IV. beigesetzt, für die keine Königinnenpyramide mehr errichtet worden war. Besondere Bedeutung kommt ihrem Sarkophag-Deckel zu, bei dem es sich um einen umfunktionierten Annalenstein handelte.
Die Wedjebten-Pyramide befindet sich südlich der Königs-Pyramide. Das stark zerstörte Bauwerk besitzt zwei Umfassungsmauern, einen eigenen Totentempel und eine kleine Kultpyramide. Im unterirdischen Kammersystem wurden Fragmente von Pyramidentexten gefunden, die ursprünglich die Grabkammer und vielleicht auch die Gänge zierten.
Vor allem nördlich und östlich, in geringerem Umfang auch südlich und westlich der Pepi-II.-Pyramide entstanden außerdem zahlreiche Privatgräber. Diese Friedhöfe wurden noch bis in die beginnende Erste Zwischenzeit und in geringem Umfang noch im Mittleren Reich genutzt.
Bautätigkeit außerhalb Sakkaras
Über Pepis Bautätigkeit außerhalb Sakkaras ist nur wenig bekannt. An den Wänden des Aufwegs seiner Pyramidenanlage ist eine Prozession von 117 Domänen (landwirtschaftliche Güter) und Ka-Häusern dargestellt, die für die Versorgung des königlichen Opferkults zuständig waren. Darüber hinaus ist in der Autobiografie des Sabni der Transport zweier Obelisken von Unternubien nach Heliopolis überliefert. Aus Koptos ist eine Bautätigkeit Pepis durch zwei Reliefblöcke (heute im Petrie Museum, London, Inv.-Nr. UC 14281 und im Manchester Museum) sowie durch mehrere Dekrete belegt.
Statuen
Lediglich zwei Statuen, die sich sicher Pepi II. zuordnen lassen, sind erhalten. Die erste ist von unbekannter Herkunft und befindet sich heute im Brooklyn Museum of Art in New York (Inv.-Nr. 39.119). Sie besteht aus Alabaster und hat eine Höhe von 38,9 cm, eine Breite von 17,8 cm und eine Tiefe von 25,2 cm. Dieses für die ägyptische Königsplastik einzigartige Stück zeigt die Königsmutter Anchenespepi II. auf einem Thron sitzend. Sie wird durch eine Namensinschrift zu ihren Füßen identifiziert. Entsprechend ihrem Rang trägt Anchenespepi über ihrer Perücke eine Geierhaube. Der Kopf des Geiers war ursprünglich separat aus Stein oder Metall gefertigt und in die Stirn der Statue eingezapft, ist heute aber verloren. Auf Anchenespepis Schoß sitzt ihr Sohn Pepi II. Obwohl es sich hierbei offensichtlich um eine Darstellung des kindlichen Königs handelt, ist er doch in der typischen Haltung und im vollen Ornat eines erwachsenen Herrschers dargestellt. Er trägt einen Schurz und ein Nemes-Kopftuch. Die rechte Hand hat er zur Faust geballt auf den Oberschenkel gelegt und hält darin ein gefaltetes Tuch. Seine Mutter legt ihm schützend ihre Hände auf den Rücken und auf die Knie. Der Block unter den Füßen des Königs nennt Pepis Namen mit dem Zusatz „geliebt von Chnum“, was ein Hinweis darauf sein könnte, dass die Statue ursprünglich aus Elephantine, dem Hauptverehrungsort des Chnum, stammt.
Die zweite Statue wurde von Gustave Jéquier im Totentempel der Pepi-II.-Pyramide gefunden und befindet sich heute im Ägyptischen Museum in Kairo (Inv.-Nr. JE 50616). Sie besteht ebenfalls aus Alabaster und zeigt den König als Kind. Pepi ist nackt und hockend dargestellt. Er hat kurzes Haar und eine Uräusschlange auf der Stirn. Die heute nicht mehr erhaltene rechte Hand hielt er sich ursprünglich an den Mund.
Bei einem dritten Stück ist die Zuordnung zu Pepi II. nicht sicher, aber durch stilistische Vergleiche recht wahrscheinlich. Es handelt sich um den Kopf einer Statue aus Alabaster, der ebenfalls einen kindlichen König zeigt und hohe Ähnlichkeit mit dem Stück aus Kairo aufweist. Das Stück ist von unbekannter Herkunft und befindet sich heute im Petrie Museum in London.
Auch der Kopf einer vierten Statue kann nur stilistisch in die Regierungszeit von Pepi II. eingeordnet werden. Er wurde 1966 vom Metropolitan Museum of Art in New York City im Kunsthandel erworben. Der Kopf besteht aus schwarzem Stein und zeigt einen König mit Nemes-Kopftuch.
Darüber hinaus ist aus einem Dekret aus Koptos bekannt, dass Pepi II. eine Königsstatue aus Kupfer anfertigen und im Min-Tempel aufstellen ließ. Die Statue selbst ist allerdings nicht erhalten.
Sonstige Funde
Aus Byblos stammen zwei kleine, unvollständig erhaltene Salböl-Gefäße aus Alabaster in Form von Affenweibchen, die ein Junges an die Brust halten. Ganz ähnliche, vollständig erhaltene Stücke unbekannter Herkunft sind auch aus den Regierungszeiten von Pepi I. und Merenre bekannt.
Von unbekannter Herkunft ist ein vasenförmiges Gefäß mit Deckel aus Alabaster, das sich heute im Louvre in Paris befindet (Inv.-Nr. N 648a,b) und ursprünglich zur Erinnerung an ein Sed-Fest Pepis II. angefertigt wurde. Es hat eine Höhe von 15 cm und einen Durchmesser von 19,9 cm. Ähnliche, unvollständig erhaltene Gefäße aus Pepis Regierungszeit wurden auch in Byblos gefunden, wohin dieser Gefäßtyp bereits seit Neferirkare (5. Dynastie) regelmäßig verhandelt wurde.
Ebenfalls von unbekannter Herkunft ist eine Kopfstütze mit Pepis Namenszug, die sich heute im Louvre befindet (Inv.-Nr. N 646). Sie besteht aus Elfenbein (wohl vom Elefanten) und hat eine Höhe von 21,8 cm, eine Breite von 19,1 cm und eine Tiefe von 7,8 cm. Wahrscheinlich handelte es sich um ein Geschenk Pepis für die Grabausstattung eines Beamten.
Pepi II. im Gedächtnis des Alten Ägypten
Aus einem der Dekrete aus dem Tempel des Min in Koptos geht hervor, dass für die dort aufgestellte kupferne Statue des Pepi während der Regierungszeit des Wadjkare in der 8. Dynastie ein Opferkult praktiziert wurde.
Pepi II. und seine Pyramide werden in verschiedenen privaten Inschriften des Mittleren Reiches erwähnt. Der Kult an der Pyramide ist also auch noch im Mittleren Reich in Betrieb gewesen.
In späterer Zeit fand Pepi II. in wenigstens zwei Werken der altägyptischen Literatur Erwähnung. Bei der ersten handelt sich um Die Erzählung von Hai aus dem Mittleren Reich. Der einzige erhaltene Textträger ist so stark beschädigt, dass sich nur noch einzelne Bruchstücke der Geschichte rekonstruieren lassen. Handlungsort ist wohl Memphis, da explizit die Pyramide Pepis II. genannt wird. Der Inhalt der Geschichte scheint sich um die Ermordung und Beerdigung eines Mannes namens Hai zu drehen.
Im Mittleren oder Neuen Reich entstand die nur unvollständig erhaltene Geschichte von Neferkare und Sasenet. In ihr wird ein homosexuelles Verhältnis von Pepi II. (Neferkare) zu seinem General Sasenet thematisiert. Im relativ gut erhaltenen Mittelteil der Geschichte wird beschrieben, wie ein Mann eine Klage an den König richten will. Doch anstatt ihn anzuhören lässt Pepi ihn mit Musik und Gesang übertönen, bis er enttäuscht wieder geht. Daraufhin beauftragt der Mann einen Freund, den König zu beschatten. Dem Freund sind bereits Gerüchte zu Ohren gekommen, die er nun bestätigt findet: Der König begibt sich jede Nacht heimlich in das Haus seines Generals und verweilt dort vier Stunden lang. Da der Anfang der Geschichte nur bruchstückhaft und das Ende gar nicht erhalten ist, ist eine Deutung der Geschichte nur schwer möglich.
Aus dem Neuen Reich stammt ein im Ägyptischen Museum in Berlin befindlicher Reliefblock, der aus einem Grab aus Sakkara stammen soll. Auf ihm sind fünf thronende Könige des Alten Reiches abgebildet: Beim ersten ist der Namenszug mittlerweile nicht mehr erhalten, kann aber anhand alter Fotografien wohl zu Snofru rekonstruiert werden; es folgen Radjedef, Mykerinos, Menkauhor und Pepi II. (Neferkare). Der auf diesem Block erhaltene Bildausschnitt kann als Anbetungsszene rekonstruiert werden, bei welcher der Grabbesitzer vor den Königen steht.
Die jüngste Erwähnung Pepis findet sich in dem medizinischen Papyrus Brooklyn 47,218.48/47,218.85, der um 300 v. Chr. entstand. Dort wird neben dem Verhalten der Schlange dem Menschen gegenüber in Abschnitt 42c auch ein Heilmittel gegen Schlangenbisse beschrieben, dessen Entdeckung in die Regierungszeit Pepis datiert wird.
Literatur
Allgemeines
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Peter A. Clayton: Die Pharaonen. Bechtermünz, Augsburg 1995, ISBN 3-8289-0661-3, S. 65–67.
Martin von Falck, Susanne Martinssen-von Falck: Die großen Pharaonen. Von der Frühzeit bis zum Mittleren Reich. Marix, Wiesbaden 2015, ISBN 978-3737409766, S. 168–176.
Thomas Schneider: Lexikon der Pharaonen. Albatros, Düsseldorf 2002, ISBN 3-491-96053-3, S. 193–195.
Joyce Tyldesley: Die Pharaonen. Ägyptens bedeutendste Herrscher in 30 Dynastien. National Geographic Germany, Hamburg 2009, ISBN 978-3-86690-114-8, S. 57–59.
Zum Namen
Kurt Sethe: Urkunden des Alten Reiches. Band 1 (= Urkunden des ägyptischen Altertums. Band 1,1). Hinrichs, Leipzig 1903, S. 114.
Kurt Sethe: Die altägyptischen Pyramidentexte. Hinrichs, Leipzig 1908, Spruch Nr. 7, 112, N.
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Jürgen von Beckerath: Handbuch der ägyptischen Königsnamen. Deutscher Kunstverlag, München/ Berlin 1984, ISBN 3-422-00832-2, S. 57, 185.
Zur Pyramide
Zahi Hawass: Die Schätze der Pyramiden. Weltbildverlag, Augsburg 2004, ISBN 3-8289-0809-8, S. 272–275.
Mark Lehner: Geheimnis der Pyramiden. Orbis, München 1999, ISBN 3-572-01039-X, S. 161–163.
Rainer Stadelmann: Die ägyptischen Pyramiden. Vom Ziegelbau zum Weltwunder (= Kulturgeschichte der Antiken Welt. Band 30). 2., überarbeitete und erweiterte Auflage. von Zabern, Mainz 1991, ISBN 3-8053-1142-7, S. 196–203.
Miroslav Verner: Die Pyramiden (= rororo-Sachbuch. Band 60890). Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1999, ISBN 3-499-60890-1, S. 399–405.
Für weitere Literatur zur Pyramide siehe unter Pepi-II.-Pyramide
Detailfragen
Michel Baud: The Relative Chronology of Dynasties 6 and 8. In: Erik Hornung, Rolf Krauss, David A. Warburton (Hrsg.): Ancient Egyptian Chronology (= Handbook of Oriental studies. Section One. The Near and Middle East. Band 83). Brill, Leiden/ Boston 2006, ISBN 90-04-11385-1, S. 144–158 (online)
Aidan Dodson, Dyan Hilton: The Complete Royal Families of Ancient Egypt. Thames & Hudson, London 2004, ISBN 0-500-05128-3, S. 70–78 (PDF-Datei; 67,9 MB); abgerufen über Internet Archive.
Naguib Kanawati: Governmental Reforms in Old Kingdom Egypt (= Modern Egyptology series.). Aris & Phillips, Warminster GB 1980, ISBN 0-85668-168-7, S. 62–103.
Alessandro Roccati: La littérature historique sous l’Ancien Empire Egyptien (= Littératures anciennes du Proche-Orient. Band 11). Editions du Cerf, Paris 1982, ISBN 2-204-01895-3, S. 198–220.
Nigel Strudwick: The Administration of Egypt in the Old Kingdom: the highest titles and their holders (= Studies in Egyptology.). Kegan Paul International, London/ Boston 1985, ISBN 0-7103-0107-3.
Laure Pantalacci: Un décret de Pépi II en faveur des gouverneurs de l’oasis de Dakhla [avec 1 planche]. In: Bulletin de l’Institut Français d’Archéologie Orientale. (BIFAO) Band 85, Kairo 1985, S. 245–254.
Renate Müller-Wollermann: Krisenfaktoren im ägyptischen Staat des ausgehenden Alten Reichs. Dissertations-Druck, Darmstadt 1986; zugleich Dissertation. Eberhard-Karls-Universität Tübingen.
Hans Goedicke: The Death of Pepi II - Neferkareˁ. In: Studien zur altägyptischen Kultur. (SAK) Band 15, Hamburg 1988, S. 111–121.
Hans Goedicke: The Pepi II Decree from Dakhleh [avec 1 planche]. In: Bulletin de l’Institut Français d’Archéologie Orientale. Band 89, Kairo 1989, S. 203–212.
E. Schott: Das Goldhaus unter König Pepi II. In: Göttinger Miszellen. (GM) Nr. 9, Göttingen 1974, S. 33–38.
Benjamin Geiger: Ägypten in der Regierung Pepis II. Untersuchung des Zerfalls des administrativen Systems des Alten Reichs. Dissertation. Universität Zürich, Zürich 1990.
James F. Romano: A Sed-Festival Statuette of Pepy II in the Brooklyn Museum. In: Göttinger Miszellen. Nr. 120, Göttingen 1991, S. 73–84.
James F. Romano: Mastabas in Balat. In: Michel Valloggia, Nessim Henry Henein, Jean Vercoutter: Balat. Band I: Le Mastaba de Medou-Nefer (= Fouilles de l’Institut Français d’Archéologie Orientale du Caire. Band 31). Institut Français d’Archéologie Orientale du Caire (IFAO), Le Caire 1986; Band II: Le Mastaba d’Ima-Pepi (= Fouilles de l’Institut Français d’Archéologie Orientale du Caire. Band 33). IFAO, Le Caire 1992.
Michel Vallogia: Un groupe statuaire découvert dans le mastaba de Pepi-Jma à Balat (avec 4 planches). In: Bulletin de l’Institut Français d’Archéologie Orientale. Band 89, Kairo 1989, S. 271–282 mit Tafeln 33–35.
Jürgen von Beckerath: Chronologie des pharaonischen Ägypten. von Zabern, Mainz 1994, ISBN 3-8053-2310-7, S. 27, 40, 73, 148–152, 188.
Weblinks
The Ancient Egypt Site (englisch)
Pepi II. auf Digital Egypt (englisch)
Einzelnachweise
Altägyptischer König (Altes Reich)
6. Dynastie (Ägypten)
Geboren im 23. Jahrhundert v. Chr.
Gestorben im 22. Jahrhundert v. Chr.
Mann |
145908 | https://de.wikipedia.org/wiki/Gerfalke | Gerfalke | Der Gerfalke (Falco rusticolus) ist die weltweit größte Falkenart. Er ist zirkumpolar in den arktischen Regionen Eurasiens und Nordamerikas sowie Grönlands vertreten und besiedelt dort die Tundra. In Mitteleuropa ist er nur sehr selten als Wintergast zu beobachten und hält sich dann meist in Küstennähe auf.
Der Gerfalke, dessen horizontale Fluggeschwindigkeit die des Wanderfalken übertrifft, wird seit dem Mittelalter als Beizvogel (Jagdfalke) sehr geschätzt. Weiße Gerfalken galten als besonders wertvoll und zählten regelmäßig zu den Geschenken an und zwischen Fürstenhäusern.
Erscheinungsbild
Körpergröße und Erkennungsmerkmale
Der etwa mäusebussardgroße Gerfalke ist die weltweit größte Falkenart. Die Körperlänge eines Gerfalken beträgt zwischen 48 und 61 Zentimeter. 19 bis 24 Zentimeter der Körperlänge entfallen dabei auf den Stoß (Steuerfeder). Die Spannweite beträgt zwischen 105 und 131 cm. Die Art zeigt hinsichtlich Größe und Gewicht einen deutlichen Geschlechtsdimorphismus; Männchen wiegen 960 bis 1300 Gramm, im Mittel 1070 Gramm, Weibchen 1400 bis 2000 Gramm, im Mittel 1710 Gramm. Die Färbungsunterschiede zwischen den Geschlechtern sind hingegen gering, Männchen haben ein tendenziell etwas blasseres Federkleid als die Weibchen.
Die Flügel sind vor allem am Körperansatz breiter, die Armschwingen sind länger und die Handschwingen sind voller und verlaufen spitzer als beim Wanderfalken. Auffallend ist der lange und breite Schwanz. Die Wachshaut und die Füße sind bei Jungvögeln blaugrau. Altvögel weisen hier dagegen eine gelbe Färbung auf. Die Iris ist dunkelbraun, der sie umgebende Augenring ist gelb. Der Schnabel ist von graublauer Farbe; die Schnabelspitze ist deutlich dunkler.
Die unterschiedlichen Farbmorphen
Die Gefiederfarbe des Gerfalken ist sehr variabel. Es gibt weiße Farbmorphe, die lediglich schwarze Flügelspitzen aufweisen und solche, deren Federkleid eine Vielzahl dunkler Flecken aufweisen. Daneben gibt es Farbmorphen mit einfarbig grauer oder graubrauner Körperoberseite, graue Vögel mit dunklen Querstreifen und heller Unterseite sowie fast einfarbig schwarzbraune Individuen.
In der ornithologischen Literatur werden Gerfalken meist als trimorph bezeichnet und weiße, graue und dunkle Gerfalken unterschieden. Die unterschiedlichen Farbmorphen werden dabei immer wieder als geographisch bedingt beschrieben. Die früher in der Falknerei begehrten weißen Farbmorphen kommen danach überwiegend in Grönland und Ostsibirien vor; graue Gerfalken sind dagegen typisch für Island und Südgrönland, während die dunklen Farbmorphen vor allem in Skandinavien, Nordfinnland und Nordrussland auftreten. Der Ornithologe Todd wies allerdings bereits 1963 darauf hin, dass die Farbe des Federkleids beim Gerfalken eher ein individuelles als ein geographisch bedingtes Merkmal ist. Die ausführlichen statistischen Analysen, die die Ornithologen Potapov und Sale auf Basis von 1310 Vogelbälgen vornahmen, bestätigen dies. Unterschiedliche Farbmorphen können in allen Populationen auftreten: Von 55 ausgewachsenen Gerfalken, die 1968 auf der Seward-Halbinsel in Alaska beobachtet wurden, waren 12,7 Prozent braungrau, 56,4 Prozent grau, 16,4 Prozent hellgrau, 5,5 Prozent wiesen ein cremefarbenes Federkleid mit grauen Querstreifen auf und 9,1 Prozent waren weiß. Der Anteil einer spezifischen Farbmorphe am Bestand ist dabei offenbar Schwankungen unterworfen. Der Anteil weißer Gerfalken betrug auf der Kamtschatka-Halbinsel zwischen 1981 und 1990 39,3 Prozent und ging für den Zeitraum von 1991 bis 1999 auf 20 Prozent zurück.
Unterarten
Der Gerfalke ist nach heutigem Wissensstand eine monotypische Art. In der älteren ornithologischen Literatur findet man noch je nach Autor zwischen vier und sieben Unterarten. Die Unterscheidung in Unterarten basierte auf der unterschiedlichen Gefiederfärbung, die bei Gerfalken zu beobachten ist. Carl von Linné ordnete die Farbmorphen sogar noch unterschiedlichen Arten zu. Da die Definition einer Unterart ein distinktes Verbreitungsgebiet voraussetzt, die Farbmorphen jedoch in allen Populationen auftreten können, stellt die Gefiederfärbung aus heutiger Sicht nicht länger eine Basis für die Abgrenzung von Unterarten dar.
Die früher gelegentlich als Altaifalke oder Altai-Gerfalke (Falco altaicus) bezeichnete Großfalkenpopulation, die im mittelasiatischen Altai- und Sajangebirge vorkommt, wird heute als Unterart des Sakerfalken betrachtet (Falco cherrug milvipes), wobei eine genetische Differenzierung dieser Unterart vom Gerfalken nicht möglich ist. Möglicherweise hatte diese Unterart nach ihrer Ausbreitung in Zentralasien noch mehrfach Kontakt mit dem Gerfalken, so dass Hybridisierungen auftraten.
Verwechslungsmöglichkeiten
Bei Feldbeobachtungen, bei denen die Größe eines Vogels schwierig zu bestimmen ist, können Gerfalken leicht mit anderen Falkenartigen oder Greifvogelarten verwechselt werden. So gleichen sich die Silhouetten des etwas kleineren Sakerfalken und des Gerfalken. Der Sakerfalke weist mit dem weißen Überaugstreifen und dem dunklen Bartstreif einen kontrastreicher gefärbten Kopf als der Gerfalke auf. Auch der in der Regel deutlich kleinere Wanderfalke weist am Kopf einen deutlichen Kontrast zwischen dem Bartstreifen und den hellen Backen auf, der bei Gerfalken gewöhnlich fehlt. Bei Feldbeobachtungen in Nordeuropa ist auf große Entfernung der Habicht besonders schwierig vom Gerfalken zu unterscheiden. Der Habicht weist jedoch eine leicht s-förmig gebogene Flügelhinterkante auf, der Schwanz ist fächerförmiger. Bei Habichten wechseln Gleitflugphasen mit wenigen Flugschlägen ab. Beim Gerfalken dagegen sind die aktiven Flugphasen deutlich länger.
Verbreitungsgebiet und Lebensraum
Lebensraum und weltweites Verbreitungsgebiet
Der Gerfalke ist eine zirkumpolar verbreitete Falkenart, dessen Brutgebiete in der Arktis und Subarktis liegen. Die südlichsten Brutnachweise liegen für Eurasien auf der Kamtschatka-Halbinsel bei 54° 35′ N, 161° 7′ O und für Nordamerika auf Long Island an der südöstlichen Küste der Hudson-Bay bei . In Europa ist er ein Brutvogel in Island, Norwegen, Schweden, Finnland und Russland. In Asien brütet er nur in Russland. Die amerikanischen Brutgebiete liegen im US-amerikanischen Bundesstaat Alaska sowie Kanada und Grönland.
Die nördliche Grenze seines Brutgebietes ist im Wesentlichen vom Vorkommen seiner wichtigsten Beute, dem Alpen- und dem Moorschneehuhn bestimmt. Obwohl der Gerfalke in der Literatur als die Falkenart der Hocharktis beschrieben wird, brüten Wanderfalken, die ein breiteres Beutespektrum haben, gelegentlich weiter nördlich als diese Art. Für das Jagdverhalten des Gerfalken ist eine offene, nur mit niedrigem Gebüsch bewachsene Landschaft notwendig. Die Brutreviere müssen außerdem Felsklippen oder Waldinseln aufweisen. Charakteristische Brutreviere sind daher Tundren, die von felsigen Flusstälern durchschnitten sind, sowie Felsküsten in der Nähe von Seevogelkolonien. Die südliche Verbreitungsgrenze seines Vorkommens stellen die Regionen dar, in denen die Waldtundra oder Waldsteppe in dichtere Waldbestände übergeht.
Die eurasischen Brutgebiete
Gerfalken brüten in allen Gebieten Islands, wobei sich die größte Populationsdichte im Norden der Insel findet. Die südlichsten Brutgebiete in Norwegen liegen bei Sirdalsheiene und erstrecken sich von dort bis in das Tal des Pasvik Flusses im Norden Norwegens. In Schweden ist der Gerfalke fast ausschließlich ein Brutvogel der alpinen Tundra. Er brütet im nördlichen Teil von Dalarna, im Westen von Jämtland sowie in Härjedalen, Lappland und im Norden von Norrbotten. Das Brutgebiet in Finnland beschränkt sich auf Nordfinnland. Das Gebiet der beiden nordfinnischen Gemeinden Inari und Utsjoki soll die höchste Bestandsdichte an Gerfalken in Finnland aufweisen. Über die Brutgebiete in Russland liegen keine vollständigen Informationen vor, so dass die nördliche und südliche Verbreitungsgrenze in dieser Region bis jetzt nur unzureichend bestimmt ist. Potapov und Sale weisen darauf hin, dass viele russische Ornithologen bewusst darauf verzichten, Brutnachweise zu publizieren, um so zu verhindern, dass die Nester ausgeraubt werden. Nach jetzigem Wissensstand erstrecken sich die Brutgebiete der Gerfalken von Finnland ausgehend über die Kola-Halbinsel bis nach Sibirien und liegen überwiegend nördlich des Polarkreises. Gerfalken fehlen allerdings auf den arktischen Inseln Russlands.
Die Brutgebiete in Alaska, Kanada und Grönland
Das Brutgebiet in Nordamerika erstreckt sich in Alaska von den Aleuten über die Seward-Halbinsel und der Brooks Range bis zum Chugach-Gebirge. In Kanada brüten Gerfalken auf den meisten der arktischen Inseln, darunter der Ellesmere-Insel, sowie im arktischen Tiefland und der Waldsteppe. Brutnachweise gibt es bislang für die kanadischen Provinzen British Columbia, den nördlichen Teil von Québec und Labrador. Auf Grönland brüten Gerfalken nur in der Küstenregion.
Zug
Die verschiedenen Populationen der Gerfalken weisen kein einheitliches Zugverhalten auf. Die in der Westpaläarktis lebenden Gerfalken sind Stand- und Strichvögel. Bei den im skandinavischen Raum lebenden Gerfalken verbleiben Altvögel überwiegend ganzjährig in ihrem Revier. Nur Jungvögel streifen stärker umher, so dass sich einzelne Exemplare während des Winterhalbjahrs auch in Dänemark, Irland und Großbritannien beobachten lassen.
Die in der russischen Tundrazone lebenden Gerfalken sind dagegen Zugvögel, die von der Tundra- in die Taigazone ziehen und dabei eine Strecke von 1.000 bis 2.000 Kilometer zurücklegen. Die im Osten Grönlands brütenden Gerfalken ziehen im September nach Island und kehren im April in ihre Brutgebiete zurück, die übrigen Vögel überwintern in den südlichen Küstenregionen Grönlands.
Fortpflanzung
Balz und Paarung
Auslöser des Balzverhaltens ist in der Regel ein ausreichendes Vorhandensein von Schneehühnern, da der Gerfalke besonders in der frühen Fortpflanzungsphase nahezu ausschließlich diese Beutetiere schlägt. Ausnahmen von dieser Regel sind Regionen, in denen ein überreiches Angebot an anderen Beutetieren wie etwa Lemmingen oder Seevögeln besteht. Die Balz beginnt häufig bereits im Februar. Das Balzverhalten unterscheidet sich nicht von dem anderer Falken. Zum Balzverhalten zählen Horstscharren, die Übergabe von Futter vom Männchen an das Weibchen, intensives Rufen und ein Verbeugen der Vögel voreinander, wobei der Schnabel nicht auf den Partner weist und das Gefieder eng angelegt ist. Mit Balzflügen weist der männliche Gerfalke das Weibchen auf den Horst hin. Dazu gehören Kreisflüge hoch oberhalb des Horstes sowie acht-förmige Flugfiguren direkt vor dem Nest. Der Kreuzpunkt dieser achtförmigen Flugfigur ist direkt vor dem Nest. Häufig trägt er dabei sogar ein Beutetier im Schnabel.
Die Paarungen finden in der Regel nicht in der Nähe des Horstes statt und setzen sich bis zum Beginn der Eiablage fort.
Brutrevier und Nest
Die Größe eines Gerfalken-Brutreviers beträgt zwischen 63 und 137 Quadratkilometer. Nur die unmittelbare Umgebung des Nestes wird verteidigt, wobei Artgenossen eher Aggressionen auslösen als andere Vögel. Nester anderer Falkenartiger wie etwa des Wanderfalken wurden schon weniger als 250 Meter vom Horst der Gerfalken entfernt gefunden. Die Jagdreviere benachbarter Gerfalkenpaare dagegen können sich überschneiden. Der geringste Abstand, den man bisher in Island zwischen den Horsten benachbarter Gerfalkenpaare gemessen hat, betrug 5,5 Kilometer.
Wie für Falken typisch, bauen Gerfalken keinen eigenen Horst. Sie nutzen entweder geschützte Stellen unterhalb von Felsvorsprüngen in steilen Felswänden und legen dort ihre Eier direkt in eine mit Moos und Flechten ausgepolsterte Bodenmulde oder sie nutzen Horste anderer Vögel wie etwa Kolkrabe, Steinadler, Seeadler oder Raufußbussard. Insbesondere Nester des Kolkraben werden häufig von Gerfalken genutzt. Gerfalkenpaare sind gewöhnlich in der Lage, Raben von deren frisch gebautem Nest zu verjagen und dieses zu besetzen. Ähnliches ist auch für Steinadler beschrieben worden, deren Horste insbesondere in Alaska von Gerfalken genutzt werden. In einem Fall gab ein Steinadlerpaar bereits nach der ersten Eiablage ihren Horst auf, nachdem ein unverpaarter Gerfalke wiederholt Angriffe auf den Horst flog. In der Waldtundra brütende Vögel nutzen auch bereits bestehende Baumhorste. Gerfalken gelten als sehr reviertreu und nutzen Horste immer wieder. Für einzelne Horste ist eine Nutzung über Jahrzehnte nachgewiesen.
Eiablage
Auf Island, in Kanada, Russland und Skandinavien wurden Weibchen bereits zu Anfang April bei der Eiablage beobachtet. In der Hocharktis beginnt das Weibchen jedoch erst im Mai seine Eier zu legen. Der Gerfalke ist damit vermutlich der Vogel der Arktis mit dem frühesten Brutbeginn. Lediglich für den Kolkraben kann nicht ausgeschlossen werden, dass er noch früher mit der Brut beginnt.
Das Weibchen beginnt etwa 10 Tage vor dem Beginn der Eiablage ausschließlich von Beute zu leben, die das Männchen heranträgt. Die Beute wird in der Regel in der Luft zwischen den beiden Elternvögeln übergeben.
Der Legeabstand zwischen den einzelnen Eiern beträgt zwei bis drei Tage. Die Eier sind von gelblicher Farbe und rotbraun gefleckt oder gesprenkelt. Ein Gerfalkengelege weist in der Regel zwischen drei und vier Eiern auf. Das Weibchen sitzt gelegentlich bereits nach der ersten Eiablage auf dem Nest. Die eigentliche Brut beginnt gewöhnlich nach der Ablage des dritten Eis. Die Brutzeit beträgt etwa 34 bis 36 Tage. Das Männchen ist überwiegend damit beschäftigt, Futter heranzuschaffen. Der Anteil des Männchens an der Bebrütung der Eier und dem späteren Hudern der Nestlinge wird nach Feldbeobachtungen in Kanada auf 17 bis 24 Prozent geschätzt.
Jungvögel
Der Schlupf der Jungvögel verläuft annähernd synchron. Meist sind innerhalb von 72 Stunden alle Jungvögel eines Geleges geschlüpft. Die Küken weisen untereinander kein aggressives Verhalten auf. Während der Brutzeit und der ersten 18 bis 25 Nestlingstage trägt ausschließlich das Männchen das Futter herbei. Die Futterübergabe zwischen dem Weibchen und dem Männchen findet in den ersten Nestlingstagen in der Regel außerhalb des Nestes statt. Das Weibchen fliegt dem Männchen entgegen und übernimmt in der Luft die Beute. Gelegentlich legt das Männchen die Beute jedoch auch auf einem Felsvorsprung unweit des Horstes ab und das Weibchen holt diese von dort. Weibchen beginnen sich in der Regel erst gegen Ende der dritten Nestlingswoche an der Beschaffung von Nahrung für die Jungvögel zu beteiligen. Von da an trägt das Männchen auch Nahrung direkt ins Nest. Männchen übergeben in der Regel ihre Beutetiere vollständig an die Jungen. Weibchen füttern häufig während der gesamten Nestlingszeit die Jungvögel.
Die Jungen verlassen im Alter von 46 bis 53 Tagen das Nest. Im Mittel fliegen 2,3 Junge pro Jahr und Paar aus. Sie werden noch zwischen vier bis sechs Wochen von den Elternvögeln mit Nahrung versorgt. Mitunter verbleiben die Gerfalken nach ihrem ersten Flug bis zu einer Woche am Boden und werden dort von den Elternvögeln gefüttert. Die erste Beute, die sie selber schlagen, sind normalerweise die Jungvögel anderer Vogelarten sowie kleinere Säugetiere. In den Regionen, in denen Schneehühner die Hauptbeute darstellen, fällt das Flüggewerden der jungen Schneehühner mit den ersten Jagdversuchen der Gerfalken zusammen.
Mit dem Beginn der Brutzeit beginnt beim Weibchen auch die Mauser. Diese setzt sich bis Oktober und November fort. Beim Männchen, das das Weibchen während der Brutzeit und später auch die Jungvögel mit Beute versorgt, beginnt die Mauser in der Regel zwei Wochen später.
Lebenserwartung
Die Überlebensquote junger Gerfalken ist noch nicht hinreichend untersucht. Vermutet wird, dass 50 Prozent der flügge gewordenen Gerfalken im ersten Lebensjahr sterben. Die Sterblichkeitsrate geht nach dem ersten Lebensjahr deutlich zurück – Untersuchungen in Island lassen darauf schließen, dass von 10 ausgewachsenen Gerfalken neun das nächste Lebensjahr erreichen. Zur Schwächung ausgewachsener Vögel kann ein Befall durch Zecken und Nematoden beitragen.
Geschlechtsreif werden weibliche Gerfalken in ihrem zweiten oder dritten Lebensjahr. Männliche Gerfalken pflanzen sich erst in ihrem vierten Lebensjahr das erste Mal fort. Der bislang älteste beringte Gerfalke, den man wiedergefunden hatte, war ein Männchen, das zwölf Jahre alt wurde.
Nahrung und Nahrungserwerb
Die Hauptbeute des Gerfalken sind in der Regel Schneehühner. Insbesondere während der Eiablage machen Schneehühner bis zu 98 % des Beutespektrums aus. Zum Beutespektrum zählen jedoch auch Lemminge, Schneehasen, verschiedene Kleinvogelarten sowie Raufußhühner und Enten. Ihr Anteil am Gesamtbeutespektrum steigt mit dem Anbruch des arktischen Sommers. Gerfalken, die in der Nähe von Seevogelkolonien brüten, schlagen auch Möwen und Limikolen.
Zwei Jagdtechniken sind für den wendigen und schnellen Gerfalken typisch. Entweder stößt er aus einem kreisenden Suchflug heraus steil auf die Beute herab. Nach einzelnen Beobachtungen erreicht er im Sturzflug eine Geschwindigkeit von 160 bis 208 Kilometern in der Stunde. Alternativ fliegt der Gerfalke dicht über dem Boden und überrascht dabei sitzende oder auffliegende Vögel. Dieser Jagdflug wird gelegentlich durch Ansitze auf niedrigen Warten unterbrochen.
Beide Jagdtechniken resultieren daraus, dass der Jagderfolg eines Gerfalken dann am größten ist, wenn er Schneehühner in den ersten Sekunden nach ihrem Auffliegen schlägt. Die Schneehühner haben dann noch nicht ihre volle Fluggeschwindigkeit erreicht und können auch nur eingeschränkt den Flugmanövern des Gerfalken ausweichen. Im Horizontalflug können Schneehühner für kurze Strecken schneller fliegen als Gerfalken und schaffen es regelmäßig, ihm zu entkommen. Aus der Falknerei weiß man, dass Gerfalken ihre Beute gelegentlich immer wieder aus ihrer Deckung hochjagen und im Flug verfolgen, bis diese erschöpft zur Landung gezwungen sind. Die Beute wird dann am Boden geschlagen.
Der Nahrungsbedarf von Gerfalken wird auf etwa täglich 240 Gramm Fleisch für einen männlichen und etwa 300 Gramm für einen weiblichen Gerfalken geschätzt. Der Nahrungsbedarf von Nestlingen verändert sich innerhalb der Nestlingszeit, beträgt durchschnittlich aber etwa 170 Gramm. Um den Nahrungsbedarf von zwei ausgewachsenen Gerfalken sowie drei Nestlingen abzudecken, müssen die Eltern täglich etwa drei Alpenschneehühner schlagen.
Die Beute wird, sofern nicht bereits von der Wucht des Zusammenpralls, durch einen anschließenden Biss in den Nacken beziehungsweise Hinterschädel getötet. Gewöhnlich wird die Beute an Ort und Stelle gerupft und gefressen. Beute wird mit den Fängen zum Horst transportiert, wenn dort Nestlinge zu versorgen sind. Bei gutem Jagderfolg werden auch Nahrungsdepots angelegt. Gerfalken jagen sowohl während des Tages als auch in der Dämmerung. Auch bei schwachem Licht können sie noch sehr gut sehen.
Bestand
Es ist sehr schwierig, Gerfalken in freier Natur zu beobachten, Bestandszahlen basieren deswegen meist auf groben Schätzungen. So schätzte man den norwegischen Bestand in den 1970er Jahren nur auf 10 bis 12 Brutpaare. In den 1990er Jahren wurde diese Zahl dann auf 300 bis 500 Paare korrigiert. Die Ornithologen Potapov und Sale wählten deshalb einen statistischen Ansatz, bei dem sie zunächst die Gesamtfläche der für Gerfalken geeigneten Lebensräume ermittelten. Nach ihren Berechnungen kommen auf 1.000 Quadratkilometer geeigneten Lebensraum etwa 1,5 Brutpaare. Sie schätzen daher den weltweiten Bestand auf etwas mehr als 11.000 Brutpaare. Die jeweils jüngsten Bestandsschätzungen der Länder, in denen Gerfalken brüten, die Potapov und Sale zusammengetragen haben, ergeben als Minimalbestand 7.880 Brutpaare und als Maximum 10.990. Den größten Bestand weisen dabei Kanada mit 2.550 bis 3.200 und Russland mit 3.500 bis 5.000 Brutpaaren auf. In der Westpaläarktis brüten vermutlich im Mittel 1.028 Gerfalkenpaare.
Der Gerfalke gilt als eine der Arten, die von einer Klimaerwärmung besonders betroffen sind. Ein Forschungsteam, das im Auftrag der britischen Umweltbehörde und der RSPB die zukünftige Verbreitungsentwicklung von europäischen Brutvögeln auf Basis von Klimamodellen untersuchte, geht davon aus, dass sich das Brutareal des Gerfalken bis zum Ende des 21. Jahrhunderts um mehr als 60 Prozent verringern wird. Nach dieser Prognose wird sich vor allem das Brutareal in Island, Fennoskandinavien und Nordrussland deutlich verkleinern. Potentielle neue Brutareale entstehen zwar auf Spitzbergen und im Süden von Nowaja Semlja, doch können diese den Verlust der anderen Brutgebiete nicht kompensieren.
Systematik
Die systematische Einordnung des Gerfalken ist heute umstritten. Nach neueren genetischen Untersuchungen bildet der Gerfalke gemeinsam mit dem Sakerfalken (Falco cherrug), dem Lanner (Falco biarmicus) und dem Laggarfalken (Falco jugger) eine monophyletische Gruppe. Diese vier Arten sind genetisch nicht voneinander abgrenzbar. Es handelt sich um Morphospezies, die genetisch bisher kaum differenziert sind und deren Radiation evolutionsgeschichtlich jungen Datums ist.
Ursprungsart ist wahrscheinlich der Lannerfalke, der heute vor allem in weiten Teilen Afrikas verbreitet ist. Von dort dürfte auch die Ausbreitung erfolgt sein. Daher wird für diese vier Formen eine Vereinigung in einer Superspezies Hierofalco vorgeschlagen.
Phylogenese einiger Falkenarten:
Mensch und Gerfalke
Gerfalken und die Falknerei
Der Gerfalke gehört seit langer Zeit zu den in der Falknerei besonders geschätzten Beizvögeln. Dschingis Khan erhielt von verschiedenen Clans Tributzahlungen in der Form von Gerfalken. Nach der Niederlage des Kreuzzugsheers bei Nikopolis im Jahre 1396 kaufte König Sigismund mit zwölf weißen Gerfalken Jean de Nevers aus türkischer Gefangenschaft frei.
Friedrich II. war ein begeisterter Falkner. In seinem Buch über die Falknerei widmet er ein Kapitel dem Gerfalken und bezeichnet ihn als den besten aller Beizvögel. Bereits 1378 gab es in Lübeck ein Handelshaus, in dem Gerfalken aus Norwegen für die Falknerei ausgebildet und unter anderem in Nürnberg, Venedig und sogar Alexandria verkauft wurden. Der dänische Königshof ließ sich in den Jahren von 1731 bis 1793 fast 5000 Gerfalken aus Island liefern, um sie als diplomatische Geschenke an fast alle europäische Königshofe zu senden. In Russland gehörten alle Gerfalken ausschließlich dem Zaren und die Fallensteller, die im Auftrag des Zaren Gerfalken fingen, waren mit einem besonderen Erlass ausgestattet, der ihre Versorgung mit Nahrung und Unterkunft auf dem Weg in die Fanggebiete sicherstellte. Auch die russischen Zaren nutzten Gerfalken dabei regelmäßig als diplomatisches Geschenk: Boris Godunow sandte Gerfalken beispielsweise an den Schah von Persien und den chinesischen Kaiser.
Auch in der Zeit des Nationalsozialismus fanden Versuche statt, weiße Gerfalken in Deutschland anzusiedeln. 1938 finanzierte die Hermann-Göring-Stiftung und der Reichsjägerhof „Hermann Göring“ die Herdemerten-Grönland-Expedition nach Westgrönland. Vordringliches Ziel der Expedition war das Studium der grönländischen Gerfalken. Der Expeditionsleiter Kurt Herdemerten brachte fünf lebende weiße Exemplare zurück nach Deutschland, zu deren Akklimatisierung und Erforschung er Ende 1938 die polare Versuchsstation „Goldhöhe“ im Riesengebirge einrichtete. Bei Kriegsende gingen die Forschungseinrichtung und die Vögel verloren.
Gerfalken in der Falknerei heute
Die Begeisterung für die Falknerei, die als vornehmste Jagdform auf zahlreichen Adelssitzen gepflegt wurde, hielt in Europa bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts an. Seitdem ist die Zahl der in Gefangenschaft gehaltenen Falken und damit auch die der Gerfalken stetig zurückgegangen. Schwerpunkte sind heute Nordamerika und vor allem die Länder im Nahen Osten. Der Bedarf an Gerfalken in westlichen Ländern wird offenbar durch Nachzuchten von in Gefangenschaft gehaltenen Falken gedeckt. Lediglich in Alaska dürfen jährlich bis zu zehn Gerfalkenjungen aus den Nestern wilder Falken entnommen werden. Die Tiere dürfen allerdings weder ins Ausland noch in einen anderen US-Bundesstaat exportiert werden. Auch in Kanada dürfen Gerfalken mit behördlicher Genehmigung gefangen werden. Es gibt zudem Überlegungen, den Inuit in Nordkanada gegen eine Zahlung von 2.000 Kanadischen Dollar die Erlaubnis für den Gerfalkenfang auszustellen. Im Nahen Osten hat die Falknerei einen traditionell hohen Status, hier werden für weiße und schwarze Gerfalken nach wie vor sehr hohe Preise bezahlt. Durch ihre Hitzeanfälligkeit sind Gerfalken allerdings für die Falknerei im Nahen Osten ungeeignet. Sie gelten als tuyur majlis (Wohnzimmer-Falken), die nur einen reinen Schauwert haben.
Nach wie vor werden wegen des monetären Wertes der Vögel illegal Nester ausgeraubt oder Tiere gefangen. Diese Probleme treten in allen Ländern auf, in denen Gerfalken brüten. Besonders stark ist die Wilderei in Russland verbreitet, wo sie seit 1980 außerdem deutlich zugenommen hat. Der starke Rückgang weißer Farbmorphen im Zeitraum 1980 bis 1999 auf der Kamtschatka-Halbinsel wird vor allem auf Wilderei zurückgeführt.
Literatur
Lothar Ciesielski: Der Gerfalke – Falco rusticolus L. (= Die Neue Brehm-Bücherei. Band 264). Westarp Wissenschaften, Hohenwarsleben 2007, ISBN 978-3-89432-198-7.
Theodor Mebs: Greifvögel Europas. Biologie. Bestandsverhältnisse. Bestandsgefährdung. Kosmos Naturführer, Stuttgart 1989.
Benny Génsbøl, Walther Thiede: Greifvögel. Alle europäischen Arten, Bestimmungsmerkmale, Flugbilder, Biologie, Verbreitung, Gefährdung, Bestandsentwicklung. BLV Verlag, München 1997, ISBN 3-405-14386-1.
G. P. Dementiew, N. N. Gortchakovskaya: On the Biology of the Norwegian Gyrfalcon. In: Ibis. 4, 1945, S. 559–565.
F. Nittinger, E. Haring, W. Pinsker, M. Wink, A. Gamauf: Out of Africa? Phylogenetic relationships between Falco biarmicus and the other hierofalcons (Aves: Falconidae). In: Journal of Zoological Systematics and Evolutionary Research. Volume 43, Nr. 4, Nov 2005, S. 321–331. Blackwell Publishing Oxford, .
Eugene Potapov, Richard Sale: The Gyrfalcon. T & A D Poyser, London 2005, ISBN 0-7136-6563-7.
Richard Sale: A Complete Guide to Arctic Wildlife. Verlag Christopher Helm, London 2006, ISBN 0-7136-7039-8.
W. E. C. Todd: Birds of the Labrador Peninsula and adjacent areas. Toronto University Press, Toronto 1963.
Walter Bednarek: Greifvögel – Biologie, Ökologie, Bestimmen, Schützen. Verlag J. Neumann-Neudamm, Melsungen 1996, ISBN 3-7888-0837-3.
Weblinks
Aufnahmen aus freier Natur auf www.fokus-natur.de
Federn des Gerfalken
Einzelnachweise
Falkenartige
Beizvogel |
151256 | https://de.wikipedia.org/wiki/Johann%20Andreas%20Eisenbarth | Johann Andreas Eisenbarth | Johann Andreas Eisenbarth (auch Eisenbart, Eysenbart, Eysenparth; geboren vermutlich am 27. März 1663 in Oberviechtach in der Oberpfalz; † 11. November 1727 in Hannoversch Münden), genannt oft nur „Doktor Eisenbarth“ oder „Doktor Eysenbarth“, war ein deutscher Handwerkschirurg, der durch seine Heilerfolge als fahrender Wundarzt, insbesondere als Stein- und Bruchschneider sowie augenärztlich als Starstecher landesweit großen Ruhm erlangte. In Preußen wurde er wegen seiner augenärztlichen Leistungen vom „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I. zum Hofrat und Hof-Augenarzt ernannt. Bis heute bekannt geblieben ist Eisenbarth jedoch, obwohl er nie einen Doktor-Grad führte, vor allem durch ein um 1800 verfasstes Trinklied mit dem Titel Ich bin der Doktor Eisenbart.
Eisenbarth wurde zwischen 1686 und 1715 von zahlreichen Landesherren mit Privilegien ausgestattet, die es ihm ermöglichten, als Landarzt „in einem zusammenhängenden Gebiet von – selbst für heutige Begriffe – ungeheurem Ausmaß tätig zu werden, ohne bei seiner Reisetätigkeit von Landesgrenzen […] behindert zu werden und damit ohne die sonst üblichen Zölle für seine mitgeführten Arzneimittel zahlen zu müssen.“ Dies ermöglichte es ihm, die rund 20 in seiner Magdeburger Manufaktur produzierten Heilmittel so gewinnbringend zu vertreiben, dass er zeitweise mit 120 Helfern von Ort zu Ort ziehen und als einer der ersten Ärzte in Deutschland Flugblätter und in Zeitungen Inserate als Werbemittel nutzen konnte. Eisenbarths Operationstechniken wurden noch 25 Jahre nach seinem Tod von dem Begründer der wissenschaftlichen Chirurgie in Deutschland, Lorenz Heister, als mustergültig gewürdigt.
Leben
Jugend- und Lehrzeit
Johann Andreas Eisenbarth wurde am 27. März 1663 in der katholischen Pfarrkirche St. Johannis Baptistae (= St. Johannes des Täufers) in Oberviechtach getauft – wohl wie damals üblich am Tag der Geburt oder am darauffolgenden. Er war das dritte Kind seines Vaters, des Bruchschneiders (= Chirurg für Leistenbrüche) und Okulisten (= Augenarzt) Matthias Eisenbarth (1627–1673) und dessen Ehefrau Maria Magdalena geb. Schaub. Sein Großvater Wilhelm Eysenbart (um 1588–1646) stammte vermutlich aus Unterkochen und war als Spitalknecht (= Arbeiter in einem Alten- und Armenhaus) in Dinkelsbühl beschäftigt gewesen. Durch seine Nebentätigkeit als Sauschneider sowie – laut Angaben von Johann Andreas Eisenbarths Vater – als Chirurg kam Wilhelm Eysenbart zu einigem Wohlstand.
Unmittelbar nach dem frühen Tod seines Vaters wurde Johann Andreas 1673 – im Alter von zehn Jahren – in die Obhut seines Schwagers Alexander Biller, des Ehemanns einer älteren Schwester, gegeben. Biller praktizierte damals in Bamberg als Okulist, Steinschneider und Bruchschneider. Aufgrund der verwandtschaftlichen Beziehungen musste die nach dem Tod ihres Mannes mittellos zurückgebliebene Mutter für Johann Andreas kein Lehrgeld für dessen Ausbildung in der Kunst der Chirurgie und Wundarzneikunde zahlen. Anfang der 1690er Jahre wurde Biller aufgrund seiner guten chirurgischen Leistungen „in der Churfürstl. Bayerischen Residentz München, verordtneter Landschafft Stadt, undt Hospithal Arzt“.
Unterbrochen von einem halbjährigen Klosteraufenthalt führte Johann Andreas Eisenbarth nach insgesamt zehnjähriger Ausbildung und der anschließend vorgeschriebenen Wanderzeit (ab 1678) im Jahr 1684 in Laufen bei Salzburg sein „Probierstück“ des Handwerkschirurgen vor: einen Starstich bei einem 50-jährigen Mann. Danach blieb er ein weiteres Jahr bei seinem Schwager in Bamberg und ging 1686 nach Altenburg, der Residenzstadt der Herzöge von Sachsen-Gotha-Altenburg.
Privilegierter Landarzt in Sachsen-Gotha-Altenburg
Nach seinem Umzug von Bamberg nach Altenburg arbeitete Johann Andreas Eisenbarth zunächst bei dem Handwerkschirurgen-Meister Johann Heinigke, von dem er sich aber bereits ein halbes Jahr später wieder trennte. Am Marktplatz in Altenburg eröffnete er stattdessen eine eigene Praxis, was aber – belegt durch einen Denunziationsbrief vom 8. Juni 1686 an den Herzog – umgehend auf die Missgunst seiner schon länger ortsansässigen Kollegen stieß. Zeitlebens verzichtete Eisenbarth auf die Meisterprüfung, vermutlich wegen der hohen Prüfungsgebühren. Dies hatte jedoch zur Folge, dass er auch „später immer wieder Konflikte mit seinen zünftigen Standeskollegen austragen und sich den Prüfungen der Medizinalbehörden stellen“ musste und sich zunächst nirgends als selbständiger Handwerkschirurg niederlassen konnte und daher als Wanderarzt umherziehen musste.
In Altenburg trat Eisenbarth schon am 27. Juni 1686 zum evangelischen Glauben – der Staatsreligion im Herzogtum – über, „vermutlich aus wirtschaftlichen Gründen“. Dank der Unterstützung durch eine wohlwollende Stellungnahme des Stadtrats von Altenburg erteilte ihm Friedrich von Sachsen-Gotha-Altenburg am 26. August 1686 das Privileg, in den Städten und Dörfern des Herzogtums als Okulist, Stein- und Bruchschneider tätig zu werden. Aus dieser herzoglichen Erlaubnis ist zugleich belegt, dass Eisenbarth „in seiner Kunst der Augen-Curen, Stein, Krebß und Bruchschneidens zur genüge erfahren“ war und bis dahin in Altenburg bereits 30 Personen erfolgreich operiert hatte. Die erfolgreiche Überprüfung seiner Operationstechniken durch zwei herzogliche Ärzte, unter anderem bei einem Hodensackbruch, und das herzogliche Privileg hatten zur Folge, dass Eisenbarth nunmehr – wie damals für umherziehende Handwerkschirurgen üblich – auf den Jahrmärkten und mit Bewilligung der jeweiligen Stadtbehörden auf allen Wochenmärkten des Herzogtums seine chirurgische Tätigkeit ausüben und außerdem seine selbstgefertigten Wundsalben verkaufen durfte. Allerdings wurde ihm untersagt, innerlich anzuwendende Arzneimittel zu vertreiben – die Innere Medizin oblag damals allein jenen Ärzten, die ihren Abschluss (den Doktor-Grad) an einer Universität gemacht hatten; umgekehrt betätigten sich diese akademisch ausgebildeten Ärzte nicht als Chirurgen und Wundheiler.
Als herzoglich privilegierter Landarzt konnte Eisenbarth nunmehr erstmals auf ein gesichertes Einkommen vertrauen, was zur Folge hatte, dass er nur einen Monat nach Erteilung des Privilegs am 26. August 1686 in der Altenburger Brüder-Kirche die Tochter seines Kollegen, Catharina Elisabeth geb. Heinigke, heiratete. Aus dieser Ehe gingen bis 1706 insgesamt sieben Kinder hervor, von denen drei Söhne bereits im Kindesalter starben. „Die Paten sind Adelige, hohe Beamte und wohlhabende Bürger“, was das hohe Ansehen belegt, das sich Eisenbarth erworben hatte. Unmittelbar nach der Hochzeit bereiste er die nähere Umgebung von Altenburg und behandelte Patienten in Gera, Haselbach, Saara, Ronneburg, Schmölln und Leipzig, später auch in Zwickau, zumeist – wie damals üblich – in einem Zelt oder einer Bude auf dem Marktplatz. „Bis zum Frühjahr 1688 heilt Johann Andreas Eisenbart im Altenburgischen über 200 Patienten von Brüchen, Blindheit (Starleiden), Hasenscharten und Krebsgeschwüren.“
Privilegien für Weimar, Jena und Erfurt
Im März 1688 verließ Eisenbarth das Herzogtum Sachsen-Gotha-Altenburg und ließ sich in Weimar nieder. Eisenbarths Ruf als guter Wundarzt war ihm vorausgeeilt, sodass er in Weimar und im nahen Buttstädt zahlreiche Patienten behandeln durfte. Bereits am 10. Mai 1688 erhielt Eisenbarth auf seinen Antrag hin sein zweites Privileg, ausgefertigt im Namen von Herzog Wilhelm Ernst von Sachsen-Weimar und gültig für die beiden Herzogtümer Sachsen-Weimar und Sachsen-Jena. In diesem Privileg wurde Eisenbarth bescheinigt, „uf eine besonders geschwinde arth, auch ohne große schmerzempfindung“ zu operieren.
Zugleich wurde ihm in diesem Privileg erlaubt, seine Arzneimittel öffentlich anzubieten. Er durfte legal in Konkurrenz zu den örtlichen Apothekern treten. Er verfügte also über das Dispensierrecht wie ein Apotheker, ohne ein Dispensierverbot der Ärzte beachten zu müssen. Außerdem durfte er auch außerhalb der Jahr- und Wochenmärkte praktizieren. Vor allem legte das Privileg fest, „daß neben Ihme kein ander von dergleichen Wissenschaft und Profession in den Landen der Fürstenthümer Weimar und Jena öffentlich auf denen Wochen-Märckten noch auch außerhalb derselben auftreten und sich sothane Gebrechen zu curiren und zu heilen unterfangen dörfe“.
Bereits am 18. Februar 1689 konnte Eisenbarth seinen Wirkungsraum erneut ausweiten: Seinem Antrag auf ein Privileg für das benachbarte Erfurt wurde durch den 4. Statthalter Erfurts, Erzbischof Anselm Franz von Mainz, stattgegeben. Diese weit reichende Erlaubnis ermöglichte es ihm, „so wohl in unserer Stadt Erffurth als in andern unsern Landen auf offenen Wochen- und Jahrmärckten gegen billige [angemessene] Belohnung ungehindert“ zu praktizieren; ferner dürfe er „dabey seine Wahren öffentlich verkaufen, dergleichen aber keinem andern erlaubet werden möchte“. Auch dieses Privileg sicherte Eisenbarth somit eine Monopolstellung auf den Märkten in Erfurt und in den ländlichen Besitztümern des gesamten Erzbistums Mainz. Auferlegt wurde ihm vom Erzbischof, die Armen umsonst zu kurieren und „sich alhier in die Bürgerschafft einzulassen“. Eisenbarth kam dieser Aufforderung umgehend nach, wurde im März 1689 Bürger von Erfurt, behielt aber seinen ständigen Wohnsitz in Altenburg bei. Seine Einbürgerung ist im Ratsprotokoll verzeichnet mit dem Eintrag „Dr. Eisenbart, ein Bruchschneider“. Eisenbarth selbst benutzte aber auch weiterhin nicht den (ihm auch nicht zustehenden) Doktorgrad, sondern nannte sich mit behördlicher Erlaubnis nunmehr Stadtarzt von Erfurt.
Weitere Privilegien
In seiner Dissertation Der Landarzt und Arzneimittelfabrikant Johann Andreas Eisenbarth (1663–1727) bezeichnet der Arzt Karl Hieke im Jahr 2001 die Anzahl der Privilegien, die Eisenbarth erwerben konnte, als „beispiellos“: Die insgesamt zehn Dokumente galten zunächst für
Sachsen-Gotha-Altenburg (1686),
Sachsen-Weimar und Sachsen-Jena (1688) sowie für Erfurt und das Kurfürstentum Mainz (1689). Es folgten:
das Kurfürstentum Sachsen nebst dessen zugehörigen Ländern (1694), hierzu gehörte ab 1697 auch
das Königreich Polen;
Oberschlesien und Niederschlesien (1697), ausgestellt vom kaiserlichen Oberamt Breslau;
Brandenburg (1697);
Hessen-Kassel (1704);
Preußen (1707/08 und erneut 1714/15);
Braunschweig-Lüneburg (1710) mit Hannover und Niedersachsen, weswegen sich Eisenbarth nach der Begründung der Personalunion mit Großbritannien ab 1714 auch Königlich Großbritannischer Landarzt nennen konnte;
und schließlich für Sachsen-Saalfeld und Sachsen-Meiningen (1713).
Hieke verweist auch darauf, dass Eisenbarth sein Betätigungsfeld „nach strategischen Gesichtspunkten geplant und systematisch erweitert“ habe. Die ihm erteilten Privilegien ermöglichten es Eisenbarth schließlich, weite Teile des damaligen Heiligen Römischen Reichs ohne Rücksicht auf Zollschranken – und damit verbundene Abgaben auf mitgeführte Waren – zu bereisen.
Von besonderer Bedeutung war für Eisenbarth das Privileg vom 25. März 1707 für Preußen, persönlich unterzeichnet von König Friedrich I., das es ihm nunmehr auch erlaubte, seine „Medicinalia“ zu verordnen, „ohne dass Ihme von denen Medicis Apothekern, und sonsten jemand, darunter einige hinderung geschehe“, und zwar „bey all denen sich Ihme anvertrauenden Patienten frey und ungehindert innerlich und euserlich“; ferner, dass er „auch dieselbige allen und jeden, die sie verlangen, Verkauffen und verschicken möge“. Auf diese Weise durfte Eisenbarth mit seinen Heilmitteln legal in Konkurrenz sowohl zu den Apothekern treten als auch zu den akademisch ausgebildeten Internisten, denen bis dahin das Vorrecht allein zugekommen war, innerlich wirksame Arzneimittel zu verordnen und zu vertreiben. Das Privileg wurde am 25. März 1708 erneuert und nach dem Tod Friedrichs I. von dessen Nachfolger Friedrich Wilhelm I. am 29. Juni 1715 bestätigt.
Reisetätigkeit und chirurgische Erfolge
Die Privilegien waren zugleich ein Qualitätsnachweis, der es Eisenbarth ermöglichte, auch andernorts seinem Handwerk nachzugehen. Die Landesfürsten des deutschen Reiches erteilten solche Arbeitserlaubnis-Bescheinigungen für Handwerkschirurgen nur, nachdem diese von Hofärzten und Physikern (Amtsärzten) auf ausreichende theoretische Kenntnisse und handwerkliche Fähigkeiten geprüft worden waren. Hintergrund dieser Regelung war, dass im 17. und 18. Jahrhundert vor allem die Versorgung der ländlichen Bevölkerung nicht gesichert war. Denn die Handwerkschirurgen ließen sich wegen der besseren Verdienstmöglichkeiten vorzugsweise in den dichter besiedelten Städten nieder. Auf dem Land tummelten sich zahllose Quacksalber, das Handwerk des Chirurgen wurde dort auch von Schmieden und Scharfrichtern ausgeübt. Da die Zunft der Bader und Barbiere, der die Handwerkschirurgen angehörten, den Zuzug neuer Kollegen in den Städten begrenzte, sicherten die Privilegien einem Handwerkschirurgen, der sich mangels freier Chirurgenstellen nicht niederlassen konnte, ein Auskommen als umherziehender Landarzt.
Nach der Ausweitung seiner Privilegien über das Gebiet der heutigen deutschen Bundesländer Sachsen und Thüringen hinaus sind unter anderem Reisen nach Polen, Holland, Frankreich und Italien (1693–1696) belegt, wiederholt nach Frankfurt am Main zur Frankfurter Messe (1700, 1701, 1704, 1725), nach Würzburg (1702), nach Kassel, Wetzlar, Mainz, Darmstadt (1704/1705), nach Aurich (1715), nach Danzig und Königsberg (1723).
Den Höhepunkt seines Ruhmes als Chirurg erlebte Johann Andreas Eisenbarth im Jahr 1716. Nachdem er in Berlin, Stargard und Stettin praktiziert hatte, war er Anfang Februar auf dem Weg nach Münster, als ihm in Magdeburg ein persönlicher Befehl des preußischen Königs Friedrich Wilhelm I. überbracht wurde: Er habe „sich alsofort nach Stargard zu begeben, Woselbst er sich beym Obristen Lieutenant Von Grävnitz“ melden möge, „welcher einen Schaden ans Auge bekommen“ habe, gegenüber welchem er „seinen äußersten Fleiß anwenden soll, solchem wieder zu helffen“. Von allen Chirurgen Preußens wurde er demnach als der fähigste angesehen, dem Offizier zu Hilfe zu eilen: Eisenbarth entfernte mit Erfolg eine Kugel, die am rechten Auge in den Kopf eingedrungen war und am linken Auge herausgeschnitten werden musste. Ihm ist die Priorität der erfolgreichen Therapie der sympathischen Ophthalmie zuzuschreiben. Zum Dank wurde Eisenbarth Anfang 1717 zum preußischen Hofrat und Hof-Augenarzt ernannt.
Der Eisenbarth-Biograf Eike Pies stellt in seinen Publikationen wiederholt heraus, dass Eisenbarth – im Unterschied zu anderen landfahrenden Ärzten – wiederholt und in kurzen Abständen die gleichen Orte aufsuchte und so lange blieb, bis auch die Phase der Rekonvaleszenz seiner Patienten abgeschlossen war. Dies sei zum einen Beleg für die Sorgfalt, mit der Eisenbarth seine Patienten auch nach einer Operation wundärztlich versorgte; zum anderen für die hohe handwerkliche Qualität seiner Eingriffe, da er so wenige Fehlschläge (Kunstfehler, Behandlungsfehler) zu verzeichnen hatte, dass er es sich erlauben konnte, längere Zeit am gleichen Ort tätig zu sein und bald darauf erneut zu erscheinen. Belegt ist diese Interpretation nicht nur durch wiederholte Aufenthalte in Ortschaften im Umkreis seiner Wohnorte – zunächst Weimar, später Magdeburg –, sondern auch in entfernten Städten wie Frankfurt am Main (1700, 1701, 1704, 1725), Würzburg (1702), Leipzig (1686, 1691, 1692, 1697, 1698) und Berlin (1696, 1697, 1704, 1706, 1710, 1717, 1722, 1724).
Gleichwohl gab es auch Operationen mit tödlichem Ausgang. Nachdem Eisenbarth am 10. September 1714 in Bremen bei einem 13-jährigen Knaben einen Blasenstein entfernt hatte, starb dieser zwölf Tage später. Und am 23. Oktober 1723 operierte er in Königsberg ein sechsjähriges Kind wegen eines Blasensteins, das sieben Tage später wegen einer Entzündung des Bauchfells verstarb. Beide Fälle – die einzigen dokumentierten Fehlschläge bei Blasenstein-Entfernungen – wurden amtlich untersucht und blieben den Archivalien zufolge offenbar folgenlos für Eisenbarth. Während nahezu 150 Bruchoperationen durch Quellen als belegt gelten, sind bislang keine „Kunstfehler“ bei diesen Operationen bekannt geworden; einzige Ausnahme ist der amtlich untersuchte Fall eines Kindes, das 1686 in Altenburg nach einer Bruchoperation verstarb, möglicherweise aber nicht an deren Folgen.
Die letzten Lebensjahre
Bereits 1703 hatte Johann Andreas Eisenbarth in Magdeburg das Wohn- und Brauhaus Zum güldenen Apfel erworben und dort eine Produktionsstätte für Arzneimittel eingerichtet, im gleichen Jahr erwarb er in der damals zu Preußen gehörenden Stadt auch das Bürgerrecht. Dieser Wohnort trug später dazu bei, ab 1707 auch ein Privileg für Preußen zu erhalten.
1721 starb in Magdeburg seine Frau Catharina Elisabeth, mit der er 35 Jahre lang verheiratet gewesen war. Ein Jahr später heiratete er zum zweiten Mal, und zwar die Witwe eines Kollegen aus Arendsee in der Altmark. Über sie und die offensichtlich unglückliche Ehe schrieb er in seinem Testament, dass „dieselbe bey meiner großen schwachheit, da Ich vom Schlage gerühret, mir wenig Gutheit erwiesen, Ja gar eins mahls ohne eigene Uhrsache von mir gegangen und Ich Ihr zu Ihrer Wiederüberkunfft 20 Reichsthaler schicken müßen, dannoch immer gedrohet wieder von mir zugehen, wan es nicht gleich nach Ihren Sinn und Kopffe hat gehen wollen“. Weder hat sie sich demnach um ihren im Alter kränklich gewordenen Mann gekümmert, noch hielt sie es mit der ehelichen Treue allzu genau.
Als Eisenbarth 1725 noch einmal Frankfurt am Main besuchte, plagte ihn bereits die Gicht, und er hatte offenbar schon einen ersten Schlaganfall erlitten. Trotz Unterstützung durch seinen jüngsten Sohn Adam Gottfried, der dem Vater inzwischen bei schwierigen Operationen assistierte, häuften sich aber die handwerklichen Fehler. In Bremen wurde ihm daher 1726 erstmals eine Genehmigung zum Praktizieren verweigert. Ende August 1727 wohnte Eisenbarth auf der Durchreise in Göttingen im Gasthof Zum schwarzen Bären, wo es ihm offenbar so schlecht ging, dass er am 1. September sein Testament aufsetzte.
Von Göttingen aus begleitete ihn sein Sohn Adam Gottfried nach Münden, wo sie im Gasthof Zum wilden Mann ein Zimmer mieteten und weiterhin Patienten empfingen. Am 6. November 1727 erlitt Johann Andreas Eisenbarth einen weiteren Schlaganfall; er starb fünf Tage später in der kleinen Stube im Gasthof. Am 13. November wurde sein Leichnam im Chor der Aegidienkirche beigesetzt. Sein Grabstein wurde rund 100 Jahre nach seinem Tod bei einer Wiederbelegung des Grabes aus dem Kirchenchor entfernt und an der Nordseite der Kirche abgestellt.
Werbemaßnahmen im Zeitalter des Barock
Johann Andreas Eisenbarth nutzte seine Privilegien nicht nur als Beweis seines Könnens gegenüber den Behörden, sondern auch als Werbung gegenüber der Landbevölkerung. Anders als heute waren Ärzte im 17. und 18. Jahrhundert – im Zeitalter des Barock – nicht darin beschränkt, Werbung für sich zu machen. Während sowohl bei den in den Städten sesshaften Ärzten mit Medizinstudium als auch bei den ortsansässigen Handwerkschirurgen die Mundpropaganda genügte, um Zulauf von Patienten zu erhalten, waren die umherziehenden Landärzte sogar darauf angewiesen, beim Publikum auf sich aufmerksam zu machen. Eisenbarths Werbemittel und sein Auftreten in der Öffentlichkeit zeugen „von seinem Talent, sich und seine Fähigkeiten in einer Weise darzustellen, die sich mit heutigen modernen Werbestrategien messen lassen können“.
Zu seinen Werbemitteln zählten zunächst vor allem Flugblätter, die von Helfern verteilt wurden, wenn Eisenbarth sein Lager an einem neuen Ort aufschlug. In diesen Flugblättern wurden unter Verweis auf seine Privilegien die Krankheiten benannt, die er zu heilen vermochte, ferner wurden seine Heilmittel angepriesen. Ab 1705 sind zudem zahlreiche Inserate in Zeitungen belegt, in denen gelegentlich auch erfolgreich operierte Patienten als Referenz namentlich benannt wurden. Aus einem Flugblatt von 1698 geht hervor, dass seine Helfer an scharlachroten Uniformen mit silbernem Besatzstreifen zu erkennen und so von Betrügern zu unterscheiden waren, die sich seines Namens bedienten; Eisenbarth selbst war ebenfalls in einen scharlachroten Herrenrock gekleidet, trug eine Allongeperücke und darüber einen Dreispitz, wenn er öffentlich auftrat.
Um auf den Wochenmärkten, zu denen ihm seine Privilegien Zutritt verschafften, Publikum anzulocken, scharte Eisenbarth auch eine Komödiantentruppe um sich: auf der Höhe seines Erfolgs an die 120 Personen. Darunter waren neben den Schauspielern auch Trompeter und Trommler, Pferdeknechte und Köche, Zahnärzte und andere medizinische Helfer nebst einem großen Tross mit Pferden und Wagen. Dass Eisenbarth – wie viele Landärzte seiner Epoche – von Gauklern begleitet wurde und seinen Aufenthalt durch Ausrufer ankündigen ließ, gab später Anlass zum Trink- und Spottlied, das ihn zwar zu Unrecht als Kurpfuscher darstellt, zugleich aber die Erinnerung an ihn bis heute wachgehalten hat.
Im Unterschied zu anderen Landärzten nahm Eisenbarth auf Marktplätzen – auf offener Bühne oder im Zelt hinter der Bühne – nur leichte Eingriffe vor. Dass er auf solche Schaueffekte verzichtete, „sondern seine Patienten in deren Wohnungen operierte bzw. Auswärtige in den Gasthäusern unterbringt, wo er selbst logiert, wird nicht zuletzt auf eine Herniotomie [die Behebung einer Hernie] zurückzuführen sein, die ihm nur neun Wochen nach seiner Prüfung 1686 misslingt“.
Gründung einer pharmazeutischen Manufaktur
Nach der Definition von Sabine Sander gehörte Eisenbarth als Okulist, Stein- und Bruchschneider zur Gruppe der unzünftigen landfahrenden chirurgischen Spezialisten. Diese landfahrenden ärztlichen Spezialisten, die ihre Patienten nach chirurgischen Eingriffen auch wundärztlich behandeln mussten, führten auch die hierfür benötigten Tinkturen, Salben und Pflaster mit sich. Entweder bezogen sie diese Heilmittel als fertige Produkte von Apothekern oder sie stellten sie selber her. Für Eisenbarth ist belegt, dass er am Beginn seiner Karriere Kräutersalben, Mithridat und Augenstein herstellte und verkaufte.
Nachdem Eisenbarth 1703 in Magdeburg das große Wohn- und Brauhaus Zum güldenen Apfel (damals: Apfelstraße Nr. 9) erworben hatte, rüstete er die Braugeräte um zu einer Produktionsstätte für Arzneimittel, in der von Helfern rund 20 unterschiedliche Präparate hergestellt wurden: Diese Manufaktur wurde wegen der großen Zahl ihrer Produkte „als die erste namentlich bekannte pharmazeutische Fabrik in Deutschland“ bezeichnet. Hergestellt wurden unter anderem ein Abführmittel, ein Pulver gegen Schwindel, Zahn- und Kopfschmerzen, ein „Balsam“ zur Stärkung von Gedächtnis, Herz und Magen, eine „Universal=Medicin“ gegen Unfruchtbarkeit sowie Heilmittel gegen Syphilis und Gonorrhoe. Die insgesamt 570 Quadratmeter Nutzfläche des Anwesens boten auf zwei Geschossen auch Platz für ein Behandlungszimmer und mehrere Krankenstuben, so dass Eisenbarth ab 1704 in Magdeburg wie ein zunftmäßig organisierter Meister in seiner Wundarztstube praktizieren konnte.
Für seine Starstiche entwickelte Eisenbarth zudem eine spezielle Starnadel, die bereits für das Jahr 1693 belegt ist. Hoch sitzende Nasenpolypen drehte er mit einem von ihm speziell für diesen Eingriff erfundenen Haken ab.
Nachleben
In Oberviechtach, Viechtach, Hann. Münden, Bamberg und Magdeburg wurden Straßen und Schulen nach Johann Andreas Eisenbarth benannt. Am Schwarzen Bären in Göttingen erinnert eine Göttinger Gedenktafel an seinen Aufenthalt. Im November 1977 erschien anlässlich seines 250. Todestages eine Sonderbriefmarke. Zahlreiche Archivalien zu Eisenbarths Leben und Wirken werden in der Familienstiftung Pies-Archiv, Forschungszentrum Vorderhunsrück e. V. in Dommershausen im Hunsrück verwahrt. 1978 veröffentlichte die österreichische Schriftstellerin Friedl Hofbauer das Jugendbuch Mein lieber Doktor Eisenbarth.
Das Lied vom Doktor Eisenbarth
Heute ist Johann Andreas Eisenbarth vor allem deshalb noch weithin bekannt, weil rund 70 Jahre nach seinem Tod ein Göttinger Student, von dem nur der Biername Perceo („Zwerg“ bzw. „Kleinwüchsiger“) überliefert ist, ein Trinklied verfasste, dessen erste Zeile so lautet: „Ich bin der Doctor Eisenbarth.“ Als Studentenlied machten Text und Melodie ab ca. 1800 in zahlreichen Abwandlungen die Runde durch die Studentenverbindungen der deutschen Universitäten; 1815 wurde eine Variante erstmals in einem Kommersbuch abgedruckt.
Dieses Lied wiederum inspirierte bis in die Gegenwart diverse Autoren zu Romanen (so Agnes Harder, 1897; Josef Winckler, 1928; Otto Weddigen, 1909; Fritz Nölle, 1940; Hanns Kneifel, 2002), zu Theaterstücken (zum Beispiel Otto Falckenberg, 1908), zu Opern (Alfred Böckmann und Pavel Haas) und Nico Dostal zur Operette Doktor Eisenbart. Auch die in den 1950er Jahren in der DDR entstandene Schuloper Der Arzt auf dem Marktplatz von Hanna und Siegfried Stolte orientierte sich an Motiven aus dem Leben des Doktor Eisenbarth.
Würdigung durch Lorenz Heister
Weitgehend in Vergessenheit geraten ist hingegen, dass die chirurgischen Eingriffe von Johann Andreas Eisenbarth noch lange nach seinem Tod durch den Begründer der wissenschaftlichen Chirurgie in Deutschland, Lorenz Heister, als mustergültig gewürdigt wurden. In seinem 1753 erschienenen Werk Medicinische, Chirurgische und Anatomische Wahrnehmungen beschrieb Heister mehrere Eingriffe Eisenbarths, die dieser im Gasthaus von Heisters Vater in Frankfurt am Main während der Frankfurter Messe vorgenommen hatte; Heister war damals – vermutlich 1701 – 17 Jahre alt und noch Gymnasiast.
Heister erwähnt zu Beginn in seinem Werk, dass der „damals sehr berühmte Eisenbart“ äußerst schwierige chirurgische Eingriffe vornahm, „weil damals in Frankfurt noch fast niemand, weder von Medicis noch Chirurgis, dergleichen Curen daselbst unternahme oder verrichtete“. Da es damals in dieser bedeutenden Stadt mit 30.000 Einwohnern weder einen akademisch ausgebildeten Doktor noch einen Handwerkschirurgen gab, der das Risiko einging, durch das Fehlschlagen eines schwierigen Eingriffs seinen Arbeitsplatz zu verlieren, habe Heister sich entschlossen, die Kunst der Wanderärzte zu beobachten. Detailliert beschrieb Heister sodann die erfolgreiche Operation eines Hodensackbruchs bei einem neunjährigen Jungen, dem allerdings – wie damals üblich – ein Hoden abgeschnitten werden musste. Besonders hob Heister hervor, dass wenig Blut vergossen wurde und dass Eisenbarth sich nach der Operation drei Wochen lang um die Erneuerung des Wundverbandes kümmerte, so dass der Eingriff keine Vereiterung zur Folge hatte. Ähnlich geschickt beseitigte Eisenbarth eine Hydrozele bei einem 13-jährigen Jungen; hier betonte Heister, dass es Eisenbarth gelungen war, die Fruchtbarkeit des Jungen zu erhalten, während andere Handwerkschirurgen damals üblicherweise beide Hoden amputierten. Ähnlich wohlwollend äußerte sich Heister über Eisenbarths Geschick beim Starstechen und beim Entfernen eines kindskopfgroßen „Speckgewächses“ am Kopf einer Frau, das wegzuschneiden sich kein ortsansässiger Arzt getraut habe.
Oberviechtach
Ein Eisenbarth-Festspiel, verfasst vom Viechtacher Apotheker Karl Gareis, gab es zunächst im niederbayerischen Viechtach, wo es 1935 uraufgeführt wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Aufführungen eingestellt, als sich herausstellte, dass nicht Viechtach, sondern Oberviechtach der Geburtsort des Eisenbarth gewesen war. Seither wird in seiner Geburtsstadt Oberviechtach alljährlich das Freiluftfestspiel „Doktor Eisenbarth“ aufgeführt. Zur Viechtacher 900-Jahr-Feier 2004 wurde eine moderne Fassung des Gareis’schen Eisenbarth-Festspiels aufgeführt. Eine weitere Auflage wurde im Sommer 2014 aufgeführt.
In Oberviechtach befinden sich das Doktor-Eisenbarth- und Stadtmuseum und das Eisenbarth-Archiv. Dort gibt es auch die Doktor-Eisenbarth-Schule.
Die Eisenbarth-Apotheke vertreibt einen Kräuterlikör, das Eisenbarth-Elixier. Dieser Halbbitter basiert auf alten Rezepten und enthält Kräuterauszüge sowie opiumfreien Theriak. Er weist einen Alkoholgehalt von 38 Vol.-% auf.
Hann. Münden
Im Sommer finden in Hann. Münden an jedem Samstagmittag kostenfreie „Sprechstunden mit Doktor Eisenbart“ statt. Außerdem können beim Touristikverein Hann. Münden Erlebnisführungen und Hausbesuche mit „Doktor Eisenbart“ gebucht werden.
Das täglich dreimal erklingende Glockenspiel im Giebel des Rathauses Münden mit dem Doktor-Eisenbart-Lied und einem Figurenumlauf zeigt den Chirurgen unter anderem beim Extrahieren eines Zahns (was der historische Chirurg nie getan hat).
An einem Gebäude in der Langen Straße befindet sich eine farbige Holzstatue des Chirurgen, die ihn mit Klistierspritze in den Händen und Arzneiflasche an seinen Füßen darstellt: Ein Vorgängergebäude des Fachwerkbaus war das Gasthaus „Zum wilden Mann“, in dem er verstarb.
In seinem Sterbeort wurden ab Anfang der 1950er-Jahre im Sommer zeitweise die Doktor-Eisenbarth-Spiele aufgeführt, was als Freilichtstück auf der Bühne vor dem Rathaus erfolgte. Diese Doktor-Eisenbarth-Spiele stellten das Wirken des Wanderarztes in gereimten Versen auf humorvolle Art dar. Am 4. September 2011 gründeten Mündener Bürger zusammen mit ehemaligen Mitspielern und Theaterbegeisterten den Verein „Doktor-Eisenbarth-Spiele Hann. Münden“, der sich zum Ziel setzte, Leben und Wirken des Wanderarztes darzustellen. Von 2014 bis 2016 wurde das Stück „What a Man“ im Packhof, einem Lagergebäude aus dem frühen 19. Jahrhundert, aufgeführt. Nach dem Ausscheiden mehrerer Darsteller wurden die Aufführungen nicht mehr aufgenommen und der Verein Ende 2019 aufgelöst.
Magdeburg
In Magdeburg steht an der Stelle des ehemaligen Hauses „Zum Güldenen Apfel“, des langjährigen Wohnsitzes von Eisenbarth, der Eisenbarthbrunnen. Auf diesem ist auch eine Variante des bekannten Lieds angebracht.
Auszug:
„Ich bin der Doktor Eisenbarth,
widewidewitt, bum bum
Kurir die Leut nach meiner Art,
widewidewitt, bum bum
Kann machen, daß die Blinden gehn,
Und daß die Lahmen wieder sehn.
Gloria, Viktoria, widewidewitt juchheirassa!
Gloria, Viktoria, widewidewitt, bum bum.
Es hatt einmal ein alter Mann
widewidewitt, bum bum
Im Rachen einen hohlen Zahn,
widewidewitt, bum bum
Ich schoß ihn raus mit der Pistol,
Ach Gott, wie ist dem Mann so wohl.
Gloria, Viktoria…
Drauf rief mich stracks der große Zar,
widewidewitt, bum bum
Er litt schon lang am grauen Star,
widewidewitt, bum bum
Ich stach ihm beede Augen aus,
Jetzt ist der Star wohl auch heraus.
Gloria, Viktoria…“
Literatur
Arthur Kopp: Eisenbart im Leben und im Liede. Berlin 1900 Internet Archive.
Arthur Kopp: Neues über den Doktor Eisenbart. In: Zeitschrift für Bücherfreunde 7,1 (1903–1904), S. 217–226 Internet Archive.
Eike Pies: Ich bin der Doktor Eisenbarth. Arzt der Landstraße. Leben und Wirken des berühmten Chirurgen. Eine Bildbiographie. Ariston Verlag, Genf 1977, ISBN 3-7205-1155-3.
Ernst Andreas Friedrich: Ein Grabstein in Münden. In: Wenn Steine reden könnten. Band II, Landbuch-Verlag, Hannover 1992, ISBN 3-7842-0479-1, S. 161–162.
Katrin Kröll: „Kurier die Leut auf meine Art ...“. Jahrmarktskünste und Medizin auf den Messen des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Udo Benzenhöfer, Wilhelm Kühlmann (Hrsg.): Heilkunde und Krankheitserfahrung in der frühen Neuzeit. Studien am Grenzrain von Literaturgeschichte und Medizingeschichte. Tübingen 1992 (= Frühe Neuzeit. Band 10), S. 155–186.
Karl Hieke: Der Landarzt und Arzneimittelfabrikant Johann Andreas Eisenbarth (1663–1727), dargestellt anhand seiner Werbemittel und anderer zeitgenössischer Quellen. Verlag Dr. Eike Pies, Sprockhövel 2002, ISBN 3-928441-42-6 (zugleich Dissertation im Fachgebiet Medizin, Universität Bonn, Bonn 2002).
Eike Pies: Eisenbarth. Das Ende einer Legende. Leben und Wirken des genialen Chirurgen, weit gereisten Landarztes und ersten deutschen Arzneimittelfabrikanten Johann Andreas Eisenbarth (1663–1727). Verlag E. & U. Brockhaus, Wuppertal 2004, ISBN 3-930132-24-9.
Iris Schatz: Doktor Eisenbarth: Beispiellose Operationen und Arzneien. In: Deutsches Ärzteblatt. Band 106, Nr. 12, 2009, S. A-567/B-485/C-469. (Volltext; PDF)
Ludwig Schießl, Werner E. Gerabek, Manfred Jähne, Michael Nerlich, Thomas Richter, Christoph Weißer: Doktor Eisenbarth (1663–1727). Ein Meister seines Fachs. Medizinhistorische Würdigung des barocken Wanderarztes zum 350. Geburtstag. Deutscher Wissenschafts-Verlag, Baden-Baden 2013, ISBN 978-3-86888-064-9.
Daniela Schießl: Doktor Eisenbarth – eine ambivalent wahrgenommene Persönlichkeit. Das Bild des barocken Wanderarztes Johann Andreas Eisenbarth (1663–1727) im Spiegel ausgewählter Quellen vom Ende des 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Oberviechtach 2017 (Oberviechtacher Museumsschriften, Band 3), ISBN 978-3-9819149-0-0; zugleich Dissertation, Universität Regensburg, 2017.
Weblinks
Mit Porträt ausgestattetes Flugblatt Eisenbarts von 1692
Übersicht zu den Wirkungsorten
Belege
Augenarzt
Okulist
Person (Landkreis Schwandorf)
Mediziner (18. Jahrhundert)
Person (Hann. Münden)
Person (Magdeburg)
Geboren 1663
Gestorben 1727
Mann |
153715 | https://de.wikipedia.org/wiki/Gew%C3%B6hnlicher%20Schweinswal | Gewöhnlicher Schweinswal | Der Gewöhnliche Schweinswal (Phocoena phocoena) ist ein bis zu 1,85 Meter langer Zahnwal. Seine Farbe ist oberseits schwarz, unterseits weiß. Er lebt in den Küstengewässern des Nordatlantiks vor Europa, Nordwestafrika und dem Osten Nordamerikas, im Schwarzen Meer sowie in den amerikanischen und asiatischen Küstengewässern des Nordpazifiks. Seine Nahrung sind Fische, Krebstiere und Tintenfische.
Schweinswale sind die mit Abstand häufigsten Wale in der Nord- und Ostsee, der Bestand ist jedoch rückläufig. Ursachen sind wahrscheinlich die Gifteinleitungen in die Meere und der Erstickungstod in Fischernetzen. Die Deutsche Wildtier Stiftung wählte den Gewöhnlichen Schweinswal zum Tier des Jahres 2022.
Besonders in älterer Literatur wird der Gewöhnliche Schweinswal auch „Kleiner Tümmler“, „Braunfisch“ (niederländisch: bruinvis) oder „Meerschwein“ genannt.
Aussehen
Mit einer Körperlänge von maximal 1,85 Meter, in sehr seltenen Fällen auch über zwei Meter, ist der Schweinswal in europäischen Gewässern die kleinste vorkommende Art der Wale. Dabei schwanken die Körpergrößen je nach Untersuchungsgebiet, die Schweinswale der Ostsee werden etwa nur durchschnittlich 1,40 Meter (Männchen) bzw. 1,52 Meter (Weibchen) lang. Sein Körpergewicht beträgt durchschnittlich zwischen 50 und 60 Kilogramm und maximal etwa 90 Kilogramm, dabei sind die Weibchen größer und schwerer als die Männchen. Die Geschlechtsunterscheidung erfolgt wie bei den meisten Walen aufgrund der Lage der Afteröffnung und der Genitalfalte. Diese liegen bei den Weibchen eng beieinander im Afterbereich, bei den Männchen deutlich getrennt, wobei die Genitalfalte hier weiter vorne liegt.
Im Vergleich zu anderen Zahnwalen ist der Schädel der Tiere vorn nur relativ wenig ausgezogen, durch ein aufliegendes Fettpolster ist diese „Schnauze“, das Rostrum, jedoch äußerlich nicht erkennbar. Der Körper ist gedrungen mit einer flachen und dreieckigen Rückenfinne. Der Rücken ist schwarz und mit einem von der Rückenflosse ausgehenden grauen Feld versehen, der Bauch ist weiß. Vom Mundwinkel führt eine schwarze Zeichnung bis zum vorderen Ansatz der Flipper.
Die Rückenflosse, die Brustflossen, die Schwanzflosse (Fluke) sowie der Flukenstiel sind ebenfalls schwarz gefärbt. Bei jugendlichen Tieren sind auch Teile der Bauchseite schwarz, man spricht in diesem Fall von Jugendmelanismus. Albinismus ist unter den Schweinswalen sehr selten. Die Rückenflosse selbst besitzt keine konkave Rundung, sondern fällt hinten senkrecht ab, die Basis ist etwa doppelt so lang wie die Höhe der Flosse. Die Flipper sind relativ kurz und enden spitz. Die Fluke ist etwa 60 Zentimeter breit und kräftig gebaut.
Die Kiefer beinhalten im Oberkiefer auf jeder Seite 22 bis 28, im Unterkiefer 21 bis 25 sehr kurze Zähne, die blatt- bis spatelförmig sind. Die hinteren Zähne weisen eine dreihöckrige Kaufläche auf.
Population und Verbreitung
Der Schweinswal bevorzugt flache Gewässer, dabei wandert er im Frühjahr in die Küstengewässer und im Herbst in die küstenferneren Gebiete.
Sein Verbreitungsgebiet umfasst große Teile der nördlichen Erdhalbkugel. An der amerikanischen Nordpazifikküste findet man die Tiere von Los Angeles bis an die Mündung des Mackenzie River in die Beaufortsee, an der asiatischen Pazifikküste vom Gelben Meer bis zur Tschuktschensee. Im Nordatlantik findet man ihn an der Ostküste Amerikas von Cape Cod bis Upernavik, manchmal auch an der grönländischen Küste bei Thule.
Die östliche Atlantikküste bevölkern die Schweinswale von Nordafrika (Senegal, Mauretanien, Marokko) über die gesamte europäische Küstenlinie bis an die Küsten von Spitzbergen inklusive der Nordsee. In der Ostsee wird die Beltsee besiedelt, wobei über das Kattegat Populationen mit der Nordsee ausgetauscht werden. Im Mittelmeer gibt es keine eigenen Bestände, allerdings kommt es nicht selten zu Einwanderungen in das westliche Mittelmeer bis Mallorca über die Meerenge von Gibraltar sowie in das östliche Mittelmeer (Ägäis) aus dem Schwarzen Meer, wo es eine eigene Population gibt. In jüngerer Zeit werden vermehrt wieder Schweinswale in norddeutschen Flüssen gesichtet, nachdem sie seit hundert Jahren zunehmend aufgrund der Wasserverschmutzung verschwunden waren.
Die Gesamtzahl der heute noch lebenden Schweinswale ist unbekannt, es wird jedoch davon ausgegangen, dass sie weltweit noch sehr hoch liegt. Das Bundesamt für Naturschutz gibt in seinem Monitoringbericht die Zahl für die deutschen Nordseegewässer in Abhängigkeit von der Jahreszeit mit 15.000 bis 54.000 an. Die Gesamtpopulation für die Nordsee wird auf 300.000 Exemplare geschätzt. Kleiner sind die Individuenzahlen einzelner Lokalpopulationen, vor allem im Schwarzen Meer und in der Ostsee. In der Ostsee wird der Bestand im westlichen Teil auf 800 bis 2.000 im östlichen und zentralen auf 100 bis 600 Tiere geschätzt. Gefährdet sind Schweinswale vor allem durch die Fischerei und die lauter gewordenen Meere durch Schiffsverkehr und Pfahlrammungen für Offshorewindparks, bei denen aus Kostengründen der schallvermindernde Blasenschleier nicht eingesetzt wird. Die Zahl der Totfunde hat sich in den letzten 10 Jahren an der Küste Mecklenburg-Vorpommerns verdreifacht. Die Art wird von der International Union for the Conservation of Nature and Natural Resources als gefährdet eingeschätzt.
Der Schweinswal steht in allen europäischen Staaten unter Naturschutz und ist im Anhang II des Washingtoner Artenschutzabkommens gelistet. Die Europäische Union verbietet Einfuhr, Transport und Haltung.
Lebensweise
Die Schweinswale bevorzugen als Lebensraum ruhige Küstenbereiche mit mäßiger Tiefe von etwa 20 Metern, kommen jedoch gelegentlich auch in Hochseegewässern vor.
Schweinswale ernähren sich beinahe ausschließlich von Fischen, daneben auch von Borstenwürmern, Schnecken, Krebstieren und Tintenfischen. Die Nahrungszusammensetzung variiert dabei je nach den geografischen Verhältnissen. In der Nordsee stellen die Plattfische (Pleuronectiformes) einen sehr großen Anteil dar, in der Ostsee die Grundeln (Gobiidae), außerdem in beiden Gewässern der Kabeljau (Gadus morhua). Die gefressenen Fische sind dabei meistens kleiner als 25 Zentimeter, da die Schweinswale größere Fische nicht verschlucken können. Die Nahrungssuche findet vor allem am Gewässergrund statt, wo der Schweinswal den Boden aufwühlt. Die Tagesration eines Wales liegt bei etwa 4,5 Kilogramm Fisch.
Natürliche Feinde der Schweinswale sind vor allem größere Haie und Schwertwale. So fand man Schweinswalreste im Magen des Grönlandhais (Somniosus microcephalus) sowie des Weißen Hais (Carcharodon carcharias). Der Schwertwal (Orcinus orca) stellt im Vergleich zu den Haien jedoch den natürlichen Hauptfeind der Schweinswale dar. Daneben verhalten sich auch andere Zahnwale gelegentlich aggressiv gegenüber ihrem kleinen Verwandten. So wurden mehrfach Große Tümmler (Tursiops truncatus) und Gemeine Delfine (Delphinus delphis) beobachtet, die Schweinswalen durch Stöße mit ihrem Kopf in die Flanke schwere Verletzungen beibrachten. Als bedeutender Fressfeind wurde durch Untersuchungen an gestrandeten Kadavern junger Schweinswale auch die Kegelrobbe nachgewiesen.
Als Parasiten sind vor allem Meerneunaugen sowie Fadenwürmer, Saugwürmer, Bandwürmer und Kratzer nennenswert. Die durch die Fischnahrung aufgenommenen Fadenwürmer der Gattung Ansisakis werden dabei regelmäßig in großen Knäueln im Magen der Wale gefunden und Stenurus minor bevölkert die Bronchien, die Lunge sowie das Herz-Kreislaufsystem und kann durch Ansiedlung im Gehör die Wale auch taub machen. Ein besonders häufiger Parasit des Magen-Darm-Traktes sowie der Gallengänge ist der Saugwurm Campula oblanga, der unter anderem Hepatitis und Cholangitis auslösen kann. Außenparasiten wie etwa die Walläuse sind bei den Schweinswalen dagegen eher selten zu finden.
Verhalten
Schweinswale leben meistens als Einzelgänger oder in Zweierverbänden. Größere Gruppen bis maximal sieben Tiere, Schulen genannt, konnten bislang nur selten beobachtet werden. Zur Paarungszeit und zur Nahrungssuche treffen sich gelegentlich mehrere Schulen, sodass Herden von über hundert Tieren entstehen können. Diese sind jedoch selten und nicht sehr lange von Bestand. Jungtiere bleiben immer eine Zeit lang bei ihrer Mutter, die genaue Dauer ist unbekannt. Dabei ist die Bindung zwischen Jungtier und Mutter sehr eng und allein gelassene Junge stoßen Stresslaute aus, um die Mutter zu rufen.
Ebenfalls nicht bekannt ist, ob Schweinswale Reviere bilden und diese gegen Eindringlinge verteidigen oder ob es eine Rangordnung unter Schweinswalen gibt. Allerdings wurde von Drohverhaltensweisen bei Schweinswalen berichtet. So droht ein Tier einem anderen durch Zuwenden des Kopfes und Ausstoßen von Klicklauten, danach kommt es zu einem Kopfnicken sowie Schlägen mit dem Schwanz.
Schweinswale erreichen Geschwindigkeiten von maximal etwa 22 km/h und springen nur sehr selten aus dem Wasser. Die maximale Tauchtiefe beträgt etwa 90 Meter und die Tauchzeit etwa sechs Minuten. Die meiste Zeit schwimmen die Tiere mit einer Geschwindigkeit von etwa 7 km/h dicht unter der Wasseroberfläche und durchstoßen diese beim normalen Schwimmen etwa zwei- bis viermal pro Minute, um zu atmen. Beim Auftauchen verkrümmt der Wal seinen Körper zu einem Halbkreis und taucht direkt nach dem Atemvorgang mit dem Kopf voran wieder ab. Hermann Burmeister beschrieb 1853 dieses Verhalten folgendermaßen:
Den Vortrieb liefert beinahe ausschließlich die Schwanzflosse, die auf- und abwärts geschlagen wird. Die Brustflossen dienen vor allem der Steuerung und der Stabilisierung im Wasser. Einen wesentlichen Einfluss auf die Geschwindigkeit hat die Beschaffenheit der glatten Haut sowie die stromlinienförmige Gestalt der Tiere. Ausgedehnte Ruhephasen gibt es nicht, stattdessen verharren die Tiere mehrmals in der Stunde für vier bis sechs Sekunden in einer Ruhestellung an der Wasseroberfläche, wobei sie jedoch absinken und dann wieder in ihren natürlichen Bewegungsrhythmus zurückfallen.
Eine wichtige Rolle im Verhalten der Schweinswale spielt die Fähigkeit, Laute von sich zu geben, das Spektrum ist dabei sehr groß. Die Kommunikation der Tiere erfolgt über Klicklaute, die aus hochfrequenten (110 bis 150 Kilohertz) und tieffrequenten (etwa 2 Kilohertz) Tönen aufgebaut sind. Hinzu kommen Töne, die die Tiere zur Echolokalisation abgeben, die sowohl niederfrequente Anteile um 1,5 Kilohertz beinhalten als auch hochfrequente Anteile um 100 Kilohertz. Durch Untersuchungen der Laute konnten dabei typische Laute der Erkundung und Orientierung, der Dominanz, der Werbung um Partner, der Hilfeleistung sowie der Warnung vor Gefahren identifiziert werden. Für die Evolutionsbiologie interessant ist die Erkenntnis, dass die Ortungslaute der Schweinswale außerhalb des Hörbereichs des Großen Schwertwales liegen. Man geht davon aus, dass sich dieser Unterschied als Ergebnis des Räuber-Beute-Verhältnisses entwickelt hat.
Fortpflanzung und Entwicklung
In einem Alter von etwa drei bis vier Jahren werden die Weibchen der Schweinswale geschlechtsreif, die Männchen bereits nach zwei bis drei Jahren. Die Paarungszeit liegt in den europäischen Gewässern zwischen Mitte Juli und Ende August. Während dieser Zeit schwellen die Hoden der männlichen Tiere enorm an, diese wiegen während der meisten Zeit des Jahres etwa zwei Gramm, in der Paarungszeit bis über 400 Gramm. Die Paarung findet bei den meisten Populationen im tieferen Wasser statt, bei anderen im sehr seichten Küstenbereich.
Die meisten Beobachtungen über das Paarungsverhalten stammen von gefangenen Schweinswalen. Es besteht aus einem Vorspiel sowie der nachfolgenden Paarung. Dabei verfolgt ein Männchen zuerst ein ausgewähltes Weibchen und versucht, einen ersten Berührungskontakt mit den Rückenflossen herzustellen. Heck (1915) beschrieb dies folgendermaßen: „Während der Brunst sind sie äußerst erregt, durcheilen pfeilschnell die Fluten, verfolgen sich wütend und jagen eifrig hinter den Weibchen drein.“
Danach folgen ein „Streicheln“ sowie ein „Überkreuzschwimmen“ (cross-swimming) der Tiere. Hinzu kommt ein Vorzeigen der Bauchseite durch das Männchen und ein Knabbern an den Flossen des Weibchens. Die Kopulation erfolgt lotrecht an der Wasseroberfläche und dauert nur einige Sekunden. Danach können sich das Vorspiel und die Kopulation wiederholen.
Die Schwangerschaft dauert bei Schweinswalen etwa zehn bis elf Monate, sodass die Jungtiere im Frühsommer zwischen Mai und Juni zur Welt kommen. Dabei wird meistens nur ein Jungtier geboren, Zwillingsgeburten sind extrem selten. Uneinigkeit herrscht darüber, ob ein Weibchen jedes Jahr ein Junges oder nur alle zwei Jahre eines bekommt. Die Geburt selbst ist aufgrund der bei den Walen fehlenden Beckenknochen relativ unkompliziert und findet während des normalen Schwimmens statt. Die peristaltischen Geburtswellen dauern etwa eine bis zwei Stunden an. Das Jungtier und die Plazenta, welche die Nachgeburt bildet, lösen sich voneinander, nachdem die Nabelschnur mit dem Verlassen des Kopfes als letztem Körperteil des Jungtieres abreißt. Die Jungtiere schwimmen direkt nach der Geburt selbstständig an die Wasseroberfläche und nehmen ihre ersten Atemzüge.
Das Jungtier ist bei der Geburt zwischen 65 und 90 Zentimeter lang und wiegt zwischen fünf und sieben Kilogramm. Das Jungtier wird über acht bis neun Monate von der Mutter gesäugt, es frisst allerdings bereits mit fünf Monaten seine erste Fischnahrung. Beim Säugen legt sich das Muttertier auf die Seite und ermöglicht so dem Jungtier die Atmung an der Wasseroberfläche. Die Milch besteht etwa zur Hälfte aus Fett und enthält im Vergleich zu anderen Säugetieren einen hohen Anteil an Rohprotein und Mineralstoffen. Mit dem Beginn des Fischfangs brechen beim Jungtier auch die ersten Zähne durch, mit etwa sieben Monaten haben die Jungtiere ihr vollständiges Gebiss, nach ungefähr einem Jahr trennen sie sich von der Mutter. Muttertiere halten sich mit ihren Jungtieren meistens sehr viel näher an der Küste auf als ihre Artgenossen.
Das maximale Alter von Schweinswalen wird auf etwa 20 Jahre geschätzt, wobei die meisten Tiere nicht älter als acht bis zehn Jahre werden.
Forschungsgeschichte
Der Gewöhnliche Schweinswal stellt neben den Delfinen einen der am frühesten für die Forschung zugänglichen Wale dar, da er als Bewohner der flachen Küstenbereiche Europas auch vom Land aus beobachtet werden konnte. Felszeichnungen aus der Steinzeit, wie sie etwa in Roddoy und Reppa (Norwegen) gefunden wurden, zeigen, dass die Tiere auch frühen Kulturen bekannt waren. Ein großer Teil der Erkenntnisse, die für die Gesamtheit der Wale bzw. der Zahnwale gelten, wurden erstmals bei den Schweinswalen entdeckt.
Eine erste Beschreibung eines Schweinswals lieferte Aristoteles 350 v. Chr. mit den Angaben, dass die Schwangerschaft der von ihm Phokaina genannten Wale etwa zehn Monate dauert und dass die Wale schlafend den Kopf über Wasser halten und „schnarchen“. Trotzdem ordnete er die Wale den Fischen zu. Seine sehr genauen Beschreibungen wurden von den Römern zwar übernommen, aber inhaltlich mit den Erkenntnissen über die Delfine vermischt. Hier ist vor allem Plinius der Ältere zu nennen, der eine umfassende Naturgeschichte verfasste. Auch in der Kunst dieser und nachfolgender Zeiten findet sich diese Vermischung wieder, so wurden Delfine seitdem mit einem hochgewölbten, für Schweinswale typischen Kopf und einer langen, für Delfine typischen Schnauze dargestellt.
Bis in das späte Mittelalter wurden die Erkenntnisse der Griechen und Römer über die Schweinswale nicht wesentlich erweitert, sondern häufig nur noch weiter verfälscht und abstrahiert. In den Schriften von Konrad von Megenberg, um 1340, kann man etwa über das „Meerschwein“, eine alte Bezeichnung der Schweinswale, nachlesen:
Wissenschaftlicher wurden dann erst wieder die Beschreibungen des 16. Jahrhunderts, allen voran die von Conrad Gessner, Pierre Belon und Guillaume Rondelet. Rondelet begann damit, aufgrund kritischer Beobachtungen die fabelartigen Anteile aus den Tierbeschreibungen zu filtern. Durch Sektionen konnte er auch die Entwicklungsstadien des Fötus studieren und die Anatomie des Walgehirns betrachten. Belon entdeckte die Besonderheiten des Walskeletts durch Sektionen an Schweinswalen und Delfinen. Weitere Erkenntnisse kamen durch Ulisse Aldrovandi und Johannes Jonstonus (John Johnston) im 17. Jahrhundert hinzu. Bei einer Schweinswalsektion des dänischen Forschers Thomas Bertholin war sogar der König Frederik III. samt Gefolge anwesend. Bertholin selbst war der erste Wissenschaftler, der den für Zahnwale typischen Kehlkopf beschrieb. Auch Edward Tyson und Francis Willughby brachten neue Erkenntnisse.
Eine der ersten anatomischen Beschreibungen der Atemwege des Schweinswals stammt aus dem Jahr 1671 von John Ray, der den Schweinswal dennoch den Fischen zuordnete, wie seit Aristoteles üblich.
Die wissenschaftliche Beschreibung und die Einordnung in die Systematik erfolgte durch Carl von Linné 1758 als Delphinus phocaena. Dabei ordnete er auch erstmals die Wale den Säugetieren zu. Georges Cuvier schuf 1816 die Gattung Phocoena. Im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts wuchs das Wissen über die Wale und damit auch der Schweinswale massiv an. Besonders die Anatomie, die Physiologie und später auch das Verhalten und die Ökologie der Wale wurden umfangreich erforscht. Wichtige Arbeiten stammten dabei etwa von Étienne Geoffroy Saint-Hillaire, Wilhelm Ludwig Rapp und später ganz besonders Willy Kükenthal.
Systematik und Unterarten
Der Schweinswal gehört gemeinsam mit dem Kalifornischen Schweinswal (Phocoena sinus), dem Brillenschweinswal (Phocoena dioptrica) und dem Burmeister-Schweinswal (Phocoena spinipinnis) in die Gattung Phocoena innerhalb der Schweinswale (Phocoenidae).
So wie der Schweinswal an vielen Teilen der Welt lebt, so kann er auch recht unterschiedlich aussehen, denn die einzelnen, regionalen Populationen vermischen sich kaum. Die Vertreter im Schwarzen Meer sind durchwegs kleiner als die der Ostsee und die westatlantischen Tiere größer als diejenigen im Ostatlantik vor der europäischen Küste. Außerdem sind die Ostsee-Schweinswale dunkler als die der Nordsee und besitzen eine spezielle Speckschicht. Die Tiere aus dem Schwarzen Meer weisen mehr Tuberkeln vor der Rückenfinne auf und haben sich physiologisch auf niedrigere Salzgehalte eingestellt.
Als voneinander vollständig abgeschlossene Metapopulationen und somit als Unterarten werden folgende angesehen:
Phocoena phocoena vomerina im Pazifik
Phocoena phocoena phocoena im Atlantik
Phocoena phocoena relicta im Schwarzen Meer
Innerhalb dieser Metapopulationen können weitere, kleinräumigere Populationen unterschieden werden. Allein die Schweinswale der europäischen Küsten werden dabei in etwa zehn mehr oder weniger geschlossene Populationen aufgeteilt. Dabei scheint beispielsweise die Population der Ostsee einen relativ großen Genaustausch mit der Population der nördlichen Nordsee zu haben; gegenüber den Schweinswalen der südlichen Nordsee besteht dagegen aufgrund des unterschiedlichen Wanderverhaltens eine genetische Barriere.
Bedrohung und Schutz
Fischerei und Walfang
Der Schweinswal wurde bereits seit dem Mittelalter gejagt. Erste Erwähnungen des Schweinswalfanges stammen aus der Normandie, wo er seit 1098 belegt ist. Die Küste wurde den „Walmanni“ zugeteilt, die organisierte Fangzüge durchführten.
In Middelfart auf Fünen (Dänemark) ist der Schweinswalfang seit etwa 1500 belegt. Hier fand er durch eine Zunft von „Meerschweinjägern“ (Marsvinsjaeger-Langet) statt, die mit zehn Booten und jeweils drei Mann Besatzung die Schweinswale fingen. Die Innungsregeln waren streng festgelegt und wurden auf königliches Geheiß geregelt.
Auch in Flandern, im Ärmelkanal, an der dänischen, der deutschen und an der polnischen Küste wurde der Schweinswal kommerziell genutzt. Wie im obigen Beispiel von Middelfart war auch hier der Fang häufig streng geregelt. So musste etwa an der polnischen Küste jeder „Delfinfischer“ zwei Mark Jahressteuer an den amtierenden Fischereimeister abgeben. Die Marktpreise waren etwa in Königsberg um 1379 festgelegt. Dabei war in allen Ländern der Walfang eher ein Nebengeschäft neben dem regulären Fischfang und wurde nur von wenigen Fischern ausschließlich betrieben.
Bis ins 19. Jahrhundert wurden so etwa 1000 bis 2000 Tiere pro Jahr gefangen, bis 1944 nahm die Quote auf etwa 320 Tiere ab. Heute findet der kommerzielle Fang der Schweinswale vor allem im Schwarzen Meer statt, in allen europäischen Staaten ist er verboten. Entsprechend treten Schweinswale wie andere Kleinwale vor allem als Beifang auf, dort jedoch teilweise in hohen Mengen von jährlich über 4.000 Exemplaren. Sie verheddern sich dabei in Fischnetzen, aus denen sie sich nicht mehr befreien können, sodass sie wegen Sauerstoffmangels ersticken.
Heute liegt die Bedrohung des Wals in der Fischerei als Beifang, bei dem die mitgefangenen Tiere wieder oft verletzt ins Meer gelassen werden und dann qualvoll an den Stränden verenden.
Umweltverschmutzung durch den Menschen
Die Hauptbedrohung der Schweinswale liegt heute in der zunehmenden Umweltverschmutzung der Meere. Vor allem Schwermetalle wie Quecksilber, Blei oder Cadmium lagern sich in der Muskulatur und der Leber der Wale ab. In der Speckschicht konzentrieren sich fettlösliche Umweltgifte wie polychlorierte Biphenyle (PCB) oder (mittlerweile abnehmend) Dichlordiphenyltrichlorethan (DDT). Teerrückstände sowie Reste von Ölfilmen führen zu Hautnekrosen und gemeinsam mit den anderen Vergiftungen zu einer Schwächung der Tiere, wodurch wiederum die Anzahl erkrankter und stark durch Parasiten befallener Tiere zunimmt. PCB-Gehalte von über 70 ppm (Millionstel Anteilen) können bei Robben und Walen zu Sterilität führen, eine Menge, die bei nicht wenigen Schweinswalen gefunden werden konnte. Die höchste PCB-Konzentration bei einem Schweinswal betrug bislang 260 ppm und wurde 1976 festgestellt.
Anhand von Analysen konnten 2008 an der gesamten deutschen Ostseeküste insgesamt achtzehn Schweinswale als Beifang kategorisiert werden. 2010 wurden nur sechs Tiere als „Verdacht auf Beifang“ diagnostiziert, jedoch kann man dies aufgrund des oftmals fortgeschrittenen Verwesungszustandes nicht mehr eindeutig feststellen. Vergleicht man die Beifangdaten der Nord- und Ostsee mit den Daten weltweit, ist die Beifangrate außerhalb der deutschen Küsten erheblich größer. Die Population in der Ostsee ist mittlerweile so klein, dass jeder noch so kleine Beifang dramatische Wirkungen zeigt. Vor allem dort, wo das weltweite Verbot von Beifang nicht so stark kontrolliert wird und die Strafen nur gering ausfallen, werden viele Meeressäugetiere absichtlich mitgefangen und nicht wieder der Freiheit ausgesetzt.
Auch die zunehmende Verlärmung der Meere gefährdet den Schweinswal. Im Jahr 2007 plante ein Erdölkonzern rund um die Doggerbank in der Nordsee mit niederfrequenten Schallwellen aus Luftkanonen nach Öl- und Gasvorkommen zu suchen. Es waren Schallwellen mit einer Stärke von 180 Dezibel geplant. Naturschutzverbände fürchteten die Vertreibung der Tiere durch die starken Schallemissionen. Von Sprengungen von Altmunition geht ebenfalls eine erhebliche Gefährdung der Schweinswale aus.
Stress für die küstennah lebenden Wale macht daneben der Lärm von Schiffsmotoren, der die Orientierung der Tiere stört.
In letzter Zeit kommt dazu der Unterwasserlärm der beim Rammen bestimmter Fundamente von Offshore-Windparks entsteht. Während der Gründungsarbeiten für BARD Offshore 1 wurden in einer Entfernung von 750 Metern zum Pfahl Einzelereignispegel gemessen, die deutlich über dem UBA-Grenzwert von 160 Dezibel lagen. Derzeit (2012) werden allerdings Schutzmaßnahmen wie Blasenschleier und Kofferdämme getestet, die bei weiteren Projekten zum Einsatz kommen sollen, bei ersten Projekten kommen diese bereits zum Einsatz. So wurden zum Beispiel beim Bau von Trianel Windpark Borkum erfolgreich Blasenschleier zur Schallminderung eingesetzt. Zudem werden andere Gründungsmöglichkeiten untersucht, bei denen auf das schallintensive Rammen der Monopiles verzichtet werden kann. Durch den angehenden intensiven Ausbau der Offshore-Windenergie ist nach Angaben des Umweltbundesamtes zu erwarten, dass der Schweinswal irreversible Verletzungen des Gehörs erleidet oder gar die Taubheit erlangt. Möglicherweise wird diese Art aus den Lebensräumen um die Offshore-Windenergieanlagen völlig vertrieben.
Nationale und Internationale Schutzbemühungen
In großen Teilen ihres Verbreitungsgebiets sind Schweinswale durch nationale Gesetze geschützt. Ein Beispiel hierfür ist der Marine Mammal Protection Act in den USA.
Darüber hinaus gibt es internationalen Schutzstatus in den Ländern der Europäischen Union durch Richtlinien wie die Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie oder die Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie. Im Norden und Westen Europas bemühen sich die Staaten außerdem, durch Zusammenarbeit unter dem spezialisierten Abkommen zur Erhaltung der Kleinwale in der Nord- und Ostsee, des Nordostatlantiks und der Irischen See (ASCOBANS) den Erhaltungszustand der Populationen zu verbessern.
Die Population im Schwarzen Meer wird vom Übereinkommen zum Schutz der Wale des Schwarzen Meeres, des Mittelmeeres und der angrenzenden Atlantischen Zonen (ACCOBAMS) abgedeckt.
Um auf die Gefährdung der Schweinswale aufmerksam zu machen, gab die Deutsche Post AG mit dem Erstausgabetag 2. Januar 2019 ein Postwertzeichen im Nennwert von 45 Eurocent heraus. Der Entwurf stammt von Ingrid Hesse aus München.
Haltung
Aufgrund seiner relativ geringen Größe wurde von Aquarien und Tierparks der Versuch unternommen, Schweinswale in Gefangenschaft zu halten. Er ist jedoch aufgrund seiner Umweltansprüche und hohen Anfälligkeit nicht gut für die Haltung geeignet. Ein Großteil der zur Haltung gefangenen Tiere verendet nach wenigen Wochen. Aus diesen Gründen erfolgt die Haltung von Schweinswalen heute beinahe ausschließlich zu wissenschaftlichen Untersuchungen oder zur Pflege zufällig gefangener und verletzter Tiere.
Die ersten bekannten Haltungsversuche fanden 1862 in London und 1864 im Zoologischen Garten in Hamburg, weitere 1914 in Brighton und 1935 in Berlin statt. Bei all diesen Versuchen verendeten die Tiere nach wenigen Tagen. In London versuchte man, das bereits bei der Ankunft durch den Transport stark geschwächte Tier mit Branntwein zu stärken, es verstarb jedoch nach wenigen Stunden. Erst in den 1970er-Jahren stieg das Interesse an der Haltung von Schweinswalen erneut im allgemeinen Boom der Delfinarien. So hielt man sie in New York (1970), Kopenhagen (1970), Duisburg (1979), Constanța (seit 1971 regelmäßig) und an verschiedenen anderen Orten, meistens nur für wenige Wochen. Die Lebensdauer für Schweinswale in Gefangenschaft liegt bei meist nur zwei bis drei Jahren, ein Teil der Tiere hält jedoch länger durch, so lebt im Fjord og Bælt Centeret in Dänemark noch ein 1997 gerettetes Weibchen. Alle aktuell in Europa gehaltenen Schweinswale sind mindestens seit 7 Jahren in menschlicher Obhut.
Aktuell (2022) werden in Europa neun Schweinswale gehalten (3 Männchen, 6 Weibchen). Bis auf ein in menschlicher Obhut geborenes Weibchen handelt es sich bei allen um gerettete Tiere, die auf Grund ihres Zustands nicht ausgewildert werden können. Ein 1997 gerettetes Weibchen und zwei 2020 gerettete Tiere leben im Fjord og Bælt Centeret, Kerteminde Dänemark, in dem 2007 der erste in Menschenhand geborene Schweinswal das Licht der Welt erblickte. Im Dolfinarium Harderwijk leben zwei 2007 gerettete Weibchen und ein 2012 hier geborenes Weibchen sowie zwei ebenfalls gerettete Männchen von 2009 und 2013. Ein 2011 gerettetes Weibchen lebt bei der Sea Mammal Research Company (SEAMARCO) in den Niederlanden.
Literatur
M. Carwardine: Wale und Delfine. Delius Klasing, Bielefeld 2008 (hochwertiger Führer). ISBN 978-3-7688-2473-6.
R. Kiefner: Wale und Delfine weltweit. Jahr-Top-Special, Hamburg 2002. (Führer der Zeitschrift „tauchen“, sehr detailliert). ISBN 3-86132-620-5.
J. Niethammer, F. Krapp (Hrsg.): Handbuch der Säugetiere Europas. Band 6. Meeressäuger, Teil 1A Tl.1 – Wale und Delphine – Cetacea. Aula, Wiesbaden 1994. (wissenschaftliches Standardwerk). ISBN 3-89104-559-X.
Randall R. Reeves, Brent S. Stewart, Phillip J. Clapham, James A. Powell: Sea Mammals of the World. A Complete Guide to Whales, Dolphins, Seals, Sea Lions and Sea Cows. Black, London 2002, ISBN 0-7136-6334-0 (Führer mit zahlreichen Bildern).
G. Schulze: Die Schweinswale. Die neue Brehm-Bücherei 583. Ziemsen, Wittenberg 1987, Westarp, Magdeburg 1996. (2. erw. Aufl., detaillierte Monografie). ISBN 3-7403-0048-5, ISBN 3-89432-379-5.
G. Soury: Das große Buch der Delphine. Delius Klasing, Bielefeld 1997. (detailreicher Bildband). ISBN 3-7688-1063-1.
M. Würtz, N. Repetto: Underwater world: Dolphins and Whales. White Star Guides, Vercelli 2003. (Bildband, Bestimmungsbuch). ISBN 88-8095-943-3.
Weblinks
Der Schweinswal in der Ostsee – BUND Mecklenburg-Vorpommern
Einzelnachweise
Schweinswale
FFH-Arten (Anhang II)
FFH-Arten (Anhang IV) |
171346 | https://de.wikipedia.org/wiki/Synesios%20von%20Kyrene | Synesios von Kyrene | Synesios von Kyrene (; * um 370; † nach 412) war ein spätantiker griechischer Philosoph, Schriftsteller und Dichter. Er stammte aus einer vornehmen Familie der Stadt Kyrene im Osten des heutigen Libyen. Ab 411/12 amtierte er als Bischof der Provinzhauptstadt Ptolemais in seiner Heimatregion, der Kyrenaika.
Synesios war maßgeblich vom Neuplatonismus geprägt, der damals die vorherrschende philosophische Schulrichtung war. Eine wesentliche Rolle spielte dabei der Einfluss der paganen Neuplatonikerin Hypatia, bei der er seine philosophische Ausbildung erhielt und mit der er eng befreundet blieb. Da er zugleich Christ war, sah sich Synesios vor die Aufgabe gestellt, das platonische Welt- und Menschenbild mit dem christlichen Glauben in Einklang zu bringen. Die synkretistische Religiosität, die sich daraus ergab, kommt in seinen Hymnen und seiner Korrespondenz zum Ausdruck. Die Verbindung von philosophischem Erkenntnisstreben und literarisch-musischer Aktivität stellte für ihn die ideale Lebensform dar, für die er als Schriftsteller eintrat.
Als Gesandter seiner Heimatprovinz Libya superior weilte Synesios drei Jahre lang in Konstantinopel, der Hauptstadt des Oströmischen Reichs. In den Machtkämpfen am dortigen Kaiserhof ergriff er entschieden Partei und stellte seine schriftstellerische Begabung in den Dienst seiner politischen Überzeugung. Nach seiner Rückkehr beteiligte er sich energisch an der militärischen Sicherung seiner Heimat. Vehement trat er gegen Willkür und Korruption in der Verwaltung auf. In seiner politischen Philosophie berief er sich auf ein Tugendideal und Herrscherbild, das sich an einer verklärten fernen Vergangenheit orientierte.
Neben Hymnen und Briefen verfasste Synesios auch Reden, Predigten, einen Roman und Abhandlungen über unterschiedliche Themen. Seine „Königsrede“ ist eine wichtige Quelle für die politische Ideengeschichte. Die Briefe galten im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit im griechischen Sprachraum als stilistisch vorbildlich.
Die moderne geistesgeschichtliche Forschung hat der von Synesios versuchten Synthese von Platonismus und Christentum viel Beachtung geschenkt. Ein unter Historikern kontrovers erörtertes Thema ist die Frage, was von Synesios' Darstellung seiner Zeit als Niedergangsepoche zu halten ist. Zumindest dokumentiert sein Werk eine solche Sichtweise in der Führungsschicht, der er angehörte.
Leben
Das Leben des Synesios ist durch seine Werke – vor allem die zahlreichen Briefe – gut dokumentiert, viele Facetten seiner politischen und wissenschaftlichen Tätigkeit und seiner geistigen Entwicklung sind erkennbar. Allerdings sind seine Texte interpretationsbedürftig; sie enthalten eine Fülle von Anspielungen und hintergründigen, verhüllten Informationen, die nur für Kenner der damaligen Verhältnisse verständlich sind.
Herkunft
Synesios wurde um 370, jedenfalls vor der Mitte der 370er Jahre geboren. Er hatte Schwestern und einen Bruder namens Euoptios, zu dem er ein enges Verhältnis hatte. Seine reichen und angesehenen Eltern lebten in der Stadt Kyrene, die zur römischen Provinz Libya superior, dem stärker besiedelten westlichen Teil der Kyrenaika, gehörte. Die Familie des Philosophen führte ihre Abstammung auf die ersten dorischen Kolonisten zurück, die im 7. Jahrhundert v. Chr. die Kyrenaika besiedelt und Kyrene gegründet hatten. Sein Vater Hesychios gehörte dem Geschlecht der Hesychiden an, das in der Stadt einen ausgedehnten palastartigen Gebäudekomplex besaß. Dieses Bauwerk, das im 20. Jahrhundert ausgegraben wurde, wird von den Archäologen „Haus des Hesychios“ genannt. Die Deutung des archäologischen Befunds ist umstritten. Einer Forschungshypothese zufolge wurde das Haus von einem Erdbeben im Jahr 365 so schwer beschädigt, dass es aufgegeben werden musste; die Familie verlegte ihren Wohnsitz auf ein Landgut, das wegen der Gefahr von Angriffen räuberischer Stämme befestigt war und vom paramilitärischen Aufgebot der Landeigner verteidigt wurde. Demnach wuchs Synesios in einer ländlichen Umgebung auf. Nach der gegenteiligen Hypothese wurde das von den Archäologen ausgegrabene Haus erst nach 365 als Ersatz für den vom Erdbeben zerstörten Vorgängerbau errichtet, und der Lebensmittelpunkt des Synesios blieb dauerhaft in der Stadt Kyrene.
Wo Synesios seine Kindheit verbrachte, ist somit ungewiss. Unstrittig ist nur, dass er eine solide Schulbildung erhielt. Der Ausgrabungsbefund hat ferner gezeigt, dass seine Familie schon in der Urgroßeltern- oder Großelterngeneration christlich geworden war. Neuere Forschungen haben ergeben, dass Angehörige des Hesychidengeschlechts senatorischen Rang hatten, doch ist unbekannt, ob dies auch auf den Familienzweig, dem der Philosoph angehörte, zutrifft.
Jugend
Die Eltern des Synesios sind anscheinend früh verstorben. Der Familientradition entsprechend erhielt er eine sorgfältige Erziehung, insbesondere auf literarischem Gebiet. Dazu gehörte eine gute rhetorische Ausbildung, deren Früchte später in seinen Briefen zutage traten. In den neunziger Jahren des 4. Jahrhunderts begab er sich nach Alexandria, um bei der paganen Platonikerin Hypatia Philosophie zu studieren. Hypatia, die Tochter des Mathematikers Theon von Alexandria, hatte einen mathematisch-astronomischen Interessenschwerpunkt; wohl auf ihre Anregung wurde Synesios auch auf diesem Gebiet aktiv. Nach dem Abschluss seiner Ausbildung verließ er Alexandria, setzte aber das Zusammenwirken mit Hypatia brieflich fort. Vielleicht im Anschluss an die Studienzeit, aber möglicherweise erst 399 oder 410, reiste er nach Athen, um auf der Suche nach Weisheit die dortige Philosophenschule kennenzulernen. Sein Aufenthalt in der einst als Bildungszentrum berühmten Stadt enttäuschte ihn jedoch schwer; er erhob den Vorwurf der Substanzlosigkeit gegen die „Plutarchiker“, die von Plutarch von Athen geleitete neuplatonische Schule. Dies hing vielleicht damit zusammen, dass die paganen Athener Neuplatoniker dem Christen Synesios misstrauten und ihn daher nicht zum Unterricht für Fortgeschrittene, in dem heikle religiöse Themen zur Sprache kamen, zuließen.
Gesandtschaftsreise nach Konstantinopel
Mit der Reichsteilung von 395 fiel Libyen an das Oströmische Reich. Im Jahr 397 oder nach einer anderen Datierung 399 übernahm Synesios den Auftrag, als Gesandter seiner Heimatprovinz an den Hof des Kaisers Arcadius nach Konstantinopel zu reisen, um eine Steuererleichterung zu beantragen. Vermutlich gehörte er, wie damals üblich, einer dreiköpfigen Provinzialgesandtschaft an, die dieses Anliegen vorzubringen hatte. Nach dem offiziellen Abschluss der Mission entschied sich Synesios, länger in der Hauptstadt zu bleiben, statt sogleich mit seinen beiden Gefährten die Heimreise anzutreten. Er verbrachte drei Jahre in Konstantinopel, erlangte die Gunst des mächtigen Prätorianerpräfekten Aurelianos und wurde ein entschiedener Parteigänger seines Wohltäters in den Machtkämpfen am Hof. Aurelianos sorgte seinerseits dafür, dass die erbetene Steuererleichterung gewährt wurde. Diesen Erfolg konnte sich Synesios allein zuschreiben und sich damit das Ansehen eines Wohltäters der Kyrenaika verschaffen. Schließlich gab ihm das Erlebnis eines schweren Erdbebens den Anstoß zur Heimkehr. Da er für die Kosten der Rückreise selbst aufkommen musste und seine Mittel erschöpft waren, sah er sich gezwungen, einen Freund um Kredit zu bitten.
Philosophisches Leben und militärisches Engagement
Sein restliches Leben verbrachte Synesios in der Heimat. Die Schriftstellerei, philosophische Studien und die Sicherung und Verwaltung seiner Güter bildeten Schwerpunkte seiner Aktivität. Daneben beteiligte er sich auch intensiv am politischen Leben. Einmal beschloss er, nochmals in die Hauptstadt zu reisen, in der Hoffnung, erneut am Kaiserhof Einfluss zu gewinnen. Er bestieg ein Schiff nach Konstantinopel, wurde aber von einem Unwetter nach Alexandria verschlagen und entschied sich dort, sein Vorhaben abzubrechen. Der Grund für den Verzicht auf die Reise war vermutlich eine damals am Hof ausgetragene kirchenpolitische Auseinandersetzung, in die der Patriarch Theophilos von Alexandria verwickelt war. In diesen Konflikt wollte Synesios wohl nicht hineingezogen werden. In Alexandria heiratete er eine Frau, deren Name und Herkunft nicht überliefert ist. Die Trauung wurde vom Patriarchen vollzogen.
Nach seiner Rückkehr in die Kyrenaika beobachtete Synesios weiterhin den Verlauf der Machtkämpfe am Kaiserhof. Diese nahmen zeitweilig eine für ihn ungünstige Wendung, als 403/404 Eutychianos, der Rivale seines Gönners Aurelianos, Prätorianerpräfekt wurde und damit an eine zentrale Schaltstelle der Macht gelangte. Synesios pflegte seine Kontakte in Konstantinopel und versuchte dort brieflich und mit Geschenken Einfluss zu nehmen.
In der Kyrenaika konnte der Philosoph ab 405 kein friedliches Leben mehr führen, vielmehr musste er sich mit militärischen Problemen auseinandersetzen. Die Abwehr von Raubzügen der Bewohner des Wüstenhinterlandes war eine vordringliche Aufgabe der regionalen Aristokratie, an der er sich zu beteiligen hatte. Im Jahr 405 spitzte sich die Lage zu: Eine Schwächung der Abwehrkraft, die Synesios auf eine verfehlte Militärreform zurückführte, hatte die „Barbaren“ zu einem Angriff ermutigt, der gefährlicher war als frühere Plünderungszüge. Synesios organisierte die Verteidigung, obwohl er nur Privatmann war und keinerlei Amt bekleidete. Damit übernahm er eine Aufgabe, die damals angesichts der Unzulänglichkeit der oströmischen Militärverwaltung den städtischen Eliten zufiel. Die Städte waren militärische Organisationseinheiten; zumindest in Kyrene und in Ptolemais bestanden die dort stationierten Truppen aus Bürgern der Städte und unterstanden einem städtischen Oberkommandierenden. Bei den Streitkräften, die von den Städten aufgeboten wurden, handelte es sich aber nach der heute vorherrschenden Forschungsmeinung nicht um Privatarmeen örtlicher Befehlshaber, etwa im Sinne „präfeudaler“ Strukturen; vielmehr galten lokale militärische Initiativen als Beteiligung an der Erfüllung staatlicher Aufgaben. Die Soldaten, die auf Veranlassung des Synesios der Gefahr entgegentraten, gehörten teils offiziell zum Reichsheer, teils waren es Privatleute, die sich an der Verteidigung ihrer Heimat beteiligen wollten. Ironisch und mit Erbitterung äußerte sich Synesios über das Versagen der offiziellen Kommandeure, die eigentlich für die militärische Sicherheit verantwortlich waren.
Für die Einstellung des Synesios zu seinen militärischen Pflichten spielte der Umstand, dass Kyrene in ferner Vergangenheit von dorischen Kolonisten gegründet worden war, eine wichtige Rolle. Durch die dorische Tradition bestand ein Bezug zu Sparta, der einst mächtigsten dorischen Stadt in Griechenland. Synesios führte seine Abstammung auf die ersten Kolonisten Kyrenes zurück und war stolz auf seine Ahnen. Er sah sich als Nachkommen tüchtiger Krieger und knüpfte an das berühmte spartanische Tapferkeitsideal an.
Die entmutigenden Erfahrungen mit der Politik auf der Reichsebene – sowohl mit den wechselvollen Intrigen in der Hauptstadt als auch mit dem Versagen der Militärverwaltung – bewogen Synesios zu einer Neubestimmung seiner Prioritäten, die er 405/406 in einem Brief an seinen Freund Pylaimenes in Konstantinopel darlegte. Er wandte sich nun konsequenter dem Ideal einer philosophischen Lebensführung zu. Diesen Wendepunkt in seinem Leben scheint er als Bekehrung aufgefasst zu haben. Damit war aber keineswegs eine Abkehr von den politischen und militärischen Aufgaben zugunsten einer beschaulichen, zurückgezogenen Lebensweise gemeint. Vielmehr erwartete er von der Besinnung auf philosophische Grundsätze eine Befähigung zu besserer Teilnahme am öffentlichen Leben in der Kyrenaika. Die Hoffnung, auf der Reichsebene Politik nach philosophischen Grundsätzen gestalten zu können, gab er auf.
Das Bischofsamt
Das Ansehen des Synesios war so groß, dass er 410 auf Betreiben des Patriarchen Theophilos zum Bischof von Ptolemais gewählt wurde, obwohl er zum kirchlichen Leben und insbesondere zu den damals tobenden heftigen dogmatischen Streitigkeiten Distanz gehalten hatte. Nicht einmal seine unverhohlene Ablehnung zentraler Aussagen des Glaubens, die mit seinem Weltbild unvereinbar waren, galt als Hindernis. Glaubensinhalte, die er als Philosoph unannehmbar fand, hielt er für Mythen, die für Unverständige bestimmt seien. Aus seiner Sicht handelte es sich um irrige Meinungen des ungebildeten Volkes, die keinesfalls gegenüber philosophischen Erkenntnissen den Vorrang haben durften. Auch als Bischof hielt er an Überzeugungen fest, die aus dem paganen Platonismus stammten. Er war weiterhin der Ansicht, die Welt sei nicht in einem zeitlichen Schöpfungsakt geschaffen worden, sondern bestehe ewig. Außerdem nahm er die Präexistenz der Seele an, das heißt, er schrieb ihr ein Dasein schon vor der Entstehung des Körpers zu. An die Auferstehung des Fleisches glaubte er nicht. Der Gegensatz zwischen „Heiden“ und Christen war für ihn weit weniger wichtig als derjenige zwischen philosophisch Gebildeten und Unwissenden. Mit dieser Einstellung, die er auch als hoher kirchlicher Würdenträger unbeirrt beibehielt, war Synesios eine Ausnahmeerscheinung in einer Epoche schroffer Gegensätze zwischen den Vertretern konträrer religiöser Wahrheitsansprüche.
Meinungsverschiedenheiten über den Wert der Bildung zeigten sich vor allem im Verhältnis des Synesios zum Mönchtum. Er teilte die unter den paganen Gebildeten verbreitete starke Abneigung gegen eine Strömung unter den Mönchen, die er als zivilisationsfeindlich wahrnahm. Das Bestreben ungebildeter Mönche, eine direkte Verbindung mit Gott zu erlangen, ohne erst philosophische Denkarbeit zu leisten, erschien ihm abwegig. Seine scharfe Kritik an dieser Tendenz bewog ihn aber nicht zu einer generellen Ablehnung des Mönchtums; sie hinderte ihn nicht daran, als Bischof ein Kloster zu gründen.
Der mit der Bischofswürde verbundene Verlust der philosophischen Muße war für Synesios ein schmerzliches Opfer. Daher nahm er die Wahl erst nach längerem Schwanken und trotz schwerer Bedenken an; erst zwischen Mitte Januar 411 und Mitte Januar 412 empfing er die Bischofsweihe. Das kirchliche Amt empfand er als schwere Last. Nach seinen Worten beugte er sich einer göttlichen Fügung, obwohl er lieber viele Tode erlitten hätte als Priester zu werden. Bevor er der Weihe zustimmte, behielt er sich vor, an seinen für das gläubige Volk anstößigen philosophischen Auffassungen festzuhalten und seine Ehe fortzusetzen. Die Vorstellung, sich von seiner Frau zu trennen, um ein zölibatäres Leben zu führen, oder seinen Ehestand vor der Öffentlichkeit zu verbergen, wies er entrüstet als Zumutung zurück. Überdies bekräftigte er seine Absicht, künftig viele Kinder zu zeugen.
Zu einer großen Herausforderung wurde für den neuen Bischof schon bald nach seinem Amtsantritt der Konflikt mit dem Repräsentanten der kaiserlichen Herrschaft, dem Provinzstatthalter (Praeses) Andronikos, dem er schwere Verbrechen vorwarf. Nach der Darstellung des Synesios war Andronikos ein durch Bestechung hochgekommener Prolet, der seine hohe Stellung zu jeder Art von Schurkerei missbrauchte. Im Kampf gegen den erst seit 411 amtierenden Statthalter der Libya superior setzte der Bischof seine geistliche Macht ein: Er ging gegen ihn 412 mit der Strafe der Exkommunikation, des Ausschlusses aus der Kirchengemeinschaft, vor. Zunächst gelang es Andronikos, sich dieser Maßnahme zu entziehen, indem er reumütig auftrat. Er erlangte die Fürsprache von Bischöfen, die den Konflikt zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt entschärfen wollten. Widerstrebend gewährte ihm Synesios Vergebung, doch bald wurde die Exkommunikation wegen neuer Vergehen in Kraft gesetzt. Die geistliche Strafe erwies sich als sehr wirksame Waffe, denn der Bischof untersagte allen Christen den Umgang mit dem gebannten weltlichen Amtsträger und hinderte ihn so an der Ausübung seiner Funktionen. Damit erzwang Synesios in kurzer Zeit die Absetzung des Statthalters, der sich daraufhin nach Alexandria begab. Dort geriet der nunmehr machtlose Andronikos unter so starken Druck, dass sich sogar sein bisheriger Widersacher für ihn einsetzte. Synesios zeigte sich nach seinem Sieg nicht nachtragend. Er bat den Patriarchen Theophilos, dafür zu sorgen, dass der gestürzte Gegner nicht härter als angemessen behandelt werde.
Synesios hatte drei Söhne, von denen die beiden jüngeren Zwillinge waren. Alle drei starben vor ihm. Angesichts dieser Schicksalsschläge fand er Trost in den Schriften des Stoikers Epiktet. Im Jahr 413 ist er letztmals als lebend bezeugt. Vermutlich starb er bald darauf. Die Ermordung seiner Lehrerin Hypatia 415/416 erlebte er vielleicht nicht mehr.
Werke
Von den Werken des Kyreneers sind 156 Briefe, neun philosophisch-theologische Hymnen, drei Reden, ein Roman, vier Schriften über verschiedene Themen sowie zwei kurze Predigten erhalten geblieben. Sie sind alle in griechischer Sprache abgefasst, werden aber gewöhnlich mit den lateinischen Titeln zitiert, unter denen sie bekannt sind. Viele darin vorgetragene Ideen gehen auf Platon zurück oder stammen aus der neuplatonisch-aristotelischen Tradition, wobei unter den neuplatonischen Richtungen die des Porphyrios gegenüber der Schule des Iamblichos bevorzugt wird. Verloren sind heute die Kynēgetikaí oder Kynēgetiká (Jagdgeschichten), ein vermutlich umfangreiches Werk über die Jagd und Jagderlebnisse, das der Autor selbst als Spielerei bezeichnete; ob es sich um ein Gedicht handelte, ist umstritten. Er soll auch philologische Schriften verfasst haben, darunter, wie aus einer Bemerkung in einem Brief hervorgeht, eine Abhandlung über Homer. Ein Dialog über Alchemie, der in der handschriftlichen Überlieferung Synesios zugewiesen wird, ist unecht.
Die Prosawerke mit Ausnahme der Briefe werden oft nach der Paginierung in der 1633 erschienenen dritten Auflage der Edition von Denis Pétau (Petavius) zitiert (beispielsweise „De dono 307A“). Diese Zitierweise ist weiterhin neben der Kapiteleinteilung der kritischen Ausgabe von Nicola Terzaghi (1944) verbreitet.
Die Briefe
Die 156 überlieferten Briefe des Kyreneers sind teils offizieller, teils privater Natur. Sie sind sowohl für seine Biografie als auch für die kulturellen, politischen und ökonomischen Zustände in Libyen und für die Historische Geographie von hohem Quellenwert. Alle Briefe stammen von ihm selbst; die Antworten der Korrespondenzpartner wurden nicht in die Sammlung aufgenommen und haben sich nicht erhalten. Es ist eine unvollständige und für damalige Verhältnisse eher kleine Briefsammlung, deren relativ bescheidener Umfang auch mit dem frühen Tod des Autors im Alter von etwa 43 Jahren zusammenhängt. In der handschriftlichen Überlieferung liegt sie in einem kaum geordneten Zustand vor. In dieser Form kann sie nach der überwiegenden Forschungsmeinung nicht auf Synesios selbst, der als Herausgeber einem Ordnungsprinzip gefolgt wäre, zurückgehen. Die Sammlung wurde wohl erst in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts oder im 6. Jahrhundert von einem Herausgeber zusammengestellt, der keinen Zugang zu einem vollständigen Archiv des Verfassers hatte.
Die Briefe zeigen Synesios als gewandten Stilisten, der seine Texte sorgfältig ausarbeitete, eine Fülle von Stilmitteln flexibel und wirksam einsetzte und über eine große Variationsbreite verfügte. Seine Ausdrucksweise wirkt elegant und mühelos. Manche kürzere Briefe sind nach dem antiken Ideal der Knappheit – der strikten Vermeidung jeder Weitschweifigkeit – ausgeformt, andere sind umfangreich und entzünden ein rhetorisches Feuerwerk. Im spätantiken Briefverkehr der Gebildeten war es üblich, nicht nur den direkt angesprochenen Empfänger im Blick zu haben, sondern auch ein Publikum, dem die literarisch ausgestalteten Briefe vorgelesen wurden. Dieses Aspekts war sich Synesios beim Schreiben bewusst. Er achtete auf Lebendigkeit, Flüssigkeit und Ausgewogenheit des Stils und mied die Gefahren eines mechanischen und übertriebenen Einsatzes der konventionellen Stilmittel. Manchmal äußerte er sich begeistert und wollte seinen Korrespondenzpartner mit seinem Enthusiasmus mitreißen. Eindringlich schilderte er als Augenzeuge das Kriegselend, die Leiden der Bevölkerung bei den Raubzügen der Wüstenstämme. Je nach gegebenem Anlass schrieb er feierlich, humorvoll, ironisch, tadelnd, mahnend, beschwörend, dramatisch oder klagend. Er setzte Zitate und Wortspiele ein und wusste Komplimente anzubringen. Seine Empfindungen drückte er lebhaft aus, manchmal zärtlich, wenn er seine starke Zuneigung zu Freunden oder zu seinem Bruder Euoptios in Worte fasste, manchmal vehement und leidenschaftlich, wenn er Schandtaten anprangerte. Neben solchen Ergüssen stehen aber auch sachliche Beschreibungen und kalte, formell abgefasste Mitteilungen.
Offen äußerte sich Synesios in den Briefen auch über seine Schwächen und enthüllte, wie weit er manchmal vom philosophischen Ideal des Gleichmuts entfernt war. Als er bereits Bischof war, bekannte er freimütig, dass er nach dem Tod eines seiner Söhne so verzweifelt war, dass er daran dachte, sich selbst zu töten.
Als literarisch besonders bedeutend gilt der fünfte Brief der Sammlung, in dem der Schriftsteller seinem Bruder den Verlauf seiner stürmischen Seefahrt von Alexandria nach Kyrene erzählte. Bei dieser Fahrt handelt es sich vermutlich um seine Heimkehr von der Gesandtschaftsreise nach Konstantinopel. Der Text hat auch wegen seines Quellenwerts in der Forschung viel Beachtung gefunden.
Die Hymnen
Die Hymnen geben Einblick in das Weltbild des Autors, in dem sich pagane neuplatonische Vorstellungen mit christlichen mischen, ohne dass darin ein Widerspruch gesehen wird. Die Aufgabe, die er sich gestellt hat, beschreibt Synesios mit den Worten, der Geist des Mysten – des in die Mysterien Eingeweihten oder allgemeiner des Frommen – umkreise „den unsagbaren Urgrund im Reigen“. Als Dichter nimmt er sich vor, das eigentlich Unsagbare in Worte zu fassen. Die Hymnen verherrlichen „das Eine“, das absolut transzendente höchste Prinzip des Neuplatonismus, das der Philosoph mit dem christlichen Gott gleichsetzt. Er betrachtet es ebenso wie die paganen Neuplatoniker als „überseiende Quelle“ und nennt es „Zahl der Zahlen“. Diese höchste Gottheit spricht er als den „Vater aller Väter“ an, der „jenseits der Götter“ sei und die „Lebensader der Götter“ darstelle. Mit solchen Formulierungen billigt er dem paganen Polytheismus Wirklichkeit zu, er behandelt die Götter als reale Wesen.
Das Eine ist für den Hymnendichter nicht nur Vater, sondern auch Mutter und gebärender Schoß; es erscheint als weiblich und männlich zugleich. Die neuplatonische Lehre vom Einen als Ursprung alles Seienden vermischt sich mit dem christlichen Konzept der göttlichen Dreifaltigkeit. Ob mit dem mütterlichen Aspekt der Gottheit, dessen Bedeutung der Dichter hervorhebt, der Heilige Geist gemeint ist, ist in der Forschung umstritten.
Aus der erzeugenden Gottheit, die zugleich Vater und Mutter ist, geht in einer unaufhörlichen Geburt der Gottessohn hervor. Dabei betont Synesios die paradoxe Identität des Gebärenden und des Geborenen; der Sohn ist nicht vom Vater getrennt und ihm nicht untergeordnet. Die Hervorbringung des Sohnes erfolgt durch den väterlichen Willen, der eine Mittelstellung zwischen Vater und Sohn einnimmt. Der Sohn ist der Aspekt der Gottheit, der auf die Weltschöpfung ausgerichtet und auch für die Erlösung zuständig ist. Er verbleibt somit nicht in göttlicher Abgeschiedenheit, sondern wendet sich der Welt zu. Die aus menschlichen Verwandtschaftsbeziehungen übernommenen Ausdrücke „Vater“, „Mutter“ und „Sohn“ verwendet Synesios in den Hymnen nur als Metaphern, nicht in einem wörtlichen Sinn.
Der Dichter geht von einer Mehrzahl geistiger Welten aus, deren Urheber das Eine ist und die ihrerseits die sinnlich wahrnehmbare, materielle Welt durch Emanation hervorbringen. In die materielle Welt sind die unsterblichen, im rein Geistigen beheimateten Seelen der Menschen hinabgestiegen. Dort haben sie sich in der Fremde umherwandernd verirrt und sind nun vielfachen Nöten ausgesetzt. Im ersten Hymnus lässt der Dichter seine Seele das Wort ergreifen und ihr Schicksal beklagen. Sie ist niedergestiegen, um der Erde zu dienen; wie ein Tropfen vom Himmel ist sie zur Erde gefallen. Nun muss sie feststellen, dass sie statt Dienerin Sklavin geworden ist, nachdem die Materie sie mit bezaubernden Künsten gefesselt hat. Ihre Fesseln sind die Süchte, die sie bedrängen und irreführen. Das Mittel, mit dem die Erde sie betört und festhält, ist die „freudlose Freude“ der süßen Verblendungen. „Stechenden Leidenschaften“ ist sie ausgeliefert, ihre eigenen Werte hat sie vergessen. Nachdem sie dies erkannt hat, will sie sich von den trügerischen Einbildungen befreien und zu der göttlichen Quelle zurückkehren, der sie einst entströmt ist. Daher bittet sie ihren göttlichen Vater, einen Glanz erstrahlen zu lassen, der sie emporführt. Von Helios, der göttlichen Sonne, erbittet sie Schutz bei ihrem Aufstieg in ihre himmlische Heimat. Nach der Heimkehr wird sie, wie Synesios ihr im neunten Hymnus versichert, „geeint mit dem Vater, Gott in Gott, den Reigen tanzen“. In den Dienst dieses Ziels stellt der Dichter seine Hymnen. Dabei betont er die Bedeutung des andächtigen Schweigens, das herrschen soll, wenn „heilige Hymnen“ der Gottheit als „unblutiges Opfer“ dargebracht werden. Die Affekte sind zu beruhigen. Frei von Leidenschaften und Verlangen, Mühen und Klagen, Zorn und Streit hat die Seele zu sein, wenn sie sich der Gottheit nähert.
Die Kosmologie der Hymnen orientiert sich an den damals gängigen, in erster Linie auf Aristoteles zurückgehenden Vorstellungen. Nach diesem Geozentrischen Weltbild ist das kugelförmige Universum aus Sphären aufgebaut. Die himmlischen Sphären sind durchsichtige, konzentrisch um die Erde als Weltmitte angeordnete Hohlkugeln, die sich gleichförmig drehen. An ihnen sind die Gestirne befestigt. Durch diese Befestigung werden die Himmelskörper in ihren Kreisbahnen gehalten. Ihre Bewegungen gehen nicht von ihnen selbst aus, vielmehr werden sie von den Sphären auf sie übertragen. Synesios nimmt neun Sphären an. Die sieben inneren Hohlkugeln tragen je einen Wandelstern, das heißt Mond und Sonne sowie die damals bekannten, mit bloßem Auge sichtbaren fünf Planeten Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn. Auf der achten, scheinbar schnellsten Hohlkugel sind alle Fixsterne befestigt. Eine neunte, sternlose Sphäre umhüllt das Ganze, treibt es an und hält es in Bewegung. Sie bildet die Grenze des Universums. Der Kosmos wird von der Mondsphäre, der untersten Planetensphäre, geteilt: Oberhalb der Mondbahn befindet sich die Region der unsterblichen himmlischen Wesen, unterhalb von ihr das Reich der Vergänglichkeit.
Für seine religiöse Dichtung wählte Synesios nicht die oft für Kultlieder verwendeten Hexameter, sondern einfache lyrische Versmaße. Die Gedichte sind stichisch nach den Prinzipien der quantitierenden Metrik gebaut. Die ersten beiden Hymnen, die den größten Teil des Gedichtbuchs ausmachen, bestehen aus anapästischen Monometern. Hinsichtlich der Metrik und Ausdrucksweise war die Hymnendichtung des Kyreneers vom Vorbild der Hymnen des paganen Lyrikers Mesomedes beeinflusst.
Die Königsrede
Mit dem ungenauen, aber gängigen Ausdruck „Königsrede“ bezeichnet man eine in Konstantinopel verfasste Abhandlung des Synesios in Gestalt einer fiktiv an den Kaiser Arcadius gerichteten Mahnrede. Der griechische Titel lautet Eis ton autokrátora perí basileías, das heißt (Rede) an den Gebieter über die königliche (bzw. kaiserliche) Herrschaft. Oft wird das Werk unter dem lateinischen Titel De regno (Über die Königsherrschaft) zitiert. Die für damalige Verhältnisse unerhört offenherzige Rede kann Synesios wohl kaum vor dem Kaiser und dessen mächtigen Beratern gehalten haben, zumindest nicht in einer so schroffen Form. Mit solcher Kritik und Ermahnung hätte er sich in Lebensgefahr gebracht und seinem Anliegen als Gesandter nur geschadet. Falls er tatsächlich vor Arcadius gesprochen hat, muss sich der vorgetragene Text nach der vorherrschenden Forschungsmeinung erheblich von dem überlieferten unterscheiden. Wahrscheinlich war die als literarisches Werk konzipierte Königsrede für Aurelianos, den Gönner des Kyreneers, bestimmt. Sie sollte den Standpunkt und die Werturteile des Aurelianos und seiner Gesinnungsgenossen auf rhetorisch effektvolle Weise formulieren und damit dem Autor das Wohlwollen seines Förderers bewahren.
Den Inhalt der Königsrede bildet ein Aufruf zu radikalem Umdenken. Der Philosoph redet seinem kaiserlichen Zuhörer ins Gewissen, um ihn zu einer grundlegenden Änderung seiner Regierungspraxis zu bewegen. Diesem Zweck dient die Darstellung eines an klassischen Vorbildern und platonischen Forderungen orientierten Herrscherideals, das dem Kaiser als Norm vor Augen gestellt wird. Synesios zeigt den krassen Gegensatz zwischen diesem Ideal und den Verhältnissen am Hof des Arcadius. Dabei übt er heftige, fundamentale Kritik sowohl am Kaiser selbst als auch an dessen Umgebung. Er tadelt die höfische Prunkentfaltung und die Abgeschlossenheit des persönlichen Lebensbereichs des Herrschers. Die Abschirmung des im Palast lebenden Kaisers hält er für ein großes Übel, im Prunk und Hofzeremoniell sieht er eine barbarische, dem Römertum fremde Unsitte. Aus seiner Sicht zeichnet sich ein tüchtiger Staatslenker dadurch aus, dass er in der Öffentlichkeit präsent ist, dabei auf vorbildlich schlichte Weise auftritt und im Krieg persönlich das Kommando übernimmt. Solche Pflichterfüllung ist, wie die Königsrede zu verstehen gibt, das Gegenteil des Verhaltens, das der an Luxus gewöhnte, volksferne und militärisch unkundige Arcadius praktiziert. Synesios wirft dem Kaiser vor, den Einsichtigen zu misstrauen und sich mit unfähigen Höflingen zu umgeben. Er fordert ihn auf, sich schlechter Ratgeber zu entledigen und stattdessen auf philosophischen Rat zu hören. Offenbar denkt er dabei an sich selbst als qualifizierten Berater. Außerdem nimmt er dezidiert zu aktuellen Fragen der Reichspolitik Stellung. Er kritisiert Konzessionen an die „Barbaren“ – womit er in erster Linie die Goten meint – und tadelt deren zunehmende Beschäftigung im Reichsdienst, insbesondere in Führungspositionen. Das Gemeinsame der Entwicklungen, die er beklagt, sieht er im Vordringen der „Barbaren“ und „barbarischer“ Sitten, das sich sowohl im höfischen Lebensstil als auch in der Außen- und Personalpolitik verhängnisvoll auswirke.
Als charakteristisches Merkmal eines guten Herrschers hebt Synesios die Wohltätigkeit (euergesía) hervor. Der Monarch soll menschenfreundlich (philánthrōpos) sein; so wie er selbst von Gott geliebt wird, so soll er seinerseits die Menschen lieben. Bei der Verrichtung von Wohltaten darf er niemals ermüden, ebenso wie die Sonne bei der Aussendung ihrer Strahlen nie ermüdet. Anstrengungslos soll er sein Wohlwollen verschenken, so wie die Sonne ihr Licht. Mit diesen Ausführungen greift Synesios das traditionelle Ideal der herrscherlichen Philanthropie auf. In einer hierarchisch geordneten Welt fällt dem Niederen die Aufgabe zu, das Höhere zu betrachten und nachzuahmen. Es soll sich am Vorbild des Höheren orientieren, um dadurch selbst besser zu werden. So wie Gott dem Monarchen, so soll der Monarch dem Volk durch seine Fürsorge das Gute und Vorbildliche musterhaft vor Augen führen. Dadurch kommt im Staat die rechte, naturgemäße Ordnung zustande. Keinesfalls darf ein König habgierig sein und die Städte durch übermäßige Steuererhebung entkräften. Er hat darauf zu achten, dass die Abgabenlast für die Steuerpflichtigen tragbar bleibt. Alle unnötigen Staatsausgaben sind zu vermeiden. Ein geldgieriger König ist armseliger als ein Kleinhändler, denn der Händler muss für den Unterhalt seiner Familie sorgen, während der König keinerlei Rechtfertigung für seine Charakterschwäche hat. Der verbreitete Ämterkauf ist ein großes Übel, denn er führt zur Besetzung der Ämter mit inkompetenten, bestechlichen Personen. Die Auswahl der Amtsträger soll daher nur nach Qualifikation erfolgen, Geld darf dabei keine Rolle spielen.
Die Beratung und Ermahnung eines unwissenden Machthabers war eine Vorgehensweise, die schon Platon den Philosophen zur Aufgabe gemacht und selbst praktiziert hatte. Mit der Königsrede stellte sich Synesios – wenngleich wohl nur literarisch – in diese Tradition. Die Auswahl und Behandlung seiner Themen entsprach herkömmlichen Mustern; Orientierung an einer idealisierten, vorbildlichen Vergangenheit und Kritik an der Unzugänglichkeit eines abgeschirmten Herrschers waren gängig. Unzugänglichkeit wurde traditionell mit ungerechter Gewaltherrschaft und barbarischer Willkür assoziiert. Außerdem war das mutige Auftreten eines freimütigen Philosophen vor einem schlechten Herrscher in der Antike ein geschätztes literarisches Motiv. Hinter den grundsätzlichen Ausführungen des Kyreneers steckte aber auch ein konkretes, aktuelles politisches Anliegen. Mit seiner Barbarenkritik wandte er sich – wenngleich ohne Namensnennung – gegen den mächtigen Höfling Eutropios und dessen nachgiebige Politik gegenüber dem Gotenkönig Alarich I. Eutropios war in den Machtkämpfen am Hof der Gegenspieler von Synesios’ Gönner Aurelianos. Angriffsflächen bot er durch seinen herkunftsmäßig sehr niedrigen sozialen Rang, an dem sein Aufstieg zur Macht aus aristokratischer Sicht nichts geändert hatte. Er war „Barbar“, das heißt, er wurde seiner Abstammung nach einem Volk außerhalb des als Zivilisationseinheit verstandenen Reichs zugeordnet. Noch stärker fiel ins Gewicht, dass er ein Emporkömmling war: Er war in seiner Jugend auf einem Sklavenmarkt feilgeboten worden und hatte später als Freigelassener am Hof Karriere gemacht. Überdies war er Eunuch. All dies machte ihn in den Augen seiner Kritiker und Gegner zu einer verächtlichen Person. Diesen Hintergrund spielte Synesios in der Königsrede geschickt gegen den gegnerischen Höfling aus, wobei er den Kontrast zu traditionellen Werten der griechischen und römischen Aristokratie herausstellte.
Mit ihrer antigermanischen, patriotisch-römischen Stoßrichtung wirkt die Königsrede wie das Programm einer Parteirichtung, die sich mit einer solchen Grundsatzerklärung profilieren wollte. Nach einer früher sehr verbreiteten Forschungsmeinung fungierte Synesios als Wortführer einer „nationalrömischen Partei“, die im Senat von Konstantinopel tonangebend gewesen sei. Zu ihr hätten mächtige Persönlichkeiten am Hof gezählt, darunter die Kaiserin Aelia Eudoxia, obwohl sie selbst germanischer Herkunft war. In der älteren Forschung dominierte das von Historikern wie Otto Seeck, Ernst Stein und Ludwig Schmidt gezeichnete Bild eines prinzipiellen Gegensatzes zwischen einer antigermanischen, „patriotischen“ und einer progermanischen Partei. Die beiden Parteien hätten für entgegengesetzte Überzeugungen gekämpft. Die Königsrede sei als programmatische Kundgebung des Antigermanismus aufzufassen. Seeck sah in ihr den Ausdruck eines „schönen, wenn auch törichten, Idealismus“. Man glaubte, mit dem Scheitern der Rebellion des gotischen Heermeisters Gainas im Jahr 400 und dem Sturz des Heermeisters Fravitta habe sich die antigermanische Partei durchgesetzt. Damit sei im Oströmischen Reich eine entscheidende Weichenstellung erfolgt. In der Folgezeit seien die Germanen wie von Synesios gefordert aus militärischen Führungspositionen entfernt worden. In neueren Untersuchungen wird diese Interpretation der Vorgänge jedoch revidiert. Die dramatischen Ereignisse der Zeit um 400 werden als persönliche Machtkämpfe, nicht als prinzipielle Auseinandersetzungen über die Rolle der Germanen im Reich gedeutet. Zwar wird die Königsrede weiterhin meist als propagandistische Hilfe für eine Gruppe um Aurelianos betrachtet, doch ist auch diese Annahme nicht mehr unbestritten. Alan Cameron und Jacqueline Long glauben, dass die Rede verfasst wurde, bevor sich Synesios mit Aurelianos verband.
Die Ägyptischen Erzählungen
Der Roman, den Synesios verfasste, trägt den Titel Aigýptioi ē perí pronoías (Die Ägypter oder Über die Vorsehung, lateinisch Aegyptii sive de providentia oder kurz De providentia). In der deutschsprachigen Fachliteratur wird er gewöhnlich Ägyptische Erzählungen genannt. Die Handlung spielt in einem mythischen ägyptischen Milieu, hat aber ebenso wie die Königsrede einen aktuellen Hintergrund in den Kämpfen und Intrigen am Kaiserhof. Der Autor schuf das in zwei Bücher gegliederte Werk während seines Aufenthalts in Konstantinopel und verarbeitete darin seine Erfahrungen mit den dortigen politischen Turbulenzen. Geschildert wird der Konflikt zwischen dem guten König Osiris und dessen finsterem Bruder und Rivalen Typhos. Nach der vorherrschenden, wenngleich umstrittenen Interpretation steht Osiris für Synesios’ Gönner, den Prätorianerpräfekten Aurelianos, Typhos für dessen Vorgänger und Nachfolger Eutychianos, und das ägyptische Königtum entspricht der Prätorianerpräfektur. Allerdings enthält der Roman auch Elemente, die keine erkennbare Entsprechung in der historischen Realität haben.
Der Königssohn Osiris und sein älterer Bruder Typhos sind charakterlich extrem verschieden. Mit diesem Szenario möchte der Autor seinen Lesern vor Augen stellen, dass körperliche Verwandtschaft keine seelische bedingt, denn die Seelen der Menschen sind anderer Herkunft als ihre Körper. Osiris ist fleißig und strebt eifrig nach Wissen, Typhos verachtet die Bildung und setzt ganz auf Körperkraft und auf die Befriedigung roher Bedürfnisse. Osiris erweist sich als tüchtig und erfolgreich, Typhos versagt in allem und entwickelt daher Neid und Hass. Der Vater der beiden, der regierende König, beruft eine Versammlung der Priesterschaft und des Heeres ein, die seine Nachfolge regeln soll. Die Entscheidung fällt einhellig zugunsten des beliebten Osiris, der darauf die Königsweihe empfängt. Nun verkünden die Götter dem neuen Herrscher, dass sein Bruder nichts Gutes ertragen könne und alles in Verwirrung bringen werde, wenn es nicht gelinge, ihn aus dem Weg zu räumen. Er, Osiris, müsse Typhos an einen fernen Ort verbannen und dürfe sich dabei nicht als weichlich erweisen. Anderenfalls werde sein bösartiger Bruder mit der Unterstützung mächtiger, missgünstiger Dämonen großes Unheil über das Land bringen. Osiris lehnt das ab, obwohl ihm auch sein Vater eindringlich zuredet. Der Vater legt dar, dass der Mensch sich nicht darauf verlassen dürfe, dass die göttliche Vorsehung für ihn das besorgen werde, was er selbst zu tun habe. Osiris entscheidet sich jedoch für den Weg der Milde und Gewaltfreiheit. Seine Herrschaft ist für das Land überaus segensreich.
Typhos findet sich aber mit seiner Niederlage nicht ab; unter dem Einfluss seiner machtgierigen Frau und der Dämonen strebt er nach einem Umsturz. Das Mittel dazu sollen skythische Söldner sein, die in Ägypten mit militärischen Aufgaben betraut sind. Mit einer Intrige wird der Befehlshaber der Skythen zu einem Staatsstreich aufgestachelt. Der Umsturz gelingt. Typhos möchte nun Osiris töten lassen, doch davor schrecken die Skythen zurück. Der gestürzte König wird daher nicht ermordet, sondern verbannt. Unter der Herrschaft des Typhos gerät Ägypten in ein furchtbares Elend.
Das zweite Buch des Romans schildert den erneuten Umschwung. Aus geringem Anlass entsteht ein Streit, Söldner und Einheimische geraten aneinander. Es kommt zu einem Aufruhr der hauptstädtischen Bevölkerung gegen die Skythen, die teils niedergemacht werden, teils die Flucht ergreifen. Die Machenschaften des Typhos werden aufgedeckt, er wird entmachtet und in Haft genommen, Osiris kann zurückkehren. Wiederum sorgt Osiris dafür, dass sein Bruder verschont wird; er entzieht ihn dem Zorn des aufgebrachten Volkes und bittet die Götter, ihn zu retten. So entgeht der Tyrann der Bestrafung, doch nach seinem Tod wird er auf Beschluss der Götter für seine Untaten büßen müssen. Abschließend bietet der Autor eine philosophische Interpretation des Mythos, den er erzählt hat.
Die Romanfigur Typhos ist eher ein Typus als ein Individuum. Er ist in jeder Hinsicht und auf extreme Weise die Verkörperung von Schlechtigkeit und Unfähigkeit. Zu den hervorstechenden Merkmalen, die dem Leser die Schlechtigkeit dieser Figur signalisieren sollen, zählt neben Schamlosigkeit, Gefräßigkeit und Gewalttätigkeit auch das Symptom der Verschlafenheit. Die Neigung, einem übermäßigen Schlafbedürfnis nachzugeben, galt in der Antike ebenso wie unmäßiges Essen und Trinken als bedeutsames Zeichen mangelnder Selbstdisziplin. Von einem guten Herrscher wurde Wachheit und die Fähigkeit, mit wenig Schlaf auszukommen, erwartet.
Dion
Díōn ē perí tēs kat’ autón diagōgḗs (Dion oder Über das Leben nach seinem Vorbild) nannte Synesios eine Schrift, in der er den Werdegang des berühmten Redners Dion Chrysostomos (Dion von Prusa) beispielhaft analysierte. Besonderes Gewicht legte er dabei auf einen Bruch, den es in Dions Leben gegeben habe: seine Umkehr (metáptōsis) zur Philosophie als Lebenshaltung. In der Zeit seiner großen äußerlichen Erfolge sei er Sophist gewesen, das heißt, es sei ihm nur darauf angekommen, seine sprachliche Könnerschaft auszuspielen. Er habe als Rhetor brillieren wollen und Anerkennung gesucht. Gegenüber der Philosophie habe er sogar eine feindselige Haltung eingenommen. Erst in fortgeschrittenem Alter habe er die Umkehr vollzogen und erkannt, was wirklich wesentlich sei: nicht Urteile anderer, sondern die Selbstvervollkommnung durch die Tugend. In diesem fundamentalen Einstellungswandel des Rhetors sah Synesios anscheinend eine Parallele zu einem gleichartigen Wendepunkt in seinem eigenen Leben.
Synesios plädierte für die Verbindung einer philosophischen Lebensführung mit literarischer Bildung und rhetorischer Kunst, wobei dem philosophischen Ziel ein prinzipieller Vorrang zukommen sollte. Diesen Weg grenzte er von einer Prioritätensetzung ab, die er für falsch hielt. Er wandte sich gegen die Horizontverengung einseitig spezialisierter Fachleute und stellte ihr das Ideal einer allgemeinen Bildung entgegen. Literaten und Grammatiker, die ihre Zeit nur mit Nebensächlichem verbringen, verfehlen aus seiner Sicht das, was im Leben verwirklicht werden soll. Wissenschaftler, die sich mit philosophischen Themen befassen, ohne dass ihre eigene Lebensweise davon berührt wird, sind für Synesios keine Philosophen im eigentlichen Sinn. Dion hingegen sei durch seine Umkehr ein solcher geworden, obwohl er schon zu alt gewesen sei, um sich der Klärung von Fachfragen zuzuwenden und sich mit den Problemen der Naturphilosophie auseinanderzusetzen.
Nach Synesios’ Philosophieverständnis darf ein Philosoph auf keinem Gebiet unfähig oder ungebildet sein. Er soll „ein Grieche im vollen Sinne“ sein, das heißt, er soll mit den Menschen so verkehren können, wie es möglich ist, wenn man sich in der gesamten bedeutenden Literatur auskennt. Unter „Literatur“ (lógoi) sind sowohl wissenschaftliche Fachliteratur als auch wertvolles literarisch gestaltetes Schrifttum zu verstehen. Die Beschäftigung mit Literatur – sowohl rezeptiv als auch schöpferisch – ist der reinste unter den spezifisch menschlichen Genüssen und der göttlichen Vernunft am nächsten verwandt. Sie ist das Fährschiff, mit dem man zur Vernunft – zu philosophischer Einsicht – gelangt oder zumindest zu einer wissenschaftlichen Betätigung des Verstandes, die eine niedrigere Stufe der Einsicht ist. Die Felder, auf denen sich solche Verstandestätigkeiten abspielen, sind Rhetorik, Dichtkunst, Naturkunde und Mathematik. Auch die Geschichtsschreibung gehört zum gemeinsamen Schatz der griechischen Bildungsgüter. Für den Griechen ist es charakteristisch, dass er auch dann, wenn er sich mit Spielereien und Vergnügungen abgibt, seine geistige Beweglichkeit übt. Daraus kann er dann für das eigentliche Ziel des menschlichen Daseins, das Erfassen des Göttlichen, Gewinn ziehen. Der Mensch steht zwischen Gott und Tier; das Tierische soll er meiden, das Göttliche betrachten, das Menschliche nicht vernachlässigen. Ein Philosoph kann sich nicht unablässig nur mit dem Höchsten befassen; auch für ihn ist es durchaus sinnvoll, literarische Werke zu würdigen oder selbst zu verfassen und seinen Stil zu verbessern. Das ist für ihn keine Zeitverschwendung, sondern es sind Schritte, die zu seinem Weg gehören. Auch wenn er das Ziel des philosophischen Strebens nicht erreicht, ist das Voranschreiten ein Wert an sich. Wer sich systematisch um Bildung bemüht, unterscheidet sich von dem, der dies unterlässt, stärker als der Mensch vom Tier.
Synesios vergleicht den Philosophen mit einem Adler und den Ästheten, der sich nur für literarische Schönheit und sonstige Quellen ästhetischer Freude begeistert, mit einem Schwan. Den Schwan hält er zwar für weniger bewundernswert als den königlichen Adler, aber er schätzt ihn als ein Geschöpf, dessen Anblick erfreut. Auch die Menschen, die sich wie die Schwäne auf die Welt der Schönheit beschränken und keine philosophische Erkenntnis erstreben, sind aus seiner Sicht liebenswert und respektabel. Am besten ist beides zusammen, Weisheitsliebe und Schönheitssinn. Den Vögeln hat die Natur nicht gestattet, zugleich Adler und Schwan zu sein und die Vorzüge beider zu vereinigen, aber dem Menschen ist es vergönnt, sowohl die Sprachkunst zu genießen als auch tiefere Einsicht zu erlangen.
Als verbreitete Fehlhaltung kritisiert Synesios die Überschätzung einer einseitig und verständnislos betriebenen Selbstbeherrschung. Damit meint er das damals populäre Ideal der christlichen Askese, die vor allem im Mönchtum kultiviert wurde, und speziell die Verherrlichung der Keuschheit. Aus philosophischer Sicht ist, wie der Kyreneer darlegt, die Selbstbeherrschung eine wertvolle „reinigende“ Tugend. Ihre Grundlage soll aber nicht bloße Gewöhnung an die Erfüllung von Forderungen sein, sondern vernünftige Einsicht in deren Sinn und Zweck. Es ist sinnlos, auf Befehl Selbstbeherrschung zu üben, wenn man nicht weiß, warum man dies tun muss. Beispielsweise ist sexuelle Enthaltsamkeit kein Wert an sich, sondern nur ein Hilfsmittel zum Zweck der Ausrichtung des Denkens auf Höheres. Wer Keuschheit um ihrer selbst willen praktiziert, der hält das Geringste für das Größte und die Vorbereitung für das Ziel. Er vernachlässigt die Tugend der Klugheit (phrónēsis) und entwertet damit seine Selbstbeherrschung, denn die Tugenden sind nur dann hilfreich, wenn sie alle zusammen gepflegt werden, da sie sich gegenseitig bedingen.
Das Traumbuch
Die Abhandlung Perí enhypníōn (Über die Träume, lateinisch De insomniis, deutsch gewöhnlich „das Traumbuch“) behandelt die wahrsagende Funktion von Träumen aus philosophischer Perspektive.
Den Sinn der zukunftsbezogenen Traumdeutung leitet Synesios aus dem Wert des Wissens ab. Seine Überlegung lautet: Es ist das Wissen, das Gott vom Menschen und den Menschen vom Tier unterscheidet. Gott kennt die Zukunft, der Mensch hingegen kann gewöhnlich nicht über die Gegenwart hinausschauen. Gott verfügt mühelos über das Höchste, der Mensch muss es sich mühsam erarbeiten; vor alles Schöne haben die Götter den Schweiß gesetzt. Der Weise strebt danach, sich der Gottheit anzugleichen, indem er seine Erkenntnisfähigkeit steigert und sein Wissen vermehrt. Somit ist es auch seine Aufgabe, sich die Erkenntnis des Zukünftigen zu erschließen und dadurch göttlicher zu werden.
Die erkenntnistheoretische Ausgangsbasis für solche Traumdeutung findet Synesios in der Beschaffenheit der Natur. Nach seinem Verständnis ist der Kosmos ein Lebewesen, dessen Bestandteile sich zueinander wie Glieder eines Organismus verhalten. Da alle Teile des Kosmos – sowohl die übereinstimmenden als auch die gegensätzlichen – miteinander auf die eine oder andere Weise verwandt sind, ist es grundsätzlich möglich, von Bekanntem auf Unbekanntes zu schließen, auch von Gegenwärtigem auf Zukünftiges. Wenn ein Betrachter eine Position außerhalb des Kosmos einnähme, hätte er diese Möglichkeit nicht, denn für ihn wäre der Zusammenhang zerrissen; nur von innen her ist die Welt erfassbar. Weisheit besteht darin, die Art der Verwandtschaft zwischen den Teilen der Welt im Einzelnen zu kennen. Wer über solche Weisheit verfügt, kann auch anhand von Träumen zu Einsichten über die Zukunft gelangen. Träume sind Informationen in einer Schrift, die zu lesen man lernen kann. Dabei muss man allerdings eine gewisse Unklarheit oder Dunkelheit in Rechnung stellen, die in der Natur der Träume liegt; Beweise, wie sie bei der Naturforschung möglich sind, darf man nicht erwarten.
Der maßgebliche Faktor ist dabei die Phantasie. Der Nous – der Intellekt oder die Vernunft – ist der Bereich des unwandelbaren Seins; er enthält die platonischen Ideen, die ewigen Urbilder alles sinnlich Wahrnehmbaren, die unveränderlich und daher im eigentlichen Sinn „seiend“ sind. So wie der Nous zum Seienden verhält sich die Seele zum Werdenden. Sie trägt in sich die Bilder all dessen, was wird, so wie der Nous die Bilder all dessen, was ist. In diesen visuellen Informationen ist auch die Zukunft enthalten. Aus der Fülle der Bilder holt die Seele die jeweils passenden heraus und spiegelt sie in der Phantasie. Damit werden sie für das Subjekt – die erkenntnisfähige Person – erfassbar. Die Inhalte des Nous werden dem Subjekt zugänglich, wenn sie in die Seele gelangen, und die Inhalte der Seele, wenn sie in die Phantasie gelangen. So gesehen ist die Phantasie für den Erkennenden gewissermaßen eine zweite Seele: eine Ebene, auf der bestimmte Inhalte erfassbar werden. Sie ist eine wahrnehmende Instanz, die über eigene Organe verfügt, welche in ihren Funktionen den körperlichen Organen analog sind. Daher kann sie dem Subjekt die Botschaften der Träume übermitteln.
Wie das Sonnenlicht für alle sichtbar ist, so werden auch Träume allen Menschen zuteil. Somit sind die Traumbotschaften an sich nicht exklusiv; gerade ihre allgemeine Erhältlichkeit ist, wie bei der Sonne, ein Zeichen ihrer göttlichen Natur. Die allgemeine Menschenfreundlichkeit der Gottheit zeigt sich darin, dass sie sich auf diesem Weg allen Menschen mitteilt, ohne dass besondere Vorbereitungen nötig sind; man braucht nur zu schlafen. Allerdings hängt die Qualität der Traumwahrnehmung entscheidend vom jeweiligen Zustand der Seele ab. Wenn die Seele ihrer ursprünglichen geistigen Natur folgt, ist sie rein und durchsichtig; dann nimmt sie sowohl im Schlaf als auch im Wachen die Eindrücke der Dinge wahrheitsgemäß auf und kann die Zukunft erfassen. Wenn sie jedoch im Schlamm feststeckt, in den sie durch die trügerischen Verlockungen der materiellen Welt und die Herrschaft der Affekte geraten ist, dann ist sie verdunkelt, ihre Wahrnehmung ist nebelhaft, und sie versteht die Traumbotschaften nicht richtig. Die Art der Phantasievorstellungen einer Person lässt den Zustand ihrer Seele erkennen. Innerlich ist die Seele immer rein; die Verunreinigungen, durch die ihre Wahrnehmung eine neblige Trübheit annimmt, sind äußerlich.
Illustriert wird dies mit eigenen Erfahrungen des Autors. Im Schlaf sei ihm enthüllt worden, was ihm im Wachzustand rätselhaft gewesen sei, oder zumindest sei ihm ein Weg zur Lösung gezeigt worden. Träume hätten ihm auch dazu verholfen, seine Schriften stilistisch markant zu verbessern. Er verdanke seinen Träumen Eingebungen, die ihm vielfach bei der Bewältigung seiner Aufgaben hilfreich gewesen seien. Sie hätten ihn aus Gefahren gerettet und zur rechten Zeit ermutigt.
Wenn sich die Seele von der Überschwemmung durch äußere Eindrücke freihält, kann sie sich ihren eigenen Bildern, die vom Nous stammen und die sie in sich trägt, zuwenden und diese im Traum darbieten. Dann sind die Traumbotschaften erhaben, deutlich und am wenigsten erklärungsbedürftig. Dies ist aber gewöhnlich nicht der Fall. Die meisten Träume sind verworren und rätselhaft, weil sich in ihnen Eindrücke von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem vermischen, wobei das Zukünftige das Undeutlichste ist. Doch auch solchen Träumen kommt ein Erkenntniswert zu.
Die gängigen Traumbücher, die allgemeine Aussagen über die Symbolik einzelner Traumbilder machen, sind aus Synesios’ Sicht von geringem Wert. Nach seiner Meinung ist es prinzipiell unmöglich, eine Traumwissenschaft mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu begründen, denn die Deutung der Traumbilder ist individuell und von den jeweiligen Verhältnissen der Seele abhängig; sie kann nicht verallgemeinert werden. Daher muss jeder seine eigene, nur für ihn gültige Traumdeutungskunst erschaffen. Dies geschieht durch Beobachtung der eigenen Träume und Erforschung ihrer Gesetzmäßigkeiten und ihrer Zusammenhänge mit den Tagesereignissen. Zu diesem Zweck soll man ein Traumtagebuch führen.
Über das Geschenk
Der kurze Traktat Pros Paiónion perí tou dṓrou (An Paionios über das Geschenk, kurz Über das Geschenk, lateinisch De dono) zählt zu den frühen Werken des Synesios. Der Philosoph verfasste diese Schrift während seines Aufenthalts in Konstantinopel als Begleitschreiben zu einem kostbaren Geschenk für den einflussreichen Politiker und Offizier Paionios. Obwohl es sich eigentlich um einen Brief an Paionios handelt, ist der Text nicht in der Briefsammlung überliefert, sondern gilt als Abhandlung. Das Geschenk, das darin beschrieben wird, war ein silbernes Planisphärium, ein Instrument zur Darstellung der Gestirnbewegungen, das Synesios von einem Silberschmied hatte anfertigen lassen. Dabei stützte er sich auf die astronomischen Kenntnisse, die er in den Studienjahren bei Hypatia erworben hatte. Mit dem Geschenk wollte er sich die Gunst des Paionios, den er vor kurzem kennengelernt hatte, sichern. Er lobte ihn als eine Persönlichkeit, die fähig sei, das platonische Ideal einer Verbindung von Weisheitsliebe mit politischer und militärischer Machtausübung zu verwirklichen. Der Traktat enthält zwei Epigramme, die an dem Planisphärium angebracht waren; eines davon hatte Synesios selbst gedichtet.
Die Beschreibung des Geräts im Traktat des Synesios zeigt, dass sein Verständnis der Funktionsweise eines Planisphäriums sehr mangelhaft war. Offenbar war ihm eine einschlägige Abhandlung unbekannt, in der Hypatias Vater, der Astronom Theon von Alexandria, die Konstruktion und Anwendung solcher Instrumente erörterte. Die Frage, warum er trotz seines Studiums bei Hypatia nicht über den Kenntnisstand Theons verfügte, wird in der Forschung unterschiedlich beantwortet. Möglicherweise war Theon damals noch am Leben und verfasste seine Schrift erst nach Synesios’ Weggang aus Alexandria. Es kann aber auch sein, dass mangelnde astronomische Begabung des Synesios als Erklärung für seine Inkompetenz ausreicht.
Das Lob der Glatze
Das Phalakrás enkṓmion (Lob der Glatze, lateinisch Calvitii encomium) ist eine humoristische Stilübung, mit der Synesios sein literarisches Können und seinen Witz zeigte. Er antwortete damit auf eine Rede des Dion Chrysostomos mit dem Titel Lob des Haupthaars. Den Anlass bot der Umstand, dass er schon früh von Haarausfall betroffen war und darunter stark litt, da er mit seiner Glatze weiblichen Schönheitserwartungen nicht entsprach. In diesem Zusammenhang wies er darauf hin, dass männliche Schönheit nicht nur für die erotische Attraktivität ausschlaggebend sei. Sie sei den Frauen so wichtig, dass sie sogar das Ausmaß der Mutterliebe beeinflusse. So habe die Perserkönigin Parysatis ihren jüngeren Sohn Kyros gegenüber dem älteren, dem regierenden Großkönig Artaxerxes II., bevorzugt, weil Kyros schöner gewesen sei. Die Vorliebe der Parysatis für Kyros hatte bei der Rivalität der Brüder, die zu einem Bürgerkrieg führte, eine Rolle gespielt und der Überlieferung zufolge einen wichtigen politischen Faktor dargestellt. Zusätzlichen Kummer bereitete Synesios die Rede Dions, in der die Wertschätzung des Haupthaars literarisch untermauert wurde, insbesondere mit Berufung auf die Autorität Homers. Um dem Urteil des berühmten Redners, den er auch selbst schätzte, entgegenzutreten, entschloss sich Synesios zu seiner Replik. Er trug eine Fülle scherzhafter Einfälle vor, um die Kahlheit in ein günstiges Licht zu rücken. Zugleich nutzte er diese Gelegenheit, seine Belesenheit zu demonstrieren.
Die Rede Dions, auf die Synesios Bezug nimmt und die er zitiert, ist nicht erhalten geblieben und wird sonst nirgends erwähnt. Daher ist in der Forschung der Verdacht geäußert worden, dass ein solches Werk in Wirklichkeit nie existiert habe. Es handle sich um eine freie Erfindung des Synesios, der die angebliche Rede fingiert habe, um einen literarischen Effekt zu erzielen. Diese Frage bleibt offen.
Katastaseis
Unter der eigenartigen Bezeichnung katastáseis sind zwei Ansprachen überliefert, die Synesios im Jahr 411 hielt. Er sprach vor dem concilium provinciae, einer Versammlung von Delegierten der Städte seiner Heimatprovinz. Unter einer katástasis verstand man in der Rhetorik den Teil einer Rede, in dem der Redner bereits dargelegte Sachverhalte so interpretierte und in einen Zusammenhang stellte, wie es erforderlich war, damit sich das Publikum seiner Auffassung anschloss und mögliche Bedenken zerstreut wurden. Beide Ansprachen handeln von der Abwehr der Raubzüge, die Wüstennomaden in der Provinz unternahmen. Sie sind wertvolle Quellen für die regionale Militärgeschichte. In der ersten Ansprache rühmte Synesios einen Abwehrerfolg, beklagte aber die unzureichende Truppenstärke; in der zweiten, etwas später gehaltenen zeichnete er das düstere Bild einer verzweifelten militärischen Lage.
Rezeption
Mittelalter und Frühe Neuzeit
Byzantinisches Reich
Im Byzantinischen Reich gehörte Synesios zu den bekannten und geschätzten Autoren. Seine heidnisch klingenden Äußerungen und seine Ablehnung kirchlicher Dogmen galten als frühe Irrtümer; man nahm an, er habe später eine konsequente Hinwendung zum wahren Glauben vollzogen. Im späten 6. Jahrhundert lobte der Kirchengeschichtsschreiber Euagrios Scholastikos seine hohe Bildung und die kunstvolle Abfassung der Briefe. Er betonte die Rechtgläubigkeit des Synesios, der seinen Glaubenszweifel dank göttlicher Gnade überwunden habe. Euagrios’ jüngerer Zeitgenosse Johannes Moschos erzählte in seiner Geistlichen Wiese, einem der populärsten Werke der byzantinischen Literatur, eine von ihm selbst erfundene oder vielleicht damals schon verbreitete Legende, der zufolge der Kyreneer als Bischof einen paganen Philosophen von der Wahrheit der christlichen Lehre in strittigen kosmologischen und anthropologischen Fragen überzeugte und ihn dann taufte. Hier erscheint Synesios sogar als Heiliger, dessen Heiligkeit durch ein Wunder offenbart wird. Anerkennend urteilte im 9. Jahrhundert der Patriarch Photios von Konstantinopel, ein führender Literaturkritiker seiner Zeit. Er rühmte sowohl die Sprachkunst der Briefe als auch die Kraft und Dichte der darin geäußerten Gedanken. Allerdings missfiel ihm, dass sich in der Prosa eine Neigung zu einer allzu poetischen Ausdrucksweise zeige. In der Suda, einer byzantinischen Enzyklopädie des 10. Jahrhunderts, wurde auf die große Bewunderung, die den Briefen gezollt wurde, hingewiesen. Michael Psellos, ein renommierter Gelehrter des 11. Jahrhunderts, befasste sich mit dem Traumbuch und verteidigte es mit Empörung gegen Kritik, die damals an diesem Werk geübt wurde. Auch Johannes Italos, ein Schüler des Psellos, konsultierte das Traumbuch. Im frühen 14. Jahrhundert verfasste Nikephoros Kallistu Xanthopulos seine Kirchengeschichte, in der ein Kapitel von Synesios handelt, dessen herausragenden Rang als Schriftsteller Nikephoros würdigte. Der Kyreneer sei auch ein bedeutender Philosoph und sein Ruhm sei weltweit verbreitet. Neben diesen Urteilen ist auch die Anzahl der erhaltenen Handschriften der Briefsammlung – es sind mehr als 260 – ein Beleg für das außerordentliche Ansehen, das Synesios als Schriftsteller in der griechischsprachigen Welt genoss. Die ältesten dieser Handschriften stammen aus dem elften Jahrhundert, die meisten aus dem vierzehnten. Die Briefe galten als vorbildlich und wurden oft zitiert, nachgeahmt und mit Scholien erläutert.
Auch andere Werke des Kyreneers fanden – wenngleich in geringerem Ausmaß – Beachtung und Wertschätzung. Im 12. Jahrhundert widmete der Gelehrte Johannes Tzetzes dem Lob der Glatze einige Verse. Der Philosoph Theodoros Metochites († 1332) schätzte besonders den Dion. Ihm gefiel die Offenheit des Synesios, der sich nicht auf eine einzige philosophische Schulrichtung beschränkt habe, sondern aus allen Gewinn gezogen habe; er habe sich das Beste sowohl von Platon als auch von Aristoteles zu eigen gemacht. Metochites lobte das in den Schriften ausgebreitete umfassende Wissen, bemängelte aber sprachliche Eigenwilligkeiten, die zu Härten in der Ausdrucksweise geführt hätten; das sei typisch für Schriftsteller, die ihre Ausbildung in Ägypten erhalten hätten. Diesen stilistischen Aspekt erwähnte auch Metochites’ Schüler Nikephoros Gregoras, der im frühen 14. Jahrhundert einen Kommentar zum Traumbuch verfasste. Er äußerte sich voller Bewunderung über die Verbindung von Weisheit und sprachlicher Eleganz im Werk des antiken Autors. Allerdings sei darin auch Dunkelheit und Unschärfe; daher müsse man als Ausleger über gute Sachkenntnis und Einfühlung verfügen.
In Rhetorikhandbüchern der Palaiologenzeit wurde die Lektüre der Briefe empfohlen. Synesios galt als Muster eines Autors, der einen prunkvollen Stil gepflegt habe. In Lexika wurden ungewöhnliche Wörter und Wortverwendungen aus seinen Werken angeführt.
Unter der türkischen Herrschaft ab dem 15. Jahrhundert galt Synesios weiterhin als Klassiker und stilistisches Vorbild; man las in erster Linie die Briefe, die zur Schullektüre gehörten, aber auch die Königsrede fand starke Verbreitung. Übersetzungen ins Neugriechische wurden angefertigt.
West- und Mitteleuropa
Bei den lateinischsprachigen Gelehrten des Westens waren die Werke des Synesios im Mittelalter unbekannt. Erst in der Epoche des Renaissance-Humanismus wurden sie wiederentdeckt und durch Übersetzung ins Lateinische einer breiteren Bildungsschicht erschlossen. Der Engländer John Free (Joannes Phrea) vollendete 1461 seine lateinische Version des Lobs der Glatze, eine freie, fehlerhafte Wiedergabe des griechischen Originals. Er übertrug auch das Traumbuch für Papst Paul II. ins Lateinische. Am Ende des 15. Jahrhunderts setzte die Drucklegung der humanistischen Übersetzungen und die Editionstätigkeit ein. Den Anfang machte der Humanist Marsilio Ficino, dessen Übersetzung des Traumbuchs 1497 in Venedig bei Aldo Manuzio erschien. Es folgte die Erstausgabe des Originaltexts der Briefsammlung, die Markos Musuros 1499 als Aldine veröffentlichte. Beatus Rhenanus publizierte Frees lateinische Fassung des Lobs der Glatze 1515 in Basel unter dem Titel De laudibus calvitii und stattete sie mit Scholien aus. Er hatte keinen Zugang zu einer griechischen Handschrift und war sich über die Unzulänglichkeit des lateinischen Textes, auf den er angewiesen war, im Klaren; dennoch meinte er, das Werk dürfe der Öffentlichkeit nicht vorenthalten bleiben. Die erste Edition des Traumbuchs kam 1518 in Venedig heraus. Eine unvollständige Ausgabe der Werke ohne Übersetzung wurde 1553 in Paris gedruckt; der Herausgeber war Adrien Turnèbe. Eine von Janus Cornarius angefertigte lateinische Übersetzung der in der Ausgabe von 1553 enthaltenen Texte erschien 1560 in Basel. Die Werke, die bei Turnebus fehlen, darunter die Hymnen, edierte Willem Canter 1567. Schließlich publizierte Denis Pétau 1612 seine für die Folgezeit maßgebliche Gesamtausgabe; 1631, 1633 und 1640 erschienen Neuauflagen.
Einige Beachtung fand das Traumbuch. Heinrich Cornelius Agrippa von Nettesheim (1486–1535) berief sich darauf. Er schloss sich dem dort dargelegten Grundsatz an, wonach für die Traumsymbolik keine allgemeinen Regeln aufgestellt werden können und jede Traumdeutung strikt individuell sein muss. Der Humanist Girolamo Cardano (1501–1576), der eine Wissenschaft der Traumdeutung begründen wollte und auf diesem Gebiet originelle Ideen entwickelte, knüpfte ebenfalls an die Schrift des Synesios an. Er verfasste ein umfangreiches lateinisches Handbuch, in dem er die Thematik theoretisch und praktisch gründlich darstellte. Dabei diente ihm das Konzept des Traumbuchs als Ausgangsbasis, doch übernahm er das Prinzip einer ausschließlich individuellen Interpretation nicht, sondern hielt eine allgemeine Traumdeutungslehre für möglich. Cardano veröffentlichte sein Handbuch 1562, im folgenden Jahr erschien eine deutsche Übersetzung.
Ab dem späten 16. Jahrhundert gehörte Synesios zu den Autoren, deren Werke an den Jesuitenschulen im Grammatik- und im Rhetorikunterricht herangezogen wurden. Seine Aufnahme unter die Schulautoren im jesuitischen Bildungssystem trug wesentlich zu seiner Bekanntheit bei. Gelesen wurden Hymnen und Briefe.
Im Streit zwischen Jacques Bénigne Bossuet (1627–1704) und François Fénelon (1651–1715) um den Quietismus wurde die Bischofsweihe des Synesios als Präzedenzfall für die Weihe Fénelons thematisiert. Bossuet billigte die Entscheidung, den „großen Synesios“ trotz seiner heterodoxen Ansichten zu weihen; man habe auf seine Lernfähigkeit vertraut. Ebenso habe er, Bossuet, sich auf die Fähigkeit Fénelons, eigene Irrtümer zu korrigieren, verlassen, und daher habe er sich für dessen Weihe eingesetzt, obwohl ihm die irrigen Meinungen des künftigen Bischofs bereits bekannt gewesen seien. Dagegen wandte Fénelon ein, das Beispiel sei unpassend. Die Weihe des Synesios habe nur erfolgen können, weil man seine dogmatischen Vorbehalte nicht ernst genommen habe; man habe darin nur einen frommen Kunstgriff gesehen, mit dem er der Last des Amtes habe entgehen wollen.
Das Bild, das man sich in der Frühen Neuzeit von der religiösen Gesinnung des Synesios machte, entsprach im Prinzip der mittelalterlichen Sichtweise. Man glaubte, der Philosoph sei anfangs Heide gewesen und habe dann das Christentum schrittweise übernommen, seine religiöse Entwicklung sei durch die Hymnen dokumentiert. Dabei berief man sich auf den eindeutig christlichen „zehnten Hymnus“, der als Endpunkt der Hinwendung des Philosophen zur reinen christlichen Lehre galt. In Wirklichkeit ist der „zehnte Hymnus“ aber kein Werk des Synesios. Die Unechtheit dieses Gedichts wurde erst im 20. Jahrhundert nachgewiesen.
Denis Diderot ging um 1755/1760 im Artikel Jesus-Christ der Encyclopédie, einem der am meisten beachteten Artikel, auf die Erhebung des Synesios zum Bischof ein. Dabei zitierte er ausführlich den Brief 105, in dem der Philosoph – mit bezaubernder Naivität, wie der französische Enzyklopädist befand – seine Vorbehalte dargelegt hatte. Die Entscheidung des Patriarchen Theophilos, dem Platoniker trotz der gravierenden dogmatischen Meinungsverschiedenheiten das kirchliche Amt anzuvertrauen, beeindruckte Diderot und fand seinen Beifall. In ähnlichem Sinne äußerte sich Voltaire; er schrieb, Synesius sei ein Feind der christlichen Dogmen und dennoch der beste Bischof gewesen.
Edward Gibbon lobte Synesios als groß denkenden Patrioten, der die Sprache der Vernunft gesprochen und Abhilfe für die damaligen verheerenden Übelstände empfohlen habe. Mit Recht habe er die verhängnisvolle Abhängigkeit des Reichs von Söldnerheeren angeprangert. Allerdings habe er mit dem unrealistischen Idealismus seiner Königsrede die Begrenztheit der Handlungsmöglichkeiten in einem verkommenen Zeitalter nicht berücksichtigt. Gibbon wies auch auf die historische Bedeutung des eindrücklichen Sieges hin, den Synesios als Bischof über den Statthalter Andronikos errang. Im konkreten Fall hielt der britische Historiker diesen Ausgang des Konflikts für erfreulich, da Andronikos ein monströser Tyrann gewesen sei. Er gab aber die grundsätzliche Problematik des Vorgangs zu bedenken: Hier habe sich die Überlegenheit der geistlichen Macht über die weltliche dank der scharfen Waffe der Exkommunikation gezeigt. Damit sei der Erfolg des Kyreneers ein Vorspiel zu den Triumphen mittelalterlicher Päpste über das Königtum gewesen.
Moderne
Altertumswissenschaft
In der modernen Forschung hat Synesios als Schriftsteller und als außergewöhnliche Persönlichkeit des spätantiken Kulturlebens viel Beachtung gefunden. Sein Leben und seine Gedankenwelt sind gründlich erforscht worden. Das Interesse der Altertumswissenschaftler richtet sich insbesondere auf seine eigenwillige Verbindung paganer und christlicher Konzepte und die Tolerierung dieser Haltung durch die Kirche in einer von zunehmender religiöser Unduldsamkeit geprägten Epoche. Auch seine politische Nostalgie und Zeitkritik sind Thema eingehender Untersuchungen.
Für die philologische Erschließung der Werke markiert das Erscheinen der zweibändigen kritischen Edition von Nicola Terzaghi in Rom 1939–1944 einen Meilenstein.
Die literarische Qualität der Werke, vor allem der Briefe, wird in modernen literarhistorischen Würdigungen meist als hoch eingeschätzt. Als Vorzüge werden Lebhaftigkeit, Frische, Unmittelbarkeit und Aufrichtigkeit hervorgehoben. Dennoch sind – vor allem im 19. und frühen 20. Jahrhundert – auch kritische Stimmen laut geworden, die insbesondere den Vorwurf einer gekünstelten Eleganz erhoben haben. Henriette Harich-Schwarzbauer meint, dass die Hymnen „zum Schönsten gehören, was die spätantike griechische Dichtung vorzuweisen hat“.
Wesentlich ungünstiger als die schriftstellerische wird gewöhnlich die philosophische Leistung beurteilt, während die menschliche Seite, die Persönlichkeit, mit Respekt beschrieben wird. Getadelt wird ein Mangel an Originalität der Gedanken, Anerkennung findet hingegen die Anwendung philosophischer Grundsätze auf die eigene Lebensführung, die sich in der gelungenen Charakterbildung zeige. Diese Einschätzung dominierte schon in den maßgeblichen Handbüchern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts: Eduard Zeller vermisste neue, über die bekannten Grundzüge des Neuplatonismus hinausführende Ideen. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff befand, Synesios illustriere in seiner Rolle als Philosoph und Bischof „die Einheit der Kultur, freilich als Ausnahme, und eben als Letzter“. Er sei nicht spekulierender Philosoph geblieben, sondern habe tatkräftig Verantwortung übernommen. Wilamowitz nannte ihn einen „prächtigen Menschen“ mit „Herz und Kopf auf dem rechten Fleck“. Für Karl Praechter ist die Philosophie des Synesios „ein primitiver Neuplatonismus“. Keinesfalls habe er „die Bedeutung eines selbständigen philosophischen Denkers“, doch neben seiner „hochachtbaren Persönlichkeit“ verleihe seine religiöse Haltung seiner Gestalt Reiz. Georg Misch stellte 1950 in der dritten Auflage seiner Geschichte der Autobiographie fest, das „Sichdarstellen für die Welt“ sei für den Kyreneer ein „Genuß der eigenen Persönlichkeit“ gewesen. Er habe nicht zu den ringenden Naturen gezählt, „die die Ausgeglichenheit des Gemüts erst mit harten Wunden erkaufen mußten“; die Rätsel des Daseins hätten ihn nicht gequält. Daher fehle es seiner Selbstdarstellung an Tiefe. Antonio Garzya lobte 1973 „das klare kritische Bewußtsein und das eindringende Geschichtsverständnis“ des Synesios, der ein wahrer Humanist gewesen sei. Joseph Vogt betitelte eine 1985 veröffentlichte Sammlung seiner einschlägigen Aufsätze Begegnung mit Synesios und befand: „Seine Menschlichkeit ist so groß, daß sie jeden, der ihm begegnet, zur Entscheidung drängt.“ Günther Zuntz schrieb in seiner 2005 postum veröffentlichten Monographie über den philosophischen Hymnos, Synesios habe in seiner Person eine harmonische Verbindung von tätigem und beschaulichem Leben, „von einsamer philosophischer Vertiefung und öffentlichem Wirken, von literarischer Produktion und heldenhaftem Kampf auf verlorenem Posten“ verwirklicht.
Ein zentrales Thema der Forschung ist die Bestimmung der religiösen Position des Schriftstellers. Ein wesentlicher Unterschied zum Synesiosbild der Frühen Neuzeit und der älteren Forschung besteht darin, dass seine religiöse Weltanschauung in der neueren Forschung als schon früh gefestigt gilt. Die Vorstellung, er sei in seiner Jugend pagan gewesen und habe sich später dem Christentum zugewandt, hat sich als irrig erwiesen. Schon Wilamowitz konstatierte, dass Synesios „immer mehr Heide als Christ gewesen ist“. Die christlichen und die pagan-neuplatonischen Elemente seiner Religiosität werden in der Forschungsliteratur unterschiedlich gewichtet. Einer Deutungsrichtung zufolge sind die paganen Aspekte durchwegs maßgeblich, die christlichen sekundär und hauptsächlich politisch motiviert; andere Historiker meinen, dass er das Christentum, wie er es verstand, verinnerlichte. Nach jahrzehntelangen Debatten über die religiöse Position des christlichen Neuplatonikers und deren mögliche Entwicklung hat sich als Ergebnis herauskristallisiert, dass er in seiner persönlichen Spiritualität zwei verschiedenartige Weltdeutungsmodelle verschmolzen hat, ohne dies als Widerspruch wahrzunehmen. An diesem Synkretismus hielt Synesios stets fest. Dabei relativierte er den Wahrheitsgehalt der für ihn problematischen Glaubensannahmen so weit, wie es zum Zweck der Harmonisierung mit seinem Platonismus erforderlich war. Einen prinzipiellen Vorrang der Glaubenslehren aufgrund ihres Offenbarungscharakters akzeptierte er nicht.
Historiker beschäftigen sich mit der Frage nach dem Verhältnis zwischen den Klagen des Schriftstellers über die Dekadenz seiner Epoche und dem Bild der damaligen Realität in der Kyrenaika, das sich aus der Gesamtheit der Quellen einschließlich der archäologischen ergibt. In der älteren Forschung wurden meist die Angaben des Synesios und des Ammianus Marcellinus, die den Eindruck eines allgemeinen wirtschaftlichen, demographischen und militärischen Niedergangs vermitteln, im Wesentlichen übernommen. Die Debatten drehten sich um die Ursachen der Krise. Gegen diese Einschätzung der Verhältnisse im späten 4. und frühen 5. Jahrhundert wandte sich 1987 Denis Roques. Seine umfassende Analyse des Quellenbefunds führte zum Ergebnis, in den libyschen Provinzen und insbesondere in der Stadt Kyrene habe Prosperität und Stabilität geherrscht. Bei den gegenteiligen Aussagen zeitgenössischer Autoren handelt es sich nach Roques’ Urteil um rhetorische Übertreibungen oder um Bezugnahmen auf zeitlich und räumlich begrenzte Sondersituationen; die Klagen des Synesios über den Niedergang seiner Heimatstadt beziehen sich nicht auf eine Verschlechterung der wirtschaftlichen und politischen Lage, sondern auf einen Verfall des Geisteslebens. Roques’ Widerspruch gegen die Niedergangsvorstellung fand in der Fachwelt viel Anklang. Auf fundamentale Kritik stieß er jedoch bei Alan Cameron (1992) und Tassilo Schmitt (2001). Schmitt kritisierte die Fragestellung der Dekadenzdebatte als grundsätzlich verfehlt. Er machte geltend, der angenommene Niedergang sei „kein Phänomen, das sich durch Tatsachenfeststellungen bestätigen oder widerlegen ließe“. Man könne nicht die mutmaßliche Realität gegen die Darstellung des Synesios ausspielen, sondern müsse dessen Äußerungen „als Teil ebendieser Realität einordnen“.
Psychologie
Carl Gustav Jung sah in der Phantasielehre von Synesios' Traumbuch einen Vorläufer seines eigenen Konzepts der schöpferischen Phantasie, nur habe sich der antike Denker nicht psychologisch, sondern metaphysisch ausgedrückt. Synesios habe erkannt, dass der „spiritus phantasticus“ (Phantasiegeist) gegensätzliche psychische Funktionen in sich vereine. Wenn sich das Individuum zu einem Gegensatzpaar so einstelle, dass es sich konsequent mit der einen Seite – etwa der Denkfunktion – identifiziere und die entgegengesetzte – in diesem Fall das Fühlen – gewaltsam verdränge, so stelle sich das Unbewusste auf die Seite der verdrängten Funktion und rebelliere. Dies habe gerade dem Neuplatoniker als Befürworter einer ausschließlichen Vergeistigung auffallen müssen. Das phantastische Element sei im Unbewussten mit den verdrängten Funktionen assoziiert. Durch eine solche Entwicklung werde das Individuum innerlich zerrissen, es entstehe „ein qualvolles Uneinssein“. Synesios habe diesen Zustand thematisiert und sei auch auf das Prinzip von dessen Behebung – die Aufhebung der Identifikation – eingegangen. Außerdem habe er erkannt, dass die Phantasie den Dämonen ihr Wesen verleihe, indem sie sich in die Triebnatur hinunterbegebe „bis zum Tierischen“. Besonders wertvoll sei sein Hinweis auf die imaginäre Natur der Dämonen. Die im Traumbuch behandelten Dämonen seien „psychologisch nichts anderes als Interferenzen des Unbewußten, d. h. Einbrüche spontaner Natur in die Kontinuität des bewußten Ablaufes von Seiten unbewußter Komplexe“.
Der Psychoanalytiker Erich Fromm schrieb, Synesios habe „uns eine der präzisesten und schönsten Darstellungen der Theorie hinterlassen, daß Träume auf eine erhöhte Fähigkeit zur Einsicht während des Schlafes zurückzuführen sind“.
Belletristik
Der Schriftsteller Charles Kingsley stellte in seinem 1853 in London erschienenen Roman Hypatia or New Foes with an Old Face, der 1858 erstmals in deutscher Übersetzung herauskam, Synesios in günstigem Licht dar; er schilderte ihn als vielfältig beschäftigten Landedelmann und tapferen Krieger. Kingsley soll dieser Gestalt sogar Züge seiner eigenen Person verliehen haben. Der Roman prägte für eine breitere Öffentlichkeit das Bild der darin auftretenden historischen Personen.
Stefan Andres schilderte in seinem 1971 postum veröffentlichten historischen Roman Die Versuchung des Synesios das Leben des Philosophen aus der Sicht von dessen Frau, die im Roman Prisca heißt. Sie hat sich nach dem Tod ihres Mannes in Alexandria niedergelassen. Dort hat sie auf das gemeinsam Erlebte Rückblick gehalten und es aufgezeichnet. Im Mittelpunkt der Ereignisse steht die Auseinandersetzung mit Andronikos und dessen Anhängerschaft. Synesios erscheint als standhafter Repräsentant einer humanen Gesinnung und philosophischen Weltsicht, die nicht an ein Bekenntnis gebunden ist. Mit der „Versuchung“ ist zum einen die Scheu vor der Verantwortung gemeint, die der Protagonist zu überwinden hat, bevor er die Bischofswürde annehmen kann. Zum anderen geht es um die Versuchung, mit Andronikos, der Verkörperung des Bösen, einen Kompromiss zu schließen. Die Figur des Titelhelden bietet in mancher Hinsicht ein Selbstporträt des Autors.
Textausgaben und Übersetzungen
Gesamtausgaben mit Übersetzungen
Synésios de Cyrène. Les Belles Lettres, Paris (kritische Edition mit französischer Übersetzung und Kommentar).
Band 1: Hymnes, 2. Auflage, hrsg. Christian Lacombrade, 2003, ISBN 978-2-251-00321-4.
Band 2: Correspondance. Lettres I–LXIII, hrsg. Antonio Garzya, Denis Roques, 2. Auflage, 2003, ISBN 978-2-251-00479-2.
Band 3: Correspondance. Lettres LXIV–CLVI, hrsg. Antonio Garzya, Denis Roques, 2. Auflage, 2003, ISBN 978-2-251-00479-2.
Band 4: Opuscules I, hrsg. Jacques Lamoureux, Noël Aujoulat, 2004, ISBN 978-2-251-00517-1.
Band 5: Opuscules II, hrsg. Jacques Lamoureux, Noël Aujoulat, 2008, ISBN 978-2-251-00547-8.
Band 6: Opuscules III, hrsg. Jacques Lamoureux, Noël Aujoulat, 2008, ISBN 978-2-251-00549-2.
Antonio Garzya (Hrsg.): Opere di Sinesio di Cirene. Epistole, Operette, Inni. Unione Tipografico-Editrice Torinese, Torino 1989, ISBN 88-02-04205-5 (griechischer Text ohne kritischen Apparat, italienische Übersetzung).
Mehrere Werke
Joseph Vogt: Begegnung mit Synesios, dem Philosophen, Priester und Feldherrn. Gesammelte Beiträge. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1985, ISBN 3-534-02248-3 (enthält deutsche Übersetzungen von zwölf Briefen, der Abhandlung De dono und der Reden Katastasis I und Katastasis II).
Briefe
Pietro Janni (Hrsg.): Sinesio: La mia fortunosa navigazione da Alessandria a Cirene (Epistola 4/5 Garzya). Olschki, Firenze 2003, ISBN 88-222-5187-3 (griechischer Text mit italienischer Übersetzung, Einleitung und Kommentar).
Katharina Luchner u. a. (Hrsg.): Synesios von Kyrene. Polis – Freundschaft – Jenseitsstrafen. Briefe an und über Johannes (= SAPERE. Band 17). Mohr Siebeck, Tübingen 2010, ISBN 978-3-16-150654-3 (unkritische Ausgabe mit Einleitung, Übersetzung und interpretierenden Essays; PDF im Open Access).
Hymnen
Joachim Gruber, Hans Strohm (Hrsg.): Synesios von Kyrene: Hymnen. Carl Winter, Heidelberg 1991, ISBN 3-533-04265-0 (kritische Ausgabe mit deutscher Übersetzung und Kommentar).
Ägyptische Erzählungen
Martin Hose u. a. (Hrsg.): Synesios von Kyrene: Ägyptische Erzählungen oder Über die Vorsehung. Mohr Siebeck, Tübingen 2012, ISBN 978-3-16-152259-8 (unkritische Ausgabe mit Einleitung, Übersetzung und interpretierenden Essays; PDF im Open Access).
Dion
Kurt Treu (Hrsg.): Synesios von Kyrene: Dion Chrysostomos oder Vom Leben nach seinem Vorbild. Akademie-Verlag, Berlin 1959 (kritische Ausgabe mit deutscher Übersetzung).
Traumbuch
Wolfram Lang (Hrsg.): Das Traumbuch des Synesius von Kyrene. Übersetzung und Analyse der philosophischen Grundlagen. Mohr, Tübingen 1926.
Donald Andrew Russell, Heinz-Günther Nesselrath (Hrsg.): On Prophecy, Dreams and Human Imagination. Synesius, De insomniis. Mohr Siebeck, Tübingen 2014, ISBN 978-3-16-152419-6 (griechischer Text weitgehend nach der Ausgabe von Nicola Terzaghi, Rom 1944, sowie englische Übersetzung und sechs Essays; PDF im Open Access).
Lob der Glatze
Werner Golder (Hrsg.): Synesios von Kyrene – Lob der Kahlheit. 2. Auflage, Königshausen & Neumann, Würzburg 2007, ISBN 978-3-8260-3777-1 (kritische Edition mit Übersetzung; griechischer Text nach der Ausgabe von Nicola Terzaghi, Rom 1944).
Literatur
Übersichtsdarstellungen
Jay Bregman: Synesius of Cyrene. In: Lloyd P. Gerson (Hrsg.): The Cambridge History of Philosophy in Late Antiquity, Band 1, Cambridge University Press, Cambridge 2010, ISBN 978-0-521-76440-7, S. 520–537.
Stéphane Toulouse: Synésios de Cyrène. In: Richard Goulet (Hrsg.): Dictionnaire des philosophes antiques. Band 6, CNRS Éditions, Paris 2016, ISBN 978-2-271-08989-2, S. 639–676.
Wolfgang Kuhoff: Synesios von Kyrene, in: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon Band 37, 2017, 1380–1408.
Samuel Vollenweider: Synesios von Kyrene. In: Christoph Riedweg u. a. (Hrsg.): Philosophie der Kaiserzeit und der Spätantike (= Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike. Band 5/3). Schwabe, Basel 2018, ISBN 978-3-7965-3700-4, S. 1898–1908, 2132–2135.
Gesamtdarstellungen, Allgemeines
Jay Bregman: Synesius of Cyrene, Philosopher-Bishop. University of California Press, Berkeley 1982, ISBN 0-520-04192-5.
Bengt-Arne Roos: Synesius of Cyrene. A Study in His Personality. Lund University Press, Lund 1991, ISBN 91-7966-145-9.
Helmut Seng, Lars Martin Hoffmann (Hrsg.): Synesios von Kyrene. Politik – Literatur – Philosophie (= Byzantios. Studies in Byzantine History and Civilization, Bd. 6). Brepols, Turnhout 2012, ISBN 978-2-503-54662-9.
Ilinca Tanaseanu-Döbler: Konversion zur Philosophie in der Spätantike. Kaiser Julian und Synesios von Kyrene. Franz Steiner, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-515-09092-6, S. 155–294.
Politik und politische Philosophie
Alan Cameron, Jacqueline Long: Barbarians and Politics at the Court of Arcadius. University of California Press, Berkeley 1993, ISBN 0-520-06550-6.
Wolfgang Hagl: Arcadius Apis Imperator. Synesios von Kyrene und sein Beitrag zum Herrscherideal der Spätantike. Franz Steiner, Stuttgart 1997, ISBN 3-515-07046-X.
Denis Roques: Synésios de Cyrène et la Cyrénaïque du Bas-Empire. Centre National de la Recherche Scientifique, Paris 1987, ISBN 2-222-03866-9.
Tassilo Schmitt: Die Bekehrung des Synesios von Kyrene. Politik und Philosophie, Hof und Provinz als Handlungsräume eines Aristokraten bis zu seiner Wahl zum Metropoliten von Ptolemaïs. Saur, München/Leipzig 2001, ISBN 3-598-77695-0 (Habilitationsschrift, wichtiges Standardwerk; siehe dazu aber die sehr kritische Rezension von Denis Roques in der Revue d’histoire ecclésiastique 99, 2004, S. 768–783).
Briefe
Martin Hose: Synesios und seine Briefe. Versuch der Analyse eines literarischen Entwurfs. In: Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft 27, 2003, S. 125–141.
Katharina Luchner u. a. (Hrsg.): Synesios von Kyrene. Polis – Freundschaft – Jenseitsstrafen. Briefe an und über Johannes. Mohr Siebeck, Tübingen 2010, ISBN 978-3-16-150654-3 (interpretierende Essays zu einigen Briefen).
Denis Roques: Études sur la Correspondance de Synésios de Cyrène. Latomus, Bruxelles 1989, ISBN 2-87031-145-1.
Hymnen
Idalgo Baldi: Gli Inni di Sinesio di Cirene. Vicende testuali di un corpus tardoantico. De Gruyter, Berlin 2012, ISBN 978-3-11-027448-6.
Denis Roques: Les Hymnes de Synésios de Cyrène: chronologie, rhétorique et réalité. In: Yves Lehmann (Hrsg.): L’hymne antique et son public. Brepols, Turnhout 2007, ISBN 978-2-503-52464-1, S. 301–370.
Helmut Seng: Untersuchungen zum Vokabular und zur Metrik in den Hymnen des Synesios. Peter Lang, Frankfurt 1996, ISBN 3-631-49724-5.
Günther Zuntz: Griechische philosophische Hymnen. Mohr Siebeck, Tübingen 2005, ISBN 3-16-147428-7, S. 157–193.
Dion
Antonio Garzya: Synesios’ Dion als Zeugnis des Kampfes um die Bildung im 4. Jahrhundert nach Christus. In: Jahrbuch der Österreichischen Byzantinistik 22, 1973, S. 1–14.
Helmut Seng: Die Kontroverse um Dion von Prusa und Synesios von Kyrene. In: Hermes 134, 2006, S. 102–116.
Rezeption
Denis Roques: Lecteurs de Synésios, de Byzance à nos jours (VIe–XXIe s.). In: Helmut Seng, Lars Martin Hoffmann (Hrsg.): Synesios von Kyrene. Politik – Literatur – Philosophie (= Byzantios. Studies in Byzantine History and Civilization, Bd. 6). Brepols, Turnhout 2012, ISBN 978-2-503-54662-9, S. 276–387.
Weblinks
Anmerkungen
Bischof (5. Jahrhundert)
Philosoph (Antike)
Christlicher Theologe (5. Jahrhundert)
Neuplatoniker
Träumen
Person (Kyrene)
Grieche (Antike)
Geboren im 4. Jahrhundert
Gestorben im 5. Jahrhundert
Mann |
175452 | https://de.wikipedia.org/wiki/Echtes%20M%C3%A4des%C3%BC%C3%9F | Echtes Mädesüß | Das Echte Mädesüß (Filipendula ulmaria) ist eine Pflanzenart aus der Gattung Mädesüß (Filipendula) innerhalb der Familie der Rosengewächse (Rosaceae). Sie ist in weiten Gebieten Europas heimisch und man findet sie auf nährstoffreichen Feucht- und Nasswiesen, an Gräben und Bachufern sowie in Erlen-Eschenwäldern. An selten gemähten und nährstoffreichen Gewässerrändern ist das Echte Mädesüß eine Leitpflanze der Mädesüß-Hochstaudenfluren (Filipendulion).
Namensherkunft
Für die deutschsprachige Bezeichnung „Mädesüß“ gibt es mehrere Erklärungsansätze. Die am häufigsten genannte Erklärung verweist darauf, dass Mädesüß früher zum Süßen und Aromatisieren von Wein und insbesondere Met verwendet wurde. Der Name bedeute daher „Metsüße“ – wobei dieser Honigwein allerdings weniger ein weiteres Süßungsmittel benötigte, aber aufgrund des eher flachen Weingeschmacks ein Aroma, zu dem das Mädesüß beigetragen haben mag. Mädesüß ist allerdings auch eine „Mahdsüße“, denn nach dem Absensen verströmen die verwelkenden Blätter und Stängel einen süßen Geruch. Mede ist zugleich ein altertümlicher Begriff für Grasland, auf dem das Mädesüß auch tatsächlich wächst, wenn der Boden ausreichend feucht ist. Für diese Herkunft spricht zum Beispiel der englische Name meadow sweet, während die norwegischen und englischen Bezeichnungen mjødurt bzw. mead wort (beide: Metkraut) wiederum auf Metsüße hindeuten. Auf jeden Fall ist der Name nicht von einem „Süßen Mädel“ herzuleiten.
Im Volksmund trägt das Echte Mädesüß eine Reihe weiterer Namen. In einigen Regionen wird es aufgrund ihrer ulmenähnlichen Blätter auch „Rüsterstaude“ genannt und „Bacholde“, weil seine Blüten an die des Schwarzen Holunders erinnern. „Wiesenkönigin“ (so auch die französische Bezeichnung Reine-des-prés) spielt auf die auffällige Größe dieser Pflanzenart an und „Federbusch“ oder „Spierstrauch“ (auch „Große Spiere“) auf die Form des Blütenstands. Im Nordschwarzwald wird diese Art als „Geißripp“ bezeichnet.
Der Volksmund hat für diese Pflanzenart allerdings auch weniger poetische Namen gefunden. In einigen Regionen wird sie wegen ihrer Verwendung bei Durchfallerkrankungen auch „Stopparsch“ genannt. Ein weiterer alter Name für das Echte Mädesüß lautet „Waldbart“.
Beschreibung
Erscheinungsbild und Blatt
Das Echte Mädesüß ist eine ausdauernde krautige Pflanze und erreicht Wuchshöhen von 50 bis 150, bisweilen 200 Zentimetern. Die Stängel sind kahl, rötlich überlaufen und verzweigen sich erst im oberen Teil.
Die entfernt wechselständig am Stängel angeordneten Laubblätter sind in Blattstiel und -spreite gegliedert. Die unteren Laubblätter sind lang gestielt, die oberen fast sitzend. Die Blattspreiten sind unterbrochen gefiedert, dunkelgrün und stark geadert. Die Blattunterseite weiß flaumig behaart. Die Fiederblättchen erinnern an die Laubblätter der Ulmen, worauf sich auch das Artepitheton ulmaria bezieht. Die Laubblätter besitzen die höchste bekannte Spaltöffnungsdichte von 1300 je Quadratmillimeter. Jedes Blatt hat zwei bis fünf Paare von größeren Seitenfiedern. Jede größere Seitenfieder ist bei einer Länge von 3 bis 10 Zentimetern sowie einer Breite von 1 bis 4 Zentimetern eiförmig mit spitzem Ende und gerundeter Basis oder kurz keilförmig und am Rand doppelt gesägt bis gezähnt. Die kleineren Seitenfiedern sind nur wenige Millimeter lang und gezähnt. Das Endblättchen ist drei-, selten sogar fünflappig. Die Nebenblätter der Stängelblätter sind nierenförmig oder fast herzförmig und gezähnt.
Blütenstand und Blüte
Die Blütezeit reicht in Deutschland von Juni bis Juli, in Mitteleuropa von Juni bis August. Auffällig sind die trichterrispigen Blütenstände des Echten Mädesüß, die viele Einzelblüten enthalten und schubweise aufblühen. Die Blüten sind teils sitzend, teils mäßig lang gestielt. Die Blütenstiele sind dünn und flaumig behaart.
Die Blüten verströmen insbesondere abends einen intensiven, honig- bis mandelartigen Geruch. Es kommen Pflanzenexemplare mit männlichen und mit zwittrigen Blüten vor. Die relativ kleinen Blüten sind radiärsymmetrisch und fünfzählig mit doppelter Blütenhülle. Die fünf Kelchblätter sind bei einer Länge von selten länger als 1 Millimeter dreieckig mit spitzem oberen Ende und nach der Anthese zurückgeschlagen. Die fünf creme- bis gelblich-weißen Kronblätter sind bei einer Länge von 2 bis 5 Millimetern verkehrt-eiförmig und plötzlich in einen kurzen Nagel verschmälert. Die 20 bis 40 Staubblätter sind in weiße Staubfäden sowie gelbe Staubbeutel gegliedert und doppelt so lang wie die Kronblätter. Die sechs bis zehn freien Fruchtblätter sind halbherzförmig, kahl und grün. Die weißen Griffel enden jeweils in rundlichen, abgeflacht kugeligen gelben Narben.
Frucht und Samen
Je Blüte entwickeln sich meist sechs bis acht leicht schraubig miteinander verdrillte, zusammenstehende Nüsschen, die in ihrer Gesamtheit den Eindruck einer einzelnen Frucht vermitteln. Die unscheinbaren, zweisamigen, dünnwandigen, lufthaltigen, sich bei der Reife nicht öffnenden, balgartigen Nüsschen sind bei einer Länge von 2 bis 3 Millimetern sichelförmig gekrümmt. Auch aufgrund dieser spezifischen Fruchtform lässt sich das Echte Mädesüß gut vom Kleinen Mädesüß (Filipendula vulgaris) unterscheiden, bei dem die Nüsschen eine gerade Form haben. Mit zunehmender Reife verändert sich die Farbe der Nüsschen von grün zu braun. Im Oktober sind die Nüsschen ausgereift, haben eine flache Form und eine hellbraune, harte Fruchtwand. In den Nüsschen befinden sich die lediglich etwa 1 Millimeter langen Samen.
Chromosomenzahl
Die Chromosomenzahl beträgt 2n = 14, 16 oder 24.
Ökologie
Das Echte Mädesüß ist ein Hemikryptophyt und eine Schaftpflanze.
Blütenökologisch handelt es sich um „Pollenscheibenblumen“, die intensiv mandel- bis honigartig duften; beim Zerreiben riechen sie jedoch nach Salicylsäure. Durch Aufrichten geben die reifen Staubblätter allmählich die Narben frei. Mit ihrem reichlichen Pollenangebot und dem süßen Blütenduft lockt das Echte Mädesüß vor allem Bienen, pollenfressende Fliegen und Schwebfliegen an. Zu den bestäubenden Insekten gehören aber auch Käfer.
Mit dem Reifeprozess erhöht sich der Lufteinschluss in den Nüsschen. Der damit verbundene Gewichtsverlust trägt dazu bei, dass die Nüsschen vom Wind besser weggetragen werden können (sogenannte Anemochorie). Man zählt das Echte Mädesüß zu den „Winterstehern“, denn die reifen Nüsschen werden nur allmählich durch den Wind vom Fruchtboden abgelöst und ausgebreitet (Semachorie). Gelegentlich findet man noch im Frühjahr an den vertrockneten Blütenzweigen verbliebene Nüsschen.
Das Echte Mädesüß nutzt allerdings auch andere Ausbreitungsmechanismen, um seinen Samen möglichst weit zu streuen. Die Nüsschen des auch im Uferbereich von Gewässern wachsenden Mädesüß sind aufgrund des hohen Lufteinschlusses schwimmfähig und werden, wenn sie ins Wasser fallen, von diesem weggetragen (Nautochorie). Die Nüsschen zählen jedoch auch zu den Anhaftern (Epichorie), denn sie bleiben leicht an Tierfellen haften und werden so ausgebreitet.
Das Echte Mädesüß wird vom Rostpilz Triphragmium ulmariae befallen.
Vorkommen und Vergesellschaftung
Filipendula ulmaria ist auch in Nord- und Mittelasien verbreitet. Echtes Mädesüß ist in großen Teilen Europas mit Ausnahme des südlichen Mittelmeerraumes zu finden. Im östlichen Nordamerika ist es ein unerwünschter Neophyt und wie auch in Europa ein Weideunkraut. Da es sich sowohl vegetativ, nämlich unterirdisch klonal, wie auch generativ durch seine Früchtchen, auf dem Kulturland ausbreiten kann und vom Weidevieh gemieden wird, soll es vielerorts als Plagepflanze angesehen und bekämpft werden – in Nordamerika als neophytische, hier als heimische.
In Mittelasien grenzt das Verbreitungsgebiet an jenes des Rosa Mädesüß (Filipendula palmata) an, das von Sibirien bis Kamtschatka zu finden ist und dort in nebel- und regenreichen Gebieten wächst. Auf der Kamtschatka-Halbinsel wächst außerdem das Kamtschatka-Mädesüß, die mit einem Höhenwachstum von bis zu drei Meter größte Mädesüß-Art, die auch im nördlichen Japan verbreitet ist.
In Deutschland steigt das Echte Mädesüß in den Alpen bis in Höhenlagen von 1360 Metern auf, im Schwarzwald sogar bis 1420 Meter. In den Allgäuer Alpen kommt es bis in einer Höhenlage von 1220 Meter im Seesumpf bei Bach in Tirol vor. Im Kanton Wallis erreicht es sogar die Höhenlage von 1660 Metern, in Graubünden am Piz dal Fuorn 1800 Meter.
Mädesüß wächst auf sicker- oder grundnassen oder feuchten, nährstoffreichen, schwach bis mäßig sauren, sandigen oder reinen Lehm- und Tonböden bzw. Sumpfhumusböden, ferner auf Torf. Es ist eine Licht- bis Halbschattenpflanze.
Ursprünglich war das Echte Mädesüß vor allem in Erlen-Eschenwäldern zu finden, die früher die Bach- und Flussauen prägten. Da diese Waldgesellschaften heute in Mitteleuropa nur noch in Fragmenten vorhanden sind, wächst das Echte Mädesüß „ersatzweise“ entlang von Wassergräben und Bächen und ist außerdem häufig auf Feuchtwiesen zu finden, die selten (höchstens einschürig) gemäht werden.
Die ökologischen Zeigerwerte nach Landolt et al. 2010 sind in der Schweiz: Feuchtezahl F = 4w+ (sehr feucht aber stark wechselnd), Lichtzahl L = 3 (halbschattig), Reaktionszahl R = 3 (schwach sauer bis neutral), Temperaturzahl T = 3 (montan), Nährstoffzahl N = 4 (nährstoffreich), Kontinentalitätszahl K = 3 (subozeanisch bis subkontinental).
Pflanzensoziologisch ist das Echte Mädesüß die Verbandscharakterart des Filipendulion (Mädesüß-Fluren), kommt aber auch in anderen Molinietalia-Gesellschaften (Nasswiesen, nasse Hochstaudenfluren) vor, außerdem in Convolvuletalia-Gesellschaften (nitrophytische Uferstaudengesellschaften nasser Standorte) sowie im Alno-Ulmion (Hartholzauwälder). Es gibt Überlegungen, dass Hochstaudengesellschaften wie die Mädesüß-Fluren pflanzensoziologisch von den Wirtschaftswiesen (Molinio-Arrhenatheretea) abgegrenzt und als eigene Klasse aufgefasst werden könnten.
Die blütenreiche Vegetation wird typischerweise aus dem namensgebenden Mädesüß und Arten wie Wasserdost (Eupatorium cannabinum), Echter Baldrian (Valeriana officinalis), Sumpfziest (Stachys palustris), Blutweiderich (Lythrum salicaria), Gilbweiderich (Lysimachia vulgaris), Große Brennnessel (Urtica dioica), Sumpf-Schachtelhalm (Equisetum palustre) und Rohrglanzgras (Phalaris arundinacea) gebildet. Ferner zählen Echter Beinwell (Symphytum officinale), Sumpf-Storchschnabel (Geranium palustre), Zottiges Weidenröschen (Epilobium hirsutum) und gelegentlich die Sumpf-Schwertlilie (Iris pseudacorus) zur Begleitflora.
Systematik
Die Erstveröffentlichung erfolgte 1753 unter dem Namen (Basionym) Spiraea ulmaria durch L. Den früheren Gattungsnamen Ulmaria hat er von Clusius übernommen. Die Neukombination zu Filipendula ulmaria wurde 1879 durch Maxim. in Trudy Imperatorskago S.-Peterburgskago Botaniceskago Sada. Acta Horti Petropolitani. St. Petersburg, Band 6, S. 251 veröffentlicht. Ein weiteres Synonym für Filipendula ulmaria ist Ulmaria pentapetala
In Europa können je nach Autor zwei Unterarten unterschieden werden:
Filipendula ulmaria subsp. ulmaria (Syn.: Filipendula denudata , Filipendula subdenudata , Spiraea denudata , Spiraea glauca , Spiraea odorata nom. illeg., Spiraea palustris nom. illeg., Spiraea quinqueloba , Spiraea unguiculata nom. illeg., Thecanisia discolor , Ulmaria denudata , Ulmaria obtusiloba , Ulmaria palustris , Ulmaria spiraea-ulmaria , Filipendula ulmaria subsp. denudata , Filipendula ulmaria subsp. nivea , Spiraea ulmaria subsp. denudata , Spiraea ulmaria subsp. discolor ): Sie ist in Europa weitverbreitet.
Filipendula ulmaria subsp. picbaueri (Syn.: Filipendula stepposa , Filipendula ulmaria var. picbaueri ): Diese Unterart kommt in Europa in Russland, Weißrussland und Rumänien vor und hat Vorposten in der Slowakei, im südlichen Mähren und in Niederösterreich (Marchtal). Sie unterscheidet sich durch den im oberen Teil dicht kurzhaarigen Stängel, die filzigen Äste des Blütenstandes und die mindestens an der Spitze etwa behaarte Frucht. Sie wächst auf wechselfeuchten, im Sommer stark austrocknenden Auewiesen vor allem in Flutrasen der Agrostietalia stoloniferae.
Inhaltsstoffe
Mädesüß enthält unter anderem Salicylsäure, Flavonoide, Gerbsäuren, ätherisches Öl und Zitronensäure, außerdem ein schwach giftiges Glykosid, das bei entsprechend hoher Dosierung Kopfschmerzen auslösen kann.
Beim Zerreiben setzen die Laubblätter einen Geruch nach Salicylaldehyd (wie Rheumasalbe) frei. Wie die Rinde der Weiden enthält auch die einst Spiraea ulmaria genannte Filipendula ulmaria Salicylsäure. Das Medikament „Aspirin“ erhielt seinen Namen von der Spiraea.
Analytik
Die zuverlässige qualitative und quantitative Bestimmung der Inhaltsstoffe gelingt nach angemessener Probenvorbereitung durch Kopplung der HPLC mit der Massenspektrometrie. Auch die HPLC-Analytik mit UV-Detektion kann zur Bestimmung einzelner Inhaltsstoffe wie Salicylaldehyd, Salicylsäure und weiterer Wirkstoffe (Mono- und Sesquiterpene) eingesetzt werden.
Verwendung
Verwendung in der Küche
Aus den Blüten kann man einen aromatischen Tee herstellen. Die unterirdischen und die grünen Pflanzenteile gelten als essbar.
Alle Pflanzenteile, insbesondere die Blüten, eignen sich zum Aromatisieren von Süß- und Fruchtspeisen sowie Getränken, denen sie einen süßlich-herben Geschmack verleihen. In der deutschen Küche verwendet man Mädesüß allerdings eher selten. Häufiger wird Echtes Mädesüß in der französischen Küche und der Küche in Brüssel und der Wallonie verwendet. Man macht sich zu Nutze, dass in Flüssigkeit getauchte Blüten ihre Geschmacksstoffe an die Flüssigkeit gut abgeben. Ungeschlagene Sahne nimmt den honig-mandelartigen Geschmack an, wenn über Nacht die Blüten in ihr ziehen konnten. Mädesüß-Sorbet wird gelegentlich als Zwischengang oder Abschluss eines Essens gereicht, da die Pflanze Sodbrennen entgegenwirken soll. Auch Bier, Met und Wein wurden früher mit Pflanzenteilen aromatisiert.
Verwendung als Duftpflanze
Aufgrund des süß-herben Duftes, der von vielen Menschen als angenehm empfunden wird, war Mädesüß einst ein beliebtes Streukraut. Man bestreute am Morgen den Holzfußboden mit verschiedenen Kräutern und kehrte die Blätter und Stängel wieder aus, wenn sie abends vertrocknet waren und ihren Duft nicht mehr verströmten. Allerdings war es auch gängig, Mädesüßstreu tage- bis wochenlang zu benutzen, da es seinen Duft noch sehr lange verströmt.
In England wird Mädesüß Duftpotpourris beigemischt, um diesen eine etwas rundere Note zu verleihen. So war sie die bevorzugte Aromapflanze der englischen Königin Elisabeth I. (1533–1603). Allerdings wird der Duft nicht von allen gleichermaßen geschätzt. Von einigen Menschen wird der Geruch als zu aufdringlich empfunden, was der Pflanze auch den volkstümlichen Namen Wiesenschabe eingetragen hat.
Verwendung in der Pflanzenheilkunde
Mädesüß ist eine alte Heilpflanze, jedoch in Antike und Mittelalter kaum schriftlich erfasst, erst das Circa instans (Mitte des 12. Jahrhunderts) aus der Schule von Salerno beschreibt die Pflanze ausführlich. Adam Lonitzer schrieb in seinem Kräuterbuch: Dieses Kraut Wurzel ist gut für den Stein, desgleichen denjenigen, die mit Mühe harnen und die Lendensucht haben. Das Pulver der Wurzel dient denjenigen, die einen kalten Magen haben und nicht gut verdauen können. Gegen Asthma nimm das Pulver und Enzian im gleichen Gewicht und gebrauche es in der Speise, es hilft ohne Zweifel.
Medizingeschichtlich ist Mädesüß interessant, da lange Zeit aus ihren Blütenknospen Salicylaldehyd gewonnen wurde, ein entzündungshemmender Wirkstoff, der heute in abgewandelter Form als synthetisch hergestellte Acetylsalicylsäure verkauft wird. Das Echte Mädesüß, das man damals botanisch noch den Spiersträuchern (Spiraea) zuordnete, hat zur Entwicklung des Markennamens Aspirin beigetragen. Während das „A“ für Acetyl steht, ist „spirin“ aus dem Begriff „Spiraeasäure“ abgeleitet.
Offizinell ist das Mädesüßkraut (Filipendulae ulmariae herba) unter dieser Bezeichnung im Europäischen Arzneibuch (Ph. Eur.) monographiert und besteht aus den blühenden Stängelspitzen. Nach Ph. Eur. ist ein Gehalt von mindestens 1 ml wasserdampfflüchtiger Substanzen (gebildet durch Säurehydrolyse aus Phenolglykosiden) je kg Droge gefordert. Weiterhin monographiert der Deutsche Arzneimittel-Codex Mädesüßblüten mit der älteren Bezeichnung der Droge Spiraeae flos.
Wichtige Wirkstoffe sind: Penolglykoside wie Monotropidin und Spiraein – beim Trocknen entsteht in geringen Mengen ätherisches Öl mit Salicylaldehyd und Methylsalicylat – sowie Flavonoide wie Spiraeosid und Gerbstoffe (Ellagitannine).
Medizinische Anwendungen: Mädesüßblüten haben schweiß- und harntreibende Eigenschaften. Der Gehalt an Salicylsäureverbindungen, die ähnlich wie Acetylsalicylsäure wirken könnten, ist jedoch gering, so dass eine entzündungshemmende Wirkung bezweifelt wird. So wird die Droge nur noch zu Schwitzkuren empfohlen, wie man sie gern unterstützend bei beginnenden Erkältungen nutzt. Der Einsatz bei rheumatischen Erkrankungen und Gicht zur Erhöhung der Harnmenge ist in der Volksheilkunde bekannt.
Die Blüten und die jungen Blätter des Mädesüß werden zu Tee verarbeitet, dem eine gute harntreibende, entzündungshemmende sowie antirheumatische Wirkung nachgesagt wird. Da die in der Pflanze enthaltenen Stoffe jedoch wie bei vielen anderen pflanzlichen Mitteln abhängig von Standortbedingungen in ihrer Dosis stark schwanken, wird in der Regel empfohlen, sich die Pflanzenbestandteile in der Apotheke zu besorgen. Mädesüß soll die übermäßige Produktion von Magensäure eindämmen und so Sodbrennen entgegenwirken.
Der Ausschuss für pflanzliche Arzneimittel (HMPC) der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) hat zwei Monographien zu Mädesüß veröffentlicht. Die eine behandelt die Blüten (Filipendulae ulmariae flos), die andere die oberirdischen Pflanzenteile (Filipendulae ulmariae herba). Darin werden für beide Drogen die traditionellen Indikationen für verschiedene Zubereitungen bestätigt, zum Beispiel die Anwendung bei Erkältungen und zur Linderung von leichten Gelenkbeschwerden.
Kulturgeschichtliche Besonderheiten
Bereits im 3. Jahrtausend v. Chr. war Mädesüß Bestandteil von in Glockenbechern nachgewiesenen Bieren in England und Schottland. In Schottland wurde die Pflanze zu dieser Zeit auch in Gräber beigegeben. Später, in der jüngeren Eisenzeit (Laténezeit), wurde sie unter anderem als Färbemittel für Stoffe benutzt. Imker rieben ihre neuen Bienenstöcke mit dem nach Honig duftenden Kraut aus, damit die Bienen sie annahmen. Mädesüß wird heute noch oft dem Met zugesetzt, um einen angenehmeren Geschmack zu bekommen. Im frühneuzeitlichen England kochte man die Blüten in Wein, um ihn als Stimmungsaufheller zu trinken, und Mädesüß kam neben anderen Kräutern wie Dost oder Gundermann auch ins elisabethanische Bier, während Hopfen als Bierzutat dort zu der Zeit noch verpönt war.
Quellen
Einzelnachweise
Literatur
Detlev Arens: Sechzig einheimische Wildpflanzen in lebendigen Porträts. Du Mont, Köln 1991. ISBN 3-7701-2516-9.
Manfred Bocksch: Das praktische Buch der Heilpflanzen. BLV, München 1996, ISBN 3-405-14937-1.
Elisabeth Lestrieux, Jelena de Belder: Der Geschmack von Blumen und Blüten. Dumont, Köln 2000, ISBN 3-7701-8621-4.
Angelika Lüttig, Juliane Kasten: Hagebutte & Co – Blüten, Früchte und Ausbreitung europäischer Pflanzen. Fauna Verlag, Nottuln 2003, ISBN 3-935980-90-6.
Weblinks
Thomas Meyer: Datenblatt mit Bestimmungsschlüssel und Fotos bei Flora-de: Flora von Deutschland (alter Name der Webseite: Blumen in Schwaben).
Verwendung in der Volksheilkunde.
Rosengewächse
Heilpflanze
Färberpflanze |
188055 | https://de.wikipedia.org/wiki/Museum%20Folkwang | Museum Folkwang | Das Museum Folkwang ist ein Kunstmuseum in Essen. Es wurde 1902 in Hagen von dem Kunstmäzen Karl Ernst Osthaus unter dem Namen Folkwang Museum eröffnet und hatte lange Zeit eine Vorreiterrolle im Bereich der Modernen Kunst. Nach dem Tod von Osthaus 1921 wurde seine Sammlung nach Essen verkauft, wo sich der Folkwang-Museumsverein mit dem Ziel konstituiert hatte, sie zu erwerben. Seitdem wird die Sammlung dort weitergeführt. Sie steht seit 1922 im gemeinsamen Eigentum des Folkwang-Museumsvereins und der Stadt Essen und enthält Werke des Impressionismus, des Expressionismus, des Surrealismus und weiterer Stilrichtungen der Modernen Kunst. Zudem besitzt das Museum Folkwang Objekte des Kunstgewerbes, eine graphische und eine photographische Sammlung. Während der Zeit des Nationalsozialismus verlor das Museum in der „Aktion Entartete Kunst“ 1.400 Werke, darunter bedeutende Bestandteile der Sammlung. Nach dem Krieg konnten diese Verluste größtenteils durch Rückkauf oder Neuerwerbungen ersetzt werden. 2006 gab die Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung bekannt, den Neubau des Museums Folkwang zu finanzieren. Nach zwei Jahren Bauarbeiten wurde der von David Chipperfield entworfene Neubau im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres RUHR.2010 am 28. Januar 2010 offiziell eröffnet.
Geschichte
Gründung in Hagen
Der erst 24-jährige Bankierssohn Karl Ernst Osthaus, der von seinen Großeltern mütterlicherseits ein bedeutendes Vermögen geerbt hatte, entwickelte um 1898 die Idee für ein eigenes Museum in Hagen. Er beabsichtigte, dort seine private Sammlung naturwissenschaftlicher, volkskundlicher und kunstgewerblicher Objekte auszustellen, die er auf ausgedehnten Reisen durch Europa, den Vorderen Orient und Nordafrika mit dem ererbten Geld erworben hatte. Sein Ziel sah er darin, mit dem Museum „zu einer Verbesserung des öffentlichen Geschmacks beizutragen“. Er beauftragte den Architekten Carl Gérard aus Berlin mit dem Hagener Museumsneubau, der zwischen 1899 und 1902 mit einer eklektizistischen Fassade, die Neorenaissance-, Neugotik- und Neobarock-Elemente vereint, entstand. 1899 unternahm Osthaus eine Reise nach Tunesien, von der er islamische Kunstwerke mitbrachte. Er beschloss, ein Kunstmuseum aufzubauen. Diese Neuausrichtung seines Museumsprojektes verdrängte die naturwissenschaftliche Komponente nicht aus dem Projekt, weil Osthaus in der ästhetischen Qualität der Natur die Grundlage für die Kunst sah. Im Jahr 1900 nahm Karl Ernst Osthaus Kontakt mit dem belgischen Künstler Henry van de Velde auf und stellte ihm seine Idee der Gründung eines Museums, das der Kunst in der Industrieregion des Ruhrgebiets einen höheren Stellenwert verschaffen sollte, vor. Van de Velde begleitete das Museumsprojekt, gestaltete die Innenausstattung im Jugendstil und beriet Osthaus, der vorher vor allem an deutscher Malerei des 19. Jahrhunderts aus der Umgebung der Düsseldorfer Malerschule interessiert war, bei seinen Ankäufen von belgischen und französischen Kunstwerken. Auf den Belgier geht vor allem Osthaus’ Hinwendung zur Moderne zurück. Es folgten bedeutende Erwerbungen wie die Lise mit dem Sonnenschirm von Pierre-Auguste Renoir, die Osthaus 1901 bei Paul Cassirer kaufte. 1902 erwarb er unter anderem Die Ernte von Vincent van Gogh. Es war das erste Werk des Niederländers, das in einer deutschen Museumssammlung Einzug hielt.
Am 9. Juli 1902 wurde das Folkwang Museum eröffnet, dessen von Peter Behrens entworfener Vortragssaal erst im Jahr 1905 fertig wurde. Es enthielt im Untergeschoss die naturkundliche und im Erdgeschoss die kunstgewerbliche Sammlung, im Obergeschoss befand sich die Kunstsammlung. Der Name Folkwang entstammt den altnordischen Mythen der Edda, in denen er den Palast (Folkvangar = Volkshalle) der Göttin Freya, die neben ihrer Rolle als Fruchtbarkeitsgöttin auch als Schutzgöttin der Künste fungierte, bezeichnet. Diese Namenswahl sollte die Einheit von Kunst und Leben in dem neuen Museum verdeutlichen. Mit der Zeit rückte die ästhetische Erziehung ins Zentrum der Museumsausrichtung, womit der Stellenwert der naturkundlichen Teile der Sammlung abnahm. Das Museum präsentierte die Sammlung nach ästhetischen Gesichtspunkten geordnet und nicht, wie üblich, nach Epochen und Regionen. 1916 wurde die naturkundliche Sammlung im Kellergeschoss durch die Sammlung islamischer Kunst, Keramik und Kunsthandwerks ersetzt. Im Erdgeschoss befanden sich unter anderem Antiken, mittelalterliche Sakralkunst, Druckgraphiken und Kunstgewerbe. Im Obergeschoss war die Sammlung Moderner Kunst, Porzellan und Schmuck untergebracht. Osthaus wagte es als Erster, die unter anderem von Künstlern des Fauvismus und Kubismus und einigen wenigen Kunsttheoretikern angenommene innere Verwandtschaft zwischen afrikanischer und ozeanischer „primitiver Kunst“ und der Modernen Kunst in seiner Museumspräsentation aufzugreifen, worin sich auch die Vorreiterrolle des Folkwang Museums manifestierte.
Diese Art der Präsentation und die Unterstützung der Modernen Kunst durch Osthaus erhielt positive Resonanz durch die Kunstschaffenden dieser Stilrichtungen; so pflegten einige Mitglieder der Künstlergruppen Brücke und Der Blaue Reiter zum Teil intensiven Kontakt zu Osthaus, der ihre Werke erwarb und sie durch Ausstellungen förderte. Nach Beratung mit Henry van de Velde kaufte Osthaus Werke belgischer und französischer Maler und Bildhauer wie Georg Minne, Constantin Meunier und Théo van Rysselberghe. Er erwarb das Gemälde Der Kuß von Maurice Denis, das eines der ersten Werke des Malers in einer öffentlichen deutschen Sammlung war. Mit dem Bild Seine bei St. Cloud von Paul Signac war das Folkwang Museum die erste deutsche Institution, die ein Werk dieses französischen Neoimpressionisten ankaufte. Osthaus pflegte engen Kontakt zu einigen Künstlern wie etwa Christian Rohlfs, der 1902 im ersten Stock des Museumsgebäudes eine Wohnung und das Atelier bezog und dort arbeitete. Weitere Künstler wie Jan Thorn-Prikker, Milly Steger, Emil Rudolf Weiß und Moissey Kogan wurden von Osthaus nach Hagen an das Folkwang Museum geholt, um die Kulturlandschaft der Stadt zu beleben. Der Museumsgründer unternahm unter anderem Reisen zu Auguste Rodin, Paul Cézanne und Pierre-Auguste Renoir, auf denen er Werke direkt von ihnen erwarb. 1908 kam Henri Matisse nach Hagen, um das Folkwang Museum zu besuchen. Diese persönlichen Beziehungen trugen zum Ausbau der Sammlung bei, endeten jedoch mit dem Tod von Karl Ernst Osthaus im März 1921.
Weiterführung in Essen
Osthaus’ Lebenswerk in Hagen zerfiel. Ernst Fuhrmann, Leiter des 1919 gegründeten Folkwang-Verlags und Nachlassverwalter von Osthaus, nahm 1922 Kontakt zu Ernst Gosebruch vom Städtischen Kunstmuseum Essen auf und bot ihm den Erwerb der Sammlung des Folkwang Museums an. Damit erfüllte Fuhrmann die testamentarische Festlegung, dass die Sammlung zusammengehalten werden sollte. Gosebruch leitete seit 1909 das Essener Museum, war eng mit Osthaus befreundet und hatte sich ebenfalls der modernen Kunst verschrieben. Unter seiner Leitung hatte das Essener Haus unter anderem 1912 die Rhonebarken von Vincent van Gogh erworben. 1917 schenkte Hans Goldschmidt dem Kunstmuseum seine Villa an der Bismarckstraße 98, in der das Museum fortan seine Sammlung präsentierte. Nachdem der Nachlassverwalter von Karl Ernst Osthaus an Gosebruch herangetreten war, gründete sich auf dessen Betreiben hin der Folkwang-Museumsverein, dem Bürger und Unternehmen der Stadt angehörten und der den Erwerb der Sammlung für 15 Millionen Mark finanzierte. Der Initiative dieses Vereins ist es zu verdanken, dass die Sammlung des Museum Folkwang zusammengehalten werden konnte. Mit dem Verkauf wurde die Sammlung aus dem Gesamtkontext des lebensreformerischen Wirkens Osthaus’ herausgelöst, so verlagerte sich der Schwerpunkt auf die Präsentation von Kunst, die sich mittlerweile etabliert hatte. Am 7. Juni 1922 erfolgte die Schlüsselübergabe in Hagen, anschließend wurden die Bestände nach Essen gebracht. Dabei erwies sich als Schwierigkeit, dass professionelle Strukturen in Hagen gefehlt hatten und deshalb keine Inventarisierung erfolgt war. Deswegen war der Schutz der ausgestellten Gegenstände vernachlässigt worden und einige Werke galten als verschwunden. In der Folge wurden die Bestände des Essener Museums mit den aus Hagen übernommenen 99 Gemälden, 43 Skulpturen, Gegenständen des Kunstgewerbes, Zeichnungen und Grafiken zusammengeführt. Am 29. Oktober 1922 wurde das Museum nun unter dem Namen Museum Folkwang in den Essener Goldschmidt-Villen an der Bismarckstraße eröffnet, nachdem Hans Goldschmidt seinen Bruder Karl Goldschmidt überzeugt hatte, sein Haus ebenfalls dem Museum zu stiften.
1924 benannte sich der Essener Kunstverein in Kunstverein Folkwang um und existiert heute unter dem Namen Kunstring Folkwang. Ein Jahr später beschloss das Museumskuratorium den Neubau eines Museumsgebäudes. Der Entwurf stammte vom Architekten Edmund Koerner, der die beiden Goldschmidt-Villen in die Planungen miteinbezog. 1926 begannen die Bauarbeiten, die bis 1929 andauerten. Im Jahr 1927 erlaubte das Museum der Essener Fachschule für Musik, Tanz und Sprache und der Handwerker- und Kunstgewerbeschule die Umbenennung in Folkwangschule. Nach der Eröffnung des neuen Museumsgebäudes im Jahr 1929 erhielt Direktor Gosenbruch großen Zuspruch von Museumskollegen. Beispielsweise schrieb der Direktor des Museums für Kunst und Gewerbe in Hamburg, Max Sauerlandt, an Gosenbruch: „Sie haben damit im reinsten Sinne einen neuen Typus des Museums der Gegenwart aufgestellt.“
Im Neubau wurde ein Atelier eingerichtet, das der Fotograf Albert Renger-Patzsch nutzte. Zudem engagierte Gosebruch Ernst Ludwig Kirchner und Oskar Schlemmer für die künstlerische Ausgestaltung von Festsaal und Rotunde. Damit setzte er die direkte Förderung künstlerischer Produktion, die Osthaus betrieben hatte, fort. Unter der Leitung Gosebruchs behielt das Museum Folkwang auch die engagierte Ausstellungspolitik Osthaus’ bei. Der Direktor ergänzte zudem die Sammlung durch zahlreiche Neuerwerbungen, darunter etwa das Gemälde Der Sänger Jean Baptiste Faure als Hamlet von Édouard Manet im Jahr 1927. Spätestens mit dieser Erwerbung setzten Anfeindungen gegenüber dem Museum und dessen Direktor aus dem rechten politischen Lager ein, weil in der Sammlung zu viele französische Werke vertreten gewesen seien.
Zeit des Nationalsozialismus
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 forderte der Kampfbund für deutsche Kultur die Entlassung Ernst Gosebruchs, die jedoch vom Kuratorium abgelehnt wurde. Im September 1933 trat der Direktor dann von seinem Amt zurück. Sein Nachfolger, Klaus Graf von Baudissin, der sich zur nationalsozialistischen Kunstideologie bekannte und radikal gegen die Moderne Kunst stand, trat am 24. Januar 1934 sein Amt an. Diese Besetzung wurde von den Nationalsozialisten gegen den Willen des Folkwang-Museumsvereins durchgesetzt. Kurz nachdem er Direktor geworden war, ließ Baudissin eine große Zahl von modernen und abstrakten Exponaten aus der Ausstellung entfernen und ins Magazin überführen. Ein Teil der Werke wurde in einem Ausstellungssaal als Kollektion von abschreckenden Gegenbeispielen zur systemakzeptierten Kunst präsentiert. Unter Baudissin verlor die Sammlung des Museums bedeutende Werke. Erst verkaufte er beispielsweise die Improvisation 28 von Wassily Kandinsky, dann wurden insgesamt 1400 Werke der Moderne im Rahmen der Aktion „Entartete Kunst“ im Jahr 1937 beschlagnahmt. An dieser Beschlagnahmungsaktion, die das Museum Folkwang fast der gesamten modernen Sammlungsbestände beraubte, war dessen Direktor selbst führend beteiligt. Von den Werken der Modernen Kunst verblieben nur einige wenige Blätter von Matisse und Picasso, sowie Werke des Impressionismus im Museum. Zum Teil wurden die beschlagnahmten Werke in der Ausstellung „Entartete Kunst“ 1937 in München und in der anschließenden Wanderausstellung präsentiert, zum Teil im Rahmen der Verwertung „Entarteter Kunst“ ins Ausland verkauft. In die Ausstellung gingen insgesamt 18 Werke, darunter vier vom Emil Nolde und sieben von Ernst Ludwig Kirchner. 1939 versteigerte die Galerie Fischer in Luzern acht Werke aus dem Besitz des Museum Folkwang, darunter André Derains Blick aus dem Fenster und Flusslandschaft von Henri Matisse, die sich heute beide im Kunstmuseum Basel befinden. Das St. Louis Art Museum ersteigerte die Badende mit einer Schildkröte, die ebenfalls Matisse gemalt hatte.
1938 beurlaubte der neue Oberbürgermeister Essens, Just Dillgardt, nach Beratungen mit dem Kuratorium und dem Museumsverein Klaus Graf von Baudissin, der durch seinen Assistenten Heinz Köhn ersetzt wurde. Grund für diesen Schritt waren die Differenzen, die seit 1934 zwischen Baudissin und dem Museumsumfeld immer wieder aufgetreten waren. Baudissin wehrte sich gegen diese Entscheidung der Stadt Essen, konnte sich letztendlich aber nicht durchsetzen. Köhn bemühte sich in der Folge, weiteren Schaden von der Sammlung fernzuhalten. Während des Zweiten Weltkrieges erwarb Köhn 1941 und 1942 bei Galerien im besetzten Paris einige Gemälde, darunter Werke von Gustave Courbet, Jean-Baptiste Camille Corot und Charles-François Daubigny. 1942 wurden die übrig gebliebenen Museumsbestände ausgelagert, um sie vor Schäden zu schützen. Bei Luftangriffen im Jahr 1944 wurde das Museumsgebäude beschädigt, am 11. März 1945 wurde es vollständig zerstört.
Nach dem Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart
Am 15. Dezember 1947 fand die erste Sitzung des Museumskuratoriums nach dem Krieg statt. Die Stadt Essen und der Folkwang-Museumsverein beschlossen den Wiederaufbau des Museums, die ausgelagerten Werke wurden in das Schloss Hugenpoet in Kettwig überführt, wo sie auch wieder ausgestellt wurden. Die Leitung des Museums verblieb bei Heinz Köhn. 1948 gab das Museum die während des Krieges in Paris erworbenen Bilder an Frankreich zurück. An der Bismarckstraße wurden zwei teilweise wiederhergestellte Ausstellungsräume 1950 erneut der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Der Neubau des Museums Folkwang wurde 1954 beschlossen und 1956 nach Plänen von Erich Hösterey, Werner Kreutzberger und Horst Loy begonnen. Unter Köhn begann die Wiederherstellung der Museumssammlung nach den Verlusten während der Diktatur des Nationalsozialismus. Er erwarb 1957 die gesamte Druckgraphik sowie Zeichnungen und Aquarelle von Christian Rohlfs, weitere Ergänzungen der graphischen Sammlung, die besonders gebeutelt worden war, folgten. Eines der zurückerworbenen Gemälde war der Hutladen von August Macke, das 1953 in das Museum Folkwang zurückkehrte. 1960 wurde der Neubau des Museum Folkwang eröffnet.
Heinz Köhn verstarb im Jahr 1962, ein Jahr später folgte ihm Paul Vogt als Direktor des Museums. Er setzte die von Köhn begonnene Wiederherstellung der Sammlung fort und konnte einige bedeutende Werke, die 1937 aus der Sammlung entfernt worden waren, erneut erwerben. Ein Beispiel ist Ernst Ludwig Kirchners Tanzpaar. Zudem schaffte er mit seiner Ankaufspolitik den Anschluss der Sammlung an die Kunst nach dem Zweiten Weltkrieg mit Erwerbungen etwa von Werken des Abstrakten Expressionismus. Unter seiner Leitung erwarb das Museum jedoch auch beide Monet-Werke der Sammlung. Der Folkwang-Museumsverein finanzierte 1970 die Vorplanungen für einen Anbau. Acht Jahre später konnten dank der Bereitstellung von Finanzmitteln der „Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung“ die tatsächlichen Planungen für diesen Bau begonnen werden. 1978 beschloss die Stadt zudem die Einrichtung eines Museumszentrums, das den Anbau des Museums Folkwang und den Neubau des Ruhrlandmuseums umfasste. Im Folgejahr wurde die 1958 von Otto Steinert begründete photographische Sammlung der Folkwangschule für Gestaltung in Essen-Werden als eigenständige Abteilung an das Museum Folkwang angegliedert. Der 1981 begonnene Bau der Museumserweiterung konnte 1983 fertiggestellt werden. Im Jahr 1988 löste Georg W. Költzsch Paul Vogt auf dem Posten des Direktors ab.
In die Amtszeit von Költzsch fielen umfangreiche Sanierungsarbeiten am Altbau. Diese begannen 1996 unter Leitung des Architekturbüros Allerkamp und Niehaus und des Hochbauamts der Stadt Essen. 1998 wurden die Cafeteria und der Eingangsbereich neu gestaltet. Im folgenden Jahr öffneten die Sammlungen wieder für das Publikum. Unter seiner Leitung konnten aber auch verlorene Werke der Sammlung wie Emil Noldes Stillleben mit Holzfigur im Jahr 1994 zurückerworben werden. Zudem ging er Kooperationen mit Sponsoren wie Ruhrgas, der Sparkasse Essen oder Hochtief ein, die große Sonderausstellungen mitfinanzierten. Daneben gründete sich 1999 ein eigener Förderverein für die photographische Abteilung. Hubertus Gaßner löste im Jahr 2003 Költzsch als Direktor des Museums Folkwang ab. Ihm folgte 2006 bis 2012 Hartwig Fischer. Ebenfalls 2006 gab Berthold Beitz, der Vorsitzende des Kuratoriums der „Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung“, bekannt, dass die Stiftung einen Neubau des Museums Folkwang finanziert. Aus dem internationalen Architektenwettbewerb ging am 13. März 2007 als Sieger David Chipperfield hervor. Die Stiftung schloss sich dieser Jury-Entscheidung an. Anfang Juli 2007 wurde das Museum geschlossen und die Bauarbeiten begannen. Im Herbst 2008 fand das Richtfest für den Neubau statt, der dann am 28. Januar 2010 im Rahmen des Kulturhauptstadtjahres RUHR.2010 offiziell eröffnet wurde.
Ab dem 1. Januar 2013 führte der Schweizer Kunsthistoriker Tobia Bezzola als Nachfolger von Hartwig Fischer das Museum Folkwang. Im Februar 2015 wurde bekannt, dass ein städtisches Unternehmen, die GVE Grundstücksverwaltung Stadt Essen GmbH (GVE), Rücklagen für den Betrieb des Museums Folkwang zweckentfremdet hatte. Im Zuge des Museumsneubaus hatte sich die Stadt verpflichtet, bei der GVE jährlich 2,1 Millionen Euro für die Instandhaltung zurückzulegen. Als dann die Kosten für den Neubau des Stadions Essen aus dem Ruder liefen, entnahm die GVE ab dem Jahr 2010 sechs Millionen Euro aus diesem Treuhandfonds und setzte sie für den Stadionbau ein. Die zweckentfremdeten Mittel wurden von der Stadt Essen aber bereits wenig später wieder in vollem Umfang dem entsprechenden Fonds der GVE zugeführt.
Besondere deutschlandweite Aufmerksamkeit erlangte das Museum Folkwang Ende Juni 2015, als es das erste bedeutende deutsche Museum wurde, das freien Eintritt in seine ständige Ausstellung anbietet. Dies ist durch die auf fünf Jahre angelegte Unterstützung durch die Krupp-Stiftung möglich geworden. In den ersten Monaten führte der freie Eintritt zu einer Verdreifachung der Besucherzahl in der Sammlung des Hauses. Ende des Jahres 2017 hat Tobia Bezzola das Museum verlassen, um sich ab Anfang 2018 als neuer Direktor am Aufbau des Museo d’arte della Svizzera italiana (MASI) in Lugano zu beteiligen.
Direktor des Museum Folkwang ist seit dem 1. Juli 2018 der Kurator und Kunstwissenschaftler Peter Gorschlüter, der die Dauerausstellung des Museums komplett neu gehängt hat. Die herkömmliche chronologische Hängung wurde durch eine an einem Ankerwerk ausgerichtete thematische Hängung ersetzt. Als eine solche hatte sie auch der Begründer der Sammlung ursprünglich eingerichtet. Zudem wurden jenen Bildern, die der Restitution unterliegen könnten, eine Restitutionstabelle beigefügt, die den jeweiligen Stand der Provenienz-Forschung anzeigen.
2020 wurde das Museum von AICA Deutschland zum Museum des Jahres gewählt.
Architektur
Das heutige Museum Folkwang wurde zwischen 1956 und 1960 an Stelle der im Krieg zerstörten Vorgängerbauten errichtet. Dieser Museumsneubau war neben dem des Duisburger Lehmbruck-Museums einer der bedeutendsten dieser Zeit in Deutschland. Der Gebäudekomplex besteht aus einem zweigeschossigen Verwaltungs- und einem eingeschossigen Ausstellungsgebäude. Die Ausstellungsräume gruppieren sich um zwei Innenhöfe. Sie erhalten ihr natürliches Licht zum Teil durch Oberlichter, zum Teil aus bis zum Boden reichenden Fenstern. Die beiden Innenhöfe sind durch einen Gartensaal miteinander verbunden, der zudem die Ausstellungsräume miteinander verbindet. Die Hofumgänge sind komplett verglast, was eine transparente Wirkung des Raumes erzeugt. Neben dem Ausstellungstrakt liegt, verbunden durch eine gläserne Eingangshalle, das mit Basaltlava verkleidete Verwaltungsgebäude. In ihm sind auch die Bibliothek, Sammlungsräume und ein Auditorium untergebracht. Die Architektur dieses Museumsgebäudes ist trotz einiger Renovierungsarbeiten fast vollständig erhalten. Die Bedeutung des Gebäudes ergibt sich aus seinem Status als Symbol für die Wiederanknüpfung an die Moderne Kunst nach der Zeit des Nationalsozialismus. Es ist ein Beispiel für die moderne Museumsarchitektur in der Bundesrepublik Deutschland und zeigt die Verknüpfung zwischen Architektur und Ausstellungskonzeption in den 1950er-Jahren.
1981 wurde das Museumsgebäude mit einem Anbau (Architekten Allerkamp, Niehaus, Skornia) ergänzt, in dem auch das Ruhrlandmuseum untergebracht war. Die begrenzte Ausstellungsfläche führte 2006 zu dem Entschluss, einen neuen Erweiterungsbau zu errichten. Am 24. August 2006 gab die „Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung“ bekannt, diesen Neubau des Museums Folkwang mit 55 Millionen Euro zu finanzieren. Nach erfolgtem Architektenwettbewerb hat sich die Jury Mitte März 2007 für den ersten Preisträger, den renommierten britischen Architekten David Chipperfield ausgesprochen, der auch den Masterplan für die Berliner Museumsinsel erstellt hatte. Dieser Empfehlung stimmten der Kuratoriumsvorsitzende der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung, Berthold Beitz, und die Stadt Essen zu. Den zweiten Preis gewann das Architekturbüro Adjaye Associates. Die Jury lobte insbesondere den Respekt Chipperfields vor dem zu erhaltenden denkmalgeschützten Altbau des Museums, dessen Architektur in den sechs hohen kubischen Baukörpern, die durch Innenhöfe miteinander verbunden sind, aufgegriffen wurde. Die vom Altbau übernommenen Konzepte der großen Fenster und der Innenhöfe ermöglichen es, die Kunstobjekte – wo dies aus konservatorischen Gründen möglich ist – in natürlichem Licht zu präsentieren. „Der Besucher verfolgt in diesen Räumen den Tagesverlauf und erfährt, wie lebendig Kunst auf Licht reagiert und wie stark das natürliche Licht in seinen verschiedenen Zuständen unsere Wahrnehmung trägt und fördert.“ Im neuen, 1400 m² großen Ausstellungssaal sorgt eine besondere Sheddachkonstruktion für diese natürliche Beleuchtung, wenn der Saal für Ausstellungen durch Stellwände aufgeteilt wird. Der Neubau bietet dem Museum eine zusätzliche Nutzfläche von 16.000 m², so dass dem gesamten Museum eine Ausstellungsfläche von 7.000 m² zur Verfügung steht. Die Verbindung zum 1960 errichteten, denkmalgeschützten Altbau ist ebenerdig. Die Aus- und Durchblicke durch die großen Fenster und Atrien sollen es dem Besucher ermöglichen, sich zu orientieren. David Chipperfield: „In einem Museum möchten Sie sich verlieren und der Versenkung hingeben, aber Sie wollen sich auch orientieren können.“
Der Neubau entstand seit Herbst 2007 auf der Fläche des 1983 eingeweihten Erweiterungsbaus, der abgerissen wurde. Der Bau wurde im November 2009 abgeschlossen. Die offizielle Neueröffnung fand am 28. Januar 2010 statt, als Essen Teil der Kulturhauptstadt Ruhr 2010 wurde.
Sammlung
Die Sammlung des Museum Folkwang umfasst rund 600 Gemälde, 280 Skulpturen, etwa 12.000 Graphiken, über 50.000 Photographien und Objekte des Kunsthandwerks, darunter Keramiken aus mehr als 2000 Jahren. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Modernen und Zeitgenössischen Kunst, die mit vielen ihrer Stilrichtungen wie Impressionismus, Expressionismus, Spätimpressionismus, Abstraktem Expressionismus und Neuer Figuration vertreten sind.
Gemälde
Die Gemäldesammlung des Museum Folkwang umfasst rund 600 Werke des 19. Jahrhunderts, der Moderne und der Zeitgenössischen Kunst. Die Sammlung geht auf Erwerbungen des Museumsgründers Osthaus und des Städtischen Kunstmuseums Essen zurück. Den Großteil der modernen Werke verlor das Museum durch Beschlagnahmung und Verkauf oder Vernichtung während der Zeit des Nationalsozialismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten die Direktoren des Museum Folkwang, Heinz Köhn und Paul Vogt, zuvor als „Entartete Kunst“ klassifizierte Werke zurückkaufen und andere herausragende Werke als Kompensation für verlorene Kunstwerke erwerben. So entstand wieder eine der führenden Sammlungen für deutsche und französische Malerei des 19. und 20. Jahrhunderts in Deutschland. Zudem wurden weitere zeitgenössische Kunstrichtungen in die Sammlung aufgenommen.
Die ältesten Gemälde der Sammlung des Museum Folkwang stammen aus der Epoche des Klassizismus. Beispiele für Werke dieser Zeit sind die beiden Landschaftsgemälde Die Franziskushöhle von Jakob Philipp Hackert und Blick vom Grab des Vergil auf die Stadt Neapel mit dem Castel Sant'Elmo von Franz Ludwig Catel. Mit der 1814 gemalten Landschaft bei Pichelswerder ist auch Karl Friedrich Schinkel, die prägende Figur des Klassizismus in Preußen, in der Sammlung Folkwang vertreten. Die Sammlungsbestände der deutschen Romantik umfassen unter anderem Gemälde wie Landschaft mit dem Regenbogen und Frau vor der untergehenden Sonne von Caspar David Friedrich, sowie Osterspaziergang und Frühleuten von Carl Gustav Carus. Ebenfalls von Carus stammt das um 1824 entstandene Bild Hochgebirge, das eine idealisierte Darstellung des Mont Blanc mit dessen Gletschern ist, sowie ein Werk von Eugen Bracht. Die Porträtmalerei des Realismus ist durch Die Dame in Grau von Wilhelm Trübner und Bildnis der Frau Regierungsrat H. von Wilhelm Leibl in der Sammlung des Museum Folkwang vertreten. Beispielhafte Werke des Symbolismus sind Mord im Schloss und Pan im Kinderreigen von Arnold Böcklin, sowie Frühling von Ferdinand Hodler.
Neben der deutschen Malerei verfügt das Museum über einen reichen Bestand an französischer Kunst des 19. Jahrhunderts. Als Beispiel der Schule von Barbizon zeigt das Museum Jean-Baptiste Camille Corots Gemälde Das Bacchusfest, für den Realismus in Frankreich stehen Gustave Courbets Bilder Der Fels Oraguay und Die Woge. In der Sammlung ist der Impressionismus mit Gemälden einiger seiner Hauptvertreter zu sehen. Von Claude Monet gehörten ein Gemälde der Serie Kathedrale von Rouen und ein Bild Der Seerosenteich dem Museum. Die Gemälde Lise mit dem Sonnenschirm von Pierre-Auguste Renoir und Der Sänger Jean-Baptiste Faure als Hamlet von Édouard Manet gehören zu den herausragenden Werken der Sammlung. Das Bild Der Steinbruch Bibémus von Paul Cézanne ist ein Beispiel für die Werke, die von den Nationalsozialisten zur Devisenbeschaffung ins Ausland verkauft wurden. Dieser besonders schwere Verlust konnte 1967 durch die erneute Erwerbung des Gemäldes ausgeglichen werden. Der Rückkauf wurde durch eine Spende des Verwaltungsrates des WDR finanziert. Im Besitz des Museums Folkwang befinden sich vier Werke des postimpressionistischen Malers Paul Gauguin, darunter Frau mit Fächer und Bretonische Tangsammler. Ein weiterer Vertreter dieser Stilrichtung in der Sammlung ist Vincent van Gogh, von dem unter anderem das Porträt Armand Roulin und die Landschaft Die Ernte. Kornfeld mit Schnitter zu sehen sind. Durch das Gemälde Die Seine bei Saint-Cloud von Paul Signac ist auch der Pointillismus in der Sammlung des Museums vertreten. Im Besitz des Museums Folkwang befinden sich darüber hinaus mit Werken wie Stillleben mit Asphodelen von Henri Matisse und Flasche, Gitarre und Pfeife von Pablo Picasso auch Gemälde des Fauvismus und des Kubismus. Neben Picasso befinden sich auch kubistische Werke Robert Delaunays wie beispielsweise ein Bild aus der Serie Der Eiffelturm im Museum. Der Surrealismus ist etwa durch René Magrittes Bild Der Nachtschwärmer in der Sammlung vertreten.
Das Museum Folkwang besitzt zahlreiche Werke der Malerei der deutschen Moderne. Ein Beispiel für den deutschen Impressionismus ist das Gemälde Der Papagaienmann von Max Liebermann, in dem dieser den Idealen dieser Stilrichtung besonders nachgekommen ist. Von Lovis Corinth ist das Bild Thomas in Rüstung, das seinen Sohn zeigt, zu sehen. Beispielhaft für den frühen Expressionismus in der Sammlung des Museums Folkwang ist Paula Modersohn-Beckers Selbstbildnis mit Kamelienzweig. Weitere Exponate des Expressionismus sind unter anderem das Gemälde Hutladen von August Macke, sowie die Bilder Sitzender Akt auf orangem Tuch, Leipziger Straße mit elektrischer Bahn und Der rote Turm in Halle von Ernst Ludwig Kirchner. Weitere expressionistische Gemälde in der Sammlung stammen von Emil Nolde, Erich Heckel, Ludwig Meidner, Otto Müller und Christian Rohlfs. Darüber hinaus zeigt das Museum Folkwang unter anderem Kurische Nehrung, Nidden von Karl Schmidt-Rottluff, Elblandschaft in Dresden von Oskar Kokoschka und Fließende Formen von Franz Marc. Neben Marc sind mit Wassily Kandinsky und Paul Klee zwei weitere Maler der Künstlergruppe „Der Blaue Reiter“ in der Sammlung des Museums mit einigen Werken vertreten. Mit Winterlandschaft mit Sternen und Badender Knabe zeigt das Museum auch Werke des Norwegers Edvard Munch.
Das von Otto Dix gemalte Gemälde Bildnis Frau Martha Dix repräsentiert zusammen mit dem Gemälde Der Todessturz Karl Buchstätters von Franz Radziwill die Neue Sachlichkeit in der Sammlung des Museum Folkwang. Weitere Künstler der 1920er und 1930er Jahre, die unter anderem den Dadaismus, Surrealismus, Konstruktivismus oder gänzlich unabhängige künstlerische Positionen vertraten und mit ihren Werken in Essen zu sehen sind, sind Max Ernst, Max Beckmann, Piet Mondrian, Marc Chagall und Willi Baumeister. Mit Der Apotheker von Ampurias auf der Suche nach absolut Nichts aus dem Jahr 1936 gehört dem Museum auch ein Werk eines der Hauptvertreter des Surrealismus, Salvador Dalí.
Die Malerei der Nachkriegszeit ist durch verschiedene Künstler in der Museumssammlung vertreten. Zum Beispiel sind die Werke Two Sided Painting von Jackson Pollock, KSI von Morris Louis und Prometheus Bound von Barnett Newman zu sehen. Otto Piene, ein Mitbegründer der Künstlergruppe ZERO, ist mit Sensibilité prussienne vertreten, neben ihm mit Günther Uecker und Lucio Fontana weitere dieser Gruppe nahestehende Künstler. Von Ernst Wilhelm Nay, einem der bedeutendsten Vertreter der abstrakten Malerei im Nachkriegsdeutschland, und Georg Baselitz gehören gleich mehrere Werke dem Museum Folkwang. Mit Tomlinson Court Park I von Frank Stella ist in Essen ein Werk aus der 21-teiligen Reihe schwarzer Streifenbilder zu sehen. Ein weiteres Beispiel für die zeitgenössische Malerei im Museum Folkwang ist das Wolkenbild, Nr. 265 von Gerhard Richter.
Skulptur
Die Sammlung des Museum Folkwang umfasst rund 280 Skulpturen. Der französische Bildhauer Auguste Rodin, den der Museumsgründer Osthaus selbst in Paris besucht hatte, ist mit seinen Werken Eva, Das eherne Zeitalter, Die Kauernde und Faun und Nymphe in der Sammlung vertreten. Die Eva gehört zum Werkkomplex der unvollendeten Höllenpforte und wurde von Rodin nach ihrer Vertreibung aus dem Paradies gezeigt. Dabei verzichtete er auf die üblichen Attribute wie Apfel und Schlange. Die Sandalenbinderin von Louis Tuaillon stellt eine moderne Rezeption einer klassischen Pose seit der Antike dar. Vom belgischen Bildhauer George Minne besitzt das Museum Folkwang die Skulptur Knabe mit Schlauch und den aus Marmor gefertigten Brunnen mit knienden Knaben, der 1905/1906 in der Eingangshalle des Hagener Museums aufgestellt worden war. Die deutschen Bildhauer sind unter anderem durch Wilhelm Lehmbruck mit dessen Stehender weiblicher Figur, die er in Gegensatz zu Rodins antiklassischen Werken als klassische Frauengestalt konzipierte, in der Sammlung vertreten. Von Ernst Ludwig Kirchner stammt die bemalte Holzfigur Stehendes Mädchen, von Erich Heckel die Hockende aus Lindenholz. Mit einem unbetitelten Werk aus bemalten Gips von Alexander Archipenko ist in der Sammlung des Museum Folkwang auch die kubistische Bildhauerei vertreten. Der Kopf in Messing von Rudolf Belling ist ein aus abstrahierten Formen zusammengesetzter Kopf, dessen Wirkung auch auf dem reflektierenden Material resultiert. Ein Beispiel für die zeitgenössische Skulptur in der Sammlung ist die Figur Stahlfrau Nr. 11 von Thomas Schütte aus dem Jahr 2002.
Graphik
Die graphische Sammlung des Museum Folkwang umfasst 12.000 Zeichnungen, Aquarelle und Druckgraphiken. Die ältesten Werke stammen vom Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts, hierzu zählen Arbeiten von Künstlern wie Jean-Baptiste Greuze und Daniel Nikolaus Chodowiecki, die sich stilistisch noch am Barock orientierten und sich bereits einer bürgerlichen Kunst verschrieben hatten. Die Romantik ist etwa durch Caspar David Friedrichs Werk Der Uttenwalder Grund in der Sammlung vertreten, der Klassizismus beispielsweise durch Joseph Anton Koch mit der Zeichnung Landschaft mit Herkules am Scheideweg. Den heroischen Landschaften Kochs folgten realistische Darstellungen durch Künstler wie Franz Krüger und Adolph Menzel und dichterische, ironische Darstellungen von Carl Spitzweg, Ludwig Richter und Moritz von Schwind. Der Schwerpunkt des Museum Folkwang auf der Graphik des 19. Jahrhunderts geht auf eine Schenkung einer umfangreichen Ludwig-Richter-Sammlung durch Karl Budde an das Essener Kunstmuseum 1906 zurück. Diese wurde in der Folge weiter ergänzt, vor allem auch während der Zeit des Dritten Reiches, als die Sammlungstätigkeit im modernen Bereich nicht fortgeführt werden konnte.
Ernst Gosebruch erweiterte den Graphikbestand des Museum Folkwang erheblich durch Erwerbung von modernen Werken. Dabei sind die expressionistischen Druckgraphiken und Zeichnungen besonders durch zahlreiche Werke von Ernst Ludwig Kirchner und Emil Nolde vertreten, aber auch Zeichnungen des Impressionismus. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurden aus dieser Sammlung 1200 Werke enteignet, fast der gesamte moderne Bestand. Einige Blätter von Henri Matisse und Pablo Picasso verblieben jedoch im Museum. Nach dem Zweiten Weltkrieg ersetzten die Direktoren mit ihrer Ankaufspolitik die Verluste der Sammlung. 1957 erwarb das Museum die gesamte Druckgraphik, sowie Zeichnungen und Aquarelle von Christian Rohlfs. Auch fast das gesamte druckgraphische Werk Erich Heckels wurde in den 1960er Jahren gekauft. Aus der zeitgenössischen Kunst sammelte das Museum Folkwang etwa abstrakte Graphiken. Zuletzt erlangte die Sammlung einen bedeutenden Zuwachs durch eine Schenkung Jim Dines, der dem Museum im Jahr 2015 eine Gruppe von mehr als 200 druckgrafischen Arbeiten übereignet hat.
Fotografie
Die fotografische Sammlung des Museums Folkwang geht auf die Sammlungstätigkeit von Otto Steinert zurück, der 1959 die Fotografie-Klasse der Folkwangschule übernommen hatte. Er konnte 1961 die Stadt Essen dazu veranlassen, eine Sammlung von Fotografien aufzubauen. Steinert erwarb unter anderem eine Vielzahl von Architekturfotografien des 19. Jahrhunderts und Porträts von Robert Adamson und David Octavius Hill. Nach dem Tod Steinerts im Jahr 1978 gelangte die Sammlung in das Museum Folkwang, wo der Direktor Paul Vogt sie als Basis für die Gründung einer eigenen Abteilung nutzte. Das Museum besitzt zahlreiche Werke von August Sander und zur Porträtfotografie der 1920er Jahre. Zudem befinden sich im Museum Folkwang einige Nachlässe, darunter die von Helmar Lerski, Germaine Krull, Otto Steinert und Peter Keetman. Weiterhin unterstützt das Museum durch Stipendien und Preise die zeitgenössische Fotografie, die einen Schwerpunkt der Sammlung neben dem 19. Jahrhundert, sowie den 1920er und 1950er Jahren bildet. Bis 2012 hatte Ute Eskildsen die Leitung; von 2012 bis 2018 war Florian Ebner Leiter. Zum 3. September 2018 übernahm Thomas Seelig (* 1954) die Leitung der Fotografischen Sammlung.
Kunsthandwerk
Das Museum Folkwang besitzt kunstgewerbliche Objekte aus Afrika, Asien, Mittelamerika, der Südsee und Europa. Hinzu kommen Objekte aus der Antike, sowie Textilien, Fliesen und Glas aus verschiedenen Epochen. Dieser Teil der Museumssammlung geht auf Osthaus Reise nach Tunesien im Jahr 1897 zurück, die sein Interesse an Exponaten aus dem Vorderen Orient weckte. So begann er islamische Keramik zu sammeln. In der Folge baute er eine Sammlung auf, die eher als Mustersammlung für die ansässige Industrie und Künstler verstand. Eine Vielzahl von Objekten aus der Südsee wie etwa Zeremonialschilde und Ahnenbretter stammten von Emil Nolde, der sie während seiner Teilnahme an der medizinisch-demographischen Deutsch-Neuguinea-Expedition gesammelt hatte. Ein weiterer Schwerpunkt dieses Sammlungsteils ist die afrikanische Kunst. 1914 erwarb das Museum Folkwang Stücke aus der Sammlung von Leo Frobenius aus dem völkerkundlichen Institut in Hamburg, die 1910 im Rahmen der Deutschen Inner-Afrika-Forschungs-Expedition nach Europa kamen. Zwei Werke, die stellvertretend für die afrikanischen Exponate steht, sind ein aus Messing mit Eiseneinlagen gefertigter Kopf eines Königs „uhumnw-elao“ aus Benin und die Männliche Kultfigur der Baule ›blolo bian‹/›asie usu‹. Die Afrika-Sammlung des Museum Folkwang hat den Zweiten Weltkrieg ohne größere Verluste überstanden, während das Ruhrlandmuseum große Verluste in diesem Bereich zu verzeichnen hatte. Die mittel- und südamerikanische Kunst wird in der Sammlung durch peruanische Keramik aus den Fundstätten Moche und Nasca, sowie durch Steinplastiken aus dem heutigen Mexiko repräsentiert.
Das Alte Ägypten ist mit Objekten verschiedener dynastischer Epochen bis hin zur Zeit des hellenistischen Einflusses vertreten. Das Museum besitzt unter anderem die Skulptur Doppelstatuette des Vorstehers der Goldwüsten des Amun, Wersu – Sat-Re aus der 18. Dynastie, sowie weitere Plastiken und Keramiken. Zur Sammlung des Museums Folkwang gehören darüber hinaus auch griechische Keramikobjekte wie Beispiele der griechischen Vasenmalerei, sowie etruskische Bronzearbeiten und Gläser aus der römischen Antike. Asien ist durch eine Vielzahl von Keramik in der Sammlung vertreten. Daneben gibt es herausragende Exponate wie die Kuei-Bronze aus dem China des 9. Jahrhunderts vor Christus oder dem Garudavogel aus dem 18. und 19. Jahrhundert, der von der Insel Java stammt. Weitere Stücke in der Sammlung sind etwa Skulpturen aus China, Japan und Indien, Lackarbeiten wie Schreibkästen und Keramiken der japanischen Teezeremonie.
Zur Textilmustersammlung gehören 200 Exponate, die ursprünglich vor allem der Industrie zur Anschauung dienen sollte. Bei 60 von ihnen handelt es sich um koptische Textilien. Daneben beinhaltet dieser Sammlungsteil auch asiatische Stoffe und Gewänder, sowie ebensolche aus dem Barock und Rokoko. Das europäische Kunstgewerbe ist zudem durch eine Vielzahl von Erzeugnissen wie Kruzifixen und Statuetten im Museum Folkwang vertreten. Ein Beispiel aus diesem Bereich ist ein flämisches Adlerpult aus dem 14. Jahrhundert. Zudem besitzt das Museum Folkwang eine Sammlung von Vasen aus dem Jugendstil, darunter welche, die Tiffany schuf.
Ausstellungen
Das Museum Folkwang in Hagen war lange Zeit Vorreiter im Bereich der Ausstellung Moderner Kunst. Auch in Essen und bis in die Gegenwart hinein setzte das Museum seine Ausstellungstätigkeit fort. 1905 zeigte das Museum als erstes deutsches Museum eine Ausstellung mit Werken Vincent van Goghs. Im selben Jahr fand eine Ausstellung mit Gemälden Ferdinand Hodlers statt, 1906 folgten Schauen mit Werken von Edvard Munch und Emil Nolde. Nachdem die Künstlergruppe Brücke im Dezember 1906 bei Osthaus wegen einer Ausstellung im Museum Folkwang angefragt hatte, zeigte das Museum im Sommer 1907 erstmals eine Brücke-Ausstellung. 1910 fand eine weitere Ausstellung der Brücke im Museum statt. Im Juli 1912 stellte zudem die Gruppe Der Blaue Reiter im Museum aus. Das Museum Folkwang zeigte in dieser Zeit weitere bedeutende Ausstellungen von Künstlern wie Alexej von Jawlensky und Wassily Kandinsky. Neben diesen Ausstellungen der Modernen Kunst mit Schwerpunkt auf Malerei und Grafik zeigte das Museum Folkwang auch Fotografie-Ausstellungen. Beispielsweise veranstaltete es bereits 1903 eine Ausstellung über internationale Berufsfotografie. 1929 gab es im Museum Folkwang die Ausstellung Fotografie der Gegenwart zu sehen, 1933 die erste Einzelausstellung von Florence Henri. Darüber hinaus fand nach dem Erwerb der Objekte von der Deutschen Inner-Afrika-Forschungs-Expedition im Museum Folkwang eine der ersten Ausstellungen Afrikanischer Kunst in Deutschland statt. Auch nach dem Umzug nach Essen und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die engagierte Ausstellungspolitik fortgesetzt, die bis in die Gegenwart hinein reicht.
Seit dem Ende der 1980er Jahre beteiligen sich zunehmend Sponsoren wie die Ruhrgas AG, die Sparkasse Essen und Hochtief an der Finanzierung großer Ausstellungen. Die erste große, durch einen Sponsor finanzierte Ausstellung war Edvard Munch im Jahr 1987. Gemessen an den Besucherzahlen waren die erfolgreichsten Ausstellungen im Museum Folkwang Vincent van Gogh und die Moderne mit 505.000 Besuchern aus dem Jahr 1990, Caspar David Friedrich mit 357.000 Besuchern im Jahr 2006 und Morosow, Schtschukin – Die russischen Sammler mit 572.000 Besuchern im Jahr 1993. Die Ausstellung, in der die bedeutenden Sammlungen der beiden russischen Sammler präsentiert wurden, fand anlässlich des 20-jährigen Jubiläums der Erdgaslieferungen aus der Sowjetunion an das als Sponsor auftretende Unternehmen Ruhrgas statt. Den Event-Charakter dieser Ausstellung unterstrich unter anderem die Veränderung der Öffnungszeiten, so dass die Schau freitags bis 24 Uhr geöffnet war. Die von der Sparkasse geförderte Ausstellung Edward Hopper und die Fotografie – Die Wahrheit des Sichtbaren im Jahr 1992 zog 130.000 Besucher an. Seit 1992 fördert zudem die Bochumer Westfalenbank Ausstellungen zur Fotografie, während im Jahr 2000 RWE mit dem Museum Folkwang die Kooperation bei Ausstellungen im Bereich der Zeitgenössischen Kunst vereinbarte.
Bei seinem Amtsantritt 2013 kündigte Tobia Bezzola an, verstärkt auf Blockbuster-Ausstellungen zu setzen, um den Chipperfield-Bau angemessen zu bespielen. So sollten ab 2014 pro Jahr drei oder vier Ausstellungen mit überregionaler Bedeutung nach Essen geholt werden. Dabei sollte jeweils eine dieser Ausstellungen einem zeitgenössischen Künstler, der Photographie und der klassischen Moderne gewidmet sein. Für die Realisierung dieser Ausstellungen sollte zudem noch vermehrt mit privaten Sponsoren kooperiert werden. Sein Nachfolger Peter Gorschlüter gab bei Amtsantritt 2018 kein Bekenntnis zu den großen Ausstellungen zur klassischen Moderne ab. Er gab zu Protokoll, „[…] dass die Zeit der großen Blockbuster-Schauen heute tatsächlich vorbei ist.“ Er beklagte dabei die Energien, die in diesen großen Ausstellungsevents gebunden würden. Im Jahr des 100-jährigen Bestehens des Museum Folkwangs in Essen hatte das Haus mit insgesamt 442.000 Besuchern eines der erfolgreichsten Jahre seiner Geschichte. Insbesondere die beiden zu diesem Anlass gezeigten Sonderausstellungen Renoir, Monet, Gaugin - Bilder einer fließenden Welt. Die Sammlungen von Kojiro Matsukata und Karl Ernst Osthaus, in der die Sammlung des Museumsgründers im Dialog mit der des japanischen Industriellen Matsukata Kōjirō gezeigt wurde, und Expressionisten am Folkwang. Entdeckt - Verfemt - Gefeiert, welche die Geschichte des Expressionismus in Deutschland anhand der Museumssammlung nachverfolgte, zogen dabei mit 140.000 und 88.000 Besuchern ein breites Publikum an.
Über die Ausstellungstätigkeit im eigenen Haus hinaus war das Museum Folkwang auch in Übersee mit Ausstellungen vertreten. 1912 organisierte das Museum beispielsweise eine Kunstgewerbeausstellung in den Vereinigten Staaten. Eine Ausstellung aus neuerer Zeit war etwa Masterpieces from the Museum Folkwang Essen, die 1996 im Nagoya City Art Museum gezeigt wurde.
Internationaler Folkwang-Preis
Seit 2010 verleiht der Folkwang-Museumsverein für herausragendes Engagement in der Vermittlung von Kunst verschiedener Kulturen und über Grenzen hinweg den zuletzt mit 10.000 Euro dotierten Internationalen Folkwang-Preis. Erster Preisträger 2010 ist der Direktor des British Museum (London), Neil MacGregor. Ihm folgte 2013 der schwäbische Unternehmer und Mäzen Reinhold Würth. 2017 wurde der Preis dem nigerianischen Ausstellungsmacher und Kunsthistoriker Okwui Enwezor verliehen, der 2011 bis 2018 Direktor des Münchner Haus der Kunst war. 2021 wird mit dem Preis die Fotografin Barbara Klemm für ihr Lebenswerk ausgezeichnet.
Der Internationale Folkwang-Preis wird alle zwei bis drei Jahre im Gedenken an Karl Ernst Osthaus verliehen.
Filme
Museums-Check mit Markus Brock: Museum Folkwang Essen. 30 Min. Erstausstrahlung: 29. August 2010.
Literatur
Folkwang-Museumsverein (Hrsg.): Bilder für eine Sammlung. Museum Folkwang Essen. DuMont, Köln 1994, ISBN 3-7701-3433-8.
Georg-W. Költzsch: Phoenix Folkwang. Die Meisterwerke. DuMont-Literatur-und-Kunst-Verlag, Köln 2002, ISBN 3-8321-4994-5.
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Museum Folkwang (Hrsg.): Museum Folkwang. Malerei & Skulptur 19. – 21. Jahrhundert. Sieveking Verlag, München September 2014, ISBN 978-3-944874-09-8 (deutsch), ISBN 978-3-944874-10-4 (englisch)
Weblinks
Website des Museums
Museum Folkwang auf baukunst-nrw
Einzelnachweise
Kunstmuseum in Nordrhein-Westfalen
Museum in Essen
Südviertel (Essen)
Henry van de Velde
Gegründet 1902
Bauwerk der Moderne in Essen
Sammlung moderner oder zeitgenössischer Kunst |
195335 | https://de.wikipedia.org/wiki/Oderteich | Oderteich | Der Oderteich ist eine historische Talsperre im Harz. Er liegt nahe dem Braunlager Stadtteil St. Andreasberg im gemeindefreien Gebiet Harz des niedersächsischen Landkreises Goslar und staut das Wasser der Oder auf.
Die Stauanlage des Oderteiches wurde in den Jahren 1715 bis 1722 von Sankt Andreasberger Bergleuten erbaut und wird von den Harzwasserwerken betrieben. Sie gehört seit Juli 2010 gemeinsam mit den anderen Bauwerken des Oberharzer Wasserregals unter der Bezeichnung Bergwerk Rammelsberg, Altstadt von Goslar und Oberharzer Wasserwirtschaft zum UNESCO-Weltkulturerbe.
Der Oderteich war bis zum Ende des 19. Jahrhunderts die größte Talsperre Deutschlands.
Geographische Lage
Der Oderteich liegt im Oberharz innerhalb des Nationalparks Harz im Ortsdreieck Braunlage-Sankt Andreasberg-Altenau. Sein Staudamm befindet sich 6,8 km nordwestlich der Kernstadt von Braunlage und 6 km nordnordöstlich vom Braunlager Ortsteil Sankt Andreasberg. Der Stauteich liegt zwischen der Achtermannshöhe (ca. ) im Ostsüdosten, dem Sonnenberg () im Südsüdwesten und dem Bruchberg (ca. ) im Westnordwesten.
Gespeist wird der Oderteich von der von Osten heran fließenden Oder und der unweit davon von Nordnordwesten kommenden Rotenbeek; etwa 350 Bachmeter oberhalb der Einmündung nimmt die Rotenbeek von Westnordwesten den kleinen Bach Sonnenkappe auf. Der Stauteich ist länglich von der Rotenbeek im Norden bis zum Staudamm im Süden gestreckt. Es gibt keine Ortschaften am Teich; aber in seinem Einzugsgebiet liegt 1,2 km östlich vom Stauraum der kleine Braunlager Ortsteil Oderbrück.
Über den Staudamm führt die Bundesstraße 242, die etwa 800 m südöstlich in die Bundesstraße 4 mündet. Etwa 12 km südlich liegt oderabwärts die 1934 fertiggestellte größere Odertalsperre.
Zweck
Der Oderteich wurde errichtet, um über den Rehberger Graben die Wasserräder der Sankt Andreasberger Bergwerke auch in Trockenzeiten zuverlässig mit Aufschlagwasser zu versorgen. Sein Fassungsvermögen reichte aus, um eine Trockenperiode von etwa drei Monaten zu überbrücken. Er ist der größte aller Oberharzer Teiche.
Heute treibt das Wasser des Oderteiches noch mehrere Wasserkraftwerke in Sankt Andreasberg, in der Grube Samson und im Sperrluttertal an.
Geschichte
Im Jahre 1703 wurde der Neue Rehberger Graben fertiggestellt, der Oderwasser nach Sankt Andreasberg leitete. Dies verbesserte deutlich die Aufschlagwasserversorgung der dortigen Bergwerke, doch konnte die Oder nach längerer Trockenheit nicht genügend Wasser liefern. Dies löste Überlegungen aus, die Kraftwasserversorgung durch die Anlage eines Wasserspeichers weiter zu verbessern.
Zehn bis 15 Kilometer weiter westlich, im Raum Clausthal-Zellerfeld und Hahnenklee waren zu diesem Zeitpunkt 50 bis 60 kleine Talsperrenbauwerke in Betrieb. Der dortige Baustil ließ sich aber nicht kopieren, da die für die Dichtung des Bauwerkes verwendeten Rasensoden in der Umgebung des Oderteiches nicht zur Verfügung standen.
Zwischenzeitlich war man dabei, den nur mit Holzgefludern angelegten Rehberger Graben zu „mauern“, das heißt, die Gefluder durch einen aus Erdbaustoffen und Trockenmauerwerk hergestellten, wesentlich beständigeren Kunstgraben zu ersetzen. Dabei stellte man fest, dass gründlich festgestampfter Granitgrus eine wirksame Dichtung bildet.
Der Vizebergmeister Caspar Dannenberger schrieb 1712 zwei Briefe an das Bergamt Clausthal und schlug vor, den Oderteichdamm aus Granitmauerwerk mit einer Granitgrus-Dichtung zu errichten. Dieser Vorschlag wurde umgesetzt. Dannenberger, der geistige Vater des Oderteichdammes, erlebte die Umsetzung nicht mehr; er starb am 23. April 1713.
Im August 1714 war die Planung des Projektes beendet. Der Markscheider Bernhard Ripking hatte die erste Bauzeichnung erstellt, nach der Andreas Leopold Hartzig (1685–1761) einen Kostenvoranschlag verfasste. Bereits am 14. September genehmigte König Georg Ludwig durch einen allergnädigsten Spezialbefehl den Bau des Oderteichdammes und stellte die veranschlagten Mittel in Höhe von „3048 Thalern 27 gl“ bereit.
Im Frühjahr 1715 begann der Bau. Zunächst wurde ein Gründungsgraben ausgehoben, an dem die Dammdichtung angeschlossen wurde. In kleinen Steinbrüchen im künftigen Stauraum wurden die für das wasser- und luftseitige Mauerwerk erforderlichen Granitsteine und der Granitsand gewonnen. Dadurch konnte der künftige Beckeninhalt zugleich etwas vergrößert werden.
Die Arbeiten zogen sich bis 1722 hin. Da Hochwässer während der Bauzeit weder aufgestaut noch über den – relativ klein dimensionierten – Grundablass abgeleitet werden konnten, musste man ständig eine Hochwasserentlastungsanlage (Ausflut) vorhalten, die mit dem Staudamm mitwuchs.
Kurz nach Baubeginn wurde erstmals thematisiert, den Damm höher als ursprünglich geplant auszuführen. Letztendlich wurde im Jahr 1717 nach längerer Diskussion genehmigt, den Damm anstelle von sieben geplanten auf insgesamt neun Lachter (knapp 18 Meter) Höhe aufzuschütten. Dadurch vergrößerte sich das Dammschüttvolumen um 55 % und das Stauvolumen verdoppelte sich auf 1,67 Millionen Kubikmeter.
Durch die Erhöhung und andere Einflüsse erhöhten sich die Baukosten während der Ausführungszeit erheblich: Letztendlich kostete der Oderteichdamm rund 11.700 Reichstaler, fast das Vierfache der ursprünglich veranschlagten und genehmigten Summe. Das mehrfache Beantragen und Genehmigen der Nachträge wurde aber vom König nicht beanstandet. Die drei verantwortlichen Bergmeister und Grabensteiger wurden 1724 mit Geldprämien zwischen 12 und 100 Talern ausgezeichnet.
Der Sankt Andreasberger Bergbau kam im Jahre 1913 zum Erliegen. Fortan nutzte man die Anlagen des Oberharzer Wasserregals zur Stromerzeugung: Das Wasser des Oderteiches fließt weiterhin nach Sankt Andreasberg und wird dort in mehreren Kraftwerken, vor allem in der Grube Samson genutzt. Dies gewährleistet bis heute den wirtschaftlichen Betrieb von Oderteich und Rehberger Graben. Zu den Gefällepächtern gehören heute unter anderem die Unternehmen Harz Energie und Eckold.
Ende der 1920er Jahre planten die Harzwasserwerke eine deutliche Erhöhung des Oderteichdammes. Dabei wurden der Damm und die Geologie der Umgebung gründlich untersucht. Durch Schürfe wurde auch die Dichtung aus Granitgrus freigelegt und man stellte fest, dass diese aufgrund ihrer hohen Festigkeit kaum mit der Kreuzhacke zu bearbeiten war. Diese Planungen wurden später aus unbekannten Gründen nicht weiter verfolgt.
Konstruktion
Der Staudamm des Oderteiches unterscheidet sich erheblich von den sonstigen Staubauwerken des Oberharzer Wasserregals. Das Dammbauwerk ist deutlich höher und das Stauvolumen erreicht knapp das Dreifache der Kubatur der größten Teiche um Clausthal-Zellerfeld und Hahnenklee. Außerdem wurden andere Baustoffe eingesetzt.
Staubauwerk
Die Talsperre wurde von 1715 bis 1722 errichtet. Sie ist 17,3 Meter über der Gewässersohle und 22 m über der Gründungssohle hoch; vom luftseitigen Dammfuß aus gemessen beträgt die Höhe 19 Meter. Die Krone liegt auf Höhe. Das Bauwerk hat unterschiedlichen Angaben zufolge 36.500 bis 42.000 m³ Volumen. Es ist an der Krone 153 m lang und 16,1 m breit; der Fuß hat 34,6 m Basisbreite.
In der Dammmitte befindet sich mit bis zu 11,5 Meter Mächtigkeit die Dammdichtung aus festgestampften Granitgrus. Links und rechts davon wurde normales Dammschüttmaterial eingebracht. Die luft- und wasserseitigen Böschungen bestehen aus einem Zyklopenmauerwerk aus großen Granitsteinen und einer luft- und wasserseitigen Böschungsneigung von 1:0,625.
Die Talsperre erweist sich als ein sehr dauerhaftes Bauwerk und befindet sich wie die gesamte Stauanlage praktisch noch im Originalzustand. Grundsätzlich ist es nicht ganz klar, ob es sich beim Oderteichstaubauwerk um einen Staudamm oder um eine Staumauer handelt – wohl eine Kombination von beiden.
Grundablass (Striegel)
Die Absicht, für den Oderteich besonders beständiges Material zu verwenden, zeigt sich am besten an der Striegelanlage. An der taltiefsten Stelle wurde in den Damm ein Schacht mit einem Querschnitt von etwa 1,10 × 1,20 Metern eingebaut. Dieser Schacht ist mit großen behauenen Granitsteinen eingefasst und reicht bis zur natürlichen Talsohle. Von der Schachtsohle aus führt ein einlaufendes Gerinne von 0,75 Meter Breite und 0,90 Meter Höhe in den Stauraum. Dadurch kommuniziert der Stauraum des Teiches stets mit dem Wasserstand im Schacht. Von der Schachtsohle aus führen zwei Holzgerenne aus Eichenholz mit quadratischen Querschnitten von etwa 25 × 25 Zentimetern zum luftseitigen Dammfuß. Sie haben an der Schachtsohle einen Einlauf von oben, der ähnlich wie mit einem Badewannenstöpsel durch einen Striegelzapfen verschlossen wird. Über ein Gestänge kann dieser Zapfen vom Striegelhaus über dem Schacht aus gezogen oder abgesenkt werden. Das Eichengerenne ist so eingebaut, dass es auch bei geschlossenem Grundablass stets unter Wasser ist und damit kaum verrottet. Die gesamte Grundablasskonstruktion wird Striegel genannt.
2016 wurde festgestellt, dass beide Holzgerenne schadhaft sind. Sie wiesen größere Fehlstellen auf; das Wasser hatte sich durch das umgebende Dichtungsmaterial Hohlräume geschaffen, wodurch es in großen Mengen den Weg aus dem Striegelschacht am Verschlussorgan vorbei in die Gerenne fand. In beide Gerenne wurde daher jeweils ein Kunststoffrohr eingeschoben, der verbleibende Zwischenraum sowie die Hohlräume mit einem Tonmehl-Zementgemisch verpresst. Das originale Holzgerenne verblieb damit an seiner Stelle; auch der Striegel als Verschlussorgan erfüllt weiterhin seine ursprüngliche Funktion.
Die Große Ausflut
Jede Talsperre benötigt eine Hochwasserentlastungsanlage, damit auch außergewöhnlich große Hochwässer nicht zum Überströmen der Dammkrone führen. Beim Oderteich befindet sie sich am östlichen Dammende.
Im Stauraum vor der Ausflut fallen einige hinkelsteinähnliche, etwa 2,50 Meter hohe Stelen aus Granit auf. Sie dienen dazu, Eisschollen vom Überlauf fernzuhalten, da diese den Ablaufquerschnitt verklausen könnten. Die Schützanlage der alten Ausflut wurde 1895 von der Königlichen Centralschmiede Clausthal gefertigt. Sie ermöglicht es, das Stauziel noch einmal um einen Meter zu erhöhen.
Ursprünglich führte die Ausflut noch fast 100 Meter weiter geradeaus in Richtung Süden, ehe das Wasser zu Tal stürzen konnte. Diese Trasse ist für das geübte Auge im Gelände noch erkennbar. Als gegen Ende der Bauarbeiten 1722 noch Steine zur Fertigstellung der Staumauer fehlten, sprengte man etwa 60 Meter unterhalb der Schützanlage im rechten Winkel zu dieser Ausflut die steil abfallende und etwa 80 Meter lange Große Ausflut aus dem Fels, mit der man sich wohl eine günstigere hydraulische Leistungsfähigkeit erhoffte. Die in den Fels gehauene Schussstrecke ist insbesondere bei Betrieb sehr beeindruckend.
Die Ausflut war anfangs nicht ausreichend dimensioniert. Im Dezember 1760 wurde bei einem außergewöhnlichen Hochwasser der Staudamm überströmt. Durch die stabile Dammkonstruktion traten nur geringe Schäden ein. Man reagierte mit einer Dammerhöhung um einen Meter, die wahrscheinlich lediglich die bis dahin eingetretene Dammsetzung ausgeglichen hat.
1886/87 kam man zu dem Schluss, dass die Leistungsfähigkeit der Ausflut weiter erhöht werden musste. Hierzu wurde wenige Meter östlich der vorhandenen Ausflut eine weitere, am Einlauf zwölf Meter breite Ausflut gebaut, deren Überlaufschwelle etwa einen Meter über der Schwelle der alten Hauptausflut liegt. Sie unterquert parallel zur Hauptausflut die B 242 und wird kurz vor dem Überlaufpegel und der anschließenden Schussrinne mit dieser zusammengeführt. Dadurch konnte die Leistungsfähigkeit der Hochwasserentlastungsanlage um etwa 50 % erhöht werden.
Stauraum
Der Oderteich hat eine Fläche von 30 ha. Sein Stauraum (Speicherraum) ist 1,668 Millionen m³ und sein Gesamtstauraum 1,83 Mio. m³ groß. Das Stauziel liegt auf Höhe. Sein Einzugsgebiet ist 12,2 km² groß. Das Bemessungshochwasser liegt bei 31 m³/s
Der Ausbaugrad des Oderteiches ist sehr gering: Sein Stauraum kann nur 14 % des Jahresdurchflusses speichern. Dies erklärt die hohen Wasserspiegelschwankungen. Der Teich kann sich bei weitgehend leerem Stauraum innerhalb weniger Stunden bis zum Überlauf füllen und läuft in der Regel mehrmals im Jahr über.
Im Oderteich gibt es keine Fische. Vermutlich bietet ihnen das relativ saure Milieu des Wassers keinen Lebensraum. Das Wasser kommt zu einem großen Teil aus Hochmoorgebieten und hat einen hohen Huminsäureanteil. Dies setzt die Oberflächenspannung herab und verursacht die braune Färbung des Wassers sowie auffällige Schaumkronen im Zu- und Ablauf.
Stromerzeugung
Für die Stromerzeugung werden vom Oderteich stets 200 bis 300 Liter Wasser pro Sekunde in den Rehberger Graben abgegeben. Sobald der Zufluss geringer als die Abgabe ist, sinkt der Wasserstand im Teich. Bei anhaltender Trockenheit über mehrere Monate kann der Teich auch ganz leerfallen. Dies kommt etwa alle fünf bis zehn Jahre vor, zuletzt geschah es in den Jahren 1999, 2003 und 2018.
Größte Talsperre
Der Oderteich wird oft als älteste Talsperre Deutschlands bezeichnet. Dies ist aber nicht korrekt, da es bereits im Mittelalter im Erzgebirge und im Oberharz eine Vielzahl von Staubauwerken gab, die nach der Talsperrendefinition als Talsperren einzuordnen sind. Allerdings war er von seiner Fertigstellung bis zum Ende des 19. Jahrhunderts über einen Zeitraum von 170 Jahren die größte Talsperre Deutschlands. Bezüglich der Stauhöhe wurde er 1891 durch die Eschbachtalsperre im Bergischen Land übertroffen, die eine hohe Staumauer aufwies. In Hinblick auf das Stauvolumen wurde der Oderteich erst 1899 durch die Lingesetalsperre mit einem Stauvolumen von 2,6 Millionen Kubikmetern abgelöst.
Touristische Erschließung
Badebetrieb ist im südlichen Drittel des Oderteichs, also in Dammnähe, erlaubt. Der nördliche Bereich wird im Sommer durch eine Schwimmerkette abgegrenzt und soll ausschließlich der Natur überlassen werden. Es gibt einen etwa 4,5 Kilometer langen Rundwanderweg um den Teich, der streckenweise als Bohlensteg durch hochmoorähnliche Flächen führt. Der im Norden in den Oderteich mündende Bach Rotenbeek (Sonnenkappe) ist als Nr. 217 in das System der Stempelstellen der Harzer Wandernadel einbezogen; die Stempelstelle befindet sich an dessen Westufer – nahe der Bachmündung in das Staubecken.
Eissportliche Nutzungen im Winter sind nicht zu empfehlen, da der stark wechselnde Wasserstand die Bildung einer stabilen Eisdecke insbesondere im Uferbereich erheblich erschwert.
Von den Betreibern des Oderteiches, den Harzwasserwerken, wurde Mitte der 1990er Jahre ein Informations-„WasserWanderWeg“ angelegt. Dieser führt über die Dammkrone zu den beiden Ausfluten, weist auf die beiden zusätzlichen Sammelgräben hin und geht über den Überlaufpegel entlang der großen Ausflut und deren Schussrinne hinunter zum luftseitigen Dammfuß. Von dort aus hat man einen Blick auf das luftseitige Mauerwerk des Staudammes und kann den Auslass des Grundablasses sowie den Beginn des Rehberger Grabens betrachten. Informationstafeln entlang dieses Weges erläutern die verschiedenen Bauwerke.
Sonstiges
Die Dammansicht wird durch die auf der Krone verlaufende B 242 geprägt, was als wenig denkmalgerecht angesehen wird. Bemühungen seitens des Nationalparks und der Denkmalschutzbehörden, die Straße gefälliger zu gestalten, scheiterten regelmäßig an dem Sicherheitsverständnis der für die Straße zuständigen Behörden. Insbesondere ein Ersatz der Leitplanken durch andere Konstruktionen konnte aus diesen Gründen bisher nicht umgesetzt werden.
Bei abgesenktem Wasserstand werden gut einige Stellen der Materialentnahme für den Bau erkennbar. Das Ostufer ist im nördlichen, unbeeinflussten Bereich mit großen Granitsteinen übersät. Dagegen befinden sich in Dammnähe fast strandähnliche Zustände: In diesem Bereich wurden die Granitsteine alle entnommen, um sie im Mauerwerk oder als Dammschüttmaterial zu verwerten. Auch am Westufer sind ähnliche Verhältnisse erkennbar, bei sehr leerem Teich kann man noch Reste eines Steinbruches erahnen.
Bis in die 1960er Jahre stand am westlichen Dammende das zuletzt auch als Gaststätte genutzte Teichwärterhaus. Nachdem die ständige Anwesenheit des Teichwärters als nicht mehr erforderlich angesehen wurde, wurde es abgerissen. Die Grundmauern des Gebäudes kann man in der Ecke luftseitig der Bundesstraße noch schwach erkennen. Eine Ende der 1940er Jahre errichtete Skihütte des MTV Goslar wird auch als Selbstversorger-Gruppenquartier benutzt.
Bei vollkommener Entleerung des Oderteiches sind im Stauraum zirka 200 Meter oberhalb des Hauptdammes die Reste eines Notdammes zu erkennen. Dieser wurde 1898 angelegt, um während einer Striegelreparatur den Wasserzufluss in den Grundablass reduzieren zu können. Der Notdamm soll beim Abschluss der Reparatur gebrochen sein.
Etwa zehn Kilometer flussabwärts südlich des Oderteiches wurde im Jahre 1934 die Odertalsperre fertiggestellt, die gelegentlich mit dem Oderteich verwechselt wird. Abgesehen von der Namensähnlichkeit und der Tatsache, dass beide Talsperrenbauwerke denselben Fluss aufstauen, gibt es aber keine Parallelen.
Trivia
Im Winter 1928/29 landete der Flugpionier Walter Spengler auf dem zugefrorenen Oderteich.
Siehe auch
Talsperren im Harz
Liste von Talsperren in Deutschland
Liste von Seen in Niedersachsen
Bergwerk Rammelsberg, Altstadt von Goslar und Oberharzer Wasserwirtschaft
Literatur
Martin Schmidt: , abgerufen am 3. Mai 2016, auf archive.org, Stand Juli 2010, aus harzwasserwerke.de (PDF; 1,74 MB)
Weblinks
UNESCO-Welterbe im Harz → Die Welterbe-Route im Harz
Querschnitt durch den Damm des Oderteiches (Grafik), in Wasserwirtschaft, auf lehrbergwerk.de
Der Oderteich, auf harzlife.de
UNESCO-Welterbe Oberharzer Wasserwirtschaft – Das Oberharzer Wasserregal (Faltblatt mit Übersichtskarte aller aktiven Anlagen), auf harzwasserwerke.de (PDF; 525 kB)
Einzelnachweise und Anmerkungen
Stausee in Europa
Stausee in Niedersachsen
SOderteich
Staumauer in Niedersachsen
Teich im Harz
Teich des Oberharzer Wasserregals
Harz (Landkreis Goslar)
Erbaut in den 1720er Jahren
Steinschüttdamm
Gewässer im Landkreis Goslar |
198586 | https://de.wikipedia.org/wiki/Warschauer%20Aufstand | Warschauer Aufstand | Der Warschauer Aufstand war die militärische Erhebung der Polnischen Heimatarmee (Armia Krajowa, kurz AK) gegen die deutsche Besatzungsmacht im Zweiten Weltkrieg in Warschau vom 1. August bis zum 2. Oktober 1944. Von der polnischen Exilregierung in London im Rahmen der landesweiten Aktion Burza befohlen, war er neben dem Slowakischen Nationalaufstand eine der größten Erhebungen gegen das nationalsozialistische Herrschaftssystem. Die Widerständler kämpften 63 Tage gegen die Besatzungstruppen, bevor sie angesichts der aussichtslosen Situation kapitulierten. Die deutschen Truppen begingen Massenmorde unter der Zivilbevölkerung, und die Stadt wurde nach dem Aufstand fast vollständig zerstört. Über die Frage, weshalb die auf der anderen Seite der Weichsel stehende Rote Armee – bis auf die 1. Polnische Armee – nicht in die Kämpfe eingriff, wird unter Historikern kontrovers diskutiert.
Vorgeschichte
Lage in Polen
Nachdem die polnische Armee durch den deutschen Überfall im September 1939 zerschlagen worden war, besetzten deutsche und sowjetische Truppen gemäß dem Hitler-Stalin-Pakt das Land. Der westliche Teil fiel dabei an das Deutsche Reich, der östliche Teil an die Sowjetunion.
Der deutsche Umgang mit den Besiegten stand von Beginn an im Zeichen der nationalsozialistischen Rassenpolitik. Westpreußen, Ostoberschlesien, das Wartheland und der Regierungsbezirk Zichenau wurden annektiert und als neue Reichsgaue dem Deutschen Reich angegliedert bzw. an bereits bestehende Reichsgaue angeschlossen. Zu den annektierten Gebieten gehörten Teile Polens, die zuvor nie zu Deutschland gehört hatten und überwiegend polnisch bevölkert waren. Der restliche Teil Polens unter deutscher Besatzung unterstand als Generalgouvernement deutscher Verwaltung. Hauptziel war die wirtschaftliche Ausbeutung und die Unterdrückung der polnischen Bevölkerung. Zu Beginn trafen die deutschen Repressionen vorwiegend Intellektuelle und Polen jüdischer Abstammung. So wurden in der sogenannten Intelligenzaktion Massenerschießungen und Massenverhaftungen unter der gebildeten Elite des Landes organisiert. Die Juden wurden ghettoisiert und damit von der restlichen Bevölkerung abgetrennt. Das Erziehungs- und Pressewesen wurde auf ein Minimum zurückgestutzt, um die Unterdrückung der slawischen Bevölkerung zu zementieren. In einer Notiz des SS-Chefs Himmler heißt es dazu:
Ebenso wurden die Industrie enteignet und rund 900.000 Polen als Zwangsarbeiter ins Reich deportiert. Durch die Einführung von Sondergerichten der Besatzungsmacht wurden die Polen in ihrem eigenen Land zu vollkommen rechtlosen Subjekten degradiert. In seiner Reichstagsrede vom 6. Oktober 1939 hatte Hitler bereits angekündigt, dass größere Umsiedlungen erfolgen müssten, um in Osteuropa zersplitterte deutsche Volksgruppen ins Reich zurückzuführen. Auf Grund von Staatsverträgen wurden volksdeutsche Bevölkerungsgruppen in zwei Auswanderungswellen aus Wolhynien, Ostgalizien, der Bukowina und Bessarabien sowie hauptsächlich aus dem Baltikum aus- und im Wartheland neu angesiedelt. Zu diesem Zweck wurde im Warthegau auf Anordnung der Behörden durch rücksichtslose Überführung von 1,2 Millionen Polen und 300.000 Juden in das Generalgouvernement Platz geschaffen unter Formen, die später auf die deutschen Volksgruppen zurückwirken sollten.
Im Laufe des Krieges wurde das Generalgouvernement auch ein Hauptschauplatz des Holocausts. Insgesamt kamen 2,7 Millionen polnische Staatsbürger jüdischer Abstammung im industrialisierten Massenmord zu Tode. Der deutsche Generalgouverneur Hans Frank sagte bereits im Februar 1940 zu einem Journalisten:
Die UdSSR initiierte im besetzten Ostpolen von 1939 bis 1941 eine Sowjetisierungspolitik. Herausstechendste Merkmale dieses Vorhabens waren Bodenreform, Zwangskollektivierung, Auflösung gesellschaftlicher Vereine und die Verstaatlichung der Industrie. Diese Umgestaltung nach dem Vorbild des kommunistischen Staates ging mit Repressionen gegenüber der Bevölkerung einher. Erschießungen, Verhaftungen und Verurteilungen gingen über in massenhafte Deportationen in Straflager auf sowjetischem Boden. Diese Repressionen folgten einem sozialen Raster. Besonders im Blick der sowjetischen Organe standen Grundbesitzer, ehemalige Staatsbedienstete, Unternehmer, Politiker der nicht-kommunistischen Parteien, Priester und Intellektuelle. Die Schätzungen über die Zahl der Verschleppten reichen von 700.000 bis 1,8 Millionen Menschen.
Polnische Exilregierung
Nachdem ihr Land militärisch besiegt und geteilt worden war, gelang es etwa 85.000 polnischen Soldaten und Offizieren sowie einer großen Zahl polnischer Politiker, nach Frankreich zu fliehen. Andere Teile des polnischen Militärs flohen zusammen mit dem polnischen Präsidenten Ignacy Mościcki und dem Oberbefehlshaber der Streitkräfte nach Rumänien, wo beide Politiker interniert und die Soldaten entwaffnet wurden. Für den somit eingetretenen Fall, dass der Präsident sein Amt nicht mehr ausüben könne, sah die polnische Verfassung die Übergabe der Regierungsgewalt vor; aus diesem Grund ernannte Ignacy Mościcki den in Frankreich verweilenden Władysław Raczkiewicz zu seinem Nachfolger. Dieser bildete aus den Mitgliedern der größten politischen Parteien, die nach Frankreich geflohen waren, eine neue Regierung mit General Władysław Sikorski an der Spitze und General Kazimierz Sosnkowski als dessen Stellvertreter. Damit war am 30. September 1939 die polnische Exilregierung in Frankreich entstanden, die sofort von der Regierung Frankreichs und kurz darauf von den Regierungen Großbritanniens und der USA als einzige rechtmäßige polnische Regierung anerkannt wurde. Nach der Niederlage Frankreichs 1940 flüchteten diese Regierung und ein Teil des Militärs nach London.
Widerstand und Untergrundstaat
In Folge der Unterdrückung durch die Deutschen bildete sich rasch ein polnischer Untergrundstaat, der an die lange Tradition des polnischen Widerstandes gegen fremde Besatzer im Rahmen der Teilungen Polens anschloss. Ein geheimes Presse- und Sozialfürsorgewesen wurde ebenso organisiert wie „illegale“ Hochschulen. Die Geldmittel hierfür stammten aus der Bevölkerung selbst oder aus Mitteln, die aus London eingeschleust worden waren. Dieser zivile Arm des Widerstandes ging nahtlos in den Aufbau bewaffneter Verbände über. Die polnischen Militärs hatten bereits am 27. September 1939, also kurz vor der Kapitulation, und noch vor der Entstehung der Exilregierung, die Untergrundorganisation Służba Zwycięstwu Polsce (Dienst für den Sieg Polens, SZP) gegründet. Des Weiteren bildeten sich bereits Wochen nach der Niederlage der regulären Armee spontan weitere Widerstandsgruppen. Sie speisten sich vorwiegend aus dem Reservoir ehemaliger Offiziere und Beamter sowie aus den Jugendorganisationen der Parteien. Insbesondere Pfadfinderorganisationen (Szare Szeregi) stellten später einen großen, und oftmals besonders motivierten Teil der Rekruten für den Widerstand.
Der polnische Widerstand ordnete sich der Exilregierung unter, da er seinem Selbstverständnis nach von Beginn an eine Fortsetzung der Zweiten Republik war. Die Exilregierung bemühte sich, all diese Widerstandsgruppen zusammenzuschließen, sodass bis zum Jahreswechsel 1943/44 der ZWZ (poln.: Związek Walki Zbrojnej; dt.: Verband für den Bewaffneten Kampf) entstand, der den größten Teil des polnischen Widerstandes in sich vereinte. Der vereinigte Widerstand wurde im Weiteren als Armia Krajowa (dt.: Heimatarmee; Abkürzung: AK) bezeichnet. Sie umfasste 1944 insgesamt rund 300.000–350.000 Mitglieder. Diesem Bündnis blieben nur die Kräfte der extremen Rechten und der extremen Linken fern: Auf der einen Seite die rechtsnational-antikommunistische NSZ-Miliz, welche in einigen Fällen sogar mit den deutschen Besatzern zusammenarbeitete, aber nur rund 35.000 Anhänger besaß, auf der anderen Seite die kommunistische Armia Ludowa (dt.: Volksarmee; Abkürzung: AL), die sich nach dem Überfall auf die Sowjetunion als Gegenpol zur AK aufzubauen versuchte. Sie erreichte bis zu 100.000 Mitglieder.
London und die AK-Führung in Polen waren sich einig, dass die Hauptaufgaben des Widerstandes darin bestehen sollten, Spionagearbeit für die Alliierten zu leisten, die deutsche Rüstung und das Transportwesen durch Sabotageakte zu schädigen, und besonders brutale Aktionen des Besatzers zu vergelten. Man wollte zunächst keine offenen kriegerischen Aktionen durchführen. Zum einen wegen der zu Beginn noch geringen militärischen Stärke des ZWZ, zum anderen, um seitens der deutschen Besatzer keine Repressionen gegenüber der Zivilbevölkerung zu provozieren. Der Befehlshaber des ZWZ im Untergrund, Oberst Stefan Rowecki schrieb im November 1939: Der Widerstand kann erst dann offen auftreten, wenn Deutschland zusammenbricht, oder zumindest ein Bein einknickt. Dann sollten wir fähig sein, im zweiten Bein Adern und Sehnen durchzuschneiden, damit der deutsche Koloss umfällt.
Der Widerstand radikalisierte sich erst, als man erkannte, dass sein „gemäßigtes“ Auftreten keinen Einfluss auf die radikale Unterdrückung und Vernichtung der Polen und Juden durch die deutschen Besatzer hatte. 1943 wurde die Kedyw als Organisation für Sabotage und Diversionsakte gegründet. Unter ihrer Ägide wurden Brandanschläge, Diversionsakte, Gefangenenbefreiungen und sogar Anschläge auf SS-Führer geplant und durchgeführt. Der Widerstand stand über Kuriere in Verbindung mit der polnischen Exilregierung und wurde von ihr finanziell und – zu einem geringen Ausmaß – auch mit Waffen unterstützt. Ebenso betrieb der Widerstand groß angelegte Spionageoperationen im Dienste der Alliierten. So wurde im Juli 1944 eine zerlegte V2-Rakete, die von polnischen Widerstandskämpfern erbeutet worden war, von der RAF nach England ausgeflogen. Während des Aufstandes im Warschauer Ghetto im Sommer 1943 versuchten Kämpfer der Heimatarmee, Hilfe zu organisieren.
Diplomatie und Politik
Die polnische Regierung befand sich innerhalb der Allianz in einem schweren Spannungsfeld. Ihr einziges Kapital nach der Niederlage waren die polnischen Truppen, die an der Westfront kämpften. Schon vor dem Beginn des Krieges machte die britische Regierung den Polen klar, dass sich ihre Garantien als Bündnispartner nur gegen das Deutsche Reich erstreckten, nicht gegen die Sowjetunion. Mit diesem Schritt wollte Chamberlain sich Stalins Neutralität im Krieg sichern. Im Jahre 1941 erreichte der Einfluss Polens innerhalb der Allianz durch den deutschen Überfall auf die Sowjetunion und den Kriegseintritt der USA einen Tiefpunkt. Im polnisch-sowjetischen Vertrag vom 30. Juli 1941 erklärte die sowjetische Regierung den Hitler-Stalin-Pakt zwar für null und nichtig, eine Zusicherung der Rückgabe annektierter Gebiete gab sie allerdings nicht. Der britische Geheimdienst SOE schloss auf Drängen der Regierung mit der sowjetischen Geheimpolizei NKWD ein Abkommen, das die Zahl der Waffenlieferungen an den polnischen Widerstand beschnitt. Die AK erhielt somit zwischen 1941 und 1944 etwa 600 Tonnen Material, während der griechische Widerstand etwa 6000 Tonnen und der französische Widerstand etwa 10.500 Tonnen erhielt.
Einziger wirklicher Lichtblick war der Aufbau einer polnischen Armee in Russland, aus den vormals deportierten polnischen Staatsangehörigen (Anders-Armee). Bereits im Oktober folgte allerdings ein Skandal, als der britische Botschafter in Moskau eine Denkschrift vorlegte, die der Sowjetunion die Hoheitsrechte über das Baltikum und den annektierten Teil Polens zusicherte. Das angespannte polnisch-sowjetische Verhältnis wurde durch Probleme bei der Aufstellung der Anders-Armee noch mehr belastet. Die Soldaten klagten über mangelnde Nahrungsversorgung und Bewaffnung. Des Weiteren wurden Rekruten aus dem ehemals sowjetisch besetzten Ostpolen nicht zugelassen, sofern sie Weißrussen, Ukrainer oder jüdischer Abstammung waren. 1942 wurde die Armee dann über Persien in britische Hoheitsgebiete überführt.
Im Januar 1941 stellte die Sowjetunion mit dem Bund Polnischer Patrioten (poln. Związek Patriotów Polskich; Abkürzung: ZPP) eine kommunistische Gegenorganisation zur Exilregierung zusammen. Außerdem existierte seit 1942 die kommunistische Polnische Arbeiterpartei mit ihrer AL-Miliz im polnischen Untergrund. Den endgültigen Bruch zwischen Stalin und Sikorski bewirkte die Bekanntmachung des Massakers von Katyn durch deutsche Propagandastellen 1943. Im September 1939 waren 14.552 polnische Kriegsgefangene, v. a. Offiziere, Soldaten, Reservisten, Polizisten und Intellektuelle durch den sowjetischen NKWD verschleppt worden und galten seitdem als vermisst. Die polnische Regierung schenkte den deutschen Berichten Glauben und forderte das Rote Kreuz auf, Nachforschungen anzustellen. Es konnten von 4363 exhumierten Leichen 2730 als polnische Soldaten identifiziert werden, die allesamt durch Genickschuss getötet worden waren. Damit war das Schicksal eines Teils der Kriegsgefangenen geklärt. Nach diesem Vorfall brach der sowjetische Außenminister Molotow die diplomatischen Beziehungen zur Exilregierung im April 1943 ab, nachdem Sikorski eine weitere Zusammenarbeit aufgrund der Vorkommnisse für unmöglich hielt. Des Weiteren verstärkte die sowjetische Führung ihre Bemühungen, die ZPP als Gegenregierung aufzubauen und hob unter General Zygmunt Berling die 1. Polnische Armee unter sowjetischem Kommando aus.
Während dieser Krisenzeit kam der polnische Staatschef Sikorski unter ungeklärten Umständen bei einem Flugunfall bei Gibraltar ums Leben – und der Exilregierung damit eine Integrations- und Führungsfigur abhanden. Die britische Regierung bezeichnete das Massaker an den verbündeten Offizieren wider besseres Wissen als deutsches Verbrechen.
Aufstandsplanungen
Am 20. November 1943 formulierte die AK-Führung unter Bór-Komorowski einen ersten Plan, militärisch gegen die deutschen Besatzer vorzugehen. Der erste Entwurf der Aktion Burza (Gewittersturm) sah die Aktivierung größerer Partisanenverbände auf dem Lande vor, die nach dem Zurückdrängen der Deutschen eine unabhängige polnische Verwaltung bilden sollten. In Wolhynien sollte diese Methode als erstes umgesetzt werden. Allerdings schafften es die dortigen drei Divisionen der AK nicht, die Provinz von den Besatzern zu befreien. Sie wurden unter großen Verlusten nach Polesien und Lublin abgedrängt. Daraufhin überdachte die AK-Führung ihre Vorgehensweise. Entlang des Vorstoßes der Roten Armee durch Polen sollten von nun an die umliegenden AK-Einheiten versuchen, die großen Städte gegen die zurückweichenden Deutschen zu erobern und somit diese vor den anrückenden sowjetischen Truppen in Besitz nehmen. Die Methode, die Städte mit einem Angriff aus den ländlichen Gebieten allein zu erobern, erwies sich allerdings als Fehlschlag. Die lokalen AK-Truppen waren auf eine Zusammenarbeit mit der Sowjetarmee angewiesen, um die Städte einzunehmen. Bei der Befreiung von Wilna am 13. Juli kämpften 6.000 Soldaten der AK Seite an Seite mit den sowjetischen Truppen der 3. Weißrussischen Front. Sie wurden allerdings bereits einen Tag später unter Zwang von den sowjetischen Truppen entwaffnet, die Offiziere verhaftet.
Ein weiterer Prüfstein für die AK-Führung war die Zusammenarbeit mit der Sowjetarmee im Raum Lublin. Dort kämpften drei Divisionen der Heimatarmee in Zusammenarbeit mit der 2. Sowjetischen Panzerarmee gegen die Deutschen. Lublin lag westlich der Curzon-Linie und war im Gegensatz zu Wilna von der Sowjetunion 1939 nicht annektiert worden. Deshalb erhofften die AK-Kommandeure eine freundlichere Haltung der Roten Armee. Nach den zehntägigen Kämpfen und der Befreiung Lublins wurden allerdings wieder sämtliche AK-Truppen von den sowjetischen Truppen entwaffnet. Dasselbe wiederholte sich bei Lemberg und Ternopil.
Diese Erfahrungen gaben für die AK-Führung ein zwiespältiges Bild ab. Die Widerstandskämpfer konnten aus dem Land nur mit Hilfe der Roten Armee in die Städte eindringen. Ihre Hilfe wurde auch angenommen, sobald der Feind aber in einer Region besiegt war, wurden die AK-Truppen entwaffnet. Bemerkenswert hierbei war das Schweigen der Westmächte, die bei Stalin niemals Einspruch gegen die Entwaffnung der Soldaten ihres polnischen Verbündeten erhoben. Infolgedessen kam das AK-Kommando zum Entschluss, Warschau selbst zum Ort des Aufstandes zu machen. Hier operierten die Guerillas selbst aus der Stadt heraus. Des Weiteren sollte der Aufstand als medienwirksame Demonstration der polnischen Unabhängigkeit gegenüber der Sowjetunion dienen. Die sowjetische Seite erweckte trotz der Entwaffnungen den Eindruck, sie stünde einem Aufstand freundlich gegenüber. Radio Moskau sendete am 29. Juli einen Aufruf an die Bürger der Stadt, sich dem Kampf gegen die Deutschen anzuschließen.
Personell war die Heimatarmee (AK) mit rund 45.000 Kämpfern in und um Warschau gut ausgestattet. Unter dem Kommando der kommunistischen Armia Ludowa (AL) standen in Warschau rund 1.300 Soldaten, die sich dem Aufstand anschlossen. Es fehlte allerdings an Waffen, Ausrüstung und Munition. Nur jeder vierte Kämpfer der AK verfügte zu Aufstandsbeginn über eine Schusswaffe. Nach den Berechnungen des Chefs der Warschauer Kreises der AK Antoni Chruściel würden die Ressourcen nur für drei bis vier Tage offensives Gefecht oder zwei Wochen defensive Operationen genügen. In Ermangelung eigener Vorräte behalfen sich AK-Kämpfer während des Aufstandes oft mit erbeuteten deutschen Uniformen und Stahlhelmen. Die polnische Führung hoffte allerdings auf Luftunterstützung seitens der Westalliierten und den Einsatz der an der Westfront kämpfenden polnischen Fallschirmtruppen.
Der Aufstand
Erhebung der Heimatarmee
Im Juli 1944 fanden mehrere geheime Sitzungen der AK-Führung in Warschau statt, in denen über verschiedene Varianten des Aufstandes debattiert wurde. Der Chef der AK in Polen, General Bór-Komorowski, äußerte bereits in der dritten Juli-Woche – auch gegenüber der Exilregierung – die Überzeugung, dass ein bewaffneter Aufstand in kürzester Zeit stattfinden müsse. Man war jedoch vor allem aufgrund des Mangels an Munition und Waffen noch unentschlossen.
In den nächsten Tagen kam es zu einer Reihe von Ereignissen, die die AK-Führung und die Exilregierung immer mehr davon überzeugten, dass die Zeit für einen bewaffneten Aufstand gekommen sei. Zum einen wusste man vom Attentat am 20. Juli auf Hitler und den gescheiterten Umsturzversuchen, zum anderen verbreiteten sich Meldungen über den erfolgreichen Ausbruch der Alliierten aus den Brückenköpfen in der Normandie. Die teilweise Evakuierung deutscher Lagerräume und des administrativen Apparates der Deutschen aus Warschau ließ einen bevorstehenden Rückzug der Wehrmacht aus Warschau und einen kurz bevorstehenden allgemeinen Zusammenbruch Deutschlands vermuten.
Außerdem zeigte die Bildung des Lubliner Komitees – einer polnischen kommunistischen Marionettenregierung – durch die Sowjetunion, dass die Sowjetunion ungeachtet aller Proteste ihre eigenen politischen Ziele durchsetzen wollte; am 29. Juli verbreitete die kommunistische AL die Falschmeldung, dass die AK-Einheiten Warschau verlassen hätten. Am gleichen Tag sendete Radio Moskau einen Aufruf in polnischer Sprache, der die Bevölkerung zur bewaffneten Erhebung aufrief: „Für Warschau, das sich nie ergeben, sondern immer gekämpft hat, hat die Stunde des Kampfes geschlagen!“. Am 31. Juli 1944 fand daraufhin eine weitere Versammlung der AK-Führung in Warschau statt, die zunächst ergebnislos endete; als jedoch am gleichen Tag um 17:30 Uhr der AK-Nachrichtendienst meldete, sowjetische Panzer hätten bereits den Stadtteil Praga östlich der Weichsel erreicht, gab der Chef der AK in Polen, General Bór-Komorowski, im Einvernehmen mit der Delegation der Exilregierung aus London, den Befehl, den Aufstand in Warschau durchzuführen. Alle AK-Verbände sollten am 1. August um 17:00 Uhr zeitgleich gegen die deutschen Besatzer losschlagen.
Es kam allerdings bereits vor der festgesetzten Stunde zu vereinzelten Feuergefechten zwischen AK-Einheiten und deutschen Truppen, da manche der Zellen zufällig von den Deutschen entdeckt wurden. Damit war das Überraschungsmoment nur in wenigen Fällen gegeben. Des Weiteren erhielten manche Einheiten den Befehl zu spät oder konnten sich bis 17:00 Uhr nicht mehr vollständig sammeln. Die AK-Zellen im Stadtzentrum litten aufgrund der kürzeren Wege in ihren Distrikten weniger unter diesem Manko. Dafür waren sie aber im Gegensatz zu den Kräften im Umland und den Vororten der Stadt schlechter bewaffnet.
Trotz dieser Faktoren gelangen den Aufständischen einige Erfolge. So konnten sie im Laufe der ersten Kampftage das 68 Meter hohe Gebäude der Versicherungsgesellschaft Prudential als weithin sichtbare Landmarke erobern. Des Weiteren brachten sie das zentrale Postgebäude der Stadt sowie das Elektrizitätswerk unter ihre Kontrolle. Einige wichtige Gebäude wie die Telefonzentrale wurden von ihnen belagert. Ebenso griffen die Widerstandskämpfer die noch bestehenden Durchgangslager planmäßig an und befreiten so zahlreiche KZ-Insassen. Im Großen und Ganzen konnten sie rund die Hälfte Warschaus links der Weichsel unter ihre Kontrolle bringen. Der polnische Befehlshaber General Bór-Komorowski schilderte die Ereignisse wie folgt:
Viele strategisch wichtige Ziele blieben aber in der Hand der deutschen Besatzungstruppen. So gelang es den AK-Kämpfern nicht, die Weichselbrücken von deutschen Truppen freizukämpfen. Damit blieb die Ost-West-Verbindung durch die Stadt für deutsche Truppenbewegungen offen, auch wenn sie von den Soldaten der Heimatarmee ständig bedroht wurde. Ebenso konnten die Deutschen die Angriffe auf die beiden Flughäfen der Stadt, die Universitätsgebäude und das Polizeihauptquartier abschlagen.
Beide Seiten hatten damit ihre Ziele verfehlt. Die Deutschen konnten den Aufstand nicht niederschlagen und die AK hatte die Schlüsselpositionen der Stadt nicht in ihrer Gewalt. Warschau glich nach den ersten Kampftagen einem „Puzzle“ aus deutsch oder polnisch kontrollierten Sektoren, Gruppen beider Seiten waren oftmals isoliert und eingekesselt. Die polnischen Widerstandskämpfer hatten allein am ersten Tag rund 2.500 Soldaten verloren, die Deutschen hatten 500 Tote zu beklagen. Am 3. August versuchten Panzereinheiten der Division Hermann Göring, die Straßenverbindung Richtung Osten wieder für den Nachschub an die Ostfront durchgängig zu machen. Sie scheiterten aber am Feuer der Aufständischen. Ein zweiter Versuch durch ein Grenadier-Regiment der Wehrmacht schlug ebenso fehl. Bei diesen Einsätzen wurden planmäßig polnische Zivilisten von deutschen Truppen als so genannte menschliche Schutzschilde missbraucht. Doch auch polnische Einheiten sollen während der ersten Stunden der Kämpfe Kriegsverbrechen begangen haben. So sollen die Insassen des deutschen Hauptverbandsplatzes in Warschau von AK-Soldaten massakriert worden sein, ebenso gefangene aserbaidschanische Hilfstruppen.
Währenddessen war dem deutschen Oberkommando klar geworden, dass die 20.000 Mann starke Warschauer Garnison, von denen lediglich 5.000 als gut ausgebildete und ausgerüstete Kampftruppen angesprochen werden konnten, nicht in der Lage war, den Aufstand niederzuschlagen. Der Vorschlag des Chefs des deutschen Heeres-Generalstabs Guderian, Warschau in die Operationszone der Wehrmacht einzubeziehen und diese für die Niederschlagung des Aufstandes verantwortlich zu machen, wurde von Hitler zurückgewiesen. Ebenso zeigte sich das Oberkommando der 9. Armee aufgrund der Kämpfe an der Ostfront sehr widerwillig, sich auch noch den Kampf gegen die Aufständischen aufbürden zu lassen. Den Auftrag zur Niederschlagung erhielt der Reichsführer SS Heinrich Himmler, der SS-Gruppenführer Heinz Reinefarth damit beauftragte, da der Stadtkommandant Warschaus Rainer Stahel in seinem Hauptquartier von Aufständischen umzingelt war. Diesem standen zunächst eine Kampfgruppe aus verschiedenen intakten und teilweise abgeschnittenen Teilen der Garnison, ein Regiment der 29. Waffen-Grenadier-Division der SS „RONA“ unter Bronislaw Kaminski, die überwiegend aus Strafgefangenen und KZ-Häftlingen bestehende SS-Sturmbrigade Dirlewanger, der Sonderverband Bergmann, SS-Polizeieinheiten aus Posen (Poznań) und ein 600 Mann starkes Sicherungsregiment – das aus nicht fronttauglichen, älteren Männern aus dem Stab der 9. Armee bestand – zur Verfügung. Außerdem bekam er Unterstützung durch die Panzerdivision Hermann Göring und das Panzergrenadierregiment 4.
Massaker in Wola
Himmler hatte im Sinne Hitlers bereits Tage zuvor den Befehl gegeben, sämtliche nichtdeutschen Einwohner Warschaus ohne Ansehen von Alter, Geschlecht oder Beteiligung am Aufstand zu töten und die Stadt dem Erdboden gleichzumachen. Durch diese Anordnung wollte er den Widerstand des polnischen Volkes gegen die NS-Herrschaft ein für alle Mal brechen. Infolgedessen endete der Angriff der „Kampfgruppe Reinefarth“ gegen den westlichen Stadtteil Wola mit einem Massaker an der Zivilbevölkerung. Schätzungen zufolge töteten die deutschen Einheiten zwischen 20.000 und 50.000 polnische Zivilisten. Die Einheiten vermieden es sogar, den Kampf gegen die Heimatarmee aufzunehmen. Der Kommandeur der in Wola liegenden AK-Einheiten bezeichnete seine Verluste an Soldaten mit 20 Toten und 40 Verwundeten. Reinefarth beschwerte sich unterdessen bei seinen Vorgesetzten, dass die ihm zugeteilte Munition nicht ausreiche, um alle gefangenen Zivilisten zu erschießen. Die Wirkung des Massakers auf die Zivilbevölkerung ließ nicht auf sich warten. Wer konnte, versuchte sich in einen von Widerstandskämpfern kontrollierten Bereich der Stadt zu retten. Dadurch wurde der Kampfgeist der polnischen Soldaten gestärkt, aber es wurde damit auch der Grundstein für die Versorgungsprobleme und Überfüllung hinter den Stellungen des Widerstandes gelegt.
Am 6. August beschränkte der neu eingetroffene Oberbefehlshaber Erich von dem Bach-Zelewski den Massenmord aus taktischen Gründen. Frauen, Alte und Kinder wurden vom Erschießungsbefehl ausgeschlossen und die Durchführung des Massenmords wurde von den eigentlichen Kampfeinheiten auf speziell gebildete Einsatzgruppen hinter der Front verlagert. Damit sollte der Fortgang der Morde auch vor der Zivilbevölkerung verschleiert werden.
Internationale Situation
Während der ersten Aufstandstage hatte sich auch die Lage der Roten Armee verändert. Im Rahmen ihrer Westoffensive wurde sie von der Wehrmacht schon am 1. August kurz vor Warschau zurückgeschlagen. Bei dem deutschen Gegenangriff wurde das führende sowjetische Panzerkorps zeitweise abgeschnitten und die Rote Armee der Initiative beraubt. Der Oberbefehlshaber der 1. Weißrussischen Front Konstantin Rokossowski sah dies allerdings nur als einen kurzzeitigen Misserfolg. Er legte bereits wenige Tage später einen Operationsplan vor, bei dem er die Einnahme Warschaus zum 10. August anvisierte. Dieser Plan wurde allerdings von höheren Stellen abgelehnt und die Rote Armee vor Warschau angewiesen, in defensiver Position zu verweilen. Aufgrund mangelnder Quellenlage ist nicht klar, ob die Ablehnung aus der politischen oder militärischen Führung der Sowjetunion herrührte.
Seit dem 30. Juli befand sich der Nachfolger Sikorskis als Premier, Stanisław Mikołajczyk, in Moskau, um die diplomatischen Spannungen mit dem sowjetischen Verbündeten auszuräumen. Ab dem 3. August traf er mehrmals mit Josef Stalin zusammen. Dieser sagte allerdings keinerlei Unterstützung für den Aufstand zu. Er forderte die Anerkennung des kommunistischen Lubliner Komitees und äußerte sich in einigen Bemerkungen sehr abschätzig über die militärischen Fähigkeiten der Aufständischen.
Unter dem Druck der fast täglich eintreffenden Hilfsanforderungen und von Lageberichten General Bórs aus Warschau traf sich Mikołajczyk außerdem mit Vertretern der kommunistischen Gegenregierung und machte diesen bezüglich der Verfassung und territorialer Fragen weitgehende Zugeständnisse. Außerdem war er bereit, dem Lubliner Ausschuss vierzehn Sitze in einer kombinierten Regierung einzuräumen. Wenige Tage später, am 9. August, sicherte Stalin ihm jegliche Unterstützung für die Heimatarmee in Warschau zu. Daraufhin verließ der polnische Premier Moskau Richtung London in dem Glauben, einen maßgeblichen außenpolitischen Erfolg erzielt zu haben. Am 16. August erfolgte aber eine weitere Kehrtwende in der Politik der Sowjetunion. In einem Schreiben an Churchill lehnte Stalin jede Hilfeleistung an den polnischen Widerstand in Warschau ab. Zudem lehnte er ein Gesuch Roosevelts ab, US-Flugzeuge auf sowjetischen Flugplätzen zwischenlanden zu lassen, um Warschau zu unterstützen. Dies war bereits mehrmals im Rahmen der Operation Frantic vorexerziert worden. Hierbei waren US-Bomber und Jäger in der Ukraine zwischengelandet und hatten jeweils auf dem Hin- und Rückflug militärische Ziele in Ungarn, Rumänien und Polen bombardiert. Die Erfolgsaussichten dieser Missionen waren aufgrund der Jagdeskorte und der schieren Anzahl der US-Bomber weitaus erfolgversprechender als die bisherigen Flüge der Royal Air Force von Italien aus.
Am 4. August starteten die ersten Flüge der alliierten Luftwaffe in Richtung Warschau. Zwei Maschinen überflogen Warschau in der Nacht des 4. August, drei weitere erschienen dort vier Nächte später. Dabei warfen polnische, britische und Dominion-Besatzungen Waffen, Munition und Versorgungsgüter ab. Die Zahl der Flüge blieb jedoch gering und völlig unzureichend. Der einzige groß angelegte Hilfsflug mit über 100 Flugzeugen erfolgte erst am 18. September durch die Amerikaner, nachdem mehrere alliierte Anfragen bezüglich der Nutzung sowjetischer Flugplätze stets ablehnend beantwortet wurden. Dies war gleichzeitig die letzte Frantic-Mission, da Stalin anschließend seine Zustimmung verweigerte.
Kampf um die Altstadt
Am 13. August 1944 begannen die Deutschen mit 39.000 Soldaten die Offensive gegen die Aufständischen in der Altstadt. Von dem Bach-Zelewski hatte dieses Ziel gewählt, um die Eisenbahnbrücken und somit die Nachschubverbindung zur 9. Armee, die an der Ostfront kämpfte, wiederherzustellen. Ihnen gegenüber standen 6.000 Kämpfer des Widerstands, die sich in dem wenige Quadratkilometer großen Stadtviertel mit rund 100.000 Zivilisten befanden. Die deutschen Truppen gingen dabei im Schutz von Panzern und unterstützt durch Artillerie und Luftwaffe entlang der Straßen vor. Diese Vorgehensweise scheiterte an der Guerillataktik der Aufständischen. Insbesondere der Einsatz polnischer Scharfschützen wurde von deutschen Stellen als besonders wirksam beschrieben. Es dauerte mehrere Tage, bis die Deutschen grundlegende Taktiken der Aufständischen übernahmen und anstatt der Bewegung unter freiem Himmel Mauerdurchbrüche und Kellergänge sowie hauptsächlich die Kanalisation zur Fortbewegung nutzten. In diesem Häuserkampf konnten sie aber ihre zahlenmäßige Überlegenheit an Menschen und schweren Waffen kaum mehr zum Tragen bringen. Der Kampf um die Altstadt wurde somit zu einer Schlacht um jeden Raum und jedes Gebäude.
Bis zum 21. August hatten die deutschen Truppen die AK auf ein Gebiet von einem Quadratkilometer zurückgedrängt. Sie hatten bis zu diesem Datum rund 2.000 Soldaten durch Tod oder Verwundung verloren. Die deutschen Verluste beliefen sich bis zum 26. August auf rund 4.000 Mann. Am 31. August entschloss sich das AK-Kommando der Altstadt, die restlichen Kämpfer und Zivilisten zu evakuieren. Sie zogen sich unbemerkt von den Deutschen über die Kanalisation in das von der AK kontrollierte Stadtzentrum zurück. Da sich die deutschen Truppen auf die Altstadt konzentriert hatten, waren die restlichen Enklaven des Widerstandes noch relativ unberührt. Der Anblick der evakuierten Zivilpersonen aus der Altstadt erwies sich für die dortige Bevölkerung oftmals als Schock. Wasser war im umkämpften Viertel knapp gewesen, da die Deutschen die Wasserversorgung der ganzen Stadt unterbrochen hatten. Die Benutzung von Brunnen bedeutete unter Artilleriebeschuss und Bombardement Lebensgefahr. Die Bemühungen der Verwaltung der Aufständischen, die medizinische Versorgung aufrechtzuerhalten, scheiterten. Ab dem 20. August waren keine Anästhetika mehr verfügbar und Operationen wurden bei vollem Bewusstsein durchgeführt. Am 22. August wurden die letzten Brotrationen an AK-Kämpfer ausgegeben.
Rund 25.000 bis 30.000 Zivilisten fanden in der Altstadt den Tod. Deutsche Stellen sprachen von rund 35.000 internierten Zivilisten nach der Eroberung des Viertels. Diese Menschen erwartete die Deportation zur Zwangsarbeit in das Deutsche Reich. Nach der vollständigen Eroberung der Altstadt am 1. September 1944 begannen deutsche Truppen verwundete Zivilisten und AK-Soldaten zu erschießen. Nur in einem Fall verhinderten befreite deutsche Kriegsgefangene, die von ihren polnischen Gegnern im selben Lazarett wie Widerstandskämpfer und Zivilpersonen versorgt worden waren, den Massenmord. Des Weiteren sind Erschießungen gefangener AK-Soldaten durch deutsche Einheiten auch während der Kämpfe belegt.
Den Aufständischen der anderen Bezirke gelang es während des Kampfs um die Altstadt, einige lokale Erfolge zu erzielen. Sie eroberten einige Enklaven, in denen sich die Besatzungstruppen gehalten hatten, darunter das Gebäude der Telefongesellschaft PAST. Als höchstes Gebäude der Stadt bedeutete seine Erstürmung am 22. August 1944 einen großen moralischen Erfolg.
Auch versuchten die Aufständischen, durch Angriffe auf strategisch wichtige Gebäude Verbindung untereinander herzustellen. Dort wo die Deutschen aber nicht selbst abgeschnitten waren, schlugen diese fehl, so dass die AK immer noch einen Flickenteppich isolierter Gebiete hielt, die untereinander nicht zusammenwirkten und auch kaum kommunizierten. Ebenso scheiterte der Versuch, größere Reserven über die umliegenden Waldgebiete in die Stadt einzuschleusen.
Hoffnung und Agonie
Nach dem Fall der Altstadt verteidigte der Widerstand noch drei große Gebiete innerhalb der Stadt. Das Stadtzentrum war von deutschen Truppen in zwei Teile gespalten, doch umfasste es den stärksten Bezirk der AK. Hier befanden sich 23.000 Soldaten und die Verwaltung der Aufständischen war hier am weitesten fortgeschritten. Es gab Zeitungen, einen Postdienst, einen Radiosender sowie eine eigene Waffenproduktion, in der vor allem Handgranaten gefertigt wurden.
Im Süden des Zentrums lag Mokotów. Seit den ersten Aufstandstagen, an denen es zu Kämpfen und Erschießungen durch deutsche Truppen gekommen war (siehe „Befriedung Mokotóws“), war es hier relativ ruhig geblieben. Ein Versuch, die Verbindung zum Zentrum freizukämpfen, scheiterte allerdings Ende August, so dass Mokotów isoliert blieb. Im Norden des Zentrums hielten die Aufständischen mit dem Bezirk Żoliborz eine kleinere Insel des Widerstands. Auch hier war die Lage bis zum August vergleichsweise ruhig geblieben.
Das Zentrum wurde aus zwei Gründen zum nächsten Angriffsziel der deutschen Besatzer: In ihm verliefen die Straßenverbindungen Richtung Osten und es war aufgrund seiner Größe die Hauptstütze der AK. Von dem Bach-Zelewski begann den Angriff am 2. September 1944. Die Besatzer gingen dabei entlang des westlichen Weichselufers vor, um die Aufständischen von den eventuell anrückenden sowjetischen Truppen abzuschneiden. Wie in den Kämpfen um die Altstadt ergaben sich durch die zähe polnische Verteidigung hohe Verluste unter den deutschen Truppen, doch konnten die Stellungen gegen die materielle Übermacht nicht gehalten werden. Am 6. September besetzten deutsche Truppen das Elektrizitätswerk und zogen den Ring um die Aufständischen immer enger. Bór-Komorowski war von der Aussichtslosigkeit der Lage überzeugt und erbat am 8. September per Funk die Ermächtigung zur Kapitulation von der Exilregierung. Sie wurde ihm gewährt, doch änderte sich die Lage einen Tag später drastisch. Am 9. September griff zum ersten Mal die sowjetische Luftwaffe ein, bombardierte deutsche Stellungen und brach die deutsche Luftherrschaft binnen eines Tages. Tags darauf begann Rokossowskis Angriff auf den östlichen Stadtteil Praga. Daraufhin brach der polnische Oberbefehlshaber die Kapitulationsverhandlungen mit dem deutschen Befehlshaber ab. Am 14. September hatte die Rote Armee das östliche Weichselufer vollständig im Griff. Polen und Russen waren nun nur noch wenige hundert Meter voneinander getrennt.
Die Moral der AK wurde am 18. September nochmals gestärkt. Die Sowjetunion hatte nun doch einen Flug der US-Luftwaffe genehmigt. Insgesamt starteten 110 B-17 Flying Fortress, um Versorgungsgüter über der Stadt abzuwerfen. 104 schwere Bomber erreichten ihr Ziel und landeten dann auf dem sowjetischen Stützpunkt Poltawa. Aufgrund der unübersichtlichen Verhältnisse erreichten aber nur rund 20 % der Container den polnischen Widerstand. Die US-Luftwaffe beantragte die weitere Nutzung sowjetischer Flugplätze zur Durchführung der Hilfsflüge, erhielt aber bis zum Ende des Aufstandes keine Erlaubnis seitens der sowjetischen Führung. Dies blieb somit die einzige Unterstützung des amerikanischen Militärs für den Aufstand.
Bereits mehrere Tage zuvor, am 15. September, starteten drei polnische Divisionen Berlings nördlich und südlich der Stadt den Versuch, die Weichsel zu überqueren. Sie wurden dabei von sowjetischer Artillerie und der Roten Luftwaffe unterstützt. Die Kampftruppen der Roten Armee blieben aber immer noch passiv und Berling selbst beschwerte sich über den Mangel an zur Verfügung gestellter Pionierausrüstung für den Übergang. So konnten nur wenige Soldaten und ein geringer Teil an schweren Waffen übergesetzt werden. Nach einer deutschen Gegenoffensive brach Berling den Angriff am 23. September ab und befahl den Rückzug von den Brückenköpfen westlich der Weichsel.
Am gleichen Tag eroberten die deutschen Truppen Żoliborz. Nachdem die letzten dortigen AK-Einheiten kapituliert hatten, kam es zu einem Massaker an der Zivilbevölkerung. Vier Tage später kapitulierten die AK-Truppen in Mokotów. Bis zum Oktober hatten die Deutschen den Widerstand im Stadtzentrum nicht brechen können. Doch angesichts der aussichtslosen Lage des Militärs wie der Zivilbevölkerung entschied sich Bór-Komorowski zur Kapitulation. Am 1. Oktober wurde ein Waffenstillstand vereinbart, der am folgenden Tag in Kraft trat. Wenige Tage später erfolgte die Evakuierung der Soldaten und Zivilisten aus Warschau.
Einer der letzten Funksprüche der Armia Krajowa aus dem umkämpften Warschau Anfang Oktober 1944, der in London aufgefangen wurde, lautete:
Folgen
Kriegsfolgen
Im militärischen und politischen Sinne konnte die Aufstandsführung ihre Ziele nicht durchsetzen. Der Versuch, die Besatzer aus der eigenen Hauptstadt zu vertreiben, scheiterte. Durch die Aussichtslosigkeit der militärischen Lage stärkte der Aufstand die Position der Exilregierung gegenüber der Sowjetunion nicht, sondern schwächte sie, da man auf die Hilfe der Roten Armee hoffen musste. Auf polnischer Seite starben rund 15.000 Soldaten, 25.000 wurden verwundet. Schätzungen für die Zivilbevölkerung bewegen sich zwischen 150.000 und 225.000 toten Zivilisten. Dieses massenhafte Leiden der Zivilbevölkerung machte die Exilregierung und die Aufstandsführung zum Ziel von Kritik aus dem eigenen Lager, wie von ihren kommunistischen Konkurrenten.
Auch die deutsche Seite konnte ihre anfänglichen Ziele nicht durchsetzen, da eine schnelle Niederschlagung des Aufstandes fehlschlug und die Widerstandskämpfer 63 Tage lang gegen die Besatzungstruppen kämpften. Über die Verluste der deutschen Streitkräfte gibt es zwei widersprüchliche Aussagen. Von dem Bach-Zelewski als direkt Verantwortlicher für die Operation gegen den Aufstand sprach in seinem Bericht über den Aufstand von 10.000 Toten, 7.000 Vermissten und 9.000 Verwundeten. Die Akten des Stabes der 9. Armee verzeichneten 2.000 Tote und 7.000 Verwundete, allerdings erheben diese Zahlen keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Befürchtungen des Oberkommandos der 9. Armee, nämlich einer gleichzeitigen sowjetischen Offensive, bewahrheiteten sich aber nicht. Außerdem konnten nach dem Fall der Altstadt die Nachschublinien über Warschau an die Ostfront relativ schnell wiederhergestellt werden.
Die AK-Führung unter Bór-Komorowski hatte weitgehend versucht, den Anforderungen des Kriegsvölkerrechts (offenes Tragen der Waffe; Armbinden als äußerliches Erkennungszeichen) zu entsprechen, und erhob deshalb während der Kapitulationsverhandlungen für ihre Soldaten Anspruch auf den Kombattantenstatus gemäß der Haager Landkriegsordnung. Das Gleiche wurde für die kleineren Gruppierungen inklusive der kommunistischen AL vereinbart. Am 30. August hatten zudem die Westmächte die Aufständischen zu Angehörigen der alliierten Streitkräfte erklärt und mit Repressalien gedroht, sollten diese nicht als solche behandelt werden. Die Wehrmacht erkannte deshalb allen etwa 17.000 Gefangenen seit Beginn des Aufstandes (auch den Angehörigen der kommunistischen Armia Ludowa) den Kombattantenstatus zu. Außerdem sollten Transport und Bewachung von Kämpfern und Zivilisten nur durch reguläre Wehrmachteinheiten, nicht aber durch die SS durchgeführt werden. Ein Problem ergab sich durch die 2000 bis 3000 Frauen, die sich unter den Gefangenen befanden. Bisher war kämpfenden Frauen der Kombattantenstatus nicht zuerkannt worden, laut den Kapitulationsverhandlungen standen sie nun allerdings unter dem Schutz des Kriegsvölkerrechts. In den Verhandlungen war auf Wunsch der Widerständler ein Passus aufgenommen worden, der Frauen und Jugendlichen ermöglichte, sich freiwillig als Zivilisten zu bekennen. Die deutsche Kriegsgefangenenverwaltung begann deshalb bald damit, unter Berufung auf diese Bestimmung die Frauen zwangsweise in das Zivilistenverhältnis zu überführen. Erst durch die Proteste des CVJM und des IKRK erhielten die Frauen ab Dezember 1944 wieder den Kombattantenstatus.
Ebenso hatten die Widerständler dem deutschen Befehlshaber von dem Bach-Zelewski die Zusage abgerungen, Repressalien gegen die Zivilbevölkerung zu unterlassen. Gegenüber den AK-Kämpfern wurden diese Versprechen weitgehend eingehalten, gegenüber den Zivilisten jedoch nur teilweise. Die Warschauer Bevölkerung wurde über das Durchgangslager 121 Pruszków aus der Stadt deportiert. Von hier aus gelangten 100.000 Warschauer nach dem Ende der Kämpfe als Zwangsarbeiter in das Deutsche Reich. Weitere 60.000 wurden in die Konzentrationslager Auschwitz, Mauthausen und Ravensbrück verbracht. Nach dem Sieg über die polnischen Kräfte verfügte Heinrich Himmler die völlige Zerstörung der polnischen Hauptstadt. Bis zur Eroberung durch die Rote Armee beschäftigten sich deutsche Truppen mit Sprengungen und Brandstiftungen in der Stadt. Sie konzentrierten sich hierbei vor allem auf kulturell bedeutsame Einrichtungen, wie Schlösser, Bibliotheken und Denkmäler. Durch die Kämpfe des Aufstandes waren rund ein Viertel der Vorkriegsbausubstanz der Stadt zerstört worden. Den deutschen Zerstörungsmaßnahmen nach der Kapitulation fiel ein weiteres Drittel zum Opfer. Warschau war zum Zeitpunkt der Eroberung durch die Rote Armee größtenteils unbewohnbar.
Weitere Entwicklung in Polen
Am 31. Dezember 1944 erkannte die UdSSR das Lubliner Komitee einseitig als einzige rechtmäßige Regierung Polens an. Zuvor war der polnische Premier Mikołajczyk erfolgreich von den Westalliierten und der Sowjetunion zur Anerkennung der Westverschiebung Polens gedrängt worden. Die sowjetische Seite hatte dessen Zustimmung sowieso nicht abgewartet. Das NKWD hatte im Oktober 1944 mit der Zwangsumsiedlung von Polen aus den ehemaligen polnischen Ostgebieten 1944–1946 begonnen. Als einer der ersten westlichen Beobachter sah George Orwell den Weg Polens in einen von der Sowjetunion abhängigen Satellitenstaat.
Dieses Bestreben, die nicht von Moskau abhängigen Kräfte zu unterdrücken, richtete sich auch stark gegen die ehemaligen Widerstandskämpfer. Als die Rote Armee am 17. Januar 1945 auch den westlichen Teil der Stadt im Rahmen der Weichsel-Oder-Operation eroberte, erging der Befehl an die nachrückenden NKWD-Truppen, noch eventuell vorhandene AK-Elemente einzusperren. Das Lubliner Komitee hatte schon während des Aufstandes in seinen Schriften die AK als Verräter und als von Volksdeutschen unterwandert bezeichnet. Die Führung der Heimatarmee wurde der Kollaboration mit Deutschland bezichtigt.
Im Polen der Nachkriegszeit wurden diese Tendenzen auch schnell mit Hilfe der sowjetischen Sicherheitsdienste vorangetrieben. Im Juni 1945 wurde in Moskau ein Schauprozess gegen den letzten AK-Befehlshaber nach Bór-Komorowski Leopold Okulicki und mehrere Führer polnischer Parteien veranstaltet. Es wurden Freiheitsstrafen von vier Monaten bis zu zehn Jahren verhängt. Mehrere Verurteilte starben unter ungeklärten Umständen in den sowjetischen Straflagern. Nach diesem Beispiel richtete sich auch die Behandlung der einfachen Soldaten in Polen selbst. Einige von ihnen wurden in die Sowjetunion deportiert oder in ihrem Heimatland ins Gefängnis geworfen. In Polen selbst folgten Schauprozesse gegen AK-Soldaten bis in die 50er-Jahre. Sie galten als Verstoßene Soldaten. Des Weiteren waren ehemalige Widerstandskämpfer vom Studium und einer beruflichen Karriere in der kommunistischen Planwirtschaft ausgeschlossen. Ebenso wurde versucht, die Erinnerung an den Aufstand durch die Politik des Einparteienstaates zu vereinnahmen. In den ersten Nachkriegsjahren, als der Stalinismus in Polen durchgesetzt wurde, wurde der Aufstand von staatlichen Stellen komplett übergangen.
Im Zuge der Tauwetter-Periode nach dem Tod Stalins wurden diese Restriktionen gelockert. Am 1. August 1957 wurde das erste Mal im Nachkriegspolen von offizieller Seite des Aufstandes gedacht. Die Kriminalisierung der Aufstandsführung wurde aber in der Propaganda weiter aufrechterhalten. Allerdings versuchte die Regierung, durch die Würdigung der Leistung der Bevölkerung und der einfachen Soldaten den Aufstand für die Legitimation der eigenen Ideologie zu nutzen. In den 60er-Jahren wurden diese Tendenzen noch verstärkt, als man in begrenztem Ausmaß nationalistische Töne dem Andenken des Aufstandes beimischte. Die erste nicht staatlich kontrollierte Diskussion über den Aufstand fand erst im Samisdat in der Ära der Solidarność-Bewegung der 80er-Jahre statt.
Die Führung der Sowjetunion behielt den Warschauer Aufstand jedoch im Gedächtnis. Während in der DDR 1953, in Ungarn 1956, in der Tschechoslowakei 1968 sowjetische Panzer die Moskauer Parteilinie brutal durchsetzten, blieb Polen in den Krisenjahren 1956, 1970, 1976 und 1980 eine Militärintervention der Sowjetunion erspart. Somit war es möglich, dass sich in Polen eine der liberalsten Gesellschaften Osteuropas entwickeln konnte.
Verfolgung der Kriegsverbrecher
Die Verfolgung der deutschen Kriegsverbrecher von Warschau blieb gering. Bronislaw Kaminski wurde am 28. August 1944 von den Deutschen, angeblich wegen seines brutalen Vorgehens, erschossen. Oskar Dirlewanger starb unter ungeklärten Umständen in französischer Gefangenschaft. Erich von dem Bach-Zelewski, der den Kampf gegen die Aufständischen befehligt hatte, wurde in den 1960er-Jahren in der Bundesrepublik zu lebenslanger Haft verurteilt – allerdings für Morde, die er als SS-Führer vor Kriegsausbruch befohlen hatte. Der SS-Offizier Heinz Reinefarth wurde nach dem Krieg Abgeordneter im Landtag von Schleswig-Holstein und Bürgermeister von Westerland.
Kontroverse um die Rolle der Roten Armee
Die sowjetische Regierung gab an, vor dem Aufstand nicht informiert worden zu sein. Am 16. August stellte sie gegenüber den Westmächten fest, „dass die Aktion in Warschau ein unüberlegtes, furchtbares Abenteuer darstellt, das die Bevölkerung große Opfer kostet. Das hätte vermieden werden können, wenn das sowjetische Oberkommando vor Beginn der Warschauer Aktion informiert worden wäre und die Polen mit ihm Verbindung unterhalten hätte. Angesichts der entstandenen Lage ist das sowjetische Oberkommando zu der Schlussfolgerung gelangt, dass es sich von dem Warschauer Abenteuer distanzieren muss.“
In der ersten Hälfte des August 1944 stieß die 2. Panzerarmee der 1. Weißrussischen Front vor Praga in der Panzerschlacht vor Warschau auf den Widerstand des III. Panzerkorps, welches zusammen mit dem IV. SS-Panzerkorps operierte. Die sowjetischen Truppen verloren etwa 500 Panzer. Infolge des deutschen Gegenangriffs schmolz die Zahl der Panzer der Front bis Anfang August auf 236 zusammen. Auf ihrem linken Flügel bildete sie zusammen mit der 1. Ukrainischen Front mehrere Brückenköpfe über die Weichsel, die jedoch nicht erweitert werden konnten. Auf dem rechten Flügel erzielten die sowjetischen Verbände erst Ende August den Durchbruch zum Narew, der für die Flankensicherung unumgänglich war. Ende August gingen die Verbände der Roten Armee deshalb in die Verteidigung über, nachdem die 1. Weißrussische Front allein im August und Anfang September 166.808 Mann verloren hatte. Zur Hilfe der Aufständischen wurde nur die 1. Polnische Armee (Berling-Armee) angesetzt, nachdem die 47. Armee der 1. Weißrussischen Front am 14. September endlich Praga eingenommen hatte. Die polnischen Divisionen überquerten ab dem 16. September die Weichsel und bildeten einige Brückenköpfe, die jedoch unter starkem deutschen Druck schon am 23. September wieder aufgegeben werden mussten. Die 1. Polnische Armee hatte allein in diesen Tagen etwa 3700 Soldaten verloren. Gleichzeitig mit dem Vorstoß setzte auch die sowjetische Luftunterstützung durch die 9. Garde-Nachtbomberdivision und die 16. Luftarmee ein und sowjetische Flugzeuge überflogen nach über fünf Wochen wieder die Stadt. Nach sowjetischen Angaben flogen diese vom 14. September bis zum 1. Oktober 2.243 Einsätze und versorgten die Armia Krajowa dabei mit 156 Granatwerfern, 505 Panzerbüchsen, 2.667 Schusswaffen, 41.780 Granaten, drei Millionen Patronen, 113 Tonnen Lebensmitteln und 500 kg Medikamenten. Doch viele Fallschirme öffneten sich nicht, so dass viele Behälter auf dem Boden zerschellten.
Schon damals, aber auch besonders in der Folge des Aufstandes, entbrannte eine Kontroverse um das Verhalten der Sowjetunion bezüglich des Aufstands. Bereits am Tag nach dem Beginn der Kämpfe äußerte sich der Befehlshaber der polnischen Truppen im Westen General Władysław Anders in einem privaten Brief wie folgt: „Nicht nur werden die Sowjets sich weigern, unserem geliebten, heldenhaften Warschau zu helfen, sondern sie werden mit der größten Freude zuschauen, wie das Blut unserer Nation bis zum letzten Tropfen versickern wird.“ Für diese Sicht der Dinge und die mangelnde Hilfsbereitschaft der Sowjetunion sprechen folgende Punkte:
Moskau genehmigte auf Drängen Großbritanniens und der USA nur einen Hilfsflug der Alliierten, obwohl die US-Luftwaffe zu weiteren bereit war.
Erst ab dem 9. September, also mehr als einem Monat nach Beginn des Aufstandes, erfolgten sowjetische Luftangriffe auf deutsche Stellungen in Warschau.
Stalin entschied, den Schwerpunkt der Offensive auf die ukrainischen Fronten in Richtung Slowakei zu verschieben, was vielfach als mangelnder Hilfswille gegenüber der AK interpretiert wurde.
An Berlings Entsatzversuch nahmen keine sowjetischen Kampftruppen teil.
Das NKWD ergriff sowohl vor als auch nach dem Aufstand äußerst repressive Maßnahmen gegen AK-Einheiten.
Die Propaganda des von den Sowjets gesteuerten Lubliner Komitees kriminalisierte die AK bereits, als der Aufstand noch im Gange war.
Aufgrund des fehlenden Zugangs zu sowjetischen Archivakten ist es schwierig, einen eindeutigen Haltebefehl für Rokossowskis Truppen, wie er oft in populärwissenschaftlichen Arbeiten postuliert wird, nachzuweisen. Außer Frage steht, dass die Armia Krajowa als bewaffneter Arm der polnischen Exilregierung einen potenziellen Konkurrenten zur von Moskau präferierten Polnischen Arbeiterpartei (PPR) und dem gleichzeitig existierenden Lubliner Komitee darstellte. Die Niederlage der AK erleichterte es der sowjetischen Führung, die politischen Verhältnisse im Nachkriegspolen zu ordnen, ohne auf sie Rücksicht nehmen zu müssen. In der heutigen öffentlichen Meinung Polens hält sich deshalb die Ansicht, die Sowjetunion habe die polnischen Widerstandskämpfer absichtlich ausbluten lassen. Der US-amerikanische Historiker Gerhard Weinberg bezeichnete das Vorgehen der Wehrmacht und der Roten Armee während des Aufstands als „eine Art Neuauflage des Hitler-Stalin-Pakts von 1939 gegen Polen.“
Im Forschungsband Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, das vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr herausgegeben wird, bringt der Militärhistoriker Karl-Heinz Frieser hingegen Belege vor, die gegen ein Kalkül Stalins sprechen, die Warschauer Aufständischen von der Wehrmacht liquidieren zu lassen. So war die Rote Armee infolge ihres raschen Vormarschs und der damit verbundenen Nachschubprobleme sowie wegen des massiven deutschen Widerstands mehrere Wochen lang nicht zu Entlastungsangriffen in der Lage. Die aus polnischen Streitkräften bestehende Berling-Armee, die auf Seiten der Roten Armee kämpfte, versuchte, am Westufer der Weichsel einen Brückenkopf zu errichten, musste sich jedoch zurückziehen, nachdem innerhalb weniger Tage beinahe 5.000 Mann gefallen waren.
Auch die sowjetische Seite verwies auf die militärische Lage, die eine umfangreichere Unterstützung des Aufstandes nicht zugelassen habe. Hohe Militärs wie die Marschälle Rokossowski und Schukow äußerten sich in dieser Hinsicht. Zusätzlich verwies die offizielle sowjetische Historiographie später auf die angebliche Weigerung der Armia Krajowa, mit der Roten Armee zu kooperieren. So hätten sich die Polen geweigert, in den Weichselbrückenköpfen zusammen mit den sowjetischen Verbänden zu kämpfen.
Rezeption und Würdigung
Nach der Wende wurden die politischen Aspekte des Aufstandes in der polnischen Öffentlichkeit heiß debattiert. Generell wurde der Aufstand in der neuen Demokratie positiv bewertet. Laut einer Umfrage von 1994 sah eine Mehrheit der Polen den Aufstand als ein wichtiges historisches Ereignis. Im selben Jahr sorgte das Gedenken an den Aufstand für zwei außenpolitische Kontroversen. Die Absage der Teilnahme des russischen Präsidenten Boris Jelzin an den Gedenkfeiern sorgte für Unmut in Polen. Zudem sorgte der deutsche Bundespräsident Roman Herzog für Irritationen, als er in einer Rede vor den Feiern den Warschauer Aufstand mit dem Aufstand im Warschauer Ghetto verwechselte. Der deutsche Historiker Martin Zückert hält fest, dass der Warschauer Aufstand zusammen mit dem Slowakischen Nationalaufstand die „größte Erhebung gegen das nationalsozialistische Herrschaftssystem“ in Ostmitteleuropa war.
Denkmal des Warschauer Aufstandes
Am 1. August 1989 wurde auf dem Krasiński-Platz vor dem Gebäude des Obersten Gerichts das Denkmal des Warschauer Aufstandes (Pomnik Powstania Warszawskiego) enthüllt.
Museum des Warschauer Aufstandes
2004 wurde im Stadtbezirk Wola, im ehemaligen Elektrizitätswerk der Straßenbahn an der Przyokopowa-, Ecke Grzybowska-Straße, das Museum des Warschauer Aufstandes (Muzeum Powstania Warszawskiego) eröffnet. Das ursprüngliche, nach dem Krieg vollkommen wieder erbaute Gebäude stammte von 1908. Das nach Plänen von Wojciech Obtułowicz umgestaltete Haus wurde als Museum 2004 eröffnet; das Ausstellungskonzept stammt von Mirosław Nizio, Jarosław Kłaput und Dariusz Kunowski mit modernsten Multimedia-Techniken. Ein 35-Meter-Turm stellt darin das Symbol des kämpfenden Polens dar. Im Hof eine lange Mauer der Erinnerung mit den Namen von über 6.000 Kämpferinnen und Kämpfern, die von Angehörigen z. T. immer noch ergänzt werden. 2005 wurde auch eine Museumskapelle von Józef Kardinal Glemp auf den Namen von Józef Stanek geweiht.
Gedenktag des Warschauer Aufstands
Jährlich wird am Gedenktag des Warschauer Aufstands am 1. August landesweit des Befreiungsversuchs und seiner Opfer gedacht.
Filme
Paul Meyer: Konspirantinnen. Dokumentarfilm. Deutschland, 2006, 88 Min. (Viele historische Aufnahmen. Interviews mit Frauen, die als Soldatinnen am Aufstand teilgenommen hatten und in den Emsland-Lagern interniert worden waren. Am 12. April 1945 erreichten polnische Soldaten der Alliierten das Lager Oberlangen. Der Film zeigt auch, wie die Erfahrungen aus dem Widerstand das ganze weitere Leben dieser Frauen verändert und geprägt hatte. Paul Meyer, geboren 1945, wuchs im Emsland auf und war u. a. Dozent am Soziologischen Institut der Universität Freiburg; 1998 war er Grimme-Preisträger.)
Christophe Talczewski (Fernsehregie): Verraten und verloren. Die Helden des Aufstands von Warschau. Dokumentation historischer Aufnahmen, Polen, Frankreich; 2013, 52 Min.
Bekannt sind heute vier dramatisierte Verfilmungen:
Andrzej Wajda: Der Kanal (1956. Der Film wirkt dokumentarisch, hat aber gar nicht diesen Anspruch und beschreibt, ausgehend von autobiografischen Aufzeichnungen eines Überlebenden (Jerzy Stefan Stawiński), das Schicksal einer Widerstandsgruppe, die sich in die Kanalisation unter Warschau zurückziehen muss.)
Roman Polański: Der Pianist (2002. Nach dem Drama von Władysław Szpilman. Der mit drei Oscars ausgezeichnete Film behandelt auch den Aufstand im Warschauer Ghetto und den Warschauer Aufstand.)
Jan Komasa: Warschau ’44 (Originaltitel: Miasto 44 von 2014. Im Film werden die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs auf die polnische Bevölkerung aus Sicht der jüngsten Kriegsteilnehmer und Kriegsteilnehmerinnen im bewaffneten Untergrund porträtiert.)
Der zweite Film von Juri Ozerov Epos "Soldaten der Freiheit" von 1977 widmet sich hauptsächlich dem Aufstand in Warschau. Die Darstellung historischer Ereignisse erfolgt aus sowjetischer Sicht.
Musik
Die polnische Gruppe Lao Che wurde für ihr 2005 veröffentlichtes Album über den Aufstand, das auch Originaltonaufnahmen künstlerisch verarbeitete, mit dem Verdienstkreuz der Republik Polen in Silber ausgezeichnet.
Siehe auch
Emslandlager Oberlangen, Kriegsgefangenenlager für AK-Kämpferinnen
Kreuz des Warschauer Aufstands
Powązki-Friedhof, Bestattungsplatz vieler Opfer des Aufstandes
Literatur (Auswahl)
Włodzimierz Borodziej: Der Warschauer Aufstand 1944. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-596-16186-X (Fischer-Taschenbücher 16186 Die Zeit des Nationalsozialismus).
Bernhard Chiari (Hrsg.): Die polnische Heimatarmee. Geschichte und Mythos der Armia Krajowa seit dem Zweiten Weltkrieg. Oldenbourg, München 2003, ISBN 3-486-56715-2 (Beiträge zur Militärgeschichte 57).
Winston Churchill: Der Zweite Weltkrieg. Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-596-16113-4.
Jan M. Ciechanowski: The Warsaw Rising of 1944. Cambridge University Press, Cambridge u. a. 1974, ISBN 0-521-20203-5 (Soviet and East European Studies 15), (Zugleich: London, Univ., Diss., 1968: The political and ideological background of the Warsaw Rising, 1944.).
Norman Davies: Aufstand der Verlorenen. Der Kampf um Warschau 1944. Droemer/Knaur, München 2004, ISBN 3-426-27243-1 (Rezensionen in deutschsprachigen Zeitungen, zusammengefasst von perlentaucher.de, Lars Jockheck, Rezension in sehepunkte; PDF; 54 kB).
Wolfgang Etschmann: Der Warschauer Aufstand 1944. Strategische und operative Aspekte. In: Heeresgeschichtliches Museum Wien (Hrsg.): Von Söldnerheeren zu UN-Truppen. Heerwesen und Kriege in Österreich und Polen vom 17. bis zum 20. Jahrhundert. Wien 2011, ISBN 978-3-902551-22-1.
Zenon Kliszko: Der Warschauer Aufstand. Erinnerungen und Betrachtungen. Übers. von Diemut Lötzsch & Roland Lötzsch, Dietz Verlag, Berlin 1969.
Hanns von Krannhals: Der Warschauer Aufstand 1944. Bernard & Graefe, Frankfurt am Main 1962 (Reprint: ars una, Neuried 2000, ISBN 3-89391-931-7).
Bernd Martin, Stanisława Lewandowska (Hrsg.): Der Warschauer Aufstand 1944. Deutsch-Polnischer Verlag, Warschau 1999, ISBN 83-86653-09-4.
Janusz Piekałkiewicz: Kampf um Warschau. Stalins Verrat an der polnischen Heimatarmee 1944. 2. Auflage. Gedenkausgabe zum 60. Jahrestag des Warschauer Aufstandes von 1944. Herbig, München 2004, ISBN 3-7766-1699-7.
Weblinks
Museum des Warschauer Aufstandes (Muzeum Powstania Warszawskiego; engl.; auf dt. nur die Öffnungszeiten etc.)
Wirtualne Muzeum Powstania Warszawskiego, Virtuelles Museum des Warschauer Aufstandes
Warschauer Aufstand 1944 (englisch)
Miasto Ruin – digitale Rekonstruktion der Stadt nach dem Aufstand
Bryla.pl: Fotos von der Zerstörung der westlichen Stadtteile Warschaus durch die deutschen Besatzungstruppen im Herbst 1944
Ansprachen zum 50. Jahrestag 1994 des damaligen polnischen Staatspräsidenten Lech Wałęsa und des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog
Wahrheit, Erinnerung, Verantwortung – Der Warschauer Aufstand im Kontext der deutsch-polnischen Nachkriegsgeschichte – Themen der polnischen und deutschen Forschungssicht auf den Aufstand (Tagung 2007)
Warsaw Rising: The Forgotten Soldiers of World War II. Educator Guide (englisch)
Publikationen zum Warschauer Aufstand im Bibliotheks- und Bibliographieportal / Herder-Institut (Marburg)
Einzelnachweise
Militärische Operation des Deutsch-Sowjetischen Krieges
Aktion des Widerstands im Zweiten Weltkrieg
Aufstand in Polen
NS-Kriegsverbrechen
Konflikt 1944 |
199577 | https://de.wikipedia.org/wiki/Slime%20%28Band%29 | Slime (Band) | Slime ist eine deutsche Punk-Band aus Hamburg. 1979 gegründet, wurde sie zu einer der stilprägenden Bands der 1980er Jahre. Musikalisch und auch textlich wandelte sie sich von einer Band mit simplen, eingängigen Liedern im Stile des britischen Punkrocks der späten 1970er Jahre zu einer Gruppe mit ausgefeilteren Songstrukturen und komplexen, verschlüsselten Texten. Sie beeinflusste durch ihre antifaschistischen Texte die Geschichte der deutschen Punk-Bewegung. Einzelne Parolen, besonders aus ihrer frühen Phase, fanden Verbreitung in der autonomen Szene.
Zeitweilig war Slime umstritten. Der Gruppe wurde im Zuge des wachsenden Erfolges „Ausverkauf“ vorgeworfen. Auch ihre antiamerikanischen Texte sorgten für Kritik in der linken Szene. Mehrere Lieder, insbesondere das 1980 veröffentlichte Wir wollen keine Bullenschweine (auch bekannt als Bullenschweine), waren Gegenstand von Ermittlungsverfahren.
Nach der Auflösung 1984 kam es Anfang der 1990er Jahre unter dem Eindruck fremdenfeindlicher Ausschreitungen zu einer Wiedervereinigung, die jedoch nur für zwei Alben Bestand hatte. Erst zu dieser Zeit hatte die Band kommerziellen Erfolg. Nach einer Pause von fünfzehn Jahren vereinte sich die Gruppe im Jahre 2009 wieder, 30 Jahre nach dem Datum der Erstgründung, und veröffentlichte 2012 ein neues Album.
Bandgeschichte
Erste Phase: 1979–1984
Michael „Elf“ Mayer und Sven „Eddie“ Räther besuchten das Gymnasium Heidberg im Hamburger Stadtteil Langenhorn. Gemeinsam entdeckten sie ihre Liebe zur Punk-Musik über das erste Album der Ramones und beschlossen, eine Band zu gründen. Mayer übernahm die Gitarre und Räther den Bass, hinzu kam der Hafenarbeiter Peter „Ball“ Wodok am Schlagzeug. Erster Sänger wurde Thorsten „Scout“ Kolle, ein Klassenkamerad von Mayer und Räther. Zunächst gab man sich den Namen „Slime 79 and the Sewer Army“, abgeleitet vom bekannten gleichnamigen Spielzeug. Kurz darauf verkürzte man ihn in Anlehnung an andere kurze und prägnante Punk-Band-Namen aus Hamburg zu Slime. Den ersten Text, den die junge Band schrieb, war Polizei SA/SS, eine Reaktion auf Polizeiaktionen gegen Atomkraftgegner. 1979 folgte der erste Auftritt im Jugendzentrum Kiwittsmoor mit einem zweiten Gitarristen namens Oliver Laudahm. Die Band trat zusammen mit The Kreislaufkollaps auf. Deren Sänger Dirk Jora imponierte der Band, und so trennte man sich von Kolle, der mit der Sängerrolle noch nie zufrieden gewesen war. Kolle ist heute Drehbuchautor für Gute Zeiten, schlechte Zeiten und Rote Rosen, zu Räther pflegt er noch heute Kontakt.
In Eimsbüttel probte die Band in einem ehemaligen Bunker. Das erste Lied, das sie in dieser Besetzung schrieb, war Wir wollen keine Bullenschweine. Tom Meyer von Moderne Musik bot ihnen an, eine Single aufzunehmen. Im Herbst 1979 nahm Slime mit Bullenschweine, Iran, Hey Punk und Ich hasse insgesamt vier Stücke auf, sodass statt einer Single genügend Material für eine Extended Play vorlag. Diese erschien im Februar 1980 in einer Auflage von 2.000 Stück, die rasch ausverkauft war. Zusammen mit The Buttocks folgte am 24. Februar ein Konzert in der Turnhalle des Jugendgefängnisses Neuengamme, das auf dem Gelände des ehemaligen KZ Neuengamme errichtet worden war. Jora spielte darauf mehrfach während des Auftrittes an. Dort spielten sie auch unter anderem Polizei SA/SS und Wir wollen keine Bullenschweine sowie ein Cover von Drafi Deutschers Marmor, Stein und Eisen bricht. Das Publikum reagierte heftig auf die Musik der Band. Nach dem Auftritt durften in dem Gefängnis jahrelang keine Rock-Konzerte mehr stattfinden. Kurz nach dem Auftritt stieg Christian Mevs als zweiter Gitarrist ein.
Durch den Erfolg angespornt, liehen sich die Mitglieder von Slime bei Bekannten und Freunden Geld, um die erste LP in den Raubbau-Studios in Hamburg in Eigenregie aufzunehmen. Die erste Pressung von Slime I erreichte eine Auflage von 5.000 Stück und wurde insgesamt fünf Mal auf eigene Kosten nachgepresst. Ein Großteil der Stücke war in Englisch verfasst. Das erste Album erregte wegen des Lieds Wir wollen keine Bullenschweine das Interesse der Hamburger Staatsanwaltschaft und des Verfassungsschutzes. Erstere führte in Klaus Maecks Plattenladen Rip Off eine Razzia durch und beschlagnahmte einige Exemplare des Debütalbums. Zudem erhielt Maeck, der irrtümlich für den Produzenten der Platte gehalten wurde, eine Anzeige wegen Volksverhetzung; das Verfahren wurde später eingestellt.
Nachdem das Debütalbum in der Punk-Szene großen Erfolg gehabt hatte, wurde Karl-Ulrich Walterbach von Aggressive Rockproduktionen (AGR) auf die Band aufmerksam. Der erste Vertragsabschluss erfolgte per Handschlag. Walterbach ließ 50.000 LPs pressen. Parallel dazu veröffentlichte er 1980 auf dem Sampler Soundtracks zum Untergang die beiden Stücke Polizei SA/SS und Keine Führer. Ersteres musste auf späteren Veröffentlichungen zensiert werden. Der Sampler wurde 1982 wegen dieses Lieds und Helden von Middle Class Fantasies indiziert, da die Strafverfolgungsbehörden „eine Verunglimpfung des Staates und seiner Symbole“ sahen. 1989 erschien Slime I bei AGR noch einmal unzensiert auf CD, 2003 wurde es bei Weird System mit einer neu aufgenommenen, zensierten Version von Wir wollen keine Bullenschweine erneut veröffentlicht.
Nach der Veröffentlichung wurde Schlagzeuger Peter Wodok aus der Band ausgeschlossen. Er hatte schon damals schwere Alkoholprobleme und starb 1994 an den Folgen seines jahrelangen Alkoholkonsums. Für ihn kam Stephan Mahler, ein ehemaliger Bandkollege von Mevs. Mahler hatte zu Slime I den Text von Karlsquell beigesteuert sowie bei I Wish I Was mitgesungen. 1982 erschien die zweite LP Yankees raus. Mit dem Album entschloss man sich, bestärkt durch den Erfolg der deutschen Texte auf der EP und dem Debütalbum, bei weiteren Veröffentlichungen ausschließlich auf deutschsprachige Songs zu setzen. Mahler begann auch als Songschreiber aktiv zu werden und steuerte mit Demokratie und Pseudo zwei Texte bei. Das Album festigte Slimes Ruf als radikalste Punk-Band in der deutschen Szene, wenn auch die Texte auf dem zweiten Album wesentlich persönlicher gehalten waren. Zusammen mit Beton Combo, Aheads und Middle Class Fantasies tourte Slime durch Deutschland.
Mahler übernahm bei Slime schnell eine führende Rolle und schrieb einen Großteil des dritten Albums Alle gegen Alle, das am 15. April 1983 erschien. Zum ersten Mal verfügte es dank Harris Johns über eine professionelle Produktion. Musikalisch wandte sich die Band vom 77er-Punk-Rock ab und begann, Einflüsse des wesentlich dichteren und dunkleren Hardcore Punks, im Stile der Dead Kennedys und von Black Flag, zu integrieren. Das Werk ist textlich differenzierter, besteht aus weniger Parolen und ist düsterer als die vorherigen Alben. Dies lag vor allem an der desolaten Lage der Punk-Szene, die sich politisch stärker ausdifferenzierte, unter anderem in verschiedene neonazistische Auswüchse, aber auch in politisch dogmatische Linke. Beiden widmeten Slime auf diesem Album mehrere Lieder, unter anderem Linke Spießer und Nazis raus, eine Coverversion von Beton Combo. In diese Zeit fallen weitere Konzerte, teilweise mit Vorbildern der Band. Zum Beispiel 1982 in Hamburg-Harburg zusammen mit den Dead Kennedys und MDC, begleitet von einer Hundertschaft Bereitschaftspolizei unter der Bühne. Auftritte mit Bad Brains in Osnabrück und Ton Steine Scherben in Neumünster folgten. Doch kurz darauf verließ Mahler die Band wieder. Ausschlaggebend waren Kommerzvorwürfe und Anfeindungen aus der Linken, die Mahler nur schwer aushalten konnte. Er war überzeugt, dass Slime nicht mehr weiterkommen könne und schlug Mayer vor, eine andere Band zu gründen. Als er im Urlaub hörte, dass die Band ohne seine Zustimmung ein Livealbum geplant hatte, verließ er sie. Michael Mayer versuchte noch, Slime zusammenzuhalten. Er holte Stéphane Larsson von The Buttocks in die Band. Zusammen spielte man das Album Live (Pankehallen 21. Januar 1984) ein. Es folgten weitere Auftritte, doch letztlich konnte sich die neue Aufstellung der Band nicht etablieren. Sie löste sich schließlich offiziell auf.
Zwischenjahre 1984–1990: Andere Projekte
Trotz ihrer Auflösung spielte Slime in der Zeit bis zur Wiedervereinigung der Band 1992 mehrmals, so im „Störtebeker“ in der besetzten Hafenstraße oder auf dem „Störtebeker-Barkassen-Trip“ im Hamburger Hafen, bei dem es Freibier gab und die Barkasse beinah im Hafenbecken versenkt worden wäre. Auch für die besetzte Hafenstraße sowie für alternative Projekte wie die Volxküche engagierten sich die Mitglieder mit Benefiz-Auftritten.
Die Bandmitglieder gingen während dieser Zeit verschiedenen Projekten nach. Eddi Räther und Michael „Elf“ Mayer gründeten zusammen mit Stéphane Larsson von The Buttocks die kurzlebige Punk-Band Targets.
Stephan Mahler spielte Schlagzeug in der Gothic-Rock-Band „Mask For“ und in der Gruppe Torpedo Moskau. Beide waren auch in der Gruppe George & Martha aktiv. Mahler und Mevs lernten außerdem Jens Rachut kennen. Während Mahler schon bei Das Moor mit diesem zusammenarbeitete, gründeten Rachut, Mahler und Mevs gemeinsam die Band Angeschissen. Mevs und Mahler gründeten außerdem das „Soundgarden-Studio“ in Hamburg. Insbesondere Mevs leistete dort die Studioarbeit und produzierte zahlreiche Bands. Das Studio wurde bald erste Adresse für das Hamburger Independent-Label L’age d’or. So erledigte er Produktionen für Tocotronic, Blumfeld und Die Sterne und wurde so einer der wichtigsten Produzenten für die Hamburger Schule.
Michael Mayer widmete sich ab 1988 der Band Destination Zero, an der auch Peter Siegler von Razzia beteiligt war. Ab 1989 wurden beide Mitglieder der Punk-Legende Abwärts, die nach kurzer Auflösung von Frank Z. und FM Einheit fortgeführt wurde und bis 1995 bestand hatte. Mayer betrieb die Band Abwärts parallel nach der Wiedervereinigung von Slime.
Zweite Phase (1990–1994)
1990 erschien die Kompilation Die Letzten mit altem, bisher unveröffentlichten Material sowie diversen Samplerbeiträgen. Am 7. September 1991 traten Slime auf dem „Viva St. Pauli“-Festival auf. Es war der erste Auftritt nach der deutschen Wiedervereinigung. 15.000 Menschen verfolgten den Auftritt. Im Zuge der folgenden politischen Stimmung im Land, mit den Ausschreitungen in Hoyerswerda als Höhepunkt einer rassistischen Welle von Gewalt, beschlossen die Bandmitglieder, Slime wiederzuvereinigen. 1992 erschien das Album Viva la Muerte. Das Album wurde von Rodrigo González, dem späteren Bassisten von Die Ärzte, produziert. Die Produktion des Albums war etwas diffus: Es wurden mehrere Studios benutzt, die finale Abmischung geschah in einem auf Metal spezialisierten Studio. Auch musikalisch war das Album etwas anders als die vorherigen. Es handelte sich um ein Konglomerat aus verschiedenen Genres, unter anderem Seemannslieder, Fußballlieder und Folk-Songs sowie politische Lieder wie Mensch und eher persönliche Songs. Dadurch wurde das Album zum untypischsten im Katalog von Slime. In der Punk-Szene und auch in der Musikkritik kam es nicht besonders gut an. Schnell machten erneute Ausverkaufsvorwürfe die Runde.
Nach einigen Auftritten nahm Slime 1993 das Album Schweineherbst auf. Das Album ist textlich differenzierter und anspruchsvoller als frühere Veröffentlichungen und auch musikalisch ausgereifter. Es ist in seiner klaren politisch linken Machart eine Antwort auf die rassistischen Pogrome in Deutschland. Das Lied Der Tod ist ein Meister aus Deutschland wurde als Single ausgekoppelt und stellt eine musikalische Verarbeitung des Gedichtes Todesfuge von Paul Celan dar. Es ist eine direkte Antwort auf die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen und den Mordanschlag von Mölln. Das Stück zog Parallelen zum KZ-System im Dritten Reich, dem Ausgangspunkt des Originalgedichts. Marcus Wiebusch, zu jener Zeit bei But Alive, schrieb den Text Aufrecht gehen, der von Mayer vertont wurde. Der Großteil des Albums wurde von Mahler geschrieben. Eddie Räther blieb aus privaten Gründen dem Album fern, so dass Mayer dessen Bassparts einspielte. Schweineherbst wurde dem kurz zuvor verstorbenen Drummer Peter Wodok gewidmet. Es war das bis dato erfolgreichste Album der Band und verkaufte in den ersten Wochen 40.000 Einheiten. Damit erreichte das Album Platz 66 der deutschen Album-Charts.
Ende 1994 trennte sich die Band nach einer Abschiedstour erneut. Stephan Mahler und Christian Mevs waren mit dem Erfolg der Band überfordert. Aus ihrer Sicht waren Slime keine reguläre Rock-Band, die von der Musik leben sollte, und sie alle keine Rock-Stars. Mevs begründete dies später so:
Mayer dagegen bewertete den großen Erfolg der Band positiv und wollte unbedingt weitermachen. Auf der gemeinsamen Tour kam es daher häufig zu Streitereien, die letztlich zur erneuten Auflösung führten. Auf der Tour produzierte die Band noch ihr zweites Livealbum Live Punk Club, aufgenommen in der Großen Freiheit in Hamburg.
Zwischenjahre von 1995 bis 2009: Wiederveröffentlichungen und Rubberslime
Die einzelnen Mitglieder widmeten sich anderen Projekten. Mayer gründete seine Soloband Elf, benannt nach seinem Pseudonym, die zwei Alben veröffentlichte. Zusammen mit Jora sowie Musikern von Abstürzende Brieftauben und Heiter bis wolkig gründete er die Band C.I.A. (Church of Independent Assholes), die jedoch nach der Veröffentlichung eines Albums eingestellt wurde.
Mahler machte sich mit dem Stoffgroßhandel seines Vaters selbstständig und beendete seine Musikkarriere. Auch Mevs zog sich nach einem Hörsturz bis zur Reunion von der aktiven Musikerkarriere zurück. Er arbeitet heute als Komponist für Hörspielmusik für den Norddeutschen Rundfunk und Deutschlandradio Kultur.
Im Jahr 2000 erklärten die Richter des Bundesverfassungsgerichtes (BVerfG) Deutschland muss sterben zur „Kunst im Sinne des Grundrechts“. Ein Veranstalter einer Demonstration, der das Lied gespielt hatte, bekam zunächst eine Geldstrafe, legte dagegen jedoch so lange Einspruch ein, bis er die oberste Instanz erreichte.
2002 und 2003 erschienen bei Weird System Nachpressungen der ersten drei Alben, die zensierten Stücke wurden hierfür in Teilen neu eingesungen, um strafrechtlicher Verfolgung zu entgehen. 2004 erschien dort auch die Doppel-DVD Wenn der Himmel brennt, die bereits für 2003 angekündigt worden war, jedoch wegen Ermittlungen der Staatsanwaltschaft verschoben werden musste. Die DVD bietet in Camcorder-Qualität einen dokumentarischen Überblick über die gesamte Bandgeschichte und enthält ein 56 Seiten starkes Booklet mit einem Interview, das die komplette Bandgeschichte umfasst, sowie ein komplettes Werkverzeichnis.
2003 gründeten Jora, Mayer und die Band Rubbermaids nach dem gescheiterten Versuch einer erneuten Slime-Wiedervereinigung das Projekt Rubberslime, das bis 2005 in dieser Besetzung bestand. Dann stieg Jora aus. Jora, finanziell seit 1996 durch Steuerschulden ruiniert, hielt sich bis 2007 als Taxifahrer über Wasser und lebte anschließend von Arbeitslosengeld II. Mayer stieg in die Punk-Band Die Mimmi’s ein, bei der er auch heute noch aktiv ist.
2007 gelang es Mayer, sich und der Band die Rechte an den Mastertapes der ersten drei Alben zu sichern, nachdem Universal, die die Rechte an den AGR-Produktionen besaß, eine Zahlungsfrist verpasst hatte. Die Alben wurden umgehend digital remastered und, um Bonustracks angereichert, über das Label Slime Tonträger neu aufgelegt. Weird System brachte zudem neue LP-Versionen heraus.
2009–2020: „Sich fügen heißt lügen“
Ende Oktober 2008 planten Michael Mayer, Christian Mevs und Dirk Jora einen Neustart ohne Mahler. Alex Schwers, der vorher bei Hass, Knochenfabrik und Eisenpimmel spielte, aber seine Musikkarriere beim Schlagersänger Ibo gestartet hatte, übernahm das Schlagzeug. Eddie Räther sollte wieder den Bass übernehmen, bat jedoch wegen einer Sehnenscheidenentzündung um Aufschub. Im Sommer 2009 sagte er jedoch endgültig ab. Er ist heute als Unternehmer im Bau- und Müllentsorgungsgeschäft tätig. Mayer fragte seine Lebensgefährtin Nici, mit der er bereits bei Die Mimmi’s gespielt hatte.
Pfingstsamstag 2010 trat die Band als einer der beiden Headliner auf dem Punk-Festival Ruhrpott Rodeo bei Hünxe auf. Es handelte sich dabei um den ersten Auftritt seit 15 Jahren. Eine Woche später spielte die Band am Millerntor beim hundertjährigen Jubiläum des FC St. Pauli einen zweiten Auftritt. Die Band wurde von Rocko Schamoni angekündigt. Darauf folgte eine Deutschland-Tour.
In einer am 17. und 21. Januar 2011 ausgestrahlten Sendung trat Gitarrist Michael Mayer als Kandidat bei Günther Jauchs Wer wird Millionär? auf. Sein Ziel war es, mit der Gewinnsumme eine Konzertreise seiner Band in die USA so weit wie möglich zu finanzieren. Er gewann 16.000 Euro. 2011 beteiligte sich die Band am Soundtrack zum Film Gegengerade von Tarek Ehlail. Die beiden Lieder St. Pauli und Mittendrin sind die ersten neuen Lieder der Band seit der Reunion. Ein Auftritt der Band im Jolly Roger, der Fankneipe des FC St. Pauli, ist im Film zu sehen.
2011 wurde das 30 Jahre zuvor veröffentlichte Stück Wir wollen keine Bullenschweine indiziert – die Entscheidung betraf sowohl die gleichnamige EP als auch das erste Album. Das Landeskriminalamt Brandenburg hatte die Entscheidung beantragt. Hintergrund war ein Auftritt der Band am 15. Dezember 2010 im Berliner SO36. Im Anschluss kam es zu einer kleinen Straßenschlacht, bei der Polizisten mit Flaschen und Steinen beworfen wurden. Später im Jahr hatte die Band auf dem Wacken Open Air einen ihrer größten Auftritte. Der geriet freilich in die Kritik, weil im gleichen Jahr auch Frei.Wild, die von der Punk-Szene als Grauzonenband mit ihrer Meinung nach fragwürdigen konservativen Texten wahrgenommen wird, auf dem Festival spielten.
Am 15. Juni 2012 erschien das neue Album Sich fügen heißt lügen auf People Like You Records. Es war das erste Studioalbum der Band seit 18 Jahren. Die Band hatte aus der Not, ohne Mahler keinen veritablen Songwriter mehr zu haben, eine Tugend gemacht: Auf diesem Album wurden nur Texte des anarchistischen Dichters Erich Mühsam vertont. Im Sommer 2012 spielten Slime bei einigen Open-Air-Festivals, wie Area4 und das Nonstock-Festival nahe Darmstadt. Im Herbst und Winter folgte eine Club-Tour.
Am 4. März 2013 erschien die offizielle, von Daniel Ryser verfasste Bandbiografie Slime: Deutschland muss sterben. Die anschließende Lesereise wurde von Mevs, Mayer und Jora akustisch begleitet. 2013 folgte die Indizierung von Polizei SA/SS. Die Indizierung hatte auch Folgen für diverse Bands, die den Slime-Song gecovert haben, so unter anderem für Totenmond und Japanische Kampfhörspiele, deren Tonträger daraufhin ebenfalls indiziert wurden.
Am 29. September 2017 folgte das Studioalbum Hier und jetzt, das zum ersten Mal seit der Neugründung neue Lieder enthält. Als Songwriter beteiligten sich Max Richard Leßmann, Frank Nowatzki (ex-Beton Combo) sowie Andreas Hüging an dem Album. Bereits vorher waren die Singles Sie wollen wieder schießen (dürfen) und Unsere Lieder als 7’’ erschienen. Eine limitierte Box enthielt neben dem Album im Digipak, einem Aufnäher und einer Posterflag ein bis dato unveröffentlichtes Livealbum. Das Album erreichte Platz 20 der deutschen Albencharts.
Am 13. März 2020 erschien das Album Wem gehört die Angst, das von Christian Mevs selbst produziert wurde. Das Album wurde über Arising Empire veröffentlicht und erreichte als erste Slime-Veröffentlichung mit Platz 9 die Top 10 der deutschen Charts.
Am 30. Juli 2020 verkündete Sänger Dirk Jora über eine E-Mail an diverse Fanzines, dass er die Band mit sofortiger Wirkung verlassen habe. Jora verwies auf „unüberbrückbare interne Probleme“ und sprach unter anderem von Differenzen bei der praktischen Umsetzung von Texten des letzten Slime-Albums sowie bei der Frage, wie die Band mit Crew- und Band-Mitgliedern umgehen sollte. Mit seinem Ausstieg habe sich die Band ebenfalls aufgelöst, erklärte Jora. Am gleichen Tag gaben die verbliebenen Bandmitglieder über die Facebook-Fanpage der Band bekannt, Dirk Jora habe Slime „aufgrund seiner gesundheitlichen Situation verlassen“ und sagten die für 2020 geplanten Konzerte ab. Von einer Auflösung der Band war in diesem Statement explizit keine Rede. Stattdessen teilten die verbliebenen Bandmitglieder mit: „Wie, ob und wann es eventuell weitergeht muss erstmal offen bleiben“.
Seit 2021: Neuer Sänger Tex Brasket
Am 17. Dezember 2021 veröffentlichten Slime die Video-Single Komm schon klar mit dem ehemals wohnungslosen Berliner Straßensänger Tex Brasket, den die Band nach Dirk Joras Ausscheiden kennengelernt hatte. Der Text zum Song stammt aus der Feder des Sängers und handelt von seinem Leben auf der Straße. Außerdem wurde für den Sommer 2022 ein neues Album namens Zwei angekündigt, das über Slime Tonträger/Hulk Räckorz am 15. Juli 2022 erschien.
Stil
Slime verstand sich von Beginn an als politische Punk-Band. Dies war zur damaligen Zeit keine Selbstverständlichkeit, waren die Anfänge der Punk-Bewegung doch zunächst politisch diffus. Zwar lehnte man sich gegen Autoritäten auf, doch ein linkes und radikal libertäres Weltbild war in der Punk-Szene jener Zeit nicht verankert. Auch eher am No-Future-Ideal der britischen Punk-Szene orientierte Texte, wie sie bei anderen frühen Punk-Bands wie Razzia oder Chaos Z zu finden waren, fehlten bei Slime. Stattdessen war es zu Beginn die Lust an „Randale“ und der „Wille zur Veränderung“, der aus den Texten sprach. Bereits der Titel der EP Wir wollen keine Bullenschweine sowie das gleichnamige Titellied waren ein Affront gegen die bundesdeutsche Öffentlichkeit. Aus der Anti-Atomkraft-Bewegung kommend und durch die Ausschreitungen bei den Demonstrationen der AKW-Gegner entscheidend geprägt, versteifte sich die Wut über das repressive Agieren des Staates, der letztlich das stark umstrittene Wir wollen keine Bullenschweine, aber auch die weiteren Texte der ersten beiden Alben prägte. Weitere Themen in der ersten Phase waren die Abgrenzung von anderen Jugendkulturen (D.I.S.C.O.) und Spießern sowie Alkoholkonsum (so besang Slime die Aldi-Marke Karlsquell). Fußball war ebenfalls von Beginn an ein großes Thema, ironischerweise zunächst für den HSV, dann jedoch für den FC St. Pauli.
Musikalisch litten die ersten Aufnahmen unter dem fehlenden Geld, das erst mit der Vertragsunterzeichnung bei Aggressive Rockproduktionen zur Verfügung stand. So wurden die ersten Alben in Eigenregie produziert und verfügten daher über eine eher rohe Tonqualität. Zunächst noch von der britischen Punk-Bewegung um Bands wie The Clash, The Damned und den Sex Pistols beeinflusst, adaptierte man später auch den Sound des US-amerikanischen Hardcore-Punks, hier insbesondere Black Flag und Dead Kennedys. Die ersten Aufnahmen waren entsprechend den Vorbildern eher simpel gehalten, jedoch mit einem stärker rock-lastigen Sound, der vor allem auf die Verehrung von Ton Steine Scherben zurückgeht. Bis zum Ende der ersten Band-Phase steigerte sich der musikalische Anspruch – gerade das letzte Album Alle gegen Alle war zudem wesentlich aufwändiger produziert. Durch das Hinzukommen von Stephan Mahler als Haupttexter veränderten sich auch die Texte, die zunächst stark parolenhaft und provokant waren. Bei Alle gegen Alle wurden mehr persönliche Themen behandelt. Zudem waren die Texte reflexiver und behandelten das Verhältnis zur eigenen Szene.
Nach der Wiedervereinigung der Band 1990 wurden die Texte wesentlich anspruchsvoller. Sowohl Viva la Muerte, von Rodrigo González mit einer Metal-Produktion versehen, als auch Schweineherbst arbeiten mit einer metaphorischen Symbolik, die sich von den klaren Aussagen früherer Produktionen verabschiedete. Beide Alben sind geprägt von den fremdenfeindlichen Brandanschlägen nach der deutschen Wiedervereinigung. Musikalisch war Viva la Muerte stärker vom Metal geprägt, während Schweineherbst wieder deutlich mehr Punk-Elemente besaß. Diverse Riffs erinnerten sowohl an Slayer als auch an Social Distortion. Schweineherbst wird von der Kritik als Opus magnum in Slimes Schaffen gesehen, als „bestes Deutschpunk-Album aller Zeiten“, das über „[i]ntelligente Texte, kraftvolle[n] Midtempo-Hardcore und eine unglaubliche Sound-Dichte“ verfügt.
Bedeutung
Punk-Szene und Protestkultur
Slime war eine der einflussreichsten deutschen Punk-Bands der frühen Bewegung und prägte so die politische Grundhaltung eines großen Teiles der deutschen Szene. Sie gehörte zusammen mit Toxoplasma, Canal Terror, Daily Terror und Razzia der zweiten Welle an Punk-Bands an. Allen diesen Bands waren effektvolle und provokative Parolen gemein, die sie wesentlich von früheren Bands unterschieden. Aus dem Gros ähnlicher Bands hob sich die Band vor allem durch ihre extrem provozierenden Texte heraus. Die vor allem polizeifeindlichen Texte der ersten Aufnahmen beeinflussten die Protestkultur jener Zeit. Slime prägten verschiedene Parolen der damaligen und zum Teil auch noch heutigen links-autonomen Demonstrationskultur. So gehen Parolen wie „Polizei SA – SS“, „Demokratie – die klappt wohl nie“, „Ich glaube eher an die Unschuld einer Hure als an die Gerechtigkeit der deutschen Justiz“, „Mollis und Steine gegen Bullenschweine“ und „Legal – Illegal – Scheißegal“ auf Slime zurück. Bis heute ist nicht klar, ob sich die Parole A.C.A.B. („All Cops Are Bastards“, dt. „Alle Bullen sind Bastarde“) in Deutschland durch Slime verbreitete oder ob das gleichnamige Lied der britischen Band The 4-Skins hier anregend war. Die harten Texte der ersten Veröffentlichungen imponierten der Punk-Szene jener Zeit. Noch heute ist Slime „[d]ie Band, auf die sich jeder einigen kann, die musikalisch wie textlich von 1979 bis 1985 und von 1990 bis 1994 Generationen von politisch interessierten Punks prägte“.
Slime richtete sich in Songs wie Sand im Getriebe gegen den Staat und sang in Nazis raus (Original von Beton Combo) sowie Schweineherbst gegen Nazis. Hey Punk gilt als Punk-Hymne. Das Lied Deutschland mit seiner Zeile „Deutschland muss sterben, damit wir leben können“ ist eine Umkehrung der Losung „Deutschland muss leben, und wenn wir sterben müssen“ auf dem 1936 errichteten Hamburger Kriegerdenkmal am Dammtorbahnhof und sorgte für heftige Kontroversen. Nach einem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts 2000 ist es jedoch erlaubt, das Lied öffentlich abzuspielen oder zu zitieren. In seiner Urteilsbegründung bezog es sich auf die im künstlerischen Anspruch metaphorische Ähnlichkeit mit Heinrich Heines Gedicht Die schlesischen Weber.
Die hessischen Grünen plakatierten ein ironisches „Legal, Illegal, Scheißegal“ im Landtagswahlkampf, der in die Zeit der Flick-Affäre 1984 fiel.
Der Umgang der Punk- und der linken Szene mit Slime ist jedoch nicht frei von Konflikten. Wegen des Lieds Gerechtigkeit, in dem es heißt „Ich glaube eher an die Unschuld einer Hure als an die Gerechtigkeit der deutschen Justiz“ wurde die Band von autonomen Frauengruppen angegriffen. Kommerzvorwürfe machten sowohl vor Alle gegen Alle als auch bei den beiden Reunions die Runde. Ein weiterer Kritikpunkt ist der Antiamerikanismus der Band, unter anderem bei Yankees raus. Bereits bei der Erstveröffentlichung des Liedes wurde die Band stark kritisiert – ihr wurde unter anderem Rassismus unterstellt. Die Band reagierte bei Alle gegen Alle darauf und veröffentlichte eine Erklärung, in der sie die Vorwürfe zurückwies. Das Lied blieb umstritten und sorgte noch einmal für böse Reaktionen, als Rubberslime es 2003 neu auflegten. Attac wollte das Lied auf einem Unterstützungssampler veröffentlichen. Einigen Mitgliedern der Organisation gefielen die Vergleiche mit dem Nationalsozialismus jedoch nicht. Es kam zu einer längeren Diskussion, in die sich auch Mahler einschaltete, der die Rechte an seinem Lied verletzt sah. Letztlich entschied sich Attac, den Sampler als Peace Attack Vol. 2 über Impact Records herauszubringen und nicht namentlich auf dem Titel genannt zu werden. Insbesondere die antideutsche linke Szene ging ebenfalls auf Abstand. Im Szeneladen Conne Island in Leipzig hatte Rubberslime Auftrittsverbot, das sich auch nach der Reunion als Slime fortsetzte.
Interpretationen durch andere Bands und Musiker
Slime war eine der wichtigsten Bands der linken Szene in den frühen 1980ern, und so tauchen Referenzen auf sie auch Jahre später auf. Die Ärzte verwenden Material aus Bullenschweine in ihrem Nummer-1-Hit Männer sind Schweine (allerdings am Schluss des Stückes und kaum wahrnehmbar) und spielen auf einigen Live-Konzerten am Ende des Lieds Richtig schön evil den Refrain von Polizei SA/SS. Auch im Lied Kein Gerede von WIZO findet sich ein direkter Bezug auf eine Zeile des Liedes „Bullenschweine“ (Noch ein Aufruf zur Revolte, noch ein Aufruf zur Gewalt). Auch die Broilers haben auf ihrer 2008 erschienenen Ruby-Light-and-Dark-EP ein Lied von Slime gecovert, nämlich Zusammen.
Auch Bands aus der rechtsradikalen Szene wie Endstufe und Kampfzone coverten Slime-Songs (Gewinnen werden immer wir auf der 10″ 2003 von Kampfzone; Linke Spießer auf dem 2006er Album Feuer frei von Endstufe).
Alec Empire veröffentlichte mit seinem Projekt Atari Teenage Riot 1997 das Lied Deutschland (Has Gotta Die) als Hommage an Deutschland muss sterben. Später coverte er für den von ihm zusammengestellten Chaostage-Soundtrack das Stück Bullenschweine, das zusammen mit dem Original Grundlage der Indizierung des Soundtracks wurde.
Stücke von Slime werden außerdem in der deutschsprachigen Hip-Hop-Szene rezipiert. So verwendeten die Absoluten Beginner in den 1990ern Bullenschweine als Vorbild für ihren Beitrag K.E.I.N.E. Die Hamburger Hip-Hop-Formation Fischmob verwendete den Text für ihren Song Polizei Osterei, ein Stück im Stile der Dance-Aufnahmen der Schlümpfe. 2014 zitierte Casper das Stück auf seiner Single Im Ascheregen: Ein drittel Heizöl, zwei drittel Benzin. Zudem postete er auf seiner Facebook-Seite ein Video zu Deutschland muss sterben, was zu einer lebhaften Diskussion seiner Fans um politische Richtungen führte.
Im April 2009 erschien das Tribut-Album Alle gegen Alle – A Tribute to Slime, auf dem Bands aus der deutschen Punk- und Oi!-Szene Songs von Slime covern. Beiträge zu diesem Sampler lieferten unter anderem Die Toten Hosen (Viva la Muerte), Die Mimmi’s (Der Tod ist ein Meister aus Deutschland), Dritte Wahl (Yankees raus), Rasta Knast (Störtebecker), Stage Bottles (Robot Age), Broilers (Zusammen), Volxsturm (Gewinnen werden immer wir), Pöbel & Gesocks (Keine Führer), Ungunst (Goldene Türme) und die Jesus Skins (Wenn der Himmel brennt).
Ein weniger populärer Tribut-Sampler erschien 2004 auf dem Label Kink Records. Unter anderem sind Popperklopper, Hausvabot, Kumpelbasis sowie die brasilianische Band Agrotóxico auf der Tape-Compilation vertreten. Einige der veröffentlichten Songs fanden sich später ebenfalls auf dem Alle gegen Alle – A Tribute to Slime-Sampler wieder.
Auch in der Metal-Szene wurde die Band rezipiert. Stücke von Slime wurden unter anderem von Kreator, Totenmond und Japanische Kampfhörspiele gecovert.
Neben Cover-Versionen und Song-Zitaten ist die Band auch Gegenstand verschiedener Song-Texte. Jens Rachut, angesäuert über die Reunion von Slime 1990, widmete der Band das Blumen-am-Arsch-der-Hölle-Stück Schleim, in dem es heißt:
Dies war in erster Linie gegen Mahler gerichtet, der mit ihm bei der Vorgängerband Angeschissen zusammengearbeitet hatte. Allerdings versöhnten sich die beiden später wieder: 2006 arbeiteten sie bei Kommando Sonne-nmilch wieder zusammen. In Egotronics Kotzen, einer Antwort auf die Reaktionen zu ihrem kontroversen Stück Raven gegen Deutschland, ist ein Slime-Shirt der Aufhänger für folgende Beobachtung:
Die Hip-Hop-Formation Antilopen Gang bezieht sich in ihrem Song Outlaws mit dem Satz „Deutschrap muss sterben damit wir leben können“ auf den Song Deutschland.
Das Band-Logo von Slime mit seinem hohen Wiedererkennungswert findet sich in geringfügiger Abwandlung im Logo von Michael Mayers Band Elf sowie im Logo der Crossover-Band Emils wieder.
Besetzungen
Besetzung (2016)
Diskografie
Studioalben
1981: Slime I (Eigenproduktion, 1982 auf Aggressive Rockproduktionen lizenziert, indiziert im Mai 2011)
1982: Yankees raus (Aggressive Rockproduktionen)
1983: Alle gegen Alle (Aggressive Rockproduktionen)
1992: Viva la Muerte (Aggressive Rockproduktionen)
1994: Schweineherbst (Indigo)
2012: Sich fügen heißt lügen (People Like You Records)
2017: Hier und jetzt (People Like You Records)
2020: Wem gehört die Angst (Arising Empire)
2022: Zwei (Slime Tonträger & Hulk Räckorz)
Livealben und Kompilationen
1984: Live (Pankehallen 21. Januar 1984) (Aggressive Rockproduktionen)
1990: Compilation ’81–’87 (Bitzcore)
1990: Die Letzten (Aggressive Rockproduktionen)
1995: Live Punk Club (Slime Tonträger)
2012: Rebellen 1979–2012 (Beilage zum Visions Juni 2012)
2017: Live (Beilage zum Box-Set von Hier und jetzt)
Singles und EPs
1980: Wir wollen keine Bullenschweine (EP, Moderne Musik, indiziert)
1993: Der Tod ist ein Meister aus Deutschland / Schweineherbst (7″, Weserlabel/Indigo)
1993: 10 kleine Nazischweine (Split-7″ mit Heiter bis Wolkig, Weserlabel)
2015: Fick das Gesetz (7″, Aggressive Punk Produktionen)
2016: Sie wollen wieder schießen (dürfen) (7″, People Like You Records)
2017: Unsere Lieder (7″, People Like You Records)
2018: Patrioten/Hallo Hoffnung (Split-7″ mit ZSK, People Like You Records)
Tribute-Sampler
2009: Alle gegen Alle – A Tribute to Slime (mit Toten Hosen, Rasta Knast, Dritte Wahl etc., indiziert)
Videoalben
1994: Schweineherbst (VHS, Indigo)
2004: Wenn der Himmel brennt (2 DVD, Weird System)
Exklusive Samplerbeiträge
1981: Keine Führer und Polizei SA-SS auf Soundtracks zum Untergang (indiziert)
1990: Der Tod ist ein Meister aus Deutschland (Ostinato RMX) auf Zensur!?
1991: Career Opportunities auf Slam-Brigade Haifischbar – Punk in Hamburg 1984–90
1992: Hey Punker (zusammen mit Abwärts) auf Prollhead! fordert Tribute
1993: Krieg in den Städten auf …Ist es wirklich schon so spät? (Tributalbum für Abstürzende Brieftauben)
1994: We Must Bleed auf Strange Notes! A Germs Cover Compilation
2011: Mittendrin, St. Pauli und Ab jetzt gewinnen immer wir auf Gegengerade (Soundtrack)
2012: Heute hier, morgen dort auf Heute hier, morgen dort – Salut an Hannes Wader
2013: Trau dich auf Giraffenaffen 2
Siehe auch
Liste der Lieder von Slime
Literatur
Weblinks
Website der Band
Einzelnachweise
Deutschpunk-Band
Deutsche Band
Band (Hamburg) |
215299 | https://de.wikipedia.org/wiki/Eleonorenfalke | Eleonorenfalke | Der Eleonorenfalke (Falco eleonorae) ist ein mittelgroßer Vertreter der Falken (Falco) innerhalb der Unterfamilie der Eigentlichen Falken (Falconinae). Die in einer hellen und einer dunklen Morphe vorkommenden Vögel brüten in zum Teil mehrere hundert Brutpaare umfassenden Kolonien vor allem auf griechischen Inseln und Felseilanden sowie verstreut im weiteren Mittelmeerraum und an der marokkanischen Atlantikküste.
Eleonorenfalken haben ihre Fortpflanzung weitgehend mit dem spätsommerlichen Durchzug der paläarktischen Zugvögel synchronisiert, von deren kleineren Vertretern sie sich und ihre Nachkommenschaft während dieser Zeit ausschließlich ernähren. Außerhalb der Brutzeit sind die Hauptbeutetiere größere Insekten, die vor allem im Flug erbeutet werden. Eleonorenfalken sind obligate Fernzieher und überwintern vor allem auf Madagaskar. In Mitteleuropa sind Eleonorenfalken sehr seltene Ausnahmegäste. Eine 2008 abgeschlossene Bestandserfassung in der Ägäis ergab mit etwa 13.000 Brutpaaren eine etwa doppelt so hohe Zahl wie bisher angenommen. Der Weltbestand gilt als ungefährdet.
Merkmale
Der Eleonorenfalke ist ein langflügeliger, langschwänziger und schlanker Falke, der eine Körpergröße von 36 bis 42 und eine Spannweite von 85 bis 105 Zentimetern erreicht. Er liegt damit in der Größe zwischen Baumfalke und Wanderfalke. Eleonorenfalken kommen in zwei Farbmorphen vor, wobei etwa 70 Prozent der Vögel der hellen Morphe angehören. Genetisch werden drei Morphen unterschieden, doch sind die Vögel mit den Erbanlagen hell/dunkel (28 Prozent) und dunkel/dunkel (2 Prozent) phänotypisch nicht voneinander zu unterscheiden.
Bei der hellen Morphe ist die Oberseite dunkelgrau oder dunkel braungrau. Eine helle, ockerbraune Federrandung ist deutlich erkennbar. Der untere Wangenabschnitt, Kehle und Hals sind weißlich oder cremefarben. Ein markanter, schwarzer Bartstreif verläuft vom Schnabelansatz zur Halsseite. Die Unterseite sowie der Schulterbereich sind auf rötlich braunem Untergrund deutlich speerspitzenartig schwarz gezeichnet, die ebenfalls rötlich braune Unterschenkelbefiederung (Hosen) ist fein schwarz längsgestrichelt. Der lange Schwanz ist auf rötlich braunem Grund mehrfach fein schwarz gebändert, das Subterminalband ist bedeutend breiter als die übrigen. Das runde Ende ist wieder rötlich braun.
Vögel der dunklen Morphe wirken aus der Ferne einheitlich dunkelgrau-schwärzlich. Die Federn der Oberseite sind ebenfalls schwach hell gerandet und die Unterseite und die Hosen weisen einen etwas helleren, bräunlicheren Farbton auf als die Oberseite. Der Schwanz ist meist ebenfalls fast zeichnungslos schwarz, kann aber auch eine ähnliche Zeichnung und Farbgebung aufweisen wie bei Vögeln der hellen Morphe. Individuen der dunklen Morphe weisen weder laterale noch ventrale Kopf- oder Halszeichnungen auf.
Die unbefiederten, nackten Hautstellen um die Augen sind bei Männchen beider Morphen leuchtend orangegelb, bei Weibchen blaugrau; dieselbe Färbung weist die Wachshaut auf. Der Schnabel ist blaugrau, die Läufe und Zehen sind gelb; die Krallen sind schwarz. Auch hierin unterscheiden sich die beiden Morphen nicht.
Jungvögel beider Morphen ähneln stark adulten hellmorphigen Individuen. Ihre Oberseite ist jedoch insgesamt bräunlicher, die Federsäumung ist blasser. Die Oberseite des Schwanzes ist dunkelgrau – rötlichbraun gebändert und schließt mit einem breiten, annähernd schwarzen Subterminalband und rötlichbraunen Federspitzen, während die Unterseite nur undeutlich blass gebändert ist. Die Deckfedern der Unterflügel sind bei der hellen Morphe deutlich schwärzlich gefleckt und gebändert, bei der dunklen Morphe weitgehend ungezeichnet dunkel. Die Unterschwanzdecken sind bei hellmorphigen Individuen ungebändert gelbbraun, bei dunkelmorphigen auf dunklem Grund schwärzlich gebändert.
Die im Flug stark angewinkelten, langen und spitz zulaufenden Flügel wirken auf der Oberseite fast einheitlich grauschwarz; nur aus der Nähe betrachtet ist bei der hellen Morphe die leichte Farbabstufung zwischen den dunkleren Deckfedern und den helleren Schwingen zu erkennen. Bei Vögeln der dunklen Morphe sind diese Farbabstufungen kaum bemerkbar.
Der Geschlechtsdimorphismus in Bezug auf Größe und Gewicht ist deutlich, feldornithologisch jedoch nicht verwertbar. Männchen erreichen etwa 84 Prozent der Größe und des Gewichts der Weibchen; die schwersten Weibchen wogen 460 Gramm, die schwersten Männchen 390 Gramm. Deutlichste Unterscheidungsmerkmale sind die unterschiedlich gefärbten nackten Hautstellen um die Augen sowie die Farbunterschiede der Wachshaut. Insgesamt wirken Männchen im Fluge schmalflügeliger und auf der Oberseite etwas heller als Weibchen.
Mauser
Die Mauser des Eleonorenfalken ist noch nicht vollständig erforscht. Die Postnuptialmauser ist eine Vollmauser und beginnt während der späten Jungenaufzucht mit dem Wechsel des Kleingefieders; manchmal fällt in dieser Zeit auch schon die vierte Handschwinge. Die Mauser wird, wie bei allen fernziehenden Falken, während des Zuges unterbrochen und im Winterquartier fortgesetzt und ist erst kurz vor Antritt des Heimzuges im März beendet. Bei zwei auf Madagaskar Mitte März beziehungsweise im April gefangenen Eleonorenfalken war die äußerste (zehnte) Handschwinge noch nicht zur Gänze nachgewachsen.
Stimme
Außerhalb der Brutzeit sind Eleonorenfalken akustisch nicht sehr auffällig, in den Brutkolonien sind sie hingegen recht laut. Häufigster Ruf ist ein gereihtes, scharf und akzentuiert ausgestoßenes Kjä, wobei die Akzentuierung gegen Ende der Rufreihe zunimmt. Aggressions- und Warnruf ist ein kurzes, spitzes und fast gellendes Kikikiki, sehr ähnlich den Rufen des Baumfalken. Gelegentlich sind auch langgezogene, vibrierende, kläglich anmutende Kjäh-Rufe zu hören.
Ähnliche Arten
In seinem Brutgebiet ist der Eleonorenfalke bei durchschnittlichen Beobachtungsbedingungen eindeutig bestimmbar. Im Überwinterungsgebiet kann die dunkle Morphe des Eleonorenfalken jedoch leicht mit dem etwas kleineren und kurzschwänzigeren Schieferfalken (Falco concolor) verwechselt werden, der die Wintermonate ebenfalls hauptsächlich auf Madagaskar verbringt. Neben der geringeren Größe unterscheidet sich dieser jedoch durch ein helleres Grau in der Oberseite vom Eleonorenfalken. Trotz der wesentlich geringeren Größe des Baumfalken ähnelt dieser im Flug der hellen Morphe des Eleonorenfalken sehr, so dass Verwechslungen nicht auszuschließen sind. Eleonorenfalken zeigen im Vergleich zum Baumfalken neben der langflügeligeren, langschwänzigeren Flugsilhouette einen deutlichen Farbkontrast zwischen Unterflügeldecken und den helleren Schwingenbasen. Auch zum Rotfußfalken (Falco vespertinus) bestehen wesentliche Größenunterschiede zugunsten des Eleonorenfalken, außerdem sind die Füße und Zehen des Eleonorenfalken gelb, nicht rot oder rötlich wie beim Rotfußfalken.
Verbreitungsgebiet und Lebensraum
Die Brutkolonien des Eleonorenfalken liegen vor allem im Mittelmeerraum, insbesondere in der Ägäis, wo allein über 80 Prozent, nach neuesten Erkenntnissen wahrscheinlich fast 90 Prozent des Weltbestandes brüten. In wesentlich kleinerem Umfang kommen Eleonorenfalken im westlichen Mittelmeerraum sowie an der Atlantikküste vor.
Neben den Schwerpunktvorkommen in der Ägäis beherbergt Zypern einige Brutkolonien. Ob auf Inseln im Marmarameer, beziehungsweise kleinen, der türkischen Ägäis und Levante vorgelagerten Felseilanden und Inseln Eleonorenfalken brüten, ist unklar. Im Bereich Sardiniens liegen einige Brutkolonien im Nordosten, zum Beispiel im Nationalpark La-Maddalena-Archipel sowie auf Felsklippen im Süden. Im westlichen Mittelmeer brütet die Art auf Mallorca in der Nähe von Sant Elm sowie auf der vorgelagerten Felseninsel Sa Dragonera, auf den Islas Columbretes sowie einigen der afrikanischen Mittelmeerküste vorgelagerten Felseilanden, z. B. auf den tunesischen Galite-Inseln. Ebenso kommt die Art auf Linosa vor, und wahrscheinlich auf Pantelleria und Lampedusa. Kleine Kolonien bestehen auf den Liparischen Inseln sowie auf einigen Eilanden entlang der kroatischen Adria. Unklar sind die Bestandsverhältnisse auf Malta. An der Atlantikküste befinden sich die größten Kolonien auf der Insel vor Mogador, Brutvorkommen bestehen auch auf dem Chinijo-Archipel, einer dem nördlichen Lanzarote vorgelagerten Gruppe von kleinen Inseln und Felseilanden.
Die Art beansprucht weder während der Brutzeit noch danach Nahrungsreviere; nur der weitere Nistplatzbereich in einem Umkreis von bis zu maximal 50 Metern wird in der Brutsaison verteidigt. Die Brutplätze liegen an abgeschiedenen Stellen an der Küste, jedoch vor allem auf Inseln und Felsklippen. Während der Brutzeit jagen Eleonorenfalken fast ausschließlich über dem Meer und entfernen sich dabei nur wenige Kilometer vom Brutplatz. Außerhalb der Brutzeit, insbesondere vor der Besetzung der Brutplätze, führt die Art ein nomadisches Leben.
Etwa fünf Monate des Jahres verbringt die Art vornehmlich im Norden und Osten Madagaskars, bevorzugt in der Nähe von Rodungsflächen oder landwirtschaftlich genutzten Arealen. Die Bevorzugung dieses gebirgigen und feuchten, zum Teil noch mit Regenwald bedeckten Lebensraums wird mit dem gegenüber dem trockenen Westen besseren Angebot an Großinsekten in Zusammenhang gebracht.
Wanderungen
Eleonorenfalken sind obligate Fernzieher, deren Überwinterungsgebiete vor allem auf Madagaskar liegen, wo allein mindestens 70 % des Weltbestandes überwintert. Die weiteren Überwinterungsgebiete umfassen die Maskarenen und die Komoren. Ob auf dem durch die Straße von Mosambik von Madagaskar getrennten afrikanischen Festland Eleonorenfalken überwintern, ist unsicher. Gelegentliche Meldungen von Überwinterern in der Südägäis wurden bislang nicht bestätigt. Eleonorenfalken verlassen ab Mitte Oktober ihre Brutgebiete; Jungvögel und Brutvögel ziehen getrennt. Erstzieher sind beim Antritt des Wegzugs etwa 10 Wochen alt; sie legen eine Zugdistanz von über 10.000 Kilometer zurück. Eleonorenfalken sind von Thermik unabhängig und legen deshalb auch weitere Strecken über offenes Meer problemlos zurück.
Für die in der Ägäis und auf Zypern brütenden Eleonorenfalken wurde ein weitgehend südgerichteter Zugverlauf für den Herbstzug angenommen. Nach Überqueren des Mittelmeeres und der Sinai-Halbinsel folgen sie dem westlichen Küstenverlauf des Roten Meeres, überqueren das Horn von Afrika und fliegen dann weiter in südlicher Richtung entlang der Ostküste Afrikas, bis sie die über die Straße von Mosambik den Indischen Ozeans überqueren, um Madagaskar zu erreichen. Diese Meerenge wird an verschiedenen Stellen überflogen. Dieser hypothetische Zugverlauf beruht auf Beobachtungen größerer Zugschwärme von Eleonorenfalken in Somalia und Tansania in den 1950er und späten 1970er Jahren und ist seitdem weitgehend unwidersprochen. Neue Daten telemetrierter Falken aus dem Ägäis-Brutgebiet deuten jedoch eher auf einen breiteren Zugkorridor in Ostafrika hin. Für den Heimzug, der ab Mitte Februar langsam einsetzt, seinen Gipfel Mitte März erreicht und im April abebbt, wird dieselbe Zugroute vermutet.
Die Zugrouten einzelner Eleonorenfalken aus sardischen beziehungsweise balearischen Kolonien konnten in den letzten Jahren telemetrisch erfasst werden. Allerdings ist die Anzahl der besenderten Vögel noch zu klein, um ein abschließendes Urteil abgeben zu können. Die bisher weitgehend unbestrittene Ansicht, dass die in Kolonien des westlichen Mittelmeeres oder an der Atlantikküste brütenden Eleonorenfalken zuerst in Ostrichtung entlang der Südküste des Mittelmeeres ziehen und erst nach Erreichen der Zugstraße der Ägäisbrüter nach Süden einschwenken, wurde durch diese Daten nicht unterstützt. Alle Westbrüter zogen nach Überqueren des Mittelmeeres mehr oder weniger quer durch Afrika, adulte annähernd diagonal, juvenile auf einer zum Teil sehr viel weiter westlich verlaufenden Strecke. Altvögel absolvierten den Zug in etwa drei Wochen, Jungvögel, die längere Zwischenstopps in Westafrika einlegten, brauchten bis zu dreimal so lang. Der Heimzug der im westlichen Mittelmeer brütenden Eleonorenfalken konnte bisher erst anhand von zwei telemetrierten Vögel verfolgt werden. Auch diese Vögel kreuzten den afrikanischen Kontinent und legten recht lange Zwischenstopps ein.
Das Zugverhalten von Eleonorenfalken vor Eintritt der Brutreife ist weitgehend unbekannt. Bisherige Daten lassen darauf schließen, dass viele zwar das Überwinterungsgebiet in Richtung des Heimzuges verlassen, jedoch in unterschiedlichen Regionen südlich der Sahara übersommern.
In den Brutgebieten treffen die Falken frühestens Mitte April ein, streifen jedoch in den Monaten vor Brutbeginn weit, vor allem im Binnenland umher. Nicht selten werden Eleonorenfalken aus Bulgarien und Südfrankreich gemeldet, gelegentlich auch aus Mitteleuropa und vereinzelt, wie 1997 aus Großbritannien, Polen und Schweden.
Die Brutortstreue ist vor allem bei Männchen sehr groß. Weibchen wechseln häufiger die Brutkolonien oder dismigrieren gelegentlich auch in weiter entfernte Gebiete.
Nahrung und Nahrungserwerb
Während des Spätsommers und Frühherbstes ernähren Eleonorenfalken sich und ihre Brut fast ausschließlich von Vögeln, insbesondere von durchziehenden Singvögeln. Eine umfangreiche Analyse von über 6000 Rupfungen aus einer südägäischen Kolonie stellte den Fitis als häufigstes Beutetier fest, gefolgt von Neuntöter, Grauschnäpper und Braunkehlchen. In den westlichen Kolonien im Mittelmeer können verschiedene Seglerarten, an der Atlantikküste Rotkopfwürger häufige Beutetiere sein. Insgesamt wurden über 100 verschiedene Vogelarten als Beute des Eleonorenfalken festgestellt; zu den größten zählte der Wiedehopf. Ob noch größere und schwerere Vögel wie etwa Tauben oder Hühnervögel regelmäßig von Eleonorenfalken geschlagen werden, bedarf noch einer genaueren Überprüfung.
Außerhalb der Vogelzugzeiten bilden große Fluginsekten die Hauptnahrung des Eleonorenfalken. In der Insektennahrung überwiegen Schmetterlinge, Käfer, Zikaden, Springschrecken, Libellen und schwärmende Ameisen. Gelegentlich werden Fledermäuse, Eidechsen, Skorpione und Tausendfüßer erbeutet. Vögel spielen außerhalb der Brutzeit nur eine untergeordnete Rolle.
Eleonorenfalken sind fast ausschließlich Flugjäger. Nur ein sehr geringer Anteil der Beutetiere wird am Boden gegriffen. Insekten werden in der Luft gefangen und verspeist, Vögel zu einem Ruheplatz getragen und dort gerupft. Eleonorenfalken sind flexible Jäger, die ihre Fangstrategien dem herrschenden Angebot anpassen. Sie können bis in die späte Dämmerung jagen, in hellen Mondnächten auch noch in der Nacht. In der Vogelzugzeit werden schon in der Morgendämmerung Nachtzieher abgefangen, bevor sie zur Tagesrast niedergehen. Oft jagen Eleonorenfalken in kleinen Gruppen. Dabei stehen sie in recht großer Höhe von 1000 Metern und mehr über dem Meer und stoßen beim Anblick durchziehender Vogelschwärme auf diese herab. Sie patrouillieren auch im wassernahen Suchflug über dem Meer, wenn die Wetterbedingungen die Zugvögel zu niedrigerem Fliegen zwingen. Bei großem Nahrungsangebot werden nicht alle geschlagenen Beutetiere verwertet.
Verhalten
Eleonorenfalken sind tagaktiv; ihre Aktivitätsgipfel liegen am frühen Vormittag und am späteren Nachmittag. Bei starker Frequenz von Zugvögeln in den Dämmerungsstunden passen sie ihre Aktivitätsspanne diesen Gegebenheiten an. Während der Brutzeit leben sie in zum Teil recht individuenstarken Kolonien; auch auf dem Zug sind sie oft mit Artgenossen oder mit anderen Falken, insbesondere Baum- und Schieferfalken vergesellschaftet. Nur vorbrutzeitlich werden häufiger allein umherstreifende Eleonorenfalken beobachtet. Sie beanspruchen weder brutzeitlich noch außerbrutzeitlich Jagdreviere, allein die unmittelbare Umgebung des Brutplatzes und dieser selbst wird mit Drohritualen verteidigt.
Eleonorenfalken baden, wenn sie Gelegenheit dazu haben häufig und ausgiebig, wobei sie das Gefieder völlig durchnässen und es anschließend in langen Sonnenbädern trocknen lassen.
Brutbiologie
Weibliche Eleonorenfalken werden im zweiten Lebensjahr geschlechtsreif, die Männchen ein Jahr später. Auch die Mehrzahl der Weibchen schreitet jedoch erst im dritten Lebensjahr zur ersten Brut. Die Paarbindung währt eine Brutsaison, Wiederverpaarungen letztjähriger Brutpartner dürften auf Grund der großen Brutortstreue der Art jedoch häufig sein. Eine überproportionale Häufigkeit gleichmorphiger Brutpartner wurde nicht festgestellt.
Der Eleonorenfalke ist Koloniebrüter, Einzelbruten scheinen nur in Ausnahmefällen vorzukommen. Während einer großangelegten Bestandserhebung der auf griechischem Staatsgebiet brütenden Eleonorenfalken wurden an einem Brutplatz auf Euböa nur zwei Brutpaare festgestellt, wohingegen in sieben Brutkolonien im Umkreis von Kythira im Durchschnitt über 140 Brutpaare brüteten. Die weltweit individuenstärkste Kolonie mit über 1300 Individuen befindet sich auf der bewohnten, etwa 20 Quadratkilometer großen, auf halbem Weg zwischen Kythira und der Nordwestspitze Kretas liegenden Insel Antikythira.
Balz
Über dem Brutplatz zeigen Eleonorenfalken eindrucksvolle Schauflüge, bei denen das Männchen wiederholt auf das Weibchen herabstößt, dieses leicht berührt und danach wieder aufsteigt; gelegentlich dreht sich das Weibchen während dieses Kontakts auf den Rücken.
Nistplatz
Die besten Nistplätze sind geräumig, eben und im Idealfall während der heißesten Tagesstunden beschattet; oft liegen die Niststellen in Halbhöhlen. Auffallend ist eine deutliche Bevorzugung von Brutplätzen, die stark windexponiert, in der Ägäis vor allem dem Meltémi ausgesetzt sind. Auch eine leichte Präferenz für eine Ausrichtung nach Osten wurde festgestellt. Häufig wird eine natürliche Mulde ausgenutzt, oder, wenn es der Untergrund erlaubt, eine solche ausgescharrt. Nistmaterial wird wie bei den meisten Falken nicht eingetragen. Häufig befindet sich die Niststelle im vegetationslosen Terrain, doch werden auch bewachsene Felsnischen gewählt, sofern sie freien An- und Abflug ermöglichen. Der Mindestabstand zum nächsten Brutplatz kann mit etwa zwei Metern sehr gering sein, beträgt nach Möglichkeit aber meist 10 Meter und mehr; dieser Bereich wird gegenüber Artgenossen verteidigt. Revierstreitigkeiten wurden jedoch nur selten festgestellt. Erstbrüter müssen oft mit suboptimalen Niststellen vorliebnehmen; insbesondere sehr starke Sonneneinstrahlung kann den Bruterfolg stark negativ beeinflussen. Selten werden Nester von Krähen und Krähenscharben als Nistplatz gewählt.
Gelege und Brut
Die Brutphänologie ist dem Herbstdurchzug der Singvögel angepasst. Die Eiablage beginnt erst Mitte Juli und erreicht ihren Gipfel Anfang August. Meist besteht ein Gelege aus zwei bis drei (max. vier) längsovalen, auf hellem Untergrund dicht rötlich braun gefleckten Eiern, die bei einem Gewicht von durchschnittlich 26 Gramm etwa 43 × 34 Millimeter messen. Die Gelegegröße dürfte vom Nahrungsangebot und vom Jagderfolg des Männchens abhängen. Das Gelege wird vor allem vom Weibchen etwa 29 Tage bebrütet; in dieser Zeit und während der ersten Hälfte der zwischen 37 und 43 Tagen dauernden Nestlingszeit versorgt allein das Männchen die Küken und das Weibchen. Erst mit dem steigenden Futterbedarf der heranwachsenden Nestlinge beteiligt sich das Weibchen an der Nahrungsbeschaffung. Die Nestlinge werden ausschließlich mit Vögeln gefüttert. Wie lange ausgeflogene Jungfalken noch von ihren Eltern betreut werden, ist nicht bekannt.
Der bei Koloniebrütern nicht selten auftretende intraspezifische Brutparasitismus wurde in Kolonien des Eleonorenfalken nicht festgestellt, auch Kopulationen von Brutpartnern mit einem anderen Koloniemitglied (extra pair copulation) scheinen nicht vorzukommen. Auf Grund der hohen Brutortstreue des Eleonorenfalken ist ein relativ hoher Prozentsatz der Paare nahe miteinander verwandt, was sich möglicherweise negativ auf den Bruterfolg auswirken kann. Insgesamt schwankt die Reproduktion sowohl regional als auch saisonal beträchtlich und liegt zwischen 1,2 und 2,6 ausgeflogenen Jungvögeln pro Paar. Die Ursachen der Unterschiede zwischen der signifikant hohen Ausfliegerate auf Mogador an der marokkanischen Atlantikküste und der bemerkenswert niedrigen in einigen griechischen Kolonien ist bislang unbekannt.
Sterblichkeit und Alter
Die Sterblichkeit im ersten Halbjahr ist bedingt durch die Gefährdungen auf dem ersten Zug sehr hoch. Insgesamt dürften weniger als 25 Prozent eines Brutjahrganges die Brutreife erreichen. Danach sinkt die jährliche Mortalität deutlich ab. Als Höchstalter eines beringten Vogels geben Mebs & Schmidt 16 Jahre an; EURING verzeichnet 11 Jahre und 2 Monate bei einem erlegten Vogel.
Systematik
Trotz der in zum Teil isolierte Kolonien fragmentierten Brutverbreitung werden keine Subspezies unterschieden. Genetische Analysen bestätigten die auch auf Grund morphologischer und verhaltensbiologischer Ähnlichkeiten vermutete nahe Verwandtschaft der Art mit dem Baumfalken und dem Schieferfalken. Mit diesen bildet der Eleonorenfalke die monophyletische Untergattung Hypotriorchis innerhalb der Falconinae. Inwieweit noch andere Falken, wie der Afrikanische Baumfalke (Falco cuvieri) oder der Malaienbaumfalke (Falco serverus) dieser Gruppe zuzuzählen sind, ist Gegenstand der Forschung.
Bestandssituation
Die IUCN sieht die Bestände des Eleonorenfalken nicht als gefährdet an und schätzt den europäischen Gesamtbestand auf ungefähr 6.000 Brutpaare. Vor allem in Griechenland abnehmende Bestandszahlen stellt Birdlife Europe fest, und stuft die Gesamtsituation als D (declining, abnehmend) ein. Mebs und Schmidt gehen ebenfalls von einem Gesamtbestand von etwa 6.500 Brutpaaren aus. Zum Teil erheblichen Bestandszunahmen in vielen westlichen Kolonien stehen nach dieser Quelle erhebliche Bestandsrückgänge an einigen griechischen Brutplätzen gegenüber. Besonders betroffen von Bestandseinbrüchen seien Brutplätze an der kretischen Ostküste sowie auf den vorgelagerten Eilanden und Klippen. Diese Rückgänge werden vor allem auf Vergiftungen mit Methomyl zurückgeführt, das von den Bauern der Region in Trinkschalen ausgebracht wird, um die Weintraubenkulturen vor Ernteverlusten durch Vögel und Ratten zu schützen. Eleonorenfalken scheinen besonders an heißen, windstillen Tagen, wenn ihr Wasserbedarf besonders groß ist, ebenfalls aus diesen Trinkschalen zu trinken und darin zu baden und verenden.
Alle diese Angaben beruhten auf kleinräumigen Zählungen und darauf basierenden Hochrechnungen. Seit Januar 2008 liegen die Ergebnisse der griechenlandweiten Bestandserfassung vor. Insgesamt wurden während der Brutsaisonen von 2004–2006 fast 18.000 Individuen gezählt; die Verfasser schätzen den Brutbestand auf etwa 13.000 Paare, also auf etwa das Doppelte des bisher angenommenen Weltbestandes. Möglicherweise beherbergt Griechenland somit fast 90 Prozent des Weltbestandes. In sechs Kernzonen wurden nur im ostkretischen Küsten- und Inselgebiet Bestandsrückgänge festgestellt, in allen anderen untersuchten Gebieten zeigten sich zum Teil sehr deutliche Bestandszunahmen. Da frühere Angaben weitgehend auf Schätzungen beruhten, sind Aussagen über die tatsächliche Populationsdynamik unsicher. Bis auf die Inseln des Saronischen Golfes, Euböa und die Ionischen Inseln, wo der Eleonorenfalke nur selten und in geringer Zahl brütet, scheint die Art in der übrigen Ägäis ein regelmäßiger und stellenweise häufiger Brutvogel zu sein. Sichere Aussagen zur Bestandsentwicklung sind aber erst nach dem nächsten Zensus, der in 10 Jahren durchgeführt werden soll, möglich. Eine mit 200 gezählten Brutpaaren auf den Kanaren ebenfalls bedeutend größere Population als bisher angenommen ergab eine spanische Feldstudie.
Gefährdungsursachen sind neben den schon erwähnten Vergiftungen vor allem vielfältige Störungen am Brutplatz, in letzter Zeit auch durch meist illegales Klippenklettern in Brutgebieten und Eiersammeln. Neben den natürlichen Gefahrenquellen, denen Langstreckenzieher ausgesetzt sind, spielen direkte Verfolgung durch Abschuss eine wesentliche bestandsminimierende Rolle. Auch im Winterquartier werden Eleonorenfalken gejagt und leiden weiters unter Lebensraumverlusten und dem Pestizideintrag in der Landwirtschaft.
Namensherleitung
Der in der Lombardei geborene und hauptsächlich in Turin wirkende Erstbeschreiber Giuseppe Gené benannte die Art nach der sardischen Regentin Eleonora di Arborea, die in der von ihr initiierten Gesetzessammlung Carta de Lógu gegen Ende des 14. Jahrhunderts auch Bestimmungen zum Schutz von Raubvögeln festschrieb.
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Quellen
Weblinks
Aufnahmen aus freier Natur auf www.fokus-natur.de
Federn des Eleonorenfalken
Falkenartige |
217723 | https://de.wikipedia.org/wiki/Argentinien-Krise | Argentinien-Krise | Der Ausdruck Argentinien-Krise bezeichnet die letzte große Wirtschaftskrise in Argentinien zwischen 1998 und 2002, deren Auswirkungen bis in das Jahr 2005 zu spüren waren.
Die beiden Höhepunkte der Krise waren eine starke Rezession 1998/99 und der Zusammenbruch des Finanzsystems 2001/02, der am 21. Dezember 2001 zum Rücktritt des Präsidenten Fernando de la Rúa führte, dem eine Periode von großer politischer Instabilität folgte. In der Zeit der Krise sank das Bruttoinlandsprodukt Argentiniens um insgesamt 21 %. Die sozialen Folgen waren verheerend: Am Höhepunkt der Krise (Mitte 2002) betrug die Armutsquote 57 % und die Arbeitslosenquote 23 %. Ab Mitte 2002 erholte sich die Wirtschaft des Landes wieder, ab 2003 wuchs sie wieder (2003: 8,9 %, 2004: 8,8 %).
Der Anteil der Staatsverschuldung in Devisen machte im Jahr 2002 92 % des BIP aus, im Jahr 2011 nur noch 9,6 %.
Vorgeschichte und Ursachen der Krise
Argentinien, das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu den reichsten Ländern der Welt gehört hatte (1913 lag das Pro-Kopf-Einkommen auf dem Niveau Frankreichs und Deutschlands), hatte seit der Absetzung von Juan Perón im Jahr 1955 eine sowohl politisch als auch wirtschaftlich instabile Phase durchgemacht. Es kam zu häufigen Regierungswechseln, die sich auch in einer Wirtschaftspolitik mit stark wechselnden Ideologien niederschlugen. Die Folge waren zahlreiche Wirtschaftskrisen, die wiederum zu kurzfristig angelegten Stabilisierungsprogrammen führten, die jedoch die instabile Situation meist noch verschärften und hohe soziale Kosten (s. externer Effekt) verursachten, insbesondere durch eine hohe Inflationsrate der Landeswährung Peso. Oft wurde und wird von einem langsamen Abstieg Argentiniens von der ersten in die dritte Welt gesprochen.
Viele Fehler in der Wirtschaftspolitik dieser Phase waren das Fundament für die Krise der Jahrtausendwende. In der neueren argentinischen Geschichte wechselte mehrmals die Haltung, ob man sich ausländischem Recht unterwerfen soll oder nicht. 1976 erlaubte die Militärdiktatur mit dem Gesetz 21.305 argentinische Staatsanleihen nach dem Recht des Staates New York auszugeben. Von amerikanischen Anwälten der Argentinier wurde ein spezieller Vertrag für die Anleihen erstellt, das „Fiscal Agency Agreement“. Dabei wurde festgelegt, dass die Rückzahlung über einen New Yorker Treuhänder erfolgt. Im Vertrag wurde aufgenommen, dass alle Anleihen gleich bedient werden. Es wurde darauf verzichtet, eine Änderung der Bedingungen durch eine qualifizierte Mehrheit zu erlauben. Später wurden solche Bedingungen als Collective Action Clause bekannt. Dieser Fehler sollte sich in den 2000er Jahren bemerkbar machen, als nicht alle Gläubiger einem Schuldenschnitt zustimmten.
1983 – nach dem kurzen Falklandkrieg gegen Großbritannien – war zwar die politische Instabilität durch die endgültige Etablierung der Demokratie überwunden worden; die wirtschaftliche Instabilität – hohe Inflationsraten und daraus resultierend harte Sparprogramme wie der Plan Austral – dauerte jedoch noch bis 1991 an, als Argentinien seine Währung mit einem festen Wechselkurs an den US-Dollar band und die Inflation vorerst stoppen konnte. Schon nach wenigen Jahren zeigten sich erste Nachwirkungen dieses Stabilisierungsprogramms monetaristischer Ausrichtung: Argentinische Produkte verteuerten sich auf dem Weltmarkt; die Wettbewerbsfähigkeit sank; es kam zu einer negativen Handelsbilanz und einer starken Erhöhung der Auslandsverschuldung.
Für einige Massenmedien standen die Schuldigen an der Krise schon früh fest (namentlich die Ex-Präsidenten Carlos Menem und Fernando de la Rúa sowie der Wirtschaftsminister Domingo Cavallo);
tatsächlich wirkten wohl mehrere komplexe Faktoren zusammen. Als wichtigste Faktoren gelten:
Hohe Schuldenrate
Schon in der Militärdiktatur (1976–1983) war wegen einer negativen Handelsbilanz sowie Spekulation und Kapitalflucht die Verschuldung Argentiniens rapide angestiegen und konnte sich danach nur kurzzeitig stabilisieren. In der Regierungszeit Menems stieg die Schuldenquote ebenfalls wegen der fast immer negativen Handelsbilanz zwar moderat, aber konstant auf etwa 55 % des Bruttosozialprodukts des Landes. Allein zwischen 1996 und 1999 stiegen die Staatsschulden um 36 %.
Überbewertung des Peso gegenüber dem US-Dollar
1991 hatte der damalige Wirtschaftsminister Domingo Cavallo zunächst den Austral, dann, nach dessen Einführung, den Peso an den US-Dollar gekoppelt. Der fixe Wechselkurs betrug 10.000 Austral je US-Dollar bzw. 1 Peso je US-Dollar. Diese Maßnahme führte zunächst zu einem erfolgreichen Rückgang der Inflation, die während der Hyperinflationskrise 1989 dreistellige Werte im Monat erreicht hatte. Dennoch blieb eine ein- bis zweistellige Restinflation erhalten, die die argentinischen Exporte auf dem Weltmarkt verteuerte. Dies führte vor allem in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre zu einer Importschwemme und einer negativen Handelsbilanz, die durch Neuverschuldung (s. Haushaltssaldo) ausgeglichen werden musste. Heute wird kritisiert, dass Argentinien die 1:1-Parität möglichst noch vor 1998 durch einen flexiblen Wechselkursmechanismus hätte ersetzen sollen, wodurch die Krise wohl nicht so drastisch ausgefallen wäre. Verschärft wurde dieser Effekt noch durch den starken Dollar Ende der 90er Jahre.
Konsequenzen anderer südamerikanischer Krisen
1995 hatte Mexiko nach der so genannten Tequila-Krise seine Währung abgewertet, selbiges geschah 1998 in Brasilien. Dadurch wurden die Produkte dieser Länder auf dem Weltmarkt deutlich billiger, mit verheerenden Folgen für die exportorientierten argentinischen Wirtschaftsbereiche. Zudem verlagerten einige argentinische Betriebe und internationale Konzerne ihre Produktion daraufhin nach Brasilien, was die Arbeitslosenquote weiter erhöhte.
Mangelndes Vertrauen in das Finanzsystem
Wegen der wechselhaften Geschichte der argentinischen Wirtschaft waren die Argentinier misstrauisch gegenüber dem Bankensystem geworden; der Konsumentenvertrauensindex sank zwischen 1998 und 2001 um 20 %. Dies führte zu Panikreaktionen – massenhafte Dollarkäufe und Kapitalflucht (Verlagerung von Kapital ins Ausland) – besonders nach dem neuen Bankengesetz Ende 2001 und der darauf folgenden Abwertung 2002, was die Wirtschaft noch weiter zurückwarf.
Auch international sank das Vertrauen in die argentinische Volkswirtschaft um die Jahrtausendwende rapide. Die Länderrisikoprämie, die angibt, wie hoch die Zinsen für Anleihen eines Landes im Vergleich zum Standard-Zinssatz in den USA liegen, stieg ab 2000 stetig an, ab dem 10. Oktober 2001 war sie mit 1916 Punkten, was 19,16 % Zusatzzinsen bedeutete, die höchste der Welt. Faktisch bedeutete dies, dass Argentinien der Zugang zum regulären ausländischen Kapitalmarkt verwehrt war und von den Krediten des Internationalen Währungsfonds (IWF) abhängig war. 2002 stieg die Prämie sogar bis über 6000 Punkte, erst 2005 entspannte sich die Situation.
Denationalisierung der Wirtschaft
Eine Privatisierungswelle Anfang der 90er Jahre, bei der viele Staatsbetriebe zum Teil unter Wert verkauft wurden, führte dazu, dass weite Teile der argentinischen Wirtschaft vom Ausland abhängig wurden. Dies machte das Land anfällig für Spekulation und Kapitalflucht, ein Phänomen, das Ende 2001 maßgeblich zur Bankenkrise beitrug.
Geschichte der Krise
Die Rezession 1998/99 und die Stagnation 2000
1997 und 1998 fiel Brasilien (ein Nachbarland von Argentinien) in eine tiefe Krise. Brasilien bedeckt 47 % des Kontinents und hatte 195 Millionen Einwohner.
Die 1994 nach einer Hyperinflation eingeführte Landeswährung Brasilianischer Real wurde zunächst von der brasilianischen Zentralbank kontrolliert. Im Januar 1999 kam es zu einer Währungskrise; der Kurs des Real wurde freigegeben und ab dann im freien Handel festgestellt (Konvertierbarkeit). Er fiel auf etwa die Hälfte seines zuvorigen Wertes. Die Auswirkungen auf Argentinien zeigten sich bald. Brasilien war zu dem Zeitpunkt Argentiniens wichtigster Wirtschaftspartner (beide Länder sind Teil des Wirtschaftsbündnisses Mercosur); die Brasilienkrise hatte große negative Effekte auf den argentinischen Außenhandel. Brasilien gewann durch die Abwertung einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil gegenüber Argentinien.
In der Folge kam es zu steigenden Importen aus Brasilien. Zudem wurden argentinische Produkte auf dem Weltmarkt durch brasilianische ersetzt und viele Betriebe verlagerten ihre Produktion nach Brasilien. Schließlich verringerten sich die Investitionen aus dem Ausland wegen schlechter Prognosen für die gesamte Region.
Diese Umstände führten 1999 zu einer Rezession von 4 %. Im Jahr 2000 konnte sich die Wirtschaft von der Krise noch nicht erholen, sie stagnierte trotz eines Milliardenkredits (Blindaje Übersetzung: Panzerung genannt) des IWF und privater Banken.
Als Auswirkung der Rezession nahm die Arbeitslosigkeit zu. Das führte zu immer mehr Protesten und Demonstrationen. Die Proteste wurden bald zentralisiert und es entstanden verschiedene Protestorganisationen. Die Protestler nannten sich Piqueteros und wurden nach 2001 zeitweise zu einem wichtigen Machtfaktor in der argentinischen Politik.
Ebenso stieg als Auswirkung die Zahl der Unterbeschäftigten und damit vor allem der Angestellten in der informellen Wirtschaft. Großes Aufsehen in den Medien erlangten die Cartoneros, Menschen, die im Müll nach recycelbaren Materialien, meist Papier und Karton, suchten und diese dann verkauften. Trotz dieser Wiedergeburt des Recyclings gab es nur lokale Initiativen zur Mülltrennung, in einigen Städten wie zum Beispiel in Córdoba wurden die Cartoneros jedoch in Kooperativen zusammengeschlossen und fest von der Stadt mit dem Recycling beauftragt, so dass die zunächst sehr informelle und teilweise mafiaähnlich organisierte Tätigkeit in einen geregelteren Rahmen geführt werden konnte.
Ein besonderes Phänomen dieser Phase war die Einführung von Schulden-Bonds in mehreren Provinzen und auch durch den Nationalstaat (deren Bonds hießen LECOP). Mit diesen wurden staatliche Angestellte und Beamte – zum Teil zu über 50 % des Lohnvolumens – bezahlt. Sie hatten das Aussehen von Geldscheinen und wurden in den meisten Geschäften als Zahlungsmittel angenommen, wenn auch oft ein Aufpreis berechnet wurde. Sie bestimmten zum Höhepunkt der Krise 2001/02 einen beträchtlichen Teil des Zahlungsverkehrs Argentiniens.
Weiterhin entstanden zu dieser Zeit viele Tauschringe, die zum Teil eine freiwirtschaftliche Ideologie (zinslose Wirtschaft) verfolgten, meist jedoch einzig und allein dem Austausch von Lebensmitteln und Dienstleistungen zum Zweck des Erringens eines Ausgleichs für die fallenden Gehälter dienten. Sie wurden ab 2001 zu einem wahren Massenphänomen, fast jedes Stadtviertel jeder Stadt hatte zu dieser Zeit einen eigenen Tauschring. Der Dachverband Red Argentina de Trueque gab 2001 eine eigene Währung, den Crédito, heraus, die sogar teilweise zum Immobilienkauf benutzt werden konnte.
Abwertungsgerüchte und die kurze Cavallo-Ära (Januar bis November 2001)
Wegen der Stagnation der Wirtschaft und der unverändert negativen Handelsbilanz wurden die Stimmen lauter, die eine Abwertung forderten. Dem trat die Regierung mit einem energischen Nein entgegen, da man Angst hatte, Opfer von Kapitalflucht und Spekulationsattacken zu werden. Im Nachhinein stellen viele Kritiker fest, dass eine geordnete, geplante Abwertung die Krise deutlich abgeschwächt hätte.
Der nach mehreren verschlissenen Vorgängern ins Amt des Wirtschaftsministers gehobene Domingo Cavallo hatte einen Plan, um geordnet aus der 1:1-Bindung an den Dollar herauszukommen. Diese Bindung sollte durch einen komplizierten Mechanismus ersetzt werden, der den Wert des Pesos sowohl an den US-Dollar als auch an den deutlich tiefer stehenden Euro koppeln sollte. Anstatt der Bindung an eine Währung hätte der Peso an einen Währungskorb gebunden werden sollen. Dies wurde zunächst für den Außenhandel unter Wahrung der 1:1-Parität für andere Finanztransaktionen eingeführt, was eine Abwertung von 5–8 % bedeutete. Nach dem neuen Mechanismus setzte sich der Wert des Peso zu 50 % aus dem Wert des Euro und zu 50 % aus dem Wert des US-Dollars zusammen. Dies bedeutete zum Beispiel:
wenn ein Euro 0,83 US-Dollar wert ist, dass der Wert des Peso 0,5*0,83+0,5*1=0,915 je US-Dollar beträgt;
wenn ein Euro 1,08 US-Dollar wert ist, dass der Wert des Peso 0,5*1,08+0,5*1=1,04 je US-Dollar beträgt;
Dieser neue Wechselkurs hätte dann für alle Finanztransaktionen eingeführt werden sollen, wenn der Wechselkurs des Euro zum US-Dollar 1 beträgt, d. h. 1 Euro=1 US-Dollar=1 Peso. Allerdings hätte dies nur dann echte Vorteile gebracht, wenn der Euro – der zu dieser Zeit sehr niedrig stand – die Parität mit dem US-Dollar erreicht hätte und dann wieder gesunken wäre. Heute ist klar, dass der Euro nach Erreichung der Parität weiter gestiegen ist. Das neue Wechselkursregime hätte demnach nur weitere Nachteile für die argentinische Wirtschaft gebracht, wenn man bedenkt, dass der größte Teil des argentinischen Außenhandels mit Dollar-Ländern und nicht mit Euro-Ländern getätigt wird. Deshalb hatten Kritiker des Cavallo-Plans vorgeschlagen, auch den brasilianischen Real mit in den Währungskorb zu nehmen, da der größte Teil des argentinischen Außenhandels mit Brasilien abgewickelt wird.
Mitte 2001 sah es so aus, als könnte die Wirtschaft des Landes mit einem blauen Auge davonkommen, das Wirtschaftswachstum rutschte in ein leichtes Plus.
Womöglich der endgültige Auslöser für den weiteren Niedergang könnte die weltweite Wirtschaftsdepression nach dem 11. September 2001 gewesen sein, der das Vertrauen der Anleger in die Märkte weltweit und in Krisenstaaten wie Argentinien insbesondere schwinden ließ.
Kapitalflucht, Bankenchaos, Abwertung und wechselnde Präsidentschaften (November 2001 bis April 2002)
Als Cavallo Ende November 2001 äußerte, das vom IWF vorgegebene Haushaltsziel nicht zu erreichen, führte dies zu einer Weigerung des IWF, eine vorgesehene 1,25 Mrd. USD-Tranche an Argentinien zu überweisen. Diese Schreckensnachricht führte zu einem drastischen Vertrauensverlust für den Staat und so zu einer raschen Kapitalflucht, die das Bankensystem in eine tiefe Krise stürzte. Um ein komplettes Chaos zu verhindern, führte Cavallo Anfang Dezember den so genannten Corralito ein, der eine Obergrenze von 250 Peso die Woche für das Abheben von Bargeld von Girokonten vorsah. Der Hintergrund war, einen Umtausch der Währung in Dollar zu verhindern, da sonst das Bankensystem Giro- und Sparkonten nicht mehr hätte auszahlen können.
Der Corralito verschlimmerte jedoch die Vertrauenskrise in die Wirtschaft im In- und Ausland und rief den Zorn der Mittelklasse hervor, der sich zuerst durch einen Generalstreik am 13. Dezember und schließlich am 19. und 20. Dezember 2001 in einer Folge massiver, teils gewalttätiger Demonstrationen (Cacerolazo) mit insgesamt 28 Toten äußerte. Dieses Klima führte zum Rücktritt von Domingo Cavallo und tags darauf auch von Fernando de la Rúa.
Übergangsweise übernahm das Präsidentenamt der Peronist Ramón Puerta, der Präsident des argentinischen Senats, und zwei Tage später der Peronist Adolfo Rodríguez Saá, der bis zu diesem Zeitpunkt Gouverneur der Provinz San Luis gewesen war. Seine Amtszeit dauerte nur fünf Tage. Auslöser für seinen Rücktritt am 30. Dezember 2001 waren zum einen die Weigerung einiger Provinzgouverneure, ihn in seinem Wirtschaftskurs zu unterstützen, der unter anderem eine radikale Rationalisierung des Staates sowie die Schaffung einer Zweitwährung (des so genannten Argentino, dessen Wechselkurs sich frei zum Dollar bewegen sollte) beinhaltete, sowie der wachsende Unmut der Bevölkerung, der sich in weiteren großen Protestkundgebungen äußerte. Das wichtigste Vorkommnis in Saás Präsidentschaft war die Erklärung der Zahlungsunfähigkeit (Staatsbankrott) gegenüber den Gläubigern des Landes; eine Entscheidung, die zunächst von seinen Nachfolgern beibehalten wurde.
Nachdem gemäß der argentinischen Verfassung übergangsweise der Präsident der Abgeordnetenkammer, Eduardo Camaño, das Amt des Präsidenten bekleidet hatte, wurde am 1. Januar 2002 der Peronist Eduardo Duhalde zum Präsidenten ernannt, der sein Amt am folgenden Tag antrat. Er war der fünfte Präsident Argentiniens innerhalb von 13 Tagen. Die Wirtschaftsexperten in seinem Umkreis entschieden sich eindeutig für eine Abwertung des Peso. Zunächst wurde die Öffnung der Banken landesweit an mehreren Tagen untersagt, um Panik-Dollarkäufe zu unterbinden. Der Umfang der Abwertung wurde auf 28 % festgesetzt (1,40 Peso = 1 Dollar), jedoch galt dieser „offizielle“ Kurs nur für den Außenhandel. Im Innenhandel ließ man den Kurs frei schwanken („freier Dollarkurs“).
Die Folgen der Abwertung waren ernüchternd. Der „freie Dollarkurs“ stieg infolge von massiven Panikkäufen schon innerhalb weniger Tage über zwei Pesos. Dies veranlasste die Regierung, den „offiziellen“ Kurs abzuschaffen, was weitere Panikkäufe zur Folge hatte und den Kurs weiter nach oben trieb.
In der Zwickmühle vor allem wegen der fatalen Folgen der Abwertung des Peso für die Banken, entschied man sich für eine rigide Maßnahme, die bald als Corralón bekannt wurde. Sie bestand darin, alle Konten über einem bestimmten Grenzwert in festverzinsliche Sparbücher umzuwandeln, deren Rückgabetermine bis 2010 gestreckt wurden. Besonders problematisch erwies sich die Situation der unter der Regierungszeit Menems eingeführten Konten in Dollar, da diese sich ja im Wert vervielfacht hätten. So entschied man sich, Dollarkonten als Pesokonten mit Wert 1 zu 1,40 zu betrachten und erst im Laufe von mehreren Monaten, im Falle von hohen Werten sogar mehreren Jahren zurückzugeben. Schulden konnte man dagegen zunächst mit dem Kurs 1:1 zurückzahlen. Diese so genannte asymmetrische Pesifizierung beschäftigte die argentinischen Gerichte lange Zeit, die Folge war letztendlich, dass ein neues Anleihen-Programm namens Plan BODEN eingeführt wurde und auch die Schulden im Verhältnis 1:1,4 plus einem Inflationsindex, dem CER, umgerechnet wurden. Ab 2003 wurden die vom Corralón betroffenen Konten allerdings wegen der besseren Konjunkturlage vorzeitig zurückgezahlt.
Alle diese Maßnahmen führten zu einem weiteren Vertrauensschwund, so dass der Kurs des Dollars im April 2002 bald auf etwa 3,50 Pesos anstieg. Die Zentralbank konnte den Kurs jedoch durch Pesokäufe bald auf etwa 2,80 Peso senken.
Wirtschaftliche Unsicherheit (April bis August 2002)
Um die Bevölkerung zu beruhigen, wurde eine Sozialhilfe von 100, später 150 Pesos für arbeitslose Familienoberhäupter eingeführt (der sogenannte Plan Jefes y Jefas de Hogar), angesichts der Inflation war dies jedoch eher ein symbolischer Betrag. Der Dollarkurs in Peso schwankte in der Zeit weiter und stieg Mitte des Jahres wieder auf beinahe 4 Pesos, wo er jedoch wegen massiver Stützmaßnahmen der Zentralbank stagnierte.
Die Situation der Banken sorgte für weitere Unsicherheit. Am Ende setzte sich der Plan Bonex II oder Plan BODEN durch, welcher die Konten in Dollar in eine weite Palette festverzinslicher Wertpapiere mit einer Laufzeit von 5 bis 10 Jahren (Boden) umwandelte.
Der Corralón sorgte in dieser Zeit dafür, dass breite Teile der Wirtschaft, etwa der Immobilienmarkt und die Automobilindustrie, regelrecht abgewürgt wurden. So kam es in den ersten Monaten 2002 zu einer Rezession von 12 %.
Ausklang der Krise und zaghafte Erholung (August 2002 bis Juli 2003)
Nach der Mitte des Jahres gab es zum ersten Mal Anzeichen einer Erholung der Wirtschaft. Der Dollar-Kurs stabilisierte sich auf dem Niveau zwischen 3,60 und 3,70 Pesos, was etwas mehr Sicherheit in die Pläne der Unternehmen brachte.
Ende 2002 ging es mit der Wirtschaft dann endgültig wieder aufwärts, die positiven Seiten der Abwertung (konkurrenzfähigere Preise auf dem Weltmarkt) machten sich deutlich bemerkbar. Anfang 2003 wurden der Corralito, der Corralón sowie im Laufe des Jahres die meisten Ersatzwährungen auf Basis von Schuldenbonds (zum Beispiel LECOP) abgeschafft, was den Konsum wieder deutlich ankurbelte. Dennoch kündigte Präsident Duhalde Neuwahlen an, um die staatlichen Institutionen wieder mit Legitimität zu versehen.
Im Mai 2003 gewann Néstor Kirchner, der dem linken Flügel der Peronistischen Partei angehört, die Präsidentenwahl in der zweiten Runde, da sein Gegenkandidat Carlos Menem nicht zur Stichwahl antrat. Er verschaffte sich mit mehreren Aktionen ein „Macher-Image“, behielt aber den wirtschaftlichen Kurs seines Vorgängers im Wesentlichen bei. Das Wirtschaftswachstum blieb konstant und erreichte im Jahr 2003 8,9 %.
Weitere Entwicklung
Seit Ende 2003 / Anfang 2004 gibt es immer wieder Energieengpässe, die ihre Ursachen in dem relativ starken Wirtschaftswachstum, den sehr hohen Rohölpreisen und in fehlenden Investitionen in die Energieinfrastruktur haben.
Ein weiterer Konflikt der Nachkrisenzeit war die lange Zeit ungelöste Frage der argentinischen Anleihen, die nicht mehr vom Staat bedient wurden. Ein großer Teil der Schulden Argentiniens wird von privaten Gläubigern reklamiert. Da Argentinien nach der Abwertung 2002 ohne ein extremes Sparprogramm nicht in der Lage gewesen wäre, den Zahlungen gegenüber den privaten Gläubigern nachzukommen, wurden Pläne für ein Umschuldungsangebot (canje) erarbeitet. Gegenüber den multilateralen Gläubigern wie Weltbank, IWF usw. beglich Argentinien hingegen stets seine Verpflichtungen in voller Höhe (wenn auch teilweise mit zeitlicher Verzögerung).
Im Jahr 2004 wurden den Vertretungen der Gläubiger mehrmals Vorschläge unterbreitet, die einen Kapitalschnitt von 75 %, später 65 % vorsahen. Sie stießen zunächst besonders bei den ausländischen Gläubigern, die mehr als 55 % des Schuldenvolumens reklamieren, allgemein auf Ablehnung und trübten auch Argentiniens Verhältnis mit dem IWF. Durch mehrere diplomatische Missionen gelang es jedoch Argentinien, die meisten Gläubigergruppen zu überzeugen, Widerstand gab es bis zum Ende noch von den deutschen und vor allem von den italienischen Gläubigern.
Der Prozess der Umschuldung sollte ursprünglich Ende November 2004 beginnen, begann aber nach Verzögerungen erst am 12. Januar 2005 und sah einen Kapitalschnitt von nur noch durchschnittlich 50 % vor, der durch die Einführung von drei neuen Bonds erreicht wurde, aus denen die Gläubiger mit Einschränkungen auswählen konnten. Die seit 2002 aufgelaufenen überfälligen Zinsen der notleidenden Anleihen wurden von Argentinien entgegen den Bedingungen nicht anerkannt, so dass der tatsächliche Verlust für die früheren Kreditgeber Argentiniens deutlich höher als offiziell angegeben ist.
Die drei Bondtypen sind:
der Bono Par ohne Kapitalschnitt
der Bono Cuasi Par mit einem Kapitalschnitt von 30 %
der Bono de Descuento mit einem Kapitalschnitt von 70 %
Allen drei gemeinsam ist, dass sie wesentliche Verschlechterungen der rechtlichen Position der Gläubiger beinhalten. Unter anderem ist im Gegensatz zu den früheren Anleihen kein ausländischer Gerichtsstand mehr gegeben, wenn Argentinien erneut seine Schulden nicht mehr bedienen sollte, das heißt, es werden dann Klagen nach argentinischer Rechtsordnung und Gerichtsstand anzustrengen sein.
Gezeichnet wurden Bono Par sowie Bono Cuasi Par, die auf 15 Mrd. US-Dollar (Par) bzw. 23,4 Mrd. US-Dollar (Cuasi Par) beschränkt waren. Anleger, die über diesen Kontingenten zeichneten, erhielten den Bono de Descuento zugeteilt.
Während der Bono Par nur niedrige Zinsen und eine sehr lange Laufzeit bietet, hat der Bono de Descuento den höchsten Zinssatz und die kürzeste Laufzeit. Weiterhin wird ein Teil der Bonds an die Inflationsrate gebunden, aber in Pesos, nicht mehr in US-Dollar berechnet. Nach Angaben der Zeitung Clarín waren dies nach dem Ende des Umschuldungsangebots etwa 40 % der Bonds.
Der damalige argentinische Wirtschaftsminister Roberto Lavagna betonte mehrmals, dass dies das letzte und einzige Angebot sein werde, das Argentinien den Gläubigern machen würde. Als erste Gruppe traten die argentinischen Gläubiger in das Angebot ein, von denen ein Großteil Schuldentitel über die argentinischen Rentenkassen (AFJP) hielt.
Mitte Februar 2005 wurden die Verhandlungen für abgeschlossen erklärt. Bis zum Ende des Zeitraums für die Umschuldung am 25. Februar 2005 hatten 76,15 % der Gläubiger das Angebot angenommen.
Nach dem Ende des Umschuldungsangebots gab es vereinzelte Stimmen, sowohl von Gläubigergruppen als auch vom IWF, die eine erneute Umschuldungsofferte forderten. Die argentinische Regierung betonte jedoch mehrmals, dass sie diesen Forderungen nicht nachkommen werde.
Am 3. August 2012 – und somit zehn Jahre nach dem Staatsbankrott – verkündete Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner den Rest der aus diesem Staatsbankrott stammenden Schulden zurückzuzahlen – wobei es nur um eine besondere Inlandsanleihe ging.
Die ersten Jahre nach der Krise
Das Wachstum in Argentinien blieb seit Mitte des Jahres 2003 stetig hoch. Dieses Wirtschaftswachstum kann vor allem durch die positiven Erfolge der Abwertung begründet werden. Die argentinische Industrie wurde durch die Exporte und Importsubstitution gestärkt. Ab dem Jahr 2004 steigt das Geschäft mit Importgütern wieder stark an, daher wird die wirtschaftliche Lage in Argentinien wieder normalisiert.
Trotz des Wirtschaftswachstums gibt es weiterhin starke soziale und wirtschaftliche Defizite im Land. Die Arbeitslosigkeit (8,7 %, Stand: 4. Quartal 2006) und die Armutsquote (26,9 %, Stand: 2. Halbjahr 2006) blieben trotz eines stetigen Rückganges weiterhin hoch, und es ist noch nicht abzusehen, ob die teilweise entwicklungshemmenden, neofeudalistischen Strukturen in der argentinischen Wirtschaft und in der Politik von der Regierung Kirchner überwunden werden können. Für Besorgnis sorgte weiterhin die sehr große Ungleichheit zwischen den Regionen, so liegt die Armutsquote zwischen 5 % in Ushuaia und 56 % in Resistencia.
Entscheidend war auch die Frage, wie die Streitigkeiten zwischen Argentinien, dem IWF und den privaten Gläubigern gelöst werden, auch wenn hier nach der Umschuldung im Februar 2005 eher optimistische Stimmen die Oberhand hatten und Argentinien von einem großen Teil der G8-Staaten, unter anderem von Deutschland unterstützt wurde. Dennoch gab es weiter Gruppen von Gläubigern, die ein erneutes Umschuldungsangebot forderten.
Die weiterhin hohe Inflationsrate sorgte 2005 (etwa 11 %) weiter für Beunruhigung. Sie wurde vor allem durch kurzfristige Abkommen zwischen der Regierung Kirchner und dem Handelssektor bekämpft.
Das Wirtschaftswachstum lag 2005 wie in den Vorjahren mit 9,1 % weit über den Schätzungen des Statistikamtes. Auch 2006 konnte mit 8,5 Prozent ein hohes Wachstum erreicht werden. Der Wirtschaftsexperte Héctor Valle, Direktor der argentinischen Stiftung für Forschung und Entwicklung Fide, erwartete auch für die weiteren Jahre ein Wachstum zwischen 6 und 9 %, während das Wirtschaftsministerium mit 4 % für 2007 etwas pessimistischer war. Der Wirtschaftswissenschaftler Salvador Treber nahm an, dass die Energiefrage das Kernproblem der argentinischen Wirtschaft in den nächsten Jahren sein werde und sein zukünftiges Wachstum von der Lösung des Problems abhinge.
Eintreiben der offenen Forderungen
Diejenigen Gläubiger, die das Umschuldungsangebot nicht wahrgenommen haben, haben die Möglichkeit, zu versuchen, ihre Forderungen über die Pfändung argentinischen Staatsvermögens außerhalb Argentiniens zu realisieren.
Weltweite Aufmerksamkeit erregte die Pfändung des Segelschiffes Libertad am 2. Oktober 2012 im ghanaischen Hafen Tema auf Betreiben des Hedgefonds NML Capital. Nach der Argentinien-Krise hatte die Libertad nur lateinamerikanische Häfen angefahren, um eine Pfändung des Schiffs zur Begleichung der offenen Staatsschulden zu vermeiden. Seit 2012 wurden aber auch Häfen in Afrika und Europa angefahren. In der Folge traten der Chef der argentinischen Kriegsmarine, Carlos Alberto Paz, und die Leiterin des militärischen Geheimdiensts, Lourdes Puente Olivera, zurück.
Der von Paul Singer gemanagte Hedgefonds NML Capital, ein Tochterunternehmen von Elliott Management, erwarb in den letzten Jahren einen großen Teil der nicht umgeschuldeten Anleihen und strebt eine 100 % Rückzahlung von dem Staat Argentinien an. Der New Yorker Bezirksrichter Thomas Griesa verurteilte Argentinien im Oktober 2012 zu einer Zahlung von 1,3 Milliarden US-Dollar an den Hedgefonds. Als weiteres Druckmittel wurde es Argentinien verboten andere Schulden zu bedienen solange der Hedgefonds nicht bezahlt wurde. Das oberste Gericht Ghanas erklärte im Juni 2013, dass die Festsetzung der Libertad auf Anregung des Hedgefonds nicht rechtsmäßig gewesen ist. Da das Schlichtungsverfahren zwischen Argentinien und den Hedgefonds im Juli 2014 zu keiner Einigung führte, gilt Argentinien de jure als insolvent.
Auswirkungen auf die Bevölkerung
Die Argentinien-Krise hatte eine allgemeine Verschlechterung des Lebensniveaus der argentinischen Bevölkerung zur Folge, die allerdings wegen der schnellen Erholung der Wirtschaft nur wenige Jahre andauerte.
Kaufkraftverlust und Verkleinerung der Mittelklasse
Der direkte Effekt der Abwertung Anfang 2002 war der Verlust der Kaufkraft des argentinischen Peso. Im Jahr 2002 kam es zu einer Inflationsrate von 41 % (Konsumentenpreisindex IPC). Da diese nicht oder nur in sehr beschränktem Maße von Lohnerhöhungen aufgefangen wurden, sank das Reallohnniveau um 23,2 %. In den Folgejahren war die Inflationsrate weiterhin hoch (zwischen 6 und 16 Prozent im Jahresvergleich), wegen der verbesserten konjunkturellen Lage konnten jedoch zum Teil starke Lohnerhöhungen erreicht werden, so dass der Reallohn wieder anstieg und im Jahr 2005 etwa wieder das Niveau von 2000 erreichte.
Besonders die mittleren Schichten, die in den 1990er Jahren ein relativ hohes Lebensniveau erreicht hatten, waren von diesem Kaufkraftverlust betroffen, ein Teil von ihnen fiel zeitweise sogar unter die Armutsquote (die sogenannten nuevos pobres, span. „Neu-Armen“).
Anstieg der Armut und Unterernährung
Mit dem Kaufkraftverlust ging ein hoher Anstieg der Armutsquote von Werten um 15 % in den mittleren 90er Jahren über 25,9 % im Jahr 1998 auf ein Höchstniveau von 57,5 % Mitte 2002 einher. Gleichzeitig hatten 27,5 % der Bevölkerung laut dem Statistikamt INDEC nicht genügend Einkünfte, um den Lebensmittelwarenkorb zu decken, was in Argentinien mit dem Begriff tasa de indigencia (Elendsrate) bezeichnet wird.
Dies bedeutet zwar nicht, dass dieser Teil der Bevölkerung von Hunger betroffen ist, da sich der Lebensmittelwarenkorb nicht am absoluten Minimum der notwendigen Zufuhr von Nahrungsenergie orientiert, sondern am durchschnittlichen Lebensmittelkonsum des zweitärmsten Fünftels der Bevölkerung im Jahr 1986. Zudem gibt es zahlreiche Hilfsprogramme vom Staat und Nichtregierungsorganisationen. Dennoch kam es in einigen Provinzen zu einem Anstieg der Unterernährung insbesondere bei Kindern, am schlimmsten war die Provinz Tucumán betroffen, in der im Jahr 2002 mehr als 20 % der Kinder unter fünf Jahren Untergewicht hatten.
Nach dem Höhepunkt der Krise ging die Armutsquote langsam, aber kontinuierlich zurück und lag im zweiten Semester des Jahres 2006 auf einem Niveau von 26,9 %, die Elendsrate lag bei 8,7 %.
Stagnation in der Verbesserung sozialer Indikatoren
Während sich zahlreiche wichtige Indikatoren in den 90er Jahren deutlich verbessert hatten, verschlechterten sie sich in den Folgejahren der Krise oder sie stagnierten, wie im Fall der Kindersterblichkeit, die im Gesamtzeitraum der Krise (zwischen 1998 und 2002) zwar leicht zurückging (von 19,1 auf 16,8 auf 1000 Lebendgeburten), aber im Jahresvergleich zwischen 2001 (16,3 ‰) und 2002 leicht anstieg.
Zusammenbruch und erneute Expansion des informellen Sektors
Argentinien hat besonders seit den 1970er Jahren einen starken informellen Sektor, der in den 1980er und besonders den späten 1990er Jahren, als die Arbeitslosigkeit zum ersten Mal auf zweistellige Werte anstieg, stark anwuchs. In den Medien wurden vor allem die sogenannten cartoneros – Sammler von Karton und anderen recycelbaren Materialien – thematisiert, doch daneben gibt es eine große Anzahl von ambulanten Verkäufern und nicht registrierten Dienstleistern aller Art, den sogenannten changueros (etwa: Tagelöhner). Weiterhin sind ein Großteil der in kleinen Einzelhandelsbetrieben (zum Beispiel Kiosken) Angestellten informell beschäftigt.
Wegen der Bargeldknappheit infolge des Corralito, der die Bargeld-Umlaufmenge aus Angst vor Kapitalflucht beschränkte, war Ende 2001 der informelle Sektor in eine sehr schwierige Situation geraten, die mit zur Explosion der Proteste an diesem Jahreswechsel beitrug. Dieser Sektor hängt vollständig vom Vorhandensein von Bargeld ab und sah sich in seiner Existenz bedroht.
Trotz der Bargeldkrise expandierte der informelle Sektor ab Anfang 2002 wieder, als die Arbeitslosigkeit durch die Nebeneffekte der Krise anstieg und viele Neu-Arbeitslose in den informellen Sektor zwang.
Um diese soziale Tragödie abzufedern, führte Eduardo Duhalde den Plan Jefes y Jefas de Hogar, eine Minimal-Sozialhilfe für arbeitslose Familienoberhäupter ein, die zunächst 100, dann 150 Pesos betrug. Es gab jedoch kein Recht auf diese Sozialhilfe, sondern nur in einer bestimmten Frist eingetragene Berechtigte konnten sie empfangen.
Nachdem sich die Situation des Arbeitsmarktes ab 2003 wieder entspannte, entstanden nach und nach wieder mehr formelle Arbeitsplätze, so dass die Bedeutung des informellen Sektors leicht zurückging. Dennoch sind noch im Jahr 2007 mehr als 40 % der erwerbstätigen Bevölkerung nicht registriert.
Tauschringe (Red Global de Trueque)
Schon in den 1990er Jahren war infolge der steigenden Arbeitslosigkeit eine große Anzahl von Tauschringen entstanden, in denen nicht nur Waren, sondern vor allem Dienstleistungen ausgetauscht wurden. Diese Aktivität nahm in den Krisenjahren stark zu. Die Marken der Dachorganisation der Tauschringe Red Global de Trueque (RGT), die Créditos, wurden ab 2001 zu einer inoffiziellen Komplementärwährung zum Peso. Eine unkontrollierte Expansion dieser Aktivität sorgte jedoch für ständige Abwertungen des Crédito durch die RGT, so dass das Tauschen nach der Erholung der Wirtschaft um 2003 immer weniger attraktiv wurde und so an Bedeutung verlor.
Expansion der Piquetero-Protestbewegung
Ab 1996 war wegen der steigenden Arbeitslosigkeit eine wachsende Anzahl von Straßenblockaden (span. piquetes) zu verzeichnen, die anfangs durch lose zusammengeschlossene Arbeitslose, später durch organisierte Gruppen, den sogenannten piqueteros, veranstaltet wurden. Diese Aktivitäten nahmen ab 1998 stark zu und sorgten zum Teil für erhebliche Verkehrsprobleme vor allem in der Hauptstadt Buenos Aires. Zur selben Zeit wurde die Bewegung von diversen Parteien infiltriert, die ihre eigenen Piquetero-Organisationen gründen, darunter besonders linke und sozialistische Parteien wie das Partido Obrero. Mit Hilfe dieser Zusammenschlüsse und durch den Druck ihrer Aktivitäten erreichten die Piqueteros einige ihrer Ziele, etwa die Versorgung mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, sogenannte planes trabajar.
2004 verbündete sich einer der bekanntesten Piquetero-Aktivisten, Luis D'Elia, mit der Regierung Néstor Kirchners und erreichte dadurch einige Zugeständnisse. Dies trug allerdings auch dazu bei, dass die Bewegung insgesamt an Aggressivität und damit auch an Bedeutung verlor, auch wenn ein großer Teil der Piqueteros auf Oppositionskurs zu Kirchner steht (insbesondere das Movimiento de Jubilados y Desocupados, geführt von Raúl Castells).
Vorübergehendes Wiederaufflammen der Landflucht und Verschlechterung der Wohnsituation
Eine kurzzeitige Folgeerscheinung der Krise war ein Wiederaufflammen der in den 1990er Jahren zurückgegangenen Landfluchtsbewegungen, von denen vor allem Menschen aus abgelegenen Randregionen betroffen waren, die sich in den informellen Siedlungen am Rand der Großstädte niederließen und versuchten, im informellen Sektor ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Dies führte jedoch nur zeitweise zu einer Erhöhung der Slumbevölkerung, da gleichzeitig bereits seit den 1990er Jahren eine Reihe von Bau- und Urbanisierungsprogrammen eingerichtet wurden (zum Beispiel das Programa de Mejoramiento de Barrios, ein Programm zur Urbanisierung günstig gelegener Elendssiedlungen). Nach der Wirtschaftserholung 2003 wurden diese Programme stark ausgeweitet, was in einigen Provinzen vermutlich zu einem starken Rückgang der Slumbevölkerung führte, auch wenn es dazu zunächst keine offiziellen Daten gab. Gerade in der besonders stark betroffenen Provinz Buenos Aires, die auch die Randregionen der Landeshauptstadt umfasst, stagnierten die Werte jedoch weiterhin wegen des Fehlens einer koordinierten sozialen Baupolitik, so gab es etwa im Gran Buenos Aires etwa 1,1 Millionen Bewohner von Elendsvierteln.
Auswirkungen auf die Volkswirtschaft
Auch auf die Volkswirtschaft allgemein gesehen hatte die Krise sowohl kurz- als auch langfristige Auswirkungen, die weiter als die reine Rezession gingen und einen Strukturwandel herbeiführten.
Importrückgang und Exportboom
Die schnelle Abwertung des Peso führte besonders im Jahr 2002 zu einer Unterbewertung des argentinischen Peso gegenüber den anderen Weltwährungen. Dies hatte eine drastische Senkung der Preise argentinischer Produkte und Dienstleistungen zur Folge, während in Relation dazu die Importe deutlich teurer wurden.
Dies führte zu einem starken Rückgang der Importe besonders in der Phase der stärksten Unterbewertung des Peso zwischen 2002 und 2004, in der der Handelsbilanzüberschuss bis auf 16,7 Milliarden US-Dollar anstieg. Daher wurden zahlreiche vorher importierte Produkte wieder in Argentinien produziert, und es kam zu einer erneuten Welle der Importsubstitution, die allerdings im Gegensatz zu der Phase zwischen 1930 und 1976 nicht staatlich gefördert wurde, sondern allein eine Reaktion auf die Marktsituation war. Parallel dazu stiegen die Exporte ab 2003 stark an, da argentinische Produkte auf dem Weltmarkt wieder attraktiver geworden waren. Dies führte zu einer positiven Handelsbilanz auch in den Folgejahren.
Erst ab 2005, als die Unterbewertung des Pesos wegen einer steigenden Inflation, aber stabilen Wechselkursen nachließ, zogen die Importe wieder an; die Handelsbilanz blieb aber bis 2007 weiterhin positiv.
Inflation
Die Abwertung des Peso setzte einen erneuten Inflationskreislauf in Gang. Zwar lagen die Werte weit unter denen der Krise zwischen 1988 und 1990, aber der Kaufkraftverlust des Peso war bis 2007 trotz der seit 2004 stabilen Wechselkurse konstant.
Die Gründe dafür sind vor allem in der Preis-Kosten-Lohn-Spirale zu suchen. Die erhöhten Preise veranlassten die Gewerkschaften, auf teils starke Lohnerhöhungen Druck auszuüben. Da dies jedoch wiederum die Produkte verteuerte, konnte die Situation sich nur kurzzeitig stabilisieren (in den Jahren 2003 und 2004 mit 3,7 bzw. 6,1 %). Im Jahr 2005 erhöhte sich die Inflation jedoch wieder (12,3 %).
Die Regierung versuchte dieser Entwicklung mittels Preiskontrollen für bestimmte Produkte Herr zu werden. Dies gelang ihr jedoch nur zeitweise. Die Inflationswerte waren auch 2007 weiterhin zweistellig. Offiziellen Werte vom Jahr 2007 deuteten auf eine einstellige Inflation hin, es wurde jedoch vermutet, dass aus populistischen Gründen heimlich die Methodik geändert wurde, um die Zahlen zu schönen.
Energieengpässe
In den Jahren ab 2004 kam es besonders im Winter regelmäßig zu Energieengpässen. Der Grund dafür lag in der Expansion der Wirtschaft, insbesondere der Industrie, und im damit verbundenen steigenden Energieverbrauch, der jedoch nur unzureichend von Investitionen in die Erschließung neuer Energiequellen gedeckt wurde.
Zu einem besonders schweren Engpass kam es im Winter 2004, der landesweit kälter als im klimatischen Durchschnitt ausfiel und allgemein als Energiekrise bezeichnet wurde. Der Grund war ein weit überdurchschnittlicher Erdgas- und Stromverbrauch zu Heizzwecken, vor allem in den Privathaushalten. Als kurzfristige Reaktion darauf wurde einerseits die Industrie mit einem vorübergehenden Erdgas- und Elektrizitätskonsumverbot belegt. Zum anderen wurden auch die Privathaushalte belastet, indem ein hoher Strafaufschlag auf den Strompreis von Haushalten angewendet wurde, die mehr Elektrizität als im Vergleichsmonat des Jahres 2003 verbraucht hatten. Einige Provinzen entschieden sich dieses Jahr für eine Umstellung auf Winterzeit. Wegen Erfolglosigkeit wurde diese Maßnahme jedoch nur wenige Wochen nach der Krise wieder zurückgenommen.
2005 und 2006 gab es zwar ebenfalls kurzzeitige Engpässe, da die Winter jedoch je nach Landesteil durchschnittlich oder wärmer als im Durchschnitt ausfielen, waren die Effekte nicht so drastisch. 2007 jedoch kam es ab Ende Mai wegen stark unterdurchschnittlicher Temperaturen zu einem weiteren starken Engpass, bei dem wiederum die Industrie zeitweise mit Verbrauchsverboten für Strom und Erdgas belegt wurde. Ebenfalls wurde an besonders kritischen Tagen der Verkauf von Erdgas für Kraftfahrzeuge an Tankstellen untersagt.
Als kurzfristige Lösung vereinbarte Präsident Kirchner mit dem erdgasreichen Nachbarland Bolivien im Juni 2007 eine verstärkte Investition in neue Energiequellen. Langfristig wurde Hoffnung in die baldige Fertigstellung des Atomkraftwerks Atucha II und des Wasserkraftwerks Yacyretá-Apipé am Río Paraná – eines der größten der Welt – im Jahr 2008 gelegt, auch waren mehrere Wärmekraftwerke geplant. Eher zaghaft erfolgte dagegen der Ausbau der Windenergie, die in Argentinien besonders im Süden im Überfluss vorhanden ist, wenn auch einige Großprojekte im Norden der Provinz Chubut und im Süden von La Pampa geplant waren. Der Grund für die bisher geringe Nutzung lag vor allem im bisherigen Fehlen einer eigenen Produktion von Windkraftwerken, das die Investitionen in diese Technik verteuerte, da zahlreiche Einzelteile importiert werden mussten.
Neue Inflations- und Zahlungskrisen seit 2014
Schon 2014 kam das Land erneut an den Rand einer Staatspleite, nachdem es Altschulden in Höhe von 15 Milliarden nicht an Singers Hedgefonds NML Capital und andere Gläubiger zurückzahlen konnte. Entscheidend für diese erneute Krise war die Tatsache, dass sich die Regierung von Cristina Kirchner weigerte, die Schulden von mehreren Gläubigern zu begleichen, welche Staatsanleihen des Landes nach US-Recht besaßen. Bei diesen Schuldenverschreibungen handelte es sich um Wertpapiere, die von der argentinischen Regierung nach amerikanischem Recht ausgegeben wurden. Der Grund hierfür war, dass das Vertrauen der Finanzinvestoren zur Zeit der Ausgabe, im Jahr 1999, gegenüber Argentinien so gering war, dass nur Schulden nach ausländischer Rechtslage aufgenommen werden konnten. Die anschließende Staatspleite 2001 und der Zwangsumtausch von Anleihen nach lokaler Rechtsprechung bestätigten diese Sorgen. Kirchners Regierung wollte den Investoren nur 35 Prozent der ausstehenden Schulden zurückzahlen, was diese allerdings verweigerten. Nachdem im Juli 2014 die Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien scheiterten, wurde das südamerikanische Land nach amerikanischem Recht als zahlungsunfähig eingestuft. Dies führte schließlich zu einer Rezession, in deren Folge die Wirtschaftsleistung um 2,5 Prozent gesunken ist und die Arbeitslosigkeit von 7 auf 8,5 Prozent angestiegen ist.
Im Dezember 2017 begann ein erneuter Verfall des argentinischen Peso, der Wert der Währung fiel bis Februar 2018 von 20 Peso je Euro auf nur noch 25 Peso je Euro. Ein wichtiger Grund für den starken Währungsverfall sind neben den steigenden Zinsen in den USA das Haushaltsdefizit des Staates und das Leistungs- bzw. Handelsbilanzdefizit der gesamten Wirtschaft. Dies führte zu einem deutlichen Vertrauensverlust an den Finanzmärkten. Anfangs versuchte die argentinische Notenbank diesem Verfall mit einer Anhebung des Leitzinses auf 40 Prozent und dem Einsatz von 10 Milliarden Dollar ihrer Devisenreserven zu begegnen und die Regierung wollte gleichzeitig durch Sparmaßnahmen das Haushaltsdefizit senken. Diese Anstrengungen waren allerdings nur kurzfristig erfolgreich. Nachdem der Peso im Mai 2018 innerhalb weniger Wochen einen massiven Wertverfall erlitt, entschloss sich die Regierung von Präsident Mauricio Macri den Internationalen Währungsfonds (IWF) um einen Hilfskredit zu bitten. Die Regierung bat anfangs um 30 Milliarden US-Dollar Unterstützung, der IWF stellte schließlich 56 Milliarden Dollar in einem Zeitraum von drei Jahren zu. Dies ist der höchste Kredit, denn der IWF jemals gewährt hatte. Im Gegenzug verpflichtete sich Argentinien dazu, ohne Zinszahlungen bis 2020 einen ausgeglichenen Haushalt vorzuweisen. Daraufhin kam es erneut zu einer kurzfristigen Stabilisierung des Peso.
Im August 2018 brach der Wert des Peso erneut ein, innerhalb weniger Tage verlor er ein Drittel seines Wertes und stand Ende des Monats bei rund 45 Peso je Euro. Dieser Einbruch führte zu einem massiven Anstieg der Inflation in Argentinien. Präsident Macri sah sich aufgrund dieser Entwicklung dazu gezwungen, den IWF darum zu bitten, die zugesagten Hilfskredite schneller auszuzahlen. Dieser Bitte kam der Fonds schließlich nach, dafür wurden allerdings neue Sparmaßnahmen verlangt. Die Einsparungen der Regierung führen seitdem immer wieder zu Protesten und Streiks in Argentinien. Darüber hinaus schlägt sich die Währungskrise immer stärker in der Realwirtschaft des Landes nieder; die Arbeitslosenquote stieg 2018 auf 10 % und die Inflation 2019 auf 53,8 %.
Nach einer herben Vorwahlniederlage Macris Mitte August 2019 gegen den Peronisten Alberto Fernández, Ex-Kabinettschef der Kirchners, preisten die Anleihemärkte einen möglichen Staatsbankrott ein, was zu einer Verteuerung der Schuldenaufnahme um ca. zehn Prozentpunkte führte. Zwei Wochen später musste Macri einräumen, dass Argentinien seine Schulden kurzfristig nicht bedienen könne. Die darauf einsetzende Kapitalflucht versuchte die Regierung durch eine Beschränkung des Devisenhandels sowohl für große Exportunternehmen als auch für Privatperson einzudämmen.
Einzelnachweise
Siehe auch
Argentinien
Blauer Dollar
Tequila-Krise
Asienkrise
Finanzkrise
Wirtschaftskrise
Literatur
Diana Klein: Die Argentinienkrise, Wien 2003
Ulrich Brand (Hrsg.), Stefan Armborst (Übersetzer): Que se vayan todos. Berlin 2003. ISBN 3-935936-19-2
Cornelius Huppertz: Korruption in Argentinien. Eine netzwerkanalytische Erklärung der Finanzkrise. In: Schriften zur internationalen Politik. Bd. 8. Kovac, Hamburg 2004. ISBN 3-8300-1359-0
Christoph Jost: in: Auslandsinformationen. Konrad-Adenauer-Stiftung, Sankt Augustin 2003,11. (pdf download; 258 kB)
Jutta Maute: Hyperinflation, Currency Board, and Bust: The Case of Argentina. Hohenheimer Volkswirtschaftliche Schriften. Peter Lang, Frankfurt 2006. ISBN 0-8204-8708-2
Peter Birle, Sandra Carreras (Hrsg.): Argentinien nach zehn Jahren Menem. Wandel und Kontinuität. Frankfurt am Main 2002. ISBN 3-89354-586-7
Rainer Schweickert:
A survey of Argentina. In: The Economist. Economist Group, London 15. Juni 2004.
Matthias Bickel: Die Argentinien-Krise aus ökonomischer Sicht: Herausforderungen an Finanzsystem und Kapitalmarkt. In: 'Beiträge zum transnationalen Wirtschaftsrecht', Heft 38, März 2005. PDF, 69 Seiten. (PDF; 881 kB)
F. Bortot, Frozen Savings and Depressed Development in Argentina, Savings and Development, Vol. XXVII, n. 2, 2003:
Weblinks
Argentinien: Die Wirtschaftskrise von 2001 Planet Wissen, (2009, zuletzt aktualisiert am 8. März 2020)
Argentinisches Statistikamt (spanisch und englisch)
Argentinische Zentralbank (spanisch und englisch)
Argentinische Börse (spanisch und englisch)
Argentinien – das schönste Land der Welt, Webdoku von ARTE Reportage über die Argentinien-Krise seit 2001 (Flash)
Argentinische Geschichte (20. Jahrhundert)
Wirtschaft (Argentinien)
Wirtschaftskrise
Finanzkrise
Politik 1998
Argentinische Geschichte (21. Jahrhundert) |
229943 | https://de.wikipedia.org/wiki/Henri%20Matisse | Henri Matisse | Henri Matisse [], vollständiger Name: Henri Émile Benoît Matisse (* 31. Dezember 1869 in Le Cateau-Cambrésis, Département Nord, Frankreich; † 3. November 1954 in Cimiez, heute ein Stadtteil von Nizza), war ein französischer Maler, Grafiker, Zeichner und Bildhauer.
Er zählt mit Pablo Picasso zu den bedeutendsten Künstlern der Klassischen Moderne. Neben André Derain gilt er als Wegbereiter und Hauptvertreter des Fauvismus, der die Loslösung vom Impressionismus propagierte und die erste künstlerische Bewegung des 20. Jahrhunderts darstellt.
Matisse’ Werk ist getragen von einer flächenhaften Farbgebung und spannungsgeladenen Linien. In seinen Gemälden sind die Farbgebung, der spielerische Bildaufbau und die Leichtigkeit seiner Bildthemen das Ergebnis langer Studien.
Mit seinen in den 1940er Jahren entstandenen Scherenschnitten (gouaches découpées) – ein Beispiel ist das Künstlerbuch Jazz – schuf Matisse, der schwer erkrankt war, ein Spätwerk, das seine Reduktionsbestrebungen zum Abschluss bringt und mit seiner Farbigkeit und Ornamentik als Höhepunkt seiner künstlerischen Laufbahn gilt. Die von ihm geplante und ausgestattete Rosenkranzkapelle in Vence, eingeweiht im Jahr 1951, hielt der Künstler für sein Meisterwerk.
Seine stilistischen Neuerungen beeinflussten die Moderne Kunst. So bezogen sich die abstrakten Expressionisten in den USA wiederholt auf sein Werk.
Leben
Kindheit und Ausbildung (1869–1898)
Henri Matisse, Sohn des Émile Matisse und dessen Ehefrau Héloïse, geborene Gérard, wurde auf dem Hof der Großeltern in Le Cateau-Cambrésis geboren. Seine Eltern betrieben in Bohain-en-Vermandois eine Drogerie und einen Samenhandel; dort wuchs Matisse auf. 1872 wurde sein Bruder Émile Auguste geboren. Der Vater wünschte, dass sein ältester Sohn das elterliche Geschäft übernehmen möge. Henri entschied sich jedoch nach dem Besuch des humanistischen Henri-Martin-Gymnasiums in Saint-Quentin in den Jahren 1882 bis 1887 für das Studium der Rechtswissenschaft in Paris, das er zwei Jahre lang absolvierte.
Während einer kurzen Tätigkeit als Anwaltsgehilfe 1889 in Saint-Quentin belegte Matisse in den Morgenstunden Zeichenkurse an der École Quentin de la Cour. Im Jahr 1890 begann er nach einer Blinddarmoperation, deren Folgen ihn ein Jahr lang ans Bett fesselten, mit der Malerei. Er gab 1891 seine juristische Karriere auf, kehrte nach Paris zurück und trat in die Académie Julian ein, an der unter anderem der Salonmaler William Adolphe Bouguereau unterrichtete. Matisse wollte sich damit auf die Aufnahmeprüfung an der École des Beaux-Arts vorbereiten. Er bestand sie jedoch nicht.
Matisse besuchte ebenfalls die École des Arts décoratifs (Kunstgewerbeschule), an der er Albert Marquet kennenlernte, mit dem ihn eine lange Freundschaft verband. Im Jahr 1895 wurden beide nach bestandener Aufnahmeprüfung der École des Beaux-Arts Schüler des symbolistischen Malers Gustave Moreau, in dessen Klasse sie bereits 1893 als Gastschüler aufgenommen worden waren. Matisse wurde 1894 Vater einer Tochter, Marguerite († 1982), die Mutter war Camille (Caroline) Joblaud, eine Frau, die er als Modell beschäftigte und die seine Geliebte war.
Während eines Aufenthalts in der Bretagne im Jahr 1896 lernte Matisse durch seinen Reisebegleiter, den Maler Émile Auguste Wéry (1868–1935), der sein Pariser Nachbar vom Quai Saint-Michel 19 war, die impressionistische Farbpalette kennen. In dieser Zeit begann er, klassische Werke im Louvre zu kopieren, und stellte erstmals fünf Gemälde im Salon der Société nationale des beaux-arts aus. In den Jahren 1897 und 1898 besuchte er den Maler John Peter Russell auf Belle-Île, einer Insel vor der Küste der Bretagne. Russell führte ihn in die impressionistische Malweise ein und machte ihn mit dem Werk von Vincent van Gogh bekannt. Matisse’ Malstil veränderte sich grundlegend, und später führte er aus: „Russell war mein Lehrer, und Russell erklärte mir die Farbtheorie“.
Heirat (1898)
Am 10. Januar 1898 heiratete Henri Matisse Amélie Noellie Parayre. Auf den Rat Camille Pissarros reiste er anschließend nach London, um die Arbeiten Turners zu studieren. Gleichzeitig verbrachte er dort mit Amélie die Flitterwochen, die das Paar, kurz nach Paris zurückgekehrt, ab 9. Februar in Ajaccio auf Korsika fortsetzte. Aus der Ehe gingen zwei Söhne, Jean Gérard (1899–1976) und Pierre (1900–1989) hervor.
Marguerite wurde in die Familie aufgenommen; Matisse liebte seine Tochter sehr und porträtierte sie häufig. Sie heiratete später den Kunstkritiker und Philosophen Georges Duthuit; kurz vor ihrem Tod gab sie mit ihrem Sohn Claude Duthuit das Werkverzeichnis der Druckgrafik ihres Vaters heraus.
Als Matisse’ Lehrer Gustave Moreau starb, verließ er 1899 die École des Beaux-Arts, da es Differenzen mit Moreaus Nachfolger Fernand Cormon gab. Nach einem erneuten kurzen Studium an der Académie Julian belegte er Kurse bei Eugène Carrière, der ein Freund des Bildhauers Auguste Rodin war. Matisse lernte hier seine späteren Weggefährten André Derain und dessen Freund Maurice de Vlaminck kennen. Er malte mit Albert Marquet im Jardin du Luxembourg und besuchte in den Abendstunden Kurse für Skulptur. Noch im selben Jahr kaufte er bei Vollard das Gemälde Die drei Badenden von Paul Cézanne. Trotz schwerer finanzieller Sorgen behielt er das Werk, das einen weitreichenden Einfluss auf sein Denken und Schaffen ausübte, bis zum Jahr 1936. In diesem Jahr übergab er das Gemälde als Geschenk an das Museum der schönen Künste im Petit Palais in Paris.
Krisenjahre (1900–1905)
An der Académie Rodin besuchte Matisse im Jahr 1900 Abendkurse und arbeitete unter der Leitung des Bildhauers Antoine Bourdelle mit anfangs geringem Erfolg. Aufgrund mangelnder Einnahmen – das Modistengeschäft seiner Frau warf zum Lebensunterhalt nicht genug Einnahmen ab und die Kinder mussten oft den Großeltern überlassen werden – geriet er in eine schwere finanzielle Krise und nahm Arbeit als Dekorationsmaler an. Gemeinsam mit Albert Marquet malte Matisse Girlanden und Rahmenschmuck für die Ausstattung der Weltausstellung 1900, die im Pariser Grand Palais stattfand. Die Arbeit war anstrengend, deshalb kehrte er erschöpft nach Bohain zurück, um sich zu erholen. In jenen Tagen war Matisse derart entmutigt, dass er daran dachte, die Malerei aufzugeben.
Nachdem Matisse seine Krise überwunden hatte, bemühte er sich um Kunstsammler und Ausstellungsmöglichkeiten. Im Februar 1902 nahm er an einer Gemeinschaftsausstellung der neu gegründeten Galerie B. Weill teil. Im April und Juni des Jahres war Berthe Weill die erste Galeristin, die Arbeiten von ihm verkaufte. Eine erste Einzelausstellung seiner Arbeiten fand 1904 bei dem französischen Kunsthändler Ambroise Vollard statt. Im Sommer desselben Jahres reiste Matisse auf Veranlassung von Paul Signac nach Saint-Tropez und begann, Bilder im Stil des Neoimpressionismus zu malen.
Entstehung des Fauvismus (1905)
Den Sommer des Jahres 1905 verbrachte Matisse mit André Derain und zeitweise mit Maurice de Vlaminck in Collioure, einem Fischerdorf am Mittelmeer. Dieser Aufenthalt wurde zu einem bedeutsamen Wendepunkt in seinem Schaffen. So kristallisierte sich in dieser Zeit in Zusammenarbeit mit Derain ein Stil heraus, der unter dem Namen Fauvismus in die Kunstgeschichte einging. Die Bewegung erhielt ihren Namen, als die kleine Gruppe gleichgesinnter Maler, bestehend aus Matisse, André Derain und Maurice de Vlaminck, zum ersten Mal in einer Ausstellung des Salon d’Automne in Paris im Herbst 1905 ihre Bilder zeigte und Empörung bei Publikum und Kunstkritikern erntete.
Der Kritiker Louis Vauxcelles bezeichnete die Künstler als „Fauves“ („Die wilden Tiere“). Sein Kommentar „Donatello chez les fauves“ wurde am 17. Oktober 1905 in der Zeitschrift Gil Blas veröffentlicht und erlangte Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch. Im Mittelpunkt der Kritik stand das starkfarbige Gemälde Femme au chapeau (Frau mit Hut) von Matisse. Leo Stein, ein Bruder von Gertrude Stein, kaufte das Bild für 500 Franc. Dieser „Skandalerfolg“ trieb Matisse’ Marktwert in die Höhe. Die Steins gehörten ebenfalls in der Zukunft zu seinen Förderern. Die Gruppe der Fauvisten löste sich bereits 1907 wieder auf.
Heute erinnert der Chemin du Fauvisme in Collioure an die dortige Entstehung des Fauvismus: An 19 Stellen des Ortes sind auf einem Rundweg Reproduktionen der dort entstandenen Gemälde von Matisse und Derain angebracht.
Bekanntschaft mit Picasso (1906)
Am 20. März 1906 zeigte Matisse im Salon des Indépendants sein neues Werk Lebensfreude (Le bonheur de vivre). Kritiker und akademische Maler reagierten gereizt; Paul Signac, Vizepräsident der Indépendants, reihte sich in die Kritik ein und nahm Matisse die durch das Gemälde deutlich gewordene Absage an den Nachimpressionismus übel. Leo Stein empfand es jedoch „als das wichtigste Bild unserer Zeit“ und erwarb es für den gemeinsam mit seiner Schwester Gertrude geführten Salon.
Im selben Jahr lernte Matisse Pablo Picasso kennen; ihr erstes Zusammentreffen fand im Salon der Steins statt, in dem Matisse seit einem Jahr regelmäßig verkehrte. Mit Picasso verband ihn seit dieser Zeit eine von schöpferischer Rivalität und gegenseitigem Respekt getragene Freundschaft. Gertrude Steins amerikanische Freunde aus Baltimore, Clarabel und Etta Cone, wurden ebenfalls Förderer und Sammler von Matisse und Picasso. In der Gegenwart ist die Cone Collection im Baltimore Museum of Art ausgestellt.
Reise nach Algerien (1906)
Im Mai 1906 reiste Matisse nach Algerien und besuchte die Oase Biskra. Während der Reise malte er nicht; erst nach der Rückkehr entstand das Gemälde Blauer Akt (Erinnerung an Biskra) und nach der Vollendung des Gemäldes eine Skulptur Liegender Akt I (Aurora), die eine ähnliche Körperhaltung aufweist. Von der zweiwöchigen Reise brachte er Gebrauchsgegenstände wie Keramiken und Stoffe mit, die er häufig als Motive für seine Bilder verwendete. Matisse entnahm der orientalischen Keramik die reine, flächig aufgetragene Farbe, die Reduktion der Zeichnung auf eine arabeskenhafte Linie sowie die flächige Anordnung des Bildraums. Orientalische Teppiche erschienen auf seinen Gemälden wie bei keinem anderen Maler der Moderne. Ein Beispiel ist das Stillleben Orientalische Teppiche, das er nach der Rückkehr malte.
Die Académie Matisse (1908–1911)
Auf Betreiben und mit Unterstützung seiner Bewunderer, Michael, Sarah, Gertrude und Leo Stein sowie Hans Purrmann, Marg und Oskar Moll und anderer gründete er eine private Malschule, die seinen Namen erhielt: „Académie Matisse“. Dort unterrichtete er von Januar 1908 bis 1911 und hatte schließlich 100 Schüler aus dem In- und Ausland. Purrmann war für Organisation und Verwaltung zuständig.
Der Unterricht fand zunächst in den Räumen des Couvent des Oiseaux an der Rue de Sèvres statt. In diesem leerstehenden Kloster hatte Matisse bereits seit 1905 neben seinem ursprünglichen Atelier am Quai St.-Michel einen weiteren Atelierraum angemietet. Nachdem die Gründung der Privatakademie beschlossen worden war, mietete Stein im Couvent einen weiteren Raum für den Unterricht. Allerdings musste der Klosterkomplex schon nach wenigen Wochen geräumt werden. Die Schule zog deshalb in den Couvent de Sacré-Cœur auf dem Boulevard des Invalides an der Ecke der Rue de Babylon um.
Durch ihren nicht-kommerziellen Charakter hob sich die Académie Matisse von vergleichbaren Meisterateliers ab. Matisse legte viel Wert auf eine klassische Grundausbildung der jungen Künstler. Einmal in der Woche stand ein gemeinsamer Museumsbesuch auf dem Lehrplan. Das Arbeiten nach einem Modell kam erst nach der Mühe des Kopierens. Für die damalige Zeit war der Frauenanteil innerhalb der Schülerschaft überraschend hoch. Unter den insgesamt 18 deutschen Schülern, beispielsweise Friedrich Ahlers-Hestermann, Franz Nölken und Walter Alfred Rosam, waren acht Künstlerinnen, unter anderem Mathilde Vollmoeller und Gretchen Wohlwill. Auch die in Russland geborene Olga Markowa Meerson, früher Mitstudentin von Wassily Kandinsky in München, und die Dänin Astrid Holm gehörten zu seinen Schülerinnen.
Mit Hans Purrmann unternahm Matisse 1908 seine erste Reise nach Deutschland. Dort lernte er die Künstlergruppe Brücke kennen. Er wurde als „Übervater ihrer Rebellion“ zum Beitritt in die Gruppe aufgefordert – vergeblich. Im selben Jahr fand seine erste amerikanische Ausstellung in Alfred Stieglitz’ Galerie 291 statt. Seine kunsttheoretische Schrift Notes d’un Peintre (Notizen eines Malers) erschien am 25. Dezember 1908 in der Grande Revue.
Umzug nach Issy-les-Moulineaux (1909)
Der russische Mäzen Sergei Schtschukin war auf Matisse’ Werk aufmerksam geworden und erteilte ihm den Auftrag zu zwei großen Gemälden: Der Tanz und Die Musik. Die Krisenjahre waren überwunden, und die finanziell gefestigte Position ermöglichte es Matisse, 1909 den Wohnsitz am Quai Saint-Michel in Paris zu verlassen und nach Issy-les-Moulineaux zu ziehen, wo er ein Haus kaufte und auf dem Grundstück sein Atelier errichten ließ. Für lange Zeit standen ihm die Familienmitglieder kostenlos Modell und kamen seinen Wünschen verständnisvoll entgegen. Sie richteten sich nach den Bedürfnissen des Künstlers, beispielsweise mussten die Kinder beim Essen schweigen, um die Konzentration des Vaters nicht zu stören.
Nach der Teilnahme an der von Roger Fry im Jahr 1910 zusammengestellten Ausstellung Manet and the Post-Impressionists in London wurden Matisse’ Skulpturen erstmals 1912 in Alfred Stieglitz’ Galerie 291 in New York ausgestellt.
Ein Jahr später, 1913, nahmen einige seiner Gemälde an der bedeutenden Ausstellung Armory Show, New York, teil, die das konservative amerikanische Publikum jedoch mit ätzender Kritik bedachte. Der Schatzmeister der Armory Show, Walter Pach, vertrat Matisse’ Werk von 1914 bis 1926 in den USA.
Um 1912 wurden einige Kompositionen von Matisse von vielen Kritikern als parakubistisch angesehen. Matisse und Picasso tauschten in jenen Jahren ihre Ideen häufig aus. Matisse äußerte: „Wir gaben uns gegenseitig viel bei diesen Begegnungen.“ In jenen Gesprächen spielte Picasso den advocatus diaboli, der an Matisse’ Malerei ständig etwas in Frage stellen wollte, was ihn in Wirklichkeit selbst sehr beschäftigte.
Neben seinen Aufenthalten in Sevilla (1910/1911) und Tanger (1911/1912 und 1912/1913), sowie einer Reise nach Moskau (1911) weilte Matisse im Sommer 1914 in Berlin.
Kriegsjahre (1914–1918)
Zu Beginn des Ersten Weltkriegs im August 1914 hielt sich Matisse in Paris auf. Er meldete sich zum Militärdienst, sein Gesuch wurde jedoch abgelehnt. Nachdem das Gehöft der Familie bei einem deutschen Angriff zerstört worden war, erhielt Matisse keine Nachricht mehr von seiner Mutter und von seinem Bruder, der wie die anderen Männer des Dorfes von deutschem Militär als Kriegsgefangener mitgenommen worden war. Kurz vor der Marne-Schlacht verließ er Paris und fuhr mit Marquet nach Collioure. Die Schrecken jener Zeit führte Fauvisten und Kubisten, die bisher durch künstlerische Konflikte zerstritten waren, wieder näher zusammen, so wohnte Juan Gris bei dem Lehrer der Kinder von Matisse. Dessen kubistischer Einfluss verstärkte Matisse’ Neigung zu geometrischer Vereinfachung. Die Söhne Jean und Pierre mussten ab dem Sommer 1917 Militärdienst leisten.
In Nizza (1916–1954)
Matisse hielt sich 1916 auf ärztliches Anraten in Menton an der Côte d’Azur auf, da er unter Bronchitis litt, und mietete 1916/1917 in Nizza im Hôtel Beau-Rivage ein Zimmer. Diese Stadt sollte für die weiteren Jahre zu seinem Domizil werden. Nachdem er zwischenzeitlich im Hôtel Méditerranée gewohnt hatte, bezog er in den 1920er-Jahren eine zweistöckige Wohnung am Place Charles-Félix in Nizza. In den Monaten Mai bis September kehrte er regelmäßig nach Issy-les-Moulineaux zurück und arbeitete dort in seinem Atelier.
1918 fand in der Galerie Guillaume die Ausstellung Matisse – Picasso statt, die in gewissem Maße ein Beweis für die führende Rolle dieser Maler in der zeitgenössischen Kunst war. Matisse zeigte einige seiner Bilder Renoir, den er in dieser Zeit oft besuchte; ebenso verkehrte er mit Bonnard in Antibes.
Im Jahr 1920 wurde Djagilews Ballett Le Chant du Rossignol in Paris uraufgeführt, für das Matisse die Kostüme und das Bühnenbild entworfen hatte. Er widmete sich erneut der Arbeit an Skulpturen, die er in den vorhergehenden Jahren vernachlässigt hatte. 1927 organisierte sein Sohn Pierre Matisse, der Galerist geworden war, eine Ausstellung für ihn in seiner New Yorker Galerie; im selben Jahr erhielt er den Preis für Malerei der Carnegie International Exhibition in Pittsburgh.
Zur Entspannung unternahm Matisse viele Reisen, so 1921 nach Étretat, 1925 nach Italien und 1930 über New York und San Francisco nach Tahiti.
Scheidung – Auftrag zum Wandgemälde Tanz (1930)
Auf der Rückreise im September 1930 besuchte er seinen wichtigen Sammler Albert C. Barnes in Merion (USA), der ihn um ein Wandbild mit dem Thema Tanz für sein Privatmuseum bat. Werke von Georges Seurat, Cézanne, Auguste Renoir füllten dort bereits die Wände. Matisse nahm die Herausforderung an und konnte die Arbeit 1932 fertigstellen. Im Jahr 1933 wurde sein Enkel Paul Matisse in New York geboren.
Für die gewaltige Aufgabe von Barnes’ Wandgemälde hatte Matisse die 22-jährige russische Emigrantin Lydia Delectorskaya (1910–1998) als Assistentin angestellt, die ihm außerdem Modell saß. Daraufhin wurde er von seiner Frau Amélie vor die Alternative gestellt: „Ich oder sie.“ Lydia Delectorskaya wurde entlassen, trotzdem forderte Amélie die Scheidung und verließ ihn nach 31 Jahren Ehe. Matisse wurde sehr krank und stellte Delectorskaya wieder ein. Nach einem Parisaufenthalt bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs kehrte er nach Nizza zurück.
In den folgenden Jahren entstanden Projekte für Tapisserien und Buchillustrationen. Er radierte Szenen aus der Odyssee als Illustrationen zum Ulysses von James Joyce. Im November 1931 gab das Museum of Modern Art Matisse die Gelegenheit zu seiner ersten großen amerikanischen Einzelausstellung in New York. Vorausgegangen war eine bedeutende Ausstellung in der Berliner Galerie Thannhauser im Spätsommer 1930. So brachten die Jahre 1930 bis 1931 viele von Matisse’ persönlichen Plänen zur Reife und festigten seinen bereits wachsenden internationalen Ruf. Im Oktober erschien das erste von Matisse illustrierte Buch, die Skira-Ausgabe der Poésie de Stéphane Mallarmé.
1937 wurde Matisse von Léonide Massine gebeten, Dekorationen und Kostüme für Rouge et noir zu entwerfen, ein Ballett mit der Musik von Schostakowitsch und der Choreographie von Massine. Ein Jahr später übersiedelte er nach Cimiez in das frühere Hotel Régina, mit Blick auf Nizza.
Schwere Krankheit – Arbeit an Jazz (1941–1946)
1941 musste sich Matisse in Lyon einer schweren Darmoperation unterziehen. Fast drei Monate blieb er in der Klinik, danach zwei Monate mit Grippe im Hotel. Er litt an einem Zwölffingerdarmkrebs und zwei nachfolgenden Lungenembolien.
Im Mai kehrte er wieder nach Cimiez zurück. Die Operation und die darauffolgende Krankheit setzten ihm ernstlich zu, sodass er sich nur noch beschränkte Zeit aufrecht halten konnte. Während seiner Rekonvaleszenz begann er von neuem zu arbeiten, er malte und zeichnete im Bett, so unter anderem an den Illustrationen für die Fabiani-Ausgabe von Henry de Montherlants Pasiphaé und die Skira-Ausgabe der Florilège des amours de Ronsard.
In seinem nach einem Luftangriff auf Cimiez im Jahr 1943 bezogenen Atelier zu Füßen des Montagne du Baou in der Villa Le Rêve, zwei Kilometer vom Hauptplatz des provenzalischen Dorfes Vence entfernt, begann Matisse an seinen Schnitt- und Klebekompositionen für sein Buch Jazz zu arbeiten. 1944 wurde seine geschiedene Frau verhaftet und Tochter Marguerite wegen Beteiligung an der Résistance deportiert und zu einer sechsmonatigen Haft verurteilt. Le Rêve blieb bis 1948 sein Wohnsitz, dann kehrte er nach Nizza in das Hotel Régina zurück.
Im Frühsommer 1945 reiste Matisse nach Paris, wo 37 Werke im Salon d’Automne in einer Retrospektive gezeigt wurden. Im selben Jahr stellte er mit Picasso zusammen im Victoria und Albert Museum in London aus. 1946 erhielt Matisse erstmals Besuch von Picasso und dessen Lebensgefährtin Françoise Gilot in Vence; die beiden Künstler trafen sich bis 1954 noch mehrmals.
Letzte Jahre – Die Kapelle in Vence (1947–1954)
Im Jahr 1947 wurde Matisse in den Rang eines Kommandeurs der Ehrenlegion erhoben. Im selben Jahr begann er mit Entwürfen für eine Kapelle der Dominikanerinnen, die Rosenkranzkapelle in Vence, die ihn während der nächsten Jahre fast ausschließlich beschäftigen sollten. Das Projekt war das Ergebnis einer engen Freundschaft zwischen Matisse und Schwester Jacques-Marie alias Monique Bourgeois. Er hatte sie 1941 als Pflegerin und Modell angestellt; 1946 trat sie in ein Dominikanerkloster in Vence ein und erhielt den Namen Jacques-Marie. Als sie sich dort wiedersahen, bat sie ihn um Rat für die Errichtung einer Kapelle für das Kloster. Im Dezember 1949 wurde der Grundstein für die Kapelle gelegt, und am 25. Juni 1951 erfolgte die Einweihung durch den Bischof von Nizza. Im selben Jahr erhielt Matisse den ersten Preis für Malerei auf der Biennale in Venedig.
Im Zusammenhang mit seinen 1951 in den USA ausgestellten Werken gab der amerikanische Kunsthistoriker Alfred H. Barr Matisse: his Art and his Public heraus, das bis in die heutige Zeit ein bedeutendes Buch über den Künstler darstellt. Im Jahr 1952 eröffnete das Musée Henri Matisse in seiner Heimatstadt Le Cateau-Cambrésis seine Pforten. Ein Jahr später folgten Ausstellungen der papiers découpés in Paris und seiner Skulpturen in London. 1954 wurde er als Ehrenmitglied in die American Academy of Arts and Letters gewählt.
Matisse arbeitete in den letzten Tagen seines Lebens an der Rockefeller Rose, die sein letztes Werk werden sollte, ein Glasfenster für die Union Church of Pocantico Hills, das er im Auftrag der Familie Nelson Rockefeller zur Erinnerung an Abby Aldrich Rockefeller gestaltete. Die Kirche enthält neben Matisse’ Werk auch Fenster von Marc Chagall.
Matisse starb am 3. November 1954 in Nizza an einem Herzanfall. Sein Grab – der Gedenkstein ist ihm und seiner früheren Ehefrau gewidmet – liegt auf dem höchsten Punkt des Friedhofs von Cimiez; es ist ein Geschenk der Stadt Nizza.
Am 5. Januar 1963 wurde ein weiteres Museum, das Musée Matisse, in Nizza gegründet. Der Künstler selbst schenkte bereits vor der Gründung am 21. Oktober 1953 das Gemälde Stillleben mit Granatapfel (1947), vier Zeichnungen aus den Jahren 1941/42, den Scherenschnitt Die kreolische Tänzerin (1950) sowie die zwei Seidendrucke, Ozeanien – Das Meer und Ozeanien – Der Himmel, beide aus dem Jahr 1947. Weitere Schenkungen der Erben folgten zwischen den Jahren 1960 und 1978.
Das malerische Werk
Matisse’ Bildauffassung
In Matisse’ Bildwelt erhält die Farbe durch flächig-dekorativen und ornamentalen Einsatz unter Auslassung ihrer räumlichen Gestaltungsaspekte autonomen Charakter. Die Farbgebung wird hierbei weder der Lokalfarbe noch der Beschreibung von Oberflächenstrukturen unterworfen. Matisse setzt sie vielmehr als Mittel ein, die farblichen Empfindungen, die durch den Eindruck des Motivs im Maler ausgelöst werden, wiederzugeben. Auf seinem Weg über den Fauvismus schuf er eine Bildwelt, in der dem Gegenstand nicht mehr Bedeutung beigemessen wird als dem Binnenraum, das heißt dem Raum zwischen den Gegenständen. Keine dieser Formen ist einer anderen bei der Verwirklichung der ‚expression‘ (‚Ausdruck und Aussage‘) als Gestaltungselement über- respektive untergeordnet. Die ‚expression‘ kann nach dieser Auffassung nur durch die Anordnung und den Zusammenhang der Farbformen – Farbe und Form sind eins – untereinander realisiert werden. Durch diese Sichtweise wird Naturbeobachtung (Objekt) nicht nur zum Anlass der farblichen Empfindungen (Subjekt), sondern in ihrem wechselseitigen Miteinander auch zu einem Korrektiv innerhalb des Schaffensprozesses erhoben. In diesem Sinne sah sich Matisse der Tradition verbunden. So hat Matisse – wie auch Picasso – nie den Schritt zur völligen Abstraktion vollzogen, da auf diese Weise, wie er betonte, die Abstraktion nur imitiert werde.
Charakteristisch für Matisse’ Bildaufbau ist des Weiteren, dass er die Objekte linearisiert. Die räumlichen Beziehungen zwischen den Objekten treten in den Hintergrund, werden aufgelöst, ohne jedoch ihre Raumbezüge völlig zu negieren. So hob er hervor, dass durch die Gleichstellung der Formen – Gegenstand und Binnenraum – sowie durch die Autonomie der Farbe eine Linearisierung der Bildelemente notwendig sei und umgekehrt.
Das in jenen Tagen immer stärker aufkommende Bedürfnis nach Originalität und Individualität einerseits und die Abneigung gegenüber den aus der Sicht ihrer Gegner „degenerierten“ Sichtweisen der immer noch etablierten Akademien andererseits führten dazu, dass viele Maler eine eigene Position beziehen wollten. So fand Matisse zwar in Cézanne die Figur des spiritus rector, jedoch intendierte er nicht, Cézannes Werk weiterzuführen.
Das Frühwerk bis 1900
Matisse entschied sich erst spät für eine künstlerische Laufbahn. Als 20-jähriger Anwaltsgehilfe in St.-Quentin begann er, Kunstunterricht zu nehmen. Seine ersten Bilder entsprachen dem bürgerlichen Naturalismus, den die französische Schule von den Niederländern übernommen hatte. Ein bekanntes Bild aus dieser Zeit ist Die Lesende aus dem Jahr 1894, das sich heute im Musée National d’Art Moderne in Paris befindet. In seinen Bildthemen werden Frauen vom Früh- bis zum Spätwerk in den 1950er-Jahren seine Kunst dominieren, dargestellt in Matisse’ verschiedenen Phasen. Das Stillleben mit Selbstbildnis in ähnlichen braun-grünen Farben folgte 1895. Es weist in seiner Ästhetik eine Ähnlichkeit zu Cézannes zwanzig Jahre älteren Stillleben auf, ohne deren Raffinesse zu haben. Bekannte Gemälde aus dem Jahr 1897 sind Der gedeckte Tisch und das Seestück, Belle Île; in letzterem finden sich Annäherungen an Claude Monets Sturm in Belle Île aus dem Jahr 1896, das die impressionistischen Einflüsse Monets und John Peter Russells in der Bretagne widerspiegelt.
Das Hauptwerk des Künstlers lässt sich in die folgenden fünf Perioden einteilen:
Fauve-Periode (1900–1908)
Im Jahr 1900 begann Matisse in einer Art zu malen, die im Rückblick als „Proto-Fauve“ bezeichnet wurde. Er wollte seine Formen nicht in Licht aufgelöst sehen, sondern als ein vollständiges Ganzes auffassen, und so entfernte er sich vom „orthodoxen“ Impressionismus. Es waren neben den Arbeiten Paul Cézannes die divisionistischen Arbeiten Seurats, denen er seine Aufmerksamkeit widmete. Georges Seurat und die Neoimpressionisten schufen ihre Werke nach der theoretischen Lehre, die auf der Farbtheorie Eugène Chevreuls basierte. Neben Seurat waren es Vincent van Gogh und Paul Gauguin, die Matisse’ Farbempfinden steigerten; die Imitation der Natur wollte er überwinden. Matisse’ Figurenkomposition Luxus, Stille und Begierde (1904/05) entstand beispielsweise nach divisionistischen Regeln. Wenig später erkannte er, dass die divisionistische Bildauffassung nicht dazu geeignet war, den Bildwerken Festigkeit zu verleihen und die farblichen Empfindungen des Malers wiederzugeben, daher wandte er sich, wie es Cézanne schon Jahre vor ihm getan hatte, von der impressionistischen Richtung ab.
Das Ergebnis seiner Arbeit während seiner fauvistischen Phase stellte eine Lösung in Form einer flächigen Farbgebung dar, die dem „Zerfließen“ impressionistischer Bilder entgegensteht. Beispiele sind Offenes Fenster in Collioure und Frau mit Hut, beide aus dem Jahr 1905, die auf der Ausstellung im Salon Empörung hervorriefen und damit zum Begriff „Fauvismus“ führten. In seinem Gemälde Der grüne Streifen. Bildnis Madame Matisse, ebenfalls aus dem Jahr 1905, bildet das Grün eine feste Größe. Der auf den ersten Blick unnatürlich wirkende Streifen über dem Gesicht ist nicht willkürlich gesetzt, sondern dient als Grenze zwischen Licht- und Schattenzone. Matisse zeigte auf, dass durch die Autonomie der Farbe in Verbindung mit ihrem flächenhaften Auftrag die Objekte untereinander zu linearisieren sind, ihre räumlichen Zusammenhänge somit in den Hintergrund treten müssen. Die Werke der Folgejahre stellen in erster Linie Variationen dieser grundlegenden Erkenntnis dar.
Nach eigener Aussage begann sein Lebenswerk mit dem Gemälde Die Lebensfreude, das er 1906 im Salon des Indépendants ausstellte, wo es heftige Kritik hervorrief. Nach der Algerienreise 1906 entstand Blauer Akt (Erinnerung an Biskra), die Palmen im Hintergrund reflektieren die Reise. Der weibliche Akt lastet schwer auf dem Boden und wirft einen Schatten. Die dominante Figur und die flächige Umgebung gibt Matisse’ Auffassung wieder: „Gerade die Figur und nicht das Stillleben oder die Landschaft interessiert mich am meisten. An ihr kann ich am besten, man könnte sagen, das mir stets eigene religiöse Gefühl dem Leben gegenüber zum Ausdruck bringen.“
Experimentelle Periode (1908–1917)
Matisse’ experimentelle Periode, in der er sehr produktiv war, wird in zwei Phasen unterteilt: Von 1908 bis 1910 herrschen organisch-flüssige und arabeske Formen vor, während die zweite Phase von 1911 bis 1917, geprägt von Matisse’ Auseinandersetzung mit dem Kubismus, von geometrischen Formen dominiert wird. Matisse hat seine Malerei niemals einer einheitlichen Stilistik untergeordnet, sondern er vollzog häufig Positionswechsel, von dekorativen zu realistischeren Perioden.
Im Jahr 1909 gab der russische Kunstmäzen Sergei Iwanowitsch Schtschukin zwei große Werke in Auftrag, La Danse (Der Tanz) und La Musique (Die Musik), die zum Schmuck des Treppenhauses seines Moskauer Domizils dienen sollten. Vom Tanz entstanden zwei Fassungen in unterschiedlichen Farbtönungen. Inspiriert hatte Matisse der provenzalische Rundtanz Farandole. Die jeweils aus fünf Körpern vor einem starkfarbigen Hintergrund bestehenden Bilder vermitteln Lebensfreude, der dekorative Stil verbindet sich mit der menschlichen Figur. Ihre Monumentalität folgt aus der Vereinfachung der malerischen Mittel: wenige Farben sind in großen homogenen Flächen aufgetragen, die Zeichnung wird zur reinen Linie, die die Formen bildet. Der Tanz gehört zu Matisse’ bekanntesten Werken. Durch die Vereinfachung der Formen wird auch das Gemälde Blumenstrauß und Keramikteller (1911) bestimmt. Henri Matisse fasste in einem Interview für die Zeitung Utro Rossii () am 27. Oktober 1911 während seines Aufenthalts in Moskau seine Eindrücke von russischen Ikonen sowie Objekten aus Emaille zusammen:
Im Ersten Weltkrieg wird seine Farbskala dunkler, die Reduktion auf geometrische Formen in Anlehnung an den Kubismus erreichte 1914 mit dem Bild Ansicht von Notre Dame ihren Höhepunkt und setzte sich bis 1918 fort. Die Farbe Schwarz spielt in den Kriegsjahren eine große Rolle, ein Beispiel ist das Türfenster in Collioure, 1914.
Nizza-Periode (1917–1929)
Matisse widmete sich unter anderem dem Malen von Odalisken in verschiedenen Positionen. Auch Porträts, lichtdurchflutete Interieurs, Stillleben, Landschaften standen im Zentrum seines Darstellungsinteresses. Seine Werke wiesen mehr naturalistische Züge auf als jemals zuvor. Indem Matisse seine fantasievolle Vorstellung real gestaltete, bewies er damit seinen Glauben an die Malerei als „Quelle ungetrübter Freude“.
Die Liebe zur Farbe und zum Detail wird durch den oft außergewöhnlichen „ornamentalen Hintergrund“ deutlich. Das Gemälde Dekorative Figur vor ornamentalem Hintergrund (1925/26) weist besonders die emblematischen Attribute seiner Malerei auf: eine Frau, Blumen und bunte Stoffe im Hintergrund. Es zählt zu den bedeutendsten Werken der „Nizza-Periode“. Sein Modell war zu dieser Zeit Henriette Darricarrère. In Nizza dekorierte er sein Atelier mit Stoffbahnen, Teppichen und Vorhängen. Der mit Blumen übersäte Stoff erscheint noch bei weiteren Werken, beispielsweise in Zwei Odalisken (1927/28) und Odaliske mit Lehnstuhl (1928).
Periode erneuter Einfachheit (1929–1940)
Der Nizza-Periode folgte eine Periode erneuter Einfachheit. Matisse’ künstlerisches Streben konzentrierte sich auf die Harmonie zwischen der maximalen Entfaltungsmöglichkeit der Farbe und einer fortschreitenden Abstraktion der gegenständlichen Form.
Im Jahr 1929 reiste er in die USA und war dort Jurymitglied der 29. Carnegie International. Ein Jahr später reiste er nach Tahiti, New York und Baltimore, Maryland sowie nach Merion in Pennsylvania. Albert C. Barnes aus Merion, ein bedeutender Kunstsammler moderner Kunst, der bereits die größte Matisse-Sammlung Amerikas besaß, beauftragte den Künstler, ein großes Wandbild für die Kunstgalerie seines Wohnhauses anzufertigen. Matisse wählte ein Tanzthema, das ihn bereits seit seiner fauvistischen Phase eingenommen hatte. Das Wandbild Der Tanz existiert in zwei Versionen aufgrund eines Irrtums in den Maßangaben; es wurde im Mai 1933 installiert und wird gegenwärtig bei der Barnes Foundation ausgestellt. Die Komposition zeigt in ihrer Einfachheit tanzende Frauen in überaus starker Bewegung vor einem abstrakten, fast geometrischen Hintergrund. Bei den Vorarbeiten zum Wandbild wandte Matisse ein neues Verfahren an, indem er die Komposition aus ausgeschnittenen Teilen kolorierten Papiers zusammenfügte. Ab 1940 wurden die Scherenschnitte zu Matisse’ bevorzugtem Ausdrucksmittel, eine Technik, die er bis zum Lebensende beibehielt.
Periode der Beschränkung auf das Wesentliche (1940–1954)
Die Reduktion der Form bis hin zur Abstraktion führte Matisse zur Betonung des dynamischen Elements. Um 1943 wurde wegen seiner schweren Erkrankung der Scherenschnitt zu einem Hauptausdrucksmittel in der Arbeit des Künstlers; um 1948 schloss Matisse ganz mit der Malerei ab. Er ließ von Assistenten Papierbögen mit monochromer Gouachefarbe bemalen, aus denen er seine Figuren und freien Formen ausschneiden konnte (gouaches découpées). Matisse nannte diese Technik „mit der Schere zeichnen“. Sie bot die Möglichkeit, Linie und Farbe zu verbinden, und war daher die von ihm lange erstrebte Lösung seines Anliegens. In der Zeichnung konnte er einen Eindruck in wenigen Umrisslinien darstellen, wenn auch ohne Farbe. In der Malerei fehlte diese Spontanität. Wenn die Schere den Pinsel ersetzt und direkt in die Farbe einzeichnet, wird der Gegensatz von Farbe und Linie überwunden. Das Ergebnis – der Schnitt – ist schärfer als der gezeichnete Strich, hat also einen anderen Charakter. 1947 wurde eine Folge von Scherenschnitten aus den Jahren 1943 bis 1944 als Künstlerbuch unter dem Titel Jazz veröffentlicht, die im Schablonendruck vervielfältigt worden waren. Der Titel spielt auf die Spontanität und Improvisation des Musikstils Jazz an. Zum Gebrauch der Linien schrieb Matisse in diesem Buch:
Hinzu kamen Entwürfe für Wandteppiche wie Polynesien – Der Himmel und Polynesien – Das Meer, 1946. Die Ausgestaltung einer Kapelle, der Rosenkranzkapelle (auch Chapelle Matisse genannt) in Vence, eingeweiht 1951, deren Glasfenster er ebenfalls in Scherenschnitten vorbereitet hatte, zeigt die erste Glasmalerei des Künstlers. Ein weiteres Beispiel ist die Serie Blauer Akt aus dem Jahr 1952; sie ist ausschließlich in Blau und Weiß gehalten und hat in ihrer Abstraktion eine skulpturale Wirkung.
Das grafische Werk – Buchillustrationen
Matisse schuf Zeichnungen, Studien zu seinen Werken, in großer Anzahl. Sein Interesse an grafischen Arbeiten begann um 1900, als er probeweise anfing zu radieren. Das von seiner Tochter Marguerite Duthuit und seinem Enkel Claude Duthuit herausgegebene Werkverzeichnis der Druckgrafik beschreibt etwa 800 Arbeiten, wobei die zwischen 1908 und 1948 entstandenen rund 300 Radierungen und 300 Lithografien aus den Jahren 1906 bis 1952 den Schwerpunkt bilden. Außerdem schuf er 62 Werke in Aquatinta, 68 Monotypien, 70 Linolschnitte und aus der Frühzeit 1906/07 vier Holzschnitte. Im Gegensatz zu Picasso verzichtete Matisse auf die Erprobung neuer Materialien und Techniken. 1935 fertigte Matisse 26 ganzseitige Illustrationen für den Roman Ulysses von James Joyce an. Die Illustrationen basieren auf Themen der Odyssee von Homer.
Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nahm Matisse’ grafische Arbeit einen größeren Raum ein, so entwarf er Illustrationen zu Henry de Montherlants Pasiphaé (1944), Pierre Reverdys Visages (1946), Mariana Alcaforados Lettres portugaises (1946), Charles Baudelaires Les Fleurs du Mal (1947), Pierre de Ronsards Florilège des Amours (1948) und Charles d’Orléans’ Poèmes (1950). Diese Bücher waren meistens mit schwarz-weißen Illustrationen ausgestattet; im Unterschied hierzu versah er sein bekanntes Künstlerbuch Jazz aus dem Jahr 1947, in dem er seine Reflexionen über die Kunst und das Leben niederschrieb, mit farbigen Illustrationen.
Das plastische Werk
Mehr als die Hälfte von Matisse’ Skulpturen entstanden in den Jahren zwischen 1900 und 1910. Er arbeitete oft in Serien, wobei er die Form über Jahre hinweg vereinfachte. Die erste dreidimensionale Arbeit von insgesamt 82, Jaguar, einen Hasen verschlingend, entstand während seiner bildhauerischen Studien ab dem Jahr 1899. Sie weist nicht nur auf den Einfluss von Auguste Rodin hin, sondern ebenfalls auf Antoine-Louis Barye, einen bekannten französischen Bildhauer, der für seine Tierskulpturen bekannt war. Matisse modellierte nach dessen Bronzeskulptur Jaguar dévorant un lièvre die Jaguar-Skulptur, an der er von 1899 bis 1901 arbeitete. Die Skulptur Der Knecht entstand wie das gleichnamige Gemälde im Jahr 1900 und wurde 1903 beendet. Als Modell diente ihm der Italiener Bevilaqua, der schon für Rodin in dessen Werk Johannes der Täufer (1878) und Gehender Mann (1900) Modell gestanden hatte. Matisse setzte oft Motive seiner Plastiken in Gemälde um oder umgekehrt. Die Größe seiner Skulpturen entsprachen nicht wie bei traditionellen Bildhauern der Lebensgröße, sondern sie wurden in kleinerem Format angelegt.
Im Jahr 1907 begann seine Arbeit am Liegenden Akt, den er aus dem Gemälde Luxus, Stille und Begierde (1904–1905) weiter entwickelt hatte. Das Sujet sollte ihn 30 Jahre lang beschäftigen. Die Skulptur Zwei Negerinnen aus dem Jahr 1908 findet sich wieder auf seinem Stillleben von 1910, Bronze mit Früchten. Cézannes Gemälde, Die drei Badenden, 1899 erworben, diente Matisse zum Vorbild in Werken, die den Körper monumental abbilden, so wie beispielsweise in der Reliefserie der Rückenakte, die Matisse in den Jahren 1909 bis 1929 schuf. Die Inspiration zu der Serie Jeannette I – V von 1910 bis 1913 war ein früheres impressionistisches Gemälde, der Kopf der Jeanette wurde in den Fassungen mehr und mehr verfremdet. Jeanette V bildet eine Vorstufe zur körperlichen Abstraktion, die sich später, ab den 1930er-Jahren, in der Kunst ausbreitete. Die Anregungen durch die primitive Kunst schlugen sich nicht wie bei Picasso in seinen Gemälden nieder, sondern seine Transformationen blieben in dieser Hinsicht auf das plastische Werk beschränkt.
Fast alle seine Skulpturen bestanden aus einer Edition von zehn Exemplaren, mit einer Ausnahme: Der Kleine dünne Torso aus dem Jahr 1929 existiert nur in drei Exemplaren. Matisse benutzte als Gusstechnik das Sand- und das Wachsausschmelzverfahren. Die meisten seiner plastischen Werke wurden in späteren Jahren gegossen, als eine größere Zahl von Sammlern sich dafür interessierte. Die Rückenakte I – IV, die zu den wichtigsten Matisse-Skulpturen gehören, wurden erst nach Matisse’ Tod auf Veranlassung seiner Erben gegossen. In den 1990er-Jahren ließen die Erben die meisten Originalformen vernichten, um weitere Editionen zu verhindern.
Kunsttheoretische Schriften
Unter den vier größten französischen Malern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – Matisse, Picasso, Derain und Braque – war Matisse der erste Theoretiker. Seine Schrift aus dem Jahr 1908, Notes d’un peintre (Notizen eines Malers), ging den publizierten Aussagen von Braque und Picasso mit zeitlichem Abstand voraus. Obwohl Braques frühestes Interview (1908) im Jahr 1910 veröffentlicht wurde, kamen seine Texte erst im Jahr 1917 heraus. Picassos erste theoretische Aussage, Picasso speaks, kam im Mai 1923 heraus.
In den Notizen eines Malers verdeutlichte Matisse die Hauptanliegen seiner Kunst: „Expression“ („Ausdruck und Aussage“), geistige Verarbeitung von Naturformen, Klarheit und Farbe. Ferner bekennt er in diesem Artikel seinen Glauben an die Kunst als Ausdruck der Persönlichkeit. Sie ist für ihn weder Darstellung einer „Imagination“ noch Mittler literarischer Vorstellungen, sondern er begründet sie auf der intuitiven Synthese von Natureindrücken. In dieser Schrift lautet eine zentrale, oft zitierte Passage:
Der zweite theoretische Text Notes d’un peintre sur son dessin (Notizen eines Malers über das Zeichnen) erschien im Jahr 1939 in Le Point. In den Jahren nach 1930 schuf er viele Strichzeichnungen, die mit Bleistift oder Feder ausgeführt wurden; die Federzeichnungen entstanden, wie Matisse definierte, „erst nach Hunderten von Zeichnungen, nach Versuchen, Erkenntnissen, und Formdefinitionen; dann zeichnete ich sie mit geschlossenen Augen.“
Rezeption
Zeugnisse von Zeitgenossen
Der um viele Jahre ältere Impressionist Auguste Renoir äußerte gegen Ende des Ersten Weltkriegs gegenüber Henri Matisse, als dieser ihn in Südfrankreich besuchte:
Der um sechs Jahre ältere Malerkollege Paul Signac kaufte im Jahr 1905 das von Matisse im Salon des Indépendants ausgestellte Bild Luxus, Stille und Wollust. Ein Jahr später mokierte sich der Neoimpressionist über Matisse’ im Salon ausgestelltes Werk Die Lebensfreude:
Gertrude Stein, Matisse’ Förderin, beschrieb sein Gemälde aus dem Jahr 1907 Blauer Akt (Erinnerung an Biskra) und seine Intention folgendermaßen:
Matisse’ Schüler und Freund, der deutsche Maler Hans Purrmann, organisierte im Jahr 1908 eine Ausstellung in Berlin in der Galerie von Paul Cassirer. Die Ausstellung stieß auf Kritik. Bei einem gemeinsamen Treffen mit Max Liebermann in der Galerie fürchtete dieser beim Anblick der Bilder „der Jugend Verderben“ und beschäftigte sich lieber mit seinem Dackel. „Pfefferkuchen-Malerei“ und „Tapete“ lauteten die Schlagworte jener Zeit über Matisse’ Malerei. Wenige Jahre vor Matisse’ Tod äußerte sich Purrmann über dessen späte Lebensumstände:
Picasso drückte sehr häufig seine Wertschätzung gegenüber Matisse aus. Unter den vielen Äußerungen Picassos lässt die unten aufgeführte jedoch am deutlichsten erkennen, wie sehr Picasso das Werk Matisse’ erkannte:
Beziehung zu Picasso
Matisse war der einzige zeitgenössische Künstler, den Picasso als ebenbürtig ansah. Kein anderer zeitgenössischer Künstler hatte ihm, trotz ihrer gegensätzlichen künstlerischen Ausrichtung, so viel bedeutet wie Matisse. Während ihrer Treffen herrschte ein reger Austausch. „Wir müssen uns soviel miteinander unterhalten, wie wir können“, sagte Matisse Ende der 1940er-Jahre zu Picasso und fügte hinzu: „Wenn einer von uns stirbt, wird es einige Dinge geben, über die der andere mit niemandem sonst sprechen kann.“
Picasso, der auch bisweilen grausame Beleidigungen vom Stapel ließ, gestattete niemals einem anderen, an Matisse Kritik zu üben. Es gibt viele Beweise dafür, und eines der besten unter den zahlreichen Zeugnissen stammt von Christian Zervos. Matisse und Picasso verbrachten mit mehreren anderen einen Nachmittag in der Coupole. Matisse verließ für einen Augenblick die Runde. Als jemand fragte, wo er abgeblieben sei, antwortete Picasso, er sitze sicher auf seinem Lorbeerkranz. Die meisten der Anwesenden begannen, weil sie bei Picasso Anklang suchten, über Matisse herzufallen. Picasso wurde darauf wütend und schrie: „Ich dulde nicht, daß ihr etwas gegen Matisse sagt, er ist unser größter Maler.“
So würdigten sich die beiden gegenseitig. Picasso äußerte: „Im Grunde gibt es nichts als Matisse.“ „Nur Picasso kann sich alles erlauben. Er kann alles verwirren. Entstellen, verstümmeln, zerstückeln. Er ist immer, er bleibt immer im Recht“, sagte Matisse. „Deshalb allein zum Beispiel ist Matisse Matisse: weil er die Sonne im Leib hat“, sagte Picasso.
Die respektvolle und von einer schöpferischen Rivalität geprägte künstlerische Beziehung zwischen diesen beiden Maßstäbe setzenden Künstlern des 20. Jahrhunderts wird von Françoise Gilot in ihrem Buch Matisse und Picasso – Eine Künstlerfreundschaft ausführlich hervorgehoben.
Ihre Gegensätzlichkeit zeigte sich in den grundlegenden Fragen nach dem Charakter des Bildes und nach dem Sinn der Kunst. Picasso wollte das dissonante, Matisse das harmonische Bild. Ihre Gegensätze treten in den folgenden Zitaten scharf hervor: „Die Malerei ist nicht dazu da, Wohnungen zu schmücken. Sie ist eine Angriffs- und Verteidigungswaffe“, sagte Picasso 1945 in einem Interview in „Lettres Françaises“. „Ein Gemälde an der Wand sollte wie ein Blumenstrauß im Zimmer sein“, äußerte Matisse sich wenige Monate später in derselben Zeitschrift.
Andererseits stellt das Werk Cézannes das beide verbindende Element dar. Picasso hatte wie Matisse dessen Gemälde studiert und äußerte später gegenüber dem Fotografen Brassaï: „Cézanne! Er war unser aller Vater!“ Matisse studierte unter anderem Cézannes Briefe und er hatte mit ihm den Forscherinstinkt gemein, der danach strebt, ein voll und ganz „realisiertes“ Bild hervorzubringen (siehe hierzu → réalisation bei Cézanne). Dieses Suchen und Forschen, das die Schriften von Matisse wie ein roter Faden durchzieht, findet sich ganz ausgeprägt bei Cézanne.
Matisse’ Widerstand gegen die abstrakte Malerei
Mit nicht nachlassender Vehemenz verurteilte Matisse im Gespräch mit Marie Raymond 1953 die abstrakte Malerei. „Begriffe wie nicht gegenständlich oder abstrakt sind nichts anderes als ein Schutzschild, um einen Mangel zu verbergen.“ Und fügt hinzu: „Schreiben sie es nur genauso, wie ich es Ihnen sage: Matisse ist gegen die abstrakte Kunst. Picasso denkt genau wie ich: alle, die ein Werk geschaffen haben, denken wie ich.“
Auf die Frage Marie Raymonds, ob denn nicht sein Spätwerk eine gewisse Annäherung an die Experimente der Abstrakten aufweist, erwiderte Matisse, dass Kunst schon immer abstrakt war und dass er, wenn er jünger wäre, eine Kampagne gegen die abstrakte Kunst beginnen würde.
An anderer Stelle hob er zur Begründung seiner Ablehnung der abstrakten Malerei hervor, dass diese die Abstraktion nur imitiere.
Einfluss auf den Abstrakten Expressionismus in den USA
Nachdem Mark Rothko, ein Vertreter des Abstrakten Expressionismus, Ende der 1940er-Jahre im New Yorker Museum of Modern Art Matisse’ Red Studio (Das rote Atelier, 1911) gesehen hatte, war er vom Schaffen des französischen Künstlers sehr beeindruckt, und es beeinflusste wesentlich sein eigenes Werk. Wie Rothko einmal erzählte, habe er „Stunden um Stunden“ vor dem Gemälde sitzend verbracht. Im Todesjahr von Matisse, 1954, malte Rothko Homage to Matisse; dieses Werk erzielte im November 2005 bei einer Auktion über 22 Millionen Dollar.
Die amerikanischen Maler des Abstrakten Expressionismus wie Robert Motherwell, Sam Francis sowie Frank Stella und der Farbfeldmaler Ellsworth Kelly sind ebenfalls vom Werk Matisse’ beeinflusst worden.
Matisse und seine Modelle
Über Leben und Arbeit von Matisse gibt es zahlreiche Vorurteile – zum Beispiel, dass er mit seinen weiblichen Modellen Affären gehabt haben soll. Hilary Spurling, die britische Matisse-Biografin, hat diese Vermutung ins Reich der Legende verwiesen. Sie schreibt, dass sich aus Briefen, Tagebucheinträgen und Berichten seiner Weggefährten ein anderes Bild ergäbe: „Sie alle beschrieben ein System mönchischer Strenge und Disziplin, und alle waren von Matisse’ unmenschlicher Norm der Selbstkasteiung bis an die Grenzen des Erträglichen getrieben worden“. Spurling hat mit allen noch lebenden Modellen ausführliche Gespräche geführt.
Filme über Matisse
Der Schriftsteller Louis Aragon hatte Henri Matisse im Winter des Jahres 1941 kennengelernt, als er mit Elsa Triolet aus dem besetzten Teil Frankreichs nach Nizza geflohen war, um dort die gemeinsame Arbeit in der Résistance fortzusetzen. Es entstand eine tiefe Freundschaft, aus der heraus Aragons Buch über Matisse, Henri Matisse, roman entstand, das jedoch erst kurz nach Elsas Tod im Jahr 1971 vollendet werden konnte. Aragons Werk bildete mit der Mischung aus Autobiografie und Kunstkritik sowie Aufsätzen und Gedichten die Vorlage für den Filmemacher Richard Dindo, der bereits Dokumentarfilme, unter anderem über Max Frisch und Arthur Rimbaud, gedreht hatte. Dindo schildert in dem 52-minütigen Farbfilm Aragon, le roman de Matisse die Rückkehr an die Orte, wo Matisse gewohnt hatte. Eine gelungene Montage verdichtet Bilder und Töne zu einer filmischen Lektüre von Gemälden, Buch und authentischen Schauplätzen. Produktion: Lea Produktion, Zürich 2003, Regie Richard Dindo.
Ferner wurden Filme gedreht, die als Videofilme erhältlich sind und von verschiedenen Fernsehsendern ausgestrahlt wurden: Gero von Boehm drehte Henri Matisse – die Jahre in Nizza, Fernsehmitschnitt: ARD, 4. Oktober 1988. Matisse – Picasso, eine unwahrscheinliche Freundschaft von Philippe Kohly aus dem Jahr 2002 ist ein französischer Filmbericht, Fernsehmitschnitt: 3sat, 20. Juli 2003. Henri Matisse – eine filmische Reise (OT: Henri Matisse – un voyage en peinture), ein Filmporträt, wurde von Heinz Peter Schwerfel bearbeitet, Deutschland/Frankreich 2005, Fernsehmitschnitt: Arte, 10. Dezember 2005.
Der halbstündige Fernsehfilm Matisse & Picasso: A Gentle Rivalry entstand im Jahr 2001; er befasst sich mit den Porträts der zwei „Giganten“ in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Er zeigt unter anderem selten veröffentlichte Fotografien ihrer Gemälde und Skulpturen sowie Fotos und Filme der beiden Künstler aus Archiven, die sie bei der Arbeit zeigen. Geneviève Bujold ist die Stimme von Françoise Gilot, Robert Clary ist Matisse und Miguel Ferrer Picasso. Die mit einem nationalen Emmy ausgestattete Produktion stammt von KERA-Dallas/Fort Worth/Denton in Zusammenarbeit mit dem Kimbell Art Museum, Fort Worth, Texas.
Matisse auf dem Kunstmarkt
Matisse’ Werke erzielen oft Spitzenpreise bei Auktionen. Beispiele aus den letzten Jahren sind das Gemälde L'Espagnole (1922), das 2007 bei Sotheby’s in New York City für 10,121 Millionen Dollar versteigert wurde sowie das Gemälde aus dem Jahr 1911, Les coucous, tapis bleu et rose, das im Februar 2009 auf der Versteigerung der Kunstsammlung des Modeschöpfers Yves Saint Laurent durch Christie’s in Paris den Rekordpreis für ein Matisse-Gemälde erzielte. Der Hammer fiel bei 35.905.000 Euro. Unter den aktuell zwölf teuersten Gemälden der Welt sind seine Werke im Gegensatz zu Arbeiten Picassos jedoch nicht zu finden. Sein Bronzerelief, Nu de dos 4 état, versteigert bei Christie’s am 3. November 2010, erbrachte den Rekord für ein Matisse-Werk (in Dollar): Die Gagosian Gallery, New York, erwarb es für mehr als 48 Millionen Dollar (umgerechnet gut 43 Millionen Euro).
Frauenbildnis beim Schwabinger Kunstfund entdeckt
In einer Pressekonferenz zum Schwabinger Kunstfund am 5. November 2013 wurde ein Matisse zugeschriebenes Porträt einer sitzenden Frau gezeigt, entstanden um 1924, das 1942 durch den Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg aus dem Banktresor des Kunsthändlers Paul Rosenberg in Libourne beschlagnahmt worden war. Beim Schwabinger Kunstfund handelt es sich um die Entdeckung von 1280 Kunstwerken in der Münchner Wohnung von Cornelius Gurlitt am 28. Februar 2012. Zu den dort gefundenen und teils unbekannten Werken gehören neben Matisse’ Porträt unter anderem Arbeiten von Marc Chagall, Otto Dix, Max Liebermann, Franz Marc oder Pablo Picasso.
Matisse in Alltag und Wissenschaft, Ehrungen
Die Werke des Künstlers sind in der Gegenwart so beliebt, dass sowohl viele Poster mit Abbildungen seiner Werke angeboten werden als auch Puzzles, beispielsweise das 1000-teilige Puzzle mit dem Werk Der Tanz. Der Autohersteller Citroën stellt nicht nur ein Auto mit dem Namen seines Freundes und Antipoden Picasso her, sondern seit dem Jahr 2006 auch den C Matisse. Matisse’ Name ist ebenfalls in der Musikszene vertreten: Im Jahr 1999 nannte sich eine alternative griechische Rockband in Athen Matisse, und in Troisdorf gibt es eine Musikkneipe gleichen Namens. 1993 wurde eine Rose gezüchtet, die seinen Namen erhielt. Straßen und Plätze in Frankreich wurden nach Matisse benannt.
Auf dem Planeten Merkur werden Krater nach verstorbenen bekannten Persönlichkeiten benannt, beispielsweise nach Künstlern, Malern, Schriftstellern und Musikern. Der Matisse-Krater wurde 1976 nach Henri Matisse benannt; er hat einen mittleren Durchmesser von rund 190 Kilometern und liegt auf der Südhalbkugel des Merkur. Am 2. April 1999 wurde ein 1973 entdeckter Asteroid des inneren Hauptgürtels nach Matisse benannt: (8240) Matisse.
Ausstellungen, Museen (Auswahl)
Werke von Henri Matisse wurden in der Galerie 291 (1908, 1910, 1912), der Armory Show (1913), auf der documenta 1 (1955), der documenta II (1959) und der documenta III (1964) in Kassel gezeigt.
1904: Erste Einzelausstellung bei Ambroise Vollard, Paris
1905: Gemeinschaftsausstellung im Salon d’Automne, der Begriff Fauvismus wurde hier geprägt.
1910: Erste Ausstellung bei Bernheim-Jeune, Paris
1919/1920: Ausstellungen bei Bernheim-Jeune, Paris
1931–1933: Retrospektiven in Berlin, Paris, Basel, New York
1934/35: Mehrere Ausstellungen in der New Yorker Galerie seines Sohnes Pierre Matisse
1945: Retrospektive im Salon d’Automne; gemeinsame Ausstellung mit Picasso in London
1949: Ausstellung von Scherenschnitten und anderen neuen Werken im Musée National d’Art Moderne, Paris
1952: Eröffnung des Musée Matisse in seiner Heimatstadt Le Cateau-Cambrésis
1953: Ausstellung der Scherenschnitte in der Galerie Berggruen, Paris und der Skulpturen in London
1963: Eröffnung des Musée Matisse in Nizza
2002: Matisse – Picasso. Tate Modern, London; Les Galeries Nationales du Grand Palais, Paris; Museum of Modern Art, New York
2007: Matisse Jazz. Das Musée Matisse zu Gast in Nürnberg. Germanisches Nationalmuseum & Musée Matisse, Nürnberg, 18. Juli 2007 bis 4. November 2007
2008/2009: Matisse – Menschen Masken Modelle. Staatsgalerie Stuttgart und Bucerius Kunst Forum, Hamburg
2009/2010: Matisse – Rodin, une rencontre entre deux maîtres de l’art moderne, Musée Matisse, Nizza; anschließend im Musée Rodin, Paris
2010/11: Cézanne – Picasso – Giacometti. Meisterwerke der Fondation Beyeler, Leopold Museum, Wien
2012/13: Im Farbenrausch. Munch, Matisse und die Expressionisten. Museum Folkwang, Essen
2013/14: Matisse und die Fauves. Albertina, Wien, 20. September 2013 bis 12. Januar 2014
2014: Henri Matisse: The Cut-Outs. Tate Gallery of Modern Art, London, 17. April bis 7. September 2014.
2015/16: Matisse Prints & Drawings, Baltimore Museum of Art, Baltimore, 9. Dezember 2015 bis 3. Juli 2016
2016/17: Henri Matisse – Die Hand zum Singen bringen. Kunstmuseum Pablo Picasso Münster, Münster, 29. Oktober 2016 bis 12. Februar 2017
2017/18: Matisse – Bonnard: „Es lebe die Malerei!“ Städel, Frankfurt am Main, 13. September 2017 bis 14. Januar 2018
2017/18: Die Sehnsucht lässt alle Dinge blühen … Van Gogh bis Cézanne, Bonnard bis Matisse. Kunstmuseum Bern, 11. August 2017 bis 11. März 2018
2019/20: Inspiration Matisse. Kunsthalle Mannheim, 27. September 2019 bis 19. Januar 2020
2020: Van Gogh, Cézanne, Matisse, Hodler. Die Sammlung Hahnloser. Albertina, Wien, 27. August bis 15. November 2020
2020/21: Matisse, comme un roman. Centre Georges-Pompidou, Paris, 21. Oktober 2020 bis 22. Februar 2021.
2022: Henri Matisse and The Red Studio. Museum of Modern Art, New York, 1. Mai bis 10. September 2022
Werke (Auswahl)
Gemälde und Scherenschnitte, grafisches Werk
1894: Die Lesende, Öl auf Leinwand, 61,5 × 47,9 cm, Musée National d’Art Moderne, Paris • Abb.
1897: Der gedeckte Tisch, Öl auf Leinwand, 100 × 131 cm, Sammlung Stavros Niarchos • Abb.
1900: Der Knecht, Öl auf Leinwand, 99,3 × 72,7 cm, Museum of Modern Art, New York
1904/05: Luxus, Stille und Begierde, Öl auf Leinwand, 94 × 117 cm, Musée National d’Art Moderne, Paris • Abb.
1905: Lebensfreude, Barnes Foundation, Merion • Abb.
1905: Frau mit Hut, Öl auf Leinwand, 81 × 60 cm, San Francisco Museum of Modern Art
1905: Offenes Fenster in Collioure, Öl auf Leinwand, 55,3 × 46 cm, National Gallery of Art, Washington D.C.
1905: Der grüne Streifen. Bildnis Madame Matisse, Öl auf Leinwand, 40 × 32,5 cm, Statens Museum for Kunst, Kopenhagen • Abb.
1906: Orientalische Teppiche, Öl auf Leinwand, 89 × 116,5 cm, Musée de Peinture et de Sculpture, Grenoble
1907: Blauer Akt (Erinnerung an Biskra), Öl auf Leinwand, 92 × 140 cm, Baltimore Museum of Art, Baltimore
1907: Luxus I, Öl auf Leinwand, 210 × 138 cm, Musée National d’Art Moderne, Paris
1908: Rote Harmonie, Öl auf Leinwand, 180 × 200 cm, Eremitage, Sankt Petersburg
1909: Spanierin mit Tamburin, Puschkin-Museum, Moskau
1909/10: Der Tanz (I und II), Museum of Modern Art, New York und Eremitage, Sankt Petersburg
1910: Bronze mit Früchten, Öl auf Leinwand, 90 × 115 cm, Puschkin-Museum, Moskau
1910: Die Musik, Öl auf Leinwand, 260 × 398 cm, Eremitage, Leningrad
1911: Familienbildnis, Öl auf Leinwand, 143 × 194 cm, Eremitage, Sankt Petersburg • Abb.
1911: Das rote Atelier, Öl auf Leinwand, 181 × 219 cm, Museum of Modern Art, New York (Abb.)
1913: Blumen und Keramik, Öl auf Leinwand, 93,3 × 82,5 cm, Städelsches Kunstinstitut, Frankfurt a. M. • Abb.
1914: Ansicht von Notre Dame, Öl auf Leinwand, 147,3 × 94,2 cm, Museum of Modern Art, New York • Abb.
1917: Kopf Laurettes mit Kaffeetasse, Öl auf Leinwand, 92 × 73 cm, Kunstmuseum Solothurn, Dübi-Müller-Stiftung
1919: Die Teestunde, Öl auf Leinwand, 140 × 211,1 cm, Los Angeles County Museum of Art, Los Angeles
1919: Bouquet de fleurs pour le Quatorze Juillet, Öl auf Leinwand
1928: Odaliske mit Lehnstuhl, Öl auf Leinwand, 60 × 73 cm, Musée National d’Art Moderne, Paris
1932: Der Tanz, Öl auf Leinwand, 356,8 × 1432,5 cm, Wanddekoration für die Barnes Foundation in Merion
1937: Dame in Blau, Öl auf Leinwand, 93 × 73,6 cm, Philadelphia Museum of Art, Philadelphia
1940: Der Traum, Öl auf Leinwand, 80,9 × 64,7, Privatbesitz
1940: Stillleben mit Austern, Öl auf Leinwand, 65,5 × 81,5 cm, Basel, Kunstmuseum
1946: Polynesien – Das Meer, Scherenschnitt, 200 × 314 cm, Musée National d’Art Moderne, Paris
1950: Zulma, Scherenschnitt, 238,1 × 133 cm, Statens Museum for Kunst, Kopenhagen
1952: Blauer Akt, Serie, Scherenschnitte
1952: Der Papagei und die Sirene, Scherenschnitt, 337 × 773 cm, Stedelijk Museum, Amsterdam
1953: Die Trauer des Königs, Scherenschnitt, 292 × 386 cm, Musée National d’ Art Moderne, Paris
1953: Die Schnecke, Scherenschnitt, 286,4 × 287 cm, Tate Gallery, London • Abb.
Das zeichnerische und grafische Werk in einer Auswahl als PDF: Galerie Boisserée (PDF; 4,8 MB)
Das bildhauerische Werk
1899–1901: Jaguar, einen Hasen verschlingend, Bronze, 22,8 × 57,1 cm, Privatbesitz
1900–1903: Der Knecht, Bronze, Höhe 92,3 cm, Sockel 33 × 30,5 cm, Baltimore Museum of Art, Cone Collection • Abb.
1906: Stehender Akt, Bronze, Höhe 48,2 cm, Privatbesitz
um 1909, 1914, 1916, 1930: Rückenakt I–IV, Bronze, alle im Museum of Modern Art, New York • Abb.
1910–1913: Jeanette I – V. Jeanette V: Bronze, Höhe 58,4 cm, Art Gallery of Ontario, Toronto • Abb.
Buchillustrationen
1932: Stéphane Mallarmé: Poésies. Albert Skira, Lausanne
1935: James Joyce: Ulysses. Macy, New York
1944: Henry de Montherlant: Pasiphaé. Chant de Minos. Fabiani, Paris
1946: Tristan Tzara: Le signe de vie. Bordas, Paris
1947: Charles Baudelaire: Les Fleurs du Mal. Bibliothèque française, Paris
1947: Henri Matisse: Jazz. Tériade, Paris. Deutsche Ausgabe: Hrsg. Katrin Wiethege; Neuausgabe von Prestel, München 2009, ISBN 978-3-7913-4278-8
1948: Pierre de Ronsard: Florilège des amours. Albert Skira, Genf
1950: Charles d’Orléans: Poèmes. Verve, Paris
Literatur
Primärliteratur
englische Originalausgabe:
Sekundärliteratur
Biografische Gesamtdarstellungen
Volkmar Essers: Matisse. Taschen, Köln 2006, ISBN 978-3-8228-6365-7
Lawrence Gowing: Matisse. Lichtenberg, München 1997, ISBN 3-7852-8406-3
Gabriele Grepaldi: Henri Matisse. DuMont, Köln 1998, ISBN 3-7701-4541-0
Gilles Néret: Henri Matisse. Taschen, Köln 1997, ISBN 3-8228-8217-8
John Russell: Matisse, Father & Son. Harry N. Abrams, New York 1999, ISBN 0-8109-4378-6
Pierre Schneider: Matisse. Rizzoli, New York 1984, ISBN 0-8478-0546-8
Hilary Spurling: The unknown Matisse. Volume 1: A Life of Henri Matisse: The early years, 1869–1908. A. Knopf, New York 1998, ISBN 978-0-375-71133-6, .
Hilary Spurling: Matisse the Master. Volume 2: A Life of Henri Matisse: The Conquest of Colour, 1909–1954. Knopf, New York 2005, ISBN 0-679-43428-3; Neuauflage: Hamish Hamilton, London 2005, ISBN 978-0-241-13339-2, .
Matisse. Leben und Werk. Ins Deutsche übertragen von Jürgen Blasius. DuMont:
einbändige Ausgabe: 700 S., 150 s/w. Abb., 300 farbige Abb., Köln 2006, ISBN 978-3-8321-7704-1
zweibändige Ausgabe: im Schuber, zus. 1096 S., 320 s/w. Abb., 60 farbige Abb., Köln 2007, ISBN 978-3-8321-7774-4
Lebensabschnitte
1916–1930: Jack Cowart, Dominique Fourcade: Henri Matisse. The Early Years in Nice 1916–1930. Ausstellungskatalog (2. November 1986 bis 29. März 1987) der National Gallery of Art (Washington), Harry N. Abrams, New York 1986, ISBN 0-89468-097-8
1943–1948: Marie-France Boyer, Hélène Adant: Matisse in der Villa Le Rêve. (1943–1948). Benteli, Bern 2005, ISBN 3-7165-1390-3
1943–1954: Françoise Gilot: Matisse und Picasso. Eine Künstlerfreundschaft. Kindler, München 1990, ISBN 3-463-40139-8
Augenzeugenberichte
Hans Purrmann: Über Henri Matisse. In: Henri Matisse Farbe und Gleichnis. Gesammelte Schriften. Hrsg. von Peter Schifferli, Fischer Bücherei Nr. 324, Fischer Bücherei KG, Frankfurt a. M. 1960, o. ISBN, S. 121–154.
Einzelaspekte des Werkes
Olivier Berggruen, Max Hollein (Hrsg.): Henri Matisse. Mit der Schere zeichnen. Meisterwerke der letzten Jahre. Ausstellungskatalog. Prestel, München 2002, ISBN 3-7913-2798-4.
Sylvie Forestier, Marie-Thérèse Pulvenis de Séligny: Matisse. Der ausgeschnittene Himmel. Die späten Scherenschnitte. Wienand, Köln 2012, ISBN 978-3-86832-102-9
Xavier Girard, Sandor Kuthy: Henri Matisse 1869–1954 – Skulpturen und Druckgraphik – Sculptures et gravures. Ausstellungskatalog (30. November 1990 bis 10. Februar 1991), Kunstmuseum Bern / Musée des beaux-arts de Berne, Bern 1990, ISBN 3-7165-0768-7
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Gotthard Jedlicka: Die Matisse Kapelle in Vence – Rosenkranzkapelle der Dominikanerinnen. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 1955
Beatrice Lavarini: Henri Matisse: JAZZ (1943–1947). Ein Malerbuch als Selbstbekenntnis. scaneg, München 2000, ISBN 3-89235-079-5.
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Wirkung und Rezeption
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Die große Inspiration. Deutsche Künstler in der Académie Matisse, Teil III. Ausstellungskatalog, Kunstmuseum Ahlen 2004/05
Werkverzeichnis
Claude Duthuit, Marguerite Duthuit-Matisse (Hrsg.): Henri Matisse. Catalogue Raisonné de l’Œuvre Gravé. Zwei Bände. Paris, 1983
Claude Duthuit (Hrsg.): Henri Matisse. Catalogue Raisonné des Ouvrages illustrées. Paris, 1988
Claude Duthuit (Hrsg.): Henri Matisse. Catalogue Raisonné de l’Œuvre Sculpté. Duthuit, Paris 1997, ISBN 2-904852-04-2
Pierre Schneider, Massimo Carrà: Tout l’Œuvre peint de Matisse 1904–1928. Paris 1982
Belletristik
Louis Aragon: Henri Matisse. Roman. Zwei Bände, aus dem Französischen von Eugen Helmlé. Belser, Stuttgart 1974, ISBN 3-7630-1575-2 (frz. Originalausgabe Gallimard, Paris 1971)
Bücher für Kinder
Nina Hollein: Schnipp Schnapp Matisse (Abenteuer Kunst). Prestel, München 2002, ISBN 3-7913-2753-4
Britta Benke: Wer ist eigentlich dieser Matisse? Kindermann, Berlin 2007, ISBN 3-934029-30-2
Annemarie van Haeringen: Monsieur Matisse und seine fliegende Schere. Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2015, ISBN 978-3-7725-2769-2
Filme (Auswahl)
An Essay on Matisse. Dokumentarfilm, USA, 1996, 57 Min., Buch und Regie: Perry Wolff, Produktion: Great Projects Film Company, Erstausstrahlung bei PBS. . Der Dokumentarfilm erhielt 1996 eine Oscar-Nominierung in der Kategorie Short documentary.
Matisse – Picasso. Eine unwahrscheinliche Freundschaft. (OT: Matisse – Picasso, 52 Min.) Dokumentarfilm, Frankreich, 2002, 47:22 Min., Buch und Regie: Philippe Kohly, Produktion: Les Films d'Ici, RM Associates, 3sat, France 3, France 5. , . Der Film zeigt selten veröffentlichte Fotografien ihrer Gemälde und Skulpturen sowie Fotos und Filme aus Archiven, während ihrer Arbeit.
Henri Matisse. Die Farben des Südens. Dokumentarfilm, Deutschland, 2005, 43:10 Min., Buch und Regie: Evelyn Schels, Produktion: BR, Reihe: Lido, vom Bayerischen Fernsehen.
Henri Matisse – eine filmische Reise. (OT: Henri Matisse – un voyage en peinture.) Dokumentarfilm, Deutschland, Frankreich, 2005, 26:08 Min., Buch und Regie: Heinz Peter Schwerfel, Produktion: Artcore Film, WDR, arte, Erstausstrahlung: 10. Dezember 2005 bei arte.
Matisse – Auf der Suche nach dem Licht. (OT: Matisse voyageur, en quête de la lumière.) Dokumentarfilm, Frankreich, 2019, 51:29 Min., Buch und Regie: Raphaël Millet, Produktion: arte France, CC&C, Man's Films, Nocturnes Productions, RTBF, Le Centre Pompidou, Erstsendung: 31. Mai 2020 bei arte, Inhaltsangabe von ARD.
Weblinks
Henri Matisse in Swisscovery, dem schweizerischen Suchportal der wissenschaftlichen Bibliotheken
Museen
Musée Matisse, Nizza (englisch, französisch)
, Ausstellungskalender
Biografien
Museen und Biografie von artcyclopedia (englisch)
Anke Rebbert: 03.11.1954 – Der Todestag von Henri Matisse. In: WDR, ZeitZeichen, 3. November 2014, Audiodatei,13:57 Min., aufrufbar bis 31. Oktober 2024.
Bilder
Henri Matisse: Eine virtuelle Kunst-Galerie (englisch)
Matisse im WebMuseum Paris, 2002 (englisch)
In: Tate Modern, 4:19 Min., (englisch)
Einzelnachweise
Maler (Frankreich)
Zeichner (Frankreich)
Künstler des Fauvismus
Künstler (documenta)
Teilnehmer einer Biennale di Venezia
Mitglied der Ehrenlegion (Kommandeur)
Mitglied der American Academy of Arts and Letters
Person als Namensgeber für einen Asteroiden
Person (Nizza)
Franzose
Geboren 1869
Gestorben 1954
Mann
Künstler im Beschlagnahmeinventar „Entartete Kunst“ |
319755 | https://de.wikipedia.org/wiki/Bahnstrecke%20Stuttgart%E2%80%93Horb | Bahnstrecke Stuttgart–Horb | |}
Die Bahnstrecke Stuttgart–Horb ist eine 67,2 Kilometer lange Eisenbahnstrecke in Baden-Württemberg, die den Stuttgarter Hauptbahnhof mit Horb am Neckar verbindet und dabei durch das Korngäu führt. Die Strecke wurde in den Jahren 1874 bis 1879 von den Königlich Württembergischen Staats-Eisenbahnen eröffnet. Sie ist Teil der Gäubahn, die von Stuttgart aus ursprünglich nach Freudenstadt führte und heute auch die Verbindung nach Singen (Hohentwiel) umfasst. Im Stadtgebiet von Stuttgart wird sie zwischen Hauptbahnhof und Vaihingen als Panoramabahn bezeichnet.
Heute verkehren auf der elektrifizierten Hauptbahn Intercity-Züge von Stuttgart nach Zürich, darüber hinaus existiert ein vielfältiges Nahverkehrsangebot. Sie ist überdies eine bedeutende Strecke im Nord-Süd-Güterverkehr. Die Strecke ist Teil des TEN-Gesamtnetzes, das bis Ende 2050 ausgebaut werden soll.
Streckenverlauf und Ausbau
In Stuttgart führt die Strecke vom Hauptbahnhof auf einer Terrasse zwischen Nesenbach und Neckar zunächst nach Norden. Nach einigen Kilometern wechselt sie in Stuttgart-Nord mit einer Linkskurve an den westlichen Hang des Talkessels in die eigentliche Fahrtrichtung Süden. Beim Kräherwald geht es dann geländeadaptiert nach Südosten, der Hasenberg wird im gleichnamigen Tunnel unterfahren und dahinter an den eingekerbten Oberläufen des Nesenbachs nach Vaihingen (Stuttgart) und auf die Filderebene gelangt. Die stetig ansteigende Trasse entlang der Innenstadt gewinnt vom Ausgangspunkt bis hierher knapp 200 Höhenmeter. Wegen des Ausblicks auf den Stuttgarter Talkessel wird dieser Abschnitt Panoramabahn genannt und gilt als eine der schönsten innerstädtischen Bahnstrecken Deutschlands.
Ab Stuttgart-Rohr führt sie weiter nach Südwesten und streift zwischen Böblingen und Herrenberg den Naturpark Schönbuch. Von hier bis Eutingen im Gäu führt sie durch das Korngäu, das den Begriff Gäubahn prägte. Ab Eutingen senkt sich die Strecke bis Horb in das Neckartal und streift hier die östlichen Ausläufer des Schwarzwalds.
Die Strecke ist für den Neigetechnik-Verkehr ertüchtigt und überwiegend zweigleisig.
Auf dem etwa fünf Kilometer langen Abschnitt zwischen den Bahnhöfen Stuttgart-Österfeld und Stuttgart-Rohr wurde sie für die hier parallel verlaufende S-Bahn mit drei Linien bis 1985 viergleisig ausgebaut. Im Gleisvorfeld des Stuttgarter Hauptbahnhofs ist seit dem Bau der Stuttgarter S-Bahn ein circa 500 Meter langer Abschnitt nur eingleisig.
Zwischen Rohr und Herrenberg ist sie nur zweigleisig, deshalb müssen für die Fernzüge ab Böblingen einzelne Fahrten im 15-Minuten-Takt der S1 entfallen.
Die Strecke durchquert neben der Stadt Stuttgart drei Landkreise und ist Teil dreier unterschiedlicher Verkehrsverbünde. In Stuttgart sowie im Landkreis Böblingen, das heißt bis Bondorf, verläuft sie im Bereich des Verkehrs- und Tarifverbundes Stuttgart (VVS). Der Bahnhof Ergenzingen befindet sich als einzige Betriebsstelle im Landkreis Tübingen und gehört zum Verkehrsverbund Neckar-Alb-Donau (NALDO). Zwischen Eutingen und Horb verläuft sie im Landkreis Freudenstadt und damit in der Verkehrs-Gemeinschaft Landkreis Freudenstadt (vgf).
Geschichte
Bau des Abschnitts Eutingen–Horb (1874)
Das Teilstück von Eutingen zum Anschluss an die Obere Neckarbahn in Horb stellte Württemberg schon am 1. Juni 1874 fertig. Ziel war dabei jedoch nicht der Anschluss von Horb über das Gäu und Böblingen nach Stuttgart. Die Königlich Württembergischen Staats-Eisenbahnen stellten damit vielmehr eine Verbindung zwischen der von Pforzheim kommenden Nagoldtalbahn und Horb her, deren Abschluss 1874 Horb zum Trennungsbahnhof machte. Den Bau einer wesentlich kürzeren Direktverbindung von Stuttgart nach Horb gingen die Königlich Württembergischen Staats-Eisenbahnen jedoch wegen der nur schwer überwindbar scheinenden Steigungen zunächst nicht an.
Bau des Abschnitts Stuttgart–Eutingen (1879)
Mit dem Gesetz vom 22. März 1873 beschloss Württemberg den Bau einer Eisenbahnstrecke von Stuttgart über Herrenberg und Eutingen nach Freudenstadt, welche die Lücke zwischen Stuttgart und Eutingen schließen sollte. Vor allem sollte dadurch die nachteilige Streckenführung der Oberen Neckarbahn kompensiert werden, die in einer langen Schleife dem Lauf des Neckars folgte, was die Reisezeiten stark erhöhte.
Im November begannen von Stuttgart ausgehend die Arbeiten an der technisch anspruchsvollen Strecke, die der württembergische Eisenbahningenieur Georg von Morlok plante. Die Streckenführung in Hanglage war kompliziert, sie erforderte Steigungen bis zu 1:52, Vorspann- bzw. Schiebelokomotiven bis Stuttgart-West, eine Vielzahl von Tunnelbauten und tiefen Einschnitten, den 430 Meter langen und 39 Meter hohen Vogelsangdamm sowie den 42 Meter hohen Ziegelklingendamm. Insgesamt wurden 1.600.000 Kubikmeter Erde bewegt. Der Abschnitt bis Vaihingen war dabei der kostspieligste der gesamten Strecke, die auf insgesamt 31 Millionen Mark kam.
Viele der Arbeiter, die Morlok zum Streckenbau benötigte, kamen aus Italien. Im Winter 1877/78 erreichte die Bahn bereits Herrenberg. Danach gingen die Bauarbeiten rasch voran. Nachdem bereits am 20. August 1879 eine Probefahrt von Stuttgart nach Freudenstadt stattgefunden hatte, eröffneten die Königlich Württembergischen Staats-Eisenbahnen die Strecke Stuttgart–Freudenstadt offiziell am 2. September 1879 (Sedantag) mit einer Sonderfahrt, an der neben Oberbaurat Morlok der württembergische Ministerpräsident Hermann von Mittnacht, der Stuttgarter Oberbürgermeister Theophil Friedrich von Hack sowie eine Vielzahl weiterer Honoratioren teilnahmen. Der Bau dieser Strecke verkürzte den Weg von Stuttgart nach Horb um 35 Kilometer.
Von der Regional- zur Fernverkehrsstrecke (1879–1919)
Die Gäubahn hatte zunächst vornehmlich regionale Bedeutung. Endpunkt der langlaufenden Züge war immer Immendingen. Im Regionalverkehr kam dabei vor allem die Württembergische T 5 zum Einsatz.
1886 erhielt der 4,4 Kilometer lange Abschnitt zwischen Eutingen und Horb ein zweites Gleis. 1895 kam auf der 8,6 Kilometer langen Steigung zwischen Stuttgart Hauptbahnhof und dem Bahnhof Stuttgart West ein zweites Gleis hinzu, ab dem 22. November 1905 reichte dieses bereits bis Böblingen.
Am 1. November 1895 wurde die 1,2 Kilometer lange Verbindungskurve zwischen dem Nordbahnhof und der Gäubahn eröffnet. Eine zunächst geplante Verbindungsbahn zwischen Zuffenhausen und dem Westbahnhof wurde dagegen nicht realisiert. Das Verkehrsaufkommen zwischen dem Hauptbahnhof und Böblingen nahm von 16 Zügen (1890/91) auf 32 Züge im Winter 1902/03 zu.
Eisenbahnunfall im Dachswald
Der Personenzug Nummer 223a fuhr am 1. Oktober 1889, bis zum Westbahnhof unterstützt von einer Schiebelokomotive, von Stuttgart nach Vaihingen. Außerplanmäßig blieb er nach dem Westbahnhof liegen und sollte von der Schiebelokomotive Richtung Vaihingen geschoben werden. Bevor diese den Personenzug erreichte, konnte er aber doch noch aus eigener Kraft weiterfahren und kam letztlich mit 18 Minuten Verspätung in Vaihingen an. Die Schiebelokomotive war zu diesem Zeitpunkt immer noch auf der damals eingleisigen Strecke unterwegs. Der Bahnhofsvorsteher in Vaihingen war darüber nicht informiert und ließ den gemischten Zug Nummer 222 in Richtung Stuttgart abfahren. In einer unübersichtlichen Kurve im Dachswald prallte dieser daraufhin mit der entgegenkommenden Schiebelokomotive zusammen. Zugführer, Heizer, ein Mädchen, zwei Frauen und drei Männer wurden getötet, 43 Personen zum Teil schwer verletzt.
Ausbau und Blütezeit (1919–1945)
In der Zwischenkriegszeit kam es zu zahlreichen Verbesserungen der Verkehrsinfrastruktur. Bereits am 23. Oktober 1922 konnte der neue Stuttgarter Hauptbahnhof eröffnet werden. Damit war das Nadelöhr am Beginn der Strecke beseitigt und Kapazität für den stetig zunehmenden Eisenbahnverkehr geschaffen worden. Infolge des Bahnhofsneubaus änderte die Deutsche Reichsbahn im Herbst 1922 den innerstädtischen Verlauf der Strecke bis zum Eckartshaldenweg.
In den 1920er Jahren initiierte der freie Volksstaat Württemberg einen Ausbau der im 19. Jahrhundert meist eingleisig angelegten Eisenbahnstrecken. Ziel war, den Verkehr von Berlin in die Schweiz und nach Italien nicht mehr ausschließlich über die Nachbarländer Baden und Bayern verlaufen zu lassen, sondern auch über eigenes Territorium. Hierzu wurde auch die Strecke Stuttgart–Horb ausgebaut. Außerdem war die Reichswehr daran interessiert, anstelle der nun nah an der französischen Grenze verlaufenden Bahnstrecke Mannheim–Basel eine weiter im landesinneren liegende Verbindung zur südwestlichen Reichsgrenze auszubauen.
Im Zuge der damaligen Ausbauarbeiten erweiterte die Deutsche Reichsbahn ferner den Bahnhof Horb stark und ersetzte den Bahnhof Eutingen durch einen großzügig dimensionierten Neubau.
Der Fahrplan der Gäubahn erfuhr durch die Ausbaumaßnahmen der 1920er- und 1930er-Jahre beträchtliche Verbesserungen. Es verkehrten jetzt Schnellzüge von Berlin über Erfurt, Würzburg, Stuttgart, Zürich und Mailand bis nach Rom. Der letzte Friedensfahrplan vom Sommer 1939 weist täglich drei Zugpaare Berlin–Italien aus, wobei ab Mailand jedoch nicht alle Züge weiter bis Rom fuhren. Zusätzlich kamen Schnellzugpaare zum Einsatz, die zwischen Berlin und Luzern sowie zwischen Stuttgart und Konstanz verkehrten, wodurch sich das Eilzug- und Nahverkehrsangebot auf der Strecke wesentlich verbesserte.
Während vor dem Streckenausbau, wie schon seit dem Ersten Weltkrieg, wieder die Württembergische C den Schnellzugdienst übernahm, kam nach dem Bau der Verbindungskurve von Tuttlingen nach Hattingen (Baden) vornehmlich die Preußische P 10 als Schnellzuglokomotive zum Einsatz. Die Württembergische C übernahm auf der Gäubahn die Bespannung der Eil- und Nahverkehrszüge. Die Württembergische T 5 kam ebenfalls wieder zum Einsatz, wurde jedoch ab 1933 von der Baureihe 24 abgelöst. Schon 1920 setzte die Reichsbahn die Preußische P 8 zwischen Horb und Immendingen ein. Im Güterverkehr kamen in der Zwischenkriegszeit für Durchgangsgüterzüge die Preußische G 12 sowie die Württembergische K zum Einsatz. Ab 1924 setzte die Reichsbahn Preußische G 10 für Güterzüge auf kürzeren Distanzen ein. Zwischen 1936 und 1938 verwendete die Reichsbahn kurzzeitig ebenso die Baureihe 86 für Nahverkehrsgüterzüge. Im Zweiten Weltkrieg schränkte die Reichsbahn den Personenverkehr auf der Gäubahn ein, während der Güterverkehr in der Bedeutung eher zunahm. So belieferte Deutschland den Bündnispartner Italien während des Krieges mit Kohle aus Oberschlesien und führte diese Züge ebenfalls über die Gäubahn. Da die Gäubahn vor allem seit dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion als Nord-Süd-Achse militärisch an Bedeutung verlor, zog die Reichsbahn viele neuere Lokomotiven, insbesondere die Preußische P 10, nach Osteuropa ab und bespannte Schnellzüge auf der Gäubahn wieder mit der Württembergischen C.
Kriegszerstörung und Nachkriegszeit (1945–1962)
Während des Zweiten Weltkriegs blieb die Gäubahn bis Februar 1945 weitgehend von größerer Zerstörung verschont. Alliierte Fliegerbomben verursachten 1944/45 zwar schwere Schäden an den Bahnhöfen Herrenberg und Horb, diese unterbrachen den Verkehr jedoch nicht dauerhaft. Schwerwiegender waren die Schäden, die deutsche Truppen im April 1945 verursachten. Diese sprengten zwischen Stuttgart und Böblingen mehrere Brücken und brachten den Verkehr somit kurz vor Kriegsende zum Erliegen. Im April 1945 besetzten amerikanische und französische Streitkräfte den Südwesten Deutschlands. Der Abschnitt zwischen Stuttgart und Bondorf wurde dabei Teil der amerikanischen, der zwischen Ergenzingen und Horb lag nun in der französischen Besatzungszone. Durchgehend war die Strecke nach den Zerstörungen im Krieg erst wieder ab 13. August 1946 befahrbar.
Die Grenze zwischen französischer und amerikanischer Zone unterband den durchgehenden Verkehr zwischen Stuttgart und Horb, der erst 1948 wieder aufgenommen wurde. Der Betrieb war im Vergleich zur Blütezeit der Strecke Ende der 1930er Jahre stark reduziert und erreichte erst Ende der 1950er Jahre wieder das Vorkriegsniveau. Allerdings wurde der Verkehr mit Berlin, wofür die Strecke in der Zwischenkriegszeit unter anderem ausgebaut worden war, von der Deutschen Bundesbahn nicht wieder aufgenommen, da die Magistrale Berlin–Erfurt–Würzburg–Stuttgart–Zürich durch die Deutsche Teilung unterbrochen war.
Als Ersatz verlängerte die Bundesbahn ab den 1950er Jahren einzelne Schnellzüge Zürich–Stuttgart nach Hamburg. Unter anderem aufgrund des starken Zuzugs italienischer Gastarbeiter nach Baden-Württemberg ab dem Ende der 1950er Jahre fuhren wieder Schnellzüge von Italien nach Stuttgart. Zum Einsatz kamen anfangs vornehmlich die Preußische P 10 sowie die Preußische P 8. Zwischen 1958 und Mitte der 1970er Jahre ersetzten zunehmend Diesellokomotiven der Baureihe V 100 und Baureihe V 200 die Dampflokomotiven auf der Gäubahn. Im Güterzugverkehr kam ab 1964 die Baureihe V 200.1 zum Einsatz.
Elektrifizierung
Um auch die Gäubahn in den Stuttgarter Vorortverkehr zu integrieren und damit den Verkehr zu beschleunigen, elektrifizierte die Deutsche Bundesbahn 1963 den Abschnitt Stuttgart–Böblingen, 1974 folgte Böblingen–Horb.
Der 150 Meter lange Kaufwaldtunnel wurde im Vorfeld der Elektrifizierung in den Jahren 1958/1959 in neun Monaten unter eingleisigem Betrieb aufgeschlitzt. Nachdem 170.000 Kubikmeter Deckgebirge abgetragen waren, war ein Einschnitt entstanden.
Zwischen Böblingen und Stuttgart kamen nach der Elektrifizierung 1963 zunächst die Baureihen E 17/117, E 41/141, E 44/144 und ET 55/455, ab 1969 zunehmend die Baureihen 425 (alt), 427 und 465 zum Einsatz. Als 1974 der Abschnitt Böblingen–Horb gleichfalls elektrisch betrieben wurde, bespannte die Deutsche Bundesbahn ihre Regionalzüge auf der Strecke vor allem mit der Baureihe 110, die ab 1977 auch den Schnellzugdienst auf der Strecke übernahm. Im Güterverkehr setzte die Bundesbahn jetzt vornehmlich die Baureihen 150 und 193 ein, in den 1980er Jahren die Baureihe 151, ab 1988 verstärkt die Baureihe 140 und ab 1991 die Baureihe 143.
Integration in das S-Bahn-Netz
Seit 1985 gehört der Abschnitt bis Böblingen zum Stuttgarter S-Bahn-Netz. Die S-Bahn fährt seitdem vom Hauptbahnhof über die neue Stuttgarter Verbindungsbahn, die unter der Stuttgarter Innenstadt in einem Tunnel verläuft, und am Bahnhof Stuttgart-Österfeld in die Gäubahn mündet. Dies verkürzt den Fahrtweg für die S-Bahn um 5,5 Kilometer und schloss den neuen Campus der Universität Stuttgart an das Schienennetz an. Der Regional- und Fernverkehr nutzt weiterhin die alte Trasse, der Bahnhof Stuttgart West verlor jedoch 1985 seinen Personenverkehr. Im Vorfeld der Integration in das S-Bahn-Netz ging bereits 1982 der Haltepunkt Goldberg in Betrieb, der zwar nach einem Sindelfinger Wohngebiet benannt ist, aber schon auf Böblinger Gemarkung liegt.
Am 5. Dezember 1992 verlängerte die Deutsche Bundesbahn die Linie S1 der S-Bahn Stuttgart von Böblingen nach Herrenberg und verbesserte so den Nahverkehr zwischen dem Korngäu und der Landeshauptstadt erheblich. Hierfür ging bereits am 8. Dezember 1990 auf Böblinger Gemarkung der Haltepunkt Hulb in Betrieb, der das ausgedehnte Industriegebiet dort erschließt.
Vorübergehende Umstellung des Fernverkehrs auf Triebzüge
Bis 1991 erhöhte sich die Zahl der Schnellzüge auf der Gäubahn auf täglich acht Zugpaare, wovon fünf über Zürich hinaus die Städte Mailand, Genua, Lecce beziehungsweise Neapel anfuhren. Der Verkehr über Stuttgart hinaus weiter nach Norden wurde hingegen weitgehend eingestellt. Nur noch ein Schnellzug-Paar fuhr 1991 beispielsweise weiter bis Nürnberg. Die Schnellzüge wurden mit den Baureihen 110 und 181 bespannt.
Ab 1993 versuchte die Deutsche Bundesbahn, beziehungsweise ab 1994 ihre Rechtsnachfolgerin Deutsche Bahn AG, die Fahrzeiten der Fernzüge weiter zu senken. Zu diesem Zweck fanden Testfahrten mit dem in Italien erfolgreich eingesetzten Pendolino sowie dem schwedischen Hochgeschwindigkeitszug X2000 statt. Zwischen 1993 und 1995 ersetzten zwei EuroCity-Zugpaare die traditionsreichen Schnellzüge. Zum Einsatz kamen kurzzeitig RABe-Triebwagen der Schweizerischen Bundesbahnen (SBB). Da deutsche Neigetechnik-Züge noch nicht einsatzfähig waren, ersetzten ab dem 1. März 1998 erstmals zwei von der Schweizer Cisalpino AG betriebene Neigetechnik-Zugpaare der Baureihe ETR 470 einen Teil der Schnellzüge, ohne dass sich dadurch zunächst Fahrzeitverkürzungen ergaben.
1999 zog die Deutsche Bahn im Fernverkehr bis auf das IC-Zugpaar Insubria alle lokomotivbespannten Züge von der Strecke ab. Zum Einsatz kamen nun erstmals mit Neigetechnik ausgestattete ICE-Züge der Baureihe 415, die zusammen mit den ETR 470 der Cisalpino AG nun das Gros des Fernverkehrs bestritten. Letztere übernahmen dabei den Italien-Verkehr der Relation Stuttgart–Mailand, die ICE kamen zwischen Stuttgart und Zürich zum Einsatz. Die durchgehenden Züge von Stuttgart bis nach Genua und Neapel entfielen hingegen. 2005 stellte die Deutsche Bahn den Intercity Insubria ein. Ein Jahr später, im Dezember 2006, entfielen auch die Cisalpino-Verbindungen wegen erheblichen Mängeln an den Zügen, Direktverbindungen nach Italien gibt es seitdem nicht mehr.
Für die ICE-Leistungen kamen ab Dezember 2006, anstelle der zuvor eingesetzten fünfteiligen Baureihe 415, die siebenteilige Baureihe 411 des ICE T zum Einsatz.
Nach Problemen mit der Fahrzeugverfügbarkeit und Verspätungen wurde der ICE-Betrieb auf der Verbindung Stuttgart–Zürich zum 21. März 2010 eingestellt und durch Intercity-Züge mit Wagen der Schweizerischen Bundesbahnen ersetzt. Der Fernverkehr wurde daraufhin bis 2017 allein mit Wagen der Schweizerischen Bundesbahnen betrieben. Die ICE T sollten erst dann wieder zum Einsatz kommen, wenn sie wieder bogenschnell verkehren dürfen, wozu es letztlich nicht mehr kam. Die Schweizerischen Bundesbahnen hatten sich zuvor Bestrebungen der Deutschen Bahn widersetzt, Wagenmaterial des ehemaligen Interregio auf der internationalen Linie einzusetzen. Im Frühjahr 2012 sprach sich die Deutsche Bahn auf einer europäischen Fahrplankonferenz dafür aus, den Fernverkehr zwischen Stuttgart und Zürich einzustellen, scheiterte jedoch erneut am Widerstand der Schweizerischen Bundesbahnen.
Die Deutsche Bahn rechnete nicht mit einer kurzfristigen oder mittelfristigen technischen Lösung für die Neigetechnik des ICE T. Nach Angaben der Deutschen Bahn von 2013 gingen seit 2010 die Fahrgastzahlen im Fernverkehr auf der Gäubahn zurück. Anfang 2014 wurden in den Fernzügen auf der Gäubahn im Durchschnitt weniger als 150 Reisende gezählt. Das Angebot sei nach Angaben von DB Fernverkehr unwirtschaftlich.
Mit 37.500 Fahrgästen pro Tag (darunter 30.400 bei der S-Bahn) wies im Raum Stuttgart im Jahr 2010 der Abschnitt zwischen Stuttgart-Rohr und Böblingen die höchste Belastung auf. Für das Jahr 2025 wird (Stand: 2018) eine Belastung von 49.900 Reisenden erwartet, davon 32.100 S-Bahn-Fahrgäste. Südlich von Herrenberg wird ein Anstieg von 8.700 auf 10.900 Reisende erwartet. Zwischen Stuttgart-Vaihingen und Stuttgart Hauptbahnhof waren im Fern- und Regionalverkehr im Jahr 2010 rund 8400 Reisende pro Tag unterwegs.
Der durchgehende Zugverkehr zwischen Stuttgart und Zürich war wegen Bauarbeiten im April und Mai 2016 sechs Wochen lang unterbrochen. Vom 13. Juli 2016 bis 10. September 2016 wurde der Abschnitt zwischen Stuttgart-Rohr und Böblingen für 12,3 Millionen Euro saniert.
Der daran anschließende Abschnitt zwischen Böblingen und Herrenberg wurde 2017 in drei Teilstücken für 24 Millionen Euro sukzessive erneuert und dazu während der Schulferien voll gesperrt. Wegen der kompletten Sperrung der Rheintalbahn in Folge eines Bauschadens am Tunnel Rastatt wurde die Gäubahn als Umleitungsstrecke für den Güterverkehr benötigt. Deshalb wurden die Arbeiten eine Woche früher als geplant am 5. September 2017 vorläufig beendet und der Güter- und Fernverkehr wieder aufgenommen. Für weitere 17 Millionen Euro wird während der Sommerferien 2021 der Oberbau in weiteren der Strecke erneuert.
Als in Folge einer baubedingten Sperrung der S-Bahn-Stammstrecke im Sommer 2021 S-Bahn-Züge über die Bahnstrecke Stuttgart–Horb fuhren, kam es zu erhöhtem Radverschleiß, in dessen Folge der Umleitungsverkehr eingestellt wurde. Als Ursache gelten enge Radien und eine aus technischen Gründen und fehlender Ersatzteile seit Monaten außer Betrieb stehende stationäre Schmiereinrichtung. Bei der Sperrung 2022 soll geschmiert und zusätzlich engmaschig überwacht werden.
Von 2018 bis 2021 wurde die Station Ergenzingen für fünf Millionen Euro modernisiert.
Die Deutsche Bahn begann im Sommer 2023 während einer Vollsperrung mit der Errichtung eines Würmviadukts bei Ehningen. Der Abbruch der alten Brücke und der Einschub des neuen Überbaus wurden von Anfang September 2023 auf Januar und Februar 2024 verschoben.
Betrieb
Fernverkehr
Bis zum Fahrplanwechsel 2017/2018 bestand im Fernverkehr nur ein Zwei-Stunden-Takt. Böblingen wurde dabei von 2004 bis 2013 nicht bedient.
Seit Dezember 2017 fahren IC2-Züge der Deutschen Bahn im Wechsel mit den SBB-Garnituren. Dies ergibt zusammen einen Stundentakt, wobei die SBB-Garnituren nur in Böblingen, die IC2-Züge zusätzlich in Herrenberg, Gäufelden und Bondorf halten. Es gelten seitdem auch Nahverkehrsfahrkarten in den Fernzügen. Weil für deren Lokomotiven der Baureihen 146.5 und 147 die Zulassung für den Einsatz in der Schweiz fehlt, enden deren Fahrten in Singen. In Tagesrandlage verkehrt ein Zugpaar auch von beziehungsweise bis Radolfzell. Seit Dezember 2022 werden KISS-Triebzüge der DB mit Schweiz-Zulassung eingesetzt, bis die IC2 in der Schweiz eingesetzt werden dürfen.
Regionalverkehr
Die zusätzlichen Intercity-Züge ersetzen im Zweistundentakt die Regional-Express-Züge (RE) zwischen Stuttgart und Singen. Verblieben sind ebenfalls im Zweistundentakt die Regional-Express-Züge zwischen Stuttgart und Rottweil, die in Eutingen geflügelt werden. Ein Zugteil fährt jeweils von Eutingen über die Bahnstrecke Eutingen im Gäu–Schiltach nach Freudenstadt. Zwischen Stuttgart und Rottweil ergibt sich ein Stundentakt im Nahverkehr, da die IC-Züge mit Nahverkehrsfahrkarten genutzt werden dürfen. Seit der Umstellung des zweistündigen RE auf IC2 werden Ergenzingen und Eutingen im Gäu aus Richtung Stuttgart umsteigefrei lediglich alle zwei Stunden bedient. Wenn IC2-Züge verkehren, ersetzen Fahrten der Stadtbahn Karlsruhe bis Bondorf diese Halte.
Das Regional-Express-Angebot auf der Gäubahn betreibt die Deutsche Bahn. Im Jahr 2004 stellte die Deutsche Bahn auf der Relation Stuttgart–Singen die bis dahin ausschließlich mit Lokomotiven und n-Wagen gefahrenen Regional-Express-Züge auf die neu ausgelieferten Triebzüge der Baureihe 425 um, die ab 2006 teilweise durch mit Lokomotiven der Baureihe 146.2 bespannte Doppelstockwagen abgelöst wurden.
Laut einer Mitte 2015 vorgelegten Fahrgaststatistik nahm das Reisendenaufkommen im Regionalverkehr auf der Gäubahn seit 2012 um rund zehn Prozent zu.
Seit Dezember 2017 verkehren die Intercity-Züge stündlich und sind für Nahverkehrsfahrkarten freigegeben. Dabei wird im Wechsel mit EuroCity-Wagen der SBB und Intercity 2-Garnituren der DB gefahren, wobei letztere auch die zusätzlichen Halte der früheren Regional-Express-Züge bedienen, während die Züge von und nach Zürich nur in Böblingen halten. Zusätzlich zu diesem Stundentakt verkehrt weiterhin die Regional-Express-Linie RE 14A zwischen Rottweil und Stuttgart im Zweistundentakt, wobei weiterhin in Eutingen geflügelt wird und ein Zugteil von dort als Linie RE 14B nach Freudenstadt verkehrt. Zum Einsatz auf dieser Strecke kommen Züge der Baureihe 442 im Landesdesign.
Zusätzlich verkehrt zwischen Mai und Oktober an Wochenenden der Radexpress „Bodensee“ von Stuttgart nach Radolfzell und Konstanz, welcher Platz für bis zu 60 Fahrräder bietet.
Zwischen Herrenberg und Stuttgart-Rohr wird die Strecke von der Linie S1 der S-Bahn Stuttgart befahren. In Rohr wechseln die Züge auf eine eigene S-Bahn-Strecke, die zunächst parallel durch Stuttgart-Vaihingen bis nach Stuttgart-Österfeld führt und ab dort die Verbindungsbahn bildet, die unterirdisch zum Hauptbahnhof führt, von wo die Linie S1 weiter nach Kirchheim (Teck) fährt. In südlicher Richtung befährt die S1 bereits im Bahnhof Stuttgart-Vaihingen das durchgehende Hauptgleis der Strecke Stuttgart–Horb, wechselt dann jedoch für einen kurzen Abschnitt zurück auf die S-Bahn-Strecke, um in Stuttgart-Rohr zu halten. Zum Einsatz kommt die Baureihe 430. Die S-Bahn wird ebenfalls von der Deutschen Bahn betrieben und fährt im Halbstunden-Grundtakt. Werktags verkehren die S-Bahnen zu den Hauptverkehrszeiten jedoch jede Viertelstunde. Zwischen Herrenberg und Eutingen betreibt die Deutsche Bahn werktags in der Hauptverkehrszeit Regionalbahnen, die auf den Fahrplan der S-Bahn abgestimmt sind.
Ein Teil dieser Züge endet jedoch nicht in Eutingen, sondern bereits in Bondorf. An Werktagen fährt zudem ein von der Albtal-Verkehrs-Gesellschaft betriebener Zug der Stadtbahn Karlsruhe zwischen Freudenstadt, Eutingen und Bondorf, der dort den Anschluss an den IC herstellt, mit welchem wiederum die S-Bahn in Herrenberg erreicht werden kann.
Güterverkehr
Die Gäubahn hat eine steigende Bedeutung im internationalen Güterverkehr, die insbesondere die stark befahrene Rheintalbahn entlastet. Dabei dient sie vor allem als Durchgangsstrecke. Die Güterabfertigungen entlang der Strecke sind inzwischen mit wenigen Ausnahmen, wie z. B. des Gleisanschlusses des Böblinger Industriegebiets Hulb, eingestellt. DB Cargo führt vor allem Züge vom Rangierbahnhof Kornwestheim in Richtung St. Margrethen. Im Güterverkehr umfahren die Züge immer den Stuttgarter Hauptbahnhof. Dies geschah bis in die 1970er Jahre über den Pragtunnel und Stuttgart-West sowie eine Verbindungskurve, seit Eröffnung der S-Bahn Stuttgart 1978 über die Rankbachbahn vom Kornwestheimer Rangierbahnhof über Leonberg nach Böblingen und von dort weiter auf die Gäubahn. Zum Einsatz kommt vor allem die Baureihe 185. Ab November 2014 verkehrten täglich außer Sonntag zweimal Stuttgart 21-Aushubzüge von Stuttgart nach Deißlingen, welche leer nach Stuttgart zurückkehrten.
Ausbaupläne
Grundlage
Nach dem 1996 zwischen Deutschland und der Schweiz geschlossenen Vertrag von Lugano soll die Reisezeit zwischen Stuttgart und Zürich auf zweieinviertel Stunden gesenkt werden. Das soll durch punktuelle Linienverbesserungen und Neigetechnik erreicht werden. Die Maßnahmen auf Schweizer Seite wurden 2014 abgeschlossen. Dabei wurde unter anderem der Abschnitt zwischen Bülach und Schaffhausen für 155 Millionen Schweizer Franken ausgebaut. Laut Angaben der deutschen Bundesregierung von Anfang 2020 seien inzwischen beide Seiten der Auffassung, „dass die damals vereinbarte Zielvorgabe zu ambitioniert“ sei. Ausbauten auf deutscher Seite sind bislang nicht erfolgt.
Das Land Baden-Württemberg meldete den Ausbau und den Bau von Doppelspurabschnitten mit einer Gesamtlänge von 20 km für die Bundesverkehrswegepläne 2003 und 2015/2030 an. Die geschätzten Kosten betrugen 162 Mio. Euro. Ende Oktober 2016 nahm das Bundesverkehrsministerium den Gäubahn-Ausbau in den vordringlichen Bedarf des Bundesverkehrswegeplans auf. Vorgesehen waren Investitionen in Höhe von 550 Mio. Euro. Bei einer Fahrzeitverkürzung von 11 Minuten weist das Projekt ein Nutzen-Kosten-Verhältnis von 2,7 auf.
Anfang 2020 war eine Gesamtkonzeption auf Grundlage zweier Studien in Erarbeitung, die Prämissen der beiden Studien in Harmonisierung. Nach Abschluss der Prämissenharmonisierung soll ein volkswirtschaftlicher Bewertungsprozess des Bundesverkehrsministeriums folgen, auf dessen Grundlage wiederum die Planungen aufgenommen werden sollen.
Die Deutsche Bahn kündigte im März 2020 an, bis zum dritten Quartal 2020 vorliegende Studien auswerten zu wollen, um sie dem Bund vorzulegen. Bis Ende 2020 solle demnach ein „wichtiger Schritt“ zu einem Gesamtausbaukonzept gegangen werden.
Im September 2021 beantragte die DB eine Bahnsteigerneuerung und -erhöhung in Gäufelden.
Der Abschnitt zwischen Stuttgart und Herrenberg soll bis 2030 in den Digitalen Knoten Stuttgart integriert und dabei mit Digitalen Stellwerken, ETCS und automatisiertem Fahrbetrieb ausgerüstet werden. Bis Goldberg ist dabei eine Ausrüstung mit ETCS Level 2 „mit Signalen“ geplant (Stand: Mai 2019).
Neigetechnik
Ende der 2010er Jahre war ungeklärt, ob die Strecke künftig mit oder ohne Neigetechnik betrieben werden soll. Während Bund und Deutsche Bahn die Neigetechnik ablehnten, war sie für das Land Baden-Württemberg und das Schweizerische Bundesamt für Verkehr Grundlage für die angestrebten Fahrzeitverkürzungen. Im Juli 2018 teilte Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer dem Land Baden-Württemberg mit, dass die Abkehr von der Neigetechnik Voraussetzung für einen weiteren Ausbau sei. Allerdings verkündete das Bundesverkehrsministerium eine Woche später, dass die Neigetechnik bei den geplanten Baumaßnahmen berücksichtigt werde.
Seitens des Landes Baden-Württemberg wird die Neigetechnik befürwortet. Während ohne Neigetechnik für 6 Minuten Fahrzeitverkürzung Investitionen von einer Milliarde Euro erforderlich seien, könnten mit Neigetechnik 19 Minuten (gegenüber Fahrplan 2016) realisiert werden. Im Ergebnis einer vom Land für rund 320.000 Euro beauftragten Untersuchung, mit der ein wirkungsvolles Bündel von Ausbaumaßnahmen im Umfang von 200 bis 250 Millionen Euro gefunden werden sollte, um in ersten Stufe eine Reisezeit von 2 Stunden und 30 Minuten (mit Neigetechnik) zu erreichen. Integriert in ein vierstufiges Maßnahmenbündel soll das bei Kosten von 220 Mio. Euro (mit Singener Kurve) oder 285 Mio. Euro (ohne Singener Kurve) möglich sein. Um allerdings die im Vertrag von Lugano angestrebte Fahrzeit von 2 Stunden und 15 Minuten zwischen Stuttgart und Zürich zu erreichen, seien umfassendere Neubaumaßnahmen von mehr als einer Milliarde Euro erforderlich.
Inwieweit künftig Neigetechnik-Züge für den Fernverkehr zur Verfügung stehen, ist offen. DB Fernverkehr und SBB haben wirtschaftliche Vorbehalte. Gespräche über den Einsatz von Neigetechnikzügen laufen (Stand: Juli 2017). Das Land Baden-Württemberg kündigte 2018 an, eine eigene Lösung für den Einsatz von Neigetechnik-Zügen zu finden, soweit ein Betreiber für eigenwirtschaftlichen Fernverkehr mit Neigetechnik nicht gefunden werde. Dies könne im Wege einer Nahverkehrsausschreibung oder eines Tarifausgleichs erfolgen.
Laut Angaben von Landesverkehrsminister Winfried Hermann von Mitte 2020 sei eine Entscheidung gegen Neigetechnik gefallen.
Ausbau als Umleitungsstrecke
Am 22. Mai 2019 unterzeichneten der deutsche Bundesverkehrsminister Scheuer und seine Schweizer Amtskollegin Simonetta Sommaruga eine Ministererklärung, die u. a. den Ausbau der Achse Stuttgart–Zürich zur vollwertigen Umleitungsstrecke für die Rheintalbahn vorsieht. Vorgesehen ist u. a. eine Ertüchtigung für großprofilige Container, Wechselbehälter und Sattelaufleger sowie eine Vereinheitlichung von Technik und Betrieb. Ebenfalls soll die Achse mit ETCS ausgerüstet werden. Ein verbindlicher Zeitplan steht noch aus.
Noch 2019 sollte eine Leistungsvereinbarung über Grundlagenermittlung und Vorplanung des güterverkehrstauglichen Ausbaus zwischen Stuttgart und der Landesgrenze bei Singen geschlossen werden.
Im Juni 2019 sprachen sich zwölf Wirtschaftsverbände entlang der Achse Stuttgart–Bodensee–Schaffhausen–Zürich für deren unverzüglichen Ausbau aus.
Stuttgart 21
Ursprüngliche Planung
Das Projekt „Stuttgart 21“ sieht vor, den Regional- und Fernverkehr nicht mehr über die Panaromabahn zum Hauptbahnhof zu führen, sondern über den Flughafen und die Schnellfahrstrecke Stuttgart–Wendlingen. Ursprünglich war daher geplant, die Strecke im Stadtgebiet außer Betrieb zu nehmen. Stattdessen würde mit der Rohrer Kurve eine Verbindung von Horb zur Bahnstrecke Stuttgart-Rohr–Filderstadt und über diese zum Bahnhof Stuttgart Flughafen/Messe hergestellt. Von dort würde dann die Flughafenkurve zur Schnellfahrstrecke Stuttgart–Wendlingen führen. Als Alternative für diesen Teil des Projekts Stuttgart 21, dem Planfeststellungsabschnitt 1.3b, soll der Pfaffensteigtunnel als direkte Verbindung von der Strecke Stuttgart–Horb zum Flughafen realisiert werden. Der Planfeststellungsantrag für den Pfa 1.3b soll dann aufgegeben werden, wenn der Planfeststellungsantrag für den Pfaffensteigtunnel eingereicht wurde.
Im Jahr 2001 kaufte die Stadt Stuttgart für 14 Millionen Euro die 38 Hektar große Fläche, auf der die Panoramabahn verläuft.
Die Führung über den Flughafen verlängere, nach Angaben von Pro Bahn, den Weg um etwa 4,2 Kilometer und die Fahrzeit zwischen Stuttgart Hauptbahnhof und Böblingen im Regionalverkehr um fünf Minuten. Nach Angaben von DB Netz seien mit der neuen Streckenführung dagegen „nahezu identische“ Fahrzeiten zu erreichen. Nach einem Gutachten der Berater Vieregg-Rössler sei durch die Streckenführung eine Fahrzeitverlängerung von rund fünf Minuten zu erwarten. Das Planungsbüro SMA und Partner stellt hingegen fest, dass es keine fahrplantechnischen Einschränkungen auf der Gäubahn gebe und es nicht zu Fahrzeitverlängerungen komme. Im 2. Gutachterentwurf des Deutschlandtakts waren zwischen Stuttgart Hauptbahnhof und Böblingen mit Halt am Flughafen Reisezeiten von 18 bis 21 Minuten geplant. Dies entspricht dem Niveau im Jahresfahrplan 2023 von 19 bis 25 Minuten (ohne Flughafen-Halt).
Der mit der Schlichtung des Projekts Stuttgart 21 betraute Heiner Geißler schlug in seinem Schlichterspruch am 30. November 2010 den Erhalt der Gäubahn und deren Anbindung über den Bahnhof Feuerbach an den neuen Hauptbahnhof vor. Der Erhalt der Gäubahn und die in diesem Zusammenhang diskutierte Modernisierung sind nicht im Projektbudget von Stuttgart 21 enthalten. Der 2009 beschlossene Regionalplan der Region Stuttgart besagt, „im Zuge des bzw. nach Realisierung des Projekts Stuttgart 21 [solle] zugunsten des regionalen Schienenverkehrs (…), die Gäubahntrasse zwischen Stuttgart-Nord und Stuttgart-Vaihingen in betriebsfähigem Zustand erhalten“ werden. Die im Zuge des Projekts offen gehaltene Option Nordkreuz sieht darüber hinaus vor, den Gäubahnabschnitt für die S-Bahn zu erhalten beziehungsweise zu reaktivieren und im Bereich des Nordbahnhofs mit der S-Bahn in Richtung Feuerbach und Bad Cannstatt zu verknüpfen.
Im Rahmen der 1995 vorgelegten Machbarkeitsstudie für das Projekt Stuttgart 21 war auch erwogen worden, die Züge zwischen Horb und Stuttgart über Tübingen und Reutlingen zur Kleinen Wendlinger Kurve zu führen, wobei die S-Bahn bis Horb verlängert werden sollte. In der Abwägung standen den Vorteilen einer besseren Verkehrserschließung (insbesondere von Reutlingen und Tübingen) und der Vermeidung eines Mischbetriebs auf der Flughafen-S-Bahn die Nachteile einer etwa zehn Minuten längeren Fahrzeit und die Kosten für die Elektrifizierung und den zweigleisigen Ausbau zwischen Horb und Tübingen sowie den Ausbau des Bahnhofs Horb entgegen. Eine weitere Variante sah zusätzlich den Bau einer zwölf Kilometer langen Abkürzungsstrecke (beginnend südlich von Tübingen) zum Flughafen vor, um die Fahrzeit zu verkürzen. Beide Varianten sollten im Rahmen einer vertieften Untersuchung abschließend beurteilt werden.
Im Juni 2012 kam es im Rahmen des „Filder-Dialogs S21“, einem Bürgerbeteiligungsverfahren zum Planfeststellungsabschnitt 1.3 von Stuttgart 21 (Filderbereich), zu einer öffentlichen Diskussion, über den Weg, den Züge von der Gäubahn zum geplanten Stuttgarter Tiefbahnhof nehmen sollen. Neben der von der Deutschen Bahn vorgeschlagenen Antragstrasse wurden sechs weitere Varianten in die Diskussion gegeben. Dazu zählen unter anderem eine Variante, mit der Züge weiterhin über Stuttgart-Vaihingen und Stuttgart-Nord zum Hauptbahnhof geführt werden sollen, eine großräumige Führung ab Horb über Tübingen, Reutlingen und die Wendlinger Kurve nach Stuttgart sowie eine verschiedenen Varianten der Führung über den Flughafen.
Pfaffensteigtunnel und Deutschlandtakt
Im Zuge von Untersuchungen für den Deutschlandtakt wird zur Fahrzeitverkürzung ein Tunnel zwischen dem Ostkopf des Flughafenbahnhofs am Messegelände und der Gäubahn zwischen Rohr und Böblingen erwogen. Diese Planung würde den Planfeststellungsabschnitt 1.3b ersetzen, Ministerpräsident Kretschmann und Verkehrsminister Hermann zeigten sich skeptisch und wiesen auf die hohen Kosten und die lange Zeit für Planung und Umsetzung hin.
In dem im Juni 2020 veröffentlichten dritten Gutachterentwurf des Deutschlandtakts ging ein zwischen der Deutschen Bahn und dem Land Baden-Württemberg abgestimmtes Betriebs- und Angebotskonzept in weiterentwickelter Form ein. Die dem zu Grunde liegende Infrastruktur gelte „vorbehaltlich einer positiven gesamtwirtschaftlichen Bewertung im Kontext des Bedarfsplanvorhabens“. Im dritten Gutachterentwurf ergeben sich mit dem darin aufgenommenen Pfaffensteigtunnel kürzere Reisezeiten gegenüber dem Bestand.
Vorgesehen ist ein zweistufiger Ausbau ohne Nutzung von Neigetechnik: In einer ersten Baustufe soll ein etwa elf Kilometer langer Tunnel vom Flughafen Stuttgart Richtung Böblingen entstehen. In einer zweiten Baustufe sind weitere Tunnel nördlich von Sulz und Rottweil vorgesehen. Geschwindigkeitserhöhungen sind insbesondere in den Abschnitten Herrenberg–Eutingen, Neckarhausen–Sulz und Epfendorf–Rottweil vorgesehen. Eine erste Kostenschätzung geht von Mehrkosten von ca. 500 Mio. Euro für die über den Tunnel zum Flughafen Stuttgart hinausgehenden Maßnahmen aus. Laut Angaben von Winfried Hermann sollen sich die Kosten des vom Bund vorgeschlagenen Konzepts auf rund 1,5 Milliarden Euro belaufen. Das Vorhaben entwickelt das bestehende Bundesverkehrswegeplan-Projekt weiter, wozu eine erneute volkswirtschaftliche Bewertung erforderlich ist, die laut Angaben der Bundesregierung von September 2020 „jetzt zeitnah“ erfolgen solle. Soweit das Vorhaben wirtschaftlich sei, könnten weitere Planungsschritte erfolgen. Das neue Ausbaukonzept erwies sich im März 2021 als volkswirtschaftlich tragfähig. Durch den Pfaffensteigtunnel soll der Fern- und Regionalverkehr auf einer Länge von 13 km von den mit insgesamt zehn S-Bahnen pro Stunde und Richtung befahrenen S-Bahn-Strecken südlich von Stuttgart separiert werden. Damit soll die Fahrzeit für etwa 25.000 Reisende pro Tag um rund sechs Minuten verkürzt werden. Durch den Tunnel soll auch ein im Rahmen des Deutschlandtakts zuvor geplanter oberirdischer Ausbau zwischen Gärtringen und Herrenberg vermieden werden.
Der Tunnel am Flughafen Stuttgart wird inzwischen als Pfaffensteigtunnel geplant. Dieser soll beim Streckenkilometer 22 Richtung Böblingen einfädeln. Die Strecke soll in diesem Zusammenhang zwischen den Streckenkilometern 21 und 24 (Goldberg) umgebaut werden: Für die Einbindung des Tunnels soll sie auf einer Länge von etwa 800 m nach Norden verschwenkt werden und ein Überwerfungsbauwerk entstehen.
Anbindung im Interimszeitraum
Sechs Monate bzw. mindestens vier Monate vor Eröffnung des neuen Hauptbahnhofs soll die Strecke im Bereich des Gäubahnviadukts außer Betrieb genommen werden, um die S-Bahn-Strecke von Stuttgart Nord auf die neue weitgehend unterirdische Streckenführung über die Station Mittnachtstraße zu verschwenken. Regionalzüge sollen dann bereits in Stuttgart-Vaihingen halten und enden. Der ursprüngliche Zeitplan sah vor, gleichzeitig mit der Eröffnung des neuen Hauptbahnhofs auch die Anbindung der Gäubahn über den Fildertunnel an den neuen Hauptbahnhof fertigzustellen. Die Realisierung der Anbindung verzögert sich jedoch, sodass Regionalzüge voraussichtlich nicht nur einige Monate, sondern über mindestens drei Jahre in Stuttgart-Vaihingen enden müssen.
Die Stadt Stuttgart kündigte im Februar 2018 an, angesichts einer Belastung der Strecke mit einem Zugpaar pro Stunde nicht 100 Millionen Euro in die Ertüchtigung der Strecke zu investieren. Ein progressives Szenario einer 2020 vorgelegten Verkehrsprognose für das Jahr 2030 sieht zur Hauptverkehrszeit eine Verdichtung der Regionalverkehrslinie Horb – Stuttgart-Vaihingen – Nordbahnhof zum Halbstundentakt vor. Laut ihrem Koalitionsvertrag will die 2021 ins Amt gekommene grün-schwarze Landesregierung die Panoramabahn erhalten.
Im Juli 2022 gab das S21-Betreiberkonsortium bekannt, dass bis zur Fertigstellung des Pfaffensteigtunnels die Panoramabahn noch bis zu einem „Nordhalt“ in der Nähe des Nordbahnhofs genutzt werden soll, etwa 2 Kilometer vom Hauptbahnhof entfernt. Der dortige Umstieg zum Hauptbahnhof wurde von Verkehrsminister Winfried Hermann jedoch bereits als „wenig komfortabel“ bezeichnet, weil dazu mehrere hundert Meter zu Fuß zurückgelegt werden müssten. Hauptumsteigepunkt zum Hauptbahnhof wird daher der Bahnhof Vaihingen bleiben. Aufgrund von Bauarbeiten kann der Nordhalt voraussichtlich erst ab Mitte 2027 angefahren werden.
Angesichts des langen Zeitraums zwischen der geplanten Außerbetriebnahme der Panoramabahn und der Fertigstellung einer neuen Anbindung über den Flughafen gaben unter anderem Pro Bahn und der Umweltverband BUND ein Gutachten bei dem Juristen Urs Kramer in Auftrag, das prüfen sollte, ob die vorzeitige Außerbetriebnahme zulässig sei. Es kam zu dem Ergebnis, dass für den Streckenabschnitt weiterhin eine Betriebspflicht bestehe, sodass ein Stilllegungsverfahren notwendig wäre. Kurz nachdem das Gutachten im April 2022 vorgestellt wurde, wurde Anfang Juni 2022 bekannt, dass der Stadt Stuttgart bereits seit November 2020 ein Gutachten vorlag, das zu einer ähnlichen Einschätzung kam, jedoch zuvor nicht veröffentlicht wurde.
Im Juni 2023 reichte die Deutsche Umwelthilfe vor dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg eine Klage gegen die Außerbetriebnahme ein.
Dauerhafter Erhalt der Panoramabahn
Mit der Außerbetriebnahme der Panoramabahn werden bei Störfällen auch Ausweichmöglichkeiten der S-Bahn zwischen Hauptbahnhof und Vaihingen unterbrochen. Mit Inbetriebnahme von Stuttgart 21 werden neue Ausweichmöglichkeiten (S-Bahn oder Regionalverkehr zum Flughafen via Fildertunnel) eröffnet.
Der Verband Region Stuttgart (VRS) erwägt eine Durchbindung der Schönbuchbahn zur Strohgäubahn über den stillzulegenden Gäubahn-Abschnitt. Damit sei die Sicherung des Streckenabschnitts im Regionalplan gerechtfertigt. Das Ministerium für Verkehr und Infrastruktur erwägt (Stand: 2015), die Gäubahn über den neuen Regionalbahnhof Stuttgart-Vaihingen mit dem Bahnhof Feuerbach zu verbinden. Die Stuttgarter Straßenbahnen (SSB) schlagen Verknüpfungspunkte am Eckhardshaldenweg und Herderplatz (jeweils zur Stadtbahn) und am Westbahnhof (Bus) sowie Vaihingen (Stadtbahn, Bus) vor. Ein Konzept des VCD sieht eine Nutzung der Strecke zwischen Stuttgart-Vaihingen und Hauptbahnhof für eine Stadtbahn vor.
Alle Fraktionen im Verkehrsausschuss des VRS befürworteten im November 2016, die Gäubahn in Stuttgart nach Inbetriebnahme von Stuttgart 21 für den Personenverkehr zu erhalten. Der VRS wird dafür, zusammen mit dem Land Baden-Württemberg und der Stadt Stuttgart, ein Konzept ausarbeiten. Eine gemeinsam beauftragte Studie untersuchte verschiedene Anbindungsmöglichkeiten der Panoramabahn in Richtung Feuerbach, Bad Cannstatt und den neuen Stuttgarter Hauptbahnhof. Auf dieser Grundlage soll ein möglicher Erhalt der Panoramabahn geplant werden. Für die Einbindung der Gäubahn werden fünf verschiedene Varianten untersucht, in diesem Kontext wird auch der Nordzulauf auf Stuttgart sowie ein Regionalverkehrshalt am Bahnhof Feuerbach erwogen. Entsprechende Planungsleistungen wurden im März 2022 vergeben.
Vorgeschlagen wird ein teilweise Erhalt des Kopfbahnhofs, teils auch ein unterirdischer Kopfbahnhof an gleicher Stelle. Das Ministerium für Verkehr Baden-Württemberg schlug Mitte 2019 vor, die Gäubahn an einem ergänzenden unterirdischen Kopfbahnhof in Stuttgart enden zu lassen und die Gäubahn dafür teilweise unterirdisch zu führen. Diesen Überlegungen trat die Stadt entgegen. Die Stadt habe ein überragendes Interesse an der schnellen Entwicklung des Rosensteinviertels. Vielmehr seien Interimslösungen, etwa mit Endpunkten in Vaihingen oder am Nordbahnhof, notwendig.
In einer am 18. Juli 2022 unterzeichneten gemeinsamen Absichtserklärung bekräftigten Land, DB Netz, VRS und die Landeshauptstadt Stuttgart ihre Absicht, die Panoramabahn über die Inbetriebnahme von Stuttgart 21 hinaus zu erhalten. Unter anderem solle dazu der Streckenabschnitt saniert und zunächst ein Nordhalt ergänzt werden. Die Beteiligten wollen dazu eine gemeinsame Organisationsstruktur schaffen, die den Streckenabschnitt zum Zeitpunkt der Kappung in ihre Verantwortung übernehmen soll. Ein nichtbundeseigenes Eisenbahninfrastrukturunternehmen soll „frühzeitig“ mit der Betriebsführung der Infrastruktur beauftragt werden. DB Netz werde sich zu 49 Prozent an dieser Organisationsstruktur beteiligen, befristet bis zur Inbetriebnahme der Linienführung über den Flughafen. Der Bund habe eine bis zu 50-prozentige Finanzierung der notwendigen Erhaltungsinvestitionen nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz in Aussicht gestellt, über die übrige Finanzierung wollten sich die Beteiligten verständigen.
Langfristig, nach Inbetriebnahme des Pfaffensteigtunnels, werden in verschiedenen Szenarien etwa 10.000 Fahrgäste pro Tag (30-Minuten-Takt) bzw. 20.000 Fahrgäste pro Tag (15-Minuten-Takt) erwartet. Die Erschließungswirkung zusätzlicher Halte entlang des Streckenabschnitts übersteige dabei noch die Wirkung von Durchbindungen zwischen nördlich und südlich gelegenen Städten. Die Sanierungskosten für den Weiterbetrieb wurden 2022 für den Zeitraum bis 2032 mit rund 45 Millionen Euro beziffert und beinhalten insbesondere eine Erneuerung des Oberbaus, dessen Instandhaltung laut DB-Angaben über 2025 hinaus weder technisch noch wirtschaftlich vertretbar sei. In den 2030er und 2040er Jahren sollen, insbesondere für die Sanierung der Tunnel, weitere rund 120 Millionen Euro anfallen. Die laufenden Instandhaltungskosten sollen in der Größenordnung von einer Million Euro pro Jahr liegen und durch Trassenentgelte gedeckt werden können. 2023 wurden Sanierungskosten von 165 Millionen Euro genannt.
In einer Studie von 2021 wurden Varianten mit eingleisigen und weiterhin zweigleisigen Tunneln erwogen. Für die Leit- und Sicherungstechnik wird ein Elektronisches Stellwerk in Stuttgart-West vorgeschlagen. Verschiedene Varianten sehen u. a. teils Ks-Signale mit PZB und teils ETCS vor. Ein im März 2023 vorgelegtes Konzept zum Ausbau des Bahnknotens Stuttgart bis 2040 sieht ein „Nahverkehrsdreieck“ vor, in dessen Rahmen die Fern- und Regionalgleise zwischen Feuerbach und Bad Cannstatt miteinander verbunden und die Panoramabahn in beiden Richtungen an die jeweiligen S-Bahn-Gleise angebunden werden soll. Ferner sollen entlang der Panoramabahn neue Stationen entstehen. Zwischen Feuerbach bzw. Bad Cannstatt und Vaihingen sollen „S-Bahn-ähnliche Produkte“ angeboten werden. Die Panoramabahn solle im Störfall als „zweite Stammstrecke“ genutzt werden können. Insgesamt bis zu sechs Züge pro Stunde der Ammertalbahn, Schönbuchbahn und Strohgäubahn sollen über die Panoramabahn geführt werden.
2017 wurden an 139 Betriebstagen 679 S-Bahn-Züge über die Panoramabahn geführt, 2018 waren es insgesamt 988 S-Bahnen an 150 Betriebstagen. 2019 waren es, bis 20. August, 3848 Züge an 130 Betriebstagen. Dabei handelt es sich jeweils um die Summe von geplanten und ungeplanten Führungen über den Streckenabschnitt. 2019 wurde eine Vielzahl von Zügen aufgrund von geplanten Bauarbeiten an der Stammstrecke über die Panoramabahn geführt. Im 1. Halbjahr 2019 wurden aufgrund von Sperrungen an der Stammstrecke viermal ein Störfallkonzept ausgerufen. Insgesamt 41 Fahrten wurden dabei außerplanmäßig über Stuttgart Hauptbahnhof (oben) geführt. Laut Angaben der Deutschen Bahn seien im Jahr 2019 insgesamt 250 S-Bahnen aufgrund von Störfällen über die Panoramabahn gefahren, von Januar bis Juli 2020 weitere 150.
Betrieb
Seit 2008 gaben die Landkreise Calw und Böblingen mehrere Studien in Auftrag, die eine Verlängerung der S1 über Herrenberg hinaus bis Eutingen und Nagold prüfen und bewerten. Im Juli 2011 wurde in beiden Kreistagen eine Machbarkeitsstudie vorgestellt, welche zu einer positiven Einschätzung kommt.
Weiterentwicklung des Fernverkehrs
Ab Ende 2015 sollte das Fahrplankonzept umgestellt werden, um in Stuttgart und Zürich bessere Anschlüsse herzustellen. Das zweistündige Zugangebot bleibt dabei zunächst erhalten.
Seit Dezember 2017 fahren Intercity-Züge der Linie 87 zwischen 5 und 22 Uhr auf der Gäubahn im Stundentakt. Das Verkehrsangebot ist auf 15 Zugpaare pro Tag verdoppelt. Zusammen mit Regionalzügen ergibt sich damit ein Halbstundentakt zwischen Stuttgart und Horb. Die Unentgeltliche Beförderung für Schwerbehinderte ist auch in den hier verkehrenden Fernzügen gegeben. Außerdem muss ein schienengleicher Bahnsteigzugang in Bondorf ersetzt werden. Im stündlichen Wechsel sollen dabei ein Intercity (mit Zwischenhalt in Böblingen) und ein Fernverkehrszug verkehren, der an die Stelle des bisher zweistündlich verkehrenden Regionalexpress-Angebots tritt. Im Zuge des so genannten Interimsfahrplans soll die Zeit bis zur Inbetriebnahme von Stuttgart 21 überbrückt werden. Darüber hinaus sind nachmittags zwei zusätzliche Regionalzüge von Stuttgart nach Horb vorgesehen. Ab Ende 2018 sollte diese Linie über Schwäbisch Hall nach Nürnberg verlängert werden, doch dazu kam es nicht.
Das Land Baden-Württemberg zahlt der Deutschen Bahn einen Ausgleich, damit letztgenannte Züge mit Fahrscheinen des Regionalverkehrs genutzt werden können. Der zu Grunde liegende, bis 2025 laufende Verkehrsvertrag wurde am 6. Februar 2014 in Böblingen unterzeichnet. Die Höhe des Ausgleichs steht unter Verschluss.
Neuvergabe des Regionalverkehrs
Der dem Regionalverkehr von Stuttgart über Freudenstadt nach Konstanz zu Grunde liegende Verkehrsvertrag zwischen Land und DB Regio endete 2016. Der Nachfolgevertrag wurde Ende Dezember 2014 ausgeschrieben. Er hatte das Netz Gäu-Murr zum Gegenstand, eines von insgesamt 15 Regionalverkehrsnetzen in Baden-Württemberg. Es umfasst den Verkehr von Stuttgart über Herrenberg, Eutingen, Freudenstadt/Horb bis Rottweil sowie von Stuttgart über Murrhardt, Schwäbisch Hall und Crailsheim bis Nürnberg. Das Vergabenetz 3b umfasst 2,1 Millionen Zugkilometer pro Jahr. Darin sind unter anderem die Metropolexpress-Linien von Horb über Stuttgart nach Schwäbisch Hall und Crailsheim enthalten.
Es gingen sechs Gebote ein. Im August 2015 wurde die Vergabe des Netzes an die Deutsche Bahn bekanntgegeben. Der Vertrag läuft bis 2025. Der Landesbeitrag pro Zugkilometer sinkt, gegenüber dem „Großen Verkehrsvertrag“ von 2003, von 11,69 auf 8,22 Euro je Zugkilometer.
Als Fahrzeuge wurden im September 2015 vierteilige Talent-2-Triebzüge mit je 215 Sitzplätzen bestellt, und vom Hersteller Bombardier Transportation pünktlich bis September 2017 geliefert. Im Oktober 2017 fanden Testfahrten mit Passagieren statt, im Dezember 2017 startete der reguläre Betrieb. Die Fahrzeuge verkehren in einem speziellen Landesdesign. Sie verfügen unter anderem über 30 Fahrradstellplätze, Steckdosen und drahtlosen Internetzugang und Mobilfunkverstärker. DB Regio nutzt das Baden-Württemberg-Modell der Fahrzeugfinanzierung, bei dem die Fahrzeuge erworben, an das Land veräußert und zurückgeleast werden.
Im Zuge einer Kompromisslösung für ein drittes Gleis am Bahnhof Stuttgart Flughafen/Messe kündigte das Land im März 2015 an, einen Halbstundentakt auf der Gäubahn einzurichten. Ein solcher Halbstundentakt ist auch im Zielkonzept für den Schienenpersonennahverkehr 2025 des Landes vorgesehen. Die Taktverdichtung soll laut einem Pressebericht etwa 30 Millionen Euro kosten und von 2025 an erfolgen. Metropolexpress-Züge sollen halbstündlich zwischen Stuttgart und Horb sowie stündlich zwischen Stuttgart und Rottweil/Singen verkehren.
Weitere S-Bahn-Angebotsverbesserungen
Am 29. Januar 2018 beschloss der Verkehrsausschuss des Verbands Region Stuttgart eine Untersuchung zu einer durchgehenden Ausweitung des Viertelstundentakt auf S-Bahn-Außenästen, u. a. zwischen Böblingen und Herrenberg. Neben der grundsätzlichen verkehrlichen Wirkung sollen auch Infrastrukturanpassungen und Fahrzeugmehrbedarfe herausgearbeitet werden.
Mit zusätzlichen Fahrzeugen und ETCS soll das S-Bahn-Zugangebot zwischen Stuttgart und Böblingen von heute vier auf sechs Züge erhöht werden. Voraussetzung dafür ist die im Januar 2019 beschlossene Einführung von ETCS im Kernnetz der S-Bahn Stuttgart und die Beschaffung zusätzlicher Fahrzeuge.
In Ehningen soll ein (möglichst mittiges) S-Bahn-Wendegleis entstehen. Im Dezember 2021 war dazu die Klärung betrieblicher und verkehrlicher Randbedingungen im Gang. Im gleichen Monat wurden Vermessungs- und Planungsleistungen ausgeschrieben. 2022 folgte die Ausschreibung zur Planung der Leit- und Sicherungstechnik. Das westliche Streckengleis (Richtung Herrenberg) soll zu einem mittigen, mit mindestens 80 km/h befahrbaren Überholgleis umgebaut werden. An einem neuen, dritten Gleis, auf der Westseite soll ein Außenbahnsteig mit 205 m Nutzlänge entstehen.
Ein progressives Szenario einer 2020 vorgelegten Verkehrsprognose für das Jahr 2030 sieht eine Verlängerung der S1 von Herrenberg nach Bondorf sowie der S5 von der Schwabstraße bis Ehningen mit jeweils zwei Zügen pro Stunde vor.
Der VRS-Verkehrsausschuss lehnte im März 2022 ab, die Taktlücken zwischen Böblingen und Herrenberg mit weiteren S-Bahnen (unter Auslassung aller Zwischenhalte) zu füllen.
Siehe auch
Geschichte der Eisenbahn in Württemberg
Literatur
Hans-Wolfgang Scharf, Burkhard Wollny: Die Gäubahn von Stuttgart nach Singen. EK-Verlag, Freiburg im Breisgau 1992, ISBN 3-88255-701-X (Hauptquelle, auf der der Artikel ganz überwiegend beruht).
Georg Fladt-Stähle: Stuttgarter Balkon. 125 Jahre Gäubahn. In: LOK MAGAZIN. Nr. 281, 2005, , S. 84–91.
Frank von Meißner: Magistrale im Verkehrsschatten: Die Gäubahn Stuttgart–Singen. In: Eisenbahn-Kurier. Nr. 9, 2004, , S. 36–41.
Weblinks
Die Gäubahn-Panoramastrecke (Stuttgart Hbf–Böblingen)
Einzelnachweise
Bahnstrecke in Baden-Württemberg
Schienenverkehr (Stuttgart)
Verkehrsbauwerk im Landkreis Böblingen
Bahnstrecke StuttgartHorb
Verkehrsbauwerk im Landkreis Freudenstadt
Bahnstrecke StuttgartHorb
S-Bahn Stuttgart |
361397 | https://de.wikipedia.org/wiki/Rugby%20Union | Rugby Union | Rugby Union, gemeinhin einfach Rugby oder auch Fünfzehner-Rugby genannt, ist ein Vollkontakt-Ballsport, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in England entstand. Benannt ist er nach seinem Entstehungsort, der Rugby School in der Stadt Rugby. Er ist neben Rugby League eine der beiden Hauptvarianten der Rugby-Familie. Ein Spiel wird zwischen zwei Mannschaften mit je 15 Spielern ausgetragen, die auf einem rechteckigen Feld versuchen, während 80 Minuten einen ovalen Ball am Gegner vorbei ans entgegengesetzte Ende zu tragen, zu werfen oder zu kicken und dadurch Punkte zu erzielen.
1845 verfassten Schüler der Rugby School die ersten Regeln. Weitere wichtige Entwicklungsschritte waren 1863 die Zurückweisung der Regeln der Football Association und 1895 die Abspaltung von Rugby League. Historisch war Rugby Union ein reiner Amateursport, aber 1995 fielen die Beschränkungen für die Bezahlung von Spielern, wodurch auf höchstem Niveau die professionelle Ära begann. World Rugby, ursprünglich International Rugby Board genannt, ist seit 1886 der Dachverband. Von England aus verbreitete sich Rugby Union über weite Teile der Welt. Es wird vor allem auf den Britischen Inseln, in Frankreich, Georgien, Ozeanien, Südafrika, Argentinien, Nordamerika und Japan gespielt. Während die Briten den Sport in den Ländern des Empires verbreiteten, war in Kontinentaleuropa und in weiten Teilen Afrikas insbesondere der französische Einfluss maßgebend.
Die erste internationale Begegnung wurde 1871 in Edinburgh zwischen Schottland und England ausgetragen. Die erstmals 1987 ausgetragene Weltmeisterschaft findet alle vier Jahre statt und ist der wichtigste Wettbewerb. Das Six Nations in Europa und die Rugby Championship in der südlichen Hemisphäre sind weitere bedeutende internationale Wettbewerbe. Zu den wichtigsten nationalen Wettbewerben gehören die Premiership in England, die Top 14 in Frankreich, die Bunnings NPC in Neuseeland, die Japan Rugby League One und der Currie Cup in Südafrika. Wichtige länderübergreifende Vereinswettbewerbe sind die United Rugby Championship mit Mannschaften aus Irland, Italien, Schottland, Südafrika und Wales sowie Super Rugby in Ozeanien.
Mannschaften und Positionen
Jede Mannschaft beginnt das Spiel mit 15 Spielern auf dem Feld und sieben oder acht Auswechselspielern. Eine Mannschaft umfasst acht Stürmer und sieben Verteidiger. Für jede Position sind unterschiedliche physische und technische Eigenschaften erforderlich, weshalb Rugby Union bisweilen als „Spiel für alle Körperformen und -größen“ bezeichnet wird.
Stürmer
Die Hauptaufgabe der Stürmer () besteht darin, den Ball zu erobern und zu halten. Sie spielen eine wichtige Rolle beim Tackling von Gegenspielern und im offenen Gedränge (). Die Spieler auf diesen Positionen sind in der Regel größer und stärker als die übrigen; sie nehmen am Gedränge () und an der Gasse () teil. Oft werden sie als bezeichnet, vor allem in der Gedrängeformation.
Die vordere Stürmerreihe () besteht aus zwei Pfeilern () und dem Hakler (). Die Aufgabe der Pfeiler ist es, die Mitspieler im Gedränge und in der Gasse zu unterstützen sowie im offenen Gedränge für Kraft und Vorwärtsbewegung zu sorgen. Der Hakler nimmt eine Schlüsselposition im Angriffs- und Verteidigungsspiel ein; er ist für den Ballgewinn im Gedränge verantwortlich und wirft den Ball in die Gasse. Die zweite Stürmerreihe () besteht aus zwei Zweite-Reihe-Stürmern (), den größten Spielern der Mannschaft. Ihre Hauptaufgabe besteht darin, beim Gasseneinwurf einen Sprung aus dem Stand zu machen – oft unterstützt von den anderen Stürmern –, um entweder den geworfenen Ball zu fangen oder dafür zu sorgen, dass er auf der eigenen Seite landet. Sie spielen auch eine wichtige Rolle im Gedränge, indem sie sich direkt hinter der ersten Stürmerreihe einreihen und für zusätzlichen Vorwärtsdrang sorgen.
Die hintere Stürmerreihe () besteht aus zwei Flügelstürmern () und der Nummer 8 (). Die Flügelpositionen bilden die dritte Reihe im Gedränge und sind normalerweise die beweglichsten Stürmer im Spiel. Ihre Hauptaufgabe ist die Eroberung des Ballbesitzes. Die Nummer 8 steht zwischen den beiden Flügelstürmern am Ende des Gedränges. Seine Rolle ist es, den Ball zu kontrollieren, nachdem er vom vorderen Teil des zurückgeworfen wurde, und er stellt während der Angriffsphasen eine Verbindung zwischen den Stürmern und den Verteidigern her.
Hintermannschaft
Die Aufgabe der Hintermannschaft () besteht darin, Chancen für das Erzielen von Punkten zu schaffen und auszunutzen. Sie sind im Allgemeinen kleiner, schneller und wendiger als die Stürmer. Ebenso werden von ihnen bessere Fähigkeiten beim Kicken und der Handhabung des Balls erwartet.
Zu den Halbspielern () gehören der Gedrängehalb () und der Verbindungshalb (). Als Bindeglied zwischen Stürmern und Hintermannschaft steht der Gedrängehalb oft im Zentrum des Spielgeschehens. Er bildet meist die erste Verteidigungslinie und steht hinter jedem Gedränge, um den Ball aus der Gefahrenzone herauszubringen. Der Verbindungshalb ist entscheidend für die Umsetzung der Spieltaktik der Mannschaft und gilt als dessen zentrale Schaltstelle. Er muss entschlossen handeln können und Führungsqualitäten besitzen. Viele Spieler auf dieser Position führen auch die Frei- und Straftritte durch.
In der Dreiviertelreihe () gibt es vier Spieler. Die Innendreiviertel () versuchen, die angreifenden Spieler aufzuhalten, während sie im Angriff ihre Schnelligkeit und Stärke einsetzen, um die gegnerische Verteidigung zu durchbrechen. Die Außendreiviertel () halten sich in der Regel an der Außenseite der Abwehrreihe auf. Sie sind üblicherweise diejenigen Spieler, die Spielzüge abschließen und Versuche erzielen. Meist sind sie die schnellsten Spieler der Mannschaft und können deswegen Tacklings ausweichen. Der Schlussmann () steht einige Meter hinter der Abwehrreihe. Er fängt gegnerische Kicks ab und leitet häufig Gegenangriffe ein. Zu seinen wichtigsten Eigenschaften gehören verlässliche Fangfähigkeiten und zielsicheres Kicken.
Spielregeln
Spielfeld
Die Spielanlage () besteht aus der eigentlichen Spielfläche (), den an beiden Enden anschließenden Malfeldern () und dem Perimeterbereich (). Spielfläche und Malfelder zusammen ergeben das Spielfeld (). Eine typische Spielfläche ist 100 m lang und 70 m breit. Je nach den spezifischen Anforderungen des Geländes kann die Länge auch nur 94 m und die Breite nur 68 m betragen. Durch diese Flexibilität ist es beispielsweise möglich, auch Stadien zu nutzen, in denen auch Fußball oder Rugby League gespielt wird.
Die Spielfläche wird durch eine durchgezogene Mittellinie () geteilt, die senkrecht zu den Seitenauslinien () gezogen wird. Eine 50 cm lange Linie wird senkrecht zur Mittellinie gezogen und kennzeichnet den Bereich, in dem die Abstöße ausgeführt werden. Die Bereiche zwischen der Mallinie () und der Mittellinie sind die Spielfeldhälften. Außerdem werden zwei durchgezogene Linien senkrecht zu den Seitenauslinien gezogen, die 22 Meter von jedem Ende des Spielfelds entfernt sind und als 22-Meter-Linien bezeichnet werden. An beiden Enden der Spielfläche befindet sich ein Bereich, der von den Seitenauslinien, der Mallinie und der 22-Meter-Linie begrenzt wird, diese aber nicht einschließt.
In beiden Hälften werden zusätzliche unterbrochene Linien von fünf Metern Länge gezogen, die jeweils einen bestimmten Zweck erfüllen:
10-Meter-Linien: Gestrichelte Linien zehn Meter beidseits der Mittellinie und parallel zu dieser geben die Mindestentfernung an, die eine Mannschaft zwischen sich und der anderen, die einen Antritt oder Wiederantritt ausführt, einhalten muss.
5-Meter-Linien: Gestrichelte Linien, die fünf Meter ins Spielfeld hineinreichen und parallel zur Mallinie verlaufen. Ein Gedränge darf nicht näher als bis zu einer solchen Linie in Richtung Mallinie heranrücken.
15-Meter-Linien: Gestrichelte Linien 15 Meter beidseits der Mittellinie und parallel zu dieser kennzeichnen zusammen mit den 5-Meter-Linien jenen Bereich, in dem sich die Spieler beim Ausführen einer Gasse aufstellen müssen.
Zusätzlich wird der Bereich zwischen den beiden senkrechten 5-Meter-Linien (d. h. fünf Meter von jeder Seitenlinie und fünf Meter von jeder Mallinie) als Gedrängezone () bezeichnet. Wenn eine strafwürdige Aktion außerhalb dieser Zone geschieht und die nicht regelverletzende Mannschaft ein Gedränge durchführen möchte, ordnet der Schiedsrichter eine Verschiebung des Gedränges in die Zone an.
Anders als im Fußball, wo Werbung auf dem Spielfeld streng verboten ist, ist es gestattet, Sponsorenlogos auf den Rasen zu malen, was die Vereine, Profiligen und Turniere als zusätzliche Möglichkeit für Werbeeinnahmen nutzen. Immer häufiger kommt bei Fernsehübertragungen auch die Augmented-Reality-Technologie als Ersatz für die Bemalung zum Einsatz, um den Rasenbelag zu schonen, um die Kosten für die Bemalung zu sparen oder um Farbflecken auf den Trikots und der Haut der Spieler zu vermeiden.
Malfeld und Perimeterbereich
Die Malfelder befinden sich hinter den Mallinien und entsprechen den Endzonen im American Football. Sie müssen zwischen 6 und 22 m tief sein und die gesamte Breite der Spielfläche abdecken. Ein Ball, den ein angreifender Spieler in diesem Bereich kontrolliert ablegt, wird als Versuch gewertet, es sei denn, es liegt ein vorheriger Regelverstoß vor oder der Spieler hat die Spielfläche verlassen, während er in Ballbesitz war.
Der Perimeterbereich, der die Spielfläche und die Malfelder umgibt, gilt als Aus (). Wenn der Ball oder ein Spieler das Seitenaus berührt, wird dem Gegner an jener Stelle entlang der Seitenauslinie, an der er das Spielfeld verlassen hat, eine Gasse zugesprochen. Eine Ausnahme besteht, wenn der Ball zuerst nicht von der Spielfläche abprallte, bevor er ins Seitenaus ging. In diesem Fall findet die Gasse zwar ebenfalls an der Seitenauslinie statt, aber parallel zu jener Stelle, wo der Ball gekickt wurde. Der Perimeterbereich sollte mindestens fünf Meter von der Spielfläche entfernt frei von Hindernissen und schweren, festen Gegenständen sein, die eine Gefahr für die Spieler darstellen könnten.
Im Perimeterbereich stehen ausschließlich 14 Kunststoffpfosten mit einer Mindesthöhe von 1,2 m. Sie markieren die Schnittpunkte bestimmter Linien oder andere festgelegte Entfernungen. Die Pfosten (manchmal mit einer Fahne obenauf) stehen auf einem gefederten oder anderweitig weichen Sockel und sind mit Schaumstoff gepolstert.
Torpfosten
Die Torpfosten sind H-förmig angeordnet und befinden sich in der Mitte der Mallinien an beiden Enden der Spielfläche. Sie umfassen zwei senkrechte Pfosten, die aus Stahl oder einem anderen Metall, manchmal aber auch aus Holz oder Kunststoff gefertigt sind, einen Abstand von 5,6 m zueinander haben und durch eine waagrechte Querlatte drei Meter über dem Boden verbunden sind. Die Mindesthöhe der Pfosten beträgt 3,4 m (wobei deutlich höhere üblich sind). Die unteren Enden der Pfosten sind oft mit speziell angefertigten Polstern versehen, um die Spieler bei einem Aufprall vor Verletzungen zu schützen.
Erzielen von Punkten
Punkte können durch einen Versuch (), eine anschließende Erhöhung (), einen Straftritt () oder ein Dropgoal erzielt werden. Die dabei erhaltene Anzahl Punkte wurde im Laufe der Jahrzehnte mehrmals geändert, zuletzt 1992. Dabei nahm die Wichtigkeit der Versuche im Vergleich zu anderen Möglichkeiten des Erzielens von Punkten laufend zu (siehe Änderungen am Wertungssystem).
Ein Versuch wird erzielt, indem der Ball im gegnerischen Malfeld (auf oder hinter der Mallinie) zu Boden gebracht wird. Der ausführende Spieler muss den Ball zwingend in seinen Händen halten, wenn er diesen kontrolliert auf den Boden legt (es reicht auch eine Hand). Den Ball auf den Boden zu werfen, genügt hingegen nicht und wird nicht gewertet. Wenn der Schiedsrichter glaubt, dass ein Versuch durch ein Fehlverhalten der verteidigenden Mannschaft verhindert wurde, kann er der angreifenden Mannschaft einen Strafversuch gewähren. Bei einem erfolgreich ausgeführten Versuch werden fünf Punkte gutgeschrieben. Legt ein Spieler den Ball im eigenen Malfeld ab, wird er „tot gemacht“ (neutralisiert) und die gegnerische Mannschaft erhält keine Punkte. Es gibt also kein „Eigentor“.
Eine Erhöhung bringt zwei zusätzliche Punkte und kann nach einem erfolgreichen Versuch angestrebt werden. Dafür muss der Ball zwischen die beiden Pfosten und über die Querlatte des Tors gekickt werden. Der Kick erfolgt parallel zur Seitenauslinie von einem beliebigen Punkt im Spielfeld aus, der auf der Höhe jener Stelle liegt, wo der Versuch gelegt wurde. Dies geschieht in der Regel durch einen platzierten Kick vom Boden aus. Der ausführende Spieler hat dafür maximal 90 Sekunden Zeit. Drei Punkte gibt es bei einem Dropgoal zu den Stangen aus dem Spiel heraus. Schließlich kann der Schiedsrichter bei einem Regelverstoß einen Straftritt aussprechen. Die begünstigte Mannschaft kann den Ball dann entweder ins Seitenaus kicken, um einen Raumgewinn zu erzielen oder versuchen, mit einem platzierten Kick drei Punkte zu erzielen. Soll der Ball platziert gekickt werden, wird er leicht schräg auf ein Plastikhütchen () gesetzt, um ihn stabil zu halten.
Spielablauf
Die Spiele sind in zwei Halbzeiten von je 40 Minuten unterteilt, mit einer Pause von 15 Minuten dazwischen. Nach der Halbzeitpause wechseln die Mannschaften die Seiten. Unterbrechungen zur Pflege von Verletzungen oder um dem Schiedsrichter die Möglichkeit zu geben, disziplinarische Maßnahmen zu ergreifen, zählen nicht zur Spielzeit, so dass die verstrichene Zeit in der Regel mehr als 80 Minuten beträgt. Der Schiedsrichter ist für die Zeitmessung verantwortlich, wird aber insbesondere bei vielen Profiturnieren von einem offiziellen Zeitnehmer unterstützt. Läuft die Zeit ab, während der Ball noch im Spiel ist, wird das Spiel so lange fortgesetzt, bis der Ball „tot“ ist (d. h. es kommt zu einer Situation, bei der ein Spielzug ansonsten neu angesetzt würde). Dies geschieht durch das Erzielen von Punkten, einen technischen Fehler oder durch das absichtliche Kicken des Balls in Aus. Erst dann pfeift der Schiedsrichter die Halbzeit oder die reguläre Spielzeit ab. Gibt er jedoch einen Straf- oder Freitritt, wird das Spiel fortgesetzt.
Zu Beginn des Spiels führen die Mannschaftskapitäne und der Schiedsrichter einen Münzwurf durch, um zu bestimmen, wer den Antritt ausführt. Das Spiel beginnt mit einem Dropkick, bei dem die Spieler dem Ball in die gegnerische Hälfte nachjagen, während die andere Mannschaft versucht, diesen zu erobern und weiterzuspielen. Bei einem Dropkick muss der Ball vor der Berührung mit dem Fuß vom Boden abprallen. Erreicht der Ball nicht die 10-Meter-Linie, hat die gegnerische Mannschaft zwei Möglichkeiten: Eine Wiederholung des Antritts oder ein Gedränge im Zentrum der Mittellinie. In den K.-o.-Phasen verschiedener Wettbewerbe werden zwei Verlängerungen von je zehn Minuten gespielt (mit einer Pause von fünf Minuten dazwischen), falls das Ergebnis nach der vollen Spieldauer unentschieden ist. Steht es nach 100 Minuten noch immer unentschieden, sehen die Regeln eine 20-minütige Verlängerung mit Sudden Death vor. Werden in der Verlängerung keine Punkte erzielt, wird der Sieger durch ein Straftrittschießen ermittelt.
Passspiel und Kicken
Der Ball darf nur seitwärts oder rückwärts gepasst werden, das Vorwärtspassen ist nicht erlaubt. Der Ball kann auf drei Arten vorwärts bewegt werden: Durch Kicken, durch einen mit dem Ball in der Hand laufenden Spieler oder in einem Gedränge bzw. Paket (). Nur der Spieler im Ballbesitz darf angegriffen oder umgerannt werden. Verursacht ein Spieler eine unerlaubte Vorwärtsbewegung des Balls (), wird das Spiel an der entsprechenden Stelle mit einem Gedränge fortgesetzt. Dies gilt auch, wenn die Aktion unbeabsichtigt war, beispielsweise durch Abprallen am Körper.
Jeder Spieler darf den Ball nach vorne kicken, um einen Raumgewinn zu ermöglichen. Wenn ein Spieler irgendwo im Spielfeld den Ball indirekt ins Seitenaus befördert (), indem der Ball zuerst auf der Spielfläche aufspringt, wird der Einwurf dort ausgeführt, wo der Ball ins Aus gegangen ist. Kickt der Spieler den Ball innerhalb der eigenen 22-Meter-Linie direkt ins Aus (ohne vorheriges Aufspringen auf dem Spielfeld), wird der Einwurf von der gegnerischen Mannschaft an jener Stelle ausgeführt, wo der Ball ins Aus ging. Wird der Ball jedoch von einem Spieler außerhalb der eigenen 22-Meter-Linie direkt ins Aus befördert, geschieht der Einwurf auf der Höhe jener Stelle, wo der Kick ausgeführt wurde.
Abfangen des Balls
Das Ziel der verteidigenden Mannschaft ist es, den ballführenden Spieler zu stoppen, indem sie ihn entweder zu Boden bringt (Tackling, häufig gefolgt von einem offenen Gedränge) oder um den Ballbesitz kämpft, während der Ballträger auf den Beinen ist. Ein solcher Vorgang wird als bezeichnet und unterliegt jeweils einer besonderen Regel.
Ein Spieler darf einen gegnerischen Spieler im Ballbesitz angreifen, indem er ihn festhält, während er ihn zu Boden bringt. Der Tackler darf nicht oberhalb der Schulter angreifen (Hals und Kopf sind verbotene Bereiche), und er muss versuchen, seine Arme um den angegriffenen Spieler zu schlingen, um das Tackling abzuschließen. Es ist verboten, einen Spieler mit den Füßen oder Beinen zum Stolpern zu bringen, aber die Hände dürfen benutzt werden (dies wird als oder bezeichnet). Tackler dürfen einen Gegner, der in die Höhe gesprungen ist, um einen Ball zu fangen, nicht angreifen, bevor er gelandet ist. Ein zu Boden gegangener Spieler darf den Ball nicht festhalten und muss ihn zwingend freigeben, damit er von einem anderen Spieler seiner Mannschaft aufgehoben werden kann. Ein Paket () entsteht, wenn ein ballführender Spieler mit einem Gegner in Kontakt gekommen ist, der Ballführende aber auf den Beinen bleibt. Sobald sich eine beliebige Kombination von mindestens drei Spielern gefunden hat, bildet sich ein Paket. Ein offenes Gedränge () ähnelt dem Paket, aber in diesem Fall ist der Ball zu Boden gegangen und mindestens drei angreifende Spieler haben sich am Boden gebunden, um den Ball zu sichern. Zwischen der eigenen 22-Meter-Linie und der Mallinie kann ein Spieler, der einen von der gegnerischen Mannschaft getretenen Ball aus der Luft fängt, ohne dass dieser nach dem Tritt den Boden berührt hat, einen Freitritt für seine eigene Mannschaft fordern, indem er Mark! (markieren!) ruft.
Standardsituationen
Gasse (Einwurf)
Wenn der Ball ins Seitenaus gerät, ordnet der Schiedsrichter eine Gasse () gegen die Mannschaft an, die den Ball zuletzt berührt hat. Die Stürmer beider Mannschaften stellen sich im Abstand von einem Meter in einer Reihe auf, senkrecht zur Seitenauslinie sowie zwischen 5 und 15 Meter davon entfernt. Der Ball wird von der Seitenauslinie in die „Gasse“ zwischen den aufgereihten Stürmern geworfen und zwar von einem Spieler jener Mannschaft, die den Ball nicht ins Aus gespielt hat. Eine Ausnahme bildet der Fall, dass der Ball durch einen Straftritt ins Aus gegangen ist. Hier wirft die Mannschaft, die der Straftritt zugesprochen wurde, den Ball ein.
Beide Mannschaften versuchen den Ball zu erobern, und die Spieler dürfen zu diesem Zweck einen Mitspieler hochheben. Ein springender Spieler darf erst angegriffen werden, wenn er wieder steht. Dabei ist nur ein Kontakt von Schulter zu Schulter erlaubt; ein absichtlicher Verstoß gegen diese Regel gilt als gefährliches Spiel und führt zu einem Straftritt.
Gedränge
Ein Gedränge () ist eine Möglichkeit, das Spiel nach einem geringfügigen Verstoß sicher und fair fortzusetzen. Es wird gewährt, wenn der Ball nach vorne geschlagen oder gepasst wurde, wenn ein Spieler den Ball über seine eigene Mallinie bringt und ablegt, wenn ein Spieler im Abseits () steht oder wenn der Ball in einem offenen Gedränge oder Paket gefangen ist und keine realistische Chance besteht, ihn zurückzubekommen. Eine Mannschaft kann sich auch für ein Gedränge entscheiden, wenn ihr ein Straftritt zugesprochen wird.
Ein Gedränge wird gebildet, indem die acht Stürmer jeder Mannschaft in die Hocke gehen und sich in drei Reihen zusammenschließen, bevor sie sich mit der gegnerischen Mannschaft verzahnen. Die erste Reihe besteht aus zwei Pfeilern beidseits des Haklers. Die zweite Reihe besteht aus je zwei Zweite-Reihe-Stürmen und Flügelstürmen. Zuhinterst steht die Nummer 8. Diese Aufstellung wird als 3-4-1-Formation bezeichnet.
Sobald sich ein Gedränge gebildet hat, wirft der Gedrängehalb jener Mannschaft, der das Zuspiel zugesprochen wurde, den Ball in die Lücke zwischen den beiden vorderen Reihen, den so genannten „Tunnel“. Die beiden Hakler kämpfen dann um den Ballbesitz, indem sie den Ball mit den Füßen nach hinten hakeln, während beide Teams versuchen, den Gegner nach hinten zu drängen, um den Ball zu erobern. Die Mannschaft, die in Ballbesitz gelangt, kann entweder den Ball unter ihren Füßen behalten und die gegnerische Mannschaft weiter zurückdrängen, um Raumgewinn zu erzielen, oder den Ball in den hinteren Teil des Gedränges bringen, wo er von der Nummer 8 oder dem Gedrängehalb aufgenommen wird.
Spieloffizielle und Regelverstöße
Es gibt drei Spieloffizielle, den Schiedsrichter () auf der Spielfläche und zwei Assistenten an den Seitenauslinien. Letztere hatten früher in erster Linie die Aufgabe, anzuzeigen, wenn der Ball ins Aus ging. Von daher stammt ihre Bezeichnung . Ihre Rolle ist erweitert worden und sie unterstützen den Schiedsrichter in verschiedenen Bereichen, beispielsweise beim Anzeigen von Fouls und Abseitspositionen. Von den Spielern wird erwartet, dass sie die Entscheidungen des Schiedsrichters mit Respekt hinnehmen. Unhöflichkeit, Widerspruch und Rudelbildung, wie sie in anderen Sportarten vorkommen, sind verpönt und werden konsequent mit Strafen geahndet, bis hin zum Spielausschluss. Nur der Mannschaftskapitän darf den Schiedsrichter ansprechen; der Schiedsrichter kann ihm die Art des Regelverstoßes erklären, ist aber nicht dazu verpflichtet. Insbesondere beim Gedränge und beim Paket achtet der Schiedsrichter auf die korrekte Ausführung und gibt den Spielern entsprechende Anweisungen. Bei Spielen in hochklassigen Wettbewerben wird häufig ein zusätzlicher Videoschiedsrichter ( oder kurz TMO) eingesetzt, der mit dem Schiedsrichter über Funk verbunden ist. Er kann ihn bei umstrittenen Szenen in der Entscheidungsfindung unterstützen oder ihn auf begangene Fouls hinweisen. Die Schiedsrichter und Assistenten verwenden ein System von Handzeichen, um ihre Entscheidungen anzuzeigen.
Zu den üblichen Fouls gehören das Angreifen oberhalb der Schultern, das Zusammenbrechen eines Gedränges, eines offenen Gedränges oder eines Pakets, das Nichtfreigeben des Balls, wenn er am Boden liegt, oder ein Abseits. Die Mannschaft, die kein Foulspiel begangen hat, besitzt mehrere Möglichkeiten, wenn sie einen Straftritt zugesprochen erhält: Einen kurzen Abstoß, bei dem der Ball aus sehr kurzer Entfernung aus der Hand gekickt wird, so dass der Schütze den Ball wieder aufnehmen und mit ihm laufen kann; einen weiten Kick, um Raumgewinn zu erzielen; einen platzierten Kick, bei dem der Schütze versucht, ein Tor zu erzielen; oder ein Gedränge. Bei wiederholten Fouls und Regelverstößen kann ein Spieler vom Rest des Spiels ausgeschlossen (rote Karte) oder für zehn Minuten des Feldes verwiesen werden (gelbe Karte).
Gelegentlich werden Regelverstöße während des Spiels vom Schiedsrichter, seinen Assistenten oder dem TMO nicht bemerkt. Spieler können dann nachträglich durch einen unabhängigen, vom Veranstalter ernannten Kommissär „zitiert“ und mit Strafen belegt werden – bis hin zu mehrwöchigen Sperren.
Ersetzungen und Auswechslungen
Während des Spiels können Spieler ersetzt (bei Verletzungen) oder ausgewechselt werden (aus taktischen Gründen). Ein ausgewechselter Spieler darf nur dann wieder am Spiel teilnehmen, wenn er vorübergehend ausgewechselt wurde, um eine Blutung zu stillen. Ein ausgewechselter Spieler darf vorübergehend zurückkehren, um einen Spieler zu ersetzen, der eine blutende Wunde oder eine Gehirnerschütterung erlitten hat, oder dauerhaft, wenn er einen Stürmer der ersten Reihe ersetzt. Bei internationalen Spielen sind acht Auswechselspieler erlaubt; ansonsten bestimmt der Veranstalter die Anzahl der Auswechselspieler nach freiem Ermessen (möglich sind bis zu acht). Von diesen müssen drei ausreichend ausgebildet und erfahren sein, um die drei Positionen in der ersten Reihe zu besetzen.
Ausrüstung
Die grundlegenden Ausrüstungsgegenstände sind Ball, Trikot, Shorts, Socken und Stiefel. Der Rugbyball besitzt die Form eines verlängerten Rotationsellipsoids. Ursprünglich bestand er aus einer gefüllten Schweinsblase, die mit vier gleich geformten und aneinander genähten Lederflächen umwickelt war. Moderne Bälle bestehen aus einer aufblasbaren Gummi- oder Polyesterblase, während die Oberfläche kleine Noppen aufweist, um die Rutschfestigkeit zu verbessern. Für die Verwendung auf professioneller Ebene gelten bestimmte Parameter: Die 410 bis 460 Gramm schweren Bälle sind 280 bis 300 mm lang und besitzen an der Hauptachse einen Umfang von 740 bis 770 mm. Für Kinder und Junioren gibt es kleinere Normgrößen.
Trikots bestehen aus Kunstfasern wie Polyester, besitzen kurze Ärmel und sind überwiegend kragenlos, um einem potenziellen Angreifer weniger Angriffsfläche zu bieten (auch wenn eine solche Aktion während eines Spiels verboten ist). Bis zur Jahrtausendwende bestanden traditionelle Rugbytrikots aus Baumwolle und besaßen oft einen Kragen ähnlich einem Polohemd (aber in der Regel steifer). Ein häufig anzutreffendes Muster sind aneinandergereihte und farblich abwechselnde horizontale Streifen. Shorts dürfen nicht gefüttert sein; ebenfalls nicht erlaubt sind Schnallen, Klammern, Ringe, Scharniere, Reißverschlüsse, Schrauben oder Bolzen zur Befestigung.
Traditionell waren Rugbystiefel hoch über dem Knöchel geschnitten. Im Laufe der Jahre sind solche Stiefel selten geworden, wobei viele Spieler immer noch halbhohe Stiefel tragen, die knapp über dem Knöchel sitzen. Eine zusätzliche Unterstützung des Knöchels wird insbesondere angesichts der Belastung durch das Vorwärtsspiel und die vielen Körperkontakte als angemessen betrachtet. Moderne Stiefel mit Stollen aus Gummi oder Aluminium besitzen heute eine große Ähnlichkeit mit Fußballschuhen; sie sind etwas breiter und haben leicht höhere Absätze. Ihr niedriger Schnitt stützt den Knöchel weniger, bietet aber maximale Flexibilität bei minimalem Gewicht.
Die Schutzausrüstung ist optional und streng geregelt. Am gebräuchlichsten ist der Mundschutz, der von fast allen Spielern getragen wird und in einigen Ländern sogar vorgeschrieben ist. Erlaubt sind außerdem dünne Kappen (zur Vermeidung von Blumenkohlohren), dünne und flexible Schulterpolster unter dem Trikot sowie Schienbeinschoner, die unter den Socken getragen werden. Bandagen oder Klebebänder können zur Unterstützung oder zum Schutz verletzter Stellen getragen werden; einige Spieler tragen Bandagen um den Kopf, um ihre Ohren im Gedränge zu schützen. Frauen dürfen auch ein dünnes Brustpolster unter dem Trikot tragen. Als Griffhilfe erlaubt sind einige Arten von fingerlosen Handschuhen. Es liegt in der Verantwortung der Spieloffiziellen, die Kleidung und Ausrüstung vor dem Spiel zu überprüfen, um sicherzustellen, dass sie den Regeln entsprechen.
Im Training werden einige spezielle Gegenstände verwendet. Ein ist ein länglicher gepolsterter Gummisack, der es dem Spieler ermöglicht, Tackles zu üben, ohne dass ein anderer Spieler beteiligt ist. Die Säcke stehen auf dem Boden und werden von einer anderen Person hochgehalten, so dass der Spieler einen vollständigen Tackle durchführen kann. Eine Variante davon ist der für das Üben des offenen Gedränges. Er wird vom Trainer oder einem Mitspieler in der Hand gehalten und ermöglicht es dem übenden Spieler, sicher gegen die Person zu stoßen, die den Schild hält. An einer können mehrere Spieler gleichzeitig das Gedränge üben. Bei dieser Maschine handelt es sich um ein schweres gepolstertes Gerät auf Rädern, das einen konstanten Gegendruck erzeugt.
Verletzungen
Rugby Union gilt als physisch harte Sportart, die nicht selten Verletzungen nach sich zieht. Gemäß einer Untersuchung des Verbands der Sportmediziner Australiens sind etwas mehr als die Hälfte der gemeldeten Verletzungen minimal oder leicht, sodass die Spieler keinen Einsatz verpassen. Die am meisten betroffenen Körperteile sind Schulter (18 % aller Verletzungen), Knie (13 %), Hüfte (12 %) und Knöchel (12 %). Verstauchungen und Zerrungen machen 58 % aller Verletzungen aus, Überanstrengung und Überbeanspruchung kommen ebenfalls häufig vor. Die häufigste Unfallursache ist das Tackling, das aber auch der häufigste Spielzug ist. Statistiken zeigen, dass der Ballträger im Vergleich zum Tackler doppelt so häufig verletzt wird.
Kreuzbandrisse verursachen die am längsten dauernden Ausfälle, da die Therapie sich über mehrere Monate hinzieht. Sie treten nicht nur nach einem Kontakt mit einem gegnerischen Spieler auf, sondern können durch eine zu starke Verdrehung des Knies verursacht werden. Daher ist eine gute körperliche Verfassung der Spieler wichtig, um solchen Verletzungen vorzubeugen. Blutungen treten aufgrund der häufigen Stöße regelmäßig auf. Ein Spieler, der eine Blutung erleidet, darf nicht auf dem Spielfeld bleiben und muss sich mit einem Wundverband versorgen lassen. Die Mannschaft kann ihn zu diesem Zweck für maximal 15 Minuten auswechseln.
Besondere Aufmerksamkeit wird den Schädel-Hirn-Traumata zuteil. Im Jahr 2012 führte der Weltverband ein „Gehirnerschütterungsprotokoll“ ein, das eine Reihe von Maßnahmen umfasst, mit denen das Risiko einer Kopfverletzung bei Spielern nach einem Aufprall verringert werden soll. Dazu gehören Tests vor der Saison, um eine Referenzbilanz bezüglich der Anfälligkeit zu erstellen. Außerdem werden während des Spiels bei Verdacht auf ein Trauma verschiedene Verfahren angewandt, wobei der Spieler für zehn Minuten vom Spielfeld genommen wird und der Arzt einen Fragebogen () ausfüllt. Schließlich muss der Spieler bei wiederholten Traumata einen Facharzt für Neurologie aufsuchen, bevor er wieder spielen darf.
Verbände
Der internationale Dachverband für Rugby Union und davon abgeleitete Varianten ist World Rugby mit Sitz in Dublin. Der im Jahr 1886 als International Rugby Board (IRB) gegründete Verband zählt 120 nationale Verbände zu seinen Mitgliedern, davon 102 Vollmitglieder und 18 assoziierte Mitglieder. World Rugby ist zuständig für die Festlegung und Änderung der Regeln sowie für die Organisation der wichtigsten internationalen Turniere. Zu den wichtigsten gehören die Weltmeisterschaft der Männer, die Weltmeisterschaft der Frauen, die Siebener-Rugby-Weltmeisterschaft, die World Rugby Sevens Series für Männer und Frauen, die Juniorenweltmeisterschaft, der Nations Cup und der Pacific Nations Cup. Der Verband ehrt seit 2006 die erfolgreichsten Spieler und Trainer sowie besonders verdienstvolle Funktionäre mit der Aufnahme in die World Rugby Hall of Fame.
Sechs Kontinentalverbände, die ebenfalls Mitglieder von World Rugby sind, bilden die nächste Ebene. Es sind dies Rugby Africa, Asian Rugby, Rugby Americas North, Rugby Europe, Oceania Rugby und Sudamérica Rugby. Diese Verbände sind vor allem für die Austragung kontinentaler Meisterschaften zuständig. Die nationalen Verbände organisieren Wettbewerbe in den jeweiligen Ländern und sind World Rugby sowie einem der Kontinentalverbände angeschlossen. Einen Sonderfall bildet SANZAAR, ein gemeinsames Unternehmen der Verbände Südafrikas, Neuseelands, Australiens und Argentiniens, das die Wettbewerbe Super Rugby und Rugby Championship organisiert. Während die drei erstgenannten ihr seit 1995 angehören (zunächst unter dem Namen SANZAR), trat der argentinische Verband 2016 bei.
Geschichte
Entstehung von Rugby
Auf den Britischen Inseln gab es seit dem Mittelalter fußballähnliche Spiele, die unter den Bezeichnungen oder zusammengefasst werden. Solche wurden in der Regel zwischen benachbarten Städten und Dörfern ausgetragen, wobei eine unbegrenzte Anzahl Spieler gegeneinander antrat und versuchte, eine gefüllte Schweinsblase mit allen möglichen Mitteln zu den Markierungen an beiden Enden einer Siedlung zu bringen. Beispiele dafür waren Shrovetide football in England, Caid in Irland, Ba’Game in Schottland und Cnapan in Wales. Das erste überlieferte -Spiel fand 1175 in London statt. Da solche Spiele nicht selten in Gewaltexzesse mit Verletzten und gar Toten ausarteten, gab es immer wieder behördliche Versuche, diese zu verbieten und so die Untertanen zu disziplinieren. Das älteste bekannte Verbot erließ der Lord Mayor of London im Jahr 1314. Tatsächlich konnten die wilden, unkontrollierten Spiele jedoch erst Mitte des 19. Jahrhunderts eliminiert werden. Ähnliche Spiele gab es auch in anderen Ländern. Im Norden Frankreichs war Soule weit verbreitet, überliefert ist ein 1319 von König Philipp V. erlassenes Verbot. Weitere bekannte Beispiele sind in Italien und Lelo burti in Georgien.
Ab dem 15. Jahrhundert begannen die Public Schools, informelle Regeln für fußballähnliche Spiele zu entwickeln und allgemein die Zahl der Teilnehmer zu beschränken. Dieser Prozess zog sich über Jahrhunderte hin und jede dieser Schulen hatte ihre eigenen Regeln. Beispielsweise reicht das Wall Game des Eton College bis ins Jahr 1717 zurück. Ungefähr seit der Mitte des 17. Jahrhunderts gab es auch an der Rugby School in der Stadt Rugby (Grafschaft Warwickshire) ein solches Spiel. Gemäß einer Überlieferung soll der Schüler William Webb Ellis bei einer Partie im Jahr 1823 als erster den Ball in die Hände genommen haben und damit gerannt sein, um einen Punkt zu erzielen. Zwar gibt es keine handfesten Beweise für diese Behauptung, sie ist aber derart weit verbreitet und populär, dass der Weltmeisterpokal den Namen Webb Ellis Cup trägt. Das Balltragen und -werfen war an der Rugby School zunächst regelwidrig, wurde aber ab 1838 geduldet und war schließlich fester Bestandteil des im August 1845 von den Schülern veröffentlichten ersten Regelwerks.
Nicht zuletzt wegen des hohen pädagogischen Ansehens von Rektor Thomas Arnold verbreiteten sich die rasch an anderen Schulen. Ehemalige Schüler der Rugby School gründeten 1843 am Londoner Guy’s Hospital den ersten Verein. Albert Pell, ein späterer Unterhausabgeordneter, stellte das Rugbyspiel um 1840 an der University of Cambridge vor. Dort zogen es die Studenten nach einigen Jahren vor, den Ball zu treten anstatt zu werfen. Sie veröffentlichten 1848 die konkurrierenden . Trotz unterschiedlicher Regeln bezeichnete man beide Varianten als , was mitunter Uneinigkeit bei der Regelauslegung verursachte. 1862 führte Richard Lindon, ein in der Stadt Rugby tätiger Lederarbeiter, Bälle aus Gummiblasen ein, die mit Leder umwickelt waren. Aufgrund der Biegsamkeit des Gummis konnten Bälle mit einer ausgeprägteren ovalen Form hergestellt werden. Diese waren für Rugby besser geeignet als runde Bälle, da sich der Schwerpunkt zunehmend auf die Handhabung und weniger auf das Dribbeln verlagerte.
Abgrenzung zu Fußball und Rugby League
Da es weiterhin viel Interpretationsspielraum gab, trafen sich die Vertreter von elf Vereinen und Public Schools am 26. Oktober 1863 in der Londoner , wo sie die Football Association gründeten. In fünf weiteren Sitzungen erarbeiteten sie auf der Grundlage der das erste verbindliche Regelwerk des modernen Fußballs. Der Blackheath FC war nicht damit einverstanden, dass das Halten und Werfen des Balles mit den Händen nun untersagt sein sollte, weil dadurch der Charakter des Spiels völlig verändert würde. Deshalb trat er nach nur fünf Wochen wieder aus dem Verband aus und spielte weiterhin nach den . Der Blackheath FC und der Richmond FC veröffentlichten am 4. Dezember 1870 in der Zeitung The Times einen Brief, in dem sie alle Vereine, die „am Fußballspiel nach Rugby-Art interessiert sind“, zu einer Versammlung einluden. 21 Vereine folgten dem Aufruf und gründeten am 26. Januar 1871 im Londoner Pall Mall Restaurant einen eigenen Verband, die Rugby Football Union (RFU). Diese veröffentlichte im Juni desselben Jahres ihr eigenes Regelwerk, womit die Trennung zwischen und endgültig vollzogen war. In der Zwischenzeit fand am 27. März 1871 in Edinburgh das erste Länderspiel zwischen der schottischen und englischen Nationalmannschaft statt, es endete mit einem Sieg der Gastgeber.
Die RFU verstand sich zu Beginn nicht nur als Repräsentant Englands, sondern als gesamtbritischer Verband, doch innerhalb eines Jahrzehntes entstanden separate Verbände in den drei übrigen Home Nations (Schottland, Irland und Wales). 1883 organisierten sie gemeinsam die erste Ausgabe der jährlichen Home Nations Championship (das spätere Five Nations und heutige Six Nations). 1884 hatten die Engländer eine Meinungsverschiedenheit mit den Schotten über einen vom irischen Schiedsrichter nicht anerkannten Versuch. Die RFU vertrat den umstrittenen Standpunkt, England habe als „Gründernation“ des Rugbysports das alleinige Recht, strittige Punkte des Regelwerks interpretieren zu dürfen. Die drei übrigen Verbände waren damit nicht einverstanden und gründeten 1886 einen Dachverband, den International Rugby Board (IRB, heute World Rugby), der die exklusive Entscheidungsgewalt über das Regelwerk beanspruchte. Die RFU verweigerte zunächst den Beitritt und boykottierte die Turniere 1888 und 1889. Schließlich trat die RFU 1890 doch noch bei, nachdem ein unabhängiges Schiedsgericht dem IRB recht gegeben hatte.
Als Rugby ab den späten 1870er Jahren zunehmend auch in der Arbeiterklasse Anklang fand, gab es wiederholt kontroverse Debatten über die Frage, ob Entschädigungen für die Freistellung von der Arbeit erlaubt werden sollten. Vor allem im stark industrialisierten Nordengland verpassten viele Spieler aufgrund ihrer beruflichen Verpflichtungen Spiele oder mussten auf ihr Gehalt verzichten, um antreten zu können. Die RFU wiederum war besorgt, dass solche Entschädigungen den Weg zum Profisport ebnen würden. 1893 beschwerten sich die Vereine aus Yorkshire darüber, dass die von der Ober- und Mittelschicht geprägten Vereine des Südens, die den reinen Amateurismus propagierten, im RFU-Ausschuss überrepräsentiert seien. Ebenso fänden die Sitzungen in London zu Zeiten statt, die es den Mitgliedern aus dem Norden oft schwer machten, daran teilzunehmen. Somit würden sich die Verbandsstrukturen zum Nachteil der nördlichen Vereine auswirken, obwohl sie die Mehrheit stellten. Am 29. August 1895 trafen sich die Vertreter von 20 Vereinen aus den Grafschaften Cheshire, Lancashire und Yorkshire in Huddersfield, wo sie ihren Austritt aus der RFU und die Gründung der Northern Rugby Football Union (heute Rugby Football League) beschlossen. Sie spielten zunächst nach den RFU-Regeln, begannen aber in der ersten vollen Saison 1895/96 verschiedene Änderungen einzuführen, wodurch die eigenständige Variante Rugby League entstand.
Verteidigung des Amateurstatus
In den Jahrzehnten, als es noch keine kommerziellen Flugreisen gab, trafen Nationalmannschaften aus verschiedenen Kontinenten selten aufeinander. Dies geschah im Rahmen ausgedehnter Touren, die aufgrund der notwendigen Schiffsreisen zum Teil über ein halbes Jahr dauerten. Tourende Teams bestritten nicht nur Test Matches gegen Nationalmannschaften, sondern auch zahlreiche Spiele gegen regionale Auswahlteams und Vereine. Die ersten beiden nennenswerten Touren fanden 1888 statt: Eine britische Auswahl (später als British and Irish Lions bezeichnet) besuchte Neuseeland und Australien, während eine Auswahl neuseeländischer Ureinwohner durch die nördliche Hemisphäre reiste. Zwei Jahrzehnte später entsandten alle drei großen Rugby-Länder der südlichen Hemisphäre ihre Nationalmannschaften nach Europa: Neuseeland 1905, gefolgt von Südafrika 1906 und Australien 1908. Sie brachten neue Spielstile und Taktiken mit und waren weitaus erfolgreicher als erwartet. Während ihrer Tour von 1905 präsentierten die Neuseeländer der erstaunten Öffentlichkeit jeweils vor Spielbeginn einen Haka, einen Kriegstanz der Māori. Als Reaktion darauf hielten die walisische Nationalmannschaft und die Zuschauer in Cardiff mit dem Singen der Nationalhymne Hen Wlad Fy Nhadau dagegen. Es war dies das erste Mal überhaupt, dass vor einem sportlichen Ereignis die Nationalhymne gesungen wurde.
Bis 1987 sträubte sich die RFU gegen die Einführung eines geregelten Meisterschaftsbetriebs, weil sie befürchtete, dass der Sport ansonsten den Pfad des reinen Amateurismus verlassen würde. Es existierten lediglich von den Vereinen untereinander organisierte regionale Wettbewerbe. Verschiedene Zeitungen versuchten, mit statistischen Erhebungen die relative Stärke der Vereine zu ermitteln, doch diese waren bestenfalls eine Schätzung. Ähnlich konservativ verhielt sich Schottland. Dort gab es zwar seit 1865/66 eine inoffizielle Meisterschaft, sie wurde aber vom Verband über ein Jahrhundert lang völlig ignoriert. In anderen Ländern waren die Verbände weitaus weniger restriktiv. Am liberalsten war Frankreich, wo seit 1892 eine nationale Vereinsmeisterschaft existierte. Doch um 1930 gab es vermehrt Berichte über verdeckten Professionalismus mittels geheimer Absprachen, was das IRB zusehends verärgerte. Als sich die Situation trotz mehrerer Warnungen nicht besserte, wurde Frankreich als Nichtmitglied des IRB von 1932 bis 1947 vom jährlichen Five-Nations-Turnier ausgeschlossen. Unter Federführung des französischen Verbandes entstand 1934 der konkurrierende Weltverband (FIRA), der Länder vertrat, die nicht dem exklusiven IRB angehörten. Die FIRA trug wesentlich dazu bei, den Rugbysport über die englischsprachigen Länder hinaus zu verbreiten. Erst sechs Jahrzehnte später willigte sie ein, sich dem IRB unterzuordnen und die Rolle eines europäischen Kontinentalverbandes einzunehmen.
Die rassistische Apartheid-Politik Südafrikas sorgte für zahlreiche Kontroversen. Nichtweißen Spielern war es lange Zeit verboten, der südafrikanischen Nationalmannschaft anzugehören und die Māori unter den Neuseeländern durften bis 1970 nicht an Spielen in Südafrika teilnehmen. Gegen Diskriminierungen dieser Art entstand in den 1960er Jahren eine einflussreiche internationale Protestbewegung. So waren die Touren der Südafrikaner nach Großbritannien und Irland 1969/70 sowie Australien 1971 von zahlreichen Demonstrationen und Streiks begleitet. Die von Anfang an umstrittene Südafrika-Tour der Neuseeländer 1976 hatte zur Folge, dass zahlreiche afrikanische Staaten die Olympischen Sommerspiele 1976 in Montreal boykottierten, obwohl Rugby Union damals gar keine olympische Sportart war. Als Reaktion darauf verabschiedeten die Commonwealth-Staaten 1977 die Gleneagles-Vereinbarung, die eine vollständige Isolierung Südafrikas von der Sportwelt zum Ziel hatte. Trotzdem tourten die Südafrikaner 1981 durch Neuseeland, begleitet von massiven und zum Teil gewalttätigen Protesten, die das ganze Land erfassten.
Dessen ungeachtet blieb der südafrikanische Verband während der gesamten Apartheid-Ära ein IRB-Vollmitglied und stimmte 1985 der Einführung der Rugby-Union-Weltmeisterschaft zu, obwohl die Nationalmannschaft wegen des Sportboykotts gar nicht teilnahmeberechtigt war. Die entscheidende Abstimmung im Exekutivrat fiel mit 10:6 Stimmen recht knapp aus; konservative Rugbykreise hatten die Befürchtung geäußert, ein solches Turnier würde den Druck auf den Amateurismus weiter erhöhen. 1987 gewann Neuseeland die erste Weltmeisterschaft. Drei Jahre nach dem Ende der Apartheid durfte Südafrika die Weltmeisterschaft 1995 ausrichten und gewann bei seiner ersten Teilnahme sogleich den Titel. Die Übergabe des Pokals durch Präsident Nelson Mandela an Mannschaftskapitän Francois Pienaar gilt als einer der symbolträchtigsten Momente der Sportgeschichte und als Geburtsstunde der „Regenbogennation“.
Professionelle Ära
Fast hundert Jahre lang setzten sich die Verbände erfolgreich gegen sämtliche Angriffe auf den reinen Amateurstatus zur Wehr und nahmen eine kompromisslose Haltung gegen alle ein, die in irgendeiner Beziehung zur professionellen Variante Rugby League standen. Ein einziges League-Spiel, selbst ohne Bezahlung, reichte aus, um einen Spieler lebenslang von Rugby Union auszuschließen. Die Verbände nutzten auch ihren Einfluss in hohen Positionen, um Rugby League aus zahlreichen Bildungseinrichtungen und den Streitkräften zu verbannen. Doch auch diese drakonischen Maßnahmen konnten nicht verhindern, dass immer wieder hochklassige Spieler aus wirtschaftlichen Gründen zu Rugby League wechselten, insbesondere seit den 1980er Jahren. Mit der zunehmenden Globalisierung wurde der Druck schließlich zu groß. Am Vorabend des WM-Endspiels 1995 gaben die Verbände Australiens, Neuseelands und Südafrikas bekannt, dass sie mit der News Corporation von Rupert Murdoch einen Zehnjahresvertrag im Wert von 550 Millionen US-Dollar für die Fernsehrechte an zwei neuen Wettbewerben abgeschlossen hatten, das Tri-Nations-Turnier der drei Nationalmannschaften und die internationale Meisterschaft Super 12. Für zusätzliche Unruhe sorgte Kerry Packer, ein weiterer australischer Medienunternehmer, der eine weltumspannende Liga namens World Rugby Championship mit 30 Teams plante. Diese kam zwar nicht zustande, doch dem IRB-Exekutivrat blieb an seiner Sitzung vom 26. August 1995 keine andere Wahl, als sämtliche Beschränkungen bezüglich der Bezahlung von Spielern aufzugeben und Rugby Union zu professionalisieren. Ohne den einstimmig gefällten Beschluss wäre Rugby Union völlig marginalisiert worden.
Ein wesentlicher Vorteil, den die Professionalisierung mit sich brachte, bestand darin, dass die Union-Spieler nicht mehr ständig abwanderten, weil sie vom Geld der australischen und englischen League-Vereine angelockt wurden. Die damaligen Verantwortlichen hofften auch, dass das Interesse der Sponsoren und Zuschauer sich langfristig von League auf das internationalere Union-Spiel verlagern würde. Letztlich konnten jedoch nur verhältnismäßig wenige League-Spieler abgeworben werden, da sich die beiden Varianten in den langen Jahrzehnten der Trennung sowohl in der Kultur als auch in den Spielaspekten unterschiedlich entwickelt hatten. Auf der anderen Seite erlebte Rugby Union seit 1995 ein noch nie dagewesenes Wachstum, sei dies bei der Anzahl lizenzierter Spieler, der Zahl der Mitgliedsverbände oder dem Interesse der Zuschauer. Beispielsweise gilt die Weltmeisterschaft mittlerweile als drittgrößtes Sportereignis der Welt. Ebenso unternahmen die Verbände erfolgreiche Anstrengungen, Rugby Union auch bei Frauen zu etablieren. Um das Jahr 2000 kamen die Touren nach alter Tradition zum Erliegen (mit Ausnahme der alle vier Jahre stattfindenden Touren der British and Irish Lions). An ihre Stelle traten neu eingeführte Turniere und zwei Zeitfenster für Test Matches im Frühsommer und Spätherbst.
Weltweite Verbreitung
Die Verbreitung von Rugby Union als globaler Sport hat ihre Wurzeln im Export des Spiels durch britische Auswanderer und Militärangehörige sowie ins Ausland zurückkehrende Studenten. Heute gilt Rugby Union in sieben Ländern de facto als Nationalsport. Es sind dies Fidschi, Georgien, Madagaskar, Neuseeland, Samoa, Tonga und Wales.
Ozeanien
In Australien entstand der erste Rugbyverein 1863 in Sydney. Der Sydney University Football Club folgte als erster Verein außerhalb des Mutterlandes Großbritannien den kodifizierten Rugby-Regeln und organisierte zwei Jahre später das erste offizielle Spiel. Die Einführung von Rugby Union in Neuseeland wird Charles Monro zugeschrieben, der das Spiel als Schüler in London kennengelernt hatte und es 1870 in Nelson dem dortigen Fußballverein präsentierte.
Mehrere Inselstaaten im Pazifik haben sich den Rugbysport zu eigen gemacht. In Fidschi wurde Rugby zum ersten Mal 1884 von Briten, Neuseeländern und einheimischen Polizeikräften in Ba auf der Hauptinsel Viti Levu gespielt. In Samoa fand das Spiel nach dem Beginn des Ersten Weltkrieges unter neuseeländischer Mandatsverwaltung weite Verbreitung, wobei der Einfluss der katholischen Ordensgemeinschaft der Maristen-Schulbrüder von entscheidender Bedeutung war. In Tonga verbreitete sich Rugby ab 1900, zurückzuführen auf Adlige, die von ihrer Ausbildung in Australien heimkehrten. In weiteren Pazifikstaaten wie den Cookinseln, Französisch-Polynesien, Niue, Papua-Neuguinea und den Salomonen ist Rugby Union ebenfalls verbreitet, hat aber bei weitem nicht denselben Stellenwert wie in Fidschi, Samoa und Tonga.
Nordamerika
In Kanada wurde der erste Verein 1868 in Montreal gegründet. Diese Stadt spielte auch bei der Einführung des Sports in den Vereinigten Staaten eine Rolle, als Studenten der McGill University 1874 gegen eine Mannschaft der Harvard University spielten. Die beiden Hauptvarianten von Gridiron Football – Canadian Football und in einem geringeren Maße American Football – galten einst als Varianten von Rugby, werden aber heute nur noch selten als solche bezeichnet. Tatsächlich war der Dachverband von Canadian Football bis 1967 als Canadian Rugby Union bekannt, mehr als fünfzig Jahre, nachdem sich der Sport von den etablierten Rugby-Union-Regeln getrennt hatte. Der Grey Cup, die Trophäe für den Meister der Canadian Football League, wurde ursprünglich an den Rugby-Meister übergeben. Während sich der kanadische Rugby-Union-Sport vor allem in der Provinz British Columbia behaupten konnte, fristete er in den Vereinigten Staaten jahrzehntelang ein Nischendasein, ehe er ab den 1960er Jahren wiederbelebt werden konnte. Mittlerweile gilt Rugby Union dort als die am schnellsten wachsende Sportart. Seit 2019 besteht die kanadisch-amerikanische Profiliga Major League Rugby.
Europa
Eingewanderte Briten gründeten 1872 den ersten Rugbyverein in Frankreich, wo sich der Sport insbesondere im Süden des Landes fest etablieren konnte. In der Folge waren es vor allem Franzosen, die für die weitere Verbreitung von Rugby Union in anderen europäischen Ländern sorgten. Dies war darauf zurückzuführen, dass die im International Rugby Board (IRB) zusammengeschlossenen Verbände der Home Nations zunächst ausschließlich gegeneinander antraten und später auch gegen Mannschaften der südlichen Hemisphäre (Australien, Neuseeland, Südafrika). Frankreich erhielt zwar Einladungen für das Five-Nations-Turnier (heute Six Nations), war aber nicht IRB-Mitglied. Es war auch das einzige Bindeglied zum übrigen Europa, das ansonsten weitgehend sich selbst überlassen und von den Home Nations ignoriert wurde. Entsprechend war dort die Entwicklung der Teilnehmer- und Zuschauerzahlen vergleichsweise bescheiden. Nachdem Frankreich 1932 nach Vorwürfen des Scheinamateurismus vorübergehend aus dem Five-Nations-Turnier ausgeschlossen worden war, begann es mangels internationaler Wettbewerbe als einziges europäisches Team der obersten Stärkeklasse regelmäßig gegen andere europäische Länder zu spielen. Ab 1947 durfte Frankreich wieder am Five Nations teilnehmen. 1978 wurde der französische Verband als erster Vertreter eines nicht-englischsprachigen Landes in den IRB aufgenommen, blieb gleichzeitig aber weiterhin der FIRA verpflichtet und trug so wesentlich zur weiteren Verbreitung von Rugby Union in anderen Ländern bei. Mit der Aufnahme Italiens im Jahr 2000 wandelte sich das Five Nations zum heutigen Six Nations. Die wichtigsten europäischen Rugby-Länder außerhalb der Six Nations sind Belgien, Deutschland, Georgien, die Niederlande, Portugal, Rumänien, Russland und Spanien.
Südamerika
Argentinien ist die bekannteste Rugby-Nation Südamerikas und mit weitem Abstand die erfolgreichste. Das erste Spiel fand dort 1873 statt und die Gründung des Verbandes geht auf 1899 zurück. Gleichwohl besitzen mehrere andere Länder des Kontinents eine lange Tradition. Rugby wird in Brasilien seit Ende des 19. Jahrhunderts gespielt, aber erst seit 1926, als São Paulo sich in einem Städtevergleich gegen Santos durchsetzte, gibt es regelmäßige Wettbewerbe. Uruguay benötigte mehrere gescheiterte Anläufe, um Rugby zu etablieren, insbesondere dank der Bemühungen des Montevideo Cricket Club. 1951 gelang dies endgültig mit der Gründung einer nationalen Liga. Eine ausreichende Anhängerschaft für die Durchführung eines regelmäßigen Spielbetriebs gibt es auch in Chile und Paraguay, wo die nationalen Verbände 1948 bzw. 1970 entstanden.
Asien
In zahlreichen asiatischen Ländern geht die Rugby-Tradition auf das britische Empire zurück. In Indien führten emigrierte Briten den Rugbysport in den frühen 1870er Jahren ein und 1873 entstand in Kalkutta der erste Verein. Mit dem Abzug eines dort stationierten Armeeregiments nahm das Interesse jedoch rasch ab; die weitere Entwicklung geriet ins Stocken und gegenüber Cricket dauerhaft ins Hintertreffen. Der erste Verein in Ceylon (heute Sri Lanka) geht auf das Jahr 1879 zurück; auch hier waren überwiegend Briten involviert. Das führende Rugbyland Asiens ist Japan. Rugby fasste dort 1866 Fuß und im Gegensatz zum indischen Subkontinent stieß der Sport ab den späten 1890er Jahren auch bei den Einheimischen auf immer größeres Interesse. 2019 war Japan als erstes asiatisches Land Ausrichter einer Weltmeisterschaft. Weitere asiatische Rugbyländer mit einiger Bedeutung sind die Volksrepublik China, Malaysia, die Philippinen, Singapur und Südkorea. Die frühere britische Kronkolonie Hongkong spielte bei der Entwicklung der Variante Siebener-Rugby eine führende Rolle, insbesondere mit der Austragung des Turniers Hong Kong Sevens seit 1976. Die Geschichte des Rugbysports im Nahen Osten und in den Golfstaaten beginnt in den 1950er Jahren mit der Gründung von Vereinen durch britische und französische Soldaten, die nach dem Zweiten Weltkrieg in der Region stationiert waren. Als diese abzogen, hielten junge Berufstätige, meist in diesen Ländern arbeitende Europäer, die Mannschaften aufrecht. Allerdings gelang es bis heute kaum, das Interesse der Einheimischen zu wecken.
Afrika
In Kapstadt stationierte britische Soldaten führten den Rugbysport 1875 in Südafrika ein. Das Spiel verbreitete sich rasch im ganzen Land und im benachbarten Rhodesien (heute Simbabwe). Südafrikanische Siedler brachten das Spiel auch nach Südwestafrika (Namibia) mit und traten in Britisch-Ostafrika gegen britische Beamte an. Um die Wende zum 20. Jahrhundert verfestigte sich das Image, dass Rugby Union ein Spiel für „Weiße“ sei, weshalb es beispielsweise bei den niederländischstämmigen Buren, aber kaum bei den Einheimischen schwarzer Hautfarbe Anklang fand. Insbesondere seit dem Ende der südafrikanischen Apartheid fand der Sport in mehreren afrikanischen Ländern weite Verbreitung, beispielsweise in der Elfenbeinküste oder in Madagaskar (wo bei Meisterschaftsspielen bis zu 40.000 Zuschauer verzeichnet werden). Kenia wiederum ist vor allem im Siebener-Rugby erfolgreich. Als Mitglieder der FIRA nahmen die nordafrikanischen Staaten Marokko und Tunesien bis 1999 regelmäßig an europäischen Wettbewerben teil. Im Jahr 2000 bestand der IRB jedoch im Zuge der Neuordnung der Verbände darauf, dass sie zur Afrikameisterschaft wechseln, um deren Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen.
Bedeutende Wettbewerbe
Weltmeisterschaft
Der wichtigste Wettbewerb ist die Weltmeisterschaft der Männer (), die seit der ersten Austragung 1987 alle vier Jahre stattfindet. Südafrika ist der amtierende Weltmeister, nachdem es England im Finale der Weltmeisterschaft 2019 in Japan bezwang und somit zum dritten Mal nach 1995 und 2007 den Titel errang. Ebenfalls dreifacher Weltmeister ist Neuseeland (1987, 2011, 2015). Australien gewann zweimal (1991 und 1999), England einmal (2003). Somit ist England die einzige Mannschaft der nördlichen Hemisphäre, die sich im Finale durchsetzen konnte, während Frankreich bisher dreimal als Verlierer vom Platz ging (1987, 1999, 2011).
Die Weltmeisterschaft ist seit ihrer Einführung stetig gewachsen. Das erste Turnier wurde in 17 Länder übertragen und erreichte insgesamt 230 Millionen Fernsehzuschauer. In der Vorrunde und im Finale konnte das angestrebte Ziel von einer Million verkaufter Eintrittskarten nicht erreicht werden. Bei der Weltmeisterschaft 2007 in Frankreich bzw. den davor stattfindenden Qualifikationsrunden waren 94 Länder beteiligt, für die Gruppenspiele und die Finalrunde zählten die Organisatoren 3,85 Millionen verkaufte Eintrittskarten. Die kumulierte Zahl der Fernsehzuschauer für die Veranstaltung, die in über 200 Länder übertragen wurde, betrug 4,2 Milliarden.
Internationale Turniere
Als die mit Abstand wichtigsten, jährlich wiederkehrenden internationalen Wettbewerbe gelten das Six Nations und die Rugby Championship. Am Six Nations nehmen England, Frankreich, Irland, Italien, Schottland und Wales teil. Es fand erstmals 1883 unter der Bezeichnung Home Nations Championship statt, als die vier Home Nations die bisher sporadischen Freundschaftsspiele zu einem Turnier zusammenfassten. Frankreich nahm erstmals 1910 teil, woraus die Five Nations entstanden. Aufgrund von Vorwürfen des verdeckten Professionalismus und Bedenken über Gewalt auf dem Spielfeld erfolgte 1931 der vorübergehende Ausschluss Frankreichs, das erst 1947 wieder teilnehmen durfte. Seit der Aufnahme Italiens im Jahr 2000 besteht das Turnier in seiner heutigen Form mit sechs Mannschaften.
Die Rugby Championship ist das jährliche Turnier der vier besten Nationalmannschaften der südlichen Hemisphäre – Argentinien, Australien, Neuseeland und Südafrika. Von ihrer Einführung im Jahr 1996 bis 2011 war das Turnier unter dem Namen Tri Nations bekannt, da nur Australien, Neuseeland und Südafrika involviert waren. Da diese drei Mannschaften häufig die Weltrangliste anführen, gilt dieser Wettbewerb gemeinhin als der weltweit härteste im Rugby Union. In den ersten Jahren spielten die drei Mannschaften je zweimal gegeneinander, ab 2006 je dreimal (außer in den Jahren mit einer Weltmeisterschaft). Mit der Aufnahme Argentiniens im Jahr 2012 sind vier Mannschaften beteiligt, die je zweimal gegeneinander antreten; in Jahren mit Weltmeisterschaft gibt es jeweils nur ein Spiel.
Alle Nationalmannschaften sind in eine von drei Stärkeklassen (engl. ) eingeteilt. Zur ersten Stärkeklasse gehören die Teilnehmer von Six Nations und Rugby Championship sowie Japan, weitere zwölf Nationalmannschaften zur zweiten und alle übrigen zur dritten Stärkeklasse. Theoretisch soll die Einteilung die Spielstärke widerspiegeln und dafür sorgen, dass ungefähr gleich starke Nationalmannschaften aufeinandertreffen. In der Praxis werden jedoch Teams der ersten Stärkeklasse bevorteilt, da sie untereinander häufiger finanziell attraktive Spiele austragen und somit deutlich höhere Einnahmen für ihre Verbände erzielen können. Dies wiederum führt dazu, dass diese Verbände mehr investieren können und der Abstand zu den Teams der zweiten und dritten Stärkeklasse trotz Förderbeiträgen des Weltverbandes nicht geringer wird. Kritiker bemängeln, dass dieses System zu starr sei und die Entwicklung von Rugby Union eher behindere. Es führt auch dazu, dass kein einziges Team der ersten Stärkeklasse an Kontinentalmeisterschaften teilnimmt.
Multisportveranstaltungen
Rugbyturniere waren Bestandteil der Olympischen Sommerspiele der Jahre 1900, 1908, 1920 und 1924 – nicht zuletzt weil Baron Pierre de Coubertin, der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) – ein begeisterter Rugbyspieler und -förderer war. Gemäß den olympischen Regeln durften Schottland, Wales und England nicht separat antreten, da sie keine souveränen Staaten sind und die Verbände keine gemeinsame Mannschaft aufstellten. 1900 gewann Gastgeber Frankreich die Goldmedaille, 1908 Australien. Sowohl 1920 als auch 1924 siegten überraschend die Vereinigten Staaten im Finale gegen die jeweils favorisierten Franzosen. Nach Coubertins Rücktritt verlor Rugby Union seinen Rückhalt im IOC und wurde aus dem Programm gestrichen. In den frühen 1990er Jahren begann sich der International Rugby Board (heute World Rugby) für die Wiedereinführung von Rugby als olympische Sportart einzusetzen. Die jahrelangen Bemühungen wurden schließlich von Erfolg gekrönt, als das IOC die Wiederaufnahme beschloss – wenn auch in der Variante Siebener-Rugby, dessen Regeln auf denen von Rugby Union basieren. Die ersten olympischen Siebener-Turniere für Männer und Frauen fanden 2016 statt.
Während seit den Commonwealth Games 1998 in Kuala Lumpur das Siebener-Rugby zum Wettkampfprogramm der Commonwealth Games gehört, fand bei den Asienspielen 1998 und 2002 jeweils ein Siebener- und ein Union-Turnier statt. Seit 2006 steht bei Asienspielen nur noch Siebener-Rugby auf dem Programm (seit 2010 auch für Frauen).
Nationale und internationale Meisterschaften
Als bedeutendste nationale Meisterschaften gelten jene Frankreichs und Englands. Die französische Profiliga Top 14 umfasst 14 Vereinsmannschaften; sie wird im Auftrag des französischen Rugbyverbandes und des Sportministeriums von der Organisation Ligue nationale de rugby (LNR) geführt, die für Aufsicht, Entwicklung, Finanzen, Förderung des professionellen Rugbysports und Beratung der beteiligten Vereine zuständig ist. Ebenfalls verantwortlich ist die LNR für die zweithöchste Profiliga Pro D2 mit 16 Mannschaften. Die höchste englische Liga, die Premiership mit zwölf Mannschaften, wird vom Unternehmen Premiership Rugby organisiert, an dem die Vereine und ein Kapitalgeber beteiligt sind. Für die Organisation der zweithöchsten Profiliga RFU Championship mit ebenfalls zwölf Mannschaften ist der englische Verband direkt zuständig. Als dritte bedeutende nationale Profiliga der nördlichen Hemisphäre hat sich die Japan Rugby League One etabliert; alle zwölf teilnehmenden Mannschaften sind ausnahmslos im Besitz bedeutender Konzerne.
Eine besondere Rolle im professionellen Rugby Union spielen Franchises. Entweder schließen sich mehrere führende Vereine einer Region zu einer Art Kooperationsgemeinschaft zusammen und führen ein gemeinsames Auswahlteam oder mehrere Provinzverbände stellen ein solches aus den verfügbaren Spielern in ihrem Einzugsgebiet zusammen. Die einzelnen Vereine und Provinzverbände spielen auch in den jeweiligen nationalen Meisterschaften. Die United Rugby Championship umfasst 16 Franchises aus Italien, Irland, Schottland, Südafrika und Wales. Ursprünglich ein rein europäischer Wettbewerb namens Pro12, wurde sie 2017 und 2021 um je zwei südafrikanische Teams ergänzt. Der Wechsel erfolgte aufgrund von Meinungsverschiedenheiten mit der Liga Super Rugby. Sie umfasste einst 18 Franchises aus Argentinien, Australien, Japan, Neuseeland und Südafrika. Wegen der COVID-19-Pandemie sprangen auch Argentinien und Japan ab, sodass Super Rugby zurzeit zwölf australische und neuseeländische Franchises umfasst.
Noch zu etablieren versucht sich die 2017 gegründete Major League Rugby mit 13 Franchises in Kanada und den USA. Weitere bedeutende nationale Meisterschaften mit zumindest semiprofessionellen Mannschaften sind der Currie Cup in Südafrika, die National Rugby Championship in Australien, die Bunnings NPC in Neuseeland, die Top10 in Italien, die Scottish Premiership in Schottland und die Welsh Premier Division in Wales. In Europa existieren zudem zwei prestigeträchtige Europapokal-Wettbewerbe für professionelle Vereinsmannschaften und Franchises, der European Rugby Champions Cup und der EPCR Challenge Cup.
Frauen im Rugby-Union-Sport
Aufzeichnungen über rugbyspielende Frauen reichen bis ins späte 19. Jahrhundert zurück. Eine Gruppe von Frauen tourte im Sommer 1881 durch Schottland und Nordengland und spielte mehrmals , wobei es sich dabei überwiegend um Spiele nach den Regeln der Football Association handelte. Ausnahme war eine Partie am 25. Juni 1881 in Liverpool, die den Rugby-Regeln folgte. Die Spiele lockten zahlreiche Zuschauer an, auch wenn die Berichte in den Lokalzeitungen selten schmeichelhaft waren. Die Einstellung der Zuschauer war alles andere als positiv und mehrere Spiele mussten wegen Ausschreitungen auf und neben dem Platz abgebrochen werden. Die erste namentlich bekannte Rugbyspielerin war Emily Valentine, die 1887 nachweislich dem Team der Portora Royal School im nordirischen Enniskillen angehörte. Der erste dokumentierte Versuch, ein reines Frauenteam zu gründen, stammt aus dem Jahr 1891, als eine geplante Tour durch Neuseeland aufgrund der öffentlichen Empörung abgesagt werden musste. Das nächste Spiel, über das in den Medien berichtet wurde, ließ bis zum 16. Dezember 1917 auf sich warten, als im Rahmen einer Wohltätigkeitsveranstaltung im walisischen Cardiff zwei Auswahlteams der Städte Cardiff und Newport aufeinander trafen (die Gastgeberinnen gewannen mit 6:0).
Zwar gab es in den 1930er Jahren in Australien den Versuch zur Etablierung einer Frauen-Rugbyliga, doch erst drei Jahrzehnte später konnte der Sport allmählich Fuß fassen, zunächst überwiegend an europäischen Universitäten. Das erste nachweisbare Meisterschaftsspiel zwischen zwei Frauenteams fand am 1. Mai 1968 in Toulouse statt, vor „Tausenden von Zuschauern“. Der Erfolg führte zwei Jahre später zur Gründung des ersten Verbandes für Frauen-Rugby. Das erste Test Match für Frauen folgte am 13. Juni 1982 in Utrecht, als die Nationalteams der Französinnen und der Niederländerinnen aufeinandertrafen; die Begegnung endete mit einem französischen 4:0-Sieg.
1991 fand in Wales die erste Ausgabe der Frauen-Weltmeisterschaft statt, bei der das Team der Vereinigten Staaten den Titel holte. Das zweite Turnier folgte 1994, und von da an bis 2014 wurde es alle vier Jahre ausgetragen. Anschließend verschob World Rugby die nächste Ausgabe auf 2017, als ein neuer Vierjahreszyklus begann. Am erfolgreichsten war Neuseeland mit bisher fünf Titeln, davon vier hintereinander in den Jahren 1998 bis 2010. Neben der Weltmeisterschaft gibt es weitere regelmäßige Turniere, darunter das Six Nations, das nach dem Wettbewerb der Männer stattfindet. Das 1996 erstmals ausgetragene Turnier der Frauen wurde von England dominiert, später sicherten sich auch Frankreich und Irland mehrere Titel.
Varianten
Rugby Union brachte mehrere Varianten hervor, die sich durch die geringere Anzahl Spieler oder reduzierten Körperkontakt unterscheiden. Die mit Abstand älteste und am weitesten verbreitete Variante ist Siebener-Rugby (), das 1883 im schottischen Melrose entstand. Auf einem Spielfeld, das gleich groß ist wie bei Rugby Union, stehen sich je sieben Spieler gegenüber und es werden zwei Halbzeiten zu je sieben Minuten gespielt. Siebener-Rugby wird praktisch ausschließlich in Turnierform ausgetragen, wobei jede teilnehmende Mannschaft an einem oder zwei Tagen mehrere Spiele in Folge absolvieren muss. Zu den wichtigsten Turnieren gehören die Hong Kong Sevens und die Dubai Sevens. Sie sind Teil der seit 1999 jährlich ausgetragenen Turnierserie World Rugby Sevens Series, an der zahlreiche Nationalmannschaften beteiligt sind. Seit 1993 wird alle vier Jahre eine eigene Weltmeisterschaft ausgetragen und seit 2016 ist Siebener-Rugby eine olympische Sportart (zuvor gehörte es von 2001 bis 2013 zum Programm der World Games). Zehner-Rugby () entstand in den 1960er Jahren in Malaysia und ist heute besonders in ostasiatischen Ländern verbreitet. Es stehen sich je zehn Spieler gegenüber, die zwei Halbzeiten dauern je zehn Minuten.
Touch Rugby, bei dem die Tacklings durch einfaches Berühren des Ballträgers mit beiden Händen ausgeführt werden, ist sowohl als Trainingsspiel als auch als gemischtgeschlechtliche Version beliebt, die sowohl von Kindern als auch von Erwachsenen gespielt wird. Es wurden weitere Varianten entwickelt, um Kindern den Sport mit weniger Körperkontakt näher zu bringen. Weit verbreitet ist das in den 1970er Jahren in England entstandene Mini Rugby, bei dem die Kinder in drei Altersstufen schrittweise an die komplexeren Spielzüge von Rugby Union herangeführt werden. Im Tag Rugby trägt jeder Spieler einen Gürtel mit zwei Klettbändern. Die verteidigenden Spieler müssen eines dieser Bänder ziehen, um den Ballträger zum Passen zu zwingen; ansonsten ist der Sport weitestgehend kontaktlos. Eine in den Vereinigten Staaten verbreitete Variante davon ist Flag Rugby; auch hier geht es vor allem darum, die Kinder schrittweise an die Komplexität von Rugby Union heranzuführen. Für den Freizeit- und Erholungssport geeignete Varianten sind Beachrugby und Schneerugby. Nur dem Namen nach mit Rugby Union verwandt sind Rollstuhlrugby und Unterwasser-Rugby.
Vergleich mit Rugby League
Seit der Trennung von Rugby Union und Rugby League im Jahr 1895 gab es Regeländerungen in beiden Varianten, so dass es sich heute trotz der immer noch reichlich vorhandenen Ähnlichkeiten um Ballsportarten mit unterschiedlicher taktischer und spieltechnischer Ausrichtung handelt. Während im Rugby Union 15 Spieler pro Mannschaft auf dem Feld stehen, sind es im Rugby League lediglich 13. Ein League-Feld ist zwei Meter schmaler als ein Union-Feld. Für einen Versuch gibt es im Rugby League vier statt fünf Punkte, für ein Dropgoal einen Punkt statt drei Punkte und für einen Straftritt zwei statt drei Punkte. Die Bälle sind ähnlich groß, wobei die Enden eines Rugby-League-Balles etwas spitzer sind.
Die Hauptunterschiede im Regelwerk betreffen insbesondere den Wechsel des Ballbesitzes. Nach einem Tackling wird der Ballbesitz nicht umkämpft, stattdessen erhält ihn die ballführende Mannschaft zurück. Erst nach dem sechsten Tackling wechselt der Ballbesitz zur gegnerischen Mannschaft. Da der Ball im Rugby League nur bei einem Eins-gegen-eins-Tackling entrissen werden kann, gibt es weniger Möglichkeiten für einen Ballbesitzwechsel als im Rugby Union. Allgemein führt dies zu einer gleichmäßigeren Verteilung des Ballbesitzes. Im Rugby League gibt es keine Gasseneinwürfe, stattdessen wird ein Gedränge durchgeführt. Von dieser Situation abgesehen spielt das Gedränge jedoch eine weniger große Rolle, ebenso fallen und vollständig weg. Stattdessen muss im Rugby League ein angegriffener Spieler den Ball mit den Füßen zurückrollen, worauf Spieler beider Mannschaften um den rollenden Ball kämpfen.
Während sich das Spielgeschehen im Rugby Union mehr darum dreht, den Ballbesitz zu erobern und zu halten, sind im Rugby League direkte Konfrontationen zwischen einzelnen Spielern deutlich häufiger. Verbunden mit der geringeren Anzahl Spieler und dem etwas schmaleren Spielfeld treten taktische Finessen eher in den Hintergrund. Aus diesem Grund gilt Rugby League als die schnellere und härtere der beiden Varianten. Allgemein ist seit der Professionalisierung der Trend zu beobachten, dass Rugby Union sich vor allem in technischer und taktischer Hinsicht vermehrt von Rugby League inspirieren lässt. Umgekehrt ist eine Beeinflussung zwar auch vorhanden, aber deutlich weniger augenfällig.
Einfluss auf andere Sportarten
American Football und Canadian Football haben beide ihre Wurzeln in einer Frühform von Rugby, die noch vor der Abspaltung von Rugby League bestand. Ein prägender Unterschied ist das als Vorwärtspass bezeichnete Werfen des Balls zu einem sich in Angriffsrichtung weiter vorn befindlichen Mitspieler, was im Rugby nicht zulässig ist. Zudem sind die nordamerikanischen Spiele deutlich stärker darauf ausgerichtet, durch Raumgewinne im Angriffsrecht zu bleiben. Außerdem führt der aus jeweils abgeschlossenen Spielzügen bestehende Spielverlauf zu zahlreichen Unterbrechungen, während im Rugby Union ein konstanter, kaum unterbrochener Spielfluss (ähnlich wie im Fußball) vorherrscht.
Eine weitere von Rugby abgeleitete Sportart ist Australian Football, bei dem das Kicken des Balls deutlich wichtiger ist als das Pass- und Laufspiel; außerdem ist das Spielfeld oval statt rechteckig. Die Erfindung dieser Sportart wird Tom Wills zugeschrieben, der an der Rugby School eine frühe Form von Rugby kennengelernt hatte und diese in Australien adaptierte. James Naismith übernahm Aspekte mehrerer Sportarten, darunter auch Rugby, um Basketball zu erfinden. Die offensichtlichsten Ähnlichkeiten sind jene des Sprungballs mit dem Gasseneinwurf und der Unterhandschuss, der in den Anfangsjahren des Sports dominierte. Schwedischer Fußball (), das in 1870er bis 1890er Jahren in Schweden gespielt wurde, war eine Mischung aus Fußball- und Rugby-Regeln.
Statistiken und Rekorde
Einem Bericht des Centre for the International Business of Sport der Coventry University zufolge spielten im Jahr 2011 mehr als fünf Millionen Menschen Rugby Union oder eine seiner Varianten, was gegenüber dem Bericht von 2007 einem Zuwachs von rund 19 Prozent entspricht. Demzufolge ist in diesem Zeitraum die Beteiligung in Afrika um 33 Prozent, in Südamerika um 22 Prozent und in Asien und Nordamerika um 18 Prozent gestiegen. 2014 veröffentlichte der IRB eine weltweite Aufschlüsselung der Gesamtzahl der Spieler. Damals gab es insgesamt 6,6 Millionen Spieler, von denen 2,36 Millionen lizenzierte Mitglieder waren, die für einen dem Verband ihres Landes angeschlossenen Verein spielten. Der World-Rugby-Jahresrückblick 2016 meldete 8,5 Millionen Spieler, darunter 3,2 Millionen registrierte Verbandsspieler und 1,9 Millionen registrierte Vereinsspieler; der Anteil der Frauen betrug 22 Prozent.
Den Rekord für die meisten Test Matches hält Alun Wyn Jones; bis Februar 2022 spielte er 149 Mal für die walisische Nationalmannschaft und zwölfmal für das Auswahlteam British and Irish Lions. Bei der Anzahl erzielter Punkte in Test Matches hält der Neuseeländer Daniel Carter die Spitzenposition mit 1598 Punkten in den Jahren 2003 bis 2015. Zwei Nationalteams teilen sich den Rekord für die längste ununterbrochene Siegesserie in der ersten Stärkeklasse mit je 18 Siegen in Folge; es sind dies Neuseeland von August 2015 bis Oktober 2016 und England von Oktober 2015 bis März 2017. Der Zuschauerrekord für ein Rugby-Union-Spiel beträgt 109.874, aufgestellt am 15. Juli 2000 in Stadium Australia in Sydney, als sich Neuseeland mit 39:35 gegen Australien durchsetzte. Der Zuschauerrekord für ein Meisterschaftsspiel liegt bei 99.124, als Racing 92 am 24. Juni 2016 im Camp Nou in Barcelona das Finale der französischen Liga Top 14 gegen den RC Toulon gewann; das Spiel war aufgrund von Terminkonflikten mit der Fußball-Europameisterschaft 2016 von seinem üblichen Austragungsort, dem Stade de France in Saint-Denis, verlegt worden.
Spiel- und Fankultur
Ein englisches Sprichwort besagt: „Fußball ist ein Sport für Gentlemen, der von Hooligans ausgeübt wird, und Rugby ein Sport für Hooligans, der von Gentlemen ausgeübt wird“ (). Es soll die Ironie der Tatsache veranschaulichen, dass ein körperlich hartes und gefährliches Spiel wie Rugby von höflichen und gut erzogenen „Gentlemen“ gespielt wird, die dem Schiedsrichter Respekt entgegenbringen, während Fußball, ein angeblich weniger hartes Spiel, in einem aggressiveren Klima gespielt wird (sei es auf dem Spielfeld, zwischen den Spielern, in den Beziehungen zu den Schiedsrichtern oder unter den Fans). Allerdings ist dieses Sprichwort spätestens seit der Professionalisierung nicht mehr in dieser Absolutheit zutreffend.
Das vor allem im Fußball bekannte Phänomen des Hooliganismus ist im Rugby-Union-Sport weitgehend unbekannt. Der Respekt, den die Spieler untereinander und gegenüber dem Schiedsrichter zeigen, erstreckt sich auch auf die Zuschauer. Fans der Heim- und Auswärtsmannschaft werden nicht streng getrennt und bestimmten Sektoren im Stadion zugewiesen, sondern sitzen oft zusammen auf den Tribünen. Entsprechend ist auch die Polizeipräsenz deutlich geringer als bei Fußballspielen und die Spielfelder werden nicht durch Barrikaden abgeschirmt. Rivalisierende Fans werden sogar ermutigt, miteinander in Kontakt zu treten und gemeinsam zu feiern. Andererseits respektieren die Fans die Spieler der gegnerischen Mannschaft, indem sie sich bei der Ausführung einer Erhöhung oder eines Straftritts ruhig verhalten. Eine früher sehr oft gepflegte Tradition unter den Spielern war das gemeinsame feuchtfröhliche Feiern der Spieler und Fans beider Mannschaften in der „dritten Halbzeit“ nach dem Abpfiff; seit der Professionalisierung Mitte der 1990er Jahre ist die Bereitschaft der Spieler zu solchen Ausflügen jedoch deutlich zurückgegangen.
Rugby Union in der Kunst
Die Sportart Rugby Union und ihre Spieler haben zahlreiche Künstler inspiriert. Der Roman („Tom Brown's Schuljahre“), 1857 von Thomas Hughes geschrieben, basiert auf den Erlebnissen des Autors in der Rugby School und enthält die Beschreibung eines Spiels. Die bekannteste Verfilmung dieses Romans erschien 1940, mit Robert Stevenson als Regisseur und Cedric Hardwicke als Hauptdarsteller. James Joyce erwähnt den irischen Verein Bective Rangers unter anderem in seinen Romanen Ulysses (1922) und Finnegans Wake (1939); im halb-autobiografischen Werk Ein Porträt des Künstlers als junger Mann (1916) wird zusätzlich der irische Nationalspieler James Magee genannt. In The Adventure of the Sussex Vampire, einer 1924 erschienenen Sherlock-Holmes-Erzählung von Arthur Conan Doyle, wird erwähnt, dass die Romanfigur Dr. Watson in seiner Jugend Rugby für den Blackheath FC gespielt hat.
Das Gemälde des französischen Impressionisten Henri Rousseau aus dem Jahr 1908 zeigt je zwei Rugbyspieler, die gegeneinander spielen. Weitere französische Künstler, die den Sport in ihren Werken dargestellt haben, sind Albert Gleizes (, 1912), Robert Delaunay (, 1916) und André Lhote (, 1917). Francis Cadell, ein Vertreter der schottischen Koloristen, malte um 1920 das Gemälde The Rugby Player. Bei den Kunstwettbewerben der Olympischen Sommerspiele 1928 in Amsterdam gewann der Luxemburger Jean Jacoby mit dem Werk Rugby die Goldmedaille in der Kategorie Zeichnungen und Aquarelle.
In der 1949 von den Ealing Studios produzierten Filmkomödie und im 1979 von BBC Wales produzierten Fernsehfilm dreht sich die Handlung um Fans, die einem Rugby-Union-Spiel beiwohnen. Zu den Filmen, die sich eingehender mit diesem Sport befassen, gehören die unabhängigen Produktionen (1991) und (2008). Der Überlebenskampf der uruguayischen Rugby-Union-Mannschaft Old Christian’s Club nach dem Absturz von Fuerza-Aérea-Uruguaya-Flug 571 im Jahr 1972 ist Thema des 1993 erschienenen Films Überleben! Der wohl bekannteste Film mit Bezug zu Rugby Union ist Invictus – Unbezwungen von Regisseur Clint Eastwood (2009), der auf dem Buch Playing the Enemy von John Carlin basiert. Darin werden sowohl die Ereignisse der Weltmeisterschaft 1995 als auch die Bemühungen von Nelson Mandela beschrieben, den Sport dafür zu nutzen, die Bevölkerungsgruppen Südafrikas nach der Apartheid zusammenzuführen. Der 2016 erschienene südafrikanische Film („Schlamm und Blut“) erzählt, wie südafrikanische Kriegsgefangene während des Zweiten Burenkriegs im Gefangenenlager auf der Insel St. Helena das Rugbyspiel kennenlernen. Ebenfalls aus Südafrika stammt die Fernsehserie („Mit Rugby verheiratet“); die Seifenoper mit mehreren hundert Folgen läuft seit 2009 und ist von der britischen Serie inspiriert.
Besonders in Frankreich verbreitet sind Comics zu Rugby Union. Beispiele dafür sind die Serien von Michel Iturria und von Poupard und Béka. In Asterix bei den Briten, einem Band der auch im deutschsprachigen Raum bekannten Serie Asterix von Albert Uderzo und René Goscinny, besuchen die Protagonisten bei der Suche nach einem Fass Zaubertrank ein Rugby-Union-Spiel zwischen Camulodunum und Durovernum. Rugby Union kommt auch im gleichnamigen Zeichentrickfilm und im Film Asterix & Obelix – Im Auftrag Ihrer Majestät vor.
In der öffentlichen Kunst und Bildhauerei gibt es zahlreiche Werke, die dem Rugby-Union-Sport gewidmet sind. Im Twickenham Stadium steht eine 8,2 m hohe Bronzestatue des Künstlers Gerald Laing, die eine Rugby-Gasse darstellt, im Millennium Stadium eine Statue des Funktionärs Tasker Watkins. Zu den Spielern, die mit Statuen geehrt wurden, gehören Gareth Edwards (in Cardiff) und Danie Craven (in Stellenbosch). In Larrivière-Saint-Savin, einem Dorf im Südwesten Frankreichs, steht die Kapelle Notre-Dame-du-Rugby; sie ist nicht einem Heiligen gewidmet, sondern dem Rugby-Union-Sport.
Literatur
Weblinks
World Rugby (Weltverband)
Planet Rugby (Nachrichtenseite)
ESPN Scrum (Nachrichtenseite)
The Rugby Archive (globale Ergebnisdatenbank)
Geschichte des Rugbysports (englisch)
Artikel zu Rugby in der Encyclopædia Britannica (englisch)
Einzelnachweise
Rugby
Torspiel |
363634 | https://de.wikipedia.org/wiki/Ethel%20Smyth | Ethel Smyth | Dame Ethel Mary Smyth [] (* 23. April 1858 in Sidcup, Kent; † 8. Mai 1944 in Woking, Surrey) war eine englische Komponistin, Dirigentin, Schriftstellerin und eine der Mitkämpferinnen der britischen Suffragetten.
Ethel Smyths Leben war wesentlich davon geprägt, sich als Komponistin durchzusetzen und als solche Anerkennung in der Öffentlichkeit zu finden. Sie hatte den Anspruch, in ihrer Arbeit nicht als nebenher komponierende Lady, sondern als gleichwertig zu ihren männlichen Kollegen gesehen zu werden und von ihrer Arbeit zu leben. Ihre Kompositionen umfassen sinfonische Werke, Kammermusik, Chorwerke und Opern. Ihre bekannteste Oper ist The Wreckers (deutsch Strandrecht). Ihr bekanntestes Werk ist allerdings The March of Women, das zu einer Hymne der englischen Frauenbewegung wurde.
Leben
Familie und frühe Erziehung
Ethel Smyth entstammt einer typischen viktorianischen Familie der oberen Mittelschicht, deren männliche Mitglieder – wenn sie nicht die militärische Laufbahn einschlugen – Karriere als Bischof, Kaufmann oder Bankier machten. Ihr Vater John Hale Smyth war Generalmajor und diente lange in der bengalischen Armee. Ungewöhnlicher war ihre Mutter Nina Emma Struth, die ihre Jugend in Paris verbracht hatte und besser Französisch als Englisch sprach. Die beiden heirateten am 30. Dezember 1848 in Norfolk.
Gemeinsam mit fünf Schwestern und einem Bruder wuchs Ethel in der Grafschaft Kent in der Nähe der englischen Ortschaft Sidcup, heute ein Teil von Greater London, auf. Die sechs Schwestern wurden von deutschen Gouvernanten erzogen, von denen eine ein vollständiges Klavierstudium am Leipziger Konservatorium absolviert hatte. Unter dem Einfluss dieser Gouvernante lernte Ethel die Musik Beethovens, Schuberts und Schumanns kennen, und in ihr reifte der Wunsch heran, gleichfalls in Leipzig Musik zu studieren.
Sie war ein temperamentvolles, eigenwilliges Kind: Mit vierzehn Jahren wurde sie kurzzeitig in ein Mädchenpensionat geschickt, weil sie daheim als „unmanageable“ (nicht beherrschbar) galt. Nach Hause zurückkehren durfte sie, nachdem zwei ihrer Schwestern für Töchter ihrer Schicht angemessene Ehen eingegangen waren. Ethel wurde daheim benötigt, um bei der Aufsicht über die übrigen drei Schwestern behilflich zu sein.
Smyths Wunsch, Musik zu studieren, wurde daheim entschieden abgelehnt. Ihre Kontakte zu einem Ehepaar – er war Musiker, sie Schriftstellerin –, mit denen sie Wagnerpartituren und die Berliozsche Instrumentationslehre studierte, wurden vom Vater rüde unterbunden. Immerhin gestattete ihre Familie, dass sie in London Clara Schumann Werke von Johannes Brahms spielen hören konnte.
1877 erkämpfte sie sich endlich die Zustimmung ihrer Familie, in Leipzig Musik studieren zu dürfen. Vorausgegangen war ein vehementer Widerstand ihrerseits: Mit Hungerstreik, eisigem Schweigen und der Verweigerung der Aktivitäten, die von einer jungen Lady ihrer Schicht erwartet wurden – nämlich Kirch-, Dinner- und Ballbesuchen –, setzte sie ihre Absicht durch. Die Musikwissenschaftlerin Eva Rieger macht deutlich, wie ungewöhnlich diese Pläne waren:
Immerhin war es in Leipzig möglich, als Frau überhaupt Komposition zu studieren – ihrer Zeitgenossin Sabine Lepsius, die an der Berliner Musikhochschule studierte, wurde dort der Zutritt zur Kompositionsklasse verwehrt.
Am Leipziger Konservatorium
Das Leipziger Konservatorium enttäuschte sie. Die Lehrer (darunter Carl Reinecke, der sie in Kompositionslehre unterrichtete) schienen ihr nicht ernsthaft genug: Sie kamen zu spät zum Unterricht, interessierten sich nicht wirklich für die von den Studenten vorgelegten Kompositionen und schienen lieber den Unterricht mit Anekdoten als mit wirklichem Inhalt zu würzen.
Wichtiger als der Unterricht am Leipziger Konservatorium wurde daher der Kreis der Musiker, in dem sie sich nun bewegen konnte, nachdem sie die engen Fesseln ihrer Familie abgelegt hatte. Nach wie vor galten für sie jedoch auch die gesellschaftlichen Konventionen ihrer Zeit, die sie in ihrer unkonventionellen Art gelegentlich trickreich unterlief:
Sehr engen Kontakt hatte Smyth anfangs zu der Familie Röntgen. Engelbert Röntgen, Konzertmeister des Leipziger Gewandhausorchesters, ermutigte sie, in ihren Kompositionen fortzufahren, indem er das Rondothema ihrer ersten Klaviersonate mit Kompositionen von Mozart verglich. Auch das wohlhabende, kinderlose Ehepaar Herzogenberg förderte sie stark: Als sie nach einem Jahr Studium das Leipziger Konservatorium verließ, nahm sie bei Heinrich von Herzogenberg, dem Präsidenten des Leipziger Bachvereins, Privatunterricht. Die Herzogenbergs nahmen sie gleichsam als Ersatztochter an. Die Bindung zu der 11 Jahre älteren Elisabeth von Herzogenberg war jedoch noch wesentlich enger: Die beiden verband ein Liebesverhältnis, das Heinrich von Herzogenberg entweder ignorierte oder nicht wahrnahm.
Im Hause der Herzogenbergs nahm Smyth sehr intensiv am Kulturleben von Leipzig teil. Sie lernte Clara Schumann, Anton Rubinstein, Max Friedländer, Edvard Grieg und Johannes Brahms persönlich kennen und war mit der jüngsten Tochter von Mendelssohn, Lili Wach, eng befreundet. Insbesondere Brahms verkehrte viel im Hause der Herzogenbergs. Zu Brahms, der komponierenden Frauen gegenüber starke Vorbehalte hatte, entwickelte sie jedoch ein distanziertes Verhältnis: Einerseits bewunderte sie ihn, andererseits war seine ablehnende Haltung gegenüber Komponistinnen verletzend.
Begegnung mit Henry Brewster
Im Herbst 1882 zog Smyth für eine kurze Zeit nach Florenz, wo die Schwester von Elisabeth von Herzogenberg, Julia Brewster, lebte. Das Verhältnis zu Julia Brewster war anfangs sehr innig. Julia Brewsters Ehemann, der wohlhabende Literat Henry Brewster, verliebte sich jedoch bald heftig in die eigentlich eher lesbisch orientierte Smyth. Zwischen Julia und Henry Brewster kam es daraufhin zum Bruch, der auch dazu führte, dass sich Elisabeth von Herzogenberg von Smyth abwandte. Unter diesem Bruch litt Smyth sehr intensiv. Sie versuchte bis 1890, ihre Freundin Elisabeth von Herzogenberg zurückzugewinnen, und erst nach Elisabeths Tod im Jahre 1892 vertiefte Ethel ihre Beziehung zu Henry Brewster. Diese blieb jedoch noch mehrere Jahre rein platonisch. In ihrer Autobiografie What happened next schildert sie mit entwaffnender Offenheit, wie sie sich 1895 entschloss, auch sexuell eine Beziehung mit Henry Brewster einzugehen, und spricht von einer „erhabenen Kapitulation“ ihrerseits.
Die enge Beziehung zu Henry Brewster hielt bis zu dessen Tode 1908 an. Der Opernfreund Henry Brewster brachte sie darüber hinaus dieser Kunstform näher und sollte für Smyth alle ihre künftigen Opernlibretti schreiben.
Begegnung mit Tschaikowski
Die Entwicklung bis zu den ersten öffentlichen Erfolgen Anfang der 1890er Jahre war für Ethel Smyth durch eine Reihe von Misserfolgen geprägt. Die deutschsprachigen Lieder und Balladen, die in England in den 1880er Jahren aufgeführt wurden, fanden keinen Widerhall, und Joseph Joachim ließ sich herablassend über ihre kammermusikalischen Kompositionen aus. 1887 kehrte sie nach Leipzig zurück und begegnete dort dem russischen Komponisten Pjotr I. Tschaikowski. Er beeinflusste ihre weitere kompositorische Entwicklung und regte sie an, sich vor allem auf dem Gebiet der Instrumentationslehre weiter auszubilden, was dazu führte, dass sie sich zunehmend großer Orchestermusik zuwandte. Die Instrumentation war während ihrer ersten Zeit in Leipzig vernachlässigt worden – in ihrer Biografie begründet sie dies damit, dass ihre Lehrer wesentlich von Brahms beeinflusst waren und für diesen die Instrumentation keine große Rolle spielte. Über Herzogenberg, der sie so maßgeblich in ihrer frühen Zeit beeinflusste, schrieb sie später, seine Instrumentierungen seien so miserabel gewesen, dass sie seine orchestrierten Stücke, mit denen sie als Klavierduos bestens vertraut war, kaum wiedererkannte.
Uraufführung der Messe in D
Ethel Smyths erster großer Erfolg, die Messe in D (), war die musikalische Verarbeitung einer heftigen Verliebtheit in die römisch-katholische Pauline Trevelyan. Die Messe in D ist eines ihrer wichtigsten Werke, sie selbst hielt es für ihre beste Arbeit. Die Uraufführung der Messe in der Royal Albert Hall in London verdankte sie jedoch letztlich ihren gesellschaftlichen Beziehungen. Zu den Bekannten der Familie gehörte auch die exilierte französische Kaiserin Eugénie de Montijo, die mit der Messe wohlvertraut war, da ein Teil des Werkes entstanden war, als Smyth zu Gast in ihrem Ferienhaus war. Sie arrangierte, dass Smyth Königin Viktoria und ihrem Hofstaat auf Schloss Balmoral Teile der Messe vorspielen durfte – ein Erlebnis, zu dem Smyth angesichts der dort allgegenwärtigen Schottenmuster auch anmerkte, dass es „schmerzhafter ästhetischer Konzessionen bedarf, Königin von Schottland zu sein“. Dieses Vorspiel und die Zusage Eugénies sowie mehrerer Mitglieder des britischen Königshauses, der Uraufführung beizuwohnen, sorgten dafür, dass sich die Konzertleitung der Royal Albert Hall bereit fand, die Messe der noch weitgehend unbekannten Komponistin im März 1893 aufzuführen. Diese Aufführung war ein Erfolg, George Bernard Shaw schrieb am 25. Januar 1893 eine ausführliche positive Besprechung ihrer Messe, während ein anderer Kritiker sich darüber amüsierte, „eine Komponistin zu sehen, die versucht, in dem hochfliegenden Bereiche der musikalischen Kunst zu steigen.“
Die ersten Opernaufführungen
Trotz dieses Erfolges war es für Ethel Smyth schwierig, ein Opernhaus zu finden, das bereit war, ihre ersten Opern aufzuführen. Da es in Großbritannien nur eine einzige professionelle Opernbühne gab, versuchte sie, ihr Stück an einem der vielen deutschen Opernhäuser zur Aufführung zu bringen. Die anstrengende Rundreise zu den deutschen Bühnen absorbierte einen Großteil ihrer künstlerischen Energie: Wenn sie vor Ort Dirigenten fand, die ihre Werke aufführen wollten, fehlte es an Zustimmung seitens der Intendanz. Nachdem es ihr jedoch gelungen war, Großherzog Carl Alexander in Weimar für ihr Werk zu interessieren, kam ihre Oper Fantasio 1889 am Hoftheater Weimar zur Uraufführung. Wie Eva Weissweiler schrieb, war der Publikumserfolg beträchtlich, aber die aus allen Teilen Deutschlands zugereisten Kritiker ergingen sich in den üblichen Klischees. Nur die Orchestrierung wurde gelobt. Trotz einer hervorragenden Aufführung drei Jahre später begann sie an ihrem Werk so zu zweifeln, dass sie ihre Komposition im Garten ihres englischen Landhäuschens verbrannte.
Die Uraufführung der Oper Der Wald fand 1902 an der Staatsoper Berlin statt, fand dort jedoch kein begeistertes Publikum. Der Wald wurde noch im selben Jahr am Royal Opera House Covent Garden in London aufgeführt und ein Jahr später an der Metropolitan Opera in New York herausgebracht. Die Premiere in New York war ein voller Erfolg – ein Kritiker schrieb über den Abend:
Der Wald war über 100 Jahre (bis zur Aufführung von Kaija Saariahos Oper L’amour de loin 2016) die einzige Oper einer Komponistin, die an der Met zur Aufführung gelangte.
Die schwierige Aufgabe, Bühnen zu finden, die ihre Opern aufführten, setzte sich trotz der erfolgreichen Aufführungen weiterhin fort. Zu den Personen, die sie persönlich überzeugen wollte, gehörte unter anderem auch der berühmte Dirigent Bruno Walter, der über die erste Begegnung mit ihr schrieb:
Aus dieser Begegnung entwickelte sich eine lebenslange Freundschaft. In Wien brachte Bruno Walter ihre Oper The Wreckers zwar nicht zur Aufführung, aber er dirigierte das Vorspiel zum zweiten Akt dieser Oper häufiger in Konzerten und dirigierte die Oper 1910 in London.
Ethel Smyth und die englische Frauenbewegung
In ihrem autobiografischen Buch What Happened Next schrieb Ethel Smyth:
Smyth entzog sich jedoch lange der Unterstützung der Frauenbewegung. Sie hielt ein politisches Engagement für unvereinbar mit ihrer künstlerischen Kreativität und verließ England 1908, um nicht in die zunehmend radikaleren Auseinandersetzungen um das Frauenwahlrecht hineingezogen zu werden.
Sowohl die englische Frauenrechtlerin Emmeline Pankhurst als auch Rhoda Garrett hatten schon zuvor versucht, Smyth für ihre Sache zu gewinnen. Erst der Tod von Henry Brewster 1908, der bei ihr eine längere persönliche Krise auslöste, und Diskussionen mit Freunden wie dem Wiener Dramatiker Hermann Bahr und seiner Frau Anna von Mildenburg, einer berühmten Wagnerinterpretin, führten dazu, dass sich Smyth 1910 mit aller Konsequenz den militanten englischen Frauenrechtlerinnen anschloss und Mitglied der Organisation Women’s Social and Political Union wurde. Sie vernachlässigte in dieser Zeit ihre kompositorische Arbeit jedoch nicht völlig. 1910 entstanden ihre drei Sonnenaufgangslieder, deren drittes, The March of Women, zur Hymne und zum Kampflied dieser Bewegung wurde. Die Uraufführung dieses Liedes fand am 21. Januar 1911 anlässlich einer Zeremonie an der Pall Mall in London statt.
Als Protest gegen die Verweigerung des Frauenwahlrechts provozierte Smyth bewusst ihre Verhaftung und eine anschließende zweimonatige Gefängnisstrafe, indem sie am 12. März 1912 die Fensterscheiben des britischen Kolonialsekretariats einwarf. Sie war damit Teil einer Gemeinschaftsaktion von insgesamt 150 bis 200 Frauen, die zum Zeichen ihres Kampfeswillens um das Frauenwahlrecht rund um die Londoner Oxford Street nahezu sämtliche Scheiben zerstörten. Der Dirigent Thomas Beecham besuchte sie im Holloway Prison, in dem Smyth mit zahlreichen weiteren englischen Frauenrechtlerinnen inhaftiert war. Über diesen Besuch schrieb er:
Smyth widmete zwei Jahre ihres Lebens intensiv den Zielen der britischen Frauenrechtsbewegung und unterstützte diese bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Zur Unterstützung der Kriegsanstrengungen unterbrachen die Frauenrechtlerinnen während des Weltkriegs ihre Aktivitäten; nach dem Ersten Weltkrieg wurde ihnen das Wahlrecht zugesprochen.
Der Beitrag von Smyth zur Emanzipation der Frau liegt sicherlich nicht nur in ihrem aktiven Kampf für das Frauenwahlrecht. Bereits im Dezember 1911 schrieb Richard Specht in Der Merker über Smyth:
Auch Virginia Woolf sah Smyth in dieser Rolle. In einer Rede vor der „National Society for Womens’s Service“ im Jahre 1931 sagte sie über ihre Freundin Smyth:
1913–1944
Nach zwei Jahren intensiven Mitkämpfens in der englischen Suffragettenbewegung wandte sich Ethel Smyth wieder verstärkt dem Komponieren zu. Da erste Anzeichen auftraten, dass ihr Gehör in Mitleidenschaft gezogen war, fuhr sie 1913 auf Anraten ihrer Ärzte nach Ägypten und begann dort an ihrer neuen Oper The Boatswain’s Mate zu arbeiten.
Um 1913 stellte sich bei ihr eine sich verstärkende Schwerhörigkeit ein, die schließlich in völlige Gehörlosigkeit mündete.
Die Zeit des Ersten Weltkriegs verbrachte Smyth überwiegend in Frankreich. Sie arbeitete von 1915 bis 1918 als Röntgenassistentin in der Nähe von Vichy. Der Krieg hatte tiefgreifende Auswirkungen auf ihr künstlerisches Schaffen: Ihre Oper The Boatswain’s Mate sollte in der Saison 1914/1915 am Frankfurter Opernhaus aufgeführt werden, und Bruno Walter wollte The Wreckers in München zur Aufführung bringen. Aufgrund des Kriegsausbruchs im August 1914 kam es nicht zu den geplanten Aufführungen.
In Vichy begann sie das erste ihrer autobiographischen Werke zu schreiben, das sofort nach Erscheinen ein großer Erfolg war und den Nebeneffekt hatte, dass aufgrund der so erzielten Popularität nach 1920 viele ihrer Kompositionen aufgeführt wurden, dass Rundfunkproduktionen mit ihren Arbeiten entstanden und Thomas Beecham The Prison für die BBC produzierte.
The Prison war ihr Spätwerk und entstand trotz fortgeschrittener Taubheit. Mit dieser Symphonie für Soli, Chor und Orchester wollte Smyth die Lebensphilosophie ihres langjährigen Freundes Henry Brewster bekanntmachen. Im Jahr 1930 dirigierte sie die Londoner Metropolitan Police Band zur Einweihung eines Denkmals für ihre längst verstorbene Freundin Emmeline Pankhurst in den Victoria Tower Gardens.
In ihren letzten Lebensjahren wandte sie sich fast ausschließlich dem Schreiben zu. Sie fühlte sich sehr heftig zu der 24 Jahre jüngeren Virginia Woolf hingezogen, der sie jahrelang fast täglich schrieb. Woolf spottete häufig über sie. In einem Brief an Vita Sackville-West schrieb Woolf beispielsweise über ihre Freundin: „Ethels neuer Hund ist tot. Die Wahrheit ist, kein Hund kann die Anstrengung aushalten, mit Ethel zu leben“. Gleichzeitig war die Beziehung für beide jedoch bereichernd.
Ethel Smyth starb 1944 im Alter von 86 Jahren im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte an einer Lungenentzündung.
Die Komponistin Ethel Smyth
Frau und Komponist
Ähnlich wie Fanny Hensel geb. Mendelssohn oder Clara Schumann, deren Kompositionen von Hans von Bülow zum Anlass genommen wurden, Frauen generell die Fähigkeit zum Komponieren abzusprechen, machte Ethel Smyth die Erfahrung, welche Geringschätzung Komponistinnen entgegengebracht wurde. Sie erlebte, wie Brahms, der sich eben noch ernsthaft mit einer ihrer Fugen auseinandergesetzt hatte, beleidigend wurde, als er erfuhr, dass er sich mit der Komposition einer Frau beschäftigt hatte. Jeglicher ernsthaften Diskussion mit ihr über ihr Werk entzog er sich. Noch Jahre später schrieb sie in ihren Erinnerungen Ein stürmischer Winter zornig über diese Episode:
Später amüsierte sich Ethel Smyth über die Einigkeit der Musikkritiker darüber, dass ihrer Arbeit jeglicher feminine Charme fehle. Und dem Wagner-Dirigenten Hermann Levi, der nach dem Hören eines ihrer großen Chorwerke sagte, „Ich hätte nie geglaubt, dass eine Frau so etwas geschrieben hat“, erwiderte sie: „Nein, und mehr noch: Sie werden es auch in einer Woche noch nicht glauben“.
Einen wohlwollenden Kritiker, der sie über Jahrzehnte begleitete, fand Smyth dagegen in George Bernard Shaw. Er war derjenige, der sich von Beginn an weigerte, dem Geschlecht des Komponisten in der Bewertung des Werkes irgendeine Bedeutung beizumessen. Er verglich ihre Arbeiten mit Händel und stellte ironisch die Überlegung an, wie viel „männlicher“ im Vergleich zu Händel ihre Arbeit und wie „feminin“ die Arbeiten von Mendelssohn und Arthur Sullivan seien.
Neben Shaw schätzten aber auch namhafte Musikschaffende wie Bruno Walter, Arthur Nikisch und Thomas Beecham ihre Arbeiten und waren maßgeblich daran beteiligt, dass ihre Werke zur Aufführung kamen. Sängerinnen wie beispielsweise Blanche Marchesi verzichteten auf ihr Honorar, um Werke von Smyth aufzuführen.
Wie andere, vergleichbar begabte Komponisten musste Smyth um ihre Anerkennung als Musikschaffende kämpfen. Ob ihre öffentliche Anerkennung dadurch beeinträchtigt wurde, dass sie eine Frau war, oder die Exotik als komponierende Frau ihr eher zu größerer Bekanntheit verhalf, ist ein noch immer nicht entschiedener Disput zwischen Musikwissenschaftlern. Smyth selbst empfand ihr Geschlecht als hinderlich in ihrer künstlerischen Entwicklung, und die Musikwissenschaftlerin Eva Rieger weist auf eine nicht unwesentliche Einschränkung hin, die Smyth als Frau hinnehmen musste:
Smyth selbst schrieb über ihre Musik:
Das kompositorische Werk Ethel Smyths
Ethel Smyth hat ein Werk hinterlassen, das von Kammermusik über Madrigale und Chorwerke und Opern bis zu Sinfonien reicht. Ihr Œuvre ist insgesamt jedoch verhältnismäßig klein. Einige der Manuskripte gelten als verschollen: so beispielsweise das „Prelude and Fuge for Thin People“, das ca. 1883 entstand.
Bis 1887 schrieb sie ausschließlich Kammermusik wie beispielsweise ihr Streichquintett in E-Dur, op. 1, das 1884 entstand. Insbesondere in diesen Werken zeigt sich, dass ihre musikalische Ausbildung vor allem in Leipzig stattgefunden hatte und sie stark von der deutschen Spätromantik beeinflusst war. Nach dem Erfolg der „Messe in D“, die sich – wie Eva Rieger in ihrem Essay über Smyth schrieb – durch „meisterhafte kontrapunktische Partien und farbige Instrumentierung“ auszeichnet, wandte sie sich vor allem der Oper zu, die als Genre sowohl ihrer Fähigkeit zu Dramatik als auch zur kraftvollen und lebendigen Orchestrierung entsprach.
The Wreckers (deutsch: Strandrecht) gilt bis heute als Smyths wichtigstes Bühnenwerk. Der Musikkritiker Richard Specht widmete unter dem Eindruck dieser Oper im Dezember 1911 in der Zeitschrift Der Merker sowohl Smyth als auch ihrem Werk einen langen Artikel, in dem er unter anderem schrieb:
Der Dirigent Thomas Beecham hielt sowohl Teile ihrer Oper The Wreckers als auch das Chorwerk Hey Nonny No und einige ihrer Lieder für einzigartig in der zeitgenössischen Musik. Zeitgenössisch war ihre Musik in jedem Fall, sie blieb jedoch immer der Spätromantik verhaftet, so dass Kritiker ihr auch „deutsche Schwermütigkeit brahmsscher Prägung“ vorwarfen.
Die wiederentdeckte Komponistin
Heute gehören Ethel Smyths Werke weder in Großbritannien noch in Deutschland zum Standardrepertoire der Konzerthäuser und Opernbühnen. Auch das ist ein Schicksal, das sie mit anderen, ähnlich begabten (männlichen) Komponisten teilt wie beispielsweise Ralph Vaughan Williams und Arnold Bax.
Mittlerweile werden ihre Werke aber zunehmend wieder aufgeführt: Der Norddeutsche Rundfunk spielte im September 2004 eines ihrer kammermusikalischen Werke ein. Die deutsche Erstaufführung ihrer Messe in D fand 1995 im Rahmen der Musikfestspiele Saar in St. Ingbert statt, weitere Aufführungen folgten 1997 in Stuttgart und 2002 in Mannheim. In den letzten Jahren sind darüber hinaus eine Reihe neuer Aufnahmen mit ihrem Werk entstanden.
Neben der Tatsache, dass sie ohne Frage eine sehr fähige Komponistin war, deren Werk sich mit dem ihrer männlichen Zeitgenossen messen kann, trägt dazu auch bei, dass die Frauenbewegung der 1970er und 1980er Jahre die Aufmerksamkeit auf kunstschaffende Frauen lenkte, so dass heute sowohl Musikschaffende als auch das Publikum willens und neugierig sind, sich mit dem kompositorischen Werk einer Frau auseinanderzusetzen.
In den letzten Jahren hat auch die musikwissenschaftliche Erforschung von Smyths Leben und Werken einen bedeutenden Aufschwung genommen, parallel zu ihrer Wiederentdeckung im Konzertleben. Während noch einiges an Grundlagenarbeit aussteht (z. B. Werkverzeichnis, Katalog ihrer Briefe, Erschließung der Skizzen und Handschriften, Editionen), sind die meisten Aufsätze und Studien, soweit sie nicht konventionellen biographischen Ansätzen folgen, der „New Musicology“ bzw. „Queer Musicology“ zuzurechnen. Anlässlich von Smyths 150. Geburtstag fanden im November 2008 ein mehrtägiges Ethel-Smyth-Festival in Detmold sowie ein eintägiges Symposium an der Universität Oxford statt. Am 17. Juli 2009 wurde die Internationale Ethel-Smyth-Gesellschaft (International Ethel Smyth Society) als Förderverein gegründet, die allgemein die Erforschung und Wiederbelebung der Werke Smyth' vorantreiben und besonders die Arbeit der Ethel-Smyth-Forschungsstelle am Musikwissenschaftlichen Seminar Detmold-Paderborn unterstützen soll.
Die Universität für Musik und darstellende Kunst Wien präsentierte 2019 in einem Konzert im Rahmen der Europride Musik von Ethel Smyth im Kontext von Stücken homosexueller Zeitgenossen, darunter Elisabeth von Herzogenberg und Mathilde Kralik.
Die New York Times besprach am 7. August 2020 die erste Aufnahme ihres Werks „The Prison“ (Chandos Records).
Ethel Smyth als Schriftstellerin
Bruno Walter schrieb in seiner Autobiografie Thema und Variationen über Ethel Smyth:
Da keine Filmdokumente über Smyth vorliegen, ist das Lesen ihrer autobiografischen Werke heute die beste Methode, sich einen Eindruck davon zu verschaffen, inwieweit Walters Urteil über die Persönlichkeit von Smyth zutrifft. Es gibt (männliche) Kritiker, die behaupten, Smyth hätte besser eine Karriere als Schriftstellerin denn als Komponistin verfolgen sollen. Virginia Woolf, für die Schreiben zwar Lebenselixier, aber gleichzeitig eine Qual war, kommentierte in ihrer Rede vor der National Society for Women’s Service ein wenig neidvoll, dass Smyth „ohne jede Übung in meiner Kunst ein Meisterwerk“ hinwerfen könne.
Unabhängig davon, ob Woolfs Urteil über den literarischen Wert von Smyths Büchern zutrifft, sind ihre Werke wichtige Zeitdokumente. Sie begegnete im Laufe ihres Lebens sowohl wesentlichen Persönlichkeiten der kulturellen Szene als auch Personen aus den damaligen Herrscherhäusern. Sie war Tischpartnerin von Kaiser Wilhelm II., Gast von Königin Viktoria von Großbritannien, Freundin der französischen Ex-Kaiserin Eugénie und wurde von Winnaretta Singer, der Fürstin Edmond de Polignac, gefördert. Ganz gleich, ob sie den angemessenen Umgang zwischen einer französischen Ex-Kaiserin und einer herrschenden britischen Königin beim Durchschreiten einer Tür schildert oder ob sie beschreibt, wie sie mit Emmeline Pankhurst das Einwerfen von Fensterscheiben übt, immer geschieht dies mit Beobachtungsgabe und Ironie.
Ehrungen
Im Jahr 1881 erhielt sie ein Stipendium der Felix-Mendelssohn-Bartholdy-Stiftung für Komposition. Bereits 1910 erhielt Ethel Smyth die Ehrendoktorwürde der University of Durham, der 1926 eine zweite durch die Universität Oxford und 1928 eine dritte durch die University of St Andrews folgten. 1922 machte König Georg V. sie zur Dame Commander des Order of the British Empire.
Anlässlich ihres 75. Geburtstags wurde sie im Vereinigten Königreich im großen Stil gefeiert. Die Feierlichkeiten begannen mit einem Konzert in der Queen’s Hall und einem Dinner mit dreihundert Gästen. Der Abschluss war am 3. März die von Thomas Beecham dirigierte Aufführung ihrer Messe in D in der Royal Albert Hall. Sie selbst war zu diesem Zeitpunkt schon fast völlig gehörlos, verfolgte die Aufführung aber gemeinsam mit Königin Mary von der königlichen Loge aus.
Sie fand Eingang in die bildende Kunst des 20. Jahrhunderts. Die feministische Künstlerin Judy Chicago widmete ihr in ihrer Arbeit The Dinner Party eines der 39 Gedecke am Tisch.
Die Stadt Leipzig hat am 28. Juli 2022 in der Salomonstraße 19 eine Gedenktafel für Ethel Smyth als einer der bedeutendsten Frauenpersönlichkeiten der Stadt, gewidmet.
Werke
Kompositionen (Auswahl)
Instrumentalmusik
Klaviersonate Nr. 2 fis-Moll „Geistinger Sonate“ (1877)
Streichquartett c-moll (1881) Urauff. 23. April 2011 Konzerthaus Berlin
Streichquintett E-Dur op. 1 für 2 Violinen, Viola und 2 Violoncelli (1883), Urauff. Gewandhaus Leipzig, 26. Januar 1884
Sonate a-Moll op. 7 für Violine und Klavier (1887), Urauff. Gewandhaus Leipzig, 20. November 1887 (mit Adolph Brodsky und Fanny Davies)
Sinfonie für kleines Orchester (1878–1884)
Streichquintett h-Moll (1884)
Fünf Choralpräludien für Orgel (1887)
Sonate a-Moll op. 5 für Violoncello und Klavier (1887), Urauff. 8. Dezember 1926
Serenade in D (1889–1890)
Streichquartett e-Moll (1914)
Zwei Trios für Violine, Oboe und Klavier (1927)
Variationen über „Bonny Sweet Robin“ für Flöte, Oboe und Klavier (1928)
Konzert für Violine, Horn und Orchester (1928)
Streichtrio D-Dur (Uraufführung Berlin 2008 Pythagoras Strings)
Vokalmusik
Lieder und Balladen für Stimme und Klavier, op. 3 (1877)
Lieder für Stimme und Klavier, op. 4 (1877)
„Eight Songs“ für Stimme und Klavier nach deutschen Texten (1879)
„Messe in D“ (), Urauff. Royal Albert Hall London, 1893
„Hey Nonny No“ für Chor und Orchester (1911)
„Songs of Sunrise“ für Frauenchor a cappella (1911)
„Sleepless Dreams“ für Chor und Orchester (1912)
Three Moods of the Sea für Stimme und Orchester (1913)
Three Songs für Stimme und Klavier (1913)
„The Prison“ für Soli, Chor und Orchester (1930)
Opern
„Fantasio“, Libretto nach Alfred de Musset von Henry Brewster, Uraufführung: Hoftheater Weimar, 24. Mai 1898
Der Wald, Musik-Drama mit Prolog und Epilog in einem Akt, Uraufführung: Hofoper Berlin, 9. April 1902
„The Wreckers“ (dt. „Strandrecht“, auch „Strandräuber“), lyrisches Drama in drei Akten, Uraufführung: Neues Theater Leipzig, 11. November 1906
„The Boatswain's Mate“, komische Oper in einem Akt nach einer Kurzgeschichte von W.W. Jacobs, Uraufführung: Shaftesbury Theatre London, 28. Januar 1916
„Fête Galante“, Oper in einem Akt nach einer Kurzgeschichte von Maurice Baring, Uraufführung: Birmingham Repertory Opera, 4. Juni 1923
„Entente Cordiale“, komische Oper in einem Akt, Uraufführung in studentischer Produktion: Royal College of Music, 22. Juli 1925, öffentliche Erstaufführung: Theatre Royal, Bristol, 20. Oktober 1926
Schriften (Auswahl)
Impressions That Remained. 2 Bände. London/New York 1919, , . Neuausgabe in 1 Band, 1946.
Streaks of Life. London/New York 1921, .
A Three-Legged Tour in Greece. London 1927.
A Final Burning of Boats. London/New York 1928, .
Female Piping in Eden. London/New York 1933.
Beecham and Pharao. London 1935.
As Time Went On. London/New York 1936, .
Inordinate (?) Affection, London 1936.
What Happened Next. London/New York 1940.
A Fresh Start unveröffentlichtes Manuskript 1941, Ann Arbor: University of Michigan, Special Collections Harlan Hatcher Graduate Library
Deutsche Auswahlausgabe:
Eva Rieger (Hrsg.): Ein stürmischer Winter. Erinnerungen einer streitbaren englischen Komponistin. (Auszüge aus den autobiografischen Büchern von Ethel Smyth) Bärenreiter, Kassel 1988, ISBN 3-7618-0923-9.
Diskografie
(Auswahl)
Mass in D, Mrs. Waters' Aria from The Boatswain's Mate, The Marcho of the Women. Eiddwen Harrhy, Janis Hardy, Dan Dressen, James Bohn, The Plymouth Music Series Chorus and Orchestra, Leitung: Philip Brunelle. Virgin Classics 1991.
Kammermusik und Lieder Vol. 1–4: Violinsonate a-Moll op. 7, Cellosonaten a-Moll op. 5 und c-Moll, Streichquintett E-Dur op. 1, Streichquartett e-Moll, Lieder, Balladen, Three Moods of the Sea, Doppelkonzert für Violine, Horn und Klavier, Céline Dutilly, Renate Eggebrecht, Franz Draxinger, Friedemann Kupsa, Melinda Paulsen, Maarten Koningsberger, Kelvin Grout. Troubadisc 1992–1997.
The Wreckers. Anne-Marie Owens, Justin Lavender, Peter Sidhom, David Wilson-Johnson, Judith Howarth, Anthony Roden u. a., Huddersfield Choral Society, BBC Philharmonic, Leitung: Odaline de la Martinez. Conifer Records 1994.
Complete Piano Works. Liana Serbescu. cpo 1995.
Konzert für Violine, Horn und Orchester. Saschko Gawriloff, Marie-Luise Neunecker, Radio-Philharmonie Hannover des NDR, Leitung: Uri Mayer. Koch Classics 1995 (auf Horn Concertos/Hornkonzerte).
Konzert für Violine, Horn und Orchester, Serenade in D. Sophie Langdon, Richard Watkins, BBC Philharmonic, Leitung: Odaline de la Martinez. Chandos Records 1996.
Sonate Nr.2 cis-Moll, Interpretin: Kyra Steckeweh, Label: Deutschlandradio/Kaleidos, 2021
Literatur
Cornelia Bartsch, Rebecca Grotjahn, Melanie Unseld [Hrsg.]: Felsensprengerin, Brückenbauerin, Wegbereiterin. Die Komponistin Ethel Smyth; Rock Blaster, Bridge Builder, Road Paver: The Composer Ethel Smyth, Allitera, München 2009, ISBN 978-3-86906-068-2
Michaela Brohm: Die Komponistin Ethel Smyth (1858–1944): Ursachen von Anerkennung und Misserfolg. Eine Untersuchung zum Spannungsfeld zwischen biographisch-psychosozialen, werkimmanenten und historischen Faktoren. Rhombos, Berlin 2007, ISBN 978-3-938807-46-0
Eva Hochrathner: Ethel Smyth (1858–1944). Die Beziehung der Komponistin zu Wien im Spiegel ihres Briefwechsels mit Anna Bahr-Mildenburg und Hermann Bahr. Wien: Universität für Musik und darstellende Kunst 2001. (Diplomarbeit)
Hermione Lee: Virginia Woolf. Fischer, Frankfurt a. M. 1999. Als Taschenbuch 2006: ISBN 3-596-17374-4. Enthält Schilderungen der Freundschaft zu Virginia Woolf.
Eva Rieger: Bleibende Eindrücke. Nachwort zu: Ein stürmischer Winter. Bärenreiter, Kassel 1988. ISBN 3-7618-0923-9 (Essay über Ethel Smyth)
Eva Rieger: Frau, Musik und Männerherrschaft. Ullstein, Berlin 1981; wieder Furore Verlag, Kassel 1988. ISBN 3-9801326-8-4
Meinhard Saremba: Ethel Smyth in: Elgar, Britten & Co. – Eine Geschichte der britischen Musik in 12 Portraits, Zürich/St. Gallen 1994, ISBN 3-7265-6029-7, S. 123–150
Bernard Shaw: Musik in London. Deutsche Übersetzung und Fußnoten von Ernst Schoen, Auswahl und Einleitung H.H. Stuckenschmidt. Suhrkamp Verlag Berlin u. Frankfurt a. M. 1949.
Sulamit Sparre: „Man sagt, ich sei ein Egoist. Ich bin eine Kämpferin“. Dame Ethel Mary Smyth (1858–1944). Komponistin, Dirigentin, Schriftstellerin, Suffragette, Edition AV, Lich 2010, ISBN 978-3-86841-038-9
Christopher St. John: Ethel Smyth. A Biography. Longmans, Green & Co., London 1959
Melanie Unseld: Artikel „Ethel Smyth“. In: MUGI. Musikvermittlung und Genderforschung: Lexikon und multimediale Präsentationen, hg. von Beatrix Borchard und Nina Noeske, Hochschule für Musik und Theater Hamburg, 2003ff. Stand vom 26. Mai 2004.
Bruno Walter: Thema und Variationen – Erinnerungen und Gedanken. Bermann-Fischer, Stockholm 1947, wieder Fischer, Frankfurt 1988. ISBN 3-10-390502-5
Eva Weissweiler: Komponistinnen aus 500 Jahren. Eine Kultur- und Wirkungsgeschichte in Biographien und Werkbeispielen. Fischer, Frankfurt 1981. ISBN 3-596-23714-9
Weblinks
Lexikalischer Artikel und Multimediale Präsentation zu Ethel Smyth bei MUGI – „Musik und Gender im Internet“ der Hochschule für Musik und Theater Hamburg
Ethel-Smyth-Forschungsstelle am Musikwissenschaftlichen Seminar Detmold-Paderborn
Kurzbeschreibung der Komponistin Ethel Smyth (auf Englisch)
Briefe von Ethel Smyth, digitalisiert von der Hochschule für Musik und Theater Leipzig im Portal Sachsen Digital.
Steckbrief von Ethel Smyth beim Forum Queeres Archiv München
David Rother: 23. April 1858 - Die Komponistin und Suffragette Ethel Smyth wird geboren In: WDR5, ZeitZeichen, 23. April 2023, (Podcast, 14:46 Min., verfügbar bis 23. April 2099).
Quellen
Komponist (Vereinigtes Königreich)
Komponist (Romantik)
Komponist klassischer Musik (20. Jahrhundert)
Komponist (Oper)
Frauenrechtler (Vereinigtes Königreich)
Autor
Literatur (19. Jahrhundert)
Literatur (20. Jahrhundert)
Literatur (Englisch)
Autobiografie
Dame Commander des Order of the British Empire
Ehrendoktor der University of Oxford
Ehrendoktor der University of Durham
Ehrendoktor der University of St Andrews
Brite
Geboren 1858
Gestorben 1944
Frau |
414550 | https://de.wikipedia.org/wiki/Uplengen | Uplengen | Uplengen ist eine Gemeinde im Landkreis Leer in Ostfriesland, Niedersachsen. Mit 148,81 Quadratkilometern ist sie die flächengrößte Gemeinde im Landkreis. Dort leben Einwohner, womit sie nur sehr dünn besiedelt ist. In der Raumordnung des Landes Niedersachsen wird der Hauptort Remels als Grundzentrum für die Gemeinde geführt. Im Hauptort lebt knapp ein Drittel der Einwohner Uplengens.
Historische Bedeutung hat die an der Südostgrenze Ostfrieslands gelegene Gemeinde durch die Burg Uplengen, die bis zu ihrer Entfestigung eine der wichtigsten Grenzbefestigungen gegenüber dem Land Oldenburg war. Zudem fanden sich auf dem Gemeindegebiet viele urgeschichtliche Artefakte, die darauf hinweisen, dass die am Übergang von der Geest zu ausgedehnten Moorgebieten gelegene Gemeinde bereits früh besiedelt war. Unter anderem fanden sich vorgeschichtliche Bohlenwege, die beweisen, dass die Menschen sich bereits weit vor Christi Geburt Wege durch das unwegsame Moor bahnen konnten.
Wirtschaftlich ist die Gemeinde vor allem von mittelständischen Betrieben geprägt. Die Landwirtschaft spielt seit jeher eine tragende Rolle im Gemeindegebiet, was sich schon am hohen Anteil der landwirtschaftlichen Nutzfläche von mehr als 83 Prozent ablesen lässt. In gewissem Umfang spielt Tourismus eine Rolle. Uplengen ist insgesamt jedoch ein Auspendler-Gebiet.
Zum kulturellen Erbe der Gemeinde zählen neben der aus dem 13. Jahrhundert stammenden St.-Martin-Kirche in Remels drei Windmühlen sowie eine Vielzahl von Gulfhöfen, von denen mehrere unter Denkmalschutz stehen.
Geografie
Geografische Lage
Uplengen liegt im Nordosten des Landkreises Leer in Ostfriesland im deutschen Bundesland Niedersachsen. Innerhalb Ostfrieslands ist Uplengen eine der am östlichsten gelegenen Gemeinden, die östliche Gemeindegrenze bildet zugleich die Kreisgrenze des Landkreises Leer zu den Nachbarlandkreisen Friesland und Ammerland und damit auch die historische Grenze zwischen Ostfriesland und dem Oldenburger Land.
Der Hauptort Remels liegt recht genau 20 Kilometer östlich des Stadtkerns der Kreisstadt Leer. Die Stadt Aurich liegt rund 25 Kilometer nordwestlich von Remels. Drei größere Städte befinden sich nahezu in Äquidistanz vom Hauptort der Gemeinde: Wilhelmshaven liegt rund 34 Kilometer nordöstlich von Remels, Oldenburg (im Südosten) und Emden (im Nordwesten) sind mit jeweils etwa 36 Kilometern gleich weit entfernt.
Die Gemeinde umfasst in etwa das Gebiet der historischen Landschaft Lengenerland. Mit einer Fläche von 148,81 km² ist sie die größte Kommune des Landkreises Leer und die sechstgrößte Ostfrieslands. Bei einer Einwohnerzahl von ungefähr 11.500 ergibt sich eine Einwohnerdichte von 77 je km², womit Uplengen nicht nur deutlich unter dem ostfriesischen Durchschnitt von 148 Einwohner/km² liegt, sondern auch unter dem niedersächsischen (167) und deutschen (229). In ungefährer Nord-Süd-Richtung beträgt die Ausdehnung des Gemeindegebiets etwas mehr als 16 Kilometer zwischen der Kreisgrenze zum Ammerland bei Südgeorgsfehn im Süden und der Kreisgrenze zum Landkreis Wittmund bei Oltmannsfehn im Norden. In ungefährer Ost-West-Richtung sind es knapp 16 Kilometer zwischen der Selverder Ausbausiedlung Brabandsfeld im Westen und der Kreisgrenze zum Ammerland im Stapeler Moor im Osten.
Das Regionale Raumordnungsprogramm des Landkreises Leer teilt dem Hauptort Remels die Funktion eines Grundzentrums für das Gemeindegebiet zu.
Geologie, Hydrologie und Böden
Geologisch wird die Gemeinde Uplengen wie ganz Ostfriesland oberflächlich von Sedimenten des Pleistozäns und des Holozäns gebildet. Pleistozäne Ablagerungen sind in den Geestgegenden zu finden, die den zentralen Teil des Gemeindegebiets um Remels, Hollen und Selverde ausmachen. Teils werden die Geestsedimente von holozänen Moorböden überlagert. Die Böden der ostfriesischen Geest entstehen zumeist aus Decksanden und Geschiebelehm. Diese entstanden während des Drenthe-Stadiums der Saale-Kaltzeit. Seit der jüngeren Weichsel-Kaltzeit kam es zur Ausbildung von großen Flugsandflächen. Die Sande wurden im Bereich der Emsniederung durch starke Winde ausgeblasen und im Bereich des westlichen oldenburgisch-ostfriesischen Geestrückens abgelagert. Dieser zieht sich vom Oldenburger Raum nach Nordwesten bis in die Gegend von Norden und verläuft in jener Richtung quer durch die ostfriesische Halbinsel. Die Binnenlandgemeinde Uplengen weist wegen der Flugsandablagerungen die mit etwa 18,5 Metern über Normalnull höchstgelegene Stelle auf dem ostfriesischen Festland auf, eine Wanderdüne im Naturschutzgebiet Holle Sand, das inzwischen von Bäumen bedeckt ist.
Das Gemeindegebiet besteht im zentralen Teil aus Podsolböden auf Orterde oder Ortstein, entweder in trockenerer oder feuchterer Lage. Diese Böden erlaubten nur geringe landwirtschaftliche Erträge. Durch Plaggendüngung, die bis zum Auftreten des Kunstdüngers am Ende des 19. Jahrhunderts jahrhundertelang vorgenommen wurde, gibt es besonders in der Umgebung der alten Geestdörfer auch anthropogene Plaggeneschböden. Durch den ständigen Neubodenauftrag liegt der Esch, in Ostfriesland (die) Gaste genannt, heute höher als die Dorfkerne. So wurde in Remels bei archäologischen Grabungen Plaggenesch in einer Mächtigkeit zwischen 90 und 120 Zentimetern angetroffen. Durch diese Form der Düngung wurde die Bodenwertzahl deutlich gesteigert, wenn sie auch immer noch klar hinter fruchtbaren Böden wie jenen in der Marsch zurückblieb.
Halbkreisförmig vom Norden rund um den Ortsteil Neudorf über Oltmannsfehn und Meinersfehn bis zum Süden im Ortsteil Südgeorgsfehn (im Uhrzeigersinn) legen sich Regenmoorflächen. Diese machen einen Großteil des Gemeindegebietes aus. Sie bilden dabei den südlichsten Ausläufer des Ostfriesischen Zentralhochmoores, das sich vom Osten der Stadt Aurich bis nach Uplengen erstreckt. Dabei handelt es sich teilweise um randlich abgetorfte Hochmoore. Entlang der Geestbäche Poghauser Ehe und Hollener Tief befinden sich Niedermoorflächen, die örtlich nach Torfabbau rekultiviert wurden.
Das Gemeindegebiet liegt auf dem Plateau des von Südost nach Nordwest verlaufenden oldenburgisch-ostfriesischen Geestrückens. Dieser wird von Geestbächen in mehrere Abschnitte unterteilt. Diese fließen etwa rechtwinklig zum Verlauf des Geestrückens, somit also von Nordost in Richtung Südwest, da das Gemeindegebiet zur Jümme und damit zur Ems entwässert. Uplengen ist Teil der Wasserscheide zwischen Ems und Jadebusen. Die beiden Geestbäche, die in den Moorgebieten entspringen und zur Jümme entwässern, sind das Hollener Tief und die etwas weiter nördlich gelegene Poghauser Ehe, die auf dem Gebiet der Nachbargemeinde Hesel den Namen ändert und dort Holtlander Ehetief heißt. Beim Weiterbau des Nordgeorgsfehnkanals in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchschnitt der Kanal den Lauf der Poghauser Ehe. Daher befindet sich an dieser „Kreuzung“ seitdem ein Pumpwerk, das das Wasser der Poghauser Ehe unter dem Kanal hindurchpumpt. Westlich des Kanals behielt die Poghauser Ehe daher ihr altes Bett. Ein Entwässerungskanal, der in den Moorgebieten nahe Stapel an einem Pumpwerk beginnt, ist der Stapeler Hauptvorfluter. Er fließt seit seinem Bau 1921–25 in den Südgeorgsfehnkanal. Nord- und Südgeorgsfehnkanal treffen auf dem Gebiet der Nachbarkommune Jümme unmittelbar hinter der Grenze zu Uplengen aufeinander. Unter dem Namen Nordgeorgsfehnkanal fließt das Gewässer weiter bis zur Jümme.
Nachbargemeinden
Die Gemeinde Uplengen grenzt im Westen an die Samtgemeinden Hesel und Jümme (beide Landkreis Leer), im Norden an die Gemeinde Großefehn und die Stadt Wiesmoor (beide Landkreis Aurich) sowie die Gemeinde Friedeburg (Landkreis Wittmund), im Osten an die Gemeinde Zetel (Landkreis Friesland) und im Süden an die Gemeinde Apen und die Stadt Westerstede (Landkreis Ammerland). Uplengen ist damit die einzige Gemeinde Ostfrieslands, die an vier Nachbarkreise grenzt – mehr als jede andere Kommune der Region.
Gemeindegliederung
Die Gemeinde Uplengen ist eine Einheitsgemeinde mit den folgenden 19 Ortschaften (in Klammern die Einwohnerzahlen per 2011):
Bühren (267)
Großoldendorf (687)
Großsander (416)
Hollen (1170)
Jübberde (532)
Kleinoldendorf (174)
Klein-Remels (176)
Kleinsander (118)
Meinersfehn (464)
Neudorf (327)
Neufirrel (393)
Nordgeorgsfehn (832)
Oltmannsfehn (535)
Poghausen (198)
Remels (3389)
Selverde (592)
Spols (131)
Stapel (506)
Südgeorgsfehn (589)
Zentrum der Gemeinde ist Remels, mit mehr als 3300 Einwohnern die größte Ortschaft der Gemeinde. Remels ist nicht nur der Sitz der Gemeindeverwaltung, sondern auch der Haupt-Einkaufsort und Standort eines der beiden Gewerbegebiete der Gemeinde. Einziger weiterer Ortsteil mit einer vierstelligen Einwohnerzahl ist Hollen mit zirka 1170 Einwohnern, alle anderen Ortschaften sind deutlich kleiner mit dreistelligen Einwohnerzahlen. Die Orte Ockenhausen und Stapelermoor sind keine Ortsteile. Sie verfügen daher im Gegensatz zu den anderen nicht über einen Ortsrat. Ockenhausen gehört zur Ortschaft Oltmannsfehn, Stapelermoor zu Meinersfehn.
Flächennutzung
Die Flächennutzungstabelle zeigt den überragenden Anteil an Landwirtschaftsflächen in der Gemeinde. Der Anteil liegt bei 83,63 Prozent und ist damit einer der höchsten unter den ostfriesischen Kommunen. Ostfriesland in seiner Gesamtheit weist einen Anteil an Landwirtschaftsflächen von rund 75 Prozent auf, der seinerseits bereits deutlich über dem bundesrepublikanischen Durchschnitt von 52 Prozent liegt. Zu den Landwirtschaftsflächen werden auch Moor- und Heidegebiete mit 829 und 499 Hektar gezählt, die teils extensiv landwirtschaftlich genutzt werden. Auch diese beiden Werte sind für Ostfriesland überdurchschnittlich. Mit etwa 3,39 Prozent Waldanteil liegt die Gemeinde leicht über dem ostfriesischen Durchschnitt von 2,6 Prozent. Allerdings ist Ostfriesland im deutschlandweiten Vergleich extrem unterdurchschnittlich bewaldet: Der Waldanteil an der Gesamtfläche der Bundesrepublik liegt bei zirka 29,5 Prozent. Neben dem Waldgebiet Holle Sand gibt es eine Vielzahl weiterer Bäume im Gemeindegebiet durch das reichliche Vorhandensein von Wallhecken in allen Ortschaften und in deren Außenbereichen. Hinzu kommen kleinere aufgeforstete Areale. Mit 1,73 Prozent Wasserflächenanteil liegt Uplengen unter dem Durchschnitt vieler ostfriesischer Kommunen und auch unter dem Bundesdurchschnitt von etwa zwei Prozent.
Klima
Die Gemeinde liegt in der gemäßigten Klimazone, im Einfluss der Nordsee. Im Sommer sind die Tagestemperaturen tiefer, im Winter häufig höher als im weiteren Inland. Das Klima ist von der mitteleuropäischen Westwindzone geprägt.
Nach der Klimaklassifikation von Köppen befindet sich die Gemeinde in der Einteilung Cfb. (Klimazone C: warm-gemäßigtes Klima, Klimatyp f: feucht-gemäßigtes Klima, Untertyp b: warme Sommer). Innerhalb der gemäßigten Zone wird es dem Klimabezirk Niedersächsisches Flachland Nordsee-Küste zugeordnet, der maritim geprägt ist und sich durch relativ kühle und regenreiche Sommer, verhältnismäßig milde, schneearme Winter, vorherrschende West- und Südwestwinde sowie hohe Jahresniederschläge auszeichnet.
Wetterdaten werden für das benachbarte Leer erhoben, das ähnliche klimatische Bedingungen aufweist: Die Temperaturen liegen dort derzeit im Jahresmittel bei 9 °C mit Höchstwerten in den Monaten Juli und August um die 20 °C und mittleren Niedrigstwerten um −2 °C im Dezember und im Januar. Die meisten Regentage gibt es mit jeweils 14 im November und Dezember, die wenigsten im März und Mai, wo an neun Tagen Niederschlag fällt. Die Zahl der durchschnittlichen Sonnenstunden pro Tag schwankt zwischen einer (Dezember/Januar) und sechs Stunden (Mai/Juni). Die mittlere frostfreie Zeit wird mit 170 bis 187 Tagen angegeben. Die mittlere Niederschlagsmenge liegt bei 738 mm/Jahr, die mittlere jährliche Sonnenscheindauer bei 1550 bis 1600 Stunden.
Mikroklimatisch zu berücksichtigen sind die ausgedehnten Hochmoorkomplexe im Gemeindegebiet, die einen Einfluss auf das Wettergeschehen haben. Wegen der Untergrundverhältnisse in einem Regenmoor sind die Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht extrem. Im Sommer kann es tagsüber zu sehr hohen Temperaturen am Boden kommen, sodass durch Selbstentzündung Moorbrände entstehen können. Zudem sind Moorgegenden sehr viel nebelintensiver als die Umgebung. Durch den jahrhundertelangen Torfabbau und die damit verbundene Entwässerung ist dieser Effekt allerdings nicht mehr so stark ausgeprägt wie in der ursprünglichen Naturlandschaft. Die Anzahl der Frosttage ist allerdings im Hochmoorgebiet deutlich höher als in der Umgebung, es kommt häufiger zu Früh- und Spätfrösten.
Schutzgebiete
Die Gemeinde Uplengen ist reich an Naturschutzgebieten, von denen die meisten Moorgebiete sind. Von den 14.900 Hektar Gemeindegebiet stehen 1597 Hektar unter Naturschutz, was einem Anteil von 10,72 Prozent entspricht. Das Naturschutzgebiet Lengener Meer hat eine Größe von 240 Hektar und ist Teil des insgesamt 1414 Hektar großen FFH-Gebiets „Lengener Meer, Stapeler Moor, Baasenmeers-Moor“. Das namensgebende Gewässer, einer der wenigen verbliebenen Hochmoorseen in Deutschland, steht bereits seit 1940 unter Schutz. Erweiterungsflächen im Norden, die bis auf das Gebiet der Gemeinde Friedeburg ragen, wurden 1982 hinzugefügt. Östlich an das Schutzgebiet schließt sich das NSG Spolsener Moor an, das aber bereits vollständig auf dem Gebiet des Landkreises Friesland liegt. Südlich des Lengener Meeres schließen sich die Naturschutzgebiete Stapeler Moor (557 Hektar, Unterschutzstellung 1983) sowie Stapeler Moor Süd und Kleines Bullenmeer an. Letztgenanntes Gebiet wurde 2007 unter Schutz gestellt. Es ist 414 Hektar groß, wovon 324 Hektar auf den Landkreis Leer und 90 Hektar auf den Landkreis Ammerland entfallen. Das vierte Moor-Naturschutzgebiet ist das Neudorfer Moor mit 350 Hektar Größe, das seit 1983 unter Naturschutz steht. Besonders im Stapeler Moor (bis 1997) und im Neudorfer Moor fand in früheren Jahrhunderten Torfabbau statt, die entsprechenden Flächen wurden und werden wiedervernässt. Im Bereich des Lengener Meeres gibt es auch noch wachsende Resthochmoorflächen. Im Waldgebiet Holle Sand befindet sich die mit etwa 18,5 Metern über Normalnull höchstgelegene Stelle auf dem ostfriesischen Festland, eine Wanderdüne. Das Gebiet ist 126,3 Hektar groß und steht seit 1951 unter Schutz. Es handelt sich um das größte zusammenhängende Binnendünengebiet Ostfrieslands. Wegen der geringen Bodengüte besteht der Forst vorwiegend aus Kiefernwald, teilweise Birken-Eichenwald.
Zu den Naturschutzgebieten kommen noch weitere geschützte Gebiete hinzu. Als Landschaftsschutzgebiet ausgewiesen ist seit 2009 das LSG Südgeorgsfehner Moor, das sich auf einer Restmoorfläche jenes Gebiets befindet. Es ist 67,1 Hektar groß. Ein geschützter Landschaftsbestandteil mit einer Größe von rund fünf Hektar ist der Brook im Ortsteil Selverde, der seit 1949 unter Schutz steht. Seit demselben Jahr steht der drei Hektar große, geschützte Landschaftsbestandteil Tichelboe südöstlich von Remels unter Schutz. Als Naturdenkmale sind seit 2005 zwei Granitfindlinge in der Gemarkung nördlich von Remels unter Schutz gestellt. In und um den Hauptort Remels, in und um Stapel sowie bei Großsander und Neufirrel sind jeweils mehrere Bäume als Naturdenkmale ausgewiesen. Dabei handelt es sich um Rotbuchen, Kastanien, Linden und Eichen.
Die für die Schutzgebiete zuständige Untere Naturschutzbehörde ist der Landkreis Leer.
Geschichte
Ur- und Frühgeschichte
Die Gemeinde Uplengen liegt im Südosten des oldenburgisch-ostfriesischen Geestrückens und mithin in jener ostfriesischen Teilregion, in der die bislang ältesten prähistorischen Funde in Ostfriesland entdeckt wurden. Diese liegen auf dem Gebiet der westlichen Nachbargemeinde Hesel. Die Funde auf Uplengener Gebiet sind alle jüngeren Datums. Von historischer Bedeutung sind vor allem die urgeschichtlichen Wege durch das Moor, die beweisen, dass es Menschen schon in jener Zeit verstanden, sich Pfade durch dieses unwegsame Gelände zu bahnen.
Eine aus hellgrauem Feuerstein bestehende Klinge wurde 2006 bei Grabungen in einem geplanten Neubaugebiet in Remels entdeckt. Die Klinge ist laut Bericht des Archäologischen Dienstes der Ostfriesischen Landschaft „vermutlich in das späte Neolithikum (Jungsteinzeit) zu datieren“. Eine mittelsteinzeitliche Pfeilspitze ist 2001 bei einer Begehung auf einem Acker im Ortskern von Poghausen aufgefunden worden. Es handelt sich dabei um eine Klinge aus gelbem Feuerstein.
Bereits in der Bronzezeit gab es einen „Abzweig“ des seinerzeitigen Wegenetzes innerhalb der Region, der auf der Geest von Hesel nach Remels führte. Zu diesem Schluss kamen Archäologen, die bereits in den 1950er Jahren das bronzezeitliche Wegenetz in Ostfriesland anhand von Hügelgräbern und weiteren aufgefundenen Artefakten, insbesondere ihrer räumlichen Ballung, untersucht haben.
Im Stapeler Moor bei Oltmannsfehn wurden vorgeschichtliche Bohlenwege entdeckt, mit deren Hilfe die Menschen seinerzeit das Moor an einigen geeigneten Stellen überquerten. Der Bohlenweg bei Oltmannsfehn wird auf die Zeit zwischen etwa 2000 v. Chr. und 700 v. Chr. datiert; es handelt sich somit um einen Weg aus der jüngeren Bronzezeit oder der älteren vorrömischen Eisenzeit. Auf dem nur vier Kilometer breiten Moorstreifen zwischen Großsander und dem heutigen Westersteder Ortsteil Hollriede wurden ebenfalls Bohlenwege entdeckt, desgleichen im Raum Südgeorgsfehn. Diese Wege wurden – mit Ausnahme desjenigen bei Oltmannsfehn – jedoch in späterer Zeit wieder vom Moor überwuchert. Für den Bohlenweg in Oltmannsfehn wurden mehr als 1500 Eichen gefällt und verarbeitet. Archäologen nehmen an, dass für die Anlegung des Weges etwa zwei Jahre Arbeit aufgewendet werden mussten.
In Hollen sind eine Steinaxt, der Form nach typisch für die älterbronzezeitlichen Arbeitsäxte, sowie ein kleines Feuersteinbeil und ein überschliffener Flintdolch aus der Einzelgrabkultur entdeckt worden, bei denen es sich vermutlich um Grabbeigaben handelte. Beim Torfstechen in der Gemarkung Oltmannsfehn sind in ungefähr einem halben Meter Tiefe im Erdboden Bruchstücke gefunden worden, die später im Institut für historische Küstenforschung in Wilhelmshaven zu einer zirka 80 Zentimeter langen, hölzernen Keule rekonstruiert werden konnten. Es handelte sich um eine Keule aus Feldahorn aus der älteren bis mittleren Bronzezeit. Grabhügel aus der Elp-Kultur fanden sich bei Remels.
Bereits 1986 sind bei Arbeiten im Moor in Meinersfehn zwei jeweils etwa vier Zentimeter lange Bronzeröhrchen aufgefunden worden, die möglicherweise zu Wagen aus der vorrömischen Eisenzeit gehörten. Ähnliche Funde legten diesen Schluss nahe. Ob es sich tatsächlich um Wagenteile handelte, ist bislang noch nicht bestätigt worden (Stand: 1995).
Mittelalter
Ein Siedlungsplatz, der in das späte 8. bzw. in das 9. Jahrhundert zu datieren ist, wurde 2002 in Großoldendorf freigelegt. Einen weiteren Siedlungsplatz aus jener Zeit hatten Archäologen bereits zuvor in Hollen entdeckt. Grabungen im Ortskern von Remels brachten Keramikfunde, so etwa Muschelgrus- und Badorfer Ware, zutage, die einen Siedlungsbeginn an dieser Stelle im 9. Jahrhundert nachwiesen. Neben der Keramik wurden dabei auch Hausgrundrisse und Brunnen freigelegt. In Ostfriesland bisher einmalig ist der Fund einer vergoldeten Heiligenfibel mit Emaileinlage, die der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts zugeordnet wird.
In den Werdener Urbaren wurden Selverde (als Seluuida) und Hollen (als Holanla) um das Jahr 900 erstmals urkundlich erwähnt. Sie sind damit die ältesten, schriftlich festgehaltenen Ortsnamen im Gemeindegebiet.
Etwa im 11. Jahrhundert entdeckten die Bewohner der Geest, dass sich der im Moor befindliche Torf nach Trocknung als Heizmaterial eignete. In jener Zeit begann in Ostfriesland der gezielte Abbau von Torf in den Moorgebieten.
Nach der Zeit der friesischen Freiheit konnte sich keine nennenswerte eigenständige Häuptlingsherrschaft auf Uplengener Gebiet etablieren, da die Böden hier zu sandig waren und keinen landwirtschaftlichen Reichtum hervorbrachten, der in anderen Teilregionen Ostfrieslands die Grundlage des Aufstiegs der dortigen Häuptlinge war. Uplengen geriet in den Einflussbereich des Häuptlings Focko Ukena aus Neermoor. Im Konflikt zwischen Ukena und dem Freiheitsbund der Sieben Ostfrieslande stand das Lengenerland auf der Seite des Neermoorer bzw. Leeraner Häuptlings. Nach der Niederlage Ukenas stieg die Häuptlingsfamilie Cirksena zu Grafen von Ostfriesland auf (1464), die damit auch das vorliegende Gebiet beherrschten.
Unter den Cirksena
Im Spätmittelalter entstand im heutigen Großsander eine Wehranlage, die den Namen Burg Uplengen (früher einfach: Lengen) trug. Unter der Herrschaft des ostfriesischen Grafen Edzard Cirksena wurde die Grenzbefestigung zum Oldenburgischen 1432 stark ausgebaut. Während der sächsischen Fehde wurde die Burg 1514 von den Gegnern des ostfriesischen Herrscherhauses erobert, im folgenden Jahr aber zurückerobert. Der ostfriesische Graf Enno II. ließ die Festung 1535 schleifen und das Gebäude drei Jahre später komplett abbrechen. Die Steine wurden nach Stickhausen gebracht, wo sie zum Ausbau der dortigen Grenzbefestigung dienten.
Die Grafen von Ostfriesland schufen neue Verwaltungsstrukturen, indem sie Ämter einrichteten. Das vorliegende Gebiet kam 1535 zum Amt Stickhausen, das in etwa das Gebiet der heutigen (Samt-)Gemeinden Jümme, Hesel, Uplengen, Rhauderfehn und Ostrhauderfehn umfasste, also ungefähr das östliche Drittel des heutigen Landkreises Leer. Beamte der Grafen übernahmen fortan die Verwaltungsgeschäfte. Das Amt Stickhausen gehörte aufgrund einer gegenüber der Marsch geringeren Bodengüte zu den ärmeren in der Grafschaft und blieb es in den folgenden Jahrhunderten. Ein Vergleich zwischen dem Amt Greetsiel und dem ungleich flächengrößeren Amt Stickhausen aus dem Jahr 1596 zeigt die Unterschiede: Im Amt Stickhausen gab es 2.311 Grasen Ackerland, im Amt Greetsiel hingegen mit 23.355 Grasen das Zehnfache.
Die Reformation hielt in Ostfriesland schon früh Einzug, wobei die Einwohner des heutigen Gemeindegebiets lutherisch wurden, während sich in den westlichen Ämtern der Grafschaft der reformierte Glaube durchsetzte.
Im Dreißigjährigen Krieg wurde Ostfriesland dreimal (1622–1624, 1627–1631 und 1637–1651) von fremden Truppen eingenommen und als Quartier benutzt, wenn auch keine größeren Kampfhandlungen stattfanden. Von 1622 bis 1624 besetzten die Mansfelder Ostfriesland. Die Orte in der Umgebung litten unter der Besetzung durch die Truppen. Die beiden folgenden Besetzungen bedeuteten zwar ebenfalls Belastungen durch Kontributionen. Die Besatzer von 1627 bis 1631 jedoch, kaiserliche Truppen unter Tilly, „hielten Manneszucht und vermieden Ausschreitungen“, desgleichen die von 1637 bis 1651 in Ostfriesland einquartierten hessischen Truppen unter Wilhelm V. von Hessen-Kassel. Auch materiell stellte sich die Situation unter den beiden Besetzungen anders dar als unter Mansfeld: Es wurden zwar Kontributionen eingetrieben, doch wurden diese auch wieder in der Region ausgegeben. Während des Krieges brach in Ostfriesland die Pest aus, Todeszahlen für das vorliegende Gebiet sind jedoch nicht dokumentiert.
Von Preußen zum Königreich Hannover
Im Jahr 1744 fiel Ostfriesland durch eine Exspektanz an Preußen. Der Kirchort Remels war zu jener Zeit ein Ort, der im Unterschied zu anderen Orten des Amtes Stickhausen durchschnittlich mit Handwerkern und Kaufleuten besetzt war. 1756 wurden deren neun gezählt: ein Kaufmann, zwei Leineweber, zwei Schneider, ein Schmied und drei Zimmerleute. Groß- und Kleinoldendorf kamen zu jener Zeit nur zusammen auf acht Handwerker, in Hollen gab es 1756 lediglich einen Schneider. Zum Vergleich: In Detern und Stickhausen, wo sich der Amtssitz befand, gab es zum selben Zeitpunkt zusammen 65 Kaufleute und Handwerker. Im Lengener Gebiet waren Bauern und andere landwirtschaftlich Beschäftigte die größte Berufsgruppe.
In der zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurden auf dem heutigen Gemeindegebiet mehrere Moorkolonien angelegt. Der Großteil der Moorkolonien wurde nach dem 1765 durch Friedrich den Großen erlassenen Urbarmachungsedikt besiedelt. Die Neusiedler stammten zum großen Teil aus den umliegenden alten Geestdörfern, auch solchen, die sich heute nicht auf Gemeindegebiet befinden. Die erste nach Verabschiedung des Edikts entstandene Moorkolonie des Lengenerlandes war Meinersfehn (1767). 1772 ließen sich die ersten Siedler aus Remels in Klein-Remels nieder. Im selben Jahr wurden von Jübberde aus die Kolonien Bargerfehn, Ochsenkopf und Zinskenfehn gegründet. Zwischen 1786 und 1806 erfolgte sukzessive die Besiedlung von Stapel. Ausgehend vom Mutterdorf Poghausen, ließen sich ab 1807 Kolonisten in Oltmannsfehn nieder (benannt nach dem ersten Kolonisten Oltmann Leeners) und ab 1813 auch in Ockenhausen (benannt nach dem ersten Kolonisten Ocke Janssen). Als „Anhängsel“ der bereits seit 1764 besiedelten Kolonie Firrel entstand nach 1810 Neufirrel. Den auf „-fehn“ endenden Ortschaften ist gemeinsam, dass die Namensendung lediglich auf die Lage in einem Moorgebiet hinweist. Es handelte sich in allen Fällen um Streusiedlungen, nicht um Siedlungen, die sich an einem Fehnkanal entlang erstreckten. Durch die von Friedrich forcierte Moorkolonisierung wuchs die Einwohnerzahl des Amtes Stickhausen, zu dem auch das vorliegende Gebiet gehörte, während dieser Periode sehr deutlich: von rund 5.100 auf zirka 9.300 Personen. 1806 war das Amt Stickhausen das nach Einwohnerzahl drittgrößte hinter den Ämtern Aurich und Leer.
Landwirtschaftliche Grundlage der Moorkolonien war die Moorbrandkultur. Dabei wurden im Sommer kleine Gräben angelegt, um ein Stückchen Moor zu entwässern. Im Herbst wurde das Moor in Schollen gehackt, die im Winter durchfroren und im darauffolgenden Frühjahr geeggt wurden. Im späten Frühjahr zündeten die Kolonisten die solcherart bearbeiteten Moorflächen an und legten Samen (zumeist) von Buchweizen in die Asche. Buchweizen wächst sehr schnell und konnte daher nach wenigen Wochen geerntet werden. Der Buchweizen, ein Knöterichgewächs, wurde im Anschluss verarbeitet. Angebaut wurden auch Kartoffeln, Roggen und Hafer. Der Moorboden wurde durch diese Form der Bearbeitung allerdings nach einigen Jahren ausgelaugt, sodass die Erträge sanken. Die Moorkolonien wurden folglich mit nur wenigen Ausnahmen zu Notstandsgebieten. Da die Moorkolonien jedoch verarmten, teils verstärkt durch Witterungseinflüsse und/oder Viehseuchen, wurde die Propagierung des Buchweizenanbaus nach der Moorbrandkultur 1791 von der preußischen Kriegs- und Domänenkammer zunächst eingestellt. Es kam zu einem Stopp der Anlegung neuer Kolonien bzw. der Vergrößerung bestehender Kolonien, der bis etwa 1800 andauerte.
Nach der Schlacht bei Jena und Auerstedt 1806 wurde Ostfriesland und damit auch das vorliegende Gebiet in das Königreich Holland und damit in den französischen Machtbereich eingegliedert. 1810 kam es als Departement Ems-Orientale (Osterems) unmittelbar zum französischen Kaiserreich, 1813 schließlich kam es nach den Befreiungskriegen erneut kurzzeitig zu Preußen. Nach dem Wiener Kongress 1814/15 trat Preußen Ostfriesland an das Königreich Hannover ab.
Vom Königreich Hannover bis zum Ersten Weltkrieg
Auch während der Regentschaft der Könige von Hannover dauerte die Moorkolonisierung an. Zum ersten und einzigen Male wurden im Gemeindegebiet auch Fehnsiedlungen angelegt, die an Kanälen entstanden. Es handelt sich dabei um die ab 1829 entstandenen Siedlungen Nord- und Südgeorgsfehn, die nach König Georg V. von Hannover benannt wurden. Gemeinsam mit Holterfehn in der heutigen Gemeinde Ostrhauderfehn sind dies die letzten in Ostfriesland entstandenen Fehnsiedlungen „echten“ Typs – also solche mit Siedlungen, die sich entlang eines zuvor ausgehobenen Fehnkanals erstrecken. Der Kanal diente zum einen der Entwässerung des umliegenden Moorgebietes, zum anderen als Haupttransportweg jener Zeit.
Nachdem bereits in den Jahren 1834/1835 die erste besteinte Chaussee Ostfrieslands von Leer über Hesel nach Aurich angelegt wurde, erfolgte zwischen 1839 und 1841 der Ausbau des Weges von Hesel über Remels nach Oldenburg, der Vorläufer der späteren Reichsstraße 75. 1863 wurde eine tägliche Fahrpost von Leer nach Oldenburg eingerichtet.
1866 kam Ostfriesland (und damit auch das vorliegende Gebiet) nach dem Deutschen Krieg an Preußen und war ab 1871 Teil des Kaiserreichs. Bei der preußischen Gebietsreform 1885 kam Uplengen zum Landkreis Leer, dem das Gebiet seitdem angehört. Der Nordgeorgsfehnkanal wurde bis 1891 bis nach Neudorf an der heutigen Grenze zur Stadt Wiesmoor vorangetrieben. Im Zuge des Ausbaus der ein Jahr zuvor gegründeten Moorkolonie Marcardsmoor existierten jedoch bereits Pläne, den Kanal bis dorthin voranzutreiben. Dies geschah ab dem Jahre 1907, die endgültige Fertigstellung verzögerte sich durch den Ersten Weltkrieg und die nachfolgende Krisenzeit jedoch bis 1922.
Weimarer Republik
Im April 1919 kam es zu sogenannten „Speckumzügen“ von Emder Arbeitern, an die sich Landarbeiterunruhen und ebensolche Raubzüge im Rheiderland anschlossen. Arbeiter brachen in geschlossenen Zügen in die umliegenden Dörfer auf und stahlen Nahrungsmittel bei Bauern, wobei es zu Zusammenstößen kam. Die Lage beruhigte sich erst nach der Entsendung von in der Region stationierten Truppen der Reichswehr. Als Reaktion darauf bildeten sich in vielen Orten Ostfrieslands – auch solchen, die von den „Umzügen“ nicht betroffen waren – Einwohnerwehren, so in Bühren (20 Personen mit 13 Waffen) und Großsander (20/10). Im Vergleich zu den westlichen Gemeinden des Kreises Leer blieben die Wehren zahlenmäßig jedoch schwach. Aufgelöst wurden die Einwohnerwehren erst nach einem entsprechenden Erlass des preußischen Innenministers Carl Severing am 10. April 1920.
Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs versuchten mehrere expressionistische Künstler, in Remels eine Künstlerkolonie zu gründen. Die Gruppe bestand aus Otto Pankok, Gert Heinrich Wollheim und Hermann Hundt. Pankok hatte bereits zuvor mehrere Jahre in einer Künstlerkolonie im Örtchen Dötlingen im Oldenburgischen gelebt. Die Künstler gaben ihr Vorhaben jedoch wieder auf, verzogen nach Düsseldorf und schlossen sich dort der Künstlergruppierung „Das Junge Rheinland“ an.
In den Ortschaften der Gemeinde Uplengen machte sich bereits in den Anfangsjahren der Weimarer Republik ein deutlicher Rechtsruck in der politischen Meinung bemerkbar. Wie in den meisten anderen Moor- und Geestgegenden Ostfrieslands auch, wählten die Einwohner bei der Reichstagswahl 1919 noch liberal, bereits bei der Wahl im Dezember 1924 allerdings obsiegten rechte Parteien. Exemplarisch kann die Ortschaft Poghausen genannt werden, wo die Wähler 1919 mehrheitlich (65 Prozent) für die DDP votierten. Bei der Wahl im Dezember 1924 hingegen errang die DNVP 83,6 Prozent der Stimmen.
Wie im gesamten Nordwesten Niedersachsens erhielt in der Weimarer Republik die Landvolkbewegung Auftrieb, nachdem sich 1927 eine Missernte ereignet und die Bauern zusehends in Existenznöte gebracht hatte. Durch die Konzentration auf Mengen statt auf Qualität waren die Probleme jedoch zum Teil auch hausgemacht. Wie in anderen Landesteilen flatterte die schwarze Fahne, Symbol der Schwarzen Schar des Florian Geyer im Bauernkrieg, als Zeichen des Protests. Am 5. Januar 1928 kam es in Aurich zu einer Großdemonstration von Landwirten aus der Region, an der 4000 Menschen teilnahmen. Die Nationalsozialisten mit ihrer Blut-und-Boden-Ideologie sahen sich als Sachwalter der Nöte der Landwirte und fanden in vielen Gemeinden entsprechenden Zulauf.
In den Folgejahren gewann die NSDAP mehr und mehr Anhänger. Sie hatte in Poghausen im September 1930 die DNVP bereits überflügelt (39 Prozent im Vergleich zu 37,3 Prozent). Bei der Reichstagswahl im Juli 1932 schließlich errangen die Nationalsozialisten 91,6 Prozent der Stimmen. Die restlichen 8,4 Prozent entfielen auf die DNVP.
Die Infrastruktur wurde auch in den Jahren der Weimarer Republik weiter verbessert. Der endgültige Ausbau des Nordgeorgsfehnkanals erfolgte bis 1922, in jenem Jahr wurde auch die Schleuse in Neudorf angelegt.
Nationalsozialismus
In mehreren Ortschaften blieb der Bürgermeister auch nach 1933 im Amt. Der bis dahin parteilose Bürgermeister von Neufirrel trat sofort nach der „Machtergreifung“ in die NSDAP ein. Er wurde in der Folgezeit nicht nur der Ortsbauernführer, sondern auch Bezirksbauernführer des Bezirks Uplengen. Die Bauern im Gemeindegebiet wurden im Reichsnährstand gleichgeschaltet. Die Verabschiedung des Reichserbhofgesetzes stieß bei vielen Bauern auf Proteste, da sie sich in ihrer wirtschaftlichen Entscheidungsfreiheit beschränkt sahen. In den Moorkolonien kam hinzu, dass die landwirtschaftlichen Grundstücke oft zu klein waren, um eine Vollbauernstelle darzustellen. Das Verbot, Erbhöfe zu veräußern, traf somit diejenigen Betriebe an der unteren Größenbegrenzung eines Erbhofes von 7,5 Hektar ganz besonders. Für Neufirrel traf dies auf 16 Kolonate zu. Die Höfe konnten nach Aufnahme nicht mehr geteilt werden. Obwohl es viele richterliche Urteile zugunsten der klagenden Kleinbauern gab, blieb der Anteil der Erbhofbauern in der Region dennoch über dem Reichsdurchschnitt.
Im Zuge von Notstandsarbeiten (Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen) wurden im vorliegenden Gebiet in der NS-Zeit weitere Wege ausgebaut, die bis dahin nur unbefestigt oder schlecht befestigt waren. Dazu zählten Wege von Spols nach Neudorf, von Großsander in Richtung Apen, Kleinsander und Meinersfehn, aber auch eine Ortsumgehung, mit der die Reichsstraße 75 aus der engen Ortsdurchfahrt verlegt wurde. Die Straße wurde zudem erstmals asphaltiert. Fortgeführt wurde in einigen Ortschaften auch die Anbindung an das Torfkraftwerk Wiesmoor, womit diese Dörfer erstmals über elektrischen Strom verfügten. Im Stapeler Moor bei Meinersfehn wurden ab 1936 Flächen für die Belieferung des Kraftwerks abgetorft.
Während der NS-Zeit wurde nachweislich eine Person in Großsander zwangssterilisiert. Im Gemeindegebiet gab es kaum jüdisches Leben. Ob Juden in Uplengen Drangsalierungen und Verfolgungen ausgesetzt waren, ist unbekannt. Auch Sozialdemokraten und Kommunisten gab es in Uplengen nur wenig, von Verfolgungen wie in anderen Gegenden Ostfrieslands ist daher nichts bekannt.
Während des Zweiten Weltkriegs waren in nahezu jedem Dorf des vorliegenden Gebiets Kriegsgefangene und (zumeist weibliche) Zwangsarbeiter eingesetzt. Die Kriegsgefangenen stammten sowohl von der West- als auch von der Ostfront und dem Balkan, darunter Franzosen, Belgier, Russen, Ukrainer und Serben. Eingesetzt wurden sie als landwirtschaftliche Helfer, für Entwässerungsarbeiten und im Torfstich.
Vom Luftkrieg war Uplengen nur vereinzelt betroffen. Neben „verirrten“ Bomben und Notabwürfen, die nur geringen Schaden anrichteten, waren keine Abwürfe zu verzeichnen. Bei Bühren wurde am 21. Dezember 1943 ein amerikanischer Bomber von deutschen Jagdflugzeugen abgeschossen und stürzte in der Nähe des Dorfes ab. Noch Ende April wurden in einem Waldstück bei Selverde zwei Wehrmachtssoldaten zum Tode durch Erschießen verurteilt und anschließend in einem Waldstück verscharrt. Das vorliegende Gebiet wurde am 2. und 3. Mai 1945 von den heranrückenden kanadischen und polnischen Einheiten besetzt, nachdem diese zuvor Leer erobert hatten und auf Aurich zurückten. Bei Selverde sprengten deutsche Soldaten die Brücke über die Holtlander Ehe, sodass die Alliierten den Ort umgehen mussten. Bei Rückzugsgefechten der Wehrmacht kam es in einzelnen Dörfern zu Zerstörungen: Durch Beschuss gerieten mehrere Häuser und Höfe in Brand.
Nachkriegszeit
In der unmittelbaren Nachkriegszeit war der Landkreis Leer unter den drei ostfriesischen Landkreisen am stärksten mit Ostflüchtlingen belegt, weil er – im Gegensatz zu den Landkreisen Aurich und Wittmund – nicht als Internierungsgebiet für kriegsgefangene deutsche Soldaten diente. Allerdings nahm der Landkreis Leer in der Folgezeit unter allen niedersächsischen Kreisen die meisten Personen auf, die schon in den Ostgebieten arbeits- oder berufslos waren. Auch der Anteil der über 65-Jährigen lag höher als im Durchschnitt Niedersachsens. Hingegen verzeichnete der Landkreis Leer unter allen niedersächsischen Landkreisen den geringsten Anteil an männlichen Ostflüchtlingen im Alter von 20 bis 45 Jahren.
In der Nachkriegszeit wurde die Infrastruktur deutlich ausgebaut. Neben vielen Verbindungswegen zwischen den Dörfern, die teils zunächst als Sandstraßen mit Randbefestigung angelegt wurden, richtete sich das Augenmerk auch auf überörtliche Verbindungen. So wurde die heutige Landesstraße von Wiesmoor nach Remels in der Zeit zwischen 1948 und 1952 zunächst auf einem fünf Kilometer langen Teilstück bis Neudorf als befestigte Straße ausgebaut, die Fortführung nach Remels schloss sich danach an.
Noch bis in die 1960er Jahre wurde im Stapeler Moor Torfabbau für das Kraftwerk Wiesmoor betrieben. Nach Umstellung der Befeuerung von Torf auf Gas wurde der Abbau jedoch fortgesetzt, der Torf als Blumenerde vermarktet.
Am 1. Januar 1973 wurde aus den 18 zuvor selbstständigen Gemeinden Bühren, Großoldendorf, Großsander, Hollen, Jübberde, Kleinoldendorf, Kleinsander, Meinersfehn, Neudorf, Neufirrel, Nordgeorgsfehn, Oltmannsfehn, Poghausen, Remels, Selverde, Spols, Stapel und Südgeorgsfehn die Einheitsgemeinde Uplengen gebildet und nach der alten historischen Landschaft benannt. Die Verwaltung der Gemeinde befindet sich in der Ortschaft Remels.
Entwicklung des Gemeindenamens
Der Name der Gemeinde lässt sich auf den Flurnamen „Länge“ im Sinne von „Rücken einer Erhebung“ beziehungsweise „schmaler Landstrich oder Landzunge“ (plattdeutsch linge) zurückführen. Damit wird das von Mooren umschlossene Geestgebiet beschrieben. Der Namensbestandteil -lengen wird seit dem Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit mit der niederdeutschen Präposition up (für „auf“) verbunden. Letztlich weist der Gemeindename also auf die Lage des erhöhten, zuerst besiedelten Geestgebiets inmitten einer Moorlandschaft hin. In der Kombination Uplenghen wird der Landstrich 1496 erwähnt, die Bezeichnung Lengederlant ist älter und wurde 1398 verwendet. Bei der niedersächsischen Gemeindereform 1973 wählten die Verantwortlichen in den fusionierenden Kleinstgemeinden den Namen des historischen Landstrichs als neuen, alten Gemeindenamen, wie auch in anderen Gegenden Ostfrieslands bei der Kommunalreform und der Bildung von Großgemeinden auf historische Bezeichnungen für Landstriche zurückgegriffen wurde (Bsp. Moormerland oder Westoverledingen).
Religion
Uplengen ist wie das gesamte Ostfriesland seit der Reformation stark protestantisch geprägt. Innerhalb der Region gehört die Gemeinde zum größeren östlichen Teil, der vorwiegend lutherischen Glaubens ist, während entlang der Ems im Westen Ostfrieslands der reformierte Glaube vorherrscht beziehungsweise eine ähnlich große Zahl von Gläubigen umfasst wie die Lutheraner. Der Katholizismus hat seit der Reformation in Uplengen nie eine bedeutende Rolle gespielt. Erst durch den Zuzug von katholischen Ostflüchtlingen nach dem Zweiten Weltkrieg gab es eine nennenswerte Zahl von Christen katholischer Richtung. In der Gemeinde gibt es daher vorwiegend lutherische Gemeinden, ergänzt um eine baptistische Gemeinde in Remels. Die drei lutherischen Kirchengemeinden in Hollen, Ockenhausen und Remels zählen zum Kirchenkreis Rhauderfehn der Hannoverschen Landeskirche. Die baptistische Gemeinde hatte 1975 ihr erstes Gotteshaus in Remels eingeweiht, das aber im Laufe der Jahre zu klein geworden war. Die Gemeinde baute daher ein neues Gotteshaus an, das 2011 eingeweiht wurde.
Die Bevölkerung teilt sich konfessionell wie folgt auf: 78,61 % lutherisch, 1,84 % reformiert, 3,88 % katholisch, 15,67 % konfessionslos oder andere Religionsgemeinschaften (Stand: 2010).
Politik
Im Gegensatz zum restlichen Ostfriesland war die CDU im Landkreis Leer nach dem Zweiten Weltkrieg bereits sehr frühzeitig organisiert und erzielte dort die besten Ergebnisse innerhalb der Region. Bei der Bundestagswahl 1949 erzielte sie die Mehrheit in allen Ortschaften außer dem nahe dem industriell geprägten Wiesmoor liegenden Neudorf, wo die SPD siegte. In Neudorf kam die CDU auf weniger als 30 Prozent. In zehn Ortschaften hingegen sicherte sie sich die absolute Mehrheit, in den restlichen Ortschaften wurde sie mit Ergebnissen zwischen 30 und 50 Prozent stärkste Partei. Bereits bei der Bundestagswahl 1953 holte die CDU dann in allen Ortsteilen die Mehrheit: In Neudorf, Großoldendorf, Remels und Meinersfehn war es die relative, in den anderen Ortsteilen sogar die absolute Mehrheit.
Diese Mehrheit blieb in der Folge unbehelligt und wurde bei der Wahl 1969 sogar noch ausgebaut: Die Christdemokraten gewannen bis auf Großoldendorf in allen Ortsteilen die absolute Mehrheit, in Großoldendorf die relative Mehrheit. Selbst bei der „Willy-Brandt-Wahl“ 1972, die der SPD in Ostfriesland ein Rekordergebnis und das Eindringen in manche vorherige CDU-Bastion erbrachte, blieb das Gemeindegebiet ein Rückhalt für die CDU. Wiederum war es Großoldendorf, das eine Ausnahme bildete: Hier lag die SPD vorne. In den anderen Ortsteilen errang erneut die CDU den Sieg, in einigen Ortschaften mit Ergebnissen jenseits der 70 Prozent.
Bei der Bundestagswahl 2005 war Uplengen eine von nur drei ostfriesischen Kommunen (neben der Samtgemeinde Jümme und Juist), in der die CDU vor der SPD lag. In allen anderen Kommunen der Region gewannen die Sozialdemokraten, für die Ostfriesland seit mehreren Jahrzehnten eine der Hochburgen in Deutschland ist.
Gemeinderat und Bürgermeister
Der Gemeinderat der Gemeinde Uplengen besteht aus 28 Ratsfrauen und Ratsherren. Dies ist die festgelegte Anzahl für eine Gemeinde mit einer Einwohnerzahl zwischen 11.001 und 12.000 Einwohnern. Die 28 Ratsmitglieder werden durch eine Kommunalwahl für jeweils fünf Jahre gewählt. Die aktuelle Amtszeit begann am 1. November 2021 und endet am 31. Oktober 2026.
Stimmberechtigt im Gemeinderat ist außerdem der hauptamtliche Bürgermeister Heinz Trauernicht. Seine Amtsperiode begann im Herbst 2017.
Die jüngste niedersächsischen Kommunalwahl vom 12. September 2021 ergab folgende Sitzverteilung im Gemeinderat:
CDU 45,86 % (13 Sitze)
MOIN 23,01 % (7 Sitze)
SPD 18,87 % (5 Sitze)
FDP 6,59 % (2 Sitze)
Grüne 4,71 % (1 Sitz)
Die Wahlbeteiligung bei der Kommunalwahl 2021 lag mit 63,5 % deutlich über dem niedersächsischen Durchschnitt von 57,1 %.
Vertreter im Land- und Bundestag
Uplengen gehört zum Wahlkreis Leer. Er umfasst die Stadt Leer, die Gemeinden Ostrhauderfehn, Rhauderfehn, Uplengen und die Samtgemeinden Hesel und Jümme. Bei der letzten Landtagswahl in Niedersachsen vom 9. Oktober 2022 gewann Ulf Thiele (CDU) das Direktmandat mit 35,7 % der Stimmen. Er ist damit zum fünften Mal in Folge direkt gewählt worden.
Uplengen gehört zum Bundestagswahlkreis Unterems (Wahlkreis 25), der aus dem Landkreis Leer und dem nördlichen Teil des Landkreises Emsland besteht. Der Wahlkreis wurde zur Bundestagswahl 1980 neu zugeschnitten und ist seitdem unverändert. Bislang setzten sich in diesem Wahlkreis als Direktkandidaten ausschließlich Vertreter der CDU durch. Bei der Bundestagswahl 2021 wurde die CDU-Abgeordneten Gitta Connemann aus Leer direkt wiedergewählt. Über Listenplätze der Parteien zogen Anja Troff-Schaffarzyk (SPD) und Julian Pahlke (Grüne) aus dem Wahlkreis in den Bundestag ein.
Kommunale Finanzen
Die Gemeinde Uplengen hat sowohl den Haushalt 2010 als auch den Haushalt 2011 ausgeglichen verabschiedet. Der Umfang des Etats betrug 2011 im Verwaltungshaushalt (laufende Einnahmen und Ausgaben) 11,46 Millionen Euro. Im Vermögenshaushalt (Investitionen) wurden 1,95 Millionen Euro ausgegeben.
Wappen
Flagge
Kultur und Sehenswürdigkeiten
Theater und Museen
In der Gemeinde sind drei kleinere Museen zu finden. In der Windmühle Remels (siehe Profanbauwerke unten) ist ein Museum mit landwirtschaftlichen Geräten untergebracht. Ebenfalls in den Bereich Landwirtschaft fällt die Sammlung des Traktorenmuseums in Nordgeorgsfehn. Das Museum verfügt über rund 60 alte landwirtschaftliche Zugmaschinen, vorwiegend der Marke Lanz. Das Backmuseum in Südgeorgsfehn ist im Gebäude eines Restaurants untergebracht.
Einen festen Theaterbau gibt es in der Gemeinde nicht. Theatervorstellungen, vor allem diejenigen der plattdeutschen Volkstheatergruppen in der Gemeinde, werden in den Dorfgemeinschaftshäusern aufgeführt oder – im Falle eines zu erwartenden größeren Zuspruchs – in der Aula des Schulzentrums in Remels.
Kirchen
Auf dem Gemeindegebiet befinden sich drei Kirchen, eine mittelalterliche und zwei aus dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Das älteste erhaltene Kirchengebäude ist die St.-Martin-Kirche in Remels. Das Gotteshaus wurde im 12. oder zu Beginn des 13. Jahrhunderts als romanische Saalkirche aus Granitquadern errichtet, die im westlichen Teil fast bis zum Satteldach reichen. Um 1300 erfolgte der Abriss der östlichen Apsis und der Westwand, als das Gotteshaus verlängert und drei neue Joche eingezogen wurden. Durch diesen Umbau, bei dem Backstein und Tuffstein als neue Materialien zum Einsatz kamen, entstand ein Rechtecksaal im Stil der Romano-Gotik. Ein halbes zugemauertes Rundbogenportal an der Südseite ist erhalten. Die spitzbogigen Fenster an den Langseiten und der neuen Ostwand weisen auf die Gotik. Der westliche Backsteinturm von 1897/98 mit vier kleinen Seitenhelmen im Stil des Historismus ersetzt zwei mittelalterliche Vorgängertürme, die als Wehrtürme dienten. Von der gesamten ursprünglichen Festungsanlage ist nur ein Torturm erhalten. Die Kirche war auch Ort der Rechtsprechung: Ein großer quadratischer Granitblock diente als Maßstab („Lengener Boommaat“) bei der Zuteilung der Gemeindewiesen. An der Kirche wurde das Sendgericht abgehalten, worauf heute noch eine Kette mit Halseisen und das Podest eines Prangers an der Nordwand hinweisen. Der Innenraum wird durch vier Domikalgewölben abgeschlossen. Ein Sarkophagdeckel aus Sollinger Sandstein aus dem 11. Jahrhundert zeugt von einer älteren Vorgeschichte des Christentums in Lengen. Aus romanischer Zeit datiert der Taufstein aus Bentheimer Sandstein, dessen Becken mit Akanthusfries auf vier Atlanten ruht. Um 1660 bis 1675 wurde das Altarretabel als protestantischer Flügelaltar geschaffen. Die barocke Kanzel stammt aus dem Ende des 17. Jahrhunderts. Im Jahr 1782 errichtete Hinrich Just Müller eine Orgel, die noch weitgehend erhalten ist. Das Rückpositiv geht wahrscheinlich auf Johann Friedrich Constabel (1733) zurück und hatte als selbstständiges Positiv gedient, bevor es von Müller in seinen Neubau integriert wurde.
Die Christus-Kirche in Hollen ist der Nachfolgebau einer mittelalterlichen Kirche, die im 13. Jahrhundert östlich der Pastorei stand. Aufgrund von Baufälligkeit und eines Anstiegs der Bevölkerung beschloss die Gemeinde den Abriss des alten Gebäudes, übernahm aber die Renaissance-Kanzel aus dem Vorgängerbau, die Tönnies Mahler 1655 geschaffen hatte. Der neugotische Stil der Kirche ist insbesondere am Langhaus mit seinen zwei Jochen, am Querhaus mit zwei Giebeln und dem Chor mit Strebepfeilern und Maßwerkfenstern erkennbar. Durch die Queranbauten entsteht ein kreuzförmiger Grundriss. Der Chor wird durch zwei große Rundbögen mit dem Schiff verbunden und durch ein Kreuzrippengewölbe abgeschlossen. Der Altar wurde 1990 in Anlehnung an den neugotischen Vorgänger aus dem Jahr 1896 geschaffen und das Kruzifix übernommen. Im Jahr 1903 entstanden das Taufbecken und die Christusfigur. Die Orgelbauwerkstatt Alfred Führer baute 1989 ein neues Orgelwerk mit zwölf Registern, dessen neugotischer Prospekt sich an der Vorgängerorgel von Johann Martin Schmid orientierte.
Die „Fehngemeinde“ in Ockenhausen wurde in kirchlicher Hinsicht zunächst von Remels bedient. Der Wunsch nach Selbstständigkeit kam 1897 in der Gründung einer eigenständigen Kirchengemeinde, 1898 in der Wahl eines Pastors und 1899 im Neubau der Friedenskirche zum Ausdruck. 1988 bis 1990 wurde das Gebäude in östliche Richtung um fünf Meter verlängert und eingreifend umgestaltet. Seitdem prägen fünf schmale Chorfenster das Innere; die Langseiten weisen je vier kleine rundbogige Fenster und Strebepfeiler auf. Der schlanke dreigeschossige Westturm mit Pyramidendach dient zugleich als Eingang. Alfred Führer schuf von 1970 bis 1972 die kleine Orgel mit sechs Registern, Walter Arno aus Elmshorn die Buchablage auf der Kanzel, das Kreuz und den Kerzenhalter auf dem Altar sowie die Taufschale auf dem Taufstein.
Profanbauwerke
Zu den herausragenden Profanbauwerken in der Gemeinde zählen drei historische Windmühlen. Der zweigeschossige Galerieholländer in Remels wurde 1803 durch die Kirchengemeinde erbaut. Die Mühle wurde im Ursprung als Mahl-, Pelde- und Ölmühle genutzt. Im Jahre 1847 übernahm die Müllerfamilie Janshen die Mühle. Letzter Müllermeister war bis 1958 Fritz Haupt. Danach war die Mühle noch bis 1962 im Besitz der Familie Janshen. Im Jahre 1963 ging sie in das Eigentum der Gemeinde Remels (heute Uplengen) über. Diese ließ sie mit großem Kostenaufwand restaurieren. Die Gemeinde ist bestrebt, dieses technische Bauwerk, das ein Wahrzeichen des Ortes ist, zu erhalten. Heute werden im 1. Obergeschoss in einer rustikalen Umgebung standesamtliche Eheschließungen durchgeführt. In der Mühle ist Platz für 33 Personen. Alfons und Jantjedine Goldenstein, die einer weit über Ostfriesland hinaus bekannten Müller- und Mühlenbauerfamilie entstammen, erbauten den zweistöckigen Galerieholländer mit Steert in Südgeorgsfehn im Jahre. 1939 übernahm der Sohn Bernhard Goldenstein die Mühle. 1954 kaufte die Raiffeisen-Genossenschaft das Gebäude. Inzwischen ist sie im Besitz der Gemeinde Uplengen. Die Mühle ist stillgelegt, kann jedoch auf Wunsch besichtigt werden. Daneben existiert noch eine dritte Holländerwindmühle im Ortsteil Großoldendorf.
In der landwirtschaftlich geprägten Gemeinde gibt es eine Vielzahl von Gulfhöfen. Von ihnen steht eine Reihe unter Denkmalschutz. Allein im Dorfkern von Bühren sind sechs derartige Gebäude geschützt, in den Ortskernen von Spols und Großsander zwei. Eine größere Zahl von historischen Gulfhöfen gibt es auch im Ortsteil Hollen, der 1993 und 1995 zweiter Bundessieger („Silbermedaille“) beim Wettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“ wurde. Als Besonderheit findet sich in Hollen ein inzwischen umgenutzter Gulfhof, der vom letzten bewirtschaftenden Landwirt aufgegeben wurde. Das Gebäude im Ortskern wird nach Umbauten von der örtlichen Sparkasse als Filiale genutzt.
Ebenfalls unter Denkmalschutz steht der heute noch vorhandene Rest des Walles der Burg Uplengen in Großsander.
Regelmäßige Veranstaltungen
In mehreren Ortsteilen finden Schützen- und Volksfeste statt, hinzu kommen ostfriesische Brauchtumsveranstaltungen, die sich auch in anderen Gemeinden finden, wie etwa das Aufstellen eines Maibaums. An Silvester wird die Tradition des Carbidschießens gepflegt. In einer der historischen Kirchen der Gemeinde findet für gewöhnlich eines der Konzerte des Musikalischen Sommers in Ostfriesland statt. Beim Badesee in Großsander findet seit einigen Jahren alljährlich das Seefest statt. Vom Kulturring Uplengen, einem eingetragenen Verein, werden regelmäßig Ausstellungen im Rathaus in Remels organisiert. Darüber hinaus veranstaltet der Kulturring Exkursionen etc. Mehrere Tausend Besucher verzeichnet der traditionelle Herbstmarkt in Remels, der alljährlich im September stattfindet. Der VfB Uplengen veranstaltet dazu den Herbstmarkt-Lauf. Im Ortsteil Jübberde findet im August das „Tuffelfest“ (plattdt.: Kartoffelfest) statt, mit Kartoffelerntemethoden nach alter Art.
Zu den regelmäßigen Veranstaltungen zählen auch solche der Brauchtumspflege: In nahezu allen Ortschaften werden am Karsamstag Osterfeuer entzündet, mit denen der Winter vertrieben werden soll. Als Frühlingsbote gilt das Aufstellen eines Maibaums in der Nacht vom 30. April auf den 1. Mai in vielen Ortsteilen. Am 10. November findet abends das Martinisingen statt, mit dem des Reformators Martin Luther gedacht wird. Am Nikolaustag werden in Gaststätten Verknobelungen organisiert, bei denen traditionell Fleischpakete zu gewinnen sind.
Sprache
In der Samtgemeinde wird neben Hochdeutsch auch Ostfriesisches Platt gesprochen. Zumindest unter Erwachsenen ist Platt durchaus Alltagssprache. Die Gemeinde fördert – auch mit Unterstützung des Plattdütskbüros der Ostfriesischen Landschaft – den Gebrauch und damit den Erhalt des Plattdeutschen.
Sport
In der Gemeinde gibt es 20 Sportvereine mit zusammen 4656 Mitgliedern. Größter Sportverein der Gemeinde und zweitgrößter im Landkreis Leer ist der in Remels beheimatete VfB Uplengen. Er zählt rund 1800 Mitglieder. Weitere Universalsportvereine sind SV Neufirrel, VfL Ockenhausen, FTC Hollen, STV Hollesand (in Großoldendorf) und SV Lengenerland (in Oltmannsfehn).
Die Friesensportarten Boßeln und Klootschießen werden in den Boßelvereinen in Großoldendorf, Klein-Remels, Neudorf, Oltmannsfehn, Stapel und Hollen betrieben. Darüber hinaus gibt es den Schützenverein Uplengen (in Remels), einen Angelsportverein, eine DLRG-Ortsgruppe, den Uplengener Reit- und Fahrverein sowie Tischtennisclubs in Remels und Neudorf.
Den Sportvereinen stehen die gemeindlichen Turn- und Sporthallen an den Schulstandorten zur Verfügung. Sportplätze befinden sich in Remels, Neufirrel, Oltmannsfehn, Stapel und Hollen. Der TTC Neudorf verfügt über eine Tischtennishalle, der Reit- und Fahrverein über eine Reithalle in Großoldendorf und der Schützenverein in Remels über eine Schießsporthalle. Eine Tennishalle gibt es in Remels, Tennisplätze in Remels, Hollen und Stapel. Über ein Hallen- oder Freibad verfügt die Gemeinde nicht, im Sommer steht stattdessen ein Badesee in Großsander zur Verfügung. An der Grundschule in Hollen gibt es allerdings ein Lehrschwimmbecken.
Wirtschaft und Infrastruktur
Die Gemeinde ist wirtschaftlich von mittelständischen Unternehmen und der Landwirtschaft geprägt, zwei kleinere Industriebetriebe finden sich lediglich im rund 35 Hektar großen Industrie- und Gewerbegebiet in Jübberde. Neben diesem bestehen noch zwei weitere, deutlich kleinere Gewerbegebiete in Jübberde (neun Hektar) und im Norden des Hauptortes Remels (2,7 Hektar). Der Hauptort ist zugleich der zentrale Einkaufsort der Gemeinde. Im Industrie- und Gewerbegebiet Jübberde sind neben einem Autohof und mehreren Handelsbetrieben auch Produktionsbetriebe vorhanden. Neben dem Reinigungsmittelhersteller Zielinsky Universalstein sind dies die Firma Feuerverzinkung Nordwest und die Firma Orgelbau Ostfriesland des Orgelbauers Martin ter Haseborg.
Daten zur Arbeitslosigkeit in der Gemeinde selbst werden nicht erhoben. Im Geschäftsbereich Leer der Agentur für Arbeit, der den Landkreis Leer ohne Borkum umfasst, lag die Arbeitslosenquote im Dezember 2015 bei 6,3 Prozent. Sie lag damit 0,4 Prozentpunkte über dem niedersächsischen Durchschnitt.
Uplengen ist eine Auspendler-Gemeinde. 1030 Einpendlern stehen 2453 Personen gegenüber, die ihren Lebensunterhalt jenseits der Gemeindegrenzen verdienen (Stand: 2006). In Uplengen gibt es 3261 sozialversicherungspflichtig beschäftigte Einwohner, jedoch nur 1838 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze. Von den abhängig Beschäftigten waren ein Prozent im Landwirtschaftssektor tätig, 31 Prozent im produzierenden Gewerbe, 29 Prozent im Bereich Handel, Gastgewerbe und Verkehr sowie 39 Prozent im sonstigen Dienstleistungssektor. Die Zahl der in der Landwirtschaft tätigen Menschen ist jedoch ungleich größer, da die selbstständigen Landwirte sowie mithelfende Familienangehörige in einer Statistik der abhängig Beschäftigten nicht eingerechnet sind.
Der eher geringe Arbeitsplatzbesatz macht sich auch in den Steuereinnahmen der Gemeinde bemerkbar: Mit Netto-Gewerbesteuereinnahmen von 121,19 Euro pro Kopf im Jahr 2010 erreichte Uplengen lediglich 41 Prozent des niedersächsischen Landesdurchschnitts. Der Gemeindeanteil an Einkommensteuer im Jahr 2009 betrug 156,08 Euro pro Kopf und lag damit bei 61 Prozent des Landesdurchschnitts.
Landwirtschaft
Uplengen ist geprägt von der Grünlandwirtschaft und der Milchviehhaltung. Beim Ackerbau ist der Anbau von Futterpflanzen vorherrschend. Der Landkreis Leer war 2021 der siebtgrößte Milcherzeuger-Landkreis in Deutschland. Als nach Fläche größte Kommune des Landkreises trägt Uplengen zu diesem Umstand erheblich bei. Die Milchlandwirte leiden seit einigen Jahren unter einem oft geringen und stark schwankenden Preis für Milch und Milchprodukte. Neben den rein landwirtschaftlichen Betrieben finden sich auch vor- und nachgelagerte Unternehmen dieses Sektors, darunter eines von nur zwei Unternehmen in der Region, das sich auf den Handel mit Zuchtbullen-Samen spezialisiert hat. Zusatzeinkünfte verdienen sich Landwirte durch das Aufstellen von Windkraftanlagen oder die Gewinnung von Energie aus Biomasse. Der Boom bei Biogas-Anlagen führt jedoch zu einer Ausweitung der Anbauflächen für Mais, die in Ostfriesland insgesamt zwischen 2005 und 2010 um 60 Prozent gewachsen sind. Damit einher ging eine Verteuerung der Landwirtschaftsflächen für Ackerland und Grünland um 31 und 40 Prozent. Außerdem vermieten einzelne Landwirte Zimmer an Feriengäste unter dem Motto Urlaub auf dem Bauernhof. Der Eigenbedarfsdeckung, aber auch der Traditionspflege, dienen die in einigen Dörfern Ostfrieslands, so zum Beispiel Nordgeorgsfehn, noch stets verbreiteten Hausschlachtungen.
Tourismus
Tourismus spielt in der Gemeinde in begrenztem Umfang eine Rolle. Im Jahr 2010 wurden in Uplengen 31.500 Übernachtungen gezählt, 2018 betrug die Übernachtungszahl 50.200. Die Gemeinde hat mit den Nachbarkommunen Moormerland, Jümme und Hesel die bislang längste Radwanderroute der Region eingerichtet, die „Ostfriesen-Route“ über 172 Kilometer. Die Uplengener Ortsteile Nord- und Südgeorgsfehn liegen zudem an der Deutschen Fehnroute, die Gemeinde wird darüber hinaus von einer der Routen des Friesischen Heerwegs durchzogen. Die Windmühlen in Großoldendorf, Remels und Südgeorgsfehn sind Bestandteil der Niedersächsischen Mühlenstraße.
Die Gemeinde setzt vor allem auf Fahrrad-Tourismus, nutzt aber auch die vorhandenen Kanäle zur Vermarktung des Bootstourismus und anderer Wassersportarten wie Angeln. In Remels befindet sich am Nordgeorgsfehnkanal eine Paddel- und Pedalstation, an der sich Besucher sowohl Fahrräder als auch Kanus ausleihen können. Diese Stationen sind Teil eines durch Kanäle und Radwanderrouten verbundenen Netzes in Ostfriesland, an denen an anderen Stationen ausgeliehene Fortbewegungsmittel getauscht werden können. An der Paddel und Pedalstation befindet sich einer von zwei Wohnmobil-Stellplätzen im Hauptort, der andere liegt zentral auf dem Schützenplatz. Weitere Campingplätze gibt es in der Gemeinde nicht. Das Zimmerangebot besteht aus einem Hotel, zumeist aber Pensionen, Ferienhäusern und -wohnungen.
Im Stapeler Moor ist ein Moorerlebnispfad angelegt worden. Aussichtspunkte ins Moor gibt es zudem beim Neudorfer Moor und am Lengener Meer. Zum touristischen Angebot zählt zudem der Badesee in Großsander, der 1983 als Sandentnahmestelle im Zuge des Baus der Autobahn 28 ausgehoben und in den Jahren 1989 bis 1991 um einen Freizeitpark erweitert wurde.
Verkehr
Die Gemeinde liegt an zwei überregionalen Verkehrswegen: der Bundesautobahn 28 sowie der Landesstraße 24, bei der es sich um die ehemalige Reichs- beziehungsweise Bundesstraße 75 handelt.
Die A 28 von Leer nach Oldenburg mit dem Anschluss Apen/Remels durchquert die Gemeinde im Süden auf einer Länge von rund 10,5 Kilometer. Die Anschlussstelle befindet sich auf Uplengener Gemeindegebiet zwischen den Ortsteilen Jübberde und Südgeorgsfehn. Für Autofahrer aus dem östlichen Gemeindegebiet mit Fahrtziel Oldenburg ist zudem die Anschlussstelle Westerstede-West von Belang. Die Autobahn wurde im betreffenden Abschnitt Anfang der 1980er Jahre gebaut. Sie ersetzte damit die B 75 als überregional bedeutsamste Ost-West-Verbindung in Ostfriesland. Die B 75 verlief bis dahin von Bunde an der Grenze zu den Niederlanden über Leer, Remels, Oldenburg, Bremen und Hamburg bis in den Lübecker Stadtteil Travemünde. Nach dem Bau der A 28 wurde die Bundesstraße auf dem Abschnitt zwischen der niederländischen Grenze und Delmenhorst entwidmet. Das Teilstück auf Uplengener Gemeindegebiet, zwischen Hesel und Westerstede mit der genannten Anschlussstelle Westerstede-West, ist seither als Landesstraße 24 klassifiziert. Regionale Bedeutung hat zudem die Landesstraße 12, die vom Remelser Ortskern über Wiesmoor nach Wittmund führt. Sie bindet insbesondere Wiesmoor und seine Ortsteile an die A 28 an. Die Landesstraße 18, aus Richtung Friedeburg kommend, verbindet Ockenhausen, Poghausen und Spols mit Remels und Hollen, die L 827 stellt die Verbindung zwischen Hollen, Südgeorgsfehn und dem Apener Ortsteil Augustfehn dar. Die Ortschaften abseits der genannten Hauptverbindungsstraßen werden über Kreisstraßen angebunden. Ergänzt werden diese überörtlichen Straßen durch das Netz von Gemeindestraßen mit einer Gesamtlänge von 425 Kilometern, von denen 368 Kilometer ausgebaut sind.
Entlang der Landes-, Kreis- und Gemeindestraßen finden sich – wenn auch nicht lückenlos – vom Straßenkörper getrennte Radwege. Die Gemeinde Uplengen ist 2005 mit dem Deutschen Fahrradpreis „Best for Bike“ ausgezeichnet worden. Den Preis, vergeben vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung in Zusammenarbeit mit der Arbeitsgemeinschaft fahrradfreundliche Städte, Gemeinden und Kreise in NRW und dem Zweirad-Industrie-Verband, erhielt die Gemeinde in der Kategorie „Fahrradfreundlichste Entscheidung“: Sie hatte im Bundesvergleich überdurchschnittliche 135 Euro pro Einwohner in den Radwegebau investiert.
Einen Normalspur-Eisenbahnanschluss hat die Gemeinde nie besessen, da die Bahnstrecke Oldenburg–Leer eine recht direkte Verbindung zwischen den beiden Städten bildet und daher südlich Uplengens verläuft. In der Kaiserzeit und in der Weimarer Republik entstandene Pläne, der seit 1899 bestehenden Meterspurstrecke der Kleinbahn Leer–Aurich–Wittmund eine Abzweigung von Hesel nach Remels hinzuzufügen, sind aus Kostengründen nie verwirklicht worden. Der nächstgelegene Bahnhof ist heute Augustfehn in der südlichen Nachbargemeinde Apen. Dort verkehren Intercity und Regional-Express-Züge auf der Relation Norddeich/Emden-Oldenburg-Hannover und teils darüber hinaus. Von Bedeutung ist zudem der Bahnhof in Leer, da von dort aus umsteigefreie Verbindungen in Richtung Münster/Ruhrgebiet möglich sind. Der nächstgelegene Bahnhof mit (vereinzelten) ICE-Verbindungen ist Oldenburg Hauptbahnhof.
Die nächstgelegenen Flugplätze befinden sich in Westerstede-Felde und in Leer. Der nächstgelegene internationale Verkehrsflughafen ist derjenige in Bremen.
Das Kanalnetz der Gemeinde, bestehend aus dem Nord- und dem Südgeorgsfehnkanal, hatte in der Vergangenheit eine Bedeutung als Transportweg für den abgebauten Torf. Mittlerweile jedoch dienen die beiden Kanäle nur mehr dem Bootstourismus, was besonders auf den Nordgeorgsfehnkanal zutrifft. Dieser stellte eine Verbindung zwischen dem Ems-Jade-Kanal bei Marcardsmoor und der Jümme dar. Wegen einiger starrer Brücken ist er jedoch nicht komplett für Boote mit Aufbauten zu befahren, wohl aber für Motorboote ohne Aufbauten sowie Kanus, Kajaks etc. Die anderen Flüsschen im Gemeindegebiet sind nur abschnittsweise für Paddelsportler zu befahren.
Medien
Die einzige regionale Tageszeitung, in deren Verbreitungsgebiet Uplengen liegt, ist die Ostfriesen-Zeitung aus Leer. Seit 2002 erscheint zweimonatlich außerdem das Gemeindemagazin „Uplengen Blattje“, das über Vereinsaktivitäten, Veranstaltungen sowie über das Gemeindeleben allgemein berichtet. Verschiedene anzeigenfinanzierte Blätter (Der Wecker sowie Sonntags-Report und andere) erscheinen wöchentlich beziehungsweise monatlich und ergänzen die lokale Berichterstattung. Aus der Gemeinde berichtet zudem der Bürgerrundfunksender Radio Ostfriesland.
Öffentliche Einrichtungen
Neben der Gemeindeverwaltung mit ihren nachgeordneten Betrieben wie dem Bauhof befindet sich in Remels auch eine Polizeistation. Dort versehen sechs Beamte in Früh- und Spätschicht ihren Dienst, der sich auf das gesamte Gemeindegebiet erstreckt. Außerhalb der Dienstzeiten ist die Polizeistation in Warsingsfehn für die Gemeinde Uplengen zuständig. Für das Gemeindegebiet zuständige Behörden wie Finanzamt, Arbeitsagentur, Amtsgericht, Katasteramt u. ä. befinden sich im benachbarten Leer, wo auch die Kreisverwaltung ihren Sitz hat und sich die nächstgelegenen Krankenhäuser befinden. Das Feuerwehrwesen ist mit kleineren und größeren Feuerwehren ehrenamtlich organisiert. Im öffentlichen Auftrag von acht der elf Kommunen des Landkreises Leer (alle außer jenen des Rheiderlands) unterhält der Verein Tierschutz im Landkreis Leer ein Tierheim in Jübberde.
Bildung
In der Gemeinde finden sich drei Grundschulen mit (Stand: 2010) zusammen 518 Schülern, und zwar in Remels (217), Stapel (136) und Hollen (165). Daneben gibt es eine Haupt- und Realschule in Remels, die von 576 Schülern besucht wird, davon recht genau zwei Drittel (386) im Realschulzweig. Gymnasien können in Westerstede, Wiesmoor (gymnasialer Zweig der dortigen Kooperativen Gesamtschule (KGS) bis Jahrgangsstufe 13) oder in Leer (Ubbo-Emmius-Gymnasium und Teletta-Groß-Gymnasium) besucht werden. Die nächstgelegenen Berufsbildenden Schulen befinden sich ebenfalls in Leer. Für das Uplengener Gemeindegebiet zuständige Förderschule ist die Wilhelm-Busch-Schule in Hesel. Frühkindliche Bildung wird in vier Kindergärten in der Gemeinde angeboten. In Hollen und Stapel befinden sich Kindergärten in Trägerschaft der politischen Gemeinde, in Remels zudem ein Kindergarten in Trägerschaft der lutherischen Kirchengemeinde. Darüber hinaus existiert ein privat betriebener Kindergarten in Remels. Die Volkshochschule Leer unterhält eine Außenstelle in Uplengen. Die nächstgelegene Fachhochschule ist die Hochschule Emden/Leer, die nächstgelegene Universität die Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg.
Persönlichkeiten
Söhne und Töchter der Gemeinde
Zu den bekanntesten Söhnen und Töchtern der Gemeinde zählen gleich drei Bundes- bzw. Landespolitiker, daneben zwei Wissenschaftler. Beide Wissenschaftler – ein Theologe und ein Historiker – haben ihre Heimat verlassen und anderenorts ihre Karriere gestartet. Der spätere Auricher Bundes- und Landtagsabgeordnete Johannes Kortmann (* 21. September 1889; † 2. November 1965 in Aurich) wurde in Hollen geboren. Alfred Buß (* 6. April 1947 in Bühren) ist ein deutscher evangelischer Theologe und seit 2004 Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen mit Sitz in Bielefeld. Der Professor für Neuere Geschichte in Potsdam Manfred Görtemaker wurde am 28. April 1951 in Großoldendorf geboren. Die niedersächsische Grünen-Landtagsabgeordnete Meta Janssen-Kucz kam am 11. August 1961 in Klein-Remels zur Welt.
Mit Uplengen verbunden
Eine Reihe bekannter Persönlichkeiten war zumindest kurzzeitig in Uplengen angesiedelt. Dazu zählt der spätere SPD-Reichstagsabgeordnete und NS-Gegner Hermann Tempel (* 29. November 1889 in Ditzum; † 27. November 1944 in Oldenburg), der nach dem Ausscheiden aus dem Kriegsdienst ab 1916 als Lehrer in Poghausen, Remels und Stapel tätig war. Die Künstler Otto Pankok (* 6. Juni 1893 in Mülheim an der Ruhr; † 20. Oktober 1966 in Wesel), Gert Heinrich Wollheim (* 11. September 1894 in Loschwitz bei Dresden; † 22. April 1974 in New York) und Hermann Hundt (* 18. März 1894 in Mülheim an der Ruhr; † 31. Januar 1974 in Plettenberg) versuchten 1919 kurzzeitig, eine Künstlerkolonie in Remels zu etablieren, ließen von diesem Versuch jedoch wieder ab und siedelten nach Düsseldorf über. Der Leichtathlet Manfred Kinder (* 20. April 1938 in Königsberg) wuchs nach seiner Vertreibung von dort im Ortsteil Spols auf. Unternehmerisch tätig ist der in Leer geborene Orgelbauer Martin ter Haseborg (* 26. November 1965) im Gewerbegebiet Jübberde.
Der am 8. April 1971 in Leer geborene und in Remels aufgewachsene Ulf Thiele ist seit 2003 Landtagsabgeordneter. Bodo Maria (* 1943), bürgerlicher Name Bodo Schäfer, Unternehmer, Sänger, Komponist und Liedertexter, Darsteller James von Dinner for one, hatte einige Jahre seinen 2. Wohnsitz in Hollen.
Literatur
Friedchen Eihusen: Uplengen. Sutton Verlag, Erfurt 2007, ISBN 978-3-86680-113-4.
Christian Meyer: Historisches Familienbuch der Kirchengemeinden Firrel, Hollen, Ockenhausen und Uplengen (Remels). 17 Bde. C. Meyer, Wittmund 2000–2004.
Weblinks
Website der Gemeinde Uplengen
Bürgerinformationsbroschüre Uplengen-Info 2012 (PDF-Datei, 2,7 MB)
Einzelnachweise
Ort im Landkreis Leer
Staatlich anerkannter Erholungsort in Niedersachsen
Gemeindegründung 1973 |
471011 | https://de.wikipedia.org/wiki/Untere%20Kochertalbahn | Untere Kochertalbahn | |}
Die Untere Kochertalbahn war eine normalspurige private Nebenbahn der Württembergischen Eisenbahn-Gesellschaft (WEG) im nördlichen Württemberg. Sie führte als Stichbahn von Bad Friedrichshall nach Ohrnberg und folgte dem Unterlauf des Kochers.
Mit einer Länge von 22,6 km war sie die längste Strecke der WEG. Sie wurde in zwei Etappen eröffnet: Am 15. September 1907 erreichte die Bahn Neuenstadt, am 1. August 1913 wurde sie bis Ohrnberg verlängert. Nach der Einstellung des Betriebs zum 27. Dezember 1993 scheiterte die zunächst geplante Integration in das Netz der Heilbronner Stadtbahn. Die Trasse ist nun als Radwanderweg befahrbar.
Geschichte
Vorgeschichte, Planung und Bau
Neuenstadt lag im Zeitalter vor dem Eisenbahnbau an der Postkutschen-Route von Heilbronn über Mergentheim nach Würzburg und war damit verkehrstechnisch gut erschlossen. Mit der durchgehenden Eröffnung der Linie Stuttgart–Heilbronn–Würzburg (heutige Frankenbahn) 1869, die von Jagstfeld aus in nördliche Richtung entlang der Jagst verlief (Westliche Gabelbahn), geriet Neuenstadt ins Abseits. Abhilfe versprachen die Planungen für den Bau der 1862 eröffneten Kocherbahn Heilbronn–Hall, die über Neckarsulm und den Unterlauf des Kochers ostwärts geführt werden sollte. Allerdings gelang es den Orten im Weinsberger Tal und der Stadt Heilbronn, eine südlichere Streckenführung über Weinsberg unter Umgehung Neckarsulms und Neuenstadts durchzusetzen, für die der aufwändige Bau des Weinsberger Tunnels in Kauf genommen wurde. Beweggrund für Heilbronn waren die Pläne des württembergischen Staats für einen Neckarhafen als Umschlagort zwischen Schiff und Schiene in Neckarsulm, so dass Heilbronn als alleiniger Verkehrsknoten der Region seine Vorrangstellung in Gefahr sah.
Nachdem weder der Anschluss über die Kocherbahn noch über die Westliche Gabelbahn gelang, petitionierten die Städte und Gemeinden 1873 um den Bau einer Bahnstrecke im unteren Kochertal, allerdings ohne Erfolg. 19 Jahre später, anlässlich der Eröffnung der Kochertalbahn Waldenburg–Künzelsau am 1. Oktober 1892, stellte der württembergische Ministerpräsident von Mittnacht eine Verlängerung der Strecke kocherabwärts in Aussicht. Unter Berufung darauf reichten die Anlieger bald danach eine Eingabe für den Weiterbau ein, die von der württembergischen Regierung jedoch mit Verweis auf mangelnde Planungskapazitäten und die starke Belastung durch den Bau von Hauptbahnen abgelehnt wurde. Zu einer Verlängerung der Kochertalbahn kam es erst 1924, allerdings nur bis Forchtenberg.
Während Heilbronn und Neckarsulm durch die Industrialisierung aufblühten und sich Jagstfeld zu einem wichtigen Eisenbahnknoten entwickelte, führte der fehlende Verkehrsanschluss im unteren Kochertal zu einer schleichenden Entvölkerung. In Neuenstadt schrumpften Handel und Gewerbe. Neue Hoffnung brachte die Konzessionierung privater Eisenbahnunternehmen in Württemberg seit den 1890er Jahren. Am 15. April 1898 formierte sich aus Neuenstadt und den Gemeinden Kochertürn, Degmarn und Oedheim ein Eisenbahn-Komitee, das das Unternehmen Arthur Koppel mit Studien für eine Bahn beauftragte. Erste Vorschläge, die Strecke von der Oberamtsstadt Neckarsulm oder von Kochendorf aus ins Kochertal zu führen, fanden nicht die Zustimmung der vier Gemeinden und der königlichen Regierung, da ein Anschluss an den Bahnknoten Jagstfeld (heute Bad Friedrichshall Hauptbahnhof) verkehrsgünstiger und damit wirtschaftlicher erschien. Auch die topografischen Verhältnisse sprachen gegen Neckarsulm aus Ausgangspunkt.
Koppel schlug daraufhin am 18. Dezember 1898 eine Schmalspurbahn mit einer Spurweite von 750 Millimetern von Jagstfeld nach Neuenstadt vor. Am 25. Januar 1899 einigten sich Koppel und die Kommunen auf die genaue Streckenführung, die Lage der Bahnhöfe und die weiteren Formalitäten. Die Kommunen hatten Grund und Boden für die Trasse kostenlos zur Verfügung zu stellen und darüber hinaus einen einmaligen Zuschuss von 50.000 Mark pro Bahn-Kilometer zu leisten. Daraufhin legten die Orte die Planungen der württembergischen Regierung vor, die am 29. Juli 1899 die Konzession für den Bau der Schmalspurbahn erteilte und einen staatlichen Zuschuss von 20.000 Mark pro Bahn-Kilometer bewilligte. Dies motivierte auch die Gemeinden entlang des Kochers zwischen Neuenstadt und Künzelsau, um einen Lückenschluss zur Kochertalbahn Waldenburg–Künzelsau zu ersuchen.
Zwischenzeitlich löste sich am 13. Mai 1899 die WEG mit dem Koppel-Bevollmächtigten Köhler als erstem Direktor aus dem Unternehmen Arthur Koppel heraus. Die WEG übernahm landesweit sieben weitere Bau- und Betriebs-Konzessionen für Nebenbahnen von Koppel. Sie begutachtete die vorliegenden Pläne und schlug aufgrund der günstigen Geländeverhältnisse und der Wirtschaftlichkeit (Güterwagen konnten durchgehend befördert werden) eine Anpassung auf Normalspur vor. Die Kommunen stimmten dem zu und verpflichteten sich mit dem neuen Vertrag vom 2. Januar 1901, die Mehrkosten von 5000 Mark pro Bahnkilometer selbst zu tragen. Der Staat Württemberg genehmigte das Vorhaben mit seiner neuen Konzession vom 25. Juli 1902. Diese sah nun einen staatlichen Zuschuss von 28.000 Mark pro Kilometer, maximal aber 338.000 Mark vor. Der Streckenbau war binnen vier Jahren zu vollenden.
Ende 1904 konnten die Bauarbeiten aus westlicher Richtung mit der Strecke durch Jagstfeld und der Kocherbrücke bei Hagenbach in Angriff genommen werden. Beim Bau des oberen Teilstücks kam es dagegen zu Verzögerungen: Da sich Neuenstadt und Bürg nicht über die Lage des Endbahnhofs einigen konnten – Bürg forderte den Bahnhof direkt auf der gegenüberliegenden Seite des Kochers –, kündigte Bürg seine Unterstützung für das Projekt auf. Erst als die anderen Kommunen den offenen Betrag übernahmen, konnte 1906 der Bau am östlichen Streckenende aufgenommen werden.
Mit einem Jahr Verzögerung gegenüber der staatlichen Vorgabe wurden die Bauarbeiten 1907 abgeschlossen. Der Bau verlief ohne größere Unfälle; die Baukosten beliefen sich auf 1,49 Millionen Mark. Am 14. September 1907 fand schließlich die feierliche Einweihung der Nebenbahn Jagstfeld–Neuenstadt statt. Am darauf folgenden Tag nahm die WEG den regulären Betrieb auf.
Verlängerung nach Ohrnberg
Noch während des Baus bis Neuenstadt nahm die WEG Planungen für die Verlängerung der Strecke nach Ohrnberg auf, nachdem Anfang 1907 die Gemeinden Gochsen, Kochersteinsfeld, Möglingen und Ohrnberg für die Verlängerung der Strecke petitioniert hatten. Württemberg erteilte der WEG am 17. Mai 1910 die Konzession für Bau und Betrieb der Verlängerung mit einer Laufzeit bis zum 1. November 2000. Pro Bahn-Kilometer betrug der staatliche Zuschuss 30.000 Mark. Die Anlieger-Gemeinden verpflichteten sich, in Summe 80.000 Mark beizutragen und Grund und Boden unentgeltlich zur Verfügung zu stellen.
Am 1. November 1911 konnten die Bauarbeiten aufgenommen werden, die den Bau zweier weiterer Brücken über den Kocher einschlossen. Die Bauzeit erstrecke sich über anderthalb Jahre bis Juli 1913, die Baukosten betrugen 1,072 Mio. Mark. Am 1. August 1913 konnte der Abschnitt Neuenstadt–Ohrnberg der Unteren Kochertalbahn feierlich eröffnet werden. Die Vervollständigung des Nebenbahnnetzes auf dem Gebiet des heutigen Landkreises Heilbronn fand damit ihren Abschluss.
1924 verlängerte die Deutsche Reichsbahn die Kochertalbahn Waldenburg–Künzelsau noch bis Forchtenberg. Der rund 13 Kilometer lange Lückenschluss zwischen Forchtenberg und Ohrnberg kam – obwohl noch 1953 am 40-jährigen Bestehen der Strecke bis Ohrnberg debattiert – nicht mehr zu Stande. Planungen für eine Fortsetzung von Ohrnberg nach Öhringen oder nach Brettach–Bitzfeld–Bretzfeld erwiesen sich ebenfalls als nicht mehr realisierbar.
Weitere Entwicklung (1912–1990)
Nach der Eröffnung entwickelte sich das Verkehrsaufkommen vielversprechend. Bis zum Ersten Weltkrieg beförderte die Bahn jährlich rund 120.000 Personen. Dank des wirtschaftlichen Aufschwungs in den späteren 1920er Jahren erhöhte sich das Verkehrsaufkommen bis auf 350.000 Personen pro Jahr. Da wegen des Ersten Weltkriegs und der Krisen in den 1920er Jahren notwendige Instandhaltungsarbeiten an der Strecke unterblieben, konnte erst 1933 eine Sanierung in Angriff genommen werden.
Während der NS-Zeit wurde 1937 für den Militärflugplatz Oedheim auf Höhe des heutigen Hirschfeldparks ein Anschlussgleis eingerichtet, das rund zwei Kilometer in südöstlicher Richtung aus dem Kochertal herausführte. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs erlitt die Strecke schwere Schäden, besonders durch Tieffliegerangriffe und Bombenabwürfe im Bereich des Bahnhofs Bad Friedrichshall-Jagstfeld, bei denen auch das Empfangsgebäude zerstört wurde. Am 8. November 1944 traf eine Bombe das Bahngleis nahe der Kocherbrücke bei Bad Friedrichshall-Hagenbach, der Betrieb konnte jedoch vorerst fortgesetzt werden. Erst nachdem die Wehrmacht auf ihrem Rückzug nach Süden am 1. April 1945 zwischen 18:00 und 20:00 Uhr alle drei Kocherbrücken gesprengt hatte, war kein Zugverkehr mehr möglich.
Im Laufe des Jahres 1946 konnte der Betrieb wiederaufgenommen werden: am 15. August bis Neuenstadt, am 23. September bis Möglingen und am 21. Dezember bis Ohrnberg. Von 1944 bis Kriegsende wurden auf dem Flugplatz die Wracks abgeschossener alliierter Flugzeuge gesammelt, die über das Anschlussgleis hierher gelangten. Nachdem der Schrottlagerplatz 1948 aufgelöst worden war, wurde das Gleis überflüssig und bald darauf entfernt.
Von 1951 bis 1952 errichtete die Deutsche Bundesbahn (DB) für das zerstörte Empfangsgebäude des Bahnhofs Bad Friedrichshall-Jagstfeld einen Neubau. Das bis zur Zerstörung in Insellage gelegene Gebäude wurde durch einen Bau auf der östlichen Seite der Bundesbahn-Anlagen ersetzt, an der sich zuvor die Personenzug-Gleise der WEG befunden hatten. Ab diesem Zeitpunkt nutzte die WEG die Anlagen der DB für den Personenverkehr mit.
Die WEG gehörte zu den ersten Privatbahnen in Deutschland, die zur Erhöhung der Wirtschaftlichkeit konsequent von Dampflokomotiven auf Dieseltriebwagen umstellte. So ersetzte der fabrikneue Dieseltriebwagen T 06 1956 alle drei vorhandenen Dampflokomotiven, was eine deutliche Reduzierung der Fahrzeit ermöglichte. Dennoch nahm der Personenverkehr ab den frühen 1950er Jahren kontinuierlich ab, neben dem zunehmenden Individualverkehr auch bedingt durch die 1949 von der WEG eingerichtete Buslinie, die das untere Kochertal mit Doppeldeckerbussen ohne notwendiges Umsteigen und mit kürzerer Fahrzeit an Neckarsulm und Heilbronn anschloss. 1955 übernahm die neu gegründete WEG-Tochter WEG-Kraftverkehrs-GmbH (KVG) den Busbetrieb.
Der per Bahn abgewickelte Schülerverkehr zu den neuen Mittelpunktschulen in Neuenstadt und Bad Friedrichshall sorgte für eine Grundlast im Personenverkehr, war aber wenig profitabel. Der Güterverkehr entwickelte sich nach dem Zweiten Weltkrieg ambivalent: Neue Gleisanschlüsse zu Industriebetrieben in Bad Friedrichshall-Kochendorf und Neuenstadt sorgten für einen zeitweiligen Anstieg. In den 1970er Jahren nahm der Güterverkehr im Herbst durch eine effizientere Abfuhr von Zuckerrüben zu den Werken von Südzucker deutlich zu, so dass die Rübentransporte ab ungefähr 1980 im letzten Quartal des Jahres 85 % des Güterverkehrs ausmachten. Das sonstige Güteraufkommen sank kontinuierlich.
Von 1977 an verkehrten an mehreren Sonntagen im Jahr auf der Unteren Kochertalbahn dampfbespannte Museumszüge der Eisenbahnfreunde Zollernbahn (EfZ). Das 75-jährige Bestehen der Strecke feierten die Anliegergemeinden am 2. Oktober 1982 mit einem Festakt in Neuenstadt, zu dem Dampf-Sonderzüge der Gesellschaft zur Erhaltung von Schienenfahrzeugen (GES) verkehrten. Gelegentlich kamen museale Dampflokomotiven vor Foto-Güterzügen und als Plandampf-Leistung im Rübenverkehr zum Einsatz.
1981 führte die WEG auf der Strecke den Zugbahnfunk ein.
Stadtbahn-Planungen und Niedergang
Im Dezember 1991 initiierten das Land Baden-Württemberg mit finanzieller Unterstützung aus dem Programm zur Verbesserung der Verkehrssituation in Baden-Württemberg und der Stadt- und Landkreis Heilbronn mit der Neuaufstellung des Gesamtverkehrsplans das ÖPNV-Leitbild 1992/1993. Im Rahmen dieser Studie wurde das Potential einer verbesserten ÖPNV-Infrastruktur im Heilbronner Raum mittels erweiterter Bus- oder Bahnangebote und der Option eines Stadtbahn-Betriebs in Anlehnung an das Karlsruher Modell untersucht. Der im Landkreis Heilbronn gelegene Abschnitt Bad Friedrichshall-Jagstfeld–Kochersteinsfeld fand dabei Berücksichtigung. Ergebnis der am 25. September 1992 vorgestellten Studie war die Empfehlung, dieses Teilstück der Unteren Kochertalbahn in das Netz der durch die Studie geborenen Stadtbahn Heilbronn aufzunehmen. Die geschätzten Investitionen alleine für den Abschnitt Bad Friedrichshall-Jagstfeld–Kochersteinsfeld beliefen sich auf 35,4 Millionen Deutsche Mark (DM).
Spätestens gegen Ende der 1980er Jahre entwickelte sich der Betrieb auf der Unteren Kochertalbahn durch das rückläufige Verkehrsaufkommen mit jährlichen Verlusten von 60.000 bis 240.000 DM stark defizitär. Darüber hinaus kündigte die Südzucker AG an, die Rübentransporte zur Zuckerfabrik in Offenau, die den größten Teil des Güterverkehrs ausmachten, zum Ende des Jahres 1993 einzustellen. Die WEG nahm dies zum Anlass, beim baden-württembergischen Verkehrsministerium um die Entbindung von der Betriebspflicht zum 31. Dezember 1992 zu ersuchen. Sie stellte die Planungen den betroffenen Kommunen am 17. Juni 1992 vor. Diese lehnten das Vorhaben ab und forderten zumindest einen Weiterbetrieb bis zur Einstellung des Rübenverkehrs sowie eine anschließende Konservierung der Strecke bis Kochersteinsfeld, um den späteren Stadtbahn-Betrieb zu ermöglichen.
Da ab 1993 ein zusätzliches Güteraufkommen in Höhe von 100.000 Tonnen pro Jahr durch den Transport von Erdaushub in Aussicht schien und Pläne für ein Güterstammgleis in Neuenstadt aufkamen, sah die WEG für 1993 vorerst von der Einstellung ab. Der letzte reguläre Personenzug befuhr die Strecke am 28. Februar 1993, noch bevor das baden-württembergische Verkehrsministerium am 1. April 1993 die Genehmigung zur dauerhaften Einstellung des Personenverkehrs und zur vorübergehenden Entbindung von der Betriebspflicht im Güterverkehr erteilte. Der letzte Museumszug verkehrte am 10. Oktober 1993. Mit dem Ende der Rübenkampagne 1993 befuhr zum letzten Mal ein Güterzug die Bahn zwischen Bad Friedrichshall-Jagstfeld und Ohrnberg. Letzter offizieller Betriebstag war der 27. Dezember 1993. Danach ruhte der Verkehr, und die Strecke verwaiste. Die Bahnübergänge wurden sukzessive asphaltiert. Der Abschnitt Kochersteinsfeld–Ohrnberg wurde anschließend stillgelegt und durch den Hohenlohekreis in einen Radweg umgebaut, der Teil des Kocher-Jagst-Radwegs ist.
Erst sieben Jahre später änderte sich die Situation für die Bahn: Im fortgeschriebenen, 2000 veröffentlichten ÖPNV-Leitbild 1999/2000 wurde im Auftrag von Stadt- und Landkreis Heilbronn erneut die Wirtschaftlichkeit des Stadtbahn-Betriebs untersucht. Da das ursprünglich angenommene Fahrgast-Potential für nicht realistisch befunden wurde, empfahl die Studie, das Vorhaben einer Stadtbahn im unteren Kochertal nicht weiter zu verfolgen. Weitere als ungünstig identifizierte Faktoren waren hohe Investitionen bei gleichzeitigen betrieblichen Nachteilen durch das notwendige Kopfmachen in Bad Friedrichshall-Jagstfeld und die kürzere Fahrzeit von Schnellbussen zwischen Heilbronn und Neuenstadt. Daher beschloss der Kreistag des Landkreises Heilbronn in seiner Sitzung vom 22. Juli 2002, auf die standardisierte Bewertung zu verzichten und die Strecke Bad Friedrichshall-Jagstfeld–Kochersteinsfeld nicht in das Zielkonzept 2010 für die Heilbronner Stadtbahn aufzunehmen. Die Stadt Neuenstadt nahm dies zum Anlass, die günstig gelegene Bahntrasse für eine Ortsumgehung zu nutzen.
Die WEG schrieb daraufhin die Strecke entsprechend § 11 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes zur Übernahme aus und beantragte – nachdem sich bis zum 27. Dezember 2002 kein Interessent fand – die Entwidmung, die zum 21. Juni 2003 erteilt wurde. Nach langen Verhandlungen übernahmen die Anliegergemeinden die Trasse, nachdem die WEG Anfang 2006 alle verbliebenen Gleisanlagen demontiert hatte. Ende 2007 war die Neuenstädter Nordumgehung fertig gestellt. Die verbliebene Trasse wurde anschließend ebenfalls als Teil des Kocher-Jagst-Radwegs ausgebaut, die offizielle Eröffnung fand am 13. Juni 2009 statt. Die Kosten für den 19 km langen Abschnitt beliefen sich in Summe auf 3,7 Mio. € und wurden vom Land Baden-Württemberg, dem Landkreis Heilbronn und den Anliegergemeinden getragen. Wesentlicher Kostenfaktor war der Abriss und Neubau der Hagenbacher Kocherbrücke, der mit 1,1 Mio. € zu Buche schlug, nachdem sich eine Sanierung als zu teuer erwiesen hatte.
Betrieb
Der Sitz der Betriebsleitung für die gesamte Strecke befand sich im Bahnhof Neuenstadt. Ohrnberg war seit der Verlängerung der Heimatbahnhof für alle Fahrzeuge, und der zuvor genutzte Lokschuppen in Neuenstadt konnte aufgegeben werden. Eine Werkstatt in Ohrnberg ermöglichte kleinere Reparaturen. Am Ende der langgezogenen Gleisanlagen gab es einen zweiständigen Lokschuppen und einen älteren einständigen Schuppen. Räume im Erdgeschoss des Empfangsgebäudes dienten zuletzt als Diensträume. In Bad Friedrichshall-Jagstfeld standen für die Strecke nach Ohrnberg das Personal und die Warteräume der Staatsbahn zur Verfügung.
Fahrzeuge
Dampflokomotiven
Die WEG nahm die Strecke 1907 zunächst mit zwei fabrikneuen Vierkuppler-Tenderlokomotiven in Betrieb. Die Maschinen wurden von der Maschinenbauanstalt Humboldt in Köln als Nassdampf-Verbundtriebwerk beschafft und trugen die WEG-internen Nummern 11 und 12. Lok 12 war bis 1959 durchgängig in Ohrnberg stationiert und wurde nach ihrem Betriebsende vor Ort verschrottet. Lok 11 kam 1933 auf die WEG-Strecke Amstetten–Gerstetten und später zur Vaihinger Stadtbahn.
Die WEG-Loks 14 und 15, beide Vierkuppler mit Nassdampf-Verbundtriebwerk, ersetzten die Lok 11. Sie wurden 1908 von Borsig für die Kleinbahn Bremen–Thedinghausen (BTh) gebaut und 1914 von der WEG erworben, die sie zunächst auf der Bahnstrecke Nürtingen–Neuffen einsetzte. Bis zu ihrer Ausmusterung (1956 beziehungsweise 1960) verblieben die beiden Loks auf der unteren Kochertalbahn und wurden danach in Ohrnberg verschrottet.
Zeitweise setzte die WEG auf dieser Strecke weitere gebraucht beschaffte Einzelmaschinen ein:
Lok 16 war ein Dreikuppler mit Nassdampf-Zwillingstriebwerk und wurde 1911 von der Hohenzollern AG für die Kleinbahn Kaldenkirchen–Brüggen gebaut. 1922 kam sie zur WEG, zunächst auf die Strecke Nürtingen–Neuffen, später auch nach Ohrnberg.
Lok 19 war ein Vierkuppler mit Nassdampf-Verbundtriebwerk. Sie war 1906 von Borsig für die Eberswalde-Schöpfurther Eisenbahn gebaut worden und kam 1926 zur WEG, außer auf der Unteren Kochertalbahn war sie auch zwischen Nürtingen und Neuffen im Einsatz.
1932 war kurzzeitig die Lok 20 im Einsatz: Der Nassdampf-Vierkuppler war 1914 von Hanomag für eine Zuckerfabrik in Kapstadt gebaut, aber wegen des Ersten Weltkriegs nicht mehr ausgeliefert worden. Danach kam sie auf der Flensburger Hafenbahn zum Einsatz, bis sie 1932 von der WEG übernommen wurde. Wegen ihrer zu geringen Dampfproduktion war sie für den Einsatz auf der langen Strecke zwischen Bad Friedrichshall-Jagstfeld und Ohrnberg ungeeignet und kam danach als Ersatzlok auf verschiedene WEG-Strecken.
Triebwagen
Die dampffreie Ära begann am 14. Februar 1956 mit dem neu von der Waggonfabrik Fuchs beschafften Triebwagen T 06. Er hatte die Achsfolge Bo und bot Sitzplätze für 42 Personen. Er war mit Puffern und Schraubenkupplungen ausgestattet und konnte damit als Schlepptriebwagen auch Güterzüge befördern. Eingebaut waren zwei Motoren vom Typ Büssing U11D mit je 210 PS. Von 1956 bis 1979 wickelte er den gesamten Verkehr ab. Danach gelangte er auf die Strecke Nürtingen–Neuffen und ist heute noch auf der Museumsbahn Amstetten–Gerstetten im Einsatz.
Am 3. Oktober 1979 lösten die beiden Triebwagen T 23 und T 24, die zwischen Nürtingen und Neuffen nicht mehr benötigt wurden, den T 06 ab. Nach der Einstellung des Betriebs zwischen Bad Friedrichshall-Jagstfeld und Ohrnberg wurden sie zunächst nach Neuffen überführt und sind heute bei der Westerwaldbahn GmbH im Einsatz.
Wagen
Für den Personenverkehr standen anfangs drei Wagen zur Verfügung, darüber hinaus gab es bis zur Einstellung der Postbeförderung 1958 einen kombinierten Post- und Gepäckwagen. Mit der Verlängerung nach Ohrnberg vergrößerte sich der Bestand auf fünf Personenwagen, und es konnten zwei Züge gebildet werden. Mangels Bedarfs durch die Abwicklung des Personenverkehrs mit Dieseltriebwagen sank der Bestand bis Ende der 1960er Jahre sukzessive auf drei und wurde dann ganz abgebaut. 1965 kam der Beiwagen VB 122 von der WEG-Strecke Albstadt-Ebingen–Onstmettingen zur Verstärkung des VT 06 nach Ohrnberg. Der Wagen entstand 1956 bei Auwärter aus dem Fahrgestell eines alten Personenwagens. Mit dem Tausch von T 06 gegen T 23 und 24 kam der VB 122 nach Neuffen und der 1958 aus einem Personenwagen-Fahrgestell von 1908 umgebaute Beiwagen VB 204 von Neuffen nach Ohrnberg. Damit umfasste der Fahrzeugpark der Unteren Kochertalbahn von 1980 bis zur Betriebseinstellung 1993 ständig die Diesel-Triebwagen T 23 und 24 sowie den Beiwagen VB 204.
In der Zeit zwischen den Weltkriegen gab es für den Güterverkehr drei gedeckte und fünf offene Güterwagen. Bis auf eine Ausnahme waren diese Wagen bei der DB eingestellt und konnten daher auch außerhalb der WEG-Strecke eingesetzt werden.
Personenverkehr
Das Personenzug-Angebot umfasste nach der Eröffnung der Gesamtstrecke werktags vier und sonntags fünf Zugpaare. Mittwochs verkehrte ein zusätzliches Zugpaar zwischen Jagstfeld und Neuenstadt. Die Fahrzeit für die 11,9 Kilometer betrug 62 bis 72 Minuten. Dieses Zugangebot hielt sich konstant bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. 1938 benötigte ein Personenzug für die gesamte Strecke nach Ohrnberg 56 Minuten. Ab 1950 umfasste das Zugangebot nur noch drei Zugpaare mit einer Reisezeit von 60 bis 70 Minuten. Zusätzlich gab es ein Zugpaar zwischen Bad Friedrichshall-Jagstfeld und Kochersteinsfeld. Dieses Zugangebot blieb in den Folgejahren konstant. Mit der Umstellung des Betriebs auf Dieseltriebwagen konnte die Reisezeit auf 42 Minuten gesenkt werden. Ab 1970 bereicherten zusätzliche Schülerzüge das Fahrplanangebot. Erst 1983 hob die WEG den Betrieb an Wochenenden von Samstagmittag bis zum Montagmorgen auf, zu einem Zeitpunkt, an dem dies für die anderen WEG-Strecken bereits umgesetzt war. 1984 umfasste das Zugangebot nur noch ein Zugpaar in beide Richtungen, dazu einen Zug von Ohrnberg nach Bad Friedrichshall-Jagstfeld, ein GmP-Paar und einen GmP von Bad Friedrichshall-Jagstfeld nach Ohrnberg. Für den Schülerverkehr gab es ein Zugpaar und einen einzelnen Zug von Bad Friedrichshall-Jagstfeld nach Neuenstadt sowie ein Zugpaar von Bad Friedrichshall-Jagstfeld nach Kochersteinsfeld. Die Fahrzeit betrug 43 Minuten, mit einem GmP waren es 64 bis 91 Minuten. 1985 bot der Fahrplan noch ein zusätzliches Zugpaar, wurde danach aber kontinuierlich reduziert: 1989 gab es an Werktagen außerhalb des Schülerverkehrs zwei Zugpaare, ab 1990 nur noch eines in Form des GmP.
Die jährliche Zahl der Fahrgäste lag nach der Eröffnung bei rund 120.000. Diese Zahl erhöhte sich durch die Verlängerung der Strecke nach Ohrnberg 1913 kaum und stieg bis 1919 auf rund 350.000. Danach sank die Zahl ständig und erreichte 1935 mit 80.000 ein Minimum. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs kam es durch die zahlreichen Hamsterfahrten zum Fahrgast-Maximum mit 470.000 Personen. Durch den zunehmenden Individualverkehr und die seit 1949 konkurrierenden Buslinien sank das Fahrgastaufkommen wieder und erreichte 1966 seinen absoluten Tiefpunkt. Die Ausrichtung des Verkehrsangebots auf den Schülerverkehr zu den in den 1950er Jahren eingerichteten Mittelpunktschulen in Bad Friedrichshall, Oedheim und Neuenstadt konnte das Verkehrsaufkommen etwas beleben, wenn auch der Schülerverkehr wenig profitabel war.
Güterverkehr
Der Güterverkehr entlang des unteren Kochertals entwickelte sich in den Anfangsjahren zufriedenstellend und ohne besonderen Schwerpunkt. Im Güterverkehr wurden unter anderem die Glockengießerei und Feuerwehrgerätefabrik Bachert, die Unterland AG (heute: Hengstenberg) und das Gaswerk in Kochendorf und verschiedene Steinbrüche und Sägewerke beliefert, außerdem machte der Landhandel zuletzt einen Anteil von knapp 10 % aus; es gab Genossenschaftslager an den Bahnhöfen in Oedheim, Neuenstadt, Kochersteinsfeld und Möglingen. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten am Bahnhof Kochendorf Nord mit einem Hersteller von Büro- und Lagersystemen und einem Altöl-Verwertungs-Unternehmen zusätzliche Kunden gewonnen werden. 1962 und in den 1970er Jahren gab es Planungen für eine Erdölraffinerie zwischen Oedheim und Kochertürn, die ein Anschlussgleis erhalten hätte. Das Projekt scheiterte jedoch am Widerstand der Bevölkerung.
Im Stückgutverkehr wurde die gesamte Strecke bis Ohrnberg bedient, in den letzten Jahren mit mindestens einem Wagen täglich. In Neuenstadt befand sich für die Lagerung des Stückguts ein großer Schuppen. Die WEG bediente weitere Orte im Kochertal von Neuenstadt aus per Lkw; nach der Einstellung des Stückgutverkehrs im unteren Jagsttal durch die DB zum 31. Dezember 1979 übernahm die WEG per Lkw auch die Stückguttransporte dorthin. Nachdem die DB den Stückgutverkehr zum 31. Dezember 1989 vollständig auf die Straße verlagerte und damit der WEG keine Güterwagen mehr zustellte, bediente eine Spedition den Verkehr von Heilbronn aus per Lkw.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war der Transport von Zuckerrüben zu den Zuckerfabriken während der Kampagne im Herbst von größter Bedeutung. Ab den 1970er Jahren unterstützten genossenschaftlich beschaffte moderne Verladeanlagen den automatischen Umschlag der Rüben von Anhängern in die offenen Güterwagen. Feste Anlagen befanden sich in Oedheim, Kochertürn, Gochsen und Ohrnberg, eine bewegliche Anlage gab es in Kochersteinsfeld und zeitweise in Neuenstadt. Während der Kampagne wurden beispielsweise 1990 monatlich 600 bis 700 Güterwagen abgefertigt, außerhalb der Saison maximal 20. Diese Transporte machen zuletzt rund 85 % des gesamten Güterverkehrsaufkommens aus, so dass die Verlagerung des Rübenverkehrs auf die Straße Anfang der 1990er Jahre neben dem nicht konkurrenzfähigen Personenverkehrsangebot ausschlaggebend für den Niedergang der Bahnstrecke war.
Bedeutsame Kunden im Güterverkehr gab es 1993 abgesehen vom Rübenverkehr nicht mehr, nachdem die Feuerwehrgerätefabrik Bachert 1987 in Konkurs gegangen, die Altöl-Verwertung umgezogen war und Hengstenberg und die Sägewerke in Gochsen auf die Straße abgewandert waren.
Unfälle
1964 drehte der Süddeutsche Rundfunk den Film Gefährlich leben mit dem Stuntman Arnim Dahl. Eine Szene entstand auf der Unteren Kochertalbahn zwischen Oedheim und Bad Friedrichshall-Hagenbach auf Höhe der damaligen Merckle-Flugzeugwerke, dem heutigen Flugplatz am Hirschfeldpark. Dahl sollte vom fahrenden Zug aus über eine Strickleiter in einen über ihm fliegenden Hubschrauber klettern. Er bekam dabei die Leiter nicht zu fassen, stürzte die Böschung herab und musste schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert werden.
Verlauf
Die Untere Kochertalbahn nahm seit dem Neubau des Bahnhofs Bad Friedrichshall-Jagstfeld 1952 ihren Ausgang im Bahnhof der Deutschen Bundesbahn, zuvor hatte die WEG über einfache eigene Gleisanlagen und ein Verbindungsgleis für die Überstellung von Güterwagen verfügt. Ein eigenes Dienstgebäude hatte es damals nicht gegeben.
Hinter Jagstfeld verlief die Bahn durch den Kocherwald und erreichte den nördlich des Kochers liegenden Rand von Kochendorf am Bahnhof Kochendorf Nord, der über Gleisanschlüsse für verschiedene Industriebetriebe verfügte. Einziger mit Schranken gesicherter Bahnübergang war die anschließende Kreuzung der L 1096 Bad Friedrichshall–Züttlingen. Nach 2,5 Kilometern erreichte die Bahn hinter Hagenbach den Kocher, kürzte eine Schleife mittels der ersten von insgesamt drei Fachwerkbrücken über den Kocher ab und kam in Oedheim wieder an den Kocher heran. Um die Trasse zwischen Schloss und Fluss entlangzuführen, mussten der Trasse mehrere Gebäude weichen.
Der nun folgenden Schleife des weiten und nicht tief eingeschnittenen Tals bis Kochertürn folgte die Strecke und erreichte so Degmarn. Das dortige Empfangsgebäude wurde 1971 abgerissen, der Bahnhof wurde 1981 zu einem Haltepunkt herabgestuft. Der Bahnhof von Kochertürn lag gegenüber der Ortschaft und konnte über eine Brücke erreicht werden. Bei Neuenstadt West, an der Mündung der Brettach gelegen, musste die Bahntrasse durch umfangreiche Stützmauern zum Kocher abgesichert werden. Der folgende Bahnhof von Neuenstadt mit seinem großzügigen Empfangsgebäude befand sich unterhalb der Stadt nahe am Kocher.
Im Anschluss an die zweite Kocherbrücke unterfuhr die Bahn die Kochertalbrücke der A 81 und erreichte Gochsen. Die im Anschluss folgenden Bahnhöfe von Kochersteinsfeld und Möglingen lagen eng am Hang des Kochertals. Vor Ohrnberg wechselte die Strecke ein letztes Mal die Flussseite. In Ohrnberg, heute ein Stadtteil von Öhringen, befanden sich die Anlagen zur Wartung der Fahrzeuge. Im großen Empfangsgebäude standen Diensträume zur Verfügung.
Charakteristisch für die Untere Kochertalbahn waren zwischen Bad Friedrichshall-Jagstfeld und Neuenstadt die Bahnhofsgebäude in Fachwerk-Klinker-Bauweise mit Dienst- und Wartesaal sowie Güterschuppen. Die Bauten der Verlängerung bis Ohrnberg waren wesentlich einfacher gehalten. Die Gebäude in Kochendorf Nord und in Degmarn, sowie die Gebäude in Gochsen und in Möglingen waren jeweils baugleich.
Relikte
Die Trasse der Unteren Kochertalbahn blieb größtenteils erhalten und nimmt nun fast auf der gesamten Länge einen Fahrradweg auf. In Neuenstadt nutzt die Nord-Umgehungsstraße seit 2007 die Trasse. Der ehemalige Bahndamm zum Oedheimer Militärflugplatz kann noch an einigen Stellen entlang der Glückshalde ausgemacht werden.
Von den neun Bahnhofsgebäuden sind heute (Stand 2011) noch sieben erhalten. Das Oedheimer Gebäude ist noch bewohnt und befindet sich seit dem Rückbau der Strecke inmitten einer Brache. Über eine zukünftige Nutzung gibt es seitens der Gemeinde noch keine konkreten Pläne. Gleiches gilt für die momentan leer stehenden Bahnhöfe in Kochertürn und in Neuenstadt, wobei das denkmalgeschützte Empfangsgebäude in Neuenstadt noch bis 2007 die Betriebsleitung der WEG-KVG beherbergte. Das Empfangsgebäude in Gochsen ist anhand des Bahnhofsschildes noch als solches zu erkennen und dient heute als Vereinsheim.
Bemerkenswert ist das ehemalige Bahnhofsareal in Möglingen, das zu einem Dorfplatz umgestaltet wurde. Verschiedene Eisenbahn-Relikte wie ein Wagen, eine Bahnhofsuhr und das Stationsschild am früheren Bahnhofsgebäude weisen dort auf die ehemalige Bahn hin. Das Empfangsgebäude wird heute unter anderem als Wahllokal genutzt. Im früheren, nun denkmalgeschützte Bahnhofsareal in Ohrnberg befindet sich heute ein Laden- und Messebauunternehmen, wobei alte Eisenbahnwagen als Lagerräume Verwendung finden.
ÖPNV im Kochertal heute
Die Städte und Gemeinden an der ehemaligen Unteren Kochertalbahn besitzen, mit Ausnahme der Stadt Bad Friedrichshall, keine Anbindung mehr an das Schienennetz.
Durch die Zubringerbusse der Linie 625, die in den Heilbronner Nahverkehr integriert sind, erhalten die Stadt Neuenstadt am Kocher, ihre Stadtteile Stein am Kocher und Kochertürn, der Oedheimer Ortsteil Degmarn sowie Oedheim selbst, die Stadtteile Bad Friedrichshall-Ost und Bad Friedrichshall-Nord/Mitte alle 60 Minuten Zugang zum überregionalen Schienennahverkehr am Bad Friedrichshaller Hauptbahnhof. Diese Zubringerbusse wurden im Streckenabschnitt Bad Friedrichshall–Oedheim–Bad Friedrichshall durch die zusätzliche Linie 628 auf einen Halbstundentakt verdichtet.
Literatur
Weblinks
Strecke Bad Friedrichshall-Jagstfeld–Ohrnberg bei verkehrsrelikte.de
Fotos aus den 1980er Jahren
Seite des Fahrplans im Kursbuch von 1944
Fotodokumentation einer Streckenbegehung im April 2003
Fotodokumentation einer Streckenbegehung im Mai 2010 bei „Vergessene Bahnen“
Einzelnachweise
Bahnstrecke in Baden-Württemberg
Radweg auf ehemaliger Bahnstrecke in Baden-Württemberg
Verkehrsbauwerk im Hohenlohekreis
Verkehrsbauwerk im Landkreis Heilbronn
Kocher (Fluss) |
533176 | https://de.wikipedia.org/wiki/Hauptfriedhof%20%28Frankfurt%20am%20Main%29 | Hauptfriedhof (Frankfurt am Main) | Der Hauptfriedhof von Frankfurt am Main wurde 1828 eröffnet. Er liegt an der Eckenheimer Landstraße und bildet dort zusammen mit den beiden direkt angrenzenden jüdischen Friedhöfen einen der größten Friedhofkomplexe Deutschlands. Seine monumentalen Portalbauten und seine Gartenarchitektur, Grabdenkmäler aus über 180 Jahren sowie Grabstätten zahlreicher bedeutender Persönlichkeiten machen ihn zur Ansammlung von historischen, künstlerischen und menschlichen Spuren in Frankfurt am Main.
Geschichte
Seit Anfang des 16. Jahrhunderts wurden die meisten Toten der Stadt auf dem Peterskirchhof in der Neustadt beerdigt. Nach der Einführung der Reformation war der Peterskirchhof für die protestantischen Toten der Altstadt und der Neustadt reserviert; in Sachsenhausen gab es einen eigenen Friedhof. Der alte jüdische Friedhof gehörte zum Areal der Judengasse, des jüdischen Ghettos, während die wenigen katholischen Toten auf dem zum Dom gehörenden Kirchhof bestattet wurden.
Der Peterskirchhof wurde über 300 Jahre lang genutzt und in dieser Zeit mehrfach erweitert. Trotzdem reichte der Platz innerhalb der engen Mauern Frankfurts schon im 18. Jahrhundert nicht mehr aus. Der Friedhof war so stark überbelegt, dass Gräber häufig schon nach 10 bis 15 Jahren wieder belegt werden mussten. Die Situation verschärfte sich weiter, als ab 1812 auch die katholischen Toten auf dem Peterskirchhof beerdigt wurden. Die Zahl der Katholiken war inzwischen wieder soweit angestiegen, dass der winzige Domkirchhof geschlossen werden musste.
Die Stadt entschloss sich deshalb, einen neuen, großzügigen Friedhof vor den Toren der Stadt anzulegen. Die Pläne stießen jedoch auf Widerstand in der Bevölkerung. Insbesondere die nach wie vor einflussreichen Patrizierfamilien wollten nicht auf ihre großzügigen Familiengrabstätten auf dem Peterskirchhof verzichten. Auf dem geplanten neuen Friedhof sollten dagegen alle Toten, ohne Rücksicht auf ihren Stand, in Reihengräbern beigesetzt werden.
Unterstützung erhielten die Befürworter des neuen Friedhofs von den Ärzten der Stadt, die eindringlich vor den untragbar gewordenen hygienischen Verhältnissen auf dem alten Peterskirchhof warnten. 1821 bestimmte man schließlich ein Areal für den neuen Hauptfriedhof und richtete 1825 eine Kirch- und Friedhofs-Commission unter Leitung des Senators und Hessischen Geheimen Hofrats Johann Adam Beil ein, des späteren Direktors der Taunusbahn. Um den Widerstand der städtischen Oberschicht zu überwinden, gab man die Absicht auf, alle Toten gleichwertig behandeln zu müssen, und reservierte für die Familienbegräbnisse und Epitaphien großzügigen Raum entlang der Umfassungsmauern. Mit der Planung des Hauptfriedhofs wurden der Architekt Friedrich Rumpf (1795 bis 1867) und der Stadtgärtner Sebastian Rinz (1782 bis 1861) beauftragt. Rinz legte den Friedhof im Stil eines englischen Landschaftsparks auf einer rechteckigen Fläche von ca. sechs Hektar an, etwa der dreifachen Fläche des Peterskirchhofs. Die Ost-West-Ausdehnung betrug ca. 340 Meter, in Nord-Süd-Richtung ca. 200 Meter. Östlich des durch eine Mauer begrenzten Hauptfriedhofs schloss sich der zur gleichen Zeit errichtete jüdische Friedhof an (heute Alter jüdischer Friedhof). Im Westen des Hauptfriedhofs errichtete Rumpf ein klassizistisches Portal mit zwei Flügelbauten. Das Alte Portal ist über den Grundmauern eines römischen Gutshofs errichtet worden. Im nördlichen Teil war ursprünglich das Leichenhaus untergebracht. Neben einem Zimmer für den Leichenwärter gab es noch einen Raum zur Wiederbelebung. Im südlichen Teil waren neben einem Aussegnungsraum noch Büros für die Verwaltung des Friedhofs.
Am 25. Juni kündigte die Stadt die bevorstehende Öffnung des neuen Friedhofs an und gab bekannt, „daß nicht gezweifelt werde, löbliche Bürgerschaft werde sich der durch das Todtenhaus dargebotenen mannigfachen Vortheile, insonderheit möglichst vollkommener Sicherstellung vor der Gefahr lebendig begraben zu werden,…durch fleißige Benutzung derselben theilhaftig machen.“
Am 30. Juni 1828 fand die letzte Beerdigung auf dem alten Peterskirchhof statt und einen Tag später, am 1. Juli, wurde die aus Amsterdam stammende Maria Catherine Alewyn als erste auf dem neuen Hauptfriedhof beigesetzt. Sie war im Alter von 52 Jahren im Hotel zum Schwan im Steinweg verstorben. Ihre Grabstelle (Gewann D – An der Mauer 192) existiert heute nicht mehr, jedoch befindet sich an dieser Stelle ein Gedenkstein.
Historische Ereignisse auf dem Hauptfriedhof
In den 1870er und 1880er Jahren kam es in Frankfurt zu einer Reihe von Ausschreitungen, vor allem nach der Verabschiedung des Bismarckschen Sozialistengesetzes. Besonders der sogenannte Friedhofskrawall erregte seinerzeit die Gemüter. Am 22. Juli 1883 wurde der Sozialdemokrat Hugo Hiller auf dem Hauptfriedhof beerdigt. Eine Menge von über 200 Menschen, darunter Frauen und Kinder, gab ihm das letzte Geleit. Die Trauergemeinde wurde von einer Einheit der Schutzpolizei überwacht. Obwohl die Behörden Ansprachen und das Tragen roter Farben verboten hatten, setzte einer der Trauergäste zu einer Rede an. Der Polizeikommissar ließ daraufhin umgehend seine Mannschaft mit gezogenem Säbel gegen die Menge vorgehen und sie zerstreuen. Es gab über zwanzig Verletzte. Aufgrund der öffentlichen Empörung, die der Vorfall auslöste, wurde der unbeherrschte Polizeikommissar vom Dienst suspendiert.
Die Entwicklung des Hauptfriedhofs
Der Hauptfriedhof liegt in den Frankfurter Gemarkungen Nordend und Eckenheim zwischen Eckenheimer Landstraße im Westen, Marbachweg im Norden, Friedberger Landstraße und Gießener Straße im Osten und Rat-Beil-Straße im Süden. Er umfasst heute eine Fläche von über 70 Hektar, das ist mehr als zehnmal so groß wie der älteste Teil von 1828. Der Friedhof wurde in mehreren Abschnitten entsprechend dem Wachstum der Stadt im 19. und 20. Jahrhundert erweitert.
Frankfurt am Main hatte im Jahr 1828 etwa 45.000 Einwohner. Der erste Bauabschnitt, der sogenannte Allgemeine Begräbnisplatz, war zunächst nicht unterteilt. Etwa um 1840 wurde er in die vier Gewanne A, B, C und D gegliedert. Zwischen 1845 und 1891 wurden nacheinander nördlich der Gewanne A bis D auf einer Fläche von ca. 250 mal 600 Meter die Gewanne E bis K angelegt. Der Friedhof war damit auf ca. 18 Hektar erweitert. Während dieser Zeit war die Einwohnerzahl auf rund 180.000 gestiegen.
In den folgenden 15 Jahren bis 1905 erhöhte sich die Einwohnerzahl auf 400.000. Demzufolge musste der Friedhof weiter vergrößert werden: Zunächst wurden die Gewanne M bis N entlang der Friedberger Landstraße angelegt, 1907 bis 1912 folgten die Gewanne I bis XV. Der Hauptfriedhof erstreckte sich nunmehr auf einer Fläche von 47 Hektar zwischen Eckenheimer Landstraße, Rat-Beil-Straße, Friedberger Landstraße und Gießener Straße.
Am 4. Juli 1912 wurde nördlich vom Alten Portal an der Eckenheimer Landstraße der neue Portalbau mit der Trauerhalle und dem Krematorium eröffnet, ein monumentaler Gebäudekomplex in neoklassizistischen Formen mit einer Innendekoration im Jugendstil nach einem preisgekrönten Wettbewerbsentwurf der Berliner Architekten Heinrich Reinhardt und Georg Süßenguth. Die Innenausmalung schufen die Künstler Rudolf und Otto Linnemann aus Frankfurt. Im Zweiten Weltkrieg wurden Totenhalle, Gruftenhalle und Altes Portal zerstört.
1927/1928 wurden die Gewanne XVI – XX entlang der Gießener Straße angelegt bis zum Marbachweg. Die Friedhofsfläche stieg auf 57 Hektar. Die neuen Flächen wurden nach Entwürfen des städtischen Siedlungsamtes unter Leitung von Stadtrat Ernst May und des städtischen Gartenbaudirektors Max Bromme betont schlicht und sachlich gestaltet, im bewussten Gegensatz zu den älteren Gewannen.
Die letzte Erweiterung erfolgte 1952 bis 1957 mit den Gewannen XXI – XXXI zwischen Marbachweg und dem bereits 1928/1929 angelegten Neuen Jüdischen Friedhof. Heute umfasst der Hauptfriedhof eine Fläche von 70,1 Hektar. Die Ausdehnung beträgt ca. 1,4 Kilometer in Nord-Süd-Richtung und 0,9 Kilometer in Ost-West-Richtung.
2022 wurde der Hauptfriedhof um ca. 1 Hektar im Nordwesten verkleinert. Ein Geländestreifen, der sich bisher über die Gewanne XXVII, XXVIII und XXXI erstreckte, wurde dem benachbarten Neuen Jüdischen Friedhof zugeschlagen.
Benachbarte Jüdische Friedhöfe
Gleich neben dem Hauptfriedhof liegen der Alte jüdische Friedhof Rat-Beil-Straße und der Neue Jüdische Friedhof an der Eckenheimer Landstraße mit separaten Eingängen und eigener Verwaltung. Die 165 Meter lange Mauer des Hauptfriedhofs entlang der Eckenheimer Landstraße, zwischen Neuem Portal und Neuem Jüdischen Friedhof, wurde 1939 aus Trümmern zweier bei der sogenannten Reichskristallnacht am 9. November 1938 zerstörten Synagogen errichtet, der Hauptsynagoge und der Börneplatzsynagoge. Hieran erinnert heute eine Gedenktafel.
Gestaltung
Bei der Anlage des Friedhofs 1828 wurden ähnliche Grundsätze befolgt wie bei der Gestaltung zeitgenössischer Landschaftsgärten. Die Wege entlang des Friedhofsrandes sind geschwungen, als ob sie einer natürlichen Führung durch das Gelände folgen. Die vorhandene Vegetation wurde in die Neuanlage einbezogen. Ein Beispiel ist der nebenstehend abgebildete Baum, eine über 200 Jahre alte Buche im Gewann C. Ursprünglich sollte auch ein kleiner Teich angelegt werden, doch war das Gelände dafür ungeeignet.
Der größte Teil des Friedhofs blieb allerdings zunächst völlig unstrukturiert. Die hygienischen Vorstellungen der Zeit und die Erfahrungen des alten Peterskirchhofs ließen es geboten erscheinen, die vorhandene Fläche möglichst intensiv auszunutzen und die Luftzirkulation nicht zu behindern. Erst später wurde das Areal in unterschiedlich gestaltete Gewanne eingeteilt.
Waren die Wege im ältesten Bereich des Hauptfriedhofs noch relativ schmal, so änderte sich das in den später angelegten Gewannen. Hier gibt es regelrechte Alleen und großzügige Plätze. Ein wichtiges Gestaltungselement sind auch die zahlreichen Hecken. Etwa ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wurden zahlreiche hochwachsende Bäume angepflanzt, darunter Buchen, Eichen, Platanen, Kastanien und Ulmen, von denen einige das Ulmensterben des 20. Jahrhunderts überlebt haben.
Die nach 1927 angelegten Gewanne XVI bis XXXI sind entsprechend der Formensprache des Neuen Frankfurt minimalistisch gestaltet. Da das Gelände in Richtung Eckenheim leicht ansteigt, wurden die Gewanne XVI bis XX terrassenartig abgestuft.
Seit 2007 bietet das Grünflächenamt auf dem Friedhof einen kostenfreien Fahrdienst an. Bis zu drei gehschwache Besucher kann ein Elektrofahrzeug befördern, das von der Genossenschaft der Friedhofsgärtner finanziell gefördert wird. Ähnliche Fahrdienste haben sich bereits in Kassel, Karlsruhe und auf dem Bergfriedhof (Heidelberg) bewährt. Das Friedhofstaxi auf dem Hauptfriedhof Frankfurt verkehrt im November und Dezember täglich, in den übrigen Monaten nur montags bis freitags.
Altes Portal
Von 1826 bis 1828 wurde dieses wuchtige, im klassizistischen Stil erbaute Eingangsportal nach einem Plan des Architekten Friedrich Rumpf erbaut. Auf dem Giebel des Portals befinden sich seit 1829 zwei Engelsköpfe des Bildhauers Johann Nepomuk Zwerger. An den Seiten des auf dorischen Säulen errichteten Bauwerks waren Verwaltungsräume, ein Aussegnungsraum, eine kleine Leichenhalle, sowie ein für die damalige Zeit typischer Wiederbelebungsraum untergebracht – die Angst vor dem Scheintod war noch sehr groß. Das Alte Portal wurde nach seiner Zerstörung im Zweiten Weltkrieg bei den Luftangriffen auf Frankfurt am Main wiederaufgebaut und zuletzt 1977 und 2007 renoviert.
Gruftenhalle
Am damaligen Ostrand des Friedhofs, entlang der Grenze zum benachbarten jüdischen Friedhof, schuf Friedrich Rumpf 1828 die klassizistische Gruftenhalle in Form einer Galerie aus 55 Arkaden, die von Pfeilern mit nach außen vorgelagerten Pilastern getragen werden. Im Norden und Süden wird die Gruftenhalle jeweils durch einen Pavillon begrenzt, so dass insgesamt 57 Gruften entstanden. Die Arkaden sind im Innern durch runde Scheidbögen voneinander getrennt. Zu jeder Arkade gehört eine rundbogige Wandnische, die das jeweilige Grabmal oder die Grabtafel aufnimmt. Die unterirdischen Gruften sind mit einem Tonnengewölbe versehen und nach oben jeweils durch einen dreiteiligen Deckel verschlossen. Die gesamte Gruftenhalle ist weiß verputzt, lediglich der zweistufige Sockel besteht aus rotem Mainsandstein.
Die Gruftenhalle wurde im Zweiten Weltkrieg bei den Luftangriffen auf Frankfurt stark beschädigt, ein Teil der Arkaden zerstört. Nach dem Krieg wiederaufgebaut, wurde die zuletzt sehr unansehnlich gewordene und mehrfach durch Vandalismus beschädigte Anlage im Sommer 2014 vollständig renoviert.
Neues Portal
82 Jahre nach dem Bau des alten Eingangstors genügten die Räume nicht mehr der schnell gewachsenen Stadt. Ein neues Portal mit Trauerhalle, Kapelle, Krematorium und Leichenhalle wurde 1908 nach Plänen der Berliner Architekten Heinrich Reinhardt (1868 bis 1947) und Georg Süßenguth (1862 bis 1947) erbaut. Das Bauwerk weist eine gewisse Ähnlichkeit mit der Grabstätte Theoderichs des Großen in Ravenna auf.
Mehr als die Hälfte der Bestattungen auf dem Friedhof sind Feuerbestattungen. Die Verbrennungen finden heute überwiegend in privaten Krematorien in der Region statt. Das städtische Krematorium mit vier Verbrennungsöfen wurde im Dezember 2013 geschlossen, nachdem die Auslastung der auf eine Kapazität von 8000 Verbrennungen im Jahr ausgelegten Anlage immer weiter gesunken war. Frankfurt ist seitdem die einzige Großstadt in Deutschland ohne eigenes Krematorium.
Weitere Ein- und Ausgänge außer dem Alten und Neuen Portal befinden sich an folgenden Punkten:
Eckenheimer Landstraße, Versorgungsamt
Marbachweg, Sozialzentrum
Marbachweg / Gießener Straße
Friedberger Landstraße
Rat-Beil-Straße / Gruftenweg
Mausoleum Reichenbach-Lessonitz
Das Mausoleum Reichenbach-Lessonitz liegt auf einer Anhöhe im Gewann F. Der ganze Bau im byzantinischen Stil ist in rotem Mainsandstein ausgeführt. Eine oktogonale Kuppel erhebt sich über dem Gedenkraum mit quadratischem Grundriss, an den sich an drei Seiten schmale, geschlossene Nischen für die Sarkophage anschließen. An der vierten Seite steht die Vorhalle, die nur über die Rundfenster über der Eingangstür beleuchtet wird.
Das Mausoleum wurde 1845 bis 1847 errichtet durch den Architekten Friedrich Hessemer im Auftrag des Kurfürsten Wilhelm II. von Hessen (1777–1847) zum Gedenken an seine zweite Gattin, die Gräfin Emilie von Reichenbach-Lessonitz geb. Ortlepp (1791–1843); sie wurde jedoch erst 1896 hierhin umgebettet. Als Erster wurde 1861 ihr zweiter Sohn Carl-Gustav Graf von Reichenbach-Lessonitz (1818–1861) im Mausoleum beigesetzt.
Das Kruzifix im Innern stammt von dem Bildhauer Johann Nepomuk Zwerger, der Marmorsarkophag der Gräfin von dem Bildhauer Eduard Schmidt von der Launitz. Das Mausoleum ist der Öffentlichkeit nur im Rahmen spezieller Führungen zugänglich.
Mausoleum Gans
Das Mausoleum Gans steht am Ende des Lindenwegs im Gewann IV auf einer großen Freifläche. Es ist die größte Grabstätte auf dem Hauptfriedhof und wurde 1909 durch den Industriellen Friedrich Ludwig von Gans (1833–1920) erbaut. Der Entwurf stammt von dem Bildhauer Friedrich Christoph Hausmann (1860–1936) in Anlehnung an den Tempietto des Bramante auf dem Gelände der Kirche S. Pietro in Montorio in Rom. 1932 wurde das Mausoleum durch den Frankfurter Verein für Feuerbestattung übernommen. Es wird nach wie vor für die Beisetzung von Urnen genutzt und ist während der Öffnungszeiten des Friedhofs für die Öffentlichkeit zugänglich.
Weitere Gedenkstätten auf dem Hauptfriedhof
Ein Denkmal erinnert im Gewann E an die Gefallenen der Septemberunruhen vom 18. September 1848.
Auf der Grünfläche gegenüber dem Neuen Portal steht seit 1997 eine überlebensgroße Bronzefigur des Berliner Bildhauers Georg Kolbe. Die Statue des Adam ist eine Dauerleihgabe des Städel, in dessen Besitz sie sich seit 1921 befindet. Ursprünglich war die Figur für ein Mausoleum des Dresdner Fabrikanten Karl August Lingner entworfen worden.
Im Gewann VII befindet sich das Ehrenmal für die Toten des Ersten und Zweiten Weltkrieges. 1.625 deutsche Soldaten sowie 41 russische und serbische Kriegsgefangene, die in den Lazaretten der Stadt starben, fanden hier ihre letzte Ruhestätte. Im hinteren Teil des Gewanns stehen 3.109 Sandsteinkreuze zum Gedenken an die hier beigesetzten deutschen Soldaten und zivilen Bombenkriegsopfer des Zweiten Weltkrieges. Im südlich davon gelegenen Gewann I schließt sich eine Gedenkstätte für Opfer des Nationalsozialismus an.
Im Nordwesten des Friedhofs (Gewann XV) wurde eine Gemeinschaftsgrabstätte für sieben Besatzungsmitglieder errichtet, die beim Brand des Luftschiffs LZ 129 Hindenburg am 6. Mai 1937 in Lakehurst ums Leben kamen. Zu ihnen gehörte Ernst A. Lehmann, ein bekannter Pionier der Luftschifffahrt, militärischer und ziviler Luftschiffkapitän, der sich bei der Unglücksfahrt als Beobachter der Geschäftsführung der Deutschen Zeppelin-Reederei (DZR) an Bord befand.
Mit einem Kenotaph wird an den General der Infanterie Carl-Heinrich von Stülpnagel, ermordeter Widerstandskämpfer vom 20. Juli 1944, erinnert. Das Kenotaph ist Teil der Grabanlage für seinen Vater, den preußischen Generalleutnant a. D. und früheren Stadtkommandanten von Frankfurt am Main Hermann von Stülpnagel.
Nördlich der Eckenheimer Mauer im Gewann G wurde ein Denkmal für die Opfer eines Flugzeugabsturzes der Birgenair errichtet. Es trägt die Inschrift „Am 6. Februar 1996 stürzte auf dem Flug nach Deutschland vor der Küste der Dominikanischen Republik ein Flugzeug ins Meer. Bei diesem Unglück gab es keine Überlebenden und nur 73 Opfer konnten geborgen werden. Für 116 Menschen wurde das Meer zur letzten Ruhestätte.“
An der Eckenheimer Mauer im Gewann E wurde am 6. Juni 2002 die Gedenkstätte „Ein Hauch von Leben“ geweiht. Seit 1999 wurden auf einer vorher verwahrlosten Grabstätte bisher über 250 totgeborene Kinder anonym beigesetzt.
2008 übernahm die AIDS-Hilfe Frankfurt e. V. eine 1929 errichtete Grabstätte, die auf einem Hügel im alten Teil des Hauptfriedhofes zu finden ist, um sie nach und nach für bis zu 100 verstorbene HIV-Infizierte und Aidskranke als Urnengemeinschaftsgrab zu nutzen.
Persönlichkeiten, die hier ihre letzte Ruhe fanden
Vor allem in den älteren Teilen des Friedhofs ist so mancher bekannte Name zu entdecken:
Hier ruhen zahlreiche Frankfurter Berühmtheiten wie der Dichter Friedrich Stoltze und die Volksschauspielerin Liesel Christ, aber auch Schriftstellerinnen wie Dorothea Schlegel und Ricarda Huch, Goethes „Suleika“ Marianne von Willemer, die Philosophen Arthur Schopenhauer und Theodor W. Adorno sowie der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki.
Eines der meistbesuchten Gräber ist das von Pauline Schmidt. Sie war das Vorbild für die Figur des „Paulinchen“ in der „gar traurigen Geschichte mit den Streichhölzern“ aus dem Kinderbuch Der Struwwelpeter von Heinrich Hoffmann. Dessen letzte Ruhestätte, die Familiengrabstätte Hoffmann-Donner, befindet sich an der alten Friedhofsmauer.
Über 900 Grabstätten stehen unter Denkmalschutz. Sie liegen alle im alten Teil des Friedhofs in den Gewannen A bis IX und werden erhalten, auch wenn daran kein Nutzungsrecht mehr besteht, das in der Regel nach 20 Jahren ausläuft und auf höchstens 40 Jahre verlängert werden kann. Für über 70 dieser Gräber bestehen Patenschaften, um die Pflege der denkmalgeschützten Gräber in die Hände der Bürger zu legen. Der Pate verpflichtet sich, die historische Grabstätte zu restaurieren und, falls notwendig, wieder instand zu setzen; im Gegenzug erhält er dafür ein Nutzungsrecht für die betreffende Grabstelle.
Wenn die Stadt Frankfurt einer Grabstätte den Status als Ehrengrabstätte zuerkennt, übernimmt sie damit gleichzeitig die Verantwortung für Anlage und Unterhalt des Grabes. Anfang Dezember 2006 wurden einige historische Gräber, darunter die der Familien Bethmann, Grunelius und Jeanrenaud, durch Unbekannte verwüstet.
Kennzeichnung der Gräber
Es sind verschiedene Schildchen als Markierung an den Gräbern:
Die roten Schildchen kennzeichnen Ehrengräber
die blauen Schildchen kennzeichnen Gräber unter Denkmalschutz
die grauen Schildchen kennzeichnen Persönlichkeitsgräber
Lage der Gräber
Siehe auch
Liste der Gräber bekannter Persönlichkeiten auf dem Hauptfriedhof Frankfurt
Literatur
Weblinks
Hauptfriedhof Frankfurt (Seite der Stadt Frankfurt)
Hauptfriedhof Frankfurt (Seite von Harald Fester)
Einzelnachweise
Werkverzeichnis der Glasmalereiwerkstatt Linnemann von 1914.
Friedhof in Frankfurt am Main
Frankfurt-Nordend
Frankfurt-Eckenheim
Frankfurt |
537259 | https://de.wikipedia.org/wiki/Vertrauensfrage | Vertrauensfrage | Die Vertrauensfrage ist in vielen parlamentarischen Demokratien ein Instrument der Regierung zur Disziplinierung des Parlaments. Sie kann von einer Regierung dem Parlament gestellt werden, um festzustellen, ob es mit ihrer Haltung grundsätzlich noch übereinstimmt, und so die Abklärung gravierender Konflikte herbeiführen. Ein negatives Ergebnis führt häufig zum Rücktritt der Regierung oder zu Neuwahlen.
Deutschland: Bundesebene
In Deutschland spricht man von einer Vertrauensfrage im Sinne von Grundgesetz (GG), wenn der Bundeskanzler beim Bundestag den Antrag stellt, ihm das Vertrauen auszusprechen. Die Vertrauensfragen von Helmut Kohl 1982 und Gerhard Schröder 2005 nutzten den Spielraum der Verfassung in einer Weise, die von den Müttern und Vätern des Grundgesetzes so nicht vorgesehen war. Kohl und Schröder hatten jeweils die Mehrheit im Bundestag und stellten dennoch die Vertrauensfrage, um über eine Abstimmungsniederlage die Auflösung des Parlaments und Neuwahlen zu erreichen. Helmut Kohl wurde 1982 durch ein konstruktives Misstrauensvotum gegen Helmut Schmidt vom Bundestag zum Kanzler gewählt. Er stellte daraufhin die Vertrauensfrage und wurde nach den Neuwahlen 1983 erneut zum Kanzler gewählt. Gerhard Schröder stieß mit der Vertrauensfrage Neuwahlen 2005 an, seine Regierung wurde daraufhin aber von der Regierung Merkel abgelöst.
Der Unterschied zum konstruktiven Misstrauensvotum im Sinne des GG liegt darin, dass der Bundeskanzler selbst die Initiative ergreift und nicht das Parlament gegen ihn vorgeht. Er kann mit der Vertrauensfrage oder schon mit ihrer bloßen Androhung die ihn tragende Parlamentsmehrheit disziplinieren. Wird sie nicht positiv beantwortet, kann er dem Bundespräsidenten vorschlagen, den Bundestag aufzulösen.
Die Vertrauensfrage kann nicht beliebig zur Auflösung des Bundestages zum geeignet erscheinenden Zeitpunkt genutzt werden, vielmehr muss eine „echte“ Regierungskrise vorliegen. Das Bundesverfassungsgericht hat anlässlich einer Organklage 1983 dem Bundeskanzler und dem Bundespräsidenten in dieser Frage allerdings einen großen Beurteilungsspielraum zugebilligt. Diesen Spielraum hat das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung über die Auflösung des Bundestages im Jahr 2005 bestätigt.
Verfassungsrechtliche Grundlage
GG lautet in seiner seit dem 23. Mai 1949 unveränderten Fassung:
Artikel 68
(1) Findet ein Antrag des Bundeskanzlers, ihm das Vertrauen auszusprechen, nicht die Zustimmung der Mehrheit der Mitglieder des Bundestages, so kann der Bundespräsident auf Vorschlag des Bundeskanzlers binnen einundzwanzig Tagen den Bundestag auflösen. ²Das Recht zur Auflösung erlischt, sobald der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen anderen Bundeskanzler wählt.
(2) Zwischen dem Antrag und der Abstimmung müssen achtundvierzig Stunden liegen.
Abstimmungsart
Für die Abstimmung über die Vertrauensfrage des Bundeskanzlers ist die Abstimmungsart weder im Grundgesetz noch in der Geschäftsordnung des Bundestags (GOBT) geregelt. Abweichend von der Kanzlerwahl und der Abstimmung über das Misstrauensvotum, die beide nach der GOBT geheim sind, hat der Bundestag bei der Vertrauensfrage in der Praxis das Gewohnheitsrecht der Namentlichen Abstimmung geschaffen, also der deutlichsten Form der offenen Abstimmung. Das Nebeneinander von geheimer und namentlicher Abstimmung bei ein und demselben wählbaren Amt (Bundeskanzler) wurde in der staatsrechtlichen Fachliteratur als eine bemerkenswerte „Inkonsequenz“ bezeichnet. Diese ist zudem auffällig, da Misstrauensvotum und Vertrauensfrage sowohl im Grundgesetz (Art. 67 u. 68) als auch in der Geschäftsordnung des Bundestags (§ 97 u. 98) textlich in Folge erscheinen.
Entstehung
Die Weimarer Verfassung von 1919 (WRV) kannte weder eine Vertrauensfrage noch das konstruktive Misstrauensvotum. Vielmehr enthielt ihr Art. 54 WRV die Vorschrift, dass der Reichskanzler und die Reichsminister „zu ihrer Amtsführung des Vertrauens des Reichstags“ bedürfen. Sie mussten zurücktreten, wenn der Reichstag ihnen durch „ausdrücklichen Beschluss“ das Vertrauen entzog. Dieses sogenannte destruktive Misstrauensvotum ermöglichte es dem Reichstag, den Reichskanzler (oder einen Reichsminister) zur Amtsaufgabe zu zwingen, selbst wenn die das Misstrauen aussprechende Parlamentsmehrheit keine gemeinsame Politik verband. Der Reichstag besaß damit im Gegensatz zum Bundestag ein indirektes Mitspracherecht, was die Zusammensetzung der Reichsregierung betraf.
Das Problem des Systems lag darin, dass sich im Parlament rein negative Mehrheiten finden konnten, die zwar eine Regierung stürzten, aber keine neue ins Amt brachten. Dies wurde besonders virulent 1932, als die Reichskanzler Franz von Papen und Kurt von Schleicher keine Unterstützung oder Tolerierung der Parteien erwarten durften. Durch den Zusammentritt des Reichstags und die sofortige Rücktrittsforderung war die Regierung von Papen im November gestürzt worden, und von Schleicher musste dasselbe befürchten, als Ende Januar 1933 der Reichstag wieder tagen würde.
Die Regelungen der und GG, also des konstruktiven Misstrauensvotums und der Vertrauensfrage, stärken die Position des Regierungschefs und verringern die Möglichkeiten für politisch gegensätzliche Fraktionen, gemeinsam einen missliebigen Bundeskanzler aus dem Amt zu befördern. Gleichzeitig schwächt das Grundgesetz auch die Position des Bundespräsidenten zu Gunsten des Bundeskanzlers. Da die Bundesminister zu ihrer Amtsführung ausschließlich des Vertrauens des Bundeskanzlers bedürfen und weder vom Bundespräsidenten noch vom Bundestag ihre Ablösung durchgesetzt werden kann, ist der Bundeskanzler im politischen System der Bundesrepublik das zentrale politische Handlungsorgan.
Der Bundeskanzler besitzt somit eine im Gegensatz zum Reichskanzler massiv gestärkte Position. Dennoch bleibt er über die Möglichkeit der jederzeit möglichen Abwahl durch eine neu formierte Parlamentsmehrheit an das Parlament gebunden. Die Position des Bundespräsidenten ist hier weitaus schwächer als in Weimarer Zeiten, da der Reichspräsident den Reichskanzler und jeden seiner Minister jederzeit auch ohne Zustimmung des Parlaments entlassen konnte.
Verknüpfung der Vertrauensfrage mit einer Sachfrage
Der Bundeskanzler kann die Vertrauensfrage nach Abs. 1 GG auch mit einem Gesetzentwurf oder wie Gerhard Schröder 2001 mit einem sonstigen Sachantrag (Abstimmung über den Kriegseinsatz der Bundeswehr in Afghanistan) bzw. schlichtem Parlamentsbeschluss verbinden.
Notwendig ist dies von Verfassungs wegen nicht. Eine solche Verknüpfung hat dennoch zwei Funktionen:
Disziplinierungsfunktion: Die Regierung kann die sie stützenden Parlamentsfraktionen in einer wichtigen Sachkontroverse wieder hinter sich vereinen, indem sie durch ein solches Junktim klarstellt, dass sie eine bestimmte Sachposition zum unerlässlichen Kern ihrer Regierungsarbeit macht und nur so den Regierungsauftrag weiter wahrnehmen will.
Prozessuale Funktion: Im Sinne der genannten Grundsätze kann der Kanzler gegenüber anderen Verfassungsorganen (Bundespräsident und BVerfG) darlegen, dass er in einer Kernfrage seiner Regierungspolitik keine parlamentarische Unterstützung mehr findet und sich im Sinne ebendieses zentralen Regierungsprogramms handlungsunfähig sieht.
Frist
Die vorgeschriebene Frist von 48 Stunden dient dazu, jedem Abgeordneten einerseits die Teilnahme an dieser wichtigen Abstimmung zu ermöglichen und ihm andererseits die Zeit zu geben, sich die Tragweite seiner Entscheidung nochmals bewusst zu machen. So soll ähnlich wie bei der gleichen Frist zwischen Antrag und Abstimmung beim konstruktiven Misstrauensvotum verhindert werden, dass ein Abgeordneter seine Entscheidung durch situationsbedingte, temporäre Emotionen beeinflussen lässt.
Rechtsfolgen
Mit einer positiven Antwort auf die Vertrauensfrage signalisiert der Bundestag, dass er weiterhin Vertrauen in den Bundeskanzler hat. In diesem Fall treten keine Rechtsfolgen ein, ein eventuell gemäß GG vorgelegter Beschluss wird angenommen.
Bei jeder anderen Beantwortung der Vertrauensfrage hat der Bundeskanzler drei Möglichkeiten:
Er ist nach der negativen Beantwortung der Vertrauensfrage nicht gezwungen, weitere Schritte zu unternehmen. Er kann beispielsweise versuchen, als Bundeskanzler einer Minderheitsregierung weiterzuarbeiten. Ebenso kann er versuchen, durch Wechsel des Koalitionspartners oder durch Hinzunahme eines weiteren Partners eine neue Regierung mit einer tragfähigen Mehrheit zu bilden. Ferner kann er zurücktreten. Auch wenn die beiden letzten Möglichkeiten eine große verfassungsrechtliche Relevanz haben, so sind sie nicht von einer negativen Beantwortung der Vertrauensfrage abhängig, vielmehr stehen sie ihm zu jedem beliebigen Zeitpunkt offen.
Die zweite Möglichkeit des Bundeskanzlers ist, den Bundespräsidenten um die Auflösung des Bundestages zu bitten. Dem Bundespräsidenten werden in diesem Falle wichtige politische Rechte übertragen, die er nur in solchen Ausnahmesituationen ausüben kann. Er hat die Möglichkeit, dem Ersuchen des Bundeskanzlers nachzugeben oder das Ersuchen abzulehnen. Die Auflösung des Bundestags muss binnen einundzwanzig Tagen erfolgen. Das Ersuchen des Bundeskanzlers kann bis zur Entscheidung des Bundespräsidenten zurückgezogen werden. Sofern der Bundestag bereits einen neuen Bundeskanzler gewählt hat, ist die Auflösung des Bundestags unzulässig.
Die dritte Möglichkeit, die sich für den Bundeskanzler ergibt, ist die Beantragung des Gesetzgebungsnotstandes beim Bundespräsidenten. Um den Gesetzgebungsnotstand zu erklären, ist der Bundespräsident auf die Zustimmung eines vierten Verfassungsorgans, des Bundesrats, angewiesen. Zusätzliche Bedingung ist dabei, dass der Bundestag nicht aufgelöst sein darf.
In keinem Fall kann der Bundeskanzler selbstständig eine Entscheidung treffen, die in die Befugnisse anderer Verfassungsorgane als die der Bundesregierung eingreift.
Weitere Formalia
Die Vertrauensfrage ist verfassungsrechtlich ein Instrument, welches einzig dem Bundeskanzler zusteht. Weder kann ein Bundesminister die Vertrauensfrage stellen noch der stellvertretende Bundeskanzler für den Bundeskanzler.
Verfassungsrechtlich ebenfalls nicht verankert ist die Aufforderung des Bundestages an den Bundeskanzler, die Vertrauensfrage zu stellen. Eine solche Aufforderung, wie sie die SPD 1966 nach dem Zerfall der Regierung Erhard, aber noch vor Erhards Rücktritt dem Bundestag vorlegte, war rechtlich nicht bindend und damit verfassungsrechtlich unbeachtlich. Erhard kam diesem „Ersuchen“ tatsächlich nicht nach.
Politische Wirkung
Die starke Position des Bundeskanzlers im politischen System der Bundesrepublik hängt auch damit zusammen, dass es zu seinem Sturz de facto der Bildung einer neuen Koalition bedarf. Dies kann einerseits durch Zusammenarbeit von bisherigen Koalitionären mit (Teilen) der Opposition geschehen oder durch den Übertritt einzelner Koalitionsabgeordneter zur Opposition, wie dies beim konstruktiven Misstrauensvotum 1972 die Voraussetzung war.
Der Bundeskanzler kann mit dem Stellen der Vertrauensfrage bzw. sogar schon mit ihrer Androhung politische Abweichler in der ihn tragenden Koalition disziplinieren (vgl. Bundeskanzler Schmidt 1982 und Bundeskanzler Schröder 2001): Er stellt sie ultimativ vor die Frage, ob sie alles in allem doch noch bereit sind, seine Politik mitzutragen, oder aber ob sie – sofern der Bundespräsident im Sinne des Bundeskanzlers entscheidet – für den zumindest vorläufigen Bruch der Regierung und ihrer Mehrheit verantwortlich sein wollen. Sie müssen sich fragen, ob sie bei der im Falle der negativen Beantwortung der Vertrauensfrage drohenden Neuwahl des Bundestages Chancen haben, wiedergewählt zu werden, oder ob die Parteimitglieder, die sie wieder nominieren müssen, beziehungsweise die Wähler ihr Verhalten als „Verrat“ an der Regierungsmacht betrachten und sie übergehen werden. Auch die Möglichkeit, dass ihre Partei bei einer Neuwahl die Regierungsgewalt verliert, muss in die Überlegungen einbezogen werden.
Besondere Brisanz erhält die Vertrauensfrage, wenn sie mit einer Sachentscheidung (Gesetzentwurf oder einem anderen Sachantrag) verbunden ist: Eventuelle Abweichler müssen abwägen, ob sie faktisch die Gesamtpolitik des Bundeskanzlers ablehnen und Neuwahlen oder die Ausrufung des Gesetzgebungsnotstandes und damit die befristete Entmachtung des Bundestages auslösen wollen oder ob sie in Anbetracht dieser Alternativen bereit sind, eine aus ihrer Sicht ablehnungswürdige Sache doch mitzutragen.
Im Vorfeld der ersten tatsächlichen Verbindung der Vertrauensfrage mit einem Sachantrag im November 2001 wurde von publizistischer Seite bezweifelt, dass diese Art der Druckausübung auf Abgeordnete (politisch) zulässig sei. Auf diese Weise würden zwei nicht unmittelbar miteinander zusammenhängende Entscheidungen verknüpft; es entstünde ein Dilemma für diejenigen Abgeordneten, die auf diese Fragen verschiedene Antworten geben wollten. Dem wurde entgegnet, dass zumindest die Verknüpfung der Vertrauensfrage mit einem Gesetzentwurf im Grundgesetz ausdrücklich vorgesehen sei und dass eine Verknüpfung mit einem Sachantrag dann erst recht zulässig sei; der auf die Abgeordneten ausgeübte Druck sei von den Verfassern des Grundgesetzes so gewollt.
Geschichte
1966: Vertrauensfrage-Ersuchen
Die Vertrauensfrage nach GG kam zum ersten Mal 1966 auf eine ungewöhnliche Weise in den Bundestag. Nachdem die Koalition von CDU/CSU und FDP unter Bundeskanzler Ludwig Erhard zusammengebrochen war, setzte die SPD ein „Vertrauensfrage-Ersuchen“ auf die Tagesordnung, mit Zustimmung der FDP im Ältestenrat. Das „Ersuchen“ am 8. November 1966 wurde sogar angenommen, mit 255 zu 246 Stimmen.
Bundeskanzler Erhard war nicht dazu verpflichtet, nach dem „Ersuchen“ tatsächlich die Vertrauensfrage zu stellen, was er empört auch nicht tat. Aber die SPD hatte ihr Ziel erreicht: Bei einem konstruktiven Misstrauensvotum hätte sie mit der FDP eine Regierung bilden und einen konkreten Kanzlerkandidaten wählen müssen. Dazu waren SPD und FDP noch nicht bereit, auch angesichts ihrer schwachen Mehrheit im Bundestag. Doch durch das „Vertrauensfrage-Ersuchen“ wurde überdeutlich demonstriert, dass Erhard endgültig die Zustimmung der FDP verloren hatte und diese auch keine Minderheitsregierung Erhards tolerieren würde. Am 1. Dezember kam es zur Großen Koalition von CDU/CSU und SPD unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger.
An diesen Vorfall schloss sich die Diskussion an, ob so ein „Ersuchen“ verfassungskonform sei. Helmuth F. Liesegang bejahte dies im Grundgesetzkommentar von Münchs, denn die parlamentarische Regierungskontrolle habe Vorrang, und der Wortlaut des Grundgesetzes schlösse nicht aus, dass der Antrag nicht der Initiative des Kanzlers entspringt. Allerdings ist in der Folgezeit nie wieder ein „Vertrauensfrage-Ersuchen“ gestellt worden.
1972: Willy Brandt
1969 war Willy Brandt mit einer SPD-FDP-Koalition Bundeskanzler geworden. Im Streit um die Ostverträge waren Abgeordnete von SPD und FDP zur CDU/CSU-Opposition übergetreten. Als die Opposition 1972 glaubte, genügend Unterstützung für ein konstruktives Misstrauensvotum zu haben, erhielt sie zwei Stimmen weniger als benötigt. Andererseits hatte die Regierung keine Mehrheit für den Haushaltsplan. Da eine Selbstauflösung des Bundestages verfassungsrechtlich nicht vorgesehen ist, stellte Brandt am 20. September 1972 die Vertrauensfrage.
In der Abstimmung am 22. September 1972 wurde Brandt das Vertrauen nicht ausgesprochen. Die Mitglieder der Bundesregierung hatten an der Abstimmung nicht teilgenommen, die Niederlage wurde also bewusst herbeigeführt, es handelte sich um eine „unechte Vertrauensfrage“. Allerdings hätte der Antrag auch bei Teilnahme aller Mitglieder des Bundestags nicht die notwendige Mehrheit (249 Stimmen) gefunden. Die Situation entsprach recht genau derjenigen, die vom Bundesverfassungsgericht zehneinhalb Jahre später dargestellt wurde: Brandt konnte sich seiner Mehrheit nicht mehr sicher sein. Es hatte vorher eine Niederlage bei der Verabschiedung des Haushaltes gegeben. Das Fernbleiben der Bundesminister bei der Vertrauensfrage war nur als Sicherstellung der Abstimmungsniederlage zu verstehen. Bereits einen Tag später, am 22. September 1972, löste Bundespräsident Gustav Heinemann den Bundestag auf. Die folgende Bundestagswahl am 19. November 1972 bestätigte Brandts Koalition aus SPD und FDP deutlich.
1982: Helmut Schmidt
Nachdem es in der seit 1969 regierenden Koalition aus SPD und FDP große Spannungen über den Bundeshaushalt 1982 gab, entschied sich Bundeskanzler Helmut Schmidt am 3. Februar 1982, die Vertrauensfrage zu stellen. Ihren Kristallisationspunkt fanden die Diskussion in der Sozialpolitik, und besonders innerhalb der SPD-Fraktion herrschten Diskussionen über den NATO-Doppelbeschluss vor.
In der Abstimmung am 5. Februar 1982 erhielt Schmidt ein positives Vertrauensvotum vom Parlament. Dennoch verschärften sich in der Folgezeit die innerparteilichen Streitigkeiten und auch die Unterschiede zur FDP. Trotz einer Kabinettsumbildung führte der Konflikt über den Bundeshaushalt 1983 schließlich zum Bruch der Koalition: Am 17. September 1982 erklärten die der FDP angehörenden Bundesminister ihren Rücktritt, am 1. Oktober wurde Bundeskanzler Schmidt durch ein konstruktives Misstrauensvotum von CDU/CSU und FDP gestürzt und Helmut Kohl zum Bundeskanzler gewählt.
1982: Helmut Kohl
Helmut Kohl von der CDU hatte die FDP aus der Koalition mit der SPD herausgelöst und wurde am 1. Oktober 1982 mit den Stimmen von CDU/CSU und FDP zum Bundeskanzler gewählt. Eine Neuwahl des Bundestages sollte der neuen Koalition eine eigene Legitimation durch den Wähler geben. Bereits während der Koalitionsverhandlungen mit der FDP hatte Helmut Kohl den 6. März 1983 als Neuwahltermin in Aussicht gestellt.
Kohl hätte als Bundeskanzler zurücktreten können. Bei der anschließenden Kanzlerwahl ( GG) durch den Bundestag hätten die Koalitionsparteien darauf setzen können, dass kein Kanzler mit absoluter Mehrheit gewählt worden wäre. Dann hätte der Bundespräsident die Möglichkeit gehabt, den Bundestag aufzulösen. Doch dies wäre unsicher gewesen; außerdem macht im Wahlkampf mehr Eindruck, nicht nur als geschäftsführender Kanzler auftreten zu können. Über die Vertrauensfrage stimmte das Parlament am 17. Dezember 1982 ab. Obwohl erst am Tag zuvor der gemeinsame Bundeshaushalt für 1983 beschlossen worden war, sprach das Parlament dem Kanzler das Vertrauen nicht aus.
Nach heftigen Diskussionen über die Verfassungsmäßigkeit des Vorganges entschied sich der Bundespräsident Karl Carstens am 7. Januar 1983 dafür, die Auflösung des Bundestages anzuordnen und Neuwahlen für den 6. März 1983 auszuschreiben. Das im Zuge dieser Diskussion angerufene Bundesverfassungsgericht konkretisierte in der Entscheidung die oben erwähnten Grundsätze, entschied sich dennoch dagegen, die Anordnung des Bundespräsidenten für verfassungswidrig zu erklären. Bundespräsident Carstens hatte offen erklärt, er werde zurücktreten, wenn das Bundesverfassungsgericht die Parlamentsauflösung für verfassungswidrig erklären sollte. In der ebenfalls umstrittenen Urteilsbegründung führten die Richter des Bundesverfassungsgerichts aus, dass aufgrund der Absprache mit der FDP über die Herbeiführung einer baldigen Neuwahl Bundeskanzler Kohl tatsächlich nicht mehr auf das Vertrauen der FDP-Bundestagsabgeordneten zählen konnte und das Verhalten daher verfassungsgemäß gewesen sei.
Die Bundestagswahl vom 6. März 1983 konnte die CDU/CSU klar für sich entscheiden, die FDP blieb trotz innerparteilicher Auseinandersetzungen und schwerer Verluste Koalitionspartner.
2001: Gerhard Schröder
Nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 hatte Bundeskanzler Gerhard Schröder den Vereinigten Staaten noch am selben Tag die uneingeschränkte Solidarität Deutschlands zugesichert. Da die Ausbildung der Terroristen nach Angaben der USA maßgeblich im von den Taliban beherrschten Afghanistan stattgefunden hatte, forderte der UN-Sicherheitsrat die Auslieferung der Al-Qaida-Terroristen und autorisierte, nachdem die Taliban dieser Forderung nicht nachgekommen waren, militärische Zwangsmaßnahmen gegen das Regime. Diese fanden schließlich im November 2001 unter Führung der USA statt und führten zum Sturz der Taliban. Da auch die NATO den Bündnisfall festgestellt hatte, sollte sich die Bundesrepublik mit der Bundeswehr an der Operation Enduring Freedom beteiligen. Nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 1994 („AWACS I“) bedarf jeder Einsatz der Bundeswehr außerhalb des NATO-Gebietes der Zustimmung des Bundestages. Innerhalb der Koalition aus SPD und Bündnis 90/Die Grünen kündigten einige Abgeordnete an, ihre Zustimmung zu verweigern. Obwohl durch die Unterstützung von CDU/CSU und FDP eine breite parlamentarische Mehrheit des Bundestages für den Einsatz der Bundeswehr sicher gewesen wäre, entschied sich Bundeskanzler Schröder, am 16. November 2001 die Vertrauensfrage mit der Abstimmung über die deutsche Beteiligung am Krieg in Afghanistan zu verbinden (sogenannter verbundener Vertrauensantrag). In seiner Erklärung machte er deutlich, dass zwar einerseits eine breite parlamentarische Mehrheit wichtig sei und auch international wahrgenommen werde, er es jedoch als unerlässlich ansehe, dass er sich in einer so essentiellen politischen Entscheidung auf eine Mehrheit der ihn tragenden Koalition stützen müsse.
CDU/CSU und FDP lehnten es ab, dem Bundeskanzler das Vertrauen auszusprechen, und votierten daher gegen den verbundenen Antrag. Die Abgeordneten von SPD und Grünen stimmten mehrheitlich für den Antrag. Acht Grüne, die ursprünglich gegen den Einsatz der Bundeswehr stimmen wollten, teilten ihre Stimmen in vier Ja- und vier Nein-Stimmen auf. Damit wollten sie die Ambivalenz ihrer Stimmabgabe ausdrücken: Einerseits unterstützten sie die Gesamtpolitik der Koalition, andererseits waren sie gegen den Bundeswehreinsatz. Außerdem wäre wegen der Abwesenheit einiger CDU/CSU-Abgeordneter eine einfache Mehrheit für den Sachantrag ohnehin gesichert gewesen: Die acht Abgeordneten hätten bei gemeinsamer Ablehnung zwar die Bundesregierung gestürzt, den von ihnen abgelehnten Einsatz der Bundeswehr aber nicht verhindert. Aufgrund dieser Aufteilung erhielt der Antrag des Bundeskanzlers insgesamt 336 bei 334 benötigten Stimmen und 326 Gegenstimmen. Dem Bundeskanzler war damit knapp das Vertrauen ausgesprochen worden. Es entwickelte sich bei den Grünen eine heftige Diskussion innerhalb der Partei, die jedoch relativ schnell verebbte.
Im Vorfeld dieser Vertrauensfrage beschäftigte sich der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages mit dem Problem der gespaltenen Mehrheit: Während zur positiven Beantwortung der Vertrauensfrage eine absolute Mehrheit der Mitglieder des Bundestages vonnöten ist, genügt zur Annahme einer Sachentscheidung bereits die einfache Mehrheit. Es hätte also dazu kommen können, dass dem Bundeskanzler zwar das Vertrauen verweigert, gleichzeitig aber eine Sachentscheidung in seinem Sinne getroffen wird. Bundestagspräsident Thierse hat sich offenbar in Übereinstimmung mit dem wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages zugunsten dieser unterschiedlichen Zählung der Mehrheit entschieden.
2005: Gerhard Schröder
Nachdem am 22. Mai 2005 bei der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen 2005 die zu diesem Zeitpunkt letzte amtierende rot-grüne Koalition auf Landesebene abgewählt worden war, kündigte Bundeskanzler Gerhard Schröder noch am Wahlabend an, Neuwahlen anzustreben. Um die vorzeitige Auflösung des Bundestages und im Herbst 2005 vorgezogene Bundestagswahlen zu erreichen, wählte Schröder wie zuvor Helmut Kohl 1982 den Weg über die Vertrauensfrage. Am 27. Juni 2005 übermittelte der Bundeskanzler dem Bundestag seinen Antrag, ihm das Vertrauen auszusprechen.
Der Deutsche Bundestag befasste sich am 1. Juli 2005 in seiner 185. Sitzung als Tagesordnungspunkt 21 mit dem Antrag des Bundeskanzlers. In der Debatte begründete der Kanzler seinen Antrag mit mangelnder Handlungsfähigkeit seiner Regierung und dem SPD-internen Konflikt rund um die Reformagenda 2010. Er könne sich einer „stabilen Mehrheit des Bundestages“ nicht mehr sicher sein. Zur Frage der Verfassungsmäßigkeit seines Antrages bezog sich der Bundeskanzler in der Debatte auf die Vertrauensfrage, die Helmut Kohl im Jahre 1982 gestellt hatte. In der anschließenden namentlichen Abstimmung wurde dem Bundeskanzler das Vertrauen nicht ausgesprochen. Von den 595 Abgeordneten, die eine gültige Stimme abgegeben hatten, stimmten 151 mit „Ja“, 296 mit „Nein“, 148 enthielten sich. Damit hatte der Antrag des Bundeskanzlers die erforderliche Mehrheit von mindestens 301 Ja-Stimmen nicht erreicht.
Der Bundeskanzler schlug daraufhin am 13. Juli 2005 dem Bundespräsidenten die Auflösung des Bundestages gemäß GG vor. Hierzu übersandte der Bundeskanzler dem Bundespräsidenten ein Dossier, das seinen Vertrauensverlust im Bundestag bewies. In diesem Dossier begründete Bundeskanzler Schröder, warum der 15. Bundestag seines Erachtens frühzeitig vom Bundespräsidenten aufgelöst werden sollte.
Bundespräsident Horst Köhler löste am 21. Juli 2005 den 15. Deutschen Bundestag auf und ordnete Neuwahlen für den 18. September 2005 an. Seine Ermessensentscheidung für eine Auflösung des Bundestages begründete er damit, dass Deutschland angesichts der großen Herausforderungen, vor denen das Land stehe, Neuwahlen brauche. Er könne nicht erkennen, dass eine andere Einschätzung der Lage der des Bundeskanzlers eindeutig vorzuziehen sei. Der Bundeskanzler habe ihm dargelegt, dass er sich nicht mehr auf die stetige Unterstützung des Bundestages für seine Reformpolitik verlassen könne. Der Bundespräsident werde, anders als von Karl Carstens 1983 in vergleichbarer Situation angedroht, nicht zurücktreten, falls das Bundesverfassungsgericht seine Auflösungsentscheidung für verfassungswidrig erklären sollte.
Gegen die Auflösungsanordnung leiteten die Abgeordneten Jelena Hoffmann (SPD) und Werner Schulz (Bündnis 90/Die Grünen) am 1. August 2005 ein Organstreitverfahren vor dem Bundesverfassungsgericht gegen den Bundespräsidenten ein. Die Antragsteller hielten die von Bundeskanzler Schröder gestellte Vertrauensfrage für „unecht“, so dass die Voraussetzungen zur Auflösung des Bundestages ihrer Ansicht nach nicht gegeben seien. Sie befürchteten den Wandel zu einer Kanzlerdemokratie. Am 25. August 2005 verkündete das Bundesverfassungsgericht seine am 22. August 2005 mit 7 zu 1 Stimmen gefallene Entscheidung, dass die Auflösung des Bundestages mit dem Grundgesetz vereinbar sei. Die Anträge einiger Kleinparteien, die insbesondere die Zulassungsvoraussetzungen reduzieren wollten, waren bereits am 8. August 2005 zurückgewiesen worden. Das Bundesverfassungsgericht äußerte sich hier jedoch nicht inhaltlich, sondern wies die auf eine Änderung der Zulassungsmodalitäten gerichteten Anträge wegen fehlender Antragsberechtigung bzw. wegen Verfristung ab.
Deutschland: Bundesländer
Das Misstrauensvotum ist in nahezu allen Landesverfassungen verankert, nur Bayern kennt es nicht.
Demgegenüber ist die Vertrauensfrage als formales Instrument nicht so weit verbreitet: Brandenburg, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, das Saarland, Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und Thüringen haben sie im Verfassungstext erwähnt. Allen gemeinsam ist, dass die verfassungsrechtlichen Konsequenzen seitens des Ministerpräsidenten oder der Landesregierung enden, sobald der Landtag eine neue Regierung gewählt hat.
Brandenburg kennt ein ähnliches Verfahren wie das Grundgesetz: Binnen 20 Tagen nach der negativen Beantwortung kann sich der Landtag selbst auflösen, danach hat der Ministerpräsident weitere 20 Tage zur Auflösung.
Für Hamburg gilt, dass die Bürgerschaft sich binnen drei Monaten selbst auflösen kann oder nachträglich das Vertrauen aussprechen kann. Gibt es auch keine Neuwahl eines Senates, so kann der Senat innerhalb von zwei Wochen seinerseits die Bürgerschaft auflösen.
In Hessen endet die Regierung mit der negativen Beantwortung der Vertrauensfrage. Der Landtag wird nach 12 Tagen aufgelöst, wenn keine Neuwahl stattfindet. Der hessische Ministerpräsident Roland Koch stellte am 12. September 2000 im Zusammenhang mit der CDU-Spendenaffäre die Vertrauensfrage. In namentlicher, also nichtgeheimer Abstimmung erhielt er alle 56 Stimmen seiner Koalition aus CDU und FDP. Ein ähnliches Verfahren wie in Hessen gilt auch im Saarland; hier beträgt die Frist drei Monate.
In Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt kann das Parlament binnen zwei Wochen nach der negativen Beantwortung der Vertrauensfrage auf Antrag des Ministerpräsidenten vom Landtagspräsidenten aufgelöst werden, während in Schleswig-Holstein der Ministerpräsident dies selbst binnen zehn Tagen tun kann.
In Thüringen gilt der Landtag drei Wochen nach der negativen Beantwortung automatisch als aufgelöst, wenn bis dahin keine Neuwahl stattgefunden hat.
2009 in Schleswig-Holstein: Peter Harry Carstensen
Im Juli 2009 stellte der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Peter Harry Carstensen die Vertrauensfrage, über die am 23. Juli im Landtag abgestimmt wurde. Sein Ziel war es, durch ein absichtliches Verlieren der Vertrauensfrage Neuwahlen zeitgleich zur Bundestagswahl herbeizuführen. Der Ministerpräsident führte als Grund das verlorengegangene Vertrauen in den Koalitionspartner an.
Die Vertrauensfrage wurde mit 37 der 69 Stimmen der Abgeordneten erwartungsgemäß negativ beantwortet, sodass Neuwahlen zum schleswig-holsteinischen Landtag parallel zur Bundestagswahl am 27. September 2009 stattfinden konnten.
Europäische Staaten
Ein Misstrauensvotum zur Ablösung der Regierung ist in nahezu allen parlamentarischen Systemen üblich; Zypern als Präsidialsystem kennt es jedoch nicht.
Eine Vertrauensfrage ist nicht ganz so häufig; oft sind die Auswirkungen einer negativ beantworteten Vertrauensfrage identisch oder ähnlich mit den Auswirkungen eines erfolgreichen Misstrauensvotums, so zum Beispiel in Dänemark, Lettland, Polen, Portugal, der Slowakei, Spanien und Tschechien, wo in beiden Fällen der Rücktritt der Regierung zu erfolgen hat. Oft wird nicht genau unterschieden zwischen einer Vertrauensfrage und einem Misstrauensvotum: Es gibt nur eine gemeinsame Regelung, so in Österreich, wo die Versagung des Vertrauens ebenfalls den Rücktritt des betreffenden Bundesministers oder der gesamten Bundesregierung zur Folge hat ( Bundes-Verfassungsgesetz), oder in Schweden, wo es nur ein entsprechendes Misstrauensvotum gibt.
Initiale Vertrauensfrage: Ebenfalls üblich ist, dass eine neu gebildete Regierung in den Ländern, in denen sie vom Staatsoberhaupt ernannt und nicht vom Parlament gewählt wird, nach ihrer Ernennung die Vertrauensfrage stellt, so in Griechenland, in Italien oder in Polen. In Bulgarien gilt dies sogar in doppelter Hinsicht: Die Verfassung erfordert, dass zunächst der Premierminister sich einer Vertrauensabstimmung in der Nationalversammlung stellt, nach seiner Vereidigung stellt er sein Kabinett vor und die Minister müssen sich ebenfalls einer Vertrauensabstimmung unterziehen. Fallen sie durch – wie etwa 2005 geschehen –, ist die gesamte Regierung suspendiert und der Präsident der Republik muss einer anderen Partei den Regierungsbildungsauftrag erteilen.
In Finnland und Irland erfolgt das Amtsende der Regierung bei fehlendem Vertrauen des Parlaments; dieses muss dem Verfassungstext zufolge nicht unbedingt formal ausgedrückt worden sein. Insofern erscheint diese Regelung derjenigen der Verfassung des Freistaates Bayern ähnlich.
In Belgien gibt es eine Vertrauensfrage. Wird sie negativ beantwortet, so muss das Parlament binnen drei Tagen einen neuen Regierungschef wählen. Anderenfalls kann der König das Parlament auflösen. Das Misstrauensvotum muss entweder konstruktiv sein oder der König kann das Parlament auflösen.
In Frankreich gilt jede Regierungserklärung faktisch als Vertrauensfrage. Der Regierungschef kann hier die Vertrauensfrage mit einem Gesetzentwurf verbinden. Die Vertrauensfrage und auch der Gesetzentwurf gelten dann als angenommen, wenn nicht innerhalb der folgenden 24 Stunden ein Misstrauensantrag erfolgt.
In Slowenien folgt auf die negative Beantwortung der Vertrauensfrage entweder eine Neuwahl der Regierung oder die Auflösung des Parlamentes. Das Misstrauensvotum ist konstruktiv.
Literatur
Allgemein
(Politikwissenschaft, 133).
Karlheinz Niclauß: Echte und auflösungsorientierte Vertrauensfrage. Eine Replik . . in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Heft 3/2007, S. 667–668
1972
1982
2001
2005
Robert Chr. van Ooyen: Misstrauensvotum und Parlamentsauflösung. Prüfungsmaßstab für die Zulässigkeit „unechter“ Vertrauensfragen aus verfassungspolitologischer Sicht. In: Recht und Politik, 3/2005, S. 137–141.
Sven Leunig: Die vorzeitige Beendigung der Wahlperiode des Bundestages – Vorrecht des Parlaments oder Recht des Bundeskanzlers? in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 39. Jg. (2008), Heft 1, S. 157–163.
2008
2013
Weblinks
Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Vertrauensfrage (BVerfG, 2 BvE 1/83 vom 16. Februar 1983)
bpb.de: Vertrauensfrage
PDF-Datei des stenografischen Protokolls der Debatte am 16. November 2001 über die Vertrauensfrage von Bundeskanzler Schröder (445 kB)
PDF-Datei des stenografischen Protokolls der Debatte am 1. Juli 2005 über die Vertrauensfrage von Bundeskanzler Schröder (334 kB)
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 25. August 2005 zu Vertrauensfrage und Neuwahlen 2005
Einzelnachweise
Politik (Deutschland)
Verfassungsrecht
Kanzlerschaft der Bundesrepublik Deutschland
Politisches Instrument |
710117 | https://de.wikipedia.org/wiki/Zitzengallenfliege | Zitzengallenfliege | Die Zitzengallen- oder Pilzgallenfliege (Agathomyia wankowiczii) ist eine Fliegenart aus der Gattung Agathomyia in der Familie der Tummelfliegen (Platypezidae). Sie ist bekannt für die Bildung von zitzenförmigen Gallen an der Unterseite des Flachen Lackporlings (Ganoderma applanatum), eines Porenpilzes.
Merkmale
Die Zitzengallenfliegen sind Fliegen mit einer Körpergröße von 4,3 Millimetern bei den Männchen und 4,7 bis 5,0 Millimetern bei den Weibchen. Sie weisen einen Geschlechtsdimorphismus auf, wobei die Männchen etwas dunkler sind als die Weibchen und größere Komplexaugen haben, die sich zentral berühren.
Der Kopf ist mit einer schwarz-grauen Färbung deutlich dunkler als Brust und Hinterleib. Die Augen sind vor allem im unteren Drittel rötlich-braun, die Antennen gelb, wobei das dritte Antennensegment deutlich größer als die ersten beiden ist und eine fadenförmige Geißel trägt. Die Beborstung der Antenne ist wie die des gesamten Kopfes schwarz, gelb sind hingegen Labium und Palpus.
Der Brustabschnitt ist auf der Rückenseite leicht aufgewölbt und bildet einen Buckel. Er ist gelb-orange gefärbt, wobei die Seitenflächen (Pleuren) deutlich heller sind; die Beborstung ist braun bis schwarz.
Die Flügel sind durchsichtig gelb und von einer charakteristischen, braunen Flügeladerung durchzogen. Eine der Flügelzellen ist deutlich verdunkelt. Die Haltere ist orange. Auch die Beine sind gelb-orange mit einer hellgelben und braunen Fleckung. Der Oberschenkel (Femur) der Vorderbeine besitzt eine lange Borste, die ein Viertel der Länge des Unterschenkels (Tibia) beträgt. Diese sind bei allen Beinen leicht gebogen und ebenfalls mit mehreren deutlich erkennbaren Borsten ausgestattet. Männchen und Weibchen unterscheiden sich durch die Länge und Ausstattung dieser Borsten. Die Fußglieder (Tarsen) des letzten Beinpaares sind wie bei anderen Tummelfliegen verbreitert.
Die ersten sechs Segmente des Hinterleibs sind wie der Thorax gelb-orange, die Segmente vor den Genitalien deutlich dunkler bis schwarz. Die männlichen Genitalien sind braun-gelb und werden unter den Hinterleib eingeschlagen, die Weibchen besitzen einen gelben Eiablageapparat (Ovipositor).
Verbreitung und Lebensraum
Die Verbreitung der Zitzengallenfliege ist durch die Abhängigkeit vom Wirtspilz gekoppelt mit der Verbreitung des Flachen Lackporlings und beschränkt sich entsprechend auf Laub- und Laubmischwälder. Obwohl der Flache Lackporling auch in den gemäßigten Zonen Nordamerikas vorkommt, ist die Verbreitung der Fliegen auf Europa sowie Nordasien beschränkt. Dabei reicht das Verbreitungsgebiet von den Niederlanden über Deutschland, Dänemark, Schweden, Österreich und die Schweiz, Polen, Ungarn und Tschechien bis in den Balkan. Im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion sind Funde sowohl im europäischen Teil (Moskau, Sankt Petersburg) als auch im Amurgebiet in Asien belegt. Weil die Fliegen erst in den letzten 50 Jahren in den westlichen Niederlanden und in Belgien auftauchten wird eine Vergrößerung des Verbreitungsgebietes in den Westen angenommen. In Großbritannien gibt es bislang erst sechs Funde von Zitzengallen, eine natürliche Verbreitung liegt dort also wahrscheinlich nicht vor.
In Mittel- und Osteuropa ist die Zitzengallenfliege in Gebieten mit dem Flachen Lackporling relativ häufig anzutreffen, besonders zur Anflugzeit auf die Pilze und in deren direkter Umgebung. Aus anderen Gebieten liegen häufig nur Einzelfunde oder indirekte Nachweise durch Pilzgallen vor.
Larvalentwicklung
Die Larvalentwicklung der Fliegen erfolgt in tropfenförmigen Gallen an der Unterseite des Flachen Lackporlings, der mehrjährige Fruchtkörper ausbildet. Es hat sich dabei herausgestellt, dass sich die Larven dieser Art ausschließlich von diesem Pilz ernähren (Monophagie).
Der Anflug auf die Pilze und die Eiablage beginnen im Frühsommer und dauern etwa vier Wochen an. Die Weibchen finden die Pilze wahrscheinlich optisch vor allem durch die weißen Wülste aus frischem Myzel, die sich zu dieser Zeit bei den Pilzen ausbilden. Diese Theorie wird von der Beobachtung untermauert, dass der Anflug immer auf diese Wülste gerichtet ist und sich die Weibchen dort absetzen. Entsprechend werden nur solche Pilze ausgewählt, deren Myzelaufbau in die Zeit der Eireife bei den Fliegenweibchen fällt. Wie die Fliegen den Flachen Lackporling von anderen ähnlichen Arten mit gleichem Myzelaufbau unterscheiden, ist bislang nicht geklärt; wahrscheinlich spielen hier chemische Reize eine Rolle.
Die sich entwickelnden Larven sind asselförmig, breit abgeflacht und mit Borsten bestückt. Sie sind durch die sehr dünne Chitinhülle des Körpers weiß mit einer braunen Bänderung an den Segmentgrenzen, werden maximal fünf bis sechs Millimeter lang und ernähren sich vom Pilzmyzel der Gallenschicht. Die Entwicklungsdauer vom Ei bis zur Puppe beträgt zwischen 34 und 75 Tagen, wobei drei Larvenstadien ausgebildet werden. Eine synchrone Larvalentwicklung gibt es nicht, es gibt also immer Larven mehrerer Stadien im Pilz. Von Juli bis August lassen sich die Larven der ersten Jahresgeneration durch ein an der Unterseite der Gallen gebildetes Loch zu Boden fallen und vergraben sich dort zur Verpuppung, die zwischen vier und 17 Tage andauert. Allerdings bilden nur etwa 10 Prozent dieser Puppen eine neue Generation aus, der Rest verfällt in eine Dormanz und überwintert im Boden. Die zweite Larvengeneration entwickelt sich vom späten August bis in den Oktober.
Gallenbildung
Die Bildung von Gallen an Pilzen ist untypisch; in Mitteleuropa ist der Flache Lackporling die einzige dadurch charakterisierte Pilzart. Die Gallenbildung wird durch die Eiablage des Weibchens induziert, wobei die genaue Ursache bislang ungeklärt ist. Etwa eine Woche nach der Eiablage schließt der Pilz an der betroffenen Stelle seine Poren und bildet aus der Trama eine linsenförmige Galle aus. Die Röhrenschicht, die die Sporen des Pilzes enthält, wird an dieser Stelle vom Gallgewebe verschlossen, bei großflächiger Gallenbildung unterbleibt die Sporulation vollständig. Unterhalb der Galle entwickelt der Pilz eine harte Abschlussschicht aus Chitin, die etwa 0,2 Millimeter dick wird. Nachdem die Larven die Gallen im Herbst verlassen haben, werden die Gallenhohlräume wieder mit Pilzmaterial gefüllt, und unterhalb der Gallen bildet sich die nächste Röhrenschicht für das folgende Jahr. Auf diese Weise kann man in alten Konsolen mehrere Gallengenerationen nachweisen, eine Zählung ergab bis zu 600 Gallen an einem Pilz über mehrere Jahre.
Konkurrenten und Feinde
Pilzmyzelien stellen für eine ganze Reihe von Insektenarten die Hauptnahrungsquelle dar (Mycetophagie), entsprechend gibt es viele Nahrungskonkurrenten. Es handelt sich vor allem um die Larven und ausgewachsenen Individuen (Imagines) verschiedener Käfer, insbesondere der Schwammkäfer (Ciidae), vor allem Cis nitidus. Hinzu kommen die Larven von verschiedenen Mottenarten sowie weitere Fliegen- und Mückenlarven. Besonders die Konkurrenz mit den Larven der Echten Motte Morophagus boleti, die die Basis der Gallen befressen, führt nach den Erkenntnissen von Walter Rühm und G. Strübing häufig zum Absterben der Larven der Zitzengallenfliegen. Insgesamt wird der Konkurrenzdruck allerdings als eher gering beurteilt.
Räuber, die die Larven in den Gallen jagen, sind nicht bekannt. Es kann davon ausgegangen werden, dass verschiedene Insekten der Bodenfauna, etwa Laufkäfer (Carabidae) oder Ameisen (Formicidae) die Puppen im Boden fressen. Die adulten Fliegen werden wie andere Kleininsekten auch von größeren insektenfressenden Tieren wie Webspinnen, Käfern oder anderen Fliegen erbeutet. Auch spezifische Parasitoide sind nicht bekannt.
Taxonomie
Die erste Erwähnung der Zitzengallenfliege als Agathomyia wankowiczii stammt von Johann Andreas Schnabl aus dem Jahr 1884, der das Weibchen dieser Art als Callomyia wankowiczii beschrieb. 1903 wurde das Taxon von Mario Bezzi als Synonym der Art Agathomyia aurantiaca in die Gattung Agathomyia überstellt. 1904 beschrieb Leander Czerny das Männchen der Art und stellte die Eigenständigkeit gegenüber A. aurantiaca wieder her. Eine umfassende Beschreibung der Tiere erfolgte 1960 durch Willi Hennig. Der Zusammenhang zwischen den Zitzengallen am Flachen Lackporling und den Larven der Fliegen konnte allerdings erst 1962 durch H. Weidner und F. Schremmer unter Mitarbeit von Hennig aufgedeckt werden.
Literatur
W. Rühm, G. Strübing: Biozönotische Konnexe in baumbesiedelnden Pilzen: Der Lackporling Ganoderma applanatum (Pers., per S.F. Gray) und die monophage Zitzengallenfliege Agathomyia wankowiczi Schnabl, 1884. In: Angewandte Zoologie. 4/93, 1993.
I. Eisfelder, K. Herschel: Agathomyia wankowiczi Schnabl, die Zitzengallenfliege aus Ganoderma applanatum. In: Westfälische Pilzbriefe. Band 6, 1967, S. 5–10. (PDF)
P. J. Chandler: The Flat-footed Flies (Diptera: Opetiidae and Platypezidae) of Europe. (= Fauna Entomologica Scandinavica. 36). Leiden 2001, ISBN 90-04-12023-8.
H. Weidner, F. Schremmer: Zur Erforschungsgeschichte, zur Morphologie und Biologie der Larve von Agathomyia wankowieczi Schnabl, eine an Baumpilzen Gallen erzeugende Dipterenlarve. In: Ent. zool. Mus. Hamburg 1962 2, 1962, S. 355–366.
Weblinks
Fliegen
Wikipedia:Artikel mit Video
Gallbildner |
723860 | https://de.wikipedia.org/wiki/Leonhardskirche%20%28Frankfurt%20am%20Main%29 | Leonhardskirche (Frankfurt am Main) | Die Leonhardskirche, nach dem Hauptheiligen auch Sankt Leonhard, ist eine römisch-katholische Kirche in Frankfurt am Main. Sie wurde im Jahr 1219 als spätromanische Basilika errichtet und später gotisch umgebaut. Als einzige der neun Frankfurter Dotationskirchen blieb sie im Zweiten Weltkrieg nahezu unzerstört. Sie ist heute eine Filialkirche der Frankfurter Domgemeinde und dient der englischsprachigen katholischen Gemeinde als Pfarrkirche.
Die Leonhardskirche liegt in der Altstadt am nördlichen Mainufer, unweit des Eisernen Stegs, des Karmeliterklosters und des Römers.
Bedeutung
Sankt Leonhard hat für die Stadt Frankfurt eine besondere Bedeutung. Sie war nach dem Frankfurter Dom die zweite Stiftskirche der Stadt. In der Urkunde vom 15. August 1219, mit der der Stauferkönig Friedrich II. der Stadt das Grundstück schenkte, wird erstmals die Stadtgemeinde in ihrer Gesamtheit erwähnt und unter königlichen Schutz gestellt. Außerdem erhielten die Bürger das zu dieser Zeit sehr seltene Recht, den Priester zu bestimmen. Ihre erhaltenen spätromanischen Teile sind nach der im Kern karolingischen Justinuskirche im Stadtteil Höchst und der hochromanischen Saalhofkapelle die ältesten eines Kirchenbaus in Frankfurt.
Die Kirche hatte bis weit über das Mittelalter hinaus eine weitere wichtige Funktion als Zwischenstation und Pilgerkirche auf zwei bedeutenden Wallfahrtspfaden. Der eine war der besonders zur Zeit der Kreuzzüge und der Errichtung der Kirche wichtige Weg nach Jerusalem, der andere der historische Jakobsweg, ein Pilgerpfad, der über die Grabeskirche des Kirchenpatrones im französischen Saint-Léonard-de-Noblat nach Santiago de Compostela führt. Sichtbares Zeichen dieser Funktion ist das Tympanon des romanischen Pilgertores aus dem Jahr 1220.
Daran, dass die Leonhardskirche Station des Jakobsweges war, der seit 2010 auch wieder über Frankfurt führt, erinnert eine von der Frankfurter Künstlerin Franziska Lenz-Gerharz geschaffene Figurengruppe auf dem Leonhardskirchplatz vor dem nördlichen, mainabgewandten Hauptportal. Die drei Wanderer der lebensgroßen Bronzeplastik von 1990 sind am Emblem der Jakobsmuschel, das sie tragen, deutlich als Jakobspilger erkennbar.
Geschichte
Von der romanischen Kapelle zur Stiftskirche (1219–1317)
Der 1219 vom späteren Kaiser geschenkte Baugrund war zum Bau eines Gotteshauses, das in der damaligen, erst locker bebauten Niederstadt noch fehlte, sehr geeignet. Im Süden grenzte er an den Main, einen stark befahrenen Handelsweg, dessen Ufer als Aufenthaltsort der Fischer und Schiffer diente, und zum Land hin am südlichen Ende des Kornmarktes, in der Schenkungsurkunde als „forum frumenti“ bezeichnet, dessen unterer Teil erst später den Namen Buchgasse annahm. Die wohl umgehend in Angriff genommene Kapelle war zunächst der Jungfrau Maria und dem heiligen Georg geweiht.
Erstere erfreute sich in der damaligen Blütezeit des Minnegesanges einer erhöhten Beliebtheit, Letzterer war eine der Schutzheiligen der Kreuzfahrer. Der als ritterlicher Märtyrer begriffene Heilige spricht auch für ministerialische, sich mit ihm identifizierende Förderer bei der Gründung der Kirche. Der westlich der Römerbergsenke gelegene Karmeliterhügel, auf dem nach 1246 auch das bis heute existierende Kloster bestand, war im 13. Jahrhundert nach Meinung einiger Historiker ein „Westend des Mittelalters“, wo sich hohe, ritterlich lebende Beamte der staufischen Königsburg sowie vom florierenden Messgeschäft profitierende Großkaufleute niedergelassen hatten.
Urkundliche Nachrichten über die Entwicklung der Kapelle im 13. Jahrhundert sind spärlich gesät. 1259 wurde erstmals ein Geistlicher namens Reinhold als „Reinoldus cappellanus sancti Georgii“ erwähnt, 1275 war von einem Petrus als „rector capelle s. Georgii“ die Rede. Man kann davon ausgehen, dass hier in den frühen Jahren nur Kaplane tätig waren, da noch 1310 in einer Urkunde gleich mehrere von ihnen zur Sprache kommen. 1297 berichten die Quellen von der Kapelle als „noviter exstructa“, was man sich darunter vorzustellen hat, bleibt dunkel, zumal die erhaltenen romanischen Teile zweifelsfrei in das frühe 13. Jahrhundert zu datieren sind. Im selben Jahr sind auch erste Stiftungen Frankfurter Bürger für das Gotteshaus dokumentiert.
Mit Genehmigung des Mainzer Erzbischofs Peter von Aspelt etablierte sich 1317 ein Kollegiatstift aus den drei zuletzt an der Kirche tätigen Kaplänen sowie neun Landpfarrern. Das Stift verfügte somit über zunächst zwölf Kanoniker und ebenso viele Vikarien, an deren Spitze ein Nikolaus von Wöllstadt als erster Dekan sowie ein Arnold Bumeyster als Kantor erwähnt wird. Die Stadt verzichtete fortan auf die Bestellung des Geistlichen, wie es das königliche Privileg von 1219 gestattet hatte. Da in der Gründungsurkunde auch von einem Nikolaus Rose als „scolasticus“ die Rede ist, fiel mit dem Aufbau des Stifts wohl die Einrichtung einer Schule zusammen. Damit wurde die Kapelle ab diesem Zeitpunkt in den Urkunden auch nicht mehr als „capella“, sondern als „ecclesia“, also Kirche bezeichnet. Sie besaß jedoch keine Parochie, da die Pfarr-Rechte in Frankfurt ausschließlich dem Bartholomäusstift vorbehalten waren.
Schriftliche Zeugnisse, inwieweit die Tatsache, dass Grund und Boden der Kirche der Stadt gehörten, zu Konflikten führte, sind nicht erhalten. Sie können aber aus der Gründungsurkunde herausgelesen werden, die sehr energisch die Unabhängigkeit des Stiftes betont und den Rat der Stadt mit keiner Erwähnung bedenkt.
Vom Erwerb der Leonhardsreliquie bis zum Ende des gotischen Umbaus (1317–1523)
Man bemühte sich nun verstärkt um die Beschaffung der Reliquie eines Heiligen, was 1323 von Erfolg gekrönt war. Der Arzt Heinrich von Wiener-Neustadt übersandte den Arm des heiligen Leonhard, des Schutzheiligen der Gefangenen. Dies geschah auf Bitten des Abtes Moritz vom Schottenkloster in Wien und des Mainzer Presbyters Johannes, der Vikar am Frankfurter Domstift war; Übersendungs- und Begleitschreiben haben sich bis heute erhalten. Der Heilige gab dem Stift und der Kirche den bis heute gültigen Namen, auch wenn sich dieser erst in der frühen Neuzeit endgültig durchsetzte. So erschienen Maria und Georg neben Leonhard noch 1618 im Siegel des Stifts.
Die folgenden Jahre waren überschattet vom Konflikt zwischen Kaiser Ludwig IV. und Papst Johannes XXII. Der spätere Kaiser hatte 1324 in der Sachsenhausener Appellation den Anspruch des Papstes auf die Approbation einer Königswahl zurückgewiesen, nachdem der Papst ihn zuvor für abgesetzt erklärt und mit dem Kirchenbann belegt hatte. Frankfurt hielt in diesem Konflikt treu zum Kaiser, der sie mit zahlreichen Privilegien gefördert hatte. Deshalb belegte der Papst die Stadt mit dem Interdikt und verbot den Klerikern jegliche kirchlichen Amtshandlungen. Das Leonhardsstift stand in diesem Konflikt streng zum Kaisertum.
Im Laufe des 14. Jahrhunderts mehrten sich durch Stiftungen langsam die von der Kirche beherbergten Kunstschätze, wenngleich das Magdalenenhochwasser des Jahres 1342 große Schäden an allen Frankfurter Kirchen anrichtete. 1381 erhielt das Stift durch den päpstlichen Legaten Kardinal Pileus das besondere Vorrecht, während aller über die Stadt verhängten Interdikte im Chor der Kirche Gottesdienst abzuhalten, aber nur bei verschlossenen Türen, ohne Glockengeläute und unter Ausschluss der Gebannten.
Ende des 14. Jahrhunderts kam es mit dem Rat der Stadt zu einem erbitterten Streit über dessen Vorhaben, das Stift künftig auch zur Zahlung von Steuern heranzuziehen. Zudem bedrängte der Ausbau der städtischen Verteidigungsanlagen am Main im Zuge der Zweiten Stadterweiterung die Kirche: 1388 bis 1391 errichtete man direkt südlich der Kirche einen sie deutlich überragenden, massiven Wehrturm, auf den im Volksmund alsbald auch die Bezeichnung Leonhardsturm überging. Der Leonhardsturm mit dem gleichnamigen Stadttor zum Mainhafen ist der eigentliche Grund für die heute zu sehende, gedrungene Gestalt der Kirche. Sie konnte so in den folgenden Jahrhunderten nicht weiter in die Länge, sondern nur in die Breite wachsen.
Das Stift konnte sich in beiden Konflikten nicht gegen die Interessen der Stadt durchsetzen. Die Besteuerung regelte am 25. August 1407 ein Vertrag zwischen dem Erzbischof von Mainz, Johann II. von Nassau, und dem Rat.
Ab dem Jahre 1425 wurde im Osten ein polygonal geschlossener Langchor angebaut, der vermutlich nach einem Entwurf des Dombaumeisters Madern Gerthener konzipiert war.
Um 1450 wurde an den neuen Chor eine Sakristei angebaut und eine Kapelle auf kreisförmigem Grundriss.
Ab etwa 1500 wurde dann das bis dahin erhaltene romanische Langhaus durch eine fünfschiffige Hallenkirche mit umlaufenden Emporen ersetzt. Dabei wurden um 1507 auch zwei Portale der romanischen Kirche im passenden Stil ergänzt und in das neue Langhaus integriert. Die Baumaßnahmen, die sich, hauptsächlich aus immer wieder auftretenden finanziellen Engpässen, im Wesentlichen bis ins Jahr 1523 zogen, brachten der Kirche weitestgehend die noch heute zu sehende äußere und innere Gestalt.
Von der Reformation bis zur Säkularisation (1523–1806)
Noch während der Schlussphase des gotischen Umbaus begann die Reformation in Frankfurt. 1521 bis 1528 stand das Stift unter Leitung des Dechanten Johannes Indagine, der der neuen Lehre anfangs Sympathien entgegenbrachte. Im April 1521 hatte Martin Luther auf seiner Reise zum Wormser Reichstag nur wenige Meter von der Leonhardskirche im Gasthaus Strauß in der Buchgasse Quartier bezogen. Viele der ohnehin schon dem Humanismus zugewandten Frankfurter Patrizier wurden Anhänger Luthers. Um einen Konflikt mit dem Kaiser und dem Erzbischof von Mainz zu vermeiden, blieb der Rat zunächst neutral, berief jedoch 1525 auf Drängen der Bürger die reformierten Prädikanten Dionysius Melander und Johann Bernhard. Zudem ließ er Inventare vieler Frankfurter Kirchen anlegen, darunter auch von St. Leonhard.
Unter dem Einfluss der radikalen Prediger kam es Anfang 1533 zu einem Bildersturm in der Bartholomäuskirche. Am 23. April 1533 suspendierte der Rat daraufhin aus Gründen der Staatsräson die katholische Messe bis zu einem künftigen Konzil, was de facto ihre Abschaffung und einen offenen Bruch mit dem Kaiser und dem Erzbischof bedeutete. In der Stadt blieben nur wenige katholische Kleriker und altgläubige Bürger. Der Beitritt der Stadt zum Schmalkaldischen Bund 1536 isolierte die Stiftsherren von St. Leonhard weiter.
Im schmalkaldischen Krieg zog die Stadt Teile des Kirchenschatzes ein, um ihre militärischen Verpflichtungen zu finanzieren, und selbst die Geistlichen wurden zu militärischen Hilfsdiensten herangezogen. Ende 1546 erkannte der Rat, dass die Stadt nicht militärisch gegen den Kaiser zu verteidigen war und verlegte sich auf die Diplomatie. Am 29. Dezember 1546 öffnete sie ihre Tore den kaiserlichen Truppen und opferte ihre lutherische Bundestreue. Dafür sicherte sie sich die kaiserlichen Privilegien, welche die Grundlage für den Wohlstand und die politische Bedeutung der Stadt bildeten.
Gegen den Widerstand der lutherischen Geistlichkeit und der Mehrheit der Bürger setzte der Rat die Annahme des Augsburger Interims durch. Die Stadt blieb lutherisch, gab aber die Stifts- und Ordenskirchen an die katholische Kirche zurück. 1548 wurde der katholische Gottesdienst auch in der Leonhardskirche wieder aufgenommen, nachdem seit 1542 auf Anweisung des Rates dort alle zwei Wochen evangelisch gepredigt worden war.
In der lutherischen Stadt fehlte es dem Stift fortan jedoch an Geld und Nachwuchs. Die ehemals mit bis zu 80 Schülern blühende Lateinschule ging ein, die abschließende Einwölbung des Hauptschiffs kam zum Erliegen. Die Zahl der Kanoniker sank bis 1589 auf einen historischen Tiefstand von nur drei Personen, von denen einer laut urkundlichen Quellen zudem stets bettlägerig und wenig zum Chorgesang und Zelebrieren dienlich war. Um 1600 waren die Geistlichen in ihrem Pflichtbewusstsein offenbar so weit herabgesunken, dass laut zeitgenössischen Berichten „die Andersgläubigen spotten, den Leonhardspfaffen sei es völlig gleichgültig, ob einer oder keiner in die Kirche komme“.
Erst seit Ende des 16. Jahrhunderts besserte sich die Situation wieder. Das oberhessische Kollegiatstift der Heiligen Donatus, Nazarius und Martinus verlegte seinen Sitz von Obermockstadt nach Frankfurt und wurde dort vom Leonhardsstift aufgenommen. Beide Stifte feierten ab diesem Zeitpunkt abwechselnd Gottesdienst in der Kirche, blieben aber formaljuristisch voneinander getrennt. Dennoch waren so vor allem die personellen Sorgen dauerhaft gelöst. Als Frankfurt im Dreißigjährigen Krieg 1631 bis 1635 von schwedischen Truppen besetzt war, musste der Rat den Dom und die Liebfrauenkirche dem schwedischen König Gustav II. Adolf für den lutherischen Gottesdienst zur Verfügung stellen. Dabei wurden nicht unwesentliche Teile der Kirchenschätze eingezogen und großzügig an seine Anhänger verschenkt. Nur die Leonhardskirche blieb weiterhin dem katholischen Gottesdienst vorbehalten und von der Konfiskation weitestgehend verschont.
Die Geldnöte des Stifts bestanden jedoch auch im 17. Jahrhundert weiter. Da die Leonhardskirche mitten im florierenden Frankfurter Buchhändlerviertel lag, machte man wohl primär aus monetären Gründen sehr ausgiebig von der Möglichkeit Gebrauch, Räume der Kirche als Lagerstätte für Druckschriften zu vermieten. Eine zeitgenössische Beschreibung dieser offenbar rasch überhandnehmenden Praktik lässt sich einem Beschwerdebrief entnehmen, den ein katholischer Buchhändler 1638 dem damaligen Erzbischof von Mainz zukommen ließ:
„Oben und unten, auf dem Lettner und in den Gängen, ja sogar auf den Altären der Kapellen allerhand ketzerische Bücher. Die Kirche ist gleichsam ein offenes Pack- und Kaufhaus, besonders in Meßzeiten, da fast ein jeder einen Schlüssel zur Kirche hat, ein und aus gehen läßt, wie es ihm gefällt. Auch während der hl. Messen trägt es sich öfter zu, daß die Ketzer mit Büchern ohne allen Respekt fast spöttisch vorüber-, an- und einlaufen.“
Es gibt allerdings keine Anzeichen darauf, dass solchen Beschwerden tatsächlich abgeholfen worden wäre. Dass das gotische Hauptschiff erst 1698 und doch nur für 550 Gulden höchst zweckmäßig eingewölbt werden konnte, bezeugt, wie sehr man auf Einnahmen wie aus der Vermietung angewiesen war.
Das 18. Jahrhundert brachte dem Stift zeittypisch eine zunehmende Vereinigung von Ämtern in einer Person, andererseits aber auch bedeutende Kanoniker von Einwandererfamilien aus katholischen Ländern. Neben den aus Norditalien stammenden Martinengo oder Brentano ist auch der Dechant Damian Friedrich Dumeiz aus Malmedy zu nennen. Die italienischen Familien, von denen viele durch Wein-, Seiden- und Tabakhandel oder als geschickte Bankiers zu großem Reichtum gekommen waren, dürften nicht nur die Bänke der Leonhardskirche gefüllt, sondern sich auch an einer zeitgemäßen Neuausstattung beteiligt haben. Auch eine Inventarliste von 1734 sowie Bilder des Kirchenmalers Johann Ludwig Ernst Morgenstern aus dem Jahr 1790 lassen eine barocke Neugestaltung erkennen, von der allerdings fast nichts mehr erhalten ist.
Das Ende des Leonhardsstiftes kam nach der Französischen Revolution. Nur wenige Wochen nach den Feierlichkeiten anlässlich der Krönung Kaiser Franz II. besetzten im Oktober 1792 französische Revolutionstruppen die Stadt. Die Kapitelsprotokolle des Leonhardsstifts rissen sofort ab, doch aus den noch bis 1802 reichenden Schriftzeugnissen des Stifts Obermockstadt ist zu erfahren, dass St. Leonhard bis 1793 profaniert und in ein Fruchtmagazin umgewandelt wurde. Die erwähnten militärischen Gerätschaften in der Kirche sowie die Abholzung der Bäume des Kirchhofs geben ein grobes Bild davon, wie wenig zimperlich in jenen Jahren mit dem ehemaligen Kirchenbesitz umgegangen wurde. Die Gottesdienste verlegte man notgedrungen in den Kaiserdom.
Mit dem Reichsdeputationshauptschluss von Regensburg kam 1803 auch das juristische Ende aller Kollegiatstifte. Der Stadt Frankfurt gelang es, den Kirchenbesitz für sich zu sichern und Interessen auswärtiger Fürsten abzuweisen. Zu den wertvollsten der damals in städtischen Besitz gelangten Stücke ist eine Gutenberg-Bibel aus der etwa 140 Bände zählenden Stiftsbibliothek zu zählen, die sich im Bestand der Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg befindet. Sie war vermutlich in den 1450er-Jahren druckfrisch auf der Frankfurter Buchmesse gekauft worden.
Von der Wiederherstellung unter Dalberg bis zum Ende des 19. Jahrhunderts (1806–1899)
Nach dem Zerfall des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation begründeten süd- und westdeutsche Fürsten 1806 den Rheinbund. An die Spitze des Bündnisses trat der Fürstprimas Karl Theodor von Dalberg. Die Stadt verlor damit ihre Selbstständigkeit und war erstmals einem Landesherren unterstellt. 1810 wurde Frankfurt formal die Hauptstadt des neu geschaffenen Großherzogtums Frankfurt. Der Fürstprimas bezog nun als Großherzog einen ständigen Sitz im Palais Thurn und Taxis.
Dalberg war gleichermaßen ein frommer Mann wie auch ein Kind der Aufklärung. Er vermochte die Säkularisation des Kirchengutes von St. Leonhard nicht rückgängig zu machen, setzte sich aber dafür ein, dass es nur noch zu frommen oder milden Zwecken verwandt werden sollte. Auch kam es erst unter seiner Herrschaft zu einer rechtlichen Gleichstellung aller christlichen Konfessionen. Doch er war machtlos, als die Kirche im Herbst 1806 eine erneute Zweckentfremdung als Kriegsgefangenenlager für preußische Soldaten erfuhr. In diesen wenigen Monaten dürfte mehr Schaden angerichtet worden sein als in der ganzen vorangegangenen Zeit, wenn man zeitgenössischen Berichten folgt:
Hierin ist wohl der Hauptgrund dafür zu sehen, dass von der mobilen Ausstattung von St. Leonhard praktisch nichts mehr aus der vorrevolutionären Zeit vorhanden ist. Doch auch unter den Bürgern der Stadt sahen nicht wenige das mittelalterliche Gebäude als Schandfleck am Mainkai, der in jenen Jahren eine repräsentative klassizistische Neubebauung erhielt. Wohlhabende Kreise traten gar an Dalberg mit der offenen Bitte heran, die Kirche zusammen mit St. Nikolai am Römerberg abreißen zu dürfen, um hier ein neues Maintor bzw. ein Börsengebäude zu errichten.
Der Fürstprimas folgte dem Ansinnen der Bürger nicht, sondern beauftragte 1808 den Frankfurter Architekten Philipp Jakob Hoffmann mit Wiederherstellungsarbeiten an dem verwahrlosten und ausgeplünderten Gebäude in Auftrag. Dabei wurde unter anderem der Fußboden aus Hochwasserschutzgründen um 85 Zentimeter gegenüber dem ursprünglichen Niveau erhöht, was bis heute am scheinbar im Boden versunkenen romanischen Pilgerportal im nördlichen Seitenschiff am besten zu sehen ist. Bereits am 15. Januar 1809 konnte die für über 11.000 Gulden instand gesetzte Kirche vom letzten Dekan des Stifts Obermockstadt wieder geweiht werden. Die Ausstattung des Gotteshauses wurde in den folgenden Jahren durch Stücke aus anderen profanierten Klöstern und Kirchen der Stadt – vor allem barocke Arbeiten aus der Karmeliter- und Dominikanerkirche – sowie den 1813 von Dalberg persönlich gestifteten, klassizistischen Leonhardsaltar wieder erheblich bereichert.
1818 schrieb der Frankfurter Pfarrer und Historiker Anton Kirchner in seinem Werk Ansichten von Frankfurt am Main auch über die Leonhardskirche. Er gab der Nachwelt damit ein Zeugnis, wie gespalten der Zeitgeist über das Gebäude dachte:
Trotz der 1809 getroffenen Maßnahmen kam es im Winter 1845 zu einer erneuten Überschwemmung des Kircheninneren. Erst im Sommer 1851 erfolgte die Sanierung. Wenig später, in den Jahren 1854 und 1855 stifteten einige bedeutende Bürger der Stadt, darunter so namhafte wie Sophie Schlosser, Antonie Brentano oder ihre Schwägerin Bettina von Arnim einen Altar für die frisch restaurierte Kirche, dessen Mittelbild der bedeutende österreichische Künstler Edward von Steinle malte.
1881 begann eine erneute, vom Geist des Historismus bestimmte Innenrenovierung. Dabei ging jedoch weniger Substanz verloren als beim Wiederaufbau des Doms nach dem Brand von 1867. Am ehesten kritisch zu betrachten ist aus heutiger Sicht die damalige Übermalung vieler mittelalterlicher Wandmalereien. Neben einer neuen Orgel von 1867 und neuen Glocken der 1880er-Jahre, die eine Anzahl noch aus dem Mittelalter erhaltener ergänzten, erhielt die Kirche zwischen 1860 und 1892 schließlich durch Zukauf die drei Altäre, die noch bis heute im Hauptschiff bzw. im Chor zu sehen sind.
Das 20. Jahrhundert und die Gegenwart (1900 bis heute)
Baulich änderte sich im 20. Jahrhundert zunächst nur wenig an St. Leonhard. Bis Mitte des 20. Jahrhunderts war innerhalb der Dompfarrei ein Direktor tätig, Kapläne an der Kirche waren unter anderen der spätere Limburger Bischof Karl Klein oder der Weihbischof Walther Kampe. 1939 wurde die Kirche zur Pfarrvikarie erhoben.
Den Zweiten Weltkrieg überstand St. Leonhard als einzige Dotationskirche mit relativ geringeren Schäden. Auch bei den schweren Angriffen im März 1944, welche die historische Altstadt zerstörten, erhielt die Kirche keinen direkten Treffer durch Luftminen oder Sprengbomben. Der in Brand geratene Dachstuhl konnte von zwei Pfarrschwestern unter Einsatz ihres Lebens gelöscht werden, sodass nur Teile des Westgiebels zusammenbrachen. Seine Reste stürzten auf das südliche, 1698 aus den bekannten Gründen nur mit wenigen Rippen eingewölbte Schiff des Langhauses, das der Belastung nicht standhielt und die darunter liegende Orgel sowie den 1854/55 gestifteten Steinlealtar zertrümmerte. Das bedeutende Mittelbild konnte jedoch gerettet werden. Aus kunsthistorischer Sicht schwerer wog die Zerstörung der Dächer der beiden romanischen Apsidentürme, die noch aus dem 13. Jahrhundert stammten, sowie aller darin befindlichen Glocken, neben denen des 19. Jahrhunderts auch solcher des 14. und 15. Jahrhunderts.
Bereits 1946 waren die Schäden am Außenbau wieder behoben. Gemessen am Gesamtzerstörungsgrad ist sie heute wohl das am besten erhaltene Bauwerk der Altstadt. Der Historiker Fried Lübbecke bezeichnete St. Leonhard als Zeitkapsel, das letzte verbliebene Gebäude, in dem Alt-Frankfurt noch lebendig sei.
1956 erhielt die Kirche neue, auf das Frankfurter Stadtgeläute abgestimmte Glocken, zwei Jahre später dann auch Ersatz für die im Krieg zerstörte Orgel. Anlässlich der 750-Jahr-Feier im August 1969 wurde der Innenraum zwischen 1960 und 1969 umfassend saniert, im Wesentlichen nahm man dabei die historistischen Übermalungen auf die erhaltenen Reste zurück. Nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil kam es während der Arbeiten wie in allen katholischen Kirchen auch zu Änderungen an der Ausstattung. Wie schon früher geschah dies in St. Leonhard vergleichsweise maßvoll, der Hochchor erhielt einen modernen Tischaltar, wenige historistische Ausstattungsstücke wurden beseitigt oder zumindest aus der Kirche geschafft. Unverständlich vor dem Hintergrund, dass die Kirche Fürstprimas Karl Theodor von Dalberg wohl ihre Existenz verdankt, ist dagegen der erst 1984 erfolgte Abbruch des von ihm gestifteten klassizistischen Leonhardsaltars. Die Fragmente sind heute an der Nordwand des Leonhardschors zu sehen. Nach der Fertigstellung einer modernen Verglasung konnte Ende 2005 mit umfangreichen Sanierungsarbeiten begonnen werden, während dieser Arbeiten, die zuerst vor allem den Außenbereich betrafen, konnte die Kirche bis 2010 weiterhin genutzt werden.
Seit 2011 werden die unter dem Boden der Kirche befindlichen Schichten – im Zuge der Innenrenovierung und dem Einbau einer Fußbodenheizung bis 2012 – gründlich untersucht und entfernt, teilweise restauriert und sollen anschließend möglichst in der Kirche oder auch anderswo zur Anschauung aufgestellt werden. Als Abschluss der Arbeiten wurde das Jahr 2017 angestrebt, jedoch ergaben sich während der Arbeiten massive Probleme. Beim Bau einer Bodenplatte aus Beton, die ein Absinken des Gebäudes in den zum Teil recht weichen Untergrund (bestehend aus Lehm und Ablagerungen des Flusses) verhindern soll, entstanden Risse in den Mauern und eine teilweise Absenkung der Nordkirche gegenüber dem Rest des Gebäudes.
Der Wiedereröffnungstermin war der 18. August 2019. Georg Bätzing, der Bischof von Limburg, hat in einem Gottesdienst zum 800. Geburtstag der Kirche diese wieder der Gemeinde übergeben und den neuen Altar geweiht.
Geistliches Leben
Seit 1995 ist Sankt Leonhard eine Filialkirche der Frankfurter Domgemeinde. Zudem dient sie als Pfarrkirche der englischsprachigen Gemeinde in Frankfurt.
Seit Beginn der ursprünglich für eine Dauer von 18 Monaten vorgesehene Restaurierung des Innenraumes der St. Leonhardskirche finden die Gottesdienste der englischsprachigen Gemeinde seit dem 7. Mai 2011 in der Heilig-Kreuz-Kirche des Heilig-Kreuz – Zentrum für christliche Meditation und Spiritualität des Bistums Limburg in Frankfurt-Bornheim statt. Diese bleibt auch nach Ende der Arbeiten in St. Leonhard in der Heilig-Kreuz-Kirche beheimatet. Ab dem 14. September 2019 findet jedoch wieder jeden Samstag um 18 Uhr eine Vorabendmesse in englischer Sprache in St. Leonhard statt.
Die seit Mitte der 1990er-Jahre wöchentlich stattfindende tridentinische Messe (seit dem Sommer 2007 sonntags um 18 Uhr) in St. Leonhard wurde im Zuge der Arbeiten in die Deutschordenskirche verlegt.
Architektur
Äußeres
Die romanische Basilika
Der spätromanische Ursprungsbau bestand aus einer 25 Meter langen und 16 Meter breiten dreischiffigen Emporenbasilika mit zwei rund 30 Meter hohen Apsidentürmen seitlich des damals wohl rechteckigen Hauptchores. Während man die massiven Mauern weitestgehend aus Bruchsteinen errichtete, wurde für nahezu alle bildhauerisch gestalteten Elemente roter Mainsandstein verwendet.
Am Außenbau hat sich von der romanischen Substanz, abgesehen von den bis heute kaum veränderten Türmen, nur die Lisenengliederung der unteren Hälfte der Westseite erhalten. Hier gab es neben den zwei im Inneren der Kirche bis heute verbliebenen Portalen neben rundbogigen Fenstern wohl auch noch einen dritten Eingang, wie Untersuchungen der unter dem Verputz liegenden Architekturteile bereits Ende des 19. Jahrhunderts gezeigt haben.
Die beiden Türme von St. Leonhard sind im Erdgeschoss rund, werden im weiteren Verlauf dann aber achteckig und waren ursprünglich über Rundbögen als Seitenchöre zu der Kirche hin offen. Auch dies konnte man im späten 19. Jahrhundert durch Befunde unter dem Putz nachweisen. Nach urkundlichen Nachrichten des Leonhardsstifts beherbergte ein jeder Turm auch eigene Altäre, die aber schon 1508 abgebrochen wurden. Die vier Obergeschosse der Türme sind in der äußeren Gliederung zu zweien zusammengefasst, und wie das unterste Geschoss mit Lisenen und Bogenfriesen versehen, die Fenster haben rundbogige Profile. Einzig im obersten Geschoss finden sich gekuppelte Fenster, die typischen Mittelsäulchen zeigen in ihren Kapitellen einfache Ornamentik. Die Türme werden von achteckigen Giebelhelmen bekrönt, deren kleine Fenster Kleeblattbogenprofile aufweisen. In ihrer Form stellen die Helme ein Zitat der Jerusalemer Grabeskirche dar. Dem Vorbild sind diese allerdings schon im 19. Jahrhundert verloren gegangen. Auf der nördlichen Spitze befindet sich ein Reichsadler, auf der südlichen ein Kreuz.
Die gotische Erweiterung
Äußerlich veränderte die gotische Erweiterung der Jahre 1425 bis 1523 relativ wenig von der ursprünglichen Substanz. Der 1434 fertiggestellte Chor schiebt sich im Osten weit über die romanischen Apsidentürme hinaus. Das übrige 15. Jahrhundert beschränkte sich darauf, dem Chor an der Nordseite die nicht öffentlich zugängliche Sakristei sowie das daran anschließende, 1453 geweihte und nach seinem Stifter Hans Bromm genannte Brommenchörlein anzubauen. Um 1600 mag der Treppenturm an der Außenseite der Sakristei entstanden sein. Die vorgenannten drei Anbauten sind gut von der Alten Mainzer Gasse aus zu erkennen.
Das bis heute nahezu unveränderte Erscheinungsbild brachte dann im frühen 16. Jahrhundert der Umbau des Hauptschiffs sowie der Anbau von zwei Seitenschiffen und schließlich je einer Kapelle am ihren östlichen Enden. Als Baumeister kommen historisch wie stilistisch sowohl Hans von Bingen als auch der der Meisenheimer Schule zuzurechnende Philipp von Gmünd in Frage. Beide waren in den zwei ersten Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts in Frankfurt tätig, der einzige noch existierende urkundliche Nachweis aus dieser Zeit ist ein Streit mit erstgenannten Baumeister um eine misslungene Fundamentierung.
Ursprünglich war das Gebäude auch von der Süd- sowie der Westseite durch Portale aus der gotischen Bauperiode zugänglich, die jedoch aus Hochwasserschutzgründen Anfang des 19. Jahrhunderts auf der Innenseite vermauert wurden. Der Südseite blendete man nach dem Abriss der zur Stadtbefestigung gehörenden Mainmauer 1809 aus demselben Grund eine Futtermauer vor. Zeitgleich wurde auch der Fußboden der Kirche um fast einen Meter erhöht, ein Umstand, der bis heute die Proportionen im Inneren der Kirche stört. Über dem Westportal ist eine um 1395 datierte Kopie einer Sandsteinmadonna zu sehen, das Original befindet sich im Historischen Museum. Sie ist eine der ältesten und besterhaltenen Madonnen in Frankfurt und zudem der früheste Beleg für das Auftreten des weichen Stils in der Plastik der Stadt.
Die Straßenseite des nördlichen Seitenschiffs ist ebenfalls erst im 19. Jahrhundert in den heute zu sehenden Zustand versetzt worden. Bei Betrachtung der Außenseite fällt schnell ins Auge, dass zwei ursprünglich hier befindliche Rundbögen später vermauert worden sind, das Seitenschiff war früher also eine offene Vorhalle. In der Mitte dieser einstigen Arkaden ist über der Kopie einer Figur des hl. Leonhard aus dem 16. Jahrhundert der Rest einer Außenkanzel zu erkennen. Diese war früher über einen Gang von der nördlichen Empore aus zugänglich. Von ihr wurden nicht nur Predigten gehalten, sondern angeblich auch städtische Privilegien wie zum Beispiel die Goldene Bulle verlesen. Das Volk konnte dabei im nördlich der Kirche gelegenen Kirchhof Platz nehmen, der zwar schon um 1800 abgeholzt wurde, aber erst im späten 19. Jahrhundert endgültig verschwand. Heute erinnern nur noch einige Bäume und der große, unbebaute Platz vor dem Gebäude daran.
Inneres
Romanik
Aus der romanischen Periode sind im Inneren zwei Portale mit figural ausgestalteten Tympana erhalten, die wegen der gotischen Anbauten nun innerhalb des nördlichen Seitenschiffs liegen: im Westen befindet sich das ursprüngliche Hauptportal mit einer Darstellung der beiden Patrone, wegen der Inschrift auch als Engelbertusportal bezeichnet. Kapitelle und Wulste sind mit Blattwerk von sehr hoher Qualität geschmückt, das allerdings nur zu einem geringen Teil fertiggestellt wurde. Die darunter befindlichen Säulen sind sichtbar in spätgotischer Zeit vollständig ausgetauscht worden. Die bildliche Darstellung zeigt als Mittelfigur Christus, ein aufgeschlagenes Buch haltend, in dem die Worte Pax vobis geschrieben stehen. Daneben befinden sich Maria und Petrus sowie kniend Johannes und Georg, bezeichnet werden sie auch durch eine im Halbkreis laufende Inschrift: s. Johanes. e. Maria + Jesvs Naz. + s. Petrvs. + s. Goervs.
Im unteren Bereich nennt eine Inschrift mit Engelbertvs f(ecit) möglicherweise den verantwortlichen Steinmetzmeister. Da sich seine Tätigkeit vor Beginn der städtischen Selbstverwaltung erstreckt, haben sich darüber keinerlei schriftliche Zeugnisse, und auch andernorts keine weiteren Werke erhalten. Dennoch erhielt Engelbertus Ende des 19. Jahrhunderts beim Rathausneubau eine Phantasiestatue im sogenannten Kapellchen des Ratskellers. Dies ist aus heutiger Sicht ebenso haltlos wie Versuche, Engelbertus gar den Status des Baumeisters der ganzen Kirche zuzuschreiben. Neuere Literatur vermutet hinter der Inschrift Engelbertvs f(ieri fecit), in seiner Person also eher einen Stifter als einen Künstler, war das Signieren von Werkstücken zumindest in dieser Art in der Romanik doch eher ungewöhnlich.
Der künstlerischen Handschrift nach hat derselbe Steinmetz aber auch das kleinere, östlich in Turmrichtung anschließende und heute zugemauerte Pilgerportal ausgeführt. Sein mit einem Kleeblattbogen geschlossenes Tympanon stellt, auch hier in einer sehr reinen romanischen Bildsprache, den stehenden heiligen Jakobus mit der Pilgermuschel und zwei ihn verehrende Pilger dar. Die Gewände und der Bogen des Portals zeigen Zickzack-, Nagelkopf- und Perlbänder. Im unteren Bereich, der weit unter dem Niveau des gotischen Bodens liegt, und somit nur schwer zu erkennen ist, laufen die Gewände im Westen in einem Fratzenkopf, im Osten in einem stilisierten Akanthusblatt aus. Die Kapitelle der inneren Säulen zeigen einfache Ringe, dazwischen spannt sich ein Wulst ohne jegliches Ornament.
Aus der Romanik hat sich im Inneren der Kirche ansonsten nur noch ein kleines Rundbogenfenster mit schrägen Gewänden erhalten. Da es sich in der Nordwand des Chores befindet und zur Sakristei hin vermauert ist, ist es jedoch praktisch nie für die Öffentlichkeit zu sehen.
Gotik
Der zwei Joch tiefe Chor mit 3/6-Schluss wurde wohl zum größten Teil noch unter der baulichen Leitung, sicher aber nach einem Entwurf des 1430 gestorbenen Madern Gerthener fertiggestellt, die Weihe erfolgte am 22. August 1434. Er ist mit einem reichen Sterngewölbe überdeckt, das in seinen Schlusssteinen mehrfach das Wappen der bedeutenden Frankfurter Patrizier-Familie Holzhausen zeigt. Erhellt wird der Chor über fünf große, in der Mitte mit einem Maßwerkfries geteilte Fenster mit Fischblasenornamentik, die im Chorschluss drei-, auf der Südseite vier- und zweibahnig sind. Die ebenfalls spätgotischen Sakristeien und der Treppenturm nördlich des Chores sind heute nicht mehr öffentlich zugänglich.
Die drei Hallenschiffe des Langhauses haben drei Joche, ebenso wie im Chor kamen im mittleren und nördlichen Schiff auf 1518 datierte Sterngewölbe zur Ausführung, während das südliche mit einfachen dreieckigen Kreuzgewölben ohne Rippen überdeckt ist. Die Schiffe werden von achteckigen Pfeilern getrennt, die beiden Seitenschiffe sind über einfache Rundbögen angebunden. Oberhalb der Bögen befindet sich auf der zum Hauptschiff gewandten Seite ein schön gearbeiteter, umlaufender Fries mit Fischblasenmaßwerk, der gleichzeitig als Brüstung der darüber liegenden Emporen dient. Die Fenster in der Süd-, West- und Nordwand sind in zwei übereinander laufenden Bahnen angeordnet und von verschiedener Größe, die einzige Gemeinsamkeit ist auch hier die Fischblasenornamentik.
Geradezu einem Musterbuch mittelalterlicher Kirchengewölbe erscheinen die zwischen 1507 und 1520 errichteten Seitenschiffe mit je vier Jochen entnommen, bedenkt man die Vielfalt der hier zu sehenden Deckenabschlüsse. Ihre Schlusssteine und Knoten sind vielfach mit Wappen der als Stifter aufgetretenen Frankfurter Familien geschmückt, so finden sich unter anderem die Familien Holzhausen, Lichtenstein, Bromm, Glauburg, Rohrbach, Melem, Weiß von Limpurg, Frosch, Völcker, Knoblauch, Hynsperg und Ergersheim.
Eine Besonderheit ist das Gewölbe im nordöstlichen Seitenschiff, wo zwei Rippensysteme übereinander angeordnet sind. In ihren Ansätzen befinden sich die Gewölberippen zudem frei im Raum. Wie schon mit seinem Stammhaus, dem prächtigsten Profanbau der Gotik in Frankfurt, wollte der Stifter, Claus Stalburg, neben seiner Frömmigkeit hier auch seinen enormen Reichtum zum Ausdruck bringen. Auf ihn weist neben dem Familienwappen mit drei Muscheln ein weiteres Wappen im Gewölbescheitel mit der Aufschrift Clos Stalp, auf die Entstehung eines mit der Jahreszahl 1507 hin.
Zwischen 1508 und 1515 wurde am Ende des nördlichen Seitenschiffes, direkt am Nordturm, eine Salvatorkapelle vom Architekten Hans Baltz von Mertenstein eingefügt. Wegen des hängenden Gewölbes, das aus frei sich im Raum kreuzenden Bogenrippen aus Sandstein besteht, zählte das sogenannte Salvatorchörlein schon ab dem 17. Jahrhundert zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt Frankfurt.
Der Typus des hängenden Gewölbes ist allerdings schon seit Mitte des 14. Jahrhunderts bekannt, als direktes Vorbild hat vermutlich das in der Grabkapelle der Schlosskirche in Meisenheim gedient, ein Werk des 1505/10 in Frankfurt tätigen Philipp von Gmünd. Die farbig gefassten Figuren, ein Christus an der Geißelsäule, ein darüber im Maßwerk thronender Gottvater und das tropfenförmig hängende abschließende Wappen der bekannten Frankfurter Familie Holzhausen sind ebenfalls ein Meisterwerk der Steinmetztechnik in Buntsandstein.
Wann die Leonhardskapelle, auch Leonhardschor, am Ende des südlichen Seitenschiffes errichtet wurde, ist heute nicht mehr genau feststellbar. Dendrochronologischen Untersuchungen des Dachstuhls nach wurde sein Holz um 1518 geschlagen, das Sterngewölbe darunter den Schlusssteinen nach 1520 eingewölbt. Die Kapelle ist von der Grundform her rechteckig und besitzt im Osten einen 3/8-Schluss. Die hier befindlichen drei zweibahnigen Fenster haben ebenso wie ein dreibahniges im Süden wieder Fischblasenmaßwerk.
Ausstattung
Altäre
Gegenwärtig befinden sich in der Leonhardskirche drei Altäre sowie die Fragmente von zwei weiteren. Die Fragmente stammen von Altären des 19. Jahrhunderts und sind zugleich die einzigen, die explizit für die Kirche geschaffen wurden. Beim Hochaltar sowie den beiden im südlichen bzw. nördlichen Mittelschiff zu sehenden handelt es sich größtenteils um Kunstwerke des späten Mittelalters aus Süddeutschland. Vom vorrevolutionären Bestand hat sich nichts erhalten, obwohl eine Inventarliste von 1807 noch insgesamt 12 Altäre nannte. Auch die klassizistischen, in Inventarlisten als Mahagonialtäre bezeichneten Ausstattungsstücke aus der Zeit der Wiederherstellung unter Dalberg sind bis auf den vom Fürstprimas selbst gestifteten nicht mehr vorhanden.
Der Hochaltar kam Ende der 1850er-Jahre ebenso wie der damals neu gefertigte Steinlealtar als Stiftung in die Kirche und wurde 1866 an seinen heutigen Platz versetzt. Hier hatte zuvor seit Anfang des 19. Jahrhunderts der klassizistische Leonhardsaltar von Dalberg gestanden. Der Mittelschrein mit Figuren der Heiligen Ulrich, Rupert von Salzburg, Valentin von Terni sowie Sebastian, Rochus, Barbara und Agnes ist eine schwäbische Arbeit von Anfang des 16. Jahrhunderts.
Ebenfalls aus dem schwäbischen Raum stammt das darunter befindliche Predellengemälde, das in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts zu datieren ist. Eine erst 1969 vorgenommene Restaurierung, die starke Übermalungen beseitigte, offenbarte seine herausragende Qualität. Das sichtbar beschnittene Bild zeigt in mehreren Szenen das Martyrium der heiligen Ursula von Köln. Der Rest des Altars sind neugotische Arbeiten des 19. Jahrhunderts, abgesehen von der bekrönenden Kreuzigungsszene. Die drei Figuren sind vermutlich der einzige Überrest eines 1523 genannten Lettneraltars. Die hier zu sehende Vereinigung von Einzelstücken verschiedener Provenienz mit historisierenden Ergänzungen macht den Altar zu einem guten Beispiel für das Kunstverständnis des 19. Jahrhunderts.
Im nördlichen Hauptschiff steht seit 1890 der Marienaltar, den der damalige Stadtpfarrer Münzenberger im Kunsthandel für die Kirche erworben hatte. Der geschnitzte Mittelschrein ist ein flämisches, um 1480 zu datierendes Kunstwerk aus dem Raum Antwerpen. In meisterhaft geschnitzten Miniaturen, alleine über 80 figürlichen Darstellungen, ist hier der Lebensweg Marias dargestellt. Von unten nach oben zu sehen sind: Joachims Opfer, die Begegnung unter der Goldenen Pforte, die heilige Sippe mit Propheten, Mariä Geburt, Mariä Tempelgang, die Anbetung der Hirten, die Anbetung der Könige, der Marientod, Mariä Himmelfahrt und schließlich die Marienkrönung.
Historistische, aber ebenfalls sehr qualitative Hinzufügungen aus den 1880er-Jahren sind dagegen die von Friedrich Stummel gemalten, nach Rogier van der Weyden kopierten Flügelinnenseiten, abermals mit Szenen aus dem Leben Mariä. Auf den Außenseiten finden sich nach Vorlagen von Michael Wolgemut gefertigte Heiligendarstellungen, so der heiligen Dorothea, Katharina, Margareta, Barbara, Johannes der Täufer und Nikolaus. Von unbekannter Provenienz, jedoch wirklich alt ist dagegen das darunter zu sehende Predellengemälde mit einer Darstellung des Heilandes inmitten seiner Jünger. Neugotische Schöpfungen sind dagegen die Altarmensa sowie die an der Spitze befindliche Figur des heiligen Leonhard.
An der Stelle des im Krieg zerstörten Steinlealtars hat im südlichen Hauptschiff der Kreuzaltar einen Platz gefunden, der sich zuvor im Salvatorchörlein befand. Wie der Marienaltar wurde er in den 1880er-Jahren vom Stadtpfarrer erworben und befindet sich seit 1892 in der Kirche. Die wesentlichen Teile sind um 1520 datiert und gehören mit Sicherheit nach Niedersachsen, möglicherweise in den Raum Hildesheim. Der geschnitzte Mittelschrein zeigt in der Mitte eine Kreuzigungsszene, die von den Heiligen Anna, Mauritius, Blasius und einen nicht klar zuordenbaren Abt flankiert wird, auf der Innenseite der Flügel die zwölf Apostel. Dabei sind neben dem Mittelbild nur noch Blasius und Mauritius ursprünglich, der Rest Ergänzungen des 19. Jahrhunderts. Der den Altar bekrönende, nicht original zugehörige Christus mit Siegesfahne ist ein Werk des 18. Jahrhunderts. Bedeutsamer und wichtig für die Provenienz ist eine gemalte Verkündigungsszene auf der Außenseite des Altars, die dem Meister des Hildesheimer Johannesaltars zugeschrieben wird.
Obwohl alt, gehört die zweiteilige Predella nicht ursprünglich zum Altar. Der obere Part mit Christus und den zwölf Aposteln ist ein Fragment des auf 1505 datierten Herz-Jesu-Altars des Frankfurter Doms aus der Weckmann-Werkstatt aus Ulm. Der untere, ebenfalls spätmittelalterliche Teil stammt dagegen aus Portugal und kam über den Kunsthandel erst 1961 in die Kirche.
Nur noch als Fragment erhalten ist der Marienaltar (auch Steinlealtar), der in den 1850er-Jahren von Frankfurter Bürgern für die Kirche gestiftet worden war. Er befand sich bis zum Zweiten Weltkrieg im südlichen Seitenschiff, bei dessen Einsturz er 1944 bis auf sein Mittelbild zertrümmert wurde. Letzteres, ein Werk des Nazareners Edward von Steinle, zeigt eine Mutter Gottes mit Kind und ist heute im Salvatorchörlein ausgestellt. Das gewaltige neugotische Gehäuse, welches bis weit über die Arkadenbögen der Langhausemporen hinausragte, war ein Werk des bedeutenden historistischen Künstlers Vincenz Statz.
Nicht ein Verlust des Krieges, sondern Folge einer heute schwer verständlichen Entscheidung des Jahres 1984 ist der fragmentarische Zustand des Leonhardsaltars, von dem sich nur noch das dominierende Mittelbild in der gleichnamigen Kapelle im Osten des mainseitigen Seitenschiffs befindet. Das ganz im Stil des Klassizismus gehaltene Altarwerk war 1813 von Fürstprimas Karl Theodor von Dalberg gestiftet worden. Das erhaltene Gemälde mit einer Darstellung des heiligen Leonhard, der Gefangene befreit, stammt vom Münchener Hofmaler Joseph Karl Stieler. Ebenfalls noch erhalten ist das darüber befindliche Wappen des Großherzogtums Frankfurt. Durch den Abbruch verloren gegangen ist dagegen ein prachtvoll geschnitzter, holzsichtiger Außenrahmen, sowie die schlichte Altarmensa mit der Inschrift Sancto Leonardo Carolus MDCCCXIII, die auf den Stifter verwies.
Weitere Ausstattung
Gotik
Das im Salvatorchörlein zu sehende Taufbecken ist das älteste noch zur mittelalterlichen Originalausstattung der Kirche gehörende, öffentlich zu sehende Ausstattungsstück. Es ist sichtbar auf 1477 datiert und diente wohl früher als Weihwasserschale, da in der Kirche erst seit 1939 getauft wird. Der Kupferdeckel mit Emaillearbeiten ist eine zeitgenössische Ergänzung des Frankfurter Künstlers Emil Huber aus dem Jahr 1951.
Weit bedeutender und ebenfalls noch original zur Kirche gehörig ist die Kanzel im Mittelschiff. Sie entstammt der letzten Phase des spätgotischen Umbaus zu Anfang des 16. Jahrhunderts. Das Kunstwerk ist aus einem einzigen Stück des für Frankfurt typischen roten Mainsandsteins gearbeitet, der kelchförmige Fuß als auch die Brüstung sind reich mit abwechslungsreichem Fischblasenmaßwerk verziert. Ein erst im 19. Jahrhundert hinzugekommener Baldachin sowie ein Treppenaufgang im neugotischen Stil wurde Ende der 1960er-Jahre nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil wieder abgebrochen, und letzter durch die bis heute zu sehende, unpassende wie unbeholfen wirkende Lösung ersetzt.
Sichtbar aus der gleichen Zeit vielleicht sogar vom gleichen Steinmetz stammen die beiden im Westen der Kirche befindlichen Wendeltreppen zu den Emporen. Die bereits in den gotischen Rohbau integrierten Treppenaufgänge sind hier mit profilierten Treppenstufen aus Sandstein verblendet. Bemerkenswert sind auch die sichtbar noch von der Gotik geprägten Kunstschlosserarbeiten der Treppengeländer, die heute zu den ältesten und besterhaltenen ihrer Art in Frankfurt zu zählen sind.
Nicht genau datiert, ebenfalls aber noch aus der Spätgotik und zur Kirche gehörig ist ein Corpus Christi direkt neben dem nördlichen Emporenaufgang. Er hing bis zur Revolutionszeit im Chor, wie ein Bild aus dem Jahr 1790 von Johann Ludwig Ernst Morgenstern zeigt. Heute befindet er sich an einem neugotischen Kreuz, das wiederum oberhalb eines prächtig geschnitzten, aus dem 18. Jahrhundert stammenden Rokokositzes angebracht ist.
Renaissance und Barock
Aus dem 17. Jahrhundert stammt eine süddeutsche Pietà, die in der mittleren Kapellennische des südlichen Seitenschiffs zu sehen ist. Sie kam ebenso wie die unter ihr befindliche, im Stil des vorrevolutionären Klassizismus gehaltene Kredenz erst 1962 über den Kunsthandel in die Kirche. Neben dem Hochaltar stehen zwei inschriftlich auf 1614 datierte, frühbarocke Leuchterengel mit italienischer Provenienz. Ob sie als Stiftung italienischstämmiger Frankfurter oder über den Kunsthandel nach St. Leonhard gelangten, ist unbekannt.
Wohl um 1700 entstanden zwei hochbarocke Weihwasserschalen, die zum wenigen erhaltenen Originalinventar der Kirche aus der Barockzeit gehören und aus der Revolutionszeit sichtbar beschädigt sind. Nur eine der Schalen verfügt noch über den originalen Sockel mit Puttenköpfen, die andere erhielt im 19. Jahrhundert einen Ersatz im neugotischen Stil.
Genau auf das Jahr 1708 zu datieren sind dagegen zwei ebenfalls barocke Beichtstühle im nördlichen Seitenschiff, die die Kirche im Rahmen der Säkularisation aus der Frankfurter Karmeliterkirche erhielt. Sie zeigen eine Pilastergliederung mit korinthischen Kapitellen, von denen Blumen herabhängen; zwischen Akanthusdekoren befindet sich oberhalb des mittleren Abteils ein Puttenkopf, rechts und links ist eine typische Kartusche zu sehen.
Auch aus dem Bestand eines einstigen Frankfurter Gotteshauses, nämlich der Kapuzinerkirche, stammt ein weiterer Beichtstuhl unterhalb der westlichen Empore. Auch hier ist eine Gliederung durch vier, allerdings gewendelte Säulen mit korinthischen Kapitellen vorhanden, wobei der Wendel ein Blumendekor folgt. Ein oberhalb des mittleren Abteils befindlicher Puttenkopf ist mit Blumengirlanden geschmückt. Insgesamt zeigt die feinere Ausführung sichtbar den Einfluss des französischen Régence-Stils. In einer direkt gegenüber gelegenen Kapellennische ist eine gekrönte und bis heute verehrte Immaculata zu sehen. Das sehr qualitätvoll gearbeitete Kunstwerk wird einer Mainzer Werkstätte der 1. Hälfte des 18. Jahrhunderts zugeschrieben und gehört zum Originalbestand der Kirche.
Aufgrund einer Inschrift auf 1768 genau datiert ist das im Stil des Rokoko gehaltene Kirchengestühl, das das gesamte Mittelschiff füllt. Eine Besonderheit ist die minimale Variation der geschnitzten Wangen, so dass es sich bei einer jeden um ein Einzelstück handelt. Es gehörte nicht ursprünglich hierher, sondern wurde seinerzeit wie die beiden Beichtstühle für die Karmeliterkirche angefertigt und kam wie diese erst auf dem Wege der Säkularisation nach St. Leonhard.
19. Jahrhundert und Moderne
Noch aus der Zeit der Wiedereinweihung der Kirche unter Fürstprimas Dalberg stammen die silbernen Leuchter sowie das Kreuz des Hochaltars. Bei beiden handelt es sich um Augsburger Arbeiten im Stil des Empire. Das davor stehende Chorgestühl ist eine neugotische Schöpfung aus dem Jahr 1852. Die zwei identischen Bänke zeigen keinerlei figurale Darstellungen, wohl aber die Ornamentik gotischer Architektur in Form von Vierpässen, Maßwerken und Fialen.
Auch im neugotischen Stil, aber erst um die Jahrhundertwende entstanden die beiden Heiligenfiguren an den Bogengewänden des Hochchors. Die am südlichen Bogen befindliche ist eine Kopie der berühmten Hallgartener Madonna des Künstlers Adam Winter, am nördlichen ist eine Josefsfigur des Künstlers Josef Schnitzer zu sehen.
Vom Expressionismus geprägt sind zwei weitere in der Kirche zu sehende, holzsichtige Schnitzfiguren des Bildhauers Harold Winter aus dem Jahr 1927. Die eine zeigt den heiligen Antonius und befindet sich direkt neben bzw. südlich des gotischen Kreuzaltars, bei der anderen handelt es sich um eine Herz-Jesu-Statue, die am Pfeiler gegenüber bzw. nördlich der Kanzel im Hauptschiff angebracht ist.
Glasfenster
Chor
Allgemeines
Die Glasmalerei der Fenster des Hochchors ist trotz der bewegten, kaum mehr nachvollziehbaren Geschichte und der unterschiedlichen Provenienz der Scheiben insofern bemerkenswert, als es sich um eine der umfangreichsten Ansammlungen alter Kirchenfenster in Hessen handelt. Im 15. Jahrhundert, als der gotische Umbau von St. Leonhard im Wesentlichen abgeschlossen war, muss man sich die gesamte Kirche als mit farbigen Fenstern ausgestattet vorstellen. Ihre Stifter waren die bedeutendsten Frankfurter Adelsfamilien, die sich dadurch andererseits das Recht erwarben, an ihrem Fensterplatz Altäre aufzustellen, Totenschilde und Epitaphien anzubringen oder Messen für Familienmitglieder zu halten. Dieser ursprüngliche Bezug ist heute noch durch die zahlreichen Gewölbeschlusssteine in den Seitenschiffen sowie das südwestliche Wappenfenster aufgezeigt, das die Allianzwappen der Langhausverglasung vereint, welche ansonsten nicht mehr vorhanden ist.
Die übrigen vier Fenster des Chores stellen zwar auch nicht mehr die originalen bzw. vollständigen Bilderzyklen dar und sind teils stark, vor allem im 19. Jahrhundert, ergänzt worden. Jedoch kann man sie bereits anhand ihrer Dimensionen klar ausschließlich dem Chor zuordnen, wenngleich auch ihre Anordnung mehr oder minder stark gestört ist. Der größte Teil entstammt noch der Zeit der Chorweihe im Jahr 1434, viele andere Scheiben demselben Jahrhundert, vor allem einer zweiten Verglasungsperiode in den 1490er-Jahren. Hagelschäden wurden nach dem Verfall der Glasmalerei in der frühen Neuzeit im 18. Jahrhundert nur laienhaft ausgebessert, was heute noch stellenweise zu sehen ist.
Nach der Zeit der Säkularisation, in der manches Fenster durch Verkauf, teils aber auch durch Zweckentfremdung der Kirche verlorenging, wurden die Reste 1808 bzw. 1813 wieder im Chor verbaut. 1851 erfolgte eine Rückführung eines Großteils der historischen Scheiben aus der Schenkung eines Privatmanns, 1898 eine gründliche Restaurierung sowie historistische Ergänzungen, unter anderem durch den berühmten Frankfurter Glasmaler Alexander Linnemann. Alle Fenster überstanden den Zweiten Weltkrieg durch Auslagerung, 1975 bis 1981 erfolgte eine großangelegte Sanierung und ein prophylaktischer Schutz gegen Umwelteinflüsse.
Beschreibung
Das links bzw. nördlich die Fenster des Chors eröffnende, achtzeilige Katharinenfenster gehört zu den ältesten der Kirche und ist nach kunsthistorischen Merkmalen noch vor der Chorweihe 1434 entstanden. Trotz der fragmentarisch erhaltenen Einzelszenen – eine hierher gehörige Scheibe befindet sich im Historischen Museum – ist noch immer das ursprüngliche Programm ablesbar, das genau der Lebensbeschreibung der heiligen Katharina in der Legenda aurea folgt. Dies macht das Fenster zu einem seltenen Beispiel für eine nahezu vollständige Biographie dieser Heiligen. Darüber hinaus enthält das Fenster noch zwei Fragmente anderer Scheiben: so ist in der untersten Reihe ist die Anbetung der Könige zu sehen, die ursprünglich zum Marienfenster gehörte (siehe dort), das mittlere Feld der zweiten Reihe zeigt die Einsetzung eines unbekannten Bischofs und ist heute keinem Fenster mehr zuordenbar. Die darüber zu sehende Tabernakelarchitektur der Zeilen 5 bis 8 entstammt vollständig dem 19. Jahrhundert.
Rechts schließt das zentrale, elfzeilige Chorfenster, auch Marienfenster, oberhalb des Hochaltares an, das als einziges seit der Chorweihe 1434 am originalen Standort erhalten ist und fast vollständig aus mittelalterlicher Substanz besteht. Einzig die Architekturpartien sind Ergänzungen des 19. Jahrhunderts. Dargestellt ist eine Kreuzigung in weiß, flankiert von reicher gotischer Architektur, darüber befindet sich eine Krönung Mariens, bei der Maria links neben dem Gottvater und seinem Sohn bzw. unterhalb des Heiligen Geistes in Form einer Taube zu sehen ist. Durch die Darstellung der Jungfrau Maria wird Bezug auf einen der zwei ursprünglichen Hauptheiligen der Kirche genommen. Der untere Teil ist seit 1851 vermauert bzw. durch den Hochaltar verstellt, die hier einst befindlichen Scheiben sind auf andere Fenster verteilt, obgleich sich die ursprüngliche Anordnung rekonstruieren lässt.
Das nun folgende Georgsfenster, im Kern ebenfalls aus dem Jahr 1434 stammend, wurde im Laufe der Jahrhunderte stark und oft unsachgemäß repariert, wie es etwa durch falsche Größenverhältnisse vor allem im Bereich der Köpfe der verschiedenen Heiligen noch heute sichtbar ist. Bei der letzten Instandsetzung hat Linnemann 1898 sein Werk im mittleren Feld von Zeile 1 signiert. Ähnlich wie beim Katharinenfenster ist die hier zu sehende Biographie eines Heiligen, hier des namensgebenden Georg, in der kirchlichen Kunst vergleichsweise selten. Allerdings ist die Szenenabfolge gestört, nicht mehr vollständig und befasst sich nur mit Martyrium und den Ereignissen nach dessen Tod (Zeilen 1 bis 4). Die oberste Bahn enthält bekrönende gotische Architektur, die wie fast überall dem 19. Jahrhundert zuzurechnen ist.
Es schließt nun das einzige vierbahnige Fenster des Chores an, aufgrund seiner zahlreichen Heiligendarstellungen als Heiligenfenster bezeichnet. Eine in Zeile zwei zu findende Szene mit Joachim und Anna an der Goldenen Pforte unterscheidet sich stilistisch und ikonographisch sichtbar von den übrigen Darstellungen. Es handelt sich um den wahrscheinlich letzten Rest eines nicht mehr erhaltenen Annen-Fensters aus der Zeit der Chorweihe. Die übrigen Szenen, unter anderem die Anbetung der Könige, die vier Heiligen der obersten figürlichen Darstellung, Katharina, Cäcilia, Dorothea und Margaretha sowie die bekrönende Tabernakelarchitektur mit musizierenden Engeln entstammen einer zweiten Verglasungsperiode in den 1490er-Jahren. Der Rest mit weiteren Heiligendarstellungen sowie Szenen aus dem Leben Jesu ist eine Neuschöpfung aus dem Jahr 1898.
Das die Fensterfolge des Chores beschließende, ganz rechts in der Südwand befindliche Wappenfenster hat nur zwei Bahnen. Es wirkt etwas unbeholfen, als hier ohne Ergänzung ausschließlich Stifterwappen aus den zwei Verglasungsperioden des 15. Jahrhunderts zusammengeführt sind. Dadurch ist es andererseits nach dem Marienfenster das mit der meisten mittelalterlichen Substanz. Unter einer ornamentalen Bekrönung finden sich die Ehewappen der Familien Monis / Commeter, Monis / Prusse, Blume / Lamm, Rohrbach / Holzhausen, Rohrbach / Werstadt, Rohrbach / Leidermann, Monis / Budelkiste, Holzhausen-Prusse / Marburg, Degen / Blume sowie Blume / Lamm. Anhand stilistischer Kriterien lässt sich noch heute der ursprüngliche historische Kontext bei einigen Scheiben dieses Fensters näherungsweise rekonstruieren.
Übrige Fenster
Außerhalb des Hochchors ist nur ein weiteres figürliches Fenster zu sehen, das sich in der Südwand des Leonhardschors befindet. Die gestalterisch ausgefallene Scheibe des Glaskünstlers Wilhelm Buschulte ist eine Zusammenfügung von Glasmalereien des 17. bis 19. Jahrhunderts mit unterschiedlicher Provenienz. Einige Elemente der Scheibe sind offensichtlich glaskünstlerische Umsetzungen bekannter Druckgrafiken etwa von Albrecht Dürer.
1990–2003 wurden in den übrigen Fenstern der Kirche Bögen moderne Scheiben eingebaut, die die historische Entwicklung der Fenstermalerei und der Glaskunst bis in die Gegenwart fortführen. Zahlreiche Frankfurter Bürger und Institutionen haben sich daran beteiligt, was durch eine kleine Inschrift auf den Scheiben vermerkt ist. Die abstrakte künstlerische Gestaltung erlaubt verschiedene Deutungen, farblich sind die Gläser in einem weiten Spektrum von Gelb über Grün, Blau, Türkis bis hin zu lachsroten Tönen gehalten. Als Besonderheit enthalten die Scheiben vollplastische Elemente in Form von Glaskugeln, die bei Lichteinfall zu ungewöhnlichen optischen Effekten führen.
Der Alsdorfer Professor und Glasmaler Ludwig Schaffrath gestaltete drei Fenster, die sich in den Ostfenstern des Leonhardschors befinden.
Wandmalereien
Von der Ausmalung der verputzten Flächen und Gewölbe hat sich in St. Leonhard mehr mittelalterliche Substanz erhalten als in jeder anderen Frankfurter Kirche. Von den Übermalungen des 19. Jahrhunderts, die oftmals nicht auf gesicherten Resten beruhten, ist sie bis heute allerdings nur partiell befreit und denkmalgerecht konserviert.
Am besten erhalten ist eine Darstellung über dem Triumphbogen des Chores. Sie zeigt Christus als Weltenrichter, mit Maria und Johannes auf einem Regenbogen sitzend, zur Rechten die Lilie und den Chor der Seligen, zur Linken das Schwert und die Verdammten, darunter befinden sich die vereinten Wappen der Familien Rorbach und Melem. Das Bild war demnach eine patrizische Stiftung von Bernhard Rohrbach und Ursula von Melem, die 1501 heirateten und so einen Rückschluss auf die Entstehungszeit erlauben.
Ebenfalls in die erste Hälfte des 16. Jahrhunderts zu datieren ist eine auf die tatsächlich mittelalterlichen Reste zurückgenommene Darstellung an der Nordwand des Chores, die das apostolische Glaubensbekenntnis in Spruchbändern zeigt. Mit diesen sind die zwölf Apostel durch bereits von der Renaissance beeinflusste Ranken an einem Baum in Verbindung gebracht, darüber thront Christus. Das Gesamtbild wird rechts von einer Darstellung des heiligen Leonhard über einem nicht mehr zu entziffernden Stifterwappen flankiert. An der gegenüberliegenden Chorsüdwand ist eine Darstellung von Maria und Johannes unter dem Kreuz Christi mit zwei Engeln zu sehen, die noch von einer Restaurierung des 19. Jahrhunderts geprägt ist. Stilistisch weist sie dennoch so große Ähnlichkeiten mit der Darstellung des Glaubensbekenntnisses auf, dass sie auf jeden Fall aus derselben Zeit, möglicherweise sogar vom selben Künstler stammt.
Wesentlich älter, wohl aus der Zeit um 1440, ist ein Zyklus von Wandgemälden unterhalb der Fenster im Chorschluss. So ist auf dem nordöstlichen Fenstersockel eine volksnahe Darstellung der unbefleckten Empfängnis in Verbindung mit Mariä Verkündigung zu erkennen: vom Gottvater dringt ein vom Heiligen Geist in Form einer Taube geleiteter „Verkündigungsstrahl“ in das Ohr der Maria. Gegenüber ist eine Szene der Kreuztragung Christi zu sehen, rechts bzw. westlich gefolgt von einem Schweißtuch der Veronika über dem Rundsockel eines Chorfensters, in dem die Taufe Christi dargestellt wird.
Die heute zu sehende Ausmalung des Chores mit einem dreifarbigen Sternmuster entspricht der vermutlich ersten Fassung des 15. Jahrhunderts und ist durch Befunde gedeckt. Sie ersetzte 1960/61 eine nicht vollständig gesicherte Fassung des 16. bzw. 19. Jahrhunderts mit Rankenmotiven. Diese wohl zweite, bereits unter Einfluss der Renaissance stehende Fassung ging auf den Maler Hans Dietz von Epstein zurück und stammte aus dem Jahr 1536. Erhaltene Reste seiner ornamentalen Malerei finden sich noch in den Gewölben des nördlichen Seitenschiffs.
Orgel
Die Orgel wurde im Jahre 1958 von der Orgelmanufaktur E.F. Walcker & Cie. (Ludwigsburg) mit Kegelladen erbaut. Das Instrument hat 53 Register (ca. 4000 Pfeifen), verteilt auf vier Manuale und Pedal, wobei sich das Schwellwerk außerhalb der Hauptorgel auf der nördlichen Seitenempore befindet. Die Spiel- und Registertrakturen sind elektrisch.
Koppeln: II/I, III/I, IV/I, IV/III, I/P, II/P, III/P, IV/P
Spielhilfen: Tutti, 64-fache Setzeranlage, Crescendowalze, verschiedene Absteller
Glocken
Der alte Bestand
Bis zur letzten großen Sanierung der Kirche im 19. Jahrhundert befanden sich noch die fünf mittelalterlichen Glocken in den Apsidentürmen. Die größte und bedeutendste füllte mit einem unteren Durchmesser von 124 cm den gesamten Glockenboden des südlichen Turms und trug eine Inschrift in gotischen Minuskeln. Darüber hinaus war die Glocke mit figürlichen Darstellungen geschmückt, die Heilige und Evangelistensymbole zeigten. Laut einer archivalisch heute nicht mehr zu verifizierenden Angabe des Stadtchronisten Achilles August von Lersner wurde sie 1468 von Martin Moller aus Salza in Thüringen gegossen.
Älter, nämlich zum Teil noch aus dem 14. Jahrhundert waren vier weitere Glocken im nördlichen Turm. Obwohl die kleinste von ihnen 1883 in Dresden umgegossen wurde, hatte St. Leonhard damit bereits Ende des 19. Jahrhunderts die am besten erhaltene mittelalterliche Ausstattung mit Glocken aller Frankfurter Kirchen. Der hieraus resultierende besondere Denkmalschutzstatus bewahrte die Glocken im Zweiten Weltkrieg vor dem Abtransport auf den Glockenfriedhof. Doch gerade dies wurde dem wertvollen Ensemble im März 1944 zum Verhängnis, als die Apsidentürme bei schweren Luftangriffen auf Frankfurt niederbrannten, wobei die Glocken schmolzen.
Neuausstattung der Nachkriegszeit
Das bis heute in der Kirche befindliche sechsstimmige Geläute der Pfarr- und ehemaligen Stiftskirche wurde 1956 von Friedrich Wilhelm Schilling (Heidelberg) gegossen. Die Schlagtöne sind nach dem Konzept des Mainzer Musikprofessors Paul Smets auf das Frankfurter Stadtgeläute abgestimmt.
Literatur
Johann Friedrich Boehmer, Friedrich Lau: Urkundenbuch der Reichsstadt Frankfurt. Erster Band 794–1314. J. Baer & Co, Frankfurt am Main 1901.
Johann Friedrich Boehmer, Friedrich Lau: Urkundenbuch der Reichsstadt Frankfurt. Zweiter Band 1314–1340. J. Baer & Co, Frankfurt am Main 1905.
Andrea Hampel: Ausgrabungen in St. Leonhard in der Frankfurter Altstadt. In: Landesamt für Denkmalpflege Hessen (Hrsg.): Denkmalpflege und Kulturgeschichte 3/2019, S. 16–23.
Andrea Hampel, Kurt W. Alt, Petra Held, Franziska Martens, Lioba Renner: St. Leonhard in der Frankfurter Altstadt. Archäologie – Anthropologie. Henrich Editionen, Frankfurt am Main 2019, ISBN 978-3-96320-003-8 (nicht ausgewertet).
August Heuser: Die Krippe von St. Leonhard, Frankfurt am Main. Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg im Allgäu 2010, ISBN 978-3-89870-663-6.
Wolfgang Klötzer, Gottfried Frenzel, Ingeborg Limmer (Ill.): St. Leonhard zu Frankfurt am Main. Karl Robert Langewiesche Nachfolger, Königstein im Taunus 1982.
Matthias Theodor Kloft: St. Leonhard Frankfurt am Main. 5. Auflage. Schnell & Steiner Kunstführer Nr. 2196, Regensburg 2021, ISBN 978-3-7954-5944-4.
Achilles Augustus von Lersner: Der weit-berühmten Freyen Reichs-, Wahl- und Handels-Stadt Franckfurt am Mayn Chronica […]. Selbstverlag, Franckfurt am Mayn 1706.
Elena Mittelfarwick genannt Osthues: Die Architekturfassungen der Kirche St. Leonhard in Frankfurt am Main. In: Landesamt für Denkmalpflege Hessen (Hrsg.): Denkmalpflege und Kulturgeschichte 3/2019, S. 24–30.
Herbert Natale: Die St. Leonhardskirche im Spiegel der Frankfurter Stadt- und Kirchengeschichte. In: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte. 18. Jahrgang, Jaeger Druck GmbH, Speyer 1966.
Verena Smit, Bettina Schmitt (Hrsg.): Schätze aus dem Schutt. 800 Jahre St. Leonhard in Frankfurt am Main. Schnell & Steiner, Regensburg 2019, ISBN 978-3-7954-3486-1 (nicht ausgewertet).
Christiane Weber und Gesine Dietrich: Vom Retabel zum Sammlerstück und wieder retour. Das Kreuzigungsretabel aus St. Leonhard in Frankfurt am Main. In: Landesamt für Denkmalpflege Hessen (Hrsg.): Denkmalpflege und Kulturgeschichte 3/2019, S. 31–38.
Carl Wolff, Rudolf Jung: Die Baudenkmäler von Frankfurt am Main – Band 1, Kirchenbauten. Selbstverlag/Völcker, Frankfurt am Main 1896.
Weblinks
(abgerufen am 31. Oktober 2018)
Kirchort St. Leonhard auf der Webseite der Dompfarrei St. Bartholomäus (abgerufen am 31. Oktober 2018)
Webseite der englischsprachigen Gemeinde in St. Leonhard (abgerufen am 31. Oktober 2018)
(abgerufen am 31. Oktober 2018)
Einzelnachweise und Anmerkungen
Leonhard
Frankfurt Leonhard
Frankfurt Leonhard
Frankfurt Leonhard
Frankfurt Leonhard
Kulturdenkmal in Frankfurt-Altstadt
Kirchengebäude in Europa
Kirchengebäude in Frankfurt am Main
Frankfurt Leonhard
Frankfurt am Main im Mittelalter
Erbaut in den 1210er Jahren
Frankfurt
Frankfurt am Main, Leonhard
Frankfurt
Frankfurt, Leonhardskirche
Bauwerk in Frankfurt-Altstadt |
735163 | https://de.wikipedia.org/wiki/Pr%C3%A4graten%20am%20Gro%C3%9Fvenediger | Prägraten am Großvenediger | Prägraten am Großvenediger ist eine Gemeinde mit Einwohnern (Stand ) im österreichischen Bundesland Tirol im Bezirk Lienz (Osttirol). Das Gemeindegebiet umfasst das hintere Virgental sowie dessen Nebentäler. Umfangreiche Teile des Gemeindegebietes gehören zum Nationalpark Hohe Tauern.
Prägraten ist mit rund 180 km² zwar die viertgrößte Gemeinde des Bezirkes, weist jedoch mit Einwohnern bei rund sieben Einwohnern pro Quadratkilometer die zweitniedrigste Bevölkerungsdichte des Bezirkes auf.
Erste Besiedelungsspuren aus dem 5. Jahrhundert vor Christus werden mit dem Kupferbergbau in Zusammenhang gebracht. Später war das Gebiet fast ausschließlich von der Landwirtschaft geprägt. Nach dem Zweiten Weltkrieg gewann der Tourismus immer stärkeren Einfluss auf die Wirtschaft. Heute gehört Prägraten zu den Gemeinden mit der höchsten Anzahl an Übernachtungen in Osttirol. Des Weiteren ist die Landwirtschaft eine wichtige Einnahmequelle der Bevölkerung.
Geographie
Lage
Prägraten liegt im nordwestlichen Osttirol und ist mit einer Fläche von km² die viertgrößte Gemeinde im Bezirk Lienz. Die Gemeinde umfasst das westliche, von der Isel durchflossene Virgental von der Iselschlucht bis zum Talschluss sowie die angrenzenden Nebentäler. Mit einem Anteil von 105,84 km² am Nationalpark Hohe Tauern stehen 59 % des Gemeindegebiets unter Naturschutz.
Prägraten ist verwaltungstechnisch in fünf Weiler und Fraktionen unterteilt, wobei sich der Großteil des besiedelten Gebietes linksseitig der Isel befindet. Das Zentrum der Gemeinde mit der Pfarrkirche wird vom Ort Sankt Andrä () gebildet. Der höchste Punkt des Gemeindegebietes ist der Gipfel des Großvenedigers mit einer Höhe von
Gemeindegliederung
Prägraten umfasst die fünf Ortsteile Bobojach, Wallhorn, Sankt Andrä, Bichl und Hinterbichl (von Ost nach West), die sich im Osten des Gemeindegebietes entlang der Isel aneinanderreihen. Das westliche Gemeindegebiet ist auf Grund der Höhenlage unbesiedelt. Am östlichen Eingang des Gemeindegebiets liegt an der Landesstraße links der Isel der Weiler Bobojach mit der Josefskapelle (). Bobojach besteht aus einem kompakten Dorfkern und mehreren Einzelhöfen (Haufendorf). Westlich von Bobojach schließt sich die Streusiedlung Wallhorn an, auf die der Hauptort Sankt Andrä folgt. St. Andrä, auf einem Schwemmkegel des Timmelbachs gelegen, weist in Bereich des alten Dorfkerns die Siedlungsform eines Haufendorfs auf. Die Gebäude gruppieren sich dabei fast ausschließlich linksseitig der Isel entlang des Timmelbachs sowie westlich des Timmelbachs. Lediglich der Ortsteil Losach mit dem Freizeitzentrum liegt rechts der Isel.
Die Fraktion Bichl liegt westlich von Sankt Andrä auf einer Anhöhe über der Isel (). Die Gebäude gruppieren sich um die Heiligen-Geist-Kapelle, im Norden schließt sich der Hof Oberbichl an. Östlich endet die Landesstraße an der Mündung des Dorfer Bachs in die Isel. Hier liegt der Ortsteil Hinterbichl (), zu dem neben der zentralen Häuser- und Hofgruppe westlich der Kapelle mehrere Einzelhöfe gehören. Letzter besiedelter Weiler im Westen des Gemeindegebietes ist der zu Hinterbichl gehörende Weiler Ströden (). Höchste Dauersiedlung ist der Groderhof auf einer Anhöhe über Hinterbichl ().
Flächennutzung
Durch den hochalpinen Charakter des Gemeindegebietes stehen in Prägraten nur wenige Siedlungsflächen zur Verfügung. Auf Grund der Unwirtschaftlichkeit ist der einst zur Selbstversorgung betriebene Ackerbau praktisch verschwunden. Von der Gesamtfläche von rund 18.000 Hektar entfallen 46 Prozent auf unproduktives Land (Ödland), acht Prozent sind bewaldet, 43 Prozent Almen und nur zwei Prozent sind landwirtschaftliche Nutzfläche.
Nachbargemeinden
Die Gemeinde Prägraten ist durch die Lasörlinggruppe im Süden sowie durch die Venedigergruppe im Westen und Norden von seinen Nachbargemeinden getrennt. Die Gemeindegrenzen decken sich weitgehend mit dem Einzugsgebiet der Isel bis zu Iselschlucht. Eine befahrbare Verbindung besteht lediglich zur ebenfalls im Virgental gelegenen Gemeinde Virgen, östlich von Prägraten. Im Nordosten grenzt Prägraten zwischen dem Hohen Eichham und dem Großvenediger an Matrei in Osttirol. Vom Großvenediger im Norden schließt sich nach Südwesten bis zur Dreiherrnspitze die Landesgrenze zu Salzburg mit den Gemeinden Krimml und Neukirchen am Großvenediger an. Im Westen verläuft zwischen Dreiherrnspitze und Rötspitze die Staatsgrenze zu Italien mit der Südtiroler Gemeinde Prettau. Im Südwesten grenzt Prägraten an das Gemeindegebiet von Sankt Jakob in Defereggen.
Geologie und Morphologie
Das Iseltal ist im Bereich von Prägraten asymmetrisch ausgeprägt. Die Siedlungsflächen liegen fast ausschließlich auf dem linksseitigen, nach Süden ausgerichteten relativ flachen Hang. Der rechtsseitige Hang fällt hingegen steil ab und ist bis in die Talniederung mit Wald bedeckt. Die nördlichen Zuflüsse der Isel haben im Zentralgneis und der darüber liegenden Schieferhülle stark gegliederte Seitentäler geschaffen. Die südlichen Zuflüsse konnten im dortigen Gneisphyllit hingegen nur kurze Kerbtäler mit geringer Wasserführung herausbilden.
Typische Gesteine im Iseltal sind der Kalk-Glimmerschiefer und der Grünschiefer. Beide Gesteinsarten gehören der tektonischen Einheit des Tauernfensters an.
Gebirge
Prägraten am Großvenediger liegt im namensgebenden Gebiet der Venedigergruppe, die zu den Hohen Tauern (Österreichische Zentralalpen) gehört. Die höchsten Erhebungen befinden sich im nordöstlichen Gemeindegebiet an der Grenze zu Matrei und Salzburg. Die höchsten Gipfel sind der Großvenediger (), gefolgt von der östlich verlaufenden Gebirgskette mit dem Rainerhorn (), der Schwarzen Wand (), dem Hohen Zaun () und der Kristallwand (). Südlich schließen sich Weißspitze () und der Hohe Eichham () an. Vom Großvenediger nach Westen verläuft der Hauptkamm der Gebirgsgruppe weiter über den Großen Geiger () zu den Simonyspitzen (), der Dreiherrnspitze () und der Rötspitze (). Die Venedigergruppe ist in diesen Bereichen noch stark vergletschert und umfasst mit dem Umbalkees das Quellgebiet der Isel. Im Süden wird Prägraten vom südlichen Ausläufer der Venedigergruppe, der Lasörlinggruppe begrenzt. Da die Grenze zum benachbarten Defereggental entlang der Wasserscheide verläuft, liegen die Gipfel des Lasörlings (), des Stampfleskopfs und der Finsterkarspitze auf dem Gemeindegebiet von Prägraten.
Panorama vom Lasörling auf die Venedigergruppe
Flüsse und Gewässer
Bestimmender Fluss im Gemeindegebiet ist die Isel, die im Umbaltal am Umbalkees entspringt und dort die Umbalfälle bildet. Die wasserreichsten Zuflüsse münden linksseitig in die Isel, wobei der Maurerbach, der Dorfer Bach (Hinterbichler Dorfertal) und der Timmelbach (Timmeltal) weite Täler ausgebildet haben. Sie verfügen selbst über zahlreiche kleine Zuflüsse. Die linksseitigen Zuflüsse der Isel sind wesentlich kürzer und weniger verzweigt als die nördlichen Zuflüsse. Im Bereich des Umbaltals münden die relativ kurzen Zuflüsse Reggenbach und Zopalbach rechtsseitig in die Isel, größere Zuflüsse im Süden des Virgentals sind Daberbach, Großbach, Kleinbach, Lasnitzbach und Zopanitzenbach. Auf dem Gemeindegebiet von Prägraten befinden sich zudem mehrere Bergseen, von denen der Eissee der größte ist.
Klima
Prägraten liegt im Bereich des mitteleuropäischen Klimas. Das Klima Prägratens weist jedoch auch mediterrane Einflüsse auf, die im Winter eine geringe Schneehöhe und eine verkürzte Dauer der Schneedecke bewirken. Des Weiteren sind die Wintertemperaturen wesentlich höher als in vergleichbaren Regionen. So liegt das Jännermittel von Prägraten in einem ähnlichen Bereich wie das um 540 Meter niedriger gelegene Kitzbühel an der Nordseite der Tauern.
Die größten Niederschlagsmengen fallen in Prägraten in den Sommermonaten. Die Wintermonate Dezember bis Februar weisen den geringsten Niederschlag auf. Die durchschnittliche jährliche Niederschlagsmenge betrug zwischen 1980 und 2003 911 Millimeter.
Bevölkerung
Bevölkerungsentwicklung
Bevölkerungsstruktur
In der Gemeinde Prägraten lebten 2019 genau 1126 Menschen. Laut der Volkszählung 2001 waren 99,5 % der Bevölkerung österreichische Staatsbürger (Tirol: 90,6 %). Zur römisch-katholischen Kirche bekannten sich 98,5 % der Einwohner (Tirol: 83,4 %), es gab lediglich drei Mitglieder der Evangelischen Kirche und zwei Menschen ohne religiöses Bekenntnis. Der Altersdurchschnitt der Gemeindebevölkerung lag 2001 deutlich unter dem Landesdurchschnitt. 23,2 % der Einwohner Prägratens waren jünger als 15 Jahre (Tirol: 18,4 %), 58,7 % zwischen 15 und 59 Jahre alt (Tirol: 63,0 %). Der Anteil der Einwohner über 59 Jahren lag mit 18,1 % etwa im Landesschnitt von 18,6 %. Nach dem Familienstand waren 55,3 % der Einwohner von Prägraten ledig, 39,0 % verheiratet, 4,3 % verwitwet und 1,4 % geschieden, wobei insbesondere die niedrige Scheidungsrate vom Landesdurchschnitt (4,8 %) abweicht.
Vom Ende des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts verlief die Bevölkerungsentwicklung Prägratens leicht steigend beziehungsweise stagnierend. Mitte des 19. Jahrhunderts lebten rund 750 Menschen in der Gemeinde. Durch den verstärkten Handel mit landwirtschaftlichen Produkten wurde der Getreideanbau zunehmend unrentabel und die Landwirtschaft daher auf die Viehzucht umgestellt. Der geringere Arbeitskräftebedarf in der Viehzucht führte bis zur Jahrhundertwende zu einer zunehmenden Abwanderung, insbesondere nach Lienz. Die Abwanderung setzte sich bis in die 1920er Jahre fort, verlangsamte sich jedoch ab der Jahrhundertwende. Durch den Aufschwung des Tourismus stieg die Bevölkerungszahl bis 1934 stark um 28 % an, wobei unklar ist, ob der Anstieg durch den Geburtenüberschuss oder Zuwanderung entstand. Danach verlief der Anstieg der Einwohnerzahl langsamer und beschleunigte sich nach dem Zweiten Weltkrieg wieder. Bis zum Beginn der 1980er Jahre steigerte sich die Einwohnerzahl auf über 1200 Menschen, was einer Verdoppelung der Bevölkerung gegenüber den 1920er Jahren entspricht. Danach stagnierte die Einwohnerzahl auf diesem Niveau, um dann nach der Jahrtausendwende trotz positiver Geburtenbilanz wegen der Abwanderung wieder zu sinken.
Geschichte
Erste Besiedelung
Eine in Hinterbichl entdeckte Steinkiste aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. ist der älteste Beleg für die Anwesenheit von Menschen auf dem heutigen Gemeindegebiet. Da ein im benachbarten Virgen (Welzelach) bestehendes Steinkisten-Gräberfeld mit dem Kupferbergbau in Verbindung gebracht wird, lässt auch das Steinkistengrab in Hinterbichl auf anwesende Erzsucher und Bergknappen zu dieser Zeit schließen. Um 100 vor Christus fiel der Osttiroler Raum mit dem Virgental an die Kelten, deren Herrschaftsgebiet bereits um 15 v. Chr. friedlich an das Römische Reich kam. Nach dem Untergang des Römischen Reiches und der Schlacht bei Aguntum 610 zwischen Baiern und Slawen drangen die siegreichen Slawen in die Täler Osttirols ein. Die heute noch bestehenden Flurnamen wie Bobojach und jene mit Endungen auf -itz (Zopanitz, Lasnitz, Islitz) belegen die slawische Siedlungstätigkeit auch auf dem Gebiet des heutigen Prägraten. Nach dem Verlust der slawischen Vormachtstellung gegenüber den Baiern setzte ab 769 durch die Gründung des Klosters Innichen die erneute Christianisierung der Region ein. Baiern siedelten sich nach und nach friedlich im Virgental an. Die slawische Sprache starb infolge allmählich aus.
Landeshoheit und Herrschaft Virgen
Im 11. Jahrhundert war das Virgental Teil des Herzogtums Kärnten. Dieses zerfiel in der Folge in vier Gaue, wobei das Virgental ein Teil des Lurngaus war. Der Lurngau unterstand den gleichnamigen Grafen von Lurngau (Meinhardiner), die sich ab 1120 als Grafen von Görz bezeichneten. Prägraten selbst war im Hochmittelalter eng mit dem benachbarten Ort Virgen und der dort 1182/83 errichteten Burg Rabenstein verbunden, die Mitte des 13. Jahrhunderts im Besitz von Albert III. von Tirol stand. Im Kampf gegen das Erzbistum Salzburg verlor Albert III. die Burg Virgen an Salzburg, deren Verlust 1252 mit dem Frieden von Lieserhofen bestätigt wurde. Vermutlich war zu dieser Zeit mit der Herrschaft über die Burg die Herrschaft über das umliegende Land verbunden. Der spätere Gerichtsbezirk Virgen mit dem Gerichtssitz Rabenstein umfasste dabei neben dem Gebiet von Virgen auch das hintere Virgental (Prägraten) und Teile des südlich gelegenen Sankt Jakob in Defereggen. Auch in kirchlicher Hinsicht war Prägraten mit Virgen verbunden. Der 1165 erstmals genannte Pfarrer von Virgen betreute über Jahrhunderte auch Prägraten und Teile von Sankt Jakob in Defereggen.
Nach dem Tod Alberts III. wurde die Herrschaft über die Burg an Alberts Erben verliehen. 1271 setzte Albert von Görz Rabenstein als Pfand für die Einhaltung eines Vertrages ein. Die Rechte der Görzer an „Burg und die Gegend“ wurden 1292 und 1308 vom Salzburger Erzbischof bestätigt. Die Landesherrschaft stand dabei bis ins 18. Jahrhundert formell in Abhängigkeit zur Salzburger Lehenshoheit. Dieser Umstand wirkte sich jedoch in der Praxis kaum aus.
Erstnennung und grundherrschaftliche Verhältnisse
1162 wird Prägraten erstmals in Zusammenhang mit einer Schenkung von Gütern des Grafen Arnolds von Greifenstein an das Augustiner Chorherrnstift Neustift bei Brixen als „Pregat“ genannt. Der Name leitet sich aus dem Slawischen ab und bedeutet „Vor der Burg“. Diese Burg könnte sich auf dem „Bichl“ befunden haben. Reste eines Walls haben sich dort bis heute erhalten. Alternativ, und detto mit Bezug auf die Burg, könnte man den Namen auf slav. pregrada: Sperre/Wall/Einfriedung zurückführen.
Der überwiegende Teil der Güter Prägratens unterstand jedoch den Landesherren, im Mittelalter den Görzern. Die Görzer legten um 1299 für ihre Besitzungen ein Urbar an, in dem alle ihre Besitzungen und der damit verbundene Grundzins verzeichnet wurde. Im Görzer Urbar werden für Prägraten zahlreiche Höfe in allen heute bestehenden Fraktionen, darunter mehrere Schwaighöfe, genannt. Bobojach wird hier erstmals als „Pobeyach“ angeführt. Die Bewohner der Prägratner Höfe unterlagen großteils dem Freistiftrecht, das die Bevölkerung durch hohe Abgaben belastete und dem Grundherren umfangreiche Rechte zugestand. So war es dem Grundherren unter anderem möglich, den Pächter jährlich zu kündigen. Da die Höfe üblicherweise lange Zeit im Besitz der Familien standen, wurde dieses Recht in Prägraten vermutlich nur selten ausgeübt.
Prägraten in der Neuzeit
Nach dem Tod Graf Leonhards von Görz fielen die Görzer Besitzungen im Jahre 1500 an Maximilian I., der diese im Februar 1501 an seine Grafschaft Tirol angliederte. Maximilian behielt aus Geldmangel jedoch nur die Landeshoheit und verkaufte 1501 die Grafschaft an Michael von Wolkenstein-Rodenegg. Durch den Verkauf des Gebietes scheiterte unter anderem die geplante Umwandlung der Freistiftgüter in die Erbleihe. Für die Bauern Prägratens bedeutete dies eine Fortführung der starken Belastungen. Nach dem Konkurs der Grafen Wolkenstein kaufte 1653 das Haller Damenstift die ehemaligen Görzer Besitzungen um 142.000 Gulden auf. Die Hoffnung der Bauern auf eine Entlastung durch das Kloster wurde jedoch enttäuscht, auch bei Missernten mussten weiterhin hohe Abgaben geleistet werden. Erst nach der Aufhebung des Damenstiftes 1783 durch Kaiser Joseph II. kam es zu einer teilweisen Entlastung der bäuerlichen Bevölkerung. Große Teile der Schulden wurden den Bauern erlassen, zudem die jährlichen Abgaben verringert. Das Gericht Virgen wurde in der Folge unter staatliche Verwaltung gestellt.
Die Bevölkerung lebte auch in der Neuzeit fast ausschließlich von der Landwirtschaft, in geringerem Umfang wurde auch Bergbau betrieben. Die von den Bauern produzierten Güter wurden 1545 detailliert in den Pustertalischen Beschreibungen, einem Steuerregister, vermerkt. Die Bevölkerung führte zu dieser Zeit vor allem Getreide (Hafer, Roggen, Weizen und Gerste) und Bohnen aber auch Eier, Hühner und Lämmer an die Grundherren als Grundzins ab. Wie das Steuerregister aus dieser Zeit belegt, kam es im 16. Jahrhundert durch das Bevölkerungswachstum verstärkt zu Hofteilungen. Das unproduktive Land musste in der Folge immer mehr Familien versorgen. Des Weiteren geben die Pustertalischen Beschreibungen Auskunft über damals bestehende Siedlungsstruktur. Mit der Oberen beziehungsweise Unteren Rotte bei Sankt Andrä, der Rotte auf Walhern (Wallhorn), der Isslitzer Rotte (Hinterbichl) und der Rotte am Pabeyach (Bobojach) bestanden fünf Rotten auf dem heutigen Gemeindegebiet.
Die Ursprünge der Prägratner Pfarrkirche reichen bis in das 15. Jahrhundert zurück. 1516 wurde die dem heiligen Apostel Andreas geweihte Kirche nach einem Ausbau mit zwei Seitenaltären neu geweiht. Die Kirche stand jedoch über Jahrhunderte unter der Patronanz der Pfarre Virgen. 1719 bewilligte das Haller Damenstift den Antrag der fünf Prägratner Rotten zur Einrichtung eines eigenen Vikariates. Zuvor war lediglich einmal pro Monat eine Messe in der Kirche Sankt Andrä gelesen worden. Für einen regelmäßigen Messbesuch hatte die Prägratner Bevölkerung einen oft stundenlangen Fußmarsch nach Virgen in Kauf nehmen müssen. Für die Einrichtung des Vikariates verpflichteten sich die Bewohner der Rotten zur Errichtung eines Vikariathauses mit Gemüsegarten und zur Ablieferung von Naturalien an den Vikar. Am 22. Dezember 1719 genehmigte auch der Salzburger Erzbischof die Errichtung des Vikariats mit einem festen Kuraten. Um 1721/22 erhielt Prägraten zusätzlich einen eigenen Friedhof, da zuvor alle Toten nach Virgen transportiert werden mussten. Die Vikariatskirche wurde noch im 18. Jahrhundert erweitert.
Prägraten im 19. Jahrhundert
Nach der Niederlage der österreichischen Truppen in der Schlacht bei Austerlitz (1805) wurde Österreich verpflichtet, Tirol an Bayern abzutreten. Die bayrische Regierung gliederte das Gebiet in der Folge dem Landgericht Virgen an. Nach dem Sieg Napoleons über Österreich im Herbst 1809 fiel auch Salzburg mit dem benachbarten Matrei an Bayern. Noch im selben Jahr organisierten die Iseltaler Schützen den Widerstand gegen die französische Besatzung. Nach anfänglichen Erfolgen gegen die französischen Truppen besetzten diese im Dezember 1809 das gesamte Iseltal mit seinen Nebentälern. Prägraten wurde 1810 den neugeschaffenen drei illyrischen Provinzen zugeschlagen, jedoch bereits 1813 von der Besatzung der Franzosen befreit.
Im Zuge der Neuordnung vereinigte Kaiser Franz II. 1813 die Herrschaft Matrei mit dem übrigen Tirol. Das Gericht Virgen mit Prägraten wurde 1817 dem k.k. Landgericht Windisch-Matrei (später Bezirksgericht Matrei) zugeschlagen. Die fünf Rotten Hinterbichl, Bobojach, Wallhorn sowie die zwei Rotten St. Andräs wurde in der Folge zur Gemeinde Prägraten zusammengeschlossen, unterstanden jedoch anfangs der Gemeinde Virgen. 1822/23 wurde das Langhaus der Kirche St. Andrä um zwei Joche erweitert, da sie auf Grund des Bevölkerungswachstums zu klein geworden war. 1891 wurde die Kirche St. Andrä zur Pfarrkirche erhoben.
Die wirtschaftliche Grundlage der Gemeinde bildete bis zum Ersten Weltkrieg fast ausschließlich die Landwirtschaft. Der Erzabbau wurde bereits im 17. Jahrhundert eingestellt. Die Höhenlage des Gemeindegebiets führte zu einer sehr geringen Produktivität in der Landwirtschaft und brachte dem Gebiet den Ruf ein, die „ärmste Gemeinde Osttirols“ zu sein. Durch die hohe Armut beschloss die Bevölkerung der Gemeinde geschlossen nach Nordamerika auszuwandern. Das Vorhaben wurde jedoch durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs verhindert. Dennoch erlitt die Gemeinde durch die Abwanderung, insbesondere in die Stadt Lienz, bis dahin starke Bevölkerungsverluste. Um die Jahrhundertwende wurde die Landwirtschaft vom Ackerbau hin zur Viehzucht geändert, der Tourismus hatte Anfang des 19. Jahrhunderts hingegen nur eine geringe Bedeutung. 1845 war zum ersten Mal der Großvenediger von Prägraten aus bestiegen worden, nach der Errichtung der Johannishütte 1857 durch Erzherzog Johann war Prägraten bis 1865 der Hauptausgangspunkt für Touren auf den Großvenediger. 1872 folge der Bau der Clarahütte, 1887 wurde das Defreggerhaus eröffnet. Bis zur Jahrhundertwende handelte es sich bei den Schutzhütten um unbewirtschaftete, primitive Bergsteigerlager. 1904 standen den Bergsteigern in Prägraten sieben autorisierte Bergführer zur Verfügung.
Prägraten zwischen 1918 und 1945
Im Ersten Weltkrieg kehrten 24 Männer nicht aus dem Kriegsdienst zurück. Wirtschaftlich traf die bäuerliche Bevölkerung der Zusammenbruch Österreich-Ungarns auf Grund der möglichen Selbstversorgung weniger hart als die städtische Bevölkerung. Von den Infrastrukturmaßnahmen in der Zwischenkriegszeit profitierte die Gemeinde Prägraten stark. Die zwischen 1924 und 1933 mit fünf Tunneln errichtete Virgentalstraße band Prägraten an Virgen und Matrei und somit erstmals an ein überregionales Straßennetz an. Dadurch war Prägraten für Touristen leichter zu erreichen. Ab 1925 verbrachten auch die Wiener Sängerknaben die Sommerzeit in der Gemeinde. 1930 wurde in Hinterbichl das Hotel Wiener Sängerknaben mit 150 Betten eröffnet, das über eine eigene Schlachterei, Bäckerei, ein Elektrizitätswerk und eine Wasserleitung verfügte. Die Anwesenheit der Sängerknaben und der zunehmende Zustrom von Sommerfrische-Touristen führten zu einer starken Steigerung der Nächtigungszahlen zwischen 1926 (1.913 Übernachtungen) und 1933 (15.356 Übernachtungen). Trotz der Umsatzsteigerungen durch den Tourismus hatte die Weltwirtschaftskrise in Osttirol schwere Auswirkungen. Kaufkraftschwund und Konsumrückgang führten zu einer Agrarkrise, die zahlreiche Zwangsversteigerungen von Landwirtschaftsbetrieben auslöste. Die NSDAP versuchte in Osttirol die steigende Unzufriedenheit zu nutzen. Nach einer Erhebung der Bezirkshauptmannschaft Lienz gab es im Virgental jedoch kaum Mitglieder der nationalsozialistischen Partei. Von der 1933 verhängten Tausend-Mark-Sperre war der Bezirk Osttirol nur wenig betroffen, da der geringe Anteil an reichsdeutschen Urlaubern von Besuchern aus Österreich und der Tschechoslowakei ausgeglichen werden konnte.
Nach dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich 1938 wurde Osttirol dem Gau Kärnten zugeschlagen. Mitte März erfolgten die ersten Verhaftungen von ehemaligen Repräsentanten des Ständestaates, politischen Feinden und Lienzer Juden. Auf lokaler Ebene führte insbesondere die Einschränkung des kirchlichen Lebens zu Konflikten, etwa durch die Auflösung katholischer Vereine und die Beschneidung des Brauchtums. Gleichzeitig wurde die Bevölkerung in die nationalsozialistischen Teilorganisationen eingebunden. Das Heim der Wiener Sängerknaben in Prägraten wurde in der Folge von der nationalsozialistischen Volkswohlfahrt als Erholungsheim für die Kinderlandverschickung genutzt. Das Arbeitsbeschaffungsprogramm insbesondere im Baugewerbe und Rüstungswesen sowie die Gemeindeentschuldung sollte die Wirtschaft ankurbeln. Prägraten profitierte mit Gemeindeschulden von 33.000 Reichsmark von dieser teilweisen Entschuldung. Die Anfang 1942 durchgeführte Beschlagnahmung der Kirchenglocken führte in Prägraten zu Widerstand. In Bichl wurden drei, in Hinterbichl wurde eine Glocke vor dem Abtransport versteckt. Die Beteiligten wurden zu mehrmonatigen Haftstrafen verurteilt. Von den zum Kriegsdienst verpflichteten Prägratnern starben 36 an der Front oder blieben vermisst.
Prägraten nach dem Zweiten Weltkrieg
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden in Prägraten zahlreiche Infrastrukturprojekte durchgeführt. Zwischen 1949 und 1951 errichtete die Gemeinde ein neues Schulgebäude, 1951 wurde im Dorf die Gemeindewasserversorgung hergestellt. In der ersten Hälfte der 1960er Jahre folgten Investitionen in die Erweiterung und Renovierung der Pfarrkirche und den Bau eines neuen Pfarrheims. Die Hochwasserkatastrophe 1965/66 traf Prägraten mit einem Schaden von 2,5 Mio. Schilling schwer. Um weitere Katastrophen zu verhindern, wurde zwischen 1967 und 1974 der Timmelbach verbaut.
Ab den 1950er Jahren entwickelte sich in Prägraten der Tourismus immer stärker. Unterstützt vom rasanten Wirtschaftswachstum in Österreich und der Eröffnung der Felbertauernstraße 1967, konnte Prägraten die Zahl der Übernachtungen laufend steigern. Um auch den Anteil des Wintertourismus zu erhöhen, investierte die Gemeinde in den Bau von vier Schleppliftanlagen (1962 bis 1971). Bis in die 1980er Jahre stiegen die Übernachtungen in der Gemeinde ständig. Danach begann, wie im gesamten Bezirksgebiet, ein Abschwung in den Nächtigungszahlen.
Bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg war die Gemeinde Prägraten mit dem nördlichen Osttirol in zahlreiche Kraftwerkspläne einbezogen worden. Die höchste Realisierungschance genoss lange Zeit das Kraftwerksprojekt Dorfertal, für das Bäche aus dem ganzen nördlichen Osttirol in einen Großspeicher im Kalser Dorfertal geleitet werden sollten. Der wachsende Widerstand der aufkeimenden Umweltbewegung und Pläne für einen Nationalpark in den Hohen Tauern verhinderte letztlich das Projekt. Nach dem Aus für das Kraftwerksprojekt 1989 wurde die Umsetzung des Nationalparks Hohe Tauern vorangetrieben. In einer Volksbefragung lehnten die Prägratner 1991 dessen Errichtung jedoch mit über 90 % ab. Neben den landwirtschaftlichen Einschränkungen spielte die zuvor von Innsbruck abgelehnte Erschließung des Großvenediger-Gletschergebietes eine Rolle. Dennoch wurde die Errichtung des Nationalparks 1991 beschlossen und Prägraten zur Nationalparkgemeinde, wobei mehr als die Hälfte der Gemeindefläche unter Naturschutz gestellt wurde. Nach der Jahrtausendwende investierte die Gemeinde Prägraten stark in den Ausbau der Wasserkraft und es wurde von der Tiroler Wasserkraft AG (TIWAG) ein Hochdruck-Kleinwasserkraftwerk am Dorferbach errichtet und 2007 in Betrieb genommen. Die Sajathütte wurde nach der Zerstörung durch eine Staublawine im April 2001 wieder errichtet und 2002 eingeweiht. Für überregionale Schlagzeilen sorgte die viel kritisierte Umbenennung des Mullwitzkogel in Wiesbauerspitze im Juli 2007. Die Gemeinde Prägraten, 2006 bis 2008 Etappenziel der Österreich-Rundfahrt, hatte die Umbenennung im Zuge der Kooperation mit dem Toursponsor und Wurstfabrikanten Wiesbauer durchgeführt, der auf seinen Produkten für Urlaub in Prägraten warb.
Kultur und Sehenswürdigkeiten
Zu den wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Gemeinde Prägraten zählen die zahlreichen kirchlichen Bauten. Die Pfarrkirche Sankt Andrä geht auf eine Kapelle zurück, die bereits im 15. Jahrhundert existierte. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts wurde sie erweitert und 1516 neu geweiht. Das Bevölkerungswachstum machte weitere Verlängerungen des Langhauses im 19. und 20. Jahrhundert notwendig. Kennzeichnend für die Prägratner Pfarrkirche ist ein eingezogener Chor, das steile Satteldach und ein im Kern gotischer Nordturm mit spitzbogigen Schallfenstern und Zwiebelhaube. Neben der Pfarrkirche Sankt Andrä existieren in der Gemeinde elf weitere Kapellen. Eine der ältesten und auffälligsten liegt in der Fraktion Hinterbichl. Die in unverputztem Bruchsteinmauerwerk ausgeführte „Kapelle zum Heiligen Chrysanth und Sebastian“ wurde vermutlich im 16. oder 17. Jahrhundert errichtet.
Neben den kirchlichen Bauten zählen vor allem Gebäude der bäuerlichen Kultur zu den Sehenswürdigkeiten von Prägraten. Die Islitzer Mühle, eine funktionsfähige Kornmühle am Dorferbach, kann ebenso besichtigt werden, wie das Heimatmuseum Oberbichl mit seiner erhaltenen „Rauchkuchl“ und zahlreichen bäuerlichen Arbeitsgeräten und Alltagsgegenständen. Im Mitterkratzerhof, einem über 200 Jahre alten Hof auf dem Bichl, wurde eine Informationsstelle des Österreichischen Alpenvereins und des Nationalparks Hohe Tauern eingerichtet, in dem Ausstellungen und Vorträge veranstaltet werden.
Das Naturschauspiel der Umbalfälle an der oberen Isel ist ebenfalls Anziehungspunkt für zahlreiche Besucher.
Kultur und Brauchtum
Der älteste Kulturverein der Gemeinde ist die 1849 gegründete Musikkapelle. Sie besteht aus rund 60 Musikern und verfügt seit 2002 über eine eigene Jugendblaskapelle. Traditionell veranstaltet die Blaskapelle jährlichen am Ostersonntag ein Frühjahrskonzert und ein Festkonzert am Hohen Frauentag (15. August) sowie zahlreiche kleinere Konzerte im Sommer. Der 1962 gegründete Heimatchor Prägraten kann ebenfalls auf eine jahrzehntelange Tradition verweisen; dieser trägt kirchliche, weltliche sowie Volkslieder vor und veranstaltet regelmäßig „Kranzlsingen“. Die beiden Theatervereine der Gemeinde wurden hingegen erst in den 1990er Jahren gegründet. Während die Prägratener Dorfkomödianten Komödien, Sketche, Pantomime zur Aufführung bringen, bietet der Theaterverein Prägraten vor allem bäuerliche Schauspiele dar.
Auf eine weit längere Tradition kann die 1908 gegründete Prägratener Schützenkompanie verweisen. Sie nimmt alljährlich an fünf Prozessionen teil und besteht aus etwa 45 Personen. Wesentlich jünger ist hingegen der Nikolaus-Klaubaufverein, der erst 2003 ins Leben gerufen wurde und sich die Erhaltung dieses Brauches zum Ziel gesetzt hat. Beim Umzug geht der Nikolaus mit seinen Engel von Haus zu Haus und bittet um Einlass. Ihm folgen die Krampusse mit geschnitzten Masken, Fell und lauten Glocken. Die Klaubauftage mit Hausbesuchen finden von 1. bis 6. Dezember statt. Am 6. Dezember endet der Brauch mit dem Ausläuten auf dem Dorfplatz.
Sport
Prägraten ist seit 2006 Etappenziel der Österreich-Rundfahrt und beherbergt drei Sportvereine. Größter ist die 1955 gegründete Sportunion Prägraten am Großvenediger. Bereits im Gründungsjahr wurde im Bereich des heutigen Waldstadions mit der Errichtung eines kleinen Sportplatzes begonnen. Der Fußballplatz wurde 1956 mit einem Eröffnungsspiel gegen Union Matrei eröffnet. Nach und nach wurde der Verein um mehrere Sektionen erweitert und umfasste 2007 die Sektionen Fußball, Schi-Alpin, Langlauf, Kegeln, Paragleiten und Tennis sowie die inaktiven Sektionen Eisstock und Rodeln. Der Fußballverein Prägraten nimmt auf Grund der Entfernung zu Nordtirol, wie alle Osttiroler Vereine, an den Meisterschaften der Kärntner Liga teil und trägt seine Spiele im 1975 errichteten Waldstadion aus. Im Sommer 2019 gründete die Sportunion Prägraten gemeinsam mit Virgen eine Spielgemeinschaft die SG Virgental. Womit sie in der 1. Klasse A teilnehmen. Neben der Sportunion wurde 1994 der Eishockeyclub EC Black Devils Prägraten gegründet. Die Black Devils spielen seit 2002 in der 1. Klasse West der Kärntner Meisterschaften, der zweitniedrigsten Liga. Neben der Sportunion und den Black Devils besteht in Prägraten der 1996 gegründete Freizeit-, Sport- und Freundschaftsverein Venediger Kicker, der an Kleinfeldturnieren in der Umgebung teilnimmt und jährlich ein Turnier in Prägraten veranstaltet. Erfolgreichster Sportler aus Prägraten ist der ehemalige Skirennläufer und fünfmalige Weltcup-Rennsieger Anton „Jimmy“ Steiner.
Wirtschaft und Infrastruktur
Prägraten verfügt über kein eigenes Postamt mehr, dieses wurde 2005 geschlossen. Die Bevölkerung muss zu einem Post-Partner direkt im Ort ausweichen.
Landwirtschaft
In Prägraten bestanden 1999 101 land- und forstwirtschaftliche Betriebe, die insgesamt 7.087 Hektar bewirtschafteten. Dabei wurden noch 27 Betriebe im Haupterwerb, 51 Betriebe im Nebenerwerb geführt. 22 Betriebe standen im Eigentum juristischer Personen. Gegenüber 1995 war die Anzahl der Betriebe um 22 zurückgegangen. Während Nebenerwerbsbetriebe und Betriebe juristischer Personen stark zurückgingen, erhöhte sich die Zahl der Haupterwerbsbetriebe deutlich von 20 auf 27. Die bewirtschaftete Fläche hatte sich zwischen 1995 und 1999 kaum verändert.
Der Haupterwerb der Prägratner Bauern liegt in der Viehzucht, wobei die Rinder- und Schafzucht dominiert. Rund 31 % der Gemeindefläche werden von Almen eingenommen. Trotz des Rückgangs der Betriebe, bewegt sich der Viehbestand seit Jahrzehnten auf einem ähnlichen Niveau. Der ehemals bedeutende Ackerbau ist heute nahezu verschwunden. Um die Jahrhundertwende wurden lediglich 4 Hektar des Gemeindegebiets als Ackerfläche genutzt.
Tourismus
Die Anfänge des Tourismus in der Gemeinde Prägraten gehen auf den Alpinismus des 19. Jahrhunderts zurück. Prägraten profitierte dabei von der Lage am Großvenediger, der 1841 vom Salzburger Pinzgau ausgehend, erstmals bestiegen wurde. Der Startschuss für die Entwicklung des Tourismus in Prägraten erfolgte 1845, als der Ort erstmals Ausgangspunkt für eine Besteigung des Großvenedigers war. In der Folge konnte sich die bäuerliche Bevölkerung als Bergführer ein Zubrot verdienen. Die fehlende Infrastruktur behinderte jedoch lange Zeit ein stärkeres Wachstum. In Prägraten kam es, ebenso wie in den Nachbargemeinden, nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem starken Aufschwung des Tourismus. Die Zahl der Übernachtungen konnte unterstützt vom wirtschaftlichen Aufschwung in Österreich und Deutschland (Wirtschaftswunder) laufend gesteigert werden. Die Eröffnung der Felbertauernstraße 1967 ermöglichte zudem eine leichtere Anreise der Urlauber über Salzburg. Um auch von der Wintersaison zu profitieren, wurde in den 1960er und 70er Jahren in den Bau von mehreren Schleppliften investiert. Die Pläne für eine Erschließung eines Gletscherskigebiets am Großvenediger scheiterten jedoch. Dadurch konnte sich nie ein ausgeprägter Wintertourismus in Prägraten entwickeln.
Die Anzahl der Übernachtungen erreicht heute nur noch rund die Hälfte der Spitzenwerte, die in den 1980er Jahren erzielt wurden. 82 % der Sommergäste stammten 2006 aus dem Ausland, wobei 62 % der Gesamtübernachtungen auf Gäste aus Deutschland und 11,5 % auf Gäste aus den Niederlanden entfielen. Insgesamt verfügte Prägraten 2005 über 1315 Gästebetten und belegte in diesem Bereich den fünften Platz im Bezirk Lienz. Allerdings befand sich kein Vier- oder Fünfsternbetrieb unter den Prägratner Beherbergungsbetrieben. Die Gemeinde Prägraten setzt bewusst, genauso wie das gesamte Virgental, auf den sanften Tourismus. So gibt es zum Beispiel im gesamten Tal weder touristische Bergbahnen noch große Hotels.
Die Gemeinde Prägraten war noch 2007 zusammen mit den Osttiroler Nationalparkgemeinden in der Urlaubsregion Nationalpark Hohe Tauern Osttirol organisiert. 2008 wurden die drei Osttiroler Tourismusverbände zum „Tourismusverband Osttirol“ zusammengeschlossen. Als Hauptattraktion dient im Sommer das dichte Wandernetz mit dem Venediger Höhenweg. Auf dem Gemeindegebiet bestehen mehrere Schutzhütten und bewirtschaftete Almen. Zu den zentralen Anlaufstellen für Bergsteiger gehören das Defreggerhaus als Ausgangspunkt für Touren um den Großvenediger, die Eisseehütte im Bereich der Weißspitze und die Essener-Rostocker-Hütte als Stützpunkt für die Besteigung von Malham- und Simonyspitzen. Weitere Schutzhütten auf dem Gemeindegebiet sind Nilljochhütte, Clarahütte, Stabanthütte, Sajathütte, Bergerseehütte, Lasnitzenhütte und Johannishütte. Im Winter stehen zwei Schlepplifte und eine 30 Kilometer lange Loipe zur Verfügung.
Verkehr und Infrastruktur
Die Gemeinde Prägraten wird durch die Virgentalstraße (L 24) erschlossen, die von der Gemeinde Matrei über Virgen nach Prägraten bis Hinterbichl verläuft. Die Virgentalstraße verfügt in Matrei über einen Anschluss an die Felbertauernstraße B 108. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist Prägraten mittels Linienbussen der ÖBB-Postbus GmbH erreichbar. Die Linie 951 bindet die Gemeinde dabei täglich bis zu zehnmal an die rund 41 Kilometer entfernte Bezirkshauptstadt Lienz an (Fahrzeit: 1 Stunde und 5 Minuten bis Hinterbichl). Geführt wird die Linie vom Lienzer Bahnhof über Matrei und Virgen. Der nächstgelegene Anschluss an das Bahnnetz befindet sich ebenfalls in Lienz.
Die Abwasserentsorgung der Gemeinde erfolgt über den „Abwasserverband Hohe Tauern Süd“, zu dem sich mehrere Gemeinden des nördlichen Osttirols zusammengeschlossen haben. Die Abwässer der Mitgliedsgemeinden werden in der 1999 eröffneten Kläranlage in Huben gereinigt und in die Isel geleitet. Die gesamte Ortskanalisation von Prägraten war zwischen 1998 und 2000 fertig gestellt und an die Kläranlage angebunden worden. 2002 waren 96 % der 260 Abwasser produzierenden Objekte in Prägraten an die Kläranlage angeschlossen. Der Abfall, der in der Gemeinde anfällt, wird über den Abfallwirtschaftsverband Osttirol (AWVO) entsorgt.
Nach hohen Investitionen in Neubauten und Infrastrukturprojekten nützte die Gemeinde Prägraten den Aus- und Neubau von Kleinwasserkraftanlagen zur Sanierung der Gemeindefinanzen. Insbesondere erhielt die Gemeinde Ausgleichszahlungen der TIWAG und nutzte Ökostromförderungen. Das 2006 an Stelle einer alten Kraftwerksanlage am Timmelbach errichtete Werk der Firma „Elektrowerk Prägraten“ liefert jährlich neun Mio. kWh. Für das am 5. Oktober 2007 in Hinterbichl eröffnete Dorferbach-Kraftwerk mit einer Jahresleistung von 40 kWh wurde der Dorferbach (Islitz) und der Zopathbach abgeleitet. Das Kraftwerk kämpfte während seines Probebetriebs mit Wassermangel und wurde zeitweise stillgelegt. Um zusätzliche Einnahmen zu lukrieren, plant die Gemeinde weiters die Errichtung eines weiteren Kraftwerks am Lasnitzenbach. Im März 2007 erfolgte in erster Instanz jedoch ein negativer wasserrechtlicher Bescheid für das Kleinkraftwerk, gegen den die Gemeinde Berufung einlegte.
Bildung
Der älteste Hinweis auf das Schulwesen stammt aus dem Jahr 1774, als zur Zeit der Theresianischen Reformen eine „neue Schulstub“ errichtet wurde. 1832 wurde ein eigenes Schulgebäude erbaut, das heutige Schulhaus stammt aus dem Jahre 1950 und wurde 1997 renoviert und mit einem Dorfsaal ausgestattet. Es beherbergt eine vierklassige Volksschule mit rund 100 Schülern (2000/01). Im Nachbargebäude befindet sich ein Kindergarten. Zum Besuch einer Hauptschule müssen die Schüler in das benachbarte Virgen, für den Besuch höherer Schulen in die Bezirkshauptstadt Lienz auspendeln.
Sicherheit und Gesundheitswesen
Prägraten hat heute keine eigene Polizeistation mehr, wobei das Gemeindegebiet in den Zuständigkeitsbereich der Polizeiinspektion Matrei fällt. Die Freiwillige Feuerwehr wurde 1908 gegründet und hat mehr als 100 Mitglieder. Neben dem 1994/95 errichteten Feuerwehrhaus Prägraten verfügt die Freiwillige Feuerwehr zudem über kleinere Spritzenhäuser in den Außenfraktionen, um bei gesperrten Straße durch Lawinen, hier ebenso über Gerätschaften zu verfügen. Zur Bergung von Bergopfern ist im selben Gebäude die in den 1940er Jahren gegründete Bergrettung untergebracht. Die medizinische Grundversorgung übernimmt der Arzt für Allgemeinmedizin im benachbarten Virgen. Die nächstgelegene Apotheke befindet sich in der benachbarten Marktgemeinde Matrei. Zum Besuch eines Facharztes muss ebenfalls nach Matrei, oder in die Bezirkshauptstadt Lienz, wo sich zudem das Bezirkskrankenhaus befindet, ausgependelt werden.
Politik
Der Gemeinderat als oberstes Gremium der Gemeinde umfasst 13 Sitze und wird alle sechs Jahre im Zuge tirolweiter Gemeinderatswahlen gewählt. Gleichzeitig wird der Bürgermeister in einer Direktwahl bestimmt, wobei es beim Ausbleiben einer absoluten Mehrheit für einen Kandidaten zu einer Stichwahl kommt. Amtierender Bürgermeister ist seit 2010 Anton Steiner.
Bei den Gemeinderatswahlen treten in Prägraten traditionell verschiedene Listen an. 2004 ging aus den Wahlen die Liste Bürgermeister und Bauernbund als Sieger hervor. Mit 44,5 % und sechs Mandaten konnte sie ihren Stimmenanteil leicht steigern. Als zweitstärkste Kraft konnte sich die Liste Tourismus und Wirtschaft mit 22,4 % halten, die jedoch rund 12 % und ein Mandat einbüßte. Auch die Prägratner Liste büßte rund 9 % sowie ein Mandat ein und erreichte 15,9 %. Von den Verlusten profitierte die Liste Arbeit und Wirtschaft Prägraten, die bei ihrem erstmaligen Antreten 19,2 % erzielte.
2010 scheiterte Johann Kratzer, der die Bürgermeisterdirektwahlen 2004 noch ohne Gegenkandidat gewonnen hatte, bei den Bürgermeisterdirektwahlen gegen seinen Herausforderer Anton Steiner. Anton Steiner erreichte 61,9 %, wohingegen Kratzer nur noch auf 38,1 % kam. Auch Katzers Wahlliste, Die Bürgermeister-Liste Hans Kratzer für Zusammenarbeit, Dorfgemeinschaft und Fortschritt erzielte nur noch 26,9 % bzw. 4 Mandate. Als Sieger der Gemeinderatswahl ging die Unabhängige Liste „Unser Prägraten“ – Bürgermeisterkandidat Anton Steiner des neuen Bürgermeisters hervor, wobei Steiners Liste 34,5 % bzw. fünf Mandate erreichte. Mit 16,4 % erreicht zudem die Liste Bauernbund – Landjugend zwei Mandate, je ein Mandat entfielen auf die Listen Tourismus und Wirtschaft bzw. die Prägratner Liste.
Wappen
Der Gemeinde Prägraten wurde das Gemeindewappen am 24. November 1974 von der Tiroler Landesregierung verliehen. Es zeigt:
„In Silber ein rotes Andreaskreuz mit einem goldenen Taukreuz auf schwarzem Grund als Herzschild.“
Das Andreaskreuz erinnert dabei an das Wappen des Pfarrpatrons, der Herzschild an das Augustiner-Chorherrenstift Neustift, das bereits im 12. Jahrhundert Besitzungen in Prägraten hatte.
Persönlichkeiten
Ehrenbürger der Gemeinde
Erich Kneußl (1884–1968), Politiker (CSP, VF)
Söhne und Töchter der Gemeinde
Josef Gasser von Wallhorn (1816–1900), Bildhauer
Adrian Egger (1908–1987), Bildhauer
Josef Troyer (1909–1998), Bildhauer und Maler
Josef Steiner (* 1945), Theologe
Mit der Gemeinde verbundene Persönlichkeiten
Anton „Jimmy“ Steiner (* 1958), Skirennläufer
Literatur
Katholischer Tiroler Lehrerverein (Hrsg.): Bezirkskunde Osttirol. Innsbruck 2001, ISBN 3-7066-2267-X.
Werner Köfler: Chronik von Prägraten. Innsbruck 1974 [Tiroler Landesarchiv (Hrsg.): Ortschroniken]
Wilfried Schulze: Prägraten in Osttirol. Kulturgeographischer Wandel einer Hochgebirgsgemeinde unter dem Einfluß des Fremdenverkehrs. Staatsexamensarbeit TU Hannover 1974
Meinrad Pizzinini: Osttirol. Der Bezirk Lienz. Seine Kunstwerke, Historische Lebens- und Siedlungsformen. Verlag St. Peter, Salzburg 1974 (Österreichische Kunstmonographien, Bd. VII), ISBN 3-900173-17-6
Weblinks
Website der Gemeinde
Chronik von Prägraten
Kapellen in Prägraten
Archivaufnahmen aus und über Prägraten im Onlinearchiv der Österreichischen Mediathek (Volkskundliche Filme)
Einzelnachweise
Als Hauptliteratur des Geschichtskapitels diente die Chronik von Prägraten von Werner Köfler und das Buch Osttirol. Vom Ersten Weltkrieg bis zur Gegenwart von Martin Kofler.
Venedigergruppe |
784341 | https://de.wikipedia.org/wiki/Myxobolus%20cerebralis | Myxobolus cerebralis | Myxobolus cerebralis (auch Myxosoma cerebralis) ist ein Parasit aus der Gruppe der Myxozoa. Er befällt Forellenfische (Salmonidae) wie Forellen, Saiblinge und Lachse und verursacht bei ihnen die Drehkrankheit. Die frühesten Beschreibungen der Krankheit stammen von Beständen der Regenbogenforelle in Deutschland um 1900, die Erstbeschreibung des Parasiten durch Bruno Hofer erfolgte 1903. Seitdem hat sich die Krankheit weltweit ausgebreitet und ist nun unter anderem in fast ganz Europa einschließlich Russlands, in den USA und in Südafrika verbreitet. In den 1980er Jahren wurde bekannt, dass der Parasit für seine Entwicklung Tubifex tubifex, einen Ringelwurm aus der Gruppe der Tubificidae als Zwischenwirt benötigt. Seinen Endwirt, den Fisch, befällt er, indem er einen Polfaden aus einer Kapsel, die einer Nesselkapsel ähnelt, ausschleudert, der in die Haut des Wirtes eindringt. Myxobolus cerebralis war die erste Art der Myxozoa, die wissenschaftlich beschrieben wurde.
Morphologie
M. cerebralis kommt in verschiedenen morphologischen Stadien vor, die ein Spektrum von einzelnen Zellen bis zu relativ komplexen Sporen aufweisen. Einige der Stadien sind heute noch nicht vollständig erforscht.
Triactinomyxon-Stadium
Das Triactinomyxon-Stadium ist das Stadium, in dem die Fische parasitiert werden. Es besteht aus einer langen Schale von etwa 150 Mikrometern Länge und drei langen Fortsätzen oder „Schwänzen“, die jeweils 200 Mikrometer lang sind. Am Ende der langen Schale befindet sich ein Sporoplasma-Paket mit 64 Keimzellen, die von weiteren Zellen umhüllt sind. Außerdem existieren drei Polkapseln, die jeweils ein aufgewickeltes Polfilament mit einer Länge von 170 bis 180 Mikrometer enthalten. Diese Filamente können sowohl in diesem als auch im Myxospora-Stadium abgeschossen werden und eine Öffnung im Gewebe des Fisches bilden, in die das Sporoplasma eindringt.
Sporoplasma-Stadium
Nach dem Kontakt mit dem Fisch und dem Abschuss der Polfilamente dringt das Sporoplasma, welches aus amöboiden Zellen besteht, in das Gewebe ein. Hier teilt es sich mitotisch und produziert auf diesem Weg weitere amöboide Zellen, welche weiter in das Gewebe bis in das Nervengewebe vordringen.
Myxospora-Stadium
Im Zellgewebe innerhalb des Wirtes entstehen linsenförmige Myxospora mit einem Durchmesser von etwa 10 Mikrometern, die aus jeweils sechs Zellen bestehen. Zwei dieser Zellen bilden Polkapseln, zwei weitere verändern sich in ein zweikerniges Sporoplasma und die beiden letzten bilden wieder eine Hülle darum, die als Valve bezeichnet wird. Diese Myxospora dringen in die Zwischenwirte, die Tubificiden, die sich von den Resten der gestorbenen Fische ernähren, ein.
Lebenszyklus
Myxobolus cerebralis ist ein Parasit mit Generationswechsel, der für seine Entwicklung zwei unterschiedliche Wirte benötigt: einen Forellenfisch und einen Tubificiden. Der bislang einzige bekannte Wurm, in dem sich Myxobolus cerebralis entwickeln kann, ist dabei Tubifex tubifex, wobei dieser eventuell keine einzelne Art, sondern einen Artenkomplex darstellt.
Die Würmer nehmen die Myxosporen auf, wenn sie sich von dem Gewebe der toten, infizierten Fische ernähren. Im Darm der Würmer verankern sich die Myxosporen durch das Polfilament in der Innenauskleidung. Hier öffnen sich die Valven und das zweikernige Zellgewebe verlässt die Schalen und dringt zwischen die Epithel- Zellen des Darmes ein. Die Keimzellen vermehren sich und produzieren weitere amöboide Zellen durch einen asexuellen Mechanismus, der als Merogonie bekannt ist. Durch diesen Prozess können durch einen einzigen aufgenommenen Parasiten die Zellzwischenräume von 10 hintereinanderliegenden Segmenten des Wurmes infiziert werden. Man vermutet, dass hier vollständige Zellen aus Zellteilen gebildet werden können.
Nach 60 bis 90 Tagen bilden sich sexuelle Stadien des Parasiten, die Sporen in Form von Pansporocyten bilden, die jeweils acht Triactinomyxon-Stadien beinhalten. Diese verlassen den Wurm durch dessen Darmausgang in das freie Wasser und können hier einen Fisch über die Haut infizieren. Betroffene Tubificiden können auf diesem Weg über ein Jahr lang adulte Triactinomyceten ausscheiden. Alternativ können auch Fische infiziert werden, die Tubificiden mit Parasiten fressen. In diesem Fall geschieht die Infektion durch die Darmwand. Dieser Vorgang dauert nur einige Sekunden, in denen der Fisch erst von den Polfilamenten penetriert und mit dem Sporoplasma infiziert wird. Innerhalb einiger Stunden beginnt die asexuelle Zellteilung des Sporoplasmas in weitere amöboide Zellen, die sich im Fischgewebe ausbreiten.
Im Fisch reproduzieren sich die Parasiten durch eine asexuelle Endogonie, bei der in alten Parasitenzellen neue Zellen entstehen. Das Endstadium im Fisch bildet das Myxospora-Stadium. Dieses wird erst wieder freigesetzt, wenn der Fisch gestorben ist und sich zersetzt oder wenn er gefressen wird. Nach neueren Erkenntnissen ist es allerdings vielleicht auch möglich, dass Myxosporen abgegeben werden, während der Fisch noch lebt. Die Myxosporen sind sehr resistent gegenüber Umwelteinflüssen. In Experimenten konnte nachgewiesen werden, dass die Sporen auch überleben, wenn sie für drei Monate bei −20 Grad Celsius eingefroren werden. Im Schlamm bleiben sie für etwa 5 Monate infektiös und auch eine Darmpassage bei Enten überstehen sie unbeschädigt. Die Triactinomyxone leben dagegen maximal 34 Tage, abhängig von der Temperatur.
Pathologie
Die Drehkrankheit tritt bei Jungfischen auf und verursacht eine Deformierung des Skeletts sowie eine Schädigung des Zentralen Nervensystems. Dadurch ist es den Fischen nicht mehr möglich, normal durch das Wasser zu schwimmen, stattdessen bewegen sie sich spiralig vorwärts. Sie werden leichter zur Beute für Räuber und können nur sehr erschwert jagen. Etwa 90 Prozent der befallenen Fische sterben als „Fingerlinge“ und die überlebenden Tiere bleiben sowohl im Skelett als auch im Gewebe deformiert. Die Parasiten leben weiter in den Fischen bis zu deren natürlichem Tod, nachdem sie wieder ins Freiwasser entlassen werden. Durch die hohe Mortalitätsrate gehört Myxobolus cerebralis zu den gefährlichsten Erregern und zugleich größten wirtschaftlichen Schädlingen der Fischwirtschaft. Eine Übertragung auf den Menschen ist nicht möglich.
Bislang wurde die Infektion mit Myxobolus cerebralis bei einer Reihe von Arten der Forellenfische nachgewiesen. Sicher ist die Infektion bei acht Arten der Gattung Salmo, vier Arten der Gattung Oncorhynchus, vier Arten der Saiblinge (Salvelinus) sowie der Europäischen Äsche (Thymallus thymallus) und dem Huchen (Hucho hucho). Eine Schädigung der Fische erfolgt durch das Eindringen der Parasiten und deren Ausbreitung im Gewebe sowie dadurch, dass sich die Parasiten vom Fischgewebe ernähren.
Äußerlich erkennbar kommt es zu einer Dunkelfärbung der Schwanzflosse und zu Skelettdeformierungen durch die Gewebezerstörung an den sich bildenden Knochen. Außerdem treten die beschriebenen Schwimmstörungen auf, die für die Drehkrankheit namensgebend sind und durch Beschädigungen des Rückenmarks und des Hirnstamms hervorgerufen werden. Die inneren Organe sind im Normalfall unbeschädigt, Gewebeschäden sind allerdings im Muskelgewebe erkennbar. Experimentell konnte nachgewiesen werden, dass das Immunsystem der Fische zwar eindringende Sporen bekämpft und auch abtöten kann, dass es jedoch keine Immunreaktion mehr gibt, sobald sich die Parasiten im Nervensystem etabliert haben. Die Immunreaktion ist dabei artabhängig.
Für die Wurmart Tubifex tubifex ist der Parasitenbefall nicht tödlich. Hier kommt es vor allem zu einer Beschädigung der Darmschleimhäute durch das Entlassen der Parasiten aus der Darmwand. Da dies in einem Wurm mehrere tausend Male passiert, kommt es auch zu einer Beeinträchtigung der Nahrungsaufnahme. Infizierte Würmer sind meistens kleiner und weniger stark gefärbt als uninfizierte Vertreter. Die Parasiten verlassen den Wurm nur bei Wassertemperaturen zwischen 10 und 15 °C, sodass Fische in kälteren oder wärmeren Gewässern nicht infiziert werden können. Entsprechend schwankt die Befallsrate auch jahreszeitlich.
Anfälligkeit
Die Anfälligkeit der Fische für den Parasitenbefall ist abhängig von ihrem Alter, ihrer Größe und natürlich von der Konzentration der Parasitensporen im Wasser. Außerdem spielt die Wassertemperatur eine große Rolle. Am anfälligsten sind Fische mit einem Alter von weniger als fünf Monaten, bei denen das Skelett noch nicht vollständig verknöchert ist. Dadurch werden die Tiere auch anfälliger für Deformationen. Auch die Artzugehörigkeit der Fische spielt eine bedeutende Rolle. In Untersuchungen konnte festgestellt werden, dass etwa Regenbogenforellen und Bachsaiblinge deutlich häufiger parasitiert sind als andere Forellenarten während der Königslachs, die Bachforelle und die Arktische Äsche kaum betroffen waren.
Die Bachforelle zeigt zudem kaum Symptome bei einem Befall mit dem Parasiten, weshalb man davon ausgeht, dass es sich hierbei um den Originalwirt handelt. Die großflächige Verbreitung des Parasiten ist demnach erst aufgetreten, als die Bachforelle mit eingeführten neuen Arten wie der Regenbogenforelle (Neozoen) in Berührung kam, die für die Erkrankung anfälliger sind.
Diagnose
Eine starke bis sehr starke Infektion mit den Parasiten kann äußerlich bereits an den angesprochenen Deformationen sowie der Verhaltensänderung erkannt werden. Dies geschieht im Normalfall 35 bis 80 Tage nach der Infektion, allerdings kann auch eine Unterversorgung mit Tryptophan oder Ascorbinsäure ähnliche Auswirkungen haben. Eine eindeutige Diagnose ist also nur möglich, wenn Myxosporen im Gewebe der Fische nachgewiesen werden.
Bei starkem Befall ist dieser Nachweis bei einer Gewebeuntersuchung mit einem Mikroskop leicht möglich. Bei geringerem Befall wird eine Probe des Gewebes mit den Proteasen Pepsin und Trypsin anverdaut, um die Sporen erkennbar zu machen. Das Gewebe wird nachfolgend auf typische Kennzeichen der Myxobolus-cerebralis-Infektion untersucht. Auch eine serologische Untersuchung des Gewebes mit Hilfe von spezifischen Antikörpern ist möglich. Eine sichere Methode ist ebenfalls die Suche nach spezifischen Genen im Gewebe, wobei nach einer Polymerase-Kettenreaktion mit speziellen Markern nach einem bekannten Gen auf der 18S rRNA gesucht wird.
Diese Untersuchungen werden routinemäßig in verschiedenen Regionen durchgeführt, vor allem dort, wo der Parasit größeren Schaden anrichten kann. In Australien und Kanada, wo bislang noch keine Parasiten aufgetreten sind, werden die Tests eingesetzt, um frühzeitig einen Befall erkennen und bekämpfen zu können.
Ausbreitung
Während Myxobolus cerebralis lange Zeit nur ein eher harmloser Fischparasit der Bachforelle in Europa und einiger weniger weiterer Arten in Asien war, hat er sich durch die starke weltweite Ausbreitung der Regenbogenforelle ebenfalls verbreitet. Mit einer Erhöhung der Anzahl parasitierter Regenbogenforellen nahm auch die Anzahl der gebildeten Sporen zu, sodass die Gewässer stärker durchseucht wurden. Mit der sehr viel höheren Anzahl der Parasiten wurde nun auch der Infektionsdruck auf die weniger anfälligen Arten größer; auch diese konnten nun vom Parasiten erheblich dezimiert werden. In einigen Gebieten führte dies zu einem starken Rückgang der Fischpopulationen oder gar zu einem vollständigen Verschwinden einzelner Arten.
Ausbreitung in Europa
Wie bereits angesprochen stellt Europa den natürlichen Verbreitungsraum des Parasiten dar und hier heimische Arten sind an die Parasitierung durch Myxobolus cerebralis angepasst. Die Erkrankung läuft bei diesen Arten also im Regelfall sehr mild und ohne erkennbare Symptome ab. Erst durch die sehr anfällige Regenbogenforelle konnte sich der Parasit drastisch ausbreiten. Dabei gibt es nur sehr wenige wilde Populationen dieser Fische in europäischen Gewässern, vielmehr werden die Bestände regelmäßig durch Sportfischer ergänzt, da die Forellen beliebte Angeltiere sind. Als Reaktion auf die starke Parasitierung wurden in Europa entsprechend die Zuchtverhältnisse angepasst. Die Aufzucht der Jungfische erfolgt in Wasser, welches sicher sporenfrei ist und eine Freisetzung erfolgt erst, wenn die Verknöcherung des Skeletts vollkommen abgeschlossen ist und die Tiere entsprechend nicht mehr anfällig für die Parasiten sind.
Ausbreitung in Neuseeland
In Neuseeland wurden die ersten Parasiten im Jahr 1971 entdeckt, wobei sich die Funde nur auf Flüsse der Südinsel beschränkten und damit keine Nähe zu den ökonomisch wichtigen Fischbeständen und -zuchten bestand. Die heimischen Forellenfische waren zudem nicht anfällig für den Parasiten, sodass eine größere Ausbreitung ausblieb. Die Entdeckung führte jedoch zu starken Exporteinschränkungen von Fischen in den Nachbarstaat Australien, wo eine Einfuhr des Parasiten verhindert werden soll.
Ausbreitung in den USA
In Nordamerika wurde Myxobolus cerebralis erstmals 1956 in Pennsylvania entdeckt. Der Parasit war durch Fischimporte aus Europa eingeführt worden und verbreitet sich seitdem vor allem süd- und westwärts. Bis in die 1990er Jahre stellte die Drehkrankheit nur in den Fischzuchtanstalten der Regenbogenforellen ein Problem dar, welches zeitweise recht leicht unter Kontrolle gehalten werden konnte. Seitdem hat sich der Parasit jedoch in den natürlichen Gewässern einiger Gebiete vollständig etabliert und stellt vor allem in den Gebieten der Staaten an den Rocky Mountains (Colorado, Wyoming, Utah, Montana, Idaho, New Mexico) ein ernsthaftes Problem dar. In einigen Flüssen dieser Gebiete ging der Bestand der Forellen und Lachse um bis zu 90 Prozent zurück. Vor allem die Gebiete, in denen die Sportfischerei einen großen Anteil der Tourismuseinnahmen ausmacht, sind von der Drehkrankheit betroffen. So wird etwa der Schaden in Montana auf etwa 300 Millionen US-Dollar geschätzt. Hinzu kommt, dass einige der betroffenen Forellenarten mittlerweile vom Aussterben bedroht und in einigen Regionen vollständig verschwunden sind.
Bekämpfung
Um die Epidemie der Parasiten unter Kontrolle zu bekommen, haben einige Biologen begonnen, Wege zu suchen, mit denen die Sporen effektiv bekämpft werden können. Es soll vor allem ein Weg gefunden werden, wie man die Polkapseln dazu bringt, vorzeitig die Polfäden abzuschießen, sodass diese dann nicht mehr gegen Fische eingesetzt werden können. Bei Laborversuchen konnte festgestellt werden, dass die Sporen nur bei hohen Konzentrationen von Säuren oder Basen, Salzzugabe oder Elektrizität mit einem Abschuss reagierten. Weder Neurochemikalien, Stoffe, die bei Nesseltieren die Kapseln sensitivieren, noch der Schleim der Forellen, Betäubungsmittel oder tote Fische lösten die Kapseln aus. Auch wenn Stoffe gefunden werden, die eine Auslösung bewirken, stellt sich die Frage, ob diese auch im Freiland eingesetzt werden können.
Ein weiterer Ansatz nutzt die unterschiedliche Anfälligkeit von Fischen, die teilweise auch innerhalb der Arten sehr stark ausgeprägt ist. Mit Hilfe besonders resistenter Zuchtlinien soll die Anfälligkeit der Fische in den Gewässern reduziert werden.
Hinzu kommt, dass die Fischzucht dazu übergeht, keine potenziell verseuchten Sedimente mehr zu nutzen und so die Fischzuchtbecken frei von Parasiten zu halten, wie dies in Europa bereits erfolgreich durchgeführt werden konnte. Durch regelmäßige Desinfektionen des Substrates soll die Vermehrung der Tubificiden verringert oder komplett unterbunden werden. Auch vollständig substratfreie Becken, in denen sich keine Würmer halten können, sind im Gebrauch.
Die medikamentöse Behandlung von Fischen ist ebenfalls eine Option, die jedoch nicht bei Wildfischpopulationen angewendet werden kann. Zur Auswahl stehen hier Furazolidon, Furoxon, Benomyl, Fumagillin, Proguanil und Clamoxyquin. In Experimenten konnte durch die Zufütterung mit Fumagillin eine Reduktion des Parasitenbefalls von ursprünglich 73 bis 90 Prozent auf 10 bis 20 Prozent bei Regenbogenforellen erreicht werden.
Taxonomie
Der wissenschaftliche Name cerebralis entstammt der frühen Vorstellung, dass der beschriebene Parasit vor allem das Zentrale Nervensystem und das Gehirn (Cerebrum) des Wirtes befällt. Nachdem man feststellte, dass dies nicht der Fall ist und der Parasit stattdessen im Gewebe und dort vor allem am Skelett zu finden ist, sollte er in Myxobolus chondrophagus umbenannt werden. Dies ist jedoch aufgrund der zoologischen Nomenklaturregeln nicht möglich. Hinzu kam, dass man feststellte, dass es sich bei Organismen, die vorher als Triactinomyxon dubium und T. gyrosalmo in einer eigenen Klasse Actinosporea geführt wurden, um Stadien des Myxobolus cerebralis handelt (Triactinomyxon-Stadium), die entsprechend ebenfalls diesen Namen erhielten.
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Weblinks
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The Whirling Disease Foundation (englisch)
Einzelnachweise
Nesseltiere
Fischparasit
Cnidaria |
822418 | https://de.wikipedia.org/wiki/D%C4%81d | Dād | Ḍād ( oder ; in isolierter Form ; transliteriert als ) ist der 15. Buchstabe des arabischen Alphabets. Es zählt zu den vier emphatischen Konsonanten des Arabischen sowie zu den vierzehn Sonnenbuchstaben. Ḍād ist einer der sechs jüngsten Buchstaben des arabischen Alphabets und wurde erst in islamischer Zeit entwickelt. Im Abdschad ist ihm der Zahlenwert 800 zugeordnet.
Die Aussprache des Ḍād zugeordneten Phonems , , wird für die moderne arabische Hochsprache meist als pharyngalisierter oder velarisierter stimmhafter alveolarer Plosiv (IPA: bzw. ) angegeben, doch finden sich historisch und in Dialekten Abweichungen von dieser Aussprache. Laut der Meinung zahlreicher Wissenschaftler wurde Ḍād einst lateral oder lateralisiert artikuliert – ein Charakteristikum, das dem Arabischen den Beinamen „Sprache des Ḍād“ gab. Hinweise auf diese Aussprache finden sich in südarabischen Dialekten sowie in arabischen Lehnwörtern im Spanischen und Indonesischen.
In arabischen Alphabeten anderer Sprachen tritt Ḍād meist nur in Lehnwörtern auf, ohne ein eigenes Phonem zu repräsentieren.
Form
Wie die meisten arabischen Buchstaben erscheint auch Ḍād abhängig von seiner Position im Wort sowie den es umgebenden Zeichen in vier verschiedenen Formen: initial, medial, final und isoliert. Wesentlich im Erscheinungsbild der vier emphatischen Konsonanten Ḍād, Ṣād (), Ṭāʾ () und Ẓāʾ () ist eine seitlich liegende Schlaufe. Beim Ḍād folgt der Schlaufe links ein kleiner Haken nach oben, zudem wird über die Schlaufe ein einzelner Punkt gesetzt. Steht Ḍād final oder isoliert, geht der Haken in einen abschließenden, nach oben offenen halbkreisartigen Bogen über, welcher großteils unterhalb der Schriftlinie liegt. Beim initialen Ḍād nach links, beim finalen Ḍād von rechts sowie beim medialen Ḍād beidseitig wird das Zeichen auf der Schriftlinie mit dem Nachbarbuchstaben verbunden.
Vom Ṣād unterscheidet sich Ḍād nur durch den übergesetzten Punkt. Anstelle des übergesetzten Punktes begegnet man in arabischen Handschriften beim isolierten und finalen Ḍād bisweilen einem Abstrich am Ende des Bogens, in maghrebinischen Handschriften ist der Punkt manchmal innerhalb der Schlaufe zu finden.
Die Form des Ṣād und Ḍād im Maghribi-Duktus weicht durch das Fehlen des Hakens nach der Schlaufe von den anderen Schreibstilen ab. Mit manchen nachfolgenden Buchstaben lässt sich Ḍād zu einer Ligatur verbinden.
Ursprünge des Zeichens
Die geläufigste Theorie zum Ursprung der arabischen Schrift beschreibt sie als Weiterentwicklung der nabatäischen Schrift, die wiederum aus der aramäischen Schrift entstanden ist. Eins der 22 Zeichen der nabatäischen Schrift, das Sad, wurde dieser Annahme zufolge zum arabischen Ṣād, einem der Zeichen des frühen arabischen Alphabets. Da das Arabische jedoch 28 konsonantische Phoneme kennt, waren einigen Zeichen verschiedene Laute zugeordnet, so etwa dem Rasm – dem Buchstaben ohne diakritische Zeichen – des Ṣād auch das Phonem .
Infolge der Festsetzung des Korantextes gab es die Bestrebung, Mehrdeutigkeiten durch Hinzufügen von Diakritika zu umgehen. Das Etablieren des Systems des (Setzen diakritischer Punkte über oder unter den Rasm) wird für gewöhnlich al-Haddschādsch ibn Yūsuf, im frühen 8. Jahrhundert Statthalter im Umayyaden-Kalifat, zugeschrieben. Das dadurch hervorgekommene Graphem Ḍād war dem Orientalisten Theodor Nöldeke zufolge neben Ẓāʾ () und Qāf () „wahrscheinlich“ einer der letzten Buchstaben, der seinen diakritischen Punkt erhielt. Dennoch sei das Punktieren auch bei Ḍād schon in der ersten Hälfte des 2. Jahrhunderts nach der Hidschra (bis ca. 767 n. Chr.) .
Die so entstandenen sechs zusätzlichen Buchstaben werden als bezeichnet, ihr verhältnismäßig junges Alter ist auch ihrer Reihung im Abdschad abzulesen, wo sie an den hinteren Positionen die höchsten Zahlenwerte zugeordnet bekamen: das Ḍād den Wert 800 (in der abweichenden Abdschad-Reihung im Maghreb hingegen den Wert 90). Nach vorne an die 15. Stelle im arabischen Alphabet rutschte Ḍād, indem die übliche Sortierung nach dem Zahlenwert zugunsten einer an der Form der Zeichen orientierten Sortierung außer Gebrauch kam. Ḍād rangiert nun unmittelbar nach Ṣād () und vor Ṭāʾ ().
Kalligraphische Darstellung des Ḍād
Grundlage der arabischen Kalligraphie sind die von Ibn Muqla im 10. Jahrhundert festgelegten Proportionen und Gesetzmäßigkeiten, die „bis heute richtungsweisend geblieben“ sind. Die Basis von Ibn Muqlas Überlegungen ist ein durch den Qalam gesetzter rautenförmiger Punkt () und ein Kreis () mit dem Durchmesser der Länge des Alif (), des ersten Buchstaben im arabischen Alphabet.
Ibn Muqlas Angaben sind nur in Fragmenten überliefert und teils widersprüchlich: An einer Stelle spricht er von drei, andernorts von vier Strichen im Rasm von Ṣād und Ḍād, in einer Beschreibung von nur bogenförmigen, in anderen Aufzeichnung von bogenförmigen, waagerechten, senkrechten und rückliegenden (gegen die eigentliche Schreibrichtung von rechts nach links gesetzten) Strichen. Gemein ist den Angaben, dass das Zeichen aus dem „Ṣād-Kopf“ rechts und dem Bogen in Form des Buchstabens Nūn () links besteht.
Der Ṣād-Kopf umfasst in der laut Ahmad Maher Rayef letzten Entwicklungsstufe von Ibn Muqlas Proportionslehre ein rechtwinkliges Dreieck mit der Hypotenuse als Horizontale (Strichtyp genannt ), wobei die rechte Kathete () halb so lang ist wie die linke (). Nūn wiederum entspricht einem Halbkreis mit dem Durchmesser der Alif-Länge, vor dem (rechts) steht, eine Serife mit der Höhe einer nuqṭa, und der in endet, dem Auslaufenlassen des Bogens mit der Länge eines Siebtels des Alif. Die Grundlinie des Ṣād-Kopfs soll halb so lang sein wie der Nūn-Bogen. Die Brüder der Reinheit sahen einige Jahrzehnte nach Ibn Muqla hingegen vor, dass der Ṣād-Kopf so breit wie Alif hoch sei, wobei die Lücke im Ṣād-Kopf ein Achtel der Höhe des Alif ausmache.
In der abweichenden kalligraphischen Tradition des Maghreb hat der Ṣād-Kopf eine elliptische Form, typisch ist zudem die „übertriebene“ Ausdehnung des Nūn-Bogens. Im Ruqʿa-Stil liegt der „Kopf“ häufig etwas oberhalb der eigentlichen Schriftlinie; wie im Maghribi-Duktus kann der Punkt des Ḍād in der isolierten und finalen Form durch einen Abstrich oder zusätzlichen Haken ersetzt werden.
Gemäß findet sich der Nūn-Bogen auch im Qāf (), Sīn (), Šīn (), Yāʾ () und Alif maqṣūra () wieder, der Ṣād-Kopf außerdem im Ṭāʾ() und Ẓāʾ (). In Ibn al-Bawwābs Muhaqqaq-Stil hat der „Kopf“ bei Ṣād und Ḍād jedoch mehr Höhe als bei Ṭāʾ und Ẓāʾ, außerdem ist hier die Grundlinie nicht ganz gerade, sondern leicht konkav. Als Proportion zwischen den Längen von mustalqin, munkabb und munsaṭiḥ ist 3:2:4 vorgesehen bei einer Höhe von zwei Einheiten.
Zum idealen Erscheinungsbild der Handschrift trägt auch der Schnitt der Spitze des verwendeten Qalam bei, wodurch die Breitenabstufung der Bögen und Linien bestimmt wird.
Aussprache
Ḍād steht im Modernen Standard-Arabisch für ein emphatisches – einen stimmhaften alveolaren oder apiko-dentalen Plosiv mit einer Sekundärartikulation, die in der Semitistik als „Emphase“ bezeichnet wird. Diese „Emphase“ kennzeichnet sich – im modernen Arabisch anders als etwa in den äthiosemitischen Sprachen, wo sie als Ejektive realisiert werden – laut dem Sprachwissenschaftler Terence Frederick Mitchell beim Artikulieren des Lautes durch eine tellerförmig in die Breite gedehnte Zunge, wodurch der hinterste Zungenteil zum Velum gehoben wird (Velarisierung) und eine pharyngale Enge entsteht (Pharyngalisierung). Zudem können die Lippen bei emphatischen Lauten leicht gerundet sein. Aharon Dolgopolsky hingegen erkannte bei emphatischen Lauten ein Zurückziehen des hintersten Teils der Zunge zum Gaumenzäpfchen (Uvularisierung) und zur hinteren Wand des Pharynx (Pharyngalisierung). Ḍād ist in der modernen Hochsprache das emphatische Gegenstück zum Dāl () sowie das stimmhafte Gegenstück zum ebenfalls emphatischen Ṭāʾ ().
Die emphatische Komponente des Ḍād hat in spezifischen Fällen Auswirkung auf die es umgebenden Laute: So wird das Infix -ta- des VIII. Verbstamms nach Ḍād als erstem Radikal emphatisch -ṭa- (Beispiel: ). Ein komplementäres Phänomen der emphatischen Konsonanten ist die Artikulation der umgebenden Vokale als weiter unten und hinten gelegene Allophone.
Ḍād ist ein Sonnenbuchstabe, das heißt, der vorstehende bestimmte Artikel al- wird zu aḍ- assimiliert (Beispiel: ).
Ḍād bei den arabischen Grammatikern
Die erste Einteilung der Laute des Arabischen nach ihrem findet sich in al-Farāhīdīs Kitāb al-ʿAin (8. Jahrhundert). Ḍād gilt hier gemeinsam mit Šīn () und Ǧīm () als , was sich als schwierig zu definieren erwies: Der Orientalist Henri Fleisch beschrieb šaǧrīya in der Encyclopaedia of Islam als , der Sprachwissenschaftler Richard Lepsius als „zwischen Kinnbacken oder Backenzähnen gebildet“. A. A. al-Nassir setzt šaǧrīya mit dem harten Gaumen gleich.
Eine weitere, detailliertere Studie zu den arabischen Phonemen findet sich in Sībawaihs al-Kitāb, wo – ebenfalls im 8. Jahrhundert – der Artikulationsort des Ḍād wie folgt beschrieben wird:
Ḍād gilt hier so wie Lām () als , sei jedoch etwas tiefer als Lām zu artikulieren. Sībawaih führte auch eine abweichende, nicht näher beschriebene, aber inakzeptable Aussprache als an, dessen genauer Lautwert nicht endgültig geklärt ist. Etwa 500 Jahre nach Sībawaih beschrieb Ibn Yaʿīsch das „schwache Ḍād“ in der Aussprache mancher Fremder als dem Ṭāʾ entsprechend.
Sībawaih ordnete Ḍād der Gruppe der Konsonanten zu, die von verschiedenen Orientalisten als „stimmhaft“ gedeutet wurden und sich laut Sībawaih dadurch kennzeichnen, nicht geflüstert werden zu können. Weiters gilt Ḍād in seinem System als , von Lepsius als „frikativ“ gedeutet. Die Gruppe der vier emphatischen Phoneme deckt sich mit den Konsonanten Sībawaihs, die gemeinsam mit den Uvularen die Gruppe der Konsonanten bilden, welche die Färbung der Vokale beeinflussen.
Spätere Autoren wiederholten in der Regel die von Sībawaih aufgestellten Definitionen, doch infolge des Zusammenfallens der Phoneme und in arabischen Dialekten kam es zu einem neuerlichen Interesse der arabischen Grammatiker am Ḍād: Zwischen dem 10. und 18. Jahrhundert entstanden mehr als 30 Traktate über seine Unterscheidung vom Ẓāʾ. Die frühesten dieser Schriften sind als Versuch zu verstehen, die Sprache des Islam zu bewahren und Lesern zu helfen, die beiden Phoneme zu unterscheiden. Spätere Werke aus diesem Genre waren stärker philologisch ausgerichtet oder fokussierten auf die korrekte Rezitation des Koran. In einem der philologischen Texte, verfasst von Ibn Suhail im 11. Jahrhundert, wird die Aussprache des Ḍād als aus dem linken oder rechten Mundwinkel mit der Mitte der Zunge beschrieben.
Das Ḍād des Modernen Standard-Arabisch gilt im Gegensatz zum „klassischen“ Ḍād nicht als riḫwa, sondern als . Anders als das Moderne Standard-Arabisch kannte das von Sībawaih beschriebene klassische Arabisch kein nicht-emphatisches Gegenstück zum Ḍād. Der Arabist Kees Versteegh argumentiert daraus, dass ein Phonem sui generis darstellte, Edward Y. Odisho hingegen, dass Sībawaihs Zuordnungen fehlerhaft sind.
Die Eigenschaften des von Sībawaih beschriebenen Ḍād sowie die Schwierigkeiten der Nicht-Araber, den Laut korrekt zu artikulieren, trugen dazu bei, dass die arabische Sprache als und die Araber als und bekannt wurden. Ibn Dschinnī, ein Grammatiker des 10. Jahrhunderts, schrieb dazu, dass den Arabern alleine gehöre und kaum in der Sprache der ʿAdscham zu finden sei, um 1400 bezeichnete Ibn al-Dschazarī als den schwierigsten der arabischen Sprachlaute. Das Phonem – in Wahrheit eins der am wenigsten häufig vorkommenden in der arabischen Sprache – wurde zu .
Ḍād in der Koranrezitation
Die orthoepischen Regeln des Tadschwīd, der rituellen, sorgfältigen Rezitation des Koran, basieren auf der als bezeichneten mündlichen Überlieferungskette seit dem Propheten Mohammed. So soll die von Allah offenbarte, ursprüngliche Aussprache des Ḍād ungeachtet dialektaler und hochsprachlicher Lautwandel bis in die Gegenwart tradiert worden sein.
Diese Regeln erlauben das Artikulieren des Ḍād sowohl mit der linken, der rechten oder beiden Zungenkanten, verlangen jedoch das Verwenden des hinteren Teils der Zunge, die die Molaren berühren muss. Danach wird die Zunge nach vorne gedrückt und angehoben, wodurch der Laut wird.
Ḍād ist im Tadschwīd wie in Sībawaihs Grammatik riḫwa – worin es sich vom Ḍād der generativen Phonologie zur modernen Hochsprache unterscheidet – und maǧhūra. Zwei weitere des Ḍād im koranischen Arabisch sind die , ein nur beim Ḍād zu beobachtendes Ausdehnen des Artikulationsprozess vom hinteren Ende des Zunge bis zum Entstehungsort des Lām (; ) an den Schneidezähnen, und , das Reduzieren eines voranstehenden -Lautes (Tanwīn oder Nūn mit Sukūn) zur . An bestimmten Stellen des Koran sprechen Koranrezitatoren – abhängig von der Lesart – infolge von unmittelbar vor Ḍād stehende Konsonanten wie Ḍād und an einer Stelle Ḍād wie den nachfolgenden Konsonanten als Šīn aus.
Ein häufiger Fehler, der auch bei manchen Arabern auftritt, ist das Verwenden eines falschen Artikulationsorts, wodurch der entstehende Laut dem Phonem oder entspricht.
Rekonstruktion des „klassischen“ Ḍād
Da die Angaben der frühen arabischen Grammatiker zum Ḍād nicht seiner Aussprache in der modernen Hochsprache entsprechen, postulieren zahlreiche Wissenschaftler einen Lautwandel, dessen Zeitpunkt jedoch ebenso nicht geklärt ist wie die phonetische Qualität des „klassischen“ Ḍād.
Der Orientalist Edward Lipiński und der Linguist Sabatino Moscati sehen das arabische Phonem als Weiterentwicklung des protosemitischen , das Lipiński als stimmlosen lateralen alveolaren Frikativ deutet. Anderen Interpretationen zufolge handelte es sich um einen stimmhaften emphatischen interdentalen Laut.
Die Ausführungen Sībawaihs lassen keine eindeutige Rekonstruktion des Lautwerts des „klassischen“ Ḍād zu, geben jedoch Hinweise, die über die bloße Zuordnung in die zuvor beschriebenen Kategorien hinausgehen. Kees Versteegh zufolge muss „ein bestimmtes Maß an Lateralität“ vorgelegen haben und begründet dies dadurch, dass Sībawaih die Rolle des Zungenrandes hervorgehoben hat und dass Ḍād laut Sībawaih im Gegensatz zu den anderen emphatischen Konsonanten im Arabischen kein nicht-emphatisches Gegenstück habe. Der laut Henri Fleisch „wahrscheinlichste“ Lautwert des „klassischen“ Ḍād ist der stimmhafte lateralisierte velarisierte interdentale Frikativ, der Linguist Charles A. Ferguson geht hingegen von einem lateralen oder lateralisierten Plosiv oder Affrikat aus. Für Versteegh wäre die lateralisierte Artikulation ein Alleinstellungsmerkmal, das die Bezeichnung des Arabischen als „Ḍād-Sprache“ verständlich macht; Chaim Rabin rekonstruierte für eine Frühform des arabischen Lautinventars vier Dreier-Sets aus je einem stimmhaften, stimmlosen und emphatischen Konsonanten und gruppierte Ḍād mit Šīn () und Lām () zu einer retroflexen/lateralen Gruppe. Manche Gelehrte lehnen die Annahme einer lateralen Komponente hingegen ab.
Die sprachvergleichende Analyse arabischer Lehnwörter in zahlreichen Sprachen unterstützt jedoch die Theorie einer lateralen oder lateralisierten Aussprache des „klassischen“ Ḍād. Ein Hinweis dafür findet sich bereits im Akkadischen, wo der Name der altarabischen Göttin als Ruldāʾu wiedergegeben wurde. Auch in rezenten Sprachen, die historisch in Kontakt mit der arabischsprachigen Welt kamen, finden sich Hinweise, so im spanischen (aus ; portugiesisch ), im Hausa-Begriff (von ), im indonesischen („notwendig“, von ) und im tamilischen paṟulu/paṟuḷu („Pflicht“, ebenfalls von ).
Im Amharischen und Somali hingegen sind keine derartigen Beispiele bekannt und auch im Indonesischen konnte sich für Ḍād nur in wenigen Begriffen durchsetzen, während in anderen Worten mehrere Aussprachevarianten existieren oder beziehungsweise wie im Persischen zum Standard wurde. Versteegh deutet Wörter mit für Ḍād als ältere Entlehnungen, wohingegen Torsten Tschacher die -Reflexe im Indonesischen damit begründet, dass sie Übernahmen aus dem Tamilischen sind, das als Vermittlersprache fungierte.
Zur Frage, wie der Lautwechsel vonstattenging, konkurrieren verschiedene Lehrmeinungen, zudem wird in mehreren Modellen versucht, eine Verbindung mit dem Zusammenfall der Phoneme und in den arabischen Dialekten herzustellen. Versteegh sieht Anzeichen dafür, dass für Ḍād schon in der vorislamischen Zeit verschiedene Aussprachevarianten existierten und der Phonemzusammenfall regional schon damals seinen Anfang nahm, das laterale Ḍād sei im Süden Arabiens jedoch länger üblich geblieben. Das Vorkommen lateraler Laute für Ḍād in arabischen Lehnwörtern sei darauf zurückzuführen, dass Akteure und Stämme aus dem südlichen Arabien bei der Ausbreitung des Islam und im Handel eine tragende Rolle spielten. Andere Autoren datieren den Wandel in die frühislamische Zeit zwischen dem 7. und 10. Jahrhundert, sind sich jedoch uneinig über die genaue Abfolge des Wandels des lateralen Ḍād zum modernen und des Phonemzusammenfalls.
Ḍād in arabischen Dialekten
Kees Versteegh zufolge sind die Phoneme und in allen modernen arabischen Dialekten zusammengefallen: In den meisten Beduinen-Dialekten werde Ḍād wie Ẓāʾ als artikuliert, in den meisten sesshaften Dialekten hingegen Ẓāʾ wie Ḍād als . Der Computerlinguist Nizar Y. Habash hingegen beschreibt ein Zusammenfallen zugunsten von im ägyptischen Arabisch und in der Levante sowie zu im Irakisch-Arabisch und Golf-Arabisch.
Eine Ausnahme dieses Phonemzusammenfalls stellen Sprachformen im Süden der Arabischen Halbinsel dar. Carlo Landberg analysierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts, dass sich das klassische Ḍād im Dialekt von Dathina, Jemen, zu , einem emphatischen Lateral entwickelt habe. Jüngeren Forschungen zufolge finden sich auch in rezenten arabischen Dialekten aus der saudi-arabischen Tihama pharyngalisierte Laterallaute, die in den meisten Fällen auf das hocharabische , seltener auf zurückzuführen sind. Diese Laterale wurden teils als Sonorant, teils als Frikativ sowie als stimmhaft und stimmlos identifiziert – eine Bandbreite, die Ähnlichkeiten zum emphatischen Laterallaut des nicht näher verwandten neusüdarabischen Mehri aufweist. In zwei der untersuchten Tihama-Dialekte ließ sich eine Unterscheidung von Kognaten von und feststellen. In Bezug auf einen der von ihr identifizierten Laute, einen emphatischen stimmhaften alveopalatalen frikativen Lateral, folgerte Munira Al-Azraqi:
Deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen arabischen Dialekten finden sich in der Auswirkung eines emphatischen Konsonanten auf die umgebenden Laute, im Englischen genannt . Im Kairinischen bewirkt ein emphatischer Konsonant in der Regel, dass das gesamte Wort emphatisch artikuliert wird, in manchen Dialekten reicht die Auswirkung bis ins vorstehende oder nachfolgende Wort. Im saudi-arabischen Abha hingegen reicht „emphasis spread“ meist nur bis zum anliegenden Vokal. Einzelne Dialekte wie das zyprische Arabisch kennen keine emphatischen Laute.
Umschrift
In vielen einflussreichen Normen zur Transliteration der arabischen Schrift kennzeichnet ein untergesetzter Punkt die emphatische Aussprache. So sieht die Umschrift der DMG ein für die Übertragung eines Ḍād in Lateinschrift vor, jedoch ist auch die Verwendung eines unter das Konsonantenzeichen gesetzten Tremas zur Verdeutlichung der Emphase zulässig, um eine Verwechslung mit der Umschrift von Zerebrallauten zu vermeiden.
In der Bahai-Transkription, bei der auf der DMG-Umschrift basierenden DIN 31635, bei ISO 233, in der ALA-LC-Transkription und in der Encyclopaedia of Islam wird Ḍād ebenfalls mit transliteriert. Davon abweichend sieht der Standard der UNGEGN sowie die BGN/PCGN-Transkription die Verwendung von , einem d mit Cedille, vor; die BGN/PCGN-Transkription erlaubt jedoch auch den Rückgriff auf . Abweichend von diesen Standards und einem Änderungsvorschlag zur UNGEGN-Transkription entsprechend verwendet das Royal Jordanian Geographic Centre das , ein d mit Unterstrichakzent, als Umschrift des Ḍād.
Umschriften mit Beschränkung auf ASCII-Zeichen wie die Standards Buckwalter und Qalam transliterieren Ḍād mit einem großen . Im Standard Arabic Technical Transliteration System (SATTS) wird hingegen auf ein zurückgegriffen.
In nicht-wissenschaftlichen Transkriptionen wird Ḍād auch durch ein einfaches oder den Digraph wiedergegeben (etwa bei der saudi-arabischen Hauptstadt , deutsch meist als Riad transkribiert, englisch als Riyadh), wodurch die Unterscheidbarkeit des Ḍād vom Dāl bzw. Ḏāl verloren geht. Im sogenannten „Chat-Arabisch“ oder ʿArabīzī repräsentiert ein oder – abgeleitet von der Form – die Zeichenfolge den Buchstaben Ḍād.
In der arabischen Brailleschrift wird P1246 für Ḍād verwendet. Das Morsezeichen für Ḍād ist kurz-kurz-kurz-lang .
Das Zeichen in anderen Sprachen
Bedingt durch die spezielle Entwicklung und Aussprache des Ḍād im Arabischen findet sich in arabisch-basierten Alphabeten anderer Sprachen selten eine eindeutige Zuordnung eines Phonems zum Graphem Ḍād. Die folgenden Absätze illustrieren dies exemplarisch:
Im persischen Alphabet ist Ḍād einer von acht Buchstaben, die primär in arabischen Lehnwörtern zu finden sind. Während diese acht Buchstaben – neben Ḍād sind dies ʿAin (), Ḏāl (), Ḥāʾ (), Ṣād (), Ṭāʾ (), Ṯāʾ () und Ẓāʾ () – im Arabischen jeweils einen eigenen Lautwert aufweisen, repräsentieren sie im Persischen keine eigenen Phoneme. Wie das Zāy () werden Ḍād, Ḏāl und Ẓāʾ als stimmhafter alveolarer Frikativ artikuliert. Der persische Name des Buchstabens lautet , die Transliteration erfolgt üblicherweise mit , einem z mit übergesetztem Punkt.
In den arabischen Alphabeten von Sprachen wie Urdu, Paschto, Sindhi, Kaschmiri und Panjabi, deren arabische Alphabete Varianten des persischen Alphabets sind, ist Ḍād ebenso eines von mehreren Graphemen für den Laut und tritt in arabischen Lehnwörtern auf. Im Urdu, Sindhi und im Shahmukhi (dem arabischen Alphabet des Panjabi) findet sich für das Zeichen auch der abweichende Name / Żwād.
Auch im Jawi, der arabischen Schrift des Malaiischen, findet sich der Buchstabe Ḍād (in malaiischer Lateinschrift als dhad oder dad bezeichnet) in arabischen Lehn- und Fremdwörtern wieder. In der Adschami-Schrift des Hausa wird Ḍād als oder ausgesprochen, doch nur sehr selten genutzt. Die arabische Schrift des Swahili enthält Ḍād gleichermaßen, es wird lautlich jedoch nicht von Ẓāʾ unterschieden und von Ḏāl nur von einer „Elite“.
Aus dem arabischen Alphabet des Uigurischen wurde das Ḍād im Laufe der Schriftreformen der 1920er-Jahre gestrichen. Ähnliches gilt für das Tatarische, in dessen bis 1920 gültigen Alphabet İske imlâ Ḍād als einer der dunklen Konsonanten enthalten war, während in dessen Nachfolger-Alphabet Yaña imlâ Ḍād nicht mehr genutzt wurde. Im arabischen Alphabet des Sorani-Kurdischen wird Ḍād „normalerweise“ nicht mehr verwendet, von manchen Autoren in arabischen Lehnwörtern jedoch noch gesetzt. Die Aussprache entspricht dem stimmhaften alveolaren Frikativ.
Eine Besonderheit stellte das weißrussische arabische Alphabet dar, in dem sich Ḍād als Zeichen für einen eigenen Laut etablieren konnte. Ḍād repräsentierte den stimmhaften alveolaren Frikativ , Zāy (), das im Arabischen diesem Lautwert zugeordnet ist, hingegen dessen palatalisierte Variante .
Ableitungen
In den arabischen Alphabeten des Tamilischen (Arwi) und Malayalam wird der Buchstabe – in seiner Form ein Ḍād mit untergesetztem Punkt – verwendet. Dieses Zeichen entspricht dem in der tamilischen Schrift bzw. dem in der Malayalam-Schrift und wird als stimmhafter lateraler retroflexer Approximant artikuliert. Im Tamilischen kann es auch dem Buchstaben der tamilischen Schrift entsprechen, der für den stimmhafter retroflexer Approximant steht.
Das Xiao’erjing enthält das Zeichen , das einem Ḍād mit zwei zusätzlichen übergesetzten Punkten entspricht und als aspirierte stimmlose alveolare Affrikate (Pinyin: ) ausgesprochen wird.
Zeichenkodierung
In Unicode ist Ḍād mehrfach kodiert. Das Ḍād im Unicode-Block Arabisch passt sich seiner Position im Wort automatisch an und erscheint dementsprechend in isolierter, finaler, medialer oder initialer Form. Im Block Arabische Präsentationsformen-A sind verschiedene Ligaturen und im Block Arabische Präsentationsformen-B die einzelnen Formen des Ḍād kodiert. Die Zeichen der beiden letztgenannten Unicode-Blöcke passen sich nicht an ihre Position im Wort an. Im Unicode-Block Arabische mathematische alphanumerische Symbole finden sich Varianten des Ḍād zur Nutzung im mathematischen Kontext.
In den Kodierungen Windows-1256 (D6), MacArabic (D6), ISO 8859-6 (D6), Codepage 708 (D6), Codepage 720 (E0) und Codepage 864 (D6 und EB) ist Ḍād an jeweils in Klammern angegebenen Codepunkten enthalten. In ArabTeX kann es durch den Befehl .d aufgerufen werden. In arabischen Tastaturlayouts befindet sich Ḍād am Ort des Q der QWERTY- oder QWERTZ-Layouts.
Literatur
Weblinks
Einzelnachweise
Arabisches Schriftzeichen |
928480 | https://de.wikipedia.org/wiki/Old%20Trafford | Old Trafford | Das Old Trafford ist ein Fußballstadion in England und die Heimspielstätte des Fußballvereins Manchester United. Es befindet sich in Trafford im Metropolitan County Greater Manchester, etwa dreieinhalb Kilometer südwestlich des Stadtzentrums von Manchester. Das Stadion ist nach dem Stadtteil Old Trafford benannt, in dem auch der Old Trafford Cricket Ground liegt. Mit einer Kapazität von 74.310 Zuschauern ist das Old Trafford nach dem Wembley-Stadion in London das zweitgrößte Fußballstadion im Vereinigten Königreich.
Das Old Trafford, das von Bobby Charlton den Spitznamen Theatre of Dreams („Theater der Träume“) erhielt, entstand nach den Plänen des Architekten Archibald Leitch und wurde im Jahr 1910 eröffnet. Den Besucherrekord erzielte man im Jahr 1939, als 76.962 Zuschauer das Halbfinale des FA Cup zwischen den Wolverhampton Wanderers und Grimsby Town sahen. Aufgrund von Schäden durch Fliegerbomben während The Blitz im Zweiten Weltkrieg konnte das Old Trafford von 1941 bis 1949 nicht genutzt werden und Manchester United musste das Stadion Maine Road des Stadtrivalen Manchester City nutzen. Die Konsequenzen aus dem 1990 erschienenen Taylor Report hatten in den folgenden zwei Jahrzehnten umfangreiche Umbauarbeiten zu einem reinen Sitzplatzstadion zur Folge, wodurch die Kapazität zwischenzeitlich auf 44.000 Zuschauer sank. Mit mehreren Tribünenneubauten stieg sie bis 2009 wieder auf den heutigen Stand.
Im Old Trafford fanden zahlreiche bedeutende Fußballspiele statt, darunter Länderspiele der englischen Fußballnationalmannschaft, Spiele der Fußball-Weltmeisterschaft 1966 und der Fußball-Europameisterschaft 1996, das Finale der UEFA Champions League 2002/03 sowie Spiele des olympischen Fußballturniers 2012. Das Old Trafford ist auch Austragungsort wichtiger Begegnungen in der Sportart Rugby League, darunter die Finalspiele der Weltmeisterschaften 2000 und 2013; darüber hinaus findet hier seit 1998 das Finale der Super League statt.
Geschichte
Stadionbau und erste Jahre
Der Manchester United Football Club, 1878 als Newton Heath L&Y Railway Football Club gegründet, spielte in den ersten drei Jahrzehnten seines Bestehens an zwei verschiedenen Standorten: zunächst bis 1893 an der North Road im Stadtteil Newton Heath, anschließend an der Bank Street in Clayton. Beide Stadien waren von sehr schlechten Platzverhältnissen geprägt, bei denen die Spielfelder eher Kiesgruben oder Sümpfen glichen. An der Bank Street litten die Spieler zusätzlich unter den Rauchschwaden benachbarter Fabriken. Der Brauereiunternehmer John Henry Davies bewahrte den Verein 1902 vor dem Konkurs und benannte ihn in Manchester United um. Als mit dem Meistertitel 1908 und dem Pokalsieg 1909 erfolgreichere Zeiten anbrachen, hielt er das Stadion an der Bank Street nicht mehr für angemessen, so dass er Geldmittel für ein neues Stadion zur Verfügung stellte. Davies hielt in und um Manchester Ausschau nach einem geeigneten Standort und fand eine freie Fläche neben dem Bridgewater-Kanal in Old Trafford.
Der erste Entwurf des schottischen Architekten Archibald Leitch, der zuvor bereits mehrere Stadien entworfen hatte, sah eine Kapazität von 100.000 Zuschauern vor. Während an der Südseite eine überdachte Sitzplatztribüne geplant war, sollten an den drei übrigen Seiten nicht überdachte Stehplatzterrassen entstehen. Zusammen mit dem Landkauf wurden die Baukosten auf ursprünglich insgesamt 60.000 Pfund Sterling veranschlagt. Als die Kosten zu steigen begannen, wären 30.000 Pfund zusätzlich notwendig geworden, um die beabsichtigte Kapazität zu erreichen. Auf Anregung von Vereinssekretär John Bentley wurde die Kapazität auf ungefähr 80.000 Zuschauer reduziert. Trotz dieser Sparmaßnahme festigten die hohen Baukosten den seit der Übernahme durch Davies erworbenen Ruf von Manchester United als „Geldsack“-Verein (Moneybags United), zumal die Ablösesummen sich damals um 1.000 Pfund bewegten.
Im Mai 1908 versuchte Leitch die Eisenbahngesellschaft Cheshire Lines Committee (CLC), die unmittelbar neben dem vorgeschlagenen Baugelände ein Depot besaß, durch ein Schreiben zu überzeugen, den Bau der Haupttribüne neben der Bahnlinie finanziell mit 10.000 Pfund zu unterstützen – rückzahlbar durch jährliche Raten von 2.000 Pfund oder durch die Hälfte der Einnahmen aus dem Eintrittskartenverkauf der Haupttribüne bis zur Begleichung des Darlehens. Trotz der Zusicherung, dass der Verein selbst und zwei von Davies geführte lokale Brauereien für das Darlehen bürgen würden, lehnte die CLC den Vorschlag ab. Die CLC hatte geplant, neben dem neuen Stadion einen Bahnhof zu bauen. Der Bahnhof Trafford Park entstand schließlich knapp zwei Kilometer weiter stadtauswärts als ursprünglich geplant. Zwei Jahrzehnte später entstand eine kleine Haltestelle mit hölzernen Bahnsteigen unmittelbar neben dem Stadion. Sie wurde am 21. August 1935 eröffnet und hieß zunächst United Football Ground, erhielt aber zu Beginn des folgenden Jahres die neue Bezeichnung Old Trafford Football Ground.
Die Bauarbeiten am Stadion führte das Unternehmen Messrs Brameld and Smith aus Manchester aus, Ende 1909 war das Bauprojekt abgeschlossen. Das Eröffnungsspiel fand am 19. Februar 1910 statt: Manchester United empfing den FC Liverpool und verlor mit 3:4. Ein beim Spiel anwesender Journalist des Sporting Chronicle berichtete, dieses Stadion sei „die ansehnlichste, weitläufigste und außergewöhnlichste Arena, die ich jemals gesehen habe. Als Fußballstadion ist sie in der Welt unerreicht, sie ist eine Ehre für Manchester und die Heimat einer Mannschaft, die Wunder vollbringen kann, wenn sie entsprechend gewillt ist.“
Vor dem Bau des Wembley-Stadions im Jahr 1923 fanden die Endspiele des FA Cup in wechselnden Stadien in England statt, zweimal auch im Old Trafford. Die erste Begegnung war die Wiederholung des Endspiels von 1911 zwischen Bradford City und Newcastle United, nachdem das eigentliche Endspiel in Crystal Palace nach Verlängerung mit einem torlosen Unentschieden geendet hatte. In Manchester setzte sich Bradford am 26. April vor 58.000 Zuschauern mit 1:0 durch. Das zweite Endspiel fand am 24. April 1915 statt. Dabei siegte Sheffield United mit 3:0 gegen den FC Chelsea. Da die meisten der 50.000 Zuschauer Militärangehörige waren, erhielt dieses Spiel den Spitznamen Khaki Cup Final. Das erste Länderspiel im Old Trafford folgte am 17. April 1926: Vor 49.429 Zuschauern verlor England mit 0:1 gegen Schottland.
Kriegsschäden
Als Teil eines 35.000 Pfund teuren Modernisierungsprogramms erhielt die Nordtribüne 1936 ein 80 Yards (73,15 Meter) langes Dach, zwei Jahre später kamen Dächer über die zwei südlichen Ecken hinzu. Als der Zweite Weltkrieg ausbrach, requirierte das Militär das Stadion, um es als Lager zu verwenden. Fußball wurde weiterhin gespielt, bis ein deutscher Luftangriff auf das benachbarte Industriegebiet Trafford Park am 22. Dezember 1940 das Stadion so weit beschädigte, dass das geplante Weihnachtsspiel gegen Stockport County ins Stadion der Gastmannschaft verlegt werden musste. Nach Beseitigung der Schäden konnte der Spielbetrieb am 8. März 1941 wieder aufgenommen werden, doch ein weiterer deutscher Angriff am 11. März zerstörte das Stadion zu einem großen Teil (insbesondere die Haupttribüne). Manchester United war gezwungen, seinen Sitz in das Colnbrook-Kühllager zu verlegen, das dem Vereinsvorsitzenden James W. Gibson gehörte.
Auf Druck von Gibson gewährte die Kriegsschädenkommission (War Damages Commission) dem Verein eine Entschädigung von 4.800 Pfund für die Beseitigung der Trümmer und weitere 17.478 Pfund für den Wiederaufbau der Tribüne. Während des Wiederaufbaus des Stadions trug Manchester United seine Heimspiele an der Maine Road aus, dem Stadion des Stadtrivalen Manchester City. Der Verein musste jährlich 5.000 Pfund Miete bezahlen und einen Anteil an den Zuschauereinnahmen abgeben. Manchester United hatte nun Schulden in der Höhe von 15.000 Pfund und konnte diese aufgrund der erhöhten Kosten kaum abtragen. Der Unterhaus-Abgeordnete Ellis Smith von der Labour Party ersuchte die Regierung vergeblich um eine Aufstockung der Entschädigung für den Verein. Mehr als acht Jahre nach der Zerstörung konnte das Old Trafford wieder genutzt werden. Das erste Spiel im wiederhergestellten Stadion fand am 24. August 1949 statt, als 41.748 Zuschauer den 3:0-Sieg des Heimteams gegen die Bolton Wanderers mitverfolgten.
Umbauten nach dem Wiedereinzug
1951 war das Dach über der Haupttribüne wiederhergestellt und bald darauf erhielten auch die drei übrigen Tribünen eine Überdachung, zuletzt 1959 die Westtribüne. Der Verein investierte 40.000 Pfund in eine angemessene Flutlichtanlage, um das Stadion auch abends unter der Woche für europäische Pokalspiele nutzen zu können und somit das Ausweichen an die Maine Road zu vermeiden. Um störende Schattenwürfe auf dem Spielfeld zu vermeiden, wurden zwei Abschnitte des Haupttribünendachs entfernt. Das erste Spiel unter Flutlicht war eine Meisterschaftspartie zwischen Manchester United und den Bolton Wanderers am 25. März 1957.
Obwohl die Zuschauer die Spieler nun auch abends sehen konnten, bestand noch immer das Problem, dass die Stützpfeiler das Sichtfeld einschränkten. Die bevorstehende Fußball-Weltmeisterschaft 1966 veranlasste die Vereinsführung dazu, die Nordtribüne an der United Road vollständig neu zu gestalten. Die alten Stützpfeiler wurden 1965 durch moderne Auskragungen auf dem Dach ersetzt, was sämtlichen Zuschauern einen uneingeschränkten Blick auf das Spielgeschehen ermöglichte. Bei Kosten von 350.000 Pfund erweiterte man die Tribünenkapazität auf 20.000 Zuschauer (je zur Hälfte Sitz- und Stehplätze). Das zuständige Architekturbüro Mather and Nutter gestaltete die Tribüne so um, dass sich vorne der terrassierte Stehplatzbereich befand und dahinter der größere Sitzplatzbereich, mit den ersten VIP-Logen in einem britischen Fußballstadion. Die Osttribüne, die einzige noch nicht überdachte, wurde 1973 im selben Stil umgestaltet.
Nachdem nun zwei Tribünen mit Auskragungen versehen worden waren, erarbeiteten die Vereinsbesitzer einen langfristigen Plan, um auch die zwei übrigen Tribünen umzubauen und das Stadion in eine schüsselartige Arena zu verwandeln. Sie erhofften sich dadurch, den Lärm der Menge auf das Spielfeld zu fokussieren, was zu einer besseren Stimmung beitragen würde. Da das Endspiel des FA Cup 1970 unentschieden geendet hatte, wurde am 29. April 1970 eine Wiederholung im Old Trafford angesetzt; Chelsea gewann das Spiel gegen Leeds United vor 62.078 Zuschauern mit 2:1. Das Stadion war auch Austragungsort des Rückspiels des Weltpokals 1968, in welchem sich Estudiantes de La Plata die Trophäe mit einem 1:1-Unentschieden sicherte.
In den 1970er Jahren war der britische Fußball von einem dramatischen Anstieg des Hooliganismus betroffen. Ein Zuschauer warf am 27. Februar 1971 bei einem Spiel gegen Newcastle United ein Messer auf das Spielfeld, woraufhin sich der Verein gezwungen sah, erstmals in einem britischen Stadion einen Schutzzaun zu errichten. Als Folge dieses Zwischenfalls musste Manchester United die ersten beiden Heimspiele der Saison 1971/72 an der Anfield Road in Liverpool austragen. Ab 1973 war das Stadion in seinem ganzen Umfang überdacht. Die Osttribüne erhielt zusätzlich 5.500 Sitzplätze und in der Nordostecke ersetzte man die alte, manuelle Anzeigetafel durch ein elektronisches Modell. 1975 begann ein drei Millionen Pfund teures Ausbauprogramm, beginnend mit der Hinzufügung der Executive Suite zur Haupttribüne. Vom Restaurant der Suite konnte man auf das Spielfeld sehen, doch noch immer schränkten die Stützpfeiler das Sichtfeld ein. Aus diesem Grund erhielt auch das Dach der Haupttribüne eine Auskragung. Dadurch konnten die Executive Suite und das Dach auf die gesamte Tribünenlänge ausgedehnt werden, was dem Verein erlaubte, seine Büros von der Südostecke zur Haupttribüne zu verlegen. Der südöstliche Quadrant wurde 1985 entfernt und durch eine Sitzplatzsektion ersetzt. Die Vollendung des Kragträgerdachs auf drei Seiten des Stadions erlaubte 1987 die Ersetzung der alten Flutlichtpylonen und die Anbringung neuer Flutlichter rund um den inneren Rand des Dachs.
Umbau zum reinen Sitzplatzstadion
Mit jeder Erneuerung, die seit dem Zweiten Weltkrieg vorgenommen worden war, sank die Kapazität des Stadions kontinuierlich, von ursprünglich 80.000 auf etwa 60.000. Der im Jahr 1990 veröffentlichte Taylor Report, der die Ursachen der Hillsborough-Katastrophe von Sheffield am 15. April 1989 untersuchte, hatte weitreichende Konsequenzen zur Folge. Gestützt auf den Bericht forderte die britische Regierung den Umbau der Stadien aller Erst- und Zweitligavereine zu reinen Sitzplatzstadien. Manchester United hatte geplant, für 3,5 Millionen Pfund die Westtribüne durch eine neue Stehplatztribüne mit auskragendem Dach zu ersetzen. Diese Pläne mussten nun grundlegend geändert werden. Die erzwungene Umgestaltung, die auch die Entfernung der Stehplatzbereiche vor den drei übrigen Tribünen erforderte, hatte nicht nur die Erhöhung der Kosten auf rund 10 Millionen Pfund zur Folge, sondern reduzierte auch die Zuschauerkapazität auf einen historischen Tiefststand von 44.000. Darüber hinaus teilte die Regierung 1992 mit, dass der Verein nur 1,4 Millionen Pfund Subventionen für Arbeiten im Zusammenhang mit dem Taylor Report erhalten werde, anstatt der möglichen zwei Millionen Pfund.
Da der Verein ab den frühen 1990er Jahren wieder vermehrt Erfolge feierte und somit an Beliebtheit zulegte, erforderte dies weitere bauliche Maßnahmen. 1995 wurde die 30 Jahre alte Nordtribüne abgerissen, um in Hinblick auf die bevorstehende Fußball-Europameisterschaft 1996 einen Neubau zu errichten. Zu diesem Zweck erwarb der Verein im März 1995 für 9,2 Millionen Pfund ein 81.000 Quadratmeter großes Gewerbegelände auf der gegenüberliegenden Seite der United Road. Die Bauarbeiten begannen im Juni 1995 und waren im Mai 1996 abgeschlossen. Noch während der Saison konnten zwei der drei Ränge der Tribüne eröffnet werden. Die Tribüne, deren Baukosten insgesamt 18,65 Millionen Pfund betrugen, hatte eine Kapazität von 25.500 Zuschauern, wodurch die Gesamtkapazität auf mehr als 55.000 erhöht werden konnte. Das Kragträgerdach maß von der Rückwand bis zur vorderen Kante 58,5 Meter und war damals das größte Europas. Während der Europameisterschaft 1996 wurden im Old Trafford drei Gruppenspiele, ein Viertelfinale und ein Halbfinale ausgetragen, außerdem fand zum Abschluss am 29. Juni 1996 ein Konzert der Gruppe Simply Red im Old Trafford statt.
Die anhaltenden Erfolge von Manchester United in den folgenden Jahren ließen einen weiteren Ausbau finanziell lohnend erscheinen. Zunächst wurde bis Januar 2000 ein zweiter Rang zur Osttribüne hinzugefügt, wodurch die Kapazität auf 61.000 Zuschauer anstieg. Durch das Hinzufügen eines zweiten Ranges zur Westtribüne im folgenden Jahr kamen mehr als 7.000 weitere Sitzplätze hinzu. Die Kapazität betrug nun 68.217 Zuschauer, womit das Old Trafford nun das größte Vereinsstadion Großbritanniens war. Am 28. Mai 2003 war das Old Trafford erstmals Austragungsort eines bedeutenden europäischen Endspiels, als sich die beiden italienischen Vereine AC Mailand und Juventus Turin im Finale der UEFA Champions League 2002/03 gegenüberstanden.
Von 2001 bis 2007, nach dem Abriss des alten Wembley-Stadions, hatte die englische Nationalmannschaft vorübergehend keine eigentliche Heimspielstätte. Während dieser Zeit war sie in verschiedenen Stadien zu Gast, beispielsweise im Villa Park in Birmingham oder im St. James’ Park in Newcastle. Auch im Old Trafford fanden zwischen 2003 und 2007 zwölf der 23 Heimspiele statt. Das bisher letzte Länderspiel im Stadion von Manchester United wurde am 7. Februar 2007 ausgetragen, wobei England vor 58.207 Zuschauern mit 0:1 gegen Spanien verlor.
Seit dem Ausbau 2006
Eine zwischen Juli 2005 und Mai 2006 ausgeführte Erweiterung des Old Trafford führte zu einer Erhöhung der Stadionkapazität um weitere 8.000 Sitze durch das Hinzufügen zweiter Ränge in den nordwestlichen und nordöstlichen Quadranten. Ein Teil der neuen Sitzplätze konnte erstmals am 26. März 2006 genutzt werden, als 69.070 Zuschauer beim 3:0-Heimsieg gegen Birmingham City anwesend waren und dabei einen Besucherrekord für ein Spiel der Premier League erzielten. Der Rekord wurde sukzessive erhöht, bis er am 31. März 2007 mit 76.098 bei 76.212 verfügbaren Plätzen Zuschauern einen vorläufigen Höchststand erreichte. Eine Umstellung der Sitzreihen im Stadion führte 2009 zu einer Reduktion der Kapazität um 255 Sitzplätze auf 75.957. Für die Saison 2013/14 gibt die Premier League eine nochmals leicht verringerte Kapazität von 75.731 Zuschauern an.
Anlässlich des 100. Stadionjubiläums am 19. Februar 2010 organisierte der Verein mehrere Veranstaltungen. Auf der offiziellen Website wurden 100 denkwürdige Ereignisse der Stadiongeschichte, von denen eine Jury (unter anderem mit den ehemaligen Spielern Pat Crerand und Wilf McGuinness) die zehn besten auswählte. Unter der Leitung des Künstlers Harold Riley fand ein Zeichenwettbewerb für Kinder aus umliegenden Schulen statt, bei dem sie Darstellungen des Stadions in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft kreierten. Die besten Zeichnungen wurden geehrt und im Zugang zu einer der Tribünen ausgestellt. Am Jubiläumstag eröffneten der ehemalige Torhüter Jack Crompton und Generaldirektor David Gill eine Sonderausstellung im Vereinsmuseum. Beim Heimspiel gegen den FC Fulham am 14. März erhielten die Fans einen Nachdruck des Programmhefts des ersten Spiels im Old Trafford und in der Halbzeitpause vergruben Nachkommen der damals beteiligten Spieler, des damaligen Vereinsvorsitzenden John Henry Davies und des Stadionarchitekten Archibald Leitch nahe dem zentralen Tunnel eine Zeitkapsel mit Erinnerungsstücken.
Während der Olympischen Sommerspiele 2012 war das Old Trafford Austragungsort mehrerer Spiele des Fußballturniers. Bei den Männern fanden fünf Vorrundenspiele, ein Viertelfinale und ein Halbfinale, bei den Frauen ein Vorrundenspiel und ein Halbfinale statt. Es war das erste Mal überhaupt, dass im Old Trafford internationale Frauenfußballpartien stattgefunden hatten.
2013 stufte der Stadtrat von Trafford das Stadion als Asset of Community Value ein, wodurch Manchester United das Old Trafford im Falle eines Verkaufs zuerst Interessenten aus der Gemeinde anbieten müsste. Die Geschäftsleitung des Vereins bekämpfte diese Einstufung zunächst, zog aber später den Antrag auf Revision zurück.
Bauwerk und Einrichtungen
Das Spielfeld des Old Trafford ist von vier überdachten Sitzplatztribünen umgeben. Offiziell heißen sie Sir Alex Ferguson Stand (Nordtribüne), East Stand (Osttribüne), Sir Bobby Charlton Stand (Südtribüne) und West Stand (Westtribüne). Die Tribünen verfügen über mindestens zwei Ränge, mit Ausnahme der Südtribüne, die aufgrund baulicher Einschränkungen nur einen Rang hat. Der untere Rang jeder Tribüne ist in eine untere und obere Sektion unterteilt, letztere entstanden in den frühen 1990er Jahren durch den Umbau der früheren Terrassen. Das Stadion kann täglich auf geführten Rundgängen besichtigt werden (mit Einschränkungen an Spieltagen).
Nordtribüne (Sir Alex Ferguson Stand)
Der Sir Alex Ferguson Stand, früher als United Road Stand und North Stand bezeichnet, erstreckt sich über der angrenzenden United Road. Die Tribüne ist drei Ränge hoch und fasst rund 26.000 Zuschauer, womit es sich um die größte der vier Tribünen handelt. Sie kann auch einige Fans in VIP-Logen und Hospitality Suites aufnehmen. In ihrer heutigen Form wurde sie 1996 eröffnet und ist seither die Haupttribüne des Old Trafford. Sie beherbergt mehrere Einrichtungen, darunter das Red Café (ein Manchester-United-Themenrestaurant) und das Vereinsmuseum mit der Trophäensammlung. Das Museum war 1986 als weltweit erste Einrichtung dieser Art eröffnet worden und befand sich ursprünglich in der Südostecke des Stadions, bis es zwölf Jahre später umzog. Das Museum wurde am 11. April 1998 durch Pelé wiedereröffnet; danach stieg die jährliche Besucherzahl von 192.000 auf mehr als 300.000 im Jahr 2009.
Am 5. November 2011 wurde die Nordtribüne offiziell in Sir Alex Ferguson Stand umbenannt, zu Ehren des 25-jährigen Jubiläums von Alex Ferguson als Trainer des Vereins. Eine weitere Ehrung erhielt Ferguson am 23. November 2012 mit der Enthüllung einer Statue. Das Werk des Bildhauers Philip Jackson besteht aus Bronze, ist neun Fuß (2,74 Meter) hoch und steht an der Außenwand der Tribüne.
Südtribüne (Sir Bobby Charlton Stand)
Die Südtribüne ist die ehemalige Haupttribüne des Old Trafford. Obwohl sie nur einen Rang aufweist, enthält sie die meisten VIP-Logen. Medienvertreter finden in der Mitte der oberen Sektion Platz, um ihnen die bestmögliche Sicht auf das Spielgeschehen zu gewährleisten. Das Gerüst für die Fernsehkameras ist ebenfalls an der Südtribüne angebracht, so dass diese Seite des Stadions bei Fernsehübertragungen am wenigsten zu sehen ist. Fernsehstudios sind an beiden Enden der Südtribüne zu finden; der vereinseigene Sender MUTV nutzt das Studio an der Ostseite, während anderen Sendern wie BBC oder Sky das Studio an der Westseite zur Verfügung steht.
Die Trainerbänke befinden sich in der Mitte der Südtribüne, etwas über dem Niveau des Spielfelds erhöht, so dass die Trainer bessere Sicht auf das Geschehen haben. Beide flankieren den alten Spielertunnel, der bis 1993 in Gebrauch war. Der Tunnel ist der einzige erhalten gebliebene Teil des Originalstadions von 1910; bei der Bombardierung im Zweiten Weltkrieg, die den größten Teil des Stadions zerstörte, blieb er unversehrt. Am 6. Februar 2008 wurde er in Munich Tunnel umbenannt, in Gedenken an den 50. Jahrestag des Flugzeugabsturzes von München im Jahr 1958, bei dem acht Spieler von Manchester United ums Leben gekommen waren. Der neue Spielertunnel befindet sich in der südwestlichen Ecke und dient auch als Eingang für Rettungsdienste. Falls große Fahrzeuge ins Stadion gelangen müssen, kann die Bestuhlung über dem Tunnel um 25 Fuß (7,62 Meter) angehoben werden. Der Tunnel führt durch die Interviewzone zu den Garderoben und zur Spielerlounge.
Am 3. April 2016 wurde die Südtribüne (“South Stand”) in “Sir Bobby Charlton Stand” umbenannt, zu Ehren des ehemaligen Spielers und Torjägers Sir Bobby Charlton.
Westtribüne (West Stand)
Die Westtribüne ist allgemein auch als Stretford End bekannt, da sie in die Richtung des Stadtteils Stretford weist. Traditionell halten sich hier die fanatischsten und lautesten Anhänger von Manchester United auf. Ursprünglich mit einer Kapazität von 20.000 Stehplätzen ausgestattet, war Stretford End die letzte Tribüne, die überdacht wurde und auch die letzte verbliebene, vollständig terrassierte Tribüne des Stadions vor der Aufwertung in den frühen 1990er Jahren. Den Umbau von Stretford End während der Saison 1992/93 nahm das Unternehmen Alfred McAlpine vor. Neben einzelnen VIP-Logen enthält diese Tribüne seither auch einen Bereich für Familien. Stretford End ist derart tief in der Fankultur verwurzelt, dass Denis Law den Spitznamen King of the Stretford End erhielt. Seit 2002 erinnert eine 10 Fuß (3,05 Meter) hohe Statue vom Bildhauer Ben Panting beim Zugang zum oberen Rang der Tribüne an ihn. Stretford End beherbergte außerdem von 2000 bis 2011 einen Jahreszähler, der die Jahre ohne Trophäe für den Stadtrivalen Manchester City zählte. Das Banner wurde beim Stand von 35 Jahren abgenommen, nachdem City den FA Cup 2011 gewinnen konnte.
Osttribüne (East Stand)
Die Osttribüne war die zweite Tribüne, die ein Kragträgerdach erhielt. Sie wird allgemein auch als Scoreboard End bezeichnet, da sich hier einst die Anzeigetafel (englisch scoreboard) befand. Die Osttribüne kann zurzeit fast 12.000 Besucher aufnehmen und ist sowohl Standort der Gästesektoren als auch der Plätze für körperlich behinderte Zuschauer mit deren Begleitern. Während der Saison 2011/12 erhielten die Gästefans im Rahmen eines Experiments den dritten Rang der Nordtribüne zugewiesen, doch dessen Ergebnisse konnten nicht rechtzeitig auf die Saison 2012/13 hin ermittelt werden, so dass es bei dieser temporären Maßnahme blieb.
An ihrer Rückseite besitzt die Osttribüne eine getönte Glasfassade, dahinter befinden sich die Büros der Vereinsverwaltung und der Redaktion des Vereinsmagazins Inside United. Die Fassade wird oft mit Bildern und Werbebotschaften (hauptsächlich Produkte des Trikotsponsors Nike) geschmückt. In Gedenken an den Flugzeugabsturz von München war die Fassade im Januar und Februar 2008 mit einem Bild der Busby Babes, der von Matt Busby trainierten erfolgreichen Mannschaft der 1950er Jahre, verziert. Ein dauerhaftes Mahnmal an dieses Unglück, das einen tiefen Einschnitt in der Vereinsgeschichte darstellt, ist eine Gedenktafel am südlichen Ende der Osttribüne (in Form eines Fußballfeldes). Am Übergang zwischen Ost- und Südtribüne ist außerdem seit 1960 die Munich Clock („München-Uhr“) angebracht, eine einfach gestaltete Uhr mit den Aufschriften „Feb 6th 1958“ und „Munich“.
Der Fanshop von Manchester United befand sich seit seiner Eröffnung an sechs verschiedenen Standorten. Ursprünglich war er in einer kleinen Hütte neben den Bahngleisen südlich des Stadions untergebracht, später wurde er in ein Gebäude gegenüber dem Eingang der Südtribüne verlegt. Die wachsende Beliebtheit des Vereins in den frühen 1990er Jahren führte zu einem weiteren Umzug, dieses Mal auf den Vorplatz der Westtribüne. Dieser Umzug war verbunden mit einer markanten Erweiterung und der Umwandlung des kleinen Ladens in einen „Megastore“, den Alex Ferguson am 3. Dezember 1994 eröffnete. Nur wenige Jahre später musste dieser Megastore der Erweiterung der Westtribüne weichen und wurde an einen temporären Standort gegenüber der Osttribüne verlegt. Seit 2000 ist der Fanshop im Erdgeschoss der erweiterten Osttribüne untergebracht und verfügt über eine Verkaufsfläche von 1.600 Quadratmetern. Besitzer und Betreiber des Ladens ist Nike. Über dem Eingang steht seit 1996 eine Bronzestatue, die Matt Busby darstellt und ebenfalls ein Werk von Philip Jackson ist.
Spielfeld und Umgebung
Das Spielfeld weist mit 105 Metern Länge und 68 Metern Breite die für Europacupwettbewerbe vorgeschriebene Maße auf. Die Spielfeldmitte liegt etwa neun Zoll (circa 23 Zentimeter) höher als die Ränder, so dass das Regenwasser besser abfließen kann. 25 Zentimeter unter dem Spielfeld ist eine Rasenheizung installiert, bestehend aus Plastikrohren mit einer Gesamtlänge von 23 Meilen (37 Kilometer). Seit der Saison 2013/14 besteht die Spielfläche aus einem 800.000 Pfund teuren Hybridrasen der Marke Desso GrassMaster, zusammengesetzt aus 97 Prozent natürlichem Gras und drei Prozent Kunstfasern.
Mitte der 1980er Jahre, als Manchester United Besitzer der Basketballmannschaft Manchester Giants war, gab es Pläne, auf dem Gelände des heutigen Parkplatzes E1 eine Sporthalle mit 9.000 Plätzen zu errichten. Der damalige Vorsitzende Martin Edwards konnte jedoch nicht die notwendigen Geldmittel auftreiben, um das Projekt zu verwirklichen, und die Mannschaft wurde schließlich verkauft. Seit August 2009 steht auf diesem Parkplatz der Hublot Clock Tower, ein zehn Meter hoher Uhrturm, der wie das Logo des Schweizer Uhrenherstellers Hublot geformt ist und vier Zifferblätter von je zwei Metern Breite besitzt.
Anlässlich des 40. Jahrestages des erstmaligen Gewinns des Europapokals der Landesmeister wurde am 29. Mai 2008 eine weitere Bronzestatue von Philip Jackson enthüllt. Sie stellt die so genannte „heilige Dreifaltigkeit“ von Manchester United dar. Dabei handelt es sich um die Spieler George Best, Denis Law und Bobby Charlton, die damals als The United Trinity („Die United-Dreifaltigkeit“) bezeichnet worden waren. Die Statue steht am Sir Matt Busby Way, der an der Osttribüne entlang verlaufenden Straße, direkt gegenüber der Busby-Statue. In unmittelbarer Nähe des Stadions, am gegenüberliegenden Ufer des Bridgewater-Kanals, entsteht zurzeit das Hotel Football, ein zehngeschossiges Hotelgebäude mit 138 Zimmern. Das Projekt, das von den früheren United-Spielern Gary Neville und Ryan Giggs getragen wird, soll Ende 2014 abgeschlossen sein. Das Hotel soll außerdem Fanveranstaltungen mit bis zu 1.500 Teilnehmern ermöglichen.
Planungen
Manchester United plant längerfristig eine weitere Erhöhung der Kapazität von Old Trafford. Vorgesehen ist ein Neubau der Südtribüne, die als einzige weiterhin nur über einen Rang verfügt. Würde der Neubau gleich wie die gegenüberliegende Nordtribüne gestaltet, so stiege die Kapazität des Stadions auf 95.000 Zuschauer an, womit 5.000 Plätze mehr als im Wembley-Stadion vorhanden wären. Ein solches Bauvorhaben würde Kosten von rund 100 Millionen Pfund verursachen. Ob das Projekt in dieser Form jemals verwirklicht wird, ist unsicher. Verglichen mit den übrigen Tribünenneubauten wäre es überproportional teuer, da aufgrund der beengten Platzverhältnisse hinter der Tribüne die angrenzende Bahnlinie aufwändig überbrückt werden müsste. Jenseits der Bahnlinie liegen zudem Privatgrundstücke mit Häusern darauf, die enteignet und aufgekauft werden müssten.
Nutzung neben Fußball
Old Trafford ist kein reines Fußballstadion, sondern diente auch anderen Zwecken. Noch vor dem Stadionbau wurde das Gelände für Shinty, das traditionelle Spiel der schottischen Highlands, genutzt. Während des Ersten Weltkriegs trugen US-amerikanische Soldaten im Stadion Baseballspiele aus und 1981 fanden Cricketspiele im Rahmen des Lambert & Butler Cup statt. Am 9. Oktober 1993 war das Old Trafford Schauplatz eines Supermittelgewicht-Boxkampfes zwischen dem WBO-Weltmeister Chris Eubank und dem WBC-Weltmeister Nigel Benn. Der Kampf vor rund 42.000 Zuschauern endete nach neun Runden unentschieden.
Besondere Bedeutung hat das Old Trafford als Austragungsort von Rugby-Spielen, wobei Begegnungen in der League-Variante deutlich häufiger vorkommen als solche in der Union-Variante. Das Finale der Super League, der bedeutendsten europäischen Rugby-League-Meisterschaft, findet seit der Einführung des Playoff-Systems im Jahr 1998 ausschließlich im Old Trafford statt. Diese Vereinbarung ist noch bis mindestens 2017 in Kraft. Das erste Rugby-League-Spiel im Old Trafford gab es während der Saison 1924/25, als ein Auswahlteam der Grafschaft Lancashire die neuseeländische Nationalmannschaft empfing, wobei Manchester United 20 Prozent der Einnahmen erhielt. Das erste Meisterschaftsspiel folgte im November 1958: Vor 8.000 Zuschauern traf Salford auf Leeds.
Am 25. Oktober 1986 fand das erste Rugby-League-Länderspiel (Test Match) statt. Dabei schlug Australien vor 50.583 Zuschauern Großbritannien mit 38:16. Die dritte Austragung der World Club Challenge (Rugby-League-Weltpokal) wurde am 4. Oktober 1989 im Old Trafford ausgetragen; das Team aus Widnes schlug vor 30.768 Zuschauern die Canberra Raiders mit 30:18. Weitere Spiele zwischen den Nationalmannschaften Australiens und Großbritanniens folgten in den Jahren 1990, 1994 und 1997. Im Rahmen der Rugby-League-Weltmeisterschaft 1995 traf England im Halbfinale auf Wales und setzte sich vor 30.042 Fans mit 25:10 durch. Während der Rugby-League-Weltmeisterschaft 2000 war das Old Trafford Austragungsort des Endspiels. Dieses endete vor 44.329 Zuschauern mit einem 40:12-Sieg Australiens über Neuseeland. Auch das Endspiel der Rugby-League-Weltmeisterschaft 2013 wurde im Old Trafford ausgetragen. Australien siegte dabei mit 34:2 gegen Titelverteidiger Neuseeland. Die damalige Zuschauerzahl von 74.468 bedeutete darüber hinaus einen neuen Weltrekord für ein Rugby-League-Länderspiel.
Das erste Rugby-Union-Länderspiel im Old Trafford fand am 22. November 1997 statt, als die neuseeländischen All Blacks mit 25:8 gegen England gewannen. Ein zweites Länderspiel folgte am 6. Juni 2009; England siegte mit 37:5 gegen Argentinien. Das Stadion war als eines von zwölf Austragungsorten der Rugby-Union-Weltmeisterschaft 2015 vorgesehen. Im April 2013 kündigte Manchester United jedoch den Vertrag mit den Organisatoren, da der Verein befürchtete, die im Vergleich zu Rugby League ruppigere Spielweise in Gedrängen könnte die Qualität des neuen Hybridrasens beeinträchtigen.
Das Old Trafford war auch mehrfach Veranstaltungsort von Konzerten, wobei Künstler wie Bon Jovi, Genesis, Bruce Springsteen, Status Quo und Rod Stewart im Stadion auftraten. Eine Besonderheit war das Konzert von Simply Red am 29. Juni 1996 anlässlich der Fußball-Europameisterschaft 1996 in England.
Im September 1994 wurde hier eine Ausgabe der BBC-Musiksendung Songs of Praise aufgezeichnet. Old Trafford wird regelmäßig auch für private Anlässe genutzt, insbesondere Hochzeiten, Weihnachtsfeiern und geschäftliche Tagungen. Die erste Hochzeitsfeier auf dem Stadiongelände fand im Februar 1996 in der Premier Suite statt.
Rekorde
Der Zuschauerrekord für ein Fußballspiel im Old Trafford kam am 25. März 1939 ohne Beteiligung von Manchester United zustande: Beim Halbfinale des FA Cup setzten sich vor 76.962 Zuschauern die Wolverhampton Wanderers mit 5:0 gegen Grimsby Town durch. Die höchste Zuschauerzahl für ein Meisterschaftsspiel der Heimmannschaft vor dem Zweiten Weltkrieg konnte am 27. Dezember 1920 verzeichnet werden, als 70.504 Besucher die 1:3-Niederlage gegen Aston Villa mitverfolgten. Diese beiden Rekorde kamen zustande, als das Stadion zwar noch bedeutend kleiner war als heute, aber überwiegend Stehplätze besaß. Der Rekord für ein Spiel im reinen Sitzplatzstadion beträgt 76.098, erzielt beim 4:1-Sieg von Manchester United gegen die Blackburn Rovers am 31. März 2007. Dies ist gleichzeitig die Rekordzuschauerzahl für ein Spiel der Premier League. Der Rekord für ein Freundschaftsspiel beträgt 74.731, als am 5. August 2011 Manchester United auf New York Cosmos traf.
Die tiefste Zuschauerzahl bei einem Meisterschaftsspiel wurde am 29. April 1950 erzielt, als lediglich 11.968 Zuschauer den 3:0-Sieg von Manchester United gegen den FC Fulham sahen. Für ein Spiel der Second Division zwischen Stockport County und Leicester City am 7. Mai 1921 wird die offizielle Zuschauerzahl mit 13 angegeben. Dieser Wert ist jedoch irreführend, da viele der rund 10.000 Zuschauer, die nach dem zuvor ausgetragenen Spiel zwischen Manchester United und Derby County im Stadion geblieben waren, nicht mitgezählt wurden.
Der höchste Zuschauerschnitt über eine gesamte Meisterschaft datiert aus der Saison 2006/07, als bei den 19 Premier-League-Heimspielen durchschnittlich 75.826 Zuschauer im Old Trafford anwesend waren. Die höchste Gesamtzuschauerzahl für Manchester United folgte in der Saison 2008/09: Insgesamt kamen 2.197.429 Menschen zu 30 Spielen (19 Premier League, 1 FA-Cup, 4 League Cup, 6 Champions League). Der tiefste Zuschauerschnitt (Meisterschafts- und Pokalspiele) beträgt 11.685 in der Saison 1930/31.
Die Angaben zu den Zuschauerzahlen (und somit auch den Rekorden) variieren je nach Zählweise. Während Manchester United wie andere Vereine auch als Besucherzahl immer die Anzahl der verkauften Karten angab, zählte die Polizei aus Sicherheitsgründen die Zahl der tatsächlich im Stadion erscheinenden Zuschauer: Bis April 2013 hatte Manchester United nach diesen Zahlen in der Saison 2012/13 einen Zuschauerschnitt von 61.739, der Verein hingegen gab den Schnitt mit 73.653 an. Bei einem Champions-League-Spiel im Dezember 2012 gegen CFR Cluj wurden 71.521 Karten verkauft, aber nur 46.894 erschienen laut Polizei zum Spiel.
Verkehrsanbindung
Angrenzend an die Südtribüne des Stadions befindet sich die Bahnhaltestelle Manchester United Football Ground. Sie liegt an der Bahnstrecke Liverpool–Warrington–Manchester, zwischen den Bahnhöfen Trafford Park und Deansgate. Sie wird seit ihrer Eröffnung im Jahr 1935 ausschließlich an Spieltagen von Sonderzügen bedient, die vom und zum Hauptbahnhof Manchester Piccadilly verkehren (mit Zwischenhalt an der Oxford Road). Ihr Betrieb erfolgt durch die Bahngesellschaft Northern Rail. Außerdem ist das Stadion mit der Stadtbahn Manchester Metrolink erreichbar. Die nächstgelegenen Haltestellen sind Exchange Quay (an der Linie nach Eccles) und Old Trafford (an der Linie nach Altrincham neben dem Old Trafford Cricket Ground) und sind beide einige Minuten zu Fuß entfernt. Automobilisten können ihr Fahrzeug auf den vereinseigenen Parkplätzen abstellen, die sich östlich und westlich des Stadions sowie entlang dem Bridgewater-Kanal befinden (bis in eine Entfernung von etwa 600 Metern). Zusätzlich halten mehrere Buslinien unweit des Stadions.
Literatur
Weblinks
manutd.com: Stadioninformationen (englisch)
footballgroundguide.com: Stadionführer (englisch)
stadiumdb.com: Old Trafford (englisch)
stadionwelt.de: Ausführliche Bildergalerie
europlan-online.de: Old Trafford – Manchester M16 0RA
groundhopping.de: Besucherbericht von 2002
Einzelnachweise
Fußballstadion in England
Fußballstadion in Europa
Rugbystadion in England
Sportstätte in Greater Manchester
Wettkampfstätte der Olympischen Sommerspiele 2012
Manchester United
Erbaut in den 1910er Jahren
Bauwerk in Greater Manchester |
941122 | https://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%A4ke%20%28Telte%29 | Bäke (Telte) | Die Bäke (früher: Telte) ist ein ehemals wasserreicher Bach, der ursprünglich vom heutigen Berliner Ortsteil Steglitz bis zum Griebnitzsee bei Potsdam floss und heute nur noch in zwei kleinen Teilstücken besteht.
Der zwischen 1900 und 1906 erbaute Teltowkanal nutzte für seine Streckenführung das von dem Fließ ausgeprägte Bäketal, sodass der Bach weitgehend im Kanal aufgegangen ist. Der ursprüngliche Name der Bäke, Telte, gab dem Teltow und damit der gesamten Region im Süden Berlins und im angrenzenden Brandenburg den Namen. Bereits in der Altsteinzeit besiedelt, gehörte das Flusstal zu den Kerngebieten der 1157 gegründeten Mark Brandenburg. Das seit 1995 als Naturschutzgebiet ausgewiesene Bäketal bei Kleinmachnow soll als eines der letzten ursprünglichen Relikte des Naturraumes Bäkefließ wildwachsende Pflanzengemeinschaften und wildlebende Tierarten erhalten.
Verlaufsübersicht und Geologie
Verlauf heute
Die Bäke entspringt am Südhang des Steglitzer Fichtenbergs und wird heute unterirdisch westlich des Steglitzer Zentrums – – unter der Straße Am Bäkequell – geführt. Nach rund einem Kilometer tritt das Fließ an der Haydnstraße zu Tage, um nach dem Verlauf von weiteren eintausend Metern durch den nach ihm benannten Bäkepark gegenüber dem Hafen Steglitz in den Teltowkanal zu münden. Südlich des Teltowkanals gibt es ein zweites, rund drei Kilometer langes Teilstück der Bäke, das durch den Kanal von seiner ursprünglichen Quelle Fichtenberg abgeschnitten ist und heute allein aus den Wiesen am Kleinmachnower Weinberg gespeist wird und am Schwarzen Weg beginnt. Dieses Bäkestück führt abgedeicht und parallel zum Teltowkanal durch das Naturschutzgebiet Bäketal – vorbei an der Bäkemühle durch den ehemaligen Schlosspark Kleinmachnow – und mündet rund 50 Meter westlich der Schleuse Kleinmachnow ebenfalls in den Teltowkanal.
Historischer Verlauf
Vor dem Bau des Teltowkanals (1900–1906) nahm die Bäke die Wasser der südwestlichen Berliner Randgebiete und der angrenzenden brandenburgischen Region auf. Der Lauf führte vom Steglitzer Fichtenberg nach Südosten zum Birkbusch, weiter nach Südwesten zum Dorf Lichterfelde und vorbei an Giesensdorf, das heute im Berliner Ortsteil Lichterfelde aufgegangen ist. Kurz nach Giesensdorf erreichte und durchfloss die Bäke den Teltowsee (früher: Stavensee) und ein Stück flussabwärts südlich Zehlendorfs den Schönowsee. Beide Seen fielen dem Bau des Kanals zum Opfer. Der Bach strömte weiter Richtung Westen, bildete die Nordbegrenzung des Dorfes Teltow und ließ anschließend bei Kleinmachnow den Machnower See, der heute vom Teltowkanal passiert wird, nördlich liegen. Zwischen seinerzeit unberührten Waldlandschaften wie Parforceheide und Forst Dreilinden hindurch gelangte die Bäke schließlich in den Griebnitzsee zwischen Babelsberg und Zehlendorf und damit in die Glienicker Lake und letztlich in die Havel.
Geologie
In ihrem Lauf nutzte und durchfloss die Bäke eine eiszeitlich angelegte Schmelzwasserrinne, die hier den Teltow durchschnitt. Geologisch ist der Teltow eine flachwellige Grundmoränenhochfläche, die in der jüngsten, der Weichsel-Eiszeit vor ca. 21.000 Jahren entstand. Die Ablagerungen dieser Eiszeit sind durchschnittlich 15 Meter mächtig und bestehen meist aus Geschiebemergel und unterlagernden Schmelzwassersanden. Im Bäketal formten die Wasserströme, in Zusammenarbeit mit den verschütteten Toteisblöcken ein besonders bewegtes Relief mit kleinräumigen Hügelketten aus Geschiebemergel und Schmelzwasserrinnen, die heute mit Pfuhlen und Tümpeln durchsetzt sind. Diese aus geologischer Sicht verhältnismäßig lockere Ablagerung erleichterte den Durchstich des späteren Kanalbaus am Seeberg-Weinberg-Höhenzug erheblich, erschwerte allerdings auch die Festigung der Böschungen für die Gleise der Treidelbahn und für die Stabilisierung der Brückenfundamente.
Geschichte
Besiedlung im Bäketal
Altsteinzeit und Eisenzeit
Wie große Teile der geologisch jungen Oberfläche der Mark Brandenburg war auch das Bäketal weitgehend versumpft, gleichwohl wie viele Flusstäler bevorzugter Siedlungsraum. Archäologische Funde belegen eine bäuerliche Besiedlung vor rund 2.500 Jahren. Neben Bronzeohrringen fanden die Forscher tönerne Gefäße mit Knochenresten eines Urnenfriedhofs aus dieser Zeit, der Eisenzeit. Bei Ausschachtungen auf dem Klinikumgelände der Freien Universität in Steglitz, das unmittelbar an den heutigen Bäkepark grenzt, legten Archäologen ein Dorf frei, das auf einem Hang über dem Fluss- und Sumpfgebiet lag und aus Pfostenhäusern mit Lehmwänden bestand. Auf dem Quellberg der Bäke, dem Fichtenberg, wurden 8.000 bis 10.000 Jahre alte Steinbeile aus der letzten Periode der Altsteinzeit gefunden, aus der Zeit also, in der in diesem Raum gerade die letzte Eiszeit zu Ende ging.
Slawen und Namengebung
Nachdem im Zuge der Völkerwanderungen im 4. und 5. Jahrhundert die Sueben, der elbgermanische Teilstamm der Semnonen, bis auf wenige Restgruppen ihre Heimat an Havel und Spree in Richtung Oberrhein, Schwaben, verlassen hatten, zogen im späten 7. und 8. Jahrhundert slawische Stämme in den vermutlich weitgehend siedlungsleeren Raum ein. Namensendungen auf „-ow“ in Namen wie Kleinmachnow gehen auf die slawische Zeit zurück. Die Bedeutung des sehr wahrscheinlich germanischen Wortstammes telt ist ungeklärt, mit dem slawischen Suffix -ow bedeutete Teltow dann in etwa Land an der Telte. Nachdem der Begriff Teltow als Flurname eine größere Verbreitung gefunden hatte, setzte sich für das Teltefließ zur Unterscheidung allmählich der Name Bäke durch. Die mittelniederdeutsche Bezeichnung beke = allgemein für Bach fand in Teilen Brandenburgs mehrfach Verwendung für kleinere Wasserläufe, oft neben der eigentlichen Bezeichnung (zur Etymologie des Namens Telte siehe genauer Abschnitt Namengebung im Hauptartikel zur Landschaft Teltow).
Deutsche Besiedlung
Die slawische Zeit ging mit der Gründung der Mark Brandenburg durch den Askanier Albrecht den Bären im Jahr 1157 und dem folgenden deutschen Landesausbau nach Osten zu Ende; Teile des Teltow gehörten neben der Zauche und dem Havelland zu den Kerngebieten der jungen Mark. Im Zuge der geschickten Siedlungspolitik der askanischen Markgrafen wurden weitere Teile des Bäketales erschlossen, neue Dörfer mit Kirchen entstanden in schneller Folge. Slawische Kleinsiedlungen, die sich dem moderneren deutschen Agrar- und Wirtschaftssystem nicht anpassten, hatten wenig Überlebenschancen.
Zwischen dem fruchtbaren Bäketal und dem Schlachtensee bauten in der heutigen Zehlendorfer Ortslage Düppel eintreffende Siedler um 1170, kurz nach Gründung der Mark Brandenburg, gemeinsam mit hier ansässigen Slawen ein Dorf auf. Um 1220 bestand die Siedlung aus 16 Höfen, die zum Schutz hufeisenförmig um einen großen Dorfplatz, den Weideplatz für die Tiere, gelagert waren. Mit seiner Mischbevölkerung gibt dieses Angerdorf ein Beispiel für eine friedliche slawisch-deutsche Siedlungskontinuität im Bäketal. Durch den umfassenden Wüstungsprozess, der um 1250 wahrscheinlich mit der Einführung der neuen Wirtschaftsmethode Dreifelderwirtschaft einherging, fiel auch diese Siedlung wüst. Das Dorf am Landschaftsschutzgebiet Krummes Fenn ist freigelegt, nachgebaut und heute in den Sommermonaten als Museumsdorf Düppel zugänglich.
Burg am Bäkeübergang
Noch bis 1470 bestand lediglich ein passierbarer Übergang im ausgedehnten Bäke-Sumpfgebiet. Der Knüppeldamm lag an der mittelalterlichen Burg Kleinmachnow und bildete einen strategisch wichtigen Punkt auf der Handelsstraße Leipzig – Saarmund – Spandau. Erst als die brandenburgischen Kurfürsten 1470 ihre Residenz von Spandau nach Berlin verlegten, kamen zwei weitere Übergänge hinzu: der eine zwischen den ehemaligen Seen, dem Teltower und Schönower See, und der andere kurz vor der Bäkemündung in den Griebnitzsee bei Kohlhasenbrück.
Der askanischen Burg, die den Bäkeübergang sicherte, folgte an der gleichen Stelle mindestens eine weitere Burg, die über Jahrhunderte der Familie von Hake gehörte. Burg und Schloss des regional einflussreichen Hake’schen Rittergeschlechts werden unten im Kapitel Kulturgüter im Bäketal beschrieben.
Ende der Bäke im Teltowkanal
Die überregional interessante Geschichte im Bäketal setzt sich im ausgehenden 19. Jahrhundert mit dem Bau des Teltowkanals fort, als Berlin in der Gründerzeit aus allen Nähten platzte und sich die Bevölkerungszahl zwischen 1860 und 1910 von 500.000 auf zwei Millionen vervierfachte.
Industrialisierung und Verschlammung
Die nach der Industrialisierung rasant wachsende Region bedurfte zu Beginn des 20. Jahrhunderts dringend einer Koordinierung des Verkehrsnetzes, der Bauplanung und der Freiflächen. Handel, Industrie und Handwerk beklagten sich über ein ausuferndes Kompetenzgerangel der vielen Behörden. Erst mit der Gründung des Zweckverbandes Groß-Berlin im Jahr 1911, aus dem dann 1920 das Berlin in seiner heutigen Gestalt mit einer nochmals auf vier Millionen verdoppelten Einwohnerzahl hervorging, gelang es den Behörden, erste Strukturprobleme in den Griff zu bekommen. Umso erstaunlicher erscheint das Durchsetzungsvermögen des Landrates des Kreises Teltow Ernst von Stubenrauch, auf dessen Initiative der erste Spatenstich für den Kanalbau am 22. Dezember 1900 in Potsdam-Babelsberg erfolgte.
In langwierigen Verhandlungen konnte Stubenrauch den preußischen Staat von der Bedeutung eines Kanals zur Entlastung des regen Schiffsverkehrs im Zentrum Berlins und zur schnelleren Südumgehung Berlins von der Potsdamer Havel zur Spree über die Dahme-Wasserstraße beziehungsweise Dahme überzeugen. Die Ansiedlung neuer Industrie- und Wohngebiete vor den Toren Berlins im Kreis Teltow sollte mit dem Bau gefördert werden. Ein weiterer wesentlicher Grund für den Bau der Wasserstraße lag in der Regulierung des Regenwasserabflusses der südwestlichen Vororte Berlins sowie der Abwässerabfuhr aus Haushalten und Gewerbebetrieben – diese Funktionen konnte die kleine Bäke nicht mehr ausreichend wahrnehmen. Die Fließgeschwindigkeit des als Vorfluter genutzten Baches nahm deutlich ab und er verschlammte stark. Die Folge waren regelmäßige Überschwemmungen nach größeren Regenfällen mit anschließenden Mückenplagen, die in der ungesunden Region neue Ansiedlungen erschwerten. Zudem besaßen die östlich gelegenen Orte Britz, Mariendorf und Lankwitz überhaupt keine natürliche Entwässerung – auch dieses Problem löste der Kanalbau.
Kaiserliche Einweihung
Eingeweiht wurde die knapp 38 Kilometer lange und rund 48 Millionen Mark (kaufkraftbereinigt in heutiger Währung: rund Millionen Euro) teure Wasserstraße nach siebenjähriger Bauzeit am 2. Juni 1906 durch Kaiser Wilhelm II. auf der königlichen Yacht Alexandria.
Zuvor waren rund 10.000 Arbeiter mit dem Bau beschäftigt und hatten insgesamt 12,6 Millionen m³ Erdreich bewegt. Im südwestlichen Teil folgte der Kanal weitgehend dem Bäkelauf. Lediglich bei Kleinmachnow kam es mit der Durchtrennung des Höhenzugs Seeberg-Weinberg und der damit möglichen Leitung durch den vorher von der Bäke nicht berührten Machnower See zu deutlichen Abweichungen vom Flusslauf mit dem Zweck, die Linienführung zu begradigen. Durch Trockenlegung verschwanden der Teltowsee und der Schönowsee. Der neue Wasserlauf kam nach seiner Fertigstellung auf eine durchschnittliche Wassertiefe von rund Meter und eine Wasserspiegelbreite von mindestens 37 Metern. Zur Überwindung des Pegelunterschieds Havel-Spree in Höhe von rund drei Metern errichteten die Baumeister die heute denkmalgeschützte Schleuse Kleinmachnow.
Zum 100-jährigen Jubiläum des Kanalbaus fand im Jahr 2006 eine Festwoche an der Schleuse und an weiteren Orten längs der Wasserstraße statt.
Schweizerhäuser am Bäkekanal in Klein Glienicke
Zwischen dem Griebnitzsee und der Glienicker Laake besteht ein rund 500 Meter langer Verbindungskanal, der dem Teltowkanal zugerechnet wird. Parallel zu diesem letzten westlichen Teilstück des Teltowkanals verläuft rund 50 Meter nördlich ein Rinnsal, das gleichfalls aus dem Griebnitzsee kommt, den Namen Bäkekanal trägt und unmittelbar vor dem Jagdschloss Glienicke in den Teltowkanal mündet.
Dieser Bäkekanal, der am Fuß des bereits zu Berlin zählenden Böttcherberges durch den Potsdamer Ortsteil Klein Glienicke verläuft, liegt im hinteren Bereich allerdings in der Regel trocken, sodass kaum noch Wasser fließt. Vor dem Bau des Teltowkanals führte er eine erheblich größere Wassermenge, wie aus den Beschreibungen der historischen Schweizerhäuser an seinem Ufer hervorgeht (aus Architektur und Schönheit):
Diese Schweizerhäuser hatte zwischen 1863 und 1867 der Hofbaumeister und Schinkelschüler Ferdinand von Arnim passend zu den künstlichen Felsen am Böttcherberg auf Wunsch von Carl von Preußen, seit 1859 Besitzer des Jagdschlosses Glienicke, erbaut. Eingebettet in die Park- und Schlösserlandschaft Babelsberg und Klein Glienicke entsprach der Schweizer Stil der Begeisterung des Prinzen für die alpenländischen Berghäuser und dem Zeitgeist. Die Schweiz, womit im 18. Jahrhundert der gesamte alpine Raum gemeint war, stand als Synonym für eine nachahmenswerte naturnahe und soziale Lebensform. Gefördert wurde diese Denkweise nicht zuletzt durch Albrecht von Hallers Gedicht Die Alpen, Jean-Jacques Rousseaus Julie oder Die neue Heloise oder Friedrich Schillers Wilhelm Tell. In Verherrlichung des vermeintlich glücklichen Landlebens entstanden als idyllische Architekturstaffage Holzhäuser im alpenländischen Stil. Anfang des 19. Jahrhunderts erkannte Karl Friedrich Schinkel zudem in der einfachen Proportionierung und Gestaltung die Qualität der Schweizerhaus-Architektur. Um Berlin und Potsdam wurden beispielsweise schon vor dem Bau der Häuser an der Bäke das Schweizerhaus auf der Pfaueninsel (1830), das Bayrische Haus im Wildpark Potsdam (1847), die Prinzliche Unterförsterei Moorlake und weitere Kleinarchitekturen errichtet.
Bäkepark in Berlin-Steglitz
Der Quellberg der Bäke, der Fichtenberg, liegt in unmittelbarer Nachbarschaft des heutigen großstädtischen Steglitzer Zentrums mit der Schloßstraße und dem Steglitzer Kreisel. Die Bebauung ließ dem Bach keinen Raum, sodass er heute über ein rund tausend Meter langes Kanalsystem unterirdisch bis zur Haydnstraße geführt wird. Parallel verläuft die Birkbuschstraße, die ihren Namen vom ehemaligen „Birkbusch“ erhielt, einem besonders morastigen Gebiet an der Mündung der ehemaligen Lanke (namensgebend für den Ortsteil Lankwitz) in die Bäke; Birkbusch und Lanke sind heute verschüttet und ebenfalls nahezu vollständig überbaut. Zum Teil wurde das Lankebett gleichfalls für die Kanalführung genutzt.
Nachdem die Bäke an der Haydnstraße zutage getreten ist, verläuft sie kanalisiert über einen weiteren Kilometer durch den Grünzug Bäkepark und staut unmittelbar vor dem Teltowkanal – nur durch die Uferpromenade getrennt – den Bäketeich auf, der über ein Rohrsystem mit dem Kanal verbunden ist. Die innerstädtische Grünanlage Bäkepark verfügt über einen alten Baumbestand, Liegewiesen und einen ausgedehnten Abenteuerspielplatz. Der Parkbereich setzt sich im Grünzug am Teltowkanal fort.
In trockenen Sommertagen tritt die Bäke an der Haydnstraße nur mehr als Rinnsal zutage, das kaum ahnen lässt, dass dieser Bach einmal mehrere Mühlen antreiben konnte. Allerdings gewinnt man in Regenperioden eine Vorstellung über die Wassermengen, die das Fließ einst bereits in seinem Steglitzer Oberlauf transportiert hat. Bei starken Niederschlägen schwillt das Volumen der Bäke in kürzester Zeit um ein Vielfaches an – das Bild oben zeigt die vergleichsweise hohe Wassermenge, die nach einem heftigen Regen im Dezember 2004 in den Bäketeich strömt. Offenkundig dient der Teich immer noch zur Aufnahme von ungereinigten Straßenabwässern. Der Teich steigt dann plötzlich um 1–2 Meter an, das Schmutzwasser setzt sich ab und läuft langsam in den Teltowkanal. Er muss dadurch regelmäßig entschlammt werden.
Über Park und Teich hinaus erinnern in Berlin zwei Bäkestraßen und die südlich gelegene Bäkebrücke, die über den Teltowkanal führt, an die ehemals große Bedeutung des südwestlichen Berliner Wasserlaufs.
Bäketal Kleinmachnow
Rund acht Kilometer südwestlich von der Steglitzer Bäkemündung bilden jenseits des Teltowkanals die Kleinmachnower Wiesen unterhalb des Weinbergs ein weiteres Quellgebiet der Bäke. Auf seinem Verlauf von rund drei Kilometern durch das Bäketal Kleinmachnow gewinnt dieses Teilstück des Fließes im Verhältnis zu seiner Berliner Schwester ein beträchtliches Wasservolumen, das es auch in trockeneren Zeiten einen fließenden Bach bilden lässt. Da der Verlauf des Teltowkanals hier durch den Machnower See hindurch begradigt wurde, ist dieser Bäketeil nahezu in seiner ursprünglichen Lage erhalten und mit Teilen seiner ursprünglichen Vegetation wie sumpfigen Feuchtwiesen und Auenwäldern als Naturschutzgebiet Bäketal ausgewiesen.
Nach seinem Lauf durch den Auenwald an den Quellwiesen strömt die Bäke in den ehemaligen Schlosspark Kleinmachnow mit Medusentor und Dorfkirche, vorbei an der historischen Bäkemühle, nähert sich dem Machnower See und fließt auf ihrem letzten Stück parallel zum See und Kanal durch eine morastige Senke. Rund 50 Meter hinter der Schleuse Kleinmachnow mündet auch dieser Bäkeabschnitt in den Kanal. Da die Entfernung bis zur ehemaligen Bäkemündung im Griebnitzsee weitere rund sieben Kilometer beträgt, dürfte die Gesamtlänge der ehemaligen Bäke bei Aufrechnung aller ehemaligen und noch vorhandenen Teilstücke bei rund 20 Kilometern gelegen haben (Teltowkanal gesamt 38 Kilometer, allerdings einschließlich des Griebnitzsees, da die Kilometrierung bei Klein Glienicke beginnt).
Kulturgüter im Bäketal
Dorfkirche Kleinmachnow von 1597
Schlosspark, Bäkemühle, Dorfkirche, Medusentor, Hakeburg – alle diese älteren Kulturgüter am Lauf der Bäke sind eng mit der Familie von Hake verbunden, die das Dorf Kleinmachnow über Jahrhunderte besaß. Auf der Nordseite der spätgotischen, wuchtigen Dorfkirche Kleinmachnow von 1597 befinden sich die Gruftkapelle von 1703 und mehrere Gedenksteine der von Hakes, denen das ab 1956 restaurierte Gotteshaus als erste Patronatskirche und Grabstätte diente.
Der Potsdamer Maurermeister Casparus Jake (auch als Gaspar Jacke bezeichnet) errichtete den laut Theodor Fontane „beinah feinstilisierten“ Backsteinbau aus gebrannten Ziegelsteinen für die Bauherrin und erste Patronatin Margarete von Hake. An dem gewaltigen, auf einem Feldsteinfundament ruhenden Breitturm lehnt sich ein Kirchenschiff mit fünf Gewölbezonen aus Kappen und Kreuzrippen an, das nach innen vorgelegte Pfeiler tragen. Den kunstvollen Flügelaltar schnitzte der Berliner Hans Zinckeisen im Jahr 1599 und zwischen 1953 und 1959 restaurierte Ernst Doerk das Werk, das unter anderem das Abendmahl und das Wappen der Familie von Hake darstellt. Von Nickel Zinckeisen aus der gleichen Berliner Zinkeisenwerkstatt stammt das reich verzierte Taufbecken von 1597, dessen geschnitzten Deckel eine Figur krönt.
Hake’scher Gutshof mit Burg und Schloss
Der Schriftsteller Theodor Fontane lernte das Bäketal noch vor dem Kanalbau kennen und gibt 1882 seine Eindrücke in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg wieder:
Im ehemaligen Gutsbezirk der von Hakes blieb allein das Medusentor vor der alten Dorfkirche mit einem Medusenkopf und einer Minerva obenauf erhalten. Fontane spottete über die Dorfbevölkerung: „Nichts scheint das Volk in seinem poetischen Hange so schöpferisch zu stimmen als der Anblick von Kunstwerken, die es nicht versteht.“ Die Dorfleute nämlich hätten „den Medusenkopf als das Portrait eines hartherzigen Vorbesitzers [betrachtet], der schließlich von den Schlangen verzehrt worden sei.“ Wie das historische Foto zeigt, lag nordöstlich hinter dem Sandsteinportal der alte Wirtschaftstrakt und direkt dahinter der Turm der „Alten“ Hakeburg. Rechts im Bild folgte das Schloss, auf das eine breite Allee vom Medusenportal zuführte. Links vor dem Schloss stand zudem ein kunstvoller Taubenturm, der den Wirtschaftstrakt noch überragte. Der Gutsbezirk der Hakes bestand also zu Beginn des 20. Jahrhunderts insgesamt aus vier bestimmenden Bauelementen:
Alte Hakeburg. Die Bezeichnung „Burg“ trifft für den kleinen Bau nicht zu. Es handelte sich vielmehr um ein für Brandenburg typisches Festes Haus ohne Burgmauern und in ebenerdiger Lage. Fontane beschreibt das Haus („das alte Schloss“), dessen Baugeschichte ungeklärt ist, als „schmucklose[s] Viereck, an dessen Nordseite sich ein sechseckiger Treppenturm anlehnt.“ Seit Beginn des 15. Jahrhunderts residierten die Hakes in dem Haus, das bereits bestand und das sie käuflich von den Gebrüdern Quast erworben hatten. Bereits im 12. Jahrhundert sicherte an der gleichen Stelle die im Geschichtsabschnitt bereits erwähnte noch ältere askanische Burg den Bäkeübergang und die alte Handelsstraße von Leipzig nach Spandau.
Alter Gutshoftrakt beziehungsweise Wirtschaftstrakt vor der Burg gleich links hinter dem Medusenportal.
Taubenturm (auch: Taubenhaus) mit zwei wahrscheinlich achteckigen Ebenen – in der unteren Ebene mit Rundbogen, in der oberen Ebene, die die Taubenschläge enthielt, mit Fachwerkornamenten (Beschreibung nach einem historischen Foto, siehe Literaturliste).
Schloss in klassizistischem Barockstil von 1803, ein Werk des Architekten und Mitbegründers der Berliner Bauakademie, David Gilly. Wie oft in Brandenburg handelte es sich bei diesem übertrieben als Schloss bezeichneten Bauwerk eher um ein Herrenhaus. Laut Fontane hatte das Gebäude zur Gartenseite hin „einen halbkreisförmigen, von hohen ionischen Säulen getragenen Vorbau […]“. Das Herrenhaus mit schlichter, eleganter Fassade enthielt u. a. zwei Säle und zwei Kabinette mit Papiertapeten von Künstlern der französischen Kolonie im Paretzer Stil sowie einen Saal von Gilly mit ionischer Pilasterordnung und dazwischen eingespannten Ruinenlandschaften sowie silbern getönten Friesen.
Dazu kamen direkt an der Westseite des Medusenportals eine Scheune sowie südlich eine Remise. Die noch vorhandene Bäkemühle folgt unmittelbar südlich der Stelle, an der die alte Burg stand. Teile des Ensembles verfielen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das nach seiner endgültigen Zerstörung durch einen alliierten Luftangriff im Jahr 1943 in den 1950er Jahren endgültig abgetragen wurde. Letzte Gutsbesitzer waren unter anderem George Erdmann von Hake, dann sein Sohn Joachim von Hake und als Teilhaber der Anverwandte Hans von Zimmermann. Kurz vor der großen Wirtschaftskrise umfasste das Rittergut Kleinmachnow nach der letzten amtlich publizierten Ausgabe des Brandenburgischen Güter-Adressbuch nur noch 270 ha. Noch um 1880 bestätigten Statistiken für die damaligen Gebrüder von Hake eine Gutsgröße von 1109 ha Gesamtbesitz.
Weit ab vom ehemaligen Gutshof ließ Dietloff von Hake-Kleinmachnow im Jahr 1908 hoch auf dem Seeberg am Nordufer des Machnower Sees die Neue Hakeburg errichten, nachdem sein Vetter den westlichen Grundbesitz und er den östlichen Teil geerbt hatte. Der beauftragte Burgenexperte und königliche Hofbaumeister Bodo Ebhardt entwarf ein neoromanisches Bauwerk im zeitgenössischen eklektizistischen Stil, dem „etwas von jenem wilhelminischen Protzpreußentum [anhaftet], das in diesem arkadischen Landschaftensemble mit Teltowkanal und Machnower See reichlich deplaziert wirkt“ (Bernhard Thieme). Heute befindet sich in dem Gebäude das Burgrestaurant, dessen Terrasse einen Panoramablick über den See und das Bäketal bietet.
Bäkemühle, Forsthaus und Feuerzangenbowle
Auch die Wassermühle des 17. Jahrhunderts stammt noch aus der Zeit der Familie von Hake und gehörte zu ihrem Rittergut. Die erhaltene Inschrift des Baus von 1695 lautet:
Das heutige Mühlengebäude stammt aus dem Jahr 1862, nachdem die Mühle zuvor mehrfach abgebrannt und wieder aufgebaut worden war. Zwar ließe sich das außen liegende romantische Wasserrad noch heute vom Bäkefließ drehen, für die Müllerei würde die Wassermenge des kleinen Bäkeabschnitts jedoch nicht mehr reichen. Nach dem Bau des Teltowkanals endete der Mühlenbetrieb endgültig, nachdem schon zuvor Dampf- beziehungsweise Elektroantrieb die Wasserkraft ersetzt hatten. In den 1970er Jahren wurde das Gebäude aufgegeben und verfiel. Eine für 1979 geplante Sprengung konnte glücklicherweise durch engagierte Bürger verhindert werden. In den Jahren 1987–1989 wurde die Bäkemühle zu einem Hotel mit Gaststätte umgebaut. Heute befindet sich in ihr eine Facharztpraxis.
Neben der Bäkemühle ist von den alten Hakeschen Besitzungen noch das Forsthaus am nördlichen Rande des Gutsparks zum Machnower See hin erhalten. Der Grunewald und die Potsdamer kurfürstlichen Jagdreviere grenzten an die Hake’schen Wälder, sodass den Hohenzollern daran gelegen war, die Machnower Waldungen zu pachten. Unter anderem diese Tatsache veranlasste die Hakes, der Forstwirtschaft mit der Bestellung eines auf Lebenszeit angestellten Försters ein besonderes Augenmerk zu widmen. Mitte des 19. Jahrhunderts betrug der Hake’sche Waldbesitz 753 Hektar bei einem gesamten Gutsbesitz von 1055 Hektar. Das einst schmucke Haus ist zurzeit allerdings ein wenig „in die Jahre gekommen“.
Architektonisch bemerkenswert im Bäketal ist ferner das Haus Am Weinberg 5, das in den 1930er Jahren der Architekt Egon Eiermann baute, der erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs mit Werken wie der Berliner Gedächtniskirche richtig bekannt wurde. Eiermann errichtete das denkmalgeschützte Wohnhaus für den nicht minder berühmten Urheber des legendären Satzes aus dem Film Die Feuerzangenbowle „Wat is en Dampfmaschin? Da stelle mer uns janz dumm“, den Schauspieler Paul Henckels.
Naturschutzgebiet Bäketal
Der an die ehemalige Bäkemühle und das Medusenportal grenzende alte Schlosspark bietet heute auf einem ausgedehnten Wegenetz den Naturlehrpfad Bäketal, der im Sommer 2004 durch eine Initiative der lokalen Agenda Kleinmachnow zur Eröffnung kam. Kleinere Pfuhle erinnern auch im Park an die einst unwirtliche und allein an der uralten Burg passierbare Bäkeniederung. Bereits der Ortsname Kleinmachnow drückt den Landschaftscharakter aus, denn das slawische Wort machnov bezeichnet nach den Analysen des Namenforschers für den Teltow, Gerhard Schlimpert, „einen Ort, der in einer moosreichen (feuchten) Gegend angelegt wurde.“ Das nach dem Kanalbau erhaltene Bäketeilstück mit der ursprünglichen Flora und Fauna zwischen dem Weinberg und der Bäkemündung an der Schleuse stellte das Land Brandenburg mit der Verordnung über das Naturschutzgebiet „Bäketal“ am 30. Juni 1995 unter besonderen Schutz.
Verordnung, § 3 Schutzzweck
Der § 3 der Verordnung über das 13,5 Hektar umfassende Gebiet lautet unter dem Titel Schutzzweck wörtlich:
„Schutzzweck ist die Erhaltung und Entwicklung des Gebietes
als Standort seltener in ihrem Bestand bedrohter wildwachsender Pflanzengesellschaften, insbesondere von Erlenbruchgesellschaften, Großseggenrieden, Feucht- und Glatthaferwiesen, Heidenelken-Schafschwingelfluren und Silbergrasfluren;
als Lebensraum bestandsbedrohter Tierarten, insbesondere als Brut- und Nahrungsgebiet für zahlreiche Vogelarten sowie als Lebensraum für bestandsbedrohte Reptilien und als Laichgewässer für Amphibien;
aus ökologischen und wissenschaftlichen Gründen.“
Flora
Die durchnässte Erde in weiten Bereichen der Bäkeniederung bildet den idealen Boden für die in der Verordnung angeführten wertvollen Bruchwälder. Bereits unmittelbar an der neuen Bäkequelle am Schwarzen Weg beginnt eine Auenwaldlandschaft mit Schwarzerlen, die sich unten am Weinberghang (auch als Bäkehang bezeichnet) hinzieht. Weiter oben am Hang des knapp 50 Meter hohen Weinbergs blieb ein mittelalterlicher Hudewald (Hütewald) mit bis zu 400 Jahre alten Eichen erhalten. Daneben prägen am Oberlauf der Bäke verschiedene Weidenarten und vereinzelt Berg-Ahorn und Eberesche das Landschaftsbild.
Die Strauchschicht wird ergänzt durch Schwarzen Holunder, Weißdorn und Efeu, während die nur schwach ausgebildete Krautschicht überwiegend von Seggen gebildet wird. Der begradigte Unterlauf führt die Bäke durch ein ausgedehntes Feuchtgebiet, in dem der üppig wuchernde Wasserschwaden den Bach an einigen Stellen mit dichten Beständen vollkommen ausfüllt. Beherrschend in diesem Gebiet sind ferner Seggen wie Sumpf- und Rispen-Segge.
Weideflächen sowie Feucht- und Trockenwiesen, die teilweise in Blumenwiesen übergehen, bilden ein weiteres bestimmendes Element des Naturschutzgebietes. Bemerkenswert auf diesen Flächen, die durch eine Glatthaferwiese ergänzt werden, sind vor allem der Goldhahnenfuß, die Sumpfdotterblume und das Wiesenschaumkraut. Ein kleines Biotop an einem Wiesensaum, das gegen Großseggenriede geschützt ist, gibt Pflanzen wie dem seltenen Fieberklee mit seinem kriechenden Wurzelstock, der Sumpfgänsedistel und dem Zungenhahnenfuß Lebensraum. An Pfuhlen wie dem Grotepfuhl überwiegt im Sommer der Spreizende Wasserhahnenfuß.
Fauna
Amphibien, Reptilien, Schlangen
Nicht nur für die Fauna bildet der Grotepfuhl ein wichtiges Biotop, sondern als eines der wichtigsten Laichgewässer im Naturschutzgebiet Bäketal insbesondere auch für Lurche wie Erdkröte, Grasfrosch, Teichfrosch, Seefrosch und Kleiner Wasserfrosch. Seltener finden sich am Amphibienschutzzaun die Knoblauchkröte, der Nördliche Kamm- und der Teichmolch. Unter den Reptilien sind die Schlangen durch eine verhältnismäßig hohe Verbreitung der Ringelnatter vertreten, während die in der FFH-Richtlinie streng geschützte Zauneidechse im warmen Weinbergbiotop die Familie der Echten Eidechsen vertritt.
Vögel
Knapp 70 bislang beobachtete Arten erlauben, das strapazierte Etikett Vogelparadies für das Bäketal anzuwenden. Von den rund 50 Arten wiederum, die hier brüten, verzeichnete die Rote Liste gefährdeter Arten des Landes Brandenburg im Jahr 1997 knapp ein Dutzend als besonders schützenswert. Der besonders empfindliche Eisvogel, die Beutelmeise mit ihren flauschigen Kugelnestern und verschiedene Rohrsänger wie Schilf- und Teichrohrsänger brüten im Bäketal. Von April bis September bevorzugen auch Fitislaubsänger das Feuchtgebiet des Fließes, bevor sie sich auf den erstaunlichen Langstreckenflug in ihr Winterquartier südlich der Sahara in Afrika begeben. Die komplexen Gesänge der Nachtigall entschädigen den Besucher für das monotone Hämmern von Klein-, Mittel- und Schwarzspecht. Die Greifvögel jagen überwiegend als Nahrungsgäste im Naturschutzgebiet, nur Waldkauz und Waldohreule sind als Brutvogel heimisch.
Insekten und Spinnen
Die Kanalaue verfügt über einen hohen Artenreichtum an Insekten und Spinnen. Darunter verdient der gefährdete Große Eichenbock besondere Erwähnung. Der auch als Riesenbock bezeichnete Bockkäfer findet in den älteren Eichenbeständen in der Nähe des Teltowkanals eine ideale Umgebung mit loser Rinde und alten Fraßgängen. Der imposante Käfer, dessen nach hinten gebogene Fühler beim Männchen eine Länge von zehn Zentimetern erreichen können und den die Forstwirtschaft lange als Schädling eingestuft hatte, ist heute nach der FFH-Richtlinie der EU streng geschützt.
Säugetiere
Klein und Großsäuger sind vertreten mit Schwarzwild, Rehwild, Fuchs, Steinmarder, Eichhörnchen, Kaninchen und Feldhase. Das häufigste einheimische Säugetier, die Feldmaus, kann ungestört von Abendsegler, Wasserfledermaus und Zwergfledermaus ihre Gänge graben, da sich diese europäischen Fledermäuse anders als ihre Verwandten in Übersee fast ausschließlich von Insekten ernähren. Dem guten Schwimmer und Taucher Schermaus kommen die feuchten Biotope und die Pfuhle an der Bäke sehr gelegen. Die Brandmaus zeigt sich im Gegensatz zum strikten Einzelgänger Waldspitzmaus besonders gesellig und auch im Bäketal stehen die Jungen der Zwergmaus unter hohem Druck, schnell zu lernen, da sie nach nur 18 Tagen die Nester verlassen müssen und auf sich allein gestellt sind.
Ausblick – Schutz der gesamten Kanalaue
Inzwischen strebt die Gemeinde Kleinmachnow gemeinsam mit der Nachbargemeinde Stahnsdorf ein übergreifendes Naturschutzgebiet für die gesamte Kanalaue an. An der Mündung des Teltowkanals in den Griebnitzsee bei Kohlhasenbrück hat das Land Berlin mit dem NSG Bäkewiese bereits ein kleineres Biotop dieser Kanalaue unter Schutz gestellt, in dem sich unter anderem eine riesige und beeindruckende Kormorankolonie herausgebildet hat. Die rund 200 Pfosten am NSG zum Schutz des Schilfgürtels des Griebnitzsees sind zu einem erheblichen Teil von den großen, schwergebauten Vögeln besetzt, die – aufgereiht wie an einer Perlenschnur – ein erbauliches Bild bieten:
Literatur
Dietloff von Hake: Geschichte der brandenburgischen Familie von Hake. C. A. Starke, Görlitz 1928. .
Band 1: Allgemeiner Teil, die Häuser Machnow, Geltow II, Flatow und Draulitten.
Band 2: Die Häuser Bornim, Stülpe-Genshagen, Petkus, der österreichische Zweig, die Nachkommen Hans Friedrichs III. auf Genshagen, die rote Linie Hake, Dietloff.
Kleinmachnow. Die Geschichte eines märkischen Rittergutes und seiner Besitzer. Selbstverlag, 1925. 95 S. . 2. Auflage: 1934, Rohde, Berlin, 60 S.; (ff. Reprint erschienen)
Herbert Lehmann: Das Bäketal in vorgeschichtlicher Zeit. Verwaltungsbezirk Berlin-Steglitz (Hrsg.), Berlin 1953 (Broschüre)
Max Philipp: Steglitz in Vergangenheit und Gegenwart. Kulturbuch, Berlin 1968.
Gerhard Schlimpert: Brandenburgisches Namenbuch. Teil 3. Die Ortsnamen des Teltow. Hermann Böhlaus Nachf., Weimar 1972 (zu den Wüstungsprozessen im Teltow S. 19 ff; Etymologie des Namens Telte S. 180–187; Teltower See – früher Stavensee S. 168; Zitat zu machnov S. 131).
Gerhard Casperson: Bäketal Kleinmachnow. Hrsg. Grüne Liga, Förderverein Landschaftsschutzgebiet Buschgraben/Bäketal e. V., Berlin 1992 (Broschüre, Quelle der beiden Karten).
Hans Peter Dreier: 600 Jahre brandenburgische Familie von Hake (und ihre 1994 lebenden Nachkommen). 1394–1994. Keller Druck, CH-Aarau / CH Schönenwerd 1994. .
Theodor Fontane: Wanderungen durch die Mark Brandenburg. Band 4 (Spreeland). „Klein-Machenow oder Machenow auf dem Sande“ (Zitate nach der Ausgabe Ullstein, Berlin 1998, ISBN 3-548-24381-9, S. 308 ff: beinah feinstilisierten S. 313, Zitat „Hake“ zusammengesetzt aus Passagen der Seiten 308 und 311; Zitate „Medusenkopf“ und „Schloss“ S. 311, alte „Hakeburg“ S. 314).
Bernhard Thieme: Kleinmachnow. Märkische Landschaften. be.bra, Berlin 1999, ISBN 3-930863-55-3 (Das Buch enthält als Rarität auf Seite 4 die Erstveröffentlichung einer historischen Aufnahme von 1906, die das gesamte Ensemble des Hake’schen Gutshofes in Kleinmachnow mit Wirtschaftstrakt, „alter“ Burg, Schloss und Taubenturm zeigt. Zitat zur „neuen“ Hakeburg, S. 15)
Sabine Bohle-Heintzenberg: Architektur und Schönheit. Die Schinkelschule in Berlin und Brandenburg. Transit Buchverlag, Berlin 1997, ISBN 3-88747-121-0 (Zitat zu Schweizerhäusern/Bäkekanal S. 144).
Andreas Grothusen: Die dort Droben. Menschen und Häuser des Steglitzer Fichtenbergs. Accurat, Berlin 2000, ISBN 3-926578-39-4.
Horst Köhler: Der Teltowkanal. Eine Lebensader im Süden Berlins. Stapp, Berlin 2000, ISBN 3-87776-036-8.
Carsten Rasmus, Bettina Rasmus: Berliner Umland Süd. KlaRas-Verlag, Berlin 2002, ISBN 3-933135-10-9.
Peter Hahn, Jürgen Stich (Hrsg.): Teltowkanal: Stationen – Wege – Geschichten. Oase, Badenweiler 2006, ISBN 3-88922-059-2.
Nicola Bröcker, Celina Kress: Südwestlich siedeln. Kleinmachnow bei Berlin – von der Villenkolonie zur Bürgerhaussiedlung. Lukas Verlag, Berlin 2004, ISBN 3-936872-30-9 (2. Auflage 2006).
Christoph Franke, Moritz Graf Strachwitz v. Groß Zauche u. Camminetz: Band 138 = Genealogisches Handbuch der Adeligen Häuser A XXVIII, Gesamtreihe GHdA. C. A. Starke, Limburg an der Lahn, ISBN 978-3-7980-0838-0.
Weblinks
Einzelnachweise
Fluss in Berlin
Teltowkanal
Berlin-Steglitz
Kleinmachnow
Naturschutzgebiet im Landkreis Potsdam-Mittelmark
Schutzgebiet (Umwelt- und Naturschutz) in Europa
Wikipedia:Naturschutzgebiete |
1012900 | https://de.wikipedia.org/wiki/Haida%20%28R%C3%B6derland%29 | Haida (Röderland) | Haida ist seit dem 26. Oktober 2003 ein Ortsteil der Gemeinde Röderland im südbrandenburgischen Landkreis Elbe-Elster und im Naturpark Niederlausitzer Heidelandschaft.
Der urkundlich im Jahre 1443 erstmals erwähnte Ort gehörte zum Herrschaftsgebiet von Würdenhain, das später der benachbarten Herrschaft Mühlberg angegliedert wurde. Wenige Jahrzehnte nach der Entstehung des Amtes Mühlberg kam es 1564 zu einem letztlich erfolglosen Aufruhr der Bauern aus Haida, Würdenhain, Prieschka und Reichenhain gegen den Mühlberger Amtsvogt Fuchs, der mit Verhaftungen und Gerichtsbußen endete.
Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts prägten Haida, wo einst auch Weinbau betrieben wurde, vor allem die dort entstandenen Forstbaumschulen, denen bald zahlreiche Baumschulen im Altkreis Liebenwerda folgten. Die Haidaer Kieswerke entstanden 1890 mit dem Bau einer Ziegelei. Sie bauen die reichen Kies- und Sandvorkommen im nördlichen Teil der Gemarkung ab und sind zusammen mit einem benachbarten, an der Bundesstraße 101 gelegenen 27 Hektar großen Gewerbegebiet ein wichtiger Wirtschaftsfaktor des Ortes und der Gemeinde Röderland.
Geografie
Geografie und Naturraum
Haida ist der nördlichste Ortsteil der Gemeinde Röderland. Der Verwaltungssitz Prösen liegt etwa acht Kilometer südöstlich des Dorfes. Der Ort liegt rechtsseitig der Schwarzen Elster gegenüber der Mündung der Großen Röder. Dort mündet außerdem der Plessa-Haidaer Binnengraben in den Fluss.
Das Dorf liegt im Breslau-Magdeburger Urstromtal, das wenige Kilometer östlich in der Niederung des Schradens zwischen Elsterwerda und Merzdorf mit sieben Kilometer Breite seine engste Stelle erreicht und dann nach Nordwesten schwenkt. Nordöstlich des Ortes erhebt sich die zur Hohenleipisch-Plessaer Endmoräne gehörende Güterbank. Sie ist mit die höchste Erhebung rechtsseitig der Schwarzen Elster und im Naturpark Niederlausitzer Heidelandschaft. Die landschaftsprägenden Oberflächenformen dieses Gebietes entstanden vor allem in der Saalekaltzeit vor 230.000 bis 130.000 Jahren. Im südlich vorgelagerten Sander der Hohenleipisch-Plessaer Endmoräne sind saalekaltzeitliche Sande, kiesige Sande und Kiese zu finden, die sich durch Reinheit und hohe Homogenität auszeichnen und in Haida seit etwa einem Jahrhundert industriell abgebaut werden. Die entstandene Kiesgrube, die sich nördlich der Haidaer Ortslage befindet, hat inzwischen eine Tiefe von etwa 25 Metern.
Teile des Dorfes sind Bestandteil des etwa 6011 Hektar großen Landschaftsschutzgebietes Elsteraue, das in drei ökologische Raumeinheiten aufgeteilt ist. Das Teilgebiet Elsteraue II befindet sich im Bereich von Haida. Einer der Zwecke des Landschaftsschutzgebietes ist „die Erhaltung des Gebietes wegen seiner besonderen Bedeutung für die naturnahe Erholung im Bereich des Kurortes Bad Liebenwerda.“ Außerdem ist Haida vom Naturpark Niederlausitzer Heidelandschaft umgeben, der ein 484 Quadratkilometer großes Gebiet im Landkreis Elbe-Elster und im Landkreis Oberspreewald-Lausitz umfasst. Sein Kernstück, das Naturschutzgebiet Forsthaus Prösa mit einem der größten zusammenhängenden Traubeneichenwälder Mitteleuropas, befindet sich nordöstlich der Bundesstraße 101 in der einstigen Liebenwerdaer Heide. Südwestlich des Ortes erstreckt sich entlang des Flusslaufs der Alten Röder zwischen Würdenhain und Prieschka das etwa 80 Hektar große Naturschutzgebiet Alte Röder. Sein Schutzzweck besteht unter anderem in der Erhaltung und Entwicklung dieses Gebietes als Lebensraum des Elbebibers und anderer existenzbedrohter Tierarten. Die 1981 unter Naturschutz gestellte Röderniederung beherbergt eines der beständigsten Vorkommen des vom Aussterben bedrohten Elbebibers, der dort bereits vor dem Zweiten Weltkrieg nachgewiesen wurde.
Klima
Die Elsterwerda–Herzberger Elsterniederung, in der sich große Teile Haidas befinden, liegt im sogenannten Schwarze-Elster-Bezirk des Binnenlandklimas, jedoch ist ein Übergang zum Kontinentalklima spürbar. Die regionalen Klimaelemente sind gering ausgeprägt und werden im Wesentlichen durch die Besonderheiten des nach Ost-West orientierten Reliefs des Breslau-Magdeburger Urstromtals und die es im Norden und Süden begrenzenden Höhenzüge der Endmoränen bestimmt. Dabei übt die Hohenleipisch-Plessaer Endmoräne eine gewisse Regenschattenwirkung auf die südlich von ihr liegenden Niederungsbereiche aus.
Der Monat mit den geringsten Niederschlägen ist der Februar, der niederschlagsreichste der Juli. Die mittlere jährliche Lufttemperatur beträgt an der 20 Kilometer nördlich gelegenen Wetterstation Doberlug-Kirchhain 8,5 °C. Dabei beträgt die Jahresschwankung zwischen dem kältesten Monat Januar und dem wärmsten Monat Juli 18,4 °C.
Geschichte
Von der Ersterwähnung bis zum Dreißigjährigen Krieg
Haida wurde 1443 urkundlich erstmals als Heide erwähnt. Eine behauptete Erwähnung im Jahr 1251 konnte nicht bestätigt werden. Weitere Namensformen waren 1463 Heidedorff, 1484 und 1486 die Heide, 1540 Heide, 1550 Heidaw, 1572 Heida(w), 1590 Heyda und 1617 Heida. Der Name Heyde stammt aus dem Mittelhochdeutschen und bedeutet so viel wie ebenes, unbebautes Land. Jedoch wird in manchen Gegenden auch unfruchtbarer, unbebaubarer Boden mit dem Begriff verbunden. In Norddeutschland und Teilen Sachsens verwendet man den Begriff als Synonym für Wald. Daher ist eine Interpretation des Ortsnamens als Ansiedlung im Walde oder am Waldrand wahrscheinlich.
Das Dorf entstand im früher vielarmigen Flussgebiet der Schwarzen Elster um einen immer noch erkennbaren dreieckigen Dorfanger. Es dürfte ähnlich wie die benachbarten Orte Würdenhain und Reichenhain um 1200 gegründet worden sein. Haida gehörte zur Herrschaft Würdenhain, zu der neben Haida und Würdenhain auch die benachbarten Gemeinden Reichenhain, Prieschka und Oschätzchen sowie den alten Kirchspielgrenzen nach ursprünglich wohl auch Kosilenzien und Kröbeln gehörten. Im Jahr 1442 wurde die Herrschaft Würdenhain allerdings auf Befehl des sächsischen Kurfürsten Friedrich des Sanftmütigen aufgelöst und der benachbarten Herrschaft Mühlberg angeschlossen, da sich der Würdenhainer Schlossherr Hans Marschalk des Landfriedensbruches schuldig gemacht hatte. Im folgenden Jahr kam das Gebiet durch Tausch- und Kaufgeschäfte an den böhmischen Adligen Hinko Birke von der Duba.
Ab 1520 gehörte Haida dem Amt Mühlberg an, dem das einstige Würdenhainer Herrschaftsgebiet angegliedert wurde und wohin fortan Steuern und Frondienste zu leisten waren.
Die Bewohner des Ortes waren nach Würdenhain eingepfarrt. Sie nahmen während der Reformation im Jahre 1541 den evangelischen Glauben an. Der bisherige aus Prieschka stammende katholische Pfarrer Thomas Bantzer weigerte sich allerdings, den lutherischen Glauben anzunehmen, errichtete sich auf dem Würdenhainer Pfarrgut ein Häuschen und entsagte seinem Amte. Zu Himmelfahrt 1541 wurde der erste lutherische Pfarrer in Würdenhain ordiniert.
Wenige Jahrzehnte später kam es 1564 zu einem Aufruhr der Bauern aus Haida, Würdenhain, Prieschka und Reichenhain gegen den Mühlberger Amtsvogt Fuchs. Nach einer Versammlung in Würdenhain, wo aus Haida Hans Dietrich erschienen war, legten sie ihre Beschwerden in einem Schriftstück Die 10 Klageartikel der Dorfschaften Werdenhayn und Heide nieder und leiteten es über den Amtmann nach Dresden. Da die Bauern aber dem Dienstweg nicht trauten, schickten sie eine zweite Ausfertigung direkt an den Kurfürsten „zu seinen selbstigen Händen“. Sie beschwerten sich unter anderem über die Beeinträchtigung der Fischerei und der Forstnutzungsrechte und über geschmälerten Lohn beim Schlossbau in Mühlberg. Da man das Vorgehen der Bauern als gefährlich und strafwürdig ansah, ordnete Dresden daraufhin zunächst Nachforschungen nach den „Rehdelsführern“ an. In einem vom 24. Juni 1564 stammenden Bericht des Amtmanns stand dann, dass die Haidaer ihm bezeugt hatten, von den Würdenhainern verführt worden zu sein. Sie wollten sich aber mit dem Amte vertragen. Der Würdenhainer Kretzschmann Hans Bräunig, Erbrichter und zugleich Wortführer der Bauern sowie Hans Dietrich wurden zunächst verhaftet. Sie und einige andere beteiligte Bauern wurden später mit Gerichtsbußen belegt.
Im Jahre 1589 zählte Haida etwa 60 Einwohner mit einem Richtergut, zehn Gehöften und zwei Häuslern. Die Kinder schickten die Haidaer damals nach Würdenhain zur Schule. Dort wurden sie um 1598 von Martinus Thymig, einem Schneider, unterrichtet. Dazu mussten sie mit dem Kahn über die Schwarze Elster setzen, da um diese Zeit nur eine Furt, aber noch keine Brücke über den Fluss führte. Thymig, der in Würdenhain das Amt des Küsters innehatte, beschwerte sich während einer Visitation über den schlechten Zustand seines Hauses. Da es keine Feuermauer gab, sei das Einheizen sehr gefährlich und der Rauch verderbe ihm alle Geräte und Bücher.
Als 1618 der Dreißigjährige Krieg begann, brachte er für die gesamte Region viel Elend und Plünderungen von durchziehenden Truppen. Das Dorf Haida traf es besonders im Januar des Jahres 1637, als die Scharen des schwedischen Generals Johan Banér ihr Winterquartier bis zum Frühsommer in Torgau bezogen. Sie durchstreiften das angrenzende Elbe-Elster-Gebiet, plünderten die Orte und setzten sie in Brand. Im Jahr 1652 waren von den einst elf Bauernhöfen nur zwei steuerfähig. Die restlichen Höfe lagen immer noch wüst. Bis zum Jahre 1677 konnten in Haida noch nicht alle Grundstücke wieder besetzt werden. Einzelne Nachrichten über die Wiederbesetzung der Höfe sind aus den Jahren 1652 und 1672 überliefert. Martin Thiemig, der das Richteramt in Haida innehatte, soll 1651 das Erbrichtergut von Hans Böhmichen am Dorfplatz 13/15 übernommen haben.
Haidaer Weinbau
„Biehlscher Wein und Heedscher Most zieh’n den Mund von West nach Ost“ ist in der Haidaer Umgebung ein bekanntes Sprichwort. Wie im sich östlich anschließenden Biehla, wo der Weinbau bis in das 16. Jahrhundert zurückgeht, sowie den benachbarten Orten Theisa, Dobra, Liebenwerda (bzw. Weinberge) und Prestewitz, betrieb man auch in Haida vor allem im Norden des Dorfes Weinbau von dem in der Gegenwart noch eine Straße nördlich der Eisenbahnstrecke mit dem Namen „Weinberg“ zeugt. Das Prieschkaer Gut übernahm im Jahre 1673 das über zweiunddreißig Jahre wüst gelegene Grundstück, heute Weinberg 10, das sich im Besitz des Forst- und Wildmeisters Friedrich Sieber befand. Das Gut errichtete dort ein Winzerhaus und beschäftigte eigene Winzer. Auch eine Karte von Peter Schenk aus dem Jahr 1752 weist Haida als amtssässiges einfaches Bauerndorf mit einem Weinberg aus. Und ein Beitrag in der heimatkundlichen Beilage des Liebenwerdaer Kreisblattes „Die Schwarze Elster“ nennt Haida im Jahre 1906 als einen der letzten Ortes des Kreises, wo noch Weinbau zu finden sei.
Vom Wiener Kongress bis zur Bodenreform
Nach den Bestimmungen des Wiener Kongresses 1815 gelangte Haida vom Königreich Sachsen zum Regierungsbezirk Merseburg der preußischen Provinz Sachsen und es entstand 1816 der Kreis Liebenwerda, in dem ein großer Teil des Amtes Mühlberg, das Amt Liebenwerda sowie Teile des Amtes Großenhain aufgingen.
Nördlich von Haida führt die heutige Bundesstraße 101 am Ort vorbei. Der Abschnitt im Bereich des Ortes wurde 1827 mit Streckenbegradigungen ausgebaut. Die Straße war bis zum Bau der Autobahn 113 im Jahre 1935 die wichtigste Straßenverbindung zwischen der Reichshauptstadt Berlin und Dresden. Zu dieser Zeit benutzte wöchentlich dreimal die Schnellpost die Straße. An der Haidaer Flurgrenze wurde 1847 ein inzwischen nicht mehr bestehendes Gasthaus Zum heiteren Blick errichtet, bei dem es zu einem Todesfall beim Brunnenbau kam.
Nachdem die preußische Provinzialregierung bereits 1817 versucht hatte, Pläne für eine Regulierung der Schwarzen Elster zu entwickeln, ließ man schließlich den Fluss von 1830 bis 1834 vermessen. Im April des Jahres 1852 wurde der Verband zur Regulierung der Schwarzen Elster gegründet und am 10. Mai 1852 begannen vom wenige Kilometer flussabwärts gelegenen Zeischa aus zunächst in Richtung Haida/ Würdenhain Bauarbeiten zur Regulierung des Gewässers. Der Fluss, der bis dahin aus zahlreichen Fließen bestand, erhielt bis 1863 unter Einsatz von zeitweise bis zu 1.200 Arbeitern auf einer Länge von etwa 90 Kilometern sein heutiges Bett und wurde eingedeicht. Er ist einer der am meisten eingeengten Flüsse Mitteleuropas.
Die beginnende Industrialisierung der Elbe-Elster-Region in der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte auch Einfluss auf die weitere Entwicklung der Gemeinde Haida. Am 1. Juni 1874 wurde die Oberlausitzer Eisenbahn von Kohlfurt über Biehla bis Falkenberg/Elster (Bahnstrecke Węgliniec–Falkenberg/Elster) übergeben. Ein Jahr darauf begann der Bauer Traugott Schmidt die erste Kiefernpflanzenzucht. Er legte damit den Grundstein für die in Haida ansässigen Forstbaumschulen. In der Folgezeit entwickelte sich der Ort vor allem entlang der Bahnstrecke und an der Ortsverbindungsstraße von Elsterwerda nach Bad Liebenwerda, so dass die Haidaer Ortslage nahezu nahtlos in die östlich benachbarte Biehlaer übergeht.
Kurz nach der Jahrhundertwende wurde im Zuge von Straßenbauarbeiten von 1906 bis 1907 eine dreibogige Betonbrücke mit zwei Pfeilern über die Schwarze Elster errichtet. Vorher konnten die Röder und die Schwarze Elster nur an Furten sowie zu Fuß über Stege passiert werden. Bei Hochwasser verkehrte ein sogenanntes „Schulschiff“, das die Haidaer Kinder zur Würdenhainer Schule übersetzte. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges wurde die Elsterbrücke am 22. April 1945 zerstört, um den Einmarsch der vorrückenden Truppen der Roten Armee zu verhindern.
Der 587 Hektar umfassende Grundbesitz des zum Saathainer Schloss gehörenden Rittergutes wurde im Rahmen der Bodenreform in der Sowjetischen Besatzungszone aufgeteilt. Dabei entfielen 489,91 Hektar auf insgesamt 281 Personen in den umliegenden Gemeinden Haida (72,83 ha), Reichenhain (124,80 ha), Saathain (181,33 ha), Stolzenhain (30,11 ha), Würdenhain (78,80 ha) und Kröbeln (2,04 ha).
Von der Auflösung Preußens bis zur Wende
Im Februar 1947 verfügte der Alliierte Kontrollrat die formelle Auflösung Preußens. Haida gehörte nun zum neu gegründeten Land Sachsen-Anhalt. Im Jahr 1952 wurde das Land allerdings im Rahmen der Verwaltungsreform in der 1949 entstandenen DDR wieder aufgelöst und Haida befand sich nach der Gründung der Bezirke bis zur Wiedervereinigung 1990 im Bezirk Cottbus.
Im Jahr 1954 erfolgte der Bau der Friedhofshalle im Rahmen des Nationalen Aufbauwerks unter Verwendung der Steine des im selben Jahr umgelegten Schornsteins der alten, 1932 geschlossenen Haidaer Ziegelei. Eine 1950 als Ersatz für die am Ende des Zweiten Weltkrieges zerstörte Elsterbrücke errichtete Holzbrücke über die Schwarze Elster wurde 1959 durch eine noch bestehende Betonbrücke ersetzt. Die Bauarbeiten führte der VEB Bau Elsterwerda aus. Für den mit 210.000 DM veranschlagten Bau wurden 50 Tonnen Stahl, 150 Tonnen Zement und 500 Kubikmeter Kies verarbeitet.
In den 1960er-Jahren errichtete man unweit der Brücke gegenüber der Mündung der Großen Röder ein Schöpfwerk, das wichtigste Hochwasserschöpfwerk im Teilentwässerungsgebiet Elsterwerda – Plessa nördlich des Flusses. Es dient der Regulierung der Hochwasserstände des Haida-Plessaer Binnengrabens und des Thaugrabens, die beide durch das Stadtgebiet von Elsterwerda fließen. Der Bau der Anlage war zur Verhinderung weiterer Hochwasserschäden in den anliegenden Fluren, wie sie vorher aufgetreten waren, notwendig. Sobald die Schwarze Elster einen höheren Wasserstand als der Binnengraben hatte, mussten die Schleusen geschlossen werden, wodurch sich das Wasser des Binnengrabens zu einem riesigen See anstaute.
Am 1. April 1974 wurde das benachbarte Würdenhain nach Haida eingemeindet. In der Folgezeit kam es zu weiteren Verbesserungen der Infrastruktur im Ort. So wurde noch in den 1970er-Jahren eine Konsum-Verkaufsstelle am Dorfplatz eröffnet. Mit Hilfe der Einwohner konnten später Vorhaben, wie der Bau einer neuen zentralen Trinkwasserversorgung und die Errichtung einer Gemeinschaftsantennenanlage realisiert werden. Außerdem wurde in unmittelbarer Nähe des Kindergartens und der örtlichen Schwesternstation eine Kinderkrippe eingerichtet. Dort befindet sich gegenwärtig die Kindertagesstätte Sonnenschein.
Jüngere Vergangenheit
Nach der politischen Wende kam es am 15. Januar 1992 zunächst zur Bildung des Amtes Röderland, das aus den Gemeinden Haida mit dem Ortsteil Würdenhain und den umliegenden Dörfern Prösen, Reichenhain, Saathain, Stolzenhain und Wainsdorf bestand. Das Dorf gehörte bis zur Kreisgebietsreform in Brandenburg im Jahre 1993 zum Landkreis Bad Liebenwerda, der am 6. Dezember 1993 zusammen mit den Landkreisen Herzberg und Finsterwalde den Landkreis Elbe-Elster bildete. Die Gemarkung des Ortes hatte gemeinsam mit dem damaligen Ortsteil Würdenhain im Jahre 1995 eine Fläche von etwa elf Quadratkilometern. Am 26. Oktober 2003 folgte im Zuge der Gemeindegebietsreform im Land Brandenburg der Zusammenschluss der amtsangehörigen Dörfer zur amtsfreien Gemeinde Röderland und Haida verlor seine kommunale Eigenständigkeit.
In den letzten Jahren kam es in Haida im Zuge der Dorferneuerung zu mehreren Modernisierungsmaßnahmen. So entstanden in unmittelbarer Nähe des Sportplatzes das Bürgerhaus sowie ein neues Feuerwehrhaus. Außerdem wurde im Jahre 2008 eine zentrale Abwasserleitung verlegt und im Oktober 2010 ein neuer Spielplatz am Bürgerhaus eingeweiht.
Bevölkerungsentwicklung
1835 hatte das Dorf 21 Wohnhäuser mit 123 Einwohnern. Mit der Inbetriebnahme der Eisenbahnstrecken und Errichtung der ersten Industriebetriebe in der Region um die Jahrhundertwende stieg auch die Einwohnerzahl Haidas, die sich innerhalb weniger Jahrzehnte mehr als verdoppelte. Nach dem Zweiten Weltkrieg stieg die Einwohnerzahl Haidas durch den Zuzug von Vertriebenen im Jahre 1946 bis auf 799 an. Nachdem sie in der Folgezeit bis 1971 auf 694 gesunken war, erreichte sie in Haida bei der Deutschen Wiedervereinigung 1990 mit 848 ihren Höchststand. Bis 2010 sank die Zahl vor allem infolge eines Geburtenknicks in den neuen Bundesländern während der 1990er Jahre sowie einer starken Abwanderung auf 574.
Politik
Ortsteilvertretung
Seit dem Zusammenschluss mit den umliegenden Dörfern Prösen, Reichenhain, Saathain, Stolzenhain, Wainsdorf und Würdenhain am 26. Oktober 2003 ist Haida ein Ortsteil der Gemeinde Röderland. Vertreten wird es nach der Hauptsatzung der Gemeinde durch den Ortsvorsteher und einen dreiköpfigen Ortsbeirat.
Ortsvorsteherin ist gegenwärtig Christina Hagen (Wählergemeinschaft Haida), die ihr Büro im Gebäude des ehemaligen Kindergartens hat. Vertreten wird sie durch Olaf Brößgen (Wählergemeinschaft Haida). Ein weiteres Mitglied des Ortsbeirats ist Dirk Brochwitz (Wählergemeinschaft Haida).
Wappen und Siegel
Der heutige Ortsteil Haida führt laut Satzung der Gemeinde Röderland kein eigenes Wappen.
Von Haida ist allerdings ein altes Dorfsiegel erhalten geblieben, das wie die meisten der wenigen bekannten Dorfsiegel des Altkreises Bad Liebenwerda vermutlich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstand. In der Mitte des Siegels befindet sich eine Fichte und an deren Fuß ein Kahn. In der Umschrift des hochovalen Siegels steht in einer früheren Schreibweise der Ortsname „Heida“.
Kultur und Sehenswürdigkeiten
Freizeit und Tourismus
Am Haidaer Sportplatz steht ein am 3. Dezember 2004 eröffnetes Bürgerhaus. Ausgestattet mit einer Kegelbahn kann das Gebäude zu gesellschaftlichen und sportlichen Anlässen genutzt werden. Aktive Vereine sind unter anderem der SV Diana Haida mit den Abteilungen Fußball, Kegeln, Tischtennis und Gymnastik, die Landfrauengruppe sowie der Angelsportvereins Hecht 90 e. V., dessen Vereinsheim sich an einem 0,37 Hektar großen Angelteich im einstigen Haidaer Ortsteil Würdenhain befindet. Unmittelbar neben dem Bürgerhaus befindet sich das Feuerwehrhaus der Freiwilligen Feuerwehr. Der Haidaer Jugendclub nutzt Räume im Gebäude des ehemaligen Kindergartens am Dorfplatz.
Alljährlicher sportlicher Höhepunkt ist das Sportfest im Juli. Weitere traditionelle Veranstaltungen sind unter anderem das Osterfeuer, das Erntedankfest der Röderländer Landfrauengruppe sowie der am ersten Sonntag im Dezember stattfindende Weihnachtsmärchenmarkt.
Ferienzimmer und -wohnungen gibt es bei privaten Anbietern. Ein privat geführter Zeltplatz umfasst etwa 5000 Quadratmeter.
Mehrere befestigte Radwege entlang der Schwarzen Elster verbinden Haida mit den Sehenswürdigkeiten des Umlandes, dem Naturpark Niederlausitzer Heidelandschaft und der etwa acht Kilometer östlich gelegenen Niederung des Schradens. Mit der Tour Brandenburg führt der mit 1111 Kilometern längste Radfernweg Deutschlands am Dorf vorbei. Weitere Radrouten sind der Fürst-Pückler-Radweg, der unter dem Motto 500 Kilometer durch die Zeit in die Projektliste der Internationalen Bauausstellung Fürst-Pückler-Land aufgenommen wurde und der 108 Kilometer lange Schwarze-Elster-Radweg. Das Waldbad Zeischa, wo sich ein weiterer Campingplatz mit 137 Stellplätzen und Mietbungalows befindet, liegt etwa zwei Kilometer nordwestlich der Haidaer Ortslage.
Denkmäler
Links und rechts des Eingangs der Haidaer Friedhofshalle befinden sich Tafeln mit elf Namen der im Ersten Weltkrieg und neunundzwanzig der im Zweiten Weltkrieg gefallenen Dorfbewohner.
Sagen
Die Niederung der Schwarzen Elster gilt als sehr sagenreich. Der Fluss, der einst in zahlreichen gewundenen Fließen durch das Tal floss, so dass die Region dem Spreewald ähnelte, bot der Phantasie der Menschen reichlich Stoff. Wassermänner, Nixen, Kobolde und Irrlichter tummelten sich dort. Allerdings regte auch das große Waldgebiet nördlich des Dorfes mit der Liebenwerdaer und der einstigen Haidaer Heide, die noch auf Karten des 19. Jahrhunderts verzeichnet ist, die Phantasie der Menschen an.
So erzählt die Sage Das funkelnde Goldstück von drei Würdenhainer Korbmachern, die ihre Ware in das wegen seiner vielen Korbmacher in früherer Zeit auch als Koberwalke bekannte Kraupa geliefert hatten. Als sie dort bis spät in die Nacht Karten gespielt hatten, gingen sie auf dem Waldweg zwischen Kraupa und Haida nach Hause. An einer alten Lehmgrube sahen sie unter einem Strauch etwas Funkelndes. Als sie danach griffen, stellte sich das Funkeln allerdings als Laubfrösche heraus. Einer der Korbmacher ließ sich nicht beirren und steckte einen der Frösche in seine Tasche. Zu Hause angekommen, zog er stattdessen freudestrahlend einen Golddukaten heraus. Vergeblich liefen seine beiden Begleiter zurück, um es ihm gleichzutun.
Wirtschaft und Infrastruktur
Wirtschaft und Verkehr
Haida befindet sich an der Bahnstrecke Węgliniec–Falkenberg/Elster. Den Ort tangieren die Bundesstraße 101 und die Landesstraße 593. Die nächstgelegenen Bahnhöfe befinden sich in Elsterwerda (Bahnstrecken Berlin–Dresden und Riesa–Elsterwerda) sowie in Biehla (Bahnstrecke Węgliniec–Falkenberg/Elster). Außerdem ist Haida durch Busverbindungen an den öffentlichen Nahverkehr angeschlossen.
Der Ortsteil verfügt über ein 27 Hektar großes Gewerbegebiet, das sich nördlich des Dorfes in unmittelbarer Nähe der Bundesstraße 101 befindet. Nahe der Haidaer Kiesgrube gelegen, ist es für Baustoffindustrie und -handel besonders interessant. Auf dem Gelände haben sich bisher unter anderem ein Betonhersteller, ein Transportunternehmen, eine Baufirma und ein Autohaus angesiedelt. Außerdem sind im Ort weitere mittelständische Unternehmen ansässig. Auf dem etwa zwei Kilometer westlich der Haidaer Ortslage gelegenen Gelände eines nach der Wende geschlossenen Betonwerks befindet sich seit 2001 mit der STABAU GmbH ein Tochterunternehmen der holländischen Heuvelmans Group. Die Firma, die mit dem Handel von Stahl- und Bauprofilen Zulieferer des europäischen Hoch-, Tief- und Spezialtiefbaus ist, nutzt in Haida etwa 80.000 Quadratmeter Lagerfläche.
Haltepunkt Haida (Oberlausitz)
In Haida befindet sich an der Bahnstrecke Węgliniec–Falkenberg/Elster ein ehemaliger Haltepunkt. Die Strecke wurde 1874 von der Oberlausitzer Eisenbahn-Gesellschaft in Betrieb genommen. Der Haltepunkt war, wie auch der wenige Kilometer östlich gelegene Haltepunkt Kahla, bei einer Umbenennung im Jahre 1935 irrtümlich mit dem Zusatz (Oberlausitz) versehen worden. Vorher hieß er Haida (Oberlaus).
Tatsächlich gehört Haida als ehemaliges Amtsdorf von Mühlberg zum Elbe-Elster-Gebiet. Die westliche Grenze der Oberlausitz verläuft östlich des Schradens.
Die durch den Ort führende Bahnstrecke wurde in den 1980er Jahren modernisiert. Nach der Verlegung eines zweiten Gleises kam die Elektrifizierung. Wie in weiteren Orten an der Strecke war in Haida ein neuer Bahnsteig für die Gegenrichtung notwendig geworden. Zum Haltepunkt gehörte neben einem Schrankenwärterhäuschen mit Wartehalle ein zweigeschossiges Bahnwärterhaus mit Wohnungen für die Reichsbahn-Bediensteten, das sich heute in Privatbesitz befindet. Mit der Einrichtung einer Halbschranke im Jahre 1982 wurde am Haidaer Haltepunkt der örtliche Fahrkartenverkauf im Zuge von Rationalisierungsmaßnahmen eingestellt. Zum Fahrplanwechsel 1996/97 wurde der Haltepunkt geschlossen.
Haidaer Kiese und Sande
Bereits in Karten aus dem 17. Jahrhundert ist der in Haida vorkommende Rohstoff Lehm verzeichnet. Kurz vor Ende des 19. Jahrhunderts begann der großflächige industrielle Abbau der Lehm-, Kies- und Sandvorkommen. Im Jahre 1890 erwarben der Formsandgrubenbesitzer Leberecht Birnstengel und Hermann Köster aus Elsterwerda den Horkenplan im Haidaer Weinanbaugelände. Bald erhielten sie die Baugenehmigung für einen Ziegelringbrennofen, der als Zickzack-Ringofen mit elf Einzelkammern einen kontinuierlichen Betrieb ermöglichte. Daneben wurden eine Ziegelsteinpresse, ein Trockenschuppen sowie ein 26 Meter hoher Schornstein gebaut.
Die Haidaer Lehmvorräte erwiesen sich aber bald als unzureichend. Außerdem waren sie durch Mergel und Kohle verunreinigt, sodass die produzierten Mauersteine zum Teil auseinanderplatzten. Die Ziegelei wurde einige Jahre vor dem Ersten Weltkrieg an den aus Berlin stammenden preußischen Hoflieferanten Franz Heiligendorff verkauft, der sich auf die Ausbeutung der Sand- und Kiesvorkommen verlegte. Der von der Firma Schüler und Heiligendorff KG geförderte Sand wurde unter anderem an die deutsche Rüstungsindustrie sowie an Stahl- und Eisengießereien geliefert. Der Transport erfolgte meist mit der Eisenbahn, zunächst ab Elsterwerda, später vom Anschlussgleis der Zeischaer Firma Weiland. 1924 übernahm Eduard Ratz den Betrieb. Er legte 1932 den Ziegelofen still und baute eine moderne Sieberei auf, die mit ihrer Fassade in der Niederung bis zu ihrem Abriss Anfang der neunziger Jahre weithin sichtbar war. Der Betrieb erhielt einen eigenen Bahnanschluss, der die Beladung von 15 bis 20 Waggons ermöglichte.
Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Kieswerk am 30. September 1945 in Volkseigentum überführt. 1958 erfolgte der Zusammenschluss des Werkes mit der Plessaer Ziegelei und der Firma Tonwaren Hohenleipisch. Ab 1964 führte der Betrieb, der nun dem Bezirksbauamt Cottbus unterstellt war, die Bezeichnung VEB Elsterwerdaer Kies- und Sandwerke. Sechs Jahre später gründete man das VE Baustoffkombinat Cottbus für Zuschlagstoffe und Kalksandsteine, dessen Sitz sich in Haida befand. Der Betrieb wurde mit dem Bau weiterer Produktionsanlagen ständig vergrößert, so dass der Eisenbahnanschluss des Werkes Ende der 1980er Jahre von zwei auf vier Gleise mit einer 15-kV-Fahrleitung erweitert werden musste. Im Kieswerk waren zwei Diesellokomotiven V 18 und V 21 in Betrieb. Mit täglich drei Zügen wurde der Anschlussbahnhof von Elsterwerda-Biehla aus bedient.
Mit der nach der Wende einsetzenden Marktwirtschaft wurden die Haidaer Kieswerke in die ZuS Zuschlagstoffe und Spezialsande GmbH umgewandelt, von der die Firma Silex Normkies Speyer 1991 Geschäftsanteile erwarb. Es folgten umfangreiche Investitionen. Da der Transport nun über die Straße abgewickelt werden konnte, wurde der Bahnanschluss 1997 geschlossen und später zurückgebaut. Im April 1996 nahm ein neu errichtetes Spezialsandwerk in Haida den Betrieb auf. Gegenwärtig gehört das Kieswerk zur Unternehmensgruppe Wolff & Müller mit Hauptsitz in der baden-württembergischen Landeshauptstadt Stuttgart. Das Werk beschäftigte nach eigenen Angaben im April 2010 etwa 30 Mitarbeiter in Haida.
Haidaer Forstbaumschulen
Haida gilt als Wiege der Forstbaumschulen im Altkreis Liebenwerda. 1875 gründete dort der dreiunddreißigjährige Landwirt Traugott Schmidt die erste Baumschule des Altkreises zum Nebenerwerb. Zunächst sammelten er und seine zahlreichen Kinder Kiefernzapfen. Die daraus gewonnenen Samen säte er im Frühjahr auf Kahlflächen östlich der ehemaligen Haidaer Weinberge, am sogenannten Quall, aus.
Nach Schmidt, der am 1. August 1902 im Alter von sechzig Jahren verstarb, begannen bald weitere Haidaer mit der Kiefernanzucht und verkauften die Pflanzen an Forstämter, Förstereien und Bauern. Neben Kiefern boten sie auch andere Nadel- und Laubgehölze an. Noch Mitte der 1950er Jahre waren 40 der etwa 100 im Kreis ansässigen Züchter aus Haida. Davon waren viele Betriebe wie in Biehla, Zeischa und Bad Liebenwerda noch im Besitz der Familie Schmidt. In der wenige Kilometer westlich gelegenen Kurstadt Bad Liebenwerda gilt die 1844 in Haida geborene Wilhelmine Schmidt, die 1874 den Handelsmann Julius Kloss heiratete, als Begründerin der dortigen Baumschulen.
1962 wurde in Haida die LPG Grüne Tanne zur genossenschaftlichen Anzucht von Forstpflanzen gegründet. Gegenwärtig führt die Forstbaumschule Grüne Tanne Haida GmbH diese Tradition fort. Der Betrieb produziert auf einer Fläche von etwa 28 Hektar Größe vorwiegend Forst- und Landschaftsgehölze. Die in Haida gezogenen Pflanzen zeichnen sich auf Grund der klimatischen Bedingungen und der geringen Bodenwertzahlen durch ein gutes Wurzelsprossverhältnis und einen hohen Feinwurzelanteil aus.
Bildung
Die Gemeinde Haida baute 1912 auf dem Dorfanger ein eigenes Schulhaus, bildete aber mit Würdenhain, wo die Kinder des Ortes zuvor die Schule besucht hatten, weiterhin einen Schulverband, der zunächst auch noch zu DDR-Zeiten als Schulkombinat bestand. Das Schulkombinat wurde später aufgelöst und die Kinder ab 1975 in die Polytechnische Oberschule in Elsterwerda-Biehla eingeschult, die nach der Wende in eine Realschule umgewandelt wurde. Im Jahre 2006 wurde sie aufgelöst; in den Räumen befindet sich jetzt das Grundschulzentrum der Stadt.
Die Schüler des Ortsteils werden gegenwärtig in die Grundschule Prösen eingeschult, die den Status einer Verlässlichen Halbtagesschule besitzt und deren Träger die Gemeinde Röderland ist. In Prösen befindet sich eine Oberschule in privater Trägerschaft. In der sich unmittelbar östlich der Haidaer Ortslage anschließenden Stadt Elsterwerda gibt es eine Oberschule, ein Gymnasium und weitere Bildungseinrichtungen.
Die Kindertagesstätte Sonnenschein bietet 32 Kindern Platz. Zur Einrichtung gehören neben einer Bewegungsbaustelle im Freien speziell eingerichtete Räume für Musik, Sprachen, Werken, Natur und Sport. Bibliotheken gibt es in Prösen, Elsterwerda und Bad Liebenwerda.
Medien
Monatlich erscheinen in Haida der Gemeindeanzeiger sowie das Amtsblatt für die Gemeinde Röderland. Der Kreisanzeiger des Landkreises Elbe-Elster erscheint nach Bedarf.
Die regionale Tageszeitung im Elbe-Elster-Kreis ist die zur Lausitzer Rundschau gehörende Elbe-Elster-Rundschau mit einer Auflage von etwa 96.000 Exemplaren. Die kostenlosen Anzeigenblätter Wochenkurier und SonntagsWochenBlatt kommen wöchentlich heraus.
Persönlichkeiten
Haida ist eng mit dem aus Schlesien stammenden Heimatforscher Felix Hoffmann verbunden, der dort seit seiner Umsiedlung lebte. Hoffmann verfasste zahlreiche Beiträge zur Heimatgeschichte der Altkreise Sagan und Bad Liebenwerda. Einige seiner Veröffentlichungen befinden sich im Bestand der Deutschen Nationalbibliothek. 1968 verstarb er im Alter von 72 Jahren in Bad Liebenwerda.
Der Haidaer Prof. Dr. Ing. habil. Horst Krampe hat während und nach seiner Lehrtätigkeit in Dresden neben der Fachliteratur auf dem Gebiet der Logistik auch Artikel und Themen zur Heimatforschung veröffentlicht.
Ein weiterer Heimatforscher, der Würdenhainer Lehrer Rudolf Matthies, der wie Hoffmann zahlreiche Beiträge zur Heimatgeschichte veröffentlichte, war von 1961 bis zum Eintritt in den Ruhestand Leiter der Schule Haida-Würdenhain.
Der Künstler Heinz-Detlef Moosdorf lebte viele Jahre in Haida. Im Bürgerhaus ist eine Dauerausstellung von ihm zu sehen.
Literatur
Weblinks
Ortsteilseite auf der Gemeinde-Website
Einzelnachweise
Ort im Landkreis Elbe-Elster
Ort an der Schwarzen Elster
Geographie (Röderland)
Ehemalige Gemeinde (Landkreis Elbe-Elster)
Ersterwähnung 1443
Gemeindeauflösung 2003
Weinort im Weinanbaugebiet Sachsen
Weinort in Brandenburg |
1032997 | https://de.wikipedia.org/wiki/Insektenpheromone | Insektenpheromone | Insektenpheromone sind Botenstoffe, die der chemischen Kommunikation zwischen Individuen einer Insekten-Art dienen. Sie unterscheiden sich damit von Kairomonen, also Botenstoffen, die Information an artfremde Organismen übertragen. Insekten produzieren Pheromone in speziellen Drüsen und geben sie an die Umgebung ab. In den Pheromonrezeptoren der Sinneszellen des Empfängers erzeugen sie bereits in sehr geringer Konzentration einen Nervenreiz, der schließlich zu einer Verhaltensantwort führt. Die innerartliche Kommunikation der Insekten über diese Stoffe erfolgt in vielfältiger Weise und dient unter anderem zum Finden von Geschlechtspartnern, der Aufrechterhaltung der Harmonie in einer Kolonie sozial lebender Insekten, der Markierung von Territorien oder dem Auffinden von Nestplätzen und Nahrungsquellen.
Im Jahr 1959 identifizierte und synthetisierte der deutsche Biochemiker und Nobelpreisträger Adolf Butenandt den ungesättigten Fettalkohol Bombykol, den Sexuallockstoff des Seidenspinners (Bombyx mori), als erstes bekanntes Insektenpheromon. Bei den Sexualpheromonen weiblicher Schmetterlinge handelt es sich meist um mono- oder bis-olefinische Fettsäuren beziehungsweise deren Ester, Fettalkohole, deren Ester oder die entsprechenden Aldehyde. Männliche Falter verwenden ein breites Spektrum von Chemikalien als Sexualpheromone, zum Beispiel Pyrrolizidinalkaloide, Terpene und aromatische Verbindungen wie Benzaldehyd.
Die Erforschung der chemischen Kommunikation von Insekten erweitert das Verständnis darüber, wie diese ihre Nahrungsquellen oder Plätze zur Eiablage auffinden. So nutzen Imker ein künstlich hergestelltes Nasanov-Pheromon, das Terpene wie Geraniol und Citral enthält, um Bienen zu einem ungenutzten Bienenstock zu locken. Die Land- und Forstwirtschaft verwendet Insektenpheromone kommerziell bei der Schädlingsbekämpfung mittels Lockstofffallen zur Verhinderung der Eiablage und bei der Praktizierung der Verwirrmethode. Es besteht die Erwartung, dass Insektenpheromone auf diese Weise auch zur Eindämmung von durch Insekten übertragenen Infektionskrankheiten wie Malaria, Denguefieber oder Afrikanische Trypanosomiasis beitragen können.
Etymologie und Einteilung
Adolf Butenandt und Peter Karlson schlugen im Jahr 1959 den Begriff der Pheromone für Stoffe vor, die der intraspezifischen Kommunikation dienen. Die Definition des Pheromonbegriffs erfolgte im selben Jahr durch Karlson und den Schweizer Zoologen Martin Lüscher. Demnach sind Pheromone
Das Wort Pheromon besteht aus den altgriechischen Wortteilen phérein, überbringen, melden und hormān, antreiben, erregen. Laut Karlson und Lüscher war es das Ziel, für eine Klasse von Substanzen basierend auf einer klaren Definition einen international verständlichen wissenschaftlichen Begriff zu prägen. Es sollte ein kurzes Wort sein, das in vielen Sprachen gesprochen werden kann. Die Endung mon diente als Suffix, wie es in den Wörtern Hormon, Kairomon und Allomon vorkommt und damit deren Verwandtschaft unterstrich. Der Begriff Pheromon löste den Ausdruck Ektohormon beziehungsweise Homoiohormon ab, den Albrecht Bethe bereits im Jahr 1932 mit gleicher Definition vorgeschlagen hatte. Die Bezeichnung von Bethe setzte sich nicht durch, weil die Bezeichnungen Ekto und Hormon sich laut Butenandt gegenseitig ausschlossen. Der Wirkmechanismus eines Pheromons entspricht auch nicht dem eines von einem anderen Individuum in den Blutkreislauf aufgenommenen Hormons und wurde daher als irreführend empfunden.
Die Einordnung der intraspezifisch wirkenden Pheromone in die Gruppe der Semiochemikalien, also der Botenstoffe, die der Kommunikation zwischen Organismen dienen, zeigt die folgende Grafik:
Karlson unterteilte sie nach der Art des Empfangs weiter in olfaktorisch wirkende und oral wirkende Insektenpheromone. Im Jahr 1963 führten Edward O. Wilson, der im Jahr zuvor die Spurenpheromone der Ameisen entdeckt hatte, und William H. Bossert die Begriffe der Releaser- und Primerpheromone ein. Releaserpheromone, die meist olfaktorisch wahrgenommen werden, bewirken eine augenblicklich beobachtbare Verhaltensreaktion, wohingegen Primerpheromone, die häufig oral wirken, physiologische Veränderungen beim Empfänger auslösen. Primerpheromone unterdrücken zum Beispiel die Ausbildung der Eierstöcke bei Arbeitsbienen.
Häufig werden Pheromone nach ihrer verhaltensauslösenden Funktion definiert. Neben den bekannten Sexuallockstoffen wirken sie unter anderem als Aggregationspheromone, Dispersionspheromone, Alarmpheromone, Spurpheromone, Markierungspheromone, Bruterkennungspheromone, Eiablagepheromone, Rekrutierungspheromone oder als Kastenerkennungsstoffe.
Vincent Dethier teilte die Insektenpheromone nach ihrer generellen verhaltensauslösenden Wirkung in sechs Kategorien ein. Dazu zählen die normalerweise nur auf kurze Entfernung wahrnehmbaren Arrestants, die ein in Bewegung befindliches Insekt zum Anhalten veranlassen, sowie die Locomotor Stimulants, welche die Geschwindigkeit der Insekten erhöhen oder die Anzahl von Richtungsänderungen verringern. Attractants sind Lockstoffe, die eine orientierte Bewegung zur Riechquelle hin auslösen, wohingegen Repellents eine Fluchtbewegung von dieser weg auslösen. Feeding- beziehungsweise Oviposition Stimulants lösen die Fütterung oder die Eiablage aus. Deterrents dagegen hemmen den Fraß oder die Eiablage.
Funktional definierte Insektenpheromone enthalten oft Mischungen verschiedener Komponenten in genau definierten Mengenverhältnissen. Diese sogenannten Pheromoncocktails enthalten häufig Stoffe verschiedener Kategorien mit Nah- und Fernorientierungsfunktion. So enthält der Aggregationspheromoncocktail der Deutschen Schabe Blattella germanica sowohl Stoffe, die als Attractant wirken als auch Stoffe, die als Arrestant wirken.
Zum Teil werden Insektenpheromone nach dem Ort ihrer biologischen Produktion benannt. Männchen verschiedener Falterarten wie etwa der Bananenfalter besitzen im Hinterleib sogenannte androconiale Organe, die Pheromone abgeben. Diese Insektenpheromone werden entsprechend als Androconialpheromone bezeichnet. Die Königinnen der Westlichen Honigbiene produzieren das Bienenköniginnenpheromon in Mandibeldrüsen. Im englischen Sprachraum werden sie daher oft als Queen Mandibular Gland Pheromones, Königinnenmandibeldrüsenpheromone, bezeichnet.
Geschichte
Erste Entdeckungen
Der englische Imker Charles Butler beobachtete im Jahr 1609, dass durch den Stich einer Biene eine Flüssigkeit freigesetzt wurde. Diese Flüssigkeit zog andere Bienen an und diese begannen daraufhin in Massen zu stechen. Butler stellte damit erstmals die Wirkung eines Alarmpheromons der Bienen dar, das in den 1960er Jahren als Isoamylacetat identifiziert wurde.
Sir John Ray vermutete bereits 1690, dass Birkenspannerweibchen männliche Artgenossen über einen Duft anlockten:
Der französische Entomologe Jean-Henri Fabre berichtete Mitte des 19. Jahrhunderts ebenfalls über Versuche mit Nachtpfauenaugen und Eichenspinnern, bei denen in Drahtkäfigen gefangene Weibchen innerhalb weniger Tage zu bestimmten Uhrzeiten Hunderte von Männchen anlockten. Bei Versuchen mit markierten Seidenspinnermännchen fanden noch 40 % der Männchen aus einer Entfernung von vier Kilometern und 26 % der Männchen aus elf Kilometern zu einem gefangenen Weibchen.
Bei vielen Insektenarten rätselten Forscher lange Zeit über den Mechanismus des Zusammenfindens der Geschlechtspartner: Visuelle oder akustische Reize konnten weder die von Fabre durchgeführten Versuche noch, wie Nachtfalter mit großer Sicherheit paarungsbereite Weibchen fanden, erklären. Theorien über eine Lockwirkung durch Infrarot- oder andere Strahlung bestätigten sich nicht. Ebenso unerklärlich blieb lange Zeit die Organisation von Insektenstaaten. Der Schriftsteller und Bienenforscher Maurice Maeterlinck spekulierte über den Spirit of the hive, den (Team)-Geist des Bienenstocks, ohne dessen Wesen näher bestimmen zu können.
Definitionen von Bethe
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckte Ernest Starling die Hormone als erste biologische Botenstoffe. Im Jahr 1932 veröffentlichte der Neurophysiologe Albrecht Bethe, der zu dieser Zeit das Institut für Tierphysiologie an der Universität Frankfurt am Main leitete, einen Artikel über ein erweitertes Hormonkonzept, bei dem er zwischen Endohormonen und Ektohormonen unterschied. Die Endohormone wirken demnach im produzierenden Organismus selbst und entsprechen der klassischen Hormondefinition. Im Gegensatz dazu gibt der Organismus Ektohormone nach außen ab und überträgt sie auf andere Individuen. Als Beispiel führte Bethe die Wirkung des Laktationshormons an, das von einem Fötus an die Mutter abgegeben wird und bei dieser das Wachstum der Brustdrüse und anschließend die Milchsekretion hervorruft. Dieses Konzept schlug er auch für die chemische Kommunikation unter Insekten vor.
Bethe unterteilte die Ektohormone weiter in Homoiohormone, die – entsprechend der heutigen Definition eines Pheromons – auf Individuen der gleichen Art wirken, und Alloiohormone, die auf Individuen einer anderen Art wirken. Damit prägte er den Vorläuferbegriff der Allelochemikalien.
Arbeiten von Butenandt
Auch Adolf Butenandt vermutete, dass die Kommunikation unter Insekten auf Botenstoffen basierte, und begann in den 1940er Jahren ein Projekt zur Identifizierung des Sexuallockstoffs des Seidenspinners (Bombyx mori). Es handelt sich dabei um einen ursprünglich in China beheimateten Schmetterling aus der Familie der Echten Spinner, der dem Seidenbau dient und dessen Aufzucht und Haltung gut bekannt war. Erst nach fast 20-jähriger Arbeit gelang die endgültige Extraktion und Reinigung eines Stoffes aus mehr als 500.000 Insekten, den Butenandt später Bombykol nannte.
Durch Elementaranalyse bestimmte Butenandt die Summenformel des Stoffes zu C16H30O. Infrarotspektroskopische Untersuchungen wiesen auf die Anwesenheit von konjugierten Doppelbindungen hin. Mit damals gängigen Methoden wie der katalytischen Hydrierung, der Schmelzpunktbestimmung und dem oxidativen Abbau durch Kaliumpermanganat zeigte Butenandt, dass es sich bei dem gesuchten Stoff um einen ungesättigten Fettalkohol, das (10E,12Z)-10,12-Hexadecadien-1-ol, handelte.
Butenandt synthetisierte anschließend Bombykol aus Vernolsäure [(12R,13S)-Epoxy-9-cis-octadecensäure] in mehreren Schritten über die Diolbildung, dessen Spaltung in den Aldehyd, Doppelbindungsisomerisierung und Wittig-Olefinierung. Er synthetisierte die vier möglichen Stereoisomere und testete sie auf ihre biologische Aktivität. Nur ein Isomer zeigte dieselbe Aktivität wie das Extrakt. Damit erbrachte Butenandt den Nachweis, dass die Kommunikation unter Insekten auf stofflicher Basis erfolgt.
Primer- und Releaserpheromone
Gegen Ende der 1950er Jahre definierte Edward O. Wilson Stoffe, die das Alarm- und Grabverhalten von Ameisen auslösen, als Chemical Releaser. Der britische Biochemiker Robert Kenneth Callow identifizierte im Jahr 1961 mit der Verbindung (E)-9-Oxo-dec-2-ensäure, kurz 9-ODA, ein weiteres Pheromon, auch bekannt als Bienenköniginnenpheromon. Die Wirkung dieses Pheromons war offensichtlich anders geartet als die der Alarmpheromone, da es sich langfristig auf die Physiologie der Empfänger auswirkte.
Im Jahr 1963 führten Wilson, der im Jahr zuvor bereits die Spurenpheromone der Ameisen entdeckte, und William H. Bossert dafür den Begriff der Releaser- und Primerpheromone ein, um die verhaltenssteuernde Wirkung von zum Beispiel Sexuallockstoffen von den Pheromonen, die in das Hormonsystem des Empfängers eingreifen, zu unterscheiden.
Moderne Forschungsrichtungen
Durch die im Laufe der Jahre enorm verfeinerten Extraktions- und Analyseverfahren identifizierten Chemiker und Biologen zahlreiche weitere Pheromone. Zum Nachweis der zweiten Komponente des Pheromoncocktails von Bombyx mori, des Bombykals [(10Z,12E)-Hexadecadienal], genügte im Jahr 1978 bereits ein Extrakt von 460 Drüsen, aus denen 15 Nanogramm des Aldehyds isoliert wurden.
Neben der Erforschung der Funktion und des Empfangs von Pheromonen und der chemischen Identifizierung untersuchten Wissenschaftler eingehend die Biochemie der Pheromonproduktion. Im Jahr 1984 entdeckten Ashok Raina und Jerome Klun, dass die Produktion des weiblichen Sexuallockstoffs des Eulenfalters Helicoverpa zea durch hormonelle Substanzen, die sogenannten Pheromon-Biosynthese-aktivierenden Neuropeptide (PBAN) im Gehirn weiblicher Falter gesteuert wird. Andere moderne Forschungsschwerpunkte sind die Untersuchung des Empfangs von Insektenpheromonen mittels des Geruchs- und Geschmacksinns, genetische Faktoren und evolutionsbiologische Fragestellungen, wie die Koevolution der weiblichen Sexualpheromonproduktion und der Empfang beim Männchen.
Die Bekämpfung von Krankheitsüberträgern wie der Malariamücken bildet einen weiteren Schwerpunkt der Forschung. Nach Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation betrug die Zahl der Malariainfektionen im Jahr 2012 etwa 207 Millionen mit 627.000 Todesfällen. Culexmücken übertragen den Erreger der Filariose oder das West-Nil-Virus. Eine Möglichkeit zur Eindämmung dieser Populationen bieten mit Eiablagepheromonen ausgestattete Fallen. Um diese zu optimieren, werden die duftstoffbindenden Proteine in den Antennen der Weibchen, die eine entscheidende Rolle bei der Erkennung der Eiablageplätze spielen, intensiv untersucht.
Herstellung
Als Pheromone bei Insekten dienen oft die Folgeprodukte von Fettsäuren, wie gesättigte und ungesättigte Kohlenwasserstoffe, Fettalkohole, Ester und Aldehyde, aber auch Isoprenoide und andere Verbindungen. Pheromone sind oft nicht reine Stoffe, sondern sogenannte Pheromoncocktails, die aus verschiedenen Komponenten bestehen. Oft löst nur ein spezielles Enantiomer einer Verbindung eine Verhaltensreaktion aus, während das andere Enantiomer keine oder eine andere Reaktionen auslöst.
Manchmal erfolgt die Biosynthese des Pheromons nur, wenn die biochemischen Vorstufen in Form bestimmter Alkaloide aus Nahrungspflanzen aufgenommen wurden. Der Sexuallockstoff signalisiert in diesem Fall gleichzeitig das Vorkommen von Nahrungsquellen.
Durch die potentielle kommerzielle Anwendung im Pflanzenschutz nahm die Intensität der Untersuchung von Pheromonen nach Butenandts Entdeckung stark zu und führte zur Entwicklung hochempfindlicher Analysemethoden und der breiten Anwendung chemo-, regio- und stereoselektiver Synthesen in der organischen Chemie.
Biosynthese
Insektenpheromone werden von einer Vielzahl von exokrinen Drüsen, die vorwiegend aus modifizierten Epidermalzellen an verschiedenen Stellen des Insektenkörpers bestehen, hergestellt. So geben die Hinterleibsdrüsen des Seidenspinnerweibchens neben dem Sexuallockstoff Bombykol Spuren des (E,E)-Isomers des Alkohols als auch den analogen (E,Z)-Aldehyd Bombykal ab. Geeignete Oberflächengeometrien in der Umgebung der Drüsen, etwa geriefte Porenplatten, können die effektive Verdampfung eines ausgetretenen Pheromons begünstigen. Honigbienen besitzen 15 Drüsen, mit denen sie eine Reihe verschiedener Substanzen herstellen und abgeben und damit ein komplexes, auf Pheromonen basierendes Kommunikationssystem unterhalten. Männchen verschiedener Schmetterlingsarten besitzen im Hinterleib sogenannte androconiale Organe, mit denen sie Pheromone verbreiten können, andere Falter geben diese über Duftschuppen oder Duftborsten an ihren Vorderflügeln oder dem Hinterleibsende ab. Die Duftborsten und Duftschuppen dienen der Oberflächenvergrößerung und erleichtern das Abdampfen der Insektenpheromone.
Anstatt eine völlig einmalige Reihe von Enzymen für die Pheromon-Biosynthese zu entwickeln, modifizieren Insekten oft normale Stoffwechselprodukte zu Pheromonen mit hoher Regio-, Chemo-, (E/Z)-, Diastereo- oder Enantioselektivität und in genau definierten Mengenverhältnissen. Die Biosynthese der Insektenpheromone geschieht entweder de novo nach dem Schema der Fettsäuresynthese durch sukzessiven Anbau von Malonyl-CoA an ein initiales Acetyl oder durch Aufnahme von Precursorn aus der Nahrung. Viele Schmetterlinge nutzen die biosynthetische Möglichkeit, eine bestimmte Mischung von Derivaten einfacher Fettsäuren herzustellen. Die Entwicklung des Enzyms Δ-11-Desaturase in Kombination mit kettenverkürzenden Reaktionen erlaubt es ihnen, eine Vielzahl von ungesättigten Acetaten, Aldehyden und Alkoholen in verschiedenen Kombinationen zu produzieren.
Durch spezielle Enzymsysteme erfolgt gegebenenfalls eine Dehydrierung der Kohlenstoffkette und die Reduktion der Säurefunktion zum Alkohol. Weitere Schritte können die Oxidation zum Aldehyd oder die Acetylierung zum Essigsäureester sein. Bei Bombyx mori wird die Biosynthese tagesperiodisch von Pheromonen durch ein Neurohormon, das sogenannte Pheromon-Biosynthese-aktivierende Neuropeptid (PBAN), aktiviert.
Die hormonellen Mechanismen der Pheromonproduktion unterscheiden sich von Art zu Art erheblich. Juvenilhormone etwa kontrollieren die Pheromonproduktion des Eulenfalters Mythimna unipuncta. Diese werden in hinter dem Gehirn liegenden meist paarig vorkommenden Corpora allata gebildet und in die Hämolymphe abgegeben. Dort binden sie an bestimmte Transportproteine. Werden die Corpora allata entfernt, produzieren die Weibchen keine Pheromone. Juvenilhormone greifen aber eher indirekt in die circadiane Freisetzung von PBAN ein.
Männliche Schmetterlinge aus der Familie der Danainae verwunden zum Teil mit winzigen Klauen an ihren Füßen Raupen, die Alkaloide aus Seidenpflanzen aufgenommen haben, um die austretende Flüssigkeit aufzunehmen, ein als Kleptopharmakophagie beschriebenes Verhalten. Die Falter nutzen die aufgenommenen Alkaloide für die Verteidigung gegen Fressfeinde und um Sexualpheromone herzustellen.
Pheromone aus Pflanzeninhaltsstoffen
Männliche Feuerkäfer der Art Neopyrochroa flabellata und auch verschiedene andere Käferarten nutzen das Terpenoid Cantharidin als Sexualpheromon beziehungsweise Aphrodisiakapheromon. Dieses Isoprenoid wird von Neopyrochroa flabellata mit der Nahrung aufgenommen und beim Paarungsakt auf die Weibchen und anschließend auf die Brut übertragen. Die Weibchen prüfen den Gehalt einer Drüse am Kopf des Männchens vor der Paarung. Das Cantharidin wirkt als Fraßgift und macht die Eier für Räuber ungenießbar; Weibchen bevorzugen daher Männchen mit einem hohen Cantharidingehalt.
Falter wie Utetheisa ornatrix und Tirumala limniace nehmen im Larvenstadium Pyrrolizidinalkaloide aus Nahrungspflanzen wie Crotalaria, Sonnenwenden oder Leberbalsam-Schafgarbe auf, die das erwachsene Männchen durch Oxidation in Pheromone wie Hydroxydanaidal umwandelt. Wie beim Feuerkäfer werden die Alkaloide, die starke Fraßgifte sind und gegen Fressfeinde wie Spinnen, Ameisen oder Netzflügler wirken, auf Weibchen und Eier übertragen. Erwachsene Monarchfalter nehmen sekundäre Pflanzenstoffe auf und erhöhen damit ihre pheromonale Attraktivität. Manchmal erfolgt die Biosynthese des Pheromons nur, wenn die biochemischen Vorstufen in Form bestimmter Alkaloide aus Nahrungspflanzen aufgenommen wurden. Der Sexuallockstoff signalisiert in diesem Fall gleichzeitig das Vorkommen von Nahrungsquellen.
Die Aufnahme von Pheromonvorstufen aus Pflanzen ist auch für bestimmte Arten von Prachtbienen und Bohrfliegen bekannt. Männliche Bienen sammeln eine Mischung von Terpenoiden aus Orchideen und nutzen sie als Aggregationspheromon zur Bildung von Balzplätzen. Manchmal steuern die Pflanzeninhaltsstoffe die Entwicklung der Pheromondrüsen von männlichen Schmetterlingen.
Laborsynthese
Karl Ziegler und Günther Otto Schenck gelang bereits 1941 die Synthese von Cantharidin. Die Darstellung der Pheromone erfordert die Anwendung hoch chemo-, regio- und stereoselektiver Synthesen. In den siebziger Jahren gelang es mittels asymmetrischer Synthese unter Verwendung der SAMP-Methode, verschiedene Pheromone enantiomerenrein herzustellen. Des Weiteren setzten Chemiker asymmetrische Epoxidierungen, asymmetrische Dihydroxylierung, Biokatalyse, Olefinmetathese und viele weitere stereoselektiv verlaufende Reaktionen zur Synthese von Pheromonen ein. Die Wittig-Reaktion eignet sich zur Synthese von Pheromonen mit (Z)-olefinischen Doppelbindungen.
Auch gentechnisch veränderte Tabakpflanzen können Sexualpheromone produzieren. Die daraus durch Extraktion gewonnenen Fettalkohole werden anschließend acetyliert, um die jeweiligen Zielsexualpheromone zu gewinnen. Dieser halbsynthetische Weg der Herstellung produziert Insektenpheromone in relativ großer Menge und mit hoher Reinheit.
Eigenschaften
Die chemische Kommunikation zwischen Lebewesen mittels Pheromonen erfolgt nach den gleichen Prinzipien wie die technische Datenübertragung. Ein Sender, zum Beispiel die Drüse eines weiblichen Insekts, gibt das Signal in Form einer chemischen Substanz ab. Sowohl die chemische Struktur der Moleküle als auch ihr Mengenverhältnis bestimmen den Informationsgehalt und dienen als gemeinsamer Zeichenvorrat der Art. Die physikalischen Eigenschaften der Stoffe wie der Dampfdruck determinieren die Funktion ihrer Moleküle als Kurz- oder Fernwegsinformationsüberträger.
Das Insektenpheromon wird durch direkten Kontakt oder über ein Medium wie Wasser oder Luft übertragen. Vom Empfänger, zum Beispiel den Pheromonrezeptoren in der Antenne eines Insektenmännchens, wird der Stoff empfangen und löst eine Verhaltensreaktion aus. Der Begriff der Antenne wurde zunächst für die Fühler der Insekten und danach in der Technik verwendet. Insektenpheromone wirken hochgradig artspezifisch, das heißt, dass sie die gewünschte Verhaltensreaktion nur bei Artgenossen hervorrufen, jedoch nicht bei Individuen anderer Arten. Obwohl zum Beispiel die chemischen Verbindungen, die als Sexualpheromone bei Schmetterlingen wirken, bei verschiedenen Arten gleich sein können, ist die Zusammensetzung des Pheromoncocktails bei allen Arten verschieden. Daneben enthalten die Pheromoncocktails oft Substanzen, die als Verhaltensinhibitoren für andere Arten wirken und etwa die Anflugrate von Männchen fremder Arten auf ein lockendes Weibchen erheblich reduzieren.
Physikalisch-chemische Eigenschaften
Die Pheromone werden meist als Flüssigkeit hergestellt und entweder durch direkten Kontakt übertragen oder als Flüssigkeit oder Dampf in die Umgebung entlassen. Sie können sowohl schwer- als auch leichtflüchtig sein. Die Diffusionsfähigkeit beeinflusst die Funktion des Pheromons maßgeblich. Alarmpheromone sind oft leichtflüchtig, um sich schnell durch Diffusion zu verbreiten. Es handelt sich daher oft um kurzkettige Stoffe mit relativ hohem Dampfdruck und geringer Komplexität. Eine hohe Anforderung an die artspezifische Wirkung der Codierung wie bei Sexualpheromonen besteht nicht. Sexuallockstoffe weisen eine höhere Komplexität als die meisten Alarmpheromone auf, jedoch eine niedrigere molare Masse als Markierungspheromone, die dauerhaft ein Gebiet anzeigen.
Bei fliegenden Insekten – wie Schmetterlingen – darf das Pheromon als Molekül nicht zu groß sein, da sonst Dampfdruck und Flüchtigkeit zu gering sind. So handelt es sich bei über 200 identifizierten Sexuallockstoffen von Schmetterlingsarten um mono- und bis-olefinische Fettaldehyde, Fettalkohole und deren Acetate mit Ketten von 10 bis 18 Kohlenstoffatomen.
Je nach Funktion gibt es verschiedene Emissions- und Empfangsszenarien. Ameisen emittieren etwa Alarmpheromone stoßweise oder kontinuierlich in der meist windstillen Umgebung des Ameisenbaus. Spurenpheromone werden von einer Ameise als bewegliche Quelle ausgesandt. Die Sexualpheromone des Seidenspinners werden in diskreten Duftfäden in einem Luftstrom ausgestoßen.
Männliche Monarchfalter emittieren keine flüchtigen Pheromone, sondern pheromonbeladene Nanoteilchen, Pheromon-Transfer-Partikel genannt, mit deren Hilfe sie Arrestants oder Aphrodisiakapheromone auf die Weibchen übertragen. Die Pheromon-Transfer-Partikel positionieren die Männchen auf ihren Pinselhaaren und verstreuen sie während des Balzflugs. Die Nanoteilchen bleiben auf den mit Pheromonrezeptoren ausgestatteten Fühlern der Weibchen haften, wo sie die Pheromone langsam abgeben und so zu einem lange anhaltenden Reiz für das Weibchen führen.
Weibchen der arktischen Bärenspinnerspezies Pyrrharctia isabella emittieren ein Aerosol, das ausschließlich aus Sexualpheromontröpfchen besteht. Die dabei freigesetzte Pheromonmenge ist wesentlich größer als bei anderen bekannten weiblichen Faltern. Die scheinbare Verschwendung des Sexualpheromons erklärt sich mit der aufgrund des kurzen arktischen Frühlings knappen Zeitspanne, die ein erwachsenes Tier hat, um einen Fortpflanzungspartner zu finden.
Die Empfänger nehmen Pheromone meist in einem Umfeld wahr, das durch die Präsenz vieler anderer Chemikalien geprägt ist. Um eine spezifische Wahrnehmung zu gewährleisten, muss die Pheromonchemikalie entweder so komplex sein, dass sie in der Natur nicht mehrfach vorkommt, oder das richtige Verhältnis mehrerer Einzelkomponenten muss den Reiz auslösen. Es hat sich jedoch gezeigt, dass nur in Ausnahmefällen eine einzige Substanz die Botschaft vermittelt. Oft muss ein Gemisch von Substanzen in sehr präzisen Mengenanteilen vorliegen, die neben der chemischen Struktur der einzelnen Pheromone den Informationsinhalt des Pheromoncocktails bestimmen.
Die chemische Struktur von Pheromonen steht in direktem Zusammenhang mit ihrer Signalfunktion und Signalumgebung. An die Luft abgegebene Pheromone weisen oft eine Kohlenstoffkette von 5 bis 20 Atomen und eine molare Masse von etwa 80 bis 300 g·mol−1 auf. Bei einer Kohlenstoffkette von weniger als fünf Kohlenstoffatomen ist die Anzahl der möglichen Isomere gering und eine gezielte artspezifische Codierung schwierig. Bei längeren Kohlenstoffketten steigt die Zahl der möglichen Isomere schnell an.
Periplanon B, das Sexualpheromon der Amerikanischen Großschabe, ist ein Beispiel einer komplexen Einzelsubstanz, auf die Männchen bereits in extrem geringen Mengen von 10−5 Nanogramm ansprechen.
Biologische Eigenschaften
Der von einem Insektenweibchen ausgestoßene Sexualpheromoncocktail breitet sich windabwärts aus. Beim Empfängermännchen treffen die Moleküle auf die Antennen, wo der Empfang der Pheromone mittels olfaktorischer Zellen auf den Riechhaaren oder Sensillien erfolgt. Die Antennen adsorbieren etwa 30 % der in einem Luftstrom enthaltenen Pheromonmoleküle. Die übrigen Moleküle treffen auf die äußere Körperdecke und werden dort enzymatisch abgebaut.
Die Pheromonmoleküle gelangen zunächst auf die Cuticula der Riechhaare und diffundieren über Poren in einen Porenkessel und von dort aus in Tubuli. Von dort diffundieren die Moleküle weiter zur Dendritenmembran. Diese Membran besitzt Rezeptoren, die beim Empfang eines Pheromons über die Öffnung von Ionenkanälen eine Veränderung des elektrischen Widerstands hervorrufen und ein elektrisches Potential erzeugen, das einen Sinnesreiz zur Folge hat. Schon ein einzelnes Pheromonmolekül kann einen Nervenimpuls auslösen. Die Erkennung eines speziellen Pheromoncocktails erfordert jedoch eine gewisse Erregungshöhe verschiedener Zelltypen unterschiedlicher Spezifität. Es wird angenommen, dass die von den verschiedenen Rezeptoren im Zentralnervensystem eingehenden charakteristischen Erregungen dort zu einem Erregungsmuster moduliert werden. Stimmt dieses Erregungsmuster, das vom Mengenverhältnis der empfangenen Pheromonmoleküle abhängt, mit der Codierung eines angeborenen Verhaltensmusters überein, führt dies zur Auslösung einer entsprechenden Verhaltensantwort, etwa dem Gegenwindanflug auf eine Pheromonquelle.
Pheromonarten
Nach ihrer Wirkung lassen sich zwei Klassen von Pheromonen, die Primer- und die Releaserpheromone, unterscheiden. Unter bestimmten Bedingungen wirken gewisse Pheromone sowohl als Releaser- als auch als Primerpheromone.
Releaserpheromone
Releaserpheromone haben eine kurze, unmittelbar verhaltenssteuernde Wirkung. Das erste entdeckte Pheromon, Bombykol, ist ein Beispiel dafür. Zu den Releaserpheromonen gehören typischerweise neben den bekannten Sexuallockstoffen unter anderem Aggregationspheromone, Dispersionspheromone, Alarmpheromone, Spurpheromone und Markierungspheromone.
Aggregationspheromone
Aggregationspheromone werden von beiden Geschlechtern produziert und dienen der geschlechtsunspezifischen Anziehung von Individuen derselben Art. Diese sind zum Beispiel beim Borkenkäfer und anderen Käferarten, Zweiflüglern, Schnabelkerfen und Heuschrecken bekannt. Insekten nutzen Aggregationspheromone zur Verteidigung gegen Fressfeinde, bei der Partnerwahl und zur Überwindung der Resistenz von Wirtspflanzen bei einem Massenangriff. Eine Gruppe von Individuen an einem Standort wird unabhängig vom Geschlecht als Aggregation bezeichnet. Die Aggregationspheromone spielen neben den Sexuallockstoffen eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung von Pheromonfallen zur selektiven Schädlingsbekämpfung.
Untersuchungen mittels Elektroantennogrammtechnik zeigten, dass Aggregationspheromone relativ hohe Rezeptorpotentiale geschlechterunspezifisch auslösten, wogegen die Sexualpheromone hohe Rezeptorpotentiale nur bei einem Geschlecht bewirken. Bei den Aggregationspheromonen handelt es sich daher möglicherweise um evolutionäre Vorläufer der Sexualpheromone.
Sexualpheromone
Sexualpheromone signalisieren die Bereitschaft des weiblichen Tieres zur Paarung. Männliche Tiere emittieren ebenfalls Pheromone; sie enthalten Informationen über das Geschlecht und den Genotyp. Viele Insekten setzen Sexualpheromone frei; manche Schmetterlingsarten nehmen dabei das Pheromon noch in einer Entfernung von 10 Kilometern wahr. Die Sinneszellenantwort beim männlichen Seidenspinner beginnt bereits bei einer Konzentration von etwa 1000 Molekülen pro Kubikzentimeter Luft. Das Duftsignal eines Weibchens löst, sobald ein gewisser Konzentrationsgrenzwert überschritten wird, beim Seidenspinnermännchen zunächst einen orientierten Gegenwindflug aus. Bei anderen Arten wie dem Apfelwickler dagegen prüft das Männchen die stereochemische Reinheit des Lockstoffmoleküls. Sobald eine geringe Beimengung eines anderen Stereoisomers im Pheromoncocktail vorhanden ist, bleibt der Anflug zur Quelle aus. Das andere Stereoisomer wirkt in diesem Fall als Repellent. Manche Arten geben neben den Hauptkomponenten noch sogenannte Nahbereichskomponenten in geringer Menge ab, welche die Verhaltensreaktion beeinflussen.
Fouragierende Honigbienen verbreiten den Duft von (Z)-11-Eicosen-1-ol. Bienenwolfweibchen lassen sich von diesem Duft leiten, um Honigbienen zu erbeuten. Die Bienenwolfmännchen nutzen diese Komponente und damit die existierende sensorische Präferenz der Weibchen für Bienenduft als Teil ihres Sexualpheromoncocktails, um diese anzulocken.
Aphrodisiakapheromone
Aphrodisiaka-Pheromone stimulieren die Paarungsbereitschaft. Das Spiroacetal Olean etwa ist das Aphrodisiakapheromon der Olivenfruchtfliege (Bactrocera oleae). Nur das (R)-Enantiomer wirkt auf die Männchen, das (S)-Enantiomer ist bei ihnen unwirksam. Das Weibchen produziert das Racemat, spricht auf (R)- und (S)-Olean an und stimuliert sich damit auch selbst.
Genau umgekehrt wirken sogenannte Anti-Aphrodisiaka. Nymphen der Bettwanze schützen sich mit einem solchen Pheromon, das ein bestimmtes Mischungsverhältnis der Aldehyde (E)-2-Hexenal, (E)-2-Octenal und 4-Oxo-(E)-2-Hexenal aufweist, gegen Begattungsversuche von Bettwanzenmännchen. Dieses bohrt direkt ein Loch in den Hinterleib geschlechtsreifer weiblicher Wanzen und injiziert dort seine Spermien (traumatische Insemination). Für begattete Nymphen kann eine solche Verletzung jedoch tödlich sein.
Alarmpheromone
Einige Insektenarten geben bei einem Angriff Alarmpheromone ab. Diese lösen entweder die Flucht oder gesteigerte Aggression aus. Bei Bienen etwa sind zwei Alarmpheromon-Gemische bekannt. Eines wird durch die Koschewnikow-Drüse in der Nähe des Stachels freigesetzt und enthält mehr als 40 verschiedene Verbindungen, wie das bereits von Butler in der Wirkung beschriebene Isoamylacetat, daneben Butylacetat, 1-Hexanol, 1-Butanol, 1-Octanol, Hexylacetat, Octylacetat und 2-Nonanol. Diese Komponenten haben eine niedrige molare Masse, sind flüchtig und sind die unspezifischsten aller Pheromone. Alarmpheromone werden freigesetzt, wenn eine Biene ein anderes Tier sticht, um andere Bienen anzuziehen und zum Angriff zu verleiten. Rauch unterdrückt die Wirkung von Alarmpheromonen, was von Imkern ausgenutzt wird.
Das andere Alarmpheromon der Honigbiene enthält hauptsächlich 2-Heptanon, eine ebenfalls flüchtige Substanz, die von den Kieferdrüsen freigesetzt wird. Diese Komponente hat einen abstoßenden Effekt auf räuberische Insekten. Der Alarmpheromoncocktail der Bettwanze enthält ungesättigte Hexen- und Octenaldehyde, die in von Wanzen befallenen Zimmern als charakteristischer, süßlicher Geruch wahrgenommen werden.
Markierungs- und Dispersionspheromone
Gewisse Insekten wie die Kirschfruchtfliege markieren ihre Eiablageplätze in einer Weise, dass andere Weibchen derselben Art den Ort meiden und ihre Eier an anderen Plätzen ablegen, um unter dem Nachwuchs Konkurrenz um Nahrung zu vermeiden. Auch territoriale soziale Insekten, wie zum Beispiel Kolonien von Ameisen, markieren von ihnen beanspruchte Territorien mit Pheromonen.
Zu den Markierungspheromonen gehören die Dispersionspheromone, mit denen zum Beispiel Borkenkäfer eine Überbesiedlung eines Baumes verhindern. Die Weibchen und Nymphen der Deutschen Schabe übertragen Dispersionspheromone im direkten Kontakt über ihren Speichel. Diese dienen im Nymphenstadium der Abschreckung erwachsener Schaben und damit zum Schutz vor Kannibalismus. Bei erwachsenen Tieren verhindern sie die Übersiedlung eines Lebensraums.
Spurpheromone
Spurpheromone sind vor allem bei in Kolonien lebenden Insekten bekannt, die ihre Pfade mit schwerflüchtigen Substanzen wie höhermolekularen Kohlenwasserstoffen markieren. Vor allem Ameisen markieren oft auf diese Weise den Weg von einer Nahrungsquelle zum Nest. Solange die Nahrungsquelle besteht, wird die Spur erneuert. Beim Versiegen der Nahrungsquelle übersprühen die Ameisen das Spurpheromon mit einem abstoßenden Pheromon. Der US-amerikanische Naturforscher Charles William Beebe berichtete 1921 über das Phänomen der Ameisenmühle, das Spurpheromone bei Wanderameisen auslösen können: Werden die Tiere von der Hauptspur der Kolonie getrennt, folgen die blinden Ameisen den Pheromonspuren vor ihnen laufender Ameisen. Diese laufen in großen Kreisen bis zu vollkommener Erschöpfung oder dem Tod, ohne zur Kolonie zurückzufinden.
Rekrutierungspheromone
Rekrutierungspheromone sind als Element der chemischen Kommunikation weit verbreitet bei sozialen Insekten und wurden für Bienen, Termiten und Ameisen nachgewiesen. Diese Pheromone werden von Insekten verwendet, um andere Mitglieder der Kolonie zur Nahrungssuche bei einer Nahrungsquelle anzuregen. Hummeln führen einen dem Bienentanz ähnlichen Tanz auf, der primär zur Verteilung von Rekrutierungspheromonen dient.
Primerpheromone
In der Ordnung der Hautflügler findet sich die größte Gruppe eusozialer Insekten, darunter viele Bienen, insbesondere der Unterfamilie Apinae, Ameisen sowie einige Arten der Faltenwespen, insbesondere der Unterfamilie der Echten Wespen. Die Merkmale sind oft das Vorhandensein einer reproduktiven Königin sowie Kasten mit spezialisierten Arbeiterinnen und Soldaten. Termiten bilden die zweite große Gruppe eusozial lebender Insekten. Die Kolonien sind in verschiedene Kasten unterteilt, mit einer Königin und einem König als reproduktionsfähige Individuen, Arbeitern und Soldaten, die die Kolonie verteidigen. Primerpheromone haben einen großen Einfluss auf die Organisation der von Hautflüglern gebildeten Hymenopterenstaaten und von Termitenkolonien. Diese Pheromone beeinflussen das Hormonsystem des Empfängers; oft greifen sie über eine Signalkaskade in den Stoffwechsel ein oder aktivieren Proteine, die an die DNA binden können. Im Gegensatz zu den Releaserpheromonen sind die Primerpheromone weniger gut untersucht. So war lange Zeit nur ein Primerpheromon, das 9-ODA, bekannt.
Primerpheromone der Bienen
Ein bekanntes Beispiel für Primerpheromone sind die Bienenköniginnenpheromone. Diese Pheromone steuern das soziale Verhalten, die Instandhaltung der Waben, das Ausschwärmen und die Ausbildung der Eierstöcke der Arbeitsbienen. Bei den Komponenten handelt es sich um Carbonsäuren und aromatische Verbindungen. (E)-9-Oxo-dec-2-ensäure (9-ODA) unterdrückt beispielsweise die weitere Zucht von Königinnen und hemmt die Entwicklung der Eierstöcke von Arbeitsbienen. Es handelt sich auch um ein starkes Sexualpheromon für Drohnen auf dem Hochzeitsflug.
Bruterkennungspheromone werden von Larven und Puppen emittiert und halten Arbeiterbienen davon ab, den Stock zu verlassen, solange noch Nachwuchs zu pflegen ist. Weiterhin unterdrücken sie die Ausbildung der Eierstöcke bei den Arbeitsbienen. Die Pheromone bestehen aus einer Mischung von zehn Fettsäureestern, unter anderem Glyceryl-1,2-dioleat-3-palmitat. Arbeiterpuppen enthalten 2 bis 5, Drohnenpuppen etwa 10 und Königinnenpuppen 30 Mikrogramm des Pheromons.
Ältere, fouragierende Arbeitsbienen setzen Ölsäureethylester frei, was die Entwicklung der Ammenbienen hemmt und diese länger zur Brutpflege veranlasst. Der Ölsäureester wirkt als Primerpheromon und stabilisiert das Verhältnis von brutpflegenden und nahrungsbeschaffenden Bienen. Die Sammlerinnen produzieren es aus mit Spuren von Ethanol versetztem Nektar, den sie an die Ammenbienen verfüttern. Deren Entwicklung wird dadurch solange verzögert, bis die Zahl der älteren Sammlerinnen abnimmt und damit die Exposition der Ammenbienen mit Ölsäureethylester.
Kastendeterminierende Pheromone
Die Gelbfüßige Bodentermite nutzt Terpene wie γ-Cadinen und γ-Cadinenal als kastenstimulierende oder -hemmende Primerpheromone. Diese unterstützen das Juvenilhormon bei der Bestimmung über die Position totipotenter Arbeiter im Kastensystem. Bei Ameisen besitzen die weiblichen Larven einige Zeit Bipotentialität und damit die Möglichkeit, sich entweder als Königinnen oder Arbeiterinnen zu entwickeln. Zu einem gewissen Zeitpunkt der Larvenentwicklung bestimmt die weitere Ernährung das Schicksal der Larve. Wird der Juvenilhormon-Titer über einen bestimmten Schwellenwert gehoben, entwickeln sich Gynomorphe, ansonsten Arbeiterinnen. Die Steuerung der Larvenernährung wird über ein Primerpheromon der Ameisenkönigin gesteuert.
Anwendung
Im 19. Jahrhundert entkamen dem Entomologen Étienne Léopold Trouvelot in Massachusetts Schwammspinner, die sich bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts über die gesamten USA ausbreiteten und heute zu den am meisten gefürchteten Schädlingen zählen. Bereits 1898 unternahmen Edward Forbush und Charles Fernald Versuche, die Population des Schwammspinners durch Anlockung der Männchen in Fallen, die mit lockenden Weibchen besetzt waren, einzudämmen. Das Landwirtschaftsministerium der Vereinigten Staaten führte diese Versuche in den 1930er Jahren fort, wobei zur Attraktion männlicher Falter Extrakte weiblicher Abdominalspitzen eingesetzt wurden. Die Anwendung von Insektenpheromonen im Pflanzenschutz ist vor allem seit den ersten Synthesen intensiv untersucht worden, mit dem Ziel, umweltschonende Methoden zur Kontrolle der Populationsdynamik zu entwickeln.
Im Pflanzenschutz ist der Einsatz von Pheromonen in Lockstofffallen zur Bekämpfung von Insekten gängige Praxis. Dabei können die Insekten angelockt werden, um sie mit einem Insektizid oder physikalisch zu töten, um sie einzufangen oder zum Monitoring. Borkenkäfer werden mit Aggregationspheromonen angelockt, um sie in Fallen zu fangen. Der Lockstoff wird normalerweise beim Einbohren in das Fichtenholz freigesetzt und signalisiert, dass der Baum besiedelt werden kann. Die Borkenkäferfalle ist ein wichtiges Instrument zur Bekämpfung der Borkenkäfer. Die Verwendung von Lockstofffallen birgt jedoch das Problem, dass das Pheromon gegebenenfalls als Kairomon wirkt und somit räuberische Insekten anlockt. Durch die Reduktion der Population natürlicher Fressfeinde des Borkenkäfers wirkt die Pheromonfalle in diesem Falle kontraproduktiv. Das Monitoring mittels Lockstofffallen, etwa Fensterfallen, dient der quantitativen Erfassung von Schädlingen, um sie mit Insektiziden in Abhängigkeit von der festgestellten Aktivität gezielter zu bekämpfen. Daneben werden sie bei der Identifizierung neuer Arten eingesetzt.
Fangbäume funktionieren nach demselben Prinzip wie Lockstofffallen. Die Borkenkäfer des Erstbefalls locken durch Aggregationspheromone weitere Artgenossen an. Als Fangbäume eignet sich Sturmholz, das zur Verstärkung der Lockwirkung mit Pheromondispensern ausgestattet werden kann. Die so präparierten Bäume lenken anfliegende Borkenkäfer vom Bestand ab und binden diese an kontrollierbare Stämme. Die Verwendung von Fangbäumen erfordert eine regelmäßige Kontrolle der Bäume. Beim Auftreten von Larvengängen werden die Bäume entrindet, wobei Larven und Puppen vertrocknen. Gegebenenfalls kann der befallene Baum mit Insektiziden behandelt werden oder er wird verbrannt, um den Ausflug der nächsten Generation zu unterbinden.
Eiablageverhindernde Markierungspheromone sind in der Insektenwelt weit verbreitet. In verschiedenen Experimenten konnte die Möglichkeit einer Kontrolle der Populationsdynamik durch diese Pheromone aufgezeigt werden. Die Anwendung des eiablageverhindernden Markierungspheromons der Kirschfruchtfliegen, die sich zum Beispiel mit Gelbtafeln nicht bekämpfen lassen, reduzierte den Befall der Kirschen um 90 %.
Eine weitere Anwendung ist die Verwirrmethode oder Paarungsstörung. Dabei wird eine hohe Stoffkonzentration von künstlich hergestellten Pheromonen ausgebracht. Dadurch ist es den männlichen Tieren nicht mehr möglich, den Pheromonen der Weibchen zu folgen, wodurch die Vermehrung des Schädlings behindert wird. Die Verwirrmethode wirkt artspezifisch. Sie ist bei genügender Ausbringung von Dispensern meist erfolgreich in Bezug auf eine Art, teilweise besetzen jedoch verwandte Arten die freiwerdende ökologische Nische.
Bienen nutzen das Nasanov-Pheromon, um Arbeitsbienen zurück zum Stock zu führen. Das Pheromon enthält Terpene wie Geraniol und Citral. Imker nutzen ein künstlich hergestelltes Produkt, um Bienen zu einem ungenutzten Bienenstock zu locken. Das Verfahren eignet sich zum Fang afrikanisierter Honigbienen in Fangboxen.
Toxikologie
Toxikologische Untersuchungen wurden hauptsächlich im Zusammenhang mit der Zulassung von Pheromonfallen und -dispensern durchgeführt. Eine Gesundheitsgefährdung ist aufgrund der großen chemischen Vielfalt der Pheromone nicht allgemein zu beurteilen, wird jedoch meist ausgeschlossen, weil nur geringe Mengen emittiert werden. In höheren Dosen führen jedoch oral verabreichte Pheromone wie Cantharidin in seltenen Fällen zum Tod.
Nachweis
Die kommerzielle Anwendung im Pflanzenschutz intensivierte die Untersuchung von Pheromonen und führte zur Entwicklung hochempfindlicher Analysemethoden. Die Identifizierung eines Pheromons verläuft über mehrere Stufen. Zunächst wird ein Extrakt des Pheromons gewonnen. Dies erfolgt nach der schon von Butenandt angewandten Methode der Extraktion von Drüsen oder ganzen Tieren mit einem leicht verdampfbaren Lösungsmittel, idealerweise zum Zeitpunkt hoher Pheromonproduktion. Alternativ wird das Pheromon an Aktivkohle aus der Gasphase adsorbiert und mit wenig Lösungsmittel ein Extrakt gewonnen. Für sehr geringe Spuren eignet sich die Festphasenmikroextraktion. Zur Identifizierung werden die Extrakte beziehungsweise die Festphasenmikroextraktionsproben mittels Gaschromatographie mit Massenspektrometrie-Kopplung untersucht.
Zur Untersuchung der biologischen Aktivität von Insektenpheromonen eignet sich die Elektroantennogrammtechnik. Eine in den Antennenhauptstamm und einen Antennenast eingebrachte Elektrode misst dabei die Änderung der elektrische Spannung als Funktion der Konzentration von auf der Antenne auftreffenden Pheromonmolekülen, die durch einen Luftstrom in definierter Weise zur Antenne transportiert werden. Durch Variation des Pheromonmoleküls lässt sich der Einfluss bestimmter funktioneller Gruppen ermitteln, die mit den chiralen Elementen der Rezeptoren wechselwirken.
Die Kopplung von Gaschromatographie und Elektroantennogramm erlaubt die Überprüfung der biologischen Aktivität der in einem Extrakt vorliegenden Verbindungen. Die Form des Elektroantennogramms ist abhängig von der Duftkomponente im Luftstrom, die Amplitude steigt mit der Konzentration und der Strömungsgeschwindigkeit der Luft an.
Literatur
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R. T. Carde, A. K. Minks: Insect Pheromone Research: New Directions. Springer, 1997, ISBN 978-0-412-99611-5.
Weblinks
Einzelnachweise
Insekten
Chemikaliengruppe
Insekten als Thema |
1101361 | https://de.wikipedia.org/wiki/Fatalismus | Fatalismus | Als Fatalismus (von ‚das Schicksal betreffend‘) bezeichnet man eine Weltanschauung, der zufolge das Geschehen in Natur und Gesellschaft durch eine höhere Macht oder aufgrund logischer Notwendigkeit vorherbestimmt ist. Aus der Sicht von Fatalisten sind die Fügungen des Schicksals unausweichlich, der Wille des Menschen kann ihnen nichts entgegensetzen. Daraus ergibt sich aber nicht zwangsläufig die Folgerung, menschliche Entscheidungen und Handlungen seien bedeutungslos. Mit der Überzeugung vom eigenen Ausgeliefertsein verbindet sich im Fatalismus eine davon geprägte Gefühlslage und Lebenseinstellung, die „Schicksalsergebenheit“.
Kennzeichnend für den Fatalismus ist die Annahme einer universell wirkenden Instanz oder einer logischen Zwangsläufigkeit, die den Geschichtsverlauf ebenso wie die individuellen Schicksale von vornherein festgelegt hat. Die bestimmende Instanz kann die Vorsehung einer Gottheit sein, die den Gang der Ereignisse von Anfang an geplant und arrangiert hat, oder eine unpersönliche Macht, die im Rahmen einer kosmischen Ordnung für einen bestimmten fixierten Ablauf sorgt. Eine alternative Begründung postuliert die Gleichsetzung des Möglichen mit dem Tatsächlichen als Erfordernis der Logik. Von diesen fatalistischen Konzepten unterscheidet sich der Ansatz des „kausalen Determinismus“, der alle Ereignisse als notwendige Folgen ihrer Ursachen im Rahmen einer lückenlosen naturgesetzlichen Kausalität erklärt.
Allgemeinsprachlich versteht man unter Fatalismus in erster Linie die Bereitschaft, die angenommene Unvermeidlichkeit der schicksalhaften Abläufe zu akzeptieren. Das Spektrum fatalistischer Einstellungen reicht von einem resignierten Hinnehmen des Unabänderlichen bis zur enthusiastischen Verherrlichung der bestehenden Gegebenheiten und des sich darin heroisch behauptenden Individuums. Für die emphatische Schicksalsbejahung hat sich die von Friedrich Nietzsche geprägte lateinische Bezeichnung amor fati (‚Liebe zum Schicksal‘) eingebürgert.
In Philosophie und Theologie werden fatalistische und deterministische Lehren seit der Antike kontrovers erörtert. Philosophisch wird die Fixiertheit der Zukunft oft mit der allgemeinen Gültigkeit des Prinzips der Zweiwertigkeit begründet, wonach Aussagen über Zukünftiges zeitunabhängig entweder wahr oder unwahr sind. Dieser Ansatz wird logischer Fatalismus genannt. Eine andere Ausgangsbasis hat der religiöse Fatalismus. Er beruht auf dem Konzept der Prädestination, der göttlichen Vorherbestimmung, die aus Offenbarungsschriften oder Prophezeiungen abgeleitet wird. Historisch besonders wirkmächtige Erscheinungsformen sind die Prädestinationslehren der Stoiker, des Calvinismus und des Islams. Einen Sonderfall bildet der astrologische Fatalismus, der die Schicksalsmacht mit Gestirnkonstellationen verbindet.
Als kulturübergreifendes Phänomen zeigt sich der Fatalismus in den meist weiblichen Schicksalsgottheiten von Mythen und Traditionen des Volksglaubens. Im Sagengut und Brauchtum zahlreicher europäischer Völker ist seit der Antike der Glaube an die drei „Schicksalsfrauen“ verankert, die nach der Geburt eines Kindes dessen Geschicke festlegen, insbesondere die Lebensdauer.
Auf verbreitete Ablehnung stößt der Fatalismus ebenso wie der Determinismus wegen seiner Konsequenzen für die Ethik. Kritiker machen geltend, er lähme die Tatkraft, verneine die menschliche Autonomie und unterminiere die moralische Verantwortlichkeit.
Definition und Begriffsgeschichte
Der Schicksalsglaube zählt zwar zu den ältesten und verbreitetsten Phänomenen der Kulturgeschichte, doch gab es im Altertum noch kein eigenes Wort für die entsprechende Lebenseinstellung. Zur Bezeichnung der einschlägigen Konzepte dienten verschiedene Ausdrücke; man sprach von Notwendigkeit (griechisch ἀνάγκη anánkē, lateinisch necessitas), Vorsehung (griechisch πρόνοια prónoia, lateinisch providentia), Schicksal im Sinne von Vorherbestimmung (griechisch εἱμαρμένη heimarménē, lateinisch fatum) und Schicksal im Sinne von glücklichem oder unglücklichem Geschehen (griechisch τύχη týchē, lateinisch fortuna).
Die Ausdrücke Fatalist und – davon abgeleitet – Fatalismus wurden erst in der Frühen Neuzeit geläufig. Zwar schrieb schon im 13. Jahrhundert der mozarabische Theologe und Islamkritiker Pedro Pascual, Bischof von Jaén, eine Abhandlung „gegen die mohammedanischen Fatalisten“, doch fand diese Wortschöpfung kaum Resonanz. Erst im späten 17. Jahrhundert führte der Cambridger Philosoph Ralph Cudworth den Ausdruck fatalism in die philosophische Terminologie ein. In seiner 1678 veröffentlichten Abhandlung The True Intellectual System of the Universe wandte er sich gegen drei „Fatalismen“, bei denen es sich um falsche Hypothesen über das Universum handle. Seit 1724 ist fatalisme im Französischen belegt. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts wurde der Ausdruck ins Deutsche übernommen.
Die Terminologie von Cudworth und Gleichgesinnten entsprach keineswegs dem Selbstverständnis derjenigen, auf deren Ideen sie sich bezog. Fatalist und Fatalismus waren ursprünglich nur abwertende Kampfbegriffe, die zur Diskreditierung missliebiger Ansichten eingeführt und verbreitet wurden. Sie dienten der Polemik konservativer Kreise gegen damals umstrittene philosophische und theologische Modelle, die etablierte Vorstellungen über die menschliche Autonomie gefährdeten und dadurch revolutionär und bedrohlich wirkten. Zu den als „fatalistisch“ bekämpften Lehren zählten insbesondere die Systeme von Johannes Calvin, Thomas Hobbes und Baruch de Spinoza.
Die Ausgangsbasis der Wort- und Begriffsschöpfung bildeten das lateinische Substantiv fatum (‚Schicksal‘) und das englische und französische Adjektiv fatal, das auf das lateinische fatalis (‚das Schicksal betreffend‘, ‚schicksalhaft‘) zurückgeht. Der Etymologie nach ist fatum ‚das (von einer Gottheit) Gesagte (und damit Festgelegte)‘. Schon im klassischen Latein der Antike hatte fatalis auch die Bedeutungen verhängnisvoll und tödlich. Mit diesem negativen Bedeutungsgehalt wurde das Eigenschaftswort in die romanischen Sprachen übernommen und gelangte als Fremdwort fatal auch ins Deutsche. Der Aspekt des unabwendbaren Unheils schwingt traditionell in allen von dem lateinischen Wortstamm abgeleiteten Wörtern mit. Dieser Effekt wird noch dadurch verstärkt, dass der Ausdruck Fatalismus aus dem Arsenal polemischer Kritik stammt und daher von Anfang an negativ konnotiert war. Der abwertende Beiklang ist auch heute noch präsent: In der Alltagssprache sind mit dem Wort die Vorstellungen von Ohnmacht und Ausgeliefertsein verbunden. Fatalismus wird als Pessimismus und Erwartung eines schlechten Ausgangs aufgefasst.
Allerdings ist in der Moderne auch eine Gegenbewegung zum verbreiteten pejorativen Begriffsverständnis der Kritiker entstanden. Friedrich Nietzsche bekannte sich emphatisch zum Fatalismus. Dadurch wurde der Ausdruck ins Positive gewendet. Im wissenschaftlichen Diskurs ist eine wertneutrale Verwendung der Terminologie erwünscht.
Zur Definition des Fatalismus gehört die Abgrenzung von dem verwandten Begriff Determinismus, der die These der Determiniertheit aller Ereignisse bezeichnet und erst im späten 18. Jahrhundert belegt ist. In der Frühen Neuzeit unterschied man noch nicht zwischen fatalistischem und deterministischem Gedankengut. Verteidiger der Willensfreiheit pflegten alle Lehren, die eine bereits feststehende Zukunft beinhalten, gleichermaßen als fatalistisch zu brandmarken und zu bekämpfen. Im modernen philosophischen Diskurs hat sich jedoch die Differenzierung zwischen Fatalismus und Determinismus durchgesetzt. Allerdings werden die beiden Bezeichnungen umgangssprachlich oft wie Synonyme verwendet, und auch in wissenschaftlichen Texten wird die Trennung nicht immer konsequent durchgeführt.
Wenn von Determinismus die Rede ist, sind im weitesten Sinne alle Systeme gemeint, die davon ausgehen, dass die Zukunft nicht offen ist, sondern „determiniert“, das heißt schon immer feststehend. Nach diesem Sprachgebrauch ist Determinismus der Oberbegriff für sämtliche Modelle, die von Fixiertheit der aufeinanderfolgenden Zustände ausgehen, und fatalistischer Schicksalsglaube ist eine Variante davon oder – als Lebensüberzeugung – eine Konsequenz daraus. Daher wird der religiöse Fatalismus mitunter auch als theologischer oder metaphysischer Determinismus bezeichnet. Im engeren und geläufigeren Sinn ist mit Determinismus aber nur der „Kausaldeterminismus“ gemeint, der auf einer deterministischen Interpretation naturgesetzlicher Kausalität basiert. Dieser Ansatz geht von einem rein mechanischen Verständnis von Kausalität und Notwendigkeit aus. Man spricht daher auch von mechanistischem oder physikalischem Determinismus. Kausaldeterministen sind der Ansicht, dass durch den Zustand der Welt zu einem beliebigen Zeitpunkt zwangsläufig jeder Zustand zu einem späteren Zeitpunkt festgelegt sei. Sie werden seit der Frühen Neuzeit polemisch als Fatalisten angegriffen, obwohl ihr Weltbild keine Schicksalsvorstellung impliziert.
Den Ausgangspunkt des Fatalismus bildet die Annahme, dass künftige Ereignisse und Verhältnisse durch eine schon immer bestehende Notwendigkeit, der niemand entrinnen könne, festgelegt seien. Daran könnten keine gegenwärtigen oder künftigen Entscheidungen und Taten etwas ändern. Die Meinung, es liege in der Macht des Menschen, durch eine freie Willensentscheidung einen anderen Ausgang herbeizuführen, ist demnach eine Illusion. Diese Grundannahme teilen Fatalisten mit den Deterministen. Im Unterschied zum Determinismus kommt der Fatalismus aber ohne die Annahme aus, dass alle Kausalketten auf eine rein mechanische Ursächlichkeit zurückführbar seien, die sämtliche Abläufe einschließlich der menschlichen Willensakte in allen Einzelheiten determiniere. In einer fatalistischen Weltanschauung sind nichtmechanische – auch metaphysische – Ursachen im Prinzip möglich. Außerdem erfordern nicht alle Ausprägungen des Fatalismus eine strenge Determiniertheit jedes einzelnen Ablaufs; in manchen Modellen sind nur zentrale Ereignisse, etwa Eckpunkte der Biografie, festgelegt. In vielen Varianten des Schicksalsglaubens wird keine absolute Einflusslosigkeit des Menschen angenommen; vielmehr kann man versuchen, auf die Schicksalsmacht einzuwirken, etwa durch magische Praktiken oder religiöse Riten. Solche Konzepte sind nur bedingt, nicht im strengen Sinn, als fatalistisch zu bezeichnen, da sie eine gewisse Offenheit der Zukunft einräumen.
Voraussetzungen und Grundzüge fatalistischer Modelle
Innerhalb des Fatalismus wird zwischen zwei Ansätzen unterschieden: Der eine setzt ein metaphysisches oder religiöses Weltbild voraus, in dem einer Gottheit oder einer unpersönlich aufgefassten kosmischen Ordnungsmacht die Rolle der lenkenden Instanz zukommt. Hierzu gehören unter anderem die Theorien, die zur Begründung der Astrologie dienen. Eine stark verbreitete Variante des metaphysisch-religiösen Ansatzes ist die theologische Annahme, dass der Geschichtsverlauf und die Schicksale der einzelnen Menschen durch Gottes Vorsehung und Vorauswissen – die Prädestination – mehr oder weniger genau festgelegt seien. Das wird „theologischer Fatalismus“ genannt. Der andere Ansatz geht von der Überlegung aus, dass den zutreffenden Aussagen über Zukünftiges ein überzeitlicher Wahrheitsgehalt zukomme. Sie seien schon immer wahr, und somit sei die Vorherbestimmtheit der Zukunft ein Erfordernis der Logik. Daher spricht man von logischem Fatalismus. Daneben kommt auch die Bezeichnung logischer Determinismus vor. Hier liegt ein Grenzfall zwischen Fatalismus und Determinismus vor: Die logische Argumentation stimmt mit der kausaldeterministischen darin überein, dass sie keine metaphysische oder religiöse Vorstellung impliziert, und mit der fatalistischen darin, dass sie ohne mechanische Kausalitätskette auskommt. Letzteres ist der Grund für die Zuordnung zum Fatalismus.
Metaphysischer und religiöser Fatalismus
Bei diesem Typus des Fatalismus erscheint die ordnende und lenkende Instanz als übermenschliche Macht. In den theistischen Varianten, die einen persönlichen Gott voraussetzen, wird sie mit Gott gleichgesetzt. Manche religiöse oder philosophische Weltbilder begünstigen die fatalistische Denkweise oder erfordern sie sogar. Dies ist dann der Fall, wenn angenommen wird, dass der Kosmos nach universellen Prinzipien geordnet ist, die nicht nur die regelmäßig wiederkehrenden Naturvorgänge regeln, sondern auch einzelne Ereignisse bestimmen. Dann ist der Weg frei für die fatalistische Idee, dass das, was dem Menschen zustößt, nicht zufällig geschieht, sondern einer vorgegebenen Notwendigkeit unterliegt. In monotheistischen Systemen ergibt sich diese Notwendigkeit aus dem stets gleichbleibenden Willen des herrschenden Gottes, dessen Vorsehung den Ausgang aller menschlichen Unternehmungen von Anfang an festgelegt hat. Das wird Prädestination genannt. In polytheistischen Systemen kann sich Fatalismus entwickeln, wenn geglaubt wird, dass es eine bestimmte Gottheit oder universelle Macht gibt, die unabhängig von den Bestrebungen anderer übermenschlicher Instanzen den Verlauf des Lebens lenkt oder zumindest maßgeblich beeinflusst. Für Polytheisten liegt diese Annahme nahe, da die einzelnen Götter unterschiedliche Absichten verfolgen und daher kaum als kollektive Weltregierung fungieren können; folglich wird eine zusätzliche Instanz benötigt, die für die durchgängige Lenkung des Kosmos zuständig ist. Dabei wird der bestimmenden Instanz nicht immer ein zielgerichtetes Handeln zugeschrieben; sie kann auch als „blind“, planlos und launisch aufgefasst werden. Während manche Lehren einen Zusammenhang der Geschicke mit der moralischen Qualität der Betroffenen postulieren, bestreiten andere einen solchen Gerechtigkeitskonnex. Religionsphänomenologisch lässt sich erkennen, dass in zahlreichen Kulturen alternative Muster der Schicksalsdeutung nebeneinander bestehen (‚Tool-Box-Konstellationen‘); es werden unterschiedliche Formen der Aneignung von Schicksalserfahrungen angeboten und genutzt, ohne dass die Gegensätzlichkeit der verschiedenartigen Ansätze reflektiert wird.
In monotheistischen Religionen, die einen allwissenden Gott postulieren, stellt sich ein besonderes Problem, da sich die Allwissenheit auch als Vorauswissen auf die gesamte Zukunft beziehen muss, sodass diese als determiniert erscheint. Dadurch entsteht ein Konflikt mit der in diesen religiösen Lehren angenommenen Freiheit des Menschen, zwischen Alternativen zu wählen, und mit dem Prinzip der persönlichen Verantwortung. Das Problem besteht darin, dass alles, was gewusst wird, gleichgültig aus welcher Perspektive und auf welcher Basis, wahrheitsfixiert und determiniert sein muss.
Wenn religiöse oder philosophische Vorstellungen herrschen, die mit den Grundannahmen des Fatalismus nicht oder nur begrenzt kompatibel sind, wird seine Entstehung und Ausbreitung gehemmt. Das ist vor allem dann der Fall, wenn eine dominierende Lehre die Willensfreiheit des Menschen betont und seinen Status nach dem Tod von seinen freien Entscheidungen während seines Lebens abhängig macht. Solche Lehren stehen in einem scharfen, prinzipiellen Gegensatz zu allen fatalistischen und deterministischen Ansätzen, die ein vom menschlichen Handeln unbeeinflussbares Verhängnis postulieren. Den Trägern religiöser Dogmen erscheint die Annahme einer schicksalhaften Notwendigkeit als Bedrohung der Grundlagen der Religion, weil sie die menschliche Verantwortlichkeit relativiert oder aufhebt. Bedrohlich wirkt aus theologischer Sicht auch die Gefahr, dass die Schicksalsmacht als eigenständige Instanz neben oder sogar über Gott erscheinen kann und damit dessen Allmacht in Frage stellt. Ein markantes Beispiel für einen derartigen Konflikt ist der seit der Antike andauernde Kampf christlicher Theologen gegen die Astrologie.
Eine Entschärfung des Gegensatzes zwischen Willensfreiheit und Vorherbestimmtheit ist möglich, wenn die Zukunft als nur teilweise oder bedingt determiniert gilt. Im Unterschied zum Determinismus können fatalistische Systeme die Möglichkeit einer freien Wahl zwischen verschiedenen Handlungsoptionen zulassen, wenn angenommen wird, dass nicht alle Vorgänge, sondern nur bestimmte Ereignisse oder Resultate vorherbestimmt sind. Nach manchen Konzepten – etwa bei Orakeln und Weissagungen – kann der Mensch zwar frei entscheiden, aber die höhere Macht lenkt die Abläufe so, dass seine Entscheidung schließlich zu dem Ergebnis führt, das sie von vornherein für ihn vorgesehen hat.
Eine verbreitete Erscheinungsform des Fatalismus sind astrologische Weltbilder. Wenn die Welt als umfassend und einheitlich geordnet gilt, ist es vorstellbar, dass den Regeln der Gestirnbewegungen analoge Regeln irdischer Vorgänge entsprechen. Allerdings wird in der Astrologie die Bindung der menschlichen Schicksale an die Mechanik der himmlischen Bewegungen gewöhnlich nicht als absolut aufgefasst. Vielmehr gilt es als möglich, die eigene Zukunft durch Willensentscheidungen zumindest begrenzt zu beeinflussen, etwa nach Kenntnisnahme eines Horoskops wirksame Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Daher handelt es sich meistens nicht um Determinismus und oft auch nicht um konsequenten Fatalismus. Strittig war schon in der Antike, ob die Gestirne nur etwas anzeigen oder selbst einen bestimmenden Einfluss ausüben.
Logischer Fatalismus
Der logische Fatalismus behauptet, dass aufgrund logischer Notwendigkeit nichts anders geschehen kann als es tatsächlich geschieht. Damit wird prinzipiell die Möglichkeit verneint, dass es kontingente Ereignisse – solche, die nicht notwendigerweise eintreten müssen – geben kann. Die Debatten über diese These drehen sich um die Frage, ob widerspruchsfrei behauptet werden kann, dass Zukünftiges kontingent sei. Dabei werden kontingente künftige Ereignisse mit dem lateinischen Fachausdruck contingentia futura bezeichnet. Der logische Fatalismus, der Kontingenz ausschließt, stimmt im Ergebnis völlig mit dem kausalen Determinismus überein, gelangt aber auf anderem Weg dorthin.
Als klassisches Beispiel wird die von Aristoteles angeführte „morgige Seeschlacht“ erörtert. Das fatalistische Argument lautet: Nach dem Prinzip der Zweiwertigkeit (Bivalenz) muss jeder Aussagesatz entweder den Wahrheitswert „wahr“ oder den Wahrheitswert „falsch“ aufweisen. Nach dem Satz vom Widerspruch können zwei einander widersprechende Aussagen nicht in derselben Hinsicht und zur gleichen Zeit zutreffen. Wenn der morgige Tag zu Ende geht, wird sich entweder der Satz „An diesem Tag hat eine Seeschlacht stattgefunden“ oder die gegenteilige Feststellung „An diesem Tag hat keine Seeschlacht stattgefunden“ als wahr erwiesen haben. Da eine zutreffende Aussage über ein Ereignis eines bestimmten Tages absolut wahr ist, hängt ihre Wahrheit nicht von ihrem Zeitpunkt ab. Folglich stimmt die korrekte Zuordnung einer Schlacht zu ihrem tatsächlichen Tag nicht nur während und nach dem Kampf, sondern gleichermaßen auch schon jetzt und in der Vergangenheit. Das bedeutet: Der Aussage „Morgen wird eine Seeschlacht stattfinden“ kommt heute derselbe Wahrheitswert zu wie übermorgen dem dann ausgesprochenen Satz „Gestern fand eine Seeschlacht statt“. Also steht schon heute fest und stand schon immer fest, ob an dem betreffenden Tag gekämpft wird oder nicht. Das bedeutet: Es gibt nicht zwei Möglichkeiten, sondern von vornherein nur diejenige, die tatsächlich eintritt.
Konsequenzen für die Lebenspraxis
Die umgangssprachliche Verwendung des Begriffs Fatalismus fokussiert weniger auf eine Konzeption über die Beschaffenheit der Welt als vielmehr auf die emotionale Haltung der Schicksalsergebenheit und deren Auswirkungen auf die Lebenspraxis. Die möglichen emotionalen und lebenspraktischen Konsequenzen des Fatalismus weisen in unterschiedliche Richtungen. Negativ wirkt sich der Schicksalsglaube aus, wenn die angenommene Übermacht eines ungünstigen Schicksals eine Stimmung von Ohnmacht, Resignation und Mutlosigkeit erzeugt, die Tatkraft lähmt und zu Lethargie und Verzweiflung führt. Als willkommene Erleichterung kann hingegen erlebt werden, dass die Minderung der eigenen Verantwortlichkeit eine Rechtfertigungsstrategie ermöglicht, die das Gewissen entlastet. Mögliche positive Folgen des Glaubens an eine wohlwollende, fördernde Schicksalsmacht sind Zuversicht, Gelassenheit und Gemütsruhe.
Die Idee der Vorherbestimmung hat gravierende Folgen für die Einschätzung des Handelns, das in einem solchen Weltbild als unfrei erscheint. Das Bewusstsein der eigenen Machtlosigkeit kann zu einem „mentalen Quietismus“ führen, das heißt zum Verzicht auf die Begründung und moralische Rechtfertigung des eigenen Handelns, da dieses aus fatalistischer Sicht alternativlos ist und nicht von Entscheidungen der Person abhängt. Eine andere mögliche Konsequenz ist der praktische Quietismus, eine passive Einstellung und generelle Zurückhaltung angesichts von Herausforderungen und Entscheidungssituationen. Man scheut Bemühungen, weil man glaubt, ohnehin nichts bewirken zu können. Eine solche Stimmung und Haltung kommt vorübergehend oder dauerhaft auch bei Personen vor, die damit kein ausgeformtes fatalistisches Weltbild verbinden. Beispielsweise verfällt man vor einem unausweichlich erscheinenden Kriegsausbruch in Hoffnungslosigkeit und Passivität oder findet sich mit unheilvollen „Sachzwängen“ ab. Alltagssprachlich wird auch ein derartiges Bewusstsein der Einflusslosigkeit ohne entsprechenden weltanschaulichen Hintergrund als Fatalismus bezeichnet. Mitunter auftretende Nebenaspekte sind Pessimismus und Zynismus. Die gewohnheitsmäßige Erwartung verhängnisvoller, fataler Entwicklungen kann eine pessimistische Weltsicht erzeugen. Die distanzierte und spöttische Beurteilung des erwartungsgemäß eintretenden Unheils wird dann von der Umwelt als Zynismus wahrgenommen.
Unter lebenspraktischem Gesichtspunkt wenden Kritiker traditionell gegen den Fatalismus ein, er führe zu einer passiven, resignativen Haltung, die ethisch verwerflich und mit den Erfordernissen des Lebens unvereinbar sei. Angesichts der eigenen Machtlosigkeit schwinde der Impuls zum Entscheiden und Handeln. Überdies sei die fatalistische Position hinsichtlich der Lebenspraxis inkonsequent, denn auch ein Fatalist treffe Entscheidungen, statt alles dem Schicksal zu überlassen. Als Beispiel für fragwürdige fatalistische Untätigkeit führt Cicero den Gedankengang an, es sei für einen Kranken sinnlos, einen Arzt zu konsultieren, um Genesung herbeizuführen, denn es stehe bereits fest, ob er wieder gesund wird oder nicht. Da es unmöglich sei, den vorherbestimmten Verlauf der Krankheit zu ändern, seien alle Bemühungen um Heilung überflüssig. Diese Überlegung ist in der philosophischen Diskussion als faules Argument bekannt, wobei faul die doppelte Bedeutung von nicht stichhaltig und Faulheit rechtfertigend hat. Eine andere gängige Bezeichnung ist faule Vernunft (lateinisch ratio ignava). Aus fatalistischer oder deterministischer Sicht lässt sich der Kritik an dem „faulen“ Argument entgegenhalten, es setzte voraus, dass ein Entscheidungsträger zwischen Handeln und Nichthandeln frei wählen könne. In Wirklichkeit sei seine Entscheidung aber ebenso vorherbestimmt wie die folgenden Entwicklungen. Das menschliche Handeln sei zwar alternativlos, aber nicht folgenlos.
Eine besondere Folge des Glaubens an Vorherbestimmung ist in Glaubensrichtungen, die das menschliche Schicksal im Jenseits für prädestiniert halten, die sogenannte „Erwählungsangst“, die entsteht, wenn der Gläubige daran zweifelt, dass er zu den nach Gottes Plan Auserwählten zählt, und befürchtet, von vornherein verworfen und unwiderruflich für die Hölle bestimmt zu sein. Solche Höllenfurcht kann gravierende Auswirkungen auf das allgemeine Wohlbefinden haben.
Eine andere mögliche Konsequenz des Prädestinationsglaubens ist Mut in außergewöhnlichen Gefahren, da der Gläubige überzeugt ist, dass ihm nichts zustoßen kann, was nicht bereits von der Vorsehung verfügt ist. Eine solche Haltung wird besonders Muslimen zugeschrieben.
Ob eine fatalistische oder deterministische Weltdeutung mit dem Konzept der Willensfreiheit vereinbar sein kann, ist umstritten. Die Antwort auf diese Frage hängt von der jeweiligen Definition des Freiheitsbegriffs ab. Im modernen philosophischen Diskurs wird zwischen kompatibilistischen und inkompatibilistischen Positionen unterschieden. Kompatibilisten definieren den Freiheitsbegriff so, dass seine Anwendbarkeit auf ein determiniertes Universum gesichert ist, während Inkompatibilisten gegenteilig verfahren. Der Konflikt zwischen ihnen ist aber nicht nur terminologisch, sondern hat weitreichende Konsequenzen für die Rechts- und Moralvorstellungen. Inkompatibilismus ist tendenziell moralkritisch; er entzieht der gängigen moralischen oder rechtlichen Haftbarmachung den Boden, indem er die Freiheit eliminiert. Kompatibilisten versuchen durch Einführung eines geeigneten Freiheitsbegriffs herkömmliche Rechts- und Moralvorstellungen zu retten.
Dabei stellt sich die Frage, ob ein kompatibilistisches Freiheitsverständnis mit dem gewöhnlichen Sprachgebrauch in Einklang steht. Dies ist dann der Fall, wenn es möglich bleibt, menschliche Verrichtungen individuell zuzurechnen, also sinnvoll davon zu sprechen, dass der Mensch gehandelt hat und nicht eine äußere schicksalsbestimmende Instanz. Voraussetzung dafür ist, dass der Mensch aktiv am Geschehen beteiligt ist und die Wahl zwischen verschiedenen Alternativen hat. Kompatibilisten stehen vor der Aufgabe, das Prinzip der persönlichen Zurechenbarkeit unter der Annahme der Vorherbestimmtheit zu wahren. Einer ihrer Lösungsansätze besteht in der Einführung eines schwachen, dem gewöhnlichen Sprachgebrauch nicht entsprechenden Freiheitsbegriffs, dem zufolge Freiheit keine realen unfixierten Alternativen erfordert, sondern nur deren widerspruchsfreie Denkbarkeit oder die theoretische Existenz einer Wahlmöglichkeit ohne Fähigkeit oder Gelegenheit zur Anwendung.
Den lebenspraktischen Hintergrund dazu bildet der Umstand, dass es in einer Welt, in der alles festgelegt ist, grundsätzlich nichts zu beeinflussen und zu verändern gibt, sowohl hinsichtlich des Geschichtsablaufs als auch im Leben des Einzelnen. Daher führt ein kausaldeterministisches Weltbild in der Praxis zu derselben Problematik wie logischer oder metaphysischer Fatalismus. Wenn alles Geschehen zeitlos oder im Vorhinein festgelegt ist, sind Überlegungen und Handlungen, die darauf abzielen, etwas zu bewirken, „sinnlos“. Sie sind zwar begrifflich und logisch möglich und spielen eine kausale Rolle, aber sie sind nicht mehr das, was sie ihrem begrifflichen Sinn nach sein müssten. Der Sinnverlust ergibt sich daraus, dass es zum Sinn praktischen Überlegens und Handelns gehört, auf einen Möglichkeitsspielraum bezogen zu sein, der Alternativen bietet.
Erscheinungsformen im Altertum
Alter Orient
In den altorientalischen Kulturen bildete die Festlegung der Schicksale durch eine dafür zuständige göttliche Instanz einen zentralen Bestandteil der Interaktion zwischen Göttern und Menschen. Die Schicksalsbestimmung betraf sowohl ganze Länder und Städte sowie deren Herrscher als auch jedes einzelne Individuum – Menschen, Tiere und Pflanzen. So wird in der sumerischen Erzählung Inannas Gang in die Unterwelt berichtet, dass die Göttin Inanna das Schicksal einer Fliege bestimmte.
In der sumerischen Mythologie ist Nam-tar eine chthonische Schicksalsgottheit oder ein unterweltlicher Dämon. Der Name ist identisch mit dem Wort, das im Sumerischen Schicksal oder Schicksalsbestimmung bedeutet. Daher ist es manchmal schwierig zu entscheiden, ob der Gott oder der allgemeine Ausdruck für Schicksal gemeint ist. Ins Akkadische wurde der Name der Gottheit als Namtaru übernommen. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Personifizierung des allgemeinen menschlichen „Schicksals“, das heißt des Todes. Nam-tar wurde als Krankheitsbringer gefürchtet. Er trug den Titel lú nam-tar-tar-ra (‚der, der alle Schicksale bestimmt‘). Daneben wurde aber auch anderen Gottheiten – insbesondere dem Sonnengott – die Macht zugeschrieben, die Geschicke der Menschen festzulegen. Der akkadische Ausdruck für das Schicksal ist šīmtu, wörtlich ‚das, was festgesetzt ist‘. Nach einem babylonischen Mythos trägt der göttliche Inhaber der gesamten kosmischen Herrschergewalt an der Brust die Schicksalstafeln, die ihm die Macht zur Schicksalsbestimmung verleihen. Der Machtbesitz des Herrschergottes, der den anderen Göttern und den Menschen das Schicksal bestimmt, wurde jedoch nicht als gesichert betrachtet. Nach dem Anzu-Mythos konnten die Tafeln gestohlen werden und dann in den Besitz eines anderen Gottes gelangen, und das hatte einen Machtwechsel zur Folge.
In Mesopotamien galt das Schicksal nicht als unwiderruflich feststehend, sondern als grundsätzlich abänderbar. Es wurde zwar von einer göttlichen Autorität festgelegt, doch bereits ergangene göttliche Urteile konnten revidiert werden. Es war gängige Praxis, ein durch Vorzeichen angekündigtes ungünstiges Schicksal durch rituelle Handlungen und Gebete abzuwenden. Rituale und Gebete zur Zeit des Sonnenaufgangs dienten dem Zweck, den Sonnengott zu einer positiven Schicksalsbestimmung zu bewegen. Zwar wurde in manchen Texten – etwa im babylonischen Weltschöpfungsepos Enūma eliš – behauptet, der Ratschluss einer Gottheit sei unabänderlich, doch galt dies nach dem Volksglauben nicht für die normalen menschlichen Schicksale, die nur dann unausweichlich waren, wenn man es versäumte, die nötigen magisch-rituellen Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Die Option, das Schicksal zu ändern, wurde von den Göttern selbst angeboten. Eine über der Götterwelt stehende unerbittliche Schicksalsmacht kannten die Mesopotamier nicht.
Nach dem Glauben der Hethiter erhält der Mensch zum Zeitpunkt seiner Geburt von den Geburtsgöttinnen und den Schicksalsgöttinnen (Gulšeš) seine grundsätzliche Schicksalsbestimmung. Sie legen dann den Todestag fest, indem sie die Zahl der Lebenstage bestimmen. Nur für den König bezeugt ist die Vorstellung, dass die Schicksalsgöttinnen Ištuštaya und Papaya seine Jahre als einen langen Faden spinnen. Wahrscheinlich beschränkte sich dieser Glaube aber nicht auf den Herrscher; man nahm wohl für jeden Menschen einen von den Göttinnen gesponnenen Lebensfaden an.
Ägypten
In Ägypten fand die Idee, das Leben folge einer im Voraus unwiderruflich festgelegten Bahn, kaum Verbreitung. Die Ägypter der pharaonischen Zeit gingen davon aus, dass jeder nicht geistesschwache Mensch nach seinem Gutdünken handle und Herr seiner Beschlüsse sei. Daher sei er auch für deren Folgen verantwortlich. Zwar sei der Mensch in der Hand der Götter, aber das, was ihn zum Handeln bewege, sei kein fremder Wille, keine Kraft von außen. Eine eigenständige Schicksalsmacht neben oder über den Göttern kannten die Ägypter nicht.
Man nahm jedoch an, dass wichtige Aspekte wie Lebensdauer, Beruf und Berufserfolg schon bei der Geburt festgelegt würden. Schon für die Spätzeit des Alten Reichs im 3. Jahrtausend v. Chr. ist der fatalistische Glaube belegt, die Götter hätten manchen Menschen aus Hass schon im Mutterleib Übel zugefügt, das heißt künftiges Unheil vorbestimmt. Allerdings war die Prädestination nicht unbedingt definitiv; eine nachträgliche Verlängerung der Lebensdauer durch besondere göttliche Gnade galt als möglich.
Im Volksglauben gab es die sieben Hathoren, beschützende Geburtshelfergöttinnen, die bei der Geburt eines Kindes auftreten und seine Todesart voraussagen. Dabei blieb ein Spielraum offen; so lautet im Märchen vom verwunschenen Prinzen aus dem 13. Jahrhundert v. Chr. die Prophezeiung für einen Königssohn, sein Tod werde entweder durch ein Krokodil oder durch eine Schlange oder durch einen Hund eintreten. Man hoffte, bereits getroffene Entscheidungen der schicksalsbestimmenden Gottheit mit magischen Mitteln ändern zu können. Ein wichtiger Aspekt war schai (wörtlich ‚der Bestimmer‘), ein Begriff, der traditionell für die Lebensenergie und das Wohlergehen stand. Diese Gabe wurde dem Menschen bei der Geburt zugemessen. In der Spätzeit war Schai der positiv konnotierte Name eines selbstständig handelnden, aber den Göttern unterstellten Schicksalsbestimmers.
In der hellenistischen Zeit und der römischen Kaiserzeit galt die ägyptische Göttin Isis ihren Verehrern als die schicksalsbestimmende Instanz schlechthin, ihr Kult fand auch außerhalb Ägyptens weiteste Verbreitung. Man schrieb ihr die Fähigkeit zu, den Schicksalszwang zu brechen und ein eigentlich vorbestimmtes Unglück abzuwenden. In ihren Selbstoffenbarungen, den Isis-Aretalogien, verkündete die Göttin triumphierend: „Ich besiege das Schicksal! Das Schicksal gehorcht mir!“
Griechische und römische Mythologie und Volksreligion
Die drei Schicksalsgöttinnen
Nach der mythischen Überlieferung sind für die Vorbestimmung – in erster Linie für die Festlegung der Lebensdauer – drei Göttinnen zuständig, die in der griechischen Mythologie Moiren, in der römischen Parzen oder Tria Fata genannt werden. Seit Hesiod ist ihre Dreizahl festgelegt. Ihre griechischen Namen, die von den Römern übernommen wurden, sind Klotho, Lachesis und Atropos. Sie spinnen jedem Menschen seinen Lebensfaden und legen dessen Länge fest. Nach dem griechischen und römischen Volksglauben, der sich in Grabinschriften äußerte, sind die Moiren bzw. Parzen unerbittlich. Darin zeigt sich ein voll ausgebildeter Fatalismus. Die Unbarmherzigkeit und Ungerechtigkeit dieser Gottheiten wurde beklagt, die Parzen waren geradezu verhasst.
In der Meleagrossage verkündet die Moire Atropos nach der Geburt des Helden seiner Mutter, er werde sterben, sobald ein bereits brennendes Holzscheit vom Feuer verzehrt sei. Daraufhin löscht die Mutter das Scheit und verbirgt es. Doch später verbrennt sie es selbst, um an ihrem inzwischen erwachsenen Sohn für die Ermordung ihrer Brüder Rache zu nehmen, worauf er stirbt. Einen Sonderfall stellt die Alkestissage dar, in der es gelingt, dem Schicksal zu entrinnen. Auf Bitten des Gottes Apollon willigen die Moiren ein, den König Admetos, dem eigentlich der Tod bevorsteht, zu verschonen, falls eine Ersatzperson bereit ist, an seiner Stelle zu sterben. Darauf erklärt sich die Königin Alkestis bereit, ihr Leben zu opfern, doch auch sie kann schließlich gerettet werden.
Von vereinzelten Ausnahmen abgesehen herrschte bei Griechen und Römern die Überzeugung, die Entscheidungen der Moiren bzw. Parzen seien unumstößlich und sogar die Götter seien ihnen gegenüber machtlos. Man nahm sogar an, dass göttliche Wesen hinsichtlich ihrer Funktionen dem Befehl der drei Schicksalsbestimmerinnen unterworfen seien. Beispielsweise wiesen die Moiren der Göttin Artemis bei deren Geburt das Los zu, für die Menschen als Geburtshelferin zu fungieren. Im Allgemeinen ging man davon aus, dass bereits bei der Geburt definitive Festlegungen erfolgen; daneben gab es aber auch – vor allem im römischen Volksglauben – die Vorstellung, der Lebensfaden werde während des Lebens der Person gesponnen und somit seien nicht alle Geschehnisse von Anfang an determiniert.
Bei den Römern galt neben dem Spinnen auch das Schreiben, das schriftliche Fixieren der schicksalsbestimmenden Beschlüsse, als Aktivität der drei Parzen. Für die in dieser Funktion tätige personifizierte Schicksalsmacht wurde die Bezeichnung Fata Scribunda verwendet. Eine Variante dieser Darstellungstradition lässt die Parzen die mündlichen Entscheidungen Jupiters aufzeichnen und damit unumkehrbar machen. Nach dem römischen Volksglauben waren nicht nur die Parzen für die Schicksalsfestlegung zuständig; auch andere Götter, vor allem Jupiter, besaßen und nutzten die Macht dazu.
In der bildenden Kunst sind die Moiren/Parzen manchmal mit Spindel und Lebensfaden abgebildet. Römische bildliche Darstellungen zeigen sie mit einer Buchrolle, dem Schicksalsbuch, in dem die vorherbestimmten Ereignisse verzeichnet sind.
Weissagung
In der Mythologie war das Motiv der Ankündigung eines künftigen Unheils durch einen Orakelspruch beliebt. Der unmittelbar Betroffene oder sein Umfeld erhält eine warnende, allerdings gewöhnlich unklare Weissagung. Das so erlangte Wissen ermöglicht jedoch kein Entrinnen, auch wenn zur Abwehr Gegenmaßnahmen eingeleitet werden. Vielmehr erfüllt sich die Weissagung überraschend auf völlig unerwartete Weise. Dadurch kann im Nachhinein der Eindruck der Unausweichlichkeit entstehen: Derjenige, der Vorsichtsmaßnahmen traf, hat gerade dadurch ahnungslos das herbeigeführt, was er verhindern wollte. Als klassisches Beispiel dafür gilt die Ödipussage, die im 5. Jahrhundert v. Chr. Tragödienstoff wurde. Nach der bekanntesten Version ist der Ablauf wie folgt: Dem kinderlosen König von Theben, Laios, verkündet ein Spruch des berühmten Orakels von Delphi für den Fall, dass er einen Sohn bekommt, dass dieser ihn töten werde. Daher lässt Laios seinen neugeborenen Sohn Ödipus aussetzen. Das verlassene Kind wird aber von einem Hirten gerettet und wächst in Korinth bei Pflegeeltern auf, die Ödipus für seine leiblichen Eltern hält. Später erfährt er jedoch, dass seine Abstammung bestritten wird, und versucht sich beim Orakel Klarheit zu verschaffen. In Delphi wird ihm prophezeit, er werde seinen Vater töten. Daraufhin kehrt er nicht nach Korinth zurück, sondern schlägt den Weg nach Theben ein. Unterwegs begegnet er seinem ihm unbekannten Vater Laios. Es kommt zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung, die damit endet, dass Laios von Ödipus erschlagen wird.
Ob es sich bei der Ödipussage und ihrer Bearbeitung im Drama um ein unausweichliches, von Anfang an feststehendes Verhängnis und somit um den Ausdruck eines fatalistischen Weltbilds handelt, ist bei den modernen Interpreten umstritten. Im 19. Jahrhundert herrschte unter dem Einfluss der Romantik der Eindruck, die Sage zeige eindrücklich die Hilflosigkeit des Menschen angesichts einer absolut überlegenen Schicksalsmacht. Eine solche Konstellation sei für die griechische „Schicksalstragödie“ charakteristisch. Ödipus habe keine Chance gehabt, seinem vom Orakelspruch umrissenen Schicksal auszuweichen. Diese Sichtweise wird in der neueren Forschung kritisiert, aber auch verteidigt. Ihr widerspricht eine Forschungsrichtung, der zufolge ein neuzeitlicher romantischer Schicksalsbegriff den Weg zum Verständnis versperrt. Nach dieser Deutung gab es in der archaischen und der klassischen Epoche der griechischen Kultur, als die Ödipussage entstand und ausgestaltet wurde, noch keine Vorstellung vom Schicksal als einer eigenständigen Kraft im fatalistischen Sinn, der die Menschen hilflos ausgeliefert sind. Vielmehr entstand dieses Konzept erst im Zeitalter des Hellenismus. Demnach war die Vatertötung nicht vorherbestimmt. Laios hätte darauf verzichten können, ein Kind zu zeugen. Ödipus hätte seine Tat vermeiden können, wenn er sich nicht auf die Konfrontation mit dem Fremden eingelassen hätte. Dann hätte sich der Orakelspruch auf andere Weise – nicht buchstäblich – verwirklichen können, denn der Ausdruck Vater in der Prophezeiung konnte auch, wie meist bei Orakeln, eine Metapher sein und etwas anderes als den leiblichen Vater bezeichnen. Somit war die Zukunft zum Zeitpunkt der Orakelverkündung noch nicht determiniert.
Dass die Zukunft im Mythos nicht als streng determiniert aufgefasst wurde, zeigt ein Beispiel aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. Der Geschichtsschreiber Herodot zitiert einen Bescheid des Orakels von Delphi, in dem die Vorherbestimmung zwar als unausweichlich, aber als flexibel beschrieben wird. Das Orakel verkündete den Boten des lydischen Königs Kroisos, der sich über sein Los beklagte, nachdem er bei der Vernichtung seines Reichs in Gefangenschaft geraten war: „Auch ein Gott kann dem zugeteilten Schicksal nicht entgehen.“ Immerhin hatten die Moiren, wie das Orakel dazu mitteilte, dem Gott Apollon, der sich für Kroisos eingesetzt hatte, ein Zugeständnis gemacht: Sie hatten auf seine Intervention hin entschieden, dass das lydische Reich erst drei Jahre später als ursprünglich von ihnen vorgesehen untergehen würde. So war es dann geschehen. Somit bestanden die Schicksalsgöttinnen zwar auf der Erfüllung ihres Willens, ließen aber hinsichtlich des Zeitpunkts mit sich reden.
Eine andere Episode aus dem Leben des Kroisos, die bei Herodot überliefert ist, scheint von einem fatalistischen Weltbild zu zeugen. Ein Gott hat Kroisos durch ein Traumbild angekündigt, dass sein Sohn Atys durch eine eiserne Lanzenspitze sterben wird. Darauf trifft der König Vorsichtsmaßnahmen und lässt Atys nicht mehr an Feldzügen teilnehmen. Er erlaubt ihm jedoch die Beteiligung an einer Eberjagd. Dabei wird Atys versehentlich durch einen Lanzenwurf getötet. Der Werfer ist gerade derjenige Jäger, den Kroisos seinem Sohn als Beschützer an die Seite gestellt hat. Hier deutet das präzise Vorauswissen des Gottes über die Todesart auf ein determiniertes Schicksal. In der Forschung wird die Frage erörtert, inwieweit daraus auf eine vom göttlichen Willen bis in Einzelheiten determinierte Weltordnung geschlossen werden kann und welche Freiheit dem Menschen dabei bleibt.
Daimones und Keres
Nach dem griechischen Volksglauben gibt es noch eine weitere lenkende Instanz, den persönlichen Daimon („Dämon“) des Menschen. In der archaischen Zeit bezeichnete man mit diesem Ausdruck alle übermenschlichen Mächte, von denen man sich abhängig fühlte. Erst in nachhomerischer Zeit entwickelte sich der Daimon, der ursprünglich nur als gelegentlicher Inspirator menschlichen Handelns in Erscheinung getreten war, zu einer das ganze Leben beeinflussenden Macht. Schließlich wurde daraus ein an den individuellen Menschen gebundener Geleitdämon, der das Schicksal lenkt. Diese voll ausgebildete Form des Daimon-Glaubens war im 5. Jahrhundert v. Chr. in der griechischsprachigen Welt allgemein verbreitet. Die Vorstellung von Geistwesen, die den Menschen ständig begleiten, existierte aber schon früher. Nach dem Glauben der homerischen Zeit ist jedem Menschen ein weiblicher Todesdämon, eine Ker, von Geburt an beigesellt; sie ist die Vollstreckerin des im Voraus über ihn verhängten Todes. So erscheint in Homers Ilias dem träumenden Achilleus die Seele seines gefallenen Freundes Patroklos, die verkündet, ihn, Patroklos, habe seine Ker verschlungen. Damit habe ihn das Schicksal ereilt, das ihm schon bei seiner Geburt bestimmt gewesen sei.
Tyche
Eine Schicksalsgottheit war auch Tyche, die Personifikation des abstrakten Begriffs týchē (‚Schicksal‘, ‚Zufall‘). Sie galt als Verursacherin der Ereignisse, die den betroffenen Menschen als unberechenbar und zufällig erscheinen. Tyche wurde kultisch verehrt und ab der hellenistischen Zeit in weiten Kreisen als allmächtig betrachtet. Man schätzte sie als Glücksgöttin, fürchtete aber ihre Launenhaftigkeit. Tyche entspricht weitgehend der römischen Göttin Fortuna, die ebenfalls Glück schenkte und als unzuverlässig galt. Fortuna war dafür bekannt, dass sie ihre Gunst blind – das heißt ohne erkennbaren Grund – schenkte oder entzog. Durch ihre Sprunghaftigkeit unterschied sich Tyche/Fortuna von den Moiren/Parzen, deren Hauptmerkmal die Festigkeit der einmal gefassten Beschlüsse war.
Philosophie
Griechische Denker beschäftigten sich bereits in der Frühzeit der philosophischen Bemühungen, der Epoche der Vorsokratiker, mit der Frage der Schicksalsbestimmung. In der griechischen Klassik, die im späten 5. Jahrhundert v. Chr. einsetzte, und vor allem im Hellenismus vertiefte sich die Auseinandersetzung mit dieser Thematik. Anstoß erregte der Glaube an ein unerbittliches Schicksal wegen der damit zusammenhängenden Einschränkung oder Aufhebung der Willensfreiheit und Verantwortlichkeit. Aus gegnerischer Sicht wurde den Fatalisten vorgeworfen, die Grundlagen der Moral und der Gesetzgebung zu zerstören.
Vorsokratiker
Einzelne Vorsokratiker setzten sich kritisch mit dem im Volk verbreiteten Glauben an eine schicksalsbestimmende Macht auseinander. Im 5. Jahrhundert v. Chr. befand Heraklit: „Seine eigene Art (ἦθος ḗthos) ist dem Menschen sein Daimon.“ Damit wandte er sich gegen die Vorstellung eines persönlichen Schicksalsdaimons und wies generell den Glauben zurück, das Leben werde von äußeren göttlichen Kräften gelenkt. Nach Heraklits Überzeugung ist der Daimon, der lenkende Faktor, im Menschen selbst zu finden; er ist mit der „Art“ der Person, ihrer ethischen Qualität, gleichzusetzen. Anaxagoras († 428 v. Chr.) hielt Schicksal (heimarménē) für ein leeres Wort.
Gorgias von Leontinoi
Gorgias von Leontinoi, ein einflussreicher Denker und Redner des 5. Jahrhunderts v. Chr., befasste sich in seiner Lobrede auf Helena mit der Frage nach der Ursache für den Ehebruch der mythischen Helena. Er wies darauf hin, dass eine fatalistische Interpretation die untreue Gattin von der Verantwortung für ihr Handeln, das den Trojanischen Krieg herbeiführte, entlastet. Gorgias war – soweit bekannt – der erste Autor, der sich mit dieser ethischen Konsequenz des Fatalismus auseinandersetzte.
Platon
In Platons stark nachwirkendem Dialog Politeia, der im frühen 4. Jahrhundert v. Chr. entstand, wird das Zusammenwirken von freier Entscheidung der Individuen und kosmischer Ordnung und Notwendigkeit beschrieben. Den Rahmen dafür bildet eine vom Autor erfundene Erzählung, der Mythos des Er. Diese Geschichte veranschaulicht philosophische Inhalte durch mythische Einkleidung. Ein zeitweilig scheinbar verstorbener Krieger namens Er berichtet von den Erlebnissen seiner Seele im Jenseits während der Zeit, in der sie sich außerhalb des Leibes befand, als er scheintot war. Nach seiner Schilderung gelangen die Seelen der Toten, wenn sie zum Himmel aufsteigen, unterwegs zur „Spindel der Notwendigkeit“, einem gigantischen Instrument, das sich gleichförmig dreht und damit die Drehungen aller Himmelssphären um die Erde, den Mittelpunkt des Universums, in Gang hält. Die Göttin Ananke, die personifizierte Notwendigkeit, hält die Spindel auf ihrem Schoß. Bei ihr sind ihre Töchter, die drei weiß gekleideten Moiren. Sie singen das Geschehen: Lachesis das vergangene, Klotho das gegenwärtige und Atropos das künftige. Lachesis nimmt die Seelen, die ihren Jenseitsaufenthalt beendet haben und im Rahmen der Seelenwanderung wieder in irdische Leiber eintreten müssen, gruppenweise in Empfang. Für jede Seelengruppe steht eine große Anzahl von möglichen Rollen – künftigen Lebensumständen und Schicksalen – zur Auswahl, und für jede Seele muss eine Entscheidung darüber getroffen werden, welche Rolle sie als künftige Lebensaufgabe erhält. Die Zuteilung erfolgt durch ein Verfahren, das Verlosung und autonome Auswahl mischt. Verlost wird die Reihenfolge, in der die Seelen aus der begrenzten Menge der Lebensrollen jeweils eine für sich auswählen können. Wer das beste Los erhält, kommt zuerst an die Reihe und hat somit freie Wahl. Die vom Losglück Benachteiligten müssen mit den unattraktiveren Lebensumständen Vorlieb nehmen, die von den zuerst Aussuchenden verschmäht wurden, aber auch daraus können sie einen Erfolg machen, wenn sie sich Mühe geben. Kein Leben ist von vornherein hoffnungslos. Allerdings treffen manche Seelen eine törichte Wahl und fügen sich damit selbst schweren Schaden zu, etwa indem sie sich aus Machtgier und Leichtsinn für das von Unheil erfüllte Dasein eines Tyrannen entscheiden.
Platon legte großen Wert auf die Autonomie des Individuums. Nach seiner Lehre wählt sich jeder sein Schicksal, und die Übel, die dem Menschen begegnen, sind die zwangsläufigen Folgen seiner Fehlentscheidungen. Die Ursache falscher Entscheidungen ist die Unwissenheit, die jedoch behebbar ist. Somit trifft die göttliche Weltlenkung keine Schuld an den bestehenden Übelständen. Außerdem hängt nur die Entscheidung über die äußeren Lebensverhältnisse teilweise vom Losglück ab. Die charakterliche Beschaffenheit der Person bleibt trotz der Einwirkung äußerer Umstände im Zuständigkeitsbereich der Seele, die dafür selbst verantwortlich ist. Ihre einmal getroffene Wahl eines Lebensloses hat zwar Auswirkungen, die einer unausweichlichen Notwendigkeit folgen, doch steht dies ihrer Freiheit, künftig einen anderen Weg einzuschlagen, nicht entgegen.
Aristoteles
Aristoteles und die seiner Richtung folgenden Philosophen, die Peripatetiker, verwarfen den Fatalismus. Ihr Anliegen war die Verteidigung der Willensfreiheit und damit der Moral. Die Gegenposition, mit der sich Aristoteles auseinandersetzte, war der logische Fatalismus, für den das Mögliche zwangsläufig mit dem Tatsächlichen zusammenfällt. Zur Widerlegung dieser Gleichsetzung legte er in seiner Schrift Peri hermeneias ein Konzept vor, mit dem er die logische Möglichkeit von nicht eintretenden Ereignissen und damit die Offenheit der Zukunft retten wollte. Wie seine Argumentation zu verstehen ist, ist in der Forschung umstritten. Nach der modernen Standardinterpretation meinte Aristoteles, dass nicht schon in der Gegenwart bestimmt ist, sondern erst in der Zukunft bestimmt sein wird, welche von zwei einander widersprechenden zukunftsbezogenen Aussagen wahr und welche falsch ist. Zwar entsprechen den künftigen Ereignissen Aussagen mit einem bestimmten Wahrheitswert, doch ist gegenwärtig noch nicht festgelegt, welcher das ist. Die Standardinterpretation ist allerdings umstritten.
Megariker
Im späten 4. und frühen 3. Jahrhundert v. Chr. lebte der Philosoph Diodoros Kronos, der zur Richtung der Megariker gehörte. Die Megariker lehrten, dass nur das Wirkliche möglich sei, das heißt, dass nichts anderes geschehen könne als das, was tatsächlich geschieht. Zum Beweis dieser These formulierte Diodoros ein Argument, das als „Meisterargument“ oder „Meisterschluss“ (kyrieúōn lógos) bekannt ist und bis in die Gegenwart ein starkes Echo gefunden hat. Vermutlich reagierte Diodoros damit auf die Möglichkeitslehre des Aristoteles, der zufolge Ereignisse, die nicht tatsächlich eintreten, möglich sind. Mit seiner Beweisführung wollte Diodoros wohl zeigen, dass der aristotelische Möglichkeitsbegriff den Prinzipien von Aristoteles’ eigener Modallogik widerspreche. Allerdings ist diese Stoßrichtung nicht bewiesen.
Die Prämissen des Meisterarguments sind bekannt, doch sein Wortlaut ist nicht überliefert. Daher ist die Rekonstruktion des Gedankengangs mit Unsicherheit behaftet. Der Überlieferung zufolge behauptete Diodoros, dass die beiden Aussagen „Alles Wahre in der Vergangenheit ist notwendig“ und „Aus Möglichem folgt nichts Unmögliches“, wenn man sie miteinander kombiniert, mit der Aussage „Es gibt Mögliches, das weder wahr ist noch wahr sein wird“ unvereinbar seien. Wenn man wie Aristoteles und Diodoros die ersten beiden Sätze für wahr hält, muss man dem Meisterargument zufolge den dritten aufgeben. Das bedeutet, dass es keine Möglichkeiten geben kann, die nicht zur Verwirklichung gelangen. Das Mögliche ist dann als das zu definieren, was entweder schon wirklich ist oder künftig wirklich sein wird. Was niemals wirklich geschieht, ist unmöglich. Das Meisterargument setzt Wirklichkeit mit logischer Richtigkeit gleich. Es ist zwar logisch korrekt, aber nur auf dem Boden der modallogischen Semantik des Diodoros Kronos schlüssig.
Nach dem Verständnis der antiken Nachwelt ergibt sich aus dem Meisterargument der logische Fatalismus als Konsequenz, wenn man die Prämissen des Arguments akzeptiert und die Folgerung für schlüssig hält. Die formale Korrektheit des Schlusses wurde von den antiken Philosophen offenbar nicht angefochten. Auch die Gegner gaben die Unverträglichkeit der drei Sätze zu, sie bestritten nur, dass alle drei gültig seien. Allerdings ist unklar, ob Diodoros tatsächlich beabsichtigte, aus dem Meisterargument einen harten Fatalismus abzuleiten. Möglicherweise haben erst seine Schüler diese Konsequenz gezogen.
Ein weiteres Argument der Megariker für ihre Möglichkeitslehre lautet: „Falls du das Getreide mähen wirst, wirst du es nicht vielleicht mähen und vielleicht nicht, sondern du wirst es auf alle Fälle mähen.“ Das „Getreidemähargument“ ist erst in spätantiken Quellen überliefert.
Stoa
Die Stoa, eine der bedeutendsten philosophischen Richtungen der Antike, machte einen religiös geprägten Fatalismus zu einem Kernbestandteil ihrer Lehre. Ihr Schicksalskonzept war in ihre Kosmologie eingebettet. Die Stoiker glaubten, dass das gesamte Naturgeschehen und insbesondere das menschliche Leben einer von der Vorsehung verhängten Bestimmung unterliege. Sie fassten die bestimmende Instanz als eine göttliche, aber unpersönliche Macht auf und nannten sie – einen schon von Heraklit verwendeten Ausdruck aufgreifend – Heimarmene. Dieser Begriff erlangte in der Stoa eine zentrale Bedeutung und wurde Gegenstand einer umfangreichen Kontroversliteratur. Die Stoiker empfanden die unabänderliche Gegebenheit der Heimarmene nicht negativ als bedauerliches Ausgeliefertsein. Vielmehr forderten sie freiwillige, bewusste Bejahung der aus ihrer Sicht vernünftigen Weltordnung, die dem Menschen sein Schicksal auferlege. Dieser Entschluss sei jedem anheimgegeben. Der Weise als idealer Mensch ist nach der stoischen Lehre derjenige, der seinen Willen in völlige Übereinstimmung mit dem Walten der Schicksalsmacht bringt und daher nur das Vernünftige will. Die Betonung der göttlichen Vorsehung soll die Verantwortung des Individuums für sein Befinden nicht aufheben, denn je nachdem, ob der Mensch die Weisheit wählt oder nicht, gelingt oder misslingt sein Leben. Die moralische Haltung, die aus dem naturphilosophischen Befund der Stoa abgeleitet wird, ist keineswegs resignativ, sondern aktiv und auf Lebensmeisterung ausgerichtet.
Zwischen dem Prinzip einer umfassenden, strengen und naturnotwendigen Vorherbestimmtheit und der Forderung, man solle sich durch einen autonomen Willensakt für das tugendhafte Handeln entscheiden, bestand ein Spannungsverhältnis, das einen Ansatzpunkt für Kritik bildete. Für die stoischen Denker lag darin eine schwierige Herausforderung, da sie an ihrem Heimarmene-Konzept festhalten wollten, ohne die Eigenständigkeit des Individuums völlig zu tilgen. Beim Versuch, ihre Naturphilosophie und ihre Ethik in Einklang zu bringen, hatten sie sich mit dem Vorwurf der Unstimmigkeit, den ihre Gegner erhoben, auseinanderzusetzen.
Gegen solche Kritik setzte sich Chrysippos von Soloi, ein prominenter Wortführer der Stoa, zur Wehr. Er war Fatalist, vertrat aber eine vermittelnde Position, indem er dem menschlichen Willen eine echte Wahlmöglichkeit zubilligte. Seine Lösung des Konflikts zwischen Notwendigkeit und individueller Autonomie bestand darin, einen Sonderbereich der freien Entscheidungen als „das, was von uns abhängt“ anzunehmen und zu behaupten, dieser Bereich sei der allgemeinen Zwangsläufigkeit der Naturvorgänge entzogen. Zu diesem Zweck unterschied Chrysippos verschiedene Arten von Ursachen: Den „vollendeten“ Ursachen stehen in seinem System die „mitwirkenden“ gegenüber, den „anfänglichen“ die „letzten“, das heißt die auslösenden. Nach einer anderen Übersetzung handelt es sich um einen Gegensatz zwischen „vollkommenen Hauptursachen“ und „mithelfenden Nebenursachen“. Nur den vollendeten und den anfänglichen Ursachen – der Grundveranlagung einer Person oder der Beschaffenheit eines Objekts – wies Chrysippos zwingende Macht zu. Die auf den Menschen einwirkenden Reize der Außenwelt und seiner eigenen Triebe hingegen gelten in diesem Modell als nur mitwirkende und auslösende Ursachen. Sie sind zwar von der Heimarmene gesetzt, aber nicht zwingend. Daher verfügt die Person über die Entscheidungsmacht, einer Option ihre „Zustimmung“ zu erteilen oder zu verweigern. Sie trifft die Entscheidung gemäß ihrer individuellen Natur, also autonom. Damit ist die Verantwortung gerettet.
Die Annahme einer solchen „weichen“ Determination erzeugt allerdings ein Dilemma, dessen Brisanz Chrysippos möglicherweise nicht erkannte: Wenn die individuelle Natur, der Charakter der Person, deren Entscheidungen bestimmt, stellt sich die Frage, wovon diese Natur determiniert wird. Wenn sie von äußeren Faktoren abhängt, ist sie dem Zwang der Heimarmene völlig unterworfen, und die moralische Verantwortung erweist sich als Illusion. Wenn man jedoch die Abhängigkeit von der Außenwelt verneint oder einschränkt, um Autonomie und Verantwortung zu retten, droht ein Zirkelschluss. Dann muss angenommen werden, dass der Mensch selbst durch seine Überzeugungen, Entscheidungen und Handlungen seinen Charakter beeinflusst und insofern dessen Ursache ist. Die Argumentation erfordert jedoch, dass die individuelle Natur die Ursache der Überzeugungen, Entscheidungen und Handlungen ist.
Den logischen Fatalismus, dessen Determinationsverständnis mit einer „weichen“ Determination unvereinbar ist, verwarf Chrysippos. Er versuchte das Meisterargument des Diodoros Kronos zu widerlegen, indem er die Gültigkeit von dessen zweiter Prämisse bestritt, und entwickelte eine alternative Modallogik. Später wandten Gegner dagegen ein, sein Schicksalsverständnis widerspreche seiner Modallogik, denn diese lasse kontingente (nicht notwendige) Ereignisse zu, die das Schicksalskonzept ausschließe; somit gestatte sein System faktisch nichts von dem, was seine Modallogik ermöglichen solle.
Im 1. Jahrhundert v. Chr. verbreitete der Stoiker Poseidonios den „Gestirnfatalismus“, die Lehre, dass alles Geschehen dem Einfluss der Gestirne unterliege. Die Grundlage dafür war der Gedanke einer Weltordnung, die einen universellen Zusammenhang zwischen kosmischen Vorgängen und individuellen Schicksalen herstellt. Dieses Konzept bildete die philosophische Basis des astrologischen Fatalismus.
Eine Verbindung von Fatalismus und Lob der Tatkraft prägte die Gedankenwelt des römischen Stoikers Seneca, der von einer unerbittlichen Notwendigkeit des Vorherbestimmten ausging und zugleich das Leben als Kampf mit den von Fortuna verhängten Widrigkeiten auffasste. Fortuna steht in Senecas Weltbild für das Zufällige, Plötzliche und Verwirrende, das dem Betroffenen sinnlos scheint; das Fatum ist dem entgegengesetzt, es ist die von der Gottheit vorbestimmte Notwendigkeit des Schicksals, mit der man einverstanden sein soll. Freiheit besteht nur hinsichtlich der Wahl, dem Schicksalslauf zuzustimmen oder nicht; am Ablauf ändert sich dadurch nichts. Seneca betonte, dass man sich nicht notgedrungen mit dem Schicksal abfinden, sondern ihm willig zustimmen solle. Diese Haltung fasste er prägnant mit einem Vers des griechischen Stoikers Kleanthes zusammen, den er ins Lateinische übersetzte: „Den Willigen führt das Schicksal, den Unwilligen zieht es.“
Der stoisch gesinnte römische Kaiser Mark Aurel betonte die Forderung, das Schicksal zu lieben. Bei ihm erscheint die Heimarmene in positivem Licht, nur selten ist vom Ertragen und Leiden die Rede. Liebe zum Schicksal äußert sich als Mitarbeit an einem Geschehen, das nicht nur unabänderlich, sondern auch gut ist. Dem Schicksal gebührt freudige und dankbare Zustimmung.
Hellenistischer, kaiserzeitlicher und spätantiker Platonismus
Im Zeitalter des Hellenismus bemühten sich die „Akademiker“, die skeptischen Platoniker der „Jüngeren Akademie“, um die Widerlegung des Fatalismus. Die Hauptarbeit leistete Karneades von Kyrene, der im 2. Jahrhundert v. Chr. lange als Scholarch die Akademie leitete. Er präsentierte Argumente, die fortan den gesamten philosophischen Fatalismusdiskurs der Antike prägten. Ein beträchtlicher Teil seiner Ausführungen richtete sich gegen die Grundlagen und Methoden der Astrologie, ein anderer prangerte die Folgen des Fatalismus für Moral und Lebensführung an. Ein wichtiges Angriffsziel war die von Chrysippos entwickelte stoische Lehre von der Vorsehung und der Heimarmene. Der Vordenker der Stoa hatte versucht, die von der Schicksalsmacht bewirkte Kausalität teilweise ihres Zwangscharakters zu entkleiden, um die Entscheidungsfreiheit zu retten. Diesen Ansatz wies Karneades als unstimmig zurück.
Auch im Mittelplatonismus, der sich ab dem 1. Jahrhundert v. Chr. durchsetzte, und im Neuplatonismus, der den philosophischen Diskurs der Spätantike bestimmte, war die Ablehnung des Fatalismus einhellig. Mittel- und Neuplatoniker verwarfen die fatalistische Sichtweise, wonach eine zwingende Notwendigkeit oder die göttliche Vorsehung die Ursache von Übeln im menschlichen Leben ist. Sie sahen im Schicksal nicht eine Macht, die alle Vorgänge und Zustände von vornherein determiniert, sondern nur das kosmische Gesetz, das alle Handlungen mit ihren Folgen verbindet und jedem das zuweist, was ihm aufgrund seiner Entscheidungen und Taten zusteht. Nach diesem Verständnis bestimmt die Heimarmene nur die Gesetzmäßigkeit der möglichen Handlungsabläufe, nicht jedoch die menschlichen Entscheidungen für oder gegen einzelne Handlungen. Die unsterbliche Seele des Menschen ist eine autonome Instanz, die aufgrund ihrer Natur unabhängig von äußeren schicksalsbestimmenden Faktoren spontane Akte initiieren kann.
Eine ausführliche Darstellung und Begründung der traditionellen platonischen Position verfasste im 5. Jahrhundert der Neuplatoniker Proklos. Sein Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass das Schicksal Ursachen und Folgen verknüpft. Verknüpfen lässt sich nur räumlich und zeitlich Getrenntes, das heißt Körperliches, denn nur Körperliches unterliegt den Bedingungen von Raum und Zeit. Im Gegensatz zur immateriellen Seele, die sich selbst bewegt, ist das Materielle das von anderem Bewegte. Somit muss das, was vom Schicksal beherrscht wird, von anderem bewegt und körperlich sein. Also ist das Schicksal auf den Bereich der Natur, der materiellen Gegebenheiten, beschränkt. Es spielt sich dort ab, wo es Werden und Vergehen gibt. Keinen Einfluss hat es demnach auf das, was über Raum und Zeit steht. Das ist die intelligible Sphäre, das Reich der nur geistig erfassbaren platonischen Ideen. In dieser überzeitlichen Wirklichkeit ist die unsterbliche Seele beheimatet. Daraus folgt, dass der Mensch nur hinsichtlich seines Körpers dem Schicksal unterworfen ist. Durch seine geistige Tätigkeit kann er sich in den Bereich erheben, der über dem Schicksal steht. Er hat aber auch die Möglichkeit, dem Körper und den Affekten zu verfallen und sich damit durch einen Willensakt dem Schicksal auszuliefern.
Im 6. Jahrhundert baute Boethius das Fatum in sein philosophisches Weltbild ein, in dem er platonisches und christliches Gedankengut verband. In seinem Hauptwerk Der Trost der Philosophie gehört die Unbeständigkeit der Glücks- und Schicksalsgöttin Fortuna zum Kernthema. Zur Klärung der Frage nach den menschlichen Geschicken, nach Vorbestimmung und Willensfreiheit erläutert die personifizierte Philosophie im Dialog mit dem Autor die Begriffe Vorsehung und Schicksal. Sie definiert die Vorsehung als die göttliche Vernunft, die alles ordnet, und das Fatum als die den beweglichen Dingen innewohnende planmäßige Anlage, durch welche die Vorsehung alles ordnungsgemäß zusammenbindet. Die Schicksalsordnung (ordo fatalis) geht aus der Einfachheit der Vorsehung hervor. Alles, was dem Schicksal untersteht, ist auch der Vorsehung unterworfen, aber einiges, was der Vorsehung unterstellt ist, überragt die Schicksalsordnung. Das ist das, was der Gottheit nahe und beständig ist und so über die Beweglichkeit der Schicksalsordnung hinausgeht. Das Fatum ist die Instanz, von der die relativ gottfernen Bereiche gelenkt werden; je näher der Mensch zu Gott hinstrebt, desto freier wird er vom Fatum, und wenn es ihm gelingt, sich in der Festigkeit des göttlichen Geistes zu verankern, unterliegt er dem Schicksalszwang nicht mehr. Alles, was geschieht, wird von Ursachenverknüpfungen hervorgebracht. Somit gibt es keinen Zufall. In dem Dialog beschreibt Boethius ausführlich die fatalistische Position, der zufolge das göttliche Vorauswissen die menschliche Willensfreiheit und Verantwortung vernichtet. Darauf antwortet die Philosophie mit einer eingehenden Widerlegung. Nach ihren Worten ist das Zukünftige nur dann notwendig, wenn es auf die göttliche Erkenntnis bezogen wird, nicht aber, wenn es nach seiner eigenen Natur abgewogen wird. Für Gott handelt es sich nicht um das Vorherwissen einer Zukunft, sondern um Kenntnis einer niemals versagenden Gegenwart (instantia). Gottes Ewigkeit umfasst alle Zeit als Gegenwart und sein Wissen alles Geschehen als gegenwärtig. Was in der Vorsehung simultan gegeben ist, entfaltet sich in der Zeit als Schicksal. Die Gegenwart der Gesamtheit der Ereignisse bei Gott geht nicht aus dem Vorrat der Zukunft hervor, sondern aus der Einfachheit von Gottes eigener Natur. Das, was gewusst wird, wird nicht aus einer ihm innewohnenden Kraft und aus seiner Natur erkannt, sondern gemäß der Fähigkeit des Erkennenden. Wie das menschliche Betrachten eines Ereignisses diesem keine Notwendigkeit verleiht, so macht auch Gottes Wissen das, was er weiß, nicht notwendig. Ungeklärt bleibt bei diesen Ausführungen allerdings die Frage, wie man sich die Vereinbarkeit von Vorherbestimmung und Willensfreiheit im Kausalzusammenhang zu denken hat.
Epikureer und Kyniker
Epikur und die Epikureer verteidigten die Willensfreiheit, auf die sie großes Gewicht legten, und bekämpften den Fatalismus. Zwar lehnte Epikur die Vorstellung einer Interaktion zwischen Göttern und Menschen entschieden ab, aber das stoische Schicksalskonzept fand er noch schlimmer. Daher äußerte er die Meinung, es sei besser, sich an die Göttermythen zu halten, als sich der Heimarmene zu ergeben, denn der Volksglaube biete immerhin die Aussicht, die Götter gnädig zu stimmen, während im Fatalismus eine unerbittliche Notwendigkeit herrsche. Das „Meisterargument“ des Diodoros Kronos versuchte Epikur zu entkräften, indem er die Allgemeingültigkeit des Prinzips der Zweiwertigkeit bestritt. Die kaiserzeitlichen Epikureer Diogenes von Oinoanda und Diogenianos setzten die antifatalistische Polemik fort.
Auch die Kyniker lehnten den Fatalismus ab. Sie betrachteten den Menschen als Herrn seines Schicksals und bestritten, dass er einer metaphysischen Macht unterstehe. Dabei tat sich – wohl im 2. Jahrhundert – Oinomaos von Gadara hervor, der die Willensfreiheit verteidigte und in seiner Schwindlerentlarvung das fatalistische Modell der Stoa zu widerlegen versuchte. Den gemäßigten Fatalismus des Chrysippos verspottete er mit der Bemerkung, dieser Stoiker habe den Menschen zum „Halbsklaven“ gemacht.
Cicero
Cicero war stark vom Gedankengut der antifatalistischen Jüngeren Akademie beeinflusst. In seiner teilweise verlorenen, im Jahr 44 v. Chr. verfassten Schrift Über das Schicksal bemühte er sich um die Widerlegung des stoischen Fatalismus. Er präsentierte und diskutierte die einschlägigen Argumente der hellenistischen Philosophenschulen. Seine Abhandlung ist die ausführlichste heute bekannte Darstellung der Fatumsdiskussion in der Epoche des Hellenismus. Die Argumentation Ciceros fußt letztlich auf der des Karneades. In der Fähigkeit des Menschen, angeborene Schwächen und Fehler zu bekämpfen, sah Cicero einen schlagenden Beweis für den gewissermaßen außernatürlichen Charakter des Willens, das heißt für dessen Unabhängigkeit vom Zwang der äußeren determinierenden Faktoren, die sonst überall im Kosmos herrschen. Dem logischen Fatalismus begegnete er mit der Überlegung, nur die Wahrheit oder Falschheit eines Satzes sei determiniert, nicht jedoch die Faktizität eines Ereignisses. In der Logik werde nur klassifiziert und nicht etwas über das notwendige Eintreten oder Nichteintreten von Ereignissen ausgesagt.
Alexander von Aphrodisias
Alexander von Aphrodisias, der namhafteste Peripatetiker der römischen Kaiserzeit, verfasste eine Schrift Über das Schicksal, in der er ausführlich gegen den stoischen Fatalismus polemisierte. Er räumte ein, dass eine schicksalhafte Kausalität einen bestimmenden Einfluss auf die physischen Vorgänge ausübe, doch er bestritt, dass die von den Stoikern postulierte naturgegebene Schicksalsmacht, die Heimarmene, alle Geschehnisse zwingend festlege. Vielmehr sei die Heimarmene nur eine Ursache neben anderen und nicht immer der maßgebliche Faktor. Freie Entscheidungen des Menschen seien ihr entzogen. Wer wie die Fatalisten dies nicht anerkenne, der hebe das auf, was die Besonderheit der menschlichen Natur ausmache. Die Vorstellung einer umfassenden Vorsehung lehnte Alexander gemäß der traditionellen Position der peripatetischen Schule ab.
Astrologie
Im Zeitalter des Hellenismus verband sich der stoische Schicksalsgedanke mit der astrologischen Spekulation, die im Seleukidenreich blühte und den Volksglauben im Vorderen Orient durchdrang. Die stoische Lehre bot die Basis für eine Theorie des astrologischen Fatalismus. Dieser verbreitete sich vom Orient her in den lateinischsprachigen Westen des Römischen Reichs. Besonders die populären orientalischen Mysterienkulte nahmen das fatalistische Gedankengut der Astrologie auf und verschafften ihm eine bedeutende Breitenwirkung.
Astrologen der römischen Kaiserzeit setzten sich mit der Frage auseinander, inwieweit die Ereignisse durch Vorgaben der Schicksalsmacht determiniert sind und der Mensch somit einem Verhängnis ausgeliefert ist. Darüber gingen die Meinungen auseinander. Der im 2. Jahrhundert tätige Astrologe Vettius Valens bekannte sich zu einer umfassenden, auch die Götter einschließenden Vorherbestimmung. Er bejahte die Abhängigkeit von den Gestirneinflüssen emphatisch und pries den mit freudiger Zustimmung zum Unvermeidlichen verbundenen Fatalismus, der zu heiterer Gemütsruhe verhelfe. Die einsichtigen Menschen nannte er „Soldaten der Heimarmene“. Sein berühmter Zeitgenosse Ptolemaios unterschied zwischen einer absolut zwingenden göttlichen Heimarmene und einer physischen, die keine totale Herrschaft ausübe. Die göttliche ordne das kosmische Geschehen, die physische lenke das menschliche Leben.
Bei den Philosophen – mit Ausnahme der Stoiker – stieß der astrologische Fatalismus auf scharfen Widerspruch, seine ethischen Folgen erschienen ihnen als unannehmbar. Der von Karneades initiierte Kampf gegen diese Variante des Vorherbestimmungsglaubens wurde in einer umfangreichen, heute zum Teil verlorenen Literatur fortgesetzt. Zu den Autoren, die sich auf diesem Feld engagierten, zählten Philon von Alexandria, Favorinus, Sextus Empiricus und Plotin.
Literarische Gestaltungen
Griechische Literatur
In der homerischen Dichtung erscheint die Moira – gewöhnlich im Singular – als eine unbestimmte Schicksalsmacht, gegen die sogar die Götter nichts ausrichten können. Allerdings fehlt eine Abgrenzung der Zuständigkeiten und Klärung der Machtverhältnisse zwischen Moira und dem Weltlenker Zeus; dazu werden unterschiedliche Sichtweisen geltend gemacht, die Angaben über das Verhältnis der beiden Instanzen sind widerspruchsvoll. In der Ilias bemerkt die Göttin Hera in einer Götterversammlung, ihr Schützling Achilleus werde künftig erleiden, „was alles das Schicksal ihm bei seiner Geburt zugesponnen hat mit dem Garn“. Ebenso führt die trojanische Königin Hekabe den Tod ihres gefallenen Sohnes auf das Schicksalsgeflecht zurück, das bei seiner Geburt gesponnen wurde. Der Held Hektor bekennt sich zu einer ausgeprägt fatalistischen Haltung, aus der sich Trost schöpfen lässt. Bevor er in den Kampf zieht, versichert er seiner besorgten Gattin: „Gegen das Schicksal wird keiner mich hinab zum Hades senden. Doch dem Verhängnis entrann wohl nie einer der Sterblichen, edel oder gering, nachdem er einmal gezeugt wurde.“
Hesiod machte in seiner Theogonie die Moiren zu Töchtern des Weltherrschers Zeus, dem er sie damit eindeutig unterordnete. Er beschrieb sie als die Spenderinnen von Glück und Unglück, stellte aber auch fest, dass es Zeus gewesen sei, der ihnen die höchste Ehrenstellung verliehen habe.
In berühmten Tragödien der griechischen Klassik stellt das Spannungsverhältnis zwischen dem von der Götterwelt bewirkten Verhängnis und dem menschlichen Willen ein zentrales Element dar. Bei Aischylos bilden diese beiden Faktoren ein dichtes, untrennbares Gewebe. In den modernen Aischylosinterpretationen wird bei der Analyse von Entscheidungssituationen teils die Bedeutung der persönlichen, verantwortlichen Entscheidung, teils der Zwang eines unabwendbaren Schicksals in den Vordergrund gestellt. Schicksalsmäßige Notwendigkeit setzt dem freien Wählen enge Grenzen. Die Abgrenzung von schicksalhaftem Zwang und persönlicher Wahl ist nicht in jedem Fall leicht. Es gibt ausweglose Lagen, in denen jeder Weg zu Unheil führt. Auch bei Sophokles tritt die Spannung zwischen Götterfügung und freiem Handeln eindrucksvoll hervor, wobei das göttliche Walten als undurchdringlich erscheint; aus der Sicht des Dichters hat der Mensch das unbegreifliche Geschick, das über ihn verhängt ist, gläubig hinzunehmen. In der sophokleischen Tragödie schafft das gottgesandte Schicksal Situationen, in denen der Reichtum und die Tiefe der menschlichen Seele sichtbar werden.
In der Tragödie Der gefesselte Prometheus, die traditionell – möglicherweise zu Unrecht – Aischylos zugeschrieben wird, stellt sich die Frage, ob sogar der Göttervater Zeus der Gewalt der Moiren unterworfen ist. Der rebellische Titan Prometheus ist überzeugt, dass auch Zeus dem Los nicht entkommen kann, das die Moiren ihm zugeteilt haben. Ihnen gegenüber ist Zeus „der Schwächere“.
Eine konsequent fatalistische Position vertritt in Sophokles’ Tragödie Antigone der Chor, der es für sinnlos erklärt, eine Fügung zu erbitten, denn niemand könne dem ihm vorbestimmten Schicksal entrinnen. Der Tragödiendichter Euripides ließ in seinem Drama Die Phoinikierinnen Ödipus ausrufen: „O Moire, wie du mich vom Anfang meines Lebens an zum Unglück schufst!“ Euripides selbst war jedoch kaum fatalistisch gesinnt.
In der „Neuen Komödie“ der hellenistischen Zeit machte sich eine extrem fatalistische Weltsicht geltend, die dem damaligen Zeitgeist entsprach. In den von solchem Gedankengut geprägten Stücken verfügt die launische Tyche als Göttin und Herrscherin über weitesten Spielraum, menschliche Überlegungen können ihrer Macht nichts entgegensetzen. Insbesondere der namhafte Komödiendichter Menander huldigte dieser Ansicht. Bei ihm ist die Tyche blind, unbeeinflussbar, unberechenbar und unbegreiflich. Sie handelt rücksichtslos und ohne Vernunft. Ähnlich wurde Tyche von den athenischen Volksrednern eingeschätzt, deren Schicksalsglaube den ihres Publikums spiegelte.
Im 2. Jahrhundert verspottete der Satiriker Lukian von Samosata den Schicksalsglauben. In seinen Totengesprächen spricht der mythische Unterweltrichter Minos einen Straßenräuber frei, der geltend gemacht hat, er habe nicht eigenmächtig gehandelt, sondern nur einen Beschluss der Moire Klotho vollzogen. Lukians Dialog Der überwiesene Zeus nimmt die Heimarmene aufs Korn. In diesem Zwiegespräch wird der Göttervater Zeus von einem kynischen Spötter in die Enge getrieben. Er gibt zu, dass die Götter den Moiren untergeordnet sind. Somit ist alles vorherbestimmt, und Zeus kann der Folgerung nicht entgehen, dass Opfer und Bittgebete sinnlos sind, da sie nichts bewirken können. Überdies gebührt den Göttern keine Verehrung, da sie nur Handlanger der Moiren sind.
Das Weltbild der kaiserzeitlichen griechischen Romanliteratur ist von einem konsequenten Fatalismus bestimmt. Hier tragen die Menschen für ihre Taten – auch für Verbrechen – keine Verantwortung, vielmehr sind die Götter und Dämonen und vor allem die Schicksalsgottheit Tyche verantwortlich. In dem Liebesroman Leukippe und Kleitophon schildert Achilleus Tatios die Abenteuer eines Liebespaars, dessen Standhaftigkeit sich in der harten „Schule der Tyche“ zu bewähren hat.
Römische Literatur
Im 1. Jahrhundert v. Chr. nahm der epikureische Dichter Lukrez den Schicksalsglauben aufs Korn, wobei er sich auf die seines Erachtens evidente Autonomie des Willens berief.
In einem Gedicht Catulls ist der Gesang der Parzen wiedergegeben, die Geburt und Taten des Helden Achilleus vorhersagen und singend seinen Lebensfaden spinnen.
Für die römischen Dichter der augusteischen Zeit war die Vorherbestimmung eine feststehende Tatsache. Eine zentrale Rolle spielt das Fatum in Vergils Epos Aeneis, wo es sich nach dem Willen Jupiters vollzieht; das Ziel der Geschichte ist durch alle Verwicklungen seit dem Untergang Trojas hindurch die Gründung des Römischen Reichs, die schon immer von der Vorsehung geplant war. Die berühmte Prophezeiung eines neuen Goldenen Zeitalters in Vergils vierter Ekloge wird als Spruch der Parzen dargestellt. Horaz stellte die Schicksalsmacht über Jupiter, den „Vater der Menschheit“, indem er den göttlichen Weltherrscher daran erinnerte, dass das Fatum ihm das Wohl des regierenden Kaisers Augustus anvertraut habe. Tibull stellte fest, kein Gott könne die Fäden der Parzen zerreißen. Auch Ovid griff das Motiv der Unabänderlichkeit des Vorherbestimmten auf. Nach seiner Schilderung versuchte die Göttin Venus vergeblich, den bevorstehenden Mord an Caesar zu verhindern. Jupiter erklärte ihr, das Fatum sei unüberwindlich, der unabänderliche Spruch der Parzen sei im Weltarchiv auf riesigen Tafeln „sicher und ewig“ verzeichnet.
Der Dichter und Astrologe Manilius, der im frühen 1. Jahrhundert das Lehrgedicht Astronomica verfasste, vertrat auf der Basis seines stoischen Weltbilds einen konsequenten Fatalismus. Er formulierte den Grundsatz „Die Gestirne regieren den Erdkreis“. In Auseinandersetzung mit dem epikureischen Freiheitskonzept propagierte Manilius das gegenteilige: Erlösung von den Sorgen durch Anerkennung der Allmacht des Fatums.
Im 1. Jahrhundert erscheint bei dem Epiker Silius Italicus Jupiter als Schicksalslenker, doch an einer Stelle seines Epos Punica wird den Parzen eine übergeordnete Gewalt eingeräumt: Die Göttin Juno bekundet im Gespräch mit ihrem Gatten Jupiter, dass sie sich den Fäden, die die Parzen spinnen, beugt, wenngleich sie einen anderen Ausgang des Zweiten Punischen Krieges wünschen würde.
Der Dichter Statius, ein Zeitgenosse des Silius Italicus, war ein rigoroser Fatalist. In seiner Thebais, einem in Antike und Mittelalter stark nachwirkenden Epos, sind Fatum und Götter weder wohlwollend noch gerecht und vernünftig. Vielmehr steuern sie die Vorgänge willkürlich, und das Fatum erscheint als böswillig. Die Menschen sind den höheren Mächten ausgeliefert und handeln als deren Werkzeuge. Allerdings meinte Statius, es sei möglich, die Parzen zu beeinflussen und dadurch das Leben von Sterblichen über die vorbestimmte Spanne hinaus zu verlängern.
In dem Roman Metamorphosen des Apuleius erleidet der Held schwere Schicksalsschläge, wird aber schließlich durch die Gnade der allmächtigen Göttin Isis aus seiner Not befreit. Isis steht über der Schicksalsmacht und kann das über eine Person verhängte Unglück abwenden. Insbesondere verfügt sie über die Macht, den Tod ungeachtet der Vorherbestimmung hinauszuschieben. Sie dreht die Fäden des Schicksals wieder auf. Mit dieser verherrlichenden Darstellung des Waltens der Göttin griff Apuleius im 2. Jahrhundert eine Vorstellung auf, die unter den Verehrern der Isis schon seit der hellenistischen Zeit verbreitet war, und gab ihr eine eindrucksvolle literarische Gestalt.
Noch in der Spätantike bot im längst christianisierten Weströmischen Reich die Parzenmacht Stoff für eine dichterische Gestaltung. Als es dem Staatsmann und Feldherrn Stilicho gelang, den Konsulat für das Jahr 400 zu übernehmen, verfasste der Panegyriker Claudian drei Gedichte zur Verherrlichung des erfolgreichen Politikers, der sein Gönner war. Im zweiten Gedicht schenkt die Göttin Roma Stilicho eine Toga, die sie selbst gemeinsam mit Minerva gewoben hat und auf der Szenen aus seinem Leben mit einem Goldfaden eingestickt sind. Es ist der Faden, mit dem die Parze Lachesis das bevorstehende Goldene Zeitalter gesponnen hat, das dank Stilichos Taten anbrechen soll.
Religiöse Lehren im Römischen Reich
Christliche großkirchliche Theologie
Die christliche Großkirche bestritt vehement, dass der Mensch einem unausweichlichen Schicksal ausgeliefert sei, für das er nicht verantwortlich sei. Kirchliche Autoren der patristischen Epoche waren der Meinung, der Begriff Heimarmene/Fatum habe kein Korrelat in der Wirklichkeit, er drücke nur einen Aberglauben aus. Suspekt war das Fatum den Kirchenvätern insbesondere wegen seiner gängigen Verbindung mit der Astrologie, denn eine Abhängigkeit des Menschen von den Gestirnen war mit ihrem Weltbild unvereinbar.
Justin der Märtyrer, ein Apologet des 2. Jahrhunderts, eröffnete den Kampf gegen den Schicksalsglauben. Der namhafteste Vordenker der christlichen Fatalismuskritik war der Kirchenschriftsteller Origenes. Der spätantike Kirchenvater Johannes Chrysostomos lehrte, dass jedem, der auf die Heimarmene achtet, die Hölle sicher sei. Mit der Ablehnung des stoischen Fatalismus und des kausalen Determinismus wandten sich die Theologen gegen Konzepte, die mit ihrer Lehre von der uneingeschränkten Weltlenkung durch den biblischen Gott konkurrierten. Dabei bedienten sie sich der Argumente, die sie dem antifatalistischen Schrifttum der Peripatetiker und Platoniker entnehmen konnten. Im Vordergrund stand die moralische Argumentation.
Einerseits musste aus theologischer Sicht die Willensfreiheit gerettet werden, andererseits hielten die Kirchenväter zugleich strikt am Prinzip von Gottes Vorauswissen fest, was auf die Annahme einer bereits determinierten Zukunft hinauslief. Der spätantike Kirchenvater Hieronymus machte sich sogar die Überzeugung der logischen Fatalisten zu eigen, dass es keine zukünftigen Möglichkeiten gibt, die für immer unrealisiert bleiben.
Der Kirchenvater Augustinus meinte, der Ausdruck Fatum gehöre eigentlich nicht in den Wortschatz von Christen. Für ihn war das Wort durch die Vorstellung eines blinden, von Gottes Willen unabhängigen Schicksals vorbelastet. Allerdings glaubte er wie alle antiken Theologen, dass der Geschichtsverlauf vorherbestimmt sei und vom Willen Gottes gelenkt werde und dass Gott auch beständig in die menschlichen Geschicke eingreife. Aus dieser Perspektive konnte aus der Sicht des Kirchenvaters das Fatum als Ausdruck der göttlichen Vorsehung gedeutet werden. Gemeint war dann der „Ausspruch Gottes“ im Sinne der etymologischen Ableitung von fari (‚sprechen‘). Unter diesem Gesichtspunkt fand Augustinus das Wort akzeptabel.
Ungeachtet seiner Ablehnung des paganen Fatalismus führte Augustinus selbst ein fatalistisches Element in seine Theologie ein, indem er lehrte, dass Gott einige wenige Menschen zum ewigen Heil und die überwiegende Mehrheit zum ewigen Tod prädestiniert habe. Dieser Wille Gottes sei unwiderstehlich und der menschliche Wille demgegenüber irrelevant.
Gnosis, christlicher Volksglaube und Sondergruppen im Christentum
Die antiken Gnostiker führten die vielfältigen Übel, denen das menschliche Dasein ausgesetzt ist, auf das Wirken der „Archonten“ zurück, böswilliger Mächte, die das Universum beherrschten und die Menschen versklavt hätten. In scharfem Gegensatz zu den vorherrschenden philosophischen und religiösen Lehren, die von einer wohlwollenden Weltlenkung und sinnvollen Weltordnung ausgingen, hielten die Gnostiker die machthabende Instanz – den oder die Schöpfer und Lenker der Welt – für dämonisch und tyrannisch und den Kosmos für ein Gefängnis. Nach ihren Lehren ist der gefangene Mensch auf der Erde physisch durch das Naturgesetz geknechtet, psychisch durch religiöse Vorschriften. Unter Heimarmene oder Fatum verstanden die Gnostiker die despotische Weltherrschaft der Archonten, der die Gefangenen ausgeliefert seien. Dieses Schicksal betrachteten sie aber nicht als unausweichlich im fatalistischen Sinn. Das irdische Elend ist der gnostischen Weltdeutung zufolge das Resultat einer freien Entscheidung derjenigen, die sich freiwillig in die materielle Welt begeben haben und seither der Heimarmene unterworfen sind. Dieser fatale Schritt kann aber rückgängig gemacht werden. Man kann sich aus der Sklaverei der Heimarmene befreien, wenn man sich das gnostische Erlösungswissen aneignet. Dann ist es möglich, aus dem Gefängnis auszubrechen und den Weg in ein jenseitiges Reich der Freiheit zu finden. Dort hat das Verhängnis, das die irdischen Verhältnisse und Schicksale bestimmt, keine Geltung.
Zahlreiche antike Christen akzeptierten zwar die Vorstellung einer unheilvollen Schicksalsmacht, hielten sich selbst aber für Angehörige einer Elite, die schon während des irdischen Daseins dem Fatum nicht unterworfen sei. Sie meinten, dank ihrer Rechtgläubigkeit über den Schicksalszwang, der das Dasein der „Heiden“ beherrsche, erhaben zu sein, da Christus sie davon erlöst habe. Derartige Ideen waren bei christlichen Gnostikern und in anderen „häretischen“ Gruppen verbreitet und fanden im 2. Jahrhundert auch innerhalb der Großkirche viel Anklang. Ein namhafter Anhänger dieses Glaubens war Tatian. Mit großem Nachdruck propagierte Theodotus von Byzanz das Konzept einer nur über die Ungläubigen herrschenden, astrologisch fassbaren Heimarmene, deren Macht von der Taufe gebrochen werde.
Nach der Lehre des außerkirchlichen christlichen Philosophen Bardesanes gibt es drei determinierende Faktoren: die Natur, das Schicksal (syrisch helqā) und den freien Willen, der die ethischen Entscheidungen trifft. Die Schicksalsmacht bestimmt über die äußeren Güter und Übel wie Gesundheit und Krankheit, Reichtum und Armut. Eigentlich ist das Schicksal eine Einrichtung des Schöpfers, doch es wird von den Geistwesen, die es in seinem Auftrag verwalten, zum Teil auf schädliche Weise gelenkt.
Pagane Erlösungslehren
Im kaiserzeitlichen und spätantiken Volksglauben war die Auffassung verbreitet, dass die Schicksalsmacht tyrannisch herrsche und dass es für den Menschen darauf ankomme, ihr zu entrinnen. Dafür wurden religiöse Erlösungswege angeboten. Deren Verkünder stellten die eigene Gemeinschaft als Elite dar, die sich über den Schicksalszwang erheben könne, während die Masse der Willkür der Heimarmene ausgeliefert bleibe. Solche Vorstellungen fanden vor allem bei den Anhängern des Isiskults Resonanz. Auch die Chaldäischen Orakel, ein stark rezipiertes religiöses Lehrgedicht – oder eine Sammlung von Gedichten – aus der Kaiserzeit, verbreiteten derartiges Gedankengut. Der Verfasser dieses nur fragmentarisch überlieferten Werks bewertete die Heimarmene negativ und riet, man solle sich ihr nicht zuwenden, sondern sich von ihr emanzipieren. In diese Richtung weisen seine Ratschläge „Betrachte nicht die Natur, ihr Name ist Schicksal“ und „Füge dem Schicksal nichts hinzu“. Als Mittel zur Befreiung vom Zwang des Schicksals empfahl er die Theurgie, das Zusammenwirken mit hilfreichen göttlichen Wesen, an die man sich wenden könne. Wer sich der Theurgie widme, der kehre nicht zur Schar derer zurück, die dem Schicksal unterworfen seien.
Außerdem traten Magier auf, die behaupteten, durch Zauber die Macht der Heimarmene brechen zu können. Sie fanden beträchtlichen Anhang.
In einem orphischen Hymnus wendet sich der unbekannte Autor an die „unerforschlichen Moiren“, die er als „liebe Kinder der dunklen Nacht“ anredet, und rühmt an ihnen, dass sie den Sterblichen „den Zwang der Notwendigkeit nehmen“. Hier erscheinen die Schicksalsfrauen somit als wohlwollende Göttinnen, die den Bitten ihrer Verehrer zugänglich sind.
Germanen, Kelten, Etrusker
Inwieweit bei den Germanen des Altertums der Glaube an ein unergründliches und unerbittliches Schicksal verbreitet war, ist unklar. Die ältere Forschung sah in einem solchen Fatalismus ein besonderes Merkmal der altgermanischen Weltdeutung. In neuerer Zeit bestehen aber starke Zweifel daran, dass die in mittelalterlichen Quellen bezeugte Vorstellung einer unpersönlichen, über den Göttern stehenden schicksalslenkenden Instanz eine germanische Wurzel hat. Es wird auf Beeinflussung der darüber berichtenden Quellen durch antikes und christliches Gedankengut hingewiesen.
Bei den Kelten im Römischen Reich gab es sowohl im Gebiet der Belger als auch in Britannien einen Kult einheimischer mütterlicher Göttinnen, die als Schicksalsbestimmerinnen betrachtet und mit den römischen Parzen gleichgesetzt wurden. Dies zeigen Inschriften und plastische Darstellungen der Gottheit mit Spinngerät oder einer Schriftrolle.
Die Etrusker verehrten die Schicksalsgöttin Nortia. Sie wollten das künftige Schicksal aus Vorzeichen herauslesen, hauptsächlich aus Blitzen und aus den Eingeweiden der Opfertiere, besonders der Leber. Die Wahrsagung spielte in der etruskischen Religion eine zentrale Rolle. In der älteren Forschung wurde angenommen, hier liege ein harter Fatalismus vor, der beständige Furcht und eine düstere Lebenshaltung erzeugt habe. Nach neueren Erkenntnissen ist diese Einschätzung jedoch zu revidieren, denn der Mensch galt nicht als machtlos und ausgeliefert. Die Etrusker glaubten das Vorausbestimmte und Vorausgesehene beeinflussen und drohende Übel abwenden zu können, indem sie die göttlichen Urheber der bevorstehenden Ereignisse umstimmten. Außerdem galt es als möglich, die Erfüllung eines göttlichen Schicksalsspruchs aufzuschieben. Hinzu kam, dass die Etrusker das Schicksal für übertragbar hielten: Wer aufgrund einer Wahrsagung erkannt hatte, dass ihm ein Unheil bevorstand, konnte es auf eine andere Person ablenken. Ebenso konnte man ein günstiges Geschick, das einem anderen bestimmt war, auf sich ziehen. Auch auf der Ebene der Völker konnte so verfahren werden.
Perser
Der persische Zoroastrismus zeigt in der Zeit des Sasanidenreichs eine fatalistische Prägung. In der mittelpersischen Literatur wird das dem Menschen zugeteilte Schicksal mit dem Wort baxt bezeichnet, dessen Grundbedeutung vorbestimmter Anteil ist, das aber auch die zuteilende Macht bezeichnen kann. Als „Herr der Zuteilung“ gilt der Fixsternhimmel. Dieser ist ein Teil der guten Schöpfung und kann daher dem Menschen nur Gutes erweisen. Ob jemand ein relativ glückliches oder unglückliches Leben führt, hängt davon ab, wie viel Gutes ihm vom Himmel durch die Tierkreiszeichen zugewiesen wurde. Das Übel stammt von den Planeten, die das Gute rauben. Sie stören die Einwirkung des Fixsternhimmels und verhindern eine gerechte Zuteilung. Nach einer anderen Version ist die Ausschüttung des Guten durch den Tierkreis mit der Tätigkeit eines Bauern zu vergleichen, der beim Säen nicht darauf achtet, an welcher Stelle eine Saat hinunterfällt. Demnach erfolgt die Zuteilung zufällig, sie hängt nicht von der Tugend oder Würdigkeit der einzelnen Personen ab.
Aus den Quellen geht nicht hervor, ob die Zuteilung schon am Anfang der Weltschöpfung erfolgt ist oder erst bei der Geburt eines Menschen geschieht. Jedenfalls ist baxt ein im Voraus für jeden Menschen festgelegter Anteil an den als wertvoll geltenden Gütern Familie, Vermögen, Autorität und Lebensdauer. Daneben gibt es einen weiteren Anteil, der bayō.baxt genannt wird. Ihn erhält der Mensch erst im Lauf seines Lebens gemäß seiner Würde und seinen Verdiensten. Durch Fleiß kann man den Anteil, der einem vom Fixsternhimmel zugewiesen wurde, zwar nicht vergrößern, aber man kann ihn sich schneller aneignen.
Nach einer älteren Forschungsmeinung war der Zurvanismus, eine religiöse Richtung innerhalb des Zoroastrismus oder neben ihm, die Heimat einer besonders wirkmächtigen Form des persischen Fatalismus. Die Gottheit Zurvan, eine Personifikation der unbegrenzten Zeit, sei der Schicksalsherr gewesen, der jedem Menschen die Todesstunde zugewiesen habe. In der neueren Fachliteratur wird jedoch ein besonderer Zusammenhang zwischen Zurvan und der Schicksalsbestimmung bestritten.
Araber
Die arabische Kultur der vorislamischen Zeit war von einem ausgeprägt fatalistisches Denken durchdrungen, das in der Dichtung Ausdruck fand. Insbesondere der Tod als unausweichliche Bestimmung aller Menschen wurde in fatalistischer Haltung erwartet. Es herrschte die Überzeugung, dass der Todestag vorherbestimmt sei. In Klagen über den Verlust eines Verwandten oder Freundes, in den einleitenden Versen (nasīb) der Qaṣīdah-Gedichte, wo die zerstörende Wirkung der Zeit thematisiert wurde, und in den Faḫr-Versen, die Standhaftigkeit und Todesverachtung priesen, war vom Verhängnis die Rede. Ausdrücke für Zeit erhielten oft die Bedeutung Schicksal. Der berühmte Dichter Labīd schrieb, die Seele sei von ihrem unausweichlichen Schicksal (ḥimām) gefesselt. Als ḥimām wurde häufig der Tod auf dem Schlachtfeld bezeichnet.
Das Schicksal wurde auch als göttliches Wesen gedacht. Man verehrte die Göttin Manāt als das personifizierte Schicksal und ordnete ihr eine Schere zu, mit der sie den Lebensfaden abschneidet.
Mittelalterliche Auffassungen
Theologische und philosophische Debatten
Die Auseinandersetzung der mittelalterlichen Gelehrten mit dem antiken Diskurs, der ihnen nur teilweise bekannt war, fiel zwiespältig aus. Man befand sich in einem Dilemma. Einerseits wurde der Fatalismus stoischer Prägung aus theologischer Sicht als glaubenswidrig verurteilt, wobei man sich an der einschlägigen Polemik der Kirchenväter orientierte; die bedrohte Willensfreiheit musste gewahrt werden. Andererseits führte der kirchlich vorgeschriebene Glaube an die göttliche Vorsehung und an die biblischen Prophezeiungen zur Ausformung von mehr oder weniger fatalistischen Prädestinationslehren. Hinzu kam die fortdauernde Herausforderung durch die Problematik des logischen Fatalismus.
West- und Mitteleuropa
In der lateinischsprachigen Gelehrtenwelt West- und Mitteleuropas fand die von Aristoteles initiierte Auseinandersetzung mit dem logischen Fatalismus viel Beachtung. Diese Thematik überschnitt sich mit der des theologischen Fatalismus. Das aristotelische Modell einer offenen Zukunft hatte aus christlicher Sicht Vorzüge, da es die Willensfreiheit sicherte. Andererseits hatten die mittelalterlichen Denker aber die theologischen Konsequenzen zu berücksichtigen, die sich hinsichtlich der biblischen Prophezeiungen und der göttlichen Allwissenheit ergaben, wenn die Zukunft im Sinne der aristotelischen Lehrmeinung als unbestimmt aufgefasst wurde. Einen Ausweg schienen die Kommentare des Boethius zu Aristoteles’ Peri hermeneias zu bieten, in denen das Konzept von Gottes Ewigkeit als Basis einer Lösung dient. Der Ansatz des Boethius konnte sowohl für fatalistische als auch für nichtfatalistische Modelle in Anspruch genommen werden. Sein Verständnis des Verhältnisses von Vorsehung und Fatum bildete die Ausgangsbasis der gängigen mittelalterlichen Interpretationen, auch für den im Spätmittelalter außerordentlich einflussreichen Thomismus.
Im 9. Jahrhundert trug Gottschalk von Orbais ein dezidiert fatalistisches Konzept vor. Nach seiner Lehre von der doppelten Prädestination ist nicht nur den Erwählten Gottes das ewige Heil vorausbestimmt, sondern auch den Verworfenen die ewige Höllenstrafe. Zwar lehrte die kirchliche Theologie, der allwissende Gott habe im Voraus gewusst, dass die künftigen Höllenbewohner eine schuldhafte Entscheidung für das Böse treffen würden, doch Gottschalk ging weit über diese Annahme hinaus. Er behauptete, es handle sich um eine unabänderliche Vorbestimmung zur Verdammnis, um einen Ausgang, den Gott von Anfang an so gewollt habe. Die davon Betroffenen seien aufgrund dieses göttlichen Beschlusses von vornherein ohne Aussicht auf Rettung. Diese Lehre wurde von Gottschalks Gegnern als Leugnung der Willensfreiheit angegriffen und von der Kirche verurteilt.
Eine radikal antifatalistische Position formulierte Gottschalks Zeitgenosse Eriugena. Nach seiner Lehre existiert die Zukunft in der Gegenwart noch nicht. Daher ist es unmöglich, dass Gott auf dem Weg des Vorauswissens oder Vorherbestimmens auf zukünftige Ereignisse vorgreift. Somit gibt es keine Prädestination, die Zukunft ist offen. Gegenteilige Aussagen in der Bibel sind nicht wörtlich zu verstehen.
In den 1180er Jahren vollendete Bischof Bartholomäus von Exeter (Bartholomaeus Exoniensis) eine Kampfschrift gegen den Fatalismus. Seine Abhandlung ist heute unter dem modernen Titel Contra fatalitatis errorem bekannt.
Zu den hoch- und spätmittelalterlichen Theologen und Philosophen, die sich mit dem logischen Fatalismus auseinandersetzten, zählen Anselm von Canterbury, Petrus Abaelardus, Petrus Lombardus, Robert Grosseteste, Thomas von Aquin, Johannes Duns Scotus, Wilhelm von Ockham, Thomas Bradwardine und Petrus von Ailly. Die weitaus meisten Modelle hielten an der uneingeschränkten Gültigkeit des Prinzips der Zweiwertigkeit fest. Der erste, der einen anderen Weg wählte, war Petrus Aureoli, der im frühen 14. Jahrhundert vorschlug, den Grundsatz aufzugeben, dass das Zweiwertigkeitsprinzip auch für alle vergangenen und gegenwärtigen Aussagen über Zukünftiges gelten müsse. Diese Position war theologisch anstößig und blieb daher Minderheitsmeinung.
Nach der Argumentation des namhaften Scholastikers Abaelard (Petrus Abaelardus; † 1142) ergibt sich aus Gottes Allwissen, das Vorauswissen einschließt, als notwendige Folgerung das Eintreten der Sachverhalte, von denen Gott weiß. Somit fällt das Mögliche mit dem Faktischen zusammen. Demgemäß lehrte Abaelard, das Seelenheil jedes Menschen hänge davon ab, ob er von Gott für die Erlangung der Gnade prädestiniert sei oder nicht. Abaelard meinte sogar, die Erschaffung der Welt sei determiniert; es sei Gott nicht möglich gewesen, sie nicht zu erschaffen.
Im 15. Jahrhundert entbrannte ein Konflikt über die Offenheit der Zukunft, der „Löwener Streit“. Der Franziskaner Petrus de Rivo, der an der Universität Löwen lehrte, trat für die Unbestimmtheit der Zukunft ein. Sein Anliegen war der Kampf gegen fatalistische Versionen der Prädestinationslehre, wie sie die Reformtheologen John Wyclif und Jan Hus propagiert hatten. Der konsequente Fatalismus dieser Denker war schon 1415 auf dem Konzil von Konstanz verdammt worden, doch die extreme Gegenposition, die Petrus de Rivo einnahm, stieß in maßgeblichen kirchlichen Kreisen ebenfalls auf Widerspruch. Seine Lehre fand zwar unter den universitären Theologen einigen Anklang, wurde aber schließlich 1474 von Papst Sixtus IV. als glaubenswidrig verurteilt.
Byzanz
Die byzantinischen Theologen erörterten häufig die Frage, ob der Todeszeitpunkt von Gott unabänderlich vorherbestimmt ist oder ob der Mensch durch sein Tun die eigene Lebensdauer beeinflussen kann. Für die Unabänderlichkeit wurde geltend gemacht, Gottes umfassende Vorsorge müsse die Todesstunde einschließen. Dagegen wurde vorgebracht, dass das Verhalten des Menschen nicht ohne Auswirkung auf seine Lebenslänge sein könne. Die antifatalistische Position setzte sich durch.
Die meisten mittel- und spätbyzantinischen Autoren bejahten die Unbestimmtheit der Zukunft, und zwar auch aus Gottes Sicht. Damit wandten sie sich gegen die Prädestination. Die Ablehnung des theologischen Fatalismus wurde zu einem Abgrenzungsmerkmal der orthodoxen Theologie gegenüber dem Islam und spielte in der antiislamischen Polemik der Byzantiner eine Rolle.
Im 11. Jahrhundert äußerte sich der byzantinische Gelehrte und Philosoph Michael Psellos zur Heimarmene. In seinem Kommentar zu den Chaldäischen Orakeln unterschied er zwischen Schicksal und Vorsehung. Die Vorsehung sei der unmittelbare Ausdruck von Gottes Wohlwollen, das Schicksal hingegen sei die Macht, die mit ihren Fügungen die Lebensverhältnisse bestimme. Wer nach geistigen Gesichtspunkten handle, unterstelle sich der Vorsehung und stehe damit über dem Schicksal; insoweit man sich am Körperlichen orientiere, sei man der Heimarmene unterworfen.
Der spätmittelalterliche Philosoph Georgios Gemistos Plethon († 1452) war konsequenter Fatalist. Er hielt alle Vorgänge für streng determiniert. Nach seiner Lehre hat der göttliche Weltlenker die Zukunft „von Ewigkeit her vorherbestimmt und festgesetzt“. Es ist unmöglich, ihn umzustimmen, denn er will stets ausschließlich das Bestmögliche. Wenn er einen Beschluss, der bereits auf das Beste abzielt, auf Bitten von Menschen aufhöbe, so würde er etwas Schlechteres dem möglichst Guten vorziehen, was widersinnig ist. Plethons Fatalismus ist optimistisch: Weil alles Vorherbestimmte gut ist, gelangt der Mensch, der es bejaht, zum Glück und zur wahren Freiheit.
Literarische Rezeption
Im 12. Jahrhundert verfasste der Philosoph Bernardus Silvestris das umfangreiche Gedicht Mathematicus, in dem er die Problematik des Schicksalsglaubens anhand einer Erzählung auf der Basis eines antiken Stoffs veranschaulichte. Die Ausgangslage ist verhängnisvoll: Ein Astrologe hat die Geburt eines Knaben vorausgesagt, der eine glänzende Zukunft habe und den römischen Thron besteigen werde, aber eines Tages seinen Vater umbringen werde. Die entsetzten Eltern vereinbaren zunächst, das neugeborene Kind zu töten, doch die Mutter bringt das nicht fertig, sie täuscht den Mord nur vor und lässt ihren Sohn in der Ferne aufwachsen. Dieser erlangt später tatsächlich die römische Königswürde und erweist sich wie vorausgesagt als außerordentlich tüchtiger und erfolgreicher Herrscher. Nachdem er von der Prophezeiung erfahren hat, beschließt er, seinem Leben ein Ende zu setzen, um dem drohenden Schicksal zuvorzukommen. Als König kann er aber nicht frei über sein Leben verfügen. Daher bittet er den Senat und die Volksversammlung um die Erlaubnis zum Suizid. Wegen seiner allgemeinen Beliebtheit stößt das schockierende Ansinnen auf Ablehnung. Darauf dankt er ab, um die Freiheit zu erlangen, als Privatmann sein Vorhaben zu verwirklichen. An dieser Stelle bricht das Gedicht ab, der Ausgang bleibt offen. Auffällig ist der tief verwurzelte Fatalismus, der für die Hauptbeteiligten die selbstverständliche Voraussetzung ihrer Entscheidungen bildet.
Im Spätmittelalter und in der Renaissance war die vor allem von Boethius vermittelte Gestalt der antiken Schicksalsgöttin Fortuna sehr populär. Man sah sie als Vollzieherin von Gottes Willen, doch wurde auch das antike Bild der eigenständigen Göttin wieder aufgegriffen. Ihr Attribut war das von ihr gedrehte Glücksrad. Es symbolisierte die Wechselhaftigkeit des Glücks und die Abhängigkeit des Menschen von Fügungen, denen gegenüber er machtlos ist. Ab dem 12. Jahrhundert wurde in literarischen Texten und in der Geschichtsschreibung oft auf dieses Symbol Bezug genommen.
Humanistische Stellungnahmen in der Frührenaissance
Eine zwiespältige Haltung nahm im 14. Jahrhundert der berühmte Humanist Francesco Petrarca ein. Er war oft von einer fatalistischen Stimmung ergriffen; viele seiner Äußerungen zeigen ihn als Anhänger des verbreiteten Glaubens an die menschliche Ohnmacht angesichts der Macht und Unwiderstehlichkeit Fortunas. Andererseits bemühte er sich um eine theoretische Bewältigung des Problems durch einen geistigen Kampf gegen das fatalistische Gedankengut. Sein Lösungsversuch ging von der Überlegung aus, Fortuna mit der göttlichen Vorsehung gleichzusetzen und sie so ihres erschreckenden, dämonischen Charakters zu entkleiden. Petrarcas Argumentation war jedoch nicht schlüssig und wurde daher im ausgehenden 14. Jahrhundert von dem Staatsmann und humanistischen Schriftsteller Coluccio Salutati unnachsichtig kritisiert. Seine eigene Meinung legte Salutati 1396/1399 in dem Traktat De fato et fortuna dar. Er verteidigte die Realität der Fortuna, die eine Dienerin Gottes sei, anhand biblischer und antiker Beispiele. Seine Weigerung, Florenz wegen der dortigen Pestepidemie zu verlassen, begründete Salutati nicht nur mit seiner Verantwortung für die Stadt, sondern auch damit, dass die Vorsehung, der man nicht entfliehen könne, Zeit und Ort seines Todes bestimmt habe.
Verbreitet war bei den Renaissance-Humanisten die Überzeugung, der tapfere, tugendhafte Mensch sei den Schicksalsfügungen überlegen und könne sein Schicksal meistern.
Im 15. Jahrhundert knüpfte der Platoniker Marsilio Ficino aus christlicher Sicht an das Schicksalskonzept der Chaldäischen Orakel an. Er meinte, der menschliche Körper befinde sich unter der Herrschaft des Schicksals (sub fato), doch die Seele stehe durch den Geist (per mentem) über dem Schicksal (supra fatum), indem sie in der Ordnung der Vorsehung handle. Es liege in der Gewalt eines jeden, ob er sich dem Schicksal unterordne oder nicht.
Frühneuzeitliche Einschätzungen
In der bildenden Kunst des 16. und 17. Jahrhunderts ist das Motiv der Schicksalsgöttinnen relativ selten. Gemälde, die zu Ehren der Medici oder einzelner Angehöriger dieses Geschlechts angefertigt wurden, zeigen das Walten der Parzen in heiterem Kontext und optimistischer Stimmung, die Göttinnen sind wohlwollend und stehen für eine vielversprechende Zukunft. Dezidiert fatalistisch und pessimistisch ist hingegen die Darstellung auf einer Zeichnung Albrecht Dürers von 1515. Dort fleht ein Knappe die Parzen vergeblich an, ihm ein günstiges Schicksal zu gewähren.
In der Reformationszeit entwickelten reformierte Theologen Prädestinationslehren, die implizit oder explizit davon ausgehen, dass für jeden Menschen das Schicksal, das ihn nach dem Tod erwartet, unabänderlich prädestiniert ist. Besonders klar und konsequent formulierte Johannes Calvin das Konzept der „doppelten Prädestination“, der Vorherbestimmung der einen zum Heil und der anderen zum Unheil. Calvin lehrte, es gebe einen ewigen Beschluss Gottes darüber, was aus jedem Menschen werden soll. Einem bestimmten Teil der Menschheit sei das ewige Heil, den übrigen die ewige Verdammnis von vornherein zugewiesen. Daher erreiche jeder in seinem Leben nur das, was schon vor seiner Geburt über ihn verhängt worden sei. Demnach agiert der Mensch nur als Werkzeug der Vorsehung, auch wenn er sündigt. Diese fatalistische Position wurde von zahlreichen reformierten Theologen geteilt, von anderen jedoch abgemildert oder bekämpft. Gegner des Calvinismus wiesen auf die Ähnlichkeit seiner Prädestinationslehre mit der islamischen hin und warfen den Calvinisten vor, einem „türkischen“ Fatalismus zu huldigen. Einen Ansatzpunkt für solche Kritik bot Calvins Vorsehungslehre, die besagt, jedes Ereignis – von einem Kriegsausbruch bis zu den Vorkommnissen im Leben eines einzelnen Tieres – sei unmittelbar von Gott gewollt und herbeigeführt. Diese Lehre gehört zum Typus des „universaldeterministischen Fatalismus“.
Nach der Einschätzung von Max Weber hatte die calvinistische Vorherbestimmungslehre in der Reformationszeit gravierende Folgen für die Stimmung einer ganzen Generation. Sie habe in ihrer „pathetischen Unmenschlichkeit“ das Gefühl einer unerhörten inneren Vereinsamung des einzelnen Individuums erzeugt. Der Gläubige sei darauf verwiesen gewesen, einsam einem von Ewigkeit her feststehenden Schicksal entgegenzuziehen. Diese Darstellung Webers ist in der Forschung allerdings auf Kritik gestoßen, da sie den kollektiven Aspekt des religiösen Erlebens unterschätze.
Der humanistische Philosoph Justus Lipsius (1547–1606) bemühte sich um eine Erneuerung der stoischen Tradition, wobei er sich intensiv mit der Fatum-Lehre, dem Fatum stoicum, auseinandersetzte. In seinem sehr wirkmächtigen, 1584 veröffentlichten Dialog De constantia wies er auf Ungereimtheiten und Widersprüche des stoischen Konzepts hin und versuchte aus dem antiken Gedankengut ein „wahrhaftiges“ Fatum-Verständnis zu destillieren, ein mit dem Christentum vereinbares Fatum verum. Lipsius sah im Fatum die Erstursache, neben der Zweit- und Mittelursachen, darunter der menschliche Wille, Einfluss nehmen können.
Nach der Lehre von Baruch de Spinoza (1632–1677) folgt alles mit Notwendigkeit aus der Natur Gottes, die allein die wirkende Ursache aller Dinge – insbesondere aller Willensakte – ist. Nur das tatsächlich Eintretende ist möglich. Zwar erklärte Spinoza, er unterwerfe auf keine Weise Gott dem Schicksal, doch ging er von einem zwangsläufigen Walten der Schicksalsmacht aus, die er mit der göttlichen Natur gleichsetzte. Mit seinem Notwendigkeitsverständnis hob er die menschliche Freiheit auf. Daher wurde er von Kritikern als Fatalist gebrandmarkt. Im 18. Jahrhundert wurde der „Spinozismus“ als eine Variante des Fatalismus angegriffen. Da Spinoza als Atheist verunglimpft wurde, erhielt die Bezeichnung Fatalismus die Konnotation des Atheismus. Sein Modell wurde als Gefahr für Religion und Moral wahrgenommen und bekämpft.
Leibniz (1646–1716) wandte sich in der Vorrede zu seiner Theodizee gegen die „falsch verstandene Vorstellung von der Notwendigkeit“, die einen Typus des Fatalismus habe aufkommen lassen, den man als fatum mahumetanum (mohammedanisches Schicksal) zu bezeichnen pflege. Damit nahm Leibniz auf den im Islam stark ausgeprägten Prädestinationsglauben Bezug. Er sprach von einem Schicksal nach türkischer Auffassung („destin à la turque“), weil man von den Türken behauptete, dass sie den Gefahren nicht aus dem Weg gingen und sogar von der Pest infizierte Orte nicht verließen, da sie alles für vorherbestimmt hielten. Diesen Glauben verwarf Leibniz. Er konstatierte, dass in das Handeln der meisten Menschen eine Beimischung der „türkischen“ Schicksalsidee miteinfließe, ohne dass sie sich dessen hinreichend bewusst seien. Auch aufgeweckte junge Leute habe er oft vorbringen hören, es sei alles im Buch des Schicksals aufgeschrieben und daher seien Ermahnungen zur Tugend nutzlos. Dieser Position entsprach aber – so Leibniz – keine konsequente Lebenspraxis. Vielmehr nahmen die Fatalisten die Prädestination nur zum Vorwand, um aus Bequemlichkeit schwierigen oder unangenehmen Entschlüssen auszuweichen. Wenn sie jedoch in Gefahr gerieten oder etwas begehrten, überließen sie den Ausgang nicht der Vorsehung, sondern nahmen das Schicksal selbst in die Hand.
Leibniz verwarf den logischen Fatalismus und legte Wert auf die These, dass es mehr Möglichkeiten als Verwirklichungen gebe. Allerdings meinte er damit bloße Denkmöglichkeiten, für die er nur Widerspruchsfreiheit und nicht ein existenzbezogenes Vermögen forderte. Demnach bestehen alle Alternativen zum real Eintretenden nur theoretisch; wirklich eintreten kann nur das, was gemäß der Vorsehung tatsächlich geschieht. Wegen dieser Ansicht geriet Leibniz in den Verdacht, selbst schicksalsgläubig zu sein und in seiner Vorsehungslehre Gott einem unüberwindlichen Fatum unterzuordnen. Die Folge waren langwierige Kontroversen, die nach seinem Tod fortdauerten.
Das Thema des „türkischen“ oder allgemein islamischen oder „orientalischen“ Fatalismus wurde im 18. Jahrhundert breit diskutiert, sehr häufig mit Bezugnahme auf das von Leibniz angeführte Pest-Beispiel. Dabei diente der Fatalismus als Erklärung für Politik und Wirtschaftsverfassung des Orients, für die dort herrschende „Despotie“. Es wurde aber auch im Sinne einer umgekehrten Ursächlichkeit vorgebracht, die türkische Tyrannei lasse mit ihrer launenhaften politischen Willkür gar keine andere Geisteshaltung als die fatalistische zu.
Friedrich Heinrich Jacobi (1743–1819) trug zur Verbreitung des Begriffs Fatalismus in den weltanschaulichen Auseinandersetzungen bei. Er verwendete ihn als Kampfbegriff in seiner Polemik gegen die Lehren von Spinoza und Leibniz. Jacobi hielt jedes System, das die Beschaffenheit der Welt als notwendige Auswirkung der Natur des göttlichen Urwesens auffasst, für fatalistisch, da es die Notwendigkeit zur Ursache der Geschehnisse mache und den einzelnen Menschen nicht als den wirklichen Urheber seiner Taten ansehe. Jeder Versuch, eine Vernunftreligion zu begründen, müsse in einen solchen Fatalismus einmünden. Der Fatalismus sei das Zentrum, der springende Punkt des Spinozismus. Jacobis Stellungnahme löste im Jahr 1785 den „Spinozismusstreit“ aus. Seine Ansicht, dass das Fatum notwendig Gott oder Gott das Fatum verschlinge, wurde von den meisten Zeitgenossen nicht geteilt.
Der Aufklärer Denis Diderot schrieb die romanhafte Erzählung Jacques le Fataliste et son maître (Jacques der Fatalist und sein Herr), die erst 1796 postum veröffentlicht wurde. Die Titelfigur Jacques vertritt einen kausaldeterministisch fundierten Fatalismus spinozistischer Prägung, während sein Dienstherr an die Willensfreiheit glaubt. Dargestellt wird der Alltag eines Fatalisten, der versucht, nach seiner Überzeugung zu leben, und dabei in Schwierigkeiten gerät, die er nur teilweise meistert.
Kant meinte, die Vernunft mache sich „vermittelst der theologischen Idee“ vom Fatalismus los und führe zum Begriff einer Ursache durch Freiheit. So sei es möglich, „freche und das Feld der Vernunft verengende Behauptungen“ des Fatalismus „aufzuheben“. Wer Zeit und Raum für „zum Dasein der Dinge an sich selbst gehörige Bestimmungen“ ansehe, könne die „Fatalität der Handlungen“ nicht vermeiden. Dann wäre der Mensch eine Marionette, ein denkender Automat. In Wirklichkeit seien aber die Handlungen des Menschen „bloße Bestimmungen desselben als Erscheinung“, nicht des Dinges an sich selbst, und somit sei die Freiheit zu retten.
Der Kantianer Carl Christian Erhard Schmid entdeckte im Jahr 1790 ein Problem in Kants System: Eine Handlung wird entweder von der Vernunft oder von sinnlichen Einflüssen bestimmt. Im ersten Fall ist die Handlung autonom und stimmt mit dem moralischen Gesetz überein, im zweiten Fall ist sie nicht autonom und somit unfrei. In beiden Fällen gibt es keine Freiheit, spontan gegen das moralische Gesetz zu arbeiten, also keine Wahlfreiheit. Schmid bezeichnete diese Konsequenz, den Verzicht auf Wahlfreiheit, als „intelligiblen Fatalismus“. Er meinte, seine Argumentation schade der Moral nicht, da sie die Zurechenbarkeit nicht aufhebe. Kant stimmte Schmids Überlegung insofern zu, als er feststellte, nur die Freiheit in Bezug auf die innere Gesetzgebung der Vernunft sei ein Vermögen, die Möglichkeit von dieser abzuweichen sei ein Unvermögen. Er akzeptierte den intelligiblen Fatalismus zwar als bloße Möglichkeit innerhalb des Gebäudes seiner theoretischen Philosophie, warnte aber davor, daraus Konsequenzen zu ziehen. Sein Problem dabei war, dass nach seiner Theorie positive Freiheit auf dem Vermögen der Spontaneität beruht. Er befürchtete, dass ein Skeptiker aus dem intelligiblen Fatalismus folgern würde, dass Spontaneität nicht gerechtfertigt werden könne und die Moral somit im Rahmen der kantschen Theorie keine Basis habe.
Fichte weitete das Bedeutungsfeld des Begriffs Fatalismus aus, indem er jede Lehre, die das Ich nicht ausschließlich durch sich selbst bestimmt sein lässt, als fatalistisch bezeichnete. Er unterschied zwischen zwei einander entgegengesetzten philosophischen Ansätzen, dem „Dogmatismus“ und dem „Idealismus“. Nach dieser Klassifikation sucht der Dogmatismus den Grund von Erfahrung im Ding an sich, der Idealismus im Ich. Der Dogmatismus versucht alle Bewusstseinsinhalte, darunter das Bewusstsein von Freiheit, aus dem Ding an sich herzuleiten, dessen Produkte sie seien, und fasst somit das Freiheitsbewusstsein als Illusion auf. Daher ist aus Fichtes Sicht jeder konsequente Dogmatiker Fatalist. Auch Orientierung an einem von außen vorgegebenen Sittengesetz hielt Fichte für fatalistisch im Sinne seines Begriffsverständnisses. Er kritisierte, dass bei der Erzeugung eines solchen Sittengesetzes die Spontaneität des Ich übergangen werde. Als konsequenter Antifatalist verwarf er Schmids intelligiblen Fatalismus.
Schelling befasste sich in seinem System des transzendentalen Idealismus (1800) mit der Frage der Freiheit und Notwendigkeit im Handeln. Er unterschied drei Möglichkeiten: Wenn sich die Reflexion nur auf das außerhalb des Bewusstseins liegende Objektive richtet, erscheinen alle Handlungen durch eine völlig blinde Vorherbestimmung prädeterminiert. Das ist das System des Fatalismus. Richtet sich die Reflexion allein auf das Subjektive, willkürlich Bestimmende, so wird die Notwendigkeit im Handeln bestritten, und es entsteht ein System der absoluten Gesetzlosigkeit. Wenn sich die Reflexion bis zum Absoluten erhebt, so entsteht das System der Vorsehung, das heißt die Religion.
Rezeption in der Moderne
Philosophie und Soziologie
19. Jahrhundert
Hegel behandelte das antike Schicksalsverständnis in seinen von 1820 bis 1826 gehaltenen Vorlesungen über die Ästhetik. Er wies auf einen „stillen Zug der Trauer“ in klassischen Götterskulpturen hin. Nach Hegels Deutung macht diese Trauer das Schicksal der Götter aus. Sie zeigt an, dass „etwas Höheres über ihnen steht und der Übergang von den Besonderheiten zu ihrer allgemeinen Einheit notwendig ist“. Diese Einheit ist für Hegel „das in sich Abstrakte und Gestaltlose, die Notwendigkeit, das Schicksal, welches in dieser Abstraktion nur das Höhere überhaupt ist, das Götter und Menschen bezwingt, für sich aber unverstanden und begrifflos bleibt“. Das Schicksal überragt als allgemeine Macht die Besonderheit der einzelnen Götter und ist daher nicht selbst als Individuum darstellbar, denn sonst stünde es nicht über den Individualitäten. Es ist „die Notwendigkeit als solche“, welche Götter und Menschen „unabänderlich trifft“. Das anzustrebende Ziel ist für Hegel die Aufhebung der Trennung zwischen Schicksal und Selbstbewusstsein. Das Schicksal wird zunächst vom Bewusstsein als ein fremdes, von ihm getrenntes erfahren; in dieser Form ist es „bewusstlose Nacht“ und muss überwunden werden. Das geschieht, indem es mit dem Selbstbewusstsein vereinigt wird. Damit wird gegen das Schicksal als Äußerlichkeit das Innere als das Wesen des Handelns und des Schicksals gesetzt.
Schopenhauer unterschied in seinen Parerga und Paralipomena (1851) zwischen einem „demonstrablen“ und einem „transzendenten“ Fatalismus. Den demonstrablen, dem zufolge alles, was geschieht, mit strenger Notwendigkeit eintritt, betrachtete Schopenhauer als gesicherte Tatsache, die a priori einzusehen und folglich unumstößlich sei. Nach der Darlegung in seinem Hauptwerk Die Welt als Wille und Vorstellung folgt jede einzelne Handlung zwangsläufig „aus der Wirkung des Motivs auf den Charakter“. Dies geschieht gemäß der Notwendigkeit, die „Verhältnis der Folge zum Grunde und durchaus nichts weiter“ ist. Das Individuum selbst ist schon determiniert. Einem gegebenen Menschen ist, da sein Charakter feststeht, unter gegebenen Umständen immer nur eine Handlung möglich. – Von anderer Art ist der transzendente Fatalismus, der den Lebenslauf nicht nur als notwendig, sondern auch als planmäßigen, zweckgerichteten Hergang auffasst. Dieser Fatalismus ergibt sich aus einer subjektiven Perspektive. Er wird aus den Erfahrungen des eigenen Lebens allmählich abgeleitet. Ein Beweis für ihn kann daher nicht geführt werden.
Søren Kierkegaard setzte sich in den 1840er Jahren mit der Fatalismusproblematik auseinander. Er beschrieb den Fatalisten als einen Verzweifelten, der Gott und damit sein Selbst verloren habe, denn für ihn sei alles Notwendigkeit, die Möglichkeit habe er eingebüßt; die Persönlichkeit sei aber eine Synthese von Möglichkeit und Notwendigkeit. Nach Kierkegaards Schilderung ist der Gott des Fatalisten die Notwendigkeit. Seine Gottesverehrung ist, wenn sie ihr Maximum erreicht, wesentlich Stummheit, stumme Unterwerfung. Das Selbst des Deterministen und des Fatalisten kann nicht atmen, denn von der Ausschließlichkeit des Notwendigen wird es erstickt. Determinismus und Fatalismus sind „Geistes-Verzweiflung“. Immerhin haben die Anhänger solcher Weltanschauungen Phantasie genug, um an der Möglichkeit zu verzweifeln, im Unterschied zur „Spießbürgerlichkeit“, die zwar im Wahrscheinlichen aufgeht und dort dem Möglichen einen Platz bietet, aber ihrem Mangel an Phantasie zum Opfer fällt. Der antike „heidnische“ Schicksalsglaube ist für Kierkegaard eine Erscheinungsform der Angst. Das Fatum ist das Nichts, das Gegenstand dieser Angst ist. Sobald die Wirklichkeit der Freiheit und des Geistes gesetzt ist, ist die Angst behoben.
Nietzsche plädierte für einen dezidiert nichtmetaphysischen Fatalismus, in dem das Ergebnis eines Lebens als notwendige Folge von Charakter und Umständen erscheint. Den vorgegebenen Charakter hielt er für unveränderlich. Er sah die Größe des Menschen in der Bejahung dieser Schicksalsnotwendigkeit. Seine Forderung war, das Unvermeidliche nicht nur als notwendig, sondern als schön und wünschenswert zu betrachten und allen theoretisch denkbaren Alternativen vorzuziehen. Nietzsche hielt es für das höchste Ziel eines Philosophen, das Schicksal nicht nur zu ertragen, sondern es zu lieben (amor fati).
Eduard von Hartmann kritisierte 1879 einen Fatalismus, dem zufolge das Handeln des einzelnen Menschen für das Endergebnis der historischen Entwicklung, die Erfüllung des teleologischen Weltplans, irrelevant ist, da die fortschreitende Verwirklichung der sittlichen Weltordnung durch die bereits getroffenen Einrichtungen verbürgt ist. Von Hartmann machte geltend, ein solcher Fatalismus reiße die Notwendigkeit des Endergebnisses von den determinierenden Faktoren los, aus deren Zusammenwirken es kausal hervorgehe. Dies sei keine begründete Überzeugung, sondern ein blinder Glaube. Zwar sei die durchschnittliche psychische Veranlagung der Individuen so, dass das Gebaren der Menschheit tatsächlich das Bestehen der sittlichen Weltordnung verbürge, doch sei dies nur deswegen der Fall, weil das Prinzip der sittlichen Weltordnung selbst ein psychischer Faktor sei, der ausnahmslos in jedem menschlichen Bewusstsein wirksam sei. Der „blindgläubige Fatalismus“, der diesen Faktor geringschätze und so „den Eckstein des Gebäudes der sittlichen Weltordnung“ wegstoße, sei ein Wahn.
20. und 21. Jahrhundert
Im frühen 20. Jahrhundert untersuchte Max Weber die Geschichte der calvinistischen Frömmigkeit und ging dabei auf das Verhältnis von Prädestination und Fatalismus ein. Nach Webers Befund ist der Fatalismus logisch als Konsequenz aus der calvinistischen Prädestinationslehre ableitbar, doch psychologisch ist die Wirkung infolge der Einschaltung des Gedankens der Bewährung im Leben die entgegengesetzte: Für die Calvinisten sind die von Gott Erwählten aufgrund ihrer Erwählung dem Fatalismus unzugänglich, „gerade in ihrer Abweisung der fatalistischen Konsequenzen bewähren sie sich“. Gottes Vorsehung hat verfügt, dass sie ihre Pflichten eifrig erfüllen, und deswegen tun sie es gemäß ihrem Interesse und lassen sich in ihrer religiösen Lebenspraxis vom Fatalismus, zu dem die Logik ihres Glaubens führen müsste, nicht beirren. Somit gelangte Weber zum Ergebnis: „Die praktische Interessenverschlingung zerschneidet die logisch zu erschließenden (übrigens trotz allem gelegentlich auch faktisch eingetretenen) fatalistischen Konsequenzen.“
Der Logiker Jan Łukasiewicz schuf im frühen 20. Jahrhundert eine dreiwertige Logik, in der er den dritten Wahrheitswert den Aussagen über Zukünftiges zuwies, die nach seinem Verständnis gegenwärtig weder wahr noch unwahr sind. Łukasiewicz wollte dem logischen Fatalismus ausweichen und knüpfte dabei an die Überlegungen des Aristoteles an.
Oswald Spengler legte in seinem von 1918 bis 1922 veröffentlichten geschichtsphilosophischen Hauptwerk Der Untergang des Abendlandes die These dar, dass die Entwicklung aller Hochkulturen derselben Gesetzmäßigkeit unterliege. Sie sei der Alterung der Lebewesen vergleichbar, durchlaufe Phasen des Wachstums, der Reife und des Alters und führe schließlich zum Tod. Historische Entwicklungen seien natürliche Prozesse. Somit sei die Zukunft des Abendlandes vorhersagbar. Angesichts solcher Unausweichlichkeit bleibt aus Spenglers Sicht dem Individuum nur die Alternative, in Übereinstimmung mit der schicksalhaften Notwendigkeit zu handeln oder zu scheitern. In seinen aus dem Nachlass herausgegebenen Urfragen bekannte sich Spengler zum Gedanken einer schicksalsbestimmenden Instanz: „Schicksal ist nur zu erleben; es ist die metaphysische Macht im lebenden All, nicht die Kausalverknüpfung in der physischen Welt.“ Geschichte vollziehe sich ganz unabhängig vom Wünschen und Wollen der Menschen. Der Sinn des Schicksals lasse sich nicht erkennen, alle Deutungen seien „aus der Angst geboren“. Kritik übte Thomas Mann 1924 in seinem Essay Über die Lehre Spenglers, in dem er dem Geschichtsphilosophen vorwarf, einen Fatalismus zu verbreiten, der nicht wie bei Nietzsche tragisch-heroisch sei, sondern ein Defätismus der Humanität.
Karl Jaspers erläuterte den Fatalismus 1919 in seiner Abhandlung Psychologie der Weltanschauungen, wobei er von der „Grenzsituation“ Zufall ausging. Für Jaspers besteht eine „unvermeidliche Antinomie“ darin, dass der Mensch die Welt einerseits als notwendig und zusammenhängend, andererseits als zufällig, chaotisch und zusammenhanglos sehen muss. Den Zufall erlebt der Sinnsuchende als „unheimliche Tatsächlichkeit überall“. Die Reaktion auf die Zufälligkeit ist die Empfindung eines metaphysischen Zusammenhangs: Man hat den Eindruck, dass die Zufälle alle einen „Faden“ haben, „an dem sie zusammengehören“. Das Schicksal „hat einen gefühlten Sinn und in der vollendeten Biographie eine darstellbare Totalität“. Empirisch könnte man dazu sagen, eine aktive menschliche Anlage wähle aus der Unzahl der Zufälle das ihr Gemäße aus und somit sei das Schicksal nur die Verarbeitung heterogener Ereignisse durch die darauf reagierende Individualität. Aber – so Jaspers – „der lebendige Mensch empfindet es gerade im ganzen nicht so“. Er findet sich mit dem Zufall nicht ab, sondern versucht ihn durch die Erfassung von etwas Dahinterliegendem zu überwinden. Diesem Zweck dienen „Formeln“ wie Prädestination, Karma oder Lenkung der Welt durch eine Gottheit oder Schicksalsmacht. Nach Jaspers’ Urteil sind solche Formeln die vorübergehenden Produkte oder Abscheidungen des lebendigen Impulses, der die Grenzsituation überwindet und an ihr ein positives Bewusstsein schafft.
Max Scheler befasste sich in einer 1924 publizierten Abhandlung aus kultursoziologischer Sicht mit der Frage der Leitung und Lenkung der Geschichte durch die persönlichen Trägerschaften der jeweiligen „geistig-idealen Kulturgehalte“. Nach Schelers Einschätzung kann der menschliche Wille gegenüber dem Gang der Realgeschichte nur im Rahmen einer festgeordneten Phasenabfolge eigengesetzlicher, automatisch eintretender und „geist-wert-blinder“ Geschehnisse und Zustände eine leitende Funktion ausüben. Mehr vermag er nicht. Das Ausmaß seines Einflusses vermindert sich im Ablauf eines relativ geschlossenen, zusammenhängenden Kulturprozesses, dessen Hauptphasen Jugend, Reife und Verfallszeit sind. Während die Leitbarkeit des Geschichtsprozesses abnimmt, wächst das „kollektivistische Fatalitätsmoment, damit auch das Determinationsgefühl der Menschen“. Jede Endphase eines solchen Prozesses ist „die Vermassung des Lebens“. Für Scheler ist Fatalismus die Annahme, das Schicksal sei die individuelle Bestimmung. Diese Gleichsetzung ist nach seiner Meinung falsch, denn die individuelle Bestimmung eines Menschen kann sowohl der Umweltstruktur als auch dem Schicksal widerstreiten. Der Mensch kann zwar unter dem Bann des Schicksals stehen, er kann aber auch es erkennend über ihm stehen, es wandeln oder sogar abwerfen.
Arnold Toynbee behandelte die Thematik 1939 in dem Teil seines Hauptwerks A Study of History (Der Gang der Weltgeschichte), in dem er den „Zerfall der Kulturen“ untersuchte. Er beschrieb den religiösen Fatalismus als die theistische Form des Determinismus. Als klassisches Beispiel nannte er die calvinistische Prädestinationslehre. Ein Glaubensbekenntnis solcher Art ist nach Toynbees Analyse Ausdruck des Gefühls des Getriebenwerdens (sense of drift). Dieses stellt sich in Zeitaltern des sozialen Zerfalls ein. Es ist die passive Art, den Verlust des Wachstumsschwungs (elan of growth) zu erleben; das aktive Gegenstück ist das Gefühl der Sündhaftigkeit. Nichtreligiöse Erscheinungsformen dieser Lebenseinstellung sind für Toynbee der liberale Fortschrittsglaube des 19. Jahrhunderts und der Marxismus, zwei atheistische Versionen des Prädestinationsglaubens, der Verehrung des „Idols der Notwendigkeit“. Erklärungsbedürftig ist der Umstand, dass sich viele Fatalisten trotz des passiven Charakters des sense of drift durch außergewöhnliche Tatkraft, Zielbewusstheit und Zuversicht ausgezeichnet haben. Dieser kräftigende Effekt des Fatalismus ist nach Toynbees Deutung auf die Annahme seiner Anhänger zurückzuführen, dass ihr Wille mit dem Willen Gottes oder dem Gesetz der Natur oder den Forderungen der Notwendigkeit zusammenfalle und daher zwangsläufig siegen müsse. Bleibt der Erfolg dann aber aus, so tritt der gegenteilige Effekt ein: Im Unglück untergräbt der Fatalismus die Moral.
Gilbert Ryle nahm in der 1954 veröffentlichten Vorlesung It Was To Be zum logischen Fatalismus Stellung. Er machte geltend, dass die fatalistische Argumentation den grundsätzlichen Unterschied zwischen Aussagen und Sachverhalten und zwischen logisch Notwendigem und praktisch Notwendigem missachte. Nach Ryles Meinung ist es unabhängig von der Frage, ob Zukünftiges gewusst werden kann, logisch unmöglich, Aussagen mit einem bestimmten Wahrheitswert zu machen, die sich auf einzelne konkrete Sachverhalte beziehen, die gegenwärtig noch nicht gegeben sind, beispielsweise eine künftige Schlacht. Erst wenn ein Ereignis stattgefunden hat, kann man davon als „es“ sprechen. Dieser Auffassung widersprach Alfred Jules Ayer 1963 in seinem Aufsatz Fatalism. Ayers eigener Einwand gegen den logischen Fatalismus lautet, dass ein Vorauswissen ein künftiges Ereignis nicht notwendig mache. Zur Prädestination in theistischen Modellen befand Ayer, dass sie eine Verantwortung des Menschen für sein Handeln prinzipiell ausschließe.
Arthur Norman Prior vertrat in einem 1962 erschienenen Aufsatz die Ansicht, ein hypothetisches allwissendes Wesen könne in der Gegenwart nicht wissen, ob zukunftsbezogene Aussagen wahr seien, da Wissen sich nur auf Wahres beziehen könne und solchen Aussagen in der Gegenwart kein Wahrheitswert zukomme. Demnach erfordert Allwissenheit keinen Fatalismus.
Ebenfalls 1962 publizierte Richard Taylor seinen Aufsatz Fatalism, mit dem er der Debatte über den logischen Fatalismus einen neuen Impuls gab. Anhand des von Aristoteles gewählten Beispiels der „morgigen Seeschlacht“ versuchte er zu zeigen, dass der logische Fatalismus eine unausweichliche Konsequenz aus sechs von der zeitgenössischen Philosophie fast einhellig akzeptierten Vorannahmen sei. Taylor betrachtete die Frage des Wahrheitswerts von Aussagen über das morgige Stattfinden der Schlacht unter dem Gesichtspunkt der Wahlfreiheit des Kommandeurs, der gegebenenfalls den Angriffsbefehl zu erteilen hat. Mittels des Prinzips der Zweiwertigkeit folgerte er, dass die Durchführung der Schlacht eine logisch notwendige Bedingung für den Befehl sei. Demnach sei die Entscheidung des Kommandeurs nicht frei.
In der Folgezeit löste Taylors Aufsatz in der Fachwelt eine lebhafte Debatte aus. Eine Reihe von Kritikern – John Turk Saunders, Bruce Aune, Raziel Abelson, Charles D. Brown, Bernard Mayo (Pseudonym Peter Makepiece) und Richard Sharvy – meldete sich zu Wort, und Taylor ging auf Einwände ein. Steven Cahn verteidigte sowohl die Schlüssigkeit von Taylors Argumentation als auch die Gültigkeit der Vorannahmen. In Wirklichkeit war Taylor aber kein Fatalist, denn er hielt zwei der sechs Vorannahmen für falsch. Insbesondere lehnte er die Auffassung ab, dass der Wahrheitswert einer Aussage keiner zeitlichen Bedingtheit unterliege. Das Ziel seines Vorstoßes war, auf die fatalistische Konsequenz der von ihm verworfenen Vorannahmen hinzuweisen und damit deren Fragwürdigkeit zu zeigen. Dies wurde aber von seinen Kritikern kaum zur Kenntnis genommen, vielmehr kam er in den Ruf, Fatalist zu sein.
Die Gegner des logischen Fatalismus mussten sich mit dem Problem der Asymmetrie auseinandersetzen, die sich ergibt, wenn man Aussagen über die Zukunft einen anderen Wahrheitswert zuweist als Aussagen über Gegenwart und Vergangenheit. Die Asymmetrie scheint einen fundamentalen ontologischen Unterschied zwischen vergangenen und zukünftigen Zuständen zu erfordern. John Randolph Lucas rettete die Offenheit der Zukunft, indem er einen solchen Unterschied bejahte. Andere Ansätze im späten 20. Jahrhundert kamen ohne diese Annahme aus; sie stützten sich nur auf den Umstand, dass Verursachung entlang dem Zeitpfeil erfolgt.
Nelson Pike initiierte 1965 eine neue Debatte über den theologischen Fatalismus, wobei er an Taylors Aufsatz und an Überlegungen des Boethius anknüpfte. Er untersuchte die These, dass keine menschliche Handlung aus freiem Willen ausgeführt wird, wenn Gott allwissend ist. Dabei ging er von Annahmen aus, die zur Folgerung führen, dass die These bejaht werden muss. Die dadurch ausgelöste lebhafte Diskussion dauert weiterhin an. Linda Zagzebski begründete 2011 ihre Meinung, dass die Vorstellung der göttlichen Überzeitlichkeit keinen Ausweg aus dem Fatalismus biete.
Im Jahr 2011 erschien der Sammelband Fate, Time, and Language, der einen Rückblick auf die von Richard Taylor angestoßene Debatte über den logischen Fatalismus bietet. Der Band stellt eine Reihe namhafter Beiträge zusammen, darunter eine dort erstmals veröffentlichte ausführliche Stellungnahme von David Foster Wallace.
Peter Sloterdijk äußerte sich in einem 2011 veröffentlichten Dialog. Aus seiner Sicht beruht die eigentliche Faszination des Fatalismus für Menschen jedes Zeitalters darauf, dass sie die Aussage „Man kann überhaupt nichts machen“ für eine gute Nachricht halten. Diese These sei der Freispruch von der Zumutung, etwas zu unternehmen. Sie liefere die Begründung für die „Neigung zum Überwintern auf dem Nullpunkt des Willens“. Er, Sloterdijk, hege den Verdacht, dies gelte nicht nur für den Fatalismus der kleinen Leute; auch ein Großteil der intellektuellen Bewegungen des 20. Jahrhunderts habe „an der Sehnsucht nach dem Winterschlaf Anteil“ und habe sein Bedürfnis nach „Ausschaltung des Subjekts“ befriedigt.
Belletristik
Im frühen 19. Jahrhundert bildete sich in der deutschsprachigen Literatur eine schwer umgrenzbare Gattung heraus, die literarhistorisch traditionell als „Schicksalstragödie“, in neuerer Zeit als „Schicksalsdrama“ bezeichnet wird. Es handelt sich um Tragödien, in denen das Schicksal fatalistisch aufgefasst wird. Typisch für die Gattung ist eine Verkettung von zufälligen Begebenheiten, zwischen denen kein innerer Zusammenhang besteht, die aber zusammen im Endergebnis dazu führen, dass sich ein vorausbestimmtes persönliches Schicksal erfüllt. Der Ausgang war durch Vorzeichen angekündigt oder erscheint als Auswirkung eines Fluchs oder einer lange zurückliegenden Untat. Er ist keine natürliche Folge der gegebenen Konstellation zwischen bestimmten Charakteren, sondern wird von äußerlichen Entwicklungen herbeigeführt. Die schicksalsbestimmende Instanz bleibt mysteriös. Einen Anstoß gab Schillers 1803 uraufgeführtes Drama Die Braut von Messina, das eine antike Schicksalsidee in das moderne Theater einführte. Schillers Anliegen war, durch die Konfrontation mit dem erbarmungslosen Schicksal eine erzieherische Wirkung zu erzielen und zu zeigen, wie dem Menschen eine sittliche Freiheit ermöglicht wird. Dieser Aspekt wurde jedoch in der Folgezeit nicht aufgegriffen, vielmehr trat die Hilflosigkeit der Akteure angesichts des Verhängnisses in den Vordergrund. Vorbildgebend für das Schicksalsdrama wirkte Zacharias Werner; weitere namhafte Autoren dieser Richtung waren Adolf Müllner und Ernst von Houwald. Auch Franz Grillparzers Stück Die Ahnfrau wird zu den Schicksalsdramen gezählt. Diese Autoren thematisierten das Fatum, waren aber selbst keine Fatalisten. Kritiker wie Ludwig Börne verurteilten die Inszenierung des Schicksalhaften oder gaben sie mit Parodien der Lächerlichkeit preis.
Musik
Der Komponist Gian Francesco Malipiero gab seiner zehnten Symphonie, einem Spätwerk aus dem Jahr 1967, den Titel Atropo. Mit der Benennung nach der todbringenden Moire wies er auf die Todesthematik hin. Mit seinen musikalischen Mitteln brachte Malipiero die Grausamkeit der unberechenbaren und lebensfeindlichen Schicksalsmacht zum Ausdruck.
Europäisches Sagengut und Brauchtum
Im europäischen Volksglauben und Sagengut sind fatalistische Vorstellungen weit verbreitet. Sie kommen in zahlreichen Schicksalserzählungen zur Geltung. Eine sehr häufige Struktur ist durch drei Merkmale bestimmt: Einem „Schicksalskind“ wird nach seiner Geburt Unheil geweissagt, oft die Umstände seines Todes; der Betroffene oder seine Beschützer versuchen das Verhängnis abzuwenden; am Ende erfüllt sich die Prophezeiung. In einzelnen Fällen kann zwar der Schicksalsspruch aufgehoben, durch List umgangen oder zumindest entschärft werden, oder das Unheil wird hinausgezögert, doch meist endet die Erzählung tragisch. Oft führen gerade Abwehrversuche die Erfüllung der Weissagung herbei.
In vielen europäischen Volksmärchen herrscht keine „blinde“, willkürliche Vorsehung, vielmehr zeigt sich das Denkmuster eines Gerechtigkeitszusammenhangs: Die schicksalsgenerierende Instanz – meist drei weibliche Gestalten, die „Schicksalsfrauen“ – lässt dem Würdigen das Gelingen, dem Unwürdigen das Misslingen zukommen. Nach anderen, ebenfalls verbreiteten Überlieferungen sind die Schicksalsfrauen jedoch launisch und empfindlich und entscheiden willkürlich nach augenblicklichen Stimmungen. Nacheinander verkünden sie ihre Sprüche über das künftige Leben des Neugeborenen, wobei der Spruch der letzten Frau von ausschlaggebender Bedeutung ist und dem Wortlaut nach in Erfüllung gehen muss. Neben dem Tod wird besonders häufig die Heirat vorherbestimmt.
Osteuropäische, romanische und keltische Traditionen
Der antike griechische Glaube an die Moiren, die klassischen Schicksalsfrauen, und ihre oft unheilvolle Rolle nach einer Geburt erwies sich als außerordentlich zählebig. Er erhielt sich im griechischen Sagengut und Brauchtum bis in die Moderne, wurde auch samt dem griechischen Namen in den albanischen Volksglauben übernommen und war noch im 20. Jahrhundert lebendig. So wurde in der dritten Nacht nach der Geburt eines Kindes Brot und Honig aufgetischt, um die Moiren zu bewirten, die kommen, um das Lebenslos zuzuteilen. Die antike Meleagrossage, die das von der Moire Atropos herbeigeführte Verhängnis schildert, entfaltete eine besonders nachhaltige Wirkung. Ihr Stoff ist im volkstümlichen Erzählgut in 21 Varianten überliefert.
Auch in Rumänien war der Volksglaube an die bei der Geburt auftretenden Schicksalsfrauen noch im 20. Jahrhundert verbreitet. Es besteht eine auffällige Übereinstimmung mit der griechischen Tradition. In älteren rumänischen Quellen ist von zwei Schicksalsfrauen die Rede, in jüngeren sind es wie im griechischen Raum drei. Es sind zahlreiche Namensformen für diese Gestalten überliefert, darunter der griechischen Einfluss verratende Name Mire. In der wissenschaftlichen Terminologie hat sich die Bezeichnung Ursitoare durchgesetzt. Die Ursitoare bemessen das Glück des Neugeborenen. Ihr Besuch wird gewöhnlich in der dritten Nacht nach der Geburt des Kindes erwartet. Zu ihrem Empfang und ihrer Bewirtung werden umfangreiche Vorbereitungen getroffen.
Mancherlei Varianten des Glaubens an schicksalsbestimmende weibliche Geistwesen, die bei der Geburt eines Kindes dessen künftiges Glück und Unglück festlegen, erlangten bei einer Reihe von slawischen Völkern Verbreitung. Ob es sich um altslawisches oder aus dem griechischen Erzählgut und Brauchtum übernommenes Material handelt, ist unklar. Zahlreiche Volkserzählungen dokumentieren die Popularität fatalistischer Ideen dieser Art. Ein zentraler Aspekt war das Bestreben der Familien, die Festlegung der künftigen Geschicke eines Neugeborenen zu beeinflussen. Entsprechende Bräuche dienten dem Zweck, das Wohlwollen der Schicksalsfrauen zu gewinnen, um dem Kind ein erfolgreiches Leben zu sichern. Die damit verbundenen Vorstellungen konnten sich jahrhundertelang in unterschiedlichen Varianten behaupten, teils bis in die Moderne. Bezeugt sind Schicksalsfrauen im bulgarischen, serbischen, kroatischen, slowenischen, tschechischen und slowakischen Volksglauben. Wahrscheinlich waren auch die altrussischen Geburtsgöttinnen (Roženicy) schon ursprünglich Schicksalsfrauen; ihre Verehrung mit Opferungen dauerte im Mittelalter auch nach der Christianisierung an und wurde von der orthodoxen Kirche eifrig bekämpft. Von den Slawen übernahmen viele Gruppen der Roma den Glauben an die Schicksalsbestimmerinnen und einschlägiges Brauchtum.
In Volkserzählungen der Letten und Litauer spielt die Schicksalsfrau Laima, ursprünglich eine Göttin aus vorchristlicher Zeit, eine wichtige Rolle. Umfangreiches volkskundliches Material zeigt, dass die Verehrung dieser Gestalt vor allem bei den Letten die Christianisierung überstand und in der Frühen Neuzeit andauerte. Oft ist in den Quellen auch von drei Laimen die Rede.
Im Volksglauben romanischer Völker, vor allem in Frankreich, übernahmen im Mittelalter Feen die Funktion der Schicksalsfrauen. Das französische Wort fée geht auf das lateinische fata zurück. Das Erscheinen der Feen bei der Geburt, ihre Gabe der Schicksalsbestimmung und ihre Dreizahl lassen den antiken Ursprung der Tradition erkennen.
Starken Ausdruck findet der Fatalismus im keltischen Sagengut. In der mittelalterlichen Sage von Diarmuid und Gráinne konstatiert der Held Diarmuid, wenn ihm ein bestimmter Tod vorherbestimmt sei, gebe es für ihn kein Entrinnen.
Germanische Traditionen
Unklar ist, inwieweit den mittelalterlichen Quellen glaubwürdige Informationen über pagane, nach der Christianisierung noch nachwirkende germanische Schicksalsvorstellungen entnommenen werden können. Seit langem wird in diesem Zusammenhang der altenglische Begriff wyrd diskutiert, der nicht ohne Weiteres mit etymologisch verwandten Begriffen im Althochdeutschen und anderen germanischen Sprachen gleichgesetzt werden darf. In der älteren Forschung war die Meinung verbreitet, wyrd sei eine unerbittliche Schicksalsmacht paganen Ursprungs. Man nahm an, das Konzept lasse sich aus Angaben in der volkssprachlichen Literatur erschließen, es handle sich um ein vorchristliches Substrat im mittelalterlichen Volksglauben. Die neuere Forschung beurteilt solche Rekonstruktionsversuche jedoch sehr skeptisch.
Zuverlässig bezeugt ist allerdings durch eine Reihe eindeutiger Belege in volkssprachlichen Quellen, dass im Mittelalter im germanischen Sprachraum fatalistisches Gedankengut weit verbreitet war. Im Volksglauben wurde angenommen, das vorherbestimmte Schicksal beherrsche das Leben und niemand könne ihm widerstehen. Als Aufgabe des Helden galt es, in Übereinstimmung mit dem Befehl des Verhängnisses zu handeln.
In der nordischen Mythologie spielen die Nornen die Rolle der weiblichen Schicksalsgottheiten. Sie weisen jedem Neugeborenen sein Geschick zu, insbesondere die Lebensdauer. Wie die Moiren und Parzen erscheinen sie als Dreiheit und werden als Spinnerinnen beschrieben, die mit Macht die Schicksalsfäden spinnen und Urteile fällen, denen niemand entgehen kann. Das Schicksal wird als ein von den Nornen verhängtes Urteil empfunden. Auch die Walküren (valkyrja) sind schicksalsbestimmende Wesen. Während die Nornen am Beginn eines Lebens dessen Länge festlegen, treten die Walküren beim Lebensende in Erscheinung, ihr Walten bezieht sich auf den Tod. Wie ihr Name besagt, sind sie die „Wählerinnen der Schlachtentoten (valr)“; sie bestimmen, wer in der Schlacht fallen soll. Unterschiedlich sind die Angaben darüber, ob sie dabei selbst entscheiden oder nach göttlichen Anweisungen zu handeln haben.
Islamischer Kulturraum
Nach der Einführung des Islam bestand in der arabischen Kultur die traditionelle Neigung zum Fatalismus fort, da auch die neue Religion ihr einen Nährboden bot. Die fatalistische Weltbetrachtung nahm nun eine theistische Färbung an und vermischte sich mit der Lehre von der göttlichen Vorherbestimmung. Dem Koran zufolge kann einem Menschen nur das widerfahren, was Gott bereits schriftlich aufgezeichnet hat.
Im Islam wird das von Gott festgelegte Schicksal qadar oder qaḍāʾ genannt. Zahlreiche arabische Sprichwörter nehmen auf die Schicksalsmacht Bezug. Die fatalistische Strömung in der Theologie betont, dass ausnahmslos alles, was geschieht, von Gott nicht nur vorausgewusst, sondern auch gewollt sei. Alles sei schon vor der Erschaffung der Welt von ihm beschlossen worden. Es sei mit der Feder seines Willens aufgezeichnet und somit unabänderlich. Andere theologische Lehren stellen demgegenüber die menschliche Willensfreiheit in den Mittelpunkt und bekämpfen den Fatalismus. In diesem Sinne ergriffen im Mittelalter die Anhänger der muʿtazilitischen Theologie Partei. Eine mittlere Position nimmt die aschʿaritische Koraninterpretation ein, die sowohl an der Prädestination als auch an der menschlichen Handlungsfreiheit festhält. Zur Erklärung dient die Überlegung, der Mensch eigne sich durch einen Willensakt die von Gott hervorgebrachten Taten an und sei daher für sie verantwortlich.
Eine extreme Konsequenz des theologischen Fatalismus ist die Lehre, der Mensch handle nur scheinbar, in Wirklichkeit sei immer nur Gott der Handelnde. Mittelalterliche Antifatalisten bezeichneten die gegnerischen Richtungen als Ǧabrīya (Zwangsanhänger, von arabisch ǧabr ‚Zwang‘) und warfen ihnen vor, die Willensfreiheit zu leugnen und damit die Verantwortung des Menschen zu beseitigen. Auch gemäßigte Fatalisten wurden beschuldigt, zu den „Leuten des Zwangs“ zu gehören.
Das „Los“ des Menschen, sein „Anteil“ – arabisch قسمة qisma, türkisch kismet – war ein im türkischen Volksglauben verbreitetes Konzept, das in Erzählungen und erbaulicher Literatur Ausdruck fand. Allerdings kommt qisma im Koran nicht mit dieser Bedeutung vor und hat im theologischen und philosophischen Diskurs der Muslime keine Rolle gespielt. In der europäischen Rezeption türkischer Mentalität hat sich Kismet jedoch als Leitbegriff eingebürgert; es steht für ein Schicksalsverständnis, das im 18. und 19. Jahrhundert mit abwertenden Bezeichnungen wie Türkenfatalismus und Türkenglaube belegt wurde.
Auch im Iran fand der Fatalismus nach der islamischen Eroberung einen fruchtbaren Boden. Eine ausgeprägte Vorliebe für das Konzept der Vorherbestimmung durchzieht die persische Dichtkunst bis in die Moderne. Sie prägt beispielsweise das berühmte Epos Schāhnāme. Auch in der Geschichtsschreibung ist diese Neigung anzutreffen. In der persischen Dichtung lebten außerdem nach der Eroberung noch jahrhundertelang Spuren vorislamischer Schicksalsvorstellungen fort. Der vorislamische Gedanke, dass der Sternenhimmel den Menschen ihr individuelles Schicksal zugewiesen hat, erwies sich weiterhin als wirkmächtig; Anklänge finden sich sowohl im Schāhnāme als auch im Epos Wīs u Rāmīn des persischen Dichters Gurgānī. Die Popularität des fatalistischen Gedankengutes im Volk zeigt sich sprachlich in metaphorischen Ausdrücken wie Pfeil (oder Hand, Feder) des Schicksals sowie in einer Fülle von Redewendungen, Sprichwörtern, Anekdoten, Erzählungen und Legenden. In der Moderne haben iranische Intellektuelle wie Ahmad Kasrawi die in der Bevölkerung tief verwurzelte Schicksalsergebenheit bekämpft, da sie zur Abwertung der menschlichen Leistungen führe und eine der Ursachen für die Rückständigkeit der Nation sei.
Indische Traditionen
In der vedischen Religion, der ältesten aus Schriftquellen bekannten Religion Indiens, war die Idee eines allmächtigen, unabwendbaren Schicksals noch unbekannt. Erst in der epischen Literatur des frühen Hinduismus traten fatalistische Begriffe und Vorstellungen markant in den Vordergrund. Neben den stark rezipierten Epen trug die im Volksglauben verwurzelte Astrologie wesentlich dazu bei, in der hinduistischen Bevölkerung die Neigung zum Fatalismus zu verfestigen. In dem sehr populären Epos Mahabharata, das zum Kernbestand des hinduistischen Traditionsguts gehört, wird davon ausgegangen, dass sogar die Götter dem Schicksal machtlos gegenüberstehen. Dabei wird das Schicksal mit der Zeit identifiziert.
Die theologischen und philosophischen Grundüberzeugungen, die in der altindischen Kultur vorherrschten, standen dem Aufkommen fatalistischer Ideen entgegen, weil die allgemein verbreiteten Karma-Konzepte den menschlichen Entscheidungen einen maßgeblichen Einfluss auf die Zukunft zuschrieben. Daher konnte sich im Lehrgut der heute noch fortbestehenden bedeutenden Religionen indischen Ursprungs – Hinduismus, Buddhismus und Jainismus – kein konsequenter Fatalismus ausbilden. Dennoch spielen im Hinduismus fatalistisch gefärbte Schicksalsvorstellungen eine bedeutende Rolle, sowohl in der religiösen Literatur als auch im Volksglauben. Sie dienen der Erklärung überraschender Ereignisse, unkontrollierbarer Vorgänge und unerwarteter Ergebnisse menschlicher Bemühungen. Von Schicksal – im Sanskrit daiva – ist die Rede, wenn der Eindruck einer Aufeinanderfolge von Ursachen und Wirkungen entsteht, der man nicht mehr Einhalt gebieten oder ausweichen kann, nachdem sie in Gang gesetzt wurde. Als auslösende Ursache erscheint entweder eine unpersönliche Kraft oder eine Gottheit, die etwas geplant und gesendet hat. Die verursachende Gottheit wird manchmal als „Anordner“ (dātā oder vidhātā) bezeichnet. Im Mahabharata wird beklagt, der launische Gott spiele mit den Menschen wie ein Kind mit seinem Spielzeug. Nach einer anderen Darlegung im Mahabharata hängt der Ausgang einer Unternehmung sowohl von den Handlungen der Beteiligten als auch von daiva ab. Auch ein vernünftiges und richtig angepacktes Vorhaben kann schließlich am Widerstand des unerbittlichen daiva scheitern. Dennoch werden die Gläubigen ermutigt, nicht zu resignieren und sich stets nach Kräften anzustrengen.
Das Schicksal, dem man nicht entrinnen kann, wird von den hinduistischen Autoritäten in manchen Fällen als Auswirkung einer machtvollen Verfluchung dargestellt. Gewöhnlich wird es im Rahmen der Reinkarnationslehre als Folge unbekannter Taten in früheren Leben erklärt. Daneben kommen im Volksglauben auch Deutungen vor, die fatalistische Züge aufweisen. Stark ausgeprägt ist der Fatalismus in einem in Tamil Nadu erzählten Mythos, dem zufolge der Gott Shiva schon vor der Erschaffung der Welt jedem Lebewesen sein künftiges Schicksal als „Schrift auf der Stirn“ zugewiesen hat, wobei sämtliche Taten, Gedanken und Erlebnisse bereits genau festgelegt wurden. Die bei den Hindus vorherrschende Meinung lässt jedoch die Möglichkeit von Änderungen offen. Man glaubt, der vom Schicksal vorgesehene und in Horoskopen erkennbare Ablauf der Ereignisse sei nicht unausweichlich, vielmehr könne drohendes Unheil noch durch rituelle Handlungen abgewendet werden.
Ein Sonderphänomen ist die Lehre der Ajivikas, einer nichthinduistischen philosophischen Richtung, die ab der Zeit des Buddha Gautama Siddharta in Indien bezeugt ist und vermutlich bis zum 15. Jahrhundert fortbestand. Nach der Meinung der Ajivikas ist das Schicksal streng determiniert. Es gibt keinen freien Willen, vielmehr folgt alles einer naturgesetzlichen Notwendigkeit (niyati). Somit kann der Mensch sein Geschick nicht beeinflussen. Er ist der Notwendigkeit hilflos ausgeliefert. Die Ajivikas bestritten die Existenz einer moralischen Weltordnung. Sie verwarfen die Idee, dass die Daseinsbedingungen der Seele nach dem Tod des Körpers und in künftigen Inkarnationen von den zuvor begangenen guten oder schlechten Taten abhängen. Nach ihrer Lehre hat die Befolgung oder Missachtung ethischer Normen keine Auswirkungen nach dem Tode. Verdienst und Sünde sind keine objektiven Realitäten, die aufgrund einer universellen Gesetzmäßigkeit Belohnung bzw. Strafe nach sich ziehen. Dadurch unterscheidet sich die Ajivika-Philosophie grundlegend vom Hinduismus, Jainismus und Buddhismus, die das Geschick vom Karma, den vergangenen Taten, und damit von menschlichen Willensakten abhängig machen.
Im Sikhismus, der sowohl hinduistisches als auch islamisches Gedankengut aufgreift, wird das Karma-Prinzip (hier als karam) übernommen und damit die Verantwortung des Menschen für seine Lebensumstände und seine Zukunft etabliert. Daneben enthält das Adi Granth, die Grundlagenschrift der Sikh-Religion, aber auch deutlich fatalistische Aussagen. So wird festgestellt, alle Handlungen der Menschen wie Reden, Essen, Gehen, Sehen, Hören und Atmen seien im Sinne einer Vorherbestimmung „aufgeschrieben“ (lekhai). Diese Schrift stamme von Gott und könne nicht getilgt werden.
Chinesische Konzepte
Konfuzianismus
Konfuzius (551–479 v. Chr.), der Begründer des Konfuzianismus, hielt den „Himmel“ (chinesisch 天 tiān) für den Garanten der Weltordnung, in die der Mensch einbezogen ist. Nach konfuzianischem Verständnis lenkt der Himmel den Verlauf des menschlichen Lebens und setzt jeder Person ihre Bestimmung, die Aufgabe, die sie zu erfüllen hat, und das Ziel, das erreicht werden muss. Diese vorgegebene Bestimmung ist der „Auftrag des Himmels“ (天命 tiān mìng). Jedem Menschen hat der Himmel sein persönliches Schicksal (命 mìng) auferlegt. Das Wort mìng hat die Grundbedeutung Auftrag oder Geheiß. Für Konfuzius hat der Himmel einen Willen, von dem abhängt, ob der Mensch den rechten Weg, einen ethischen Lebenswandel, findet oder nicht. Dazu soll der Meister bemerkt haben: „Ob man den rechten Weg beschreiten wird, das ist Schicksal. Ob man den rechten Weg verwerfen wird, das ist Schicksal.“ Nach der konfuzianischen Lehre sendet der Himmel das Schicksal, er bestimmt über Leben und Tod, über Krankheit, Reichtum und Ansehen, Talent und charakterliche Veranlagung. Konfuzius meinte, die Zuweisung der Gaben erfolge willkürlich, die Gründe seien nicht erkennbar, da der Himmel schweige. Der einflussreiche Konfuzianer Mengzi, der im 4. und frühen 3. Jahrhundert v. Chr. lebte, betonte ebenfalls die Lenkung durch den Himmel, doch er wies dem menschlichen Willen eine gewichtigere Rolle zu als Konfuzius.
Inwieweit der Himmel im frühen Konfuzianismus als moralische Instanz betrachtet wurde, geht aus den Quellen nicht eindeutig hervor und ist in der Forschung umstritten. Manche Aussagen lassen auf die Vorstellung einer blinden, moralisch indifferenten Schicksalsmacht schließen, andere basieren auf der Idee einer Belohnung oder Bestrafung der menschlichen Taten unter ethischem Gesichtspunkt.
Auch Vorgänge, die ausschließlich zum Bereich menschlicher Entscheidungsfreiheit zu gehören scheinen, wie ein Kriegszustand, werden im Konfuzianismus als Eingriffe einer übergeordneten Macht empfunden, gegen die man nichts vermag. So bemerkte Mengzi: „Der Himmel will es noch nicht, dass auf der Erde Friede herrscht!“ Auch das Charisma (德 dé), eine sehr geschätzte Wirkkraft einzelner Personen, wird aus konfuzianischer Sicht vom Himmel verliehen. Das dé wird nur auserwählten Menschen zuteil, den Weisheitslehrern – insbesondere Konfuzius – und besonders begnadeten Herrschern. Wer über die damit verbundene Macht verfügt, dem ist der Erfolg sicher.
Der Konfuzianismus unterscheidet zwischen den vom Schicksal festgelegten Lebensumständen und den Verhältnissen und Vorgängen im Inneren des Menschen, die in dessen Zuständigkeit und Verantwortung fallen. Die Aufgabe des Weisen besteht darin, sein Schicksal zu erkennen und es gehorsam und gelassen hinzunehmen, während er in seinem Inneren die Tugendhaftigkeit kultiviert. Nach Mengzis Lehre erreicht der Mensch die richtige Haltung gegenüber den äußeren Gegebenheiten durch das Ausschöpfen der in ihm selbst liegenden geistigen und sittlichen Möglichkeiten. So gerüstet kann er gelassen die Entwicklungen, die nicht von seinem Willen abhängen, abwarten und sich dem Schicksal stellen. Die Macht des mìng soll dabei nicht missachtet, sondern mit Respekt betrachtet werden.
Hinsichtlich der Lebenspraxis hat die konfuzianische Respektierung schicksalhafter Gegebenheiten keine resignative Haltung zur Folge. Vielmehr wird die Empfehlung, das Schicksal zu akzeptieren, mit der Forderung verbunden, tätig zu sein und die persönliche Aufgabe, den Auftrag des Himmels, zu erfüllen.
Im Falle eines Herrschers zeigt dessen Machtübernahme an, dass er zunächst das Mandat des Himmels erhalten hat. Hier gilt der Grundsatz: Der Himmel redet nicht, aber er gibt sich durch seine Wirkungen zu erkennen. In der Folgezeit orientiert sich der Himmel an den Handlungen des Herrschers und entzieht ihm, wenn er versagt, das Mandat. Den Geschichtsverlauf bestimmt somit die Wechselwirkung der himmlischen Schicksalsmacht mit den menschlichen Entscheidungen.
Mohismus
Eine dezidierte Gegenposition zur fatalistischen Tendenz im Konfuzianismus nahm der Philosoph Mozi (Mo Di) ein, der im 5. Jahrhundert v. Chr. den „Mohismus“ begründete. Er bekämpfte den Fatalismus energisch. In der nach ihm benannten Textsammlung Mozi, einer von den Mohisten arrangierten Zusammenstellung ihrer Lehren, trägt ein drei Kapitel umfassender Teil den Titel Fēi mìng (Gegen [den Glauben an] das Schicksal). Vor allem warf Mozi denen, „die annehmen, dass es eine Vorherbestimmung gibt“, die sozialen Folgen ihrer Weltsicht vor. Fatalismus führe zum Zusammenbruch von Loyalität, Moral und Anstand sowohl im Familienleben als auch im Staat. Wenn der Schicksalsglaube Einfluss erlange, bestimme egoistische Rücksichtslosigkeit, Pflichtvergessenheit und Treulosigkeit das Verhalten der Menschen.
Das mohistische Verdammungsurteil über den Fatalismus betrifft nicht das Konzept einer lenkenden höheren Macht als solches. Abgelehnt wird nur der Glaube an ein „blindes“ Schicksal, das unabhängig von den jeweiligen ethischen Entscheidungen der Menschen von vornherein vorgegeben ist. Eine gerecht zuteilende Weltordnung hingegen wird bejaht. Der Mohismus postuliert, der Himmel habe einen Willen, er fördere die Rechtschaffenheit, belohne gutes Verhalten und bestrafe schlechtes. Mozis antifatalistischer Kampf richtete sich gegen die tonangebenden Gelehrten seiner Zeit, die rú (儒). Nach seiner Darstellung behaupteten die rú, der Himmel habe den einzelnen Individuen Langlebigkeit oder frühen Tod, Armut oder Reichtum, Sicherheit oder Gefahr vorherbestimmt. Sie meinten, diese Güter könnten weder vermehrt noch vermindert werden, und auch wenn man über die Schicksalsfügungen Bescheid wisse, könne man nichts daran ändern. Aus solchen fatalistischen Annahmen ließ sich nach Mozis Argumentation folgern, die Befolgung oder Missachtung moralischer Normen habe keine Auswirkungen. Gegen diese Konsequenz war die mohistische Polemik gerichtet. Mozi befand, sozial erwünschtes Verhalten sei nur dann zu erwarten, wenn in der Gesellschaft die Überzeugung verwurzelt sei, dass der Mensch selbst für seine guten oder schlechten Taten verantwortlich sei.
Wang Chong
Im 1. Jahrhundert trat der Philosoph Wang Chong als Kritiker des zeitgenössischen Volksglaubens hervor. In der Auseinandersetzung mit damals verbreiteten Vorstellungen entwickelte und begründete er seine Schicksalstheorie. Den Ausgangspunkt bildete seine Kritik an der gängigen Meinung, die Geschicke der Menschen würden vom gerechten Himmel gesteuert, der Verdienste belohne und Übeltaten bestrafe. Dem stellte Wang sein Konzept entgegen, das besagt, dass die Natur eines Menschen, sein individueller Charakter (性 xìng), in keinem Zusammenhang mit seinem Schicksal (命 mìng) steht. Gutes und schlechtes Handeln hängen vom Charakter ab, Glück und Unglück vom Schicksal. Gute Menschen sind ebenso wie schlechte in manchen Fällen vom Glück begünstigt und in anderen nicht. Das gilt für die naturgegebenen Lebensbedingungen ebenso wie für zwischenmenschliche Verhältnisse. Herrscher belohnen und bestrafen ihre Untertanen nicht nach deren wirklichen Leistungen und Verfehlungen, sondern willkürlich; sie missachten loyale Diener und stützen sich auf unzuverlässige.
Wang Chong stützte seine Argumentation nicht nur auf seinen empirischen Befund, dass im menschlichen Leben kein beobachtbarer Zusammenhang zwischen der Moral und Glücksfällen oder Schicksalsschlägen bestehe. Darüber hinaus wies er darauf hin, dass für die Menschenwelt dieselben Gesetzmäßigkeiten anzunehmen seien wie für die Natur im Allgemeinen. Wangs Überlegung lautet: Wenn ein Mensch an einem Ort läuft, wo Ameisen sind, dann sterben diejenigen Ameisen, auf die er tritt, während die anderen überleben. Wenn ein Feuer ausbricht, verbrennen manche Grashalme und andere nicht. Wenn eine Gruppe Menschen von Bewaffneten angegriffen wird, werden einige verwundet, andere können unverletzt entkommen. Die einzelnen Grashalme und Ameisen werden nicht belohnt oder bestraft, weil sie gut oder schlecht sind. Somit ist dasselbe für die Menschen anzunehmen. Der Mensch wird zwar vom Himmel und der Erde hervorgebracht, aber nicht absichtlich, denn die Natur hat kein Bedürfnis nach diesem Erdbewohner und keine Sympathie für ihn. Himmel und Erde verhalten sich zum Menschen wie der Mensch zu den Läusen.
Demnach hängt der Verlauf des menschlichen Lebens ebenso wie bei Tieren und Pflanzen davon ab, ob man Glück oder Pech hat. Das Individuum kann nichts dafür. Den bestimmenden Faktor sah Wang aber nicht in einem chaotischen Zusammentreffen von Kausalketten. Vielmehr behauptete er, alles sei von mìng, der Schicksalsmacht, vorherbestimmt. Beispielsweise sei die Lebensdauer von einer angeborenen Veranlagung abhängig. Der Unterschied zum konfuzianischen Prädestinationskonzept besteht darin, dass Wang die Instanz, die das Schicksal festlegt, nicht mit dem gütigen und gerechten Himmel gleichsetzte, sondern sie für ethisch indifferent hielt. Nach seinem Verständnis gibt es in der Natur Prädestination, aber keine moralischen Kriterien. Das gilt nicht nur für Individuen, sondern auch für Staaten. Auch sie sind den Schicksalsfügungen unterworfen, und daran können keine Bemühungen weiser Herrscher etwas ändern. Das kollektive Schicksal eines Landes ist stärker als das individuelle seiner Einwohner. Deswegen sind die Bürger alle gleichzeitig Nutznießer oder Leidtragende großer Ereignisse und allgemeiner Zustände, obwohl ihre individuelle Vorherbestimmung unterschiedlich wäre.
Wang ging auf ein Beispiel des Konfuzianers Mengzi ein. Dieser hatte empfohlen, man solle sich zwar dem Schicksal fügen, aber den Gefahren durch verantwortliches Handeln begegnen. Wer das Schicksal begriffen habe, stelle sich nicht unter eine einsturzgefährdete Mauer. Wangs Einwand dagegen lautet: Der, dem es bestimmt ist, auf solche Art zu Tode zu kommen, dem ist es auch bestimmt, zur passenden Zeit unter eine solche Mauer zu geraten.
Afrikanische Religionen
In afrikanischen ethnischen Religionen erscheint die höchste Gottheit oft als Schicksalsmacht. Nach einer in Benin verbreiteten Vorstellung wird das vorbestimmte Schicksal (fa) von der Himmelsgöttin Mawu festgelegt, es ist „die Schrift Mawus“. Bei den Ewe wird Mawu als männlich aufgefasst; er bestimmt den Charakter, die Begabung und die Geschicke jedes Menschen. Seine Ungerechtigkeit wird beklagt. Im traditionellen Glauben der Aschanti gilt der Grundsatz, dass das Schicksal vom höchsten Wesen im Voraus festgelegt wurde und man daran nichts ändern kann. Bei den Kpelle ist der herrschende Gott der eigentliche Verursacher aller Geschehnisse. Er bemisst die Lebenszeit und teilt den Menschen und Tieren ihre Geschicke zu; der Jäger sagt, dass er „sein“ Tier erlegt hat, das heißt das ihm von Gott zugewiesene. Fatalistische Vorstellungen, denen zufolge das höchste Wesen der souveräne Beherrscher der Daseinsmächte ist und den einzelnen Menschen Glück und Unglück willkürlich zuteilt, prägen auch in den indigenen Religionen der Schilluk, Kaffa, Massai, Chagga, Ovambo, Barundi, Ila und Dama das Weltbild.
Literatur
Allgemeine Übersichtsdarstellungen
Gregor Ahn u. a.: Schicksal. In: Theologische Realenzyklopädie. Band 30, de Gruyter, Berlin 1999, ISBN 3-11-016243-1, S. 102–122.
Chantal Hasnoui: Fatalisme. In: Encyclopédie philosophique universelle. Band 2: Les notions philosophiques. Dictionnaire, Teilband 1: Philosophie occidentale: A–L. Presses Universitaires de France, Paris 1990, ISBN 2-13-041442-7, S. 957–963.
Monika Oertner: Fatalismus. In: Hans Jörg Sandkühler (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie. Band 1, Meiner, Hamburg 2010, ISBN 978-3-7873-1999-2, S. 701–706.
Jürgen Ruhnau: Fatalismus. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 2, Schwabe, Basel 1972, Sp. 913–915.
Allgemeine Untersuchungen
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Steven M. Cahn: Fate, Logic, and Time. Yale University Press, New Haven/London 1967.
William Lane Craig: The Problem of Divine Foreknowledge and Future Contingents from Aristotle to Suarez. Brill, Leiden u. a. 1988, ISBN 90-04-08516-5.
Helena Eilstein: Life Contemplative, Life Practical. An Essay on Fatalism. Rodopi, Amsterdam 1997, ISBN 90-420-0183-6 (erörtert moderne Hypothesen zur Logik von Fatalismus und Antifatalismus).
Monika Oertner: Fatalismus. Eine Begriffs-, Phänomen- und Problemanalyse unter exemplarischer Berücksichtigung der Lehren Chrysipps und Calvins. Hartung-Gorre, Konstanz 2005, ISBN 3-86628-031-9.
Aufsatzsammlungen
Steven M. Cahn, Maureen Eckert (Hrsg.): Fate, Time, and Language. An Essay on Free Will. David Foster Wallace. Columbia University Press, New York 2011, ISBN 978-0-231-15157-3 (Aufsätze zum logischen Fatalismus).
John Martin Fischer, Patrick Todd (Hrsg.): Freedom, Fatalism, and Foreknowledge. Oxford University Press, Oxford 2015, ISBN 978-0-19-994241-1.
Helmer Ringgren (Hrsg.): Fatalistic Beliefs in Religion, Folklore, and Literature. Almqvist & Wiksell, Stockholm 1967.
Alter Orient
Jack N. Lawson: The Concept of Fate in Ancient Mesopotamia of the First Millennium. Toward an Understanding of Šīmtu. Harrassowitz, Wiesbaden 1994, ISBN 3-447-03541-2.
Janice Polonsky: The Rise of the Sun God and the Determination of Destiny in Ancient Mesopotamia. ProQuest, Ann Arbor 2002 (Dissertation).
Antike
David Amand: Fatalisme et liberté dans l’antiquité grecque. Hakkert, Amsterdam 1973, ISBN 90-256-0646-6 (Nachdruck der Ausgabe Louvain 1945).
Bernard Clive Dietrich: Death, Fate and the Gods. The development of a religious idea in Greek popular belief and in Homer. 2., korrigierte Auflage, Athlone Press, London 1967.
Aldo Magris: L’idea di destino nel pensiero antico. 2 Bände, Del Bianco, Udine 1984.
Heinrich Otto Schröder: Fatum (Heimarmene). In: Reallexikon für Antike und Christentum. Band 7, Hiersemann, Stuttgart 1969, Sp. 524–636.
Reinhard Gregor Kratz, Hermann Spieckermann (Hrsg.): Vorsehung, Schicksal und göttliche Macht. Antike Stimmen zu einem aktuellen Thema. Mohr Siebeck, Tübingen 2008, ISBN 978-3-16-149463-5.
Mittelalter
Stamatios Gerogiorgakis: Futura contingentia, necessitas per accidens und Prädestination in Byzanz und in der Scholastik. Peter Lang, Frankfurt 2017, ISBN 978-3-631-65485-9.
Neuzeit
Franziska Rehlinghaus: Die Semantik des Schicksals. Zur Relevanz des Unverfügbaren zwischen Aufklärung und Erstem Weltkrieg. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2015, ISBN 978-3-525-36724-7.
Germanische Traditionen
Anthony Winterbourne: When the Norns Have Spoken. Time and Fate in Germanic Paganism. Fairleigh Dickinson University Press, Madison 2004, ISBN 0-8386-4048-6.
Islam
ʿAbd-al-Ḥosayn Zarrīnkūb: Fatalism. In: Ehsan Yarshater (Hrsg.): Encyclopædia Iranica. Band 9, Bibliotheca Persica Press, New York 1999, ISBN 0-933273-35-5, S. 396–398.
Helmer Ringgren: Studies in Arabian Fatalism. Harrassowitz, Wiesbaden 1955.
Hinduismus
Peter Hill: Fate, Predestination and Human Action in the Mahābhārata: A Study in the History of Ideas. Munshiram Manoharlal, New Delhi 2001, ISBN 81-215-0855-X, S. 195–230.
China
Yixia Wei: The Chinese Philosophy of Fate. Springer, Singapore 2017, ISBN 978-981-10-4369-7.
Weblinks
Anmerkungen
Weltanschauung
Philosophische Logik
Philosophie der Antike
Chinesische Philosophie |
1332002 | https://de.wikipedia.org/wiki/Apsley%20Cherry-Garrard | Apsley Cherry-Garrard | Apsley George Benet Cherry-Garrard (* 2. Januar 1886 in Bedford, Bedfordshire; † 18. Mai 1959 in London) war ein britischer Polarforscher, der an der Terra-Nova-Expedition (1910–1913) unter Robert Falcon Scott in die Antarktis teilnahm. Bei dieser Forschungsreise war er unter anderem am Wintermarsch zum Kap Crozier beteiligt und Mitglied einer von mehreren Unterstützungsgruppen, die Scott und vier Begleitern den Vorstoß zum geographischen Südpol ermöglichten. Cherry-Garrard gehörte auch der Suchmannschaft an, die im November 1912 das letzte Lager der Südpolgruppe mit den Verstorbenen Scott, Wilson und Bowers fand. Die Expeditionserlebnisse schilderte er im 1922 erschienenen Buch The Worst Journey in the World, das inzwischen zu den Klassikern der Reise- und Polarliteratur gehört.
Nach einer medizinischen Forschungsreise nach China im Jahr 1914 und seinem Militärdienst im Ersten Weltkrieg traten bei Cherry-Garrard im Jahr 1916 schwere gesundheitliche Probleme zutage, die vermutlich durch die traumatischen Erlebnisse bei der Terra-Nova-Expedition hervorgerufen wurden und unter denen er den Rest seines Lebens, den er als Privatier verbrachte, litt.
Herkunft und Jugend
Apsley Cherry-Garrard wurde im Haus Nr. 15 in der Landsdowne Road der südenglischen Stadt Bedford geboren. Seine Eltern waren Generalmajor Apsley Cherry (später Cherry-Garrard, 1832–1907), Companion des Order of the Bath (CB) und Justice of Peace (JP), und dessen Ehefrau Evelyn Edith (geb. Sharpin, 1857–1946). Apsley Cherry-Garrard war ihr ältestes Kind und einziger Sohn neben fünf Töchtern. Die ursprünglich aus Frankreich stammende Familie Cherry gehörte zur wohlhabenden viktorianischen Mittelschicht. Cherry-Garrards Vater hatte als Offizier der britischen Armee im Indischen Aufstand von 1857 sowie in der südafrikanischen Kapkolonie im Grenzkrieg von 1877 und im Zulukrieg von 1879 gedient.
Seine Jugend verlebte Apsley Cherry-Garrard auf dem Familienlandsitz Denford Park in Kintbury, Berkshire und ab 1892 auf dem Anwesen Lamer Park in Wheathampstead, Hertfordshire. Letzteres hatte seit der Mitte des 16. Jahrhunderts der väterlichen Familienlinie der Garrards gehört und war durch Erbschaft in den Besitz von Cherry-Garrards Vater übergegangen. Hierdurch waren seinem Vater auch Wappen und Name der Garrards zugefallen.
Im Alter von sieben Jahren schickten ihn seine Eltern zur Grange Preparatory School in Folkestone in der Grafschaft Kent. Später besuchte er das Winchester College und graduierte in klassischer Philologie und neuer Geschichte als Bachelor of Arts (B.A.) am Christ Church College in Oxford. Cherry-Garrard, der zeitlebens an einer starken Kurzsichtigkeit litt, galt während seiner Schulzeit als schüchterner Einzelgänger, der von seinen sportlich ambitionierten Mitschülern gemieden wurde. In seiner Studienzeit entwickelte er sich zu einem ausgezeichneten Ruderer und 1908 gewann er in einer Auswahlmannschaft seiner Universität im Ruderachter den renommierten Grand Challenge Cup in Henley-on-Thames.
Terra-Nova-Expedition
Cherry-Garrard hatte seinen Vater für dessen abenteuerlichen Lebensstil in jungen Jahren bewundert und war fest entschlossen, ihm darin nachzueifern. Im Jahr 1907 brach er aus diesem Grund zu einer Weltreise an Bord von Frachtschiffen auf. Während er sich im australischen Brisbane aufhielt, erfuhr er, dass Robert Falcon Scott seine zweite Antarktis-Expedition plante, um als Erster den geographischen Südpol zu erreichen. Als sich Scotts Vertrauter Edward Wilson im Herbst 1908 auf dem schottischen Landsitz eines Cousins von Cherry-Garrard aufhielt, nutzte er die Gelegenheit, sich über Wilson für die Teilnahme an der Forschungsreise zu bewerben. Nachdem Scott ihn trotz Wilsons Fürsprache zunächst abgelehnt hatte, erklärte sich Cherry-Garrard bereit, der Expedition auch ohne Gegenleistung £ 1000 (heute rund £ ) zur Verfügung zu stellen. Scott war derart beeindruckt von dieser Geste, dass er ihn schließlich offiziell als Assistenz-Zoologen, de facto als Wilsons Gehilfen rekrutierte. Cherry-Garrard und Lawrence Oates, der für die Betreuung der mitgeführten Mandschurischen Ponys verantwortlich war, waren die einzigen Expeditionsmitglieder, die für ihre Teilnahme Geld bezahlten. Er gehörte trotz Seekrankheit zu dem Teil der Mannschaft, der die gesamte Reisestrecke von Cardiff bis zum Kap Evans auf der Ross-Insel zwischen dem 15. Juni 1910 und dem 4. Januar 1911 mit dem Forschungsschiff Terra Nova zurücklegte.
Während anfangs insbesondere wissenschaftliche Expeditionsteilnehmer auf Cherry-Garrard wegen seiner fehlenden Qualifikationen spöttisch reagierten, schrieb Scott, er sei und Im Basislager war Cherry-Garrard unter anderem maßgeblich mit der Anfertigung eines Expeditionsjournals betraut, nachdem ihn Scott bereits vor Beginn der Forschungsreise angewiesen hatte, die Handhabung einer Schreibmaschine zu erlernen. Als Herausgeber der South Polar Times stand Cherry-Garrard in direkter Nachfolge zu Ernest Shackleton und Louis Bernacchi, die diese Aufgabe nacheinander während Scotts Discovery-Expedition (1901–1904) übernommen hatten. Mit Lawrence Oates, Henry Bowers, Edward Atkinson und Cecil Meares bezog er ein gemeinsames Quartier in der Expeditionshütte. Zu diesen Männern sowie zu Edward Wilson entwickelte er freundschaftliche Beziehungen.
Errichtung der Versorgungsdepots
Am 24. Januar 1911 begann die Mannschaft, wie Cherry-Garrard es beschrieb , mit dem Anlegen von Depots für den geplanten Marsch zum geographischen Südpol. Er gehörte zu einer von Scott geleiteten 13-köpfigen Gruppe, die an diesem Tag mit acht Ponys und 29 Schlittenhunden zu einem Transportmarsch von Vorräten und Ausrüstungsgegenständen zum alten Quartier von Scotts Discovery-Expedition auf der Hut-Point-Halbinsel aufbrach. Es war der erste einer ganzen Reihe von Märschen, an deren Ende Cherry-Garrard mit umgerechnet 4923 km die längste Wegstrecke aller Expeditionsteilnehmer zurückgelegt hatte. Das Ziel der Versorgungsmärsche lautete, neben weiteren Vorratslagern das südlichste Depot auf einer geographischen Breite von 80° S auf dem Ross-Schelfeis zu errichten.
Das Vorhaben misslang wegen schlechten Wetters und eines weichen Untergrunds, in den die Ponys, insbesondere wenn sie keine Schneeschuhe trugen, bis zum Bauch einsanken. Am 17. Februar schließlich ließ Scott das sogenannte One Ton Depot bei 79° 29′ S anlegen, etwa 56 km nördlich der angepeilten Position und rund 240 km südlich der Hut-Point-Halbinsel. Einige der Männer, unter ihnen Cherry-Garrard, litten zu diesem Zeitpunkt bereits an Erfrierungen im Gesicht. Bei der Rückkehr zum Basislager in getrennten Teams bis Ende Februar 1911 gingen sechs der acht Ponys durch Kälte und Erschöpfung zugrunde. Allein drei von vier Pferden starben beim gemeinsamen Versuch Cherry-Garrards, Bowers’ und Tom Creans, die Tiere über eine aufbrechende Eisfläche zwischen der Hut-Point-Halbinsel und Kap Evans zurückzuführen.
Am 16. März 1911 unternahm Cherry-Garrard mit sieben Begleitern unter der Führung des stellvertretenden Expeditionsleiters Edward Evans einen letzten Depotmarsch auf das Ross-Schelfeis vor Beginn des antarktischen Winters. Die Gruppe geriet in einen Schneesturm, durch den sie in einem Gelände mit zahlreichen Gletscherspalten zwischenzeitlich die Orientierung verlor und nur mit Mühe zum sogenannten Corner Camp östlich von White Island gelangte. Der Rückweg verlief dagegen reibungslos, so dass die Mannschaft wohlbehalten am 23. März am Hut Point eintraf.
Wintermarsch zum Kap Crozier
Am 27. Juni 1911 brach Cherry-Garrard gemeinsam mit Henry Bowers und Edward Wilson mitten im antarktischen Winter, in den die Brutsaison der Kaiserpinguine fällt, auf zu einem Marsch zu einer Kolonie dieser Vögel am Kap Crozier, um dort angebrütete Pinguineier einzusammeln. Die in den Eiern enthaltenen Embryonen sollten als Untersuchungsmaterial dienen, um die von Ernst Haeckel aufgestellte, inzwischen jedoch weitgehend widerlegte Rekapitulationstheorie nachzuvollziehen, nach der die Embryogenese eine verkürzte Wiederholung der Phylogenese eines Organismus darstellt. Der Kaiserpinguin galt damals als besonders primitiver Vogel, dessen embryonale Entwicklung einen Hinweis auf den Missing Link in der Evolution von Vögeln und Reptilien geben sollte.
Die drei Männer mussten ihre beiden Transportschlitten mit einem Gesamtgewicht von etwa 400 kg in fast ständiger Dunkelheit und bei Temperaturen von bis zu −60,8 °C selbst ziehen, um die Distanz von rund 97 km von der Expeditionshütte am Kap Evans bis zum östlichen Ende der Ross-Insel zurückzulegen. In ihrer steifgefrorenen Kleidung kamen sie zeitweilig weniger als 3 km pro Tag voran. Cherry-Garrard notierte: Zudem zwang sie das hohe Gewicht der Schlitten nach Erreichen des Ross-Schelfeises am 28. Juni zu rollierenden Etappen: Nach Transport eines Teils ihrer Ausrüstung über eine gewisse Strecke kehrten sie um, um den anderen Teil zu holen. Sie experimentierten auf dem Hinweg in Scotts Auftrag mit ihrer Ernährung in Vorbereitung auf den bevorstehenden Südpolmarsch. Während sich Wilson und Bowers fett- beziehungsweise proteinreich ernährten, verzehrte Cherry-Garrard vorwiegend kohlenhydratreiche Kost in Form von Keksen, was bei ihm zu anhaltendem Hungergefühl und Sodbrennen führte. Laut den Aufzeichnungen Edward Wilsons litt Cherry-Garrard außerdem stärker als seine Begleiter unter Erfrierungen an Händen, Füßen und im Gesicht. Nachdem sie zunächst in einiger Entfernung zur südwestlichen Küste der Ross-Insel nach Osten vorgedrungen waren, erreichten sie am 9. Juli in dichtem Nebel den sogenannten Terror Point (), einen küstennahen Ausläufer von Mount Terror in einer Entfernung von noch rund 32 km zu ihrem Ziel. Drei Tage lang wurden sie hier durch einen Sturm aufgehalten. Danach waren die Temperaturen auf bis zu −13 °C gestiegen. Dadurch glitten die Kufen der Transportschlitten besser, und die Männer kamen teilweise mehr als 12 km pro Tag voran.
Am 15. Juli schließlich erblickten Cherry-Garrard und seine beiden Begleiter den sogenannten Knoll, einen markanten Flankenvulkan von Mount Terror, dessen steil abfallende östliche Flanke das Kap Crozier bildet.
Hierzu hatten die Männer zunächst Kap MacKay () umrundet und danach ein Gebiet mit stark zerklüfteten Eisrücken passiert. Nach einem Aufstieg über etwa 250 Höhenmeter an den Gebirgsausläufern des Knoll errichteten Cherry-Garrard, Wilson und Bowers drei Tage lang eine notdürftige Schutzhütte () aus Felsblöcken, Schnee und einer Leinenplane als Dach. Beeindruckt von der sie umgebenden Szenerie schrieb Cherry-Garrard:
Am 18. Juli hatten sich Cherry-Garrard, Wilson und Bowers nach einem mühsamen Abstieg zur Eiskante der Kolonie der Kaiserpinguine bis auf Hörweite genähert, mussten jedoch unverrichteter Dinge wieder umkehren, nachdem sie im Gewirr der Eisverwerfungen am Kap in eine Sackgasse geraten waren. Am nächsten Tag gelang es ihnen, über einen steileren Weg und nach Durchkriechen eines natürlichen Eistunnels zu einer Klippe vorzudringen, auf der etwa hundert Vögel brüteten. Überschwänglich notierte Cherry-Garrard: . Sie töteten und häuteten drei der Tiere zur Trangewinnung und sammelten fünf Eier ein, die sie in ihren an Bändern um den Hals befestigten Fellhandschuhen transportierten. Auf dem Rückweg zum Lager, das sie in der Dunkelheit nur mit äußerster Mühe fanden, zerbrachen Cherry-Garrard zwei der Eier; die restlichen drei Exemplare wurden für den Rücktransport in Alkohol konserviert.
Die folgenden Tage ihres Aufenthalts am Kap Crozier waren von Rückschlägen geprägt. Beim Auskochen der Pinguinhäute in ihrer Schutzhütte wurde Wilson durch spritzenden heißen Tran am Auge verletzt. Zudem setzte ein weiterer Sturm ein. Am Morgen des 22. Juli stellten die Männer fest, dass der Sturm das neben der Schutzhütte errichtete Zelt fortgerissen hatte, wodurch eine sichere Rückkehr zum Kap Evans in ernsthafte Gefahr geriet. Cherry-Garrard notierte: Am Mittag des 23. Juli – Wilsons Geburtstag – zerriss der Sturm die als Dach ihrer Hütte dienende Leinenplane, wodurch die Männer zunehmend von Schnee verschüttet und ohne Möglichkeit der Nahrungsaufnahme einen Tag lang in ihren Schlafsäcken verbringen mussten. Als am 24. Juli der Sturm für einige Zeit abflaute und sie von der Anhöhe ein Stück weit abgestiegen waren, fanden sie das nur leicht beschädigte Zelt, das sich an einem Felsblock verfangen hatte. Schwindende Brennstoffvorräte, ein defekter Blubberofen und ihre durch den Sturm ramponierte Schutzhütte ließen eine weitere Exkursion zur Pinguinkolonie nicht zu.
Cherry-Garrard, Wilson und Bowers ließen einen der beiden Transportschlitten und entbehrliche Ausrüstung zurück und starteten am 25. Juli zu ihrem Rückweg zum Basislager am Kap Evans. Übermüdet, gegen einen heftigen Wind ankämpfend und in ständiger Gefahr, in der Dunkelheit in eine Gletscherspalte zu stürzen, kamen sie anfangs nur schleppend voran. Cherry-Garrard schrieb hierzu: Sie legten deutlich größere Strecken zurück, nachdem sie am 28. Juli auf Höhe des Terror Point wieder in den Windschatten der Ross-Insel gelangt waren. Der Windschatten sorgte wiederum für sinkende Temperaturen. Gemäß Cherry-Garrards Aufzeichnungen lag der Tiefstwert auf dem Rückweg bei −54,4 °C. Seine Zähne waren erfroren und begannen zu zersplittern. Am 31. Juli trafen die drei Männer an der Hütte am Hut Point ein, die jedoch zu diesem Zeitpunkt von keinem der anderen Expeditionsmitglieder besetzt war. Nach einer mehrstündigen Rast in ihrem Zelt, das sie in der ungastlichen Hütte errichtet hatten, brachen sie am Morgen des 1. August zu ihrer Schlussetappe zum Basislager am Kap Evans auf, das sie am späten Abend desselben Tages nach insgesamt 36 Tagen Reisedauer erreichten. Nachdem Scott sie erblickt hatte, hielt er im Tagebuch fest: und
Südpolmarsch
Das erstmalige Erreichen des geographischen Südpols war das Hauptziel der Terra-Nova-Expedition. Scott und vier weitere Expeditionsteilnehmer trafen dort zwar am 18. Januar 1912 ein, jedoch rund fünf Wochen später als Roald Amundsen und dessen Mannschaft. Auf dem Rückweg zum Basislager starben Scott und seine Begleiter an Unterernährung, Krankheit und Unterkühlung.
Vorbereitung
Am 10. August 1911 hatte Scott bestimmten Expeditionsmitgliedern die Betreuung je eines der verbliebenen zehn Ponys auferlegt. Cherry-Garrard fiel das Training des Wallachs Michael für den bevorstehenden Südpolmarsch zu. Gemeinsam mit Wilson, Oates und Crean unternahm er am 6. Oktober einen letzten Härtetest, bei dem die vier Ponys der Männer schwere Lasten auf Transportschlitten vom Kap Evans zur Hut-Point-Halbinsel ziehen mussten.
Hinweg
Am 1. November 1911 brachen zwölf Expeditionsteilnehmer, darunter Cherry-Garrard und Scott, mit zehn Ponys und zwei Hundegespannen auf zum Südpolmarsch. Bereits seit dem 24. Oktober waren Edward Evans, William Lashly, Bernard Day (1884–1934) und Frederick Hooper (1891–1955) mit den beiden Motorschlitten nach Süden unterwegs. Am 4. November stieß Cherry-Garrard gemeinsam mit Scott und Wilson etwa 26 km südlich der Hut-Point-Halbinsel auf den ersten zurückgelassenen Motorschlitten und nur einen Tag später unweit des Corner Camp auch auf den zweiten. Nachdem die Mannschaft am 15. November am One Ton Depot eingetroffen war, entschied Scott angesichts der Erschöpfung zweier Ponys, alle Pferde höchstens bis zum Erreichen des Beardmore-Gletschers als Zugtiere einzusetzen und sie unterwegs bei Bedarf zur Versorgung der Hundegespanne zu töten. Cherry-Garrard nahm diese Entscheidung mit Erleichterung auf: Am 21. November hatten sie die vierköpfige Gruppe um Edward Evans bei 80° 32′ S eingeholt. Drei Tage später wurde das erste Pony erschossen. Am nächsten Morgen machten sich Day und Hooper als erste Unterstützungsgruppe auf den Rückweg zum Basislager. Die weiter nach Süden vorstoßenden Männer errichteten am 1. Dezember bei 82° 47′ S das letzte Depot auf dem Ross-Schelfeis, nachdem drei weitere Ponys getötet worden waren. Insbesondere für Edward Evans und William Lashly, die seit dem Ausfall der Motorschlitten Ausrüstung und Proviant selbst ziehen mussten, war das Pferdefleisch als Nahrung nach Darstellung Cherry-Garrards Am 4. Dezember schließlich wurde auch Cherry-Garrards Pony Michael zur Versorgung der Hunde und wegen mangelnden Pferdefutters geopfert. Dies geschah in einem Lager im Mündungsgebiet des Beardmore-Gletschers in das Ross-Schelfeis. Nachdem ein Sturm die Männer vier Tage lang in diesem Lager aufgehalten hatte, zog Cherry-Garrard auf der nächsten Etappe einen der Transportschlitten gemeinsam mit Henry Bowers.
Nach Erreichen des Beardmore-Gletschers am 9. Dezember wurden die restlichen fünf Ponys an einem Lagerplatz geschlachtet, den Scott daraufhin Shambles Camp (zu deutsch: Schlachtbank-Lager) benannte. Angesichts der Leistungen der Hundegespanne, mit denen sich Cecil Meares und Dmitri Girew (1889–1932) am 11. Dezember als nächste Unterstützungsgruppe auf den Rückweg begaben, kam Cherry-Garrard zu der Erkenntnis: Beim folgenden Aufstieg über den Beardmore-Gletscher zum Polarplateau standen keine Zugtiere mehr zur Verfügung, so dass die Männer in drei Vierergruppen je einen Transportschlitten mit einem Gewicht von bis zu 400 kg selbst ziehen mussten. Zu Cherry-Garrards Gruppe gehörten Tom Crean, Henry Bowers und Patrick Keohane (1879–1950). Erschwert wurde das Vorankommen durch tiefen Schnee und unvorhersehbare Gletscherspalten. Cherry-Garrard und zahlreiche weitere Männer litten zudem an Schneeblindheit. Zeitweilig kamen sie aufgrund des hohen Gewichts der Schlitten wie zu Beginn des Wintermarschs zum Kap Crozier nur in rollierenden Etappen voran. Am 17. Dezember erreichten sie nach einem Aufstieg über etwa 1100 Höhenmeter den Cloudmaker (), einen markanten Berg am Westrand des Beardmore-Gletschers. Damit hatten sie etwa die Hälfte der Strecke vom Ross-Schelfeis zum Polarplateau zurückgelegt. Die täglich bewältigten Distanzen betrugen – nach anfänglich etwas mehr als 3 km – inzwischen bis zu 29 km.
Scott hatte bis dahin nicht mitgeteilt, wer von seinen verbliebenen elf Begleitern ihn zum Pol begleiten sollte. Am 20. Dezember, nach Erreichen der Buckley-Insel am oberen Ende des Beardmore-Gletschers, erfuhr Cherry-Garrard, dass er nicht dazu gehörte. Cherry-Garrard teilte dieses Schicksal mit Edward Atkinson, Patrick Keohane und Charles Wright (1887–1975).
Die Wege der nach Norden zurückkehrenden Mannschaft mit Cherry-Garrard und der beiden weiter nach Süden vorstoßenden Gruppen trennten sich, nachdem die Männer bis zum Abend des 21. Dezember nach einer schwierigen Wegstrecke über stark zerklüftete Eisrücken und zahlreiche Gletscherspalten weitere 18 km bis zu einer Breite von 85° 7′ S zurückgelegt hatten. Am 3. Januar 1912 hatten die letzten beiden Vierergruppen auf dem Polarplateau eine Breite von 87° 32′ S erreicht. Hier gab Scott seine Entscheidung bekannt, zu fünft statt zu viert, gemeinsam mit Wilson, Oates, Bowers und Edgar Evans den Weg zum Südpol zu vollenden, während Crean, Lashly und Edward Evans ihre Hoffnungen aufgeben und zum Kap Evans umkehren mussten.
Rückweg
Am Morgen des 22. Dezember 1911 begaben sich Cherry-Garrard und seine drei Begleiter auf den etwa 940 km langen Rückweg zum Basislager. Auf Höhe des Cloudmaker überlebten Atkinson und Keohane mehrere schwere Stürze in Gletscherspalten nur knapp. Ab dem Ross-Schelfeis orientierten sich die Männer an den Spuren der Hundegespanne. Durch Nachrichten, die Cecil Meares und Dmitri Girew in den einzelnen Depots auf dem Schelfeis hinterlassen hatten, erfuhren sie, dass die Gespanne durch schlechtes Wetter nur schleppend vorangekommen waren. Da Scott auf dem Hinweg die Hunde wegen der langsameren Ponys bis zu einer Breite von 83° 35′ S als Zugtiere hatte einsetzen lassen, statt, wie ursprünglich geplant, nur bis 81° 15′ S, hatte der längere Rückweg beide Hundeführer dazu gezwungen, sich an den Nahrungsmittelrationen für die späteren Rückkehrergruppen zu vergreifen. Dies erforderte wiederum von Cherry-Garrard und seinen Begleitern, die eigenen täglichen Rationen zu kürzen, bis sie hungrig und entkräftet am 15. Januar 1912 das One Ton Depot erreichten. Dieses Depot war zwischenzeitlich durch einen gemeinsamen Versorgungsmarsch Bernard Days, Frederick Hoopers und der nicht am Südpolmarsch beteiligten Thomas Clissold (1886–1963) und Edward Nelson (1883–1923) aufgestockt worden. Cherry-Garrard, Atkinson, Keohane und Wright litten anschließend wegen zu hastiger Nahrungsaufnahme an einer andauernden Übelkeit. Dennoch erreichten sie ohne weitere Zwischenfälle die Hütte am Hut Point am 26. Januar. Dort erfuhren die Männer, dass die ersten Rückkehrer vom Südpolmarsch (Day und Hooper) am 21. Dezember 1911 am Kap Evans eingetroffen waren.
Lashly, Crean und Edward Evans schlugen als letzte der zurückkehrenden Unterstützungsgruppen am 17. Februar 1912 etwa 50 km südlich des Hut Points ihr letztes Lager auf. Evans’ Gesundheitszustand hatte sich durch eine am 27. Januar eingetretene Skorbuterkrankung lebensbedrohlich verschlechtert. Lashly verblieb mit Evans im Lager, während Crean in einem zweitägigen Gewaltmarsch allein zum Hut Point eilte, um Hilfe zu holen. Atkinson und Girew brachen am 20. Februar mit den Hundegespannen auf und trafen gemeinsam mit Lashly und Evans zwei Tage später wieder am Hut Point ein.
Versorgungsfahrt zum One Ton Depot
Die Hundegespanne mit Meares und Girew waren am 4. Januar 1912 vom Südpolmarsch zur Hut-Point-Halbinsel zurückgekehrt. Die Expeditionsteilnehmer im Basislager waren verunsichert über Scotts Absichten zum weiteren Einsatz der Hunde. So blieb unklar, ob die Gespanne für spätere wissenschaftliche Erkundungsmärsche geschont werden sollten, oder ob mit ihnen die heimkehrende Südpolgruppe unterstützt werden sollte, wie es Scott im Oktober 1911 schriftlich verfügt hatte. Dagegen war sicher, dass nicht genügend Hundefutter am One Ton Depot vorhanden war und durch die Verzögerungen infolge der verspäteten Rückkehr der Hundegespanne, der Bergung von Edward Evans, der Entladung der zur Ross-Insel zurückgekehrten Terra Nova und tagelangen schlechten Wetters keine Zeit verblieb, um Scotts Anordnung umzusetzen, mit Hilfe der Hunde .
Der kritische Gesundheitszustand von Edward Evans erforderte den Verbleib von Edward Atkinson im Basislager als einzig verfügbarem Arzt. Da sich Cecil Meares auf die Heimreise mit der Terra Nova vorbereitete und Charles Wright, der sich als Alternative zu Meares angeboten hatte, die Arbeiten des ebenfalls abreisenden Meteorologen George Simpson (1878–1965) fortsetzen sollte, fiel schließlich Cherry-Garrard die Aufgabe zu, gemeinsam mit Girew und den Hundegespannen den Südpol-Rückkehrern entgegenzufahren. Cherry-Garrard fehlte nach eigenem Bekunden jegliche Erfahrung im Umgang mit Hunden. Zudem verfügte er über nur mangelhafte Navigationskenntnisse.
Cherry-Garrard und Girew brachen am 25. Februar 1912 nach Süden auf. Atkinson hatte angeordnet, mit Proviant für beide Männer, für die Hunde und für die Südpolgruppe so schnell wie möglich zum One Ton Depot zu fahren. Falls die Südpolgruppe dort noch nicht eingetroffen sei, sollte Cherry-Garrard selbst über das weitere Vorgehen entscheiden. In jedem Fall aber sei die Rückkehr der Südpolgruppe nicht abhängig von den Hundegespannen; zudem habe Scott ausdrücklich befohlen, die Hunde nicht zu gefährden. Das Depot erreichten beide Männer am 4. März, ohne unterwegs die Südpolgruppe getroffen zu haben. Nachdem sie das Depot mit Lebensmitteln aufgestockt hatten, warteten sie dort vergeblich bis zum 10. März auf Scott und seine Begleiter. Wegen des unzureichenden Vorrats an Hundefutter und schlechten Wetters entschied Cherry-Garrard, nicht weiter nach Süden zu fahren, sondern zum Basislager zurückzukehren. Zudem traten durch die Kälte bei Girew gesundheitliche Probleme auf. Cherry-Garrard wähnte die Südpolgruppe ausreichend mit Lebensmitteln versorgt. Was er nicht ahnte, war, dass Scott, Wilson, Bowers und Oates zu diesem Zeitpunkt etwa 130 km weiter südlich um ihr Überleben kämpften, nachdem Edgar Evans bereits am 17. Februar am Fuß des Beardmore-Gletschers vermutlich an einer Gehirnverletzung infolge mehrerer Stürze in Gletscherspalten gestorben war. Am 16. März trafen Cherry-Garrard und Girew am Hut Point ein. Laut Atkinson erlitt Cherry-Garrard nach der Ankunft einen körperlichen und seelischen Zusammenbruch. Atkinson und Keohane gelang es anschließend ohne die erschöpften Hundegespanne nur noch, bis zum 30. März einen Versorgungsmarsch zum Corner Camp zu unternehmen, bevor schlechtes Wetter und sinkende Temperaturen auch sie zur Umkehr zwangen. Nach der Rückkehr der beiden Männer am 1. April notierte Cherry-Garrard:
Suche nach der verschollenen Südpolgruppe
Am 4. März 1912 hatten neun Expeditionsteilnehmer die Heimreise an Bord der Terra Nova angetreten. Im Gegenzug waren der neue Koch Walter Archer (1869–1944) und der Matrose Thomas Williamson (1877–1940) als Neuankömmlinge am Kap Evans eingetroffen. Somit verblieben einschließlich Cherry-Garrard 13 Expeditionsteilnehmer unter der Führung Edward Atkinsons für ein weiteres Jahr als Besetzung des Basislagers in der Antarktis.
Während der Wintermonate setzte die Mannschaft das wissenschaftliche Programm fort. Außerdem versorgte sie die Schlittenhunde und die neu eingetroffenen Maultiere. Cherry-Garrard nahm seine redaktionelle Arbeit an den South Polar Times wieder auf und katalogisierte die gesammelten ornithologischen und andere zoologische Präparate. Die Männer standen vor der undankbaren Aufgabe zu entscheiden, ob sie im bevorstehenden Sommer das Schicksal der verschollenen Südpolgruppe aufklären oder nach einer im nördlichen Viktorialand vermissten sechsköpfigen Gruppe unter der Leitung Victor Campbells (1875–1956), die sogenannte Nordgruppe, suchen sollten. Cherry-Garrard schrieb: Zu seiner Überraschung stimmten alle Expeditionsmitglieder bei nur einer Enthaltung für einen weiteren Marsch nach Süden. Ihre Bemühungen erfuhren während des Winters einen schweren Rückschlag, als zahlreiche Schlittenhunde an der Herzwurmerkrankung zugrunde gingen.
Die Suche nach Scott und seinen vier Begleitern begann am 29. Oktober 1912. Eine achtköpfige Gruppe brach an diesem Tag unter der Leitung von Charles Wright mit den sieben Maultieren vom Kap Evans auf. Cherry-Garrard, Atkinson und Girew folgten mit zwei geschwächten Hundegespannen am 1. November vom Hut Point. Am 11. November erreichten beide Gruppen das One Ton Depot. Die Maultiere erwiesen sich im Vergleich zu den Ponys im Vorjahr als deutlich robuster. Nachdem die Mannschaft am nächsten Tag etwa 21 km nach Süden zurückgelegt hatte, traf sie auf das letzte Lager der Südpolgruppe. Cherry-Garrard notierte: Im Zelt lagen die Leichen Scotts, Wilsons und Bowers’. Den Tagebuchaufzeichnungen Scotts war zu entnehmen, dass die Gruppe den Südpol am 18. Januar 1912 erreicht hatte, jedoch einen Monat später als Roald Amundsen und vier Begleiter. Zudem erfuhr die Suchmannschaft vom Tod Edgar Evans’, und dass Lawrence Oates am 17. März etwa 42 km südlich des letzten Lagers nach Verlassen des Zelts in einem Blizzard wegen schwerster Erfrierungen seinem Leben freiwillig ein Ende gesetzt hatte. Nachdem sich die drei verbliebenen Männer der Südpolgruppe nach Oates’ Tod ausgezehrt und krank noch zwei weitere Tage nach Norden geschleppt hatten, hatte ein andauernder Schneesturm ein weiteres Vorankommen zum rettenden One Ton Depot verhindert. Scotts Aufzeichnungen endeten am 29. März mit dem eindringlichen Appell, sich um die Hinterbliebenen der Toten zu kümmern.
Die drei toten Männer wurden mit der äußeren Zeltplane bedeckt und es wurde über ihnen ein hoher Schneehügel errichtet, der von zwei aufgerichteten Transportschlitten flankiert war und auf dessen Spitze ein aus Skibrettern angefertigtes Holzkreuz stand. Der Suchtrupp sicherte die Tagebuchaufzeichnungen, das meteorologische Logbuch, einige Briefe, das fotografische Material und etwa 15 Kilogramm Gesteinsproben von der Südpolgruppe. Bei der anschließenden Suche nach Oates’ Leichnam fand die Mannschaft nur seinen Schlafsack mit einem darin befindlichen Theodoliten, einen Finnesko-Stiefel und Socken. Am 15. November errichtete sie an der ungefähren Position, an der Oates das Zelt verlassen hatte, einen weiteren Schneehügel, der gleichfalls mit einem Kreuz versehen wurde und in dem Cherry-Garrard und Atkinson eine von ihnen unterzeichnete Gedenkschrift an Oates hinterließen. Als die Teilnehmer des Suchtrupps am 25. November wieder am Hut Point eingetroffen waren, fanden sie Campbells Notiz über die sichere Rückkehr der Nordgruppe zum Basislager. Zu diesem Anlass notierte Cherry-Garrard:
Rückkehr nach England und Nachbereitung
Die Terra Nova traf am 18. Januar 1913 am Kap Evans ein, um die Expeditionsteilnehmer abzuholen. Zwischen dem 20. und 22. Januar, dem Tag der Abfahrt, errichtete eine achtköpfige Mannschaft ein vom Schiffszimmermann angefertigtes hölzernes Gedenkkreuz auf dem Observation Hill am Hut Point, in das die Namen der fünf Toten der Südpolgruppe und auf Vorschlag Cherry-Garrards ein Zitat aus Alfred Tennysons Gedicht Ulysses eingraviert sind: Nachdem das Schiff am 10. Februar im neuseeländischen Oamaru eingetroffen war, ging die Nachricht vom Tod Scotts und seiner vier Begleiter um die Welt. Im Zuge dessen entbrannte sofort eine Diskussion darüber, ob Cherry-Garrard und sein Begleiter Dmitri Girew den Untergang der Südpolgruppe wegen unterlassener Hilfeleistung zu verantworten hätten. Diesem Vorwurf traten die anderen überlebenden Expeditionsteilnehmer in einem aus Neuseeland an die Daily Mail abgeschickten Telegramm entschieden entgegen.
Einige Zeit nachdem Cherry-Garrard mit der Terra Nova am 14. Juni 1913 aus Neuseeland zurück in Cardiff eingetroffen war, erfuhr er vom Schicksal George Abbotts (1880–1923), einem Mitglied der zwischenzeitlich verschollenen Nordgruppe, der sich nach der Rückkehr von der Expedition in psychiatrische Behandlung begeben musste. Abbott lief Gefahr, wegen der Erkrankung seine Pensionsansprüche bei der Royal Navy zu verlieren. Cherry-Garrard verhinderte dies durch persönliche Intervention bei der britischen Admiralität. Er nahm auch Kontakt zu Hinterbliebenen der während der Expedition umgekommenen Teilnehmer auf, namentlich zu den Müttern von Bowers und Oates sowie zu Scotts Frau Kathleen. Oriana Wilson, die Frau seines toten Freundes Edward Wilson, blieb Cherry-Garrard bis zu ihrem Tod im Jahr 1945 freundschaftlich verbunden.
Im Spätsommer 1913 lieferte Cherry-Garrard die drei am Kap Crozier eingesammelten Kaiserpinguin-Eier beim Natural History Museum in London ab. Der Verwalter der biologischen Sammlung war ihm gegenüber abweisend, nahm die Eier nur widerwillig an und ließ ihn stundenlang auf den Erhalt einer Empfangsquittung warten. Als Cherry-Garrard einige Zeit später zusammen mit Scotts Schwester Grace (1871–1947) das Museum aufsuchte und man ihnen keine Auskunft über den Verbleib der Eier geben konnte, drohte Grace Scott, nach Ablauf eines Ultimatums von 24 Stunden die Angelegenheit landesweit publik zu machen und so zu einem Skandal auszuweiten. Eine eilige Recherche der Museumsverantwortlichen ergab, dass die Eier über Umwege an den schottischen Zoologen James Cossar Ewart von der University of Edinburgh überstellt worden waren. Ewart konnte bei seinen mikroskopischen Untersuchungen der in den Eiern enthaltenen Embryos keine Homologie in der Embryonalentwicklung des Gefieders der Vögel und des Schuppenpanzers bei Reptilien feststellen, womit der erhoffte Nachweis eines gemeinsamen Vorfahren in der Evolution beider Tierklassen ausblieb. Erst im Jahr 1934 veröffentlichte der an der University of Glasgow arbeitende Zoologe Charles Wynford Parsons die Ergebnisse der Arbeiten Ewarts in einer wissenschaftlichen Publikation mit dem Kommentar, dass die von Cherry-Garrard mitgebrachten Kaiserpinguin-Eier
Expedition nach China
Im Februar 1914 brach Cherry-Garrard gemeinsam mit Edward Atkinson zu einer medizinischen Expedition unter der Leitung des Parasitologen Robert Leiper (1881–1969) von der London School of Tropical Medicine ins östliche China auf. Ziel war die Erforschung der Infektionswege der durch den Pärchenegel Schistosoma japonicum verursachten asiatischen Form der Bilharziose, an der zahlreiche Seeleute der britischen Handelsmarine in chinesischen Gewässern erkrankten. Cherry-Garrard, Atkinson und Leiper mieteten ein Hausboot, das sie zu einem schwimmenden Labor ausbauten und mit dem sie entlang der Handelsrouten für Tee und Seide den Jangtsekiang bereisten. Die Suche nach einem geeigneten und bereitwilligen Bilharziose-Patienten zur Sammlung von Schistosomen-Eiern verlief erfolglos, was zu Streitereien zwischen Atkinson und Leiper führte. Cherry-Garrard reiste vorzeitig ab. Mit dem Zug kehrte er über Harbin und nach Durchquerung Sibiriens und Zentralrusslands nach England zurück, wo er am 10. Mai 1914 eintraf.
Erster Weltkrieg und späteres Leben
Zu Beginn des Ersten Weltkriegs meldete sich Cherry-Garrard als Freiwilliger. Nach einer kurzzeitigen Ausbildung in der Garnison Aldershot erhielt er am 9. November 1914 im Rang eines Lieutenant Commander das Kommando über eine Panzerwagenkompanie des Royal Naval Air Service zur Unterstützung der in Flandern kämpfenden Truppen. Seine Einheit war vermutlich nie direkt in Gefechte verwickelt und wurde nach der Zweiten Ypernschlacht im Mai 1915 zurück nach England versetzt.
Im Frühjahr 1916 erkrankte Cherry-Garrard an Colitis ulcerosa und wurde als Invalide aus dem Kriegsdienst entlassen. Die Krankheit wurde begleitet von einer schweren Depression, deren Ursache nach heutigem Kenntnisstand eine posttraumatische Belastungsstörung infolge der tragischen Ereignisse während der Terra-Nova-Expedition war. Die gesundheitlichen Probleme ließen ihn für mehrere Jahre bettlägerig werden, in denen ihn immer wieder der Gedanke quälte, für den Untergang der Südpolgruppe und speziell für den Tod seiner engen Freunde Edward Wilson und Henry Bowers verantwortlich zu sein. Das Niederschreiben der Erlebnisse während der Expedition im 1922 erschienenen Buch The Worst Journey in the World, zu dessen Titel Cherry-Garrard sein befreundeter Nachbar George Bernard Shaw inspiriert hatte, diente auch der psychotherapeutischen Verarbeitung des erlittenen Traumas. Das Vorwort des Buches enthält eine Bewertung Cherry-Garrards zu den wichtigsten Protagonisten des Goldenen Zeitalters der Antarktis-Forschung, die in zahlreichen späteren Büchern über diese Epoche zitiert wurde:
Durch die öffentliche Aufmerksamkeit, die Cherry-Garrard nach Veröffentlichung des Buches erhielt, entstanden Freundschaften mit den Schriftstellern H. G. Wells und Arnold Bennett, dem Bergsteiger George Mallory und mit T. E. Lawrence, der als Lawrence von Arabien Weltruhm erlangt hatte und zu dessen Tod Cherry-Garrard einen Nachruf schrieb.
Bereits 1917 hatte Cherry-Garrard trotz seiner fortschreitenden gesundheitlichen Probleme gemeinsam mit dem australischen Polarforscher Douglas Mawson und weiteren Prominenten eine Kampagne ins Leben gerufen, die das Töten der damals vom Aussterben bedrohten Haubenpinguine zur Trangewinnung auf der Macquarieinsel stoppen sollte. Seine Protestaufrufe in Zeitungen, darunter die London Times, führten schließlich im Dezember 1919 dazu, dass die Regierung des zuständigen australischen Bundesstaates Tasmanien zunächst ein unbefristetes Moratorium zum Schutz der Tiere verhängte und die Macquarieinsel 1933 endgültig zu einem Naturschutzgebiet erklärte.
Im Verlauf der 1920er Jahre schien sich Cherry-Garrard gesundheitlich vollständig zu erholen, doch schließlich trat seine Depression wieder zutage. Die von ihm zuvor leidenschaftlich betriebene Fuchsjagd gab er auf und er suchte in den nächsten Jahren Ablenkung durch das Sammeln literarischer Erstausgaben und auf Kreuzfahrten im Mittelmeer. Am 6. September 1939 heiratete er die 30 Jahre jüngere Angela Katherine Turner (1916–2005), die er während einer Schiffsreise nach Norwegen kennen gelernt hatte. Die Ehe, die bis zu seinem Tod hielt, blieb kinderlos. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zwangen ihn seine angegriffene Gesundheit und finanzielle Forderungen der Steuerbehörden zum Verkauf des Familienanwesens Lamer Park, das später abgerissen wurde. Für den Rest seines Lebens bewohnte er gemeinsam mit seiner Frau eine Wohnung in einem Apartmenthaus in Westminster.
Im November 1948 fand in London die Uraufführung des britischen Kinofilms Scotts letzte Fahrt statt. Cherry-Garrard hatte nach einer Anfrage des Produzenten Michael Balcon eine Einwilligung zur Darstellung seiner Person in dem Film verweigert. Balcon hatte seine Rolle dennoch mit dem Schauspieler Barry Letts besetzt.
Cherry-Garrard starb 73-jährig am 18. Mai 1959 während eines Aufenthalts im Londoner Luxushotel The Berkeley an den Folgen einer Herzinsuffizienz. Er wurde beerdigt im Familiengrab der Cherry-Garrards am nordwestlichen Ende des St. Helen’s Churchyard in Wheathampstead, das mit einem mannshohen Keltenkreuz markiert ist. In der Friedhofskirche befinden sich eine nach seinem Abbild als Polarforscher geschaffene bronzene Statue und eine Gedenktafel, die an sein Leben erinnert.
Nachwirkungen
Cherry-Garrards Buch The Worst Journey in the World zählt zu den Klassikern der Reise- und Polarliteratur. Bis in die Gegenwart hinein erschien es bei unterschiedlichen Verlagen in mehrfacher Auflage und wurde 2006 unter dem Titel Die schlimmste Reise der Welt erstmals auch ins Deutsche übersetzt. Im Sommer 2001 führte die englische Originalversion eine von der National Geographic Society aufgestellte Rangliste unter dem Titel The 100 Best Adventure Books of All Time (deutsch: Die 100 besten Abenteuerbücher aller Zeiten) an. Dieser Einschätzung folgten zahlreiche weitere Rezensenten. Peter Matthiessen nannte es . Kathrin Passig bezeichnete das im Buch enthaltene Kapitel zum Wintermarsch als Der britische Polarhistoriker Roland Huntford hielt Cherry-Garrads Werk für
Sara Wheeler schrieb 2001 unter dem Titel Cherry: A Life of Apsley Cherry-Garrard die erste Biographie in Buchform über den Polarforscher.
Die BBC produzierte 2007 unter dem Titel The Worst Journey in the World ein biographisches Doku-Drama über Cherry-Garrard mit Mark Gatiss in der Hauptrolle. Barry Letts, der Cherry-Garrard fast 60 Jahre zuvor im Film Scotts letzte Fahrt verkörpert hatte, ist der Erzähler des Epilogs. In der siebenteiligen britischen Fernsehserie The Last Place on Earth von 1985, die auf Huntfords Doppelbiographie Scott and Amundsen basiert, wurde Cherry-Garrard von Hugh Grant dargestellt.
Im November 2010 enthüllte der Bürgermeister der Stadt Bedford eine Gedenktafel an Cherry-Garrards Geburtshaus.
Teilnehmer der Commonwealth Trans-Antarctic Expedition (1955–1958) entdeckten bei einem Besuch des Kap Crozier die Überreste der von Cherry-Garrard, Wilson und Bowers errichteten Schutzhütte. Der vom Sekretariat für den Antarktisvertrag beschlossene Erhalt als kulturhistorisches Monument liegt in den Händen des neuseeländischen Antarctic Heritage Trust. Die Ausrüstungsgegenstände, die die drei Männer 1911 zurückgelassen hatten, werden inzwischen von neuseeländischen Museen verwahrt.
Die während des Wintermarsches zum Kap Crozier eingesammelten Kaiserpinguin-Eier befinden sich seit dem Abschluss der Untersuchungen James Cossar Ewarts wieder im Besitz des Natural History Museum, wo sie zwischenzeitlich auch anderen Zoologen für Untersuchungen zur Verfügung gestellt wurden. Douglas Russell, Kurator der Gelegesammlung des Museums, sagte in einem Interview mit der britischen Tageszeitung The Guardian vom 14. Januar 2012, dass von den 300.000 in der Sammlung vorhandenen Exponaten die von Cherry-Garrard beigesteuerten drei Exemplare die größte öffentliche Aufmerksamkeit bekämen.
Bei einer Versteigerung des Auktionshauses Christie’s am 9. Oktober 2012 erzielten 27 Briefe, die Cherry-Garrard während der Terra-Nova-Expedition an seine Mutter geschrieben hatte, nach einer vorherigen Schätzung auf bis zu £ 80.000 schließlich einen Erlös von £ 67.250. Seine silberne Polarmedaille und die von der Royal Geographical Society zusätzlich an ihn verliehene Scott-Gedächtnis-Medaille wurden am 19. Juni 2013 gemeinsam für £ 58.000 versteigert.
Nach Apsley Cherry-Garrard sind in der Antarktis der im nördlichen Viktorialand befindliche Mount Cherry-Garrard (), der aus einem Firnfeld am Mount Kirkpatrick gespeiste Garrard-Gletscher () sowie der in den Beardmore-Gletscher mündende Cherry-Gletscher () und der Cherry-Eisfall () benannt. Darüber hinaus ist er Namensgeber für die zu den marinen Digenea gehörenden Saugwürmer der Art Lepidapedon garrardi, die in antarktischen Gewässern anzutreffen ist.
Literatur
deutsche Ausgabe: Die schlimmste Reise der Welt, Malik, 2013. ISBN 978-3-492-40468-6
Weblinks
Apsley Cherry-Garrard. Bebilderte Kurzbiografie auf coolantarctica.com (englisch)
The British Antarctic Expedition 1910–1913. Fotosammlung zur Terra-Nova-Expedition auf der Homepage des Polar Museum am Scott Polar Research Institute der University of Cambridge (englisch)
Worst journey in the world. Informationen und Video über den Wintermarsch zum Kap Crozier auf der Homepage des Natural History Museum (englisch)
Einzelnachweise
Anmerkungen
Polarforscher (Antarktis)
Zoologe
Brite
Geboren 1886
Gestorben 1959
Mann |
1624328 | https://de.wikipedia.org/wiki/Scheiden-Wollgras | Scheiden-Wollgras | Das Scheiden-Wollgras (Eriophorum vaginatum) gehört zur Familie der Sauergrasgewächse (Cyperaceae). Weitere gebräuchliche Namen sind Moor-Wollgras, Scheidiges Wollgras oder Schneiden-Wollgras. Diese Pflanzenart ist eine Charakterpflanze der Regenmoore. Mit seinen faserig zerfallenden Blättern trägt das Wollgras wesentlich zur Torfbildung bei. In Hochmoor-Renaturierungen nach industriellem Torfabbau übernimmt es eine wichtige Funktion als Erstbesiedler der vegetationslosen Torfflächen. Die langen Blütenhüllfäden der Früchte bilden den bezeichnenden weißen Wollschopf der Wollgräser (Eriophorum).
Beschreibung
Die ausdauernde krautige Pflanze erreicht Wuchshöhen von 10 bis zu 60 Zentimetern. Dieser Hemikryptophyt bildet keine Ausläufer – anders als beispielsweise Scheuchzers Wollgras (Eriophorum scheuchzeri) –, sondern wächst in lockeren bis dichten Horsten, die ihrerseits dichte Rasen bilden können. Die aufrechten Stängel haben einen runden Querschnitt und sind beblättert; oben sind sie glatt, graugrün und stumpf dreikantig. Der Stängelgrund ist mit langen, rosabräunlichen Niederblättern umgeben, die sich faserig auflösen. Die Blattscheiden der Stängelblätter sind aufgeblasen; daher rührt auch der Name. Die Blattspreiten sind borstenförmig, bis 1 Millimeter breit und im Querschnitt rinnig-dreikantig. Sie sind ebenfalls graugrün und an den Rändern rau. Sie können bis zu 1 Meter lang werden. Sie hängen dann bogig über.
Die Hüllblätter des Blütenstandes sind spelzenähnlich, aber größer. Der Blütenstand besteht aus einem einzigen, endständigen, aufrechten Ährchen. Die verkehrt-eiförmigen oder länglichen Ährchen erreichen zur Blütezeit 1 bis 2 Zentimeter, zur Fruchtzeit bis zu 5 Zentimeter Länge und enthalten bis zu 100 Blüten. Jede zwittrige Blüte verfügt über je drei Staubfäden (Antheren) und Narben. Ihre silbergrauen Spelzen sind lanzettlich, lang zugespitzt, einnervig, 5 bis 10 Millimeter lang und haben einen Hautrand.
Die Hüllfäden der Blütenhülle (Perianth) sind zahlreich. Sie verlängern sich nach der Blütezeit bis zu 2,5 Zentimeter. Sie fallen später mit den Früchten ab. Sie bilden den für Wollgräser kennzeichnenden weißen Wollschopf. Ihre langen Blütenhüllfäden verbleiben nach der Reife an der Basis der Karyopse (eine Sonderform der Nussfrucht) und bilden einen Flug- und Schwimmapparat zur besseren Verbreitung der Samen in der Luft und im Wasser. Die Karyopse ist scharf dreikantig, mit kurzer Spitze, 1,9 bis 3,5 Millimeter lang und dunkel rotbraun bis fast schwarz. Das Scheiden-Wollgras blüht von März bis Mai. Selten gibt es eine zweite Blütezeit in den Monaten Juli bis September.
Die Chromosomenzahl beträgt 2n = 58 oder 60.
Verbreitung und Standort
Es ist in fast ganz Europa, Asien und Nordamerika in warmgemäßigten bis arktischen Klimazonen vom Tiefland bis in Höhenlagen bis etwa 1980 Metern NN beheimatet (planar-kollin bis subalpin). In den Allgäuer Alpen steigt es am Koblat am Nebelhorn bis zu 2010 Metern Meereshöhe auf.
Sein Areal deckt sich weitgehend mit der Verbreitung der torfmoosreichen Regenmoorgebiete der Nordhalbkugel. Im Hauptverbreitungsgebiet der „klassischen“ aufgewölbten Hochmoore in Deutschland, in Nordwestdeutschland, in Mittelgebirgslagen und im Alpenvorland, ist das Scheiden-Wollgras weit verbreitet und ist insbesondere in Renaturierungsgebieten – neben dem Schmalblättrigen Wollgras (Eriophorum angustifolium) – eine oft bestandsbildende Art. Es ist in der gesamten Schweiz verbreitet, in Österreich kommt es dagegen zerstreut bis selten vor.
Das Scheiden-Wollgras wächst auf nährstoffarmen (oligo- bis mesotrophen), basen- und kalkarmen, sauren Moorböden überwiegend in Regen- und stellenweise auch in Sauer-Zwischenmooren, in Kiefern- und Birkenbruchwäldern sowie in sekundären birkenreichen „Moorwäldern“ entwässerter Standorte.
Vergesellschaftung
Das Scheiden-Wollgras ist die Kennart der Klasse der Hochmoorbulten-Gesellschaften (Oxycocco-Sphagnetea). Dort wächst es gemeinsam mit der Gewöhnlichen Moosbeere (Vaccinium oxycoccos), Rosmarinheide (Andromeda polifolia) und Torfmoosen wie dem Magellans Torfmoos (Sphagnum magellanicum), dem Braunen Torfmoos (Sphagnum fuscum) und dem Rötlichen Torfmoos (Sphagnum rubellum) meist auf den erhöhten Torfmooskuppen (Bulte) innerhalb der Bult-Schlenken-Komplexe der zentralen Hochmoorflächen. Es bildet außerdem besonders in Regenerationsstadien von Hochmooren (Plateauregenmoore) oder in wiedervernässten Hochmoor-Renaturierungen artenarme Eriophorum-vaginatum-Dominanzgesellschaften (siehe unten).
Ökologie
Das Scheiden-Wollgras ist windblütig (Anemophilie). Die Verfrachtung der Samen erfolgt durch Wasser und Wind (Anemohydrochorie). Es ist eine Halblichtpflanze, das heißt, es wächst bei voller Besonnung, erträgt aber auch in Grenzen eine Beschattung. Sein ökologischer Schwerpunkt liegt auf durchnässten, luftarmen, sauren bis sehr sauren Böden. Es überwintert mit grünen Blättern, die aber im Frühjahr erneuert werden.
Charakteristisch für das Scheiden-Wollgras – und auch vielen anderen Hochmoorpflanzen – ist ein effektiver interner Nährstoffkreislauf. Dabei werden die für den Aufbau der oberirdischen Pflanzenteile benötigten Nährstoffe schon während der Samenbildung in die Sprossbasis zurückverlagert. In der folgenden Vegetationsperiode kann dieser Vorrat ohne Verluste mobilisiert werden. Ferner verhindert eine intensive Durchwurzelung der oberen Bodenschichten sowie die sehr eng stehenden Triebe eine Ausschwemmung der aus abgestorbenen Pflanzenteilen stammenden Nährstoffe.
Bei guter Wasserversorgung des Standortes werden die Grasbulte von den dann üppig wachsenden Torfmoosen oder bei steigendem Wasserspiegel (meist in Renaturierungen) gezwungen, immer weiter nach oben zu wachsen, da es sonst überwuchert oder überschwemmt werden würde. Die Grundachsen der Triebe verlängern sich dann ausläuferartig aufwärts. Es bildet sich so zusammen mit den bogig überhängenden Blattspreiten ein charakteristischer „mützenförmiger“ Habitus.
Die Pflanze ist ein starker Torfbildner, denn die dicken Blattspreiten zerfallen nach dem Absterben in viele Faserbüschel (Verholzung durch Lignin-Einlagerungen). Diese werden bei der in Hochmooren gehemmten Zersetzung der organischen Substanzen nicht abgebaut und bleiben als sichtbare Reste erhalten. Sie ist damit maßgeblich am Aufbau von Hochmooren und an der Bildung des sogenannten Fasertorfes beteiligt. In jüngerem Torf macht der Anteil an Eriophorum vaginatum etwa fünf Prozent aus, in älteren Torfen deutlich mehr.
Das Scheiden-Wollgras spielt in arktischen Tundrengebieten besonders in Alaska aufgrund seines frühen Austriebes sowie seiner hohen Regenerationsfähigkeit eine entscheidende Rolle als Futter für Großherbivoren wie das Ren sowie für Lemminge, Ziesel und Gänse.
Für eine Reihe von Tagfalterarten wie beispielsweise das Große Wiesenvögelchen (Coenonympha tullia) scheint eine starke Bindung an Vorkommen von Wollgrasarten, vor allem an Scheiden-Wollgras, zu bestehen. Viele Autoren besonders in der älteren Literatur geben es auch als Raupen-Nahrungspflanze an.
Es ist außerdem eine wichtige Nahrungspflanze für den europaweit am stärksten gefährdeten Tagfalter, das Stromtal-Wiesenvögelchen (Coenonympha oedippus).
Für etliche weitere phytophage Insekten spielt das Scheiden-Wollgras eine entscheidende Rolle. Zum Beispiel saugen einige Zikadenarten ausschließlich (monophag) an Eriophorum vaginatum. Dies sind beispielsweise die in Deutschland gefährdete und ausschließlich in Hochmooren beheimatete (tyrphobionte) Moorkäferzikade (Ommatidiotus dissimilis), die Hochmoorzirpe (Sorhoanus xanthoneurus) sowie die Hochmoor-Spornzikade (Nothodelphax distinctus).
Gefährdung und Schutz
Das Scheiden-Wollgras ist gesetzlich nicht gesondert geschützt. Es gilt innerhalb Deutschlands aber in elf Bundesländern aufgrund des Rückganges und Beeinträchtigung seiner Lebensräume als gefährdete Art. In Österreich wird das Scheiden-Wollgras bundesweit als nicht gefährdet eingestuft. In der Böhmischen Masse, im nördlichen und im südöstlichen Alpenvorland ist es regional gefährdet, im Burgenland sogar ausgestorben. Daher steht es in einigen Bundesländern unter teilweisem Naturschutz. In der Schweiz gilt es ebenfalls als bundesweit nicht gefährdet (Least Concern). Verschiedene Gefährdungsstufen werden jedoch für das Mittelland (Vulnerable), die Westalpen sowie für das Bergell und das Puschlav in den Südalpen (Near Threatened) angegeben.
Durch die Kultivierung der Moore, Torfabbau sowie durch Eutrophierung der Standorte ist die Art stark zurückgegangen und ihr potenzielles Verbreitungsgebiet stark eingeschränkt worden. Sie hält sich aber in birkenreichen Degradationsstadien von Hochmooren und gilt in wiedervernässten und geschützten Hochmoorresten und -renaturierungen als langfristig gesichert.
Systematik
Der wissenschaftliche Name Eriophorum vaginatum wurde 1753 von Carl von Linné in Species Plantarum erstveröffentlicht.
Es wurden innerhalb der Art zwei Varietäten unterschieden: Eriophorum vaginatum var. spissum (Fern.) Boivin und Eriophorum vaginatum var. vaginatum L. Sie unterscheiden sich in der Form der Ährchen, Spelzenfarbe und Größe der Staubbeutel mit jedoch sehr variablen Übergängen und Zwischenformen, so dass die vielfach vorgenommene Abspaltung zweier Unterarten nicht anerkannt ist. Nach der World Checklist of Selected Plant Families sind auch die Varietäten nicht anerkannt.
Bedeutung bei Hochmoor-Renaturierungen
Erst seit etwa Anfang der 1980er Jahre fand der Schutz naturnaher Regenmoorreste in Verbindung mit der Verpflichtung zur Renaturierung von industriell abgetorften Flächen eine Grundlage in verschiedenen Naturschutzgesetzen und -programmen (z. B. das Niedersächsische Moorschutzprogramm Teil I 1981, die Rothenthurm-Initiative Schweiz 1987, das Moorentwicklungskonzept Bayern 2003). Hochmoor-Renaturierungen weisen demnach ein Alter bis zu 25 Jahren auf.
Regenmoorstandorte nach industriellem Torfabbau oder Regenmoorreste ohne Abtorfung, aber vorangegangener intensiver Entwässerung verfügen nicht mehr über ein funktionsfähiges Akrotelm (Torfbildungshorizont), das maßgeblich für einen ausgeglichenen Wasserhaushalt sorgt. Ferner setzt durch die Belüftung der oberflächennahen Bodenschichten eine Mineralisation des Torfes ein, was zu einer höheren Nährstoffversorgung der Moorböden führt. Die Folge ist, dass sich vermehrt konkurrenzkräftige Pflanzen durchsetzen können. Unerwünschte Pflanzen sind in diesem Zusammenhang das Blaue Pfeifengras (Molinia caerulea) sowie die Moor-Birke (Betula pubescens). Deren Ausbreitung würde die Entwicklung einer naturnahen, hochmoortypischen Vegetation langfristig verhindern.
Hinsichtlich der Sukzession degradierter Regenmoore wurden und werden besonders im Hauptverbreitungsgebiet der klassischen aufgewölbten Plateauregenmoore (Hochmoore) verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen durchgeführt, wie beispielsweise im Naturschutzgebiet „Leegmoor“ und in der Diepholzer Moorniederung (Niedersachsen). Die genannten Naturschutzgebiete gehören zu den ältesten wissenschaftlich begleiteten Hochmoor-Renaturierungen in Europa.
Das Scheiden-Wollgras als Pionierpflanze
Um einer Massenausbreitung des Pfeifengrases und damit der Entwicklung von nahezu geschlossenen Pfeifengras-Hochgrasbeständen entgegenzusteuern, wurden auf Regenerationsflächen im Naturschutzgebiet „Leegmoor“ im Rahmen eines Erprobungs- und Entwicklungsprojektes (E+E-Vorhaben) in den Jahren 1983 bis 1984 Aussaat- und Bepflanzungsversuche konkurrierender hochmoortypischer Pflanzenarten, unter anderem auch von Scheiden-Wollgras als „echter“ Hochmoorart, durchgeführt. Die Experimente zeigten, dass es besonders in der Anfangsphase der Renaturierung von Schwarztorfabbauflächen eine wichtige Pflanze zur Pionierbesiedlung von industriell abgebauten Hochmooren darstellt. Einerseits ist Scheiden-Wollgras offenbar ein durchsetzungsfähiger Konkurrent des Pfeifengrases, andererseits spielt es für die Wiederbesiedlung von Torfmoosen in den ausgeräumten Arealen eine entscheidende Rolle, denn diese können sich nur an geschützten, bereits von Pflanzen bewachsenen Stellen ansiedeln.
Inzwischen hat sich das Scheiden-Wollgras trotz ungünstiger Renaturierungsbedingungen auf fast der gesamten Fläche etabliert und gleichzeitig auf einem erheblichen Teil der Fläche die Ansiedlung von Pfeifengras verhindert. Das Wollgras setzt sich zunehmend durch und bildet eine Ersatzgesellschaft, die eine ähnlich hohe Dominanz gegenüber anderen Pflanzenarten aufweist wie das Pfeifengras. In vielen Renaturierungsflächen Nordwestdeutschlands mit meist besseren Ausgangsbedingungen als im Leegmoor haben sich unterdessen ebenfalls vielfach aspektbestimmende Bestände dieses Grases entwickelt. Die Pflanzen stehen zum Teil so dicht, dass kaum andere Arten, vor allem Torfmoose, Fuß fassen können. Beobachtungen zeigen aber, dass Torfmoose, hier das Spieß-Torfmoos (Sphagnum cuspidatum), bei ansteigendem Moorwasserspiegel ausgehend von Lücken zwischen den Wollgrasbulten sogar die Köpfe der Grasbulten besiedeln. Bei Pfeifengras scheint dieses nicht zu gelingen, da deren Bulte möglicherweise zu hoch sind. Casparie (1972) konnte zudem zeigen, dass bei steigendem Moorwasserspiegel das Torfmoos sogar in der Lage ist, das Scheiden-Wollgras zu verdrängen.
Das Scheiden-Wollgras als Diasporenfänger und „Ammenpflanze“ für die Moor-Birke
In der Diepholzer Moorniederung wurden im Jahr 1999 umfangreiche Untersuchungen zur Ausbreitung der Moor-Birke (Betula pubescens) in Abtorfungsflächen, wiedervernässten Arealen und naturnahen Hochmoorrestflächen durchgeführt. Der hohe Wasserbedarf dieses Baumes im Zusammenhang mit einer hohen Verdunstung führt zu einem unerwünschten Wasserverlust. Die Experimente zeigten, dass das Scheiden-Wollgras eine entscheidende Funktion als sogenannte „Ammenpflanze“ und Diasporenfänger für die Moor-Birke ausübt. So wurden unter Grasbulten ab etwa 40 Zentimetern Durchmesser mit überhängenden Blättern über 500 Keimlinge und Jungpflanzen der Moor-Birke gefunden. Durch den Wind, in Abhängigkeit von der Hauptwindrichtung, sowie über das Wasser durch Überstau werden die Samen der Birken herangetragen. Diese verfangen sich in den Blättern und bleiben unter den Horsten liegen. Sie keimen im nächsten Frühjahr. Als Ammenpflanzen bieten die Grasbulte beispielsweise einen Schutz vor Austrocknung und vor mechanischen Wirkungen (Tritt, Wind- und Hagelschlag), so dass die Samen keimen und sich ungestört entwickeln können. Um der ungewünschten Sukzession zu Moorbirkengebüschen und -wäldern entgegenzuwirken, werden auf nicht optimal wiedervernässten Flächen mechanische Beseitigungen des Gehölzaufwuchses vorgenommen (Entkusselungen). Bei konstant nahe der Bodenoberfläche liegenden Wasserständen in Wiedervernässungen, die aber oftmals nur schwer herzustellen sind, sterben die Moor-Birken in der Regel ab.
Nutzung
In der Volksmedizin wurde die „Wolle“ der Fruchthaare früher als Wundwatte verwendet. Ferner dienten die Wollschöpfe zum Füllen von Kissen. Sie wurden außerdem zu Lampendochten gedreht.
Im Gartenbau wird neben anderen Wollgrasarten das Scheiden-Wollgras in sogenannten Moorbeeten eingesetzt.
Quellen
Literatur
W. A. Casparie: Bog development in southeastern Drenthe (The Netherlands). In: Vegetatio. Band 24, Nr. 4–6, 1972, S. 1–272, DOI:10.1007/BF02675415.
Klaus Dierssen, Barbara Dierssen: Moore. Eugen Ulmer, Stuttgart (Hohenheim) 2001, ISBN 3-8001-3245-1.
Einzelnachweise
Weblinks
Thomas Meyer: Datenblatt mit Bestimmungsschlüssel und Fotos bei Flora-de: Flora von Deutschland (alter Name der Webseite: Blumen in Schwaben)
Verbreitungskarten
Verbreitungskarte Nordamerika
Verbreitung auf der Nordhalbkugel aus: Eric Hultén, Magnus Fries: Atlas of North European vascular plants. 1986, ISBN 3-87429-263-0 bei Den virtuella floran. (schwedisch)
Moorschutz
Praktische Hinweise zur optimalen Wiedervernässung von Torfabbauflächen (PDF-Datei)
Moorentwicklungskonzept Bayern 2003
25 Jahre Niedersächsisches Moorschutzprogramm (PDF-Datei; 66 kB)
Sauergräser |
1639507 | https://de.wikipedia.org/wiki/Gerd%20Tellenbach | Gerd Tellenbach | Gerd Tellenbach (* 17. September 1903 in Groß-Lichterfelde; † 12. Juni 1999 in Freiburg im Breisgau) war ein deutscher Historiker.
Tellenbach befasste sich hauptsächlich mit der Geschichte des frühen und hohen Mittelalters. Vor allem arbeitete er über den Investiturstreit und die Entstehung des mittelalterlichen Reiches. Tellenbach gehörte zu einer kleinen Gruppe von Historikern, die trotz Distanz zum Nationalsozialismus ihre akademische Karriere fortführen und ungehindert publizieren konnten. Er lehrte als ordentlicher Professor an den Universitäten Gießen (1938–1942), Münster (1942–1944) und Freiburg (1944–1962); von 1962 bis 1972 leitete er als Direktor das Deutsche Historische Institut in Rom.
Seine in Freiburg begonnenen personengeschichtlichen Untersuchungen entwickelten sich zu einem der bedeutendsten Forschungsprojekte der deutschen Mediävistik in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aus dem „Freiburger Arbeitskreis“, der so genannten „Tellenbach-Schule“, gingen zahlreiche Lehrstuhlinhaber, unter anderem in Hamburg, Münster, Würzburg und Freiburg, hervor. Darüber hinaus wirkte Tellenbach in der Nachkriegszeit maßgeblich in der Wissenschafts- und Bildungspolitik.
Leben
Herkunft und Jugend
Gerd Tellenbach wurde als Sohn des Offiziers Friedrich Leo Tellenbach und dessen Frau Margarethe geboren und evangelisch getauft. Er hatte mit Klaus Tellenbach einen Bruder und zwei Schwestern sowie aus der ersten Ehe seines Vaters zwei Halbbrüder. Der Vater war Oberst des Offenburger Infanterieregiments 170. Im August 1914 verlor Gerd Tellenbach gleich in den ersten Wochen des Ersten Weltkriegs seinen Vater. Sein ältester Halbbruder kam ebenfalls im Krieg ums Leben. Diese Schicksalsschläge „sensibilisierten“ Tellenbach, so sein späterer Schüler Joachim Wollasch, bereits früh für die gesellschaftlichen Entwicklungen in seiner Zeit. Er besuchte Schulen in Mainz, Offenburg und Baden-Baden, wo er 1922 das Abitur ablegte. Tellenbach wollte zunächst Jura und Nationalökonomie studieren, um politisch tätig zu werden. Unter dem Einfluss des Baden-Badener Gymnasialdirektors Friedrich Blum änderte er jedoch seine Haltung und entschloss sich zu einem Studium an der Philosophischen Fakultät. Die Kriegserfahrung nahm Tellenbach als Abiturient und Student durch die literarischen Verarbeitungen von Ernst Jünger, Ludwig Renn und Erich Maria Remarque noch bewusster wahr als durch die persönlichen Fronterzählungen von Soldaten.
Studium (1922–1926)
Tellenbach studierte von 1922 bis 1926 zunächst ein Semester an der Universität München und danach in Freiburg die Fächer Geschichte, Germanistik und Latein. Über seine Studienzeit erzählt er in seiner Autobiographie wenig. In München beeindruckte ihn der Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin. Tellenbach wurde 1926 in Freiburg bei dem Verfassungs- und Wirtschaftshistoriker Georg von Below mit einer verfassungsgeschichtlichen Arbeit zu Klöstern und Vogteien der Bischöfe von Passau promoviert. Das Thema entsprang seinem Interesse an Kirche und Staat.
Von seinem Doktorvater übernahm Tellenbach die Methodenstrenge bei der Quelleninterpretation, doch suchte er einen anderen Zugang zum Mittelalter. Sein Interesse galt nicht der Entstehung der Landesherrschaft, sondern dem Verhältnis von Kirche und weltlicher Macht. Damit unterschied er sich von anderen Below-Schülern wie Hermann Aubin und Hermann Heimpel. Wichtige Impulse für diese Entwicklung gaben die Lektüre von Arbeiten des Theologen Adolf von Harnack und des Juristen Rudolph Sohm.
An der Universität Freiburg gab es keine Beschäftigungsmöglichkeit, die einzige Assistentenstelle hatte Hermann Heimpel inne. In den höheren Schuldienst mochte Tellenbach nicht wechseln, da er wissenschaftlich arbeiten wollte. So wechselte er nach dem Tod seines Doktorvaters im Jahre 1927 an die Universität Heidelberg zu Karl Hampe und erhielt ein Stipendium der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft.
Assistenz am Deutschen Historischen Institut in Rom (1928–1932)
Durch die Vermittlung des Historikers Gerhard Ritter erhielt Tellenbach 1928 eine Stelle am Deutschen Historischen Institut in Rom als wissenschaftlicher Assistent von Paul Fridolin Kehr. Dort arbeitete er mit Hans-Walter Klewitz und Carl Erdmann zusammen. Besonders mit Erdmann entstand eine lebenslange Freundschaft. Laut Tellenbachs Erinnerungen wurde er von Erdmann „tief beeindruckt und angeregt“. In Rom bearbeitete er für die Regestensammlung Repertorium Germanicum II die Urkunden und Schriftstücke der zwischen 1378 und 1415 regierenden Päpste Urban VI., Bonifaz IX., Innozenz VII. und Gregor XII. Zudem verfasste er Beiträge über die kuriale Verwaltungsgeschichte des 14. Jahrhunderts und das Große Schisma.
In Italien lernte Tellenbach das faschistische Regime kennen, das das Land seit 1922 beherrschte. Unter dem Eindruck der politisch-gesellschaftlichen Umbrüche entstand in den Jahren 1928 bis 1932 seine Habilitationsschrift Libertas. Kirche und Weltordnung im Zeitalter des Investiturstreits. Der Streit zwischen der katholischen Kirche und dem faschistischen Regime sowie die Lateranverträge von 1929 hatten ihn dabei stark beeinflusst. Tellenbach blieb vor allem eine Rede von Benito Mussolini in bleibender Erinnerung, „in der es heißt, ohne das römische Reich würde das Christentum eine der vielen vorderasiatischen Sekten geblieben sein, die in den Wüsten verdorrten“.
Im Frühjahr 1933 wurde Tellenbach in Heidelberg bei Karl Hampe habilitiert. Im Vorwort der gedruckten Habilitationsschrift gedenkt er des Papsthistorikers Erich Caspar, der seinem Werk Unterstützung und Aufnahme in der von ihm herausgegebenen Buchreihe gewährte, sowie seines Freundes Carl Erdmann. Im Jahre 1940 wurde die Arbeit in der von dem englischen Mediävisten Geoffrey Barraclough betreuten Reihe „Studies in medieval History“ in englischer Übersetzung herausgegeben. Die Übersetzung des Buches eines deutschen Historikers war in dieser Zeit ungewöhnlich; sie war die Folge der Perspektive Tellenbachs, in der nationalgeschichtliche Fragen keine Rolle spielten. In seiner Arbeit wurde vielmehr das Ringen zwischen Kaiser und Papst als Kampf um die rechte Ordnung in der hochmittelalterlichen christlichen Welt dargestellt.
Forschung und Lehrtätigkeit im Nationalsozialismus
Die Krise und den Untergang der Weimarer Republik sowie den Aufstieg der Nationalsozialisten beobachtete Tellenbach während seiner Forschungstätigkeit in Rom. Über seine politische Einstellung dieser Zeit gab er aus späterer Rückschau lediglich bekannt, dass er bei der Reichspräsidentschaftswahl 1925 statt Paul von Hindenburg einen Demokraten gewählt habe. Angesichts der Erfahrungen in den 1920er Jahren dürfte dies allenfalls eine Vernunftentscheidung gewesen sein, ein überzeugter Demokrat war Tellenbach keineswegs. Er neigte eher einem „elitären Staats- und Gesellschaftsverständnis mit klaren hierarchischen Strukturen und festen Zuständigkeiten“ zu. Die Massengesellschaft war Tellenbach suspekt. Im September 1930 hielt er sich in Deutschland auf und nahm er an der Reichstagswahl teil. Nach dem Wahlerfolg der Nationalsozialisten setzte er sich intensiv mit Adolf Hitlers Buch „Mein Kampf“ auseinander, das, wie er fälschlich meinte, „fahrlässigerweise fast niemand gelesen“ habe. Für Tellenbach war Hitler der Prototyp eines Machtmenschen, der zwar beachtliche Talente habe, aber von einem berauschenden Machttrieb gesteuert sei. Hitler sei „einer der ganz großen Süchtigen der Weltgeschichte“ gewesen.
Der NSDAP stand Tellenbach wegen ihrer plebejischen Züge und der bereits vor 1933 erkennbaren Gewalttätigkeit ihrer Mitglieder distanziert gegenüber. Anders als viele seiner Kollegen wurde Tellenbach nach 1933 nicht Mitglied der NSDAP, der SA oder der SS. 1934 schloss er sich lediglich der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt als der zweitgrößten Massenorganisation nach der NSDAP an. 1936/37 war er als Blockwalter der Ortsgruppe Heidelberg-Mönchhoff und seit dem Wintersemester 1937/38 bei der Ortsgruppe Gießen-Mitte erst als Blockhelfer, dann als Blockwalter tätig.
Nach seiner Habilitation im Januar 1933 lehrte Tellenbach fünf Jahre lang als Privatdozent, für drei Semester vertrat er eine Professur in Heidelberg. Dort hörte er einen Vortrag Martin Heideggers über „Die Universität im Dritten Reich“, der ihn zutiefst enttäuschte. Heidegger erlebte er als „leidenschaftlichen Nationalsozialisten“, „ohne Weisheit“ und „ohne politisches Verantwortungsgefühl“. In Heidelberg verfasste er anlässlich des dortigen Universitätsjubiläums einen Artikel in der Zeitung „Der Führer“ unter dem Titel Kämpfende Wissenschaft. Von den Erlebnissen des Heidelberger Universitätsjubiläums. Eine erste Fassung seines Berichts wurde „als unvereinbar mit der nationalsozialistischen Weltanschauung“ abgelehnt. Tellenbach gelang es in Heidelberg, gegen die geltenden Regeln mit Hilfe eines nationalsozialistischen Professors und Dekans einen jüdischen Geschichtsstudenten zu promovieren. Der Doktorand schrieb später an Tellenbach, dass seine Eltern an „diese Zeichen wahrhafter Menschlichkeit […] nicht mehr zu glauben wagten“.
Es folgten weitere Lehrstuhlvertretungen für zwei Semester in Gießen und für ein Semester in Würzburg. In seiner Gießener Zeit wurde ihm vom Gaupersonalamt als Vertreter der „liberalistisch-objektiven Geschichtsschreibung“ Distanz zum NS-Regime attestiert. 1935 scheiterte eine Berufung nach Rostock am NSD-Dozentenbund; dies wiederholte sich 1936, als Tellenbach als Nachfolger von Bernhard Schmeidler nach Erlangen berufen werden sollte. In seinen Erinnerungen äußerte Tellenbach den Verdacht, dass er „lange nichts werden konnte“, da er kein Mitglied in NS-Organisationen war und daher als Lehrstuhlvertreter „umhergeschickt“ wurde. 1936 meldete er sich freiwillig zu einer militärischen Grundausbildung, „um wenigstens einen Pluspunkt“ in seinen Akten zu erhalten. Immerhin konnte er ungehindert publizieren und war durch seine Lehrstuhlvertretungen finanziell versorgt.
Im Jahr 1936 beabsichtigte Tellenbach als Reaktion auf die mit großem propagandistischen Aufwand inszenierten Tausendjahrfeiern für Heinrich I. eine wissenschaftliche Biografie über den ostfränkischen König zu verfassen. Aus der Beschäftigung mit dem Thema entstand das Werk Königtum und Stämme in der Werdezeit des Deutschen Reiches, eine strukturgeschichtliche Darstellung über das Karolingerreich und dessen Nachfolgereiche. In diesem Buch setzte er sich mit dem Übergang der fränkischen zur deutschen Geschichte auseinander. Die „Entstehung des deutschen Reiches“ wurde das beherrschende Forschungsthema für Tellenbach in den 1930er und 1940er Jahren.
Bei der Besetzung des Sudetenlandes 1938 war Tellenbach als Soldat beteiligt, er wurde jedoch 1939 nicht zum Kriegsdienst eingezogen. Im zweiten Anlauf wurde er, nachdem ein Einspruch des NSD-Dozentenbundes gescheitert war, 1938 als planmäßiger Extraordinarius mit dem Titel eines persönlichen Ordinarius an die Universität Gießen gerufen. Das Reichswissenschaftsministerium wollte angesichts des seit Mitte der 1930er Jahre zunehmenden Nachwuchsmangels, der auch ein Resultat der Bemühungen war, die Wissenschaften für die NS-Propaganda einzuspannen, nicht mehr auf jene Nachwuchswissenschaftler verzichten, die als weniger parteinah galten. Die Expertisen zu den Wissenschaftlern stammten etwa von Theodor Mayer, dem seinerzeitigen Präsidenten der Monumenta Germaniae Historica.
Tellenbach hatte zwar die vollen Rechte eines ordentlichen Professors, aber eine deutlich geringere Remuneration. In mehreren Schreiben an den Dekan und den Reichswissenschaftsminister beklagte er sich über die durch Einsparungen erfolgte Zurücksetzung und forderte die Behebung dieses „ihn schwer kränkenden Zustands“. Dabei gestand er ein, dass er in seiner politischen Betätigung „nicht auf besondere Verdienste“ verweisen könne. Er habe aber „längst das Bedürfnis empfunden mitzuarbeiten“. Zum Sommersemester 1942 wurde er zu seiner „Überraschung“ als Nachfolger Anton Eitels ordentlicher Professor in Münster. Diese Berufung kam aufgrund seiner herausragenden wissenschaftlichen Leistungen zustande. Als Nachfolger Anton Eitels bekleidete er zwischen 1943 und 1946 das Amt des Vereinsdirektors des Vereins für Geschichte und Altertumskunde Westfalens, Abt. Münster. Seit 1942 war er ordentliches Mitglied der Historischen Kommission für Westfalen, 1945 schied er aus der Kommission aus. In Gießen und Münster betreute er 13 Promotionen. In den Jahren 1941 und 1943 nahm Tellenbach an den von Theodor Mayer geleiteten Historiker-Tagungen des „Kriegseinsatzes der Geisteswissenschaften“ teil. Hier wurde über ein europäisches Geschichtsbild diskutiert, das den nationalsozialistischen Neuordnungsplänen in Europa zu einer historischen Legitimation verhelfen sollte.
Freiburger Professur (1944–1963)
Im Jahr 1944 wurde Tellenbach von Reichswissenschaftsminister Bernhard Rust als ordentlicher Professor für mittelalterliche Geschichte an die Universität Freiburg berufen, nachdem Fritz Ernst den Ruf abgelehnt hatte. Tellenbach übernahm als Nachfolger von Hans-Walter Klewitz den einstigen Lehrstuhl seines Lehrers Georg von Below. Maßgeblicher Faktor seiner Berufung war der Einsatz seines Netzwerks an Kollegen und Freunden in Freiburg, Münster und andernorts. Im Rahmen eines Sondervotums innerhalb der Fakultät erhielt er ein Gutachten von Gerhard Ritter, der Tellenbach als „die weitaus fruchtbarste, ideenreichste und originellste Forscherpersönlichkeit“ würdigte. Ritter, Tellenbachs Gutachter, wurde um den 20. Juli 1944 von der Gestapo verhaftet. Hierauf wandte sich Tellenbach mit einer Stellungnahme der Fakultät an das Reichssicherheitshauptamt in Berlin, um seinen inhaftierten Kollegen zu besuchen und sich für ihn einzusetzen. Tatsächlich wurde Ritter später entlassen, wobei aber unklar ist, inwieweit dies mit dem persönlichen Einsatz Tellenbachs zusammenhing. Die Luftangriffe der Alliierten führten dazu, „daß an einen auch nur einigermaßen normalen Lehrbetrieb [...] nach dem Bombeninferno vom 27. November 1944 nicht mehr zu denken war.“ Im März 1945 heiratete Tellenbach in Weilburg an der Lahn Marie-Elisabeth, geb. Gerken. Aus der Ehe gingen zwei Söhne und zwei Töchter hervor.
Nach dem Ende des Krieges konnte Tellenbach nach einer kurzen Befragung durch einen amerikanischen Bildungsoffizier seine Lehrtätigkeit fortführen. In dieser Zeit setzte er sich in seiner Schrift Die deutsche Not als Schuld und Schicksal mit der jüngsten Vergangenheit auseinander. Für seinen Schüler Otto Gerhard Oexle gehört die Darstellung zu „den bedeutendsten Auseinandersetzungen deutscher Historiker in der Nachkriegszeit mit dem soeben Geschehenen“. In der Fachwelt wurde sie jedoch nicht beachtet, da sie den Nationalsozialismus aus dem Abfall vom christlichen Glauben und der Unterwürfigkeit des Individuums unter den Staat ableitete. Materialistische Gesinnung sei die Ursache für moralische Haltlosigkeit und politische Indolenz gewesen. Reflexionen über die Rolle der Historiker oder gar seiner eigenen fehlten, stattdessen wurden allgemeine Belehrungen geboten. Zudem wollte Tellenbach, ähnlich wie die meisten seiner Kollegen, den ursprünglichen Zusammenhang, in dem es zum „Kriegseinsatz“ seiner Wissenschaftskollegen gekommen war, nicht mehr wahrhaben. So schrieb er im August 1947 an den Historiker Mayer: „Es wäre ja grotesk, wenn Ihnen aus dem sogenannten ‚Kriegseinsatz‘ ein Vorwurf gemacht würde.“ Mit der gleichen Post sandte er eine eidesstattliche Erklärung zur politischen Unbedenklichkeit der Veranstaltung, um Mayer, der wegen seiner Verwicklung in die Verbrechen des Regimes in Bedrängnis geraten war, zu unterstützen.
Wesentlichen Anteil hatte Tellenbach am Wiederaufbau der Freiburger Universität. 1946 wurde er Senatsmitglied, 1947/48 Dekan der Philosophischen Fakultät, 1949/50 Rektor. Nach dem Ende seines ersten Rektorats wurde er vom Allgemeinen Studentenausschuss zum Ehrenvorsitzenden berufen. 1950/51 wurde Tellenbach Prorektor, zum fünfhundertjährigen Jubiläum der Freiburger Universität im Jahr 1957/58 erneut Rektor. In seiner Rektoratsrede über „Die Bedeutung der Personenforschung für die Erkenntnis des frühen Mittelalters“ hob er besonders die prosopographischen Forschungen und die Ergebnisse seines Freiburger Arbeitskreises hervor.
Tellenbach gehörte zu den Historikern, die sich nach 1945 auf die Erforschung der Idee des christlichen Abendlands konzentrierten. Dabei spielte die Absicht eine Rolle, nach den Zerstörungen Europas durch die Kriege an die gemeinsamen Wurzeln der christlich-abendländischen Tradition zu erinnern. Besondere Bedeutung wurde in dieser Perspektive der mittelalterlichen Geschichte vor der Entstehung der Nationen zugeschrieben, als das Karolingerreich einen Großteil Europas umfasste. 1947 verfasste er für die römische Buchreihe Studi Gregoriani den Beitrag über Die Bedeutung des Reformpapsttums für die Einigung des Abendlandes. 1950 folgte in einer Festschrift für Gerhard Ritter der Beitrag Vom Zusammenleben der abendländischen Völker im Mittelalter. In der Historia mundi, dem ersten Handbuch der Weltgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg, verfasste Tellenbach die beiden Beiträge Europa im Zeitalter der Karolinger und Kaisertum, Papsttum und Europa im Hohen Mittelalter. In den 1960er Jahren behandelte er in der Saeculum-Weltgeschichte die Germanen und das Abendland bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts.
Wissenschaftliches Neuland betrat Tellenbach, als er begann, die Zeugnisse liturgischen Gedenkens in Form von klösterlichen Verbrüderungsbüchern und Nekrologien für die Erforschung der Personen, Personengruppen und Gemeinschaften zu erschließen. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) bewilligte 1952 seinen Projektantrag „Zur Durchführung von Forschungen zur Geschichte des deutschen Hochadels im Hochmittelalter“. Als Folge schloss sich im Dezember 1952 um Tellenbach eine Gruppe von jungen Forschern zum „Freiburger Arbeitskreis“ zur mittelalterlichen Personenforschung zusammen. Tellenbach wirkte als Hochschullehrer überaus erfolgreich. In seiner Freiburger Zeit betreute er 61 Dissertationen. Bereits im ersten Nachkriegsjahrzehnt wurden allein 35 Promotionen erfolgreich abgeschlossen. Die thematischen Schwerpunkte der Dissertationen lagen in den Themenfeldern „Kirche, Papsttum und Kurie“ und „Imperium, Königtum“, hinzu kamen Arbeiten zur Bildungs- und Überlieferungsgeschichte, zur Geschichtstheorie und zu religiösen Bewegungen. Die meisten Dissertationen waren personen- und besitzgeschichtlich ausgerichtet.
In den 1950er Jahren wurde Tellenbach Mitglied zahlreicher einflussreicher wissenschaftlicher Organisationen. 1948 wurde er korrespondierendes Mitglied und 1956 ordentliches Mitglied der Zentraldirektion der Monumenta Germaniae Historica. Er gehörte länger als ein halbes Jahrhundert den Monumenta an und damit länger als jeder andere vor ihm seit der Gründung des Gremiums im Jahr 1875. 1954 wurde er Gründungsmitglied der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, 1954 Ehrenmitglied des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung. Im selben Jahr wurde er Stellvertretender Vorsitzender der Kommission für Geschichtliche Landeskunde und blieb dies bis 1962. Im Jahr 1955 wurde Tellenbach korrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Seit 1958 gehörte er der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften an. Die Universitäten Löwen und Glasgow verliehen ihm 1960 die Ehrendoktorwürde. Rufe auf Lehrstühle nach Tübingen (1947) und Bonn (1954) lehnte er ab.
Während seiner Freiburger Jahre engagierte sich Tellenbach in der bundesdeutschen Hochschulpolitik. Von 1957 bis 1960 war er Präsident und Vizepräsident der Westdeutschen Rektorenkonferenz, von 1957 bis 1966 Mitglied des Wissenschaftsrates und übernahm führende Aufgaben in der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Außerdem diente er von 1958 bis 1961 als Vizepräsident im Deutschen Hochschulverband. Tellenbach leitete 1952 die Hinterzartener Hochschultagung und 1955 die für die Studentenförderung entscheidende Honnefer Reformkonferenz, auf der die Studienfinanzierung nach dem Honnefer Modell, dem Vorläufer des heutigen Bafög, beschlossen wurde. Seine wichtigsten bildungspolitischen Reden wurden 1963 unter dem Titel Der Sibyllinische Preis veröffentlicht.
Im Oktober 1962 wurde Tellenbach Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom, des renommiertesten Auslandsinstituts der deutschen Geschichtswissenschaft, und schied damit aus dem Universitätsdienst aus.
Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom (1962–1972)
Als Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Rom förderte Tellenbach Arbeiten über Nuntiaturberichte und Forschungen zur Reichsgeschichte in der Toskana. Besonders eng war die Zusammenarbeit mit Cinzio Violante von der Universität Pisa. Junge italienische Mediävisten wie Vito Fumagalli und Livia Fasola waren in dieser Zeit Mitarbeiter des Instituts. Die von Tellenbach entwickelten Fragestellungen und Methoden in der Adelsforschung und Personengeschichte wurden von seinen Schülern auf die Reichsgeschichte Italiens übertragen. Wilhelm Kurze arbeitete über die Frühgeschichte Camaldolis, über die Klöster Isola und besonders San Salvatore am Monte Amiata sowie über die adligen Eigenklöster, Reformklöster und Königsklöster in der früh- und hochmittelalterlichen Toskana. Hagen Keller forschte über den Gerichtsort in den oberitalienischen und toskanischen Städten, Dieter von der Nahmer über die toskanische Reichsverwaltung unter Friedrich I. und Heinrich VI. Hansmartin Schwarzmaier arbeitete ab 1966 in den Luccheser Archiven über das mittelalterliche Lucca.
Außerdem wurden unter der Leitung Tellenbachs die Forschungen des Instituts auf die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ausgeweitet. So wurden Arbeiten über den Faschismus sowie über die deutsch-italienischen Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert gefördert. Das Institut erweiterte er um eine musikwissenschaftliche Abteilung. Tellenbach initiierte auch deutsch-italienische Kolloquien zur Musikgeschichte. Im Jahr 1968 erhielt er das Große Verdienstkreuz mit Stern der Bundesrepublik Deutschland und wurde Ehrenmitglied in der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. 1972 wurde er pensioniert. Danach wirkte er weiter an der Freiburger Universität.
Tätigkeit im Ruhestand
Die Jahre im Ruhestand verbrachte er in Freiburg. 1976 wurde er Corresponding Fellow der British Academy. Tellenbach publizierte noch in hohem Alter. In seinem 1981 veröffentlichten Werk Aus erinnerter Zeitgeschichte beschrieb er sein Leben als Historiker und seine Tätigkeiten in der Hochschulpolitik. Darin betonte er, dass „die Hauptschuld der Deutschen“ in ihrer Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus vor 1933 zu suchen sei, als man „in wirklich geheimer Wahl Widerstand leisten“ hätte können. 1987 verlieh ihm die Universität Pisa die Ehrendoktorwürde. In dieser Zeit überarbeitete er auch sein vor einem halben Jahrhundert veröffentlichtes Libertas-Buch. 1988 erschien statt einer Neuauflage ein völlig neues Werk mit dem Titel Die westliche Kirche vom 10. bis zum frühen 12. Jahrhundert, das ebenfalls bald ins Englische übersetzt wurde. In dieser Darstellung wurden neben den Bereichen Staat und Kirche auch rechts-, verfassungs- und sozialpolitische Probleme sowie wirtschafts- und geistesgeschichtliche Fragestellungen mit einbezogen. Tellenbach verfasste weitere Studien zu grundsätzlichen Fragen über die Individualität im Mittelalter. In vier Bänden wurden ab 1988 „Ausgewählte Abhandlungen und Aufsätze“ herausgegeben, 1995 erhielt er die Verdienstmedaille des Landes Baden-Württemberg. Tellenbach starb 1999 im 96. Lebensjahr und wurde in Freiburg-Günterstal beigesetzt.
Werk
Das wissenschaftliche Wirken Tellenbachs überspannt mehr als sieben Jahrzehnte, ausgehend von seiner Dissertation aus dem Jahre 1926 bis zum 1999 erst posthum in der Festschrift für Rudolf Lill publizierten Beitrag „Gedanken zur Roma aeterna“. Tellenbach hatte drei Forschungsschwerpunkte: ausgehend vom „Libertas“-Buch von 1936 die ideengeschichtliche Deutung des Investiturstreits, den Übergang von der fränkischen zur deutschen Geschichte und die Personenforschung im Mittelalter auf der Grundlage der Memorialquellen.
Investiturstreit
Tellenbach gelang es, sich bei seiner Darstellung des Konflikts von der nationalen Perspektive des 19. Jahrhunderts zu lösen. Kulturkämpferische Positionen jener Zeit spielen in seinem Werk keine Rolle, die Reformbestrebungen des 11. Jahrhunderts werden in die theologischen Vorstellungen und in die Herrschaftsverhältnisse der Zeitgenossen eingebettet. Daher beschrieb Tellenbach den Investiturstreit als „Ringen um die rechte Ordnung in der Welt“. Bei dieser Auseinandersetzung habe sich „die Höhe des Mittelalters“ manifestiert, als „eine Zeit der Reife, der Wende, des Beginns“. Es sei darum gegangen, „das Verhältnis von Klerus und Laienschaft zueinander“ neu zu regeln, die „innere Verfassung der kirchlichen Anstalt durch den Sieg der Primatsidee“ neu zu bestimmen und schließlich „die Beziehungen zwischen Kirche und Welt“ neu zu ordnen. Für Tellenbach ist der Begriff der Freiheit der Kirche, der libertas ecclesiae, zentral. Der Begriff kann jedoch je nach Zusammenhang unterschiedliche Bedeutungen haben, womit im Einzelfall unklar bleibt, was mit der Bedrohung der kirchlichen Freiheit gemeint sei.
Diskussion über die Entstehung des mittelalterlichen Reiches
Seine beiden Monografien Königtum und Stämme in der Werdezeit des Deutschen Reiches (1939) und Die Entstehung des Deutschen Reiches (1940) verfasste Tellenbach als Beiträge zu einer Debatte, die in der Zeit des Nationalsozialismus über die Ursprünge des deutschen Reiches geführt wurde. Nach Hagen Keller gehörte die Thematik nicht zu Tellenbachs Forschungsschwerpunkten, wurde aber von ihm bewusst aufgenommen, als darüber in ideologischer Absicht diskutiert wurde. Tellenbach stellte die Überzeugung in Frage, dass das deutsche Reich im Jahr 919 durch Heinrich I. oder in einem anderen Epochenjahr durch eine Einzelperson gegründet worden sei. Zu verstehen seien die Ereignisse dieser Zeit nur als verfassungsgeschichtlich relevanter Prozess, der über die Jahre 911 bis 918 andauerte. In einer späteren Untersuchung nannte er als Eckdaten dieser Entwicklung die Jahre 843 und 936. Die Vorstellung von der Unteilbarkeit des Reiches, die sich unter Heinrich I. herauskristallisierte, betrachtete er als zentralen Aspekt für den Beginn des deutschen Reichs. Diesen Gedanken hoben später auch seine Schüler Karl Schmid, Josef Fleckenstein und Eduard Hlawitschka mehrfach hervor.
1940 veröffentlichte Tellenbach „Die Entstehung des Deutschen Reiches“, die sich an ein breiteres Publikum richtete. Bis 1943 wurde das Werk noch zweimal aufgelegt. 1947 wurde das Buch von der amerikanischen Militärregierung in der Fassung bewilligt, die 1943 zwar schon mehrfach gesetzt, jedoch durch Bombenangriffe zerstört worden war. Laut Nachwort will Tellenbach an der dritten Ausgabe keine wörtlichen Veränderungen vorgenommen haben, da die Untersuchung auf „streng wissenschaftlicher Grundlage“ beruhe. Doch zeigt ein Vergleich, dass Begriffe wie „Volksgemeinschaft“ durch „nationale Gemeinschaft“, „Großvolksstaat“ durch „Nationalstaat“ ersetzt worden sind. Möglich ist jedoch auch, dass diese Ausdrücke bereits in der für 1943 vorgesehenen Ausgabe gestanden haben.
Der Streit um die Entstehung des deutschen Reiches ging nach dem Zweiten Weltkrieg weiter und erreichte 1970 einen weiteren Höhepunkt, jedoch beteiligte sich Tellenbach nicht mehr an der Kontroverse.
Personennamensforschung
Tellenbachs Interesse für die Prosopographie, die die Zusammenstellung von Quellen zur Geschichte einzelner Personen erforderte, wurde bereits in den 1930er Jahren deutlich. Bei seinen personengeschichtlichen Forschungen orientierte er sich an der Alten Geschichte, in der bereits 1897/98 eine „Prosopographia Imperii Romani“ erarbeitet worden war. Tellenbach wollte mit seinem Forschungsvorhaben „für das karolingische Reich die gesamte führende Schicht“ erfassen und die Voraussetzung „für die Erforschung des Adels und seiner gesamten politischen und sozialen Beziehungen vom 10. bis zum 12. Jahrhundert“ gewinnen. In seiner Untersuchung Königtum und Stämme in der Werdezeit des Deutschen Reiches aus dem Jahr 1939 versuchte er, die Personen zu identifizieren, die die weltliche Führungsschicht bildeten. Tellenbach sprach von einer „karolingischen Reichsaristokratie“ und versuchte, ihren Einfluss auf die Entscheidungsprozesse in der Spätphase des Karolingerreichs und bei der Entstehung des ostfränkisch-deutschen Reichs zu beschreiben. Dazu sammelte er eine Liste von 111 Reichsaristokraten aus 42 Geschlechtern, die er nach ihrer Stammeszugehörigkeit zu ordnen versuchte. Der Begriff Reichsaristokratie wurde früh von Martin Lintzel kritisiert, der auf die Problematik der Abgrenzbarkeit dieser „Schicht“ hinwies. Dennoch konnte sich der Begriff in der Mediävistik durchsetzen.
Ähnliche Ideen hatte der Gießener Historiker Theodor Mayer, doch ist unklar, ob es zu Absprachen oder gar zu einer Zusammenarbeit mit ihm kam. Bei einem Kolloquium von Theodor Mayer führte Tellenbach seine bisherigen Forschungen über die adlige Führungsschicht weiter aus. Dabei untersuchte er die familiäre und die landschaftliche Herkunft der Herzöge im Zeitraum von 900 bis 1200. Er konnte genealogische Kontinuitäten von der karolingischen Reichsaristokratie über die ottonisch-salischen Herzöge bis zum Reichsfürstenstand der Staufer nachweisen. Nach seinen Forschungen bestand die Führungsschicht des Hochmittelalters nicht aus sozialen Aufsteigern, sondern rekrutierte sich aus derselben elitären Schicht, die schon im 9. Jahrhundert politisch führend war.
Im Dezember 1952 bildete sich um Tellenbach eine Gruppe von Mitarbeitern, der sogenannte „Freiburger Arbeitskreis“. Dieser Arbeitskreis erkannte in den 1950er Jahren, dass Eintragungen in den Verbrüderungs- und Gedenkbüchern des frühen Mittelalters gruppenweise erfolgten. Durch die Memorialüberlieferung (Gedenkbücher, Nekrologien und Totenannalen) konnten für das quellenarme 8. bis 10. Jahrhundert bedeutsame Quellen für die Geschichte des Adels und für die Familienforschung erschlossen werden. Damit war es möglich, den weiteren Verwandtenkreis von Personen zu identifizieren, die in historiographischen Quellen nicht hervortreten. Die Personennamensforschung mit der Ermittlung von Tausenden von Namen aus den Quellen war ein Großprojekt, das von einer Einzelperson nicht zu bewältigen war. Freiburg entwickelte sich zum Zentrum für mediävistische Personenforschung. Dieser Ansatz entsprach in seiner Frühzeit aber auch dem Bedürfnis vieler junger Historiker, die großenteils aus Krieg und Gefangenschaft zurückgekehrt waren, nach vermeintlich unpolitischer und wertfreier Wissenschaft. Nach Michael Borgolte bestanden enge Verbindungen zwischen dem Interesse an der Personenforschung anhand liturgischer Gedenkbücher und der Konfession der überwiegend katholischen Forscher.
Die Entdeckung der Personennamensforschung fiel mit der Abkehr von einer Betrachtungsweise des Mittelalters zusammen, die sich eher an Institutionen orientiert hatte. Das Interesse richtete sich nun nicht mehr nur auf die Könige und einige wenige Hochadlige, sondern auch auf die bislang eher wenig beachteten regional bedeutenden Adelsgeschlechter. Die Träger des politischen Systems rückten in den Vordergrund. Der Freiburger Arbeitskreis konzentrierte seine Forschungen auf den Bodenseeraum, wo durch die Überlieferung der Reichenau und aus St. Gallen reichhaltiges Material vorlag. In den personengeschichtlichen Untersuchungen taten sich besonders Joachim Wollasch und Karl Schmid hervor. Auf Betreiben Tellenbachs widmete sich Wollasch der Erschließung der cluniazensischen Nekrologien. 1970 konnte in einem Gemeinschaftswerk von Tellenbach und seinen Schülern Hlawitschka und Schmid der Liber memorialis von Remiremont erstmals editorisch erschlossen werden.
Wissenschafts- und bildungspolitische Tätigkeiten
In der Schrift Die deutsche Not als Schuld und Schicksal machte Tellenbach unmittelbar nach dem Krieg in kulturpessimistischen Ausführungen nicht nur politische und wirtschaftliche Entwicklungen für die NS-Zeit verantwortlich, sondern auch die Abkehr von religiösen und sittlichen Werten. Die Unmenge an kulturellen Angeboten habe zu einer Verflachung des Kultur- und Bildungsangebots sowie zur geistigen und moralischen Orientierungslosigkeit geführt.
Tellenbach erhoffte sich daher insbesondere von den Universitäten wichtige Impulse für die Nachkriegszeit. 1946 veröffentlichte er den Aufsatz Zur Selbstorientierung der deutschen Universität. Antrieb für seine Aktivität in den folgenden Jahren war die Ansicht, dass die Menschen aus der Geschichte lernen müssten. Aufgabe des Historikers sei es, „die Verantwortung für das Verhalten zum Vergangenen und für die Arbeit am Zukünftigen mitzuübernehmen“. Tellenbach vertrat ein neuhumanistisches Bildungsideal, das die Schulung des ganzen Menschen vorsah und eine spezialisierte Berufsbildung ablehnte. Die Autonomie der Universitäten sei beizubehalten; weder „Sonderinteressen“ noch „sachfremde Motive“ dürften Einfluss auf die Wissenschaft nehmen. Dies bedeute jedoch nicht, dass sich die Universitäten allen gesellschaftlichen Anforderungen entziehen könnten.
Tellenbach zog die Konsequenz, in der Hochschulpolitik tätig zu werden, und bekleidete eine Vielzahl von Ämtern. Als Rektor führte er an seiner Universität das Studium generale und das Colloquium politicum ein. In Freiburg entstanden 1949 der Universitätsbeirat und der Verband der Freunde der Universität. Professoren sollten in der Region vom Oberrhein bis zum Bodensee regelmäßig Vorträge gratis anbieten und somit die Verbundenheit mit der Bevölkerung festigen. Außerdem forderte er mehr Internationalität in Studium und Wissenschaft.
Anfang der 1950er Jahre wurden erneut Pläne für die Gründung eines Deutschen Historischen Instituts in Paris diskutiert. Tellenbach unterstützte die Westanbindungspolitik von Bundeskanzler Konrad Adenauer. Mit Paul Egon Hübinger und Eugen Ewig zählte er zu den Teilnehmern der deutsch-französischen Historikertreffen in Speyer, die zwischen 1948 und 1949 auf Initiative der französischen Militärregierung stattfanden. Dort wurden Kontakte zu französischen Kollegen geknüpft, die für die spätere Gründung des Instituts förderlich waren. Durch seine Senatsmitgliedschaft und seine Tätigkeit als Rektor der Universität Freiburg besaß Tellenbach früh Beziehungen zur französischen Militärbesatzung. An der Pariser Institutsgründung war er maßgeblich beteiligt. Mit Max Braubach und Eugen Ewig gründete er am 2. April 1957 in Mainz die „Wissenschaftliche Kommission zur Erforschung der Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen“ mit dem Ziel, „wissenschaftliche Arbeiten auf dem Gebiet der mittleren und neueren Geschichte in Frankreich zu fördern und Kontakte zwischen deutschen und französischen Historikern herzustellen oder zu vertiefen“. Neben Eugen Ewig und Paul Egon Hübinger wurde er zu einem der Gründerväter des Pariser Instituts, das 1958 seine Arbeit aufnahm. Bis 1974 gehörte er seinem wissenschaftlichen Beirat an.
Wirkung
Wissenschaftliche Nachwirkung
Die westdeutsche Adelsforschung wurde nach dem Zweiten Weltkrieg maßgeblich von der „Tellenbach-Schule“ geprägt. Tellenbachs Initiative gilt als einer der wichtigsten Impulse für die Monumenta Germaniae Historica der letzten Jahrzehnte. Der Versuch, die Rolle des frühmittelalterlichen Adels mit Hilfe des prosopographischen Ansatzes zu erschließen, fand auch in Italien und Frankreich große Beachtung.
Die personengeschichtlichen Forschungen waren bedeutsam für Untersuchungen über Amtsträger, über oppositionelle Gruppen und über einzelne Adelsfamilien sowie über Verwandtschaftsgruppen im Frankenreich. Ausgangspunkt war die Annahme, dass Personennamen Auskunft über Verwandtschaft und Abstammung geben können, weil Namen und Namensglieder nach bestimmten Regeln vererbt wurden. Dies gab neue Impulse für die Erörterung von Kontinuitätsfragen. Karl Ferdinand Werner versuchte die Kontinuität von der merowingischen zur karolingischen Aristokratie aufzuzeigen. Analysen der Gedenkbucheinträge führten zu Überlegungen über das Verhältnis von Person und Gemeinschaft im frühen Mittelalter.
Der „Freiburger Arbeitskreis“ prägte zahlreiche Nachwuchswissenschaftler, darunter mit Ludwig Buisson, Josef Fleckenstein, Eduard Hlawitschka, Karl Schmid, Rolf Sprandel und Joachim Wollasch bis 1980 sechs Lehrstuhlinhaber für mittelalterliche Geschichte. Keiner von Tellenbachs mediävistischen Kollegen konnte eine so hohe Schülerzahl vorweisen.
Die Adelsforschung setzten jedoch nur Fleckenstein und Schmid fort. Aus der Erforschung der Gedenkbucheinträge konnte Schmid grundlegende Erkenntnisse über die Familienstruktur des Adels gewinnen. Die für das Gebetsgedenken aufgezeichneten Namensgruppen von Geistlichen und Laien wurden als bedeutende Quellen für die Struktur der mittelalterlichen Führungsschicht betrachtet. Weitere Forschungen brachten Einsichten zu Grablegen, Stiftungen, Todesvorstellungen, gildenartigen Schwurgemeinschaften sowie zu städtischen Organisationsformen des späten Mittelalters.
Das Libertas-Buch über den Investiturstreit gilt bis heute als Standardwerk und ist 1996 als unveränderter Nachdruck erschienen. Das Buch ist bis in die Gegenwart in Amerika eines der meistbeachteten Erzeugnisse deutscher Mediävistik geblieben.
In Münster wurde in den frühen 1970er Jahren ein Sonderforschungsbereich „Mittelalterforschung“ zu monastischen Gemeinschaften gebildet, der sich insbesondere mit Fulda und Cluny befasste. Außerdem wurde in Münster für die Edition und Analyse der gesamten Memorialüberlieferung das Projekt „Societas et fraternitas“ geschaffen. Die disparaten Namenseinträge in den Memorialbüchern führten zu einer stärkeren Einbeziehung fotografischer Techniken, die elektronische Datenverarbeitung hielt schneller Einzug als in allen anderen Bereichen der Mediävistik. Die ermittelten Personennamen wurden in einer Datenbank mit rund 382.000 Einträgen erfasst, die sich in Duisburg befindet und für weitere Forschungen zur Verfügung steht.
Schmid und sein Schüler Gerd Althoff konnten im Rahmen des Forschungsprojektes „Gruppenbildung und Gruppenbewusstsein im Mittelalter“ in den Gedenkbucheintragungen der Klöster Reichenau, St. Gallen, Fulda und dem Frauenkloster Remiremont untereinander vernetzte Adelsgruppen erkennen, die für die politische, sich in Ritualen und wechselseitigen Verpflichtungseiden manifestierende Struktur des ottonischen Reiches von großer Bedeutung waren. Amicitiae, Freundschaftsbündnisse, wurden zum zentralen Herrschaftsinstrument im 10. Jahrhundert, Convivia, gemeinsame Ritualmahle, waren Ausgangspunkte für politische Bündnisse und Verschwörungen.
Tellenbachs weitere Schüler setzten thematisch andere Schwerpunkte. Rolf Sprandel untersuchte die Hanse- und Wirtschaftsgeschichte sowie die spätmittelalterliche Geschichtsschreibung. Hagen Keller erforschte die italienischen Kommunen, Eduard Hlawitschka befasste sich mit genealogischen Untersuchungen des Adels.
Würdigung und Gedenken
Zum 65. Geburtstag 1968 hielt Josef Fleckenstein einen Vortrag über „Gerd Tellenbach als National- und Universalhistoriker“, der zum 70. Geburtstag 1973 veröffentlicht wurde. Fleckenstein hob als Forschungsschwerpunkte seines Lehrers die „Struktur und Bedeutung des Adels und die geschichtliche Rolle der mittelalterlichen Kirche“ hervor. Die wesentlichen Erkenntnisfortschritte in der Mediävistik, „die den wissenschaftlichen Ruf Gerd Tellenbachs in der internationalen Wissenschaft begründet“ hätten, seien „eine methodische Verfeinerung der Genealogie“ und die „Ausweitung zur Personenforschung“ gewesen. Neben der Festschrift Adel und Kirche, die Fleckenstein und Schmid zum 65. Geburtstag herausgaben, besorgte Reinhard Mielitz eine weitere Festschrift, die den Interessen Tellenbachs an didaktischen Fragen Rechnung trug.
Zum 70. Geburtstag beschrieb Karl Schmid Entstehung, Organisation und Arbeitsweise des „Freiburger Arbeitskreises“. Zum 80. Geburtstag wurde eine Festschrift herausgegeben, die sich mit dem Reich und der Kirche vor dem Investiturstreit auseinandersetzte. Außerdem wurde Tellenbach der 131. Band der Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins gewidmet. Als Gabe zum 85. Geburtstag gab wiederum Karl Schmid den 1988 zunächst als Vorabdruck in Freiburg im Breisgau veröffentlichten Band Vita Walfredi und Kloster Monteverdi heraus. Zum 90. Geburtstag skizzierte sein Schüler Hagen Keller in den Frühmittelalterlichen Studien Tellenbachs Werk in der Geschichtswissenschaft des 20. Jahrhunderts. Zum 95. Geburtstag würdigte Wollasch den Mediävisten in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als einen der „herausragenden Historiker unseres Jahrhunderts“. Er sei von „strengstem Methodenbewußtsein“ geprägt gewesen, und es sei ihm „um die anthropologische Sicht der Geschichte“ gegangen.
Im Jahre 1999 fand an der Universität Freiburg eine akademische Trauerfeier zum Gedenken an Tellenbach statt. Wenige Wochen nach dem 100. Geburtstag wurden an der Universität Freiburg im Oktober 2003 sein akademisches Wirken und sein wissenschaftliches Œuvre in einer Vortragsreihe gewürdigt. Das Werk wurde von Hagen Keller, Otto Gerhard Oexle, Joachim Wollasch und Hansmartin Schwarzmaier aus reichsgeschichtlicher, landesgeschichtlicher und universal-europäischer Perspektive beleuchtet. Dieter Mertens, Hubert Mordek und Thomas Zotz gaben vier Beiträge Tellenbachs aus dem Nachlass heraus.
Schriften
Hermann Diener: Schriftenverzeichnis Gerd Tellenbach. In: Josef Fleckenstein, Karl Schmid (Hrsg.): Adel und Kirche. Gerd Tellenbach zum 65. Geburtstag dargebracht von Freunden und Schülern. Herder, Freiburg (Breisgau) 1968, S. 581–587.
Ausgewählte Abhandlungen und Aufsätze. 5 Bände. Hiersemann, Stuttgart 1988–1996, ISBN 3-7772-8820-9.
Die westliche Kirche vom 10. bis zum frühen 12. Jahrhundert. (= Die Kirche in ihrer Geschichte. Band 2, Lieferung F, 1). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1988, ISBN 3-525-52324-6, (Digitalisat).
Aus erinnerter Zeitgeschichte. Verlag der Wagnerschen Universitäts-Buchhandlung, Freiburg (Breisgau) 1981, ISBN 3-923263-00-7.
Der Sibyllinische Preis. Schriften und Reden zur Hochschulpolitik 1946–1963. Herausgegeben von Reinhard Mielitz. Albert, Freiburg (Breisgau) 1963.
als Herausgeber: Studien und Vorarbeiten zur Geschichte des großfränkischen und frühdeutschen Adels (= Forschungen zur Oberrheinischen Landesgeschichte. Bd. 4, ). Albert, Freiburg (Breisgau) 1957.
Die Entstehung des Deutschen Reiches. Von der Entwicklung des fränkischen und deutschen Staates im 9. und 10. Jahrhundert. Callwey, München 1940 (3. Auflage. Rinn, München 1943).
Königtum und Stämme in der Werdezeit des Deutschen Reiches. (= Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichte des Deutschen Reiches in Mittelalter und Neuzeit. Bd. 7, H. 4, ). Böhlau, Weimar 1939.
Libertas. Kirche und Weltordnung im Zeitalter des Investiturstreites (= Forschungen zur Kirchen- und Geistesgeschichte. Bd. 7). Kohlhammer, Stuttgart 1936 (Zugleich: Heidelberg, phil., Habil.-Schr., 1932), (Nachdruck: Kohlhammer, Stuttgart u. a. 1996, ISBN 3-17-014072-8).
Literatur
Darstellungen
Akademische Feier zum Gedenken an Altrektor Professor Dr. Dr. h.c. mult. Gerd Tellenbach, gehalten am 19. November 1999. In: Freiburger Universitätsblätter. Bd. 147, (2000), , S. 85–111.
Michael Borgolte: Memoria. Zwischenbilanz eines Mittelalterprojekts. In: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Bd. 46, (1998), S. 197–210.
Michael Borgolte: Gerd Tellenbach (* 1903) Libertas. Kirche und Weltordnung im Zeitalter des Investiturstreits. In: Volker Reinhardt (Hrsg.): Hauptwerke der Geschichtsschreibung. Lizenzausgabe. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2003, S. 626–629.
Josef Fleckenstein: Gerd Tellenbach als National- und Universalhistoriker. In: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken. Bd. 53, (1973), S. 1–15 (Digitalisat).
Josef Fleckenstein: Streng, nicht eng. Der Mediävist Gerd Tellenbach wird neunzig Jahre alt. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 17. September 1993, Nr. 216, S. 35.
Andre Gutmann: Netzwerke im Einsatz – Gerd Tellenbachs Weg zur Berufung an die Universität Freiburg i. Br. 1939 und 1943/44. In: Erik Beck, Eva-Maria Butz (Hrsg.): Von Gruppe und Gemeinschaft zu Akteur und Netzwerk? Netzwerkforschung in der Landesgeschichte. Festschrift für Alfons Zettler zum 60. Geburtstag. (= Freiburger Beiträge zur Geschichte des Mittelalters. Bd. 3). Thorbecke, Ostfildern 2019, ISBN 978-3-7995-8552-1, S. 119–144.
Eduard Hlawitschka: Über die Anfänge der Beschäftigung mit den Libri Memoriales im „Freiburger Arbeitskreis“ Gerd Tellenbachs. Erinnerungen eines Beteiligten. In: Schriften der Sudetendeutschen Akademie der Wissenschaften und Künste. Bd. 35 (2015), S. 177–191 (online).
Jörg-Peter Jatho, Gerd Simon: Gießener Historiker im Dritten Reich. Focus Verlag, Gießen 2008, ISBN 978-3-88349-522-4, S. 60 f.
Hagen Keller: Das Werk Gerd Tellenbachs in der Geschichtswissenschaft unseres Jahrhunderts. In: Frühmittelalterliche Studien. Bd. 28, (1994), S. 374–397.
Wilhelm Köhler: Mittelalter und Zeitgeschichte. Ein Brief Gerd Tellenbachs vom 18. Juli 1936. In: Patrik Mähling (Hrsg.): Orientierung für das Leben. kirchliche Bildung und Politik in Spätmittelalter, Reformation und Neuzeit. Festschrift für Manfred Schulze zum 65. Geburtstag (= Arbeiten zur historischen und systematischen Theologie. Bd. 13). Lit, Berlin u. a. 2010, ISBN 978-3-643-10092-4, S. 309–326.
Dieter Mertens, Hubert Mordek, Thomas Zotz (Hrsg.): Gerd Tellenbach. (1903–1999). Ein Mediävist des 20. Jahrhunderts. Vorträge aus Anlaß seines 100. Geburtstags in Freiburg i. Br. am 24. Oktober 2003. Rombach, Freiburg (Breisgau) u. a. 2005, ISBN 3-7930-5009-2.
Anne Christine Nagel: Gerd Tellenbach. Wissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert. In: Ulrich Pfeil (Hrsg.): Das Deutsche Historische Institut Paris und seine Gründungsväter. Ein personengeschichtlicher Ansatz (= Pariser historische Studien. Bd. 86). Oldenbourg, München 2007, ISBN 978-3-486-58519-3, S. 79–99 (online).
Anne Christine Nagel: Mittelalterliche Geschichte. In: Eckhard Wirbelauer (Hrsg.): Die Freiburger Philosophische Fakultät 1920–1960. Mitglieder – Strukturen – Vernetzungen (= Freiburger Beiträge zur Wissenschafts- und Universitätsgeschichte. NF Bd. 1). Alber, Freiburg (Breisgau) 2006, ISBN 3-495-49604-1, S. 387–410.
Anne Christine Nagel: Im Schatten des Dritten Reichs. Mittelalterforschung in der Bundesrepublik Deutschland 1945–1970 (= Formen der Erinnerung. Bd. 24). Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005, ISBN 3-525-35583-1, S. 145–155, (Zugleich: Gießen, Universität, Habilitations-Schrift, 2003), (Rezension).
Karl Schmid: Der „Freiburger Arbeitskreis“. Gerd Tellenbach zum 70. Geburtstag. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins. Bd. 122, (1974), S. 331–347.
Hansmartin Schwarzmaier: Ein Gelehrtenleben des 20. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins. Bd. 148, (2000), S. 393–396.
Joachim Wollasch: Der Historiker als Anthropologe. Zum fünfundneunzigsten Geburtstag von Gerd Tellenbach. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 17. September 1998, Nr. 216, S. 46.
Joachim Wollasch: Gerd Tellenbach. In: Fred Ludwig Sepaintner (Hrsg.): Baden-Württembergische Biographien. Band 4. Kohlhammer, Stuttgart 2007, ISBN 978-3-17-019951-4, S. 366–368.
Thomas Zotz: Deutsche Mediävisten und Europa. Die Freiburger Historiker Theodor Mayer und Gerd Tellenbach im „Kriegseinsatz“ und in der Nachkriegszeit. In: Bernd Martin (Hrsg.): Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen. Ereignisse, Auswirkungen, Reflexionen (= Rombach-Wissenschaften. Reihe: Historiae. Bd. 19). Rombach, Freiburg (Breisgau) u. a. 2006, ISBN 3-7930-9458-8, S. 31–50.
Thomas Zotz: Tellenbach, Gerd. In: Rudolf Vierhaus (Hrsg.): Deutsche Biographische Enzyklopädie. Band 9: Schlumberger – Thiersch. 2. überarbeitete und erweiterte Ausgabe. Saur, München 2008, ISBN 978-3-598-25039-2, S. 884–885.
Nekrologe
Arnold Esch: Nachruf Gerd Tellenbach. In: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken. Bd. 79, (1999), , S. XXXV–XXXVIII. (Digitalisat).
Horst Fuhrmann: Gerd Tellenbach 17.9.1903 – 12.6.1999. In: Bayerische Akademie der Wissenschaften. Jahrbuch 2000. München 2001, S. 309–315 (Digitalisat).
Hagen Keller: Der Standhafte. Zum Tod des Mediävisten Gerd Tellenbach. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 19. Juni 1999, Nr. 139, S. 46.
Rudolf Schieffer: Nachruf Gerd Tellenbach. In: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters. Bd. 56, (2000), S. 409–411 (Digitalisat).
Weblinks
Veröffentlichungen von und über Gerd Tellenbach im Opac der Regesta Imperii
Lebensdaten zu Tellenbach
Biographische Angaben auf den Seiten der Historischen Kommission für Westfalen
Vortrag von Gerd Tellenbach im Online-Archiv "Österreich am Wort" der Österreichischen Mediathek (Beitrag aus dem Salzburger Nachtstudio)
Anmerkungen
Mittelalterhistoriker
Kirchenhistoriker
Hochschullehrer (Westfälische Wilhelms-Universität)
Hochschullehrer (Justus-Liebig-Universität Gießen)
Hochschullehrer (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg)
Rektor (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg)
Träger des Großen Bundesverdienstkreuzes mit Stern
Träger des Verdienstordens des Landes Baden-Württemberg
Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften
Mitglied der Historischen Kommission für Westfalen
Mitglied der British Academy
Mitglied der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg
Absolvent der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Deutscher
Geboren 1903
Gestorben 1999
Mann |
1739775 | https://de.wikipedia.org/wiki/Lindentunnel | Lindentunnel | Der Lindentunnel ist ein teilweise zugeschütteter Tunnel unter dem Boulevard Unter den Linden im Berliner Ortsteil Mitte. Der ab 1914 gebaute und am 17. und 19. Dezember 1916 eröffnete Tunnel diente der Straßenbahn als Unterführung des Boulevards und ersetzte eine 1894 in Betrieb genommene, höhengleiche Kreuzung an gleicher Stelle. Die Straßenbahn nutzte das Bauwerk bis 1951, danach war es unter anderem Requisitenlager der Berliner Staatsoper und Abstellplatz für Fahrzeuge der Volkspolizei der DDR. Nach der deutschen Wiedervereinigung nutzte der Aktionskünstler Ben Wagin einige Teile als Ausstellungsfläche, andere Teile sind ab den 1990er Jahren Requisitenlager des Maxim-Gorki-Theaters. Mittelfristig ist ein vollständiger Abriss des Tunnels vorgesehen.
Vorgeschichte
Lindenkreuzung
Der Boulevard Unter den Linden stellte rechtlich eine Besonderheit im Berliner Straßennetz dar. Die vor 1837 in Berlin angelegten Straßen, Plätze und Brücken gingen mit Gesetz vom Dezember 1875 am 1. Januar 1876 in das Eigentum der Stadt über. Ausnahmen bestanden unter anderem für Landes-Chausseen und die Straße Unter den Linden. Darüber hinaus galt das Recht des Deutschen Kaisers und preußischen Königs, in Fragen der Stadtgestaltung das letzte Wort zu haben.
Die 1871 gegründete Große Berliner Pferde-Eisenbahn (GBPfE) eröffnete 1873 ihre erste Strecke vom Rosenthaler Tor nach Gesundbrunnen. In den nächsten Jahren folgten weitere Strecken von den ehemaligen Toren der Akzisemauer in die Vororte. Die einzelnen Strecken waren über eine Ringlinie, die spätere Linie 1 – Stadtring, die dem ungefähren Verlauf der Mauer folgte, miteinander verknüpft. Sie war die erste Nord-Süd-Verbindung innerhalb Berlins. Eine zweite Verbindung über die Spandauer Straße ging 1883 in Betrieb. Der zwischen der Spandauer Straße und dem Brandenburger Tor gelegene 2,2 Kilometer lange Abschnitt, in dem sich die Straße Unter den Linden befindet, blieb ausgespart. Die GBPfE bemühte sich 1875 erstmals für eine Querung der „Linden“ im Verlauf der Charlottenstraße, die der Berliner Polizeipräsident mit Verweis auf die geringe Breite der Straße ablehnte.
Die GBPfE konzentrierte sich ab den 1880er Jahren auf den weiteren Ausbau ihres Netzes. Da die zentrale Nord-Süd-Verbindung nach wie vor fehlte, trat die Leitung der Pferde-Eisenbahn mit Unterstützung des Berliner Magistrats 1885 erneut an das Polizeipräsidium heran. Dieses lehnte das Vorhaben erneut ab und schlug stattdessen eine Kreuzung in Höhe der Schloßbrücke über Schinkelplatz und Am Kupfergraben vor. Die Stadt richtete daraufhin 1888 ein Immediatgesuch an den Kaiser, in dem sie auf die dringende Notwendigkeit einer Nord-Süd-Straßenbahnverbindung verwies. Sie schlug vor, die Strecke durch die Friedrichstraße zu führen, die zwischen Behrenstraße und Dorotheenstraße ausreichend verbreitert werden sollte. Der Kaiser erkannte die Dringlichkeit des Vorhabens, dennoch lehnte er den von der Stadt vorgelegten Plan ab. Es kam zu weiteren Verhandlungen über die Lage der Kreuzung; die Beteiligten einigten sich auf eine Verbindung in Höhe der Straße Hinter der Katholischen Kirche, dem Platz am Opernhause und dem Kastanienwäldchen (zwischen Palais des Prinzen Heinrich, Neuer Wache und Sing-Akademie gelegen). Die Verbindung ging am 22. September 1894 in Betrieb.
Für die Herstellung der Verbindung entrichtete die Gesellschaft eine Pauschale von einer Million Mark an die Stadt. Sie war damit von den Kosten für den Grunderwerb befreit. Die Stadt ihrerseits geriet dadurch in einen 20 Jahre andauernden Rechtsstreit mit der Universität als Eigentümer des Kastanienwäldchens. Die Universität verlangte für die Nutzung des ihr 1810 von Friedrich Wilhelm III. übertragenen Wäldchens eine Jahresrente von fünf Prozent von 1.526.800 Mark. Die Summe entsprach dem Wert, den das Grundstück als Bauland erzielt hätte. Die Stadt sah das Kastanienwäldchen nur als Grünfläche an und wollte so den Preis herabsetzen. Der Streit endete unter dem Rektorat Max Plancks 1914 mit einem Vergleich. Zu diesem Zeitpunkt war der Erste Weltkrieg ausgebrochen, der Bau des Lindentunnels stand fest. Die Stadt entrichtete die Summe von 1.069.250,86 Mark an die Universität (kaufkraftbereinigt in heutiger Währung: rund Millionen Euro). Diese hatte auf Anweisung des preußischen Finanzministers August Lentze das Geld für eine Kriegsanleihe aufzuwenden.
Ab 1896 begann die GBPfE mit der Elektrifizierung ihres Streckennetzes, der sie 1898 mit der Umbenennung in „Große Berliner Straßenbahn“ (GBS) Rechnung trug. Die Stromzuführung erfolgte über Oberleitung und Rollenstromabnehmer. An repräsentativen Plätzen, so auch an der Lindenkreuzung, war die Oberleitung aus ästhetischen Gründen verboten. Die GBS setzte daher anfangs Akkumulator-Triebwagen ein, am 7. Oktober 1901 rüstete sie die Lindenkreuzung mit Unterleitung (Schlitzrohrfahrleitung) aus. Diese Art der Stromversorgung war nicht zufriedenstellend, da die Leitungskanäle durch Laub und Schneematsch schnell verstopften und die Stromabnehmer bei den kleinsten Hindernissen abbrachen. Die Behörden verordneten daher im Winter 1906/1907 die Installation von Notoberleitungen, die 1907 durch ständige Einrichtungen ersetzt wurden. Durch die enorme Breite der Fahrbahn waren die Leitungen in Höhe der Straße auf einer Länge von 60 Metern ohne Zwischenaufhängung abgespannt.
Tunnelpläne der Großen Berliner Straßenbahn und der Stadt Berlin
Da die 1894 eröffnete Lindenkreuzung schnell an ihre Leistungsgrenze geriet, ersuchte die Stadt 1897 vergeblich um die Genehmigung einer zweiten Kreuzung an der Charlottenstraße. Der Polizeipräsident schlug indes eine Verlängerung der Kanonierstraße zur Neustädtischen Kirchstraße mit einem Straßendurchbruch zwischen Behrenstraße und „Linden“ vor. Die Stadt stellte daraufhin Pläne zur Umsetzung des Vorschlags aus. Im April 1901 untersagte Kaiser Wilhelm II. jedoch jede weitere oberirdische Kreuzung des Boulevards. Er soll die Projektunterlagen angeblich mit der Bemerkung „Nein, wird unterirdisch gemacht!“ versehen haben, die Authentizität des Satzes ist nicht nachweisbar. Alternativ wird dem Kaiser auch der Spruch „Drunter durch, nicht drüber (hin)weg!“ in den Mund gelegt, der nach anderen Quellen wiederum der Errichtung einer Schwebebahn nach Wuppertaler Vorbild gegolten haben soll.
Die Zeit vor dem Tunnelbau war geprägt von einem starken Zerwürfnis zwischen der Stadt Berlin und der Großen Berliner Straßenbahn. Auslöser des Konflikts war die von der GBS beantragte und vom Polizeipräsidenten am 4. Mai 1900 gestattete Verlängerung der Konzessionsdauer bis zum 31. Dezember 1949. Der mit der Stadt abgeschlossene Zustimmungsvertrag, der die Benutzung der Straßen regelte, lief bis zum 31. Dezember 1919. Die GBS leitete aus der Konzessionsverlängerung jedoch generell das Recht ab, den Straßenbahnbetrieb über das Jahr 1919 hinaus führen zu dürfen. In der Folge gab es mehrere juristische Auseinandersetzungen, aus denen mal die eine, mal die andere Partei als Sieger hervorging. In Fragen der Verkehrsgestaltung gingen beide Seiten eigene Wege. Die Stadt beschloss 1900 die Einrichtung eigener Straßenbahnlinien, hinsichtlich der Lindenkreuzung erarbeiteten beide Seiten verschiedene Pläne, die eine Untertunnelung der Straße in Höhe des Opernhauses vorsahen. Die Morgenausgabe der Berliner Volks-Zeitung vom 11. Dezember 1904 stellte die vier Varianten – eine städtische und drei der GBS – vor. Die Stadt überarbeitete unter Federführung von Stadtbaurat Friedrich Krause ihren Entwurf und stellte kurz darauf zwei Varianten für einen Lindentunnel vor. Die Standortwahl fiel auf die bestehende Kreuzung, da an anderer Stelle die Rampen nicht hätten gebaut werden können oder die Kosten für den Grunderwerb zu hoch waren. Die Tunnelfahrbahn sollte viergleisig ausgeführt werden, um neben den Linien der städtischen Straßenbahn (SSB) und der von der Stadt erworbenen Berliner Elektrischen Straßenbahnen (BESTAG) auch die Linien der GBS und ihrer Tochtergesellschaften aufnehmen zu können. Die Nordrampe befand sich bei beiden Entwürfen in Höhe des Kastanienwäldchens. Beim ersten Entwurf sollte die südliche Rampe östlich zwischen Opernhaus und Prinzessinnenpalais liegen, beim zweiten Entwurf westlich zwischen Opernhaus und der Königlichen Bibliothek („Kommode“).
Parallel weitete auch die GBS ihre Pläne aus und legte zusammen mit ihrer Tochtergesellschaft Berlin-Charlottenburger Straßenbahn 1905 ein umfangreiches System aus Tunnelstrecken vor. Die sahen zwei in Ost-West-Richtung verlaufende Tunnel, einen südlichen unter der Leipziger und Potsdamer Straße und einen nördlichen vom Opernhaus bis hinter die Siegesallee im Tiergarten vor. Die Stadt bemängelte die Pläne als unzureichend, woraufhin die GBS diese mehrfach abänderte. Die Fassung von 1907 enthielt beim Nordtunnel zwei Schleifen unter dem Platz am Opernhause und dem Brandenburger Tor, die den Nord-Süd-Verkehr mitaufnehmen sollten. Die Stadtverwaltung wich indes nicht von ihrer Kritik ab und stützte sich dabei auf die Ergebnisse mehrerer Gutachter, unter anderem Gustav Kemmann und Otto Blum. Stadtbaurat Friedrich Krause konterte den Entwurf der GBS mit einer Denkschrift, in der er anstelle zweier langer Tunnel mehrere kurze Tunnel, unter anderem am Opernhaus und am Brandenburger Tor, sowie zahlreiche Straßendurchbrüche vorschlug. Auf einer Verkehrskonferenz vom 9. April 1908 unter Leitung des preußischen Ministers der öffentlichen Arbeiten Paul von Breitenbach erklärte dieser die Bedenken der Gutachter gegenüber den Entwürfen der GBS für berechtigt und bescheinigte den städtischen Entwürfen einen großen Nutzen. Bei einer Audienz des Berliner Oberbürgermeisters Martin Kirschner beim Kaiser wurde letztendlich festgestellt, dass der Nordtunnel – mit Ausnahme der Nord-Süd-Querungen – unnötig sei. Für den Südtunnel sollten hingegen weitere Studien angestellt werden. Die Tunnelprojekte waren damit praktisch ad acta gelegt.
Die GBS strengte indes noch weitere Prozesse an, bis es 1911 zu einem Vergleich mit der Stadt kam. Er war die Grundlage für einen neuen Zustimmungsvertrag. Der Vertrag kam am 18. August 1911 zum Abschluss. Die Stadt verlängerte ihre Zustimmungsdauer bis zum 31. Dezember 1939 und gewährte der Gesellschaft weitere Rechte hinsichtlich der zu benutzenden Straßen und der Tarifgestaltung. Die Stadt sicherte sich hingegen das Recht, die Gesellschaft zu bestimmten Zeitpunkten zu erwerben. Eine Einigung in der Tunnelfrage war ebenfalls erzielt worden.
Bauausführung
Genehmigung
Paragraph 45 des Zustimmungsvertrags regelte die Modalitäten beim Bau von Straßenbahntunneln. Bauherr war die Stadt Berlin. Die GBS als Nutzer der Anlagen war verpflichtet, die Anlagekosten mit jährlich fünf Prozent zu verzinsen. Wenn andere Gesellschaften die Tunnelanlagen mitnutzen wollten, sollten sich diese anteilsmäßig an den gefahrenen Fahrzeugkilometern im Verhältnis zu den von der GBS gefahrenen beteiligen. Die Stadt selbst hatte größtes Interesse an einer zeitnahen Umsetzung des Lindentunnels, um ihre eigenen – nördlich und südlich des Tunnels endenden – Linien miteinander verknüpfen zu können. Zunächst visierte die Stadt eine ihrer Varianten von 1905 an. Das Opernhaus und die benachbarte Hedwigskirche kritisierten die Anlage von Straßenbahngleisen zwischen beiden Gebäuden, die in beiden Fällen erforderlich geworden wäre. Um zusätzlich die Französische Straße nicht zu überlasten, entstand der Plan eines viergleisigen Tunnels mit zwei voneinander getrennten Südrampen beiderseits des Opernhauses. Der Osttunnel (Operntunnel) sollte den Linien der GBS vorbehalten sein, der Westtunnel (Behrenstraßentunnel) hingegen den Linien der BESTAG und der Städtischen Straßenbahn. Zusätzlich sollten die von Nordwesten kommenden Linien der GBS ebenfalls durch den Westtunnel verkehren, um eine Kreuzung an der Nordrampe zu vermeiden. Im Falle einer Sperrung des Westtunnels war vorgesehen, sämtliche Linien durch den Osttunnel zu führen.
Wilhelm II. erteilte im Februar 1914 die Baugenehmigung für das Projekt, das am 17. April 1914 der Berliner Stadtverordnetenversammlung zur Beschlussfassung vorgelegt wurde. Die Baukosten waren mit 3,27 Millionen Mark (kaufkraftbereinigt in heutiger Währung: rund Millionen Euro) inklusive Grunderwerb veranschlagt. Die Versammlung billigte das Vorhaben am 7. Mai 1914 und ermächtigte damit den Magistrat zur Unterzeichnung des mit der GBS ausgehandelten Vertrags. Die letzte notwendige Genehmigung erteilte der Polizeipräsident am 6. August 1914, wenige Tage nach Kriegsausbruch. Zuvor war im Juli mit vorbereitenden Arbeiten begonnen worden.
Beschreibung der Tunnelanlage
Der Osttunnel wies eine Gesamtlänge von 354 Meter einschließlich Rampen auf, der Westtunnel eine Gesamtlänge von 389 Metern. Der überdeckte Teil maß 123 Meter (Osttunnel) beziehungsweise 187 Meter. Die Rampen hatten ein Gefälle von höchstens 50 Promille (1:20) bei einer Länge von 126 Metern an der Nordrampe und 105 Metern (Osttunnel) beziehungsweise 77 Metern (Westtunnel) an den Südrampen. Ost- und Westtunnel verliefen von der Dorotheenstraße aus gemeinsam bis zur Höhe der nördlichen Fahrbahnkante der „Linden“, wo sie sich aufteilten. Die lichte Weite der nördlichen Rampe betrug 11,60 Meter, die der südlichen Rampen jeweils 6,40 Meter. Der Gleismittenabstand zugehöriger Gleise betrug 2,60 Meter, der Gleismittenabstand zwischen den inneren Gleisen im viergleisigen Abschnitt betrug 2,90 Meter. In den zweigleisigen Tunneln lag die lichte Weite bei 6,10 Metern in der Geraden und erweiterte sich auf 6,215 Meter in den Kurven. Der viergleisige Abschnitt war auf den ersten 15 Metern ohne Zwischenstützen ausgeführt und maß 11,90 Meter lichte Weite, auf dem folgenden Abschnitt mit Stützen 12,30 Meter. Zwischen den Gleisen war ein Schutzraum von 45–70 Zentimeter Breite vorgesehen. Der kleinste Radius betrug 35 Meter. Die lichte Höhe lag im Osttunnel bei 4,65 Meter, im Westtunnel bei 4,30 Meter. Die Differenz entstand nach den Plänen der GBS dadurch, dass durch den Osttunnel auch Doppeldeck-Straßenbahnen fahren sollten. Im Westtunnel war ein solches Unterfangen hingegen nicht möglich, da das Bauprojekt mit der Maßgabe erteilt wurde, das zu unterquerende Denkmal der Kaiserin Augusta an Ort und Stelle zu belassen.
Die Tunnelsohle befand sich im überdeckten Teil gänzlich, im Bereich der Rampen etwa zur Hälfte unterhalb des mittleren Grundwasserspiegels. Die tiefste Stelle im Osttunnel (28,39 Meter über Normalnull) lag etwa 4,50 Meter unter dem Grundwasserspiegel. Stampfbeton-Stützwände mit einer Stärke von 30–80 Zentimetern fassten die Rampen im oberen Teil ein. Im unter dem Grundwasserspiegel befindlichen Teil des Tunnels wurde eine Sohle eingefügt, sodass ein U-förmiges Profil entstand. Eine Schutzschicht aus Sandmörtel diente der Abdichtung, über die eine Decke aus Asphaltpappe gelegt wurde. Die Wände über dem Grundwasserspiegel und die Decke erhielten eine Schutzschicht in zweilagiger Ausführung, die Wände unterhalb des Grundwasserspiegels eine dreilagige und die Sohle eine vierlagige Ausführung. Die einzelnen Schichten wurden mit Asphaltmasse miteinander verklebt. Die Stärke der Tunnelsohle einschließlich Glättschicht, Betonkonstruktion, Dichtung und Oberbau betrug 1,25 Meter.
Die Decke bestand in den zweigleisigen Tunneln aus I-Trägern, die im Abstand von je einem Meter angeordnet waren. Dazwischen bildeten Betonkappen von mindestens 35 Zentimetern Dicke die eigentliche Decke. Die Wände waren hier 55 Zentimeter dick. Im viergleisigen Abschnitt mit Mittelstützen betrug der Abstand der I-Träger ebenfalls einen Meter, die mittleren Träger ruhten wiederum auf Längsträgern, die sich auf den in je drei Meter Abstand stehenden Mittelpfeilern abstützten. Die Wand hatte hier eine Dicke von 35 Zentimetern. Im viergleisigen Abschnitt ohne Mittelstützen waren die I-Träger mit einer Betonumstampfung umfasst und im Abstand von 40 Zentimetern angeordnet bei einer Wandstärke von 66 Zentimetern.
Die Gleise bestanden aus 15 Meter langen Rillenschienen mit einem Metergewicht von 51 Kilogramm. Sie waren auf hölzernen Querschwellen in Schotterbettung im Abstand von einem Meter verlegt. Die Oberleitung bestand aus Kupferprofildraht mit einem Querschnitt von 80 Quadratmillimetern, sie war an Deckenisolatoren befestigt. Die Fahrleitung war sowohl für Rollenstromabnehmer als auch für Bügelstromabnehmer geeignet. An den Rampen war die Leitung an Auslegermasten aufgehängt. Auf der Südrampe des Westtunnels musste infolge der starken Steigung eine Doppelfahrleitung gelegt werden. Zur Beleuchtung hatte der Tunnel elektrische Wandleuchten, die so abgeschirmt waren, dass das Licht nur nach oben und unten abgestrahlt wurde. Die Straßenbahnwagen konnten am Tage auf eine Eigenbeleuchtung verzichten.
Infolge des starken Gefälles an den Rampen und dem infolge der Gleisbögen eingeschränkten Sichtfeld gab es mehrere Sicherheitssysteme:
An den Rampen postierte Fahrdienstleiter hatten darauf zu achten, dass die Wagen die Geschwindigkeitsbegrenzung von 10 km/h einhielten und ausreichend Abstand zum vorausfahrenden Zug bestand.
Die Fahrdienstleiter standen untereinander und mit den Betriebshöfen in telefonischer Verbindung.
Im Tunnel gab es Sicherheitsknöpfe, über die die Fahrdienstleiter alarmiert und so weitere Einfahrten verhindert werden konnten.
Des Weiteren waren Betriebshaltestellen eingerichtet. Bei diesen Zwangshalten hatte der Zugführer – der Schaffner im Triebwagen – die ordnungsgemäße Kupplung zwischen den Wagen zu überprüfen und eine eventuell vorhandene Handbremse anzuziehen, anschließend gab er das Abfahrtsignal.
Die Schaffner hatten sich während der Durchfahrt auf den hinteren Einstiegsplattformen bremsbereit zu halten.
In Summe führten diese Maßnahmen dazu, dass es im regelmäßigen Betrieb keine ernsthafte Störungen des Betriebsablaufes gab.
Neben diesen Maßnahmen forderte die Königliche Eisenbahn-Direktion Berlin als technische Aufsichtsbehörde die Installation eines Signalsystems, um den Fahrern anzuzeigen, ob der vorausliegende Abschnitt besetzt ist oder nicht. Die Signale wurden im Abstand von 32 Metern angebracht und zeigten bei Besetzung ein rotes, bei Freisein ein grünes Licht an. In der Mitte der Blockstellen befanden sich Kontakte, die bei Befahren das Signal von Fahrt- in Haltstellung brachten. Beim Befahren des darauffolgenden Kontaktes wurde der Abschnitt wieder freigegeben.
Die ab 1925 geltende Dienstvorschrift für den Tunnel ging auf das Signalsystem ein; ob es aber zum damaligen Zeitpunkt noch im Einsatz war, ist nach einigen Literaturquellen nicht bekannt. Andere Quellen gehen davon aus, dass auf Grund der eingerichteten Zwangshalte, der vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeit von 10 km/h und des vorgeschriebenen Mindestabstands zwischen zwei Zügen von 25 Metern letztlich ohne Signalisierung gefahren wurde.
Sonderkonstruktionen
Unterhalb der nördlichen Fahrbahn der „Linden“ wurde die Tunnelsohle auf einer Länge von etwa zehn Metern verstärkt, um für den Bau der zu dieser Zeit geplanten Untergrundbahn Moabit – Görlitzer Bahnhof eine Baugrube unterhalb des Straßenbahntunnels ausheben zu können. Zudem kreuzten mehrere Versorgungsleitungen der Reichspost, der Gas-, Elektrizitäts- und Wasserwerke den Tunnel. Nach Möglichkeit wurde die Decke mit entsprechenden Wölbungen versehen, in denen die Leitungen gelegt wurden. Stärkere Rohre mussten hierbei wegen der geringen Deckenhöhe in mehrere schwächere Rohre zerlegt werden. Die Kanalisationsleitungen wurden um die Rampen herumgeführt. Der begehbare Heizkanal des Opernhauses wurde gedükert.
Auf der Südseite der Allee unterquerte der Tunnel die Denkmäler Blüchers östlich des Opernhauses und der Kaiserin Augusta zwischen Opernhaus und „Kommode“. Hierzu wurden seitlich der Tunnelwände Fundamentmauern bis unter die Tunnelsohle geführt und über diese in geringem Abstand Trägerroste gelegt, die die Sockelplatten der Denkmäler trugen. Die Tunneldecke war in den Abschnitten geschwächt. Das Denkmal der Kaiserin Augusta musste zudem um rund 60 Zentimeter angehoben werden, um genügend Platz für die Rampe des Westtunnels herstellen zu können.
Zur Ableitung des eindringenden Oberflächenwassers in die Kanalisation waren an den tiefsten Stellen beider Tunnel in Nischen Pumpensümpfe mit jeweils zwei Kreiselpumpen angebracht. Jeweils eine Pumpe diente hierbei als Reserve. Die Geräte wurden über Schwimmerschalter selbstständig aktiviert.
Neubau der Eisernen Brücke
Zeitgleich mit dem Tunnelbau erfolgte der Neubau der Eisernen Brücke über den Kupfergraben. Vor dem Tunnelbau führten die Gleise von der Brücke aus geradlinig weiter über die Straßen Am Festungsgraben und Hinter dem Gießhaus zur Lindenkreuzung. Der Bau der Nordrampe erforderte den Umweg über die Dorotheenstraße und die Straße Am Kupfergraben. Da die alte Brücke zu schmal war, um den Gleisbogen in Richtung der Straße Am Kupfergraben aufzunehmen, war ihr Neubau erforderlich. Die Baukosten waren mit 600.000 Mark veranschlagt. Am 12. Oktober 1914 begannen die Arbeiten mit der Herstellung einer Hilfsbrücke, die am 24. März 1915 fertiggestellt werden konnte. Anschließend wurde die alte Brücke abgebrochen und die neue Brücke errichtet. Im November 1915 waren die Widerlager der neuen Brücke errichtet, die Abnahme des Bauwerks fand am 9. Dezember 1916 statt. Um den Durchgangsverkehr nicht zu behindern, erhielten die bisher in der Dorotheenstraße kehrenden Züge der Berlin-Charlottenburger Straßenbahn eine neue Wendeanlage in der Straße Am Kupfergraben nördlich der Dorotheenstraße.
Bauablauf und Inbetriebnahme
Die eigentlichen Bauarbeiten begannen am 7. September 1914 durch Siemens & Halske. Die Arbeiten kamen zunächst relativ zügig voran, da viele Unternehmen infolge des Kriegsausbruchs ihren normalen Auftragsbetrieb einstellen mussten und nun freie Kapazitäten vorhanden waren. Im Laufe des Jahres 1915 zeichnete sich dann ein Arbeitskräftemangel ab, da die verbliebenen Arbeiter meist zum Kriegsdienst einberufen wurden. Soweit es möglich war, verrichteten daher Frauen die teils körperlich schweren Arbeiten.
Zunächst wurde die spätere Baugrube mit Stahlträgern und darüber liegenden Bohlen abgedeckt, über die die Fahrbahn der „Linden“ später führen sollte. Nach der Fertigstellung im Dezember 1914 konnte der Straßenverkehr wieder nahezu ungehindert abgewickelt werden. Anschließend begannen die Ausschachtungsarbeiten. Da der Osttunnel etwa in der Richtung der alten Lindenkreuzung verlief, mussten die Gleise der oberirdischen Kreuzung während der Bauarbeiten ostwärts verschwenkt werden. Beiderseits der Baugrube wurden I-Träger im Abstand von 1,5 Metern bis zu 1,5 Meter unterhalb der Sohle in das Erdreich gerammt und je zwei Meter über der Sohle und 3 Zentimeter unterhalb des Geländes gegeneinander versteift. Zwischen den Trägern wurden anschließend Holzbohlen eingeschoben. Im Bereich der Universität ragten die Tunnelwände bis auf einen halben Meter an die Grundmauern des Ostflügels heran. Um Setzungen von Gebäudeteilen zu verhindern, wurde die Spannung, mit der die Bohlen an den Boden gepresst wurden, durch zwischen Eisenpfosten genietete bogenförmige Bleche erhöht. Die konvexe Seite des Bogens zeigte zum Fundament der Universität. Der Aushub wurde auf Kipploren verladen und mittels einer Lokomotive mit Benzol als Antriebsstoff zum Kupfergraben gefahren, wo eine Kahnverladestelle angelegt war.
Am 3. Januar 1915 erfolgte der Durchstich im Westtunnel. Ab Anfang Februar 1915 konnte mit der Grundwasserabsenkung begonnen werden, die Pumpen standen im Abstand von fünf bis sechs Metern und leiteten das Wasser in die nahegelegene Spree. Der Bodenaushub zog sich weiter bis Mai 1915 hin, anschließend begannen die Arbeiten an der Sohle und den Tunnelwänden. Der Einbau der Decke fand ab dem 22. Oktober 1915 statt. Im Januar 1916 konnten die Pumpen zur Grundwasserabsenkung wieder entfernt werden. Ab dem 17. Januar 1916 begann der letzte Bauabschnitt für die Nordrampe. Hierzu wurde die östliche Zufahrt der Lindenkreuzung über die Straßen Am Festungsgraben und Hinter dem Gießhaus gesperrt und die Straßenbahnzüge von der Eisernen Brücke aus über die Straße Am Kupfergraben und die Dorotheenstraße zum Kastanienwäldchen geführt.
Im Juni 1916 waren die Abdichtungs- und Betonierungsarbeiten soweit abgeschlossen, dass mit der Errichtung des Bahnkörpers begonnen werden konnte. Hierzu gehörten neben dem eigentlichen Gleisbett die erwähnten Kreiselpumpen, die Tunnelbeleuchtung, Rampengeländer und die darin integrierten Fahrleitungsmasten sowie das von der Aufsichtsbehörde geforderte Signalsystem. Die Rampen wurden mit Beeten und Hecken weitgehend vom Blickfeld der Passanten verdeckt.
Die Bauabnahme erfolgte am 9. Dezember 1916 in Gegenwart der Vertreter des Berliner Polizeipräsidiums und der Königlichen Eisenbahn-Direktion in ihrer Funktion als Aufsichtsbehörden, des Stadtbaurates Friedrich Krause, Vertretern des Verbandes Groß-Berlin sowie den Direktoren der drei Straßenbahngesellschaften. Die Anwesenden durchschritten den Tunnel zunächst in beiden Richtungen, bevor dieser von zwei Wagen der Städtischen Straßenbahn befahren wurde. Da es kleinere Beanstandungen am Signalsystem des Tunnels gab, wurde die Betriebsaufnahme auf einen späteren Zeitpunkt verschoben. Ungeachtet dessen beging die Stadt Berlin am Folgetag die Einweihung des Tunnels durch Oberbürgermeister Adolf Wermuth. Am Geländer über der nördlichen Einfahrt enthüllte dieser zwei Gedenktafeln. Auf der der Rampe zugewandten Seite stand: „Lindentunnel – Erbaut von der Stadt Berlin“. Auf der der Straße zugewandten Seite war zu lesen: „Der Bau des Lindentunnels wurde unter der Regierung des Kaisers Wilhelm II. im Jahre 1914 begonnen. Trotz des Weltkrieges wurde die Ausführung in geplanter Weise fortgesetzt und der Tunnel im Jahre 1916 dem Verkehr übergeben.“ Die erste Gedenktafel ist erhalten, die zweite jedoch nicht mehr.
Probleme bereiteten noch die Rollenstromabnehmer der GBS, die die Signalkontakte nicht zuverlässig auslösten. Da sich die drei Gesellschaften auf eine gemeinsame Inbetriebnahme geeinigt hatten, fuhren die städtischen Linien daher noch nicht durch den Tunnel. Als neuer Inbetriebnahme-Termin wurde zunächst der 14. Dezember 1916 festgelegt, als das Problem weiter bestand, der 16. Dezember 1916. Da die Arbeiten an den Fahrzeugen bis dahin nicht abgeschlossen waren, nahmen die städtischen Betriebe am Folgetag den Verkehr auf ihren Linien durch den Westtunnel auf. Die Linien 33, 40, 42, 44, 53, 54, 55 der GBS und die Linie III der SBV befuhren zwei Tage darauf am 19. Dezember 1916 den Osttunnel, zudem benutzten ab diesem Tag die Linien 12, 18, 32, 43 der GBS den Westtunnel. Die oberirdische Lindenkreuzung ging am selben Tag außer Betrieb.
Nutzung des Tunnels
Straßenbahn
Der Tunnel erreichte nie die für ihn vorgesehene Auslastung von 120 Zügen je Stunde und Richtung. Infolge des Ersten Weltkrieges war das Fahrplanangebot bei Baubeginn stark eingeschränkt. Weitere Linien der Städtischen Straßenbahn, die den Tunnel ebenfalls befahren sollten, gelangten nicht zur Ausführung. Mit dem schrittweisen Zusammenschluss der einzelnen Gesellschaften im Rahmen des Groß-Berlin-Gesetzes zur Berliner Straßenbahn im Dezember 1920 blieb das Angebot zunächst gleich. Die fortschreitende Hyperinflation führte dazu, dass der noch junge Eigenbetrieb den Straßenbahnverkehr am 8. September 1923 einstellen musste. Der darauffolgende Tag ging als „straßenbahnloser Tag“ in die Berliner Verkehrsgeschichte ein. Am 10. September 1923 nahm die Berliner Straßenbahn-Betriebs-Gesellschaft den Verkehr auf einem Rumpfnetz von 32 oder 33 Linien auf. Den Lindentunnel durchfuhr zunächst keine Linie; der Westtunnel wurde ab diesem Zeitpunkt gänzlich stillgelegt und dessen Gleise noch in den 1920er Jahren ausgebaut.
Etwa ein halbes Jahr nach der Betriebseinstellung verkehrte mit der Linie 32 (Reinickendorf, Pankower Allee – Neukölln, Knesebeckstraße) am 31. März 1924 die erste Linie wieder durch den Osttunnel. In den folgenden Jahren befuhren im Schnitt vier bis fünf Linien die Passage. Da im Januar 1923 der erste Abschnitt der Nordsüdbahn in Betrieb ging, wanderte ein Teil der Fahrgäste auf die Untergrundbahn ab. Der Westtunnel war damit entbehrlich und nach dem „straßenbahnlosen Tag“ 1923 blieb er in der Folgezeit ohne Straßenbahnverkehr. Er wurde 1926 im Rahmen der Neugestaltung des Kaiser-Franz-Joseph-Platzes anlässlich des Erweiterungsbaus des Opernhauses mit einer Legmauer verschlossen, die Rampen zugeschüttet und das Gelände eingeebnet.
Die Inbetriebnahme der GN-Bahn als zweite Nord-Süd-Linie führte zu weiteren Linieneinstellungen im Straßenbahnnetz. Während des Zweiten Weltkriegs und der damit verbundenen Kraftstoffrationierung ersetzten die 1929 aus der Berliner Straßenbahn hervorgegangenen Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) diverse Autobuslinien durch Straßenbahnlinien. Mit bis zu zehn Linien erreichte der Tunnel seine höchste Auslastung nach der Inflation. Im weiteren Kriegsverlauf ging das Angebot wieder stetig zurück, bevor – nach Literaturangaben von 1964 – im Frühjahr 1945 die letzten durch den Tunnel verkehrenden Linien 12 (zuletzt Gartenfeld bzw. Siemensstadt – Dönhoffplatz) und 13 (zuletzt Moabit, Wiebestraße – Kraftwerk Klingenberg) nach einer Beschädigung an der Südrampe eingestellt werden mussten. Nach Angaben von 2012 war mit dem letzten Notfahrplan vom 25. Januar 1945 die letzte durch den Tunnel verkehrende Linie die Linie 12 (bis dahin die Linien 12, 35 und 61), die zudem nur noch in der Hauptverkehrszeit betrieben wurde. Sie verkehrte noch am 12. April 1945, bis kurz darauf in den letzten Kriegstagen ihr Betrieb eingestellt wurde.
Durch alliierte Bombenangriffe war der Tunnel an insgesamt fünf Stellen stark beschädigt.
Die Wiederinbetriebnahme nach Kriegsende ließ zunächst auf sich warten, da andere Strecken Vorrang genossen. Die Berliner Zeitung meldete, dass der Tunnel einen Tag nach Eröffnung des 1. Deutschlandtreffen der Jugend ab dem 26. Mai 1950 wieder durch die Linie 46 (Nordend – Dönhoffplatz) befahren werde. Etwa anderthalb Jahre später stellte die BVG den Verkehr nach Beendigung der III. Weltfestspiele der Jugend und Studenten am 2. September 1951 ein. Die Schließung stand im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau der Staatsoper, deren Intendanzgebäude vergrößert werden sollte und somit in die Bauflucht der Südrampe ragte. In den folgenden Jahren gab es vereinzelte Pläne für die Neuerrichtung einer Südrampe mit Mündung in die Oberwallstraße. Durch die Herausnahme der Straßenbahn aus der Innenstadt südlich des Stadtbahnviadukts wurden die Pläne alsbald obsolet. Die Nordrampe diente bis in die 1960er Jahre hinein zum Kehren von Straßenbahnzügen.
Andere Verwendungen und Umbauarbeiten bis 1989
Der Westtunnel diente in den 1930er Jahren für Beleuchtungsversuche, die im Rahmen der Umgestaltung Berlins zur Welthauptstadt Germania durchgeführt wurden. Die Erkenntnisse sollten beim Bau eines Straßentunnels beim Brandenburger Tor einfließen. Der Osttunnel war nach seiner Aufgabe anfangs Kulissenlager der Staatsoper. Später lagerten hier die Bauteile der am Marx-Engels-Platz aufgestellten Tribüne. Beim Bau eines Heizkanals unterhalb der Straße in den 1960er Jahren wurde die Profilhöhe des Tunnels eingeschränkt. Die Fahrbahn der Nordrampe erhielt in den 1960er Jahren eine Asphaltierung, womit der Tunnel für Straßenfahrzeuge zugänglich gemacht wurde. Des Weiteren wurden Tunnelwände und Decke weiß gestrichen und eine moderne Beleuchtung sowie eine Notstromversorgung installiert. Zunächst stellte die Betriebskampfgruppe des DDR-Außenhandelsministeriums Fahrzeuge und Material ab, später fanden auch Mannschaftswagen der Volkspolizei hier ihren Platz. In einem abgetrennten Raum am Ende des Westtunnels befand sich eine Schaltanlage für das operative Fernsehen der Volkspolizei, mit denen unter anderem das Ministerium für Staatssicherheit wichtige Punkte Ost-Berlins überwachte.
Nach 1990
Nach der politischen Wende lief der Tunnel nach dem Ausfall einer Pumpe mit Regenwasser voll, bevor ihn verschiedene Künstler ab 1994 „wiederentdeckten“. Ab 1994 nutzte der Aktionskünstler Ben Wagin den Großteil des Tunnels für seine Installationen. Unter anderem stellte er im Vorfeld der UN-Klimakonferenz in Berlin den am 15. Juli 1994 von der BVG überlassenen Rekowagen 217 053 an der Nordrampe auf.
Mitte der 1990er Jahre plante der Berliner Senat den Bau einer Tiefgarage unter dem Bebelplatz, für die der Lindentunnel als Zufahrt dienen sollte. Die Errichtung eines Mahnmals an die Bücherverbrennung 1933 in Deutschland im Bereich der Südrampe mitten auf dem Bebelplatz veränderte diese Pläne jedoch. Der Tunnelrest unter dem Platz wurde für dessen Bau komplett beseitigt. Ben Wagin musste die bereits vorgenommenen Installationen daher im Dezember 1998 in eine Ladehalle am U-Bahnhof Gleisdreieck verlegen. Auf der Fläche entstand nach der Verfüllung der Platz der Märzrevolution. Die auf der Nordseite des Rampengeländers angebrachte Gedenkplakette gelangte in den Besitz des Vereins Berliner Unterwelten. Die südliche Zufahrt auf der Westseite von Unter den Linden wurde indes zu Teilen freigelegt und eine entsprechende Informationstafel aufgestellt.
Im Jahr 2000 gab es einen weiteren „Wiederbelebungsversuch“: Der Lindentunnel sollte auf Initiative von Wieland Giebel als Ausstellungsfläche für ein zu schaffendes Berlinmuseum dienen. Auch dieses Projekt scheiterte.
Seit September 2002 nutzt das Maxim-Gorki-Theater einen etwa 80 Meter langen Abschnitt des Tunnels ab der Nordrampe als Kulissenlager. Die Requisiten können über einen in das Straßenpflaster eingelassenen Lastenaufzug befördert werden.
Die geplante Tiefgarage wurde ab 2003 gebaut. Hierfür musste der Westtunnel zwischen dem südlichen Gehweg der „Linden“ bis zur Behrenstraße abgebrochen werden. Der Zugang zu dem verbliebenen Teil erfolgt über eine Tür in einem Verbindungsgang zwischen Tiefgarage und Staatsoper.
Bei Sanierungsarbeiten der Straße Unter den Linden in den Jahren 2005–2006 wurden die noch vorhandenen Tunnel-Bauwerksteile abgedichtet. Bauwerksmängel wie starke Bewegungsrisse und Betonabplatzungen machten den Einbau von Notabstützungen erforderlich. Nach Fertigstellung der den Lindentunnel unterquerenden Verlängerung der U-Bahn-Linie U5 ist ein Teilabriss vorgesehen. Mittelfristig soll der Tunnel komplett abgerissen werden.
Im Dezember 2021 berichteten Berliner Zeitungen, dass der Tunnel nur noch eingeschränkt tragfähig ist. Als Folge hiervon wurde im Frühjahr 2022 eine Beschränkung der Achslast für Fahrzeuge auf 18 Tonnen eingeführt. Hiervon sind unter anderem die Doppeldeckerbusse der BVG betroffen. Sie müssen durch Gelenkbusse ersetzt werden. Langfristig ist mit einer Verfüllung des Tunnels zu rechnen. Einen konkreten Zeitplan gibt es jedoch noch nicht.
Linien, die durch den Tunnel führten
Anmerkungen
Literatur
Jürgen von Brietzke: Tunnelplanungen der Großen Berliner Straßenbahn 1905–1910. In: Berliner Verkehrsblätter, Heft 1, 2017.
Das Millionprojekt der Straßenbahn. Für und gegen die Untertunnelung. In: Berliner Tageblatt, 28. September 1905.
Weblinks
Der Lindentunnel. berliner-unterwelten.de
Foto:Blick die Nordrampe hinab, ca. 1930 bei Getty Images
Foto:Bau der südöstlichen Rampe mit Blick auf die Neue Wache, ca. 1916 bei Getty Images.
Foto:Tunnelrampe mit Straßenbahn (eventuell mit Presse zur Eröffnung), ca. 1916 bei Getty Images.
Einzelnachweise
Tunnel in Berlin
Tunnel in Europa
Berlin-Mitte
Unter den Linden
Bebelplatz
Aufgegebener Tunnel
Straßenbahntunnel
Erbaut in den 1910er Jahren
Straßenbahn Berlin |
1819468 | https://de.wikipedia.org/wiki/Somalische%20Bantu | Somalische Bantu | Die somalischen Bantu, auch Jarir, Jareer, (Wa)Gosha oder Muschunguli, sind ethnische Minderheiten gegenüber der überwiegenden Mehrheit der Somali im ostafrikanischen Somalia. Im engeren Sinn werden Nachkommen von Angehörigen diverser Bantu-Volksgruppen umfasst, die im 19. Jahrhundert im Rahmen des ostafrikanischen Sklavenhandels aus dem heutigen Tansania, Malawi, Mosambik und Kenia nach Somalia verkauft wurden. Diese ließen sich nach ihrer Flucht oder Freilassung größtenteils im Tal des Jubba im Süden des Landes nieder. Im weiteren Sinne werden auch andere Gruppen in Südsomalia dazugezählt, die von Bantu abstammen sollen, welche bereits vor dem Sklavenhandel dort gelebt haben.
Über ihre Bevölkerungszahl gibt es unterschiedliche Angaben, da einerseits Bevölkerungszahlen für Somalia allgemein unsicher sind und andererseits die Bezeichnung somalische Bantu unterschiedlich weit gefasst wird. Schätzungen bewegen sich im Bereich von Zehntausenden bis Hunderttausenden.
Wegen der Abstammung von Sklaven, ihrer sesshaft-bäuerlichen Lebensweise und ihrer von der Bevölkerungsmehrheit abweichenden äußeren Merkmale werden die Bantu von Teilen der somalischen Gesellschaft diskriminiert. Im Bürgerkrieg in Somalia seit 1991 waren sie überproportional stark von Gewalttaten, Plünderungen und der dadurch ausgelösten Hungersnot betroffen. Ein Teil von ihnen ist daher in das benachbarte Kenia geflohen, von diesen sind seit 2003 über 12.000 als Flüchtlinge in die USA umgesiedelt worden.
Begriffe und Bezeichnungen
„Bantu“ ist eine Bezeichnung aus der Sprachwissenschaft und umfasst über 400 Volksgruppen mit rund 200 Millionen Menschen in Zentral-, Ost- und Südafrika, die Bantusprachen sprechen.
Die somalischen Bantu stellen keine homogene Ethnie dar und betrachteten sich traditionell mehr als Angehörige der einzelnen Dorfgemeinschaften oder Großfamilien, in denen sie leben, ihrer jeweiligen Bantu-Herkunftsvölker und/oder der somalischen Clans, denen sie sich teilweise angeschlossen haben, denn als eine einheitliche Volksgruppe. Ältere Beschreibungen, in denen sie als „ein Stamm von entflohenen Sklaven“ beschrieben werden, entsprechen insofern nicht der Realität. Erst in jüngerer Zeit hat sich insbesondere unter denjenigen somalischen Bantu, die vor dem Bürgerkrieg in Somalia in kenianische Flüchtlingslager geflohen sind, ein Bewusstsein um eine gemeinsame Geschichte und Identität und die Selbstbezeichnung Bantu herausgebildet. Zuvor war den meisten der Begriff „Bantu“ unbekannt.
Die Sammelbezeichnung Bantu für jene Minderheiten in Somalia wurde erstmals in der Kolonialzeit von manchen europäischen Anthropologen und Kolonialbeamten verwendet, neben lokalen Begriffen (Gosha oder italienisch Goscia, Muschunguli) und Fremdbezeichnungen wie negri oder liberti („Freigelassene“ bzw. „ehemalige Sklaven“). In neuerer Zeit hat sich somalische Bantu (englisch Somali Bantu) seit Anfang der 1990er-Jahre weitgehend im Sprachgebrauch westlicher Medien, internationaler Organisationen etc. durchgesetzt. In wissenschaftlichen Publikationen sind weiterhin differenziertere Bezeichnungen üblich, wie sie traditionell in Somalia von den „Bantu“ und von Somali verwendet wurden.
Meist bezieht sich der Begriff somalische Bantu auf die Nachkommen von Bantu-Sklaven aus Tansania, Mosambik, Malawi und Kenia, die in den Süden Somalias verkauft wurden und die sich nach ihrer Flucht oder Freilassung hauptsächlich im Tal des Flusses Jubba ansiedelten. Dieser Artikel behandelt hauptsächlich die Geschichte und Gegenwart dieser Gruppe.
Manchmal werden weitere Minderheitengruppen in die Bezeichnung mit einbezogen. Sie gelten als Nachkommen einer Bevölkerung, die bereits vor Beginn des Sklavenhandels in den Tälern von Jubba und Shabeelle und zwischen den Flüssen gelebt hat, bevor sie von den kuschitischsprachigen Somali und Oromo bis auf kleine Gebiete verdrängt wurde. Ob sie ursprünglich bantusprachig waren, ist ungeklärt (siehe auch Shungwaya). Zu diesen Gruppen zählen die Gabaweyn im oberen Jubba-Tal, die Shidle und Makanne im Shabeelle-Tal bei Jawhar bzw. bei Beledweyne und die Reer Shabelle und Rer Bare in Äthiopien. Sie betreiben mehrheitlich Ackerbau und sind als „Klienten“ mit benachbarten Somali-Clans verbunden. In englischsprachigen Publikationen werden sie daher auch als client-cultivator groups zusammengefasst. Ihnen schlossen sich im Laufe der Zeit auch ehemalige Sklaven an.Manche von ihnen lehnen die Bezeichnung „Bantu“ ab, da sie nie eine Bantusprache gesprochen hätten, zudem zögern sie, eine Identität anzunehmen, die mit der Abstammung von Sklaven zusammenhängt, während sie selbst beanspruchen, schon früher in Somalia gelebt zu haben.
Etliche Somali-Clans zwischen den Flüssen und im Shabeelle-Tal beinhalten jeweils eine Untergruppe von „Bantu“ – oft sowohl Nachkommen von Sklaven als auch andere –, die durch formale Adoption (sheegad) als Teil des Clans aufgenommen wurden. Sie sind in unterschiedlichem Ausmaß in die Clans integriert und haben neben dieser Clanzugehörigkeit keine eigenständige Gruppenidentität.
(Wa)Gosha oder Reer Gosha bezeichnet die Bantu im unteren und mittleren Jubba-Tal (nördlich von Kismaayo etwa zwischen Jamaame und Bu’aale), die von ehemaligen Sklaven abstammen. Das Somali-Wort gosha steht als geographische Bezeichnung für jenen Abschnitt des Jubba-Tals, der bis zur Ankunft der Bantu dicht bewaldet und weitgehend unbewohnt geblieben war, da krankheitsübertragende Tsetsefliegen und Malaria es für die Hirten der Somali unattraktiv machten. Das Präfix Wa- steht in verschiedenen Bantusprachen für „mehrere Personen“, reer ist ein Somali-Wort für „Leute aus“, „Nachkommen von“. Wagosha/Reer Gosha lässt sich somit mit „Leute aus dem Wald“ übersetzen, mit spezifischem Bezug auf jenes Waldgebiet. Reer Goleed hat dieselbe Bedeutung, kann sich aber auf jeglichen Wald beziehen.
Diejenigen unter den Wagosha, die ihre Abstammung auf das Volk der Zigua oder Zigula in Tansania zurückführen und bis heute starke kulturelle Bindungen zu dieser früheren Heimat beibehalten haben, nennen sich auch Zigula. Die Shanbara identifizieren sich ebenfalls anhand ihrer Bantu-Herkunftsvölker, sprechen heute aber ausschließlich Somali. Die Zigula nennen all jene Gosha-Bewohner, die keine Bantusprachen mehr sprechen, auch Mahaway, was eine Verballhornung ihrer Aussprache des Somali darstellt. Die somalische Bezeichnung Muschunguli stammt wahrscheinlich von der Einzahlbezeichnung der Zigula, Muzigula. Sie bezeichnet streng genommen ausschließlich die Zigula, wurde und wird aber auch für sämtliche Gosha-Bewohner verwendet. In Somalia wird sie zum Teil abwertend gebraucht.
Den genannten Gruppen – Sklavennachfahren und weitere Gruppen unbekannter Herkunft in Südsomalia – ist gemeinsam, dass sie von der Somali-Mehrheit anhand körperlicher Merkmale als unterschiedlich betrachtet und mit der Bezeichnung Jarir versehen werden (ausgesprochen „Dscharir“, in englischsprachigen Publikationen meist Jareer geschrieben). Es handelt sich um ein Somali-Wort für „harthaarig“ oder „kraushaarig“, welches im Gegensatz zu Jileec oder Jileyc ([]) – „weichhaarig“ – (oder auch bilis, „Herr“ als Gegenteil von „Sklave“) für Nicht-Bantu bzw. Somali verwendet wird und nebst gekräuseltem Haar weitere Merkmale wie leicht dunklere Hautfarbe, bestimmte („weichere“) Gesichtszüge und Körperform impliziert.
Adoon und Habash sind abwertende Begriffe, die mit „Diener“ oder „Sklave“ übersetzt werden. Manche Somali nennen die Bantu auch nach dem italienischen Wort für „heute“ Ooji, was von der Unterstellung herrührt, die Bantu könnten nicht über das Heute hinaus denken.
Von den bisher genannten Gruppen zu unterscheiden – und meist nicht als „somalische Bantu“ betrachtet – sind Angehörige der Swahili-Gesellschaft. Diese spricht die Bantusprache Swahili, ist an der ostafrikanischen Küste von Südsomalia bis zum Norden Mosambiks ansässig und nahm selbst am Sklavenhandel teil. Zu dieser Gruppe gehören in Somalia die Bajuni in Kismaayo sowie die Bewohner der Stadt Baraawe.
Geschichte
Sklavenhandel und Sklaverei in Südsomalia
Im 19. Jahrhundert führten verschiedene miteinander verbundene Entwicklungen dazu, dass der ostafrikanische Sklavenhandel seinen Höhepunkt erreichte und der Import von Bantu-Sklaven in das heutige Somalia deutlich zunahm: Der Handel im Indischen Ozean – an dem die Städte an der Benadirküste in Südsomalia teilnahmen – wuchs, Sansibar stieg zum bedeutenden Handelszentrum auf, und die mit Sklaven betriebene Plantagenwirtschaft kam in der ostafrikanischen Küstenregion auf. Dies hing auch damit zusammen, dass die Nachfrage nach Sklaven in Amerika, die sich auf die Sklavenpreise in ganz Afrika auswirkte, seit Ende des 18. Jahrhunderts allmählich zurückging; die infolgedessen sinkenden Preise ermöglichten es Käufern innerhalb Afrikas und in der arabisch-islamischen Welt, mehr Sklaven zu kaufen. Daus, die Sklaven aus Ostafrika nach Arabien transportierten, legten nicht selten einen Zwischenhalt an der Benadirküste ein, wo Proviant besorgt und ein Teil der Sklaven bereits verkauft wurde. Vor allem im Shabeelle-Tal im Hinterland der Benadirküste wurden Plantagen angelegt, die Getreideüberschüsse, Baumwolle und pflanzliche Färbemittel für den Export produzierten. Dabei waren verschiedene Somali-Clans mit Landbesitz im Shabeelle-Tal beteiligt. Der Arbeitskräftebedarf dieser Plantagen wurde mit importierten Sklaven gedeckt, zumal die meisten Somali traditionell als nomadische Viehzüchter leben und die Arbeit im Ackerbau gering schätzen.
1800–1890 wurden schätzungsweise 25.000 bis 50.000 schwarzafrikanische Sklaven über die Sklavenmärkte von Sansibar, Bagamoyo und Kilwa Kivinje an die somalische Küste verkauft. (Insgesamt wurden im arabischen Sklavenhandel in Ostafrika im 19. Jahrhundert über eine Million Sklaven gehandelt.) 1911 schätzte die italienische Kolonialverwaltung die Zahl der Sklaven in Südsomalia auf 25.000–30.000, bei einer Gesamtbevölkerung von 300.000. Sie stammten hauptsächlich von den Bantu-Ethnien der Yao, Makua, Nyanja (Chewa)/Nyasa und Ngindo aus Nordmosambik, Südtansania und Malawi und den Zigula (Zigua) und Zaramo im Nordosten Tansanias. Weitere Anteile kamen von den Nyika (Mijikenda) und anderen Volksgruppen aus Kenia, sonstige Gruppen werden gelegentlich genannt.
Die meisten dieser Sklaven wurden an die Benadirküste (Baraawe, Merka, Mogadischu) und von dort weiter in das Landesinnere verkauft, hauptsächlich in die plantagenwirtschaftlich genutzten Gebiete im küstennahen Tal des Shabeelle. In kleinerem Umfang gelangten Sklaven auch in die Bay-Region weiter im Landesinneren, wo sie in der kleinbäuerlichen Landwirtschaft der Rahanweyn (Digil-Mirifle) zum Einsatz kamen. Einige Tausend Sklaven verblieben in den Küstenstädten, wo sie im Besitz arabischer und somalischer Händler in der Textilindustrie (als Weber), im Betrieb von Sesamölmühlen, als Hausdiener, Träger und Hafenarbeiter tätig waren. Auch nomadische Somali betrieben Sklavenhaltung, allerdings war deren wirtschaftliche Bedeutung bei ihnen geringer, und hauptsächliche Beschaffungsquelle für Sklaven waren für sie Überfälle und Kriege gegen die benachbarten Oromo (die nicht zu den Bantu, sondern wie die Somali zu den kuschitischsprachigen Völkern zählen).
Ansiedlung im Jubba-Tal
Für entlaufene Sklaven sowie Freigelassene, die nicht in einem Status der Abhängigkeit bei ihren Herren verbleiben wollten, gab es im Wesentlichen die Möglichkeiten, sich islamischen Bruderschaften (Tariqa) anzuschließen, in bestehende Dörfer freier Jarir-Bauern zu ziehen oder eigene Dörfer zu gründen.
Ab den 1840er-Jahren – vielleicht bereits früher – ließen sich aus dem Shabeelle-Tal entflohene Sklaven im Gosha-Gebiet im Jubba-Tal nieder, wo sie Dörfer gründeten und Ackerbau betrieben. Dieses Gebiet, in den heutigen Verwaltungsregionen Unter- und Mittel-Jubba gelegen, zeichnet sich durch dichte Bewaldung und das Vorhandensein von saisonalen Wasserreservoirs (dhasheegs) aus. Es war bis anhin abgesehen von den kuschitischsprachigen Jägern und Sammlern der Boni und Somali-Nomaden, die es saisonal durchquerten, unbewohnt geblieben.
Zu den frühesten der neuen Siedler gehörten die Zigula aus dem Nordosten des heutigen Tansania. Mündlichen Überlieferungen zufolge waren sie während einer Hungersnot in die Fänge von Sklavenhändlern geraten, die ihnen Nahrung und Arbeit versprachen. (Diese Überlieferungen werden mit Hungersnöten im Gebiet der Zigula um 1836, aber auch zwischen 1884 und 1890 in Verbindung gebracht. Auch bei etlichen weiteren Hungersnöten in der Region im Verlauf des 19. Jahrhunderts begaben sich Betroffene wissentlich oder unwissentlich in Sklaverei.) Nach ihrer Ankunft in Somalia lebten sie einige Jahre lang als Plantagensklaven und versuchten dann, in einer gemeinsamen, organisierten Flucht nach Süden in ihr Herkunftsgebiet zu gelangen. Als sie das Gosha-Gebiet erreichten, ließen sie sich jedoch dort nieder, weil der weitere Weg zu lang und zu gefährlich gewesen wäre. Da die meisten der Zigula als Erwachsene in die Sklaverei geraten und wenige Jahre darin verblieben waren, behielten sie starke kollektive Erinnerungen und kulturelle Bindungen an die frühere Heimat, einschließlich der Zigula-Sprache. Auch die übrigen frühen Siedler waren, wenn auch weniger stark ausgeprägt, ihrer Bantu-Herkunft verbunden, und meist zogen diejenigen in dasselbe Dorf, die sich auf dasselbe Herkunftsvolk zurückführten. Neben den Sprachen ihrer jeweiligen Herkunftsvölker verwendeten sie Swahili als Verkehrssprache. 1865 schätzte Karl Klaus von der Decken die Einwohnerzahl des Gosha auf 4000.
Eine weitere Ansiedlung von ehemaligen Sklaven entstand in Haaway in sumpfigem Gebiet am Unterlauf des Shabeelle. Dort ließen sich ebenfalls ab den 1840er-Jahren etwa 3000 nieder.
Mithilfe von Feuerwaffen, die sie im Austausch gegen Elfenbein vom Sultanat Sansibar erworben hatten, unterwarfen die Ex-Sklaven im Gosha in den 1870er-Jahren die Boni, denen sie anfangs Tribut hatten zahlen müssen. Zudem festigten sie ihre Beziehungen zu den nomadischen Somali-Clans (vor allem Ogadeni-Darod), die saisonal durch das Gebiet zogen und einerseits Handelspartner für Elfenbein und andere Waren, andererseits zunächst eine militärische Bedrohung für die neugegründeten Dörfer darstellten. Von den 1880ern bis in die 1900er-Jahre etablierte der aus dem Volk der Yao stammende Nassib Bundo ein „Sultanat Goshaland“ als politische und militärische Einheit mehrerer Bantudörfer. Er wird in Überlieferungen dafür gerühmt, um 1890 den wichtigen Sieg über die Ogadeni-Darod errungen zu haben, und wurde von einer ägyptischen Expedition, von Sansibar und schließlich von den britischen und italienischen Kolonialmächten als Verhandlungspartner anerkannt. Neben den gemeinsamen Kämpfen gegen Boni und Somali gab es auch Konflikte zwischen den – politisch und kulturell weitgehend eigenständigen – Bantudörfern und Rivalitäten zwischen deren Führungspersönlichkeiten. Viele Dörfer im Gosha waren zu dieser Zeit befestigt.
Kontinuierlich gelangten neue Siedler in das Gebiet, und die Besiedlung im Gosha weitete sich nach Norden hin bis in den mittleren Teil des Jubba-Tals aus. Zugleich kam es zu einer zunehmenden „Somalisierung“ der Gosha-Bewohner: Die später Angekommenen waren im Unterschied zu den früheren Siedlern vielfach bereits im Kindesalter gewaltsam versklavt worden und hatten länger in Sklaverei gelebt, sodass ihre Bindung zum Herkunftsgebiet schwächer und die Beeinflussung durch die somalische Kultur und Gesellschaft größer war. Sie sahen sich weniger als Angehörige ihrer Bantuvölker denn als Mitglieder von Somali-Clans und gründeten neue Dörfer ab etwa nördlich von Jilib nach dem Muster dieser Clanzugehörigkeit. Bis um die Jahrhundertwende hatten die Gosha-Bewohner praktisch flächendeckend den Islam übernommen, da sie entweder bereits in der Sklaverei konvertiert waren oder durch das Wirken von Scheichs und Bruderschaften im Gosha islamisiert wurden. Mit Ausnahme der Zigula waren sie zum ausschließlichen Gebrauch der somalischen Sprache übergegangen. Aufgrund dieser Annäherung an die Somali-Gesellschaft und der „Befriedung“ der Ogadeni-Darod durch die britische Kolonialmacht verschwanden Feuerwaffen und Befestigungen von Dörfern weitgehend. In den frühen 1900ern sollen etwa 35.000 ehemalige Bantu-Sklaven entlang des Jubba gelebt haben.
Kolonialzeit und Abschaffung der Sklaverei
Ab den 1860er-Jahren suchten Flotten der Royal Navy im Indischen Ozean nach Sklavenschiffen. Auch Sklaven, die auf solchen Patrouillen befreit und in Somalia an Land gebracht wurden, ließen sich im Gosha nieder. 1875 verbot der Sultan von Sansibar auf britischen Druck hin den Sklavenhandel in Ostafrika. Dennoch bestand dieser Handel noch zumindest bis Ende des 19. Jahrhunderts fort. Zum Teil verlagerte er sich vom Seeweg auf Karawanenrouten, die über Luuq und Baardheere an die Benadirküste führten. Von dort aus wurden die Sklaven innerhalb Somalias verkauft oder nach Arabien verschifft.
Die Benadirküste wurde 1892 an Italien übertragen und zunächst von privaten Gesellschaften verwaltet. 1895 befreiten die Behörden Italienisch-Somalilands erstmals eine Gruppe von 45 Sklaven. Insgesamt gingen sie aber bei der Umsetzung des Sklavereiverbots zögerlich vor, da sie einflussreiche sklavenhaltende Somali-Clans nicht gegen sich aufbringen wollten. Teilweise brachten sie gar entflohene Sklaven zu ihren Besitzern zurück. Dies führte 1902 zu Kritik an der Benadir Company in der italienischen Presse und Forderungen nach einem entschiedeneren Vorgehen gegen die Sklaverei in Somalia. Ab 1903 begann die Abschaffung in größerem Maßstab und weitete sich wie die gesamte italienische Herrschaft allmählich in das Landesinnere aus. Einige Gruppen von Bantu verblieben bis in die 1930er-Jahre in Sklaverei.
Die Italiener errichteten in den Tälern von Jubba und Shabeelle exportorientierte Bananen-, Zuckerrohr- und Baumwollplantagen. Im unteren Jubba-Tal enteigneten sie dafür 14.000 Hektar Land von den Bantu. Sie rechneten damit, die ehemaligen Sklaven als Arbeitskräfte für diese Plantagen nutzen zu können und damit den Arbeitskräftemangel zu beheben, der sich daraus ergab, dass kaum Somali zur freiwilligen Lohnarbeit auf den Plantagen bereit waren. Sie übernahmen dabei Vorstellungen der nomadischen Somali, wonach diese „natürlicherweise“ zur Feldarbeit ungeeignet seien, Bantu hingegen ideal. Die Pläne der Italiener erfuhren jedoch einen Rückschlag, als sich nach der Befreiung weitere 20.000–30.000 Ex-Sklaven stattdessen in das Jubba-Tal begaben und selbstständige Bauern wurden. Nach der faschistischen Machtübernahme in Italien wurde die Kolonialpolitik verschärft, und ab 1935 wurden Bantu zur Zwangsarbeit herangezogen. Sie wurden hierfür in eigens errichtete Dörfer umgesiedelt und in Arbeitsbrigaden für die über 100 italienischen Plantagen in Südsomalia organisiert. Landenteignung und Zwangsarbeit führten zu verbreiteter Verarmung und Hunger vor allem im leichter erreichbaren unteren Teil des Gosha. Sie endeten mit der britischen Besetzung Italienisch-Somalilands 1941 im Zuge des Zweiten Weltkrieges.
Die beiden darauffolgenden Jahrzehnte (1941–1950 britische Militärverwaltung, 1950–1960 Treuhandverwaltung durch Italien) bis zur Unabhängigkeit Somalias verliefen für die Bantu weitgehend friedlich, sie konnten relativ ungestört von der Regierung oder ihren Somali-Nachbarn ihre Landwirtschaft betreiben. Weiterhin kamen Neuzuzüger in das Gosha-Gebiet, wenn auch in sinkender Zahl; zu ihnen gehörten Reer Shabelle, die 1920–1960 vor kriegerischen Auseinandersetzungen in ihrem Gebiet um Kalafo in Äthiopien flohen, freigelassene Oromo-Sklaven (die nach ihrer Entlassung aus der Sklaverei vielfach zunächst als mehr oder weniger unabhängige Viehzüchter gelebt hatten, ehe sie sich als Ackerbauern niederließen) und Somali-Hirten, die in Dürrezeiten ihr Vieh verloren hatten.
Unabhängiges Somalia unter Siad Barre
Der Offizier und Angehörige des Marehan-Darod-Clans Siad Barre, der 1969 durch einen Putsch an die Macht gelangte, unternahm Bestrebungen, das traditionelle Clansystem und den „Tribalismus“ zu überwinden. Die Bantu profitierten eingeschränkt von der offiziellen Rhetorik, die die nationale Einheit betonte und alle Bewohner Somalias zu gleichberechtigten Staatsbürgern erklärte. Dies brachte sie bei Teilen der übrigen Bevölkerung in Verruf, Günstlinge der Diktatur Barres zu sein. Zugleich blieben sie auch vom Staat in vielerlei Hinsicht diskriminiert. So wurden sie bevorzugt als Soldaten für den Ogadenkrieg und spätere Kämpfe gegen Rebellen innerhalb Somalias (zwangs-)rekrutiert, weil sie leicht zu erkennen und die Hemmungen, sie im Krieg zu opfern, geringer waren. Während einige Angehörige anderer Minderheitengruppen wie der Midgan/Madhibaan und der Benadiri bis in hohe Posten im Staatsapparat aufsteigen konnten, erreichten Jarir höchstens Ämter auf lokaler Ebene.
Ab den 1970er-Jahren wuchs das Interesse des Staates am zuvor marginalen Jubba-Tal und dessen Landressourcen. Mit Unterstützung internationaler Geldgeber wurden umfangreiche Entwicklungsprojekte geplant (von denen etliche, etwa der Bau des zweitgrößten Staudamms in Afrika nach dem Assuan-Staudamm, nicht zur Umsetzung gelangten). Das Landgesetz von 1975 erklärte den Boden zu Staatsbesitz und verpflichtete Bauern dazu, Landtitel vom Staat zu erwerben; andernfalls handelten sie illegal und riskierten, ihre Landrechte zu verlieren. Die meisten Bantu-Bauern hatten jedoch keinen Zugang zum aufwändigen und kostspieligen Registrierungsverfahren. An ihrer Stelle erwarben vor allem Personen von außerhalb des Tals mithilfe von Verbindungen im Verwaltungsapparat Titel für Land im Gosha, wo schließlich das Land ganzer Dörfer auf dem Papier von Auswärtigen beansprucht war. Diese registrierten das Land vor allem zu Spekulationszwecken, nur ein kleiner Teil von ihnen machte davon tatsächlich Gebrauch. Land der Bantu wurde auch enteignet, um in Marerey, Mugambo und Fanoole drei staatliche Farmen zu errichten und auf diesen vorwiegend ehemalige Nomaden und Flüchtlinge aus dem Ogadenkrieg anzusiedeln. Diese Farmen erwiesen sich als wirtschaftlich erfolglos.
Heutige Situation
Lebensweise und Kultur
Die Bantu in Somalia leben traditionell in Dörfern. Diese umfassen im oberen Gosha Hundert bis mehrere Hundert Personen. Lehmhütten sind die üblichen Behausungen. Die Infrastruktur ist spärlich, die meisten Haushalte verfügen nicht über Elektrizität oder fließendes Wasser und nur über wenig materiellen Besitz. Lebensgrundlage der Bantu ist der Ackerbau, den sie als Kleinbauern auf Feldern von durchschnittlich 0,4–4 Hektar Fläche betreiben, dies im Gegensatz zu den Somali, welche mehrheitlich als Nomaden oder Halbnomaden von der Viehzucht leben. Die von den Bantu bestellten Böden gehören zu den ergiebigsten des Landes, da sie mit Wasser aus dem Jubba-Fluss bewässert werden können. Grundnahrungsmittel ist Mais, ferner werden Sesam, Bohnen und diverse Früchte und Gemüse angebaut. In kleinerem Umfang werden Cash Crops wie Baumwolle zum Verkauf produziert. Im Jubba wird Fisch gefangen, Milchprodukte und Fleisch werden von Somali-Nomaden eingetauscht oder gekauft. Wegen des Vorhandenseins von Tsetsefliegen, die Tierkrankheiten übertragen, halten die Bantu-Bauern kaum Vieh. Seit den 1970er-Jahren hat sich ein kleiner, aber wachsender Teil von ihnen in Städten niedergelassen, vor allem in Kismaayo und Mogadischu. Dort arbeiten sie meist in schlecht bezahlten Berufen mit geringen Bildungsanforderungen.
Der Bildungsstand der Bantu ist niedrig, da es im abgelegenen Gosha-Gebiet kaum Schulen gibt, das Schulgeld für sie aus wirtschaftlichen Gründen schwer aufzubringen ist und die Kinder zudem früh in die Feldarbeit einbezogen werden; manche berichteten auch, ihnen sei Bildung absichtlich vorenthalten worden. Von den Bantu-Flüchtlingen im kenianischen Dadaab konnte die weit überwiegende Mehrheit nicht lesen und schreiben. Verschiedenen Angaben zufolge hatten rund 5 % der erwachsenen Männer und fast keine Frauen oder insgesamt 1 % von ihnen Englischkenntnisse.
Die Kultur der Bantu ist von Traditionen ihrer Herkunftsvölker einerseits und der Kultur Somalias andererseits geprägt. Dabei sind die kulturellen Bindungen an die Bantu-Herkunft im südlichen (unteren) Teil des Gosha – bei den Nachkommen der frühesten Siedler – am stärksten, während gegen den nördlichen (oberen) Teil hin der Einfluss der somalischen Kultur zunimmt.
Wie die Somali verwenden die Bantu die somalische Sprache (hauptsächlich deren Maay-Dialekt), nur eine Minderheit im untersten Teil des Gosha – die Zigula – hat bis heute ihre ursprüngliche Sprache und eine ausgeprägte eigenständige Identität behalten. Die meisten sind Muslime, wobei viele daneben noch traditionell religiöse Gebräuche beibehalten haben. Ihre Religionsausübung ist traditionell gemäßigt. Wichtigste kulturelle Ausdrucksmittel sind Tanz und Musik, das Gosha-Gebiet ist für seine Vielfalt von traditionellen Tänzen bekannt. Bei den Bantu im unteren Jubba-Tal ist die Zugehörigkeit zu „Tanzgruppen“ (mviko), die Rituale gemeinsam ausführen, von großer sozialer Bedeutung. Diese Gruppen sind meist matrilinear organisiert, was im Unterschied zur großen Bedeutung der väterlichen Abstammungslinie bei den Somali steht. Bei vielen Ritualen nimmt das Spielen von Trommeln eine wichtige Rolle ein. Da Frauen und Männer gemeinsam tanzen, sprechen sich manche lokale islamische Geistliche gegen die Tänze aus, dies jedoch mit bescheidenem Erfolg. Das übliche Heiratsalter liegt bei 16 bis 18 Jahren – in manchen Fällen auch früher –, die Vielehe ist verbreitet. Das Leben in Großfamilien mit hohen Kinderzahlen ist üblich. Die bei den Somali verbreitete Beschneidung sowohl von Jungen als auch von Mädchen wird auch von Bantu praktiziert, wobei die Mädchenbeschneidung meist in leichteren Formen erfolgt als der bei den Somali üblichen Infibulation.
Lage in der somalischen Gesellschaft
Manche Bantugruppen im Gosha haben sich in das Clansystem der Somali eingegliedert, indem sie sich somalischen Clans anschlossen. Durch solche Verbindungen – ku tirsan für „sich anlehnen“ genannt – genießen sie einen gewissen Schutz gegen andere Clans, gelten aber in der Regel weiterhin als abgegrenzte und untergeordnete Gruppe innerhalb des Clans. So beteiligen sie sich in der Regel an Blutgeldzahlungen für andere Mitglieder des Clans, während Somali-Clanmitglieder kaum je zu entsprechenden Zahlungen für ein Bantu-Clanmitglied beitragen. Auch müssen sie hinnehmen, dass das Vieh der Somali Schäden an ihren Feldern anrichtet und dass sich „ihr“ Clan jeweils einen Teil ihrer Ernte nimmt, sie aber vor Plünderungen durch andere Clans schützt. Ehen zwischen Somali und Bantu sind sehr selten. Sie kommen hauptsächlich dann vor, wenn sich Somali-Männer in Bantudörfern niederlassen und einheimische Frauen heiraten.
Die Somali-Mehrheit unterscheidet die Bantu traditionell anhand körperlicher Merkmale von sich selbst, wie es in der Bezeichnung Jarir (siehe Abschnitt Begriffe und Bezeichnungen) zum Ausdruck kommt. Diese Kriterien entsprechen in etwa dem, was in europäischen Rassentheorien als „negroid“ oder „schwarzafrikanisch“ eingeordnet wurde; die Somali ihrerseits betrachten sich explizit nicht als schwarze Afrikaner, sondern betonen ihre (teilweise) arabische Abstammung.
Weiterhin bestehen diverse Vorurteile über die Bantu. Überregional bekannt sind etwa ihre Tänze, die verbreitet als „unrein“ und unislamisch gelten; generell wird ihre religiöse Integrität angezweifelt. Auch magische Fähigkeiten wie etwa diejenige, Krokodile für ihre Zwecke zu kontrollieren, werden ihnen zugeschrieben und gefürchtet. Als Ackerbauern, die kaum Vieh besitzen, gelten sie den Somali, die Viehzucht und Nomadentum hoch schätzen, als besonders arm.
Bis heute werden die Bantu von Teilen der Somali-Gesellschaft wegen ihrer Jarir-Merkmale, ihrer bäuerlichen Lebensweise und wegen der Abstammung von Sklaven als minderwertig betrachtet. Sie waren und sind von Diskriminierung in vielfältigen Formen betroffen. Eine politische Teilhabe im somalischen Staat war praktisch nicht vorhanden.
Die Bantu selbst strebten in dieser Situation größtenteils eine vermehrte Integration in die somalische (Clan-)Gesellschaft an, nicht etwa eine Abgrenzung oder offenen Widerstand. Anstatt sich aufgrund ihrer gemeinsamen Geschichte als Sklavennachfahren zusammenzuschließen, wollten sie vielmehr über diese Vergangenheit und die damit verbundene Stigmatisierung hinwegkommen. Zwischen den verschiedenen Jarir-Gruppen bestanden kaum Kontakte oder überhaupt gegenseitige Kenntnis. Einige wenige Bantu mit höherer Bildung versuchten auf politischer Ebene für ihre Interessen zu wirken. So bestand unter der italienischen Treuhandverwaltung in den 1950er-Jahren eine Partei der Shidle, die jedoch nie in einer Regierung vertreten war. Bantu unterstützten insbesondere auch die HDMS, die vor allem den gegenüber anderen Clans benachteiligten südsomalischen Rahanweyn-Clan vertrat und zu ihren Gunsten ein föderalistisches System forderte. Aber auch bei der bedeutenden Somalischen Jugendliga war eines der Gründungsmitglieder, Abdulkader Sheikh Sakawadin, Jarir. In den 1980er-Jahren gründeten Intellektuelle die Somali Agriculturalists Muki Organization (SAMO). Auch sie verfolgten zunächst vor allem das Ziel, als gleichberechtigte Mitglieder der somalischen Gesellschaft anerkannt zu werden, weniger als spezielle Gruppe mehr Rechte einzufordern. Dies änderte sich nach Ausbruch des Bürgerkrieges. Unter ihrem Vorsitzenden Mohammed Ramadan Arbow wurde die SAMO in Somali African Muki Organization umbenannt.
Insgesamt machten die Ereignisse im Bürgerkrieg (s. u.) aus Sicht der Bantu ihre Ungleichheit innerhalb und gegenüber der Somali-Gesellschaft deutlicher als zuvor. Die Anfang der 1990er-Jahre in Somalia präsenten internationalen Organisationen und Medien nahmen die Bantu vermehrt als eigene und besonders stark unter dem Krieg leidende Gruppe wahr. In den Flüchtlingslagern des UNHCR, wo die somalischen Flüchtlinge nach Clanzugehörigkeit registriert wurden, wurden die „Bantu“ nun unter diesem Begriff kategorisiert. Diese Faktoren trugen dazu bei, dass sich eine neue kollektive Identität der somalischen Bantu herausbildete.
Im Bürgerkrieg
Im Bürgerkrieg in Somalia seit 1991 verschärfte sich die Lage der Bantu. Verschiedene Kriegsparteien, Bewaffnete und Milizen durchquerten ihr Gebiet, plünderten dabei Nahrungsmittel und anderen Besitz und richteten Zerstörungen an der landwirtschaftlichen Infrastruktur an. Vor allem Männer wurden getötet, wenn sie in Verdacht gerieten, Widerstand zu leisten. Vergewaltigungen kamen verbreitet vor. Da sie kaum über Waffen verfügten und auch von den bewaffneten Clans, denen sie zum Teil verbunden waren, wenig Schutz erhielten, waren die Bantu besonders stark solchen Gewalttaten und Plünderungen ausgesetzt. Folglich waren sie auch von der kriegsbedingten Hungersnot Anfang der 1990er überproportional betroffen. Bemühungen der internationalen Gemeinschaft, ihnen Nahrungsmittelhilfe zu liefern, zeigten begrenzte Wirkung; auch zur Zeit der „humanitären Intervention“ UNOSOM kämpften Kriegsparteien um von den Bantu bewohnte Vertriebenenlager, um die für sie bestimmten Hilfsgüter abzweigen zu können. Dem Hunger fielen vor allem Kleinkinder in großer Zahl zum Opfer, sodass Mitte 1993 der Anteil unter 5 Jahre alter Kinder im mittleren Jubba-Tal auf gerade 8 % geschätzt wurde. (Demgegenüber lag der Anteil dieser Altersgruppe gemäß Zahlen der UNICEF für das Jahr 2007 in Somalia bei fast 18 %.) Die Gesamtzahl der Toten liegt im Bereich von Zehntausenden. Einer Schätzung zufolge ist durch Gewalttaten, indirekte Kriegsfolgen, auf der Flucht oder in den Flüchtlingslagern (siehe unten) ein Drittel der Bantu-Bevölkerung umgekommen. Die Anthropologin und Expertin für die somalischen Bantu Catherine Besteman bezeichnete die Gewalt, der die Bantu im Bürgerkrieg ausgesetzt waren, als „genozidal“.
Verschiedene Somali-Clans und Kriegsparteien eigneten sich im Verlauf des Krieges das begehrte Land der Bantu an. Manche Bantu werden heute genötigt, unter Bedingungen zwischen Teilpacht und Zwangsarbeit auf dem ehemals ihrigen Land zu arbeiten. Andere mussten ihre landwirtschaftlichen Aktivitäten näher an die Flussufer verlegen, wo die Gefahr von saisonalen Überflutungen ihrer Felder größer ist. Zehntausende wurden in Somalia intern vertrieben oder flohen nach Kenia. Die meisten Binnenvertriebenen verbleiben dabei im südsomalischen Raum. Einige gelangten bis in die nördlichen Gebiete Somaliland und Puntland, wo sie vorwiegend in Städten wie Boosaaso, Gaalkacyo und Hargeysa leben und arbeiten.
Manche Bantu haben sich unterdessen bewaffnet und eigene Milizen gebildet. Die islamistische Gruppierung al-Shabaab unterdrückt kulturelle Praktiken der Bantu wie Tanz, traditionelle Medizin oder religiöse Zeremonien, die nicht ihrer strengen Auffassung des Islam entsprechen.
Flüchtlinge
Über Zehntausend Bantu flohen infolge des Krieges in das nahe Nachbarland Kenia. Die meisten gelangten auf dem Landweg in die Flüchtlingslager bei Dadaab. Auch dort waren sie von Schikanen und Übergriffen von Seiten der Somali-Mehrheit in den Lagern betroffen. Ein kleinerer Teil floh zusammen mit Angehörigen weiterer Minderheiten wie den Benadiri auf dem Seeweg nach Mombasa und wurde zunächst dort in Flüchtlingslagern untergebracht. Ende der 1990er-Jahre wurden diese Lager geschlossen und die verbleibenden Bewohner nach Dadaab oder Kakuma verlegt. Nach 1996 gingen manche Bantu-Flüchtlinge wieder nach Somalia zurück, die meisten gaben jedoch an, nie mehr zurückkehren zu wollen. Viele äußerten stattdessen den Wunsch, sich in jenen afrikanischen Ländern niederzulassen, die sie als ihre Heimat betrachten.
Mangels finanzieller Mittel gelangten kaum Bantu in Industrieländer, um dort um Asyl zu ersuchen.
Da weder die Repatriierung noch der Verbleib in Kenia als langfristige Lösung in Frage kamen, stufte das UN-Hochkommissariat für Flüchtlinge UNHCR die Bantu-Flüchtlinge als Kandidaten für eine Umsiedlung in Drittstaaten ein. Das anfängliche Vorhaben, sie nach Tansania umzusiedeln, scheiterte 1996, da dieses Land bereits mit Flüchtlingsströmen aus Burundi und vor allem nach dem Völkermord 1994 aus Ruanda konfrontiert war. Pläne für eine Umsiedlung nach Mosambik waren 1997 so weit gediehen, dass Listen von Umsiedlungskandidaten erstellt wurden. 1999 widerrief Mosambik allerdings sein Interesse, da es nicht über die nötigen Ressourcen verfüge und selbst die Wiederansiedlung von Flüchtlingen und Vertriebenen aus dem mosambikanischen Bürgerkrieg zu bewältigen habe.
Umsiedlung in die USA
Schließlich erklärten sich die USA 1999 zur Aufnahme bereit, nachdem Kongressabgeordnete sowie Vertreter von Flüchtlingshilfsorganisationen und den Bantu-Flüchtlingen selbst auf diesen Schritt hingewirkt hatten. Dies entspricht einer allgemeinen Tendenz in der Flüchtlingspolitik der Vereinigten Staaten seit Mitte der 1990er-Jahre, ganzen Gruppen von als besonders schutzbedürftig eingestuften afrikanischen Flüchtlingen Asyl zu gewähren, etwa in den Jahren 1995 und 1996 je rund 4000 Benadiri und Brawanesen aus Somalia, 1997 und 1999 etwa 1.500 Tutsi und mit solchen verheirateten Hutu aus Ruanda und zuletzt im Jahr 2000 über 3.500 sogenannten „Lost Boys“ aus Sudan.
Manche Somali versuchten daraufhin, sich als Bantu auszugeben und somit die Erlaubnis zur Einwanderung in die USA zu erlangen. Hierzu bestachen oder erpressten sie Bantu, um Scheinehen einzugehen, als Familienmitglieder ausgegeben zu werden oder Lebensmittelkarten zu erhalten, die sie als Bantu auswiesen. Aufgrund solcher Betrugsversuche wurden die Umsiedlungskandidaten einem Überprüfungsverfahren unterzogen, etwa 10.000 wurden von der weiteren Überprüfung ausgeschlossen. Fast 14.000 Personen wurden näher geprüft, davon wurden rund 12.000 zugelassen. Damit waren die Bantu die bislang größte afrikanische Flüchtlingsgruppe, die Asyl in den USA erhielt.
Strengere Sicherheitsvorkehrungen nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 führten dazu, dass sich die Umsiedlung der Bantu-Flüchtlinge verzögerte. Sie wurden zunächst 2002 von der Internationalen Organisation für Migration aus den Lagern bei Dadaab in das als sicherer geltende Kakuma gebracht und dort in Kursen (cultural orientation classes) auf das Leben in den USA vorbereitet. Im Mai 2003 trafen die ersten in den USA ein. Sie wurden in rund 50 Städten jeweils in Gruppen angesiedelt, so etwa 1000 in Salt Lake City und weitere in Phoenix (Arizona), Tucson, Houston, Nashville, St. Louis, Rochester, Concord und anderen Orten.
Mancherorts gab es Bedenken wegen der geringen Bildung und der mangelnden Englischkenntnisse der somalischen Bantu. Es wurde befürchtet, sie würden schwer Arbeit finden und zur finanziellen Belastung werden, und das Leistungsniveau in den Schulen würde sinken. In der Kleinstadt Holyoke (Massachusetts) verhinderten lokale Proteste geplante Ansiedlungen. Der republikanische Senator Sam Brownback aus Kansas, der die Aufnahme anderer Flüchtlingsgruppen befürwortet hatte, sprach sich gegen die Ansiedlung von Bantu in seinem Bundesstaat aus. Weitere Proteste gab es in Cayce (South Carolina). Für Kontroversen sorgte auch der Umstand, dass die Bantu traditionell die in den USA illegale Beschneidung weiblicher Genitalien praktizieren. Berichten zufolge ließen manche Eltern, nachdem sie vom Verbot in den USA erfahren hatten, ihre Töchter möglichst rasch noch in den Flüchtlingslagern beschneiden. Die US-amerikanischen Behörden erwogen zunächst, die betreffenden Familien von der Umsiedlung auszuschließen. Infolge von Kampagnen, die auf die Risiken der Beschneidung hinwiesen, soll ein Großteil der Bantu-Flüchtlinge diese Praxis aufgegeben haben. Kritiker der US-Flüchtlingspolitik bemängelten auch die hohen Kosten der Umsiedlung, die ihrer Ansicht nach besser in Flüchtlingshilfe vor Ort oder die Umsiedlung in ein Drittland innerhalb Afrikas investiert würden.
Insgesamt wurden die Bantu in ihrer neuen Heimat positiv aufgenommen. Die Ansiedlung der Bantu, die bislang kaum Erfahrung mit Elektrizität, fließendem Wasser etc. gemacht hatten, in einem der modernsten Industriestaaten erhielt umfangreiche Medienaufmerksamkeit in den USA und darüber hinaus. In den Medienberichten ist allgemein davon die Rede, dass sie sich gut in die neuen Lebensbedingungen eingelebt und insbesondere den Wert einer guten Ausbildung für ihre Kinder rasch erkannt hätten. Vor allem Kritiker der US-Flüchtlingspolitik verwiesen jedoch auf das Beispiel von Lewiston (Maine), wo wenig Arbeitsplätze mit geringen Bildungsanforderungen vorhanden sind, viele Bantu folglich arbeitslos sind und staatliche Unterstützung erhalten. Ab 2001 waren Tausende Somali und später auch Bantu dorthin gezogen, weil dieser Ort günstigen Wohnraum bietet und die Kriminalität niedrig ist. Einem offiziellen Bericht zufolge sind 51 % der Einwanderer aus Somalia (Somali und Bantu) in Lewiston arbeitslos. Da Bantu-Familien oft sehr kinderreich sind, gab es in Columbus (Ohio) 2005 Schwierigkeiten, genügend geeigneten Wohnraum zu finden. Zahlreiche Bantu zogen nach Louisville (Kentucky), das über ein großes Arbeitsplatzangebot, aber wegen steigendem Durchschnittsalter und niedrigen Geburtenraten über immer weniger Arbeitskräfte verfügt. Mit über 1.600 weist dieser Ort heute die größte Bantu-Bevölkerung in den USA auf. Die meisten Männer haben hier Arbeit, können jedoch nicht in allen Fällen vollständig für die Versorgung ihrer großen Familien aufkommen.
Die Beziehung zwischen Bantu und Somali bleibt auch in den USA schwierig. In den USA lebende Somali haben Bantu bei der Integration unterstützt, ein Teil von ihnen hat jedoch die Vorurteile gegenüber Bantu beibehalten. Umgekehrt hegen viele Bantu aufgrund der Erfahrungen von Sklaverei, Diskriminierung und Bürgerkrieg Misstrauen gegenüber Somali. In verschiedenen Staaten und Ortschaften sind eigene Gemeinschaftsorganisationen der Bantu entstanden, die unabhängig von entsprechenden Strukturen der Somali sind. Zugleich werden sowohl Somali als auch Bantu von weiten Teilen der US-amerikanischen Öffentlichkeit als Schwarze oder Afroamerikaner wahrgenommen.
Wissenschaftliche Studien und Zahlen zur Integration der somalischen Bantu in den USA gibt es bislang nicht.
Bantu-Flüchtlinge in Afrika
Weiterhin leben einige Tausend Bantu in kenianischen Flüchtlingslagern.
Eine weitere Gruppe von etwa 3000 Bantu, vorwiegend Zigula, war von Kenia weiter in die Region Tanga im Nordosten Tansanias gelangt, wo bis heute Zigula leben. Diese Gruppe lebte dort zunächst in der Flüchtlingssiedlung Mkuyu. 2003 konnten sie in die mit Hilfe des UNHCR gebaute Siedlung Chogo umziehen. Sie erhielten Land zur Verfügung gestellt, um sich als Kleinbauern niederzulassen, und sie können die tansanische Staatsbürgerschaft beantragen.
Literatur
Catherine Besteman: Unraveling Somalia. Race, Violence, and the Legacy of Slavery. University of Pennsylvania Press, Philadelphia PA 1999, ISBN 0-8122-1688-1.
Catherine Besteman: The Invention of Gosha. In: Ali Jimale Ahmed (Hrsg.): The Invention of Somalia. Red Sea Press, Lawrenceville NJ 1995, ISBN 0-932415-99-7, S. 43ff.
Francesca Declich: Identity, Dance and Islam among People with Bantu Origins in Riverine Areas of Somalia. In: Ali Jimale Ahmed (Hrsg.): The Invention of Somalia. Red Sea Press, Lawrenceville NJ 1995, ISBN 0-932415-99-7, S. 191ff.
Ken Menkhaus: Bantu ethnic identities in Somalia. In: Annales d'Ethiopie. Bd. 19, 2003, , S. 323–339, online.
Lee V. Cassanelli: The Ending of Slavery in Italian Somalia. Liberty and the Control of Labor, 1890–1935. In: Suzanne Miers, Richard Roberts (Hrsg.): The End of Slavery in Africa. The University of Wisconsin Press, Madison WI 1988, ISBN 0-299-11554-2, S. 308ff.
Lee V. Cassanelli: Social Construction on the Somali Frontier: Bantu Former Slave Communities. In: Igor Kopytoff (Hrsg.): The African Frontier. The Reproduction of Traditional African Societies. Indiana University Press, Bloomington IN u. a. 1987, ISBN 0-253-30252-8, S. 216–238.
Weblinks
Ausgabe der UNHCR-Zeitschrift „Flüchtlinge“ (3/2002) über die somalischen Bantu (PDF-Datei; 1,3 MB)
Bericht über eine in die USA umgesiedelte somalische Bantu-Familie in GEO 9/2007
„The Somali Bantu Experience“ – umfangreiches Material zu somalischen Bantu in Ostafrika und den USA (englisch)
Daniel J. Lehman, Omar Eno: The Somali Bantu: Their History and Culture (engl.)
Portland State University: Somali Bantu Project (engl.)
BBC News: New life in US for Somali Bantus (2004) (engl.)
Simeon Chapin, Tufts University: Music of the Somali Bantu in Vermont (engl., PDF-Datei; 1,91 MB)
Einzelnachweise
Bantu
Ethnische Minderheit in Afrika |
1962533 | https://de.wikipedia.org/wiki/Mi%E2%80%99kmaq | Mi’kmaq | Die Mi’kmaq (auch Míkmaq, Micmac oder Mic-Mac) sind ein indianisches Volk, das im östlichen Nordamerika lebt. Heute gibt es 29 First Nations der Mi’kmaq in Kanada, aber nur einen auf Bundesebene anerkannten Stamm (federally recognized tribe) in den USA, der als Aroostock Band of Micmac bekannt ist. Das ehemalige Wohngebiet der Mi’kmaq umfasste die maritimen Provinzen Kanadas Nova Scotia, Prince Edward Island, Teile von New Brunswick/Nouveau-Brunswick und die Gaspé-Halbinsel in Québec.
Name
Aus einigen Quellen geht hervor, dass der Name Verbündete bedeuten soll, diese Behauptung ist jedoch umstritten. Eher geht die Bezeichnung darauf zurück, dass die Indianer Freunde mit Nikmaq! begrüßten, das etwa meine Brüder, meine Verwandten oder meine Familie bedeutet. Marc Lescarbot berichtete 1606, dass die Indianer den französischen und baskischen Fischern diesen Gruß beibrachten und die Franzosen die Mi’kmaq bald als Notres nikmaqs bezeichneten. Damit wurde an den Plural noch ein s gehängt, eine Tradition, die die Briten fortsetzten, so dass Formen wie Micmacs oder Mic-Macs entstanden. Weitere Varianten des Namens sind Migmagi, Mickmaki und Mikmakique.
Zu den Mi’kmaq gehört eine große Anzahl von Untergruppen, die historisch von den Franzosen auf Grund ihrer Siedlungsgebiete mit verschiedenen Namen bezeichnet wurden – so nannten sie zum Beispiel Mi’kmaq-Gruppen im östlichen Quebec Gaspésiens de Le Clercq sowie Mi’kmaq-Gruppen in Nova Scotia sowie Teilen des angrenzenden US-Bundesstaates Maine als Souriquois de la Tradition jésuite oder einfach nur Souriquois, was so viel wie "Salzwassermenschen" bedeutet. Aus dem 17. Jahrhundert stammt die englische Bezeichnung Tarrantine (dt. Tarrantiner). Der bis in die 1980er Jahre gebräuchliche Name war Micmac (und ist teilweise, wie im Ethnologue immer noch üblich), jedoch gilt er heute als kolonial behaftet. Heute ist Mi’kmaq die anerkannte Schreibweise, und sie kommt der Aussprache zudem näher.
Die Mi’kmaq selbst gebrauchen je nach Dialekt verschiedene Schreibweisen: Auf Prince Edward Island und Nova Scotia Mi’kmaq (Singular Mi'kmaw), in New Brunswick Miigmaq (Singular Miigmao), die Gespe’gewa’gi First Nations in Québec bevorzugen Mi'gmaq, zudem ist in manchen Büchern Mìgmaq (Singular Mìgmaw oder Migmewaj) zu finden. Hierbei muss jedoch beachtet werden, dass der Plural in den oben genannten Varianten Mi’kmaq lautet, der Singular jedoch Mi'kmaw, sowie dessen Varianten.
Es gibt verschiedene Erklärungen für die Entstehung des Namens Mi’kmaq, doch laut dem Mi'kmaw Resource Guide bedeutet der Name „Die Familie“, angezeigt durch den Anfangsbuchstaben M und ist immer Plural. Weitere ähnliche Bezeichnungen, jedoch nicht synonym, sind: Nikmaq – „meine Familie“, Kikmaq – „deine Familie“, Wikmaq – „seine/ihre Familie“. Die Variante Mi'kmaw hat zwei grammatikalische Funktionen: Es ist erstens der Singular von Mi’kmaq und zweitens das Adjektiv in Fällen, in denen es einem Substantiv vorausgeht, z. B. Mi'kmaw Volk (engl. Mi'kmaw People), Mi'kmaw Verträge, Mi'kmaw Person (Indianer) und Mi'kmaw Kanu. Das Wort Mi’kmaq wird daher nie als Adjektiv gebraucht.
Die Mi’kmaq bezeichneten sich selbst als Lnu (Singular und adjektivisches Nomen, früher: L'nu; der Plural lautet Lnúk, Lnu’k, Lnu’g, oder Lnùg, sprich: „Ulnoo“ oder „Elnu“), das wörtlich etwa „Menschen-Wesen“ oder „das Volk“ bedeutet. Die südlich lebenden Maliseet bezeichneten ihre einstigen Feinde und späteren Verbündete, die Mi’kmaq, als Matueswiskitchinuuk („Stachelschwein-Volk“, da sie ihre Kleidung mit Stachelschweinborsten verzierten), die Beothuk auf Neufundland hingegen nannten sie Shonack („Bösartiges oder Schlechtes Volk“), da sie sich gegen die mit französischen Gewehren bewaffneten, auf ihr Land vordringenden, Mi’kmaq verteidigen mussten.
Sprache
Das Míkmawísimk, Mi'gmawi'simg oder L'nui'sin (in Kanada wird heute die Schreibweise Mi'gmaq bevorzugt, im Englischen ist allgemein Mi’kmaq üblich) gehört zu den östlichen Algonkin-Sprachen und wird neben Englisch oder Französisch heute von rund 11.000 Stammesangehörigen gesprochen. Sie sind auf ungefähr 15 größere und ein weiteres Dutzend kleinere Reservate verteilt. Die Sprache wurde früher Micmac genannt, heute jedoch setzt sich im Englischen vermehrt die Schreibweise Migmaw oder Mikmaw durch. Die Mi’kmaq verwenden für ihre Sprache je nach Dialekt, neben den oben genannten Bezeichnungen, die Benennung Míkmaq, Míkmaw oder Mìgmao.
Die Sprache erreichte eine gewisse weltweite Aufmerksamkeit als 2019 die damals 16-jährige Emma Stevens aus der Provinz Nova Scotia den Beatles-Song "Blackbird" in Míkmaq sang. Das Youtube-Video wurde Anfang 2020 bereits über eine Million Mal angeschaut.
Es gibt erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Mi’kmaq-Dialekten, sodass zum Beispiel die Mi’kmaq in Quebec Probleme haben, Stammesangehörige aus Neuschottland zu verstehen. Durch den Verlust der traditionellen Lebensweise spielt die Sprache der Mi’kmaq eine identitätsstiftende Rolle. Die Mi’kmaq kannten keine eigentliche Schrift, sondern benutzten Symbole, die sie auf Birkenrinde oder Leder zeichneten.
Schrift
Mitte des 17. Jahrhunderts entwickelte der katholische Missionar Chrestien Le Clercq eine aus über 5.000 Zeichen bestehende Hieroglyphenschrift als Merkhilfe für Gebete, Hymnen und den Katechismus. Sie wurde auf Birkenrinde festgehalten und von den Mi’kmaq begeistert angenommen und sehr schnell indigenisiert. Die Schrift hatte entscheidenden Einfluss auf die Geschichte des Volkes: Sie führte zu einem weitgehenden Erfolg der christlichen Mission, mithin zu einer neuen kulturellen Identität und zur Bildung katholischer Soliditäten als neue politische Organe, als der Einfluss der britisch-protestantischen Oberhoheit zunahm.
Nachdem die Schrift eine weite Verbreitung gefunden hatte, wurde sie 1939 von Pater Pacifique de Restigouche für die Übersetzung der Bibel etwas modifiziert sowie für Lehrbücher und in der Zeitung The Micmac Messenger verwendet, die von 1908 bis 1942 in der Sprache der Ureinwohner erschien.
Wohngebiet
Im 16. Jahrhundert besiedelten die Mi’kmaq das gesamte Gebiet südlich und östlich der Bucht des Sankt-Lorenz-Stroms, das die heutigen Seeprovinzen Kanadas und die Gaspé-Halbinsel umfasste. Dieser Landstrich war stark bewaldet, eben, mit zahlreichen Seen bedeckt und von vielen Wasserläufen durchzogen, die in natürlichen Häfen entlang der langen, zerklüfteten Küste mündeten. Die Winter waren streng und die kurze Jahreszeit des Wachstums ließ den Anbau von Getreide oder Feldfrüchten kaum zu. Das ausgedehnte Flusssystem machte einen raschen Transport mit dem Kanu möglich und trug so zur Bewahrung einer ethnischen Identität der etwa 10.000 Stammesangehörigen bei. Die Mi’kmaq verteidigten ihr Stammesgebiet gegen verschiedene andere Stämme. Sie kämpften gegen die Sankt-Lorenz-Irokesen und später gegen die Mohawk um die Gaspé-Halbinsel, während sie sich an ihrer südlichen Grenze besonders im Tal des Saint John River in Neubraunschweig mit den Maliseet und Penobscot auseinandersetzen mussten. Mi’kmaq-Jäger besuchten gelegentlich Anticosti Island und sie erreichten sogar die Küste von Labrador, wo sie die Eskimos angriffen. Mit der Inbesitznahme von Neufundland ging die frühzeitige Ausrottung der Beothuk einher, bei der sie eine entscheidende Rolle spielten.
Stammesorganisation der Mi’kmaq
Das Stammesgebiet Mi'kma'ki (Migmagi) war in sieben Distrikte (im Jahr 1860 fügten sie einen achten hinzu) unterteilt, die Jagdrevieren und Wohngebieten einzelner Gruppen (oder Bands) entsprachen, in denen diese im Frühling und Sommer gemeinsam jagten und lagerten. Zumindest einige dieser Gruppen hatten charakteristische Symbole, zum Beispiel repräsentierte ein Lachs die heutige Listuguj Mi'gmaq First Nation des Kespek (Gespe’gewa’gi)-Distrikts im Restigouchetal und um die Baie des Chaleurs, und die Figur eines Mannes mit Pfeil und Bogen stand für Gruppen (Bands) des Siknikt (Signigtewa'gi)-Distrikt im Gebiet des Miramichi River.
Die Distrikte Kespek (Gespe'gewa'gi), Siknikt (Signigtewa'gi) und Epekwitk aq Piktuk wurden unter der Sammelbezeichnung Sigenigt zusammengefasst und die Distrikte Eskikewa'kik (Esge'gewa'gi), Sipekni'katik (Sugapune'gati) und Kespukwitk (Gespugwitg) unter der Sammelbezeichnung Gespogoitg. Hingegen wurde der als Onamag oder Unama'kik (Unama'gi) bezeichnete Distrikt auf der Kap-Breton-Insel als Hauptdistrikt und Sitz des Mi'kmaw Grand Council (Santé Mawiómi) sowie des Großen Häuptlings als den allen anderen Distrikten politisch mächtiger und höher stehender Distrikt betrachtet. Der Große Häuptling spielte einst eine wichtige Rolle bei Entscheidungen des Stammes über Krieg oder Frieden, aber seit Mitte des 19. Jahrhunderts sind seine Funktionen nur noch zeremonieller Art. Die angrenzenden Distrikte Pigtogeoag und Esgigeoag waren Onamag unterstellt und hatten manchmal sogar keinen eigenen Häuptling.
Die sieben traditionellen Distrikte des Mi’kmaq-Landes
I. Sigenigt
Kespek (Gespe'gewa'gi)-Distrikt
Gespegeoag / Gespegiag-Stammesgruppe
bewohnten den als Kespek/Gepek („letztes Land“) oder Gespe'gewa'gi/Kespékewaq/Kespoogwitunak („zuletzt erworbenes Land“) bezeichneten Distrikt, der die namensgebende Gaspésie-Halbinsel umfasste sowie ein weites Netzwerk von Wasserwegen westwärts entlang des Maqtugweg (des Sankt-Lorenz-Stroms) im Landesinneren von Québec, bewohnten im Nordosten und Osten die Gloucester und Northumberland Counties bis zu Mawi Poqtapeg (Baie des Chaleurs) und zum Sankt-Lorenz-Golf sowie der Akadischen Halbinsel, gelegentlich unternahmen sie auch Jagdausflüge auf Natigasteg („foreground“, „prominent position“, d. h. Anticosti Island), das Restigouche County entlang des Restigouche River sowie im Süden im Northumberland County entlang des Miramichi River in New Brunswick (Neubraunschweig)
Siknikt (Signigtewa'gi)-Distrikt
Sigenigteoag / Sigenitog-Stammesgruppe
bewohnten den auch als Sikniktuk / Sikniktewag / Signigtewágig oder Sgnuoptijg („Drainage-Platz“) bekannten Distrikt im Einzugsgebiet sowie Mündungsgebiet des Miramichi River sowie dessen Nebenflüssen, entlang des Petitcodiac und Nepisiguit River sowie des Saint John River bis zu deren Mündung in die Chaleur-Bucht oder in die Bay of Fundy an der Atlantikküste in den Albert, Kent, Queens, Saint John und Westmorland Counties von New Brunswick (Neubraunschweig) und des Cumberland County in Nova Scotia (Neuschottland)
Epekwitk aq Piktuk (Epegwitg aq Pigtug) oder Piktuk aqq Epekwitk-Distrikt
Epegoitnag / Epeggoitg-Stammesgruppe
bewohnten die als Epelwik / Epekwitk („Liegt / Schwimmt auf dem Wasser“) bezeichnete Prince Edward Island (Prinz-Edward-Insel) im Sankt-Lorenz-Golf, deren Südküste die Northumberlandstraße bildet, oftmals stellten sie keine eigenen Häuptlinge oder politischen Vertreter im Mi'kmaw Grand Council und waren daher meist politisch dem westlich gelegenen Hauptdistrikt namens Unama'kik (Unama'gi) auf Cape Breton Island (Kap-Breton-Insel) unterstellt
Pigtogeoag / Pigtog-Stammesgruppe
bewohnten das als Piwktuk / Piktukewaq („da wo sich Gasexplosionen entladen“ oder „explodierendes Gas“) bezeichnete Gebiet rund um Pictou im heutigen Pictou County im Nordosten von Nova Scotia (Neuschottland) am Südufer der Northumberlandstraße gegenüber der nördlich gelegenen Prince Edward Island
Unama'kik (Unama'gi) - Hauptdistrikt und Sitz des Mi'kmaw Grand Council
Onamag / Onamagig-Stammesgruppe
bewohnten die als Unama'kik / Unama'gi oder Wunama'kik („nebeliges Land“) bezeichnete Cape Breton Island (Kap-Breton-Insel) in Nova Scotia (Neuschottland), auf Mniku (engl. Chapel Island), einer kleinen Insel im Pitu'pa'q („Inneres Meer“) oder Pitu'pok („großes langes Salzwasser“) bezeichneten Bras d’Or Lake inmitten von Cape Breton Island befand (und befindet sich heute wieder) der Sitz des Mi'kmaw Grand Council (dt. Großer Rat der Mi’kmaq), der Keptinaq oder Saqamaw/Sagamaw (Distrikt-Häuptling) des Hauptdistriktes stellte in erblicher Folge traditionell den Kji' Saqamaw oder Grand Chief (Großen Häuptling).
II. Gespogoitg
Eskikewa'kik (Esge'gewa'gi)-Distrikt
Esgigeoag / Esgigiag-Stammesgruppe
bewohnten den als Eskikewa'kik / Eskíkeawag oder Esge’gewa’gi („Skin Dressers Territory“) genannten Distrikt entlang des St. Marys Rivers sowie in den heutigen Halifax, Guysborough und Antigonish Counties im Osten und entlang der Atlantikküste von Nova Scotia (Neuschottland)
Sipekni'katik (Sugapune'gati)-Distrikt
Segepenegatig / Segepenegatig-Stammesgruppe
bewohnten den als Sipekne'katik / Sipeknékatikik / Sikepne'katik oder Sugapune'gati („Ground Nut Place“ oder „Wild Potatoe Area“) bezeichneten Distrikt im Gebiet rund um die Stadt Truro, die angrenzende Cobequid Bay sowie entlang des Annapolis River und im Annapolis Valley, lebten in Colchester, Hants, Lunenburg, Kings und Annapolis Counties im westlichen-Zentral-Nova Scotia (Neuschottland) sowie an dessen Nord- und Südküste
Kespukwitk (Gespugwitg)-Distrikt
Gespopoitnag / Gespogoitg-Stammesgruppe
lebten im als Kespukwitk oder Gespugwitg („Land's End“, in etwa: „Ende der Welt“), lebten im Annapolis Valley an der Bay of Fundy sowie am Golf von Maine in den heutigen Annapolis, Digby, Queens, Shelburne und Yarmouth Counties im Westen sowie an der dortigen Küste von Nova Scotia (Neuschottland) sowie entlang des Saint John River im Nordosten des angrenzenden US-Bundesstaates Maine, wurden von den Franzosen als Souriquois („Salzwasser-Volk, d. h. Meeres-Volk“) bezeichnet
nach Dezimierung und Vertreibung der Beothuk von Neufundland durch die besser bewaffneten Mi’kmaq und Briten, fügten die Mi’kmaq ab 1860 als achten und letzten Distrikt große Teile Neufundlands ihrem politisch-organisatorischen System hinzu, das nun große Teile des ehemaligen Stammesgebiets der Beothuk umfasste:
Taqamkuk / Ktaqmkuk-Distrikt
Tagamgoog /Taqamkuk-Stammesgruppe
übernahmen große einstige Stammesgebiete der Beothuk auf Neufundland, das nun unter dem Namen Tagamkuk / Taqamkukewa'q / Ktagmkuk („Land Across the Water“) als achter und letzter Distrikt organisiert wurde, lebten entlang des Gander River sowie an der gleichnamigen Bucht und entlang des Exploits River, ihr neu erworbenes Stammesgebiet umfasste zudem die westlich gelegenen Bay of Islands und Port au Port Peninsula
Soziopolitische Organisation
Politisch waren die Mi’kmaq eine lockere Konföderation einzelner Stämme, die aus patrilinearen Klans und lokalen Gruppen bestanden. In der meisten Zeit waren die Angehörigen eines Stammes über den Distrikt verteilt und kamen nur während des Sommerlagers oder in Kriegszeiten zusammen. Bis die jungen Männer verheiratet waren, durften sie keine eigenen Hunde halten und mussten dem Sagamore oder Häuptling alles übergeben, was sie gejagt hatten. Wenn sie seine Gruppe eine Zeit lang verließen, brachten sie ihm bei der Rückkehr Geschenke mit. Einzelne Angehörige oder ganze Familien konnten ohne Probleme, wenn auch mit schlechtem Gewissen, zu einer anderen lokalen Gruppe wechseln. Die Sagamore mussten sich ihre Autorität durch besondere Fähigkeiten erwerben. Ende des 17. Jahrhunderts wurden von Franzosen beobachtet, dass Häuptlinge jeder Familie ihr Jagdgebiet zuwiesen und Anteile vom Erlös der Felle beanspruchten. Durch ihre Französisch-Kenntnisse fungierten manche Sagamore als Vermittler und verschafften sich damit Vorteile.
Kultur
In den maritimen Provinzen Kanadas waren die Mi’kmaq der dominierende Stamm, und man vermutet, dass sie schon geraume Zeit vor dem 16. Jahrhundert von Norden her eingewandert sind. Das Klima ließ kaum Gartenbau zu, und so lebten sie von der Jagd, dem Fischfang und dem Sammeln von wildwachsenden Kräutern und Wurzeln.
Lebensunterhalt
Der traditionelle Zyklus begann mit dem Zufrieren der Flüsse. Typisch für die Winter waren Kälte, Eis und Schnee, sowie der Rückzug der Bären in hohle Bäume. In dieser Zeit verteilten sich die Mi’kmaq in kleine Jagdcamps über den gesamten Distrikt und die sozialen Beziehungen sanken auf ein Minimum. In den wärmeren Monaten sammelten sich die Gruppen und wohnten in Dörfern. Im Frühling erntete man Ahornsirup und im Sommer wurde gelegentlich etwas Gartenbau betrieben, doch die Hauptnahrung bestand in dieser Zeit aus Fisch und Meeresfrüchten. Die Jagd auf Elche und Hirsche begann im Herbst und beim ersten Schnee waren die Tiere leichter zu verfolgen, denn die Mi’kmaq benutzten Schneeschuhe, Schlitten und Toboggans. Das Wort Toboggan stammt aus der Mi’kmaq-Sprache.
Dem Missionar Pierre Briard zufolge wurde jeder der Monate durch eine überwiegend vorkommende Art von Fisch oder Wild charakterisiert:
Im Januar war die Robbenjagd.
Im Monat Februar bis Mitte März war die große Jagd auf Biber, Otter, Elch, Bären, Karibu.
Mitte März begann der Fisch zu laichen.
Ende April kam der Hering; zu derselben Zeit kamen Trappen (Kanada-Gänse), Stör und Lachs und dann folgte auf den kleinen Inseln die große Suche nach Eiern der Wasservögel.
Von Monat Mai bis Mitte September waren sie von allen Nahrungssorgen befreit, denn der Kabeljau erschien an der Küste und außerdem alle möglichen Fische und Schalentiere.
Im September laichten die Aale.
Im Oktober und November begann die Jagd auf Wapitis und Biber.
Im Dezember kam ein Fisch, den sie Ponamo nannten und der unter dem Eis laichte.
Heute kennt man noch die folgenden Monatsnamen:
Die einzelnen Haushalte waren oft größer als die Kernfamilien. Außerdem konnten die Haushalte durch Polygynie und den Brauch des Brautdienstes erweitert werden, bei dem ein junger Mann für zwei oder drei Jahre in die Familie kam, um für seinen zukünftigen Schwiegervater zu arbeiten. In den überlieferten Erzählungen werden häufig Winterjagdgruppen erwähnt, an denen zwei oder mehr erwachsene Männer teilnahmen, denn einige der Jagd- und Fischfangtechniken der Mi’kmaq erforderten die Zusammenarbeit von mehreren Männern. Frauen transportierten das Wild manchmal über große Strecken ins Lager. Sie konnten auch zum Paddeln der Fischerkanus verpflichtet werden. Zum Anpirschen an großes Wild auf Schneeschuhen mit Lanzen oder Pfeilen mit Steinspitzen waren ein oder mehrere Begleiter notwendig. Das galt auch für das Harpunieren von Robben oder das Aufspüren von Bibern in ihren Bauen.
Die Mi’kmaq waren geschickte Kanubauer. Das Kanu bestand aus Birkenrinde, war acht bis zehn Fuß lang (2,45 m – 3,05 m) und außerdem so geräumig, dass ein einzelnes Boot einen vollständigen Haushalt von fünf oder sechs Personen, mit allen ihren Hunden, Säcken, Fellen, Kesseln und anderem schweren Gepäck aufnehmen konnte. Mit einem Kanu, das mit einem Segel bestückt werden konnte, befuhren die Mi’kmaq sogar das offene Meer.
Wie bei den meisten Stämmen im nordöstlichen Waldland änderte sich auch die Mi’kmaq-Kultur nach Ankunft der Europäer mehr oder weniger stark durch europäische Einflüsse, insbesondere durch die Missionare, den Pelzhandel und den französisch-englischen Konflikt.
Ernährung
Außer Fisch und Fleisch aßen die Mi’kmaq verschiedene Arten wilder Wurzeln, Nüsse und eine Anzahl von Beeren, die zerstampft und zu runden Kuchen getrocknet wurden. Der größte Anteil ihrer Nahrung bestand allerdings aus tierischem Fleisch, das frisch oder geräuchert verzehrt wurde. Das Fett wurde vorsichtig von einer heißen Brühe abgeschöpft oder durch Erhitzen auf einem ausgehöhlten Stein gewonnen und danach in Birkenrinde-Behältern oder in tierischen Gallenblasen gelagert. Fische und Aale röstete man an Spießen. Fleisch wurde durch Braten oder durch Kochen in großen hölzernen Wannen zubereitet, die man aus ausgehöhlten Stämmen umgestürzter Bäume fertigte.
Brot kannten sie überhaupt nicht. Wenn sie es von den Franzosen annahmen, zogen sie es vor, das Brot im heißen Sand unterhalb einer Feuerstelle zu backen. Beliebte Tauschobjekte gegen Felle waren Werkzeuge aus Metall und getrocknete Erbsen, Bohnen und Pflaumen.
Waffen, Werkzeuge und Jagdmethoden
Die Mi’kmaq setzten bei der Jagd Speere, Pfeil und Bogen, sowie Fallen und Schlingen ein. Hunde halfen beim Aufspüren von Wild. Tarnkleidung diente zum Anpirschen an Elche, die man während der Brunftzeit durch den imitierten Ruf eines weiblichen Tiers anlockte.
Lachse erlegten die Mi’kmaq mit Speeren, die einen Widerhaken besaßen. Andere Fische, wie Kabeljau, Forelle und Stint fingen sie mit aus Knochen gefertigten Angelhaken oder Netzen. Eine andere Fangmethode waren Wehre, wobei der Fang gleichmäßig unter den Erbauern des Wehrs verteilt wurde.
Das Material für Werkzeuge bestand vor dem Kontakt mit den Europäern aus Holz, Stein, Knochen oder Muscheln, Materialien, die jedoch bald weitgehend durch Metall ersetzt wurden, wie man auch Pfeil und Bogen gegen die Muskete austauschte. Aus Leder und Birkenrinde stellten die Mi’kmaq-Frauen Kübel und Töpfe her, die kunstvoll genäht und mit Stachelschweinborsten verziert wurden. Sie waren auch sehr geschickt im Flechten von Körben aus Fichtenwurzeln.
Wohnkultur
Der konische Wigwam der Mi’kmaq bestand aus einem Holzgerüst, das mit Birkenrinde, Fellen, gewebten Matten und immergrünen Zweigen bedeckt wurde. Er konnte 10 bis 12 Personen Platz bieten und wurde vorwiegend im Winter bewohnt. Für den Sommer gab es einen noch größeren Wigwam für etwa 20 bis 24 Bewohner. In der Mitte befand sich jeweils die Feuerstelle mit einem darüber befindlichen Rauchabzug, und außen an den Wänden wurden Geräte und Zubehör gelagert. Den Boden bedeckte man mit Zweigen, über die zum Schlafen Felle gelegt wurden. Die Winterlager bestanden aus einem oder mehreren Wigwams, die im eigenen Jagdrevier, meist in der Nähe einer zuverlässigen Wasserquelle, errichtet wurden. Notfalls diente auch ein umgekipptes Kanu mit einem kleinen Feuer darunter als Unterschlupf für einige Jäger. Französische Missionare drängten die Mi’kmaq, Kapellen und Kirchen zu errichten und Häuser zu bauen, in denen sie das ganze Jahr über wohnen konnten. Trotzdem hielten viele bis weit ins 19. Jahrhundert an ihrem Nomadenleben fest.
Kleidung und Schmuck
Männer und Frauen der Mi’kmaq kleideten sich ähnlich in fransenverziertes Hirschleder. Männer trugen einen Lendenschurz unter ihrer Oberbekleidung, während die Frauen ihr Gewand mit zwei Gürteln zusammenhielten. Leggings und Mokassins wurden aus Elch- oder Hirschleder gefertigt und hatten Riemen zum Binden aus Leder oder Sehnen. Beide Geschlechter trugen ihr Haar lang. Es gab zwei verschiedene Arten von Schneeschuhen, die eine war groß und für den Gebrauch auf leichtem lockeren Schnee geeignet, während ein anderer kleinerer Typ auf festem, harten Schnee eingesetzt wurde. Zur Zeit des ersten Kontaktes mit Europäern gingen beide Geschlechter barhäuptig, aber schon wenig später übernahmen sie Mützen aus Fell und Rinde, an denen man Geschlecht und Rang erkennen konnte. Die traditionelle hohe und spitze Mütze der Frauen aus dunkelblauem, mit Perlen besetztem und besticktem Tuch kam erst viel später in Mode.
Lebenszyklus
Geburt
Die Mi’kmaq-Frau verließ bei der Geburt ihres Kindes den Wigwam und kniete sich nieder, wobei sie nur von einigen älteren Frauen unterstützt wurde. Das Neugeborene wurde in kaltem fließendem Wasser gewaschen, musste Bären- oder Robbenfett schlucken und wurde auf ein verziertes Wiegenbrett gebunden. Die Mutter stillte ihr Kind bis zum Alter von drei Jahren, und die erste feste Nahrung wurde von den Eltern vorgekaut. Solange das Kind gestillt wurde, verhinderte oder beendete die Mutter eine weitere Schwangerschaft.
Kindheit und Jugend
Kinder wurden frühzeitig dazu erzogen, ihren Eltern und alten Leuten mit Respekt zu begegnen. Sie lernten durch Nachahmen, bei Fehlern wurden sie ermahnt aber niemals geschlagen, sondern bekamen viel Zuneigung und Liebe. Bei Jungen veranstaltete man zum Beispiel kleine Zeremonien, wenn der erste Zahn durchbrach, er seinen ersten Schritt machte oder sein erstes kleines Wild erlegte. Wenn er seinen ersten Elch getötet hatte, wurde er zum Mann. Kleine Mädchen halfen ihrer Mutter im Haushalt, beim Aufbau des Wigwams, Sammeln des Feuerholzes, beim Kochen und beim Anfertigen der Kleidung.
Brautdienst, Hochzeit und Ehe
Wenn ein junger Mann heiraten wollte, hatte er im Wigwam des zukünftigen Schwiegervaters den Brautdienst abzuleisten. Dieser dauerte etwa zwei Jahre, in denen er unter Anleitung des älteren Mannes arbeiten, jagen und seine Geschicklichkeit unter Beweis stellen musste. Während dieser Zeit waren sexuelle Beziehungen zur Verlobten streng verboten. War die Probezeit zu Ende, hatte er für genügend Wildbret für das Hochzeitsmahl zu sorgen. Am Hochzeitstag wurden vom Schamanen und älteren Familienmitgliedern lange Reden an das Brautpaar gehalten, und mit Tänzen endete das Fest.
Arrangierte Ehen, also von ihren Familien bestimmte Ehepartner, waren noch im 19. Jahrhundert üblich. Die katholischen Missionare betonen die damalige Tugendhaftigkeit der Mi’kmaq-Frauen und beklagen aber die Korruption durch den Branntweinhandel und die eher gleichgültige Haltung der Indianer gegenüber der Ehescheidung. Die Geburt unehelicher Kinder wurde nicht als Makel, sondern vielmehr als Zeichen von Fruchtbarkeit angesehen. Zumeist übernahm die lokale Gruppe die Verantwortung für Vollwaisen. Der Häuptling brachte sie im Haushalt eines guten Jägers unter. Die zweite Heirat eines Mannes oder einer Frau wurde selten mit einem öffentlichen Fest gefeiert.
Lebensende und Begräbnis
Ältere wurden hoch geachtet, und man suchte ihren Rat bei Versammlungen. Einige Quellen berichten über fürsorgliche Pflege der alten Eltern, aus anderen allerdings ist zu entnehmen, dass alte Leute auch dem Tode preisgegeben wurden, wenn sie nicht die Wanderungen ihrer Familie mitmachen konnten. Bekannt ist auch, dass es beim Sterben einer Person wenig Anstrengungen gab, sie am Leben zu halten. Einige alte Männer hatten Spaß daran, ihr eigenes Begräbnisfest vorzubereiten. Wenn ein Schamane eine Krankheit diagnostizierte, die zum Tode führte, bekam der Kranke nichts mehr zu essen und es wurde kaltes Wasser auf seinen Nabel geschüttet, um sein Ableben zu beschleunigen.
Gab es einen Todesfall in der Familie, so schwärzten sich die Trauernden ihre Gesichter und die Totenklage dauerte drei Tage lang. Es wurden Boten ausgesandt, um Verwandte und Freunde in anderen Dörfern zu benachrichtigen. Am dritten Tag der Trauer wurde ein Festessen veranstaltet. Dann folgte die Beerdigung und jeder Gast beteiligte sich an den Grabbeigaben. Es gab bei den Mi’kmaq Begräbnisse auf unbewohnten Inseln, wo der Leichnam in Birkenrinde gehüllt und in sitzender Position mit allen Waffen, Hunden und persönlicher Habe beerdigt wurde. Ein Jahr lang trugen die Trauernden ihr Haar kurz geschnitten, und Witwen war es nicht gestattet, in dieser Zeit wieder zu heiraten. War jedoch die vorgeschriebene Zeit vorüber, wurden die Trauernden darin bestärkt, ihren Kummer zu vergessen.
Religion und Mythologie
Die ursprüngliche ethnische Religion, die Mythologie und auch die Wertvorstellungen der Mi’kmaq ähnelten den anderen Algonkin-Religionen. Demnach war ihr Glaube animistisch, sie gingen davon aus, dass alle natürlichen Dinge beseelt und von Geistern bewohnt seien. Der angebetete Schöpfergott war Khimintu (Kitchi Manitu) – die Weltseele und Summe der allumfassenden, göttlichen Kraft Mintu. Mit der Christianisierung bekam diese Kraft die Rolle des Teufels zugeschrieben. Weniger Wandlung erfuhr der wichtige, menschengestaltige Kulturheros Gluskap, der jedoch nur Gegenstand der Mythologie war und nicht religiös verehrt wurde, auch wenn er dort als Schöpfer galt.
Eine zentrale Rolle bei der Bewahrung der Religion kam den Medizinmännern und -frauen (Puoin) zu, Magiere und Vermittler zur „Geisterwelt“, die Krankheiten heilten und mit den Geistern kommunizieren konnten.
Seit der erfolgreichen Mission, die im 17. Jahrhundert begann, hat der Katholizismus die alte Religion vollständig ersetzt. Sie wird jedoch flankiert von einigen der alten Mythen und Vorstellungen, die unter dem Deckmantel des Christentums wenigstens mitschwingen. Nach den laufenden Erhebungen des evangelikal-fundamentalistisch ausgerichteten Bekehrungsnetzwerkes Joshua Project bekennen sich noch rund acht Prozent der Micmac zur ethnischen Religion.
Tabus
Die Mi’kmaq kannten zwar keine absoluten Tabus, doch sie mieden das Fleisch von bestimmten Tieren, wie zum Beispiel Schlangen, Amphibien und Stinktieren. Es gab Menstrual-Tabus, so durften Frauen nicht über die Beine von Jägern oder deren Waffen schreiten. Erlegtes Wild wurde respektvoll behandelt, Biberknochen wurden zum Beispiel niemals den Hunden gegeben oder in den Fluss geworfen. Auch getötete Bären behandelte man mit besonderem Respekt. Die Mi’kmaq glaubten, dass sich bestimmte Tiere in andere Arten verwandeln konnten. Von alten Elchen wurde erzählt, sie zögen ins Meer und verwandelten sich in Wale.
Gluskap
Gluskap veränderte auf seinen Reisen die Landschaft. Er gab den Tieren ihre heutige Gestalt, zum Beispiel gab er dem Biber seinen Schwanz und dem Frosch seine Stimme. Gluskap war ein mächtiger Krieger, der die Mi’kmaq wichtige Fertigkeiten lehrte und die Zukunft vorhersagte. Er ist fortgegangen, aber er wird zurückkehren, um den Mi’kmaq in der Stunde der Not beizustehen. Obwohl er seine Hauptrolle in der Legende als Zauberer und Verwandler spielt, erscheint er in manchen Geschichten zusammen mit europäischen oder christlichen Erzähl-Elementen.
Kinap
Kinap hatte übernatürliche Kräfte und vollbrachte wunderbare mächtige Taten zur großen Überraschung von anderen Stämmen, die ihn verspottet hatten. Der Kinap nutzte seine Macht aber nur für gute Taten, schlimmstenfalls für Streiche.
Puwowin
Bedrohlicher war der Puwowin, ein Hexer, der mit magischen Sprüchen oder Zaubertränken arbeitete.
Der Puwowin war der legendäre Nachkomme eines Medizinmannes aus dem 17. Jahrhundert namens Bohinne. Auch heute glauben manche Mi’kmaq an Puwowin. Wie sein altes Vorbild ist der moderne Puwowin fähig, die Zukunft vorherzusagen, auf dem Wasser zu gehen und einzelne Personen oder ganze Siedlungen vor bösen Ereignissen zu bewahren. Es gibt weiterhin eine Menge Aberglauben über die Kraft des Puwowin. Er kann einer Person aus der Ferne mit einem bösen Wunsch Schaden zufügen, zum Beispiel eine Krankheit, einen Unfall oder sogar einen größeren Schicksalsschlag. Man kann europäische Elemente in den meisten Puwowin-Erzählungen finden, aber diese sind immer an den indianischen Blickwinkel angepasst.
Sketekemuc und andere
Die Mi’kmaq fürchten den Sketekemuc, ein gespenstähnliches Wesen, das den nahenden Tod ankündigt. Zur gleichen Kategorie gehören außerdem die Mikemuwesu und die Pukeletemuc, zwergenähnliche Wesen, die sich kleiden und leben wie die Indianer in alten Zeiten, nur Fleisch von Wild essen und jemandem nützen oder ihn schädigen können. Neuerdings haben sie einige Züge der französisch-kanadischen Lutins angenommen, indem sie Streiche um das Haus oder die Scheune herum spielen und Pferde reiten, die sie mit eng geflochtener Mähne und Schwanz zurücklassen. In diesem Falle werden die Geister mit Weihwasser oder Palmwedeln vom Palmsonntag beschworen. Weitere mythologische Figuren, die nach wie vor eine Rolle spielen, sind Kukwes, ein riesiger Kannibale, Wiklatmuj, kleine Waldmenschen und Jenu, nördliche Eisriesen.
Wertesystem
Die Mi’kmaq glaubten an einen Großen Geist, einen Schöpfer, der dem Glauben vieler anderer Algonkin-Stämme entsprach. Die französischen Jesuiten-Missionare gebrauchten den Mi’kmaq-Namen Mintu oder Mntu, um den Teufel zu bezeichnen (→ Mntu als Teufel bei den Mi’kmaq), und wählten für den christlichen Gott das Wort Niskam, was so viel wie Allergrößter, Herr bedeutet. Die Mi’kmaq unterschieden sich jedoch von den anderen Algonkin durch ihre Identifikation des Schöpfers mit der Sonne. Mehrere Quellen bestätigen diese zweimal-tägliche Sonnenverehrung, bei der man zum Beispiel eine große Menge gesammelter Pelze als Opfergabe für die Sonne verbrannte. Es ist heute kaum möglich, die Weltanschauung der Mi’kmaq in ihrer Gesamtheit aus historischen Quellen zu rekonstruieren, aber es gibt einige generelle Leitlinien, die im Gedankengut der Mi’kmaq fortbestehen.
Leitlinien der Mi’kmaq
Leben gibt es überall – sichtbar und unsichtbar, unter dem Erdboden und unter dem Meer. Unterschiedliche Lebensformen können sich in andere verwandeln. Einige Tierarten und einige Leute sind nicht das, was sie zu sein scheinen.
Die Vorfahren waren große Jäger – stark, würdevoll und gesund. Sie waren gerecht, großzügig und mutig. Ihr Verhalten sollte ein Vorbild für ihre Nachfahren sein.
Indianer haben Kräfte, die sich von denen der Nichtindianer unterscheiden. Sie können übernatürliche Helfer haben, die ihnen Botschaften oder Geschenke zukommen lassen. Einige besitzen Indianerglück oder Keskamizit, das sie in Lage versetzt, Dinge schnell und mit großer Zuverlässigkeit zu tun, zu finden oder auszuführen.
Menschen sind gleich – oder sollten es sein. Niemand sollte sich über den anderen stellen, obwohl die Häuptlinge mit außergewöhnlichen Fähigkeiten, mit Großherzigkeit, Mut, Anständigkeit und mit Führungsaufgaben ausgestattet sein sollten.
Maßhalten ist zumeist besser als Unmäßigkeit. Zu viel von jedem kann schädlich sein; jeder aber sollte sich gelegentlich aus Zwängen befreien und ungewöhnliche Dinge tun.
Diese Leitlinien spielen aber bei den Mi’kmaq weiterhin eine wichtige Rolle, um sich den verändernden Bedingungen der Gegenwart anzupassen.
Geschichte
16. Jahrhundert
Die Mi’kmaq waren vermutlich neben den Beothuk die ersten Ureinwohner Nordamerikas, die Kontakt zu Europäern hatten. Der erste Bericht über sie stammt von John Cabot, der 1497 drei Mi’kmaq nach England brachte. Ab 1501 hatten die Mi’kmaq regelmäßigen Kontakt mit spanischen, französischen, britischen und irischen Fischern, die die kanadische Küste jeden Sommer aufsuchten. Ab 1519 begann der Pelzhandel und die Mi’kmaq zeigten großes Interesse für verschiedene europäische Handelsgüter, besonders für Metallwaren, wie Messer, Äxte und Kessel.
Als der französische Entdecker Jacques Cartier 1534 in Baie des Chaleurs ankerte, wurde sein Schiff von einer großen Anzahl Mi’kmaq-Kanus umringt, deren Insassen mit Biberpelzen winkten. Um 1578 zählte man jeden Sommer nahezu 400 Fischerboote an der kanadischen Ostküste. Obwohl es zu dieser Zeit noch keine Siedlungen der Europäer gab, wurden die Mi’kmaq in den Jahren 1564, 1570 und 1586 von ihnen bislang unbekannten Krankheiten heimgesucht. Die ersten Siedlungsversuche der Europäer scheiterten an Hungersnöten und bitterer Kälte. Inzwischen hatte der Handel mit Mi’kmaq-Pelzen in Frankreich eine neue Mode kreiert. Wer Geld hatte, leistete sich einen Biberhaarhut und die neue Mode verbreitete sich rasch über ganz Europa. Der Preis für Biberfelle stieg und französische Händler erkannten ihre Chance für gute Geschäfte. Die Niederlage der spanischen Armada gegen die englische Flotte im Jahr 1588 war ein wichtiges Ereignis, weil die Spanier nun nicht mehr in der Lage waren, die anderen Europäer aus der Neuen Welt zu vertreiben.
17. und 18. Jahrhundert
Im Jahr 1604 errichtete Samuel de Champlain an der Mündung des St. Croix River die erste französische Siedlung. Damit begann die französische Periode in Nordamerika, die von etwa 1600 bis 1763 dauern sollte. Die Kultur der Mi’kmaq wurde in der französischen Periode stark beeinflusst. Die wesentlichsten Veränderungen entstanden durch den Pelzhandel und ihre Beteiligung am Konflikt zwischen Franzosen und Engländern.
Im Jahr 1607 kam es zum Krieg zwischen den Penobscot unter ihrem Sagamore Bashabes und den Mi’kmaq. Rivalität zwischen den Stämmen über die Vorherrschaft im Pelzhandel mit den Franzosen in Port Royal bestand schon seit längerer Zeit. Der bewaffnete Konflikt, der unter dem Begriff Tarrantiner-Krieg bekannt wurde, dauerte acht Jahre und endete 1615 mit dem Tod von Bashabes. In den folgenden Jahren wurden die Mi’kmaq von einer verheerenden Epidemie heimgesucht, so dass 1620 von ehemals geschätzten 10.000 Angehörigen nur noch 4.000 überlebten. 150 Jahre lang waren die Mi’kmaq nun in eine Serie von Kriegen zwischen Frankreich und England verwickelt, in denen sie stets auf der Seite Frankreichs kämpften.
Nach der Niederlage der Franzosen im Franzosen- und Indianerkrieg (1756–1763) hatten die Mi’kmaq nur eine kurze Atempause, bevor die britischen Kolonisten kamen. Nicht alle Mi’kmaq schlossen 1761 Frieden mit den Briten, und es kam wiederholt zu feindlichen Zusammenstößen bis zum Jahr 1779. Im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg hielten die Mi’kmaq zu den Amerikanern, in der Hoffnung, diese würden siegen und die Franzosen wieder die Herrschaft in Kanada übernehmen. Nach Ende des Krieges wurde englischen Loyalisten, deren Leben in Neuengland unerträglich geworden war, Land in den maritimen kanadischen Provinzen bewilligt. 1783 verließen 14.000 britische Loyalisten die jungen Vereinigten Staaten, um in Neubraunschweig zu siedeln.
Die britischen Gouverneure errichteten Indianerreservate. Häuptlinge wurden weiterhin auf Lebensdauer gewählt, aber die Auswahl wurde von den Priestern beeinflusst und von nichtindianischen Offiziellen bestätigt. Das Land, das man zum Nutzen und Wohl einer Gruppe von Indianern reserviert hatte, wurde oft später zugunsten von Nicht-Indianern beschnitten, die Quellen oder Wasserrechte für kommerzielle Zwecke brauchten. In den Kolonial- und Provinzarchiven dieser Zeit bleibt eine Menge zu forschen. Die Bemühungen der englischen Kolonisten hatten nur das eine Ziel, den Pelzhandel zu kontrollieren, dessen Monopol die Franzosen für so lange Zeit besessen hatten.
Als das Land der Indianer immer kleiner wurde und die Zahl der pelztragenden Tiere abnahm, wurden die Mi’kmaq nach und nach halbsesshaft; die Frauen und Kinder blieben in den Siedlungen, während die Männer periodisch außerhalb arbeiteten oder im Reservat lebten, wo sie Körbe und handwerkliche Holzgegenstände herstellten und Sozialhilfe von der Kolonialregierung erhielten. Einige Männer arbeiteten weiterhin als Fallensteller, aber die meisten verdingten sich als Holzarbeiter, Jagdführer und kommerzielle Fischer, wo sie zumindest etwas von ihrer traditionellen Erfahrung und ihrem Geschick einsetzen konnten.
19. Jahrhundert
Mitte des 19. Jahrhunderts wurden in den maritimen kanadischen Provinzen Segelschiffe, Straßen und Sägewerke gebaut. Auch viele Mi’kmaq-Männer fanden hier Arbeit, obwohl sie häufig von dauerhaften Jobs bei Sägewerken und im Straßenbau ausgeschlossen wurden. Als angelernte Arbeiter arbeiteten sie in saisonalen oder periodischen Jobs, die kein anderer für diesen Lohn annahm, und gerieten nach und nach in ein ländliches Proletariat. Über mehrere Generationen hinweg jagten die Mi’kmaq Delfine in der Straße von Canso und der Fundybucht. Als aber Petroleum das Delfin-Öl beim industriellen Bedarf ersetzte, war die Jagd beendet. Die Indianer beteiligten sich als Wanderarbeiter beim kommerziellen Kartoffelanbau in Maine und Neubraunschweig. Einige arbeiteten in Neuengland als Arbeiter in Holzfällerlagern, beim Hausbau oder in der Industrie, doch die meisten kamen regelmäßig wegen Arbeitslosigkeit in die Reservate zurück.
20. Jahrhundert
Anfang des 20. Jahrhunderts waren die meisten Mi’kmaq auf etwa 60 Reservate verteilt. In einigen lebten mehrere Hundert und in anderen nicht mehr als ein Dutzend indianische Bewohner. Das größte Reservat war Restigouche, laut Volkszählung von 1910 mit 506 Indianern bevölkert. Hier gab es ein Kapuziner-Mönchskloster, in dem Pater Pacifique lebte und arbeitete, und in der Klosterschule der Schwestern vom Heiligen Rosenkranz konnte man die Mi’kmaq-Sprache lernen.
Um 1920 begannen in den Reservaten politische, erzieherische und wirtschaftliche Veränderungen. Allmählich führten die Behörden eine bessere medizinische Versorgung ein, die zu einem rapiden Bevölkerungswachstum bei den Mi’kmaq beitrug, so dass sich ihre Zahl bis 1970 nahezu verdoppelte. Vom Ende des Ersten Weltkrieges bis 1942 war der Indianeragent in Restigouche ein Arzt. Der Einfluss der nach den Bestimmungen des Federal Indian Act für zwei bzw. drei Jahre gewählten Häuptlinge und Ratsmitglieder war gering, so dass die meiste Verantwortung für die Reservatsverwaltung beim Indianeragenten und dem Bureau of Indian Affairs (BIA) lag.
Die neu eröffneten Schulen in den Reservaten wurden nur unregelmäßig besucht, aber allmählich erlernten Jungen wie Mädchen die Grundzüge von Rechnen und Schreiben.
Den Ersten Weltkrieg erlebten viele junge Mi’kmaq in der kanadischen Armee und kamen so erstmals in Kontakt mit Indianern aus anderen Provinzen Kanadas. Die Kriegswirtschaft sorgte für Jobs und auch der Sport war bei jungen Männern der Mi’kmaq populär. So wurden Eishockey und Baseball der Nationalsport des Stammes. Aber die Weltwirtschaftskrise brachte das Ende mancher Hoffnung und führte in den 1930er Jahren besonders bei den Mi’kmaq zu großer Arbeitslosigkeit. Es waren öffentliche Gelder notwendig, um eine Hungersnot abzuwenden.
Der Zweite Weltkrieg brachte einen kurzlebigen Wohlstand und man bot den heimkehrenden Mi’kmaq-Veteranen Hilfe beim Bau oder bei der Renovierung ihrer Häuser an. In den folgenden Jahren kamen außer der Elektrifizierung auch Rundfunk und Fernsehen in die Reservate. Dazu wurden öffentliche Programme aufgelegt, die das Erscheinungsbild der Reservate modernisieren sollten. Neue Schulen und Transportmöglichkeiten ermöglichten es den jungen Mi’kmaq, sich besser auf das Studium oder den Beruf vorzubereiten. Trotzdem stieg die Zahl der arbeitslosen Indianer und viele Mi’kmaq wurden diskriminiert, so dass sie nur durch Regierungsprogramme geförderte Arbeit finden konnten. Es kann nicht überraschen, dass damit die Kriminalitätsrate und der Alkoholismus unter den Indianern anstiegen.
Ende der 1940er Jahre sollten die Mi’kmaq im Rahmen eines Zentralisierungsprogramms die mehrere Dutzend zählenden kleinen Reservate verlassen, um in größere Siedlungen nach Shubenacadie in Zentral-Neuschottland und Eskasoni auf Cape Breton Island umzusiedeln. Ihnen wurden neue Häuser und bessere Ausbildungs- und Verdienstaussichten angeboten. Es stellte sich jedoch schnell heraus, dass in diesen Regionen kaum genügend Arbeitsplätze vorhanden waren. Im Jahr 1951 wurde ein überarbeitetes Indianer-Gesetz erlassen, mit dem die Stammesräte erweitert wurden und mehr Einfluss auf die eigenen Angelegenheiten nehmen konnten. Dies war Teil einer generellen Politik, welche die Reservate auf mehr Selbstbestimmung vorbereiten sollte.
Heutige Situation
In den 1960er Jahren führten die Bemühungen endlich zum Erfolg, die Mi’kmaq durch Weiterbildungsmaßnahmen zu fördern. Viele Angehörige fanden einen neuen Beruf, der gut bezahlt wurde und in dem sie auch erwünscht waren. Sie arbeiteten beim Bau von Wolkenkratzern, wie schon die Mohawk in den 1930er Jahren. Um 1970 hatte mindestens ein Drittel aller arbeitenden Männer in Restigouche beim Bau von Wolkenkratzern in Boston gearbeitet. Diese gefährliche Arbeit in großer Höhe war deshalb so beliebt bei den Indianern, weil sie mit ihren Wertvorstellungen vereinbar war und gut bezahlt wurde. Auch Mi’kmaq-Frauen erlernten neue Fertigkeiten. Die staatlich geförderte Berufsausbildung ermöglichten vielen, sich als Krankenschwestern, Lehrerinnen, Sekretärinnen oder Sozialarbeiterinnen zu qualifizieren. Die kanadische Regierung unterstützte das Reservat Glooscap (Nova Scotia) 2009 mit umgerechnet 680.000 Euro.
Tatsächlich zeichnet sich heute (2008) kein Mi’kmaq-Reservat durch besonderen und sichtbaren Wohlstand aus, doch damit unterscheidet sich die Situation nicht wesentlich von benachbarten nichtindianischen Gemeinden vergleichbarer Größe. Die Indianer-Häuser sehen gleichförmig aus und die kleinen Gärten sind ungepflegt. Viele alte Hütten hat man stehen gelassen, und bei der ständigen Fluktuation der Bevölkerung zwischen den Reservaten und Städten gibt es viele freie Wohnungen. In allen größeren Reservaten gibt es Elektrizität, obwohl einige Indianer an ihrer alten Kerosin-Lampe festhalten. Gute Straßen sind selten, die Provinzial-Regierung will sie nicht instand halten und die Bundesbürokratie reagiert sehr langsam auf Missstände.
So sieht heute ein typisches Mi’kmaq-Reservat aus: eine Hauptstraße, eine Kirche, eine Schule, ein Gemeinde-Zentrum, ein Agenturgebäude oder ein Stammes-Regierungsbüro, eine Veteranen-Halle, Lebensmittelläden, ein Wasserleitungs- und ein Kanalsystem. In den Reservaten gibt es beträchtliche Unterschiede bei den Bewohnern in Bezug auf Sprache, Bildung und Religiosität. Bis zum 20. Jahrhundert war die Mi’kmaq-Sprache ein verbindliches Kennzeichen der ethnischen Identität. Aber es gibt nur sehr wenige Leute, die noch ausschließlich Micmac sprechen und der Anteil der Nichtsprecher wächst ständig. In einigen Reservaten lernen alle Personen unter 20 Jahren Englisch als erste Sprache. In Restigouche ist die Stammessprache zwar noch die wichtigste Sprache für die jungen Leute, aber auch dort werden Fernsehen und englischsprachige Schulen bald die Sprachfähigkeiten der jungen Generation einschränken.
Zu Beginn der 1960er Jahre baute die Bundesregierung Schulen in den Reservaten. So fand man in der Reservatsschule in Restigouche, die von katholischen Schwestern und weltlichen Lehrern geführt wurde, auch Klassen für nichtindianische Kinder aus den benachbarten Gemeinden, von denen viele nur Französisch sprachen. Die meisten Mi’kmaq sind noch immer römisch-katholisch und die höheren Feiertage werden mit angemessenen Zeremonien begangen, besonders der Tag der Schutzpatronin Saint Anne am 26. Juli. Doch Säkularisation und Tourismus haben sogar diesen Micmac-Nationalfeiertag beeinflusst, und manche der jungen Leute stehen der Kirche heute kritisch gegenüber.
Politische Organisation und Repräsentation der Mi’kmaq in Kanada und den USA
First Nations der Mi’kmaq
Heute (Stand: März 2013) gibt es mehrere First Nations der Mi’kmaq in Kanada sowie einen auf Bundesebene anerkannten Stamm (federally recognized tribe) in den USA, die sich unter Berücksichtigung der historischen sieben (später acht) Distrikte den folgenden Stammesgruppen zurechnen lassen:
Segepenegatig (Distrikt: Sipekne'katik, Sipeknékatikik – mittleres Nova Scotia)
Millbrook First Nation, Wékopekwitk, We'kopekwitk oder Wagobagitik – "End of the Water's Flow", verballhornt durch Akadier zu Cobequid. Es bezeichnet die Region rund um die gleichnamige Cobequid Bay sowie um den Verwaltungssitz, die heutige Stadt Truro, südlich des Salmon River im Colchester County. Reservate: Millbrook #27 (8 km östlich von Truro), Beaver Lake #17 (78,4 km südöstlich von Kjipuktuk- „Großer Hafen“, d. h. Halifax, Sheet Harbour #36 (91,2 km nordöstlich von Halifax), Truro #27A (grenzt an die südliche Stadtgrenze von Truro), Truro #27B, Truro #27C, Cole Harbour #30 (9,6 km östlich von Halifax). Die Population beträgt 1.345 Personen.
Shubenacadie First Nation, früher auch als L'nu Si'puk (Indian Brook First Nation) bekannt, Sipekníkatik oder Sipeknékatikik – „wild potato area“. Shubenacadie ist die zweitgrößte First Nation in Nova Scotia und liegt ca. 48 km südlich von Truro mit dem Verwaltungssitz in Shubenacadie, Nova Scotia. Reservate: Shubenacadie #13 (32 km nördlich von Halifax), Indian Brook #14 (29 km südwestlich von Truro), Pennal #19 (67 km nordwestlich von Halifax) und New Ross #20 (64 km nordwestlich von Halifax). Die Population beträgt 2.502 Personen.
Annapolis Valley First Nation. Kampalijek, die Reservate der First Nation liegen im Annapolis Valley im Südwesten von Nova Scotia, lebten entlang des Annapolis River (Taooopskik – „the river runs out between rocks“), erste Sprache ist Canadian English, Verwaltungssitz: Cambridge Station, King's County, Nova Scotia, Reservate: Cambridge #32 (88 km nordwestlich von Halifax), St. Croix #34 (46,4 km nordwestlich von Halifax), mehr als die Hälfte der Stammesmitglieder leben außerhalb der Reservate, Population: 270)
Glooscap First Nation (benannt nach dem Kulturheros Gluskap (Glooscap), Pesikitk – „place where meat is sliced and dried“, bis 2001 als Horton First Nation bekannt, ihr Reservat befindet sich im Annapolis Valley, Verwaltungssitz: Hantsport, Nova Scotia, schon gegen 1800 wurde ihnen Land zugewiesen, als zudem 1880 die Annapolis Valley First Nation gebildet wurde, gab es 160 Mi’kmaq in zwei – ca. 30 km entfernte – Siedlungen (eine nahe Hantsport, die andere nahe Berwick); bald jedoch fühlten sich diejenigen nahe Hantsport (heutige Glooscap 1st Nation) benachteiligt, so dass sich im Juni 1984 die beiden Gemeinden trennten, und die Glooscap First Nation wurde die dreizehnte Mi'kmaw Band in Nova Scotia, Reservat: Glooscap #35 (68,8 km nordwestlich von Halifax), Verwaltungssitz: Hantsport, Nova Scotia, Population (2008): 304)
Esgigeoag (auch Esgigiag, Distrikt: Eskikewa'kik, Eskíkeawag, Esge’gewa’gi – Osten von Nova Scotia)
Paqtnkek Mi’kmaw Nation (Paq'tnkek oder Paqtnkek – „an der Bucht“, vormals auch als Afton Mi’kmaq First Nation bekannt, liegt die First Nation im Antigonish County 24 km östlich von Antigonish im Nordosten von Nova Scotia, Verwaltungssitz: Afton Station, Antigonish County, Nova Scotia, Reservate: Pomquet – Paq'tnkek #23 (24 km östlich von Antigonish), Franklin Manor #22 (32 km südwestlich von Amherst), Summerside #38 (18 km östlich von Antigonish), Population: 552)
Gespopoitnag (auch Gespogoitg, Distrikt: Kespukwitk – Westen von Nova Scotia sowie Teile des angrenzenden US-Bundesstaates Maine, wurden von den Franzosen als Souriquois – „salt water men“ bezeichnet)
Acadia First Nation (Malikiaq, Verwaltungssitz: Yarmouth, Nova Scotia, Reservate: Gold River #21 (60,8 km westlich von Halifax), Medway #11 (108,8 km südwestlich von Halifax), Ponhook Lake #10 (115,2 km südwestlich von Halifax), Wildcat #12 (111 km südwestlich von Halifax), Yarmouth #33 (3,2 km östlich von Yarmouth), 90 % der Stammesmitglieder leben außerhalb der Reservate, Population: 1.452)
Aroostook Band of Micmacs (Ulustuk, abgel. von W’alustuk (Welàstekw oder Wolastoq – „schöner oder glänzender Fluss“), dem Maliseet-Namen für den Saint John River, diese nannten sich daher auch W'olastiquiyik (Welastekwíyek – „Volk am schönen (glänzenden) Fluss“), wurden im November 1991 offiziell als einzige Gruppe der Mi’kmaq auf Bundesebene als Stamm von den USA (Pastunkeywa'kik/Pastung oder Bostoonkawaach/Bostoon genannt, abgel. von Boston) anerkannt (als sog. federally recognized tribe), die meisten Stammesmitglieder leben in den heutigen Städten Caribou, Houlton, Presque Isle sowie anderen Gemeinden im Nordosten von Maine, da der Stamm zwar über weit verstreute Parzellen von Land verfügt, jedoch keine eigene Reservation hat, Verwaltungssitz: Presque Isle, Aroostook County, Maine, USA, Population: ca. 1.100)
Bear River First Nation (L'setkuk, L'sitkuk, Ls'tgug, sprich: ‚elsetkook‘ – „flowing along by high rocks“ oder „water that cuts through“ ist die Bezeichnung für den Bear River (oder Elsetkook), früher auch als L’sitkuk band oder manchmal als Muin Sipu bekannt, heute vermehrt auch L’setkuk First Nation, befindet sie sich im Annapolis Valley zwischen den Städten Annapolis Royal und Digby, früher war L'sitkuk auf Grund seiner strategischen Lage – alte Wasserhandelsrouten verbanden die Atlantikküste mit dem Inland –, ein zentraler Sammel- und Handelsplatz für die Mi’kmaq, zudem war er auch ein bedeutender Treffpunkt der Wabanaki-Konföderation, einer politisch-kulturellen Allianz zwischen den Penobscot (Penawapskewi), Passamaquoddy (Pestomuhkati), Maliseet (Wolastoqiyik), Abenaki und Mi’kmaq, Reservate: Verwaltungssitz: Bear River, N.S, Reservate: Bear River #6 (17,6 km südöstlich von Digby), Bear River #6A (9,6 km südöstlich von Annapolis Royal), Bear River #6B (6, 4 km südöstlich von Annapolis Royal), Population: 322)
Piktuk aqq Epekwitk (auch als Epegwitg aq Pigtug bekannt)
Pigtogeog (auch Pigtog, Distrikt: Piwktuk, Piktukewaq – Pictou County im Nordosten von Nova Scotia gegenüber von Prince Edward Island)
Pictou Landing First Nation (Puksaqtéknékatik, Puksaqte'kne'katik, leben nahe Pictou (Piktuk – „explodierendes Gas“), am Südufer der Northumberlandstraße in Pictou County, Nova Scotia. Reservate: Fisher's Grant #24 (9,6 km nördlich von New Glasgow), Fisher's Grant #24G (3,2 km südöstlich von Pictou Landing), Boat Harbour #37 (8 km nördlich von New Glasgow), Merigomish Harbour #31 (12,8 km östlich von New Glasgow), Franklin Manor #22 (32 km südöstlich von Amherst, teilen dies mit der Paqtnkek Mi'kmaw Nation), Verwaltungssitz: Trenton, Nova Scotia, Population: 636)
Epegoitnag (auch Epeggoitg, Distrikt: Epelwik, Epekwitk – Prince Edward Island)
Lennox Island First Nation (L'nui Mnikuk, Reservat: Lennox Island (24 km nördlich von Summerside, P.E.I.), Verwaltungssitz: Lennox Island Island, P.E.I, Population: 700 (hiervon ca. 437 im Reservat))
Abegweit First Nation (Epekwitk, Verwaltungssitz: Scotchfort, P.E.I., Reservate: Morell #2 (38,4 km nordöstlich von Charlottetown), Rocky Point #3 (südlich des Hafens von Charlottetown, P.E.I.), Scotchfort #4 (24 km nordöstlich von Charlottetown), Population: 396)
Onamag (auch Onamagig, Distrikt: Wunama'kik, Unamákik, Unamáki, Oonamaagik – Cape Breton Island)
Waycobah First Nation (Wékoqmáq, We'koqma'q – „head of the waters“, die First Nation liegt auf Cape Breton Island, benachbart zum Dorf Whycocomagh, am Westufer des Bras d’Or Lake, Nova Scotia, Verwaltungssitz: Whycocomagh, Nova Scotia, Reservate: Whycocomagh #2 (70,4 km westlich von Sydney), We'koqma'q (20 % des IR Malagawatch #4, 62,4 km südwestlich von Sydney), Population: 961)
Wagmatcook First Nation (Wagmitkuk, Waqam'tgug, Wagmatcook – „clean wave“ oder „where water flows clean“, ein Verweis auf den Wagmatcook River (auch als „Middle River“ bezeichnet) und den Bras D'Or Lake, die First Nation befindet sich ca. neun km südwestlich von Baddeck, das am Westufer des Bras d'Or Lake liegt, im Zentrum von Cape Breton Island und ist vielleicht die älteste dauerhafte Mi’kmaq-Siedlung in Nova Scotia, Verwaltungssitz: Wagmatcook, N.S, Reservate: Wagmatcook #1 (51,2 km westlich von Sydney), Margaree #25 (68,8 km nordwestlich von Sydney), Malagawatch #4 (wird von 5 First Nations geteilt, daher je 20 %, 62,4 km südwestlich von Sydney), Population: 782)
Eskasoni First Nation (Eskisoqnik oder We'kwistoqnik – „where the fir trees are plentiful“, Verwaltungssitz: Eskasoni, Nova Scotia, die First Nation liegt entlang des Ufers des Bras d'Or Lakes im Osten von Cape Breton Island, Eskasoni First Nation stellt die größte Gruppe von aktiven Mi’kmaq-Sprechern, Reservate: Eskasoni #3, Eskasoni #3A (beide 40 km südwestlich von Sydney), Malagawatch #4 (20 % des Reservats, 62,4 km südwestlich von Sydney), Population: 4.163)
Membertou First Nation (benannt nach dem Grand Chief Maupeltuk (besser bekannt als Membertou, 1510–1611), die First Nation befindet sich nur 3 km vom Stadtzentrum des Verwaltungssitzes Sydney, Nova Scotia, entfernt, jedoch innerhalb der Stadtgrenze, Membertou ist somit eine sog. urban First Nation community (städtische First Nation), bis 1916 befand sich das Reservat (offiziell: Kings Road Reserve) direkt an der Kings Road am Hafen von Sydney, Verwaltungssitz: Sydney, NS, Reservate: Membertou #28B (1,6 km südlich von Sydney), Caribou Marsh #29 (8 km südwestlich von Sydney), Sydney #28A (1,6 km nordöstlich von Sydney), Malagawatch #4 (20 % des Reservats, 62,4 km südwestlich von Sydney), Population: 1.373)
Potlotek First Nation (vormals Chapel Island (= Potlotek) First Nation, bezeichneten sich auch als Pastukopajitkewe'kati – „Sea Cow Place“, einem weiteren Namen von Potlotek (Chapel Island), ihr Reservat grenzt an Pitu'pa'q („Inneres Meer“, oder Pitu'pok – „Salzwasser“, dem Bras D'Or Lake), Potlotek (Chapel Island) selbst ist ca. 270 m entfernt von der gleichnamigen Siedlung, auf Chapel Island (auch Mniku) befand und befindet sich der Mi’kmaq Grand Council (Großer Rat der Mi’kmaq), zudem findet im Juli/August auf der sonst unbewohnten Insel die Pilgerschaft der St. Ann statt, der Patronin der Mi’kmaq, Verwaltungssitz: Chapel Island, Nova Scotia, Reservate: Chapel Island #5 (68,8 km südwestlich von Sydney), Malagawatch #4 (20 % des Reservats, 62,4 km südwestlich von Sydney), Population: 691)
Sigenigteoag (auch Sigenitog, Distrikt: Siknikt, Sikniktuk, Sikniktewag, Signigtewágig, Sgnuoptijg – im Einzugsgebiet des Miramichi River sowie der Atlantikküste in New Brunswick)
Esgenoôpetitj First Nation (Eskinuopitijk, Eskɨnuopitijk, Esgenoopetitj, oftmals noch unter dem früheren Namen Burnt Church First Nation bekannt, der Name Burnt Church – „verbrannte Kirche“ rührt daher, dass während der Kriege zwischen Briten und Franzosen, die Mi’kmaq zahlreiche Akadier (wie die Franzosen sich nannten) versteckten und die Briten daraufhin im Rahmen einer Kampagne zur Zerstörung der Siedlungen 1758 die Kirche niederbrannten, Verwaltungssitz: Burnt Church, N.B., Reservate: Burnt Church #14 (32 km nordöstlich von Chatham, einem Stadtteil von Miramichi), Tabusintac #9 (40 km nordöstlich von Chatham, N.B.), Pokemouche #13 (64 km östlich von Bathurst (Nepisiguit), an der Mündung des Nepisiguit River in die Chaleur-Bucht), Population: 1.773)
Elsipogtog First Nation (Elsipogtog oder L'sipuktuk – „River of Fire“, das Gebiet war auch bekannt als „Festung des Sikniktuk-Distriktes“ sowie Jagd- und Wohngebiet des Mi’kmaq-Clans Alguimou (L'kimu), manchmal auch als Mesgiig Oelnei, Meski'k Walney oder Pekwotapaq bezeichnet, den verschiedenen Mi’kmaq-Bezeichnungen für Big Cove, daher vormals Big Cove Band genannt, Verwaltungssitz: Elsipogtog First Nation (Big Cove), N.B., Reservate: Richibucto #15 (8 km südwestlich von Rexton, N.B., am Richibucto River, früher: „Big Cove Reserve“, jetzt meist: „Elsipogtog“ oder „L'sipuktuk“ genannt), Soegao #35 (5 km westlich von Moncton, N.B.) Population: 3.139)
Buctouche First Nation (auch Puktusk ili Tjipogtotjg, auch Council of Buctouche Mi’kmaq Band, die heutige First Nation befindet sich im Kent County im östlichen New Brunswick, ca. 3,2 km südwestlich ihres Verwaltungssitzes Buctouche, N.B., Population (12/1999): 89)
Eel Ground First Nation (Natuaqanek, Natoageneg, Natuaqaneg, die Reservate der First Nation liegen entlang des Miramichi River im Norden von New Brunswick in direkter Nachbarschaft zur Stadt Miramichi, Verwaltungssitz: Eel Ground, N.B, Reservate: Eel Ground #2 (4,8 km westlich von Newcastle, N.B.), Big Hole Tract #8 (20,8 km westlich von Newcastle N.B.), Renous #12 (südliche Hälfte des Reservats, 27,2 km westlich von Newcastle N.B.), Population: 989)
Fort Folly First Nation (bis Mitte des 20 Jhd. bewohnten sie das Fort Folly I.R. #27 (jetzt: „Former Mi’kmaq Reserve at Beaumont“ oder „Former Fort Folly Reserve“) am Ostufer des Petitcodiac River (Petkootkweak genannt) nahe dem Dorf Beaumont, das Gebiet des früheren Reservats sowie das Flussgebiet des Memramcook River war einst ein bedeutendes Siedlungsgebiet der Mi’kmaq und als Kwesawék Amlamkuk – „the delta where the multicoloured rivers meet“ bekannt, die First Nation lebt heute in einem Reservat, das ca. 13 km westlich von Sackville, NB sowie ca. 40 km östlich von Moncton, NB liegt, Verwaltungssitz: Dorchester, N.B, Reservat: Fort Folly #1 (1,6 km südöstlich von Dorchester, N.B.), Population: 124)
Indian Island First Nation (Lnui Menikuk oder Elno Minigo, die heutige First Nation befindet sich im Kent County im östlichen New Brunswick, Reservat: Indian Island #28 (8 km nordöstlich von Rexton, N.B.), Verwaltungssitz: Indian Island, N.B., Population: 180)
Metepenagiag Mi’kmaq Nation (bis 2001 als Red Bank First Nation bekannt, die Reservate der First Nation liegen im Einzugsgebiet des Miramichi River mit dem Zentrum Red Bank (Metepnákiaq oder Metepenagiag – „Where Spirits Live“ genannt) an der Mündung des Little Southwest Miramichi River in den Northwest Miramichi River, ca. 25 nordwestlich von Miramichi, N.B., Verwaltungssitz: Red Bank, N.B, Reservate: Red Bank #4 (22,4 km westlich von Newcastle, N.B.), Red Bank #7 (24 km westlich von Newcastle, N.B.), Big Hole Tract #8 (20,8 km westlich von Newcastle, N.B.), Point #1 (die nördliche Hälfte des Reservats, 19,2 km westlich von Newcastle, N.B.), Population: 650)
Gespegeoag (auch Gespegiag, Distrikt: Gepeg, Kespek – „letztes Land“, Kespékewaq, Kespoogwitunak, Gespe’gewa’gi – „zuletzt erworbenes Land“, d. h. die Gaspésie sowie westwärts entlang des Sankt-Lorenz-Stroms (Maqtugweg genannt) ein weites Netzwerk von Wasserwegen im Landesinneren von in Québec, im Osten bis zur Chaleur-Bucht (Mawi Poqtapeg genannt, jagten gelegentlich auch auf Natigasteg – „foreground“, „prominent position“ (Anticosti Island) sowie im Süden bis zum Miramichi River in New Brunswick)
Gesgapegiag First Nation (auch Micmacs of Gesgapegiag, die First Nation befindet sich ca. 56 km östlich von Restigouche, Québec, zwischen den First Nations von Listuguj und Gespeg, am Rivière Cascapédia, die heutige Siedlung wurde offiziell 1850 errichtet, jedoch hatten die Mi’kmaq entlang des Rivière Cascapédia seit Jahrhunderten bereits gelebt und das Gebiet rund um die heutige Siedlung Gesgapegiag war ein sehr bedeutender Teil des traditionellen Stammesgebietes des Distrikts von Gespe’gewa’gi, diese Gruppe benannte sich nach dem Rivière Cascapédia als Keskapekiaq, Gesgapegiag – „da wo der Fluss sich weitet“, „mächtiger Strom“, „großer Fluss“, Verwaltungssitz: Maria (auch: Gesgapegiag), Québec, Population: 1.417)
La Nation Micmac de Gespeg (auch Première Nation de Gespeg oder Micmac Nation of Gespeg, die First Nation ist eine sog. landlose First Nation, daher wohnen rund drei Fünftel der Angehörigen in der Stadt Gespeg an der Südküste der Gaspé-Bucht, zwei Fünftel in Montréal, einst reichte ihr Stammesgebiet von der Gaspé-Bucht bis zum York und Dartmouth, sie streiften auch bis in den Norden der Gaspé-Halbinsel, einschließlich der Umgebung der heutigen Stadt Percé, Verwaltungssitz: Fontenelle, Québec, Population: 656)
Listuguj Mi'gmag Government (auch Listuguj Mi'gmaq First Nation oder Première Nation de Listuguj, oft nur Listukuj Míkmaq, bezeichnen sich selbst als Gespe'gewaq – „The People of the Last Land“, die Siedlung Listuguj (engl. Aussprache: ‘lis·tu·guch’) umgeben von den Bergen der Appalachen liegt im Südwesten der Gaspésie in Québec, im Süden wird sie vom Restigouche River begrenzt, der zugleich die Grenze zur Provinz New Brunswick bildet, bis 1745 befand sich ihre Siedlung, damals Tigog genannt, am Südufer des Restigouche bei Sugarloaf Mountain, an der Stelle des heutigen Atholville, New Brunswick, ihr ehemaliges Stammesgebiet umfasste das große Einzugsgebiet sowie das Gezeitengeprägte Delta des Restigouche bis zur Chaleur-Bucht (Mawi Poqtapeg), sie bezeichneten den Fluss als ‘Listuguj’ – „Zerteilt das Land, wie die fünf Finger die Hand“ (gemeint ist der Restigouche sowie seine fünf mündungsnahen Zuflüsse: der Kedgwick River, Matapédia, Patapédia und der Upsalquitch), daher wurden sie vormals als Restigouche River Micmac oder Mickmakis de rivière Ristigouche bezeichnet, Sprache: Listugujewa'tuet-Dialekt von Mi’gmaw, Canadian English und Canadian French, Verwaltungssitz: Listuguj, Québec, Population: 3.690, hiervon leben ca. 1.610 außerhalb des Reservats)
Eel River Bar First Nation (Oqpíkanjik, Ugpi’ganjig, auch Council of Eel River Bar, Verwaltungssitz: Eel River Bar, N.B., Reservate: Eel River #3 (3,2 km südlich von Dalhousie, N.B.), Moose Meadows #4 (32 km südlich von Dalhousie, N.B.), Indian Ranch (2,4 km südlich von Dalhousie, N.B.), Population: 690)
Pabineau First Nation (auch: Première Nation de Pabineau, bezeichnen sich selbst als Oinpegitjoig L’Noeigati, auch bekannt als Kékwapskuk oder Ge’goapsgog, das Reservat Pabineau #11 befindet sich 8 km südlich von Bathurst), N.B., Population: 286)
Tagamgoog (auch Taqamkukewa'q, Distrikt: Taqamkuk, Ktaqamkuk – „Land Across the Water“ – südliches Newfoundland)
Miawpukek First Nation (Miawpukek Mi'kamawey Mawi'omi, Miawpukwek – „Middle River“, auch als Mi’kmaq of Taqmkuk (Neufundland) bekannt, vormals als Conne River Micmac bekannt, waren nach eigenen Angaben eng mit den Pi'tow'ke oder Pi’tawkewaq („flussaufwärts“, aus dem Mi’kmaq: Pi'tow'ke waq na nin – „Wir kommen vom Land flussaufwärts“, Beothuk) verwandt, neben Beothuk haben sie auch Innu, Abenaki sowie Europäer (vermutlich Akadier) als Vorfahren, lebten und leben entlang der Südküste von Neufundland, Verwaltungssitz: Conne River, NL, Reservat: Samiajij Miawpukek (Conne River), ca. 224 km südlich von Gander, 16,66 km², Population: 2.928)
Qalipu Mi’kmaq First Nation (Qalipu – „Karibu“, sprich: ‚hal-lay-boo‘, oftmals auch Qalipu Mi’kmaq First Nation Band (QMFNB) genannt, da die First Nation aus neun Bands (oder First Nations) besteht, die jeweils einen ward (Bezirk/Verwaltungssitz der jeweiligen Band) für die Wahl des Band Councils (Stammesrates) repräsentieren, Verwaltungssitz: Corner Brook, NL, Population: 23.853)
Elmastogoeg First Nations (bis 2003 Benoit First Nation (Penwa' Mawi-Amskwesewey L'nue'kati) oder Benoits Cove First Nations, bis 1980 Teil der St. George Indian Band, die Gemeinden der First Nation befinden sich im Südwesten der Port au Port Peninsula (Payun Aqq Payunji'j), NL, ihr Name leitet sich von Elmastukwek ab, der Bezeichnung der Bay of Islands, Verwaltungssitz (Bezirk): Degrau, NL)
Corner Brook Indian Band (Verwaltungssitz (Bezirk): Corner Brook, NL)
Flat Bay Mi’kmaq Band (vormals: Flat Bay Indian Band genannt, Verwaltungssitz (Bezirk): Flat Bay, NL)
Gander Bay Indian Band (lebten und leben an der Gander Bay sowie entlang des Gander River (Akilasiye'wa'kik genannt) und Gander Lake (Akiilasiye'wa'kik Qospem genannt) in der Mitte von Neufundland, Verwaltungssitz (Bezirk): Gander Bay, NL, Population (2009): 315 (hiervon 150 außerhalb der Siedlung))
Glenwood Mi’kmaq First Nations (die Stadt Glenwood am Gander River (Akilasiye'wa'kik genannt) liegt ca. 24 km westlich von Gander im Nordosten von Neufundland, jagten entlang des Gander River und am Gander Lake (Akiilasiye'wa'kik Qospem genannt), sowie zwischen Glenwood und der Gander Bay via the system of rivers of the Miawpukek Reserve in Conne River.leben in der Mitte von Neufundland, Verwaltungssitz (Bezirk): Glenwood, NL)
Port au Port Indian Band (Pukt aq Pukt Kwe'sawe'k oder PoPayun Aqq Payunji'j Mi’kmaq – „Bewohner der Port au Port Peninsula (Payun Aqq Payunji'j genannt)“, leben heute an der Westküste von Neufundland, Verwaltungssitz (Bezirk): Port au Port, NL)
Sple’tk First Nation (SFN) (vormals Exploits Indian Band, lebten von der Elch- und Karibu-Jagd sowie von Fischfang – insbesondere Lachs – entlang des Exploits River sowie am Beothuk Lake (bis November 2021 bekannt als "Red Indian Lake"; benannt nach den vormals hier siedelnden als Red Indians bezeichneten Beothuk) in Neufundland, Verwaltungssitz (Bezirk): Grand Falls-Windsor, NL, Population: 1.600)
St. George’s Indian Band (lebten im Codroy River Valley (Miawpukwek – „Middle River“ genannt), entlang des St. George’s River (Nujio'qon(i)ik genannt) sowie rund um die Bay St. George zwischen der Bay of Islands und Port aux Basques (Siinalk genannt) an der Südwestküste von Neufundland, bezeichneten sich nach der Bay St. George als Noywa'mkisk, meist heute jedoch Nujio'qonik – „where the sand is blown up by the wind“, Verwaltungssitz (Bezirk): St. George’s (Nujio'qon), NL, Population: ca. 2.200)
Indian Head First Nations (Ilnu Wunji Mi'kamawey Mawi'omi, vormals: Stephenville/Stephenville Crossing Band, Verwaltungssitz (Bezirk): Stephenville Crossing, NL)
Tribal Councils der Mi’kmaq
Confederacy of Mainland Mi’kmaq (CMM)
Annapolis Valley First Nation
Bear River First Nation
Glooscap First Nation
Millbrook First Nation
Pictou Landing First Nation
Paqtnkek Mi’kmaw Nation
Mawiw Council
Esgenoôpetitj First Nation (auch: Burnt Church First Nation)
Elsipogtog First Nation
Mi'gmawei Mawiomi Secretariat (MMS)
Gesgapegiag First Nation
La Nation Micmac de Gespeg
Listuguj Mi'gmag Government – auch Mitglied des Gespe’gewaq Mi’gmaq Resource Council (GMRC)
Mi’kmaq Confederacy of PEI
Lennox Island First Nation
Abegweit First Nation
North Shore Micmac District Council und Union of New Brunswick Indians
Buctouche First Nation
Eel Ground First Nation
Fort Folly First Nation
Indian Island First Nation
Metepenagiag Mi’kmaq Nation
Eel River Bar First Nation – auch Mitglied des Gespe’gewaq Mi’gmaq Resource Council (GMRC)
Pabineau First Nation – auch Mitglied des Gespe’gewaq Mi’gmaq Resource Council (GMRC)
Union of Nova Scotia Indians (UNSI)
Acadia First Nation
Shubenacadie First Nation
Waycobah First Nation
Wagmatcook First Nation
Eskasoni First Nation
Membertou First Nation
Potlotek First Nation
Independent First Nations
Miawpukek First Nation
Qalipu Mi’kmaq First Nation
Aroostook Band of Micmacs
Demografie
Im Jahr 1616 schätzte Pater Biard die Mi’kmaq-Bevölkerung auf über 4.000 Angehörige. Aber er bemerkte an anderer Stelle, dass es einen großen Verlust im 16. Jahrhundert gegeben hätte. Fischer hatten die Mi’kmaq mit europäischen Krankheiten infiziert, gegen die sie keine Widerstandskräfte besaßen. Durch Rippenfellentzündung, Mandelentzündung und Ruhr wurden etwa drei Viertel der Mi’kmaq ausgerottet. Pocken, Kriege und Alkoholismus führten zu weiterer Abnahme der indianischen Bevölkerung, die vermutlich ihren niedrigsten Stand in der Mitte des 17. Jahrhunderts erreichte. Während des 19. Jahrhunderts folgte eine leichte Erholung und die Population scheint nahezu stabil geblieben zu sein. Eine merkliche Zunahme gab es im 20. Jahrhundert. Das durchschnittliche Wachstum der Jahre 1965 bis 1970 betrug rund 2,5 % jährlich. Heute (Stand: März 2013) gibt es wieder über 57.000 offiziell vom Department of Aboriginal Affairs and Northern Development in Kanada als Status Indians (lt. Indian Act) anerkannte Mi’kmaq sowie mehr als 1.100 vom Bureau of Indian Affairs in den USA offiziell als Indianer anerkannte Mi’kmaq. Jedoch gibt es zudem noch mehrere Tausende Non Status Indians mit Mi’kmaq-Vorfahren, die sich nicht offiziell bei den anerkannten First Nations registriert haben, ihren Rechtstitel als Status Indians verloren haben oder offiziell als Métis oder sogar als Nachfahren der Akadier, französischen Siedlern, gelten, da sie meist nicht mehr ihre Stammessprache, sondern Akadisches Französisch sprechen.
Rezeption
Die französische Fernsehserie Abenteuer einer Lady (Les Aventuriers du Nouveau-Monde) handelte hauptsächlich davon, dass ein Unterhändler im Rahmen des Siebenjährigen Krieges die Mi’kmaq als Verbündete der Briten gewinnen sollte. Die Serie wurde 1987 ausgestrahlt.
Im Roman Friedhof der Kuscheltiere von Stephen King spielt eine Begräbnisstätte der Mi’kmaq im Nordosten der USA eine zentrale Rolle und auch die Mi’kmaq finden Erwähnung im Buch.
Im Roman Aus hartem Holz von Annie Proulx spielt die Geschichte einer Mi‘kmaq Familie ebenfalls eine zentrale Rolle und deren Leben inmitten der Kolonisation.
Siehe auch
First Nations
Geschichte der First Nations
Liste nordamerikanischer Indianerstämme
Rita Joe und Gail Tremblay (zwei moderne Mi’kmaq-Autorinnen)
Literatur
Bruce G. Trigger (Hrsg.): Handbook of North American Indians. Vol. 15. Northeast. Smithsonian Institution Press, Washington D.C. 1978, ISBN 0-16-004575-4.
Harald E. L. Prins: The Mi’kmaq: Resistance, Accommodation, and Cultural Survival (Case Studies in Cultural Anthropology). Thomson Learning, 1996, ISBN 0-03-053427-5.
Stephen A. Davis: Mi’kmaq: Peoples of the Maritimes. Nimbus Publishing (CN), 1998, ISBN 1-55109-180-1.
Daniel N. Paul: We Were Not the Savages: A Mi’kmaq Perspective on the Collision Between European and Native American Civilizations. Fernwood Pub., 2000, ISBN 1-55266-039-7.
William C. Wicken: Mi’kmaq Treaties on Trial: History, Land, and Donald Marshall Junior. University of Toronto Press, 2002, ISBN 0-8020-7665-3.
Ruth Holmes Whitehead: The Old Man Told Us: Excerpts from Mi’kmaq History 1500–1950. Nimbus Pub, 2004, ISBN 0-921054-83-1.
Rita Joe, Lesley Choyce: The Mi’kmaq Anthology. Nimbus Publishing (CN), 2005, ISBN 1-895900-04-2.
Weblinks
Micmac History
Nova Scotia Museum
Mi’kmaq Dictionary Online
Mi’kmaq, Website Mi’kmaq and Maliseet Cultural Objects
Mi’kmaw Pronunciations for Teaching About the Mi’kmaq, Aussprache
Einzelnachweise
First Nation in Québec
Indianerstamm in Maine
Nova Scotia
Prince Edward Island
First Nation in New Brunswick |
2104947 | https://de.wikipedia.org/wiki/Rhinocerus | Rhinocerus | Rhinocerus ist der Titel eines grafischen Werkes von Albrecht Dürer aus dem Jahre 1515.
Der Holzschnitt stellt ein aus Indien stammendes Panzernashorn dar, das 1515 nach Lissabon gelangt und von dort noch im selben Jahr auf eine Reise nach Rom geschickt worden war, wo es nach einem Schiffbruch nicht lebend ankam. Dürer hatte das Nashorn selbst nie gesehen; der Holzschnitt basierte auf einer Beschreibung und der Skizze eines unbekannten Künstlers, der das Tier in Augenschein genommen hatte.
Das Panzernashorn
Das abgebildete Nashorn war mit großer Wahrscheinlichkeit das erste lebende Exemplar seiner Art seit dem 3. Jahrhundert, das in Europa zu sehen war; Belege weisen Nashörner in den Wildgehegen von Herrschern Roms nach, Domitian, Commodus und Caracalla sollen Tiere dieser Art besessen haben. Dürers Holzschnitt hat durch den rüstungsartigen Ausdruck des Dickhäuters vermutlich nicht unwesentlich dazu beigetragen, dass das asiatische Rhinoceros unicornis im Deutschen die Bezeichnung „Panzernashorn“ erhielt. Bis zur zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erachtete man seine Darstellung als eine naturgetreue Wiedergabe, und der Holzschnitt wurde mehrfach kopiert, neu gedruckt und vertrieben. Erst als in den 1740er und 1750er Jahren das Rhinozeros Clara in Europa gezeigt wurde, kamen zunehmend Abbildungen in Umlauf, die nach dem Leben gefertigt worden waren.
Geschenk aus Ostasien
Am 20. Mai 1515 landete ein Nashorn im Hafen von Lissabon; es war der bis dahin ungewöhnlichste Import der erst seit wenigen Jahren bestehenden Seeroute nach Indien. Die Portugiesen waren erfolgreich gewesen, wo Columbus versagt hatte; auf den Spuren früherer portugiesischer Seefahrer waren sie der westafrikanischen Küste gefolgt, hatten das Kap der Guten Hoffnung umrundet und waren nach Durchquerung des Arabischen Meeres 1498 nach Indien gelangt. In den folgenden Jahrzehnten spielte Portugal eine wesentliche Rolle im lukrativen Gewürzhandel. Die Portugiesen eroberten unter Führung von Afonso de Albuquerque im November 1510 das zu Indien gehörige Goa und machten es zu ihrer wichtigsten Handelsniederlassung; weitere fünfzig befestigte Siedlungen entlang der indischen Westküste dienten als Handelsstützpunkte. Der Austausch offizieller Geschenke begleitete die Verhandlungen mit den lokalen Herrschern.
Afonso de Albuquerque, der Vertreter der portugiesischen Krone in Indien, hatte das Nashorn zu Beginn des Jahres 1514 von Sultan Muzafar II., dem Herrscher von Cambay (im heutigen Gujarat) als Bestandteil eines solchen diplomatischen Geschenkeaustausches erhalten. De Albuquerque beschloss, das Nashorn, in der Landessprache ganda, seinem König, Manuel I. von Portugal, zum Geschenk zu machen. An Bord der „Nossa Senhora da Ajuda“ und in Begleitung zweier weiterer portugiesischer Schiffe verließ das Nashorn zusammen mit seinem indischen Wärter Ocem im Januar 1515 Goa und segelte mit kurzen Aufenthalten in Mosambik, St. Helena und auf den Azoren nach Lissabon. Nach einer Seereise von 120 Tagen wurde das Nashorn in der Nähe des sich im Bau befindlichen Belem-Turms an Land gebracht. Der Turm erhielt später an seiner Nordwestseite die Skulptur eines Nashornkopfes.
Das exotische Tier wurde in König Manuels I. Menagerie im Ribeira-Palast in Lissabon untergebracht. Manuel I. besaß eine umfangreiche Menagerie, die auch Elefanten umfasste. Nashörner waren in Europa seit Jahrhunderten nicht lebend gesehen worden und nahmen eher den Status eines mythischen Wesens ein. Am 3. Juni 1515 ließ Manuel I. einen jungen Elefanten und das Nashorn aufeinander treffen, um den Bericht von Plinius dem Älteren zu überprüfen, dass Elefanten und Nashörner erbitterte Gegner seien. Unter den Augen einer großen und lauten Menschenmenge, die sich versammelt hatte, um diesem Spektakel beizuwohnen, bewegte sich das Nashorn langsam und zielgerichtet in Richtung seines Gegners. Der junge Elefant dagegen, verwirrt von dem Getöse der ungewohnten Menschenmenge, floh in Panik vom Kampffeld, bevor es zu einer Auseinandersetzung zwischen den beiden Tieren kam.
Geschenk an Papst Leo X.
Das Nashorn blieb bis Ende des Jahres 1515 Bestandteil der Menagerie von Manuel I. Dann wurde es als Geschenk an den Medici-Papst Leo X. weitergereicht. Manuel I. lag daran, sich das Wohlwollen des Papstes zu sichern. Im 1494 abgeschlossenen Vertrag von Tordesillas hatte Papst Alexander VI., ein Vorgänger von Leo X., eine zirka 370 Meilen westlich der Azoren liegende Grenze als Demarkationslinie zwischen dem spanischen und portugiesischen Kolonialreich festgelegt. Damit war der amerikanische Kontinent aufgeteilt. Unzureichend geklärt blieb allerdings, wo in Ostasien diese Demarkationslinie verlief – dies war jedoch ausschlaggebend für die Frage, welchen Anteil Spanien und Portugal am lukrativen Gewürzhandel mit Ostasien haben würden. Bezüglich dieser Grenze zwischen den Einflussgebieten der beiden Länder fiel erneut dem Papst eine entscheidende Rolle zu – Anlass genug, sich seine Gunst durch Geschenke zu sichern. 1514 hatte Manuel I. dem Papst bereits den Indischen Elefanten Hanno zum Geschenk gemacht.
Das Nashorn von Lissabon war bereits vor seiner Reise nach Rom dort bekannt geworden. Der Florentiner Arzt und Dichter Giovanni Giacomo Penni hatte bereits kurz nach dem Eintreffen des Tiers in Lissabon einen Traktat in Versen mit dem Titel Forma e natura e costumi de lo Rinocerothe verfasst. Dieser erschien im Juli 1515 in Rom und ist nur in einem einzigen Exemplar erhalten, das sich in der Bibliotheca Colombina in Sevilla befindet. Er enthält auf dem Titelblatt einen Holzschnitt von einem Rhinozeros.
Im Dezember 1515 wurde das Nashorn mit einem neuen Halsband ausgestattet, es erhielt einen „grünen Samtkragen mit Rosen und vergoldeten Ösen“ und dazu eine „Kette von vergoldetem Eisen“. „Mit Fransen geschmückt“ wurde es zusammen mit anderen wertvollen Geschenken, wie Tafelsilbern und Gewürzen, per Schiff auf die Reise nach Rom geschickt. Die Fahrt wurde vor Marseille kurz unterbrochen. Der französische König Franz I., der sich zu dem Zeitpunkt in der Provence aufhielt, hatte gewünscht, das exotische Tier in Augenschein zu nehmen. Am 24. Januar präsentierte man ihm mit allerlei Pomp den Dickhäuter auf der Insel Château d’If in der Bucht von Marseille.
Es war das letzte Mal, dass das Panzernashorn Land betrat. In einem Sturm zerschellte das Segelschiff an der ligurischen Küste nördlich von La Spezia; das mit Ketten ans Deck gefesselte Nashorn ertrank. Der Kadaver wurde wenig später in der Nähe von Villefranche an die Küste gespült; die Haut kam zurück nach Lissabon. Mit Stroh ausgestopft und fachgerecht montiert schickte man das Tier erneut nach Rom, wo es nicht vor Februar 1516 eintraf.
Nachleben
Das Präparat erregte bei weitem nicht die Aufmerksamkeit, die man dem lebenden Nashorn in Lissabon gezollt hatte. Gleichwohl malte Giovanni da Udine dem Papst das Nashorn in eine Ecke von dessen Palazzo Baldassini, und Raffael setzte später noch eine weitere Abbildung nach dem Exponat in ein Gemälde für die Loggien des Papstpalastes im Vatikan.
Der weitere Verbleib des ausgestopften Nashorns ist ungeklärt; diese Ungewissheit war Anregung für den 1996 erschienenen Roman The Pope's Rhinoceros von Lawrence Norfolk. Für die Annahme, dass die Medici es für ihre naturgeschichtliche Sammlung nach Florenz bringen ließen, gibt es keinen Beleg. Das Universitätsmuseum La Specola in Florenz besitzt ein ausgestopftes Nilpferd und ein Löwenpräparat, erworben von den Medici im 18. Jahrhundert; es gibt aber keinen Hinweis auf ein Rhinoceros in einer der fünf Florentiner naturgeschichtlichen Sammlungen. Möglicherweise wurde es bei der Plünderung Roms im Jahre 1527 zerstört. Kaum belegbar, aber häufig anzutreffen ist die Vermutung, das Präparat befinde sich noch im Vatikan.
Im fünften Buch seines Gargantua setzte François Rabelais (1483/1494–1553) einem Nashorn, das ihm ein Heinrich Klerberg „früher einmal gezeigt“ habe, ein literarisches Denkmal; er fand, es unterscheide sich kaum von einem Eber. Der Gewährsmann ist als Johannes Kleberger zu identifizieren, einen Kaufmann aus Nürnberg, der zur selben Zeit wie Rabelais in Lyon wohnte und als ein Freund der Künste bekannt war; 1526 hatte er sich von Dürer malen lassen.
Dürers Holzschnitt
Die Geschichte und Technik des Holzschnitts ist ausführlich im Hauptartikel Holzschnitt beschrieben.
Der aus Mähren stammende und in Lissabon ansässige Valentim Fernandes sah das Nashorn kurz nach dessen Ankunft in der portugiesischen Hauptstadt und beschrieb es im Juni 1515 in einem Brief an einen Freund in Nürnberg. Der in deutscher Sprache geschriebene Originalbrief ist nicht erhalten. Eine Abschrift in italienischer Sprache wird in der Biblioteca Nazionale Centrale in Florenz aufbewahrt. Ein zweiter Brief eines unbekannten Absenders mit einer Skizze wurde etwa um die gleiche Zeit von Lissabon nach Nürnberg gesandt und diente als Information über das Aussehen des wilden Tieres, vermerkt am oberen Bildrand des Holzschnittes von Dürer.
Die Entstehung des Holzschnitts
Auf der Basis dieser beiden Quellen machte Dürer zwei Zeichnungen. Nach der zweiten Zeichnung entstand der Druckstock des Holzschnitts. Dürer hat ihn wahrscheinlich nicht selbst angefertigt, sondern einen „Formschneider“ damit beauftragt, den Druckstock nach der Zeichnung zu erstellen. Verwendet wurde vermutlich Birnenholz – ausreichend weich, um die feinteilige Wiedergabe zu ermöglichen, aber hart genug, um eine für den geschäftlichen Erfolg hinreichende Anzahl von Abzügen zu gewährleisten.
In seiner 1495 gegründeten Werkstatt druckte Dürer seine Grafiken im Eigenverlag und auf Vorrat. Vertrieben wurden sie über Händler, die seine Drucke auf Messen und Märkten feilboten. Die Entscheidung Dürers, das Tier in einem Holzschnitt und nicht als Kupferstich wiederzugeben, folgte womöglich einem kaufmännischen Kalkül. Kupferstiche sind zeitaufwendiger und deshalb deutlich teurer als Holzdrucke, allerdings nutzt der hölzerne Druckstock sich im Gegensatz zu dem aus Metall schneller ab. Die Darstellung eines Nashorns war ein ungewöhnliches Sujet, denn die Kunden fragten gewöhnlich Bilder mit religiösen Themen nach. Daher könnte es wichtig gewesen sein, das Blatt erschwinglich zu halten.
Details des Holzschnitts
Der Holzschnitt trägt folgende Inschrift:
Dürers Holzschnitt enthält nicht nur ein falsches Ankunftsdatum des Nashorns in Lissabon, sondern auch eine anatomisch nicht korrekte Darstellung des Dickhäuters. Beispiele wie sein kauernder Hase oder das Rasenstück verdeutlichen zwar Dürers besonderes Interesse an einer wirklichkeitsgetreuen Darstellung, jedoch weisen wiederum die Abbildungen des Löwen in seinen frühen „Hieronymus“-Holzschnitten fehlerhafte Körperproportionen auf, so dass dieses exotische Tier nach dem Urteil von David Quammen eher einem zu kurz geschorenen Spaniel gleicht.
Dürer stellt das Panzernashorn dar, als sei es, einem mittelalterlichen Ritter ähnlich, mit einem lose auf dem Körper aufsitzenden Eisenpanzer armiert. Der Übergang der Panzerplatte zur Bauchplatte erinnert entsprechend auch an die Einbuchtungen von in Metall geschlagenen Nieten; die Nähte des Panzers stimmen jedoch weitgehend mit dem Verlauf der dicken Hautfalten eines indischen Panzernashorns überein. Dürer gibt die Oberfläche des Panzers wieder, als sei sie gefleckt, der zugefügte Text weist auf eine Farbe ähnlich einem „gespreckelten“ Schildkrötenpanzer hin. Da die Haut von Panzernashörnern an den Hinterbeinen und in der Schultergegend warzenförmige Erhebungen aufweist, kann es sich jedoch um eine Fehlinterpretation der nicht erhaltenen Skizze aus Lissabon handeln.
Die Haut an den Beinen wirkt schuppig und erinnert an Kettenhemden, ebenfalls Bestandteil einer mittelalterlichen Ritterrüstung. Im Genick des Tieres befindet sich ein zweites, kleines und gewundenes Horn. Auch hierbei handelt es sich vermutlich um eine Fehlinterpretation der Dürer vorliegenden Beschreibungen – keine der fünf Nashornarten trägt ein Horn im Nacken. Das Sumatra-Nashorn sowie die in Afrika beheimateten Breitmaul- und Spitzmaulnashörner haben zwar zwei Hörner. Sie tragen diese aber auf der Nase und der Stirn, und allen drei Arten fehlen die charakteristischen Hautfalten. Neben dem Panzernashorn ist nur das Java-Nashorn einhornig und weist die dargestellten Hautfalten auf. Über die Ähnlichkeit dieser Art mit dem Panzernashorn lässt sich die Herkunft des Dürer-Dickhäuters auch zweifelsfrei identifizieren. Das in der Zoologie seit Heini Hediger „Dürerhörnlein“ genannte Nackenhorn könnte aber dennoch einen realen Hintergrund haben. Mehrfach wurden, bereits von Hediger, vor allem beim Breitmaulnashorn hornige Verwachsungen an dieser Körperstelle dokumentiert, die durchaus einem kleinen Horn ähneln.
Das Nashorn im Bild der Zeitgenossen Dürers
Dürer war nicht der einzige Künstler, der sich von der Aufsehen erregenden Nachricht über ein in Europa eingetroffenes Nashorn zu einer Druckgrafik inspirieren ließ. Etwa um dieselbe Zeit wie Dürer fertigte in Augsburg Hans Burgkmair ebenfalls einen Holzschnitt an. Burgkmair stand in brieflichen Kontakt mit Kaufleuten in Lissabon und Nürnberg. Es ist allerdings unklar, ob er Zugang zu den Briefen und der Skizze hatte, auf denen Dürers Holzschnitt basierte. Es ist nicht auszuschließen, dass Burgkmair das Tier auch selbst gesehen hat. Burgkmairs Darstellung fehlt das von Dürer dargestellte zweite Horn im Genick; sie zeigt außerdem die Fußfesseln, die das Tier trug. Als einzige Nachbildung der Darstellung Burgkmairs gilt eine geschnitzte Figur im Chorgestühl der Kirche St. Martini in Minden.
Eine weitere zeitgenössische Darstellung, eine Zeichnung, findet sich als Illustration am Rand einer Seite des Gebetbuchs Kaiser Maximilians I. Das Tier ist offenbar nach Burgkmairs Vorlage abgebildet, es trägt dieselben Fußfesseln; allerdings hat es einen ausführlichen Hintergrund aus Pflanzen bekommen, die an Dürers Rasenstück von 1503 erinnern, und auch ihm sitzt ein zweites Horn im Nacken. Eine Inschrift, die aus späterer Zeit stammt, weist in einem Monogramm Albrecht Altdorfer als Zeichner aus.
Verbreitung
Die größte Verbreitung erfuhr Dürers Holzschnitt, von dem noch mehrere originale Abzüge erhalten sind; von Burgkmairs Rhinozeros ist heute nur noch ein Abzug bekannt. Die ersten Abzüge des Dürer-Holzschnitts stammen aus dem Jahr 1515 und unterscheiden sich von späteren durch einen nur fünfzeiligen Text im oberen Teil der Grafik. Nach Dürers Tod wurden in den 1540er-Jahren zwei erneute Auflagen von demselben Druckstock hergestellt, der noch zwei weitere gegen Ende des 16. Jahrhunderts folgten. Diese späteren Abzüge weisen sechs Textzeilen auf. Kopien des Dürer’schen Rhinozeros lassen sich bis ins 18. Jahrhundert nachweisen.
Die kunstgeschichtliche Bedeutung des Holzschnitts
Dürers anatomisch nicht völlig korrekter Holzschnitt blieb bis in die Gegenwart populär und bis ins 18. Jahrhundert prägend für die mitteleuropäische Vorstellung von einem Panzernashorn, obwohl in Europa erneut lebende Nashörner zu sehen waren. Acht Jahre lang, von 1579 bis 1587, wurde in Madrid wiederum ein Panzernashorn gezeigt; ein weiteres hielt sich von 1684 bis 1686 in London auf.
16./17. Jahrhundert
Ein Nashorn, das offensichtlich auf Dürers Holzschnitt basierte, wurde von Alexander von Medici (1510–1537) mit dem Motto „non bvelvo sin vencer“ – „Ich werde nicht ohne Sieg zurückkehren“ – als Wahrzeichen gewählt. Dürers Vorlage ist auch in der Skulptur eines Nashorns auszumachen, das sich im unteren Bereich eines 21 Meter hohen Obelisken befand, den Jean Goujon anlässlich der Ankunft von Heinrich II. in Paris im Jahre 1549 entwarf und vor der Kirche Saint-Sepulcre in der Rue Saint-Denis errichten ließ. Ein ähnliches Nashorn findet sich im Bildprogramm einer der Bronzetüren der Kathedrale von Pisa am westlichen Eingang.
Dürers Holzschnitt tauchte auch in einer Reihe naturwissenschaftlicher Texte als Abbildung auf, wie zum Beispiel in Sebastian Münsters „Cosmographia“ von 1544, Conrad Gessners „Historiae Animalium“ von 1551 oder Edward Topsells „Histoire of Foure-footed Beastes“ von 1607. Der überwiegend in Antwerpen tätige Philipp Galle (1537–1612) hatte eine Grafik nach dem Madrider Nashorn gefertigt; diese Abbildung wurde jedoch nicht annähernd so weit verbreitet wie Dürers Holzschnitt.
18. Jahrhundert
Die Wirkung von Dürers Darstellung auf die europäische Vorstellung von der Gestalt eines Nashorns begann erst Mitte des 18. Jahrhunderts nachzulassen. Während dieser Zeit gelangten mehrfach erneut Panzernashörner nach Europa. Jean-Baptiste Oudry malte ein lebensgroßes Porträt von Clara, einem Panzernashorn, das mit seinem Besitzer Douwe Mout van der Meer von 1746 bis 1758 durch mehrere Länder Europas tingelte. Von George Stubbs stammt das Porträt eines Panzernashorns, das um 1790 in der Menagerie des Tower of London gehalten wurde. Beide Gemälde waren naturgetreuer als Dürers Holzschnitt und ersetzten allmählich dessen Anschauung eines Panzernashorns. Dazu trug besonders bei, dass Oudrys Gemälde von Clara als Vorlage für eine Illustration in Buffons ab 1749 in 44 Bänden publizierten „Histoire naturelle“ diente, einer in ganz Europa erfolgreichen Naturgeschichte.
Moderne
In Deutschland blieb Dürers Nashorn seit dem 19. Jahrhundert insbesondere als Illustration in den Schulbüchern gegenwärtig; bis in die 1930er-Jahre galt es darin sogar zuweilen als getreuliche Abbildung eines Rhinoceros. Der Holzschnitt wurde im Kunstunterricht der allgemeinbildenden Schulen seit Mitte des 20. Jahrhunderts als Vorlage für das Studium grafischer Ausdrucksmittel empfohlen und eingesetzt. In der Kunst der Moderne inspirierte Dürers Nashorn Salvador Dalís Skulptur Rinoceronte vestido con puntillas von 1956, die seit 2004 in Marbella aufgestellt ist.
Umberto Eco notierte 1968, dass Dürers Bild eines Nashorns auch „in den Büchern der Entdecker und Zoologen“ auftauche, „die wirkliche Nashörner gesehen haben und wissen, daß diese keine dachziegelartigen Platten haben“. Verglichen mit einer Fotografie, so Eco, wirke der Druck Dürers zwar lächerlich, „aber wenn wir die Haut des Nashorns aus der Nähe untersuchten, würden wir eine solche Menge von Runzeln entdecken, daß in gewisser Hinsicht (z. B. bei einem Vergleich zwischen menschlicher Haut und der Haut des Nashorns) die grafische Verstärkung Dürers viel realistischer erscheinen würde“.
Neil MacGregor nahm Dürers Druck als 75. Objekt in das Projekt Geschichte der Welt in 100 Objekten des Britischen Museums und der BBC auf – einerseits weil Dürers anatomisch freie Darstellung die europäische Vorstellung von diesem exotischen Tier so lange prägte, andererseits weil die Vorlage, das ursprünglich den portugiesischen Eroberern geschenkte Tier, als Sinnbild für die europäische Expansion gesehen werden kann.
Literatur
Silvano A. Bedini: Der Elefant des Papstes. Stuttgart 2006, S. 139–169: Das unselige Rhinozeros, S. 228 ff.: Erinnerungen und Reflexionen, ISBN 978-3-608-94025-1.
T. H. Clarke: The Rhinoceros from Dürer to Stubbs 1515–1799. London 1986, Kapitel 1: The first Lisbon or ‚Dürer Rhinoceros‘ of 1515.
Karl Giehlow: Beiträge zur Entstehungsgeschichte des Gebetbuches Kaiser Maximilians I. In: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des allerhöchsten Kaiserhauses. Band XX, Wien 1899, S. 59–71.
Daniel Hahn: The Tower Menagerie. Simon & Schuster UK, London 2003, ISBN 0-7434-8388-X.
Plinius Secundus der Ältere: Naturkunde. Lateinisch-deutsch. Hrsg. und übers. von Roderich König in Zusammenarbeit mit Gerhard Winkler. Buch 8: Zoologie, Landtiere, München 1976.
David Quammen: Die zwei Hörner des Rhinozeros. Kuriose und andere Geschichten vom Verhältnis des Menschen zur Natur. List, München 2004, ISBN 3-548-60382-3 (Taschenbuchausgabe).
Dieter Salzgeber: Albrecht Dürer: Das Rhinozeros. Rowohlt, Reinbek 1999, ISBN 3-499-20843-1.
Weblinks
Anmerkungen
Grafik von Albrecht Dürer
Individuelles Nashorn
Nashorn (Bildende Kunst)
Tier in der Politik |
2157155 | https://de.wikipedia.org/wiki/Kratylos | Kratylos | Der Kratylos () ist eine Schrift des griechischen Philosophen Platon. Das in Dialogform verfasste Werk bildet den Ausgangspunkt der europäischen Sprachphilosophie und Sprachwissenschaft. An dem fiktiven, literarisch gestalteten Gespräch sind drei Personen beteiligt: Platons Lehrer Sokrates, der Philosoph Kratylos, nach dem der Dialog benannt ist, und dessen Freund Hermogenes.
Erörtert wird die Stichhaltigkeit der Behauptung, dass nicht nur Aussagen richtig oder falsch sind, sondern es auch eine Richtigkeit von Namen und Bezeichnungen gibt. Dies ist dann der Fall, wenn Bezeichnungen ihren Gegenständen nicht willkürlich, sondern von Natur aus zugeordnet sind und die Beschaffenheit der Gegenstände wahrheitsgemäß ausdrücken. Wenn jede korrekte Bezeichnung das aussagt, was das Bezeichnete tatsächlich ist, ermöglicht die etymologische Untersuchung der einzelnen Wörter, indem sie deren Sinn erhellt, Rückschlüsse auf das Wesen der mit ihnen bezeichneten Dinge. Kratylos ist von der natürlichen Richtigkeit der Wörter überzeugt (semantischer Naturalismus), während Hermogenes von der Hypothese einer willkürlichen Vereinbarung der Wortbedeutungen ausgeht (Konventionalismus). Sokrates setzt sich mit beiden Konzepten kritisch auseinander.
Nach Untersuchung der theoretischen Voraussetzungen sowie zahlreicher Beispiele verwirft Sokrates sowohl die Vermutung, dass die Zuordnung von Bezeichnungen und Dingen auf zufälliger Konvention beruht, als auch die gegenteilige Position, der zufolge alle Bezeichnungen objektiv „richtig“ sind und daher eine grundsätzlich erkennbare Wahrheit über das Wesen der Dinge enthalten. Nach Sokrates’ Ansicht haben die „Wortbildner“ oder „Namensgeber“ als Urheber der Bezeichnungen diese zwar sinnvoll zuordnen wollen, dabei aber Irrtümer begangen. Zu gesicherter Erkenntnis dessen, was die einzelnen Dinge sind, kann man somit durch Untersuchung von Wörtern nicht gelangen. Vielmehr hat der Philosoph die Dinge selbst unabhängig von ihren Bezeichnungen zu erforschen.
Der Kratylos gilt als eines der schwierigsten Werke Platons. In der neueren Forschung wird seine wegweisende Bedeutung für die europäische Sprachphilosophie gewürdigt: Die Überlegungen im Dialog erscheinen als Weichenstellung in eine Richtung, die schließlich zur modernen Zeichentheorie der Sprache führte.
Ort, Zeit und Teilnehmer
Die Debatte spielt sich in Athen ab, nähere Angaben zum Ort der Zusammenkunft werden nicht gemacht. Für die Datierung der fiktiven Handlung bietet der Text nur wenige Anhaltspunkte. Eine beiläufige Bemerkung des Sokrates über ein nächtliches Ausgehverbot auf der Insel Aigina deutet darauf, dass Aigina sich unter athenischer Herrschaft befindet; dies ist ab 431 v. Chr. der Fall gewesen. Der 422/421 v. Chr. gestorbene Hipponikos von Alopeke, der Vater des Hermogenes, ist anscheinend noch am Leben, denn Hermogenes hat einer Bemerkung des Sokrates zufolge (noch) nicht geerbt. Demnach fällt die Dialoghandlung in den Zeitraum 431 bis 421, also in die erste Phase des Peloponnesischen Krieges, der ab 421 durch den „Nikiasfrieden“ für einige Jahre unterbrochen wurde. Da der im Jahr 469 geborene Sokrates im Dialog sein nach damaligem Maßstab hohes Alter erwähnt, kommt wohl eine Zeit vor den späten 420er Jahren nicht in Betracht. Allerdings besagt nach einer anderen Interpretation die Bemerkung über die nicht angetretene Erbschaft, dass Hermogenes nichts geerbt hat, obwohl sein Vater bereits gestorben ist. Wenn dies zutrifft, ist nicht das Jahr 421 v. Chr., sondern das Ende des Peloponnesischen Krieges 404 v. Chr. die obere Grenze für die Datierung der Dialoghandlung, während 422 v. Chr. die untere Grenze bildet.
Kratylos und Hermogenes sind keine fiktiven Figuren, sie haben tatsächlich als Zeitgenossen des Sokrates in Athen gelebt. Der historische Kratylos, der wohl um die Mitte des 5. Jahrhunderts geboren wurde, bekannte sich zur Lehre des Vorsokratikers Heraklit. Der historische Hermogenes gehörte zum Umfeld des Sokrates, er war mit ihm eng verbunden und bei seinem Tod anwesend.
Im Dialog wird Kratylos als jung bezeichnet und auch Hermogenes scheint ein junger Mann zu sein. Sokrates hingegen weist – wenn auch scherzhaft – darauf hin, dass seine geistige Spannkraft bereits altersbedingt nachlasse.
Inhalt
Eine Rahmenhandlung fehlt, das Gespräch setzt unvermittelt ein. Kratylos und Hermogenes haben bereits über ihre gegensätzlichen sprachphilosophischen Auffassungen kontrovers und ergebnislos diskutiert. Nun ist Sokrates hinzugekommen, und Hermogenes schlägt vor, ihn beizuziehen. Kratylos stimmt zu. Hermogenes beschreibt das Problem, indem er die beiden konträren Positionen zusammenfassend wiedergibt. Die anschließende Debatte zerfällt in zwei Teile. Im ersten, weitaus größeren Teil diskutiert Sokrates mit Hermogenes, Kratylos hört schweigend zu. Im zweiten Teil debattieren Sokrates und Kratylos, Hermogenes hört zu.
Die Problemstellung
Zuerst fasst Hermogenes die Position des Kratylos zusammen. Kratylos glaubt, dass es eine natürliche Richtigkeit der Wörter gibt. Demnach kommt jedem Benennbaren von Natur aus eine einzige objektiv richtige Benennung zu, die nicht kulturell bedingt, sondern für alle Menschen gleichermaßen gültig ist. Da es sich um eine Naturgegebenheit handelt, spielt die Verschiedenheit der Sprachen keine Rolle; die richtigen Wörter bilden eine Universalsprache. Es ist möglich, die naturgemäßen Benennungen zu ermitteln. Beispielsweise tragen Kratylos und Sokrates ihre Namen zu Recht, der Name des Hermogenes hingegen stimmt nicht; er ist nicht wirklich der seinige, obwohl alle ihn verwenden.
Sokrates weist darauf hin, dass die letztere Bemerkung des Kratylos ein Scherz sein dürfte: „Hermogenes“ bedeutet „vom Gott Hermes abstammend“, und wenn das zuträfe, müsste Hermogenes in Geldangelegenheiten erfolgreich sein, denn Hermes ist unter anderem der Gott des Gewinns. In Wirklichkeit ist Hermogenes aber finanziell nicht gut gestellt. Zu einer gemeinsamen Untersuchung der sprachphilosophischen Frage ist Sokrates gern bereit, doch hält er das Problem für schwierig und bekennt seine Unwissenheit. Er nutzt die Gelegenheit zu einem Seitenhieb auf den berühmten Sophisten Prodikos, der behauptet, sich auf diesem Gebiet auszukennen, und bereit ist, seine Weisheit den Lernwilligen gegen reichliche Bezahlung zu vermitteln. Ironisch führt Sokrates, der unvermögend ist, seine Unwissenheit darauf zurück, dass er den Vortrag des Prodikos, für den ein Eintritt von fünfzig Drachmen verlangt wird, nicht gehört hat.
Hermogenes vertritt als Konventionalist eine Auffassung, die der des Kratylos radikal entgegengesetzt ist. Nach seiner Überzeugung sind alle Wortbedeutungen willkürlich festgelegt, sie beruhen ausschließlich auf Übereinkunft und Gewohnheit. Richtig ist eine Benennung nur aufgrund der Konvention, durch die sie einem Gegenstand zugeordnet ist. Grundsätzlich kann jede solche Konvention jederzeit geändert werden, und sobald das geschieht, ist die neue Benennung gültig und richtig.
Die theoretische Untersuchung der Hypothese des Hermogenes
Nach der Ansicht des Hermogenes kann jeder nach seinem Belieben eine Privatsprache schaffen, in der beispielsweise das Wort „Pferd“ die Bedeutung „Mensch“ erhält und das Wort „Mensch“ die Bedeutung „Pferd“. Die Wortbedeutungen der Privatsprache sind nicht richtiger oder weniger richtig als die des allgemeinen Sprachgebrauchs. Dagegen bringt Sokrates vor, es sei unstimmig, eine Aussage als Ganzes für wahr oder falsch zu halten, aber den Teilen der Aussage einschließlich der kleinsten Teile, der einzelnen Wörter, keinen Wahrheitswert zuzuweisen. Diese Überlegung bringt jedoch Hermogenes nicht von seiner Meinung ab. Er macht zugunsten seiner Hypothese geltend, dass es nicht nur verschiedene Sprachen gibt, sondern der Sprachgebrauch sogar von Stadt zu Stadt schwankt.
Darauf wählt Sokrates einen neuen Ansatz. Er fragt, ob die Subjektivität und Beliebigkeit, die Hermogenes für die Wortbedeutungen annimmt, auch für die Dinge gelten soll. Damit ordnet er die subjektivistische Sprachtheorie seines Gesprächspartners in den Zusammenhang eines subjektivistischen Weltbilds ein, wie es der einflussreiche Sophist Protagoras vertritt. Protagoras lehrt, dass der Mensch das Maß aller Dinge sei. Nach der hier wiedergegebenen Interpretation seiner Auffassung ist damit jeder einzelne Mensch gemeint. Demnach gibt es keine objektive Realität, sondern für jeden sind die Dinge wirklich so, wie sie ihm erscheinen. Außer den Erscheinungen, die auf subjektive Weise wahrgenommen und bewertet werden, gibt es keine erkennbare Wirklichkeit. Hermogenes neigt zu dieser Position, aber Sokrates macht ihn auf ein Problem aufmerksam: Wenn man so denkt, verlieren Begriffe wie „gut“, „schlecht“, „vernünftig“ und „unvernünftig“ jeden objektiven Sinn. Dann ist kein Mensch vernünftiger oder ethisch besser als ein anderer, und es ist nicht mehr möglich, sich über die Richtigkeit oder Falschheit solcher Urteile zu verständigen. Vor dieser Konsequenz schreckt Hermogenes zurück, daher schließt er sich der Ansicht des Sokrates an. Somit wird Übereinstimmung darüber erzielt, dass sich Aussagen über das Wesen von Personen auf objektive Sachverhalte in deren Natur beziehen; Menschen sind tatsächlich charakterlich gut oder schlecht.
Ebenso sind, wie Sokrates anschließend darlegt, menschliche Handlungen nicht das Ergebnis willkürlicher Einfälle, sondern sie orientieren sich an den Naturgegebenheiten. Man kann etwas nur so schneiden oder brennen, wie es die Naturgesetze gestatten. Richtig ist das Vorgehen, mit dem man sich den Gegebenheiten anpasst, um einen Zweck zu erreichen. Hier sind „richtig“ und „falsch“ objektive Tatsachen, der Erfolg oder Misserfolg ist das Kriterium der Richtigkeit einer Handlung. Da das Reden eine Handlung ist, muss dies auch für Mitteilungen gelten. Auch dabei gibt es richtiges und falsches Verhalten: Wer sich nicht an die naturgemäßen Regeln verbaler Kommunikation hält, erreicht nichts. Daraus folgert Sokrates, dass auch das Benennen, das ein fundamentaler Teil des Redens ist, an einer objektiven Realität ausgerichtet sein muss; eine Benennung hat der Natur des Benannten zu entsprechen. Das Wort ist das Werkzeug des Sprechenden so wie ein Bohrer das Werkzeug eines Handwerkers oder das Weberschiffchen das Werkzeug des Webers. Wie ein Handwerksgerät muss es für die Aufgabe, die es zu erfüllen hat, geeignet sein. Seine Aufgabe ist das Belehren und die Abgrenzung des Wesens des von ihm Bezeichneten. Somit ist es nicht beliebig. Der „Gesetzgeber“ oder „Wortbildner“, der die Wortbedeutungen eingeführt hat, kann nicht willkürlich gehandelt haben. Er muss die Benennungen unter dem Gesichtspunkt ihrer Tauglichkeit für den jeweiligen Zweck eingeführt haben. Ebenso wie ein Produzent von Handwerksgeräten muss er ein Fachmann gewesen sein und als solcher über eine besondere „Kunst“ (téchnē) verfügt haben.
Die Verschiedenheit der Sprachen, von denen jede ihren eigenen Wortbildner hat, steht dem nicht entgegen. Die Wortbildner sind Schmieden vergleichbar, von denen jeder eine andere Art Eisen verwendet und daraus brauchbare Werkzeuge herstellt. Wenn ein Schmied einen Bohrer herstellt, hat er dabei ein Urbild im Sinn, ein geistiges Muster, an dem er sich orientiert. Analog orientiert sich ein Wortbildner, wenn er ein Wort einführt, am Urbild – der „platonischen Idee“ – der Benennung für den jeweiligen Gegenstand. Das Wort, das er diesem Gegenstand in der jeweiligen Sprache zuweist, ist ein Abbild jener allgemeinen Idee. Jede Benennung in jeder Sprache ist der dem benannten Ding zugeordneten Benennungsidee nachgebildet, welche die Natur des zu benennenden Dings optimal ausdrückt. Die Verschiedenheit der Benennungen desselben Dings in verschiedenen Sprachen ergibt sich daraus, dass sie unterschiedliche Abbildungen desselben Urbilds sind. Das Urbild selbst hat als solches wie alle platonischen Ideen keine sinnlich wahrnehmbare Form. Nur die Abbilder sind hörbare Wörter.
Die Beurteilung der Qualität eines Instruments fällt in die Kompetenz des Fachmanns, der es verwenden soll. Analog verhält es sich nach Sokrates’ Überzeugung mit den Wörtern: Die Richtigkeit ihrer Zuordnung zu den Dingen zu beurteilen ist die Aufgabe desjenigen, der sie gebrauchen soll. Das ist der, der sachverständig zu fragen und zu antworten versteht: der Dialektiker, der wissenschaftlich untersuchende Philosoph. Sokrates gibt Kratylos im Prinzip Recht, indem er einen inneren Zusammenhang zwischen der Beschaffenheit der Wörter und derjenigen der Dinge annimmt und diesen auf das überlegte Vorgehen fachkundiger Wortbildner zurückführt. Er teilt auch die Meinung des Kratylos, wonach die dabei geltenden Gesetzmäßigkeiten prinzipiell erkennbar sind und ihre Erforschung zu den Aufgaben des Philosophen gehört.
Die Untersuchung anhand von Beispielen
Hermogenes kann der Argumentation des Sokrates auf der theoretischen Ebene nichts entgegensetzen. Er bezweifelt aber weiterhin, dass eine natürliche Richtigkeit der Wörter konkret demonstriert werden kann, und fordert Sokrates auf, sie aufzuzeigen. Sokrates behauptet nicht, dazu in der Lage zu sein, ist aber gern bereit, zusammen mit Hermogenes eine Untersuchung durchzuführen. Dass von Sophisten wie Protagoras diesbezüglich nichts zu erhoffen ist, ist Hermogenes nun klar.
Einen ersten Anhaltspunkt für die Ermittlung der natürlichen Richtigkeit findet Sokrates bei Homer. Verschiedentlich stellt der berühmte Dichter fest, bei den Göttern würden andere Namen verwendet als bei den Menschen. Beispielsweise erfährt man in Homers Ilias, der Fluss, den die Menschen Skamandros nennen, werde bei den Göttern Xanthos genannt. Demnach ist Xanthos der richtige Name, denn den Göttern ist bessere Sachkenntnis zuzutrauen als den Menschen. Anschließend erörtert Sokrates eine Reihe von Benennungen, zunächst Namen von mythischen Gestalten wie des Königs Tantalos und des trojanischen Helden Hektor und von Göttern wie Zeus und Uranos. Die Personennamen hängen mit ähnlich klingenden Begriffen zusammen und sagen damit etwas über ihre Träger aus; beispielsweise soll der Name des mythischen Helden Orestes durch seine Ähnlichkeit mit oreinón („gebirgig“) das Wilde und Raue in der Wesensart des Namensträgers ausdrücken. Anhand derartiger etymologischer Deutungen der Namen erläutert Sokrates, wie man sich deren inneren Zusammenhang mit den Namensträgern vorstellen kann. Dabei zieht er teils mehrere Deutungen für einen Namen in Betracht. Er drückt sich vorsichtig aus, womit er seine Unsicherheit erkennen lässt. Zugleich scheint er aber von seinen Einfällen begeistert zu sein.
Sokrates betont, der Zusammenhang beruhe nur darauf, dass der Name etwas für seinen Träger Charakteristisches anklingen lasse. Dies könne auf unterschiedliche Weise geschehen, die Richtigkeit der Benennung hänge nicht von einem bestimmten Lautbestand oder einer bestimmten Reihenfolge der Buchstaben oder Silben ab. Einschränkend weist Sokrates allerdings darauf hin, dass Menschen oft nach ihren Vorfahren benannt werden oder die Namensgebung Wunschvorstellungen der Eltern ausdrückt wie etwa bei Theophilos („gottgeliebt“, deutsche Lehnübersetzung Gottlieb). Solche Namen könnten dem Wesen ihrer Träger nicht gerecht werden, sie seien nicht die von Natur aus richtigen. Daher stoße man bei allgemeinen Begriffen eher auf Richtiges als bei individuellen Namen.
Es folgt die Analyse zahlreicher Wörter, beginnend mit „Götter“, „Daimonen“, „Heroen“ und „Menschen“. Das Wort „Götter“ (theoí) wird auf das Laufen (thein) zurückgeführt, was mit dem Lauf der für Götter gehaltenen Gestirne zusammenhänge. „Mensch“ (ánthrōpos) ist nach der Etymologie des Sokrates aus zwei Bestandteilen zusammengesetzt: Der Mensch ist dadurch charakterisiert, dass er das bedenkt (anathreí), was er gesehen hat (ópōpe); im Gegensatz zu den Tieren, die sich nichts überlegen, ist er der Erwäger (anathrṓn) des Gesehenen. Anschließend werden die Wörter „Seele“ und „Körper“ betrachtet. Dabei führt Sokrates eine Interpretation an, der zufolge der Körper (sṓma) das Grab (sēma) der Seele ist, weil sie in ihm wie in einem Grab eingeschlossen ist; außerdem deutet er – mit Berufung auf eine orphische Lehre – den Körper als das, worin die Seele bis zum Tode aufbewahrt wird (sṓzetai). Darauf untersucht Sokrates auf Wunsch des Hermogenes eine Reihe von Götternamen sowie Bezeichnungen für Gestirne, Elemente und Zeiten. Dabei verbindet er mitunter die Analyse der Wörter mit philosophisch-theologischen Überlegungen; so erklärt er bei der Erörterung des Namens von Hades, des Gottes des Totenreichs, dieser werde von den Menschen grundlos gefürchtet. Die Ursache der Angst sei, dass die Verstorbenen nicht zurückkehrten. In Wirklichkeit blieben sie aber freiwillig im Totenreich, da sie das dortige körperfreie Dasein dem irdischen vorzögen und Hades ein großer Wohltäter sei. Schließlich wendet sich Sokrates Begriffen aus der Erkenntnistheorie und der Ethik zu sowie zahlreichen weiteren Ausdrücken aus verschiedenen Bereichen.
Bei diesen Erörterungen berücksichtigt Sokrates auch das Phänomen des Sprachwandels, den er zum Teil auf das Streben nach Wohlklang oder nach bequemer Aussprache zurückführt. Die Wörter seien im Lauf der Zeit umgeformt worden und dadurch sei ihr ursprünglicher innerer Zusammenhang mit den zugehörigen Dingen beeinträchtigt worden. In manchen Fällen seien Wörter durch Hinzufügen und Entfernen von Buchstaben so verändert worden, dass ihre ursprüngliche natürliche Richtigkeit nicht mehr erkennbar sei. Der ursprüngliche Sinn könne sogar ins Gegenteil verkehrt werden; in diesen Fällen müsse man sich an die alten Wortformen halten.
Die Elementarwörter
Die bisher erörterten etymologischen Erklärungen bestehen darin, dass Wörter oder deren Bestandteile auf andere, ähnliche Wörter zurückgeführt werden. Dieses Verfahren kann aber, wie Sokrates nun feststellt, nicht endlos fortgesetzt werden, es muss an eine Grenze stoßen. Daher muss es Elementarwörter geben, die weder aus anderen Wörtern zusammengesetzt noch anderweitig auf andere Wörter zurückführbar sind. Sokrates vermutet, dass „gehen“, „fließen“, „binden“ und „halten“ solche Elementarwörter sind. Diese müssen ebenso wie alle anderen Wörter der Theorie zufolge eine Richtigkeit aufweisen, die auf ihrer Übereinstimmung mit dem von ihnen Bezeichneten beruht. Da aber in diesen Fällen die Richtigkeit nicht auf etymologischem Weg ermittelt werden kann, muss eine andere Vorgehensweise gefunden werden.
Den Ausgangspunkt bildet hier die Überlegung, dass der Wortbildner bei der Gestaltung der Benennungen das, was jeweils zu benennen war, nachgeahmt haben muss, um die angestrebte Übereinstimmung herbeizuführen. Dabei kann es sich aber nicht um ein simples Nachäffen mit der Stimme handeln, sonst bestünde die richtige Benennung eines Tieres in der Imitation seiner Lautäußerungen. Vielmehr ist bei den kleinsten Bestandteilen der Wörter, den Lauten, anzusetzen, indem deren Beziehungen zu den Dingen ermittelt werden, und wenn der Wesenszusammenhang zwischen den einzelnen Lauten und den Dingen erfasst ist, kann zu den größeren Einheiten, den Silben, und schließlich zu den Wörtern vorangeschritten werden.
Hinsichtlich der konkreten Ausgestaltung des Zuordnungssystems fühlt sich Sokrates unsicher, er betont vorab den hypothetischen Charakter seiner Überlegungen, die ihm selbst befremdlich vorkommen, und trägt dann seine Deutung einzelner Laute vor. Den Laut r betrachtet er als das passende Ausdrucksmittel für Bewegungen aller Art, da bei diesem Laut die Zunge am wenigsten unbewegt bleibt, sondern besonders stark vibriert. Daher hat der Wortbildner beispielsweise mit dem Wort rheín („fließen“) die Bewegung, um die es geht, durch das r nachahmend ausgedrückt. Das i ist der Laut, der am leichtesten durch alles hindurchgeht, daher passt es zu allem Feinen. Die Laute ph, ps, s und z sind hauchartig, daher eignen sie sich zur Bezeichnung von allem, was diese Natur aufweist, beispielsweise des Windigen (physṓdēs). Bei der Bildung des d und des t wird die Zunge zusammengedrückt und angepresst, daher sind diese Laute in Wörtern wie desmós („Binde“) und stásis („Stillstand“) enthalten, die sich auf die Hemmung oder das Fehlen von Bewegung beziehen. Beim l gleitet die Zunge am meisten, daher ist dieser Laut in leía („Glattes“) enthalten sowie auch in Wörtern wie olisthánein („gleiten“), liparón („fettig“) und kollṓdes („leimig“). Das g wirkt dem Gleiten der Zunge entgegen, daher passt die Verbindung von g und l für Wörter wie glíschron („klebrig“), glyký („süß“) und gloiṓdes („harzig“). Das n entsteht im Inneren des Mundes, daher wird in Wörtern wie éndon („innen“) und entós („innerhalb“) der Sachverhalt mit diesem Laut ausgedrückt. Das a ist groß und daher dem Wort mégas („groß“) zugeordnet, das lange ē passt zu mēkos („Länge“), während das o mit seiner Rundheit in gongýlon („das Runde“) dominiert.
Die Überprüfung der Theorie des Kratylos
Hermogenes beklagt sich darüber, dass ihm Kratylos bisher seine Lehre von der Beziehung zwischen den Benennungen und den benannten Dingen nicht konkret erklärt hat, sondern sich auf vage Behauptungen beschränkt. Nun soll Kratylos zum Konzept des Sokrates Stellung nehmen und zugleich das seinige enthüllen. Kratylos reagiert ausweichend; er rechtfertigt seine Zurückhaltung mit der Ausrede, es handle sich um ein schwieriges Thema, das man nicht so leicht bewältigen könne. Doch Hermogenes und Sokrates gestatten ihm keine Ausflüchte. Sokrates fordert ihn auf, sich als Fachmann, der er ja sei, zu äußern. Darauf stimmt Kratylos den bisherigen Ausführungen des Sokrates pauschal zu, ohne selbst inhaltlich etwas beizutragen. Nun lädt ihn aber Sokrates zu einer gemeinsamen kritischen Überprüfung des Konzepts ein und warnt vor der Gefahr, bei unzureichender Selbstkritik einer Illusion zu erliegen. Die Selbsttäuschung sei die schlimmste Form von Täuschung, da der Täuschende dem Getäuschten keinen Augenblick von der Seite weiche.
Sokrates macht geltend, dass es unter den Künstlern und Handwerkern wie etwa Malern oder Baumeistern bessere und schlechtere gibt. Das räumt Kratylos ein. Sokrates will darauf hinaus, dass dann analog auch bei Gesetzgebern und Wortbildnern Qualitätsunterschiede anzunehmen seien, womit die Richtigkeit der Namensgebung relativiert würde. Das gibt Kratylos aber nicht zu. Er lehnt diesen Gedankengang, der seine Position unterminiert, radikal ab und behauptet, alle Benennungen seien gleich richtig. Um seine These gegen jede mögliche Kritik abzusichern, nimmt er sie in die Definition des Begriffs „Benennung“ auf: Unter „Benennung“ sei immer nur die jeweils richtige Bezeichnung zu verstehen, alle „falschen“ Benennungen seien in Wirklichkeit keine.
Dagegen wendet Sokrates ein, dass – wie schon zu Beginn des Dialogs erwähnt – „Hermogenes“ nach der Ansicht des Kratylos nicht der wahre Name des Hermogenes sei, dieser aber dennoch so heiße. Konsequenterweise antwortet Kratylos, Hermogenes führe diesen Namen nur scheinbar, da es nicht sein eigener Name sei, sondern der eines anderen. Mit dieser Deutung des Sachverhalts erweist sich Kratylos als Anhänger einer damals verbreiteten Lehre, nach der Schein und Täuschung in keiner Weise real sind, sondern nur Wahres existiert. Wahrheit ist immer absolut, abgestufte oder teilweise Richtigkeit gibt es nicht. Da sich Lüge und Irrtum auf etwas beziehen, was nicht ist, kann ihnen keinerlei Sein zukommen. Aussagen, die von Nichtseiendem handeln, gehören selbst zum Nichtseienden. Das bedeutet, dass unwahre Aussagen in Wirklichkeit keine Aussagen sind. Wenn beispielsweise jemand Kratylos mit Hermogenes verwechselt und mit „Willkommen, Hermogenes!“ begrüßt, so sagt er nicht etwas Falsches, sondern gar nichts; was er von sich gibt, sind nicht Worte, sondern nur eine sinnlose Folge von Tönen, wie wenn man auf Metall schlägt und damit einen Klang erzeugt.
Darauf versucht Sokrates, die Bestreitung der Realität von Falschem als unsinnig zu erweisen. Er veranschaulicht seine Sichtweise mit einem Vergleich: Ein Bild ist Nachahmung des Abgebildeten, eine Benennung nach Kratylos’ Theorie Nachahmung des Benannten. Man kann ein Bild fälschlich einem Gegenstand zuordnen, den es nicht abbildet. Beispielsweise kann man einem Mann das Bild einer Frau als sein eigenes Porträt zeigen. Ebenso kann man ihm auch sagen, er sei eine Frau. Wenn ein unrichtiges Zeigen möglich ist, muss auch ein unrichtiges Bezeichnen möglich sein. Darauf sollen sich die Begriffe „unrichtig“ und „falsch“ bei der Verwendung von Wörtern beziehen. Demnach gibt es falsche Bezeichnungen wirklich. Dann muss es auch falsche Sätze geben.
Anschließend wendet sich Sokrates gegen die Bestreitung relativer Richtigkeit, wobei er wiederum einen Vergleich mit Zeichnungen und Gemälden verwendet, um zu zeigen, dass es bei den Elementarwörtern relative Richtigkeit gebe. Ein Bild kann man verbessern oder verschlechtern, indem man einzelne Farben und Formen hinzufügt oder weglässt. So entstehen in der Malerei Qualitätsunterschiede, die Nachahmung des Abgebildeten gelingt besser oder schlechter. Analog soll es sich mit den Elementarwörtern verhalten: Ihre Richtigkeit lässt sich durch Veränderung des Laut- und Silbenbestandes verändern, sie variiert und ist somit relativ. Kratylos folgt zunächst diesem Gedankengang, lehnt dann aber die Folgerung ab und beharrt auf seiner alten Position: Wenn man an der richtigen Benennung auch nur die geringste Veränderung vornimmt, etwa einen Buchstaben versetzt, wird sie dadurch sofort eine andere. Damit büßt sie nicht nur ihre Richtigkeit ein, sondern zugleich ihr Sein. Sie ist dann keine Benennung mehr.
Dagegen bringt Sokrates vor, Kratylos denke mathematisch, hier jedoch gehe es nicht wie in der Mathematik um Quantitäten, die entweder stimmen oder nicht, sondern um die Qualität von Nachahmungen. Sein Gedankengang lautet: Eine Nachahmung kopiert das Nachgeahmte niemals exakt, sonst wäre sie dessen Verdoppelung, und dann gäbe es keinen Unterschied mehr zwischen Abbild und Abgebildetem, Benennung und Benanntem; ein Ding und sein Name wären identisch. Jedes Bild kann zwangsläufig das abgebildete Objekt nur teilweise wiedergeben; beispielsweise kann ein Maler, der Kratylos malt, zwar seine Hautfarbe und seine Gestalt nachbilden, nicht aber sein Inneres, die Abstufungen seiner Weichheit und Wärme, seine Bewegungsweise, seine Seele und sein Denken. Analog verhält es sich mit einer Benennung; auch sie kann, da sie nur ein Wort ist, niemals die Gesamtheit des Benannten in sich enthalten. Eine Bezeichnung soll nur das Charakteristische des Bezeichneten möglichst gut abbilden. Somit ist die Richtigkeit der einzelnen Benennungen relativ und schwankend. Kratylos räumt dies widerstrebend ein.
Hieran anknüpfend will Sokrates nunmehr zeigen, dass die Konventionshypothese des Hermogenes keineswegs gänzlich verfehlt sei. Dazu führt er folgendes Beispiel an. Das r passt – wie schon dargelegt – zur Rauheit, das l zum Glatten und Weichen. Das griechische Wort für „rau“ ist sklērós. Wenn aber das l das Gegenteil von „rau“ ausdrückt, dürfte es in dem Wort, das diese Bedeutung hat, gar nicht vorkommen. Kratylos stimmt zu und vermutet, es handle sich um eine Verfälschung; die ursprüngliche, richtige Wortform sei vielleicht skrērós. Nun macht Sokrates darauf aufmerksam, dass dennoch jeder die gebräuchliche Wortform mit dem verbindet, was sie bezeichnen soll. Das führt Kratylos selbst auf Gewohnheit zurück. Damit hat er eine wichtige Konzession gemacht, denn nun gibt er zu, dass der Lautbestand der Wörter zumindest teilweise auf Konventionen beruht, die sich durch Gewöhnung durchgesetzt haben, obwohl sie zum Teil sogar das Gegenteil des nach seiner Theorie von Natur aus Richtigen beinhalten. Ein weiteres Argument des Sokrates lautet, dass das Nachahmungsmodell des Kratylos an den Zahlen scheitere: Die Zahlenreihe könne nicht mit lautlich nachahmenden Bezeichnungen dargestellt werden, bei den Zahlennamen müsse Zuordnung durch Konvention vorliegen.
Erkenntnistheoretische Konsequenzen
Schließlich wendet sich Sokrates dem Kern von Kratylos’ Theorie zu: der erkenntnistheoretischen Relevanz der Wörter. Kratylos hält Benennungen für lehrreich: Wer sie kenne, der kenne dank des inneren Zusammenhangs auch die Dinge, und darin liege der Wert der Benennungen. Aus seiner Sicht bildet das Verständnis der Wörter sogar den einzigen Weg, auf dem man zur Wahrheit über die Dinge vordringen kann. Das bedeutet, dass für Kratylos die Möglichkeit philosophischer Erkenntnis der Wirklichkeit mit seiner Sprachtheorie steht oder fällt. Nachdem sich aber gezeigt hat, dass Benennungen zumindest teilweise auf willkürlichen Konventionen und Gewohnheiten beruhen und außerdem, auch wenn man vom Konzept natürlicher Richtigkeit ausgeht, falsch oder verfälscht sein können, erscheint die Erkundung der Wahrheit mittels der Wörter als sehr problematisch. Gesichertes Wissen ist auf diesem Weg, wie Sokrates nun betont, nicht zu erlangen.
Dieses Ergebnis will Kratylos allerdings nicht mittragen, da nun der völlige Zusammenbruch seiner Theorie droht. Er beruft sich auf die Kompetenz des Wortbildners, der gewiss richtig entschieden habe; zudem habe Sokrates selbst bereits die Sinnhaftigkeit und zweckmäßige Bildung der Wortformen aufgezeigt. Dieses Argument lässt Sokrates jedoch nicht gelten. Er zeigt anhand einer Reihe von Beispielen Widersprüche auf, die sich ergeben, wenn man versucht, im Sinne von Kratylos’ Theorie die Wörter konsequent in eine Systematik zu bringen. Ferner weist er auf eine Unlogik in der Theorie hin: Die Wortbildner der einzelnen Sprachen müssen die Benennungen nacheinander eingeführt und den Dingen zugeordnet haben, beginnend mit den Elementarwörtern. Dazu bedurften sie einer Kenntnis der Natur der Dinge. Wenn aber, wie Kratylos meint, die Natur der Dinge nur aus deren Benennungen erschließbar ist, können die Wortbildner noch nicht über sie Bescheid gewusst haben, als sie mit ihrer Tätigkeit begannen. Als Ausweg schlägt Kratylos vor, eine wortbildende Instanz mit übermenschlichen Fähigkeiten anzunehmen. Damit kann er aber die Unstimmigkeiten, an denen die Anwendung seiner Theorie scheitert, nicht beheben.
Nun zieht Sokrates die Folgerung aus dem Ergebnis der Diskussion. Es hat sich herausgestellt, dass die Benennungen als Nachahmungen der benannten Dinge teilweise unpassend sind. Daher darf man nicht von den Wörtern ausgehen, wenn man Wissen über die Dinge erlangen will, sondern man muss sich den Dingen selbst unmittelbar zuwenden. Dies hat den gewichtigen Vorteil, dass man dann nicht auf dem Umweg über Abbilder, sondern auf direkte Weise Erkenntnisse über die Wirklichkeit anstrebt.
Allerdings kann das Erkenntnisstreben, wie Sokrates ergänzend bemerkt, nur erfolgreich sein, wenn es Erkenntnisobjekte gibt, die sich selbst immer gleich bleiben. Wenn die Natur von etwas wandelbar ist, kann sie nicht erkannt werden, da dann auch die Richtigkeit der Aussagen, die sich auf sie beziehen, der Veränderung unterliegt, sogar schon während des Beobachtungs- und Erkenntnisprozesses. Mit dieser Überlegung wendet sich Sokrates gegen die „Flusslehre“ des Kratylos. Der Vorsokratiker Heraklit, dessen Lehre Kratylos’ Weltbild geprägt hat, hat den unablässigen Wandel aller Erscheinungen betont und mit Fluss-Metaphern veranschaulicht. Diesen Gedanken sollen die Herakliteer – namentlich Kratylos – zugespitzt haben. Nach der hier von Sokrates kritisierten radikalen Variante der Flusslehre ist ausnahmslos alles so „im Fluss“, dass es überhaupt nichts Dauerhaftes gibt. Dieser Grundsatz müsste allerdings auch für die Benennungen gelten und würde generell jede Erkenntnis unmöglich machen. Vor einem solchen erkenntnistheoretischen Pessimismus als Konsequenz aus der Flusslehre will Sokrates warnen. Zugleich wirbt er für seine Alternative, die Ideenlehre, nach der es beispielsweise ein unwandelbares „Schönes an sich“ als objektive Realität gibt. Er kann zwar nicht ausschließen, dass es sich so verhält, wie die Herakliteer glauben, doch ist er anderer Meinung und fordert Kratylos auf, seine Position zu überdenken.
Kratylos nimmt sich vor, weiter darüber nachzudenken, will aber an der Flusslehre festhalten, die er weiterhin überzeugend findet.
Die Gesprächsführung
Im Verlauf der Diskussion zeigt sich der Unterschied im Naturell zwischen Hermogenes und Kratylos. Hermogenes ist unsicherer und flexibler, er ist eher bereit, die Konsequenzen aus den ihm schlüssig scheinenden Darlegungen des Sokrates zu akzeptieren. Infolge seiner Naivität und Unerfahrenheit im philosophischen Diskurs ist er für Sokrates kein schwieriger Debattengegner. Von Kratylos zeichnet Platon ein relativ unvorteilhaftes Bild, das dem der in anderen platonischen Dialogen auftretenden Sophisten ähnelt. Trotz seiner Jugend will Kratylos den Eindruck erwecken, ein erfahrener Fachmann für schwierige philosophische Fragen zu sein, und traut sich zu, den weit älteren Sokrates zu seinem Schüler zu machen. Er ist aber offenbar nicht in der Lage, auf seinem Spezialgebiet, der Sprachphilosophie, sein eigenes Modell vorzutragen und zu erläutern, sondern reagiert nur auf die Fragen und Anregungen des Sokrates. Wenn er argumentativ in Bedrängnis gerät, hält er letztlich doch unbeirrt an seiner Position fest. Der Kontrast zwischen seinem Wissensanspruch und der Dürftigkeit seiner Beiträge zur Untersuchung lässt ihn als arrogant erscheinen.
Philosophische Bilanz
Platons Auffassung ist in ihren Grundzügen aus den Äußerungen seines Sokrates im Dialog zu erschließen, die allerdings teils ironisch gemeint sind. Offensichtlich bringt Platon der Denkweise seines Kratylos, der eine bis ins Letzte sinnvoll durchgestaltete, prinzipiell erkennbare Weltordnung annimmt, viel Verständnis entgegen. Wie sein Kratylos lehnt er eine generelle Zurückführung der Benennungen auf reine Willkür und damit auf Zufall ab; einen Abbildcharakter der Wörter anzunehmen hält er zumindest vom Ansatz her für legitim.
Allerdings hält Platon die Wörter als Abbilder für erheblich verfälscht und schwer interpretierbar. Er ist sich über die gewaltigen Schwierigkeiten im Klaren, denen ein auf diesem Konzept basierendes Welterklärungsmodell in der Praxis begegnet. Einige Bemerkungen des Sokrates sollen dem Leser die Fragwürdigkeit der im Dialog unternommenen Versuche einer Wesensbestimmung der Dinge vor Augen führen. So stellt Sokrates fest, es gebe Indizien dafür, dass der Wortbildner die Dinge als fließend betrachtet habe, während andere Anzeichen dafür sprächen, dass er sie als statisch aufgefasst habe. Außerdem seien die Benennungen der vortrefflichsten Dinge denen der übelsten ähnlich. Als Kratylos dazu bemerkt, die meisten Anzeichen deuteten darauf, dass der Wortbildner ein Weltbild im Sinne der Flusslehre vertreten habe, macht ihn Sokrates darauf aufmerksam, wie abwegig es wäre, aus der Häufigkeit ein Wahrheitskriterium zu machen. Das sieht Kratylos ein. Hier wendet sich Platons Sokrates gegen voreilige, methodisch verfehlte Schlüsse, nachdem er schon zu Beginn seines Gesprächs mit Kratylos nachdrücklich vor Selbsttäuschung gewarnt hat. Unproblematisch ist hingegen der Umstand, dass Sokrates im Dialog für manche Wörter mehrere etymologische Erklärungen bietet. In der Antike galt solche Mehrdeutigkeit nicht als widersprüchlich, sondern die Deutungen wurden als einander ergänzend betrachtet. Der Wortbildner konnte mehrere einem Wort innewohnende Wahrheiten zugleich im Sinn gehabt haben.
Platon tritt nicht für die Hypothese eines historischen Verfalls ein, die eine generelle und bequeme Erklärung für die Schwierigkeiten der etymologischen Analyse bieten könnte. Er glaubt nicht, dass es anfänglich eine vollkommene Ursprache in einem Goldenen Zeitalter der Sprache gegeben habe und erst später die Verfälschung eingesetzt habe, sondern er rechnet mit einem anfänglichen Fehler des Wortbildners, der eine Kette weiterer Irrtümer nach sich gezogen habe. Die Sprachentwicklung sieht er als zusätzlichen Faktor, der später hinzukam. Er ist sich des Umstands bewusst, dass bei der Ausformung der Sprache Konvention und Gewohnheit eine wichtige Rolle spielen. Auch dieser Aspekt wird im Dialog gewürdigt. Angesichts der vielfältigen schweren Probleme und Unsicherheiten bei der Wortuntersuchung ist Platon nicht gewillt, der Sprache die hohe erkenntnistheoretische Relevanz zuzubilligen, die Kratylos ihr zuweist. Er akzeptiert Wörter nicht als eigenständige Erkenntnismittel. Hinzu kommt seine generelle Abneigung gegen eine Befassung mit Abbildern statt direkter Hinwendung zu den Urbildern.
Umstritten ist vor allem, ob die platonische Sprachphilosophie eher konventionalistisch oder eher naturalistisch geprägt ist. Damit hängt die Frage zusammen, wie Platon die zahlreichen von seinem Sokrates vorgetragenen Wortdeutungen, die nach heutigem Verständnis größtenteils etymologisch falsch sind, beurteilt hat. Der dominierenden Forschungsmeinung zufolge will er diese Art der Wortdeutung nur als sinnlose und lächerliche Betätigung diskreditieren. Nach der gegenteiligen Interpretation ist seine Absicht in diesen Partien des Dialogs nicht nur polemisch, sondern er billigt den Wortdeutungen einen begrenzten Erkenntniswert zu, da er sie etymologisch und teilweise auch philosophisch für richtig hält.
Manfred Kraus weist darauf hin, dass sich bei Platon die Benennungen auf die Ideen – die Urbilder der sinnlich wahrnehmbaren Dinge – als die eigentlichen Gegenstände der Erkenntnis beziehen. Da im Platonismus allein die ewigen, unwandelbaren Ideen das wahre Sein besitzen, wird dadurch ein Wahrheitsbezug der Sprache möglich, ohne dass eine direkte Beziehung zwischen den Benennungen und den Dingen der sinnlich wahrnehmbaren Welt angenommen werden muss. Die Beziehung zwischen den Benennungen und den Sinnesobjekten ist indirekt, da die Sinnesobjekte durch Teilhabe (Methexis) an den Ideen partizipieren.
Ein weiteres Thema der Forschung ist die Frage, ob die Wörter im Kratylos eher unter dem Aspekt des Klangs ihrer Laute oder unter dem Aspekt der Buchstaben, mit denen man sie schriftlich fixiert, betrachtet werden.
Der Ertrag des Dialogs besteht in erster Linie in der Einsicht, dass sich der Ansatz einer etymologischen Weltdeutung als untauglich erwiesen hat. Der Versuch, über die Etymologie und Lautgestalt der Wörter zu einer Erkenntnis der Dinge vorzustoßen, ist gescheitert. Weder Hermogenes’ noch Kratylos’ Theorie über die Sprachentstehung scheint zu einer stimmigen, rundum befriedigenden Erklärung der sprachlichen Befunde zu führen. Sokrates betont die Unsicherheit seiner Erwägungen. Der Dialog endet in einer Ratlosigkeit (Aporie), die weitere Bemühungen und einen neuen Ansatz erforderlich macht.
Historischer Hintergrund und Entstehungszeit
Platons Sokrates unterscheidet sich als literarische Gestalt erheblich von dem historischen Sokrates; er vertritt die Ideenlehre, eine platonische Theorie, die nicht zum Gedankengut des historischen Sokrates gehört. Unklar ist, inwieweit die Theorien des Kratylos und des Hermogenes damals gängigen Ansichten entsprechen.
Der Derveni-Papyrus, eine 1962 aufgefundene Schriftrolle, zeigt, dass schon vor der Entstehung des Kratylos eine Lehre von der objektiven Richtigkeit der Namen Verbreitung gefunden hat. Der Papyrus enthält Fragmente eines Gedicht-Kommentars aus dem späten 5. oder frühen 4. Jahrhundert v. Chr. Die Ähnlichkeiten des dort dargestellten Deutungsverfahrens der Allegorese mit der Kratylos zugeschriebenen Sprachauffassung sind auffallend, ein konkreter Zusammenhang mit Platons Dialog ist allerdings nicht ersichtlich.
Platons Angaben zufolge hatte Kratylos Schüler, die er im „rechten Wortgebrauch“ unterrichtete. Möglicherweise hat Platon selbst in seiner Jugend an Kratylos’ Unterricht teilgenommen, bevor er sich Sokrates anschloss. Aristoteles berichtet, Platon sei von Jugend auf zuerst mit Kratylos und den heraklitischen Lehrmeinungen vertraut geworden und habe auch später hinsichtlich der Sinnesobjekte an der Flusslehre festgehalten. Daher wird in der Forschung angenommen, dass Platon zeitweise stark von den Vorstellungen des Kratylos beeinflusst war. Ob dies im Rahmen eines Lehrer-Schüler-Verhältnisses geschah, ist allerdings unklar. Jedenfalls beschränkte Platon die Gültigkeit der Flusslehre auf den Bereich der Sinnesobjekte, die metaphysischen Entitäten nahm er nachdrücklich von ihr aus.
Da der Kratylos ein literarisches Werk ist, ist damit zu rechnen, dass sich Platon die Freiheit genommen hat, seiner Kratylos-Figur einzelne Ansichten in den Mund zu legen, die der historische Kratylos in dieser Form nicht vertreten hat. Auffällig ist der schroffe Gegensatz zwischen der jede Dauerhaftigkeit verneinenden starken Variante der Flusslehre, die sich Platons Kratylos zu eigen macht, und dem Konzept einer zeitunabhängigen Richtigkeit von Benennungen, das im Dialog als zentraler Bestandteil seiner Philosophie erscheint.
Eine stark zugespitzte Version der heraklitischen Lehre vom Wandel wird Kratylos auch von Aristoteles zugeschrieben. Nach dessen Angaben war Kratylos der Meinung, angesichts des unablässigen Wandels seien wahre – das heißt zeitunabhängig zutreffende – philosophische Aussagen unmöglich. Demnach vertrat Kratylos einen radikalen erkenntnistheoretischen Skeptizismus. Hierzu erzählt Aristoteles, Kratylos habe aus diesem Grund schließlich gar nichts mehr gesagt, sondern nur noch seinen Finger (zum Zeigen) bewegt. Diese Anekdote stellt allerdings möglicherweise Kratylos’ Position und Verhalten verzerrt dar, sie kann von einem Gegner oder Spötter stammen. Jedenfalls erscheint Kratylos bei Aristoteles als konsequenter Anhänger der Flusslehre. Von einer Theorie des Kratylos über die natürliche Richtigkeit von Benennungen und die Erkennbarkeit der Dinge mittels der Wörter erwähnt Aristoteles nichts, vielmehr unterstellt er ihm eine aus der Flusslehre resultierende radikale Verneinung des Nutzens der Sprache für den Gewinn philosophischer Erkenntnis.
Eine mögliche Erklärung dafür, dass die Überlieferung Kratylos sowohl die Flusslehre als auch die Sprachtheorie zuschreibt, ist die Annahme, dass er seine Meinung geändert hat. Aristoteles’ Darstellung deutet darauf, dass Kratylos seine auf der Flusslehre basierende erkenntnistheoretische Skepsis im Lauf der Zeit radikalisiert und auf die Benennungen ausgedehnt hat, nachdem er anfangs an den erkenntnistheoretischen Nutzen der Etymologie geglaubt hatte. Er könnte damit auf Platons Kritik an seiner früheren Sprachtheorie reagiert und diese aufgegeben haben.
Öfters ist in der Forschung die Möglichkeit erwogen worden, dass man hinter der literarischen Gestalt des Kratylos einen ungenannten historischen Gegner Platons (oder mehrere) zu suchen habe oder es um die Bekämpfung von Tendenzen innerhalb von Platons Akademie gegangen sei.
In der Forschung ist umstritten, welchen Platz der Dialog chronologisch unter Platons Werken einnimmt. Die Hypothese einer eher frühen Entstehung hat zeitweilig Anklang gefunden. In der neueren Forschung hat sich jedoch die Einordnung unter die Werke der mittleren Zeit durchgesetzt. Weder aus den stilistischen noch aus den inhaltlichen Anhaltspunkten kann die Entstehungszeit zuverlässig genauer bestimmt werden. Außerdem ist damit zu rechnen, dass Platon den Dialog im Lauf der Zeit überarbeitet hat. Für eine Spätdatierung plädiert Mary Margaret Mackenzie; sie meint, im Kratylos lasse sich bereits eine Kritik an der Ideenlehre eruieren, wie sie im Spätwerk des Philosophen zu finden ist.
Rezeption
Antike
Die Nachwirkung des Kratylos in der Antike war beträchtlich. Platons bekanntester Schüler Aristoteles war Konventionalist. In seiner Schrift Peri hermeneias (De interpretatione) legte er seine Sprachtheorie dar, ohne ausdrücklich auf den Kratylos Bezug zu nehmen. Ob seine Stellungnahme als Reaktion auf diesen Dialog zu verstehen ist, ist in der Forschung umstritten. Die Stoiker befassten sich intensiv mit der Thematik des Dialogs. Sie lehnten den Konventionalismus ab und bekannten sich zur Lehre von der natürlichen Richtigkeit der Wörter. Die im Kratylos dargelegten Grundgedanken dieser Lehre – die Vorstellung vom Ursprung der Sprache und das Vorgehen bei der Wortdeutung – übernahmen sie weitgehend. Wie Platons Sokrates nahmen sie Elementarwörter an und meinten, der Sprachschöpfer habe alle übrigen Wörter aus den Elementarwörtern geschaffen. Sie teilten auch die im Kratylos vorgetragene Auffassung, dass die Aufgabe der Etymologie darin bestehe, zu den Elementarwörtern vorzudringen, und dass auf diesem Wege Erkenntnisse auch über nichtsprachliche Sachverhalte zu gewinnen seien. In manchen Einzelheiten entwickelten sie aber abweichende Ansichten; insbesondere hielten sie die Wörter nicht für Abbilder von Ideen, da sie die Ideenlehre ablehnten. Die im Dialog nachdrücklich geäußerte Skepsis gegenüber dem Wert der Etymologie für das philosophische Erkenntnisstreben scheint den stoischen Diskurs kaum beeinflusst zu haben; vielmehr legten die Stoiker großen Wert auf das Etymologisieren, da sie die Kompetenz der Wortbildner hoch veranschlagten.
In epikureischen Kreisen wurde die Annahme, ein Wortbildner habe die Wörter geschaffen und die Benennungen den benannten Dingen zugeordnet, als verrückte, lächerliche Vorstellung verworfen.
Der Geschichtsschreiber und Rhetor Dionysios von Halikarnassos hielt Platon für den Initiator der etymologischen Forschung, wobei er besonders auf den Kratylos hinwies.
In der Tetralogienordnung der Werke Platons, die anscheinend im 1. Jahrhundert v. Chr. eingeführt wurde, gehört der Kratylos zur zweiten Tetralogie. Der Philosophiegeschichtsschreiber Diogenes Laertios zählte ihn zu den „logischen“ Schriften und gab als Alternativtitel „Über die Richtigkeit der Wörter“ an. Dabei berief er sich auf eine heute verlorene Schrift des Mittelplatonikers Thrasyllos.
Der Philosoph Alkinoos, ein namhafter Vertreter des Mittelplatonismus in der römischen Kaiserzeit, ging in seinem „Lehrbuch (didaskalikós) der Grundsätze Platons“ ausführlich auf den Kratylos ein. Seinem Verständnis zufolge beruht nach Platons Lehre die Richtigkeit der Bezeichnungen auf einer korrekten Tätigkeit der Wortbildner, die auf den Zusammenhang der Wörter mit der Natur der bezeichneten Dinge geachtet haben. Alkinoos verschwieg Platons Skepsis hinsichtlich der Kompetenz der Wortbildner. Eine ähnlich positive Meinung von der Weisheit der Wortbildner hatte Plutarch, der die im Kratylos vorgeschlagenen Etymologien von Götternamen für richtig hielt. Bei seinen Ausführungen über die Etymologie des Namens der Göttin Isis berief er sich auf Platons Dialog.
Der Gelehrte Porphyrios († 301/305), ein Neuplatoniker, schrieb einen Kommentar zum Kratylos, der nicht erhalten geblieben ist. Auch bei den späteren Neuplatonikern fand der Dialog viel Beachtung. Iamblichos († um 320/325), der für den spätantiken Neuplatonismus eine wegweisende Rolle spielte, ließ in seiner Schule den Kratylos als vierten der zwölf aus seiner Sicht wichtigsten Dialoge Platons studieren, wie der Verfasser der anonym überlieferten spätantiken „Prolegomena zur Philosophie Platons“ berichtet. Im 5. Jahrhundert verfasste der Neuplatoniker Proklos einen Kratylos-Kommentar, von dem nur Auszüge erhalten geblieben sind. Sein Anliegen war die Ersetzung der damals gängigen aristotelischen Sprachtheorie durch eine platonische. Proklos befürwortete den Gedanken einer natürlichen Richtigkeit von Benennungen, insbesondere der Götternamen, denen nach seiner Ansicht ein Erkenntniswert zukommt. Er verglich die Götternamen mit Statuen der Götter. Als den ersten Wortbildner betrachtete er den Demiurgen, den Schöpfergott. Aus dieser Perspektive kritisierte er Aristoteles, in dem er einen Befürworter des im Dialog von Hermogenes vertretenen radikalen Konventionalismus sah. Proklos lehrte, Namen seien aus Form und Materie zusammengesetzte Abbilder metaphysischer Entitäten. Die materielle Komponente, der Klang, sei unwesentlich, es komme auf die Urbilder der Namen, die platonischen Ideen an. Die Ideen verortete er im göttlichen Intellekt (Nous). Auch der einflussreiche Aristoteles-Kommentator Ammonios Hermeiou, ein Schüler des Proklos, befasste sich mit dem Dialog; in seinem Kommentar zu Aristoteles’ Schrift Peri hermeneias erörterte er die konträren Auffassungen, die Kratylos und Hermogenes vertreten, und Platons eigene Position. Dabei bemühte er sich im Gegensatz zu Proklos um eine Harmonisierung der Konzepte von Platon und Aristoteles.
Auch in christlichen Kreisen wurde der Kratylos gelesen. Der Kirchenvater Eusebios von Caesarea zitierte in seiner Praeparatio evangelica mehrere Passagen des Dialogs in einem Kapitel, in dem er die Richtigkeit der Namen bei den Hebräern behandelte.
Die antike Textüberlieferung beschränkt sich auf ein Papyrus-Fragment aus dem späten 2. Jahrhundert.
Mittelalter und Frühe Neuzeit
Im Byzantinischen Reich hatten manche Gelehrte Zugang zum Kratylos; die älteste erhaltene mittelalterliche Handschrift wurde dort im Jahr 895 angefertigt. Bei den lateinischsprachigen Gelehrten des Abendlands hingegen war der Dialog im Mittelalter unbekannt. Im Westen wurde er erst im Zeitalter des Renaissance-Humanismus wiederentdeckt. Im frühen 15. Jahrhundert war der Humanist Leonardo Bruni im Besitz einer Kratylos-Handschrift. Die erste lateinische Übersetzung erstellte der Humanist Marsilio Ficino. Er veröffentlichte sie 1484 in Florenz in der Gesamtausgabe seiner Platon-Übersetzungen und stellte ihr eine Einleitung (argumentum) voran.
Die Erstausgabe des griechischen Textes erschien im September 1513 in Venedig bei Aldo Manuzio im Rahmen der von Markos Musuros herausgegebenen Gesamtausgabe der Werke Platons.
Moderne
In der modernen Forschung wird oft auf die Schwierigkeit der Interpretation hingewiesen; der Kratylos gilt als eines der schwierigsten Werke Platons. Schon 1807 konstatierte der einflussreiche Platon-Übersetzer Friedrich Schleiermacher in der Einleitung zur ersten Auflage seiner Übersetzung des Kratylos: „Viel Mühe hat den Freunden des Platon von altem Schrot und Korn dieses Gespräch immer gemacht.“
Friedrich Nietzsche kam zum Ergebnis, Platon habe jegliche Richtigkeit der Benennungen in dem Sinne, dass „die Sprache uns die Dinge lehre“, bestritten. Insgesamt zeigte sich Nietzsche von dem Dialog „auf das Ärgste enttäuscht“, denn als moderner Mensch sei man „durch die außerordentlichen Erkenntnisse der Sprachwissenschaft so verwöhnt“, dass man sich „kaum auf so naive Standpunkte zurückdenken“ könne.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gingen namhafte Gelehrte von einer sehr begrenzten Zielsetzung Platons aus. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff war der Meinung, dass Platons Sokrates im Kratylos „bloß scherzt und fremde Irrtümer aus dem Wege räumt“; dieser Dialog sei „ein lustiges Buch“, das „ein wahres Feuerwerk des tollsten Witzes“ biete, einen „Sprühregen von mehr oder weniger geistreichen Etymologien“, aber zu der ernsten Mahnung führe, man solle sich auf so abwegige Bemühungen nicht einlassen. Paul Friedländer fand in den „belustigend-ermüdenden Etymologienreihen“ des Dialogs einen „Wechsel von Unsinn und Tiefsinn“. Kurt Hildebrandt schrieb 1933, Platon habe mit der Fülle der etymologischen Beispiele den wissenschaftlichen Anspruch der verwendeten sprachanalytischen Methode ironisch widerlegen, zugleich aber „das lebendige Sprachgefühl“ der Philosophieschüler entwickeln wollen.
In der neueren Forschungsliteratur hingegen wird der Kratylos als das Werk gewürdigt, mit dem die europäische Sprachphilosophie beginnt: Er sei die erste geschlossene Schrift unseres Kulturkreises, welche die Sprache und ihre Funktion reflektiere (Jürgen Villers), der „Ausgangspunkt aller europäischen Sprachphilosophie und -wissenschaft“ (Tilman Borsche).
Häufig werden die zukunftsweisenden Aspekte des Dialogs betont. Nach der Einschätzung von Tilman Borsche wird hier „der Grundstein für die spätere Trennung von Erkenntnistheorie und Sprachtheorie gelegt“. Auch die Sprachphilosophen Kuno Lorenz und Jürgen Mittelstraß setzen die Bedeutung des Kratylos hoch an: Er enthalte ein Programm einer rationalen Sprachphilosophie, das auch für den gegenwärtigen Diskurs relevant sei, sowie eine Fülle nützlicher Anregungen, welche die Beachtung moderner Sprachphilosophen verdienten. Egil A. Wyller verweist auf „die nicht nur linguistische, sondern rein philosophische Problem-Fülle“, die in dem Dialog stecke und erst allmählich wieder ins Blickfeld komme. Auch Peter Schmitter kommt in seiner Untersuchung der Kommunikationsmodelle im Kratylos zum Ergebnis, bei Platon finde sich „eine Fülle von Gedanken, die die moderne Kommunikationstheorie (…) erst wieder neu entdecken musste“. Manfred Kraus stellt fest, Platon unterscheide implizit zwischen Bedeutungs- und Bezeichnungsrelation; damit stehe sein Konzept „modernen Entwürfen der Semantik schon erstaunlich nahe“. Bemerkenswert sei das erstaunliche Spektrum an wichtigen sprachwissenschaftlichen Erkenntnissen, das im Kratylos ausgebreitet werde. Ernst Heitsch findet Platons Analyse „überraschend modern“. Er meint, Platon schreibe für kritische Leser, der Dialog sei eine Übung kritischen und vernünftigen Lesens und gebe zugleich Anleitung zum genauen Sprechen und Denken.
Der Sprachtheoretiker Karl Bühler nahm auf den Kratylos Bezug, als er 1934 in seinem Standardwerk Sprachtheorie sein „Organon-Modell“ der Sprache darlegte. Mit Recht habe Platon die Sprache als Werkzeug zum Zweck von Mitteilungen über die Dinge aufgefasst. Die Frage, ob es jemals eine Zuordnung von Laut und Ding aufgrund einer Ähnlichkeit zwischen ihnen gegeben hat, bleibe offen; jedenfalls sei in der Gegenwart keine Ähnlichkeit zu erkennen. Im Kratylos sei die Entscheidung für den Konventionalismus gefallen, und dabei bleibe es.
Der Semiotiker Roman Jakobson trug 1965 Überlegungen vor, welche „die Frage, die in Platons faszinierendem Dialog Kratylos scharfsinnig diskutiert wird, wieder aufleben“ lassen. In einem knappen Forschungsüberblick stellte er fest, dass die Sichtweise des Hermogenes, wonach die Sprache eine willkürliche, nur durch Gewohnheit etablierte Übereinkunft ist und die Natur der sprachlichen Zeichen gleichgültig ist, in der modernen Semiotik viel Anklang gefunden hat, aber auch auf Widerspruch gestoßen ist. Jakobson selbst hielt an einer nicht willkürlichen Komponente in den zeichenhaften Äußerungen fest. Er wies unter anderem darauf hin, dass die Ansicht, sprachliche Zeichen seien beliebig vertauschbar, von den Sprechern selbst nicht geteilt zu werden pflegt.
Der Hermeneutiker Hans-Georg Gadamer betont wie viele andere die Weichenstellung, die der Kratylos als „Grundschrift des griechischen Denkens über Sprache“ für die europäische Sprachphilosophie bedeutet. Für ihn stellt das Werk „bereits den ersten Schritt in eine Richtung dar, an deren Ende die neuzeitliche Instrumentaltheorie der Sprache und das Ideal eines Zeichensystems der Vernunft liegt“. Allerdings beurteilt Gadamer diese Entwicklung kritisch. Platon habe das Denken so auf sich selbst stellen wollen, dass damit die „Macht der Worte“ und ihre „dämonische Technisierung in der sophistischen Argumentierkunst“ überwunden werde. Dabei sei er aber vor dem wirklichen Verhältnis von Wort und Sache zurückgewichen. Das „eigene Wesen der Sprache“ habe er gründlich verdeckt, das Wort werde auf seine Funktion als Zeichen und den ihm zugewiesenen Werkzeugcharakter reduziert. Die „Sprachgebundenheit des Denkvollzugs“ werde nicht angemessen berücksichtigt. Die Folge dieser Sichtweise sei die „Sprachvergessenheit des abendländischen Denkens“.
Der Literaturwissenschaftler Gérard Genette veröffentlichte 1976 seine umfangreiche Untersuchung Mimologiques (deutsch Mimologiken), in der er die Geschichte des „mimologischen“ Diskurses analysiert, das heißt der Sprachkonzeptionen, die von einem Nachahmungsverhältnis zwischen Wörtern und Dingen ausgehen. Darin befasst er sich auch ausführlich mit dem Kratylos, den er als „Gründungstext, Matrix und Programm“ der mimologischen Tradition bezeichnet. Genette unterscheidet zwischen dem „primären Kratylismus“ des Kratylos, der das mimologische Konzept auf die reale Sprache anwende, und dem „sekundären Kratylismus“ Platons und des platonischen Sokrates. Die Vertreter des sekundären Kratylismus hätten sich von dem naiven Denken des primären gelöst, hielten aber an dem Grundgedanken eines sprachlichen Naturzustandes fest, wenngleich sie einräumten, dass er historisch nie verwirklicht worden sei.
Weniger Wertschätzung findet die literarische Gestaltung des Dialogs. Bemängelt wird, dass der Aufbau undurchsichtig und die Komposition unausgewogen sei. Dabei wird insbesondere darauf hingewiesen, dass der philosophisch relativ unergiebige Etymologienteil über die Hälfte des gesamten Textes ausmacht. Schon 1807 urteilte Friedrich Schleiermacher, in diesem Werk trete „die Kunst der dialogischen Komposition etwas zurück“; er wies auf harte Übergänge hin und bemerkte, Platon scheine „fast ermüdet zu sein von der Fülle des philologischen Scherzes“, daher habe er den Schlussteil „so leicht als möglich hingeworfen“.
Ausgaben und Übersetzungen
William S. M. Nicoll, Elizabeth A. Duke (Hrsg.): Kratylos. In: Elizabeth A. Duke u. a. (Hrsg.): Platonis opera, Band 1, Oxford University Press, Oxford 1995, ISBN 0-19-814569-1, S. 187–275 (maßgebliche kritische Edition).
Otto Apelt (Übersetzer): Platons Dialog Kratylos. In: Otto Apelt (Hrsg.): Platon: Sämtliche Dialoge, Bd. 2, Meiner, Hamburg 2004, ISBN 3-7873-1156-4 (Übersetzung mit Einleitung und Erläuterungen; Nachdruck der 2., durchgesehenen Auflage, Leipzig 1922).
Julius Deuschle (Übersetzer): Kratylos. In: Erich Loewenthal (Hrsg.): Platon: Sämtliche Werke in drei Bänden, Bd. 1, unveränderter Nachdruck der 8., durchgesehenen Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2004, ISBN 3-534-17918-8, S. 541–616.
Gunther Eigler (Hrsg.): Platon: Werke in acht Bänden, Band 3, 5. Auflage, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2005, ISBN 3-534-19095-5, S. 395–575 (Abdruck der kritischen Ausgabe von Louis Méridier, 14. Auflage, Paris 1969, mit der deutschen Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, 2., verbesserte Auflage, Berlin 1824).
Rudolf Rufener (Übersetzer): Platon: Spätdialoge I (= Jubiläumsausgabe sämtlicher Werke, Bd. 5). Artemis, Zürich/München 1974, ISBN 3-7608-3640-2, S. 321–415 (mit Einleitung von Olof Gigon S. XLVII–LI).
Literatur
Übersichtsdarstellungen
Michael Erler: Platon (Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Philosophie der Antike, hrsg. von Hellmut Flashar, Band 2/2). Schwabe, Basel 2007, ISBN 978-3-7965-2237-6, S. 109–116, 473–480, 586–589.
Tilman Borsche: Platon. In: Peter Schmitter (Hrsg.): Sprachtheorien der abendländischen Antike (= Geschichte der Sprachtheorie, Band 2). Gunter Narr, Tübingen 1991, ISBN 3-87808-672-5, S. 140–169, hier: 140–151.
Manfred Kraus: Platon. In: Tilman Borsche (Hrsg.): Klassiker der Sprachphilosophie. Von Platon bis Noam Chomsky. Beck, München 1996, ISBN 3-406-40520-7, S. 15–32, hier: 19–26.
Franz von Kutschera: Platons Philosophie, Band 2: Die mittleren Dialoge. Mentis, Paderborn 2002, ISBN 3-89785-265-9, S. 139–159.
Kommentare
Francesco Ademollo: The Cratylus of Plato. A Commentary. Cambridge University Press, Cambridge 2011, ISBN 978-0-521-76347-9.
Maria Luisa Gatti: Etimologia e filosofia. Strategie comunicative del filosofo nel „Cratilo“ di Platone. Vita e Pensiero, Milano 2006, ISBN 88-343-1132-9.
Jetske C. Rijlaarsdam: Platon über die Sprache. Ein Kommentar zum Kratylos. Bohn, Scheltema & Holkema, Utrecht 1978, ISBN 90-313-0299-6.
Untersuchungen
Rachel Barney: Names and nature in Plato's Cratylus. New York City 2001, ISBN 0-8153-3965-8.
Timothy M. S. Baxter: The Cratylus. Plato’s Critique of Naming. Brill, Leiden 1992, ISBN 90-04-09597-7.
Christoph Diehl: Platons Semantik. Die Theorie sprachlicher Bedeutung im Kratylos. Mentis, Münster 2012, ISBN 978-3-89785-766-7.
Andreas Eckl: Sprache und Logik bei Platon. Teil 1: Logos, Name und Sache im Kratylos. Königshausen & Neumann, Würzburg 2003, ISBN 3-8260-2577-6.
Konrad Gaiser: Name und Sache in Platons ‚Kratylos‘. Winter, Heidelberg 1974, ISBN 3-533-02382-6.
Ernst Heitsch: Willkür und Problembewusstsein in Platons Kratylos. Franz Steiner, Stuttgart 1984, ISBN 3-515-04370-5.
David Meißner: Natur, Norm, Name. Sprache und Wirklichkeit in Platons „Kratylos“. Felix Meiner, Hamburg 2019, ISBN 3-7873-3698-2.
David Sedley: Plato’s Cratylus. Cambridge University Press, Cambridge 2003, ISBN 0-521-58492-2.
Rezeption
Robbert M. van den Berg: Proclus’ Commentary on the Cratylus in Context. Ancient Theories of Language and Naming. Brill, Leiden 2008, ISBN 978-90-04-16379-9.
Weblinks
Kratylos, griechischer Text nach der Ausgabe von John Burnet (1900)
Kratylos, deutsche Übersetzung von Julius Deuschle (1855)
Kratylos, deutsche Übersetzung nach Friedrich Schleiermacher, bearbeitet (PDF)
Bibliographie zum Kratylos (PDF-Datei; 379 kB)
Anmerkungen
Corpus Platonicum |